MAX PAGES DAS AFFEKTIVE LEBEN DER GRUPPEN
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EINE THEORIE DER MENSCHLICHEN BEZIEHUNG
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MAX PAGES DAS AFFEKTIVE LEBEN DER GRUPPEN
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EINE THEORIE DER MENSCHLICHEN BEZIEHUNG
seinen Gefühlen in der ie Psychologen Beziehung zum Klienten - besonders die ' klinischen Ausdruck verleihen.'' 't{ I ' ~ •j' ~~f I i~ ', ~~.~~~:'I ·,I asWerkdes _scheinen seit französischen einigen Jahrzehnten in Gruppender absurden Idee zu psychologen leben, dem verbalen Max Pages vereinigt Ausdruck komme eine Art natürlicher Vorrang Methodenreflexion und sozialpsychologische zu. Auch lenken die Theoriebildung. Therapie- und TrainingsPages stellt den techniken oft auf die Gruppentheorien der verschiedenste Weise Psychoamilyse und der die Aktivitäten des Lewin-Schule eine eigen Klienten und des Theorie der sozialen Psychologen in verbale "Beziehung" entgegen; Kanäle, während nichtKONZEPTE DER zugleich zeigt er die verbale Aktivitäten mit HUMANWISSENSCHAFTEN Methoden, die aus den allen möglichen. ERNST KLETT unterschiedlichen Verboten belegt werden VERLAG Theorien entspringen, ... Wir möchten im und entwickelt neue praktische Gegenteil den Psychologen zum Alternativen. Sein Buch versteht freien und spontanen Gebrauch sich als ein Beitrag zu aller der Sprachen ermutigen, einer allgemeinen Methodologie deren er mächtig ist und gesellschaftlichen Veränderns. von denen er glaubt, sie könnten
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Konzepte der Humanwissenschaften
Max Pag6s Das affektive Leben der Gruppen Eine Theorie der menschlichen Beziehung Ernst Klett Verlag Stuttgart
Aus dem Französischen übersetzt von Siegtried und Mathllde Furtenbach Titel der französischen Ausgabe: •La vie affective des groupes« © 1968 Dunod, Paris Ober alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt der Ernst Klett Verlag, Stuttgart Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages Einbandgestaltung und Typographie: Heinz Edelmann Gesamtherstellung: Graphische Werkstätten Kösel, Kempten Printed in Germany 1974 ISBN 3-12-906290-4
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe ... 9 I Die Walfischgruppe ... 11 1. Kapitel: Der Rahmen ... 12 Erläuterungen zu den Zeichen und zu der Wiedergabe der Protokolle ... 14 2. Kapitel: Aus der 4. Sitzung, Samstag, 10 bis 12 Uhr ... 15 Die Geschichte von der Walfischin ... 23 Kommentar zur Walfischgeschichte ... 30 1. Die Konstruktion der Geschichte ... 30 2. Inhalt und einzelne Symbole ... 31 3. Der Stil der Geschichte ... 43 Gesamtkommentar zu der Sitzung ... 44 3. Kapitel: 9. Sitzung, Sonntag 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr ... 48 Kommentar ... 66 II Das affektive Leben der Gruppen ... 78 4. Kapitel: Die kollektive Affektivität ... 79 Unterschwellige affektive Phänomene in Gruppen ... 79 Affektivität in der Gruppe oder Affektivität der Gruppe? ... 81 Die unterschwellige affektive Einheit der Gruppenphänomene ... 82 Symbolische Kommunikation unter den Mitgliedern einer Gruppe, Symbolzonen ... 83 Kollusion und Komplementarität in den gruppeninternen Konflikten ... 86 Konvergenz der individuellen Produktionen in Trainingsgruppen ... 89 Bewußtwerden des unbewußten Affektes ... 91 Die individuellen Produktionen als abwehrender Ausdruck eines unbewußten kollektiven Konfliktes ... 92 5. Kapitel: Die unmittelbare Beziehung ... 95 Reduktion der Beziehung in den freudianischen Gruppenkonzeptionen ... 96 Der neofreudianische Kompromiß ... 103 Bion ... 108
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Die Reduktion der Beziehung in den sozialpsychologischen Begriffen der Interdependenz und Interaktion ... I 12 Die unmittelbare Beziehung ... 118 Angst und Solidarität ... 123 Der Begriff der Beziehung als Mittelpunkt der Humanwissenschaften ... 127 Das Problem der Geschichtlichkeit des Verhaltens ... 128 Der Begriff der Gruppe ... 131 Zusammenfassung ... 140 6. Kapitel: Angst, Liebe, Trennung ... 142 Die Grunderfahrung als Konvergenz und Einheit der Gegensätze ... 145 Die Trennungsangst ... 146 Die Entdeckung der »geteilten Einsamkeit<< und der positiven Gefühle ... 149 Die authentische Liebe ... 151 Authentische Liebe und Sexualität ... !56 Die Angst als Offenheit ... 169 Die Angst als Gefühl und als Emotion: Die Stufen der Angst ..• 171 Angst als Primärphänomen. Kritik der psychoanalytischen Angsttheorien ... 173 Angst und Liebe als Erfahrung der Einheit, nicht des Konflikts ... 186 Dialektische Auffassung der Entwicklung ... 188 Gruppe und Individuum ... 192 7. Kapitel: Possessive Liebe und Feindseligkeit ... 194 Dissoziation als primärer Abwehrprozeß ... 194 A) Die possessive Liebe ... 198 Besitz, Fusion, Fülle, Positivität ... 198 Die Paradies-Illusion ... 198 Die Grundlagen der Liebesillusion ... 199 Unterdrückung des Andersseins und der Individualität. Narzißmus ... 201 Mystik und Sexualität in der possessiven Liebe ... 202 Objekte der possessiven Liebe ... 205 Die privilegierte Beziehung ... 205 Possessive Liebe und Trennungsangst ... 205 Possessive Liebe und Libido ... 208 Gruppen und possessive Liebe ... 213 B) Die Feindseligkeit ... 221 6
8. Kapitel: Die privilegierte Beziehung ... 226 Die privilegierte Beziehung als Abwehr gegen die universale Liebe ... 227 Lokalisierung und Externalisierung der Angst ... 227 Entfremdung, Identifikation ... 228 Affektive Dissoziation und privilegierte Beziehung ... 229 Errichtung einer absoluten Hierarchie, Autoritätsbeziehung ... 230 Ambivalenz ... 232 Die Elternbeziehung ... 233 Kritik des Übertragungsbegriffs ... 235 9. Kapitel: Kollektive Gefühle und gesellschaftliche Strukturen ... 239 Die Intervention im Unternehmen P .... 239 Kollektive Gefühle und gesellschaftliche Strukturen: Theoretische Bemerkungen ... 249 Kritik der freudschen Autoritätstheorie ... 261 Jaques und Menzies: Kritik ihrer Theorien über die Abwehrfunktionen sozialer Systeme ... 267 I 0. Kapitel: Die Sprachen des Gefühls ... 27 4 Verschiedene Sprachen des Gefühls ... 27 4 Distanz zur unmittelbaren Erfahrung ... 277 Kontrapunktische Progression der Gruppe ... 277 Kontinuität und Kontinuitätsbruch im Dialog ... 278 IJI Die psychesoziologische Intervention ... 283 11. Kapitel: Die Grundoptionen der psychesoziologischen Intervention ... 284 Zum Begriff der psychesoziologischen Intervention ... 284 Grundoptionen der psychesoziologischen Intervention ... 285 a) Es handelt sich um einen Prozeß gleichzeitiger Veränderung und Artikulation ... 286 b) Der Prozeß ist kollektiv und spontan ... 287 c) Der Forscher/Praktiker ist integrierender Bestandteil des kollektiven Prozesses ... 288 12. Kapitel: Die Abkapselung von Forschung und Praxis ... 292 Die Aktionsforschung Lewins ... 292 13. Kapitel: Die Praxis der psychesoziologischen Intervention ... 305 Expressiver Pluralismus und spontaner Dialog ... 305
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Arbeit auf Gruppenebene, individueller oder interindividueller Ebene ... 309 Arbeit in der Gruppe und außerhalb der Gruppe ... 315 Die Plenarsitzungen in Trainingsseminaren und Veranstaltungen der Organisationsveränderung ... 316 Die Festlegung der Interventionsstrukturen ... 318 Die Auswahl des Klienten ... 324 Interkommunikation der gesellschaftlichen Praxisfelder ... 329 Literaturverzeichnis ... 335 Sachregister ... 340 Personenregister ... 345
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Vorwort zur deutschen Ausgabe
Dieses Buch ist die Frucht meiner mehr als fünfzehnjährigen Erfahrung, die ich als Psychosoziologe in gruppendynamischen Seminaren für Erwachsene und bei der Beratung von Organisationen erworben habe. Es dient der Erläuterung der Hypothesen, die ich mir im Verlauf dieser Tätigkeit bildete. Ich gelangte nämlich zu einer doppelten Oberzeugung: das Geschehen in Gruppen und Organisationen wird von affektiven Phänomen kollektiver Art bestimmt, die jedoch zum großen Teil unbewußt bleiben. Gleichzeitig erschien mir das theoretische Instrumentarium, das uns zur Deutung der Gruppenaffektivität zur Verfügung steht, unbefriedigend, ist es doch anderen Erfahrungsbereichen entlehnt. Ich denke dabei im besonderen an die zwei wichtigsten Versuche: an die Psychoanalyse Freuds und nach Freud sowie an Kurt Lewin und seine Nachfolger. So war ich bestrebt, eine Theorie der Gruppen und der menschlichen Beziehungen zu erstellen, die in der psychosoziologischen Praxis selbst begründet ist und die vom Praktiker beobachteten Fakten besser zu erklären vermag. Ich kann nicht behaupten, die Richtigkeit einer solchen Theorie, zumal sie von sehr allgemeiner Bedeutung ist, in diesem Buch erwiesen zu haben. Aber ihre Möglichkeit und die Schwierigkeiten, mit denen andere theoretische Ansätze behaftet sind, hoffe ich aufgezeigt zu haben. Vielleicht lassen sich theoretische Synthesen konstruieren, die dieselben Fakten befriedigender erklären. In diesem Fall hätte diese Arbeit ihr wissenschaftliches Ziel erreicht. Das Buch stützt sich auf die Analyse einer T -Gruppe, die ich in einigen Auszügen wiedergebe und die den I. Teil bildet. Der II. Teil enthält die Entwicklung der Theorie. Der 111. Teil ist der psychosoziologischen Intervention gewidmet und reflektiert die Forschungs- und Arbeitsmethoden des Psychozosiologen, wobei ich dem Verhältnis von Forschung und Praxis besonderes Augenmerk zuwende, da es meines Erachtens für die psychosoziologische Methode spezifisch ist. Die deutsche Ausgabe entspricht im wesentlichen der französischen. Abgeändert wurde sie in zwei Punkten: der Bericht über die T-Gruppe beschränkt sich auf besonders aufschlußreiche Passagen; zwei theoretische Erörterungen im II. und 111. Teil wurden gekürzt. 9
Es ist mir nicht möglich, hier alle Autoren anzuführen, denen ich wesentliche Anregungen für diese Arbeit verdanke. Besonders Freud, Lewin, Martin Heidegger und Carl Rogers gegenüber fühle ich mich zu Dank verpflichtet, ungeachtet der Kritik, die ich an ihnen übe. Einen besonderen Platz nimmt Carl Rogers ein, dessen Werk mich stets inspirierte. Die vorliegende Arbeit wäre schließlich ohne die Mithilfe mehrerer Kollegen, von denen ich namentlich Claude Faucheux nennen möchte, und ohne die Beiträge der Klienten, Mitglieder von TGruppen und Organisationen, in denen ich tätig war, nicht zustande gekommen. Ebenso gilt mein Dank den Übersetzern, Siegfried und Mathilde Furtenbach, die ihre Aufgabe mit Sorgfalt und Umsicht gelöst haben.
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I Die Walfischgruppe
1. Kapitel Der Rahmen
Wir berichten hier in Auszügen von einer Gruppe, in der die Methode der Basisgruppe bzw. der amerikanischen »training group« (T-group) 1 angewendet wurde. Die Dauer einer solchen Gruppe ist begrenzt, ihr ausschließlicher Zweck ist das gruppendynamische Training ihrer Mitglieder, außerdem kommt sie nur für eine bestimmte Anzahl von Tagen zusammen. Diese Untersuchung bewegt sich also innerhalb eines fest umrissenen Rahmens, der die Gruppenphänomene auf der Ebene der Kleingruppe sichtbar werden läßt; die schwierigen Probleme, welche die Institutionen aufwerfen, bleiben ausgeklammert 2 • Es ist unsere Absicht, die Entwicklung der Gruppe möglichst genau zu beschreiben. Dadurch erhalten wir konkretes Material, um sowohl die Dynamik dieser Gruppe zu verstehen wie auch die Methoden, durch deren Anwendung der Psychosoziologe diese Dynamik sichtbar zu machen trachtete. Die theoretische und methodologische Verarbeitung dieses Materials werden wir im zweiten und dritten Teil versuchen. Zur Erleichterung des Obergangs vom Material zur Theorie fügen wir dem Material Kommentare bei (auf der rechten Hälfte der Seite). Ferner werden wir in unserem Bericht die vom Trainer während der Sitzung niedergeschriebenen Bemerkungen bringen, die die jweils gegenwärtigen Gefühle des Trainers zum Inhalt haben (eingerahmt, auf der rechten Hälfte der Seite) a. Das erlaubt uns teilweise eine Verifizierung der Hypothese von der affektiven Beteiligung des Trainers an der Atmosphäre der Gruppe und dient einer weiteren Prüfung der Trainerrolle. Die Materialsammlung ging folgendermaßen vor sich: ein Beobachter, Claude Faucheux, nahm an allen Sitzungen teil. Er hatte einen besonderen Platz und war am Gruppengeschehen nicht beteiligt. Wir verIn Frankreich gelegentlich auch »groupe de diagnostic« genannt. Zumindest die Probleme permanenter sozialer Institutionen. Man kann jedoch auch die Basisgruppe bezüglich ihrer institutionellen Aspekte untersuchen; wir tun dies im 18. Kapitel. a In einigen wenigen Fällen handelt es sich um Erinnerungen; darauf wird im Text verwiesen.
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glichen im April und Mai 1964 - also ca. zweieinhalb Monate nach der Basisgruppe - seine detaillierten Aufzeichnungen mit meinen eigenen. Eine Liste der zu klärenden Fragen wurde erstellt und den Mitgliedern der Gruppe bei einer Zusammenkunft am 15. Mai, bei der alle bis auf einen anwesend waren, vorgelegt. Schließlich unterbreitete ich mein Konzept allen Interessierten und konnte mir deren Anregungen zunutze machen. Ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, daß die Teilnehmer am Ende der Gruppe ihre Zustimmung zur Abfassung eines Berichtes gaben. Es handelt sich also keineswegs um eine vollständige Aufzeichnung, sondern um eine nachträgliche Darstellung. Wir haben nicht versucht, das Gruppengeschehen in extenso wiederzugeben, denn dazu fehlten die entsprechenden Unterlagen und außerdem hätte dies unserem Zweck nicht gedient. Jedoch sind die in Anführungszeichen zitierten Sätze bis auf ein paar Worte authentisch, wenn wir auch den Sprecher nicht immer angeben können. Die oft familiäre und unkorrekte Sprache wurde selbstverständlich beibehalten. Wenn wir uns eines Satzes nicht sicher waren, ihn aber für sehr wahrscheinlich hielten, wurde er mit einem Fragezeichen in Klammern versehen. Die Absätze ohne Anführungszeichen fassen den Sinn einer Stelle zusammen. Trotzdem wird durch die protokollarische Aufzeichnungsweise manches verzerrt. So ist insbesondere darauf hinzuweisen, daß die Interventionen des Trainers gegenüber denen der anderen Teilnehmer verhältnismäßig zahlreich und ohne Zweifel mit größerer Genauigkeit wiedergegeben sind, da ihnen der Beobachter besondere Aufmerksamkeit schenkte und bemüht war, keine auszulassen. Die für den Bericht gewählten Namen sind Pseudonyme. Die T-Gruppe fand in der Zeit von Freitag, dem 7., bis einschließlich Montag, dem 10. Februar 1964, an der Universität Rennes statt. Sie gehörte zum regulären Unterrichtsprogramm für das »Certificat de Psychologie Sodale«. Dieses Programm ist für die Lizentiate in Psychologie und Soziologie gemeinsam und wird an der Universität Rennes in dieser Form seit mehreren Jahren praktiziert. Die 14 Studenten nahmen freiwillig an der Gruppe teil. Die Dozenten führten mit ihnen vor der T-Gruppe Einzelgespräche, um ihre Informationen zu vervollständigen und sich Gewißheit darüber zu verschaffen, daß die Teilnahme nicht fehl am Platze sei.
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Die Teilnehmerliste: Jean-Marc, studiert Rechtswissenschaften im 3. und Psychologie 1m 1. Jahr, Philippe, Psychologiestudent, Jeannette, Psychologiestudentin, 2. Jahr, Jacques, 20, Soziologiestudent, 1. Jahr, einer der jüngsten Teilnehmer, Odile, ebenfalls 20 Jahre, Psychologiestudentin, Jacqueline, Psychologiestudentin, 2. Jahr, macht eben ein Praktikum an einer psychiatrischen Klinik, Arthur, Psychologiestudent, 2. Jahr, Jean, Soziologiestudent, 1. Jahr, Henriette, steht vor dem Abschluß des Psychologiestudiums, Teilzeitarbeit in einem Rehabilitationszentrum für Taubstumme, Eliane, Psychologiestudentin, 2. Jahr, Francis, Psychologiestudent, Lehrer an einem Internat, Paul, Psychologiestudent, Marceline, Psychologiestudentin, 2. Jahr, Bella, Psychologiestudentin, 2. Jahr, Max, Trainer, Claude Faucheux, Beobachter. Die meisten Teilnehmer sind zwischen 20 und 22 Jahre alt. Henriette undPaul sind etwas älter, MaxundClaudeFaucheux sind etwa 15Jahre älter als der Durchschnitt.
Erläuterungen zu den Zeichen und zu der Wiedergabe der Protokolle In Anführungszeichen: annähernd wörtliche Wiedergabe des Gesagten. Ohne Anführungszeichen: sinngemäße Wiedergabe oder nonverbales Verhalten. (?) nach einem Satz oder einem Namen: Authentizität des Gesagten oder des genannten Sprechers sind zweifelhaft. - - - nicht mitgeschriebene Diskussion. Schweigen: mindestens 20 Sekunden. Langes Schweigen: länger als 40 Sekunden. Sehr langes Schweigen: länger als eine Minute. links: Uhrzeit und Protokoll. rechts: aktuelle Kommentare des Verfassers. rechts, eingerahmt: Spontane oder nachrägliche Aufzeichnungen des Trainers über seine Gefühle. Keine in der Mitschrift vorkommende Stelle wurde ausgelassen. 14
2. Kapitel Aus der 4. Sitzung, Samstag, 10 bis 12 Uhr
. . . Marceline ist eben dabei, einen Walfisch auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Sie fragt, was für ein Atmungssystem der Wal hat.
»Mach ihm eine eiserne Lunge«, antwortet ihr X.
Marceline hatte schon einmal eine Kuh gezeichnet. In der Gruppe spricht sie wenig, aber man hört ihr immer sehr aufmerksam zu. Sie scheint im höchsten Grad eine Funktion symbolischen Ausdrucks der tiefsten Affekte des Gruppenlebens auszuüben. LähAtmungsschwierigkeiten? mung?
10.24 Uhr
Francis: »Könnt ihr es ertragen, nichts zu tun, so wie gestern? Jeder könnte doch auf einem Zettel aufschreiben, womit er den Tag verbringen möchte.«
Immer wieder spielt Papier eine besondere Rolle. Diesmal dient es dazu, eine aktive Haltung, den Wunsch, etwas zu tun, auszudrükken. Außerdem soll es eine Beziehung der Gruppenmitglieder zu· einander herstellen. Es ist jetzt nicht mehr Mittel, sich zu isolieren (Zeitungslektüre), oder Ausdruck einer simplen Neugier und einer eng damit verbundenen Unruhe hinsichtlich der Aufzeichnungen des Trainers. Es entspricht auch nicht mehr einer positiven, auf den symbolischen Bereich beschränkten Ausdrucksweise (Zeichnungen).
Bella: >>Ich werde das Schweigen noch weniger ertragen können als gestern!« Francis: >>Wenn wir alle etwas auf15
schreiben, dann müssen sich auch jene einmal äußern, die sonst nie reden oder dasselbe sagen wie die anderen.« Mittlerweile haben einige schon angefangen zu schreiben. Während sie schreiben: ]ean: »Was soll man schreiben?« Francis: »Unsere Wünsche; was wir während des Tages gerne tun möchten. Man muß ein Thema finden, über das dann alle sprechen können.« Marceline: »Was heißt Wal auf englisch?«
Mehrere suchen vergeblich nach der richtigen Antwort. Irgendeiner (nicht Marceline) stellt die Frage noch einmal: >>Herr Pages, was heißt Wal auf englisch?« Max: »Whale.<< 10.30 Uhr Schweigen. Es wird geschrieben, man schaut sich an, lächelt sich zu. 10.33 Uhr ] ean: »Wenn wir uns schriftlich leichter ausdrücken als mündlich, so heißt das, daß wir keine Gruppe sind.
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Englisch ist gewissermaßen die offizielle Sprache der Gruppe. Wir machen eine »T-group«; die Teilnehmer ziehen diesen Ausdruck der Bezeichnung »Basisgruppe« vor. Englisch ist auch die Sprache des Trainers. Die Studenten wissen, daß er es fließend spricht. In seinen Vorlesungen verwendet er häufig englischsprachige Fachausdrücke, die er jeweils übersetzt. Marceline richtet ihre Frage jedoch zunächst an niemand bestimmten, und vorerst sind es die Gruppenmitglieder, die vergeblich die Antwort suchen. Erst dann wird die Frage an den Trainer gerichtet, der sie beantwortet. Ohne es zu ahnen, hat der Trainer damit die Gruppe sozusagen getauft. Ist dies aber wirklich nur ein Zufall oder ist diese Taufe nicht doch schon irgendwie von der Gruppe und dem Trainer beabsichtigt gewesen?
10.35 Uhr Francis steht auf, sammelt die Zettel ein und liest vor: - Sähe gerne, daß Leben in die Gruppe kommt, etwa durch ein Diskussionsthema, das alle interessiert und lebhafte Meinungsverschiedenheiten hervorruft. - Abwarten, was kommt. - Nichts tun, über das reden, was in der Gruppe vorgeht, beobachten. - Eine Geschichte aufschreiben, und zwar die der Gruppe, mit Hilfe eines Brainstorming. - Ober Film, Theater, Beruf, Zukunft, Universität, Psychologie diskutieren. - Diskutieren. - Danke, daß ihr gekommen seid. - Die Mitglieder der Gruppe sollen über sich reden. - Walfisch, Meeresheilkunde. -Man hat eine ideale Gelegenheit, sich kennenzulernen und sich zu helfen. Jemand hat seinen Zettel nicht abgegeben1. ]acques: »Machen wir das Brainstorming jetzt gleich?« Francis: »Du hast also entschieden, daß aus den Zetteln nichts zu holen ist?«
Auszählung der Stimmzettel. Dies bedeutet eine Stellungnahme, ein Engagement, das noch durch die Funktion unterstrichen wird, die Francis den Zetteln zugewiesen hat: daß sie nämlich zum Sprechen, d. h. gewissermaßen zum Engagement nötigen sollen. Francis spielt die Rolle des Organisators, die er schon seit langem übernehmen möchte (zahlreiche organisatorische Vorschläge am Vorabend). Die Zettel bringen folgendes zum Ausdruck: -Den Wunsch nach Leben und Aktivität: »Leben soll in die Gruppe kommen«; »lebhafte Meinungsverschiedenheiten«; früher noch: »Könnt ihr es ertragen, nichts zu tun?«; »Ich kann das Schweigen heute weniger ertragen« usw. - Die konträre Haltung passiver Neugier: »beobachten«; »abwarten«; »nichts tun« usw. Dies hängt mit der Thematik der Verstellung und des Unvermögens zusammen. - Das Verlangen nach Einheit: »in die Gruppe soll Leben kommen«; »alle«; »die Geschichte der Gruppe aufschreiben« usw. - Die konträre Thematik der Opposition, des Sturmes (»lebhafte Meinungsverschiedenheiten«, Brain-storming), die an die früheren Anspielungen auf Krawalle anschließt. -Positive, ja sogar enthusiastische Aspekte( »idealeGelegenhei t«): Zufriedenheit, Dank; Wunsch, sich
1 Aus unseren Aufzeichnungen können wir nur 10 von den 13 Zetteln rekonstruieren; dazu kommt noch jener, der erst später abgegeben wird.
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kennenzulernen und sich zu helfen (Therapie). Die letzteren Themen werden zumeist abwehrend, ironisch, symbolhaft oder doppelsinnig (Meeresheilkunde) geäußert. Diese Themen deuten unseres Erachtens daraufhin, daß die Gruppe zu diesem Zeitpunkt einen heftigen Konflikt zwischen dem V erlangen nach Leben und der Furcht davor sowie der Furcht vor dem Unvermögen verspürt; daß sie weiter das Verlangen nach Einheit und Einhelligkeit und gleichzeitig das Bedürfnis nach individuellem Ausdruck empfindet, ohne zu wissen, ob beide Bedürfnisse miteinander vereinbar sind. Schließlich äußert die Gruppe noch den Wunsch nach Fortschritt und gegenseitiger Beziehung und Hilfe, wagt es aber nicht, an deren Verwirklichung zu glauben. Diese Konflikte lassen sich auch an der gegenseitigen Verflechtung der Inhalte auf den verschiedenen Zetteln ablesen. Ihre Verschiedenartigkeit ist erstaunlich; sie ist von der Gruppe in etwa beabsichtigt und verleiht ihrer momentanen Stimmung Ausdruck: man möchte überraschen und schockieren. Bemerkenswert ist auch, wie sehr die Themen ineinander übergehen: vgl. den ersten Zettel, der fast alle Gesichtspunkte vereint: ,.sähe gerne, wenn Leben in die Gruppe käme, etwa durch ein Diskussionsthema, das alle interessiert und lebhafte Meinungsverschiedenheiten hervorruft.«
]acqueline: »Es wäre besser gewesen, jeder hätte seinen Namen auf den Zettel geschrieben.« 18
X: »Wir könnten auch >monomes< veranstalten.« Y: »Die Gruppe kann beschließen, was sie will.«
Nouveau Larousse Universei (2. Band): »monome =fröhlicher und lärmender Umzug, den die Studenten zu gewissen Anlässen (Prüfungen) auf öffentlichen Plätzen aufführen«, Dies ist den bereits geäußerten Aspekten (Leben, Aktivität, Sturm) oder den noch kommenden {Gericht) zuzuordnen. Zu beachten ist, daß bei einem monome die aufmarschierenden Studenten vereinigt sind {monome) und daß sich ihr Lärmen und Schreien gegen außenstehende Autoritäten richten.
Arthur, halb scherzend, halb verärgert: »Ich glaube, wir werden wieder über Kommunikation reden!« Z: »Wir werden Gericht spielen.« R: »Es wird einen Staatsanwalt, Angeklagte und Advokaten geben.« Arthur: »Einige von uns haben es satt, dazusitzen und Däumchen zu drehen.« 10.44 Uhr Bella sammelt unter Mithilfe von Max den letzten Zettel (Jean?) ein: »Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um sein Unvermögen zu verbergen.« 10.45 Uhr Die Gruppe beginnt das Brainstorming. Jacques geht zur Tafel und kündigt an, er werde alles aufschreiben, was man ihm sagt. Man diktiert ihm sehr rasch eine Menge von Dingen; er bemüht sich, so gut er kann, sie aufzuschreiben. Die Atmosphäre in der Gruppe ist nun sehr erregt, die Sätze kommen sehr schnell, oft spre-
Die Gruppe beginnt jetzt, jenen Sturm (storm) zu erleben, den sie vorher auf den Zetteln nur angekündigt und sich gewünscht hatte. Interessant sind die Beziehungen
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eben mehrere gleichzeitig. Jacques wird von den anderen kontrolliert; sie veranlassen ihn, Formulierungen, die er verändert hat, richtigzustellen, und Auslassungen zu ergänzen (z. B. V ersteckenspielen, Faschingsferien). Es geht um Ferien, das Gericht und um das gemeinsame Erfinden einer Geschichte, zu der man einzeln reihum etwas beiträgt. Gegen Ende kommen die Dinge so rasch, daß Jacques unmöglich alles mitschreiben kann. Die Zwischenrufe werden immer häufiger. Bezüglich des Gerichts notiert er: »Wer wird richten?«, »Wen wird man vor Gericht stellen?«, »Wer wird die Verteidigung übernehmen?«, »Wir werden die Richter vor Gericht stellen.« Bezüglich der Reihum-Geschichte: »Eine Geschichte, die schlecht ausgeht«, »einen Krimi«, »einen Salat.«
10.51 Uhr Henriette steht auf, befühlt den Heizkörper und bleibt neben ihm stehen, obwohl er kalt ist.
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der Gruppe zu Jacques. Sie kontrolliert ihn, fordert ihn mit sichtlichem Vergnügen auf, kleine Details der Formulierung zu berichtigen, und bombardiert ihn mit Befehlen. Es ist, als wollte sich die Gruppe ihrer Gewalt über J acques versichern, indem sie ihn je nach Bedarf ausnützt oder lächerlich macht. J acques aber hat in der Gruppe eine Autoritätsrolle übernommen, wenn auch nur die bescheidene Rolle eines Sekretärs. Die Vermutung liegt nahe, daß das Verhalten der Gruppe in erster Linie niehtgegenJacques, sondern gegen den Trainer, die offizielle Autorität der Gruppe, gerichtet ist. In Wirklichkeit wird der Trainer beobachtet, kontrolliert, ausgenützt; ihn versucht man lächerlich zu machen. Warum? Weil er der Richter jenes Gerichts ist, von dessen Einsetzung eben die Rede war? Vergleichen wir diese Hypothese mit dem Aspekt, »die Richter unter Anklage zu stellen«. Das Gefühl, gerichtet, und die Furcht, verurteilt zu werden, sowie das komplementäre Verlangen, den Richter zu richten und zu verurteilen, scheinen im Vordergrund zu stehen. Im Augenblick kommt dies alles jedoch spielerisch, symbolhaft, in nonverbalem Verhalten und mittels vielfacher V erschiebungsphänomene zum Ausdruck (Trainer-J acques; das Gefühl, gerichtet zu werden, äußert sich darin, daß man den Richter richtet, usw.). Es fällt auf, daß mehrere Mitglieder der Gruppe aufstehen, stehen bleiben oder sich außerhalb des
Jacqueline steht auf und setzt sich auf einen rückwärtigen Tisch.
Kreises niedersetzen (Jacques, Henriette, J acqueline, Francis, Bella [?] und demnächst Jean). Auf diese Weise durchbrechen sie den Bann, der sie »an den Tisch fesselt«. Darin liegt ein Drang zur Revolte, zur Befreiung von einem obskuren Verbot und der unbekannten Autorität, die es erließ. Dieser Drang ist mit der Thematik des Sturmes, des monome und des V erhalten& gegenüber J acques zu vergleichen. Es würde nicht überraschen, wenn sich zu dieser Revolte bald die Angst gesellte. Das Thema Gericht ist ja bereits aufgetaucht.
10.55 Uhr • Jacqueline beginnt die Reihum-Geschichte, an der sich ein Großteil der Gruppenmitglieder beteiligen wird. Die Spielregeln für die Erstellung einer solchen Geschichte verlangen, daß jeder einen kurzen Satz beisteuert, der alle vorausgegangenen Sätze fortsetzen soll. Die Geschichte ist rasch - in 11 Minuten - fertig. Die Atmosphäre ist ausgelassen und voller Ironie. Die Beiträge der einzelnen Gruppenmitglieder folgen einander nicht streng nach der Sitzordnung (manche beteiligen sich nicht), und oft sprechen mehrere gleichzeitig. Im allgemeinen redet man sehr rasch. Die Sätze sind kurz, zwischendurch kommt es immer wieder zu schallendem Gelächter. Die Geschichte enthält zahlreiche Verästelungen, Varianten und Neuanfänge. Marceline schrieb das Gesagte auf, so gut sie konnte. Alles festzuhalten war prak21
tisch unmöglich. Diese Aufzeichnung ist leider nicht erhalten. Die folgenden Elemente gehen zurück auf - die Aufzeichnungen des Trainers und des Beobachters; - ihre Erinnerungen, die sie ca. vier Wochen später niederlegten; - das Gespräch mit allen Gruppenmitgliedern, das ca. zwei Monate später stattfand. - Es war erstaunlich, festzustellen, wie detailliert, genau und übereinstimmend die Erinnerungen der Mitglieder an die Geschichte waren. Die folgenden Inhalte können daher mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit als zuverlässig betrachtet werden. Trotzdem sind wir sicher, daß sie nicht vollständig sind und daß sowohl uns wie auch den Gruppenmitgliedern manches entfallen ist. Während der Geschichte verlassen die Gruppenmitglieder nach wie vor ihre Plätze und gehen hin und her. 10.55 Uhr Jacques verläßt die Tafel und setzt sich auf einen Tisch im Hintergrund, gegenüber der Tafel. Jean verläßt seinen Platz und geht zu J acques. 10.58 Uhr Francis steht auf, geht zu Jacques und Jean und redet mit ihnen, wobei er sich jedoch weiterhin an der Geschichte beteiligt. Dann setzt er sich wieder.
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Die Geschichte von der Walfischin * Es war einmal ein kleiner Mann, der ging am Ufer spazieren - es war Nacht, und ein Gewitter ging nieder - er begegnet einer W alfischin, die ihm eine Flasche gibt - er geht ins Gasthaus der Walfänger - die Walfischin geht ins Gasthaus und nimmt sich ein Zimmer - dort trifft sie einen Handelsvertreter mit einem Regenschirm, der zerstückelt sie und macht Fischbein aus ihr. In einer Variante, die Jacques vorschlägt und mit Hilfe einiger anderer ausführt, hatte der kleine Mann die Walfischin getötet und will sich umbringen bzw. bringt sich um, indem er sich von der Felsküste hinunterstürzt- er wird aufgefischt von seiner Frau, der Walfischin. Diese Variante lehnen viele ab und schlagen die folgende vor: Der Mann kommt nach Hause, die Walfischin unter dem Arm, und seine Frau sagt zu ihm: du mußt dich entscheiden zwischen mir und der W alfischin - er entscheidet sich für die W alfischin - er quartiert sich im Bauche der Walfischin ein- ein kleiner Kanal verbindet ihn mit der Gallenblase der Walfischin, und so ernährt er sich von ihr - sie gehen nach Mexiko - sie gehen zum Karneval nach Rio - in der Flasche war eine Nachricht, eine Einladung für zwei Personen zum Karneval in Rio - in Mexiko wird er von vielen, vielen Indianern umlagert, die ihn
Beitrag Philippes, der sich damit zum ersten Mal spontan an der Gruppenaktivität beteiligt.
* Zur Übersetzung: der Wal, Ia baleine, ist im Französischen weiblichen Geschlechts. 2S
umbringen wollen - aber die Walfischin tritt dazwischen und rettet ihn- die Indianer erklären die Walfischin zur Gottheit, und der Mann wird der Wal-Priester - so wurde der Walkult in Mexiko eingeführt die W alfischin bricht wieder auf und läßt sich im Titicaca-See nieder (hier Unschlüssigkeit; die Geschichte kehrt zu ihrem Ausgangspunkt zurück) - seine Frau ist unterdessen mit einem anderen davongelaufen (schlägt Jacqueline vor)- seine Frau begeht Selbstmord (mehrere protestieren: »fortsetzen!«) - seine Frau ist mit einem »maquereau« * durchgebrannt - sie waren glücklich und hatten viele kleine Sardinen.
Zur Interpretation der Walfischgeschichte: siehe S. 30-43.
11.06 Uhr
]ean: »Stimmen wir nun ab über das, was an der Tafel steht?« Entrüsteter Protest. ]ean-Marc: »Freiheit!« (er dürfte gerade dabeisein, der Liste noch Antworten hinzuzufügen oder die vorzulesen, die schon daraufstehen). Als man ihn fragt, was er da mache, antwortet er: »Ich versuche, in die Geheimnisse der Psychologie einzudringen.« Arthur: »Es wird dir nicht gelingen.« 11.07 Uhr Jean-Marc steht auf. Francis: »Wenn jeder an die Tafel abstimmen ginge, würde das die Sa• Zur Übersetzung: frz. maquereau, heißt sowohl »Makrele« als auch »Zuhälter«.
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ehe etwas mehr beleben.« Bella, Arthur und Marceline stehen auf. jean setzt sich wieder auf seinen Platz. ]ean-Marc: »Los, beeilt euch!« Henriette: »Wollen wir überhaupt abstimmen?« Bella und Marceline setzen sich wieder. Jacqueline geht zur Tafel, macht schweigend mit der Kreide einen Kreis um den Satz »aufhören, sich zu verstecken« und geht wieder an ihren Platz zurück. Henriette geht ebenfalls an ihren Platz zurück und setzt sich. Jacqueline geht zum Heizkörper und kehrt zu ihrem Stuhl zurück. Francis setzt sich wieder. Jetzt befindet sich nur noch Jacques außerhalb des Kreises. Während dieser Zeitspanne (von 11.07-11.14 Uhr) scheint sich das Interesse auf die Idee des Gerichtes zu konzentrieren, ohne daß darüber abgestimmt worden wäre. Man fragt: »Wen nehmen wir als Schuldigen?« Die Männer möchten die Frau anklagen, die Mädchen wiederum schieben dem Mann die Schuld zu. Man macht zahlreiche Vorschläge, erfindet neue Details, die die Geschichte ergänzen sollen, und stellt verschiedene Personen unter Anklage. Einiges davon geben wir im folgenden wieder. Henriette zu X: »Beobachtest du Jacques?« Y: >>Die Mutter muß man anklagen, sie hat sich nicht um ihren Sohn gekümmert.« Z: »Seine Frau! Sie ist ein Drachen!«
Die Gruppe ist verbal, physisch und emotional weiterhin sehr erregt. Sie feiert eine Art emotioneller Orgie, als ob es eine unausgesprochene Norm wäre, alle Gefühle, die sie bewegen, zu äußern (stets unter dem Schleier der Geschichte).
Offenbar Schuldgefühle. Die Gruppe hat den Bann gebrochen und ein Tabu verletzt. Sie hat den Trainer, die Mutter der Gruppe, getötet und sich dann geistig und
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R: »Den Mann! Er ist em Weichling!« S: »Seine Frau ist mit einem Eisvogel durchgegangen.« Auf der Zeichnung von Marceline, die gerade herumgereicht wird, sieht man: Frau-+ Mac »Die Sache muß vors Gericht«.
körperlich (siehe Kommentar der Walfischgeschichte am Ende der Sitzung) mit ihm vereinigt. Zu beachten ist, daß alle schuldig sind: die Mutter, die Frau, der Mann, später Jean, Arthur. Gleichzeitig befehden und provozieren sich die Männer und die Frauen, was wie eine Art voreheliches Spiel anmutet. Sie schieben einander den schwarzen Peter zu und klagen sich gegenseitig an; also starker wechselseitiger Austausch. Ausgelöst durch die Geschichte, verbleibt dieser Austausch zwischen den Gruppenmitgliedern stets im Bereich des Symbolhaften, in einer Atmosphäre von Schuld und Angst.
11.22 Uhr ]acqueline und ]ean: »Wie steht es mit deiner Untersuchung, Arthur?« Arthur: »Es ist eine Untersuchung über die Art und Weise, wie die jungen Männer den Mädchen ihre Liebeserklärung machen.« Artbur fährt nach einer Erwähnung der Arbeiten seiner Untersuchungsgruppe fort und erzählt - in die Zange genommen ohne zu lachen, eine Geschichte voller Anspielungen: es geht um einen langen Kanal, an dem entlang Pärchen spazierengehen. »Wir sind draufgekommen, daß die jungen Männer viele Probleme und Schwierigkeiten bei ihren Liebeserklärungen an die Mädchen haben.« Bella: »Wo kann das wohl sein?« Lachen.
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Die voreheliche Thematik wird nicht mehr nur gespielt, sondern direkt geäußert.
11.26 Uhr ]acqueline: »Heute abend könnten wir zusammen ins Kino gehen!« Jean berichtet, daß in Kaschmir ein Stamm entdeckt worden ist, der für Geisteskrankheiten allergisch ist. »Sie dürfen an keiner T -group teilnehmen.« J acques hat sich wieder gesetzt. Die Erregung der Gruppe läßt nach. Der Vorschlag, gemeinsam etwas zu unternehmen, wird aufgegriffen. Man möchte jedoch in eine bretonische Creperie gehen. Die Gruppe einigt sich auf ein bekanntes Lokal und verabredet sich für Montagabend.
11.33 Uhr Max bittet Jean-Marc, etwas zu wiederholen, was dieser eben gesagt und er nicht verstanden hat. Henriette: »Der Trainer interveniert weniger als gestern.« Max: ... 11.35 Uhr Es geht um einen Selbstmord in der Vilaine (vielleicht verschiedene Ereignisse) und um den Jardin du Thabor, im Frühling, einen sehr schön gelegenen Park im Zentrum von Renn es. Jacqueline erinnert daran, daß sie den Walfisch beerdigt hat. Jean möchte Arthur vor Gericht stellen, mehrere wollen J ean richten, der wiederum Arthur richten möchte. ]ean-Marc: »Wir sind bis Montagabend zu Zwangsarbeit verurteilt.«
Bedeutet das: der Trainer fehlt uns? Wenn ja, dann ist die Anspielung sehr indirekt, und das Fehlen des Trainers wird nicht eingestanden.
Tod des Walfisches, Selbstmord in der Vilaine, Schuldgefühle und als Kontrast: Frühling, gemeinsamer Kinobesuch, die Cr~perie. Die beiden Themen hängen jedoch
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zusammen: die jungen Männer gehen mit ihren Mädchen entlang eines Kanals spazieren, und Selbstmord begeht man in der Vilaine, die in Rennes kanalisiert ist. Was die .. cr~pes« betrifft, so könnten sie auf ,. Trauerschleier«"" anspielen.
11.42 Uhr Jacques schlägt vor, »10 oder 5 Minuten zu schweigen«. Obwohl diesem Vorschlag nicht ausdrücklich zugestimmt wird, verfällt die Gruppe in ein sehr langes Schweigen, das zweieinhalb bis drei Minuten dauert.
Dieses Mal spricht die Gruppe nicht mehr in Symbolen. Sie ist wahrhaftig zu »Zwangsarbeit auf Zeit« verurteilt.
11.45 Uhr Francis verläßt das Zimmer.
11.46 Uhr
facqueline: »Traurig steht's um uns.«
Y: »Dumm ist das!« Z: »Sehr gut haben wir uns unterhalten!« Francis kommt zurück. 11.49 Uhr
R: »Ich finde, daß wir uns alle langweilen.« Jacques: »Man hat ständig den Eindruck, daß wir Versuchskaninchen sind.« Jean macht Bella den Vorwurf, als Katalysator gedient zu haben. Max: »Man hat gewisse Dinge zum
Seit der Geschichte und dem Gerichtsspiel hat sich die Stimmung völlig verändert. Sie ist düster und traurig geworden. Ist dieses Schweigen eine Gedenkminute zu Ehren der Toten? Auffallend ist, daß es genau in dem Augenblick erfolgt, da Jean-Marc das Ende der T -group erwähnt. Fühlt die Gruppe schon das unvermeidliche Ende herannahen und ist sie deshalb traurig? Wenn ja, warum dann gerade jetzt? Die während des Schweigens zutiefst empfundene Angst (Todesangst, wie es scheint; doch es wird noch zu präzisieren sein, was damit gemeint ist) wird verdrängt.
"" Zur Übersetzung: »Cr~pe« hat zugleich diese Bedeutung.
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Ausdruck gebracht und betont nun, daß sie dumm und ohne Bedeutung waren. ]ean-Marc: »In Gegenwart von jemandem zu sprechen, der für alles, was man sagt, um jeden Preis eine Bedeutung sucht, ist unmöglich!<< Arthur: »Immerhin haben wir nicht den ganzen Vormittag damit zugebracht, zu überlegen, was man tun könnte, und wir haben nicht die ganze Zeit über Kommunikation geredet.« Bella: »Wenn man ausspricht, was einem durch den Kopf geht, versteckt man sich weniger, als wenn man rationalisiert.« Es folgt eine Diskussion über Für und Wider der Walfischgeschichte. Einige rechtfertigen sich, mitgemacht zu haben (»man hat etwas getan«, »man ist sich nähergekommen«) und werfen anderen vor, sich nicht beteiligt und sich als Richter aufgespielt zu haben. ]ean: »Sind wir nicht hier, um die Masken abzulegen?« ]ean-Marc: »Vielleicht sind wir hergekommen, um zu sehen, was hinter den Masken der anderen steckt.« Bella zu Jean: »Wie, glaubst du, wirst du die anderen kennenlernen?« Schweigen. Jacques gibt Bella anstelle von Jean eine Antwort auf ihre Frage.
Der Trainer wird direkt angegriffen, aber nicht namentlich genannt. Man ist dem Trainer böse, weil er auf die Maske, die sich die Gruppe aufgesetzt hat, hinweist.
11.59 Uhr
Max: »Ich habe den Eindruck, der Wal liegt der Gruppe im Magen. Manche haben das Gefühl, etwas
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zum Ausdruck gebracht zu haben, andere haben es nicht. Man ist nicht recht glücklich über diesen Wal und versucht, ihn loszuwerden. Aber er ist nun einmal da.« Jacques widerspricht der Interpretation von Max. 12.01 Uhr
Max: »Warum kritisieren wir uns gegenseitig und warum kritisieren wir die Walfischgeschichte?« Jacques steht auf und stützt sich auf die Lehne seines Sessels.
Kommentar zur Walfischgeschichte
Die Walfischgeschichte läßt sich unter einem dreifachen Gesichtspunkt analysieren: 1. Art und Weise ihrer Konstruktion sowie der Kommunikation, die sie unter den Gruppenmitgliedern herstellt. 2. Inhalt. 3. Stil. 1. Die Konstruktion der Geschichte
Es ist eine Reihum-Geschichte, d. h. sie setzt von ihrer Konstruktion her die Zusammenarbeit aller Gruppenmitglieder voraus. Jeder muß mit seinem Beitrag an das Vorhergehende anknüpfen, um so daran mitzuwirken, daß eine Geschichte zustande kommt. Im Unterschied zum vorausgegangenen Brainstorming steht die Idee der Einheit in der Verschiedenheit im Vordergrund und wird praktisch erprobt. In dieser Hinsicht ist die Konstruktion der Geschichte mit dem »monome« vergleichbar, bei dem die Studenten im Gänsemarsch aufmarschieren: auch bei der Reihum-Geschichte folgt einer auf den anderen. Die Walfischgeschichte ist eine Art »monome«. Es ist jedoch zu bemerken, daß die Einhaltung dieser Spielregel den Gruppenmitgliedern nicht leichtfällt Die gewünschte Einheit ergibt 30
sich keineswegs von selbst. Sie erweist sich als schwierig und ungewiß, und die Mitglieder müssen sich dazu zwingen, sie herzustellen. Dadurch erhält die Geschichte den Sinn, die Einheit der Gruppe auf die Probe zu stellen. 2. Inhalt und einzelne Symbole
Wir werden zunächst die einzelnen Elemente der Geschichte auf ihren Symbolgehalt untersuchen und anschließend den Versuch einer synthetischen Interpretation unternehmen. Die Geschichte weist- ihrer zeitlichen Reihenfolge nach geordnetfolgende Elemente auf:
Der kleine Mann Warum ist er klein? Seine Körpergröße steht in krassem Gegensatz zu der der W alfischin. Unwillkürlich denkt man an eine Eltern-Kind-Beziehung. Von einem Kind sagt man oft, es sei ein kleiner Mann. So besehen, könnte der kleine Mann die Gruppe und die W alfischin den Trainer darstellen, unbeschadet der individuellen Bedeutungen für jedes einzelne Gruppenmitglied. Der Begriff »klein« ist auch mit der früher oft feststellbaren Neigung der Gruppe, sich selbst abzuwerten, in Zusammenhang zu bringen. Andererseits kommt zur unterschiedlichen Körpergröße noch die Artverschiedenheit hinzu: der kleine Mann ist ein Mensch, die W alfischin ein Tier. Das legt den Gedanken nahe, der Wal bringe die tiefer gelegenen, weniger bewußten und Verdrängteren Schichten der Gruppenaffektivität zum Ausdruck. Auf einer tieferen Ebene der Phantasien könnte die W alfischin auch die Gruppe darstellen.
Nacht, Gewitter. Er begegnet einer Walfischin Knüpft an das vorausgehende Thema des Sturmes an. Warum gerade einer Walfischin? Drei Aspekte fallen zunächst auf: - Sie ist ein Tier von gewaltiger Körpergröße. (Vgl. oben die Interpretation Kind-Eltern!) Die Tatsache, daß die WalEisehin von extremer Größe ist, ist wohl auch von Bedeutung und macht sie zu einem außergewöhnlichen Tier, sei es nun ein »Naturwunder« oder ein Monster. Auch die Gruppe ist im Begriff, außergewöhnliche Tage zu erleben; genauer gesagt: diese Geschichte, in der auch von Geburt die Rede 31
ist, enthält vielleicht folgende Fragen: »Werden wir ein Monster oder ein Wunder zur Welt bringen? Ist unsere Gruppe, ist jeder von uns lebensfähig?« Die ungeheure Körpergröße unterstreicht die- im positiven oder negativen Sinne - ungeheuere Bedeutung dessen, was die W alfischin für die Gruppe zum Ausdruck bringt. - Sie ist ein Meerestier. In der ganzen Geschichte spielt das Meer eine wichtige Rolle. Sicher liegt dies nicht nur daran, daß wir uns in der Bretagne befinden. Man muß dies mit dem Thema des Gebärens in Zusammenhang bringen. Die Walfischin ist hier wesentlich eine Mutterfigur. Sie symbolisiert insofern den Trainer, als dieser die Mutter der Gruppe ist und die Gruppe zur Welt bringt. - Sie ist ein Säugetier. Diese Beobachtung schließt an die vorangehende Deutung an und hebt den menschlichen Charakter der Walfischin hervor, eines Lebewesens, das sich vom Menschen scheinbar sehr unterscheidet, ihm im Grunde jedoch sehr nahesteht Dies bestätigt jene Interpretation, die in der Walfischinden Trainer und- auf einer tieferen Ebene- die Gruppe sieht. Die Gruppe ist schließlich offensichtlich vom Jonas-Mythos inspiriert, den sie nach ihrem eigenen Bedarf umformt. Im »Petit Larousse« (14. Auf!., 1963) unter »]onas«: »Einer der 12 kleinen Propheten; der Bibel zufolge wurde er auf wunderbare Weise dem Leben zurückgegeben, nachdem er drei Tage im Bauch des Walfisches zugebracht hatte« (Hervorhebungen: M. P.). Hinsichtlich der Themen Wunder und Kleinheit herrscht offenbar eine bemerkenswerte Übereinstimmung; auch die Dauer entspricht bis auf einen Tag genau jener der T-Gruppe. Man kann diese Ähnlichkeit natürlich dem Zufall zuschreiben; man kann sie aber auch auf mehr oder weniger bewußte Erinnerungen (das würde vielleicht die drei Tage erklären) zurückführen oder darauf, daß den beiden Mythen eine ähnliche Funktion zukommt; in diesem Fall wären sie unabhängig voneinander konstruiert worden. Andererseits erfahren wir aus der Bibel (Jonas 1-11), daß Jonas- auf der Flucht vor einer göttlichen Sendung - Schiffbruch erlitt, von einem großen Fisch verschlungen und später dem Leben zurückgegeben wurde. Zwei Momente des biblischen Berichtes sind hier festzuhalten: -die Sendung, mit der Jonas von Gott betraut wird, vor der er flieht, die er schließlich jedoch ausführt; -die Doppelrolle des großen Fisches: potentielle Vernichtung (er verschlingt Jonas) und letzten Endes Rettung. Wir werden gleich sehen, ob diese beiden Elemente - Sendung des Jonas und Doppelrolle der Walfischin - auch in unserer Geschichte zu finden sind. 32
Die Walfischin geht ins Gasthaus der Walfänger und nimmt sich ein Zimmer. Dort trifft sie einen Handelsvertreter mit einem Regenschirm; der zerstückelt sie und macht Fischbein aus ihr. Hier ist alles Wal: die Walfischin, die Walfänger, der Regenschirm aus Fischbein (baleines), der dazu dient, weiteres Fischbein zu machen. Durch dieses bewußte Wortspiel betont die Gruppe den symbolischen Charakter der Geschichte. Sie teilt uns fast im Klartext mit, daß es hier um sie selbst geht und daß die Walfischin ein menschliches Symbol ist. Ferner soll durch das Wortspiel das Thema der Umformung hervorgehoben werden. Der Wal ist sozusagen ein Rohstoff, der immer wieder neu verarbeitet wird. Selbst der Inhalt der Sätze stellt eine Präzisierung dieses Themas dar; außerdem enthält er noch weitere. Auffallend ist die Verbindung der folgenden drei Themen: sexuelle Begegnung (in einem Hotel ein Zimmer nehmen ist eine klare Anspielung 2, Zerstükkeln und Gebären (Fischbein, »baleines«, machen). Es ist eine Art aggressiver Zeugung und Geburt, wobei die Aggressivität vom männlichen Teil ausgeht, der den weiblichen Partner tötet, um Junge zu bekommen. Wer sind das »Männchen«, das »Weibchen« und die »Jungen«? Was das Männchen betrifft, so ist der Trainer in der Gruppe der Handelsvertreter schlechthin. Er kommt alle 14 Tage nach Rennes, und seine sporadische Anwesenheit ist für die Studenten ein Problem. Er hat sich selbst manchmal vor den Studenten als einen »Reisenden in Psychologie« bezeichnet. Ist er das heilbringende Weibchen und das zerstückelnde Männchen in einem? Oder ist es die Gruppe, die den Trainer-Wal tötet und zerstückelt? Zweifelsohne trifft beides zu, denn die Gruppe identifiziert sich ja mit dem Trainer. Von Bedeutung ist jedoch vor allem, daß das Gebären nicht ohne Gewaltanwendung des Trainers gegen die Gruppe oder umgekehrt vor sich geht.
Der kleine Mann hat die Wal/ischin getötet und will sich umbringen, indem er sich von der Felsküste hinunterstürzt. Er wird aufgefischt von seiner Frau, der W alfischin. Hier spitzt sich der Vernichtungsgedanke zu, und es tritt noch die Selbstvernichtung hinzu: das Verlangen, andere zu vernichten und sich selbst durch Rückkehr zum Meer (von der Felsküste herunter) zu vernichten, sowie Rettung durch eine Mutterfigur. Sofern die W alfischin 2 Sie impliziert auch den Aspekt einer gewissen Heimlichkeit; vgl. damit den symbolhaften, verschleierten Grundton der Geschichte!
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für den Trainer steht, ist dieser Aggressionsobjekt (und durch das Bild vom Handelsvertreter aggressive Figur) und schützende und wohltätige Figur zugleich. Sofern sie für die Gruppe steht, ist sie diejenige, die man vernichten will, die einen aber auch rettet und durch die man gerettet zu werden wünscht.
Der Mann kommt nach Hause, die Wal/ischin unter dem Arm, und seine Frau sagt zu ihm: >>Du mußt dich entscheiden zwischen mir und der Walfischin.(( Er entscheidet sich für die Walfischin. Hier sind in zweifacher Hinsicht doppelte Aspekte gegeben: einmal die beiden Varianten der Geschichte - die eine pessimistisch und zutiefst destruktiv, die andere mehr optimistisch - und zum anderen weist die optimistische Variante wiederum zwei Elemente auf: die Walfischin und die Frau. Die weitere Folge der Geschichte läßt erkennen, daß den Mann ein glänzendes, wenn auch ungewisses Los erwartet, sofern er sich für die Walfischin entscheidet; ein schändliches (Zuhälter) und dramatisches, wenn er sich an die Frau hält. Entscheidend dürften die Worte sein: »Du mußt dich entscheiden.« Man muß zwischen Vernichtung und Heil, zwischen Leben und Sterben wählen. Und die Wahl fällt auf das Leben. Dem Leser wird nicht entgangen sein, daß sich das Format des Walfisches geändert hat: man nimmt ihn jetzt unter den Arm a, Humorvoll wird hier mit einem unbewußten Augenzwinkern dem Publikum die Transparenz des Symboles bedeutet.
Er quartiert sich im Bauch der Wal/ischin ein; ein kleiner Kanal verbindet ihn mit der Gallenblase der Walfischin, und so ernährt er sich von ihr. Dieses Bild bedarf eigentlich keines Kommentars. Es bestätigt überdeutlich die Interpretation der Walfischin als Mutterfigur. Wir heben zwei Aspekte hervor: einerseits den Fötus-Charakter des Bildes, der das Thema Gebären unterstreicht, andererseits die Ernährerrolle der Walfischin, durch die ihre Retterfunktion näher bestimmt wird.
a Man kann darin eine Anspielung auf das Gedicht »La peche a Ia baleine« (»Der Walfang«) von Prevert erblicken, das der Gruppe gewissermaßen als Vorlage diente und das sie für ihren Zweck frei variierte. 34
Sie gehen nach Mexiko ... Er wird von vielen, vielen Indianern umlagert, die ihn umbringen wollen, aber die Walfischin rettet ihn. Hier sind wir dem Leser eine Erklärung schuldig: Der Trainer hatte in Mexiko eine psychosoziologische Intervention durchgeführt, von der er den Studenten berichtet ·hatte. Die Reise nach Mexiko ist daher auch eine Reise »ins Land des Trainers«, ebenso wie zu Beginn der Sitzung der Gebrauch des Englischen (eben anläßlich des Wales!) den Gebrauch der »Sprache des Trainers« bedeutete. Die Gleichsetzung Wal = Trainer erfährt damit eine weitere Bestätigung. Die Geschichte schwankt sodann zwischen drohender Vernichtung und Rettung durch den Wal.
Die Indianer erklären die Walfischin zur Gottheit; so wurde der Walkult in Mexiko eingeführt. Mehrere Elemente sind zu unterscheiden: - Die Bekehrung der Indianer; sie gehört in den Themenkreis Umwandlung, Geburt, Taufe und ist mit der Veränderungsfunktion in der Basisgruppe und dem momentanen Gruppengeschehen - Geburt der Gruppe, Veränderung - in Zusammenhang zu bringen. -Der Mann wird Wal-Priester. Dies ist eine Vereinigung von männlichem und weiblichem Element - Vereinigung, die diesmal ohne Gewalt erfolgt und gelingt. Sie bedeutet nach meiner Ansicht die Verbindung von Gruppe und Trainer. Man kann diesen Satz übrigens ebenso gut als Vereinigung der Gruppe (Mann) und des Trainers (Walfischin) - dieser Sinn ist am offenkundigsten -, wie auch als Vereinigung des Trainers (Mann) mit der Gruppe (Walfischin) verstehen. Im ersten Fall ist die Gruppe der Priester einer Religion, deren Gott der Trainer ist; im zweiten Fall ist der Trainer der Priester der Gruppe. Die erste Lösung bringt die Abhängigkeit der Gruppe vom Trainer zum Ausdruck; die zweite Lösung drückt auf einer tieferen Ebene die umgekehrte Abhängigkeit aus, die des Trainers nämlich, der in gewisser Hinsicht ja nur die Emanation tieferliegender Tendenzen der Gruppe darstellt. Hinzuzufügen ist jedoch, daß diese Vereinigung eine geistige und (vielleicht) sterile ist. Die mit ihr verbundene Idealisierung und der Umstand, daß sie mit einer gewissen Ironie bes~;hrieben wird, stellen zwei Arten dar, ihre mögliche Bedeutung abzuwehren. Gewiß liegt der Gedanke an das Verbot einer sexuellen Vereinigung mit einer Elternfigur nahe (die Walfischin trug ein paar Augenblicke früher den kleinen Mann in ihrem Leib, und außerdem ist der Trainer für die Gruppe eine 35
Elternfigur). Wir glauben jedoch, daß sich die Gruppe insofern gegen eine Vereinigung mit dem Trainer wehrt, als sie die Vereinigung mit dem anderen schlechtbin darstellt, die zwar fruchtbar ist, aber auch Erschütterungen und Gefahren mit sich bringt. Das Sexualtabu gegenüber den Eltern ist lediglich Ausdruck dieser Gefahren.
Sie gehen zum Karneval nach Rio; in der Flasche war eine Nachricht, eine Einladung für zwei Personen zum Karneval in Rio. a) Der Karneval- Abbruch der Fastenzeit - ist in Beziehung zum Durchbrechen des Bannes, zum Bestreben nach Befreiung vom Trainer und von Verboten zu setzen. Der Karneval ist ferner ein fröhliches und ausgelassenes Fest. Dieses Thema erscheint kontrapunktisch unmittelbar nach der Erwähnung Mexikos (wir haben die Stelle interpoliert). Das Thema Mexiko, das sich zu dem einer mystischen und sublimen Vereinigung mit dem Trainer entwickelt, wird vom Thema leiblicher und ausgelassener Vereinigung abgelöst. Die Gruppe schwankt zwischen beiden Themen. Das Thema der leiblichen Vereinigung wird zurückhaltender ins Spiel gebracht und eher ins Lächerliche gezogen. b) Die Nachricht in der Flasche: dies vermittelt einen neuen Aspekt der Rolle des Walfisches; er bringt eine Nachricht; zur leiblichen Vereinigung gesellt sich die geistige. Auch das bestätigt einmal mehr die Parallele Walfisch-Trainer. Die beiden Unterthemen - materielle und geistige Nahrung- sind ferner eng miteinander verbunden: anläßlich des Karnevals, des leiblichen Themas, taucht das der geistigen Nahrung auf. Die Nachricht läßt sich auch mit der von Gott dem Jonas übertragenen Sendung vergleichen. Wenn wir alle diese Elemente vereinigen und sie in Begriffe der Beziehung zum Trainer übersetzen, ergibt sich folgendes: der Trainer übermittelt der Gruppe eine Botschaft, und gleichzeitig ernährt er sie. Diese Botschaft wird als Zwang empfunden, und die Gruppe flieht vor ihr, macht sie sich aber schließlich zu eigen.
Die Walfis~hin bricht wieder auf und läßt sich im Titicaca-See nieder. Das Karnevalsthema wird mit verstärktem Akzent wieder aufgenommen- als Kontrapunkt zum mystischen Thema, das im Wal-Kult seinen Höhepunkt erreicht hatte und jetzt negiert wird: der Wal endet in der »Kacke«. Die Gruppe will von nun an vom Mystischen nichts mehr wissen und kehrt zum Alltäglichen und Konkreten zurück.
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Unterdessen ist seine Frau mit einem anderen davongelaufen; seine Frau begeht Selbstmord (Protest); seine Frau ist mit einem »maquereau« durchgebrannt. Die Rückkehr zum realen Alltag ist endgültig. Zwar taucht das Vernichtungsthemanochmals kurz auf- es wird von der Gruppe sofort zurückgewiesen -, doch dann wendet man sich einer prosaischen Vereinigung zu. a) Beachtenswert ist die Symmetrie des Bildes: Mann-Walfischin, Frau-maquereau. Jedesmal kommt ein Mensch und ein Wassertier, ein Großer und ein Kleiner vor; doch diesmal verlaufen die Beziehungen umgekehrt. Der weibliche Teil ist der Mensch. b) Wer ist der »maquereau«? Die Antwort lautet ohne Zweifel: der Trainer. Er heißt Max. Zu einem späteren Zeitpunkt der Sitzung sieht man auf der Zeichnung von Marceline: Frau-Mac. Schließlich heißt es an derselben Stelle: »Die Frau ist mit einem Eisvogel durchgegangen« (der Trainer wohnt in der »Eisvogel-Straße«; seine Adresse ist den Studenten bekannt). Gruppe und Trainer wechseln also das Geschlecht; die Gruppe ist zur Frau geworden, jedenfalls in ihren Beziehungen zum Trainer. c) Diese Verbindung ist alles andere als ideal, denn sie beruht auf Untreue (»mit einem anderen durchgehen«) und Ausbeutung (Zuhälter). Hinsichtlich der Untreue liegt die Vermutung nahe, daß die intensive Beziehung zum Trainer und zu den anderen Gruppenmitgliedern von den Teilnehmern als Bedrohung anderer wichtiger Beziehungen, etwa der zur Familie, zum Ehegatten oder Verlobten und zu Freunden, empfunden wird. Die Teilnehmer an Basisgruppen erklären ja oft, daß sie vom Gruppengeschehen völlig in Anspruch genommen sind; kommen sie zwischen zwei Sitzungen in ihre Familien, sind sie dort »abwesend« und interessieren sich für nichts. Die intensive emotionale Umformungsarbeit der Basisgruppe erfaßt momentan völlig die Existenz der Teilnehmer. Mehr noch: die Vertiefung der Beziehung zum Trainer und zu den anderen Mitgliedern führt unweigerlich dazu, daß jeder Teilnehmer seine üblichen Abwehr- und Beziehungsformen, etwa in der Familie, in Frage stellt. Er findet sie nicht mehr so vor, wie sie waren - soweit die Basisgruppe Wirkungen zeitigt. Er steht vor der Wahl zwischen dem Status quo und der .i\nderung, die den Verzicht auf gewisse Beziehungsformen impliziert (vgl. oben: »Du mußt dich entscheiden«). Es ist dann nicht weiter verwunderlich, daß er sich beunruhigt fühlt und Schuld empfindet.
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Hinsichtlich der Ausbeutung durch einen Zuhälter ist zu sagen, daß damit von neuem die Angst vor einem seine Macht skrupellos mißbrauchenden Trainer zum Ausdruck kommt. Diese Furcht besteht aber über den Trainer hinaus allen Gruppenmitgliedern gegenüber, zu denen die Bindungen enger werden. Sie waren glücklich und hatten viele kleine Sardinen. Das Thema erfährt eine abrupte Wendung, die offensichtlich ironisch gemeint ist. Es ist das Happy-End eines düsteren Filmes. Diese Ironie könnte jedoch eine Maske sein, die es erlaubt, ohne allzu großes Risiko ein positives Thema einzuführen. Folgendes läßt sich dazu beobachten: a) Die Vereinigung ist glücklich und prosaisch zugleich. Das deutet der stereotype Charakter des Satzes an, der die Vorstellung bürgerlichen Glückes und bescheidener Personen erweckt. Die Vereinigung ist aber auch fruchtbar. Es ist, als ob die beiden bisher kontrastierenden Themen der harmonischen, mystischen, aber sterilen Vereinigung und der prosaischen, körperlich realen, jedoch abstoßenden oder lächerlichen Vereinigung nun zu einem neuen Thema kombiniert wären, das die beiden früheren integriert. Die Harmonie ist vom Himmel herabgestiegen und zugänglich geworden. b) DieseFrau und dieser »maquereau«, der eine Walfischin war, zeugen Sardinen. Der Wechsel in der Art kennzeichnet das Umformungsgeschehen und macht deutlich, daß ein neues Thema vorliegt, daß entschieden mit der Vergangenheit gebrochen wird. c) Die Geschichte bewegt sich wirklich im Kreis reihum, denn das Ende schließt wieder an den Anfang an. Aus dem kleinen Mann ist eine kleine Sardine geworden, nachdem er sich mit der Walfischin vereinigt hat und selbst Wal geworden ist. In dieser Umformung - sind aus einem mehrere geworden, - ist aus einem Menschen ein Tier - und aus dem männlichen ein weibliches Wesen geworden. Wir haben nur wenige Hinweise, um diese Umwandlungen im derzeitigen Stadium zu interpretieren. Wir versuchen es mit folgenden provisorischen Hypothesen: • Die Gruppenmitglieder sind inzwischen eher fähig, ihre Verschiedenartigkeit anzuerkennen und individuelle Unterschiede zu akzeptieren, da sie nicht mehr in so hohem Maße von der Beziehung zum Trainer in Beschlag genommen werden.
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e Die Anerkennung ist noch unbewußt; die Gruppe schützt sich vor ihr dadurch, daß sie sie auf die symbolische Ebene verlegt (Tier). e Die Gruppe ist bereit, dem Trainer sein wahres Geschlecht zuzuerkennen (maquereau). Gleichzeitig nimmt sie aber ihre Mitglieder als einem anderen Geschlecht zugehörig wahr (Frau, Sardinen). Allerdings wäre es hinsichtlich der Schlußphase der Geschichte, in der von Sardinen die Rede ist, genauer, von einer gewissen Unbestimmtheit des Geschlechts bzw. einem Hang zum weiblichen Geschlecht zu sprechen, denn Sardinen können ja auch männlich sein. Vielleicht fällt es den Gruppenmitgliedern schwerer, ihr männliches Geschlecht wahrzunehmen angesichts des Trainers, dessen Gegenwart und Existenz sie im übrigen nun eher akzeptieren. Versuch einer Interpretation. Die Bedeutung der Geschichte liegt unseres Erachtens hauptsächlich in einer Vereinigung, die mit einer Geburt endet. Gemeint ist die mühsame und schwierige Vereinigung der Gruppenmitglieder mit dem Trainer und - darüber hinaus - miteinander, die zur Geburt der Gruppe und zur Neugeburt jedes einzelnen Gruppenmitgliedes führt. Diese Vereinigung wird zunächst als zerstörerisch erlebt: Zerstörung der Gruppe durch den Trainer, Zerstörung des Trainers durch die Gruppe (der Handelsvertreter zerstückelt die Walfischin, das kleine Männchen tötet sie: Symbole, die, wie wir gesehen haben, einen doppelten Sinn haben), Selbstzerstörung der Gruppenmitglieder. Diese destruktive Vereinigung ist auch steril (der Handelsvertreter macht Fischbein aus der Walfischin). In diesem Stadium stellen Gruppe und Trainer teilweise miteinander vermengte Wesen dar (die Walfischin repräsentiert zum Beispiel sowohl die Gruppe als auch den Trainer), die sich nur schwer voneinander sowie von den einzelnen Gruppenmitgliedern unterscheiden lassen '(das kleine Männchen ist ebensosehr Gruppenmitglied gegenüber der Gruppe wie auch die Gruppe als Ganzes gegenüber dem Trainer). Diese beiden Wirklichkeiten, Gruppe und Trainer, sind für den einzelnen furchterregend und können zu seiner Vernichtung führen. Die Beziehung zwischen den Individuen und der Gruppe, zwischen Gruppe und Trainer, ist eine Beziehung zwischen Ungleichen, nach Art der Eltern-Kind-Beziehung. Die Vereinigung der Gruppenmitglieder mit dem Trainer und durch ihn mit der Gruppe als ganzer erfährt sodann eine Umformung. Sie gewinnt eine positive Tönung, bleibt aber eine Beziehung zwischen Un39
gleichen. Sie gleicht der Fötus-Beziehung des kleinen Kindes zu seiner Mutter, die es physisch und geistig ernährt, schützt und rettet. Sie wandelt sich noch einmal und wird zu einer rein mystischen und geistigen Vereinigung, in der die vergöttlichte Mutter (der Trainer) nur noch eine Ratgeberin und geistige Schutzherrin darstellt, während die Gruppe, ihr Sohn (der Priester), auf Erden als Erwachsener handelt. Doch entbehrt diese Beziehung, in der die Gruppe erwachsen ist, der sinnlichen Vitalität und der Fruchtbarkeit. In der letzten Umwandlung schließlich wird aus der Vereinigung eine irdische, leibliche und fruchtbare Vereinigung Gleichgestellter (oder fast Gleichgestellter; vgl. die Ausführungen über das Geschlecht der Gruppe am Ende der Geschichte). Bisher haben wir lediglich die Geschichte mit Hilfe einiger symbolischer Schlüssel (vor allem des Schlüssels Gruppe-Trainer) im Klartext nacherzählt, aber wir haben sie noch nicht interpretiert. Das Problem der Interpretation soll hier nur skizziert werden, weitere Ausführungen sind dem theoretischen Teil vorbehalten. Es ließen sich natürlich psychoanalytische Begriffe heranziehen, insbesondere solche, die von Melanie Klein vorgeschlagen wurden und deren Verwendung diese Geschichte ohne weiteres nahelegt: die »gute« und die »böse« Mutter, Projektion der frühkindlichen Aggressivität auf die Mutter, Vermengung der Elternbilder (von männlichen Attributen durchsetzes Mutterbild). Oder wir könnten - und das wäre vielleicht noch naheliegender - die Ideen Otto Ranks über das Trauma der Geburt heranziehen: die Angst vor dem Leben ruft die Sehnsucht nach dem Tod hervor, das Verlangen zu leben erweckt die Angst vor dem Tod. Für die Benützung derartiger Begriffe stehen uns jedoch zwei Perspektiven zur Wahl: Eine im eigentlichen Sinn psychoanalytische. Ihr zufolge wäre die Geschichte dadurch zustande gekommen, daß die individuellen affektiven Konflikte der Gruppenmitglieder auf die gegenwärtige Situation »Übertragen« wurden. Durch einen näher zu untersuchenden Mechanismus verbinden sich die individuellen Konflikte miteinander und führen zu einer kollektiven, als Gruppenereignis anzusehenden Geschichte. Die andere Perspektive - und das ist die unsere - erblickt den Ursprung der in der Walfischgeschichte zum Ausdruck gebrachten Emotionen in der Gruppensituation selbst. Die symbolischen Themen und ihre spätere Umwandlung in psychoanalytische Begriffe sind dann nichts anderes als eine »Sprache«, die von den einzelnen zwar im Ver40
lauf früherer Gruppenerfahrungen (Familie) erworben wurde, sich aber auf die gegenwärtige Erfahrung bezieht. Mehr als das vorausgehende erlaubt ein solches Interpretationssystem die Erklärung sowohl der individuellen Unterschiede und der jedem einzelnen eigenen emotionellen Schattierungen als auch der eigenartigen Gemeinsamkeit der affektiven Erfahrung der Gruppe, einer Erfahrung, die sich, wie wir gesehen haben, zugleich mit der Situation der Gruppe oft rasch ändert. Was das einzelne Gruppenmitglied zum Ausdruck bringt, sind dann nur die besonderen Gesichtspunkte eines kollektiven affektiven Geschehens. Welche Bedeutung könnte die Walfischgeschichte in dieser Perspektive haben? Es handelt sich unserer Ansicht nach um einen Konflikt zwischen dem intensiven Verlangen zu leben und ebenso intensiven Zerstörungsängsten. Das Verlangen zu leben ist ein Verlangen nach individuellem Leben, Bedürfnis nach Aktivität und Selbstausdruck, zugleich auch und damit untrennbar verbunden ein Verlangen, daß die Gruppe lebt, denn es handelt sich ja um ein Leben, das auf dem Austausch mit dem anderen beruht. Der von allen Gruppenmitgliedern kollektiv empfundene Konflikt besteht zwischen dieser Möglichkeit des Austauschs, die das kollektive und zugleich individuelle Leben der Gruppenmitglieder begründet, und den Ängsten, die diese Möglichkeit hervorruft. Dieses um Leben und Zerstörung kreisende Kommunikationsgeschehen ist in diesem Augenblick allen Gruppenmitgliedern gemeinsam und bestimmt ihre Beziehungen untereinander. Erlebt wird es jedoch in erster Linie in der Beziehung zum Trainer. Auf diese Beziehung wird der Konflikt projiziert, der infolge der intensiven Angst, die er hervorruft, nicht unmittelbar angegangen werden kann. Der Trainer ist insofern Projektionsobjekt, als er ein außenstehendes Element bildet und an die Elternfiguren erinnert, denen gegenüber die Zerstörungsangst ursprünglich empfunden worden ist. Gewiß trifft die psychoanalytische Erklärung hier zu. Aber man darf in der Beziehung zum Trainer nicht einfach eine Übertragung individueller Konflikte sehen, sondern muß sie als Projektion eines gegenwärtigen Geschehens betrachten. Was auf den Trainer projiziert wird, ist die Möglichkeit des Austauschs und der Zerstörung, die in dieser gegenwärtigen Begegnung der Gruppenmitglieder untereinander eingeschlossen liegt. Diese Projektion tritt natürlich um so stärker in Erscheinung, je mehr der Trainer sie akzeptiert und die Gruppe nicht dazu nötigt, sie zu verschleiern. Der Trainer wird damit zur Quelle lebendiger Interaktion schlechthin, aber auch zur Quelle möglicher Zerstörung. Zugleich ist er ein Angriffsziel, das die Gruppe manchmal vernichten möchte, um sich selbst zu schützen. 41
In dem Maße hingegen, wie diese Angst zum Ausdruck kommen kann - was davon abhängt, wie sehr der Trainer die Angst akzeptiert -, erprobt die Gruppe ihre Fähigkeit zum Austausch und zur Koexistenz mit dem Trainer. Die Angst vor Zerstörung nimmt ab oder verschwindet ganz. Mir ihr verschwindet auch die Notwendigkeit der Projektion auf den Trainer. Die Gruppenmitglieder werden zu echtem Austausch untereinander fähig, der nicht nur die gemeinsame Angst vor dem Trainer, sondern die differenzierte gegenseitige Wahrnehmung von Bedürfnissen, Wünschen und Kooperationsmöglichkeiten zum Inhalt hat. Dieser soeben skizzierte Interpretationsrahmen wird, so glauben wir, der Geschichte vom Walfisch gerecht. Er erklärt die zerstörerische Vereinigung mit dem Trainer, die Verwechslungen zwischen Trainer, Gruppe und einzelnen Gruppenmitgliedern auf Grund von Projektionsphänomenen, und er erklärt auch den Mythos vom Trainer, der die Gruppe erzeugt, denn die Vereinigung der Gruppenmitglieder erfolgt ja über den Trainer und die Vereinigung mit ihm. Ebenso erklärt unser Interpretationsrahmen die späteren Phasen der Geschichte. Die Umwandlung der Zerstörerischen in eine positive, aber noch ungleiche Vereinigung (Phasen des fötalen und des geistigen Einsseins) entspricht einer Verminderung der Angst und einer Akzentuierung der Austauschmöglichkeiten mit dem Trainer. Die Angst ist jedoch noch immer gegenwärtig. Das zeigt der Schutz durch die Mutter und dann durch die schützende Gottheit. Selbstausdruck und Möglichkeiten der Kommunikation bleiben begrenzt, was aus dem Bild des Fötus und dem des sterilen Priesters hervorgeht. Schließlich erleben wir den Übergang auf die Ebene eines gegenseitigen Austausches und einer daraus resultierenden Umwandlung (Thema der Fruchtbarkeit). Allerdings treten dazwischen wieder Befürchtungen auf, ausgebeutet oder verraten zu werden (Untreue, Zuhälter). Die Walfischgeschichte und die bisherige Deutung klären jedoch ein wichtiges Problem nicht auf: woher kommt die Angst vor Zerstörung? Ist sie ein vom Lebenstrieb unabhängiges Element, das nach Freud mit einem »Todestrieb«, einem Destruktionstrieb, zusammenhängt, oder ist es, etwa nach Rank, eine mit dem Lebenstrieb untrennbar verbundene Angst vor dem Tod? Wir können eine Antwort auf diese Frage erst versuchen, wenn wir eine andere Frage untersucht haben werden: ist die Angst vor Zerstörung eine erste, nicht weiter rückführbare Gegebenheit oder verweist sie auf eine noch tiefer gelegene Angst, die sie verschleiert zum Ausdruck bringt?
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3. Der Stil der Geschichte
Wir beschränken uns auf die Wiederholung einiger Bemerkungen, die wir bei der Besprechung der einzelnen Symbole nebenher schon anfügten. Die Geschichte ist in ihrer Grundstimmung voller Humor: Wortspiele (Wal-Fischbein, Makrele-Zuhälter) scherzhafte Inkonsequenzen (den Wal nimmt man unter den Arm, die Nachricht enthält eine Einladung zum Karneval in Rio), Brüche im Rhythmus und keine Übergänge zwischen den einzelnen Teilen der Geschichte (seine Frau ist mit einem Zuhälter durchgegangen, sie waren glücklich usw.). Der Humor erfüllt eine dreifache Funktion: - einerseits bringt er, wie einst Freud schon aufzeigte, von neuem gewisse symbolische Themen zum Ausdruck: zum Beispiel das Thema der Umwandlung oder der Geburt. -vor allem aber unterstreicht er anderseits den Symbolcharakter des Gesagten. Indem die Gruppe absichtlich Inkonsequenzen und Wortspiele häuft, entmystifiziert sie die verwendeten Symbole. Er ist Zeichen eines heimlichen Einvernehmens mit den Zuhörern (Trainer, Gruppe), die eingeladen werden, verborgene Bedeutungen aufzuspüren. Das besagt indessen nicht, daß sich die Gruppe dieser Bedeutungen völlig bewußt ist; die Gruppe weiß lediglich, daß es sie gibt. Der Humor ist somit das Zeichen einer gewissen Transparenz der Symbole. Und eben dieser Zustand partieller Transparenz stellt etwas Neues in der Gruppe dar und bildet einen wichtigen Schritt in ihrer Entwicklung. Er enthält die Ankündigung und Vorbereitung des Übergangs zu unverschlüsselter, nicht symbolischer Kommunikation. Die bisher genannten Funktionen sind Ausdrucks-Funktionen. Dem Humor kommt aber auch eine abwehrende Funktion insofern zu, als er von der Wirklichkeit wegführt zum Symbol und so vor dem Schutz bietet, was das Symbol möglicherweise bedeutet. Diese Funktion ist hinlänglich bekannt. Der Humor leistet zumindest an dieser Stelle simultan und kontradiktorisch folgendes: e er wehrt die Wirklichkeit des Symbols ab; e er entmystifiziert allgemein das Symbol, verweist auf dessen Wirklichkeit und bringt die Wirklichkeit bestimmter Symbole zum Ausdruck.
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Gesamtkommentar zu der Sitzung
Diese Sitzung ist offensichtlich von grundlegender Bedeutung. Die Gruppe erlebt in ihr eine Art Passion, die ihr zur Geburt verhilft und sie begründet. Bis zu dieser Sitzung hatte die Gruppe vor allem auf symbolischer Ebene ihre Gefühle, ihre Angst wie auch ihre positiven Erwartungen zwar vertieft, aber es kam zu keinerlei Wandlung oder Umformung. Diese geschieht jetzt, zumindest auf der symbolischen Ebene der Walfischgeschichte. Die Gruppe hat scheinbar für eine Zeitlang ihre Angst überwunden und ihren Konflikt mit dem Trainer gelöst. Sie ist lebensfähig, ohne durch ihre Angst und den Trainer gelähmt zu sein. Sie setzt sich aus brüderlichen, aber sich unterscheidenden Individuen zusammen, zu denen auch der Trainer gehört und die willens und fähig zu gegenseitigem Austausch sind, um darin Befriedigung zu finden. 1. Die Analyse der Walfischgeschichte zeigte uns den Mechanismus dieser affektiven Alchemie. Die Gruppe hat sich mit ihrer Destruktionsangst und ihrem Destruktionsverlangen klar auseinandergesetzt. Während es in der vorhergehenden Sitzung nur zu diskreten Anspielungen kam, die sich im Rahmen eines verbalen Symbolismus oder einer noch undeutlicheren Ausdrucksweise hielten und ihren Niederschlag in einer Zeichnung oder physischem Handeln (Umstellen der Tische) fanden, wird jetzt in der Sprache verbaler Symbolik offen von Töten, Zerstückeln und Selbstmord geredet. Dadurch bricht die Gruppe den Bann, in dem sie der Trainer gefangenhält Er war die dunkle und schreckenerregende Macht, die es ihr untersagte, mit ihm in Kontakt zu treten, Kontakte untereinander herzustellen, zu leben. Auch mit ihrem tiefen Verlangen nach Leben, nach Austausch und gegenseitiger positiver Hilfe setzen sich die Gruppenmitglieder auseinander. Beide Tendenzen erleben sie zunächst in Verbindung mit dem Trainer, der sie symbolisiert. Indem sie sich dem Trainer nähern, scheinbar, um ihn zu vernichten oder sich von ihm vernichten zu lassen, vollzieht sich eine Vereinigung. Diese ist zuerst sehr eng und angenehm, aber ohne Gleichberechtigung steril und im Grunde angsterfüllt; dann jedoch wird sie zu einer fruchtbaren Vereinigung von Gleichberechtigten. Am Ende der Geschichte hat die Gruppe - jedenfalls auf symbolischer Ebene -Beziehungen zum Trainer und unter den Teilnehmern hergestellt, die frei von Identifikation und Entfremdung sind. Dadurch hat sie jedoch ein bestimmtes Bild des Trainers zerstört, nämlich das einer magischen Autorität, deren Macht auf den Ängsten beruht, die auf sie
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projiziert werden. Und sie hat auch ein ähnliches Bild der Gruppe zerstört, in dem die Gruppe außerhalb der ihr angehörenden Individuen existiert und wie eine Schutz- und zugleich Schreckensmacht über ihnen thront. Jetzt ist die Gruppe aufgebrochen und offen wie die Walfischin, und man kann erkennen, woraus sie besteht: aus Individuen. 2. Selbst die Art der Beziehungen unter den Teilnehmern bestätigt diese aus der Inhaltsanalyse ablesbare Entwicklung. Entscheidungen werden rasch, ohne sinnlose Debatten oder Streitigkeiten, ohne Formalismus und in stillschweigendem Einverständnis getroffen und ausgeführt (das Umstellen der Tische, die Zettel, das Brainstorming, die Geschichte). Die Gruppenmitglieder erweisen sich als zur Kooperation miteinander fähig, indem sie ihre Aktionen in die kollektive Aktion integrieren. Wir haben in dieser Hinsicht auf die Konstruktionsweise der Walfischgeschichte hingewiesen und gezeigt, daß ein gewisser Druck für die Kooperation als notwendig empfunden worden ist. Die Beteiligung der Mitglieder ist vollständiger, wenn auch nicht immer gleich (das wird zu Ressentiments und Konflikten führen). So hat insbesondere Philippe, dessen hartnäckiges Schweigen die anderen so beunruhigte, aus eigener Initiative zum ersten Mal das Wort ergriffen und in humorvoller Art, die der Grundstimmung der Gruppe entsprach, eines der Leitthemen der Walfischgeschichte beigesteuert. Durch seine Intervention bekundete er in diesem Augenblick nicht nur, daß er sich beteiligen wollte, sondern daß auch er die Verantwortung, einer der »Väter« der Gruppe (und eines ihrer Kinder) zu sein, auf sich nahm. 3. Seltsamerweise treten aber die Angst und der Konflikt mit dem Trainer gerade zu dem Zeitpunkt erneut und mit voller Schärfe in Erscheinung, da sie überwunden schienen: das Gerichtsspiel bringt Schuldgefühle an den Tag, die Begeisterung der Gruppe läßt nach, düstere Themen tauchen auf (Selbstmord in der Vilaine, Beerdigung der Walfischin), und vor allem entsteht nach der Walfischgeschichte jenes lange Schweigen voller Traurigkeit. In diesem Moment zerfällt die Einheit der Gruppe; einige bekritteln die Arbeit der Gruppe, andere verteidigen sie und werfen den ersteren vor, sich nicht daran beteiligt zu haben. Von neuem beschäftigt man sich mit dem Trainer: »er interveniert weniger ... «, >>Wir haben das Gefühl, Versuchskaninchen zu sein«, »in Gegenwart von jemandem zu sprechen, der für alles, was man sagt, um jeden Preis eine Bedeutung sucht, ist unmöglich«. Es hat den Anschein, daß er der Gruppe fehlt, gleich jenen, die sich an der Geschichte nicht beteiligten, und daß man ihm deswegen böse ist. In
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diesem Gefühl der Bitterkeit, das dem Trainer wie auch den Unbeteiligten entgegengebracht wird, kommt ohne Zweifel indirekt und in Form von Abwehr das Gefühl eines Mangels zum Ausdruck. Diese negativen Themen sind mit anderen, positiven verflochten, aus denen das Gefühl und der Wunsch, zusammen zu sein, hervorgeht: die jungen Männer in der Gruppe machen den Mädchen den Hof; man schlägt vor, gemeinsam ins Kino zu gehen, verabredet sich zum Besuch einer Creperie. 4. Wie ist die Wiederkehr negativer Themen zu erklären? Drei Erklärungen bieten sich an, die sich übrigens nicht ausschließen, sondern ergänzen. a) Die Gruppe empfindet ein starkes Schuldgefühl gegenüber dem Trainer und den Autoritätsfiguren, die er vertritt; dieses Schuldgefühl steht im Gefolge des Befreiungsaktes, den die Geschichte ihrem Inhalt und ihrer Form nach darstellt und der, wie wir gesehen haben, einer gewissen magischen Autoritätsform ein Ende setzte und daher in einem gewissen Sinn »den Trainer getötet« hat. b) Eine zweite Erklärung ist in der Ausdrucksebene der Geschichte, der Ebene der verbalen Symbolik, zu suchen. Ausdruck auf dieser Ebene ist zwar direkter als auf der Ebene materieller Aktion oder der Zeichnung, aber dennoch nicht so direkt wie auf jener, wo die in der gegenwärtigen Situation der Gruppe erlebten Gefühle zum Ausdruck kommen. Rogers (1961) nennt dies - in bezug auf Psychotherapie - die Ebene der unmittelbaren Erfahrung (experiencing). Dies zeigt, daß die Teilnehmer noch nicht so weit sind, ihre Gefühle in der Weise klar zu äußern, daß sie sie eindeutig mit ihrer gegenwärtigen Situation in der Gruppe und mit ihren Beziehungen zum Trainer und untereinander verknüpfen. Die Rückkehr in den traumlosen Bereich des Gruppenalltags wird von Unbehagen und Angst begleitet, denn letztlich geht es nicht um die Bewältigung affektiver Konflikte von Walfischen, Makrelen und Sardinen, sondern gegenwärtiger Personen. Diese Konflikte sind so stark zum Ausdruck gekommen, daß sie jetzt fast bewußt sind und sich schwerlich beiseiteschieben lassen. Die härteste Arbeit kommt indessen vielleicht erst noch. Das erneute Auftreten von Unbehagen und Angst ist daher untrennbar mit einer Änderungsphase in der Sprache oder Ausdrucksebene der Gruppe verbunden. Nach einer Phase intensiver und tiefgründiger symbolischer Produktion entsteht für die Gruppe die Notwendigkeit, das so produzierte Material »einzuholen«, und dies geht nicht ohne Mühe vor sich. c) Schließlich kann man sich die Frage stellen, ob die Wiederkehr der 46
Angst und der negativen Themen etwas anderes ist als eine Regression auf frühere Zustände der Gruppe, wenn sich darin nicht sogar eine weitere Vertiefung der Angst ausspricht. In dieser Sitzung beschäftigte sich die Gruppe erstmals mit dem Ende des Seminars; die Todesthematik und das minutenlange Schweigen deuten darauf hin, auch das später empfundene, aber nicht eingestandene Gefühl, daß der Trainer und andere Mitglieder nicht da sind. Dies legt den Gedanken an eine Trennungsangst nahe, die noch durch das zunehmende Bewußtsein vom baldigen Ende des Seminars verstärkt wird. Das Todesthema ist natürlich nicht neu, aber seine Bedeutung ist eine andere geworden. Die Atmosphäre, die es umgibt, ist nicht mehr wie zu Beginn der Sitzung voller Gewalt, sondern traurig und deprimiert. Es erinnert eher an einen natürlichen Tod am Ende des Lebens als an einen gewaltsamen auf dem Schlachtfeld. Wäre es denkbar, daß der von der Gruppe gespielte gewaltsame Tod nur eine Andeutung jenes anderen, sehr realen Todes, den die Gruppe in zwei Tagen zu gewärtigen hat, sowie eine Abwehr der ihn begleitenden Gefühle darstellt? Und hätten wir damit nicht eine Antwort auf die weiter oben bei der Kommentierung der Walfischgeschichte gestellte Frage, ob es nicht eine Angst gibt, die der Furcht vor Zerstörung und der Aggressivität zugrunde liegt? Doch wir greifen vor. Diese neuen Themen sich hier nur angeschnitten. Wir halten jedoch die Hypothese fest, denn wir werden sehen, daß sich diese Themen im Laufe der folgenden Sitzungen ausweiten. 5. Wir erinnern hier nur noch an die Umformung der von der Gruppe verwendeten Sprache, auf die wir bei der Analyse des Stils der Walfischgeschichte hingewiesen haben. Die vorherrschende Sprache ist zwar immer noch die der verbalen Symbolik, doch werden die Symbole insbesondere dank des Humors halb-transparent. Das läßt darauf schließen, daß die Gruppe bald auf die Symbolsprache, zu der sie nur noch gelegentlich zurückkehren wird, verzichtet. Sie bereitet sich auf jene Phase vor, in der die Sprache der unmittelbaren Erfahrung dominieren wird. 6. Schließlich noch ein Letztes: der Trainer hat fast völlig darauf verzichtet, Notizen über seine persönlichen Gefühle während der Sitzung zu machen. Es scheint, daß sich seine Unruhe vermindert hat; ohne Zweifel deshalb, weil er der Entwicklung der Gruppe vorgreift. Dies führt zu der bemerkenswerten Feststellung, daß die Unruhe des Trainers dann minimal ist, wenn die der Gruppe stärker als je zuvor ist und dies eben auf Grund der Tiefenkommunikation zwischen Gruppe und Trainer. 47
3. Kapitel 9. Sitzung, Sonntag 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr
16.39Uhr Die Sitzordnung veranschaulicht das Mißverhältnis zwischen der »Trainerseite« (drei Tische stehen in Form eines rechteckigen Blokkes) und der »Gruppenseite«. D•Max Paui•D
Henriette
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Jacques
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Jeannette kommt um 16.42 Uhr
16.45 Uhr Man macht sich darüber lustig, dafS Arthur, der gewöhnlich zwischen
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Anmerkung des Trainers: »Sie müßten fähig sein, positive Gefühle mir gegenüber zu empfinden und auszudrücken.«
Anmerkung des Trainers: ,.wo bleibenAggressionund Wut? Unterdrücke ich sie?«
zwei Mädchen sitzt, sich jetzt zwischen Max und J acques befindet. Lachen. Arthur: »Ich sitze draußen, der Gruppe gegenüber, neben dem Trainer, und das stört mich.«
,.zwei Stunden haben w1r noch zu leben.« »V ersuchen wir zu über leben!«
Der Trainer ist besorgt, ob die Gruppe fähig ist, positive und negative Gefühle ihm gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Er fühlt sich isoliert. Die Gruppe isoliert ihn sogar physisch und empfindet ihn als außenstehend (Arthur). Der drohende Tod; unmittelbar nach der Erwähnung des Trainers.
16.47 Uhr
Francis: »Gehen w1r alle morgen abend Crepes essen?« Henriette: »Wird der Trainer eingeladen? Der Beobachter?« Ein oder zwei Gruppenmitglieder fragen den Trainer: »Werden Sie kommen?« Dieser macht eine wohlmeinende und vage Geste.
]ean: »Der Trainer antwortet durch Zeichen, wie die Indianer.« »Üb man ihn fragen könnte?«
Man will sich versichern, daß die Gruppe fähig ist, zu überleben. Vorsichtig (die Frage Henriettes, dann die von ein oder zwei Mit- · gliedern) geht man an das Problem der Trennung vom Trainer heran. Die Verabredung in der Cr~perie ist eine Art und Weise, den Tod der Gruppe abzuwehren und gleichzeitig dieses Problem indirekt aufzugreifen; dies geschieht auf zweierlei Art: - die Verabredung ist eine auf Oberleben gerichtete Aktivität, die den Tod voraussetzt. - Cr~perie = cr~pe (Eierkuchen) = Trauer (•cr~pe« bedeutet Eierkuchen und Trauerflor; d. 0.). Der Trainer paßt sich der Vorsicht der Gruppe an und gibt eine vage Antwort. Hier ist an die Indianer der Walfischgeschichte zu erinnern. Die Indianer sind die Gruppe, und die spricht in Zeichen. In der Geschichte hätten die Indianer den kleinen Mann beinahe umge-
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bracht, später machten sie die W alfischin zu ihrem Gott.
Max: »Man könnte die Antwort inzwischen wissen.« Während er dies sagt, verbrennt er sich mit einem Streichholz und fällt beinahe von seinem Sessel. ]acqueline: »Der Trainer ist gefallen.« Jemand wiederholt die Frage an den Trainer. Max: »Hat man mich gefragt? Ja? Also gut, ich werde gerne kommen, aber mein Zug geht um 19.05 Uhr.«
Auf diese Weise sagt er der Gruppe: »Ich bin bei euch, aber vergeßt nicht, daß dies nicht für immer ist.« Der Trainer produziert hier übrigens eine bemerkenswerte Fehlleistung, denn sein Zug geht um 18.55 Uhr. Er weiß das genau, da er fast immer mit diesem Zug fährt. Will er seinen Zug versäumen?
16.52Uhr
Bella: »Die Gruppe ist noch nicht gestorben; man muß sie beleben, die Leute müssen miteinander ins Gespräch kommen.« »Gruppe bedeutet, daß alle miteinander reden.« Jean und Jacques schlagen vor, 5 Minuten lang zu schweigen.
In der 4. Sitzung hatte J acques ein Schweigen von 10 Minuten vorgeschlagen. Die Gruppe schwieg damals zweieinhalb bis S Minuten. Diesmal schließtJeansich ihm an.
16.59Uhr Man diskutiert den Vorschlag ein wenig und einigt sich dann auf 5 Minuten. Ein tiefes Schweigen breitet sich 50
Anmerkungen des Trainers während des Schweigens: Glaube - stets den Willen der
aus, das 10 Minuten dauert. Jeder scheint zutiefst davon gefangen. Henriette, Marceline, Jacqueline undJacques haben den Kopf in den Armen vergraben. Die anderen halten den Blick gesenkt. Nach 8 Minuten heben Francis und Jean den Kopf und schauen vor sich hin. Bella hebt den Kopf und schaut alle an. J acques schaut Bella an.
Gruppe akzeptieren - ist es annehmbar, zusammenzusein und sich zu trennen - ins Leben, den Mißerfolg, geworfen zu sein Grenzen, Gewalt, Intellekt, Abwesenheit, Sehnsucht zu beten, Dankbarkeit und Liebe.
17.09 Uhr
Bella: »Nun, was hat euch das gebracht?« Jacques stellt fest, daß das Schweigen 10 Minuten gedauert hat. Man beginnt reihum zu sagen, was jeder während des Schweigens empfunden hat. Bella: >>Ich habe nicht an die Gruppe, sondern an meine persönlichen Probleme gedacht; ich war vollkommen allein; das Schweigen wurde unerträglich, deshalb habe ich es gebrochen.<< Francis: >>Das ist eine Ablehnung der Kommunikation. Ich kann nicht allein an die Probleme der Gruppe denken.<< Francis wirft Jacques und Jean vor, das Schweigen gewollt zu haben, um die Gruppe auf ihrem Weg zu stoppen. Eliane, Arthur, Jacques und J ean werden übersprungen. 17.14 Uhr
]eannette: »Ich habe mich erholt; ich verspürte Ruhe.<< Philippe gibt das Wort an Jacqueline weiter. facqueline: »Ich bekam Angst; ich 51
hatte das Gefühl, verstoßen, allein zu sein.« Bella: »Diese Bindungen sind wertlos; es ist nichts dabei herausgekommen. Wir haben uns ein Theater vorgespielt.« Marceline spricht mit leiser Stimme und einem leiderfüllten Ausdruck im Gesicht: »Ich habe weder die Gruppe noch den einzelnen gefunden. Mir reicht's!« Henriette: »Mir war es recht, daß man das Schweigen vorgeschlagen hat. Ich habe an nichts gedacht, ich hatte einen leeren Kopf.« Paul: »Ich wiederhole, was schon andere gesagt haben. Das Schweigen war eine Form des lnsichgehens, eine Rückkehr zu sich selbst. Ich habe es nicht als qualvoll empfunden. Ich fragte mich, wer es beenden würde und warum. Ich verspürte eine gewisse Unzufriedenheit mit dem, was bisher geschehen ist.« ]ean-Marc, mit leerem Gesichtsausdruck: »Ich habe dieses Schweigen mit ähnlichen Situationen des Schweigens verglichen, etwa, wenn ich allein im Wald war. Es ist dasselbe. Ich ließ an mir vorbeiziehen, was ich in den verschiedenen Gruppen, in denen ich lebte, erfahren habe. Sie hatten alle eine künstliche Atmosphäre, und ich selbst war künstlich, eine Maske. In der Gruppe hier kann ich das feststellen, denn wir sind über das übliche hinausgekommen. Wir mömten mehr erreichen, aber es gelingt nimt. Nimmt man die Masken ab, ist nichts dahinter. Odile: »Ich habe an mich gedacht.«
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»verstoßen«: Jacqueline wollte sich in der 7. Sitzung von der Gruppe trennen.
Max: »Das Schweigen wurde von allen respektiert - alle haben wir uns ein wenig allein gefühlt.« Bella: »Ich war anfänglich gegen das Schweigen; ich hätte gerne etwas gesucht, ein tieferes Band, das uns zusammenhält. Das Schweigen hat diese Hoffnung ein wenig zerstört.« 17.24 Uhr ]acqueline: »?« X (vielleicht Jacqueline): »Mir wird etwas klar.« Jacques setzt sich außerhalb des Kreises nieder. Eliane: »Ich hätte als eine der ersten sprechen sollen - ich habe das Schweigen nicht als qualvoll empfunden - ich habe mich allein gefühlt.« ]acques: »Was soll das bedeuten, was wir nun seit zwei Tagen geredet haben, wenn wir immer noch allein sind?« ] ean (?): »Wir waren alle zusammen im Schweigen, nichts zwang uns dazu.« Max: »Die einzige Art und Weise des Zusammenseins ist allein zu sein und zu schweigen, sagt Jean.«
Das Schweigen, das die Gruppe soeben erlebt hat, stellt eine fundamentale Erfahrung dar, die von der Gruppe vorbereitet wurde und gegen die sie sich von Anfang an wehrte. Beachtenswert ist der in höchstem Maß kollektive Charakter des Schweigens. Es schweigt nicht nur jeder sehr lange Zeit (bekanntlich dauert bei einer Zusammenkunft ein Schweigen von einer oder zwei Minuten schon sehr lange), sondern
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jeder überläßt sich auch ganz diesem Schweigen, wie das äußere Gehaben, der Gesichtsausdruck und die nachfolgenden Kommentare erkennen lassen. Außerdem wurde diese seltsame »Entscheidung« ohne Mühe und ohne Rechtfertigung, praktisch ohne Diskussion getroffen, als ob sie einem allen gemeinsamen augenblicklichen Bedürfnis entsprochen hätte. Weiche Bedeutung hat dieses Schweigen? Analysieren wir zunächst die Kommentare. Ein Thema kehrt nahezu einstimmig wieder: das Schweigen war eine Erfahrung der Einsamkeit (»vollkommen allein«, »ganz allein ... denken«, »allein im Walde, »ich habe an mich gedacht« usw.). Für viele war dieses Schweigen eine Erfahrung der Ablehnung: Ablehnung durch die anderen, Zurückweisung (d. h. Verweigerung der Kommunikation, »zurückgestoßen werden«), aktive Ablehnung der anderen oder Negation der Beziehungen zu ihnen (»diese Bindungen sind wertlose, »ich habe weder die Gruppe noch den einzelnen gefunden«), Ablehnung selbst der Erfahrung (»unerträglich«, »ich bekam Angst«, »ich wollte das Schweigen nicht«, »mir reicht es«). Andere empfanden hingegen Entspannung (»ich habe mich erholt; ich verspürte Ruhe«, »mir war es recht«, »nicht qualvolle), Es ist festzustellen, daß es sich dabei um Mitglieder handelt, die sich für gewöhnlich verbal ziemlich wenig beteiligen (J eannette, Henriette, Paul, Eliane, vielleicht Odile). Es gibt zumindest dem Anschein
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nach zwei verschiedene Modalitäten der Erfahrung (Spannung, Entspannung). Manche Themen kommen jedoch bei den Vertretern beider Tendenzen zum Ausdruck und verleihen so der Erfahrung eine gewisse Einheitlichkeit. Die Einsamkeit ist eines dieser Themen. Ein weiteres Thema ist das Nichts, die Leere. Henriette sagt: »ich habe an nichts gedacht, ich hatte einen leeren Kopf«. Jean-Marc: »nimmt man die Masken ab, ist nichts dahinter«. Marceline: »ich habe den einzelnen nicht gefunden ... «; Bella: »es ist nichts herausgekommen«; Jean: »nichts zwang uns dazu«;Jacques: »Was soll das ... ?« Dieses Nichts haftet der Gruppe ebenso wie den einzelnen an. Es gibt weder Gruppe noch· einzelne, sagt Marceline. Bindungen der einzelnen untereinander gibt es nicht, denn Bindungen erscheinen als illusorisch; das Individuum ist allein, doch diese Einsamkeit ist ein Nichts, denn die individuelle Person ist nichts weiter als eine Reihe von Rollen und Masken, die ihre Leere verbergen sollen. Individuelles wie soziales Leben erscheinen als Illusionen, die einander stützen. Ein letztes Thema, das mit den vorhergehenden zusammenhängt, ist denn auch das der radikalen Unechtheit der Existenz (»die künstliche 1 Atmosphäre aller Diese Bemerkung beleuchtet die Gründe, weshalb Basisgruppen von den Teilnehmern als etwas Künstliches erlebt werden. Deshalb nämlich, weil sie das fundamental »Künstliche« der Existenz potentiell sichtbar machen. Die Trainer werden oft durch die Frage in Verlegenheit gebracht: »Ist eineT-
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Gruppen, in denen ich gelebt habe«, »Wir haben uns ein Theater vorgemacht«). Paradoxerweise offenbart sich die Unechtheit der Existenz jedoch inmitten einer Erfahrung, die mehr oder weniger klar so sehr als authentisch erlebt wird, daß sie im Rückblick alle anderen Erfahrungen erhellt (»In der Gruppe hier kann ich das feststellen, denn wir sind über das Übliche hinausgekommen«, »mir wird etwas klar«). Auffallend ist die Bestimmtheit, mit der dies mehrere erklären, als wäre ihnen die Offenbarung von etwas Absolutem zuteil geworden. So wird die Erfahrung des Schweigens von der Gruppe als eine zutiefst negative erlebt: Einsamkeit, Verlassensein, Ablehnung der anderen, Fehlen von Bindungen, Unechtheit, Leere, Erfahrung des eigenen Nichts und des Nichts der Gruppe. Hier gerät die Gruppe auf den Grund ihrer Verzweiflung, denn es ist eine absolute Verzweiflung.
Gruppe nicht etwas Künstliches?«. Im allgemeinen antworten sie darauf, die Bedingungen der T-Gruppe machten diese zwar zu einer künstlichen Gruppe, gleichzeitig würden diese Bedingungen aber die Aufdeckung für gewöhnlich verborgener Aspekte der Funktionsweise »realer« (im Sinne von permanenten, alltäglichen) Gruppen ermöglichen. Diese Antwort ist unvollständig und unbefriedigend. Sie tut so, als wäre c:fie alltägliche Gruppe, die man fälschlich als reale Gruppe bezeichnet, eine Art »privilegierter Realität«, und man fragt sich mit Recht: wozu dann noch T-Gruppen? Trotzdem verzichtet man nicht auf sie. Die Bedingungen der T -Gruppe sind kein experimentelles Artefakt. Wir für unseren Teil sind vielmehr davon überzeugt, daß gerade die sogenannten »realen« Gruppen einen durchweg künstlichen Charakter aufweisen. Indem die T -Gruppe oder Basisgruppe diesen Charakter bewußt und sichtbar macht, ermöglicht sie dessen Überwindung. Sie ist in einem gewissen Sinn die am wenigsten künstliche und die am meisten reale Gruppe.
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Sie ist nicht mehr - wie vorher an den oder jenen Aspekt der Erfahrung gebunden, der als Ursache in Frage kommen könnte (die Persönlichkeit eines Mitgliedes oder die eigene, irgendein vergangenes Ereignis), sie ist vielmehr ohne Ursache, untrennbar mit der Erfahrung selbst und der Existenz gegeben. Erfahrung und Existenz sind in ihrem Wesen V er::weiflung, und sie sind es, die nun Erfahrungen, die seinerzeit unbeschwerter erschienen sein mochten, in ihr düsteres Licht hüllen. Die fundamentale Erfahrung der Gruppe wird mithin als eine unmittelbare erlebt. Wir meinen damit, daß sie ihren Sinn aus sich selbst erhält und nicht aus einem äußeren, individuellen oder gruppenhaften Umstand bezieht, der in die Vergangenheit, Zukunft oder die Umwelt der Gruppe projiziert wird. Dies ist ein wichtiger Punkt der Theorie, den wir schon angedeutet haben und auf den wir zurückkommen werden. Diese unmittelbare Erfahrung wird wesentlich als individuelle und negative erlebt. Hier tritt jedoch der Widerspruch offen zutage: Wie wir gesehen haben, wird die Einsamkeitserfahrung von allen einhellig, in selbstverständlicher und zwangloser Einstimmigkeit, geteilt. Was manche als Ablehnung, Spannung, Unvermögen, sie selbst zu sein, empfinden, erfahren andere als Entspannung, als eine Form des Insichgehens, als Möglichkeit, sich auszudrücken. Die Gefühle der Unechtheit, des Nichts, tun sich in
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einer Erfahrung kund, die wie eine Evidenz, eine absolute Realität erscheint. Die Mitglieder der Gruppe entdecken also in einem und als untrennbares Ganzes: Einsamkeit und Gemeinschaft, Ablehnung der Beziehung, Abwehr seiner selbst und Selbstausdruck, Unechtheit und Wahrheit, Bedingtes und Absolutes, Leere und Fülle, Nichts und Sein. Sie entdecken dies nicht als unerklärbares Nebeneinander von Gegensätzen, sondern als dialektische Einheit. In der Einsamkeit erlebt man die Gemeinschaft; in der Erfahrung der Ablehnung entsteht die Bindung; die Erfahrung der Unechtheit ist Wahrheit. Es ist also nicht die früher oft gemachte Erfahrung des Konflikts zwischen kontradiktorischen Tendenzen, die einander entgegenstehen, sondern vielmehr eine Erfahrung der Einheit und Versöhnung der Gegensätze. In dieser Erfahrung überwindet die Gruppe radikal die Entfremdung, indem sie die Angst vor Einsamkeit und Trennung annimmt. So ermöglicht sie eine echte Kommunikation in der Angst und durch die Angst. Gleichzeitig hebt die Gruppe die Identifikation mit dem Trainer auf. Er wird nirgends genannt; aber dieses eine Mal bedeutet das nicht Abwehr, denn die Gruppe hat sich aus der mythischen Bindung gelöst, die sie mit dem Trainer vereinte und die aus der nicht akzeptierten Angst gewirkt war. Jetzt steht jeder allein dem Trainer wie auch den anderen gegenüber.
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Gewiß beherrscht an dem Punkt, an dem wir uns befinden, die negative Kehrseite der Paradoxie das bewußte Leben der Gruppe. Die positiven Aspekte, die manchmal schüchtern geäußert werden (•mir wird etwas klar«; .. wir haben alle das Schweigen respektiert«; »Entspannung«; »Ruhe«), werden eher erlebt, denn bewußt symbolisiert. Aufgabe des Trainers wird es sein, die Aufmerksamkeit der Gruppe auf die paradoxen Aspekte ihrer Erfahrung zu lenken, um ihr deren vollständige Verarbeitung zu ermöglichen. Er hat mit Hilfe der Gruppe auch schon damit begonnen: »Wir haben uns alle ein wenig allein gefühlt«; »wir waren alle zusammen im Schweigen«; »die Konvergenz«; »ablehnend verhalten wir uns alle mehr oder weniger« (Bemerkungen von Max, Jean, X, Jacques). Vergleieben wir schließlich dieses Schweigen mit einem anderen, ebenfalls frei gewollten, mit dem am Ende der 4. Sitzung. Nach jenem Schweigen war die Gruppe nicht in der Lage, über das zu sprechen, was sie während des Schweigens empfunden hatte. Es war eine wirklich unaussprechliche Erfahrung, denn sie war zu jenem Zeitpunkt zu tief, als daß die Gruppe sie erfaßt hätte. Die unmittelbar folgenden Kommentare bezogen sich auf eine entferntere oder unbestimmtere Erfahrung, auf die Gruppe im allgemeinen oder die Walfischgeschichte, die kurz zuvor erzählt worden war: •traurig steht's um uns«; »dumm ist das«; »sehr gut haben wir uns
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unterhalten«; »ich finde, daß wir uns alle langweilen«. Keiner dieser Kommentare drückte klar und deutlich das Gefühl der Einsamkeit aus, obwohl einige davon auf sie angespielt haben mögen (»traurig steht's um uns«; »wir langweilen uns«). Andere brachten Schuldgefühle oder die Verneinung der Erfahrung :~:um Ausdruck (»gut haben wir uns unterhalten«), aber es handelte sich um eine unbewußte Verneinung, die sehr wohl zu unterscheiden ist von der Erfahrung der Ablehnung, die in dieser Sitzung gemacht wird {»unerträgliches Schweigen«; »ich wollte es brechen«). Unmittelbar nach den Kommentaren begannen die Mitglieder, sich gegenseitig und den Trainer anzugreifen; sie kritisierten die verurteilende Haltung von einigen, die den freien Ausdruck behinderte, und die Interpretationen des Trainers, die einem das Gefühl, V ersuchskaninchen zu sein, gegeben hätten. Gleichzeitig hatte Jean die Frage gestellt: •sind wir nicht hier, um die Masken abzunehmen?«. Alles das findet nun seine Erklärung durch das Schweigen der jetzigen Sitzung. Der Angriff auf den Trainer und die gegenseitigen Angriffe der Mitglieder sind weitere Formen, die Erfahrung des Schweigens abzulehnen. Weil die Gruppe nicht wahrhaben wollte, daß hinter den Masken nichts ist und daß die Beziehung zu den anderen Einsamkeit und Zurückweisung bedeutet, sträubte sie sich gegen die Erfahrung, und es kam unter den Mitgliedern zu Anklagen und Angriffen. Weil sie nicht bereit war,
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Es geht um »Konvergenz«, darum, »den anderen zu entkommen«, »sein eigener Gefangener zu sein«. ]ean zu Jacques (?): »Du lehnst alles ab.« ]acques zu Jean (?): »Das tun wir doch alle mehr oder weniger.«
sich mit dem Nichts und der Einsamkeit auseinanderzusetzen, spielte sie ihre Leere und Einsamkeit. Den Beweis dafür erblicken wir in der Tatsache, daß im Schweigen der jetzigen Sitzung das Gefühl der Einsamkeit, die Ablehnung der Erfahrung, die Ablehnung der anderen usw. empfunden worden sind. Gleichzeitig sind sie aber auch - teilweise wenigstens überwunden worden. Kurz: die vorausgegangene Erfahrung des Schweigens konnte die Gruppe noch nicht bewußt oder nur bruchstückhaft und sehr indirekt akzeptieren. Die Einheit der Gruppe wurde im damaligen Schweigen zwar empfunden, blieb aber unaussprechbar und wurde vorsichtshalber sofort mit einzelnen Streitereien verdeckt, in denen sich aber noch wie von ferne diese Einheit widerspiegelte. Dennoch hatte die Gruppe damals wie in einem Traum ihren Sinn und ihre Zukunft im vorhinein erfaßt und daraus ohne Zweifel Kraft für ihren weiterenWeg geschöpft. Jedes frühere Schweigen erscheint somit als ein tiefes Untertauchen im Unbewußten der Gruppe, der Quelle ihres Lebens und ihrer Einheit. Dort bilden, ändern und verbinden sich Sinnzusammenhänge, dort werden Energien freigesetzt und dort entstehen die Tiefenströmungen ihres Lebens.
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Max: »]acques sagt zu Jean, daß eine Bindung abzulehnen bedeutet, gebunden zu sein.« X zu Y (vielleicht Jacques): »Du weißt nicht, was du akzeptieren sollst.<<
X: »Die Gruppe ... « 17.45 Uhr ]ean-Marc: »Ich werde allergisch gegen das Wort Gruppe; ich will das Wort Gruppe nicht mehr hören! Sagen wir doch >ihr<, >ich
Dialog, von dem nur Bruchstücke erhalten sind: »Ich hatte nicht den Eindruck.« »Ich interessiere mich für euch ... « »Man kann weitermachen ... « »Das sind nicht mehr sie, sie haben sich ihrer selbst entledigt ... « »Das ist vielleicht gar nicht wirklich, sondern Schein.« 17.50 Uhr ]eannette: »Ich habe es nicht mit wirklichen Personen zu tun, sondern
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Ein für J ean-Marc bezeichnender Gefühlsausbruch. Er möchte aus der Anonymität heraus. Die Gruppe als Mythos, die über die Identität eines jeden einen Schleier legte, ist in der Erfahrung des Schweigens verschwunden. Die Gruppe ist kein Magma mehr, sie besteht aus Beziehungen autonomer Individuen. Es überrascht nicht, daß gerade Jean-Marc diese Reflexion anstellt, er hat ja während des Schweigens das Gefühl der Unechtheit besonders stark empfunden.
mit Scheinbildern, mit Karikaturen; ich kenne einfach die nicht wieder, die ich vorher kannte.« Jacques: »Wir sind nicht bis zum Äußersten unserer Aggressivität gegangen. Ich ziehe mich vor Fremden nicht aus!« 17.53 Uhr ]ean: »Ist es nicht möglich, daß die Kommunikation am Geschlecht scheitert: zwei verschiedene Denksysteme?« Max: »Ich habe den Eindruck, man fragt sich, ob man da ist oder nicht. Gibt es etwas oder nichts? Sind die Personen nichts, dieses Nichts - sind das Personen? Man sagt, man fühlt sich wohl, fühlt sich schlecht, man ist zusammen, man ist allein; wir wollen Zusammensein, wollen es nicht.« Henriette: »Arthur, schläfst du?« Arthur: »Fast.« Henriette: »Dieses Thema ist ermüdend.« Max: »Und die Version?«
Max, ohne Zweifel als Interpretation einer Antwort Henriettes an Arthur: »Mach dich ein bißeben müde.«
Diskussion über dieFrage:Wasbleibt übrig, wenn man die Puppen auszieht? Das bloße Drahtgestell, aus dem wir gemacht sind? Antwort: Man ist nackt, aber die an-
Diesen ganzen Abschnitt kennzeichnet der Eindruck, daß alles fremd und neu geworden ist. Die Gruppenmitglieder machen die Augen auf und erkennen sich nicht wieder. Das rührt vom Gefühl der Entfremdung her, dessen sie sich während des Schweigens so nachhaltig bewußt geworden sind. Nun, da diese Entfremdung plötzlich geschwunden ist, erkennen sie weder die anderen noch sich selbst wieder. Andererseits ist die Erfahrung, die sie gerade machen, zu neu, um sie bewußt vollziehen zu können. Frei von Entfremdung sind sie da, ohne zu wissen wie und warum, haben aber keinen Bezugsrahmen, ihre Präsenz zu rechtfertigen oder zu beschreiben. Sie ist eine Tatsache, die vorerst nur erlebt, aber nicht ausgedrückt werden kann. Das Wortspiel des Trainers war spontan und entsprach keiner klar bewußten und präzisen Hypothese. »Thema«, »Version«, Übersetzung, Übungen zum Erlernen einer Fremdsprache, können mit dem Prozeß der Oberwindung von Entfremdungen, den die Gruppe soeben durchlebt, in Zusammenhang gebracht werden.
Die Gruppe analysiert den Prozeß der Entfremdung. Ein jeder
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deren sehen einen nicht so (ich bin nackt vor mir selbst). Die eigene Persönlichkeit ist eine Funktion der anderen. Ist man so wie man glaubt zu sein, oder so wie einen die anderen sehen? ]acques: »Das Bild, das ich von mir habe, entspricht meinen geheimen Wünschen.« Philippe: »Das Bild, das du von dir hast, schließt das Bild, das sich die anderen von dir machen, ein.<< Max: »Es sind Bilder.« ]ean-Marc(?): »lchbinnichtsmehr!« ]acqueline: »Wollt ihr so bis halb sieben weitermachen? Wir sollten das lassen.« ]acques: »Man hat mich für ein Einzelkind gehalten. Das ist komisch, denn wir sind vier Geschwister. Ich frage mich, warum?« Marceline: »Suchst du einen Spiegel?« Eliane: »Hast du deshalb den deinen herausgeholt?« - Ziemlich aggressive Kommentare in bezug auf Jacques.
18.18 Uhr Max: »Vielleicht sind noch andere hier, die gerne einziger Sohn sein möchten.«
X: »Man möchte gerne wissen, was die anderen von einem denken.«
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wird sich bewußt, daß er wie ausgegossen ist, daß sich ein Teil seiner selbst bei den anderen befindet.
J acques versucht, einen besonderen Aspekt seiner Beziehung zu den anderen sowie seiner Entfremdung in ihnen zu überprüfen. Gleichzeitig führt er damit ein für die Gruppe sehr bedeutsames Thema ein: das des einzigen Sohnes. Der einzige Sohn ist in einer exklusiven Beziehung zu den Eltern isoliert bzw. isoliert sich selbst in einer solchen Beziehung (vor allem, wenn er Brüder und Schwestern hat). Er ist das Symbol der Selbstabkapselung, des Narzißmus und der Weigerung, sich den anderen zu öffnen. Die Gruppe erteilt Jacques in dieser und in den folgenden Sitzungen die Antworten, die er erwartet, in ziemlich grober Art. Das liegt einerseits an dem von ihm aufgebrachten Thema: die Abhängigkeit vom Trainer ist erst vor ganz kurzer Zeit und nur unvollständig überwunden worden. Andererseits durch3chaut die Gruppe
Jacques, der gerade durch die Art und Weise, wie er die Frage stellt, eine besondere Aufmerksamkeit für sich zu beanspruchen sucht: er möchte der »einzige Sohn« des Trainers und der Gruppe sein. 18.25 Uhr
Max: »Es scheint, daß wir uns fragen, wer wir sind. Sind wir die Bilder, die sich die anderen von uns machen, oder etwas anderes? Wir haben das Bedürfnis, eine Probe zu machen, als empfänden wir den Wunsch, das zurückzuholen, was von uns draußen ist. Vielleicht ist es auch der Wunsch, uns dessen zu entledigen, womit uns die anderen bombardieren.« ]ean: »Ich habe nicht hingehört, was er gesagt hat. Ich bin allergisch gegen alles, was er sagt.« X: »Ich war entschieden dagegen ... « Y zu Z: »Du bist unfähig, dich für andere Leute zu interessieren.«
Jean-Marc ist aufgestanden. Jacques steht auf und schreibt rätselhafte Gleichungen an die Tafel: Pferd =Vogel Elster Kuh. Jean-Marc geht zu ihm hin. In der Gruppe wird leise gesprochen.
Soeben war Jean-Marc gegen das Wort »Gruppe« allergisch. Jetzt ist es J ean gegen die Interventionen des Trainers. Das Wort ,.Gruppe« sowie der Trainer symbolisieren die Abhängigkeit und Entfremdung, von denen man sich ja befreien möchte. Man ist nicht völlig in der Lage, mit der eigenen Abhängigkeit in Beziehung zum Trainer zu treten und so isoliert man sich von ihm.
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Max: »Du bist auch einziger Sohn!«
18.32 Uhr Arthur und Bella sprechen miteinander. 18.35 Uhr
Max: »Die Zeit ist um.«
Wir wissen nicht mehr, an wen diese Bemerkung gerichtet war. Der vorausgegangene Wortwechsel hätte sie ohne Zweifel erklärt, aber der ist uns nicht erhalten. Diese ganze Phase ist ziemlich verwirrt, vor allem seit der Frage Jacques' über den einzigen Sohn. Sie ist gekennzeichnet durch Aggression, äußere Unruhe (Platzwechsel), Rückkehr zur Symbolsprache, Ablehnung des Trainers. Dies hängt wohl mit der Schwierigkeit der Gruppe zusammen, all das in die bewußte Erfahrung aufzunehmen, was das Schweigen enthielt, besonders die Oberwindung der Entfremdung, namentlich der Entfremdung dem Trainer gegenüber. Für die Interpretation der Gleichungen stehen uns nicht genug Informationen zur Verfügung.
Kommentar
In dieser Sitzung erreicht die Gruppe die tiefste Ebene ihrer Erfahrung. Erfüllt vom Bewußtsein ihres baldigen Todes und des Abbruchs der Beziehungen {»zwei Stunden haben wir noch zu leben«, »versuchen wir zu überleben«) versucht die Gruppe verzweifelt, echte Beziehungen unter den Mitgliedern herzustellen. Es gibt noch ein letztes Geplänkel gegen die Angst, einen letzten Versuch, wenigstens oberflächlich Bande zu knüpfen, indem man ein »weltliches« Treffen in der Creperie organisiert, zugleich letzte Hoffnung vor dem Sturz in den Abgrund. Dann überläßt sich die Gruppe der Angst und versinkt in einem tiefen und langen Schweigen. Das Schweigen wird als unabänderliche Einsamkeit erlebt, als Ablehnung durch die anderen und der anderen, als Erfahrung des Nichts, als ein Ergriffenwerden von der Unechtheit der Existenz. Dennoch empfinden es nicht alle Mitglieder gleich: für die einen ist es unerträgliche Spannung, für die anderen Entspannung und Ruhe. Diese Erfahrung wird als unmittelbare erlebt, die ihre Gültigkeit in
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sich selber trägt und diese im Nachhinein auf das gesamte Leben jedes einzelnen zurückprojiziert Sie läßt sich nicht mehr durch eine ihr äußerliche Gegebenheit erklären (z. B. die eigene Persönlichkeit oder die der anderen) und ist daher auch keine bloß partikuläre Erfahrung. Sie betrifft nicht mehr nur diesen oder jenen Aspekt der Existenz, sondern die Existenz als solche. Es ist deshalb eine Erfahrung, über die hinaus es keine andere mehr gibt. Die Gruppe, d. h. jedes einzelne Gruppenmitglied fällt hier beinahe total mit seiner Erfahrung zusammen. Dieses Schweigen bildet eine Art Umkehr in der Entwicklung der Gruppe. Tiefer wird und kann sie nicht gehen. Die im Schweigen durchlebte Erfahrung wird so etwas wie ein ständiger Bezugspunkt bleiben, ein Fundus, den die Gruppe ausbeuten und dem sie noch andere Sinngehalte entnehmen wird, als sie ihm unmittelbar gegeben hat; diese Erfahrung abzulehnen oder sie hinter sich zu lassen, wird der Gruppe nicht mehr möglich sein. Die Arbeit der Gruppe wird fortan darin bestehen, den Sinn zu finden, den diese Erfahrung für jeden einzelnen hat. Die Erfahrung des Schweigens ist in der Tat bei weitem nicht in ihrer Ganzheit von der Gruppe bewußt erfaßt worden. Die Gruppe hat sie zwar als eine absolute Erfahrung der Negativität erfaßt, vermochte aber nicht klar zu sehen, was sie spürte, daß sie nämlich gleichzeitig und paradoxerweise auch die Erfahrung einer Positivität war: die Einsamkeit wurde ohne Schwierigkeit und einhellig von allen geteilt, die Unechtheit tat sich in einer echten Erfahrung kund, und die Individualität fand endlich ihre Mitte und ihre Ruhe fern der Masken, die sie sich sonst aufsetzt. Einmal mehr hat die Gruppe nun erlebt, was sie früher nur angekündigt hatte. Im Schweigen verwirklicht sich diesesmal eine Vereinigung (von der die Gruppe im Verlauf der vorhergehenden Sitzung gesprochen hatte); auch die Abweisung des Trainers und das positive Glück waren symbolisch schon in der Walfischgeschichte gegeben. Eine schwierige Frage, die das Schweigen aufwirft, ist die nach der Beziehung zum Trainer. Sie wird in den auf das Schweigen folgenden Kommentaren bis zum Ende der Sitzung nie erwähnt. Besagt dies wieder einmal Abwehr? Soll auf diese Weise unbewußt das Trainerproblem aufgerollt werden? Oder hat die Gruppe ihre Entfremdung vom Trainer wirklich überwunden? Unserer Meinung nach trifft beides zu, oder vielleicht sprechen wir besser - um einem Widerspruch aus dem Weg zu gehen - von einer potentiell aufgehobenen Entfremdung. 67
Indem sich die Gruppenmitglieder der Angst vor Einsamkeit stellen, befreien sie sich zwar radikal und nehmen eine direkte Beziehung zu sich selbst und den anderen auf, ohne einen mythischen Trainer einzuschalten, der ihre Angst widerspiegelt. Sie befreien sich somit vom Trainer. Aber sie befreien sich nur unvollständig von ihm. Die Einsamkeit »mit« dem Trainer, die Trennung vom Trainer sind drückender und schmerzlicher als gegenüber den anderen Mitgliedern der Gruppe. Sie nehmen das nicht zur Kenntnis. Sie vermögen ihren Schmerz, sich vom Trainer zu trennen, ihre Liebe zu ihm und ihre Abhängigkeit von ihm nicht zuzugeben. Dadurch bleiben sie seine Gefangenen. Indem sie die besondere Rolle, die der Trainer spielt, nicht anerkennen, erhalten sie sie ihm. So gesehen bedeutet das Schweigen nicht nur eine reale Erfahrung der Trennung und Vereinigung der Mitglieder, sondern auch eine unausgesprochene und stille Trauer um den Trainer. Sie »sind um den Altar vereint«. Die Liebe zum Trainer bleibt somit eine Art letzter Zuflucht. Die Gruppenmitglieder erhalten sie sich als Zeugen ihrer vergangeneo Entfremdung. Erst später werden sie versuchen, sich davon freizumachen. Es hätte sich auch ein anderer, logischerer Prozeß vorstellen lassen, in dem das ausdrückliche Eingeständnis der Liebe zum Trainer und das Aufgeben der Identifikation der radikalen Entfremdungs-überwindung und der Konfrontation mit der ursprünglichen Angst vorausgegangen wären. Dies erwartete sich der Trainer in etwa am Ende der 8. Sitzung, und das erklärt zum Teil auch seine beiden Anmerkungen am Beginn dieser Sitzung, in denen seine Beunruhigung darüber zum Ausdruck kommt, daß eine- positive oder negative- Reaktion der Gruppe auf ihn ausbleibt (»sie müßten fähig sein, positive Gefühle mir gegenüber zu empfinden und auszudrücken«; »WO bleiben Aggression und Wut? Unterdrücke ich sie?«). In einem solchen Prozeß wäre man vom Abbau der oberflächlichsten Abwehrhaltungen zumAbbau der tiefsten vorangeschritten, von der Oberwindung der Identifikation zu der der Entfremdung. Statt dessen scheint die Gruppe einen direkten Weg gewählt zu haben: sie eilte sofort zum Kern des Problems, um dann zurückzukehren und die Aufgabe zu Ende zu führen. Es gäbe natürlich noch eine andere, psychoanalytische Erklärung. Ihr zufolge würde die Liebe zum Trainer sehr wohl die tiefste Ebene darstellen. Sie wäre nicht das Ergebnis einer Entfremdung in der Gruppe und der Trainer wäre nicht jene mythische, zugleich furchterregende
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und schutzbietende Janusgestalt, auf deren zwei Gesichtern sich die Angst der Gruppenmitglieder widerspiegelt, mit ihrer Trennung, ihrer Begegnung, ihrer Begegnung-in-der-Trennung konfrontiert zu sein. Die Liebe zum (väterlichen) Trainer wäre vielmehr - im Sinne Freuds- der Ursprung der Bindungen unter den (brüderlichen) Mitgliedern. Trennen und hassen würden sich die Mitglieder, weil sie diese Liebe je für sich allein beanspruchen wollten; ihren Haß aufgeben und sich vereinigen würden sie »eines Tages«, um sich die Liebe zu erhalten. Die Erfahrung des Schweigens wäre dann hier eine Art äußerster Warnung, eine Abwehr gegen das Verschwinden der Liebe zum Trainer, welches das Ende der Gruppe nach sich zieht. Wie man sieht, sind die beiden Erklärungen symmetrisch. Die authentische Liebe unter den Mitgliedern und die Liebe zum Trainer sind abwechselnd einmal Abwehr und einmal Grunderfahrung. In Wahrheit liegen die beiden Schemata nicht auf derselben Ebene. Das Freudsche Schema ist genetisch, das unsere existentiell (oder ontologisch). Gewiß ist, genetisch gesehen, die Elternbindung das erste. Die Entfremdung in der Vaterfigur wird sich auch erst zuletzt reduzieren lassen (das wird in unserer Gruppe an der Person des Trainers verifiziert). Die anderen Bindungen zu den Autoritätsfiguren oder zu Gleichrangigen (geschwisterliche Beziehungen) werden, historisch gesehen, sicher Umformungen der ersten sein. Es muß jedoch die Elternbindung selbst erklärt und analysiert werden. Für die Psychoanalyse ist sie ein opakes Faktum, Urmanifestation einer nicht weiter analysierbaren Libido, die insofern unter-menschlich ist, als ihr keine Bedeutung (signification) zukommt. Hier verlassen wir die historische Methode der Psychoanalyse, der wir für ihren Bereich Gültigkeit nicht absprechen wollen. Wir versuchen, die der Elternbindung zugrunde liegenden und sie begründenden Bedeutungszusammenhänge zu erforschen. Die Elternbindung wird sich demnach als impliziter und unvollkommener Ausdruck permanenter Bedeutungen (Bindung, Trennung, Angst usw.) erweisen. Ihre sukzessiven Wandlungen werden nicht bloße historische Modifikationen sein, in ihnen treten immer deutlicher die zugrunde liegenden Bedeutungsgehalte zutage. Wir glauben, nur so die verschiedenen Formen der Beziehung und ihrer Umwandlung richtig verstehen zu können. Die Psychoanalyse zeigt uns, wie die eine Beziehungsform Abwehr einer früheren sein kann, z. B. Narzißmus als Abwehr der oralen Angst, Geschwisterbeziehung als Abwehr der Elternliebe. In unserer Sicht sind jedoch selbst die ursprünglichsten Beziehungsformen, etwa die Beziehung zur Mutter, nicht eine Abwehr anderer historischer Erfahrungen, sondern eine Abwehr
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der in dieser Beziehung erlebten impliziten Bedeutungsgehalte. Für den Psychoanalytiker mögen die am spätesten entwickelten Beziehungsformen den am meisten ausgebildeten Abwehrreaktionen gleichkommen (Sublimierung, wechselseitige Sozialbeziehung usw.). Für uns hingegen bringen sie die tiefste und die am wenigsten abwehrende Ebene der Beziehung in ihrer historischen Entwicklung insgesamt zum Ausdruck. Unser Standpunkt beruht letztlich auf der Hypothese, daß das menschliche Verhalten von Anfang an Sinn trägt und daß seine Entwicklung darin besteht, daß seine impliziten unsichtbaren Bedeutungsgehalte aufgedeckt werden. Dann wird verständlich, daß Zuflucht - für den Psychoanalytiker eine primitive Beziehung - für uns eine Abwehr darstellt 2. Die mythische Liebe zum Trainer, Symbol vergangenen Schutzes, ist, um auf unsere Gruppe zurückzukommen, sehr wohl eine Zuflucht für die Gruppe, die sie erst als letzten Ausweg (und dann nur teilweise) aufgeben wird. Die Kommunikation unter den Mitgliedern und ihre gegenseitige Liebe, die sich im Schweigen anbahnen, bedeuten eine Abwehrreaktion gegen den (historischen) Verlust der Liebe zum Trainer. Die psychoanalytischen Analysen der Abwehrmechanismen (A. Freud, 1936) stellen die Regression auf dieselbe Stufe wie die anderen Mechanismen (Verdrängung, Reaktionsbildung, Isolierung, Sublimierung usw.). Uns scheint jedoch, daß die Regression insofern klar von ihnen unterschieden werden muß, als die anderen Mechanismen einen (historisch) früheren Konflikt verbergen, während die Regression ihn enthüllt. Versteht man unter dem Begriff der Abwehr eine Deformation, eine Verzerrung des Grundkonfliktes, dann stellt die Regression in Freudscher Sicht eine Anomalie dar, denn der Grundkonflikt ist ja gerade der früheste Konflikt, und den macht die Regression sichtbar. Demgegenüber ist es in unserer Betrachtungsweise verständlich, daß jede - selbst eine archaische - Beziehungsform der Abwehr eines in der gegenwärtigen Beziehung erlebten Grundkonfliktes dient. Auf Grund dieser Überlegung unterscheiden wir auch zwischen dem Begriff der Zuflucht und dem der Abwehr. Wir definieren die Abwehr als die Verzerrung eines Grundkonfliktes, die Zuflucht als das Ausweichen vor einer als gefährlicher empfundenen Beziehungsform in eine solche, die mehr Sicherheit bietet. Wenn wir diese Begriffsbestimmung auf die Regression anwenden, und zwar auf die Regression unter psychoanalytischem Gesichtspunkt, dann erweist sich die archaische Form der Beziehung nicht als Abwehr, sondern als Zuflucht. Für uns hingegen ist die Regression beides. Obgleich abwehrende Verzerrung der Grunderfahrung der Beziehung, kann sie dennoch weiterhin als Zuflucht vor der Gefahr, die mit dieser Beziehung verbunden ist, fungieren. Was die »entwickelten« Beziehungsformen anlangt, zum Beispiel die gegenseitige Liebe, so stellen sie für die Psychoanalyse Abwehrhaltungen in dem von uns verwendeten Sinn dieses Begriffes
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Auf der Ebene der ahistorischen menschlichen Bedeutungsgehalte ist die Liebe zum Trainer aber gleichzeitig eine Abwehr der gegenseitigen Liebe der Gruppenmitglieder, die implizit schon in der Liebe zum Trainer erlebt wird. Die Liebe der Mitglieder (einschließlich des Trainers als reale Person) ist Ursprung und Grundlage der Liebe zum Trainer. Somit bedeutet die fortschreitende Aufgabe der Abwehrhaltungen gegen die Erfahrung der authentischen Beziehung vor allem die Aufgabe der tiefsten Abwehr, nämlich der Liebe zur Autoritätsfigur, wie sie in einer Basisgruppe zu finden ist, nicht einfach Rückkehr zu einer unveränderten vergangenen Erfahrung, sondern eine Eroberung der Gegenwart (und der Zukunft). Denn nie zuvor wurde die gegenseitige Liebe so explizit erlebt, wie dies in einer Basisgruppe der Fall sein kann, obzwar sie- deformiert- in der Eltern-Kind-Beziehung und in den täglichen Beziehungen implizit vorhanden war und praktisch realisiert wurde. Indem sich der einzelne und die Gruppe für die ausdrückliche Realisierung einer Liebe entscheiden, die sich früher verbargen, nehmen sie neue Risiken auf sich, denn sie setzen sich der Angst in stärkerem Maße aus. Sie sichern sich gegen diese neuenGefahren dadurch im vorhinein ab, daß sie ihre früheren Abwehrformen beibehalten und in die neuen Beziehungen einfließen lassen. Damit wird, was explizit war, implizit, und umgekehrt wird das, was Abwehr einer authentischen Erfahrung der Beziehung war, eine Beziehungsform, die nun ihrerseits abgewehrt wird. Das legt den Gedanken nahe, daß Begriffe wie Ursprung, Abwehr und Tiefenniveau in der psychoanalytischen Orientierung anders aufgefaßt werden als von uns, ohne daß die beiden Auffassungen deswegen unvereinbar wären. Der psychoanalytische Ursprungsbegriff ist genetisch, dar; für uns hingegen sind es nicht-abwehrende oder weniger abwehrende Beziehungsformen; eine Zuflucht erblicken wir jedoch in ihnen nicht, da sie Beziehungsformen sind, bei denen das Risiko der Trennung in seinem ganzen Umfang bewußt eingegangen wird. Das schwierige Problem, das wir hier zu behandeln versuchen, erwächst aus der Feststellung, daß innerhalb eines Veränderungsprozesses (Psychotherapie, Gruppentraining u. a.) der Abbau der Abwehrmechanismen mit der Aufrechterhaltung, ja sogar der Verstärkung der Zufluchtnahme zu archaischen Beziehungsformen einhergeht. Die Psychoanalyse umgeht das Problem, da sie den »entwickelten« Beziehungsformen den nicht-abwehrenden Charakter abspricht. Logischerweise müßte die psychoanalytische Behandlung zur Regression führen (vgl. 6. Kap., S. 156-166 und 185 f.). Die Unterscheidung zwischen den Begriffen Abwehr und Zuflucht kann das Problern vielleicht klären helfen.
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historisch, der unsere existentiell. Wir suchen den Ursprung in der impliziten Struktur der Phänomene selbst. Der Abwehrbegriff impliziert in beiden Fällen den indirekten und deformierten Ausdruck einer Grunderfahrung. Aber die Grunderfahrung, die man abwehrt, ist in der Psychoanalyse eine historische Urerfahrung, die auf Grund der Übertragungsphänomene in der Gegenwart eine Neuauflage erfährt. Für die Psychoanalyse ist die Erfahrung des V ergangenen die am meisten authentische, aber auch die am meisten beängstigende; für uns ist dies vor allem eine gegenwärtige Erfahrung, die ihren Ursprung in der jeweils gegenwärtigen Situation selbst hat. Ebenso kann der Begriff des Tiefenniveaus in einem historischen oder in einem existentiellen Sinn verstanden werden. Das erklärt, warum ein und dieselbe Beziehungsform, wie etwa die Liebe zum Trainer, je nach Standpunkt als Abwehr einer gegenwärtigen authentischen Erfahrung oder als authentische Erfahrung, die von der Gegenwart verdeckt wird, aufgefaßt werden kann. Die erste Interpretation ist insofern gerechtfertigt, als archaische Beziehungsformen der Verschleierung der Angst vor der gegenwärtigen Situation dienen; die Rechtfertigung der zweiten Interpretation besteht darin, daß die Erfahrung der Gegenwart die Vergangenheit, die ihren Sinn in der Gegenwart beibehält, verdecken kann. Letzten Endes können Authentizität und Abbau der Entfremdung nur in Richtung einer wechselseitigen Transparenz von Gegenwart und Vergangenheit gesucht werden. Folgende einfache Schemata mögen unseren Standpunkt veranschaulichen: 111
II
Liebe- Haß gegenüber dem Trainer (Entfremdung; Identifikation) gemeinsame Angst gegenseitige Liebe
~
Liebe- Haß gegenüber dem Trainer (Entfremdung, Identifikation)
Liebe- Haß gegenüber dem Trainer (Entfremdung, Identifikation) gemeinsame Angst gegenseitige Liebe
[]
gemeinsame Angst gegenseitige Liebe
Der umrandete Bereich stellt die explizite {bewußte), der nicht umrandete die implizite {unbewußte) Erfahrung dar.
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Jedes der drei Schemata repräsentiert eine Etappe im Bewußtwerden eines Individuums oder einer Gruppe. Im Fall I dienen die archaischen Beziehungsformen zur Abwehr der gegenwärtigen Beziehung, die nicht ausdrücklich erlebt werden kann. Im Fall II beginnt die gegenwärtige Beziehung transparent zu werden, aber nun werden die archaischen Formen von ihr verdeckt und verwischt. Die archaischen Beziehungen dienen dann als Zuflucht vor der gegenwärtigen Beziehung, ohne jedoch aufzuhören, Abwehrreaktionen gegen die gegenwärtige Beziehung zu sein. Die abwehrende Funktion der archaischen Beziehungen wird indes nicht erkannt. So werden sie unverändert beibehalten. Der Fall II entspricht der aktuellen Situation der Gruppe während des Schweigens. Im Fall 111 sind die archaischen Beziehungen wieder vorhanden, ihre abwehrenden Funktionen sind erkannt worden, und sie haben die Tendenz, sich zu ändern. Sie werden modifizierbare Ausdrucksformen der gegenwärtigen Beziehung. Die schematische Darstellung läßt erkennen, daß von der Etappe II an die früheren Abwehrformen gewissermaßen »von unten her« gesehen werden bzw. durchscheinen. Die Abwehrreaktionen wechseln sozusagen das Vorzeichen. Beängstigend ist nicht, »weiter« oder »tiefer« zu gehen, sondern vielmehr zurückzukehren und früheren Erfahrungen im Lichte der neuen Erfahrung einen anderen Sinn zu geben. Deshalb sprachen wir weiter oben hinsichtlich dieser Etappe im Leben der Gruppe von einem Umkehrpunkt. Man wird uns natürlich nach Beweisen für die Richtigkeit unseres Standpunktes fragen. Ohne uns schon jetzt in eine nähere Diskussion einzulassen, unterscheiden wir zwei Kategorien von Argumenten. Einerseits eignet unserer Position die größere lnterpretationskraft; zur historisch-genetischen Erklärung gesellt sich ein klares Verstehen: undurchsichtig gebliebene Phänomene werden klarer, insbesondere die Autoritätsbeziehung, das Wesen der Bindung und die Ambivalenz. Andererseits Argumente empirischer Art: Die historische Perspektive läßt eine Erklärung der Gleichzeitigkeit der Gruppenphänomene sowie ihre relative Unabhängigkeit von individuellen Faktoren nicht zu. Demgegenüber ist es in einer existentiellen Perspektive wie der unseren durchaus denkbar, daß eine permanente Erfahrung der Begegnung, die ihre eigenen Gesetzte hat und die vor allem von der augenblicklichen Begegnung selbst abhängt, von verschiedenen Personen auf Grund ihrer früheren Erfahrungen verschieden interpretiert wird. Ferner erlaubt eine solche Perspektive die Annahme, daß sich in den Modalitäten der Begegnung archaische Beziehungsformen finden; nicht nur,
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weil die Individuen ihre vergangeneo Erfahrungen neu erleben, sondern weil diese Beziehungsformen jetzt wie früher die Flucht vor der authentischen Erfahrung der Begegnung gestatten. Unsere Perspektive nimmt schließlich einen zweistufigen Aufbau der Abwehrhaltungen an, durch den einerseits eine explizite Vergangenheit vor einer impliziten Gegenwart und andererseits eine explizite Gegenwart vor einer impliziten Vergangenheit Schutz bietet. Diese lange Erklärung war notwendig, weil sich unsere Analyse an diesem Punkt des Gruppengeschehens definitiv von der psychoanalytischen Orientierung trennen muß. Bis jetzt bewegte sich die Gruppe mit uns im Bereich der Identifikation mit dem Trainer. Gewiß, wir vermuteten, daß die Analyse dieser Phänomene noch aus einer anderen Perspektive als der der Psychoanalyse möglich war. Aber beide lnterpretationssysteme blieben möglich, und vor allem schlossen sie sich gegenseitig aus. Wir vermochten keine Zusammenhänge zwischen ihnen zu sehen, denn wir hatten mit der Gruppe noch nicht die unmittelbare Begegnungserfahrung gemacht, die den Identifikationen Sinn verleiht. In der Erfahrung des Schweigens hat die Gruppe die oberste Grenze dessen, was in psychoanalytischen Begriffen faßbar ist, durchbrachen und von da an konnten wir den Sinn der psychoanalytischen Begriffe in einem neuen Licht verstehen. Die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart werden klar, sobald sie als Zusammenhänge gegenseitiger Verdunkelung und Entschleierung angefaßt werden können. Wie nach jeder tiefen Erfahrung ist die Gruppe nach dem Schweigen fassungslos. Keiner findet sich mehr in seiner Welt zurecht, erkennt sich oder die anderen wieder: »Ich kenne die nicht mehr, die ich vorher kannte«, sagt ein Mitglied. Die Fremdartigkeit ist diesesmal stärker, da eine Zeitlang - während des Schweigens - alle Entfremdung von der Gruppe abgefallen war. Die anderen und die eigene Person sind dann nur noch »Scheinperson«, »Karikatur«, die Masken einer verdrängten Angst: »das sind nicht mehr sie, sie haben sich ihrer selbst entledigt« - es ist ihre eigene Entfremdung, welche die Mitglieder in der tagtäglichen Gruppe vorfinden und die sie jetzt, da sie sich ihre Angst im Schweigen zu eigen gemacht und sie angenommen haben, nicht wiedererkennen. Die Gruppe bleibt nicht dabei stehen. Jeder versucht, den Teil der anderen, der in ihm selbst ist, zu erkennen (»die eigene Persönlichkeit ist eine Funktion der anderen«). Er fängt an, seine Entfremdung als die seine zu erkennen. Die Gruppe wird sich des Entfremdungsmechanismus bewußt. Die ganze Arbeit des » Wiederaufnehmens (recupera74
tion) der Abwehrhaltungen und Entfremdungen« setzt ein. Indem sich jeder für die »Bilder« interessiert, die sich die anderen von ihm machen, sucht er, worin er sich in ihnen entfremdet. (»Das Bild, das du von dir hast, schließt das Bild ein, das sich die anderen von dir machen.«) Dadurch ergreift er fortschreitend Besitz von sich selbst. Die Einheit der Persönlichkeit, die auf tiefster Ebene in einer Erfahrung besonderer Art erlebt worden ist, will auf die mehr an der Oberfläche gelegenen Bereiche der sozialen Rolle ausstrahlen s. Das Interesse am Bild, das sich der andere von einem macht, ist in diesem Stadium sehr verschieden von dem, was es früher war. Das Bild, das der andere von einem zeichnete, war zuvor eine »äußere Wahrheit«, an der man sich nicht mitbeteiligt fühlte; die Kontakte waren voll (unbewußter) Angst, man war mehr bemüht, sich durch ein positives oder negatives Urteil abzusichern, als zu lernen. Unter diesen Umständen fiel es schwer einzusehen, daß diese äußere Wahrheit die eigene war, und es war daher nicht leicht, sie zu ändern. Das Ende der Sitzung ist durch das von Jacques aufgeworfene Thema a Dieser Prozeß des »Wiederaufnehmens der Abwehrhaltungen« ist unseres Erachtens für die Endphase der Basisgruppe (oder Therapie) charakteristisch, sofern der Prozeß die Ebene der Grundangst erreichen konnte. Er ist gewissermaßen die Abschlußarbeit, für welche die Konfrontation mit der Angst den Grund gelegt hat, indem sie das Entfremdungsbedürfnis verringerte. Doch die detaillierte Umerziehung in bezug auf jede einzelne Abwehrhaltung bleibt noch zu leisten. Die Gruppe wird damit zu einer Art Gemeinschaft gegenseitiger Umerziehung. Die Mitglieder können dies unter besseren und vor allem klareren Bedingungen als früher bewerkstelligen, denn dank der Verringerung der Entfremdungen und Identifikationen ist ihre Fremdwahrnehmung klarer, und ihre Bindungen sind weniger ambivalent. Dieser Prozeß ist gewiß nicht abgeschlossen, wenn die Gruppe zu Ende ist; er ist an sich unendlich und geht ohne Zweifel nach dem Ende der Gruppe weiter. Das »Wiederaufnehmen der Abwehrhaltungen« wird natürlich auch durch das baldige Ende der Gruppe und durch die Notwendigkeit, der Außenwelt gegenüberzutreten, beeinflußt. Die Aussicht, ein weniger permissives Klima vorzufinden als in der Gruppe, zwingt dazu, gewisse Waffen, deren man sich entledigt hatte, wieder zu ergreifen und sich wieder ein soziales Gesicht aufzusetzen. Daher bringt das Wiederaufnehmen der Abwehrhaltungen neben aller entschiedenen Fortführung des Entfremdungsabbaus auch einen Gutteil an Regression und Rückkehr zu alten Abwehrformen mit sich, die man nicht modifiziert. Ein neues Gleichgewicht wird hergestellt. Bekanntlich unterscheidet Lewin drei Stadien in einem Veränderungsprozeß: unfreezing, mobility und refreezing. Das Wiederaufnehmen der Abwehrhaltungen gehört dem dritten Stadium an.
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des einzigen Sohnes geprägt. Was bedeutet die Tatsache, daß man mich als einen einzigen Sohn betrachtet hat, fragt Jacques. Damit erhebt sich - anläßlich eines Einzelfalles -- das Problem der Entfremdung aller, das Problem des Sichentfremdens in den Trainer und der Folgen dieser Entfremdung: Narzißmus und Verschlossenheit gegenüber den andern. Jacques drängt die Gruppe, aber sie kann ihm nicht antworten: »weil du dich in den Trainer entfremdest, weil wir alle uns in den Trainer entfremden.« Die Gruppe zieht es im Gegenteil vor, Jacques eine Abfuhr zu erteilen, denn sie ist außerstande, sich dem Problem des Sichentfremdens in den Trainer offen zu stellen. Im Gefolge der Erfahrung des Schweigens hat sich die Gruppe potentiell vom Trainer freigemacht, denn durch die Konfrontation mit der Angst erübrigt sich der mythische Schutz, den man von ihm erwartete, und die Gefahren, die er verkörperte, erweisen sich als illusorisch. Doch kann die Gruppe ihre Entfremdung in den Trainer nicht eingestehen. Ihre Befreiung wäre dadurch endgültig, die mythische Bindung würde sich vollends auflösen, und an ihre Stelle träte die reale Bindung an den konkreten Trainer. Sie konserviert eine Zeitlang die leere Form der Trainerrolle, das >>Gerippe«, die »Marionette« des Trainers, und weist Jacques zurück, denn er ist für sie das Symbol jener Abhängigkeit und Entfremdung, die sie sich noch nicht eingestehen will, bedeutete dies doch den endgültigen Verzicht auf sie. In dieser Sitzung haben wir drei Anmerkungen des Trainers. Die beiden ersten haben wir weiter oben einer gewissen, im theoretischen Bereich liegenden Erwartung des Trainers hinsichtlich dieser Sitzung zugeordnet. Zweifelsohne tritt in ihnen außerdem im emotionalen Bereich das Gefühl seiner Isolation zutage, in dem sich das Schweigen schon ankündigt. Die andere Anmerkung spiegelt die persönlichen Gefühle des Trainers während des Schweigens wider. Zu einem erheblichen Teil stimmt sie mit dem überein, was die Mitglieder nach dem Schweigen äußern (»ist es annehmbar, zusammenzusein und sich zu trennen - ins Leben, den Mißerfolg, geworfen sein - Grenzen, Gewalt, Intellekt, Abwesenheit«). Sie enthalten aber auch einen stärkeren positiven Aspekt als die Kommentare der Mitglieder (Glaube - stets den Willen der Gruppe akzeptieren - Sehnsucht zu beten 4 Dankbarkeit und Liebe). Die persönlichen Gefühle des Trainers stimmen also mehr als die der 4
Zur Klarstellung: der Trainer ist nichtglaubig.
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Mitglieder mit dem überein, was wir als die totale Erfahrung des Schweigens interpretiert haben. Die Tatsache, daß die Mitglieder später ihrerseits diese positive Seite ihrer Erfahrung zum Ausdruck bringen, verweist einmal mehr auf jenes Phänomen der Vorwegnahme, das wir schon des öfteren beobachtet haben: der Trainer empfindet explizit die Gefühle der Gruppe früher als diese.
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II Das affektive Leben der Gruppen
4. Kapitel Die kollektive Affektivität
Unterschwellige affektive Phänomene in Gruppen
Affektive Phänomene in Gruppen lassen sich täglich beobachten. Nehmen wir z. B. eine Arbeitssitzung, bei der man nicht recht vorankommt. Zwar verfügen die Teilnehmer über die zur Behandlung ihres Problems nötigen Informationen und sind auch mit den vom Problem erforderten Methoden des V orgehens vertraut. Keiner von ihnen ist außergewöhnlich neurotisch. Unlösbare Interessenkonflikte scheint es unter ihnen nicht zu geben. Dennoch behält ein jeder lnformationselemente, deren die anderen bedürfen, für sich. Argumente rufen sogleich Gegenargumente hervor, kein Vorschlag wird zu Ende diskutiert, die Diskussion bleibt vielmehr im Formalismus stecken. Jeder scheint die anderen zu beobachten, keiner ist geneigt, aus sich herauszugehen. Alles verläuft so, als ob unausgesprochene Befürchtungen die Teilnehmer lähmten. Jeder hegt z. B. die Befürchtung, die anderen könnten ihn benachteiligen oder ausnützen, sie könnten sich gegen ihn verbünden oder ihn ausschließen usw. Selbst das Eingeständnis dieser Befürchtungen fällt schwer oder ist unmöglich. Man fürchtet, sich lächerlich zu machen oder eine Schwäche zu zeigen, von der die anderen profitieren könnten. Diese unausgesprochenen Befürchtungen beherrschen das Leben der Gruppe weit mehr als die objektiven Gegebenheiten des zur Diskussion stehenden Problems: das Hin und Her der Argumente, die offenkundigen lnteressenkonflikte, das Beziehungsgeflecht, die Gruppierungen innerhalb der Gruppe, ja selbst die räumliche Konfiguration der Teilnehmer sowie das Vorhandensein oder Fehlen einer bestimmten Führungsweise (in unserem Beispiel das Fehlen eines anerkannten Führers, auf den man hört) sind Formen, diesen Befürchtungen Ausdruck zu verleihen und sie gleichzeitig abzuwehren. Die Gruppenmitglieder haben Angst voreinander und wagen nicht, es sich zu sagen. Ihr Gelähmtsein, die Gegensätzlichkeiten, der Kommunikations- und Führungsstil sind Ausdruck dieser zweifachen Wirklichkeit. Dies ist - übertragen auf eine ganze Gruppe - der klassische psychische Abwehrmechanismus, der ein unterschwelliges Gefühl gerade dadurch verrät, daß er es verbirgt.
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Der Kontrast zwischen der bewußten Rationalität der Gruppe (wir würden uns ja gerne einigen, aber aus dem und dem >>Grund« ist es uns nicht möglich) und ihrem tatsächlichen Verhalten (Opposition, Mißtrauen) findet seine Erklärung in einem unterschwelligen affektiven Konflikt zwischen dem Gefühl gegenseitiger Angst und der Furcht, diese Angst einzugestehen. Ist die Angst rationalisiert, kann man wenigstens für eine Zeitlang leichter mit ihr umgehen, und sie ist erträglicher. Bisweilen bestätigt dies der umgekehrte Fall. Jemand bringt die unterschwellige Angst zum Ausdruck, indem er z. B. sagt: >>es scheint, wir sind alle etwas auf der Hut voreinander« oder »wir sind empfindlich wie Porzellan« oder er weist einfach auf das Vorhandensein eines Problems hin: »heute geht es nicht recht voran. Was ist eigentlich los?« und bekundet auf diese Weise seine Bereitschaft, sich mit der gemeinsamen Angst auseinanderzusetzen. Alsbald ändert sich die Atmosphäre, die Diskussion lebt wieder auf, man teilt sich Gefühle mit, und das verfehlt nicht seine Wirkung auf die rationale Behandlung des Problems: Ziele und Vergehensweisen treten klarer hervor, die wirklichen Interessenkonflikte sowie gewisse mögliche Kompromisse werden sichtbar. Auf die unechte und defensive Rationalität zu Beginn - in Wirklichkeit Ausdruck einer unterschwelligen, nicht erkannten und auf ungeklärten Gefühlen beruhenden Irrationalität - folgt eine echtere Rationalität, die eine objektive Prüfung des Problems erlaubt. Noch viele andere Situationen lassen das Vorhandensein unterschwelliger affektiver Phänomene erkennen: neben der Zersplitterung in eine Vielzahl von Konflikten zwischen einzelnen gibt es die Polarisierung, in der zwei mächtige Untergruppen einander gegenüberstehen, die unbeweglich auf ihren Positionen beharren und einander mit stereotypen Argumenten bekämpfen; Gleichgültigkeit, Niedergeschlagenheit; der Kult eines Führers, einer Ideologie oder einer Methode, der scheinbar alle Konflikte unterdrückt, sie in Wirklichkeit jedoch hinter den Kulissen weiterbestehen läßt; plötzliche Euphorie und unechte, sentimentale Harmonie, auf die Unbehagen folgt; Sündenbock-Phänomene, wobei einem einzelnen, einem Volk oder einer Klasse die ganze Last der Konflikte aufgebürdet wird, die die Gruppenmitglieder untereinander, mit sich selbst oder mit anderen Gruppen haben. Alle diese und noch andere Phänomene treten bekanntlich sowohl in kleinen Arbeitsgruppen und in Organisationen wie auch innerhalb ganzer Kollektive und Gesellschaften auf. In allen diesen Fällen klaffen die bewußte Rationalität, insbesondere die Ideologie einer Gruppe, und ihr tatsächliches Verhalten auseinander. Unterschwellige irrationale Fak-
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toren, die in nicht ausgesprochenen Gefühlen verborgen sind, scheinen am Werk zu sein. Einen zusätzlichen Beweis für die Existenz solcher Faktoren kann man in den plötzlich eintretenden Umschwüngen erblicken, die sich mitunter feststellen lassen. So wechselt etwa eine Gruppe von Niedergeschlagenheit zu Euphorie, vom Führerkult zur Polarisierung oder Zersplitterung oder umgekehrt, ohne daß die objektive Situation ihrer Mitglieder sich ebenso grundlegend geändert hätte.
Affektivität in der Gruppe oder Affektivität der Gruppe?
Das Problem liegt also nicht so sehr darin, eine unterschwellige Affektivität in den Gruppen aufzuzeigen, als vielmehr darin, wie sie zu verstehen und zu erklären ist. Es stellt sich eine erste Frage: Handelt es sich um eine Pluralität individueller Affekte oder um eine allen Mitgliedern gemeinsame Affektivität? Affektivität in der Gruppe oder Affektivität der Gruppe? Unsere These ist, daß es tatsächlich eine Affektivität der Gruppe gibt. Sie lautet in bewußt knapper und prägnanter Formulierung folgendermaßen: In jeder Gruppe existiert zu jedem Zeitpunkt ein vorherrschendes Gefühl, das von allen Mitgliedern der Gruppe mit individuellen Nuancen geteilt wird. Dieses zumeist unbewußte Gefühl beherrscht das Leben der Gruppe auf allen Ebenen. Die These gliedert sich in folgende Elemente:
e e
Zu jedem Zeitpunkt werden von allen Mitgliedern Gefühle geteilt. Diese sind zumeist unbewußt. • Sie äußern sich auf allen Ebenen des Gruppenlebens. e Die individuellen Gefühle stehen in Beziehung zu den kollektiven Gefühlen.
Betrachten wir die Argumente. Die entscheidendsten stammen aus der klinischen Gruppenarbeit: Gruppenpsychotherapie und Gruppentraining. Dort hilft der Psychotherapeut oder der Psychosoziologe der Gruppe, unbewußte Affekte auf immer bewußtere und ausdrücklichere Weise ans Licht zu bringen. Diese klinische Gruppenarbeit ermöglicht eine Reihe von Feststellungen, die unsere These unterstützen.
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Die unterschwellige affektive Einheit der Gruppenphänomene
In vielen Fällen lassen sich scheinbar heterogene Gruppenphänomene auf ein gemeinsames unterschwelliges Anliegen zurückführen. Die Gruppenpsychotherapeutin Dorothy Stock-Whitaker schrieb vor einigen Jahren: »Wir stellen die Hypothese auf, daß die Verschiedenartigkeit, die sich während einer Therapiegruppensitzung beobachten läßt, eher scheinbarer denn realer Natur ist. Die zahlreichen und verschiedenen Elemente der Sitzung hängen in der Weise zusammen, daß sie sich auf ein unterschwelliges Problem beziehen. So war z. B. die erste Sitzung einer Gruppe von Krankenhauspatienten durch lange spannungsreiche Schweigepausen gekennzeichnet, die durch nervös geführte Unterhaltungen unterbrochen waren, in denen die Patienten ihre körperlichen Krankheiten verglichen, jedoch peinlich jede Andeutung seelischer Krankheiten zu vermeiden schienen. Darauf folgte eine angeregte Diskussion über die Architektur des Krankenhauses, bei der die Qualität der Baupläne und die Stabilität des Bodens, auf dem das Krankenhaus errichtet worden war, erörtert wurden. Oberflächlich betrachtet sind diese Elemente verschiedenartig und untereinander beziehungslos. Sie erlangen jedoch eine gewisse Kohäsion, wenn man annimmt, daß sie sich alle einerseits auf ein gewisses unterschwelliges Unbehagen der Mitglieder, in eine Gruppe gesteckt worden zu sein, und andererseits auf die gemeinsame Sorge hinsichtlich der Kompetenz und der Macht des Therapeuten beziehen« (Stock-Whitaker und Lieberman, 1965, s. 15). Die Beispiele, die in diese Richtung gehen, ließen sich beliebig vermehren. Die ganze Walfischgruppe illustriert unsere These. Ein gutes Beispiel bietet der Beginn der 3. Sitzung: die Teilnehmer haben die Tische näher zusammengerückt und beginnen dann in euphorischer Stimmung und unter einverständig-ironischem Gelächter humoristische Zeichnungen anzufertigen (eine Kuh, die eine Blume frißt), denen sie symbolische Kommentare folgen lassen (die Kuh ist »meine Amme«, doch sie hat »ein Horn zu viel: das ist die Aggressivität«); sie machen Wortspiele über das Schweigen: Das Schweigen ist »General«, es ist »Herrscher«, »den man entthronen muß«, eine Anspielung auf den s~hweigenden Trainer. Hinter allen diesen Äußerungen scheint das Bedürfnis zu stehen, sich des gleichzeitig als »Ernährer« und als Gefahr empfundenen Trainers zu entledigen und sich dadurch von der >>General«-Angst vor der Gruppensituation zu befreien.
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Diese Einheit in der Verschiedenheit ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: _sie eint die Beiträge mehrerer, manchmal aller Gruppenmitglieder; _ sie eint die verschiedenen Ebenen des Gruppenlebens, die man auch die Ausdrucksebenen oder die Spachen der Gruppe nennen kann: e die Sprache des physischen Handeins (reden, schweigen, aufstehen, weggehen, das Fenster öffnen oder schließen, jemanden in die Gruppe aufnehmen oder ihn ausschließen, allgemein alles, was mit der zeiträumlichen Konfiguration der Interaktionen zu tun hat); e die Sprache der rationalen Strukturen (die bewußten Systeme der Ziele, Methoden, Rollen, Normen usw.); e die Symbolsprache (Scherze, Geschichten, Träume, Mythen, Spiele); e die Sprache der Emotion; e die unmittelbare Sprache des Gefühls im eigentlichen Sinn (im Augenblick erlebte Gefühle). So scheint die Gruppenaffektivität alle Ebenen des Gruppenlebens sowie alle Mitglieder zu durchdringen. Die Gruppengefühle kommen auf sehr verschiedne Art und Weise zum Ausdruck, und zwar mehr oder weniger direkt je nach den Mitgliedern und den Ausdrucksebenen. Sie sind es, die den Gruppenphänomenen ihre Einheit verleihen und die letztlich auch eine Erklärung ihrer Zusammenhänge erlauben.
Symbolische Kommunikation unter den Mitgliedern einer Gruppe, Symbolzonen
Eine weitere Feststellung präzisiert die vorhergehende. Sie betrifft das, was wir als die Symbolzonen der Gruppe bezeichnen möchten. Um den Prozeß analysieren zu können, vervollständigen wir das eben erwähnte Wortspiel über das Schweigen. Jacques hatte ein Rätsel aufgegeben: »Mehrere Militärs verschiedener Ränge sind im selben Zimmer versammelt und schweigen. Wer ist der Ranghöchste?- Das Schweigen, denn es herrscht im Raum (fr. le silence est general).« Wenn man die oft stumme Rolle des Trainers, seinen Status (Rang) in der Gruppe sowie die Versammlung dieser Militärs im selben Zimmer bedenkt, dann scheint es zulässig, die Gleichung Trainer = Schweigen = General aufzustellen. So erfahren zwei unabhängige Interpretationen, Schweigen= Trainer, General= Trainer, dadurch eine Verstärkung, daß die Gruppe die beiden Symbole Schweigen und General ausdrücklich gleichsetzt. In der weiteren Folge der Diskussion verfestigte sich diese Deutung
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noch, und zwar auf dieselbe Weise. Nacheinander wunle das Schweigen mit dem König, dem Marschall, der großen Leere und dem Sündenbock gleichgesetzt. Herrscher und Marschall stellen ebenso wie der General offensichtlich Statussymbole dar. Die Leere kann den Trainer symbolisieren, der die Mitglieder die Angst vor ihrer Trennung und vor ihrer inneren Leere erleben läßt. Andererseits ist es ein großes Schweigen, wodurch eine Verbindung zu den Statussymbolen Herrscher, General und Marschall hergestellt ist. Hinsichtlich des Sündenbockes ist der Zusammenhang mit dem Trainer nicht so klar. Immerhin war die Rede davon, den Herrscher zu entthronen, und es läßt sich denken, daß der Trainer tatsächlich als Sündenbock für die Angst der Gruppe dient; andererseits kann man den Bock mit der Kuh zu Beginn der Sitzung vergleichen, der aggressiven, ernährenden Kuh »mit dem großen Ohr«, die wir als Symbol des Trainers gedeutet haben. Wir stehen somit vor einem ganzen Netz expliziter Gleichsetzungen von Symbolen, von denen jedes einzelne implizit schon auf eine gemeinsame Symbolbedeutung verweist. Diese Verflechtung läßt sich durch eine graphische Darstellung wiedergeben, die im soeben analysierten Beispiel folgendermaßen aussieht, wobei die ausgezogenen Linien die expliziten und die punktierten Linien die impliziten Verbindungen bedeuten.
Schwe~gen ~{General \
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Große Leere
Es hat ganz den Anschein, als ob die Gruppenmitglieder mit Hilfe mehrerer Symbole, die verschiedene Aspekte des gemeinsamen Symbolisierten hervorheben, eine gemeinsame Bedeutung einkreisten. Die Konvergenz der Symbolisierungen einerseits sowie die ausdrücklichen Identifikationen zwischen den Symbolen andererseits gewährleisten die unbewußte oder halbbewußte Kommunikation des symbolisierten Ziel-
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punktes und schützen dennoch vor einem vollständigen Bewußtwerden. Die Interpretation eines solchen Phänomens scheint nur schwer ohne die von uns aufgestellte und zu beweisende Hypothese eines kollektiven unbewußten Anliegens auszukommen. Man wird einwenden, die Symbolinterpretationen stünden auf schwachen Füßen oder sie seien willkürlich. Doch das Phänomen besteht ja gerade darin, daß die Symbolinterpretationen eine Verstärkung durch die ausdrücklichen Identifikationen erfahren, die die Gruppe zwischen den Symbolen herstellt und die eine Erklärung verlangen. Eine derartige Verflechtung nennen wir eine Gruppensymbolzone. Wir definieren sie mithin als ein engmaschiges Netz von Symbolen, die von
verschiedenen Mitgliedern einer Gruppe hervorgebracht werden; das Netz ist doppelt verflochten: einerseits durch die expliziten Verbindungen zwischen Symbolen, andererseits durch eine konvergierende implizite Symbolisierung, die die Symbole mit einer oder mehreren gemeinsamen Symbolbedeutungen verbindet. Dieses Phänomen läßt sich mit der im individuellen Bereich liegenden überdeterminierung (Freud) vergleichen. Die beiden Begriffe sind scheinbar sehr verschieden, ja sogar entgegengesetzt. Der Begriff der überdeterminierung bezeichnet eine Vielfalt unbewußter symbolischer Bedeutungen ein und desselben manifesten Inhaltes, während der Begriff der Gruppensymbolzone die mögliche Reduzierung einer Mehrzahl manifester Inhalte auf eine gemeinsame unbewußte Bedeutung hervorhebt. Andererseits stellt die Gruppensymbolzone natürlich ein kollektives Phänomen dar. Laplanche und Pontalis (1972, 545) betonen jedoch: »Überdeterminierung schließt ... nicht die Unabhängigkeit, die Parallelität verschiedener Bedeutungen ein und desselben Phänomens ein. Die verschiedenen Bedeutungsketten überschneiden sich in mehr als einem >Knotenpunkt<, wie die Assoziationen beweisen.« Man könnte den Gedankengang Freuds in diesem Sinn fortführen und gelangte dann zur Auffassung, daß diese Knotenpunkte ein Symbolisiertes darstellen, das den verschiedenen Assoziationsketten gemeinsam ist, also eine Art Unbewußtes zweiten Grades. Diese gemeinsamen Bedeutungen würden demnach die Kohärenz der innerindividuellen Kommunikation gewährleisten. Das Phänomen wäre dann dem sehr nahe verwandt, das wir auf Gruppenebene vorfanden, und man könnte sich fragen, ob nicht die verschiedenen individuellen Produktionen - Reflexe verschiedener individueller Lebensgeschichten und Ausdruck vielfältiger und unbewußter individueller Bedeutungen - ihre Einheit in den unbewußten und kollektiven Erfahrungen affektiver 85
Art finden, die sowohl der Produktivität des einzelnen wie der der Gruppe Einheitlichkeit verleihen. Der Begriff der Gruppensymbolzone könnte vielleicht auch zu einer teilweisen Klärung der Frage beitragen, wie die Symbolsprache entsteht. Die Gruppenmitglieder sind ja gemeinsam an der Ausbildung einer Sprache beteiligt. Die Kommunikation durch das gesprochene Wort scheint in diesem Fall auf dem Konflikt zwischen einem unbewußten Affekt und dem Verlangen zu beruhen, sich gegen diesen Affekt zu wehren. Das Verlangen, dem unbewußten Affekt Ausdruck zu verleihen und ihn dennoch zu verbergen, führt unweigerlich zur Erkundung der verschiedenen Wahrnehmungen des gemeinsamen Affektes, wobei diese Wahrnehmungen ebenso vielen individuellen Abwehrmechanismen entsprechen. Diese Erkundung erfordert Kommunikation. Gleichzeitig wird sie durch das Vorhandensein des gemeinsamen Affektes - er dient als Mittler zwischen den verschiedenen Symbolen ermöglicht. Die symbolische Kommunikation wird hingegen in zwei gegensätzlichen Fällen dem Nullpunkt zustreben und im Schweigen enden: - wenn die Abwehrmechanismen so stark werden, daß jede Äußerung gefährlich wird; - wenn sie nachlassen und der unbewußte Affekt sichtbar wird. In diesem Fall braucht nichts mehr hinzugefügt werden. Im Gegenteil, jeder neue Beitrag würde eine klare Wahrnehmung stören. Das ist die Bedeutung des Schweigens, das auf gewisse Trainerinterventionen in einer Basisgruppe folgt oder das in bestimmten Endphasen solcher Gruppen zu beobachten ist.
Kollusion und Komplementarität in den gruppeninternen Konflikten
Bion hat auf die Wichtigkeit der Phänomene unbewußter Kollusion unter den Mitgliedern einer Gruppe, einschließlich des Führers, hingewiesen. Um sie zu erklären, setzte er das Vorhandensein von gemeinsamen »Grundannahmen« (basic assumptions; wir würden sie unbewußte Einstellungen nennen) voraus, welche die Fähigkeit besitzen, eine »sofortige Verbindung<< eines Individuums mit einem anderen und ein ähnliches oder komplementäres Verhalten bei den Gruppenmitgliedern hervorzubringen (Bion, 1971, 112 ff., 131). So entspricht zum Beispiel der Abhängigkeit der Gruppenmitglieder eine beschützende Einstellung des Führers und umgekehrt: es sind zwei Aspekte derselben kollektiven psychischen Wirklichkeit. In ähnlicher
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Weise spricht Palmade (1961, 199-206) von Komplementarisierungsphänomenen in Gruppen. Wie Bion stellen auch wir fest, daß unter den Gruppenmitgliedern Übereinstimmung, eine unbewußte Kollusion herrscht, die sich in komplementären Verhaltensweisen niederschlägt. Allerdings erklären wir das Phänomen anders als Bion. Vor allem im Hinblick auf den Prozeß gruppeninterner Konflikte, für den die Walfischgruppe Beispiele lieferte, fällt folgendes auf: - In der 5. Sitzung erregte der Trainer, nachdem es in der 4. Sitzung zu symbolhaften Aggressionsäußerungen gegen ihn gekommen war, die Gruppe durch beharrliche Interpretationen und provozierte den Ausbruch einer gegen ihn gerichteten Revolte, die sich diesesmal offen kundtat: · - In der folgenden Sitzung kam es zu einer weiteren Kollusion zwischen der Gruppe und dem Trainer, und zwar in Form eines Mißgriffs: Eine Teilnehmerio stellt dem Trainer die Frage, ob ihn die T -Gruppe nicht interessiere. Sie versucht, ihn aus seiner Rolle herauszuholen, und treibt ihn insofern in die Enge, als er entweder auf seine Rolle verzichten oder den Eindruck erwecken muß, die Gruppe abzulehnen, wenn er sie interpretiert. Man könnte sagen, sie greift absichtlich daneben. Der Trainer kommt tatsächlich in Verlegenheit und weicht aus. Im späteren Verlauf der Sitzung machte er eine persönliche Bemerkung, von der er glaubte, sie sei unverfänglich. Er macht sich den Umstand, daß die Gruppe in einem harmonischen Spiel von Fragen und Antworten »gut läuft«, zunutze, um am Rande eine etwas unbegründete Überlegung einfließen zu lassen, die ihm interessant erscheint. Ohne Zweifel ist dies eine Art und Weise, sein vorheriges Ausweichen unbewußt zu kompensieren und der Gruppe zu sagen: ihr seht, ich bin einer von euch, selbst wenn ich Trainer bin. Aber zu seiner Überraschung wird seine Bemerkung mit allgemeiner Entrüstung aufgenommen: er hat danebengegriffen. Diese Mißgriffe und komplementären Gegen-Mißgriffe erfolgten vor dem allgemeinen Hintergrund der Sitzung, in der die Gruppenmitglieder vermittels eines Wahrheitsspiels eine harmonische Gesellschaft aufzubauen versuchten, in der jede Frage sogleich Gegenstand einer ehrlichen Antwort wird, eine Gesellschaft der Gegenseitigkeit, in der die Bedürfnisse genau aufeinander abgestimmt sind und keinen Leerraum zulassen. Die Mißgriffe und Mißverständnisse stellen die notwendige Kehrseite der Medaille dar. In ihnen äußert sich die verdrängte Angst aller, einschließlich des Trainers, nicht verstanden, ausgeschlossen und abgesondert zu werden. - In der 7. Sitzung wurde Jean-Marc, nachdem er unerwartet die
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Gruppe verlassen hatte, zum Ziel heftiger Vorwürfe seitens derer, die geblieben waren. Der Gegensatz zwischen den beiden Einstellungen scheint vollkommen zu sein: die einen halten es für unerläßlich, beieinander zu bleiben und die übernommene Verpflichtung, an allen Sitzungen teilzunehmen, ernstzunehmen. Der andere ist bereit, die Gruppe aus einem privaten Motiv, das seinen Kameraden belanglos erscheint, zu verlassen. Dennoch ist festzustellen, daß gerade jene, die jetzt Protest erheben, zu einem früheren Zeitpunkt der Sitzung die Gruppe mehrfach »verlassen« hatten. Eine Teilnehmerio »begehrte die Scheidung von der Gruppe«, ein anderer ließ während der Diskussionen mit wechselnder Lautstärke ein Radio laufen. In beiden Fällen hatte man schon heftig gegen ein solches Verhalten pfotestiert Das Verlassen der Gruppe wie der Protest, den es erweckte, lagen in der Luft. Kollektiv erlebten die Gruppenmitglieder konflikthaft das Verlangen wegzugehen und das Verlangen zusammenzubleiben. Wir brachten diesen Konflikt mit dem baldigen Ende der Gruppe, das am nächsten Tag bevorstand, in Zusammenhang: das Verlangen wegzugehen und das Verlangen zu bleiben, sind zwei einander ergänzende Abwehrhaltungen gegen die Angst, sich von denen trennen zu müssen, die man liebt: insbesonders vom Trainer und den anderen Mitgliedern. Jean-Marc und die Protestierer verkörperten die beiden Seiten dieses von allen empfundenen Konfliktes. Diese Beispiele veranschaulichen den Prozeß des gruppeninternen Konfliktes. Eines oder mehrere Individuen isolieren sich scheinbar von der Gruppe. Die Einstellungen beider Seiten scheinen einander entgegengesetzt: im ersten Beispiel möchte sich die Gruppe des Trainers entledigen, und der Trainer ist bemüht, sich durchzusetzen; im zweiten versucht die Gruppe, den Trainer zu assimilieren, und der Trainer wehrt sich, dann ist es umgekehrt; im dritten Beispiel möchten die einen bleiben, der andere will weggehen. Es besteht ein zumindest möglicher Konflikt, und oft genug bricht er aus. Analysiert man die Dinge jedoch etwas genauer, so läßt sich feststellen, - daß die beiden Einstellungen komplementär sind, - daß die eine wie die andere bei beiden Parteien vorhanden sind und die Fronten nicht so klar verlaufen, wie es auf den ersten Blick scheint. Oft wird der Konflikt in einer Art Generalprobe vorbereitet und in Gang gesetzt, in der die Protagonisten zunächst andere, entgegengesetzte Rollen als am Ende spielen. Erst nach einer Phase der Verwirrung, in der die Einstellungen nicht klar abgegrenzt sind, folgt eine
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Phase der Polarisierung, in der die Einstellungen klar bestimmt und zwei deutlich unterschiedenen Parteien zugeschrieben werden. Dies ist die eigentliche Konfliktphase. _ Die beiden Einstellungen scheinen schließlich mit einem internen psychischen Konflikt zusammenzuhängen, der allen Protagonisten gemeinsam ist und in den die ganze Gruppe verwickelt wird. Es ist unnötig, die theoretische und praktische Bedeutung dieses Gesichtspunktes für das Verständnis und die Behandlung von Konflikten in Gruppen zu unterstreichen. Der gruppeninterne Konflikt scheint in sehr vielen Fällen ein Abwehrmechanismus zu sein, der die Mitglieder vor einem internen psychischen Konflikt, der alle betrifft, schützen sollt. Er wirkt wie eine Abschirmung. Die Gegensätze unter den Gruppenmitgliedern verschleiern die gemeinsame Unruhe. Die Mitglieder beklagen ihre Uneinigkeit, doch nicht sie ist für die Gruppe gefährlich, und nicht vor ihr schützen sich die Mitglieder, sondern vor bestimmten beängstigenden Gefühlen, die sie gemeinsam haben. Der Konflikt unter den Mitgliedern erfüllt für die Gruppe dieselbe Abwehrfunktion wie die Symptome für den Neurotiker. Es ist eine Lösung, die der Unbeweglichkeit den Vorzug gibt und vor den Gefahren eines Fortschreitens Schutz bietet. Die Behandlungsmethode ist damit klar, wie schwierig auch immer ihre Anwendung sein mag. Sie besteht darin, das Bewußtwerden des gemeinsamen psychischen Konfliktes zu fördern, indem allen Widerständen zum Trotz die gegenseitigen Ergänzungen, die Widersprüche und wechselnden Stellungnahmen deutlich gemacht werden. Dann gewinnt die aggressiv gewordene oder von Auflösung bedrohte Kommunikation der in Konflikt stehenden Mitglieder wieder einen positiven Charakter, die Ähnlichkeiten treten zutage, eine Erforschung und Klärung des gemeinsamen Konfliktes wird möglich.
Konvergenz der individuellen Produktionen in Trainingsgruppen
Gegen die eben angeführten Argumente ließe sich einwenden, sie beruhten alle auf Interpretation. Der gemeinsame Affekt ist jedesmal Ergebnis einer Schlußfolgerung. Es wird nur deren lntelligibilität bewiesen. Erinnern wir uns jedoch an zwei Fälle, in denen die auf Einheitlichkeit abzielende Interpretation eine Bestätigung durch empiri1 Die Hypothese könnte natiirlich verallgemeinert und auf Intergruppenkonflikte angewandt werden.
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sehe Beweise erfahren hat: die Gleichsetzungen zwischen den Symbolen im Aufbauprozeß der Gruppensymbolzonen sowie die Vorbereitungstätigkeiten, wechselnden Positionen usw. in der Erzeugung des Konfliktes. Noch konkreter ist das folgende Argument: In den Trainingsgruppen kommt es in dem Maße zu einer gegenseitigen Annäherung der individuellen Produktionen, als die unbewußten Aspekte an die Oberfläche treten. Wir konstatieren das Phänomen einer Konvergenz. Wir erinnern an die Walfischgeschichte (4. Sitzung), die durch Kooperation der Gruppenmitglieder zustande kam. Die Konvergenz der Themen, ja selbst die Art und Weise, wie diese »Reihum-Geschichte« geschaffen wurde - wie bei einem Staffellauf löste einer den anderen ab - , ließen die Einheit der individuellen Produktionen deutlich hervortreten, die schon im vorangegangenen Brainstorming vorhanden war. Später wurde die Konvergenz in der Progression der 7., 8. und 9. Sitzung deutlich sichtbar. In der 7. Sitzung ging Jean-Marc weg; ein Vorfall, der seiner persönlichen Eigenart zugeschrieben wurde. In der 8. Sitzung hatte dasselbe Problem kollektives Ausmaß angenommen: man fühlt sich von allen getrennt. Aber es wird noch als Summierung individueller oder inter-individueller Probleme gesehen. In der 9. Sitzung schließlich macht die Gruppe jene Erfahrung des Schweigens, in dem das Problem jedes einzelnen das Problem aller geworden ist. Die menschliche Beziehung wird absolut als Einsamkeit und Trennung erlebt. Die Konvergenz kommt mithin auf mehrfache Art und Weise zum Ausdruck: - durch den Übergang von individuellen Produktionen zu kollektiven Aufgaben; - durch zunehmend kooperative Produktionsweisen: vom ungeordneten Nebeneinander über eine formell organisierte Kooperation, der ein gewisser Zwang anhaftet (Zusammensetz-Geschichte, Wahrheitsspiel), bis zu einer spontanen Kooperation, die keiner Regeln bedarf; - durch die Ähnlichkeit und die immer präzisere Artikulation der von den Individuen produzierten Themen; - durch das schließliehe Verschwinden des Anekdotischen und die gleichzeitige Verlegung der subjektiven Erfahrung nach innen sowie deren universelle Erweiterung. Damit ist die Koinzidenz der subjektiven Erfahrungen verwirklicht.
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Bewußtwerden des unbewußten Affektes
In diesem letzten Stadium wird der vorher noch unbewußte gemeinsame Affekt bewußt empfunden. Er findet seinen direkten Ausdruck in der von uns so genannten »unmittelbaren Sprache«, der Sprache der gegenwärtigen Erfahrung. Wir erinnern an die von allen Mitgliedern gegebenen fast identischen Beschreibungen des Schweigens der 9. Sitzung, das als Einsamkeit erlebt wurde. Damit halten wir einen noch entscheidenderen empirischen Beweis für die Existenz des gemeinsamen Affektes in der Hand. Er wird nicht mehr vom Psychologen erschlossen, sondern von den Gruppenmitgliedern einhellig geäußert. Der Beweis ist um so stichhaltiger, als die Mitglieder nicht irgendein Klischee wiederholten und ihre Einstimmigkeit nicht im Handumdrehen erreicht war, sondern von ihnen vielmehr als Überraschung, als erschütternde und schockierende Entdeckung erlebt wurde. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, daß in diesem Stadium gleichzeitig eine sehr bedeutungsvolle qualitative Umformung der Erfahrung selbst erfolgt ist. Die Erfahrung eines jeden wurde von einer zweifachen, scheinbar widersprüchlichen Umwandlung betroffen. Sie hat sich verinnerlicht und sich gleichzeitig mit der Erfahrung aller anderen verbunden. Vom Akzidentellen hat sie sich gelöst. Jeder zentriert sich auf die fundamentalen Aspekte der menschlichen Beziehung und umfaßt auf einmal seine gesamte eigene Erfahrung (Jean-Marc sagte: »Ich sah noch einmal alle die Gruppen, denen ich jemals angehört habe«), die er mit der aller anderen gemein hat. Diese Erfahrung der Einheit zeigt einen zutiefst paradoxen Charakter: in dem Augenblick, da die Distanz zur gegenwärtigen Erfahrung am geringsten ist, ist der Horizont am weitesten, und man erfaßt das Universale; Ich-Bewußtsein und Wir-Bewußtsein sind gleichzeitig an ihrem Gipfelpunkt angelangt. Solche Momente sind wohl zu unterscheiden von der scheinbaren Einhelligkeit des Gefühls, welche die Gruppenmitglieder zum Beispiel in Form von Haß- und Wutausbrüchen, Liebesergüssen und kollektiven Depressionen manchmal an den Tag legen. Die lautstarken Proteste der Mitglieder der Walfischgruppe gegen das Weggehen von Jean-Marc gehören zu dieser zweiten Kategorie. Worin liegen nun die Unterschiede? Im zweiten Fall sind die kollektiven Emotionen auf ein partikuläres Objekt (Individuum oder Gruppe) fixiert, das als Ursache der Emotionen empfunden wird. Zum einen sind diese Emotionen nicht vollständig internalisiert und zum anderen 91
verharren die Gruppenmitglieder in ihrem Nebeneinander, obwohl sie dieselbe Emotion erleben. Sie vergessen sich selbst und die anderen in ihrer Emotion. Schließlich, sofern der andere doch empfunden wird, ist die Empfindung vage und verschwommen, er wird als wesentlich identisch dem eigenen Ich empfunden. Die Unterschiede werden nicht wahrgenommen: es ist ein FusionsgefühL Wir werden weiter unten (im 7. Kapitel) sehen, daß derartige Zustände einer Etappe im Fortgang der Gruppe entsprechen, in der man sich mit der Trennungsangst nicht offen auseinandersetzt Die Gruppenmitglieder projizieren die Trennungsangst auf eine privilegierte Gestalt, mit der sie sich identifizieren und in der sie sich entfremden. über diese Gestalt identifizieren sie sich miteinander. Die Gruppe wird in diesem Stadium als eine von ihren Mitgliedern unterschiedene, zwangsausübende Entität erlebt, die man zugleich liebt und verabscheut, denn sie repräsentiert jene Angst, vor der man flieht, und stellt doch zugleich erst die Verbindung zu den anderen her. Die von uns postulierte affektive Einheit der Gruppe ist somit - und das möchten wir betonen - nicht eine Einheit als Fusion in der die Verschiedenheit der individuellen Erfahrungen untergeht. Eine derartige Einheit wäre nur eine Maske und Entstellung jener anderen. Die affektive Einheit der Gruppe setzt im Gegenteil ein individualisiertes Bewußtsein seiner selbst und des anderen als verschiedener Wesen voraus. Es ist die Einheit einer kollektiv empfundenen Beziehung zu den anderen, im Bewußtsein der Trennung 2.
Die individuellen Produktionen als abwehrender Ausdruck eines unbewußten kollektiven Konfliktes
Die Individuen äußern sich in der Gruppe gewiß auf sehr verschiedene und manchmal gegensätzliche Weise. Die eingehende Analyse einer Gruppe läßt jedoch vermuten, daß die individuellen Äußerungen stets mit kollektiven, zumeist unbewußten Gefühlen in Verbindung stehen. Jean-Marc (7. Sitzung) und später Jean (10. Sitzung) stellen- jeder auf seine Weise - Trennung und Abschied vom Trainer dar. Die Mädchen sind abhängig vom Trainer, die männlichen Teilnehmer opponieren gegen ihn (10. Sitzung). Hinter beiden Haltungen steht die Befürchtung, ihn zu verlieren. 2 Wir werden den paradoxen Charakter der Beziehungserfahrung im 6. Kap. zu verdeutlichen suchen.
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Unter diesem Gesichtspunkt erweisen sich die Individuen (und ebenso die Subgruppen) stets als die unbewußten Sprecher der Gruppe. Sie verhelfen einem Aspekt der momentanen kollektiven Gefühle zum Ausdruck und entfernen sich dabei sowohl im Inhalt ihrer Affekte wie auch in ihrer Sprache (symbolisch, unmittelbar usw.) nie allzuweit von der kollektiven Stimmungslage. Die Unterschiede zwischen Individuen oder zwischen Subgruppen hängen sicher mit den früheren Erfahrungen, der »Persönlichkeit« und der Lebensgeschichte der Individuen sowie mit der Kultur der Subgruppen oder der Gruppe zusammen, doch vermögen diese Faktoren allein das Verhalten des Individuums oder der Subgruppe nicht zu erklären. So hätte sich z. B. Jean gewiß nicht im Verlauf der ersten Sitzungen der Basisgruppe auf den Tisch legen und so den Tod der Gruppe symbolisieren können, sondern diese Geste war erst in einer der letzten Sitzungen möglich, als das kollektive Problem der Trennung und ihrer Ablehnung ins Bewußtsein getreten war. Zumindest konnte dieses Verhalten für Jean erst zu diesem Zeitpunkt diese besondere Bedeutung erlangen. In dieser Sicht können die individuellen Manifestationen als Abwehrreaktionen gegen eine konflikthalt erlebte, kollektive unbewußte Erfahrung interpretiert werden. Sie stellen abwehrende Ausdrucksweisen des unbewußten kollektiven Konflikts dar und bedienen sich der ganzen Skala von Ausdrucks- und Abwehrmitteln, die das Individuum (oder die Subgruppe) im Verlauf seiner Lebensgeschichte erworben hat. Wir wollen damit gewiß nicht behaupten, daß jede individuelle Äußerung abwehrend ist und der Abbau der Abwehrhaltungen zur Unterdrückung der Persönlichkeit und Uniformität aller in einem herdenmäßigen kollektiven Ausdruck führen muß. Wir sahen schon, daß dies nicht zutrifft. Wir sind nur der Meinung, daß die individuellen Manifestationen in jedem Fall mit einer gegenwärtigen kollektiven Erfahrung zusammenhängen, sei diese nun bewußt oder unbewußt. Tun sie dies scheinbar nicht, tritt das Individuum folglich als ein solus ipse auf, dann sind sie abwehrend. Diese Bemerkung stellt natürlich in aller Schärfe das eigentliche Problem: der Ursprung der kollektiven Affekte. Sind sie das Produkt der durch irgendeinen Mechanismus (Suggestion, Interaktion u. a.) miteinander kombinierten lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Individuen oder resultieren sie aus der sich in eine Gruppenkultur übersetzenden Geschichte der Gruppe und der Subgruppen oder haben sie einen eigenen Ursprung, etwa in der jeweiligen kollektiven Situation
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selbst? Wir befinden uns damit am Schnittpunkt einer Persönlichkeitstheorie und einer Gruppentheorie und zugleich stoßen wir ins Zentrum jener Probleme vor, welche die Beziehungen zwischen gegenwärtiger und vergangener Erfahrung in der Bestimmung des Verhaltens aufwerfen. Wir werden diese hier nur angedeuteten Probleme im folgenden Kapitel behandeln.
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5. Kapitel Die unmittelbare Beziehung
Wie ist der Ursprung der kolle~tiven Affektivität zu verstehen? Wie sind die auffallenden Konvergenzen zu erklären, die implizit oder explizit im Gruppenleben auftreten? Die Schwierigkeit des Problems und zugleich seine Lösung liegen- so glauben wir- in der Notwendigkeit, eine psychologische und eine kollektive Dimension miteinander in Verbindung zu bringen. Unseres Erachtens gibt es keine andere Lösung als die Annahme, daß die Affektivität ihren Grund im Wesen kollektiver Beziehungen hat und daß diese immer schon affektiver Natur sind. Damit postulieren wir die untrennbare Einheit des Gefühls und der Beziehung zum anderen. Die zwischenmenschliche Beziehung ist immer auch affektiv; sie ist das bewußt oder unbewußt erlebte Gefühl für den anderen, und ebenso setzt Gefühl immer auch in Beziehung zum anderen. Das besagt weiter, daß wir es mit unmittelbaren oder Urphänomenen zu tun haben. Die Beziehung in unserer Auffassung, nämlich als erlebtes Gefühl für den anderen, läßt sich weder auf individuelle Triebe, noch auf die individuelle oder kollektive Geschichte, noch auf soziale Institutionen zurückführen. Diese Elemente stellen vielmehr Ausdrucksmittel der Beziehung dar und finden in ihr ihre Grundlage. Es gilt, in einer kopernikanischen Wende der Perspektiven den Begriff der erlebten Beziehung in den Mittelpunkt der Sozialwissenschaften zu rücken, anstatt ihm als abgeleiteten Terminus zu behandeln. Man kann nicht die Beziehung zum anderen vom individuellen Trieb und seinen lebensgeschichtlichen Umformungen ableiten, wie es die Psychoanalyse versucht, und ebensowenig kann man das Gefühl von bestimmten formalen Merkmalen der Beziehung ableiten. Trennt man Beziehung und Gefühl, reduziert und verwässert man beide. Wir werden zwei einander ergänzende Beispiele solcher reduzierender Konzeptionen der Beziehung analysieren: die Gedanken Freuds und einiger seiner Nachfolger über Gruppen sowie die Begriffe der Interdependenz und Interaktion, die der Sozialpsychologie Lewins entstammen. Sodann versuchen wir aufzuzeigen, wie der Begriff der unmittelbaren Beziehung, der mit bestimmten Beiträgen der phänomenologischen und existentialistischen Philosophie übereinstimmt, die Konvergenzen der Gruppenaffektivität zu erklären vermag. 95
Reduktion der Beziehung in den freudianischen Gruppenkonzeptionen
In »Massenpsychologie und Ich-Analyse« legt Freud nach der Kritik an Le Bon seine eigene Theorie zur Erklärung der »Massen«-Phänomene dar. Gleichzeitig, und das ist bezeichnend, stellt er sich die Frage nach den Grundlagen der Beziehung zum anderen. Sein Erklärungsprinzip ist bekannt. Die Mitglieder einer Masse sind nach Freud durch Bindungen libidinöser Art miteinander verbunden. Genauer betrachtet sind es ldentifikationsbindungen, die jeden danach trachten lassen, sich den anderen oder die anderen sich anzugleichen. Die gegenseitige Identifikation der Mitglieder beruht schließlich auf der gemeinsamen Bindung an den Führer der Gruppe (es kann eine Person, aber ebensogut auch etwas nicht Personhaftes, eine Ideologie oder ein Glaube sein). Der Führer vertritt das Ich-Ideal der Mitglieder, was ihre gegenseitige Identifikation hervorruft: »Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bindung der Massenindividuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer« (Freud, 1921, 118). »Eine primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ich-Ideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (S. 128). Das erste und konstituierende Phänomen, die Gruppenbeziehung, besteht also in der Bindung jedes einzelnen an den Führer 1 • Wie kommt es zustande? Freud legt zwei Erklärungsschemata vor, die übrigens nicht unvereinbar sind, deren Zusammenhänge er jedoch nicht untersucht. Die erste Erklärung beruht auf der Übertragung. Der Führer tritt an die Stelle eines Elternbildes, hauptsächlich des Vaterbildes. In der Beziehung zum Führer wiederholt sich die Elternbeziehung, die soziale Gruppe reproduziert die Familien ihrer Mitglieder. Wir erblicken hier eine Schwierigkeit (wir werden sie im 9. Kapitel näher untersuchen), die Herstellung ein und derselben Übertragungsbeziehung zum Führer auf der Grundlage notwendig verschiedener individueller Beziehungen der Mitglieder zu ihren Eltern zu erklären. Freud stützt sich daher auch nicht nur auf die individuelle Lebensge1 Freud unterscheidet zwischen der Identifizierung mit dem Führer im eigentlichen Sinn, wie sie in der Kirche mit Christus als Führer verwirklicht ist, und jenem Fall, in dem der Führer - wie im Heer- nur das Ich-Ideal ersetzt. In beiden Fällen begründet die Beziehung zum Führer eine durch gegenseitige Identifizierung gekennzeichnete Gruppenbeziehung.
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schichte, sondern er greift in einem zweiten Schema auf die kollektive Geschichte zurück. Die berühmte Theorie Freuds von der Urhorde, die er erstmals in »Totem und Tabu<< veröffentlichte und dann in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« wieder aufnahm, nimmt an, daß in einer »Urhorde<<, die von einem autoritären Vater beherrscht wurde und in der sich dieser in exklusiver Weise die Frauen zum Nachteil der Männer, der Söhne, aneignete, der Odipuskomplex zum Vatermord führte. Vatermord in Verbindung mit Kannibalismus- gemäß einem primitiven Identifizierungsmodell sollte dadurch die Kraft des Vaters einverleibt werden - bewirkte in den Söhnen Schuldgefühle, sodann eine auf Idealisierung beruhende höherrangige Identifizierung mit dem Vater und auf diesem Umweg eine gegenseitige Identifizierung der Söhne untereinander. Damit konnte Bruderliebe die ursprüngliche Eifersucht unter den Brüdern verdrängen. Letzteres führt uns zu der schwierigen und in unserem Zusammenhang _höchst wichtigen Frage, wie Freud das Wesen der Identifikationsbeziehungen bestimmt. Freuds Begriff der Identifizierung ist nicht eindeutig. Manche Texte legen die Vermutung nahe, die Identifizierung sei eine Grund- und Urmodalität der Liebesbeziehung. Sie steht der Objektwahl, der anderen Grundmodalität, gegenüber, so wie die Weise des Seins der des Habens gegenübersteht (1921, 116). Das Verlangen, sein Vater zu sein, ist beim Knaben verknüpft mit dem Verlangen, zu haben, die Mutter zu besitzen. Die Identifizierung wäre demnach insbesondere den Beziehungen zum Vater und die Objektwahl den Beziehungen zur Mutter zuzuordnen. Zumindest trifft dies für den Sohn zu, im Falle der Tochter liegen die Dinge etwas komplizierter. Auch gilt dies unter dem Vorbehalt vielfältiger Inversionen und Ersatzformen zwischen den beiden Beziehungstypen. So kann zum Beispiel der Sohn in eine Objektbeziehung zum Vater treten. Jede konkrete Beziehung zu einem Elternteil sei hinsichtlich des Sohnes wie auch der Tochter eine Mischung von Identifizierungs- und Objektbeziehung, weil im Verlauf der Entwicklung der eine Beziehungstyp an die Stelle des anderen trete, vielleicht auch auf Grund einer ursprünglichen Bisexualität. Diese Dichotomie führt zu einer Typologie der Liebeswahl und hängt mit der Unterscheidung zusammen, die Freud in der >>Einführung zum Narzißmus<< (1914) zwischen anaklitischem und narzißtischem Typ der Objektwahl vornimmt. Die anaklitische Wahl entspricht der Objektbeziehung und >>stützt sich<< (im etymologischen Sinn) auf den Selbsterhaltungstrieb. Das Kind hat das V erlangen, sich die Mutter anzueignen, die sich um seine leiblichen Bedürfnisse kümmert und ihm so das 97
überleben ermöglicht. Das kleine Mädchen sucht außerdem noch den Schutz des Vaters. Später sucht das Kind und dann der Erwachsene andere Objekte, die je nach dem Übertragungsmechanismus Substitute dieser Urwahl darstellen. Die narzißtische Wahl geschieht in dem Verlangen, im anderen das eigene Bild, das auf ihn projiziert wird, wiederzufinden. In ihr wurzelt die Identifizierung, die als Nachahmungstendenz definiert wird. Wie man sieht, begründet in beiden Fällen ein »Narzißmus« die Liebesbindung, handle es sich nun um einen Primärnarzißmus, der auf Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse gerichtet ist, oder um einen Sekundärnarzißmus in Form von Selbstliebe. Doch damit wollen wir uns jetzt nicht weiter beschäftigen. Die Freudsche Konzeption der Identifizierung als eines der Glieder einer fundamentalen Dichotomie der Liebesbeziehung steht in Widerspruch zu anderen Aspekten seines Denkens. Freud gab die Trennung von Selbsterhaltungstrieb und Sexualtrieb immer mehr auf und faßte beidealszwei Formen von Besetzung mit einer allgemeinen Libido auf. Die Unterscheidung von anaklitischer und narzißtischer Wahl kann dann aber in keiner Weise mehr als ursprünglich betrachtet werden 2 • Andererseits ist die erste Objektbeziehung, die zur Mutter, eine Identi/izierungsbeziehung. Sie ist eine Urbeziehung oraler Einverleibung und Prototyp jeder späteren Identifizierung anderer Art, besonders der mit dem Vater durch Nachahmung. Die Vermengung von Identifizierung und Objektbeziehung geht also weit über die konstatierten Inversionen und Übergänge zwischen beiden hinaus, die durch im Verlauf der Entwicklung erfolgte Substitutionen erklärbar sind. Sie liegt schon auf der Ebene der Begriffe. Will man die Kohärenz des Freudschen Denkens wahren, ist die Aufrechterhaltung der These von der ursprünglichen Dualität der Liebesbeziehung unmöglich - selbst wenn man annimmt, es handle sich um komplementäre Aspekte. Es hat vielmehr den Anschein, daß die Urbeziehung unterschiedslos als Wirkung eines Besitz- oder eines Assimilationsstrebens zwischen Subjekt und Objekt beschrieben werden s kann. Wir kommen folglich dahin, 2 Zur neueren Narzißmus-Diskussion vgl. Revue Fran(aise de Psychanalyse, 29 (1965) 5-6, besonders die Artikel von Lebovici und Renard. s Diese ursprüngliche Einheit der Liebesbeziehung berührt natürlich nicht das von Freud seit der Veröffentlichung von »Jenseits des Lustprinzips« gestellte Problem der Dualität von Liebe und Haß. Brown (1962) unterzieht die Freudschen Unterscheidungen zwischen Identifizierung und Objektwahl, zwischen narzißtischer und anaklitischer Wahl derselben Kritik (S. 59 ff.). Er definiert indessen die grundlegende erste Wahl, in der Identifizierung und Objektbeziehung synthetisiert werden, als ein Verlangen nach Vereinigung, nach dem
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bestimmte von Freud beschriebene Formen der Identifizierung wie etwa den Hang, ein Vorbild nachzuahmen, als Ergebnisse einer späteren Differenzierung einer ursprünglich undifferenzierten Liebesbeziehung zu interpretieren. Man kann aus den Schriften Freuds eine weitere Auffassung der Identifizierung herauslesen, die sich von der ersten durchaus nicht klar abhebt: es ist nicht mehr die einer Urstruktur der Libido, sondern die eines Entwicklungsprozesses 4 • Demnach wäre Identifizierung jener Prozeß, in dem das Subjekt ein libidinös besetztes Objekt verinnerlicht und sich gemäß diesem Objekt umzuformen trachtet. Es ist dies ein sekundärer Differenzierungsprozeß der Libido, verbunden mit ihrer Verinnerlichung. So zieht infolge der Kastrationsangst die »normale« Lösung des Ödipuskomplexes sowohl den Verzicht auf das ursprünglich libidinös besetzte Objekt, die Mutter, nach sich, wie auch den Verzicht auf die komplementäre Feindseligkeit gegen den Vater. Die Verinnerlichung des zum Identifikationsobjekt gewordenen Vaters ermöglicht die Bindung an andere Libido-Objekte. Die neue Identifikationsbeziehung zum Vater kann daher als Ersatz der früheren Beziehungen, der libidinösen zur Mutter und der feindseligen zum Vater, betrachtet werden. Die Besetzungen der Eltern werden aufgegeben und durch Identifizierungen ersetzt (Laplanche und Pontalis, S. 221). Die Identifikationsbeziehung erweist sich somit als Verwandlung und Differenzierung der Libido (wie auch des Todestriebes) im Verlauf der Entwicklung. Ähnlich wie bei dem bereits erwähnten Mythos der Urhorde führt der Verzicht auf die Elternliebe, insbesondere der Verzicht auf die Liebe zum Vater, zur Bruderliebe. Sie ist durch eine neuerliche Verinnerlichung ermöglicht »Mit-der-Welt-eins-Sein«. Diese Deutung des Freudschen Denkens kann sich zwar auf gewisse Texte (vor allem in »Jenseits des Lustprinzips«) stützen, steht aber in Widerspruch zu vielen anderen. Sie bewahrt auf jeden Fall eine gewisse Doppeldeutigkeit, die schon bei Freud gegeben ist und die an der Verschiedenheit der Begriffe Vereinigung (union) und Verschmelzung (fusion) liegt. Vgl. dazu 6. Kap., S. 160-162 und 7. Kap., S. 208-213. 4 Vgl. Laplanche und Pontalis (1972, 220): »Der Begriff der Identifizierung erhielt in Freuds Werk zunehmend zentrale Bedeutung: dadurch wurde er mehr als nur ein psychischer Mechanismus unter anderen, nämlich der Vorgang, durch den das menschliche Subjekt sich konstituiert.« Die Autoren definieren die Identifizierung folgendermaßen: »Psychologischer Vorgang, durch den ein Subjekt einen Aspekt, eine Eigenschaft, ein Attribut des anderen assimiliert und sich vollständig oder teilweise nach dem Vorbild des anderen umwandelt« (S. 219).
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worden, welche die Brüder an die Stelle des verlorenen Vaters treten läßt. Die Brüder lassen von ihrer Eifersucht, von ihrem Wettstreit um die verlorene Vaterliebe ab, wobei es keine Rolle spielt, ob dieser Verlust aus der natürlichen Trauer um den Vater oder aus der Aggression gegen ihn und dem darauf folgenden Schuldgefühl resultiert. Sie wehren diesen Verlust ab, indem sie ihre gegenseitige Liebe an die Stelle der verlorenen Liebe zum Vater setzen. Man könnte sich mithin ein zweistufiges Schema aufeinanderfolgender Verinnerlichung und Identifizierung vorstellen: aus dem Verlust der besitzorientierten Urbeziehung zur Mutter erwächst die Identifikationsbeziehung zum Vater; die Identifikationsbeziehung zu den Brüdern resultiert ihrerseits aus dem Verzicht auf eine gewisse Form der Bindung an den Vater. Diese Abfolge wurde unseres Wissens nie von Freud beschrieben, nicht einmal in Form eines Typen-Schemas, das in vielerlei Form möglich wäre, sie entspricht jedoch nach unserer Ansicht der Logik seines Werkes. Festzuhalten ist noch, daß diese zweite Konzeption, die die Identifizierung an einen Introjektionsprozeß knüpft, kaum mit dem Begriff der Imitation übereinstimmt. In jedem Stadium treten nämlich neue Verhaltensweisen auf, die nicht die des Vorbildes sind; sonst würde die Bindung an die ursprünglichen Objekte in ihrer anfänglichen Form weiterbestehen. Wenn daher diese Konzeption noch eine gewisse Kohärenz auf ökonomischer Ebene aufweist, so versagt sie völlig bei einer qualitativen Beschreibung der Identifizierung, deren Begriff jetzt noch unklarer als vorher ist. Was entnehmen wir aus dieser Analyse des Freudschen ldentifizierungsbegriffes? Das für unseren Zweck wesentliche Ergebnis ist, daß die Beziehung zum anderen für Freud in erster Linie possessiver Art ist. Sie beruht auf einer ursprünglichen Tendenz zur Aneignung, sei es, daß sie sich auf einen autonomen Selbsterhaltungstrieb stützt oder sei es, daß letzterer nur eine Form der ersteren ist. Im einen wie im anderen Fall ist der andere nur die Verlängerung der Wünsche des Subjekts, eine Emanation des Subjekts. Selbst wenn man an einer ursprünglichen Dichotomie von »Identifizierung« und »Objektwahl« festhält, läuft die Beziehung zum anderen im ersten Fall auf eine Umwandlung nach dem Bild eines anderen hinaus, den man zuvor sich selbst ähnlich gemacht hat: sie entspringt der Selbstliebe. Die Beziehung zum anderen erweist sich daher nach Freud in ihrem ursprünglichen Kern als radikale Negation des Andersseins des anderen. Der andere tritt zumindest ursprünglich nie anders auf denn als Befriedigungsobjekt des Triebes oder als dessen Hindernis. Der andere ist die Projektion meines Triebes, und die Beziehung zu ihm beruht auf 100
der Illusion, daß der andere nach dem Bild meines Verlangens gemacht und notwendig dessen Verbündeter oder Gegner sei 5 • Es ist eine Beziehung instrumentaler Art. Selbst der Ausdruck »Übjektbeziehung« ist in dieser Hinsicht bezeichnend, wenn ihm auch eine bestimmte technische Bedeutung zukommt, und trotz gegenteiliger Beteuerungen mancher Analytiker&. Gewiß sind für Freud auch andere Formen menschlicher Beziehung möglich, die echter Anerkennung und Liebe des anderen mehr entsprechen. Sie sind bei der genitalen Liebe des Erwachsenen, der seinen Ödipuskomplex bewältigt hat, sowie bei der Bruderliebe anzutreffen. Sie entstehen im Gefolge eines komplizierten und gefährdeten Prozesses und durch eine Reihe von lntrojektionsmechanismen von Besitz- und Destruktionstrieben, die den anderen, ursprünglich Gegenstand oder Hindernis des Begehrens, menschliche Gestalt annehmen lassen. Aber die so konzipierte authentische menschliche Beziehung ist nicht nur nicht etwas Erstes, sondern es muß auch an ihrer Wirklichkeit gezweifelt werden. Der andere existiert für mich nur als Ersatz des verlorenen Objektes meines Verlangens. Was die Beziehung letztlich zustande kommen läßt und sie aufrechterhält, ist ein Urverlangen nach Besitz und Destruktion, und hier springt der Widerspruch in die Augen, denn das Verlangen ist ja zugleich dasjenige, was mir die Wirklichkeit des anderen verdeckt. Eine überraschende Stelle in »Massenpsychologie und Ich-Analyse« läßt deutlich erkennen, wie Freud den
ontologischen Vorrang des Besitztriebes vor jeder intersubjektiven menschlichen Beziehung konzipierte. Freud berichtigt die anfängliche Behauptung, »die Psychologie der Masse sei die älteste Menschenpsychologie«, indem er hinzufügt, daß die Individualpsychologie ebenso alt sei (Freud, 1921, 137). Hinter diesem etwas vagen Gegensatz steht der Gegensatz zwischen der Psychologie des Führers der Urhorde oder des Führers in der aktuellen Gruppe und der Psychologie der einfachen Mitglieder. Bezüglich des Führers sagt Freud: »Wir nehmen konsequenterweise an, daß sein Ich wenig libidinös gebunden war, er liebte s Wir werden die enge Verwandtschaft zwischen der besitzergreifenden Liebe und der Feindseligkeit, in denen Freud zwei antagonistische Kräfte sah, weiter unten aufzeigen. Die Frage des Todestriebes klammern wir an dieser Stelle aus, da sie für unsere Überlegungen nicht wesentlich ist. 8 »Es ist bekannt, daß eine Person, soweit die Triebe auf sie gerichtet sind, als Objekt bezeichnet wird; es liegt nichts Negatives darin, nichts, aus dem sich ergäbe, daß der Person die Qualität als Subjekt verweigert würde« (Laplanche und Pontalis, 1972, 341). Eine ähnliche Kritik wie die unsere kann man bei Maisonneuve (1966, 31) finden.
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niemand außer sich, und die anderen nur, insoweit sie seinen Bedürfnissen dienten ... Noch heute bedürfen die Massenindividuen der Vorspiegelung, daß sie in gleicher und gerechter Weise vom Führer geliebt werden, aber der Führer selbst braucht niemand anderen zu lieben, er darf von Herrennatur sein, absolut narzißtisch, aber selbstsicher und selbständig ... Der Urvater hatte seine Söhne an der direkten Befriedigung ihrer direkten sexuellen Strebungen verhindert; er zwang sie zur Abstinenz und infolgedessen zu den Gefühlsbindungen an ihn und aneinander . .. Er zwang sie sozusagen in die Massenpsychologie. Seine sexuelle Eifersucht und Intoleranz sind in letzter Linie die Ursache der Massenpsychologie geworden« (S. 138 f.; Hervorhebung M. P.). Klarer könnte man nicht sein. Eine Analyse der psychoanalytischen Behandlung von Begriffen wie der genitalen Liebe und Zärtlichkeit sowie der Grundbegriffe Lebenstrieb und Todestrieb würde zu ähnlichen Schlußfolgerungen führen.7 Wir können nun zusammenfassend die Mechanismen freilegen, durch die in den Freudschen Gruppentheorien eine Reduktion der menschlichen Beziehung erfolgt. Da ist zuerst die historische Reduktion. Die gegenwärtige Gruppe wird auf die ursprünglichen Gruppen, auf die Familien der Mitglieder sowie auf soziale Urgruppen zurückgeführt. Die kollektive Affektivität wiederholt die individuelle und kollektive Vergangenheit. Sie ist zur Gänze »Übertragung« im weiten Sinn des Wortes, und nicht Ergebnis der jeweils gegenwärtigen Gruppensituation. Die Gruppe wird weiter auf das Individuum zurückgeführt. Die individuelle Lebensgeschichte der Mitglieder bietet gewissermaßen den Rohstoff für die in der Gruppe erlebten Affekte. Selbst im Mythos der Urhorde entsteht das kollektive Leben aus dem Miteinander oder Gegeneinander der individuellen Triebe. Von zentraler Bedeutung ist die dem vorhergehenden Mechanismus verwandte instrumentale Konzeption der Beziehung, in der diese auf Besitz- und Destruktionstriebe zurückgeführt wird, welche eine Anerkennung des anderen nicht zu begründen vermögen. Aus dieser Konzeption folgt, daß die authentische Beziehung zum anderen das Ergebnis eines Aufbauprozesses ist, somit ein sekundäres und nicht primäres Phänomen darstellt und außerdem insofern illusorisch, als sie gerade in ihren Grundlagen die Wirklichkeit des anderen nicht anerkennt. Der letzte Reduktionsmechanismus besteht schließlich darin, daß die Beziehung zum anderen für Freud notwendig vermittelt ist durch die 7
S. u., 6. Kapitel.
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Beziehung zu privilegierten anderen: zunächst zu den Eltern, dann zu den Führern und allen Autoritätsgestalten. Nur durch sie gelangen die Gleichrangigen zu einer sozialen Existenz. Die Autoritätsbeziehung erzeugt die Gruppe und nicht umgekehrt.
Der neofreudianische Kompromiß
Die Freudsche Theorie der Urhorde weist offenkundige Mängel auf: ihre ethnologischen Grundlagen sind nit:ht sehr tragfähig, und außerdem setzt sie ein nur schwerlich beweisbares geheimnisvolles Rassengedächtnis voraus (wie es auch Le Bon tat); so kommen bei Freud die konkreten kulturellen Transmissionsmechanismen, insbesondere die Rolle der sozialen Institutionen, zu kurz; ferner postuliert er die Universalität des Ödipuskomplexes, ohne sie zu beweisen. Im übrigen ist seine Theorie jedoch interessant. Mit ihr verzichtet Freud auf eine rein individualistische Erklärung sozialer Phänomene und sucht deren Entstehung in der kollektiven Geschichte. Er verbindet diesen neuen Gesichtspunkt mit der traditionellen psychoanalytischen Erklärung zu einer Synthese, indem er sich in eine Epoche begibt, in der seiner Ansicht nach die soziale Einheit mit der Familie zusammenfiel. Damit sucht er einen Ort, von dem aus er mit einem Schlag sowohl die Individualpsychologie wie auch die soziale Bindung, die Entstehung der Institutionen, erklären kann. Andererseits hat die Dynamik der Urhorde eine bemerkenswerte Eigenschaft. Sie ist in allen Punkten der Familiendynamik ähnlich, mit einer Ausnahme: in ihr kommt es zur Tat. Inzest und Mord werden wirklich ausgeführt. Und dieses historische Faktum hat unberechenbare Folgen, denn aus ihm ergeben sich einerseits die Entwicklung der individuellen Psyche, das Auftreten des Schuldgefühls, der Verzicht auf frühere libidinöse und feindselige Bindungen sowie die Entstehung der Gesellung (Freud bezeichnete sie als Massenpsychologie), andererseits die Entstehung aller sozialen lnstituionen, im Gefolge der allerersten, des lnzestverbotes.s Freud scheint s Roger Bastide nennt dies das »Wunder des Vatermordes«: »Wie kann die Libido die sozialen Institutionen schaffen, da sie doch selbst dieser Institutionen bedarf, um a-sexuell und sozial zu werden? Das ist das Wunder des Vatermordes« (Bastide, 1950, 43). In diesem sonst so reichhaltigen und im Hinblick auf die Psychoanalyse einsichtsvollen Buch zeigt der Autor im übrigen das unüberwindliche Widerstreben des Soziologen, Psychologie und Soziologie zu einer wirklichen und umfassenden Einheit zu verbinden.
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hier dem Ereignis, der Kontingenz, der in der gegenwärtigen Gruppe erlebten Beziehung einen bestimmten Platz zuzuweisen, wodurch der Dualismus von Realitätsprinzip (sozialer Zwang) und Lustprinzip {Triebdeterminismus) überwunden werden könnte. Leider wird dieser Gedanke nicht weiter ausgeführt und steht in seinem Werk isoliert da. Ließe man den Inhalt der Freudschen Urhordentheorie (Rassengedächtnis, historizistisches Vorurteil, Triebdeterminismus, Universalität des Ödipuskomplexes) beiseite und hielte man lediglich ihre Absicht fest, würde sich herausstellen, daß das wesentliche Ziel Freuds die vollständige Vereinigung von Psychologie und Soziologie war; daß es ihm eigentlich- selbst wenn er damit auf seine Grundannahmen hätte verzichten müssen - um die Schaffung eines transkulturellen theoretischen Bezugsrahmens ging, und zwar nicht um die Verschiedenheit der Kulturen zu negieren, sondern um mit seiner Hilfe die Einheit der beiden Wissenschaften zu verwirklichen. Eine solche Theorie wird zwar von Psychoanalytikern wie Soziologen heftig angegriffen, würde jedoch einen besonders kräftigen Ableger des schöpferischen Denkens Freuds darstellen.& Die neofreudianischen Reformer, insbesondere die psychoanalytisch ausgerichteten oder beeinflußten Anthropologen Malinowski {1927), Kardiner {1939-1945), Horney {1951), Fromm {1941), M. Mead {1928) und Benedict {1934) wiesen in einer Reihe hervorragender Arbeiten die kulturspezifische Relativität affektiver Grundkonflikte auf. Sie untersuchten konkret die Akkulturationsprozesse, die W echselwirkungen zwischen dem Individuum und seiner Kultur und die wechselseitige Formung von Institutionen und Einstellungen.lO Obwohl wir ihnen einen unbestreitbaren Fortschritt an Erkenntnissen verdanken, verzichteten sie dabei auf die ehrgeizige Absicht Freuds, den sozio-psychologischen Bereich begrifflich zu vereinheitlichen, was ohne Zweifel nicht in Widerspruch zu ihrem Unternehmen gestanden hätte. Sie fügten sich in den Dualismus und den heterogenen Charakter der Grundbegriffe. Zwei Begriffsgarnituren kommen zur Anwendung: sozio-ökonomische, ökologische Begriffe einerseits und psychologische, einer mehr oder minder orthodoxen Psychoanalyse entlehnte Roheim (1941} war bestrebt, die Theorie Freuds zu säubern. Sie verzichtete auf das »Ausagieren« mit dem Hinweis, das bloße Verlangen, den Vater zu töten, genüge, das Schuldgefühl und alle nachfolgenden Phänomene hervorzubringen. 10 Zur vergleichenden Untersuchung dieser Arbeiten siehe Bastide (1950, 106 bis 172}.
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Begriffe andererseits. Das konkrete Individuum, die konkrete Kultur ergeben sich aus der Interaktion beider Realitäten. Eindeutig ist dies zum Beispiel bei Fromm der Fall. Er lehnt sowohl die direkte Ableitung des Psychologischen von sozio-ökonomischen Gegebenheiten ab, die seiner Ansicht nach der orthodoxe Marxismus vornimmt, wie auch die direkte psychologische Interpretation des Sozioökonomischen, die er als psychologischen Imperialismus Freuds bezeichnet. In seiner Interpretation der Geschichte der Renaissance und der Reformation unterscheidet er sorgfältig zwei Betrachtungsweisen: zum einen schafft die sozio-ökonomische Entwicklung für bestimmte Klassen die objektiven Bedingungen einer größeren Autonomie; zum anderen reagiert der Mensch der Renaissance und der Reformation aus Angst vor der Freiheit auf seine sozio-ökonomische Autonomie und bringt religiöse und politische Ideologien hervor, die seinem Seelenzustand entsprechen (Fromm, 1941, S. 40-102). Die erste Überlegung ist rein sozio-ökonomischer, die zweite rein psychologischer Art, obwohl beide Phänomenbereiche in Interaktion miteinander stehen. Worauf es für unsere Zwecke ankommt, ist die Feststellung, daß die sozio-ökonomischen Gegebenheiten für Fromm zwar psychologische Konsequenzen zeitigen, daß ihnen an sich jedoch keine psychologische Bedeutung zukommt. Sie bleiben psychologisch gesehen undurchsichtig. Dieselbe Betrachtungsweise finden wir bei Kardiner, für den die »Primärinstitutionen« die Einwirkung des Sozialen auf das Ich und die Sekundärinstitutionen reaktive Schöpfungen des so geformten Ich darstellen (Bastide, S. 267). Dies bedeutet einen beträchtlic;hen Rückschritt gegenüber der ursprünglichen Absicht Freuds, das Psychologische und das Soziale zu vereinen. Wir möchten hier eine kurze Zwischenbemerkung zu einer Betrachtungsweise einschieben, welche mit den vorhergehenden eng verwandt ist und sich bei mehreren französischen Soziologen einer gewissen Beliebtheit erfreut: die »Reziprozität der Perspektiven« zwischen dem Psychologischen und dem Sozialen. Dieser Begriff stammt von Th. Litt. Er liegt ganz auf der Linie der deutschen phänomenologischen Strömung und bezeichnete die ursprüngliche Nicht-Isolierung des Ich, die gegenseitige Anerkennung der Menschen als autonomer Subjekte, als »Zentren von Lebensperspektiven« (Litt, 1919; Cuvelier, 1967, 166 ff.). So definiert, stellt dieser Begriff einen Aspekt des Konzepts der unmittelbaren Beziehung dar, und wir können dem nur zustimmen. Er proklamiert die Einmaligkeit einer ursprünglichen (oder unmittelbaren) Erfahrung, welche zugleich die soziale Bindung und die individuelle Psychologie begründet. Er kann zu einer wirklichen Einigung des Psy105
chologischen und Sozialen führen, die beide auf derselben affektiven Erfahrung beruhen. Doch Gurvitch, der diesen Begriff in Frankreich einführte, kam sonderbarerweise zu einem völlig anderen Ergebnis. Das Psychologische und Soziale stehen zwar in Beziehung zueinander, bleiben jedoch heterogen.u Außerdem zerfallen das Psychologische und das Soziale in eine Vielzahl von »Stufen«, die selber wieder untereinander heterogen und deren gegenseitige Beziehungen unklar sind. Die auf Einigung abzielende Erklärung wird zur Typologie degradiert. R. Bastide übernimmt von Gurvitch die »Reziprozität der Perspektiven« und postuliert noch eindeutiger die radikale Heterogenität des Sozialen und Psychologischen sowie die gegenseitige Interaktion beider Faktoren. Das Psychologische wird auf etwas Libidinöses biologischen Ursprungs und das Soziale auf die >>gegenseitige Durchdringung der Bewußtseinssubjekte« reduziert: »Wir kamen dazu, das Soziale ins Realitätsprinzip zu verlegen und folglich zwei Bereiche zu unterscheiden, den libidinösen und den sozialen Bereich« (S. 27 5), »... erinnern wir uns an unsere erste Schlußfolgerung, die Wesensverschiedenheit von Libidinösem und Sozialem; das eine entstammt dem Biologischen, das andere der gegenseitigen Durchdringung der Bewußtseinssubjekte« (S. 283). Dieses Schema ist seiner Struktur nach mit denen Fromms und Kardiners, mit dem neofreudianischen Kompromiß identisch, den Bastide übrigens billigt, obwohl er kritisiert, daß in ihm der Sexualität ein zu begrenzter Platz zugewiesen werde. Die Schwäche dieser Auffassung von der Reziprozität der Perspektiven liegt bei Gurvitch wie auch bei Bastide unseres Erachtens in der ungenügenden Ausarbeitung ihrer psychologischen Begriffe. Die »gegenseitige Durchdringung der Bewußtseinssubjekte« ist ein vager Begriff, der überdies nicht definiert wird. Er bedient sich eines mechanischen Bildes, ist aber damit jedes psychologischen Inhaltes beraubt. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen der Intensität und des Wir-Druckes, von denen man glaubt, sie erklärten die Beziehungen zwischen den Gesellungsformen, der »Masse«, dem »Gemeinwesen« und der »Gemeinschaft«. Das gleiche gilt für den Begriff der Fusion, der eine beträcht»Die totalen psychischen Phänomene sind entweder (wie engere Kreise) dem Umkreis der totalen sozialen Phänomene eingeschrieben, oder sie stellen Kreise dar, die in bezug auf die letzteren Sekanten sind ... In beiden Fällen verbleiben Bereiche des totalen sozialen Phänomens, die über jede Trennlinie zum totalen psychischen Phänomen wesentlich hinausgehen: die morphologischökologische Oberfläche, die organisierten Apparate, die sozialen Reglementierungen und vor allem die Strukturen« (Gurvitch, 1958, 170). Bezüglich der allgemeinen Soziologie G. Gurvitchs vgl. insbesondere ebd. S. 155-254. 11
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liehe Unklarheit in den Begriff der Beziehung hineinträgt, die in unserem Sinn gerade nicht-fusioneHer Art ist. Auch glauben wir, daß wir die originelle Intuition einer Reziprozität der Perspektiven, in der die Erfahrung des Ich und des Wir auf der Ebene einer unmittelbaren Erfahrung zusammenfallen, ergänzen müssen, um ihren Gehalt auszuschöpfen, denn sie ist zu formal. Wir müssen der Erfahrung der Beziehung einen Inhalt geben. Es bedarf einer psychologischen Theorie der Beziehung, die es erlaubt, den verschiedenen Beziehungsformen Rechnung zu tragen und die Genese und Gliederung der »Formen« und »Stufen« der individuellen und kollektiven Soziabilität zu verstehen. Nur so können wir hoffen, Freuds Vorhaben einer Vereinigung von Psychologie und Soziologie wiederaufzunehmen und dem dichotomen Schema einer Interaktion zweierReihen heterogener Faktoren zu entnnnen. Die Neofreudianer bleiben zwar hinsichtlich der Vereinigung des Psychologischen und Sozialen hinter Freud zurück, gehen jedoch in Richtung auf eine Theorie der Beziehung über ihn hinaus. Wir denken dabei an die Therapeuten unter ihnen, etwa Horney und Fromm, die auch den großen Unabhängigen, Moreno und Rogers, sowie der Gruppe der existentiellen Therapeuten (Binswanger, May, Boss ... ) nahestehen.t2 Sie geben den Trieb-Biologismus Freuds fast vollkommen auf und sind bemüht, eine relationale Sprache auszubilden, um die normale und neurotische Persönlichkeit zu beschreiben. Zum Beispiel bringt Horney (1950) die Störungen der Persönlichkeit mit einer »Grundangst« in Zusammenhang, die durch das Gefühl der Einsamkeit und des Verlassenseins in einer feindlichen Welt gekennzeichnet ist und auf die das Individuum mit verschiedenen »Lösungen« reagiert: Expansion, Selbstauslöschung, Resignation. In ganz ähnlicher Weise sieht Fromm (1941, 19, 22 f., 30) im »Bedürfnis, der Einsamkeit zu entgehen« ein Grundbedürfnis des Menschen; neben archaischen Lösungen, die zum Scheitern verurteilt sind oder zu Konflikten führen, da sie die Einsamkeit durch Unterdrückung der Individualität zu überwinden suchen, gibt es ein spontanes Bestreben, mit dem Menschen und der Natur in Beziehung zu treten, das in Liebe und produktiver Arbeit zum Ausdruck kommt. Diese Autoren verzichten auf die Freudschen Dualismen (Lustprinzip und Realitätsprinzip; Narzißmus und Objektbeziehung, Lebenstrieb und Todestrieb), die Freud stets daVgl. Moreno {1953). Ober die nicht-direktive Orientierung vgl. Rogers (1951 und 1973), Filloux (1963), de Peretti (1966), Pages (1965). Hinsichtlich der existentiellen Therapeuten: May, Angel, Ellenherger {1958), May (1961), Boss (1963).
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zu dienten, die Konzeption eines ursprünglichen Konfliktes zwischen Sozialisations- und Isolierungsbestrebungen zu rechtfertigen. Ihre Persönlichkeitskonzeption ist wie bei Rogers astruktural und monistisch. Persönlichkeit wird in ihren letzten Tiefen als einigender Akt, als schöpferische Macht verstanden, von wo aus sich die Strukturen bilden, und nicht als A-priori-Struktur vorherbestimmter, auf Wiederholung drängender Bedürfnisse (»self realization« bei Horney, »growth« bei Rogers, Kreativität und Spontaneität bei Moreno). Die positive Beziehung zum anderen, die durch die Anerkennung seines Andersseins gekennzeichnet ist, bedeutet in dieser Sichtweise nicht mehr eine sekundäre Konstruktion, die von einer ursprünglich possessiven oder destruktiven Beziehung narzißtischer Art abgeleitet wird, sondern sie ist im Kern der Persönlichkeit verankert; diese begründet in demselben Akt ihre Individualität und anerkennt den anderen. Gleichzeitig wird der Akzent von der historischen Genese der Persönlichkeit auf das, was man ihre existentielle Genese nennen könnte, verschoben. Ohne daß die Bedeutung der Lebensgeschichte geleugnet würde, gilt das Interesse doch dem, was augenblicklich erlebt wird, was in der gelebten Beziehung geschieht oder nicht geschieht. Gewiß bestehen unter diesen Autoren beträchtliche Unterschiede, vor allem, wenn man Moreno, Rogers und die existentiellen Therapeuten zu dieser Gruppe zählt, aber es lassen sich doch unbestreitbare Konvergenzen in vier Punkten feststellen: Entwicklung einer relationalen Sprache; Monismus und schöpferische Macht der Persönlichkeit; ursprünglicher Charakter der positiven Beziehung zum anderen sowie die Wichtigkeit der gelebten Beziehung. Seltsamerweise verzichten jedoch die einen wie die anderen auf eine Auswertung dieser theoretischen Fortschritte im Sinne der Aufstellung einer Theorie der sozialen Gruppen, die mit ihren eigenen psychologischen Theorien in Einklang stünde und wofür diese doch die erforderlichen Grundlagen böten.
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Mit Bion verhält es sich eher umgekehrt. Diesesmal machen wir einen großen Schritt in Richtung auf eine wirklich gruppenhafte Konzeption der Affektivität, obwohl seine psychologischen Begriffe im wesentlichen auf der Linie der freudianischen, von Melanie Klein revidierten Orthodoxie bleiben. Bion gehört jener überaus originellen und schöpferischen Gruppe englischer Sozialpsychologen an, die in den beiden verschwisterten Institutionen des Tavistock Institute of Human Relations 108
und der Tavistock-Clinic beheimatet sind. Wir nennen nur die Namen Ezriel, Foulkes, Jaques, Menzies und Trist. 13 Diese Psychologen begnügen sich nicht mehr wie Freud damit, ausgehend von der Erfahrung der psychoanalytischen Behandlung über Gruppen zu theoretisieren. Sie betreiben konkrete Gruppenarbeit und sind im Bereich der Gruppenpsychotherapie, des Gruppentrainings und der Veränderung von Organisationen tätig, wobei sie sich zum Großteil von den Gedanken Freuds und Melanie Kleins leiten lassen. Unter ihnen legt Bion (1971) ein ganzes theoretisches System der Beschreibung und Interpretation von Gruppenphänomenen vor, obwohl er es vorsichtshalber ablehnt, es als solches darzustellen, und es daher in etwas unzusammenhängender Weise anläßlich einer Situationsbeschreibung therapeutischer Gruppen vorbringt. Zunächst einmal stellt Bion das Vorhandensein unbewußter Affekte fest, die allen Gruppenmitgliedern gemeinsam sind. Das Verhalten der Mitglieder einer Therapiegruppe ist nach seiner Ansicht unverständlich, wenn man nicht annimmt, daß die Mitglieder nach einer gemeinsamen, unbewußten »Annahme« handeln, die er Grundannahme (basic assumption) nennt. Diese »Annahme« ist ein Phantasiebild, eine unbewußte Vorstellung der menschlichen Beziehungen, die in einem bestimmten Augenblick allen Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist und die ihre Affekte leitet. Die Gruppen leben also in einem Zustand permanenter unbewußter Kollusion. Bion meint dazu, die Bemerkung Freuds über das Unbewußte, es sei den Beschränkungen von Raum und Zeit nicht unterworfen, lasse sich verallgemeinernd auch auf Gruppen anwenden. Er glaubt, in Gruppen ein Phänomen augenblicklicher, die Distanz überwindende Kommunikation von Emotionen feststellen zu können und nennt es »Valenz«: »die Fähigkeit zur sofortigen, unwillkürlichen Verbindung eines Individuum mit einem anderen, um eine Grundannahme mit ihm zu teilen und dapach zu handeln« (S. 112). Es sind so viele Valenzen möglich, als es Grundannahmen gibt. Bion unterscheidet bekanntlich drei Grundannahmen: eine Annahme der Abhängigkeit, die in der Überzeugung besteht, daß für jeden einzelnen privilegierte Individuen da sind, die ihn vor allem übel absolut zu schützen imstande sind; diese Annahme zieht das Bedürfnis nach sich, geschützt zu werden, sowie das komplementäre Bedürfnis, Schutz zu gewähren; weiter eine Kampf-Flucht-Annahme (fight13 Mit den Arbeiten von Jaques (1951-1955) und Menzies (1960) werden wir uns im 9. Kap., S. 267-272, auseinandersetzen. Vgl. auch Ezriel, 1950, Foulkes, Anthony, 1957, Trist und Bamforth (1950).
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flight): die Beziehung wird diesesmal als von Grund auf gefährlich erachtet, was in zwei sich ergänzenden Weisen zum Ausdruck kommt: durch den Wunsch anzugreifen oder angegriffen zu werden einerseits und durch die Flucht andererseits. Schließlich gibt es noch die Annahme des »pairing«, der Paarbildung. In diesem Fall sind die Gruppenmitglieder bestrebt, zu zweit oder durch Aufteilung in zwei Subgruppen ein Paar zu bilden. Die Atmosphäre ist optimistisch, das vorherrschende Gefühl ist das des Glückes oder genauer der Hoffnung, denn es handelt sich eher um ein erwartetes als ein verwirklichtes Glück. Bion spricht von messianischer Hoffnung, denn die diesen Gefühlen zugrunde liegende Vorstellung geht dahin, daß aus dieser Vereinigung ein Messias erstehen wird, der das Paar oder die ganze Gruppe retten kann. Die Grundannahmen bilden die unterschwellige, unbewußte Ebene des Gruppenlebens. Sie treten in Konflikt mit der »work group«, der Arbeitsgruppe. Bion bezeichnet damit eine Funktion (und nicht, wie der Ausdruck vermuten ließe, eine Gesamtheit von Individuen), die die bewußten und rationellen Motivationen der Mitglieder darstellt. Diese Motivationen differieren von einem Mitglied zum anderen, respektieren die individuellen Grenzen und sind im allgemeinen auch den Schranken von Raum und Zeit unterworfen: in der Sprache Freuds das Realitätsprinzip. Das Verhalten ist das Ergebnis eines Kompromisses zwischen den Anforderungen der »Arbeitsgruppe« und den unbewußten Impulsen (klassisches Freudsches Schema). Diesen Kompromiß nennt Bion die Kultur der Gruppe (»die Struktur, die sich die Gruppe jeweils gibt, die Beschäftigungen, denen sie nachgeht und die Organisationsform, die sie annimmt<< S. 40). Bion bleibt jedoch in seiner Untersuchung nicht bei der Beschreibung der Grundannahmen stehen; er stellt auch die Frage nach deren Herkunft. So postuliert er die Existenz einer dritten Ebene, der >>protomentalen«, die der Ebene der Grundannahmen zugrunde liegt und auf der diese entstehen. Auf dieser Ebene herrschen sehr urtümliche Ängste und Phantasien, analog denen, die Melanie Klein als charakteristisch für die erste Kindheit beschrieben hat: Phantasien der Loslösung des Körpers von der Mutter, die mit sehr tiefliegenden Destruktionsängsten und -impulsen einhergehen. Für Bion reaktiviert die Gruppensituation diese Urängste und -Phantasien. Die Gruppe wird für ihre Mitglieder zum unbewußten Symbol des Mutterschoßes. Bion hat den Eindruck, »daß die Gruppe in den Köpfen der Individuen, aus denen sie sich zusammensetzt, ganz frühen Phantasien über den Inhalt des Mutterleibes nur allzu nahesteht« S. 119). 110
Von daher gesehen, treten die Grundannahmen nicht mehr als Grundwirklichkeiten in Erscheinung, sondern als Abwehrreaktionen gegen die U rängste, welche die primäre mentale Wirklichkeit der Gruppe bilden. Die Grundannahme der Paarbildung entspricht dem Versuch, Verbündete gegen das unterschwellig gefürchtete Objekt zu finden, Kampf-Flucht kommt der Bemühung gleich, das Objekt zu unterdrükken, die Grundannahme der Abhängigkeit soll vor ihm schützen. Die scheinbar verschiedenen Grundannahmen verweisen durch die Angst, die sie zum Ausdruck bringen, auf einen undifferenzierten Urzustand, in dem die Angst vorherrscht. Bion nähert sich mehr denn jeder andere Vertreter der psychoanalytischen Tradition einer wirklich gruppenorientierten Theorie der Affektivität. Mit dem Begriff der Grundannahme erkennt er eindeutig die Tatsache der kollektiven Affektivität an, wie immer man über seine Einteilung und über den spezifischen Inhalt der drei Grundannahmen denken mag. Er sieht klar, daß die Gruppensituation in jedem Augenblick eine Situation affektiver Gemeinschaft ist. Unter anderen wichtigen Konsequenzen bedeutet dieser Gesichtspunkt eine Umkehrung der Freudschen Konzeption des Verhältnisses zwischen Führer und Gruppe. Der Führer ist keineswegs der Ursprung des affektiven Klimas der Gruppe, er ist vielmehr dessen Emanation: »Für mich unterliegt der Führer ebenso der Grundannahme wie jedes andere Gruppenmitglied« (S. 131). Führer der Gruppe in einem gegebenen Augenblick ist derjenige, den seine Persönlichkeit dazu disponiert, die in diesem Augenblick vorherrschende Grundannahme zu verkörpern (S. 178). Vor allem aber ist Bion schon fast soweit, den Ursprung der kollektiven Affektivität in der Gruppe zu erblicken. Für ihn ist nämlich die Gruppe ein spezifisches mentales Objekt, das als solches Emotionen hervorruft. Sie ist nicht einfach ein neutraler Ort, an dem sich individuelle, in der vorgängigen Erfahrung des Familienlebens erworbene Emotionen verbinden. Bion kommt sogar zu der Ansicht, daß »die Sphäre der protomentalen Ereignisse nicht verstanden werden kann, wenn man nur das Individuum allein betrachtet; den sinnvollen Bereich für die Untersuchung ihrer Dynamik bildet die Gesamtheit der Individuen in der Gruppe. Das prolomentale Stadium beim Individuum ist nur ein Teil des protomentalen Systems, denn protomentale Phänomene sind eine Funktion der Gruppe und müssen daher in der Gruppe betrachtet werden« (S. 75 f.). Bion tut also einen großen Schritt vorwärts in der Entwicklung des psychoanalytischen Denkens zu der Einsicht, daß der Ursprung der Affektivität in der Gruppe zu suchen ist. Aber er bleibt auf halbem 111
Weg stehen. Er interpretiert trotz allem die Gruppenemotionen innerhalb des historizistischen und triebtheoretischen Rahmens der Psychoanalyse (daß es sich dabei um Interpretationen im Stil M. Kleins handelt, ist unter diesem Gesichtspunkt unwichtig), indem er die Gruppe auf einen Ersatz für den mütterlichen Schoß reduziert. In einer solchen Beschreibung verweisen die Gruppenemotionen notwendig auf eine frühere affektive Erfahrung des Individuums; ihr Ursprung liegt nicht in der Situation selbst, und wir stehen wieder vor der Schwierigkeit, die wir bereits für gelöst hielten, nämlich die überraschende Konvergenz dieser individuellen Erfahrungen, wie sie in der Gruppensituation zutage tritt, erklären zu müssen. Wenn wir andererseits annehmen, die Gruppensituation erzeuge aus sich selbst die Emotionen, dann verstehen wir nicht, wie dies geschehen soll. Dazu müßte man einräumen, daß die menschlichen Bezüge zu einer Entdeckung des anderen führen, zu einer Beziehung, die Emotionen erweckt. Doch die psychologischen Begriffe Bions sind nicht relational. Die Emotion ist nicht Ergebnis einer Beziehung, die als Entdeckung und Anerkennung des anderen aufgefaßt wird, sondern Ergebnis individueller Besitz- und Destruktionstriebe. Angenommen, die wirkliche Beziehung sei möglich, so stellt sie nicht eine Urgegebenheit dar, sondern sie steht am Ende eines Triebumwandlungsprozesses. Wir stoßen von neuem auf die freudianischen Mechanismen zur Reduktion der Beziehung: Reduktion auf die individuelle Lebensgeschichte sowie auf Besitz- und Zerstörungstriebe. Sie sind die Ursache ebenso vieler Widersprüche im Denken Bions, der einerseits den Ursprung der Affektivität in der Gruppe bejaht und ihn andererseits verneint, mangels eines geeigneten Begriffes der Beziehung, verstanden als gegenseitige und unmittelbare Anerkennung des anderen. Der Begriff der kollektiven protomentalen Ebene bleibt eine inhaltsleere Hülse.
Die Reduktion der Beziehung in den sozialpsychologischen Begriffen der Interdependenz und Interaktion
Das große Verdienst der Sozialpsychologie im Gefolge Kurt Lewins war die Einsicht in die spezifische Eigenart psychologischer Gruppenprozesse. Die Sozialpsychologen begnügten sich nicht mehr damit, die Besonderheit der Tatsachen des kollektiven Lebens und der sozialen Institutionen zu konstatieren, wie es Soziologen und Anthropologen seit langem getan hatten. Sie stellten auch die Frage nach den konstitutiven Prozessen und konzipierten die Gruppe als Kernpunkt eines besonde112
ren Dynamismus, der Phänomene eigener Art hervorbringt. Die beiden Hauptbegriffe in diesem Zusammenhang sind die Interdependenz und die Interaktion. Der Begriff der Interdependenz steht bei Kurt Lewin in Wechselbeziehung zu den Begriffen der Ganzheit (whole) und des Teiles (part), deren Bedeutung für Lewin, den Nachfolger der Gestalttheorie, bekannt sein dürfte. Das Verhalten organisiert sich in der Weise in Ganzheiten, daß der Zustand jedes seiner Teile von dem aller anderen abhängt.14 Die einzelne Person und ihre Umwelt bilden eine Ganzheit. Später betrachtete Lewin die Gruppe als eine Ganzheit höherer Ordnung: »Faßt man die Gruppe als dynamisches Ganzes auf, dann sollte eine Definition der Gruppe auf die wechselseitige Abhängigkeit ihrer Glieder abstellen (oder, besser, auf die Teilbereiche der Gruppe)« (1963, S. 183). An dieser Stelle erläutert Lewin, daß diese Definition den Vorteil hat, die besondere Eigenart der Gruppenphänomene anzuerkennen, ohne den Unzulänglichkeiten »philosophischer oder metaphysischer« Theorien anheimzufallen; diese Theorien postulieren eine Gruppenseele und machen aus der Gruppe eine substantielle, von ihren Mitgliedern verschiedene Entität, der sie dann außerdem noch unausgesprochen Wertüberlegenheit zuerkennen. Lewin betont auch den Unterschied zwischen seiner Definition und den auf der Ähnlichkeit der Eigenschaften der Mitglieder beruhenden Definitionen (gemeinsame Ideale, gemeinsame Ziele usw.), also »klassifikatorischen« Definitionen einer vorwissenschaftliehen (aristotelischen) Denkweise. Der Begriff der Interdependenz verweist uns auf den Satz, daß »das Ganze mehr als die Summe seiner Teile ist« oder daß »die Gruppe mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder<< (Lewin sagt lieber, daß sie davon verschieden ist). Genauer bedeutet dies, daß die Phänomene nicht durch die Summe der Einflüsse jeden Teiles des Ganzen erklärt werden können. Der Begriff der Interdependenz ist also nicht nur analog, sondern wirklich identisch mit dem Begriff der Interaktion in dem Sinn, in dem dieser Ausdruck in der Statistik verwendet wird. Bekanntlich kann man statistisch die Interaktion mehrerer Variablen durch eine Varianzanalyse sichtbar machen. Eine Interaktion läßt sich dann feststellen, wenn die in einer Gruppe von Variablen ermittelte Varianz der 14 Eine ausführliche Darlegung des Interdependenz-Begriffes findet sich bei Lewin (1963). Der Anhang gibt eine Analyse der Begriffe Ganzheit, Differenzierung und Einheitlichkeit. Eine umfassende Darlegung der sozialpsychologischen Theorien Lewins enthalten außerdem Lewin (1959 und 1968), Deutsch (1954).
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Phänomene höher ist als die Summe der Varianzen, die jeder Variablen isoliert betrachtet zukäme, und wenn eine Residualvarianz gegeben ist. Beide Begriffe bringen im Grunde nichts anderes als einen Prozeß gegenseitiger Beeinflussung zum Ausdruck. Die Definition der Gruppe muß im Zusammenhang der Theorien Lewins in einem ganz allgemeinen Sinn als die Interdependenz von Untereinheiten (subparts) der Gruppe verstanden werden; diese Untereinheiten können sein: die einzelnen Gruppenmitglieder oder mehrere Mitglieder zusammen, aber auch Teile des psychologischen Raumes der Gruppe wie Ziele, Normen, Methoden usw. Man kommt nicht umhin festzustellen, daß der Begriff der Gruppe in einer solchen Definition vage bleibt und daß wir keine besondere Anleitung erhalten, wie er anzuwenden sei. Später gibt Morton Deutsch eine genauere und zugleich engere Definition der Gruppe, indem er sie durch die Interdependenz der Ziele ihrer Mitglieder bestimmt: »Eine soziologische Gruppe ist dann gegeben (bzw. bildet eine Einheit), wenn die Individuen, aus denen sie besteht, Ziele verfolgen, die sich als interdependent erweisen; eine psychologische Gruppe ist gegeben (bzw. bildet eine Einheit), wenn die Individuen, aus denen sie besteht, wahrnehmen, daß sie Ziele verfolgen, die sich als interdependent erweisen« (Deutsch, 1953, 330). Eine verwandte Definition bietet Cattell (1953, 20): »Eine Gruppe ist eine Gesamtheit von Organismen, für welche die Existenz aller (in ihren gegebenen Beziehungen) zur Befriedigung bestimmter individueller Bedürfnisse jedes einzelnen notwendig ist.« Der unbestreitbare Beitrag Lewins besteht darin, daß er die Besonderheit von Gruppen anerkannte und sich hütete, die Gruppe zu verdinglichen oder zu etwas Substantiellem zu machen. Er faßt sie als einen Prozeß auf. Doch dieser Prozeß hat keinen psychologischen Charakter. Der Begriff der Interdependenz bleibt rein formal: er konstatiert nur einen Prozeß gegenseitiger Beeinflussung, ohne diesen auf eine psychologische Grundlage zu stellen. Interdependenz oder Interaktion (im statistischen Sinne) sind nicht Beziehung. Interdependenz ist, was vom Beziehungsbegriff übrigbleibt, wenn man diesen seines ganzen affektiven Inhalts entleert. Denn für Lewin ist die Existenz der Gruppen nicht im affektiven, sondern im strukturalen Bereich verankert. Das Einwirken der Menschen aufeinander wird nicht als affektive Kommunikation, als erlebtes Gefühl für den anderen gesehen, sondern nach dem Modell einer unpersönlichen Struktur, die denjenigen, die sie in Beziehung zueinander bringt, äußerlich bleibt. Gewiß bleibt das Gefühl in einer solchen Sichtweise möglich, aber es ist nicht die Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehungen; vielmehr ist es selbst das Ergebnis 114
einer Interdependenzstruktur. Das gefühlshafte Erfassen des anderen erweist sich als Illusion, die eigentliche Realität der Gruppe ist struktural. Bekanntlich galten denn auch die von Lewin inspirierten Arbeiten vornehmlich den strukturalen Aspekten: der Begriff der Führung (leadership), Gegenstand berühmter Untersuchungen, enthält als wesentliche Variablen die Form des Kommunikationsnetzes und die in diesem Netz gegebene Art der Informationsbehandlung. Demokratisch verhält sich zum Beispiel jener Führer, der die Information zirkulieren läßt und die Mitglieder dazu bringt, sich an der Informationsverarbeitung zu beteiligen (Lewin, 1959, 199). Die affektiven Aspekte werden vernachlässigt. Der ihnen entsprechende Begriff der psychologischen Kraft spielt zwar eine bedeutende Rolle in der Theorie Lewins. Doch gemeint ist damit entweder eine blinde, nach Art eines psychischen Druckes auf das Individuum einwirkende Kraft, in der das Individuum keinerlei Sinn zu erkennen vermag, oder die bloße Vorstellung eines Verlangens oder einer Befürchtung. Nie wird sie als erlebtes Gefühl oder erlebte Emotion beschrieben, die ja gerade Handeln und Bewußtsein miteinander verbinden. Ohne Übergang gelangt man von einem total undurchsichtigen materiellen zu einem völlig klaren rationalen Determinismus. Der Begriff des unbewußten Gefühls, d. h. eines im Handeln unterschwellig gegenwärtigen, es erhellenden Bewußtseins, ist Lewin vollkommen fremd. Der Bewußtseinsbegriff Lewins ist daher auch solipsistisch: er läßt das Individuum nicht aus sich selbst heraustreten und schließt es im Kreis seiner Vorstellungen ein. Dynamisch und bewegend ist für Lewin letztlich allein der strukturierende Akt, der die Kommunikation unter den individuellen Feldern herstellt.15 Der Begriff der Interdependenz und sein statistisches Äquivalent sind außerdem nicht ganz frei vom individualistischen Vorurteil. Zwar erkennen sie den Eigencharakter d$!r Gruppe an, machen aber dennoch weiterhin aus ihr eine zweitrangige und konstruierte Realität. Der Begriff des Individuums ist nach wie vor primär. Sicherlich unterliegt das Individuum dem Einfluß der Gruppe, aber es ist ohne Gruppe denkbar, während das Umgekehrte nicht zutrifft. Statt daß Gruppe und Individuum in einem gegeben sind, bleibt die Gruppe nach wie vor ein Produkt des Individuums. Wir werden im 12. Kapitel aufzeigen, wie diese Eigentümlichkeiten der Theorie Lewins gewisse Unstimmigkeiten in der Lewinsehen Konzeption der psychologischen Intervention (er nennt sie Aktionsforschung) verursachen; zwar möchte er mit seiner Konzeption die Kommunikation fördern, sieht aber nicht, daß damit seitens des Psychosoziologen Druck ausgeübt wird.
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Die Begriffe Interdependenz und Interaktion sind schließlich dazu angetan, die Gruppe auf die interpersonale Ebene zu reduzieren. Die Gruppe stellt gewissermaßen das Integral der Interaktionen zwischen ihren Mitgliedern dar. Logisch ist die folgende Sequenz: Individuelle Bestrebungen ->- interpersonale Reaktionen (2 zu 2, 3 zu 3 ... ) -+ Gruppenphänomene. Genauer gesagt: es wird angenommen, daß die durch ein neues Mitglied in einer Gruppe von n Personen hervorgerufenen Veränderungen gleich der Summe der Veränderungen sind, die es, für sich allein, an jedem einzelnen Mitglied bewirkt. Geht man zum Beispiel von zwei auf drei Mitglieder, so wird angenommen, daß A in einer Gruppe von drei Personen auf eine neue Weise B beeinflußt, da A und B dem Einfluß von C unterliegen.!& Damit haben wir eine neue und etwas verfeinerte Version der Maxime, die Gruppe sei gleich der Summe ihrer Mitglieder. Diesesmal ist sie gleich der Summe der Veränderungen, die ihre Mitglieder aneinander bewirken, 2 zu 2 (oder 3 zu 3 usw.). Wir haben nun bei der Untersuchung der Walfischgruppe wiederholt festgestellt, wie willkürlich die kleinen interpersonalen Episoden erscheinen würden, betrachtete man sie außerhalb des Gruppenzusammenhanges, und wie sie im Gegenteil innerhalb dieses Zusammenhanges klar wurden. Wir erinnerten daran im vorigen Kapitel, wo wir als Beispiel das Verhältnis von Jean-Marc zu einigen Gruppenmitgliedern anführten. Die interpersonalen Beziehungen sind bei weitem nicht Ursprung der Gruppenphänomene, sie sind vielmehr deren Ausdruck. In ihnen treten die vorherrschenden Affekte zutage, die in einem bestimmten Augenblick allen Gruppenmitgliedern gemeinsam sind. Bion sagte vom Individuum, es sei Ausdruck der Gruppe (auf der unbewußten Ebene der Grundannahme): man kann dies auch auf die Beziehungen der Individuen untereinander verallgemeinern. So verhält es sich allerdings nur, wenn man den Interaktionsbegriff simplifiziert. Nimmt man ihn in seinem strengen statistischen Sinn, kommen in dem von uns beschriebenen Fall Interaktionen erster Ordnung zustande, und zwar dadurch, daß man die Variablen 2:2 nimmt. Man kann aber Interaktionen jeder beliebigen Ordnung definieren und messen. Doch der Interaktionsbegriff wird oft im ersten Sinne verstanden. Ohne Zweifel ist dies darauf zurückzuführen, daß die Begriffe der Interdependenz und Interaktion zwar die gegenseitige Beeinflussung - sogar jeder beliebigen Ordnung - definieren, sie jedoch keineswegs zu erklären vermögen. Der Mechanismus der Beeinflussung ist nach wie vor ungeklärt, was die Vermutung nahelegt, daß der Ursprung des Einflusses letztlich individueller Natur ist. Es ist daher verständlich, daß der Interaktionsbegriff in der Praxis nur beschränkte V erwcndung findet. 16
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Diese Reduktion der Gruppe auf das Interpersonale ist bei den Sozialpsychologen der sogenannten »interaktionistischen« Schule, Bales, Borgatta, G. Hornans u. a., deutlicher ausgeprägt (Hare u. a., 1955; Homans, 1950). Sie verwenden den Begriff Interaktion in einem vom Statistischen und von der Lewinsehen Interdependenz völlig verschiedenen Sinn, nämlich rein deskriptiv. Interaktionen sind für sie die konkreten Modalitäten, wie Menschen miteinander in Beziehung treten (X helfen, mit Y sprechen, sich A nähern, sich von B entfernen usw. (Daval, 1963, Bd. I, 71). Bales (1950) legte, wie der Leser weiß, ein Kategoriensystem vor, um in schöner kantischer Symmetrie die Interaktionen beschreiben zu können. Gruppen sind in dieser Auffassung eine Art von statistischen Residuen interindividueller Interaktionen und üben als solche rückwirkend einen regulierenden Einfluß auf das Verhalten der Mitglieder aus. Hinsichtlich der Gruppendynamiker nach Lewin ist zu sagen, daß sie den seinem System anhaftenden Schwierigkeiten offensichtlich nicht entronnen sind. Zwar sahen sie sich gezwungen, dem erlebten Gefühl und den unbewußten Dimensionen des Verhaltens einen Platz einzuräumen; dies gilt besonders für jene von ihnen, die sich mit Trainingsgruppen abgaben. Wenn sie diesen Faktoren auch in der Gruppenpraxis Rechnung trugen, so bleiben dennoch ihre theoretischen Auffassungen im wesentlichen unverändert. Sie beschränkten sich darauf, den Lewinsehen Begriffen solche psychoanalytischer Herkunft hinzuzufügen. Die schematische Formel lautet nun so: Gruppenphänomene = f (Gruppenstrukturen, individuelle Konflikte). Warren G. Bennis (1972) erklärt zum Beispiel, daß die Entwicklung der Trainingsgruppe von der Lösung jener Probleme beherrscht wird, die für die Mitglieder aus der Verschiedenheit der Einstellungen zu den Autoritätsfiguren und zueinander entstehen und die den beiden affektiven Bereichen der Einstellung zur Macht und zur Liebe oder Intimität entsprechen. Die Gruppe ist bemüht, die aus der Verschiedenheit der Einstellungen herrührende Ungewißheit zu verringern, wobei diese Einstellungen überdies bei jedem Individuum konfliktbehaftet sind. Der Grund dieser Ungewißheiten, die für gewöhnlich durch eher autoritäre Strukturen verdeckt sind, ist die permissive Struktur der T -Gruppe. Es ist klar, daß dieses Schema den Ursprung der von den Mitgliedern empfundenen Gefühle nicht in die Gruppenbeziehung selbst, sondern in die individuelle Lebensgeschichte der Mitglieder verlegt: »Kernstück der Theorie der Gruppenentwicklung ist die These, daß die Hauptprobleme, die die Gruppe lösen muß, in den Haltungen zu Autorität und Intimität liegen, welche die Mitglieder in die Gruppe 117
mitbringen« (Bennis, 1972, 272; Hervorhebung M. P.). Weiter: »Die Haupthindernisse für eine gültige interpersonale Kommunikation liegen in den rigiden Interpretations- und Reaktionsweisen, die aus angstbestimmten Erfahrungen mit bestimmten Liebes- oder Machtfiguren in neue Situationen hinübergetragen werden, in denen sie unangemessen sind« (S. 288). Dies ist die klassische Betrachtungsweise der Psychoanalyse. Die Gruppe ist für ihre Mitglieder nicht Quelle der affektiven Erfahrung, sie ist ein affektiv neutrales Milieu, in dem sich die affektiven Bestrebungen der Mitglieder in verschiedener Weise miteinander verbinden. Man hat damit im Vergleich zu Bion, der der Gruppe immerhin eine bestimmte Eigenart im affektiven Bereich zuerkannte, sogar an Boden verloren. Bennis' Artikel ist im übrigen reich an subtilen Beobachtungen des Gruppenlebens; der Autor beschreibt den Ablauf der T -Gruppe als eine Folge von Phasen, die jeweils durch eine gemeinsame affektive Orientierung, in der die Gefühle der Mitglieder konvergieren, gekennzeichnet sind, aber sein Begriffsinstrumentarium gestattet ihm nicht, diese Konvergenzen zu erklären und aus seinen Beobachtungen Nutzen zu ziehen.
Die unmittelbare Beziehung
Der Vergleich zwischen Lewin und Bion ist lehrreich. Auf der einen Seite erkennt der Psychoanalytiker Bion die kollektiven affektiven Phänomene als solche, konzeptualisiert sie jedoch innerhalb eines individualistischen Bezugsrahmens; auf der anderen Seite untersucht Lewin die Beziehung, entleert sie jedoch jeden affektiven Inhalts: hier ein konkreter Inhalt ohne den Begriff der Beziehung 17, dort ein abstrakter Begriff ohne Inhalt. Es ist, als wollte man zwei auseinanderliegende Elemente, Beziehung und Gefühl, zusammenbringen; eines entschlüpft stets, als ob komplementäre Prozesse des Widerstands am Werke wären. Die Unabhängigen, die Dissidenten der Psychoanalyse und die Neofreudianer gelangen zu einer anderen Auffassung der Beziehung, die dem erlebten Gefühl für den anderen einen Platz einräumt, neigen aber dazu, sie auf die interpersonalen Beziehungen zu beschränken; die Gruppenphänomene gehorchen wenigstens teilweise anderen Gesetzen: solchen sozio-ökonomischen Ursprungs. 17 Auch bei Bion findet sich zwar mit dem protomentalen System ein abstrakter Beziehungsbegriff, er ist aber noch leerer als Lewins Begriff der Interdependenz.
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Die verschiedenen Versuche, die wir soeben darlegten, tendieren zu einer Reduktion der menschlichen Beziehung auf ein Verhältnis instrumentaler Art: rein mechanische Interaktion, wie in der Lewin-Tradition; oder Beziehungen kultureller Objekte untereinander, die letztlich ökonomische Verhältnisse widerspiegeln; oder der andere ist, wie in der Psychoanalyse, Gegenstand von Besitz- oder Zerstörungstrieben bzw. Hindernis für diese Triebe. Die so aufgefaßte Beziehung zerstört den anderen, sie eliminiert ihn in seiner Einmaligkeit und seinem Anderssein, insofern er eben gerade ein anderer ist. Durch ihre Verneinung der Beziehung verneinen und eliminieren die klassischen Theorien zugleich auch das Gefühl, indem sie es seines relationalen Charakters berauben. Das Gefühl wird auf den Ausdruck fundamentaler Bedürfnisse oder Triebe reduziert. Es ist nicht ein InBeziehung-Treten. Für die Psychoanalyse ist der andere zum Beispiel Objekt des Verlangens und als solches eine Emanation des Subjektes selbst; tritt er als Triebbehinderung auf, bewirkt er zwar eine Veränderung des Verlangens, aber deswegen noch keine Beziehung zum anderen. Der psychoanalytische Solipsismus sperrt das Individuum in seinen Trieb ein. Er leugnet das Gefühl als ein In-Beziehung-Treten zum anderen, als Sensibilität für den anderen. Durch die doppelte Reduktion der Beziehung auf ein instrumentales Verhältnis einerseits und den Ausdruck von Grundtrieben andererseits kommt es in den klassischen Theorien zu einer Trennung von Beziehung und Gefühl. Die eine wie die andere wissenschaftliche Tradition lehnt damit die Idee ab, daß die Beziehung affektiven Kontakt, Sensibilität bedeutet und daß umgekehrt Affektivität bedeutet, in Beziehung zum anderen zu treten. Die menschliche Beziehung, verstanden als erlebtes Gefühl für den anderen, kann dann nur eine Konstruktion sein. Sie wird nicht festgestellt, sondern sie muß erklärt werden. Sie ist auf jeden Fall nicht ein primäres, sondern ein sekundäres Phänomen. Die beiden getrennten Komponenten müssen durch einen Konstruktionsvorgang geeint werden. Man kann dabei entweder vom Trieb ausgehen und die Genese der Beziehung als aufeinanderfolgende lnternalisierungen von Triebobjekten darstellen, wobei diese Introjektionen selbst wieder aus dem Zusammenstoß der Triebe mit der Realität resultieren; oder man sieht in der Beziehung ein Epiphänomen objektiver Strukturen, von ökonomischen Verhältnissen oder von Kommunikationsnetzen. Man kann aber auch - wie die Kulturanthropologie psychoanalytischer Prägung die beiden Standpunkte zu versöhnen suchen, und zwar dadurch, daß man sich eine kombinierte Determination vorstellt, die durch die Wir119
kung von sich kreuzenden Variablen verschiedener Ordnung zustande kommt. Dagegen gehen wir von der Annahme aus, daß die menschliche Beziehung niemals mit einem Objektbezug, einem Verhältnis instrumentaler Art gleichgesetzt werden kann. Die menschliche Beziehung ist immer und von vornherein affektiv. Sie bedeutet Sensibilität für den anderen oder - mit den Worten Heideggers - Sorge, Fürsorge t8. Diese Ausdrücke bezeichnen nicht eine besondere Emotion, sondern die Grundlage jeder Emotion. Sie besagen, daß sich der Mensch den anderen gegenüber in einem permanenten Zustand der Nicht-Indifferenz, der Bereitschaft oder Aufnahmefähigkeit befindet. Scheinbare Indifferenz und fehlende Bereitschaft sind Masken und setzen eine tieferliegende Nicht-Indifferenz voraus. Denn wir sind»indifferent zu« jemandem, dem unsere Indifferenz gilt, für den wir jedoch zuerst empfänglich gewesen sein müssen, ehe wir uns ihm gegenüber dann auf eine indifferente Haltung festlegen können. Es gibt keinen Zustand einer ursprünglichen Indifferenz, keine Condillacsche tabula rasa, auf der die anderen erst Eindrücke hinterlassen müßten. Die Indifferenz ist sekundär und verweist auf eine als primär anzusehende Sensibilität. In der menschlichen Beziehung ist der andere in seinem Anderssein gegeben, nicht als ein mir Ähnlicher, der auf meinen Trieb und meine Bedürfnisse reduzierbar ist, d. h. nicht als Objekt, sondern eben als ein anderer. Sie setzt die wenigstens partielle und undeutliche Anerkennung einer Person voraus, die mit Individualität und Autonomie ausgestattet ist. Umgekehrt setzt das Gefühl in Beziehung zum anderen, impliziert es Beziehung. Alle Modalitäten des Affektes sind Modalitäten der Beziehung. Sie sind Ausdrucksweisen und zugleich Abwehrweisen der Beziehung zum anderen als distinkter und autonomer Person. Insbesondere trifft dies für die von der Psychoanalyse in der biologischen Sprache des Triebes beschriebenen Phänomene zu. Was diese Sprache erfaßt, ist nicht das Gefühl, sondern eine abstrakte und deformierte Sicht des Gefühls, die einer Abwehr gleichkommt. Eine Theorie der Beziehung müßte somit die von der Psychoanalyse beschriebenen Phänomene aufgreifen und sie in eine neue Perspektive stellen. Wir postulieren also eine enge Verbindung von Beziehung und GeHeidegger (1927, S. 57, 121, 191-196. Vgl. auch Corvez (1961, 4i-54). Die »Sorge« ist für Heidegger eine allgemeine Kategorie des In-der-Welt-Seins, während die »Fürsorge« der Modus der Sorge in der zwischenmenschlichen Beziehung ist. 18
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fühl. Sie geht weit über die banale Feststellung hinaus, daß jede menschliche Beziehung von Gefühlen begleitet ist. Die beiden Elemente schließen sich gegenseitig ein. Beziehung wird erlebt, und Gefühl ist das Erlebnis der Beziehung zum anderen. Das besagt weiter, daß die so verstandene menschliche Beziehung unmittelbar ist. Das Gefühl für den anderen ist eine unmittelbare Gegebenheit. Der Mensch hat unmittelbar erlebten Kontakt zu den anderen Menschen. Wir stimmen hierin mit den Intuitionen Schelers hinsichtlich der Sympathie überein, die für ihn eine originäre Erfahrung darstellt: »Daß aber >Erlebnisse< da sind, ist uns in den Ausdrucksphänomenen - wiederum nicht durch Schluß - , sondern >unmittelbar< gegeben im Sinne originären >Wahrnehmens<. Wir nehmen die Scham im Erröten wahr, im Lachen die Freude.<< 19 Weiter erklärt er, »daß Nachfühlen und Mitgefühl Urphänomene sind, die nur in ihrem Wesen aufgewiesen werden können, nicht aber psychogenetisch aus einfachen Tatsachen ableitbare Erscheinungen darstellen« {1923, S. 64). Ebenso trifft sich unsere Auffassung mit der Theorie Heideggers über das Mitsein. Das Mitsein ist ein konstitutiver Modus des Daseins, des ln-derW elt-Seins, was bedeutet, daß der Mensch je schon in Beziehung zu anderen Menschen steht, und zwar in einer Seinsart, die sich nicht auf ein instrumentales Verhältnis zu den Objekten zurückführen läßt. 20 19 Scheler (1923, S. 6). Scheler trifft eine klare Unterscheidung zwischen Mitgefühl, Einsfühlung und Identifikation (»Mitgefühl setzt gerade die phänomenale Ichdistanz voraus, die durch Einsfühlung aufgehoben ist«, S. 23). An anderer Stelle scheint Scheler jedoch im Mitgefühl eine entwickelte Form der menschlichen Beziehung zu erblicken, die durch die Einsfühlung ermöglicht wird; dies steht offensichtlich im Widerspruch zu seiner ersten These. Überhaupt kann man Scheler den Vorwurf nicht ersparen, daß er in seiner phänomenologischen Strenge dazu neigt, die »Formen der Sympathie« allzusehr aufzufächern, so daß sich ihre Zusammenhänge nicht mehr erkennen lassen. Wir glauben, daß dies darauf zurückzuführen ist, daß er dem Begriff der »phänomenologischen Distanz« (wir nennen sie Trennungsangst) zuwenig Beachtung schenkt. Mit Hilfe dieses Begriffes lassen sich die »niederen« Formen der Sympathie, wie etwa die Einsfühlung, als Abwehrreaktionen gegen die als eine Trennungserfahrung verstandene originäre Mitgefühls-Erfahrung interpretieren. 20 Heidegger (1927, 117-125). »Die Welt des Daseins gibt demnach Seiendes frei, das nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-Seins »inc der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das freigebende Dasein selbst - es ist auch und mit da ... Auf dem Grunde dieses mithaften ln-der-
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Unsere Auffassung läßt sich auch mit dem dunklen, aber interessanten Tele-Begriff Morenos vergleichen (Moreno, 1967; Daval, 1963, 371 bis 380). Es ist daher ein vergebliches Bemühen, die affektive Beziehung erklären zu wollen. Sie ist weder durch den Trieb, noch durch die sozialen Institutionen, noch durch materielle Interaktion der Menschen untereinander vermittelt. Kein System, das die Beziehung durch etwas anderes vermittelt sein läßt, kann sie wiederherstellen, denn es geht davon aus, daß es sie unterdrückt. Vielmehr haben die Triebmanifestationen, die Institutionen und die einzelnen materiellen Kommunikationen ihren Ursprung in einer erlebten Erfahrung der Beziehung, der sie Ausdruck geben. Wir halten daher die Beziehung für ein unmittelbares und ursprüngliches Phänomen, als den Schlüssel zum Verständnis der psychologischen wie der soziologischen Phänomene. Diese affektive Erfahrung der Beziehung ist allen Mitgliedern einer Gruppe gemeinsam. Sie ist die Grundlage der Gruppenbindung, denn sie verbindet einen jeden nicht nur mit irgendeinem bestimmten anderen, sondern mit allen. Zumeist bleibt sie undeutlich, verborgen und unbewußt. Dennoch ist sie es, die nach unserer Ansicht das Leben der Gruppe beherrscht. Das Leben der Gruppe ist nichts anderes als ein permanenter Dialog, um diese Erfahrung, die die Gruppenmitglieder gemeinsam machen, zu erhellen. Was die Gruppenmitglieder miteinander austauschen, die Gefühle, die sie bewußt empfinden, ihre Kommunikationsweise, die Organisation der Gruppe, die Aufgabe, der sie sich widmet, selbst ihre Zusammensetzung und ihre genauen Grenzen- alles das bezieht sich auf jene gemeinsame Erfahrung und sucht ihr Ausdruck zu verleihen. Alles das ist daher nicht Ursprung der Beziehung, die ihm unbewußt vorausliegt, sondern bringt sie zum Ausdruck und macht sie bewußter. Wir stellen daher die Hypothese eines kollektiven Unbewußten auf, das in der jeweiligen Gegenwart liegt; es besteht in der affektiven Erfahrung der Beziehung, und es steuert die Gruppenphänomene. Wir behaupten weiter, daß menschliches Verhalten von Grund auf expressiv ist. Es ist nie sinnlos. Das bedeutet auch, daß es, entgegen dem äußeren Anschein, in seinem Wesen und in allen seinen Formen Kommunikation und Dialog ist.
Welt-Seins ist die Welt je schon immer die, die ich mit den anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit dem anderen. Das innerweltliche Ansichsein dieser ist Mitdasein« (S. 118).
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Angst und Solidarität
Wir nehmen also die Unmittelbarkeit einer Beziehung zum anderen durch das Gefühl an, die in Gruppen der Ursprung einer kollektiven, in der Gegenwart erlebten Erfahrung der Beziehung eines jeden zu allen ist. Doch wir können im Verständnis der Gruppenphänomene nicht weiter vorankommen, ohne den Inhalt der Beziehungserfahrung näher zu bestimmen. Die Praxis der Trainingsgruppen vermag zur Klärung dieser Frage beizutragen. Wir haben den Eindruck gewonnen, daß diese Gruppen von der Erfahrung einer sehr tiefen Angst vor Trennung und Einsamkeit beherrscht sind. Paradoxerweise führt jedoch die Angst vor der Trennung zur Entdeckung der Solidarität und der Verbundenheit mit den anderen. Genau in dem Augenblick, in dem die Einsamkeit unwiderruflich erfahren wird, entdeckt man den anderen in seiner Einsamkeit und fühlt sich mit ihm verbunden. Die Angst vor der Einsamkeit, die schmerzliche Erfahrung der Einsamkeit und der Trennung sind schon Zeichen einer Verbundenheit mit den anderen und tragen in sich das dunkle Bewußtsein einer Solidarität. Wenn die Trennungsangst akzeptiert wird, wird die Solidarität bewußt und entfaltet sich zu authentischer Liebe. Diese ist ein gelebtes Paradox. Sie vereinigt in sich das Bewußtsein der Trennung von und der Verbundenheit mit den anderen. Sie schließt die authentische Beziehung zum anderen ein, den ich als verschiedenes und von mir getrenntes Wesen anerkenne, sowie das Bewußtsein meiner eigenen Individualität und das authentische Verhältnis zu mir selbst. Sie ist Mitgefühl mit dem anderen und mit mir selbst, Akzeptieren der eigenen und der fremden Angst, die sie beide mit ihren Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten anerkennt. Sie ist eine objektive Abwehr der Angst, die sie nicht verneint, sondern vielmehr überwindet, indem sie sie zum Ausdruck bringt und teilt. Trennungsangst, authentische Liebe und wahre Individualität erscheinen so als zusammenhängend, als verschiedene Aspekte ein und derselben affektiven Realität (vgl. 7. Kapitel). Die Trennungsangst wird jedoch zumeist konflikthaft erlebt. Sie kann nicht bewußt empfunden werden, denn das setzte voraus, daß man sich einem nahezu unerträglichen Schmerz auslieferte. Sie kann auch nicht völlig abgewehrt werden, denn nur durch sie ist man mit den anderen und mit sich selbst verbunden. Sie wird ambivalent in einem Doppelschritt des Ausdrückens und Verlangens. Sie kommt indirekt in verschiedenen Formen des Fühlens und Handeins zum Ausdruck, die 123
ebenso viele Möglichkeiten sind, sie abzuwehren. Zum Teil sind es illusionistische Abwehrmechanismen, denn sie beruhen auf einer partiellen Verleugnung der Realität.2I Die Gruppenmitglieder sind in diesem Konflikt zwischen der Notwendigkeit, die Angst auszudrücken, und der, sie zu verleugnen, solidarisch. Sie kooperieren in der Suche nach einer annehmbaren Sprache, die einen Kompromiß zwischen diesen beiden Notwendigkeiten darstellt. Sie entwickeln gemeinsam kollektive Abwehrhaltungen gegen die Angst, die für alle Gruppenmitglieder annehmbar sind. Denn die Abwehr der Trennungsangst kann nie Sache eines einzelnen sein, wie reif er auch sei. Die Angst ist nämlich gerade eine Sensibilität für die Einsamkeit des anderen. Eine einzige isolierte Person in einer Gruppe gefährdet die Sicherheit aller. In T -Gruppen kann man feststellen, daß sich die Gruppe auf das Individuum zentriert, das zu einem bestimmten Zeitpunkt am meisten Abwehr zeigt. Es ist dann so, als ob sich die Gruppe zuerst um dieses Individuum »kümmern« (mehr oder weniger wirkungsvoll) und einen Dialog auf einer für es annehmbaren Ebene mit ihm aufnehmen müßte, bevor sie sich den weniger defensiv eingestellten Personen zuwenden kann. Dies deshalb, weil das isolierte Individuum die allen gemeinsame Trennungsangst verkörpert. Ohne dieses Mitglied ist keine Beziehung innerhalb der Gruppe möglich. Es gibt daher keine andere mögliche Abwehr gegen die Angst als den Dialog, gleichgültig auf welcher Ebene. Der Dialog bedeutet eben jenen zögernden Versuch, sich selbst und den anderen die Kommunikation der Angst zu ermöglichen, ohne irgend jemandes Sicherheit zu gefährden. Indem die Gruppe so nacheinander die individuellen Konflikte einzelner Mitglieder »behandelt«, behandelt sie zugleich auch einen von allen Mitgliedern empfundenen kollektiven Konflikt. Schritt für Schritt räumt sie die Hindernisse der Beziehung aus dem Weg, wobei sie eine Stufenfolge kollektiver Abwehr durchläuft, die von den oberflächlichsten Formen - sie sind auch die defensivsten und verneinen die Beziehung am meisten- bis zu den tiefsten reichen. Wenn die Angst teilweise abgewehrt wird und damit auch das Bewußtsein der Verbundenheit, dann besteht die Solidarität der Gruppe als faktische Solidarität. Sie äußert sich in der Errichtung kollektiver 21 Die authentische Liebe ist insofern eine objektive Abwehr der Angst, als sie die Trennungserfahrung nicht verneint. Wir verwenden in der Folge den Ausdruck »Abwehre im zweiten Sinn, dem einer teilweisen Verleugnung der Realität.
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Abwehrstrukturen, die für alle Mitglieder annehmbar sind. So offenbaren scheinbar gar nicht solidarische kollektive Einstellungen, wie gegenseitige Aggressivität oder Flucht, die Solidarität der Gruppe gerade dadurch, daß sie in einem unbewußten Vorgang kollektiv übernommen werden, um jene Gruppenmitglieder zu schützen, die in diesem Augenblick kein anderes Verhalten ertragen könnten. Man darf auch nicht vergessen, daß es sich um eine dynamische Solidarität handelt. Sie besteht ja nicht schlicht und einfach darin, mit den Gruppenmitgliedern bei der Verleugnung der Angst zusammenzuspielen, sondern darin, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, damit sie sich so ausdrücken können, wie es ihnen im Augenblick am besten möglich ist. Die Solidarität ist eine wirkungsvolle Ausdruckshilfe. Das Leben der Gruppe erscheint so auf allen seinen Ebenen als ein solidarisches Bemühen, eine kollektive Abwehr gegen die Angst au/zubauen. Es ist ein Erlernen der Solidarität, das von Anfang unter der Führung eines unbewußten Solidaritätsgefühles steht, verbunden mit der gemeinsamenunbewußten Erfahrung der Angst. Dieser Lernprozeß verläuft von einer nicht erkannten, ungeschickt und zögernd geäußerten Solidarität, die teilweise durch die gleichzeitige Verleugnung des anderen und seiner selbst erlangt wird, zu einer bewußten Solidarität, die sich von der Liebe nicht mehr unterscheidet und gleichzeitig Selbstbejahung und Bejahung des anderen ist. 22 Auf diese Weise lassen sich, wie wir glauben, die von uns und anderen festgestellten affektiven Konvergenzen im Leben von Gruppen erklären, die wir im vorangehenden Kapitel erwähnten. Die Konvergenz der individuellen Erfahrungen in einem affektiven Konflikt, den alle Gruppenmitglieder mit geringfügigen Abweichungen erleben, und die sie begleitende Entwicklung der Mitglieder finden ihre Erklärung weder in der individuellen Lebensgeschichte, die von einem Individuum zu anderen notwendig verschieden ist, noch im kulturellen Einfluß, der höchstens einen ziemlich losen gemeinsamen Hintergrund abgäbe, noch auch in der Gruppeninteraktion, die von sich aus jedes affektiven Charakters entbehrt. Die Konvergenz verweist auf eine in der Gruppe selbst gemachte affektive Erfahrung. Doch reicht diese Hypothese allein zur Erklärung der Konvergenz nicht aus, denn es ist auch die Mannigfaltigkeit der von der Gruppe empfunVgl. die klassische Unterscheidung Durkheims zwischen »mechanischer« und »organischer Solidarität«. Die faktische Solidarität erschöpft sich jedoch nicht in der Verschmelzung zur Herde, in der Kollusion, sondern sie ist dynamischer Art. Außerdem hat sie eine psychologische Grundlage: ein unbewußtes Gefühl der Solidarität, das ihre Entwicklung zu einer bewußten Solidarität bewirkt.
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denen Konflikte zu berücksichtigen. Diese Einheit der Gruppe, die sich in verschiedenen Konflikten durchhält, gilt es zu erklären. Wir
glauben, daß die Gruppe deshalb diese überraschenden Konvergenzen an den Tag legt, weil die in der Gruppe selbst gemachte affektive Beziehungser/ahrung die der Solidarität ist. Alle empfinden den Konflikt, den jeder in der Erfahrung der Begegnung erlebt, und es muß eine Art und Weise der Bewältigung gefunden werden, die für alle annehmbar ist. Gleichzeitig wird damit die Entwicklung der Gruppe verständlich. Die Gruppenmitglieder sind unaufhörlich um eine authentischere Kommunikation der Beziehungserfahrung bemüht, die sie unbewußt erleben. Sie können dies jedoch nur mit Unterstützung durch die Gruppe erreichen. Jedesmal wenn der Dialog auf einer bestimmten Abwehrebene hergestellt ist, ist ein Hindernis beseitigt, um andere, weniger abwehrende Beziehungsformen zu erkunden, und kann es zu einem neuen kollektiven Gleichgewicht kommen. Der Leser wird bemerkt haben, daß sich unsere Auffassung der Gruppenkonvergenzen von der Bions unterscheidet. Bion spricht von einer »Fähigkeit zu augenblicklicher und unwillkürlicher Verbindung« unter den Gruppenmitgliedern, der »Valenz«, die zur Schaffung eines homogenen affektiven Klimas in der Gruppe (Grundannahme) führt. Die Valenz ist in seiner Auffassung ein Automatismus. Sie wird in den Bereich außerhalb der menschlichen Begegnung verwiesen; sie stellt ein untermenschliches Phänomen dar, das einer quasi-chemischen Triebkombination zugeschrieben wird, die an die der Biologie entlehnte »Ansteckung« Le Bons erinnert. Sie ist überdies augenblicklich und total. Sie erzeugt einen Zustand der Kollusion, in dem die Reaktionen, abgesehen von Komplementaritäten, vollkommen homogen sind. Bion unterscheidet die Valenz sorgfältig von der Kooperation zwischen den Mitgliedern, die auf einen Abbau der Abwehrhaltungen abzielt. Die Kooperation setzt die Intervention eines besonderen Agens voraus, des Ichs der Psychoanalyse, das sich dem rationalen Kontakt mit der Realität widmet und dessen kollektive Manifestation die Arbeitsgruppe (work group) ist, d. h. die zu organisierter Arbeit tendierenden Lebensformen der Gruppe. 2a Dieser Unterscheidung kommt eine gewisse deskriptive Gültigkeit zu. Was wir die bewußte Solidarität genannt haben, ist durch größere Klarheit, durch ein Bewußtwerden der individuellen Abwehrmechanismen und deren Abbau sowie durch eine 28 Bion (1971, S. 84): »Ich will das Wort >Kooperation< von jetzt an für bewußtes oder unbewußtes Zusammenwirken mit der Gruppe bei der Arbeit reservieren; für die Fähigkeit zu spontanem, instinktivem Zusammenwirken in den Grundannahmen hingegen ... will ich das Wort >Valenz< gebrauchen.«
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wachsende Differenzierung der Individuen gekennzeichnet, während die unbewußte Solidarität in den Herdenreaktionen in Erscheinung tritt, die auf einer nicht geklärten Identifikation der Mitglieder untereinander beruhen. Die unbewußte Solidarität, die Valenz Bions, ist jedoch bei weitem nicht so total und augenblicklich, wie er meint. Sie läßt individuelle Variationen zu; sie kommt nur zögernd zustande: es geht ihr eine Verhandlungsphase voraus, in der mehrere »affektive Gangarten« erprobt werden, bis sich dann eine durchsetzt. Selbst dann gibt es noch Dissonanzen. Die Kollusion der Gruppenmitglieder ist nicht vollständigt'. Vor allem aber macht Bion unseres Erachtens zu Unrecht aus der »Valenz« und der Kooperation zwei nach Wesen und Herkunft verschiedene Phänomene. Was wir ablehnen, ist sein simplifikatorischer und manichäischer Dualismus. Denn was er Valenz und was er Kooperation nennt, hat denselben Ursprung: das unbewußte Solidaritätsgefühl. Die »Valenz« ist kein Automatismus, dazu fehlt ihr die entsprechende Starrheit, sondern eine unbewußte Solidarität, in der die Kooperation, die bewußte Solidarität, schon vorgebildet ist und deren verzerrtes und vergröbertes Bild sie darstellt. Zwischen beiden Phänomenen herrscht nicht, wie Bion meint, Diskontinuität, sondern Kontinuität.
Der Begriff der Beziehung als Mittelpunkt der Humanwissenschaften
Die reduktionistischen Theorien der Beziehung versuchen, sie von einer Urgegebenheit aus zu konstruieren, seien es der Trieb, die Institutionen oder die als mechanische Beeinflussung aufgefaßte Interaktion. Stellt man sich die Beziehung dagegen als etwas Unmittelbares vor, dann zeigt sich nicht nur die Vergeblichkeit dieser Konstruktionen, sondern dann ist es legitim, die Perspektiven umzukehren und der Beziehung als unmittelbarem Phänomen jene Phänomene anzugliedern, in denen man ihre Erklärung erblickte. Von unserem Standpunkt aus gibt es keinen Umgang unter Menschen, der nicht eine Beziehung, d. h. einen realen und erlebten Kontakt zum anderen zum Ausdruck bringt. Das scheinbare Fehlen von Beziehung ist selbst wieder eine Modalität der Beziehung und kann in einer relationalen Sprache beschrieben werden. Dazu ist jedoch eine echte Änderung der Sprache erforderlich, die den Gebrauch verdinglichender, der Mechanik oder Biologie entlehnter Ausdrucksweisen für die Untersuchung menschlicher Phänomene zu24
Diese Bemerkung differenziert das, was wir im 4. Kapitel sagten.
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rückweist In den folgenden Kapiteln werden wir eine nähere Bestimmung dessen versuchen, was eine Sprache der Beziehung ist. Manche von der Psychoanalyse beschriebene Phänomene werden sich uns dabei in einer neuen Perspektive zeigen. Die kindliche Sexualität, die Autoritätsbeziehung im allgemeinen und in ihrer ursprünglichen Form, der Elternbeziehung, erscheinen dann als Abwehrformen gegen die Beziehung. Es sind nicht-authentische Formen der menschlichen Beziehung, die jedoch in einer der Beziehung zugrunde liegenden Erfahrung wurzeln. Eine Individualpsychologie, die affektive Tiefenphänomene zu erklären sucht, kann unserer Ansicht nach auf den Begriff der Beziehung nicht verzichten. In gleicher Weise ist der Begriff der Beziehung für die Soziologie heuristisch bedeutsam und kann als roter Faden für die Untersuchung der sozialen Institutionen dienen. Wir werden diesen Begriff benutzen und uns fragen, ob nicht die sozialen Institutionen, statt der Ursprung kollektiver Gefühle zu sein, vielmehr verdinglichter Ausdruck unbewußter kollektiver Emotionen sind.
Das Problem der Geschichtlichkelt des Verhaltens
Ein solcher V ersuch der Neuinterpretation wirft notwendig das Problem der Geschichtlichkeit des Verhaltens auf. Eine relationale Theorie postuliert eine existentielle, ahistorische Genese des Verhaltens. Sie führt unumgänglich dazu, ihrerseits die Grundlagen jeder historizistisch ausgerichteten Erklärung des Verhaltens zu reduzieren, indem sie sie als Modalitäten der Beziehung interpretiert. Hinsichtlich der Psychoanalyse gilt das für die kindliche Sexualität und die Elternbeziehung. Es gibt dann kein als vorrangig zu wertendes Verhalten mehr, das nicht auf die Beziehung zurückführbar wäre und an das sich eine geschichtliche Erklärung anknüpfen ließe. Es stellt sich daher in aller Schärfe das Problem, wie sich unter diesen Bedingungen die historischen Einflüsse begreifen lassen. Wie kann man den unleugbaren Beitrag der auf einer historischen Auffassung der Genese beruhenden Disziplinen, insbesondere der Psychoanalyse, integrieren? Die Frage wird sich etwas mehr erhellen, sobald wir in den folgenden Kapiteln die Abwehrmechanismen gegen die Beziehung analysiert haben. Wir möchten aber schon jetzt ein allgemeines Schema vorlegen. Uns scheint, daß die vergangene Erfahrung als ein Repertoire abwehrender Antworten auf die gegenwärtige Beziehung gesehen werden kann. Die vergangene Erfahrung ist eine Sprache, über die das Individuum verfügt, um die gegenwärtige Beziehung zum Ausdruck zu 128
bringen. Die historische Erfahrung schafft und produziert daher nicht die gegenwärtige Erfahrung, sie stattet das Individuum nur mit einer Palette möglicher Antworten auf die zwischenmenschliche Situation aus. Diese Antworten haben jedoch einen Sinn in bezug auf die reale Situation, der sie Ausdruck verleihen wollen; das Individuum empfindet real die gegenwärtige Situation, die Quelle seiner Emotionen ist. So reproduzieren zum Beispiel die Mitglieder einer Gruppe in der Abhängigkeit von einem Führer gewiß Verhaltensmodelle, die sie früher, in der Elternbeziehung, erfahren haben; aber das wäre nicht möglich, wenn sie nicht kollektiv in der Gegenwart die Furcht vor der Beziehung empfänden, die sich in einer abhängigen Haltung einem von ihnen gegenüber äußert. Weil dem Individuum von früher her die Erfahrung von Abwehrmöglichkeiten gegen die Beziehung zur Verfügung steht, greift es in einer Situation, in der es sich von neuem verteidigen muß, auf diese Möglichkeiten zurück. Der bewußte oder unbewußte Rückgriff auf die Vergangenheit stellt ein bevorzugtes Abwekrmittel gegen die Gegenwart dar. Dieser Gesichtspunkt schließt den historischen Determinismus aus. Die Gegenwart ist keineswegs die Konsequenz aus der Vergangenheit. Die vergangene Erfahrung liefert, wenn man so will, nur eine erste Antwort, die von der gegenwärtigen Beziehung sofort revidiert und modifiziert wird. Gewiß ist das Individuum von seiner Vergangenheit beeinflußt, ihr Gefangener ist es nicht. Der Satz läßt sich vielmehr umkehren: Die erlebte Vergangenheit, wie sie in der Gegenwart mobilisiert wird, ist eine Schöpfung der Gegenwart und wird von ihr laufend modifiziert. Unser Standpunkt ist konträr dem historischen Determinismus der Psychoanalyse. Für die Psychoanalyse wird der historische Ablauf vom Prinzip der Wiederholung beherrscht: das gegenwärtige Verhalten ist Ausdruck und Ergebnis vergangener Erfahrungen, die es zu wiederholen sucht. Gewiß bringt die soziale Interaktion im Laufe der Geschichte neue Verhaltensweisen hervor - man denke an den Prozeß der Triebverdrängung, der zur Neurose und zur zivilisatorischen Sublimation führt - , aber sie bringt keinerlei neuen Sinn, keine radikal neue Erfahrung mit sich. Der Sinn der Erfahrung liegt in der Vergangenheit. Die Zivilisation ist selbst nur ein ohnmächtiger Versuch, die Vergangenheit neu zu schaffen. In unserer Perspektive besteht die historische Entwicklung hingegen darin, Schritt für Schritt die impliziten, nie bewußt gewesenen Bedeutungen aufzudecken. Die Verbindung, die die Psychoanalyse zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit herstellt, ist das Gegenteil der Verbindung, die wir annehmen. Für die Psychoanalyse bringt die Gegenwart die Vergan129
genheit zum Ausdruck. Die Gegenwart ist sozusagen die Sprache der Vergangenheit. Das manifeste Verhalten im täglichen Leben ist für sie Zeichen und Sprache. Die vergangeneo Emotionen, auf die sie verweist, stellen ein Letztbezeichnetes dar, das allenfalls auf noch frühere Emotionen zurückführbar ist. Das große Verdienst der Psychoanalyse war es übrigens, diese Sprache entdeckt und die hinter den oberflächlichen Äußerungen des alltäglichen Lebens liegenden tiefreichenden Abwehrreaktionen aufgezeigt zu haben, die das Individuum von seiner Vergangenheit erbt. Aber obwohl sie sie entdeckt hat, bleibt es ihr gewissermaßen verwehrt, sie zu entziffern. Die Psychoanalyse erhellt zwar die Ebene oberflächlicher Abwehrhaltungen, die Schutz gegen die Erfahrung der infantilen Sexualität und der Autoritätsbeziehung bieten, nicht aber die infantile Sexualität und die Autoritäsbeziehung selbst, insofern sie Abwehrhaltungen gegen die authentische Beziehung zum anderen darstellen. Der Mangel der Psychoanalyse liegt unseres Erachtens darin, ihre Analyse nicht weit genug vorangetrieben zu haben. Sie analysiert zwar das tägliche Leben in bezug auf eine tiefere, aus der Vergangenheit ererbte emotionelle Erfahrung, aber sie analysiert diese Erfahrung nicht in bezug auf die unbewußte, noch tiefere Erfahrung der gegenwärtigen Beziehung. Daß die existentielle Ebene der Beziehung die primäre, bestimmende und eigentlich genetische Ebene des Verhaltens darstellt, ist ihr völlig fremd. Unsere Auffassung von der Geschichtlichkeit ermöglicht eine Erklärung des reichhaltigen, scheinbar »psychoanalytischen« regressiven Materials, das in Trainingsgruppen zutage tritt. Indem die Gruppe nämlich ihre Erfahrung vertieft, erreicht sie die Ebene tiefer, archaischer Abwehrhaltungen gegen die Beziehung. Unserer Auffassung verklärt aber auch gleichzeitig die Konvergenz in der Regression, was die Psychoanalyse nicht vermag. Wenn alle Mitglieder einer Gruppe in einem bestimmten Augenblick beinahe dieselbe sado-masochistische oder orale Obertragung auf einen Führer vornehmen: wie soll dies anders zu verstehen sein, als daß die Übertragung einer Notwendigkeit der gegenwärtigen Situation entspricht? Unsere Kritik des Einflusses psychologischer Modelle kann auf die institutionellen Modelle ausgedehnt werden. Diese lassen sich als die gegenwärtige Situation vorwegnehmende kollektive Reaktionen interpretieren, die vor den Gefahren dieser Situation Schutz bieten sollen; Sinn kommt ihnen nur im Hinblick auf die Situation zu, durch deren gegenwärtige Erfahrung sie modifiziert werden; sie können jedoch nicht als objektive Determinanten betrachtet werden, die selbst jeder emotionalen Bedeutung entbehren. 130
Diese Auffassung der Geschichtlichkeit birgt wichtige praktische Konsequenzen für die Psychotherapie, das Gruppentraining, die Intervention in Organisationen, allgemein: für alle Disziplinen, die sich mit individueller und sozialer Veränderung befassen. Der Akzent wird nicht mehr auf die Klärung der vergangenen Erfahrung gelegt, sondern auf den Abbau der Abwehrhaltungen gegen die gegenwärtige Beziehung. Ferner wird die Veränderungssituation als eine kollektive Beziehungserfahrung aufzufassen sein, die den Veränderungsagenten (Therapeut, Trainer, Psychosoziologe) ebenso umfaßt wie seine Patienten oder Klienten. Die Psychotherapie erscheint unter diesem Aspekt als Sonderfall der Gruppensituation. Die Entwicklung einer authentischen, nicht-defensiven Beziehung zwischen dem Veränderungsagenten und den Klienten ist eine wesentliche Bedingung der Veränderung. Die affektive Verbindung zwischen Therapeut oder Veränderungsagent im allgemeinen und Klient (psychoanalytisch gesagt: die Gegenübertragung) ist nicht mehr als Element der Analyse, sondern als Grundlage der Entwicklung zu betrachten. Weder durch ihre Verneinung noch selbst durch ihre Analyse, d. h. durch den Versuch, sie auf einen Begriff zurückzuführen, wird der Veränderungsprozeß voranschreiten können, sondern indem sie auf weniger abwehrende, weniger unklare und spontanere Weise durchlebt wird. Wir ermutigen zum subjektiven Engagement in der Beziehung des Therapeuten oder Veränderungsagenten. In Wahrheit enthält eine Beziehungstheorie die Aufforderung, die gesamte Methodologie des Veränderns umzugestalten (vgl. Teil 111). Eine solche Theorie hat nicht zuletzt die Folge, daß uns ein einheitlicher Rahmen für die Behandlung von Veränderungsproblemen zur Verfügung steht, ganz gleich, ob es sich dabei um Zweierbeziehungen, Kleingruppen, Großgruppen, Gelegenheitsgruppen oder permanente Gruppen mit institutionellem Charakter handelt.
Der Begriff der Gruppe
Die relationale Betrachtungsweise führt uns dazu, einen weiteren Begriff neu zu durchdenken, den wir bisher nur intuitiv erfaßten: den der Gruppe. Im Alltag wird die Gruppe oft dadurch definiert, daß man bei einer Gesamtheit von Personen ein und dasselbe Merkmal feststellt: ein gemeinsames Ideal, gemeinsame Werte, ein gleiches Ziel usw. Es sind dies die auf Ähnlichkeit beruhenden Definitionen, die Lewin kritisierte. Die wissenschaftliche Sozialpsychologie stellt hingegen die Be131
ziehungen der Individuen untereinander in den Mittelpunkt und verwendet dafür die Begriffe Interdependenz und Interaktion in ihren verschiedenen Bedeutungen. Alle diese Definitionen, seien sie nun populär oder wissenschaftlich, gehen jedoch vom Individuum aus, um die Gruppe zu konstruieren; sie stützen sich dabei auf eine gemeinsame Eigenschaft der Individuen oder auf eine bestimmte Auffassung von deren Beziehungen. Sie gelangen vom Teil zum Ganzen und nicht vom Ganzen zum Teil, sosehr sie auch betonen, das Ganze sei nicht dasselbe wie die Summe seiner Teile. Andererseits betrachten diese Definitionen die Gruppe als ein Phänomen, das es zu erklären gilt. Sie ist ein sekundäres Phänomen, das auf eine ursprünglichere Realität - das Individuum- zurückgeführt werden muß. Diese Definitionen verfehlen unserer Ansicht nach die eigentliche Ebene der Gruppe. Denn für uns ist die Gruppe der Ort der Beziehungsphänomene, und diese sind primärer Natur. Sie werden nicht erklärt, sondern festgestellt. Was einer Erklärung bedarf, ist nicht die Tatsache, daß es eine Gruppe gibt, sondern vielmehr, daß es in bestimmten Fällen scheinbar keine Gruppe gibt. Wir werden also umgekehrt vorgehen wie die eben beschriebenen Betrachtungsweisen. Wir gehen nicht von einer kleineren Einheit, einem Element, aus, um die Gruppe zu konstruieren. Wir werden im Gegenteil von einer größeren zu einer kleineren Einheit fortschreiten und jenen Ratschlag Lewins befolgen, den er selbst und vor allem seine Schüler in ihren Gruppendefinitionen vergessen haben: bei der Untersuchung einer Situation müsse man vom Ganzen zu den Teilen gehen. Die aus Jean-Marc und seinen Gegenspielern bestehende Gruppe, die sich im Augenblick des durch den Weggang Jean-Marcs geschaffenen Konfliktes bildete, kommt für uns weder durch die Persönlichkeit ihrer Mitglieder noch durch die Geschichte ihrer Beziehungen zustande, sondern wir sehen in ihr zuerst eine Fraktion der Gesamtgruppe, die in aktiverer Weise den von allen empfundenen Konflikt der bevorstehenden Trennung erkundet. So gesehen erweist sich dann jede Gruppe in Wirklichkeit als Subgruppe, die sich von umfassenderen Einheiten abtrennt. Die einzige Gruppe, die diesen Namen voll verdient, ist die Menschheit insgesamt. Sie ist eine faktische Gruppe, die man feststellt und die man nicht erklären muß. Gewiß gehört diese Feststellung nicht in den Bereich des klar Bewußten oder der alltäglichen Erfahrung. Ja sogar die Behauptung selbst, die Menschheit bilde eine Gruppe, wird vielen lächerlich vorkommen, da sie durch die ganze Vergangenheit von Gleichgültigkeit und blutigen Konflikten Lügen gestraft wird. Oder sie 132
wird als vollkommen unverifizierbar erscheinen. Wir räumen gerne ein, daß es sich um eine Hypothese handelt, um eine ziemlich gebrechliche noch dazu. Sie beruht indessen auf besonders gearteten Erfahrungen, in denen die tiefe Solidarität der Menschen offen zutage tritt, unabhängig von persönlichen Eigenschaften, sozialer Herkunft oder Lebensgeschichte. Wenn diese Realität der solidarischen Menschheit nicht erkannt, wenn sie im täglichen Geschehen geleugnet wird, dann nicht deshalb, weil sie nicht existierte, sondern weil sie eine solche Angst heraufbeschwört, daß gewaltige individuelle und kollektive Widerstandstendenzen entstehen. Die Subgruppen- oder Teilgruppen beruhen auf eben diesen Widerstandstendenzen. Sie resultieren nicht nur aus besonderen Kommunikationsmöglichkeiten ihrer Mitglieder untereinander, wie die Sozialpsychologie behauptet, sondern auch und vielleicht vor allem aus Kommunikationsschwierigkeiten innerhalb einer größeren Gruppe. Die Gruppen zeigen besondere Spielarten des Ausdrucks und der Abwehr, die sich auf einen in einer größeren Gruppe verspürten Konflikt beziehen. Sie stellen für die größere Gruppe das Mittel dar, auf abwehrende Weise Konflikte zum Ausdruck zu bringen, die ihren Mitgliedern bei der Größenordnung dieser Gruppe nicht bewußt werden können, und so diese Konflikte zu bearbeiten und zur Entwicklung zu bringen. Als vorläufige Definition können wir sagen:
Gruppen sind Gesamtheilen von Personen, die auf Grund ihrer individuellen Lebensgeschichte, ihrer früheren interpersonalen Beziehungen oder ihrer Kultur einen affektiven Konflikt einer größeren Gesamtheit von Personen, der sie angehören, auf spezifische Weise empfinden. Es soll also durchaus nicht die Rolle der individuellen, interpersonalen oder kulturellen Geschichte bei der Bildung von Gruppen geleugnet werden. Diese gibt gewissermaßen das Material des Gruppenlebens ab. Zöge man jedoch nur sie in Betracht, verfehlte man die Bedeutung des Gruppenphänomens, die man unserer Ansicht nach in Richtung auf eine umfassendere Totalität und nicht in der Analyse der Gruppenbestandteile suchen muß. Unser Standpunkt unterscheidet sich von dem der Soziologen und Anthropologen, die seit Durkheim den Psychologismus kritisiert haben. Wir hatten nicht die Absicht, einmal mehr den Einfluß globaler sozialer Strukturen auf mehr elementare Phänomene aufzuweisen. Was wir kritisieren, ist nicht ein Gegensatz zwischen dem Strukturalen und dem Psychologischen. Eines der Verdienste der Sozialpsychologie ist es vielmehr, ausgehend von psychologischen Phänomenen, die Bedingun133
gen für das Auftreten von Strukturen (Macht-, Status-, Kommunikationsstrukturen usw.) namentlich in Kleingruppen untersucht zu haben. Und diese Feststellung widerspricht auch keineswegs dem Einfluß ausgedehnterer Gruppen auf die ihnen angehörenden Kleingruppen. Man hat den Sozialpsychologen oft Unrecht getan: Daraus, daß sie die Bedingungen für das Auftreten der Mikrostrukturen untersuchen, folgerte man, sie leugneten den Einfluß, ja sogar die Existenz globaler Strukturen. In Wirklichkeit liegen zwei verschiedene Probleme vor: das der Beziehungen zwischen den psychologischen und den Strukturphänomenen einerseits, gleichgültig in welcher Größenordnung diese Beziehungen untersucht werden, und das des gegenseitigen Einflusses großer und kleiner sozialer Einheiten andererseits. Im Verlauf unserer Arbeit kamen wir dahin, die Hypothesen mancher Sozialpsychologen (E. Jaques, 1955; Menzies, 1960) über den Ursprung der Strukturen zu verallgemeinern und auf Gruppen jeder Größe anzuwenden: für uns sind die sozialen Strukturen der indirekte und abwehrende Ausdruck verleugneter kollektiver Emotionen (vgl. Kapitel 9). Wenn wir überdies sagen, daß eine Gruppe ihre Bedeutung in bezug auf eine größere Gruppe erhält, so meinen wir damit keineswegs nur, daß sie von den Strukturen dieser letzteren beeinflußt ist, sondern daß sie auf eine in dieser größeren Gruppe erlebte kollektive Emotion verweist, die in ihren Strukturen und noch auf manche andere Art zum Ausdruck kommt. Der Irrtum der Psychologen bestand, so glauben wir, nicht darin, das Strukturale auf das Psychologische - ganz im Gegenteil! -, sondern das Psychologische auf das Individuelle reduziert zu haben. Unsere Kritik an den psychologischen Modellen der Bildung von Gruppen ergibt sich aus unserer Hypothese über die kollektive Natur der Gefühle. Wir verteidigen nicht einen Psychologismus, sondern, wenn man so will, einen Sozialpsychologismus. Die vorstehenden Erwägungen haben, so abstrakt sie erscheinen mögen, sehr konkrete methodologische Konsequenzen. Sie stellen eine Aufforderung an den Sozialpsychologen dar, die Beziehungen zwischen den Phänomenen kleiner Gruppen und denen der größeren Gruppen, zu denen die Kleingruppen gehören, auf der Ebene der unbewußten Gefühle zu untersuchen. So läßt sich etwa bei einem Trainingsseminar, das mehrere parallele Gruppen und mehrere Trainer umfaßt, oft die Beobachtung machen, daß die Trainergruppe antizipatorisch Konflikte erlebt, die später von der Gesamtheit der Teilnehmer verspürt werden. Ebenso kann man annehmen, daß jeder Trainingsgruppe eine besondere Funktion innerhalb des Ganzen zukommt: die eine bringt zum Beispiel mehr die Rationalität der Plenumsgruppe, andere bringen 134
bestimmte affektive Aspekte, Aggressivität, Abhängigkeit usw. zum Ausdruck. 25 Ebenso ist es bei einer Feldintervention, etwa in einem Unternehmen, interessant, die Unternehmensleitung, die höheren Angestellten, die Gewerkschaften und andere Teilgruppen als Exponenten bestimmter Aspekte einer von allen Mitgliedern des Unternehmens erlebten affektiven Realität zu untersuchen. Das Unternehmen selbst wiederum erhält seinen Sinn als Teilstück umfassenderer Einheiten. Manche sind noch einen Schritt weitergegangen und haben versucht, die Anwendung klinischer Techniken in Großgruppen 26 einzuführen. Auf diese Weise können die unbewußten kollektiven Emotionen der Großgruppe mobilisiert werden, die Bedeutung der Kleingruppe für die Plenumsgruppe wird manchmal explizit, und man kann die entsprechenden Hypothesen an Ort und Stelle verifizieren. Die Gruppe erscheint so als ein günstiger Ort, um die Emotionen größerer Gruppen zu untersuchen. Diese Untersuchung zeigt, zusammen mit der Untersuchung der Strukturen der Plenumsgruppe, welche Emotionen diese zuläßt und welche sie verleugnet, welche Funktionen sie voneinander getrennt hält, weil ihre Zusammenlegung zuviel Angst hervorriefe. So wird in industriellen Gruppen ständig der Bereich der Aufgabe, der der formellen Hierarchie anvertraut ist, von dem Bereich des Gefühls getrennt, dessen sich die informellen Gruppen annehmen. Das Ergebnis ist übrigens, daß die Aufgabe oft in einer Weise organisiert ist, in der sie die Kooperation behindert und nicht fördert, denn die Kooperation würde Sympathiebeziehungen unter den Kooperierenden hervorrufen und zugleich voraussetzen. Wogegen man sich hier sträubt, ist gleichzeitig die Einheit des Unternehmens als sozialer Gruppe und die Tatsache, daß diese Einheit auf positiven Gefühlen der Mitglieder untereinander beruht. Die Leitung des Unternehmens, die für die forIn diesem Sinne haben Bridger und Higgin {1965) ein Trainingsseminar untersucht. 2 8 In Trainingsseminaren mit mehreren Gruppen experimentieren wir seit einigen Jahren mit nicht-strukturierten Plenarsitzungen. Sie dienen sowohl der Analyse und der Äußerung von Gefühlen wie auch dazu, Entscheidungen zu treffen, die das Kollektiv berühren. Ursprünglich beschränkten wir die Rolle der Psychologen in dieser Sitzung auf die Analyse. Jetzt geht unser Bestreben dahin, spontaner zu intervenieren, auch im Bereich der kollektiven Entscheidungen, dies aber in einer Gesinnung des Dialogs und mit Offenhaltung aller Wahlmöglichkeiten. Einen ähnlichen Versuch unternahmen wir im Verlauf einer Intervention in einem Unternehmen {9. Kap.). Methodelogische Hinweise zu dieser noch in den Anfängen steckenden Technik geben wir im 13. Kapitel. 25
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melle Organisation verantwortlich ist, verteidigt nicht nur ihre sozioökonomischen Privilegien. Sie erfüllt eine kollektive Funktion psychologischer Abwehr für das ganze Unternehmen und darüber hinaus für die Gesellschaft insgesamt; ihre Privilegien sind lediglich Ausdruck dieser Funktion. Die Funktionen der Gruppenerhaltung, namentlich in Kleingruppen, sind oft beschrieben worden. Demnach hätten diese in gewissem Sinne eine therapeutische Funktion. Sie heilen die Schäden, die den Individuen aus einengenden Sozialstrukturen erwachsen. Es ist jedoch auch ihr antizipatorischer Charakter hervorzuheben. Von manchen Forschern wird darauf verwiesen, daß Groß- und Kleingruppen für umfassendere Gruppen, denen sie angehören, eine kreative Rolle spielen.27 Diese ziemlich evidente Feststellung findet vielleicht ihre Erklärung in den Überlegungen, die wir in diesem Abschnitt anstellen. Antizipatorisch sind diese Gruppen insofern, als sie der Ort sind, an dem die von der größeren Gruppe verleugneten Konflikte verspürt, bearbeitet und entfaltet werden. Wenn dann die in der Teilgruppe entwickelten Gefühle und Strukturen von der Plenumsgruppe übernommen werden, kann man nicht im eigentlichen Sinn von Übertragung sprechen, denn die Plenumsgruppe war ja schon in der Teilgruppe gegenwärtig. Eher bedeutet dies, daß die Teilgruppe durch ihre »Arbeit« den Widerstand beseitigt hat, der die Wahrnehmung bestimmter Beziehungen in der Plenumsgruppe verhinderte. Unsere Definition der Gruppen ist selbstverständlich unabhängig vom Umfang der betrachteten Gesamtheit und von deren Komplexitätsgrad. Sie läßt sich auf die Kleingruppe ebenso anwenden wie auf die Organisation, das Kollektiv oder die Gesamtgesellschaft Sie betrifft temporäre Gruppen wie die T -Gruppen, permanente Gruppen, organisierte und nichtorganisierte Gruppen. Sie besagt nicht, daß sich die Gruppenmitglieder der Existenz der Gruppe notwendig bewußt sein müßten. Diese Eigenschaften sind im übrigen keine Besonderheit unserer Definition; sie gelten generell für alle wissenschaftlichen Gruppendefinitionen, die Allgemeingültigkeit beanspruchen, besonders für jene, die wir zu Beginn dieses Abschnittes erwähnten. Der Begriff Gruppe ist im übrigen relativ. Wenn das Kriterium für eine Gruppe die Gemeinsamkeit des von den Mitgliedern empfun27 Vgl. Miles (o. J.), der sehr verschiedene »temporäre Systeme« anführt, die am Rande bedeutsamerer permanenter Gruppen entstehen, mit denen sie zusammenhängen. Er unterscheidet drei Funktionen der temporären Systeme: Erhaltung, Erfüllung kurzfristiger Aufgaben, Induktion von Veränderung.
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denen Konflikts ist, dann wird die entsprechende Gruppe mehr oder weniger ausgedehnt sein, je nachdem, ob man den Konflikt enger oder weiter faßt. In dem weiter oben angeführten Beispiel ist die Gruppe Jean-Marc und seine Gegenspieler oder die gesamte T-Gruppe oder alle Studenten der Sozialpsychologie in diesem Semester zusammen mit ihren Professoren usw. Diese Relativität bedeutet natürlich nicht, daß der Gruppenbegriff willkürlich wäre und daß die Grenze einer Gruppe beliebig angesetzt werden könnte. Das Territorium der Gruppe richtet sich nach dem Territorium der Konflikte. Schließlich ist zu sagen, daß sich die Gruppengrenzen selbstverständlich in dem Maße ändern, als sich die Konflikte entfalten. Abschließend noch ein Wort zu der klassischen Unterscheidung zwischen Gruppe und Ansammlung (rassemblement). Versteht man unter Ansammlung jede Gesamtheit von Menschen, die man nach Kriterien, die weder psychologischer noch soziologischer Natur sind, willkürlich aus der Gesamtgesellschaft herauslöst (die Telefonistinnen von 19 bis 21 Jahren, die Albinos usw.), so handelt es sich natürlich um einen Begriff, der mit dem der Gruppe nichts zu tun hat und der für den Statistiker und Biologen, nicht jedoch den Psychologen oder Soziologen interessant ist. Aber bisweilen versteht man unter Ansammlung etwas anderes: eine Gesamtheit von Menschen, die eine konkrete psychosoziologische Existenz aufweist, sich jedoch von einer Gruppe unterscheidet. Mit seinem Begriff der Serie erweckte Sartre diesen Gedanken zu neuem Leben. Das Eigentümliche der Serie besteht gerade darin, daß die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, keine Gruppe bilden. Die Serie ist »inert«, die Gruppe aktiv. Sartre gibt ein Beispiel: »Eine Gruppierung von Personen auf der Place Saint-Germain wartet an der Haltestelle vor der Kirche auf den Autobus. Ich verwende das Wort >Gruppierung< hier im neutralen Sinn: Es handelt sich um eine Ansammlung, von der ich noch nicht weiß, ob sie als solche das inerte Resultat getrennter Tätigkeiten ist oder eine gemeinsame Realität, die als solche die Handlungen eines jeden lenkt, oder eine vereinbarte oder vertragliche Organisation« (1967, S. 273). Das ganze Denken Sartres über Gruppen kreist um den Gegensatz von Gruppe und Serie, von aktiv und inert. Die Sariresche Gruppe ist zu definieren als totalisierender Akt, der die Pläne der Mitglieder provisorisch eint. Doch die Ergebnisse dieser Aktivität fallen sofort wieder in den Bereich des Materiellen und Inerten zurück. Sie zwingen sich den Mitgliedern der Gruppe gebieterisch als Folgen auf, die sie nicht gewollt haben und die sie nicht als ihre eigenen anerkennen. Ein neuerlicher totalisierender Akt ist erforderlich, um das Inerte wieder zu umfassen und ihm von 137
neuem menschlichen Sinn zu verleihen. Die Entwicklung der Gruppe steht unter der Herrschaft dieser Dialektik des Aktiven und des Inerten, von Gruppe und Serie: »Das Leben der Gruppe besteht, wie sich zeigen wird, aus einer beständigen Spannung zwischen diesen beiden äußersten Polen: der Serialisation und der Totalisation. Diese Spanung ist der Motor der Gruppendialektik, deren verschiedene Momente ebensoviele Abschnitte eines Kampfes gegen die immer mögliche Wiederkehr der Serialität sind« (Lapassade, 1972, S. 202). Wir haben nicht die Absicht, uns im einzelnen mit den Auffassungen Sartres über die Gruppen auseinanderzusetzen. Wir lehnen hier lediglich den Dualismus von Gruppe und Serialität ab, denn das, was Sartre Serie nennt, ist für uns schon eine vereinigende menschliche Beziehung- eine Gruppe-, erlebt auf einer zutiefst unbewußten Ebene. Es ist interessant, das Zitat, das die Serie beschrieb, weiterzuführen: »Diese Personen - sehr verschieden durch Alter, Geschlecht, Klasse, Milieu - verwirklichen in der alltäglichen Banalität das Verhältnis von lsoliertheit, Wechselseitigkeit und Vereinigung (und von Vermassung) von außen, was beispielsweise die Bewohner einer Großstadt kennzeichnet, die sich vereinigt finden, ohne durch Arbeit, Kampf oder irgendeine andere Tätigkeit in eine gemeinsame organisierte Gruppe integriert zu sein. Wir müssen nämlich zunächst beachten, daß es sich um eine Pluralität von Isoliertheiten handelt. Diese Personen kümmern sich nicht umeinander, reden sich nicht an und beachten einander im allgemeinen nicht; sie existieren nebeneinander um den Haltepfosten herum. Auf dieser Stufe kann ich feststellen, daß ihre Isolierung kein inerter Zustand ist (oder die bloße wechselseitige Exteriorität der Organismen), sondern daß sie im Plan eines jeden tatsächlich erlebt wird als seine negative Struktur« (S. 273, Hervorhebung M. P.). Wir haben versucht aufzuzeigen, daß diese erlebte Isolierung oder Einsamkeit, die Sartre dem Inerten zuschreibt (hier verkörpert in den Institutionen der Stadt, der Ursache der Einsamkeit), die Grundlage der zwischenmenschlichen Bindung darstellt. Die Leute, die auf den Bus warten, sind in ihrer Einsamkeit solidarisch. Sie wissen es nicht und können es sich auch nicht beweisen, denn sie sträuben sich gegen das Bewußtsein ihrer Einsamkeit und damit gegen das Bewußtsein der Bindung, die sie vereint. Ihre trübsinnigen Gesichter sind jedoch schon ein Beginn des Bewußtseins und der Kommunikation. Sie erleiden ihre Einsamkeit gemeinsam. Selbst ihr Schmerz, so abgekapselt in sich selbst er auch sein mag, ist eine Form des Mitgefühls für die anderen- wie dann, wenn wir mitten in eine Gruppe trauriger und schweigender Leute geraten: wir werden still und denken an unsere Angelegenheiten, 138
aber in unserem Ionern sagen wir uns machmal: »Diese armen Teufel, sie sind nicht froh.« Wenn die Strecke lang ist, wechseln einige vielleicht ein paar Worte im Bus und teilen sich etwas von dem mit, was sie gemeinsam schon verspürt hatten. Die von Sartre beschriebene Serie ist ein Scheingebilde. Sie ist die verweigerte Beziehung, die nicht angenommene Einsamkeit. Es gibt sie als gelebtes Phänomen, nicht jedoch als Prinzip, das die Phänomene erklärt. Sie ist ein Moment der Gruppe und läßt sich von dieser unterscheiden. Was die Drohung der Serialität und ihre Rolle im Gruppenleben betrifft, so wäre es unseres Erachtens besser, von Angst vor Einsamkeit oder Trennung zu sprechen, denn es handelt sich um ein menschliches Phänomen, das das Gruppenleben beherrscht, und nicht um eine von außen kommende und unbestimmte Gefahr ohne menschliche Bedeutung. Dieselbe Meinungsverschiedenheit ergibt sich hinsichtlich der Auffassung Sartres über die Gruppen. Die menschliche Solidarität ist für Sartre zum Scheitern verurteilt. Die Gruppe ist der stets aussichtslose und durch die Tatsachen widerlegte Versuch, individuelle Pläne, die über ihn hinausgehen, auf einen Nenner zu bringen. Zurecht kritisiert Sartre jene Auffassungen, welche die Gruppe verdinglichen, sie mit dem, was sie hervorbringt, identifizieren, und sie zu einer geschlossenen und harmonischen Totalität 28 machen. Er stellt die Totalisierung, den Versuch einer Einigung, der Totalität gegenüber, der verwirklichten, für ihn jedoch trügerischen Einheit. Was Sartre aber nicht wahrhaben will, ist wohl die Tatsache, daß gerade das Scheitern der Kooperation der Menschen untereinander, das alle bewußt oderunbewußt gemeinsam erfahren, die Grundlage einer realen Solidarität darstellt, die ihre individuellen Entwürfe begleitet. Das Ziel des gemeinsamen Handeins besteht nicht so sehr darin, eine bleibende Struktur zu errichten, die die Menschen in einer solidarischen Bemühung zusammenschweißt, sondern darin, auf etwas klarere Weise das Mitgefühl zu bezeugen, das die Menschen füreinander empfinden. Es befriedigt daher nicht, wenn Sartre die Gruppe mit dem gemeinsamen Akt gleichsetzt. Sie hat eher mit dem Bereich der Sprache und des Gefühls zu tun. In Wirklichkeit bleibt Sartre der Gefangene des von ihm kritisierten Totalitätsbegriffs. Die Gruppe Sartres ist eine verfehlte Totalität, eine vorübergehende Einheit illusorischer Art. Das zeigt sich darin sehr deutlich, daß für ihn der Gruppenzustand schlechthin jener der Fusion 28 Nebenbei bemerkt: für Lewin ist die Totalität ein Prozeß; die Kritik Sartres ist also in bezugauf Lewin nicht ganz gerecht.
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ist, wie er in seinen Augen zum Beispiel bei einer revolutionären Masse gegeben ist. Für uns bedeutet Fusion jedoch den Zustand einer entfremdeten Gruppe, die die Trennungsangst verleugnet. Die am höchsten entwickelte Form der Gruppe setzt das Bewußtsein der Individualität und der Trennung voraus. Das partielle Scheitern der Kooperation der getrennten Individuen wird in dieser Gruppe vorausgesetzt und einkalkuliert. Sie findet ihren Bestand in dem Wissen, daß trotz dieser Mißerfolge und über sie hinaus die Individuen durch das dauernde Bestreben, sich in gegenseitiger Hilfe ihre Anteilnahme zu bekunden, miteinander verbunden sind. In diesem Sinn ist die Gruppe sehr wohl eine Totalität, die allerdings nicht die vollkommene Angleichung der Teile an das Ganze bedeutet. Es ist eine Totalität, die auf einer Paradoxie beruht: aus der Trennung der Individuen, ihren Unterschieden und Konflikten entsteht eine affektive Einheit, die ihren Ausdruck in einem dauernden Bemühen um Kooperation findet.
Zusammenfassung Wir fassen kurz die Thesen zusammen, die wir in diesem Kapitel aufzustellen versuchten; sie sind für uns von zentraler Bedeutung und wir werden einige von ihnen in den folgenden Kapiteln weiter ausführen. I. Wir haben eine unmittelbare affektive Erfahrung der Gefühlsbeziehung zum anderen angenommen, durch die die anderen in ihrem Anderssein immer schon gegeben sind. 2. Diese Erfahrung läßt sich nicht erklären, indem man sie auf Besitzoder Zerstörungstriebe, die sozialen Institutionen oder die empirische Interaktion zwischen den Menschen zurückführt. Sie ist vielmehr der Ursprung von Besitz- oder Zerstörungsphänomenen, Institutionen oder materiellen Interaktionen. 3. Sie wird kollektiv in jeder Gruppensituation als Erfahrung der Begegnung mit den anderen empfunden und ist als solche die Grundlage der Gruppenbindung. Sie bleibt zumeist unbewußt und sucht sich ihren Ausdruck in verschiedenen Abwehrsystemen. 4. Auf tiefster Ebene wird die Beziehung als ein Gefühl der Solidarität in der als Angst empfundenen Trennung erlebt. Die Gruppenbindung beruht daher auf einem unbewußten Gefühl der Solidarität mit allen, das mit dem Gefühl, voneinander getrennt zu sein, einhergeht. 5. Die so definierte Solidarität ist selten bewußt. Sie äußert sich faktisch dadurch, daß die Gruppe kollektive Abwehrsysteme gegen die
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Trennungsangst aufbaut. Die Funktion dieser Systeme besteht darin, sowohl indirekt die Angst und die Gruppenbindung zum Ausdruck zu bringen, wie auch sie abzuwehren. Die Gruppenphänomene können daher als kollektive Abwehrsysteme gegen die unbewußte Trennungsangst und Solidarität interpretiert werden. Auf diese Weise lassen sich die affektiven Konvergenzen, die im Leben der Gruppen zu beobachten sind, durch die unbewußte Solidarität unter den Gruppenmitgliedern erklären. Diese Solidarität äußert sich durch die Errichtung eines gemeinsamen Abwehrsystems. 6. Die Erfahrung der Beziehung und die Abwehrhaltungen gegen sie sind ahistorisch. Sie entstehen in der je gegenwärtigen Gruppenbegegnung als solcher. Individuelle Lebensgeschichte, kollektive Geschichte und, indirekt, die sozialen Institutionen statten die Gruppenmitglieder mit einer ganzen Skala defensiver Reaktionen auf die gegenwärtige Situation aus. Doch die individuelle und kollektive Reaktion hängt letztlich von der Begegnung selbst ab. 7. Die Gruppen werden durch den Verweis auf größere Gruppen, denen sie angehören, definiert. Sie sind defensive Aufsplitterungen einer unbewußten universalen Beziehung aller Menschen untereinander. Ihr für die Gruppenmitglieder unbewußter Sinn liegt darin, die affektiven Konflikte, die in den größeren Gruppen aus der unbewußten Erfahrung der Beziehung entstehen, zu erkunden.
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6. Kapitel Angst, Liebe, Trennung
Bisher stellten wir uns die Frage nach dem Ursprung der Gruppengefühle. Wir glauben, ihn in Phänomenen einer unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehung gefunden zu haben. Gegenstand dieses und der folgenden Kapitel wird es sein, die Frage nach dem Wesen der Gruppengefühle näher zu untersuchen. W eieher Art sind diese Gefühle? Wie hängen sie zusammen? Es geht uns dabei nicht so sehr um eine detaillierte Typologie als vielmehr um das Verständnis der Organisation der Gefühlswelt, also um den Aufbau einer Theorie des Gefühls, trotz der Schwierigkeiten, die einem solchen Unternehmen innewohnen. Wir haben vor, die Begriffe, die eine genaue Identifizierung der Grundgefühle erlauben, zu klären und zugleich uns der Zusammenhänge, die sie vereinigen, gewahr zu werden. Wir werden in unsere Untersuchung einem empirischen Leitfaden folgen. Wir glauben, in den T -Gruppen einen Aufbau des Verhaltens in drei Ebenen feststellen zu können. Auf der ersten Ebene sind die Gefühle verborgen. Sie kommen indirekt durch Scherze, Spiele, Erzählungen, rationale Diskussion, physisches Tun usw. zum Ausdruck. Wir werden diese Ebene die der sekundären Abwehrhaltungen nennen. Auf der zweiten Ebene treten die vorhin noch verborgenen Grundgefühle offener in Erscheinung. Sie äußern sich im wesentlichen auf zweierlei Art: einerseits als Feindseligkeit und Aggressivität, andererseits als besitzergreifende, andere ausschließende Liebe. Auch auf dieser Ebene läßt sich beobachten, daß die Gefühle der Gruppenmitglieder sich auf eine privilegierte Person, den Trainer, ein anderes Gruppenmitglied oder einen Außenstehenden wie Vater, Mutter, Gatte, Liebhaber oder Geliebte, zu konzentrieren. Diese verschiedenen Liebes- oder Feindobjekte stehen nicht beziehungslos nebeneinander und man entdeckt gewöhnlich, daß sie sich gegenseitig symbolisieren. Wir werden noch die privilegierte Beziehung (sie deckt sich mit der Beziehung zu den »Autoritätsfiguren«) sowie die mit ihr verbundenen Entfremdungs- und Identifizierungsphänomene untersuchen. Die Gesamtheit der Phänomene auf dieser zweiten Ebene bezeichnen wir als primäre Abwehrhaltungen. Denn die Gefühle der Liebe oder Feindseligkeit sowie ihre Konzentration in einer privilegierten Beziehung - Phäno142
mene, die durch die sekundären, die oberflächlichsten Abwehrhaltungen verschleiert sind - erscheinen uns ihrerseits als Abwehrreaktionen gegen eine tiefere Erfahrung, die auf der eigentlich relationalen Ebene des Verhaltens gelegen ist. Diese Erfahrung gibt sich manchmal in ausdrücklicher Weise in den T -Gruppen kund. Sie äußert sich in einer Erfahrung der Angst, in der eine sich dem anderen schenkende Liebe und das Bewußtsein der Trennung unlösbar miteinander verbunden sind. Auf dieser Ebene hört die privilegierte Beziehung zu bestehen auf und die Beziehung entwickelt sich zu einer universalen Beziehung zu allen Menschen. Der Leser möge uns recht verstehen: wir wollen Ebenen der Analyse und nicht Entwicklungsstadien einer Gruppe beschreiben. Es kann in einer Gruppe, die ihr eigenes Verhalten analysiert, wie etwa eine T -Gruppe, vorkommen, daß die durchlaufenen Stadien im großen und ganzen den drei Ebenen entsprechen (man müßte jedoch diese Progression genauer bestimmen). Doch darauf kommt es uns hier nicht an. Denn die drei Ebenen sind mehr oder minder ausdrücklich in jedem Augenblick des Gruppenlebens gegenwärtig. Unsere Hypothese ist gerade, daß sehr tiefe, unbewußte und auf der Ebene der Beziehung empfundene Gefühle affektive Abwehrreaktionen hervorrufen, die selbst wieder verschleiert sind und sich indirekt äußern. Die Ebene der Beziehung durchdringt die beiden anderen Ebenen als unbewußtes Leitschema. Sie ist die das Verhalten bewegende Ebene. Das ist auch der Grund, warum wir in dieser theoretischen Darlegung in umgekehrter Richtung wie bisher vorangehen werden. Wir wechseln von der Reihenfolge des phänomenologischen Entdeckens (die wir bei der Beschreibung der Walfischgruppe einhielten) zur logischen Reihenfolge des Verstehens. Wir gehen vom Tieferen zum Oberflächlicheren. Das gegenwärtige Kapitel befaßt sich mit der Ebene der Beziehung. Wir werden vornehmlich die Begriffe Angst, Liebe und Trennung sowie ihre Zusammenhänge erörtern. Im folgenden Kapitel werden wir versuchen, die possessive Liebe und die Aggressivität zu definieren; außerdem sollen ihre gegenseitigen Zusammenhänge und ihr Verhältnis zur Grunderfahrung der Liebe und Trennung bestimmt werden. Hierauf werden wir die privilegierte Beziehung untersuchen und die sekundären Abwehrprozesse beschreiben. Wir möchten in dieser Einführung noch kurz auf die Schwierigkeit zu sprechen kommen, die aus der Verwendung des geläufigen Begriffes »Ebene« hinsichtlich der drei von uns unterschiedenen Angelpunkte der Analyse entsteht. Wenn man von »Ebenen« spricht, erweckt man die Vorstellung einer wachsenden oder abnehmenden »Tiefe« oder 143
auch die eines graduell mehr oder weniger klaren Bewußtseins, wie immer man den Inhalt der Bewußtseinsebenen und die Übergangsmechanismen vom Unbewußten zum Bewußten auffaßt (unsere Auffassungen hierzu sind von denen der Psychoanalyse verschieden, aber wir wollen jetzt darauf nicht eingehen). Wenn diese Vorstellung auch für die erste und die zweite »Ebene« in ihrem Verhältnis zur dritten, der Beziehung, gilt, so trifft sie für das Verhältnis der ersten Ebene zur zweiten weniger zu. In diesen beiden Fällen handelt es sich eher um Unterschiede in der Art der Abwehrprozesse als um Unterschiede in den Tiefengraden. Die primären Abwehrhaltungen bestehen in einer Verzerrung des Inhaltes der Gefühle. Die sekundären Abwehrhaltungen sind verschiedene Modalitäten des Ausdrucks der Gefühle; sie sind, wenn man so will, eine Modulation. Beide treten gleichzeitig auf: Zum Beispiel kann ein Gefühl der Feindseligkeit durch eine Geste, eine aggressive Erzählung, einen Begriff usw. zum Ausdruck gebracht werden. Und der gestische Ausdruck eines intensiven Gefühls der Feindseligkeit kann begreiflicherweise ebenso »tief« sein wie eine vergleichsweise explizitere Äußerung eines mehr harmlosen Gefühls, etwa in Form einer direkten Bekundung. Man könnte sagen, die primären Abwehrhaltungen wirken sich im Vokabular der Gefühle, die sekundären in ihrer Syntax aus 1 , wenn man sich eine genauere Vorstellung von dieser Gefühlsgrammatik machen will, die wir zu erarbeiten versuchen. Wir sprechen daher von einer gleichzeitigen doppelten Transformation der Beziehungserfahrung, die sich im einen wie im anderen Fall auf den Bewußtseinsgrad dieser Erfahrung auswirkt. Wir könnten dann das dreistufige topalogische Schema, von dem wir zu Beginn sprachen (Schema 1), passender durch das folgende ersetzen (Schema II): II
sekundäre Abwehr
CD ._
... .c
•111 CD
E ~ ·;:: D
primäre Abwehr
Beziehungserfahrung
Q.c(
~
...
CD :CU ._ "'C.c
<: CD
::J ~
.><:D
:llce
Beziehungserfahrung
I
1 Wir haben diese Unterscheidung D. Anzieu entlehnt, der sie in einem anderen Zusammenhang verwendete.
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Die Grunderfahrung als Konvergenz und Einheit der Gegensätze
Manchmal tritt in einer Psychotherapie, in einer Trainingsgruppe oder im Alltag eine Grunderfahrung ein, in deren Licht vergangene Entwicklungen rückblickend sich erhellen und zu der hin sie zu streben schienen. Diese zumeist unbewußt bleibende Erfahrung steuert unserer Meinung nach das Verhalten des Individuums und der Gruppe. Es ist schwer, sie zu beschreiben, da sie zahlreiche Aspekte aufweist, die jedoch ihrer Einheit keinen Abbruch tun. Vielleicht kann man fürs erste sagen, daß es sich um eine Erfahrung der Konvergenz handelt; Konvergenz der individuellen Erfahrungentrotz ihrer Verschiedenartigkeit; Konvergenz vielfältiger, gewöhnlich getrennter Aspekte: in der Erfahrung jedes einzelnen Vergangenheit und Zukunft, Schmerz und Freude, Zärtlichkeit, Ironie, Weisheit, Verrücktheit, Bedeutungslosigkeit und Tiefe, Glaube und Zweifel, Denken und Wollen. Es hat den Anschein, als gäbees-zutiefst verborgen in der Erfahrung eines jeden- einen Ort, wo die Gefühle in einer nicht undifferenzierten, sondern organischen Einheit konvergieren, von wo jedes Gefühl klar unterschieden und so verändert emporsteigen kann, daß es mit den anderen unvereinbar geworden ist. Es ist daher auch zu sagen, daß die Grunderfahrung der einen paradoxen Einheit der Gegensätze gleichkommt, einer Einheit, zu der man weder dadurch gelangt, daß ein Pol abgeschwächt würde, noch durch bloßes Nebeneinander, sondern durch die Einsicht, daß jeder Pol den anderen voraussetzt und auf ihm ruht. Wenn wir dennoch den Inhalt der Erfahrung, auf die Gefahr hin, ihn zu schmälern, angeben wollen, so sagen wir, daß sie wesentlich auf der Einheit von Liebe und Trennungsgefühl beruht. Es ist die Entdeckung eines unwiderruflichen Getrenntseins aller Wesen, doch verbindet uns gerade die Erfahrung der Trennung mit den anderen; sie läßt uns die anderen als getrennte Wesen erkennen, läßt uns aber auch unsere Solidarität mit ihnen entdecken. Im Trennungsgefühl keimt schon die Liebe zu den anderen, denn es wird als Schmerz und Angst erlebt; es ist das Zeichen unserer Nicht-Indifferenz gegenüber den anderen. Gleichzeitig ist es die Grundlage eines authentischen Verhältnisses zu den anderen, denn die anderen und wir selbst erscheinen darin als getrennte und gesonderte Wesen. Umgekehrt setzt die authentische Liebe das Bewußtsein der Trennung voraus. Sie ist aktives Mitfühlen mit dem anderen in seinem Getrenntsein und das Bemühen, seinen Trennungsschmerz zu lindern, indem man ihn mit ihm teilt. Sie bedeutet weder Fusion noch Identifizierung mit dem anderen, sondern im Gegenteil seine Anerkennung als eigenes und von mir getrenntes Wesen. 145
Die Grunderfahrung verläuft oft in zwei Phasen. Zuerst wird die Trennungsangst als solche, ohne Transparenz, in einem nur impliziten Bezug zur Liebe erlebt. In einer zweiten Phase erhellt sich der Horizont, der Bezug zur Liebe wird ausdrücklich, und zugleich wird die Angst erträglicher, ohne daß jedoch die sie begleitenden Einsichten verleugnet würden. Wir wollen diese beiden Momente, die uns die Bestimmung der Schlüsselbegriffe Trennung und Liebe ermöglichen, näher betrachten. Wir werden danach auf das Phänomen der Angst zurückkommen, das wir dann besser verstehen werden, und die Frage nach seiner Bedeutung stellen.
Die Trennungsangst
Die Trennungsangst weist mehrere Aspekte auf. Auf einer noch verhältnismäßig oberflächlichen Ebene wird sie als eine Erfahrung der Ablehnung erlebt - des aktiven Ablehnens der anderen ebenso wie als Gefühl, von den anderen abgelehnt, verschmäht, zurückgewiesen und verlassen zu werden. Hier lösen sich die Bindungen zu den anderen gewissermaßen auf. Ein verwandtes Gefühl ist das der Unmöglichkeit, sich zu verstehen und in Kommunikation mit den anderen zu treten. Die Erfahrung vertieft sich sodann zu einem Gefühl der Einsamkeit. Es ist nicht das Gefühl, rein äußerlich, an einem Ort und für eine bestimmte Zeit, allein zu sein, sondern es ist die Entdeckung der Einsamkeit als dauernder Verfaßtheit des Menschen. Es ist auch hier wiederum schwierig, den Inhalt der Einsamkeitserfahrung zu beschreiben. Zwei Aspekte dürften von Bedeutung sein: das Schweigen der anderen und die in mancher Hinsicht beruhigende Entdeckung einer möglichen Beziehung zu sich selbst. Das Verhältnis zu den anderen ist in der Einsamkeit weder durch Ablehnung, wie soeben, noch durch Gleichgültigkeit gekennzeichnet. Es ist völlig anders als das Verhältnis in der von Sartre beschriebenen Schlange der auf den Bus Wartenden. In der erlebten Einsamkeit wird das Schweigen der anderen vernommen. Während man in sich eingeschlossen ist, wird man sich der Abwesenheit der anderen bewußt. Die Trennung wird auch als ein Gefühl der Leere, des Nichts empfunden. In Trainingsgruppen läßt sich oft sehr bald eine Furcht vor dem Leeren, welches der Raum zwischen den Tischen und Stühlen darstellt, und vor dem Schweigen beobachten. Die Gruppenmitglieder kämpfen lange gegen diese Furcht an, indem sie Tische und Stühle zusammenrücken und das Schweigen überbrücken. Mit Hilfe des Trainers wird ihnen diese Furcht allmählich bewußt; sie hören auf, gegen 146
sie anzukämpfen, geben ihr Raum, überlassen sich dem Schweigen, und dann taucht das Gefühl der Leere auf. Bald wird es als völlige Leere des Bewußtseins erlebt (»ich habe an nichts gedacht, ich hatte einen leeren Kopf« sagt Henriette in der Walfischgruppe), bald konkreter als Gefühl des Mißerfolgs oder der radikalen Unechtheit seiner selbst oder der anderen erfahren. Diese beiden Gefühle fallen mit dem der Leere und des Nichts zusammen, denn der Mißerfolg bezieht sich auf die Kommunikation eines Ichs, das sich im Bewußtsein seines Mißerfolges selbst in Frage stellt, mit einem anderen, der unfaßbar bleibt und sich auflöst (»ich habe weder die Gruppe noch den einzelnen gefunden«, sagte Marceline); das Gefühl der Unechtheit offenbart den eigenen Mangel an Substanz und den der anderen. Jean-Marc verlieh alldem sehr beredten Ausdruck, als er sagte: »Ich habe dieses Schweigen mit ähnlichen Situationen des Schweigens verglichen, etwa wenn ich allein im Wald war. Es ist dasselbe. Ich ließ an mir vorbeiziehen, was ich in den verschiedenen Gruppen, in denen ich lebte, erfahren habe. Sie hatten alle ein künstliches Gepräge und ich selbst war künstlich, eine Maske. Diese Gruppe hier ermöglicht mir, dies festzustellen, denn wir sind über das übliche hinausgekommen. Wir möchten mehr erreichen, aber es gelingt nicht. Nimmt man die Masken ab, ist nichts dahinter.« Die Angst vor der Trennung äußerst sich schließlich auch als Angst vor dem Tod. Der Tod wird in diesem Zusammenhang nicht als aktive, böswillige Macht empfunden, und die Todesangst bedeutet nicht Erschrecken, Angst vor der Vernichtung und, darin eingeschlossen, vor dem Gericht (dem Jüngsten Gericht). Natürlich gibt es diese Angst, aber auf einer weniger tiefen Ebene. Sie gehört in den stärker abwehrenden Bereich der Feindseligkeit. Hinter dieser Angst existiert - unheilvoller noch - das Gefühl des Todes. Gemeint ist das Gefühl, die anderen zu verlassen und von ihnen verlassen zu sein; das Gefühl der Einsamkeit, des Mißerfolgs, des Nichts und der Flüchtigkeit des Daseins. Es umfaßt alle vorhergehenden Themen, weist ihnen aber einen historischen Ort zu. Man könnte demnach sagen, daß die Todesangst der Ursprung der Gefühle der Einsamkeit, des Nichts, des Mißerfolgs und der Unechtheit ist, selbst wenn diese Gefühle ohne Bezug zur Todesangst erfahren werden. Die Todesangst verbirgt sich hinter diesen Gefühlen. Der Tod bedeutet jedoch Angst nur, weil man ihm eine bestimmte menschliche Bedeutung zuschreibt. Es erscheint uns daher eher richtig zu sagen, daß es das Trennungsgefühl ist, das die Todesangst motiviert. Der Tod symbolisiert das Getrenntsein der Menschen und bedeutet als solches Angst. Die Trennungsangst setzt sich also aus verschiedenen Gefühlen zusam147
men, die alle eng miteinander verbunden sind. Sie äußert sich bald in dem einen, bald in dem anderen, bald in mehreren von ihnen. Sie ist wesentlich Bewußtsein radikalen Getrenntseins aller Wesen und der Unmöglichkeit des Mit-Seins mit den anderen, die alle Versuche zum Scheitern verurteilt, alle Bemühungen vergeblich sein läßt und da.'l Leben jedes einzelnen als sinnlos, schließlich auch als inhaltslos erscheinen läßt. Sie ist die Erfahrung der Negation der Beziehung zu den anderen und gleichzeitig die Negation der anderen und seiner selbst. Allen Aspekten der Trennungsangst sind zwei gemeinsame Merkmale hinzuzufügen. Das erste ist das Leid. Gemeint ist nicht ein brennender Schmerz, der noch zu hoffen berechtigt, sondern vielmehr ein dumpfer, intensiver Schmerz, der sich nur selten in Worte kleidet und zumeist in Gestik und Tonfall geäußert wird, weil ihn anders mitzuteilen zwecklos wäre. Es handelt sich um echte Verzweiflung. Die konstatierten Leiden sind unheilbar. Damit kommen wir zum zweiten Merkmal. Die in der Trennungsangst empfundenen Gefühle lassen sich weder zeitlich noch räumlich genau festlegen. Sie beziehen sich nicht auf eine einzelne Erfahrung, auf einen bestimmten Mißerfolg etwa, sondern auf die Gesamtheit der vergangeneo (Jean-Marc spricht von »allen Gruppen, in denen ich lebte«), gegenwärtigen und zukünftigen Erfahrung. Sie betreffen die Erfahrung der anderen ebenso wie die eigene. Es ist eine gleichermaßen universelle und konkrete Erfahrung. Es geht nicht um eine Idee, eine »Reflexion über«, eine Verallgemeinerung, sondern um ein globales
Erfassen der Erfahrung in ihrer Gesamtheit, verdichtet in einem einzigen Augenblick. Diese Gefühle tragen mithin den Charakter der Notwendigkeit an sich. Sie scheinen eine dauernde und universelle Verfaßtheit der menschlichen Existenz zu enthüllen. Ihre Ursache liegt nicht, wie gewohnt, in einem einzelnen Ereignis oder der eigenen oder fremden individuellen Persönlichkeit, also außerhalb. Sie weisen keine besondere Ursache innerhalb der Lebensgeschichte oder der Umgebung auf. Sie erhalten ihre Rechtfertigung aus sich selbst. Der Gegenstand des Gefühls, d. h. die Erfahrung in ihrer Gesamtheit, das Gefühl selbst und die Person, die es empfindet, fallen in ihnen zusammen. 2 Die Gefühle tragen daher den Charakter der Evidenz und der Absolutheit. Es handelt sich um eine unmittelbare Erfahrung, deren Sinn in ihr 2 Vgl. Heidegger (1927): »Das, worum die Angst sich ängstet, enthüllt sich als das, wovor sie sich ängstet: das In-der-Welt-Sein. Die Selbigkeit des Wovor der Angst und ihres Worum erstreckt sich sogar auf das Sichängsten selbst.« Bezüglich der Auffassung Heideggers von der Angst siehe unten, S. 190-192.
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selbst liegt und die auf keine andere zurückgeführt werden kann. Zumindest wird sie in der Trennungsangst so erlebt. Die Paradoxie der Trennungsangst wird somit schon sichtbar. Die Inauthentizität der Existenz enthüllt sich in einer Erfahrung, die als authentisch erlebt wird - das Kontingente wird als absolute Realität bestätigt -, noch nie hat man sich so sehr um die anderen, die man verneint, gekümmert; zum ersten Male begegnet man ihnen mit echter Sensibilität; man vertieft sich in ihren Schmerz, als wäre es der eigene, man verneint sich selbst, aber gleichzeitig ist man in sich selbst verloren und entdeckt sich; die Erfahrung der Einsamkeit geht einher mit einer nie gekannten Ungezwungenheit und Leichtigkeit im Umgang mit den anderen. So überließ sich die Walfischgruppe mühelos, in stummer Obereinkunft dem Schweigen der Einsamkeit, und ihre Mitglieder kamen einer nach dem anderen daraus hervor ohne einander zu stören. Alle diese positiven Seiten und Widersprüche der negativen Erfahrung des Schweigens sind fast völlig unbewußt. Sie äußern sich in Tonfall, Gestik und Verhalten. In einem zweiten Schritt werden sie reintegriert und die Erfahrung wird bewußt als paradox erlebt.
Die Entdeckung der .. geteilten Einsamkeit« und der positiven Gefühle
In seinem Bericht über den Fall der Mrs. Oak, einer PsychotherapiePatientin, zitiert Carl Rogers eine Stelle aus der 30. Therapiesitzung, in der die Patientin beschreibt, wie sich ihre Erfahrung der Einsamkeit verändert hat, die sie nun als eine »geteilte Einsamkeit« erlebt. Die schriftliche Wiedergabe der auf Band aufgenommenen Sitzung spiegelt die Formulierungsschwierigkeiten eines Menschen wider, der seiner innerstenErfahrungAusdruck zu verleihen sucht. (K = Klientin). K.: Ich habe ein Gefühl •.. daß man es zum größten Teil selbst tun muß, aber daß man irgendwie in der Lage sein sollte, es mit anderen zu schaffen. (Sie erwähnt, daß es ,.zahllose« Gelegenheiten gegeben hat, wo sie persönliche Wärme und Güte von anderen hätte akzeptieren können.) Ich bekomme das Gefühl, daß ich einfach Angst hatte, ich würde kaputt gemacht werden. (Sie wendet sich wieder der eigentlichen Beratung und ihrer Empfindung darüber zu.) Ich meine, es war doch so, daß ich mich selbst durch die Sache durchbeißen mußte. Beinah bis - ich meine, ich fühlte es - ich meine, ich versuchte gelegentlich, es zu sagen - eine Art - zeitweise, daß ich beinah nicht wollte, daß Sie es wiederholen, daß ich nicht wollte, daß Sie darüber nachdenken, daß die Sache meine Sache ist. Natürlich kann ich's Widerstand nennen. Aber jetzt bedeutet mir das überhaupt nichts ... Das - ich glaube in, eh, in Beziehung zu dieser bestimmten Sache, ich meine, das - wahrscheinlich war das
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manchmal das stärkste Gefühl, es ist meine Sache, es ist meine Sache. Ich muß es selber durchstehen. Verstehen Sie? Th.: Es ist eine Erfahrung, die sich furchtbar schwer genau in Worte fassen läßt, und doch spüre ich einen Unterschied hier in dieser Beziehung, einen Unterschied zwischen dem Gefühl, »dies ist meine Sache«, »ich muß es tun«, »ich tu's« und so weiter, und einem etwas anderen Gefühl, dem - »ich könnte Sie hereinlassen«. K.: Ja. Nun. Ich meine, das ist- daß es so ist- tja, es ist gewissermaßen, sagen wir, Zweiter Akt. Es ist- es ist ein- tja, in etwa, nun, ich bin immer noch allein in der Sache, und doch nicht allein - verstehen Sie - ich bin Th.: M-hm. Ja, das ist paradox, aber das faßt es zusammen, nicht? K.: Ja. Th.: Bei dieser ganzen Sache gibt es ein Gefühl, es ist noch - »jeder Aspekt meiner Erfahrung gehört mir, und das ist ziemlich unvermeidlich und notwendig« und so fort. Und trotzdem ist es nicht das ganze Bild. Irgendwie läßt es sich mit einem anderen teilen oder das Interesse eines anderen kann Einlaß finden, und auf irgendeine Art ist das neu. K.: Ja. Und es ist- eh, es ist, als ob es gerade so sein sollte. Ich meine, daß es so - sein muß. Es gibt ein - es gibt ein Gefühl, »und das ist gut«. Ich meine, es äußert sich, es klärt sich für mich. Es gibt ein Gefühl - bei diesem Sich-Bemühen, als ob - Sie sozusagen hinten stehen - etwas entfernt stehen, und wenn ich bis zum Kern der Sache den Weg freischlagen will, dann ist es ein- ein Ausreißen von- ah, hohem Unkraut, daß ich das schaffen kann, und Sie können - ich meine, Sie werden sich nicht daran stören, daß Sie auch da hindurchgehen müssen. Ich weiß nicht. Und ich werde daraus nicht klug. Ich meine Th.: Nur, daß Sie eine sehr wirkliche Empfindung haben, dieses Gefühl ist richtig, hm? K.: M-hm. (Rogers, 1973, 94 f.).
Zugleich mit der »geteilten Einsamkeit« wird die Zuneigung der anderen und die Zuneigung für die anderen entdeckt. An einer früheren Stelle der gleichen Sitzung (S. 91 ff.) erzählt die Patientin, wie sie die Anteilnahme des Therapeuten an ihr entdeckte: K.: Ja, ich hab' eine sehr merkwürdige Entdeckung gemacht. Ich weiß, es ist - (lacht) ich entdeckte, daß Sie wirklich Anteil daran nehmen a, wie das hier läuft. (Beide lachen) Es gab mir das Gefühl, daß es ungefähr so eine Sache ist: nun - >Vielleicht lasse ich Sie in diesem Stück mitmachen<. Es ist sehen Sie mal, auf einem Prüfungsbogen hätte ich die richtige Antwort gehabt, das heißt - aber es fiel mir ganz plötzlich ein, daß in der Sache KlientBerater, daß Sie wirklich Anteil nehmen, was da passiert. Und es war eine Offenbarung, eine - nein. Das beschreibt es nicht. Es war ein - nun, am 3 Amer. »To care«: sich sorgen, sich beunruhigen, sich kümmern; zu vergleichen mit der »Fürsorge« Heideggers.
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ehesten kann ich es beschreiben als eine Art Entspannung, ein - nicht ein Im-Stich-Lassen, sondern ein - (Pause) mehr ein Zurechtbiegen, ohne Spannung, wenn das irgendwas bedeutet. Ich weiß nicht.
In einer Psychotherapie entdeckt der Patient oft urplötzlich das wirkliche Interesse des Therapeuten für ihn, und das spielt im Fortgang der Therapie eine entscheidende Rolle. Mrs. Oak macht diese Entdeckung zum seihen Zeitpunkt, als auch sie sich für die anderen interessiert: »Ich entdeckte, nein, ich liebe die Menschen nicht, aber ich nehme viel Anteil an ihnen.« Sie versucht, die »Anteilnahme« (care) von dem, was sie »Liebe« (Iove) nennt, zu unterscheiden: K.: ... Es läßt mich vielleicht besser ausdrücken, wenn ich sage, ich nehme großen Anteil an dem, was geschieht. Aber die Anteilnahme ist ein - bekommt eine Form- ihr Aufbau ist im Verstehen und in dem Wunsch enthalten, nicht hineingezogen zu werden, oder zu den Dingen beizutragen, die ich für falsch halte und - Es scheint mir, daß es in - im Lieben eine Art letzten Punkt gibt. Wenn Sie das getan haben, haben Sie gewissermaßen genug getan. Es ist ein ••• Th.: Das ist es, gewissermaßen. K.: Ja. Es scheint mir, daß diese andere Sache, diese Anteilnahme- das ist keine gute Bezeichnung - ich meine, wir brauchten wahrscheinlich etwas Anderes, um so etwas zu beschreiben. Zu sagen, es ist eine unpersönliche Sache, bedeutet gar nichts, denn es ist nicht unpersönlich. Ich will sagen, ich empfinde, daß es sehr wohl Teil eines Ganzen ist. Aber es ist etwas, das irgendwie nicht aufhört •.. Mir scheint, man könnte dieses Gefühl haben, die Menschheit zu lieben, Leute zu lieben, und gleichzeitig trägt man - weiterhin mit dazu bei, die Menschen neurotisch zu machen, sie krank zu machen - was - und dagegen habe ich was.
Was Mrs. Oak »love« nennt, hat den Charakter der Einengung und auch der Kompromittierung mit dem anderen. Es ist Selbstaufgabe in Komplizenschaft mit dem anderen und blockiert die weitere Entwicklung. Wir werden es die possessive Liebe nennen. Was Mrs. Oak »Anteilnahme« und, ohne mit dem gewählten Wort zufrieden zu sein, jedenfalls nicht Liebe nennen möchte, nennen wir authentische Liebe oder einfach Liebe. Mrs. Oak unterscheidet die beiden Gefühle sehr sorgfältig. Die authentische Liebe
Wie läßt sich die authentische Liebe näher bestimmen? Sie ist wesentlich ein Mitfühlen mit dem menschlichen Getrenntsein; Wissen um den Trennungsschmerz und Teilnahme daran; aktives Ver151
langen, die Angst ertragen zu helfen. Um sie zu beschreiben, benützte eine Frau in einer T -Gruppe einmal den Ausdruck »ohnmächtige Zuneigung«; sie berichtete von einer kritischen Situation in ihrem Leben, in der ihr ein Freund gerade dadurch geholfen hatte, daß er ihr sein Unvermögen, ihr zu helfen, zum Ausdruck brachte. Zuneigung ist hier nicht auf ein handgreifliches Ergebnis bedacht, und das läßt ihre Eigenart des Mitfühlens, der Anteilnahme an einem Leid, deutlich hervortreten. Oft dient das angestrebte Ergebnis als Vorwand, den Schmerz des anderen - im Grunde seine Existenz selbst - zu leugnen. Hier dagegen ist der Wunsch zu helfen wirklich, aber in kontradiktorischer Koexistenz mit dem Bewußtsein verbunden, nicht helfen zu können. Dieses Bewußtsein beeinträchtigt nicht den Wunsch zu helfen, es verstärkt ihn. Man begegnet dem anderen nicht in der Absicht, ihn umzumodeln, sondern man bekundet ihm ein Gefühl. Die Hilfe hat die Form von Sprache, selbst wenn sie sich in einer materiellen Unterstützung äußert. Ihre Wirksamkeit ist die eines verstandenen Zeichens, auf das der andere »geantwortet« hat. Der Wunsch zu helfen und das Mitgefühl heben sich in der Liebe nicht auf, sondern sie koexistieren und verstärken sich gegenseitig. Es wurde deutlich: Die authentische Liebe wird bewußt als ein Widerspruch erlebt. In der letzten Sitzung der Walfischgruppe wählte Jacqueline die folgenden Verse aus einem Gedicht von Prevert, um den Gruppengefühlen am Ende der Sitzung Ausdruck zu verleihen: »Jene Liebe - so heftig- so zerbrechlich - so zart - so verzweifelt ... - so glücklich - so fröhlich - und so lächerlich - zitternd vor Angst wie ein Kind im Dunkel - und so sicher ihrer selbst - wie ein ruhender Mensch inmitten der Nacht ... « Es ist eine Liebe voller Klarheit. Sie leugnet nicht die Trennung, im Gegenteil, sie erkennt sie an. Sie ist auf sie gegründet. Sie leugnet nicht die Individualität der geliebten Wesen, die Verständnislosigkeit, Zerwürfnisse, Konflikte, ja sogar Brüche; aber sie vermag hinteralldem die fundamentale Solidarität in einem gemeinsamen Elend wahrzunehmen, die sich durch nichts in Abrede stellen und durch nichts beirren läßt. Die authentische Liebe ist sozusagen das Bewußtsein einer bedrohten und dennoch unzerstörbaren Bindung. Weil sie sich der Trennung bewußt ist. unterscheidet sich die authentische zutiefst von der possessiven Liebe. Sie gründet nicht in einem Verlangen, sie beruht nicht auf dem Glauben an die Fusion, ob damit nun eine romantische Verschmelzung der Seelen, eine mystische V ereinigung oder gegenseitiger körperlicher Besitz gemeint ist. Solche Gefühle berauschen sich an der Trennung, denn sie verfolgen ein Liebes152
objekt, das stets abwesend oder unerreichbar ist - infolge religiöser oder sozialer Verbote, deren Urform das Inzestverbot ist. So entbrennt, wie Denis de Rougemont 4 gezeigt hat, die Liebe zwischen Tristan und Isolde um so heftiger, je weniger sie sich lieben können und dürfen. In diesem Fall wird aber die stets vorhandene und übermächtige Trennung durch das Liebesgefühl selbst verdrängt und verleugnet. Die possessive Liebe ist ein verzweifelter Versuch, die Trennung durch die Fusion zu negieren. Mit der authentischen Liebe sind zwei Phänomene untrennbar verbunden: die authentische Entdeckung des anderen und die Selbstentdekkung. Der andere wird in seinem Getrenntsein, in seinem grundsätzlichen Anderssein akzeptiert, und im selben Akt erkennt das Ich seine Unreduzierbarkeit auf die anderen. Entfremdung und Identifikation, Verwechslung seiner selbst mit dem anderen, resultieren aus der Verdrängung der Trennungsangst Sie lösen sich .auf in der Liebe, da der andere aufhört, uneingestandenes Schutzschild gegen eine verdrängte Angst zu sein, die ich auf ihn projiziere. Im Gruppentraining und in der Psychotherapie ist der Fortschritt in der Liebe stets von einer erhöhten Sensibilität für jene Zonen begleitet, in denen die anderen verletzbar sind und die bisher durch die eigene Verletzbarkeit verborgen blieben. Die besonderen Abwehrmaßnahmen des anderen - sie konstituieren seine Individualität - werden in verstärktem Maße wahrgenommen und respektiert. Ebenso verstärkt sich das Bewußtsein von der Singularität des Ichs, das allein für sein Leben verantwortlich ist; dies äußert sich oft in der tieferen Verwurzdung persönlicher Entscheidungen, in größerer Festigkeit der Zielsetzungen und in der Fähigkeit, einen Plan allein zu verwirklichen. Das Ich nimmt eine klarere Gestalt an; es entdeckt, daß es fremden Einflüssen zwar zugänglich, aber auch ihnen gegenüber frei ist, frei auch gegenüber seiner eigenen Vergangenheit und gegenüber seiner Rolle, von der es sich zu trennen vermag. Der authentischen Liebe kommt ferner ein universaler Charakter zu. Auch darin unterscheidet sie sich von der possessiven Liebe. Diese beschränkt sich auf ihr Objekt, tritt in eine exklusive, privilegierte Beziehung zu ihm und sondert sich mit ihm von der Welt ab. Die Welt ist feindlich getönt, bedroht sie doch die Liebe. Das geliebte Wesen wird als zutiefst verschieden von den anderen empfunden, es verweist durchaus nicht auf einen universellen menschlichen Zustand. Nur es allein ist der Liebe wahrhaft würdig und vermag wahrhaft zu lieben; 4 Denis de Rougemont (1939). Zum weiteren Vergleich mit den Auffassungen de Rougemont vgl. 7. Kapitel.
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und gerade deshalb wird es auch geliebt, denn es ist das einzige, das geliebt werden kann. Die Liebesbeziehung schützt vor allen übrigen Beziehungen, die als feindselig oder indifferent erlebt werden. Die authentische Liebe dagegen öffnet sich dem Universellen. Das geliebte Wesen wird in seinem Getrenntsein geliebt, das es mit allen gemein hat. Durch das geliebte Wesen hindurch werden andere wahrgenommen, die sich von ihm unterscheiden, aber ebenso getrennt existieren. Im Lieben öffnet sich ein Zugang zur Liebe der anderen, und umgekehrt öffnet die Liebe zu allen den Zugang zur Liebe dieses einzelnen. Die authentische Liebe ist mithin etwas Universelles in konkreter Gestalt, wie wir es auch für die Trennungsangst feststellten. Es handelt sich dabei keineswegs um eine unbestimmte Sentimentalität, eine »Menschenliebe<<, die uns davon enthebt, Menschen tatsächlich zu lieben, sondern um eine Liebe zu allen Menschen, die in der konkreten Liebe zu diesen ganz bestj.mmten Menschen empfunden wird. Diese Liebe kann in zahllosen verschiedenen Formen auftreten, die alle gleichzeitig vorhanden sein können: von der engen und lebendigen Beziehung zu den Eltern, dem Ehegatten, den Kindern und Freunden über das Gedenken der Toten, abgebrochene oder unglückliche Liebesverhältnisse, bis hin zur einfachen Freundlichkeit gegen einen Unbekannten. Sie verlangt auch nicht, daß alle gleich behandelt werden; vielmehr ist sie eine individualisierte Beziehung zu jedem und von einem zum anderen verschieden. Sie schließt daher nicht aus, daß man zu einigen engere und anders geartete Beziehungen unterhält als zu anderen. Auch privilegierte Beziehungen sind also denkbar, vorausgesetzt allerdings, daß die dem einen gewährten Privilegien nicht auf Kosten der Privilegien anderer gehen. Das heißt ganz einfach: eine tiefe Beziehung zum Ehegatten ist nicht unvereinbar mit einer verschieden gearteten Beziehung zu den Kindern, Familienbeziehungen konkurrieren nicht notwendig mit Beziehungen zu Freunden, berufliche Beziehungen sind auf einer anderen Ebene eine Verlängerung der Beziehungen zu Freunden. Selbst die privilegierte Beziehung possessiver Art läßt sich in eine umfassendere Liebe einbeziehen, sobald sie transparenter geworden, aus ihrer Isolierung ausgebrochen ist und sich als das zeigt, was sie ist: eine besondere Form des Elends, die notwendig mit anderen Formen koexistiert. Anders ausgedrückt: authentische Liebe ist die Gemeinschaft aller geliebten Wesen, d. h. aller Wesen und aller Formen der Liebe zu ihnen, die sich uns in einem bestimmten Moment und unter einem bestimmten Gesichtspunkt in ihrer Koexistenz offenbaren. Man könnte gegen das eben Gesagte einwenden, es laufe auf eine Ver154
dinglichung der authentischen Liebe hinaus. Dazu ist erstens zu sagen, daß es sich bei ihr nicht um einen Zustand, sondern um eine Bewegung handelt. Sie wird ständig durch Zweifel, Mißerfolg und Trennungsangst in Frage gestellt. Weder das Mitfühlen noch das Ich und der andere sind feste Gegebenheiten, die sich fassen und fixieren lassen. Das Mitfühlen entpuppt sich als manipulativ oder aggressiv; das Ich wird von Zweifeln erschüttert, und was es sich vornimmt, erscheint ihm aussichtslos; der andere schließlich verbirgt sich. Doch die Liebe ersteht aus Mißerfolg, Zweifel und Trennung von neuem; sie findet darin neuen Grund, es zu versuchen, nicht zu zweifeln, eine Bindung anzuknüpfen. Sie ist dieses Sich-Erneuern. Es wäre falsch, sie als ein Ideal zu bezeichnen, das man erstrebt; sie ist aktuelle, gegenwärtige Realität. Zweitens ist darauf hinzuweisen, daß die authentische Liebe nicht nur in bewußter Form in Erscheinung tritt. Sie liegt unbewußt, verzerrt und verhüllt jeder menschlichen Aktivität zugrunde. Wir begegneten ihr schon in jener faktischen Solidarität, die sich auf allen Entwicklungsstufen einer Gruppe beobachten läßt. Gerade die Konvergenz und Komplementarität, die sich in gegenseitiger Aggression, Lähmung, Exaltation und Furcht äußern, machen deutlich, daß jeder einzelne allen anderen Aufmerksamkeit entgegenbringt und daß es unmöglich ist, jemanden völlig allein zu lassen. Gewiß, die Trennungsangst und die Verbundenheit bleiben noch unbewußt, und die Solidarität ist daher unbeholfen. Oft verbirgt sie sich hinter ihrem Gegenteil und ist kaum noch erkennbar. Trotzdem ist sie vorhanden. Schließlich ist festzuhalten, daß die authentische Liebe - auch als bewußte - auf sehr vielfältige Weisen zum Ausdruck kommt. Sie bedient sich der ganzen Skala von Ausdrucksmöglichkeiten, so daß es zum Beispiel lächerlich wäre, sie auf die verbale Gefühlsäußerung beschränken zu wollen. Sie bedient sich ebenso auch der Sprachen der Aktion und der materiellen Hilfe, der physischen Gestik, der direkten Emotion und der Sexualität, des Symbols, sogar auch der rationalen Sprache. Keine Ausdrucksform ist an sich schon abwehrend, ebenso wie keine frei von Abwehr oder weniger abwehrend als andere ist. Worauf es wirklich ankommt - und dies wäre Zeichen einer nichtdefensiven Einstellung - , ist vor allem die Möglichkeit von denen, an die man sich wendet, verstanden zu werden, indem man eine Sprache gebraucht, die ihnen zugänglich ist, gleich welcher Art. Eines der Kennzeichen der authentischen Liebe wäre gerade die Flexibilität und Beweglichkeit in der Verwendung verschiedener Sprachen. Das Gefühl koexistiert dann bewußt mit seinem non-verbalen Ausdruck. Dieser 155
Fall ist von jenem anderen zu unterscheiden, bei dem das Bewußtwerden des Gefühls durch Ausweichen in ein non-verbales Verhalten, zum Beispiel ins Handeln, vermieden worden ist; die Psychoanalytiker nennen dies Ausagieren (acting out). Aus diesem Hinweis ergeben sich Folgen für den Psychologen, der durch Psychotherapie, Training oder Organisationsberatung Veränderungen bei seinem Klienten erzielen möchte. Die Psychologen - besonders die klinischen - scheinen seit einigen ] ahrzehnten in der absurden Idee zu leben, dem verbalen Ausdruck komme eine Art natürlicher Vorrang zu. Auch lenken die Therapie- und Trainingstechniken oft auf verschiedenste Weise die Aktivitäten des Klienten und des Psychologen in verbale Kanäle, während non-verbale Aktivitäten mit allen möglichen Verboten belegt werden. In dieser Einstellung tut sich unseres Erachtens eine gewisse Angst vor der Beziehung kund, auf die wir noch näher eingehen werden (vgl. Kapitel 13). Wir möchten im Gegenteil den Psychologen zum freien und spontanen Gebrauch aller der Sprachen ermutigen, deren er mächtig ist und von denen er glaubt, sie könnten seinen Gefühlen in der Beziehung zum Klienten Ausdruck verleihen. Wir wollen jedoch diesen Punkt jetzt nicht näher ausführen.
Authentische Liebe und Sexualität
Wie verhalten sich zueinander authentische Liebe und Sexualität? Wie wir im vorausgegangenen Kapitel bemerkten, wurde diese Frage durch die Psychoanalyse verdunkelt, die das Gefühl auf die Sexualität zu reduzieren suchte. Es ist daher sehr schwierig, in der psychoanalytischen Literatur den Begriff der Genitalität zu verstehen, der den Gipfelpunkt der psychischen Entwicklung darstellt und als solcher dem entsprechen könnte, was wir authentische Liebe nennen. Fenichel, der als ein guter Vertreter der Orthodoxie gelten kann - definiert die genitale Phase durch zwei Merkmale: I. Veränderung der erogenen Zonen in dem Sinne, daß >>die Geschlechtsorgane den Vorrang vor den extragenitalen erogenen Zonen erhalten und alle sexuellen Erregungen genital orientiert sind und einem Orgasmus zustreben« {Fenichel, 1945, S. 61). 2. Reorganisation der Objektbeziehung. Diese ist in der genitalen Phase nicht mehr ambivalent, sondern wird zur Liebe, die Fenichel folgendermaßen definiert: »Von Liebe kann nur gesprochen werden, wenn die Wertschätzung für das Objekt so groß ist, daß die eigene Befriedigung unmöglich ist, wenn nicht auch das Objekt befriedigt wird« (S. 84). Bis hierher haben wir zwei klare Begriffe vor 156
uns. Die Schwierigkeiten beginnen, sobald der Autor sie zu verknüpfen sucht. Er geht aus von der Liebe: »Jene Art von Gefühl, die darin besteht, sich in Obereinstimmung mit dem Objekt zu wissen, hat sicher etwas mit der Identifizierung zu tun. Aber andererseits machen wir einen Unterschied zwischen der Objektbeziehung und der Identifizierung und setzen voraus, daß das Verständnis für das reale Objekt aufhört, sobald die Identifizierung das Mittel der Beziehung wird. In der Liebe muß es zum Zweck der Einfühlung eine Art partieller und temporärer Identifizierung geben, die parallel zur Objektbeziehung existiert oder in kurzen Intervallen mit ihr abwechselt. Ober die spezifische Natur dieser Identifizierung wissen wir nichts. Wir können lediglich sagen, daß die Erfahrung einer vollständigen und integrierten Befriedigung sie erleichtert und daß der Primat des Genitalen (die Fähigkeit, einen adäquaten Orgasmus zu haben) eine ihrer Bedingungen bildet« (S. 84, Hervorhebung M. P.). Dieser Text ist für uns sehr aufschlußreich. Einerseits erkennt Fenichel mit Recht das Vorhandensein einer Bindung an, die sich nicht auf die klassische Identifizierung der Psychoanalyse zurückführen läßt, die eine Verwechslung von Subjekt und Objekt bezeichnet. Die von ihm angenommene besondere »Identifizierung« ist empathisch und unterscheidet Subjekt und Objekt. Andererseits gesteht Fenichel offen sein Unvermögen ein, diesen Begriff zu erhellen, der in der Tat nicht in das psychoanalytische Denkschema hineinpaßt Trotzdem versucht er in einem dritten Anlauf, dieses Phänomen mit dem Primat der genitalen erogenen Zone zu verknüpfen. Aber was ist denn ein »adäquater Orgasmus«, eine »vollständige und integrierte Befriedigung«? Handelt es sich um die Orgasmusfähigkeit, um die Unterordnung der anderen erogenen Zonen unter die genitale, dann ist sie mit sehr verschiedenen affektiven Klimata vereinbar, mit Aggressivität, ambivalenten Zuständen und mit Liebe, wie Fenichel sie versteht. Wenn hingegen die »Befriedigung« Elemente wie das Gefühl, sich vollständig ausgedrückt, eine Antwort erhalten, gegeben und empfangen, Vertrauen empfunden zu haben usw. umfaßt, befinden wir uns eindeutig im Bereich des Gefühls und den können wir dann nur noch durch ein Spiel mit Worten - indem all das »vollständige und integrierte Befriedigung« genannt wird - auf den Primat einer erogenen Zone über die anderen zurückführen. Es wäre höchstens noch zu denken - und dies scheint Fenichel zu tun -, daß die beiden Phänomene geheimnisvoll miteinander verbunden sind, ohne daß aber das eine auf das andere zurückgeführt wäre. Die Schwierigkeit liegt darin, daß sich die psychoanalytische Sprache entweder auf die behavioristische Bezeichnung eines physiologischen Verhaltens 157
beschränkt und damit das Gefühl nicht mehr erklären kann oder aber dem Gefühl Raum gibt, dann jedoch das psychoanalytische Denkschema verläßt und das Gefühl nicht mehr vom sexuellen Verhalten abgeleitet werden kann. Mit unklaren Begriffen wie »volle Befriedigung« oder »adäquater Orgasmus<< wird die Schwierigkeit eher verschleiert als gelöst. Dieselbe Schwierigkeit finden wir hinsichtlich der Zärtlichkeit. Der folgende Text von Fenichel macht dies deutlich: »Bei dieser Wertschätzung (für das Objekt) spielt die Entwicklung der Zärtlichkeit eine entscheidende Rolle. Was ist jedoch die Zärtlichkeit? Freud beschreibt sie als das Ergebnis zielgehemmter sinnlicher Strebungen. Andere Autoren, die diesen Ursprung bezweifeln, unterstreichen die Tatsache, daß zärtliche und sinnliche Objektbeziehungen sich gegenseitig nicht ausschließen und daß eine reale Liebe notwendig zärtliche und gleichzeitig sinnliche Strebungen umfasse. Wenn Zärtlichkeit und Sinnlichkeit in Wirklichkeit so oft in Konflikt miteinander liegen, so ist dies eher einem sekundären abwehrenden Isolationsprozeß zuzuschreiben als der zutiefst widersprüchlichen Natur der beiden gegensätzlichen Kräfte. Schultz-Hencke versuchte, sie auf verschiedene erogene Zonen zu reduzieren. Demnach hätte die Sinnlichkeit in der Genitalerotik ihren Ursprung und die Zärtlichkeit in der Hauterotik. Es gibt indessen eine genitale Zärtlichkeit ebenso wie eine kutane Sinnlichkeit. Also scheint die Entwicklung der Zärtlichkeit kaum Aussicht zu haben, jene Art »höherer Identifizierung« erklären zu können, die in der Liebe die Wertschätzung des Objektes bestimmt. Es dürfte sich eher umgekehrt verhalten: die Zärtlichkeit tritt dann in Erscheinung, wenn die auf das Objekt gerichteten (und wahrscheinlich gehemmten) Strebungen sich mit der weiter oben erwähnten Art der Identifizierung treffen« (S. 85). Fenichel erkennt die Schwierigkeit, die der Freudschen Erklärung der Zärtlichkeit anhaftet, sehr deutlich; sie besteht darin, daß die reale Liebe, die für ihn notwendig von einer sexuellen Äußerung begleitet wird, auch die Zärtlichkeit einschließt. Er sieht auch die Schwierigkeit, aus der Zärtlichkeit eine weitere Form der Sinnlichkeit zu machen. Doch anstatt auf das Postulat des sexuellen Ursprungs der Zärtlichkeit zu verzichten, versucht er auf höchst seltsame Weise, dieses Postulat mit der Tatsache in Einklang zu bringen, daß Zärtlichkeit und genitale Sexualität zusammengehören. Plötzlich löst sich die von Fenichel anfangs als notwendig betrachtete Verbindung von Zärtlichkeit und Liebe auf: sie ist ein zufälliges Zusammentreffen. Die Zärtlichkeit wird ein Epiphänomen; sie vermag nichts mehr zu erklären, denn die Entwicklung der Liebe muß eine Entwick158
lung der Sexualität sein. Und damit sind wir wieder bei jener geheimnisvollen »besonderen Form der Identifizierung«. Wer unterliegt hier wohl einer »Hemmung«, wenn nicht Fenichel selbst und vor ihm schon Freud? Wäre es nicht viel naheliegender anzunehmen, daß die Zärtlichkeit, die spezielle Identifizierung und die reale Liebe eine Einheit bilden und sich auf der Ebene des Gefühls, der Gefühlsbeziehung zum anderen, bewegen? Dazu müßte man allerdings die geliebten Reduktionen aufgeben.& Der Leser wird uns jedoch entgegenhalten, daß wir die psychoanalytische Sprache nicht einer wirklichen Kritik unterzogen haben. Weder die physiologische Beschreibung und noch viel weniger die Vorformen einer relationalen Sprache, die die Psychoanalytiker zu verwenden gezwungen sind (und selbst das ist bezeichnend)- reale Liebe, einfühlende Identifizierung, Zärtlichkeit -, sind das Wesentliche dieser Sprache. Der Grundbegriff muß untersucht werden: die Libido. Der Libidobegriff hilft uns jedoch auch nicht aus der VerlegenheiL Balint {1966) übt heftige Kritik an den in der psychoanalytischen Literatur gängigen biologischen Formulierungen hinsichtlich der genitalen Liebe, so, wenn etwa von gleichzeitigem Orgasmus gesprochen wird usw. Er verweist auf die Notwendigkeit, den von den biologischen unabhängigen psychologischen Elementen Rechnung zu tragen; solche psychologischen Elemente sind die Idealisierung, die Zärtlichkeit und eine »besondere Form der Identifizierung«. Doch vermag sein Erklärungsschema ebensowenig zu befriedigen wie das Freuds und Fenichels. Die Zärtlichkeit verweist auf ursprünglichere Formen der Objektbeziehung zur Mutter {nicht Zielhemmung, sondern gehemmte Entwicklung). Die genitale Liebe ist eine unstabile Verbindung von entwickelten und archaischen Formen der Sexualität {genitale Befriedigung und ursprüngliche Objektbeziehung zur Mutter), die mit dem neotenischen, frühreifen Charakter des Menschen zusammenhängt. Diese Verbindung bringt die »besondere Form der Identifizierung« hervor; allerdings: wie sie das tut, sagt uns Balint nicht. Außerdem liegt hier ein Widerspruch vor, da die spezielle Identifizierung die wirkliche Anerkennung der Individualität des anderen voraussetzt {Balint betont dies), während die ursprüngliche Objektbeziehung aber gerade die Grenzen zwischen der eigenen Person und den anderen in einem Gefühl narzißtischer Allmacht aufhebt. Das Schema Balints gleicht bis auf einige Varianten ganz dem Fenichels: Reduktion der Zärtlichkeit auf eine Form der Sexualität (auf eine archaische im einen, auf eine gehemmte im anderen Fall), Erklärung des gleichzeitigen Bestehens der Zärtlichkeit und der genitalen Befriedigung durch die Verbindung zweier verschiedener Formen von Sexualität, Rückgriff auf eine geheimnisvolle »besondere Form der Identifizierung<< zur Erklärung nicht gelöster Probleme. Für Balint ist die besondere Identifizierung das Ergebnis einer Verbindung, für Fenichel hängt sie in einer nicht erklärten Weise mit der gegenseitigen genitalen Befriedigung zusammen.
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In der ersten Triebtheorie Freuds hat der Libidobegriff einen ziemlich genau umrissenen affektiven lnhalt. 6 Es handelt sich um einen Trieb, dessen Ziel Lustgewinn ist, der durch verschiedene Arten von Kontakt mit einem äußeren Objekt erreicht wird. Er unterscheidet sich bekanntlich von den Ich- oder Selbsterhaltungstrieben, die - wie z. B. der Hunger - auf die Erhaltung des Organismus abzielen. Das Verhältnis zum anderen ist nach dieser Auffassung von instrumentaler Art, und davon läßt sich, wie wir im vorigen Kapitel ausgeführt haben, die Beziehung zum anderen, das Gefühl als Sensibilität für den anderen, nicht ableiten. Vielmehr bezeichnet das Libido-Lust-Prinzip die Abwehr der Beziehung, indem man die Person nicht als solche zu sehen gewillt ist, sondern sie verdinglicht. Es kann daher als eine Beziehungsform betrachtet werden, die sich durch einen Abwehrvorgang von der authentischen Beziehung ableiten läßt, nicht aber umgekehrt. Als Freud später die Möglichkeit entdeckte, daß das Ich Gegenstand libidinöser Impulse werden kann - er nannte dieses Phänomen Narzißmus -, modifizierte er seine Triebtheorie. In den verschiedenen Persönlichkeitsinstanzen, Ich, Ober-Ich und Es, erblickte er Differenzierungen ein und derselben Libido. Der Libidobegriff wurde allgemeiner, bewahrte jedoch seinen ursprünglichen Sinn eines Lustprinzips. Daher sind unsere Einwände immer noch zutreffend. In seiner dritten Triebtheorie - ab »Jenseits des Lustprinzips<< - findet Freud schließlich einen neuen Dualismus, indem er dem LibidoLebenstrieb einen neuen Trieb gegenüberstellt, den Todestrieb, den er namentlich im Wiederholungszwang und in den Selbsterhaltungstriehen selbst am Werk sieht: »Die theoretische Bedeutung der Selbsterhaltungs-, Macht- und Geltungstriebe schrumpft, in diesem Licht [der Todestrieb-Hypothese] gesehen, ein; es sind Partialtriebe, dazu bestimmt, den eigenen Todesweg des Organismus zu sichern und andere Möglichkeiten der Rückkehr zum Anorganischen als die immanenten fernzuhalten, aber das rätselhafte, in keinen Zusammenhang einfügbare Bestreben des Organismus, sich aller Welt zum Trotz zu behaupten, entfällt. Es erübrigt, daß der Organismus nur auf seine 6 Der Libidobegriff bezeichnet bei Freud vor allem die energetischen und quantitativen Aspekte ~er sexuellen Impulse. Er ist jedoch nicht auf diese Aspekte beschränkt, sondern umfaßt stets auch einen qualitativen Aspekt. Die Libido ist für Freud eine nicht spezifizierte psychische Energie. Die Grenzen zwischen Libido, Eros und Lebenstrieben sind nicht klar. An dieser Stelle ist uns vor allem am qualitativen Inhalt der Libido gelegen.
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Weise sterben will; auch diese Lebenswächter sind ursprünglich Trabanten des Todes gewesen«. 7 Der Libidobegriff geht in der neuen Formulierung noch des geringen affektiven Inhalts, den er früher hatte, verlustig. Er wird nicht mehr durch das Luststreben definiert, sondern als Lebenstrieb, als Streben nach Einheit oder Fusion, was sich insbesondere in der Bildung vielzelliger Organismen und in der Verschmelzung der Sexualzellen äußert. Die neue Libido ist vielleicht dadurch noch deutlicher gekennzeichnet, daß sie eine freie, ungebundene Energie darstellt, die überall dort, wo sie zum Einsatz kommt, Energie freisetzt. Sie widersetzt sich dem Spannungsabfall und der Nivellierung der Unterschiede. Sie ist, um einen von Freud nicht verwendeten Begriff zu gebrauchen, das Gegenteil der Entropie: eine differenzierende Kraft. Der Libidobegriff ist nach einem Umweg über die Biologie zu einem beinahe rein mechanischen Begriff geworden. Man könnte sogar bei Freud den Ansatz zu einer kybernetischen Sprache finden, wenn man daran denkt, daß der Informationsbegriff dieselbe mathematische Form aufweist wie das Gegenteil der Entropie. Die Libido wäre demnach wesentlich lnformationsaustausch, was sich mit einer Interpretation der Sexualität als Sprache träfe. Diese neue Konzeption der Libido ist bemerkenswert; eine Annäherung an den Begriff der Beziehung, aufgefaßt als Anerkennung des Andersseins des anderen und als Kommunikation zwischen getrennten anderen, scheint möglich. Doch ist die von uns umrissene Konzeption bei Freud bei weitem nicht klar ausgebildet. Freud trifft keine deutliche Unterscheidung zwischen Triebmischung (union) - wir nennen es Beziehung - und Verschmelzung (fusion); die Triebmischung verlangt zwei unterschiedene Glieder, die Verschmelzung negiert die Unterschiede.S Es läßt sich schwer erkennen, ob die Libido der freien oder der gebundenen Energie zuzuordnen, ob sie erhaltend oder schöpferisch ist. 9 Andererseits sind wir weit entfernt von Beziehung und Gefühl. Je nachdem, was man vorzieht, kann man darin Metaphern erblicken, die indirekt Beziehungsphänomene zumAusdruck bringen (aber warum dann nicht direkt?) oder einen gewiß legitimen Versuch, biologische oder mechanische Modelle auf sie anzuwenden; allerdings bleibt dieser Versuch unklar und erhellt vor 7 Freud (1920, S. 41). Spii.ter wird Freud die Selbsterhaltungstriebe den Lebenstrieben zuordnen. 8 Über die Bedeutung dieser Unterscheidung siehe unten S. 208-213. D Vgl. bezuglieh der Unklarheit und Zweideutigkeit der neuen Libidokonzeption die Artikel »Bindung«, Triebmischung und »Lebenstriebe« in Laplanche und Pontalis (1972).
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allem nicht die Eigenart der Phänomene selbst, d. h. des Erlebnischarakters, der das Spezifische des Gefühls ausmacht. Die verschiedenen Fassungen des Libidobegriffes erweisen sich als ungeeignet für die Beschreibung von Gefühl und Beziehung, selbst um sie auch nur als Ableitungen verständlich zu machen. Trotz ihres Gedankenreichtums gelingt es der Psychoanalyse nicht, die Verbindung zwischen Beziehung und Gefühl einerseits und Sexualität andererseits herzustellen, da sie nicht begriffen hat, was die Beziehung ist. Die Psychoanalyse bietet entweder Verhaltensbeschreibungen auf physiologischer Ebene, die von sich aus keinen relationalen Bedeutungsgehalt aufweisen oder einen zu engen Begriff der Beziehung, der im Luststreben gründet oder abstrakte und unbestimmte Begriffe, die von biologischen oder mechanischen Schemata inspiriert sind und von denen sich Beziehung und Gefühl nicht ableiten lassen. Sie beschränkt sich daher auf eine Vorform relationaler Sprache, die sie nicht weiter klärt und die sie durch den Versuch, sie auf die eben erwähnten Elemente zurückzuführen, ihres Sinnes beraubt. Hier liegt, nebenbei gesagt, einer der Gründe, warum wir zur Bezeichnung dieser Grunderfahrung das Wort >>Liebe« verwenden. Dieses Wort wird zwar seit einigen Jahrzehnten in der wissenschaftlichen, insbesondere der psychoanalytischen Literatur verwendet, aber eine gewisse Schamhaftigkeit scheint zu verhindern, daß es seinen vollen wissenschaftlichen Status erhält. Man gebraucht es gewissermaßen aus Verlegenheit, anstelle noblerer, »Wissenschaftlicherer« Begriffe wie Libido, Impuls, Streben oder Trieb. Zweifelsohne soll diese Wortwahl durch die Überlegung gerechtfertigt werden, das Gefühl sei zu erklären bzw. auf eine handfestere Realität zurückzuführen. Doch wäre die entgegengesetzte Wahl ebenso gerechtfertigt und ebenso wissenschaftlich. Unserer Ansicht nach deutet diese Schamhaftigkeit der Wortwahl auf einen Widerstand der Wissenschaft hin, sich mit der affektiven Realität als solcher auseinanderzusetzen. Oft rührt das Widerstreben, affektbeladene Worte zu gebrauchen, auch von dem vieldeutigen Sinn her, den diese Worte im Alltag und in der Romanliteratur haben. Wir sehen darin einen Grund mehr, diesen Bereich streng wissenschaftlich zu untersuchen und ihn nicht den Romanschriftstellern zu überlassen.10 Doch zurück zum Verhältnis zwischen Liebe und Sexualität. Wir werto Ich war früher selbst Opfer dieser Schamhaftigkeit und sprach statt von Liebe von »positiver Bindung«. Ich verdanke es Frau E. L. Herbert, daß ich meine Unsicherheit in diesem Punkt überwunden habe.
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den in entgegengesetzter Richtung vorgehen wie die Psychoanalyse. Anstatt das Gefühl für die Folgeerscheinung und den verfremdeten Ausdruck einer sexuellen Erfahrung zu halten, anstatt in ihm etwas zu erblicken, das zeichenhaft auf die Sexualität als das Bezeichnete hinweist, werden wir die Sexualität als Ausdrucksmittel des Gefühls betrachten. Die Sexualität umfaßt jedes Verhalten, das direkt oder indirekt auf den anderen oder die eigene Person gerichtet ist, insofern als diese körperliche Wesen und biologischer Apparat sind. Die sexuellen Verhaltensweisen haben jedoch einen relationalen Sinngehalt: Sie manifestieren die Beziehung zum anderen und zu sich selbst. Die Bedeutung der Sexualität ist mithin nicht auf der Ebene biologischer Triebe zu suchen; sie liegt vielmehr außerhalb der Sexualität. Unserer Ansicht nach ist jede sexuelle Erfahrung nur auf einem affektiven Hintergrund möglich, den sie zum Ausdruck bringt. Daher versuchen wir nicht, das Gefühl in der Sprache der Sexualität auszudrücken, sondern die Sexualität in der Sprache des Gefühls. Wir behaupten also, daß Beziehung und Gefühl gewissermaßen eine infra-sexuelle Erfahrungsebene darstellen, die der Sexualität steuernd zugrunde liegt. Ferner ist zu sagen, daß die Beziehungserfahrung weit über die sexuelle Erfahrung hinausragt Sie kennt noch andere Ausdrucksformen wie zum Beispiel Arbeit, Kunst, Muße. Natürlich sind die Grenzen zwischen diesen Bereichen fließend; einerseits spielt die Sexualität indirekt in sie hinein, andererseits sind sie durch die ihnen gemeinsame Beziehungserfahrung miteinander verbunden. Trotzdem werden wir uns die Frage stellen müssen, ob nicht die Sexualität eine Beziehungserfahrung besonderer Art darstellt, ob sie nicht umfassender und intensiver ist als andere. Unsere Auffassung von Zärtlichkeit unterscheidet sich, wie zu erwarten, erheblich von der Freuds. Versteht man unter Zärtlichkeit wirkliches Sich-Sorgen um den anderen, ohne Projektion und Identifizierung, jenes »caring«, von dem Rogers sprach, jenes Mitfühlen, dann fällt sie mit der authentischen Liebe zusammen. Für uns ist sie dann eine unmittelbare und primäre Erfahrung, und nicht wie Freud glaubte, sekundäres Produkt, gehemmte Sexualität. Zwischen Zärtlichkeit und Sexualität herrscht das umgekehrte Verhältnis, als Freud postulierte. Die Zärtlichkeit ist Ursprung der sexuellen Erfahrung, nicht Nebenprodukt einer verkümmerten Sexualität. Sie ist die Basis jeder sexuellen Erfahrung, auch der aggressiven oder possessiven Sexualität, in denen Abwehrreaktionen gegen die Zärtlichkeit zu erblicken sind. Die Therapie der Mrs. Oak veranschaulicht das eben Gesagte sehr gut. In der Erforschung ihres sexuellen Verhaltens ist es Mrs. Oak zunächst 163
gelungen, hinter die sozial kontrollierte Oberfläche ihres Verhaltens zu blicken, wo sie »ein mörderisches Haßgefühl und den Wunsch, abzurechnen«, entdeckt (Rogers, 1973). Sehr viel später entdeckt sie, daß »unter der Verbitterung und dem Haß und dem Bedürfnis, mit der Welt, die sie betrogen hat, abzurechnen, ein weitaus weniger antisoziales Gefühl, ein tieferes Empfinden des Verletztseins, liegt. Und es ist deutlich, daß sie auf dieser tiefen Ebene kein Verlangen hat, ihre Mordwünsche in die Tat umzusetzen. Sie verabscheut sie und möchte von ihnen befreit werden (S. 104 ff.) In der folgenden Stelle, einem Auszug aus der 34. Sitzung, versucht sie, tiefer in sich hinein zu gelangen. Wie in solchen Fällen üblich, drückt sie sich ziemlich unzusammenhängend aus: Ich weiß nicht, ob ich schon davon sprechen kann oder nicht. Kann's vielleicht versuchen. Irgendwas - ich meine, es ist ein Gefühl - daß - irgendwie ein Drang, wirklich rauszukommen. Ich weiß, es wird keinen Sinn ergeben. Ich denke, vielleicht wenn ich's rauskriege, und es ein bißchen, tja, ein bißchen in eine etwas sachlichere Art bringe, daß es etwas wird, was mir mehr hilft. Und ich weiß nicht, wie - ich meine, es ist, als ob ich sagen will, als ob ich von meinem Selbst sprechen will. Und das ist natürlich das, ich merk's, was ich die ganzen Stunden getan habe. Aber nein, dieses - es ist mein Selbst. Ich habe erst neulich bemerkt, daß ich gewisse Behauptungen ablehne, weil sie sich so anhörten - nicht ganz das, was ich meine, ich meine, ein wenig idealisiert. Und ich meine, ich kann mich erinnern, daß ich immer gesagt habe, es ist selbstsüchtiger als das, stärker selbstbezogen als das. Bis ich - es fällt mir irgendwie ein, es geht mir auf, ja, das ist es genau, was ich meine, aber die Sc:lbstsucht, von der ich rede, hat eine gänzlich andere Nebenbedeutung. Ich habe »selbstbezogen« gesagt. Dann habe ich dieses Gefühl von - ich - daß ich es nie vorher ausgedrückt habe, von selbstsüchtig - das bedeutet gar nichts. Ein- ich werde trotzdem davon sprechen. Eine Art Pulsieren. Und es ist etwas, was immerfort bewußt ist. Und es ist immer noch da. Und ich möchte es auch benutzen können - als eine Art von Sich-Einlassen mit dieser Sache. Wissen Sie, es ist als ob - ich weiß es nicht, verflixt! Ich hatte es mir irgendwie -, irgendwo angeeignet und eine Art Bekanntschaft mit der Struktur hergestellt. Fast, als wenn ich es irgendwie Stein um Stein kennen würde. Es ist so etwas wie eine Bewußtheit. Ich meine, daß - von einer Empfindung, nicht zum Narr gehalten, nicht in die Sache hineingezogen worden zu sein, und dabei irgendwie kritisch Bescheid wissen. Aber auf eine Art - der Grund, er ist verborgen und - kann nicht Teil des alltäglichen Lebens sein. Und das ist etwas von - manchmal fühle ich mich fast ein bißchen furchtbar bei der Sache, aber wiederum nicht furchtbar im Sinne von furchtbar. Und warum? Ich glaube, ich weiß. Und es ist - es erklärt mir auch vieles. Es ist - es ist etwas, das vollkommen ohne Haß ist. Ich meine, einfach vollkommen. Nicht mit Liebe, aber vollkommen ohne Haß. Aber es ist- es ist auch etwas Auf-
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regendes ... Ich nehme an, vielleicht bin ich ein derartiger Mensch, der gern, ich meine, wahrscheinlich sogar mich selbst quält, oder Sachen aufspürt, oder das Ganze zu finden versucht. Und ich habe mir gesagt, nun schau, dies ist ein ziemlich starkes Gefühl, was du da hast. Es ist nicht beständig. Aber du empfindest es manchmal, und wenn du dir erlaubst, es zu fühlen, dann spürst du es selber. Wissen Sie, es gibt Worte für derartiges, die man in der Psychologie des Anomalen finden könnte. Kann vielleicht beinah wie das Gefühl sein, das man gelegentlich, das Dingen zugeordnet wird, von denen man liest. Ich meine, es gibt da einige Elemente - ich meine, dieses Pulsieren, diese Aufregung, dieses Kennen. Und ich habe gesagt - ich spürte eine Sache auf, ich meine, ich war sehr, sehr mutig, was sollen wir sagen - ein sublimierter Sexualtrieb. Und ich dachte, nun, da hab ich's. Ich hab' die Sache wirklich gelöst. Und daß nichts mehr dran ist, als das. Und eine Zeitlang, ich meine, ich war ziemlich zufrieden mit mir. Das war es. Und dann mußte ich gestehen, nein, das war es nicht. Weil das etwas ist, das mit mir gewesen war, lange bevor ich sexuell so furchtbar frustriert wurde ... Ich meine, das war nicht und, aber in der Sache drin, dann begann ich ein bißeben zu sehen, daß innerhalb gerade dieses Kerns ein Akzeptieren der sexuellen Beziehung liegt, ich meine, die einzige Art, die ich für möglich halten konnte. Es war mit dabei. Es ist nicht etwas, das gewesen - ich meine, Sex ist dort nicht sublimiert oder ersetzt worden. Nein. Innerhalb dieses, innerhalb dessen, was ich weiß - ich meine, es ist eine andere Art sexueller Empfindung, sicherlich. Ich meine, es ist eine, ohne die Sachen, die mit dem Sex passiert sind, wenn Sie wissen, was ich meine. Es gibt keine Jagd, keine Verfolgung, keinen Kampf, kein- nun, keinerlei Haß, nichts, was glaub' ich, sonst sich in diese Sachen mit hineinschleicht. Und dennoch, ich meine, dieses Gefiihl ist, oh, ein wenig beunruhigend gewesen. Nach einer Intervention des Therapeuten fügt sie hinzu: Es ist wahrscheinlich etwas in der Art ... Es ist eine Art - ich meine -, es ist eine Art von Hinabsteigen. Es ist ein Hinuntersteigen, wo man beinah meinen könnte, es müßte aufwärts gehen, aber nein, es ist - ich bin da sicher; es ist eine Art Hinuntergehen (Rogers, 1973, S. 106). Der Text spricht für sich. Bemerkenswert ist das Zusammentreffen einer tiefen Selbsterfahrung und der Erfahrung einer positiven Beziehung zum anderen, worauf wir schon früher hingewiesen haben, Mrs. Oaks Entdeckung, daß der tiefste Egoismus nicht egoistisch ist. Andererseits erscheint ihr jenes zentrale Freisein von Haß letztlich nicht als sublimierte Sexualität, die gleich einem deformierten Produkt aus der Sexualität hervorgeht, sondern es schließt umgekehrt die sexuelle Erfahrung in sich ein. Diese sexuelle Erfahrung, die hier entsteht, ist nicht verzerrt; die aggressiven Formen der Sexualität leiten sich von dieser
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haßfreien Strebung ab. Die haßfreie Strebung kann auch nicht mit einer abwehrenden Verschleierung der Aggressivität verwechselt werden, denn Mrs. Oak hat diese Abwehrhaltung schon an den Tag gebracht und ist sich ihrer Aggressivität klar bewußt geworden. Wir erinnern, wie sorgfältig sie überdies das Wort »Liebe« vermeidet, das für sie die abwehrenden Formen der Liebe zum Ausdruck bringt. Das von ihr mit Nachdruck verwendete Wort »Hinuntersteigen«- es überrascht, daß ihre Erfahrung dieser Art war - bestätigt außerdem die Annahme einer tiefen und unmittelbaren Erfahrung. Schließlich ist zu beobachten, daß diese Erfahrung sie zeitweilig verwirrt und beunruhigt. Die authentische Liebe ist also weder supra- noch asexuell, sondern vielmehr infra-sexuell. Läßt sich die sexuelle Erfahrung, die die authentische Liebe begleitet, beschreiben? Schwerlich, denn die Sexualität ist in ihren Zusammenhängen mit dem Gefühl bisher nur sehr wenig untersucht worden. Aus einer monumentalen Untersuchung wie dem Kinsey-Report erfahren wir darüber nichts. Die Psychoanalytiker ziehen aus ihren an empirischen Beobachtungen doch so reichen Analysen oft allzu schnell Folgerungen, die im Sinne ihrer Hypothesen a priori sind. Eine echte Phänomenologie der Sexualität steht noch aus. Wir beschränken uns hier auf einige Bemerkungen vorläufigen Charakters zum sexuellen Ausdruck der authentischen Liebe. Im folgenden Kapitel, das von der possessiven Liebe und der Feindseligkeit handelt, werden wir weitere Aspekte der Sexualität untersuchen. Eines der Merkmale einer »authentischen Sexualität« wäre ohne Zweifel die Sensibilität für die Reaktionen des anderen, die Anerkennung der besonderen Formen seines Geschlechtslebens, seiner sexuellen Idiosynkrasien, seiner besonderen Wünsche oder Abneigungen. Das verlangt ein feines und differenziertes Wahrnehmen der Reaktionen des anderen, ebenso wie eine stillschweigende Wertschätzung, die in der Reaktion auf seine Wünsche oder im Akzeptieren seiner Hemmungen zum Ausdruck kommt. Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine ausschließliche Zentrierung auf den anderen und um ein blindes Verlangen, »Lust zu verschaffen« - was einer Art Aggressivität gleichkäme -, auch nicht um ein gemeinsames Eintauchen ins V erlangen, einen wunderbaren Gleichklang zweier Sinnlichkeiten, wie es manchmal empfunden wird, unserer Ansicht nach aber eher der possessiven Liebe gemäß ist, indem die beiden Partner gemeinsam in der Illusion einer vollkommenen Verschmelzung leben. In der authentischen Sexualität ist der andere einfach da, aber auch ich bin da; der andere ist da, gleichsam als die Grenze meines Körpers, ja meiner selbst. 166
Ein weiteres, dem ersteren symmetrisches Merkmal wäre die Sensibilität für die eigenen Reaktionen und die Wertschätzung dieser Reaktionen, mit anderen Worten: Entdecken der persönlichen Formen von Sexualität, freies Außern seiner sexuellen Idiosynkrasien, die es ohne Scham und Schuld zu akzeptieren gilt, welcher Art auch immer sie seien. So wenig es sich vorhin um eine ausschließliche Zentrierung auf den anderen handelte, so wenig handelt es sich hier um eine ausschließliche Zentrierung auf die eigene Person, um Narzißmus. Das Bewußtsein des eigenen Verlangens ist zwar intensiv und real, doch wird in diesem Verlangen der Kontakt mit dem anderen aufrechterhalten; es ist nicht ein Verlangen, das an sich selbst Genüge findet und sich abkapselt, sondern ein Verlangen nach dem anderen. Die freie Außerung der eigenen Sexualität findet ihren Führer und ihre Grenze im Bewußtsein der Reaktionen des anderen. Diese Kontrolle ist nicht eine intellektuelle oder moralische Kontrolle, die das Verlangen töten würde; es ist vielmehr eine organische und augenblickliche Wahrnehmung der Reaktionen des anderen, die im Verlangen und durch das Verlangen selbst gegeben ist. Vielleicht könnte man diese beiden Merkmale zusammenfassen und von einem scharfen und gleichzeitigen Bewußtsein des eigenen und des fremden Körpers sprechen, in dem die Dualität und die Differenz der körperlichen Reaktionen nicht verblassen oder gar verschwinden, sondern vielmehr intensiviert werden. Ein weiteres Element, das mit den vorhergehenden zusammenhängt, wären der Mut, das Risiko und das Vertrauen, das man dem anderen bezeigt, indem man das Risiko eingeht. Das Risiko liegt darin, dem anderen schutzlos den eigenen Körper anzubieten; für den Mann bedeutet dies, der Frau den Penis, für die Frau, dem Penis ihr Geschlechtsteil anzubieten. Wahrscheinlich gibt es in dieser Beziehung noch wenig bekannte Nuancen in den verschiedenen Ausübungsweisen des Geschlechtsaktes. So wird vielleicht der Penis widerwillig oder ängstlich eingeführt, was sich in völliger oder teilweiser Impotenz äußern kann; oder er versteift sich in einem aggressiven Verlangen. Sicherlich zeichnen sich hinter diesem Risiko archaische Befürchtungen ab, wie sie von der Psychoanalyse aufgedeckt wurden, zum Beispiel die Kastrationsangst. Aber das Risiko ist gegenwärtig, ebenso wie das Vertrauen. Der Körper wird jetzt preisgegeben, und das ruft die archaischen Angste hervor. Diese sind übrigens ohne Zweifel einst als Antwort auf eine ebenfalls gegenwärtige Risikosituation entstanden. Neben dem eingegangenen Risiko der Vernichtung, des Verlassenwerdens oder der ausbleibenden Antwort findet sich ini Akt des Sichanbietens 167
auch die Hingabe selbst, die Hingabe des Körpers, die eine der psychologischen Komponenten des Geschlechtsaktes zu sein scheint. Ein anderer Aspekt des Risikos hängt mit der individuellen Lebensgeschichte zusammen: Es ist das Risiko, allen diesen Regressionen anheimzufallen. Diesen Aspekt unterstrich einst Ferenczi {1938), der im Geschlechtsakt eine Rückkehr zum Mutterschoß und darüber hinaus - in einer großartigen, aber kaum zu verifizierenden Konstruktion sogar eine Rückkehr zum maritimen Leben früherer Gattungen erblickte. Die Befreiung der sexuellen Idiosynkrasien läßt sich im Lichte der Psychoanalyse als eine Mobilisierung der individuellen Lebensgeschichte in der Gegenwart der sexuellen Handlung verstehen. Der Geschlechtsakt ist jener Ort, wo alle Stadien der individuellen Lebensgeschichte, ja sogar der Phylogenese neu durchlebt werden können. In der authentischen Sexualität wird jedoch die Regression gleichzeitig neu durchlebt und überwunden. Das Lebewesen verharrt nicht unbeweglich in seiner Regression, sondern sieht in ihr eine Möglichkeit unter anderen, auf die es auch verzichten kann. Es ist eine Art Spiel, worauf schon der Ausdruck »Vorspiel« für die dem Koitus vorangehenden Handlungen hinweist. Die Vielfalt, Verschiedenartigkeit und Beweglichkeit der Verhaltensweisen ergeben sich aus den genannten Merkmalen, ebenso die W echselseitigkeit, das Verständnis für die Sexualität des anderen, das es ermöglicht, die jeweils der seinen komplementäre Rolle zu spielen oder die Rolle zu tauschen. Der Geschlechtsunterschied wird so spielerisch aufgehoben, trotzdem aber nach wie vor wahrgenommen. Auf diese Weise entwickelt sich eine vertiefte Kenntnis des anderen, die gestärkt wird durch die Aufmerksamkeit, die wir ihm entgegenbringen, durch den Dienst, den er uns erweist und den wir ihm erweisen. Die Dankbarkeit für die empfangene und die Freude an der erwiesenen Rücksicht verstärken die Zärtlichkeit und die Zuneigung, ohne daß jedoch je das Wissen um die Grenze, die Distanz und das Getrenntsein aus dem Bewußtsein schwindet. Auch das Bewußtsein des Mißerfolgs ist in der authentischen Sexualität stets gegenwärtig. Ebenso tritt die Traurigkeit hier nicht erst »post coitum« auf, wie es das Sprichwort will, sondern sie begleitet den Koitus und nimmt in seinem Verlauf noch zu. Sie steht nicht im Gegensatz zur Zärtlichkeit, sie begleitet sie und vermischt sich mit ihr. Die Trauer ist erfüllt von Zärtlichkeit, und die Zärtlichkeit ist voller Trauer. Man empfindet dabei ungefähr dies: was wir da tun, ist das Höchste, was zwei Menschen auf der Welt füreinander tun können. Wir haben uns weiter oben gefragt, ob die Sexualität eine Beziehungs168
erfahrung bevorrechtigter Art darstellt. Vielleicht ist sie dies tatsächlich, und zwar dann, wenn sie eine Erfahrung radikalen Getrenntseins ist. Das Getrenntsein wird durch die getrennten, unterschiedenen Körper mit ihren je besonderen \Vünschen und Hemmungen materialisiert. Die Sexualität bedeutet daher auch die Entdeckung des Individuums in seiner ganzen Konkretheit. Die individualisierten Körper sind von den Wunden ihrer Geschichte gezeichnet, und die Sexualität ist die vielleicht am meisten authentische Begegnung der Geschichte. Sie ist ein Miteinanderteilen der zutiefst archaischen Ängste, eine verzweifelte Anstrengung des Paares, sich die Geschichte jedes von ihnen mitzuteilen und sie außer Geltung zu setzen. Durch die Erfahrung der körperlichen Individuation und des Getrenntseins auf Grund der unterschiedlichen Lebensgeschichten ermöglicht die Sexualität die Erfahrung einer Bindung, die sich im Getrenntsein durchhält und die gerade darin besteht, es gemeinsam zu akzeptieren.
Die Angst als Offenheit
Wir sind nun besser gerüstet, uns mit dem Begriff der Angst auseinanderzusetzen. Man hebt oft die negativen Aspekte der Angst hervor: Schmerz, Verneinung des anderen und seiner selbst, Verneinung der Bindung zwischen sich und dem anderen. Gewiß ist die Angst Erfahrung der Negativität, doch sie ist nicht nur das. Sie ist das Gefühl schlechthin, die Sensibilität. Als solche ist sie eine Erfahrung des Sichöffnens für die Welt, die anderen und sich selbst. Würde das Getrenntsein nicht erlebt und empfunden, so wäre es ein rohes, infra-humanes Faktum. Solange es verdrängt, das heißt unbewußt gelebt wird, ignorieren und isolieren sich die Menschen. Auf der Flucht vor ihrer Angst behandeln sie sich wie Dinge oder wie Instrumente, mit denen sie ihre Befürchtungen besänftigen können. Von dem Augenblick an, da das Getrenntsein als Angst erlebt wird, ist der Kontakt zu den anderen und zu sich selbst wiederhergestellt. Die Menschen gelangen zu einer wahrhaft menschlichen Existenz. Angst ist daher schon implizit Liebe. Besser als wir es können, bringt dies Heidegger in den schönen Seiten zum Ausdruck, die er in »Sein und Zeit« der Angst widmet: er reflektiert den Unterschied zwischen der Furcht, die an ein bestimmtes Objekt gebunden ist, und der Angst, die »nicht weiß«, wovor sie sich ängstigt, deren Gegenstand »nichts« und »nirgends« ist. Er schreibt:
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»Wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-Sein als solches ... >Das Wovor der Angst ist die Welt als solche.<« »Die völlige Unbedeutsamkeit, die sich im Nichts und Nirgends bekundet, bedeutet nicht Weltabwesenheit, sondern besagt, daß das innerlich Seiende an ihm selbst so völlig belanglos ist, daß auf dem Grunde dieser Unbedeutsamkeit des Innerweltlichen die Welt in ihrer W eltlichkeit sich einzig noch aufdrängt.« "Was beengt, ist nicht dieses oder jenes, aber auch nicht alles Vorhandene zusammen als Summe, sondern die Möglichkeit von Zuhandenern überhaupt, das heißt die Welt selbst... Das Sichängsten erschließt ursprünglich und direkt die Welt als Welt« (1927, 186f.).
Heidegger fragt anschließend nicht mehr nach dem Gegenstand, sondern dem Worum der Angst: »Worum die Angst sich abängstet, ist nicht eine bestimmte Seinsart und Möglichkeit des Daseins. Die Bedrohung ist ja selbst unbestimmt und vermag daher nicht auf dieses oder jenes faktisch konkrete Seinkönnen bedrohend einzudringen. Worum sich die Angst ängstet, ist das In-der-Welt-Sein selbst. In der Angst versinkt das umweltlieh Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende ... Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches ln-der-Welt-sein-Können. Die Angst vereinzelt (Kursive M. P.) das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-Sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeit sich entwirft. Mit dem Worum des Sich-Ängstens erschließt daher die Angst das Dasein als Möglichsein, und zwar als das, das es einzig von ihm selbst her als vereinzeltes in der Vereinzelung sein kann.«
Schließlich vermerkt Heidegger die Identität des Wovor der Angst, ihres Gegenstandes also, und ihres Worum, wie auch wir es an einer früheren Stelle dieses Kapitels getan haben: »Das, worum die Angst sich ängstet, enthüllt sich als das, wovor sie sich ängstet: das In-der-Welt-Sein. Die Selbigkeit des Wovor der Angst und ihres Worum erstreckt sich sogar auf das Sichängsten selbst. Denn dieses ist als Befindlichkeit eine Grundart des ln-der-Welt-Seins. Die existentiale Selbigkeit des Erschließens mit dem Erschlossenen, so zwar, daß in diesem die Welt als Welt, das ln-Sein als vereinzeltes, reines, geworfenes Seinkönnen erschlossen ist, macht deutlich, daß mit dem Phänomen der Angst eine ausgezeichnete Befindlichkeit Thema der Interpretation geworden ist. Die Angst vereinzelt und erschließt so das Dasein als >solus ipse<. Dieser existentiale >Solipsismus< versetzt aber so wenig ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, daß er das Dasein gerade in einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es selbst vor siclz selbst als ln-der-WeltSein bringt« (S. 188; letzte Hervorhebung M. P.).
Aus diesem Text wird klar ersichtlich, wie die Angst gleichzeitig eine Erfahrung der Isolierung und Einsamkeit einerseits und der Offnung 170
andererseits sein kann. Die Angst stellt gewissermaßen die Reaktion des Menschen auf den Einbruch der Welt, der anderen Menschen und der eigenen Möglichkeiten dar. In dieser Idee ist die Idee Sartres (1962, 70-90) enthalten, daß die Angst die Erfahrung der Freiheit sei (Heidegger spricht von Entwurf und möglichem Sein, was auf dasselbe hinausläuft), sie ist jedoch noch zentraler als die Sartres. Die Freiheit bleibt eine rein formale Wahl, wenn sie sich nicht auf den in der Angst entdeckten Kontakt mit den anderen und mit sich selbst stützt.
Die Angst als Gefühl und als Emotion: Die Stufen der Angst
Hier erhebt sich sogleich ein Einwand. Bezieht sich das, was wir soeben und schon früher (S. 146-149) sagten, auf die Emotionen der Angst mit ihren physiologischen Äußerungen wie Beklemmung, starkes Herzklopfen usw. oder auf ein anderes Phänomen? Was hat man genau unter Angst zu verstehen? Wir glauben drei Stufen der Angst unterscheiden zu müssen, die drei Formen derselben Realität sind und die nach dem Bewußtseinsgrad, der das Phänomen begleitet, voneinander verschieden sind. An erster Stelle ist die latente oder verleugnete Angst zu nennen. Das Bewußtsein der Trennung fehlt hier nahezu völlig. Intermittierend und fragmentarisch wird es bestimmten Personen und Umständen gegenüber geäußert (ich verstehe mich mit dem und dem nicht, meine Arbeit ist von der Art, daß ... ); andere Gefühle herrschen vor, besonders Besitzverlangen oder Feindseligkeit; oder der Betreffende sieht alles grau in grau und lebt in einem Zustand psychischer Atonie. Es lassen sich physiologische Schreckensäußerungen psychosomatischen Charakters beobachten, die jedoch kein bewußtes psychisches Korrelat aufweisen. Zweitens gibt es die Angst als Emotion. In diesem Zustand befindet sich ein Individuum dann, wenn die verdrängten Gefühle aufhören, latent zu sein, und in das psychische Leben einbrechen. In diesem Fall steigen das Trennungsgefühl und alle mit ihm zusammenhängenden Gefühle ins Bewußtsein auf, jedoch undifferenziert, fast ununterscheidbar, wie ein geschlossener Block. Dies bedeutet Finsternis, Panik, Verwirrung, das Gefühl, daß alles verschwindet, daß es nichts Festes mehr gibt, weder bei einem selbst noch bei den anderen, das Bedürfnis, sich an irgendeinen Halt zu klammern. Die derart verworren auftretenden Gefühle sind alle negativ. Auch die physiologische Erregung ist vorhanden, sie ist sogar am stärksten gegenwärtig. Entweder motiviert sie
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das Panikgefühl (man ist verwirrt, Herzklopfen zu haben, blaß zu werden, zu frieren) und bildet eine Art Schutz vor ihm (die Furcht ist nicht unbegründet); oder sie tritt etwas hinter dem Gefühl zurück, und dieses wird drückender, trauriger, während die physiologischen Beschwerden erträglicher werden. In diesem Zustand sind das Panikgefühl und die physiologischen Symptome des Schreckens miteinander vermischt, man könnte fast sagen, ihre Wege kreuzen einander. Ohne Zweifel ist dies der Zustand, in dem der physiologische Ausdruck der Angst sich in einen psychischen Ausdruck, in ein Gefühl umwandelt. Die dritte Stufe schließlich ist die der Angst als Gefühl. Die physiologische Erregung klingt ab und verschwindet. Das körperliche Leiden wandelt sich zu seelischem Schmerz, doch bleiben beide miteinander verbunden. Der Schmerz ist eine Art Leidensrückstand. Er erinnert an die Angstemotion und kann bei gegebenem Anlaß neuerlich in eine physiologische Erregung umschlagen. Die Gefühle ihrerseits treten klar und differenziert hervor und können sich über die ganze Breite der Skala verteilen, die wir in dem Abschnitt über die Trennungsangst beschrieben haben. Aber gleichzeitig können sich auch positive Gefühle zeigen. In dem Maße, als die Angst sich eher als Gefühl denn als Emotion behauptet, koexistiert sie mit der Liebe und allen mit ihr zusammenhängenden Gefühlen. Man kann diesen Vorgang als einen dreifachen Prozeß beschreiben: als echte Rationalisierung, die vor der Emotion nicht flüchtet, sondern sie miteinschließt und ihr Sinn verleiht; als Differenzie1·ung und - man gestatte uns diesen Neologismus - als Dialektisierung, insofern eine Koexistenz von Gegensätzen erzielt wird. Wenn wir in diesem Kapitel von Angst sprechen, meinen wir natürlich die Angst als Gefühl. Es ist in unseren Augen jedoch legitim, den Ausdruck Angst beizubehalten, obwohl er auch die Emotion bezeichnet. Nach unserer Sichtweise sind nämlich die emotionellen Angstmanifestationen nicht unabhängig von dem Gefühl, das sie lenkt und dem sie indirekt Ausdruck verleihen. Nebenbei gesagt, vermag die Unterscheidung zwischen Angst als Emotion und als Gefühl vielleicht ein semantisches Paradox aufzuhellen, das dem Leser sicher nicht entgangen ist: der Widerspruch zwischen dem Begriff der Enge, der etymologisch gesehen im Wort Angst 11 enthalten ist, und dem Begriff der Offnung. Von lat. »angor«; dieselbe Wurzel wie »ango«, erwürgen, ersticken, den Hals zuschnüren, und »angustus«, eng. »Angorc ist das, was einem den Hals zuschnürt oder Herzbeklemmen macht, ob es sich nun um eine Angina oder einen seelischen Schmerz handelt.
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Die Angst als Emotion wird wesentlich als physiologische Beklemmung erlebt, als ein Sichzurückziehen in sich selbst und zu vertrauten Wesen angesichts des Einbruchs der anderen und der Welt. Doch dieses Bemühen greift ins Leere, und das ist die Angstemotion: ein krampfhaftes Bemühen, etwas zu ergreifen, was sich nicht fassen läßt; mehr noch als durch die Beklemmung ist die Angstemotion dadurch gekennzeichnet, daß Verkrampfung und Entkrampfung einander abwechseln. Im Angstgefühl setzen Entkrampfung, Entspannung und Offenheit sich durch. Diese Unterscheidung zwischen Gefühl und Emotion sowie die aufgestellte Rangordnung der beiden Phänomene sind offensichtlich von allgemeiner Bedeutung. Wir verwenden in diesem Buch die Ausdrücke Gefühl, Affektivität und Emotion manchmal undifferenziert, doch strenggenommen, müßten sie unterschieden werden. Nur die beiden ersten, die wir auch nicht unterscheiden, bezeichnen jene Phänomene, denen wir Vorrangigkeit und einen ursprünglichen Charakter zuschreiben.
Angst als Primärphänomen. Kritik der psychoanalytischen Angsttheorien
Wie Liebe, ist auch Angst - jetzt als Angst-Gefühl verstanden - ein unmittelbares und primäres Phänomen. Obwohl zumeist unbewußt, beherrscht sie dennoch die Erfahrung in ihrer Gesamtheit. Keinesfalls ist sie ein Derivat anderer, elementarerer Faktoren. Vielmehr ist sie, ebenso wie auch Liebe, ihr unabtrennbares Korrelat, der Bezugspunkt für andere affektive Phänomene, in denen sie sich indirekt und abwehrend ausdrückt. Auch hierin entfernen wir uns von den Anschauungen der Psychoanalytiker, zumindest von bestimmten unter ihnen. Das Verständnis der Angst war für die Psychoanalyse immer wieder ein Stein des Anstoßes. Freud (1933, S. 99) sagt selbst einmal: »Halten Sie aus, wir werden das Thema Angst bald verlassen können; ich behaupte nicht, daß es dann zu unserer Befriedigung gelöst sein wird. Hoffentlich sind wir doch ein Stückehen weitergekommen.« In ihrem Buch »L'angoisse«, in dem sie das Problem immerhin unter dem Gesichtswinkel der Psychoanalyse untersucht, spricht ]. Favez-Boutonier (Boutonier, 1945) hinsichtlich der Freudschen Ideen zu diesem Thema von >>Inkohärenz« (S. 119), >>mangelnder Strenge der Lehre« und dem >>Fehlen der Synthese<<; jedoch sind ihr diese Lücken sehr willkommen, da sie in ihren Augen den wissenschaftlichen Geist Freuds erkennen lassen. Diesen stellen wir nicht in Abrede; wir bestreiten auch weder die Redlichkeit, mit der 173
Freud und seine lnterpretin die Schwierigkeiten ihrer Theorien offen dargelegt haben. Doch diese St:hwierigkeiten bestehen nun einmal. Wir glauben, daß es nicht nutzlos ist, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, denn sie erhellen die Zusammenhänge zwischen der Angst und anderen affektiven Phänomenen. Im \Verke Freuds lassen sich mindestens vier Angsttheorien unterscheiden, die untereinander eng zusammenhängen. Freud scheint seine Angsttheorie nämlich des öfteren umgestaltet zu haben, ohne jedoch die neue Theorie gegen die früheren klar abzugrenzen und ohne völlig auf sie zu verzichten. Die Anschauungen der meisten Psychoanalytiker knüpfen mit kleinen Abweichungen an eine der Freudschen Theorien 12 an, wobei es einige Ausnahmen gibt (namentlich Karen Horney). Grob gesagt lassen sich zwei Perioden unterscheiden: vor 1920 hängt die Angst wesentlich mit der Libido, nach 1920 mit einer Konfliktstruktur des Unbewußten zusammen. Die erste Theorie sieht in der Angst die Folgeerscheinung einer unbefriedigten Libido. Es ist dies die Theorie der sogenannten Triebangst Der Libidobegriff ist hier der der frühen Arbeiten Freuds und bestimmt durch Besitztrieb und Luststreben. Die Angst rührt entweder von einer physischen Unmöglichkeit sexueller Befriedigung her (Erwartungsangst der Verlobten usw.) oder von einem seelischen Konflikt, der in einer Verdrängung der Libido durch das Ich als Vertreter der sozialen Zwänge besteht. Die beiden Mechanismen lassen sich im übrigen nicht klar unterscheiden, da jede Angst letzten Endes einen psychischen Konflikt vorauszusetzen scheint. Wie dem auch sei, wichtig in unserem Zusammenhang ist, daß die Angst einerseits eine Auswirkung der Verdrängung und andererseits ein von der Libido hergeleitetes Produkt darstellt: die verdrängte Libido wandelt sich in Angst um. Diese ist somit gegenüber der Libido ein sekundäres Phänomen. Die zweite Theorie ist die vom traumatischen Ursprung der Angst. Die Angst resultiert aus der durch den Verlust des Liebesobjektes verursachten Störung. Ihre Urform ist die Geburtsangst, die durch die Loslösung aus dem Nährboden des Uterus hervorgerufen wird. Auf den ersten Blick läßt sich diese Theorie unschwer mit der vorhergehenden verbinden, denn die Wirkung des Traumas liegt darin, die Libido unbefriedigt zu lassen. In Wirklichkeit stoßen wir auf eine erste Schwierigkeit, denn Freud erklärte später, bei dieser Art von Angst gebe es keine Verdrängung, zumindest gelte dies hinsichtlich des Urtraumas 12 Unsere übersieht über die Thesen Freuds orientiert sich an der Darstellung von Favez-Boutonier. Erörterung und Kritik sind von uns.
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der Geburt. Bei anderen traumatischen Erfahrungen komme es zwar zur Verdrängung, um die Erinnerung an das Urtrauma zu unterdrükken, aber auf sekundäre 'Veise. Auch postulierte Freud später neben dem Ursprung der Angst durch Verdrängung einen noch ursprünglicheren, im eigentlichen Sinne traumatischen Ursprung: »Daß es die Libido selbst ist, die dabei in Angst verwandelt wird, werden wir nicht mehr behaupten. Aber gegen eine zweifache Herkunft der Angst, einmal als direkte Folge des traumatischen Moments, das andere Mal als Signal, daß die Wiederholung eines solchen droht, sehe ich keinen Einwand« (Freud, 1933, S. 101). Dieser Wandel ist sehr bedeutsam, da die allererste Angst, wie wir sehen, ihres libidinösen Ursprungs verlustig geht. Wenn jedoch das Trauma nicht die »Verwandlung der Libido in Angst« bewirkt (Freud sagt dies ausdrücklich) und wenn es außerdem Angst hervorruft, so ist völlig unklar, an welches psychische Prinzip die Angst gebunden ist. Entweder ist die Angst ein nicht-psychisches Phänomen - dies wäre absurd - oder sie entspricht einem unbekannten psychischen Prinzip. Dies könnte das Gefühl einer begrenzten Liebe, einer Liebe in der Trennung sein. Doch würde eine solche Sicht eine Umgestaltung der gesamten Freudschen Libidokonzeption nach sich ziehen: die Libido als Lustprinzip wäre nicht mehr die einzig mögliche Form der Liebe, vielleicht wäre sie sogar eine abgeleitete Form. So weit ist Freud offensichtlich nicht gegangen. Aber wir sehen, seine unbarmherzige Selbstkritik führt ihn in eine Sackgasse oder zu der Notwendigkeit, die Libidokonzeption von Grund auf umzugestalten. Einen 'Veg dieser Art ging etwa Rank (1909, 1924, 1941), der bekanntlich das Geburtstrauma zum Ausgangspunkt für seine Konzeption der menschlichen Entwicklung machte.1s Für ihn entsteht die Geburtsangst nicht so sehr aus einer libidinösen Frustration, sondern aus einer Erfahrung der Trennung, des Zerbrechens der Einheit von Kind und Mutter. Die Trennungsangst erweckt den Wunsch, in den Mutterschoß zurückzukehren, ein Streben nach Vereinigung also, das sich während der ganzen Dauer des psychischen Lebens zeigt, und wobei die verschiedenen Formen der Sexualität verschiedene Versuche darstellen, die Mutter wiederzufinden. Ein anderes permanentes Streben ist das Streben nach Trennnung; es liegt in Konflikt mit dem ersteren und fällt als Behauptung der eigenen Individualität und Autonomie mit dem Lebensverlangen zusammen. Das Streben nach Vereinigung, nach 13 Eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Lehre Ranks bietet R. L. Munroe {1959).
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der (angenommenen) Ruhe im Mutterschoß ist gleichbedeutend mit dem Todesstreben. Das Vereinigungsstreben erklärt sich aus der Lebensangst, während das Lebensverlangen aus der Todesangst herrührt. Die Therapie zielt auf eine »schöpferische Auflösung der Polarität von Lebensangst und Todesangst« ab (Munroe, 1959), d. h. sie soll ermöglichen, daß die Trennung ohne Lebensangst und Todesverlangen und die Beziehung zum anderen ohne Todesangst akzeptiert werden können. Unsere Auffassungen sind also denen Ranks verwandt, obwohl wir glauben, daß das Denken Ranks noch zu dualistisch und wenig dialektisch bleibt. Er hebt die Koexistenz der Gegensätze zu wenig hervor. Für uns besteht die Lebenstendenz - wir nennen sie Liebe - gleichzeitig mit dem Gefühl des Todes. Die Lebensangst, die zum Verlangen nach Verschmelzung (Vereinigungsstreben bei Rank), und die Todesangst, die zur Feindseligkeit führt, stellen zwei verschiedene Äußerungen ein und derselben Abwehrhaltung gegen das Todesgefühl dar. Sie müssen daher von ihm unterschieden werden und bilden ihm gegenüber nicht primäre, sondern sekundäre Phänomene. Unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der psychoanalytischen Lehrmeinungen über die Angst können wir jedoch feststellen, daß einerseits die LibidoSprache des Freudianismus von einer relationalen Sprache abgelöst und andererseits das Vereinigungsstreben (Freuds Libido) in gewisser Hinsicht begrifflich relativiert wird. Das Vereinigungsstreben erscheint nun als Reaktion auf die Lebensangst, wie auch das Lebensverlangen als Reaktion auf die Todesangst gesehen wird. Die Lebensangst steigt zu einem primären Faktor auf, demgegenüber die Libido bzw. das Vereinigungsstreben sekundär ist. Diese Position ist bei Rank dadurch verdunkelt, daß er an dem Dualismus der beiden Ängste als einem Dualismus zweier antagonistischer Bestrebungen festhält Diese Schwierigkeit wäre gelöst, wenn man, wie wir es vorschlagen, ein ursprüngliches Gefühl der Trennung und des Todes annähme, das dialektisch mit der Liebe und dem Leben verbunden ist und aus dem die Lebens- und Todesangst, das Verlangen nach Vereinigung und nach aggressiver Selbstbehauptung als Reaktionen entspringen. Doch zurück zu Freud. Seit 1920 wird seine Auffassung vom Unbewußten komplizierter, und er entwickelt sukzessiv die Theorie der drei Persönlichkeitsinstanzen: Ich, Ober-Ich und Es; ferner die Theorie von der fundamentalen Dualität des Lebens- und des Todestriebes. Diese Theorien widersprechen einander nicht, doch sind ihre Zusammenhänge nur schwer zu erkennen; Freud selbst hat sie nie geklärt. Hinsichtlich der Angst knüpft eine dritte Theorie, die der Gewissensangst, 176
an den neuen Begriff des Ober-Ichs an. Das Ober-Ich (die introjizierten und unbewußt gewordenen elterlichen Verbote) lastet mit einer selbst wieder unbewußten Strafandrohung auf dem Ich, die um so stärker ist, als das Ich Gegenstand libidinöser Ansprüche seitens der anderen unbewußten Instanz, des Es, ist. Die Angst entsteht also infolge der Gefahr, welche die Vorschriften und Drohungen des Ober-Ichs für das in Konflikt mit dem Es liegende Ich darstellen. Der unmittelbar angsterzeugende Faktor ist nicht mehr ein libidinöser Trieb, sondern eine unbewußte Vernichtungsangst (oder Kastrationsangst, beide stehen in Wechselbeziehung miteinander). Der Akzent, was die Angst betrifft, verschiebt sich seit dieser Zeit von den libidinösen auf die aggressiven Faktoren. Es ist der Moment, von dem ab Freud die Angst nicht mehr als eine Umwandlung der Libido auffaßt. Andererseits hat sich ihr Verhältnis zum Ich geändert: Das Ich ist nicht mehr nur die Stätte, sondern die Quelle der Angst (Boutonier, S. 105). Freud erklärt: »Das Ich ist die alleinige Angststätte, nur das Ich kann Angst produzieren und verspüren.« Bedroht vom Ober-Ich und in Konflikt mit dem Es, sondert das Ich gleichsam Angst ab. Schließlich hat sich das Verhältnis zwischen Angst und Verdrängung umgekehrt: »Nicht die Verdrängung schafft Angst, sondern die Angst ist früher da, die Angst macht die Verdrängung« (1933, 91 f.). Diese Wandlungen in Freuds Angstauffassung sind ohne Zweifel höchst bedeutsam, und wir werden auf sie zurückkommen. Die Angst hat ihren Sitz nun im Ich und erlangt den Rang eines von den unbewußten Instanzen des Es und Ober-Ich unabhängigen Phänomens. Die vierte Theorie Freuds bringt die Angst in Zusammenhang mit der Verdrängung der Aggressivität und steht im Gefolge der Hypothese von den Todestrieben (Selbstvernichtung und Aggressivität). Die Angst ist Substitut eines unbewußten Hasses. Diese Theorie bildet etwa eine Parallele zur ersten Theorie (Verdrängung der Libido), angewandt auf die aggressiven Triebe. Zugleich steht sie der dritten Theorie nahe, denn in mancher Hinsicht kann das Ober-Ich in der Psyche als Repräsentant der aggressiven Triebe (insbesondere der nach innen gerichteten) verstanden werden. Zahlreiche zeitgenössische Analytiker haben diese Theorie der Angst übernommen, ob sie im übrigen Freuds Hypothese des Todestriebes zustimmen oder nicht. So schreibt S. Nacht in seinem Essay über die Furcht: »Der Ursprung der Furcht erscheint als verknüpft mit dem Aggressionstrieb. Die Furcht hat die Aufgabe, gleich einem Signal auf die Gewalt dieses Triebes als eine das Subjekt bedrohende Gefahr aufmerksam zu machen. Dieses Zusammentreffen ist meines Erachten& ein beständiges Faktum.« Noch
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deutlicher: »Die besondere Verbindung von Angst und Aggressivität kommt meiner Ansicht nach unter Ausschluß jedes anderen Triebes zustande« (Nacht, 1963, 11-14}. Diesem Autor zufolge bewirkt jede Frustration eines sexuellen oder nicht-sexuellen Strebens eine aggressive Triebregung, die allgemein als Tendenz zur Aktivität aufgefaßt und vom Subjekt als Bedrohung empfunden wird. Gegenüber der Empfindung der Bedrohung ist die Verdrängung für ihn lediglich sekundär. Favez-Boutonier bemüht sich um eine Synthese und vertritt die Ansicht, daß »die Angst eine Art Alarmsignal beim Herannahen einer Gefahr ist, und zwar die objektive Angst bei einer äußeren und realen, die neurotische Angst bei einer innerpsychischen Gefahr. Diese psychische Gefahr ist durch einen unbewußten Konflikt im lnnern der Persönlichkeit gegeben, in dem das Ich erotischen und gleichzeitig aggressiven Tendenzen gegenübersteht (Boutonier, 1945, S. 115}. Diese synkretistische Formulierung faßt zwar das Wesentliche der vorausgegangenen Theorien zusammen, doch fehlt es ihr an theoretischer Klarheit. Besteht der Konflikt zwischen dem Ich und den erotischen Tendenzen oder zwischen dem Ich und den aggressiven Tendenzen oder zwischen der Aggression und dem Eros? Oder alles dies gleichzeitig? Die so bedeutsamen und verwirrenden Fragen Freuds nach der Rolle des Ichs hinsichtlich der Angst und nach dem Ursprung der Verdrängung -Fragen, auf die Favez-Boutonier selbst hingewiesen hatte-, werden nun mit Schweigen übergangen, als ob es sie nicht mehr gäbe. An anderen Stellen teilt uns die Autorin mehr von ihren Gedanken mit. Die Angst resultiert wesentlich aus der Triebambivalenz, aus dem Konflikt zwischen Lebens- und Todestrieb, aus der »Unbestimmtheit der Triebe« (S. 269} oder aus der »Ununterschiedenheit der Gegensätze« (S. 47}. Sind aber Konflikt und Ambivalenz einerseits, Unbestimmtheit und Ununterschiedenheit andererseits ein und dasselbe oder sind sie verschiedene, ja entgegengesetzte Dinge? Hier werden wir im Stich gelassen. Und doch zeichnen sich hinter den verschlungenen Gedankengängen Freuds und seiner Schüler über die Angst eine Entwicklung und, gleichzeitig, neue Probleme ab. Freuds Denken entwickelt sich in Richtung auf eine Verinnerlichung der Angst. Ausgehend von einem Konflikt zwischen der Libido und der durch das Realitätsprinzip des Ich vermittelten äußeren Wirklichkeit gelangt Freud schließlich zu einem ganz und gar psychischen Konflikt zwischen Lebenstrieb und Todestrieb. Die Angst wird zu einem inneren Riß im menschlichen Wesen, einem Zwiespalt zwischen einem Trieb, zu leben, und einer inneren Weigerung, zu leben, oder sogar einem
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Wunsch, zu sterben. Damit stellt sich jedoch das Problem des Ich. Entweder ist das Ich passiver Spielball zweier unabhängiger Kräfte, dann verliert es jede Einheit und läßt sich nicht mehr als Ich erkennen. Die Angst entsteht außerhalb des Ichs in den Konflikten des Unbewußten, wird damit aber unverständlich. Man könnte verstehen, daß von zwei unabhängigen Kräften die eine stärker ist als die andere oder daß sie einen Kompromiß schließen, aber es ist nicht einzusehen, warum ihr Konflikt Anlaß zu Angst geben sollte. Auch die Verdrängung ist in diesem Fall nicht mehr verständlich. Wenn die Verdrängung Verdrängung eines Konfliktes ist, gibt es nach dieser Hypothese keinen Agenten der Verdrängung. Das Ich kann diese Funktion nicht erfüllen. Oder aber man setzt voraus, wie von einem bestimmten Zeitpunkt an Freud, daß das Ich der Ursprung der Angst und der Verdrängung ist. Dann stellt es jedoch in gewisser Weise ein drittes psychisches Prinzip dar, das den beiden ersten übergeordnet ist und nicht von ihnen abgeleitet werden kann. Worin es besteht und wie es zu definieren ist, läßt Freud im Dunkeln; einige seiner Nachfolger haben sich damit beschäftigt. Was hier im Grunde zur Diskussion steht, ist das Problem der Einheit der Persönlichkeit. Jene Auffassung, die das Ich zum Ursprungsort der Angst macht, ist unvereinbar mit der Theorie, derzufolge die Persönlichkeit von zwei miteinander in Konflikt liegenden unabhängigen Kräften beherrscht wird. Die Angst als einheitliches und Einheit stiftendes Prinzip der Persönlichkeit nötigt gewissermaßen dazu, die dualistischen Theorien der Persönlichkeit neu zu überdenken. Denn in ihr bestehen in bestimmter Weise entgegengesetzte Realitäten gleichzeitig nebeneinander. Man muß im übrigen zugeben, daß die Theorie von den beiden unabhängigen Kräften sehr schwer zu halten ist. Sie entspricht auch nach Ansicht der Psychoanalytiker selbst nicht den Gegebenheiten der Beobachtung, die nirgends eine der beiden Triebkräfte im Reinzustand zeigen. »Es ist daher viel naheliegender, Lebensund Todestrieb als Bestandteile komplexer Triebvorgänge zu betrachten ... Wir glauben sagen zu können, daß Lebens- und Todestrieb für Freud nicht mehr bedeuten als Grenzfälle, für die sich vielleicht kein Beispiel in der Beobachtung findet« (Boutonier, 1945, S. 111 f.). Was sich dagegen beobachten läßt, ist eine Verbindung der beiden Triebe, »die Ambivalenz, in der Liebe und Haß miteinander verbunden sind -ein weiterer Aspekt des Lebens- und Todestriebes -,und nicht eine radikale Trennung dieser beiden Bestrebungen. Und man könnte der Meinung sein, es gebe nicht zwei entgegengesetzte Pole des Trieblebens, sondern verschiedene Bestandteile eines einzigen Triebes« 179
(S. 112). Wie sich der Leser erinnern wird, sprach dieselbe Autorio von der »Unbestimmtheit der Triebe« und der »Ununterschiedenheit der Gegensätze«. Sie stellt fest, »daß, wenn die Spannung der Libido wächst, die der Vernichtungstriebe ebenfalls wächst. Zwischen Libido und Vernichtungstrieb besteht eine Art Kommunikation, indem sich die psychische Energie von der einen auf die anderen verlagert« (S. 114). In ganz ähnlicher Weise fordert S. Nacht dazu auf, die Auffassung von der Aggressivität zu erweitern und diese als gemeinsame Energiequelle zu betrachten, die der Organismus für die libidinösen Akte ebenso wie für die destruktiven benützt, da »jeder Zustand der Frustration eine Spannung auslöst, die der Organismus zu eliminieren trachtet. Er muß daher die nötige Befriedigung erreichen oder die Ursache der Frustration unterdrücken. In beiden Fällen ist die aufzuwendende Energie von der gleichen Intensität und kommt aus derselben Triebquelle: der Aggressivität. Der Säugling entfaltet dieselbe Kraft und macht dieselbe Geste, um die Brust zu erreichen, wenn er Hunger hat, wie um sie wegzustoßen, wenn er satt ist« (Nacht, 1963, S. 17). Es versteht sich von selbst, daß die Dualität von Eros und Thanatos aufhört, wenn Aggressivität in einem so weiten Sinn verstanden wird. Bion postuliert seinerseits die Existenz eines »protomentalen Systems«, in dem die verschiedenen Bestrebungen nebeneinander bestehen und aus dem die Sexualität (pairing) und die Aggression entstanden sind. Manche Autoren wie Favez-Boutonier wollen dennoch an der Hypothese zweier voneinander unabhängiger Kräfte festhalten. Sie erklären die beobachteten Mischphänomene durch eine von Fall zu Fall verschiedene Dosierung der beiden Tendenzen. Doch bietet diese Hypothese keinerlei Erklärung für das Phänomen der Verbindung der Tendenzen (gleichzeitige Verschärfung beider, Übergang von einer zur anderen usw.), die zuvor konstatiert wurden. Die enge Triebverbindung, wie sie in der Angst zum Ausdruck kommt - vor allem die enge Verbindung zwischen Eros und Aggressionstrieben -, nötigt selbst zahlreiche Psychoanalytiker, die Theorie zweier unabhängiger und in Konflikt miteinander liegender Triebkräfte in Frage zu stellen; sie neigen mehr oder weniger deutlich zu der Annahme, daß die Persönlichkeit in ihrem tiefsten Bereich nicht durch Dualität, sondern Einheit, nicht durch Konflikt, sondern Koexistenz der Gegensätze gekennzeichnet ist. Doch die Rücksichtnahme auf das dualistische Vokabular Freuds versperrt ihnen nur allzuoft den Weg zu einer kritischen Auseinandersetzung. Zu den gleichen Schlußfolgerungen führt ein anderes Problem, auf das die psychoanalytischen Angsttheorien hinauslaufen. In den ersten Theorien war die Angst ein Derivat der Libido. Später wurde sie auch 180
als ein Derivat der Aggressivität verstanden. Wenn jedoch das Ich Ursprung der Angst ist, wird die Angst ein ursprüngliches Phänomen und läßt sich nicht mehr von der Libido oder der Aggressivität ableiten. Im Gegenteil, Libido und Aggressivität hängen von ihr als Primärphänomen ab. Die kindliche Sexualität kann nicht mehr als alleiniges Produkt primärer libidinöser oder aggressiver Bestrebungen gedeutet werden, sondern sie findet ihre Erklärung in einer tiefer gelegenen Angst. Die Sexualität des Kleinkindes ist eine Antwort auf die Angst, die es empfindet. Die Rückkehr zur Mutter, die sich in den verschiedenen Formen des Sexuallebens äußert, kann nicht mehr als bloße Wiederholungstendenz gesehen werden, vielmehr drückt sie Angst aus, denn die Wiederholungstendenz ist selbst ein Zeichen von Angst. (Auf diese Weise verband Rank die kindliche Sexualität mit der bei der Geburt empfundenen Angst vor der Trennung von der Mutter.) In den psychoanalytischen Theorien liegt ein Widerspruch zwischen den Vorstellungen von Angst als Produkt und Angst als Ursprung sexueller und aggressiver Tendenzen; dieser Widerspruch kann im Sinne Freuds, der den Ursprung der Angst in das Ich verlegt, nicht aufgelöst werden, wenn man nicht Libido und Aggressivität als sekundäre Tendenzen versteht, die auf eine ursprünglichere Erklärungsebene bezogen sind. Doch damit verlieren natürlich Libido und Aggressivität ihren Rang als U rphänomene, die für die Genese des menschlichen Verhaltens verantwortlich sind. Beide Begriffe setzen eine vollkommene Entsprechung zwischen dem Trieb und seinem imaginären Objekt voraus. Das Objekt vermag den Trieb vollständig zu befriedigen. So wird die Libido als Lustprinzip durch den Besitz des Objektes befriedigt, die Libido als Streben nach Vereinigung führt zu einer Fusion von Subjekt und Objekt (fusionale Konzeption der Libido) und als Aggressivität findet sie ihre Erfüllung in der Vernichtung des Objekts. Die Bindung zwischen Trieb und Objekt ist eine Besitz-, nicht eine Kontakt- oder Austauschbindung. Beide Konzepte schließen das Gefühl des Mangels als innere Triebkomponente aus. Der Trieb umschließt gewissermaßen sein Objekt so eng, daß kein Spielraum mehr frei bleibt. Man könnte dies geschlossene Konzepte nennen. Die Psychoanalyse - ob nun dualistisch oder nicht - versucht letztlich, Verhalten durch solche Konzepte zu erklären. Es ist daher nur logisch, daß sie angesichts eines Phänomens wie der Angst, die gerade das Gefühl des Mangels zum Ausdruck bringt, diese anfänglich als Ergebnis einer Frustration eines oder mehrerer (geschlossener) Elementartriebe erklärte. Aber sobald man von diesem Schluß abgeht und in der Angst ein ursprüngliches Phänomen erblickt- sei es, um die gefährdete Einheit der Persönlich181
keit zu retten, sei es, daß sie tatsächlich als ein primitiveres Phänomen erscheint -, scheitert der Versuch der Psychoanalyse, das Verhalten auf geschlossene Elementartriebe zurückzuführen. Das Gefühl des Mangels gehört einer ursprünglichen Realität an, dergegenüber das Streben, dem Mangel so oder so abzuhelfen, als sekundär und als Reaktion erscheint. Die psychoanalytischen Angsttheorien veranlassen uns daher zu einer umfassenden Revision der Grundbegriffe der Psychoanalyse und ihrer Zusammenhänge. Dies hat Norman 0. Brown gesehen. In seiner sehr gründlichen und umfangreichen Arbeit über die Psychoanalyse (Brown, 1962) versucht er, eine zusammenhängende psychoanalytische Theorie zu erstellen, wobei er sich vor allem auf die Spätwerke Freuds stützt. Brown mißt der Freudschen Hypothese des Todestriebes grundlegende Bedeutung bei, bedauert jedoch, daß Freud gleichzeitig eine dualistische Position aufrechterhalten habe, und setzt sich für den Obergang von einem »Triebdualismus<< zu einer »Triebdialektik<< ein: »Wir brauchen anstatt eines Dualismus eine Dialektik der Triebe. Wir sollten sagen, daß, was auch immer die grundlegende Polarität des menschlichen Lebens sein möge - die Polarität von Hunger und Liebe, von Liebe und Haß oder von Leben und Tod-, diese Polarität bei den Tieren zwar gegeben ist, aber keinen Zustand der Ambivalenz hervorruft. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, daß er Aspekte des Lebens, die Triebe, die bei den Tieren in einem Zustand undifferenzierter Einheit oder Harmonie existieren, endgültig getrennt hat, wodurch unter ihnen wechselseitige Konflikte entstanden« (S. 108). Wenn wir die Unterscheidung zwischen Mensch und Tieren beiseite lassen - sie gehört nicht zu unserem Thema und ist übrigens fragwürdig -, so ist die Idee Browns dieselbe, die wir schon weiter oben andeuteten, nämlich daß der primitive Zustand ein Zustand der Koexistenz und nicht des Konflikts der Gegensätze ist. Lebens- und Todestrieb bilden eine organische Einheit (S. 129), die jedoch beim Menschen durch eine besondere Weigerung, die Realität des Todes hinzunehmen, gebrochen ist. Das Eigentümliche am menschlichen Ich ist nicht die Hinnahme der Realität, wie Freud anfänglich behauptete, sondern ihre Ablehnung, wie er - Brown zufolge - später erkannte. »Der Kern der Sache aber ist, nach Freuds späterer Theorie (Brown bezieht sich auf eine Stelle in >Das Ich und das Es<), daß die besondere Struktur des menschlichen Ich das Ergebnis seiner Unfähigkeit ist, die Realität zu akzeptieren, insbesondere die mächtigste Realität: Tod und Trennung« (S. 202). Die Ablehnung des Todes, der Trennung und zuallererst der Tren182
nung von der Mutter sowie die Ablehnung der Individualität stehen auf der gleichen Stufe. Es sind Urphänomene, die für das Ich und die Angst konstitutiv sind. Die Angst, die ihren Sitz im Ich hat, ist die »Unfähigkeit des Ich, den Tod zu bejahen« (S. 145). Der menschliche Todestrieb als Tendenz zur Selbst- und Fremdzerstörung stellt somit keine ursprüngliche Realität dar. Er entspringt aus der Weigerung, den Tod, die organische Einheit von Tod und Leben zu bejahen: »... die Haltung des Menschen dem Tode gegenüber (ist) in eigenartiger Weise krankhaft« (S. 129). »Der menschliche Organismus schützt sich gegen die Realität des Lebens und Sterbens - Ironie des Seins -, indem er eine aktivere Art des Sterbens zuwege bringt, und diese aktivere Art des Sterbens ist die Negation, die Verneinung« (S. 202). Ebenso verhält es sich mit dem Lebenstrieb, der Libido: »Freud hat die Theorie der kindlichen Libidoorganisation nie neu niedergeschrieben, um sie ins Licht seiner späteren Hypothesen von Triebambivalenz und Angst zu setzen. Wenn aber, nach Freud, die Verdrängungstheorie der Grundstein aller Psychoanalyse ist, dann muß der neue Gedanke der Selbstverdrängung gründlich durchdacht werden. Angst und Triebambivalenz müssen als Ursache der Verdrängung erforscht werden, um im Sinne unserer bisherigen Gedanken zum Todestrieb in Beziehung gesetzt zu werden. Wenn Angst und Triebambivalenz die ganze kindliche Sexualität durchziehen, dann muß die kindliche Libidoorganisation als durch die Krankhaftigkeit des menschlichen Todestriebes gestört betrachtet werden. Und da, nach Freud, >das Ich der einzige Sitz der Angst ist< und gleichermaßen der Triebambivalenz, so sind die kindlichen Libidoorganisationen Ichorganisationen und nicht nur Libidoorganisationen. Vielleicht sollten wir also die Sexualorganisationen als Wirkung der Angst im Ich auf den Leib ansehen. Sollten die Sexualorganisationen vielleicht vom Ich bei seiner Flucht vor dem Tode gebildet worden sein, und könnten sie aufgehoben werden, von einem Ich, das stark genug ist, um zu sterben, wenn - wie wir gesehen haben- Angst die Unfähigkeit des Ich ist, den Tod zu bejahen?« (S. 145, Hervorhebungen M. P.) Die Formulierungen Browns sind zu flüchtig und intuitiv, um völlig klar zu sein. Wir sind weit davon entfernt, in allen Punkten mit ihm übereinzustimmen. So unterscheidet er nicht hinreichend den natürlichen vom krankhaften Todestrieb. Der erste bezeichnet das, was wir das Gefühl des Todes (und der Trennung) genannt haben, nämlich das Bewußtsein, daß man sterben muß; es ist von dem Wunsch zu sterben verschieden und koexistiert, im Gegensatz zu diesem Wunsch, mit dem Gefühl des Lebens, der Liebe und der Beziehung. Diese Unklarheit 183
führt dazu, daß Brown in der Angst eine Ablehnung des Todes sieht, die der Ursprung des Konflikts zwischen beiden Tendenzen ist. Doch setzt die Ablehnung des Todes und der Trennung die tiefere Erfahrung des Gefühls des Todes und der Trennung voraus, welche Erfahrung für uns letztlich gleichbedeutend ist mit der Angst. Brown verkennt außerdem den Gefühlscharakter der Angst und beschreibt vornehmlich die Angst als Emotion. Aber in zwei wesentlichen Punkten stimmen die Analysen Browns mit den unseren überein: in der Annahme einer primitiven Ebene, die nicht durch Konflikt, sondern durch Koexistenz der Gegensätze gekennzeichnet ist, und hinsichtlich des reaktiven Charakters von Libido und Todestrieb. Dies ist für uns vor allem deshalb interessant, weil Browns Methode die einer immanenten Kritik der Psychoanalyse ist, die den Ideen Freuds gerecht werden will und sich lediglich vom Verlangen nach Kohärenz leiten läßt. K. Horney trifft sich in ihrer kritischen Revision der Psychoanalyse und in ihrer Angsttheorie in mehreren Punkten mit den Ideen Browns. Ihr zufolge resultiert die Angst im wesentlichen aus dem gestörten Gleichgewicht zwischen verschiedenen Haltungen. Die Hauptrichtungen der Zuwendung zu anderen (compliant-toward), der Wendung gegen sie (aggressive against) und der Abwendung von ihnen (detachedaway), die in der gesunden Persönlichkeit koexistieren können, bekämpfen sich in der neurotischen Persönlichkeit. Diese gibt einer dieser Tendenzen den Vorzug und organisiert sich starr um sie. Von da an wird jede Äußerung der anderen Tendenzen als Gefahr empfunden. Die aggressiven Tendenzen spielen dabei eine besondere Rolle. Das bedrohte Individuum fühlt sich allein und hilflos inmitten einer potentiell feindseligen Welt. In ihrem letzten Buch »Neurosis and Human Growth« (1950), präzisiert sie ihre Auffassung über die Grunddynamik der Persönlichkeit; sie kreist um den Begriff des »Real-Ich«: »Das Real-Ich ist jene zentrale innere Kraft, die allen Menschen gemeinsam und doch in jedem einmalig ist und die eigentliche Triebfeder der Entwicklung (growth) darstellt ... « (S. 17); es bewirkt »das Pulsieren des inneren Lebens; es schafft die Spontaneität der Gefühle: Freude, Erwartung, Liebe, Zorn, Furcht, Verzweiflung. Es ist die Quelle des spontanen Interesses und der inneren Energien, Quelle der Anstrengung und Aufmerksamkeit, aus der die Willensentscheidungen entspringen; es ist die Fähigkeit, zu wünschen und zu wollen; jener Teil unserer selbst, der auf Expansion, Wachsturn und Erfüllung gerichtet ist ... es führt zu einer authentischen Integration und zu einem gesunden Gefühl der Ganzheit und Einheit« (S. 157). Wir haben es hier mit einer monistischen Persönlichkeitsauffassung 184
zu tun, in der die Koexistenz der Gegensätze vorausgesetzt wird. Horney nimmt auch Abstand von einer biologischen und bedient sich einer relationalen Sprache. Ihre Persönlichkeitsauffassung kommt der Ragers' nahe. Unseres Erachtens kommen indessen bei Horney wie auch bei Rogers die negativen Gefühle, die in den Tiefenbereichen der Persönlichkeit gegeben sind, zu kurz. Die entscheidende Rolle, die diese Gefühle für die Bildung des Ich und der Beziehung spielen, sieht sie nicht. Dennoch bleibt die Angst, deren Bedeutung unterstrichen wird, ein reaktives Phänomen: sie ist eine Folge des gestörten Gleichgewichtes. In dieser Hinsicht hat Horney ähnliche Anschauungen wie Brown. Fassen wir das Ergebnis dieser knappen Untersuchung der psychoanalytischen Angsttheorien zusammen: 1. Wir wurden in unserer Entscheidung bestätigt, die Angst in den zentralen Bereich der Psyche zu verlegen und sie als Urphänomen zu betrachten. Beeindruckend ist die Tatsache, daß eine Lehre wie die Psychoanalyse, die einer derartigen Schlußfolgerung anfänglich so abweisend gegenüberstand, sich zu einer Entwicklung in dieser Richtung irgendwie genötigt sah. 2. Ebenso erscheint es unumgänglich, die tiefste und primitivste Ebene der Persönlichkeit dialektisch, im Sinne einer Koexistenz der Gegensätze, zu verstehen. Die Grundkonzepte, auf die wir uns auf dieser Ebene stützen, können keine geschlossenen, sondern nur offene Konzepte sein, d. h. ihr Gegenteil muß einbegriffen sein. Diese Bedingung ist für zwei unserer Konzepte erfüllt: für die authentische Liebe und die Trennungsangst Hinsichtlich der interpersonalen Beziehung bedeutet dies: die Beziehung ist in ihrer letzten und ursprünglichen Ebene nicht ein Besitzverhältnis zwischen einem Subjekt und einem Objekt, wobei eine Distanz zwischen beiden nicht mehr möglich ist, sondern sie ist eine auf Dialog gegründete Beziehung, die das Getrenntsein der Personen impliziert. 3. Auf dieser Ebene gibt es nicht Triebe, die sich gegenüberstehen, sondern Gefühle, die zugleich bestehen. Das Gefühl des Todes (oder der Trennung) erweist sich somit als eine tiefere Realität als der Todestrieb (Zerstörung oder Selbstzerstörung), der sein Objekt gewissermaßen vernichtet, indem er sich mit ihm identifiziert. Das Objekt ist einzig und allein dazu da, »getötet zu werden«. Ebenso ist das Lustoder Liebesobjekt oder das Objekt der auf Fusion gerichteten Libido dazu da, »besessen« zu werden. Dagegen ist bei den Gefühlen von Liebe und Trennungsangst der andere »derjenige, von dem man getrennt ist«. Er bewahrt seine persönliche Existenz. Wir erfuhren von 185
neuem die Nützlichkeit der Beziehungssprache, der Sprache des Gefühls, um die tiefsten Schichten der Persönlichkeit zu beschreiben. 4. Gleichzeitig wird vielleicht die Unterscheidung zwischen Angst als Gefühl und Angst als Emotion klarer. Angst als Emotion ist ein oberflächlicheres Phänomen denn Angst als Gefühl, sie resultiert gerade aus der Verdrängung der letzteren. Erfahren wird sie im Konflikt und nicht in der Koexistenz. In dieser Hinsicht behalten die verschiedenen psychoanalytischen Angsttheorien ohne Zweifel ihre Gültigkeit, und zwar als Theorien der Emotionsangst, worauf wir zu wenig hingewiesen haben. Die Angstemotion kann als Reaktion auf sämtliche Arten affektiver Phänomene, vor allem auf Liebesstrebungen (im Sinne der Fusion) oder aggressive Bestrebungen, in Erscheinung treten. Sie ist dann jedoch unseres Erachtens der indirekte Reflex des Gefühls der Angst, auf die sie zeichenhaft hinweist. Der in diesem Moment erlebte Konflikt ist gar nicht so sehr ein Konflikt der beiden Tendenzen, sondern ein Konflikt zwischen dem Wunsch nach authentischer Bindung und der Furcht, das ihm zugehörige Gefühl der Trennung zu empfinden. Jeder auf Fusion gerichtete Liebes- oder jeder aggressive Impuls erzeugt und verdrängt zugleich das Trennungsgefühl, das dann durch die Emotionsangst zum Ausdruck kommt. 5. Die vier soeben genannten Punkte stellen lediglich Bestätigungen dar. Es ist jedoch auch ein neuer Gesichtspunkt an den Tag getreten. Jene Phänomene, die die Psychoanalyse mit den Begriffen von Libido - verstanden als Luststreben oder als Streben nach Fusion - und Aggressivität interpretiert, stellten sich uns nicht als Primärphänomene dar, sondern als Reaktionsphänomene, als sekundär im Verhältnis zur primitiven Ebene von Liebe und Angst. Ihre genauen Beziehungen zu den letzteren bleiben noch zu erörtern. Dabei werden wir auf die oft biologistische und mechanistische Sprache der Psychoanalyse verzichten und uns einer relationalen Sprache bedienen. Dies wird der Gegenstand des nächsten Kapitels sein.
Angst und Liebe als Erfahrung der Einheit, nicht des Konflikts
Wir möchten noch einen besonders wichtigen Punkt betonen, der sich ebenfalls aus der vorangegangenen Erörterung ergibt: die fundamentale Erfahrung von Angst und Liebe ist nicht eine Erfahrung des Konflikts, sondern der Einheit. Diese Einheit ist gewiß von besonderer Art. Sie besagt nicht, daß ein Gefühl oder mehrere homogene Gefühle eine uneingeschränkte Herrschaft ausüben, sondern es ist eine Koexistenz186
einheit entgegengesetzter und sich gegenseitig verstärkender Gefühle. Aus der Trennungsangst entsteht die Liebe, die Liebe wiederum macht das Getrenntsein bewußter und ist von Angst begleitet. Diese Einheit schließt daher eine Art Konflikt ein: das Verlangen nach Bindung liegt im Widerstreit mit dem Gefühl, daß dies nutzlos oder unmöglich sei; das Trennungsgefühl liegt im Widerstreit mit dem Mitgefühl und dem Bewußtsein einer gemeinsamen Not. Doch ist dies ein Konflikt eigener Art. Die verschiedenen Seiten des Konflikts schließen sich nicht gegenseitig aus, vielmehr ist jede in der anderen enthalten. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht durch die Unterdrückung einer Seite oder durch einen Kompromiß, sondern durch eine Vertiefung, die die Koexistenz beider sichtbar macht. Die Trennungsangst enthüllt sich in der Vertiefung als Liebe und Bindung; die Liebe erfährt sich im Scheitern als angsterfüllt; die Angst beschränkt die Liebe, doch gleichzeitig verstärkt sie sie und verleiht ihr Auftrieb. Das Gesetz der tiefsten Schich-
ten der Persönlichkeit ist daher nicht der Konflikt, wenn man dieses Wort dem Widerstreit gegenseitig sich ausschließender Tendenzen vorbehält. Ein solcher Konflikt bestünde z. B. zwischen dem Verlangen nach grenzenloser Vereinigung (Libido) und dem V erlangen nach totaler Trennung (Aggression). Ein derartiger Konflikt erwächst aus einer Dissoziation der beiden Strebungen, die in der zugrunde liegenden Grunderfahrung eng miteinander verbunden sind. Er ist keine Primärerscheinung. Außerdem spiegelt er einen tiefer gelegenen Konflikt wider: den zwischen einem Streben nach der Grunderfahrung, der lebendigen Erfahrung einer authentischen Beziehung, und dem Bedürfnis, den sie begleitenden Schmerz zu meiden. Ebensowenig wie von Konflikt sollte man unseres Erachtens von Ambivalenz sprechen, wenn man die Ebene der Grunderfahrung betrachtet. Dies ist der Grund, warum wir weiter oben, anläßlich der Überlegungen von Favez-Boutonier über die Angst (Boutonier, 1945), auf die Notwendigkeit hingewiesen haben, zwischen »Ungeteiltheit der Gegensätze« und »Triebambivalenz« zu unterscheiden. Die Autorin scheint nämlich beide Ausdrücke unterschiedslos zu verwenden. Von Ambivalenz sprechen wir bei einem Subjekt dann, wenn es einem Konflikt im strengen Sinn zwischen zwei sich ausschließenden Bestrebungen empfindet. Auf dieselbe Weise läßt sich eine ambivalente Einstellung zu einem anderen bestimmen. Dagegen ist die Beziehung zum anderen, die sich auf der tiefsten Ebene vollzieht, nicht ambivalent (dies wollte Mrs. Oak zum Ausdruck bringen, als sie von »etwas, das vollkommen ohne Haß ist«, sprach). Das Auftreten einer ambivalenten Beziehung zum anderen steht im Zusammenhang mit der erwähnten 187
Dissoziation und Flucht vor der Angst. Wir werden diesen Vorgang später noch untersuchen.
Dialektische Auffassung der Entwicklung
Die eben dargelegten Ansichten über den dialektischen Charakter der Grunderfahrung tragen zur Erhellung gewisser Feststellungen bei, die im Verlauf von Entwicklungsprozessen wie in der Psychotherapie oder im gruppendynamischen Training gemacht werden. Auf den ersten Blick sind diese Feststellungen verwirrend, da sie der naiven Vorstellung, die man sich für gewöhnlich von einer Entwicklung macht, zuwiderlaufen. Diese wird nämlich gerne als eindimensional aufgefaßt: auf ein mittelmäßig befriedigendes Anfangsstadium folgt eine Periode der Regression, die von einem Endstadium abgelöst wird, das im Vergleich zum Anfangsstadium einen Fortschritt darstellt. Sicher ist dieses Entwicklungsschema (Schema I) nicht ganz falsch, allerdings wird ein anderes der Realität eher gerecht. Wir glauben nämlich, folgende interessante Beobachtung gemacht zu haben: Es findet nicht so sehr eine Abfolge »Positiver(( und »negativer(( Merkmale statt, sondern Merkmale beider Gruppen werden gleichzeitig häufiger; es kann leichter geschehen, daß sie bei derselben Person, im selben Zeitraum oder in derselben Situation zugleich auftreten (Schema Il).
Kriterien
Kriterien
Zeit
II
Zeit
Eine solche Aussage ist selbstverständlich eher intuitiver Natur, solange man die »positiven« und »negativen« Merkmale nicht näher bestimmt hat, die man als Entwicklungskriterien ausgewählt hat, und dazu sind wir im Augenblick nicht in der Lage. Wir möchten, um unsere Idee dennoch ein wenig zu illustrieren, lediglich sagen, daß sich z. B. etwa folgendes feststellen ließe: 188
_ mehr Unruhe- größere Risikobereitschaft, - stärkeres Infragestellen der sozialen Strukturen und der Autoritätsinhaber - zugleich leichtere Kooperation mit den letzteren und flexibleres Handeln im Rahmen der ersteren, - größeres V erlangen nach Isolierung - Suche nach neuen Beziehungen usw. In einem Unternehmen tauchte im Verlauf einer psychosoziologischen Intervention in einem bestimmten Zeitpunkt ein für das Unternehmen wichtiges Problem auf (die Untersuchung bestimmter Autoritässtrukturen). Mehrere Teilnehmer riefen aus: >>Ach, es hat keinen Sinn, jetzt schon darüber zu reden. Die Dinge sind noch nicht faul genug.« Ohne Zweifel dachten sie dabei daran, bestimmte Vorgehensweisen und Strukturen in Frage zu stellen, was jedoch in ihrer Vorstellung von der Möglichkeit eines konstruktiven Dialogs mit den Betroffenen abhing. Eine vertiefte Interpretation würde ergeben, daß diese Bemerkung auf das Vorhandensein eines deutlich bewußten Wissens um den kontingenten und vergänglichen Charakter dessen, was ist, hinweist, seien dies nun Rollen, Einstellungen oder soziale Strukturen, und daß dieses Wissen mit dem Vertrauen auf die Möglichkeit von Änderungen verbunden ist. Hier sehen wir wieder die bereits erörterte Tatsache der Koexistenz widersprüchlicher Gefühle wie Todes- und Lebensgefühl, Verzweiflung und Vertrauen, Getrenntsein und Liebe usw. zugleich und in einem gegeben sind. Wir stimmen hier mit Kenneth Benne, einem der Begründer der T-Gruppenmethode, überein: »Die erfolgreiche T-Gruppe«, sagt Benne, »scheint eine Bewegung von der Polarität zur Paradoxie zu durchlaufen« (Benne, 1972 b, S. 235). Benne unterscheidet in diesem Artikel, dessen Inhaltsreichtum wir hier nicht wiedergeben können, neun Entwicklungszonen der T -Gruppe, in denen ein solcher Übergang erfolgt. Zum Beispiel sind die Ziele der T -Gruppe sehr komplex und schwer definierbar. Das Fernziel besteht darin, Kenntnisse über das Verhalten von Gruppen zu erwerben, die sich für andere Gruppen generalisieren lassen. Damit jedoch diese Kenntnisse mit Erfolg übertragen werden können, müssen die Teilnehmer durch persönliche Erfahrung erst lernen, ihre eigene Gruppe zum Arbeiten zu bringen, was ein weiteres Ziel darstellt. Das ist wiederum nur möglich, wenn sie das Gruppengeschehen und dessen Entwicklung aufmerksam verfolgen. Es ist leicht einzusehen, daß sich aus diesen drei Zielen Konflikte ergeben können: »Was sollen wir uns bei lebendigem Leib analysieren?«, fragen manche Teilnehmer, >>arbeiten wir lieber!« Andere interessieren sich ausschließlich für die Prozesse und blockieren durch ihr ewiges Analy189
sieren die ganze Gruppe. Erst nach und nach lernen die Gruppenmitglieder, kurzfristige Ziele praktischer Natur mit der Reflexion ihrer Erfahrung und mit längerfristigen Zielen zu vereinbaren; sie müssen erst erkennen, daß praktische Spontaneität die Reflexion nicht behindert, sondern begünstigt; sie müssen erst die Rhythmen, den Wechsel und die Modalitäten entdecken, die es ermöglichen, daß diese Ziele interdependent und nicht widersprüchlich sind. Ein angrenzendes Problem bildet die Handhabung der verschiedenen Sprachen, die der Gruppe zur Verfügung stehen und deren sie auch bedarf, die einander jedoch in den Frühstadien der Entwicklung oft entgegengesetzt sind. So gibt es die wissenschaftliche Sprache der methodischen Beobachtung und Verifizierung; die praktische Sprache der Entscheidung und des Engagements, die künstlerische Sprache der intuitiven und erfinderischen Rekonstruktion der Vergangenheit und der Projektion in die Zukunft (Benne, 1972 b, S. 250 ff.). (Wir fügen dem unsererseits die Sprache des erlebten Gefühls und der unmittelbaren Emotion hinzu.) Eine weitere Konfliktzone tritt dort auf, wo die Rücksicht auf kollektive Entscheidungen, die für den Fortschritt der Gruppe notwendig sind, mit der Rücksicht auf die individuelle Integrität mancher Mitglieder kollidiert, zum Beispiel mit dem Recht einiger, zu schweigen, obwohl die Gruppe ihre Beteiligung verlangt. Diese beiden Verhaltensweisen werden zu Beginn als unvereinbar angesehen, es bilden sich Parteien, die die eine oder die andere Fahne schwingen, bis die Teilnehmer mühevoll ausdrücklich oder unausgesprochen kollektive Normen aufstellen, die jedem hinreichenden Schutz gewährleisten (S. 243 f.). Der Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Ruhe und dem Bedürfnis nach Fortschritt ist ganz ähnlich. Sobald die Gruppe eine relative Harmonie erreicht hat, klammern sich manche Mitglieder an diesen Zustand. Andere lehnen ihn ab und geben nicht nach, bis sie ihn zerstört haben, was nicht schwer ist, denn die Harmonie ist prekär und um den Preis der Unterdrückung so mancher feindseliger oder depressiver Strömungen zustande gekommen. In diesem wie im vorigen Fall stehen die Gruppenmitglieder konkret vor dem Problem der Behandlung von Widerständen; das Verlangen nach Ruhe, aber auch dessen aggressive Ablehnung sind Widerstände. Das Bedürfnis nach bequemer Ruhe zeigt deutlich, wie wenig man die ihm zugrunde liegende Angst zu ertragen vermag; und wer die Angst der anderen aufdeckt, wird mit seiner eigenen nicht fertig. Eine Lösung des Problems bahnt sich erst dann an, wenn der Wunsch nach Veränderung und die zuversichtliche Hoffnung auf Fortschritt zusammen mit dem Bewußtsein der damit verbundenen Angst bestehen können. Diese Entwicklung läßt 190
sich mit der vergleichen, die Benne in der Zeitperspektive (S. 253 ff.) beobachtet. Die ursprüngliche Polarität liegt hier zwischen einer Einstellung, der es nur auf die Gegenwart, d. h. auf die in der T -Gruppe erlebte Erfahrung unter Ausschluß der Vergangenheit und Zukunft ankommt, und einer auf die Vergangenheit oder Zukunft gerichteten Einstellung, hinter der sich oft eine Flucht vor der Gegenwart verbirgt. Gleichzeitig ist dies der Konflikt zwischen Innen, d. h. der Gruppe, und Außen, Berufs-, Familienleben usw. über diesen Konflikt kommt die Gruppe erst hinweg, wenn sie sich selbst nach außen öffnet, aufhört, alle Befriedigung in sich selbst zu suchen, und ihre Vergänglichkeit akzeptiert, gleichzeitig aber erkennt, daß sie sich durch die Erinnerung und den Eindruck, den sie bei ihren Mitgliedern hinterlassen wird, in die Zukunft und nach außen verlängert. In allen diesen Fällen ist die Triebfeder der Entwicklung eine ähnliche. Der Konflikt wird verinnerlicht und nicht mehr nach außen projiziert. Er wird zu einem inneren Konflikt, an dem alle teilhaben. Außerdem wird der Konflikt umgewandelt: die verschiedenen Seiten schließen sich nicht mehr gegenseitig aus, sondern erscheinen vielmehr in gewisser Weise als miteinander verbunden. Die Vermittlung leistet auch hier die Angst. Jede Seite des Konflikts erscheint als Antwort auf die Angst und als solche gleichermaßen annehmbar und berechtigt. Indem die Gruppenmitglieder nun eher ihre Angst annehmen und in der Paradoxie zu leben lernen, lösen sie sowohl ihren individuellen Konflikt wie auch den, der sie zu den anderen in Gegensatz brachte. Beide Entwicklungen, die individuelle und die der Gruppe, sind ineinander verflochten und beruhen auf einer größeren Bereitschaft zum Akzeptieren der Trennungsangst Ahnlieh äußert sich auch Benne anläßlich einer Gruppe, die ihre »Zeitperspektive« änderte und sich der Zukunft und der Außenwelt mehr öffnete: »Dies umfaßt die Odyssee menschlicher Isolierung und Einsamkeit, die in einer zwar festen und Sicherheit gewährenden, dennoch aber die individuelle Abweichung und Verschiedenheit eher bekräftigenden als verwerfenden Gruppierung teilweise überwunden werden« (S. 256). Diese Bemerkungen könnten eine Orientierung für strenge quantitative Untersuchungen von Veränderungsprozessen in der Psychotherapie, im Gruppentraining oder in der Organisationsveränderung darstellen. Es würde dazu genügen, diese mehr intuitiven Hinweise in operational definierte Kriterien umzuformen. Jedes Kriterium wäre dann nicht mehr bloß durch eine Variable definiert, sondern durch ein Variablenpaar, deren Verhältnis sich durch Verschiebung auf einem Kontinuum verändern würde. Unseres Wissens sind solche Untersu191
chungen noch nicht erfolgt, denn man ist zu sehr einer simplifizierenden, manichäischen und eindimensionalen Auffassung der V eränderung verhaftet, die man nur als Veränderung vom »Schlechten« zum »Guten<< versteht.
Gruppe und Individuum
Die Ergebnisse dieses Kapitels sind schließlich vielleicht dazu angetan, das Problem des Konfliktes zwischen Gruppe und Individuum zu klären. Die beiden Realitäten liegen im Grunde genommen nicht im Konflikt. Wir sahen, daß die Beziehung zum anderen untrennbar mit der Selbstfindung verbunden ist und daß beide in dem Gefühl der Trennung gründen. Die soziale Bindung ist nichts anderes als das geteilte Gefühl der Trennung, das uns die Gewähr für die gleichzeitige Anerkennung der anderen und seiner selbst, für die Achtung vor der Individualität und vor den Unterschieden bietet. Sie ist eine Gemeinsamkeit der Gefühle, die jedoch keinerlei Abbau der Person, keinen unfreiwillig geleisteten Verzicht erfordert, denn das gemeinsame Gefühl ist gerade das der Trennung und Distanz, der Schwierigkeit, sich zu verstehen. In diesem Sinne ist sowohl Lewin als auch Sartre recht zu geben: Lewin, wenn er von Ganzheit spricht, denn die Gemeinsamkeit mit dem anderen und die Einheit sind real, eine Gruppe ist nicht ein Aggregat von besonderen Umständen oder eine illusorische Gemeinschaft; Sartre hat recht, wenn er betont, daß diese Totalität nie wie eine Sache gegeben ist. Die Strukturen und Verhaltensweisen von Gruppen sind immer provisorisch. Die Gruppe ist nicht eine geschlossene Totalität, die die Unterschiede der Individuen ausschaltet. Sie bricht jeden Augenblick neu auf, und ihr Gleichgewicht ist stets in Frage gestellt. Nach Sartre ist sie ein Totalisierungsvorgang, nicht eine Totalität. Aber dieser Vorgang ist nur möglich, weil er auf eine affektive Totalität bezogen ist, auf ein einhellig geteiltes Gefühl der Trennung, das jeden Augenblick danach verlangt, daß etwas geschieht, die Angst der anderen erträglicher zu machen. Gruppen sind affektive und offene Totalitäten, die dem Unvorhergesehenen und der Verschiedenheit ihren Platz einräumen, die auf Zukunft oder Veränderung, auf die Außenwelt und die Gesamtgesellschaft ausgerichtet sind. Ist sich eine Gruppe der Grundlagen ihrer Existenz bewußt geworden, bietet sie sich ihren Mitgliedern nicht mehr als eine von ihnen verschiedene Realität dar. Die Gruppe- das sind dann nicht mehr ihre Institutionen, N armen oder gewohnten Verhaltensweisen, sondern die 192
anderen in ihrer individuellen und augenblicklichen Einzigartigkeit. Sie hat nicht einmal mehr klare Grenzen, diese werden sich vielmehr den Umständen entsprechend ändern. So sehen die Dinge natürlich für gewöhnlich nicht aus. Meistens - bis zu einem gewissen Grad sogar immer - wird die Gruppe von ihren Mitgliedern als etwas Oberindividuelles und von ihnen Verschiedenes erlebt und konstituiert. Ihre monolithische Einheit erfordert den Abbau individueller Unterschiede. Sie ist der verschlingende Moloch, dem man das Opfer seiner selbst darzubringen hat, oder auch die rettende Gottheit, die Quelle aller Sicherheit. Diese Gruppenmythologie ist in allen Gruppen - kleinen und großen, kurz dauernden und beständigen - gegenwärtig. Sie blieb nicht ohne Einfluß auf die Sozialwissenschaften selbst. Doch ist dies kein primäres Phänomen, sondern eine Reaktion, die aus der Abwehr der Trennungsangst und der authentischen Beziehung entsteht. Die Realität des Gruppenmythos ist die Angst, die er verdeckt. In der Ambivalenz gegenüber der Gruppe, die gleichzeitig gefürchtet, gehaßt und angebetet wird, kommt die Suche nach einer totalen Beziehung ohne Spaltung und Trennung zum Ausdruck, nach einer Beziehung, in der die Angst beseitigt ist. Dieser Mythos manifestiert die Unmöglichkeit, eine zum Scheitern verurteilte Liebe oder die Trennung von einer geliebten Person hinzunehmen. Der Konflikt zwischen dem Individuum und der überindividuellen Gruppe ist daher eine Konstruktion der Gruppe, eine Form des Gruppenlebens. Wollen wir sie verstehen, dürfen wir uns nicht selbst in diese Konstruktion verstricken, sondern müssen uns eine andere Konzeption der Gruppe zu eigen machen.
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7. Kapitel Possessive Liebe und Feindseligkelt
Dissoziation als primärer Abwehrprozeß
Wenn die Grunderfahrung mit ihrem bestimmenden Einfluß auf das individuelle und kollektive Verhalten letztlich eine V erknüpfung zweier gegensätzlicher Komponenten darstellt, nämlich der Liebe und des Trennungsgefühls, so besteht die am tiefsten gelegene Abwehr gegen sie in einem Prozeß der Dissoziation beider Komponenten 1. Die Dissoziation verläuft in zwei großen, komplementären Richtungen: zum einen in Richtung auf eine Liebe, die die Trennung verneint; diese nennen wir possessive Liebe. Zum andern in Richtung auf eine Trennung ohne Liebe; dies ist die Feindseligkeit. In beiden Fällen wird die Angst, also gerade das Zeichen der psychischen Einheit, eliminiert. Unter Angst verstehen wir hier die Angst als Gefühl bzw. als moralischen Schmerz angesichts der klar empfundenen und angenommenen Trennung. Die possessive Liebe eliminiert die Angst durch Ausschaltung der Trennung und durch den Aufbau des Mythos von einer Liebe ohne Fehler und Mißerfolg, die zur Fusion des Liebenden mit dem Geliebten führt. Die Feindseligkeit beseitigt die Angst durch Ausschaltung der Liebe, denn der Haß der anderen bzw. der eigene Haß gegen die anderen sind - so belastend sie auch sein mögen - in gewisser Hinsicht das geringere übel. Die schmerzlichste Erfahrung ist es, sich von denen, die man liebt, getrennt zu wissen. Dies ist tragischer als zu hassen oder verhaßt zu sein, d. h. eine Trennung ohne Liebe zu bejahen. Ebenso kann man sagen, daß es weniger schwer ist, den anderen zu töten als seinen Tod hinzunehmen, weniger schwer, sich selbst zu töten als zu sterben. Die Trennungsangst Zu vergleichen mit dem von Melanie Klein geprägten Begriff der Spaltung (splitting). Die Aufspaltung des Objektes in ein »gutes Objekt« und ein »böses Objekt« resultiert aus der Dualität der erotischen und destruktiven Triebe. Sie schützt das Subjekt vor dessen eigenen destruktiven Trieben, die sich auf das Objekt richten, von denen das Subjekt libidinöse Befriedigung erwartet. Was wir hier als Dissoziationsprozeß bezeichnen, ist nicht dasselbe. Dieser Prozeß resultiert nicht aus der Dualität von Trieben, sondern läßt diese Dualität entstehen. Er ist der Spaltung vorgelagert und bewirkt sie. 1
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ist nichts anderes als eben die Trennung, die als Schmerz empfunden wird, da sie von einem geliebten Wesen trennt. Deshalb erschien uns die Feindseligkeit nicht als primitiv, sondern als eine Abwehr- eine Abwehr der Angst und hier insbesondere der Liebe. Viel mehr als gegen ihren jeweiligen Gegenstand richtet sich die Feindseligkeit gegen die Liebe; diese sucht sie zu töten, vor ihr trachtet sie zu fliehen. Man kann daher sagen: von jenen beiden Elementen, die in der Angst vereinigt sind und ihr ihre Eigenart verleihen, Schmerz und Trennungsgefühl nämlich, unterdrückt die Feindseligkeit das erste, indem sie die Liebe unterdrückt, die possessive Liebe dagegen unterdrückt das zweite. Die Wege sind verschieden, Ziel und Ergebnis bleiben gleich: Ausschaltung der Angst. Hinter der Dissoziation steht somit die Abwehr der Angst und der ihr gleichwertigen authentischen Liebe. In der Dissoziation wird die Bindung zwischen den Menschen abgelehnt wegen der mit ihr verbundenen schmerzlichen Erfahrung. Die authentische Liebe und die Trennungsangst waren die Gefühlseinheit von Verbundensein, Liebe und Getrenntsein. Diese Einheit äußert sich im Mitgefühl für den anderen als Getrennten. Liebe und Angst waren untrennbar. Jetzt wird die eine wie die andere verleugnet. Daraus folgt eine Konfliktsituation. Die verleugnete Angst und (authentische) Liebe lassen die Gefühle, die an ihre Stelle getreten sind, die possessive Liebe oder die Feindseligkeit, nicht zur Ruhe kommen. Die possessive Liebe, die die Trennung verleugnet, wird von Trennungsangst befallen. Diese ist es, die im Hintergrund, in einem ständigen Hin und Her zwischen Bejahung und Verneinung, die possessive Liebe stimuliert und reaktiviert. Ebenso wird die Feindseligkeit, die den Trennungsschmerz verleugnet, von Mitgefühl gequält, was sich zunächst im Schuldgefühl widerspiegelt. Dieser Konflikt ist daher ein Konflikt zwischen dem Bestreben, der Grunderfahrung und dem ihr zugehörigen Schmerz zu entgehen, und dem konträren Bestreben, die Grunderfahrung zu suchen, da sie die Basis einer lebendigen Beziehung zu einem realen anderen und eines autonomen individuellen Lebens ist. Wir werden dies als einen dynamischen Konflikt bezeichnen. Er beeinflußt die Position des Bewußtseins auf der topalogischen Karte der Gefühle. Je mehr Angst und authentische Liebe verleugnet werden, desto unangefochtener behaupten sich Feindseligkeit und possessive Liebe. Werden dagegen Angst und Liebe teilweise bewußt, so bewegt man sich in die Richtung einer anderen Position, in der sich Feindseligkeit und possessive Liebe auflösen, um einer anderen Erfahrung Platz zu machen. 195
Es läßt sich nicht genau angeben, ob der Dissoziationsprozeß den Prozeß des dynamischen Konflikts bedingt oder umgekehrt. Von einem bestimmten Zeitpunkt an wird die Angst, statt eine Vertiefung und Umwandlung in Liebe zu erfahren, verleugnet, und der Dissoziationsprozeß beginnt in einer der beiden Richtungen, die ihm offenstehen, abzulaufen. Die Dissoziation selbst hält dann den Konflikt aufrecht und verlängert ihn. Zugegeben, dieser Gesichtspunkt löst das Problem des Ursprungs des dynamischen Konflikts nicht, und wir setzen uns dem Vorwurf aus, aus dem Konflikt nun eine nicht weiter rückführbare Realität zu machen, obgleich wir ihm diesen Charakter zuerst abgesprochen haben. Wie sind jene»Wendepunkte« in der Angsterfahrung zu erklären, an denen der Dissoziationszyklus einsetzt? Vielleicht sind wir zu der Annahme genötigt, daß es zwei Grundformen gibt, in denen die Trennungsangst erlebt werden kann: die Akzeptierung, die zur Vertiefung der Trennungsangst und zur Koexistenz der Gegensätze führt, und die Verleugnung, die zur Dissoziation führt. Selbst in diesem Fall stehen sich Verleugnung und Akzeptierung im dynamischen Konflikt als einer ursprünglichen und nicht rückführbaren Realität nicht wie zwei geschlossene Welten ohne Verbindung gegenüber. Es handelt sich um zwei Bewegungen, die auf dieselbe affektive Realität, die Trennungsangst, bezogen sind und von denen die eine die Trennungsangst abzuspalten und die andere sie zu integrieren trachtet. Der dynamische Konflikt ist durch einen statischen Konflikt zwischen possessiver Liebe und Feindseligkeit verdeckt und getarnt. Um ihn zu verstehen, muß man die Auswirkung der Dissoziation auf jede der durch sie abgespaltenen Komponenten, das Gefühl der Verbundenheit und das Gefühl des Getrenntseins, verfolgen. Die beiden Komponenten sind dergestalt umgeformt, daß sie ein antithetisches Gegensatzpaar bilden. Das Gefühl der Verbundenheit, welches das Trennungsgefühl nicht nur nicht ausschloß, sondern implizierte, verwandelt sich im Falle seiner Abspaltung in das Bedürfnis zu besitzen oder besessen zu werden, sich einzuverleiben oder einverleibt zu werden, kurz: zu fusionieren, womit die absolute Identität zwischen den Lebewesen postuliert wird. Das Gefühl, getrennt zu sein, das ursprünglich das Gefühl der Gemeinschaft der getrennten Wesen und daher das einer gewissen Identität derselben nicht ausschloß, wird nun zum Bedürfnis, zu vernichten oder vernichtet zu werden, was ein absolutes Anderssein impliziert. Doch weder die absolute Identität noch das absolute Anderssein können als Postulate aufrechterhalten werden. Sie werden von innen her ausgehöhlt. Man bedarf der Fusion, weil man identisch ist, aber wäre man es wirklich, bedürfte man ihrer nicht. Das Gefühl eines 196
Fehlers in der Identität, eines Andersseins, ist in der possessiven Liebe stets gegenwärtig. Es ist das Zeichen, daß die Trennungsangst nicht vollständig eliminiert werden konnte. Doch für das Anderssein ist in der possessiven Liebe kein Platz. Es kann nur durch vermehrten Besitzanspruch verneint werden, oder aber sich zu totalem Anderssein auswachsen und die Liebe in Haß umschlagen lassen. Das ist der Grund, warum in der possessiven Liebe das geringste Versagen des geliebten Wesens Anlaß zu leidenschaftlichen Wutausbrüchen sein kann, sei es in der gemilderten Form von »Liebesgezänk« oder in dramatischen Verbrechen und Selbstmorden. Ebenso ist das absolute Anderssein ständig durch das Gefühl der Identität bedroht. Würde ich denn hassen, wäre ich nicht irgendwie mit dem, was ich hasse, verbunden? Der Haß kann dann nur verstärkt werden oder völlig in possessive Liebe umschlagen. Wir sehen einerseits, wie die geleugnete Realität der authentischen Liebe und der Angst einen Gleichgewichtszustand der possessiven Liebe oder des Hasses verhindert, und wie andererseits, solange diese Realität nicht anerkannt wird, ein Hin- und Herschwanken zwischen possessiver Liebe und Haß, nicht aber eine Entwicklung zur authentischen Liebe stattfindet. Der Konflikt zwischen Liebe und Haß bietet Schutz vor der Bewußtwerdung der Trennungsangst, und er bewahrt vor dem dynamischen Konflikt zwischen dem Bedürfnis nach Beziehung und Individualität und der Furcht vor dem moralischen Schmerz der Trennung. Der absolute Gegensatz von possessiver Liebe und Haß erweist sich somit als Täuschung. Prüft man ihn nämlich genauer, wird die im Grunde bestehende Identität beider Komponenten sichtbar. Die Gier zu besitzen ist eine Form der Vernichtung, die Lust zu vernichten, eine Besessenheit. Beide sind verbündet im Bestreben nach Aufhebung des eigenen Ich und des anderen; beide trachten, die Unterschiedenheit auszulöschen, und unterdrükken dadurch das eigene Ich und den anderen. Beide lehnen die Beziehung ab; beide wollen nicht wahrhaben, daß das eigene Ich und der andere, Bindung und Trennung, Identität und Anderssein, Zärtlichkeit oder Mitgefühl und Unterschiedenheit in Koexistenz gegeben sind. Zum Abschluß fassen wir die Ausführungen über die Dissoziation und die mit ihr verbundenen Konflikte in einer schematischen Darstellung zusammen.
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authentische Liebe
Trennungsangst
bundenheil
possessive Liebe statischer Feindseligkeit (absolute Identität) ...~11------l~~ Konflikt ....,__ _.,..,. (absolutes Anderssein)
A) Die possessive Liebe
Besitz, Fusion, Fülle, Positivität
Dies ist ein Bestreben, das geliebte Wesen zu besitzen und sich einzuverleiben bzw. von ihm besessen oder einverleibt zu werden, bis hin zur vollkommenen Fusion des liebenden mit dem geliebten Wesen. Es herrschen Fülle ohne Leere und Positivität ohne Negativität. Dazu gesellt sich ein Gefühl vollkommener Gegenseitigkeit. Die Liebenden stehen unter dem Eindruck, sich gegenseitig alle ihre Wünsche und Neigungen zu befriedigen und am Ziel aller ihrer Hoffnungen, oder zumindest kurz davor, angelangt zu sein 2• Die Paradies-Illusion
Das will besagen: die possessive Liebe strebt nach Vollkommenheit; sie möchte das Unmögliche vollbringen. Sie ist der Nährboden aller Utopien. Die Liebenden sind Opfer dessen, was man die »ParadiesIllusion<< nennen könnte. Gerade in den Trainingsgruppen, deren Klima die Entstehung der possessiven Liebe außerordentlich begünstigt Die possessive Liebe läßt sich mit Bions (1971} »Paarbildung« (pairing} mit ihrer Nuance der »messianischen Hoffnung« vergleichen.
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(wir werden darauf noch zurückkommen), taucht das Paradiesthema fast unweigerlich auf, und zwar gegen Ende, wenn die drohende Trennung immer deutlicher ins Bewußtsein der Mitglieder tritt, gleichzeitig aber auf das heftigste abgewehrt wird. Die Gruppenmitglieder machen dann oft die Erfahrung eines unaussprechlichen Glücks, das ihnen durch ihre gegenseitige Liebe zuteil wird. Die Außenwelt mit ihren Zwängen und Grenzen ist vergessen. Alle Erinnerungen an ihr Vorhandensein oder, was dem gleichkommt, an die gruppeninternen Grenzen, vor allem aber jeder Hinweis auf die bevorstehende Trennung, werden abgelehnt oder rufen zumindest tiefe Bestürzung hervor. Die Grundlagen der Liebesillusion
Sartre bietet in seinem Buch »Das Sein und das Nichts« (1962) eme bemerkenswerte Analyse der Liebesillusion. Der Liebende erwartet vom Geliebten, daß er seine Existenz rechtfertige. Frei gewählt in jedem Detail seiner konkreten Persönlichkeit, seiner Stimme, seinem Temperament, seiner Haut, verliert der Geliebte seine Eigenschaft als nicht zu rechtfertigende Sache, sein Faktizität, wie Sartre sagt; er ist das Produkt einer Freiheit. »Dies ist der Grund für die Freude der Liebe, wenn sie vorhanden ist: uns in unserem Dasein gerechtfertigt zu fühlen« (S. 476). Ja noch mehr: durch die Vermittlung des Geliebten ist der Liebende durch seine eigene Freiheit gerechtfertigt. Denn er hat die Liebe frei gewählt. Somit verwirklicht er jenen unerreichbaren Traum, sich selbst zu begründen, »Vater seiner selbst« zu werden. Er hat sein eigenes Sein zurückgeholt, das im Bewußtsein anderer und in den unvorhersehbaren Wirkungen seiner Aktion verstreut war. Aber sein Entwurf ist widersprüchlich. Der Liebende bedarf der Freiheit des Geliebten, denn würde er nicht frei geliebt, hätte diese Liebe keinerlei Wert; gleichzeitig sucht er den Geliebten durch seine eigene Liebe zu fesseln. Er möchte eine Freiheit besitzen 3 • Doch sobald der andere ihn liebt und sich durch die Liebe »besitzen« läßt, entfremdet er seine Freiheit und verliert jenes Vermögen, von dem der Liebende alles erhoffte. Im Gegenteil, er verweist den Liebenden auf dessen eigene Freiheit, vor der dieser floh und die er beim anderen suchte. Auf den verzweifelten Ruf eines »Begründe mich, rechtfertige mich!« kann nur ein gleicher Verzweiflungsruf des anderen antworten. Lieben heißt Geliebtsein-Wollen; aber damit will der, den ich liebe nur, daß ich ihn liebe, und seine Liebe ist nicht die Antwort auf meine; meine Liebe 3
»Er will eine Freiheit als Freiheit besitzen« (Sartre, 1962, S. 471). 199
bleibt unbeantwortet, die Liebe des anderen ist nur sein Echo. Die Liebe ist »eine Illusion, ein Spiegelbild«, »eine Betrügerei und eine Verweisung auf die Unendlichkeit« (S. 483). Das Liebesprojekt stellt nach Sartre in seinem tiefsten Grund eine Flucht vor der Freiheit dar. »Wir finden hier tatsächlich das Ideal des liebenden lns-Werk-Setzens wieder: die entfremdete Freiheit« (S. 481). Denn nach Sartre ist die Freiheit eine Wahl angesichts der Welt, die dem Subjekt entgleitet, und angesichts der anderen, die ihrer Aktion einen anderen Sinn zuschreiben, als sie selbst. Die Liebe flieht vor der Freiheit, weil sie diese Distanz überbrücken möchte. Aber man könnte von der Liebe auch sagen, daß sie vor der Trennung flieht. Denn die Freiheit Sartres setzt das Wissen um die anderen und die Welt als unterschiedene und von einem selbst unabhängige Realitäten voraus. Im Grunde genommen besteht sie darin, daß das Bewußtsein von sich selbst als unterschiedenem Wesenangesichts der Welt und der anderen die Einsamkeit oder, besser noch, die Trennung annimmt. Es ist daher gleichbedeutend zu sagen, man sei auf der Flucht vor der Freiheit, wie man fliehe die Trennung. Der Entwurf des Liebenden, sein zerstreutes Sein wieder zu sammeln, bzw. »Vater seiner selbst« zu werden, gründet daher letztlich auf der Abwehr der Trennung. Dadurch schafft die Liebe eine noch schlimmere Einsamkeit als die frühere, denn es ist eine Einsamkeit ohne den anderen und - so könnte man sagen - ohne Subjekt: eine Einsamkeit, in der Liebender und Geliebter, miteinander eingeschlossen, nichts anderes tun, als sich das Bild ihrer eigenen Leere vorzuhalten. Damit stoßen wir wieder auf die uns bereits vertrauten Thesen. Unsere Analysen lassen sich ohne weiteres mit denen Sartres vereinbaren. In einem wesentlichen Punkt stimmen wir allerdings mit Sartre nicht überein. So richtig und profund uns seine Analyse der Liebe als die Analyse einer ihrer Modalitäten, nämlich der possessiven Liebe erscheint, so sehr lehnen wir sie ab, wenn Sartre die ganze Realität der Liebe auf diese Form reduzieren will, und dies scheint der Fall zu sein. Denn obschon die Trennung für Sartre eine anerkannte Tatsache ist, läßt sie doch keine echte Verbundenheit unter den Menschen entstehen. Für ihn sind zwischenmenschliche Bindungen illusorisch, wie im Fall der Liebe, oder feindselig und destruktiv, also verdinglichend {man erinnere sich nur an seine Analyse des Blickes!). Sartre, der sich der aggressiven Kehrseite zuzuwenden scheint, bekommt den Trennungsschmerz nicht in den Blick. Er trennt das Trennungsgefühl und den Schmerz, der diesem eigen ist - entsprechend dem Prozeß aggressiver Dissoziation. Doch läßt sich dann die Flucht nicht mehr verstehen,
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von der er spricht. Warum fliehen vor der Trennung, wenn sie uns im Grunde gleichgültig ist? Wenn damit die Flucht vor einer aggressiven Beziehung zum anderen gemeint ist, stellt uns das auch nicht zufrieden, denn alles weist darauf hin, daß die Aggressivität selbst nichts Erstes ist, sondern nach einem tieferen Beziehungspunkt verlangt. Unseres Erachtens bedeutet die possessive Liebe eine Abwehr der Trennungsangst, d. h. der authentischen Liebe. Diese Illusion ist das Zeichen einer Realität. Meine Angst, die ich auf den anderen projiziere, mag ihn noch verdecken, aber letztlich ist doch er es, den ich tastend suche und von dem ich zu meinem Schmerz getrennt bin. Unterdrückung des Andersseins und der Individualität. Narzißmus
Die Analyse Sartres läßt einen weiteren Punkt hinlänglich klarwerden: die possessive Liebe unterdrückt Anderssein und Individualität. Als entfremdete Beziehung kettet sie die Liebenden aneinander. Sie verbietet Autonomie und einsame Beschlüsse. Als auf Fusion gerichtete Beziehung kennt sie weder Verschiedenheit noch Opposition oder Konflikt. Es herrscht absolute Identität. Sie schafft ein Identifikationsverhältnis zwischen mir und dem anderen, in dem weder ich noch der andere als verschiedene, autonome Personen mit individuellen Besonderheiten existieren können. In der besitzergreifenden Liebe befinde ich mich nicht so sehr mit dem anderen in Kontakt, sondern mit meiner nicht durchschauten Angst, die ich auf ihn projiziere. Der andere verursacht mir Angst, wenn ich glaube, er verweigere mir seine Liebe, und gleichzeitig verschafft er mir Beruhigung, wenn ich glaube, er wende sie mir zu. Mein Verhältnis zu ihm kann nur ambivalent sein. Jede seiner Gesten wird von mir nicht in Hinblick auf die Bedeutung, die sie für ihn haben kann, gedeutet, sondern je nach meiner Stimmung und danach, ob meine Angst in diesem Augenblick gerade mehr oder weniger ausgeprägt ist. Es ist sogar möglich, daß eine Geste authentischer Liebe seinerseits meine Angst vergrößert und mich zu einer feindseligen Einstellung bringt, die ich dann ihm als einen Mangel an Liebe vorwerfe. Die possessive Liebe ist nämlich nicht wirklich um den anderen besorgt, sie flieht vielmehr echte Rücksichtnahme; sie verlangt zwar Liebesbeweise, kann aber nur schwer eine Geste spontaner Liebe ertragen. Auch der Kontakt mit mir selbst ist nicht real. Einerseits beuge ich mich im vorhinein dem anderen, und zwar: ohne es zu wissen, in ängstlicher und zugleich insgeheim aggressiver Manier; ich weigere mich, unabhängig zu existieren. Andererseits verbanne ich in der Beziehung zum Geliebten aus meinem Inneren alles Negative, die 201
Feindseligkeit, die Furcht und das Gefühl des Mißerfolgs. Ich pflege ein idealisiertes Bild meiner selbst, voller Güte, Stärke und Erfolg, das ich im anderen wiederfinde, ohne zu wissen, daß ich mein eigenes Idealbild in ihm wiederfinden möchte. Damit ist der narzißtische Charakter der possessiven Liebe hinreichend klargeworden, der schon in Sartres »Spiegelbild« angeklungen ist. Wohlverstanden: wir bezeichnen hier mit Narzißmus nicht eine wirkliche Selbstliebe, vielmehr beruht der Narzißmus auf einer teilweisen Ablehnung des eigenen Ichs. Der narzißtische Prozeß dürfte gerade darin liegen, daß ausgehend von einer Ablehnung seiner selbst und des anderen, in Verbindung mit der Abwehr der Trennungsangst, sich eine Beziehung zum anderen bildet, in der man ein idealisierteres Selbstbildnis beim anderen wiederzufinden trachtet. Mystik und Sexualität in der possessiven Liebe
Die possessive Liebe tritt in verschiedenen Formen in Erscheinung. Sie kleidet sich in die Form einer keuschen, romantischen Liebe ebenso wie in die Form sinnlicher Leidenschaft oder in die Form mystischer Liebe zur Gottheit. Trotz ihrer Verschiedenheit hängen diese Formen zusammen. Denis de Rougemont (1939) trifft hinsichtlich der LeidenschaftsLiebe oder der höfischen Liebe (wir werden sehen, daß es sich dabei um einen Begriff handelt, der dem der possessiven Liebe entspricht) die Feststellung, daß es ebenso verfehlt sei, sie auf die Sexualität zurückzuführen wie ihre sexuellen Elemente zu leugnen und sie auf eine Mystik zu reduzieren: »Die Leidenschafts-Liebe stellt uns vor folgendes Dilemma: in ihr nur Sexualität erblicken heißt, nicht wissen, wovon man spricht. Bringt man dagegen diese Liebe in Zusammenhang mit etwas Geschlechts/remdem, ergeben sich daraus die eigenartigsten Dinge« (1939, S. 120). Dieser Ansicht sind auch wir. Um es gleich zu sagen: diese Mischung von Sexualität und Mystik, die sich in der possessiven Liebe oder der höfischen Liebe beobachten läßt, findet ihre Erklärung nicht durch eine Rückführung auf eines der beiden Elemente, sondern durch eine Deutung beider in Relationsbegriffen. Die Liebenden erleben nicht in erster Linie ein mystisches oder ein sexuelles Abenteuer, sondern ein Beziehungsdrama, das seiner Natur gemäß notwendig mystische und sexuelle Aspekte umfaßt. Die possessive Liebe weist selbst in ihren nicht speziellen religiösen Formen stets einen gewissen mystischen Charakter auf, zieht sie doch eine Art Vergöttlichung des Geliebten nach sich. Einerseits wird dieser, wie wir gesehen haben, idealisiert. Andererseits wird er über den Rest 202
der Menschheit hinausgehoben, denn es handelt sich um eine privilegierte Beziehung, die den Liebenden und den Geliebten in einer abgesonderten Welt einschließt und alle verdrängten negativen Elemente auf die Beziehung zu den anderen Menschen abwälzt (vgl. den folgenden Abschnitt). Außerdem hat die Kommunikation der Liebenden untereinander etwas Geheimnisvolles. Sie ist umgeben mit einer Gloriole der Vollkommenheit. Räumliche und zeitliche Hindernisse scheint sie nicht zu kennen. Oft haben die Liebenden den Eindruck, in telepathischer Verbindung miteinander zu stehen und materieller Vermittler nicht zu bedürfen. Sie haben im seihen Moment den Wunsch, sich zu treffen, es überkommt sie gleichzeitig die Lust nach denselben oder nach sich ergänzenden Dingen usw. Diese sonderbaren Phänomene finden ihre Erklärung ohne Zweifel im Entfremdungs- und Narzißmuscharakter der possessiven Liebe. Jeder beugt sich im vorhinein den Wünschen des anderen; kaum daß ein Wunsch geäußert ist, glaubt er, diesen vorher schon selbst empfunden zu haben - eine Illusion des Wiedererkennens, in der ihn der andere in seinem Identitätsverlangen überdies sogleich bestärkt, indem er die Ähnlichkeit vervollkommnet, sofern das noch nötig ist. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß die Liebenden in dem Bestreben, sich zu gefallen, eine sehr große Sensibilität für die realen Wünsche des anderen entwickeln und diese im vorhinein mit Bestimmtheit anzugeben vermögen. Wir sollten schließlich nicht vergessen, daß diese Illusion vollkommener Kommunikation auf einer Realität beruht. Die Sensibilität füreinander äußert sich zwar in einer entfremdeten und verzeichneten Weise in der Unterwerfung und dem Verlangen nach Identität, ist deswegen aber nicht weniger real vorhanden. Sie kommt gerade dadurch zum Ausdruck, daß die beiden Liebenden im selben Augenblick in dieser besonderen Form der Entfremdung übereinstimmen. Es ist nicht verwunderlich, daß sie sich durch ein Band besonderer Art verbunden fühlen. Die »telepathische<< Kommunikation, in der sich die Liebenden miteinander zu befinden glauben, ist ein entstelltes und verzeichnetes Abbild der sie in Wahrheit verbindenden Beziehung.4 4 Unmittelbare Beziehung und Telepathie sind wohl zu unterscheiden. Als wir im 5. Kapitel die unmittelbare Beziehung besprachen, betonten wir, daß die Beziehung zum anderen vor der materialen Interaktion mit ihm besteht und diese bestimmt. Der andere könnte mir nie als anderer gegeben sein, wenn ich ihm nicht schon zugewandt wäre und ihn nicht wiedererkennen würde, sobald er da ist. Dieser andere, dem ich mich zuwende, ist schon ein konkreter; er hat eine von der meinen verschiedene Realität. Aber ich habe kein detailliertes Wissen von ihm. Praktisch lerne ich ihn natürlich erst durch den materialen
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Von der Sexualität sagten wir, sie bilde durch die Erfahrung der körperlichen Individuation und der individuellen Lebensgeschichte eine bevorzugte Erfahrung der Trennung. Jede Modalität der Liebe wird notwendig einen sexuellen Aspekt aufweisen, was jedoch nicht bedeutet, die Liebe ließe sich auf die Sexualität beschränken. Auch darin stimmen wir mit Sartre überein: »Man sagt, der Mensch sei ein sexuelles Wesen, weil er ein Geschlecht besitzt. Wenn das Geschlecht nur das Werkzeug und gleichsam das Büd einer grundlegenden Sexualität wäre? Wenn der Mensch ein Geschlecht nur besäße, weil er ursprünglich und von Grund aus ein sexuelles Wesen ist, insofern er in der Welt in Verbindung mit anderen Menschen existiert?<< (Sartre, 1962, S. 491). Die possessive Liebe äußert sich sexuell auf zwei Weisen, Verleugnung und Überbewertung, die beide aus der Verleugnung der Individualität und der ihr eigenen Trennung hervorgehen. Die romantische Liebe oder die mystische Askese fliehen, verleugnen, »vergessen<< den Körper. Dieser Verzicht auf den Körper ist selbstverständlich relativ; im Vokabular und in infantilen und perversen sexuellen Praktiken aller Art rächt sich die unterdrückte Sexualität. Darin sehen jene, die in der mystischen Liebe eine Sublimierung der verdrängten Sexualität erkennen wollen, ein Argument. Wir pflichten dem bei, glauben aber, daß gerade die Verdrängung der Sexualität erklärungsbedürftig ist. Diese ist zuerst durch die Verleugnung der Individualität bedingt, für die sie ein Symbol ist. Das umgekehrte Phänomen begegnet uns in der sinnlichen Leidenschaft: der Körper wird überbewertet. Doch dies ist nur eine andere Art, ihn zu verneinen. Betrachten wir das Verhalten von Liebenden: sie können voneinander nicht mehr loskommen, nie sind sie befriedigt, stets erwacht ihr Verlangen von neuem; sie kosten es in all seinen Formen aus und gebrauchen ihre Körper auf alle nur erdenklichen Weisen - im Grunde treiben sie Mißbrauch damit. Sie tun ihren Körpern Gewalt an, als wollten sie deren Grenzen verspüren. Sie zeigen damit ihre Unfähigkeit, die zwischen ihnen bestehende Distanz und Trennung zu akzeptieren, und das Bedürfnis, sie durch ihre Körper um jeden Preis vergessen zu machen. Sie lehnen ihre Körper insofern ab, als er Umgang kennen. Das Beziehungsgeschehen zwischen uns beiden entwickelt sich von dem Augenblick an, da ich material mit ihm interagiere. Die praktische Kenntnis des anderen kommt nur mühsam und stückweise im Verlauf des Identifizierungs- und Entfremdungsprozesses zustande, in den wir uns gemeinsam, jeder mit seinen besonderen Nuancen, einlassen und der so zugleich unsere individuelle Persönlichkeit und das uns einigende Band sichtbar werden läßt.
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sie an ihre Individualität und Trennung erinnert. Gewiß ist dies alles gleichzeitig ein Mittel, ihre Körper in Besitz zu nehmen, sich seiner selbst, seiner Individualität und Geschichte bewußt zu werden, kurz: an seine Grenzen zu stoßen. Aber diese Bewußtwerdung ist noch eingeschlossen in der possessiven Liebe. Aktuell wird sie nur um den Preis unzähliger Schmerzen und der Anerkennung der verleugneten Angst. Dann jedoch entwachsen die Liebenden der possessiven Liebe. Objekte der possessiven Liebe
Die possessive Liebe kann sich mannigfachen Gegenständen zuwenden: einem Individuum, einer Gottheit, einer Lehre, einer Kleingruppe, einer Institution (politische Partei, Unternehmen, der Staat usw.), ja sogar einem größeren Kollektiv {Frankreich, Europa usw.). Bei Gruppe, Institution und Kollektiv handelt es sich um Gruppen (im weiteren Sinne), die man als geschlossene auffaßt und die man dem Rest der Menschheit, dem sie überlegen sind, gegenüberstellt. Die privilegierte Beziehung
Ein weiteres Kennzeichen der possessiven Liebe: zwischen dem Liebenden und dem Geliebten herrscht eine Beziehung der Bevorzugung. Die possessive Liebe konzentriert sich ganz auf ihr Objekt. Ihr Geliebter ist der einzige, der allein Liebenswerte. Schon das genügte, sie von der authentischen Liebe zu unterscheiden, die in Abstufungen und auf verschiedene Weise für die gesamte Wirklichkeit offen ist. In der possessiven Liebe bilden sich zwei stark kontrastierende Einstellungen heraus: die zum Geliebten und die zu den anderen, die mit Feindseligkeit, Argwohn oder Gleichgültigkeit betrachtet werden. Es ist dies eine Auswirkung des Dissoziationsvorganges. Man könnte auch sagen: in der possessiven Liebe ist die Wahrnehmung des anderen nur grob differenziert, es fehlen ihr die Nuancen; die authentische Liebe führt dagegen zu einer subtilen Differenzierung in der Wahrnehmung des anderen. Possessive Liebe und Trennungsangst
Wir zählten bisher nur die bewußten oder halbbewußten Aspekte der possessiven Liebe auf, ihre relativ erhellten Bezirke. Doch es gibt Schattenzonen, die ihre Dynamik tiefer erklären. Die possessive Liebe wird verfolgt von der Trennungsangst Diese ist es, die stets gegenwärtig, stets aufs heftigste abgewehrt und verneint,
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den verzweifelten Fusionsversuch der Liebenden erklärt. Kaum vertrieben setzt sie von neuem ein, und der Fusionsversuch macht - entsprechend den wohl bekannten Abwehrprozessen - ihr Vorhandensein nur um so ersichtlicher. Es ist ein Hin und Her, ein tragisches Spiel. Die Liebenden spielen mit der Trennung, verneinen sie, nähern sich ihr von neuem, und das Ganze beginnt von vorne. Die possessive Liebe tritt vornehmlich in solchen Situationen in Erscheinung, in denen das Getrenntsein besonders ausgeprägt ist. Es kann sich handeln um Trennungen sozialer Art: Ehebruch, Klassen, und Standesunterschiede, Sprachbarrieren, Nationalitätsunterschiede; um physische Trennung: Reisen, briefliche Liebesverhältnisse usw.; oder um biologische Trennung: Altersunterschiede (Lolita), Liebe zu Kranken, Tieren usw. Wir müssen hier die eindringlichen Analysen Denis de Rougemonts wieder aufnehmen. Ausgehend vom Tristan-Mythos, dem Gipfel einer religiösen und mystischen Tradition, die in der Romanliteratur und den abendländischen Sitten ihre Fortsetzung findet, zeigt er zuerst auf, wie sich die Liebe zwischen Tristan und lsolde nicht trotz, sondern wegen der Hindernisse bewährt. Sie nährt sich vom Hindernis und richtet Hindernisse auf, wo es daran fehlt: das Keuschheitsschwert trennt im Wald die Körper auf unerklärbare und unerklärte Weise; Tristangibt Marke die Königin zurück, aber die beiden Liebenden versprechen einander, sich wiederzusehen, und zwar in dem Augenblick, in dem sie ihre Trennung auf sich nehmen (1939, S. 24). Rougemont macht klar, daß die Liebenden nicht sich (vgl. weiter oben die Verneinung des Andersseins), sondern die Liebe selbst lieben. Tiefer gesehen, verrät die Suche nach dem Hindernis (insbesondere einem so symbolischen wie dem Keuschheitsschwert) das geheime und uneingestandene Ziel der Leidenschaft: den Tod. Allein im Tode finden Tristan und lsolde die Erfüllung ihrer Suche. »So stellt diese Vorliebe für das gewollte Hindernis eine Bejahung des Todes, einen Fortschritt in Richtung auf den Tod dar, allerdings einen Liebestod, einen freiwilligen Tod am Ende einer Reihe von Prüfungen, aus denen Tristan geläutert hervorgehen wird, einen Tod, der eine Verklärung, nicht ein brutaler Zufall sein soll. Es geht daher stets darum, das äußere Schicksal auf ein inneres zurückzuführen, das von den Liebenden frei angenommen wird . . . Die Liebe zur Liebe selbst verschleierte eine furchtbare Leidenschaft, einen zutiefst unaussprechbaren Willen, der sich nur in Symbolen wie dem des nackten Schwertes oder der gefahrvollen Keuschheit >verraten< konnte. Ohne es zu wissen, verlangten die Liebenden nie etwas anderes als den Tod. Ohne es zu wissen, suchten
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sie in ihrem leidenschaftlichen Irrtum stets nur Erlösung von und Vergeltung für >das, was sie erlitten<: der aus dem Zaubertrank stammenden Leidenschaft. Der Wille zum Tode, die aktive Leidenschaft der Nacht diktierte ihnen in ihrem tiefsten Innern ihre schicksalhaften Entscheidungen« (S. 37). Diese Stelle ist von zentraler Bedeutung. Wir sehen nicht nur das Ziel der Leidenschaft, den Tod, sondern auch die Entstehung dieses Zieles. Das aktive Suchen des Todes, aus dem die Leidenschaft entsteht, ist nicht das Erste, sondern ist in einer noch ursprünglicheren Weigerung begründet, den Tod hinzunehmen. Der »freiwillige« Tod tritt an die Stelle des erlittenen. In unserer Sprache würden wir sagen: aus der Ablehnung der Trennungsangst wird ein aktives Suchen der Trennung. Das verleugnete »Gefühl« des Todes führt zum Verlangen nach dem Tod. Der Vorgang selbst erzeugt die Feindseligkeit. In diesem Punkt stimmen wir vollkommen mit Denis de Rougemont überein. Er bestätigt unsere Annahme, daß die Feindseligkeit ein sekundäres Phänomen ist. Die Feindseligkeit- sei sie nun gegen sich selbst oder gegen den anderen oder gegen beide gerichtet - ist also im Herzen ihres Widerparts, der possessiven Liebe zugegen. Ihre Gegenwart ist verborgen und uneingestanden, wenn es sich um das Liebespaar handelt, während sie dem Rest der Menschheit gegenüber klar erkennbar ist. (Tristan ist ein wesentlich destruktiver Held, und es ist bekannt, wieviel Raub und Erpressung das von ihm verkörperte Ritterideal beschönigte.) Die Umwandlung in Feindseligkeit ist nur eine jener Umwandlungen, von denen die Trennungsangst in der possessiven Liebe betroffen wird. Vor dieser radikalen Umwandlung liegt eine andere, die die erste in etwa vorbereitet: einerseits konkretisiert sich der moralische Trennungsschmerz, indem er sich auf die Person des Geliebten zentriert (Phänomen der privilegierten Beziehung), andererseits verschlimmert er sich und wird zu einem unerträglichen Leiden. Es bleiben nur zwei Auswege: Feindseligkeit unter dem Schleier der Leidenschaft oder offene Feindseligkeit, welche die possessive Liebe ablöst. Der erste Ausweg führt zum Tod (Mord, Selbstmord aus Liebe) oder er mündet in den zweiten ein (Bruch). Einen dritten und konstruktiven Ausweg gibt es zwar, er setzt jedoch die Annahme der abgewehrten Trennungsangst voraus. In manchen Ehen beruhigt sich die Leidenschaft im Laufe der Jahre, was oft beklagt wird; es ist aber nicht auszuschließen, daß dies dem dritten, wesentlich konstruktiven Vorgang zuzuordnen ist. Auf eine letzte Übereinstimmung meiner Auffassungen mit denen Denis de Rougemont möchte ich noch hinweisen. Er vergleicht die 207
Liebe Tristans mit dem platonischen Eros und der religiösen Sehnsucht nach der Einheit: »... die Liebe ist der Weg, auf dem man über Stufen der Ekstase zu dem einzigen Ursprung alles Seienden aufsteigt; fern von Körper und Materie, fern von allem, was trennt und unterscheidet, jenseits des Unglücks, man selbst und zwei zu sein, selbst in der Liebe. Der Eros ist das totale Verlangen, die lichtvolle Sehnsucht, das ursprüngliche religiöse Streben in seinem stärksten Vermögen und seinem höchsten Anspruch auf Reinheit, der ein höchster Anspruch auf Einheit ist« (S. 48, Hervorhebung M. P.). Besser könnte man es nicht ausdrücken, daß der Eros, von dem Rougemont spricht, die höfische Liebe, die romanhafte Leidenschaft, das, was wir possessive Liebe nennen, wesentlich auf Fusion gerichtet und letztlich durch eine Abwehr des Trennungsgefühls motiviert ist. Possessive Liebe und Libido
Ist dieser Eros derselbe, von dem auch Freud spricht; ist er dasselbe wie die Libido? Bekanntlich hat der Libido-Begriff mannigfache Bedeutungen, von denen keine sehr klar ist. Zudem erschwert seine bald biologisierende, bald mechanistische Formulierung die Übertragung in eine beziehungsorientierte Sprache. Trotzdem ist die Tendenz des Begriffes eindeutig, und wir können die Frage mit Ja beantworten. Sowohl die Libido als Lustprinzip wie auch die Libido als Vereinigungsund Fusionsstreben der späteren Perioden sind geschlossene Begriffe. Sie setzen Fülle und Positivität sowie ein Objekt voraus, das dem Trieb volle Befriedigung verschafft, mithin ein besessenes Objekt. Das berechtigt uns, die Libido mit possessiver Liebe gleichzusetzen. Gewiß. im Denken Freuds gibt es Unstimmigkeiten und Widersprüche. Ein Zeichen dafür ist etwa das in »Jenseits des Lustprinzips« feststellbare Schwanken zwischen einer Definition der Libido im Sinne der Fusion und einer Definition im Sinne der Vereinigung, wovon die letztere zu einer Konzeption der Liebe zum anderen als einem unterschiedenen Wesen führen könnte. Noch eindeutiger in dieselbe Richtung weist -trotz ihrer mechanistischen Formulierung-die Definition der Libido als freie Energie, die sich der Nivellierung der Spannungen entgegensetzt und Unterschiede aufdeckt. Aber es handelt sich dabei lediglich um keimhafte Ansätze. Die Majorität der Freudianer hält sich, darin bestärkt durch die psychoanalytische Tradition, in der von uns angegebenen Richtung: sie neigen dazu, als Grundprinzip der Psyche und als oberste Leitungsinstanz des Verhaltens ein Streben nach Fusion einzusetzen, das der possessiven Liebe gleichkommt. 208
Der Vergleich mit der possessiven Liebe trifft insbesondere für die ursprünglichste Form der Libido, die orale Libido, zu. Das Verlangen nach Einverleibung, das Streben nach Verschmelzung mit der Mutter, die orale Ambivalenz, die unterschwellige Aggressivität gegenüber der Mutter - alle diese von der Psychoanalyse innerhalb des weiten Bereiches der Oralität beschriebenen Phänomene gehören zur possessiven Liebe. In Trainingsgruppen, einem Boden, auf dem die possessive Liebe besonders gut gedeiht, läßt sich orales Material in Fülle beobachten: das Thema der Geburt, die Identifizierung mit dem Trainer als Mutter, die direkten oder indirekten Anspielungen auf die mütterliche Brust sind konstant. Der Gruppentherapeut Bion kam, wie man sich erinnern wird, zu dem Schluß, daß die Gruppensituationen ihre Erklärung vorwiegend in Konflikten oraler Natur finden. Die Gleichsetzung von Libido, zumindest in bestimmten Bedeutungen, und possessiver Liebe bestätigt, was wir am Ende des vorigen Kapitels sagten: die Libido, jedenfalls die fusionale, ist nicht ein primäres Phänomen, wie die Psychoanalyse behauptet, sondern ein sekundäres. Das ergibt sich unmittelbar aus unseren Folgerungen über die Entstehung der possessiven Liebe als Abwehr gegen Trennungsangst und authentische Liebe. Demnach wäre die Sexualität, wie Freud sie versteht, nämlich als Streben, ein Objekt zu besitzen und mit ihm zu verschmelzen, ein abgeleitetes Phänomen. Es geht uns also nicht darum, die Existenz der Sexualität, so wie Freud sie beschreibt, zu leugnen, wir lehnen es jedoch ab, in ihr etwas Ursprüngliches zu erblicken. Im Gegenteil, die biologistische Sprache Freuds und sein Versuch einer pansexuellen Reduktion lassen sich jetzt klar als Abwehr interpretieren. Schließlich ist es klar, daß das eben Gesagte in erster Linie für die (im Freudschen Sinne) ursprünglichsten Formen der Sexualität, d. h. für die orale Libido, gilt. Die infantile Sexualität muß jetzt als eine Abwehr interpretiert werden. Die Beziehung des Säuglings zur Mutter erscheint uns nicht mehr als ein Urphänomen, sondern als Abwehr gegen eine Erfahrung der authentischen Beziehung. Wir wissen natürlich, wie häretisch derartige Formulierungen vom Standpunkt der Psychoanalyse aus erscheinen müssen. Aber wir möchten keinen Schritt unseres Gedankenganges und keines der damit vielleicht verbundenen Probleme verschweigen. überdies sind wir der Meinung, daß sich die Unklarheiten und Widersprüche der Psychoanalyse nicht durch verworrene Kompromisse beseitigen lassen, sondern nur durch eine völlige Neugestaltung der Konzepte, in denen sie begründet ist. Man muß insbesondere wohl zugeben, daß die Psychoanalyse das Problem der Fusion nie geklärt hat. Ist die Fusion ein (im chronologischen
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Sinn) primitives Phänomen und gleichzeitig ein Prirnärphänornen, das zur Erklärung des gesamten menschlichen Verhaltens herangezogen werden kann oder nur das erste? Wenn sie nur ein primitives Phänomen ist, welches Erklärungsprinzip tritt dann an ihre Stelle, und wie hat man sich die Entstehung des Verhaltens vorzustellen? Daran knüpft sich die weitere Frage: Ist das Fusionsstreben rückführbar auf etwas anderes? Ist es eine Prirnärtendenz, so scheint es nicht rückführbar zu sein. Doch versteht man dann nur schwer die Entwicklung des Menschen, zumindest erscheint sie brüchig. In einer aufschlußreichen Arbeit über die >>präobjektale Welt« weist S. Nacht darauf hin, daß der Psychoanalytiker bei bestimmten Personen auf ein irreversibles Streben nach Fusion mit der Mutter stößt, und zwar dann, wenn seine Analyse in die tiefstmöglichen Bereiche vordringt (Nacht, 1959, 52-60). Diese offenbar sehr gefährliche Tendenz kann beim Patienten zu einer Realitätsflucht, ja sogar zum Selbstmord führen, und Nacht gibt den Rat, eine Erkundung solcher Tiefen zu vermeiden. Die Bemerkung Nachts macht deutlich, daß die Tendenz zur Fusion in seiner Vorstellung primär ist, die Basis der Psyche bildet und die anderen Tendenzen dagegen nur Oberstrukturen und Derivate bilden. Diese Hypothese fügt sich logisch in den Hauptstrom der Psychoanalyse ein. Doch gleichzeitig läßt uns das aufrichtige Eingeständnis Nachts gewisse theoretische und praktische Grenzen der Psychoanalyse mit Händen greifen. Wenn nämlich die Fusionstendenz einen reaktiven Charakter hätte, wie wir glauben, so wäre die Erklärung Nachts hinfällig, und wir müßten eine andere praktische Lösung für das Problem, das er aufwirft, suchen als die, es zu vermeiden. Um uns klar auszudrücken: wir leugnen weder die Realität der Fusionstendenz noch die Tatsache, daß sie gelegentlich sehr dramatisch in Erscheinung treten kann (wir glauben im Gegenteil, daß sie der Entstehungsherd größter Schwierigkeiten in Psychotherapie und Training ist), aber unserer Ansicht nach läßt sich diese Tendenz abbauen, was durch eine bestimmte Einstellung des Therapeuten oder Trainers erleichtert werden kann. Diese Einstellung verlangt vorn Therapeuten oder Trainer, daß er selbst die Gefahr der Fusion auf sich nimmt, statt abwehrend vor ihr zu fliehen und sich dem Patienten oder Klienten gegenüber in eine freie und vertrauende Beziehung einläßt, die diesen spüren läßt, daß Intimität nicht notwendig Fusion bedeutet und daß der verzweifelte Versuch, eine Beziehung herzustellen, der die Fusionstendenz ausmacht, nicht notwendig unbeantwortet bleiben muß. Der Fusionsversuch - stets auch ein Versuch, mit dem Trainer oder Therapeuten zu fusionieren - bringt dessen stärkste Abwehrmechanismen ins Spiel. Der Klient bestätigt indirekt 210
seine echte Liebe zum Therapeuten und gleichzeitig seine schmerzlichsten Zweifel an der Möglichkeit einer solchen Liebe; er sagt gleichsam zum Therapeuten: stimmt es, daß wir uns erst im Tode lieben können? Diese Frage mobilisiert beim Therapeuten oder Trainer, der nicht bereit ist, den Klienten wirklich zu lieben, seine eigenen Fusions- oder Aggressionstendenzen, seine primären Abwehrmechanismen. Entweder er erliegt der Fusionsillusion oder, wenn er erfahrener ist, reagiert er mit einer Verhärtung und sorgt für mehr Distanz zwischen sich und dem Klienten, indem er etwa die Fusionstendenz historisch interpretiert. Diese Einstellung wird in dem Augenblick, da der Klient ängstlich seine Liebe äußert, unweigerlich als Zurückweisung empfunden, und das ist sie auch. Wir sind der Meinung, daß die theoretische Unsicherheit der Psychoanalyse hinsichtlich der Fusion, die Tatsache, daß die Psychoanalyse aufs ganze gesehen nicht gewillt ist, in der Fusion eine Abwehr gegen die echte Liebe zu sehen, von großer praktischer Bedeutung ist. In ihrer Verhaftung an eine fusionale Auffassung der Liebe wehren die Psychoanalytiker eine Beziehung authentischer Liebe zum Klienten ab, da sie in ihr stets eine mehr oder weniger große Fusionsgefahr für den Klienten und (unbewußt) für sich selbst erblicken. Das ist unseres Erachtens der eigentliche und unbewußte Entstehungsgrund aller analytischen Reglementierungen, insbesondere der Abstinenzregel, die es verbietet, dem Klienten Ersatzbefriedigungen zu gewähren (und in gewisser Hinsicht auch dem Klienten manche Befriedigungen verbietet), der wohlwollenden Neutralität, des Vorrangs der Deutung als Veränderungsinstrument, der Einschränkung des Agierens durch die Deutungen, der autoritären Festsetzung der Sitzungszeiten durch den Analytiker, der Ausbildungsregeln für die Analytiker selbst- allgemein gesagt: aller jener Elemente in der psychoanalytischen Methode, die in einengender Weise die Aktivität des Klienten und des Therapeuten strukturieren und kanalisieren. Die wichtigste Funktion dieser Tabus und Zwänge, die der Analytiker dem Klienten und sich selbst auferlegt, besteht darin, die Spontaneität des Dialogs in Grenzen zu halten und zu vermeiden, daß dieser »zu weit geht« (d. h. bis zum Bewußtwerden der gegenseitigen echten Liebe), und den Analytiker vor dem Eingeständnis seiner Liebe zum Klienten zu schützen. Selbstverständlich »rationalisiert« die Psychoanalyse diese Methode auf andere Weise (im wesentlichen dadurch, daß sie sagt, man müsse unbedingt vermeiden, den Patienten in seiner Neurose durch eine komplementäre Gegenneurose des Analytikers zu fixieren), doch macht sie gerade damit ein Eingeständnis und zeigt ihr Mißtrauen gegenüber der spontanen Reaktion 211
des Analytikers, d. h. analytisch ausgedrückt, einen nicht analysierten Abwehrmechanismus. Wir erinnern auch an das so bezeichnende Geständnis Freuds, der erklärte, einer der Gründe, warum er den Klienten sich auf eine Couch legen lasse und ihm den Rücken zukehre, sei der, daß er den Blick der Patienten nicht acht Stunden täglich ertragen könne. Nach unserer Ansicht beruht die ganze psychoanalytische Methode, in ihren zwanghaften und einschränkenden Aspekten, auf einer nicht analysierten Fusionsangst. lJ"nd das ist um so schwerwiegender, als die Psychoanalyse alle ernstzunehmenden Veränderungsmethoden in den Humanwissenschaften, namentlich die Psychosoziologie, maßgeblich beeinflußt hat. Neuerdings gibt es zwar zaghafte Versuche, diese Zwänge und Einschränkungen zu mildern, vor allem in der jungen Disziplin der Psychosoziologie und selbst innerhalb der Psychoanalyse, doch mangels hinlänglicher theoretischer Erhellung treffen sie nicht den Kern des Problems. Es ist hier nicht der Ort, uns in eine detaillierte methodologische Diskussion einzulassen. Wir werden dies an anderer Stelle tun. Aber wir mußten darauf hinweisen, daß wichtige methodische Fragen und das Problem des Verhältnisses zwischen Fusion und authentischer Liebe sehr eng zusammenhängen. Dieses Problem ist Freud übrigens nicht völlig entgangen. Seine Unschlüssigkeit angesichts verschiedener Auffassungen der Libido, zwischen einer fusionalen Libido und einer die Unterschiede aufdeckenden, »anti-entropischen« Libido, ist ein Zeichen dafür. Aber er arbeitet den radikalen Gegensatz zwischen beiden Auffassungen nicht heraus, insistiert nicht auf dem Problem und zieht keine Schlußfolgerungen. Es ist leicht einzusehen, warum: wäre das fundamentale und erste Erklärungsprinzip des Verhaltens, die Libido, nicht fusionaler Natur, bestünde es - überspitzt formuliert - in einer authentischen Beziehung zum anderen, so müßten alle (im chronologischen Sinn) primitiven Formen des Verhaltens wie Oralität, Analität usw. mit ihm verknüpft werden. Das chronologisch Erste wäre nicht mehr auch das kausal Erste. Die Entwicklung erklärte sich nicht mehr durch ihre primitivsten Anfänge, sondern durch ihr Ziel, das allen ihren Phasen gewissermaßen präexistent zugrunde läge. Die Reduktion der späteren Glieder in der Entwicklungsreihe auf die früheren wäre nicht mehr möglich. Mit einem Schlag würde die ganze Freudsche Konzeption der historischen Entstehung des Verhaltens hinfällig und müßte durch eine existentielle Konzeption der Entstehung und eine neue Konzeption der Geschichtlichkeit ersetzt werden. Auch die Begriffe der Sublimierung, der Genitalität und viele andere wären hinfällig. Die psychoanalytische Praxis wäre davon zutiefst betroffen: das Bewußtwerden der verdrängten ge212
genwärtigen existentiellen Erfahrung gewänne die Oberhand über die Analyse der Vergangenheit (diese wäre nur ein Zugang zu jener und nicht umgekehrt), die echte Liebe zwischen Therapeut und Patient wäre nicht mehr nur ein vorübergehender Obertragungseffekt, sondern würde zu einer bleibenden Grundlage der Analyse; der Ausdruck dieser Liebe in allen ihren Formen würde legitim, soweit er ihr ermöglichte, sich auf weniger abwehrende Art zu äußern, und der Dialog würde nicht mehr in eine ausschließlich analysierende und intellektualisierende Tätigkeit kanalisiert werden. Die Psychoanalyse insgesamt -oder sagen wir lieber, die Theorie der Veränderung- müßte theoretisch und praktisch auf neuen Grundlagen rekonstruiert werden. Gruppen und possessive Liebe
Die Gruppensituation scheint das Auftreten der possessiven Liebe zu begünstigen; dies trifft zumindest unter bestimmten Umständen zu. Hinsichtlich der Trainingsgruppen wiesen wir bereits auf das nahezu konstante Phänomen der »Paradies-Illusion« hin 5• Bisweilen läßt sich bei den Teilnehmern, ja sogar den Trainern geradezu eine Flucht vor der Realität feststellen. Ich erinnere mich an ein gruppendynamisches Seminar, bei dem ich selber dieser Versuchung erlegen bin. Das Seminar umfaßte mehrere Gruppen. In der Gruppe, die ich leitete, herrschte ein ganz außergewöhnliches Gefühl tiefen gegenseitigen Verstehens. Gleichzeitig fühlten sich die Mitglieder den anderen Gruppen klar überlegen; ebenso erging es mir bezüglich der anderen Trainer. Unser aller V erhalten war entsprechend arrogant, ironisch und provozierend. Einmal hatte ich sogar das eindeutige Gefühl, daß diese Gruppe die einzige vollkommene menschliche Wirklichkeit darstellte, die ich je erlebt hatte, und daß die Außenwelt im Vergleich zu ihr ein sehr blasses und schemenhaftes Dasein fristete. Es bedurfte der energischen Intervention eines Kollegen, der in unserer Trainergruppe die Rolle eines Beraters innehatte, um mich wieder auf den Boden der Realität zurückzuholen. Er mußte mich fast dazu zwingen, mich wieder mit den realen Beziehungen innerhalb der Trainergruppe, von denen ich nichts wissen wollte, auseinanderzusetzen. Ich erinnere mich, in meinem Gespräch mit ihm das Bild eines tief untergetauchten U-Bootes (ich und meine Gruppe) verwendet zu haben, das durch ein Hörrohr mit der Benne (1972, S. 214 f.) spricht von einer »Flitterwochen«-Periode« (honeymoon period), Bennis, 1972, S. 282 f. beschreibt eine ähnliche Phase, die vom »Mythos universaler Harmonie« geprägt ist. 5
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Oberfläche verbunden ist: »Ich bin froh, daß es dieses Hörrohr gibt«, sagte ich zu ihm, »und ich möchte, daß du am anderen Ende wartest und antwortest, wenn ich rufe; aber ich will nicht, daß du selbst zu rufen anfängst.« Schließlich war ich aber doch froh, daß er mich rief. Alle Symptome der possessiven Liebe liegen hier vor: die Isolierung in einem unaussprechlichen und vollkommenen Glück, die privilegierte Beziehung, die unbewußte und verdrängte Feindseligkeit gegen die anderen, das V erlangen, sich von der Welt abzusondern. Das Bild des V-Bootes und des Hörrohrs bringt wahrscheinlich vorgeburtliche Mutterleibsphantasien zum Ausdruck, die völlige Rückkehr zur Mutter, die ja mit der possessiven Liebe verbunden ist. Als sehr tief gelegener primärer Abwehrmechanismus mobilisiert die besitzergreifende Liebe die ganz frühen und archaischen Abwehrhaltungen. Parallel zu diesen Erscheinungen kann man in gruppendynamischen Seminaren sehr oft beobachten, daß es unter den Teilnehmern zu Bindungen kommt, platonischer Art oder auch nicht, die den leidenschaftlichen oder überschwenglichen, ins Mystische tendierenden Charakter possessiver Liebesbeziehungen annehmen. Nur wer selbst die Erfahrung einer Trainingsgruppe gemacht hat, hat eine Vorstellung von der Intensität dieser Phänomene, die in nur wenigen Tagen entstehen und dennoch das ganze Leben der Teilnehmer beeinflussen können. Sie stellen ohne Zweifel Gefahren dar. Man weiß noch nicht sehr viel über den Umfang und den Ursprung der Risiken, die Teilnehmer an Trainingsseminaren eingehen. Wir für unseren Teil neigen zu der Annahme, daß sie hauptsächlich aus Erlebnissen possessiver Liebe stammen. Zahlreiche mehr oder weniger große Anpassungsschwierigkeiten, denen sich die Teilnehmer im Anschluß an die Seminare gegenüberstehen, dürften mit der »Ent-täuschung« (der »Entzauberung<< nach Bennis) zusammenhängen, daß sie nun die Gruppe, d. h. das totale Glück, das sie in ihr gefunden zu haben glaubten, verloren haben. Außenwelt, Familie und Arbeitsplatz wirken kalt und feindlich im Vergleich zur T -Gruppe, und zwar deshalb, weil die Teilnehmer noch immer im geistigen Milieu der possessiven Liebe leben, das sie wie in einem abgeschlossenen Paradies, fern von feindlichen Beziehungen, isoliert hält. Unter diesen Umständen ist man versucht zu sagen, daß man solche Gefahren nicht auf sich nehmen dürfte. Doch die Schwierigkeit liegt darin, daß sie die Bedingung für sehr wichtige reale Fortschritte sein können. In der possessiven Liebe klingt die echte Liebe schon an; das haben wir des öfteren betont. Sie bildet gewissermaßen die letzte Abwehrstellung gegen die Erfahrung der authentischen Liebe. In der possessiven Liebe machen viele Teilnehmer die 214
nachhaltige Erfahrung, daß Lieben und Geliebtwerden möglich ist. Wenn sie imstande sind, im Ver lauf des Seminars die Angst vor der Trennung von den anderen Mitgliedern zu überwinden, und wenn sie nach dem Training die »Desillusionierung«, die Brüche und Mißerfolge, die jeder, selbst der positiven Beziehung anhaften, zu ertragen vermögen, dann lassen sie das Stadium der besitzergreifenden Liebe hinter sich und können Beziehungen aufbauen, die der Entwicklung ihrer selbst und der anderen förderlich ist. Es ist also von großer Wichtigkeit, die Ursachen für die in der Gruppensituation auftretenden Phänomene der possessiven Liebe theoretisch und praktisch zu bestimmen. Auf diese Weise lassen sich vielleicht die pathologischen Auswirkungen solcher Situationen in möglichst engen Grenzen halten, während die Vorteile maximal ausgenützt werden könnten. Sind diese Phänomene notwendig mit der Gruppensituation ganz allgemein gegeben, oder sind sie eine Besonderheit der T -Gruppen? Hängen sie mit der Entwicklungssituation als solcher zusammen und bilden sie folglich ein gemeinsames Merkmal von Gruppenmethoden und Methoden individueller Entwicklung, wie der Psychoanalyse und allgemein der Psychotherapie? Didier Anzieu (1966) hat in einem Artikel auf den Zusammenhang von Gruppe und Utopie hingewiesen: »Daß man im Verlauf der Geistesgeschichte in der Gruppe immer wieder und in unzähligen Varianten jenen legendären Ort erblickte, an dem alle Wünsche in Erfüllung gehen, ist nichts Neues. Beispiele bieten: die Utopia des Thomas Morus, die Abtei Theleme des Rabelais, das Phalanstere Fouriers oder die Kameraden von Jules Romains, ferner die hartnäckigen Legenden, die sich um reale historische Gegebenheiten ranken: das paradiesische Tahiti, der Assassinen-Orden von Alamut oder die Inselgemeinschaft der Bounty-Meuterer, von der der Ethnologe Metraux sein Leben lang träumte, ehe er Selbstmord beging« (S. 59). Unsere eigenen Beobachtungen hinsichtlich der in T-Gruppen häufig auftretenden Paradies-Illusion stimmen mit denen Anzieus völlig überein. Anzieu erklärt dieses Phänomen mit der Hypothese, die Gruppe sei vor allem die »imaginäre Verwirklichung eines Verlangens« (S. 56). Die Gruppensituation bietet den Mitgliedern die Gelegenheit, die Verwirklichung ihrer verdrängten Wünsche unbewußt zu erleben. Es ist daher leicht einzusehen, daß sie gleichzeitig starke Widerstände hervorruft. In vieler Hinsicht ist die Gruppe dem Traum analog. »Wie der Traum und das Symptom ist die Gruppe in allen ihren Episoden durch die Verbindung eines Wunsches mit einer Abwehr gekennzeichnet (S. 58) .... Die Menschen treten genau so in Gruppen ein, wie sie schlafend in den Traum eintreten. 215
Unter dem Gesichtspunkt der psychischen Dynamik ist die Gruppe ein Traum« (S. 56). Diese in psychoanalytischen Begriffen gegebene Erklärung der Gruppenutopie ist eng verwandt mit unserer Erklärung, in deren Mittelpunkt die possessive Liebe steht. Wir sahen, daß die possessive Liebe die Suche nach der >>Verwirklichung« aller Wünsche, nach deren vollkommener Erfüllung in einem Fusionsversuch mit dem anderen einschließt. Schließlich ist noch festzuhalten, daß sich die Bemerkungen Anzieus nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie, auf Trainingsgruppen beziehen, sondern auf die »realen« Gruppen, Arbeitsgruppen, Unternehmen, Verbände und andere Institutionen. Man könnte nur den Verdacht haben, daß der Autor, Psychoanalytiker und Praktiker der Intervention im Feld seine Beobachtungen vor allem in solchen Entwicklungssituationen machte, in denen ein analytischer Psychologe zugegen war - was eine besondere Dimension ins Leben der Gruppen einführt, auch dann, wenn es sich um »reale« Gruppen handelt. Diese These Anzieus weist jedoch noch einen anderen Aspekt auf. Es hat den Anschein, als beschränkten sich für ihn die Gruppensituationen letztlich auf die possessive Liebe (oder die imaginäre Wunschverwirklichung) und die Utopie. In diesem Punkt sind wir entschieden anderer Meinung, wenn wir auch auf der Ebene der Beschreibung völlig mit ihm übereinstimmen. Zwei Haupteinwände haben wir vorzubringen: Erstens sind die possessive Liebe und die von ihr abgeleitete Illusion Gegebenheiten genereller Natur, die weit über die Gruppensituationen im strengen Sinn hinausgehen. Der Autor erkennt dies übrigens selbst, wenn er vom Traum und vom neurotischen Symptom spricht. Natürlich müßte man auch auf das Paar hinweisen. Die Gruppen können keinesfalls einen Alleinanspruch auf solche Phänomene erheben. Wenn sich diese in Gruppen auf besondere Weise äußern, wäre aufzuzeigen, worin diese Besonderheit besteht und warum. Zweitens und vor allem ist die possessive Liebe keine primäre Realität. Sie ist selbst ein Abwehrmechanismus, wie wir dargelegt haben. Auch hier noch stiftet die psychoanalytische Sprache Verwirrung. Das Verlangen ist selbst ein Abwehrmechanismus insofern es ein Besitz- und Fusionstraum ist. Es ist zugleich mit der Fusionsillusion gegeben und ist wie diese das Ergebnis einer Abwehr, einer Verleugnung des Getrenntseins. Man kann es daher nicht zu einem Primärbegriff und die Gruppenrealität von ihm abhängig machen. Mit anderen Worten: die Gruppe ist nicht nur, wie Anzieu meint, ein imaginär befriedigtes und durch Abwehrmechanismen bekämpftes Verlangen, die Gruppe ist nicht nur ein Traum, sondern der Traum der Gruppe ist ein sekundäres Phänomen, das als 216
Abwehr auf eine verdrängte reale Solidarität hinweist. Wir konnten dafür zahlreiche Beispiele im Verlauf unserer Erörterung feststellen. Wenn auch die possessive Utopie ein in Gruppen beobachtbares Phänomen ist, so kann man sie doch nicht aus sich allein heraus verstehen, denn sie wird oft überwunden und macht einer bewußten Kooperation Platz. Alles in allem haben wir gegen Anzieu dasselbe einzuwenden wie gegen Sartre in Hinblick auf die Liebesillusion. Die Illusion bleibt unverständlich, wenn nicht über sie hinaus auch die sie begründende Realität gesehen wird. Es ist daher nicht möglich, die Gruppen auf die possessive Liebe zurückzuführen. Doch das Problem bleibt bestehen. Wie ist die Possessivität in Gruppen zu erklären? Und ist sie eine Besonderheit von Gruppen? Zur Klärung dieser Frage wollen wir uns mit den Trainings.gruppen näher befassen. Zunächst handelt es sich um >>Entwicklungsgruppen« (G. Palmade). Insofern sind sie der allgemeinen Familie der Entwicklungsmethoden zuzuordnen, zu der auch die Psychoanalyse und die Individualtherapie gehören. Die wenigen vorliegenden Untersuchungen über die Wirkungen der Entwicklungsmethoden, ganz zu schweigen von vergleichenden Untersuchungen über Individual- und Gruppenmethoden, gestatten zur Zeit noch keine Aussage darüber, ob die einen das Auftreten des Phänomens ausgeprägter possessiver Liebe mehr begünstigen als die anderen, und welche Methoden die besseren Voraussetzungen bieten, um dieses Phänomen wieder aufzufangen. Vorzukommen scheint es jedenfalls in beiden Fällen. Unsere erste Hypothese besagt nun: Methoden der Tiefenentwicklung- ob individuell oder in Gruppen - fördern das Auftauchen intensiver possessiver Phänomene, indem sie die Exploration sehr tiefliegender und primitiver Abwehrmechanismen ermöglichen. Dazu gesellen sich weitere Faktoren, die mit der Gruppensituation allgemein gegeben sind. In der Gruppe hat es das Individuum nicht nur mit einer Autoritätsfigur, dem Führer, Therapeuten, Arzt usw. zu tun, d. h. es befindet sich nicht nur in einer privilegierten Beziehung, sondern es ist auch noch mit Gleichrangigen konfrontiert. Die Gruppensituation begünstigt die Erfahrung echter Liebe, die Erfahrung einer egalitären Beziehung, in der es keine Entfremdung mehr gibt und in der jeder dem anderen ohne den mythischen Schutz einer Autoritätsfigur gegenübersteht. Die entfremdete Gruppe trägt in sich schon den Keim zur entfremdungsfreien Gruppe und stellt einen starken Anreiz dar, sie zu verwirklichen. Jede Gruppensituation wäre demnach eine potentielle Erfahrung radikaler Überwindung der Entfremdung. 217
Gleichzeitig ruft sie starke kompensatorische Entfremdungsphänomene hervor, unter denen an erster Stelle die possessive Liebe und die Feindseligkeit zu nennen wären. Dies trifft für die Trainingsgruppen um so mehr zu, da diese als Entwicklungsgruppen gerade die Überwindung der Entfremdung zum Ziel haben. Die oberflächlichen Abwehrmechanismen, die Gruppen gewöhnlich gegen die Erfahrung echter Liebe aufbauen, geben sich in Entwicklungsgruppen sehr rasch. In diesen Gruppen verbinden sich somit die beiden vorgenannten Faktoren. Dazu kommt, daß die Entfremdungsphänomene in Gruppen auf Grund der unbewußten Gruppensolidarität ein kollektives Gepräge erhalten. Gewiß schreitet die Gruppe progressiv in der Vertiefung der Abwehrund Entfremdungsmechanismen voran und läßt sich dabei in gewissem Umfang von den individuellen Widerständen leiten. Trotzdem macht sie nicht alle durch die individuelle Lebensgeschichte der Mitglieder bedingten Windungen und Umkehrungen dieser Widerstände mit, wie sie in einer Individualtherapie sich ergeben können. Ein Individuum kann daher in eine stark regressive Erfahrung, z. B. die der possessiven Liebe, verwickelt sein, bevor es seinen Widerstand gegen diese Erfahrung in allen seinen Formen erkannt und überwunden hat. Die Gruppen begünstigen nicht nur eine radikale Überwindung der Entfremdung und tiefreichender (primärer) Abwehrreaktionen, sondern sie neigen dazu, dem Verlauf des Prozesses den individuellen Abwehrmechanismen ihrer Mitglieder Gewalt anzutun. Schließlich sind noch die spezifischen Faktoren der Trainingsgruppen, wie sie derzeit zumeist praktiziert werden, zu berücksichtigen: hauptsächlich das für einen nahen Zeitpunkt festgesetzte Ende der Gruppe (im allgemeinen nach ein bis drei Wochen) und die kulturelle Isolierung der Mitglieder. Das erste Element konfrontiert die Mitglieder brüsk mit der Tatsache der Trennung, wo sie doch erst die Realität der zwischen ihnen bestehenden Bindungen entdeckt haben, jedoch vielleicht noch nicht (oder nicht alle) ohne weiteres hinnehmen können, daß diese Bindungen begrenzt und vergänglich sein sollen. Das zweite Element führt zur Bildung heterogener Gruppen und isoliert jeden Teilnehmer von seinem ständigen sozialen Milieu. Auf diese Weise werden der soziale Druck vermindert und die Entwicklung beschleunigt (nach der Hypothese Lewins). Gleichzeitig wird die Versuchung größer, in der T-Gruppe ein Ideal, etwas Absolutes zu sehen, d. h. die Paradies-Illusion und die possessive Liebe erhalten Auftrieb. Die Kombination beider Elemente - baldige Trennung und kulturelle Isolierung - muß fast unweigerlich, sofern unsere Hypothesen stimmen, zu 218
einer Flucht in die possessive Liebe führen, und zwar in einem Ausmaß, daß man sich fragt, ob die Veranstalter solcher Manifestationen nicht selbst gelegentlich dieser Tendenz zum Opfer fallen, ob sie nicht unbewußt von dem Verlangen bewegt werden, aus der sozialen Realität in einen Bereich mystischer Brüderlichkeit zu fliehen (Maisonneuve, 1965, s. 46). Kurz, es gibt mehrere Gründe, warum das Phänomen der possessiven Liebe gerade in T-Gruppen so häufig auftritt: Die einen haben mit der Natur von Gruppen zu tun, die anderen ergeben sich aus dem Charakter einer Entwicklungsmethode oder aus den besonderen Umständen, unter denen die Methode angewandt wird. Alle diese Gründe zusammen begünstigen eine unvermittelte, beschleunigte und radikale Überwindung der Entfremdung, bei der bestimmten individuellen Abwehrhaltungen Gewalt angetan werden kann. Die T -Gruppe ist ein Boden, der gewaltige Abwehrmanifestationen hervorbringt; darunter die possessive Liebe als die am tiefsten verwurzelte. Dieses Gebiet ist ebenso reich an möglichen Entwicklungen wie gefahrenträchtig. In theoretischer Hinsicht wird durch diese Erörterung deutlich, daß den Gruppensituationen im Gegensatz zur Situation des isolierten Individuums eine spezifische Kausalität in der Erzeugung von Utopien und possessiver Liebe zuzuschreiben ist. Dies jedoch nicht, weil, wie oft angenommen wird, die Gruppe ein besonders günstiger Entstehungsherd für Entfremdungsphänomene wäre, sondern, im Gegenteil, weil Gruppen besonders günstige Situationen zur Aufhebung von Entfremdung bieten. Die Gruppenentfremdungen, darunter auch die possessive Liebe, sind Abwehrmaßnahmen gegen beschleunigte Entfremdungsaufhebung, wie sie durch Gruppensituationen hervorgerufen werden kann. Selbstverständlich tritt andererseits das Phänomen der possessiven Liebe keinesfalls nur in der Gruppensituation auf, wenn es auch durch diese beschleunigt wird. In praktischer Hinsicht - und dies betrifft jetzt nur die TrainingsGruppen - kann die vorangegangene Erörterung die Orientierung zu einer Reform des Gruppentrainings geben. Wir wollen hier nicht ins Detail gehen, sondern lediglich auf die folgenden drei Schwerpunkte, die eine solche Reform unserer Meinung nach umfassen müßte, hinweisen:
- Eine Reform der Gruppenleitung, in Richtung auf größere Spontaneität in den Interventionen des Trainers, im Gebrauch verschiedener Sprachen und in der Strukturierung der Trainingserfahrung (Zeitplan, Örtlichkeiten, Methoden, Ziele usw.), die gemeinsam mit den Teilneh219
mern vorzunehmen wäre.• In einer solchen Perspektive verzichtet der Trainer wirklich darauf, die Gruppe allein zu leiten. Er benimmt sich wie ein Gruppenmitglied >>in bona fide«, obwohl er von seinen Fähigkeiten, die von denen der anderen Mitglieder verschieden sind, Gebrauch macht. Dieses freie und spontane Verhalten des Trainers, der die Gruppe gemeinsam mit den Mitgliedern leitet, kommt unseres Erachtens einer besseren Anpassung aller an die individuellen Bedürfnisse, an die Widerstände und Abwehrmechanismen jedes einzelnen zugute.
-Die Einbettung der Trainingsgruppen in einen langfristigen Prozeß sozialer Veränderung. In dieser Weise leiten wir seit zwei Jahren eine Gruppe mit Psychosoziologen. Die Gruppe zählt ca. 12 Teilnehmer und ist relativ homogen. Die sozialen Zielsetzungen ihrer Mitglieder bestehen eindeutig in beruflicher Perfektionierung. Sie treffen sich regelmäßig und nehmen außerdem an verschiedenen Trainingsveranstaltungen >>in kultureller Isolierung<< teil, zunächst als Teilnehmer, dann als >>Beobachter<< und schließlich als Ko-Trainer, zusammen mit schon erfahreneren Trainern. Manche von ihnen werden bei der Veränderung der Organisation, der sie angehören, von ihren Trainern unterstützt. Schließlich pflegen sie mit ihren Instruktoren regelmäßige Einzelgespräche. Auf diese Weise verzichten wir nicht auf die Vorteile der Situationen kultureller Isolierung, bemühen uns jedoch, ihren Nachteilen dadurch zu begegnen, daß wir die Trainingstätigkeit mit genauer bestimmten sozialen Zielen verbinden, auf Grund derer aus einer Berufsgruppe im vorhinein Teilnehmer ausgewählt werden, von denen dann eine Neubestimmung der Rollen, Werte und Berufsmethoden ausgehen kann. Das Training hängt nicht mehr in der Luft und integriert eine größere Anzahl von Elementen der individuellen und sozialen Realität.7 Vgl. oben, S. 211 f.; eine eingehendere Erörterung siehe 13. Kapitel. Wir nennen dies einen Plan integrierter Veränderung (siehe 13. Kapitel). Das Bestreben der Erfinder der psychosoziologischen Trainingsmethoden, der Trainer von Bethel, war es stets, ein integriertes Training zu realisieren, doch hielten sie lange Zeit daran fest, sehr verschiedenartige Elemente in den engen und ungenügenden Rahmen von zwei oder drei Arbeitswochen zu zwängen, mit dem Handikap des vorgegebenen Endes. Seit einiger Zeit ist im Zusammenhang mit den Fortschritten der Feldintervention und der berufsbezogenen Trainingsarbeit (z. B. Trainingsprogramme für zukünftige Gruppenleiter) in den USA eine breitere Konzeption des Gruppentrainings und der Intervention im Entstehen begriffen. Diese Konzeption weist jedoch noch keinerlei systematischen 6
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_ Diese Methode kombiniert individuelle Beratungsgespräche mit verschiedenen Formen von Gruppenarbeit. Wir sind nämlich der Meinung, daß es wegen des möglichen radikalen Entfremdungsabbaues in T-Gruppen (auch außerhalb des fixierten Zeitrahmens) und insbesondere wegen des Risikos einer Flucht in die possessive Liebe wichtig ist, den Teilnehmern die Möglichkeit individueller psychologischer Beratung anzubieten. Der persönliche Kontakt mit einer Autoritätsfigur innerhalb einer privilegierten Beziehung bietet Schutz vor den Risiken in der Gruppensituation. Er gestattet dem Individuum, sich gewissermaßen von neuem zu entfremden, wenn es dessen zu seinem Schutz bedarf. Er ist außerdem der detaillierten und vertieften Arbeit an den individuellen Abwehrmechanismen zuträglich, die durch die Gruppenarbeit etwas angegriffen werden. Individuelle und Gruppenarbeit sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich. Es handelt sich um eine Veränderungskonzeption, die individuelle Beratung, Gruppenarbeit in kultureller Isolierung und Organisationsveränderung integriert. Die verschiedenen Erkenntnisse der Individual- und der Gruppenpsychotherapie und der Psychosoziologie fließen in einer solchen Konzeption zusammen und nötigen zu einer Oberwindung der Schulstreitigkeiten.
B) Die Feindseligkelt
Die Feindseligkeit, so sagten wir, ist innerhalb des Dissoziationsprozesses das komplementäre Gegenstück zur possessiven Liebe. In der Trennungsangst unterdrückt sie die Liebe und folglich den Trennungsschmerz. Sie betont absolute Trennung und äußert sich als Vernichtungswunsch. Sie richtet sich sowohl gegen die eigene Person wie auch gegen den anderen. Sie ist, wie schon seit langem beobachtet wurde, zugleich sadistisch und masochistisch, auch wenn eine der beiden Formen vorherrscht, denn die Selbstvernichtung ist ein Mittel, dem anderen, dem an mir etwas liegt, Leid zuzufügen; und die Vernichtung des anderen, an dem mir etwas liegt, ist ein Mittel, mir selbst Leid zuzufügen. Doch ist die Verbindung zwischen Sadismus und Masochismus Charakter auf. Der Großteil der Seminarteilnehmer muß sich mit einer isolierten Erfahrung begnügen. Wir glauben, es ist notwendig, noch einen Schritt weiterzugehen und zu klären, wie die folgenden Elemente miteinander zusammenhängen müssen: Gruppentraining in kultureller Isolierung, Training einer beruflichen Gruppe, individuelle Beratung, die theoretischen Grundlagen dieser Arbeitsrichtungen und ihre Folgen für die praktische Gruppenarbeit.
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unbewußt, denn die Feindseligkeit will sich die Bindung zum anderen oder die des anderen zu mir nicht eingestehen. Wie die possessive Liebe schließt sie eine privilegierte Beziehung ein. Das verhaßte Objekt vereinigt auf sich den ganzen Haß gegen die Welt. So wird es von den anderen ausgesondert, gewissermaßen als das allein Hassenswerte. Es findet eine Art Vergöttlichung mit umgekehrten Vorzeichen statt, die ein Zeichen für die Verwandtschaft der Feindseligkeit mit der possessiven Liebe ist. Denn die possessive Liebe läßt die Feindseligkeit nicht zur Ruhe kommen, wie auch umgekehrt stets Feindseligkeit die possessive Liebe quält. »Ich hasse dich, weil du mich nicht liebst und nicht lieben kannst«, sagt indirekt der Feindselige zu dem, den er haßt; doch eigentlich sagt er zu ihm: »Ich hasse dich, damit du mich liebst« und eine unerwartete positive Antwort kann die Feindseligkeit in possessive Liebe umschlagen lassen. Ebenso ist überraschenderweise die Feindseligkeit gegen das gehaßte Objekt oft mit honigsüßer Sanftmut gegen andere gepaart. Die Feindseligkeit bewegt sich im Bereich des absoluten Andersseins, einer absoluten und radikalen Verschiedenheit gegenüber dem anderen oder auch gegenüber sich selbst, wenn sie gegen die eigene Person gerichtet ist. In diesem Fall verweigert man sich selbst die Anerkennung. Doch wie die possessive Liebe anerkennt auch sie den anderen nicht in seinem wahren Anderssein. Der andere hat nur das Recht, anders als ich zu sein, und er muß feindselig gegen mich sein. Verhaltensweisen, die dieses Bild Lügen strafen könnten, werden geleugnet. Autonomie wird dem anderen nicht zugestanden, denn er ist nicht frei, mich nicht zu hassen. Ebensowenig akzeptiert die Feindseligkeit die Individualität des eigenen Ichs. Verurteilt zum Haß oder zur Verachtung und abgeschnitten von jeder Möglichkeit, zu lieben oder geliebt zu werden, ist das Ich an den gekettet, den es haßt oder von dem es gehaßt wird. Es findet eine Art Fusion im Haß statt. Oberflächlich scheinbar durch all die wirklichen oder eingebildeten Gründe ihres Gegensatzes einander unähnlich, sind sich die einander Hassenden letzten Endes gerade darin gleich, daß sie in allem einander entgegengesetzt sind. Ihr Haß bringt sie einander näher, nicht nur weil sie beide hassen, sondern weil sie sich beide gegenseitig auf eine besondere Weise hassen. Sie suchen einander in ihrem Haß und verschmelzen in ihm. Doch im Gegensatz zur possessiven Liebe wird in diesem Fall die Fusion nicht eingestanden, sie bleibt unterschwellig. Wie in der possessiven Liebe - nur noch deutlicher- beruht die Feindseligkeit auf einem Identifikations- und Entfremdungsprozeß. Ich identifiziere mich mit dem anderen und den anderen mit mir, weil ich mich zuerst in ihn entfremdet habe. Und
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auch hier resultiert die Entfremdung aus der Verleugnung der Angst. Der andere ist das Symbol meiner verleugneten Angst, er verkörpert all die Gefahren, mit denen ich in der Beziehung nicht konfrontiert sein will. Daher bin ich auch zunächst nicht mit ihm selbst in Beziehung, sondern vor allem mit meiner Angst, und es überrascht nicht, daß ich mich selbst in ihm wiederfinde. Ich finde das in ihm wieder, was ich zuvor in ihn hineingelegt habe: meine in Furcht und Feindseligkeit umgeschlagene Angst. Den Ausdruck »Feindseligkeit« ziehen wir dem oft gebrauchten Ausdruck »Aggressivität« vor, da Feindseligkeit eher ein Gefühl und wec niger einen mit einem biologischen Determinismus verbundenen Trieb bezeichnet. Die tiefe Verwandtschaft zwischen der Feindseligkeit und der possessiven Liebe darf uns indessen nicht auf eine vollkommene Symmetrie zwischen beiden schließen lassen. Uns erscheint die Feindseligkeit als ein oberflächlicheres Phänomen als die possessive Liebe. Sie ist in gewisser Hinsicht die vollständigere Verneinung. Mit der kategorischen Ablehnung der Beziehung schützt sie das Individuum besser vor dem Risiko. Wir sagen dies unter dem Eindruck einer Beobachtung, die wir in T-Gruppen oft machen konnten. Die erste Gefühlsäußerung in diesen Gruppen war zumeist aggressiver Art (so wurden z. B. in der Walfischgruppe am ersten Tag Vorwürfe gegen die Schweiger laut). Ferner ging der Äußerung von Liebe fast stets unmittelbar eine aggressive Handlung voraus. Zum Beispiel begann die Walfischgeschichte, die symbolisch der Liebe Ausdruck gab, mit dem destruktiven Thema der Zerstückelung; kurze Zeit später kam es zu dem Vorfall um Jean-Marc und zu der aufsehenerregenden Geste Jeans, der sich auf den Tisch legte und von seinen Kameraden bewacht wurde - unmittelbar nach diesen Ereignissen empfanden und äußerten die Gruppenmitglieder ihre Liebe zueinander. Wie dem auch sei, die Feindseligkeit erscheint uns jedenfalls gegenüber der Trennungsangst und der authentischen Liebe sekundär, obwohl wir weder die Tiefe noch die Intensität des Phänomens in Abrede stellen wollen. Die Feindseligkeit provoziert die Trennung, um zu vermeiden, daß sie erlitten werden muß. Sie ist eine Art Vorwegnahme und Sühne. Das bedeutet, daß wir die Freudsche Theorie vom Todestrieb als einer primären und unableitbaren Gegebenheit des Seelenlebens erneut ablehnen, allerdings nicht wie dies manche tun, um den Todestrieb auf die Todesfurcht zu reduzieren. Wir bestimmen das Verhältnis der drei Begriffe - Todeswunsch (des eigenen oder des fremden), T adesfurcht
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und Todesgefühl - folgendermaßen: Das Erste, wovon sich auch die beiden anderen herleiten, ist das Todesgefühl (oder Trennungsgefühl). Es bezeichnet nicht das aktive Aufsuchen des Todes, sondern den Nicht-Gegensatz zum Tode, das Annehmen des Todes als eines natürlichen Vorganges. Es ist dies der organische oder natürliche Todestrieb nach Brown oder der erlittene Tod nach Denis de Rougemont. Aber das Todesgefühl umfaßt auch das bewußte Wissen um Bindung und Liebe. Dies ist der zugleich sanfte und zerreißende Tod derer, die sich lieben. Die Furcht vor dem Tod ist schon eine Abwehr. Sie schützt vor dem Todesgefühl, indem sie Liebe und Verbundenheit aus dem Bewußtsein eliminiert. Der Tod wird zu einem absoluten übel, der das Bewußtsein quält und erfüllt. Doch ist dieser Tod in gewisser Hinsicht weniger furchtbar als der andere. Es ist schon nicht mehr der Tod derer, die sich lieben, denn die Furcht vor dem Tod tötet die Liebe; der Tod ist jetzt allen Bindungen überlegen und zerstört sie. Die Todesfurcht schirmt somit vor dem völligen Bewußtwerden der Trennung ab. Und der Todeswunsch (die Feindseligkeit oder der Todes-»Trieb«) schützt seinerseits vor der Todesfurcht. Sie macht aus dem Tod, den zu erleiden man sich fürchtet, ein Töten und verwandelt das Gefühl der Ohnmacht in eine Freiheitsillusion. Die Oberwindung der Feindseligkeit würde vielleicht in einem ersten Schritt das Bewußtwerden der ihr zugrunde liegenden Todesfurcht und darauf das allmähliche Akzeptieren der verdrängten Bindung erfordern, aus dem die Todesfurcht entsteht. Eine nicht unwichtige Folgerung aus dieser Hypothese über den sekundären Charakter der Feindseligkeit besteht darin, daß wir in der aggressiven infantilen Sexualität, der sadistisch-analen wie der oralen, eine Abwehrreaktion des Kindes gegen eine authentische Beziehung zu den Eltern erblicken. Schließlich sind wir nun in der Lage, die Theorie der interpersonalen Konflikte und der Konflikte zwischen Gruppen zu präzisieren, die wir in Kapitel 4 (S. 86-89) skizziert haben. Die einen wie die anderen, so sagten wir, sind Mittel kollektiver Abwehr gegen einen innerpersönlichen Konflikt, den alle in Konflikt stehenden Mitglieder der Gruppe oder der Gruppen teilen. Im unmittelbaren Hintergrund des Konflikts zwischen einzelnen oder Gruppen steht die Furcht vor Tod oder Vernichtung, doch ist dies evident und oft auch bewußt. Doch eigentlich verbirgt die Todesfurcht die Ablehnung der Trennung, näherhin die Ablehnung der im Trennungsgefühl enthaltenen Liebe. Der Konflikt zwischen einzelnen oder Gruppen besteht darin, daß die Trennung heftig bejaht wird, um das Bewußtsein einer Verbundenheit nicht auf-
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kommen zu lassen, welche die noch schmerzlichere Trennung solidarischer Personen und Gruppen einschließen würde. Es wäre verlockend, diese Theorie auf verschiedene historische Beispiele anzuwenden, doch würde dies den Rahmen dieser Arbeit sprengen. So erschiene beispielsweise das seltsame Phänomen der Mauren- und Judenverfolgung in Spanien zu einem Zeitpunkt, da das christliche Spanien seine Einheit (Einheit Kastiliens und Aragons, kontinentale Einheit durch die Eroberung Granadas) erlangt und jede objektive Subversionsgefahr aufgehört hatte, in einem neuen Licht. Man hat versucht, diese Tatsache durch die Entwicklung des monarchischen Absolutismus zu erklären, der die begrenzte Solidarität von Adel und Bürgertum in dem Augenblick zerbrach, als Spanien sich anschickte, eine Großmacht zu werden, oder auch durch die Reaktion des Adels, was im Grunde auf dasselbe hinausläuft (Pirenne, 1959, II, 226 ff.). Doch erklärt dies nicht den irrationalen und exzessiven Charakter der getroffenen Maßnahmen. Juden und Mauren zu enteignen oder dem allgemeinen Recht zu unterstellen, hätte genügt, wenn ökonomische Gründe ausschlaggebend gewesen wären. Und warum entwickelte sich der monarchische Absolutismus gerade in diesem Augenblick und warum nahm er alsbald eine fast wahnhafte Form an? Wir neigen dazu, diese Umstände gerade mit dem Herannahen der spanischen Einheit in Zusammenhang zu bringen. Es verhält sich so, als ob diese gerade im Entstehen begriffene und zweifelsohne auch ersehnte Einheit im tiefsten Furcht einflößte. Als Koexistenz von Provinzen, Klassen und religiösen Gruppen ist sie unannehmbar. Nur als geschlossene Einheit kann sie ertragen werden, die jede Verschiedenartigkeit ausschließt. Mauren und Juden waren im Spanien jener Zeit ungefähr das, was in der Walfischgruppe die »Schweiger<< waren. Die Unfähigkeit, sich anbahnende reale Bindungen zwischen verschiedenartigen Gruppen zu ertragen, führt einerseits zur Verfolgung derer, die die Andersartigkeit und das Außenseiterturn am meisten verkörpern, und andererseits zur forcierten Einschmelzung der anderen. Dies ist der Mechanismus der Dissoziation. Der Versuch würde sich lohnen, an einer Reihe historischer Beispiele die Hypothese zu verifizieren, daß eine bevorstehende Einigung heterogener Gruppen Krisen sowie Ausbrüche aggressiver und possessiver Gefühle hervorruft.
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8. Kapitel Die privilegierte Beziehung
Die Entstehung einer privilegierten Beziehung ist untrennbar mit dem Prozeß primärer Dissoziation verbunden. Die privilegierte Beziehung hebt eine Person, ein göttliches Wesen, eine Idee oder ein Kollektiv auf einen alle Menschen überragenden Platz und macht sie zum bevorzugten Gegenstand positiver und negativer Gefühle. Integrierender Bestandteil einer solchen Beziehung ist auch, wie wir bereits sahen, der Kontrast zwischen der Einstellung zum privilegierten Objekt und der zu den anderen Objekten. Die erste privilegierte Beziehung ist die zu den Eltern. Diese finden wir sodann in den Beziehungen zu allen Autoritätsfiguren wie Lehrern, Vorgesetzten oder anderen Personen mit sozialer Autorität wieder. Die Psychoanalyse beschäftigte sich zuerst mit dieser Wiederholung und erklärt sie mit dem Begriff der Übertragung: die Einstellung zu den Eltern wird zumeist unbewußt auf die Autoritätsfiguren, denen der Jugendliche und später der Erwachsene in seinem Leben begegnet, »Übertragen«. Andererseits ist der Vorrang der Elternbeziehung für die Psychoanalyse eine Urgegebenheit, die mit der Triebstruktur zusammenhängt. Das U rphänomen des kindlichen Luststrebens macht Mutter und Vater von vornherein zu privilegierten Objekten, die Befriedigung verschaffen oder Lust verhindern 1 • Unsere Interpretation unterscheidet sich in zwei Punkten von der psychoanalytischen Theorie. Zum einen betrachten wir die privilegierte Beziehung nicht als Primärphänomen, sondern als Abwehrreaktion im Gefolge des Dissoziationsprozesses. Das gilt für die Elternbeziehung wie auch für nachfolgende Beziehungen. Zum anderen nötigt uns natürlich dieser Gesichtspunkt zu einer Revision der Auffassung über den lebensgeschichtlichen Einfluß der Elternbeziehung und zu einer Kritik am psychoanalytischen übertragungsbegriff. Nimmt man eine existentielle, im jeweiligen Ganz stimmt dies nicht, da Freud zu einem bestimmten Zeitpunkt im Narzißmus die ursprünglichste Form der Libido sah. Daß die Objektwahl der Mutter vom primären Narzißmus hergeleitet wird, entkräftet jedoch unseren Gedankengang nicht, denn der eigene Körper ist schon für den primären Narzißmus ein privilegiertes Objekt.
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Augenblick erfolgende Genese jeder Beziehung an, so kann man diese selbstverständlich nicht mehr als bloßes Ergebnis der »Übertragung(( einer vergangeneo Beziehung interpretieren.
Die privilegierte Beziehung als Abwehr gegen die universale Liebe
Ursprung der privilegierten Beziehung wie auch des Dissoziationsprozesses ist die Ablehnung der authentischen Liebe und der Trennungsangst. In der authentischen Liebe verleihen die Trennungsangst, die akzeptierte Andersartigkeit des anderen und die Schicksalsgemeinschaft mit ihm der Beziehung einen offenen und, wie wir schon gezeigt haben, universalen Charakter. Durch die Zurückweisung der Trennungsangst errichtet der Mensch eine geschlossene Beziehung und verschließt sich zugleich den Weg zu einer universellen Beziehung. Er sucht entweder eine Identität ohne Andersartigkeit oder eine Andersartigkeit ohne Identität, mit anderen Worten: eine absolute Identität oder ein absolutes Anderssein. Er bildet mit dem Objekt seiner Affekte eine zwar vollkommene, aber unechte, auf Gegensätzlichkeit oder Obereinstimmung beruhende Einheit, in der er sich vom Rest der Welt absondert. Diese Scheinbeziehung schützt ihn vor dem Risiko der universellen Beziehung, d. h. sie erspart es ihm, sich mit Trennung und Liebe wirklich auseinanderzusetzen. Das Problem der Beziehung, das nur universell sein kann, da die Trennungsangst jedem Menschen gegenüber empfunden wird, verschiebt sich gewissermaßen auf das Problem der privilegierten Zweierbeziehung. Nun geht es nicht mehr darum, die Bindung-in-der-Trennung zu bewältigen, sondern die Verschmelzung zu erreichen, die Vernichtung herbeizuführen oder abzuwenden. Doch hinter diesen letzteren· Problemen verbirgt sich das erste, das der universellen Beziehung.
Lokalisierung und Externalisierung der Angst
Diese Verschiebung ist ein Mittel, um die Trennungsangst zugleich zu lokalisieren und zu externalisieren. Als Mittel der Angstabwehr stellt die privilegierte Gestalt eine permanente Zufluchtsmöglichkeit, aber auch eine permanente Gefahrenquelle dar. Liebe ich sie, muß ich befürchten, daß sie mich einmal nicht mehr liebt oder daß ich sie nicht mehr liebe; hasse ich sie, muß ich befürchten, daß ich sie einmalliebe oder daß sie mich liebt. Es ist daher eine ängstigende Gestalt, die aber
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zugleich vor der Angst schützt. Einerseits bleiben die Befürchtungen zumeist unbewußt. Die Stärke der von Liebe oder Feindseligkeit erfüllten Leidenschaft soll gerade vor ihnen beschützen. Werden sie uns andererseits bewußt, haben wir noch immer den Schutz vor der Trennungsangst Unsere Angst hätte eine Ursache, die außerhalb unserer selbst liegt und die wir als besonders geartet oder zufällig betrachten könnten. Wenn uns jemand nicht liebt, sind wir vielleicht noch immer liebenswert, und wenn uns jener nicht hassen will, können wir unseren Haß gegen einen anderen richten. Die Konzentration unserer Affekte in einer privilegierten Beziehung schützt uns vor der Wahrnehmung der Einsamkeit und Trennung als einer universalen Verfassung unserer Existenz. Unsere Leiden sind außerhalb unserer selbst lokalisiert.
Entfremdung, Identifikation
Die privilegierte Gestalt ist also die Maske unserer verleugneten Angst. Hinter dem bewußten Bild, das wir uns von ihr machen (verabscheuungswürdig oder ausgestattet mit allen guten Eigenschaften), erscheint das unbewußte Bild eines Dämons, der uns vernichten oder besitzen will, und in einem noch tieferen Bereich das Bild eines anderen, an den wir gebunden und von dem wir getrennt sind. Die privilegierte Gestalt symbolisiert unsere Beziehung zu allen Menschen, schützt uns jedoch gleichzeitig vor ihr. Sie ist nicht eine konkrete Person, sondern unsere eigene Angst, die wir auf sie projizieren; wir entstellen sie, um sie weniger furchterregend zu machen. Das Verhältnis zur privilegierten Gestalt kommt daher insofern einem Entfremdungsverhältnis gleich, als es auf einer Selbstablehnung und einer Projektion des für unsere Individualität konstitutiven Gefühls auf den anderen beruht. · Das Verhältnis zur privilegierten Figur ist ferner ein Identifikationsverhältnis im Sinne einer unterschiedslosen Verwechslung der eigenen Person und des anderen. Die Identifikation hat zur Folge, daß die Entwicklung einer persönlichen Individualität unmöglich wird und statt dessen entweder die Tendenz zu systematischer Opposition oder die Tendenz zur Nachahmung der privilegierten Figur (Eltern, Vorgesetzter, Trainer) Platz greift. Die unbewußte Identifikation beruht jedoch auf der unbewußten Entfremdung. Meine eigene Angst ist es, der ich in der privilegierten Person begegne und die mich dazu führt, mich mit ihr zu identifizieren. Melanie Klein, die diesen Sachverhalt sehr genau erkannte, sprach von der projektiven Identifikation, insbesondere der Identifikation des Kin-
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des mit der Mutter, bei der es Phantasien, in denen das Kind vernichtet wird, auf die Mutter projiziert (»On ldentifiction«, in Klein et al., 1955). Doch ist diese Entfremdung unserer Ansicht nach radikaler als Melanie Klein annimmt. Es handelt sich nicht nur um die Projektion einer verdrängten Tendenz, sondern- noch tiefer- um eine Weigerung, zu sein und mit den Menschen überhaupt in Beziehung zu treten. Die privilegierte Beziehung erscheint uns so als eine leere Beziehung ohne eigene Wirklichkeit (sie verbindet nicht zwei konkrete Menschen). Sie ist wie eine Wand, die wir zwischen uns und den anderen Menschen aufrichten. Ihr eigentlicher Inhalt ist die Furcht vor der Beziehung. Deshalb genügt es unseres Erachtens nicht, z. B. in einer T -Gruppe oder einer Psychotherapie auf das unterschwellige Vorhandensein des angsterregenden Bildes vom Trainer oder Therapeuten, d. h. der ldentifikationsmechanismen, hinzuweisen. Man kann noch einen weiteren Schritt tun und aufzeigen, daß sich hinter und in der Angst vor dem Trainer oder Therapeuten eine universale Angst vor der Beziehung verbirgt und ausdrückt. Als Träger sozialer Rollen stellen Trainer und Therapeut und die an sie gehefteten Ängste Schutzmythen dar: sie bieten Schutz vor der Nacktheit der menschlichen Beziehungen. Ebenso konnten wir zeigen, wie sehr das Geschehen in einem Unternehmen (Beziehungen unter den Kollegen, lnformationsumlauf, Normen, Statusphänomene, Sanktionssysteme usw.) durch eine unbewußte konflikthafte Beziehung zur Direktion des Unternehmens bestimmt war. Nach eingehender Analyse hatten wir jedoch den Eindruck, daß diese Beziehung selbst wieder vor einem tieferen Konflikt schützen sollte: vor dem Konflikt zwischen dem Wunsch eines jeden nach allseitiger Beziehung und nach Gemeinschaft einerseits und der Angst davor andererseits (vgl. Kapitel 9). Man bliebe also auf halbem Wege stehen, begnügte man sich damit, die unbewußte Identifikationsbeziehung zur Autoritätsfigur aufzuzeigen. Die Analyse kann und soll (zumindest theoretisch) bis zur Auflösung der privilegierten Beziehung vorangetrieben werden. Die privilegierte Beziehung ist auf einer tiefen und oft unbewußten Ebene des Verhaltens beheimatet (wir bezeichneten sie als die Ebene der primären Abwehrhaltungen), aber sie verbirgt die noch tiefere Ebene der universalen Beziehung.
Affektive Dissoziation und privilegierte Beziehung
Vielleicht nehmen wir jetzt den Zusammenhang zwischen dem Prozeß der affektiven Dissoziation und dem der privilegierten Beziehung
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wahr: Sie tragen sich gegenseitig. Die Dissoziation spaltet die authentische Beziehung in zwei komplementäre Tendenzen auf: die Tendenz zur Fusion und die Tendenz zur Vernichtung, wobei die eine dominiert und die andere im Hintergrund bleibt. In beiden Fällen entsteht eine geschlossene Beziehung, die sich notwendig auf ein exklusives Objekt beschränkt, das die Aufgabe hat, die vorherrschende Tendenz zu befriedigen. Sobald die Beziehung zu Personen durch die Befriedigung von Neigungen und Bedürfnissen ersetzt wird, zerfällt die Realität in zwei Kategorien: Objekte, die Befriedigung verschaffen, und Objekte, die Befriedigung verhindern. Die Dissoziation der Gefühle zieht somit die Dissoziation der Affekt-Objekte nach sich, d. h. die privilegierte Beziehung. Doch sobald diese Beziehung zustande gekommen ist, wirkt sie auf die Dissoziation zurück. Die privilegierte Gestalt ist das Objekt der dominierenden Tendenz, zumindest wird es bewußt so erlebt, während die unterdrückte Tendenz sich an die anderen Personen heftet. Dank dieses Prozesses wird die geliebte oder gehaßte Person noch mehr geliebt oder gehaßt, und die schützende Dissoziation der Gefühle konsolidiert sich. Dies ist das Kristallisationsphänomen, das Stendhal für den Augenblick der Entstehung einer leidenschaftlichen Liebe beschrieben hat.
Errichtung einer absoluten Hierarchie, Autoritätsbeziehung
Die privilegierte Beziehung verändert die Art und den Sinn der Hierarchien, die wir unter den Objekten unserer Affekte aufrichten. Auch die authentische Beziehung unterdrückt nicht jede Hierarchie, sie erlaubt im Gegenteil eine subtile Differenzierung der Beziehungen. Die Beziehung zum Gatten, Freund oder Vertrauten wird anders erlebt als die zu einem Mitreisenden in der Eisenbahn, selbst wenn wir einen tiefen Gedankenaustausch mit ihm hätten. Doch besitzen diese Hierarchien keinen substantiellen Charakter. Wir sind uns über ihre Zufälligkeit im klaren. Sie hängen mit den individuellen Eigenschaften des anderen zusammen und mehr noch vielleicht mit der Geschichte unserer Beziehungen. Sie sind sozusagen nicht vorherbestimmt Neue Beziehungen, vielleicht zu einem Unbekannten, können die bestehenden Hierarchien verändern. Der neue Bekannte kann auf Grund eines günstigen Vorurteils engster Vertrauter werden. Die Hierarchie bezieht sich also auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart oder Zukunft. Die authentische Beziehung ist egalitär, insofern sie sich jedem unter denselben Bedingungen öffnet und ständig die Gesamtheit unserer
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Beziehungen wieder aufs Spiel setzt. Weiter handelt es sich hier um monierte Hierarchien, nicht um Gegensätze von Schwarz und Weiß, Alles oder Nichts. Die individuelle Beachtung, die jedem geschenkt wird, verhindert Simplifizierungen und Übertreibungen und hält plötzlich Gefühlsumschwünge hintan, so das häufige Auf- und Niederschaukeln von Liebe und Haß. Im Gegensatz dazu läßt die Hierarchie der privilegierten Beziehung keine Nuancen zu. Hier herrscht strikte Trennung zwischen denen, die wir lieben, und denen, die wir verabscheuen. Ändert sich diese Hierarchie einmal, so kommt dies einem Erdbeben gleich und bedeutet eine völlige Umkehrung aller Beziehungen; dies hängt mit dem Umstand zusammen, daß die unterdrückte Leidenschaft die Oberhand über die bisher dominierende gewinnt, daß Haß der Liebe Platz macht oder umgekehrt. Vor allem ist dies eine substantielle Hierarchie und eine Hierarchie a priori. Sie ist begründet in irgendeiner substantiellen Eigenschaft des Objekts, durch die es sich auf ewig von den anderen abhebt, als entweder über oder unter ihnen stehend. Weil eine bestimmte Person Mutter, Vater, Kind, Vorgesetzter, Untergebener, Ausländer, Jude usw. ist, empfinden wir für sie den oder jenen Affekt. Die absolute Kluft, die sich auf diese Weise zwischen den beiden Objektkategorien auftut, ist nur der Widerschein jener psychischen Kluft, die wir vermöge des Dissoziationsprozesses als Schutz zwischen Liebe und Haß schaffen. Autoritätsbeziehung nennen wir jenen Aspekt der privilegierten Beziehung, der mit der Existenz einer absoluten Hierarchie zusammenhängt, und Autoritätsfiguren jene Personen oder Objekte, die in einer solchen Hierarchie einen Platz einnehmen. Die privilegierte Beziehung ist die Grundlage des Rassismus und, allgemeiner, die Grundlage dessen, was manche Autoren die »autoritäre Persönlichkeit« genannt haben (Adorno et al., 1950). Die Untersuchungen von Frenkel-Brunswick und Adorno haben überdies gezeigt, daß die bedingungslose Respektierung der Eltern und die Bindung an überkommene Familienwerte eng mit rassistischen Einstellungen zusammenhängen. Der Rassismus und die »autoritäre Persönlichkeit« sind daher keine zufälligen Phänomene, die sich lediglich durch eine besondere historische Konstellation erklären lassen. Ihre Wurzeln liegen vielmehr in jenem universalen menschlichen Phänomen der privilegierten Beziehung. So betrachtet sind die Einstellung eines Kindes, das sich mit seinen Eltern identifiziert, und die rassistischen Einstellungen von derselben Art. Rassismus und ähnliche Einstellungen lassen sich nur mildern, wenn intensiv und geduldig an der Aufhebung der Ent231
fremdung und der Identifikation gearbeitet und so die privilegierte Beziehung in allen Bereichen des sozialen Lebens schrittweise abgebaut wird. Ambivalenz Die Einstellung zur privilegierten Gestalt kann nur ambivalent sein. Dies rührt daher, daß diese ein Abwehrmittel und als solches das Instrument einer Verdrängung ist. Wir stoßen hier auf eine weitere Anwendungsmöglichkeit der Theorie des mit der Dissoziation verbundenen doppelten Konfliktes, die wir schon weiter oben (S. 195-198) behandelt haben: Erstens der statische Konflikt zwischen possessiver Liebe und Feindseligkeit, das geliebte Objekt wird insgeheim gehaßt, das gehaßte Objekt insgeheim geliebt. Gelegentlich kommen diese verborgenen und indirekten Gefühle zum Durchbruch, und die bisherigen Bedeutungen der Beziehungen schlagen in ihr Gegenteil um. Hinter diesem ersten Konflikt verbirgt sich ein zweiter und tieferer: der dynamische Konflikt zwischen dem Bestreben, die privilegierte Beziehung zu verstärken, und dem, sie abzubauen. Sie zu verstärken bedeutet, der Trennungsangst noch mehr auszuweichen und die schützenden Strukturen zu festigen; es bedeutet aber auch, der Entfremdung und Identifikation in verstärktem Maße anheimzufallen und sich noch mehr der Möglichkeit zu autonomem Selbstausdruck, authentischer und kreativer Beziehung zu realen anderen zu berauben. Baut man jedoch die privilegierte Beziehung ab, so vermehrt man seine Ausdrucks- und Beziehungsfähigkeiten, allerdings erfährt man so die Trennungsangst aus größerer Nähe, verzichtet auf bewährte Schutzsysteme und engagiert sich schutzloser in der Welt. Auch der statische Konflikt, das Schaukelspiel von Liebe und Haß, ist nicht einfach das Ergebnis eines Wiederholungszyklus, eine Episode in dem ewigen Kampf zwischen Eros und Thanatos, sondern er läßt sich als Anzeichen einer Entwicklung deuten, die zur Oberwindung von possessiver Liebe, Haß und Ambivalenz und zur Entstehung einer authentischen Beziehung nach Auflösung der privilegierten führt. Der Psychologe, Psychotherapeut, Trainer oder Psychosoziologe, der dieses Zeichen richtig zu deuten weiß, vermag seinem Klienten bei dieser Umwandlung zu helfen. Er und sein Klient werden gewahr, daß die Bindung des Klienten an die privilegierte Person keine andere ist als die Bindung zu jedem Menschen, daß sie ihm keine absolute Garantie gegen die Einsamkeit gewährt und dennoch nicht geleugnet werden kann. Umgekehrt beobachteten wir bei vielen Trainingsgruppen und Inter-
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ventionen in Organisationen, daß die Person oder Gruppe, die als Autorität gilt, zu den abhängigen Personen komplementäre Einstellungen hat: auch sie sind ambivalent, entfremden und identifizieren sich. Dies ist ein sehr bedeutsamer Sonderfall der Gruppenkonvergenz. Man darf daher die Untersuchung des Phänomens der privilegierten Beziehung nicht auf die individuelle Persönlichkeit beschränken: es ist ein kollektives Phänomen. Die Frage nach der Funktion der privilegierten Beziehung und der Autoritätsfiguren in der Gruppe wird uns im nächsten Kapitel beschäftigen.
Die Elternbeziehung
Zuvor möchten wir aber aus unseren Überlegungen Schlußfolgerungen ziehen, die die Eltern-Kind-Beziehung betreffen. Diese ist der Prototyp der privilegierten Beziehung: Affektkonzentration, absolute Hierarchie und Autoritätsfiguren, Entfremdung, Identifikation und Ambivalenz sind die Regel, übrigens nicht nur auf seiten der Kinder gegenüber den Eltern, sondern auch umgekehrt. Der historische Beitrag Freuds liegt gerade darin, diese Phänomene aufgewiesen zu haben. Freud untersuchte die Verhaltensweisen des Kindes nicht mehr als bloße biologische Mechanismen, sondern erkannte ihnen eine psychologische Bedeutung zu (Luststreben, Feindseligkeit usw.). Die kindlichen Verhaltensweisen lassen nach Freud eine einheitliche und durchgängige Bedeutung erkennen, die es erlaubt, von den einen zu den anderen überzugehen, und die es verbietet, diese Verhaltensweisen lediglich als im vorhinein völlig festgelegte Triebmontagen zu betrachten. Zwei Grundstrukturen allerdings behielt Freud den Charakter von Urgegebenheiten und ursprünglichen Triebmontagen vor, und das sind eben die privilegierte Beziehung und die psychologische Dissoziation zwischen den Fusions- und Destruktionstrieben. Für Freud wie für die Psychoanalyse allgemein ist die Beziehung des Kindes zu den Eltern von vornherein eine privilegierte Beziehung mit allen eben erwähnten Merkmalen. Die psychologische Dissoziation drückt der gesamten kindlichen Sexualität, wie Freud sie beschrieben hat, ihren Stempel auf; wir versuchten dies weiter oben (S. 209 ff. und S. 224) hinsichtlich der oralen und analen Phase aufzuzeigen. Diese Grundstrukturen werden ihrerseits nicht analysiert. So weit die Analyse auch reicht, immer stößt sie letztlich auf eine privilegierte Beziehung und eine dissoziierte Sexualität. In diesem Rahmen bewegt sich die analytische Deutung. Privilegierte Beziehung und dissoziierte Sexualität verweisen auf nichts als
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auf sich selbst; sie brauchen nicht interpretiert zu werden, sie bilden die nicht weiter rückführbare Grundlage der Analyse. Dagegen haben für uns die privilegierte Beziehung des Kindes zu den Eltern und die infantile Sexualität einen verborgenen Sinn: den einer Abwehr der authentischen Beziehung zu den Eltern. Sie sind keine primären Gegebenheiten der Psyche, sondern sekundäre Ausgestaltungen. Sie haben nicht den Charakter einer Montage - von Trieben oder anderem -, sondern eines unbewußten psychologischen Aktes intentionaler Natur, ohne daß wir deshalb die Rolle der biologischen Determinationen leugnen wollten. Träfe unsere Interpretation zu, so wäre es möglich, unter bestimmten Umständen die »Spur« der authentischen Beziehung des Kindes zu den Eltern zu finden und ein Jenseits oder vielmehr ein Diesseits der Freudschen kindlichen Sexualität zu entdecken. Wir können diese Hinweise nicht näher präzisieren. Die Kinderpsychologie ist nicht unser Gebiet, und wir wissen nicht, ob das Gesagte für die Erforschung dieses Bereiches der Psychologie von Nutzen sein kann. Wir wollten jedoch auf diese Bemerkungen nicht verzichten, da sie mit unseren allgemeinen Hypothesen zusammenhängen, die kaum ernsthaft zu vertreten sind, ohne auch die Grundannahmen der Psychoanalyse über die kindliche Psyche in Frage zu stellen. Wir kämen noch auf einem anderen Weg dahin, die Freudsche Konzeption der Eltern-Kind-Beziehung zu modifizieren. Freud sah in den Gruppenphänomenen die Wiederholung der Familienbeziehungen. Wäre es nicht legitim und fruchtbar, umgekehrt die Familie selbst als Gruppe zu betrachten, die der allgemeinen Gesetzmäßigkeit des affektiven Lebens der Gruppen unterworfen ist? Die Psychoanalyse untersucht offenbar die Interaktion der Psychologie des Kindes mit der der Eltern und aller Familienmitglieder. Unser Vorschlag wäre dagegen, die Familie als ein Ganzes zu betrachten, auf Grund der Hypothese, daß eine Gruppe der Ort kollektiver Gefühlserfahrungen und kollektiver Entfremdungs- und Identifikationsphänomene ist, von denen die individuellen Verhaltensweisen nur Interpretationen darstellen. Eine Konsequenz dieser Auffassung wäre es, das individuelle Verhalten der Familienmitglieder im Hinblick auf die Hypothese einer emotionalen Aufgabenteilung zwischen den Familienmitgliedern zu untersuchen: sie bemühen sich einander ergänzend, einen kollektiven Konflikt zum Ausdruck zu bringen und zu lösen. Damit würde man geradewegs jene »multi-body psychology« ansteuern, die Balint {1966) forderte. Einige neuere Untersuchungen wie die von Laing über die Familien von Schizophrenen gehen übrigens in diese Richtung (Laing, Esterson, 1964).
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Unser Vorschlag ist kurz gesagt der: Die Familie ist als ein Ort existentieller Begegnung zu betrachten, an dem kollektiv Abwehrreaktionen gegen die authentische Beziehung ausgebildet werden. Die privilegierte Beziehung zu den Eltern und die aufgespaltene infantile Sexualität sind die Manifestationen dieser Abwehrreaktionen. Den Manifestationen der Kinder entsprechen komplementäre Manifestationen auf seiten der Eltern.
Kritik des Übertragungsbegriffs
Es ist nun leicht ersichtlich, in welchem Sinn wir den Begriff der Obertragung zu revidieren haben. Dieser Begriff richtet sich auf die Art und Weise, wie die privilegierte Beziehung im Erwachsenenalter zustande kommt. Er besagt, daß die Beziehung des Erwachsenen zu einem Erzieher, Arzt, Vorgesetzten usw. die infantile Situation reproduziert; die unbewußten Bilder aus der Kindheitssituation werden auf die gegenwärtige Situation »Übertragen« und auf neue Personen projiziert. Die Entdeckung der Übertragung durch Freud war für die weitere Entwicklung der Psychoanalyse von entscheidender Bedeutung, denn von da an konzentrierte sich die Analyse nicht mehr auf die Persönlichkeit des Patienten, sondern auf die Beziehung zwischen Patient und Therapeut. Fortan stützt sich Freud ganz wesentlich auf das, was in dieser Beziehung erlebt wird, um Erinnerungen leichter ans Tageslicht zu fördern, und gibt die früher geübte Methode intellektueller Rekonstruktion in Verbindung mit Suggestion auf. Die Analyse der Übertragung ist seitdem das bevorzugte Mittel psychoanalytischer Behandlung geworden. Der Fortschritt, den Freud erzielte, ist jedoch ungenügend. Unsere Kritik des Übertragungsbegriffes umfaßt vier Punkte.2 Erstens kann man die Auffassung Freuds kritisieren, daß der Einfluß der Vergangenheit mechanisch erfolge. Das taten vor allem die exiBezüglich der heutigen Auseinandersetzung mit der Übertragung, namentlich der Kritik Rogers' und der existentiellen Therapeuten, verweise ich auf eine frühere Arbeit (Pag~s 1965, S. 141-147). Die Ergebnisse meiner eigenen Auseinandersetzung mit dem übertragungsbegriff haben sich seit dieser Zeit nicht wesentlich geändert, abgesehen davon, daß ich jetzt im Interesse größerer Klarheit die These von der »lateralen Übertragung« (in der jeweils aktuellen Situation) und die These von der kollektiven Übertragung voneinander unterscheide.
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stentiellen Therapeuten. Z. B. stellt Rollo May die Remanenz eines unbewußten Bildes, das später auf die neue Situation »projiziert« werde, in Zweifel (May et al., 1959, S. 83). Er ist der Ansicht, die Vergangenheit wirke durch eine Veränderung des Erfahrungsmodus, der Realitätserfassung, und diese Veränderung hänge nicht notwendig mit einer unbewußten Erinnerung zusammen. Folglich werde sich das Bemühen des Therapeuten nicht darauf richten, die vergessene Erinnerung wieder ins Bewußtsein zu heben - womöglich ausgehend vom aktuell Erlebten -, sondern vielmehr, dem Patienten die ihm eigene, die gegenwärtige Beziehung undurchschaut beeinflussende» Erfahrungsmodalität« bewußt zu machen, und zwar ausgehend von wirklich vergessenen vergangeneo Erfahrungen. Diese Kritik stößt noch nicht bis zum Kern des Problems vor, dem wechselseitigen Einfluß vergangener und gegenwärtiger Erfahrungen bei der Entstehung der privilegierten Beziehung. Wir behaupten also zweitens, daß die privilegierte Beziehung nicht allein, ja nicht einmal in erster Linie, aus der Vergangenheit hervorgeht, wie Freud annahm, sondern aus der gegenwärtigen Erfahrung der Begegnung. Dies ergibt sich aus allem bisher Gesagten. Man wird vielleicht einwenden, mit der Entdeckung der Übertragung durch Freud sei ja gerade die Dimension des gegenwärtig Erlebten in die Analyse eingeführt worden. Doch bildet das gegenwärtig Erlebte, in diesem Fall die Gefühle des Patienten in bezug auf den Analytiker, für den Analytiker lediglich den Zugang zur vergessenen infantilen Situation, die jene Gefühle verursacht; keinesfalls verweist es auf ein anderes Unbewußtes, auf jenes von uns postulierte aktuelle Unbewußte nämlich, das in der Beziehung erlebt wird. Daran knüpft sich das dritte Argument. Die privilegierte Beziehung ist eine Abwehrreaktion gegen die authentische Beziehung. Das besagt jedoch, daß die authentische Beziehung hinter der privilegierten Beziehung weiterbesteht und sich in ihr ausdrückt. Das Freudsche Schema trennt die Übertragung als eine Art Wahrnehmungsillusion von der realen Beziehung und entkleidet damit in Wirklichkeit die Übertragung aller Realität und Bedeutung. Dies meint vermutlich Rollo May, wenn er sagt: »Für die existentielle Therapie ist die >Übertragung< eingebettet in den neuen Zusammenhang einer ereignishaften realen Beziehung zwischen zwei Personen« und: »nie ist etwas nur Übertragung« (May et al., 1958, S. 83). Ebenso betont Rogers (1951, S. 199 f.) die Realität der Beziehung zwischen Therapeut und Patient. Diese Beziehung hält die Therapie in Bewegung; sie wird durch die Therapie nicht abgebaut, sondern vielmehr in dem Maße verstärkt, wie die Ab236
wehrreaktionen schwinden. Die »Übertragung«, die privilegierte Beziehung wäre somit ein erster Ansatz in Richtung authentischer Liebe zwischen Therapeut und Klient, der eine unbewußte authentische Beziehung ankündigt und vorbereitet. Die Übertragung ist schließlich kein individuelles, auch nicht nur ein interpersonales, sondern ein kollektives Phänomen. Es entsteht inmitten einer totalen Gruppe, deren kollektive Abwehrreaktion gegen die authentische Beziehung es auf verschiedene Weisen zum Ausdruck bringt. Das neuerdings wieder erwachte Interesse der Psychoanalytiker amBegriff der Gegenübertragung (die Rückübertragung vom Analytiker auf den Patienten} ist in dieser Hinsicht bezeichnend, jedoch unzulänglich. Es geht nicht nur darum, die Interaktion zwischen der Gegenübertragung des Analytikers und der Übertragung des Patienten zu untersuchen; vielmehr sind Obertragung und Gegenübertragung als
zwei komplementäre Aspekte eines Konfliktes zu betrachten, den beide Mitglieder des Paares Analytiker-Klient gemeinsam erleben und der sich je nach Stand der analytischen Beziehung ändert. In einer früheren Arbeit habe ich dazu geschrieben: »Obertragung und Gegenübertragung gehören zu einer Art Prüfung, der sich Klient und Therapeut gemeinsam zu unterziehen haben. Geprüft wird ihre positive Beziehung, die den grundlegenden Entwicklungsgesetzen der Beziehung folgt - Gesetzen, die nicht der Psychologie des Individuums, sondern der Sozialpsychologie angehören« (Pages, 1965, S. 146}. Die psychoanalytische Behandlung erweist sich mithin als Sonderfall einer Gruppensituation und kann nur als solche untersucht werden. Ich habe früher anläßlich des zweiten (gegenwärtige Situation}, dritten (Abwehr der authentischen Beziehung) und vierten Punkts (kollektive Reaktion} unserer Kritik den Begriff einer lateralen Übertragung vorgeschlagen (1965, S. 125}. Die laterale Übertragung läßt durch eine kollektive Abwehrreaktion gegen die authentische Beziehung die privilegierte Beziehung entstehen. Wir glauben jedoch heute, daß der Ausdruck »Entfremdung« angemessener ist als »Übertragung« {oder >>Projektion«}, da er die Idee einer radikalen psychologischen Umformung, wie sie die Bildung einer privilegierten Beziehung darstellt, besser zur Geltung bringt. Wie dem auch sei, unsere Positon läßt sich kurz so darstellen: Die privilegierte Beziehung resultiert nicht einzig und allein aus dem Einfluß der Vergangenheit und dessen Übertragung auf die gegenwärtige Situation. Sie ist eine Reaktion kollektiver Entfremdung, deren Sinn in einer Abwehr der gegenwärtigen authentischen Beziehung liegt. Sie manifestiert sich in komplementären individuellen Reaktionen, die den im Lauf der individuellen Lebensge-
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schichte aufgebauten Abwehrformen entsprechen. Hier ist eine historische Analyse der »Übertragung« im Sinne Freuds berechtigt. Die individuelle Reaktion ist jedoch nur eine Facette des kollektiven Konflikts und richtet sich ganz nach dessen Entwicklung. Die Analyse der privilegierten Beziehung in der jeweils gegenwärtigen Situation kann sich daher nicht mit der Summe und auch nicht mit der Kombination der individuellen Übertragungen begnügen. Unsere Thesen gelten natürlich nicht nur für die psychoanalytische Behandlung, für die Psychotherapie oder für Trainingsgruppen, sondern - wie auch die Thesen Freuds selbst - für jede soziale Situation, für Gruppen und Organisationen im Bereich des Bildungswesens, der Industrie, Verwaltung usw. Mit diesen Situationen werden wir uns im folgenden Kapitel näher beschäftigen.
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9. Kapitel Kollektive Gefühle und gesellschaftliche Strukturen
Die privilegierte Beziehung kann nicht allein unter dem individualpsychologischen Aspekt untersucht werden, denn es ist notwendig, sie als kollektive Reaktion zu betrachten. Wir wollen daher in diesem Kapitel die Zusammenhänge zwischen kollektiven Gefühlen und gesellschaftlichen Strukturen untersuchen, ohne uns jedoch auf das Problem der privilegierten Beziehung zu beschränken. Auf die »Probleme des Strukturalismus« werden wir indes nicht eingehen. Wir machen uns etwa die Perspektive Lewins zu eigen und definieren die Strukturen einfach als die Gesamtheit der bewußten und unbewußten Wahrnehmungen einer Gruppe von ihrer Umwelt und ihren inneren Beziehungen. Die Strukturen haben somit für uns keinen »materiellen« Charakter; sie sind psychologische Gegebenheiten, obwohl sie natürlich Reaktionen auf die materielle und soziale Umwelt, die Okologie der Gruppe, sind. Ich beginne mit der Beschreibung einer psychosoziologischen Intervention, die wir in dem Industrieunternehmen P. durchgeführt haben t.
Die Intervention im Unternehmen P.
P. beschäftigt zum Zeitpunkt, da die Intervention beginnt, ca. 500 Personen: 400 in einer Fabrik und 100 im Büro. Es ist ein Unternehmen der chemischen Leichtindustrie; die Erzeugnisse sind sowohl für Endverbraucher in privaten Haushalten als auch für die Industrie bestimmt. Es ist mit einem großen Unternehmen der chemischen Schwerindustrie liiert, das den Großteil des Kapitals innehat und gleichzeitig sein wichtigster Zulieferer ist. Die Direktoren (das Leitungsgremium umfaßt drei 1 Dem Interventionsteam gehörten Andre Levy, J. C. Rouchy und ich selbst an. Neben der eigentlichen Intervention führte dasselbe Team eine Untersuchung über den Veränderungsprozeß in dem Unternehmen durch, mit Unterstützung des »Commissariat generalau Plan« (Service de Ia Productivite) und der ARIP. Eine erste qualitative Auswertung wurde am Ende der Intervention vorgelegt (Pages, 1963).
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Personen, die verschiedene Titel führen, aber einfach als die »Generaldirektion« bezeichnet werden) werden vom Aufsichtsrat ernannt und unterstehen dessen Weisungen. Sie besitzen einen kleinen Teil des Kapitals und bezeichnen sich selbst als »Halbkapitalisten«. Das Unternehmen erfreut sich weitgehender Autonomie gegenüber dem Stammhaus. Die Tätigkeit des Unternehmens liegt in der Schlußphase industrieller Verarbeitung; es bezieht von der chemischen Schwerindustrie Basisprodukte, die zu Endprodukten verarbeitet und auf den Markt gebracht werden. Ein beträchtlicher Teil der Unternehmenstätigkeit gilt dem Handel und der angewandten Forschung (Entwicklung neuer Fertigungsmethoden oder Aufmachungsformen). Es ist ein entschieden modernes Unternehmen und liegt hinsichtlich der Expansionsrate, der Gehälter und der innerbetrieblichen Verbesserungen an der Spitze der vergleichbaren Betriebe. Bei den Firmenangehörigen ebenso wie bei Außenstehenden hat es einen guten Ruf. Aus diesem Grunde konnte es sich das Unternehmen auch leisten, seit dem Jahre 1961 bestimmte innerbetriebliche Schwierigkeiten ohne Beschönigung zu untersuchen. Die Direktion konsultierte Psychosoziologen, die die Kommunikationsprobleme innerhalb des Unternehmens erforschen und eine entsprechende Intervention durchführen sollten. Die anfangs geäußerten Probleme bezogen sich insbesondere auf den Informationsumlauf, auf Schwierigkeiten zwischen jüngeren und älteren Führungskräften sowie zwischen den Führungskräften und Generaldirektion. Diese klagte ihrerseits über häufigen Mangel an Initiative seitens der Führungskräfte; die Initiative ließ besonders bei Aufgaben, die in kollektiver Verantwortung übernommen worden waren, zu wünschen übrig. Dies war zum Beispiel im Rahmen der Studiengruppen der Fall, die von der Direktion zur Lösung von administrativen und kommerziellen und von Forschungsproblemen eingesetzt worden waren. Direkt betroffen von der Intervention wurden die Generaldirektion, die Führungskräfte und die höheren Angestellten des Unternehmens, insgesamt etwa vierzig Personen. Die Intervention dauerte eineinhalb Jahre (Januar 1962 bis Juni 1963) und verlief nach folgendem allgemeinen Schema: Zu Anfang wurde etwa sechs Wochen lang eine Erhebung mittels Einzel- und Kollektivinterviews durchgeführt: der Bericht wurde unter Wahrung der Anonymität allen Interessenten vorgelegt. Dann nahm die Intervention die Form nicht-direktiver Gruppenarbeit an, deren Ziel im wesentlichen darin lag, Verhaltensweisen und Gefühle, die Einfluß auf das Geschehen im Unternehmen ausübten, namentlich kollektive Gefühle, besser kennenzulernen.
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Die Psychosoziologen gingen von der Annahme aus, daß tiefreichende affektive Phänomene (unbewußte Gruppengefühle) das Geschehen in Gruppen und Organisationen beeinflussen und daß zum Verstehen von Gruppensituationen Methoden erforderlich sind, die eine schrittweise Erhellung dieser Phänomene ermöglichen. Nach ihrer Vorstellung sollte in den Gruppen nicht nur über Erfahrungen außerhalb der Gruppen, also aus dem alltäglichen Geschehen im Unternehmen, berichtet werden; vielmehr sollten hier die teilweise unbewußten Gefühle, welche diese Gesamtheit von Menschen verband, bewußt erlebt, an den Tag gebracht und gegebenenfalls geändert werden. Es wurden drei Gruppen zu je etwa zwölf Teilnehmern gebildet. Zu jeder Gruppe gehörten einer der drei Generaldirektoren, Abteilungsleiter, Assistenten (die jüngeren Führungskräfte) und ein Psychosoziologe. Die Gruppenmitglieder übten annähernd ähnliche Tätigkeiten aus (technische und kommerzielle, Forschung). Jede Gruppe kam einmal in der Woche für zwei Stunden zusammen. Außerdem fand auf Anregung der Psychosoziologen alle vierzehn Tage eine Plenarsitzung statt. Dem lag folgende Arbeitshypothese zugrunde: Da in den Plenarsitzungen, die auf dieselbe Weise wie die kleinen Gruppen geleitet werden sollten, das gesamte leitende Personal des Unternehmens vertreten war, würde es hier möglich sein, auf der Ebene des Unternehmens als Ganzem, über die individuellen und interindividuellen Phänomene hinaus, den sehr wenig bekannten Bereich der kollektiven Gefühle zu erkunden. 2 Die Intervention ging aus von Beobachtungen über Verhaltensweisen und funktionale Strukturen im Unternehmen, mündete aber rasch in den Bereich der Beziehungen und Gefühle ein. Z. B. machte schon die zu Beginn durchgeführte Erhebung deutlich, daß die Hindernisse für die wechselseitige Information mit affektiven Problemen und Beziehungsschwierigkeiten zusammenhingen. Informationen wurden als Reichtum und Machtquelle empfunden. Trotz des eingehend untersuchDie vorliegende Beschreibung stellt keinen Bericht im eigentlichen Sinn dar; ein solcher soll demnächst erscheinenden Veröffentlichungen vorbehalten bleiben. Im Verlauf der Intervention wurde vielfältiges Material gesammelt, um deren Ablauf qualitativ beschreiben zu können: Bandaufnahmen der wöchentlichen Zusammenkünfte der Psychesoziologen (eine Art Tagebuch der Intervention) und Bandaufnahmen der Gruppensitzungen. Außerdem erarbeiteten die Psychosoziologen Instrumente zur Messung eventuell eingetretener Anderungen; diese Messungen wurden viermal mit der Population durchgeführt. Das hier Gesagte stellt, wie schon erwähnt, keinen vollständigen überblick über die Intervention dar; ich befasse mich hier insbesondere mit den Zusammenhängen zwischen den kollektiven Emotionen und den Autoritätsbeziehungen. 2
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ten administrativen Kommunikationsnetzes wurden insbesonders Informationen, die andere für ihre Arbeit unbedingt benötigten, zurückgehalten, was zusammenhing mit ambivalenten Einstellungen zu Kollegen, zwischen Abteilungsleitern und Assistenten sowie zwischen Generaldirektion und FührungspersonaL Mehr und mehr trat zwischen der Generaldirektion und den Führungskräften ein ganzes Bündel komplexer Einstellungen zutage. Es schien im Mittelpunkt der meisten aufgetauchten Probleme zu stehen, so wenig sie auch dem Anschein nach damit zu tun haben mochten. Langsam offenbarten die Mitglieder des Führungspersonals ihre ambivalente Haltung zu den Generaldirektoren. Einerseits brachten sie den Männern, denen ihrer Meinung nach ein Gutteil der Unternehmenserfolge und das alles in allem als befriedigend beurteilte Betriebsklima zu verdanken waren, Vertrauen, Bewunderung und in bestimmten Fällen sogar Zuneigung entgegen. Zum anderen waren sie der Ansicht, die Generaldirektion sei allmächtig, manipulativ (trotz ihres demokratischen Anstrichs autokratisch) und mische sich zuviel ein. Die Führungskräfte setzten sich gegen ihren Einfluß bewußt und unbewußt zur Wehr. Zum Beispiel warf man einem Generaldirektor in seiner Gruppe vor, einen Aspekt seiner Politik nicht hinreichend präzisiert zu haben; als er vorschlug, dies zu tun, wurde ihm, trotz wiederbalter Angebote seinerseits, nie die Gelegenheit geboten. Solche und andere Widersprüche zeigten, daß man es nicht mit einem differenzierten objektiven Urteil über eine faktische Situation zu tun hatte, sondern mit einem unbewußten psychischen Konflikt. Die Generaldirektion - und bestimmte Direktoren auch individuell - waren für viele, wenn nicht für alle zu einer internalisierten Figur geworden, mit der sie sich unbewußt identifizierten. In ihren ambivalenten Einstellungen zu den Generaldirektoren spiegelte sich ein innerer Konflikt wider: einerseits empfand man das Verlangen, sich diesem Bild anzugleichen, andererseits hatte man das entgegengesetzte Bestreben, seine Autonomie zu behaupten. Dies wurde besonders deutlich, als sich die Gruppen mit dem von ihnen so genannten »Gorilla«-Problem auseinandersetzten. Gewisse Leute hielt man für die Gorillas der Generaldirektion: Spione, Doppelagenten, Träger geheimer Missionen. Sie kopierten in allen Punkten die Haltung der Generaldirektoren, um sich bei ihnen beliebt zu machen. In seiner wahren Dimension wurde das Problem aber erst deutlich, als sich herausstellte, daß die angeblichen Gorillas erstens nur sehr selten präzise Empfehlungen von den Generaldirektoren erhielten, sondern diesen aus eigenem Antrieb zu Diensten waren und sie nachahmten; daß ihnen zweitens ihre Haltung nicht bewußt war, und daß manche
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unverkennbar den oder jenen Direktor bis in seine Art zu argumentieren oder bis in seine Sprachmanierismen nachahmten, ohne sich dessen bewußt zu sein; daß drittens die Grenzen der Gorilla-Gruppe fließend waren: waren diese Verhaltensweisen auch bei einigen ausgeprägter als bei anderen, vorhanden waren sie mehr oder weniger bei allen, und für irgend jemandem war man immer ein Gorilla. Schließlich stellte man fest, daß die Gorillas in der Gruppe als Kristallisationspunkte der Feindseligkeit fungierten. Diese Feindseligkeit galt aber nicht ihnen, man hatte sie nur auf sie verschoben; eigentlich empfand man sie bewußt oder unbewußt gegen die Generaldirektion. Ein ähnlicher Verschiebungsmechanismus war in den Beziehungen zwischen Kollegen allgemein und zu den Untergebenen wirksam. In den Gruppen tauchte einmal die Frage auf, warum man wohl so empfindlich auf alles reagierte, was nach einem Autoritätsakt von seiten eines Kollegen oder eines Rangniedrigen aus einer anderen Abteilung aussah. Man diskutierte über konkrete Vorfälle und erkannte bald, daß der »Autoritätsakt« oft nur in der Einbildung bestand oder jedenfalls bei weitem nicht ausreichte, um die heftige Reaktion zu erklären, die er ausgelöst hatte. Die Analyse machte klar, daß diese Reaktion mit sehr tief empfundenen Demütigungen zusammenhing, die man im Verkehr mit der übergeordneten Autorität hatte hinnehmen müssen. Oft lagen sie schon mehrere Jahre zurück, und die Erinnerung an sie blieb im geheimen wach, oder sie waren sogar vergessen worden. »Man rächt sich an den anderen für die erlittenen Demütigungen«, hieß es dann in den Gruppen. Dahinter schien ungefähr folgender Mechanismus zu stehen: Unangenehme Angst- und Ablehl).ungserfahrungen, die man mit den Vorgesetzten machte, wurden isoliert und ins Unbewußte abgeschoben. Das Bild der Vorgesetzten wurde idealisiert und man identifizierte sich mit ihm. Kollegen und Untergebene stellten das »böse Objekt« dar, d. h. das unbewußte Bild des aggressiven »bösen Chefs«, und aus diesem Grunde wurden sie angegriffen. Die Aufspaltung in ein »gutes Bild« vom Vorgesetzten, mit dem man sich identifizierte, und in ein unbewußtes »böses Bild«, das man introjizierte und auf Kollegen und Untergebene projizierte, war eine Abwehrmaßnahme gegen Ängste und Befürchtungen, die man im Verhältnis zu den Vorgesetzten empfand. Diese Analyse ließ die Beziehungen der Kollegen untereinander und zu den Untergebenen in einem neuen Licht erscheinen. Denn die Kluft zwischen Jungen und Alten, die in der Umfrage sichtbar gewordenen Cliquen, überhaupt das ganze Statussystem des Unternehmens und alle Mechanismen der Abkapselung hingen mit diesen psychologischen Dissoziationsphänomenen zusammen.
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Auf dieselben Konflikte stieß man bei den Generaldirektoren. Ihre Ambivalenz gegen die leitenden Angestellten, ihre Untergebenen, entsprach deren Ambivalenz gegen sie. Die Ideologie und die bewußten Absichten der Direktoren gingen dahin, dem Führungspersonal Vertrauen entgegenzubringen und es in wachsendem Umfang an der Verantwortung und an der Macht zu beteiligen. Diesen Zweck verfolgten zahlreiche Maßnahmen, die im Laufe der Jahre getroffen worden waren: Information über Probleme und Erfolge des Unternehmens, Bemühen um technische Vervollkommnung, Einführung der Prinzipien des »management by objectives«, das eine vorherige Einigung über die Ziele voraussetzt und die pedantische Kontrolle der aufgewandten Mittel ausschließt, Übertragung von Verantwortung an Gruppen, planmäßige Gewinnbeteiligung usw. Gleichzeitig liefen aber viele alltägliche Handlungen der Direktoren diesen ihren Absichten zuwider: bestimmte besonders wichtige Informationen wurden geheimgehalten, die Verantwortlichen wurden in Wirklichkeit genau kontrolliert, die den Gruppen übertragenen Befugnisse waren eng begrenzt und erweckten in mancher Hinsicht den Eindruck, daß durch sie Einzelpersonen von diesen Befugnissen ferngehalten werden sollten. So diente eine teilweise verwirklichte liberale Ideologie auch zur Rationalisierung und Verschleierung autoritärer Einstellungen. Das Bestreben, Macht und Einfluß zu teilen, und zu kooperieren, wurde durch das Bestreben, sich einen exklusiven Machtbereich vorzubehalten, wirksam unterminiert. Die Untergebenen wurden bewußt idealisiert und unbewußt als »böse Objekte«, die man angreifen konnte, behandelt. Dieser auf Entfremdung und Identifikation gegründete Dissoziationsprozeß, den die Intervention zutage förderte, war so umfassend, daß niemand im Unternehmen von ihm ausgenommen war. Einerseits führte er zu einer bewußten Idealisierung der V argesetzten oder der Untergebenen, andererseits zu unbewußter Feindseligkeit und Ablehnung der einen wie der anderen. Man könnte dieses zusammengehörende Ganze als »Autoritätskomplex« bezeichnen. In der Richtung seines Verlaufs hatte der Prozeß Auswirkungen auf das alltägliche Verhalten, auf die expliziten und impliziten Strukturen des Unternehmens, auf die Festlegung der Ziele, die Arbeitsteilung, das Organigramm, das Statussystem und die Normen, die Kommunikationsnetze und das Sanktionssystem. Nach rückwärts schien er mit Ängsten und Befürchtungen verbunden, die noch kaum bestimmt waren. Worin bestanden nun eigentlich diese unterschwelligen Gefühle? Dieses Problem konnte im weiteren Ablauf der Intervention etwas erhellt werden. Die Entfremdungs- und Identifizierungsprozesse härten
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auf, die .Außerungen untertäniger Bewunderung oder irrationaler Opposition wurden seltener, und man konzentrierte sich nicht mehr so ausschließlich auf das Autoritätsproblem. Gleichzeitig tauchte ein neuer Konflikt auf. Einerseits entwickelte sich ein sehr starkes Gefühl der Gemeinschaft, zugleich mit dem Wunsch, die Gemeinschaft zu stärken und aufzubauen; man erlebte die Verbundenheit mit bestimmten Personen, mit seiner Arbeitsgruppe, mit dem Unternehmen als Ganzem und verlieh ihr beredten Ausdruck. Diese Gefühle hatten praktische Folgen: man interessierte sich aktiv für die Führung des Unternehmens, wünschte sich an den Diskussionen in allen Bereichen zu beteiligen und die Führung des Unternehmens kollektiv in die Hand zu nehmen. Aber andererseits wurden diese Gefühle und Wünsche von tiefen Zweifeln befallen, ob es überhaupt möglich wäre, eine tatkräftige und verantwortungsbewußte Gemeinschaft zu bilden. Die Führungskräfte wurden von den Fragen bewegt: Wie weit reicht unsere Solidarität? Wie stark sind unsere Spannungen und Rivalitäten? Wirkt nicht individueller Ehrgeiz zerstörend auf das Kollektiv? Ist die Direktion bereit, auf ihren exklusiven Machtanspruch zu verzichten und die Bildung eines Kollektivs zu fördern? Demselben Konflikt - und das ist sehr aufschlußreich - begegneten wir bei den Mitgliedern der Direktion: Wunsch nach Bildung eines Kollektivs, Bereitschaft zum Verzicht auf Machtinstrumente und Hohheitssymbole (z. B. durch Aufteilung der den Direktoren gehörenden Aktien; zur seihen Zeit schlug die Direktion dem Führungspersonal vor, über die Verteilung der Prämien aus dem Reingewinn gemeinsam zu entscheiden, doch wurde ihr Vorschlag nicht akzeptiert), aber auch die Befürchtung, von den Mitarbeitern verraten oder überhaupt ausgeschaltet zu werden. Wir sahen uns daher zu einer neuen Hypothese geführt. Der Autoritätskomplex und die von ihm abhängigen Strukturen schienen ihre Entstehung jenen widersprüchlichen, tieferen Gefühlen zu verdanken, die die Analyse aufgedeckt hatte. Es waren Abwehrmaßnahmen gegen das zentrale Problem, mit dem die Mitglieder des Unternehmens konfrontiert waren: die Möglichkeit, trotz ihrer Zersplitterung und Getrenntheit eine Gemeinschaft zu bilden. Um sich vor diesem tieferen und schwereren Konflikt zu schützen, schufen sie privilegierte Gestalten, entfremdeten sie sich und identifizierten sich mit Vorgesetzten oder Untergebenen, die man einerseits idealisieren und bewundern und andererseits insgeheim angreifen konnte. Auf dieseWeise brauchte niemand für das Kollektiv verantwortlich zu sein, und jeder konnte statt dessen Unterstützung erwarten oder er hatte die Möglichkeit, eine Rüge zu erteilen. Der statische Konflikt bot Schutz vor dem dynamischen.
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Die gesamte Autoritätsstruktur des Unternehmens erfüllte somit eine Abwehrfunktion gegen jene mehr oder weniger unbewußten kollektiven Gefühle, die aus der Begegnungssituation entspringen. Die Rolle der Vertreter der Autorität, in erster Linie der Generaldirektoren, bestand darin, diese abwehrende Funktion zu verstärken, wozu sie allerdings nur insofern imstande waren, als sie von einer kollektiven Strömung getragen waren. Ein Vorfall, der sich während der Intervention ereignete, vermag diesen Gedanken zu illustrieren. Ein leitender Angestellter aus der Gruppe der 40, der dem Unternehmen erst seit einigen Monaten angehörte, wurde entlassen. Wir selbst und der Großteil der Teilnehmer erfuhren dies an einem Tag, an dem eine Plenarsitzung und eine Gruppensitzung stattfanden. Das Ereignis löste starke Erregung aus, und mehrere Sitzungen lang war von nichts anderem mehr die Rede. Die erste Reaktion waren Zorn und Empörung, und fast drohend verlangte man von den Direktoren eine Erklärung. Daraufhin wurde mitgeteilt, daß nicht mangelnde Sachkenntnisse den Ausschlag für die Entlassung gaben, sondern die mehr oder minder allgemein bekannten Schwierigkeiten des Betroffenen in seinem Verhältnis zu Vorgesetzten und Kollegen. Da nun aber seine Stelle - es war eine technisch-kommerzielle - sehr viel gegenseitiges Vertrauen innerhalb der Abteilung voraussetzte, beeinträchtigten diese Schwierigkeiten die Arbeit erheblich. W eiter erfuhr man, daß sich seine unmittelbaren Vorgesetzten und Kollegen, die von der Direktion konsultiert worden waren, für die Entlassung ausgesprochen hatten. Diese Erklärungen schienen objektiv und beruhigten, zumindest an der Oberfläche, die aufgebrachten Gemüter. Doch war der Fall damit noch lange nicht erledigt, und die Gruppe unternahm eine Analyse ihrer eigenen Reaktionen, die uns sehr wichtig schien. Die Reaktionen schwankten anfangs zwischen Zorn, Empörung, einem Bedürfnis, dem Entlassenen Solidarität zu bekunden (man überlegte die Möglichkeit einer Wiedereinstellung, erfuhr jedoch bald, daß er eine andere Stellung gefunden hatte) und einer sonderbaren Indifferenz, einem offenkundigen Widerwillen, sich mit der Sache zu befassen, und einer Tendenz, das Problem zu bagatellisieren. Bei einer näheren Analyse dieser Reaktionen traten verschiedene Elemente an den Tag. Man erinnerte sich, daß der Entlassene der einzige war, der sich vor sechs Monaten der Fortführung der psychosoziologischen Intervention widersetzt hatte, und daß sein Widerstand von allen völlig übergangen worden war (einer hatte sogar gesagt: >>Wir sind also einstimmig dafür«, obwohl jener soeben widersprochen hatte, was jedoch niemand zu beachten schien). Es wurde den Beteiligten be246
wußt, daß sie den neuen Kollegen von Anfang an isoliert hatten (allerdings neigte er selbst dazu, sich zu isolieren) und daß sie für seine Entlassung eine gewisse Verantwortung trugen. Sie sagten sich, mit offenkundigem Schuldgefühl, daß er zweifelsohne besseren Kontakt zu ihnen gefunden hätte, wenn sie ihn anders aufgenommen hätten. Aber warum wurde er isoliert? Es stellte sich heraus: dieser Mitarbeiter war für die anderen unbewußt das schwache Element der Gruppe, das aus dem Unternehmen entlassen oder von der Gruppe ausgeschlossen werden konnte. Er rief damit in jedem anderen die Furcht wach, selbst entlassen oder ausgeschlossen zu werden, und stellte für jeden das unbewußte Bild seiner eigenen Schwächen und Befürchtungen dar. Man identifizierte sich unbewußt mit ihm als jenem Teil seiner selbst, den man ablehnte; dies war der Grund, warum er isoliert wurde, vielleicht auch, warum er aus dem Unternehmen ausscheiden mußte. Die doppelte primitive Reaktion mit Zorn und Apathie verschleierte die Angst eines jeden vor der Direktion und der gesamten Kollegenschaft. Gewiß wurde die Tatsache, daß sich die Direktion ihrer formalen Macht bediente, um die Entlassung auszusprechen, von der Gruppe als Demütigung, als eine Negation ihrer Existenz, ihrer Solidarität und ihrer Macht empfunden. Doch kam der Entscheidung der Direktion die kollektive Tendenz der Gruppe entgegen, abzudanken und die Verantwortung nicht mehr wahrzunehmen. Die Entscheidung verstärkte ihrerseits noch diese Tendenz (die durch vorangegangene Entlassungen vorbereitet worden war; es wurde uns bei dieser Gelegenheit klar, daß jede Entlassung, auch wenn sie scheinbar »vergessen« worden ist, tiefe Wunden hinterläßt, die sich jederzeit wieder öffnen können). Die aktive Negation der Gruppe durch die Direktion und die Abdankung der Gruppe verstärkten sich gegenseitig. Dieser Vorfall und seine Folgen waren für uns sehr aufschlußreich, und wir fanden die Annahmen bestätigt, daß tief unbewußte Befürchtungen (Furcht vor Isolierung, Ablehnung, Verrat usw.) von allen Angehörigen des Unternehmens geteilt werden; daß es eine unbewußte, aber reale Solidarität gibt, die dann zum Ausdruck kommt, wenn sie bedroht ist; daß starke Mechanismen vorhanden sind, Angst und Solidarität durch ein Sichentfremden in die Vorgesetzten und die Kollegen abzuwehren, was die Formen der Abkapselung oder des Konformismus annimmt; daß die Autoritätsagenten und die Unternehmensstrukturen Instrumente dieser Abwehrfunktion sind. Die Schlußphase der Intervention war gekennzeichnet durch eine offene Diskussion über das Problem der Autorität und der Unternehmensstrukturen. Der Schwerpunkt verschob sich von den individuellen 247
Problemen auf die Beziehungen bestimmter Gruppen zueinander, vor allem auf das Verhältnis zwischen Führungspersonal und Generaldirektion. Die Mitarbeiter stellten die Frage nach der formalen Macht der Direktion und nach der Möglichkeit kollektiver Verantwortung im Rahmen einer kapitalistischen Struktur. Nicht ohne Zögern und Befürchtungen ihrerseits suchten sie zu erreichen, daß die Generaldirektion zwar nicht auf ihren Einfluß, aber auf eine entfremdete und entfremdende Macht verzichtete. Eigentlich verlief diese Bewegung auf zwei Ebenen: einmal auf der Ebene eines Machtkampfes zwischen Direktion und Führungspersonal, zum anderen zielte sie auf einer tieferen Ebene auf die Verflüssigung der Macht und auf die Ablösung von Gewalt durch den Dialog hin. Die Macht der Direktion wurde als Verweigerung der Solidarität mit der Gruppe empfunden, und so verstanden wir denn auch die Frage, welche die leitenden Angestellten implizit an die Direktion richteten, als ein »Sind Sie wirklich auf unserer Seite oder wollen Sie Ihre Macht behalten und sich von uns distanzieren?«. Es ging ihnen, wie es uns schien, nicht darum, die Generaldirektion zu entmachten und sich an deren Stelle zu setzen, sondern sie wollten die auf Entfremdung und Gewalt begründeten Beziehungen durch dialogische Beziehungen ersetzen. Doch ihre Einstellungen waren nicht eindeutig und schlossen eine beträchtliche Aggressivität mit ein, die ohne Zweifel aus ihren Befürchtungen entsprang. Zu einem gewissen Zeitpunkt gewann der Kampf um die Macht die Oberhand und die Einstellungen verhärteten sich auf beiden Seiten, was noch verstärkt wurde durch die Psychosoziologen, die der Gruppe in einer sehr kritischen Situation eine demokratische Behandlung bestimmter Probleme aufzudrängen versuchten (auch sie hatten Angst und bewegten sich auf dem Boden von Macht und Gewalt). Die Spannung stieg, bis die Intervention auf Verlangen der Mehrheit ziemlich abrupt abgebrochen wurdes. Wir kamen also mit unserer Intervention in diesem Unternehmen nicht sehr weit in der Lösung der latenten Konflikte, die wir zutage gebracht hatten: Weder die Machtstruktur noch die sonstigen Strukturen des Unternehmens schienen sich merklich geändert zu haben, soweit sich dies zur Zeit beurteilen läßt. Hingegen ermöglichte die Intervention, daß auch nachher bestimmte Probleme in einem Klima größerer Freiheit und Rationalität behandelt werden konnten. Dies scheint auch
3 Sie wurde später in anderer Form wieder aufgenommen und ist derzeit noch in Gang.
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nach dem Weggang der Psychosoziologen angehalten zu haben und ein Ergebnis ihrer Arbeit zu sein. Außerdem waren (nach Selbsteinschätzungen wie nach Einschätzung durch Vorgesetzte, Kollegen und Untergebene) bei einzelnen Auswirkungen im Sinne einer Entfaltung der Persönlichkeit, Verbesserung der Arbeitsleistung und der Beziehungen festzustellen. Ein wichtiger Faktor der Situation entzog sich der psychosoziologischen Intervention: die Beziehungen des Führungspersonals und der Direktion zu der Muttergesellschaft, die die Aktienmajorität innehatte. Wir hatten unwiderlegbare Beweise, daß diese Beziehungen die Entwicklung der Situation während und nach der Intervention zutiefst beeinflußten, Von einem marxistischen Standpunkt aus könnte man nun sicher sagen, daß hier der wesentliche, wenn nicht einzige Grund für den Widerstand gegen die Anderung liegt: die kapitalistische Struktur des Unternehmens. Wir sind für unseren Teil nicht dieser Ansicht. Eine der Einsichten, die wir aus dieser Arbeit gewannen, war, daß die sozialen Strukturen aus latenten kollektiv-emotionalen Strömungen hervorgehen, auf die sie ihrerseits rückwirkend Einfluß ausüben. Die sozialen Strukturen kann man daher nicht als die alleinige und nicht einmal als die Hauptursache für den Zustand der Gesellschaft betrachten. Außerdem hatten wir, als wir uns später mit den Beziehungen zwischen dem Unternehmen und Stammhaus beschäftigten, nicht den Eindruck, daß diese Beziehungen wesentlich andere Probleme aufwarfen, als wir innerhalb des Unternehmens vorfanden (wie man sah, tauchten schon dort die Probleme von Macht und Eigentum, also der »Produktionsverhältnisse« auf). Unserer Ansicht nach sind hier zwei Dinge klar zu unterscheiden: die Anerkennung der Tatsache, daß man das Unternehmen nicht aus seinem gesellschaftlichen Zusammenhang herauslösen kann (das bedingt, daß jeder lokalisierten Veränderungsaktion Grenzen gesetzt sind, die übrigens noch wenig bekannt sind), und die Frage, wie man sich die Dynamik sozialer Phänomene vorzustellen hat, ganz gleich, auf welcher Ebene man sie untersucht.
Kollektive Gefühle und gesellschaftliche Strukturen: Theoretische Bemerkungen
Wir fassen nun in Form von schematisierenden Hypothesen die Folgerungen zusammen, zu denen diese Untersuchung und die theoretische Reflexion uns geführt haben:
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I. Jede soziale Organisation beruht auf den je gegenwärtig erlebten Gefühlen, die in einem bestimmten Augenblick von den Mitgliedern einhellig empfunden werden, die aus der Begegnung der Mitglieder entstehen und durch diese verändert werden. Dies ist der tiefste Ursprung der Bindung zwischen den Mitgliedern; er läßt sich weder auf sozialen Zwang, noch auf objektive Erfordernisse einer gemeinsam zu verwirklichenden Aufgabe, noch auf ein System von Einstellungen und Meinungen, auf eine Ideologie, zurückführen. In diesen verschiedenen Elementen kommen vielmehr die gemeinsamen Gefühle der Mitglieder zum Ausdruck. Diese Gefühle sind auf der tiefsten und im allgemeinen unbewußten Ebene Gefühle einer Solidarität, in der die Autonomie eines jeden gewahrt bleibt, verbunden mit Ängsten und Befürchtungen, die selbst die Möglichkeit der Solidarität in Frage stellen (Trennungsgefühl). Auf einer weniger tiefen, aber im allgemeinen noch immer unbewußten Ebene, fällt die Solidarität in Haß und possessive Liebe auseinander. Eine Wand schiebt sich zwischen die Menschen, der andere wird nicht mehr in seiner konkreten Einmaligkeit anerkannt, er wird zu einem Teil das, was die Projektion einer inneren Gestalt aus ihm macht, die man zu hassen oder (in possessiver Weise) zu lieben verlangt. Die Solidarität äußert sich indessen auf dieser Ebene - wenn auch entstellt und verschleiert - darin, daß Haß und Liebe kollektiv für dieselben Gestalten empfunden werden und daß sich eine kollektive Gefühlsorganisation bildet, die es den Menschen erlaubt, sich zu verstehen, sich indirekt ihre Angst mitzuteilen und sie kollektiv abzuwehren.
2. Die Autoritätsbeziehung steht im Mittelpunkt dieses unbewußten kollektiven Abwehrsystems. Sie besteht in einem kohärenten System, das durch eine besondere Struktur der sozialen Rollen und durch Gefühle gebildet wird, die auf Entfremdung und Identifikation beruhen und die Mitglieder mit den so definierten sozialen Gestalten verknüpfen. Die Autoritätsstruktur ist ein hierarchisiertes System sozialer Rollen, dessen Rangordnung ein besonderes Merkmal aufweist: sie ist nicht zufällig, sondern absolut, sie besteht unabhängig von den Erfordernissen der Aufgabe und den besonderen Merkmalen derer, die diese Aufgabe zu erfüllen haben. Nicht auf Grund bestimmter Qualitäten oder weil seine Persönlichkeit seiner Aufgabe in besonderer Weise entgegenkäme, ist der Vorgesetzte dem Untergebenen überlegen, sondern weil er der Vorgesetzte ist. Gewiß, diese Überzeugung wird in der Praxis kaum je ausgesprochen (obwohl sie in vielen Organisationen zur 250
geläufigen Ideologie gehört). Sie wirkt oft unbewußt, und zwar um so ungehinderter, als die Rollendifferenzierung in der Wirklichkeit noch nach anderen Gesichtspunkten erfolgt. Sie wird zu einem Teil von objektiven (konkreten) Gesichtspunkten der Aufgabe und der in der Organisation vorhandenen Ressourcen (einzelne Persönlichkeiten, den Mitgliedern zur Verfügung stehende Informationen) beeinflußt. Diese Prinzipien führen zur Definition zufälliger, nuancierter und sich ändernder Hierarchien, die von der Autoritätsbeziehung völlig verschieden sind. Manche Autoren unterscheiden in dieser Hinsicht zwischen einer Kompetenzautorität und einer hierarchischen Autorität. Für unseren Teil ziehen wir es im Interesse größerer Klarheit vor, den Terminus »Autorität« für das hierarchische Verhältnis vorzubehalten. Die objektiven Gesichtspunkte der Aufgabe und der Ressourcen, die rational eher annehmbar scheinen, dienen als Alibi und verdecken zum Teil die latente Autoritätsstruktur. Wir glauben, daß jede Organisation auf dem bewußten oder unbewußten Glauben an die prinzipielle Überlegenheit der Vorgesetzten und die prinzipielle Unterlegenheit der Untergebenen beruht. Die Rollen des Vorgesetzten und Untergebenen entstehen aus diesem Glauben und erhalten durch ihn ihre Rechtfertigung. Der Autoritätsstruktur kommt die Funktion zu, den Mitgliedern der Organisation Gestalten anzubieten, in die sie sich entfremden, mit denen sie sich identifizieren und die folglich als gemeinschaftliches Objekt kollektiv empfundener Gefühle der Feindseligkeit und der possessiven Liebe dienen können. Letztlich ist die Funktion der Autoritätsbeziehung in ihrer Gesamtheit eine Funktion kollektiver Abwehr der Trennungsangst, die kollektiv von den Mitgliedern der Organisation erlebt wird. Sie ist ein indirektes Ausdrucksmittel für die Solidarität der Organisationsmitglieder, Zeichen einer latenten Solidarität und zugleich manifeste Ablehnung der Solidarität. Sie ist das Kernelement eines kollektiven Abwehrsystems. Die Autoritätsbeziehung schiebt sich wie eine Wand zwischen die direkten, konkreten Beziehungen der Organisationsmitglieder untereinander. Die Autoritätsstruktur in einer Organisation, d. h. die Gesamtheit der Autoritätsträger, insofern sie sich mit der idealen Struktur identifizieren, bildet eine leere Gruppe, in der keinerlei konkrete Beziehung zwischen realen Individuen zustande kommt. Diese Leergruppe ist gleichzeitig auch der Leerraum der Gruppe. Ihr realer Inhalt ist die kollektive Ablehnung der Beziehung durch die Organisationsmitglieder. Dies ist der Grund, weshalb die Mitglieder einer Organisation diese mit der Gruppe ihrer Leiter identifizieren, während die Gruppe 251
der Leiter sich selbst mit der Organisation identifiziert. Die Gruppe der Leiter - als solche eine Leergruppe - dient der Organisation insofern als Symbol, als sie effektiv zum Ausdruck bringt, daß diese zu existieren sich weigert 4. 3. An der Aufrechterhaltung der Autoritätsbeziehung sind alle Mitglieder der Organisation ohne Rücksicht auf die Stelle, die sie innerhalb der Struktur einnehmen, beteiligt. Die Gefühle, welche die Träger der verschiedenen Rollen füreinander empfinden, folgen einem komplexen Zusammenspiel komplementärer Beziehungen, das die Kohäsion des Ganzen gewährleistet. Diese Komplementarität beruht nicht nur auf bewußten Meinungs- und Einstellungssystemen, die mit den verschiedenen Rollen verbunden sind und durch soziales Lernen verstärkt werden, d. h. nicht nur auf einer Ideologie, sondern auch auf der unbewußten Solidarität der Mitglieder, die sie dazu führt, unter anderen auch solche Systeme zu benützen. Die unbewußte Solidarität (die »Valenz« Bions) führt zu einer gewissen emotionalen Aufgabenteilung unter den Mitgliedern: die einen werden für die anderen zu Liebesobjekten (und Objekten verdrängter Feindseligkeit) oder Haßobjekten (und Objekten verdrängter Liebe); auf diese Weise bleibt die Kohäsion des Ganzen erhalten. Die emotionale Aufgabenteilung sorgt auch für die notwendigen Anpassungen (trotz der Hysterese der Meinungen und Ideologien), wenn sich das affektive Gleichgewicht der Gruppe im Ganzen ändert. Die Gefühlsdifferenzierung zwischen den Mitgliedern wurzelt also gegen alle Erwartung in einem gemeinsamen emotionalen Fundus, in Gefühlen, die von allen geteilt werden. Die Grundgemeinsamkeit aller in der abgewehrten Angst läßt sie zusammen an der Errichtung eines Systems arbeiten, das sie in Haß- und Liebesobjekte differenziert. Die Intergruppen-Konflikte in Organisationen, insbesondere die Konflikte zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, sind die Übersetzung der internen psychologischen Konflikte aller Mitglieder. Gewiß differenzieren sich die Gefühle noch auf eine andere, nichtabwehrende Weise, nämlich durch die Sensibilität für die realen Unterschiede von Individuum und Gruppen in der authentischen Beziehung. Doch dieser Differenzierungsfaktor verstärkt nicht die Kohäsion der
Die Führungskräfte des Unternehmens P. beneideten einmal die Generaldirektion darum, daß sie »eine Gruppe sei«, während man dies ihrer Ansicht nach vom Unternehmen als Ganzem nicht sagen konnte.
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Autoritätsbeziehung, sondern trägt zu ihrer Auflösung bei. Er hält den Kontakt mit der Realität aufrecht und ermöglicht gegebenenfalls - wenn die Abwehrreaktionen abgebaut sind - eine bessere Anpassung an die Realität. Alle Organisationsmitglieder teilen unabhängig von ihrer Rolle und jenseits ihrer ausdrücklichen Unterschiede dieselben psychischen Konflikte, welche die Grundlage ihrer Kommunikation und den Ursprung ihrer Kompromisse bilden. Sie teilen die statischen Konflikte zwischen Liebe und Feindseligkeit. Die Idealisierung des Untergebenen durch den Vorgesetzten und die komplementäre unbewußte Aggression zum Beispiel entsprechen der Idealisierung des Vorgesetzten durch den Untergebenen und der gegen ihn gerichteten unbewußten Aggression. Auf tiefer Ebene teilen die Organisationsmitglieder auch den dynamischen Konflikt zwischen dem Verlangen, eine auf echte Beziehungen gegründete Gemeinschaft zu bilden, und der Angst, dies zu tun. Dieser Gesichtspunkt zieht wichtige Konsequenzen für eine Methodologie der Gesellschaftsveränderung nach sich. Gesellschaftliche Änderungen schließen eine Änderung der Autoritätsbeziehung und der organisatorischen Abwehrmechanismen ein. Sie werden so lange unmöglich sein, als jene unbewußte Kollusion der Organisationsmitglieder, vor allem zwischen Führenden und Geführten, die der unveränderten Bewahrung der Autoritätsbeziehung dient, nicht durchkreuzt und der unausgesprochene Pakt, der sie verbindet, nicht geändert worden sind. Eine solche Änderung erfordert die Bearbeitung der kollektiven psychologischen Abwehrmechanismen - eine Arbeit, die sich auf alle sozialen Gruppen innerhalb der Organisation erstrecken muß und nicht auf einige wenige beschränkt bleiben darf. 4. Mit der Autoritätsstruktur, verstanden als absolute Hierarchie, ist eine Struktur der Macht verbunden. Macht wird hier als Recht zur Gewaltanwendung definiert, d. h. als Recht, unter bestimmten Umständen seinen Willen aufzuzwingen, ohne im Falle von Opposition auf den Dialog zurückzugreifen. Ein derartiges Recht wird den Vorgesetzten in allen Organisationsformen, auch in demokratischen, zuerkannt. Selbst wenn der Vorgesetzte seine Macht von der Gruppe »erhält« und in der Machtausübung auf verschiedene Weise begrenzt ist, verfügt er im Rahmen dieser Grenzen dennoch über Macht in dem eben definierten Sinns. Die einzige Ausnahme wären Organisationen, die - teilweise zumindest anarchistisch inspiriert sind: z. B. die Communautes de travail in Frankreich,
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Macht ist ein zweideutiger Begriff, denn der Vorgesetzte kann zwar Gewalt anwenden, muß es aber im Interesse des Kollektivs tun. Der Machtbegriff verleiht der Autoritätsfigur den Aspekt eines doppelgesichtigen Janus: oberste Zuflucht, Retter-Gott und vernichtende Macht in einem. In den industriellen Organisationen ist die Macht als kapitalistische Macht des Unternehmers institutionalisiert; neuerdings spricht man auch unter Berufung auf die Ideologie einer »guten Unternehmensführung« von »Leitungsmacht« oder den Befugnissen des »Managers«. In welcher Form sie auch auftritt, die Macht ist ein wesentliches Attribut der Autoritätsfiguren. Sie gehört zu den kollektiven Abwehrmechanismen. Die Funktion der Machtstruktur beschränkt sich nicht auf die Kanalisierung der Gewalt, indem sie deren Ausübung bestimmten Personen und bestimmten Umständen vorbehält. Indem die Gruppe die Machtstruktur akzeptiert, gesteht sie ein, daß sie befürchtet, keinen Dialog aufnehmen zu können, daß sie das Heil magisch von außen erwartet oder daß sie nur auf die Gewalt noch vertraut. Die Machtstruktur manifestiert die Angst der Gruppe, sie ist ihre Verzichterklärung auf eine andere Existenz als die in der Identifizierung mit dem Führer, dem Machthaber. Michel Crozier (1963) sieht das Geschehen in einer Organisation als von den Machtbeziehungen beherrscht; die Macht selbst entsteht aus Situationen der Ungewißheit. Ober Macht (hier eher im Sinne von Einfluß) verfügen jene Individuen oder jene Gruppen, die eine Quelle von Ungewißheit kontrollieren, sei es auf Grund fachlichen Expertenwissens, sei es auf Grund von lnformationsprivilegien. Die Beziehungen zwischen Gruppen in einer Organisation sind nicht nur als affektive Reaktionen zu verstehen, die in einer als unabhängiger Gegebenheit betrachteten Organisationsstruktur stattfinden, sondern sie sind Ausdruck eines aktiven Machtkampfes. Jede Gruppe ist bestrebt, Ungewißheit bei den anderen Gruppen auszubreiten und dadurch ihre eigene Macht zu verstärken, die Ungewißheit, die die anderen Gruppen in sie hineintragen, dagegen zu verringern und dadurch deren Macht zu die Ejidos in Mexiko und die israelischen Kibbuzim. Aber selbst in diesen Fällen herrscht eine beträchtliche Kluft zwischen Theorie und Praxis, wie aus bestimmten Untersuchungen hervorgeht. Dies veranschaulicht deutlich, daß ideologischer Glaube und bloße Strukturänderungen nicht ausreichen, um die Machtmechanismen abzubauen, wenn diese nicht durch eine Klärungsarbeit im Bereich der unbewußten Gefühle ergänzt werden. Vgl. z. B. Desroche und Meister (1955), Meister (1957).
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schwächen. Diese Analyse steht der unseren in vieler Hinsicht sehr nahe, allerdings stellt sie die psychologische Bedeutung der Macht als Abwehrreaktion gegen die Ungewißheit (oder, wie wir sagen würden, die Trennungsangst) und damit ihren abgeleiteten Charakter noch zu wenig heraus. Crozier scheint das Machtstreben oft als primäre, nicht weiter analysierbare und ableitbare Gegebenheit zu behandeln. Außerdem ist die Ungewißheit, von der er spricht, nichts anderes als die Unvorhersehbarkeit des menschlichen Verhaltens. Sie ist eine Fehlerquelle für das rationale Kalkül. Sie hat nicht, wie für uns die Angst, einen positiven affektiven Inhalt von Solidarität und Liebe. Daher wird die Machtbeziehung auch nicht als indirekter oder abwehrender Ausdruck der Solidarität, für uns der fundamentalen Realität der Organisation, beschrieben. Das führt Crozier zu relativ konservativen Ansichten über die Entwicklungen von Organisationen, die er als Veränderung der Machtverteilung und des Machtgleichgewichts konzipiert (vgl. dazu auch Lapassade, 1972, S. 130 ff.) Crozier beerdigt im übrigen vielleicht etwas voreilig die Human-Relations-Bewegung, die sich für ihn auf einem simplifizierenden Psychologismus reduziert, der nicht imstande sei, Organisationen in ihrer Gesamtheit und das Machtproblem zu verstehen.
5. Die Gesamtheit von Strukturen, die den Betrieb der Organisation gewährleisten- die Ziele, Methoden, Normen, das Sanktionssystem -, hat an der von uns beschriebenen Abwehrfunktion teil. Zum Teil entsprechen sie gewiß den konkreten Notwendigkeiten der Aufgaben und der Kommunikation. Sie dienen aber auch den Abwehrbedürfnissen, vor allem dann, wenn sie mit den Autoritäts- und Machtbeziehungen in Zusammenhang stehen und mit Zwangscharakter ausgestattet sind. I. Menzies (1960) vermochte in einer Untersuchung über den Krankenpflegedienst in einer Klinik zu zeigen, daß bestimmte Strukturen dieser Einrichtung für die Krankenschwestern eine Funktion der Angstabwehr erfüllten, so z. B. die Atomisierung der Aufgaben und ihre Verteilung auf eine große Anzahl von Personen, was die Beziehung der Schwestern zu einzelnen Patienten verhinderte, die ritualisierte Aufgabenerledigung zwecks Vermeiden von Entscheidungen, die absichtlich unklare Aufteilung der Verantwortungen, das ständige Zufluchtnehmen zu den Vorgesetzten, die Norm emotionalen Unbeteiligtsein usw. Ähnliche Beobachtungen machten auch wir im Unternehmen P. So zeigte sich z. B. einmal ganz klar, daß dem formellen Status des Führungspersonals (Direktoren, Abteilungsleiter, Assistenten) eine Abwehrfunktion gegen bestimmte Befürchtungen zukam: gegen die Be-
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fürchtung, inkompetent zu sein, gegen die Angst vor einer Aggression seitens der Vorgesetzten, Kollegen oder Untergebenen. Dasselbe galt für manche Elemente des informellen Status, besonders die Unterscheidung zwischen »Jungen« und >>Alten«. Ein weiterer Abwehrmechanismus war die Tendenz zum Formalismus in der Behandlung von Problemen, in der rituellen Anwendung bestimmter Methoden der Leitung und Organisation. Diese Tendenz verbarg sich unter dem Deckmantel einer ldologie der guten Unternehmensführung und sorgte dafür, daß Gefühle und Konflikte nur gehemmt zum Ausdruck kamen. Bei einer früheren Intervention (Pages, 1961) wurde durch die Analyse der Beziehungen zwischen den Abteilungen deutlich, daß die formelle Zielstruktur eine Abwehrfunktion erfüllt. Ganz verschiedenartige Ziele wurden verschiedenen Abteilungen übertragen, ohne ihre tatsächliche Interdependenz in Rechnung zu stellen. Zum Beispiel war für die Lagerhaltung - es handelte sich um eine große Handelsorganisation ausschließlich eine Abteilung am Sitz der Firma verantwortlich. Ihr Ziel war es, den Warenumschlag zu beschleunigen, während den Verkaufsstellen das Ziel gesetzt war, möglichst viel zu verkaufen, ohne sich um die Rückwirkungen auf die Lagerhaltung zu kümmern. Es war nun sehr aufschlußreich im Verlauf der Untersuchungen, daß die Leiter und Angestellten der betroffenen Abteilungen das Gefühl hatten, in den Zielen übereinzustimmen; darin befanden sie sich jedoch in Widerspruch zur formellen Organisation des Unternehmens. Diese unterstrich die Trennung zwischen den Abteilungen und erschwerte damit die Kooperation, welche die Natur der Aufgaben erfordert hätte. Es war bei dieser Intervention nicht möglich, dem emotionalen Hintergrund dieses Mechanismus sehr weit nachzugehen, aber gewisse Anzeichen sprachen dafür, daß es sich um die Abwehr von Befürchtungen handelte, die mit dem Gedanken an eine Kooperation der Abteilungen verknüpft waren, Befürchtungen hinsichtlich Aggressionen oder Ausbeutung zwischen den Abteilungen, hinsichtlich voreingenommener Problemlösungen oder einer Koalition beider Abteilungen gegen die Direktion. Die starre Struktur der Arbeitsteilung schützte vor einer möglichen Kooperation der Abteilungen und den damit verbundenen Risiken. Allgemeiner kann man sagen, daß ein wichtiger Aspekt der Abwehrfunktion von Organisationsstrukturen in der Segregation besteht. Wir verstehen dartmter alle jene Vorgänge, welche in einer Organisation darauf hinwirken, die Trennung von Individuen und Gruppen - unabhängig von ihren individuellen Besonderheiten und den Erforder256
nissen ihrer Aufgabe (oft im Gegensatz zu ihnen) - zu verstärken. Die Segregation, eine erzwungene Trennung, ist eine Abwehr gegen das TrennungsgefühL Sie stellt die Trennung präventiv her, um das Trennungsgefühl abzuwehren, das bei einer wirklichen Beziehung entstünde. Die Segregationsprozesse sind auf vielfältige Weise in den Organisationsstrukturen wirksam: Ziele werden als voneinander streng getrennt und einander entgegenstehend definiert, Aufgaben werden starr zugewiesen, Arbeitsmethoden und Normen isolieren die Gruppen voneinander, Sanktionssysteme vertiefen die Kluft in Gruppen und zwischen den Gruppen. Was vollends die Autoritäts- und Machtstrukturen angeht, so sind sie von rein segregativem Charakter. Natürlich kommt den Organisationsstrukturen auch die Funktion zu, Beziehungen unter Individuen und Gruppen herzustellen und die Kooperation zu organisieren. Doch diese rationale, bewußt akzeptierte Funktion ist mit einer unbewußten Segregations- und Abwehrfunktion gepaart. Die tatsächlichen Strukturen sind das Ergebnis eines Kompromisses beider Bedürfnisse. Jede reale Entwicklung der Organisationsstrukturen setzt eine Änderung dieses Gleichgewichts voraus und läßt die Segregationsund Abwehrfunktion der Strukturen bewußt werden. 6. Die Strukturen einer Organisation, sowohl die fundamentalen Autoritäts- und Machtstrukturen wie auch die Gesamtheit der funktionalen Strukturen, spielen also eine wesentliche Rolle in der Abwehr unbewußter kollektiver Gefühle, welche die Mitglieder der Organisation in der Begegnung empfinden, d. h. in der Abwehr der Trennungsangst und der authentischen Liebe. Die Strukturen begünstigen die primären Abwehrprozesse, die Dissoziation der Angst in possessive Liebe und Feindseligkeit, durch Erzeugung von Gestalten, die gehaßt oder possessiv geliebt werden können und die sich, wenn im Besitz der Macht, in rettende oder vernichtende Wesen verwandeln, durch Herstellung einer verallgemeinerten Segregation zwischen Einzelnen und Gruppen. Die Strukturen sind indirekte Ausdrucksweisen der Angst, Auffangbecken der nicht bewußten Angst. Außerdem bringen die Strukturen Angst und Liebe zum Teil auch direkt, auf nicht-abwehrende Weise zum Ausdruck, in dem Maße, in dem sie wirklich Beziehungen herstellen, die Intentionen der Mitglieder getreu wiedergeben und reale Unterschiede anerkennen. Aber diese rationale Funktion der gesellschaftlichen Strukturen -wenn man mit »rational« das Ausdrücklichmachen des Realen bezeichnet - dient auch der Verhüllung ihrer unbewußten Abwehrfunktion. In den tatsächlichen Strukturen vermengen sich untrennbar die
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konkreten Erfordernisse der Kooperation und die unbewußten Bestrebungen nach possessiver Liebe und Feindseligkeit. In einem sekundären Abwehrprozeß, der zu den primären Abwehrhaltungen gegen die Angst hinzukommt, verschanzen sich die einen hinter den anderen. So kann es vorkommen, daß Werte wie Kooperation, freie Meinungsäußerung und gegenseitige Hilfe einerseits den Absichten der Mitglieder einer Gruppe zutiefst entsprechen, gleichzeitig aber als Deckmantel für ganz andere Bestrebungen dienen können, z. B. für den Kult eines Propheten oder der Gruppe, die diese Werte vermittelt. Die Strukturen sind zugleich rational und rationalisierend, insofern sie der Verhüllung uneingestandener Gefühle dienen. Verstärkt wird diese sekundäre Verschleierung durch die I nstitutionalisierung der sozialen Strukturen. Sind sie einmal institutionalisiert, verwandeln sie sich in unpersönliche Regeln, die gegenüber den sie anwendenden Individuen oder Gruppen verselbständigt werden, diese überdauern und neuen Mitgliedern der Organisation zwangsweise auferlegt werden. So verlieren die institutionalisierten Strukturen offensichtlich ganz den Charakter erlebter Gefühle, entrinnen der jeweils gegenwärtigen Situation und werden im Grenzfall als dinglich wahrgenommen. Die lnstitutionalisierung ist die Extremform der Abwehrprozesse gegen die kollektiven Gefühle. Es ist kein Zufall, daß die zutiefst abwehrenden Autoritäts- und Machtstrukturen von der lnstitutionalisierung als erste - und manchmal als einzige - erfaßt werden. Der Abwehrcharakter der Institution kommt auch in ihrem Beharrungsstreben zum Ausdruck. Ihre Unsterblichkeit leugnet die Kontingenz der zwischenmenschlichen Beziehung; sie ist eine Abwehr gegen die Trennung und das TodesgefühL Ohne Zweifel ist der Grund, warum vorzugsweise der Eintritt des Individuums in die Gruppe und sein Austritt aus ihr institutionalisiert werden, d. h. jene Augenblicke, in denen die Trennungsangst besonders stark verspürt wird (Übergangs- und Initiationsriten, Bestattungszeremonien). So stellten wir uns mit unseren Studenten einmal die Frage nach der emotionalen Bedeutung des Abschlußexamens am Ende des Studienjahres. Wir kamen zu dem Schluß, daß dieses Examen als Abwehr gegen den Schmerz der Trennung von Studenten und Professor zu interpretieren sei. Indem der Professor die institutionalisierte Rolle des Prüfers jedes einzelnen und die Studenten die Rolle der Prüfungskandidaten spielen, wird die Lehr- und Lerngemeinschaft, die sie zuvor gebildet hatten, auseinandergerissen. Der Examensvorgang erleichtert die Trennung, indem er an die Stelle des Trennungsschmerzes weniger
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schmerzliche Gefühle treten läßt, wie die Hoffnung zu bestehen oder die Angst durchzufallen-Gefühle, für die sich außerdem leichter eine rationale Rechtfertigung finden läßt. Wir sind der Ansicht, daß diese Interpretation selbst dann zutrifft, wenn es zwischen den Studenten oder zwischen Studenten und Professor keine Gemeinschaft gibt, denn die Abwehrmechanismen gegen die Beziehung und die Trennung beschränken sich sicherlich nicht auf die Institution der Prüfung, sondern durchdringen die pädagogische Situation allgemein. Diese Interpretation bedeutet andererseits selbstverständlich nicht, daß das Examen neben seiner Abwehrfunktion nicht auch rationale Funktionen hätte, etwa die Information des Studenten über sich selbst oder die Herstellung von Beziehungen zwischen den Studenten und den Bezugsgruppen der erwachsenen Berufsausübenden. Die Perspektive, die wir hier andeuten, legt dem Psychosoziologen nahe, die Institutionen als den bevorzugten Ort uneingestandener Angst anzusehen. Die Institutionen, und ganz besonders die institutionalisierten Autoritäts- und Machtstrukturen, sind das Kernstück des Abwehrsystems gegen die kollektive Angst; sie erscheinen zumindest unter einem Aspekt als verdichtete kollektive Angst (Moreno sprach im gleichen Sinne von »Kulturkonserven«), als immobilisierte und verdinglichte Gefühle, die als Gefühle verleugnet werden, die aber dennoch die emotionale Realität der Organisation zum Ausdruck bringen. Deshalb kann sich der Psychosoziologe weder mit der klassischen soziologisierenden Analyse begnügen, in der die Institutionen verdinglicht und in ihrem emotionalen Bedeutungsgehalt verkannt würden, noch mit einer individualistisch orientierten psychologisierenden Analyse, die die soziale Situation in eine Unmenge individueller oder auch interpersonaler Reaktionen auflöste. Dies ist auch der Grund, warum der Psychosoziologe, der zu Zwecken der Forschung und Praxis (die wir nicht trennen) mit einer Gruppe arbeitet, die Gestaltung seiner institutionellen Beziehungen zur Gruppe besonders sorgfältig reflektieren sollte, da sie imstande sein könnten, seine verborgensten Abwehrmechanismen zu enthüllen (vgl. Kap. 13). 7. Vielleicht wird man uns nun Psychologismus vorwerfen. Zweifellos wird man auf die zeitlich-räumliche Äußerlichkeit der sozialen Institutionen in bezug zur jeweils aktuellen Situation hinweisen. So hängen z. B. die Institutionen eines Unternehmens nach vielen Seiten hin mit der Gesamtgesellschaft zusammen; andererseits sind sie den besonderen Situationen, in denen sie zum Tragen kommen, zeitlich vorgängig. Sie sind ein Erbe der Vergangenheit und gewährleisten gleichzeitig
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eine Verbindung zwischen einem Teil des Sozialkörpers und dem Ganzen. Wie können wir also behaupten, sie gingen aus der jeweils gegenwärtigen Situation hervor? Und führt diese Position nicht dazu, den Einfluß der Institutionen und Strukturen auf eine gegebene soziale Situation überhaupt zu leugnen oder zu unterschätzen? Wir sind der Ansicht, daß dies durchaus nicht der Fall ist und daß unsere Position vielmehr dazu anhält, diesen Einfluß auf eine besondere Weise zu konzeptualisieren. Der Einfluß der Institutionen und Strukturen kann nicht mehr als ein Determinismus, sondern als ein Kommunikationsakt aufgefaßt werden. Institutionen und Strukturen sind Träger einer impliziten emotionalen Botschaft, die von den Gruppen, an die sie adressiert ist, auf eine bestimmte Weise entziffert, uminterpretiert und verändert, »verstanden« wird. Institutionen und Strukturen erscheinen so wesentlich als antizipatorische Reaktionen im Hinblick auf eine reale Begegnungssituation. Sie ergeben sich aus der jeweiligen Begegnungssituation, die sie zugleich direkt und - in Form des Abwehrprozesses - indirekt zum Ausdruck bringen. Gleichzeitig sind sie zukunftsgerichtet und bieten für jede künftige Begegnungssituation Ausdrucksmodelle für die Beziehung und Abwehrmodelle gegen sie an. Doch informieren diese Modelle nicht streng über die neue Begegnungssituation, sondern fungieren als Elemente einer Sprache, die sich durchaus verändern und uminterpretieren lassen, um eine neue emotionale Situation zum Ausdruck zu bringen. Die Mitglieder einer Gruppe oder Organisation stehen zu ihren Institutionen etwa in dem gleichen Verhältnis wie jemand, der in England Englisch gelernt hat und nun zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten reist, wo er mit seinem Englisch eine emotionale und gesellschaftliche Realität beschreiben soll, die ganz anders ist als die in England. Die Institutionen stellen also zwar die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Teil und Ganzem her, aber diese Verbindung ist in keiner Weise starr und äußerlich; dies nicht nur, weil sich Beschaffenheit und Anordnung der Faktoren mit der Situation ändern und der institutionelle Determinismus sich auf originale Weise mit anderen Determinismen verbindet, sondern weil der Einfluß der Institutionen kein Determinismus ist. Die Institutionen erscheinen als Instrument einer Sprache: sie tun ihre Wirkung nur in dem Maße, wie sie einen Sinn haben, und den erhalten sie aus der jeweiligen sozio-emotionalen Situation. Nirgendwo in der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestehen die Institutionen als sinnlose Dinge fort. Sie sind - und sei es auch unbewußt - von allen Mitgliedern der Gesellschaft gewollt, selbst von denen, die sie ablehnen.
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Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß die Institution die Kohäsion des Gesellschaftsgefüges wenigstens teilweise auch auf eine abwehrende Weise gewährleistet. Die institutionelle Bindung ist nicht eine Bindung echter Kooperation, sie ist geprägt von uneingestandener Angst; von herdenmäßiger Entfremdung und Identifikation, von possessivem und feindseligem Verhalten. Diese Überlegungen sind nicht nur von rein spekulativer Bedeutung. Sie ziehen Konsequenzen für eine Methodologie der Gesellschaftsveränderung nach sich. Sie sollen den Praktiker - den Psychotherapeuten, Psychosoziologen, Pädagogen - anregen, sich in der Begegnungssituation mit seinem Klienten um eine Mobilisierung der in den institutionellen Mechanismen verborgenen Gefühle zu bemühen und dadurch die Institutionen wieder zum Leben zu erwecken (was bedeutet, daß sie teilweise aufgelöst werden). Dies kann die Entwicklung von einer unbewußten und herdenmäßigen Solidarität zu einer echten Kooperation erleichtern. Unsere Überlegungen sollen den Praktiker auffordern, im Verlauf eines Veränderungsprozesses die Grenzen der Veränderung nicht schon im vorhinein auf Grund dieser oder jener Hypothese über einen angeblichen institutionellen Determinismus abzustecken. Hemmnisse der Veränderung wird er als Hemmnisse der Kommunikation innerhalb der Gruppe und zwischen den Gruppen behandeln, und keines dieser Hemmnisse ist prinzipiell unüberwindbar. Bevor wir dieses Kapitel beenden, möchten wir die soeben skizzierten Thesen noch zu zwei psychoanalytischen Theorien in Beziehung setzen, nämlich der Freudschen Theorie der Autorität und zu den Hypothesen von Jaques über die Angstabwehrfunktion sozialer Systeme.
Kritik der freudschen Autoritätstheorie
Freud (1921, S. 104) erhob bekanntlich gegen Le Bon und MacDougall den Vorwurf, »die Bedeutung des Führers für die Psychologie der Massen nicht genügend gewürdigt zu haben«. Wie wir schon an einer früheren Stelle in dieser Arbeit (vgl. oben S. 96-97) vergegenwärtigt haben, ist für Freud die Bindung an den Führer der Ursprung der wechselseitigen Bindung der Mitglieder einer Masse 8 untereinander. Wir können in dem sehr allgemeinen Sinn sprechen, in dem wir den Ausdruck in diesem Buch verwenden, von »Gruppe« sprechen, denn die Überlegung Freuds bezieht sich ebensosehr auf die vorübergehende Masse wie auf die »organisierte Masse« - Kirche oder Heer -, die wir heute als »Organisation« bezeichnen würden. 8
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"Wir ahnen bereits, daß die gegenseitige Bindung der Massenindividuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer« (S. 118). Die Bindung an den Führer stellt die affektive Gemeinsamkeit der Mitglieder her. An einer anderen Stelle erläutert Freud diesen Vorgang: die gegenseitige Identifizierung der Mitglieder rührt aus dem Umstand her, daß sie ein gemeinsames Objekt zum Ideal haben, den Führer. Er schreibt: »Eine primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben« (S. 128). Worin treffen sich unsere Thesen mit denen Freuds, worin unterscheiden sie sich? Wir stimmen völlig mit Freud überein, wenn er den Ursprung der Identifikationsbeziehung der Mitglieder untereinander in einer latenten Bindung an den Führer vermutet. Die Beziehung der Mitglieder zum Führer steht in der Tat im Mittelpunkt des affektiven Lebens einer Kleingruppe oder einer Organisation. Sie steht beherrschend im Hintergrund der funktionalen Strukturen und der Beziehungen der Individuen untereinander; dies ergäbe jede eingehende Analyse. Unsere Divergenz betrifft also nicht diesen Punkt, und wir erkennen gern Freuds grundlegenden Beitrag zu diesem Thema an. Anderer Meinung sind wir aber hinsichtlich des Ursprungs der Autoritätsbeziehung selbst. Für Freud ist die Beziehung zum Führer das Ergebnis mannigfacher individueller Übertragungen, durch die der einzelne das im Führer verkörperte Kollektivideal an die Stelle seines lchideals, des verinnerlichten Elternbildes, setzt. Wir haben bereits wiederholt auf die Schwierigkeiten dieser Theorie hingewiesen. Wie erklärt sie die große Ähnlichkeit der Beziehungen verschiedener Individuen zum Führer in derselben kollektiven Situation und wie die Unähnlichkeil der Beziehungen für dasselbe Individuum in verschiedenen Situationen? Freud selbst spricht von einem »Wunder«: »Jeder Einzelne ist ein Bestandteil von vielen Massen, durch Identifizierung vielseitig gebunden, und hat sein Ichideal nach den verschiedensten Vorbildern aufgebaut« (S. 144). Er hofft das Wunder mit der Hypothese auszuräumen, daß der Führer an die Stelle des Ichideals tritt. Doch sein Gedankengang überzeugt kaum. Die Wahl des Führers erklärt er folgendermaßen: Zuerst behauptet er, daß bei manchen Individuen die Scheidung von Ich und Ichideal nicht vollständig sei, was die Wahl des Führers sehr erleichtere (Freud erläutert das zwar nicht näher, aber der Grund ist ohne Zweifel der, daß die Wahl des Führers für diese Individuen nur einer 262
teilweisen libidinösen Besetzung entspricht). »Er (der Führer) braucht (dann) oft nur die typischen Eigenschaften dieser Individuen in besonders scharfer und reiner Ausprägung zu besitzen und den Eindruck größerer Kraft und libidinöser Freiheit zu machen, so kommt ihm das Bedürfnis nach einem starken Oberhaupt entgegen und bekleidet ihn mit der übermacht, auf die er sonst vielleicht keinen Anspruch hätte. Die anderen, deren Ichideal sich in seiner Person nicht ohne Korrektur verkörpert hätte, werden dann >suggestiv<, das heißt durch Identifizierung mitgerissen« (S. 145). Doch widerspricht diese Erklärung Freuds für die Führerwahl »der anderen« seinen eigenen Annahmen, da ja für ihn die Identifizierung der Mitglieder untereinander die vorgängige Idealisierung des Führers bereits voraussetzt. Zum Begriff der Suggestion, den er eingehend kritisiert (S. 95-100), hat er dargelegt, daß er auf die libidinöse Bindung der Gruppenmitglieder untereinander verweise und diese wiederum auf die Idealisierung des Führers! Andererseits folgen in einer Gruppe zeitlich mehrere Führer aufeinander, die verschiedene Ideale verkörpern. Wie ist dieser Wechsel zu verstehen, wenn die Wahl des Führers aus den »typischen Eigenschaften« (d. h. aus dem übertragungspotential) der Gruppenmitglieder resultiert, die sich ja nicht verändert haben? Muß man annehmen, daß die Auswahl jener Individuen, die ihr Ideal im Führer verkörpert sehen, sich geändert hat und daß diese »suggestiv« andere nach sich ziehen? Aber warum sollte sich die Auswahl der den Führer »erwählenden« Individuen geändert haben? Die Freudsche Autoritätstheorie ist individualistisch und essentialistisch; sie erklärt die Autoritätsbeziehung mit situationsunabhängigen individuellen »Eigenschaften« und vermag daher die Entstehung der Autorität in der Gruppe nicht einsichtig zu machen. Die Autoritätsphänomene bleiben so dem puren Zufall anheimgegeben. Schließlich steht diese Theorie auch im Widerspruch zu empirischen Tatsachen: durch die Analyse der Affektivität in Gruppensituationen, besonders in Trainingsgruppen, wird deutlich, daß alle Mitglieder der Gruppe, und nicht nur einige, auf ihre Weise den Führer idealisieren und daß die Autoritätsbeziehung mit tieferen Gefühlen zusammenhängt, die in der Begegnungssituation selbst empfunden werden. Wir können daher Freud den Vorwurf nicht ersparen, seine Analyse der Situation nicht weit genug vorangetrieben zu haben. Zwar brachte er die Phänomene an der Oberfläche des Gruppengeschehens in Beziehung zur Autoritätsbeziehung, stellte aber den Zusammenhang zwischen der Autoritätsbeziehung und den in der Situation erlebten, tieferen Gefühlen nicht her. Für uns stellt die Autoritätsbeziehung eine
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Abwehr der in der Begegnungssituation kollektiv empfundenen Angst dar. Ihre Genese ist existentiell, d. h. sie entsteht aus der Situation selbst. Einmal mehr sehen wir uns veranlaßt, die Perspektive Freuds umzukehren. Wir sahen schon, daß die individuellen Lebensgeschichten die Gruppensituation nicht zu erklären vermögen, sondern daß es sich eher umgekehrt verhält. Ebenso müssen wir jetzt feststellen, daß die Beziehung zwischen Führer und Gruppe die Umkehrung der Beziehung ist, die Freud annimmt. Nicht die Bindung an den Führer ruft letztlich die Gruppenbindung hervor, sondern im Gegenteil die Gruppenbindung ruft die Bindung an den Führer hervor. Wenn sich auch in einer ersten Analyse hinter den Beziehungen zwischen Gruppenmitgliedern eine im allgemeinen unbewußte Beziehung zur Autoritätsfigur abzeichnet, so verweist uns diese Beziehung doch auf eine abgewehrte Beziehung der Mitglieder untereinander. Die alltäglichen Beziehungen der Gruppenmitglieder verbergen die Autoritätsbeziehung und es kommt in ihnen indirekt eine ambivalente Einstellung zum Führer zum Ausdruck; die Autoritätsbeziehung ihrerseits aber verbirgt - und drückt indirekt aus - einen fundamentaleren Konflikt in der Beziehung der Gruppenmitglieder untereinander: den Konflikt zwischen dem Suchen nach einer authentischen Beziehung und der Verweigerung dieser Beziehung. Der Führer verkörpert nicht in erster Linie das individuelle Ideal jedes Teilnehmers, wie es sich dieser im Laufe seines Lebens gebildet hat, sondern eine kollektive Abwehrhaltung gegen die Trennungsangst, wie sie in der jeweils gegenwärtigen Begegnungssituation erlebt wird. Eher als von longitudinalen individuellen Obertragungen könnte man von einer kollektiven lateralen Obertragung 7 sprechen, die von den in der gegenwärtigen Begegnung empfundenen Gefühlen ihren Ausgang nimmt. Günstiger wäre es jedoch, statt von Übertragung von Entfremdung zu sprechen, aus Gründen, die wir im vorigen Kapitel darlegten. Was wir hier im Gegensatz zum individuellen und historisierenden Charakter des psychoanalytischen Übertragungsbegriffes betonen möchten, ist dies: die Autoritätsbeziehung ist eine kollektive Entfremdungsreaktion, die ihren AusVgl. S. 237. Manche Gruppenpsychoanalytiker wie etwa Slavson verwenden den Begriff der lateralen Übertragung in einem ganz anderen Sinn als wir. Sie bezeichnen damit die Übertragungsreaktionen der Mitglieder untereinander. Diese Übertragungen sind von der Hauptübertragung auf die zentrale Autoritätsgestalt unabhängig, oder sie resultieren aus einer unbewußten Fortschreibung der Hauptübertragung. In beiden Fällen handelt es sich um den klassischen Begriff der individuellen Übertragung.
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gangspunkt in Gefühlen hat, die in der jeweils gegenwärtigen Situation empfunden werden. Freud analysiert im großen und ganzen nur das, was wir die sekundären Abwehrhaltungen genannt haben, nicht auch die primären Abwehrreaktionen gegen die Erfahrung der authentischen Beziehung. Damit wollen wir keineswegs den Beitrag Freuds zur Klärung der individuellen und lebensgeschichtlichen Bedeutung der Autoritätsbeziehung leugnen. Die kollektive Entfremdung ruft auch die Entfremdungsformen wach, die das Individuum im Verlauf seiner Lebensgeschichte erlitten hat, und benutzt sie als Bausteine für ein kollektives Abwehrsystem. In der Beziehung zum Führer kommt die Beziehung zur Gruppe (die jedes einzelnen zu allen) zum Ausdruck, die zwar bei allen Mitgliedern dieselbe ist, aber auch eine individuelle Tönung aufweist: sie ist Ausdruck der besonderen Art und Weise, wie jeder einzelne auf Grund seiner persönlichen Geschichte den gemeinsamen Konflikt mit dem Führer interpretiert. Eine Studentengruppe, mit der wir arbeiteten, führte ein Psychodrama mit folgenden Thema auf: Während einer Familienmahlzeit bittet die Tochter ihre Eltern um Geld, um allein in die Ferien fahren zu können; sie stößt auf Ablehnung. Während des Spiels erscheint nun die Diskussion des von dem Mädchen gestellten Problems sonderbar vermengt mit Einstellungen zur aufgenommenen Nahrung: Der Vater, versunken in seine finanziellen Berechnungen, unterbrach die Diskussion mehrfach, um das Ragout zu verlangen; die Mutter, die der Bitte des Mädchens geneigter ist, forderte sie gleichzeitig auf, zu essen. Das Mädchen »hatte keinen Hunger« und wies die angebotene Nahrung zurück. Die mürrische und unfreundliche Großmutter wollte sowohl dem Mädchen das Geld verweigern als auch es zwingen zu essen. Offensichtlich hingen derartige Einstellungen mit der Lebensgeschichte der einzelnen Darsteller zusammen, was denn auch in der Diskussion, die auf das Psychodrama folgte, deutlich wurde. In der »kleinianischen« Terminologie lassen sie sich leicht interpretieren: Angst vor Verlust des Objektes, das hier durch Nahrung und Geld verkörpert ist, und verschiedene Reaktionen gegen diese Angst: zwanghafte beim Vater, schizoid-sadistische bei der Großmutter, »depressiv-anorektische<< beim Mädchen und possessive bei der Mutter, die das »gute Objekt« aufdrängen wollte. Gleichzeitig brachte die Diskussion zutage, daß eine Annäherung an die aktuelle Situation dieser Studentengruppe nahelag. Sie nahmen zusammen mit einigen Praktikums-Tutoren und mit mir selbst an einer nicht-direktiven Lerngruppe teil, und hatten des öfteren ihr Unbehagen geäußert, daß ich und die Tutoren sie nicht führten, und
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um eine Leitung gebeten; sie waren mißtrauisch und ablehnend gegen die Freiheit, die wir ihnen boten, denn sie hatten zu Recht oder zu Unrecht den Eindruck, wir würden sie ihnen aufzwingen. Sie hatten ausdrücklich in diesem Zusammenhang Themen aus dem Bereich der Ernährung angeschnitten (wenig substantielle Nahrung, Nahrungsverweigerung usw.). Es lag daher die Vermutung nahe, daß ihnen das Psychodrama eine Möglichkeit bot, ihren aktuellen Konflikt mit den Tutoren und uns durchzuspielen. Indem sie immer wieder von einer Beziehung sprachen, in der gefordert, aufgedrängt oder verweigert wird, sprachen sie ihr Gefühl aus, mit uns nicht in eine Wechselbeziehung treten zu können. Und dieses Gefühl diente der Verschleierung ihres tiefen Verlangens, untereinander zu interagieren, und ihres Zweifels, ob sie je dahin kommen würden. Ihre - lebensgeschichtlich bedingt - verschiedenen Einstellungen wiesen somit in der gegenwärtigen Situation eine gemeinsame Bedeutung auf. Die Autoritätsbeziehung ist daher in zweifacher oder gar dreifacher Hinsicht symbolisch: sie verweist sowohl auf in der gegenwärtigen Begegnung empfundene Gefühle als auch auf Abwehrschemata, die aus der individuellen Lebensgeschichte oder aus der kollektiven Geschichte herrühren (kollektive Strukturen und Institutionen; hier die traditionellen Normen im Verhältnis Studenten-Dozenten). Den gegenwärtigen kollektiven Konflikt »interpretieren« die Mitglieder von ihrer individuellen und kollektiven Geschichte her. Dies wiederum bleibt nicht ohne Wirkung, und der kollektive Konflikt entwickelt sich in dem Sinne, in dem er von den Mitgliedern interpretiert wird. Wir glauben, daß unsere Theorie den beobachtbaren Phänomenen besser Rechnung trägt als die Theorie Freuds, denn sie bietet gleichzeitig eine Erklärung für: - das Auftreten der Autoritätsbeziehung (Konzentration der Affekte auf eine bevorzugte Person, absolute Rangordnung, Entfremdung, Identifikation, Ambivalenz usw.), - die unterschiedliche lebensgeschichtliche Bedeutung für die einzelnen Mitglieder; dies hängt damit zusammen, daß durch die kollektive Abwehrreaktion frühere Abwehrreaktionen wieder wirksam werden. - Die Konvergenz der individuellen Einstellungen zur Autorität in einer gegebenen Gruppensituation; die Unähnlichkeit der Einstellungen ein und desselben Mitgliedes in verschiedenen Gruppensituationen. Natürlich bleiben noch zahlreiche Probleme offen: obwohl wir gewisse Transformationsprozesse kollektiver Gefühle (primäre und sekundäre Abwehrreaktionen) interpretieren können, kennen wir die Entwick266
lungsgesetze kollektiver Konflikte noch nicht oder nur wenig. Noch weniger wissen wir darüber, wie eine bestimmte individuelle Einstellung die Entwicklung kollektiver Konflikte in jeder einzelnen Phase beeinflußt, und wir wissen nichts über die Rolle der Gruppenzusammensetzung. Untersuchungen über diese Fragen sind unerläßlich. Um zielführend sein zu können, müßten derartige Forschungen - wenn möglich in einem homogenen theoretischen Rahmen - die beiden Variablen der kollektiven Gefühle und der individuellen Einstellungen gleichzeitig berücksichtigen 8 •
Jaques und Menzies: Kritik ihrer Theorien über die Abwehrfunktionen sozialer Systeme
Mehr als mit den Auffassungen Freuds haben unsere Thesen mit denen von Jaques gemein. Jaques ist Psychoanalytiker der kleinianischen Schule, heeinflußt von Bion; sein Betätigungsfeld ist die soziale Veränderung im industriellen Bereich 9 • Die Freudsche Autoritätstheorie, die er eigentlich nur ergänzen wollte, erfuhr durch ihn wichtige Modifikationen. Da Isabel Menzies von Jaques angeregt wurde, können wir auch ihre Arbeiten denen von Jaques hinzufügen. Die zentrale Hypothese Jaques' - in seinem Artikel »Social systems as a defense against persecutory and depressive anxiety« aus dem Jahre 1955 - besagt, daß die sozialen Institutionen eine Verstärkung der individuellen Abwehrmechanismen ihrer Mitglieder gegen die psychotische Angst ermöglichen. Sie erfüllen mithin eine unbewußte Abwehrfunktion, die zu den bewußten Funktionen positiver libidinöser Befriedigung und rationaler sozialer Kooperation hinzutritt. Einer der Ursprünge sozialer Bindung wäre also der kollektive Kampf gegen die Angst: >>die besondere Hypothese, die ich untersuchen werde, besagt, daß eines der primären Kohäsionselemente, durch die es zur Vergesellschaftung von Individuen kommt, die Abwehr psychotischer Angst ist« (a. a. 0.). Unter psychotischer Angst versteht Jaques - er folgt hierin Melanie Herbert Thelen betreibt seit mehreren Jahren an der Universität von Chicago Untersuchungen, die in diese Richtung gehen; er benützt für beide Gruppen von Variablen die Begriffe Bions. Vgl. Stock und Thelen (1958} und Thelen (1965}. 9 Vgl. seine berühmte Arbeit »The changing culture of a factory« (1951).
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Klein - die von den inneren destruktiven Impulsen in zwei Formen hervorgerufene Angst: die paranoid-schizoide Form, die mit der direkten Bedrohung durch die destruktiven Impulse zusammenhängt, und die depressive Form, die dem Gefühl des Objektverlustes und dem Schuldgefühl im Gefolge der inneren Aggression entspricht. Die wichtigsten Abwehrmechanismen gegen die Angst sind die Spaltung oder Dissoziation (splitting) des Objektes in ein gutes und ein böses Objekt, die Projektion aggressiver Tendenzen auf das böse Objekt und die entsprechende Idealisierung des guten Objekts. Jaques geht zunächst vom Freudschen Schema der gegenseitigen Identifizierung der Mitglieder durch die gemeinsame Idealisierung des Führers aus und ergänzt es, indem er, im Gefolge Melanie Kleins, die Bedeutung der Projektionsmechanismen für die Entstehung der Identifizierung unterstreicht. Weil die Mitglieder einen Teil ihrer selbst auf den Führer projizieren, identifizieren sie sich mit ihm (projektive Identifikation) und in der Folge untereinander 10• Weil der Führer für die Mitglieder ein gemeinsames Projektionsobjekt darstellt, dient er der Gruppe als Bindemittel. Der Führer introjiziert, »absorbiert« seinerseits die auf ihn projizierten Tendenzen, oder aber er lenkt sie auf Dritte um. Als Beispiel für diese Mechanismen führt Jaques die üblichen Positionen des Kapitäns und des Zweiten Offiziers auf einem Schiff an: gewöhnlich erblickt die Besatzung im Zweiten Offizier den Grund allen Übels, der Kapitän hingegen ist die wohlwollende und schützende Autoritätsfigur. Beide machen dieses Spiel mit und übernehmen die ihnen zugewiesenen Rollen. Der Kapitän repräsentiert so das »gute Objekt«, der Zweite Offizier das »böse Objekt«; auf ihn projiziert man die sadistischen Tendenzen, die er »introjiziert«, während der Kapitän die idealisierenden guten Tendenzen »absorbiert« und die schlechten auf seinen Untergebenen »umlenkt«. Dieselbe analytische Methode wendet Jaques auf eine konkrete Verhandlungssituation zwischen der Leitung und den Arbeitern an, die er in einer Abteilung eines Unternehmens beobachten konnte. Das Verhältnis zwischen Arbeitern und Abteilungsleitern wurde, was die alltägliche Arbeit betraf, von beiden Seiten als gut bezeichnet. Es stand jedoch im Widerspruch zu dem Mißtrauen, das die Arbeitervertreter gegen die Direktion in der Verhandlungssituation an den Tag legten. Jaques nahm an, daß die Arbeiter eine »So identifizieren sich faktisch die Soldaten, die ihren Führer als ihr Ichideal erwählen, projektiv mit dem Führer, d. h. sie verlegen einen Teil ihrer selbst in ihn. Diese gemeinsam vorgenommene projektive Identifizierung ermöglicht es den Soldaten, sich miteinander zu identifizieren« (1955, S. 548). 10
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scharfe Trennlinie zwischen dem alltäglichen Arbeitsbetrieb und den Verhandlungen gezogen hatten, um sich so im Alltagsbetrieb von ihren eigenen aggressiven Tendenzen und vor denen der Direktion zu schützen. Ihre Aggressionen hatten sie auf ihre Vertreter projiziert: sie stachelten die Vertreter zu aggressivem Verhalten gegen die Direktion an und verdächtigten sie gelegentlich der Nachgiebigkeit. Die Arbeitervertreter lenkten die auf sie projizierten Aggressionen auf die Direktion um, während die Direktion diese Projektion dadurch konterte, daß sie die Arbeiter idealisierte, um ihre eigenen Aggressionen und die der Arbeiter im Keime zu ersticken. Die Bereinigung dieser unbewußt gebliebenen und daher unkontrollierten »phantasmagorischen sozialen Situation« interferierte ständig mit der Bereinigung der Probleme. Durch dieses Zusammenspiel von Projektionen, Introjektionen und Umlenkungen entsteht so nach Jaques in der Organisation ein affektives Gleichgewicht, in dem bestimmte Figuren kollektive unbewußte Funktionen für die Mitglieder ausüben, in dem die Abwehrmechanismen sich konsolidieren, da sie in bestimmten Bereichen des sozialen Lebens mit anderen geteilt werden, und in dem schließlich jeder einzelne gegen die Angst, »nicht mehr isoliert im eigenen unbewußten Inneren, sondern in Kooperation mit den Waffenbrüdern im realen Leben« 11 kämpfen kann. Was ist an dieser Konzeption neu im Vergleich zu Freud? Jaques und Bion insistieren auf der unbewußten Kooperation zwischen den Mitgliedern und zwischen dem Führer und den Mitgliedern im Entstehungsprozeß der kollektiven psychischen Autoritätsstrukturen. Jaques ist der Ansicht nicht fern, daß die Autoritätsbeziehung in der je gegenwärtigen kollektiven Situation entspringt. Die Autoritätsbeziehung findet ihre Erklärung nicht mehr nur in einer Reihe individueller Übertragungen, die zufällig in einer gemeinsamen Autoritätsfigur konvergieren, welche ihrerseits auf Grund einer Ähnlichkeit der »typischen Eigenschaften« von Führer und Mitgliedern vorausbestimmt ist. Die Ähnlichkeit ist nun nicht mehr ein der Situation äußerlicher Faktor, eine zufällige Grundgegebenheit, sondern sie ist das Ergebnis der Situation selbst, die entspringt aus der Kooperation der Mitglieder im Kampf gegen die Angst, der ihren Willen erweckt, einander zu ähnlich zu sein und sich zu identifizieren. Folglich besteht zwischen Bindung an den Führer und Gruppenbindung nicht mehr jenes Verhältnis, das 11 In der Passage, aus der wir zitieren, bezieht sich Jaques auf die Armee, daher der Ausdruck ,. Waffenbruder«; dennoch hat das Zitat offensichtlich eine allgemeine Bedeutung (S. 551).
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Freud postulierte, sondern das umgekehrte, auf das auch wir schon hingewiesen haben. Die Bindung an den Führer ist nicht mehr Ursprung der Gruppenbindung, vielmehr wird dem Führer innerhalb der kollektiven Organisation der Abwehrmechanismen eine Rolle zugewiesen, er ist das Instrument der kollektiven Notwendigkeit zur Organisation der individuellen Abwehrmechanismen. Indem Jaques die Wichtigkeit der Projektionsmechanismen betont, leitet er schließlich auf der Ebene der individuellen Psychologie selbst eine radikale Kritik der Autoritätsbeziehung ein, die nun nicht mehr als Urgegebenheit, sondern als sekundäres Produkt der Angst gesehen wird. Man begnügt sich nicht mehr wie Freud damit, Abhängigkeit vom Führer, Nachahmung und Identifizierung zu konstatieren oder auf zeitlich frühere Abhängigkeitsphänomene zurückzuführen. Diese Phänomene selbst lassen sich vielmehr in der Analyse und damit- zumindest im Idealfallin der Praxis reduzieren. Doch wie Bion bleibt auch Jaques auf halbem Wege stehen. Zwar weisen seine Thesen in die von uns bezeichnete Richtung, wenn auch nicht so ausdrücklich, wie von uns beschrieben, doch bleibt er in anderer Hinsicht den klassischen psychoanalytischen Schemata verhaftet. Der Ursprung der kollektiven Affektivität ist nach Jaques in den »individuellen Abwehrmechanismen« zu suchen, wie sie im Verlauf der individuellen Lebensgeschichte entstanden sind. Damit fällt Jaques wieder zurück in die Schwierigkeiten einer Position, die wir überwunden glaubten und die wir anläßlich der Auseinandersetzung mit Freud erörtert haben. Verändert die »unbewußte Kooperation« (die »Valenz« Bions) die individuellen Mechanismen? Wenn ja, so wird uns darüber nichts mitgeteilt, und es bleiben sowohl der Grund wie auch die Grenzen dieser Veränderung unverständlich. Oder, wenn die unbewußte Kooperation einfach ein Automatismus ist wie für Bion, der identische individuelle Reaktionen miteinander kombiniert, ohne sie zu verändern, so sind wir noch immer nicht über den Individualismus Freuds hinaus, die eigentümliche Abhängigkeit des Individuums von seiner kollektiven Situation bleibt ungeklärt, und allein eine prästabilierte Harmonie im Sinne Leibniz' wäre imstande, die im Grunde dann unbeweglichen Gleichgewichtszustände der Gruppen zu erklären. Oder die Kooperation ist eine zielgerichtete Tätigkeit, welche die individuelle Affektivität modifiziert, um die aus der Begegnung erwachsenden Gefahren zu verringern. Sie erscheint dann mit der Begegnung selbst verknüpft, als der Sinn der Begegnung. Man wird ihr den Rang eines Gefühls eigener Art zuerkennen müssen, das nicht auf lebensgeschichtlich bedingte individuelle Mechanismen reduzierbar ist. Die Solidarität der Mitglieder 270
wird unbewußt auf der Ebene der in der jeweiligen Situation erlebten Gefühle empfunden: daß es primär diese Ebene ist, auf der man den Ursprung der kollektiven Affektivität zu suchen hat, verkennt Jaques ebenso wie Bion. Mit seinem Begriff der unbewußten Kooperation allerdings kommt er dieser Einsicht recht nahe. Doch bleibt dieser nicht hinreichend ausgelotete Begriff wie die Valenz Bions eher einer mechanischen Auffassung der Solidarität verhaftet. Für Jaques wie für Bion gehört die eigentliche Kooperation dem rationalen Bereich an; sie wird von der unbewußten Kooperation völlig getrennt und liegt sogar in Konflikt mit ihr. Für uns hingegen verweist die unbewußte Kooperation in der kollektiven Entfremdung und Identifikation zeichenhaft auf eine unbewußte Kooperation und Solidarität von tieferer Authentizität, denen sie gerade dadurch Ausdruck verleiht, daß sie sie negiert. Jaques und auch Bion versäumen es letztlich, die eigentlich gruppenhafte und soziale Ebene der Phänomene, die Ebene der authentischen Beziehung, zu beschreiben, die sie einerseits auf eine blasse rationale Kooperation und andererseits auf eine gleichsam automatische Organisation individueller Phantasievorstellungen reduzieren. Aus den Auffassungen Jaques geht auch hervor, daß seine Kritik der Autoritätsbeziehung weniger radikal ist, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Jaques erkennt zwar, daß die Autoritätsbeziehung eine Abwehrreaktion gegen die individuelle Angst darstellt, die aus der Lebensgeschichte jedes einzelnen resultiert. Er sieht jedoch nicht, daß die Autoritätsbeziehung eine Abwehrfunktion gegen ein aktuelles kollektives Gefühl erfüllt, d. h. gegen das unbewußte Verlangen nach echter Kooperation, das die Mitglieder einer Gruppe oder Organisation empfinden und dessen Kraft und Realität unsere Untersuchungen gezeigt haben. Es ist daher zu befürchten, daß die Position Jaques' zu einem gewissen sozialen Konservatismus führt, da sie dazu verleitet, die Autoritätsstrukturen nur im Sinne individueller Widerstände (die allerdings kollektiv organisiert sind) und nicht als Widerstand gegen eine gegenwärtige soziale Realität zu interpretieren: gegen die Realität der authentischen Kooperation, die von den Mitgliedern der Gruppe oder Organisation unbewußt gewollt und gesucht wird. Selbst im Bereich der individuellen Abwehrmechanismen übrigens muß Jaques' kleinianische Auffassung von Angst ihn zu einer pessimistischen Prognose im Hinblick auf einen Abbau der Autoritätsbeziehung führen. Dies hängt mit dem grundlegenden Dualismus der Psyche zusammen, den Klein und Jaques von Freud übernommen haben. Der Vertreter der Autorität externalisiert nur einen inneren Konflikt der Psyche, die zwischen Eros und Thanatos hin und hergerissen und von ihren de271
struktiven Tendenzen bedroht wird. Die Autoritätsstrukturen sind nichts anderes als die grandiose Übertragung dieses inneren und unlösbaren Konfliktes auf den sozialen Bereich. Dagegen betrachten wir sie, da wir eine monistische und paradoxe (dialektische) Konzeption der seelischen Tiefenschichten anstreben, zwar auch als Externalisierung eines inneren Konflikts, aber dieser ist nicht unlösbar, er steht vor dem Hintergrund einer Koexistenz von Gefühlen - einer Koexistenz, die in diesem Konflikt abgelehnt wird, die aber gerade die Beziehung zum anderen begründet. Die Autoritätsstrukturen bringen nicht wie bei Klein und Jaques die grundsätzliche Unmöglichkeit einer Koexistenz von Liebe und Haß und nicht den Versuch, sie erfolgreicher voneinander zu trennen, zum Ausdruck, sondern die Angst vor einer authentischen Beziehung, in der man sich gleichzeitig der Bindung und der Trennung bewußt werden müßte. Die Spaltung der Gefühle, zu der die Autoritätsstrukturen beitragen, ist nicht eine unüberwindbare Urgegebenheit, sondern der Reflex einer abgewehrten Angst. Zugleich sind die Autoritätsstrukturen ein Appell, sie sind Ausdruck jener Realität, die sie verneinen: der authentischen Beziehung. Es sind also keine automatischen Projektionsmechanismen, keine voneinander unabhängigen »Kräfte«, denen Individuen, die in ihnen keinerlei Sinn zu sehen vermögen, unterliegen; es sind kommunikative Akte, in denen sich eine umfassende Gefühlswirklichkeit ausspricht, die allen Mitgliedern einer Organisation gemeinsam ist. Sie laden zu ihrer eigenen Oberwindung ein; das ist die Quelle des Wandels in der Organisation. Am Ende dieser beiden Kapitel über die privilegierte Beziehung und die Zusammenhänge zwischen kollektiven Gefühlen und sozialen Strukturen wollen wir die wesentlichen Ergebnisse kurz zusammenfassen und miteinander verknüpfen. Im ersten der beiden Kapitel zeigten wir den psychologischen Prozeß auf, der die privilegierte Beziehung konstituiert; die Autoritätsbeziehung ist ein Aspekt der privilegierten Beziehung. Wir interpretierten die privilegierte Beziehung nicht als ein primäres, sondern als sekundäres Phänomen, als Ergebnis einer Abwehr der authentischen Beziehung und als unlösbar mit dem Dissoziationsprozeß zwischen Liebe und Trennungsgefühl verknüpft. Die privilegierte Beziehung schafft sich Objekte, auf die sich auf ambivalente Weise Liebe und Haß richten können, in denen ein jeder sich entfremden und mit denen er sich identifizieren kann, und die allesamt als Schutzschirm gegen eine authentische Beziehung zu den anderen fungieren. Sie entsteht aus dem jeweiligen Augenblick, obwohl sie Materialien der individuellen und kollektiven Geschichte verwendet. Die Elternbeziehung erwies sich lediglich als eine ihrer Formen. Die-
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ser psychologischen Analyse der privilegierten Beziehung ließen wir jedoch im nächsten Kapitel andere Gesichtspunkte folgen. Wir sahen, daß die privilegierte Beziehung in einer kollektiven Situation entsteht, inmitten von Gruppen und sozialen Organisationen; weiter sahen wir, daß wir zu ihrem Verständnis die gesamte Situation, in der sie entsteht, ins Auge fassen müssen und nicht nur einen individuellen Prozeß oder auch nur eine Serie interpersonaler Prozesse. Wir haben anerkannt, daß sich die privilegierte Beziehung in sozialen Strukturen und kollektiven Institutionen konsolidiert und daß diese Phänomene mit unbewußten Gefühlen der authentischen Liebe und der Getrenntheit, die von allen Mitgliedern der Gruppe oder Organisation kollektiv geteilt werden, in Zusammenhang zu bringen sind. Institutionen und Strukturen, deren Mittelpunkt die Strukturen der Beziehung zu den privilegierten Autoritäten bilden, erschienen als das einer bestimmten Gruppe eigentümliche Abwehrsystem gegen das von den Mitgliedern einhellig empfundene Gefühl einer authentischen Beziehung untereinander und mit der Außenwelt. Unsere zweifache Analyse führt also zu einer Kritik der privilegierten Beziehung und der Autoritätsbeziehung. Diese Beziehung entspringt durchaus nicht dem Diktat einer böswilligen biologischen Natur, die für alle Ewigkeit dem Menschen Abhängigkeit und Konflikt eingepflanzt hat, und auch nicht dem Diktat einer sozialen Ordnung, die dem Menschen fremd und von außen auferlegt ist. In psychologischer Hinsicht ist sie das Ergebnis eines aktiven Widerstandes, der, indem er sie verneint, sein Gegenteil meint und anzeigt, nämlich die Beziehung. In der privilegierten Beziehung bereitet sich so deren eigene Auflösung vor. In soziologischer Hinsicht rührt sie aus einem unbewußten kollektiven Willen her, der die sozialen Institutionen in jedem Augenblick erhält und neu schafft und sie eben dadurch verändert.
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10. Kapitel Die Sprachen des Gefühls
Bisher befaßten wir uns mit dem Inhalt der Gefühle, mit der tiefsten Erfahrung von Liebe und Angst wie auch mit den primären Abwehrmechanismen gegen diese Erfahrung, der possessiven Liebe, der Feindseligkeit und der privilegierten Beziehung. Parallel zu diesen Modifikationen ihres Charakters und ihres Gegenstandes erfahren die Gefühle jedoch noch eine weitere Umformung, die wir mit einer Modulation vergleichen können und die ihre Ausdrucksformen betrifft. Diese sind mehr oder weniger direkt, sie übersetzen mehr oder weniger transparent das in der Beziehung erlebte Gefühl. Wir haben dies als den Prozeß der sekundären Abwehrmechanismen bezeichnet. Er besteht wesentlich in der Abwehr direkten Gefühlsausdrucks. Dazu nun einige fragmentarische Hinweise, die wir unseren klinischen Beobachtungen entnehmen.
Verschiedene Sprachen des Gefühls
Bei der Beobachtung von Gruppen im Rahmen eines Trainings oder im Rahmen einer Intervention an Ort und Stelle ist es immer wieder auffällig, daß die Äußerungen in einem bestimmten Augenblick nicht nur um ein besonderes Thema kreisen, sondern daß sie sich auch in eine ähnliche Form und Sprache kleiden, die wir als vorherrschende Sprache bezeichnen. Diese entspricht einer bestimmten Art und Weise, sich von der unmittelharen Erfahrung des Gefühls zu distanzieren. Diese verschiedenen Sprachen lassen sich grob etwa folgendermaßen einteilen: Als erste nennen wir die Sprache der Aktion. Sie umfaßt jeden Versuch, die materielle oder menschliche Umgebung direkt, ohne vorhergehende Verdeutlichung des Gefühls zu modifizieren: ein Teilnehmer steht auf, setzt sich, öffnet oder schließt die Tür; die Teilnehmer schieben die Tische zusammen, werfen mit Papierkugeln, sie gehen aufeinander zu, entfernen sich voneinander, gehen weg usw. Zunächst ist damit also die Sprache der körperlichen oder manuellen Gestik und
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der Haltung gemeint. Aber auch das verbale Verhalten selbst weist den Aspekt eines Tuns auf: Indem man eher mit dem als jenem spricht, überhaupt spricht oder schweigt, versucht man, die Gruppe - z. B. deren Kommunikationsgefüge - auf eine Weise zu verändern, die nicht immer in dem, was man verbal mitteilt, enthalten sein muß. Zur Sprache der Aktion kann man schließlich auch alles rechnen, was die verbale Mitteilung an Befehl, Entscheidung oder Bitte enthält, ohne das Gefühl, aus dem diese hervorgehen. Auch die Mitteilung institutioneller Regeln zählt dazu als eine Art sozialer Gestik, eine Verlängerung der körperlichen Gestik. Die Aktionssprache ist die undurchsichtigste von allen. In ihr kommen die am meisten unbewußten Gefühle oder auch bewußte Gefühle, die in der Gesellschaft verdrängt werden, zum Ausdruck: obszöne Gesten, spontane und unüberlegte Liebkosungen oder Gewalttätigkeiten. Es ist die früheste Form der Gefühlsäußerung. So geschieht etwa in der Psychotherapie oder im Training die erste Initiative des Klienten, sein Beschluß, den Therapeuten oder Trainer aufzusuchen, in dieser Sprache (man wird daher vergeblich bemüht sein, vom Klienten die Gründe seiner Entscheidung zu erfahren; es ist eine zutiefst irrationale Entscheidung, deren Sinn erst viel später deutlich werden kann). Bekanntlich wird in bestimmten therapeutischen Methoden dem nonverbalen Verhalten eine besondere Bedeutung beigemessen, wie etwa in der Therapie Morenos. Manche Therapeuten begnügen sich nicht mit der Interpretation des nonverbalen Verhaltens, sondern treten ihrerseits mit dem Klienten in diese Art der Kommunikation ein, in der sie die Quelle der Gefühlsäußerung erblicken. Zu dieser Strömung gehört neuerdings auch die Entwicklung der Techniken körperlichen Ausdrucks. Die symbolische Sprache umfaßt Scherze, Witze, Geschichten, Träume, Mythen, Spiele usw. Hier werden Gefühle verbal geäußert, aber so, daß sie sich nicht auf die aktuelle Situation beziehen. Entweder ist von anderen Personen in einer anderen Situation die Rede, oder es geht wie beim Spiel um dieselben Personen, jedoch in einer anderen Situation; in manchen Psychodramen sind sogar Personen und Situation dieselben, aber die Situation wird durch das Spiel ihres Realitätscharakters entkleidet. Es gilt als abgemacht, daß die geäußerten Gefühle nicht »Ernst«, sondern »gespielt« sind. Die Symbolsprache ermöglicht unter dem Schutz einer gewissen Distanz zur realen Situation eine sehr weitgehende .Äußerung und Verdeutlichung von Gefühlen.
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Wenn eine Gruppe die Sprache rationalen Uniersuchens gebraucht, so beschäftigt sie sich bewußt mit der Erforschung ihrer selbst und ihrer Umwelt. Sie errichtet ein System bewußter Ziele, Methoden, Rollen, Normen und Statuspositionen, d. h. Strukturen im Sinne Lewins. Sie setzt sich mit auftauchenden Problemen auseinander und versucht, sie zu lösen. Dabei befassen sich die Mitglieder mit ihren Gefühlen, allerdings in einer noch unverbindlichen Weise. Sie untersuchen sich selbst, als wären sie unbeteiligte Beobachter, als ginge es nicht um sie selbst. Gefühle stellen sich dann eher als gedachte, denn als im Augenblick wirklich erlebte dar. So wird etwa einer von seiner Feindseligkeit gegen einen anderen in einer zwar exakten, aber relativ unbeteiligten Weise sprechen, als handle es sich um ein klinisches Phänomen; daß er jedoch in diesem Moment wirklich Haß empfände, wird man ihm nicht anmerken. Mit der Sprache der Emotion (Weinen, Lachen, Mimik usw.) wächst die Nähe zur Situation. Das erlebte Gefühl ist zwar da und bereit, hervorzubrechen, aber es bleibt noch verschwommen und unklar, ist noch nicht artikuliert. Es wird nicht einmal von dem, der es empfindet, bewußt wahrgenommen. Man weiß im Augenblick nicht, warum man weint oder lacht. Die Tränen oder das Lachen überkommen einen. In der Sprache des Gefühls im eigentlichen Sinne, der unmittelbaren Sprache, wird direkt geäußert, was in der gegenwärtigen Situation hier und jetzt erlebt wird. In der reinsten Ausprägung dieser Sprache ist jede Spur der Emotion getilgt. Der Sprechende teilt schlicht und nüchtern seine Liebe und Abneigung, seine Sicht anderer und seiner selbst mit und gibt genau an, was er in bezug auf die anderen für Absichten hat. Diese Sprache gleicht in vielem der rationalen Sprache; sie unterscheidet sich von ihr durch das Engagement des Sprechenden, für das, was er sagt, eine Dimension, die der rationalen Sprache abgeht. In einer Trainingsgruppe, nachdem sich eine Teilnehmerin - mittleren Alters und unverheiratet - sehr pessimistisch über ihre Lebensaussichten geäußert hatte (sie erwartete nichts vom Leben usw.), wandte sich ein junger und gut aussehender Teilnehmer zu ihr, schaute sie an und sagte zu ihr: >>XYZ (sagen wir, Madeleine), ich liebe Sie.<< Und als sie im gleichen Sinne fortfuhr, sagte er noch einmal: >>Ohne Zweifel haben Sie mich nicht verstanden, Madeleine; ich liebe Sie!<< Hier befinden wir uns offensichtlich im Bereich der Gefühlssprache. Der betreffende Teilnehmer begnügte sich nicht damit, von seiner Liebe zu Madelaine als von einer abstrakten Gegebenheit zu sprechen, er erklärte sie.
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Distanz zur unmittelbaren Erfahrung
Diese verschiedenen Sprachen entsprechen verschiedenen Abstufungen in der »Distanz zur unmittelbaren Erfahrung« der Beziehung und des Gefühls. Wir benützen hier das von Rogers aufgestellte Konzept der >>distance to experiencing«, das er dazu verwandte, die Entwicklung der Klienten im V erlauf einer Therapie zu beschreiben. Rogers machte die Beobachtung - und sie ist durch entsprechende Untersuchungen bestätigt worden -, daß im Verlauf einer Therapie, die nach unabhängigen Kriterien als >>erfolgreich« angesehen wird, die Distanz zur unmittelbaren Erfahrung abnimmt. Die Kategorien Rogers unterscheiden sich von den unseren, wenn auch der Grundgedanke der Einteilung derselbe ist. Rogers entwarf eine Skala mit 7 Punkten auf einem Kontinuum: Die Position jedes Punktes auf der Skala ist durch den Wert bestimmter Kriterien definiert, die gleichzeitig von einem Ende der Skala zum anderen variieren. Es sind dies folgende Kriterien: Selbst-Bezug im Verhältnis zum Außenwelt-Bezug; Gefühle, die man als seine eigenen (owned) anerkennt und nicht als Symptome beschreibt; differenzierte Selbst- und Fremdwahrnehmung; ausdrückliches Wissen um innere Widersprüche: Bezug auf die Gegenwart statt auf die Vergangenheit; Ausdruck gerade erst entstehender Gefühle; Erfahrung seiner selbst als »im Fluß«, als Prozeß und gerade ablaufende Veränderung, nicht als starre Struktur; Gefühl der Eigenverantwortlichkeit 1 • Die Skala von Rogers erfaßt im Gegensatz zu der unseren nur das verbale Verhalten. Außerdem liegen seine Phasen auf einem Kontinuum und ließen sich daher beliebig vermehren oder verringern, während die unseren organisierten Sprachformen entsprechen, zwischen denen keine Kontinuität besteht. Ohne Zweifel wären weitere Untersuchungen erforderlich, um die Ausdrucksformen des Gefühls und ihren Ort auf einer Skala der Distanz zur unmittelbaren Erfahrung näher zu bestimmen.
Kontrapunktische Progression der Gruppe
Wir konnten in Trainingsgruppen mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Beobachtung machen, daß ein gleichbleibendes Thema in einer bestimmten Abfolge der Ausdrucksformen in Erscheinung tritt. Dies gilt 1 Rogers (1973, S. 135 ff.). Eine Zusammenfassung der diesbezüglichen Untersuchungen siehe bei Pages (1965, S. 73).
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eindeutig für Aktions-, Symbol- und Gefühlssprache, und zwar in dieser Reihenfolge. Bei der Walfischgruppe sahen wir, wie sich eine bestimmte Thematik - etwa die Aggression zwischen Trainer und Gruppe oder das in der Gruppe herrschende Glücksgefühl- in physischen Manipulationen der Umgebung (Zusammenrücken der Tische) anbahnt, ihre Fortsetzung auf der Symbolebene (Walfischgeschichte) findet, um schließlich im Hier-und-Jetzt der Gruppe ausgesprochen zu werden. Während ein solcher Ausdruckszyklus zu einer bestimmten Thematik abläuft, setzt mit einigem Abstand ein neuer Zyklus ein, diesesmal mit einer tieferen Thematik. Dies verleiht der Progression der Gruppe eine Art kontrapunktischen Charakter. Der in einem gegebenen Augenblick vorherrschenden Thematik und der vorherrschenden Sprache sind weitere Themen angegliedert, die ihren Ausdruck in anderen Sprachen finden und sich später voll entfalten. Unsere Aufmerksamkeit galt besonders den Obergangsperioden zwischen den einzelnen Zyklen und - innerhalb eines Zyklus - zwischen den verschiedenen Sprachen. Wir glaubten, beobachten zu können, daß sie mit einer Verstärkung des Unbehagens innerhalb der Gruppe zusammenfielen. Das läßt sich leicht mit der Annahme erklären, daß die Gruppenmitglieder dann bestrebt sind, entweder verdrängte Gefühle direkter als früher zu äußern (Übergang zwischen den Sprachen) oder neue, tiefer gelegene Gefühle zum Ausdruck zu bringen {Übergang zwischen den Zyklen). Unsere Beobachtung müßte natürlich erst verifiziert werden.
Kontinuität und Kontinuitätsbruch Im Dialog
Ein anderer Aspekt des Problems ist vielleicht noch bedeutsamer als die vorhergehenden, allerdings wissen wir über ihn noch weniger. Die Vorstellung, eine bestimmte Ausdrucksweise sei an und für sich mehr oder weniger abwehrend als eine andere, wäre ohne Zweifel falsch, da sie den Ausdruckskontext außer acht ließe. Nehmen wir an, eine Gruppe sei voll und ganz mit der Lösung einer Aufgabe beschäftigt und irgendeiner finge plötzlich an, die Prozesse in der Gruppe zu interpretieren, oder mit lauter Stimme die Gefühle, die er im Augenblick hat, auszusprechen. Seine Intervention wird höchstwahrscheinlich großes Befremden auslösen und die Arbeit der Gruppe stören oder aber völlig ignoriert werden. Dasselbe geschieht, wenn man mitten in der rationalen Untersuchung eines Problems voreilig eine praktische Maßnahme zur Durchführung der Aufgabe vorschlägt. Umgekehrt stören
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viele Interventionen die Harmonie deshalb überhaupt nicht, weil sie angesichts vorhergehender Interventionen faktisch weitgehend redundant sind. Sie tragen zum Fortschritt der Gruppe nichts bei und lassen die Gruppe sich in eine Tautologie verstricken. Anscheinend kann man von einem Dialog nur dann sprechen, wenn ein neuer Gesichtspunkt auftaucht, der jedoch der Kontinuität des Gesprächs keinen Abbruch tut. Laing (1961) versucht, das Problem mit dem Begriff der »Bestätigung(( anzugehen, den er von Martin Buher übernimmt. Die Bestätigung ist notwendig partiell und relativ; Laing definiert sie »als eine Antwort des anderen, die mit der sie auslösenden Aktion zusammenhängt, den auslösenden Akt als solchen zur Kenntnis nimmt und die Bedeutung, die er zumindest für die auslösende Person, wenn auch nicht für den Antwortgeber hat, akzeptiert. Eine >bestätigende< Reaktion des anderen ist eine direkte Antwort in dem Sinn, daß sie zumindest >heim Thema bleibt<, >den Faden aufnimmt< oder >auf derselben Wellenlänge< liegt wie die auslösende Aktion der ersten Person« (S. 89). Eine bestätigende Antwort muß nicht unbedingt einer Zustimmung oder Anerkennung gleichkommen. Eine ablehnende Antwort kann eine Bestätigung darstellen, wenn es sich um eine direkte Antwort handelt, die auf den auslösenden Akt eingeht. Die »nicht-bestätigenden« Antworten werden auch indirekte oder tangentiale Antworten genannt: sie gehen auf den auslösenden Akt nicht ein. Laing gibt mehrere aufschlußreiche Beispiele für Bestätigung und Nicht-Bestätigung (S. 93-97): Ein Fünfjähriger läuft mit einem großen Stück Glas in der Hand zu seiner Mutter: »Mutti schau, was für ein großes Stück Glas ich habe!«. Die Mutter antwortet: »Dreckig bist du, mach daß du dich wäschst!« Laing betont, daß nicht die Ablehnung in der Antwort der Mutter hier die Nicht-Bestätigung darstellt, denn wenn sie gesagt hätte: »Dieses Stück Glas ist schmutzig, wirf es weg!«, wäre dies eine - wenigstens relative - Bestätigung gewesen; ebenso die positive Antwort: »Was bringst du mir denn da für ein schönes Stück Glas!«. Die Nicht-Bestätigung liegt in dem Umstand, daß die Mutter dem aktuellen Interessenmittelpunkt des Kindes, dem Stück Glas, jede Beachtung verweigert und auf einer ganz anderen Ebene antwortet. Inhaltlich betrachtet könnte man die Antwort der Mutter als Ablehnung einer genitalen Bestrebung des Kindes - in der Aufmerksamkeit, die es dem Glas schenkt - und als Aufwertung der Analität (Sauberkeit usw.) interpretieren. Doch worauf es hier ankommt, ist nicht so sehr die Ablehnung als solche, sondern der Ablehnungsmechanismus, die Ablehnung durch eine tangentiale Antwort. 279
Nun ein Beispiel für Bestätigung: Eine 25jährige schizophrene Patientin verharrt während einer Therapiesitzung etwa 10 Minuten lang in Schweigen. Ihr Therapeut (R. Laing) »schaltet ab« und denkt an andere Dinge. Da sagt die Patientin: >>Üh, bitte, entfernen Sie sich nicht so weit von mir.<< Laing schreibt, er hätte nun den Kommentar der Patientin >>reflektieren<< können, etwa mit den Worten: >>Sie haben das Gefühl, ich sei Ihnen fern<< (verstehende Reflexion nach Rogers) oder er hätte Interpretationen geben können, die durch frühere Sitzungen gut begründet gewesen wären; er hätte z. B. ihren Wunsch, den Therapeuten >>bei<< sich zu haben, als eine Abwehr gegen ihre eigenen Triebregungen deuten können. Doch, sagt Laing, >>meiner Ansicht nach ist es das Wichtigste, was ein Therapeut in einer solchen Situation tun kann, die von der Patientin richtig registrierte Tatsache, daß ich mich von ihr wirklich zurückgezogen habe, zu bestätigen<<. Daher antwortet er schließlich >>Entschuldigen Sie bitte<<. Versuchen wir nun, die Kategorien, die wir zu Anfang dieses Kapitels aufgestellt haben, auf diese beiden Beispiele Laings anzuwenden. Der kleine Junge, der ein Stück Glas herzeigt, drückt sich in der Symbolsprache aus. Die Mutter lehnt die Verwendung dieser Sprache ab, sie schenkt dem Symbol, dem Glas, keinerlei Beachtung und äußert sich in der Aktionssprache (>>geh dich waschen<<). Die Patientin im 2. Beispiel bewegt sich schon an der Grenze zur unmittelbaren Gefühlssprache, denn sie sagt fast ausdrücklich: >>Ich fühle mich einsam, ich brauche Sie.<< Auch die bestätigende Antwort des Therapeuten ist in der Sprache der gegenwärtigen Situation gehalten, denn er sagt implizit: >>Ihr Empfinden hat Sie nicht getäuscht, ich achtete nicht auf Sie. Es tut mir leid.<< Eine >>interpretierende<< Antwort wäre hingegen einem Wechsel in der Sprache (zur rationalen Sprache) gleichgekommen. Eine >>verstehende<< Antwort wäre zwar auf der gleichen Ausdrucksebene geblieben, hätte aber zu dem, was die Patientin sagte, keinen neuen Gesichtspunkt hinzugefügt. Wir nehmen daher an, daß eine Modalität der Nicht-Bestätigung (unsererseits sprechen wir hier von einem Bruch im Dialog) der brüske Sprachwechsel seitens des Antwortenden ist, wobei es keine Rolle spielt, ob der Wechsel in Richtung auf geringere oder auf größere Distanz zur Erfahrung erfolgt. Heißt das nun, daß jede Intervention, die sich innerhalb des gleichen Sprachbereichs hält wie der Partner, notwendig auch bestätigend ist und den Dialog fördert? Wir glauben dies nicht. Eine Antwort aus einer radikalen Identifizierung mit dem Gesprächspartner heraus erlaubt keinerlei Fortschreiten, sie ist tautologisch und immobilisierend. Sie gibt dem Partner keinerlei »Bestä280
tigung<<, denn sie vermittelt ihm nur einen Reflex seiner selbst. Antworten dieser Art wären etwa systematisches Zustimmen und systematisches Widersprechen auf Grund unbewußter Identifizierung. Man könnte sich mithin zwei Hauptmodalitäten der Nicht-Bestätigung und des Dialogbruchs vorstellen. Die eine wäre die Kollusion in dem Sinn, wie wir sie in diesem Buch verstehen (und wie sie auch Laing versteht), die unbewußte Komplizenschaft auf Grund einer radikalen Identifizierung. Kollusion läßt sich weiter in systematisches Zustimmen und systematisches Widersprechen unterteilen. Sie bewegt sich innerhalb derselben Sprache. Die andere Hauptmodalität wäre der brüske Sprachwechsel. Der Dialog würde dann gefördert, und die ))Bestätigung« wäre dann gegeben, wenn eine glaubhaft persönliche Antwort in der Sprache des Gesprächspartners oder der Gruppe erfolgen könnte. Man sollte sich jedoch in diesem noch wenig erforschten Bereich vor Verallgemeinerungen hüten. Vielleicht ist Sprachwechsel unter bestimmten Umständen bestätigend und dialogfördernd, besonders dann, wenn er graduell geschieht und durch frühere Wechsel (z. B. im Verlauf jener Obergangsperioden, von denen wir weiter oben sprachen) schon vorbereitet ist. Mikroskopische Untersuchungen der Obergangsperioden, des Sprach- oder Themenwechsels wären sehr nützlich, um die Bedingungen für Kontinuität oder Kontinuitätsbruch im Dialog näher kennenzulernen. Die Klärung dieser Frage ist von großer praktischer Bedeutung für Psychotherapeuten, Trainer, Psychosoziologen, praktische Soziologen oder für Veränderungsagenten allgemein. Die Mehrzahl der Veränderungsmethodologien geht von der Annahme aus, daß es eine bevorzugte Sprache gibt, die der Veränderung besonders günstig sei und die vom Veränderungsagenten nahezu ausschließlich verwendet werde. Für Moreno ist dies die Symbolsprache in dem von uns definierten Sinn, für die Psychoanalyse die rationalisierende Deutung, für Rogers die Gefühlssprache. Im Bereich der Organisationsentwicklung wird von manchen die Umformung der Strukturen, von anderen die Einführung von Feedback-Systemen (durch Meinungs- oder Einstellungsforschung), die eine rationale Untersuchung der Situation ermöglichen sollen, und von wieder anderen kollektiver Gefühlsausdruck bevorzugt. Wenn die Hypothesen zutreffen, die wir in diesem Kapitel skizziert haben, so ist keinem dieser Mittel ein Vorrang gegenüber den anderen einzuräumen. Worauf es ankommt, ist, den Dialog zwischen dem Veränderungsagenten und seinem Klienten - ob Individuum oder Kollektiv - zu fördern; dieser Dialog kann auf allen Ebenen zustande kommen, je nach dem Entwicklungsstand des Klienten zum Zeitpunkt der Inter281
vention. Der Dialog kann ebenso auch auf jeder Ebene gebrochen werden. Eine Bedingung des Bruches wäre gerade das allzu ausschließliche Insistieren des Veränderungsagenten auf einer besonderen »Sprache«, in der er auf die Situation reagieren möchte, die seiner fachlichen Ausbildung und ohne Zweifel auch seinen eigenen Abwehrmechanismen entspricht. Im Bereich der klinischen Intervention in der Psychotherapie haben die existentiellen Therapeuten (besonders Boss und Laing) bereits die starren Ausdrucksformen des Therapeuten in Frage gestellt. Wir werden im letzten Teil versuchen, dies als allgemeines methodelogisches Problem zu behandeln.
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III Die psychesoziologische Intervention
11. Kapitel Die Grundoptionen der psychosoziologischen Intervention
Zum Begriff der psychosoziologischen Intervention
Wir möchten nun versuchen, die methodologischen Konsequenzen zu bestimmen, die sich aus unseren Thesen für den Praktiker und für den Forscher ergeben. Wir hätten dies eigentlich auch an den Anfang dieses Buches stellen können, denn die Hypothesen, zu denen wir gelangten, hängen natürlich von unseren Arbeitsmethoden ab. Umgekehrt erlauben die Hypothesen nun eine nähere Bestimmung der Methoden. Es wäre in der Tat illusorisch, wollte man die Methodologie von den Grundhypothesen trennen. Die Wissenschaftstheorie des Forschers enthält bereits eine- oft deformierte und rationalisierte- implizite Soziologie und Psychologie, die durch seine Forschungen bestätigt oder widerlegt werden. Wir möchten in diesem Kapitel unsere Grundannahmen offenlegen, soweit möglich ohne entstellende Rationalisierungen. Dies fällt um so weniger leicht, als die Gruppenmethoden der Sozialpsychologie zahlreiche traditionelle Konzeptionen völlig umstoßen. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß diese Methoden an der Spitze einer wahren wissenschaftstheoretischen Revolution in den Humanwissenschaften stehen, die uns erst zum Teil bewußt geworden ist, so gewaltig ist die mit ihr verbundene Umwälzung der Denkgewohnheiten. Ihr Sinn ist ein verallgemeinertes Durchbrechen der Schranken: der Schranken zwischen Forschung und sozialer Praxis, zwischen dem Forscher/Praktiker und der Gruppe, die er untersucht, zwischen verschiedenen Praxisbereichen (Psychotherapie, Training, Organisationsveränderung usw.) und den inneren psychischen Schranken des Forschers/ Praktikers. Diese Revolution ist ein kontinuierlicher Prozeß, der selbstverständlich noch lange nicht abgeschlossen ist. In gewisser Hinsicht können wir bestimmte wesentliche methodologische Fortschritte- etwa die Entdeckung der psychoanalytischen Methode und später die Aktionsforschung Lewins - als Etappen dieses Prozesses ansehen. Die Entwicklung ist indes nun an einem Punkt angelangt, wo wir versuchen können, eine allgemeine Methodologie menschlicher Änderungen
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zu schaffen, welche die früheren Etappen integriert und die neueren Entwicklungen in der Sozialpsychologie aufgreift 1. Wir schlagen vor, eine solche Methodologie psychosoziologische Intervention zu nennen. Sie ist sowohl eine praxisbezogene Veränderungsmethodologie wie auch eine Forschungsmethodologie (ihr primäres Charakteristikum ist gerade die Verbindung von Forschung und Praxis). Sie beschränkt sich nicht auf einen bestimmten Bereich der sozialen Praxis wie etwa Organisationsveränderung oder gruppendynamisches Training, sondern sie umfaßt auch ältere Methodologien wie die Einzelpsychotherapie 2. Mit den folgenden Hinweisen soll versucht werden, eine Konzeption der psychosoziologischen Intervention zu skizzieren.
Grundoptionen der psychosoziologischen Intervention
Auf Grund aller bisher angestellten Überlegungen müssen wir den Psychologen, Soziologen oder Psychosoziologen - sei er nun Forscher oder Praktiker - als integrierenden Teil eines spontanen kollektiven Umwandlungs- und Artikulationsprozesses betrachten. Die Erfahrung der Beziehung, so sagten wir, wird kollektiv von allen Menschen emp-
1 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht das seit einigen Jahren zu beobachtende Anwachsen der Literatur zur allgemeinen Methodologie menschlicher Änderungen oder zu bestimmten Aspekten dieser Änderungen, z. B. Lippitt, Watson und Westley (1958); Bennis, Benne, Chin (1961, 1969), Miles (1964), Bradford, Gibb, Benne (1964), Schein und Bennis (1965), sowie das Journal o/ applied behavioral science, von den National Training Laboratories, Washington, seit 1965 herausgegeben. 2 In früheren Artikeln (1961-1962) nannten wir psychosoziologische Intervention eine Tätigkeit im Feld, die auf Organisationsveränderung ausgerichtet war. Wir unterschieden sie vom Gruppentraining, das außerhalb einer Organisation durchgeführt wird. Heute ziehen wir es vor, dem Ausdruck »psychosoziologische Intervention« einen allgemeineren Sinn beizulegen und im ersten Fall von Organisationsveränderung zu sprechen. In der englischen und amerikanischen Literatur sind folgende Ausdrücke üblich: für psychosoziologische Intervention: planned change (Lippitt, Bennis); wir möchten diesen Ausdruck nicht verwenden, da er die Vorstellung einer gelenkten Veränderung erweckt; - für Organisationsveränderung: organizational change oder manchmal incompany training, in-plant training (für den Industriesektor); für Gruppentraining (frz. formation): trainingoder laboratory training.
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funden, sobald sie miteinander in Austausch treten, und davon sind auch der Forscher oder der Praktiker nicht ausgenommen. Das gesellschaftliche Leben ist nichts anderes als ein permanenter Dialog mit dem Ziel, diese Erfahrung, die unbewußt als die Solidarität eines jeden mit allen erlebt wird, zu artikulieren und die abwehrenden Formen, in denen sie zum Ausdruck kommt, zu überwinden. Gehen wir kurz auf einige Punkte ein: a) Es handelt sich um einen Prozeß gleichzeitiger Veränderung und Artikulation
Ein Prozeß der Artikulation (explicitation) deshalb, weil die menschliche Beziehung zutiefst expressiver Natur ist. Sie ist dem Bereich der Sprache und des Dialogs zuzuordnen. Sie ist Austausch von Bedeutungen und Bemühen um Mitteilung des in der Beziehung erlebten Gefühls. In dieser Hinsicht kommt keiner wie immer gearteten menschlichen Aktivität eine Vorrangstellung zu. Ein Befehl, ein Witz oder ein Wutausbruch wirken ebenso >>klärend<< wie eine rationale Analyse oder eine Gefühlsäußerung. Alle zielen sie direkt oder indirekt auf den Ausdruck der erlebten Beziehung ab. Gleichzeitig handelt es sich um einen durch verschiedene Abwehrreaktionen verweigerten Dialog. Die Artikulation ist daher nur möglich vermittels einer Veränderung der Dialogbedingungen, die das Abwehrsystem modifiziert. Diese Umwandlung kommt selbst wieder durch den Dialog zustande. Jede abwehrende Äußerung ist direkte oder indirekte Mitteilung über den Sinn des unmittelbar Erlebten und gleichzeitig Umwandlung der Dialogbedingungen, die später eine artikulierte Mitteilung ermöglicht. Aus diesem Grunde ist es nicht möglich, Forschung und Veränderung zu trennen. Die Forschung, hier verstanden als Artikulation des in der Beziehung erlebten Gefühls, setzt eine Umwandlung der Dialogbedingungen voraus. Eine vertiefte Forschung setzt eine wirksame und tiefe Umwandlung der Gruppe voraus, der die Forschung gilt. jede echte Forschung wird sich auf eine verändernde Praxis stützen müssen. Damit stehen wir im Widerspruch zu dem klassischen Postulat, daß Forschung ihren Gegenstand nicht oder nur möglichst wenig verändern dürfe. Unsere Position ergibt sich aber direkt aus unseren zuvor ausgeführten Hypothesen über die Natur dessen, was erfo~scht wird. Weil der Forschungsgegenstand verdrängte, hinter diversen Abwehrsystemen verborgene Gefühle sind, kann nur eine Modifikation der Ab286
wehr den Zugang zum Gegenstand eröffnen. Die Unterscheidung zwischen beiden Begriffen ist übrigens immer noch trügerisch, und wir müssen noch einen Schritt weiter gehen: Forschung und veränderndes Handeln verschmelzen miteinander. Die Modifikation der Abwehr ist eine Artikulation, und jede Artikulation ist eine Modifikation der Abwehr. Beide sind eins. Forschungstätigkeit fällt also mit entschiedener und energischer Umwandlung der Gruppe zusammen. Wir postulieren hier die vollkommene Einheit von Forschung und Veränderungs. Nun verstehen wir auch den Sinn der psychesoziologischen Intervention: er besteht darin, menschliches Tun in ausdrücklicherer und deutlicherer Weise in Sprache zu übersetzen. Andererseits kann, wie wir schon im vorigen Kapitel gesehen haben, keine bestimmte Form des Handeins oder der Sprache für sich beanspruchen, einziges oder bevorrechtigtes Agens von Forschung und Veränderung zu sein; vielmehr tragen alle auf ihre Weise dazu bei. Dieser Punkt ist von grundsätzlicher Bedeutung für die Frage nach der Auswahl der Interventionstechniken, und wir werden darauf noch zurückkommen. Schließlich ist klar, daß Forschung und veränderndes Handeln nicht das Privileg des Forschers oder des Praktikers, sondern kollektive Tätigkeiten sind, an denen alle Gruppenmitglieder teilnehmen. Das führt uns zum nächsten Punkt. b) Der Prozeß ist kollektiv und spontan
Unsere Hypothese ist, daß Gruppen kollektiv und spontan in der Veränderung ihrer selbst und der Artikulation ihres Erlebens kooperieren. Die Motivationen der Forschung - im Sinne von Artikulation und Veränderung - sind in jeder Gruppe gegenwärtig und werden von allen Gruppenmitgliedern geteilt. Keinesfalls sind sie das Privileg des Spezialisten, des Forschers, Praktikers oder eines »Mannes der Tat«. Forschung und Veränderung bedürfen nicht erst des Anstoßes durch den Spezialisten, sie sind in der Gruppe ständig am Werk. Daraus ergibt sich, daß der Forscher/Praktiker seine Aufgaben um so wirkungsvoller ausführt, je besser er sich in diese spontanen und kollektiven Forschungs- und Veränderungsaktivitäten einfügt. Seine Rolle 3 Lewin beschränkte sich darauf, wie wir später sehen werden, Forschung und Aktion in einem Verhältnis gegenseitigen Sichergänzens miteinander zu verbinden.
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ist es durchaus nicht, Forschung oder Veränderung auszulösen, sondern einen kollektiven Vorgang, den er allein weder in Gang zu setzen noch zu kontrollieren vermag, zu fördern. Er ist Instrument zur Förderung des permanenten Dialogs der Gruppe mit sich selbst. Eine weitere Folge, die sich aus dem kollektiven Charakter des Artikulations- und Veränderungsprozesses ergibt, ist die Interkommunikation der verschiedenen gesellschaftlichen Praxisbereiche. Die Abgrenzung des Gegenstands einer gesellschaftlichen Praxis ist in der Perspektive der psychosoziologischen Intervention völlig nebensächlich und vorläufig. Jede Interventionseinheit - jeder »Klient<<, in der üblichen Terminologie- ist nur ein Ausschnitt aus umfassenderen Einheiten, mit denen sie kommuniziert. Auch die Beschränkung der Arbeit auf eine bestimmte Einheit zeigt einen Zustand der Kommunikation mit den umfassenderen Einheiten an. So gesehen erscheint zum Beispiel die Einzelpsychotherapie als ein Sonderfall der Familientherapie oder der Behandlung des Unternehmens und der Organisationen, denen der einzelne angehört. Einzelpsychotherapie, Gruppenpsychotherapie, Kleingruppen-Training und Organisationsveränderung durchdringen einander. Man geht von einer Praxis zur anderen über oder verfolgt sie innerhalb derselben Arbeit nebeneinander, ohne den methodologischen Bezugsrahmen zu wechseln. c) Der Forscher/Praktiker ist integrierender Bestandteil des kollektiven Prozesses
Dieser Punkt ist angesichts der mit ihm verbundenen Konsequenzen vielleicht der wichtigste, allerdings auch der schwierigste. Kein Forscher und kein Praktiker kann sich den kollektiven affektiven Strömungen in der Gruppe, die er zu untersuchen oder zu ändern trachtet, entziehen. Wie jedes Gruppenmitglied empfindet auch er die unbewußte Solidarität und die Abwehrreaktionen gegen sie. Er ist ein Mitglied der Gruppe, ob er es wahrhaben will oder nicht, denn sein Beteiligtsein an der Gruppe ist nicht das Ergebnis willentlicher Zugehörigkeit. Es ist eine Tatsache, die er zwar leugnen kann, die aber deshalb nicht weniger eine permanente existentielle Bedingung seiner Sensibilität für die anderen darstellt. Diese reale Solidarität mit den anderen ist die Basis seines Beitrages als Forscher und Praktiker. Die Rolle des Forschers/Praktikers ist also nicht, wie es gemeinhin versucht wird, durch eine spezifische Zielsetzung (Forschung, individuelle oder kollektive Veränderung) zu definieren, denn sein Ziel ist auch das der Gruppenmitglieder; auch nicht durch spezialisierte Tätig288
keiten oder besondere Techniken: keiner Technik kommt hinsichtlich Veränderung oder Forschung eine Vorrangstellung zu, denn alle können zu diesem Ziel beitragen, und keine ist nur dem Forscher oder Praktiker vorbehalten. Seine Stellung wird auch nicht definiert durch seine Macht, seine Aktivitäten auf seine Zielsetzungen hin zu organisieren, also durch die Macht, Forschung, Psychotherapie oder allgemein veränderndes Handeln zu organisieren. Die Versuche - wie sie in allen vorhandenen Methodologien, einschließlich der Aktionsforschung Lewins und der Psychoanalyse unternommen werden-, den Forscher oder Praktiker durch spezifische Ziele, Aktivitäten oder eine eigene Organisationsmacht zu definieren, stellen sich als Abwehrreaktionen dar, welche die faktische Solidarität des Forschers oder Praktikers mit seiner Gruppe leugnen und ihre Trennung künstlich verschärfen. Wo liegt nun aber unter diesen Umständen das Besondere des Forschers oder Praktikers? Sein spezifischer Beitrag, seine Rolle, sofern man hier noch von Rolle sprechen kann, besteht darin, so spontan wie möglich am Dialog der Gruppe teilzunehmen, ohne irgendeine Form der Beteiligung auszuschließen; d. h. er soll voll und ganz am Veränderungs- und Klärungsprozeß mitwirken. Diesem spontanen Dialog und der totalen Kooperation mit der Gruppe liegt ein möglichst wenig abwehrendes Akzeptieren seiner Solidarität und seiner Liebe zu den Gruppenmitgliedern, mit denen er arbeitet, zugrunde. Der Idealfall wäre mithin jener Forscher/Praktiker, der in gewisser Hinsicht das naivste Gruppenmitglied wäre. Er ist weit davon entfernt, Forschung oder Veränderung dadurch vorantreiben zu wollen, daß er sich von der Gruppe vermittels seiner differenzierten Ziele und Techniken oder durch systematisch koordinierte Anstöße distanziert; vielmehr versucht er, sich der von ihm in der Gruppe erfahrenen Realität anzunähern und sie in der Sprache zum Ausdruck zu bringen, die ihm im Augenblick zu Gebote steht, sei es in der Gefühlssprache, in Scherzen, rationalen Analysen oder in der praktischen Organisation von Aufgaben. Diese Art von Kooperation hat natürlich nichts mit einer herdenhaften Kollusion gemein, die ihn selbst und die Gruppe auf eine bestimmte - abwehrende oder neurotische - Verhaltensweise festlegte. Der Forscher/Praktiker geht von der Annahme aus, daß gerade der authentische Selbstausdruck herdenhafte Kollusionen sprengt und die Überwindung kollektiver Entfremdung und Identifikation begünstigt. Andererseits schließt die »Naivität« des Forschers/Praktikers Fachkenntnisse und Schulung nicht aus, sondern erfordert sie im Gegenteil. Denn es gibt niemanden, der weniger spontan oder »naiv<< wäre, als der Mann von der Straße mit all seinen Stereotypen und Abwehrsy-
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stemen, die durch eine entfremdende soziale Praxis verfestigt werden. Aber es ist nicht der Sinn der Kenntnisse und Fähigkeiten, dem Forscher/Praktiker die Erfahrung der persönlichen Beziehung zu der Gruppe, mit der er sich befaßt, zu ersparen. Es kann für ihn nicht darum gehen, Interpretationsschemata zu erwerben, mit deren Hilfe er dann Phänomene willkürlich etikettiert, und Techniken zu erlernen, mit denen er die anderen manipulieren kann, ohne zu wissen, wie die Situation und wie er selbst durch diese Techniken hindurch zum Ausdruck kommen. Ziel der Ausbildung des Forschers/Praktikers sollte vielmehr die Entwicklung seiner Sensibilität für verschiedene soziale Situationen sein; man wird ihn dazu ermutigen müssen, in konkreten Situationen, in einer Atmosphäre kollektiver Kritik, ganz frei unterschiedliche und vielleicht gegensätzliche Interpretationsschemata anzuwenden. Weiter wird seine Ausbildung darauf abzielen, sein »Ausdruckspotential« zu entfalten, d. h. die Fähigkeit, seine Gefühle in einer Vielfalt von Techniken, die ja allesamt spezielle Gefühlssprachen darstellen, zum Ausdruck zu bringen. Er sollte sich jeweils darüber im klaren sein, welchen Sinn eine bestimmte Technik für ihn hat und inwiefern sie seiner Beziehung zu den anderen Ausdruck verleiht. Auf diese Weise wird er immer besser in der Lage sein, auf neue Situationen spontan zu reagieren. Es steht übrigens fest, daß die Ausbildung, die unsere Universitäten vermitteln, weit davon entfernt ist, diesen Anforderungen Rechnung zu tragen, wenn sie ihnen nicht sogar zuwiderläuft. Wir haben bisher - im Rückgriff auf unsere Grundhypothesen über die Beziehung - ungeordnet und unzusammenhängend die Grundoptionen der psychosoziologischen Intervention dargelegt. Fassen wir diese Optionen kurz zusammen: 1. Völlige Einheit von Forschung und veränderndem Handeln. 2. Aufgabe des Forschers/Praktikers ist die Förderung (facilitation) eines kollektiven Artikulations- und Veränderungsprozesses. 3. Der Forscher/Praktiker soll sich völlig frei aller Formen des Gefühlsausdruckes bedienen; man kann dies als expressiven Pluralismus bezeichnen. 4. Er verzichtet auf eine besondere Macht zur Organisierung seiner Aktivitäten. 5. Sein spezifischer Beitrag ist der spontane und »naive« Dialog mit den jeweiligen Gruppen. 6. Seine Ausbildung zielt auf die Entfaltung der authentischen subjektiven Sensibilität und der Fähigkeit zu vielseitigem Gefühlsausdruck ab.
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7. Die verschiedenen Bereiche gesellschaftlicher Praxis, insbesondere Gruppentraining, Einzelpsychotherapie und Organisationsveränderung stehen in enger Verbindung miteinander. Gewiß werden manche dieser Optionen beim Leser Überraschung oder Befremden hervorrufen. Wir werden uns in der Folge mit einigen davon genauer befassen. Zum besseren Verständnis ist es allerdings nützlich, vorher nochmals auf jene Abkapselungstendenzen zurückzukommen, die in den Auffassungen über Forschung und Praxis wirksam sind.
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12. Kapitel Die Abkapselung von Forschung und Praxis
Im traditionellen Verständnis der Humanwissenschaften besteht zwischen »reiner« Grundlagenforschung und angewandter Forschung, zwischen Forschung und Praxis, zwischen dem Forscher und der von ihm untersuchten Gruppe wie auch zwischen den wissenschaftlichen und den persönlichen Motivationen des Forschers eine scharfe Trennung. Die psychoanalytische Methode schlug eine mächtige Bresche in diese Trennmauern. Sie völlig abzutragen, gelang ihr allerdings nicht, denn auch sie hält - in weniger naiver Form- den Dualismus von Privatmann und Wissenschaftler aufrecht; zudem ist ihre Auffassung von Forschung und Praxis widersprüchlich: einerseits bekennt sie sich zur Einheit von Forschung und Praxis, begründet im Dialog mit dem Patienten, andererseits zu einer autoritären Konzeption, die den Analytiker vom Patienten isoliert.
Die Aktionsforschung Lewins
Mit seinem Begriff der Aktionsforschung, action research, erreichte Lewin einen weiteren, ebenfalls unvollständigen Durchbruch durch die traditionellen Auffassungen von Forschung und Veränderung. Der Begriff der Aktionsforschung hat bei Lewin und seinen unmittelbaren Schülern in Wirklichkeit dreierlei Bedeutung. Erstens bezeichnet er den Gedanken eines komplementären Verhältnisses zwischen Handeln und Forschen, im Sinne von Lewins Forderung, Forschungen nicht mehr auf die Laboratoriumssituation zu beschränken, sondern sie auf aktuelle Alltagssituationen auszudehnen. Wie Lippitt (1949, S. 7) sagt: »Sie (die Forscher in der Gruppe um Lewin) gewannen den Eindruck, daß die konventionellen Laboratoriumsarrangements zur Erforschung menschlichen Verhaltens für die Analyse vieler neuer Probleme ungeeignet waren. Solche Probleme waren etwa Gruppenkonflikte, Methoden des Gruppenhandelns, Änderung tiefverwurzelter Einstellungen oder die Ursachen für apathisches Verhalten von Gruppenmitgliedern. Sie waren überzeugt, daß sehr viele Aspekte des tatsächlichen und des möglichen Gruppenverhaltens nur durch eine genaue Analyse experi292
mentell geplanter Veränderungen im Leben von Gruppen geklärt werden könnten.« Eine solche Art der Forschung kommt den Bedürfnissen des praktisch Interessierten entgegen, indem sie ihm die Folgen seines Handeins verdeutlicht; umgekehrt trägt die Untersuchung realer Änderungsprozesse mehr als jede andere Forschung zum wissenschaftlichen Fortschritt bei. Theoretisches Substrat dieses Gedankens sind die Begriffe der Ganzheit (whole) und der psychologischen Kraft, die bekanntlich die Grundlagen der Theorie Lewins darstellen. Will der Forscher nicht künstliche Motivationen, sondern reale psychologische Kräfte aufdecken, muß er sich mit den Situationen des täglichen Lebens beschäftigen - mit Situationen, in denen reale Interessenkonflikte ausgetragen werden und die nicht durch einen Versuchsleiter willkürlich geschaffen werden. Im übrigen ist festzuhalten, daß Lewin nur von einer Komplementarität, nicht von Identität zwischen Forschung und Aktion spricht. Beide sind wohlunterschieden und bleiben den traditionellen Vorstellungen verhaftet. Unter Aktion versteht Lewin im wesentlichen Entscheidungs- und Kommunikationstechniken. Auf die Bedeutung dieser technischen Auffassung des Handeins werden wir noch zu sprechen kommen. Idealbild der Forschung bleibt nach wie vor die experimentelle Forschung. Für Lewin bewahren Forschung· und Aktion auch in der Verbindung ihre ursprüngliche Identität. Der »gute (d. h. der demokratische) Staatsbürger« kooperiert mit dem Forscher, doch grundlegend verändert werden dabei weder der eine noch der andere. Das führt uns zur zweiten Bedeutung des Lewinsehen Begriffs; sie präzisiert und ergänzt die erste: Erforschung der Aktionstechniken, vorzugsweise mit den Methoden des Experiments. »Die Aktionsforschung ist eine kontrollierte Untersuchung über die relative Effizienz verschiedener Aktionstechniken »... Sie ist eine Forschung über die Aktion im strengsten Sinn der beiden Begriffe« (Chein et al., 1948). Die experimentelle Untersuchung ist nun zwar nicht die einzige Form der Aktionsforschung; Chein, Cook und Rarding unterscheiden außerdem folgende Typen: die diagnostische Aktionsforschung, welche die Diagnose einer sozialen Situation und entsprechende Empfehlungen umfaßt: die teilnehmende Aktionsforschung, bei welcher sich der Forscher am betreffenden Handlungsgeschehen beteiligt und es laufend zu erhellen versucht; schließlich die empirische Aktionsforschung, als Registrierung dessen, was während des Handlungsablaufes vor sich geht. Diese drei Typen von Forschung gelten jedoch bei den Lewinianern für weniger vollkommen als die experimentelle Forschung 1•
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Später tauchte schließlich eine dritte Bedeutung auf, die den Keim zu vielen späteren Weiterentwicklungen in sich birgt: die einer Beteiligung der untersuchten Personen an der Durchführung der Untersuchung selbst. Anläßlich einer gemeinsam mit Lewin durchgeführten Untersuchung über die Rassenbeziehungen in einer Stadt in Connecticut sagt Lippitt (1949, S. 9) dazu folgendes: »Will man, daß die Ergebnisse einer Untersuchung ihren Niederschlag im Handeln finden, so besteht eine der am meisten erfolgversprechenden Kommunikationstechniken darin, die einzelnen Schritte im Forschungs- und Beratungsprozeß so zu organisieren, daß die Gruppe, für die man arbeitet - sozusagen die Konsumenten der Forschungsergebnisse -, an der Planung der Untersuchung, an der Erhebung der Meßdaten, an der Analyse und Interpretation der Ergebnisse mitwirkt.« Aktionsforschung bedeutet nun nicht mehr Forschung über die Aktion, sondern Forschung in der Aktion, in Kooperation mit den Akteuren selbst. Wie es scheint, nähert man sich damit der Idee einer wirklichen Identität von Forschung und Aktion, in der die Zielsetzungen und Rollen der Forscher von denen der Praktiker nicht mehr zu unterscheiden sind. So wurde die Untersuchung, von der Lippitt berichtet, folgendermaßen durchgeführt: Ein gemischtes Team von Erwachsenenbildnern und Wissenschaftlern organisierte die Arbeit mit einer Gruppe am Ort ansässiger Berufspraktiker, die den verschiedenen ethnischen Gemeinschaften der Stadt angehörten und die alle an einem Versuch zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den Rassen teilnehmen wollten. Die Aktivitäten, deren erste in einer Untersuchung der Situation bestand, wurden gemeinsam geplant und während ihres Verlaufes immer wieder besprochen; das Ergebnis war eine weitere Planung 2 • Die Idee Lewins und seiner Schüler war einfach: Die N armen demokratischen Verhaltens sollten auf die Durchführung der Untersuchung selbst angewendet werden. Diese Normen entsprachen ihren Wertvorstellungen, deren Effizienz sie experimentell nachgewiesen zu haben glaubten. Forschung über die Aktion, Forschung, die die Aktion ergänzt und zu einer kontrollierten experimentellen Untersuchung der Aktionstechniken führt - oder aber Forschung in der Aktion, die demokratisch Unserer Ansicht nach stellen sie jedoch innerhalb der lewinianischen Praxis Ansätze zu neuen Formen des Verhältnisses zwischen Forschung und Handeln dar. Die Trainingsgruppe ist aus ihnen entstanden, und damit begann die Entwicklung einer neuen Methodologie; vgl. unten S. 299-304. 2 Bezeichnend ist der Umstand, daß im Verlauf dieses Versuchs sozusagen zufällig die T -group »erfunden« wurde. 1
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gemeinsam mit den Veränderungsagenten durchgeführt wird und vielleicht zu einer wirklichen Identität von Forschung und Aktion führt: das sind die beiden Ideen, die Lewin andeutete, ohne indessen ihre Zusammenhänge oder ihre Vereinbarkeit zu klären. Dem ersten Typ von Aktionsforschung sind die berühmten Untersuchungen über die Veränderung von Ernährungsgewohnheiten oder über das autoritäre, demokratische und laissez-faire-Klima in Kindergruppen (Lewin, 1953) sowie die Untersuchung von Coch und French (1953) über den Widerstand gegen Veränderung zuzuordnen; dem zweiten Typ die eben erwähnte Arbeit von Lippitt. Es steht außer Zweifel, daß Begriff und Erfahrung der Aktionsforschung in hohem Maße dazu beigetragen haben, die Abkapselung von Forschung und Praxis, von Forscher und untersuchter Gruppe zu überwinden. Außerdem erkannte Lewin deutlich die kollektive Dimension von Forschung und verändernder Praxis. Zur Kenntnis des Individuums gelangt man nur über die Kenntnis der Gruppen, denen es angehört, ebenso wie der günstigste Ort der Veränderung nicht das Individuum, sondern die Gruppe ist. Eines der großen theoretischen Verdienste Lewins war es, daß er die Besonderheit der von ihm als Ganzheiten beschriebenen Gruppenphänomene erkannte, ohne die psychologischen Aspekte auszuschließen. Die Lewinsehe Ganzheit bleibt jedoch abstrakt. Sie ist eine Interdependenz-Struktur, welche die Mitglieder und die Gesamtheit der in einer Gruppe auftauchenden Phänomene objektiv miteinander verbindet, die jedoch für die Individuen keinerlei subjektiv erlebten Realitätscharakter hat. Die Dimension des unbewußt erlebten Gefühls - für uns als Gefühl der Beziehung die Grundlage der zwischenmenschlichen Beziehung- läßt Lewin außer acht. Seine psychischen Kräfte beschreiben nur die Oberflächenpsychologie der Gruppenmitglieder; es sind dies bewußte, unmittelbar zugängliche Motivationen, bloße Ephiphänomene der zugrunde liegenden Interdependenz-Strukturen, die ihrerseits keinen psychologischen Charakter haben. Die letzte Realität von Gruppen trägt für Lewinden Charakter einer verdinglichten Struktur. Diese theoretische Konzeption Lewins erklärt die Zwiespältigkeit seiner V eränderungskonzeption. Einerseits entwickelt Lewin eine psychologische und auf Kommunikation gegründete Konzeption der Veränderung. Indem er die Bedeutung der psychologischen Kräfte und des Lebensraums (life-space) betont -letzterer ist gleichbedeutend mit der psychologischen Umwelt oder dem psychologischen Feld -, zeigt er, daß die Änderung des Verhaltens über die Änderung des Lebensraums erfolgt. Es gibt keine direkt auf das Individuum oder die Gruppe 295
gerichtete Einwirkung, ohne daß eine Reorganisation des psychologischen Feldes ausgelöst würde. So werden sich z. B. eine Lohnerhöhung oder eine Preissenkung für eine Ware auf die Produktivität oder das Käuferverhaltens nur dann auswirken, wenn entsprechende psychologische Modifikationen stattfinden. In dieser Hinsicht lieferte Lewin die theoretische Basis für solche zeitgenössischen Praktiken wie etwa die Motivationsforschung, die - so unvollkommen sie auch sein mögen - einen Versuch darstellen, die Methoden des Handeins im Sinne zwischenmenschlicher Kommunikation umzuformen. Für Lewin ermöglicht gerade die Kommunikation, welche die psychologischen Felder (life-space} der Individuen und der Gruppen miteinander in Beziehung bringt, deren Reorganisation. Der demokratische Führer fördert in einer Gruppe die Kommunikation der Ziele, Methoden, Normen und der sonstigen Elemente des psychologischen Feldes, ohne durch Ausübung von Zwang das Ergebnis perzeptiver und motivationaler Umstrukturierungen beeinflussen zu wollen. Sein Handeln begünstigt die Veränderung. Doch was tut andererseits der »demokratische« Führer wirklich? Offensichtlich führt er die Demokratie in die Gruppe ein und mit ihr ein Bündel von Werten, Oberzeugungen und Gefühlen. Aber das sieht Lewin nicht. Die demokratische Führung wird streng operativ definiert. Sie besteht darin, zu informieren, zu beraten, kollektive Entscheidungen zu organisieren, kurz: Kommunikationsnetze in bestimmten Lebensbereichen der Gruppe zu erschließen, ohne eine Lösung aufzuzwingen. Die Einführung einer neuen Führungsweise ermöglicht zwar die Aufnahme des Dialogs, ist aber selbst nicht das Ergebnis eines Dialogs. Sie wird der Gruppe auferlegt. Der demokratische Führer zwingt die Gruppe zur Demokratie. Die Führung - auch die demokratische - ist für Lewin eine faktische Struktur, die der Gruppe aufgezwungen ist oder ihr vom Führer aufgezwungen wird. Und in diesem Sinn kann man bei Lewin von einer technischen Konzeption des Handeins und der Veränderung sprechen; sie beruht auf Zwang. Neben dieser technischen Konzeption, oder vielmehr ihr untergeordnet, gibt es bei Lewin eine psychologische, die auf der Kommunikation beruht. Damit kommen wir wieder auf das zurück, was wir über die Lewinsehe Ganzheit sagten. Die ionersten Strukturen der Gruppe sind für Lewin nicht psychologische Realitäten, sie werden den Gruppenmitgliedern wie eine Sache von außen auferlegt. Die beiden Veränderungskonzeptionen fügen sich lückenlos ineinander. Kommunikation und Dialog werden durch einen Initialzwang ermöglicht, der nicht als solcher erkannt wird.
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Lewin nimmt sich damit selbst die Möglichkeit, andere als nur die oberflächlichsten Aspekte der Veränderung in den Blick zu bekommen. Denn offenbar erscheint ihm als wichtigster Veränderungsfaktor die Modifizierung des Führungsstils; sie bedingt die weitere Entwicklung der Gruppe. Gerade sie bleibt jedoch im eigentlichen Sinn unverständlich. In den Lewinsehen Experimenten, z. B. denen zur Veränderung der Ernährungsgewohnheiten, zum Klima in Kindergruppen oder zum Widerstand gegen Veränderungen läßt der Versuchsleiter den demokratischen Führer fix und fertig aus dem Nichts hervortreten. Was den Erkenntniswert dieser Experimente angeht, so erfahren wir daraus nichts über die Entstehungsbedingungen einer neuen Führungsform, und was die Praxis angeht, erhalten wir keinerlei Hinweise, wie dieses wichtige Phänomen kontrolliert werden kann. Aber, so wird man einwenden, das könnte doch gerade die Aufgabe der Aktionsforschung sein. Indem sie von der Führung der Gruppe Abstand nehme, könne sie nicht nur die Folgen der Führung wie in den eben erwähnten Fällen verdeutlichen, sondern auch ihre Bedeutung, ihren psychologischen Sinn. Wenn die Führung zudem noch demokratisch sei, dann hätten die Gruppenmitglieder die Möglichkeit, sich nicht nur über die Umwelt der Gruppe, sondern auch über deren innere Funktionsweise zu verständigen. Die Gruppe werde so ihre inneren Strukturen frei bestimmen und sich zueigen machen können. Sicher lag dies z. B. in der Absicht Lippitts bei seiner Arbeit über die Rassenbeziehungen. Es scheint, daß sich Lewin - der Inspirator des Projektes - der Widersprüche seiner Aktionstheorie bewußt war und sie dadurch zu lösen versuchte, daß er die Forschung selbst gewissermaßen von innen her demokratisierte. Leider erreichte er damit- zumindest unmittelbar- nur eine Verlagerung der Widersprüche. Denn nun begegnen wir den Widersprüchen des demokratischen Führers, der zugleich Kommunikation fördert und Zwang ausübt, im Verhalten des Forschers selbst. Einerseits ist die Triebfeder seiner Aktivität die rationale Klärung von Motivationen und Wahrnehmungen der Gruppenmitglieder hinsichtlich der inneren Funktionsweise der Gruppe, andererseits zwingt er der untersuchten Gruppe gleichzeitig die Demokratie auf, indem er die Untersuchung im demokratischen Stil durchführt. Und die Ideen Lewins selbst legen die Vermutung nahe, daß diese zweite Handlungsweise die bestimmende ist und die Bedingung der ersteren darstellt. Die Aktion des lewinianischen Aktionsforschers zerfällt - wie die des Führers - in zwei einander widersprechende Teile: rationale Kommunikation einerseits und Ausübung von Zwang andererseits. Diese Dichotomie rührt 297
aus dem Umstand her, daß Lewin die unbewußt erlebten Gefühle außer acht läßt, während die Gruppenstrukturen doch Ausdruck dieser Gefühle sind und sich im Dialog herausbilden. Einmal mehr wird hier die Beziehung in ihrem tiefsten Bereich abgelehnt, und dies äußert sich in einem auf die Gruppe ausgeübten Druck. Der Aktionsforscher isoliert sich insofern teilweise von der Gruppe, als er sie zu führen beansprucht - selbst dann, wenn er sich zu einem demokratischen Führungsstil bekennt. Er spielt sich als der Demiurg auf, ohne den es keine Entwicklung in der Gruppe gäbe. Die Mittel, deren er sich zu seiner Isolierung bedient, sind von derselben Art wie die des Psychoanalytikers, wenn auch theoretischer Überbau und Anwendungsbereich verschieden sind: Beschränkung der dem Forscher erlaubten Dialogzonen (hier die Beschränkung auf die rationale Sprache); ein System von Zwängen, das die Strukturen seiner Intervention fixiert, namentlich der indirekte Zwang, sich in der Sprache der rationalen Untersuchung auszudrücken; und vor allem der Zwang zu einer demokratischen Organisierung der Gruppe. Dem Anschein nach ist der Aktionsforscher flexibler als der Analytiker, da er zum Beispiel mit seinem Klienten die Zielsetzungen und Methoden sowie die Planung des zeitlichen und örtlichen Rahmens seiner Arbeit besprechen wird. Steht es jedoch dem Klienten des Analytikers nicht frei, mit diesem zu verhandeln, so steht es dem Klienten des Aktionsforschers seinerseits nicht frei, nicht zu verhandeln. So wird sich zum Beispiel ein Klient mit einem ausgeprägten Abhängigkeitsbedürfnis dem faktischen Druck ausgesetzt sehen, seine Meinung äußern, an Entscheidungen teilzunehmen usw ., was in Wirklichkeit eine V erweigerung der Antwort und Unverständnis bedeutet. Der Psychoanalytiker hätte eine solche abhängige Einstellung interpretiert. Eine andere mögliche Reaktion, die in die Richtung unserer Hypothesen weist, bestünde darin, die abhängige Einstellung schlicht und einfach, so wie sie sich darbietet, zu akzeptieren und solange für den Klienten zu entscheiden, bis diese Art der Interaktion durch die weitere Entwicklung überholt ist. Den Nachfolgern Lewins gelang es zum Teil, diese Widersprüche zu überwinden. Auffallend ist, daß sich nach Lewin zwei Richtungen entwickeln, von denen jede eine der Grundintuitionen des Meisters hinsichtlich der Aktionsforschung weiter ausgestaltete. Die Vertreter der einen Richtung gruppierten sich ursprünglich um das Research Center for Group Dynamics an der Universität Michigan in Ann Arbor und betrieben vor allem experimentelle Laboratoriumsforschung (D. Cartwright, L. Festinger, S. Schachter u. a.). Die Vertreter der anderen
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Richtung entwickelten unter der Ägide der National Training Laboratories (sie veranstalteten die Bethel-Seminare) eine Aktions- und Forschungsmethodologie im Sinne einer Erweiterung der dritten Bedeutung der Lewinsehen Aktionsforschung, die auf der Beteiligung der Untersuchten an der Untersuchung basiert. Trotz häufigen Austausches von Informationen und Personal entfernten sich beide Richtungen noch weiter voneinander als schon zu Lebzeiten Lewins; sie brachten so die Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten in den Auffassungen Lewins unübersehbar an den Tag. Die experimentelle Forschung zog sich - gegen alle Intentionen Lewins - wieder ins Laboratorium zurück; die teilnehmende Forschung entwickelte neue, nicht vorhergesehene Methoden. Die bahnbrechende Erfindung der Forscher der zweiten Richtung war die Trainingsgruppe (t-group, groupe de formation). Die Tradition will, daß sie gleichsam zufällig im Verlauf der Arbeit Lippitts und Lewins in Connecticut geboren wurde. Die Forscher pflegten untereinander über das Verhalten der Gruppe zu diskutieren, dabei merkten sie eines Tages, daß die Teilnehmer lebhaftes Interesse an diesen Diskussionen zeigten und an ihnen teilzunehmen wünschten. Die Forscher luden sie ein und stellten in der Folge fest, daß dieser Meinungsaustausch über das V erhalten der Gruppe, der nun unter Beteiligung aller fortgesetzt wurde, dasjenige Element war, das im Hinblick auf die Veränderung der Teilnehmer die größte Dynamik entfaltete. Im folgenden Jahr- Lewin war inzwischen gestorben- organisierten drei seiner Schüler, L. Bradford, K. Benne und R. Lippitt, in Bethel »Trainingsgruppen«, die nach demselben Prinzip konzipiert waren: unter Mithilfe der Forscher und der »Trainer« sollten die Teilnehmer ihr Verhalten in der Trainingssituation selbst untersuchen. Die »t-group« liegt ganz auf der Linie der letzten Ideen Lewins zur Aktionsforschung. In dieser Methode ist die Forschung nicht nur auf eine reale Situation bezogen, es werden auch die Teilnehmer an der Durchführung der Forschung selbst beteiligt. Gleichzeitig bedeutet die T-Gruppe eine wesentliche Neuerung: Gegenstand der Untersuchung soll die jeweils gegenwärtige Situation, das Hier-und-fetzt sein. Mit dieser Neuerung waren keimhaft mehrere Konsequenzen verknüpft, deren Entwicklungkraft einer Art Logik der Situation nicht aufzuhalten war, obwohl sie anfangs (und vielleicht auch heute noch) von den Promotoren der T-Gruppe nicht klarerfaßt worden waren. Indem die T -Gruppe den zeitlichen Abstand zwischen der Aktion und der auf sie bezogenen Forschung verkürzt, führt sie unweigerlich zur Gleichzeitigkeit und Verschmelzung beider Komponenten. Die T -Gruppe führt eine
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Art Differential in die Erforschung der zwischenmenschlichen Beziehungen ein. Es liegt in ihrer Logik, zunächst die Veränderung zu untersuchen, die vor einiger Zeit erfolgt ist, dann die, die soeben erfolgte, und schließlich jene, die gerade vor sich geht. Indem die T-Gruppe die gegenwärtige Situation als solche in den Mittelpunkt des Interesses rückt, führt sie zur Entdeckung des psychologischen Augenblicks. Zu entdecken, was sich im Augenblick abspielt, wird das zentrale Interesse der Forschung; gleichzeitig ist dieses Entdecken der Motor der Veränderung in der Gruppe. Forschung und Veränderung konvergieren in ein und demselben Akt; dieser Akt bewirkt Veränderung und Klärung in einem und vollzieht sich im Augenblick. Aus diesem Geschehen, das alle Gruppenmitglieder betrifft, ergibt sich als weitere Folge, daß sich die Forschungs- und Trainingsfunktionen der für die Gruppe Verantwortlichen nicht mehr voneinander unterscheiden lassen. Die beiden Funktionen, die theoretische und die praktische, fallen zusammen; Forscher und Trainer sind eins. Im Gefolge dieser ersten Modifikation steht eine zweite: die affektive Komponente dessen, was die Teilnehmer in der Gruppensituation erleben - das von Lewin außer acht gelassene Gefühl -, wird als solche erkannt und zum Ausdruck gebracht. Das augenblickliche Handeln ist nicht länger ein plötzliches und unbewußtes Geschehen, es wird menschlich, erhält eine Bedeutung, wird Austausch und »Sprache«. Andererseits wird die Spontaneität der Teilnehmer verstärkt. Man wendet sich eher dem Gegenwärtigen und Neuen, dem Entstehenden zu, als sich mit den vorhersehbaren Konsequenzen eines selbst schon vorausgesehenen und vorgeschriebenen Verhaltens zu befassen. Das nötigt ipso facto zum Verzicht auf das experimentelle Schema und auf die Unterscheidung zwischen unabhängigen und abhängigen Variablen. Die Situation wird nicht a priori vom Forscher definiert, sondern nach und nach durch die Gesamtheit der Teilnehmer. Die Kontrolle der Situation, d. h. die Kenntnis dessen, was sie beeinflußt, wird nicht durch eine willkürliche und illusorische Trennung von Variablen vom Forscher allein bewerkstelligt, sondern kommt durch den Austausch der Wahrnehmungen aller Teilnehmer, einschließlich des Forschers, zustande. Zugleich verzichtet der Forscher auf die Macht, die Untersuchung zu leiten, sei es auch auf demokratische Weise. Die Gruppenmitglieder beteiligen sich an der Durchführung der Untersuchung; sie läuft vor ihren Augen ab, und sie können sie jederzeit beeinflussen. Es ist übrigens sehr bezeichnend, daß die T -Gruppe ihre Entstehung einer Teilnehmerinitiative verdankt, daß sie unter dem Druck einer Art Mikrorevolution zustande kam. Wir glauben, daß darin die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen
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Forscher und Teilnehmern und der Wunsch zum Ausdruck kommen, bei der Durchführung der Forschungs- und Veränderungsaktivitäten auf jede Ausübung von Druck zu verzichten. Dank des Umstandes schließlich, daß die Forscher während der Untersuchung in der Gruppe anwesend sind, kann die Art und Weise, wie sie die Untersuchung durchführen, von den Teilnehmern besser geprüft und beeinflußt werden. Es wird nun schwieriger für die Forscher, die Erörterung ihrer Beziehung zur Gruppe zu vermeiden oder die Beschäftigung mit dieser Frage auf bestimmte, von ihnen ausgewählte Aspekte zu beschränken. Ihre Beziehung zur Gruppe unterliegt dauernder Einflußnahme und Klärung, die um so fruchtbarer und eingehender sind, als sie vom Kollektiv ausgehen. Der Forscher wird allmählich ein Gruppenmitglied wie die anderen, indem er wie sie und zugleich mit ihnen seine Beziehung zu den anderen klärt und modifiziert. Die Entwicklung der T -Gruppe verlief denn auch von Anfang an in der soeben skizzierten Richtung: - Betonung der unmittelbaren Erfahrung, des Augenblicks. - Artikulation des unbewußten Gefühls, das in der unmittelbaren Erfahrung erlebt wird (besonders unter dem Einfluß von Therapeuten verschiedener Orientierung: Psychoanalytiker, Rogerianer, Rankianer usw.); - Verschmelzung von Forschung und Training, die ihren Niederschlag in der völligen Identität der Forscher- und der Trainerrolle findet. Anfänglich wurde die Gruppe von Trainern geführt, während die beobachtenden Forscher abseits saßen und nur auf Verlangen des Trainers gelegentlich intervenierten, um ihre Beobachtungen mitzuteilen. Später saßen die Forscher dann mit der Gruppe am seihen Tisch, bewahrten aber theoretisch ihre Sonderrolle; noch später wurden sie zu Ko-Trainern deklariert. Heute ist der Unterschied zwischen Trainer und Forscher aufgehoben. Dieselbe Person oder dieselbe Gruppe von Personen sind ungeteilt für die Förderung von Training und Forschung verantwortlich. - Spontaneität der Teilnehmer und Abgehen vom Experimentalismus. -Verzicht auf die autonome Macht des Trainers bzw. Forschers, der keinen bestimmten Führungsstil mehr durchsetzt, sondern mit der Gruppe kooperiert. Wenn auch die T-Gruppe sich in diese Richtung entwickelt hat, so sind dennoch die Prinzipien der ihr gemäßen neuen Methodologie noch nicht klar herausgearbeitet worden. Es handelt sich um eine empirische Entwicklung, die reichlich verworren und widersprüchlich ist. Die theoretischen und methodologischen Arbeiten der Bethelianer 301
blieben hinter ihrer innovatorischen Praxis zurück, was weitere Fortschritte diese Methode hemmt. Bethel ist und bleibt unvergleichlich als Experimentierfeld und Herd neuer Entwicklungen in den Sozialwissenschaften, wo Theoretiker und Praktiker verschiedener Orientierung (Lewinianer, Psychoanalytiker, Rogerianer usw.) ihre Konzepte und Methoden erproben. Doch die reiche Fülle dieser Erfahrung scheint bisher viel eher einer freieren persönlichen Entfaltung der Forscher und einer vermehrten Erfindung der meiner Ansicht nach nebensächlichen Techniken zugute gekommen zu sein als lebendigen theoretischen und methodologischen Synthesen, wie sie die T -Gruppe doch erzielen sollte. Der Schlüsselbegriff der »Laboratoriumsmethode« (laboratory method), der Bethel ein wenig als Slogan dient, bleibt vage. Er wird als »Analyse der Eigenerfahrung in Gruppen« (Schein, Bennis, 1965, S. 13) oder als Einbeziehung des Lernenden (learner) in Beteiligungsprozesse (Benne et al., 1972, S. 36) definiert. Ebenso der Begriff des »Hier-und-jetzt« (here-and-now): Das Konzept des psychologischen Augenblicks, der unmittelbaren Erfahrung, wird nicht geklärt. Der gemeinsame Ursprung von Forschung und Veränderung, den wir in der unmittelbaren Erfahrung der Beziehung sehen, wird nicht bestimmt. Damit hängt zusammen, daß das Verhältnis zwischen Forschung und Veränderung (Komplementarität oder Identität) nicht präzisiert wird. Von dem in unseren Augen grundlegenden Prinzip der freien und spontanen .Außerung des Forschers/Praktikers ist nicht die Rede, obwohl eines der großen Verdienste der Bethelianer zu Anfang gerade in ihrer mehrdimensionalen Konzeption der Trainer-Intervention bestand: er ist bald Analytiker, bald Interpret, bald Planer, bald Referent usw., sei es innerhalb oder außerhalb der T -Gruppe im engeren Sinne. Auf Grund welcher Kriterien der Trainer jedoch so oder anders interveniert, wissen wir nicht. Handelt es sich hier um eine die Widerstände von vielen Seiten her einkreisende Strategie, die der Trainer durchsetzt, um die Teilnehmer gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun zu verändern, eine Strategie zur Einkreisung oder handelt es sich bei dieser Mehrdimensionalität um ein flexibles Verhalten des Trainers, das den jeweils erfaßten Bedürfnissen der Teilnehmer entgegenkommt? Schwerwiegender ist wohl noch die Unklarheit in der Frage der Trainermacht Einerseits legen die Bethelianer größten Wert auf die Planung (design) des Trainings und lassen die Trainer zahlreiche, oft einfallsreiche Techniken erfinden, um verschiedene Trainingssituationen zu bewältigen, andererseits beteuern sie ihren Wunsch nach Kooperation mit den Teilnehmern in allen Bereichen, einschließlich der Organisation des Trainings. Die Trainingsstrukturen, das
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>>design« des Laboratoriums, sind meistens vorgegeben. Wenn sie, was bisweilen der Fall ist, eine Beteiligung der Gruppe an der Planung einschließen a, so gehört auch dies noch zum Design: es ist eine erzieherische Maßnahme. Wir finden hier die lewinianische Praktik wieder: Der Führer zwingt die Gruppe zur Demokratie, damit die Teilnehmer Demokratie lernen können. Die Strukturen des Gruppentrainings sind nach wie vor ausschließlich Domäne der Trainer. Sie ergeben sich nicht spontan aus dem Gruppengeschehen, und die Aufgabe des Trainers wird nicht darin gesehen, die oft latent und unklar geäußerten Strukturierungsbedürfnisse zu interpretieren und formulieren zu helfen und an der vom Kollektiv getragenen permanenten Strukturierung und Umstrukturierung mitzuwirken. Diese methodologischen Unklarheiten und Widersprüche hängen mit Unzulänglichkeiten der Theorie zusammen. Die Untersuchung der Affektivität in einer kollektiven Situation führte nicht, wie man hätte vermuten können, zu einer wirklich gruppenbezogenen Theorie der Affektivität. Das Gefühl (feeling oder emotion) wird zwar als wesentliches Phänomen des Gruppengeschehens anerkannt, aber begrifflich nicht geklärt. Zumeist wird es indivialpsychologisch beschrieben. Das Vorgehen der Bethel-Trainer wird hauptsächlich von einem N ebeneinander und einer Kombination von Elementen bestimmt, die sie der klinischen Individualpsychologie, namentlich der Psychoanalyse, und der Lewinsehen Sozialpsychologie entlehnen. Sie gelangen nicht über die Formel hinaus: Gruppenphänomene = individuelle affektive Dispositionen + Gruppenstrukturen. Es fehlt der uns so wichtige Gedanke, daß das unmittelbare Gefühl für den anderen, die Beziehung, eine auf der Ebene der gesamten Gruppe unbewußt erlebte Realität kollektiver Natur darstellt und als solche die Grundlage der sozialen Bindung ist. Die Gruppe wird nicht als solidarisches Gemeinwesen betrachtet, das in spontaner Kooperation an der Klärung und Veränderung dessen arbeitet, was es erlebt. Die unmittelbare und spontane Antwort wird nicht als der Motor des Veränderungs- und Klärungsgeschehens anerkannt. Die Folge ist das Fehlen von Kriterien, um zwischen den vielfältigen Ausdrucksformen, die dem Trainer zur Verfügung stehen, zu wählen. Die individuellen und interindividuellen Phänomene werden nicht in einen eindeutigen Zusammenhang mit der kollektiven Arbeit gebracht, deren Ausdruck sie sind. Das stellt dann den Trainer vor das a In manchen Trainingsseminaren werden zum Beispiel die Teilnehmer nach einer gewissen Zeit aufgefordert, die weitere Planung des Seminars mit Hilfe des Stabs selber vorzunehmen. 303
Dilemma, ihnen entweder keine Beachtung zu schenken und auf der »Gruppenebene« (der Ebene der kollektiven Prozesse und Strukturen, ja sogar der kollektiven Gefühle) zu arbeiten, oder aber sich ausschließlich mit ihnen zu befassen, »lndividualtherapie in der Gruppe« zu betreiben und die kollektiven Phänomene aus dem Blick zu verlieren (vgl. u., 13. Kap.). Die Gruppenstrukturen - Autoritäts-, Macht-, Zielund Rollenstrukturen usw. - werden nicht klar mit den kollektiven Gefühlen verknüpft, als ein Abwehrsystem, das sie zugleich verschleiert und ausdrückt. Daher hält man auch zumindest teilweise an der Illusion fest, sie ließen sich durch die Gruppe oder den Trainer ohne eine permanente Erhellung ihrer emotionalen Bedeutung manipulieren. Vor allem aber wird schließlich, mangels eines Konzepts der kollektiven Beziehung, der Forscher bzw. Trainer nicht wirklich als Gruppenmitglied, das unbewußt mit der Gruppe solidarisch ist, angesehen. Die Kooperation mit der Gruppe resultiert aus einer rationalen Entscheidung, nicht aus einer anerkannten Notwendigkeit; sie wird oktroyiert. Sie gleicht einem Wasserhahn, den der Trainer beliebig bald für diesen, bald für jenen Bereich öffnen oder schließen kann. Er isoliert sich daher weiterhin und lebt in der technizistischen Illusion, diese oder jene Arbeitsweise oder auch eine umfangreiche Kombination von Techniken, die jedoch allesamt von ihm allein ausgewählt sind, verdiene den Vorzug. Dieser eng benachbart ist die Illusion der Macht, die ihn in seinen Omnipotenzphantasien bestärkt und ihn in einen Demiurgen verwandelt, der Pläne zum sozialen Wandel erfindet.
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13. Kapitel Die Praxis der psychesoziologischen Intervention
Nach dem Vorangegangenen sind wir nun eher imstande, e1mge der Optionen der psychosoziologischen Intervention in Hinblick auf die tägliche Praxis zu präzisieren. Die folgenden Bemerkungen sind allgemeiner Natur und gelten für die verschiedenen Bereiche gesellschaftlicher Praxis: Einzelpsychotherapie, Gruppentraining (gemeint ist damit, was man für gewöhnlich als T -Gruppen, Basisgruppen, SensitivityTraining, Diagnosegruppen, gruppendynamische Laboratorien usw. bezeichnet), Gruppenpsychotherapie, Unterricht und OrganisaHonsveränderung1.
Expressiver Pluralismus und spontaner Dialog
Diese Idee entspricht einer Beseitigung von Verboten und Tabus, die im allgemeinen die Kommunikation des Therapeuten,Trainers, Pädagogen, Psychologen oder Psychosoziologen belasten und einengen. Der Psychosoziologe wird autorisiert, mit seinem individuellen oder kollektiven Klienten frei zu kommunizieren, wobei keinerlei Inhalte oder Sprachformen a priori ausgeschlossen werden. Er kann ebenso gut über sich selbst wie über seinen Klienten oder über eine äußere Realität sprechen, und er kann dies in Form von Scherzen, direkter Gefühlsäußerung, rationaler Analyse, theoretischer Darlegung oder auch durch Gestik (einschließlich physischen Kontakts) tun. Die Beschränkung auf eine bevorzugte Ausdrucksform erscheint uns immer mehr als eine Verstümmelung des Dialogs, als Zwang, den man sich selbst und anderen antut. Eine bestimmte Sprache, z. B. die der rationalen Interpretation oder die des einfühlenden Verstehens, kann in gewissen Momenten angemessen sein und eine authentische Antwort des Psychologen auf ein Erfordernis der Situation darstellen. In anderen Situationen kann sie jedoch gekünstelt sein, und der Psychologe spult Deutungen und Verständnisbezeigungen ab, die, selbst wenn sie zutreffen sollten, für 1 Mit Ausnahme der Punkte 2, 3 und 4, die natürlich für die Einzeltherapie nicht gelten.
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ihn doch den bequemen Ausweg, Problemflucht oder versteckte Aggressionen gegen den Klienten darstellen. Lieber sähen wir einen Psychologen, der ohne weiteres in der Lage ist, bei Gelegenheit auch Zorn, Freude und Zuneigung zu äußern, als einen, der sich hinter einem Kommunikationsrezept verschanzt. Wir treten also für einen Pluralismus ein; warum aber expressiver Pluralismus? Könnte man nicht von einem technischen Pluralismus sprechen? Der Psychologe führt doch Kommunikationsschritte aus, die sich ihrem lnhalt, ihrer Zielrichtung und ihrer Form nach operativ beschreiben lassen und die Gegenstand willentlicher Entscheidung sein können. Sind es mithin nicht Mittel, Techniken, die der Psychologe je nach seinen Zielen auswählt? Gerade das ist die Frage. Der Psychologe ergreift nicht eine bestimmte Maßnahme, um eine bestimmte Wirkung zu erreichen (Förderung des Bewußtwerdens eines bestimmten Affektes, Abbau von Widerständen in diesem oder jenem Punkt, Mitteilung bestimmter Erkenntnisse), sondern um möglichst getreu auszudrücken, was er dem Klienten sagen will und um auszudrücken, wie er auf den Klienten spontan oder authentisch reagiert. Das Auswahlkriterium für ein bestimmtes Kommunikationsverhalten ist nicht die Wirkung, die es hervorrufen soll, sondern seine Ausdruckskapazität als Antwort auf den Klienten. In diesem Sinne ist es besser, nicht von Technik zu sprechen, denn bei einer Technik verschwindet der Ausdruckswert hinter dem angestrebten Zweck 2• Gewiß, der Psychologe möchte den Klienten ändern, da er an dessen Leiden und seinem Wunsch nach Änderung Anteil nimmt und sie auf seine Weise selbst verspürt; vielleicht möchte er ihn sogar in einer bestimmten Richtung ändern und wird in diesem Falle nicht zögern, ihm das auch zu sagen; aber er rechnet von vornherein mit Mißerfolg eines solchen Vorhabens, denn er weiß, daß die Veränderung des Klienten für den Psychologen unvorhersehbare Richtungen nehmen kann und muß. Was er vor allem will, ist, mit dem Klienten zusammen sein und ihn in seinen Veränderungsbemühungen unterstützen. Diese Präsenz des einen für den anderen und die Beziehung zwischen beiden bringen den Willen zu offener Veränderung zum Ausdruck, wenn auch an der Oberfläche der Wunsch nach einer bestimmten Veränderung vorherrscht. Der Wille zu offener Veränderung ist die Bedingung eines beiderseitigen Bemühens um Veränderung, die in gegenseitiger Hilfe erreicht wird. 2 Unsere Auffassung hat sich in dieser Frage geändert. Unser früherer Standpunkt ist dargelegt in »L'orientation non-directive« (Pages, 1965, Kap. 111 S5-6S).
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Der spontane oder authentische Dialog schließt weder das Bewußtsein der Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kommunikationsschritten noch die Wahl selbst aus, wenngleich beides nicht immer präsent ist. Es handelt sich nicht darum, die Dinge laufen zu lassen, sich mit dem erstbesten Einfall oder einer flüchtigen Erregung zufrieden zu geben. Einerseits bemühe ich mich, exakt auszudrücken, was ich sagen will. Andererseits ist dieses Bemühen auf eine oder mehrere bestimmte Personen gerichtet, an die ich mich wende. Es geht darum daß ich getreu zum Ausdruck bringe, was ich dir oder euch sagen will, und mich nicht einer autistischen oder narzißtischen Erforschung dessen hingebe, was ich denke oder empfinde. Es ist, wenn man so will, die Kunst des Antwortens. Das Kriterium für die spontane Antwort mag recht vage und unzulänglich erscheinen, wenn man an präzise Anweisungen für das operative Verhalten des Psychologen gewöhnt ist. Wir sind jedoch der Ansicht, daß es keine andere Lösung gibt, will man nicht einem manipulativen Operationalismus verfallen. Unsere Annahme ist gerade, daß der Begriff der Antwort (die authentischen, falschen, ausweichenden, verweigerten Antwort usw.) eine psychologische Realität bezeichnet, die zwar noch wenig bekannt, aber meßbar und von größter Bedeutung ist (vgl. 10. Kapitel). Expressiver Pluralismus im spontanen Dialog besagt, daß man innerhalb derselben Arbeit frei von einer Ausdrucksform zur anderen übergeht. Es ist durchaus legitim, im Verlauf einer Psychotherapie-Sitzung nicht bloß die Situation zu analysieren, sondern auch Wissen zu vermitteln, oder während eines Universitätsseminars auch unmittelbare Gefühle zu äußern. Das bedeutet, daß die Grenzen zwischen den verschiedenen Bere·ichen psychosozialer Praxis verschwimmen, daß es innerhalb jeden Bereiches zu einer gewissen Vermischung der Interventionsformen kommt. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen. Ein Vorteil dieser Praxis ist es, daß sie die Integration der Veränderungen, die in den verschiedenen Persönlichkeitsbereichen stattfinden, begünstigt. In der Unterrichtssituation bei Psychologiestudenten z. B. fördert sie die Integration neuer Kenntnisse und affektiver Erfahrungen, die sonst so oft auseinanderklaffen. Ob in der Psychotherapie, im Unterricht, in der Erwachsenenbildung, Organisationsveränderung usw. -diese Praxis begünstigt ganz allgemein die Integration von Veränderungen im Bereich der Einstellungen und der Affektivität, im Bereich der sozialen Berufsrollen und auf der kognitiven Ebene. Ein weiterer Vorteil betrifft den Abbau von Widerständen. Der Psy.307
chologe, der in dieser Weise vorgeht, wird auf das V erlangen des Klienten sehr oft in der Ausdrucksweise antworten, in der es vorgetragen worden ist. Gewiß, in diesem V erlangen manifestiert sich das Abwehrsystem des Klienten und ohne Zweifel bringt es sogar seine ionersten Widerstände zum Ausdruck, ist es doch an eine Autoritätsfigur, die bevorzugte Zielscheibe entfremdender Projektion, gerichtet. Manche werden nun sicher befürchten, der Psychologe bestärke auf diese Weise den Klienten in seinem Widerstand und blockiere dessen Entwicklung. Unserer Ansicht nach ist dem nicht so. Der Psychologe kann sich mit seinem Klienten in dessen Ausdrucksweise verständigen, kann dessen Abwehrsystem, etwa seine Abhängigkeit, akzeptieren ohne unbedingt sein Komplize zu werden. Diese Akzeptierung des Abwehrsystems wird ohne Zweifel im Gegenteil ermöglichen, daß sich das Abwehrsystem entwickelt, denn der Klient gewahrt dabei die Grenzen des Systems, ohne daß er plötzlich auf es verzichten und sich bedroht fühlen müßte. Im Verlauf der ersten zwei oder drei Sitzungen einer Psychotherapie hielt zum Beispiel ein junges Mädchen des öfteren inne, um den Psychologen zu fragen, was er sich denke, »was ihm gerade jetzt durch den Kopf gehe«. Der Psychologe bemühte sich jedesmal redlich, ihr zu antworten, ohne zu verbergen, daß ihm dies nicht leicht fiel, da seine Gedanken nicht immer klar formuliert waren. Manchmal antwortete er, daß er ihr einfach zuhöre. Er brachte auch zum Ausdruck, daß ihm diese Fragen ungelegen seien, da er nicht auf siegefaßt sei und sie ihn beim Zuhören oder überlegen störten. Trotzdem teilte er seine Überlegungen und Gefühle mit, fragmentarisch und kunterbunt, wie er sie gerade im Sinn hatte, einschließlich der eben erwähnten Verlegenheit, in die ihn die Fragen brachten. Erstaunlich schnell änderte sich nach solchen Antworten das Verhalten des Mädchens und sie begann, von sich selbst, ihrer Einstellung zu dem Psychologen und zu ihren Eltern zu sprechen. So berichtete sie, daß ihre Schwester, als sie noch ein Kind war, ihr erzählt habe, sie, die Klientin, sei ein Adoptivkind, die Eltern würden es ihr aber erst bei ihrer Volljährigkeit sagen. Sie berichtete von Diebstählen, die sie zum Nachteil ihrer Eltern und anderer Personen begangen hatte, und von dem ständigen Gefühl, unerwünscht zu sein. Sie erkannte selbst, daß auch ihr Verhalten dem Psychologen gegenüber damit zusammenhing: »Ich möchte Ihnen Ihre Gedanken stehlen.« Sehr rasch traten tiefes Mißtrauen, sehr intensive Anspruchshaltungen, die Einstellung, nichts empfangen aber auch nichts hergeben zu wollen, das Verlangen wegzunehmen, zu entreißen und zu stehlen, eine tiefe Zerstörerische und Selbstzerstörerische Feind308
seligkeit zutage. Nach ein oder zwei Sitzungen war es für sie wie für den Psychologen ganz klar, daß diese Einstellungen hinter ihren Fragen nach den Gedanken des Psychologen standen, aber auch, daß seine Beantwortung ihrer Fragen kein Hindernis für die Entwicklung und das Bewußtwerden der Klientin darstellte, sondern sie vielmehr gefördert hatte. Ohne Zweifel ist es sehr wichtig, daß der Psychologe, der auf diese Weise »antwortet«, sich nicht durch den Klienten dazu verleiten läßt, eine künstliche Rolle zu spielen, sondern daß seine Antwort wirklich seine persönliche Antwort ist, auch wenn sie dem Klienten vielleicht unbequem ist oder ihn unbefriedigt läßt. Gerade dies ist eine authentische Antwort. Nach der vierten Sitzung schrieb das Mädchen dem Psychologen einen Brief, in dem es heißt: »Vielleicht sind die Anstrengungen, die Sie machen, unangenehm; sie geben mir jedoch heute nicht mehr das Gefühl der Scham, des Ärgers, Ihnen zur Last zu fallen. Ihre Bemühungen vermitteln mir das Gefühl, daß wir, obwohl wir noch nicht über den Berg sind, doch zu zweit sind, um es zu schaffen. Wir unterscheiden uns kaum oder nur selten. Aber das genügt, das ist sogar außergewöhnlich ... Sie sind ein Freund, und obwohl Sie sehr hilfsbereit sind, lassen Sie sich dennoch zu nichts hinreißen.« Der Dialog würde vielleicht gerade dieses Gefühl der Nähe und Solidarität in der Verschiedenheit ermöglichen.
Arbeit auf Gruppenebene, individueller oder interindividueller Ebene
Eine weitere Frage beschäftigt den Praktiker, der mit Gruppen arbeitet: an wen soll er sich wenden? An die Gruppe, an einzelne, an Subgruppen, die gerade in einem interindividuellen Interaktionsprozeß aktiv sind? Lange Zeit herrschte zumindest bei den psychosoziologischen Trainern die Praxis vor, sich an »die Gruppe« zu wenden, d. h. kollektive Prozesse oder Gefühle zu analysieren und zu reflektieren und sich jedes Eingehens auf einzelne oder interindividuelle Ereignisse zu enthalten. Begründet wurde diese Praxis mit dem Anliegen, eine kollektive Entwicklung zu fördern, da man in ihr die Bedingung für individuelle Veränderungen sah; auch fürchtete man, das kollektive Gleichgewicht könnte gestört, der Inhalt der Themen oder die Sprache der Gruppe könnten allzu sehr beeinflußt werden, wenn man einem bestimmten Individuum oder einer bestimmten Subgruppe vertiefte Aufmerksamkeit zuwendete; es könnte Eifersucht hervorgerufen werden; schließlich wollte man den einzelnen oder die Subgruppe nicht mehr vor der Gruppe exponieren, als sie selbst es spontan taten. Zwei309
fellos hatten die Psychesoziologen auch das Gefühl, eine solche Intervention sei ein Übergriff in die verbotenen Bezirke der Einzelpsychotherapie. Wie auch immer, die Arbeitsteilung war klar: der Psychesoziologe beschäftigte sich mit der Gruppe; die Teilnehmer- und nur sie - konnten sowohl gruppenbezogen wie auch individuell oder interindividuell intervenieren. Seit einigen Jahren läßt sich eine entgegengesetzte Praxis beobachten, die mit der oben erwähnten in Konflikt geriet. Diese Interventionsweise bevorzugt die spezielle Interaktion mit einzelnen oder Subgruppen, überdies meist in der Form eines direkten Dialogs, der in der gegenseitigen Klärung der Gefühle besteht. Manche kalifornisehe Gruppentrainer nannten dies die »Therapie für Normale«.a Wir sind durchaus nicht gegen eine Annäherung von Psychotherapie - im Sinne eines tiefgreifenden Veränderungsprozesses im Individuum - und Gruppentraining, noch haben wir etwas dagegen einzuwenden, daß der Psychologe im Verlauf eines Gruppentrainings einzelnen Teilnehmern besondere Aufmerksamkeit zuwendet. Aber wir lehnen die Alternative >Arbeit auf Gruppenebene oder Arbeit auf individueller Ebene< ab. Wir sind auch damit nicht einverstanden, die Beschäftigung mit einzelnen auf die intimsten Formen des Dialogs- wir nannten dies die Gefühlssprache - zu beschränken. Wir glauben, daß die adäquate Antwort bald auf individueller oder interindividueller, bald auf Gruppenebene liegt und sich in allen Fällen verschiedener Sprachformen bedienen kann. Nehmen wir als Beispiel eine Gruppe von etwa 40 Studenten, die wir nach aktiven Methoden unterrichteten. Zu Beginn gab es abwechselnd »abhängige« Sitzungen, in deren Verlauf die Studenten Fragen stellten (theoretischer Art, über die Gruppe oder über Persönliches), und »gegenabhängige« Sitzungen, in denen sich die Gruppe von mir isolierte, nicht auf meine Interventionen reagierte und sich in kleine, sehr emotional reagierende Subgruppen aufspaltete, zwischen denen keinerlei Kommunikation stattfand. Kurz, die Gruppe machte die Erfahrung der Isolation, der Kommunikationsverweigerung gegenüber der Autorität, der Rebellion. Während der »gegenabhängigen« Sitzungen intervenierte ich gruppenbezogen, teilte meine Beobachtungen und meine 3 Vgl. Wechsler, Massarik, Tannenbaum (1962), Wechsler, Reise! (1960). Letztere Arbeit enthält das detaillierte Protokoll einer t-group, das erste, das unseres Wissens veröffentlicht worden ist. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung und Erörterung der Auffassungen dieser Forschergruppe liefert K. Benne (1964).
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Gefühle angesichts der Ablehnung durch die Gruppe mit, doch fanden diese Bemerkungen kaum Gehör und zeigten keine Wirkung. Während der »abhängigen« Sitzungen beantwortete ich, so wie ich es gewöhnlich tue, die gestellten Fragen. Eines Tages bemerkte ich jedoch, daß mir die Beantwortung der Fragen in dieser Weise nahezu unmöglich war. Die Fragen kamen nur noch vereinzelt, meine Antworten fanden wenig Widerhall und wurden mit wachsender Unzufriedenheit von den Fragestellern aufgenommen; ·das Schweigen der Gruppe war fast hörbar - ein ablehnendes und feindseliges Schweigen, das gar nicht zu den gestellten Fragen passen wollte. Die abhängige Einstellung mancher Mitglieder nahm sich angesichts der kollektiven Feindseligkeit nur noch wie ein Überbleibsel aus (und war übrigens auch bei den Fragestellern selbst schon innerlich erschüttert). Ich war außerstande, auf die Fragen zu antworten, da ich sie kaum mehr hören konnte; was ich noch vernahm, war das feindselige Schweigen der Gruppe, meine dürftigen Antwortversuche schienen mir selbst fehl am Platze. Wie bisher auf individueller Ebene zu antworten, hätte nicht Fortsetzung, sondern Abbruch des Dialogs bedeutet, da die Gruppe auf diese Form der Kommunikation keinen Wert mehr legte. Zum ersten Mal war die Gruppe so weit, mir gegenüber nicht nur Abhängigkeit sondern Ablehnung zu zeigen, zum ersten Mal nahm sie mit mir den Dialog über ihre Ablehnung des Dialogs auf; und dies kam zum Ausdruck in ihrem feindseligen Schweigen und in der Unzufriedenheit der Fragesteller. Erstmals traten die beiden sonst getrennten Einstellungen gemeinsam in Erscheinung. Für diese zahlenmäßig starke Gruppe bestand der Widerspruch oder Konflikt ungefähr darin: eine offene Beziehung auf Ebene der Großgruppe, in der sich jeder von allen anerkannt fühlte und mit jedem frei interagieren konnte, wurde als unmöglich und gefährlich empfunden und abgelehnt; die individuelle Kommunikation mit mir als schützender Autorität erschien in gewissen Augenblicken als eine Notwendigkeit; ich war der für die Gruppe notwendige Vermittler. Gleichzeitig war dies eine Ausdrucksweise für die Ablehnung der offenen Beziehung zu allen, konkret gesprochen: eine Art und Weise, die Zeit, Aufmerksamkeit und Zuneigung der Schutzfigur für sich allein in Beschlag zu nehmen. Andererseits wurde jedoch die Abhängigkeit vom Dozenten als demütigend empfunden. Die komplementäre Einstellung der Gegenabhängigkeit ermöglichte es, folgendes zum Ausdruck zu bringen: die Ablehnung der Abhängigkeit sowie die Ablehnung meines Anspruchs auf Beziehung - er wurde als Druck empfunden- und gleichzeitig, in Form der Aufspaltung in Subgruppen, die Ablehnung einer offenen Beziehung auf der Ebene der Gesamtgruppe. 311
Ich hatte es somit mit zwei komplementären Abwehrhaltungen gegen eine offene Beziehung zu tun - eine Beziehung, vor der man sich fürchtete, die man aber auch ersehnte. Zu Beginn der folgenden Sitzung intervenierte ich gruppenbezogen, indem ich meine Reaktionen während der letzten Sitzung mitteilte. In der Folge ging der Wechsel zwischen Feindseligkeit und Abhängigkeit zusehends zurück, ohne indessen ganz zu verschwinden; ebenso verringerte sich die Kluft zwischen dem, was die individuellen Fragen zum Ausdruck brachten, die von Zeit zu Zeit noch an mich gerichtet wurden, und den kollektiven Einstellungen. Individuelle und kollektive Einstellungen waren dahin ausgerichtet, die Abhängigkeit und Gegenabhängigkeit in bezug auf meine Person zu klären und zu lösen; mit ihnen verbunden war das umstrittene Verlangen nach einer offenen Beziehung zu allen. Ich glaube, daß ich die Entwicklung des Konfliktes dadurch am meisten förderte, daß ich auf beide Einstellungen »antwortete«, und zwar in der ihnen je eigentümlichen Ausdrucksweise und in dem Augenblick, in dem sie in Erscheinung traten. Wir möchten die in bezug auf dieses Problem günstigste Einstellung als die eines »offenen Zuhörens« und »mobilen Antwortens« beschreiben.4 Diese Ausdrücke kennzeichnen die Aufmerksamkeit für individuelle Anliegen und die Fähigkeit, sie ohne Gehemmtheit zu beantworten, indem man sich gegebenenfalls in einen Dialog mit einzelnen Gruppenmitgliedern einläßt; doch bleibt diese Aufmerksamkeit nicht dem individuellen Anliegen verhaftet, sie ist für andere individuelle Anliegen und für die Gesamtheit der kollektiven Interaktionen offen. Der Psychologe bildet mit dem Gruppenmitglied, mit dem er gerade interagiert, kein possessiv in sich abgekapseltes Paar. Er ist offen für die anderen affektiven Strömungen innerhalb der Gruppe, besonders insofern sie Gegensätze widerspiegeln. Seine Antwort bleibt praktisch mobil: sie bewegt sich von einem Individuum zum anderen oder richtet sich an die gesamte Gruppe. Er ist ständig bereit, eine Interaktion zu unterbrechen, um eine neue mit anderen Personen und in anderer 4 Diese Einstellung läßt sich mit der »freischwebenden Aufmerksamkeit« Freuds vergleichen. Doch gab es im Gefolge der freischwebenden Aufmerksamkeit stets nur eine mögliche Antwortform, aufgrund der Beschränkungen, die Freud der Sprache des Analytikers auferlegte. Andererseits ist zu präzisieren, wann man in einer Gruppe einen Obergang von gruppenbezogenen Antworten zu individuellen Antworten zuläßt. Es läßt sich sehr gut eine freischwebende Aufmerksamkeit denken, die zu Interventionen führt, die auf die Gruppenebene beschränkt sind.
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Weise aufzunehmen oder schweigend arn Fortgang der Gruppenarbeit teilzunehmen. Der Gegensatz zwischen der >>Arbeit mit einzelnen« und der >>Arbeit mit Gruppen« ist in unserer Sicht eine falsche Alternative, da die individuellen Äußerungen stets einen Aspekt des kollektiven Geschehens zum Ausdruck bringen. Was ein Individuum oder eine Subgruppe äußert, ist stets ein Problern der Gruppe oder ein von allen erlebter affektiver Konflikt. Das Individuum oder die Subgruppe, die sich in den Vordergrund schieben und für einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich konzentrieren, isolieren sich damit nicht von der Gruppe, sie sind deren Vorhut. Der Psychologe, der sich aktiv mit ihnen beschäftigt, braucht daher nicht zu befürchten, sie oder sich selbst von der Gruppe zu isolieren, besonders wenn er auf ein V erlangen eingeht, das an ihn gerichtet ist; er trägt so vielmehr zum Fortschritt der ganzen Gruppe bei. Die individuellen oder interindividuellen Äußerungen bringen indes nur bestimmte Aspekte der kollektiven Gefühle zum Ausdruck. Andere Aspekte, die damit zusammenhängen, können gerade dank der vorausgegangenen aktiven Exploration gegensätzlicher oder andersartiger Aspekte zutage treten. In diesem Augenblick werden es die neuen Aspekte sein, die den aktiven Teil der Gruppenarbeit ausmachen. Das Schwergewicht der Arbeit wird sich auf sie verlagern, und die Aufmerksamkeit und Antwortkapazität des Psychologen sollten ohne Verzögerung für die neue Aufgabe zur Verfügung stehen. Wenn er in diesem Moment an seiner bisherigen Arbeit mit einzelnen oder mit der Gruppe festhielte, würde er die Arbeit der Gruppe stören und die Sicherheit mancher Mitglieder vielleicht ernstlich gefährden. Unsere Konzeption unterscheidet sich also deutlich von der Konzeption einer Individualtherapie in der Gruppe, derzufolge der Psychologe die Einzeltherapie jedes Mitgliedes verfolgt und die sich aus dem Gruppengeschehen bietenden Möglichkeiten ausnützt, dabei aber jedesmal, wenn er mit einem einzelnen beschäftigt ist, die anderen oder die Gruppe insgesamt gewissermaßen überhört. Eine solche Praxis entspricht unseres Erachtens der Einstellung der >>possessiven Liehe« und wir befürchten, daß sie das Individuum nur isoliert. Unsere Konzeption unterscheidet sich gleichermaßen aber auch von der einer Arbeit >>auf der Gruppenebene«, die sich eine besondere Hilfestellung zugunsten einzelner oder Subgruppen verbietet. Nach meiner Ansicht widerspricht die Arbeit mit einzelnen oder Subgruppen nicht der Arbeit mit der Gesarntgruppe. Beide sind Teile eines Ganzen und müssen gleichzeitig verfolgt werden. Was wir vertreten, ist also kein Kornprorniß sondern eine Synthese. 313
Lange Zeit hindurch (auch noch zur Zeit der »Walfischgruppe«) praktizierte ich eine Art Kompromiß, den ich hier deshalb erwähne, weil er zweifellos dem Verfahren mancher Praktiker entspricht. Ich gestattete mir, wenn auch im allgemeinen selten, manche individuellen Interventionen und - nicht weniger selten - Bezugnahmen auf einzelne Gruppenmitglieder bei Interventionen »an die Gruppe« (»der und der hat eben gesagt« ... ), aber dabei verlangte ich von mir, daß ich vor solchen Interventionen eine klare Vorstellung hatte, wie sie sich mit einer
kollektiven affektiven Erfahrung in Zusammenhang bringen ließen. Ich war damals immer sehr bemüht, die kollektiven Phänomene in ihrer Gesamtheit zu erfassen, und es mußten sich zumindest Deskriptions- und Interpretationsschemata abzeichnen, wenn ich die Phänomene schon nicht völlig zu durchschauen vermochte. Doch allmählich erschien mir dies als hemmend für eine spontane Beziehung zur Gruppe. In meiner gegenwärtigen Praxis beobachte ich, daß ich viel weniger als früher sofort verstehe, was in der Gruppe vorgeht; dafür aber bin ich viel disponibler für Interventionen zu einem bestimmten Punkt, die sich in den laufenden Dialog »einfädeln«. Meine Interventionen sind weniger massiv und bestehen mehr in einem Eingehen auf ausdrücklich geäußerte Anliegen. Aus mir spricht nicht mehr das »Unterbewußte der Gruppe« oder eine »Stimme aus dem Jenseits«, wie man mir früher manchmal sagte, sondern eine bestimmte Person, die sich an andere Personen wendet. Insbesondere spreche ich ungehemmt zu bestimmten Gruppenmitgliedern, denen ich etwas zu sagen habe, ohne von mir zu verlangen, daß ich meine Äußerung erst in ein kollektives Interpretationsschema eingeordnet haben müßte. Diese Beobachtung gibt Anlaß zu zwei Bemerkungen: Erstens kann sich hinter dem Bestreben des Psychologen, die Gesamtheit der Phänomene verstehen zu wollen (und damit meinen wir nicht nur rationale Einsicht, sondern auch empathisches Verstehen), ein neurotisches Omnipotenzverlangen verbergen, ebenso auch eine Identifizierung mit der Gruppe, die der Psychologe als ganze introjizieren möchte. Zweitens ist zu unterscheiden zwischen dem Bestreben, die Gesamtheit der Phänomene (rational oder empathisch) zu verstehen, und dem >>offenen Zuhören«, von dem wir oben sprachen. Offenes Zuhören bedeutet Bereitschaft für das Unerwartete, für Dissonanzen; es nimmt nicht in Beschlag und versucht nicht, das Unerwartete vorherzusehen, bevor es eingetreten ist.
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Arbeit in der Gruppe und außerhalb der Gruppe
Dieses Problem grenzt an das vorhergehende. Wie es innerhalb der Gruppe keine starren Grenzen zwischen den Problemen einzelner, einer Subgruppe oder der Gesamtgruppe gibt, ebensowenig gibt es eine starre Grenze zwischen Gruppe und Außenwelt. Die Gruppe (Trainings-, Therapie-, Interventionsgruppe in Organisationen) bildet eine temporäre Gemeinschaft, deren Zusammensetzung sich jeden Augenblick (nicht nur am Ende eines bestimmten Zeitraumes, z. B. eines Trainingslaboratoriums) je nach der Natur der behandelten Probleme und der Form der Interaktion ändern kann. Sie kann sich erweitern, einengen oder aufteilen. Es ist unseres Erachtens für den Psychologen wichtig, daß er in der Lage ist, in diesen unterschiedlichen Augenblicksstrukturen der Gruppe zu arbeiten. Gegen Ende eines Trainingsseminars hatten die Teilnehmer ernste Differenzen mit dem Inhaber des Hotels, in dem sie untergebracht waren. Der Hotelier beschwerte sich über die Behandlung seiner Möbel und über die saloppe Kleidung der Teilnehmer, die dem Rang seines Hauses keine Ehre mache usw. Die Teilnehmer, zumeist Intellektuelle und Studenten, fanden den Hotelier lästig und »Spießig«, nur auf sein Ansehen und seine Möbel bedacht, von falscher, geheuchelter Höflichkeit. Der Hotelier wurde zu einer Sitzung mit den Teilnehmern eingeladen, an die sich, nicht mehr in seiner Anwesenheit, ein Psychodrama über die Beziehungen zwischen den Teilnehmern und dem Hotelier anschloß. Es stellte sich heraus, daß neben den offensichtlichen Unterschieden der Persönlichkeiten, der Wertvorstellungen usw. noch ein anderer Faktor eine Rolle gespielt hatte: die Teilnehmer hatten unbewußt Hotelier und Trainer miteinander identifiziert und ihre ganzen Ängste und Gefühle, die sie sich dem Trainer gegenüber nicht eingestanden, auf den Hotelier projiziert: das Gefühl abgelehnt, mit Gleichgültigkeit, >>Wie ein Möbelstück«, mit Falschheit usw. behandelt zu werden. Der Hotelier war zum >>bösen Objekt«, als Gegenstück zu dem idealisierten Trainers geworden. Der Hotelier seinerseits war nicht nur seiner Möbel wegen in Unruhe, sondern auf Grund der mysteriösen Aktivitäten und Einstellungen der Teilnehmer. Vielleicht hatte er auch unbewußt die gegen ihn gerichtete Feindseligkeit gespürt. Am Ende dieser Aussprache offerierte er den Teilnehmern Champagner, den sie auch gerne tranken. Wir behaupten nicht, daß damit die Probleme sehr tieferfaßt waren - vor allem nicht die des Hoteliers -, noch daß diese Lösung sehr glücklich war. Aber zumindest war eine gewisse Vertiefung und Klärung der Beziehung möglich geworden. 315
Die Plenarsitzungen in Trainingsseminaren und Veranstaltungen der Organisationsveränderung
Ein weiteres Beispiel bietet die Praxis der Plenarsitzungen in einem gruppendynamischen Seminar. In diesen Sitzungen versammeln sich die Teilnehmer mehrerer kleiner Gruppen. Sitzungen dieser Art, in denen sich die Trainer wie in den Kleingruppen verhalten, wurden vor einigen Jahren von der ARIP (Association pour Ia recherche et 1' intervention psycho-sociologiques) eingeführt. Es handelt sich nicht um formelle Sitzungen, die von den Verantwortlichen im Hinblick auf eine bestimmte Funktion, wie etwa Information (Vorträge), lntergruppenKontakte oder die Organisation der kollektiven Arbeit (Zeitpläne, Aufgabenstellungen usw.), organisiert worden wären, wenngleich jede dieser Funktionen darin Platz haben könnte. Ihr Hauptzweck ist es, die Entfaltung und Untersuchung von Beziehungs-Phänomenen auf der Ebene des Gesamtkollektivs zu fördern. Die Erfahrung mit diesen Versammlungen hat uns gezeigt, daß sie besser als andere Trainingssituationen geeignet sind, das gegen Ende des Seminars auftauchende Problem der Trennung der Teilnehmer und der Rückkehr in den Alltag zu bearbeiten; Rückkehr-Psychodramen, »Anwendungsgruppen« usw. sind dagegen vergleichsweise künstlich. In den Plenarsitzungen werden die Teilnehmer mit dem Problem des Verzichts auf die exklusiven Beziehungen in der Basisgruppe (d. h. der Kleingruppe) und weiter mit dem Problem der Öffnung zur Außenwelt hin, zum Berufs- und Familienleben, in aller Schärfe konfrontiert. Die Plenarsitzungen erleichtern das Erlernen einer Beziehung im Getrenntsein und ohne Exklusivität. Oft bieten sie außerdem Gelegenheit, wichtige Probleme der IntergruppenBeziehungen zu klären, die eng mit den bewußten und unbewußten Vorstellungen der Teilnehmer über die Beziehungen zwischen den Trainern der verschiedenen Kleingruppen zusammenhängen: dominierendes Verhalten bestimmter Gruppen, Bündnisse mehrerer Gruppen gegen eine andere usw. Manchmal läßt sich beobachten, daß sich die Teilnehmer nicht nur mit dem Trainer ihrer Gruppe, sondern auch mit denen anderer Gruppen identifizieren und daß diese Identifikationen bisweilen konflikthaft sind; so wird z. B. der eigene Gruppentrainer als der »gute Trainer« erlebt, der vor einem »bösen Trainer« Schutz bietet oder umgekehrt. über die Trainer herrschen unter den Teilnehmern oft die verschiedensten Vermutungen: der eine Trainer sei von einem anderen abhängig oder »ferngesteuert«; die Trainer würden einander ignorieren; sie verbündeten sich gegen die Teilnehmer; sie kooperierten usw. Oft bedient sich diese imaginäre Konstruktion einer 316
sexuellen oder familiären Symbolsprache: man spricht von »Mann und Frau«, »Eltern«, >>Kindern« und »Großeltern«, einem »kastrierten«, »jungfräulichen<< Trainer, von einem »Eunuchen<< usw. Die Teilnehmer errichten ein Phantasiegebäude von Beziehungen zwischen den Trainern, woran allerdings die Trainer teilweise beteiligt sind, sei es, insofern ·sie diese Phantasieproduktion unbewußt provozieren, oder insofern sie ihre Wirkungen verspüren. Die Plenarsitzungen ermöglichen es den Trainern und den Teilnehmern, diese Phantasien mehr oder minder explizit zu erfassen und folglich sehr tiefe und wichtige unbewußte Dissoziationsprozesse aufzuarbeiten. Die Plenarsitzungen erfordern sehr viel Fingerspitzengefühl. Wenn auch aus den erwähnten Gründen sehr nützlich, sind sie auch ebenso gefährlich, denn sie können für manche Teilnehmer oder Gruppen zu einer brutalen Konfrontation mit dem Problem der offenen Beziehung zu anderen führen, in einer ängstigenden und vielgestaltigen Großgruppensituation. Die Versammlung vermittelt dann Erfahrungen plötzlicher, radikaler Aufhebung von Entfremdung 5, die sehr starke Widerstände pathologischer Art nach sich ziehen können. Wir sind daher der Meinung, daß für den Psychologen vor allem folgendes wichtig ist: - Ein eingeengter, z. B. interpretativer oder »verstehender<< Verhaltenssil ist zu vermeiden; statt dessen wäre zu praktizieren, was wir als »spontanen Dialog«, »expressiven Pluralismus«, »offenes Zuhören« und »mobiles Antworten<< charakterisiert haben. Dieses Verhalten ermöglicht das Erkennen und den Ausdruck der Abwehrhaltungen im Plenum, ohne daß einzelne oder Subgruppen zwischen dem Vakuum der Trainerabstinenz einerseits und den forcierenden Interventionen andererseits aus dem Gleichgewicht kommen. - Ob eine Plenarsitzung in einer bestimmten Population und zu einem bestimmten Zeitpunkt angebracht ist, muß sorgfältig überlegt werden; gegebenenfalls sind die Teilnehmer selbst zu konsultieren, damit die Versammlung zu einer Zeit eintritt, zu der sie einem natürlichen V erlauf der Gruppen entspricht. Mit diesem Problem hängt ein weiteres zusammen, das wir im folgenden Abschnitt klären möchten: die Festlegung der Interventionsstrukturen. Ähnliche Probleme treten bei Interventionen in Organisationen auf. Sie können unseres Erachtens im gleichen Sinne behandelt werden: ErDasselbe gilt von der Gruppenarbeit allgemein, einschließlich der Trainingsgruppen (Basisgruppen), doch werden diese Phänomene in den Plenarsitzungen noch verstärkt; vgl. oben, S. 218 f. 5
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weiterung, Begrenzung oder Vermehrung der Gruppen, mit denen der Psychosoziologe arbeitet (im allgemeinen erfassen sie nur einen kleinen Teil der Mitglieder der Organisation), Kontakte mit Mitgliedern, die außerhalb der Organisation stehen. Wir glauben, der Psychosoziologe sollte jederzeit zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Klientengruppe{n} bereit sein, ja sie sogar fördern, wenn ihm scheint, daß diese Veränderungen latenten Kommunikationsbedürfnissen entsprechen. Doch wie sind solche die Struktur der Intervention betreffenden Entscheidungen zu treffen, und welche Probleme stellen sich dabei? Darauf wollen wir nun allgemein eingehen.
Die Festregung der Interventionsstrukturen
Was ist unter Strukturen der Intervention zu verstehen? Gemeint ist alles, was den Rahmen der Intervention bildet: Zielsetzungen, Aufgaben, Methoden, angezielte Population, Rollen usw. Bei einem Trainingsseminar werden dies sein: die allgemeinen Seminarziele, die Definition der verschiedenen Trainingssituationen (Basisgruppe, Vorträge usw.), die Art der vorwiegend verwendeten »Sprachen« (rationale, symbolische, emotionale, gestische Sprache}, Größe und Zusammensetzung der Gruppen, der Zeitplan und die Bestimmung der Verantwortlichen für die verschiedenen Aktivitäten. Bei einer Organisationsintervention stellen sich dieselben Probleme: Zielsetzungen, Art der zu behandelnden Fragen, Bestimmung derjenigen Ausschnitte aus der Organisation, die an der Arbeit teilnehmen, Methoden und Sprachen, Verantwortliche usw. Dieses Ganze kann man als die Funktionsstrukturen der Intervention bezeichnen. Auf der anderen Seite ist die Festlegung der Funktionsstrukturen der Intervention von den fundamentalen Autoritäts- und Machtstrukturen beeinflußt, die sich zwischen dem Psychosoziologen und dem Klienten herstellen. Die Frage der Strukturenfestlegung ist eine der schwierigsten der psychosoziologischen Intervention. Ohne Zweifel sind hier die tiefsten Abwehrhaltungen der Klienten wie auch der Psychosoziologen beheimatet. Zwei Hindernisse sind grundsätzlich zu vermeiden: der technizistische Autoritarismus und die formale Demokratie. Wir kritisierten im vorigen Kapitel, anläßlich der Psychoanalyse, eine psychologische und psychosoziologische Arbeitskonzeption, die es für notwendig hält, daß der Psychologe den Rahmen seiner Intervention einseitig festlegt. Man glaubt, nur so könne man den Abbau bestimmter 318
sehr tiefer Widerstände des Klienten begünstigen. Diese sollen sich von dem festen Rahmen abheben, den der Psychologe geschaffen hat; der gewohnten Quellen seiner Befriedigung beraubt, wird der Klient sich auf andere Weise darstellen, die der Arbeit des Psychologen mehr Anhaltspunkte bietet. Diese Konzeption, die lange Zeit auch die unsere war, erscheint uns heute als irrig, die ihr entsprechende Praxis als unnötig frustrierend. Denn das Bedürfnis des Klienten, die Intervention, an der er teilnimmt (und die in erster Linie ja ihn angeht!), zu strukturieren, stellt für ihn einen nützlichen Schutz dar, und es wäre gefährlich, ihn dieses Schutzes zu berauben. Gewiß ist dieser Schutz abwehrend, aber er ist auch entwicklungsfähig. Es besteht kein Anlaß zu der Befürchtung, es handle sich um eine irreversible, fest zementierte absolute Abwehrhaltung. Im Gegenteil: spricht man mit dem Klienten über seinen Wunsch, die Intervention so oder so zu strukturieren, kann sich der ursprünglich unklare Sinn seiner Vorschläge klären, so wie sich - auf der Ebene eines Einzelgespräches - die Frage-AntwortStruktur des Mädchens klärte, von dem wir weiter oben gesprochen haben. Die Praxis einseitiger Festlegung der Strukturen offenbart einen Widerspruch in der Einstellung des Psychologen und zum Teil auch Verweigerung der Beziehung. Diese Kritik wurde unterstützt von meinem Kollegen und Freund G. Lapassade, dem Initiator einer auf Selbstbestimmung (autogestion} abzielenden »institutionellen« Pädagogik. Er hat als erster auf den Widerspruch zwischen dem Machtsystem innerhalb der Seminarinstitution und der klinischen Interventionsweise hingewiesen, die in den Trainingsgruppen praktiziert wird'· Lapassade warf den Trainern von Bethel und ihren französischen Anhängern vor, bei ihren Trainings den bürokratischen Leitungsstil anzuwenden, was z. B. in der einseitigen Bestimmung der Zeitpläne, der Aktivitäten und der Verantwortlichen zum Ausdruck komme und sehr im Widerspruch zu der nicht-direktiven Haltung stehe, die sie bei der Trainingsarbeit selbst einnähmen. Lapassade richtete seine Kritik übrigens zu Unrecht gegen die Seminare von Bethel, die er nur in ihren französischen, stark vom psychoanalytischen Autoritarismus geprägten Aquivalenten kannte. Die Bethel-Seminare erliegen eher einer anderen Gefahr, der Gefahr der formaleQ Demokratie, die meiner Ansicht nach seltsamerweise auch der »autogestion« Lapassades droht. Auch Lewin und manche seiner Nachfolger in Bethel sind, wie wir Lapassade (1970, 1972). Zur •institutionellen Pädagogik« vgl. auch Lobrot (1966, 1971), Tosquelles (1966).
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schon sahen, Gefahr gelaufen, der Gruppe die Demokratie aufzuzwingen. Indem die Psychosoziologen Selbstorganisations-Institutionen schaffen und darauf bestehen, daß alle die Gruppe betreffenden Entscheidungen jederzeit und insbesondere von Anfang an kollektiv gefaßt werden, machen sie genau den Fehler, den sie eigentlich vermeiden wollten 7 : sie nötigten der Gruppe ihre Wertvorstellungen und ihre Vorgehensweisen auf, und zwar im Bereich der Entscheidungen, der vielleicht der wichtigste im Leben der Gruppe ist. Im Bestreben, entfremdete Macht- und Autoritätsstrukturen zu beseitigen, führen sie diese in Wirklichkeit wieder ein, indem sie die erwünschten V eränderungen aufnötigen. Dadurch ersetzen sie nur die spontan sich innerhalb der Klientengruppe bildenden Machtbeziehungen durch solche, die sie selbst in die Gruppe hineintragen. Bezeichnend ist übrigens, daß die bekannten Selbstbestimmungsversuche zum einen im Schul- und Krankenhausbereich stattfanden, in zwei Bereichen also, in denen die Macht traditionellerweise dem Lehrenden oder Therapeuten übertragen ist, zum andern in Trainingsseminaren, die der Psychosoziologe selbst organisiert. Eine solche Praxis hemmt die spontanen Machtbeziehungen in der Klientengruppe, diese sind aber eine der Sprachen, in denen die Gruppe ihre Emotionen mitteilt. Insbesondere gilt dies für die Macht, mit der individuelle oder kollektive Klienten den Psychosoziologen ausstatten möchten. Wenn der Psychosoziologe diese Macht ablehnt, dann bricht er nicht nur den Dialog mit der Gruppe ab - der zu diesem Zeitpunkt in entfremdeter Form geschieht -, sondern er bringt auch seine eigene Unsicherheit zum Ausdruck. Weil sich in der Macht, die man ihm übertragen will, Angst in ihrer primitivsten Form ausdrückt, fürchtet er sich vor dieser Macht und er reagiert auf seine Furcht, indem er in derselben archaischen Weise seine Macht behauptet - unter dem Vorwand, den Klienten Demokratie zu lehren. Auch dies ist ein erzwungener und gehemmter Dialog: Entscheidungsfindung, eine der Sprachen der Gruppe, wird mit Gewalt in bestimmte Formen kanali7 Auch Lapassade (1972, S. 196) spricht von einem »Problem des allmählichen Fortschreitens«: »eine Klasse, der man die Selbstbestimmung gibt, darf nicht plötzlich und ohne Vorwarnung sich selbst überlassen werden«. Andererseits erachtet er es jedoch als unerläßlich, daß der Pädagoge »nicht interveniert, bevor die Gruppe sich nicht darauf geeinigt hat, eine ausdrückliche Aufforderung auszusprechen«. Das bedeutet, daß er die stillschweigende Aufforderung der Gruppe ablehnt, daß die Macht dem Psychosoziologen übertragen bleibt, daß man sich der Abhängigkeit der Gruppe verschließt und stillschweigend zu kollektiven Entscheidungen zwingt. Die vom Autor angeführten Beispiele bestätigen das eben Gesagte.
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siert. Entscheidungssituationen werden für den Praktiker der Autogestion ebenso zu einem bevorzugten Ort des Austauschs mit der Gruppe wie für den klinischen Psychologen die Analyse oder die Artikulation von Gefühlen. Die Entscheidungsfindung wird Regeln unterworfen, die ihren Freiheitsspielraum einschränken, ebenso wie auch die Regeln des Klinikers den Austausch nur in den von ihm autorisierten Formen zulassen. Die kollektiven Entscheidungsprozesse verlieren ihren Dialogcharakter und werden zu einer Technik, die der Psychosoziologe benützt, um die Gruppe zu ändern. Diese Widersprüche lassen erkennen, daß der Ausdruckswert der von der Klientengruppe ausgebildeten Machtstrukturen nicht richtig eingeschätzt wird: die Machtstrukturen teilen Gefühle mit. Versteckt hinter der ausgeübten und erlittenen Gewalt ist diese Sprache gewiß undurchsichtig und verworren; trotzdem teilt die Gruppe darin ihre Gefühle mit. Indem der Praktiker der Autogestion die gruppeneigenen Strukturen negiert, verkennt er deren Ausdruckswert und verdinglicht sie. Er verfällt einem Fetischismus der Macht- und Autoritätsstrukturen, ähnlich jenem Gefühlsfetischismus, den er beim Kliniker anprangert. Beide liegen auf derselben Linie, denn sie benützen beide eine fundamentale Machtstruktur: der eine, um bestimmte Formen der Entscheidungsfindung vorzuschreiben, der andere, um den emotionalen Austausch zu reglementieren. Wir sind also der Überzeugung, daß es nicht wünschenswert (und meistens auch nicht möglich) ist, eine Änderung der Machtbeziehungen innerhalb der Klientengruppe, insbesondere der Beziehungen zwischen Klient und Psychosoziologe, durch Zwang anzustreben. Zugleich sind wir jedoch mit den Theoretikern der Autogestion der Auffassung, daß eine Veränderung des Klienten nur dann Bestand hat, wenn sich auch die Machtbeziehungen innerhalb der Klientengruppe und zwischen der Klientengruppe und den Psychosoziologen ändern. Solche Veränderungen sind unseres Erachtens möglich, wenn es zwischen dem Klienten und dem Psychosoziologen zu einem echten Dialog über die Macht kommt. Was ist damit gemeint? Erstens, daß der Psychosoziologe die Machtstrukturen der Klientengruppe anerkennt und nicht versucht, sie direkt oder indirekt zu zerstören oder zu modifizieren. Im besonderen wird er die Macht, die ihm der Klient überträgt, akzeptieren, selbst dann, wenn klar ist, daß der Klient damit seine Entfremdung kundgibt und den Psychosoziologen in einen Schiedsrichter oder Heilsbringer umzufunktionieren sucht. Natürlich maßt er sich keineswegs an, den Klienten zu richten oder zu retten, er wird aber dennoch den von ihm verlangten Beitrag nicht verweigern, obwohl er um die Gefahr 321
weiß, falsch verstanden zu werden. Andererseits ist jedoch der Psychosoziologe bereit, jede beim Klienten sich zeigende Veränderung in den Machtbeziehungen zu akzeptieren und zu fördern. Auf der Ebene der Funktionsstrukturen der Intervention äußert sich diese Einstellung praktisch folgendermaßen: die Strukturen sind mobil und werden schrittweise fixiert. Der Psychosoziologe wird der Festlegung starrer, langfristiger Pläne zurückhaltend gegenüberstehen, denn damit könnten Initiativen des Klienten, die zum Zeitpunkt der Planung noch nicht vorhersehbar waren, von vornherein eingeschränkt werden. Jede tiefgreifende Veränderungsarbeit braucht natürlich Zeit, oft sind mehrere Jahre ein Minimum; und der Psychosoziologe tut gut daran, den Klienten dies wissen zu lassen; aber es ist deswegen nicht erforderlich, im vorhinein alle Details oder die Dauer zu fixieren. Besteht der Klient auf einer Planung, so kann ihm der Psychosoziologe insofern entgegenkommen, als er einen revidierbaren Plan im Sinne einer Arbeitshypothese vorlegt, der von seiner Seite aus jederzeit geändert werden kann. Der Psychosoziologe leistet einen aktiven Beitrag zur Erarbeitung der Interventionsstrukturen in allen Bereichen, indem er seine Zielsetzungen kundtut, Methoden vorschlägt, wie etwa die Einteilung der Population in Subgruppen usw. Damit will er seine Klienten weder nötigen, an der Erarbeitung der Strukturen teilzunehmen, noch will er sie natürlich daran hindern. Er teilt seine Ansichten mit, wohl wissend, daß adäquate Strukturen nicht von ihm allein bestimmt werden können. Er geht von der Annahme aus, daß er die Beteiligung der anderen nicht fördert, indem er mit seiner eigenen zurückhält, sondern indem er sich möglichst umfassend und getreu über seine Methode und noch mehr über seine Ziele und Werte äußert, selbst wenn der Klient anfänglich durch abhängigen Respekt vor dem Experten gehemmt wird. Bei einer Organisationsintervention führt die von uns angeregte Praxis den Psychosoziologen dahin, sich gemeinsam mit seinen Klienten die Frage nach den Arbeitszielen, den zu behandelnden Problemen, den Methoden und den an der Arbeit zu beteiligenden Gruppen zu stellen und die Elemente mit den Klienten schrittweise, soweit diese dazu bereit sind, zu fixieren. Nehmen wir einen anderen Fall: ein Trainingsseminar mit 40 oder 50 Teilnehmern und einer Dauer von sechs Tagen. Eine feste Planung der Aktivitäten, der Zeiteinteilung und der Zusammensetzung der kleinen Arbeitsgruppen zu erstellen und jeden Vorschlag der Teilnehmer, diesen Rahmen zu ändern, abzulehnen und auf seinen emotionalen Sinngehalt hin zu interpretieren, ist unserer Meinung nach nicht wün-
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sehenswert. Ebenso unbedacht wäre es aber, unter dem Vorwand der Selbstorganisation jede vorgängige Strukturierung des Seminars zu unterlassen. Die Teilnehmer sähen sich dann vor die sie ängstigende und für sie in diesem Moment nicht zu bewältigende Situation eines Machtvakuums gestellt, wo sie doch nach einer Macht verlangen. Außerdem fehlen den Teilnehmern objektive Kenntnisse über die vorhersehbaren Auswirkungen dieser oder jener Trainingssituation Kenntnisse, über die indessen der Psychosoziologe, so unvollkommen auch immer, verfügt. Besser dürfte es sein, wenn die Psychosoziologen nach ihrem besten Wissen eine Planung des Seminars projektieren. Dieses Projekt ist eine Hypothese über die Situation. Sie kann modifiziert werden und wird es auch, wenn, was im allgemeinen der Fall ist, die Teilnehmer die Initiative dazu ergreifen. Soll man die Teilnehmer nun konsultieren? Soll man sie alle zusammen oder in kleinen Gruppen konsultieren? Je nachdem. In bestimmten Fällen wäre entweder jede Konsulation überhaupt oder eine bestimmte Art der Konsulation gezwungen und unnötig angsterregend. Der Psychosoziologe bildet sich auch eine Hypothese über die Machtbeziehungen, die sich in der Gruppe ausbilden werden. Er wird darauf achten, das Verlangen nach schützender Macht, das die Gruppe an ihn richtet, nicht zu übersehen, und er wird der Gruppe diese Macht nicht verweigern; ebenso wird er damit einverstanden sein, daß ihm die Macht wieder genommen wird, wenn sie nicht mehr gefragt ist. Unserer Erfahrung nach beginnen Trainingsseminare, die in diesem Sinne durchgeführt werden, im allgemeinen mit einer Phase der Abhängigkeit, in deren Verlauf die Teilnehmer im Schutz einer vom Trainer aufgestellten Struktur arbeiten, die sie nicht abzuschaffen oder jedenfalls nicht aktiv zu ändern suchen, selbst wenn sie sie kritisieren. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird die Gruppe gegenabhängig und übernimmt die Macht. Sie bemüht sich dann, ihre Aktivitäten unabhängig vom Trainer in die Hand zu nehmen. Oft entwickelt sich die Gruppe anschließend in Richtung einer graduellen Eliminierung von Macht und Gewalt. Die Funktionsstrukturen der Intervention werden rasch und ohne Mühe fixiert; dabei werden die Beiträge aller, einschließlich des Trainers, ohne übertriebene Unterwerfung und Feindseligkeit berücksichtigt. Die Festsetzung der Strukturen, nach denen eine Intervention ablaufen soll, wirkt sich in bedeutsamer Weise auf das entscheidende Problem aus, nämlich den Abbau der heimtückischsten Formen von Gewalt in den menschlichen Beziehungen, die sich in den institutionellen Macht- und Autoritätsstrukturen verbergen. Unsere Hypothese ist, daß
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die Veränderung der Machtbeziehungen weder als Voraussetzung für eine Intervention noch als deren Folge betrachtet werden darf - als Folge, die sich der Psychosoziologe vielleicht wünscht, die ihn aber in Wirklichkeit nicht zu kümmern braucht. Die Veränderung der Machtbeziehungen geht mit der Klärung und der Modifizierung der Gefühle einher; sie findet ihren Ausdruck in einer Veränderung der Entscheidungsmodi sowohl derer, die die Intervention selbst und damit den Psychosoziologen betreffen, wie auch derer, die für die Klientengruppe charakteristisch sind. In diesem wie in anderen Bereichen begleitet der Psychosoziologe die Gruppe, bleibt im Dialog mit ihr, macht ihre Veränderungen mit, indem er sich bemüht, den in der Gruppe sich anbahnenden Veränderungen auch seinerseits so wenig Widerstand wie möglich entgegenzusetzen.
Die Auswahl des Klienten
Doch wer ist eigentlich der Klient des Psychosoziologen? Die Gruppe? Die Einzelnen? Ist es die Gruppe, mit der er unmittelbar arbeitet, oder gehören noch andere Personen dazu, mit denen die Einzelnen in Beziehung stehen und die von den Auswirkungen seiner Arbeit mitbetroffen werden? In einem Unternehmen, einer Verwaltungsinstitution, einem Interessenverband oder einer Vereinigung sind im allgemeinen die Leiter mit mehr oder minder hohen Funktionen die ursprünglichen Auftraggeber für die Intervention. Wem fühlt sich der Psychosoziologe verantwortlich? Den leitenden Funktionären, der Gesamtheit der Organisationsmitglieder oder gar der Gesamtgesellschaft? Jeder praktizierende Psychosoziologe wird mit diesem Problem konfrontiert, das ihn oft in schwierige Loyalitätskonflikte bringt. Macht er sich nicht zum Werkzeug einer rückschrittlichen Politik, die das Ziel verfolgt, die Herrschaft der leitenden Gruppen zu festigen? Werden das Training des Führungspersonals und der Angestellten und die psychologische Klärungsarbeit von den Leitenden nicht in einer manipulierenden Perspektive dazu verwendet, zu vermeiden, daß die fundamentalen Autoritäts- und Machtstrukturen in Frage gestellt werden? Diese Frage hängt eng mit dem im vorigen Abschnitt erörterten Problem des Machtsystems der Klientengruppe zusammen. Wenn nun der Psychosoziologe das Machtsystem der Klientengruppe akzeptiert, dient er dann nicht zum Nachteil der anderen den Interessen einer Subgruppe in der Organisation und erweist er damit nicht der Entwicklung der Organisation insgesamt einen schlechten Dienst?
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In einem Trainingsseminar stellt sich das Problem anders dar. Es kommt vor, daß Teilnehmer von der Direktion ihres Unternehmens zu einem Seminar »geschickt« werden, ohne daß man genau weiß, ob überhaupt und wie sehr sie damit einverstanden sind (selbst dann nicht, wenn man vorher mit ihnen gesprochen hat, was nicht immer der Fall ist). Wer ist in dieser Situation der »wirkliche Klient« des Psychosoziologen? Die Teilnehmer oder ihre Direktion, die sich vielleicht ihrer Probleme dadurch entledigt, daß sie ihre Untergebenen zu dem Seminar schickt? Ist es legitim, mit Individuen, deren Entschluß, an einem Seminar teilzunehmen, stark beeinflußt worden ist, eine tiefgreifende psychologische Arbeit aufzunehmen, die die Gefahr von Störungen mit sich bringt? In beiden Fällen arbeitet der Psychosoziologe mit Individuen oder Gruppen, die innerhalb eines umfassenderen als des ihm unmittelbar zugänglichen sozialen Systems Zwänge ausüben und erleiden, die ihm teilweise unbekannt bleiben. Er kann also befürchten, daß sich aus seiner Arbeit unvorhersehbare und schädliche Auswirkungen auf die Personen, mit denen er arbeitet oder auf andere, mit denen er nicht unmittelbar zu tun hat, ergeben. Bezeichnen wir der Klarheit halber als aktuellen Klienten jede Person oder Personengruppe, mit welcher der Psychosoziologe in direkter Verbindung steht, als den potentiellen Klienten dagegen alle jene Gruppen, die in wie immer gearteten Beziehungen zum aktuellen Klienten stehen. Potentielle Klienten sind alle Mitglieder der Organisation, denen die aktuellen Klienten angehören, ihre Familien, kulturellen Vereinigungen, Kirchen usw. Dieser Bereich ist unbegrenzt. Die Lösung des eben erwähnten Konflikts besteht für die Psychosoziologen oftmals darin, Kommunikationsbereiche zwischen dem aktuellen und einem Teil des potentiellen Klienten zu organisieren, und zwar so, daß der Zwang, dem der eine ausgesetzt ist, nur im Feld der psychosoziologischen Intervention, nicht auch außerhalb ausgeübt wird, so daß er mit kompensatorischen Phänomenen zusammentrifft, deren Auftreten der Psychosoziologe begünstigen wird: Gegendruck seitens der unterdrückten Gruppe oder - besser noch - gegenseitige Klärung der Gefühle und Einstellungen, was zu einem Abbau der Zwangsphänomene führt. Nach der von Floyd C. Mann (1957) entwickelten und seither oft angewandten Methode zum Beispiel führt der Psychosoziologe eine umfassende Datenerhebung in der Organisation durch und organisiert anschließend auf den verschiedenen Rangebenen Zusammenkünfte zwischen den Vorgesetzten und ihren unmittelbaren Untergebenen zur Besprechung der Ergebnisse. Diese Methode bietet den
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Diskussionsgruppen keine besondere Hilfe zur Klärung der Gefühle und der Gruppenprozesse. Sie beruht im wesentlichen auf der Kommunikation der objektiven, die Wahrnehmungen und Motivationen der Untergebenen betreffenden Daten. Man kann daher befürchten, daß die hauptsächliche Triebfeder der Veränderung der Druck ist, den die Untergebenen auf ihre Vorgesetzten ausüben, und die konformistische, möglicherweise nicht dauerhafte Unterwerfung vonseitender Vorgesetzten. Ferner fördert diese Methode einen Lernprozeß, der nicht von der aktuell erlebten Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen ausgeht, sondern von den alltäglichen, mittels der Untersuchung beschriebenen Situationen. Um diesen Nachteil zu verringern, kann man klinische Gruppen zur Exploration der Beziehung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen (Basisgruppen) organisieren, denen ein Psychesoziologe assistiert. Eine Zwischenlösung, die es ermöglicht, von einer distanzierten Untersuchung der Situation zu einer unmittelbaren Exploration überzugehen, besteht darin, zuerst eine Untersuchung durchzuführen, deren Ergebnis den Diskussionsgruppen mitgeteilt wird, und dann Basisgruppen zu organisieren. Nach dieser Methode gingen wir im Unternehmen P. vor (vgl. 9. Kapitel). In beiden Methoden konstruiert der Psychesoziologe selbst ein System der Kommunikation zwischen dem aktuellen und dem potentiellen Klienten. Von diesem Kommunikationssystem glaubt er, es begünstige die Veränderung, und er zwingt es dem Klienten einseitig auf, kraft seiner Autorität als Experte. Er schreibt technische Regeln vor, deren Einhaltung er zur Bedingung seiner Intervention macht: getreue Bekanntgabe der Untersuchungsergebnisse an alle Interessierten, Organisation von Basisgruppen, vorgängige Information, Obereinstimmung aller hinsichtlich des beabsichtigten Vergehens und dessen eventuelle Modifikation im weiteren Verlauf usw. Seine unbewußt oder unausdrücklich eingestandene Zielsetzung ist es, gegen die Zwänge zu kämpfen, die ein Teil der Klientengruppe auf den anderen Teil ausüben kann. Doch dazu setzt er dem von einem Teil der Klientengruppe ausgehenden Zwang einen Gegenzwang entgegen, der Macht der Autoritäten in der Klientengruppe seine Gegenmacht als Experte. Seine Methode ist die einer forcierten Kommunikation, einer forcierten Erweiterung des aktuellen Klienten auf einen Teil des potentiellen Klienten, entweder weil der aktuelle Klient seiner Vorstellung nach die dem Zwang unterworfene Gruppe ist und er versucht, die Leitung ins Feld der Intervention hineinzuziehen, oder weil der aktuelle Klient die Gruppe der Leitenden ist und er sie in Kontakt mit ihren Untergebenen bringen will. 326
Diese Methode, vielmehr diese Methoden, nach denen ich lange Zeit selbst praktiziert habe, erscheinen mir heute fragwürdig. Sie haben den Nachteil der formalen Demokratie, die wir im vorigen Abschnitt kritisiert haben. Der Psychosoziologe bestimmt allein von sich aus die Kommunikationsnetze und Kommunikationsformen, die für seine Intervention erforderlich sind, und oft auch die Entscheidungsregeln hinsichtlich der Intervention. Auf diese Weise versucht er, die Organisationsstrukturen durch Zwang zu ändern, ob er sich nun dessen bewußt ist oder nicht. Unter dem Vorwand, die Intervention zu organisieren, will er in Wirklichkeit das Unternehmen, die Behörde oder Gewerkschaft aus eigener Machtvollkommenheit ändern. In Wirklichkeit ist diese Methode unklug und naiv. Man braucht z. B. nur zu wissen, vor welchen Problemen das Führungspersonal eines Unternehmens steht, wenn es entscheiden soll, wer zu einer wichtigen Zusammenkunft eingeladen wird und wer nicht, und man wird verstehen, daß jede willkürliche Manipulation am Kommunikationsgefüge des Unternehmens große Schwierigkeiten heraufbeschwören kann, wie geschickt und fachmännisch auch immer der Psychosoziologe sich in der Folge verhalten mag. Diese Praxis forcierter Kommunikation erschien mir, als ich mich ihrer bediente, in einem direkten Zusammenhang mit den Widerständen des Klienten zu stehen. Wir wiesen anläßlich des Unternehmens P. darauf hin. Um nicht mißverstanden zu werden: unsere Kritik richtet sich keineswegs gegen die Methode als solche, weder gegen die Rückmeldung von Untersuchungsergebnissen noch gegen Basisgruppen innerhalb einer Organisation, sondern einzig gegen die Prätention des Psychosoziologen, sie als Veränderungsrezepte zu verwenden, eine Veränderungsmaschinerie aufzubauen, Gruppen zu bilden und ihr Kommunikationssystem einseitig zu regeln. Auch hier dürfte ein schrittweises Vorgehen günstiger sein. Der erste Klient des Psychosoziologen ist auf jeden Fall der aktuelle Klient, sei es nun eine Gruppe von Untergebenen oder von Vorgesetzten, eine große Gruppe oder ein Einzelner. Sinnvoll arbeiten kann er zunächst nur mit dem aktuellen Klienten, indem er gemeinsam mit ihm die für ihn annehmbaren Arbeitsformen festlegt. Zusammen mit ihm wird er schließlich eine Kontaktaufnahme mit anderen Personen oder Gruppen - Leitern, Untergebenen, Kollegen - ins Auge fassen; an diesem Kontakt kann sich der Psychosoziologe beteiligen oder auch nicht. Wird eine Erweiterung des aktuellen Klienten erwogen, wird sich der Psychosoziologe mit den neuen Klienten über die Ratsamkeit dieser Erweiterung und über die möglichen Arbeitsformen ins Einvernehmen
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setzen. Es kann sein, daß er nicht mit ihnen arbeiten will, daß er eine von der ersten Arbeit unabhängige neue Arbeit mit ihnen beginnt, oder daß sich ein neues, vergrößertes Arbeitskollektiv bildet. Gewiß kann der Psychosoziologe nicht behaupten, die Bedeutung seiner Arbeit für die verschiedenen Sektoren der Klientengruppe, besonders für diejenigen, mit denen er nicht in Kontakt steht, zu kontrollieren oder auch nur zu kennen. Er wird oft, wenn nicht immer, von Gruppen manipuliert werden, die über ihn wieder andere zu manipulieren versuchen. Aber es wäre keine Lösung, Manipulation mit Gegenmanipulation zu beantworten. Der Psychosoziologe ist gewissermaßen gezwungen, seinem aktuellen oder potentiellen Klienten zu vertrauen, will er nicht mit sich selbst in Widerspruch geraten. Er kann nicht gleichzeitig mit ihm und gegen ihn spielen oder gleichzeitig mit einer Gruppe in Hinblick auf deren Entwicklung kooperieren und sie gleichzeitig unter der Hand in eine Lage versetzen, die sie zwingt, sich zu entwickeln. Er sollte sich für eine kohärente Methode gesellschaftlichen Veränderns entscheiden. Er kann nicht ein Gesprächspartner sein, dessen Handeln Dialog ist, und zugleich ein Sozialreformer, der Zwang ausübt und manipuliert. Er muß damit einverstanden sein, daß er seine gesellschaftlichen Veränderungsziele, so hochgesteckt sie sein mögen, nicht gegen, sondern nur mit den Individuen, mit denen er arbeitet, erreichen kann. Offensichtlich beruht eine solche Auswahl auf Hypothesen, zumindest auf stillschweigenden. Unsere Hypothesen sind, daß Zwang, Gewalt und Manipulation weder unreduzierbare noch primäre Gegebenheiten des Sozialverhaltens sind. Sie sind Träger von Bedeutungen, Abwehrsysteme gegen eine offene zwischenmenschliche Beziehung, die sie zugleich verschleiern und ausdrücken. Ihre Anwendung in einem Klima des Akzeptierens bereitet ihre Überwindung vor. Andererseits sind es kollektive Abwehrsysteme, welche die Gesamtheit der Mitglieder einer Organisation gemeinsam aufrechtzuerhalten, aber auch umzuwandeln trachten. Daher kann die Arbeit, die der Psychosoziologe in einem Sektor der Organisation in Gang bringt, als ein Versuch zur V eränderung des Ganzen verstanden werden. Eine umfassendere gesellschaftliche Veränderung wird der Psychosoziologe nicht dadurch begünstigen können, daß er diesen einzelnen Versuch auf die eine oder andere Weise durchkreuzt oder kanalisiert, sondern vielmehr dadurch, daß er ihn unterstützt und begleitet, laufend zu seiner Klärung beiträgt und ihm ermöglicht, neue Bedeutungen anzunehmen. So kann sich ein solcher Versuch mit anderen Versuchen verbinden, die in anderen Sektoren der Organisation stattfinden. Im tiefsten Grund herrscht zwischen
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den Veränderungsversuchen der einzelnen, Subgruppen und umfassenderen Kollektive nicht Divergenz, sondern Konvergenz. Der Psychosoziologe fühlt sich zugleich seinem aktuellen und seinem potentiellen Klienten verantwortlich, ohne daß diese beiden Verantwortlichkeiten von ihm als konflikthaft oder widersprüchlich erlebt werden. Sie berechtigen ihn nicht, den einen Klienten gegen den anderen auszuspielen. Dieser Gesichtspunkt hilft uns in der Lösung der Frage nach der Pluralität der Klienten des Psychosoziologen. Wir sehen keinen Nachteil, sondern einen Vorteil darin, wenn der Psychosoziologe als Klienten gleichzeitig Einzelpersonen oder Gruppen hat, die in Beziehung zueinander stehen, gleichgültig ob er mit ihnen je für sich oder gemeinsam arbeitet. Eine solche Arbeit würde sich nur dann verbieten, wenn zwischen den Klienten ein unüberwindbarer Konflikt herrscht, der den Psychosoziologen dazu nötigt, sich mit der einen Seite gegen die andere zu verbünden. Gewiß werden die Klienten den V erdacht haben, daß ein solches Bündnis existiert. Doch erweist der Psychosoziologe einen solchen Verdacht gerade dadurch als unbegründet, daß er gewillt ist, gleichzeitig mit beiden Parteien zu arbeiten. Diese Überlegung betrifft auch die Frage, ob die Klienten des Psychosoziologen die Einzelpersonen sind oder die Gruppe. Beide sind es, denn auch hier liegt kein Widerspruch vor. Die Gruppenbeziehungen, auf die sich die Tätigkeit des Psychosoziologen richtet, zielen keineswegs auf die Verstärkung einer überindividuellen mythischen Gruppe ab, sondern vielmehr auf die Herstellung authentischer zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie implizieren, wie wir aufzuzeigen versucht haben, notwendig die Beachtung individueller Veränderungen. Diese Überlegung gilt auch für die Psychotherapie. Manche Therapeuten machen es sich zur Regel, nicht mehrere Mitglieder derselben Familie in Behandlung zu nehmen. Diese Einschränkung erscheint uns nicht gerechtfertigt: der Therapeut kann ebenso gut unabhängige Einzeltherapien wie eine Therapie der Familiengruppe als solcher durchführen oder frei von einer zur anderen Form der Praxis übergehen.
Interkommunikation der gesellschaftlichen Praxisfelder
Die psychosoziologische Intervention ist eine verallgemeinerte Methodologie gesellschaftlichen Veränderns. Sie ist darauf bedacht, die verschiedenen Felder psychosozialer Praxis zu einen. Einerseits betrachtet sie die Veränderungstätigkeit innerhalb verschiedener Einheiten- In-
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dividuum, Kleingruppe, Organisation, Kollektiv, Gesellschaften - als Teile einer kollektiven Veränderungsbemühung. Diese Veränderungen stehen in Beziehung zueinander. Die psychosoziologische Intervention trägt dem Rechnung: sie behandelt die Veränderung als ganzheitliches Problem und ist bestrebt, sie an den verschiedenen Orten, wo sie geschieht, zu fördern. Andererseits trennt sie nicht die verschiedenen Ebenen der Veränderung: die Ebene der Gefühle, der Ausdrucksformen und Kommunikationsmethoden, des kognitiven Bezugsrahmens, der Berufsrollen und der gesellschaftlichen Strukturen. Sie bewegt sich sowohl hinsichtlich des Individuums wie auch der verschieden großen Gruppen auf diesen verschiedenen Ebenen. Das bedeutet natürlich nicht, daß sie die verschiedenen Veränderungsbereiche und -ebenen zugleich und in einem anzugehen versuchte; das wäre utopisch. Aber sie ist bereit, sich auf diese vielfältigen Arbeiten einzulassen. Vor allem sieht sie den Obergang von einer zur anderen vor: von der individuellen zur kollektiven Arbeit und umgekehrt, von der Modifikation der Kenntnisse und Methoden zur affektiven Entwicklung, von der Umwandlung der Strukturen zum Bewußtmachen der Gefühle. Diese Übergänge richten sich nach der Veränderung des Abwehrsystems des aktuellen oder potentiellen Klienten, die teilweise unter der Einwirkung der Intervention selbst erfolgt. Die derzeit bestehende Trennung der existierenden Veränderungsmethodologien - Psychotherapie, Gruppentraining, Organisationsveränderung - erscheint daher aus unserer Sicht als künstlich und für die Veränderungsarbeit selbst schädlich. Nehmen wir z. B. die Beziehungen zwischen Psychotherapie und Gruppentraining. Die Gruppentraining praktizierenden Psychesoziologen wehren sich noch immer dagegen, Psychotherapie zu betreiben (jedoch zeichnet sich seit einigen Jahren in den Vereinigten Staaten, in England und in Frankreich hierin eine Weiterentwicklung ab). Diese Reaktion hängt mit Machtbeziehungen zu andern sozialen Gruppen zusammen (in Frankreich vor allem zu den Ärzten und Psychoanalytikern, zwischen Medizinern und Nichtmedizinem), sie ist aber auch eine Abwehr im psychologischen Sinn des Wortes: die Psychesoziologen wehren sich gegen die Realität ihrer Beziehung zu ihren Klienten. Es ist sicher, daß Trainingsseminare und die Gruppenmethoden überhaupt, welche die Psychesoziologen praktizieren, mächtige Instrumente individueller Veränderung mit allen Vorteilen und Gefahren darstellen und Vorsichtsmaßnahmen wie in einer Psychotherapie erfordern. Nehmen die Psychosozialegen dies nicht zur Kenntnis, so fliehen sie vor ihrer Verantwortung und versäumen es vor allem, genügend Aufmerk330
samkeit auf die nötigen Maßnahmen zum Schutz der Individuen, mit denen sie arbeiten, zu verwenden. Dies könnten zum Beispiel Einzelgespräche vor und nach den Trainingsseminaren sein, gegebenenfalls auch eine echte psychotherapeutische Beratung, eine Konzeption der Seminare, die eine Erschütterung der individuellen Abwehrmechanismen vermeiden hilft usw. Es hat ganz den Anschein, daß sich die Psychosoziologen, geblendet von der Entdeckung eines neuen Forschungsbereiches und den darin enthaltenen Verheißungen, eher als Forscher denn als Praktiker verhielten, obwohl sie sich stets zu einer Verbindung von Forschung und Praxis bekannten. Die Psychotherapeuten haben ihrerseits die neuen Gruppenmethoden voller Mißtrauen betrachtet. Berufliche Rivalitäten, Befürchtung einer zweitklassigen und wertlosen »billigen Psychotherapie«, Versteifung auf ihre Theorien und Methoden - all dies enthielten ihre Reaktionen. Es scheint jedoch im Gegenteil offenkundig zu sein, daß Einzeltherapie und Gruppentraining zwei sich ergänzende Aspekte ein und derselben Arbeit darstellen. Beide haben als Ziel, die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit des Individuums unter den bestmöglichen Sicherheitsbedingungen zu fördern. Gruppentraining verfolgt dieses Ziel in einer offenen Situation inmitten einer Kleingruppe; vielleicht mehr noch als in der Einzeltherapie werden dadurch die Oberwindung der Entfremdung des Individuums, das Erlernen einer autonomen offenen Beziehung zum anderen gefördert, aber es wird auch die Sicherheit des Individuums einer größeren Gefährdung ausgesetzt, und es können heftigere Abwehrreaktionen ausgelöst werden. Einzeltherapie begünstigt die vorsichtige und stufenweise Äußerung und Umformung des individuellen Abwehrsystems innerhalb einer individuellen Beziehung zu einer privilegierten Figur. Psychotherapie kann Individuen, die durch die Gruppensituation übermäßig bedroht sind, eine größere Sicherheit gewähren; sie kann als Ergänzung der Gruppenarbeit dienen, indem sie eine Vertiefung und Konsolidierung der in der Gruppensituation angebahnten Veränderungen ermöglicht (dies beweist etwa die ziem.lich hohe Anzahl von Personen, die sich nach einem Trainingsseminar in therapeutische Behandlung begeben). Umgekehrt kann die Gruppenarbeit den Individuen helfen, sich in einer kollektiven Situation zu prüfen, neue Verhaltensweisen und Einstellungen in einer geschützten Situation zu erproben und so die mit dem Therapeuten unternommene Arbeit der Entfremdungsüberwindung zu festigen. Diese gegenseitige Ergänzung bedeutet unseres Erachtens nicht, daß jeder unbedingt Therapie und Gruppentrainung durchmachen müßte, 331
sondern daß man je nach FaJI mit einem von beiden beginnen und innerhalb derselben Arbeit vom einen zum anderen übergehen kann. Einzelpsychotherapie und Gruppentraining erweisen sich mithin als zwei Aspekte einer einheitlichen Veränderungsmethodologie. Das Gruppentraining ist eine Psychotherapie des Individuums. Die Einzeltherapie ist ein Sonderfall des Gruppentrainings. Die Unterscheidung zwischen Psychotherapie und Training läßt sich weder hinsichtlich der Zielsetzungen noch hinsichtlich der grundlegenden methodologischen Prinzipien rechtfertigen. Natürlich kann man bezüglich der Klienten eine Unterscheidung treffen und, wenn man will, als Psychotherapie (mit Einzelnen oder Gruppen) jene Arbeit bezeichnen, die sich an eine pathologische Klientel wendet, als psychologische Beratung und Training dagegen die - individuelle und kollektive- Arbeit mit »Normalen«. Wir bestreiten keinesfalls, daß die erste Art von Arbeit besonderes Wissen und besondere Erfahrung verlangt, und z. B. von Ärzten oder unter ärztlicher Kontrolle ausgeübt werden sollte. Aber selbst in diesem Fall sind wir trotz allem mit Problemen derselben Art konfrontiert: für alle, die sich mit individueller Veränderung abgeben, für Therapeuten, Berater, Trainer usw. ist es unerläßlich, die methodologischen Probleme als ein Ganzes zu betrachten. Auch Gruppentraining und Organisationsveränderung durchdringen einander, ebenso wie sie mit der Psychotherapie oder der individuellen Beratung verflochten sind. Training und Einzeltherapie ziehen eine Umstrukturierung und Entwicklung in den Berufsrollen des Individuums nach sich. Der einzelne, der z. B. ein Trainingsseminar absolvierte, hat danach oft eine veränderte Vorstellung von der Arbeit, die er innerhalb seiner Organisation leisten möchte. Oft ergreift er Initiativen in der Absicht, die Beziehungen, Funktionsweise und Strukturen seiner Organisation zu ändern. Und in dem Maße, wie er in diesem Bereich teilweise Erfolg hat, werden die individuellen Änderungen von Einstellungen, Werthaltungen und Methoden bestätigt und konsolidiert. Andernfalls verläßt er oft seine Organisation, um sich einer anderen anzuschließen, von der er glaubt, sie komme seinen Plänen eher entgegen. Manchmal ersucht er professionelle Psychosoziologen oder Kollegen, die wie er einen Trainingszyklus mitgemacht haben, um Unterstützung in seinem Bemühen um Organiastionsveränderung. Diese Unterstützung kann einen wichtigen Beitrag zur Konsolidierung seiner persönlichen Veränderung darstellen. Mehr noch: die Teilnahme des Mitgliedes einer Organisation an einem Trainingszyklus oder auch an einer Psychotherapie kann als Ausdruck eines
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kollektiven Verlangens nach Veränderung vonseiteneines Sektors der Organisation oder der gesamten Organisation gedeutet werden, vor allem, wenn der Betreffende offiziell von seiner Gruppe delegiert wird, aber auch dann, wenn dies nicht der Fall ist. Auf dieses Verlangen einzugehen bedeutet, einer spontanen Veränderungstendenz innerhalb der Organisation entgegenzukommen. Dasselbe gilt für die Mitglieder einer Familie, die sich einzeln in Psychotherapie begeben. Psychotherapie und Gruppentraining sind Sonderfälle von Organisationsveränderung. Die eben dargelegten Ansichten lassen sich im Schema eines integrierten Veränderungsplanes zusammenfassen. Dies ist ein Plan, der vielfältige Aktivitäten auf verschiedenen Ebenen und innerhalb verschiedener Veränderungseinheiten koordiniert. Ferner ist es ein langfristiger Plan, der dem Umstand Rechnung trägt, daß individuelle und kollektive Veränderungen im allgemeinen ziemlich lange Zeiträume in Anspruch nehmen. Wir haben einen solchen Plan für die Kandidaten einer psychosoziologischen Berufsausbildung erarbeitet. Er enthielt folgende Elemente: - Eine beruflich homogene Gruppe von etwa zehn Personen, die sich während einer Dauer von zwei Jahren regelmäßig mit Trainern trafen. Die Gruppe arbeitete auf der affektiven, der methodologischen und der kognitiven Ebene. Ihre hauptsächlichen Zielsetzungen bestanden darin, bei den Kandidaten die Entwicklung einer Konzeption ihrer Berufsrollen zu begünstigen und eine Atmosphäre kollegialer Kooperation zu schaffen, die der Entwicklung der einzelnen förderlich war. - Regelmäßige Einzelgespräche der Kandidaten mit einem Psychologen. - Seminare über Gruppenbeziehungen, an denen die Kandidaten zunächst als Teilnehmer, dann als Beobachter und schließlich als KoTrainer teilnahmen 8; -Seminare oder Kurse mit didaktischem Charakter (es konnten auch Vorlesungen sein); - Interventionen mit Unterstützung eines Psychosoziologen in den Organisationen, denen die Kandidaten angehörten, sofern sie es wünschten. Es handelt sich, wie gesagt, um zukünftige Psychosoziologen. Für Kandidaten anderer Berufe zeitigten Gruppentrainingsseminare, an denen sie als Teilnehmer mitmachen, zweifellos immer noch einen gewissen Trainingseffekt, es wären jedoch noch andere Situationen zu schaffen, die den Kandidaten eine Einübung ihrer beruflichen Praxis ermöglichen würden.
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Dieser Plan ist natürlich schematisch und er darf nicht starr übertragen werden, sondern muß zusammen mit den Teilnehmern ausgearbeitet und gegebenenfalls im Einvernehmen mit ihnen modifiziert werden. Andererseits gibt es zahlreiche Fälle, in denen so massive Interventionen weder möglich noch wünschenswert sind. Selbst in diesem Fall kann ein solcher Plan (oder verfeinerte Versionen desselben) als der ideale Leitfaden für mögliche Veränderungsaktionen betrachtet werden. Er kann dem Psychosoziologen helfen, mit seinen Klienten neue Arbeitsformen zu finden, welche die Veränderung in der Richtung begünstigen, in der sie erfolgen soll. Er kann ihm auch helfen, sein Tun konstruktiv mit anderen Spezialisten abzustimmen, ob diese nun in Kontakt mit ihm stehen oder nicht. Voraussetzung ist, daß die Koordination ihrer Arbeit, sofern sie zustande kommt, zusammen mit dem Klienten geschieht.
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Sachregister
Abwehr - gegen authentische Beziehung 209 - gegen Trennungsangst 123f., 141 -,kollektive 125, 141 Abwehrfunktion - der Autoritätsbeziehung 250 f. - der Organisationsstrukturen und Institutionen 257 - sozialer Systeme 267-273 Affektivität, Affekte 173 - der Gruppe 81 -,kollektive, Ursprung der 40 f., 71 f., 93, 95 f., 128-131 - , - nach Bion 111 f. Aggressivität - als sekundäre Tendenz 181-184 - gegenüber Feindseligkeit 223 - und Libido 180 f. - und Veränderung 33 -, Verdrängung der 177 s. a. Feindseligkeit Ambivalenz - im Betrieb 242, 244 -, Konzept der 185 - und privilegierte Beziehung 232 f. Anderssein -,absolutes 196f., 222 - und authentische Liebe 153 - und possessive Liebe 197 Angst - als Erfahrung der Einheit 186 f.
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-
als Gefühl und als Emotion 171-173 - als Offenheit 169-171 - als Primär(Ur)phänomen 173-186 -,Trennungs- 146-149 -, Trennungs- nach Rank 17 5 f., 181 -,Trennungs- und possessive Liebe 205-208 Antworten - auf Fragen 308 f., 310-312, 319 - auf individueller Ebene und auf Gruppenniveau 311 f. -,glaubhaftes, persönliches 281 -, »mobiles« 312 -,spontanes 307-309 -,tangentiales 279-281 Ausdruckspotential 290 Außenseiter -, wahnhaftes Verfolgen der 225 Autorität -, freudsche Theorie der 261-267 - -sbeziehung 20, 230 f., 250-253, 272 - -skomplex 244 f. - -sstruktur 21, 250-253, 272 »Bestätigung« 279-281 Beziehung( en) - als Gefühl für den anderen 119f. -, Autoritäts- 20, 230 f., 250-253, 272 -,Eltern- 31, 69, 233-235 -, Intergruppen- 316 f. -,unmittelbare 118-122 - zwischen Trainern von Kleingruppen 316 f. Beziehungen, privilegierte - als Abwehr gegen universale Liebe 227 -, Entfremdung und Identifikation in der 228 f. - und affektive Dissoziation 229 f. - und Ambivalenz 232 f. - und Angst 227 f. - und Autoritätsbeziehung 230 f.
-
und Elternbeziehung 233-235 und possessive Liebe 203, 205, 207, 222 und Übertragung 235-238
Dialog - durch·Abwehr verweigert 286 -, Kontinuität und Kontinuitätsbrum im 278-282,311 f., 320 -,Leben der Gruppe als 122, 124, 286 -, spontaner 305-309 Dissoziation - im Betrieb 244 - von Vereinigung (Liebe) und Trennung 187 f., 194-197 - und privilegierte Beziehung 229 f. Einheit - der Gegensätze (Koexistenz) 58, 145, 185 - der Gruppe 17, 30 f., 82 -der Persönlichkeit 179, 184 - Erprobung der 31 - in der Verschiedenheit 83 - und Fusion 92 - von Forschung und Praxis 284 bis 291 Einsamkeit 146 -,»geteilte« 149-151 Emotion 171-173,276 Entfremdung - gegenüber Übertragung und Projektion 237 - im Betrieb 244 - in der Gruppe 217 f. -,kollektive 58, 237 f., 264 - und Angst 222 f. - und privilegierte Beziehung 228 f. expressive Natur der menschlichen Beziehung 286 expressiver Pluralismus 305-309, 317 Feindseligkeit 221-225 - im Betrieb 244 f.
Forschung und Praxis 9, 259,284-291, 292-304 Freiheit 171, 199 f., 224 Fusion(sgefühl), Verschmelzung 92, 139 f., 145, 152 f., 161, 181, 198, 208, 211,227,230 - imHaß222 Ganzheit, Totalität (Gruppen und-) - im Konzept Lewins 113-116, 293, 295 - im KonzeptSartres 137-139 - in der Zusammenschau beider Konzepte 192 Gefühl119 f., 173, 185 f., 271 -, Angst- 172 f. Gegenwart gegen historischen Determinismus 129 f. Genitalität 156 f., 159 Gestalttheorie 113 Gruppe(n) - als etwas Oberindividuelles 193 - als Prozeß 114 - als spezifisch mentales Objekt (nach Bion) 111 -, ihr antizipatorischer Charakter 136 -,Konzept der 9, 122, 131-141 - und Ganzheit (Totalität) 113-116, 138-141, 192 - und ihre Umgebung 132-136, 141 - und Individuum 92 f., 192 f., - und possessive Liebe 213-221 - und Serie 137-139 - und Utopie 215 f. Gruppentraining, gruppendynamiswes Training, Trainingsgruppen 188-191, 198 f., 217-221, 330 bis 334 Idealisierung 244 f., 253 Identifikation, Identifizierung 58, 201, 222 f., 280 f. - im Betrieb 242-245,247 -, Kritik des freudsmen Konzepts der 97-102, 157-161 341
- und privilegierte Beziehung 228 f. Individualität - und authentische Liebe 153 - und Trennung 205 - , Unterdrüdmng der 201 Individuum als unbewußter Sprecher der Gruppe 93, 147-149 und Gruppe 92-94, 192 f. lnstitutionalisierung 258 f. >>Institutionelle Pädagogik<< 319-321 Interaktion und Interdependenz 113-119 ••interaktionistische Schule<< 117 Interdependenz -, Kritik des Lewinsehen Konzepts der 113-116 Intervention, psychosoziologische 284-334 -,Definition 284-287 Klient(en) 324-329 - , aktuelle und potentielle 325, 327 -,Pluralität der 329 Kollusion und gruppeninterne Konflikte 86-89, 126 f. Konflikt -,dynamischer 195-197,232,245 -, interpersonaler und gruppeninterner 18, 45, 86-89, 89-93, 191,224 -,statischer 196, 232, 245 -, Urphänomen oder sekundär? 180, 187,196 - zwischen Gruppe und Individuum 192 f. Konvergenz 89 f., 125 f., 141, 145, 155 Kooperation 126 f., 139, 258, 289 -, »unbewußte« 270 f. Leere -,Gefühl der 55, 146 - , leere Beziehung 229 Libido 159-162. 174 f., 176
342
-, relativer und reaktiver Charakter der 182-184, 186 Liebe -,Sprachgebrauch 162 - zu Führer und Gruppe 67-72, 111 Liebe, authentische 123, 151-156 - als etwas Universelles 154 - und Anteilnahme, Fürsorge 150 f. - und Sexualität 156-169 - und Sprache 155-156 Liebe, possessive 151-153, 194, 198 bis 221 - und Anderssein 201 - und Fusion 198, 208 - und Gruppe 216-221 - und Illusion 198-201 - und Libido 208-212 - und Mystik und Sexualität 202-204 und privilegierte Beziehung 203, 205 und Trennungsangst 205-208 Mißerfolg 14 7, 155 Naivität 289 f. Neofreudianer - , neofreudianischer Kompromiß 103-108 Nichts 55, 170 -, Gefühl des 146 f. Paradoxie 149 - im gruppendynamischen Training 59, 189 Plenarsitzung, Plenumsgruppe 134 f., 241,316-318 Positivität ohne Negativität 198 Progression, kontrapunktische 277 f. Psychoanalyse, Kritik psychoanalytischer Konzepte am Beispiel der Abwehr 70 f. der Angst 173-186 der Autorität 261-267 der Bindung an den Führer und an
die Gruppe 67 f., 74, 96 f., 100 bis 102, 261 f., 264, 269 f. - der Elternbeziehung 233-235 - der Fusion 209-212 - der Gruppe 96-103 - des Ursprungs kollektiver Gefühle u. Affekte 128-131 - des Verhältnisses Vergangenheit:Gegenwart 129 f. -,Sexualität 156 f., 163 Psychotherapie 210-213 Reduktion der Beziehung - in den freudianischen Gruppenkonzeptionen 96-103 - in der Sozialpsychologie 112-118 »Reziprozität der Perspektiven« 105-107 Schweigen 53-55, 66 f. Segregation im Betrieb 256 f. s. a. Dissoziation Solidarität -, faktische 124, 125, 155 - im Betrieb 247 f., 255 - in unbewußten Vorgängen 125, 140 f., 270 f. - und Angst 123-127, 140 - und authentische Liebe 123-127 Spontaneität 287 f., 320 Sprache 190, 2i4-282 -,bevorzugte 281 - der Aktion 274 f., 278, 280 - der Emotion 190,276 - des Gefühls 274-282 -, rationale 276 -, relationale (Beziehungs-) 107, 127, 176, 185, 186 -,symbolische 28,31-39,47,275, 278,280 - und authentische Liebe 155 f. -,unmittelbare 47, 2i6 -, Wechsel in der 280 f. Strukturen -, antizipatorische Funktion der 260
-, Augenblicks- 315 -, Autoritäts- 250 f., 320 -,Definition 239 - der Macht 253 f., 320-323 -,Funktions- (die den Betrieb der Organisation gewährleisten) 255-257, 318 f. -, Institutionalisierung der sozialen 258-261 -, Interventions- 318-324 - und kollektive Emotionen und Gefühle 134, 239-272 -,Ziel- 256 Symbolzonen der Gruppe 83-86 Tiefenniveau (Ebene der Beziehung) 71, 143 f. Tod -,Gefühl des -es 147, 176 - Todeswunsch, -furcht, -gefühl 223 f. Trainingsgruppe 12-30, 48-66, 299-303 Tristan und Isolde 206 f., 208 Übertragung 232-238 - als kollektives Phänomen 237 -,»laterale« 235, 237, 264 unbewußte kollektive Phänomene 9, 61, 81, 90 - in sozialen Organisationen 250 f. - und gegenwärtige Beziehung 122, 140 f., 143 - und Solidarität 125 Unechtheit, Inauthentizität 147-149 Unmittelbarkeit - eines Gefühls 189 - in der Beziehung 118-122 - in der Sprache 276 -, Distanz zur unmittelbaren Erfahrung 277 Valenz 109-127,270 f. Verleugnung 171 Veränderung
343
-, Bedingungen und Methodologie 1S1, 156, 191 f., 212 f., 253, 261, 281, 284 -, Forsdmng und Veränderung nach Lewin 287, 292-295 - im Konzept Lewins 295 f. -, innerbetriebliche 239-249 -, integrierte 220 f., 285, 307, 329, 333 -, Organisationsveränderung 333 - und Forschung 286 f.
344
Verzweiflung 56, 148 Zärtlimkeit 159, 163, 197 Zuhören -,»offenes« 312 Zwang - in der Beziehung zum Klienten 325f. - in der Lewinsehen Aktionsforsmung297f.
Personenregister
Adler, A. 338 Adorno, Th. W. 231, 335 Angel, E. 107, 338 Anzieu, D. 144,215-217,335 Anthony, E. J. 109, 336 Arieti, S. 335, 338 Bales, R. F. 117,335,336 Balint, M. 159, 234, 335 Bamforth, K. W. 109, 339 Bastide, R. 103-106,335 Bearn, P. 336 Benedict, R. 104, 335 Benne, K. D. 189-191, 213, 285, 299, 302,310,335 Bennis, W. G. 117f., 213f., 285, 302, 335,339 Binswanger, L. 107 Bion, W. R. 86 f., 108-112, 117, 126f., 180, 198, 209, 252, 267, 269-271, 335 Borgatta, E. F. 117, 336 Boss, M. 107, 282, 335 Boutonier (Favez-Boutonier), J. 173 f., 177--180,187,335 Bradford,L.P.285,299,335 Bridger, H. 135, 335 Brown, N. 0. 98, 182-185, 224, 335 Buher, M. 279 Cantril, H. 335
Cartwright, D. 298, 335, 336, 337 Cattell, R. B. 114, 335 Chein, I. 293, 336 Chin, R. 285, 335 Coch, L. 295, 336 Cook,S. W.293,335 Corvez, M. 120, 336 Crozier, M. 254 f., 336 Cuvelier A. 105, 336 Daval, R. 117, 122, 336 Desroche, H. 254,336 Deutsch, M. 113 f., 336 Dollard, J. 338 Durkheim, E. 125, 133 Ellenberger, H. F. 107, 338 Ezriel, H. 109, 336 Facheux, C. 10, 12, 14, 48 Favez-Boutonier s. Boutonier Fenichel, 0. 156-159, 336 Ferenczi, S. 168, 336 Festinger, L. 298 Filloux, J. C. 107, 336 Fort, P. 336 Fouiriers 215 Foulkes, S. H. 109, 336 French, J. R. 295, 335 Frenkel-Brunswick, E. 231, 335 Freud, A. 70, 336 Freud, S. 9, 42, 43, 69, 85, 96-102, 103-107, 108-110, 112, 118, 158 bis 161, 163, 173-184, 208 f., 212, 223, 226, 233 f., 235 f., 238,261-266, 267-271,312,336,337 Fromm, E. 104-107,336 Furtenbach, M. 10 Furtenbach, S. 10 Gibb, J. R. 285, 335 Glovern, E. 336 Gurvitch, G. 106, 336 Harding, J. 293, 335 345
Hare, P. A. 117,337 Heidegger, M. 10, 120 f., 148, 150, 169 bis 171, 336 Heimann, P. 337 Herbert, E. L. 162 Hierche, H. 338 Higgin, G. 135, 335 Homans, G. C. 117, 337 Horney, K. 104, 107f., 174, 184f., 337 Jaques,E. 109,134,261,267--273,337 J eannet, M. 337 Jung, C. G. 338 Kant, I. 117 Kardiner, A. 104-106, 337 Kinsey, A. C. 166 Klein, M. 40, 108--110, 112, 194,228 f., 265, 267 f., 271 f., 337 Laing, R. 234, 279--282, 337 Lapassade, G. 138, 255, 319 f., 337 Le Bon, G. 96, 103, 126, 261, 337 Lebovici, S. 98, 337 Leibniz, G. W. 270 Levison, D. J. 335 Levy, A. 239, 337 Lewin, K. 9 f., 75,112--115,117,118 f., 131 f., 139, 192, 218, 239, 276, 284, 287,289,292-304,319,337 Liebermann, M. A. 82, 339 Lindzey, G. 336,337 Lippitt, R. 285, 292-295, 297, 299, 335,337 Litt, Th. 105, 337 Lobrot, M. 319, 338 MacDougall, W. 261 Maisonneuve, J. 101, 219, 338 Malinowski, B. 104, 338 Mann, F. C. 325, 338 Marx, K. 105,249 Massarik, F. 310, 339 May,R. 107,236,338 Mead,M. 104,338
346
Meister, A. 336, 338 Menzies, E. P. 109, 134,255, 267-273, 338 Metraux, A. 215 Miles, M. B. 136, 285, 338 Miller, N. E. 338 Money-Kyrle, R. E. 337 Moreno, J. L. 107., 122, 259, 275, 281, 338 Morus, Th. 215 Munroe, R. L. 175f., 338 Nacht, S. 177 f., 180,210,338 Pages, M. (auch: M. P. oder Max) 14, 32,37,48-50,59,62-66,102,107, 117, 138, 157, 170, 183, 208, 235, 237,239,256,277,306,338 Palmade, G. 87,217,339 Peretti, A. de I 07, 339 Pirenne, J. 225, 339 Pontalis, J. B. 85, 99, 101, 161, 337 Prevert,j.34, 152,339 Rabelais, F. 215 Rank, 0. 40, 175 f., 181, 301, 338, 339 Reisel, J. 310, 339 Renard,M.98,339 Rogers, C. R. 10, 46, 107 f., 149 f., 163 bis 165, 185, 235 f., 277, 280 f., 301 f., 336, 339 Roheim, G. 104, 339 Romain, J. 215 Rouchy, J. C. 239 Rougemont, D. de 153, 202, 206-208, 224,339 Sanford, R. W. 335 Sartre, J.-P. 137--139, 146, 171, 192, 199 f., 201 f., 204, 217,339 Schachter, S. 298 Schein, E. 285, 302, 339 Scheler, M. 121 Schultz-Hencke, H. 158
Slavson, S. 264 Stendhal, H. B. 230 Stock, D. 267, 339 Stock-Whitacker, D. 82, 339 Stoetzel, J. 339 Tannenbaum, R. 310, 339 Thelen, H. 267,339
Tosquelles, F. 319, 339 Trist, E. L. 109, 339 Watson, J. 285, 337 Wechsler, I. 310,339 Westley, B. 285, 337 Zander, A. 335, 336, 337
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Weitere Titel der KONZEPTE DER HUMANWISSENSCHAFTEN
Charlotte Bühler t I Melanie Allen: Einführung in die humanistische Psychologie. Aus dem Amerikanischen von Emmy-Renate Schön. ISBN 3-12-901490-X Adolf M. Däumling I ]örg Fengler I Lothar NeUessen I Axel Svenssont: Angewandte Gruppendynamik. Selbsterfahrung- Forschungsergebnisse- Trainingsmodelle. ISBN 3-12-901890-5 Uwe Laucken: Naive Verhaltenstheorie. Ein Ansatz zur Analyse jenes Konzeptrepertoires, mit dem im alltäglichen Lebensvollzug das Verhalten der Mitmenschen erklärt und vorhergesagt wird. ISBN 3-12-925260-6 George A. Miller I Eugene Galanter I Karl H. Pribram: Strategien des Handelns. Pläne und Strukturen des Verhaltens. Mit einer Einführung von Hans Aebli. Aus dem Amerikanischen von Paul Bärtschi. ISBN 3-12-925890-6 Ashley Montagu: Körperkontakt. Die Bedeutung der Haut für die Entwicklung des Menschen. Aus dem Amerikanischen von Eva Zahn. ISBN 3-12-905880-X FrederickS. Perls: Gestalt-Therapie in Aktion. Aus demAmerikanischen von Joseph Wimmer. ISBN 3-12-906270-X ReneA.Spitz: Das Leben und der Dialog. Aus dem Englischen von Käte Hügel. ISBN 3-12-907150-4 D. W. Winnicott: Vom Spiel zur Kreativität. Aus dem Englischen von Michael Ermann. ISBN 3-12-908720-6
ERNST KLETT VERLAG STUTTGART
ISBN 3-12-906290-4
I(ONZEPTE DER HuMANWISSENSCHAFTEN ERNST I(LETT VERLAG
D
ie Bände dieses Programms beschreiben und begrUnden Veränderungen in der Behandlung von Menschen durch Menschen. Wir haben an solchen Veränderungen teil; wir bewirken sie, wir sind ihnen ausgesetzt. Entscheidungen darOber, ob sich der Spielraum menschlichen Verhaltens unter dem Druck technologischer Neuerungen einschränkt oder erweitert, fallen jeden Tag besonders in der Praxis der Sozialund Erziehungsberufe. Die Bücher
unseres Programms sind Mittel, Erfahrungen aus dieser Praxis zu prüfen, zu verallgemeinern und nachzuvollziehen. Drei Gesichtspunkte bestimmen die Auswahl: ~Die Orientierung an neueren Entwicklungen in Forschung und Theorie der Humanwissenschaften. ~Das Interesse an einer experimentellen Erweiterung des vorhandenen Methodenrepertoires und am Erkunden neuer Praxisbereiche. ~Die Bevorzugung von Darstellungsweisen, die Verständnis und Nachvollzug erleichtern.