ATB ▪ Alex Taschenbücher ▪ ATB
Hannes Hüttner
Das Blaue vom Himmel
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ATB ▪ Alex Taschenbücher ▪ ATB
Hannes Hüttner
Das Blaue vom Himmel
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DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Illustrationen von Klaus Vonderwerth
Erstes Kapitel In einer halben Stunde startet die Expedition. Sie startet Richtung Quarkstern, Mitte der Milchstraße. Schon hat Quina begonnen, die Minuten rückwärts zu zählen, sie steht auf ihren Teleskopbeinen herum und quäkt. „Neunundzwanzig Minuten fünfunddreißig, neunundzwanzig Minuten vierunddreißig…“, es sind die letzten Erdminuten. Wenn sie bei null Minuten null angelangt sein wird, dann werden sie himmel– wärts sausen. Und da sitzen zwei, als ob sie wunder wer weiß wieviel Zeit hätten. Der eine ist Hermann, Klein Hermännchen, Männel oder Guggi wie ihn Lehrer, Oma, Mama und die Kollegen Kinder jeweils nennen, der hat wenigstens noch was zu tun. Der hockt ritt– lings auf der Bank, hält seinen runden Kopf gebeugt und zieht die Klinge seines Taschenmessers über einen Ölstein. Ein Taschenmesser zu schärfen ist eine schwere Arbeit, sie braucht vor allem Geduld. Wenn es einer nicht fertigbringt, sein Messer so scharf zu kriegen, daß man ein Blatt Papier, an einer Ecke gehalten, in der Luft zerschneiden kann, ist er ein Quirl, ein Meister Hierundda, ein Herr Oberflächlich. Von allem ist Hermann das Gegenteil, sein Messer wird am Ende so scharf sein, daß es glatt den Strahl seiner Taschenlampe in zwei Hälften schneidet. Er nimmt sich eben Zeit, auch wenn keine da ist. Und solch einen Menschen braucht man. Er ist in der Lage, die Expedition zu leiten, die in siebenundzwanzig Minuten achtundvierzig Sekunden starten wird, genau solchen Hermann, untersetzt, rundköpfig, zwölf Jahre alt, und er als Expeditionsleiter braucht natürlich ein scharfes Taschenmesser. Vor der Bank steht Basil, er steht auf seinen sechs Beinen, macht einen Buckel und läßt seinen gezahn– 3
ten Rückenkamm hängen, er stiert Löcher ins Moos, aus denen kleine Rauchwolken aufsteigen. Und er ist sehr schuldbewußt. Der Schlüssel ist weg. Immer dieser Schlüssel. Zuerst haben sie keinen Schlüssel gebraucht, Opa hatte für Klein Hermännchen ein festes Blockhaus gebaut, damit er endlich Platz für die Schularbeiten hatte, wozu war da ein Schlüssel notwendig? Zum Abschließen natürlich. Damit keiner etwas wegnehmen kann. Aber es nimmt ja keiner dem anderen etwas weg, in dieser Zeit, in der unsere Geschichte spielt! Dachten jedenfalls alle. Bis zu dem Tag, da man ihnen den Mittwoch ge– stohlen hatte. Es waren, wie man hinterher feststellte, zwei Ta– gediebe gewesen, die wer weiß woher kamen, Knoten in die Bäume machten und die Leitungsanschlüsse vertauschten, so daß aus den Steckdosen plötzlich Wasser rieselte; die waren gekommen und hatten den Mittwoch mitgenommen. Jetzt kam auf den Dienstag gleich der Donnerstag, man kam ganz aus der Reihe.. Als man sie dann faßte, hatten sie den Mittwoch längst wieder verloren, stundenweise war er ihnen aus der Tasche gefallen, weil sie die Zeit nicht zusammenhalten konnten, da mußte Hermann einen neuen Mittwoch anfertigen, was keine leichte Sache ist: Man benötigt nämlich vierundzwanzig Stunden dazu. Natürlich wollte kein Mensch eine Stunde hergeben; alles gab es in Hülle und Fülle, das Geld war abgeschafft, weil das Bezahlen zu sehr aufhielt, aber die Zeit war knapp. Ein einziges Mal bekam Hermann eine ganze Stunde geschenkt, von einem jungen Mann, der auf sein Mädchen gewartet hatte. Aber ansonsten mußte er die Stunde aus sechzig Mi– 4
nuten zusammensetzen, die Minuten fand er an Straßenbahnhaltestellen, dort verloren die Menschen immer ein wenig Zeit, und schließlich mußte er sogar hinter den Sekunden her sein. Wenn zum Beispiel in der Schule der Lehrer einen Schüler fragt: „Wieviel ist a mal b?“, und der Schüler steht da und weiß nicht, was er antworten soll, und schielt auf seinen Nach– barn, um die Antwort von dessen Lippen abzulesen, dann fallen immer ein paar Sekunden ab. Schul– sekunden sind ja besonders lang, aus einer dreiviertel Sekunde in der Schule kann man eine ganz gewöhn– liche Sekunde machen, eine dreiviertel Stunde in der Schule wird ja auch als ganze Stunde gerechnet. Schließlich hatte Hermann den Mittwoch wieder beisammen, den Mittwoch brauchte er zum Erfinden, und er setzte sich hin und dachte nach, wie es zu bewerkstelligen sei, daß ihnen nicht noch einmal ein ganzer Tag abhanden kommen könne. Dann erfand er das Schloß. Um ehrlich zu sein, war das keine neue Erfindung. Man hatte es vor rund zehntausend Jahren schon einmal erfunden, aber dann wurde es nicht mehr gebraucht, man vergaß es, und nun mußte es Her– mann zum zweitenmal erfinden. Es wird ja überhaupt sehr häufig etwas zwei– oder dreimal erfunden oder entdeckt, alle denken, Kolumbus habe Amerika ent– deckt, als er nach Indien suchte, aber das stimmt nicht, vor ihm haben es die Nordländer entdeckt und die Phönizier, danach die Ägypter, und dann ent– deckte es ein Raumschiff aus der dritten Galaxis, es ist mindestens fünfmal entdeckt worden, Kolumbus ist nur so bekannt geworden, weil man sich den Namen gut merken kann. Das Schloß, das Hermann erfand, war anfangs ein wenig ungefüge. Der Schlüssel dazu hatte die Größe eines Dreipfundbrotes und war an einem Gestell be– 5
festigt. Das war an sich sehr praktisch, weil man ihn nicht verlieren konnte, und wären sie bei diesem Modell geblieben, dann müßte jetzt Basil nicht so schuldbewußt vor Hermann sitzen, und Hermann hätte nicht nachzudenken. Das Schloß mußte man nur auf den Schlüssel stecken und herumdrehen. Natürlich war das Schloß an der Haustür befestigt und die Haustür am Haus. Her– mann steckte also das ganze Haus auf den Schlüssel, drehte es einmal herum und stellte es wieder auf die Erde, und es ist ja wirklich egal, ob man den Schlüssel im Haus herumdreht oder das Haus auf dem Schlüssel, Hauptsache, die Tür ist zu. Natürlich dürfen wir in dieser Geschichte nichts verschweigen. Die Tür war zwar zu, aber hinterher lagen verschiedene Sachen herum. Zum .Beispiel die Bücher, die mußte man immer erst wieder in das Regal stellen, die Briketts hingen auf dem Kron– leuchter, die Kartoffeln waren ins Bett gerollt, und das war vielleicht das unangenehmste. Ihr braucht euch nur mal einen kleinen Eimer Kartoffeln ins Bett zu schütten und darin zu schlafen, die erste halbe Stunde geht es noch, aber auf die Dauer stört es doch sehr. Anfangs versuchte Hermann, alles zu befestigen: Er nagelte die Taschentücher im Schrank fest, die Topflappen an der Wand und die Kohlen im Kohlenkasten, das war insofern praktisch, weil die Kohlen nun im Kasten blieben, aber wenn man Feuer machen wollte, mußte man natürlich mit der Zange zu Werke gehen, und dadurch dauerte es wieder sehr lange, bis der Ofen endlich Hitze gab. Es war Basil, der am meisten schimpfte. Basil hatte die Arbeit: Er mußte früh die Zange aus dem Keller holen, die Nägel aus den Briketts ziehen und die Holzscheite losbinden, dann mußte er den Ofen vollschichten und Feuer machen. Das Feuermachen ging einfach: Basil 6
warf nur einen Blick ins Ofenloch, schon stand alles in hellen Flammen, er war ja ein Basilisk. Basilisken haben solchen scharfen Blick, ganz ähnlich wie ein Laserstrahl, man kann damit Feuer machen oder Löcher bohren, Basil bohrte alle Löcher in die Briketts, damit man sie überhaupt annageln konnte, sonst zerbröckeln Briketts ja leicht. Basilisken sieht man selten. Hermanns Opa hatte einen Hahn, der war schon uralt, er war angeschafft worden, um mal eine Hühnerbrühe aus ihm zu ko– chen, das ist ja das Komische: Man kann Hüh– nerbrühe aus Hühnern und aus Hähnen machen, aber Hahnenbrühe nur aus Hähnen, nicht aus Hühnern, doch die Leute essen ja lieber Hühnerbrühe, da spielt das keine Rolle. Der Hahn wurde nicht geschlachtet, denn er war bunt und schön, vor allem aber sehr pünktlich: Jeden Morgen drei Viertel vier klingelte er los, keiner konnte das überhören. Früher hatte er gekräht, aber dann hatte ihn Hermann zu einem Uhrmacher gegeben, dort lernte er auf verschiedene Weise klingeln, er konnte sogar Glocken tönen lassen, das machte er aber nur sonntags, weil es anstrengend war. Er klingelte natürlich zu früh, wer stand schon drei Viertel vier auf, damals, als unsere Geschichte spielte, dauerte die Arbeitszeit von acht bis neun, außer Freitag, Sonnabend und Sonntag, da war frei, jedenfalls für die Erwachsenen, die Kinder haben ja immer das Nachsehen, die mußten auch noch Freitag eine Stunde in die Schule gehen, fünf Stunden ins– gesamt in der Woche. Also der Hahn war eines Tages doch tot, es ging ja die Rede, einer hätte seinen Wecker nach ihm geworfen, daß er Ruhe gäbe, aber das ist bestimmt nur ein Ge– rücht, er starb wahrscheinlich an Altersschwäche, er war damals fünfundzwanzig Jahre alt. 7
Vorher aber hatte er ein Ei gelegt. Hermann legte es in seinen Schulranzen — damals ging er noch zur Schule —, um es dem Lehrer zu zeigen. Anderntags passierte aber etwas Unheimliches: Der Ranzen lag auf der Schulbank, er war noch nicht aufgeschnürt, da zeigte sich auf einmal mitten im braunen Leder ein Loch. Das Loch war kreisrund und hatte einen Sengrand, ein dünnes Rauchwölkchen stieg davon auf. Dann wanderte das Loch in die Runde, bildete einen Kreis, und schließlich fiel ein Stück Leder aus dem Ranzen heraus. Es kam ein Tier zum Vorschein, ähnlich einer Eidechse, nur hatte es sechs Füße, Schuppen auf der Haut, zwei Flügel und einen ge– zahnten Rückenkamm. Das war Basil, der Basilisk. Er atmete schwer, es war ihm sehr über seine jungen Augen gegangen, das Loch in den Ranzen zu brennen, er blinzelte nur noch matt. Hermann zog ihn groß, am Anfang hatte er immer rote Löcher auf der Haut, als hätte ihm jemand ein Brennglas darauf ge– richtet, aber Basil lernte mit der Zeit, seinen scharfen Blick zu beherrschen. Wie groß ist er denn? Ungefähr wie ein Tiger so groß. Für Hermann ist Basil unentbehrlich geworden. Hermann bastelt und baut viel, Basil sitzt daneben und muß die Löcher bohren und seine Meinung sagen. Er ist geradezu, er hält nicht hinter dem Berg. Als Hermann das Schloß erfunden hatte und gelobt sein wollte, hatte Basil auch nur geknurrt. Er mußte ja alles aufräumen! „Dieses Schloß“, hatte Basil eines Tages gesagt, da waren gerade zwölf Eier aus dem Schrank gefallen, „dieses Schloß ist der größte Unfug, den ich je gesehen habe!“ Hermann war eigensinnig wie alle Erfinder, er wollte nicht zugeben, daß mit dem Schloß etwas nicht stimmte. Aber Basil knurrte und murrte. Eines Tages 8
kam Hermann aus der Schule gestürzt. “Basil!“ rief er. Basil hob seine schweren Augenfalten hoch und gähnte mißbilligend. Er schlief gern. „Los“, sagte Hermann, „schweiß mal den Schlüssel ab!“ Er wies das Gestell vor der Tür. Basil erhob sich und richtete seinen Blick auf den Schlüssel. Es geschah nichts. ,,Du schläfst wieder im Stehen!“ stieß ihn Hermann an. Basil erwachte vollends und zog die Nickhaut in die Höhe. Die Nickhaut war ein durchsichtiges Häutchen, wie es auch die Hühner über die Augen ziehen können. Plötzlich sprühte eine Funkengarbe hoch, Basil senkte seinen Blick etwas und schnitt den schweren Eisenschlüssel vom Gestell los. Der Schlüs– sel fiel dumpf ins Moos. Hermann wartete, bis sich die Schnittstelle abgekühlt hatte, hob ihn dann auf, steckte ihn mit einiger Mühe ins Schloß — der Schlüssel wog immerhin dreißig Kilo — und drehte ihn herum: da war das Haus abgeschlossen. Er drehte ihn zurück: da war wieder aufgeschlossen. Hermann war stolz. „Na?“ sagte er. Jetzt hätte man ihn loben müssen. Aber Basil sagte nur: „Darauf hätte man schon längst kommen müssen. Außerdem ist der Schlüssel zu schwer!“ Aber es war natürlich ein gewaltiger Vorteil, daß man nicht mehr das ganze Haus auf den Kopf stellen mußte. Hermann baute ein kleineres Schloß und einen kleinen Schlüssel dazu, den konnte man in die Tasche stecken. Und was ist das Ergebnis? Diesen Schlüssel hat Basil verloren. Quina, einer der beiden Automaten, die Hermann gebaut hat, Quina steht im Garten und plärrt: „Fünfundzwanzig Minuten sieb– zehn, fünfundzwanzig Minuten sechzehn“, die Zeit vergeht, bald werden sie starten, und dann müßten 9
sie doch wenigstens ihr Weltraumschiff abschließen können! Denn sie flogen ja in Hermanns Haus zur Milchstraße. Natürlich hätte Hermann auch eine Rakete bauen können, aber eine Rakete wäre aufgefallen. Opa und Oma sollten nicht wissen, daß Hermann eine Expedition leitet. Sie sind heute früh in die Stadt gefahren, ihre Kinder zu besuchen. Wenn sie zurück– kommen, spät am Abend, will Hermann mit seiner Mannschaft schon tief im Weltraum sein. Aber dazu muß man die Haustür verschließen können. Er sitzt also auf der Bank, prüft die Schneide seines Taschenmessers mit dem Daumen und überlegt, was zu tun sei. Er muß sich beraten. „Hol mal Trulle!“ sagt er zu Basil. Trulle sitzt vor dem Tisch, an dem Hermann sonst arbeitet. Auf dem Tisch liegt das Prüfverzeichnis. Das Prüfverzeichnis ist ein Schreib– heft, auf dessen Deckel noch steht: Mathematik, Hausarbeiten, Trulle Meisenfleiß, fünfte Klasse. Die ersten drei Seiten sind herausgerissen, und auf der vierten Seite, die jetzt die erste ist, steht in Druckschrift: Prüfverzeichnis. Und dann ist alles aufgeführt, was vor solch einem wichtigen Flug nachgesehen werden muß. Wir brauchen ja nur mal mit dem Finger auf einige Prüfnummern zu tippen, zum Beispiel auf 43: Sind Kehrbesen und Schaufeln an ihrem Platz? — oder auf 96: Reichen die Kartoffeln aus? — oder auf 144: Sind alle Fenster verschlossen? — oder auf 230: Ist der Werkzeugkasten komplett? Bombus, der zweite Automat, steht gerade vor der Werkzeugkiste und zählt: „Ein Schraubenzieher, ein Schraubenzieher, ein Schraubenzieher…“ Trulle ist ärgerlich. „Du sollst gleich addieren!“ ruft sie. „Ist es nun ein Schraubenzieher, oder sind es drei?“ 10
„Es sind drei“, sagt Bombus. „Aber drei verschiedene. Der eine ist klein und rot, der andere mittel und blau, und der dritte ist groß und gelb. Und du hast mir gesagt, verschiedene Dinge darf man nicht zusam– menzählen!“ Mit diesem Bombus ist es zum Auswachsen. Aber da kommt also Basil und sagt: Soundso. Ein wichtiges Problem. Du sollst mal zu Hermann kommen. „Zähl mal weiter“, sagt Trulle. „Schraubenzieher darfst du jedenfalls zusammenzählen!“ Trulle steckt den Daumen in den Mund und knabbert am Fingernagel, als sie von dem verlorenen Schlüssel hört. Das tut sie stets, wenn sie nachdenkt, obwohl sich seit Jahren alle Welt darüber entrüstet. Aber Trulle ist nicht so empfindlich. Hermann setzt ihr auseinander, daß es drei Möglichkeiten gibt: den Start zu verschieben, den Start nicht zu verschieben und den Schlüssel weiterzusuchen oder einen behelfsmäßigen Riegel zu bauen. Den Start zu verschieben verwirft Trulle sofort. Sie pflegt alles gleich oder gar nicht zu machen, es hatte schon Mühe gekostet, sie zu überzeugen, daß man einen Flug lange vorbereiten muß. Am liebesten wäre sie an dem Tag, an dem sie von Hermanns Vorhaben erfuhr, eingestiegen und losgeflogen. Eigentlich tat sie das nur deshalb nicht, weil man damals noch gar nicht mit der Hütte fliegen konnte. Sie mußte ja erst umgebaut werden. Trulle ist die Tochter des hiesigen Lehrers. Sie spricht nicht wie die anderen Kinder zwölf, sondern vier– undzwanzig Sprachen und hat dazu Kenntnisse in vielen Wissenschaften, zum Beispiel in Käsezuberei– tung und Milchfabrikation oder in altchinesischer Musik, lauter Sachen, die sie nie im Leben brauchen wird. Man muß dazu wissen, daß das Lernen in jener 11
Zeit anders vor sich geht: Es gibt einen zentralen Radiosender im Lande, der sämtliche Lehrpro– gramme vom ersten bis zum sechsten Schuljahr, also bis zum Abitur, und außerdem alle Universitäts– programme ausstrahlt. Gelernt wird nachts: Man stellt einfach das Lernradio auf das betreffende Fach ein und legt sich schlafen. Das Radio arbeitet lautlos, es stört also nicht. Früh hat man dann sein Pensum im Kopf. In die Schule geht man nur, damit der Lehrer weiß, daß jeder den richtigen Sender eingestellt hat. Außerdem ist es notwendig, das nachts Gelernte zu üben. Vierzehn Tage lang sprechen dann alle Kinder des Dorfes russisch miteinander, danach beherrschen sie die Sprache perfekt. Trulle aber schläft unruhig, und wenn sie nachts erwacht, dann dreht sie einfach heimlich den Knopf weiter und lernt was ganz anderes. Als damals Hermann aus dem Dorfbahnhof kam, stand Trulle vor dem Eisautomaten auf dem Bahnhofsplatz und sagte: „Ich möchte…“, da erblickte sie Basil, der treu und brav hinter Hermann einhertrottete, und sie murmelte verzückt: „… ein Basilisk!“ Der Eisautomat rumorte, die rote Irrtumslampe leuchtete auf, und er sagte: „Bitte wiederholen!“ „Ein Basilisk!“ sagte Trulle automatisch und ging hinter Hermann her. Und während der Eisautomat ein Schild aufleuchten ließ, auf dem stand: “Das Gewünschte ist leider nicht vorrätig, bitte fragen Sie morgen wieder nach“, überlegte sich Trulle eine Anrede. Wie es der Zufall will, hatte sie heute nacht aus reinem Unsinn Basiliskisch gelernt! „Msch plrr zmkpt“, sagte sie hinter Basil. Das Basiliskische kennt keine Selbstlaute, ist also sehr schwer zu sprechen. Aber Basil verstand sie sofort. „Hm krrp sglm!“ sagte er, setzte sich auf seine hinteren vier Füße und machte Männchen. Trulle 12
klopfte ihn auf seinen Schuppenpanzer und kraulte ihn unterm Kinn. „Lmt ppm…“, begann sie, zu Hermann gewendet, der verdutzt mit seinem Koffer stehengeblieben war, verbesserte sich aber und sagte: „Wo hast du denn diesen lieben Kerl her?“ Aber wir reden und reden, und der Schlüssel ist immer noch nicht gefunden. „Und wenn du Schnuppi den Schlüssel suchen läßt?“ fragt Trulle. „Dann paßt er nicht mehr in seine Schachtel!“ sagt Hermann und blickt zum Himmel. Trulle blickt ebenfalls hoch. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint neugierig durch die Baumwipfel. “Ich ziehe ihm den schwarzen Anzug an“, sagt Trulle. Wenn man da zuhört, kann man nur den Kopf schütteln. Und warum? Weil wir nichts über Schnuppi wissen. Schnuppi ist ein Hund, aber nicht irgend so ein Köter, wie sie auf allen Straßen herumrennen. Schnuppi ist ein Tomatenhund. Hermann kam zu seinen Großeltern, um hier im Ort Gärtner zu lernen. Er hatte gar keine Lust, Gärtner zu lernen, er wollte Raumpilot werden, aber seine Eltern hatten es so bestimmt. Wie es so ist, erst dachte er, wenn du dich nicht anstrengst, werfen sie dich von ganz allein hinaus. Wenn umzugraben ist, gräbst du eben ein bißchen langsamer, und wenn zu gießen ist, dann sparst du mit Wasser, da werden sie schon sehen, was sie an dir haben. „So“, sagte der Obergärtner am ersten Tag, „heute kannst du die abgeernteten Bohnenbeete umgraben. Hier ist unser elektrischer Maulwurf, sieh zu, daß du keine Bäume beschädigst.“ Da stand eine orangerot lackierte Maschine mit einem Führersitz und acht Grabhänden aus Plast, die 13
brauchte man nur über die Beete zu fahren, und buddelbuddelbuddel grub sie alle um. Natürlich fuhr Hermann damit nicht langsam. Es machte ihm so einen Spaß, damit loszusausen, daß er mittags mit allen Bohnenbeeten fertig war. Außerdem hatte er aus Versehen die Radiesprimeln umgegraben, die mußte er dann am Nachmittag neu säen, aber die Gärtnerei gefiel ihm vom ersten Tage an. Es war ein sehr moderner Betrieb, dessen Spezialität es war, neue Pflanzensorten zu züchten, die sogenannten Multi– stauden. Zum Beispiel hatte man dort die Kartomate gezüchtet, eine Pflanze, die schöne rote Tomaten hervorbrachte, an deren Wurzelstock aber gleichzeitig Kartoffeln heranwuchsen. Dann gab es dort den schwarzen Johannisspargel, die Starosen, eine Kreu– zung von Rose und Stachelbeere, den Apfelreis, die schon erwähnten Radiesprimeln und andere Sorten mehr. Die Gärtner hatten sogar einen elektronischen. Re– chenautomaten, der ihnen neue Sorten vorschlug, ausrechnete, ob sie schwierig zu züchten seien, und die Erträge vorhersagte. Eines Tages kam der Obergärtner Dr. Milde, legte Hermann die Hand auf den Kopf und sagte: „Mein Sohn, ich hoffe, du läßt dir etwas einfallen. Der Berufswettbewerb aller Gärtnerlehrlinge hat begon– nen, und unsere Gärtnerei hat immer wenigstens eine Anerkennung errungen. Willst du etwas erfinden, vielleicht einen Duftometer oder eine künstliche Blume, die richtig verwelken kann? Oder willst du etwas züchten, zum Beispiel schwebt mir da schon lange eine Kreuzung zwischen Sonnenblume und Rose vor, mit besonders großen Blüten und Hagebut– ten so groß wie Kürbisse; wie du weißt, trinke ich sehr gerne Hagebuttentee, und da würde das Pflücken nicht so aufhalten!“ 14
Hermann blickte den Obergärtner Dr. Milde an und sagte: „Ich will mal sehen…“ „Ich bin gespannt, mein Sohn!“ sagte Dr. Milde. Dann züchtete Hermann einen Tomatenhund. An sich ist die Sache einfach: Man nimmt einen weiblichen Hund und bestäubt ihn mit dem blaßgelben Blütenstaub von Tomaten– stauden. Die Schwierigkeit liegt darin, daß man oft nicht alles beisammen hat. Entweder man hat einen Hund, und die Tomaten blühen nicht, oder es blühen die Tomaten, und der Hund ist männlich. Aber Hermann hatte eben Glück, jedenfalls bekam Asta, die Schäferhündin der Gärtnerei, eines Tages ein Junges, das sah aus wie ein ganz normales Hunde– junges, hatte noch die Augen geschlossen, besaß einen streichholzgroßen Schwanz, war aber verblüf– fenderweise hellgrün. Es wurde von seiner Mutter in der Hundehütte gesäugt, öffnete die Augen, fiepte erst und konnte bald bellen, aber es wuchs nicht. Hermann nahm eines Tages den Hund mit nach Hause, zeigte ihn Oma, Opa und vor allem Trulle, die ihn Schnuppi taufte, weil er hörbar die Luft durch die Nasenlöcher zog und alles intensiv beroch. Sie beratschlagten, wie sie ihn groß bekommen könnten. Oma riet, ihm Schabefleisch und gehacktes Eigelb zu geben. Das alles fraß Schnuppi auf, wuchs ein ganz kleines bißchen, aber das war kaum zu sehen, man bemerkte es nur, wenn man es sich sehr einbildete. Hermann war kummervoll. Nicht, weil in acht Wo– chen die große Ausstellung zum Berufswettbewerb eröffnet werden sollte und sein Züchtungsversuch offenbar fehlgeschlagen war — es tat ihm einfach leid um Schnuppi, der so klein blieb, daß er beim Bellen umfiel, er konnte sich dann nicht auf den Füßen halten. Eines Tages war eine Versammlung mit den 15
Maulwürfen der Gärtnerei angesetzt. Hermann hatte in jeden Maulwurfshügel eine Einladung gesteckt, und wahrhaftig waren sechsundzwanzig Maulwürfe erschienen, darunter auch der dienstälteste Maul– wurf, ein grauhaariger Geselle. Er war schon fünf Jahre alt, aber grub noch seine zwei, drei Meter am Tag. Hermann hatte den kleinen Schnuppi mit– gebracht und setzte ihn auf eine Decke hinter sich in die Sonne. Die Maulwürfe, die hatten mit Hermann ihre Sorgen gehabt. Eines Tages kam ein Maulwurf zu ihm, der hatte eine Schaufel erfunden und zeigte sie ihm. Natürlich war Hermann begeistert; er baute sich selbst eine Schaufel, eine größere natürlich, und gratulierte dem jungen Maulwurf zu dieser Erfin– dung. Vierzehn Tage später war der Maulwurf wieder da und sagte, er hätte eine Menge Ärger mit der Schau– fel, die anderen Maulwürfe wollten nicht, daß er die Schaufel nähme, sie hätten gesagt, ein anständiger Maulwurf grabe mit der Hand, aber dabei ginge es doch mit der Schaufel besser. Na ja, hatte Hermann damals gesagt, da siehst du es wieder, das Neue hat es schwer. Schön, antwortete der Maulwurf, er wolle nur fragen, ob er sich auf Hermann berufen könne. Könnte er den anderen Maulwürfen sagen, daß auch Hermann für die Schau– fel sei, dann hätte das einen gewissen Einfluß … Hermann wollte sofort zustimmen, aber dann kamen ihm Bedenken. Wenn er jetzt die Schaufel lobte, dann nähmen ihm die Maulwürfe das übel. Alles schön und gut, es war eine großartige Erfindung, aber was, wenn die Maulwürfe beleidigt wären und keine Engerlinge mehr fräßen? Es gab aber viele Engerlinge im Garten, die fraßen die Salatwurzeln, und am Ende hatte er keinen Salat! 16
Hermann dachte darüber nach und vertröstete den jungen Maulwurf von einem Tag auf den andern; der Maulwurf aber war hartnäckig, er grub Löcher, wo Hermann spazierenging, so daß der stolperte und der Länge nach hinfiel, wo er aber hinfiel, da saß schon er Maulwurf und fragte ihn, was nun mit der Schaufel sei. Da ermannte sich Hermann endlich und lobte vor allen Maulwürfen die Schaufel. Das freute vor allem die jungen Maulwürfe, die hatten sich schon längst heimlich Schaufeln gebaut. Die älteren waren zuerst ein bißchen verdrießlich, aber dann sahen sie den Vorteil auch ein, sie konnten viel schneller graben, und die Engerlinge konnten nicht ausreißen. Jetzt hat Hermann keine Engerlinge mehr im Garten, aber die Maulwürfe buddeln wie besessen, und über– all im Garten sind jetzt Maulwurfshügel. Das hat man auch von solch neuer Erfindung. Nun sind die Maulwürfe also alle versammelt. „Liebe Kollegen!“ sagte Hermann. „Ich habe von Obergärtner Doktor Milde den Auftrag, sämtliche Maulwurfshügel einzuebnen, und möchte euch vorher davon Mitteilung machen!“ Der alte Graufell sagte: „Wenn du unsere Hügel ein– ebnest, Hermann, dann verstopfst du unsere Luft– löcher. Wir ersticken dann unter der Erde, und das willst du doch nicht?“ „Nein“, sagte Hermann. „Aber ihr müßt die Gärtner auch verstehen. Es sieht unordentlich aus, wenn ihr überall eure Hügel aufwerft!“ „Wir fressen dafür auch die Engerlinge!“ rief ein junger Maulwurf. „Ich weiß ja!“ sagte Hermann. „Aber könnt ihr eure Luftlöcher nicht neben dem Komposthaufen an– legen?“ Erst wollten die Maulwürfe das durchaus nicht ein– 17
sehen, sie waren schließlich nützliche Tiere, aber dann verstummte einer nach dem anderen, sie blick– ten Hermann immer ängstlicher an, und schließlich versprachen sie ihm, jaja, also ganz bestimmt, und schwuppdiwupp hatten sie sich mit ihren neuen Schaufeln kopfüber in die Erde eingebuddelt und waren verschwunden, ohne daß sie noch auf Wieder– sehen gesagt hätten. Hermann wunderte sich noch über diese Eile, da merkte er, daß er im Schatten saß. Er drehte sich um und erschrak gewaltig: Hinter ihm saß ein Hund, so groß wie ein Auto. Vor Schreck saß Hermann wie versteinert. Doch dann sah er, daß dieser Hund lächelte und überdies knall– grün war. „Schnuppi?“ fragte Hermann zaghaft. „Wuff, wuff!“ bellte Schnuppi freudig, daß die Blätter von den Bäumen fielen, und sauste auf Hermann los, daß der vom Anprall gleich ein paar Meter weiter– kugelte. “Wirst du gleich ruhig sein!“ rief Hermann erbost. Jetzt wußte er, warum die Maulwürfe so schnell verschwunden waren. Er sah Schnuppi nach– denklich an. Natürlich! Der Hund war grün, er war ein Sonnenhund! Er brauchte die Sonne zum Wachsen, wie jede grüne Pflanze die Sonne braucht! Er war ganz ärgerlich auf sich, daß er nicht gleich daraufgekommen war. Bisher hatte er ihn immer im Zimmer gehalten, da konnte er ja nicht größer werden. Mit Schnuppi gewann Hermann im Berufswett– bewerb der Gärtnerlehrlinge gleich zwei Preise: einen Preis für den originellsten Hund und einen Preis für die beste Tomatensorte. Denn das war ja das ver– blüffendste an Schnuppi: An seinem Schwanz wuch– sen Tomaten! Oma hatte es abends entdeckt, als Her– mann mit dem Untier nach Hause gekommen war. 18
Zuerst hatte sie sich nicht aus der Stube getraut, als Schnuppi seinen dicken Kopf durchs Fenster steckte. Aber dann hatte er gejault und gewinselt, und sie kam heraus, um ihn zu streicheln. Dabei war sie auf die Tomaten gestoßen. Jeder lobte Schnuppi, und er war sehr stolz und fraß an diesem Tag seine ganze Wochenration an Fleisch, solchen Hunger hatte er. Auf der großen Ausstellung saß dann Schnuppi ab– wechselnd in der Ausstellungshalle für Obst und Gemüse und hielt den Schwanz hoch, der in Wahrheit ein Tomatenstrauch war, oder er hockte grün und groß unter den Kühen und Schafen der Tierschau und flößte allen Besuchern Respekt ein. Gleich am ersten Tag baute Hermann für Schnuppi ein Regendach, denn in das Haus kam er nicht hinein. Er paßte nicht durch die Tür, und außerdem hätten sie ein ganzes Zimmer ausräumen müssen. Unter das Regendach legte er eine Folie aus Plast, darauf eine alte Matratze und darüber eine Wolldecke. Schnuppi ringelte sich wohlig zusammen und schnarchte bald, daß die Pfosten zitterten. Oma sagte ängstlich: „Klein Hermännchen, wie sollen wir dies Ungetüm nur satt kriegen?“ Am nächsten Morgen aber war Schnuppi weg, der Platz unter dem Regendach leer. Besorgt machte sich Hermann.daran, die Wolldecke auszuschütteln. Da quiekte es mit einemmal, und aus einer Deckenfalte fiel ein kleiner grüner Hund — ein Glück, daß er auf der Matratze landete! Hermann guckte den Hund an. Der Hund guckte Hermann an. „Schnuppi?“ fragte Hermann zögernd. „Hier!“ sagte Schnuppi. So kamen sie hinter sein zweites Geheimnis: Er wuchs zwar in der Sonne in ganz kurzer Zeit zu einem Ungetüm heran, aber sobald es Nacht wurde, 19
schrumpfte er wieder zusammen. Und das war letzten Endes ein großes Glück: Sonst hätte er ja gar nicht mit in Richtung Quarkstern in der Mitte der Milchstraße fliegen können! Aber wir müssen mal Ordnung in unsere Geschichte bekommen. Eben hat also Trulle Hermann vorge– schlagen, Schnuppi mit der Suche nach dem Schlüssel zu beauftragen. Nun liegt Schnuppi, in einem Karton mit Luftlöchern verpackt, bereits in der Hütte, Trulle hat ihn auf ihrer Liste schon abgehakt. Wenn man ihn nämlich jetzt noch umherlaufen ließe, dann würde er wieder vier Meter lang werden und nicht mehr mit– fliegen können. Es gibt allerdings eine Möglichkeit, Schnuppi in die Sonne zu lassen: Er muß seinen schwarzen Anzug anziehen. Der Anzug ist lichtundurchlässig, Trulle hat ihn selbst genäht. Schnuppi zieht ihn nur sehr ungern an. Hunde ziehen überhaupt ungern Hemden oder Kleider an, das ist ihnen so eigen. Aber in diesem Falle muß es mal sein. „Gut“, sagt Hermann, „Schnuppi wird den Schlüssel suchen, er hat ja eine gute Schnuppernase. Wir bauen gleichzeitig einen Riegel. Kannst du Bombus ent– behren? Dann soll er zusammen mit Basil den Riegel anbringen. Ich muß noch die Zündung und die Steuerung überprüfen. Wieviel Zeit haben wir?“ Da brauchen wir nur auf Quina zu hören. Sie steht auf dem Vorplatz und hat eine orangerote Warnleuchte eingeschaltet: „Fünfzehn Minuten achtundzwanzig, fünfzehn Minuten siebenundzwanzig…“ „Schalte bitte die Lampe ab!“ sagt Hermann zu ihr. „Wenn der Förster vorbeikommt, denkt er, wir haben hier einen Waldbrand.“ Quina ist beleidigt. Während ihr Bauchlautsprecher weiter die Zeit ansagt, schaltet sie den Kopflautspre– 20
cher ein und erwidert: „Ich wollte euch ja bloß rauf aufmerksam machen, daß die Zeit vergeht!“ „Natürlich“, sagt Hermann. “Während der letzten zehn Minuten hättest du noch die Sirene eingeschal– tet, dann wäre hier das ganze Dorf zusammengelau– fen, und mit dem Start wäre es Essig gewesen. Du kannst inzwischen noch das Schwerefeld vermessen, wenn es dir nicht genügt, die Zeit anzusagen!“ Quina brummt etwas Unverständliches und stelzt auf die Hütte zu. Hermann sieht ihr kopfschüttelnd nach. Sie ist der zweite Roboter, den er gebaut hat. Bombus war der erste, Opa hatte ihm einen Roboterbaukasten mitgebracht, darin lagen eine ausführliche Bauanlei– tung und sämtliche Einzelteile, es hatte gar keine Schwierigkeit gemacht, Bombus zu bauen. Bombus war sehr flink, sehr eifrig, konnte alle handwerk– lichen Arbeiten ausführen, aber der klügste war er nicht, und sein Gedächtnis war schwach, es hatte noch die altmodischen Ferritkernspeicher, da ging nicht viel hinein. Aber das machte nichts, er kam eben öfter gelaufen und fragte: „Was nun?“, dann sagte man ihm, was er weiter zu tun hatte. Er brummte bei der Arbeit laut wie eine dicke Hummel, deswegen hatten sie ihn Bombus getauft. Quina hatte Hermann selbst entworfen und gebaut. Im Grunde ist sie ganz ähnlich wie Bombus angelegt: Teleskopbeine, auswechselbare Werkzeughände. Nur zwei Dinge hatte Hermann zusätzlich eingebaut: Quina hatte ein sehr gutes Gedächtnis, Opa hatte ihm dafür extra einen Kristallgitterspeicher mit einer Zugriffszeit von einer Nanosekunde und einer Kapa– zität von zehn Milliarden bit besorgt, und außerdem kann sie sich selbst verdoppeln, das heißt, sie kann einen genau solchen Roboter, wie sie es ist, bauen — sie ist also ein weiblicher Roboter. 21
Ihr Gedächtnis ist vorzüglich. Schon vor einem Vierteljahr hat er ihr beigebracht, daß sie, wenn sie auf wichtige Dinge aufmerksam machen will, die rote Lampe einschalten muß. Aber das muß ihr ausge– rechnet jetzt einfallen, wo sie doch so unauffällig wie möglich verschwinden wollen! Während Schnuppi, die Nase am Boden, nach dem Schlüssel sucht, während Bombus und Basil den Riegel bauen, Trulle die Vorräte kontrolliert und Quina das Schwerefeld vermißt, überprüft Hermann das Triebwerk. Das Triebwerk ist ein alter Hut. Er sieht schon ein wenig speckig aus, früher hatte Opa diesen Hut aufgehabt, als er heiratete, später, wenn er mit Oma ins Theater oder in ein Restaurant ging; zuletzt aber hatte er ihn aufgesetzt, wenn er Pilze sammelte oder den Keller fegte. Es war ein Hut, der manches gesehen hatte und der, wenn er auch keinen eigenen Kopf hatte, recht froh war, als ihn Hermann aus der Bodenkammer hervorholte — zuletzt hatte ihn Oma dorthin verbannt, weil er schon ein Loch hatte. Hermann hat diesen Hut kurzerhand umgebaut, es handelt sich dabei um ein einfaches Volartriebwerk, das mit Gedankenenergie arbeitet. Jeder von uns weiß ja, daß zugleich mit einem Gedanken auch Energie frei wird. Stellt euch vor, ihr liegt frühmorgens im Bett, und plötzlich habt ihr den Gedanken: “Ich werde jetzt aufstehen!“ Natürlich würdet ihr nie und nimmer wirklich aufstehen, sondern lieber die Decke über die Ohren ziehen und noch ein wenig schlafen. Aber zugleich mit diesem Gedanken ist ein bestimm– tes Maß an Energie entstanden, das reicht aus, um euch aufzurichten, die Beine aus dem Bett zu hängen und endlich aufzustehen. Dann kommt der nächste Gedanke. Mit dieser Energie werden sie fliegen. 22
Als Schubtrieb dient der Schornstein. Gerade als Hermann noch einmal den Ruß aus dem Schornstein fegt, kommt Trulle und sagt: “Ich glaube, Schnuppi hat den Schlüssel gefunden!“ Draußen sitzt Schnuppi dicht an der Blockhütte und schnuppert ganz aufgeregt. „Ich rieche etwas, ich rieche etwas!“ sagt er. Aber der Schlüssel ist nirgendwo zu sehen. Hermann holt die Kohlenschaufel und beginnt ein Loch zu graben. „Es wird deutlicher!“ sagt Schnuppi aufgeregt. Aber den Schlüssel finden sie nicht. „Basil hat doch den Schlüssel nicht vergraben?“ sagt Trulle zweifelnd. Da kommt zu allem Überfluß auch noch Quina an. „Zehn Minuten achtzehn“, meldet ihr Bauchlaut– sprecher, und gleichzeitig sagt sie: „Das Schwerefeld ist nicht in Ordnung!“ Da wirft Hermann ärgerlich die Kohlenschaufel auf die Erde und sagt: „Der Teufel soll euch holen! Dann bleiben wir eben hier!“ So etwas ist leicht gesagt. Aber ob sie dann jemals diese Expedition unterneh– men, das ist eine ganz andere Sache. Wer kann denn hier noch helfen, wenn der Gedudigste der ganzen Mannschaft, nämlich Hermann, ungeduldig gewor– den ist? Ach, da kommt schon einer. Das ist Basil. Basil hat die Teekanne in der einen Kralle, die Gläser in der anderen. „Ihr seid schon fertig?“ sagt er, als er Trulle, Hermann, Quina und Schnuppi sitzen sieht. „Wir auch. Der Riegel hält! Da habe ich erst mal Tee gekocht!“ Es ist der gute Tee aus Baikonur, dort hat Opa einen alten Bekannten, der pflanzt den Tee höchstpersön– lich. Sie trinken ihn mit zehn Blüten eines Holunder– 24
beerstrauches und zwanzig Tropfen Zitrone — einfach köstlich! „Wo ist Bombus?“ fragt Hermann. „Der sitzt im Schuppen und hat eine alte Flasche Nähmaschinenöl entdeckt“, erklärt Basil. „Aber das soll ich euch nicht verraten!“ „So ein Bruder!“ sagt Quina und steht auf. „Ich werd mal nachsehen!“ Die anderen sehen sie im Schuppen verschwinden und müssen lachen. Nähmaschinenöl ist die heimliche Näscherei der beiden. Hinterher sind sie fettig von oben bis unten, aber quietschvergnügt. Nachdem Hermann die erste Tasse Tee getrunken hat, fühlt er sich schon viel wohler. „Wenn der Riegel fertig ist, kümmern wir uns nur noch um das Schwerefeld. Die Abweichung ist nicht groß“, sagt er. „Wir werden die Hütte jetzt in Startstellung bringen.“ Das ist ja nun ganz einfach. Dazu wird das Blockhaus auf den Kopf gestellt. Es fliegt mit dem Fußboden voran ab. Der Schornstein dient als Ausströmdüse. Gute Ideen sind immer einfach. Hermann mußte an diesem Haus nur wenig umbauen. Nur das Schwerefeld war ein Problem. Hermann wollte natürlich vermeiden, daß wieder alles im Haus umherfiel und hinterher nicht zu finden war. Oder jemand der Schrank auf den Kopf purzelte. Da hat er den magnetischen Fußboden erfunden. Dazu wurde der Fußboden mit einer Paste aus magnetischen Eisenspänen eingerieben. Unter alle Möbel wurden Eisenplatten geschraubt. Jetzt kann man das Haus drehen, wie man will, alles steht fest. „Ist alles gezählt und an Bord?“ fragt Hermann. Trulle schaut auf ihre Liste. „Sieben Positionen sind noch offen. Das sind der Schlüssel und die sechs Besatzungsmitglieder!“ 25
„Wir?“ fragt Hermann. Trulle nickt. „Du bist ja sehr ordentlich!“ lobt Hermann. Sie bringen das Haus in Startstellung. „Quina!“ sagt Hermann. Quina hört Befehle über drei Kilometer. Sie setzt die Flasche mit dem Nähmaschinenöl ab und kommt herbeigestelzt. „Prüf mal, wo die Störung im Schwerefeld liegt!“ Quina klettert auf das Haus und sucht den Fußboden ab. Plötzlich hört man sie lachen. „Hihihi!“ Dann taucht sie wieder über den anderen auf und zeigt die Faust. „Wenn ihr ratet, was ich hier drin habe“, sagt sie auf– geregt, „dann schenk ich euch den Hausschlüssel!“ „Ja, was kann das nur sein?“ sagt Basil. „Ja, was denn?“ fragt Hermann. „Ich weiß auch nicht!“ sagt Schnuppi. „Nein, so was!“ meint Trulle. Da kommt Bombus aus dem Schuppen gestürzt und schreit: „Bestimmt hat sie den Hausschlüssel gefun– den!“ „Du alte Petze!“ sagt Quina und öffnet ihre Hand. Der Hausschlüssel fällt ins Gras. Er war bei den Vorbereitungsarbeiten auf den magnetischen Fuß– boden gefallen und dort haftengeblieben. Er hatte auch den Meßfehler verursacht. „Hurra!“ ruft Hermann und hebt den Schlüssel auf. „Hurra!“ rufen alle. „Und Schnuppi hat mit seiner Nase doch recht ge– habt!“ sagt Trulle. „Wieviel Zeit haben wir noch?“ will Hermann wissen. „Noch fünf Minuten null sieben“, meldet Quina. „Dann setzen wir uns alle noch mal ins Gras!“ befiehlt 26
Hermann. „Wir wollen uns von unserer guten alten Erde verabschieden!“ Sie setzen sich alle, und jeder blickt sich um. Schnuppi denkt an die große Ausstellung, in der er zwei Preise gewonnen hat, und Basil an die Zeit, wo er immer die Holzscheite früh losbinden mußte. Bombus denkt an eine Flasche Nähmaschinenöl und Quina an zwei. Trulle denkt an ihren Vater und an ihre Mutter; ob sie sehr traurig sein werden, wenn sie heute abend den Brief im Schlafzimmer finden: „Komme übers Jahr zurück, keine Sorge, Eure Trulle“? Und Hermann? Hermann sieht sich noch einmal die Kiefern an und den blauen See, in dem er so oft gebadet hat, er denkt an Obergärtner Dr. Milde, und dann denkt er an seine beiden Brüder, an Heinz und Helmut. Ihretwegen will er zum Quarkstern in der Mitte der Milchstraße fliegen, denn von dort kam ihr letztes Funksignal. Sie waren vor fünf Jahren, nach– dem sie gerade die Raumfliegerschule beendet hatten, zu ihrer ersten Expedition gestartet. Sie sollten er– kunden, wo die Zeit herkommt; immerzu fließt sie an uns vorbei ins Meer der Vergangenheit, da muß sie doch irgendwo herkommen? Drei Wochen lang meldeten sie sich Abend für Abend, doch dann riß die Verbindung ab. Alles Suchen blieb erfolglos. Alle Radiostationen auf der Erde versuchten, mit der Expedition in Verbindung zu treten. Aber es war vergeblich. Damals sagte Hermanns Vater, der Apotheker Paul Priezel, zu seinem Sohn Hermann: „Ich möchte nicht, daß du auch Raumpilot wirst!“ „Ich will aber!“ sagte Hermann. „Ich weiß“, seufzte der Vater. „Aber ich werde alles tun, um das zu verhindern. Und nach unserem Gesetz kannst du erst mit zwölf Jahren über dich bestimmen. 28
Bis dahin wirst du tun, was ich will! Wir haben be– schlossen, daß du zu den Großeltern aufs Land ziehst und dort in die Gärtnerlehre eintrittst. Bei den Gärt– nern wird es dir sicher gefallen. Und eines Tages wirst du froh sein, daß du nicht Raumpilot geworden bist.“ So sprach der Vater, und Mutter, Hermine Priezel, geborene Schwalbenschwanz, stand dabei und sah Hermann ernst an. Wenn sie nicht so ernst dreingeschaut hätte, vielleicht hätte Hermann dann versucht, seinen Vater umzustimmen. Aber er wollte sie nicht noch trauriger machen. Er ging zu den Gärtnern in die Lehre und absolvierte nachts die Kurse für Raumflieger, ohne daß jemand davon wußte. Wir sagten schon, daß er eigensinnig ist. Und er hatte sich ja vorgenommen, seine Eltern eine Freude zu machen. Er wollte seine Brüder wiederfinden und sie zurück auf die Erde bringen. Nun war es also soweit. „Zwei Minuten null eins!“ sagte Quina aufgeregt. „Alle antreten!“ befahl Hermann. Alle traten an. Und alle, außer Quina und Bombus, bekamen von Trulle zehn Tropfen Eisentinktur auf einem Löffel präsentiert. Sonst hätte das Magnetfeld keine Wir– kung auf Lebewesen. Quina und Bombus aber waren ohnehin zum größten Teil aus Blech. Dann sprangen sie mit Füßen zuerst in die Hütte. Sie mußten mit dem Kopf nach unten starten. Jeder suchte seinen Platz auf: Basil kletterte in den Kohlenkasten, Schnuppi kam in den Karton, Trulle legte sich aufs Sofa, Quina und Bombus besetzten die Ausguckposten an den Fenstern. Hermann schloß die Tür ab, schob den neuen Riegel 29
vor und setzte sich in den Sessel vorm Kommando– stand. Er zog sich den Gedankenenergiewandler über den Kopf, der äußerlich wie Opas alter Hut aussah, und wartete, bis Quina zählte: „Null Minuten eins, null Minuten null!“ „Start!“ dachte er. Und ohne Aufsehen, ohne Geräusch und Feuerstrahl, nur mit einem ganz unscheinbaren Flimmern, das aus dem Schornstein strömte, startete die Hütte, Fuß– boden voran, das Dach der Erde zugekehrt, in den Weltraum. Keiner aus dem Dorf sah etwas. Nur Hein Brink, der alte Briefträger, blieb stehen, wie vom Donner gerührt. Aber, wenn wir ehrlich sein wollen: Er hatte bei Luden Monkmann gerade zwei Klare getrunken, und das Wetter war heiß. Da sieht man schon manchmal Sachen, die es wohl gar nicht gibt.
Zweites Kapitel Hermine Priezel, Hermanns Mutter, hat Nachtschicht auf dem Mond. Sie weiß nichts davon, daß ihr Sohn mit der Block– hütte auf dem Weg zum Quarkstern schon vor einigen Stunden ganz in der Nähe vorbeigeflogen ist. Sie beobachtet die Männer im Mond. Hermine Priezel ist Mondforscherin, eine sehr be– kannte Wissenschaftlerin. Sie hat entdeckt, daß es den Mann im Mond wirklich gibt. Der Mond ist in Wahrheit ein Sputnik aus einer anderen Welt. Er hat außen einen dicken Steinpanzer, innen aber ist er hohl. Er enthält ein komplett eingerichtetes Labora– torium für die Beobachtung der Erde. Drei Männer leben im Mondinneren. Sie haben einen freundlichen 30
Blick, aber bisher — und das ist Hermine Priezels großer Kummer — kann man sich nicht mit ihnen verständigen. Nicht darum, weil sie eine andere Sprache sprächen — das wäre heutzutage eine Klei– nigkeit, solche Sprachen mit Maschinen ins Irdische zu übersetzen —, sondern weil sie überhaupt nicht sprechen. Das ist vielleicht zum Auswachsen, kann ich euch sagen. Man sagt: „Guten Tag“, aber die drei blicken einen an, ohne den Mund aufzutun. Sie sind dabei nicht feindlich, sie dulden die Anwesenheit der Menschen, aber sie sprechen nicht. Natürlich hat Hermine Priezel dafür eine mögliche Erklärung. Es ist ihr aufgefallen, daß die drei für alles sehr viel Zeit brauchen. Sie lösen einander nicht alle acht Stunden, wie auf der Erde, sondern alle Viertel– jahre ab. Während der eine den Platz am Fernrohr einnimmt, legt sich der andere ein Vierteljahr lang schlafen. Der dritte hat drei Monate frei. Wahrschein– lich, so überlegt Hermine Priezel, kommen die drei aus einer Welt, wo die Zeit sehr schnell vergeht. Vielleicht brauchen sie für eine Antwort zehn oder fünfzig oder hundert Jahre statt der wenigen Sekunden, die die Menschen dafür nötig haben? Und diese zehn Jahre kommen ihnen wie zehn Sekunden vor? Oder sie leiden an einer seltsamen Raumkrankheit, die alle Prozesse verlangsamt? In der Schule befällt einen manchmal eine ähnliche Krankheit — man glaubt dann, daß eine Schulstunde nie zu Ende gehen wird. Wenn man sagen sollte, wie lang eine solche langweilige Stunde gedauert hat, würde man glatt dreitausend Jahre sagen. Jeden Tag ist ein Assistent vom Institut für Mond– menschen im Laboratorium der Mondbewohner und 31
stellt ihnen drei Fragen. Werden sie eines Tages darauf antworten? Heute nun hat Hermine Priezel selbst den Dienst übernommen. Sie hat ihre drei Fragen gestellt und , wartet darauf, daß etwas passiert. Der unbekannte Mondbewohner sitzt am Fernrohr und beachtet Hermine Priezel gar nicht. Das wird wieder eine langweilige Nacht! denkt Hermine. Da wendet plötzlich der Mann am Fernrohr sein Gesicht, blickt Hermine an und sagt: „Ich heiße Sanft. Meine Kameraden heißen Eifrig und Gemütlich. Wir kommen aus dem Schlaraffenland. Wir werden in fünfzigtausend Jahren abgelöst!“ Hermine Priezel schrickt auf, dann schreibt sie fieberhaft alles auf, was der Mann sagt. Als sie wieder hochblickt, schaut der Schlaraffe namens Sanft bereits wieder durchs Fernrohr. Hermine Priezel blättert ihr wissenschaftliches Tagebuch zurück. Diese Sätze sind Antworten auf drei Fragen. Diese drei Fragen lauteten: Wie heißt ihr? Woher kommt ihr? Werdet ihr hier bleiben? Sie wurden vor vier Jahren gestellt! Hermine Priezel ist sehr stolz darauf, daß sie recht gehabt hatte. Seit vier Jahren hat sie immer neue Fragen an die Mondbewohner richten lassen. Jetzt werden sie jeden Abend darauf antworten. Sie versucht, das Institut für Mondmenschen an– zurufen. Sie muß es jemand sagen. Aber im Institut meldet sich nicht einmal der Pförtner. Da ruft sie Oma und Opa an, in dem kleinen Dorf am See mit der großen Gärtnerei. „Bist du es, Vati?“ ruft sie in den Hörer. „Du, einer von den Mondmenschen hat gesprochen!“ Aber dann merkt sie, daß Opa sich nicht so freut, wie sie dachte, daß er sich freuen müßte. 32
„Ist was?“ fragt sie deshalb, „Ich hab dich nicht erreichen können“, sagt Opa. „Hermine, du, ich muß dir was sagen…“ So erfährt Hermanns Mutter, daß ihr Sohn in den Weltraum gestartet ist. „Den kriegen wir noch zu fassen, diesen Burschen!“ sagt sie und legt auf. Dann nimmt sie den Hörer und wählt erneut. Und wüßte Hermann, was sich jetzt tut, dann würde er nicht so geruhsam aus dem Dachfenster schauen. Bis sie das Schwerefeld der Erde hinter sich ließen, hatte Hermann hart denken müssen. Immer das gleiche: Quarksternquarksternquarkstern … Es ist ja an und für sich schon anstrengend, immer das gleiche denken zu müssen, aber ausgerechnet dieses Wort! Ihr braucht es bloß zwölfmal hintereinander schnell aufzusagen, um zu wissen, wohin man da geraten kann. Ich kenne einen Fall, da mußten zwölf Ärzte eine Stunde lang arbeiten, um einem Patienten die Knoten in der Zunge aufzuknüpfen. Aber schnell mußte dieses Wort gedacht werden, um die richtige Anfangsgeschwindigkeit zu gewinnen. Jetzt aber hat Hermann den Hut an den Nagel ge– hängt, sie fliegen bereits ohne Antrieb. Er stützt sich aufs Fensterbrett: Die Erde ist noch zu sehen, eine blaue Murmel in der Ferne. Doch sie sind schon in der Gegend der bunten kleinen Planeten, sechs Stun– den von der Erde entfernt. Quina macht gerade das Nachtmahl der Expedition zurecht. Sie klappert durch das ganze Haus und rennt einem Eierkuchen hinterher, der schwerelos in der Luft umherschwebt. Sie hat vergessen, beim Einrühren Eisentinktur in den Teig zu tun. Draußen vorm Fenster blinken die klei– nen Planeten wie die Kugeln am Weihnachtsbaum. Hermann rechnet noch einmal nach. Vor einer Stunde sind Oma und Opa mit dem Fahrrad zurückgekom– men. Dann haben sie eine Viertelstunde gebraucht, 33
um zu begreifen, was geschehen ist. Danach hat Opa, versucht, die Polizei anzurufen, aber keine Verbin– dung bekommen, weil er, Hermann, das Telefon an die Gartenklingel angeschlossen hat. Es hat also geklingelt, aber es gab keine Verbindung. Dann wird Opa den Fehler behoben haben. Jetzt etwa wird er beim Dorfpolizisten Scharfblick anrufen. Aber bis der die Geschichte weitergemeldet hat, sind sie außer– halb des letzten Polizeipostens. Dann kann sie niemand mehr zurückholen. So rechnet jedenfalls Hermann. Noch sitzen draußen alle paar hundert Kilometer die Polizisten der Allpolizei in ihren weißen Hemden, die goldenen Flügel zusammengeklappt, auf den Leit– planken und winken der Quarksternexpedition zu. Es sind alles Engel aus dem ehemaligen Himmel, den man vor ein paar hundert Jahren zu einem Erho– lungsheim für Kosmonauten umgewandelt hat. Sie sitzen zu dritt und machen Musik. Einer spielt Harfe, der andere Flöte, der dritte Mundharmonika. Sie machen Musik, damit es im Weltraum ein bißchen freundlich ist. Es sind alles sehr hilfsbereite Polizisten. Am liebsten wäre ihnen gewesen, irgend etwas wäre kaputtgegangen, weil sie dann hätten helfen können. Helfen ist das, was sie am liebsten tun. Sie sind auch alle als Schlosser, Tischler oder Elektriker ausgebildet. Und wenn man den ganzen Tag Harfe spielt, ist man ja über jede Unterbrechung froh. Quina hat endlich ihren Eierkuchen eingefangen und in der Pfanne verstaut, als die Hütte plötzlich ge– bremst wird. Natürlich springt der Teig sofort aus der Pfanne und klebt vor Basils Augen, der ruft: „Was ist denn los? Es ist alles so duster!“ Draußen schwebt ein Polizeiengel, die großen golde– nen Flügel ausgebreitet, und hält eine Sonnenblume 34
hoch. Die Polizeiengel haben alle solche Sonnen– blumen am Gürtel hängen, sie bedeutet nach dem offiziellen Handbuch für den Polizeidienst: „Ent– schuldigen Sie bitte, wenn wir Sie in Ihrer augen– blicklichen Beschäftigung stören, aber bestimmte Umstände, die wir ausführlich besprechen werden, zwingen uns leider, Sie zu bitten, Ihr Fahrzeug an– zuhalten.“ Trulle sieht Hermann an. Ein Expeditionsleiter darf niemals seine Besorgnisse zeigen. Hermann sagt: „Vielleicht brennt nur das Rücklicht nicht?“ Es klopft, und der Engel tritt in die Stube. Er hat lange blonde Haare und blaue Augen, sieht außergewöhnlich sanft aus und bückt sich sofort, um Basil den Eierkuchen vom Kopf zu nehmen. Das ist gar nicht nötig, weil Basil längst zwei Löcher hineingebrannt hat und alles gut sehen kann, aber Basil freut sich sehr darüber. „Schön haben Sie es hier!“ sagt der Engel. „Übrigens, ich bin Hauptwachtengel Bodo von der Sternenwiese. Sie sind doch nicht böse, daß ich Sie angehalten habe?“ „Aber nein!“ sagt Trulle und lächelt, so ein ein– gefrorenes Lächeln, bei dem man glaubt, es bröckelt jeden Augenblick ab. „Wir freuen uns, Sie kennenzulernen“, sagt Hermann. „Wollen Sie nicht eine Tasse Kaffee trinken?“ Trulle tritt Hermann auf den Fuß, ganz leise. Aber der Engel sieht es sofort. „Ich werde gleich gehen“, sagt er. „Wir wollten Sie nur bitten, einen Passagier mit– zunehmen. Es ist ein kleiner Teufel, der zu seiner Großmutter will. Er wollte den Weg ursprünglich zu Fuß machen, aber nun hat er sein Hufeisen verloren und hinkt leicht. Es liegt doch auf Ihrem Weg, nicht wahr?“ Hermann und Trulle sind ganz aufgeräumt. 35
„Aber ja!“ ruft Trulle. „Das tun wir gern. Und jetzt müssen Sie unbedingt noch einen Kaffee mit uns trinken. Und dazu einen Eierkuchen essen!“ Ehe sie sich an den Tisch setzen, zieht Haupt– wachtengel Bodo sein dickes Notizbuch heraus. Aus dem Notizbuch hängt eine Strippe mit einem Haarbüschel am Ende. An dieser Stelle schlägt der Engel das Buch auf, und da liegt zwischen zwei Seiten unser Teufel: ein kleines, dünnes Kerlchen namens Gottlieb. Die Strippe, die heraushing, ist sein Schwanz. Und dann setzen sich alle um den großen Tisch und essen und trinken. Und sie vergessen darüber natürlich das Wichtigste. Denn vieles passiert, während einer ißt und trinkt, es ist kaum zu glauben, was zwischen zwei Schlucken Kaffee alles geschieht: Hundert Kinder werden auf der Erde geboren, hunderttausendmal wird gelacht und zehnmal geweint, hundert Blumen blühen auf, und zehntausend Menschen begrüßen sich, zum Beispiel Hermanns Opa, der begrüßt jetzt seine Tochter, die uns schon bekannte Hermine Priezel, und sagt: „Hermine, du, ich muß dir was sagen, aber du darfst nicht erschrecken!“ Er sagt es durchs Telefon, als ihn seine Tochter aus dem Mondlabor erreicht hat: „Die Kinder sind ver– schwunden, sicher treiben sie sich im Weltraum herum!“ Dabei haben die Kinder solchen Spaß: Hauptwacht– engel Bodo spielt auf der Mundharmonika, und der Strichteufel tanzt dazu zwischen den Kaffeetassen herum, daß Schnuppi nur so das Maul aufreißt. Der Teufel bleibt endlich schweratmend auf der Zucker– dose sitzen. „Ich bin ja so froh!“ sagt er. „Jetzt habe ich Ferien. Ich studiere in Leipzig Meß– und Re– geltechnik, aber jetzt ist das zweite Semester zu Ende, jetzt besuche ich meine liebe Großmutter!“ 36
Na, hoffentlich kriegt er sie noch zu Gesicht. Denn wir müssen bedenken, daß Hermine Priezel gerade mit dem obersten Chef der Engelbrigade telefoniert. Sie macht sich Sorgen, die Kinder sind noch klein, und überhaupt ist Trulle ja noch gar nicht volljährig, sie wird erst in drei Tagen zwölf Jahre, bis dahin darf sie nur in Begleitung der Erziehungsberechtigten in den Weltraum starten, außerdem haben sie sicher nicht an alles gedacht, wer weiß, was sie alles ver– gessen haben, und so allerlei, was eben einer Mutter einfällt, wenn sie an ihre Kinder denkt. Und der oberste Chef der Engelbrigade, der versteht solch eine bekümmerte Mutter, der hat schon die Hand nach dem roten Alarmknopf der Sprechfunkanlage ausgestreckt, die ihn in Sekundenschnelle mit jedem Polizeiengel verbinden wird… Und da kommt Trulle noch auf die Idee, dem Haupt– wachtengel Bodo, der sich ja wirklich längst hätte verabschieden können, das Haus zu zeigen. Sie zeigt ihm den Keller mit den Vorräten, das Erdgeschoß mit der Küche, dem Wohnzimmer und der Schlafstube und den Pilotenstand auf dem Dachboden hinter der Treppe, und wie sie wieder unten in der Wohnstube sind, da hört man plötzlich so ein feines Piepsen, als ob eine junge Maus von vierzehn Tagen Hunger hat. „Oh“, sagt der Engel Bodo und bleibt stehen, „da ist etwas Wichtiges für mich!“ Es piept noch einmal, der Engel Bodo steckt sich einen Knopf, den er bisher an einer Kette um den Hals trug, ins Ohr. Und er lauscht. Er lauscht den Worten des obersten Chefs der En– gelbrigade, wie im Augenblick sämtliche 25000 Engel der Engelpolizei. Das muß man sich doch mal vorstellen, nicht wahr: Sie hätten nun schon eine halbe Stunde am letzten Polizeiposten vorbei sein können, mitten unter den 37
kleinen Sternen, die schockweise herumschwirren, da wären sie schwer zu finden gewesen, und nur weil so ein dummer Teufel von Student Semesterferien hat, werden sie angehalten. Und nun ist alles vorbei. Nun werden wir das Buch beenden, nun passiert nichts mehr außer einem, das kann man dem Hauptwachtengel Bodo von der Sternenwiese an seinen gütigen blauen Augen able– sen, er wird sagen: „Liebe Freunde, ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich muß Sie leider bitten, umzukehren und zu Oma und Opa Schwalben– schwanz zurückzufliegen.“ Das wird er sagen. Aber er sagt es nicht. Er kann gar nichts sagen, denn es gibt plötzlich einen Ruck, der sie allesamt durch– einanderfallen läßt, und als sie sich gerade aufrappeln und mit Bestürzung sehen, wie draußen in rasender Fahrt Tausende von Sternen vorüberzischen, da gibt es einen zweiten Ruck, so daß sie erneut in eine Ecke fallen, und dann hören sie, wie es an der Tür pocht: poch, poch, poch. Nun traut sich niemand, zur Tür zu gehen. Weiß man denn, was da nach solchen Ereignissen alles an die Tür pocht? Vielleicht steht eine Kuh von der Milch– straße draußen, gerade Kühe fressen ja alles mögliche, Taschenuhren, Kinderspielzeug, warum nicht auch Kinder? Da besinnt sich Hermann darauf, daß er Expeditions– leiter ist. Im Handbuch für Expeditionen steht: Nach unvorhergesehenen Zwischenfällen empfiehlt es sich als erstes, die Anwesenheit sämtlicher Expeditions– mitglieder an Hand einer Liste festzustellen. Her– mann sieht sich um: Trulle ist da, sie ist unters Sofa gerollt, dort blickt sie jetzt hervor. Der Engel ist auch da, er sitzt zwischen den Büchern auf dem Bücher– brett und hat Schnuppi im Arm. Quina und Bombus 38
bemühen sich gerade, einen Arm von Quina wieder anzuflicken, die hat es am schlimmsten erwischt. Basil ist tüchtig, er sitzt in der Küche und leckt die glühenden Kohlenstückchen auf, die aus dem Ofen gefallen sind. Nur einer fehlt, der kleine Teufel Gott– lieb. Den findet Hermann oben auf dem Dachboden, dort liegt er auf dem Rücken und wagt nicht einmal zu atmen. Und neben ihm liegt der Gedankenwand– ler. Hermann begreift, was geschehen ist. Der kleine Teufel hatte sich das Haus angesehen. Vor dem Pilotenstand war er stehengeblieben und hatte sich, neugierig wie kleine Teufel nun mal sind, den steifen Hut aufgesetzt, in dem der Gedankenwandler eingebaut ist. Und gerade als der Polizeiengel mit seinem Chef sprach, da hatte der kleine Gottlieb gedacht: Ach, wenn ich doch jetzt bei meiner Groß– mutter wäre! Natürlich weiß der Teufel nicht, was geschehen ist. Er fürchtet sich. Draußen klopft es wieder: poch, poch, poch! „Mach auf!“ sagt Hermann. „Nein“, sagt der Teufel. „Bei allen guten Geistern!“ Da ruft vor der Tür eine tiefe Baßstimme: „Donner und Doria, Blitz und Schwefel, Teufel noch eins, ist denn in dieser Bruchbude keiner, der die Tür auf– machen kann?“ Jetzt müßtet ihr sehen, wie der kleine Teufel die Treppen hinunterstürzt und mit zitternden Fingern den Schlüssel herumdreht! „Meine liebe Großmutter!“ schreit er. Vor der Tür steht also des Teufels Großmutter, noch sehr jugendlich anzusehen, in einem perlgrauen Kostüm mit weißer Spitzenbluse. In der Hand hält sie leinen großen Blumenstrauß, den sie wohl eben gepflückt hat, aber den läßt sie jetzt fallen, herzt und küßt den 39
kleinen Teufel und freut sich, daß er sie besucht. „Na, du verdammter kleiner Strolch!“ sagt des Teufels Großmutter. „Was soll ich dir denn ko– chen?“ „Zwiebelsuppe!“ ruft der kleine Teufel Gottlieb. „Dabei müßt ihr aber alle helfen!“ sagt die Groß– mutter. Sie zieht sich die Kostümjacke aus und bindet eine Schürze um. „Hans!“ schreit sie. „Alter Faulenzer, wo steckst du? Du brauchst keine Angst zu haben, es sind freundliche Leute!“ Man hört es ächzen und brummen, dann kommt ein struppiger, bärtiger Teufelskerl angetrottet, in jeder Hand eine hundertjährige Eiche. Die wirft er auf die Erde und sagt: „Ich mache gerade Kleinholz!“ „Gib man jedem die Hand, aber drück nicht so!“ sagt die Großmutter. „Und dann gehst du und holst eine Zwiebel!“ Hans drückt jedem die Hand, daß alle ganz bleich werden. Nur Quina drückt mit ihrer Eisenhand zu– rück, daß dem Hans das Wasser in die Augen schießt. „Ei“, sagt er und betrachtet sie wohlgefällig, „du wärst die rechte Frau für mich!“ Er geht und bringt eine Zwiebel herbei, so groß wie ein vierstöckiges Haus. Alle helfen mit Äxten und Beilen, die Zwiebel zu zerkleinern, und weinen, daß sie bis zum Knöchel im Wasser stehen. Dann lädt Hans die Zwiebelstückchen in seine große Schubkarre und fährt sie an ein Schüttloch. Dort rauschen sie — plumps — siebenundsiebzig Klafter tief in die Erde. „Und was nun?“ fragt Trulle. „Ihr könnt ruhig mitkommen“, sagt die Großmutter. „Ich gehe jetzt kochen!“ Sie steigen siebenundsiebzig Klafter tief auf Leitern in die Erde hinab und kommen in einen großen Saal. 40
Da stehen hundert große Kessel, und unter jedem Kessel brennt ein Holzfeuer. „Was ist drin?“ fragt Hermann und klopft gegen einen Kessel. „Na, Zwiebelsuppe!“ sagt die Großmutter. „Und in den anderen?“ „In den anderen ist Wasser.“ „Und wozu kocht es?“ „Wir heizen damit den Höllenplaneten“, sagt Hans. „Was glaubt ihr, was da alles wächst! Die Blumen werden bei uns drei Meter hoch, und die Spargel werden als Aussichtsturm benutzt. Die Getreidekör– ner sind Stück für Stück so groß wie anderswo die Kohlrüben, die Kohlrüben aber, die wachsen bei uns so hoch wie auf der Erde die Bäume.“ Na, da kann man sich denken, daß das den Gärtner Hermann interessiert. „Und was macht ihr zum Beispiel mit dem Getreide?“ „Damit füttern wir die Hühner.“ „Sind die auch größer als die Hühner auf der Erde?“ „Aber ja“, sagt Hans und zerknickt ein paar me– terdicke Baumstämme. „Unsere Hühner, die sind hier so groß wie die Einfamilienhäuser, und sie legen Eier, die sind so groß wie ein Auto.“ „Und was macht ihr mit den Eiern?“ „Die Eier, die kochen wir hart und verfüttern sie den Kälbern.“ „Aber meine Güte, wozu denn?“ fragt Trulle. „Hier lebst doch bloß du und deine Großmutter, ich meine deine Mutter?“ „Freilich“, sagt Hans, „das ist es ja. Wir geben die Eier den Kälbern, die werden dann zu Kühen, und mit der Milch der Kühe füttern wir dann die Schweine.“ 41
„Und wozu braucht ihr die Schweine?“ „Die Schweine“, sagt Hans, „liefern uns den Dung. Den fahre ich aufs Feld und pflüge ihn ein — du glaubst nicht, wie danach das Getreide wächst! Wir haben schon Getreidekörner so groß wie die Fußbälle gehabt!“ „Donnerschlag!“ staunt Trulle. „Und wozu braucht ihr das Getreide?“ „Das habe ich doch eben erzählt“, knurrt der starke Hans. „Das kriegen die Hühner!“ „Ach so“, sagt Hermann. „Aber da müßt ihr ja eine Menge Viehzeug hier oben haben!“ „Eine Menge?“ sagt Hans. „Wir haben so viel Vieh– zeug, daß wir bald selbst keinen Platz mehr haben. Und ich muß Tag und Nacht arbeiten, damit genügend Futter wächst, es ist schon ein Kreuz, kann ich euch sagen.“ Da ruft die Großmutter: „Ihr Schwatzmäuler und Topfgucker, zu Tisch!“ Und sie setzen sich alle um den großen Holztisch, auf dem eine wunderschöne, goldbraune, vorzüglich ge– würzte Zwiebelsuppe duftet. Der Engel Bodo von der Sternenwiese ziert sich etwas, schließlich sagt er: „Ich bin Zwiebelsuppe nicht gewohnt, gibt es vielleicht etwas Süßes?“ „Aber mit Vergnügen!“ sagt die Oma. „Ich habe die ganze Kammer voller Honig stehen! Es ist aber Zauberhonig, wer davon ißt, glaubt alle Lügen.“ „Das macht nichts“, sagt Bodo, „wer lügt denn schon noch heutzutage!“ Und alle lassen es sich gut schmecken. Hinterher gibt es hoch Apfelsaft. Man braucht nur in einen Apfel einen Zapfhahn hinein– zustoßen und die Gläser darunter zu halten, so saftig sind dort die Äpfel. „Nun“, sagt die Großmutter, „wo zieht es euch fahrende Gesellen denn hin?“ 42
„Wir suchen meine beiden Brüder“, sagt Hermann und erzählt, wie sie damals ausgezogen sind, zehn Jahre ist es schon her. „Und wie heißen die beiden?“ fragt die Großmutter. „Hießen sie etwa Heinz und Helmut?“ Na, stellt euch vor, wie Hermann auflebt! Die erste Spur ist gefunden! „Ja, vor allem der Helmut!“ sagt Hans. „An den kann ich mich genau erinnern. Der aß so gern Teufels– braten, wir haben mal zu zweit eine ganze Höllen– pfanne leer gegessen!“ „Aber du das meiste!“ sagt des Teufels Großmutter. „Ja, die beiden haben sich bei uns mit Proviant ver– sehen und sind weitergeflogen. Sie wollten zum Quarkstern, daran kann ich mich noch genau er– innern.“ „Da müssen wir hin“, sagt Hermann. „Sofort.“ „Ich möchte mit!“ sagt Hans. „Wenn ich auch noch etwas sagen dürfte“, wirft hier der Polizeiengel Bodo ein. „Ich habe den Auftrag, Sie zur Erde zurückzubringen.“ Der struppige Hans wird traurig, setzt sich in seine Ecke und beginnt zu weinen. „Ich will auch mal was erleben!“ schluchzt er. „Mir ist es so langweilig hier. Früher war das was anderes, aber jetzt!“ „Ja, früher“, sagt die .Großmutter. „Weißt du noch, wie wir den dicken Gutsbesitzer Anselm Raffzahn bestraft haben?“ „Ist das eine Geschichte?“ fragt Trulle begierig. „Ja, eine Geschichte!“ sagt die Großmutter. „Lang ist es her, da lebte ein Bauer mit seiner Frau in einer Hütte am Wald. Hinterm Häuschen hatten sie drei Morgen Wind und einen winzigen Acker, davon lebten sie recht und schlecht mit ihrer Kuh Marie, die war so klein geraten, daß man sie anderswo als Ziege verkauft hätte. 43
Rings um den winzigen Acker des Bauern aber lagen die großen Ländereien des Anselm Raffzahn, und dem waren die beiden schon lange ein Dorn im Auge. Er wollte das Äckerchen auch noch haben. Vor allem aber konnte er niemand ausstehen, der lachte. Er hätte gern selbst gelacht, aber er konnte es nicht, er hatte nur noch eine Freude: wenn er an seine Talertruhe gehen und das Geld zählen konnte. Und so schurigelte er die beiden, wo es nur anging, zer– trampelte ihnen die Saat, wenn er zur Jagd ging, oder verbot ihnen im Winter, Reisig zu sammeln. Kein Wunder also, daß es bei den Bauersleuten früh nur Gerstenbrei und abends eingebrocktes Brot gab, fett sind sie dabei nicht geworden, aber fröhlich waren sie, denn sie mochten einander gut leiden. Nur wenn der Winter mit seinen langen Abenden nahte, wurde die Frau traurig. Sie saßen beide am Tisch und schnitzten Holzpantoffeln, um sie am Markttag zu verkaufen. Die Frau nahm einen Pantoffel in den Arm, wiegte ihn und sang: ,Liebs Bübchen, liebs Hänschen, unsere Kuh wedelt mit dem Schwänzchen.' Und dann strömte ihr das Wasser aus den Augen wie der Regen im Mai. Sie hätte gar zu gern ein Kind gehabt. Nun war es damals so, daß den armen Leuten der Teufel die Kinder brachte, und als ich von den beiden hörte, dachte ich mir: Die sollen ein besonderes Kind haben. Ich schickte ihnen einen Traum, und eines Morgens sagte der Bauer: ,Mir hat geträumt, wir sollten einen Holzpantoffel vor die Tür stellen, viel– leicht ist es unser Glück.' Das war zu Weihnachten, wenn die Wünsche ohnehin am größten sind, und die Frau tat, was der Mann sagte. Am nächsten Morgen schrie sie vor Staunen auf: 44
In dem einen Pantoffel lag ein winziges Büblein, in dem anderen aber ein silberner Taler. ,Das ist der Tauftaler', sagt die Frau. ,Ich tauf ihn selber', sagte der Bauer, ,den Taler soll der Hans behalten, bis er ihn mal braucht!' Und er tauchte das Büblein in den Holzeimer, der, mit eiskaltem Brunnenwasser gefüllt, neben dem Ofen stand. Der Bub begann mörderisch zu schreien, und der Bauer sagte: ,Hans sollst du heißen und groß und stark werden!' Das muß der rechte Spruch gewesen sein, denn das Hänschen begann zu wachsen und wurde groß und stark dabei, auch mit Gerstenbrei und Roggenbrot. Bald aber wurden Gerste und Roggen knapp im Haus. Der Hans aß nämlich für drei. Schön, er arbei– tete für sieben, in einer halben Stunde hatte er ein Tagwerk fertig, aber dann konnte er nur die Wolken anstarren, denn wo sollte er auch arbeiten? Ringsum waren alle Äcker dem Anselm Raffzahn zu eigen. Er konnte ein paar Fichten aus dem Wald holen und hinterm Haus spalten, das war wieder eine halbe Stunde, aber zuviel durfte er auch nicht kleinmachen, denn natürlich waren die Fichten Raffzahns Eigen– tum, und der hätte gleich gemerkt, woher der Brenn– holzstapel kam. Eines Abends, als Hans die Schüssel mit Schrotsuppe rein ausgeleckt und den letzten Knust Brot, der im Hause war, zerkaut hatte, sagte er: ,Ich bin jetzt sieben Jahre alt, wenn wir nicht Hungers sterben sollen, dann muß ich in die Welt, einen Platz zum Arbeiten suchen. Ich arbeite für sieben, und ich will so viel verdienen, daß ihr, liebe Eltern, auf eure alten Tage gut leben könnt. Den Tauftaler laß ich euch bis dahin hier!' Die Mutter fing gleich an zu weinen, der Vater aber sagte: ,Wohl gesprochen, Hans, versuch es, vielleicht 46
bringst du eine Prinzessin nach Haus, vielleicht nur einen Floh, auf jeden Fall Erfahrung, und die mußt du haben. Um uns aber kümmere dich nicht, wir werden uns schon durchschlagen.' .Dann näh mir noch einen großen Sack', sagte Hans zu seiner Mutter, ,damit ich euch was mitbringen kann.' Er nahm den Sack, brach sich einen Buchenknüppel aus dem Wald und zog in die Welt. Bei einem Gutsherrn verdingte er sich: ,Ich arbeite für sieben, also mußt du mir auch für sieben Lohn und Brot geben!' ,Das will ich tun', sagte der Reiche. Aber das Essen war schlecht, und am Lohn betrog er ihn: Hans bekam nur gewippte Pfennige. Da wurde er zornig und lief weg. Doch er traf es nirgends besser. Sein Sack blieb leer, und er wollte doch seinen Eltern etwas für ihre alten Tage mitbringen. Sieben Jahre waren um, da kam er wieder in die Gegend, wo er aufgewachsen war, und sprach bei Anselm Raffzahn vor: Ob er Arbeit bekommen könne? Anselm Raffzahn betastete die Muskeln des Burschen und fragte: ,Was willst du als Lohn?' ,Ich will nicht viel', sagte Hans, ,ich will dir ein Jahr um eine Traglast und einen Fußtritt dienen, aber den will ich nicht bekommen, sondern austeilen!' Der gierige Anselm Raffzahn dachte: So billig be– kommst du nie wieder einen starken Knecht, und für den Fußtritt wird sich schon jemand finden, der ihn . bekommt. Er nahm den starken Hans in den Dienst. Die anderen Knechte aber hatten Sorge, Hans nähme ihnen die Arbeit weg, weil er so stark war. Sie spra– chen nicht viel mit ihm. Eines Tages sagte Raffzahn: ,Morgen sollt ihr mir das große Kornfeld hinterm Berg mähen — aber daß ihr 47
mir auch bis abends fertig seid! Die Knechte standen früh auf, aber sie weckten Hans nicht. Hans schnarchte bis Mittag, daß die Fliegen; Ohrensausen bekamen, und erwachte erst, als ihm der Magen knurrte. Er machte sich auf und ging aufs Feld, wo die Mäher erst ein Viertel herum hatten. Eine Weile sah er ihnen zu und ging dann wieder auf den Gutshof. In der Schmiede machte er ein Feuer und schmiedete sich ein Sensenblatt, das war elf Schritt lang. Er klopfte es und dengelte es. Als die Uhr drei schlug, ging er aufs Feld. Er begann zu mähen, holte die anderen Mäher ein und ließ sie hinter sich. Nach einer Stunde hatte er das Feld gemäht. Die Knechte legten die Sensen beiseite und halfen, das Getreide in Garben zu binden und in Hocken zu stellen. Zum Vesperbrot waren sie al– lesamt fertig. Hans sang einen Vers, die anderen wußten den zweiten. Nach einer halben Stunde kam der Vogt gelaufen, weil ihm das Singen in den Ohren hallte. Er fand die Arbeit von drei Tagen getan und alle beim Feiern. Das ärgerte ihn, er fuhr auf sie los: ,Ihr habt liederlich gemäht, die Stoppeln sind zu lang ste– hengeblieben, das kostet uns Einstreu!' Es war aber gar nicht wahr. Hans nahm seine Sense, die hinter ihm am Baum lehnte, holte aus und hatte mit einem Pfiff dem Vogt die Haare auf Nagelstärke vom Kopf gemäht, daß der vor Schreck, als er die Sense überm Kopf blitzen sah, in Ohnmacht fiel. Da lachten alle, und Hans war ihr bester Freund. Als der Gutsherr davon erfuhr, wiegte er den Kopf und dachte: Ein schlechtes Zeichen. Wenn sie Lieder singen, machen sie bald auch ein Lied über mich. Na, wartet, ich will euch Arbeit geben, daß euch Hören und Sehen vergeht! 48
Er grübelte und grübelte, und schließlich befahl er: ,Morgen drescht ihr mir das ganze Korn bis zum Abend aus und sackt es ein, und wenn die Arbeit nicht getan ist, so lasse ich alle auspeitschen!' Das war Arbeit für eine ganze Woche, und die Knechte waren bedrückt und gaben Hans die Schuld. Der aber lachte und sagte: ,Sorgt ihr für die Säcke, ich will inzwischen einen Dreschflegel machen.' Er ging in den Wald, riß zwei Bäume aus und machte sich einen Dreschflegel. Dann sagte er zu den Knechten: ,Klettert ihr in die Banse und werft die Garben ab!' Er aber stellte sich auf die Tenne und drosch die Garben, daß die Scheiben in den Gutshoffenstern zersprangen. Noch vor Mittag waren sie fertig und hatten sogar eingesackt. Sie setzten sich unter die Linde im Hof, hielten Mittagbrot, und Hans erzählte von seinen Dienstherren, daß sich alle vor Lachen bogen. Anselm Raffzahn schickte den Vogt. Der hielt sich in gehöriger Entfernung und rief: ,Ihr habt nicht sauber genug geworfelt, macht alles noch einmal!' Es war aber gar nicht wahr. Hans drehte sich um, hob den Vogt vom Pferd und sagte: ,Ich will dir zeigen, wie wir geworfelt haben.' Er warf den Vogt in die Luft und blies ihn an, daß ihm sämtliche Kleider vom Leibe flogen. Der nackte Vogt flüchtete zu Anselm Raffzahn. Der schüttelte bedenklich den Kopf und dachte: Wenn sie über die lachen, die über sie gesetzt sind, werden sie auch bald über dich lachen, Anselm. Dann sieh zu, wo du bleibst! Und er grübelte, wie er den starken Hans loswerden könnte. Eines Tages rief er ihn und sagte: ,Laß das Korn mahlen, aber fahr es in die Mühle am schwarzen Fluß, dort geht es am schnellsten!' Es war aber so, daß in der Mühle am schwarzen Fluß 49
ein Teufel hauste, mit dem sollte nicht gut Kirschen essen sein. Der Gutsherr dachte, Hans werde wohl nicht wiederkommen. Hans lud das Korn auf zehn Wagen, schirrte sie hintereinander und zog sie eigenhändig zur Mühle. Als der Teufel diesen Aufzug kommen sah, riß er Mund und Augen auf, und er rief: ,Nur herein– spaziert, starker Hans, wir werden dein Korn im Handumdrehen zu Mehl mahlen. Aber du mußt mir einen Gefallen tun. Unten im Keller stehen drei Kessel, die müssen am Sieden bleiben. Geh runter und leg ein paar Holzscheite nach. Doch ich sag dir gleich: Es ist besser, wenn du nicht hineinschaust.' Hans stieg in den Keller, derweil der Teufel oben das Korn aufschüttete. Er legte überall ein paar Scheite nach, aber dann dachte er: Lieber schau ich mal, was drinnen ist. Er hob den Deckel. Da sah er einen seiner ehemaligen Dienstherren sitzen, der schwitzte tüchtig, und als er Hans erkannte, hob er einen Beutel Taler hoch und schrie: ,Die schenk ich dir, wenn du das Feuer aus– gehen läßt!' Aber Hans brummte: ,Ich habe genug für dich geschwitzt, nun bist du an der Reihe!', und er legte noch ein paar Scheite auf. Beim zweiten Kessel war es genauso, nur der dritte Kessel war noch leer. Als Hans oben in der Mühle ankam, sagte der Teufel: .Dein Korn ist schon gemahlen, du kannst damit nach Hause ziehen. Dein Glück war es, daß du dort unten nicht die Taler genommen hast, sonst säßest du jetzt im dritten Kessel! ,Warum sollte ich sie nehmen?' fragte Hans. ,Wenn es schon auf der Welt nicht gerecht zugeht, dann erfreulicherweise hier.' ,Aber für deine Neugierde sollst du doch bestraft werden', sagt der Teufel und gab dem Hans eine Schelle, daß der sich auf der Stelle zu drehen begann, 50
als wäre er ein Brummkreisel. Als er wieder zum Halten kam, sagte Hans: ,Ich bedanke mich, daß du mir das Korn gemahlen hast, aber ich will dir nichts schuldig bleiben.' Und er holte aus und gab dem Teufel eine Backpfeife, daß der senkrecht durch das Rauchloch sauste, den Mond umkreiste und nach einer Woche wieder herabfiel, daß nur noch seine zwei Hörner aus dem Boden schauten. Da war Hans aber schon längst wieder auf den Gutshof gefahren. Der alte Anselm Raffzahn raufte sich den Bart, als Hans pfeifend mit der ganzen Fuhre zum Tor her– einrasselte. Und er dachte: Der Kerl muß fort, je eher, je besser. ,Ich, kündige dir den Dienst', sagte er. ,Eine Traglast ist ausbedungen!' sagte der starke Hans. ,Meinetwegen', knurrte Anselm Raffzahn. Hans holte den Sack aus dem Ranzen, den ihm seine Mutter genäht hatte, und schüttelte das ganze Mehl aus den zehn Fuhrwerken hinein. Dann räumte er die Räucherkammer aus und ließ nicht einen einzigen Schinken hängen. Schließlich kippte er noch drei Truhen voller Goldtaler hinein und sagte: ,Das ist meine Traglast. Adieu!' Anselm Raffzahn sah, daß Hans die ganze Ernte und sein Geld obendrein forttrug, wurde er wütend, rannte in den Stall und ließ den Bullen von der Kette. Der galoppierte hinter Hans her, um ihn auf seine Hörner zu spießen, aber Hans nahm ihn beim Kopf, drehte ihm das Genick um, warf ihn obenauf auf seinen Sack und sagte: ,Eine gute Fleischbrühe wird man wohl draus kochen können.' 'Plötzlich hielt er inne und sagte: ,Aber da fällt mir etwas ein!' Und er kehrte um und versetzte dem Gutsherrn einen Tritt, daß er hoch in die Luft flog und 51
niemals mehr wieder herunterkam. Da machten fortan alle Knechte gemeinsam die Arbeit und teilten auf, was sie ernteten, und lebten fröhlich und zufrieden. Hans aber ging zu seinen Eltern und stellte ihnen den Sack in die Scheune. ,Das ist für eure alten Tage!' sagte er und küßte seine Mutter und seinen Vater. ,Es ist keine Prinzessin, aber auch kein Floh. Ich aber habe einen Freund gefunden, drum zieh ich wieder in die Welt,' Und er ging zur Mühle am schwarzen Fluß, zog den Teufel an seinen Hörnern aus der Erde und sagte: ,Du gefällst mir, bei dir will ich bleiben!' ,Sehr gut, Brüderchen', sagte der Teufel, ,du kannst; gleich beim dritten Kessel nachlegen, eben ist Anselm Raffzahn bei uns eingetroffen.'“ So endet die Großmutter ihre Erzählung, und alles schaut neugierig den struppigen Hans an. Hans aber schmollt. Während der Erzählung war er ein bißchen aufgelebt, aber jetzt blickt er auf den Boden und hat seinen Dickkopf. „Ich laß euch sowieso nicht fort“, sagt er. „Wenn ihr abfliegen wollt, halte ich euch einfach fest. Oder ihr nehmt mich mit!“ Trulle knabbert an den Fingernägeln, so aufgeregt ist sie. „Wieviel Klassen hast du denn?“ fragt sie Hans. Der schaut sie mißtrauisch an. „Was für Klassen?“ Großmutter sagt: „Er weiß nicht, was Klassen sind. Er war noch nie in einer Schule.“ „Aber das geht doch nicht“, sagt Trulle. „Er muß doch was lernen!“ „Ihr Schnickschnacker habt gut reden. Wer soll denn hier, verdammt noch eins, die Kessel heizen?“ ruft die Großmutter. Da blickt Hans auf und freut sich. „Der da!“ sagt er und zeigt auf Bodo von der Sternenwiese. „Der bleibt hier und heizt, und ich fahr mit!“ „Mein lieber Freund“, sagt Bodo milde, „ich bin ein qualifizierter 52
Engel mit der Anerkennungsgruppe sechs, das heißt, jedes Lob wird sechsmal in meine Personalkarte eingetragen. Ich bin Elektriker und verstehe vom Heizen gar nichts!“ Gottlieb, der kleine Teufel, hüpft auf den Stuhlsitz und schreit: „Er ist Elektriker! Hurra!“ „Wenn du nicht sofort mit deinen schwarzen Füßen von meinem schönen Stuhlsitz kletterst“, sagt die Großmutter aufgebracht, „dann kleb ich dich an den Fliegenfänger, dort kannst du aber zappeln!“ „Machst du ja sowieso nicht“, lacht Gottlieb. „Ich weiß was, Omilein. Hans kann mitfahren, und Bodo ''hat zu tun, und du auf deine alten Tage…“ „Was heißt hier alte Tage?“ unterbricht die Groß– mutter mißtrauisch, „ich bin eine junge Großmutter!“ „Das mein ich doch“, sagt Gottlieb, „du in deinen jungen Tagen hast dann mehr Zeit, dich zu pflegen und neue Bienen zu züchten.“ „Na, was weißt du denn?“ fragt Hans. „Wir automatisieren!“ schreit der kleine Teufel Gott– lieb. „Das ist hier sowieso ein verrußter Schuppen , und alles Handarbeit! Wir haben im Studentenzirkel erst unlängst eine vollautomatische Fernheizung konstruiert, ich kann euch sagen, das war was! Und wo wir jetzt einen Elektriker haben!“ Hans hat hoffnungsvoll den Kopf gehoben, da fragt Hermann: „Ich verstehe eins bloß nicht, wozu wollt ihr überhaupt automatisieren? Ihr habt dann noch mehr Honig, Schweinefleisch, Eier und Getreide, aber Hans ist weg. Wer soll das aufessen?“ „Klar!“ sagt Trulle. „Warum legt ihr den Betrieb nicht einfach still! Oder macht ein Museum draus?“ „Das würde ich nun nicht sagen, liebe Freunde“, mischte sich hier Bodo ein und klappte mit den Flügeln. Die allgemeine Aufregung hatte ihn ange– 53
steckt. „Wir könnten erstens die Engelpolizei be– liefern, jedenfalls die Außenposten, wir könnten auch eine Weltraumproviantstation einrichten, und schließlich ist dies hier eine schöne Gegend für ein Erholungsheim!“. Das stimmt ja nun wirklich. Alles grünt und blüht, die Blumen wachsen bis in den Himmel, und die Bienen summen. „Schön“, sagt Hermann und bohrt in der Nase. „Aber wenn ihr automatisieren wollt, braucht ihr Öl!“ „In der Nase wirst du keins finden!“ meint die Groß– mutter und blickt ihn streng an. „Die Hölle stillegen, das ist doch die Höhe!“ „Ohne Öl geht´s nicht“, sagt Hermann. Aber er nimmt doch den Finger aus der Nase. Unten am Tisch stößt Quina den Bombus an. Bombus zischt: „Rede du doch, du kannst viel besser reden, du hast eine Zwölfvoltbatterie!“ „Na schön“, sagt Quina, „alte Plärre!“ Und laut erklärt sie: „Wir haben uns vorhin umgesehen, Zwiebelsuppe ist nichts für uns, und dort, wo Hans die alten Eichen ausgerissen hat, dort haben wir was zum Naschen gefunden!“ Dabei stellt Quina einen Eimer mit einer schillernden, schwarzbraunen Flüssigkeit auf den Tisch. Hermann steckt den Finger hinein und riecht daran. „Gutes Erdöl“, sagt er. Hans steht auf und ruft: „Ich reiß noch ein paar Bäume aus!“ „Immer mit der Ruhe!“ sagt Hermann. „Erst hier!“ — er klopft sich an den Kopf —, „dann hier!“ Dabei zeigt er auf seine Muskeln. Nach vier Wochen ist die Hölle automatisiert. Der kleine Teufel hat den Entwurf gezeichnet, Quina, Bombus und Basil haben die neuen Feuerungen ein– gebaut, Hermann und Bodo haben die Strippen ge– zogen, Trulle hat die Meßwerte durchgerechnet, Hans 54
hat die Ölquelle eingefaßt. Schnuppi und die Groß– mutter haben das Essen gekocht. Basil zündet mit einem Atemstoß die Brenner. Alles funktioniert. Hans sieht staunend zu. „Ich will auch studieren!“ sagt er schließlich. „Gut“, sagt Trulle. „Zuerst werden wir dir die Buch– staben beibringen.“ Die Großmutter aber ist immer noch nicht zufrieden. „Die Bienen kann ich allein melken“, sagt sie — ihr müßt wissen, daß die Bienen dort so groß wie hier– zulande die Ziegen sind und jeden Abend gemolken werden müssen —, „aber wer besorgt das übrige Viezeug? Und wer repariert dieses automatische Gerät, wenn es kaputtgeht? Eine Uhr wollte Hans auch noch bauen. Und überhaupt will ich nicht allein sein!“ Sie setzt sich und schmollt. Aber vereint finden sie Rat. Quina und Bombus bauen zwei Roboter, der eine kann alles reparieren, und der andere muß das Lehrbuch für Landwirtschaft aus– wendig lernen. Der kleine Teufel hat noch Semester– ferien, auch Bodo von der Sternenwiese bleibt noch da, weil er einen Bericht über den ganzen Vorfall schreiben muß, und über kurz oder lang wird man hier ein Ferienheim bauen, und des Teufels Großmutter wird Heimleiterin. Dann hat sie den ganzen Tag Gäste und ist nicht mehr allein. „Na schön“, stimmt die Großmutter zu. „Aber was ist mit der Uhr?“ „Mit der Uhr?“ fragt Hermann. „Wozu brauchst du eine Uhr, Großmutter?“ „Eine Uhr ist modern!“ sagt die Großmutter. „Alle, die ich kenne, haben eine Uhr. Manchmal sehen sie auf die Uhr, und dann wissen sie gleich, wie die Zeit vergeht! Für eine wie ich, die viel Zeit hat, ist es 56
manchmal wichtig zu wissen, daß sie vergeht!“ „Dann rate ich dir zu einer Eieruhr!“ sagt Hermann. „Eine Eieruhr ist sehr praktisch. Man muß sie nicht aufziehen, nur fallen lassen darf man sie nicht!“ „Wieso muß man sie nicht aufziehen?“ fragt die Großmutter. „Eine Eieruhr“, erklärt ihr Hermann, „besteht aus einem Ei. Du nimmst das Ei und kochst es. Wenn es hart ist, sind fünf Minuten um. Dann weißt du, daß die Zeit vergangen ist.“ „Und wenn ich zwei Eier koche, sind zehn Minuten vergangen?“ „Ja“, sagt Hermann, „nur mußt du die Eier nicht zur gleichen Zeit kochen.“ Da ist die Großmutter zufrieden. Schnuppi und die Großmutter haben einander lieb– gewonnen, sie umarmen einander und schluchzen herzzerreißend. Zum Abschied schenkt Oma den Weltraumfahrern einen Topf mit Zauberhonig, der einen alle Lügen glauben macht, nur die Wahrheit nicht. Und auch der kleine Gottlieb gibt den Reisen– den etwas mit: Er reißt sich mit einem Ruck seinen dünnen Schwanz aus und übergibt ihn Hermann. Hermann sieht ihn bestürzt an, aber Gottlieb lächelt: „Bei den Eidechsen und den Teufeln wachsen die Schwänze wieder nach. Heb ihn gut auf, er hat Zauberkraft. Wenn du ihn in die Hand nimmst, kannst du dir alles wünschen, was du möchtest. Aber es funktioniert nur dreimal!“ Hans umarmt noch einmal die Großmutter, er hat sich rasiert und ist kaum wiederzuerkennen. „Gute Reise!“ rufen die drei Zurückbleibenden. Hermann will gerade die Tür schließen, da reißt Bodo seine Sonnenblume aus dem Gürtel. „Halt!“ ruft er. „Beinahe hätte ich es vergessen: Ich muß euch doch verhaften und zur Erde zurückbringen. Ach du meine 57
Güte. Was machen wir denn da?“ Hans blickt ihn finster an. „Soll ich dir vielleicht die Flügel ausrupfen?“ fragt er. Bodo flüchtet hinter die Großmutter. „Du Grobian!“ schimpft er. Die Großmutter denkt nach. Alle denken nach, daß ihnen die Köpfe rauchen und sie bis zu den Knien im Gedankennebel stehen. Da sagt die Großmutter: „Warum sollst du sie denn verhaften, Teufel noch eins?“ „Warum?“ fragt Bodo. „Wart mal…“ Er murmelt: „… sind die oben Erwähnten festzunehmen und zur Erde zurückzubringen, da sie ein nicht volljähriges Besatzungsmitglied, die elfjährige Trulle, an Bord haben. Ja, jetzt weiß ich es wieder: Weil Trulle noch nicht zwölf ist!“ „Aber ich bin doch heute zwölf geworden!“ sagt Trulle. „Was?“ ruft die Großmutter. „Und da sagt mir keiner was von? Ihr Satansbrätlinge! Alles aussteigen! Jetzt wird Geburtstag gefeiert!“ So kommt es, daß die Expedition einen Tag später abreist, sogar mit gesetzlicher Genehmigung.
Drittes Kapitel Wenn unsere sieben Besatzungsmitglieder nicht zum Quarkstern müßten — was könnten sie nicht alles erleben! Voller Gefahren und Abenteuer steckt der Weltraum. Wir brauchen ja nur an den Moment zu denken, als sie am Kreideplaneten vorbeikommen. Der starke Hans sitzt am Fenster und lernt Buch– staben. Er ist schon bei F und sagt Wörter auf, die mit F beginnen: „Fahrrad, Fest, Fackel, Förster, Fußball, Fahne…“ 58
Sie fliegen dicht über den Kreideplaneten mit seinen großen Farnwäldern und seinen Entendrachen. So dicht, daß einer der Drachen Hans angrinst und sagt: „Fogel!“ Da reißt Hans das Fenster auf und schreit: „Vogel wird mit V geschrieben!“ Aber es ist gefährlich, bei fliegender Hütte das Fenster aufzureißen. Selbst der starke Hans wird vom Luftzug aus dem Raum gerissen und fällt kopfüber ins Kreidemeer. Als er wieder auftaucht, schaukelt vor ihm der fliegende Drachen, wie eine fette Ente auf den Wellen, und sagt: „Bei uns wird Fogel mit F geschrieben, so wie Festtagsbraten!“ Der Entendra– chen leckt sich genießerisch die Lippen und läßt keinen Zweifel daran, was er mit dem starken Hans zu tun gedenkt. Hans hat große Angst. Er taucht unter, bekommt die beiden Entenfüße zu fassen und zieht kräftig daran, so daß der Entendrachen vor Schreck mit den Flügeln zu schlagen beginnt und sich in die Luft erhebt. Hans läßt nicht los. „Hinterher!“ ruft er. Der Drachen fliegt der Hütte hinterher, daß ihm die Puste ausgeht. Wie erstaunt ist Hermann, als er Hans unter dem Drachen erkennt! Trulle aber hält dem starken Hans hinterher eine Strafpredigt: „Es wird während der Fahrt kein Fenster aufgemacht! Es hätte dir ja auch ein Meteor ins Auge fallen können!“ Kurzum: Langweilig ist es nicht an Bord der Blockhütte. Außerdem ist viel zu tun, Hermann muß sich um den Kurs kümmern, Trulle und Basil müssen für sieben Mann kochen, der starke Hans will das“ Alphabet lernen, Quina und Bombus haben immer mal etwas zu reparieren — am besten hat es Schnuppi. Der liegt den ganzen Tag herum und schläft. Nach einer Woche taucht vor ihnen ein dicht bewölkter Stern auf. Er liegt direkt auf ihrer Fluglinie. Hermann will ihn gerade vorsichtig umfliegen, da geschieht etwas Unerwartetes. 59
Aus einer der dicken weißen Wolken taucht ein Wald auf. Es ist ein richtiger Wald mit drei Rehen und einem Förster, der mitten in der Luft schwebt. Am äußersten Ende des Waldes steht ein Holunderbusch, und darin sitzt ein Kind. Das Kind schreit fürchter– lich; sicher hat es Hunger. Und vor dem Wald liegt ein Stein, was heißt liegt, er schwebt genauso in der Luft herum wie der Wald, aber auf dem Stein steht eine Frau und streckt ihre Arme nach dem schreien– den Kind aus. Sie kann es nicht erreichen, zwanzig Schritt Leere liegen zwischen ihr und dem Kind, und sie blickt verzweifelt. Hermann wendet die Block– hütte sofort, daß die Balken ächzen. Bald sind sie bei den beiden angelangt. Hermann ist ein geschickter Steuermann, er fliegt dicht heran, so daß Trulle nur die Tür aufmachen muß. Schon sind Mutter und Kind gerettet. Sie sitzen beide im Wohnzimmer auf dem Sofa. Der Schrecken steht ihnen noch im Gesicht geschrieben. Sie sehen aus wie Menschen; nur daß die Köpfe vielleicht ein bißchen größer sind. Trulle kocht der Mutter eine Tasse Kaffee und macht für das Kind einen Topf Milch warm. Die ganze Mannschaft der Blockhütte hat sich um die Gäste versammelt. Als die Frau wieder bei Atem ist, bedankt sie sich für die Rettung. „Es war wegen Heino“, sagt sie. „Er weiß genau, daß er nicht zum Licht kriechen darf. Aber er ist ungezogen, er hört nicht auf seine Mutter. Als ich ihn nicht mehr hörte, wußte ich, daß er ausgerissen war. Ich dachte mir schon, daß er das Licht sehen wollte. Ich bin ihm nachgegangen. Ich sah ihn, als es heller wurde. Ich wollte ihn noch fassen, aber da riß es mir schon den Boden unter den Füßen weg. Wenn ihr nicht gekommen wäret…“ Die Frau bedankt sich ein zweites Mal. Sie blinzelt 60
dabei, das Licht ist ihr offenbar ungewohnt. „Ich habe noch nie andere Menschen gesehen“, sagt sie. „Wir Huckedrusen leben im Dunkeln.“ „Ihr lebt im Dunkeln?“ fragen die Expeditions– teilnehmer erstaunt. „Ja“, sagt sie, „wir leben unter dem Boden, in einem Stern, der ist innen hohl. Man erkennt es daran, daß wir uns beim Laufen die Absätze abtreten. Früher, als wir außen drauf lebten, haben wir uns zuerst die Sohlen durchgelaufen. Früher lebten wir im Licht, aber jetzt geht das wohl nicht mehr. So ganz weiß ich auch nicht, wie alles zusammenhängt. Aber wer im Licht lebt, kommt um!“ „Wollen wir der Sache auf den Grund gehen?“ fragt Hermann. „Lieber nicht!“ sagt der starke Hans. Er ist stark, aber wenn er etwas nicht kennt, dann fürchtet er sich. „Du mußt sowieso landen“, sagt Trulle. „Wir müssen die beiden doch zurückbringen.“ „Fein“, freut sich Schnuppi, „endlich kann ich wieder einmal herum– rennen. Ich bin schon ganz eingerostet!“ Hermann begibt sich zum Pilotenstand auf dem Dachboden und setzt sich den alten Hut auf: Wir landen auf dem Huckedrusenstern! denkt er, und langsam nähert sich die Hütte den weißen Wolken, taucht darin ein und sinkt tiefer. Aber sie tut sich schwer: Es kostet alle Gedanken, gegen einen un– bekannten Widerstand anzukämpfen. Zugleich hört die Besatzung ein immer lauter werdendes Heulen. Die Wolken reißen plötzlich auf, ein Sturm tobt um sie herum, die Hütte ächzt und schwankt. Plötzlich kommt ein großer Steinbrocken direkt auf sie zugesaust, Trulle schreit schon auf, da kann Hermann noch einen leichten Schlenker machen — ssst, saust der Brocken dicht an der Hauswand vorbei. 61
„Das wäre ein Volltreffer gewesen!“ sagt der starke Hans mit bleichen Lippen. Als sie tiefer kommen — Hermann stehen schon die Schweißperlen auf der Stirn —, erkennen sie die Ursache des Heulens: Der Planet unter ihnen dreht sich rasend schnell wie ein Brummkreisel. Immer wieder lösen sich Felsbrocken, Bäume und Sträucher und werden davongeschleudert. „Hier können wir nie landen!“ sagt Trulle. „Ich will es versuchen“, sagt Hermann. „Wenn wir die gleiche Geschwindigkeit haben wie der Planet, geht es. Ich weiß nur nicht, wie wir es anstellen, daß wir nicht sofort davonfliegen, sobald ich diesen Hut absetze!“ „Das übernehme ich!“ sagt der starke Hans. Er wird schon mutiger. Hermann fliegt hinter einem Felsmassiv her, das sich unter ihnen vorbeibewegt. Er erhöht die Geschwin– digkeit. Als sie dicht am Felsen sind, reißt Hans die Tür auf. Er faßt nach dem nächsten Gebirgszacken und hält die Hütte daran fest. „Solange der Felsen nicht davonfliegt, sind wir sicher“, sagt Hans. „Aber du kannst die Hütte nicht ewig festhalten!“ meint Hermann. „Dort drüben ist eine Höhle!“ ruft Basil. Hans zieht und drückt, bis er die Hütte in der Höhle unter– gebracht hat. Den Eingang verbarrikadiert er mit schweren Felsbrocken. Jetzt sind sie einigermaßen sicher. Schnuppi und Bombus werden als Wache zurück– gelassen. Schnuppi mault, er wollte sich auslaufen. Aber was sein muß, muß sein. Die anderen verlassen die Hütte. Mit Händen und Füßen müssen sie sich dabei an den Felsen festhalten, weil die Zen– trifugalkraft sie nach außen schleudern will. Die Höhle 62
führt ins Innere des Berges. Langsam tasten sich die Expeditionsteilnehmer vorwärts. Sie müssen sich förmlich nach unten ziehen. Dann biegen sie um eine Ecke, und vor ihnen tut sich ein großer dunkler Raum auf. Sie können wieder aufrecht stehen. Sie sind im Inneren des Huckedrusensternes angelangt. Die Fliehkraft erlaubt ihnen, mit dem Kopf nach unten spazierenzugehen, ohne es zu merken. „Mach mal Licht!“ sagt Hermann zu Quina. Die schaltet ihren Rundumscheinwerfer ein, aber es ist niemand zu sehen. Sie gehen auf einer Art Gras, dessen Farbe sie nicht bestimmen können. Auch die Huckedrusin zuckt ratlos die Schultern. „Im Dunkeln bleiben wir immer zusammen“, sagt sie. „Ich weiß nicht, wo wir sind!“ „Trulle“, sagt Hermann, „du gehst nach oben, aber sei vorsichtig. Übernimm die Wache und schick Schnuppi herunter!“ „Immer wieder Mädchen!“ mault Trulle, aber sie geht natürlich. Nach einer Viertelstunde kommt Schnuppi angeschnüffelt. Man hört schon von weitem, wie er die Luft durch die Nase zieht. „Hier gibt es viele Kaninchen!“ erklärt er, als er auf den Spuren der Besatzung angelangt ist. „Außerdem gibt es Fledermäuse oder etwas Ähnliches!“ Noch einmal beschnuppert er die Huckedrusenfrau und läuft im Kreis herum. Er zieht die Kreise immer weiter. „Hier!“ ruft er plötzlich. Quina sucht ihn mit ihrem Scheinwerfer. Schnuppi hat eine Spur. Sie verfolgen sie. Sie marschieren erst über das Grasplateau mit seinen vielen Kaninchenlöchern, dann durch eine Senke, in der Wasser fließt, über Klippen hinweg; gut eine Stunde sind sie unterwegs. Basil beginnt zu knurren. „Wenn ich gewußt hätte, wie lang das ist, wäre ich geflogen“, sagt er zu Quina. „Wenn sich 63
dieser Hund mal richtig auslaufen will, muß ich doch nicht hinterherrennen!“ „Was soll ich denn sagen!“ murrt Quina. „Ich bin überhaupt nicht für solche Gewaltmärsche konstru– iert. Ich hab ja nicht einmal ein Fahrwerk!“ Sie marschieren noch eine Weile, dann setzt sich Schnuppi auf die Hinterbeine und knurrt leise. Hermann tritt neben ihn. „Da vorn ist jemand“, flüstert der Hund. „Wir müssen erst einmal schauen, wo wir sind“, sagt Hermann. „Diese Dunkelheit geht einem ja auf die Nerven! Quina, schalt mal die Scheinwerfer ein!“ Was dann kommt, ist für alle unerwartet. Als der Scheinwerfer aufblitzt, stiebt vor ihnen eine Wolke Fledermäuse auseinander, jedes Tier so groß wie ein Mann. Zugleich werden sie mit einem Steinhagel überschüttet. Ein Stein trifft Quinas Scheinwerfer und läßt das Licht verlöschen, ein paar andere Steine verbeulen nur ihre Blechhaut, die übrigen Steine, da sie kein rechtes Ziel hatten, treffen ins Leere. Kaum ist es wieder dunkel, beginnt die junge Huckedrusin zu schreien: “Heino, Heino!“ Sie tastet aufgeregt in der Dunkelheit umher und sucht offenbar ihr Kind. „Bitte, seien Sie ruhig!“ zischt Hermann sie an. „Sie merken doch, daß wir hier überfallen worden sind!“ Aber die junge Frau schert sich nicht um ihn. „Ich will mein Kind!“ ruft sie. „Heino, bist du hier?“ Der starke Hans hat schon eine Felsenklippe in der Hand und will sie gegen die Angreifer schleudern. Hermann aber hält ihn zurück. „Wir müssen erst wissen, was da vor sich geht!“ Der erwartete Steinhagel bleibt aus. Statt dessen kommt aus dem Dunkel eine Stimme: „Wer seid ihr? Seid ihr Huckedrusen? Sagt euren Namen!“ Hermann antwortet: „Wir sind Menschen von der Erde. Wir haben eine Huckedrusenfrau bei uns. Wir 64
haben sie im Weltraum gefunden. Sie sucht ihre Leute!“ Die Stimme aus dem Dunkel ruft: „Sie soll sagen, aus welchem Dorf sie ist!“ „Ich bin aus Wagsdorf“, schluchzt die junge Frau, die immer noch nach ihrem Heino sucht. „Hier ist Wägsdorf!“ sagt die Stimme. „Wenn ihr ehrliche Leute seid, dann heiße ich euch willkommen.“ „Aber“, stottert Hermann verblüfft, „warum werft ihr dann mit Steinen nach uns?“ Jetzt taucht aus dem Dunkeln die Gestalt eines alten Huckedrusen auf. Unter seinem Kinn sprießen ein paar spärliche Barthaare. „Ich bin Mirko“, sagt der alte Huckedruse. „Die Steine galten nicht euch. Ich begrüße euch und bitte um Vergebung. Wir führen Krieg mit den Fledermäusen, weil sie uns unsere Kinder rauben. Aber das ist eine lange Geschichte. Wir freuen uns, Menschen von der blauen Erde zu sehen, und wir freuen uns, jemand aus Wagsdorf zu begrüßen, denn wir wußten nicht, daß die Wagsdorfer noch leben.“ Sie werden von vielen Huckedrusen umringt. Das Dunkel wird von einigen Glühwürmchen erhellt, die die Huckedrusen in Flaschen halten. Feuer kennen sie offenbar nicht. Sie werden an eine rasch zusammen– gestellte Tafel gebeten. Die Huckedrusen bewirten sie mit mürbe geklopftem Kaninchenfleisch und Wasser. Die junge Frau setzt sich abseits. Die Fledermäuse haben ihr Kind geraubt. Als Hermann aus alter Gewohnheit die Runde seiner Getreuen zählt, stutzt er. Da sitzt Schnuppi, neben ihm der starke Hans. Quina versucht, die Beulen aus ihrer Blechhaut zu reiben. Aber wo ist Basil? Jetzt erst merken es die anderen auch: Basil fehlt. „Er hatte das Marschieren so satt, er wollte lieber fliegen!“ sagt Quina. 65
„Er wird sich verflogen haben“, sagt Mirko. „Aber er wird uns schon finden, denke ich. Erzählt von eurem Vorhaben, ihr Menschen. Früher, als wir noch im Licht lebten, haben wir euren Stern am Himmel gesehen. Jetzt seid ihr bei uns. Können wir euch helfen?“ Hermann erzählt, daß sie auf dem Wege zum Quarkstern sind, inmitten der Milchstraße, weil von dorther die letzten Signale seiner beiden Brüder ge– kommen sind. „Was nennt ihr Menschen Quarkstern?“ will Mirko genau wissen. Hermann gibt eine Beschreibung. „Aber das ist ja ganz in der Nähe“, ruft Mirko. „Das ist ja der Stern, den wir den Unbekannten Planeten nennen und der an unserem Unglück schuld ist!“ „Davon mußt du uns erzählen!“ sagt der Expedi– tionsleiter. Mirko lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Ich weiß nicht mehr, wie lange es her ist“, beginnt er, „da lebten auch wir Huckedrusen auf und nicht in unserem Stern. Unser Stern drehte sich langsam, so langsam, daß ewig die Sonne schien. Ihr habt ihn euch sicher nicht in Ruhe ansehen können, aber bei uns ist es sehr gemütlich. Wir hatten große Wälder, in denen lebten allerlei Tiere. Auf unserem Stern gab es riesige Seen mit vielen Fischen. Wir hatten genügend zu essen und waren glücklich und zufrieden. Es gab damals auf unserem Stern zwei Dörfer, das eine hieß Wägsdorf, und das andere hieß Wagsdorf. Wägsdorf erkannte man daran, daß dort die Häuser zwei Dächer hatten, in Wagsdorf aber hatten sie gar kein Dach. Daran wirst du auch den Unterschied der Bewohner erkennen. In Wägsdorf lebten wir Be– dachtsamen, die wir uns alles genau überlegten, alles wogen und wägten und lange brauchten, ehe wir uns zur Tat entschlossen. Obwohl es bei uns nie regnete, 66
bauten wir die Häuser mit zwei Dächern, weil es ja irgendwann einmal regnen könnte. So glaubten wir vorzusorgen, aber auf das, was dann in Wahrheit kam, waren wir alle nicht gefaßt. In Wagsdorf, dort, wo die Häuser ohne Dächer blieben, da lebten auch Huckedrusen. Sie gehört dazu“, sagt Mirko und weist auf die trauernde junge Frau. „In Wagsdorf hatte man immer Übermut im Kopf, und das meiste wurde getan, ehe es bedacht war. Die Diebe hängte man dort, eh man sie hatte; waren sie aber gefangen, dann ließ man sie aus Mitleid wieder laufen. Die Kinder bekamen nie Prügel für das, was sie getan hatten, nur für jenes, woran sie unschuldig waren. Vor allem aber gab es nichts, worauf sich die Wagsdorfer nicht eingelassen hätten. Sie kletterten zu sechst auf den höchsten Berg, den wir hatten, ein höchst gefährliches Unternehmen. Nur einer kehrte zurück, der sagte, es sei auf jeden Fall eine schöne Aussicht gewesen. Einmal setzten sich alle Wagsdorfer auf den Grund des Sees, im Mund ein Schilfrohr, damit sie atmen konnten. Sie saßen dort sechs Stunden, weil sie herauskriegen wollten, wie die Fische miteinander sprechen. Sie wußten es hinterher zwar auch nicht, aber das ganze Dorf nieste und hustete ein halbes Jahr lang, so hatten sie sich erkältet. Aber die Wagsdorfer, auch wenn sie ganz anders waren, waren Huckedrusen wie wir. Eines Tages traf sie ein großes Mißgeschick: Sie wurden in der Nacht von Fledermäusen überfallen, und ihnen wurden alle Kinder zwischen sechs und zehn Jahren geraubt. Die Wagsdorfer hätten es vielleicht erst am anderen Morgen gemerkt; eine Mutter aber war nachts auf– gestanden, weil ihr Jüngstes weinte. Da kam eine große Fledermaus ins Zimmer geflattert, riß den äl– testen Sohn an sich und verschwand. Die Mutter 68
schrie Zeter und Mordio, die schlaftrunkenen Wags– dorfer sprangen aus den Betten und warfen mit allem, was zur Hand war, nach den Untieren. Aber es half alles nichts, und am ändern Tag weinten und weh– klagten die Eltern. Die Wagsdorfer benachrichtigten uns. Wir glaubten uns sicher in unseren Häusern mit zwei Dächern und doppelten Fenstern. Aber eines Nachts zersplitterten die Scheiben, und die Fledermäuse drangen auch bei uns ein und verschwanden mit sechs Kindern.“ Als Mirko das erzählt, bricht eine Frau ein lautes Weinen aus. „Alle ihre Kinder hat sie verloren!“ sagt Mirko und legt ihr tröstend die Hand auf die Schulter. „Auf unserem Stern“, so erzählt Mirko weiter, „hatte es nie Fledermäuse gegeben. Sie mußten von anderen Planeten kommen. Wir hatten bald den Unbekannten Planeten, den ihr Quarkstern nennt, in Verdacht. Unsere Vorväter hatten diesen Planeten schon be– sucht. Wir wußten von alters her, daß dort Bäcker wohnten, ein lustiges und arbeitsames Volk, das früh aufstand und früh zu Bett ging. Jeder, der auf dem Planeten der Bäcker landete, bekam eine Brezel ge– schenkt. Auf dem Planeten entspringt auch der Zeit– fluß, der ins Meer des Vergessens fließt; dahinter aber liegt die Welt, in der es keine Zeit gibt.“ „Dort müssen wir Heinz und Helmut finden!“ sagt Hermann. „Laß dich warnen!“ sagt Mirko. „Es ist dort nicht mehr geheuer. Vor langer Zeit ist unsere Raumkugel zum letztenmal dort gewesen. Alles war öde und leer, und seitdem haben wir nichts mehr von den Bäckern gehört. Seit einiger Zeit aber kommen die Fle– dermäuse von dort und rauben uns unsere Kinder.“ „Aber warum mußtet ihr unter die Erde ziehen?“ fragt der starke Hans. 69
„Das war der letzte Streich der Wagsdorfer“, sagt Mirko. „Sie wollten den Fledermäusen endgültig den Garaus machen. Da haben sie einen alten Vulkan bis obenhin mit Pulver vollgestopft, ohne zu bedenken, was dabei alles geschehen konnte. Als die Fleder– mäuse kamen, zündeten sie die Ladung. Es kamen zwar alle Fledermäuse um, aber die Explosion wirkte wie das Schubwerk einer Rakete. Unser Planet begann sich immer schneller und schneller zu drehen. Wer sich nicht festhielt, wurde in die Höhe gewirbelt und nie wieder gesehen. Bisher haben wir gedacht, daß alle Wagsdorfer dran glauben mußten. Aber ihr habt ja Alea mitgebracht … Seitdem leben wir in unserem Planeten, im Dunkel, kümmerlich. Wir überlegen und denken nach, was zu tun wäre. Das schlimmste aber ist, daß die Fledermäuse auch hierher vordringen und daß wir seitdem mit ihnen im Krieg liegen.“ Plötzlich verstummt Mirko. „Ich höre ein Flügel– rauschen“, sagt er flüsternd. „Versteckt euch!“ „Da ruft jemand!“ erwidert Hermann. „Das ist — Basil!“ Er springt auf und schreit: „Hierher!“ Und er schwenkt ein Glas mit Glühwürmchen. Etwas kommt schwerfällig aus der Luft heruntergeplumpst und keucht und murrt: „Da sind wir ja in einer Gegend gelandet, Teufel noch eins!“ „Basil!“ rufen Hermann, Hans, Quina und Schnuppi. „Na ja“, knurrt Basil verlegen, „ist ja gut! Was meint ihr, wie froh ich bin, daß ich euch wiedergefunden habe. Und daß ich diesen verdammten Fledermäusen entwischt bin!“ „Du warst bei den Fledermäusen? Und wir dachten, du hättest dich verflogen!“ „Aber wie denn? Ich bin doch treu und brav hinter Quina hergezottelt. Aber als Quina den Schauplatz mit ihrer Lampe bestrahlte, da wollte ich auch etwas 70
sehen und bin eine Runde geflogen. Kaum war ich jedoch in der Luft, schwirrte eine Wolke Fledermäuse hoch, direkt auf mich zu. Eine davon trug einen Jungen…“ „Heino!“ rief die junge Wagsdorferin. „Ja, deinen Heino. Und sie rief mich an und sagte: ,Faß mit an!', und dann mußte ich wohl oder übel mit den Flattermäusen mitfliegen.“ „Haben sie ein Lager?“ „Ja“, sagt Basil. „Und das ist nicht weit von unserer Hütte. Ich war schon bei Trulle und Bombus und habe ihnen gesagt, sie sollten sich vorsehen!“ „Das ist sehr umsichtig von dir!“ lobt ihn Hermann. „Einer muß ja klaren Kopf behalten!“ sagt Basil bescheiden. „Aber an eine Ersatzlampe hast du nicht gedacht!“ sagt Quina giftig. „Nee“, sagt Basil. „Aber du hast doch eine im Hand– schuhkasten!“ „Ich?“ sagt Quina. „Tatsächlich … Aber die muß mir jemand hineingesteckt haben, ich kann nämlich nichts vergessen.“ „Das stimmt!“ sagt Basil. „Ich hab sie dir in das Fach gelegt.“ „Nun ärgert euch nicht dauernd“, sagt Hermann. „Wir müssen .einen Plan machen, wie wir diesen Bengel, diesen Heino, zum zweitenmal retten können!“ „Und zwar bald“, sagt Basil, „denn die Mäuse planen einen Überfall auf die Wagsdorfer, die genau gegen– über wohnen. Davon haben sie jedenfalls gespro– chen.“ „Und wir werden eine dieser Mäuse gefangenneh– men, damit wir mehr über den Unbekannten Planeten erfahren. Vielleicht wissen sie etwas über Heinz und Helmut…“ 71
„Wenn ich eine bescheidene Meinung äußern darf“, sagt Basil, „diese Fledermäuse sind nicht sehr in– telligent. Von denen erfahren wir gar nichts!“ „Das bleibt abzuwarten“, sagt Hermann. „Jetzt, Mirko, laß uns beraten, was wir tun!“ Die Beratung dauert lange. Immer, wenn Hermann glaubt, sie hätten sich geeinigt, sagt Mirko: „Ja, aber…“ Und wieder ist ihm etwas eingefallen, was sie seiner Meinung nach noch nicht bedacht hatten. Als er nach einem Vorschlag von Hermann erneut sagt: „Ja, aber, was geschieht, wenn uns die Fledermäuse vorher hören?“, da antwortet Hermann: „Auf den Tag, .an dem alles von selbst geschieht, wirst du lange warten können. Ich habe mir einst einen Tag gemacht, an dem sich alles von selbst aufräumte, das war zuerst ganz lustig. Aber als dann das Zimmer aufgeräumt war, da begannen die einzelnen Gegenstände sich aufzuräumen: Das Sofa kroch aus dem Bezug heraus, faltete ihn zusammen und legte ihn ordentlich hin, dann riß es sich die Beine aus, legte die Polsterwatte auf einen Haufen, bog alle Federn gerade, der Schrank zog sich die Schrauben heraus, legte sie in eine Schachtel und lehnte die Türen an die Wand, dann begann er sich in lauter Bretter zu zerlegen, und wenn der Tag nicht um gewesen wäre, hätte noch das Haus angefangen, sich selber als Ziegelsteine aufzustapeln. Wir gehen jetzt, Mirko; länger dürfen wir nicht warten!“ Hermann versammelt die Mannschaft um sich, und auch Mirko ruft alle Bewohner des ehemaligen Wägs– dorf herbei. Hermann fragt: „Quina, kann Trulle mithören, was wir hier beraten?“ „Ich rufe sie!“ sagt Quina. Kurz darauf ertönt aus ihrem Bauch– lautsprecher Trulles Stimme: „Hier sind Trulle und Bombus. Wir hören euch!“ 72
„Alles in Ordnung?“ fragt Hermann. „Ja.“ „Gut. Wir haben jetzt zwei Aufgaben. Wir müssen die Wagsdorfer vor dem Überfall der Fledermäuse war– nen. Das ist das wichtigste. Wir müssen außerdem versuchen, eine der Fledermäuse gefangenzunehmen, um hinter das Geheimnis des Quarksterns zu kommen.“ „Wir müssen wissen, wohin sie die Kinder bringen“, sagt Trulle aus dem Lautsprecher. „Wir müssen uns dazu teilen“, sagt Hermann. „Basil kennt das Lager der Fledermäuse. Er geht mit mir dorthin, und wir versuchen, eines der Tiere ge– fangenzunehmen. Die anderen ziehen mit Hans, Schnuppi, Quina und Mirko los, um die Wagsdorfer zu warnen. Wenn Basil und ich Erfolg haben, kehren wir mit der gefangenen Fledermaus zu dir, Trulle, in die Hütte zurück. Sobald du oder wir etwas Neues erfahren, melden wir uns! Alles klar?“ „Alles klar!“ sagen Trulle und die anderen. Als erste brechen Basil und Hermann auf. Danach läuft Schnuppi los. Er beriecht noch einmal Alea, die junge Huckedrusin, dann zieht er los, um die Wags– dorfer zu finden. Hans, Mirko, Quina und Alea folgen ihm. Sie durchqueren erst die Klippen, dann die Schlucht. Später kommen sie auf die weite Grasfläche. Sie gehen vorsichtig. Die Fledermäuse greifen zwar keine Großen an, aber sie wollen sie nicht warnen. Schnuppi muß eine neue Spur gefunden haben. Schnurstracks läuft er los. Nach einer Weile beginnt das Gelände steinig zu werden. Quina beleuchtet kurz einen der Steine. Er ähnelt geschmolzenem Glas. Die Zahl der Steine nimmt zu. Sie haben Mühe, zwischen den Felsblöcken durchzuklettern. 73
„Sag mal, Schnuppi“, fragt Mirko, „bist du sicher, daß dies hier der richtige Weg ist?“ „Ich kann mit meiner Nase eine Wurst auf hundert Schritt riechen“, sagt Schnuppi. „Es prickelt mir geradezu in der Nase: Hier müssen Leute von Wags– dorf in der Nähe sein.“ Plötzlich stehen sie vor einer hohen Felswand. Der Weg führt nicht weiter. „Wo sind nun deine Wagsdorfer?“ brummt der starke Hans. Schnuppi schnüffelt an der Felswand. „Hier muß ein Versteck sein“, sagt er. „Ich höre etwas …“ „Ja“, sagt Mirko. „Ich höre auch etwas wie Kindergeschrei und Stimmengewirr!“ Plötzlich raschelt es über ihnen, kleine Steine kom– men heruntergeschurrt. Quina läßt ihren Scheinwer– fer aufleuchten. Da sehen sie, wie über ihnen ein riesiger Steinblock sich immer mehr neigt, ins Rut– schen kommt… „Hinlegen!“ schreit der starke Hans. Sie gehorchen; der starke Hans aber bleibt stehen und hält die Hände auf. Der Steinblock kommt mit D–Zug–Geschwindig– keit heruntergestürzt; und der starke Hans fängt ihn sicher auf. Natürlich geht er etwas in die Knie, aber gleich steht er wieder und wirft den Felsen von sich. Im Scheinwerferlicht zeigen sich über der Felsenkante Köpfe. „Marko!“ schreit Mirko plötzlich auf. „Wir sind es, die Huckedrusen aus Wägsdorf!“ „Leuchte ihn an“, sagt Hans zu Quina. Die richtet den Lichtstrahl auf Mirko, der geblendet die Augen zukneift. Da ertönt von oben ein gellender Pfiff, und lauter Huckedrusen kommen die Felswand herab– geturnt, allen voran ein junger Mann. „Mirko“, schreit er und umarmt den Älteren. „Wir dachten schon, die Wägsdorfer hätte es in alle Winde 74
zerstreut. Wir haben euch für die Fledermäuse ge– halten, beinahe hätten wir euch umgebracht.“ „Wir sind gekommen, euch vor den Fledermäusen zu warnen. Sie planen einen neuen Überfall!“ „Wir fürchten sie nicht mehr, wir haben vorgesorgt. Aber wer ist das?“ fragt er Mirko. „Das sind doch keine Huckedrusen!“ Mirko stellt die Gäste von der Erde vor. „Sie wollen zum Unbekannten Planeten!“ sagt er. Marko pfeift durch die Zähne. „Dort, wo die Fledermäuse her– kommen?“ fragt er. „Du hast auch den Planeten im Verdacht?“ fragt Mirko. „Wir haben es genau gesehen, wir haben ja ein gutes Dutzend von ihnen abgeschossen, als wir den Vulkan mit Pulver gezündet haben!“ „Das war eure größte Dummheit bisher!“ sagt Mirko vorwurfsvoll. „Du hast ja recht“, sagt Marko. „Aber wir machen es wieder gut. Wir haben einen tollen Einfall. Wir wiederholen das Experiment. Aber diesmal zünden wir das Pulver nicht von oben an, sondern von unten. Dadurch geht die Schubkraft in die andere Richtung, und der Huckedrusenstern dreht sich wieder so langsam wie früher. Na — wie findest du das?“ „Das“, sagt Mirko, “muß man reiflich überlegen.“ „Das braucht man sich gar nicht zu überlegen, das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe!“ sagt Quina ungerührt. Nicht jeder mag die Wahrheit so ungeschminkt hören. Deswegen reden die Menschen manchmal mehr als nötig ist, weil sie der Wahrheit ein hübsches Mäntelchen umhängen wollen. Aber bei Quinas Konstruktion ist das vergessen worden. Sie sagt immer gleich, was sie denkt. „Ei, du vorlauter Blechkasten, morgen früh halten wir unser letztes Streichholz an das Zündloch, und dann 75
werden wir schon sehen, wer recht hat!“ ruft Marko aufgebracht. „Wir haben seit drei Wochen schwer gearbeitet, um unser Pulver in den Berg zu tragen, nun willst du uns wohl den Spaß verderben?“ Der starke Hans begreift überhaupt nichts, aber er versucht zu schlichten. „Warum müssen wir denn streiten?“ sagt er. „Wer streitet denn hier?“ fragt Marko. „Ihr streitet doch!“ „Darüber, daß eins und eins gleich zwei ist, darüber kann man sich nicht streiten“, sagt Quina, „ich will dir erzählen, was passiert. Wenn du das Experiment wiederholst, dann wird sich euer Stern doppelt so schnell drehen, wie er es jetzt schon tut, daraufhin wird er sich sehr erwärmen, und zwar bis zur Rotglut, was außerordentlich schon aussieht, wenn man weit genug weg ist — ihr aber werdet euch die Fußsohlen verbrennen!“ Mirko aus Wägsdorf zeigt sich beeindruckt. „Es ist immer besser, wenn man etwas dreimal überlegt.“ „Geht zum Teufel“, sagt Marko aufgebracht. „Wir haben euch nicht um eure Meinung gefragt!“ Und damit läßt er die vier stehen. Nur Alea folgt ihm, nachdem sie sich bei den Expeditionsteilnehmern bedankt hat. „Ist es wirklich so gefährlich?“ fragt der starke Hans, der noch nicht recht begriffen hat, was vor sich geht. „Er kann ja tun, was er möchte“, sagt Quina. „Er kann den ganzen Huckedrusenstern in die Luft sprengen, wenn die Drusen damit einverstanden sind. Aber wenn wir zusehen, werden wir lebendig geröstet. Und alle meine Lötstellen gehen auseinander!“ „Aber Quina!“ sagt Mirko. „Er will ja nur das Gute. Er weiß nur nicht, was er anrichten kann!“ „Es ist gleich, ob mich jemand aus Bosheit oder aus Dumm– 76
heit umbringt“, sagt Quina. „Wir müssen überlegen, wie wir das verhindern!“ „Er sagte vorhin, sie würden ihr letztes Streichholz benutzen“, mischt sich Schnuppi ein. „Wir könnten versuchen, das Streichholz zu entwenden!“ „Gut“, sagt Quina, „das ist die erste Idee!“ „Ich könnte noch mal mit ihnen reden!“ sagt Mirko. „Auch gut!“ sagt Quina. „Wie ist es mit dir, Hans? Was schlägst du vor?“ „Ich könnte ihnen den Vulkan mit einem ordentlichen Felsen verstopfen“, sagt Hans. „Das geht nicht“, sagt Quina. „Entweder der Fels wird fortgeschleudert, oder die ganze vulkanische Kanone geht nach innen los. Und dann bekommen wir hier drin einen ordentlichen Husten, von dem wir uns nie mehr erholen.“ Die vier verfallen in Nachdenken. „Wenn wir Her– mann fragen könnten!“ sagt Hans. „Mit Hermann haben wir erst Verbindung, wenn er wieder in der Hütte ist“, sagt Quina. „Aber vielleicht ist er schon da?“ Sie schaltet den Funkapparat ein. Doch in der Hütte meldet sich niemand. „Trulle müßte doch wenigstens Antwort geben!“ sagt Quina beunruhigt. „Vielleicht sollten wir sofort zur Hütte zurück!“ sagt der starke Hans ganz aufgeregt. Er beginnt wieder, sich zu fürchten. Das liegt daran, daß hier soviel vorgeht, was er nicht versteht. Jeder fürchtet sich vor Geistern oder Basilisken, solange er sie nicht kennt. Hat man ihnen aber erst mal die Hand gegeben und sich in Ruhe mit ihnen unterhalten, dann lacht man über seine Furcht. Deswegen fürchten sich die Un– wissenden so oft. Quina hat die Führung übernommen, weil sie offensichtlich die Gescheiteste ist. „Nein“, sagt sie, „was auch passiert ist, wir müssen erst verhindern, 77
daß uns der ganze Stern um die Ohren fliegt. Hans hat mich auf eine Idee gebracht. Könnten wir nicht dem Vulkan eine andere Richtung geben? Eine Rich– tung, die die Gase als Bremskraft wirken lassen?“ „Das müßte man sich einmal drei Tage überlegen“, sagt Mirko. Die Idee gefällt ihm. „Wir haben aber nur acht Stunden Zeit!“ sagt Schnuppi. „Ich werde lieber versuchen, das Streich– holz zu stehlen.“ „Gut“ sagt Quina. „Du schleichst dich ein und siehst dich nach dem Streichholz um. Du bist schwarz und schwer zu erkennen. Was wir aber außerdem brau– chen, ist ein langes Seil, das längste, das du auftreiben kannst. Mirko, du gehst am besten mit Schnuppi, klopfst an, und wenn man dich einläßt, dann mußt du die Tür so halten, daß Schnuppi unbemerkt eindringen kann.“ Nachdem Mirko und Schnuppi sich auf den Weg gemacht haben, sagt Quina zum starken Hans: „Jetzt müssen wir uns den Vulkan von außen ansehen. Wir müssen einen Weg suchen. Sieh dich mal um, ob du hier einen Lichtschimmer bemerkst.“ Sie blicken aufmerksam auf den zerklüfteten Boden unter sich. Hans stemmt plötzlich einen Felsblock zur Seite. Darunter ist ein Spalt. Sie zwängen sich, den Kopf voran, in die Kluft. Schon müssen sie sich festhalten, weil die Zentrifugalkraft sie nach außen schleudern will. Als sie sich der Oberfläche des Planeten nähern, hören sie wieder das Heulen und Pfeifen des Sturms. Sie kriechen in das Toben hinaus und klammern sich an jede Erhebung. Quina fotografiert mit ihrem Sil– berblick mehrere Male den vulkanischen Berg. Dann ziehen sie sich wieder in die Felsspalte zurück. Hans sieht staunend zu, wie Quina rechnet. An ihrer Brust blitzen dabei bunte Lämpchen auf und verlöschen wieder. 78
„So“, sagt sie plötzlich, „jetzt habe ich´s. Der Vulkan muß um neunzig Grad und sechs Minuten gedreht werden. Dann wirkt die Ladung als Bremstriebwerk. Also los, mach dich an die Arbeit!“ Der starke Hans kratzt sich den Kopf. „Einen Berg habe ich noch nie versetzt!“ sagt er. Aber gehorsam wie er ist, kriecht er an die Oberfläche, hält sich am Berg fest und versucht, ihn beiseite zu drücken. Die Stirnadern schwellen ihm an, er wird puterrot im Gesicht, er bricht auch ein paar Felsbrocken aus dem Berg — aber der Berg selbst rührt sich nicht. Niedergeschlagen kehrt er zurück. Quina ist nach– denklich. „Du warst meine einzige Hoffnung!“ sagt sie. „Wie das jetzt bewerkstelligt werden soll, das weiß ich auch nicht. Ich glaube, wir müssen alle Hoffnung auf Schnuppi setzen. Dann werden die Huckedrusen zwar auch weiterhin im Inneren ihres Sterns leben müssen, aber sie kommen nicht dabei um!“ Quina und der starke Hans kriechen durch den Spalt zurück. Sie machen sich auf eine lange Wartezeit gefaßt, denn Schnuppi wird es schwer haben, das letzte Streichholz der Wagsdorfer zu finden, Aber kaum haben sie sich niedergelassen, wird ein Fels– block beiseite gerückt, Schnuppi fliegt in hohem Bogen durch die Öffnung, und Mirko wird hinter– hergestoßen. „Laßt .euch hier nicht mehr blicken“, schreit Marko, „sonst hat euer letztes Stündlein geschlagen!“ „Wenn doch hier bloß die Sonne schiene“, knurrt Schnuppi, „ich möchte zu gern sehen, wie dieser Marko mit den Knien schlottert, wenn ich vier Meter lang vor ihm stehe. Aber in dieser Finsternis wird man ja trübselig!“ Schnuppi ist zornig und nieder– geschlagen zugleich. 79
Am liebsten möchte er jetzt jemanden in der Luft zerreißen, wenn er nur nicht so klein wäre! Nachdem er sich beruhigt hat, berichtet er. Sie hatten das letzte Streichholz schon gefunden. Die Wags– dorfer bewahrten es in einer alten Truhe auf. Aber als Mirko die Truhe öffnete, waren sie gefaßt worden. Marko hatte sie eigenhändig an die Luft gesetzt. „Aber das Seil habe ich!“ sagt Mirko. Er hat es sich unter seinem Wams um den Leib gewickelt. Das Seil wird uns auch nichts mehr nützen, denkt Quina. Aber sie spricht es nicht aus. Die Stimmung ist ohnehin trübselig genug. „Ich möchte einen Wunschgürtel haben“, sagt Schnuppi. „Er müßte alle Wünsche, die mir gelten, doppelt zurückgeben. Wünscht mir einer ein langes Leben, so soll ihm ein doppelt so langes Leben ge– wünscht werden. Wünscht mir aber jemand etwas Böses, dann soll ihm doppelt Böses geschehen. Dann würde sich Marko aber wundern!“ „Das taugt nichts“, sagt Mirko. „Marko wünscht uns ins Land, wo der Pfeffer wächst, nicht weil er boshaft, sondern weil er übereilt ist. Wenn du ihn zweimal ins Pfefferland wünschst, dann bist du ihn zwar los, aber du mußt daran denken, daß jeder einmal einen dummen oder übereilten Wunsch hat. Bald wirst du ganz allein auf der Welt sein!“ „Wenn wir nur ein Haar von einem Teufelsschwanz hätten“, seufzt der starke Hans. „Damit könnten wir uns den Berg in die richtige Lage wünschen!“ „Was sagst du?“ fragt Quina. Sie ist hellwach. „Wir haben ja einen ganzen Teufelsschwanz! Daß ich daran nicht gedacht habe! Aber er ist in der Hütte, und wir müssen Trulle und Hermann fragen!“ „Dann aber nichts wie hin zur Hütte“, sagt Hans. Und wieder tasten sich die vier durch die Dunkelheit. Als sie aus den Steinfeldern heraus sind, geht es sich 80
leichter. Wenn sie Schnuppis Nase nicht hätten! Schnuppi findet in der tiefsten Dunkelheit seinen Weg. Hoffentlich treffen wir die anderen unversehrt an — so denkt ein jeder von ihnen. Was aber ist mit den anderen geschehen? Hermann und Basil waren als erste losgegangen, das Lager der Fledermäuse zu finden. Basil flatterte voran und ließ sich plötzlich nieder. „Da vorn sind sie!“ flüsterte er. Vorsichtig krochen Hermann und Basil näher an das Lager der Fledermäuse heran. Die hockten un– beweglich wie dunkle Schatten am Boden. In ihrer Mitte lag der sechsjährige Heino, der Sohn von Alea, und schlief. „Merkwürdig“, sagte Hermann. „Warum stellen sie keine Wachen aus?“ „Soll ich eine gefangennehmen?“ fragte Basil. „Es ist riskant“, sagte Hermann. „Sobald sie einen Laut von sich gibt, erwachen die anderen und flüchten mit Heino. Wir müssen erst ihn hier herausholen.“ Basil flatterte in die Luft und ließ sich neben Heino nieder. Hermann schlich durch die Reihen der Fle– dermäuse und nahm den schlafenden Heino auf den Arm. Vorsichtig, auf den Zehenspitzen, verließ er das Lager. Basil folgte ihm. Unbemerkt entkamen sie und gelangten zur Hütte. Trulle öffnete ihnen. Als Bom– bus sie sah, hüpfte er vor Freude in die Höhe, be– dachte aber nicht, daß er durch die Drehgeschwin– digkeit des Planeten leichter war. Er verbog sich die Antenne auf dem Kopf, und Hermann hatte zwei Stunden zu tun, um sie zu richten. Das war vor allem deshalb ärgerlich, weil sie dadurch keine Verbindung zu Quina aufnehmen konnten. Während er Bombus reparierte, erzählte Hermann Trulle von ihren Be– gegnungen. Trulle hielt Heino auf dem Schoß. Heino 81
hatte noch eine ganze Weile geschlafen, aber jetzt ist er erwacht. Und seit er erwacht ist, weint er. Er kennt die fremden Menschen nicht und will natürlich zu seiner Mutter. Trulle versucht, ihn zu beruhigen. Hermann ist gerade mit Bombus' Antenne fertig. „Eines müssen wir unbedingt schaffen“, sagt er. „Wir müssen eine dieser Fledermäuse gefangennehmen. Aber jetzt werde ich erst mal mit Quina telefonie– ren.“ Er hat kaum den Satz ausgesprochen, als auf Bombus' Brust die rote Ruflampe aufleuchtet. „Bist du es, Quina?“ fragt Hermann. „Ja“, flüstert Quina. „Wir sind es, alle vier. Wir liegen kurz vor der Hütte. Aber wir können nicht zu euch. Ihr seid von Fledermäusen umgeben!“ Hermann rennt zum Fenster. Tatsächlich. Draußen flattern Fledermäuse umher. Offenbar suchen sie einen Eingang zur Hütte. „Sollen wir etwas unternehmen?“ fragt Quina. „Wir müssen dringend mit dir reden, sonst sprengt Marke den Huckedrusenstern in die Luft!“ „Was erzählt ihr da?“ fragt Hermann. „Hört mal – hat es noch zehn Minuten Zeit?“ „Noch genau eine Stunde und zehn Minuten!“ sagt Quina. „Dann bleibt erst mal, wo ihr seid.“ Hermann sieht Trulle an, die immer noch den brüllenden Heino wiegt. „Ich habe einen Verdacht!“ sagt er. „Wir werden uns jetzt eine der Fledermäuse fangen. Ich werde dazu kurz die Haustür öffnen. Wahrscheinlich wird eine Fledermaus hereinschlüp– fen. Ich schlage die Tür zu, und ihr, Basil und Bom– bus, haltet sie fest.“ Sie gehen in den Vorraum. Basil legt sich über der Tür auf die Lauer. Hermann reißt die Tür auf und schlägt sie sofort wieder zu. Wirklich ist sofort eine Fleder– 82
maus eingedrungen. Aber schon sitzt ihr Basil im Genick. Sie stürzen beide auf den Fußboden. Bombus faßt ihre Krallenbeine. Die Fledermaus beißt um sich. Da nimmt Bombus seine Eisenhand und hält ihr den Schnabel zu. „Halt sie fest“, sagt Hermann und betrachtet das zappelnde Ungeheuer ganz nahe. Dann faßt er in die Tasche seines Anzugs und holt einen Schraubenzieher heraus. Er betastet den Kopf des grauen Tieres, setzt den Schraubenzieher an und klappt einen Deckel auf. Als er hineingreift, sinkt die Fledermaus zusammen und rührt sich nicht mehr. „Ihr könnt sie loslassen!“ sagt Hermann. „Es ist, wie ich ahnte: eine künstliche Fledermaus, ein Automat. Alles da draußen sind Automaten. Sie beißen nur, wenn sie angegriffen werden. Sie sind konstruiert, Kinder an ihrer Stimme zu erkennen, sie zu suchen und zu rauben! Würde Heino nicht so schreien, wären sie nicht hier.“ Hermann schaltet Bombus' Funkanlage ein. „Ihr könnt kommen“, sagt er, „die Fledermäuse tun euch nichts. Ich werde jetzt ein Störsignal senden, bis ihr in der Hütte seid.“ Kurze Zeit später sind alle Expeditionsteilnehmer wieder im Blockhaus versammelt, dazu Mirko und Heino. Quina berichtet von Markos Vorhaben. Mirko wiegt inzwischen den verstummten Heino in den Schlaf. „Marko denkt: Frisch gewagt ist halb gewonnen!“ sagt Trulle. „Aber eben nur halb!“ sagt Hermann. „Nein, das ist sicher, dafür müssen wir schon einen der drei Wünsche opfern, die uns Gottlieb hinterlassen hat.“ Und er holt den Teufelsschwanz aus seinem Notiz– buch und hält ihn Quina hin. „Ich wünsche, daß der Vulkan in Wagsdorf seine 83
Lage um neunzig Grad und sechs Minuten in nord– östlicher Richtung verändert!“ sagt Quina. Da fängt der Teufelsschwanz sich an zu ringeln, und ganz deutlich kann man einzelne Buchstaben lesen: SCHON GESCHEHEN! „Schönen Dank, Gottlieb!“ sagt Hermann und legt den Schwanz wieder als Lesezeichen ins Notizbuch. „Da werden wir uns aber festhalten müssen, wenn Marko sein letztes Streichholz anzündet!“ meint Trulle. „Uns geschieht nichts“, erwidert Hermann. „Die Hütte steht festgekeilt. Aber…“ „Warum noch ein Aber?“ wundert sich Hans. „Wir haben doch alles, was wir uns vorgenommen haben, erreicht?“ Hermann krault sich den Kopf. „Wünsche schießen wie Unkraut“, sagt er. „Kaum ist einer erfüllt, hat man drei neue. Ich möchte gerne mehr über den Unbekannten Planeten wissen. Diese automatische Fledermaus hat mich neugierig gemacht.“ „Na, ich denke, wir fliegen ohnehin dort hinüber?“ sagt Bombus. „Ich habe da einen Plan“, sagt Hermann. „Quina, könntest du in einer halben Stunde einen Roboter bauen, der deine Fähigkeiten hat, aber so aussieht wie Heino?“ „Nein“, sagt Quina entschieden. „In dreißig Minuten geht so was nicht, wenn es Hand und Fuß haben soll. Drei Tage, keinen Deut früher!“ „Dann müssen wir die Fledermäuse alle gefangen– nehmen!“ sagt Hermann. Alle stellen sich auf. Und jedesmal, wenn Hermann die Tür öffnet, kommt eine Fledermaus hereingeschossen, wird überwältigt und bekommt die Sicherung entfernt. Kaum haben sie die letzte Fledermaus in die Besenkammer gelegt, da ruft 84
Quina: „Achtung, festhalten, jetzt wird Marko seine Pulverkammer zünden!“ Alle setzen sich in einen Winkel. Es dauert auch nicht lange, da rumpelt und dröhnt und zischt es, der Erd– boden zittert, die Balken ächzen, doch die Hütte bleibt stehen. Alle horchen auf: Der Lärm läßt nach, das Heulen und Sausen des Sturmes legt sich. Die Insassen verlassen die Hütte. Sie müssen sich nicht länger mehr festhalten, sie werden nicht in die Luft geschleudert. Der Vulkan hatte die richtige Richtung bekommen — jetzt dreht sich der Huckedrusenstern wieder so langsam wie früher! Mirko will vor Be– geisterung aus der Höhle stürzen, aber Hermann hält ihn zurück. Keinen Augenblick zu früh, denn jetzt fällt alles aus dem Himmel auf den Huckdrusenstern zurück, was einstmal fortgeflogen war. Zunächst kommen Felsbrocken herniedergesaust; sie bohren sich tief in den Boden ein. Dann kommt der Wald mit den Rehen und einem Förster herunter, ein See senkt sich hernieder, und kaum hat er seinen Platz ein– genommen, stecken die Fische den Kopf aus dem Wasser und sagen: „Wie schön, daß wir wieder zu Hause sind!“ Als endlich wieder alles an seinem alten Platz steht und auch die Sonne wieder durch die Wolken schaut, da hält es Mirko nicht länger. Er wirft sich der Länge nach ins Gras und ruft: „Wir können wieder im Licht leben!“ Plötzlich richtet er sich auf und sagt: „Wo sind meine Freunde? Wo ist Marko?“ „Ich möchte ihn zu gerne ein wenig zappeln lassen!“ sagt Quina. „Wenn du wissen willst, wo er ist, dann brauchst du nur in die Höhle hinunterzukriechen; aber sei vorsichtig, jetzt kannst, du da unten nicht mehr mit den Füßen nach oben herumlaufen!“ Mirko kriecht, mit einer Lampe versehen, in die Höhle hinunter. Und da sieht er in ihrem Schein, was passiert ist: Alle 86
Huckedrusen schweben in der Mitte des hohlen Huckedrusensterns kopfüber, kopfunter als Knäuel herum. Dazwischen zappeln auch ein paar Kaninchen. Denn jetzt, wo der Huckedrusenstern sich wieder langsam dreht, ist unten wieder oben, und oben ist unten. Und deswegen sind Mirko und seine Wagsdorfer nach unten gefallen, genauso wie die Wagsdorfer. In der Mitte haben sie sich getroffen, und dort schweben sie herum und wissen nicht, wie sie nach oben kommen sollen. Alle haben einen Zorn auf Marko, ihn knuffen und puffen sie, daß er jammert und schreit. Aber nicht umsonst hat Quina an das Seil gedacht. Mirko wirft es den Huckedrusen zu, und einer nach dem anderen krabbelt wieder an die Oberfläche und bricht in Tränen aus, als er das Sonnenlicht sieht. „Wie schön!“ rufen sie. „So lange, bis wieder die Fledermäuse kommen!“ brummt Basil. Da erinnern sich die Huckedrusen der Gefahr. Und sie beginnen unverzüglich, starke, feste Häuser ohne gläserne Scheiben, mit schmalen Luken zu bauen, durch die die Fledermäuse nicht eindringen können. Wagsdorfer und Wagsdorfer bauen gemeinsam; und gemeinsam werden sie alles vorher bedenken und dann tun. Der starke Hans trägt die Hütte ins Freie und repariert, was geflickt werden muß. Quina aber sitzt in der Werkstatt und arbeitet und stöhnt, und nach drei Tagen kommt sie tatsächlich mit einem kleinen Roboter an. Es ist ein pfiffiges Kerlchen; als Hermann ihn fragt, ob er auch den Mund halten könne, nickt er ein paarmal. „Warum sagst du nicht deutlich ja?“ will Hermann wissen. 87
„Weil ich doch den Mund halten soll!“ sagt der Kleine. Sie taufen ihn Quino, weil er äußerlich wie Heino aussieht, aber im Charakter ganz nach Quina kommt. „Du bekommst eine gefährliche Aufgabe übertragen, Quino!“ erklärt ihm Hermann im Beisein von Quina. „Du mußt unser Kundschafter sein. Schrei mal wie ein kleines Kind!“ „Uuuääah“, schreit Quino. „Sehr gut“, lobt ihn Hermann. „Ich erwecke jetzt die automatischen Fledermäuse wieder zum Leben. Ich setze ihnen die Sicherungen ein, und dann schreist du. Sie werden dich ergreifen und dich zum Unbekannten Planeten bringen. Dort wirst du zu den anderen gefangenen Huckedrusenkindern gebracht. Wir müssen wissen, was dort geschieht. Wenn wir auf dem Unbekannten Planeten landen, werden wir uns mit dir in Verbindung setzen. Antworte nur, wenn du allein bist. Wirst du uns helfen?“ „Ich bin stolz darauf, daß ich euch helfen kann!“ sagt Quino. Gerührt wischt sich Quina eine Ölträne von den Wimpern. „Gut“, bestimmt Hermann. „Dann wollen wir es so halten!“ Die Huckedrusen verstecken sich in ihren Häusern. Hermann setzt den Fledermäusen wieder die Siche– rungen ein. Draußen sitzt Quino und schreit „Uuuääah! Mama!“ Sofort flattern die Fledermäuse nach draußen. Sie umringen Quino, fassen ihn und steigen mit ihm hoch in die Luft. „Ob ich ihn wiedersehe?“jammert Quina. „Bestimmt“, sagt Hermann. „Und wenn wir ihn zwischen hunderttausend Fledermäusen herausholen müßten!“ Dann feiern alle ein Abschiedsfest. Marko will un– bedingt mit zum Unbekannten Planeten fliegen, aber 88
Hermann lehnt ab. ,,Du mußt erst lernen, besonnener zu werden!“ sagt er. „Aber meine Theorie war doch richtig!“ sagt Marko. „Unser Stern dreht sich wieder, wie er soll. Und das war meine Idee!“ Hermann und Quina sehen sich an. „Schon gut!“ sagt Hermann. „Aber wir haben keinen Platz!“ Dann setzt er sich den alten schwarzen Hut auf, und unter dem Winken und Jubeln der Menge erhebt sich die Hütte und steigt kerzengerade empor.
Viertes Kapitel Zwei Tagereisen soll der Unbekannte Planet entfernt sein, der auf den heimatlichen Sternkarten Quark– stern genannt wird. Er ist nicht zu verfehlen. Unter– wegs treffen sie viele Sonnen und Sterne — blaue und rote, dreieckige und runde, manchmal scheinen drei zur gleichen Zeit in die Fenster —, aber dieser Planet leuchtet fahlweiß schon von weitem. In der zweiten Nacht hat Bombus Wache. Bombus richtet seine Kristallaugen auf den weißen Planeten und schnurrt vor sich hin. Er schnurrt immer wie eine Katze, das liegt an seiner leicht veralteten Mechanik. Vom Schnurren aber fallen ihm nach einiger Zeit die Klappen über die Augen. Bombus träumt. Er träumt davon, daß er eine automatische Fledermaus bastelt, die alles tut, was er will. Er braucht sich nur in einen Sessel zu setzen, neben sich ein Glas mit Näh– maschinenöl … Da gibt es einen mächtigen Stoß. Der starke Hans fällt glatt durch das Bett, dem Lehnstuhl, in dem Hermann sitzt, brechen die Beine ab, Trulle liegt plötzlich unter 89
dem Sofa und das Sofa obenauf. Sie sind im Unbekannten Planeten gelandet. Ja, nicht obenauf, sondern darin. Wenn sie das Fenster auf– machen, fällt ein weißes Pulver herein. Es ist Weizen– mehl. Das war ihr Glück. Wären es Steine gewesen, so wären sie in tausend Stücke zerschellt. Hermann, der Wortkarge, bedenkt Bombus mit einem strafenden Blick. Bombus ist fassungslos. Wie soll er das Unglück wiedergutmachen? Hermann setzt sich den Schubhut auf und wünscht die Hütte an die Oberfläche. Aber sie rückt und rührt sich nicht. Zu tief steckt sie im Boden. Hermann schickt Bombus und Quina los. Sie müssen einen Tunnel schaufeln. Nach zehn Minuten erscheint Quina wieder in der Tür. Sie stelzt steifbeinig und schleppt Bombus hinter sich her. Alle Scharniere sind mit Mehl verstopft. Sie können sich nicht mehr bewegen. „Na, dann laßt mich mal ran“, sagt der starke Hans. Er öffnet die Haustür und holt tief Luft. Dann bläst er mit voller Kraft ins Mehl. Mit einem Atemstoß bläst er das Mehl über der Hütte fort. Als sich das herniederrieselnde Mehl wieder gesetzt hat, steht die Hütte auf dem Grund eines riesigen Trichters. So weit sie sehen können, liegt Mehl. Der ganze Quarkstern ist in Wirklichkeit ein Mehlstern. Da hat einer auf der Erde wieder nicht richtig durchs Fernrohr gesehen. „Ein Glück, daß wir dich haben!“ sagt Hermann anerkennend zum starken Hans. „Von jetzt ab ist höchste Alarmbereitschaft. Wir müssen auf alles gefaßt sein. Aber ich habe es im Gefühl: Wir werden Heinz und Helmut finden!“ So muß ein Expeditionsleiter sprechen. Er muß seinen Leuten Mut machen und sie auch mal loben. Sie machen einen Erkundungsgang. Wie die weißen Müller stapfen sie durch das Dunkel. Sie sind bei Nacht gelandet. Damit sie nicht einsinken, haben sie 90
sich Kuchenbretter unter die Füße geschnallt. Basil hat es gut. Er flattert ihnen mit seinen Fledermaus– flügeln voran. Plötzlich kommt er aufgeregt zurückgeflogen. „Dahin!“ ruft er und zeigt ihnen die Richtung. Un– versehens stehen sie vor einem Fluß. Es ist der Zeitfluß. Die Zeit fließt schnell. Sie gehen den Fluß entlang, da steht ein Wegweiser. Auf dem Wegweiser ist ein Spruch zu lesen: Dreie kommen, dreie gehn, dreifach kannst du dich besehn. Drei mal drei ist neun mal eins, finde drei, sonst find'st du keins. Der Wegweiser hat drei Arme. Einer zeigt den Zeit– fluß hinauf, einer hinab, und ein dritter Arm weist geradewegs in die Tiefe. Der Spruch ist schwer. Sie stehen davor und kratzen sich die Köpfe. Hermann geht um den Wegweiser herum. Plötzlich wird er blaß. Im Holz des Weisers stecken zwei Klappmesser. Sie sind bis zur Hälfte der Klinge hineingestoßen. Er zieht sein eigenes Messer aus der Tasche. Es gleicht den beiden anderen aufs Haar. Die Messer gehören Heinz und Helmut. Opa hatte jedem von ihnen zum zehnten Geburtstag das gleiche Messer geschenkt. „Sie sind hier!“ sagt er und zeigt auf die Messer. „Eines ist halb verrostet“, sagtTrulle und besieht sich die Klingen. „Das andere ist noch blank.“ „Sie sind in Gefahr!“ sagt Hermann. „Wir müssen ihnen helfen.“ „Ich werde jeden zu Mus quetschen…“, beginnt der starke Hans, aber Hermann unterbricht ihn. „Wir müssen sie erst finden“, sagt er. „Wir werden diesen Erkundungsgang etwas ausdehnen. Wir müssen mehr über die Bewohner dieses Sterns erfahren.“ „Soll ich Quino rufen?“ fragt Quina. 91
„Versuch es!“ sagt Hermann. Quina schaltet das Rufzeichen ein. Aber niemand meldet sich. „Wahrscheinlich würde er sich in Gefahr bringen!“ sagt Hermann. „Du hast ein sehr kluges Kind, Quina! Ich schlage vor, daß wir uns trennen. Auch ich stoße mein Messer in diesen Pfahl. In vierundzwanzig Stunden wollen wir uns hier wieder versammeln und beraten, wie wir weiter vorgehen. Denkt daran: Wir kommen in friedlicher Absicht. Kränkt niemanden und seid höflich. Aber seid auch vorsichtig. Wir wissen nicht, ob uns hier jeder gut gesinnt ist!“ Sie geben einander die Hände und umarmen sich. Dann zieht der starke Hans mit Bombus und Quina flußabwärts, Trulle geht mit Basil dem Fluß entgegen, und Hermann drückt Schnuppi an sich, nimmt einen Anlauf, hält sich die Nase zu und springt, die Füße voran, in die Tiefe. Hermann traut sich bis heute noch nicht, einen Kopf– sprung zu machen. Und nun werden wir zusehen, wie es einem jeden ergeht.
Der starke Hans stapft mit Quina und Bombus durch das weiße Mehl. Quina und Bombus sind frisch geölt, das Laufen macht ihnen Vergnügen. Nach einer Weile sagt Hans: „Teufel noch eins, mir rutscht die Hose. Das kann nur eines bedeuten: Ich muß was essen. Wenn ich die Lage richtig betrachte, wird das wohl eine Mehlsuppe sein! Oder warte mal: Vielleicht gibt es Fische in diesem Fluß?“ Hans greift in die Hosentasche und leert sie aus: Bindfaden, Kreisel, einen Frosch, einen Schrauben– zieher, einen Apfel, was man alles so braucht. Ganz unten ist ein Loch. Er hat sich schon lange überlegt, ob er es mal zunähen soll, weil ihm immer die rechte 92
Hand durchs Loch rutscht und er manchmal den Frosch oder das Taschentuch verliert. Um das Taschentuch ist es nicht schade, aber ehe man wieder einen Frosch hat, das dauert seine Zeit. Aber er hat immer gedacht, wer weiß, wozu es nütze ist, man kann alles im Leben gebrauchen, wenn man alte Nägel aufhebt und die krummen wieder gerade klopft, dann hat man stets Nägel zur Hand. Vielleicht braucht man auch einmal ein Loch, es muß doch einen Nutzen haben, sonst wäre es nicht erfunden worden. Und jetzt ist die Zeit gekommen, wo er es braucht. Er braucht es, um Fische zu fangen, jedes Fischernetz hat Löcher, damit die Fische gefangen werden, das Wasser aber durchfließen kann. Ein Fischernetz hat natürlich viele Löcher und diese Hose nur eins, aber Hans braucht ja auch nur einen Fisch. Er hängt die Hose in den Fluß — und wirklich, als er sie wieder herauszieht, steckt in der Hosentasche ein Fisch, kann nicht vor–, nicht rückwärts und rollt die Augen. Als der Fisch Hans sieht, sagt er: „Laß mich leben, lieber Hans!“ „Und warum?“ fragt Hans. „Darum“, sagt der Fisch. „Du läßt mich leben, ich lasse dich leben!“ „Ja, das ist richtig“, sagt Hans verblüfft, „du läßt mich leben, ich lasse dich leben! Entschuldige bitte!“ Und er wirft ihn in den Fluß zurück. Da steckt der Fisch seinen Kopf aus dem Wasser und sagt: „Geh nicht weiter, lieber Hans, das ist mein Rat!“ „Hm“, brummt Hans und ißt erst mal den Apfel. Als er satt ist, sagt er: „Ich muß ja weitergehen, hab´s versprochen.“ Und wandert wieder mit Bombus und Quina den Fluß abwärts. „Donner und Doria“, sagt er nach einer Weile, „jetzt werden mir auch noch die Schuhe zu groß. Es ist ja 93
geradezu verhext!“ Wie er so unschlüssig dasteht, steckt der Fisch den Kopf aus dem Wasser und sagt: „Geh nicht weiter, lieber Hans, das ist mein Rat!“ Und verschwindet mit einem Flossenschlag. Hans blickt verdutzt in den Fluß, dann sagt er zu Bombus und Quina: „Ach was, wenn man auf jeden Karpfen hören wollte. Geh ich eben barfuß!“ Und weiter läuft er, den Fluß abwärts, und hinter ihm her hüpfen Bombus und Quina. Mit einemmal aber bleibt er stehen und sagt: „Hier geht es nicht mit rechten Dingen zu. Jetzt werden mir auch noch die Ärmel zu lang.“ Und wie er steht und überlegt, steckt der Fisch den Kopf aus dem Wasser und sagt: „Du läßt mich leben, ich laß dich leben. Geh nicht weiter, lieber Hans!“ Hans stürzt ans Wasser und will den Fisch fragen, aber der ist untergetaucht. Im Wasser erblickt Hans sein Spiegelbild: Er ist ein kleiner Junge geworden, der in viel zu großen Sachen steckt. Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen: Er ist mit der Zeit ge– wandert, immer auf das Meer der Vergangenheit zu. Dabei ist er immer jünger geworden. Noch eine Stunde, und er wäre ein Säugling gewesen! „Wir kehren um“, sagt er zu Bombus und Quina. Und sie kehren um. Aber sie kommen nicht weit. Mit einemmal stehen sieben Milchbärte auf dem Weg, sieben Halbriesen, die sind so groß wie ein Mensch, nur einen Mund haben sie, so groß wie ein Scheunen– tor. Und alle haben schlampige Pullover an. Endlich mal ein Einwohner! denkt Hans und sagt: „Guten Abend, liebe Leute, ich möchte Sie gerne etwas fragen!“ Aber die Halbriesen benehmen sich sehr unhöflich. 94
„Sieh dir diesen Bubi an“, sagt der erste. „Geht hier spazieren, ohne uns zu fragen!“ sagt der zweite. „Er muß was aufs Maul kriegen!“ sagt der dritte. Hans ist gutmütig; auch denkt er an Hermanns Worte: sich freundlich erweisen! „Haha“, lacht er. „Sie machen gewiß Spaß. Ich würde gerne wissen, wo der Weg zur nächsten Stadt ist.“ „Der Mann ist neugierig“, sagt der vierte Halbriese. „Der Mann ist zu neugierig“, sagt der fünfte Halb– riese. „Dir wird gleich die Neugier vergehen“, sagt der sechste. Der siebente holt zu einem Schlag aus, aber den wartet Hans nicht mehr ab. Er bückt sich, hebt den Weg hoch, auf dem die sieben stehen, zieht ihn an sich, so daß sie alle sieben übereinanderpurzeln, dann rollte er den Weg mitsamt den sieben Groß– mäulern zusammen und steckt ihn in die Tasche. Nicht umsonst war er schon als kleiner Junge der starke Hans. Sie gehen ein Stück Weges zurück, schon passen Hans die Schuhe wieder, da versperren ihnen siebzig Milchbärte den Weg. „Jetzt müßt ihr mithelfen“, sagt Hans zu Bombus und Quina. Er zieht aus seiner Hosentasche den Bind– faden, gibt Bombus und Quina das eine Ende in die Hand und behält das andere. Die beiden hüpfen hastduwaskannstdu um die siebzig Halbriesen herum, bringen das Bindfadenende zu Hans zurück, und ehe die siebzig noch begreifen, was geschieht, hat Hans schon die Ende straff gezogen, macht einen Knoten hinein und wirft das ganze Bündel Milchbärte in den Fluß. Das Wasser spritzt auf, und schon strömt es wieder glatt dahin. „Freundlich sind sie gerade nicht hierzulande“, sagt Hans und geht weiter den Weg zurück, den er gekom– 96
kommen ist. Gerade als ihm die Hose wieder paßt, da stehen mit einemmal siebenhundert halbriesige Milchbärte da und schreien und schimpfen. Zweihundert bläst der Hans mit einem Nasenloch hoch in die Luft und dreihundert mit dem anderen, aber immer noch sind genügend da, die hängen sich ihm an Arme und Beine, und soviel er auch wegschleudert, am Ende haben sie ihn, Quina und Bombus mit dicken Tauen gefesselt. Nun ist guter Rat teuer. Im Triumphzug verschwin– den die Milchbärte mit ihren Gefangenen in eine Höhle. Viele Stufen geht es hinab, drei Tore werden aufgeschlossen, dann stehen sie vor einem Haus mit lauter vergitterten Fenstern. „Hier hinein!“ befiehlt der größte Milchbart. Und die drei werden jeder in eine Zelle gestoßen. Klapp, fallen die Türen zu. Wer hilft ihnen? Trulle vielleicht? Trulle geht den Fluß aufwärts. Das Wasser rauscht und blinkt. Links und rechts sind Felswände aus Butter zu sehen. Basil, der voranflattert, hat davon gekostet. Nach einer Weile bekommt Trulle Herzklopfen. Ihr wird schwach in den Knien. Sie bleibt stehen und denkt: Ich werde etwas essen. Mehl ist da, Butter auch — wenn ich noch irgendwo Zucker auftreibe, könnte ich einen Kuchen backen. Sie stöbert in einem Gebüsch herum, das unweit zu sehen ist. Plötzlich schießt ein Hase hoch und rennt davon. Aber Trulle rennt nicht hinter dem Hasen her, sondern biegt die Zweige des Gesträuchs auseinander und wahrhaftig: Da liegt das Nest des Hasen. Er saß auf drei Eiern, um sie auszubrüten. Vorsichtig nimmt Trulle eines der Eier hoch und leckt daran. Es sind Zuckereier. Sie zieht die Napfkuchenform aus ihrer Handtasche und 97
ruft nach Basil. „Komm, Basil“, sagt sie, „wir backen einen Kuchen. Während ich den Teig knete, kannst du schon die Form anwärmen.“ Basil legt sich hin und richtet die halbgeschlossenen Augen auf die Napfkuchenform. Sie wird sofort rotglühend. Trulle gibt ihm eins hinter die Ohren. Basil schließt die Augen fast ganz. Da bekommt die Form die richtige Temperatur. Trulle hat den Teig geknetet und greift zum Zuckerei, um es aufzuschlagen, da kommt der Hase angehop– pelt. „Tu meinen Eiern nichts“, sagt er. „Da sollen Osterhasen auskriechen.“ „Ich wollte aber so gerne einen Kuchen backen!“ sagt Trulle. „Laß meine Jungen leben, dann laß ich dich auch leben“, sagt der Hase. „Sonst frißt du mich?“ „Nein“, sagt der Hase, „aber ich geb dir einen guten Rat, der ist genausoviel wert!“ „Einverstanden“, sagt Trulle. „Geh nicht weiter!“ sagt der Hase. „Das ist alles?“ fragt Trulle. „Ich muß aber weiter– gehen, ich will sehen, was kommt.“ „Dann kostet es dich das Leben“, sagt der Hase. „Aber vorher esse ich noch was“, sagt Trulle un– erschrocken. Sie bäckt einen Fladen, der sättigt auch. Dann geht sie weiter. Sie geht vorsichtig. Sie glaubt, daß vielleicht plötzlich ein Untier sie überfällt. Basil muß dicht bei ihr bleiben. Sie laufen eine Weile, da beginnen ihre Knie zu zittern. „Merkwürdig“, sagt Trulle. „Mir ist so schwach — was kann das nur sein?“ Plötzlich sitzt der Hase vor ihr auf dem Weg und sagt: „Kehr um, Trulle, du hast meine Eier nicht gekostet, es soll dich nicht das Leben kosten!“ „Ach was“, sagt Trulle und bricht sich einen Stock ab. 98
„Ich werde mich ein bißchen darauf stützen, dann geht es schon besser.“ Als sie noch eine halbe Stunde gelaufen sind, beginnt Trulles Kopf zu wackeln, selbst wenn sie ihn mit beiden Händen festhält. Und wieder sitzt der Hase auf dem Weg und sagt: „Mir sind meine Eier geblieben, drum soll dir auch das Leben bleiben! Kehr um!“ Und er verschwindet. Trulle greift in die Handtasche und holt einen Spiegel heraus, um ihren wackelnden Kopf zu betrachten. Sie erschrickt sehr; aus dem Spiegel blickt ihr ein altes Mütterchen mit weißen Haaren entgegen, das wackelt mit dem Kopf und stützt sich schwer auf seinen Stock. Mit einemmal weiß Trulle, was geschehen ist: Sie ist dem Fluß der Zeit entgegengegangen, immer der Zukunft zu. Dabei ist sie älter und älter geworden — noch eine halbe Stunde, und sie wäre gestorben. „Schönen Dank, lieber Hase!“ ruft sie. Dann macht sie kehrt, um den Weg zurückzugehen. Aber das ist leichter gesagt als getan. Denn als sie sich umwendet, erblickt sie eine Mauer bis zum Himmel und darin ein kupfernes Tor, fest verschlossen. Keine Klingel, kein Klopfer ist zu sehen. „Da muß einer ordentlich anklopfen, wenn er gehört werden will!“ sagt Trulle. Sie wirft einen Stein gegen das Tor, daß es dröhnt. Im gleichen Augenblick kommt von oben ein Hagel Steine heruntergepoltert — wenn sie jetzt am Tor gestanden und geklopft hätte, wäre es um sie geschehen gewesen. „Sehr einladend ist das nicht gerade“, sagt Trulle. „Aber was hilft´s, ich muß durchs Tor indurch, schon um meine Falten loszuwerden.“ Sie ruft Basil. Basil blickt scharf aufs Schlüsselloch, schon sprühen die Funken. Die Tür tut sich mit lautem Knarren auf. Sie muß hunderttausend Jahre nicht geölt worden sein. Sie haben gerade Zeit, durchzuschlüpfen, da wird die 99
Tür von unsichtbaren Händen wieder zugeschlagen. „He“, ruft Trulle und blickt sich erschrocken um. Immer noch fließt neben ihr der Zeitfluß. Sie geht ihn zurück, und langsam hört das Kopfwackeln auf. Nur die Knie zittern noch. Und plötzlich ist wieder der Weg versperrt. Eine Mauer ragt in den Himmel, und darin ist ein eisernes Tor. Keine Klingel ist zu sehen, keine Wechsel– sprechanlage. Trulle stellt sich in gehöriger Entfer– nung auf und wirft ihren Stock gegen das Tor. Es rasselt fürchterlich, und aus dem Tor schießen hun– dert Lanzen hervor und verschwinden wieder. Hätte sie jetzt direkt an diese Tür geklopft — sie wäre von den Lanzen ganz und gar durchbohrt worden! „Seltsame Sitten sind das hier!“ sagt Trulle und winkt Basil. Und wieder öffnet sich unter Basils Blick das schwere Tor und schließt sich dröhnend hinter ihnen, kaum daß sie durchgeschlüpft sind. Trulle geht weiter und überzeugt sich im Spiegel, daß sie schon bedeutend jünger aussieht. Doch da steht eine dritte Mauer auf dem Weg, darin ist ein gläsernes Tor, und hinter dem Tor erkennt man eine Stadt, die vorher nicht da war. „Mal sehen, was für Überraschungen uns diesmal erwarten“, sagt Trulle zu Basil und wirft die Napf– kuchenform gegen das Glas. Von oben stürzt ein Schwall kochendes Wasser herab und hätte sie un– weigerlich verbrüht, wenn sie ans Tor geklopft hätten. Unter Basils Blick aber zerspringt das Tor in tausend Scherben, und sie sind plötzlich in den Straßen einer Stadt. Es ist freilich eine seltsame Stadt: Die Gebäude haben keine Fenster, meilenweit ziehen sich die Straßen zwischen weißen Mauern, in denen nur ab und zu eine Tür ist. Die Sonne scheint, aber der Himmel ist grau und unheimlich. Es fehlt ihm das Blau. Nur wenige Lebewesen sind in den Straßen zu 100
sehen. Sie sehen wie Menschen aus, manche könnten auch Huckedrusen sein. Seltsam aber ist: Sie lächeln nicht, sie grüßen nicht, sie reden nicht. Angetan mit grünen Arbeitsanzügen, hasten sie durch die Straßen und verschwinden schnell in einem der Tore. Trulle spricht einen an. „Entschuldigen Sie“, sagt sie, „darf ich fragen, was dies hier für ein Land ist?“ Aber der Angesprochene antwortet nicht. Er eilt wortlos weiter. Als Trulle einen am Ärmel festhalten will, reißt der sich los und ist verschwunden. „Ich glaube, du mußt mal auf Erkundung gehen“, sagt Trulle zu Basil. Basil nickt, breitet seine Flughäute aus, nimmt im Schweinsgalopp Anlauf und flattert los. „Ich warte hier!“ ruft Trulle. Sie befindet sich auf einem großen Platz. Mitten auf dem Platz steht das einzige schöne Gebäude, das sie bisher erblickte. Es ist ein Schloß. Trulle setzt sich auf die Eingangstreppe. Plötzlich tut sich die Tür des Schlosses auf, und ein Mann in weißem Kittel kommt herausgestürzt. Er hat es eilig; deshalb fliegt er in hohem Bogen über Trulle auf die Straße und tastet nach seinen Brillengläsern. Dabei schimpft er gräßlich. „Schmick schmeck schlurf schlarf“, sagt er. „Kiwetter trop top!“ Trulle hört verdutzt zu. Was ist das nur für eine Sprache? Sie hat sie schon einmal gelernt! Was dieser Weißkittel eben gesagt hat, das heißt: Ich werde dich auspeitschen lassen, du verdammter Schurke! Aber sie begreift den Sinn der Worte noch gar nicht; sie überlegt, zu welchem Land diese Sprache gehört. „Drum bim Schlaraffio?“ fragt sie schließlich. „Haben Sie eben Schlaraffisch gesprochen?“ „Ja“, sagt der Weißkittel, der Zirbelzwirbel heißt, plötzlich sehr höflich, „ehem, Sie sind wohl fremd hier?“ 101
„Ja“, sagt Trulle, „ich bin zum erstenmal hier und würde mich sehr freuen, wenn Sie mir einige Fragen beantworten könnten!“ „Sie sprechen wunderbar schlaraffisch!“ sagt der Weißkittel. „Ich bin Trulle Schwalbenschwanz“, sagt Trulle. „Daß hier Schlaraffia liegt, das hätte ich nicht gedacht. Ich habe es mir auch ein wenig anders vorgestellt!“ „Ja, ja“, lächelt Zirbelzwirbel, „die meisten denken an die Bratwurstbäume, aber das muß ja alles erst produziert werden, nicht wahr, ehe es gegessen werden kann, und dafür sind wir hier zuständig. Wir stellen große Mengen Milch und Honig her, ferner gebratene Tauben, Hühner und Gänse, die fliegen können, ferner Bratwurstbäume — die Bratwürste fallen automatisch ab, wenn einer unter dem Baum den Mund öffnet —, ferner Kofferradios, Plattenspie– ler, Fernsehapparate und Träume aller Art, Wellen– geplätscher, Mondschein und anderes mehr.“ Er unterbricht sich plötzlich und sagt: „Eh, wie sind Sie eigentlich hier hereingekommen, der Zugang ist doch wohl nicht einfach!“ „O ja“, lächelt Trulle vertrauensselig, „das kann man wohl sagen. Aber ich habe die Türen einfach auf– geschweißt, verstehen Sie?“ Professor Zirbelzwirbel lächelt. „Das ist entzückend, was Sie da zusammenlügen“, sagt er. „Kommt einfach in ihrem blauen Waschkleid und sagt, sie hätte die Tore aufgeschweißt, hihi! Ich sammle Lügen, müssen Sie wissen, aber nur gute! Wo sind Sie eigentlich her?“ Jemand, der Lügen sammelt, ist Trulle im Leben noch nicht begegnet. Nun weiß sie nicht recht, was sie antworten soll. Soll sie die Wahrheit sagen? Sie sagt erst einmal die halbe Wahrheit. 102
„Ich komme von außerhalb“, sagt sie, „vom Huk– kedrusenstern. Ich dachte, machst dir ein paar schöne Tage — da habe ich mich in meine Hütte gesetzt und bin losgeflogen!“ „Hoho!“ lacht Zirbelzwirbel, „mit einer Hütte fliegt sie im Weltraum herum! Man hat mich lange nicht mehr so angelogen! Sie sind entzückend, Gnädigste!“ Er scheint ein Verrückter zu sein, denkt Trulle. Das hat man ja häufig, daß Leute in weißen Kitteln ein wenig verquer denken. Aber er wirkt harmlos. Des– halb fragt sie: „Übrigens — haben Sie in letzter Zeit die Kollegen Helmut und Heinz Priezel getroffen? Sie sind von der Erde, müssen Sie wissen…“ Hier beginnen Zirbelzwirbels Augen zu funkeln, daß es sogar dieser zutraulichen Trulle auffällt. „Nein“, sagt er eisig, „da sind Sie leider vergeblich gekom– men.“ „Aber sie haben ein Zeichen hinterlassen“, beharrt Trulle. „Soso, ein Zeichen“, sagt der Professor. „Sagen Sie, sind Sie eigentlich allein?“ Trulle hört aufmerksam auf den Unterton dieser Frage. Jede Frage hat einen Ton und einen Unterton, und die können zwei ganz verschiedene Dinge mei– nen. Zum Beispiel kann man im normalen Ton sagen: „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?“ Wer aber auch den Unterton hört, der kann unter Umständen ganz deutlich verstehen „Sie hängen mir bis auf den Teppich zum Hals raus, Sie Affe!“ Trulle hat den Unterton nicht ganz verstanden, aber er gefiel ihr nicht. Sind Sie eigentlich allein? Was soll das heißen? Trulle würde etwas darum geben, Ge– danken lesen zu können. Sie erinnert sich plötzlich an die Schimpfworte. „Nein“, sagt sie, „ich bin nicht allein. Ich, ich und ich, wir sind schon drei, und außer– 103
dem habe ich fünfhundert Diener mit!“ „Warum fünfhundert?“ fragt Zirbelzwirbel verdutzt. „Die brauche ich zum Kämmen“, sagt Trulle. „Bei uns ist der Kamm noch nicht erfunden, aber die Zinken kennen wir schon. Da faßt eben jeder von den fünfhundert einen Zinken an, der größte komman– diert ,Zu-gleich!', und schon bin ich gekämmt.“ Professor Zirbelzwirbel ist begeistert. „Bisher“, sagt er, „habe ich gedacht, ich wäre der beste Lügner, aber das ist noch nicht erwiesen, wie ich sehe. Möchten Sie meine Frau werden?“ „Das ist eine Frage, die man nicht gleich abschlagen soll“, antwortet Trulle, „aber vorher hätte ich doch gern gewußt, mit wem ich das Vergnügen habe?“ „Ich bin Professor Zirbelzwirbel, habilitierter Zaube– rer und Herrscher über das gesamte Schlaraffenland, über alle Fleißmeisen, Milchbärte und Schlampam– pen“, ruft der Weißkittel und drückt die Brust heraus. „Ich stelle Ihnen mein Schloß zur Verfügung, bitte Sie allerdings, sich vorläufig nicht allzuweit entfernen zu wollen, und hoffe, daß Sie meinem Antrag Ihr ge– neigtes Ohr schenken werden!“ „Ich schenke und bedenke“, erwidert Trulle. „Ich hoffe, Sie erlauben einem einfachen Mädchen aus der sechsten Klasse, darüber in Ruhe nachdenken zu wollen!“ Zirbelzwirbel ruft: „Antonius!“ Ein Milchbartleutnant tritt aus dem Schloß; man sieht seinen Rang daran, daß er in seinem Pullover ein großes Loch hat. Ein Hauptmann hat zwei Löcher, und bei einem General sind es drei Löcher vorne und hinten, außerdem sind die Ellenbogen durchgestoßen. Darum kann jeder, der lange genug bei den Milch– bärten im Schlaraffenland dient, General werden. 104
„Zeig dieser Dame ihr Zimmer, Antonius!“ sagt Zir– belzwirbel. „Paß aber auf, daß sie sich beim Spa– zierengehen nicht verläuft, hoho!“ Nun müssen wir zusehen, wie es Hermann und Schnuppi ergeht. Hermann hatte dem starken Hans und Trulle noch nachgeblickt, bis sie hinter der nächsten Biegung verschwunden waren, dann hatte er allen Mut zu– sammengenommen und war, Schnuppi im Arm, in den Zeitfluß gesprungen. Nun sinkt er immer tiefer. Nicht kalt, nicht warm, nicht naß, nicht trocken ist die Zeit, die an ihm vor– überfließt. Zunächst wird es dunkler um sie herum, dann aber wechselt das Grau zu Blau, in ein immer helleres Blau, schließlich können sie wieder atmen und stehen mit einemmal auf festem Boden. Über ihnen ist ein Himmel von geradezu unnatürlichem Blau, drin leuchtet eine orangerote Sonne; sie stehen auf einer grasgrünen Wiese, und in der Ferne erklingt Musik. „Na, das ist doch was anderes als dieser düstere Mehlplanet!“ sagt Hermann zu Schnuppi, und Schnuppi piepst aufgeregt. „Ja, ja“, sagt Hermann und befreit ihn von seinem schwarzen Strickanzug. Da setzt sich Schnuppi glücklich in die Sonne und beginnt zu wachsen; im Handumdrehen ist er so groß wie ein Haus, und nun piepst er nicht mehr, sondern hat einen tiefen Baß bekommen. Der Boden zittert, als er fragt: “Was tun wir?“ „Wir sehen uns die Gegend an“, sagt Hermann. Diese Wiese dehnt sich menschenleer bis an den Horizont. Aber vor ihnen liegt ein hohes Gebirge, dessen Gipfel in Nebel gehüllt scheinen, und unweit davon liegt ein Wald. Hermann besinnt sich nicht lange. „Wir gehen in die Richtung, aus der die Musik kommt. 105
Vielleicht treffen wir einen, der uns Auskunft geben kann.“ Die Musik weht von jenem Gebirge her, das sie vor sich sehen. Schnuppi beugt seinen Kopf zur Erde, Hermann setzt sich in sein Ohr, und schon trabt der Tomatenhund los, immer fünfzig Meter auf einen Schritt. Mit jedem Schritt wird die Musik lauter, sie hören jetzt, daß sie aus Lautsprechern kommt. Vor ihnen wächst ein weißer Wall hoch. Aber es sind keine Felsen. Es ist eine zähe weiße Masse, die dampft und wirft Blasen, obenauf ist sie mit einem braunen Puder bestreut, und goldgelbe Bäche aus geschmolzener Butter rieseln die Hänge herab; das Ganze duftet — mmhm! Einfach wundervoll. Nur eines ist seltsam. Die Sonne scheint hier wie dort. Aber der Himmel jenseits des Gebirges ist nicht mehr blau. Er ist grau, wie an einem trüben Regentag. „Weißt du, was das ist?“ fragt Hermann in Schnuppis Ohr. Schnuppi schüttelt den Kopf. „Das ist ein Gebirge aus Grießbrei!“ ruft Hermann. „Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir im Schla– raffenland!“ „Das hast du gelesen!“ brummt Schnuppi. „Wieso?“ fragte Hermann. Schnuppi deutet auf eine große bunte Tafel. Darauf steht in riesigen Lettern: „Besuchen auch Sie Schla– raffenland! Erstklassige gebratene Spanferkel und Tauben vom Grill! Milch und Honig, soviel Sie wollen! Alles frei, alles umsonst! Eingang direkt durch den Grießbreiberg!“ „Siehst du, ich habe recht gehabt!“ ruft Hermann. „Sicher sind meine beiden Brüder hier drin. Ach, wenn Trulle und Hans auch hier wären! Wir müssen hinein!“ Schnuppi kratzt sich den Kopf. „Gibt es da auchHun– 106
dekuchen?“ fragt er. „Natürlich!“ ruft Hermann. „Und Bratwürste.“ „Ich bin ein Tomatenhund“, sagt Schnuppi. „Ich esse nichts außer einigen Krümeln Hundekuchen!“ „Ja, ja, entschuldige“, sagt Hermann. „Genauer gesagt: Ich hoffe, es gibt Hundekuchen. Ich weiß es natürlich auch nicht. Aber warum zögerst du?“ „Ich weiß nicht“, brummt Schnuppi, „ich weiß nicht, es will einfach nicht in meine Nase!“ „Also ich werde uns jetzt einen Löffel nehmen“, sagt Hermann und springt aus Schnuppis Ohr auf die Erde. „Dort drüben steht ein Brett mit tausend blanken Löffeln. Man nimmt einfach einen davon und ißt sich durch den Grießberg — schon ist man im Schlaraffenland!“ Schnuppi trottet hinter ihm her und sagt: „Warum machen die Burschen eigentlich solche Reklame? Horch!“ Die Lautsprechermusik ist verstummt. Dafür dringt jetzt die Stimme eines Ansagers herab: „Überzeugen Sie sich, meine Damen und Herren, von den Vor– zügen des Schlaraffenlandes. Vor unserem Mikrofon sitzt Kurt Karl Kugelrund, ein Schlaraffe aus dem Schlaraffenland. Gerade ist ihm eine gebratene Taube in den Mund geflogen, hören Sie nur, wie sie ihm schmeckt — schmatz, schmatz —, selbstverständlich werden die Knochen vorher ausgelöst. Sie haben nur zu kauen und zu schlucken und darauf einen guten Tropfen zu trinken, wie jetzt eben Kurt Karl Kugel– rund, der einen Schluck aus dem Bierteich genommen hat — schmeckt es Ihnen, Kurt Karl Kugelrund?“ Aus dem Lautsprecher hört man ein zufriedenes Grunzen, dann ist der Ansager wieder zu hören: „Darum nehmen auch Sie, Damen und Herren, einen Löffel vom Löffelbrett, und essen Sie sich zu uns durch, ins Paradies der Schlaraffen, ins Schlaraffen– 107
land!“ Es knackt, und wieder ist Musik zu hören. „Siehst du“, sagt Schnuppi, „findest du es nicht seltsam, daß man hier alles so anpreist, als sei es sauer Bier?“ „Und wie sollen wir herausbekommen, ob es sauer Bier ist?“ fragt der sonst so bedächtige Hermann. „Ach, dieser Duft! Ich muß von dem Grießbrei ko– sten!“ Und er nimmt einen der großen Holzlöffel vom Löffelbrett und kostet von dem duftenden Grießbrei. Sein Gesicht verklärt sich, und er schnalzt mit der Zunge. „Das mußt du probieren!“ sagt er zu Schnuppi. „Ein Gedicht, oh!“ Und er steckt den Löffel erneut in den Grießbrei. In diesem Augenblick ertönt ein Ruf. „Halt!“ ruft jemand. Schnuppi dreht sich um. Aus dem nahen Wald rennt ein Mann auf sie zu. Er ist bärtig und abgerissen, seine Wangen sind eingefallen. „Nicht essen!“ schreit er. „Gefahr!“ Die Lautsprecher werden lauter, als ob sie ihn übertönen wollen. Schnuppi glaubt eine Sekunde lang an einen Angriff. Er fletscht die Zähne, aber dann sieht er, daß der Mann vor Anstrengung taumelt und daß es ihm Mühe macht, zu laufen. „Weg da!“ schreit der Mann und will Hermann aus dem Grießbrei zerren. Aber mit Hermann ist eine seltsame Verwandlung vor sich gegangen. Er schlägt mit dem großen Holzlöffel um sich und ist nicht bereit zuzuhören. Er stopft vielmehr den Grießbrei in sich hinein, als hätte er sich sein Lebtag nicht satt ge– gessen. Als der Bärtige wieder nach ihm greift, haut er ihm den Holzlöffel auf den Kopf, daß jener zu– sammenbricht. Ohne eine Geste des Bedauerns wendet er sich wieder seinem Grießberg zu. Nun wird es Schnuppi unheimlich. Er holt mit seiner gewaltigen Pfote Hermann aus der Höhle, die er schon 108
in den Grießbrei gegessen hat, und kümmert sich nicht um sein Toben und Schreien. Er legt ihn neben den Bärtigen auf die Erde und hält ihn fest. Gegen Schnuppi kommt Hermann nicht an. Er beruhigt sich etwas. Aber er kennt offenbar Schnuppi nicht mehr. Er lallt wie ein kleines Kind: „Grießbrei haben! Brei haben!“ und wimmert. Schnuppi sitzt da und blickt bekümmert die beiden an, die vor ihm liegen. Seltsam, denkt er, sie sind sich ähnlich. Wenn der Bart nicht wäre … Aber ob ähnlich oder unähnlich, er weiß nicht, was er tun soll. Und in seiner Verzweiflung fängt er an zu heulen. Huhuuu! Huhuuu! Und die Tränen tropfen auf die beiden nieder und waschen Hermanns grießverschmiertes Gesicht sauber. Der Bärtige erwacht von dem Geheul. Er betastet seinen Kopf, den jetzt eine große Beule vom Schlag mit dem Holzlöffel ziert. Dann sieht er Hermann neben sich liegen und blickt Schnuppi an. „Hast du ihn aus dem Grießbrei herausgeholt?“ fragt er. Schnuppi nickt. „Na, da habt ihr Glück gehabt“, sagt der Bärtige. „Aber jetzt müssen wir hier weg. Kannst du mich auf deinen Rücken heben?“ „Hm“, brummt Schnuppi und hebt ihn mit dem Maul hoch. Der Bärtige winkt und schreit: „Duck dack, dick dick pong!“ Da kommen aus dem Wald noch ein paar Zottige, Verwilderte gelaufen, daß man gleich vor ihnen ausreißen möchte. Schnuppi behält sie scharf im Auge, aber sie sind sehr freundlich und schleppen Hermann mit sich in den nahen Wald. „Kocht ihm Wermut, den bittersten, den wir haben!“ ordnet der Bärtige an. „Er muß wieder ein Mensch werden“, erklärt er Schnuppi. „Er hat schon zuviel von dem Grießbrei gegessen!“ Die anderen Zottigen brühen ein abscheulich riechendes Getränk auf, halten Hermann 109
die Nase zu und schütten es ihm in den Mund. Hermann schluckt und schmatzt. Plötzlich schlägt er die Augen auf, und das sind die Augen des bedächtigen und entschlossenen Hermann, nicht mehr der leere Blick jenes schmatzenden Grieß– breisäuglings. Hermann richtet die Augen auf Schnuppi, dann auf den Bärtigen. Mit einemmal werden sie ganz groß, und er sagt: „Heinz!“ Der Bärtige guckt verdutzt. „Ich bin Hermann“, sagt der kleine Hermann. „Hermann, dein Bruder! Ich suche dich!“ „Hermann! Männel! Guggi!“ ruft der Bärtige, und die beiden Brüder sinken sich in die Arme. Die Szene ist so rührend, daß alle losweinen, am lautesten Schnuppi. „Huhuhu!“ heult er. Und im Nu hat er alle naß geheult. „Ach, Hermännchen!“ sagt Heinz. „Wenn du wüß– test, wohin du geraten bist!“
Fünftes Kapitel Nachdem Heinz und Hermann einander begrüßt haben, stellt Heinz seine Gefährten vor. „Das ist Zorn“, sagt er, „das ist Zorniger, und das ist Am– zornigsten.“ Die drei sehen furchterregend aus: Sie tragen nämlich dichte Barte, die nur ihre hellen Augen frei lassen. Zorn hat einen roten Bart, Zorniger einen schwarzen, und Amzornigsten trägt einen dichten silbernen Voll– bart. Aber sie sind nicht etwa ruppig, sondern sehr höflich und zuvorkommend. Die drei Männer verbeugen sich vor Hermann. „Wir würden dir gerne etwas zu essen anbieten“, sagt Heinz, „aber wir müssen heute erst nach Beeren und Wurzeln graben, es ist nichts da.“ 110
„Nun, mit frischen Tomaten kann ich aushelfen“, sagt Hermännchen und ruft nach Schnuppi. Schnuppi, der Tomatenhund, trägt schöne rote Tomaten. Die Schlaraffen und Heinz wissen sich vor Freude kaum zu fassen. „Wir sind am Verhungern“, sagt Heinz. „So nahe beim Schlaraffenland lebt ihr von Beeren und Wurzeln?“ fragt Hermann. „Wie kommt es über– haupt, daß du so lange nichts von dir hast hören lassen? Und wo ist Helmut? Ist eure Rakete noch ganz?“ Heinz erzählt seine Geschichte. „Wir sind vor sieben Jahren auf diesem Planeten gelandet. Er steht als Quarkstern in den Sternkarten, aber…“ „… er besteht in Wahrheit aus Mehl“, sagt Hermann. „Dann bist du auf der Mehlseite gelandet“, sagt Heinz. „Der Planet besteht aus Mehl, Eiern und Butter, er hat ein Zuckergebirge und einen Mar– meladensumpf. Er hat sogar eine Quarkebene. Auf ihm fließt der Zeitfluß, und dahinter liegt das Schla– raffenland. Meine Begleiter sind Schlaraffen.“ „Es war ein schönes Land, das Schlaraffenland“, sagt Zorn, der älteste der drei Männer, „wir lebten froh und zufrieden hier. Es gab alles, was wir brauchten. Die einen buken Kuchen und Torte, die anderen machten Musik, und alle zusammen aßen wir auf, was gebacken und gebraten wurde.“ „Und dann?“ fragt Hermann. „Dann ist ein Zauberer gekommen, von dem wir wenig wissen“, sagt Zorniger. „Es können auch mehrere gewesen sein. Vielleicht hätten wir mit ihnen fertig werden können, wenn die Schlaraffen einig geblieben wären. Aber der Zauberer hat sie glauben gemacht, die Musiker und die Bäcker, die seien Feinde. Und dann haben die Musiker nicht mehr für die Bäcker gespielt, und die Bäcker haben nicht mehr 112
für die Musiker gebacken. Und als sie uneins waren, waren sie leicht zu verzaubern. Wir wissen nicht, wer jetzt über das Schlaraffenland regiert, aber es ist verzaubert.“ „Ja“, sagt Heinz, „die Bäcker oder Fleißmeisen, wie sie sich jetzt nennen, arbeiten in einer großen Fabrikstadt, die Professor Zirbelzwirbel hat bauen lassen. Sie haben die Musik völlig vergessen, sie arbeiten wie die Kümmeltürken und denken an nichts, sondern arbeiten nur. Es sind keine Schlaraffen mehr, man kann sich mit ihnen nicht unterhalten, sie legen sich abends hin, ruhen ein wenig, und früh arbeiten sie wieder und produzieren gemästete Tauben und pumpen die Teiche voll Milch und Honig.“ „Und was geschieht damit?“ fragt Hermann. „Das wird in den Teil des Schlaraffenlandes gebracht, wo die Musiker leben. Die Musiker machen keine Musik mehr, es wird ihnen ja welche vorgespielt. Die Musiker oder Schlampampen, wie sie genannt wer– den, tun überhaupt nichts. Sie denken nicht und fühlen nichts. Sie sitzen nur umher und essen, und wenn sie gegessen haben, schlafen sie, und wenn sie ausgeschlafen haben, essen sie. Das Essen spaziert von ganz.allein ihnen in den Mund, sie brauchen ihn nur aufzumachen.“ „Ist das nicht besser, als Beeren und Wurzeln zu essen?“ fragt Hermann. Heinz lacht auf. „Aber sie haben keine Ähnlichkeit mehr mit einem Menschen oder einem Schlaraffen wie Zorn. Sie sitzen und schlagen mit der Zeit Wurzeln und werden zu einer Pflanze. Alle sieben Jahre schlägt man dreien von jenen, die noch laufen können, die Köpfe ab. Das soll den Appetit der anderen anregen.“ 113
„Immerzu essen“, sagt Amzornigsten und schüttelt seinen silbernen Bart. „Wie stumpfsinnig!“ „Wer seid ihr?“ fragt Hermann. „Gehört ihr zu den Fleißmeisen oder den Schlampampen?“ „Wir sind Schlaraffen“, sagt Zorn. „Wir waren die Besatzung eines Satelliten und kehrten zurück, als die Unsichtbare Gewalt bereits den großen Zauber über das Schlaraffenland geworfen hatte. Diese Unsicht– bare Gewalt, mit der Professor Zirbelzwirbel über das Schlaraffenland herrscht, ist die Lüge. Die Lüge läßt unsere Brüder nicht mehr denken und fühlen. Zirbelzwirbel hat schon das ganze Blau vom Himmel gelogen. Aber wir können noch denken und fühlen, und wir wollen das Schlaraffenland befreien. Unser Menschenbruder Heinz wird uns dabei helfen.“ „Wo ist Helmut?“ fragt Hermann. Heinz läßt den Kopf hängen. „Als wir damals lande– ten, haben wir den ganzen Planeten durchstreift. Dann kamen wir hierher, an das Grießbreigebirge. Wir wollten uns durchessen, als die drei hier riefen und schrien. Ich hatte den Löffel noch nicht im Mund, aber Helmut war schon dabei. Und der Grießbrei hat Zauberkraft, du hast es selbst gespürt. Wer davon ißt, vergißt alles andere, er denkt nur ans Essen. Wir haben Helmut nicht zurückhalten können. Er lebt jetzt im Schlaraffenland.“ „Aber dann ist er ja in Gefahr!“ ruft Hermann. “Wann sind denn die sieben Jahre um?“ „In drei Wochen“, sagt Heinz. „Habt ihr schon einen Plan?“ fragt Hermann. „Ja“, sagt Heinz. „Wir wollen Professor Zirbelzwirbel entführen. Wenn er nicht da ist, wird die Arbeit bei den Fleißmeisen ins Stocken geraten, und für die Schlampampen wird es nichts zu essen geben. Das wird die Unsichtbare Gewalt zwingen, sich zu zeigen. 114
Und wenn man sie sieht, kann man sie auch an– greifen.“ Hermann wiegt den Kopf. „Es sind einige Wenn dabei! Wie kommen wir an Professor Zirbelzwirbel heran?“ „Es gibt Fleißmeisen, die Schlaraffen geblieben sind. Sie fühlen noch“, sagt Zorn. „Sie werden uns die Türen öffnen.“ „Und ich kenne zwei Schlaraffen, die noch denken können“, sagt Zorniger, „die werden uns helfen, Professor Zirbelzwirbel zu entführen.“ „Und ich weiß, wo der Unzerreißbare Strick liegt“, sagt Amzornigsten, „damit fesseln wir ihn.“ „Gut“, sagt Hermann, „es bleibt uns wohl keine andere Wahl. Wann wollt ihr Zirbelzwirbel entfüh– ren?“ „In einer Woche“, sagt Heinz. „Dann werde ich zu dem Pfahl mit den drei Messern zurückkehren“, sagt Hermann. „Ich bin nämlich nicht allein. Wir sind sieben, nein, acht sogar! Alle zusammen werden wir es schaffen.“ „Ich werde dir den Weg zeigen!“ sagt Heinz. „Es wird schwer werden.“ Um diese Zeit sitzt Basil beim starken Hans in der steinernen Zelle und läßt sich sein Schuppenkleid streicheln. Basilisken haben zwar einen scharfen Blick und können Feueratem ausblasen, aber sie brauchen Zuneigung und Zärtlichkeit. Man muß sie jeden Tag streicheln, sonst verlieren sie ihre Zaubereigen– schaften. Basil war über die ganze Stadt geflattert; die war eine reine Steinwildnis. Gerade Straßen, dazu die vierecki– gen Klötzer der großen, fensterlosen Fabriken. Es waren wenig Fleißmeisen zu sehen, nur am Lärm und Schornsteinrauch erkannte man die Betriebsamkeit. 115
Basil hatte beim ersten Rundflug nichts entdeckt und kam zu jenem Platz zurückgeschwebt, wo er Trulle verlassen hatte. Er setzte sich, ohne bemerkt zu werden, auf die Dachtraufe und hörte die letzten Worte, die Zirbelzwirbel sprach. Als der Milchbart– leutnant Antonius seine liebe Trulle ins Schloß führte, hatte Basil vor, ihm ein zweites Loch in den Pullover zu brennen. Da sah ihn Trulle auf dem Dach sitzen und schüttelte unauffällig den Kopf. „Zm plt krss!“ sagte sie, und Antonius guckte dumm, denn Schla– raffisch war es nicht, es war Basiliskisch und hieß „Such die anderen!“ Basil sah, wie sie im Schloß verschwand. Dann war er allein, mitten in dieser fremden Stadt, und hatte niemand mehr, der ihn streichelte. Es überkam ihn ein großes Mitleid mit sich selbst, und er mußte weinen, daß es nur so zischte und qualmte — bei seinem scharfen Blick wurden die Tränen ja sofort in Wasserdampf verwandelt. So saß er auf der Dachtraufe und jaulte wie ein Teekessel auf dem Feuer, aber dann wurde er ruhiger und überlegte. Wer hier herrschte, war böse. Das war klar. Trulle war ein liebes Mädchen, manchmal ein bißchen vorlaut, aber das war kein Grund, sie festzuhalten. Das Böse aber hat Feinde — nämlich alle guten Menschen oder guten Schlaraffen oder guten Basilisken. Freilich waren die Guten schwer zu finden. Wenn man in eine Stadt geraten ist, die von bösen Leuten — Zauberern oder was immer — beherrscht wird, dann werden die Guten ihr Gutsein nicht zur Schau tragen. Deswegen sind sie schwer zu finden. Da kam Basil eine Idee: Natürlich! Wenn es hier Leute geben sollte, die gegen die Ungerechtigkeit kämpften, dann würde er sicher einige davon im Gefängnis finden! 116
Das Gefängnis hatte er bald gefunden; es lag am Rande der Stadt und hatte vergitterte Fenster. Im Gefängnis saßen viele Fleißmeisen; die einen, weil sie nicht schnell genug gearbeitet hatten, die anderen, weil sie bei der Arbeit gesprochen oder gar gelacht hatten. Einer hatte lebenslänglich bekommen; er hatte ein Lied gesungen. Basil sah in jedes Fenster; als er aber an eines der letzten kam, fuhr er erschrocken zurück: Da saß ja der starke Hans drin! Hans hatte seine gute Laune nicht verloren. „Nur hereinspaziert!“ rief er. „Die Luft ist sauber, denn sie ist gesiebt! Was gibt´s Neues, Basilius?“ Basil wollte das Gitter aufschweißen, aber der starke Hans lächelte und sagte: „Für dich sind die Lücken groß genug, daß du hereinkommen kannst, wenn ich aber hinaus will, so wird es mich nicht halten!“ Und er langte zur Decke und hob ein ganz klein wenig das Dach an. „Da geh ich hinaus, wenn ich will.“ Nun sitzt Basil in Hansens Zelle und läßt sich kraulen. Er schnurrt dazu. Er hat alles erzählt. Hans überlegt. Das Überlegen ist freilich nicht seine starke Seite, es brummt ihm ordentlich der Schädel . davon. Er zählt an seinen Fingern ab. „Ich bin hier, im Keller liegen Bombus und Quina, sie haben sich nämlich totgestellt. Trulle ist, wie du sagst, auch gefangen. Es bleiben noch Hermann und Schnuppi. Im Gefängnis hast du sie nicht gesehen?“ Basil verneint. „Du mußt versuchen, Hermann und Schnuppi zu finden“, sagt Hans. „Vielleicht wissen sie mehr. Man muß ja schließlich wissen, gegen wen man eigentlich kämpfen soll! Flieg zurück zum Pfahl mit den drei Messern und warte dort auf Hermann und Schnuppi. Hermann ist der Klügste von uns. Vielleicht hat er sich nicht übertölpeln lassen. Auf dich kommt jetzt alles an, Basil!.“ Basil fühlt sich sehr geehrt. In dieser Nacht schläft er 117
auf Hansens Pritsche. Am nächsten Morgen fliegt er los. Während er noch über der Stadt kreist, besucht Pro– fessor Zirbelzwirbel Trulle, als sie frühstückt. Er liebt Überraschungen: Er taucht direkt aus der Zuckerdose auf. „Gestern fand ich, daß Sie wundervoll lügen!“ sagt er. „Aber heute sind mir daran Zweifel gekommen. Drei unserer besten Stahltore sind tatsächlich auf– geschweißt!“ Er nickt anerkennend mit dem Kopf, und lächelt. Dann verschwindet das Lächeln von seinem Gesicht. Es gibt viele Arten von Lächeln, bittere und süße, laute und leise, aber kein Lächeln bleibt gern bei bösen Leuten. Es ist jedem Lächeln peinlich, auf einem Gesicht zu liegen, hinter dessen Stirn die Bos– heit lauert. Deswegen verschwindet bei Professor Zirbelzwirbel jedes Lächeln, falls er es nicht einfriert. „Wer hat Ihnen dabei geholfen?“ fährt er Trulle an. Aber Trulle ist gewitzt. Du alter Knatterbart, denkt sie, du kannst mich gerade reinlegen! „Aber, verehrter Herr Professor“, sagt sie, „ich brauche doch niemand, der mir hilft!“ Während sie das sagt, fingert sie in ihrer Handtasche nach einem Streichholz, reißt es noch in der Tasche an und streckt plötzlich die Hand mit der aufsprühenden Flamme über den Tisch, daß Zirbelzwirbel erschrocken zu– rückprallt. „Ich habe eine feurige Hand“, sagt Trulle. „Damit drücke ich alle Türen auf.“ Geschickt läßt sie das Holz verschwinden, ehe Zirbelzwirbel etwas begreift. Mit ihr ist es nicht geheuer, denkt Zirbelzwirbel und spürt eine ganz kleine Angst. Aber dann nimmt er sich zusammen und sagt: „Ein paar Lügen müssen Sie 118
sich schon noch ausdenken. Es befindet sich ein Mensch in unserem Gewahrsam, der starke Hans!“ Trulle wird es kalt. Der starke Hans ist auch ge– fangen! „Es ist ja wohl nicht anzunehmen, daß zur gleichen Zeit zwei Menschen auf dem Schlaraffenplaneten erscheinen, ohne daß sie sich kennen“, sagt Zir– belzwirbel argwöhnisch. „Oh, sagen Sie das nicht!“ meint Trulle treuherzig, „Sie glauben gar nicht, was alles gleichzeitig passiert, ohne daß man es gleich miteinander in Verbindung bringen muß. Zum Beispiel nisten in Schweden in den letzten Jahren immer weniger Störche, vielleicht haben sie einen besseren Platz gefunden, nicht wahr! Und in der gleichen Zeit sind in Schweden immer weniger Kinder geboren worden. Oder neulich, da ist bei meiner Oma die Milch sauer geworden, und ge– rade zur gleichen Zeit hat mein Opa ein Lied gesun– gen. Das muß doch nicht zusammenhängen? Wie denken Sie darüber?“ Der Milchbartleutnant Antonius, der an der Tür Wache hält, beugt sich zu Zirbelzwirbel und flüstert: „Vielleicht hat sie einen kleinen Haschmich! Ich meine, vielleicht hat man sie als Kind zu heiß gebraust oder mit dem Klammersack gepudert?“ Zirbelzwirbel lächelt, ohne auf Antonius zu hören, „Das war noch keine Antwort auf meine Frage“, sagt er. „Mir scheint, Sie kennen ihn doch!“ „Möglich ist alles!“ sagt Trulle. „Möglich ist auch, daß Steine nach oben fallen, nur eben selten. Also nun will ich die Wahrheit sagen. Ich bin, wie ich bereits zu Protokoll gab, mit meinen fünfhundert Dienern hier gelandet…“ „Fünfhundert Menschen gehen nicht in eine Hütte!“ sagt Zirbelzwirbel. J „Ich denke, Sie hören gern Lügen?“ wundert sich Trulle. 119
„Ich sage außerdem die reine Wahrheit. Alle fünfhundert wollten in das Schlaraffenland, und wer will, wird dünn wie ein Faden. Vielleicht war einer darunter, der starker Hans heißt. Wie soll ich das wissen?“ „Das lügt sie doch!“ sagt Zirbelzwirbel zweifelnd. „Das lügt sie!“ sagt der Milchbartleutnant. „Fünf– hundert hätten wir schon längst verhaftet!“ „Ich lüge nie!“ sagt Trulle. „Mir hat mal eine Schnecke erzählt, daß sie beim Hasen in die Lehre gegangen ist, um das Wettlaufen zu erlernen. Das habe ich nie weitererzählt, weil ich wußte, daß es gelogen war. In Wahrheit können die Schnecken viel schneller laufen als die Hasen, sie verstellen sich nur!“ „Jemand, der sagt, er lügt nie, ist natürlich ein be– sonders großer Lügner!“ sagt Professor Zirbelzwirbel. „Man müßte nur herausbekommen, warum sie lügt. Lügt sie aus Notwehr, dann müßten wir sie verhaften. Lügt sie aber aus Freude, dann wäre sie ein willkommener Gast. Mir scheint, sie lügt aus Freude. Ich werde sie wohl doch heiraten. Antonius, gib ihr das beste Zimmer, das wir haben!“ Antonius führt Trulle in das Obergeschoß des Schlos– ses. Er zeigt ihr ihre Räume. Ein Schlafzimmer gehört dazu, ein Ankleidezimmer mit 365 Kleidern im Schrank und ein Wohnzimmer. Trulle besieht sich die Zimmer. „Hier ist aber lange nicht Staub gewischt worden, mein Lieber!“ sagt sie zu dem Milchbart. Sie läßt die 365 Kleider hängen und bindet sich eine Schürze um. „Wo ist hier Wasser?“ fragt sie. „W–w–wasser haben wir nicht“, stottert der Milch– bart, „wir kriegen hier nur Milch.“ „Dann hol mir Milch“, sagt Trulle. Als der Milchbart zurückkommt, reißt sie ein Kleid in Fetzen und be– 120
ginnt, den Fußboden zu wischen. Der Milchbartleut– nant schaut ihr verblüfft zu. „Wa–wa–was machst du denn?“ stottert er. „Ich mache sauber“, sagt sie. „Wir machen nie sauber!“ sagt Antonius. „Wozu auch? Der Staub fällt ja nach unten, und dort tritt er sich fest!“ „Aber nicht der ganze Staub“, erwidert Trulle. „Eine Menge davon hast du im Gesicht. Komm mal her!“ Sie wischt ihm das Gesicht sauber. „Ich kann viel besser sehen!“ sagt der Milchbart strahlend. „Dann wirst du gleich helfen!“ Sie wischen eine Woche lang alle Fußböden auf, dann kennt Trulle das Schloß. Es hat neunundvierzig Zimmer, darunter drei Geheimzimmer, drei Keller, fünf Böden, eine Folterkammer, zwei unterirdische und sechs ober– irdische Gänge, die die Zimmer untereinander verbinden, ohne daß es jemand weiß: Sie enden alle vor Tapetentüren. So kann der Zauberer ungesehen durch das Schloß schleichen und hat Zutritt zu allen Räumen. Natürlich interessiert sich Trulle besonders für die Geheimzimmer. Im ersten Geheimzimmer befindet sich die Bibliothek mit den Zauberbüchern: von den Anfängerbüchern an, in denen steht, wie man mit einem Augenaufschlag zaubern kann, bis zu den ganz schweren Büchern, in denen die Rezepte stehen, tausend Leute blind und taub gegen alles Gute zu machen. Im zweiten Geheimzimmer befindet sich eine Uhr. Es ist eine seltsame Uhr, sie hat Gesichter statt der Zahlen auf dem Zifferblatt, und diese Gesichter wechseln. Ein langes Pendel geht darunter hin und her, das Merkwürdigste aber ist, daß manchmal die Zeiger vorwärtslaufen, meist aber rückwärts. Trulle 121
steht lange vor dieser Uhr und sieht sich die Gesichter auf dem Zifferblatt an, die manchmal traurig sind, manchmal lächeln, oft aber gleichgültig dreinblicken und dann wieder verlöschen. Sie muß unbedingt hinter das Geheimnis dieser Uhr kommen! Im dritten Geheimzimmer schläft der Zauberer höchstpersönlich, und Trulle hat bald herausgefun– den, daß er sehr um sein Leben besorgt ist. Bevor er schlafen geht, blickt er regelmäßig unters Bett, hinter den Spiegel und in den Ofen. Einmal hat er die ganze Palastwache zusammengetrommelt, und das kam so: Er war ins Bett gegangen, nachdem er vorher darun– ter, hinter den Spiegel und in den Ofen geblickt hatte. Plötzlich fiel ihm ein, daß ja auch einer vor der Tür stehen könnte. Er ging also nachsehen, nein, niemand vor der Tür, er trat wieder ins Zimmer und fing an zu schreien. Als die Milchbärte vom Dienst her– beigerannt kamen, deutete er aufs Bett und schrie: „Ich bin weg! Das Bett ist leer! Man hat mich geraubt! Zu Hilfe!“ Die Milchbärte sahen sich betroffen an, bis einer sagte: „Aber Exzellenz sind doch hier!“ Und er pikte ihm mit dem Finger auf die Brust. Da faßte sich Zirbelzwirbel an und rief: „A ja, ich bin ja hier, alles in Ordnung! Wozu steht ihr dann noch herum, ihr Pack!“ Während Trulle die Fußböden scheuert und Basil auf dem Wege zu dem Pfahl mit den drei Messern ist, während der starke Hans im Gefängnis sitzt und Quina und Bombus in einem Keller unter allerhand Gerümpel liegen, sind Hermann und sein wieder– gefundener Bruder Heinz dabei, das Schlaraffenland zu durchqueren. Das ist gefährlich, aber es gibt keine andere Möglich– 122
keit, zum Pfahl mit den drei Messern zu kommen. Den Zeitfluß kann man nie zweimal an der gleichen Stelle überqueren. Schon früher hatten die drei Schlaraffen einen unter– irdischen Gang gegraben, um nicht vom Grießbrei des Vergessens essen zu müssen, wenn sie das Land erkundeten. Der Gang ist teilweise eingestürzt. Schnuppi kommt ihnen zu Hilfe. Wie ein Bagger scharrt er den Sand hinter sich. Es dauert gar nicht lange, da kommen sie an die Oberfläche. Das Schla– raffenland ähnelt einem großen Garten, und es ist ja inzwischen bekannt, daß die Bäche entweder Milch oder Honig führen, daß in den Teichen Bier oder Brause sprudelt, daß allerorten Bratwurstbäume und Pfannkuchensträucher stehen, daß statt Blumen Pralinen und Zuckerwerk auf den Wiesen wachsen und die Luft von gebratenen Hühnern erfüllt ist, während auf der Erde Spanferkel herumlaufen. Das alles weiß heute jedes Kind, und selbstverständlich wissen es auch Heinz und Hermann, aber selbst erlebt ist eben anders als erzählt. Als sie die letzten Klumpen Erde beiseite geräumt haben und ins Schlaraffenland steigen, ist es noch Nacht. Nachts ist es ausgesprochen ruhig im Schla– raffenland. Heinz und Hermann treffen auf ein paar Fleißmeisen, die die herabgefallenen Bratwürste und Pfannkuchen einsammeln. Aber sie blicken nicht hoch. Als jedoch die Sonne über dem Horizont er– scheint, ist das Land mit einem Schlag verwandelt. Der Himmel ist mit bunten Lichterketten illuminiert, um das fehlende Blau zu ersetzen; in seinem Grau glüht eine orangerote Sonne. Mit einemmal geht von allen Seiten die Musik wieder an. Heinz wundert sich, wo sie herkommt, aber sie entdecken es nicht. Sie sind noch nicht lange gegangen, da fliegen zwei gebratene Gänse auf sie zu und sausen ihnen wie dicke 123
Hummeln um den Kopf. Hermann macht eine ab– wehrende Bewegung mit den Händen — schon hat er eine Gänsekeule in der Hand. „Dreh dich mal um!“ sagt Heinz. Als Hermann sich umdreht, sieht er Scharen von Spanferkeln und ge– bratenen Kaninchen hinter sich herlaufen. Sie sprin– gen an ihm hoch. Hermann weiß nicht, was er tun soll. „Setz dich hin“, sagt Heinz, „ganz ruhig bleiben!“ Er selbst legt sich auf die Erde und beginnt zu schnar– chen. Die Ferkel und Kaninchen bleiben erst in re– spektvoller Entfernung sitzen; als sie jedoch das Schnarchen hören, hoppeln sie enttäuscht davon. „Wie kommt das?“ fragt Hermann. „Man hat es mir gesagt“, erklärt Heinz, „aber ich habe es selbst nicht geglaubt. Sobald du dich im Schlaraffenland bewegst, fällt dir entweder eine Brat– wurst in den Mund, oder eine Taube kommt an– geschwirrt. Du hast nur Ruhe, wenn du schläfst.“ „Was mache ich nur mit dieser Gänsekeule?“ fragt Hermann und versucht vergebens, sie abzuschütteln. Sie bleibt ihm in der Hand wie angewachsen. „Du mußt sie aufessen!“ sagt Heinz. „Sei unbesorgt, sie hat keine Nebenwirkungen.“ Hermann nagt die Gänsekeule also ab, die übrigens vortrefflich schmeckt, und sagt: „Ich glaube, wir können nur nachts wandern!“ „Und was machen wir tagsüber?“ fragt Heinz. „Tagsüber schlafen wir. Oder wir sehen fern!“ sagt Hermann. „Sieh mal dort!“ Heinz sieht in der angegebenen Richtung einen Fern– sehapparat flimmern. Davor sitzt eine unförmige Gestalt. „Das ist ein Schlampampe“, flüstert Heinz. Sie kriechen langsam in die Richtung. Der Schlam– pampe entpuppt sich als ein Mann von ungeheurer 124
Leibesfülle. Er ist dicker als hoch, hat lange Haare und einen ergrauten Bart, kleine Augen in einem Speckgesicht und sitzt mit dem Rücken an ein großes Faß gelehnt. Er hat einen großen, weißen, wollenen Strampelanzug an und um den Hals einen Latz ge– bunden. Manchmal streckt er die Hand aus, in der er einen Becher hält. Darauf quillt aus dem Spundloch des Fasses ein Strahl Rotwein, füllt den Becher, und der Mann gießt den Wein in einem Zug in den Mund. Dabei ächzt und stöhnt er zum Gotterbarmen, läßt aber keinen Blick vom Fernsehapparat. Dort läuft gerade eine Sendung mit dem Fernsehkoch. Der Fernsehkoch erläutert eine Neuzüchtung der ver– einigten schlaraffischen Nahrungsmittelwerke: die Eierkuchenstaude. An einer Staude wachsen nach– einander rund ein Dutzend mit Apfelmus gefüllte Eierkuchen heran, lösen sich vom Strauch und rotie– ren wie die fliegenden Untertassen über dem Schla– raffenland, bis einer den Mund aufmacht und sie geradewegs hineinfliegen. „Sehr interessant!“ murmelt Hermann. „Wenn ich das Obergärtner Doktor Milde erzähle, wird der Augen machen!“ Heinz sagt: „Ungeschickt sind diese Fleißmeisen wahrhaftig nicht. Wenn sie erst alle wieder fühlen können…“ Hermann kriecht näher. In diesem Augenblick faßt der Schlampampe hinter sich, faßt Hermann, von dem er offenbar glaubt, daß er eines der herumren– nenden Spanferkel wäre, und will in ihn hinein– beißen. In Windeseile wirft sich der entsetzte Heinz auf den Schlampampen und reißt ihm die Hand vom Mund fort. Der Schlampampe erschrickt sehr; er zittert am ganzen Leibe und betrachtet mit angst– geweiteten Augen Hermann, den er noch immer am Arm hält, und den großen Heinz. Große Tränen kul– 125
lern aus seinen Augen. Heinz läßt von ihm ab und klopft ihm beruhigend auf die Schultern. „Laß es gut sein!“ sagt er auf schlaraffisch. „Wir wollten dich nicht erschrecken, mein Junge. Aber du kannst schließlich nicht meinen kleinen Bruder auf– fressen!“ Der Schlampampe sieht sie immer noch ängstlich an. „Wie heißt du denn, Bruderherz?“ fragt ihn Heinz. Der Schlampampe sieht ihn fragend an. „Der versteht dich nicht!“ sagt Hermann. „Er spricht vielleicht nur Schlampampisch.“ „Das kann nicht so verschieden sein“, sagt Heinz. „Ich glaube eher, es ist der Krach, den dieser Fern– sehapparat macht“, überschreit Heinz die Musik, die jetzt wieder begonnen hat. Hermann dreht den Ap– parat um, so daß der Bildschirm nach unten zeigt. Die Musik wird leiser. „Also, Kollege, wie dürfen wir dich nennen?“ wieder–holt Heinz. Jetzt hat ihn der Schlampampe verstanden. Er denkt angestrengt nach. Er beginnt sogar zu schwitzen. Dann sagt er schwerfällig: „Schluckschnappweg.“ „Aha“, sagt Heinz, „das scheint mir ein sehr treffender Name. Ich heiße Heinz. Dieser Zwerg hier heißt Hermann. Lebst du schon lange hier?“ Der Schlampampe sieht ihn an und bemüht sich zu begreifen, was man ihn gefragt hat. Er wird rot im Gesicht und bekommt Falten auf der Stirn, kummer– volle Dackelfalten. „Du weißt es nicht?“ sagt Heinz. „Nun hab doch nicht solche Angst. Wir tun dir nichts! Kennst du einen Helmut Priezel?“ Zur Sicherheit zeigt Heinz noch einmal rings in die Gegend. „Hel–mut Priezel?“ Wieder schüttelt der Schlam– pampe den Kopf. 126
„Es muß an diesem verdammten Grießbrei liegen“, sagt Heinz. „Er läßt offenbar im Kopf wenig übrig.“ Er faßt den Schlampampen Schluckschnappweg um die Schulter und fragt: „Ist es dir nicht langweilig, hier zu sitzen?“ Der Schlampampe sieht ihn verständnislos an. „Was ist langweilig?“ fragt er. Heinz und Hermann sehen sich an. Bei diesem Schlampampen ist nichts auszurichten. Er lebt nur noch, um zu essen. Hermann stellt den Fernsehapparat wieder so, daß Schluckschnappweg den Bildschirm sehen kann. Es läuft gerade ein Würstchenballett. Das Gesicht des Schlampampen verklärt sich. Er beachtet sie nicht mehr, sondern sieht zu, wie die kleinen Würstchen sich nach einem Wiener Walzer im Kreise drehen. Hermann brummt: „Den Grießbrei können die ruhig weglassen. Wenn man ein paar Stunden dieses Pro– gramm sieht, verblödet man von ganz allein.“ „Ja“, sagt Heinz, „aber was tun wir jetzt? Von diesen Schlampampen ist keine Hilfe zu erwarten. Wir müssen aber Helmut finden. Wie sollen wir das nur schaffen?“ „Wir werden uns jeden einzelnen ansehen müssen“, sagt Hermann. „Wir haben aber nur noch zwei Wochen Zeit“, gibt Heinz zu bedenken. „Und tagsüber können wir nicht marschieren, ohne sämtliche Hühner und Tauben hinter uns zu haben. Mein Gott, hier ist schon wieder solch ein Vieh!“ Hermann macht eine verzweifelte Kopfbewegung, als erneut ein dicker Brummer um ihre Köpfe schwirrt. „Nicht mit den Händen hinfassen!“ sagt Heinz. „Ganz ruhig bleiben! Wegschauen! Es scheint ein fliegendes Kalb zu sein!“ Das fliegende Kalb plumpst vor ihnen ins Gras und 128
schnauft furchterregend. Hermann wendet vorsichtig den Kopf, wirft sich aber plötzlich mit einem Schrei auf das Tier und umhalst es. „Basil!“ ruft er. „Wie kommst du denn hierher?“ Basil kann keine dummen Fragen ausstehen. Er wird sofort gnatzig. „Ich komme direkt mit der U–Bahn aus China!“ sagt er. Heinz starrt verblüfft auf dieses Schuppentier mit seinen Fledermausflügeln und den sechs Beinen. „Was ist das denn für eine Taschenausgabe von einem Drachen?“ fragt er. „Ihr kennt euch?“ „Das ist Basil“, erklärt Hermann, „wir sind ganz alte Freunde, was, Silli!“ Er krault ihn unter seinen Flatterflügeln. Basil knurrt vor Behagen und hechelt rote Flammen aus seinem Maul. „He, du“, sagt Heinz und zieht seine Füße an sich. „Du brätst mir ja die Fußsohlen, alter Spirituskocher.“ Er ist immer noch mißtrauisch. „Was ist mit den anderen?“ fragt Hermann. „Du bist doch mit Trulle unterwegs gewesen.“ Basil berichtet von ihren Abenteuern. Er erzählt, daß der starke Hans im Gefängnis sitzt und Trulle ins Schloß gebracht wurde. Er berichtet, daß er am Pfahl mit den drei Messern gewartet habe und danach in den Zeitfluß gesprungen sei, um ihn, Hermann, zu finden. „Ich flog über den Grießbreiberg“, erzählt er. „Plötz– lich stieß ich gegen eine unsichtbare Wand, mitten in der Luft. Es war wie zäher Kleister, und ich mußte ein paarmal ordentlich Feuer ausstoßen, damit ich durchkam. Dahinter aber lag das Schlaraffenland. Und wie ich so fliege und fliege…“ „Sehr gut klingt das nicht“, sagt Heinz, als Basil geendet hat. „Alle deine Freunde eingesperrt, wir haben keine Waffen, wir wissen nicht einmal, wer eigentlich unser Feind ist. Milchbärte haben den star– 129
ken Hans gefangen, sagst du. Aber Zorn spricht von einem Zauberer. Wir müssen dahinterkommen, wie das alles zusammenhängt. Wir müssen so schnell wie möglich Helmut finden und werden dann zurück– marschieren. Ohne Zorn, Zorniger und Amzornigsten und die übrigen Schlaraffen richten wir nichts aus.“ „Aber wir können doch Trulle und den starken Hans nicht sitzen lassen!“ ruft Hermann. „Die werden zur rechten Zeit befreit“, sagt Heinz. „Basil, hilf uns bitte Helmut suchen. Er sieht genauso aus wie ich Und muß sich hier in der Nähe befinden. Hoffentlich hat er noch keine Wurzeln geschlagen!“ „Hier hat man doch keine Minute Ruhe“, nörgelt Basil. „Dabei ist man nun mitten im Schlaraffenland, könnte sich nach Herzenslust an Bratwürsten satt essen und ein bißchen aufs Ohr legen!“ Heinz, der Basils brummige Art nicht kennt, will ihm eine scharfe Antwort geben, aber Hermann lächelt nur. „Schieß los, alter Düsenjäger“, sagt er ermunternd, „ohne dich geht die Geschichte nicht zu ihrem Ende, wenn wir es überhaupt schaffen, heißt das! Wir ruhen uns für dich mit aus!“ Basil hoppelt wie ein angeschossener Feldhase über die Bonbonwiese, schlägt mit seinen schillernd grünen Flügeln auf und ab und steigt in die Luft. Dann kurvt er elegant davon. Heinz und Hermann bleibt nichts anderes zu tun, als sich an eine Kartoffelpufferhecke zu setzen und zu warten. Sie essen ein paar Puffer und machen ein Nickerchen. Es mögen zwei Stunden vergangen sein, als Basil wie eine abgeschossene Krähe vor ihnen ins Gras plumpst. Er japst nach Luft und sagt dann: „Ich hab ihn!“ „Du hast ihn gefunden?“ fragt Heinz erregt. 130
„Unverkennbar“, sagt Basil. „Er hat die gleiche Pi– lotenkombination an wie du!“ „Und wie geht es ihm?“ „Er kniet am Ufer eines Honigtümpels und besieht sich sein Gesicht“, berichtet Basil. „Es ist, als wollte er sich erinnern, wer er eigentlich sei. Er schaut sich an und denkt nach.“ „Als Schlampampe kann er nicht denken“, wirft Hermann ein. „Wenn du denkst, ich denke, er denkt…“, beginnt Basil zu murren, aber Hermann klopft ihm den Rücken. „Es ist gut, Silli!“ sagt er. „Man hätte denken können, er dachte, hast du gedacht!“ „Genau so!“ sagt Basil. “Ich sprach ihn jedenfalls an, und er hörte mir zu, aber es war wie eine Wand zwischen uns. Ich glaube, es ist nicht bis zu ihm gedrungen. Ich sah, daß er zuhörte, aber es kam kein Zeichen, daß er begriffen hatte. Aber wißt ihr, was das Schlimmste ist? Er hat wirklich Wurzeln ge– schlagen!“ „Wurzeln?“ fragt Heinz verständnislos. „Ja!“ sagt Basil. „Wenn man über das Schlaraffenland fliegt, sieht man ganz deutlich, daß die Schlaraffen allmählich zu Bäumen und Sträuchern werden. Je weniger sie sich bewegen, um so eher geschieht das. Auf diesen Bäumen wachsen dann mit der Zeit neue Schlaraffen heran. Wenn sie groß genug sind, fallen sie in die Pantoffeln, die unter den Bäumen bereitstehen, und schlurfen zum nächsten Fernseh– apparat. Dort beginnen sie ihr Schlaraffenleben!“ „Aber sagt mir um alles in der Welt, was soll das Ganze für einen Sinn haben!“ ruft der aufgeregte Heinz und springt auf. Schon kommen sechs Eierkuchen angeflogen. Her– mann zieht ihn ins Gras. „Es ist so, und damit gut. Eines Tages werden wir 131
mehr wissen. Bei Anbrach der Dämmerung gehen wir los. Dann haben wir Ruhe vor dieser gebratenen Menagerie. Wir holen Helmut hier heraus, mit Wurzeln oder ohne!“ Als die orangerote Sonne am Schlaraffenhimmel gegen einen zartgrünen Mond ausgetauscht wird, gehen sie los. Nach einem halbstündigen Marsch bleibt Basil stehen. „Hier muß es sein“, sagt er. Vor einem Tümpel kniet bewegungslos ein Mensch und schläft. Wahrhaftig: Seine Beine stecken schon halb in der Erde und sind zu Wurzel geworden. Heinz beugt sich über ihn. „Helmut!“ ruft er und schüttelt ihn. Helmut erwacht und richtet den Blick auf seine Brüder. Sie sind im grünen Mondlicht gut zu sehen, aber Helmut erkennt sie nicht. Hermann steigt es heiß in die Augen. Diese Schurken, denkt er. Sie wühlen mit den Händen Helmuts Beine frei und sind bemüht, ihn nicht zu verletzen. Heinz sagt: „Hol mal einen Schluck Wasser!“ Hermann holt einen von den Bechern, die allenthalben im Schlaraffenland herum stehen, und schöpft aus dem nächsten Tümpel Zitronenbrause. „Es ist nichts anderes da“, sagt er. Heinz holt aus der Tasche ein sorgfältig zusammen– gefaltetes Papier. Darin sind dreizehn zu Pulver zer– riebene, bei Vollmond zur Sommersonnenwende gesammelte Wermutblüten aufgehoben. Heinz schüt– tet das Pulver in den Becher und drückt es Helmut in die Hand. Helmut trinkt es automatisch und mit teilnahmslosem Gesicht. Plötzlich aber fällt er zu Boden und krümmt sich zusammen, als sei er ver– giftet. Er zuckt an allen Gliedern und knirscht mit den Zähnen. Hermann sieht entsetzt seinen Bruder Heinz an, doch der schüttelt nur den Kopf. Die Zuckungen lassen nach, und Helmut liegt still. Zugleich sind die 132
Wurzeln verschwunden, und seine Beine haben ihre menschliche Gestalt wieder. Nach einer Weile hebt er den Kopf und blickt um sich. Heinz stützt ihn. „Wo bin ich?“ fragt Helmut. „Heinz, bist du es?“ Da weint Hermann los. Er freut sich und lacht und weint zugleich. Nun sind alle drei wieder beisammen. Er hat seine Brüder gefunden! „Gegen den Grießbrei des Vergessens hilft nur die Bitterkeit des Zauberwermuts“, sagt Heinz. Er be– richtet Helmut, was mit ihm und den anderen ge– schehen ist. „Mir ist so dumpf im Kopf, als hätte ich schwer geträumt!“ sagt Helmut. „Laß uns nach Hause fliegen. Wir haben das Schlaraffenland entdeckt, mehr können wir hier nicht tun.“ „Nein“, ruft Hermann, „wir müssen erst noch Trulle und den starken Hans befreien.“ „Ich bin gespannt, wie Sie das anstellen wollen!“ sagt eine schadenfrohe Stimme hinter ihnen. Als sie erschrocken herumfahren, stehen sie vor Professor Zirbelzwirbel. Er ist von einer großen Zahl Milchbärte begleitet, die hinter ihm stehen und bis an die Zähne bewaffnet sind. Sie müssen sie lautlos umzingelt haben. „Sie haben einen Fehler gemacht, meine Lieben“, sagt Zirbelzwirbel freundlich. „Sie hätten sich am gestri– gen Tag nicht vor den Fernsehapparat begeben sollen. Jeder Schlampampe, der sich das Programm ansieht, wird von unserer Abteilung Zuschauerforschung überwacht. Wenn wir ein neues Produkt wie die Eierkuchenstaude vorstellen, dann beobachten wir gleichzeitig, wie die Schlampampen reagieren. Wenn sie schmatzen und grunzen, dann ist es gut. Wenn sie dagegen nichts äußern oder beiseite blicken, dann führen wir das Produkt nicht ein. Und wenn sich gar solch ungebetene Gäste wie Sie vor dem Schirm zei– 133
gen, dann müssen wir natürlich durchgreifende Maßnahmen treffen. Jedenfalls scheint mir, daß wir nun die ganze Expedition beisammen haben. Führt sie ab ins Gefängnis!“ Die Milchbärte stürzen sich auf sie und fesseln ihnen die Hände auf den Rücken. „Vergeßt mir dieses komische Geflügel mit den sechs Beinen nicht“, ruft Zirbelzwirbel und deutet auf Basil, der sich hinter den Baum zurückziehen will. Basil will anfangen, Feuer zu speien, als Hermann ihm zuruft: „Kusch, Basil! Laß dich fesseln, wir brauchen dich!“
Sechstes Kapitel Auf der Erde lügen nur die Dummen. Fragt der Lehrer, wieviel zwölf mal zwölf ist oder wo Amerika liegt, dann ist es unklug, zu lügen und sich aus– zudenken, zwölf mal zwölf sei siebenundvierzig und ein Viertel und Amerika liege in Afrika, direkt zwischen Australien und Neuseeland. Auf solche Frage muß man wahrheitsgemäß antworten, nämlich, daß zwölf mal zwölf einhundertdreiundvierzig ist und Amerika nördlich vom Südpol liegt. Wenn man aber auch das nicht weiß, dann hilft nur, freundlich zu lächeln. Dann weiß der Lehrer gleich, daß diese Fragen zu leicht waren, und stellt eine neue Aufgabe, die allerdings meist auch schwerer ist. Es lügen also nur die Dummen, denn Lügen ist kolos– sal schwer. Man erkennt es auch daran, daß man es in der Schule kaum schafft, so zu lügen, daß man zehn Fünfen hintereinander bekommt. Es ist noch schwe– rer, als zehn Einsen hintereinander zu erobern. Wahr und wahrhaftig, jeder kann es selbst ausprobieren. 134
Aber Trulle muß lügen, damit ihr Professor Zir– belzwirbel weiterhin gewogen bleibt. Fragt sie der Zauberer, was sie essen möchte, dann sagt sie, ohne mit der Wimper zu zucken: „Bohnerwachssuppe mit Reißzwecken, aber nicht zu scharf!“ Fragt er sie, was sie den ganzen Tag getrieben habe, so sagt sie: „Ach, was soll schon gewesen sein — ich habe ein wenig das Fliegen um die Zimmerlampe geübt, aber ich bin dabei mit einer Mücke zusammengestoßen und habe eine tüchtige Beule bekommen.“ Sie zeigt ihm die Beule, die sie in Wahrheit davon hat, daß sie bei ihren Erkundungsgängen eine Geheim– treppe hinuntergefallen ist. Aber Zirbelzwirbel ist so entzückt von ihren Lügen, daß er die Beule sofort wegpustet, ohne zu fragen, woher sie denn nun wirklich stamme. Denn Zirbelzwirbel hat sich in Trulle verliebt! Eines Tages kommt er durch den Spiegel, vor dem Trulle gerade sitzt, ins Zimmer. Trulle erschrickt sich, aber sie zeigt es nicht. Zirbelzwirbel hat sich die Haare gekämmt und seinen weißen Zauberkittel aus– gezogen. Er trägt einen schwarzen Anzug und eine rote Krawatte. „Verehrte Trulle“, sagt er, „ich habe mich nie von einem Mädchen so angezogen gefühlt wie von Ihnen. Es muß daran liegen, daß Sie noch besser schwindeln als ich., Können wir in sechs Tagen heiraten?“ Trulle hat andere Vorstellungen von ihrem künftigen Mann. Sie denkt da beispielsweise an einen gewissen Hermann, um den sie sich Sorgen macht. Aber sie sagt: „Welche Ehre, Herr Professor! Schon immer habe ich von einem Zauberer als Mann geträumt. Ein Zauberer hat viele Vorteile; er hat so hübsche Einfälle, und wenn man mal vergessen hat, in der Kaufhalle zwei Schnitzel zu besorgen, dann kann er gleich das Mittagessen zaubern.“ 135
„Aber ja“, sagt Zirbelzwirbel geschmeichelt. Und er zaubert mit einer einzigen Handbewegung ein kaltes Büfett für zwölf Personen ins Zimmer. „Ja, aber!“ sagt Trulle. „Was, aber?“ fragt Zirbelzwirbel. „Sie sind zu mächtig“,sagt Trulle. „Sie sind mir direkt unheimlich, was Sie alles können. Vor solchem Mann habe ich Angst!“ „Ich bin gar nicht so mächtig“, ereifert sich Zir– belzwirbel. „Ich habe auch meine Sorgen. Meine Lebensuhr funktioniert in letzter Zeit…“ Plötzlich verstummt er und blickt Trulle scharf an. „Ich bin natürlich hier der mächtigste Zauberer weit und breit. Ich gebe Ihnen eine Woche Bedenkzeit, meinen Antrag anzunehmen. Auf Wiedersehen!“ Und schwuppdiwupp ist er verschwunden. Das hat mir noch gefehlt, denkt Trulle. Aber mit dieser Uhr muß doch was sein. Wenn ich nur dahinterkäme! Sie hält sich in der nächsten Zeit sehr zurück. Sie macht sich nützlich, hält das Schloß sauber und räumt auf. Das muß man schon, weil einem Blödheit sonst zu leicht auf die Nerven fällt. Um noch mal auf die Lehrer zurückzukommen: Es werden ja meist nervöse Menschen Lehrer, aber sie würden auf dumme Schüler längst nicht so empfindlich reagieren, wenn die wenigstens ihre Schularbeiten richtig machen würden. Und das ist wirklich kein Kunststück: Heutzutage sind die Eltern viel gebildeter als früher und machen ihrem Kind gern die Schularbeiten, nur um zu sehen, ob ihnen der Lehrer eine Eins gibt. Trulle aber kommt im Schloß umher, das muß man schon sagen, sie kennt den Thronsaal, sie kennt die Gemächer des Königs, sie kennt das blaue Zimmer, das grüne und das gelbe Zimmer — nur den König kennt sie nicht. Sie wird ihn auch nie kennenlernen, 136
denn der König Meisenfleiß, der ununterbrochen arbeitet und niemals Pause macht, der ist eine Er– findung von Professor Zirbelzwirbel, eine neue Lüge für die Fleißmeisen. Wenn unser König soviel ar– beitet, so sollen die Fleißmeisen glauben, dann müs– sen auch wir uns eilen. Trulle sieht allenthalben Milchbärte Wache stehen, jeder sein Gelärm über der Schulter, das ist ihre Waffe. Sie schießen nicht wie wir aus altmodischen Gewehren mit Kugeln, die einem Löcher ins Hemd machen. Wenn sie auf den Abzug drücken, ertönt ein fürchterlicher Lärm, der sich anhört, als ob zehn Düsenflugzeuge im Tiefflug zugleich über einen hin– wegbrausen. Es gibt keinen, der darauf nicht sofort die Hände hebt und um Gnade fleht. Manchmal, wenn sie weiß, daß Zirbelzwirbel außer Haus ist, schleicht sie in die Geheimzimmer und betrachtet die Uhr oder die Zauberbücher. Zirbelzwirbel ist sehr mürrisch geworden. Er hat es ihr übelgenommen, daß sie seinen Heiratsantrag nicht sofort angenommen hat. Das läßt er an den Milch– bärten aus. Eines Tages setzt er seinen Hut auf und will das Schloß verlassen. Plötzlich hält er Trulles alten Be– kannten, den Milchbartleutnant, an und fragt: „Habe ich wirklich meinen Hut auf?“ „Zu Befehl!“ sagt Antonius, der viel besser sehen kann, seit ihm Trulle das Gesicht gewaschen hat, „Sie haben ihn auf!“ „Und wenn du nun lügst?“ sagt der Zauberer nach– denklich. Er hat es nicht gern, wenn seine Unter– gebenen lügen. „Ich werde dir den Puls fühlen“, sagt er. „Wenn du lügst, geht dein Puls schneller!“ Zir– belzwirbel greift um das Handgelenk des Milchbart– leutnants und fühlt ihm den Puls. „Ist das nun schnell oder langsam?“ fragt er. „Ich werde eine Uhr holen!“ 137
Er zieht seinen Mantel wieder aus, hängt den Hut an den Haken und geht, eine Uhr zu holen. Als er wiederkommt, sieht er den Hut an der Wand hängen. „Da haben wir´s!“ schreit er, „du hast gelogen, ich habe meinen Hut gar nicht auf! Du wirst wegen grober Lüge mit dem Tode bestraft!“ Trulle hat das voller Zorn mit angesehen. Sie nimmt ungesehen den Hut vom Garderobenhaken und wirft ihn aus dem Fenster. Dann tritt sie zu Zirbelzwirbel und sagt: „Was zanken Sie denn mit diesem armen Milchbart. Vorhin hatten Sie den Hut auf, dann habe ich ihn fortgezaubert!“ „Du kannst zaubern?“ ruft Zirbelzwirbel und lacht. „Dann zaubere doch mal den Hut von diesem Haken!“ Er wendet sich zum Garderobenständer um. Der ist leer. „Du kannst wahrhaftig zaubern?“ fragt er. „Nur ein wenig!“ tröstet ihn Trulle. Sie winkt dem Milchbart, ihrem Freund, zu verschwinden. „Dann werden wir in drei Tagen heiraten!“ sagt Zir– belzwirbel. „Ich will diesmal Gnade vor Recht er– gehen lassen!“ Er wendet sich zu dem Milchbart um. Der ist fort. Trulle lächelt. In Wahrheit möchte sie heulen. Wie soll sie in drei Tagen hier herauskommen? Besonders beunruhigt ist sie, weil Basil nicht zu sehen ist. Sie hat fest geglaubt, er würde sie finden, und Basil hätte sie natürlich auch gefunden, wenn er nicht inzwischen ebenfalls im Schlaraffengefängnis säße und Trübsal bliese. Am nächsten Tag hat Trulle ein seltsames Erlebnis. Sie hat sich in das Geheimzimmer eins, in die Biblio– thek von Professor Zirbelzwirbel, geschlichen. Die meisten Zauberbücher darin sind einen halben Zent– er schwer. Manchmal wirft Trulle einen verstohlenen Blick hinein. Da sind seltsame Rezepte zu lesen: 138
„Nimm eine getrocknete Kröte…“ Schon schüttelt sich Trulle, weil sie mit Kröten weder im feuchten noch im getrockneten Zustand etwas zu tun haben möchte. An diesem Donnerstag seift sie gerade die Fenster– bretter ein, als sie jemand in die Bibliothek kommen hört. Sie selbst ist nicht zu sehen, weil sie hinter dem dicken Vorhang steht. Neugierig blickt sie durch den Gardinenspalt. Sie sieht Professor Zirbelzwirbel. Er blickt sich um und geht, als er niemand sieht, mit schnellem Schritt zum Bücherbord. Dort zieht er einen ledernen, schon sehr zerkratzten Band aus der Reihe, schlägt ihn auf und murmelt einen Vers. Plötz– lich — Trulle erschrickt ordentlich — sitzt ihm ein kunterbuntes Wesen in einem aus tausend farbigen Flicken zusammengesetzten Kittel auf der Schulter, macht dort einen Handstand und schreit: „Hier bin ich! Ich bin die Unsichtbare Gewalt! Jeder glaubt, was ich sage, ich lahme die Gedanken, fessele die Hände, ich bestricke, berücke, betrüge, blende, begaunere — nur lügen tu ich nicht. Was steht zu Diensten, Mei– ster? Soll ich den Schlaraffen erzählen, es sei an– genehm, zu Bäumen und Sträuchern zu werden? Soll ich den Fleißmeisen predigen, sie müßten auf den Nachtschlaf verzichten?“ Zirbelzwirbel schüttelt den Kopf. Er geht im Zimmer umher. Die Unsichtbare Gewalt macht Purzelbäume auf dem Teppich und ruft: „Du bist der größte Zauberer aller Zeiten, der Mächtigste auf und über dem Schlaraffen– land, du bist Herr über Leben und Tod, was soll ich tun?“ Trulle sieht, wie Professor Zirbelzwirbel wohlgefällig die Reden des Lügenkobolds anhört. Er läßt sich ja gern belügen! denkt sie. „Wir haben ungebetene Gäste im Schlaraffenland“, 140
sagt Professor Zirbelzwirbel, “und im Schlaraffenland gibt es nur drei Möglichkeiten: Der Gast wird als Schlampampe gemästet, er arbeitet als Fleißmeise, oder er bewacht das Schlaraffenland als Milchbart! Die Fleißmeisen dürfen nicht denken, die Milchbärte dürfen nicht denken und fühlen, die Schlampampen dürfen nicht denken, fühlen und wissen. Was also werden wir aus ihnen machen?“ „Schlampampen!“ schreit die Unsichtbare Gewalt. „Ich werde in ihr eines Ohr hineinkriechen und aus dem anderen Ohr wieder heraus, und dann werden sie nichts mehr wissen, nichts mehr denken, nichts mehr fühlen, nur noch schmecken und riechen können. Hilft denn der Grießbrei nicht bei ihnen?“ „Den Grießbrei kennen sie schon!“ sagt der Professor. „Und außerdem mußt du den Fleißmeisen wieder einmal erzählen, daß ihr König Meisenfleiß der Fleißigste ist und alle eine Stunde länger arbeiten sollen.“ „Ach, das ist schön, ach, das ist gut!“ freut sich die Unsichtbare Gewalt und stellt sich ganz närrisch an. „Ich kann wieder gaukeln und gaunern, die Wahrheit verdrehen und schwindeln — nur lügen tu ich nicht!“ „Hopp, hopp, hopp“, sagt Professor Zirbelzwirbel, und schon ist nichts mehr von jenem Kobold zu sehen. Er stellt das Zauberbuch an seinen Platz zu– rück und verläßt die Bibliothek. Trulle sieht am Fenster, daß er den Palast verläßt. Da stürzt sie zur Bücherwand und zieht das Buch heraus, das der Professor eben aufgeschlagen hatte. Sie blättert und blättert. Welcher Spruch war es nur? Da sieht sie einen bunten Faden zwischen den Seiten. Sie schlägt auf und murmelt: „Innen zerrissen und außen ganz, ohne Gewissen, nur Blink und Glanz, 141
lustig und bieder, voll tückischer List, bin ich des Teufels Gnadenfrist.“ Kaum hat sie den Spruch gesagt, springt mitten aus den Zeilen der kunterbunte Lügenkobold hervor und schreit: „Hier bin ich! Ich bin…“ „Halt die Klappe!“ sagt Trulle. „Ich weiß, wer du bist. Weißt du auch, wer ich bin?“ „Du bist die schöne, wunderbare Prinzessin…“ „Du kohlst mich ja an!“ sagt Trulle verblüfft. „Aber ja“, schreit die Unsichtbare Gewalt, „ich schwindle, wo ich geh und steh, nenn schwarz, was weiß ist, kalt, was heiß ist, sag grün zu rot und lebend zu tot. Nur lügen tu ich nicht!“ „Natürlich lügst du“, sagt Trulle, „du lügst wie ge– druckt. Gleich gehst du in die Ecke und sagst: Ich will nie mehr lügen!“ „Nicht, nicht, du tust mir weh!“ schreit der Lü– genkobold kläglich, und die Farben der vielen Stoff– flicken, aus denen seine Kleidung besteht, beginnen zu verblassen. „Das darfst du nicht sagen und darfst es nicht von mir verlangen!“ „Warum nicht?“ fragt Trulle. „Vielleicht kann aus dir ein ganz normaler, ehrlicher Kobold werden!“ „Wie denn?“ kichert die Unsichtbare Gewalt. „An mir ist alles Lug und Trug. Du hast recht, ich werde ehrlich.“ „Du lügst schon wieder!“ ruft Trulle erbost. „Du sollst das Wort nicht sagen“, klagt die Unsichtbare Gewalt. „Ich hintergehe alle und sag nie die Wahrheit, aber lügen tu ich nicht!“ „Aber du gibst doch damit zu, daß du lügst!“ Trulle stampft zornig mit dem Fuß auf. „Wenn die Lüge zugibt, daß sie eine Lüge ist, ist ihre Macht dahin“, sagt die Unsichtbare Gewalt. „So?“ fragt Trulle interessiert. „Und wie kann man dich dazu bringen?“ 142
„Das sag ich nicht, das sag ich nicht!“ schreit die Unsichtbare Gewalt und stampft mit dem Fuß auf. „Womit kann ich dir dienen? Ich muß jedem dienen, der den Spruch kennt!“ „Du läßt die Gefangenen in Ruhe“, sagt Trulle. „Du kriechst ihnen weder in ein Ohr hinein noch aus dem anderen heraus. Dafür kannst du deinen Professor Zirbelzwirbel ankohlen. Du kannst ihm vorschwin– deln, daß alle Gefangenen zu Schlampampen ge– worden sind und daß er der größte Herrscher aller Zeiten ist!“ „Das mache ich, da lache ich“, singt die Unsichtbare Gewalt und hüpft auf dem Teppich umher. „Noch etwas!“ sagt Trulle. „Im nächsten Zimmer ist eine Uhr. Sie geht einmal vorwärts, meist aber rückwärts. Was ist mit dieser Uhr?“ „Sie hackt die Zeit in kleine Stücke, geht mal vor und mal zurücke!“ schreit der Kobold und turnt auf dem Bücherbrett umher. „Wessen Zeit zählt sie?“ will Trulle wissen. „Sie geht doch nach dem Mülsener Mond!“ „Aber ich darf doch nicht die Wahrheit sagen!“ ruft der Kobold. „Dann lüg halt ein bißchen!“ schlägt Trulle vor. „Nicht Lügner sagen, ich will lieber schwindeln“, ruft der Kobold. „Es ist nicht die Lebensuhr von Professor Zirbel– zwirbel, und wenn sie rechtsherum geht, dann läuft die Lebensuhr nicht ab, und wenn die Zeiger linksrum laufen, dann wird die Lebensuhr nicht aufgezogen, und wenn die Schlaraffen in Bäume und Sträucher verwandelt werden, dann ist es nicht ihre Lebenszeit, von der der Meister lebt!“ „Gut geschwindelt!“ ruft Trulle. „Hab´s begriffen. Hopp, hopp, hopp!“ Schon ist der Kobold ver– schwunden. 143
Trulle stellt gerade das Buch vorsichtig zu den anderen Büchern und rückt es so, daß Professor Zir– belzwirbel nichts merken soll, da klopft ihr plötzlich ein harter Finger in den Rücken. Alles ist aus, denkt Trulle und dreht sich um. Aber da steht nicht Professor Zirbelzwirbel. Da steht Quina! Sie ist in einem bejammernswerten Zustand. Sie bekommt den Mund nicht auf und bewegt sich, als ob sie das Reißen hätte. Gegen das Reißen weiß Trulle sofort etwas: Sie holt Sonnenblumenöl aus der Vorratskammer und schüttet es Quina in den Ölein– füllstutzen. Aber Quina muß erst aufgeladen werden. Trulle versteckt Quina hinter einem Vorhang und steckt die Anschlußschnur in die Steckdose. „Wo ist Bombus?“ fragt sie. „Im … Keller“, kann Quina sagen. Hinter Quina liegen Tage schwerer Arbeit. Nachdem sie und Bombus sich totgestellt hatten, waren sie in den Keller zu lauter altem Gerumpel geworfen worden. Tage hat Quina gebraucht, um Zentimeter für Zentimeter unter dem Schrottberg hervorzu– kriechen. Dann mußte sie mit steifen Gliedern, fast ohne Stromvorrat, durch die Wachen schleichen. Trulle läuft in den Keller. Der diensthabende Milch– bart tritt ihr in den Weg. „Wohin?“ „Ich … äh…“ „Scher dich fort“, sagt der Milchbart. „Du wolltest heute die Bibliothek saubermachen!“ „Ja doch“, sagt Trulle, „aber mir ist der Staubsauger kaputtgegangen. Hier hinten muß noch ein Ersatz– staubsauger liegen.“ „Ach so“, sagt der Milchbart. „Aber ich komme mit!“ Er geht neben ihr her und leuchtet. Unter einem Haufen Alteisen und Maschinenteilen entdeckt Trulle das Bein von Bombus. Widerwillig räumt der Milch– 144
bart alles beiseite. „Das soll ein Ersatzstaubsauger sein?“ brummt er. Bombus ist noch ganz gut intakt, das sieht Trulle sofort an seiner Kontrollampe. Er hat sich unter den Eisenteilen nicht bewegen können. Trulle flüstert ihm ins Ohr: „Du mußt ihm eins versetzen, Bombus.“ Bombus ist an und für sich schwer von Begriff, aber wenn er wütend ist, versteht er sofort. Und er ist schon einen ganzen Monat wütend. „Was flüstert du?“ will der Soldat wissen. Trulle wendet sich zu ihm und erwidert: „Ich sagte gerade, daß ihr es schwer habt. Den ganzen Tag Wache stehen, und dann dürft ihr ja auch das Lo– sungswort nicht vergessen.“ „Ja“, sagt der Milchbart. „Heute ist es besonders schwer. ,Mehr Schein als Sein', wer soll sich denn so' was merken!“ „Ja“, sagt Trulle, „du hast recht. Und nun bitte ich dich von vornherein um Entschuldigung, wenn jetzt das Licht ausgeht, aber es ist auch zu deinem Besten, das mußt du mir glauben!“ Der Milchbart macht ein erstauntes Gesicht, und es wird plötzlich noch erstaunter. Dann verdreht er die Augen und sinkt um. „So“, sagt Bombus und legt einen Knüppel beiseite. „Der schläft erst mal. Und was ist zu tun?“ „Du ziehst jetzt seine Uniform an“, sagt Trulle, „und sperrst ihn ins hinterste Kellerloch. Dann stellst du dich auf seinen Posten. Die Losung kennst du ja!“ „Mehr Schein als Sein!“ sagt Bombus und präsentiert das Gelärm. „Es darf niemandem etwas auffallen!“ sagt Trulle. „Ich werde versuchen, die Gefangenen zu befreien!“ Sie eilt in die Bibliothek, wo Quina neben der Steck– dose steht. Quina zeigt schon hohe Spannung. Trulle 145
zieht den Stecker und nimmt Quina unter den Arm. „Ich muß dir noch was sagen!“ quäkt Quina unter Trulles Arm. „Wirst du gleich leise sprechen!“ fährt Trulle sie an. „Was hast du?“ „Dieser Zwirbelziefer — nein, Zirbelkiefer…“ „Zirbelzwirbel“, hilft ihr Trulle aus. „Dieser Herr Zet kroch neulich im Keller herum und sprach mit jemandem, ich habe aber nicht gesehen, mit wem. Und dabei sagte er…, was hat er denn gesagt?“ „Wenn du es vergessen hast, war es nicht wichtig!“ sagt Trulle. „Nein, wichtig war es nicht, aber seltsam. Also er sagte: Ich weiß, ich weiß, es ist dein Tod, wenn ich dir deine Lügen vorwerfe. — Verstehst du das?“ „Das erinnert mich an irgend etwas“, grübelt Trulle, „und du weißt nicht, mit wem er gesprochen hat?“ „Woher denn?“ fragt Quina. „Ich lag direkt unter einer Kiste, da war es duster wie im U–Bahn–Tunnel bei Nacht!“ Als die beiden aus dem Palast treten, kommt ein Milchbart auf sie zu und ruft: „Zurück!“ „Ich soll noch das Gefängnis kehren!“ sagt Trulle. „So?“ fragt der Milchbart zweifelnd. „Du kannst ja mitkommen!“ sagt Trulle. „Hier, du kannst gleich meinen neuen elektrischen Besen tragen!“ Sie lädt ihm Quina auf den Rücken. Der Milchbart, der Trulle schon kennt, sagt seinem Kameraden, er möge am Eingang Wache halten. Dann trägt er Quina hinter Trulle her. Am Gefängnis angekommen, erklärt Trulle, sie wäre zum Zellen– putzen abkommandiert. Wie sie das machen wolle? fragt der Kommandant. Ordentlich, sagt Trulle. Na, sie ist ein bißchen dumm, denkt der Kommandant und 146
erklärt ihr genau, wie sie vorzugehen hat. Immer, wenn sie saubermacht, werden die Gefangenen losgekettet und so lange von einem Milchbart bewacht, bis sie die Zelle gekehrt hat. Dann, eins, zwei, drei, werden die Gefangenen wieder angeschlossen. Und so geht es weiter in die nächste Zelle. So geht es dann auch Zelle für Zelle. Ein Aufseher kettet den Gefangenen los, Trulle kehrt die Zelle aus, und dann wird der Gefangene wieder angekettet. Was keiner sieht und keiner merkt, ist dies: Immer, wenn der Aufseher aufgeschlossen hat, legt ihm Quina die Hand auf die Schulter, und er erhält einen elektrischen Schlag, daß er sofort ohnmächtig wird. Dann tauscht der Gefangene mit dem Wärter die Kleidung, die Aufseher werden in Ketten gelegt, und weiter geht es zur nächsten Zelle. Trulle arbeitet fleißig mit ihrem elektrischen Besen, und als sie nach drei Stunden in das Büro des Kommandanten tritt, sitzen alle Aufseher in den Zellen angekettet, und alle Gefangenen haben die Uniform der Milchbärte an und sind frei. Nur: die fünf, die sie sucht, sind nicht dabei. „Ist noch etwas sauberzumachen?“ fragt Trulle. „Nein“, sagt der Kommandant, „die paar Zellen für die schweren Staats– und Hauptverbrecher, die ma– chen wir sowieso nicht sauber.“ „Aber vielleicht sollte ich doch?“ fragt Trulle. „Raus“, sagt der Kommandant. „Sonst wirst du selber eingesperrt.“ „Du bist unhöflich“, sagt Trulle. „Gib ihm die Hand, Quina!“ Quina macht keine langen Umstände und faßt ihn bei der Hand. Dem Kommandant beginnt es im ganzen Arm zu kribbeln, als hätte er ihn in einen Ameisen– haufen gesteckt. „Hilfe, Wache!“ schreit er. Aber niemand kommt. 147
Quina schaltet eine Stufe zu. Der Kommandant hopst auf und nieder. „Wo sind die Zellen?“ fragt Trulle. „Ich — zeige — sie — euch!“ jammert der Kommandant. Quina schaltet den Strom ab, läßt aber den Milch– bartoffizier nicht aus ihrer eisernen Hand. Wenig später liegen sich Trulle, der starke Hans, Heinz, Helmut und Hermann in den Armen. Basil steht dabei, und es dampft wieder aus seinen Augen, aber diesmal sind es Freudentränen. Heinz übernimmt das Kommando. „Wir haben keine Zeit zu verlieren“, sagt er. „Wir haben Professor Zirbelzwirbel noch nicht gefangen. Jetzt müssen wir ihn haben, koste es, was es wolle. Du, starker Hans, und du, Helmut, ihr nehmt Verbindung mit den Fleißmeisen auf. Es gibt unter ihnen einige, die noch denken und fühlen können. Ihr habt die Hilfe der befreiten Gefangenen. Wir anderen besetzen den Palast!“ Heinz und Trulle eilen mit Quina in den Palast zurück. Einige der befreiten Fleißmeisen und Schlaraffen begleiten sie. Plötzlich bleibt Quina stehen. „Bombus schreit um Hilfe!“ sagt sie. Sie schaltet den Lautsprecher ein. Alle hören Bombus. „Man hat mich entdeckt!“ schreit er. „Jetzt schrauben sie mich auseinander — Hilfe — Hilfe…“ Die Rufe werden schwächer. „Siehst du!“ sagt Quina. „Ihr hättet ihm auch die elektrische Hand einbauen sollen. Er kann sich ja gar nicht wehren, der Ärmste!“ Trulle hört nicht zu. „Bombus ist entdeckt“, sagt sie, „das bedeutet, daß Professor Zirbelzwirbel gewarnt ist. Er weiß, daß wir etwas vorhaben. Was tun wir?“ „Wir können nicht mehr zurück“, sagt Heinz. „Es gibt nur eins: Wir müssen Professor Zirbelzwirbel in die Hände bekommen.“ 148
„Aber sicher ist der Palast jetzt doppelt und dreifach bewacht“, sagt Trulle. „Sieh doch mal nach, Basil!“ Basil galoppiert los und flattert am Ende der Straße in die Luft. „Er braucht auch immer mehr Anlauf!“ sagt Trulle mißbilligend. Kurze Zeit später ist er wieder da und plumpst auf das Pflaster. „Überall Milchbärte“, sagt er. „Sie haben große Lärmkanonen aufgefahren und reißen ihre Mäuler auf.“ „Verdammt“, sagt Heinz, „wenn wir wenigstens den starken Hans dabei hätten!“ „Oder wenn mein Notizbuch mit dem Teufels– schwanz in der Tasche wäre!“ sagt Hermann ver– zweifelt. „Dann würden wir alle diese Milchbärte auf den nächsten unbewohnten Stern wünschen!“ Da beginnt Quinas orangerote Lampe zu blinken, ein Zeichen großer Aufregung. „Ich weiß was!“ schreit sie. „Ihr laßt euch verhaften!“ „Eine wundervolle Idee“, sagt Trulle. „Bist du sicher, daß du keinen Wackelkontakt hast?“ „Eine glänzende Idee“, sagt Heinz. „Du hast sie bloß nicht verstanden.“ Er weist auf die Gefangenen in den Uniformen der Milchbärte. „Das ist unsere Begleit– mannschaft. Sie verhaften uns und bringen uns in den Palast zu Professor Zirbelzwirbel.“ Trulle pfeift anerkennend durch die Zähne. Wenig später erscheinen auf dem Platz vor dem Pa– last eine Abteilung Milchbärte unter dem Kommando eines Majors. Sie führen Trulle, Heinz und Quina mit gefesselten Händen in ihrer Mitte. Basil ist nicht dabei. Er hat einen Sonderauftrag von Trulle bekommen und flattert bereits in weiter Entfernung durch die Luft. Der Major läßt halten und schreit: „Wer ist hier der Befehlshaber der Palastwache?“ 150
„Hier“, ruft ein Hauptmann. „Wir haben drei der Ruhestörer festgenommen und haben Befehl, sie zum Professor zu bringen!“ „In Ordnung!“ sagt der Hauptmann. „Passiert!“ Die falschen Milchbärte poltern die Treppen hoch. Aber die Bibliothek ist leer. Sie durchstöbern alle Räume des Schlosses, doch der Zauberer bleibt ver– schwunden. Verschwunden bleibt auch das Zauber– buch mit dem Lügenkobold, verschwunden ist Hermanns Notizheft mit dem Teufelsschwanz, und verschwunden ist Bombus. Verschwunden ist auch die Uhr. Die Lage ist ernst. Sie müssen den Zauberer in ihre Gewalt bekommen, ehe er selbst Gelegenheit hat, sie zu verzaubern. Er weiß zwar nicht, daß sie keine Schlampampen geworden sind, er weiß auch nicht, daß Hermann, Heinz und Helmut zusammen mit Hans und Basil aus dem Gefängnis befreit worden sind — die Unsichtbare Gewalt, der Lügenkobold, belügt ja auch Zirbelzwirbel. Aber er weiß, daß Trulle etwas im Schilde führt. Trulle knabbert an den Fingernägeln. Heinz und Hermann gehen die Verstecke durch, in die sich der Zauberer zurückgezogen haben könnte. Der Kommandant der falschen Milchbärte, ein Fleiß– meise namens Friedlich, derselbe, der zu lebens– länglicher Haft verurteilt worden war, weil er ein Lied gesungen hatte, sagt plötzlich: „Vielleicht sollten wir die Fernsehüberwachungszentrale besetzen? Dort werden wir Zirbelzwirbel möglicherweise fin– den!“ Das erscheint allen sehr vernünftig. Der Trupp marschiert zur Fernsehzentrale.
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Siebentes Kapitel Im Wald vor dem Grießbreigebirge liegt Schnuppi. Er liegt in der Sonne, vier Meter lang und zwei Meter breit, und ihm ist wohlig zumute. Schnuppi ist ein ruhiger Hund. Er gehört nicht zu der Sorte, die alles ankläffen, beschnuppern und hetzen müssen. Er döst in der Wärme, die die Schlaraffenlandsonne auch hier verbreitet. Von ferne hört man Musikfetzen vom Grießbreigebirge. Zorn, Zorniger und Amzornigsten dagegen sind auf– geregt. Sie haben gerade Tomatensuppe gegessen. Das hat sie satt, aber nicht ruhig gemacht. „Er hätte gestern abend zurück sein müssen!“ sagt Zorn. „Das sind achtzehn Stunden Verspätung! Wir müssen die Halbriesen angreifen!“ „Wir wollten Bib und Bibi suchen und Zirbelzwirbel entführen“, sagt Zorniger. Bib und Bibi sind zwei Fleißmeisen, die noch denken und fühlen können. Amzornigsten streicht seinen silbernen Bart. Alle drei haben geschworen, daß sie so lange Barte tragen werden, bis das Schlaraffenland wieder befreit ist. „Wir dürfen nichts ohne unsere Menschenfreunde unternehmen“, sagt er. „Wir könnten sie in große Gefahr bringen.“ „Aber wir können doch nicht einfach herumsitzen und die Daumen drehen!“ ereifert sich Zorn. „Dann gehen wir eben allein!“ ruft Zorniger. „Lang ist dein Bart, schnell deine Rede und kurz dein Verstand“, sagt der bedächtige Amzornigsten. „Wir müssen alles genau bedenken.“ Er stützt den Kopf in die Hand, um sich Gedanken zu machen. Ein Gedanke wiegt ja wenig, aber viele Gedanken machen den Kopf schwer. „Ich denke so!“ sagt er nach einer Weile. „Wir lassen hier eine Mitteilung, wo wir zu finden sind. Heute 151
abend machen wir uns auf den Weg ins Schlaraffen– land. Dabei werden wir uns trennen. Du, Zorn, suchst Bib und Bibi auf. Sie sollen alle Fleißmeisen zusam– mentrommeln, die noch wie sie denken und fühlen können und ihr Schicksal unerträglich finden. Du, Zorniger, suchst den Schlampampen, der uns das Tor öffnen will, das aus dem Schlaraffenland herausfuhrt. Ihr beide unternehmt aber nichts, ehe ihr nicht von mir hört! Ich versuche mit Schnuppi Heinz und Hermann zu finden. Legt euch jetzt zur Ruhe. In sechs Stunden brechen wir auf!“ Zorn und Zorniger gehorchen widerspruchslos. Es wird etwas geschehen, das ist alles, was sie wollten. „Hast du zugehört, Schnuppi?“ fragt Amzornigsten. „Ist es dir recht?“ „Ich bin ein Hund und kein Schlaraffe“, sagt Schnuppi und wedelt mit dem Schwanz. „Aber deine Rede gleicht der eines klugen Hundes. Ich werde tun, was du anordnest!“ Am Abend gehen sie los. Schnuppi ist wieder ein winziger Hund geworden. Er läuft vornweg, die Nase am Boden. Als sie weit genug vorgedrungen sind, gehen Zorn und Zorniger allein weiter. Sie gehen den geraden Weg durchs Schlaraffenland. Dort schläft alles, nur der Mond erhellt ihren Weg. Sie gehen eine Bratwurstbaumallee entlang, kommen auf die große Bonbonwiese, überqueren den Milch–, den Honig– und den Brausefluß. Sie treffen unterwegs auf schlaf– ende Schlampampen, einmal auf einen Trupp Fleißmeisen, die nachts durch das Schlaraffenland fahren und die abgenagten Knochen aufsammeln. Sie sind schon nahe am großen Tor, das den Bezirk der Schlampampen von der Stadt der Fleißmeisen trennt. Zorn kennt den Torwächter, einen gewissen Süffel. Er war früher der beste Bäcker weit und breit, und manchmal fällt ihm ein, daß keiner mehr seine Bre– 152
zeln lobt. Dann wird er wütend und möchte sich Zirbelzwirbel rächen. Aber neben ihm steht ein großes Faß Bier, und wenn Süffel wütend wird, wird er zugleich durstig und nimmt einen tiefen Zug aus dem Faß. Er hat schon große Übung, er muß nicht einmal mehr schlucken, sondern schüttet das Bier einfach hinunter. Das Bier aber beruhigt Süffel, er bekommt davon einen schweren Kopf, und die Halb– riesen müssen ordentlich schreien und toben, bis er ihnen das Tor aufschließt. Denn Fleißmeisen und Schlampampen sind sonst streng voneinander getrennt. Es gibt nur zwei Ver– bindungen: die eine ist das große Tor im Grieß– breigebirge, durch das nachts die Milchbart– patrouillen und die Säuberungstrupps der Fleiß– meisen den Schlampampenbezirk betreten; die andere ist eine dicke Rohrleitung, durch die alles transportiert wird, was die Schlampampen brauchen: Pralinen und Schokolade, Kornschnaps und Limo– nade, gebratene Hühner, Gänse und Krammetsvögel und dergleichen mehr. Als das Grießbreigebirge ihnen appetitlich vor der Nase dampft, zieht Zorn Zorniger plötzlich hinter einen Pfannkuchenstrauch. Vor ihnen klingen Kom– mandorufe der Milchbärte auf. Dann zieht ein großer Trupp an ihnen vorüber. Sie lachen und johlen. Erst als sie die Nacht verschlungen hat, gehen unsere beiden Schlaraffen weiter. Als Zorn und Zorniger Süffel erreichen, ist er mal wieder sehr wütend. Er schöpft gerade aus dem Bier– faß einen Eimer Bier, als ihm Zorn in den Arm fällt. „Süffel, erzähl erst, warum du dich ärgerst!“ Süffel behält den Eimer in der Hand und sagt: „Ach, ihr seid es! Nehmt euch bloß in acht, es ist etwas im Gange. Eben haben sie mir den Torschlüssel weg– genommen. Jetzt bin ich zu gar nichts mehr nütze. 153
Dabei war ich früher der beste Bäcker weit und…“ Zorniger unterbricht ihn; er nimmt ihm den Eimer Bier aus der Hand und sagt: „Wer hat dir den Tor– schlüssel fortgenommen?“ „Na, so ein Milchbart, so ein halbriesiger Leutnant. Befehl von Zirbelzwirbel, sagt er, ich soll ihm den Schlüssel geben. Ein ganzes Regiment ist hier eben durchgezogen!“ Süffel greift nach seinem Eimer und gießt sich das Bier in den Hals. Zorn rauft sich seinen Bart. „Was nützt uns das Tor ohne Schlüssel!“ sagt er. „Und wie komme ich zu Bib und Bibi?“ sagt Zorniger. „Ich weiß was. Ich werde versuchen, durch die Rohrleitung zu klettern. Bleib hier und paß auf. Vielleicht bekommt Süffel den Torschlüssel zurück. Wenn ich durchkomme, werden wir die Fleißmeisen fragen, ob sie einen zweiten Schlüssel anfertigen können!“ Der Eingang zur Rohrleitung ist nicht weit vom eisernen Tor. Es ist lebensgefährlich, durch diese Leitung zu klettern. In regelmäßigen Abständen jagt ein Behälter nach dem anderen durch die Leitung. Eben ist ein Bonbonbehälter angekommen. Zwei Fleißmeisen öffnen die Klappe und schütten die Bonbons aus. Dann stapeln sie den Behälter und warten auf den nächsten. Es dauert keine zwei Mi– nuten, da ist er schon: diesmal mit Wiener Würstchen gefüllt. Eine Minute hätte Zorniger Zeit, durch die Rohrleitung zu laufen. Schaffte er es nicht, so würde ihn der heranbrausende Behälter töten. Zorniger zerbricht sich noch den Kopf, als er plötzlich bemerkt, daß die Fleißmeisen die leeren Behälter in die Leitung schieben, um sie auf die andere Seite zurück– zuschicken. Er pirscht sich an den Stapel heran und schlüpft in die große Blechbüchse. Sie duftet nach Apfel– 154
sinen. Der Behälter wird angehoben. Zorniger hört einen der Fleißmeisen sagen: „Da scheint noch etwas drin zu sein. Soll ich nachsehen?“ „Ach, laß die auf der anderen Seite auch was tun!“ antwortet der zweite. Zorniger spürt, wie der Behälter sich in Bewegung setzt und plötzlich jäh gebremst wird. Wieder hört er jemand sagen: „Da scheint aber noch was drin zu sein! Soll ich mal nachsehen?“ Wieder bekommt es Zorniger mit der Angst zu tun. Aber da antwortet der andere: „Laß die Frühschicht auch was tun!“ Der Behälter wird beiseite gestellt. Zorniger kriecht vorsichtig heraus; er ist in der Verladehalle der Fleiß– meisenstadt. Ungesehen verläßt er sie. Bib und Bibi arbeiten in einer Fabrik, die galoppierende Spanferkel herstellt; im Keller der Fabrik haben sie ihre Unter– kunft, einen nackten Raum mit eisernen Betten. Sie sind übersehen worden, als die Fleißmeisen verzau– bert worden sind; sie haben sich verstellt, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Als Zorniger in den Keller schleicht, hört er Lärm. Er will die Treppe wieder hinaufeilen, als plötzlich die Tür aufgeschlagen wird. Er sieht einige Fleißmeisen, er will wegrennen, da haben sie ihn ergriffen und führen ihn in den Keller. „Er ist ein Spion!“ schreit einer. „Er hat an der Tür gehorcht! Hängt ihn auf!“ Da drängt sich eine Fleißmeise durch die auf– gebrachte Menge. „Du bist es, Zorniger?“ Er wendet sich um. „Laßt ihn los, Kollegen, er gehört zu uns!“ Die Fleißmeisen treten zurück. Zorniger atmet auf. „Wie gut, daß du da warst, Bib! Aber was ist bei euch los? So kenne ich die Fleißmeisen nicht!“ Bib strahlt übers ganze Gesicht. „Du weißt, wie verzweifelt wir waren, als wir allein hier denken und 155
fühlen konnten, Bibi und ich? Und mit keinem Fleiß– meisen konnte man reden, sie arbeiteten und hörten nicht zu, wenn man mit ihnen sprach. Wir mußten uns ja auch vor den Milchbärten in acht nehmen. Aber nun haben wir herausbekommen, was wir tun müssen. Man muß den Fleißmeisen nur ordentlich die Ohren durchblasen! Das haben wir vorgestern entdeckt. Natürlich haben wir sofort allen Kollegen kräftig die Ohren durchgepustet, und heute sind alle Fleißmeisen wie verwandelt. Plötzlich wollen sie nicht mehr sechzehn Stunden arbeiten, auf eisernen Betten schlafen und selber nur Hafersuppe bekom– men, obwohl sie die schönsten gebratenen Gänse herstellen! Früher wußte ich nicht, wie ich sie zum Denken bringen konnte, jetzt weiß ich nicht, wie ich sie halten soll. Sie wollen zum Schloß des Königs Meisenfleiß und alles kurz und klein schlagen! Wir sind jetzt eine Macht, Zorniger! Und die Lüge, die soll uns nichts mehr anhaben!“ Zorniger übermittelt seinen Auftrag. Die Fleiß– meisen .sollen sich in Bereitschaft halten, aber noch nicht losschlagen. „Gut!“ sagt Bib. „Wir werden uns inzwischen Waffen gegen die Milchbärte beschaffen.“ „Könnt ihr einen Schlüssel für das Tor im Grieß– breigebirge anfertigen?“ fragt Zorniger. „Das wird schwer sein“, antwortet Bib. „Es ist ein Zauberschlüssel, wir müssen sehen, was sich machen läßt!“ Während Zorn am Tor zum Schlaraffenland wartet und Zorniger mit Bib und Bibi darangeht, möglichst vielen Fleißmeisen die Ohren durchzupusten, durch– streift Amzornigsten mit Schnuppi noch immer das Schlaraffenland. Sie waren den Spuren von Heinz und Hermann gefolgt, haben auch den Platz besucht, wo die beiden auf Helmut gestoßen sind, dann aber 156
verlor Schnuppi die Spur. Tagsüber mußten sie rasten, um nicht von den Gänsen und Spanferkeln verfolgt zu werden. Sie haben dabei eine wichtige Entdeckung gemacht: Professor Zirbelzwirbel ist im Schlampampenbezirk eingetroffen. Sie haben die Nachricht von ferne übers Fernsehen erblickt. Der Ansager meldete sich und sagte: „Und nun, meine lieben Schlampampen und Schlampampinnen, gebe ich eine wichtige Staats– und Eilmeldung bekannt: Der erste Minister unseres geliebten Königs Meisenfleiß, Herr Strenggeheimrat Professor Zir– belzwirbel, gibt sich die Ehre, die Provinz Schlam– pampien zu besuchen. Alle Einwohner werden auf– gerufen, bei seinem Erscheinen laut und deutlich dreimal ,Hoch!' zu rufen.“ Seit dieser Zeit sind die sonst so trägen Schlampam– pen unruhig. Immer wieder sieht man einen schwer– fällig zum nächsten kriechen und hört sie miteinander flüstern. „Das kann nur eins bedeuten“, sagt Amzornigsten zu Schnuppi. „Es werden die drei dünnsten Schlampam– pen ausgesucht, die sich gegenüber den öffentlichen Wohltaten undankbar erwiesen und zuwenig ge– gessen haben. Die werden öffentlich hingerichtet!“ „Ein barbarisches Land!“ sagt Schnuppi. „Das Land ist schön“, antwortet Amzornigsten, „doch es wird von Grausamkeit regiert!“ Sie sind jetzt die zweite Nacht unterwegs. Am– zornigsten versucht, ungesehen in die Nähe des Zauberers zu gelangen. Er hofft, dort Heinz oder Hermann zu finden. Er weiß ja nicht, daß die Be– satzung der Hütte die Fernsehzentrale im Fleiß– meisenbezirk besetzt hat und selbst nach dem Zau– berer Ausschau hält. Amzornigsten wird plötzlich von hinten am Arm festgehalten. Jäh wendet er sich um und wirft sich 157
lautlos auf seinen Angreifer. Aber der ist schneller. Er weicht aus, stellt ein Bein vor und hat den gestürzten Amzornigsten unter sich. Mit eisernem Griff hält er ihn fest. Schnuppi kann bei diesem Kampf nicht eingreifen. Es ist Nacht, und er ist nicht größer als ein Mathematikbuch der ersten Klasse. Amzornigsten stöhnt vor Wut. Sein Gegner läßt einen Lichtstrahl aufblitzen und leuchtet ihm ins Gesicht. „Wer bist du?“ fragt er. Amzornigsten antwortet nicht. „Du bist kein Schlampampe!“ sagt der, der auf ihm hockt. „Dafür bist du zu mager. Du bist auch kein Fleißmeise, denn du trägst einen anderen Anzug. Du bist auch kein Milchbart, sonst würde ich dich ken– nen. Also sag mir, wer du bist!“ Amzornigsten antwortet nicht. Er hat verloren. Ein Milchbart hat ihn gefangen. Aber seine Feinde wür– den kein Wort aus ihm herausbringen. „Schnuppi!“ flüstert er. „Lauf weg! Such die anderen!“ Diese Worte hat auch sein Gegner gehört. Er läßt wie– der eine Lampe aufleuchten. Er sieht, wie Schnuppi eilends davonrennt. Da spitzt er die Lippen und pfeift. Es sind die Anfangstakte von „Hänschen klein“. Schnuppi bleibt wie vom Blitz getroffen stehen. Er ist ein außergewöhnlich gescheiter Hund. Dieses Lied kennt niemand auf dem Unbekannten Planeten. Wer dieses Lied kennt, muß Menschen von der Erde kennen. Er bleibt aber in sicherer Entfernung. „Komm her, Schnuppi“, sagt der Unbekannte. „Ich bin Quinas Sohn Quino. Wir haben uns auf dem Huckedrusenstern zum letztenmal gesehen.“ Schnuppi rückt einen Schritt näher. „Leuchte dich selbst an!“ piepst er. Quino sagt: „Du erkennst mich nicht. Ich trage eine Maske.“ 158
„Und wenn du auch solch ein Lügenprodukt bist?“ fragt Schnuppi. „Ich beweise es euch, daß ich euer Freund bin!“ Er läßt Amzornigsten plötzlich los. „Lauf weg, wenn du willst!“ sagt er ihm. Amzornigsten weicht einige Schritte zurück und reibt sich sein schmerzendes Bein. Er hat es sich beim Sturz aufgeschlagen. Aber er läuft nicht fort. Er hat von Quino aus Hermanns Erzählungen gehört. Quino sagt: „Ich werde euch von mir erzählen, damit ihr mir glaubt. Kommt aber ein wenig weiter vom Lager weg, damit uns niemand hört.“ Die beiden folgen ihm, immer noch zögernd. Sie hocken sich unter einem Eierkuchenbusch nieder. „Ihr wißt, daß mich damals die Fledermäuse vom Huckedrusenstern fortgetragen haben. Diese Fle– dermäuse hat Professor Zirbelzwirbel konstruiert. Er sendet sie auf die umliegenden Sterne. Sie sind Auto– maten, die Kinder suchen und fortschleppen.“ „Wozu braucht Zirbelzwirbel Kinder?“ fragt Amzor– nigsten. „Die Fleißmeisen leben nicht lange“, erklärt Quino. „Die Kinder werden in die Fleißmeisenstadt gebracht, dann nimmt ihnen die Lüge die Fähigkeit, denken und fühlen zu können, und sie werden in die Fabriken gesteckt, um dort zu arbeiten. Auch ich bin in die Fleißmeisenstadt gekommen. Nur hilft bei uns Robotern die Lüge nichts. Als ich begriffen hatte, was vor sich geht, habe ich mir eine Maske angefertigt. Ich sehe jetzt aus wie ein Milchbart. Ich habe mich unter die Milchbärte gemischt und bin Offizier geworden. Ich befehlige die Leibwache von Professor Zir– belzwirbel.“ „Aha“, sagt Schnuppi. „Deswegen hast du einen völlig zerrissenen Pullover an. Auf der Erde würde darauf nicht einmal ein Hund schlafen. Warum hast 159
du nie mit Quina Verbindung aufgenommen?“ „Ich habe es versucht. Wir haben dafür bestimmte Zeiten ausgemacht, aber sie meldet sich nicht!“ Amzornigsten stutzt. „Zeiten? Welche Zeiten?“ „Wir hatten vereinbart, um zwölf Uhr jeden un– geraden Tages Verbindung aufzunehmen!“ „Aber hier vergeht die Zeit doch viel langsamer“, sagt Amzornigsten. „Hier ist doch ein Tag wie eine Stunde bei euch!“ Er rechnet im Kopf, dann sagt er: „Es ist in wenigen Minuten zwölf Uhr eines ungeraden Tages. Wenn wir Glück haben, bekommen wir eine Verbindung. Was macht der Zauberer hier?“ „Die sieben Jahre sind um, es werden wieder drei Schlampampen öffentlich zu Tode gebracht. Und diesmal will er Heinz, Helmut und Hermann um– bringen. Wir suchen schon den zweiten Tag nach ihnen, sie sollen Schlampampen geworden sein. Aber niemand findet sie.“ „Und du machst dabei mit?“ „Aber was glaubst du! Ich suche sie, um sie in Si– cherheit zu bringen. In meiner Abteilung sind einige Milchbärte, die mir treu ergeben sind und denen es schon lang nicht gefällt, johlend und schreiend die Gegend unsicher zu machen.“ Amzornigsten drückt ihm die Hand. „Wir müssen es schaffen!“ „Das Schlimme ist freilich…“, beginnt Quino und stockt. „Na, was?“ „Eine Abteilung Milchbärte hat in der letzten Nacht die Blockhütte zerstört. Ich weiß nicht, wie wir zur Erde zurückkommen sollen. Zirbelzwirbel wollte verhindern, daß Trulle Hilfe holt.“ „Das wird sich alles finden. Zuerst müssen wir Zir– belzwirbel besiegen. Ruf jetzt bitte Quina, vielleicht sind wir dann klüger!“ 160
Es ist genau Mitternacht des siebten Schlaraffen– tages, als Quino seine Mutter ruft. Er fährt die Antenne aus, die sonst in seinem Kopf verborgen ist, und flüstert: „Mama, Mama, hier ist Quino! Hörst du mich?“ Es rauscht und knackt in seinem Kopflautsprecher, aber es ist nichts zu hören. „Mama, hier spricht Quino! Wo bist du?“ Da raschelt es, und deutlich hört man: „Quino, hier ist Mama. Ich freue mich, dich zu hören! Wie fühlst du dich? Keinen Kurzschluß, kein Transistor aus– gefallen?“ „Alles in bester Ordnung!“ sagt Quino. Man hört Quina murmeln: „Mein Erzeugnis, da seht ihr es“, aber dann ist eine andere Stimme im Laut– sprecher: „Quino, bei uns ist alles wohlauf. Heinz, Helmut und Hermann sind hier, Trulle und der starke Hans, Basil und Quina. Wir haben heute abend Kontakt mit Zorniger bekommen, er hat gute Nach– richten. Die Fleißmeisen sind auf unserer Seite. Wir sitzen in der Fernsehstation. Noch ahnen die Milch– bärte nichts, aber wir könnten losschlagen und sie alle gefangennehmen. Sag uns, wo du bist!“ „Ich bin im Bezirk der Schlampampen“, sagt Quino. „Amzornigsten und Schnuppi sind bei mir!“ „Und wo ist Zorn?“ fragt die Stimme von Heinz. „Er hält am Tor zum Schlaraffenland Wache.“ „Dann sind wir alle noch am Leben“, sagt Heinz. „Aber der Zauberer ist verschwunden. Ehe wir ihn nicht vernichtet haben, müssen wir auf das Schlimmste gefaßt sein. Weißt du, wo er ist?“ Quino berichtet, daß er der Chef der Leibwache sei und daß Zirbelzwirbel sie suche. „Dann werden wir ihm den Gefallen tun und vor ihm erscheinen!“ sagt Heinz. „Es wird sich zeigen, wer wen besiegt! Nur eines ist schwierig: Wie kommen 161
wir durch das Tor? Kannst du uns den Zauberschlüs– sel besorgen, Quino?“ „Ich will es versuchen“, sagt Quino. Er schaltet ab und umarmt vor lauter Freude Amzornigsten. Dann verschwindet er im Dunkeln. Als er wieder auftaucht, ist sein Gesicht längst nicht mehr so strahlend. „Es geht nicht“, sagt er betrübt. „Zirbelzwirbel hat den Schlüssel um den Hals hängen. Er würde aufwachen, wenn ich versuchte, ihn fortzunehmen.“ „Können wir den Zauberer allein festnehmen?“ fragt Amzornigsten. „Ich könnte es, aber ich weiß nicht, wie weit sein Zauber reicht. Es wäre besser, wir würden das ge– meinsam tun“, meint Quino. „Was hast du da in der Hand?“ piepst Schnuppi plötzlich. „Ach, das habe ich beim Suchen gefunden“, meint Quino. „Es ist ein Notizbuch von Hermann. Was ist denn das für ein Faden darin?“ Quino zieht den Schwanz des Teufels Gottlieb heraus und läßt ihn mit spitzen Fingern ins Gras fallen. Aber Schnuppi stürzt sich sofort darauf und hält ihn fest. „Da sind noch zwei Wünsche drin!“ piepst er. „Damit könnten wir das Tor auf– und wieder zumachen!“ „Es genügt, wenn wir es aufmachen“, sagt Am– zornigsten, „man muß mit den Wünschen nicht so herumwerfen! Quino, ruf mal Hermann an, ob er einverstanden ist!“ Die Menschen in der Fleißmeisenstadt stimmen sofort zu, als sie von Quinos Fund hören. Das Tor springt auch krachend auf, kaum daß der Wunsch aus– gesprochen ist. Der arme Süffel erschrickt so sehr, daß er kopfüber in die Biertonne springt, um sich darin zu verstecken. Noch in der gleichen Nacht besetzen die Fleißmeisen das Schlaraffenland. Der andere Teil macht 162
sich daran, die Milchbärte in der Fleißmeisenstadt gefangenzunehmen. Am nächsten Morgen erscheint Quino vor dem Zauberer und schnarrt: „Melde gehorsamst, die drei Gesuchten sind festgenommen und warten darauf, vorgeführt zu werden!“ „Du bist ein tüchtiger Offizier“, sagt Zirbelzwirbel, „ich ernenne dich hiermit zum Obersten Befehls– haber. Und nun herein mit den Schlampampen!“ Er setzt sich zurecht, den Lügenkobold auf der Schulter. Eine Abteilung Milchbärte marschiert ins Zimmer. In ihrer Mitte führen sie Heinz, Hermann und Helmut, Trulle und Quina mit. Ihre Hände sind mit Stricken gefesselt. „Das sind ja gleich fünf!“ staunt Zirbelzwirbel. „Ich ernenne dich zum Allerobersten Befehlshaber, mein lieber Hauptmann.“ „Zu Befehl, Herr Professor!“ sagt Quino und ver– schließt die Tür. Zirbelzwirbel betrachtet genüßlich die vor ihm Stehenden. Sein Gesicht verfinstert sich vorübergehend, er sagt zum Lügenkobold: „Du hast mich belogen, das sind ja keine Schlampampen!“ Der Lügenkobold zuckt zusammen und schreit: „Aua, ich habe nicht gelogen, ich habe nur gestohlen und verhohlen, hab die Wahrheit verdreht, so daß das Recht zergeht…“ „Ach, hör auf!“ sagt der Zauberer unwillig. „Schlam– pampen oder nicht, jedenfalls seid ihr gefangen und werdet heute mittag vor aller Öffentlichkeit vom Le– ben zum Tode gebracht, da schmeckt es denen, die am Leben geblieben sind, hinterher noch mal so gut!“ Da lassen die sechs die Stricke fallen, mit denen ihre Handgelenke zum Schein umwickelt waren, und Heinz sagt: „Es ist noch nicht sicher, wer hier vom Leben zum Tode gebracht wird, Herr Zirbelzwirbel.“ 163
„Alleroberster Befehlshaber“ schreit der Zauberer. „Laß ihnen sofort sichere Fesseln anlegen!“ „Das hatten wir gerade mit Ihnen vor!“ sagt Quino bedauernd. Der Zauberer blickt verdutzt Quino an, dann begreift er. Er stürzt zur Tür, doch die ist ver– schlossen. Er rennt ans Fenster und reißt es auf. Aber da schaut Schnuppi zum Fenster herein, und weil die Sonne scheint, paßt er gerade mit dem Kopf in den Fensterrahmen. „Mit Ihrer Macht ist es vorbei, Herr Zirbelzwirbel!“ sagt Heinz. „Ihr wollt einen Zauberer verhaften?“ sagt der Pro– fessor, der sich langsam zu fassen beginnt. „Na, dann verhaftet mich mal!“ Und plötzlich verschwimmt die Gestalt des Professors, fließt auseinander, und sein Sessel ist leer. Die Milchbärte im Zimmer stoßen entsetzte Rufe aus, einige schlagen die Hände vor das Gesicht. Heinz ist ratlos. Nur Trulle klopft Quina gelassen auf den Rücken und sagt: „Such ihn, Quina!“ Quina fährt die Radarantenne aus und sagt: „Er sitzt auf dem Kronleuchter. Ich werd ihm mal einen La– serstrahl rauf schicken!“ Es gibt einen kurzen, zischenden Laut, und plötzlich ist Professor Zirbelzwirbel wieder sichtbar. Er sitzt auf dem Kronleuchter und macht erstaunte Augen. „Das Prinzip, mit dem Sie sich unsichtbar machen, ist technisch veraltet“, sagt Quina. „Die Reichweite ist auch sehr gering. Heute macht man das so!“ Und plötzlich ist zum Erstaunen aller Milchbärte Quina verschwunden. Der Zauberer Zirbelzwirbel aber schwebt vom Kronfeuchter herunter und sitzt wieder in seinem Sessel. Hinter ihm wird Quina sichtbar, die ihn am Kragen gefaßt hält. Er macht ein so verdutztes Gesicht, daß alle in lautes Lachen ausbrechen. Das macht Zirbelzwirbel wütend. Er zischt: „Wenn man mir nur ein Haar krümmt, dann wird das Schlaraffen– 164
land vernichtet werden. Schaut hin!“ Professor Zir– belzwirbel weist zum Fenster. Draußen steht auf dem Platz ein großes Denkmal des idealen Schlampampen, der mit dickem Bauch und gekreuzten Beinen ge– nüßlich eine Hühnerkeule abnagt. Plötzlich fliegt das Denkmal wie von einem Blitz– schlag getroffen auseinander. Auf die entsetzten Milchbärte draußen auf dem Platz regnet es Steine. „Das war eine typische Fernzündung. Ich hab die Frequenz!“ flüstert Quina Trulle zu. „Könnten wir die Sprengkörper feststellen?“ „Ich will´s versuchen“, sagt Quina. „Gleich?“ „Warte noch!“ sagt Trulle. „Vielleicht macht er wieder Mätzchen!“ Heinz sagt: „Sie sind ein großer Zauberer, Professor Zirbelzwirbel. Aber weder Ihnen noch uns kann daran gelegen sein, daß das Schlaraffenland zerstört wird. Wir garantieren Ihnen freien Abzug, und Sie lassen künftig das Schlaraffenland in Frieden!“ „Das wollte ich euch auch eben vorschlagen!“ sagt Zirbelzwirbel. „Ihr verlaßt das Schlaraffenland, und es bleibt alles beim alten. Dafür wird euch kein Haar gekrümmt. Oder glaubt ihr, ihr könnt mich hier ewig festhalten, ohne Vorräte, ohne Waffen? Und um– bringen könnte ihr mich auch nicht, denn ich bin unsterblich.“ „Das ist der Irrtum aller Diktatoren“, sagt Heinz. „Wir wollen die Sache nur in Frieden schlichten!“ „Dann laßt uns doch unsere Kräfte messen!“ sagt Zirbelzwirbel. „Wer sich als der Stärkere erweisen sollte, der gewinnt die Macht!“ In diesem Augenblick flüstert Trulle Quina zu: „Los, sieh zu, daß du die Einzelteile von Bombus findest und ihn reparieren kannst, aber unauffällig. Er soll die Sprengkörper suchen und unschädlich machen. Inzwischen mußt du eine Uhr suchen. Es ist eine son– 165
derbare Uhr: Ihre Zeiger gehen einmal vor und einmal zurück, und statt der Zahlen sind Men– schenköpfe darauf zu sehen. Es ist die Lebensuhr von Zirbelzwirbel. Er lebt von der Zeit, die er den Schlampampen stiehlt. Wenn die Schlampampen untätig herumsitzen und langsam zu Bäumen werden, dann verlieren sie ihre Lebenszeit an den Professor. Sobald aber ein Schlampampe etwas unternimmt, dann wird das Leben des Professors verkürzt. Er glaubt, er sei unsterblich, weil er den anderen die Zeit stiehlt. Wenn du die Uhr hast, komme auf schnellstem Wege hierher zurück.“ Quina macht sich der Einfachheit halber unsichtbar, damit ihr Abgang unbemerkt bleibt. „Was schlägst du denn vor?“ sagt Heinz. „Wir könnten uns vielleicht verwandeln, und wer sich am meisten verwandeln kann, hat gewonnen!“ „Kannst du dich denn verwandeln?“ flüstert Heinz Trulle zu. „Kein Stück!“ flüstert Trulle. Und laut sagt sie: „Ich habe einen anderen Vorschlag. Wir prüfen, wer am besten lügen kann. Jeder darf eine halbe Stunde Lügen erzählen, und wer zuerst sagt: Das ist gelogen — der hat verloren!“ Das kann Trulle gut sagen, denn vorher hat sie jeden einen Löffel mit dem Zauberhonig schlecken lassen, der alle Lügen glauben macht. Nur für sie selbst reichte es nicht mehr. Ich werde mich schon im Zaum halten, denkt sie. Da lacht der Zauberer Zirbelzwirbel, denn er hat ja selbst einen Lügenkobold bei sich, und ruft: „Ein– verstanden — die Wette gilt! Wir fangen gleich an. Ich wähle diesen Kobold als Erzähler!“ Zirbelzwirbel muß den Kobold an den Haaren aus dem Zauberbuch ziehen, in dem er sich versteckt hat. „Heinz, Hermann, Helmut“, sagt Trulle, „daß ihr mir 166
auch ja alles glaubt, was jetzt gelogen wird!“ Und sie setzen sich in die Sessel zurück, die Unsichtbare Gewalt aber, wie der Lügenkobold auch heißt, be– ginnt: „Als die Erde noch heiß war und man hin und her treten mußte, um sich nicht die Füße zu verbrennen, da lebten auf der Erde zwei Menschen, die hießen Aiva und Kava. Aiva war dumm. Er half allen: Er malte die Blumen an, damit sie schöner aussähen, er half den Käfern, die auf den Rücken gefallen waren, wieder aufzustehen, und er arbeitete für den klugen Kava. Kava war sehr klug; er riß die Blumen ab, zertrat die Käfer und verprügelte den dummen Aiva, wenn er ihm nicht schnell genug war. So ist es überall auf der Welt: Es gibt Dumme und Kluge, aber die Klugen haben die Oberhand!“ „Ja“, sagt Heinz, „das ist bei uns schon vorge– kommen!“ Der Kobold wetzt unruhig hin und her und fährt fort: „Eines Tages zerbrach der Knüppel, mit dem Kava Aiva zu schlagen pflegte. Da ging Aiva hin und schnitzte einen neuen, größeren, gab ihn Kava und sagte: ‚Damit du in Zukunft stärker zuschlagen kannst!'“ „Na!“ sagt Heinz, aber Trulle gibt ihm einen Rip– penstoß. Trulle sagt, ohne mit der Wimper zu zucken: „Das habe ich unlängst erst selbst erlebt!“ Professor Zirbelzwirbel nimmt die Unsichtbare Ge– walt bei den Ohren und sagt: „Denk dir mal was Ordentliches aus, sonst werde ich dich hundert Jahre lang in das Buch einsperren!“ Die Unsichtbare Gewalt räuspert sich und will die dritte Lüge beginnen. Plötzlich klopft es an die Tür. „Wer da?“ fragt der Schlaraffe an der Tür. „Ich, Basil!“ sagt es draußen. 168
„Laß ihn ein!“ bestimmt Trulle. Basil kommt hereingestürzt und ruft: „Etwas Furcht– bares ist geschehen: Unsere Hütte ist zerstört. Wir werden nie wieder auf die Erde zurückkommen!“ „Das ist nicht wahr!“ ruft Heinz. Das ist ja das Seltsame am Zauberhonig: Die Lügen glaubt man, nur die Wahrheit nicht! „Du hast deine Zunge nicht im Zaum“, tadelt ihn Trulle. „Wenn es nun eine Lüge gewesen wäre?“ Der Zauberer grinst teuflisch. Basil flüstert Trulle ins Ohr: „Ich habe auch eine gute Nachricht: Der Kampf steht gut für uns! Die drei Zornigen und der starke Hans werden bald gesiegt haben!“ „Danke!“ flüstert Trulle. „Jetzt seid ihr wieder dran!“ wendet sich Trulle an den Zauberer. Der Kobold erzählt seine dritte Lüge. „Es ist ja bekannt, daß auf der Erde schon die kleinen Kinder lügen, wenn sie das erste Wort sprechen. Und je größer sie werden, um so ärger lügen sie. Auf dem Schlaraffenstern sind fünf Menschen gelandet. Vier davon sitzen hier. Drei sind Nachkommen Aivas. Einer ist ein Nachkomme Kavas. Er hält es mit uns, der Unsichtbaren Gewalt und dem Zauberer Zir– belzwirbel. Jetzt werde ich sagen, wer von euch in unseren Diensten steht!“ — „Sag schon!“ nickt Heinz. — „Du bist es selbst!“ sagt der Kobold. An dieser Stelle wäre der jähzornige Heinz bestimmt auf– gebraust und hätte „Lüge!“ geschrien. Aber der Zauberhonig wirkt. Heinz sitzt in seinem Sessel und nickt mit dem Kopf. „Das ist — wahr!“ sagt er. „Ich gebe es zu.“ Hermann und Helmut lächeln. Nur Trulle blickt ihn entsetzt an. „Was sagst du?“ ruft sie. „Das ist wahr?“ In diesem Augenblick sieht sie das erwartungsvolle Gesicht des Zauberers. Sie kann sich noch schnell auf die Zunge 169
beißen. „Ja“, sagt sie, „natürlich ist das wahr. Und jetzt bin ich mit Erzählen dran. Weil ich keine geübte Lügnerin bin, will ich es kurz machen und nur die reine Wahrheit sagen. Dieser Professor Zirbelzwirbel und sein Kobold sind die erbärmlichsten, häßlichsten und gemeinsten Lebewesen, die es in unserem schö– nen Milchstraßensystem gibt!“ „Das ist wahr!“ ruft Zirbelzwirbel. „Aber die Tage der Gemeinheit sind gezählt!“ ruft Trulle. „Das Gute ist stark, und wie Sie hier sitzen, so sollen Sie wissen, Sie gemeiner Zirbelzwirbel, daß Sie nur noch kurze Zeit zu leben haben!“ „Wie interessant!“ sagt Zirbelzwirbel. „Was ist kurz, was ist lang? Eins wird ganz sicher wahr sein!“ Heinz blickt verstört auf Trulle. Sie hat nur noch einen Satz. „Soeben hat das Volk von Schlaraffia die Macht über sein Schicksal übernommen, und kein Zauberer auf der ganzen Welt kann es wieder in die Tyrannei zurückstürzen!“ ruft Trulle. „Sicher, sicher!“ lächelt Zirbelzwirbel, „ich bin bereit, alles zu glauben, warum nicht das?“ Der Lügenkobold bricht in ein meckerndes Lachen aus. „Schlecht verbogen, schlecht gelogen“, schreit er und hüpft im Zimmer umher. Plötzlich aber donnern Schläge an die Tür, die Türflügel springen auf. Auf der Schwelle stehen der starke Hans und die drei Zornigen. Hinter ihnen drängen sich Fleißmeisen und Schlampampen. „Wir haben gesiegt!“ rufen sie. „Die Milchbärte sind in die Flucht geschlagen!“ Da erbleicht Zirbelzwirbel. Er sieht den Lügenkobold an und schreit: „Du hast mich belogen!“ „Au, ich sterbe!“ schreit die Lüge und zerläuft. Nur ein nasser Fleck ist noch auf dem Fußboden zu sehen. 170
Gleichzeitig tut es einen Donnerschlag, und das Schlaraffenland verändert sich. Der nachtgraue Himmel wird heller und heller, und ein wundervolles Blau erstrahlt. Es ist das Blau, das die Unsichtbare Gewalt vom Himmel gelogen hatte. Die Schlampam– pen unter den Bäumen reiben sich die Augen und beginnen wieder zu denken. Die Fleißmeisen verlassen ihre Fabriken, umarmen sich und klopfen sich auf die Schulter: Sie können wieder fühlen. Die Lüge, die über dem Schlaraffen– land geschwebt hat, ist zerronnen und vergangen. Quina ist mit dem starken Hans zurückgekommen. Sie übergibt Trulle ein Paket. „Das war schwer!“ sagt sie. „Er hatte sie im Schornstein versteckt!“ Ehe Trulle das Päckchen öffnen kann, reckt sich Professor Zirbelzwirbel hoch auf und schreit: „So soll das ganze Schlaraffenland mit mir untergehen! Ab– rakadabra — simsalabim — in Luft und Asche sollst du zerstäuben, mit allem, was lebt und webt!“ Er macht eine beschwörende Geste mit den Armen, und da – – da passiert gar nichts. Quina sagt: „Wir haben inzwischen alle Sprengkammern ausgeräumt, lieber Herr Zirbelkiefer!“ Plötzlich bumst es. Einmal und in weiter Ferne. „Da, da, das war das Gefängnis!“ sagt Bombus. „Da, da, das hab ich nicht mehr geschafft!“ „Meine Güte, jetzt hat dieser unselige Zauberer alle seine Milchbärte in die Luft gejagt!“ ruft der starke Hans entsetzt. „Dort hatten wir sie nämlich unter– gebracht!“ Alle blicken auf Zirbelzwirbel, der fassungslos am Tischende steht. Trulle sagt: „Schade, daß Professor Zirbelzwirbel nicht zu den freundlichen Zauberern gehört. Ich kannte mal einen freundlichen Zauberer, der konnte alle Menschen zum Lachen bringen, er hatte das ansteckende Lachen erfunden, das war was. 171
Aber Sie in Ihrem Alter, Sie sollten sich was schämen, so fürchterliche Dinge zu zaubern. Wir brauchen eine zaubersichere Zelle!“ „Was ist das?“ fragt Zorn. „Das ist eine Zelle, die innen mit lauter Spiegeln ausgekleidet ist. Ein Zauberer zaubert nämlich nicht, wenn ihm ein Zauberer zusieht; das gilt auch, wenn er sich selber zusieht! Wir müssen überlegen, was wir mit ihm anfangen! Ich habe hier seine Lebensuhr. Die Zeiger drehen sich vorwärts, ziemlich schnell sogar. Ich glaube, er hat nicht mehr lange zu leben.“ Als Professor Zirbelzwirbel sieht, wie schnell die Uhr abläuft, verwandelt er sich ganz überraschend ein letztes Mal: Er wird zu Feuer. Zu einem Feuer, das im Nu das ganze Zimmer erfaßt, so daß alle wie von Panik ergriffen durch die Tür springen. Um ein Haar wäre das Haus und womöglich das ganze Schla– raffenland abgebrannt — wenn nicht Basil gewesen wäre, der sich sofort dranmacht, das Feuer aufzufressen. Er schlingt und schlingt, bis nur noch ein bißchen Rauch im Zimmer ist. Dann freilich muß er sich drei Tage mit Leibschmerzen pflegen lassen; es ist ein gar zu schwefliges Feuer gewesen. Draußen aber, unter den Fleißmeisen und den Schlampampen, die sich jetzt beide wieder Schlaraf– fen nennen, hebt ein großes Festefeiern an. Die Fleiß– meisen tanzen und singen, gehen spazieren und führen Gespräche — alles, was sie bisher nicht tun durften. Die Schlampampen aber, als sie sich ihres Zustandes bewußt werden, essen nur noch früh und abend Knäckebrot mit Quark, damit sie bald wieder abnehmen. Und sie gehen in die Fabriken und ar– beiten und freuen sich, daß sie zu etwas nütze sind. Schließlich kehrt wieder Ruhe und Ordnung ein: Es gibt Zeiten, da wird gearbeitet, und es gibt Zeiten für Essen und Trinken, für Theater und Gespräche. Die 172
Schlaraffen wählen drei Minister, einen für Spaß am Spielen, einen für Spaß beim Lernen und den dritten für Spaß an der Arbeit, und das werden Zorn, Zor– niger und Amzornigsten, die sich allerdings ab sofort Spaß, Spaßiger und Amspaßigsten nennen. Als erstes beschließt die schlaraffische Regierung, ein neues Schlaraffenland zu bauen. Die Fleißmeisenstadt ist so öde und langweilig, daß es jemanden, der fühlen kann, graust, darin zu leben. Das Tal im Grießbreigebirge soll als Park erhalten bleiben. Auch die Bratwurstbäume und Eierkuchen– stauden wird es weiterhin geben. Nur die hoppeln– den Spanferkel und Kaninchen und die fliegenden Gänse werden abgeschafft. Es ist ja zu lästig, wenn sie immer hinter den Besuchern herlaufen. Wer Span– ferkel essen will, kann das in der Gaststätte tun. Die Schlaraffen wissen gar nicht, wie sie alles schaffen sollen. Da erinnert sich Hermann, daß er noch den ausgerissenen Schwanz vom kleinen Gottlieb hat. Ein Wunsch ist noch drin. Er besucht den Minister Amspaßigsten und sagt: „Soll ich euch ein neues Schlaraffenland wünschen?“ „Gut, daß du kommst!“ sagt der Minister. „Wir er– nennen euch alle zu Ehrenbürgern von Schlaraffia. Wir bitten euch, bei uns zu bleiben und mit uns zu leben. Du weißt ja noch nicht, was wir für schöne Pfannkuchen backen können! Was sagst du? Du willst uns ein neues Schlaraffenland wünschen? Besten Dank, aber das geht nicht. Die Schlaraffen haben soviel Spaß an der Arbeit — soll ich ihnen den ver– derben? Nein, jetzt, wo sie für sich selbst arbeiten, macht es ihnen soviel Freude … Also wie ist es: Bleibt ihr bei uns?“ „Lieber Bruder Amspaßigsten!“ sagt Hermann. „Ihr seid so freundliche Leute, daß es sehr angenehm wäre, hier zu bleiben. Aber wir sind auf der Erde ge– 171
hören und wollen auch zur Erde zurück. Jeder von uns hat dort seine Eltern und Großeltern — was sollten die auch sagen?“ „Ich verstehe euch“, sagt Amspaßigsten. „Dann habe ich eine Verwendung für den letzten Wunsch. Ihr wünscht euch ein Fahrzeug für die Rückkehr!“ Das wäre wahrhaftig wichtig, weil beide Fahrzeuge, sowohl die Rakete, mit der Heinz und Helmut, als auch die Blockhütte, mit der Hermann, Trulle und die anderen gestartet waren, völlig zerstört gefunden worden sind. Zuerst wollte es Hermann durchaus nicht glauben. „Ihr findet sie nur nicht!“ sagt er. „Wißt ihr noch, wie es uns auf der Erde ergangen ist?“ Schnuppi nickte: Da war Hermanns Opa abends nach Hause gekommen und wollte das Haus auf schließen, aber er fand das Schlüsselloch nicht, vielleicht hatte er im Gasthaus ein wenig zuviel getrunken, jedenfalls dachte er sich etwas aus, er malte um das Schlüs– selloch einen weißen Ring, damit man sofort sah, hier war das Schlüsselloch. Aber hinterher sah er, es nützte nichts, die ganze Tür war ja weiß, da konnte man den Ring nicht erkennen, drum malte er die Tür schwarz. Jetzt sah man den weißen Ring besser, aber die Tür erkannte man schlecht, weil das ganze Haus schwarz war. Da malte Hermanns Opa das Haus weiß, und jetzt sah man das schwarze Schlüsselloch im weißen Ring auf der schwarzen Tür des weißen Hauses ganz deutlich, nur das Haus war schlecht zu erkennen, weil es ja zwischen den weißen Birken stand, und abends wußte man nicht, waren es die Birken oder das Haus? Deswegen malte Hermanns Opa alle Birken schwarz, und man sah deutlich das schwarze Schlüsselloch mit dem weißen Ring auf der schwarzen Tür des weißen Hauses unter den schwar– zen Birken, wenn man abends nach Hause kam. 174
Freilich mußte man erst die Birken finden; als sie schwarz waren, sahen sie wie die Buchen aus, die überall herumstanden, und deswegen malte Her– manns Opa, der genauso eigensinnig wie Hermann selber war, alle Buchen weiß an, und das war ein Fortschritt: Jetzt sah man deutlich das schwarze Schlüsselloch mit dem weißen Ring auf der schwar– zen Tür des weißen Hauses unter den schwarzen Birken inmitten der weißen Buchen, aber die weißen Buchen zu finden, das war nun schwer, denn das Haus stand ja an einem weißen See, abends im Mondlicht jedenfalls sieht er so aus, und Hermanns Opa wußte nicht mehr, was ist Wald, was ist See, da besorgte er sich ein Faß Tinte. Er kippte es in den See, und nun sah man von weitem schon das schwarze Schlüsselloch inmitten des weißen Ringes auf der schwarzen Tür der weißen Hütte unter den schwarzen Birken neben den weißen Buchen am schwarzen See, da konnte man schon mal einen über den Durst getrunken haben. Und doch passierte es am nächsten Tage, als Her– manns Opa spätabends nach Hause kam und ganz deutlich alles vor sich sah, daß er — platsch — mitten in den Tintensee fiel, er hatte ihn einfach nicht von der schwarzen Nacht unterscheiden können. Er kam schwarz wie die Nacht nach Hause, und selbst als er wieder abgebraust war, war er noch schwarz im Gesicht, so hatte er sich geärgert. Und er dachte nach, wie man das ändern könnte, er hatte vor, die Nacht ganz hell zu machen, aber das redeten ihm Hermann und die Oma aus, denn dann müßte er ja auch den Tag schwarz malen, dann würde die Nacht zum Tag und der Tag zur Nacht, nachts schiene die Sonne und tags der Mond, und obendrein könnte er dann zur Nacht, nämlich zu der Nacht, die früher Tag war, wieder nicht den schwarzen See se– 175
hen, und da fiel es endlich Hermann wie Schuppen von den Augen: Sie brauchten ja nur einen schwarzen Ring um das Schlüsselloch zu malen, dann könnte die Tür weiß bleiben, das Haus schwarz, die Birken weiß, die Buchen schwarz, der See weiß, die Nacht schwarz, der Tag hell, und alles hätte seine Ordnung. So einfach ist das manchmal im Leben. Aber wir sind ja noch auf dem Quarkstern, Hütte und Rakete sind tatsächlich beide zerstört und nicht etwa nur vom Mehl verschüttet, Amspaßigsten hat Her– mann gerade vorgeschlagen, für den letzten Wunsch aus Gottliebs Schwanz sich ein Fahrzeug für die Rückkehr zu wünschen, aber Hermann schüttelt den Kopf. „Nein“, sagt er. „Die Rakete können wir uns bauen. Aber ich habe eine gute Verwendung für den letzten Wunsch!“ Die Schlaraffen machen sich zusammen mit den Raumfahrern unverzüglich ans Werk, um ein neues Fahrzeug zu bauen. Aber es ist jetzt schon klar, daß das lange dauern wird. Man muß die Teile einzeln durch den Zeitfluß bringen und in der großen Mehl– wüste zusammensetzen, eine harte Arbeit, weil es dort öfter Mehlstürme gibt und man hinterher statt Spucke Mehlkleister im Mund hat. Eines Nachts aber hören sie Schnuppi singen. Trulle weckt Hermann, und sie lauschen. Schnuppi singt: „Wa–Wa–uu, großer Hund, großer Bruder, du kommst mich besuchen — hu–hu!“ Hermann ist ärgerlich über die Störung und will einen Pantoffel nach Schnuppi werfen, aber Trulle sagt: „Weißt du, wenn er das letztemal gesungen hat?“ „Zu Hause am See!“ ruft Hermann und schlägt sich vor den Kopf. Das war damals ein schönes Theater gewesen. 176
Schnuppi hatte nachts zum erstenmal den Mond gesehen und begeistert zu singen begonnen. Der Mond aber blieb stehen und hörte zu, worauf Schnuppi noch lauter weitersang. Hermann mußte jede Nacht aufstehen und den Mond mit einer langen Stange weiterschieben, damit Schnuppi aufhörte. Schließlich beschwerte er sich bei seiner Mutter. Seine Mutter flog sofort auf den Mond und begann die Angelegenheit zu untersuchen. Damals löste sie das Geheimnis des Mondes. Die Mondmänner hielten den Mond an, weil sie Schnuppi singen hören wollten. Hermine Priezel stellte auch einen Lautsprecher auf und ließ den Mond zurücksingen, jedenfalls glaubte Schnuppi das. Schnuppi hatte einen Hund im Mond gesehen, deshalb hatte er ihn angesungen, so wie die Menschen ja glauben, einen Mann im Mond zu erblicken. Als damals der vermeintliche Hund zurücksang, war Schnuppi sehr erschrocken, denn er sang ganz gewaltig, als ob tausend Trompeter in verrostete Gießkannen bliesen, und mußte ein sehr großer Hund sein. Später sang Schnuppi deshalb nur ganz leise, wenn er den Hund im Mond erblickte, und das störte schließlich niemand. Übrigens singen alle Hunde bis auf den heutigen Tag den Mond an. Kurzum: Wenn Schnuppi jetzt singt, muß er entweder einen Hund oder einen Mond sehen, und nachdem Hermann das endlich begriffen hat, schlägt er die Decke zurück und springt aus dem Zelt, das sie sich am Bauplatz ihrer Rakete aufgeschlagen haben. Nun frage ich: Wo soll im Schlaraffenland ein Hund oder ein Mond herkommen? Aber da kommt einer. Kein Hund, sondern ein Mond. Er kommt ganz bedächtig angeschwebt, und obenauf steht eine Gestalt und winkt. „Meine Mutter!“ schreit Hermann. Er erkennt seine 177
Mutter sofort. Sie hat zwar einen Raumanzug an, aber aus alter Gewohnheit bindet sie sich immer ein Kopf– tuch um, weil sie es in ihrer Kindheit mit dem Mittel– ohr hatte. Sie steht auf dem Mond und gibt offenbar Anweisungen. Der Mond nähert sich und hält dann dicht vor ihnen an. Hermine Priezel kommt herunter– geklettert. Hermann läuft mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und schreit: „Mama, Mama!“ Sie umarmen und küssen sich. Dann aber schiebt Hermine Priezel ihren Sohn zurück und sagt: „Ich wollte dir eigentlich eine kleben, weil ihr einfach ausgerissen seid. Was wäre denn, wenn ich euch nicht gefunden hätte: Dann wärst du auch noch elend umgekommen wie deine Brüder!“ Darauf wäre ja nun mehreres zu antworten. Aber man soll seiner Mutter nicht zu oft widersprechen. Sie hat so viele gute Seiten, daß man über die paar Fehler ruhig hinwegsehen kann. Deshalb nimmt Hermann sie in den Arm und führt sie in das zweite Zelt, in dem Heinz und Helmut schlafen. Na, das ist ein Wiedersehen, kann ich euch sagen, da bleibt kein Auge trocken. Aber schließlich haben sich alle gefaßt und können wieder normale Worte von sich geben, statt nur zu schluchzen und zu stammeln. Also wie ist denn Hermine Priezel gerade hierher– gekommen? Wir wissen ja, der Mond stammt aus dem Schla– raffenland. Er ist ein versteinerter Hefekloß, den man zum Raumschiff umgebaut hat. Die Schlaraffen sind vor langen, langen Jahren damit losgeflogen, weil in den Märchen, die bei ihnen erzählt werden, soviel von der Erde zu hören war. Auf der Erde, so sagte man, solle das Gras besonders grün und die Luft besonders mild sein. Kaum aber waren sie losgeflogen, da übernahm Zau– 178
berer Zirbelzwirbel aus der Antiwelt die Macht im Schlaraffenland. Davon wußten die Schlaraffen nichts. Erst kürzlich, vier Jahre nach ihrem Abflug, begriffen sie den Funkspruch, den letzten, den Zorn, Zorniger und Amzornigsten abgegeben hatten. Da waren sie zurückgeflogen. Hermine Priezel aber, die von dem Polizeiengel inzwischen erfahren hatte, wohin ihr Sohn geflogen war, reiste kurzerhand mit ihnen. Nun ist sie eingetroffen und läßt sich alles, alles, alles erzählen und kommt nicht mehr heraus aus dem Wundern. Die Schlaraffen, die ziemlich schwerfällig aus ihrem Mond geklettert waren, hatten die ganze Zeit da– beigesessen und mit dem Kopf genickt. Sie freuen sich, daß ihr Land wieder befreit ist. Und dann begreifen sie, weil hier ja die Zeit anders verläuft, ziemlich schnell: Die Menschen haben Schwierigkeiten bei der Rückkehr. Da stellen sie ihnen sofort den Mond zur Verfügung, mit Geneh– migung der drei Minister Spaß, Spaßiger und Am– spaßigsten natürlich. Einen Tag später steigen Hermann, Heinz und Hel– mut, ihre Mutter Hermine Priezel, Trulle, Bombus, Quina, Quino, Schnuppi, Basil und der starke Hans in den Mond. Sie haben genügend Mehl, Eier und Butter mit — sie wollen nicht länger warten, sie werden sich eben auf der Rückreise von Eierkuchen ernähren. Bevor sie abfahren, zieht Hermann den dünnen Teufelsschwanz aus seinem Notizbuch. „Ein Wunsch ist noch drin“, sagt er zu den ver– sammelten Schlaraffen. Die blicken ihn erwartungsvoll an. In der ersten Reihe stehen Spaß, Spaßiger und Amspaßigsten, neben ihnen Bib und Bibi. 179
Süffel steht auch da. Er ist gerührt und muß sein Tuichcntuch ziehen. „Ich wünsche mir“, sagt Hermann, „daß wir immer Freunde bleiben, Freunde, die einander helfen in der Not und die sich miteinander freuen, wenn es ihnen gut geht!“ Der Schwanz zuckt und malt in die Luft: „SO SOLL ES SEIN!“ Die Schlaraffen klatschen begeistert Beifall und winken den Erdbewohnern, die jetzt in den Mond klettern, um zur Erde zu fliegen. Denn es ist dringend, daß sie zurückkommen. Von der Erde liegt schon ein Funkspruch vor: Seit der Mond fehlt, ist es nachts zu dunkel. Die Hasen stoßen sich Beulen, die Verliebten können einander nicht mehr in die Augen sehen, die Gezeitenkraftwerke stehen still, weil es weder Ebbe noch Flut gibt, die Schulkinder wissen nicht mehr, was sie singen, wenn das Lied „Guter Mond, du gehst so stille“ drangenommen wird, und dreihundert Mondforscher sind arbeitslos. Außerdem hat der VEB Leuchtenbau auf dem Mond ein Ferienheim, und nun kann keiner der Kollegen in Urlaub gehen. Nun, da fliegen sie, an vielen Sternen, grünen, blauen, roten, vorbei. Auf dem Huckedrusenstern machen sie noch einmal Rast. Sie müssen dreitausend Brezeln abgeben. Das ist ein Geschenk der Schlaraffen an die Huckedrusen. Alle Huckedrusen sollen wissen, daß wieder gute Schlaraffen auf dem Nachbarstern herrschen. Und dann landet die ganze Gesellschaft auf der Erde, und alles freut sich, und Oma und Opa verzeihen dem Hermann seinen Streich. Mit den untersetzten Erfindern, das wissen sie, hat man immer seine Not. Und wer unsere Geschichte nicht glaubt, der braucht 180
nur nachts aus dem Fenster zu schauen. Was sieht man da? Den Mond. Und den gäbe es ja nicht, wenn wir gelogen hätten.
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Herakles – Die zwölf Abenteuer — Illustrationen von Karl Fischer Für Leser von 11 Jahren an
Die antiken Sagen von den Taten des Herakles werden auf originelle und humorvolle Weise neu erzählt. Spannend wird geschildert, wie der Held, von Geburt ein Halbgott und mit überdurch– schnittlicher Kraft begabt, das Land von Drachen, wilden Ebern und anderen Ungeheuern säubert. Keine Aufgabe ist dem Tapferen zu schwer, er vollbringt, was bisher für unmöglich schien. Leseprobe: Herakles schritt durch den frühen Morgen des böotischen Sommers, das Fell des alten Berglöwen umgehängt. Er nahm den Weg nach Theben. Dort hoffte er Nachricht von den Eltern vorzufinden. Mit der Zeit aber drückte die behaarte Decke, deren Pranken er kreuzweise über die Brust gelegt hatte. Ihm wurde heiß. Ich sollte das Fell abnehmen, dachte er. Es sieht zwar gut aus, aber andererseits erschrecken die Menschen, wenn sie mich sehen. Er kam an den Aisopos, der wild und reißend seine Wasser zu Tal wälzte und eben eine Brücke fort– gerissen hatte. Viele Kinder warteten dort, die zum Fest des Ganymed nach Theben fahren wollten. Als Herakles auftauchte, waren sie begeistert. Die Lö– wenhaut verscheuchte sie keineswegs. Sie liefen auf 184
ihn zu und hängten sich an ihn — endlich sahen sie einen richtigen Helden! „Wie viele hast du schon totgeschlagen?“ fragte ein Junge und sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Es war schwer, ihn zu enttäuschen. „Es geht“, sagte Herakles und schämte sich plötzlich seines Aufzuges. „Ihr wollt über den Fluß?“ „Ja“, schrien die Kinder, „aber die Brücke ist weg!“ „Ich helfe euch!“ sprach Herakles und hatte endlich einen Anlaß, die Haut von sich zu tun. Er nahm sechs Kinder in jeden Arm und trug sie durch den Strom, fünfundzwanzigmal, denn es sollte ein großes Fest werden. Dann ging er mit ihnen nach Theben und freute sich an ihrem Geplapper. König Kreon empfing ihn sehr freundlich. Amphitryon hatte ihm als Feldherr manchen Krieg geführt, und er hatte es bedauert, als jener nach Sthenelos' Tod wieder die Königswürde in Tiryns und in Mykene dazu übernahm. Nun sah er den Sohn und dachte: Dies wäre ein Nachfolger fürs Feldherrenamt. Er hatte eigentlich den Auftrag von Alkmene, Herakles im Hirtenlager zu benachrichtigen und nach Tiryns zu schicken. Aber wie er das erste vergessen hatte, so vergaß er das zweite. So wußte Herakles nicht, ob er an Amphitryons, seines Stiefvaters, Hof erwünscht war, und blieb fürs erste in Theben. Er genoß das Leben, das ihm an Kreons Hof bereitet wurde, in vollen Zügen. Bedienstete wuschen und salbten ihn, kleideten ihn an und setzten ihm die feinsten Speisen vor. Er ritt auf die Jagd und übte sich wieder im Faustkampf und im Wagenlenken. Dabei hatte er viele Zuschauer, und eine Neugierige fiel ihm sofort auf, weil sie ihn an Mardana erinnerte: Das war Megara, die Tochter Kreons. Mcgara hatte ebenso schwarzes Haar wie Mardana; es floß ihr über die Schultern. Sie brachte viel Zeit damit 185
zu, es kämmen zu lassen. Unter einer runden, etwas eigensinnigen Stirn hatte sie blaue Augen, von einem verhangenen Blau, wie der Rauch des Holzfeuers im Herbst. Daß sie mit fünfundzwanzig Jahren noch nicht verheiratet war, schien ungewöhnlich, aber, so ließ sie hören, sie stellte hohe Ansprüche. Mit gewöhnlichen Menschen, sagte sie bei Gelegenheit, wisse sie wenig anzufangen. Dabei gab sie Herakles zu verstehen, daß er sich nicht zu jener Sorte zählen müsse. In Wahrheit waren die anderen für sie Spiegel, in denen sie nur sich selbst sah. Megara bevorzugte jene, in deren Augen sie sich besonders vorteilhaft, außerordentlich schön und hoch verehrenswert wi– derspiegelte. Das ist häufig eine Schwäche alternder Diktatoren — hier war davon eine junge Frau be– fallen. Als Herakles nach Theben kam, groß, naiv und bä– renstark, verliebte sie sich weniger in ihn als vielmehr in den Gedanken, wie vorteilhaft sie neben ihm aus– sehen würde. Wir wollen vermerken, daß Hera ihr dies eingab, aber vielleicht wäre Megara auch ohne ihr Zutun daraufgekommen. Die Königstochter hatte den jüngeren Mann bald für sich gewonnen. Herakles drängte es, ihr zu gefallen: Er sprang am weitesten, lief am schnellsten und galt im Faustkampf und im Bogenschießen als unbesiegbar. Megara drückte ihm den Lorbeerkranz aufs Haupt, lehnte sich an ihn und las in den Augen der Um– stehenden, welch hübsches Paar sie beide abgaben. „Du bist mein Held“, sprach sie. „Einst wirst du in Theben herrschen, denn mein Vater hat keinen Sohn. Du wirst das Reich vergrößern, und ich will die Königin an deiner Seite sein!“ Das waren Worte, die Herakles, dem sonst so klugen und vielbelehrten, durchaus gefielen. Übrigens hatte auch Hera ihre Freude daran, und Zeus, dem sie sie 186
hinterbrachte — das oberste Götterpaar bot ein Bild der Einmütigkeit. Nur dachte jeder, wie wir noch erfahren werden, an etwas anderes dabei. In diese Zeit fiel es, daß Erginos, der König der Minyer, den Jahrestribut von den Thebanern forderte. Er schickte dazu zwölf Sklaven und einen Gruppen– führer seiner Armee. Die dachten wie jedes Jahr zu verfahren: Sie würden sich in den Pferchen nahe Theben hundert Rinder aussuchen und damit wieder nach Hause ziehen, nach Orchomenos, jenseits des Kupais-Sees gelegen, im Norden von Theben, zwei Tagesmärsche entfernt. Die hundert Ochsen, die da jährlich gezahlt wurden, gingen auf eine alte Fehde zwischen den beiden Fürstenhäusern zurück. Theben hatte vor langer Zeit die Minyer überfallen, war aber damals geschlagen und besiegt worden — ein Urväter-Krieg, an den nur noch der Tribut erinnerte. Die Truppe aus Orchomenos hatte nun das Unglück, dem verliebten, gefallsüchtigen Herakles zu begeg– nen. Der Liebling der Thebaner kam von der Jagd, er trug den Bogen über der Schulter und ritt nach Hause, als ihm der Minyer mitsamt seinen Sklaven in den Weg lief. Herakles verlangte etwas barsch das Woher und Wohin zu wissen, der Herold, im Rücken das sieg– reiche Minyerreich, antwortete hochfahrend. Da er– fuhr Herakles, daß sie hier Tribut einzuholen ge– kommen waren. Er war noch kein halbes Jahr in Theben, aber der Hochmut Megaras hatte ihn bereits befallen. Als künftiger König beschloß er, mit dem Regieren auf der Stelle anzufangen, so, als ob es Kreon nicht gäbe und Staatsrücksichten aller Art. Er erstach den Gruppenführer und schnitt den Vieh– treibern die Nasen ab. Dann schickte er sie nach Hause, sie sollten berichten, so erginge es jedem Minyer, 187
der seine Nase nach Theben hereinstecke. Die Unglücklichen zogen laut jammernd von dannen, Megara aber war begeistert von ihrem Helden. König Kreon hatte freilich eine andere Meinung von diesem unbedachten Streich. Erginos war ein gut gerüsteter Herrscher. Beide waren sich bisher aus dem Wege gegangen, der Tribut hatte Theben nicht arm gemacht. Nun aber würde es Krieg geben. Freilich konnte er seine Bedenken nicht laut werden lassen. Die thebanische Jugend lärmte und feierte Herakles. Sie wollte den Krieg. Der kam schnell. Erginos handelte, ohne Zeit zu verlieren, und rückte mit einem Heer nach Süden. Aber König Kreon hatte heimlich Eilboten zu seinem früheren Feldherrn und jetzigen König von Tiryns und Mykene, zu Herakles' Stiefvater Amphitryon, gesandt. Guttat kommt wieder. Da ihn König Kreon damals zu Zeiten der Verbannung aufgenommen hatte, half ihm jetzt Amphitryon und marschierte mit einem Heer, das er selbst führte, nach Norden. Inzwischen war Erginos vor Theben gelangt und entsandte einen Boten, der des Zeussohnes Ausliefe– rung verlangte. Kreon zögerte die Antwort hinaus. Das Hilfsheer aus Tiryns war noch nicht in Sicht. Da beging Herakles, den Megara zum Prahlhans hatte werden lassen, eine zweite unsinnige Tat. Mitsamt einer Rotte thebanischer Jugendlicher, die sich in den Athene-Tempeln der Stadt mit Opferwaffen aus– gerüstet hatten, überfiel er Erginos' Lager. Es war sein Plan, zum Königszelt durchzubrechen und den Herrscher als Geisel zu nehmen. Doch sie waren ihrer zu wenige. Die Thebaner schlugen sich zwar ver– bissen, aber Herakles sah Freund um Freund fallen und begriff mit Entsetzen, daß er seine Kräfte über– schätzt hatte. Schließlich hielt er sich nur noch allein 188
gegen die Übermacht der Lagertruppen. Da er am Arm verletzt war, konnte er nicht beidhändig fechten. Rücklings gegen ein Vorratszelt gedrängt, wirbelte er mit der Linken das Schwert durch die Luft. In diesen Se–kunden, die ihm die letzten schienen, sah er sich plötzlich selbst, als betrachte er die Szene von außen, ein Zuschauer seiner eigenen Todesstunde, und es durchdrang ihn lähmend die Erkenntnis, wieviel Leid er durch Unbedachtheit angerichtet hatte. Er begriff zum erstenmal, daß auch er diese Erde verlassen mußte, nur schien es ihm bitter, so sinnlos zu sterben. Warum, dachte er, warum das alles? Aus Über– hebung, aus kindlicher Prahlsucht… Plötzlich riefen Hornsignale. Die Truppen aus My– kene, gerade eingetroffen, gingen aus dem Marsch heraus zum Angriff über. Der bedrängte Herakles erblickte Amphitryon, der sich wie ein Berserker, von seiner Leibwache gedeckt, durch die Feinde hieb, ihn zu entsetzen. Da ließ er das Schwert sinken und sagte: „Vater!“ Wenn er sich später dieser Szene erinnerte, dann wußte er, daß er damit Abschied von seiner Kindheit genommen hatte, als er ein letztes Mal sich ganz als hilfloses Kind fühlte. Die Streitmacht der argolischen Verbündeten gab dem Kampf die Wendung: Erginos' Lager wurde überrannt, er selbst wurde, getötet, seine Soldaten flüchteten. Thebaner und Mykener verfolgten den Feind bis nach Orchomenos. In Theben war der Jubel groß. Am nächsten Tag schon kam Kunde, daß die Heere die Hauptstadt des Feindes geschleift hatten. Die Thebaner feierten ihren Helden. Das war nicht König Kreon, der durch sein kluges Verhalten den Krieg in Wahrheit entschieden hatte. Das war auch nicht Amphitryon, der im Kampfwagen nach Norden gerollt war, den vereinig– 189
ten thebanisch-mykenischen Heeren voran. Nein, die Thebaner feierten Heraklas, der den unsinnigen Krieg durch törichte Händelsucht heraufbeschworen hatte. Der hochgewachsene Blondschopf lief mit einem eindrucksvollen Verband herum, denn er hatte eine tiefe Hiebwunde am Oberarm. Die Thebaner bestaunfen und bekränzten ihn, setzten ihn an die Spitze der improvisierten Tafel, hielten Lobreden, worin sie ihm, dem fast Unterlegenen, das Verdienst am Sieg zu– schrieben, und König Kreon blieb nichts übrig, als dem Willen seiner Tochter gemäß sie dem Herakles anzutragen, was die Massen in Freudentaumel ver– setzte. Herakles aber schämte sich. Er schämte sich seit jener Sekunde, da sein Vater Amphitryon im Kampfgetümmel aufgetaucht war und ihn gerettet hatte. Als Amphitryon sich zu ihm beugte, war Herakles in einem Anfall von Schwäche, aber auch von tiefer Dankbarkeit an seine Brust gesunken. Der Vater hatte ihn kurz an sich gedrückt, dann aber fortgeschoben. „Ich muß weiter!“ hatte er gesagt und war davon, die Überraschung des Angriffs zum Sieg zu münzen. Aber Herakles hatte auch die Mißbilligung in seinen Augen gelesen, und die war nicht mit Antipathie abzutun. Sein Vater hatte recht — er, Herakles, hatte sich wie ein Dummkopf verhalten und viele Men– schen in den Tod gejagt. Gegen die Lobreden konnte er sich nicht wehren, seine skeptische Miene bei jedem Trinkspruch wurde ihm als Bescheidenheit hoch angerechnet. So verkroch er sich. Er ließ sich auch vor Megara nicht sehen, die er doch liebte. Er wollte, daß der Lärm aufhöre. Als er im Zimmer lag und schlief, trat einer ins Haus und kam den Gang entlang. Herakles erwachte; er hörte das Tappen und richtete sich auf. Niemand klopfte. War es ein Überfall? Drinnen horchte er, und 190
draußen zögerte der andere immer noch. Schließlich hielt es der Zeussohn nicht mehr aus, rannte zur Tür und stieß sie auf. Da stand einer, den er fünf Jahre nicht gesehen hatte, aber gleich erkannte. „Iolaos!“ schrie er. Dann hielt er inne und erschrak, denn lolaos rief nicht und lachte nicht, sah ihn nur an, senkte den Kopf und sagte: „Vater ist tot!“ Herakles stöhnte, als habe ihn ein schwerer Hieb getroffen, und dachte: Nein. Das ist nicht wahr. Das darf nicht wahr sein! Und wußte — vor dieser Wahrheit gab es kein Entrinnen. Amphitryon hatte ihm das Leben gerettet und war so wahrhaft sein Vater geworden. Nun sollte er davon sein, hinunter in den bleichen Hades? Und ich bin schuld daran, dachte der Hüne und zerriß sich das Gewand, als könne er den Verursacher dieses Todes bestrafen. Er setzte sich und fragte: „Wie ist es passiert?“ Iolaos berichtete, aber der Bruder, halb betäubt, verstand nur mühsam den Sinn der Worte. Ein Beilwerfer war es gewesen, ein Skythe, der seine Kunst probierte, obwohl der Krieg für die Minyer schon verloren — er hatte dem König den Kopf gespalten und war gleich darauf erschlagen worden, Iolaos redete noch lange, um den Bruder nicht allein zu lassen; er hatte den Feldzug bis zum Ende mit– gemacht. Dann schliefen sie. Iolaos wohnte seit dieser Zeit bis zur Hochzeit des Bruders mit ihm zusammen.
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