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70.-74-Tausend: Februar 1994 Ungekürzte Ausgabe Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, November 1987 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Ammann Verlags AG, Zürich Die portugiesische Originalausgabe erschien 1982 unter dem Titel "Livro do Desassossego" im Verlag Atica, S. A. R. L., Lissabon. © Atica, S.A.R.L., Lissabon 1982 Für die deutschsprachige Ausgabe: © Ammann Verlag AG, Zürich 1985 Umschlaggestaltung: Jan Buchholz/ReniHinsch Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-29131-3
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Der 1935 als nahezu Unbekannter in Lissabon gestorbene Fernando Pessoa gilt heute als der bedeutendste portugiesische Dichter des 20. Jahrhunderts und eine der Schlüsselfiguren der literarischen Moderne. Sein »Buch der Unruhe«, an dem er über 20 Jahre gearbeitet hat, ist ein grandioses Dokument existentieller Traurigkeit. Es ist gefügt aus den Aufzeichnungen - Beobachtungen, Reflexionen, Meditationen - des fiktiven Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, in denen dieser sich in radikaler Weise den Fragen nach der Bestimmung des Menschen, dem Sinn des Lebens und den Geheimnissen seines Ichs stellt.
Als Pessoas >Buch der Unruhe< 1985, 50 Jahre nach dem Tod des Autors, in deutscher Übersetzung erschien, wurde es von der Kritik sogleich als ein literarisches Ereignis ersten Ranges gefeiert. >Das Buch der Unruhe<, eines der traurigsten Bücher Portugals, setzt sich aus den fiktiven Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares zusammen, der im konkreten Sinne eine gewisse Ähnlichkeit, wenngleich keine Identität mit dem Autor Pessoa hat, im metaphorisch-übertragenen aber für den Menschen schlechthin steht: »Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in einem Geschäft mit einem anderen Stoff in irgendeiner anderen Altstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir summieren und gehen dahin; wir schließen Bilanz und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.« So ist auch die Rua dos Douradores in der Lissabonner Altstadt, wo sich das unscheinbare Leben des Hilfsbuchhalters abspielt, als ein verkleinertes Abbild der ganzen Welt zu sehen. Aus zahlreichen Fragmenten, Skizzen und Aphorismen komponiert, keinem erzählerischen Kontinuum, sondern Assoziations ketten folgend, hat das Buch eine extrem offene, extrem moderne Form. Ein Hauptgegenstand dieser Beobachtungen, Meditationen, Reflexionen, die Soares-Pessoa über die Welt im allgemeinen und die eigene Persönlichkeit anstellt, ist die Frage nach der Bestimmung des Menschen, nach dem Sinn des Lebens und den Geheimnissen seines Ichs, und sie führt ihn in eine erbarmungslose, um Begriffe wie >Überdruß<, >Angst<, >Lebensekel<, >Fremdheit< zentrierte Selbst- und Zeitdiagnose. >Das Buch der Unruhe ist ein grandioses Dokument existentieller Traurigkeit. »Es scheint mir unmöglich, von ihm nicht gefesselt zu sein. Denn auf diesen Seiten wird unsere Sache abgehandelt.« (C. Meyer-Clason) Fernando Pessoa, der 1935 im Alter von 47 Jahren gestorben ist, gilt heute als der wichtigste Dichter der Moderne in der portugiesischen Literatur. Zu Lebzeiten hat er nur wenig veröffentlicht; wenn überhaupt, so kannte die Nachwelt ihn als Lyriker. Das Erscheinen der Prosaaufzeichnungen Pessoas, 1982 im portugiesischen Original, war daher eine literarische Sensation. Pessoa wurde 1888 in Lissabon geboren; er verbrachte seine Jugend in Durban in Südafrika, wo sein Stiefvater Konsul war. Mit 17 Jahren kehrte er nach Lissabon zurück und führte dort bis zu seinem Tod eine äußerst unscheinbare Existenz als Handelskorrespondent. Pessoa schrieb für die Truhe. Sein literarischer Nachlaß, der 27543 Manuskripte umfaßt, enthält Lyrik, dramatische Skizzen, politische, soziologische und essayistische Schriften. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind von Pessoa außerdem erschienen: >Alberto Caeiro/Dichtungen, Ricardo Reis/Oden< (Bd. 9132), >Ein anarchistischer Bankier« (Bd. 10306), »Alvaro de Campos/Dichtungen< (Bd. 10693), das Lesebuch >Algebra der Geheimnisse« (Bd. 9133) und >Dokumente zur Person und ausgewählte Briefe« (Bd. 11147).
Die Anordnung der Fragmente ist in der deutschen Ausgabe gegenüber der portugiesischen Originalausgabe abgeändert worden.
Erläuterung der Zeichen (?) Zweifel der portugiesischen Herausgeber an der Entschlüsselung eines handschriftlichen Wortes. [. . .] Lücke im portugiesischen Original (. . .) Vom Übersetzer gekürzt.
Fernando Pessoa Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares Aus dem Portugiesischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind
Fischer Taschenbuch Verlag
Aspekte Das vielgestaltige Werk, das hier vorliegt, ist seiner Grundhaltung nach dramatisch, wenngleich auf unterschiedliche Weise — in Prosastücken, in Gedichten oder philosophischen Texten. Die Geistesverfassung, aus der es entsprang, mag man als Privileg oder als Krankheit betrachten. Sicher ist indessen, daß der Autor dieser Zeilen — ich weiß nicht, ob auch der Autor dieser Bücher — niemals nur eine einzige Persönlichkeit war, niemals anders als dramatisch gedacht und empfunden hat, das beißt durch die Maske einer angenommenen Person oder Persönlichkeit, die besser als er selbst diese Gefühle empfinden konnte. Manche Schriftsteller schreiben Dramen und Novellen, und in diesen Dramen und Novellen unterstellen sie ihren Gestalten Gedanken und Gefühle und sind häufig genug entrüstet, wenn man diese für ihre eigenen Gedanken oder Gefühle hält. Bei dem vorliegenden Werk verhält es sich, obschon in anderer Form, im Grunde genauso. Jeder dauerhafteren Persönlichkeit, die der Verfasser dieser Bücher in sich zu erleben vermochte, hat er eine bestimmte Ausdrucksweise gegeben und aus dieser Persönlichkeit einen Autor mit seinem Buch oder verschiedenen Büchern entwickelt; mit ihren Gedanken, ihren Gefühlen, ihrer Kunst hat er, der wirkliche Verfasser (oder vielleicht auch nur der scheinbare, denn wir wissen ja nicht, was die Wirklichkeit ist), nichts zu schaffen, abgesehen davon, daß er bei der Niederschrift das Medium von Gestalten war, die er selbst geschaffen hat. Weder dieses noch die folgenden Werke haben irgend etwas mit dem Erfasser zu tun. Weder ist er einverstanden mit dem, was in ihnen niedergelegt ist, noch ist er dagegen. Er schreibt wie unter Diktat; als ob es ein Freund ihm diktierte und man ihn also mit Recht bitten könnte, das Diktat niederzuschreiben, findet er das interessant — vielleicht nur aus Freundschaft —, was er da als Diktat niederschreibt. Als privates Ich kennt der Autor in sich selbst überhaupt keine Persönlichkeit. Wenn er einmal eine Persönlichkeit in sich aufsteigen fühlt, bemerkt er bald, daß es sich um ein von ihm selber verschiedenes, wiewohl ähnliches Wesen handelt; um einen Sohn im Geiste sozusagen, mit ererbten Eigenschaften, aber allen Unterschieden eines anderen Menschen. Daß diese Eigenheit des Schriftstellers eine Form der Hysterie oder der sogenannten Persönlichkeitsspaltung sei, wird vom Autor dieser Zeilen
weder bestritten noch bejaht. Da er ein Sklave seiner eigenen Vielheit ist, würde es ihm nichts nützen, wenn er dieser oder jener Theorie über die schriftlichen Ergebnisse dieser Vielheit beipflichtete. Es kann nicht wundernehmen, daß dieses Verfahren, Kunst hervorzubringen, befremdlich wirken muß; verwunderlich ist vielmehr, daß es überhaupt etwas geben sollte, was nicht befremdlich wirkt. Manche Theorien, die der Verfasser zum gegenwärtigen Zeitpunkt vertritt, wurden ihm von einer der Personen eingegeben, die, auf einen Augenblick, eine Stunde oder eine gewisse Zeit mit ihm verschmolzen, durch seine eigene Persönlichkeit hindurchgezogen sind, falls es diese eigene Persönlichkeit geben sollte. Zu der Behauptung, diese ganz, verschiedenen, klar umrissenen Menschen, die verkörpert durch seine eigene gebogen sind, existierten gar nicht, kann sich der Erfasser dieser Bücher nicht versteigen; denn weder weiß er, was existieren heißt, noch wer wirklicher ist, Hamlet oder Shakespeare, oder wer von ihnen in Wahrheit wirklich. Bei diesen Büchern handelt es sich einstweilen um folgende: Zunächst um das »Buch der Unruhe«, geschrieben von jemandem, der von sich selbst behauptet, er heiße Vicente Guedes; ferner um »Der Hirte« und andere Gedichte und Fragmente eines gewissen (ebenfalls und auf gleiche Art verstorbenen) Alberto Caeiro, der 1889 in der Nähe von Lissabon geboren wurde und 1915 ebendort verstarb. Wenn jemand meinen sollte, es sei absurd, so von jemandem zu sprechen, der nie existiert hat, so antworte ich ihm: Mir ist kein Beweis bekannt, wonach Lissabon je existiert hat, oder ich, der dies niederschreibt, oder überhaupt etwas, wo auch immer. Dieser Alberto Caeiro hatte zwei Schüler und einen philosophischen Nachfolger. Die beiden Schüler, Ricardo Reis und Alvaro de Campos, schlugen verschiedene Wege ein; der erste verstärkte das von Caeiro entdeckte Heidentum und verwandelte es in künstlerische Orthodoxie, der zweite ging von einem anderen Teil des Caeiro-Werks aus und entwickelte ein gänzlich andersartiges System, das völlig auf den Empfindungen aufbaut. Der philosophische Nachfolger Antonio Mora (die Namen sind so unvermeidlich und von außen auferlegt wie die Personen) arbeitet an einem oder zwei Büchern, in denen er die metaphysische und praktische Wahrheit des Heidentums vollkommen beweisen wird. Ein zweiter Philosoph dieser heidnischen Schule, dessen Name jedoch vor meinem inneren Seh- oder
Hörvermögen noch nicht aufgetaucht ist, wird eine Verteidigung des Heidentums liefern, die auf ganz anderen Argumenten basiert. Es ist durchaus möglich, daß später noch andere Individuen von der gleichen Art wahrer Wirlichkeit zum Vorschein kommen. Ich weiß es nicht; doch meinem Innenleben werden sie stets willkommen sein, da ich mit ihnen besser als mit der äußeren Wirklichkeit zusammenzuleben vermag. Ich brauche kaum zu sagen, daß ich mit einem Teil ihrer Theorien einverstanden bin, mit anderen Teilen hingegen nicht. Das ist auch gänzlich gleichgültig. Wenn sie etwas Schönes schreiben, so ist es schön, unabhängig von irgendwelchen metaphysischen Betrachtungen über die »wirklichen« Autoren. Wenn ihre Gedankengänge Wahrheiten enthalten —falls es Wahrheiten geben sollte in einer Welt, die ein »es gibt nichts« ist — so sind sie wahr, unabhängig von der Absiebt oder »Wirklichkeit« dessen, der sie hervorgebracht hat. Dergestalt werde ich im Mindestfall zum Narren, der hohe Träume hegt, im Höchstfall nicht ein einzelner Schriftsteller, sondern eine ganze Literatur, und selbst wenn das nicht dazu beitrüge, mich zu unterhalten, was für mich schon vollkommen ausreichend wäre, trage ich möglicherweise dazu bei, das Weltall zu vergrößern; denn wer bei seinem Tode einen schönen Virs hinterläßt, hat Himmel und Erde bereichert und den Grund für das Vorhandensein von Sternen und Menschen in ein stärker gefühltes Geheimnis erhoben. Was kann denn ein genialer Mensch angesichts eines heute derart spürbaren Mangels an Literatur anderes tun als sich ganz für sich allein in eine Literatur verwandeln? Was kann ein sensibler Mensch angesichts des Mangels an Zeitgenossen, mit denen sich der Umgang lohnt, Besseres tun, als seine Freunde oder zumindest geistigen Gefährten selbst zu erfinden? . . . Vor meinem Auge, das ich nur deshalb inneres Auge nenne, weil ich eine bestimmte Welt »äußerlich« nenne, stehen fest, klar umrissen, bekannt und genau unterschieden die Physiognomien, Wesenszüge, Lebensläufe, Herkunft und in einigen Fällen auch der Tod dieser Gestalten. Einige von ihnen waren miteinander bekannt, andere nicht. Mich persönlich hat keiner von ihnen gekannt, außer Alvaro de Campos. Aber sollte ich morgen auf einer Amerikareise plötzlich leibhaftig auf Ricardo Reis treffen, der meines Wissens drüben lebt, so würde meine Seele keine Geste des Erstaunens auf den Körper übertragen; alles hätte nur seine Richtigkeit, wie schon zuvor alles seine Richtigkeit hatte. (Aus: »Paginas intimas e de auto-interpretacao«)
Vorwort In Lissabon gibt es einige wenige Restaurants oder kleine Gasthäuser, da liegt oberhalb eines Geschäftes, das wie eine dezente Taverne aussieht, ein Zwischengeschoß, das so schwerfällig und hausbacken wirkt wie ein Restaurant in einer Ortschaft ohne Bahnanschluß. In diesen, abgesehen von den Sonntagen, wenig besuchten Zwischengeschossen kann man häufig sonderbare Typen, Gesichter ohne Interesse, Abseitige des Lebens antreffen. Der Wunsch nach Ruhe und die mäßigen Preise ließen mich in einer gewissen Epoche meines Lebens zum häufigen Gast in einem solchen Zwischengeschoß werden. Es ergab sich nun, daß ich dort, wenn ich zufällig gegen sieben zu Abend aß, fast immer ein Individuum antraf, dessen Aussehen mich anfänglich nicht, dann aber nach und nach zu fesseln begann. Der Mann war ungefähr dreißig Jahre alt, mager und eher groß als klein, er beugte sich übertrieben vornüber, wenn er saß, weniger wenn er stand, und war mit einer gewissen Nachlässigkeit, aber doch nicht ganz nachlässig gekleidet. Seinem blassen, nicht gerade ausdrucksstarken Gesicht konnte auch seine Leidensmiene keinen stärkeren Ausdruck verleihen, und es erwies sich als schwierig, genauer zu beschreiben, auf welche Art Leiden diese Miene hindeutete — sie schien auf mehrere zu verweisen, auf Entbehrungen, Ängste und jenes dem Gleichmut entstammende Leid, das auftritt, wenn man viel durchgemacht hat. Er aß stets wenig zu Abend und rauchte anschließend billigen, nach Gewicht gekauften Tabak. Aufmerksam, nicht mißtrauisch, sondern mit besonderer Teilnahme beobachtete er die anwesenden Gäste; doch beobachtete er sie nicht, als ob er sie eingehend zu ergründen suche, sondern als ob er an ihnen gleichsam Anteil nehme, ohne sich ihre Gesichtszüge oder die Äußerungen ihrer Wesensart im einzelnen einprägen zu wollen. Diese Eigenheit weckte mein Interesse für ihn zuerst. Ich sah ihn mir nun genauer an. Ich bemerkte, daß ein gewisser Ausdruck von Intelligenz in unbestimmt-bestimmter Weise seine Züge belebte. Doch verhüllte sie Niedergeschlagenheit und die Stagnation der kalten Angst mit solcher Regelmäßigkeit, daß es
schwierig wurde, einen anderen Wesenszug außer diesem ausfindig zu machen. Zufällig hörte ich von einem Kellner des Restaurants, daß er kaufmännischer Angestellter in einem nahe gelegenen Geschäftshaus war. Eines Tages kam es auf der Straße unter unseren Fenstern zu einem Zwischenfall: Zwei Kerle prügelten sich. Wer sich gerade im Zwischengeschoß aufhielt, lief ans Fenster, auch ich und der Mann, von dem ich rede. Ich wechselte mit ihm einen hingeworfenen Satz, und er antwortete mir in gleicher Weise. Seine Stimme klang matt und zaghaft, wie die Stimme eines Menschen, der nichts erwartet, weil es ganz nutzlos ist, irgend etwas zu erwarten. Vielleicht war es aber auch ganz verfehlt, daß ich meinem abendlichen Restaurantgefährten diese Bedeutung beimaß. Seit jenem Tage gingen wir — ich weiß nicht warum — dazu über, einander zu grüßen. Eines guten Tages, als wir uns möglicherweise durch den absurden Umstand nähergekommen waren, daß wir beide um halb zehn zum Abendessen erschienen, kamen wir zufällig ins Gespräch. Dabei fragte er mich, ob ich schriftstellerisch tätig sei. Ich bejahte das. Ich erzählte ihm von der Zeitschrift »Orpheu«,* die kurz zuvor erschienen war. Er lobte sie, lobte sie ziemlich ausführlich, und darüber war ich nun wirklich erstaunt. Ich erlaubte mir, ihm meine Verwunderung zu verstehen zu geben, denn die Kunst der »Orpheu«-Beiträger pflegt nur wenige zu erreichen. Er erwiderte, vielleicht gehöre er zu diesen wenigen. Im übrigen, fügte er hinzu, habe ihm die »Orpheu«-Lektüre eigentlich nichts Neues gebracht: Schüchtern deutete er an, weil er nicht wisse, wohin er gehen und was er anstellen solle, weil er keine Freunde zu besuchen und keine Freude am Bücherlesen aufbringen könne, pflege er die Nächte zu verbringen, indem er ebenfalls schriebe.
* Die Zeitschrift des portugiesischen Modernismus, 1915 erschienen (Anm. d. Ü.)
1. Artikel Als die Generation geboren wurde, der ich angehöre, fand sie die Welt ohne Stützen für Leute mit Herz und Hirn vor. Die zerstörerische Arbeit der vorangegangenen Generation hatte bewirkt, daß die Welt, in die wir hineingeboren wurden, uns keinerlei Sicherheit in religiöser Hinsicht, keinerlei Halt in moralischer Hinsicht und keinerlei Ruhe in politischer Hinsicht bieten konnte. Wir wurden in metaphysische Angst, in moralische Angst, in politische Unruhe hineingeboren. Trunken von äußerlichen Formeln, von den bloßen Verfahren der Vernunft und der Wissenschaft hatten die uns vorangegangenen Generationen alle Fundamente des christlichen Glaubens unterhöhlt, weil ihre Bibelkritik, die von der Kritik an den Texten zur Kritik an der Mythologie des Christentums übergegangen war, die Evangelien und die vorangehende Hierographie der Juden auf eine Ungewisse Ansammlung von Mythen, Legenden und bloßer Literatur reduziert hatte; ihre wissenschaftliche Kritik deckte Schritt um Schritt die Irrtümer und groben Naivitäten der ursprünglichen »Wissenschaft« der Evangelien auf; gleichzeitig schwemmte die Diskussionsfreiheit, die alle metaphysischen Probleme zur Debatte stellte, die religiösen Probleme mit sich fort, so weit sie metaphysischer Natur waren. Trunken von einer Ungewissen Sache, die sie »Positivismus« nannten, kritisierten diese Generationen die gesamte Moral, durchstöberten alle Lebensregeln, und von diesem Zusammenstoß der Lehrmeinungen blieb nur die Ungewißheit aller zurück und der Schmerz darüber, daß es keine Gewißheit gab. Eine solcherart in ihren Grundlagen erschütterte Gesellschaft konnte konsequenterweise auch in der Politik nur ein Opfer dieser Disziplinlosigkeit werden; und so erwachten wir für eine nach gesellschaftlichen Neuerungen begierige Welt, und mit Freude ging man auf die Eroberung einer Freiheit los, von der man nicht wußte, was sie war, und auf einen Fortschritt, der nie genau definiert worden war. Aber der grobschlächtige Kritizismus unserer Eltern hinterließ uns zwar die Unmöglichkeit, Christen zu sein, nicht aber die Zufriedenheit mit dieser Unmöglichkeit; er hinterließ uns den
Unglauben an die überlieferten moralischen Formeln, nicht aber die Gleichgültigkeit gegen die Moral und die Regeln des menschlichen Zusammenlebens; er ließ zwar das politische Problem in der Schwebe, unseren Geist aber nicht gleichgültig gegenüber der Lösung dieses Problems. Unsere Eltern zerstörten mit Befriedigung, weil sie in einer Epoche lebten, in der noch Reste der soliden Vergangenheit übriggeblieben waren. Eben das, was sie zerstörten, hatte der Gesellschaft Kraft verliehen, so daß sie es zerstören konnten, ohne die Risse am Gebäude zu bemerken. Wir haben die Zerstörung und ihre Resultate geerbt. Im heutigen Leben gehört die Welt nur den Narren, den Grobschlächtigen und den Betriebsamen. Das Recht zu leben und zu triumphieren erwirbt man heute fast durch die gleichen Verfahren, mit denen man die Einweisung in ein Irrenhaus erreicht: die Unfähigkeit zu denken, die Unmoral und die Übererregtheit.
Ich gehöre zu einer Generation, die den Unglauben an den christlichen Glauben geerbt und in sich den Unglauben gegenüber allen anderen Glaubensüberzeugungen hergestellt hat. Unsere Eltern besaßen noch den Impuls des Glaubens und übertrugen ihn vom Christentum auf andere Formen der Illusion. Einige waren Enthusiasten der sozialen Gleichheit, andere nur in die Schönheit verliebt, andere glaubten an die Wissenschaft und ihre Vorzüge, und wieder andere gab es, die dem Christentum stärker verbunden blieben und in Orient und Okzident nach religiösen Formen suchten, mit denen sie das ohne diese Formen hohle Bewußtsein, nur noch am Leben zu sein, beschäftigen könnten. All das haben wir verloren, all diesen Tröstungen gegenüber sind wir als Waisenkinder geboren worden. Jede Zivilisation folgt der inneren Linie einer Religion, die sie repräsentiert: Auf andere Religionen übergehen heißt, diese verlieren und damit letztlich alle verlieren. Wir haben diese eingebüßt und die anderen ebenfalls. Mithin ist jeder einzelne von uns sich selbst überlassen worden und der Trostlosigkeit, sich am Leben zu fühlen. Ein Schiff scheint ein Gegenstand zu sein, dessen Bestimmung die Seefahrt ist; doch seine
Bestimmung ist nicht die Seefahrt, sondern die Einfahrt in einen Hafen. Wir haben uns auf hoher See gefunden ohne die Vorstellung von einem Hafen, in dem wir hätten Zuflucht suchen können. So wiederholen wir auf schmerzliche Art und Weise die Abenteuerformel der Argonauten: Seefahrt tut not, Leben tut nicht not. Illusionslos leben wir nur vom Traum, der Illusion dessen, der keine Illusionen haben kann. Aus uns selber lebend vermindern wir unseren Wert, denn der vollständige Mensch ist der Mensch, der sich nicht kennt. Ohne Glauben haben wir keine Hoffnung und ohne Hoffnung haben wir kein Leben im eigentlichen Sinne. Da wir keine Vorstellung von der Zukunft haben, haben wir auch keine Vorstellung vom Heute, denn das Heute ist für den Tatmenschen nur ein Vorspiel der Zukunft. Der Kampfesmut ist abgestorben mit uns auf die Welt gelangt, denn wir wurden ohne Begeisterung für den Kampf geboren. Einige von uns stagnierten in der schalen Eroberung des Alltags, gemein und niedrig auf der Jagd nach dem täglichen Brot, und sie wollten es ohne das Gefühl der Arbeit, ohne das Bewußtsein der Anstrengung, ohne den Adel des Gelingens erhalten. Wir anderen, besser Gearteten enthielten uns der Teilnahme am öffentlichen Leben, verlangten nichts und wünschten nichts und versuchten statt dessen, das Kreuz unseres bloßen Existierens auf den Kalvarienberg des Vergessens zu schleppen. Eine aussichtslose Bemühung für denjenigen, der nicht, wie der Träger des Kreuzes, einen göttlichen Ursprung in seinem Bewußtsein fühlt. Andere haben sich extrovertiert dem Kult der Verwirrung und des Lärms ergeben und zu leben gemeint, wenn sie sich nur selber hörten, und zu lieben geglaubt, wenn sie die Äußerlichkeiten der Liebe nachvollzogen. Das Leben schmerzte uns, weil wir wußten, daß wir lebendig waren; das Sterben erschreckte uns nicht, weil wir den normalen Begriff des Todes verloren hatten. Andere jedoch, Rasse des Endes, geistige Grenze der toten Stunde, fanden nicht einmal den Mut zur Negation und zum Asyl in sich selber. Ihr Leben verlief in Verneinung, in Unzufriedenheit und in Trostlosigkeit. Wir aber erleben es von innen, ohne uns zu gebärden, stets mindestens in der Art und Weise unserer
Lebensführung in die vier Wände des Zimmers eingeschlossen und in die vier Mauern, handlungsunfähig zu sein.
(zum Anfang gehörend)
29.3.1930
Ich bin zu einer Zeit geboren worden, in der die Mehrheit der jungen Leute den Glauben an Gott verloren hatte, aus dem gleichen Grund, aus welchem ihre Vorfahren an Gott geglaubt hatten — ohne zu wissen warum. Und da wählte die Mehrheit dieser jungen Leute, weil der menschliche Geist von Natur aus dazu neigt, Kritik zu üben, weil er fühlt, nicht weil er denkt, die Menschheit als Ersatz für Gott. Ich gehöre jedoch zu jener Art von Menschen, die immer am Rande stehen und nicht nur die Menschenmenge sehen, deren Teil sie bilden, sondern auch die Freiräume daneben. Deshalb habe ich Gott nie so weitgehend aufgegeben wie sie und niemals die Menschheit als Ersatz akzeptiert. Ich war der Ansicht, daß Gott, auch wenn er unwahrscheinlich war, dennoch vorhanden sein und also auch angebetet werden konnte, daß aber die Menschheit, da sie eine rein biologische Vorstellung ist und nicht mehr bedeutet als die Gattung menschlicher Lebewesen, der Anbetung nicht würdiger sei als irgendeine andere tierische Gattung. Dieser Menschheitskult mit seinen Riten von Freiheit und Gleichheit erschien mir stets wie ein Wiederaufleben jener alten Kulte, in denen Tiere Götter waren oder die Götter Tierköpfe trugen. Da ich also weder an Gott noch an eine Summe von Lebewesen glauben konnte, verblieb ich wie andere Außenseiter in jener Distanz zu allem, die man gemeinhin Dekadenz nennt. Dekadenz bedeutet den vollständigen Verlust der Unbewußtheit, denn die Unbewußtheit ist das Fundament des Lebens. Wenn das Herz denken könnte, würde es still stehen. Was bleibt jemandem, der wie ich lebendig ist und doch kein Leben zu haben versteht — ebenso wie den wenigen Menschen meiner Art — anderes übrig als der Verzicht als Lebensweise und die Kontemplation als Schicksal? Da wir nicht wissen, was religiöses Leben ist, es auch nicht wissen können, weil man nicht mit
der Vernunft Glauben haben kann, da wir auch nicht an die Abstraktion Mensch glauben können und nicht einmal wissen, was wir für uns selbst mit ihr anfangen sollen, blieb uns als Motiv für unsere Seele nur die ästhetische Betrachtung des Lebens. Und so ergeben wir uns, fühllos für die Feierlichkeiten aller Wehen, gleichgültig gegenüber dem Göttlichen und Verächter des Menschlichen nichtsnutzig der absichtslosen Empfindung und pflegen sie in einem verfeinerten Epikureertum, wie es unseren Gehirnnerven zugute kommt. Indem wir von der Naturwissenschaft nur ihr Hauptgebot behalten, daß alles schicksalhaften Gesetzen unterworfen ist, gegen die man nicht unabhängig reagieren kann, weil reagieren schon heißen würde, sie hätten bewirkt, daß wir reagieren mußten, indem wir außerdem feststellen, daß dieses Gebot mit dem anderen, älteren vom göttlichen Verhängnis der Dinge übereinstimmt, verzichten wir auf die Anstrengung wie die Schwächlinge auf das Training der Athleten und beugen uns über das Buch der Empfindungen mit dem großen Skrupel gefühlter Gelehrsamkeit. Indem wir nichts ernst nehmen und auch nicht meinen, daß uns eine andere Wirklichkeit als gewiß gegeben sei als unsere Empfindungen, suchen wir bei ihnen Zuflucht und erforschen sie wie große unbekannte Länder. Und wenn wir so großen Fleiß nicht nur auf die ästhetische Betrachtungsweise, sondern auch auf den Ausdruck ihrer Vorgänge und Ergebnisse verwenden, so geschieht das, weil Prosa oder Verse, die wir schreiben, von der Absicht befreit, fremdes Verständnisvermögen überzeugen zu wollen oder fremden Willen zu bewegen, nur wie das laute Vorsichhinsprechen eines Lesenden sind, das dazu beiträgt, dem subjektiven Genuß der Lektüre volle Objektivität zu verschaffen. Wir wissen wohl, daß jedes Werk unvollkommen sein muß und unsere ästhetische Betrachtung dem gegenüber, was wir schreiben, am unsichersten ist. Unvollkommen jedoch ist alles, es gibt keinen noch so schönen Sonnenuntergang, der nicht noch schöner sein könnte, keine leichte Brise, die uns Schlaf verschafft, die uns nicht einen noch ruhigeren Schlaf verschaffen könnte. Und so werden wir, gleichmäßige Betrachter der Berge und der Sta-
tuen, die Tage genießen wie die Bücher und alles vor allem zu dem Zweck erträumen, es unserer inneren Substanz anzuverwandeln, und dazu Beschreibungen und Analysen anfertigen, die, wenn sie erst einmal vorliegen, zu fremden Dingen werden, die wir genießen können, als ob sie zur Abendzeit kämen. Das ist keine pessimistische Vorstellung wie diejenige de Vignys, dem das Leben als ein Gefängnis vorkam, in dem er zu seiner Unterhaltung Stroh flocht. Pessimist sein heißt etwas als tragisch auffassen, und diese Haltung ist eine Übertreibung und eine Unbequemlichkeit. Wir besitzen, das steht fest, keinen Wertbegriff, den wir auf das Werk, das wir hervorbringen, anwenden könnten. Wir bringen es hervor, das ist ganz sicher, um uns zu zerstreuen, aber nicht wie der Gefangene, der Stroh flicht, um sich angesichts des Schicksals zu zerstreuen, sondern wie das junge Mädchen, das Kissen bestickt, um sich zu unterhalten — und weiter nichts. Ich betrachte das Leben als eine Herberge, in der ich verweilen muß, bis die Postkutsche des Abgrunds eintrifft. Ich weiß nicht, wohin sie mich führen wird, weil ich gar nichts weiß. Ich kann diese Herberge als ein Gefängnis betrachten, weil ich gezwungen bin, in ihr zu warten; ich kann sie auch als einen Ort der Geselligkeit ansehen, weil ich hier anderen Menschen begegne. Ich bin jedoch weder ungeduldig noch gewöhnlich. Ich überlasse diejenigen ihrer Neigung, die sich in ihrem Zimmer einschließen und schlaff auf ihr Bett werfen, wo sie schlaflos warten; ich überlasse auch diejenigen ihrem Treiben, die sich in den Sälen unterhalten, aus denen bewegte Stimmen und Musik zu mir dringen. Ich setze mich an die Tür und tränke meine Augen und Ohren mit den Farben und Tönen der Landschaft und singe langsam, für mich allein, undeutliche Lieder, die ich während des Wartens komponiere. Für uns alle wird die Nacht hereinbrechen und die Postkutsche eintreffen. Ich genieße die Brise, die mir vergönnt ist, und die Seele, die man mir gab, um sie zu genießen, und ich hinterfrage und suche nicht weiter. Wenn das, was ich ins Buch der Reisenden eingetragen zurücklasse, eines Tages von anderen nachgelesen wird und sie während der Durchreise unterhält, soll es gut sein.
Wenn sie es nicht lesen und sich nicht damit unterhalten, ist es ebenfalls gut.
Ich beneide — und weiß doch nicht, ob ich wirklich beneide — diejenigen, über die man eine Biographie schreiben kann oder die ihre eigene Biographie schreiben können. Vermittels dieser Eindrücke ohne Zusammenhang und ohne den Wunsch nach einem Zusammenhang erzähle ich gleichmütig meine faktenlose Autobiographie, meine Geschichte ohne Leben. Es sind meine Bekenntnisse und, wenn ich in ihnen nichts aussage, so, weil ich nichts auszusagen habe. Was sollte denn wohl jemand bekennen, was wertvoll oder nützlich sein könnte? Was uns zugestoßen ist, ist entweder allen zugestoßen oder uns allein; im einen Falle ist es keine Neuigkeit, im anderen unverständlich. Wenn ich das aufschreibe, was ich fühle, so tue ich es, weil ich so das Fieber zu fühlen senke. Was ich bekenne, hat keine Wichtigkeit, denn nichts hat Wichtigkeit. Ich mache Landschaften aus dem, was ich fühle. Ich mache Ferien aus den Empfindungen. Ich kann gut begreifen, daß Stickerinnen aus Kummer sticken und Frauen Strümpfe stricken, weil es das Leben gibt. Meine alte Tante legte Patiencen während der Endlosigkeit des Abends. Diese Bekenntnisse des Fühlens sind meine Patiencen. Ich deute sie nicht, wie jemand Spielkarten benutzt, um sein Schicksal zu erfahren. Ich horche sie nicht ab, denn in den Patiencen besitzen die Karten keinen eigentlichen Wert. Ich rolle mich auf wie ein buntes Gewebe oder ich mache Stoffpuppen aus mir, wie man sie auf den ausgespreizten Händen webt und von Kind zu Kind weiterreicht. Ich achte nur darauf, daß der Daumen nicht die ihm zugedachte Schlinge verfehlt. Dann drehe ich die Hand herum, und das Bild verändert sich. Und ich beginne von vorn. Leben heißt Strümpfe stricken aus einer Absicht der Mitmenschen. Dabei aber sind die Gedanken frei, und alle verzauberten Prinzen können in ihren Parks Spazierengehen, während die Elfenbeinnadel mit der umgekehrten Spitze wieder und wieder eintaucht. Häkelei der Dinge . . . Abstand . . . Nichts . . .
Womit kann ich im übrigen bei mir rechnen? Mit einer schrecklichen Schärfe der Empfindungen und dem tiefen Verstehen, eben jetzt zu fühlen . . . Mit einer schneidenden Intelligenz, mich zu zerstören, und mit einer Fähigkeit zu träumen, die es dazu drängt, mich zu unterhalten . . . Mit einem abgestorbenen Willen und einer Reflexion, die ihn einwiegt, als wäre er ein lebendiges Kind. . . . Jawohl, Häkelarbeit. . .
Ich sehe mit Gelassenheit, ohne mehr als ein mögliches Lächeln der Seele, voraus, daß mein Leben für immer auf diese Rua dos Douradores eingeschränkt sein wird, auf dieses Büro, auf diese Menschen und ihre Atmosphäre. Etwas zu verdienen, was mir mein Essen und Trinken sichert, eine Behausung verschafft und einen geringen Spielraum in der Zeit, um zu träumen, zu schreiben und — zu schlafen, was könnte ich mehr von den Göttern erbitten oder vom Schicksal erwarten? Ich habe ehrgeizige Pläne und ausschweifende Träume gehegt — doch die haben auch der Dienstmann oder die Näherin genährt, denn Träume hegen alle Leute: was uns unterscheidet, ist die Kraft, sie zu verwirklichen, oder die Schicksalsbestimmung, daß sie sich für uns verwirklichen. In Träumen bin ich dem Dienstmann und der Näherin gleich. Von ihnen unterscheidet mich nur, daß ich schreiben kann. Ja, das ist ein Akt, eine mir vorbehaltene Wirklichkeit, die mich von ihnen unterscheidet. In der Seele bin ich ihresgleichen. Ich weiß wohl, es gibt Inseln im Süden und große kosmopolitische Leidenschaften [. . .] Wenn ich die Welt in der Hand hätte, würde ich sie, dessen bin ich sicher, gegen eine Fahrkarte zur Rua dos Douradores eintauschen. Vielleicht ist es mein Schicksal, ewig ein Buchhalter sein zu müssen, und Dichtung und Literatur sind ein Schmetterling, der sich auf meinem Kopf niederläßt und mich um so lächerlicher erscheinen läßt, je größer seine Schönheit ist. Ich werde Sehnsucht nach Herrn Moreira verspüren, aber was sind Sehnsüchte gegenüber einer Beförderung?
Ich weiß genau, daß der Tag, an dem ich Buchhalter des Hauses Vasques & Co. werde, einer der großen Tage meines Lebens sein wird. Ich weiß es in bitterer und ironischer Vorwegnahme, aber ich weiß es mit dem geistigen Vorzug der Gewißheit.
(...) Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir fuhren Buch und erleiden Verluste; wir ziehen die Summe und gehen vorüber; wir schließen die Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns. (...) An den ersten Tagen des jäh anbrechenden Herbstes, wenn der Einbruch der Dunkelheit vorzeitig wirkt und es den Anschein hat, als hätten wir uns bei dem, was wir über Tage tun, verspätet, genieße ich schon bei der täglichen Arbeit die vorweggenommene Empfindung, nicht zu arbeiten, das die Dunkelheit mit sich bringt, weil es dann Abend ist und Abend Schlaf, Heim und Befreiung bedeutet. Wenn im weiträumigen Büro das Licht angeht und das Büro aufhört, im dunklen zu liegen, und wir den Abend erleben, obwohl wir noch immer am Tage arbeiten, spüre ich ein absurdes Wohlbefinden wie eine Erinnerung an jemand anders. Ich beruhige mich bei dem, was ich schreibe, als ob ich läse, bis ich spüre, daß ich zu Bett gehen werde. Wir alle sind Sklaven äußerer Umstände: ein sonniger Tag erschließt uns weite Felder mitten in einem Winkel-Cafe; ein Schatten auf dem Feld bewirkt, daß wir uns ins Innere ducken und nur mühsam schützen im türlosen Hause unserer selbst; der einbrechende Abend erweitert, wie ein sich langsam öffnender Fächer, selbst unter lauter Tagesdingen das innere Bewußtsein, sich ausruhen zu müssen. Dabei aber gerät die Arbeit nicht in Verzug: Sie belebt sich eher. Wir arbeiten nun nicht mehr; wir erholen uns bei der
Aufgabe, zu der wir verurteilt sind. Auf dem großen Bogen Linienpapier meines Zahlen reihenden Schicksals beherbergt das alte Haus meiner alten Tanten, abgeschlossen gegen die Welt, urplötzlich den schläfrigen 10-Uhr-Tee und die Petroleumlampe meiner verlorenen Kindheit, die nur auf dem leinengedeckten Tisch glänzt; sie verdunkelt mir mit ihrem Licht das Bild Herrn Moreiras, den eine schwarze Elektrizität unendlich weit jenseits meiner selbst erhellt. Man serviert den Tee — das Dienstmädchen, das noch älter ist als die Tanten, bringt ihn noch schlaftrunken herein, mit der geduldigen Mißlaunigkeit zärtlicher langer Vasallenschaft, und ich trage, ohne mich zu irren, einen Posten oder eine Summe durch all meine tote Vergangenheit hindurch ein. Ich sauge mich wieder auf, ich verliere mich in mir, ich vergesse mich in fernen Nächten, unbefleckt von Pflicht und Welt, jungfräulich in Geheimnis und Zukünftigkeit. Und so sanft ist die Vision, die mich Soll und Haben entfremdet, daß ich, wenn man mir zufällig eine Frage stellt, diese sanft beantworte, so als ob ich mein hohles Sein wirklich besäße, als ob ich nur die Schreibmaschine wäre, die ich mit mir trage, so tragbar wie mein geöffnetes Selbst. Die Unterbrechung meiner Träume schockiert mich nicht: Weil sie so sanft sind, träume ich sie weiter fort unter all dem Reden, Schreiben, Antworten und Unterhalten. Und durch das alles hindurch geht die verlorene Teestunde zu Ende, und das Büro schließt. . . Von dem Hauptbuch, das ich langsam schließe, hebe ich meine von nicht vergossenen Tränen erschöpften Augen auf und nehme es mit gemischten Gefühlen hin, daß mit der Schließung des Büros auch mein Traum geschlossen wird; daß ich mit der Geste der Hand, mit der ich das Buch zuklappe, die unwiederbringliche Vergangenheit zudecke; daß ich schlaflos in das Bett des Lebens steige ohne Gesellschaft und ohne Ruhe, in Ebbe und Flut meines vermischten Bewußtseins, wie zwei Gezeiten in der schwarzen Nacht, am Ende des Schicksals von Sehnsucht und Untröstlichkeit.
30.12.1932
Seit die letzten Regenfalle den Himmel verließen und auf der Erde zurückblieben — der Himmel rein, die Erde feucht und spiegelnd — hat die größere Klarheit des Lebens, die zugleich mit der Bläue in der Höhe zurückkehrte und sich hier unten an der frischen Nachregenstimmung freute, ihren eigenen Himmel in den Seelen, ihre Erfrischung in den Herzen zurückgelassen. Wir sind, so wenig wir das auch wollen, Knechte der Stunde und ihrer Farben und Formen, Untertanen des Himmels und der Erde. Selbst derjenige unter uns, der sich ganz und gar in sich selber verkriecht und das, was ihn umgibt, verachtet, selbst er verkriecht sich nicht auf die gleiche Weise, wenn es regnet, wie wenn der Himmel klar ist. Dunkle Wandlungen gehen, vielleicht nur im Innersten der abstrakten Gefühle verspürt, vonstatten, weil es regnet oder weil es aufgehört hat zu regnen, werden fühlbar, ohne daß man sie fühlen könnte, denn, ohne es eigentlich zu fühlen, hat man doch das Wetter gefühlt. Jeder von uns ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten. Deshalb ist, wer die Umgebung verachtet, nicht derselbe, der sich an ihr erfreut oder unter ihr leidet. In der weitläufigen Kolonie unseres Seins gibt es Leute von mancherlei Art, die auf unterschiedliche Weise denken und fühlen. In diesem Augenblick, in dem ich in einer berechtigten Pause innerhalb der heute spärlichen Arbeit diese wenigen Eindrücke niederschreibe, bin ich der Mann, der sie aufmerksam niederschreibt, der zufrieden ist, daß er in dieser Stunde nicht zu arbeiten braucht, der den von hier aus unsichtbaren Himmel dort draußen erblickt, der dies alles überdenkt, der seinen Körper zufrieden und seine Hände noch etwas klamm spürt. Und diese meine ganze Welt aus einander fremden Leuten wirft wie eine mannigfaltige, aber blockartige Menschenmenge einen einzigen Schatten — diesen stillen, schreibenden Körper, mit dem ich mich stehend an das hohe Schreibpult des Herrn Borges lehne, auf welchem ich nach meinem Radiergummi gesucht habe, den ich ihm zuvor geliehen hatte.
Nur etwas erstaunt mich mehr als die Dummheit, mit der die meisten Menschen ihr Leben leben: das ist die Intelligenz, die in dieser Dummheit steckt. Dem Schein nach ist die Eintönigkeit der normalen Lebensläufe entsetzlich. Ich speise in diesem einfachen Gasthaus und schaue über den Tresen auf die Gestalt des Kochs und neben mir auf den schon bejahrten Ober, der mich bedient, wie er seit schätzungsweise 30 Jahren in diesem Restaurant bedient. Was für ein Leben führen diese Menschen! Seit fast vierzig Jahren verbringt das eine Menschenkind fast den ganzen Tag in einer Küche; es kennt nur ein paar kurze Ruhepausen; es schläft verhältnismäßig wenige Stunden; ab und zu reist der Koch in seinen Heimatort, aus dem er ohne Zögern und ohne Kummer zurückkehrt; er legt langsam ein spärliches Geld auf die hohe Kante, das er sich vornimmt nicht auszugeben; er würde krank werden, wenn er sich aus seiner Küche endgültig auf die Ländereien zurückziehen müßte, die er in Galizien gekauft hat; er lebt seit vierzig Jahren in Lissabon und war noch nicht einmal am Platz des Marquis de Pombal, geschweige im Theater. Ein einziger Tag mit Zirkusclowns lebt in den inneren Spuren seines Lebens fort. Er hat geheiratet, wie und weshalb weiß ich nicht, besitzt vier Söhne und eine Tochter, und wenn er sich über die Theke in meine Richtung lehnt, spricht aus seinem Lächeln ein großes, feierliches, zufriedenes Glück. Dabei verstellt er sich nicht, und es ist auch kein Grund vorhanden, weshalb er sich verstellen sollte. Wenn er Glück verspürt, so geschieht es, weil es wirklich seines ist. Und der alte Ober, der mich bedient und eben vor mir niederstellt, was gewiß der millionste Kaffee seiner Kellnerlaufbahn gewesen sein muß? Er führt das gleiche Leben mit einem Unterschied von vier oder fünf Metern — der Entfernung zwischen dem Arbeitsplatz des einen in der Küche zu dem Arbeitsplatz des anderen im äußeren Bezirk des Gasthauses. Im übrigen hat er nur zwei Kinder, reist häufiger nach Galizien, hat schon mehr von Lissabon gesehen als der andere und kennt die Stadt Porto, wo er vier Jahre verbracht hat, und ist gleichfalls glücklich. Mit erschrockenem Schaudern überblicke ich das Panorama dieser Lebensläufe und, während sie Entsetzen, Mitgefühl und
Revolte in mir auslösen, entdecke ich: Wer weder Entsetzen noch Mitgefühl noch Revolte verspürt, sind diejenigen, die ein Anrecht darauf hätten, sie zu verspüren, nämlich eben die Menschen, die diese Lebensläufe leben. Das ist der zentrale Irrtum der literarischen Phantasie: zu vermuten, daß die anderen wir sind und daß sie wie wir fühlen müssen. Aber zum Glück für die Menschheit ist jeder Mensch nur der, der er ist, und nur dem Genie ist es gegeben, außerdem noch ein paar andere Menschen zu sein. Letztlich wird uns alles in Proportion zu unseren Gegebenheiten zugeteilt. Ein kleiner Zwischenfall auf der Straße, der den Koch meines Gasthauses an die Tür ruft, unterhält ihn mehr als mich die Betrachtung des originellsten Gedankens, die Lektüre des besten Buches, der willkommenste der nutzlosen Träume unterhält. Und wenn das Leben wesentlich Eintönigkeit ist, so ist es eine Tatsache, daß er der Eintönigkeit eher entkommen ist als ich. Und er entrinnt der Eintönigkeit noch dazu leichter als ich. Die Wahrheit liegt nicht bei ihm und nicht bei mir, weil sie bei niemandem liegt; aber das Glück ist wirklich bei ihm zu finden. Weise ist, wer seine Existenz eintönig gestaltet, denn dann besitzt jeder kleine Zwischenfall das Privileg eines Wunders. Der Löwenjäger erlebt kein Abenteuer über den dritten Löwen hinaus. Für meinen eintönigen Koch hat eine Ohrfeigen-Szene auf der Straße immer noch etwas von einer bescheidenen Apokalypse an sich. Wer nie aus Lissabon herausgekommen ist, fährt im Auto in den Vorort Benfica in die schiere Unendlichkeit und, wenn er eines Tages nach Sintra fährt, meint er, er sei bis zum Mars gereist. Der Reisende, der die ganze Erde durcheilt hat, findet ab 5000 Meilen nichts Neues mehr, denn er kann höchstens neue Dinge finden; Neues und wieder Neues, Altes im ewigen Neuen, denn der abstrakte Begriff der Neuheit ist schon bei der zweiten Neuheit auf dem Meer zurückgeblieben. Ein Mensch kann, wenn er wahre Weisheit besitzt, das gesamte Schauspiel der Welt auf einem Stuhl genießen, ohne lesen zu können, ohne mit jemandem zu reden, nur seine Sinne gebrauchend und mit einer Seele begabt, die nicht traurig zu sein versteht. Man sollte die Existenz eintönig gestalten, damit sie nicht eintönig werde. Den Alltag unschädlich machen, damit auch die
kleinste Einzelheit eine Zerstreuung mit sich bringe. Mitten in meiner dumpfen, gleichförmigen, nutzlosen Tagesform steigen in mir Fluchtvisionen auf, erträumte Spuren ferner Inseln, Feste auf Parkalleen anderer Zeitalter, andere Landschaften, andere Gefühle, ein anderes Ich. Aber zwischen zwei Eintragungen sehe ich ein, daß nichts davon, wenn ich das alles besäße, mir gehören würde, tn Wahrheit ist Chef Vasques mehr wert als die Könige des Traumes; in Wahrheit ist das Büro in der Rua dos Douradores mehr wert als die großen Alleen unmöglicher Parks. Wenn ich Herrn Vasques zum Vorgesetzten habe, kann ich den Traum der Könige des Traumes genießen. Wenn ich aber die Könige des Traums besäße, was bliebe mir dann zu träumen übrig? Wenn ich die unmöglichen Landschaften besäße, was bliebe mir dann an Unmöglichem übrig? Die Eintönigkeit, die dumpfe Gleichheit der Tage, das Null an Unterschied zwischen gestern und heute — das verbleibe mir immer und dazu die wache Seele, um mich mit der Fliege zu unterhalten, die zufällig an meinen Augen vorbeisurrt, das Gelächter auszukosten, das unbeständig von der Ungewissen Straße emporsteigt, und die weitläufige Befreiung, daß es Zeit wird, das Büro zu schließen, die unendliche Erholung eines Ferientages. Ich kann mich mir als alles vorstellen, weil ich nichts bin. Wäre ich etwas, könnte ich mir das nicht vorstellen. Der Hüfsbuchhalter kann träumen, er sei der Kaiser von Rom; der König von England kann das nicht, weil es dem König von England genommen ist, in Träumen ein anderer König zu sein als er ist. Seine Wirklichkeit verleidet ihm das Fühlen.
5.4.1930
Der Teilhaber der Firma, in der ich arbeite, der immer an irgendeinem Körperteil krank ist, wollte aus irgendeiner Laune heraus in einer Pause seiner Krankheit eine Aufnahme von unserem ganzen Büropersonal haben. Und so haben wir uns denn vorgestern alle auf Weisung des heiteren Photographen in Reih und Glied an die schmutzigweiße Trennwand gestellt, deren zerbrechliches Holz
das Büro der Allgemeinheit von Herrn Vasques' Chefzimmer abteilt. In der Mitte stand Vasques persönlich; auf beiden Flügeln in einer zunächst überlegten, dann unüberlegten Einteilung nach Rang und Würden die übrigen Menschenseelen, die sich hier tagaus tagein zu kleinen Zwecken vereinen, deren letzte Absicht nur das Geheimnis der Götter kennt. Als ich heute etwas verspätet und bereits ohne jegliche Erinnerung an das statische Ereignis der zweimaligen Aufnahme ins Büro kam, fand ich den unerwartet früh erschienenen Moreira und einen der Handelsreisenden über schwärzliche Dinge gebeugt, in denen ich sogleich erschrocken die ersten Abzüge der Photographien erkannte. Es waren übrigens zwei Abzüge von jener einzigen, die besser ausgefallen war. Ich durchlitt die Wahrheit, als ich mich dort erblickte, denn, wie man mit Recht vermuten darf, suchte ich zuallererst nach mir selbst. Nie habe ich mir meine körperliche Präsenz besonders nobel vorgestellt, aber auch noch nie habe ich sie als so null und nichtig empfunden wie im Vergleich mit den anderen, mir so wohlvertrauten Gesichtern bei dieser Aufreihung von Durchschnittsmenschen. Ich sehe aus wie ein abgewetzter Jesuit. Mein mageres, ausdrucksloses Gesicht strahlt weder Intelligenz noch Intensität noch sonst irgend etwas aus, was es auch sei, was es über die Ebbe der übrigen Gesichter erheben konnte. Und Ebbe, selbst das ist falsch. Wahrhaft ausdrucksstarke Gesichter sind unter ihnen. Chef Vasques steht da, wie er leibt und lebt — das breite Gesicht hart und doch jovial, energisch der Blick; ein steifer Schnurrbart rundet seine Erscheinung ab. Die Energie, die Schläue dieses Mannes — im Grunde banal und bei vielen Tausenden Männern auf der ganzen Welt anzutreffen — sind auf dieser Photographie so ausgeprägt festgehalten wie in einem psychologischen Reisepaß. Die beiden Handelsreisenden sind prächtig herausgekommen; auch der Buchhalter ist gut getroffen, wird aber fast verdeckt von einer Schulter des Herrn Moreira. Und gar erst Moreira selber! Mein Vorgesetzter Moreira, die Essenz der Eintönigkeit und des Beharrungsvermögens, wirkt gleichwohl viel persönlicher als ich selbst! Sogar dem Laufburschen — ich merke das an, ohne ein Gefühl unterdrücken zu können, von dem ich
anzunehmen versuche, es sei kein Neid — steht eine Sicherheit, eine Unmittelbarkeit ins Gesicht geschrieben, die um ein mehrfaches Lächeln von meiner nichtigen Erloschenheit als Sphinx aus dem Papiergeschäft entfernt ist. Was will das heißen? Was ist das für eine Wahrheit, daß ein Film nicht irrt? Was ist das für eine Gewißheit, die eine kühle Linse dokumentarisch festhält? Wer bin ich, daß ich so sein kann? Gleichwohl. . . Und die Schmach des Gesamtbilds? »Sie sind wirklich gut getroffen«, erklärt plötzlich Herr Moreira. Und danach sagt er, indem er sich zum Buchhalter umdreht: »Das ist doch genau sein Gesichtchen, nicht wahr?« Und der Buchhalter stimmte mit einer freundschaftlichen Heiterkeit zu, die mich auf die Müllkippe beförderte.
Chef Vasques. Oft bin ich unerklärlicherweise von Chef Vasques hypnotisiert. Was bedeutet mir dieser Mann, abgesehen davon, daß er mich gelegentlich daran hindert, zu den Tageszeiten meines Lebens Herr meiner Zeit zu sein? Er behandelt mich gut, er spricht liebenswürdig mit mir, ausgenommen in den jähen Augenblicken unbekannter Besorgnis, in denen er zu niemandem freundlich spricht. Sicherlich, aber warum beschäftigt er mich? Ist er ein Symbol? Ist er ein Grund? Was ist er? Chef Vasques. Ich erinnere mich schon in der Vorwegnahme an ihn mit der Sehnsucht, von der ich weiß, daß ich sie dann empfinden werde. Friedlich werde ich in einer kleinen Wohnung in der Umgebung von irgend etwas der Ruhe pflegen, in der ich die Arbeit nicht verrichten werde, die ich auch jetzt nicht verrichte und, um sie auch weiterhin nicht zu verrichten, nach Entschuldigungen suchen, die sich nicht von denen unterscheiden werden, hinter denen ich mich heute verstecke. Oder ich werde in einem Obdachlosenasyl untergebracht sein, beglückt über meine vollständige Niederlage, in Promiskuität mit dem Auswurf aller derjenigen, die sich für Genies hielten und doch nichts anderes waren als träumende Bettler, zusammen mit der namenlosen Menge derjenigen, die keine Kraft zum Siegen besaßen und auch zu keinem großen Verzicht fähig waren, um verkehrtherum zu sie-
gen. Sei ich, wo ich auch sei, mit Sehnsucht werde ich an meinen Chef Vasques zurückdenken, an das Büro in der Rua dos Douradores, und die Eintönigkeit des Alltagslebens wird für mich wie die Erinnerung an die Liebschaften sein, die mir nicht zuteil geworden sind, oder an die Triumphe, die mir nicht vergönnt sein sollten. Chef Vasques. Ich sehe ihn heute von dort aus, so wie ich ihn heute von hier aus sehe — mittelgroß, untersetzt, grob in Grenzen, mit Anwandlungen von Herzlichkeit, offenherzig und verschmitzt, brüsk und liebenswürdig — Chef, von seinem Geld abgesehen, auch mit seinen behaarten langsamen Händen, mit den wie kleine farbige Muskeln gezeichneten Adern, einem fleischigen, aber nicht ausgesprochen fetten Nacken, das Gesicht unter dem dunklen, immer pünktlich gestutzten Bart gerötet und gleichzeitig angespannt. Ich sehe ihn, ich sehe seine Gebärden mit ihrer energischen Abgemessenheit, seine Augen, die nach innen äusserliche Dinge bedenken, ich bin so verwirrt wie bei den Gelegenheiten, bei denen ich ihm mißfalle, und meine Seele freut sich über sein Lächeln; es ist ein weites, menschliches Lächeln, wie der Beifall einer Menschenmenge. Vielleicht weil ich in meiner Nähe keine überragendere Persönlichkeit kenne als Chef Vasques, bleibt diese im Grunde alltägliche, ja sogar gewöhnliche Gestalt häufig in meiner Intelligenz hängen und lenkt mich von mir selber ab. Ich glaube an Symbole. Ich glaube oder glaube doch beinahe, daß irgendwo in einem fernen Leben dieser Mann eine für mein Leben bedeutsamere Rolle gespielt hat, als er sie heute spielt.
Ja, ich begreife! Chef Vasques ist das Leben. Das Leben, eintönig und notwendig, gebieterisch und unbekannt. Dieser banale Mensch verkörpert die Banalität des Lebens. Er ist alles für mich, von außen betrachtet, weil das Leben alles für mich ist, von außen betrachtet. Und wenn das Büro in der Rua dos Douradores für mich das Leben verkörpert, so verkörpert mein zweites Stockwerk, in dem ich in der gleichen Rua dos Douradores wohne, für mich die
Kunst, jawohl, die Kunst, die in derselben Straße wohnt wie das Leben, jedoch an einem anderen Ort, die Kunst, die das Leben erleichtert, ohne daß es deshalb leichter würde zu leben, die so eintönig ist wie das Leben selber, nur an einem anderen Ort. Jawohl, diese Rua dos Douradores umfaßt für mich den gesamten Sinn der Dinge, die Lösung aller Rätsel außer der Tatsache, daß es Rätsel gibt, die keine Lösung finden können.
17.1.1932
Die Welt gehört demjenigen, der nicht fühlt. Die wesentliche Vorbedingung, um ein praktischer Mensch zu sein, ist ein Mangel an Sensibilität. Die beste Vorbedingung für die Praxis des Lebens ist die Triebkraft, die zum Handeln führt, das heißt der Wille. Nun gibt es aber zwei Dinge, die das Handeln beeinträchtigen — die Sensibilität und das analytische Denken, das letztlich nichts anderes ist als ein Denken mit der Sensibilität. Jedes Handeln ist seiner Natur nach die Projektion der Persönlichkeit auf die Außenwelt und, da die Außenwelt zur Hauptsache von Menschenwesen bestimmt wird, folgt daraus, daß diese Projektion der Persönlichkeit vor allem bedeutet, daß wir uns auf dem Weg unserer Mitmenschen quer legen, ihn hinderlich gestalten und sie je nach unserer Vorgangsweise beeinträchtigen und erdrücken. Zum Handeln gehört folglich, daß wir uns nicht mit Leichtigkeit die fremde Persönlichkeit und ihre Leiden und Freuden vorstellen. Wer Sympathie empfindet, kommt nicht vorwärts. Der Mensch der Tat betrachtet die Außenwelt als ausschließlich aus träger Materie zusammengesetzt — als träge in sich selbst wie ein Stein, über den er hinwegschreitet oder den er aus seinem Wege entfernt; oder als träge wie ein menschliches Wesen, bei dem es, da es ihm keinen Widerstand leistet, ganz gleich ist, ob es ein Mensch oder ein Stein ist, denn er entfernt es wie den Stein oder er schreitet darüber hinweg. Das höchste Beispiel des praktischen Menschen, weil sich in ihm äußerste Konzentration des Handelns mit größter Wirksamkeit zusammenfinden, ist der Generalstäbler. Das ganze Leben ist
Krieg, und die Schlacht ist mithin die Synthese des Lebens. Nun ist aber der Generalstäbler ein Mensch, der mit Menschenleben spielt wie der Schachspieler mit Schachfiguren. Was würde aus dem Generalstäbler, wenn er daran dächte, daß jeder Zug seines Spiels Nacht in tausend Familien trägt und Leid in dreitausend Herzen? Was würde aus der Welt, wenn wir menschlich wären? Wenn der Mensch wirklich fühlen würde, gäbe es keine Zivilisation. Die Kunst dient als Flucht für die Sensibilität, die das Handeln vergessen mußte. Die Kunst ist das Aschenputtel, das zu Hause blieb, weil es so zu sein hatte. Jeder Mensch der Tat ist seinem Wesen nach lebhaft und optimistisch, weil, wer nicht fühlt, glücklich ist. Einen Mann der Tat erkennt man daran, daß er nie schlecht gelaunt ist. Wer arbeitet, obwohl er schlecht gelaunt ist, ist ein Beihelfer des Handelns; er mag im Leben, in der großen Allgemeinheit des Lebens ein Buchhalter sein, wie ich es im besonderen bin; ein Menschenführer kann er nicht sein. Zur Führerschaft gehört die Fühllosigkeit. Es herrscht, wer heiter ist, denn um traurig zu sein, muß man fühlen. Chef Vasques hat heute ein Geschäft abgeschlossen, bei dem er einen kranken Mann und seine Familie ruiniert hat. Während er das Geschäft abschloß, hatte er völlig vergessen, daß da ein Mensch vorhanden war, er sah nur den kommerziellen Widersacher. Als das Geschäft abgeschlossen war, packte ihn die Sensibilität. Erst dann natürlich, denn wenn sie ihn schon vorher gepackt hätte, wäre das Geschäft nie zum Abschluß gelangt. »Der Kerl tut mir leid«, sagte er zu mir. »Er wird ins Elend geraten.« Dann steckte er sich eine Zigarre an und fügte hinzu: »Jedenfalls, wenn er etwas von mir brauchen sollte« — er meinte, ein Almosen — »werde ich nicht vergessen, daß ich ihm ein gutes Geschäft verdanke und etliche zehntausend Escudos.« Chef Vasques ist kein Unmensch: er ist ein Mann der Tat. Wer bei diesem Spiel den kürzeren gezogen hat, kann tatsächlich — denn Chef Vasques ist ein großzügiger Mensch — in der Zukunft mit seinen Almosen rechnen. Wie Chef Vasques sind alle Männer der Tat: Industrie- und Handelsbosse, Politiker, Militärs, religiöse und gesellschaftliche
Idealisten, schöne Frauen und Kinder, die nur das tun, was sie wollen. Es kommandiert, wer nicht fühlt. Es siegt, wer nur an das denkt, was er zum Siegen braucht. Alles übrige, die unbestimmte allgemeine Menschheit, gestaltlos, sensibel, phantasievoll und zerbrechlich, ist nur der Vorhang im Hintergrund, vor dem sich diese Figuren auf der Bühne abheben, bis das Marionettentheater zu Ende geht, der quadratförmig angeordnete Untergrund, auf dem sich die Schachfiguren erheben, bis sie der Große Spieler einsteckt, der sich beim Spiel mit einer verdoppelten Persönlichkeit täuscht und auf diese Art ständig mit sich selbst unterhält.
Ich habe bemerkt, daß ich immer an zwei Dinge zugleich denke und ihnen Aufmerksamkeit schenke. Ich glaube, alle Menschen sind ein wenig so. Es gibt gewisse Eindrücke, die so vage sind, daß wir erst später, weil wir uns an sie erinnern, wissen, daß wir sie gehabt haben; von diesen Eindrücken, glaube ich, entsteht ein Teil — vielleicht das Kernstück — aus der verdoppelten Aufmerksamkeit aller Menschen. Bei mir ist es so, daß die beiden Wirklichkeiten, auf die ich achte, gleiche Bedeutung besitzen. Darin besteht meine Originalität. Darin besteht vielleicht meine Tragödie und deren Komödie. Ich schreibe aufmerksam, über das Hauptbuch gebeugt, und meine Eintragungen stellen die nutzlose Geschichte einer obskuren Firma zusammen; gleichzeitig verfolgt mein Denken mit gleicher Aufmerksamkeit die Route eines nicht vorhandenen Schiffes durch die Landschaften eines Orients, den es nicht gibt. Beides ist gleichmäßig deutlich, gleichmäßig vor mir sichtbar: das Blatt, auf dem ich sorgfältig auf vorgezeichneten Linien die Verse des kommerziellen Epos von Vasques & Co. eintrage, und das Deck, auf dem ich ebenso sorgfältig neben dem geteerten Linienblatt der Zwischenräume der Schiffsplanken die aufgereihten Liegestühle und die ausgestreckten Beine der Leute erblicke, die auf ihrer Reise ausruhen. (Sollte mich ein Kinder-Fahrrad anfahren, so wird dieses Kinder-Fahrrad ein Teil meiner Lebensgeschichte.) Dazwischen liegt das ausgebuchtete Deckhaus; deshalb kann man nur die Füße sehen.
Ich tauche die Feder ins Tintenfaß, und aus der Tür des Deckshauses — (?) genau neben der Stelle, wo ich zu sein fühle — tritt die Gestalt des Unbekannten. Er kehrt mir den Rücken zu, und seine Hüften sind ausdruckslos (?). Ich beginne eine neue Eintragung. Ich versuche festzustellen, weshalb ich mich geirrt hatte. Die Rechnung des Herrn Marques ist auf Soll und nicht auf Haben angelegt. (Ich sehe ihn dick, liebenswürdig und zu Witzen aufgelegt vor mir, und in diesem Augenblick verschwindet das Schiff(?).
Die Haupttragödie meines Lebens ist, wie alle Tragödien, eine Ironie des Schicksals. Ich weise das wirkliche Leben ab wie eine Verdammnis; ich weise den Traum ab wie eine unfeine Befreiung. Aber ich durchlebe das Schmutzigste und Alltäglichste des wirklichen Lebens; und ich durchlebe das Eindringlichste und Beständigste des Traumes. Ich bin wie ein Sklave, der sich während der Siesta betrinkt — doppeltes Elend in einem einzigen Körper. Gewiß, ich erkenne deutlich, mit der Klarheit, mit welcher sich die Blitze der Vernunft von der Finsternis des Lebens abheben, die nahe gelegenen Objekte, die für uns das Leben ausmachen, das, was an Niedertracht, Schlaffheit, an Unterlassung und Falschheit in dieser Rua dos Douradores steckt, die für mich das ganze Leben bedeutet — dieses bis ins Mark seiner Menschen gemeine Büro, dieses monatlich gemietete Zimmer, worin nichts geschieht außer daß darin ein Toter lebt, dieses Lebensmittelgeschäft an der Ecke, dessen Besitzer ich kenne, wie Leute halt Leute kennen, diese Dienstmänner an der Tür der alten Taverne, die arbeitsame Nutzlosigkeit all der gleichförmigen Tage, die klebrige Wiederholung der gleichen Persönlichkeiten, wie ein Drama, das nur aus Bühnenbild besteht, und das Bühnenbild stünde verkehrtherum . . . Doch ich sehe auch, daß davor zu fliehen heißen würde, es zu beherrschen oder abzuweisen, und ich beherrsche es nicht, weil ich nicht aus der Wirklichkeit herausschlüpfen kann, und ich weise es nicht ab, weil ich, ich mag träumen, was immer ich träumen mag, doch immer dort bleibe, wo ich bin.
Und der Traum, die Schmach, zu mir zu flüchten, die Feigheit, diesen Seelenmüll als Leben zu haben, den die anderen nur im Schlaf kennen, in der Gestalt des Todes, in der sie schnarchen, in der Ruhe, in der sie als höher entwickelte Pflanzen erscheinen! Keine edle Gebärde vorweisen können, die sich nicht hinter verschlossenen Türen vollzöge, auch keinen unnützen Wunsch, der nicht wirklich nutzlos wäre! Cäsar hat die Gesamtgestalt des Ehrgeizes definiert, als er sagte: »Lieber der erste auf dem Dorf als der zweite in Rom.« Ich bin nichts, weder auf dem Dorf noch in irgendeinem Rom. Der Lebensmittelhändler an der Ecke wird zumindest von der Rua da Assunção bis zur Rua da Vitória respektiert; er ist der Cäsar eines Häuserblocks. Bin ich ihm überlegen? Worin, wenn das Nichts weder Überlegenheit noch Unterlegenheit noch überhaupt einen Vergleich gestattet? Er ist der Cäsar eines ganzen Häuserblocks, und die Frauen sind ihm entsprechend zugetan. Und so schleppe ich mein Leben damit hin, das zu tun, was ich nicht will, und das zu erträumen, was ich nicht haben kann, [...], absurd wie eine stehengebliebene öffentliche Uhr. Nur die zarte, aber feste Sensibilität, der lange, aber vollauf bewußte Traum [. . .] bilden in ihrer Gesamtheit mein Halbschattenprivileg.
Ich verspüre mehr Mitgefühl für diejenigen, die von Wahrscheinlichem und Naheliegendem träumen, als für Menschen, die dem Entlegenen und Abseitigen nachhängen. Menschen, die in großem Stil träumen, sind entweder verrückt und glauben an das, was sie erträumen, und sind dabei glücklich, oder es sind ganz einfach Phantasten, für die Phantasieren eine Musik der Seele ist, die sie einwiegt, ohne ihnen etwas zu sagen. Wer aber vom Möglichen träumt, hat die Möglichkeit zu einer wahren Enttäuschung. Es kann mich nicht sonderlich bekümmern, daß ich es nicht geschafft habe, Kaiser von Rom zu werden, aber es kann mich schmerzen, nie je mit der Näherin gesprochen zu haben, die immer gegen neun um die rechte Häuserecke biegt. Der Traum, der uns das
Unmögliche verheißt, entzieht sich uns schon allein deshalb; doch der Traum, der uns das Mögliche verspricht, drängt sich in das Leben selber ein und findet nur in diesem Leben seine Lösung. Der eine lebt exklusiv und unabhängig, der andere den Zufälligkeiten der Geschehnisse unterworfen. Deshalb liebe ich die unmöglichen Landschaften und die großen einsamen Gefilde der Ebenen, die ich nie zu Gesicht bekommen werde. Die historischen Epochen der Vergangenheit sind für mich ein ungetrübtes Wunder, denn ich kann selbstverständlich nicht annehmen, daß sie in meiner Gegenwart in die Wirklichkeit eintreten. Ich schlafe, wenn ich vom Nichtvorhandenen träume; ich erwache, wenn ich von dem träume, was durchaus sein könnte. Ich beuge mich aus einem der Erkerfenster des Büros, das um die Mittagszeit leer steht, auf die Straße; abgelenkt wie ich bin, spüre ich ein Hin und Her von Leuten in den Augen und nehme sie doch aus der Distanz meines Nachdenkens nicht wahr. Ich schlafe auf den Ellenbogen, der Fenstersims schmerzt mich, ich weiß von gar nichts und spüre eine große Verheißung. Die Einzelheiten der stillen Straße, auf der viele Leute hin und her gehen, prägen sich mir ein, während ich im Geiste ganz woanders bin: Die auf dem Fuhrwerk gestapelten Kisten, die Säcke an der Tür des benachbarten Lagerhauses und im entferntesten Schaufenster des Lebensmittelgeschäftes an der Ecke die schimmernden Flaschen jenes Portweins, von dem ich träume, daß ihn sich niemand leisten kann. Mein Geist löst sich von der Hälfte der Materie ab. Ich forsche mit der Einbildungskraft'. Die Leute, die auf der Straße vorübergehen, sind stets die gleichen, die vor kurzem vorübergegangen sind, sind stets der fluktuierende Anblick von irgendjemand, bewegte Flecken, Ungewisse Stimmen, Dinge, die vorübergehen und nicht zum Ereignis gedeihen. Aufzeichnung mit dem Bewußtsein der Sinne, bevor sie noch durch die Sinne selber erfolgt i s t . . . Die Möglichkeit anderer Dinge . . . Und plötzlich macht sich hinter mir im Büro die metaphysisch abrupte Ankunft des Dienstmanns bemerkbar. Ich spüre, daß ich ihn umbringen könnte, weil er mich bei Gedanken unterbricht, die ich nicht gedacht habe. Ich drehe mich um und blicke ihn mit haßgeladenem Schweigen an und vernehme im
voraus in der Anspannung eines latenten Mordes die Stimme, die er erheben wird, um mir irgend etwas mitzuteilen. Er lächelt aus dem Hintergrund des Hauses und wünscht mir mit lauter Stimme einen guten Tag. Ich hasse ihn wie das Weltall. Auf meinen Augen lasten Vermutungen.
Vor mir liegen die aufgeschlagenen Seiten des schweren Hauptbuchs; von dem geneigten Schreibpult hebe ich mit meinen ermüdeten Augen eine noch mehr als die Augen ermüdete Seele auf. Jenseits dieser Nichtigkeit reiht mein Geschäft bis zur Rua dos Douradores die regelmäßigen Regale, die regelmäßigen Angestellten, die menschliche Ordnung und die Ruhe des Alltags auf. An die Fensterscheibe schlägt das Geräusch des Mannigfaltigen, und dieses mannigfaltige Geräusch ist ebenso gewöhnlich wie die Stille, die neben den Regalen herrscht. Ich blicke mit neuen Augen auf die beiden weißen Seiten nieder, in die meine sorgfältigen Zahlen Soll und Haben der Firma eingetragen haben. Und mit einem Lächeln, das ich für mich behalte, denke ich daran, daß das Leben, das diese Seiten mit ihren Stoffbezeichnungen und Geldbeträgen besitzen, in seine weißen Stellen und seine mit dem Lineal und in Schönschrift ausgeführten Striche auch die großen Seefahrer, die großen Heiligen, die Dichter aller Epochen mit einschließt, lauter Leute ohne Buchführung, die weitläufige und verstoßene Nachkommenschaft derjenigen, die den Wert der Welt ausmachen. Wenn ich einen Stoff eintrage, von dem ich nicht weiß, wie er beschaffen ist, öffnen sich mir die Tore des Indus und Samarkands, und die Dichtung Persiens, die weder mit dem einen noch mit dem anderen Ort etwas zu tun hat, liefert mir mit ihren Vierzeilern, deren dritter Vers reimlos ist, eine ferne Stütze für meine Unruhe. Aber ich irre mich nicht, ich schreibe, ich rechne zusammen, und die Buchhaltung geht weiter und wird ganz normal von einem Angestellten dieses Büros zum Abschluß gebracht.
Ich betrat wie gewohnt das Friseurgeschäft und genoß es, daß es mir leicht fallt, ohne Beklemmung in bekannte Häuser einzutreten. Meine Scheu vor dem Neuen ist geradezu beängstigend: Ruhig bin ich nur dort, wo ich schon einmal gewesen bin. Während ich mich in den Stuhl setzte, fragte ich per Zufall den jungen Friseur, der mir einen kühlen, sauberen Frisiermantel um die Schulter legte, wie es seinem Kollegen vom benachbarten rechten Stuhl ginge, einem älteren, witzigen Menschen, der krank gewesen war. Ich fragte ihn das, ohne daß die Notwendigkeit, so zu fragen, auf mir gelastet hätte: Ort und Erinnerung hatten mich angestiftet. »Er ist gestern verstorben«, erwiderte tonlos die Stimme, die hinter dem Frisiermantel und mir stand und deren Finger sich eben von dem im Nacken zwischen mir und dem Kragen befestigten Tuch ablösten. Meine ganze unvernünftige gute Laune war wie fortgeblasen, wie der für immer abwesende Friseur des benachbarten Stuhls. Es wurde kalt in allen meinen Gedanken. Ich sagte kein Wort. Sehnsucht! Ich verspüre sie sogar nach dem, was mir nichts bedeutet hat, aus Angst vor der Flucht der Zeit und dank einer Krankheit, die Geheimnis des Lebens heißt. Wenn ich Gesichter, die ich gewohntermaßen auf meinen gewohnten Straßen sah, nicht mehr sehe, werde ich betrübt; und doch haben sie mir nichts bedeutet; sie waren nur ein Symbol des ganzen Lebens. Der langweilige Alte mit den schmutzigen Gamaschen, der häufig morgens gegen halb zehn meinen Weg kreuzte? Der hinkende Losverkäufer, der mir vergeblich auf die Nerven ging? Der rundliche Alte mit der frischen Gesichtsfarbe und der Zigarre an der Tür des Tabakladens? Der blasse Inhaber des Tabakladens? Was ist aus ihnen allen geworden, die, weil ich sie sah und wieder und wieder sah, einen Teil meines Lebens ausmachten? Morgen werde auch ich aus der Rua da Prata, aus der Rua dos Douradores, aus der Rua dos Fanqueiros verschwinden. Morgen werde auch ich — die lenkende, fühlende Seele, das Universum, das ich für mich darstelle — jawohl, morgen werde auch ich jemand sein, der aufgehört hat, durch diese Straßen zu gehen und andere werden mich mit einem: »Was ist wohl aus ihm geworden?« aus der Vergessenheit zurückrufen. Und alles, was ich tue, alles, was ich
fühle, alles, was ich erlebe, wird nicht mehr sein als ein Passant weniger im Alltag der Straßen irgendeiner Stadt.
Jede Verschiebung der gewohnten Stunden bringt dem Geist stets eine kalte Neuheit, ein leicht unbehagliches Vergnügen. Wer daran gewöhnt ist, sein Büro um sechs zu verlassen und zufällig um fünf gehen kann, erlebt selbstverständlich einen geistigen Feiertag und etwas, was wie ein Schmerz zieht, nämlich nicht zu wissen, was er mit sich anstellen soll. Gestern ging ich um vier aus dem Büro fort, weil ich an entlegenem Orte etwas zu erledigen hatte, und um fünf hatte ich meinen entlegenen Auftrag ausgeführt. Zu dieser Stunde pflege ich mich nicht auf der Straße aufzuhalten, und deshalb befand ich mich in einer anderen Stadt. Das langsame Licht auf den bekannten Häuserfassaden schimmerte unerquicklich sanft, und die Passanten von eh und je gingen an mir in der fremd gewordenen Stadt vorüber, Matrosen, die gestern Abend von ihrem Geschwader an Land gegangen waren. Das Büro mußte um diese Zeit noch geöffnet sein. Ich kehrte dorthin zurück, zum begreiflichen Staunen der Kollegen, von denen ich mich schon verabschiedet hatte. Wie, noch einmal zurück? Jawohl, zurück. Dort war ich frei zu fühlen, allein unter denen, die mich begleiteten, ohne daß sie geistig für mich vorhanden gewesen wären . . . Es war in gewisser Weise mein Heim, das heißt der Ort, an welchem man nicht fühlt.
Es gibt Tage, an denen jeder Mensch, dem ich begegne, und noch mehr die Menschen, mit denen ich üblicherweise umgehe, das Aussehen von Symbolen annehmen und entweder einzeln oder miteinander verbunden eine prophetische oder okkulte Schrift bilden, aufgezeichnet aus Schatten meines Lebens. Das Büro wird mir zu einer Seite mit menschlichen Worten; die Straße wird ein Buch; die Worte, die ich mit den üblichen oder unüblichen Menschen, denen ich begegne, wechsle, werden zu Aussprüchen, für die mir das Wörterbuch, aber nicht ganz und gar das Verständnis
abgeht. Sie sprechen und drücken aus, aber sie sprechen nicht von sich selbst und sie drücken sich nicht selbst aus; es sind Worte, sagte ich, und sie zeigen nicht, sie lassen durchscheinen. Doch in meiner verdämmernden Vision gewahre ich das nur undeutlich, was diese plötzlich auf der Oberfläche der Dinge enthüllten Glasscheiben von dem Inneren erkennen lassen, das sie verhüllen und enthüllen. Ich begreife ohne Kenntnis, wie ein Blinder, dem man von Farben redet. Wenn ich manchmal über die Straßen gehe, vernehme ich Bruchstücke intimer Gespräche, und fast alle betreffen die andere Frau, den anderen Mann, den jungen Mann einer dritten oder die Geliebte des einen . . . Beim bloßen Anhören dieser Schatten menschlicher Rede, worin sich das erschöpft, womit sich die Mehrheit der mit Bewußtsein ausgestatteten Menschen beschäftigt, packt mich eine angeekelte Langeweile, eine Angst vor dem Exil unter Spinnen und das Bewußtsein, unter wirklichen Menschen einzuschrumpfen; ich fühle mich dazu verurteilt, dem Vermieter und den übrigen Mietern des Häuserblocks gegenüber ein gleichgestellter Nachbar zu sein, der voller Ekel durch das hintere Gitter des Lagerraums hindurch den fremden Müll betrachtet, welcher sich bei Regen in dem Lichtschacht stapelt, der mein Leben ist.
Jedesmal wenn sich meine Bestrebungen unter dem Einfluß meiner Träume über das Alltagsniveau meines Lebens erhoben und ich mich für einen Moment emporgetragen fühlte wie das Kind auf seiner Schaukel, mußte ich wieder, wie das Kind, in den Stadtpark hinabsausen und meine Niederlage einsehen — ohne flatternde Kriegsbanner und ohne die Kraft, das Schwert aus der Scheide zu ziehen. Ich nehme an, daß die meisten von denen, die im Zufall der Straßen meinen Weg kreuzen — ich merke das an der schweigsamen Bewegung ihrer Lippen und der unbestimmten Unschlüssigkeit ihrer Augen oder auch daran, daß sie die Stimme heben, mit der sie gemeinsam murmeln — die gleiche Berufung zum nutzlosen Krieg des bannerlosen Heeres mit sich tragen. Und sie alle —
ich wende mich um, um die Rücken dieser armen Besiegten zu betrachten — werden wie ich die große schmähliche Niederlage zwischen Schlamm und Schilf erleben, ohne Mondlicht über den Ufern, ohne die Poesie des Sumpfes, jämmerlich und stümperhaft. Alle haben wie ich ein überspanntes, trauriges Herz. Ich kenne sie gut: Manche sind Ladenschwengel, andere sind Büroangestellte, andere wieder Geschäftsleute mit kleinen Geschäften; andere sind die Sieger in den Cafes und in den Tavernen, ohne es zu wissen großartig in der Ekstase ihres ichbezogenen Wortes ...(?) Aber sie alle, die Ärmsten, sind Dichter, und schleppen in meinen Augen wie ich in ihren Augen das gleiche Elend unserer gemeinsamen Unstimmigkeit mit sich herum. Bei ihnen wie bei mir liegt die Zukunft in der Vergangenheit. Selbst jetzt, wo ich untätig im Büro sitze und alle außer mir zum Mittagessen gegangen sind, verfolgen meine Blicke durch das trübe Fenster hindurch den schwankenden alten Mann, der langsam auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite einhertorkelt. Er geht nicht wie ein Betrunkener; er geht wie ein Träumer. Er ist aufmerksam für das Nicht-Existierende; vielleicht hofft er noch. Die Götter mögen uns, wenn sie gerecht sind in ihrer Ungerechtigkeit, die Träume bewahren, selbst wenn sie unmöglich sind, und uns gute Träume schenken, auch wenn sie niedrig sein sollten. Heute kann ich, weil ich noch nicht alt bin, von Inseln des Südens und unmöglichen indischen Landschaften träumen; morgen schenken mir vielleicht dieselben Götter den Traum, Inhaber eines kleinen Tabakgeschäfts zu sein oder als Pensionär in einem Haus in den Vorstädten zu leben. Jeder dieser Träume ist derselbe Traum, weil es alles Träume sind. Mögen mir die Götter meine Träume verändern, nicht aber die Gabe zu träumen entziehen. Während ich dies denke, ist der alte Mann aus meiner Aufmerksamkeit entschlüpft. Ich sehe ihn nicht mehr. Ich öffne das Fenster, um nach ihm Ausschau zu halten. Ich sehe ihn noch immer nicht. Er ist fort. Er erfüllte mir gegenüber die visuelle Pflicht eines Symbols; damit ist er nun fertig und um die Ecke gebogen. Wenn man mir sagen würde, daß er um die absolute Straßenecke gebogen ist und niemals hier war, würde ich das mit derselben Geste hinnehmen, mit der ich jetzt das Fenster schließe.
Vollbringen? Arme lehrlingshafte Halbgötter, die mit Worten und edlen Absichten Imperien gewinnen und doch dringend Geld für ihr Zimmer und ihr Essen brauchen! Sie wirken wie die Truppen eines desertierten Heeres, dessen Anführer einen Traum von Ruhm durchlebten, von dem ihnen, in das Schilf eines Sumpfes versprengt, nur der Begriff der Größe verblieben ist, das Bewußtsein, dem Heer angehört zu haben und das Vakuum, nicht einmal gewußt zu haben, was der Anführer eigentlich tat, den sie nie zu Gesicht bekommen haben. So träumt sich jedermann einen Augenblick lang als Anführer des Heeres, aus dessen Troß er geflüchtet ist. So grüßt jeder im Schlamm der Bäche den Sieg, den niemand erringen kann, und von dem er übrigblieb wie Brosamen neben den Flecken auf dem Tischtuch, das man vergessen hat auszuschütteln. Sie füllen die Zwischenräume des alltäglichen Handelns aus wie der Staub die Spalten der Möbel, wenn man sie nicht sorgfältig säubert. Im gewöhnlichen Licht des normalen Tages sieht man sie leuchten wie graue Würmer auf dem rötlichen Mahagoni. Man kann sie mit einem kleinen Nagel entfernen. Aber niemand hat es damit eilig, sie zu entfernen. Meine armen Gefährten, die von hohen Dingen träumen, wie beneide und verachte ich sie! Ich stehe zu den anderen — den ärmeren, die nur sich selber haben, denen sie ihre Träume erzählen können, und die das tun können, was Verse ergeben würde, wenn sie schreiben könnten — zu den armen Teufeln ohne andere Literatur als die eigene Seele(?), die den Erstickungstod sterben, weil sie existieren . . .(?) Manche sind Helden und strecken fünf Männer an einer Straßenecke von gestern nieder. Andere sind Verführer und selbst inexistente Frauen wagen ihnen nicht zu widerstehen. Sie glauben an ihre Worte, während sie sie aussprechen, und alle sprechen sie aus, weil sie daran glauben. [. . .] Gegen sie stehen die Besiegten der Welt, denn wer sie auch sein mögen, es sind zumindest Menschen. Und sie alle rollen wie Aale in einer tiefen Schüssel umeinander und verknäueln sich untereinander und kommen doch nicht aus
den Schüsseln heraus. Zuweilen sprechen die Zeitungen von ihnen, (?) niemals der Ruhm. Sie sind glücklich, weil ihnen der Traum (?) der Dummheit zuteil wurde. Denjenigen aber, die wie ich illusionslose Träume hegen . . . [ . . .]
Wie eine schwarze Hoffnung lag eine Art Vorausdeutung in der Luft; der Regen selbst schien eingeschüchtert; ein taubes Schwarz schwieg sich über der Umgebung aus. Plötzlich, wie ein Schrei, zersplitterte ein wundervoller Tag. Kaltes Höllenlicht erfüllte alles, die Gehirne wie die letzten Winkel. Alles erstarrte. Man fühlte sich erleichtert, weil der Donnerschlag verklungen war. Der traurige Regen klang heiter mit seinem groben, schlichten Rauschen. Ohne es zu wollen spürte man sein Herz, und das Denken war eine Betäubung. Eine undeutliche Religion bildete sich im Büro aus. Niemand war so, wie er gewesen war, und Chef Vasques erschien an der Tür seines Arbeitszimmers, um daran zu denken, daß er irgend etwas sagen wollte. Moreira lächelte, und im Umfeld seines Gesichts stand noch das Gelb des plötzlichen Erschreckens. Sein Lächeln besagte, daß der nächste Donnerschlag zweifellos schon aus größerer Ferne grollen werde. Ein rasches Fuhrwerk übertönte laut die Geräusche der Straße. Unfreiwillig klingelte das Telefon. Chef Vasques ging, statt ins Büro zurückzukehren, auf den Apparat im großen Arbeitsraum zu. Beruhigung trat ein, und Stille, und der Regen fiel nieder wie ein Alptraum. Chef Vasques vergaß das Telefon, das nicht mehr weiterläutete. Im Hintergrund des Hauses bewegte sich der Dienstmann wie etwas Unbequemes. Eine große Freude voller Erholung und Befreiung machte uns alle verwirrt. Wir arbeiteten halb benommen, waren entgegenkommend und mit überströmender Natürlichkeit gesellig. Ohne daß es ihm jemand aufgetragen hätte, öffnete der Dienstmann weit die Fenster. Ein Geruch nach Frische drang mit der feuchtigkeitsgeschwängerten Luft ins Innere des großen Saales vor. Der leicht gewordene Regen fiel mit Demut nieder. Die Geräusche der Straße waren immer noch dieselben und doch verschieden. Man
vernahm die Stimmen der Fuhrleute, und es waren wirklich Leute. Klar und deutlich suchten auch die Straßenbahnklingeln in der Seitenstraße Verständigung mit uns. Das Lachen eines verlassenen Kindes klang in der gereinigten Atmosphäre wie das Zwitschern eines Kanarienvogels. Der leichte Regen ließ nach. Es war sechs Uhr. Das Büro wurde geschlossen. Chef Vasques rief durch den halb geöffneten Windschirm: »Sie können gehen« und rief es wie einen kommerziellen Segen. Ich stand sogleich auf, schloß das Hauptbuch und verwahrte es. Ich legte den Federhalter sichtbar auf die Vertiefung des Tintenfasses, sagte, auf Moreira zutretend, hoffnungsvoll »Bis morgen« zu ihm und drückte ihm die Hand wie nach einem großen Gunstbeweis.
Die imponierende individualistische Persönlichkeit, als welche die Romantiker oftmals im Traum sich selber vorkamen, habe ich nachzuleben versucht und ebenso oft, wie ich dies versucht habe, mußte ich laut herauslachen über meinen Einfall, sie nacherleben zu wollen. Alle Durchschnittsmenschen träumen davon, eine überragende Persönlichkeit, ein »homme fatal«, zu werden und die Romantik verkehrt nur unser tägliches Herrschertum in sein Gegenteil. Fast alle Menschen träumen im tiefsten Inneren von einem großen eigenen Imperialismus, von der Unterwerfung aller Menschen, der Hingabe aller Frauen, der Anbetung der Völker und — im Falle der Edelsten — aller Epochen . .. Wenige sind wie ich an den Traum gewöhnt und daher geistesklar genug, um über die ästhetische Möglichkeit, sich so zu träumen, lachen zu können. Die größte Anklage gegen die Romantik ist noch nicht erhoben worden: diejenige, daß sie nämlich die innere Wahrheit der menschlichen Natur zur Darstellung bringt. Ihre Übertreibungen, ihr Lächerliches, ihre mannigfaltige Fähigkeit, zu rühren und zu verführen, wurzeln darin, daß sie die äußere Nachbildung dessen ist, was auf dem untersten Grunde der Seele liegt, aber konkret, veranschaulicht, ja sogar möglich erscheint, falls das mögliche Sein von etwas anderem als dem Schicksal abhinge. Wie oft ertappe ich mich selbst, der solche Verlockungen des Müßiggangs verlacht, bei der Vermutung, daß es gut sein könnte,
berühmt zu sein, daß es angenehm sein könnte, verhätschelt zu werden, daß es farbig sein könnte, triumphal zu wirken! Aber ich kann mich mir in solchen Star-Rollen nur vorstellen, indem ich zugleich über das andere Ich lache, das mir immer so nahe ist wie eine Straße der Unterstadt. Sehe ich mich als Berühmtheit? Dann sehe ich mich berühmt als Buchhalter. Fühle ich mich auf den Thron der Prominenz gehoben? Dann vollzieht sich das im Büro in der Rua dos Douradores, und die Kollegen stellen ein Hindernis dar. Höre ich, wie mir bunte Menschenmengen zujubeln? Ihr Beifall steigt auf zu dem vierten Stock, in dem ich wohne, und kollidiert mit dem schäbigen Mobiliar meines billigen Zimmers, mit allem, was mich umgibt und von der Küche (. . .) bis zum Traum gewöhnlich macht. Ich habe nicht einmal Luftschlösser gebaut wie die großen spanischen Wolkenkuckucksheimbauer. Die meinigen bestanden aus alten, abgegriffenen Spielkarten aus einem unvollständigen Kartenspiel, mit dem man nie wieder hätte spielen können; sie fielen nicht zusammen, man mußte sie auf den ungeduldigen Wink des alten Dienstmädchens hin mit einer Handbewegung zur Seite wischen, weil die Teestunde wie ein Fluch des Schicksals geschlagen hatte und das Mädchen die halb zurückgeschlagene Tischdecke wieder über den ganzen Eßtisch ausbreiten wollte. Doch das sogar ist ein müßiges Bild, denn ich habe weder ein Haus in der Provinz noch alte Tanten, an deren Tisch ich am Ende eines Abends im Familienkreis einen Tee zu mir nehmen könnte, der mir nach Entspannung schmecken würde. Mein Traum ist selbst in seinen Metaphern und in seinen wechselnden Vorstellungen gescheitert. Mein Imperium reichte nicht einmal bis zu den alten Spielkarten. Mein Sieg langte nicht einmal für eine Teekanne oder einen uralten Kater aus. Ich werde sterben, wie ich gelebt habe, unter Gerümpel aus den Vorstädten, nach Gewicht taxiert unter den Postskripten verlorener Gegenstände.
Das Gemeinste an den Träumen ist, daß alle sie hegen. An irgend etwas denkt im Dunkeln der Lastträger, der bei Tage, an die Laterne gelehnt, in der Pause zwischen zwei Aufträgen vor sich
hindöst. Ich weiß schon, was ihm durch den Sinn geht: das gleiche, in das auch ich mich vertiefe zwischen den Eintragungen ins Hauptbuch in der sommerlichen Langeweile meines stillen Büros.
Seit die Hitze nachgelassen hat und der erste leichte Regenguß zu vernehmen ist, ist in der Luft eine Stille zurückgeblieben, die der Luft in der Hitze nicht eigen war, ein neuer Friede, in den das Wasser eine eigene Brise gemischt hat. So hell war die Freude dieses sanften Regens ohne Sturm oder Finsternis, daß sogar diejenigen — und das waren fast alle, die keinen Regenschirm oder irgendein Schutzcape bei sich hatten, bei ihrem raschen Gang über die regennasse Straße lachend redeten. In einer Pause der Trägheit trat ich ans geöffnete Fenster meines Büros — man hatte es bei der Hitze geöffnet und während des Regens nicht geschlossen — und betrachtete mit intensiver, gleichgültiger Aufmerksamkeit, wie es meine Art ist, das, was ich soeben genau beschrieben habe, bevor ich es noch in Augenschein nahm. Jawohl, da marschierte die Heiterkeit in banaler Zweisamkeit und besprach sich lächelnd durch den Nieselregen hindurch bei eher schnellen als eiligen Schritten in der sauberen Helligkeit des nunmehr verhüllten Tages. Aber auf einmal trat von einer Straßenecke her, die schon vorher dort gewesen war, zu meiner Überraschung ein alter, schäbiger Mann, arm und gar nicht demütig unter dem nachlassenden Regen ungeduldig ausschreitend, in mein Blickfeld ein. Er, den ich mit Sicherheit nicht beobachtet hatte, war zumindest ungeduldig. Ich sehe ihn mir an, nicht mit der unaufmerksamen Aufmerksamkeit, die man Dingen zuwendet, sondern mit der definierenden Aufmerksamkeit, die man Symbolen zuteil werden läßt. Er war das Symbol eines Niemands; deshalb hatte er es eilig. Er war das Symbol dessen, der nichts gewesen war; deshalb litt er. Er war nicht ein Teil der Leute, die lächelnd die unbequeme Freude des Regens spürten, sondern ein Teil des Regens selber — ein unbewußt Lebender, so sehr fühlte er die Wirklichkeit. Doch nicht das wollte ich eigentlich sagen. Zwischen meine Beobachtung des Passanten, den ich endlich rasch aus dem Auge
verlor, weil ich ihm nicht länger nachschaute, und den Zusammenhang dieser Beobachtungen schob sich mir irgendein Geheimnis der Unaufmerksamkeit, irgendein gefährlicher Augenblick der Seele, der mich ohne Fortsetzung ließ. Und auf dem Grunde meiner Unverbundenheit vernahm ich, ohne daß ich es hören konnte, das Gerede der Transportarbeiter im Hintergrund des Büros, dort, wo das Warenlager anfängt, und, ohne es zu sehen, sehe ich die doppelt geschlungenen Verpackungsschnüre der Postpakete; zweifach sind die Knoten geknüpft um das graue Packpapier dieser Pakete auf dem Tisch neben dem Fenster zum Lichtschacht, unter Scherzen und Scheren. Sehen heißt schon gesehen haben.
25.7.1952
Die Klassifikatoren von Dingen, also jene Wissenschaftler, deren Wissenschaft nur im Klassifizieren besteht, wissen im allgemeinen nicht, daß das Klassifizierbare unendlich ist und also nicht klassifiziert werden kann. Was mich aber dabei in Erstaunen versetzt, ist, daß sie die Existenz von klassifizierbaren Unbekannten außer Acht lassen, Vorgänge der Seele und des Bewußtseins, die in den Zwischenräumen der Erkenntnis geschehen. Vielleicht, weil ich zu viel denke oder zu viel träume, kommt es dazu, daß ich nicht unterscheide zwischen der Realität, die vorhanden ist, und dem Traum, der Realität, die nicht vorhanden ist. Und so schiebe ich in meine Betrachtungen über Himmel und Erde Dinge ein, die nicht von Sonne glitzern oder mit Händen zu greifen sind — flüssige Wunder der Einbildungskraft. Ich vergolde mich mit eingebildeten Sonnenuntergängen, aber auch das nur Eingebildete ist in der Einbildung lebendig. Ich freue mich über phantastische Brisen, aber das Phantastische lebt, wenn man es sich vorstellt. Ich besitze Seele dank verschiedener Hypothesen, aber diese Hypothesen haben ihre eigene Seele und schenken mir infolgedessen die, die sie besitzen. Es gibt kein Problem außer dem Realitätsproblem, und das ist unlösbar und lebendig. Was weiß ich von dem Unterschied zwi-
sehen einem Baum und einem Traum? Ich kann den Baum berühren: Ich weiß, ich träume den Traum. Was bedeutet das in seiner Wahrheit? Was ist das? Ich kann ganz allein in meinem verlassenen Büro leben, indem ich meine Einbildungskraft ohne Nachteile für meine Intelligenz spazierenführe. Meine Gedanken werden weder von den verlassenen Schreibpulten noch von den Warenpacken mit dem zugehörigen Papier und den Bindfadenknäueln unterbrochen. Ich sitze nicht auf meiner hohen Bank, sondern lehne mich auf dem runden Armstuhl Herrn Moreiras zurück, als ob ich meine Beförderung vorwegnähme. Vielleicht ist es der Einfluß der Örtlichkeit, der mich mit Zerstreutheit salbt. Hitzetage machen schläfrig; ich schlafe, ohne zu schlafen, aus Mangel an Energie. Deshalb denke ich so.
Monate sind seit meiner letzten Aufzeichnung verstrichen. Mein Verstand hat geschlafen, und so bin ich ein anderer im Leben gewesen. Eine Empfindung transponierten Glücks hat mich häufig begleitet. Ich habe nicht existiert, ich bin jemand andrer gewesen; ich habe gelebt, ohne zu denken. Heute auf einmal bin ich zu dem zurückgekehrt, der ich bin oder zu sein träume. Es war ein Augenblick großer Erschöpfung nach einer Arbeit ohne Bedeutung. Ich habe den Kopf auf meine Hände gestützt und die Ellenbogen auf das hohe, geneigte Pult. Als ich die Augen schloß, fand ich mich wieder. In einem falschen, fernen Schlaf erinnerte ich mich an alles, was gewesen war, und mit der Schärfe einer erschauten Landschaft erstand plötzlich vor mir die Breitseite des alten Gehöfts, und in der Mitte meines Gesichtskreises erhob sich seine leere Tenne. Unvermittelt spürte ich die Nutzlosigkeit des Lebens. Sehen, fühlen, erinnern, vergessen — all das verwirrte sich mir, ein vager Schmerz an den Ellenbogen, das undeutliche Gemurmel von der nahen Straße und die leisen Arbeitsgeräusche in meinem stillen Büro. Als ich, die Hände aufs Pult gelegt, über das, was da vor mir lag, meinen Blick schweifen ließ, in welchem die Erschöpfung
toter Welten lag, fiel er zuerst auf eine Schmeißfliege, — das Brummen, das nicht aus dem Büro stammte — die auf dem Tintenfaß saß. Ich betrachtete sie aus der Tiefe des Abgrunds, anonym und wach. Sie war grünlich bis schwarzblau und glänzte ekelhaft, aber nicht häßlich. Ein Leben! Wer weiß, für welche höchsten Kräfte, Götter oder Dämonen der Wahrheit, in deren Schatten wir umherirren, ich nur die glitzernde Fliege bin, die sich einen Augenblick vor ihnen niederläßt!? Eine banale Bemerkung? Eine längst gemachte Beobachtung? Eine Philosophie ohne Gedanken? Vielleicht, aber ich habe gar nicht gedacht: Ich habe gefühlt. Fleischlich, unmittelbar, mit einem tiefen Schaudern (?) habe ich den lächerlichen Vergleich angestellt. Ich war eine Fliege, als ich mich mit der Fliege verglich. Ich fühlte mich als Fliege, als ich annahm, daß ich mich als solche fühlte. Und ich fühlte mich als fliegenhafte Seele, ich schlief als Fliege, ich fühlte mich eingeschlossen als Fliege. Und das größte Schrecknis ist, daß ich mich gleichzeitig auch als ich fühlte. Ohne es zu wollen hob ich die Augen zur Decke, damit ja nicht ein allerhöchstes Lineal auf mich herabsause, um mich so zu zerquetschen, wie ich diese Fliege zerquetschen könnte. Zum Glück war die Fliege, als ich die Augen wieder senkte, geräuschlos verschwunden. Das unfreiwillige Büro war abermals ohne Philosophie.
Je höher die Sensibilität und je subtiler die Fähigkeit zu fühlen, desto absurder vibriert und erschaudert sie bei den kleinen Dingen. Eine fabelhafte Intelligenz ist notwendig, um vor einem dunklen Tage Angst empfinden zu können. Die Menschheit, die recht unsensibel ist, spürt keine Angst vor dem Wetter, denn Wetter gibt es immer; sie fühlt den Regen nur dann, wenn er auf sie niedergeht. Der trübe, schlaffe Tag füllt sich mit feuchter Hitze. Im Büro allein, lasse ich mein Leben Revue passieren und, was ich in ihm gewahre, ist wie der Tag, der mich bedrückt und bedrängt. Ich sehe mich als Kind, mit allem zufrieden, als jungen Mann, der nach den Sternen greift, als reifen Mann ohne Freude und ohne
Streben. Und all das vollzog sich schlaff und trüb wie der Tag, der mich das gewahren oder erinnern läßt. Wer von uns kann, wenn er sich auf seinem Wege umdreht, auf dem es keine Rückkehr gibt, sagen, er habe ihn verfolgt, wie er ihn verfolgt haben mußte?
2.11.1933
Es gibt einen inneren Schmerz, bei welchem man, weil subtile Dinge in ihn eingesickert sind, nicht unterscheiden kann, ob er von der Seele oder vom Körper herrührt, ob er ein Unwohlsein ist, weil man die Nichtigkeit des Lebens spürt, oder ob er die schlechte Laune ist, die aus irgendeinem organischen Abgrund aufsteigt — aus Magen, Leber oder Gehirn. Wie oft trübt sich mein normales Bewußtsein meiner selbst durch die ärgerliche Ablagerung einer unruhigen Stagnation! Wie oft schmerzt es mich, mit einem so unsicheren Ekelgefühl existieren zu müssen, daß ich nicht mehr unterscheiden kann, ob es Überdruß ist oder die Vorankündigung eines Erbrechens! Wie oft . . . Meine Seele ist heute traurig bis in den Körper hinein. Mein ganzes Ich schmerzt mich, Erinnerung, Augen und Arme. Es zieht wie ein Rheumaschmerz in allem, was ich bin. Auch die durchsichtige Klarheit des Tages, ein Himmel, groß, rein und blau, eine stehengebliebene Flut verschwommenen Lichts hat auf mein Wesen keinen Einfluß. Keineswegs besänftigt mich der leichte, frische, herbstliche Hauch — als könne der Sommer nicht in Vergessenheit geraten —, mit dem die Luft Persönlichkeit darstellt. Nichts bedeutet mir etwas. Ich bin traurig, aber nicht mit klar definierter Traurigkeit, nicht einmal mit undefinierbarer Traurigkeit. Ich bin traurig draußen, auf der mit Kisten bedeckten Straße. Diese Wendungen geben nicht genau wieder, was ich fühle, weil zweifellos gar nichts genau wiedergeben kann, was jemand fühlt. Aber irgendwie versuche ich doch den Eindruck von dem, was ich fühle, zu vermitteln, eine Mischung verschiedener Arten von Ichs und der fremden Straße, die mir, weil ich sie sehe,
ebenfalls auf eine innere Art und Weise, die ich nicht zu analysieren vermag, gehört und einen Teil von mir bildet. Ich möchte als verschiedene Menschen in entfernten Ländern leben. Ich möchte als ein anderer zwischen unbekannten Fahnen sterben. Ich möchte zum Imperator in anderen Epochen ausgerufen werden, die mir heute als besser erscheinen, gerade weil sie nicht von heute sind; sie erscheinen mir als glanzvoll und bunt mit nie gesehenen Sphinxen. Ich möchte alles, was den lächerlich machen kann, der ich bin, und weil es das lächerlich macht, was ich bin. Ich möchte, ich möchte . . . Aber immer ist die Sonne da, wenn die Sonne scheint, und die Nacht, wenn die Nacht einbricht. Immer ist der Kummer da, wenn der Kummer uns drückt, und der Traum, wenn der Traum uns einwiegt. Immer ist das Vorhandene vorhanden und nie das, was eigentlich vorhanden sein müßte, nicht weil es besser oder schlechter wäre, sondern weil es etwas anderes ist. [. . .] Auf der Straße voller Kisten gehen die Lastträger hin und her und räumen auf. Eine nach der anderen stapeln sie die Kisten unter Gelächter und Scherzworten auf die Fuhrwerke. Von meinem erhöhten Bürofenster aus sehe ich ihnen mit trägen Augen zu, deren Lider schläfrig zufallen möchten. Und etwas Subtiles, Unverständliches verbindet das, was ich fühle, mit den Verladearbeiten, denen ich zuschaue, irgendeine unbekannte Empfindung formt eine Kiste aus meinem ganzen Überdruß, meiner Angst, meinem Ekel und hebt sie auf den Schultern eines Mannes, der laute Witze reißt, auf ein Fuhrwerk, das nicht vorhanden ist. Und das Tageslicht ist so heiter wie immer; es fällt schräg ein, weil die Straße so eng ist, auf die Stelle, wo man die Kisten verstaut — nicht auf die Kisten, die im Dunkeln verbleiben, sondern auf den Winkel dort hinten, wo die Transportarbeiter mit ihrem Nichtstun beschäftigt sind, und das auf unabsehbare Zeit.
Das Alltagsleben ist ein Heim. Der Alltag ist wie eine Mutter. Nach einem längeren Ausflug in die hohe Poesie, auf die Berge erhabener Bestrebungen, auf die Felsen des Transzendenten und des Okkulten, schmeckt es besser als gut, schmeckt es nach allem,
was warm ist im Leben, wenn man in die Herberge zurückkehrt, wo die glücklichen Narren lachen, mit ihnen zu trinken, ein Narr wie sie, wie Gott uns geschaffen hat, einverstanden mit dem Weltall, das uns zuteil geworden ist, und alles übrige denen zu überlassen, die Berge besteigen, um droben auf der Höhe nichts zu tun. Es rührt mich nicht, wenn man von einem Menschen, den ich für einen Narren oder einen Ignoranten halte, aussagt, er übertreffe einen Durchschnittsmenschen oftmals an Leistungsfähigkeit. Die Epileptiker entwickeln während ihres Anfalls übermenschliche Stärke; die Paranoiker ziehen Schlußfolgerungen, zu denen wenige normale Menschen imstande sind; die einem religiösen Wahn Verfallenen scharen Mengen von Gläubigen um sich wie (falls überhaupt) wenige Demagogen sie zusammenbringen und das infolge einer inneren Überzeugungskraft, die diese auf ihre Anhänger nicht auszustrahlen verstehen. Und all das beweist nur, daß der Wahnsinn Wahnsinn ist. Ich ziehe eine Niederlage bei voller Kenntnis der Blumen einem Sieg inmitten der Wüstenei vor; denn letzterer leidet an der Verblendung der mit ihrer Nichtigkeit allein gelassenen Seele. Wie häufig hinterläßt mir mein eigener belangloser Traum ein Gefühl des Entsetzens vor dem Innenleben, einen physischen Ekel vor Mystizismus und Kontemplation. Wie eilig laufe ich aus dem Hause, in dem ich so geträumt habe, in mein Büro; und das Gesicht von Herrn Moreira wirkt auf mich, als ob ich endlich in einen Hafen gelangt wäre. Wenn ich alles recht überdenke, ziehe ich Herrn Moreira der Welt der Gestirne vor; ich ziehe die Wirklichkeit der Wahrheit vor; ich ziehe das Leben im Grunde Gott selbst vor, der es geschaffen hat. So hat er es mir gegeben, so werde ich es leben. Ich träume, weil ich träume, aber ich erdulde nicht den Schimpf, meinen Träumen einen anderen Wert beizumessen als denjenigen, meine Privatbühne zu sein, wie ich auch dem Wein, auf den ich gleichwohl nicht verzichte, nicht den Namen Nahrungsmittel oder Lebensnotwendigkeit beilege.
Ich habe es stets abgelehnt, verstanden zu werden. Verstanden werden heißt sich prostituieren. Ich ziehe es vor, als derjenige, der ich nicht bin, ernst genommen zu werden, und als Mensch mit Anstand und Natürlichkeit verkannt zu werden. Nichts könnte mich so verdrießen, als wenn man mich im Büro absonderlich fände. Ich will den Bußgürtel, daß sie mich für ihresgleichen halten. Ich will die Kreuzigung, daß sie mich nicht für andersartig halten. Es gibt Martyrien, die subtiler sind als diejenigen, die von den Heiligen und den Einsiedlern bekannt sind. Es gibt Folterungen der Intelligenz, so wie es solche des Leibes und der Begierde gibt. Und mit diesen wie mit den übrigen Folterungen ist ein Gefühl der Wollust verbunden. 16.12.1931
Heute ist der sogenannte Dienstmann des Büros angeblich endgültig in seinen Heimatort abgereist, der gleiche Mann, den ich gewöhnt war, als Teil dieses Hauses und folglich als Teil meiner selbst und meiner Welt anzusehen. Heute hat er uns verlassen. Auf dem Korridor, wo wir uns zufällig zur erwarteten Überraschung des Abschieds begegneten, habe ich ihn umarmt, was er schüchtern erwiderte, genug Gegen-Seele besessen, um nicht loszuweinen, wie es ohne mein Herz meine heißen Augen sich wünschten. Jedes Ding, das einmal unser gewesen ist, auch wenn es nur dank den Zufälligkeiten des Zusammenlebens oder des Blickfelds der Fall war, wird wir selbst, weil es unser gewesen ist. Was da heute in ein mir unbekanntes galizisches Dorf heimgekehrt ist, war für mich nicht der Dienstmann des Büros: Es war ein vitaler, weil mit den Augen erlebter Teil der Substanz meines Lebens. Der Dienstmann meines Büros hat uns verlassen. Ich bin heute amputiert worden. Ich bin nicht mehr derselbe. Der Dienstmann meines Büros hat uns verlassen. Alles, was vor sich geht, wo wir leben, geht in uns selber vor sich. Alles, was aufhört in unserem Gesichtsfeld, hört in uns selbst auf. Alles, was einmal gewesen ist, wenn wir es gesehen haben, als es gewesen ist, wird von uns weggerissen, wenn es verschwindet. Der Dienstmann meines Büros hat uns verlassen.
Schwerfälliger und um Jahre gealtert, weniger freiwillig setze ich mich an das hohe Pult und nehme die gestrige Buchführung wieder auf. Doch die unbestimmte Tragödie von heute drängt sich unterbrechend in meine Gedanken, und ich muß mich zum automatischen, ordnungsgemäßen Ablauf der Buchführung zwingen. Ich habe nur deshalb Lust zur Arbeit, weil ich in tätiger Trägheit Sklave meiner selbst sein kann. Der Dienstmann meines Büros hat uns verlassen. Jawohl, morgen oder an einem anderen Tag, wann immer die tonlose Glocke des Todes oder der Abreise erklingen mag, werde auch ich jemand sein, der nicht mehr hier an seinem Platz steht, ein altes Kopiergerät, das man im Schrank unter dem Treppenabsatz verstaut. Jawohl, morgen oder wenn das Schicksal sein Machtwort spricht, wird ein Ende haben, was in mir so tat, als wäre es ich. Werde ich in meine Heimat zurückkehren? Ich weiß nicht, wohin ich fahren werde. Heute ist die Tragödie sichtbar, weil jemand fehlt, fühlbar, weil sie nicht verdient, daß man sie fühlt. Mein Himmel, der Dienstmann meines Büros hat uns verlassen.
Ach, die Trennung zwischen Bürgern und Volk, zwischen Adligen und Volk oder Regierenden und Regierten, die die Revolutionäre vornehmen, ist ein bedauerlicher, krasser Irrtum. Der eigentliche Unterschied verläuft zwischen Angepaßten und Unangepaßten: Alles übrige ist Literatur und zwar schlechte Literatur. Wenn der Bettler angepaßt ist, kann er morgen König sein, damit jedoch hat er die Kraft, Bettler zu sein, eingebüßt. Er hat die Grenze überschritten und die Nationalität verloren. Das tröstet mich in diesem engen Büro, dessen schlecht geputzte Fenster auf eine freudlose Straße führen. Es tröstet mich, und dabei betrachte ich die Schöpfer des Weltbewußtseins als meine Brüder — den ständig mit Schwierigkeiten kämpfenden Dramatiker William Shakespeare, den Schulmeister John Milton, den Vagabunden Dante Alighieri [. . .], ja sogar, falls die Einbeziehung erlaubt ist, jenen Jesus Christus, der in der Welt nichts dargestellt hat, derart daß man in der Geschichtsschreibung an
ihm zweifelt. Die anderen sind von anderer Art — der Staatsrat Johann Wolfgang von Goethe, der Senator Victor Hugo, der Chef Lenin, der Duce Mussolini. Wir im Schatten Lebenden bilden unter den Lastträgern und den Friseuren die Menschheit. Auf der einen Seite stehen die Könige mit ihrem Prestige, die Kaiser mit ihrem Ruhm, die Genies mit ihrer Aura, die Heiligen mit ihrer Aureole, die Volksführer mit ihrer Herrschaft, die Prostituierten, die Propheten und die Reichen . . . Auf der anderen Seite stehen wir — der Lastträger an der Straßenecke, der ständig mit Schwierigkeiten kämpfende Dramatiker William Shakespeare, der Friseur mit seinen Anekdoten, der Schulmeister John Milton, der Lehrling in seiner Marktbude, der Vagabund Dante Alighieri, diejenigen, die der Tod vergißt oder weiht und die das Leben weihelos vergessen hat.
Wenn ich mir aufmerksam das Leben anschaue, das die Menschen führen, finde ich nichts in ihm, was es vom Leben der Tiere unterscheiden könnte. Die einen wie die anderen werden unbewußt durch die Dinge und die Welt geworfen; die einen wie die anderen unterhalten sich und machen zwischendurch Pause, die einen wie die anderen durchleben täglich den gleichen organischen Ablauf; die einen wie die anderen denken nicht über das hinaus, was sie denken, und sie leben auch nicht über das hinaus, was sie erleben. Die Katze räkelt sich in der Sonne und schläft in ihr. Der Mensch räkelt sich im Leben mit all seinen Verwicklungen und schläft in ihm. Weder die eine noch der andere befreien sich von dem schicksalhaften Gesetz, so sein zu müssen, wie sie sind. Niemand versucht das Gewicht des Seins aufzuheben. Die größten unter den Menschen lieben den Ruhm, aber sie Heben ihn nicht wie eine eigene Unsterblichkeit, sondern wie eine abstrakte Unsterblichkeit, an der sie möglicherweise keinen Anteil haben. Diese Überlegungen, die ich häufig anstelle, flößen mir eine jähe Bewunderung für jene Art von Menschen ein, die ich sonst instinktiv ablehne. Ich meine die Mystiker und die Asketen — die weit entfernten in allen möglichen Tibets und die Simon Stylites
auf allen Säulen. Sie versuchen wirklich, wenngleich umsonst, sich vom Gesetz der Tierhaftigkeit zu befreien. Sie versuchen tatsächlich, wenngleich umsonst, das Gesetz des Lebens zu verleugnen und sich in der Sonne auszustrecken und den Tod zu erwarten, ohne an ihn zu denken. Sie sind auf der Suche, wenn auch auf der Höhe einer Säule; sie verzehren sich in Sehnsucht, wenn auch in einer lichtlosen Zelle; sie wollen das Unbekannte, wenn auch im selbstauferlegten Martyrium und Leiden. Wir anderen alle, die wir animalisch in mehr oder weniger großer Komplexität leben, überqueren die Bühne wie Mitwirkende, die nichts zu sagen haben, zufrieden mit der eitlen Feierlichkeit unseres Auftritts. Hunde und Menschen, Katzen und Helden, Flöhe und Genies spielen wir existieren, ohne daran zu denken (denn die Besten von uns denken nur ans Denken) — unter der großen Stille der Gestirne. Die übrigen — die Mystiker des Leidens und des Opfers — spüren zumindest mit ihrem Körper und im Alltag die magische Gegenwart des Geheimnisses. Sie sind befreit, weil sie die sichtbare Sonne leugnen; sie sind zufrieden, weil sie sich aus dem Leerraum der Welt herausgestohlen haben. Ich werde fast mit ihnen zum Mystiker, wenn ich von ihnen rede, aber ich wäre außerstande, mehr als diese Worte zu sein, die einer momentanen Eingebung folgend niedergeschrieben wurden. Ich werde immer zur Rua dos Douradores gehören wie die gesamte Menschheit. Ich werde immer in Vers oder Prosa ein Angestellter an seinem Schreibpult sein. Ich werde immer im mystischen oder im nicht-mystischen Bereich, ortsgebunden und unterwürfig, ein Sklave meiner Empfindungen und der Stunde sein, in der ich sie empfinden kann. Ich werde immer, unter dem großen blauen Baldachin des stummen Himmels, ein Page in einem unverständlichen Ritual sein, bekleidet mit Leben, um das Ritual vollziehen zu können, und Gebärden und Schritte ausführen ohne zu wissen weshalb, bis das Fest oder meine Rolle auf diesem Fest zu Ende gehen und ich in den großen Buden, die wie es heißt, im Hintergrund des Gartens errichtet worden sind, Leckerbissen verzehren kann.
Es fällt mir plötzlich auf — weshalb weiß ich nicht, daß ich allein im Büro bin. Ich hatte es schon vage geahnt. In jedem Teil meines Bewußtseins weitete sich Erleichterung, atmeten mehrere Lungen tiefer. Das ist eine der sonderbarsten Empfindungen, die uns der Zufall der Begegnungen und der Absenzen vermitteln kann: Allein zu sein in einem normalerweise menschenerfüllten, geräuschvollen oder fremden Haus. Es kommt plötzlich ein Hauch von Macht und Weite über uns — von Erleichterung und Ruhe. Wie gut, wenn man mutterseelenallein ist, laut mit sich selbst reden und umherspazieren kann, ohne von Bücken gestört zu werden, sich nach hinten zurücklehnen darf, in einer ungebetenen Träumerei! Das ganze Haus wird zum Feld, jeder Saal besitzt die Ausdehnung eines Landguts. Die Geräusche sind alle fremd, als gehörten sie zu einem nahen, aber unabhängigen Universum. Endlich sind wir Könige. Darauf streben wir alle zu; die größten Plebejer unter uns — wer weiß! — sogar mit größerer Entschiedenheit als die Leute mit mehr falschem Gold. Für einen Moment sind wir Pensionisten des Weltalls und leben, unserer regelmäßigen Pension sicher, bedürfnislos und sorgenfrei. Ach, aber ich erkenne am Schritt auf der Treppe den Jemand, der meine erholsame Einsamkeit unterbrechen wird. Mein stillschweigendes Imperium wird einen Barbareneinbruch erleben. Nicht, daß mir der Schritt verriete, wer da kommt, nicht daß mich der Schritt an diesen oder jenen erinnerte, den ich kenne. Ein tauber Instinkt liegt in der Seele und verrät mir, daß da einer kommt, daß da jemand emporsteigt, einstweilen noch als Schritte auf der Treppe, die ich auf einmal sehe, weil ich an den denke, der auf ihr hochsteigt. Jawohl, es ist einer der Angestellten. Er hält inne, die Tür geht, er tritt ein, ich sehe ihn ganz. Und beim Eintreten sagt er zu mir: »Ganz allein, Herr Soares?« Und ich gebe zur Antwort: »Jawohl, schon seit längerem . . .« Und dann setzt er hinzu, indem er sich aus der Jacke schält, mit einem Blick auf die andere, alte, auf dem Bügel hängende: »Sehr langweilig ist das, wenn man hier so allein ist, Herr Soares, und außerdem . . .« »Ohne Zweifel, sehr langweilig«, entgegne ich ihm. »Überdies hat
man Lust einzuschlafen«, sagt er, schon in der zerlöcherten Jacke, und geht auf seinen Schreibtisch zu. »Die hat man«, bekräftige ich lächelnd. Danach strecke ich die Hand nach dem vergessenen Federhalter aus und trete graphisch von neuem in die anonyme Gesundheit des normalen Lebens ein.
Wenn ich es eines Tages erleben sollte, daß ich dank einer vollkommen gesicherten Lebensstellung frei schreiben und publizieren kann, so weiß ich, daß ich Sehnsucht nach meinem jetzigen ungesicherten Leben bekommen werde, in welchem ich wenig schreibe und nichts veröffentliche. Ich werde Sehnsucht bekommen, nicht weil mein jetziges vergebliches Leben der Vergangenheit angehört und nie wiederkehren wird, sondern weil jede Lebensweise ihre Besonderheit hat und einen eigenen Genuß, und wenn man zu einem anderen Leben übergeht, macht dieser eigene Genuß weniger glücklich, ist diese Besonderheit weniger gut; sie hören auf zu existieren, und es tritt ein Gefühl des Mangels ein. Wenn es eines Tages geschehen sollte, daß ich das Kreuz meiner Pläne auf den Gipfel des Kalvarienberges tragen kann, werde ich einen Kalvarienberg auf dem Kalvarienberggipfel finden und Sehnsucht verspüren nach der Zeit, als er für mich noch nichtig, müßig und unerreichbar war. Ich werde mich irgendwie beeinträchtigt fühlen. Ich möchte schlafen. Der Tag war bedrückend mit seiner sinnlosen Arbeit im beinahe leeren Büro. Zwei Angestellte sind krank, und die übrigen abwesend. Ich bin allein, nur der Laufbursche steht im Hintergrund. Ich spüre Sehnsucht nach der Möglichkeit, eines Tages Sehnsucht empfinden zu können, die selbst dann noch sinnlos ist. Fast möchte ich die Götter, die es geben mag, bitten, mich hier aufzubewahren wie in einem Geldschrank und vor den Unbilden und den Glücksmomenten des Lebens zu beschützen.
Alles ist mir unerträglich geworden außer dem Leben. Büro, Wohnung, Straßen — sogar das Gegenteil von ihnen, wenn ich
es hätte — sind mir übergenug und bedrücken mich; nur das Ganze schafft mir Erleichterung. Jawohl, etwas von alledem ist mir Trost genug. Ein Sonnenstrahl, der ständig in das ausgestorbene Büro eindringt; die Litanei eines Straßenverkäufers, die rasch zu meinem Zimmerfenster emporsteigt; die Tatsache, daß es Leute gibt, daß Klima und Wetter sich ändern, die erschütternde Objektivität der Welt. . . Der Sonnenstrahl ist plötzlich in mich, der ihn plötzlich erblickte, eingedrungen. Es war ein Strahl beinahe farblosen, messerscharfen Lichtes, der den schwarzen Holzfußboden zerschnitt und, wo er entlangglitt, die alten Nägel und Vertiefungen zwischen den Bohlen, die schwarzen Linienblätter des Nicht-Weißen, mit Leben erfüllte. Minutenlang verfolgte ich die unsichtbare Wirkung der in mein stilles Büro einfallenden Sonne . . . Kerkerbeschäftigungen! Nur Eingeschlossene schauen so der Sonne bei ihren Bewegungen zu, wie jemand Ameisen zuschaut.
Heute habe ich mir in einer jener plan- und würdelosen Phantasievorstellungen, die einen großen Teil der geistigen Substanz meines Lebens ausmachen, ausgemalt, ich sei für immer frei von der Rua dos Douradores, von Chef Vasques, von Buchhalter Moreira, von allen Angestellten, von dem Dienstmann, von dem Laufjungen und von der Katze. Im Traum spürte ich meine Befreiung, als hätten mir südliche Meere wunderbare Inseln zur Entdeckung angeboten. Das wäre dann die Erholung, die vollendete Kunst, die geistige Erfüllung meines Seins. Plötzlich aber mitten in diesen Phantasien, denen ich mich am bescheidenen Feiertag der Mittagspause in einem Cafe überließ, beeinträchtigte mir ein unangenehmer Eindruck diesen Traum: ich spürte, daß mir das leid tun würde. Ja, ich sage das, als ob ich es mit aller Ausführlichkeit sagen würde: es täte mir leid. Chef Vasques, Buchhalter Moreira, Kassierer Borges, alle diese guten Kerle, der vergnügte Laufbursche, der die Briefe auf die Post bringt, der Dienstmann für alle Arten von Transporten, die zärtliche Katze — all das ist ein Bestandteil meines Lebens gewor-
den; ich könnte all das nicht mehr verlassen, ohne zu weinen, ohne einzusehen, daß ein Teil von mir, auch wenn es mir noch so arg erscheinen mag, bei ihnen allen zurückbleiben, daß eine Trennung von ihnen einem halben Tod gleichkommen würde. Und wenn ich mich im übrigen wirklich morgen von ihnen allen entfernen und meine Kleidung aus der Rua dos Douradores ablegen würde, wohin käme ich dann wohl? Denn etwas anderes käme doch wohl auf mich zu? Welch andere Kleidung würde ich tragen? Denn eine andere Kleidung müßte ich doch wohl anziehen? Wir haben alle einen Chef Vasques; für die einen ist er sichtbar, für die anderen unsichtbar. Für mich heißt er wirklich Vasques und ist ein gesunder, umgänglicher Mann, der dann und wann brüsk, aber nie nachtragend ist, profitbedacht, aber im Grunde gerecht — mit einem Sinn für Gerechtigkeit ausgestattet, der vielen großen Genies und vielen wunderbaren menschlichen Zivilisationsprodukten rechts wie links abgeht. Für andere mag die Eitelkeit, das Verlangen nach größerem Reichtum, nach Ruhm, nach Unsterblichkeit beherrschend sein . . . Ich ziehe den Menschen Vasques vor, meinen Chef, der in schwierigen Stunden umgänglicher ist als alle abstrakten Chefs der Welt. Ein Freund, Teilhaber einer Firma, die dank ihrer Geschäftsbeziehungen zu allen staatlichen Stellen floriert, sagte neulich zu mir, weil er annahm, ich verdiente zu wenig: »Sie werden ausgebeutet . . .« Das rief mir in Erinnerung, daß ich ausgebeutet werde, da wir aber im Leben ausgebeutet werden müssen, frage ich mich, ob es nicht weniger schlimm ist, von Herrn Vasques aus dem Stoffgeschäft ausgebeutet zu werden als von der Eitelkeit, der Ruhmsucht, der Verachtung, dem Neid oder dem Unmöglichen. Es gibt sogar Leute, die Gott selbst ausbeutet, und das sind die Propheten und Heiligen in der Leere der Welt. Und ich ziehe mich — wie in das Heim, das die anderen ihr eigen nennen — in das fremde Haus, in das weitläufige Büro in der Rua dos Douradores zurück. Ich mache es mir an meinem Schreibtisch bequem wie an einem Bollwerk gegen das Leben. Ich spüre Zärtlichkeit, bis zu Tränen reichende Zärtlichkeit für meine
Geschäftsbücher, in die ich Eintragungen vornehme, für das alte Tintenfaß, dessen ich mich bediene, für den gebeugten Rücken Sergios, der etwas weiter von mir entfernt Warenbegleitpapiere ausfertigt. Ich liebe das alles, vielleicht, weil ich sonst nichts zum Lieben besitze — oder vielleicht auch deshalb, weil nichts die Liebe einer Seele wert ist und, wenn wir es schon für ein Gefühl halten, es ebenso lohnend ist, dieses Gefühl meinem kleinen Tintenfaß entgegenzubringen wie der großen Gleichgültigkeit der Gestirne.
Wer die voraufgehenden Seiten dieses Buches gelesen hat, wird zweifellos zu der Ansicht gelangt sein, ich sei ein Träumer. Und doch hat er sich geirrt, wenn er das geglaubt hat. Um ein Träumer sein zu können, fehlt mir das Geld. Die große Melancholie, die Traurigkeit voller Überdruß können nur in einem Ambiente von Komfort und Luxus existieren. Deshalb gibt sich der Egeus E. A. Poes, der stundenlang in krankhafte Betrachtungen versinkt, seiner Neigung in einer Ahnenburg hin, wo jenseits der Türen des großen Saals, wo das Leben am Werke ist, unsichtbare Verwalter sich um Haus und Mahlzeiten kümmern. Der große Traum setzt gewisse gesellschaftliche Gegebenheiten voraus. Als ich mich eines Tages, trunken von der rhythmischen, schmerzlichen Bewegung meiner Aufzeichnungen, an Chateaubriand erinnerte, dauerte es nicht lange, bis mir einfiel, daß ich weder Vicomte noch Normanne war. Als ich ein andermal in dem bereits erwähnten Sinne eine Ähnlichkeit mit Rousseau zu verspüren vermeinte, dauerte es ebenfalls nicht lange, bis mir einfiel, daß ich, so wenig ich das Privileg besessen hatte, ein adliger Herr und Schloßbesitzer zu sein, ebensowenig das Privileg besaß, Schweizer und Vagabund zu sein. Doch zum Glück ist die Welt auch in der Rua dos Douradores vorhanden. Auch hier vergönnt uns Gott, daß das Lebensrätsel nicht ausbleibt. Und wenn meine Träume auch so ärmlich sind wie die Landschaft aus Lieferwagen und Kisten, die ich aus den Rädern und Brettern entnehmen kann, so sind sie doch das, was ich habe, und das, was ich haben kann.
Irgendwo sind die Sonnenuntergänge ohne Zweifel dauerhafte Wirklichkeit. Doch auch von diesem vierten Stock über der Stadt aus kann man an das Unendliche denken. Ein Unendliches mit darunter befindlichen Warenlagern, gewiß, aber mit Sternenschimmer darüber . . . Das fällt mir an diesem zu Ende gehenden Abend am hohen Fenster ein, in der Unzufriedenheit des Bürgers, der ich nicht bin, und in der Traurigkeit des Dichters, der ich nie werde sein können.
Ich erschuf in mir verschiedene Persönlichkeiten. Ich erschaffe ständig Personen. Jeder meiner Träume verkörpert sich, sobald er geträumt erscheint, in einer anderen Person; dann träumt sie, nicht ich. Um erschaffen zu können, habe ich mich zerstört; so sehr habe ich mich in mir selbst veräußerlicht, daß ich in mir nicht anders als äußerlich existiere. Ich bin die lebendige Bühne, auf der verschiedene Schauspieler auftreten, die verschiedene Stücke aufführen.
In mir selbst einen Staat gründen, mit Politik, Parteien und Revolutionen, und ich das alles sein, Gott im wirklichen Pantheismus dieses Ich-Volkes, Wesen und Handeln seiner Leiber, seiner Seelen, des Bodens, auf dem sie stehen und der Handlungen, die sie vollführen. Alles sein, sie und nicht sie sein. O weh, das ist noch ein solcher Traum, den ich nicht zu verwirklichen vermag. Wenn ich ihn verwirklichen könnte, würde ich möglicherweise sterben, ich weiß nicht warum, aber nach etwas Derartigem kann man wohl nicht mehr weiterleben, so groß ist das gegen Gott begangene Sakrileg, so groß die Usurpation der göttlichen Macht, alles zu sein. Welchen Genuß würde es für mich bedeuten, eine jesuitische Kasuistik der Empfindungen zu erschaffen! Es gibt Metaphern, die sind wirklicher als die Leute, die über die Straße gehen. Es gibt Illustrationen auf verborgenen Buchseiten, die leben deutlicher als viele Männer und viele Frauen. Es
gibt literarische Sätze, die besitzen ganz und gar menschliche Individualiät. Bruchstücke von mir geschriebener Absätze gibt es, die lassen mich vor Entsetzen erstarren, so deutlich fühle ich sie als Wesen, so scharf abgehoben gegen die Wände meines Zimmers, bei Nacht, im Schatten . . . Ich habe Sätze niedergeschrieben, deren Klang, wenn man sie laut oder leise liest — und man kann ihren Klang unmöglich verbergen — gänzlich von etwas herrührt, das absolute Äußerlichkeit und vollständig Seele gewonnen hat. Warum stelle ich dann und wann widersprüchliche, unvereinbare Verfahren dar, wie man träumt und zu träumen lernt? Weil ich mich wahrscheinlich so sehr daran gewöhnt habe, das Falsche wie das Wahre zu fühlen, das Erträumte ebenso deutlich wie das Gesehene, daß ich die, wie ich meine, falsche menschliche Unterscheidungsfähigkeit zwischen Wahrheit und Lüge eingebüßt habe. Es genügt, daß ich klar sehe, mit den Augen oder mit den Ohren oder mit irgendeinem anderen Sinn, damit ich fühle, daß es wirklich ist. Es kann sogar vorkommen, daß ich zwei unvereinbare Dinge zur gleichen Zeit fühle. Das macht nichts. Es gibt Geschöpfe, die sind imstande, lange Stunden hindurch zu leiden, weil es ihnen nicht möglich ist, eine Gestalt aus einem Gemälde oder eine Spielkarte zu sein. Es gibt Seelen, auf denen es wie ein Fluch lastet, daß es ihnen versagt ist, in der heutigen Zeit ein Mensch des Mittelalters zu sein. Solche Leiden haben mich früher überkommen. Heute nicht mehr. Ich habe mich verfeinert und bin darüber hinausgewachsen. Doch es schmerzt mich zum Beispiel, daß ich mich nicht als zwei Könige in verschiedenen Königreichen träumen kann, die Universen mit verschiedenen Arten von Raum und Zeit angehören. Dies nicht zu vermögen, bekümmert mich wirklich. Es schmeckt mir nach Hungerleiden. Das Unfaßliche zu träumen und zu veranschaulichen ist einer der großen Triumphe, die selbst ich, der so groß ist, nur selten feiern kann. Jawohl, zu träumen, daß ich beispielsweise zur gleichen Zeit getrennt und unverschmolzen der Mann und die Frau eines Spaziergangs bin, den ein Mann und eine Frau am Flußufer
unternehmen. Könnte ich mich doch zur gleichen Zeit sehen, mit gleicher Deutlichkeit, auf dieselbe Weise, unvermischt, und beide Dinge mit gleichem Einfühlungsvermögen sein, ein bewußtes Schiff auf einem südlichen Meer und die gedruckte Seite eines Buches. Wie absurd das scheint! Aber alles ist absurd, und der Traum ist es noch am allerwenigsten.
Denkend schuf ich mich zu Echo und Abgrund. Ich vervielfachte mich, indem ich mich vertiefte. Das kleinste Vorkommnis — eine Veränderung des Lichtes, der eingerollte Fall eines trockenen Blattes, das Blumenblatt, das sich welk ablöst, die Stimme auf der anderen Seite der Mauer oder die Schritte dessen, der diese Stimme erhebt, im Verein mit den Schritten desjenigen, der sie vernimmt, das halb geöffnete Portal des alten Gutshofs, der Innenhof, der sich unter dem Bogen der im Mondlicht zusammengescharren Häuser aufrut — all diese Dinge, die mir nicht gehöien, fesseln mein empfindliches Nachdenken mit Banden des Widerhalls und der Sehnsucht. In jeder einzelnen dieser Wahrnehmungen bin ich ein anderer, erneuere mich schmerzlich in jedem unbestimmten Eindruck. Ich lebe von Eindrücken, die mir nicht gehören, ein Verschwender von Verzichten, ein anderer in der Art und Weise, wie ich ich bin.
Da ich nichts zu tun habe und auch nicht denken will, was ich tun könnte, vertraue ich diesem Papier die Beschreibung eines Ideals an — als Notiz. Die Sensibilität Mallarmés in den Stil von Vieira einbringen; träumen wie Verlaine im Körper von Horaz; Homer im Mondlicht sein. Alles auf jegliche Weise fühlen; mit den Gefühlen zu denken verstehen und mit dem Denken zu fühlen; leiden und damit kokettieren; klar sehen, um richtig zu schreiben; sich erkennen mit Verstellungskunst und taktischem Geschick; sich als anderer Mensch einbürgern samt allen Dokumenten; kurzum, alle Emp-
findungen von innen verwenden und abschälen bis hin zu Gott; dann aber von neuem entwickeln und wieder ins Schaufenster legen wie der Kassierer, den ich von hier aus sehen kann, mit den kleinen Schachteln Schuhcreme einer neuen Marke. All diese Ideale, mögliche oder unmögliche, gehen jetzt zu Ende. Ich habe die Wirklichkeit vor mir — es ist nicht einmal der Kassierer, es ist seine Hand (ihn kann ich nicht sehen), absurder Tentakel einer Seele mit Familie und Schicksal, die Gebärden einer Spinne ohne Netz vollführt, während sie sich beim Wiederhineinlegen vor mir streckt. Und eine der Schachteln ist zu Boden gefallen — wie das Schicksal von jedermann.
1.12.1931
Heute habe ich etwas Absurdes und dennoch Richtiges wahrgenommen. Ich habe in einem inneren Blitzstrahl bemerkt, daß ich niemand bin. Niemand, ganz und gar niemand. Als der Blitz aufzuckte, lag dort, wo ich eine Stadt vermutete, eine verlassene Ebene; und das düstere Licht, das mich mir zeigte, enthüllte mir keinen Himmel über ihr. Man hat mir geraubt, sein zu können, bevor noch die Welt war. Wenn ich mich wiederverkörpern mußte, so geschah diese Wiederverkörperung ohne mich, ohne daß ich mich wiederverkörpert hätte. Ich bin die Umgebung einer nicht vorhandenen Ortschaft, der weitschweifige Kommentar zu einem Buch, das nicht geschrieben worden ist. Ich bin niemand, niemand. Ich vermag nicht zu fühlen, vermag nicht zu denken, vermag nicht zu wollen. Ich bin eine Gestalt aus einem noch zu schreibenden Roman, die luftig vorüberweht und sich auflöst, ohne gewesen zu sein, unter den Träumen desjenigen, der mich nicht zu formulieren verstand. Ich denke immer, fühle immer; doch mein Denken enthält keine Gedanken, mein Gefühlsleben keine Gefühle. Ich falle aus der Falltür dort oben durch den ganzen unendlichen Raum hindurch, in einem Sturz ohne Richtung, unendlichfach und leer. Meine Seele ist ein schwarzer Mahlstrom, ein weites Taumeln
rings um die Leere, Bewegung eines endlosen Ozeans rund um ein Loch im Nichts, und in den Gewässern, die eher ein Kreisen als Gewässer sind, treiben die Bilder von allem, was ich auf der Welt gesehen und gehört habe — strudeln Häuser, Gesichter, Bücher, Kisten, Spuren von Musik und Silben von Stimmen in einem düsteren, unauslotbaren Wirbel. Und ich, wahrhaft ich, bin der Mittelpunkt, der dabei nicht vorhanden ist, es sei denn in einer Geometrie des Abgrunds; ich bin das Nichts, um das her diese Bewegung nur um des Kreisens willen kreist, ohne daß dieser Mittelpunkt vorhanden wäre, es sei denn weil ihn der ganze Kreis besitzt. Ich, wahrhaft ich, bin der Brunnen ohne Wände, jedoch so glitschig wie Wände sein können, der Mittelpunkt von allem mit dem Nichts ringsumher. Und er steckt in mir, als ob die Hölle selbst ein Gelächter anstimmte, ohne daß ihn zumindest die Menschheit von Teufeln belachen könnte, der schnatternde Wahnsinn des toten Weltalls, der rollende Kadaver des physischen Raumes, das Ende aller Welten, das schwarz im Winde daherfließt, unförmig und anachronistisch, ohne einen Gott, der ihn geschaffen hätte, ohne ihn selbst, der in der Finsternis der Finsternisse einherrollt, unmöglich, einzigartig, alles. Daß man so etwas denken kann! Daß man so etwas fühlen kann! Meine Mutter starb sehr früh, und ich habe sie nicht kennengelernt . . .
Alles verflüchtigt sich mir. Mein ganzes Leben, meine Erinnerungen, meine Phantasie und was sie enthält, meine Persönlichkeit, alles verflüchtigt sich mir. Ständig fühle ich, daß ich ein anderer war, daß ich als anderer fühlte, daß ich als anderer dachte. Ich wohne einem Schauspiel mit einem anderen Bühnenbild bei. Und wem ich da beiwohne, das bin ich. Zuweilen finde ich in der üblichen Unordnung meiner literarischen Schubladen Papiere, die ich vor zehn, vor fünfzehn oder vielleicht noch mehr Jahren geschrieben habe. Und viele von ihnen kommen mir wie von einem Fremden geschrieben vor; ich
kann mich in ihnen nicht wiedererkennen. Es hat jemanden gegeben, der sie geschrieben hat, und das war ich. Ich habe sie gefühlt, aber das geschah wie in einem anderen Leben, aus dem ich jetzt aufgewacht wäre wie aus einem fremden Traum. Häufig finde ich Dinge, die ich geschrieben habe, als ich noch sehr jung war — Notizen aus meinem siebzehnten, aus meinem zwanzigsten Lebensjahr. Und manche besitzen eine Ausdruckskraft, die ich nicht erinnern kann, in jenem Lebensabschnitt besessen zu haben. Da stehen manche Sätze, manche Satzperioden, die wenige Schritte nach der Pubertät geschrieben wurden und mir als Fabrikat des Menschen, der ich jetzt bin, geprägt von Jahren und Dingen, erscheinen. Ich muß anerkennen, daß ich derselbe bin, der ich war. Und da ich mir einbilde, im Verhältnis zu dem, was ich gewesen bin, einen großen Schritt nach vorn gemacht zu haben, frage ich mich, worin dieser Fortschritt besteht, wenn ich damals derselbe war, der ich heute bin. Darin liegt ein Geheimnis, das mich entwertet und bedrückt. Vor Tagen noch hat mich ein kurzes Schriftstück aus meiner Vergangenheit erschüttert. Ich entsinne mich mit aller Deutlichkeit, daß meine, zumindest relativen Sprachbedenken erst wenige Jahre alt sind. In einer Schublade fand ich ein sehr viel älteres Schriftstück von mir, worin eben dieses Bedenken stark hervorgehoben wurde. Ich konnte mich in meiner Vergangenheit nicht begreifen. Wie bin ich fortgeschritten zu dem, was ich schon war? Wie konnte ich mich heute so erkennen, wie ich mich gestern verkannt habe? Und alles verwirrt sich mir zu einem Labyrinth, worin ich mich mit mir aus mir selber verliere. Ich lasse meine Gedanken schweifen und bin gewiß, daß ich das, was ich schreibe, schon geschrieben habe. Ich erinnere nur. Und frage den, der in mir zu sein vorgibt, ob es nicht im Platonismus der Empfindungen eine andere, uns zugeneigtere Wiedererinnerung gibt, eine andere Rückerinnerung an ein früheres Leben, die nur aus diesem Leben stammt. . . Mein Gott, mein Gott, wem wohne ich bei? Wie viele Leute bin ich? Wer ist ich? Was ist dieser Zwischenraum, der zwischen mir und mir steht?
Abermals habe ich eine Aufzeichnung von mir gefunden, auf Französisch abgefaßt, die schon fünfzehn Jahre zurückliegt. Ich bin nie in Frankreich gewesen, habe nie in der Nähe mit Franzosen Umgang gehabt und bin daher niemals in dieser Sprache so geübt gewesen, daß ich diese Übung hätte verlieren können. Ich lese heute ebensoviel Französisch wie eh und je. Ich bin älter geworden, praktischer im Denken; ich muß Fortschritte gemacht haben. Und jene Aufzeichnung aus meiner fernen Vergangenheit zeigt eine Sicherheit im Gebrauch des Französischen, die ich heutzutage nicht besitze; der Stil ist so flüssig, wie er mir heute in dieser Sprache nicht zu Gebote steht; es gibt da ganze Abschnitte, vollständige Sätze, Formen und Ausdrucksweisen, die eine Sprachbeherrschung unterstreichen, die mir abhanden gekommen ist, ohne daß ich mich erinnern könnte, sie je besessen zu haben. Wie erklärt sich das? Wer ist in mir an meine Stelle getreten? Ich weiß wohl, es ist ein leichtes, eine Theorie vom Verfließen der Dinge und der Seelen zu entwerfen, zu begreifen, daß wir ein innerer Lebenslauf sind, sich vorzustellen, daß wir durch uns selbst hindurchgehen, daß wir viele waren . . . Doch hier liegt etwas anderes vor, nicht der bloße Ablauf der Persönlichkeit zwischen ihren eigenen Ufern; es liegt das andere Absolute vor, ein fremdes Wesen, das mein eigenes gewesen ist. Daß ich mit fortschreitendem Alter Phantasie, Gefühl, einen bestimmten Typus Intelligenz, eine Art zu empfinden verlieren würde — das alles würde mich schmerzen, aber nicht entsetzen. Aber was erlebe ich, wenn ich mich wie einen Fremden lese? An welchem Rande stehe ich, wenn ich mich im tiefen Grunde erblicke? Andere Male wieder finde ich Notizen, die ich mich nicht erinnern kann, geschrieben zu haben — was kaum erstaunlich ist, die ich mich nicht einmal erinnere, geschrieben haben zu können — was mich erschreckt. Gewisse Sätze verraten eine andere Mentalität. Es ist so, als fände ich ein altes Bild, das zweifelsfrei mein eigenes ist, mit andersartigem Körperbau, mit unbekannten Gesichtszügen — und dennoch unleugbar mein eigenes, schreckenerregend ich selber.
Letzten Endes bleibt von diesem Tage das, was vom gestrigen blieb und vom morgigen bleiben wird: die unersättliche und nicht zählbare Begierde, immer derselbe und ein anderer zu sein.
Meine Seele ist ein verborgenes Orchester; ich weiß nicht, welche Instrumente, Geigen und Harfen, Pauken und Trommeln es in mir spielen und dröhnen läßt. Ich kenne mich nur als Symphonie.
2.7.1932
In der strahlenden Vollkommenheit des Tages stockt gleichwohl die durchsonnte Luft. Nicht weil das aufkommende Gewitter, das Unbehagen der wetterempfindlichen Körper, die undeutliche Eintrübung des tiefblauen Himmels Druck ausübten. Eher wegen der fühlbaren Lähmung, wegen der Andeutung von Muße, die leicht wie eine Feder über das Gesicht des Einschlafenden streift. Der Sommer hat seinen Höhepunkt erreicht. Das Landleben lockt sogar diejenigen, die sich nichts aus ihm machen. Wenn ich ein anderer wäre, denke ich bei mir, wäre dies für mich ein glücklicher Tag, denn ich würde ihn spüren, ohne an ihn zu denken. Ich würde mit einer vorweggenommenen Freude meine normale Arbeit beschließen — die Arbeit, die mir alle Tage als eintönig anormal erscheint. Ich würde mich mit Freunden verabreden und die Straßenbahn nach Benfica nehmen. Wir würden bei einem großen Sonnenuntergang in Gemüsegärten zu Abend essen. Unsere Freude würde ein Teil der Landschaft sein und von allen, die uns zu Gesicht bekämen, als der Örtlichkeit angemessen gebilligt werden. Da ich jedoch ich selber bin, genieße ich ein bißchen das bißchen, das mir vorgaukelt, ich sei dieser andere. Jawohl, Er-Ich wird sogleich unter Weinranken oder Bäumen das Doppelte von dem essen, was ich essen kann, das Doppelte von dem trinken, was ich zu trinken wage, das Doppelte von dem lachen, was zu lachen ich mir vorstellen kann. Dann er, jetzt ich. Gewiß, einen Augenblick lang war ich ein anderer: Ich sah, ich erlebte in
jemand anderem die schlichte menschliche Freude, als Lebewesen in Hemdsärmeln zu existieren. Ein großer Tag, der mich so träumen ließ! Blau und erhaben steht er in der Höhe — wie mein ephemerer Traum, ein gesunder Kassierer in irgendwelchen Ferien des endenden Tages zu sein.
14.3.1930
Das Schweigen, das vom rauschenden Regen ausgeht, verbreitet sich in einem Crescendo grauer Monotonie in der engen Straße, auf die ich schaue. Ich schlafe im Wachen und stehe am Fenster, an das ich mich so anlehne wie an alles. Ich suche in mir zu erfahren, was das für Empfindungen sind, die ich bei dem zerfaserten Niederrinnen dunke-lichten Wassers habe, das sich von den schmutzigen Fassaden und mehr noch von den geöffneten Fenstern abhebt. Und ich weiß nicht, was ich fühle, ich weiß nicht, was ich fühlen will, ich weiß nicht, was ich denke, und auch nicht, was ich bin. Die ganze verspätete Bitterkeit meines Lebens legt in meinen blicklosen Augen das Gewand natürlicher Heiterkeit ab, das sie in den verlängerten Zufallen aller Tage trägt. Ich stelle fest, daß ich mich, so oft ich heiter, so oft ich zufrieden bin, doch immer traurig fühle. Und dasjenige, was das in mir feststellt, steht hinter mir, beugt sich gleichsam über mein Anm-Fenster-Lehnen und starrt über meine Schultern und meinen Kopf hinweg, mit innerlicheren Augen als es meine sind, auf den trägen, wellenförmig rinnenden Regen, der die graue schlechte Luft filigranartig in Bewegung setzt. Könnte man doch alle Pflichten stehen und liegen lassen, auch diejenigen, die nichts von uns fordern, jeden heimischen Herd zurückweisen, auch denjenigen, der nicht der unsrige ist, vom Ungenauen und von Spuren leben zwischen großem Wahnsinnspurpur und falschen Spitzenkrausen erträumter Majestäten . . . Etwas sein, was nicht die Last des äußeren Regens fühlt, nicht das Leid der inneren Leere . . . Ohne Seele und Gedanken umherirren, Empfindung ohne sich selbst, über eine Straße, die Berge
umfahrt, über Täler, die zwischen Steilhängen versunken sind, fern und schicksalhaft. . . Sich in gemäldegleichen Landschaften verlieren. Nicht sein in Ferne und Farben . . . Ein leichter Windhauch, den ich hinter dem Fenster nicht spüre, zerteilt das rechtlinige Fallen des Regens in luftiges Ungleichmaß. Ein Teil des Himmels, den ich nicht sehe, hellt sich auf. Ich bemerke das, weil ich hinter den angeschmutzten Scheiben des gegenüberliegenden Fensters dort drinnen bereits undeutlich den Kalender an der Wand erkenne, den ich bisher nicht erkennen konnte. Ich vergesse. Ich sehe nicht, denke nicht. Der Regen hört auf, und von ihm bleibt für einen Augenblick leichter Staub aus winzigen Diamanten übrig, als ob man in der Höhe etwas wie ein großes bläuliches Tischtuch mit solchen Krümeln ausgeschüttelt hätte. Man spürt, daß ein Teil des Himmels schon blau ist. Durch das gegenüberliegende Fenster hindurch erblicke ich mit größerer Deutlichkeit den Kalender. Er zeigt ein Frauengesicht, und der Rest ist leicht zu ergänzen, weil ich ihn wiedererkenne, und die Zahnpasta ist die bekannteste von allen. Doch woran dachte ich, bevor ich mir selber sehend verlorenging? Ich weiß es nicht. Wille? Anstrengung? Leben? Das Licht dringt vor, und man fühlt, daß der Himmel schon fast gänzlich blaut. Doch es herrscht keine Ruhe — ach, es wird sie nie geben — auf dem Grunde meines Herzens, dieses alten Brunnens am Ende des verkauften Landguts, Erinnerung an die mit Staub verschlossene Kindheit auf dem Dachboden eines fremden Hauses. Es herrscht keine Ruhe — und ich habe, weh mir!, nicht einmal das Bedürfnis, sie zu finden . . .
Ich beneide alle Leute darum, nicht ich zu sein. Da mir von allen Unmöglichkeiten diese stets als die allergrößte vorgekommen ist, wurde sie zu meiner täglichen Begierde, zu meiner Verzweiflung in allen traurigen Stunden.
Immer hat mich in den gelegentlichen Stunden der Distanzierung, in denen wir uns unserer selbst in unserem Verhältnis zu den Mitmenschen bewußt werden, die Frage beschäftigt, welche Figur ich körperlich und auch moralisch mache bei denjenigen, die mich tagaus tagein betrachten oder per Zufall mit mir reden. Wir alle sind daran gewöhnt, uns selber vorzugsweise als geistige Wirklichkeit zu betrachten und die anderen als unmittelbare körperliche Wirklichkeiten; nur ganz vage betrachten wir uns als körperliche Wesen mit Auswirkungen auf die Augen unserer Mitmenschen; nur vage betrachten wir auch die Mitmenschen als geistige Wirklichkeit, doch nur in der Liebe oder im Konflikt wird uns wahrhaft deutlich, daß die anderen vor allem Seele besitzen, so wie wir für uns selbst. Deshalb verliere ich mich zuweilen in nichtsnutzigen Überlegungen, zu welcher Art von Leuten mich wohl diejenigen zählen, die mich ansehen, wie meine Stimme klingt, welchen Typus Mensch ich in das unfreiwillige Gedächtnis meiner Mitmenschen eingeprägt hinterlasse, auf welche Weise sich meine Gesten, meine Worte, mein scheinbares Leben in die Netzhäute der fremden Deutung eingravieren. Ich habe es nie vermocht, mich von außen her anzusehen. Es gibt keinen Spiegel, der uns uns selber als äußere Wesen zeigen könnte, weil es keinen Spiegel gibt, der uns aus uns selbst herausziehen könnte. Dazu wäre eine andere Seele, eine andere Ordnung des Schauens und Denkens notwendig. Wenn ich Filmschauspieler wäre oder meine Stimme auf Schallplatten aufnehmen ließe, bin ich dennoch gewiß, daß ich ebenso weit davon entfernt bliebe zu erfahren, was ich für die andere Seite darstelle, denn, ich mag wollen, was immer ich wollen mag, man nehme von mir auf, was immer sich aufnehmen läßt, immer bin ich hier drinnen im Gutshof mit den hohen Mauern meines Bewußtseins von mir selbst. Ich weiß nicht, ob es den anderen nicht auch so geht, ob die Wissenschaft vom Leben nicht wesentlich daraus besteht, sich selber so fremd zu sein, daß man instinktiv eine Entfremdung herstellt und am Leben Anteil nehmen kann als ein dem Bewußtsein Entfremdeter; oder ob die anderen, noch introvertierter als ich, die Grobheit besitzen, nur sie selber zu sein. Sie leben als
äußerliche Wesen dank jenem Wunder, vermittels dessen die Bienen besser organisierte Gesellschaften bilden als irgendeine Nation und die Ameisen sich mit der Sprache ihrer winzigen Antennen verständigen, die in ihren Ergebnissen unsere komplexen Verständigungsschwierigkeiten hinter sich läßt. Die Geographie unseres Bewußtseins zeigt sehr mannigfaltige Küsten und äußerst vielgestaltige Berge und Seen. Und alles wirkt auf mich, wenn ich länger darüber nachdenke, wie eine Art von Landkarte nach Art des »Pays du Tendre« oder der aus »Gullivers Reisen«, eine genaue Spielerei, die in ein ironisches oder phantasievolles Buch aufgenommen wurde zum Gaudium höherer Wesen, denen bekannt ist, wo die Länder wirklich Länder sind. Für den Nachdenklichen ist alles verwickelt, und zweifellos macht es das Denken mit der ihm eigenen Wollust noch verwickelter. Aber ein denkender Mensch hat die Verpflichtung, seine Abdankung mit einem umfassenden Programm des Verstehens zu rechtfertigen, das wie die Argumente der Lügner mit allen überschüssigen Einzelheiten aufwartet, die mit dem Ausheben der Erde die Wurzel der Lüge aufdecken. Alles ist verwickelt, oder ich bin es, der so verwickelt ist. Aber wie dem auch sei, es hat nichts zu bedeuten, weil, wie dem auch sei, nichts etwas zu bedeuten hat. All dies, alle diese von der breiten Straße abweichenden Betrachtungen vegetieren in den Hinterhöfen der ausgeschlossenen Götter wie Kletterpflanzen fern von den Wänden. Und ich muß lächeln in der Nacht, in der ich diese unzusammenhängenden Betrachtungen abschließe, über die Ironie des Lebens, die sie aus einer Menschenseele hervorgehen läßt, einem Waisenkind der großen Gründe des Schicksals vor Anbeginn der Gestirne.
Amiel hat gesagt, eine Landschaft sei ein seelischer Zustand, aber dieser Satz ist wie das schlaffe Glück eines schwächlichen Träumers. Sobald die Landschaft Landschaft ist, hört sie auf, ein seelischer Zustand zu sein. Objektivieren heißt erschaffen, niemand sagt, ein fertiges Gedicht sei ein Zustand, in welchem man daran denke, es zu verfertigen. Sehen heißt vielleicht träumen,
wenn wir es aber sehen statt träumen nennen, so deshalb, weil wir träumen von sehen unterscheiden. Wozu nützen im übrigen diese Spekulationen verbaler Psychologie? Unabhängig von mir wächst das Gras, regnet es auf das wachsende Gras, und die Sonne vergoldet das Gras, das gewachsen ist oder noch wachsen wird, in seiner ganzen Ausdehnung; es erheben sich die Berge seit undenklichen Zeiten, und der Wind weht auf die gleiche Weise vorüber, wie ihn Homer, auch wenn er nicht existiert haben sollte, vernommen hat. Richtiger wäre es zu sagen, ein seelischer Zustand sei eine Landschaft; dieser Satz hätte den Vorteil, nicht die Lüge einer Theorie zu enthalten, sondern nur die Wahrheit einer Metapher. Diese Zufallsworte diktierte mir die große Ausdehnung der Stadt Lissabon, wenn man sie im universellen Licht der Sonne vom hoch gelegenen Säo Pedro de Alcäntara aus betrachtet. Jedesmal wenn ich eine so weite Fläche betrachte und von den 1,70 m Körpergröße und den 61 kg Gewicht absehe, aus denen meine Physis besteht, habe ich ein ausgeprägt metaphysisches Lächeln für diejenigen übrig, die da träumen, daß der Traum Traum sei, und ich Hebe die Wahrheit der absoluten Außenwelt mit der edlen Kraft des Verstandes. Der Tejo im Hintergrund ist ein blauer See, und die Berge auf dem anderen Flußufer sind die einer abgeplatteten Schweiz. Ein kleines Schiff fährt aus — ein schwarzer Frachtdampfer — aus Richtung Poco do Bispo zur Hafenausfahrt, die ich nicht sehen kann. Mögen mir die Götter alle bis zu der Stunde, in der mein Anblick meiner selbst zu Ende geht, die klare, sonnenhafte Auffassung der äußeren Wirklichkeit bewahren, den Instinkt für meine Unwichtigkeit und das Behagen, klein zu sein und ans Glücklichsein denken zu können.
Von dem schwarzen Himmel tief im Süden des Tejos hoben sich die im Gegensatz dazu hellweißen Schwingen der Möwen auf ihrem unruhigen Flug ab. Der Tag jedoch sah nicht mehr nach Gewitter aus. Die gesamte Masse des drohenden Regens war auf die andere Flußseite abgezogen und die Unterstadt, noch von ein
bißchen Regen feucht, lächelte vom Boden bis zum Himmel, dessen nördlicher Teil noch weißbläulich schimmerte. Die Frühlingsfrische strahlte leichte Kühle aus. In einer leeren, unwägbaren Stunde wie dieser gefällt es mir, mein Denken freiwillig zu einer Gedankenkette zu führen, die nichts ist, aber in ihrer nichtigen Klarheit etwas von der einsamen Kühle des heller gewordenen Tages zurückbehält: den schwarzen Hintergrund in der Ferne und gewisse Intuitionen, die im Gegensatz dazu wie Möwen das Geheimnis aller Dinge auf diesem tiefen Schwarz heraufbeschwören. Auf einmal jedoch stellt mir, im Gegensatz zu meiner inneren literarischen Absicht, der schwarze Hintergrund des Himmels im Süden dank einer wahren oder auch falschen Erinnerung einen anderen Himmel vor die Augen, den ich vielleicht in einem anderen Leben erblickt habe, hoch im Norden, mit einem kleineren Fluß, mit traurigem Schilf und ohne jede Stadt. Ohne daß ich wüßte wie, treibt mir eine Landschaft für Wildgänse durch die Phantasie, und mit der Klarheit eines absonderlichen Traumes fühle ich mich dieser eingebildeten Landschaft ganz nahe. Schilf am Ufer von Flüssen, Gelände für Jäger und Ängste, führen unregelmäßige Ufer wie kleine schmutzige Taue in ein gelblich bleifarbenes Wasser und führen wieder in schlammige Buchten für spielzeugähnliche Schiffe, in Flüsse hinein, deren Wasser an der Oberfläche über dem Schlamm zwischen grünschwarzen Schilfbinsen glitzert, zwischen denen kein Gehen möglich ist. Die Trostlosigkeit rührt von einem grauen abgestorbenen Himmel her; hier und dort zerfetzen ihn Wolken, die noch schwärzer sind als die Farbe des Himmels. Ich spüre keinen Wind, aber er ist doch da, und das andere Tejo-Ufer wirkt wie eine lange Insel, hinter der man — großer, verlassener Fluß! — das wahre andere Ufer bemerkt, das umrißlos in der Ferne liegt. Niemand gelangt dorthin, nie wird jemand dorthin gelangen. Selbst wenn ich im Widerspruch zu Zeit und Raum dieser Welt entfliehen und mich auf jene Landschaft zubewegen könnte, würde dort nie jemand ankommen. Vergeblich würde dort warten, was vom eigenen Warten nichts wüßte, und am Ende vollzö-
ge sich nichts anderes als ein langsamer Einbruch des Abends, der den ganzen Raum allmählich mit der Farbe der schwärzesten Wolken erfüllen würde, die nach und nach in der Gesamtheit des abgeschafften Himmels versinken. Und plötzlich spüre ich schon hier die dortige Kälte. Sie berührt meinen Körper, sie steigt aus meinen Knochen auf. Ich atme tief und erwache. Der Mann, der meinen Weg unter der Arkade neben der Börse kreuzt, schaut mich mit dem Mißtrauen eines Menschen an, der nichts zu erklären vermag. Der schwarze Himmel zog sich zusammen und senkte sich noch tiefer auf die Südseite nieder.
24.3.1930
Hingebungsvoll lese ich von neuem — und empfinde sie wie eine Inspiration und eine Befreiung — die einfachen Sätze Caeiros*, die auf das verweisen, was sein kleines Dorf vermag. Von diesem Dorf aus, sagte er, könne man, weil es so klein sei, mehr von der Welt gewahren als von der Stadt aus, und deshalb sei sein Dorf größer als die Stadt. . . . weil ich so groß bin wie das, was ich sehe, nicht so groß wie ich bin. Sätze wie diese, die ohne einen sie diktierenden Willen zu wachsen scheinen, reinigen mich von aller Metaphysik, die ich spontan dem Leben hinzufüge. Nachdem ich sie gelesen habe, trete ich an mein Fenster über der engen Straße, betrachte den großen Himmel und seine zahlreichen Gestirne und fühle mich frei mit einem beflügelnden Glanz, dessen Schwingung in meinem ganzen Leibe nachbebt. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe.« Jedesmal wenn ich diesem Satz mit der gesammelten Aufmerksamkeit meiner Nerven * Fernando Pessoas Heteronym, der »Meister« der übrigen Heteronyme. (A. d. Ü.)
nachsinne, scheint er mir mehr dazu bestimmt, das Weltall mit an seinen Sternen wiederaufzurichten. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe.« Welch große geistige Besitzergreifung von dem Brunnen der tiefen Gefühle bis hin zu den hohen Sternen, die sich in ihm spiegeln und in gewisser Hinsicht dort wirklich sind! Und nun betrachte ich im Bewußtsein, daß ich zu sehen verstehe, die weite objektive Metaphysik aller Himmel mit einer Sicherheit, die mir das Verlangen eingibt, singend zu sterben. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe.« Und der Ungewisse, ganz und gar mir gehörende Mondschein beginnt die halbschwarze Bläue des Horizonts mit seiner Unbestimmtheit zu trüben. Ich habe Lust, die Arme zu heben und Dinge von unbekannter Wildheit herauszuschreien, den hohen Mysterien starke Worte zuzurufen, den großen Räumen der leeren Materie gegenüber eine neue weitgespannte Persönlichkeit zu bestätigen. Doch ich gehe in mich und werde sanft. »Ich bin so groß wie das, was ich sehe.« Dieser Satz verbleibt mir und füllt meine Seele aus; an ihn lehne ich alle Gefühle an, die ich verspüre, und über mich fällt von innen her — wie über die Stadt von außen — der unbeschreibliche Friede des harten Mondlichts, das sich mit der Dämmerung auszubreiten beginnt.
2.7.1931
Nach einer schlecht durchschlafenen Nacht kann uns niemand recht ausstehen. Der verpaßte Schlaf hat etwas von unserer Menschlichkeit mit sich genommen. Eine latente Gereiztheit scheint sogar in der uns umgebenden Luft zu liegen. Letztlich sind wir selbst es, die nicht mit uns einverstanden sind und zwischen uns selbst wird die Diplomatie der geräuschlosen Schlacht ausgetragen. Heute habe ich meine Füße und meine Müdigkeit durch die Straßen geschleppt. Meine Seele ist auf ein verknüpftes Gewebe zusammengeschrumpft, und was ich bin und war, mein Ich, hat seinen Namen vergessen. Sollte ich ein morgen besitzen, so weiß ich nur, daß ich nicht geschlafen habe, und die Konfusion mehre-
rer Zwischenräume legt ein großes Schweigen in meine innere. Rede. Ihr großen Parks der anderen Leute, ihr Gärten für viele Benutzer, ihr wundervollen Alleen derjenigen, die nie Notiz von mir nehmen werden! Ach, ich stagniere zwischen mehreren Nachtwachen wie jemand, der es nie gewagt hat, überflüssig zu sein, und was ich mir überlege, schrickt mit einem abschließenden Traum aus dem Schlaf. Ich bin ein verwaistes, klosterähnliches Haus, von scheuen, verstohlenen Gespenstern in Schatten getaucht. Ich bin immer im Zimmer daneben, oder die Gespenster sind dort, und laut rauschen die Bäume um mich her. Ich streife einher und finde; ich finde, weil ich einherstreife. Meine Kindertage, ihr sogar tragt eine Spielschürze. Und bei alledem gehe ich auf der Straße weiter und bin ganz verschlafen von meinem wie ein Blatt dahintaumelnden Vagabundentum. Irgendein träger Wind hat mich vom Erdboden hochgewirbelt, und ich irre wie das Ende des Abenddämmerns zwischen den Ereignissen der Landschaften einher. Ich möchte gern schlafen, weil ich gehe. Mein Mund ist geschlossen, als geschehe das, damit die Lippen aufeinanderkleben. Mein Umherschlendern ist ein Schiffbruch. Jawohl, ich habe nicht geschlafen, aber so, wenn ich nie geschlafen habe noch schlafe, ist mir richtiger zumute. Ich bin wirklich ich in dieser zufälligen und symbolischen Ewigkeit des halbseelischen Zustands, in dem ich mir Illusionen mache. Der eine oder andere Passant schaut mich an, als kenne er mich und wundere sich über mich. Ich fühle, daß ich sie gleichfalls aus Augenhöhlen anstarre, die ich unter meinen Lidern spüre, und ich will nichts davon wissen, daß es die Welt gibt. Mich schläfert, mich schläfert heftig, schläfert allumfassend. Im leichten Nebel ken die Baixa, die langsam wäre. Es halbe Kühle, und
des Vorfrühlingsmorgens erwacht schlaftrunUnterstadt, und die Sonne geht auf, als ob sie liegt eine beruhigte Freude in der Luft, dazu das Leben erbebt beim leichten Luftzug der
nicht vorhandenen Brise vor einer Kälte, die schon vorüber ist; es erbebt eher in der Erinnerung an die Kälte als wegen der Kälte selber, mehr beim Vergleich mit dem nahen Sommer als im Vergleich zum Wetter von heute. Die Läden sind noch nicht geöffnet außer Milchgeschäften und Cafes, aber die Ruhe stammt nicht wie an Sonntagen von einer Erstarrung, sie stammt nur von der Ruhe her. Eine hellbraune Spur greift sich selbst in der aufklarenden Luft vor, und die Bläue erblaßt durch den feiner werdenden Nebel hindurch. Ein Anflug von Verkehr macht sich auf den Straßen bemerkbar, einzelne Fußgänger heben sich ab, und an den wenigen geöffneten hohen Fenstern zeigen sich gleichfalls morgendliche Erscheinungen. Die Straßenbahnen hinterlassen in der Nebelluft ihre bewegliche, gelbe, mit Zahlen versehene Spur. Und von Minute zu Minute verlieren die Straßen fühlbar ihre Verlassenheit. Ich lasse mich treiben, bin ganz sinnliche Aufmerksamkeit, ohne Gedanken und ohne Gefühl. Ich bin früh aufgewacht; ich bin ohne Vorurteile auf die Straße getreten. Ich schaue alles prüfend an wie ein Grübler. Ich sehe wie einer, der nachdenkt. Und ein leichter Gefühlsnebel erhebt sich absurd in mir; der Nebel, der draußen emporsteigt, scheint langsam in mich einzudringen. Ohne es zu wollen fühle ich, daß ich soeben über mein Leben nachgedacht habe. Ich habe es selbst nicht bemerkt, aber so ist es gewesen. Ich meinte, ich sähe und hörte nur, ich wäre während meines ganzen müßigen Umherschlenderns nur ein Reflektor von vorgegebenen Bildern gewesen, eine weiße spanische Wand, auf welche die Wirklichkeit Farben und Licht anstelle von Schatten projiziert. Aber es war mehr, ohne daß ich es selber gewußt hatte. Es war die sich verleugnende Seele mit im Spiel, und sogar mein abstraktes Beobachten war noch eine Verneinung. Die Luft trübt ein, weil der Nebel fehlt, sie trübt ein mit blassem Licht, mit welchem sich der Nebel gleichsam vermischt hat. Nun auf einmal fällt es mir auf, daß der Lärm viel größer geworden ist, daß viel mehr Leute vorhanden sind. Die Schritte der meisten Passanten sind weniger eilig. Es erscheinen nun, aus der eigenen Abwesenheit und der geringeren Eile der übrigen
hervortretend, die Fischfrauen in ihrem gehenden Laufschritt, die schwankenden Bäcker, Ungeheuer mit Körben, und die unterschiedliche Gleichheit der Verkäuferinnen verliert ihre Eintönigkeit nur im Inhalt der Körbe, deren Farben stärker voneinander abweichen als dieser Inhalt. Die Milchmänner klappern mit den ungleichen Blechkannen ihres ambulanten Berufes wie mit hohlen absurden Schlüsseln . . . Die Polizisten erstarren an den Kreuzungen, ein uniformiertes Dementi der Zivilisation in der unsichtbaren Bewegung des aufziehenden Tages. Ach könnte ich doch, ich fühle es in diesem Augenblick, jemand sein, der dies betrachten könnte, als ob er dazu keine andere Beziehung hätte als die Anschauung — alles betrachten, als ob der erwachsene Reisende heute an die Oberfläche des Lebens gelangt wäre! Von der Geburt an nicht gelernt haben, diesen Dingen allen überkommenen Sinn zu verleihen, sondern sie mit dem Ausdruck zu erleben, den sie abgetrennt von dem Ausdruck besitzen, den man ihnen auferlegt hat. In der Fischfrau ihre menschliche Wirklichkeit erkennen, unabhängig davon, daß man sie eine Fischfrau nennt und weiß, sie ist vorhanden und ist Verkäuferin. Den Polizisten anschauen, wie ihn Gott anschaut. Alles zum ersten Mal wahrnehmen, nicht apokalyptisch als Offenbarungen des Geheimnisses, sondern unmittelbar als Blüte der Wirklichkeit. Jetzt erklingen — es sind wohl acht, aber ich zähle sie nicht — die Schläge einer Glocke oder einer großen Uhr. Ich erwache von mir selber durch das banale Vorhandensein von Stunden, Einschnitten, die das Leben in der Gesellschaft der Fortdauer der Zeit auferlegt, Grenze im Abstrakten, Trennstrich im Unbekannten. Ich erwache von mir selbst und, während ich alles betrachte, nun schon voller Leben und gewohnter Menschlichkeit, bemerke ich, daß der Nebel, der sich vom ganzen Himmel verzogen hat, wahrhaft in meine Seele eingedrungen ist. Gleichzeitig ist er ins Innere aller Dinge eingedrungen, dorthin, wo sie Berührung mit meiner Seele haben. Ich habe die Vision dessen, was ich sah, eingebüßt. Ich bin mit Sehlicht erblindet. Ich fühle schon mit der Banalität des bereits Bekannten. Dies ist jetzt nicht mehr die Wirklichkeit: es ist einfach das Leben.
. . . Jawohl, das Leben, dem auch ich angehöre und das auch mir gehört; nicht mehr die Wirklichkeit, die nur Gott gehört oder sich selbst, die weder Geheimnis noch Wahrheit birgt, die, weil sie real ist oder zu sein vorgibt, irgendwo verfestigt existiert, frei von Zeitlichkeit oder Ewigkeit, absolutes Bild, Idee einer rein äußerlichen Seele. Langsam wende ich die Schritte, rascher als ich glaube, zu dem Portal, durch das ich von neuem nach Hause gehen werde. Doch ich trete nicht ein; ich zögere; ich gehe weiter. Die Praça da Figueira, die Verkaufsstände in verschiedenen Farben ausgähnt, füllt sich mit Käufern und meinen Horizont mit fliegenden Händlern. Ich schreite langsam, wie erstorben, vorwärts, und meine Art zu sehen ist nicht mehr meine eigene, sie ist bereits gar nichts mehr: Es ist nur die Sehweise eines Menschenwesens, das, ohne es zu wollen, die griechische Kultur, die römische Ordnung, die christliche Moral und alle übrigen Illusionen geerbt hat, welche die Zivilisation ausmachen, innerhalb derer ich fühle. Wo mögen die wahrhaft Lebendigen sein? Heute bin ich sehr früh aufgewacht in einer verwirrten plötzlichen Bewegung und habe mich langsam aus dem Bett erhoben, stranguliert von einem unbegreiflichen Überdruß. Kein Traum hatte ihn verursacht, keine Wirklichkeit hätte ihn auslösen können. Es war ein absoluter, vollständiger Überdruß, aber er hatte seinen Grund. In der dunklen Tiefe meiner Seele trugen unsichtbar unbekannte Kräfte eine Schlacht aus, bei der mein Wesen das Schlachtfeld hergab, und ich erbebte ganz von dem unbekannten Zusammenprall. Ein physischer Ekel vor dem ganzen Leben stieg mit meinem Erwachen auf. Ein Entsetzen, leben zu müssen, erhob sich mit mir aus dem Bett. Alles kam mir hohl vor, und ich hatte den kühlen Eindruck, daß es für kein Problem auf der Welt eine Lösung gibt. Eine gewaltige Beunruhigung ließ meine geringfügigsten Gesten erbeben. Ich hatte Angst, in den Wahnsinn zu verfallen, nicht wegen des Wahnsinns, sondern wegen meiner Lage. Mein Herz schlug, als ob es sprechen könnte.
Mit langen falschen Schritten, die ich vergeblich zu anderen zu machen suchte, durchlief ich barfuß die kleine Ausdehnung meines Zimmers und die leere Diagonale des Innenzimmers, dessen Tür an der Ecke zum Korridor liegt. Mit unzusammenhängenden, ungenauen Bewegungen berührte ich die Bürsten auf der Kommode, stellte einen Stuhl um, und einmal schlug ich mit meiner schaukelnden Hand auf das scharfe Eisen am Fuß des englischen Bettes. Ich steckte mir eine Zigarette an, die ich im Unterbewußtsein rauchte und, erst als ich sah, daß Asche auf das Kopfende meines Bettes gefallen war — wie eigentlich, wenn ich mich gar nicht darüber gebeugt hatte? — begriff ich, daß ich besessen war oder etwas Ähnliches dem Sein, wenn auch nicht dem Namen nach, und daß mein Bewußtsein meiner selbst, das ich haben sollte, vom Abgrund unterbrochen worden war. Ich erhielt die Ankündigung des Morgens, das wenige kühle Licht, das ein verschwommenes Weißblau dem sich enthüllenden Horizont mitteilt, wie ein dankbarer Kuß der Dinge. Denn dieses Licht, dieser wahre Tag befreite mich, befreite mich ich weiß nicht wovon, reichte meinen Arm dem unbekannten Alter, streichelte die trügerische Kindheit, stützte die bettlerhafte Ruhe meiner überströmenden Sensibilität. Ach, was ist das für ein Morgen, der mich für die Dummheit des Lebens weckt und für seine große Zärtlichkeit! Fast muß ich weinen, wenn ich vor mir unter mir die alte enge Straße heller werden sehe, wenn die Jalousien des Lebensmittelgeschäfts an der Straßenecke sich schon schmutzig braun im Licht enthüllen, das ein wenig überfließt. Mein Herz spürt die Erleichterung eines Märchens mit wirklichen Feen und beginnt die Sicherheit zu kennen, sich nicht mehr zu fühlen. Welch ein Morgen, dieser Kummer! Und was für Schatten entfernen sich? Welche Geheimnisse tragen sich zu? Nichts: das Kreischen der ersten Elektrischen wie ein Streichholz, das die Dunkelheit der Seele erhellen wird und die lauten Schritte meines ersten Vorübergehenden: Die konkrete Wirklichkeit, die mir mit Freundesstimme sagen möchte, daß ich nicht so sein sollte, wie ich bin.
Der Geruchssinn ist ein eigentümliches Sehvermögen. Er beschwört dank einer plötzlichen Zeichnertätigkeit des Unterbewußten Landschaften des Gefühls herauf. Das habe ich oftmals erlebt. Ich gehe durch eine Straße. Ich sehe nichts oder, besser gesagt, indem ich alles anschaue, sehe ich so wie alle Leute sehen. Ich weiß nicht, daß ich durch eine Straße gehe, und ich weiß nicht, ob sie mit ihren aus verschiedenen Häusern bestehenden und von menschlichen Wesen erbauten Straßenseiten vorhanden ist. Ich gehe durch eine Straße. Aus einer Bäckerei dringt ein Duft nach Brot, so süßlich, daß es mir Ekel einflößt: und meine Kindheit in einem bestimmten, entfernten Stadtviertel ersteht vor mir, und eine andere Bäckerei taucht aus jenem Feenreich auf, das alles bildet, was für uns gestorben ist. Ich gehe durch eine Straße. Auf einmal riecht es nach dem Obst auf dem schräg gestellten Tablett des engen Ladens; und mein kurzes Landleben von irgendwann und irgendwo pflanzt Bäume und Ruhe in mein unstreitig kindliches Herz. Ich gehe durch eine Straße. Es verwirrt mich ein Geruch aus den Kisten des Kistenmachers: da erscheinst du mir, mein Cesärio Verde*, und ich bin endlich glücklich, weil ich mit Hilfe der Erinnerung zu der einzigen Wahrheit zurückgekehrt bin: zur Literatur.
10.4.1930
Ich spüre physischen Ekel vor der ordinären Menschheit, die im übrigen die einzige ist, die es gibt. Und manchmal überkommt mich Lust, diesen Ekel zu vertiefen, so wie man ein Erbrechen hervorrufen kann, um den Brechreiz loszuwerden. Ich liebe es, am frühen Morgen, wenn ich die Banalität des darauffolgenden Tages fürchte wie jemand das Gefängnis fürchtet, vor Öffnung der Läden und Warenhäuser durch die Straßen
* Cesário Verde (185 5 — 1886), Dichter und Kaufmännischer Angestellter, dem Pessoa sich innerlich verbunden fühlte, Sänger der Stadt Lissabon (A. d. Ü.)
zu schlendern und mir die Satzfetzen anzuhören, die Gruppen junger Mädchen und junger Männer untereinander zueinander wie Almosen der Ironie in die unsichtbare Schule meines geöffneten Nachdenkens dringen lassen. Es ist immer die gleiche Abfolge der gleichen Sätze . . . »Und dann hat sie gesagt. . .«, und der Tonfall deutet ihre Intrige an. »Wenn er es nicht gewesen ist, warst du es . . .«, und die antwortende Stimme erhebt sich zu einem Protest, den ich nicht mehr höre. »Das hast du gesagt, jawohl, das hast du gesagt. . .«, und die Stimme der Näherin versichert schrill: »Meine Mutter sagt, sie will das nicht. . .« »Ich?«, und das Staunen des jungen Mannes mit dem in Butterbrotpapier eingewickelten Lunch überzeugt mich nicht und wird wohl auch nicht die schmutzige Blondine überzeugen. »Vielleicht war es doch. . .«, und das Gelächter von dreien der vier Mädchen bedrängt obszön mein Ohr. [. . .] »Und dann habe ich mich vor dem Kerl hingepflanzt und ihm ins Gesicht gesagt, jawohl, ins Gesicht gesagt, . . . «— und der arme Teufel schwindelt, denn sein Bürochef — ich höre es an seiner Stimme, daß sein Kontrahent der Chef des mir unbekannten Büros war — hat die Geste dieses Strohhalm-Gladiators niemals in der Arena unter den Sekretärinnen entgegengenommen. »Und dann bin ich zum Rauchen aufs Klosett gegangen«, lacht der Kleine mit dem dunklen Flicken auf dem Hosenboden. Andere, die allein oder in Gruppen vorbeigehen, sagen gar nichts oder sie reden, und ich höre es nicht, aber alle Stimmen sind mir dank einer intuitiven, zersprungenen Transparenz klar und vernehmlich. Ich wage nicht auszusprechen — ich wage es nicht einmal, es mir selber schriftlich zu sagen, auch wenn ich es gleich anschließend wieder ausstreichen würde, was ich in zufalligen, schmutzigen und durchbohrenden Blicken alles beobachtet habe. Ich wage es nicht, denn, wenn man schon ein Erbrechen herbeiführt, darf man nur eines provozieren. »Der Kerl war so dick, daß er nicht einmal die Treppe sehen konnte.« Ich hebe den Kopf. Dieser junge Bursche kann beschreiben. Und wenn die Leute beschreiben, wirken sie besser als wenn sie fühlen, denn im Beschreiben vergessen sie sich selbst. Mein Ekel schwindet. Ich sehe den Kerl. Ich sehe ihn mit photographi-
scher Klarheit. Sogar der unschuldige Ausdruck aus der Umgangssprache belebt mich. Gesegnete Luft, die meine Stirn streift — ein so dicker Kerl, daß er nicht einmal sehen konnte, daß die Treppe aus Stufen bestand — vielleicht war es die Treppe, auf der die Menschheit emporstolpert, vorwärtstastet und auf der trügerischen Steigung diesseits des Lichtschachts ins Gedränge gerät. Intrigen, üble Nachrede, Angeberei mit dem, was man nicht zu tun gewagt hat, die Zufriedenheit jedes armseligen, bekleideten Tiers mit dem unbewußten(?) Bewußtsein der eigenen Seele, die ungewaschene Sexualität, die Scherze so grob wie Affenkitzeln, die schreckliche Unwissenheit bezüglich der eigenen Unwichtigkeit . . . All das ruft bei mir den Eindruck eines abscheulichen, niederträchtigen Tiers hervor, das in unfreiwilligen Träumen aus den feuchten Brotrinden der Begierden, aus den angebissenen Resten der Empfindungen erschaffen wurde.
Auch wenn ich weiter keine Fähigkeit besäße, so besitze ich doch zumindest die Fähigkeit zur ständigen Erneuerung der befreiten Sinneswahrnehmung. Als ich heute die Rua Nova do Almada hinunterging, fiel mir auf einmal der Rücken des Mannes auf, der sie vor mir hinunterging. Es war der ganz gewöhnliche Rücken irgendeines Mannes, das Jackett eines bescheidenen Anzugs auf dem Rücken eines zufälligen Passanten. Er trug eine alte Aktentasche unter dem Unken Arm und setzte im Rhythmus seines Gangs einen eingerollten Regenschirm, den er am Griff in der rechten Hand trug, auf den Boden auf. Ich spürte plötzlich eine Art von Zärtlichkeit für diesen Menschen. Ich spürte für ihn die Zärtlichkeit, die man für die gesamte gewöhnliche Menschheit empfindet, für das Banal-Alltägliche des Familienoberhauptes, das zur Arbeit geht, für sein schlichtes und fröhliches Heim, für die heiteren und traurigen Vergnügungen, aus denen sein Leben notgedrungen besteht, für die Unschuld eines Lebens ohne Analyse, für die tierische Natürlichkeit dieses bekleideten Rückens. Ich schaute auf den Rücken des Mannes wie auf ein Fenster, durch das hindurch ich diese Gedanken erblickte.
Die Empfindung glich genau derjenigen, die uns vor einem Schlafenden überkommt. Jeder Schläfer wird von neuem zum Kind. Vielleicht weil man im Schlaf nichts Böses tun kann und das Leben nicht bemerkt, ist der größte Verbrecher, der verschlossenste Egoist dank einer natürlichen Magie geheiligt, so lange er schläft. Zwischen dem Mord an einem Schlafenden und dem Mord an einem Kind kenne ich keinen merklichen Unterschied. Nun, der Rücken dieses Mannes schläft. Seine ganze Person, die vor mir mit einem dem meinigen gleichen Schritt einhergeht, schläft. Er geht unbewußt. Er lebt unbewußt. Er schläft, weil wir alle schlafen. Das ganze Leben ist ein Traum. Niemand weiß, was er tut, niemand weiß, was er will, niemand weiß, was er weiß. Wir verschlafen das Leben, ewige Kinder des Schicksals. Deshalb verspüre ich, wenn ich mit diesem Empfinden denke, eine gestaltlos unermeßliche Zärtlichkeit für die ganze kindliche Menschheit, für das ganze schlafende Leben in der Gesellschaft, für alle, für alles. Eine unmittelbare Verbundenheit mit der Menschheit ohne Schlußfolgerungen und ohne Absichten überfallt mich in diesem Augenblick. Ich ertrage eine Zärtlichkeit, als könne ein Gott sehen. Ich sehe sie alle mit dem Mitgefühl des einzig Bewußten an, die armen Teufel, die Menschen, den armen Teufel Menschheit. Was hat all das hier zu suchen? Alle Regungen und Absichten des Lebens, vom einfachen Leben der Lungen bis zum Bau von Städten und der Grenzziehung von Imperien betrachte ich als eine Schlafbefangenheit, als Dinge wie Träume oder Ruhelagen, die unfreiwillig im Zwischenraum zwischen der einen Wirklichkeit und einer anderen, zwischen einem Tag und einem anderen Tag des Absoluten verbracht werden. Und wie voller abstrakter Mütterlichkeit beuge ich mich des Nachts über die bösen wie über die guten Kinder, die gleich geworden sind im Schlaf, in dem sie mir gehören. Ich verspüre Rührung in der vollen Breite der Unendlichkeit. Ich wende die Augen vom Rücken des Mannes vor mir ab und schaue all die übrigen an, die auf dieser Straße einhergehen; alle umfasse ich hellwach mit der gleichen absurden, kalten Zärtlichkeit, die vom Rücken des unbewußten Mannes, hinter dem ich
herschreite, auf mich zukam. Dies alles ist dasselbe wie er; all diese Mädchen, die für ihr Atelier reden, diese jungen Angestellten, die für ihr Büro lachen, diese vollbusigen Dienstmädchen, die mit ihren schweren Einkäufen nach Hause gehen, diese Lastträger — das alles ist die gleiche Unbewußtheit, mannigfaltig dank unterschiedlichen Gesichtern und Körpern, wie Marionetten, an Drähten gezogen, die zu den gleichen Fingern in der Hand eines Unsichtbaren führen. Sie ziehen mit allen Gebarungen vorüber, mit denen sich das Bewußtsein bestimmt, und haben kein Bewußtsein von irgend etwas, weil ihnen nicht bewußt ist, daß sie ein Bewußtsein besitzen. Die einen intelligent, die anderen dumm, sind sie alle gleichermaßen dumm. Die einen alt, die anderen jung, gehören sie doch der gleichen Altersgruppe an. Die einen Männer, die anderen Frauen, gehören sie zum gleichen Geschlecht, das nicht existiert.
Er sang mit samtweicher Stimme ein Lied aus einem fernen Land. Die Musik ließ die unbekannten Worte vertraut erscheinen. Es wirkte wie ein Fado* auf die Seele, hatte aber keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Mit seinen verhüllten Worten und seiner menschlichen Melodie sprach das Lied Dinge aus, die in der Seele aller Menschen liegen und die keiner kennt. Er sang in einer Art Schlafbefangenheit, sein Blick ging über die Zuhörer hinweg, in einer kleinen StraßenEkstase. Das versammelte Volk hörte ihm ohne auffallende Spötteleien zu. Das Lied sprach alle Menschen an, und seine Worte redeten bisweilen mit uns, orientalisches Geheimnis irgendeiner untergegangenen Rasse. Der Stadtlärm war nicht mehr vorhanden, wenn wir ihm zuhörten, und die Fuhrwerke rasselten so nahe vorbei, daß eines von ihnen mein geöffnetes Jackett streifte. Doch ich fühlte das Lied und hörte es nicht. Es lag eine Saugkraft in dem Gesang des Unbekannten, die dem, was in uns träumt oder * Volkstümliche Liedgattung der alten Stadtviertel Lissabons und der Studenten von Coimbra (A. d. Ü.).
scheitert, wohltat. Es war ein Vorkommnis auf der Straße, und wir bemerkten alle, daß der Polizist langsam um die Ecke bog. Mit der gleichen Langsamkeit kam er näher. Er blieb eine Zeit lang hinter dem jungen Mann mit den Regenschirmen stehen wie jemand, der etwas gesehen hat. In diesem Moment hielt der Sänger inne. Niemand sprach ein Wort. Da griff der Polizist ein.
Drei aufeinander folgende Hitzetage ohne Stille, latentes Unwetter im Unwohlsein der allgemeinen Ruhe, führten, weil das Gewitter anderswohin abzog, eine leichte, laue und willkommene Frische an die hellglänzende Oberfläche der Dinge. So spürt bisweilen im Ablauf dieses Lebens die Seele, die gelitten hat, weil das Leben auf ihr lastete, plötzlich Erleichterung, ohne daß in ihr etwas vorgefallen wäre, was das erklären könnte. Ich meine, wir sind Klimazonen, über denen Gewitterdrohungen schweben, die anderswo Wirklichkeit werden. Die leere Unermeßlichkeit der Dinge, das große Vergessen im Himmel und auf Erden . . .
15.9.1931
Wolken . . . Heute erlebe ich den Himmel mit Bewußtsein, es gibt nämlich Tage, an denen ich ihn nicht anschaue, sondern höchstens fühle, weil ich in der Stadt lebe und nicht in der Natur, die sie einschließt. Wolken . . . Sie sind heute für mich die Hauptsache der Wirklichkeit und beschäftigen mich so, als ob das Überwachen des Himmels eine der großen Sorgen meines Schicksals sei. Wolken . . . Sie ziehen von der Hafeneinfahrt hinüber zur Burg, von Westen nach Osten, in zerstreutem, nacktem Tumult. Zuweilen erscheinen sie weiß, wenn sie zerfetzt die Vorhut von etwas Unbekanntem bilden; andere sind halbschwarz, wenn es länger dauert, bis sie der hörbare Wind hinwegfegt. Dunkel und schmutzigweiß sind sie, wenn sie bei ihrer Ankunft schwarz einfärben, was die Straßen an falschem Raum zwischen den Linien des Häusermeers öffnen.
Wolken . . . Ich existiere, ohne daß ich es wüßte, und werde sterben, ohne daß ich es wollte. Ich bin der Zwischenraum zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nicht bin, zwischen dem, was ich träume, und dem, was das Leben aus mir gemacht hat, der abstrakte und leibliche Mittelwert zwischen Dingen, die nichts sind, da ich ebenfalls nichts bin. Wolken . . . Welche Unruhe, wenn ich fühle, welches Unbehagen, wenn ich denke, welche Nutzlosigkeit, wenn ich will? Wolken . . . Sie ziehen immer vorbei, einige riesengroß Und es sieht so aus, als nähmen sie den ganzen Himmel ein, weil die Häuser nicht erkennen lassen, ob sie wohl weniger groß sind als sie scheinen; andere von unbestimmter Größe, dabei können es zwei zusammen sein oder auch eine, die sich in zwei aufteilt; Wolken . . . Sinnlos heben sie sich vom ermüdeten Himmel ab; wieder andere, kleine wirken wie Spielzeuge Mächtiger, wie unregelmäßige Kugeln eines absurden Spiels, nur nach der einen Seite hin stark isoliert und kalt. Wolken . . . Ich befrage mich und verkenne mich. Was ich getan habe, das war unnütz, und was ich tun werde, läßt sich nicht rechtfertigen. Ich habe den Teil des Lebens, den ich nicht verloren habe, vertan, indem ich auf wirre Weise ein Nichts ausdeutete, indem ich Verse in Prosa aus den unübertragbaren mache, mit denen ich mir das unbekannte Universum aneigne. Ich habe mich satt, objektiv gesehen und subjektiv. Ich habe alles satt, und alles mit allem satt. Wolken . . . Sie sind alles, Verwüstungen der Höhe und heute ganz allein wirklich zwischen der nichtigen Erde und dem nicht existierenden Himmel; nicht zu beschreibende Fetzen des Überdrusses, den ich in sie hineinlege; zu Drohungen abwesender Farbe verdichteter Nebel; schmutzige Wattebäusche aus einem wandlosen Krankenhaus. Wolken . . . Sie sind wie ich, ein zerstörter Übergang zwischen Himmel und Erde, der einem unsichtbaren Antrieb nachfolgt, gewittrig oder auch nicht; ihr Weiß erfreut, ihr Schwarz verdunkelt, sie sind Fiktionen des Zwischenraums und der Wegabweichung, fern vom Getöse der Erde und doch ohne die Stille des Himmels. Wolken... Sie ziehen noch immer vorbei, ziehen ständig vorbei und werden ständig vorbeiziehen; unstet rollen sie dunkle Gewebe aus und ein und bilden die weitschweifige Ausuferung eines falschen zerstörten Himmels.
Regen Schließlich zieht über der Dunkelheit der naßglänzenden Dächer das kühle Licht des lauen Morgens wie eine Plage der Apokalypse auf. Es ist abermals die unermeßliche Nacht der zunehmenden Helligkeit. Es ist abermals das Entsetzen von eh und je — der Tag, das Leben, die trügerische Nützlichkeit, die heillose Tätigkeit. Es ist abermals meine leibliche, sichtbare, in der Gesellschaft lebende Person, übertragbar durch Worte, die nichts besagen, benutzbar dank den Gesten der anderen Menschen und ihrem fremden Bewußtsein. Ich bin es abermals, so wie ich nicht bin. Mit der beginnenden Lichtfinsternis, die mit grauen Zweifeln die Spalten der Fensterläden ausfüllt — wie wenig dicht sind sie doch, mein Gott! — spüre ich nun, daß ich meine Zuflucht, im Bett zu liegen, nicht länger behaupten kann, daß ich nicht schlafen kann, wo ich doch schlafen und vor mich hinträumen könnte, ohne zu wissen, ob es die Wahrheit oder die Wirklichkeit gibt, zwischen der frischen Wärme sauberer Wäsche und der, vom Komfort abgesehen, nicht gespürten Existenz meines Körpers. Ich spüre nun, wie die glückliche Unbewußtheit, mit der ich mein Bewußtsein genieße, und die tierische Schlaftrunkenheit weichen, mit der ich aus Katzenlidern in die Sonne blinzele nach den logischen Regungen meiner abgetrennten Einbildungskraft. Ich fühle nun, wie die Privilegien des Halbschattens und die langsamen Flüsse unter den Bäumen der undeutlich wahrgenommenen Wimpern, das Rauschen der verlorenen Kaskaden zwischen dem langsamen Pulsieren des Blutes in meinen Ohren und dem undeutlichen Anhalten des Regens für mich versinken. Ich werde mich sogar als Lebender verlieren. Ich weiß nicht, ob ich schlafe oder ob ich nur fühle, daß ich schlafe. Ich träume nicht von diesem sicheren Zwischenzustand, sondern ich achte, als erwachte ich aus einem nicht geschlafenen Schlaf, auf die ersten Geräusche des Stadtlebens, das wie eine Meeresflut aus dem undeutlichen Brunnen dort unten auftaucht, wo die von Gott geschaffenen Straßen liegen. Es sind heitere Geräusche, filtriert durch die Traurigkeit des Regens, der niedergeht oder vielleicht schon niedergegangen ist — denn im Augen-
blick höre ich ihn nicht mehr . . . — ich bemerke nur noch das übermäßige Grau des bis in die Ferne gespaltenen Lichts, das auf mich in den Schatten einer matten Helligkeit fallt; sie genügt nicht für den Morgen, von dem ich nicht weiß, wie weit er schon fortgeschritten ist. Es sind heitere, verstreute Geräusche, und sie schmerzen mich im Herzen, als riefen sie mich mit sich zu einer Prüfung oder einer Exekution. Jeden Tag, wenn ich vom Bett aus, wo ich von gar nichts weiß, den Morgen heraufziehen höre, erscheint er mir als Tag eines großen Ereignisses für mich, dem ich keinen Mut haben werden, gegenüberzutreten. Jeden Tag, wenn ich fühle, wie er sich von der Lagerstatt der Schatten erhebt, während die Bettwäsche durch Straßen und Gassen fällt, kommt er und ruft mich vor ein Tribunal. Ich werde abgeurteilt in jedem Heute. Und der ewige Verurteilte in mir krallt sich an das Bett wie an die Mutter, die er verloren hat, und streichelt das Kopfkissen, als ob ihn die Kinderamme vor den anderen Menschen beschützen könnte. Glücklich die Siesta des großen Tiers im Schatten von Bäumen, die frische Müdigkeit des Zerlumpten im hohen Gras, die schwarze Erstarrung im lauen und fernen Tag, die Wonne des Gähnens, das auf den matten Augen lastet, alles, was das Vergessen streichelt und einschläfert, die erholsame Ruhe im Kopf, welche nach und nach die Fensterläden der Seele anlehnt, die namenlose Liebkosung des Schlafens. Schlafen und fern sein, ohne es zu wissen, ausgestreckt liegen, mit dem eigenen Körper vergessen; die Freiheit besitzen, unbewußt zu sein, in der Zuflucht des vergessenen Sees, der zwischen belaubten Bäumen in der Weite der Wälder ruht. Ein Nichts, das atmet, ein leichter Tod, aus dem man frisch und sehnsuchtsvoll erwacht, ein Nachgeben der Gewebe der Seele gegenüber der Gewandung des Vergessens. Ach, und von neuem höre ich, wie den erneuten Protest von jemandem, der sich nicht überzeugen ließ, den Regen jäh auf das heller gewordene Weltall niederrauschen. Ich spüre bis ins Mark hinein eine Kälte, als ob ich Angst empfände. Und geduckt und nichtig, menschlich mit mir allein in der geringen Dunkelheit, die mir noch übrigbleibt, weine ich, ja, ich weine, ich weine vor
Einsamkeit und Leben, und meine nichtige Trübsal liegt wie ein Wagen ohne Räder am Rande der Wirklichkeit zwischen dem Unrat der Verlassenheit. Ich weine über alles, den Verlust des Mutterschoßes, den Tod der Hand, die man mir reichte, die Arme, von denen ich nicht wußte, wie sie mich umfangen sollten, die Schulter, an die ich mich nie lehnen konnte . . . Und der Tag, der endgültig anbricht, die Trübsal, die in mir aufsteigt wie die rohe Wahrheit des Tages, was ich träumte, was ich dachte, was ich in mir vergaß — all das vermischt sich zu einem Amalgam aus Schatten, Fiktionen und Gewissensbissen auf der Spur, auf welcher die Welten rollen, und fällt unter die Dinge des Lebens wie der Stiel einer Weintraube, die an der Straßenecke von den Jungen gegessen wird, die sie gestohlen haben. Das Geräusch des menschlichen Tages nimmt mit einem Mal zu wie ein Klingelton. Innerhalb des Hauses öffnet sich sanft das Schloß der ersten Tür(?). Ich vernehme Pantoffeln auf einem absurden Korridor, der zu meinem Herzen führt. Und mit einer jähen Geste, wie jemand, der endlich Selbstmord begeht, kuschele ich meinen harten Leib in die Bettwäsche, die mir Schutz verleiht. Ich bin aufgewacht. Der Regen rauscht immer noch in der verschwommenen Außenwelt nieder. Ich fühle mich glücklicher. Ich habe etwas erfüllt, was ich nicht kenne. Ich erhebe mich, trete ans Fenster und öffne die Läden mit einem mutigen Entschluß. Draußen leuchtet ein Tag mit hellem Regen, der meine Augen in trübem Licht erstickt. Ich öffne die Innenfenster. Frische Luft befeuchtet meine heiße Haut. Es regnet, jawohl, aber obwohl es dasselbe ist, ist es im Grunde so viel weniger! Ich will mich erfrischen, ich will leben und halte dem Leben meinen Hals hin, als wäre es ein gewaltiges Ochsenjoch.
Zufallstagebuch Alle Tage mißhandelt mich die Materie. Meine Sensibilität ist eine Flamme im Winde. Ich gehe durch eine Straße und lese in den Gesichtern der Vorbeigehenden nicht den Ausdruck, den sie wirklich zeigen,
sondern den Ausdruck, mit dem sie mich anschauen würden, wenn sie mein Leben kennten, wenn sie wüßten, wie ich bin, wenn ich durchsichtig in meinen Gesten und auf meinem Gesicht die lächerliche, schüchterne Anormalität meiner Seele zur Schau trüge. In Augen, die mich nicht anschauen, vermute ich Spötteleien, die ich als selbstverständlich betrachte, Spötteleien über die unfeine Ausnahme, die ich unter lauter handelnden und genießenden Leuten darstelle; und aus dem lediglich vermuteten Hintergrund vorbeigehender Physiognomien lacht über die kleinmütige Gebarung meines Lebens ein Bewußtsein dieses meines Lebens, das ich nur unterstelle und hineindeute. Umsonst suche ich mich, nachdem ich dies gedacht habe, davon zu überzeugen, daß die Vermutung der Spötterei und leisen Beschimpfung von mir und nur von mir herrührt und ausstrahlt. Ich bin nicht mehr imstande, das Bild meiner Lächerlichkeit zu mir zurückzurufen, nachdem es einmal in den Mitmenschen Gestalt angenommen hat. Ich fühle mich auf einmal ersticken und zaudern in einem Glashaus aus Spott und Feindseligkeiten. Es steinigen mich mit heiterem und verachtungsvollem Gespött alle, die an mir vorübergehen. Ich wandere unter feindseligen Gespenstern, die meine krankhafte Phantasie erdacht und in wirklichen Menschen verkörpert hat. Alles ohrfeigt mich und verhöhnt mich. Und manchmal halte ich mitten auf der Straße inne — letztlich unbeobachtet — und zögere und suche gleichsam nach einer jähen neuen Dimension, einer Tür ins Innere des Raumes, hinüber auf die andere Seite des Raumes, wo ich ohne Verzug vor meinem Bewußtsein von den anderen die Flucht ergreifen könnte, vor meiner allzu vergegenständlichten Intuition von der Wirklichkeit der lebendigen fremden Seelen. Sollte es meine Gewohnheit sein, mich in die Seele anderer Menschen hineinzuversetzen, die mich dazu bringt, mich so anzuschauen, wie mich die anderen Menschen anschauen oder doch anschauen würden, wenn sie auf mich achtgäben? Gewiß. Und habe ich erst einmal begriffen, wie sie mir gegenüber eingestellt wären, wenn sie mich kennen würden,so ist es, als wären sie mir gegenüber wirklich so eingestellt und brächten dies in jedem Augenblick auch zum Ausdruck. Mit den Mitmenschen zusammenzuleben ist eine Folter für mich. Und ich habe die Mitmen-
sehen in mir. Selbst von ihnen entfernt bin ich zum Zusammenleben mit ihnen gezwungen. In meiner Einsamkeit umschließen mich Menschenmengen. Ich habe keinen Ort, wohin ich fliehen könnte, es sei denn, ich flüchtete vor mir selber. Ihr hohen Berge in der Dämmerstunde, ihr im Mondlicht verengten Straßen, hätte ich nur eure Unbewußtheit [. . .], eure stoffliche Geistigkeit ohne Urteilsvermögen, ohne Sensibilität, ohne Platz für Gefühle oder Gedanken oder geistige Beunruhigung! Ihr Bäume, die ihr nichts als Bäume seid, mit eurem für die Augen so angenehmen Grün steht ihr ganz außerhalb meiner Sorgen und meiner Leiden, tröstlich für meine Ängste, weil ihr keine Augen habt, mit denen ihr sie anblicken könntet und keine Seele, die im Durch-diese-Augen-Sehen diese Ängste nicht begreifen und deshalb verspotten könnte! Ihr Steine am Wegrand, abgehackte Baumstämme, bloße namenlose Erde vom Boden von überall, mir verschwistert, weil eure Fühllosigkeit für meine Seele eine Zärtlichkeit und eine Erholung ist ...(?) in der Sonne oder unter dem Mond meiner Mutter Erde, die du so innig meine Mutter bist, weil du an mir nicht einmal Kritik üben kannst, wie das meine leibliche Mutter kann, weil du keine Seele hast, mit der du mich, ohne daran zu denken, analysieren könntest, keine raschen Blicke, die Gedanken von mir verraten könnten, die du dir nicht einmal selber eingestanden hättest. Gewaltiges Meer, mein lärmender Kindheitsgefährte, das mich ausruhen läßt und einwiegt, weil deine Stimme nicht menschlich ist und nicht eines Tages mit leiser Stimme menschlichen Ohren meine Schwächen und meine Unvollkommenheiten zitieren kann. Weiter Himmel, blauer Himmel, Himmel nahe dem Geheimnis der Engel (?), du schaust mich nicht mit grünen Augen an; wenn du die Sonne an deine Brust steckst, tust du das nicht, um mich anzulocken, und wenn du dich mit Sternen (bestirnst), so steckst du sie nicht auf, um mich zu verachten . . . Unermeßlicher Friede der Natur, die mütterlich ist, weil sie nichts von mir weiß; entfernte Ruhe (?), in deinem Nichts-von-mir-wissen-Können so brüderlich . . . Ich wollte zu eurer Einheit und zu eurer Stille beten, als Zeichen der Dankbarkeit, die in uns aufsteigt, weil wir ohne Verdacht und Zweifel lieben können; ich möchte gern eurem Nicht-hÖren-
Können Ohren schenken, eurer erhabenen (?) Augen leihen und vermittels dieser vermuteten Augen und Ohren Gegenstand eurer Aufmerksamkeit werden, getröstet durch die bloße Tatsache, daß ich eurem Nichts gegenwärtig bin, aufmerksam wie bei einem endgültigen Tod für das Ferne, ohne Hoffnung auf ein anderes Leben, jenseits eines Gottes und der Möglichkeit von Wesen(?), wollüstig alt und von der geistigen Farbe aller Materien gezeichnet.
21.4.1930
Es gibt Wahrnehmungen, die wie ein Schlaf sind, die wie ein Nebel unseren gesamten Geist besetzt halten, uns nicht denken, nicht handeln, nicht auf klare Weise sein lassen. Als ob wir nicht geschlafen hätten, lebt in uns etwas Traumhaftes weiter, und eine erstarrte Tagessonne wärmt die stockende Oberfläche der Sinne auf. Es ist wie eine Trunkenheit des Nichtseins, und unser Wille ist ein im Vorgarten geleerter Eimer, den ein träger Fuß im Vorbeigehen umgestoßen hat. Man schaut wohl, aber man sieht nicht. Die lange, von bekleideten Menschenwesen belebte Straße wirkt wie ein liegendes Schild, dessen Lettern sich bewegen und keinen Sinn ergeben. Die Häuser sind nur Häuser. Man verliert die Möglichkeit, dem, was man erblickt, einen Sinn zu geben, aber man sieht freilich wohl, was da ist. Die Hammerschläge an der Tür des Kistenmachers erschallen mit naher Befremdlichkeit. Sie erschallen deutlich getrennt, jeder einzelne mit seinem Echo und ohne Nutzen. Die Geräusche der Fuhrwerke hören sich an wie an Tagen, an denen ein Gewitter aufkommt. Die Stimmen dringen aus der Luft her, nicht aus Kehlen. Im Hintergrund vergilbt aschenfarbig der Fluß. Man fühlt keinen Überdruß. Man fühlt keinen Kummer. Man fühlt ein Verlangen, als andere Persönlichkeit einzuschlafen, zu vergessen und dabei seine Niederlage glimpflicher zu gestalten. Man fühlt nichts, automatisch stampfen unsere Beine in ihren Schuhen in unfreiwilligem Marsch auf dem Boden auf. Vielleicht
fühlt man nicht einmal das. Rings um die Augen, wie Finger in den Ohren, drückt etwas von innen gegen den Kopf. Es macht sich etwas wie ein seelischer Schnupfen bemerkbar. Und mit dem literarischen Bild, krank zu sein, entsteht der Wunsch, das Leben möge eine Genesung ohne Gehbewegungen sein; und der Gedanke an Rekonvaleszenz beschwört die Gutshöfe in der Umgebung der Stadt herauf, aber ihr Inneres, wo der heimische Herd steht, fern von der Straße und ihren Wagenrädern. Jawohl, man fühlt nichts. Man geht bewußt an der Tür vorbei, in die man eintreten müßte, man geht wie im Schlaf und vermag seinem Körper keine andere Richtung aufzuzwingen. Man geht an allem vorüber. Was ist mit dem Tamburin, stehengebliebener Tanzbär? Leicht wie etwas, was anheben möchte, schwebte der Meeresgeruch der Brise über dem Tejo und breitete sich schmutzig über Teile der Unterstadt aus. Es roch auf widrige Weise frisch in der kalten Starre des lauen Meeres. Ich spürte das Leben im Magen, und der Geruchssinn rückte mir hinter die Augen. Hoch oben ruhten im Nichts spärlich wirbelnde Wolken in einem Grau, das in ein falsches Weiß überging. Die Atmosphäre ähnelte der Drohung eines feigen Himmels, der eines unhörbaren Gewitters, das nur aus Luft bestand. Etwas Stagnierendes lag sogar im Fluge der Möwen; sie wirkten leichter als die Luft, als habe sie irgendjemand darin zurückgelassen. Es war gar nicht stickig. Der Abend brach in unsere Unruhe hinein; die Luft erfrischte dann und wann. Arme Hoffnungen, die ich hegte, hervorgewachsen aus dem Leben, das ich bis heute leben mußte! Sie sind wie diese Stunde und diese Luft, wie Nebelschwaden ohne Nebel, zerbrochene Entwürfe eines falschen Sturms. Ich habe Lust herauszuschreien, um der Landschaft und diesem Grübeln ein Ende zu machen. Aber in meiner Absicht hängt Meeresgeruch, und meine innere Ebbe ließ das modrige Schwarz hervortreten, das dort draußen ist und das ich nur mit dem Geruchssinn sehen kann. Wie inkonsequent ist es, daß ich mir selbst genügen will! Wie sarkastisch ist dieses Bewußtsein mutmaßlicher Empfindungen! Wie verstrickt ist die Seele mit den Empfindungen, sind die Gedan-
ken mit der Luft und dem Fluß, um zum Ausdruck zu bringen, daß mich das Leben im Geruchssinn und im Bewußtsein schmerzt, um nicht den einfachen, umfassenden Satz aus dem Buch Hiob nachzusprechen: »Meiner Seele ekelt ob meines Lebens!«
Seit die letzten Regenwolken nach Süden abgezogen sind und nur der Wind zurückblieb, der sie weggefegt hat, ist die Heiterkeit der sicheren Sonne zu den Hügeln der Stadt zurückgekehrt und viel weiße Wäsche aufgetaucht, die auf straff gespannten Leinen vor den hohen Fenstern der bunten Mietshäuser hängt und flattert. Auch mich hat Zufriedenheit überkommen, weil ich am Leben bin. Ich ging aus dem Hause mit einem großen Ziel, nämlich rechtzeitig ins Büro zu kommen. Doch heute hat sich der dem Leben innewohnende Zwang mit dem anderen wohltätigen Zwang verbunden, der die Sonne zu den im Almanach vorgesehenen Zeiten je nach Längen- und Breitengrad der Örtlichkeiten der Erde scheinen läßt. Ich fühlte mich glücklich, weil ich mich nicht unglücklich fühlen konnte. Ich ging gelassen die Straße hinunter und war voller Gewißheit, denn schließlich waren das mir bekannte Büro und die Leute in diesem Büro ebenfalls Gewißheiten. Es ist nicht erstaunlich, daß ich mich frei fühle, ohne zu wissen wovon. In den Körben am Rande der Bürgersteige der Rua da Prata erstrahlten die zum Verkauf ausliegenden Bananen in einem großen Gelb. Ich gebe mich im Grunde mit wenigem zufrieden: Mit der Tatsache, daß der Regen aufgehört hat, daß in diesem glücklichen Süden prächtig die Sonne scheint, daß die Bananen gelber aussehen, weil sie schwarze Flecken haben, daß Leute sie verkaufen, weil sie reden können, mit den Bürgersteigen der Rua da Prata, dem Tejo im Hintergrund, dem grünlichen Blau, das in Gold übergeht, mit diesem ganzen heimatlichen Winkel im System des Universums. Der Tag wird kommen, wo ich dies alles nicht mehr sehen kann, an welchem mich die Bananen am Rand des Bürgersteiges überleben werden, dazu auch die Stimmen der gewitzten Verkäuferinnen und die Tageszeitungen, die der Junge nebeneinander an
der Ecke des gegenüberliegenden Bürgersteigs ausgebreitet hat. Ich weiß wohl, daß die Bananen andere, die Verkäuferinnen gleichfalls andere sein, und auch die Zeitungen demjenigen, der sich nach ihnen bückt, um sie sich anzusehen, ein anderes Datum als das heutige darbieten werden. Doch sie dauern fort, weil sie nicht leben, auch wenn es andere sind; ich gehe vorüber, weil ich lebe, obgleich ich derselbe bin. Könnte ich doch diese Stunden feierlich gestalten, indem ich Bananen kaufe, denn es kommt mir so vor, als sammle sich die gesamte Sonne des Tages in ihnen wie ein Scheinwerfer ohne Apparat. Doch ich schäme mich vor den Ritualen, vor den Symbolen, vor Einkäufen auf der Straße. Man könnte mir die Bananen nicht gut verpacken, sie mir nicht verkaufen, wie sie verkauft werden sollten, weil ich sie nicht zu kaufen verstehe, wie sie gekauft werden müßten. Man könnte sich über meine Stimme wundern, wenn ich mich nach dem Preis erkundige. Schreiben ist besser als das Wagnis zu leben, auch wenn leben nichts anderes heißen sollte als Bananen im Sonnenschein kaufen, solange die Sonne scheint und Bananen zum Verkauf ausliegen. Später vielleicht. . . Jawohl, später . . . Vielleicht ein anderer . . . Ich weiß nicht. . .
20.7.1930
Wenn ich viele Träume schlafe, gehe ich mit offenen Augen auf die Straße, noch auf ihrer Spur und in ihrer Sicherheit. Und ich staune über meinen Automatismus, dank welchem die Mitmenschen mich verkennen. Denn ich durchquere das Alltagsleben, ohne die Hand der Sternen-Amme loszulassen, und meine Schritte auf der Straße fallen und hallen zusammen mit dunklen Absichten der Schlafphantasie. Und auf der Straße gehe ich sicher; ich schwanke nicht; ich antworte richtig; ich existiere. Aber wenn sich ein Zwischenraum ergibt und ich nicht meinen Gang überwachen muß, um Fahrzeugen auszuweichen oder Fußgängern nicht in die Arme zu laufen, wenn ich mit niemandem reden muß und mich auch nicht das Eintreten in eine nahe Tür
bedrückt, setze ich mich von neuem auf den Gewässern des Traumes aus wie ein spitz gefaltetes Papierschiffchen und kehre erneut zu der erloschenen Illusion zurück, die mir das vage Bewußtsein von diesem Morgen erwärmt hatte, der mit dem Knarren der Gemüsekarren aufzog. Und dann, mitten im vollen Leben, hat der Traum große Filmvorstellungen zu bieten. Ich gehe eine unwirkliche Straße der unteren Stadt, der Baixa, hinunter, und die Wirklichkeit der Lebenden, die nicht sind, bindet mir zärtlich einen weißen Lappen falscher Rückerinnerungen um den Kopf. Ich bin ein Seemann im Verkennen meiner selbst. Ich habe überall gesiegt, wo ich nie gewesen bin. Und wie eine neue Brise wirkt diese Schläfrigkeit, mit der ich gehen kann, nach vorn gebeugt auf einem Marsch in Richtung Unmöglichkeit. Jeder hat seinen Alkohol. Ich finde genügend Alkohol im Existieren. Betrunken von Selbst-Gefühl schweife ich umher und gehe richtig. Wenn es an der Zeit ist, finde ich mich wie irgendein anderer im Büro ein. Wenn es nicht an der Zeit ist, gehe ich zum Fluß und betrachte wie irgendein anderer den Fluß. Ich bin der gleiche geblieben. Und über alledem, mein eigener Himmel, bestirne ich mich insgeheim und habe meine Unendlichkeit.
31.5.1932
Nicht auf den breiten Feldern oder in den großen Gärten sehe ich den Frühling anbrechen. Sondern auf den wenigen armseligen Bäumen eines kleinen städtischen Platzes. Dort hebt sich das Grün ab wie ein Geschenk und ist heiter wie eine rechte Traurigkeit. Ich liebe diese einsamen Plätze, die sich zwischen Straßen mit geringem Verkehr schieben und selbst noch verkehrsärmer als diese Straßen sind. Es sind nutzlose Lichtungen, Dinge im Zustand der Erwartungen, zwischen fernen Tumulten. Sie sind Dorf in der Stadt. Ich überquere sie, steige irgendeine der Nachbarstraßen empor und dann gehe ich diese Straße wieder hinunter, um zu dem Platz
zurückzukehren. Von der anderen Seite aus betrachtet ist er ein anderer, doch der gleiche Friede vergoldet mit plötzlicher Sehnsucht — Sonne im Untergang — die Seite, die ich bei meiner Ankunft nicht beachtet hatte. Alles ist unnütz, und ich empfinde es auch so. Was ich erlebt habe, ist mir entfallen, als ob ich es ganz zerstreut angehört hätte. Was ich sein werde, kommt mir nicht in den Sinn, so als ob ich es erlebt und wieder vergessen hätte. Ein Sonnenuntergang aus leichtem Schmerz schwebt verschwommen um mich her. Alles kühlt ab, nicht weil es kühler würde, sondern weil ich in eine enge Straße eingebogen bin und der Platz hinter mir liegt.
Es gibt ruhiges Landleben in der Stadt. Es gibt Augenblicke, vor allem zur Mittagszeit im Sommer, zu denen das Land wie ein Windstoß in dieses lichterfüllte Lissabon eindringt. Und sogar hier in der Rua dos Douradores lernen wir den guten Schlaf kennen. Wie gut tut es der Seele, unter einer stillen hohen Sonne diese strohbeladenen Fuhrwerke, diese noch zu verpackenden Kisten, diese langsamen Passanten eines in die Stadt versetzten Dorfes schweigen zu sehen! Ich selber, der sie vom Fenster des Büros aus anschaut, in dem ich ganz allein bin, bin übersiedelt: Ich bin auf einmal in einer stillen Ortschaft in der Provinz, ich erstarre in einem unbekannten Dörfchen und, weil ich mich anders fühle, bin ich glücklich. Ich weiß wohl: Wenn ich die Augen hebe, erstehen vor mir die schmutzigen Linien des Häusermeers, die säuberungsbedürftigen Fenster aller Büros der Unterstadt, die sinnlosen Fenster der höchsten Etagen, wo noch Leute wohnen und ganz oben an den Ecken der Dachfenster die ewige Wäsche zwischen Blumentöpfen und Pflanzen in der Sonne hängt. Ich weiß das, aber so sanft ist das d Licht, das all dies vergoldet, so ohne Sinn die stille Luft, die mich einhüllt, daß ich nicht einmal einen visuellen Grund habe,
um von meinem trügerischen Dorf abzusehen, von meiner Ortschaft in der Provinz, wo der Handel ein Ausruhen ist. Ich weiß, ich weiß . . . Zwar stimmt es schon, daß es die Stunde des Mittagessens oder der Entspannung oder der Pause ist. Alles geht gut auf der Oberfläche des Lebens. Ich selber schlafe, auch wenn ich mich über die Veranda lehne, als wäre sie die Reling eines Schiffes über einer neuen Landschaft. Ich selber grüble nicht einmal, als ob ich in der Provinz sei. Und auf einmal taucht etwas anderes auf, hüllt mich ein und befehligt mich: Ich sehe hinter dem Mittag der Ortschaft das gesamte Leben in der ganzen Ortschaft; ich sehe das große stupide Glück des Familienlebens, das große stupide Glück des Lebens auf dem Lande, das große stupide Glück der Ruhe inmitten von Schmutz. Ich sehe, weil ich sehe. Aber ich habe nicht gesehen und wache auf. Ich schaue umher, lächle und klopfe zuerst einmal den gesammelten Staub der Verandabrüstung, die niemand gesäubert hat, von den Ellenbogen meines leider dunklen Anzugs und ignoriere bewußt, daß sie eines Tages, wenn auch nur für einen Augenblick, die Reling ohne möglichen Staub von einem Schiff sein könnte, das zu einem unendlichen Tourismus aussegelt.
An den langen Sommerabenden liebe ich die Stille der Unterstadt, und ich liebe sie dort um so mehr, wo sie im allergrößten Gegensatz zum lärmenden Tagesgewühl steht. Die Rua do Arsenal, die Rua da Alfandega, die Verlängerung der traurigen Straßen, die sich ostwärts des Zollgebäudes erstrecken, die unterbrochene Linie der ruhigen Kais — all das stärkt mich in Traurigkeit, wenn ich mich an solchen Abenden in ihre Einsamkeit eingliedere. Ich erlebe dann eine weit zurückliegende Epoche; ich genieße es, mich als Zeitgenosse Cesärio Verdes zu fühlen, und in mir finde ich zwar nicht die gleichen Verse wie die seinigen, wohl aber die Substanz seiner Dichtung. Bis die Nacht einbricht, begleitet mich ein Lebensgefühl durch diese Straßen, das ihnen ähnlich ist. Über Tage sind sie erfüllt von einem Lärm, der nichts besagen will; bei Nacht sind sie erfüllt von einem Mangel an Lärm, der auch nichts besagen will. Bei Tage
bin ich eine Null, bei Nacht bin ich ich selber. Es besteht kein Unterschied zwischen mir und den Straßen in der Umgebung des Zollgebäudes, einmal abgesehen davon, daß sie Straßen sind und ich Seele, was möglicherweise angesichts des Wesens der Dinge nichts besagen will. Es gibt ein gleiches, weil abstraktes Schicksal für die Menschen und für die Dinge — eine gleichermaßen gleichgültige Bezeichnung in der Algebra des Geheimnisses. Doch es gibt noch etwas anderes . . . In diesen langsamen leeren Stunden steigt die Traurigkeit des gesamten Seins aus meiner Seele in meinen Geist auf, eine Verbitterung darüber, daß alles gleichzeitig meine Empfindung und ein äußerliches Ding ist, das zu verändern nicht in meiner Macht steht. Ach, wie oft erheben sich sogar meine Träume in Dingen, nicht um mir die Wirklichkeit zu ersetzen, sondern um mir ihre Gleichberechtigung zu bekunden: ich will sie nicht, sie tauchen von außen her auf wie die Elektrische, die am äußersten Ende der Straße um die Kurve biegt oder die Stimme des nächtlichen Ausrufers, die sich als arabischer Singsang wie ein plötzlicher Fontänenstrahl von der Eintönigkeit der Abenddämmerung abhebt. Aus: So/uçäo Editora, Nr. 2 und 4, 1929
16. und 17.10.1931
Ja, es ist der Sonnenuntergang. Gemächlich und zerstreut gelange ich ans Ende der Rua da Alfändega, und als mir der große Platz am Flußufer, der Terreiro do Paço, entgegenleuchtet, erblicke ich deutlich die Sonnenlosigkeit des Himmels im Westen. Dieser Himmel ist bläulich und spielt vom Grünlichen ins Hellgraue hinüber; auf der linken Seite über den Bergen des anderen TejoUfers duckt sich bräunlicher Nebel, der wie totes Rosa gefärbt ist. Kühl verteilt in der abstrakten Herbstluft liegt ein tiefer Friede, den ich selber nicht spüre. Ich leide, weil ich ihn nicht spüre, unter dem vagen Vergnügen der Annahme, daß es ihn gibt. Doch in Wirklichkeit herrscht da weder Friede noch Friedlosigkeit: Da ist nur Himmel, Himmel aus lauter schwindenden Farben — weißli-
ches Blau, noch bläuliches Grün, verschwommene ferne Farbtöne von Wolken, die keine Wolken sind, gelblich eingedunkelt von verklingendem Fleischrot. Dies alles bietet einen Anblick, der im gleichen Augenblick verlischt, in dem man ihn vor sich hat, eine Pause zwischen dem Nichts und einem zweiten, beflügelt, weitschweifig und unbestimmt in der Höhe aufgestellt, Schattierungen aus Himmel und Traurigkeit. Ich fühle und ich vergesse. Das Sehnen aller Menschen nach allem dringt in mich ein wie ein Opium der kühlen Luft. In mir herrscht eine Ekstase des Schauens, sie ist verinnerlicht und doch von außen herbeigeführt. Zur Flußmündung hin, wo sich das Sonnenlicht mehr und mehr seinem Ende zuneigt, erlischt es in fahlem Weiß, das sich mit kühlem Grün blau einfärbt. In der Luft steht die Starre von alledem, was man niemals erreicht. Hoch schweigt die Landschaft des Himmels. In dieser Stunde, in der ich ganz überströmend fühle, möchte ich die volle Bosheit der Rede besitzen, die freie Laune eines Stils zum Schicksal haben. Doch nein, nur der hohe Himmel ist alles; er ist fern und hebt sich selbst auf, und das Gefühl, das mich durchströmt und so viele verworrene Gefühle vereinigt, ist nur der Widerschein dieses nichtigen Himmels auf einem in mir ruhenden See, einem zwischen starren Felsen eingeschlossenen See; er schweigt mit dem Blick eines Toten, und selbstvergessen betrachtet sich in ihm die Höhe. So oft, so oft, wie jetzt, hat es mich belastet, zu fühlen, daß ich fühle — angstvolles Fühlen, nur weil es ein Fühlen ist, Beunruhigung über mein Hiersein, Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, Sonnenuntergang aller Gefühle, mein Vergilben zur grauen Traurigkeit in meinem äußerlichen Bewußtsein meiner selbst. Ach, wer rettet mich vor dem Existieren? Ich will nicht den Tod und auch nicht das Leben: Ich will das andere, das auf dem Grunde meines Verlangens glitzert wie ein möglicher Diamant in einer Höhle, zu der man nicht hinabsteigen kann. Es ist das ganze Gewicht und das ganze Leid dieses wirklichen und unmöglichen Weltalls, dieses Himmels, der aussieht wie die Standarte eines unbekannten Heeres, dieser Farbschattierungen, die in der trüge-
tischen Luft allmählich verblassen, aus der nun die imaginäre Sichel des zunehmenden Mondesaufsteigt, erstarrt in elektrischer Helligkeit, herausgeschnitten aus Ferne und Fühllosigkeit. Die Absenz eines wahren Gottes ist der leere Leichnam des hohen Himmels und der verschlossenen Seele. Unendlicher Kerker — weil du unendlich bist, kann man dir nicht entfliehen!
5.2.1930
Es sind nicht die schäbigen Wände meines ganz gewöhnlichen Zimmers, nicht die alten Schreibtische des fremden Büros, nicht die ärmlichen Nebenstraßen der mir durch und durch vertrauten Unterstadt, die ich so oft durchlaufen habe, daß sie mir schon die Festigkeit des Unveränderlichen angenommen zu haben scheinen — nicht sie lassen Ekel in meinem Geist aufkommen, wie er ihn angesichts der besudelnden Alltäglichkeit des Lebens so häufig befällt. Es sind die Menschen, die mich üblicherweise umgeben, es sind die Seelen, die mich nicht kennen und dennoch Tag um Tag mit ihrem Umgang und ihrer Redeweise zu kennen vorgeben — sie legen mir den Speichelknoten physischer Übelkeit in die Kehle des Geistes. Es ist die eintönige Gemeinheit ihres Lebens, dem äußerlichen Ablauf des meinigen parallel, es ist ihr inneres Bewußtsein, meinesgleichen zu sein, das mich in die Zwangsjacke steckt, das mich in die Zuchthauszelle sperrt, mich apokryph und zum Bettler macht. Es gibt Momente, in denen mich jede Einzelheit des Gewöhnlichen in der ihm eigenen Existenz fesselt und ich alledem die Zuneigung entgegenbringe, alles recht deutlich lesen zu wollen. Dann erblicke ich — wie Vieira sagte, daß es Sousa* beschrieben hätte — das Durchschnittliche in seiner Einmaligkeit und bin Dichter mit jener Seele, mit welcher die Kritik der Griechen das objektive Zeitalter der Dichtung herausgebildet hat. Doch es gibt auch Augenblicke — und einer von ihnen ist dieser, der mich jetzt eben bedrückt —, in denen ich mich selbst mehr fühle als die * Bruder Luiz de Sousa (ca. 1555 —1632), geschätzter Biograph.
äußeren Dinge und sich mir alles in eine Nacht aus Schlamm und Regen verwandelt, verloren in der Einsamkeit eines Bahnhofs auf dem platten Land zwischen zwei Zügen mit Dritter-KlasseWagen. Jawohl, meine innere Tugend, häufig objektiv zu sein und mich so davon abzuhalten, an mich zu denken, kennt wie alle Tugenden und sogar alle Laster Phasen des Niedergangs. Dann frage ich mich selbst, wie es möglich ist, daß ich mich überleben kann, wie es möglich ist, daß ich die Feigheit zu haben wage, hier unter diesen Leuten zu sein, ihnen vollkommen gleichgestellt, mit den Müll-Illusionen, die sie alle hegen, vollkommen abgefunden. Mit dem Glanz eines fernen Leuchtturms fallen mir dann alle Lösungen ein, in denen die Phantasie ein Weib ist: Selbstmord, Flucht, Verzicht, die großen Gebärden aristokratischer Individualitäten, Mantel und Degen von Existenzen ohne Balkon. Doch die ideale Julia der besseren Wirklichkeit hat dem fiktiven Romeo meines Blutes das hohe Fenster des literarischen Interviews vor der Nase zugeschlagen. Sie gehorcht ihrem Vater; er gehorcht seinem Vater. Der Streit der Montagues und der Capulets geht weiter; über dem Nichtgeschehenen fällt der Vorhang, und ich ziehe mich nach Hause zurück — in jenes Zimmer, worin die nicht vorhandene Hausfrau so schmuddelig ist wie die Kinder, die ich nur selten zu Gesicht bekomme, und die Leute aus meinem Büro, die ich erst morgen wiedersehen werde — den Jackenkragen des kaufmännischen Angestellten über den Hals des Dichters hochgeschlagen, der seine Stiefel immer im gleichen Geschäft einkauft, dabei unbewußt den Pfützen des kalten Regens ausweicht und ständig von der Sorge geplagt wird, seinen Regenschirm und die Würde der Seele zu Hause vergessen zu haben.
27.6.1930
Das Leben ist für uns das, was wir in ihm wahrnehmen. Für den Bauern, dessen eigenes Land sein ein und alles ist, ist dieses Land ein Imperium. Für den Cäsar, dessen Imperium ihm noch zu wenig ist, ist dieses Imperium ein Feld. Der Arme besitzt ein
Imperium; der Große besitzt ein Feld. In Wahrheit besitzen wir nur unsere eigenen Wahrnehmungen; auf sie und nicht auf was sie sehen, müssen wir demnach die Wirklichkeit unseres Lebens gründen. Das sage ich in einer bestimmten Absicht. Ich habe viel geträumt. Ich bin es müde, geträumt zu haben, freilich nicht müde zu träumen. Des Träumens wird niemand müde, denn träumen heißt vergessen, und vergessen bedrückt nicht und ist ein Schlaf ohne Träume, in dem wir wach sind. In Träumen habe ich alles erreicht. Ich bin freilich aufgewacht, aber was macht das schon aus? Wie viele Cäsaren bin ich gewesen! Und wie schäbig haben sich die Ruhmgekrönten betragen! Cäsar, durch die Großmut eines Piraten vom Tode errettet, ließ diesen Piraten kreuzigen, sobald er ihn nach erfolgreicher Jagd in seine Gewalt gebracht hatte. Als Napoleon auf St. Helena sein Testament machte, setzte er einem Verbrecher, der versucht hatte, Wellington zu ermorden, ein Legat aus. O Größe, wie gleichst du der Seelengröße der schielenden Nachbarin! O große Männer für die Köchin einer anderen Welt! Wie viele Cäsaren bin ich gewesen und träume ich noch immer zu sein! Wie viele Cäsaren bin ich gewesen, aber freilich keine wirklichen! Ich war wahrhaft kaiserlich, während ich träumte, und deshalb war ich nie irgend etwas. Meine Heere wurden geschlagen, aber die Niederlage war eine matte Sache, und niemand ist dabei ums Leben gekommen. Ich habe keine Fahnen eingebüßt. Ich habe nicht so stark geträumt, daß ein Heer hätte auftreten können, worin sie hätten flattern können vor meinem Blick, in dessen Traum eine Wandecke aufscheint. Wie viele Cäsaren war ich hier in der Rua dos Douradores! Und die Cäsaren, die ich war, leben noch immer weiter in meiner Phantasie; aber die Cäsaren, die gewesen sind, sind tot, und die Rua dos Douradores, das heißt die Wirklichkeit, kann sie nicht kennen. Ich werfe die Streichholzschachtel, die leer ist, in den Abgrund der Straße, über die Brüstung meines hohen balkonlosen Fensters. Ich erhebe mich von meinem Stuhl und lausche. Deutlich schlägt die leere Streichholzschachtel, als hätte sie etwas zu bedeuten, auf der Straße auf, die sich mir verlassen darbietet. Ein weiteres
Geräusch ist nicht vorhanden, nur die Geräusche der ganzen Stadt. Jawohl, die einer ganzen sonntäglichen Stadt — viele, ohne daß man sie vernehmen könnte, und mit allen hat es seine Richtigkeit. Auf wie wenig stützen sich in der Welt meine besten Überlegungen! Daß ich zu spät zum Mittagessen gekommen bin, daß mir die Streichhölzer ausgegangen sind, daß ich als Einzelner die Schachtel mißlaunig auf die Straße geworfen habe, weil ich nicht zur gewohnten Zeit gegessen habe, daß der Sonntag die luftige Verheißung eines schlimmen Sonnenuntergangs ist, daß ich auf dieser Welt ein Niemand bin, und dazu die ganze Metaphysik. Aber wie viele Cäsaren bin ich gewesen!
Ich denke oft daran, wie es mit wohl ergehen würde, wenn ich, vor dem Wind des Schicksals durch die spanische Wand des Reichtums geschützt, nie an der moralischen Hand meines Onkels in ein Lissaboner Büro gekommen und von ihm aus nie zu anderen aufgestiegen wäre, auf diesen billigen Gipfel eines guten Hilfsbuchhalters mit einer Arbeit, sicher wie eine Siesta, und mit einem Gehalt, das für den Lebensunterhalt ausreicht. Ich weiß wohl, wenn diese Vergangenheit, die nicht war, gewesen wäre, würde ich heute nicht imstande sein, diese Seiten niederzuschreiben, die jedenfalls zum Teil besser sind als die NichtSeiten, die ich unter besseren Umständen nur mehr erträumt hätte. Die Banalität ist nämlich eine Art von Intelligenz und die Wirklichkeit, vor allem wenn sie töricht oder bitter ist, eine natürliche Ergänzung der Seele. Ich verdanke meinem Buchhalterdasein einen Großteil dessen, was ich fühlen und denken kann, als Verneinung meines Jobs und Flucht vor ihm. Wenn ich auf dem buchstabenlosen Platz der Antwort auf eine Umfrage eintragen sollte, welchen Einflüssen mein Geist seine Bildung verdankt, würde ich den punktierten Raum mit dem Namen Cesärio Verdes eröffnen, aber ich würde ihn nicht abschließen, ohne in ihn die Namen von Chef Vasques, Buchhalter Moreira, Kassierer Vieira und Bürodiener Antonio einzutragen.
Und ihnen allen würde ich in Großbuchstaben die Anschrift: LISSABON hinzufügen. Wenn ich es recht bedenke, waren Cesário Verde und sie für mein Weltbild die Koeffizienten der Korrektur. Ich glaube, das ist der Satz, dessen genauen Sinn ich begreiflicherweise nicht kenne, mit dem die Ingenieure die Behandlung bezeichnen, die man der Mathematik zuteil werden läßt, damit sie bis in das Leben hineinreicht. Wenn es so ist, so ist es so gewesen. Wenn es nicht so ist, möge es für das hingehen, was es sein könnte, und die Absicht möge Geltung behalten trotz der verfehlten Metapher. Wenn ich außerdem mit der mir zu Gebote stehenden Klarheit das betrachte, was mein Leben dem Anschein nach gewesen ist, so sehe ich es als etwas Buntes — als Konfektverpackung oder Zigarrenbauchbinde — unter den Brotkrusten der eigentlichen Wirklichkeit; der leichte Kehrbesen des von oben zuhörenden Dienstmädchens fegte es vom Tischtuch, das für den Kehrbesen der Brosamen angehoben werden mußte. Es hebt sich von den Dingen ab, denen dank einem Privileg, das gleichfalls dem Kehrblech zum Opfer fallt, das gleiche Schicksal winkt. Und das Gespräch der Götter geht oberhalb dieses Kehrvorgangs weiter, gleichgültig gegenüber solchen Zwischenfällen in der Tagesarbeit der Welt. Gewiß, wenn ich reich, beschützt, gebürstet und dekorativ gewesen wäre, so wäre ich nicht einmal diese kurze Episode hübsch anzusehenden Papiers unter Brosamen gewesen; ich wäre auf dem Teller des Schicksals liegengeblieben — »nein, danke« — und in die Anrichte zurückgestellt worden, wo ich vor mich hin altern konnte. So aber, weggeworfen, nachdem man das brauchbare Mark aus mir herausgesogen hat, verschwinde ich samt dem Staube dessen, was vom Leibe Christi übrigblieb, im Mülleimer und kann mir nicht einmal vorstellen, was nun folgen wird und unter welchen Gestirnen; aber immerhin geht es überhaupt weiter.
Zwischen dem Häusermeer zieht mit Einblendungen von Licht und Schatten — besser gesagt, von Licht und weniger Licht —
der Morgen über der Stadt auf. Es sieht so aus, als rühre es nicht von der Sonne, sondern von der Stadt her, als löse sich das Licht von den hohen Mauern und Dächern ab — nicht physisch von ihnen, sondern weil sie eben dort sind. Ich spüre, indem ich das wahrnehme, eine große Hoffnung, aber ich räume ein, daß diese Hoffnung literarischer Natur ist. Morgen, Frühling, Hoffnung — sind in der Musik durch die gleiche melodische Absicht verbunden, sind in der Seele durch die gleiche Erinnerung an eine gleiche Absicht verbunden. Nein: Beobachte ich mich selbst, wie ich die Stadt beobachte, so erkenne ich, daß ich nur zu hoffen habe, daß dieser Tag zu Ende gehen möge wie alle Tage. Meine Vernunft sieht auch die Morgenröte an. Die Hoffnung, die ich auf sie setzte, war, falls sie vorhanden gewesen sein sollte, nicht meine eigene: Es war die Hoffnung der Menschen, die die vorüberziehende Stunde erleben und deren äußerliches Verständnis ich, ohne es zu wollen, in diesem Augenblick verkörperte. Hoffen? Was sollte ich schon erhoffen? Der Tag verspricht mir nicht mehr als den Tag, und ich weiß, er nimmt seinen Verlauf und nimmt sein Ende. Das Licht belebt sich, aber es bessert meine Lage nicht, denn ich gehe von hier fort, wie ich hierhergekommen bin — um Stunden älter, eine Wahrnehmung heiterer, einen Gedanken trauriger. In allem, was entsteht, können wir ebensogut das Entstehende fühlen wie das Absterbende. Jetzt, im weiten hohen Licht wirkt die Stadtlandschaft wie ein Häusermeer — naturhaft, ausgedehnt und verbunden. Aber werde ich im Anblick all dieser Dinge vergessen können, daß ich existiere? Mein Bewußtsein von der Stadt ist im Innersten mein Bewußtsein von mir selbst. Ich entsinne mich plötzlich an die Kindheit, als ich den Morgen über der Stadt aufgehen sah, wie ich ihn heute nicht sehen kann. Damals ging er nicht für mich auf, sondern für das Leben, denn damals war ich, da ich nicht bewußt lebte, das Leben. Ich sah den Morgen an und freute mich; heute sehe ich den Morgen an und freue mich und werde traurig. Das Kind ist geblieben, aber es ist verstummt. Ich sehe noch immer, wie ich gesehen habe, aber hinter den Augen sehe ich mich sehen; und allein dadurch verdunkelt sich mir die Sonne, und das Grün der Bäume altert und die
Blumen welken, bevor sie noch aufgeblüht sind. Ja, früher einmal war ich hier zu Hause; heute kehre ich zu jeder Landschaft, auch wenn sie neu für mich ist, als Fremdling zurück, Gast und Pilger ihrer Darstellung, ein Fremder bei dem, was ich sehe und höre, alt von mir selbst. Ich habe schon alles gesehen, auch wenn ich es niemals gesehen habe und auch wenn ich es niemals zu Gesichte bekommen werde. In meinem Blut strömt selbst die geringste der künftigen Landschaften, und die Angst vor dem, was ich an Neuem anschauen muß, ist für mich eine vorweggenommene Monotonie. Und über die Brüstung gelehnt und den Tag genießend, erfüllt nur ein einziger Gedanke im mannigfaltigen Raum über der Stadt meine Seele — der innere Wille zu sterben, zu enden, nicht mehr das Licht über irgendeiner Stadt zu erblicken, nicht zu denken, nicht zu fühlen, den Lauf der Sonne und der Tage wie Einwickelpapier hinter mir zurückzulassen und wie einen schweren Anzug neben dem großen Bett die unfreiwillige Anstrengung des Daseins abzulegen.
Als heute jene alte Angst, die manchmal überfließen will, mein Körpergefühl bedrückte, konnte ich in dem Restaurant oder Gasthaus, auf dessen Zwischengeschoß ich den Fortbestand meiner Existenz begründe, nicht ordentlich essen und auch nicht wie üblich trinken. Als der Ober bei meinem Fortgehen bemerkte, daß ich die Weinflasche nur halb geleert hatte, drehte er sich zu mir um und sagte: »Bis bald, Herr Soares, ich wünsche Ihnen gute Besserung!« Beim Trompetenstoß dieses einfachen Satzes wurde es in meiner Seele so leicht, als hätte plötzlich der Wind von einem Wolkenhimmel die Wolken weggeblasen. Und da erkannte ich, was ich nie zuvor so klar erkannt hatte, daß mir die Café- und Restaurant-Kellner, die Friseure und die Dienstmänner an den Straßenecken spontane Sympathie entgegenbringen, die ich mich nicht rühmen kann, von denen zu erhalten, die mit mir auf dem unzutreffenderweise so genannten vertrauten Fuße stehen. Die Brüderlichkeit hat ihre Feinheiten.
Manche regieren die Welt, andere sind die Welt. Zwischen einem amerikanischen Millionär, der sein Vermögen in England oder in der Schweiz angelegt hat, und einem sozialistischen Dorfbürgermeister gibt es keinen Unterschied in der Qualität, sondern höchstens in der Quantität. Unterhalb (?) solcher Leute stehen wir, die Gestaltlosen, der ständig unter Zeitdruck arbeitende Dramatiker William Shakespeare, der Schulmeister John Müton, der vagabundierende Dante Alighieri, der Dienstmann, der mir gestern eine Nachricht zustellte, oder der Friseur, der mir Anekdoten erzählt, und der Kellner, der mir brüderlicherweise gute Besserung wünscht, weil ich meinen Wein nur zur Hälfte ausgetrunken habe. 1.2.1931
Nach all den Regentagen nimmt der Himmel erneut die Bläue, die er versteckt gehalten hatte, in die großen Räume seiner Höhe auf. Zwischen den Straßen, auf denen Pfützen schlafen wie Sümpfe auf dem Feld, und der klaren Heiterkeit, die in der Höhe Kühle verbreitet, klafft ein Gegensatz, der die schmutzigen Straßen angenehm und den winterlich niedrigen Himmel frühlingshaft erscheinen läßt. Es ist Sonntag, und ich habe nichts zu tun. Selbst das Träumen lockt mich nicht, so schön ist der Tag. Ich genieße ihn mit einer Aufrichtigkeit der Sinne, der sich die Intelligenz anschließt. Ich gehe spazieren wie ein befreiter Kassierer. Ich fühle mich alt, nur um das Vergnügen auszukosten, einen Verjüngungsvorgang zu erleben. Auf dem großen sonntäglichen Platz liegt die feierliche Bewegung einer anderen Art von Tag. In der Kirche von Santo Domingo ist soeben eine Messe zu Ende gegangen, und eine weitere wird beginnen. Ich sehe Leute herauskommen und andere wartend herumstehen und Leute erwarten, die nicht darauf achten, wer da herauskommt. All diese Dinge sind unwichtig. Sie sind wie alles im normalen Leben ein Schlaf der Geheimnisse und der Zinnen, und ich schaue von hier aus zu, wie ein Herold auf die Ebene meiner Meditation gelangt.
Früher einmal als Kind besuchte ich die gleiche Messe oder möglicherweise eine andere, aber es muß wohl doch diese sein. Ich zog pflichtschuldigst meinen einzigen besseren Anzug an und genoß alles — sogar das, was ich eigentlich keinen Grund hatte zu genießen. Ich lebte von außen her, und mein Anzug war sauber und neu. Was kann einer mehr verlangen, der sterben muß und es nicht weiß an der Hand seiner Mutter? Früher einmal habe ich das alles genossen, und deshalb verstehe ich vielleicht erst jetzt, wie sehr ich es genossen habe. Ich ging in die Messe wie in ein großes Geheimnis und trat aus der Messe wie auf eine Lichtung. Und so war es wirklich, und so ist es wahrhaftig immer noch. Nur ein Wesen, das nicht mehr glauben kann und erwachsen ist, und eine Seele, die sich daran erinnert und weint, sind Fiktion und Verstörung, sind Verwirrung und kalte Fliesen. Jawohl, was ich bin, wäre unerträglich, wenn ich mich nicht an das erinnern könnte, was ich einmal war. Und diese fremde Menschenmenge, die immer noch aus der Messe strömt, und der Anfang der möglichen Menschenmenge, die eben einzutreffen beginnt, um in die nächste hineinzugehen — sie sind wie Schiffe, die auf mir, dem trägen Fluß, unter den geöffneten Fenstern meines über den Ufern aufragenden Heims entlangfahren. Erinnerungen, Sonntage, Messen, Freude, gewesen zu sein, Wunder der Zeit, die zurückblieb, weil sie vorbeigegangen ist und nie in Vergessenheit geraten kann, weil sie mir gehört hat. . . Absurde Diagonale wahrscheinlicher Sinneswahrnehmungen, plötzliches Geräusch eines Mietwagens, dessen Räder im geräuschvollen Schweigen der Autos quietschen. Irgendwie besteht sie dank einem mütterlichen Paradox der Zeit heute hier fort zwischen dem, was ich bin, und dem was ich verlor, im früher gewesenen Blick dessen, der ich bin . . . Was weiß ich? Was suche ich? Was fühle ich? Was würde ich erbitten, wenn ich bitten müßte?
4.11.1931
Wer einen Katalog von Ungeheuern herstellen wollte, brauchte nur in Worten jene Dinge zu photographieren, die die Nacht schläfrigen Seelen zuträgt, die nicht einschlafen können. Diese Dinge sind zusammenhanglos wie Träume ohne die InkognitoEntschuldigung, daß man halt schlafe. Sie schweben wie Fledermäuse über der Passivität der Seele oder wie Vampire, die das Blut der Unterwürfigkeit aussaugen. Es sind Larven des Abschüssigen und der Vergeudung, Schatten, die das Tal füllen, Spuren, die vom Schicksal zurückbleiben. Manchmal sind es Würmer, ekelerregend selbst für die Seele, die sie hegt und aufzieht; ein andermal sind es Gespenster, und sie umkreisen düster ein Nichts; wieder ein andermal erheben sie sich wie Kobras aus den absurden Buchten der verlorenen Gefühle. Ballast des Trugs, dienen sie nur dazu, daß wir zu nichts nütze sein können. Es sind in die Seele gestreute Zweifel des Abgrunds, die schläfrige kalte Falten hinter sich herschleppen. Sie dauern wie Rauchschwaden und verfliegen wie Spuren, und nur die Tatsache ihres Gewesenseins bleibt zurück in der unfruchtbaren Substanz, sich ihrer bewußt gewesen zu sein. Das eine oder andere der Ungeheuer ist wie ein intimer Bestandteil eines Feuerwerks: Es funkelt eine Zeitlang unter Träumen, und das übrige ist die Unbewußtheit des Bewußtseins, mit dem wir es angeschaut haben. Ein aufgeknüpftes Wollband, existiert die Seele nicht in sich selbst. Die großen Landschaften sind für morgen bestimmt, und wir haben schon gelebt. Das unterbrochene Gespräch ist gescheitert. Wer hätte geahnt, daß das Leben so sein sollte? Ich verliere mich, wenn ich mich finde, ich zweifle, wenn ich Gewißheit erlange, ich habe nicht, wenn ich erhalte. Als ginge ich spazieren, schlafe ich, und ich bin doch wach; als schliefe ich, wache ich auf und gehöre mir nicht. Das Leben ist an sich selbst im Grunde eine große Schlaflosigkeit und bei allem, was wir denken und tun, fahren wir hellwach und jäh aus dem Schlaf auf. Ich wäre glücklich, wenn ich schlafen könnte. Das denke ich in diesem Augenblick, weil ich nicht schlafen kann. Die Nacht liegt als unermeßliche Last hinter ihrem Mich-mit-der-stummen-
Decke-Ersticken-Wollen, von dem ich träume. Ich habe eine Magenverstimmung in der Seele. Immer wird nach dem danach der Tag anbrechen, aber es wird so spät sein wie immer. Alles schläft und ist glücklich, nur ich nicht. Ich ruhe ein wenig, ohne zu schlafen zu wagen. Und Riesenköpfe wesenloser Ungeheuer steigen aus dem Grunde dessen auf, der ich bin. Es sind Drachen aus dem Orient des Abgrunds, mit roten außerlogischen Zungen, mit Augen, die leblos auf mein totes Leben starren, das sie nicht anschaut. Eine Grabplatte her, um Gottes willen, eine Grabplatte her! Man bringe mir zum Abschluß Unbewußtheit und Leben! Glücklicherweise zieht durch das kalte Fenster, durch die nach hinten aufgestoßenen Türen ein trauriger blasser Faden Licht den Schatten vom Horizont. Glücklicherweise ist, was nun heraufziehen will, der Tag. Ich ruhe beinahe, in der Erschöpfung der Unruhe. Ein Hahn kräht sinnlos mitten in der Stadt. Der fahle Tag hebt an in meinem undeutlichen Schlaf. Irgendwann einmal werde ich schlafen. Ein Geräusch von Rädern spielt Fuhrwerk. Meine Wimpern schlafen, ich nicht. Alles ist letzten Endes das Schicksal.
9.6.1934
Wenn der Sommer einzieht, werde ich traurig. Eigentlich müßte die, wenngleich scharfe, Lichtfülle der Sommerstunden einem Menschen wohltun, der nicht weiß, wer er ist. Aber nein, mir tut sie nicht wohl. Es liegt ein zu großer Kontrast zwischen dem überschäumenden Leben der Außenwelt und dem, was ich fühle und denke, ohne fühlen oder denken zu können — dem ewig unbegrabenen Leichnam meiner Empfindungen. Mir ist zumute, als lebte ich in diesem gestaltlosen Vaterland, Weltall genannt, unter einer politischen Tyrannei, die, auch wenn sie mich nicht direkt bedrückt, doch immerhin ein verstecktes Prinzip meiner Seele bedrückt. Und dann fällt langsam und taub die vorweggenommene Sehnsucht nach einem unmöglichen Exil in mich ein. Mir ist vor allem nach Schlaf zumute. Nicht nach einem Schlaf, der latent wie jedes Schlafen, selbst das krankhafte, das physische
Vorrecht der Ruhe mit sich bringt. Nicht nach einem Schlaf, der, weil er das Leben vergessen macht und auf dem Tablett, mit dem er in unsere Seele eintritt, Träume mit sich führt, die friedlichen Gaben einer großen Abdankung mit sich bringt. Nein: Dies ist ein Schlaf, der nicht zu schlafen vermag, der auf den Lidern lastet, ohne sie zu schließen, der in einer aus Torheit und Ablehnung gemischten Geste die ungläubigen Lippen verschließt. Dies ist ein Schlaf, wie er unnütz bei großer Schlaflosigkeit der Seele auf dem Körper lastet. Nur wenn die Nacht kommt, spüre ich irgendwie zwar nicht Freude, aber doch eine Erholung, die man, weil andere Stunden der Erholung Zufriedenheit verbreiteten, dank einer Entsprechung der Sinne mit Zufriedenheit aufnimmt. Dann geht der Schlaf vorüber; die Verwirrung des geistigen Dämmerzustands, die dieser Schlaf uns geschenkt hatte, läßt nach, klart auf, erhellt sich fast. Für einen Moment erscheint die Hoffnung auf andere Dinge. Doch diese Hoffnung ist kurz. Die Oberhand gewinnt ein Überdruß ohne Schlaf und Hoffnung, das böse Erwachen desjenigen, der keinen Schlaf gefunden hat. Und vom Fenster meines Zimmers aus gewahre ich, eine arme, vom Körper erschöpfte Seele, viele Sterne; so viele Sterne, nichts, das Nichts, aber so viele Sterne . . .
8.9.1933
Hoch blüht in der nächtlichen Einsamkeit eine unbekannte Lampe hinter einem Fenster. Die ganze übrige Stadt liegt im Dunkeln, so weit mein Auge reicht, nur schwache Lichtreflexe steigen verschwommen von den Straßen auf und lassen hier und dort ein umgekehrtes, geisterblasses Mondlicht schweben. Im Dunkel der Nacht heben sich die Häusermassen, ihre verschiedenen Farben oder Farbnuancen nur wenig voneinander ab; nur undeutliche, fast könnte man sagen abstrakte Unterschiede lassen das beeinträchtigte Gesamtbild unregelmäßig erscheinen. Ein unsichtbares Band verknüpft mich mit dem namenlosen Besitzer der Lampe. Es ist nicht der gemeinsame Umstand, daß
wir beide wach sind: darin liegt keine mögliche Gegenseitigkeit, denn, da ich im Dunkel am Fenster lehne, könnte er mich niemals wahrnehmen. Es ist etwas anderes, was nur mich betrifft und ein wenig mit der Empfindung der Isolierung zu tun hat, die von der Nacht und der Stille ausgeht; sie wählt sich jene Lampe als Stützpunkt aus, weil sie der einzige vorhandene Stützpunkt ist. Weil sie brennt, scheint es, ist die Nacht so dunkel. Weil ich wach bin und in der Finsternis träume, scheint es, verbreitet sie Helligkeit. Alles, was existiert, existiert möglicherweise, weil etwas anderes existiert. Nichts ist, alles koexistiert: so ist es vielleicht eher richtig. Ich spüre, daß ich in dieser Stunde nicht existieren würde — daß ich zumindest nicht so existieren würde, wie ich existiere, mit diesem meinem gegenwärtigen Bewußtsein von mir, das, weil es Bewußtsein und Gegenwart ist, in diesem Moment ganz und gar ich ist — wenn diese Lampe dort drüben nicht brennen würde, irgendwo dort drüben, ein Leuchtturm, der keinen Weg weist, ausgestattet mit dem falschen Privileg der Höhe. Ich fühle das, weil ich gar nichts fühle. Ich denke das, weil dies nichts ist. Nichts, nichts, Teil der Nacht und des Schweigens und der Tatsache, daß ich wie sie nichtig, negativ und zwischenräumlich bin, Raum zwischen mir und mir, das vergessene Ding irgendeines Gottes . . .
Ich staune immer, wenn ich irgend etwas zu Ende bringe. Ich staune und bin deprimiert. Mein Sinn für Vollkommenheit müßte mich daran hindern, irgend etwas zu Ende zu bringen; er müßte mich sogar daran hindern, irgend etwas in Angriff zu nehmen. Doch daran denke ich nicht und mache mich ans Werk. Was ich zustandebringe, ist bei mir nicht das Ergebnis einer Willensanspannung, sondern einer Willensschwäche. Ich beginne, weil ich keine Kraft habe, um nachzudenken; ich führe zu Ende, weil ich nicht genug Seelenkraft habe, um zu unterbrechen. Dieses Buch ist meine Feigheit. Der Grund dafür, weshalb ich so oft einen Gedanken mit einem Landschaftsbild unterbreche, das irgendwie in das wirkliche oder
angenommene Schema meiner Eindrücke paßt, liegt darin, daß diese Landschaft eine Tür ist, durch welche ich der Einsicht in meine schöpferische Ohnmacht entfliehe. Ich verspüre mitten in den Selbstgeprächen, die die Worte dieses Buches ausmachen, die Notwendigkeit, plötzlich mit jemand anderem zu reden und wende mich an das Licht, das wie eben jetzt über den Hausdächern schwebt, die naß aussehen, weil es neben ihnen schimmert: an das sanfte Schwanken der hohen Bäume am Hang der Stadt, die nahe wirken und einen stummen Erdrutsch möglich erscheinen lassen; an die übereinandergeschichteten Plakate auf den Wänden der steil ansteigenden Häuser, auf denen die tote Sonne den feuchten Klebstoff vergoldet. Weshalb schreibe ich eigentlich, wenn ich nicht besser schreibe? Doch was würde aus mir werden, wenn ich das nicht schriebe, was ich zu schreiben vermag, so sehr ich dabei auch hinter mir selber zurückbleibe? Ich bin ein strebsamer Plebejer, weil ich Pläne zu verwirklichen versuche; ich wage es nicht zu schweigen, wie einer, der sich vor einem finsteren Zimmer fürchtet. Ich bin wie diejenigen, die die Ordensverleihung mehr schätzen als die Anstrengung und den Ruhm im Pelz genießen. Für mich ist schreiben Selbstverachtung, aber ich komme doch nicht vom Schreiben los. Schreiben ist für mich wie die Droge, die ich verabscheue und doch einnehme, wie das Laster, das ich verachte und von dem ich doch nicht loskomme. Es gibt notwendige Gifte und es gibt solche subtilster Art, die aus Ingredienzien der Seele bestehen, aus Kräutern, die man in den Winkeln der Traum-Ruinen pflückte, schwarzer Mohn neben Gräbern aufgespürt — (?) langgezogene Blätter obszöner Bäume, deren Zweige vernehmlich an den Ufern der höllischen Flüsse der Seele rauschen. Schreiben, ja, das bedeutet, mich zu verlieren, aber alle verlieren sich, denn alles ist Verlust. Ich jedoch verliere mich freudlos, nicht wie der Fluß in der Mündung, für welche er unbekannt aus der Quelle entsprang, sondern wie die Lachen, welche die Flut am Strand bildet, deren versickerndes Wasser nie wieder zum Meer zurückkehrt.
Wie Diogenes den Alexander habe ich das Leben nur gebeten, es möge mir aus der Sonne gehen. Ich habe Wünsche gehegt, aber der Grund, sie zu hegen, ist mir verweigert worden. Was ich gefunden habe, hätte mehr Wert besessen, wenn ich es in Wirklichkeit gefunden hätte. [. . .] Ich zaudere in allem, oft ohne zu wissen warum. Wie oft suche ich als jene gerade Linie, die meiner Wesensart entspricht, indem ich sie im Geiste als eine ideale Gerade auffasse, die weniger kurze Entfernung zwischen zwei Punkten. Nie habe ich die Kunst beherrscht, tätig am Leben zu sein. Immer habe ich die Gesten verfehlt, die sonst niemand verfehlt; was die anderen zu tun geboren wurden, habe ich mich immer bemüht, nicht geschehen zu lassen. Ich möchte immer erreichen, was die anderen, fast ohne es zu wünschen, erreicht haben. Zwischen mir und dem Leben befanden sich immer trübe Fensterscheiben: ich habe das weder mit dem Sehvermögen noch mit dem Tastsinn festgestellt; dieses Leben oder dieses Vorhaben habe ich nicht einmal gelebt, ich war nur die Wahnvorstellung dessen, was ich sein wollte, mein Traum begann in meiner Willenskraft, mein Vorhaben war stets die erste Fiktion dessen, was ich niemals war. Nie habe ich herausgebracht, ob meine Sensibilität zu groß war für meine Intelligenz oder meine Intelligenz zu groß für meine Sensibilität. Ich bin immer bei einer von beiden zu spät gekommen, bei welcher von beiden weiß ich nicht, möglicherweise bei beiden, oder es war die Fiktion dessen, der ich nie war, die da zu spät gekommen ist.
(Im Café) Sooft sie nur können, setzen sie sich vor den Spiegel. Sie reden mit uns und machen sich mit ihren Blicken selbst den Hof. Manchmal kommen sie, wie dies bei Liebschaften vorkommt, vor lauter Zerstreutheit vom Gespräch ab. Ich war ihnen stets sympathisch, weil meine ausgewachsene Abneigung gegen meinen Anblick mich immer gezwungen hat, dem Spiegel den Rücken zuzukehren. So war ich — und instinktiv erkannten sie das an, indem
sie mich immer gut behandelten — der geborene Zuhörer, der ihrer Eitelkeit und ihrem Rededrang immer freien Lauf ließ. In der Gesamtheit betrachtet waren es keine üblen Gesellen; im einzelnen betrachtet gab es bessere und schlechtere unter ihnen. Sie hatten Anwandlungen von Großmut und Zartgefühl, die kein Ermittler von Durchschnittswerten je bei ihnen vermutet hätte, aber sie konnten auch niederträchtig und gemein sein, wie es ein Normalmensch kaum für möglich gehalten hätte. Elend, Neid und Illusion — so fasse ich sie zusammen und so würde ich zugleich auch jenen Teil der Cafehaus-Umgebung zusammenfassen, der sich im Werk wertvoller Menschen niederschlägt, die je aus diesem Standort des Hin und Hers ein Brachfeld von Betrogenen gemacht haben. (Im Werk Fialhos sind dies flagranter Neid, gemeine Grobheit, ekelerregende Unmanierlichkeit . . .} Einige besitzen Witz, andere nur Witz, wieder andere existieren noch nicht. Die Cafehauswitze kann man unterteilen in geistreiche Aussprüche über die Abwesenden und unverschämte Äußerungen über die Anwesenden. Diese Art von GeistreichTun nennt man für gewöhnlich nur Flegelei. Nichts zeigt die Ärmlichkeit des Geistes deutlicher an als die Tatsache, daß man nur auf Kosten anderer Leute geistreich sein kann. Ich kam, ich sah und — im Gegensatz zu ihnen — siegte. Denn mein Sieg bestand im Sehen. Ich bemerkte die Identität aller inferioren Versammlungen: Hier in dem Hause, in dem ich ein Zimmer bewohne, habe ich die gleiche schmutzige Seele gefunden, die mir in den Cafes entgegentrat, die Vorstellung ausgenommen — und dafür sei den Göttern Dank gezollt! —, in Paris arrivieren zu können. Die Besitzerin meines Hauses redet in Augenblicken der Illusion über die neuen Prachtstraßen, aber gegen das Ausland ist sie gefeit, und mein Herz ist dieserhalb gerührt. Ich bewahre von diesem Durchgang durch ein Grab des Willens die Erinnerung an eine angewiderte Langeweile und ein paar geistreiche Anekdoten. Man trägt diese Leute zu Grabe, und es sieht so aus, daß schon auf dem Wege zum Friedhof ihre Vergangenheit im Cafe vergessen worden ist, denn jetzt ist es auf einmal still geworden.
. . . und nie wird die Nachwelt etwas von ihnen erfahren; immer bleiben sie ihr verborgen unter der schwarzen Masse der Banner, die sie bei ihren Redesiegen erobert haben. Alles dort wirkt gebrochen, namenlos und unpassend. Ich habe dort große Aufwallungen von Zärtlichkeit erlebt, die mir den Grund armer trauriger Seelen zu enthüllen schienen; ich mußte die Entdeckung machen, daß diese Aufwallungen nicht länger dauerten als die Stunde, in der es Worte waren, und daß ihre Wurzeln — wie oft habe ich das mit dem Scharfblick der Schweigsamen notiert — in der Analogie eines Umstandes mit dem Mitleid lagen; manchmal verloren sie sich so rasch wie der abendliche Tischwein aus dem Kopf des Rührseligen. Immer lag eine systematische Be2iehung zwischen dieser Menschheitsumarmung und Tresterschnaps vor, und viele große Gesten litten unter einem überschüssigen Gläschen oder unter dem Pleonasmus des Durstes. Diese Herrschaften hatten allesamt ihre Seele an einen Teufel aus dem Höllenplebs verkauft, der nach Gemeinheiten und Taktlosigkeiten begierig war. Sie lebten in der Vergiftung der Eitelkeit und des Müßigganges und starben schlaff zwischen Kissen aus Worten, zerquetscht wie Skorpione aus Spucke. Das Außergewöhnlichste an all diesen Leuten war ihrer aller Bedeutungslosigkeit in jedem Sinne. Einige waren Redakteure bei den angesehensten Zeitungen und brachten es fertig, nicht zu existieren; andere hatten öffentliche Ämter inne, die in den Jahrbüchern ins Auge stachen und vermochten es, in keinem Lebensbereich eine Figur zu machen; andere waren sogar anerkannte Dichter, aber gleicher Staub färbte ihr dümmliches Gesicht aschfahl, und das Ganze nahm sich aus wie ein Grabmal mit aufrecht Einbalsamierten, die man, die Hand auf dem Rücken, in den Posen Lebender aufgestellt hatte. Ich bewahre von der kurzen Zeit, in der ich in diesem Exil der geistigen Beweglichkeit stagnierte, eine Erinnerung an schöne Augenblicke freimütigen Witzes, an viele eintönige, traurige Augenblicke, an aus dem Nichts geschnittene Profile, an den Zufalls-
bedienerinnen geltende Winke und, kurz und gut, an eine Langeweile physischen Ekels, untermischt mit ein paar geistreichen Anekdoten. Wie Zwischenräume waren unter sie eingeschoben ein paar Männer fortgeschrittenen Alters, die Aussprüche, die vor langer Zeit einmal geistreich gewesen waren, von sich gaben und sich der Medisance befleißigten, und das gegen die gleichen Personen. Nie habe ich so viel Sympathie für die unteren Ränge der Prominenz empfunden wie zu dem Zeitpunkt, wo ich sie von diesen zu kurz Gekommenen verleumdet sah, die ihnen nicht einmal ihren armseligen Ruhm gönnen wollten. Ich erkannte auch den Grund für ihren Triumph, denn die Parias wahrhafter Größe triumphierten in bezug auf sie, nicht in bezug auf die Menschheit.
Arme Teufel, ewige Hungerleider — hungernd nach dem Mittagessen, hungernd nach Berühmtheit oder hungernd nach den Desserts des Lebens. Wer ihnen zuhört und sie nicht kennt, meint die Lehrmeister Napoleons und die Instrukteure Shakespeares zu vernehmen. Es gibt die Sieger in der Liebe, die Sieger in der Politik und die Sieger in der Kunst. Die ersteren haben den Vorteil, etwas erzählen zu können, weil man in der Liebe umfassend siegen kann, ohne über die wirklichen Vorgänge sonderlich Bescheid zu wissen. Freilich überkommt uns, wenn eines dieser Individuen seine sexuellen Marathonläufe zum besten gibt, im Augenblick der siebenten Entjungferung ein undeutliches Mißtrauen. Die Liebhaber adliger oder prominenter Damen (das sind sie fast alle) haben einen derartigen Verschleiß an Gräfinnen, daß eine Statistik ihrer Eroberungen nicht einmal die Urgroßmütter der heutigen Titelträger seriös und unberührt lassen würde. Andere sind auf körperliche Auseinandersetzungen spezialisiert und haben alle Boxmeister Europas in einer tollen Nacht an einer Ecke des Chiados zusammengeschlagen. Einige haben Einfluß bei allen Ministern sämtlicher Ministerien, und das sind diejenigen, an denen man am wenigsten zu zweifeln braucht, weil das zumindest nicht abstoßend ist.
liinige sind große Sadisten, andere große Päderasten, wieder andere bekennen mit trauerumflorter lauter Stimme, daß sie brutal mit den Frauen umgehen. Mit Peitschenhieben haben sie sie auf den Wegen des Lebens vorwärts getrieben. Am Ende stellt sich dann heraus, daß sie ihren Kaffee schuldig bleiben. [. . .] Ich kenne keine bessere Heilkur für diese Flut von Schatten als die unmittelbare Kenntnis des menschlichen Alltagslebens, zum Beispiel in der Realität des Handels, wie sie sich in meinem Büro in der Rua dos Douradores darbietet. Mit welcher Erleichterung bin ich aus diesem Irrenhaus von Marionetten in die wirkliche Gegenwart meines Vorgesetzten Moreira zurückgekehrt, eines echten, kompetenten Buchhalters, der schlecht angezogen ist und schlecht behandelt wird, aber dennoch das ist, was keiner der anderen zu sein vermochte: ein Mensch . . .
7.4.1933
Ich bin an ihnen als Fremdling vorbeigegangen, doch hat niemand bemerkt, daß ich ein solcher gewesen bin. Ich habe unter ihnen als Spion gelebt, und niemand, nicht einmal ich selbst, hat den Verdacht gehegt, daß ich einer wäre. Alle haben mich für einen Verwandten gehalten: niemand ahnte, daß man mich bei der Geburt vertauscht hatte. So war ich den anderen gleich, ohne ihnen ähnlich zu sein, ein Bruder von ihnen allen, ohne doch zur Familie zu gehören. Ich kam aus wunderbaren Ländern, aus Landschaften schöner als das Leben, aber von den Ländern habe ich nie geredet außer mit mir selber, und von den erträumten Landschaften habe ich ihnen nie Kunde gegeben. Meine Schritte hallten wie die ihrigen auf den Fußböden und Fliesen, doch mein Herz war fern, auch wenn es nahe schlug, falscher Herr über einen verbannten und fremden Körper. Niemand erkannte mich unter der Maske der gleichen gesellschaftlichen Stellung, niemand erfuhr je, daß es sich um eine Maske handelte, denn niemand wußte, daß neben mir immer ein anderer stünde, der letztlich ich selber war. Sie hielten mich stets für identisch mit mir.
Ihre Häuser gewährten mir Unterkunft, ihre Hände schüttelten die meinige, sie sahen mich auf der Straße vorübergehen, als ob ich dort wirklich wäre; doch der, der ich bin, befand sich nie in jenen Sälen, mein wahres Ich hat keine Hände, die andere schütteln könnten, der, als den ich mich kenne, kennt keine Straßen, über die er gehen könnte, es sei denn, es wären alle Straßen, und man kann ihn auf diesen Straßen auch nicht wahrnehmen, es sei denn daß er selbst alle anderen wäre. Wir leben alle fern und namenlos; verkleidet leiden wir als Unbekannte. Einigen jedoch wird dieser Abstand zwischen dem einen Sein und dem anderen nie deutlich; anderen wird er ab und zu hellauf mit Schrecken oder unter Schmerzen wie bei einem grenzenlosen Blitz bewußt; für wieder andere macht dieser Abstand die schmerzhafte Beständigkeit und Alltäglichkeit des Lebens aus. Klar zu wissen, daß, wer wir sind, nicht bei uns ist, daß, was wir denken und fühlen, stets eine Übersetzung ist, daß, was wir wollen, wir nicht gewollt haben und es möglicherweise niemals jemand gewollt hat — dies alles in jeder Minute, dies alles in jedem Gefühl zu fühlen, heißt das nicht ein Fremdling in der eigenen Seele sein, ein Verbannter in den eigenen Empfindungen? Doch die Maske, die ich regungslos angestarrt habe, die in dieser Nacht des ausgehenden Karnevals an der Straßenecke mit einem Mann ohne Maske sprach, streckte zuletzt die Hand aus und nahm lachend Abschied. Der nicht maskierte Mensch ging nach links weiter durch die Gasse, an deren Ecke ich stand. Die Maske — ein einfallsloser Domino — wanderte weiter und entfernte sich zwischen Schatten und Lichterspielen in einem definitiven und fremden Abschied von dem, woran ich gerade gedacht hatte. Da erst merkte ich, daß auf der Straße noch anderes vorhanden war als brennende Laternen, nämlich dort, wo sie nicht standen, trübes Licht verbreitender Mondschein, verborgen, stumm und so voller Nichts wie das Leben . . .
Gott erschuf mich als Kind und hat mich immer ein Kind bleiben lassen. Warum aber hat er zugelassen, daß mich das Leben ge-
schlagen hat, mir meine Spielzeuge wegnahm und mich in den Pausen allein ließ, in denen ich mit schwachen Händen die vom häufigen Weinen schmutzig gewordene blaue Spielschürze zerknitterte? Wenn ich nur als verzärteltes Kind lebensfähig war, warum hat man meine Zärtlichkeit in den Mistkübel geworfen? Ach, jedesmal wenn ich auf den Straßen ein weinendes Kind sehe, ein von den übrigen ausgestoßenes Kind, schmerzt mich mehr als die Traurigkeit dieses Kindes das ahnungslose Entsetzen meines erschöpften Herzens. Ich tue mir selber weh mit der ganzen Größe des gefühlten Lebens, mein sind die Hände, die den Saum der Spielschürze zerknittern, mein die verzogenen Münder mit den echten Tränen, mein sind Schwäche und Einsamkeit, und das Gelächter der vorbeigehenden Erwachsenen gebraucht mich wie Streichhölzer, die man am empfindlichen Stoff meines Herzens anzündet und aufflammen läßt.
In meiner schäbigen tiefen Seele registriere ich tagaus tagein die Eindrücke, welche die äußere Substanz meines Selbst-Bewußtseins bilden. Ich verwandle sie in müßige Wörter, die mich im Stich lassen, sobald ich sie niederschreibe, und von mir unabhängig über Hänge und Rasenflächen von Bildern über Alleen von Begriffen, über Hohlwege von Verwirrungen irren. Das dient mir zu nichts, denn mir dient nichts zu etwas. Doch ich vergesse mein Leid, indem ich schreibe, so wie jemand besser atmen kann, ohne daß seine Krankheit vorüber wäre. Es gibt Leute, die in ihrer Zerstreutheit sinnlose Namen und Figuren auf das Löschblatt mit den eingerissenen Ecken kritzeln. Diese Seiten sind das Gekritzel meiner geistigen Unbewußtheit. Ich strichele sie hin in der bleiernen Müdigkeit, mich wie eine Katze in der Sonne zu fühlen, und ich lese sie zuweilen von neuem mit einem undeutlichen späten Erschaudern, als ob ich mich an etwas erinnert hätte, was ich für immer vergessen hatte. Wenn ich schreibe, statte ich mir einen feierlichen Besuch ab. Ich habe besondere Säle, an die sich jemand anders in den Zwischenräumen der Vorstellungskraft erinnert, und dort vergnüge
ich mich damit, das zu analysieren, was ich nicht fühle, und überprüfe mich wie ein im Schatten hängendes Gemälde. Vor meiner Geburt habe ich mein Stammschloß eingebüßt. Bevor ich auf die Welt kam, hat man die Tapisserien meines Ahnensitzes verkauft. Mein vor meiner Lebenszeit erbauter Herrensitz ist zur Ruine zerfallen und nur in gewissen Augenblicken, wenn in mir das Mondlicht über dem Röhricht des Flusses aufgeht, durchkühlt mich die Sehnsucht nach der Seite, auf der sich der zahnlose Rest des Mauerwerks schwarz gegen den dunkelblauen Himmel abhebt, der zum milchigen Gelb verblaßt. Ich unterscheide mich sphinxhaft. Und aus dem Schoß der Königin, der mir fehlt, rollt wie die Episode aus einer unnützen Stickerei das vergessene Knäuel meiner Seele. Es rollt unter die Anrichte mit den Intarsien, und in mir ist etwas, was ihm mit den Augen folgt, bis es sich in einem großen Entsetzen aus Grab und Ende verliert.
Doch die selbstauferlegte Absonderung von den Zwecken und Bewegungen des Lebens, der von mir selbst gewollte Bruch im Umgang mit den Dingen haben mich genau zu dem gebracht, wovor ich zu flüchten versuchte. Ich wollte das Leben nicht spüren, wollte die Dinge nicht anrühren, weil ich aus der Erfahrung meines Temperaments im Umgang mit der Welt wußte, daß die Wahrnehmung des Lebens für mich immer schmerzhaft sein würde. Doch indem ich diese Berührung scheute, isolierte ich mich und, indem ich mich isolierte, steigerte ich meine ohnehin übertriebene Sensibilität noch mehr. Wenn es möglich wäre, die Berührung mit den Dingen ganz und gar abzubrechen, würde das für meine Sensibilität wohltätig sein. Aber diese totale Isolierung läßt sich nicht verwirklichen. So wenig ich tun mag, ich atme immerhin, so wenig ich vorhanden sein mag, ich bewege mich doch. Und indem ich meine Sensibilität durch die Isolierung anstachelte, bewirkte ich, daß selbst Kleinigkeiten, die sogar mir zuvor nichts ausgemacht haben würden, mich wie Katastrophen treffen. Ich habe mich in der Fluchtmethode geirrt. Ich bin auf einem unbequemen Umweg an
genau denselben Ort geflüchtet, an dem ich mich bereits befunden hatte, und zu dem Entsetzen, dort leben zu müssen, habe ich mir zusätzlich die Reisemüdigkeit eingehandelt. Ich habe niemals den Selbstmord als Lösung betrachtet, weil ich das Leben aus Liebe zum Leben hasse. Ich habe Zeit gebraucht, um mich von dem beklagenswerten Irrtum zu überzeugen, in welchem ich mit mir lebe. Einmal von ihm überzeugt, wurde ich mißmutig, was mir immer dann widerfährt, wenn ich mich von irgend etwas überzeugen lassen muß, weil Überzeugung bei mir gleichbedeutend mit dem Verlust einer Illusion ist. Ich habe die Willenskraft abgetötet, indem ich sie analysierte. Wer gibt mir den kindhaften Zustand vor der Analyse zurück, auch wenn das vor aller Willenskraft wäre! In meinen Parks herrscht Todesschlaf, Schläfrigkeit der Weiher in der mittäglichen Sonne, wenn das Summen der Insekten in der Luft liegt und das Leben mich nicht wie ein Leid, sondern wie ein weiterwirkender körperlicher Schmerz belastet. Paläste in großer Ferne, versonnene Parks, sich verengende Alleen in der Ferne, tote Anmut der Steinbänke für längst Verstorbene — toter Pomp, zerfallene Anmut, verlorenes Flittergold. Meine in Vergessenheit geratene Sehnsucht — wer könnte das Leid wiedergeben, mit dem ich dich erträumte!
Alles, was nicht meine Seele ist, ist für mich, auch wenn ich noch so sehr möchte, daß es nicht so sei, nur Bühnenbild und Dekoration. Auch wenn ich in Gedanken anerkennen kann, daß ein anderer Mensch ein lebendiges Wesen ist wie ich, hat er für mein wahres Ich stets weniger Bedeutung als ein Baum, wenn der Baum schöner ist. Deshalb habe ich immer die menschlichen Aktionen — die großen kollektiven Tragödien der Geschichte oder dessen, was man aus ihr macht — als farbige Friese angesehen, aus denen die Seele derer, die auf ihnen in Erscheinung treten, entschwunden ist. Nie hat mich bedrückt, was sich an tragischen Vorgängen in China vollzogen hat. Das ist für mich ferne Dekoration, wenn auch vielleicht mit Blut und Pestilenz untermalt.
Mit ironischer Traurigkeit denke ich an eine Arbeiterdemonstration zurück, an deren Aufrichtigkeit ich zweifle (denn es ist für mich stets bedrückend, kollektiven Veranstaltungen Aufrichtigkeit zuzugestehen, da doch das allein auf sich gestellte Individuum das einzige fühlende Wesen ist.) Es war eine kompakte, losgelassene Anhäufung lebender Dummköpfe, die an mir, dem fremd Dabeistehenden, vorbeizog und vor meiner Indifferenz verschiedene Parolen brüllte. Plötzlich spürte ich Ekel. Sie waren nicht einmal genügend schmutzig. Die wahrhaft Leidenden rotten sich nicht zusammen, sie bilden keine Gemeinschaft. Wer leidet, leidet allein. Was für eine schlechte Gemeinschaft: welch ein Mangel an Menschlichkeit und Schmerz! Sie existierten wirklich und waren daher unglaubwürdig. Niemand konnte aus ihnen ein Romangemälde machen, ein Bühnenbild der Beschreibung. Sie versanken wie Müll in einem Fluß, im Flusse des Lebens. Es wurde mir schläfrig zumute, als ich sie erblickte; Ekel und Verachtung überkamen mich.
Um verstehen zu können, habe ich mich zerstört. Verstehen heißt das Lieben vergessen. Ich kenne nichts, was gleichzeitig falscher und bedeutungsvoller wäre als der Ausspruch Leonardo da Vincis, wonach man etwas nur lieben oder hassen kann, nachdem man es verstanden hat. Die Einsamkeit verwüstet mich; die Geselligkeit bedrückt mich. Die Gegenwart einer anderen Person wirft meine Gedanken aus der Bahn; ich träume von ihrer Gegenwart mit einer besonderen Zerstreutheit, die meine analytische Aufmerksamkeit nicht zu definieren vermag.
Die Isolierung hat mich nach ihrem Bilde geformt und ihr ähnlich werden lassen. Die Gegenwart einer anderen Person — auch wenn es sich nur um eine einzige Person handelt — verzögert
sogleich meinen Gedankengang und, während für den Durchschnittsmenschen der Kontakt mit jemand anderem einen Stimulus für Ausdruck und Gespräch darstellt, ist dieser Kontakt für mich ein Gegen-Stimulus, falls dieses zusammengesetzte Wort vor der Sprache vertretbar ist. Ich bin, wenn ich mit mir allein bin, imstande, geistreiche Aussprüche zu ersinnen, rasche Antworten zu geben auf das, was niemand gesagt hat, Wetterleuchten eines gescheiten geselligen Umgangs mit Herrn Niemand; aber das alles versinkt ins Bodenlose, wenn ich vor einem körperlich anderen stehe; dann verliere ich meine Intelligenz, ich höre auf, reden zu können und nach einigen Viertelstunden spüre ich nur Schlafbedürfnis. Jawohl, mit anderen Leuten zu reden macht mich schläfrig. Nur meine geisterhaften, eingebildeten Freunde, nur meine im Traum geführten Gespräche besitzen wahre Wirklichkeit und Relief, und in ihnen ist der Geist gegenwärtig wie ein Bild in einem Spiegel. Es belastet mich außerdem der Gedanke, zu einem Kontakt mit jemand anderem gezwungen zu werden. Eine einfache Einladung zu einem Abendessen mit einem Freunde löst bei mir eine schwer definierbare Angst aus. Der Gedanke an irgendeine gesellige Verpflichtung — auf eine Beerdigung gehen, mit irgendjemandem über eine Büroangelegenheit verhandeln oder zum Bahnhof gehen und dort jemand Bekanntes oder Unbekanntes erwarten — nur daran denken zu müssen bringt mir die Gedanken eines ganzen Tages durcheinander, und manchmal rege ich mich schon am Vorabend auf und schlafe schlecht, und wenn dann der Fall wirklich eintritt, ist er ganz unbedeutend und lohnt die Aufregung nicht, aber er wiederholt sich und ich komme aus der Aufregung nicht mehr heraus. »Meine Gewohnheiten werden von der Einsamkeit bestimmt, nicht von den Menschen«; ich weiß nicht, ob dieses Wort von Rousseau oder von Senancour stammt. Aber es stammt von einem Geist meiner Art — um nicht zu sagen meiner Rasse.
Luzides Tagebuch Mein Leben — eine Tragödie, die beim Unmutsgetrampel der Engel durchgefallen ist und von der nur der erste Akt aufgeführt werden konnte. Freunde — keinen. Nur etliche Bekannte, die meinen, sie verspürten Sympathie für mich und denen es vielleicht leid tun würde, wenn mich ein Zug überführe und die Beerdigung an einem Regentag stattfinden müßte. Der natürliche Preis meiner Distanzierung vom Leben war die von mir bei meinen Mitmenschen heraufbeschworene Unfähigkeit, mit mir zu fühlen. Mich umgibt eine Aureole der Kühle, ein Nimbus aus Eis, der die Mitmenschen von mir zurücktreibt. Noch habe ich es nicht vermocht, unter meiner Einsamkeit nicht zu leiden. So schwierig ist es, jene geistige Distinktion aufrechtzuerhalten, die aus der Isolierung eine Erholung ohne Angst machen würde. Ich habe nie der Freundschaft, die man mir bezeigte, getraut, so wie ich auch nicht der Liebe getraut hätte, wenn man sie mir entgegengebracht hätte, was im übrigen ganz unmöglich sein dürfte. Obwohl ich mir nie über diejenigen, die sich meine Freunde nannten, Illusionen gemacht habe, war ich doch immer imstande, von ihnen enttäuscht zu werden — so verwickelt und subtil ist meine Leidensfähigkeit. Nie habe ich bezweifelt, daß alle Verrat an mir üben; und doch war ich immer wieder erstaunt, wenn sie das taten. Wenn das eintrat, was ich erwartet hatte, geschah es immer für mich unerwartet. Da ich nie in mir Eigenschaften entdeckt habe, die jemanden anziehen konnten, konnte ich auch nie glauben, daß sich jemand von mir angezogen fühlen könnte. Diese Meinung verriete törichte Bescheidenheit, wenn sie nicht von immer neuen Vorkommnissen — jenen unerwarteten Vorkommnissen, die ich erwartet hatte — wieder und wieder bestätigt worden wäre. Ich kann es auch nicht hinnehmen, daß man mir aus Mitleid Teilnahme entgegenbringt, denn obwohl ich körperlich unansehnlich und unannehmbar bin, bin ich doch organisch nicht
derart lädiert, daß ich fremdes Mitgefühl oder jene Sympathie auslösen müßte, die sich einstellen, auch wenn das nicht ausdrücklich als Verdienst erscheint; und für das, was in mir Mitleid verdient, kann es kein Mitleid geben, denn es gibt nie Mitleid für die Krüppel des Geistes. Derart, daß ich in jenes Schwerkraftzentrum fremder Verachtung gestürzt bin, worin ich bei niemandem Sympathie erwecken kann. Mein ganzes Leben hat darin bestanden, mich an diesen Zustand anpassen zu wollen, ohne seine Grausamkeit und Verwerflichkeit allzu sehr spüren zu müssen. Es gehört ein gewisser geistiger Mut dazu, daß ein Individuum unerschrocken anerkennt, daß es nicht mehr ist als ein menschliches Stück Dreck, eine überlebende Fehlgeburt, ein Verrückter hart an der Grenze der Einweisung in die Heilanstalt; aber noch größerer geistiger Mut ist notwendig, um, wenn man das anerkannt hat, sich seinem Schicksal vollkommen anzupassen, ohne Auflehnung, ohne Resignation, ohne irgendeine Gebärde, ja selbst ohne den Anflug einer Gebärde den organischen Fluch, den die Natur einem auferlegt hat, hinzunehmen. Zu verlangen, daß ich darunter nicht leiden soll, heißt zu viel verlangen, weil es dem Menschen nicht gegeben ist, das Übel hinzunehmen, klar als solches zu erkennen und dann auch noch als Gut zu bezeichnen; und nimmt man es einmal als Übel hin, so ist es unmöglich, nicht unter ihm zu leiden. Es war mein Unglück, daß ich mich von außen betrachtet habe — ein Unglück für mein Glück. Ich sah mich so, wie mich die Mitmenschen ansehen und gelangte dazu, mich zu verachten — nicht so sehr, weil ich an mir eine Abfolge von Eigenschaften bemerkt hätte, um derentwillen ich Verachtung verdiente, sondern weil ich dazu überging, mich so zu betrachten, wie mich die anderen betrachten und die unbestimmte Verachtung zu empfinden, die sie für mich empfinden. Ich erlitt die Demütigung, mich kennenzulernen. Da diesen Kalvarienberg nichts adeln kann, nicht einmal eine Auferstehung Tage später, konnte ich nur unter dem Schmachvollen meiner Lage leiden. Ich begriff, daß es ganz unmöglich war, daß mich jemand liebte, es sei denn, ihm wäre jeder ästhetische Sinn abgegangen
— und dann hätte ich ihn deshalb verachten müssen; selbst eine mir entgegengebrachte Sympathie konnte nicht mehr sein als eine Laune der fremden Gleichgültigkeit. In uns klar sehen und klar erkennen, wie uns die anderen betrachten! Dieser Wahrheit Auge in Auge gegenübertreten! Und am Ende den Schrei Christi auf Golgatha ausstoßen, als er seine Wahrheit vor sich sah: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
31.5.1934
Wie lange schon schreibe ich nicht! In wenigen Tagen habe ich Jahrhunderte Ungewissen Verzichts verbracht. Ich habe mich gestaut wie ein verlassener See in Landschaften, die es nicht gibt. In der Zwischenzeit lief die mannigfaltige Eintönigkeit der Tage angenehm an mir vorüber, die niemals gleiche Abfolge der gleichen Stunden, das Leben. Sie lief angenehm vorüber. Wenn ich geschlafen hätte, wäre sie nicht anders vorübergezogen. Ich habe mich gestaut wie ein See, den es nicht gibt, in verlassenen Landschaften. Es kommt oft vor, daß ich mich nicht kenne — das passiert häufig denen, die sich kennen . . . Ich wohne mir in den verschiedenen Verkleidungen bei, in denen ich am Leben bin. Ich besitze von allem, was sich verändert, das, was immer das gleiche ist, von dem, was man tut, alles, und das heißt nichts. Ich entsinne mich in meinem fernen Inneren, als ob ich nach innen gereist wäre, an die gleichwohl so mannigfaltige Eintönigkeit jenes Hauses auf dem Lande . . . Dort habe ich meine Kindheit verbracht, aber selbst wenn ich es wollte, könnte ich nicht sagen, ob ich damals mehr oder weniger glücklich war als heute. Es war ein anderer als ich jetzt bin, der dort gelebt hat: Verschieden, andersartig und unvergleichlich bietet sich dieses zweifache Leben dar. Die gleiche Eintönigkeit, die beide äußerlich annähert, war ohne Zweifel im Inneren eine andere. Es waren nicht zwei Monotonien, sondern zweierlei Leben. Zu welchem Zweck entsinne ich mich daran?
Erschöpfung. Sich erinnern bedeutet Erholung, denn es bedeutet nicht handeln. Wie oft entsinne ich mich zu größerer Entspannung an das, was niemals gewesen ist. ( . . . ) Ich habe mich derart in die Fiktion meiner selbst verwandelt, daß jedes natürliche Gefühl, das in mir aufkommt, sich mir sogleich, sobald es aufkommt, in ein Gefühl der Phantasie verwandelt — das Gedächtnis in Traum, der Traum in mein Vergessen des Traums, die Selbsterkenntnis in ein Nicht-an-michDenken. Mein eigenes Sein habe ich so sehr ausgezogen, daß Existieren mich ankleiden heißt. Nur in der Vorstellung bin ich ich selbst. Und um mich her vergolden alle unbekannten Sonnenuntergänge in ihrem Hinschwinden die Landschaften, die ich nie zu Gesicht bekommen werde.
Manchmal, wenn ich den Kopf aufhebe, der ganz verblödet ist von den Büchern, in die ich die fremden Rechnungen eintrage, und der Abwesenheit eigenen Lebens, spüre ich einen physischen Ekel, der von meiner gebückten Haltung herrühren mag, aber über die Zahlen und die Enttäuschung hinausweist. Das Leben schmeckt mir fad wie ein nutzloses Medikament. Und dann fühle ich in hellen Visionen, wie leicht mir die Entfernung von dieser Langeweile fallen würde, wenn ich nur die Kraft besäße, sie wirklich abzuschütteln. Wir leben durch unser Handeln, das heißt durch den Willen. Uns, die wir nicht zu wollen verstehen — wir seien Genies oder Bettler — verbrüdert das Unvermögen. Was nützt es mir, mich als Genie auszugeben, wenn ich doch nur ein Hilfsbuchhalter bin? Als Cesärio Verde dem Arzt sagen ließ, er wäre nicht der Herr Verde, ein kaufmännischer Angestellter, sondern der Dichter Cesärio Verde, gebrauchte er eine der Redensarten des nutzlosen Stolzes, die den Geruch der Eitelkeit ausschwitzen. Der Arme, er blieb doch immer der Herr Verde, ein kaufmännischer Angestellter. Der Dichter wurde geboren, als er schon gestorben war, denn erst nachdem er gestorben war, begann die Wertschätzung des Dichters.
Handeln, das ist die wahre Intelligenz. Ich werde sein, der ich sein will. Aber ich muß auch wollen, was immer das sein mag. Der Erfolg liegt im Erfolghaben, nicht darin, daß man die Voraussetzungen zum Erfolg besitzt. Voraussetzungen für einen Palast besitzt jedes ausgedehnte Geländestück, aber wo wird der Palast stehen, wenn man ihn dort nicht errichtet?
29.11.1931
Wenn es etwas gibt, was dieses Leben uns gewährt und wofür wir, vom Leben selbst abgesehen, den Göttern dankbar zu sein hätten, so ist es die Gabe, uns zu verkennen: uns selbst zu verkennen und uns gegenseitig zu verkennen. Die menschliche Seele ist ein dunkler, schleimiger Abgrund, ein Brunnen, den man an der Oberfläche der Welt besser nicht benutzt. Niemand würde sich selber lieben, wenn er sich selber kennen würde, und so würde unsere Seele, da die Eitelkeit nicht vorhanden wäre, die das Blut unseres geistigen Lebens ist, an Anämie sterben. Niemand kennt den anderen und wohl ihm, dass er ihn nicht kennt, denn, wenn er ihn kennte, würde er in ihm, auch wenn es sich um Mutter, Frau oder Kind handelte, seinen intimen, metaphysischen Feind erblicken. Wir verstehen uns, weil wir nichts voneinander wissen. Was würde aus so vielen glücklichen Ehegatten, wenn der eine in die Seele des anderen hineinschauen könnte, wenn sie sich verstehen könnten, wie die Romantiker sagen, die die Gefahr — wenngleich die nichtige Gefahr — ihrer Worte nicht ahnen. Alle Ehepaare der Welt sind schlecht verheiratet, denn jeder der Partner bewahrt bei sich in den Geheimkammern, wo die Seele dem Teufel gehört, das subtile Bild des Idealmannes, der nicht mit dem vorhandenen übereinstimmt, die flüchtige Gestalt der sublimen Frau, die seine Gefährtin nicht verkörpern konnte. Die Glücklichsten unter uns ignorieren ihre zur Vergeblichkeit verurteilten Neigungen; die weniger Glücklichen kennen sie wohl, aber sie wollen sie nicht zugeben, nur der eine oder andere beiläufige Ausbruch ruft den verborgenen Dämon, die alte Eva, den edlen Ritter oder die Sylphide herauf.
Das von uns gelebte Leben ist ein fließendes Mißverständnis, eine heitere Mitte zwischen der Größe, die es nicht gibt, und dem Glück, das es nicht geben kann. Wir sind zufrieden, denn selbst beim Denken und Fühlen sind wir imstande, nicht an die Existenz der Seele zu glauben. Auf dem Maskenball, den wir miterleben, genügt uns das gefällige Kostüm, das auf dem Ball ausschlaggebend ist. Wir sind Sklaven der Lichter und der Farben, wir schreiten im Tanz wie in der Wahrheit, und wir spüren nicht einmal — ausgenommen wenn wir allein herumstehen und nicht tanzen — die große hohe Kälte der äußeren Nacht, des sterblichen Körpers unter den Lumpen, die ihn überleben, all dessen, wovon wir, wenn wir allein sind, glauben, es sei wesentlich wir, was aber endlich doch nur eine intime Parodie der Wahrheit dessen ist, wofür wir uns halten. Alles, was wir tun oder sagen, alles, was wir denken oder fühlen, trägt dieselbe Maske und den gleichen Domino. So sehr wir ablegen mögen, was wir an Kleidung tragen, nie gelangen wir zur Nacktheit, denn die Nacktheit ist ein Phänomen der Seele und nicht des Kleiderablegens. So leben wir an Körper und Seele bekleidet mit unseren vielfältigen Kostümen, die so an uns kleben wie das Gefieder der Vögel, glücklich oder unglücklich oder nicht einmal wissend, was wir sind, den kleinen Raum aus, den uns die Götter zugestehen, und vergnügen uns wie die Kinder, die ernsthafte Spiele spielen. Der eine oder andere von uns sieht plötzlich in einem Akt der Befreiung oder unter der Last eines Fluchs — und sogar er sieht es nur selten —, daß alles, was wir sind, das ist, was wir nicht sind, daß wir uns irren in dem, was sicher ist und nicht recht haben bei dem, was wir richtig daraus schließen. Und dieser eine, der in einem kurzen Moment das nackte Universum erblickt, erschafft eine Philosophie oder erträumt eine Religion; die Philosophie breitet sich aus und die Religion findet Resonanz und diejenigen, die an die Philosophie glauben, gehen dazu über, sie als Kleid zu benutzen, das sie nicht sehen, und diejenigen, die an die Religion glauben, gehen dazu über, sie als Maske aufzusetzen, die sie vergessen. Und immer schreiten wir, indem wir uns und die anderen verkennen und uns deshalb in den Tanzfiguren oder bei den
Gesprächen der Ruhepausen auf fröhliche Weise verständigen, menschlich, nichtig und ernsthaft beim Klang des großen Orchesters der Gestirne einher, unter den verächtlichen, fremden Augen der Organisatoren des Schauspiels. Nur sie wissen, daß wir die Beute der Illusion sind, die sie für uns geschaffen haben. Welches aber der Grund für diese Illusion ist und warum es diese oder überhaupt irgendeine Illusion gibt oder warum sie, die sich ebenfalls in der Täuschung befinden, uns auferlegt haben, daß wir in der Täuschung leben sollen, die sie uns auferlegten — das wissen sie selber mit Sicherheit auch nicht.
Zwei, drei Tage, dem Beginn einer Liebe ähnlich . . . Das alles besitzt für den Ästheten seinen Wert wegen der Empfindungen, die es bei ihm auslöst. Weiterzugehen hieße in den Bereich einzudringen, wo Eifersucht, Leiden und Erregung beginnen. Im Vorzimmer der Gefühle findet man die ganze Sanftheit der Liebe ohne ihre Tiefe — einen leichten Genuß mithin, ein vages Aroma von Wünschen; wenn dadurch die Größe verlorengeht, die in der Liebestragödie liegt, so achte man darauf, daß Tragödien für den Ästheten interessant zu beobachten, aber unbequem zu erleiden sind. Sogar die Sorge um die Phantasie wird von der Sorge um das Leben beeinträchtigt. Es herrscht, wer sich nicht unter den gewöhnlichen Leuten befindet. Letztlich würde ich mich damit durchaus abfinden, wenn ich davon überzeugt sein könnte, daß diese Theorie nicht das ist, was sie ist, nämlich ein aufwendiger Lärm, den ich vor dem Gehör meiner Intelligenz veranstalte, damit sie nicht merken soll, daß im Grunde nichts außer meiner Traurigkeit und meiner Inkompetenz für das Leben vorhanden ist.
Ich besitze meinen Körper nicht, wie könnte ich also mit ihm besitzen? Ich besitze meine Seele nicht — wie könnte ich also mit ihr besitzen? Ich verstehe meinen Geist nicht — wie könnte ich also mit seiner Hilfe verstehen?
Unsere Sinneswahrnehmungen gehen vorüber — wie könnte ich sie besitzen — und das, was sie uns zeigen, also noch viel eher. Besitzt jemand einen strömenden Fluß, gehört jemandem der vorüberwehende Wind? Wir besitzen weder einen Körper noch eine Wahrheit — nicht einmal eine Illusion. Wir sind Gespenster aus Lügen, aus Schatten von Einbildungen, und mein Leben ist nichtig von außen wie von innen. Kennt jemand die Grenzen seiner Seele, daß er sagen könnte: Ich bin ich? Doch ich weiß, daß das, was ich fühle, von mir gefühlt wird. Wenn jemand anders diesen Körper besitzt, besitzt er mit ihm dasselbe wie ich? Nein. Er besitzt eine andere Empfindung. Besitzen wir irgend etwas? Wenn wir nicht wissen, was wir sind, wie wissen wir dann, was wir besitzen?
Der Augen-Liebhaber Von der Liebe, die in die Tiefe geht, und ihrem nützlichen Gebrauch habe ich nur eine oberflächliche, rein dekorative Vorstellung. Ich bin der Schau-Leidenschaft unterworfen. Mein den unwirklichsten Schicksalen hingegebenes Herz bewahre ich unversehrt. Ich kann mich nicht erinnern, etwas anderes als das »Gemäldehafte« an jemand anderem geliebt zu haben, das rein Äußerliche, worin nicht mehr Seele aufscheint als um dieses Äußerliche lebendig erscheinen zu lassen und so von den Gemälden der Maler zu unterscheiden. Meine Liebe verfährt so: Als schön, anziehend oder sonstwie liebenswert halte ich eine Gestalt, Frau oder Mann, fest — wo keine Begierde vorhanden ist, gibt es auch keine Bevorzugung des Geschlechts — diese Gestalt blendet und fesselt mich und bemächtigt sich meiner. Doch ich will nicht mehr als sie anschauen und (?) nichts weniger als die Möglichkeit, die wirkliche Person, die diese Gestalt zur Schau stellt, kennenzulernen und anzusprechen.
Ich liebe mit dem Auge, nicht einmal mit der Phantasie. Denn ich phantasiere nicht über die Gestalt, die mich gefangennimmt. Ich stelle mir keineswegs vor, irgendwie anders an sie gebunden zu sein. (?) Es interessiert mich nicht zu erfahren, wer dieses Wesen ist, was es tut, was es denkt, das mir da sein Äußeres zum Anschauen darbietet. Die unermeßliche Reihe von Personen und Dingen, aus denen die Welt besteht, ist für mich eine endlose Galerie von Gemälden, deren Inneres mich nicht kümmert. Es kümmert mich deshalb nicht, weil die Seele eintönig und bei allen Leuten stets dieselbe ist; unterschiedlich sind allenfalls ihre persönlichen Äußerungen, und das Beste an ihr ist das, was in den Traum, in die Umgangsart, in die Gebärden übergeht und so in das Gemälde eintritt, das mich fesselt. (?) So erlebe ich in einer reinen Vision das belebte Äußere der Dinge und der Wesen, gleichgültig wie ein Gott aus einer anderen Welt gegenüber ihrem Inhalt — ihrem Geist. Ich vertiefe mein eigenes Sein nur extensiv, und wenn ich Tiefe wünsche, so suche ich sie in mir und in meinem Begriff von den Dingen. Was könnte mir die persönliche Bekanntschaft mit einem Wesen geben, das ich als bloßes Dekor liebe? Eine Enttäuschung wohl nicht, denn da ich nur seinen äußeren Anblick liebe und nichts zu ihm hinzuphantasiere, kann seine eventuelle Dummheit oder Mittelmäßigkeit nichts ausmachen, weil ich nichts erwartet hatte außer seinem Anblick, den ich nicht erwartet hatte, und dieser Anblick dauert fort. Doch die persönliche Bekanntschaft ist schädlich, weil sie nutzlos ist, und nutzloses Material ist immer schädlich. Den Namen des Wesens erfahren ~ wozu? und das ist doch das erste, was ich erfahre, wenn man mich ihm vorstellt. Die persönliche Bekanntschaft muß auch auf die Freiheit der Betrachtung Verzicht leisten, die meine Art zu lieben sich wünscht. Wir können nicht in Freiheit anschauen und betrachten, wen wir persönlich kennen. Oberflächliche Bekanntschaft ist für den Künstler zu wenig, stört ihn nur und mindert dadurch die Wirkung. Mein naturgegebenes Schicksal macht mich zum unbestimmten, leidenschaftlichen Betrachter des äußeren Scheins und der
Darbietungsform der Dinge — zum Objektivisten der Träume, zum Augen-Liebhaber der Formen und Aspekte der Natur. Das ist kein Fall, wie ihn die Psychiater als psychische Onanie bezeichnen, es ist nicht einmal ein Fall von Erotomanie. Ich phantasiere nicht wie bei der psychischen Onanie; ich träume nicht davon, der körperliche Liebhaber oder auch nur Gesprächsfreund des Wesens zu sein, das ich anschaue und in der Erinnerung behalte; ich ergehe mich nicht in Phantasien. Ich idealisiere es auch nicht und entferne es nicht aus der Sphäre der konkreten Ästhetik: Ich will oder denke von diesem Wesen nicht mehr als das, was es den Augen und dem unmittelbaren, reinen Gedächtnis dessen mitteilt, was die Augen gesehen haben.
Nur einmal bin ich wahrhaft geliebt worden. Sympathien habe ich immer gefunden, bei allen Menschen. Nicht einmal den größten Zufallsbekanntschaften ist es leicht gefallen, sich grob oder schroff oder gar kalt gegen mich zu verhalten. Einige Sympathien wurden mir zuteil, die ich — zumindest vielleicht — mit einiger Nachhilfe in Liebe oder Zuneigung hätte verwandeln können. Ich habe nie die Geduld oder geistige Aufmerksamkeit aufgebracht, um überhaupt den Wunsch zu hegen, eine solche Anstrengung zu leisten. Zu Beginn meiner diesbezüglichen Selbstbeobachtung glaubte ich — so sehr kann man sich selbst verkennen —, Schüchternheit sei der Grund für diese Einstellung meiner Seele. Doch dann entdeckte ich, daß nicht sie der Grund sein konnte; es war da vielmehr ein Überdruß an den Gefühlen vorhanden, der sich vom Überdruß am Leben unterschied, eine Ungeduld gegenüber der Bindung an irgendein beständiges Gefühl, vor allem wenn das eine kontinuierliche Anstrengung verlangt hätte. Wozu?, dachte in mir das, was nicht denkt. Ich besitze genügend Scharfsinn und ausreichend psychologisches Taktgefühl, um über das »wie« Bescheid zu wissen; das »wie des wie's« jedoch ist mir immer verborgen geblieben. Meine Willensschwäche begann stets damit, daß der Wille zu schwach war, Willenskraft aufzubringen. So ging es mir mit den Gefühlen so, wie es mir mit der Intelligenz ergangen
war und mit dem Willen selbst und überhaupt mit allem, was zum Leben gehört. Bei dem einen Mal jedoch, als mich eine boshafte Gelegenheit meinen ließ, ich liebte, und feststellen ließ, daß ich wiedergeliebt wurde, war ich zunächst benommen und verwirrt, als ob mir das große Los in einer nicht konvertiblen Währung zugefallen wäre. Dann überkam mich, weil das nur allzu menschlich ist, eine leichte Eitelkeit; diese Gefühlsregung, die als die natürlichste von der Welt erscheinen mag, ging rasch vorüber. Es folgte ein schwer zu definierendes Gefühl, in welchem sich Überdruß, Demütigung und Müdigkeit unangenehm bemerkbar machten. Überdruß, als habe mir das Schicksal an unbekannten Abenden eine Pflichtaufgabe gestellt. Überdruß, als ob man mir eine neue Pflicht — die einer schrecklichen Verpflichtung zur Gegenseitigkeit — mit der Ironie eines Privilegs aufgebürdet hätte, so daß ich mich fortan immer langweilen und dafür dem Schicksal auch noch dankbar sein müßte. Überdruß, als ob die unzusammenhängende Monotonie des Lebens nicht vollauf genügt hätte, sondern zusätzlich noch die obligatorische Monotonie eines Gefühls darüber gepackt werden müßte. Und Demütigung, jawohl, Demütigung. Es dauerte ein Weilchen, bis ich merkte, weshalb sich ein scheinbar so wenig gerechtfertigtes Gefühl eingestellt hatte. Eigentlich hätte sich ja die Lust, geliebt zu werden, bei mir einstellen sollen. Eigentlich hätte es mich mit eitler Freude erfüllen müssen, daß da jemand auf meine Existenz als liebenswertes Wesen aufmerksam geworden war. Doch abgesehen von dem kurzen Augenblick wirklichen Eingebildetseins, von dem ich nicht weiß, ob an ihm nicht das Staunen mehr Anteil hatte als die Eitelkeit selbst, war Demütigung meine vorherrschende Empfindung. Ich spürte, daß man mir eine Art von Preis verliehen hatte, der eigentlich jemand anderem zukam — einen Preis, jawohl, wertvoll für denjenigen, der ihn von Natur aus verdiente. Und dazu Müdigkeit, vor allem Müdigkeit, — Müdigkeit, die den Überdruß überwiegt. Da begriff ich einen Satz von Chateaubriand, den ich aus Mangel an Erfahrung mit mir selber stets falsch aufgefaßt hatte. Chateaubriand sagt durch den Mund seines
Rene: »Daß man ihn liebte, ermüdete ihn« — »on le fatiguait en l'aimant.« Ich bemerkte mit Erstaunen, daß dies eine mit der meinigen identische Erfahrung wiedergab, deren Wahrheit ich folglich nicht abstreiten konnte. Wie ermüdend, geliebt zu werden, wahrhaft geliebt zu werden! Ermüdend, weil wir ein Gegenstand der Belastung für die Gefühle eines anderen Menschen werden! Jemand, der sich frei, immer frei sehen wollte, in den Lastträger der Verantwortung zu verwandeln, diese Gefühle zu erwidern, des Anstandsgebotes, nicht auf Distanz zu gehen, damit niemand auf den Gedanken kommen kann, daß man ein Prinz des Gefühls ist und doch das Maximum dessen, was eine menschliche Seele zu geben vermag, von sich weist. Ermüdend, daß unsere Existenz zu etwas werden könnte, was ganz und gar von der Gefühlsbeziehung zu jemand anderem abhängig wäre! Ermüdend, gezwungenermaßen fühlen zu müssen, gezwungenermaßen ebenfalls ein bißchen Heben 2u müssen, wenn auch ohne die volle Gegenseitigkeit! Diese Episode ging an mir vorüber, wie sie gekommen war. Heute ist nichts von ihr übriggeblieben, weder in meinem Verstand noch in meinem Gefühlsleben. Sie hat mir keine Erfahrung gebracht, die ich nicht von den Gesetzen des Lebens hätte ableiten können, die mir instinktiv bekannt sind, weil ich ein menschliches Wesen bin. Sie hat mir weder ein Vergnügen geschenkt, an das ich mich mit Trauer erinnern würde, noch einen Kummer, an den ich mich ebenfalls mit Trauer erinnern könnte. Mir ist, als habe es sich um etwas gehandelt, was ich irgendwo gelesen hätte, um einen Zwischenfall, den jemand anderer erlebt hat, um eine Novelle, von der ich die eine Hälfte gelesen habe und deren andere Hälfte fehlte, ohne daß es mir etwas ausgemacht hätte, daß sie fehlte, denn so weit ich sie lesen konnte, war sie in Ordnung; auch wenn sie keinen Sinn hatte, war sie doch schon so beschaffen, daß ich auch dem fehlenden Teil, welche Handlung er auch aufweisen mochte, keinen Sinn hätte geben können. Es bleibt mir nur die Dankbarkeit für den Menschen, der mich geliebt hat. Doch das ist eine abstrakte, erstaunte Dankbarkeit, die mehr vom Verstand herrührt als von irgendeiner Gefühlsbewegung. Es schmerzt mich, daß jemand um meinetwillen Schmerz
empfunden haben sollte — das schmerzt mich, und sonst schmerzt mich gar nichts. Es ist unwahrscheinlich, daß mir das Leben eine weitere Begegnung mit den natürlichen Gefühlen verschafft. Fast wünsche ich mir, daß sie gleichwohl erfolgen möge, um sehen zu können, wie ich das zweite Mal fühle, nachdem ich eine ausgedehnte Analyse der ersten Erfahrung abgeschlossen habe. Es ist denkbar, daß ich dann weniger fühle; es ist auch möglich, daß ich mehr fühle. Wenn mir das Schicksal die Gelegenheit dazu geben will, dann nur zu. Auf die Gefühle bin ich neugierig. Auf die Fakten, wie immer sie beschaffen sein mögen, bin ich überhaupt nicht neugierig. Ein Tag (Zickzack) Nie eine Haremsdame gewesen zu sein! Wie leid tut es mir, daß mir das nie widerfahren ist! Jeder Mensch von heute, dessen moralische Statur und geistiger Umriß nicht die eines Pygmäen oder Primitiven sind, Hebt, wenn er liebt, auf romantische Weise. Die romantische Liebe ist ein extremes Produkt von vielen Jahrhunderten christlicher Beeinflussung; was ihre Substanz und ihre Entwicklungsstadien angeht, kann man sie dem, der das nicht versteht, näher erklären, indem man sie mit einem Kleid oder einem Kostüm vergleicht. Seele oder Phantasie stellen sie her, um damit die Wesen zu bekleiden, die ihren Lebensweg kreuzen und von denen der Geist meint, daß sie zu ihnen passen. Aber jedes Kostüm hält, da es nicht ewig ist, nur so lange, wie es eben hält; und binnen kurzem taucht dann unter dem Kleid des Ideals, das wir uns eingebildet haben und das in Fetzen geht, der wirkliche Körper der menschlichen Person auf, dem wir es angezogen haben. Die romantische Liebe ist infolgedessen ein Weg zur Enttäuschung. Sie ist es nur dann nicht, wenn man die Enttäuschung von Anfang an einkalkuliert und beschließt, das Ideal ständig auszuwechseln und ständig in den Werkstätten der Seele neue Kleider zu weben, mittels derer der Anblick des Wesens, das man mit ihnen bekleidet, ständig erneuert wird.
Was kann die Liebe irgendeiner Frau der Welt anderes als Traum bedeuten für denjenigen, dem, wenn auch im Traum, Proserpina von Pluto geraubt worden ist?
Nicht die Liebe, wohl aber ihr Umfeld lohnt die Bemühung . . . Die Zurückdämmung der Liebe erhellt ihre Phänomene mit größerer Klarheit als die Liebeserfahrung. Es gibt eine Jungfräulichkeit von hohen Verstehensgraden. Handeln entschädigt, aber verwirrt. Besitzen heißt besessen werden und sich deshalb verlieren. Nur die Idee erlangt, ohne Schaden zu nehmen, die Kenntnis der Wirklichkeit.
Rein sein, nicht um edel oder stark zu sein, sondern um man selber zu sein. Wer Liebe gibt, verliert Liebe. Vom Leben abdanken,um nicht von sich selbst abzudanken. Die Frau ist eine gute Quelle für Träume. Berühre sie nie! Lerne es, Vorstellungen von Wollust und Genuß abzutrennen! Lerne, in allem nicht das, was es ist, zu genießen, sondern die Vorstellungen und Träume, die es auslöst. Denn nichts ist, was es ist: Die Träume sind immer Träume. Deshalb brauchst du nichts anzurühren. Wenn du deinen Traum anrührst, wird er sterben; das berührte Objekt wird deine Empfindung beschäftigt halten. Sehen und hören sind die einzigen edlen Dinge, die das Leben enthält. Die übrigen Sinne sind plebejisch und rein körperlich. Der einzige Adel besteht darin, nie zu berühren. Sich nicht nähern — das ist adlige Gesinnung.
25.7.1930
Wir lieben niemals irgendjemanden. Wir lieben ganz allein die Vorstellung, die wir uns von jemandem machen. Unsere eigene Meinung — letztlich also uns selbst — lieben wir. Das gilt für die ganze Skala der Liebe. In der sexuellen Liebe suchen wir unseren Genuß, der mit Hilfe eines fremden Körpers
zustande kommt. In der von der sexuellen Liebe unterschiedenen Liebe suchen wir unseren Genuß vermittels einer eigenen Vorstellung. Der Onanist ist verwerflich, aber, wenn man genauer hinsieht, ist der Onanist der vollkommene logische Ausdruck des Liebenden. Er ist der einzige, der sich nichts vormacht und sich nicht betrügt. Die Beziehungen zwischen zwei Seelen vermittels so Ungewisser und divergierender Dinge wie es die üblichen Wörter und Gesten sind, sind stofflich von sonderbarer Komplexität. Sogar in der Kunst, uns zu erkennen, verkennen wir uns. Beide sagen »ich Hebe dich« oder denken und fühlen es im Austausch, und jeder von ihnen will eine andere Vorstellung, ein anderes Leben aussagen, ja sogar vielleicht eine andere Farbe oder einen anderen Duft innerhalb der abstrakten Summe von Eindrücken, welche die Tätigkeit der Seele ausmacht. Ich bin heute so klarsichtig, als ob ich nicht existierte. Mein Denken liegt zutage wie ein Skelett oder die fleischlichen Fetzen der Illusion des Ausdrucks. Und diese Betrachtungen, die ich anstelle und wieder fallen lasse, sind aus nichts entstanden — jedenfalls aus nichts, was im Parkett meines Bewußtseins vorhanden wäre. Vielleicht wurden sie ausgelöst durch den Liebeskummer des Kassierers, vielleicht durch irgendeinen Satz, den ich in der Zeitung über die Liebesabenteuer irgendwelcher Ausländer gelesen habe, vielleicht sogar durch das unbestimmte Ekelgefühl, das ich mit mir herumtrage und physisch nicht ausgespien(?) habe . . . Der Kommentator Vergils hat falsch formuliert. Es muß heißen, daß wir uns vor allem ermüden. Leben heißt nicht denken.
18.9.1917
Auf allen Schauplätzen des Lebens, in allen Lagen, bei jedem geselligen Umgang war ich stets für alle ein Eindringling. Zumindest war ich stets ein Fremdling. Unter Verwandten wie unter Bekannten betrachtete man mich immer als Außenseiter. Ich behaupte nicht, daß dies auch nur ein einziges Mal mit Absicht
geschah. Und doch war ich es immer, auf Grund einer spontanen Reaktion der fremden Temperamente. Ich bin überall von allen stets mit Sympathie behandelt worden. Ich gehöre, glaube ich, zu den Wenigen, denen nur ganz Wenige krumm gekommen sind; oder nur Wenige haben mir gegenüber die Stirn gekraust oder mit mir Streit gesucht. Doch die Sympathie, mit der man mich immer behandelt hat, war stets eine Sympathie ohne Zuneigung. Für diejenigen, die mir von Natur aus am nächsten standen, war ich stets ein Gast, den man als Gast gut behandeln muß, immer aber mit einer Aufmerksamkeit, die man Fremden schuldig ist, und jenem Mangel an Zuneigung, das der Eindringling verdient. Ich bezweifle nicht im Geringsten, daß diese besondere Einstellung meiner Mitmenschen vor allem von einer dunklen Ursache herrührt, die etwas mit meinem eigenen Temperament zu tun hat. Ich bin möglicherweise im Umgang derart kühl, daß ich dadurch, ohne es zu wollen, die anderen dazu nötige, über meine Gefühlskälte nachzudenken. Es gehört zu meinem Wesen, daß ich rasch Bekanntschaften schließe. Die Sympathien der Mitmenschen bleiben nicht aus. Doch Gefühlsbindungen stellen sich nie ein. Hingabe habe ich nie gefunden. Daß mich jemand geliebt hätte, ist mir immer als unmöglich erschienen, wie der Gedanke, ein Fremder könne mich duzen. Ich weiß nicht, ob ich darunter leiden soll oder ob ich es hinnehmen muß wie ein gleichgültiges Schicksal, bei dem weder leiden noch hinnehmen angebracht ist. Ich habe immer gefallen wollen. Es hat mich immer geschmerzt, wenn man mir gegenüber gleichgültig blieb. Ein Waisenkind des Glücks, spüre ich wie alle Waisenkinder die Notwendigkeit, irgendjemandes Zuneigung erringen zu müssen. Ich habe immer Hunger gelitten bei der Verwirklichung dieser Notwendigkeit. So sehr habe ich mich an diesen unnützen(?) Hunger angepaßt, daß ich zuweilen nicht weiß, ob ich die Notwendigkeit zu essen spüre. Mit oder ohne dies schmerzt mich das Leben. Die anderen haben Menschen, die sich ihnen widmen. Ich habe nie jemanden gehabt, der auch nur im Traum daran gedacht hätte,
sich mir zu widmen. Die anderen finden Bediener: Ich werde nur gut behandelt. Ich weiß wohl, ich flöße Achtung ein, nicht Zuneigung. Unglücklicherweise habe ich nichts getan, womit ich diese Achtung rechtfertigen könnte, die jemand aufgebracht hat, der sie auf eine Art und Weise fühlt, die ihn nie dazu kommen läßt, mich wahrhaft zu achten. Ab und zu meine ich, daß ich meine Leiden genieße. Aber in Wahrheit hätte ich es gern anders. Ich habe keine Begabung zum Chef, auch nicht zum Gefolgsmann. Ich habe nicht einmal Talent zur satten Zufriedenheit, und sie hat doch ihren Wert, wenn die anderen Talente ausfallen. Andere, die weniger intelligent sind als ich, sind stärker. Sie richten ihr Leben unter den Menschen besser ein; sie verwalten ihre Intelligenz geschickter. Ich besitze alle Gaben, um Einfluß ausüben zu können, außer der Kunst, diesen Einfluß auch wirklich auszuüben und dem Willen, es mir zu wünschen. Wenn ich eines Tages lieben sollte, werde ich nicht auf Gegenliebe stoßen. Ich brauche nur etwas wollen, damit es stirbt. Mein Schicksal jedoch besitzt nicht die Kraft, irgendeinem Ding gegenüber sterblich zu sein. Es hat die Schwäche, für mich in den Dingen sterblich zu sein.
13.4.1930
Was in mir, wie ich glaube, das tiefe Gefühl der Unstimmigkeit mit den Mitmenschen hervorruft, in dem ich lebe, rührt davon her, daß die Mehrheit der Menschen mit der Sensibilität denkt, ich dagegen mit dem Denken fühle. Für den Normalmenschen heißt fühlen leben und denken heißtzu leben verstehen. Für mich heißt denken leben und das Fühlen liefert mir nicht mehr als Nahrung für mein Denken. Auffällig ist, daß meine Fähigkeit zur Begeisterung, obwohl sie gering ist, eher von denjenigen geweckt wird, die ein mir gegensätzliches Temperament besitzen als von jenen, die zu meiner
geistigen Verwandtschaft gehören. Niemanden bewundere ich in der Literatur mehr als die Klassiker, denen ich am wenigsten ähnlich bin. Wenn ich zwischen Chateaubriand und Vieira als einziger Lektüre wählen müßte, würde ich ohne Besinnen Vieira wählen. Je verschiedener einer von mir ist, als desto wirklicher erscheint er mir, weil er weniger von meiner Subjektivität abhängt. Und aus diesem Grunde gilt mein aufmerksames, beständiges Studium eben der vulgären Menschheit, die ich ablehne und von der ich mich distanziere. Ich liebe sie, weil ich sie hasse. Ich sehe sie gern an, weil ich es verabscheue, sie zu fühlen. Die Landschaft, die als Gemälde bewundernswert ist, ist im allgemeinen als Lagerstatt unbequem.
Die vage, fast unwägbare Schadenfreude, die jedes menschliche Herz beim Schmerz der Mitmenschen und fremder Trostlosigkeit erheitert, empfinde ich bei der Überprüfung meiner eigenen Schmerzen. Ich treibe sie so weit, daß ich, wenn ich mich lächerlich mache oder mir schäbig vorkomme, das so genieße, als ob es sich um jemand anderes handle. Infolge einer merkwürdigen Umwandlung der Gefühle kann ich die boshafte allzu menschliche Freude angesichts von fremdem Schmerz und fremder Lächerlichkeit nicht nachvollziehen. Die Erniedrigung der Mitmenschen verursacht mir nicht Schmerz, sondern ästhetisches Unbehagen und eine versteckte Irritation. Das geschieht nicht, weil ich ein besonders gütiger Mensch wäre, sondern weil, wer sich lächerlich macht, sich nicht allein mir gegenüber lächerlich macht, sondern auch gegenüber den anderen, und es irritiert mich, daß sich irgendjemand gegenüber seinen Mitmenschen lächerlich macht, es schmerzt mich, daß irgendein Wesen der Gattung Mensch auf Unkosten eines anderen lachen dürfte, wo es doch kein Recht dazu hat. Daß die anderen auf meine Kosten lachen, stört mich nicht, denn nach außen hin schützt mich ein nützlicher Panzer der Verachtung. Schrecklicher als jede Mauer sind die haushohen Gitter, mit denen ich den Garten meines Seins umgeben habe, derart, daß
zwar ich die anderen deutlich sehen kann, sie aber vollkommen aussperre und sich selbst überlasse. Die skrupulöse Aufmerksamkeit meines Lebens war stets darauf gerichtet, mich jeder Verpflichtung zum Handeln zu entziehen. Ich unterwerfe mich weder dem Staat noch den Menschen; ich leiste ihnen den Widerstand der Trägheit. Der Staat kann mich nur zu irgendwelchen Aktionen verwenden wollen. Wenn ich nun aber nicht handle, erreicht er nichts bei mir. Heute bringt man niemanden mehr um, und er kann mich höchstens belästigen; wenn das geschehen sollte, muß ich meinen Geist noch stärker panzern und noch weiter im Inneren in meinen Träumen leben. Doch das ist nie geschehen. Der Staat hat mich nie beunruhigt. Ich glaube, das Schicksal hat dafür Vorsorge getroffen.
18.9.1931
So wie wir alle eine Metaphysik haben, ob wir das wissen oder nicht, haben wir auch alle eine Moral, ob wir das wollen oder nicht. Ich habe eine sehr einfache Moral — niemandem weder etwas Gutes noch etwas Böses antun. Niemandem etwas Böses antun, nicht allein weil ich meinen Mitmenschen dasselbe Recht zuerkenne, von dem ich meine, daß es auch mir zusteht, wenn sie mich nur nicht belästigen, sondern weil ich finde, die Übel der Natur reichen schon für das Üble aus, das es in der Welt geben muß. Wir leben alle in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das aus einem Hafen ausgelaufen ist, den wir nicht kennen. Es ist unterwegs zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen; wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit gegenüber Reisebekanntschaften aufbringen. Niemandem etwas Gutes antun, weil ich nicht weiß, was das Gute ist, und auch nicht, ob ich es tue, wenn ich meine, daß ich es tue. Weiß ich denn, welche Übel ich hervorrufe, wenn ich ein Almosen gebe? Weiß ich, welche Übel ich hervorrufe, wenn ich erziehe oder unterrichte? Im Zweifelsfall enthalte ich mich der Stimme. Und außerdem finde ich, daß helfen oder aufklären in mancher Hinsicht das Übel in sich birgt, in fremdes
Leben einzugreifen. Die Güte ist eine Laune des Temperaments: wir besitzen nicht das Recht, die Mitmenschen zu Opfern unserer Launen zu machen, und wären es Anwandlungen von Menschlichkeit oder Zärtlichkeit. Wohltaten sind etwas, was aufgedrängt wird; deshalb verabscheue ich sie kühlen Blutes. Wenn ich aus moralischer Überzeugung nichts Gutes tue, so verlange ich auch nicht, daß man es mir erweist. Wenn ich erkranke, so belastet es mich am meisten, daß ich jemanden dazu nötige, mich zu pflegen, was mich anwidern würde, wenn ich jemand anders zu pflegen hätte. Nie habe ich einen kranken Freund besucht. Immer wenn man mich während einer Erkrankung besuchte, erschien mir ein solcher Besuch wie eine Störung, eine Beleidigung, ein ungerechtfertigter Eingriff in meine ureigene Intimität. Ich mag es nicht gern, wenn man mir etwas schenkt; man will mich damit offenbar dazu verpflichten, ebenfalls etwas zu schenken — den Gebern oder anderen Leuten, wem auch immer. Ich bin sehr gesellig auf eine äußerst negative Weise. Ich bin die Fleisch gewordene Verträglichkeit. Aber mehr als das bin ich nicht, ich will nicht mehr sein als das, ich kann nicht mehr sein als das. Ich empfinde allem Existierenden gegenüber visuelle Zärtlichkeit, eine Liebkosung der Intelligenz — im Herzen gar nichts. Ich glaube an nichts, hoffe auf nichts, liebe nichts. Ich verabscheue voller Ekel und Staunen die Aufrichtigen aller Schattierungen und die Mystiker aller mystischen Richtungen oder, genauer gesagt, Aufrichtigkeit aller Art und die Mystik aller Mystiker. Dieser Ekel ist beinahe körperlicher Art, wenn diese mystischen Strömungen aktiv sind, wenn sie beabsichtigen, die fremde Intelligenz zu überzeugen oder den fremden Willen zu bewegen, die Wahrheit zu finden oder die Welt zu reformieren. Ich betrachte mich als glücklich, weil ich keine Verwandten mehr habe. So sehe ich mich nicht verpflichtet, irgendjemanden zu lieben, was mich unweigerlich bedrücken würde. Sehnsucht empfinde ich rein literarisch. Ich entsinne mich an meine Kindheit unter Tränen, aber es sind das rhythmische Tränen, bei denen sich bereits die Prosasätze vorbereiten. Ich entsinne mich an sie als etwas Äußerliches und durch äußerliche Dinge hindurch; ich
entsinne mich nur an die äußeren Dinge. Es ist nicht die Stille der Abende in der Provinz, die mich gerührt die Kindheit erleben läßt, die ich während der Kindheit erlebte, es ist die Vorbereitung des Tisches für den Tee, es sind die Umrisse der Möbel ringsumher, es sind die Gesichter und körperlichen Gesten der Bewohner. Nach Gemälden spüre ich Sehnsucht. Deshalb rührt mich meine eigene Kindheit ebenso wie diejenige von jemand anderem: Beide sind in jener Vergangenheit, von der ich nicht weiß, was sie ist, rein visuelle Phänomene, die ich mit literarischer Aufmerksamkeit wahrnehme. Ich bin gerührt, jawohl, aber nicht weil ich mich erinnerte, sondern weil ich sehe. Nie habe ich jemanden geliebt. Das Äußerste, was ich geliebt habe, sind meine eigenen Wahrnehmungen — Zustände der bewußten Visualität, Eindrücke des wachsamen Hörvermögens, Düfte, mittels deren die schlichte Außenwelt zu mir redet und mir Dinge aus der Vergangenheit mitteilt (so leicht zu erinnern dank der Gerüche) —, die mir mehr Wirklichkeit und mehr Gefühl vermitteln. So beispielsweise das Brot, das man dort drinnen in der Bäckerei bäckt, wie an jenem fernen Abend, als ich von der Beerdigung meines Onkels kam, der mich so sehr geliebt hatte, und sich in mir eine zärtliche Erleichterung ausbreitete, ohne daß ich recht wüßte, weshalb ich erleichtert war. Das ist meine Moral oder meine Metaphysik oder mein Ich: Ich gehe an allem vorbei — sogar an meiner eigenen Seele — ich gehöre zu nichts, ich wünsche nichts, ich bin nichts — ich bin ein abstrakter Mittelpunkt unpersönlicher Empfindungen, ein fühlender, zu Boden gefallener Spiegel, der der Mannigfaltigkeit der Welt zugekehrt ist. Bei alledem weiß ich nicht, ob ich glücklich oder unglücklich bin; und mir liegt auch nichts daran.
Ich muß, ich weiß nicht ob mit Bekümmerung, die menschliche Unergiebigkeit meines Herzens zugeben. Für mich ist ein Adjektiv wichtiger als ein echtes Weinen(?) der Seele [. . .] Doch manchmal bin ich ein anderer und dann kenne ich Tränen, heiße Tränen, wie sie Menschen weinen, die keine Mutter
haben und sie nie gehabt haben; und meine Augen, die von diesen toten Tränen brennen, brennen im Inneren meines Herzens. Ich entsinne mich nicht an meine Mutter. Sie starb, als ich ein Jahr alt war. Alles was in meiner Empfindungsfähigkeit dispers und hart ist, rührt von dem Fehlen dieser Wärme her und von der nutzlosen Sehnsucht nach Küssen, an die ich mich nicht erinnere. Ich bin ein künstliches Wesen. Ich bin immer an fremden Brüsten aufgewacht, erwärmt auf einem Umweg. Ja, die Sehnsucht nach dem anderen, der ich hätte werden können, zerstreut und erschreckt mich! Welch ein anderer Mensch wäre ich, wenn mir Zärtlichkeit zuteil geworden wäre, vom Bauch herauf bis zu den Küssen auf ein Kindergesichtchen! All das bin ich, auch wenn ich es nicht will, auf dem verworrenen Grunde meiner vom Schicksal verliehenen Sensibilität. Vielleicht hat die Enttäuschung darüber, kein Sohn gewesen zu sein, einen großen Anteil an meiner Gefühlskalte. Wer mich als Kind an sein Gesicht drückte, konnte mich nicht ans Herz drükken. Sie war fern, sie lag in einer Gruft — sie, die mir gehört haben würde, wenn es das Schicksal gewollt hätte, daß sie mir gehören sollte. Später hat man mir versichert, meine Mutter sei hübsch gewesen. Man hat mir, als man mir das versicherte, ebenfalls mitgeteilt, als man mir das sagte, hätte ich keine Worte gefunden. Ich war schon leiblich und seelisch ausgereift, verständnislos gegenüber Gefühlsbewegungen, und Reden war für mich noch nicht die Wiedergabe anderer, schwer vorstellbarer Buchseiten. Mein Vater lebte in der Ferne; er hat sich umgebracht, als ich drei Jahre alt war, und ich habe ihn nie gekannt. Ich weiß noch nicht, weshalb er in der Ferne lebte. Ich habe mich nie darum gekümmert, das zu erfahren. Ich erinnere mich an die Nachricht von seinem Tode als tiefen Ernst bei den ersten Mahlzeiten nach ihrem Bekanntwerden. Ich entsinne mich, daß man mich ab und zu anschaute. Ich erwiderte diese Blicke und begriff auf törichte Weise. Dann aß ich mit besseren Tischmanieren weiter, denn es hätte ja sein können, daß man mich, ohne daß ich das merkte, weiterhin ansah.
3.12.1931
Als ich zuerst nach Lissabon kam, erklang aus der Etage über uns der Klavierton von Tonleitern, das eintönige Üben eines Mädchens, das ich nie zu Gesichte bekam. Heute muß ich feststellen, daß dank mir unbekannten Vorgängen der Infiltration in den Kellern meiner Seele, deutlich vernehmlich, wenn die Tür dort unten geöffnet wird, noch immer die auf dem Klavier heruntergehämmerten Tonleitern des Mädchens stekken, das heute längst eine Frau oder verstorben und an einem weißen Ort eingeschlossen ist, wo schwarz die Zypressen grünen. Ich war damals ein Kind, und heute bin ich es nicht mehr; der Klang jedoch ist in meiner Erinnerung der gleiche geblieben, der er in Wahrheit gewesen ist; das Geklimper bleibt, ewig gegenwärtig, wenn es sich von dorther erhebt, wo es sich schlafend stellte, immer gleich langsam und von gleicher rhythmischer Eintönigkeit. Eine verschwommene beängstigende Traurigkeit dringt in mich ein, wenn ich das bedenke oder fühle. Ich beweine nicht den Verlust meiner Kindheit; ich weine darüber, daß alles und darunter auch meine Kindheit verlorengeht. Es ist dies die abstrakte Flucht der Zeit, nicht die konkrete Flucht der Zeit — und die Zeit bleibt mein und schmerzt in meinem Gehirn dank der wiederholten, unfreiwilligen Wiederkehr der Tonleitern des Klaviers im oberen Stockwerk, so schrecklich anonym und fern. Es ist das ganze Geheimnis, daß nichts von Dauer ist, das da etwas hämmert und wiederholt, was nicht zu Musik gedeiht, sondern auf dem absurden Untergrund meines Erinnerungsvermögens Sehnsucht bleibt. Unmerklich sehe ich in einer visuellen Anstrengung das Musikzimmer vor mir, das ich nie gesehen habe, worin die Klavierschülerin, die ich nicht gekannt habe, noch heute längst verhallte immergleiche Tonleitern sorgfältig Finger um Finger übt. Ich sehe es vor mir, sehe es immer deutlicher, ich rekonstruiere es im Sehen. Und das ganze Heim im oberen Stockwerk, heute mit einer
Sehnsucht erinnert, die ich gestern nicht verspürt habe, erhebt sich fiktiv aus meiner fassungslosen Betrachtung. Ich nehme jedoch an, daß ich in alledem eine Übertragung vornehme, daß die Sehnsucht, die ich verspüre, gar nicht recht meine eigene und auch nicht richtig abstrakt ist, sondern nur die aufgefangene Gefühlsregung eines mir unbekannten Dritten, für den die Gefühlsregungen, die bei mir literarischer Natur sind, wie Vieira sagen würde, wörtlich vorhanden sind. In meiner Annahme, daß ich fühle, durchlebe ich Scbmer2 und Angst und die Sehnsüchte, bei deren Erlebnis mir die Augen übergehen, ich denke und fühle kraft meiner Phantasie und Andersart. Und immer wieder erklingen mit einer Beständigkeit, die aus der Tiefe der Welt stammt, mit einer Hartnäckigkeit, die Metaphysik studiert, die Tonleitern der Klavierschülerin in der Wirbelsäule meiner Erinnerung. Sie evozieren mir die alten Straßen mit ihren anderen Leuten, die heute die gleichen Straßen auf andere Weise sind; es sind Verstorbene, die durch die Transparenz ihrer heutigen Abwesenheit hindurch zu mir reden; es sind Gewissensbisse im Hinblick auf all das, was ich getan oder unterlassen habe, Bachgeplätscher in der Nacht, Geräusche dort unten im stillen Hause. Ich habe Lust, im Inneren meines Kopfes aufzuschreien. Ich will diese unausdenkliche Grammophonplatte, die da in mir in einem fremden Hause wie ein ungreifbarer Folterknecht spielt, anhalten, zerquetschen und zerbrechen. Ich will die Seele anhalten lassen, damit sie (?) alleine weiterfahren soll wie ein Gefährt und mich zurücklassen. Ich werde verrückt bei diesem Zuhörenmüssen. Und dabei bin doch letztlich ich mit meinem hassenswert sensiblen Gehirn, mit meiner erschaudernden Haut und meinen an der Oberfläche freiliegenden Nerven diese Tonleitern und spielenden Tasten, du entsetzliches, urpersönliches Klavier unserer Erinnerung! Und unablässig, unablässig, so als hätte sich ein Teil des Gehirns selbständig gemacht, erklingen die Tonleitern dort unten wie dort oben aus dem ersten Haus in Lissabon, in das ich eingezogen bin.
Ich bin immer ein ironischer Träumer gewesen, untreu meinen inneren Versprechen. Ich habe stets wie ein anderer, mir Fremder die Niederlagen meiner Phantasievorstellungen genossen, ein Assistent des Zufalls für denjenigen, der ich zu sein glaubte. Nie habe ich dem Glauben geschenkt, woran ich glaubte. Ich füllte meine Hände mit Sand, nannte es Gold und ließ allen Sand aus ihnen hinausrinnen. Der Satz selbst war die einzige Wahrheit gewesen. Mit dem fertigen Satz war alles getan; alles übrige war Sand, der immer Sand gewesen war. Wenn nicht das ewige Träumen wäre, dieses Leben in ständiger Verfremdung, könnte ich mich guten Gewissens als Realisten bezeichnen, das heißt als ein Individuum, für das die äußere Welt eine unabhängige Nation darstellt. Doch ich ziehe es vor, mir keinen Namen zu geben, in einer gewissen Dunkelheit zu sein, was ich bin, und mir gegenüber die Bosheit zu besitzen, mich selbst nicht voraussehen zu können. Es ist für mich eine Art von Verpflichtung, immerfort zu träumen, denn da ich nicht mehr bin und auch nicht mehr sein will als ein Beobachter meiner selbst, steht mir auch das beste Schauspiel zu, das ich zu bekommen vermag. So erbaue ich mich in Gold und Seide in Phantasiesälen mit falscher Bühne und altem Bühnenbild, ein Traum, erschaffen zwischen weichen Lichtern und unsichtbarer Musik. Im Inneren bewahre ich wie die Erinnerung an einen willkommenen Kuß die Kindheitserinnerung an ein Theater, in welchem das bläuliche, mondübergossene Bühnenbild die Terrasse eines unausdenklichen Palastes vorstellte, Dort gab es ringsumher einen ebenfalls gemalten weiten Park, und ich verschwendete meine Seele darauf, das alles als wirklich zu erleben. Die Musik, die sanft bei dieser geistigen Gelegenheit meiner Lebenserfahrung erklang, zog dieses gegebene Bühnenbild ins fieberhaft Wirkliche. Das Bühnenbild war auf endgültige Weise bläulich und mondüberglänzt. Ich entsinne mich nicht mehr, wer auf der Bühne auftrat, doch das Stück, das ich in diese Erinnerungslandschaft verlege, ersteht mir heute aus Versen von Verlaine und Pessanha;* * Camilo Pessanha (1867— 1926), symbolistischer Dichter (A. d. Ü.)
es war nicht ein Stück, an das ich mich nicht entsinnen kann, das man auf der lebendigen Bühne diesseits der Wirklichkeit aus blauer Musik aufgeführt hätte. Es war mein und flüssig, eine unermeßliche, mondliche Maskerade, ein Zwischenspiel aus Silber und abgeschlossener Bläue. Dann kam das Leben. In jener Nacht schleppte man mich zum Abendessen in den »Löwen«. Ich spüre noch die Erinnerung an die Beefsteaks auf dem Gaumen der Sehnsucht — Beefsteaks, das weiß ich oder nehme es wenigstens an, wie sie heute niemand serviert und ich sie nicht esse. Und alles verschmilzt für mich — die auf Distanz erlebte Kindheit, das schmackhafte Abendessen, das mondüberglänzte Bühnenbild — künftiger Verlaine und ich gegenwärtig — zu einer undeutlichen Diagonale in dem falschen Raum zwischen dem, was ich war, und dem, was ich bin.
2.9.1931
Inkognito habe ich bis heute dem schrittweisen Verfall meines Lebens beigewohnt, dem langsamen Schiffbruch von alledem, was ich sein wollte. Ich kann mit einer Wahrheit, die keine Blumen nötig hat, damit einem klar wird, daß sie verstorben ist, von mir behaupten, daß es nichts gibt, was ich geliebt oder wenn auch nur für einen Augenblick erträumt hätte, was mir nicht unter den Fenstern zerfallen wäre wie Staub, der wie ein Stück von einem aus einem hohen Stockwerk herabgefallenen Blumentopf aussieht. Mir scheint sogar, daß das Schicksal immer zunächst danach getrachtet hat, mich das lieben oder gern haben zu lassen, wovon ich am nächsten Tag nach seiner Verfügung erkennen sollte, daß es nicht mein war und auch nie mein werden könnte. Ironischer Zuschauer meiner selbst, habe ich jedoch nie den Mut verloren, dem Leben beizuwohnen. Und seit ich nun dank der Vorwegnahme jeder vagen Hoffnung weiß, daß sie trügen wird, erleide ich den besonderen Genuß, die Enttäuschung bereits zusammen mit der Hoffnung zu genießen und ihren bitteren, mit Süßigkeit untermischten Geschmack zu schmecken, der das Süße als süß gegen das Bittere abhebt. Ich bin ein finsterer Stratege,
der, nachdem er alle Schlachten verloren hat, schon am Vorabend jeder neuen Schlacht auf dem Papier seiner Planungen, das Schema auskostend, die Einzelheiten seiner vom Schicksal verordneten Rückzüge einträgt. Wie ein boshaftes Wesen hat mich das Schicksal verfolgt, nichts wünschen zu können, ohne dabei zu wissen, daß es beim Nichterhalten bleiben wird. Wenn ich einen Augenblick lang auf der Straße eine ehetaugliche Mädchengestalt sehe und einen Augenblick lang und sei es mit Gleichmut Vermutungen anstelle, was wohl sein würde, wenn sie die meine wäre, so trifft dieses Mädchen bestimmt zehn Schritte nach meinem Traum den Mann, in dem ich ihren Ehemann oder Liebhaber erkenne. Ein Romantiker würde daraus eine Tragödie machen; ein Fremder würde das als Komödie empfinden: Ich jedoch vermische beides, denn ich bin in mir ein Romantiker und ich bin mir fremd und blättere eine Seite weiter zur nächsten Ironie. Einige meinen, ohne Hoffnung sei das Leben undenkbar, andere, mit Hoffnung sei es leer. Für mich, der heute weder hofft noch verzweifelt, ist es nur ein äußerliches Gemälde, das mich mit einschließt und dem ich wie einem Schauspiel ohne Handlung beiwohne. Es ist zum reinen Augenvergnügen geschaffen — ein zusammenhangloses Ballett, ein Blätterrauschen im Winde, Wolken, in denen das Sonnenlicht die Farbe wechselt, alte zufällige Straßenzüge an unpassenden Orten der Stadt. Ich bin großteils die gleiche Prosa, die ich schreibe. Ich entfalte mich in Perioden und Abschnitten, ich werde zur Zeichensetzung, und ich kleide mich bei der entfesselten Verteilung der Bilder wie die Kinder als König aus Zeitungspapier ein oder ich schmücke mich in der Weise, wie ich aus einer Aufreihung von Wörtern Rhythmen forme, wie die Verrückten mit trockenen Blumen, die in meinen Träumen lebendig bleiben. Und bei alledem bin ich so still wie eine mit Sägemehl gefüllte Puppe, die zum Bewußtsein ihrer selbst kommt und ab und zu mit dem Kopf nickt, damit die Schelle oben auf der Zipfelmütze (einem integrierenden Teil des Kopfes) etwas ertönen läßt, klingendes Leben des Gestorbenen, winziger Hinweis ans Schicksal.
Wie oft jedoch mischt sich mir in dieser gestillten Unzufriedenheit nach und nach in die bewußte Gefühlsregung ein Gefühl der Leere und des Überdrusses, so denken zu müssen! Wie oft fühle ich wie einer, der durch verstummende und neu einsetzende Geräusche hindurch reden hört, die essentielle Bitternis dieses dem menschlichen Leben so fremden Lebens — eines Lebens, in welchem alles nur im Bewußtsein geschieht! Wie oft ahne ich, aus der Verbannung, die ich bin, erwachend, wie viel besser es gewesen wäre, der Niemand aller gewesen zu sein, der Glückliche, der zumindest die wirkliche Bitterkeit verspürt, der Zufriedene, der Müdigkeit statt des Überdrusses verspürt, der wirklich leidet statt zu vermuten, daß er leidet, der sich umbringt, jawohl, statt dahinzusiechen! Ich bin zu einem Buchwesen geworden, zu einem gelesenen Leben. Was ich fühle, wird, ohne daß ich das wollte, gefühlt, damit aufgeschrieben werden kann, daß es gefühlt worden ist. Was ich denke, steht sogleich in Worten da, untermischt mit Bildern, die es zerstören, ausgebreitet in Rhythmen, die etwas anderes sind. Über der Mühsal, mich selber wieder zusammenzusetzen, habe ich mich zerstört. Über so vielem Mich-Überdenken bin ich schon meine Gedanken geworden, aber nicht ich selbst. Ich wollte mich erkunden und ließ die Sonde tief hinabsinken; ich lebe mit dem Gedanken, ob ich tief bin oder nicht, nunmehr ohne eine andere Sonde als den Blick, der mir, hell auf dunklem Grunde, im Spiegel des tiefen Brunnens mein eigenes Gesicht zeigt, das mich betrachtet, so wie ich es betrachte. Ich bin eine Art von Spielkarte, eine alte unbekannte Spielkarte, die als einzige von dem verlorengegangenen Kartenspiel übriggeblieben ist. Ich habe keinen Sinn, ich kenne meinen Wert nicht, ich habe nichts, womit ich mich vergleichen könnte, damit ich mich fände; ich habe nichts, wozu ich dienlich sein könnte, damit ich mich kennenlernen könnte. Und so verbleibe ich in den aufeinander folgenden Bildern, in denen ich mich beschreibe — nicht ohne Wahrheit, aber doch mit Lügen — mehr in den Bildern als in mir selbst; ich sage mich aus, bis ich nicht mehr bin, ich schreibe mit der Seele als Tinte, nützlich für rein gar nichts, nur dafür, daß man mit ihr schreibt. Doch meine Reaktion geht zu
Ende, und ich bescheide mich von neuem. Ich kehre in mir zu dem zurück, der ich bin, obgleich ich nichts bin. Und etwas Ähnliches wie Tränen ohne Weinen brennt in meinen starren Augen, etwas Ähnliches wie Angst, die gar nicht vorhanden war, weitet mir rauh die trockene Kehle. Aber ach, ich weiß nicht einmal, was ich beweint hatte, falls ich geweint haben sollte, und ebensowenig weshalb ich es beweinte. Das Fingieren begleitet mich wie mein Schatten. Alles, was ich möchte, ist schlafen.
Zuweilen überkommt mich — und immer urplötzlich — ein so schrecklicher Lebensüberdruß, daß es nicht einmal die Vorstellung einer Handlung gibt, mit der ich ihn meistern könnte. Um ihm abzuhelfen, erscheint mir der Selbstmord als zu unsicher, der Tod, selbst wenn er Unbewußtheit herbeiführt, als viel zu wenig. Es ist ein Überdruß, der nicht darauf abzielt, das Existieren zu beenden — was durchaus möglich oder nicht möglich sein kann —, sondern auf das Schrecklichere und weitaus tiefer Reichende erpicht ist, niemals existiert zu haben, was ganz und gar unmöglich ist. Manchmal meine ich in den im allgemeinen wirren Spekulationen der Inder etwas von diesem Ehrgeiz zu bemerken, der noch negativer ist als das Nichts. Aber entweder mangelt ihnen die Empfindungsschärfe, um das wiederzugeben, was sie denken, oder es fehlt ihnen der gedankliche Scharfsinn, um so zu fühlen, wie sie fühlen. Tatsache ist, daß ich das, was ich bei ihnen zu ahnen glaube, nicht deutlich sehen kann. Tatsache ist, daß ich mich für den ersten halte, der Worten die finstere Absurdität dieser heillosen Vorstellung anvertraut. Ich heile sie, indem ich sie niederschreibe. Jawohl, es gibt keine Trostlosigkeit, wenn sie wahrhaft tief ist, also nicht reines Gefühl, sondern von der Intelligenz durchdrungen ist, für die es nicht das ironische Heilmittel gäbe, sie in Worte zu kleiden. Wenn die Literatur gleich keinen anderen Nutzwert besäße, diesen besitzt sie, wenn auch für wenige. Leider schmerzen die Leiden der Intelligenz weniger als diejenigen des Gefühls und die des Gefühls unglücklicherweise weniger als die des Körpers. Ich sage »unglücklicherweise«, weil die
Würde des Menschen eigentlich das umgekehrte Verhältnis verlangen würde. Keine angstbedrängte Empfindung eines Geheimnisses kann so schmerzen wie Liebe, Eifersucht und Sehnsucht, kann so erstickend wirken wie intensive körperliche Angst, kann so verwandeln wie Zorn oder Ehrgeiz. Doch auch kein die Seele noch so sehr zerrüttender Schmerz vermag so wirklich Schmerz zu sein wie Zahnschmerzen oder Koliken oder (vermute ich) die Schmerzen bei einer Geburt. So sind wir eingerichtet, daß die Intelligenz, die gewisse Gefühlsregungen oder Empfindungen adelt und über andere erhebt, sie auch hinabwürdigt, wenn sie ihre Analyse zu einem Vergleich zwischen ihnen allen ausweitet. Ich schreibe wie ein Schlafender, und mein ganzes Leben ist eine zu unterschreibende Quittung. In seinem Hühnerstall, aus dem man ihn zum Schlachten herausholen wird, kräht der Hahn Hymnen auf die Freiheit, weil man ihm darin zwei Sitzstangen eingebaut hat.
Der sinkende Tag endet flüssig in müdem Purpur. Niemand wird mir sagen können, wer ich bin, noch erfahren, wer ich gewesen bin. Ich stieg von dem unbekannten Berg hinab ins Tal, das ich nicht kennenlernen sollte, und meine Schritte waren im langsamen Abend auf den Lichtungen des Waldes hinterlassene Spuren. Alle, die ich liebte, vergaßen mich im Schatten. Niemand wußte von dem letzten Schiff. Auf der Post wußten sie nichts von dem Brief, den niemand schreiben sollte. Alles war mithin falsch. Man gab keine Geschichten zum besten, die andere erzählt haben konnten, und man wußte nichts Genaues von demjenigen, der einst in der Hoffnung auf eine trügerische Einschiffung abgereist war, ein Sohn des künftigen Nebels und der kommenden Unschlüssigkeit. Ich bin ein Name unter denjenigen, die verweilen, und dieser Name ist ein Schatten wie alles.
Unser Leben so organisieren, daß es für die Mitmenschen ein Geheimnis bleibt, daß, wer uns am besten kennt, uns lediglich aus größerer Nähe verkennt als alle übrigen. Ich habe mein Leben so eingerichtet, fast ohne daran zu denken, aber ich habe so große instinktive Kunst darauf verwendet, daß ich mir selber zu einer nicht völlig klaren und deutlichen Individualität geworden bin.
Nachdem ich gesehen habe, mit welcher Geistesklarheit und logischen Folgerichtigkeit gewisse Verrückte (systematisch Delirierende) vor sich und den übrigen Menschen ihre Wahnvorstellungen rechtfertigen, habe ich für immer die sichere Gewißheit der Geistesklarheit meiner Geistesklarheit verloren.
Ich erhebe mich mit einer ungeheuren Anstrengung vom Stuhl, aber ich habe den Eindruck, daß ich ihn mit mir herumtrage und daß er gewichtiger ist, weil es der Stuhl meiner Subjektivität ist.
Reden heißt zu viel Hochachtung vor den Mitmenschen haben. Durch ihr Maul sterben die Fische und Oscar Wilde.
20.12.1931
Ich bin fast davon überzeugt, daß ich niemals wach bin. Ich weiß nicht, ob ich nicht träume, wenn ich lebe, ob ich nicht lebe, wenn ich träume, oder ob Traum und Leben bei mir nicht vermischte, einander überlappende Dinge sind, aus denen sich mein bewußtes Sein dank gegenseitiger Durchdringung herausbildet. Zuweilen überfällt mich mitten im tätigen Leben, in welchem ich selbstverständlich so bestimmt über mich verfüge wie alle übrigen, eine sonderbare Empfindung des Zweifels; ich weiß dann nicht, ob ich existiere, ich halte es durchaus für möglich, der Traum eines anderen Wesens zu sein; fast körperlich steht mir vor
Augen, daß ich eine Romanfigur sein und mich in den weiten Wellen eines Stils, in der erschaffenen Wahrheit einer großen Erzählkunst bewegen könnte. Oft habe ich bemerkt, daß manche Romanfiguren einen plastischen Umriß für uns annehmen, den diejenigen gar nicht erreichen können, die unsere Bekannten und Freunde sind und im sichtbaren, wirklichen Leben mit uns sprechen und uns zuhören. Und das hat zur Folge, daß mich die Frage beschäftigt, ob nicht alles in diesem Weltgetriebe eine Abfolge von Träumen und Romanen ist, die wie Schachteln in größeren Schachteln stecken — die einen in den anderen und diese wiederum in den übrigen — und das Ganze eine Geschichte aus lauter Geschichten bildet — wie »1001 Nacht« —, die fälschlicherweise in der ewigen Nacht spielt. ' Wenn ich denke, erscheint mir alles als absurd; wenn ich fühle, erscheint mir alles als fremd; wenn ich etwas will, ist das, was da will, irgend etwas in mir. Immer wenn in mit Handeln vor sich geht, muß ich einsehen, daß nicht ich es gewesen bin. Wenn ich träume, sieht es so aus, als schreibe man mich. Wenn ich fühle, so scheint es, als male man mich. Wenn ich will, ist es, als setze man mich in ein Fahrzeug wie eine aufgegebene Ware, und ich lasse mich mit einer Bewegung befördern, die ich für meine eigene halte, an ein Ziel, das ich nicht ansteuern wollte, es sei denn nachdem ich schon einmal dort gewesen bin. Was ist das für eine Wirrnis! Wie sehr ist sehen besser als denken, lesen besser als schreiben! Was ich sehe, es kann sein, daß ich mich irre, aber ich halte es jedenfalls nicht für meinen Besitz. Was ich lese, es kann sein, daß es mich bedrückt, aber es bekümmert mich nicht, es geschrieben zu haben. Wie schmerzhaft ist alles, wenn wir es überdenken als Denkbewußte, als geistige Wesen, in welchen sich das Bewußtsein zum zweiten Male entfaltete, so daß uns bewußt ist, daß wir wissen! Wenngleich der Tag herrlich ist, kann ich nicht aufhören, so zu denken . . . Denken oder fühlen oder etwa noch ein Drittes zwischen den abgeräumten Bühnenbildern? Überdruß der Dämmerstunde und der Lässigkeit, geschlossene Fächer und die Müdigkeit des Gelebthabenmüssens . . .
21.2.1930
Mit einem Mal, so als hätte mich ein Chirurg jählings von einer langen Blindheit geheilt, hebe ich den Kopf von meinem anonymen Leben in die klare Helligkeit und weiß nun plötzlich, wie ich existiere. Und ich sehe, daß alles, was ich getan, alles, was ich gedacht habe, alles, was ich gewesen bin, eine Art Betrug und Wahnwitz gewesen ist. Ich wundere mich über das, was ich nicht zu erkennen vermochte. Es befremdet mich, was alles ich war und wovon ich einsehen muß, daß ich es letztlich nicht bin. Ich blicke auf mein vergangenes Leben zurück, das wie ausgebreitet vor einer die Wolken durchbrechenden Sonne liegt; und ich bemerke mit metaphysischem Schaudern, daß meine sichersten Gebärden, meine klarsten Vorstellungen, meine logischsten Vorhaben nichts anderes waren als angeborene Trunkenheit, naturgegebene Narrheit und große Verkennung. Ich habe nicht einmal geschauspielert. Ich bin geschauspielert worden. Ich war nicht der Schauspieler, sondern seine Gesten. Alles was ich getan und gedacht habe und gewesen bin, ist eine Summe von Unterwerfungen unter ein falsches Wesen, das ich für mein eigenes hielt, durch welches hindurch ich nach außen handelte, oder unter eine Last von Umständen, die ich für die Luft hielt, die ich einatmete. Ich bin in diesem Augenblick der Einsicht ein plötzlich Vereinsamter, der sich dort verbannt wiederfindet, wo er sich zuvor als Bürger befunden hat. Im Innersten dessen, was ich dachte, war ich nicht ich. Dann überkommt mich ein sarkastisches Entsetzen vor dem Leben, eine Mutlosigkeit, die die Grenzen meiner bewußten Individualität übersteigt. Ich weiß, daß ich Irrtum und Abwegigkeit war, daß ich nie gelebt, daß ich nur existiert habe, weil ich die Zeit mit Bewußtsein und Denken ausfüllen konnte. Und meine Wahrnehmung meiner selbst ist die eines Menschen, der nach einem Schlaf voll wirklicher Träume erwacht oder die von jemandem, den ein Erdbeben von dem spärlichen Licht eines Kerkers befreit, an das er sich gewöhnt hatte. Diese jähe Einsicht in meine wahre Individualität, die stets schläfrig hin und her gereist ist zwischen dem, was sie fühlt, und
dem, was sie sieht, bedrückt mich, bedrückt mich in Wahrheit wie eine bevorstehende Verurteilung. Es ist so schwierig zu beschreiben, was man fühlt, wenn man fühlt, daß man wirklich existiert und die Seele eine reale Wesenheit ist; ich weiß nicht, welches die menschlichen Worte sind, mit denen ich das definieren könnte. Ich weiß nicht, ob ich fiebere, indem ich das fühle, oder ob ich aufgehört habe, das Fieber zu kennen, ein Schläfer des Lebens zu sein. Jawohl, ich wiederhole es, ich bin wie ein Reisender, der sich plötzlich in einer fremden Ortschaft befindet, ohne zu wissen, wie er dorthin gelangt ist; und mir kommen die Fälle jener Leute in den Sinn, die ihr Gedächtnis verlieren und lange Zeit hindurch andere Menschen sind. Ich war lange Zeit hindurch ein anderer — seit meiner Geburt und meinem Bewußtwerden — und jetzt erwache ich mitten auf der Brücke, über den Fluß gebeugt mit dem Wissen, daß ich sicherer existiere als bisher. Doch die Stadt ist mir unbekannt, die Straßen sind neu, und das Übel kennt keine Heilung. Ich warte also, über die Brücke gelehnt, daß die Wahrheit an mir vorübergeht und ich mich nichtig und künstlich, intelligent und natürlich wiederherstellen kann. Es war nur ein Augenblick, und er ist schon vorbei. Ich erblicke schon wieder die mich umgebenden Möbel, die Zeichnungen auf den alten Wandtapeten, die Sonne auf den staubigen Fensterscheiben. Ich habe für einen Augenblick die Wahrheit angeschaut, Ich war für einen Augenblick mit Bewußtsein, was die großen Männer ein ganzes Leben lang sind. Ich erinnere mich an ihre Taten und Worte, und ich weiß nicht, ob nicht auch sie siegreich vom Dämon der Wirklichkeit versucht worden sind. Nicht von sich wissen heißt leben. Wenig über sich Bescheid wissen heißt denken. Über sich Bescheid wissen, plötzlich wie in diesem läuternden Augenblick, heißt auf einmal den Begriff der inneren Monade, des magischen Wortes der Seele finden. Doch ein plötzliches Licht versengt und verzehrt alles. Es entblößt uns sogar von uns selbst. Es war nur ein Augenblick, aber ich habe mich angeschaut. Danach vermag ich nicht mehr zu sagen, was ich gewesen bin. Und letztendlich ist mir schläfrig zumute, weil ich, ich weiß nicht warum, meine, daß aller Sinn im Schlafen beschlossen liegt.
Wie viele Dinge, die wir für sicher oder richtig halten, sind nicht mehr als die Spuren unserer Träume, das Schlafwandlertum unseres Unverständnisses! Weiß etwa jemand, was sicher oder richtig ist? Wie viele Dinge, die wir für schön halten, sind nichts weiter als zeitbedingt, eine Fiktion des Ortes und der Stunde? Wie viele Dinge, die wir unser wähnen, sind nichts weiter als das, wovon wir vollkommene Spiegel oder durchsichtige Hüllen sind — fremd ihrer Natur nach! Je länger ich über unsere Fähigkeit zum Irrtum nachdenke, desto mehr rinnt mir der feine Sand der zerfallenen Gewißheiten aus den erschlafften Fingern. Und die ganze Welt taucht mir in Augenblicken, in denen mir das Nachdenken zum Gefühl wird und sich dadurch mein Geist verdunkelt, als ein aus Schatten gewobener Nebel auf, eine Dämmerung der Winkel und Kanten, eine Fiktion des Zwischenspiels, ein Verweilen der ersten Morgendämmerung. Alles verwandelt sich mir in ein an sich selbst verstorbenes Absolutes, in eine Stagnation der Einzelheiten. Und selbst die Sinne, mit denen ich das Nachdenken übertrage, um zu vergessen, sind eine Art Schlaf, etwas Entferntes und Beiläufiges, ein Zwischenraum, ein Unterschied der Schatten und der Verwirrung. In solchen Augenblicken, in denen ich die Asketen und die Weltflüchtigen verstehen könnte, wenn ich die Fähigkeit besäße, diejenigen zu verstehen, die sich für etwas Absolutes abmühen oder für irgendeinen Glauben, der fähig ist, eine Bemühung in Gang zu bringen, würde ich, wenn ich es könnte, eine ganze Ästhetik der Trostlosigkeit erschaffen, die intime Rhythmik eines Wiegenliedes, die von der Zärtlichkeit der Nacht in großer Ferne von anderen Heimstätten ausgefiltert worden wäre.
Mittels eines ästhetischen Quietismus erreichen, daß Beleidigungen und Demütigungen, die das Leben und die Lebenden uns zufügen, nicht weiter als bis zur verächtlichen Peripherie der Sensibilität gelangen, zum fernen Äußeren der bewußten Seele. * Aus: Obra poética (Ed. M. A. Galhoz), Rio de Janeiro, 1960 (dort als Teil des »Buchs der Unruhe« abgedruckt).
13.6.1930
Ich lebe immer in der Gegenwart. Die Zukunft kenne ich nicht. Die Vergangenheit besitze ich nicht mehr. Die eine lastet auf mir wie die Möglichkeit zu allem, die andere wie die Wirklichkeit von gar nichts. Ich habe weder Hoffnungen noch Sehnsüchte. Da ich weiß, was mein Leben bis heute gewesen ist — so oft und in so vielen Dingen das Gegenteil von dem, was ich mir gewünscht hatte — was kann ich da von meinem Leben von morgen mutmaßen, außer daß es so sein wird, wie ich es nicht vermute, wie ich es nicht will, und es mir von außen trotz meinem eigenen Wollen zustößt? Da ist nichts in meiner Vergangenheit, an das ich mich mit dem nutzlosen Wunsch erinnern würde, es zu wiederholen. Ich war immer nur eine Spur und ein Trugbild meiner selbst. Meine Vergangenheit ist alles, was ich nicht zu sein vermochte. Nicht einmal die Empfindungen verschwundener Augenblicke erfüllen mich mit Sehnsucht: Was man fühlt, erheischt den Augenblick; ist dieser vorüber, wird die Seite umgeschlagen und die Geschichte geht weiter, nicht aber der Text. Kurzer dunkler Schatten eines Baumes in der Stadt, leichtes Plätschern des Wassers, das in den traurigen Wassertank rinnt, Grün des regelmäßigen Rasens, öffentlicher Garten kurz vor der Dämmerstunde — ihr seid in diesem Augenblick das ganze Weltall für mich, weil ihr der volle Gehalt meiner bewußten Empfindung seid. Ich will nicht mehr vom Leben als fühlen, wie es sich in diesen unvoraussehbaren Abendstunden verliert: Fremde Kinder schreien beim Spielen in Gärten, die von der Melancholie der umgebenden Straßen eingefaßt und dem alten Himmel über den hohen Zweigen der Bäume überschattet werden — und hoch oben ziehen erneut die Sterne auf.
Es ist eine Lebensregel, daß wir von allen Leuten lernen können und müssen. Es gibt ernsthafte Dinge des Lebens, die wir bei Scharlatanen und Banditen erlernen können, es gibt philosophische Einsichten, die uns Narren verschaffen, es gibt Lektionen in
Festigkeit und Gesetzestreue, die zufällig auftauchen und aus dem Zufall herrühren. Alles liegt in allem beschlossen. In gewissen strahlenden Augenblicken des Nachdenkens, wenn ich beispielsweise zu Beginn des Nachmittags beobachtend über die Straße gehe, bringt mir jeder Passant eine Nachricht, schenkt mir jedes Haus eine Neuigkeit, enthält jedes Plakat einen Hinweis für mich. Mein verschwiegener Spaziergang ist ein beständiges Gespräch, und wir alle, Menschen, Häuser, Steine, Plakate und Himmel, sind eine große befreundete Menge, die sich mit Worten anrempelt in der großen Prozession des Schicksals.
O Nacht, deren Gestirne Licht lügen, o Nacht, einzige Wesenheit von der Größe des Weltalls, mach mich mit Leib und Seele zu einem Teil deines Leibes, damit ich mich verliere und bloße Finsternis und ebenfalls Nacht werde, ohne Träume, die in mir Gestirne sind, oder eine erwartete Sonne, auf die zu warten die Zukunft erhellen könnte.
28.9.1932
Seit langem schon — ich weiß nicht, ob seit Tagen, ob seit Monaten — zeichne ich keinen Eindruck mehr auf; ich denke nicht, also existiere ich nicht. Ich habe vergessen, wer ich bin; ich vermag nicht zu schreiben, weil ich nicht zu sein vermag. Infolge einer sonderbaren Betäubung bin ich ein anderer gewesen. Zu wissen, daß ich mich nicht erinnere, heißt erwachen. Ich habe ein Stück meines Lebens in Ohnmacht verbracht. Ich kehre zu mir zurück ohne eine Erinnerung an das, was ich gewesen bin, und die Erinnerung an das, was ich war, leidet darunter, daß sie unterbrochen worden ist. In mir spüre ich die verworrene Empfindung eines unbekannten Zwischenraums, die nutzlose Anstrengung eines Teils meines Gedächtnisses, den anderen Teil wiederzufinden. Ich bin außerstande, wieder an mich anzuknüpfen. Falls ich gelebt haben sollte, habe ich vergessen, davon zu wissen.
Es ist nicht etwa der erste spürbare Oktobertag, — der erste von einer mehr als frischen Kühle, der den toten Sommer mit weniger Licht bekleidet —, der mir in entfremdeter Transparenz eine Empfindung abgestorbener Pläne oder eines falschen Willens zuträgt. In diesem Zwischenspiel verlorener Dinge liegt nicht etwa die Ungewisse Spur einer nutzlosen Erinnerung. Schmerzhafter als das ist es ein Überdruß, sich an all das zu erinnern, was man sich nicht ins Gedächtnis rufen kann, eine Mutlosigkeit wegen all dessen, was das Bewußtsein zwischen Algen und Binsen am Ufer ich weiß nicht wovon verloren hat. Ich erkenne wohl, daß unter dem zweifelsfreien Himmel, der sein Tiefblau verloren hat, ein durchsichtiger, regloser Tag steht. Ich erkenne auch, daß die Sonne, obschon weniger golden als sie gewesen ist, mit feuchtem Widerschein Mauern und Fenster in Gold taucht. Ich erkenne, daß, obwohl kein Wind geht und keine Brise, die an ihn erinnern und ihn leugnen würde, eine wache Frische in der unbestimmten Stadt schlummert. Ich erkenne das alles, ohne zu denken oder zu wollen, und mir ist nicht schläfrig zumute, es sei denn in der Erinnerung, und ich verspüre auch keine Sehnsucht, es sei denn aus Unrast. Steril und fern genese ich von der Krankheit, die ich nicht gehabt habe. Ich bereite mich, behende vom Erwachen, auf das vor, was ich nicht wage. Welcher Schlaf ließ mich nicht schlafen? Welche Liebkosung wollte nicht zu mir sprechen? Wie gut ist es doch, ein anderer zu sein in diesem kalten Sog eines harten Frühjahrs! Wie gut, das zumindest denken zu können, besser als das Leben, während in der Ferne in dem wiedererinnerten Bilde die Binsen sich ohne spürbaren Wind meeresgrün über die Flußauen neigen! Wie oft, wenn ich mich an den erinnere, der ich nicht gewesen bin, habe ich mich als Jugendlichen vor Augen und vergesse! Da waren andere Landschaften, die ich nie zu Gesicht bekommen habe; sie waren neu und doch nicht die Landschaften, die ich in Wahrheit gesehen habe. Was kümmert es mich? In Zufall und Zwischenraum bin ich geendigt und, während die Frische des Tages die Frische der Sonne selber ist, schlafen die dunklen Binsen des Flusses kühl im Sonnenuntergang, den ich erblicke, ohne ihn zu besitzen.
Alles ist absurd. Der eine verwendet sein Leben darauf, Geld zu verdienen, das er hortet, und er hat keine Kinder, denen er es hinterlassen kann und keine Hoffnung, daß ein Himmel ihm eine transzendente Nachwirkung dieses Geldes reservieren könnte. Ein anderer verlegt sich darauf, nach dem Tode Ruhm zu gewinnen und glaubt nicht an jenes Überleben, das ihm ein Wissen von diesem Ruhm verschaffen könnte. Wieder ein anderer vergeudet sich auf der Suche nach Dingen, aus denen er sich in Wahrheit gar nichts macht [. . .] Der eine liest, um Wissen zu speichern, nutzlos. Ein anderer genießt, um zu leben, ebenfalls nutzlos. Ich fahre in der Straßenbahn und beobachte dabei geruhsam, wie es meine Art ist, alle Einzelheiten der vor mir sitzenden Personen. Für mich sind diese Einzelheiten Dinge, Stimmen, Sätze. Aus dem Kleid des Mädchens, das mir gegenübersitzt, trenne ich den Stoff, aus dem es besteht, heraus, und die Arbeit, mit der es geschneidert worden ist — ich sehe es als Kleid und nicht als Stoff — und die leichte Stickerei, die den Halskragen säumt, trennt sich mir auf in die Seidenfäden, mit denen sie gestickt worden ist, und die Arbeit, die die Stickerei gekostet hat. Und unvermittelt wie in einem Lehrbuch der Volkswirtschaft erstehen vor mir die Fabriken und die Arbeitsleistungen — die Fabrik, in der der Stoff hergestellt worden ist; die Fabrik, in der die Seide hergestellt worden ist, und ich sehe die einzelnen Abteilungen der Fabriken, die Maschinen, die Arbeiter, die Näherinnen, meine nach innen gekehrten Augen dringen in die Büros ein, ich sehe die Geschäftsführer, die versuchen, Ruhe zu bewahren, ich verfolge in den Hauptbüchern die Buchhaltung des Ganzen. Aber nicht nur das: Ich erblicke darüber hinaus das häusliche Leben der Menschen, die ihre gesellschaftliche Tätigkeit in diesen Fabriken und in diesen Büros verrichten . . . Die ganze Welt entrollt sich vor meinen Augen, nur weil ich vor mir auf einem braunen Nacken, zu dem auf der anderen Seite ein mir unbekannter Kopf gehört, einen unregelmäßig regelmäßigen dunkelgrünen Saum auf dem Hellgrün eines Kleides wahrgenommen habe.
Das ganze Leben in der Gesellschaft liegt vor meinen Augen. Darüber hinaus ahne ich die Liebschaften, die Ausdünstungen, die Seele all derer, die dafür gearbeitet haben, daß diese Frau, die vor mir in der Straßenbahn sitzt, um ihren sterblichen Hals die windungsreiche Banalität eines dunkelgrünen Seidenzwirns auf einem minder grünen Stoff tragen kann. Mich schwindelt. Die Bänke der Elektrischen aus einem kräftigen, engmaschigen Strohgeflecht tragen mich in ferne Gegenden, vervielfältigen sich zu Industrien, Arbeitern, Arbeiterwohnungen, Lebensläufen, Wirklichkeiten, eben zu allem. Ich steige erschöpft und wie ein Schlafwandler aus der Straßenbahn. Ich habe das ganze Leben gelebt.
12.6.1930
Es gibt Momente, in denen uns alles ermüdet, sogar das, was zu unserer Erholung beitragen sollte. Was uns ermüdet, eben weil es ermüdet; was uns Erholung verschaffen sollte, genau so, weil der Gedanke, Erholung zu finden, uns gleichfalls ermüdet. Es gibt eine Niedergeschlagenheit der Seele unterhalb von Angst und Schmerzen aller Art; ich glaube, sie sind nur denen bekannt, die sich vor Ängsten und Schmerzen drücken und sich selbst gegenüber genug Diplomatie besitzen, um dem eigenen Überdruß auszuweichen. Da sie sich derart auf gegen die Welt gepanzerte Wesen reduzieren, kann es nicht weiter verwundern, daß in einem gewissen Augenblick ihres Bewußtseins von sich selbst mit einem Mal das ganze Gewicht des Panzers auf ihnen lastet und das Leben ihnen als umgekehrte Angst, als verlorener Schmerz erscheint. Ich befinde mich in einem dieser Momente und schreibe diese Zeilen wie jemand, der zumindest wissen will, daß er am Leben ist. Den ganzen Tag über, bis jetzt, habe ich wie ein Schlaftrunkener gearbeitet, wie im Traum habe ich Rechnungen ausgestellt und an meiner Benommenheit entlang geschrieben. Den ganzen Tag über fühlte ich das Leben auf meinen Augen und Schläfen lasten — Schlaf in den Augen, Druck außerhalb der Schläfen, Bewußtsein von alledem im Magen, dazu Ekel und Mutlosigkeit.
Das Leben erscheint mir als ein metaphysischer Irrtum der Materie, ein Versehen der Untätigkeit. Ich schaue nicht einmal den Tag an, um festzustellen, ob er wohl etwas bringt, was mich von mir ablenken könnte, und was, indem ich es hier beschreibend wiedergebe, die leere Tasse meiner Abneigung gegen mich selbst mit Worten zudecken könnte. Ich schaue nicht einmal den Tag an und ignoriere mit gebeugtem Rücken, ob das Sonne oder Nicht-Sonne ist, was dort draußen auf der subjektiv betrachtet traurigen Straße scheint, auf jener verlassenen Straße, auf der geräuschvolle Leute vorübergehen. Ich ignoriere das alles, und meine Brust tut mir weh. Ich habe aufgehört zu arbeiten und will mich nicht von hier fortbewegen. Ich betrachte das schmutzige Weiß des Löschpapiers, das, an den Ecken gefaltet, über das uralte geneigte Schreibpult hinausragt. Aufmerksam fixiere ich die aus Versunkenheit und Zerstreutheit entstandenen Kritzeleien, die auf ihm eingepreßt sind. Mehrfach meine Unterschrift, spiegelverkehrt oder auf dem Kopf stehend. Einige Zahlen hier und dort, so wie sie sind. Ein paar nichtssagende Zeichnungen, die ich in meiner Unaufmerksamkeit verfertigt habe. Ich betrachte das Löschpapier so erstaunt wie ein Dörfler, der sich etwas ganz Neues anschaut; mein Gehirn arbeitet träge hinter den Zentren, die für das Sehvermögen zuständig sind. In mir steckt mehr innerer Schlaf als in mir Platz findet. Und ich will nichts, ich ziehe nichts vor, ich will nicht einmal vor irgend etwas entfliehen.
Nur als Mangel an Reinlichkeit kann ich das träge Beharrungsvermögen begreifen, in dem mich mein immergleiches Leben darniederliegen läßt, das wie eine Staub- oder Schmutzkruste auf der Oberfläche des Unveränderlichen sitzt. So wie wir unseren Körper waschen, müßten wir auch das Schicksal waschen, unsere Lebensweise ändern, wie wir unsere Wäsche wechseln — nicht um unser Leben fortzufristen, indem wir essen und schlafen, sondern um jener Selbstachtung willen, die wir im eigentlichen Sinne Reinlichkeit nennen.
Es gibt viele Leute, bei denen der Mangel an Reinlichkeit nicht eine Frage ihres Willens ist, sondern ein Achselzucken der Intelligenz. Und es gibt viele andere, für die ein erloschenes Einerlei des Lebens nicht ihre Art darstellt, diese Art von Leben zu lieben oder eine natürliche Abgefundenheit mit dem Faktum, es nicht geliebt zu haben, sondern eine Auslöschung ihres Selbstverständnisses, eine automatische Verachtung der Erkenntnis. Es gibt Schweine, die ihre eigene Schweinerei von sich weisen, aber dennoch nicht von ihr loskommen infolge des gleichen übersteigerten Gefühls, das einen Verängstigten sich nicht von der Gefahr entfernen läßt. Es gibt schicksalhafte Schweine wie mich, die sich wegen eben dieser Anziehungskraft des eigenen Unvermögens nicht von der täglichen Banalität entfernen können. Sie sind wie Vögel beim bloßen Gedanken an die Schlange fasziniert, sie sind Fliegen, die blindlings über die Baumstämme schweben, bis sie in die klebrige Reichweite der Zunge eines Chamäleons geraten. So führe ich meine bewußte Unbewußtheit gemächlich auf dem Baumstamm meiner Routine spazieren. So führe ich mein Schicksal spazieren, das im Gange ist, auch wenn ich selber nicht gehe. Vor der Monotonie retten mich nur diese kurzen Kommentare, die ich über sie abgebe. Ich bin es zufrieden, daß meine Zelle innerhalb der Gitterstäbe Fensterscheiben hat und schreibe auf diese Scheiben, auf den Staub des Notwendigen, meinen Namen in Großbuchstaben, die tägliche Unterschrift meines Vertrags mit dem Tode. Mit dem Tode? Ach nein, nicht einmal mit dem Tode. Wer lebt wie ich, der stirbt nicht: Er endet, verwelkt, verkümmert. Der Ort, an dem er sich aufgehalten hat, bleibt ohne ihn zurück; auf der Straße, über die er ging, ist er nicht mehr zu erblicken; das Haus, in dem er gewohnt hat, wird von einem Nicht-Er bewohnt. Das ist alles, und das nennen wir das Nichts; doch nicht einmal diese Tragödie der Negation können wir erfolgreich aufführen; denn wir wissen nicht einmal mit Sicherheit, ob es wirklich nichts ist, sind wir doch pflanzenhafte Gewächse der Wahrheit wie des Lebens, Staub innerhalb wie außerhalb der Fensterscheiben, Enkel des Schicksals und Stiefkinder Gottes, der die ewige Nacht
ehelichte, als sie zur Witwe des Chaos wurde, dessen wahre Kinder wir sind.
26.1.1932
Es drängt mich ständig dahinterzukommen, wie andere Menschen leben, wie es Seelen geben kann, die nicht meine eigene sind, wie es ein Bewußtsein geben kann, das meinem eigenen Bewußtsein fremd ist, das, weil es Bewußtsein ist, mir das einzige zu sein scheint. Ich begreife wohl, daß der Mensch, der vor mir steht und zu mir mit Worten redet, die meinen eigenen gleichen, und sich gebärdet, wie ich selbst mich gebärde oder doch gebärden könnte, in irgendeiner Weise meinesgleichen ist. Genauso geht es mir aber auch mit den Gravuren, die ich aus den Illustrationen herausträume, mit den Romanfiguren oder den dramatischen Gestalten, die auf der Bühne, durch Schauspieler verkörpert, an mir vorüberziehen. Niemand, vermute ich, gesteht einem anderen Menschen wahre Existenz zu. Er kann wohl einräumen, daß dieser Mensch lebendig ist, daß er fühlt und denkt wie er, aber es wird da immer ein namenloses Etwas des Unterschieds, eine materialisierte Benachteiligung im Spiele sein. Es gibt Gestalten aus der Vergangenheit, geistige Bilder aus Büchern, die für uns stärkere Wirklichkeit besitzen als die Verkörperung der Gleichgültigkeit, die mit uns über den Ladentisch hinweg spricht, uns zufällig in der Elektrischen anschaut oder als Passant im toten Zufall der Straßen streift. Die anderen Menschen sind für uns nicht mehr als Landschaft und fast immer die unsichtbare Landschaft einer bekannten Straße. Gewisse Gestalten aus Büchern, gewissse Personen auf Stichen stehen mir näher, sind mir verwandter und vertrauter als viele der »wirklich« genannten Menschen mit ihrer metaphysischen Nutzlosigkeit, genannt Fleisch und Bein. Der Ausdruck »Fleisch und Bein« beschreibt sie in der Tat ganz genau: sie wirken wie Fleisch, das im marmornen Schaufenster eines Fleischerladens in Scheiben geschnitten ausliegt, tote Stücke, die wie lebendige bluten, Rippen und Haxen des Schicksals.
Es beschämt mich nicht, so zu fühlen, weil ich bereits festgestellt habe, daß alle so fühlen. Die zwischen den Menschen herrschende Verachtung oder Gleichgültigkeit, die es erlaubt, daß man Leute umbringt, ohne das Gefühl dafür zu haben, daß man mordet — wie unter Mördern — oder ohne daran zu denken, daß man jemanden umbringt — wie unter Soldaten — rührt davon her, daß niemand der scheinbar völlig abstrusen Tatsache Beachtung schenkt, daß die anderen ebenfalls Seelen sind. An gewissen Tagen, zu gewissen Stunden spüre ich auf einmal, von ich weiß nicht welcher Brise zu mir getragen, mir aufgeschlossen durch das Aufgehen ich weiß nicht welcher Tür, daß der Kolonialwarenhändler an der Ecke ein geistiges Wesen ist, daß der Lehrling, der sich in diesem Augenblick an der Tür über den Kartoffelsack beugt, tatsächlich eine leidensfähige Seele besitzt. Als man mir gestern erzählt hat, der Angestellte des Tabakladens habe Selbstmord begangen, kam mir das wie eine Lüge vor. Der Ärmste, er hat also ebenfalls existiert! Wir hatten das ganz vergessen, wir alle, wir alle, die ihn auf die gleiche Weise kannten wie alle, die ihn nicht kannten. Morgen werden wir ihn desto besser vergessen. Daß er aber eine Seele hatte, steht fest, denn schließlich hat er sich umgebracht. Aus Leidenschaft, aus Angst? Ohne Zweifel. . . Doch für mich wie für die ganze Menschheit ist nur die Erinnerung an ein dümmliches Lächeln über einem gemusterten, angeschmutzten und an den Schultern schief sitzenden Jackett zurückgeblieben. Das ist alles, was ich behalten habe von jemandem, der so stark gefühlt hat, daß er sich vor lauter Gefühl das Leben genommen hat, denn aus einem anderen Grunde bringt sich ja wohl niemand um . . . Ich dachte einmal, als ich bei ihm Zigaretten kaufte, daß er früh eine Glatze bekommen würde. Eine Glatze zu bekommen, ist ihm nun keine Zeit mehr geblieben. Das ist eine der Erinnerungen, die mir an ihn zurückbleiben. Wie sollte sie auch anders beschaffen sein, da sie doch im Grunde nicht ihm gilt, sondern an einen Gedanken von mir anknüpft? Auf einmal steht mir sein Leichnam, sein Sarg, das ganz fremde Grab, in das sie ihn gebettet haben müssen, vor Augen. Und nun
erkenne ich, daß der Kassierer des Tabakladens mit seinem schief sitzenden Anzug und dem übrigen Drum und Dran in gewisser Hinsicht die ganze Menschheit gewesen ist. Das war nur ein Augenblick. Hier und heute, ein Mensch wie auch ich einer bin, ist er gestorben. Nichts weiter. Jawohl, die anderen existieren nicht. Nur für mich dauert dieser beflügelt lastende Sonnenuntergang mit seinen trüben, harten Farben an. Nur für mich zittert unterhalb der untergehenden Sonne, ohne daß ich ihn fließen sehen konnte, der große Strom. Nur für mich wurde dieser offene Platz über dem Strom geschaffen, der bei Flut höher steigt. Ist der Kassierer des Tabakladens heute im Massengrab beigesetzt worden? Der heutige Sonnenuntergang ist für ihn nicht vorhanden. Aber indem ich das denke, hat er, ohne daß ich das wollte, auch für mich aufgehört, vorhanden zu sein . . .
Zuweilen packt mich, ohne daß ich es erwartet hätte oder erwarten müßte, das Ordinäre erstickend an der Kehle, und ich spüre physischen Ekel vor Stimme und Gebärde des sogenannten Mitmenschen. Unmittelbaren physischen Ekel, unmittelbar gespürt in Magen und Kopf, törichtes Wunder der wachen Sensibilität. . . Jedes Individuum, das zu mir spricht, jedes Gesicht, dessen Augen mich anschauen, beeindruckt mich wie ein Schimpf oder wie eine Schweinerei. Entsetzen quillt allseits aus mir über. Mir wird schwindlig, weil ich fühle, wie ich sie beide fühle. Und fast immer geschieht es in solchen Augenblicken des Brechreizes, daß ein Mann, eine Frau oder ein Kind sich vor mir erheben wie wirkliche Repräsentanten der Banalität, die mich in Agonie versetzt. Repräsentanten nicht infolge eines subjektiven, vorbedachten Gefühls meinerseits, sondern infolge einer objektiven Wahrheit, die von außen her konform geht mit dem, was ich von innen her verspüre; in magischer Analogie steigen sie auf und liefern mir das Beispiel für die Regel, an die ich denke.
Achselzucken Gemeinhin verleihen wir unseren Vorstellungen vom Unbekannten die Farbe unserer Vorstellungen von Bekanntem: Wenn wir den Tod einen Schlaf nennen, so geschieht es, weil er von außen wie ein Schlaf aussieht; wenn wir den Tod ein neues Leben nennen, so geschieht es, weil es sich vom Leben zu unterscheiden scheint. Aus kleinen Mißverständnissen gegenüber der Wirklichkeit erbauen wir Glaubensvorstellungen und Hoffnungen und leben von den Brotrinden, die wir Kuchen nennen, wie die armen Kinder, die glücklich sein spielen. Aber so ist das ganze Leben; so ist zumindest das besondere Lebenssystem, das man allgemein Zivilisation nennt. Die Zivilisation besteht darin, jedem Ding einen Namen zu geben, der ihm nicht zusteht, und anschließend über das Ergebnis nachzusinnen. Und tatsächlich schaffen der falsche Name und der wahre Traum eine neue Wirklichkeit. Der Gegenstand wird wirklich ein anderer, weil wir ihn zu einem anderen gemacht haben. Wir stellen Wirklichkeiten her. Der Rohstoff bleibt derselbe, doch die Form, die ihm die Kunst verlieh, hält ihn wirksam davon ab, weiterhin derselbe zu sein. Ein Tisch aus Fichtenholz ist Fichte, aber auch Tisch. Wir setzen uns an den Tisch und nicht an die Fichte. Eine Liebesregung ist ein Geschlechtsinstinkt, wir lieben jedoch nicht mit dem Geschlechtsinstinkt, sondern unter der Voraussetzung eines anderen Gefühls. Und diese Voraussetzung ist tatsächlich bereits ein anderes Gefühl. Ich weiß nicht, welch ein subtiler Lichteffekt, welches undeutliche Geräusch oder welche Erinnerung an einen Duft oder eine irgendwo draußen gespielte Musik mir plötzlich, während ich über die Straße ging, diese Einfalle zutrug, die ich ohne Eile registriere, während ich mich zerstreut im Cafe niedersetze. Ich weiß nicht, wohin ich meine Gedanken führen wollte oder wohin ich es vorgezogen hätte, sie zu führen. Ein leichter feuchtheißer Nebel liegt über dem Tag, traurig ohne Drohungen, eintönig ohne Grund. Es schmerzt mich irgendein Gefühl, das ich nicht kenne; es fehlt mir ein Argument ich weiß nicht wofür; ich habe keine Willenskraft in den Nerven. Ich bin traurig unterhalb des
Bewußtseins. Und ich schreibe diese — schlecht notierten — Zeilen nieder, nicht um dies auszusagen, auch nicht, um überhaupt etwas auszusagen, sondern um meiner Unaufmerksamkeit Arbeit zu verschaffen. Langsam bedecke ich mit den weichen Strichen eines abgeschriebenen Bleistifts — den ich nicht sentimental genug bin anzuspitzen — das weiße Sandwich-Einwickelpapier, das man mir im Cafe besorgt hat, weil ich nichts Besseres brauchte und mir jedes Papier genügte, sofern es nur weiß war. Und ich gebe mich zufrieden. Ich lehne mich zurück. Der Abend bricht eintönig und ohne Regen herein, sein Licht ist mutlos und ungewiß . . . Und ich höre zu schreiben auf, weil ich zu schreiben aufhöre.
In Abständen folgt ein Leuchtkäfer dem anderen. Ringsumher Finsternis, das Land liegt da wie eine große Abwesenheit von Lärm, und es riecht beinahe angenehm. Die ländliche Friedsamkeit schmerzt und lastet. Eine gestaltlose Langeweile erstickt mich. Ich fahre nur selten aufs Land, fast nie verbringe ich dort einen ganzen Tag oder verweile dort über Nacht. Heute aber, wo der Freund, in dessen Haus ich mich aufhalte, mir nicht gestattete, seine Einladung nicht anzunehmen, bin ich ganz verlegen hierhergekommen — wie ein schüchterner Mensch auf ein großes Fest — ich bin voller Freude hierhergekommen, Luft und Weite haben mir gefallen, ich habe gut zu Mittag und Abend gespeist und jetzt, mitten in der Nacht, erfüllt mich dieser unbestimmte Ort mit Angst. Das Fenster des Zimmers, in dem ich schlafen werde, geht auf das freie Feld, auf ein weites Feld, das alle Felder ist, auf eine große, undeutlich bestirnte Nacht, in der man eine Brise spürt, die man nicht hören kann. Am Fenster sitzend betrachte ich mit allen Sinnen dieses nichtige Alleben, das dort draußen vor sich geht. Eine unruhige Wahrnehmung bringt diese Stunde zur Harmonie, sie reicht von der sichtbaren Unsichtbarkeit des Ganzen bis zu dem vage gerunzelten Holz der weißlichen Fensterbrüstung, von der die alte Farbe abgeblättert ist und auf die sich meine Linke seitlich aufstützt.
Wie oft sehne ich mich nach diesem Frieden, vor dem ich jetzt beinahe fliehen würde, wenn das leicht oder anständig wäre! Wie oft glaube ich zu wissen — dort in der Stadt, in den engen Straßen mit den hohen Häusern —, daß der Friede, die Prosa, das Endgültige eher hier unter den Dingen der Natur zu finden sein müßten als dort, wo das Tischtuch der Zivilisation das schon bemalte Pinienholz vergessen läßt, auf dem es liegt! Und obwohl ich mich jetzt und hier gesund und angenehm ermüdet fühle, bin ich unruhig, bin ich gefangen, verspüre ich Sehnsucht. Ich weiß nicht, ob das nur mir so geht oder auch allen anderen, für die die Zivilisation eine zweite Geburt bedeutet. Aber es will mir scheinen, daß für mich oder für diejenigen, die so fühlen wie ich, das Künstliche zum Natürlichen geworden ist und das Natürliche zum Befremdlichen. Genauer gesagt: Das Künstliche ist nicht zum Natürlichen geworden; das Natürliche ist etwas Andersartiges geworden. Ich kann auf Fahrzeuge verzichten und verabscheue sie, ich kann auf Produkte der Wissenschaft, die das Leben erleichtern, verzichten und verabscheue sie — auf Telefon wie Telegraf — auch auf die Subprodukte der Phantasie — Grammophone, Radiodetektorempfänger — die das Leben denen, die sich damit amüsieren, amüsant machen, verzichte ich gern. Nichts davon fesselt mich, nichts davon wünsche ich mir. Aber ich liebe den Tejo, weil eine große Stadt an seinem Ufer liegt. Ich genieße den Himmel, weil ich ihn von dem vierten Stockwerk einer Straße der Unterstadt aus sehe. Nichts können mir Landleben oder Natur geben, das die unregelmäßige Majestät der stillen Stadt unter dem Mondlicht aufwöge, wenn man sie von der Graça oder von Säo Pedro de Alcäntara aus betrachtet. Es gibt für mich keine Blumen, die dem im Sonnenlicht unerhört abwechslungsreichen Farbenspiel von Lissabon gleichkämen. Die Schönheit eines nackten Körpers können nur die bekleideten Rassen würdigen. Das Schamgefühl wirkt auf die Sinnlichkeit wie ein Hindernis auf die Energie. Die Künstlichkeit verhilft am besten zum Genuß der Natürlichkeit. Was ich von diesen weiten Feldern genießen konnte, habe ich genossen, weil ich hier nicht lebe. Die Freiheit spürt nicht, wer niemals unter Zwang gelebt hat.
Die Zivilisation ist eine Erziehung in Natur. Das Künstliche ist der Weg zu einer Annäherung an das Natürliche. Notwendig ist jedoch, daß wir niemals das Künstliche für das Natürliche halten. In der Harmonie zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen besteht die Natürlichkeit der höher gearteten menschlichen Seele.
20.6.1931
Ich erlebe einen Tag, an welchem mich wie der Eintritt in einen Kerker die Eintönigkeit aller Dinge bedrückt. Die Eintönigkeit aller Dinge ist jedoch nichts anderes als meine eigene Eintönigkeit. Jedes Gesicht, auch wenn wir es erst gestern gesehen haben, ist heute ein anderes, weil heute nicht gestern ist. Jeder Tag ist der Tag, der er ist, und nie hat es einen gleichen auf der Welt gegeben. Nur in unserer Seele liegt die Identität — die wenn auch falsche mit uns selbst gespürte Identität —, dank welcher alles sich ähnlich wird und vereinfacht. Die Welt besteht aus herausgehobenen Dingen und unterschiedlichen Kanten; wenn wir aber kurzsichtig sind, wirkt sie wie ein unzulänglicher, beständiger Nebel. Ich würde gern flüchten. Flüchten vor dem, was ich kenne, flüchten vor dem, was mir gehört, flüchten vor dem, was ich liebe. Ich möchte gern abreisen — nicht nach unmöglichen Indien oder zu den großen Inseln im Süden aller Dinge, sondern zu irgendeinem Ort — Dorf oder Einöde —, dessen Eigenheit darin besteht, nicht dieser Ort zu sein. Ich mag diese Gesichter, diese Gewohnheiten und diese Tage nicht länger sehen. Ich möchte als Fremder von meiner naturgegebenen Verstellungskunst ausruhen. Ich möchte fühlen, wie der Schlaf als Leben zu mir kommt, nicht als Erholung. Eine Hütte am Meeresufer, ja selbst eine Höhle auf der gefurchten Terrasse eines Gebirges vermag mir das zu geben. Leider kann es mir mein bloßer Wille nicht geben. Sklaverei ist das Gesetz des Lebens, und es gibt kein anderes Gesetz, denn dieses muß erfüllt werden ohne mögliche Revolte
und ohne einen möglichen Zufluchtsort. Einige kommen als Sklaven auf die Welt, andere werden zu Sklaven und wieder anderen wird die Sklaverei zugewiesen. Die feige Liebe, die wir alle für die Freiheit empfinden — über die wir, besäßen wir sie, nur staunen und die wir alsbald von uns weisen würden — ist das wahre Zeichen der Last unserer Sklaverei. Ich selbst, der eben noch gesagt hat, er wünsche sich eine Hütte oder Höhle, wo er von der Eintönigkeit aller Dinge frei würde, die meine eigene ist, würde ich es wohl wagen, zu dieser Hütte oder Höhle aufzubrechen, obwohl mir meine Vernunft sagt, daß mich die Eintönigkeit, weil es meine eigene ist, stets begleiten würde? Ich selbst, der erstickt, wo er ist und weil er ist, wo sollte ich denn freier atmen können, wenn die Krankheit von meinen Lungen herstammt und nicht von der mich umgebenden Luft? Ich selbst, der sich lauthals sehnt nach der reinen Sonne und den freien Feldern, nach dem sichtbaren Meer und dem umfassenden Horizont, wer sagt mir denn, daß mich nicht das Bett oder das Essen befremden würden oder die Tatsache, daß ich nicht mehr die acht Treppenstufen bis zur Straße hinuntersteigen, nicht in den Tabakladen an der Ecke eintreten und keinen Gruß mit dem müßig herumstehenden Friseur tauschen kann? Alles, was uns umgibt, wird ein Teil unserer selbst, infiltriert die Empfindung von unserem Fleisch und Bein und bindet uns, Speichel der großen Spinne, an das Naheliegende, umstrickt uns auf dem leichten Lager eines langsamen Todes, wo wir im Winde schaukeln. Alles ist wir, und wir sind alles; aber wozu ist das dienlich, wenn alles nichts ist? Ein Sonnenstrahl, eine Wolke, von welcher der plötzliche Schatten sagt, daß sie vorüberzieht, eine aufkommende Brise, die nachfolgende Stille, wenn sie sich gelegt hat, ein Gesicht oder ein anderes, ein paar Stimmen, das zufällige Gelächter, in das sie beim Reden ausbrechen, und dann die Nacht, aus der sinnlos die zerbrochenen Hieroglyphen der Gestirne auftauchen.
Die Uhr, die irgendwo dort hinten in dem, weil alle schlafen, verlassenen Hause steht, schlägt langsam vier helle Schläge in der Nacht. Ich habe noch nicht geschlafen, ich hoffe auch nicht mehr, einschlafen zu können. Ohne daß irgend etwas meine Aufmerksamkeit fesselte und ich deshalb nicht einschlafen könnte oder auf meinem Körper lastete und mich deshalb nicht zur Ruhe kommen ließe, liege ich hier im Schatten, den das verschwommene Mondlicht der Straßenlaternen und das gedämpfte Schweigen meines fremd gewordenen Körpers noch mehr vereinsamt. Ich vermag nicht zu denken, weil mir so schläfrig zumute ist; ich vermag nicht zu fühlen, weil ich nicht einschlafen kann. Alles um mich her ist nacktes, abstraktes Universum, bestehend aus nächtlichen Verneinungen. Ich bin halb übermüdet, halb unruhig und rühre mit der Empfindung meines Körpers an eine metaphysische Erkenntnis vom Geheimnis der Dinge. Zuweilen erschlafft meine Seele, und dann treiben formlose Einzelheiten an der Oberfläche meines Bewußtseins, und ich nehme an der Oberfläche meines Nicht-einschlafen-könnens Eintragungen vor. Ein andermal erwache ich aus dem Inneren des Halbschlafs, in dem ich stagnierte, und vage dichterische, unfreiwillig farbenprächtige Bilder führen in meiner Unaufmerksamkeit ihr geräuschloses Schauspiel auf. Meine Augen sind nicht gänzlich geschlossen. Meinen matten Blick säumt ein Licht, das von weither dringt; es sind die brennenden Laternen dort unten im verlassenen Grenzgebiet der Straße. Aufhören, einschlafen, dieses Bewußtsein ersetzen, durch das ab und an melancholische Worte strudeln, die man insgeheim demjenigen zuraunt, der mich nicht kennt! . . . Könnte ich doch aufhören, flüssig werden und wie ein Fluß vorüberziehen, Ebbe und Flut eines weiten Meeres an Küsten sein, die des Nachts auftauchen, wenn man wirklich schlafen könnte! . . . AufhÖren,inkognito und ganz veräußerlicht erscheinen, eine Bewegung von Zweigen in entfernten Alleen, ein sanftes Blätter fallen, erkennbarer am Geräusch als am Fall, ein hohes feines Meer der Fontänen in der Ferne und all das Verschwommene nächtlicher Parks, die verloren liegen in steter Verstrickung, Naturlabyrinthe der Finsternis . . .! Aufhören, endlich zu Ende gehen, aber dabei in einer
übertragenen Weise überleben, als Seite eines Buches, als eine Strähne aufgelösten Haars, als Schwingung der Kletterpflanze neben dem halb geöffneten Fenster, als belanglose Schritte auf dem feinen Kies der Wegbiegung, als letzter hoher Rauch des schlummernden Dorfes, als vergessene Peitsche des Fuhrmanns am morgendlichen Wegrand . . . Sinnlosigkeit, Verwirrung und Verlöschen werden — zu allem, sofern es nur nicht das Leben ist... Und ich verschlafe auf meine Weise, ohne Schlaf noch Ruhe, dieses vegetative Leben der Vermutung, und unter meinen rastlosen Augenlidern schwebt wie der stille Schaum eines schmutzigen Meeres der ferne Reflex der stummen Straßenlaternen. Ich schlafe und schlafe auch wieder nicht. Auf der anderen Seite, dort hinter meiner Lagerstatt, rührt das Schweigen des Hauses an das Unendliche. Ich höre die Zeit rinnen, Tropfen für Tropfen, und keinen der verrinnenden Tropfen kann man rinnen hören. Physisch bedrückt mir das physische Herz die auf ein Nichts reduzierte Erinnerung an alles, was war oder was ich war. Ich spüre meinen Kopf stofflich auf das Kissen gebettet, auf dem ich ein Tal eingrabe. Die Haut des Kissenbezugs unterhält im Schatten mit meiner Haut eine fast körperhafte Berührung. Das Ohr selbst, auf dem ich liege, gräbt sich mir mathematisch ins Gehirn. Ich blinzle vor Erschöpfung, und meine Wimpern verursachen ein winziges, kaum vernehmliches Geräusch auf dem sensiblen Weiß des aufgerichteten Kopfkissens. Ich atme seufzend, und mein Atemholen geschieht — es ist nicht mein eigenes. Ich leide, ohne zu fühlen oder zu denken. Die Uhr des Hauses, ein sicherer Ort dort mitten im Unendlichen schlägt trocken und nichtig die halbe Stunde. Alles ist so ungeheuerlich viel, alles so tief, alles so schwarz und so kalt! Ich verbringe Zeiten, verbringe Schweigen, gestaltlose Welten ziehen durch mich hindurch! Plötzlich — wie ein Kind des Geheimnisses — kräht ein Hahn, ohne von der Nacht zu wissen. Ich kann einschlafen, weil es in mir Morgen ist. Ich spüre meinen Mund lächeln und die weichen Falten des Kissenbezugs leicht verschieben, der mein Gesicht
festhält. Ich kann mich dem Leben überlassen, ich kann schlafen, ich kann mich ignorieren . . . Und durch den neuen Schlaf hindurch, der mich verdunkelt, erinnere ich mich an den krähenden Hahn, oder er ist es wirklich, der nun zum zweiten Mal kräht.
10.12.1930
Ich durchlebe lange Zeiten der Stagnation. Nicht daß ich wie alle Leute Tage um Tage benötigen würde, um auf einer Postkarte auf den dringenden Brief zu antworten, den man mir geschrieben hat. Nicht daß ich wie niemand sonst das Leichte, das mir nützlich ist, oder das Nützliche, das mir angenehm ist, auf die lange Bank schöbe. Mein Zwist mit mir selbst ist subtiler beschaffen. Ich stagniere in meiner Seele selbst. In mir heben sich Wille, Gefühl und Denken auf, und diese Aufhebung hält weite Tage an; nur das vegetative Leben der Seele — Wort, Gebärde, Gewohnheit — bringen mich den anderen gegenüber zum Ausdruck und, von ihnen widergespiegelt, mir selbst. Zu diesen Schattenzeiten bin ich außerstande zu denken, zu fühlen, zu wollen. Ich kann nur Zahlen oder Striche hinkritzeln. Ich kann nicht fühlen, und der Tod eines geliebten Wesens würde auf mich den Eindruck machen, er sei in einer Fremdsprache erfolgt. Ich kann nicht; es ist, als schliefe ich und meine Gebärden, meine Worte, meine bestimmten Handlungen wären nicht mehr als ein peripheres Atmen, ein rhythmischer Instinkt irgendeines Organismus. So verstreichen Tage um Tage; ich vermag nicht zu sagen, wieviel von meinem Leben, wenn ich es zusammenzählen wollte, auf diese Weise verstrichen ist. Manchmal fällt mir ein, wenn ich dieser Selbsterstarrung die Kleider auszöge, würde sie vielleicht nicht so nackt daliegen, wie ich vermute, und es würden vielleicht darunter ungreifbare Kleider vorhanden sein, die die ewige Abwesenheit meiner wahren Seele verdecken; mir kommt es in den Sinn, daß Denken, Fühlen und Wollen ebenfalls Stagnation bedeuten können gegenüber einem intimeren Denken, einem persönlicheren Fühlen, einem Willen, der irgendwo im Labyrinth dessen, was ich wirklich bin, verlorengegangen ist.
Dem sei, wie ihm sei, ich lasse es so, wie es ist. Und dem Gott oder den Göttern, die es geben mag, händige ich aus, was ich bin, so wie es das Schicksal fügt und der Zufall mit sich bringt, getreu einer vergessenen Übereinkunft.
Gestern habe ich einen großen Mann gesehen und angehört. Ich meine nicht einen sogenannten großen Mann, sondern einen großen Mann, der es wirklich ist. Er hat geistigen Rang, falls es das auf der Welt gibt; es wird allgemein anerkannt, daß er geistigen Rang hat; und er weiß auch, daß man das anerkennt. Er vereinigt mithin alle Voraussetzungen dafür, daß ich ihn einen großen Mann nennen kann. Er ist wirklich das, was ich ihn nenne. Sein äußerer Anblick gleicht dem eines erschöpften Kaufmanns. Sein Gesicht trägt Zeichen der Erschöpfung, aber sie können ebensogut davon herrühren, daß er zu viel denkt, wie auch davon, daß er gesundheitsschädlich lebt. Seine Gebärden sind nicht sehr charakteristisch. Sein Blick besitzt eine gewisse Lebhaftigkeit — ein Privileg dessen, der nicht kurzsichtig ist. Seine Stimme klingt etwas verschleiert, so als ob die Anfänge einer allgemeinen Paralyse diese Aussendung der Seele beeinträchtigten. Und die ausgesandte Seele verbreitete sich über die Parteipolitik, über die Entwertung des Escudos und über das, was an den Kollegen seiner Größe schäbig ist. Wenn ich nicht wüßte, wer er ist, würde ich ihn nicht an seinem Aussehen erkennen. Ich weiß wohl, daß man sich von den großen Männern nicht die heroische Vorstellung machen sollte, die sich schlichte Gemüter von ihnen machen: wonach ein großer Dichter ein Apoll an Schönheit und ein Napoleon des Ausdrucksvermögens oder, bei herabgesetzten Ansprüchen, ein distinguierter Herr sein und ein ausdrucksvolles Gesicht besitzen muß. Ich weiß wohl, daß so etwas verständlich und doch absurd ist. Aber wenn man auch nicht alles oder beinahe alles erwartet, so erwartet man doch irgend etwas. Und wenn man von der erblickten Gestalt zur gesprochenen Seele übergeht, darf man sicherlich nicht Geist oder Lebhaftigkeit erwarten, aber zumindest sollte man mit Intelligenz, zumindest mit dem Schatten von Überlegenheit rechnen können.
All dies — solche menschliche Enttäuschungen — läßt uns darüber nachsinnen, was der vulgäre Begriff der Inspiration an Wahrheit in sich bergen mag. Es scheint, daß dieser zum Kaufmann bestimmte Körper und diese zu einem gebildeten Menschen bestimmte Seele, wenn sie allein sind, geheimnisvoll mit etwas Innerlichem ausgestattet werden, das ihnen äußerlich ist, und daß nicht sie sprechen, sondern daß es in ihnen spricht, und die Stimme sagt, was Lüge war in dem, was sie gesagt haben konnten. Das sind zufällige nutzlose Spekulationen. Es tut mir leid, sie angestellt zu haben. Durch sie wird der Rang des Menschen nicht geschmälert; durch sie wird der Ausdruck seines Körpers nicht verstärkt. Aber im Grunde wird ohnehin nichts durch irgend etwas verändert, und was wir sagen oder tun, streift nur die Gipfel der Berge, in deren Tälern die Dinge schlafen.
Da ich weiß, daß auch die kleinsten Dinge mit Leichtigkeit die Kunst beherrschen, mich zu foltern, entziehe ich mich absichtsvoll der Berührung der kleinsten Dinge. Wer wie ich darunter leidet, daß eine Wolke vor der Sonne vorbeizieht, wie sollte er nicht unter der Dunkelheit des allzeit verhangenen Tages seines Lebens leiden? Meine Isolation ist nicht eine Suche nach Glück, das zu erreichen meine seelische Kraft nicht vermag; auch nicht eine Suche nach Ruhe, die niemand erreicht, es sei denn, er verliert sie nie, sondern eine solche nach Schlaf, nach Auslöschung, nach kleinem Verzicht. Die vier Wände meines armseligen Zimmers sind für mich gleichzeitig Zelle und Distanz, Bett und Sarg. Meine glücklichsten Stunden sind jene, in denen ich an nichts denke, nichts will, nicht einmal träume, verloren in der Erstarrung einer verfehlten Pflanze, nurmehr Moos, das auf der Oberfläche des Lebens wächst. Ich genieße ohne Bitterkeit das absurde Bewußtsein, nichts zu sein, den Vorgeschmack des Todes und der Auslöschung. Nie habe ich jemanden gehabt, den ich hätte »Meister« nennen können. Für mich ist kein Christus gestorben. Kein Buddha zeigte
mir einen Weg. Auf der Höhe meiner Träume sind mir weder Apoll noch Athene erschienen, um meine Seele zu erleuchten.
18.5.1930
Leben heißt ein anderer sein. Es ist nicht einmal möglich zu fühlen, wenn man heute fühlt, wie man gestern gefühlt hat: Heute dasselbe fühlen wie gestern heißt nicht fühlen — heißt sich heute an das erinnern, was man gestern gefühlt hat, heute der lebendige Leichnam dessen sein, was gestern das verlorene Leben war. Von der Tafel eines Tages alles bis zum nächsten Tag auslöschen, mit jedem Morgengrauen neu sein in ständig erneuerter Jungfräulichkeit der Empfindung — das und allein das lohnt die Mühe zu sein oder zu haben, um das zu sein oder zu haben, was wir auf unvollkommene Weise sind. Dieses Morgengrauen ist das erste der Welt. Niemals hat dieses von gelb in ein warmes Weiß hinüberspielende Rosa auf diese Weise auf dem Gesicht gelegen, mit welchem der Häuserblock im Westen glasigen Auges das Schweigen anschaut, das mit dem wachsenden Licht aufkommt. Niemals hat es diese Stunde gegeben, dieses Licht oder auch dieses mein Sein. Was morgen sein wird, ist etwas anderes, und was ich dann sehen werde, sehen erneuerte Augen, erfüllt von einer neuen Vision. Ihr hohen Berge der Stadt! Ihr großen Baulichkeiten, die die steilen Abhänge sichern und größer machen, ihr hinabgleitenden, mannigfach abgestuften Gebäude aus Schatten und Bränden — ihr seid heute, ihr seid ich; weil ich euch sehe, so seid ihr (?), und ich liebe euch von der Reling aus wie ein Schiff, das an einem anderen Schiff vorüberfährt, und im Vorüberfahren erwacht eine unbekannte (?) Sehnsucht.
18.5.1930
Ich habe ungewohnte Stunden, unverbunden aufeinanderfolgende Augenblicke auf einem Spaziergang verbracht, der mich des
Nachts ans einsame Meeresufer geführt hat. Alle Gedanken, die den Menschen Lebensmut geschenkt haben, alle Gefühlsregungen, die sie diesen Lebensmut verlieren ließen, zogen bei meiner wandernden Meditation am Meeresufer wie ein dunkles Resümee der Geschichte durch meinen Sinn. Mitfühlend erlebte ich die Bestrebungen aller Epochen, und meinen Spaziergang am rauschenden Meeresufer begleitete die Unruhe aller Zeiten. Was Menschen angestrebt haben und nicht in die Tat umsetzen konnten, was sie vernichtet haben, indem sie es in die Tat umsetzten, was ihre Seelen waren und nie jemand ausgesprochen hat — aus alledem bildete sich die empfindsame Seele, mit der ich des Nachts am Meeresufer spazierenging. Was die Liebenden an ihrem Partner befremdlich fanden, was die Ehefrau stets vor ihrem Gatten verborgen hielt, wie die Mutter über ihren Sohn urteilte, den sie nicht bekommen konnte, was sich nur in einem Lächeln oder bei einer Gelegenheit äußerte, zu einer anderen Zeit oder bei einer vergangenen Gefühlsregung — das alles begleitete mich auf meinem Spaziergang am Meeresufer und kehrte wieder mit mir zurück, und die Wellen brandeten die großartige Begleitmusik, die mich einschläferte. Wir sind, wer wir nicht sind, und das Leben ist behende und traurig. Das Rauschen der Wellen bei Nacht ist ein Rauschen der Nacht; wie viele haben es in der eigenen Seele vernommen, wie eine beständige Hoffnung, die sich im Dunkeln mit dem tauben Geräusch dichten Schaums auflöst! Wie viele Tränen haben diejenigen geweint, die etwas erreicht haben, wie viele Tränen sind denjenigen entströmt, die etwas vollbracht haben! Dies alles wurde mir auf meinem Spaziergang am Meeresufer zum Geheimnis der Nacht und zur vertraulichen Botschaft des Abgrunds. Wie viele sind wir und wie täuschen wir uns! Welche Meere rauschen in uns in der Nacht unseres Seins auf die Strände, als die wir uns beim Ausufern des Gefühls empfinden! Was wir verloren und was wir geliebt haben sollten, was wir erreichten und was uns irrigerweise befriedigte, was wir liebten und wieder verloren und wovon wir nach dem Verlust, als wir es liebten, weil wir es verloren hatten, einsehen mußten, daß wir es gar nicht geliebt hatten; wovon wir meinten, wir hätten es ge-
dacht, als wir es fühlten; und dazu das gesamte Meer, das mit seiner rauschenden Frische aus dem großen Hintergrund der Nacht heranrollt und fein auf dem Strand ausläuft, auf meinem nächtlichen Spaziergang am Meeresufer. Wer weiß wenigstens, was er denkt oder was er wünscht? Wer weiß, was er für sich selbst bedeutet? Wie viele Dinge suggeriert uns die Musik und wir wissen wohl, daß sie nicht sein können! Wie viele ruft die Nacht in Erinnerung und wir weinen, und doch sind sie nie gewesen! Wie eine Stimme des hingelagerten Friedens zerplatzt die eingerollte Welle und erkaltet, und über den unsichtbaren Strand hinweg vernimmt man ihr Speichelziehen. Wie sehr sterbe ich, wenn ich um aller Dinge willen fühle! Wie sehr fühle ich, wenn ich so unkörperlich und dennoch menschlich umherschweife; mein Herz steht still wie ein Strand, und das gesamte Meer aller Dinge brandet laut in der Nacht, in der wir leben, ein erkalteter Spott auf meinem ewigen Nachtspaziergang am Meeresufer!
2.5.1932
Ich schlafe nie: Ich lebe und träume oder, besser gesagt, ich träume im Leben und in einem Schlaf, der gleichfalls Leben ist. In meinem Bewußtsein gibt es keine Unterbrechung: Ich spüre, was mich umgibt, wenn ich noch nicht schlafe oder wenn ich nicht gut schlafe; ich verfalle sogleich in Träume, sobald ich wirklich schlafe. So bin ich eine beständige Entfaltung zusammenhängender oder unzusammenhängender Bilder, die stets so tun, als gehörten sie der Außenwelt an; einige schieben sich zwischen die Menschen und das Licht, wenn ich wach bin, andere zwischen die Phantome und die sichtbare Lichtlosigkeit, wenn ich gerade schlafe. Ich weiß wirklich nicht, wie ich das eine vom anderen unterscheiden soll, und wage nicht zu versichern, ob ich nicht schlafe, wenn ich wach bin, ob ich nicht wache, wenn ich schlafe. Das Leben ist ein Knäuel, das jemand in Unordnung gebracht hat. Es hat seinen Sinn, wenn es ausgerollt und in die Länge gezogen oder gut aufgerollt worden ist. Aber so wie es ist, ist es
ein Problem ohne eigentliches Knäuel, eine Verwicklung ohne ein Wo. Ich fühle jetzt, was ich später aufschreiben werde, denn ich träume jetzt schon von den noch zu formulierenden Sätzen, wenn ich durch die Nacht meines Halbschlafs zugleich mit den Landschaften vager Träume das Rauschen des draußen niederströmenden Regens spüre, der sie mir noch vager erscheinen läßt. Es sind Rätsel der Leere; sie beben vor Abgründigkeit, und durch sie hindurch strömt nutzlos der äußere Klagelaut des ständigen Regens, eine überreichliche Winzigkeit in der Landschaft des Gehörs. Eine Hoffnung? Nichts da. Vom unsichtbaren Himmel fallt rauschend der vom Wind aufgewirbelte Schmerz-Regen. Ich schlafe weiter. Zweifellos hat sich die Tragödie, aus der das Leben hervorgegangen ist, auf den Alleen eines Parks zugetragen. Sie waren zu zweit und sie waren schön und wollten etwas anderes werden; die Liebe ließ auf sich warten in der Langeweile ihrer Zukunft, und die Sehnsucht nach dem, was kommen würde, erschien ihnen als Tochter der Liebe, die sie noch nicht erlebt hatten. So schritten sie mit verschlungenen Händen ohne Wünsche und Hoffnungen im geronnenen Mondschein der nahen Wälder durch die Wüste der verlassenen Alleen dahin. Sie waren ganz Kinder, da sie es nicht in Wahrheit waren. Von Allee zu Allee, Silhouetten zwischen den Bäumen, durchschritten sie wie Scherenschnitte dieses Niemands-Bühnenbild. Und so verschwanden sie auf der Seite der Wasserbecken, immer vereinter und immer getrennter, und das Rauschen des nun aufhörenden vagen Regens wurde zum Rauschen der Fontänen, in deren Richtung sie sich verloren. Ich bin die Liebe, die sie erlebt haben, und deshalb kann ich sie in den Nächten, in denen ich nicht schlafen kann, hören und kann auch im Unglück leben.
10.3.1931
Wie es Leute gibt, die aus Langeweile arbeiten, schreibe ich zuweilen, weil ich nichts zu sagen habe. Ich verliere mich in die
Träumereien, in die sich sonst verliert, wer nicht denken kann, verliere mich im schriftlichen Ausdruck, weil ich in Prosa träumen kann. Und manch aufrichtiges Gefühl, manch echte Gefühlsbewegung ziehe ich aus diesem Zustand des Nicht-Fühlens. Es gibt Augenblicke, in denen die Hohlheit, in der man sich leben fühlt, die Dichte eines positiven Zustands erreicht. Bei den großen Männern der Tat, den Heiligen, die mit ihrem gesamten Gefühl handeln und nicht nur mit einem Teil, führt das Gefühl, daß das Leben nichts ist, ins Unendliche. Sie bekränzen sich mit Nacht und Gestirnen, sie salben sich mit Stille und Einsamkeit. Bei den großen Männern der Tatlosigkeit, zu deren Zahl ich mich demütig rechne, führt das gleiche Gefühl zum unendlich Kleinen; wir zerren an den Empfindungen wie an Gummibändern, um die Poren ihres falschen, schlaffen Zusammenhangs entdecken zu können. Die einen wie die anderen lieben in solchen Momenten den Schlaf wie der Durchschnittsmensch, der weder handelt noch untätig ist, sondern ein bloßer Reflex der Gattung Mensch. Schlaf bedeutet die Verschmelzung mit Gott, das Nirwana, wie immer man es auch definieren mag; Schlaf bedeutet die langsame Analyse der Empfindungen, ob man sie als eine atomare Wissenschaft von der Seele einsetzt oder als Musik des Willens, als träges Anagramm der Eintönigkeit durchschläft. Ich schreibe, indem ich an den Worten verweile wie an Schaufenstern, wo ich nichts erkennen kann; nur Halb-Gesehenes, Halb-Ausgedrücktes verbleibt mir wie die Farben von Polsterstoffen, die ich nicht näher wahrnehmen kann, harmonische Ausstellungsstücke, komponiert aus mir unbekannten Gegenständen. Ich schreibe, indem ich mich in den Schlaf wiege, wie eine wahnsinnige Mutter ihr totes Kind. Ich habe mich an einem bestimmten Tage, ich weiß nicht an welchem, in dieser Welt befunden; bis dahin hatte ich, seit ich geboren worden war, ohne zu fühlen gelebt. Wenn ich fragte, wo ich mich befand, logen mich alle an und widersprachen sich dabei. Wenn ich darum bat, man möge mir sagen, was ich tun solle, gaben mir alle eine falsche Auskunft und jeder sagte mir etwas anderes. Wenn ich auf dem Weg stehenblieb, weil ich nicht weiterwußte, wunderten sich alle, weshalb ich nicht weiterging in eine
Richtung, von der niemand wußte, was dort kommen würde, oder weshalb ich nicht umkehrte — ich, der ich, am Kreuzweg aufgeweckt, nicht wußte, woher ich gekommen war. Ich sah, daß ich mich auf der Bühne befand und die Rolle nicht beherrschte, die die anderen sogleich aufsagten, auch ohne sie zu kennen. Ich sah, daß ich als Page gekleidet war, aber man gab mir die Königin nicht und statt dessen beschuldigte man mich, weil ich sie nicht hatte. Ich sah, daß ich die zu überbringende Botschaft in Händen hielt, und als ich ihnen erklärte, das Papier sei weiß, lachten sie mich aus. Und ich weiß immer noch nicht, ob sie lachten, weil alle Papiere weiß sind oder weil alle Botschaften erraten werden müssen. Endlich setzte ich mich auf den Stein des Kreuzwegs wie an den heimischen Herd, der mir fehlte. Mit mir allein gelassen begann ich, Papierschiffchen aus der Lüge zu verfertigen, mit der man mich abgespeist hatte. Niemand wollte mir glauben, nicht einmal als Lügner, und ich hatte keinen See, mit dem ich meine Wahrheit hätte beweisen können. Müßige, verlorene Worte, lose Metaphern, die verschwommene Angst schattenhaft aneinandergekettet. . . Spuren besserer Stunden, auf ich weiß nicht welchen Alleen verbracht . . . Erloschene Lampe, deren Gold im Dunkeln dank der Erinnerung an das erloschene Licht erglänzt . . . Worte, nicht in den Wind, sondern in den Boden geredet, aus gelockerten Fingern entsunken, die von einem unsichtbar unendlichen Baum in sie hineingefallen sind . . . Sehnsucht nach den Teichen auf fremden Landgütern . . . Zärtlichkeit für niemals Geschehenes . . Leben! Leben! Und bei alledem die Frage, ob es vielleicht gut sein würde, auf Proserpinas Bett einzuschlafen . . .
Bei einer der schlaflosen Schläfrigkeiten, bei denen wir uns ohne Intelligenz intelligent unterhalten, überlese ich noch einmal einige dieser Seiten, deren Gesamtheit mein Buch mit seinen unverbundenen Eindrücken ausmachen wird. Und wie ein Geruch nach etwas Bekanntem schlägt mir aus ihnen Eintönigkeit entgegen.
Ich bemerke, daß ich, auch wenn ich sagte, ich sei immer ein anderer, immer das gleiche ausgesagt habe; daß ich mir selber ähnlicher bin als ich zugeben wollte; daß ich bei Abschluß der Rechnung weder die Freude eines Gewinnes noch die Aufregung eines Verlustes erlebte. Ich bin die Abwesenheit des Saldos meiner selbst, ohne ein unfreiwilliges Gleichgewicht, das mich verzweifeln läßt und schwächt. Alles, was ich geschrieben habe, ist grau. Man könnte sagen, mein Leben und sogar sein geistiger Teil sei ein träger Regentag, an welchem alles Ereignislosigkeit und Halbschatten ist, entleertes Privileg und vergessene Ursache. Ich verzweifle in zerrissener Seide. Ich verkenne mich in Licht und Langeweile. Meine demütige Anstrengung, wenigstens auszusagen, wer ich bin und wie eine Nervenmaschine die geringsten Eindrücke meines subjektiven, hellbewußten Lebens zu registrieren, dies alles entleerte sich wie ein umgestoßener Eimer und ergoß sich über den Boden. Ich fabrizierte mich aus falschen Farben, mein Glanz war falsch. Mein Herz, aus dem ich die großen Ereignisse der erlebten Prosa herausspann, erscheint mir heute, wo ich aus der Distanz dieser mit veränderter Seele gelesenen Seiten schreibe, wie eine Pumpe in einem Vorgarten in der Provinz, die aus Instinkt installiert und aus Diensteifer in Gang gesetzt wurde. Ich habe ohne Sturm auf einem Meer Schiffbruch erlitten, in dem man sich stehenden Fußes aufhalten kann. Und ich frage den verbleibenden Rest meines Bewußtseins, wozu es mir nütze war, so viele Seiten mit Sätzen zu füllen, an die ich glaubte, weil es meine eigenen waren, mit Gefühlen vollzustopfen, die ich als erdacht empfand, mit Fahnen und Bannern von Heeren zu schmücken, die letztlich nur Papierchen sind, die die Tochter des Bettlers mit Spucke unter den Vordächern angeklebt hat. Ich frage das, was von mir übrig ist, wozu diese unnützen Seiten dienen sollen, die dem Müll und dem Untergang geweiht sind; bevor sie noch geschrieben wurden, gingen sie unter den zerrissenen Papieren des Schicksals verloren. Ich stelle die Frage, aber ich fahre fort. Ich schreibe die Frage auf, hülle sie in neue Sätze ein und wickle sie aus neuen Gefühlsbe-
wegungen heraus. Morgen werde ich mein törichtes Buch fortsetzen und die täglichen Eindrücke meiner kühlen Übetzeugungslosigkeit niederschreiben. Sie mögen aufeinanderfolgen, so wie sie sind. Wenn das Dominospiel ausgespielt und das Spiel gewonnen oder verloren ist, dreht man die Steine um und das beendete Spiel ist schwarz.
19.6.1934
Wenn wir ständig im Abstrakten leben — sei es in abstrakten Gedanken, sei es in der gedachten Empfindung — dauert es nicht lange, bis gegen unseren eigenen Willen jene Dinge des wirklichen Lebens für uns Trugbilder werden, die wir im Einklang mit uns selbst stärker empfinden müßten. So sehr ich mit jemandem befreundet, wahrhaft befreundet sein mag, zu wissen, daß er krank oder verstorben ist, macht mir nur einen schwachen Eindruck, den zu empfinden ich mich schäme. Nur der unmittelbare Anblick seiner Lage würde mein Gefühl bewegen. Wenn man vom Phantasieren lebt, verbraucht man die Kraft zur Phantasie, vor allem die Kraft, sich das wirklich Vorhandene vorzustellen. Wenn man geistig von dem lebt, was es nicht gibt und auch nicht geben kann, kann man sich am Ende gar nicht mehr vorstellen, was es alles geben kann. Heute erzählte man mir, ein alter Freund von mir, den ich lange nicht gesehen habe, an den ich mich aber immer mit einem Gefühl, das mir wie Sehnsucht erscheint, erinnere, sei zur Operation ins Krankenhaus eingeliefert worden. Meine einzige, klare und deutliche Empfindung dabei war die der Schererei, den der Pflichtbesuch bei ihm mir notgedrungen verursachen würde, samt der ironischen Alternative, falls ich für diesen Besuch keine Geduld aufbringen sollte, diese Unterlassung bereuen zu müssen. Weiter nichts . . . Weil ich so häufigen Umgang mit Schatten hatte, habe ich mich selbst in einen Schatten verwandelt — in das, was ich denke, in das, was ich fühle, in das, was ich bin. Die Sehnsucht nach dem normalen Menschen, der ich nie gewesen bin, ist in die Substanz meines Wesens eingegangen. Doch immer
noch fühle ich dies und nichts anderes. Ich bedauere nicht eigentlich den Freund, den man operieren wird. Auch all die anderen Leute, die operiert werden sollen, die da leiden und sich in dieser Welt herumquälen müssen, bedauere ich nicht eigentlich. Ich bedauere lediglich, daß ich nicht jemand sein kann, der das bedauerlich finden könnte. Und auf einmal denke ich unausweichlich an etwas anderes — der Impuls dazu ist mir selber unklar. Mit dem, was ich nicht zu fühlen vermochte, mit dem, was ich nicht sein konnte, vermischt sich dann für mich, als delirierte ich, ein Rauschen von Bäumen, rieselndes Wasser in steinernen Becken, ein nicht vorhandener Gutshof. Ich gebe mir Mühe zu fühlen, aber ich weiß bereits nicht mehr, wie man fühlt. Ich bin zum Schatten meiner selbst geworden und habe ihm mein Sein ausgeliefert. Im Gegensatz zu dem Peter Schlemihl aus der deutschen Erzählung habe ich dem Teufel nicht meinen Schatten, sondern meine Substanz verkauft. Ich leide darunter, nicht zu leiden, nicht leiden zu können. Lebe ich oder tue ich nur so, als ob ich lebte? Schlafe ich oder bin ich wach? Ein vager Lufthauch, der frisch aus der Hitze des Tages aufsteigt, läßt mich alles vergessen. Meine Lider lasten angenehm . . . Ich spüre, daß diese Sonne die Felder vergoldet, auf denen ich nicht bin und auf denen ich auch nicht sein möchte . . . Mitten aus den Geräuschen der Stadt erhebt sich eine große Stille . . . Wie sanft sie ist! Doch wieviel sanfter wäre sie vielleicht, wenn ich nur fühlen könnte! . . .
Eine der großen Tragödien meines Lebens — aber von der Art jener Tragödien, die sich im Schatten und als Ausflucht abspielen — besteht darin, nichts auf natürliche Weise fühlen zu können. Ich bin fähig zu lieben und zu hassen wie alle Leute, mich zu fürchten und zu begeistern wie alle Leute; doch weder meine Liebe noch mein Haß, weder meine Furcht noch meine Begeisterung sind genau dieselben Dinge, die sie sind. Entweder fehlt ihnen etwas, oder es ist ihnen etwas hinzugefügt worden. Sicher ist nur, daß sie etwas anderes sind und, was ich fühle, nicht mit lern Leben übereinstimmt.
Bei den berechnenden Naturen — und das Wort ist sehr zutreffend — erfahren die Gefühle die Begrenzung der Berechnung, des egoistischen Bedenkens und wirken wie andersartige. Bei Naturen, die man recht eigentlich skrupulös nennen kann, bemerkt man die gleiche Verlagerung der naturgegebenen Instinkte. Bei mir bemerkt man die gleiche Störung des Gefühlsvermögens, aber ich bin weder berechnend noch skrupulös. Ich habe keine Entschuldigung dafür, daß ich so schlecht zu fühlen vermag. Aus Instinkt entstelle ich die Instinkte. Ohne es zu wollen, will mein Wille auf fehlerhafte Weise.
Ich denke zuweilen mit zwiespältigem Vergnügen an die künftige Möglichkeit einer Geographie unseres Bewußtseins von uns selbst. Meines Erachtens wird der künftige Historiker unserer eigenen Empfindungen möglicherweise aus seiner Haltung gegenüber seinem Bewußtsein der eigenen Seele eine exakte Wissenschaft machen können. Einstweilen stehen wir noch ganz am Anfang in dieser schwierigen Kunst, die immer noch eine Kunst ist: eine Chemie der Empfindungen, die sich heute noch in ihrem alchimistischen Stadium befindet. Der Wissenschaftler von übermorgen wird einen besonders skrupulösen Sinn für sein eigenes Innenleben entwickeln. Er wird aus sich selbst das Präzisionsinstrument erschaffen, um sein Innenleben auf das darin Analysierbare einzugrenzen. Ich sehe keine wesentliche Schwierigkeit darin, allein aus Stahl und Bronze des Denkens ein Präzisionsinstrument zum selbstanalytischen Gebrauch zu konstruieren. Ich meine Stahl und Bronze, die wirklich Stahl und Bronze sind, aber im geistigen Sinne. Vielleicht muß es wirklich auf diese Weise konstruiert werden. Vielleicht wird es sich als notwendig erweisen, die Idee eines Präzisionsinstrumentes zu konzipieren und diese Idee materiell vor sich zu sehen, um zu einer strengen inneren Analyse übergehen zu können. Und natürlich wird es auch nötig werden, den Geist auf eine Art von wirklicher Materie einzugrenzen mit einer Art von Raum, innerhalb dessen er existiert. All dies hängt ab von der äußersten Schärfung unserer inneren Empfindungen, die, wenn man sie bis
zum Rand ihrer Möglichkeiten ausschöpft, ohne Zweifel in uns einen wirklichen Raum enthüllen oder schaffen werden gleich dem Raum, der dort vorhanden ist, wo sich die materiellen Dinge befinden und der im übrigen als Ding irreal ist. Ich weiß nicht einmal, ob dieser innere Raum nicht nur eine neue Dimension des anderen Raumes sein wird. Vielleicht gelangt die wissenschaftliche Forschung der Zukunft zu der Entdeckung, daß alles nur Dimensionen desselben Raumes sind, der deshalb weder materiell noch geistig ist. In der einen Dimension leben wir als Körper; in der anderen leben wir als Seele. Und es gibt vielleicht noch weitere Dimensionen, wo wir als andere, ebenfalls wirkliche Dinge leben. Manchmal gefällt es mir, mich von der müßigen Meditation gefangennehmen zu lassen, bis zu welchem Punkt diese Forschung vorwärtsgetrieben werden kann. Vielleicht entdeckt man dann, daß was wir Gott nennen und was sich so offenkundig auf einer anderen Ebene außerhalb der Logik und der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit befindet, eine uns eigentümliche Existenzweise ist, eine Empfindung von uns in einer anderen Dimension des Seins. Dies erscheint mir nicht als unmöglich. Die Träume werden ebenfalls vielleicht noch eine weitere Dimension sein, in der wir leben, oder aber eine Überschneidung zweier Dimensionen; wie ein Körper in der Höhe, in der Breite und in der Länge lebt, werden unsere Träume, wer weiß, im Idealen, im Ich und im Raum leben. Im Raum vermittels ihrer sichtbaren Darstellung; im Idealen vermittels ihrer Zugehörigkeit zu einer anderen Gattung als der Materie; im Ich vermittels ihrer inneren Dimension als die unsrigen. Das Ich selber, das Ich jedes einzelnen von uns, ist vielleicht eine göttliche Dimension. All das ist verwickelt und wird zu seiner Zeit zweifellos näher festgelegt werden. Die gegenwärtigen Träumer sind möglicherweise die großen Vorläufer der abschließenden Wissenschaft der Zukunft. Doch das kann uns hier nicht kümmern. Manchmal stelle ich metaphysische Überlegungen wie diese mit der skrupulösen, respektvollen Aufmerksamkeit eines Menschen an, der ernstlich arbeitet und Wissenschaft betreibt. Ich sagte schon, daß es durchaus möglich ist, daß ich sie tatsächlich betreibe. Wesentlich ist, daß ich darauf nicht allzu
stolz bin, da der Stolz der exakten Überparteilichkeit der Wissen-
schaft Abbruch tut.
So bin ich, nichtig und sensibel, wie ich bin, fähig zu heftigen, verzehrenden Impulsen, bösen und guten, edlen und gemeinen, niemals aber zu einem überdauernden Gefühl, niemals zu einer Gefühlsregung, die fortwirken und in die Substanz der Seele eingehen würde. Alles in mir hat die Tendenz, anschließend etwas anderes zu sein; es ist eine Ungeduld der Seele gegen sich selbst, wie gegenüber einem lästigen Kind, eine wachsende und immer gleiche Unruhe. Alles fesselt mich und nichts hält mich fest. Ich gebe auf alles acht und träume dabei ständig; ich halte den geringfügigsten Gesichtsausdruck meiner Gesprächspartner fest; ich sammle die millimeterhaften Intonationsnuancen ihrer Redeweise; doch indem ich sie anhöre, höre ich gar nicht zu, ich denke dabei an etwas anderes und am wenigsten entnehme ich dem Gespräch, was in ihm von meiner Seite oder von selten meines Gesprächspartners ausgesagt wurde. So wiederhole ich jemandem das, was ich ihm gegenüber schon mehrfach ausgesprochen habe und frage ihn erneut nach dem, worauf er mir schon Antwort gegeben hatte. Aber ich kann mit vier photographischen Wörtern die Gebärde beschreiben, mit der er das gesagt hat, woran ich mich nicht mehr erinnere, oder die Art und Weise seines Augenausdrucks, mit dem er die Erzählung aufnahm, die ich mich nicht erinnern kann, ihm vorgetragen zu haben. Ich bin zwei Wesen und beide halten auf Distanz — siamesische Zwillinge, die nicht miteinander verbunden sind.
3.9.1931
Die Gefühle, die am meisten schmerzen, die Gefühlsaufwallungen, die am meisten quälen, sind diejenigen, die ganz absurd sind — Verlangen nach unmöglichen Dingen, eben weil sie unmöglich sind, Sehnsucht nach dem, was nie gewesen ist, Wunsch nach dem, was gewesen sein könnte, Kummer darüber, nicht ein ande-
rer zu sein, Unzufriedenheit mit der Existenz der Welt. Alle diese Halbtöne des seelischen Bewußtseins schaffen in uns eine schmerzerfüllte Landschaft, einen ewigen Sonnenuntergang dessen, was wir sind. Unser Selbstgefühl ist dann ein verlassenes Feld in der Abenddämmerung, traurig mit Schilf bestanden neben einem Fluß ohne Schiffe, der hell zwischen entfernten Ufern dunkelt. Ich weiß nicht, ob diese Gefühle ein langsamer Wahn der Trostlosigkeit sind oder Nachklänge aus irgendeiner anderen Welt, in der wir uns aufgehalten haben — sich überkreuzende und vermischte Nachklänge wie im Traum erlebte Dinge, sinnlos in der Gestalt, in der wir sie sehen, nicht aber ihrem Ursprung nach, wenn dieser uns bekannt wäre. Ich weiß nicht, ob es andere Wesen gegeben hat, die wir einmal waren, deren größere Vollständigkeit wir heute fühlen, da wir nur noch ihre Schatten sind — sie haben ihre Festigkeit eingebüßt, und wir können sie uns schlecht vorstellen in der Zweidimensionalkät des von uns gelebten Schattens. Ich weiß, daß diese Gedanken der Emotion wütend in der Seele schmerzen. Die Unmöglichkeit, uns ein Ding vorzustellen, dem sie entsprechen können, die Unmöglichkeit, etwas zu finden, was das ersetzen könnte, mit dem sie in der Vision verbunden sind — all das lastet auf uns wie eine Verurteilung, von der man nicht weiß, wo, von wem oder warum sie ausgesprochen wurde. Was jedoch übrigbleibt, wenn man all das gefühlt hat, ist sicherlich ein Mißvergnügen am Leben und all seinen Gebärden, eine vorweggenommene Erschöpfung bei allen Wünschen jeglicher Art, ein namenloses Mißvergnügen an allen Gefühlen. In diesen Stunden subtilen Kummers wird es uns unmöglich, selbst als Traum unmöglich, Liebhaber, Held und glücklich zu sein. All das ist leer, sogar in der Idee dieser Leere. All das wird in einer anderen, für uns unverständlichen Sprache ausgesagt, bloßen Lauten von formlosen Silben ohne Verstand. Das Leben ist hohl, die Seele ist hohl, die Welt ist hohl. Alle Götter sterben eines Todes, der größer ist als der Tod. Alles ist leerer als die Leere. Alles ist ein Chaos von Nichtigkeiten. Wenn ich das bedenke und aufschaue, um zu sehen, ob die Wirklichkeit meinen Durst löschen kann, erblicke ich ausdrucks-
lose Häuser, ausdruckslose Gesichter und ausdruckslose Gebärden. Steine, Körper und Ideen — alles ist abgestorben. Alle Bewegungen sind Haltepunkte, sie sind alle derselbe Haltepunkt. Nichts sagt mir etwas. Nichts ist mir bekannt, nicht weil ich es befremdlich fände, sondern weil ich nicht weiß, was es ist. Die Welt ist abhandengekommen. Und auf dem Grunde meiner Seele liegt — als einzige Wirklichkeit dieses Augenblicks — ein bedrängender, unsichtbarer Kummer, eine Traurigkeit, wie wenn jemand weinen würde in einem finsteren Zimmer.
Millimeter (Wahrnehmungen kleinster Dinge) Wie die Gegenwart uralt ist, weil alles, als es existierte, Gegenwart gewesen ist, hege ich für die Dinge, weil sie der Gegenwart angehören, die Zärtlichkeit eines Antiquars und die Wut eines zu spät gekommenen Sammlers auf denjenigen, der mir meine Irrtümer in Bezug auf die Dinge mit plausiblen, wissenschaftlich fundierten Erklärungen tilgt. Die verschiedenen Stellungen, die ein fliegender Schmetterling nacheinander im Raum einnimmt, sind in meinen erstaunten Augen verschiedene Dinge, die sichtbar im Raum verbleiben [. . .] Doch nur die kleinsten Wahrnehmungen von den allerkleinsten Dingen erlebe ich intensiv. So ergeht es mir sicherlich wegen meiner Liebe zum Belanglosen. Mag auch sein, wegen meiner Skrupel im Detail. Doch ich glaube eher — ich weiß es nicht, es sind Dinge, die ich niemals analysiere —, daß dem so ist, weil das Kleinste in seiner gänzlichen gesellschaftlichen oder praktischen Bedeutungslosigkeit absolut unabhängig ist von schmutzigen Assoziationen aus dem Bereich der Wirklichkeit. Das Kleinste schmeckt mir nach Unwirklichem. Das Nutzlose ist schön, weil es weniger wirklich ist als das Nützliche, das sich fortsetzt und verlängert, während das belanglos Wunderbare, das unendlich kleine Glorreiche bleibt, wo es ist, nicht mehr ist als es ist und befreit und unabhängig lebt. Das Nutzlose und das Belanglose eröffnen in unserem wirklichen Leben Zwischenräume einer demütigen Statik. Was ruft nicht die bloße unbedeutende Existenz
einer an einem Band festgesteckten Nadel an Träumen und verliebten Freuden in der Seele hervor! Beklagenswert derjenige, der die Wichtigkeit solcher Dinge nicht kennt! Ferner ist unter den Empfindungen, die durchdringender schmerzen, bis sie angenehm werden, die Beunruhigung durch ein Geheimnis besonders verwickelt und anhaltend. Und das Geheimnis schimmert nie so sehr durch wie in der Betrachtung der kleinsten Dinge, die, da sie sich nicht bewegen, vollkommen durchlässig sind für das Geheimnisvolle, die stillstehen, um es hindurchgehen zu lassen. Schwieriger ist es, das Gefühl eines Geheimnisses zu empfinden, wenn man eine Schlacht betrachtet und dabei an das Sinnlose gesellschaftlicher Auseinandersetzungen denkt, als bei der Betrachtung eines kleinen Steins, der auf einer Straße liegt, weil sie keine Vorstellung auslöst außer derjenigen ihrer Existenz. Gesegnet die Augenblicke und die Millimeter und die Schatten der kleinen Dinge, die noch demütiger sind als sie! [. . .] Die Millimeter — welch einen Eindruck von Schrecknis und Wagnis macht mir ihre Existenz Seite an Seite in enger Nachbarschaft auf einem Meterband. Manchmal leide ich und genieße bei diesen Dingen. Ich lege einen ungezügelten Stolz hinein. Ich bin eine aufnahmefähige photographische Platte. Alle Einzelheiten graben sich mir unproportional ein, um Teile eines Ganzen zu werden. Ich beschäftige mich nur mit mir. Die Außenwelt ist für mich nur eine Empfindung. Nie vergesse ich, daß ich empfinde.
1.12.1931
Da ich dem Überdruß so verfallen bin, ist es eigentlich verwunderlich, daß es mir bis heute nie eingefallen ist, darüber nachzudenken, worin er besteht. Ich lebe heute in jenem Zwischenstadium der Seele, in dem mich weder das Leben noch irgend etwas anderes locken kann. Und meine plötzliche Erinnerung daran, daß ich nie darüber nachgedacht habe, was der Überdruß sein könnte, bringt mich dazu, impressionistische Gedanken zu einer
ein wenig künstlich anmutenden Analyse dessen, was er wohl sein konnte, zusammenzustellen. Ich weiß nicht zu sagen, ob der Überdruß nur die wache Entsprechung zur Schlaftrunkenheit des Tagediebs ist, oder ob er im Grunde etwas Edleres ist als dessen Erstarrung. Bei mir stellt sich der Überdruß häufig ein, aber, so weit ich das feststellen konnte, gehorcht er nicht bestimmten Regeln des Erscheinens. Ich kann einen trägen Sonntag ohne Überdruß verbringen; er kann mich plötzlich wie eine Wolke in der Außenwelt mitten in aufmerksamer Arbeit überfallen. Er hängt offenbar weder von Gesundheit noch von Krankheit ab; er erscheint mir auch nicht als das Ergebnis von Ursachen, die im deutlich sichtbaren Teil meiner selbst liegen. Feststellen, daß er eine verkappte metaphysische Angst ist, eine große unbekannte Enttäuschung, eine taube Poesie der Seele, die gelangweilt an dem Fenster aufblüht, das zum Leben führt — dies oder etwas Ähnliches aussagen kann den Überdruß mit Farbe tränken wie ein Kind die Zeichnung, deren Umrisse es übermalt und auslöscht, aber es bringt mir nicht mehr als einen Klang von Wörtern, die in den Kellern des Gedankens widerhallen. Der Überdruß . . . Mit ermüdetem Denken zu denken, ohne daß man denkt; mit geängstigtem Gefühl zu fühlen, ohne daß man fühlt; mit dem Ekel des Nichtwollens nicht zu wollen, ohne daß man nicht will — all das steckt im Überdruß, ohne der Überdruß zu sein, ist nicht mehr als eine Paraphrase oder eine Übertragung von ihm. In der unmittelbaren Empfindung geht es zu, als höbe sich über dem Graben der Seelenburg die Zugbrücke auf und zwischen der Burg und den umliegenden Ländereien bliebe nichts außer der Möglichkeit, sie anzuschauen, ohne sie beschreiten zu können. Wir fühlen uns von uns selbst isoliert; in dieser Isolierung stagniert das Trennende wie wir, ein schmutziges Gewässer, das unser Mißverstehen umgibt. Der Überdruß . . . Erleiden ohne Leiden, Wollen ohne Willen, Denken ohne Überlegung . . . Er ist wie die Besessenheit von einem negativen Dämon, wie eine Verhexung durch nichts. Es heißt, daß die Hexer oder die kleinen Magier, indem sie Bilder aus uns machen und diese Bilder mißhandeln, veranlassen, daß sich
diese Mißhandlungen infolge einer astralen Einwirkung auf uns übertragen. Der Überdruß erscheint mir, wenn ich dieses Bild aufnehme, als der bösartige Reflex von Zauberkräften eines Dämons, die nicht auf ein Bild von mir, sondern auf seinen Schatten einwirken. An den inneren Schatten meiner selbst, an das Äußere des Inneren meiner Seele klebt man Papiere oder sticht mit Nadeln hinein. Ich bin wie der Mann, der seinen Schatten verkauft hat, oder, besser, wie der Schatten des Mannes, der ihn verkauft hat. Der Überdruß . . . Ich arbeite hart. Ich erfülle das, was die Moralisten der Aktion meine gesellschaftliche Pflicht nennen würden. Ich erfülle diese Pflicht oder dieses Schicksal ohne sonderliche Anstrengung oder merkliches Unverständnis. Doch manchmal quillt mir die Seele mitten in der Arbeit von der Galle der Trägheit über, manchmal sogar mitten in den Ruhepausen, die ich gemäß den gleichen Moralisten verdient habe und die mir daher willkommen sein müßten — ich bin erschöpft nicht vom Arbeiten oder von der Ruhepause, sondern erschöpft von mir selbst. Weshalb von mir, wo ich doch nicht an mich gedacht habe? Wovon sonst, wo ich doch gar nicht daran gedacht habe? Vom Geheimnis des Weltalls, das sich auf meine Rechnungen oder auf meine zurückgelehnte Stellung herabsenkt? Vom universellen Lebensschmerz, der sich ganz plötzlich in meiner mediumistischen Seele individualisiert hat? Wozu jemanden adeln, von dem man nicht weiß, wer er ist? Überdruß ist eine Empfindung der Leere, ein Hunger ohne den Willen zu essen, ebenso edel wie die Empfindungen von Gehirn oder Magen, wenn man zu viel geraucht oder eine schlechte Verdauung hat. Der Überdruß . . . Im Grunde ist er vielleicht die Unzufriedenheit der innersten Seele, weil wir ihr keinen Glauben gelassen haben, die Verzweiflung des traurigen Kindes in unserem Inneren, weil wir ihm nicht das göttliche Spielzeug gekauft haben. Vielleicht ist es die Unsicherheit desjenigen, der eine Hand braucht, die ihn leitet, und auf dem schwarzen Weg der tiefen Empfindungsfähigkeit nichts anderes fühlt als die geräuschlose Nacht, nicht denken zu können, als die eigenschaftslose Straße, nicht fühlen zu können . . .
Der Überdruß . . . Wer Götter hat, erlebt niemals den Überdruß. Der Überdruß ist der Mangel einer Mythologie. Wer keinen Glauben hat, dem ist selbst der Zweifel unmöglich, selbst der Skeptizismus besitzt keine Kraft zum Mißtrauen. Jawohl, das ist der Überdruß: der Verlust der seelischen Fähigkeit, sich Täuschungen zu überlassen, das gedankliche Fehlen der inexistenten Leiter, auf der er kraftvoll zur Wahrheit aufsteigen kann . . .
18.9.1933
Man sagt, der Überdruß sei eine Krankheit der Müßiggänger oder befalle nur diejenigen, die nichts zu tun haben. Diese Plage der Seele ist jedoch subtiler: Sie überfällt diejenigen, die dafür veranlagt sind, und verschont diejenigen, die arbeiten oder so tun, als ob sie arbeiteten (was für unseren Zweck auf das gleiche herauskommt) weniger als die wirklich Untätigen. Es gibt nichts Schlimmeres als den Gegensatz zwischen dem natürlichen Glanz des inneren Lebens mit seinen indischen Landschaften und seinen unbekannten Ländern und dem Schmutz, selbst wenn er in Wahrheit nicht schmutzig ist, der Alltäglichkeiten des Lebens. Der Überdruß lastet mehr, wenn er nicht die Entschuldigung des Müßiggangs hat. Der Überdruß der angestrengt Arbeitenden ist der schlimmste von allen. Der Überdruß ist nicht die Langeweile des Nichts-zu-tunHabens, sondern die ärgere Krankheit, zu fühlen, daß es sich nicht lohnt, irgend etwas zu tun. Und da dem so ist, muß man, je mehr zu tun ist, um so mehr Überdruß empfinden. Wie oft erhebe ich von dem Hauptbuch, in dem ich schreibe, das ich bearbeite, meinen von aller Welt verlassenen Kopf! Mehr Wert hätte es für mich, tatenlos herumzusitzen, ohne irgend etwas zu tun, ohne etwas tun zu müssen, denn einen solchen Überdruß würde ich, obwohl er wirklich wäre, zumindest genießen können. In meinem gegenwärtigen Überdruß liegt keine Erholung, kein Adel und kein Wohlsein, in welchem es Unwohlsein gäbe: Es liegt darin nur ein umfassendes Verlöschen aller vollbrachten Gebärden, nicht eine mögliche Erschöpfung ob der nicht zu vollführenden Gebärden.
22.8.1931
Bevor der Sommer endet und der Herbst kommt, in dem warmen Zwischenbereich, in welchem die Luft drückend wirkt und die Farben nachlassen, pflegen die Abende in einer falschen Gloriole einherzukommen. Sie sind den Phantastereien vergleichbar, bei denen die Sehnsucht kein Ziel findet und sich ins Unbestimmte verlängert wie die Spur von Schiffen, die eine immergleiche, ununterbrochene Kobra bildet. An solchen Abenden erfüllt mich wie ein Meer zur Zeit der Flut ein schlimmeres Gefühl als Überdruß, für das mir jedoch kein anderer Name einfällt — ein Gefühl ortloser Verzweiflung, eines Schiffbruchs der ganzen Seele. Ich spüre, daß ich einen nachsichtigen Gott verloren habe, daß die Substanz aller Dinge abgestorben ist. Und das fühlbare Universum ist für mich ein Leichnam, den ich geliebt habe, als er am Leben war; aber in dem noch warmen Licht der letzten farbigen Wolken ist alles zunichte geworden. Mein Überdruß wird zu Entsetzen; meine Langeweile ist eine Furchtsamkeit. Nicht mein Schweiß ist kalt, kalt ist mein Bewußtsein von meinem Schweiß. Kein körperliches Unwohlsein ist vorhanden, nur das Unwohlsein der Seele ist so groß, daß es durch die Poren des Körpers hindurchgeht und ihn ebenfalls überschwemmt. So immens ist der Überdruß, so beherrschend das Entsetzen darüber, am Leben zu sein, daß ich nicht begreife, daß es etwas geben könnte, was als Beruhigungsmittel, als Gegengift, als Balsam oder Vergessen dafür in Betracht käme. Schlafen entsetzt mich wie alles übrige. Gehen und stehen sind von gleicher Unmöglichkeit. Hoffen und nicht glauben sind einander gleich in Kälte und Asche. Ich bin ein Bord voll leerer Flakons. Und doch welche Sehnsucht nach der Zukunft, wenn ich meine Alltagsaugen den toten Gruß des leuchtenden Tagesendes empfangen lasse! Welch großer Trauerzug der Hoffnung zieht durch die immer noch goldene Stille der trägen Himmel, welch ein Zug von Leere und Nichts verbreitet sich in glutrotem Blau, das bald auf den weiten Ebenen des weißen Raumes erblassen wird!
Ich weiß nicht, was ich will oder was ich nicht will. Ich habe aufgehört, wissen zu wollen, zu wissen, wie man will, die Aufwallungen oder Gedanken zu verstehen, an denen man für gewöhnlich erkennt, daß wir etwas wollen oder wollen wollen. Ich weiß nicht, wer ich bin oder was ich bin. Wie jemand, den eine eingestürzte Mauer verschüttet hat, liege ich unter der eingestürzten Leere des ganzen Weltalls. Und so wandle ich auf der Spur meiner selbst, bis die Nacht einbricht und ein bißchen von der Liebkosung der Andersartigkeit wie eine Brise durch meine beginnende Ungeduld mit mir selber zieht. Ach, und der hohe, größer wirkende Mond dieser friedlichen Nächte, die so lau sind in ihrer Angst und Unruhe! Düsterer Friede der himmlischen Schönheit, kalte Ironie der warmen Luft, schwarze Bläue, neblig vor Mondschein und schüchtern vor Sternenglanz.
Fragmente einer Autobiographie Zuerst beschäftigten mich die metaphysischen Spekulationen, später die wissenschaftlichen Ideen. Schließlich zogen mich die soziologischen (Forschungen) an. Doch in keinem dieser Stadien meiner Suche nach der Wahrheit fand ich Sicherheit und Erleichterung. Ich las wenig in jedem einzelnen meiner Interessengebiete. Doch in dem wenigen, was ich las, ermüdete es mich, so viele widersprüchliche Ideen zu finden, die alle gleicherweise auf guten Gründen beruhten, alle gleichermaßen wahrscheinlich klangen und mit einer gewissen Auswahl von Fakten übereinstimmten, die sich stets so ausnahmen, als wären sie wirklich allesamt Fakten. Wenn ich meine erschöpften Augen von den Büchern aufhob oder meine verstörte Aufmerksamkeit von meinen Gedanken auf die Außenwelt wendete, erblickte ich nur eines, was jeden Nutzen meiner Lektüre und meines Denkens Lügen strafte und mir eines nach dem anderen die Blumenblätter der Idee eines Fortschritts entriß: die unendliche Komplexität der Dinge, die unermeßliche Summe [. . .], die weitschweifige Unüberprüfbarkeit sogar der wenigen Fakten, die man als zum Aufbau einer exakten Wissenschaft geeignet ansehen konnte.
23.4.1930
Was ist das für eine Ungewisse Liebkosung, um so weicher als es keine Liebkosung ist, die mir die vage Brise des Abends an die Stirn und an das Verständnis fächelt? Ich weiß nur, daß mir der Überdruß, unter dem ich leide, einen Moment lang besser paßt — wie ein Kleidungsstück, das nicht länger auf einer Wunde scheuert. Armselige Sensibilität, die von einer kleinen Luftbewegung abhängt, um, wenn auch nur vorübergehend, Ruhe 2u finden! Aber so geht es eben mit der Sensibilität des Menschen; ich glaube nicht, daß plötzlich gewonnenes Geld oder ein unerwartet empfangenes Lächeln auf der Waage der Wesen mehr wiegen und für andere Menschen mehr bedeuten können als für mich in diesem Augenblick das rasche Vorüberstreifen einer Brise. Ich kann nun ans Schlafen denken. Ich kann nun vom Träumen träumen. Ich erkenne nun die Objektivität aller Dinge klarer. Ich fühle mich komfortabler im äußeren Gefühl des Lebens. Und das alles wirklich, weil mir, als ich an die Straßenecke kam, eine Brise die Hautoberfläche erheitert hat. Alles, was wir lieben oder verlieren — Dinge, Wesen oder Bedeutungen — streift unsere Haut und gelangt so in unsere Seele, und der Vorgang ist in Gott nicht mehr als die Brise, die mir nichts gebracht hat außer der mutmaßlichen Erleichterung, dem günstigen Augenblick und der Fähigkeit, alles mit Glanz verlieren zu können . . .
Wir sind ein Tod. Das, was wir als Leben ansehen, ist der Schlaf des wirklichen Lebens, der Tod dessen, was wir wirklich sind. Die Toten werden geboren, sie sterben nicht. Die Welten sind für uns vertauscht. Wenn wir meinen, wir lebten, sind wir tot; wir werden leben, wenn wir im Sterben liegen. Die Beziehung, die zwischen dem Schlaf und dem Leben besteht, ist dieselbe, die zwischen dem besteht, was wir Leben nennen, und dem, was wir als Tod bezeichnen. Wir sind im Schlaf befangen, und dieses Leben ist ein Traum, nicht in einem meta-
phorischen oder dichterischen Sinne, sondern in einem tatsächlichen Sinne. All das, was wir unter unsere höheren Tätigkeiten rechnen, all das hat am Tode Anteil, all das ist Tod. Was ist das Ideal anderes als ein Eingeständnis, daß das Leben nichts nütze ist? Was ist die Kunst anderes als die Verneinung des Lebens? Eine Statue ist ein toter Körper, gemeißelt, um den Tod in einem unverweslichen Stoff festzuhaken. Selbst der Genuß, der wie ein Eintauchen ins Leben wirkt, ist eher ein Eintauchen in uns selbst, eine Zerstörung der Beziehungen zwischen uns und dem Leben, ein bewegter Schatten des Todes. Das Leben selber heißt sterben, denn wir finden keinen Tag in unserem Leben, an dem wir nicht eben dadurch einen Tag weniger vom Leben hätten. Wir bevölkern Träume, wir sind Schatten, die durch unausdenkliche Wälder irren, in denen die Bäume Häuser, Sitten, Ideen, Ideale und Philosophie sind. Nie Gott begegnen, nie je erfahren können, ob Gott existiert! Von Welt zu Welt gehen, von Inkarnation zu Inkarnation und stets in der liebkosenden Illusion, stets im schmeichelnden Irrtum. Nie je die Wahrheit erleben, nie einen Halt (?). Nie die Vereinigung mit Gott! Nie ganz in Frieden, aber immer ein bißchen von ihm, immer den Wunsch nach ihm!
In die mögliche Unermeßlichkeit des Abgrunds aller Dinge laßt mich zumindest die Glorie meiner Enttäuschung tragen, als wäre sie die eines großen Traums, den Glanz des Unglaubens wie ein Banner der Niederlage — ein Banner in schwachen Händen, und doch ein Banner, das über Schlamm und Blut der Schwächlinge weitergeschleppt wird . . . hochgereckt, während wir in den Wanderdünen versinken, niemand weiß, ob zum Zeichen des Protestes, ob als Herausforderung oder als Geste der Verzweiflung . . . Niemand weiß es, weil niemand irgend etwas weiß, und die Sandmassen verschlingen die Bannerträger und diejenigen, die keine Banner tragen . . . Die Sandmassen bedecken alles, mein Leben, meine Prosa und meine Ewigkeit.
Ich trage das Bewußtsein der Niederlage wie ein Siegespanier mit mir herum.
23.3.1930 Es gibt eine Müdigkeit der abstrakten Intelligenz und das ist die schrecklichste aller Müdigkeiten. Sie lastet nicht wie die Müdigkeit des Körpers und beunruhigt nicht wie die Müdigkeit nach einer Aufregung. Es ist eine Last des Weltbewußtseins, ein Nichtmit-der-Seele-atmen-können. Dann zerreißen, als habe der Wind in sie hineingeblasen und es seien Wolken gewesen, alle Ideen, in welchen wir das Leben gespürt haben, alle ehrgeizigen Pläne, auf die wir die Hoffnung auf einen Fortgang gesetzt haben, sie tun sich auf und entfernen sich, zu Aschennebel geworden, Fetzen dessen, was nicht war und auch nicht sein könnte. Und hinter der Niederlage taucht die schwarze, unversöhnliche Einsamkeit des Sternenhimmels rein empor. Das Geheimnis des Lebens schmerzt uns und erschreckt uns auf vielfache Weise. Manchmal überkommt es uns wie ein gestaltloses Phantom, und die Seele zittert in der schlimmsten aller Befürchtungen — vor der ungestalten Inkarnation des Nicht-Seins. Ein andermal steht es hinter uns, sichtbar nur, wenn wir uns nicht umwenden, um es anzuschauen, und es ist die ganze Wahrheit in ihrem allertiefsten Entsetzen darüber, daß wir sie nicht erkennen. Doch der Schrecken, der mich heute vernichtet, ist weniger edel und nagender. Es ist ein Verlangen, kein Denken haben zu wollen, ein Wunsch, nie irgend etwas gewesen zu sein, eine bewußte Verzweiflung aller Zellen im Körper der Seele. Es ist das plötzliche Gefühl, in einer unendlichen Zelle jählings unter Klausur gestellt worden zu sein. Wohin die Fluchtgedanken richten, wenn allein die Zelle das ein und alles ist? Dann packt mich ein überströmendes, absurdes Verlangen nach einer Art von Satanismus vor den Zeiten Satans, man möge doch eines Tages — eines Tages ohne Zeit und Substanz — einen Fluchtweg aus Gott heraus finden, und unser allertiefstes Wesen möge aufhören, einen Teil des Seins oder Nicht-Seins zu bilden.
Ich glaube intuitiv, daß für Menschen wie mich kein materieller Umstand glückbringend sein, kein Lebensumstand eine günstige Wendung nehmen kann. Wenn ich mich schon aus diesen Gründen vom Leben entferne, so trägt das Leben seinerseits noch dazu bei, daß ich mich von ihm zurückziehe. Jene Summen von Fakten, die für den Durchschnittsmenschen den Erfolg unvermeidlich machen, erbringen, wenn sie mich betreffen, ein anderes, unerwartetes und ungünstiges Ergebnis. Aus dieser Feststellung ergibt sich für mich zuweilen der schmerzliche Eindruck einer Feindschaft des Göttlichen. Es kommt mir dann so vor, als ob mir lediglich infolge einer bewußten Manipulierung der Fakten, so daß sie mir schädlich werden mußten, die Serie von Desastern, die mein Leben ausmacht, widerfahren konnte. Es hat sich aus alledem ergeben, daß ich meine Absichten nie allzu heftig verfolge. Das Glück mag, wenn es Lust dazu hat, zu mir kommen. Ich weiß nur zur Genüge, daß meine größte Anstrengung nicht zu dem Erfolg führt, den sie bei anderen haben würde. Deshalb überlasse ich mich dem Glück, ohne besonderes von ihm zu erwarten. Wozu auch? Mein Stoizismus ist eine organische Notwendigkeit. Ich muß mich gegen das Leben panzern. Da jeder Stoizismus nicht mehr ist als ein strenger Epikureismus, möchte ich im Rahmen des Möglichen erreichen, daß mich mein Unglück vergnügt. Ich weiß nicht, bis zu welchem Punkt ich das fertigbringe. Ich weiß nicht, bis zu welchem Punkt ich überhaupt etwas fertigbringe. Ich weiß nicht, bis zu welchem Punkt irgend etwas fertiggebracht werden kann . . . Wo ein anderer nicht infolge seiner Anstrengung, sondern infolge der Unausweichlichkeit der Gegebenheiten siegen würde, siege ich weder infolge dieser Unausweichlichkeit noch infolge dieser Anstrengung und könnte auch gar nicht siegen. Vielleicht bin ich im geistigen Sinne an einem kurzen Wintertag auf die Welt gekommen. Rasch ist die Nacht an mein Sein herangetreten. Nur in Frustration und Verlassenheit kann ich mein Leben verwirklichen. Im Grunde ist nichts von alledem stoisch. Nur in den Worten liegt der Adel meines Leidens. Ich beklage mich wie ein krankes
Dienstmädchen. Ich schmolle wie eine Hausfrau. Mein Leben ist gänzlich nichtig und gänzlich traurig.
Die klar umrissenen Dinge stärken uns, und die durchsonnten Dinge stärken uns. Das Leben unter einem blauen Tag vorbeiziehen zu sehen entschädigt mich für vieles. Ich vergesse unabsehbar, ich vergesse mehr, als ich erinnern konnte. Mein durchsichtiges, luftiges Herz läßt sich von der Selbstgenügsamkeit der Dinge durchdringen, und zu schauen genügt mir auf zärtliche Weise. Nie war ich etwas anderes als ein unkörperliches, aller Seele entblößtes Schauen, als ein vager Lufstrom, der vorbeifuhr und schauen konnte.
Ein leidenschaftsloses, kultiviertes Leben leben, in der Nachtfeuchtigkeit der Ideen, lesend, träumend und ans Schreiben denkend, ein hinlänglich langsames Leben, um sich stets am Rande des Überdrusses zu befinden, dabei aber hinlänglich überlegt, um sich niemals von ihm überwältigen zu lassen. Das Leben fern von Gefühlserregungen und Gedanken leben, nur in Gedanken an die Gefühlserregungen und an die Gefühlserregung der Gedanken. Golden in der Sonne lagern wie ein dunkler, von Blumen umstandener See. Im Schatten die Noblesse der Individualität zeigen, die darin besteht, dem Leben gegenüber auf nichts zu beharren. Im Kreisgang der Welten wie Blumenstaub sein, den ein unbekannter Wind durch die Abendluft trägt und die erstarrende Abenddämmerung an einem Zufallsort, unwahrnehmbar unter größeren Dingen, niedergehen läßt. Dies alles dank sicherer Einsicht sein, weder heiter noch traurig, der Sonne dankbar für ihren Glanz und den Sternen für ihre Entfernung. Nicht mehr sein, nicht mehr haben, nicht mehr wollen . . . Die Musik des Hungrigen, das Lied des Blinden, die Reliquie des unbekannten Wanderers, die Schritte in der Wüste des leeren Kamels ohne Schicksal . . .
Es gibt einen Schlaf der freiwilligen Aufmerksamkeit, den ich nicht erklären kann und der mich häufig überfällt, falls man von etwas so Ungreifbarem sagen kann, daß es jemanden überfällt. Ich gehe über eine Straße wie ein Sitzender, und meine für alles wache Aufmerksamkeit zehrt noch immer von der Ruhe des ganzen Körpers. Ich wäre nicht imstande, einem entgegenkommenden Passanten bewußt aus dem Wege zu gehen. Ich wäre nicht imstande, mit Worten oder zumindest in Gedanken auf die Frage eines zufällig Vorübergehenden zu antworten, der meine Zufälligkeit mit seiner eigenen ansteuern würde. Ich wäre nicht imstande, einen Wunsch, eine Hoffnung zu hegen, irgend etwas, was eine Bewegung darstellen würde, zu realisieren, woran nicht einmal mein Gesamtwille, sondern nur ein Teilwille meiner Persönlichkeit mitwirken müßte. Ich wäre nicht imstande zu denken, zu fühlen, zu wollen. Und ich gehe, ich gehe weiter, ich schweife umher. Nichts in meinen Bewegungen (ich achte auf das, worauf die Mitmenschen nicht achten) läßt den Zustand der Stagnation erkennen, in dem ich einhergehe. Und dieser Zustand der seelischen Abwesenheit, der bei einem Liegenden oder Lehnenden bequem, weil sicher wäre, ist bei einem Menschen, der über die Straße geht, merkwürdig unbequem, ja sogar schmerzlich. Es ist die Empfindung eines trägen Rauschzustandes, einer Trunkenheit, die weder an sich noch an ihrem Ursprung Freude findet. Es ist eine Krankheit, die nicht im Traum an Genesung denkt. Es ist ein heiteres Sterben.
5.4.1933
Unsere größte Angst als einen Zwischenfall ohne Bedeutung ansehen, nicht nur im Leben des Weltalls, sondern in dem unserer eigenen Seele, das ist der Anfang der Weisheit. Sie mitten in der Angst so ansehen ist die vollkommene Weisheit. In dem Augenblick, in dem wir leiden, scheint der menschliche Schmerz unendlich zu sein. Doch weder ist der menschliche Schmerz unendlich, noch ist unser Schmerz mehr wert als eben ein Schmerz, den wir ertragen müssen.
Wie oft bleibe ich unter der Last eines Überdrusses, der Wahnsinn zu sein scheint, oder einer Angst, die über ihn hinauszuwachsen scheint, zögernd stehen, bevor ich revoltiere, und zögere im Stehenbleiben, bevor ich einen Gott aus mir mache. Schmerz, weil man nicht weiß, was das Geheimnis der Welt ist, Schmerz, weil man uns nicht Hebt, Schmerz, weil man ungerecht gegen uns ist, Schmerz, weil das Leben erstickend und fesselnd auf uns lastet, Zahnschmerzen, Schmerzen, weil allzu enge Schuhe drücken — wer kann sagen, welcher von diesen Schmerzen größer ist, bei uns, bei den Mitmenschen oder gar bei der Allgemeinheit der existierenden Wesen? Manchen Leuten, die mit mir reden und mich anhören, erscheine ich als empfindungsloser Mensch. Ich bin jedoch — meine ich — sensibler als die große Mehrheit der Menschen. Allerdings bin ich ein sensibler Mensch, der sich kennt und der infolgedessen auch die Sensibilität kennt. Ach, es ist nicht wahr, daß das Leben schmerzlich sei oder daß es schmerzlich sei, an das Leben zu denken. Wahr ist vielmehr, daß unser Schmerz nur ernst und schwer ist, wenn wir ihn als solchen fingieren. Wenn wir ganz natürlich bleiben, geht er so vorüber, wie er gekommen ist, und verflüchtigt sich so, wie er entstanden ist. Alles ist nichts, und unser Schmerz mit ihm. Ich schreibe das unter dem Druck eines Überdrusses, der in mir keinen Platz findet und mehr als meine Seele braucht, um sich entsprechend ausdehnen zu können; unter dem Druck von allen und von allem, der mich stranguliert und verwirrt; unter dem physischen Gefühl fremden Unverständnisses, das mich verstört und zerschmettert. Doch ich hebe den Kopf zum fremden blauen Himmel auf, ich gebe mein Gesicht dem bewußtlos frischen Winde preis, ich senke die Lider, nachdem ich aufgeblickt habe, ich vergesse mein Gesicht, nachdem ich den Wind gespürt habe. Mir ist nicht besser zumute, nur anders. Es befreit mich von mir, wenn ich schaue. Ich muß beinahe lächeln, nicht weil ich mich verstehen würde, sondern weil ich dadurch, daß ich ein anderer geworden bin, aufgehört habe, verstehen zu können. Am hohen Himmel steht eine winzige Wolke wie ein sichtbares Nichts, ein weißes Vergessen des ganzen Universums.
Ich bin an jenen Punkt gelangt, an dem der Überdruß zur Person wird, zur verkörperten Fiktion meines Zusammenlebens mit mir selber.
28.9.1932
Niemand hat bisher in einer Sprache, die begreifen könnte, wer ihn nicht am eigenen Leibe erlebt hat, definiert, was der Überdruß ist. Das was einige Überdruß nennen, ist nichts weiter als Langeweile; das was andere so nennen, ist lediglich Unbehagen und wieder andere gibt es, die die Ermüdung als Überdruß bezeichnen. Doch der Überdruß hat, auch wenn ihm etwas von der Ermüdung, vom Unbehagen und von der Langeweile anhaftet, an ihnen so sehr Teil wie das Wasser am Wasserstoff und am Sauerstoff Teil hat, aus denen es besteht. Er schließt sie in sich ein, ohne ihnen zu ähneln. Wenn einige so dem Überdruß einen beschränkten, unvollständigen Sinn geben, so gibt ihm manch anderer eine Bedeutung, die in gewisser Weise über ihn hinausgeht — so wenn man den Überdruß das innere geistige Mißfallen an der Mannigfaltigkeit und Ungewißheit der Welt nennt. Was uns den Mund aufreißen läßt, ist die Langeweile; was uns die Stellung verändern läßt, ist das Unbehagen; was bewirkt, daß man sich nicht rühren kann, ist die Ermüdung — nichts von alledem ist der Überdruß; aber er ist auch nicht das tiefe Gefühl der Leere der Dinge, durch das sich das gescheiterte Streben befreit, das enttäuschte Begehren erhebt und die Saat in der Seele keimt, aus der der Mystiker und der Heilige herauswachsen. Der Überdruß ist, gewiß, die Langeweile der Welt, das Unbehagen am Leben zu sein, die Ermüdung, gelebt zu haben; der Überdruß ist wirklich die fleischliche Empfindung der weitschweifigen Leere der Dinge. Doch der Überdruß ist mehr als das: er ist die Langeweile beim bloßen Gedanken an andere Welten, sie mögen vorhanden sein oder nicht; er ist der Überdruß, überhaupt leben zu müssen, auch wenn als anderer Mensch; auch wenn auf andere Weise, auch wenn in einer anderen Welt; er ist die
Ermüdung nicht nur von gestern und heute, sondern auch die von morgen und die der Ewigkeit, falls es sie geben sollte, und die Ermüdung des Nichts, falls das Nichts die Ewigkeit sein sollte. Er ist nicht allein die Leere der Dinge und der Wesen, die in der Seele schmerzt, wenn sie sich im Überdruß befindet: er ist auch die Leere von etwas anderem, was nicht die Dinge und die Wesen ist, die Leere der eigenen Seele, die die Leere spürt, die sich leer fühlt, und die in ihm sich selber zum Ekel wird und sich selbst verwirft. Der Überdruß ist die körperliche Empfindung des Chaos und der Tatsache, daß das Chaos alles ist. Der Gelangweilte, der sich unbehaglich Fühlende, der Ermüdete glauben sich in einer engen Zelle gefangen. Der an der Enge des Lebens Leidende fühlt sich in einer großen Zelle angekettet. Wer aber am Überdruß leidet, fühlt sich in vergeblicher Freiheit in einer unendlichen Zelle gefangen. Über demjenigen, der sich langweilt oder Unbehagen oder Erschöpfung spürt, können die Mauern der Zelle einstürzen und ihn begraben. Von demjenigen, dem die Kleinheit der Welt mißfällt, können die Fesseln abfallen und er kann flüchten; oder es kann ihn schmerzen, sie nicht abschütteln zu können, und er kann beim Gefühl dieses Schmerzes ohne Mißvergnügen aufleben. Doch die Mauern der unendlichen Zelle können uns nicht begraben, weil sie nicht existieren; nicht einmal durch den Schmerz können uns die Fesseln aufleben lassen, die uns niemand angelegt hat. Und eben dies spüre ich angesichts der friedsamen Schönheit dieses Abends, der unmerklich zur Neige geht. Ich betrachte den hohen hellen Himmel, an welchem verschwommene rosafarbene Dinge wie Schatten von Wolken der ungreifbare Flaum eines beflügelten fernen Lebens sind. Ich senke die Augen auf den Fluß, in welchem das gewellte Wasser von einer Bläue ist, die von einem tieferen Himmel gespiegelt zu werden scheint. Ich erhebe von neuem die Augen zum Himmel und schon liegt zwischen dem, was sich da verschwommen farbig ohne Fetzen in der unsichtbaren Luft zerfasert, ein vereisendes trübes Weiß, als ob irgendein Ding unter den Dingen, die am höchsten und nichtigsten sind, seinen eigenen stofflichen Überdruß erlebte und an der Unmöglichkeit litte, zusein, was es ist, ein unwägbarer Körper aus Angst und Verheerung.
Aber was denn? Was liegt in der hohen Luft anderes als die hohe Luft, die nicht ist? Was steht am Himmel anderes als eine Farbe, die ihm nicht gehört? Was sind diese Fetzen anderes als Wolken, an denen ich schon zweifle, anderes als Lichtreflexe, die von der untergehenden Sonne materiell einfallen? Was liegt in alledem anderes als ich selbst? Ach, aber eben das ist der Überdruß, er ist nur das. Das, was in alledem — Himmel, Erde, Welt — liegt, ist nichts anderes als ich!
Der Wahlspruch, den ich heute zur Definition meines Geistes begehre, lautet: ein Schöpfer von Gleichgültigkeit. Ich wünschte mir mehr als alles andere, daß meine Wirkung im Leben darin bestünde, meine Mitmenschen dazu zu erziehen, immer mehr für sich selbst zu fühlen und immer weniger nach dem dynamischen Gesetz des Kollektivs . . . Zu jener geistigen Antisepsis erziehen, dank deren es keinerlei Ansteckung durch die Durchschnittlichkeit geben kann, scheint mir das Sternenschicksal des intimen Pädagogen zu sein, der ich sein mochte. Wer immer mich liest, möge lernen — schrittweise, wie es der Gegenstand nahelegt — bei den Blicken und Meinungen der anderen nichts zu empfinden; eine solche Wirkung würde die scholastische Stagnation meines Lebens hinreichend mit Girlanden kränzen. Die Unmöglichkeit zu handeln war für mich stets eine Unannehmlichkeit mit metaphysischer Ätiologie. Mich zu gebärden war immer für mein Gefühl der Dinge eine Störung, eine Teilung im äußeren Universum; mich zu bewegen vermittelte mir stets den Eindruck, daß ich die Sterne nicht unberührt und die Himmel nicht unverändert lassen würde. Deshalb wurde mir früh die metaphysische Bedeutung der kleinsten Geste bewußt. Ich legte mir gegenüber dem Handeln eine Bedenklichkeit von transzendentalen Ausmaßen zu, die mich, seit ich sie in meinem Bewußtsein verankert habe, hindert, intensive Beziehungen zur greifbaren Welt zu unterhalten.
Das praktische Leben schien mir immer der unbequemste aller Selbstmorde zu sein. Handeln bedeutete für mich immer die heftige Verurteilung des zu Unrecht verurteilten Traumes. Einfluß auf die Außenwelt ausüben, Dinge ändern, Menschen verschieben, Leute beeinflussen — all dies erschien mir immer nebelhafter als meine Phantasievorstellungen. Die innewohnende Nichtigkeit aller Formen der Aktion zu erkennen war seit meiner Kindheit das beliebteste Anliegen meiner Gleichgültigkeit gegen mich selbst. Handeln heißt gegen sich selbst reagieren. Beeinflussen heißt aus dem Hause gehen. Immer ist es meinem Nachdenken als absurd erschienen, daß es dort, wo die substantielle Wirklichkeit eine Reihe von Empfindungen ist, so kompliziert einfache Dinge geben sollte wie Handelsbeziehungen, Industrien, gesellschaftliche und familiäre Bande, die verzweifelt unverständlich bleiben angesichts der inneren Einstellung der Seele gegenüber der Idee der Wahrheit.
Ästhetik der Gleichgültigkeit Vor jedem Ding muß der Träumer versuchen, die deutliche Gleichgültigkeit zu empfinden, die dieses Ding in seiner Eigenschaft als Ding ihm verursacht. Instinktiv aus jedem Gegenstand oder Ereignis zu destillieren wissen, was sie an Traumfähigem bieten können, und alles in der Außenwelt abgestorben zurücklassen, was ihnen an Wirklichkeit eignet — das ist es, was der Weise in sich selbst zu verwirklichen suchen muß. Niemals aufrichtig seine eigenen Gefühle empfinden und seinen blassen Triumph bis zu dem Punkt treiben, wo man gleichmütig auf den eigenen Ehrgeiz, seine Begierden und seine Wünsche schaut; durch die eigenen Freuden und Ängste hindurchgehen, wie jemand durch das hindurchgeht, was ihn nicht fesselt . . . Die größte Selbstbeherrschung ist die Gleichgültigkeit gegen sich selbst, bei der man Körper und Seele für das Haus und
Gehöft hält, wo es das Schicksal gewollt hat, daß wir unser Leben verbringen sollten. Seine eigenen Träume und intimen Wünsche hoheitsvoll als Grandseigneur behandeln [. . .] und das innere Taktgefühl darauf verwenden, nicht auf sie zu achten. Schamgefühl gegenüber sich selbst besitzen; darauf zu achten, daß wir in unserer Gegenwart nicht allein sind, daß wir Zeugen unserer selbst sind und es deshalb darauf ankommt, uns selbst gegenüber wie gegenüber einem Fremden zu handeln — mit einstudierter heiterer Fassung, gleichgültig, weil adlig, und kühl, weil gleichgültig. Damit wir uns in unseren eigenen Augen nichts vergeben, genügt es, daß wir uns daran gewöhnen, weder Ehrgeiz noch Leidenschaften noch Wünsche oder Hoffnungen, weder Impulse noch Unruhe zu kennen. Um das zu erreichen, sollen wir uns immer daran erinnern, daß wir uns stets in unserer eigenen Gegenwart befinden, daß wir nie allein sind, um uns gehen zu lassen. Und so werden wir Leidenschaften und Ehrgeiz beherrschen lernen, weil Leidenschaften und Ehrgeiz uns wehrlos machen. Wir werden weder Wünsche noch Hoffnungen hegen, weil Wünsche und Hoffnungen niedrige und unfeine Gebärden sind; wir werden auch nicht Impulsen oder Aufwallungen der Unruhe nachgeben, weil die Überstürzung in den Augen der anderen eine Taktlosigkeit ist und die Ungeduld immer eine Grobheit. Ein Aristokrat ist derjenige, der nie vergißt, daß er niemals allein ist; deshalb sind Etikette und Protokoll Erbteil der aristokratischen Familien. Verinnerlichen wir den Aristokraten. Entreißen wir ihn den Salons und den Gärten und versetzen wir ihn in unsere Seele und in unser Bewußtsein von unserer Existenz. Benehmen wir uns uns gegenüber immer nach Etikette und Protokoll in einstudierten, für die anderen bestimmten Gesten. Jeder von uns ist eine ganze Gesellschaft [. . .]; es schickt sich, daß wir zumindest das Leben dieses Stadtviertels elegant und vornehm gestalten, daß es auf den Festen unserer Empfindungen feine Sitten und Reserviertheit gebe und die Höflichkeit auf den Banketten unserer Gedanken (?) ungekünstelt sei. Um uns herum mögen die anderen Seelen ihre schmutzigen Armenviertel errichten; wir wollen deutlich bezeichnen, wo unser Viertel aufhört
und beginnt. Alles, von der Fassade der Gebäude bis zu den Alkoven unserer Schüchternheit, sei nobel und heiter, schlicht und gedämpft. Für jede Empfindung die heitere Art und Weise finden, wie sie sich verwirklichen kann. Die Liebe auf den Schatten, ein Liebestraum 2u sein, einschränken, auf einen blassen, bebenden Zwischenraum zwischen den Kämmen zweier kleiner Wellen, auf denen sich das Mondlicht bricht. Den Wunsch zu einem nutzlosen, unschädlichen Ding werden lassen, gleichsam zum zarten Lächeln der Seele, wenn sie mit sich allein ist; aus der Seele etwas machen, was nie daran denkt, sich zu verwirklichen oder sich auszusagen. Den Haß einschläfern wie eine gefangene Schlange und der Furcht sagen, sie solle von ihren Gebärden nur die Agonie im Blick bewahren, im Blick unserer Seele, die einzige Haltung, die sich mit einer ästhetischen Einstellung verträgt.
15.5.1930
Es gab eine Zeit, in der mich Dinge aufregten, die mich heute lächeln lassen. Dazu gehörte die Beharrlichkeit, mit der die tatkräftigen Durchschnittsmenschen über die Dichter und Künstler lächeln. Sie tun es nicht immer, wie die Zeitungsphilosophen glauben, aus einem Gefühl der Überheblichkeit heraus. Oftmals tun sie es sogar mit einer gewissen Zärtlichkeit. Immer aber tun sie es, wie jemand ein Kind streichelt, ein Wesen, das den Anforderungen des praktischen Lebens fremd gegenübersteht. Früher hat mich das aufgeregt, weil ich wie die Einfältigen annahm — und ich war einfältig —, dieses Lächeln über die Bedrängnisse des Träumens und Aussagens entstamme einer inneren Empfindung der Überlegenheit. Es ist aber nur ein jäher Ausdruck der Unterschiedenheit. Während ich früher dieses Lächeln als Beleidigung betrachtete, weil es eine Überlegenheit auszudrücken schien, betrachte ich es heute als einen unbewußten Zweifel; wie die Erwachsenen bei den Kindern oftmals eine ihrer eigenen überlegene Geistesschärfe anerkennen, so erkennen sie uns, uns, die wir träumen und das in Worte fassen, eine gewisse Verschiedenartigkeit zu, der sie als fremdartig mißtrauen. Ich
möchte glauben, daß oft die Intelligentesten unter ihnen unsere Überlegenheit ahnen; und dann lächeln sie überlegen, um zu verbergen, daß sie sie ahnen. Aber unsere Überlegenheit besteht nicht in dem, was viele Träumer als ihre Überlegenheit angesehen haben. Der Träumer ist dem Tatmenschen nicht überlegen, weil der Traum der Wirklichkeit überlegen wäre. Die Überlegenheit des Träumers besteht darin, daß Träumen praktischer ist als leben, daß der Träumer aus dem Leben einen umfassenderen und viel mannigfaltigeren Genuß zieht als der Tatmensch. Besser und genauer ausgedrückt: der Träumer ist der eigentliche Tatmensch. Da das Leben im wesentlichen ein geistiger Zustand ist und alles, was wir tun oder denken, für uns in Proportion zu dem gültig ist, was wir für gültig halten, hängt die Wertung von uns ab. Der Träumer ist ein Verteiler von Banknoten, und die Banknoten, die er verteilt, laufen in der Stadt seines Geistes auf die gleiche Weise um wie die Banknoten der Wirklichkeit. Was kümmert es mich, daß das Papiergeld meiner Seele niemals in Gold konvertierbar ist, wenn es niemals Gold gibt in der künstlichen Alchimie des Lebens? Nach uns allen kommt die Sintflut, aber erst nach uns allen. Besser und glücklicher sind jene dran, die anerkennen, daß alles Fiktion ist und den Roman schreiben, bevor er über sie geschrieben wird, und wie Machiavelli Hofkleidung anlegen, um insgeheim gut schreiben zu können.
Mit welcher Klarheit diktiere ich meiner Trägheit Sätze, die ich nie schreiben werde, beschreibe ich bei meinem Nachdenken Landschaften, die ich nie werde beschreiben können, wenn ich, auf meinem Stuhl zurückgelehnt, dem Leben nur fern angehöre. Ich schnitze ganze Sätze, die Wort für Wort vollkommen sind, Dramenhandlungen erbauen sich in meinem Geiste, ich spüre die metrische Bewegung großer Gedichte in allen Wörtern und wie ein Sklave, den ich nicht sehen kann, folgt mir ein großer (?) im Halbschatten. Aber wenn ich von dem Stuhl aus, auf dem ich diese fast vollkommenen Empfindungen erlebe, einen Schritt auf den Tisch zu mache, an dem ich sie niederschreiben möchte,
flüchten die Wörter und die Dramen sterben. Von dem vitalen Band, das das rhythmische Gemurmel zusammenhielt, bleibt nur eine ferne Sehnsucht übrig, ein Rest von Sonnenlicht über entlegenen Bergen, ein Wind, der die Blätter neben der einsamen Schwelle aufwirbelt, eine niemals aufgedeckte Verwandtschaft, die Orgie der anderen, die Frau, von der wir intuitiv wissen, sie wird sich umdrehen und nie zur Existenz gelangen. Ich habe alle Pläne geschmiedet. Die »Ilias«, die ich komponiert habe, besaß eine Logik in der Motivierung und eine organische Verkettung der Epoden, die Homer nicht zu erreichen vermochte. Die überlegte Vollkommenheit meiner in Worte zu fassenden Verse läßt Vergils Präzision als ärmlich und Miltons Kraft als Schlaffheit erscheinen. Die allegorischen Satiren, die ich geschrieben habe, übertrafen alle Swift in der symbolischen Genauigkeit ihrer planvoll verbundenen Einzelheiten. Wie viele Verlaines bin ich gewesen! Und immer wenn ich mich vom Stuhl erhob, wo mir diese Dinge wirklich als nicht völlig aus der Luft gegriffen erschienen, erlebte ich die doppelte Tragödie, sie als null und nichtig zu erkennen und doch zu wissen, daß sie nicht allesamt Phantasien waren, daß vielmehr etwas von ihnen auf der abstrakten Schwelle zurückblieb, auf der ich denke und sie vorhanden sind. Ich war ein Genie, mehr als in meiner Phantasie und weniger als in meinem Leben. Das ist meine Tragödie. Ich war der Läufer, der fast schon am Ziel stürzte, nachdem er bis dahin der erste gewesen war.
(a child's hand playing with cotton-reels etc) Ich habe nie etwas anderes getan als geträumt. Dies und nur dies ist der Sinn meines Lebens gewesen. Niemals habe ich eine andere wahre Sorge gekannt als mein inneres Leben. Die größten Schmerzen meines Lebens verflüchtigten sich mir, wenn ich mich, das Fenster in mein Inneres öffnend, in der Vision seiner Bewegungen vergessen konnte. Ich habe nie etwas anderes sein wollen als ein Träumer. Demjenigen, der mir von leben redete, habe ich nie zugehört. Ich habe
immer dem angehört, was nicht dort ist, wo ich mich befinde, und dem, was niemals sein konnte. Alles, was nicht mein ist, so niedrig es sei, besaß immer poetischen Reiz für mich. Nie habe ich etwas anderes als nichts geliebt. Nie habe ich mir etwas gewünscht außer demjenigen, was ich mir nicht vorstellen konnte. Vom Leben habe ich nur erbeten, es möge durch mich hindurchgehen, ohne daß ich es fühlen müßte. Von der Liebe habe ich nur verlangt, daß sie nie aufhören solle, ein ferner Traum zu sein. In meinen inneren Landschaften, sie alle unwirklich, war es immer die Ferne, die mich anzog, und die Aquädukte mit ihren verschwimmenden Umrissen besaßen fast die Distanz meiner erträumten Landschaften und daher eine traumhafte Zartheit im Verhältnis zu den anderen Teilen der Landschaft — eine Zartheit, dank derer ich sie lieben konnte. Meine Manie, eine falsche Welt zu erschaffen, begleitet mich immer noch und wird mich erst bei meinem Tode verlassen. Ich räume heute in meine Schubladen keine Zwirnrollen und keine Schachfiguren ein — unter denen vielleicht ein Turm oder ein Läufer hervorragen — aber es tut mir leid, daß ich es nicht tue . . . und also räume ich in meiner Phantasie, wie jemand sich im Winter an einem Herdfeuer wärmt, Figuren ein, die in meinem Innenleben hausen und leben. Ich habe eine Welt von Freunden in mir mit ihren eigenen, wirklichen, genau bestimmten und unabgeschlossenen Lebensläufen. Einige plagen sich mit Schwierigkeiten herum, andere führen ein pittoreskes, einfaches Bohemienleben. Andere sind Handelsreisende (es war immer einer meiner ehrgeizigen Wünsche, mich mir als Handelsreisenden vorzustellen — leider nicht zu verwirklichen!) Andere wohnen auf Dörfern und in Ortschaften dort an den Grenzen meines inwendigen Portugals; sie kommen in die Stadt, wo ich sie zufällig treffe und wiedererkenne und mit ausgebreiteten Armen auf sie zugehe . . . Und wenn ich davon träume, während ich in meinem Zimmer auf und ab gehe, laut rede und gestikuliere . . . wenn ich davon träume und mir vorstelle, wie ich sie treffe, werde ich ganz heiter, ich hüpfe vor Vergnügen, meine Augen glänzen, ich breite die Arme aus und spüre ein gewaltiges, unvergleichliches Glücksgefühl.
Ach, es gibt keine peinigendere Sehnsucht als die nach Dingen, die nie gewesen sind! Was ich fühle, wenn ich an die Vergangenheit denke, die ich in der wirklichen Zeit erlebt habe, wenn ich über dem Leichnam des Lebens meiner verschwundenen Kindheit weine . . . so erreicht das nicht die schmerzliche, zitternde Glut, mit der ich beweine, daß die schlichten Gestalten meiner Träume nicht wirklich sind, nicht einmal die Nebenfiguren, die ich mich nur einmal erinnern kann, gesehen zu haben in meinem Pseudoleben, als sie um eine Straßenecke bogen oder als sie durch ein Portal auf eine Straße traten, die ich emporging und in meinem Traum durchwanderte. Die Wut darüber, daß die Sehnsucht nicht wiederbeleben und wiederaufrichten kann, wendet sich nie anklagender gegen Gott, der Unmöglichkeiten geschaffen hat, als wenn ich bedenke, daß meine Traumfreunde, mit denen ich so viele Stunden eines imaginären Lebens verbracht habe, mit denen ich so viele anregende Gespräche in Phantasie-Cafes geführt habe, im Grunde keinem Raum angehört haben, in welchem sie von meinem Bewußtsein von ihnen wahrhaft unabhängig sein konnten! O die tote Vergangenheit, die ich mit mir trage und die niemals für jemand anderes als für mich Gültigkeit besaß! Die Blumen aus, dem Garten des kleinen Landhauses, der nie irgendwo anders als in mir existiert hat! Die Nutzgärten, die Obsthaine, der Pinienwald des Gutshofs, der nur ein Traum von mir gewesen ist! Meine imaginären Sommerfrischen, meine Spaziergänge über ein Feld, das nie existiert hat! Die Bäume am Straßenrand, die Feldwege, die Steine, die vorübergehenden Bauern . . . all das, was nie mehr als ein Traum gewesen ist, in meiner Erinnerung ist es aufbewahrt und verursacht mir Schmerz, und ich, der Stunden damit zugebracht hat, von alledem zu träumen, verbringe später Stunden damit, mich an diese Träumereien zu erinnern, und ich spüre wahrhaftig Sehnsucht, ich beweine eine Vergangenheit, ein abgestorbenes Wirkliches-Leben, das ich feierlich in seinem Sarg betrachte. Dann gibt es auch noch die Landschaften und die Erlebnisse, die nicht völlig innerlich gewesen sind. Gewisse Gemälde ohne gesteigerten Kunstwert, gewisse Öldrucke an der Wand, mit
denen ich viele Stunden zusammengelebt habe — überschreiten die Wirklichkeit meines Inneren. Bei ihnen war meine Empfindung eine andere, sie war stechender und trauriger. Es verdroß mich, nicht bei ihnen sein zu können, einerlei, ob sie der Wirklichkeit angehörten oder nicht. Weshalb konnte ich nicht zumindest eine Figur neben jenem Gehölz im Mondschein sein, das auf einem kleinen Druck in dem Zimmer abgebildet war, in dem ich als Kind geschlafen hatte? Weshalb war es undenkbar, daß ich mich dort im Gehölz am Ufer des Flusses in jenem ewigen (wenn auch schlecht gezeichneten) Mondlicht verstecken und dem Manne zuschauen konnte, der auf einem Nachen unter einem geneigten Weidenbaum vorüberfuhr? Hier schmerzte es mich, den Traum nicht ganz zu Ende träumen zu können. Die Wesensart meiner Sehnsucht war eine andere. Die Gebärden meiner Verzweiflung waren von anderer Art. Die Unmöglichkeit, die mich quälte, stammte von einer anderen Art von Angst her. Wie schade, daß dies alles keinen Sinn in Gott besaß, keine Verwirklichung nach unseren Wünschen finden konnte, ich weiß nicht wo, in einer vertikalen Zeit, die mit der Richtung meiner Sehnsüchte und meiner Phantasievorstellungen wesensgleich gewesen wäre! Daß es kein aus all diesen Träumen geschaffenes Paradies gab, zumindest für mich allein! Daß ich meine erträumten Freunde nie treffen konnte, nie Spazierengehen auf den von mir geschaffenen Straßen, erwachen beim Krähen der Hähne und bei den morgendlichen Geräuschen in dem Landhaus, in dem ich mich vermutete . . . und all das vollkommen hergerichtet von Gott, in eine perfekte Ordnung gebracht, damit es existieren konnte, in eine genaue Form gebracht, damit ich es besitzen konnte (. . .) Ich hebe den Kopf von dem Papier auf, das ich mit Schriftzügen fülle... Es ist noch früh. Mittag ist kaum vorbei, und es ist Sonntag. Das Übel des Lebens, die Krankheit des Bewußtseins, dringt in meinen Körper ein und verstört mich. Weshalb gibt es keine Inseln für diejenigen, die sich unbehaglich fühlen, uralte Alleen, auf denen die im Traum Isolierten unauffindbar bleiben für ihre Mitmenschen? Leben müssen und daher, so wenig es auch sei, zum Handeln gezwungen sein; an der Tatsache nicht vorbei können, daß es andere, ebenfalls wirkliche Leute im Leben gibt! Hier
sein und dies aufschreiben müssen, weil es für meine Seele notwendig ist, das zu tun, weil sie nicht lediglich davon träumen kann, das ohne Wörter, ja ohne Bewußtsein auszudrücken durch einen Bau meines Ichs in Musik und Dahinschwinden. Die Tränen würden mir in die Augen steigen, nur weil ich dabei fühlen könnte, daß ich mich zum Ausdruck bringe wie ein verzauberter Fluß im langsamen Gefälle meiner selbst, immer mehr auf das Unbewußte und auf die Ferne hin strömend, ohne irgendeinen Sinn außer Gott.
Zweiter Teil Die Gewohnheit und das Talent zum Träumen besitzen in mir Vorrang. Die Umstände meines Lebens seit meiner einsamen, stillen Kindheit, außerdem vielleicht andere Kräfte, die mich von fernher dank dunkler Vererbungsvorgänge vorgeprägt haben, ließen meinen Geist zu einem ständigen Strom von Phantasievorstellungen werden. Alles, was ich bin, liegt hierin beschlossen, und selbst das, was in mir am weitesten davon entfernt zu sein scheint, den Träumer hervortreten zu lassen, gehört ohne weiteres der Seele eines nur Träumenden an, die dabei ihren höchsten Grad der Erfüllung erreicht. Ich will zu meinem eigenen Vergnügen in dem Maße, wie mir das möglich ist, die geistigen Vorgänge in Worte fassen, die in mir ein einziges Ganzes bilden, nämlich das dem Traum geweihte Leben einer nur zum Träumen erzogenen Seele. Wenn man mich von außen betrachtet, so wie man mich fast immer betrachtet, bin ich zum Handeln ungeeignet, verwirrt beim bloßen Zwang, Schritte zu machen oder Gesten zu vollführen, ungeschickt zur Unterhaltung mit den Mitmenschen. Mir fehlt die innere Geistesklarheit, um mich mit dem zu beschäftigen, was mich geistige Anstrengung kostet, mir fehlt auch die körperliche Konsequenz, mich arbeitend irgendeinem Beschäftigungsmechanismus einzufügen. Das ist meine Natur. Es versteht sich wohl, daß ein Träumer so zu sein hat. Die ganze Wirklichkeit verwirrt mich. Das Reden der anderen stürzt mich in gewaltige Angst. Die Wirklichkeit der
anderen Seelen überrascht mich beständig. Das weite Netz von Unbewußtheit, das alles Handeln darstellt, das ich sehe, scheint mir eine absurde Illusion ohne plausiblen Zusammenhang, scheint mir ein Nichts zu sein. Wenn man aber meint, ich verkennte die Gesetzmäßigkeit der Psychologie der anderen, ich irrte mich in der klaren Wahrnehmung der Motive und intimen Gedanken der anderen, dann irrt man sich hinsichtlich meiner. Denn ich bin nicht nur ein Träumer, ich bin ausschließlich ein Träumer. Einzig die Gewohnheit zu träumen hat mir eine ungewöhnliche Schärfe der inneren Schau geschenkt. Ich sehe nicht allein erschreckend und bisweilen verwirrend plastisch die Gestalten und Dekors meiner Träume vor mir,' ich gewahre ebenso plastisch meine abstrakten Ideen, meine menschlichen Gefühle — das was mir von ihnen übriggeblieben ist —, meine geheimen Impulse, meine seelischen Haltungen mir selbst gegenüber. Ich kann versichern, daß ich meine eigenen abstrakten Ideen in mir sehe, in einer inneren wirklichen Schau sehe ich sie in einem inneren Raum vor mir. Und so sind mir ihre Mäander in den kleinsten Details sichtbar. Deshalb kenne ich mich ganz und dadurch, daß ich mich ganz kenne, kenne ich die ganze Menschheit. Kein niedriger Impuls, keine edle Absicht, die nicht blitzartig in meiner Seele aufgezuckt wären; und ich weiß genau, mit welchen Gesten sie sich zeigen. Unter den Masken, die die bösen Gedanken aufsetzen, kann ich an der Gestik unterscheiden, wer sie sind. Ich weiß, was sich in uns Mühe gibt, uns zu täuschen. Und so kenne ich die Mehrheit der Leute, die ich sehe, besser als sie sich selber. Ich verlege mich oftmals darauf, sie auszuhorchen, weil ich sie mir so zu eigen mache. Ich eigne mir das von mir erklärte psychische Verhalten an, denn für mich heißt träumen besitzen. Und so kann man erkennen, wie natürlich es ist, daß ich, der Träumer, der Analytiker bin, für den ich mich halte. Unter den wenigen Dingen, die es mir bisweilen Freude macht zu lesen, dominieren deshalb die Theaterstücke. Jeden Tag spielen sich Stücke in mir ab, und ich weiß von Grund auf, wie sich eine Seele in zweidimensionaler Merkator-Projektion ausnimmt. Ich
unterhalte mich übrigens dabei nur wenig; die Dramatiker irren sich ständig und ungeheuerlich. Nie hat mich ein Drama befriedigt. Da ich die menschliche Psychologie blitzartig erfasse, ärgert mich die grobe Analyse und Konstruktion der Dramatiker und das wenige, was ich aus der dramatischen Gattung lese, mißfallt mir wie ein Tintenklecks auf einem Manuskript. Die Dinge sind der Stoff für meine Träume; deshalb wende ich meine zerstreute Aufmerksamkeit auf gewisse Einzelheiten der Außenwelt. Um meine Träume plastisch zu gestalten, muß ich wissen, wie es kommt, daß uns die wirklichen Landschaften und Gestalten des Lebens plastisch erscheinen. Weshalb die Vision des Träumers nicht gleich der Schau dessen ist, der die Dinge sieht. Im Traum ruht der Blick nicht auf dem Wichtigen und Unwichtigen eines Gegenstandes, wie dies in der Wirklichkeit der Fall ist. Der Träumer erblickt nur das Wichtige. Die wahre Wirklichkeit eines Gegenstandes ist nur ein Teil von ihm; der Rest ist der lastende Tribut, den er der Materie entrichtet im Austausch dafür, daß er im Raum existiert. In ähnlicher Weise gibt es im Raum keine Wirklichkeit für gewisse Phänomene, die im Traum greifbar wirklich sind. Ein wirklicher Sonnenuntergang ist unwägbar und vorübergehend. Ein traumhafter Sonnenuntergang ist fest und ewig. Wer schreiben kann, vermag seine Träume klar umrissen zu sehen (und so geschieht es) oder im Traum das Leben zu sehen, das Leben immateriell zu sehen und von ihm mit dem Phantasie-Apparat Photographien anzufertigen; die Strahlen des Lastenden, des Nützlichen und des Begrenzten belichten ihn nicht, sie lassen die geistige Photoplatte so schwarz wie sie ist. Diese Haltung, die mir das viele Träumen eingepflanzt hat, läßt mich von der Wirklichkeit immer den Teil erblicken, der Traum ist. Meine Schau der Dinge unterdrückt in ihnen das, was mein Traum nicht gebrauchen kann. Und so lebe ich immer in Träumen, selbst wenn ich im Leben der Außenwelt lebe. Einen Sonnenuntergang in mir oder einen Sonnenuntergang der Außenwelt anschauen ist für mich dasselbe, weil ich auf die gleiche Weise sehe, weil meine Schau genau so zugeschnitten ist.
Deshalb ist die Vorstellung, die ich mir von mir selber mache, eine Vorstellung, die vielen als falsch erscheinen wird. In gewisser Hinsicht ist sie auch falsch. Aber ich erträume mich selbst und wähle aus mir aus, was erträumbar ist, ich komponiere mich wieder und wieder auf jegliche Weise, bis ich so bin, wie ich es von meinem Sein und Nicht-Sein verlange. Zuweilen besteht die beste Art, einen Gegenstand anzuschauen, darin, ihn zu annullieren, aber er besteht gleichwohl fort, weil er unerklärlicherweise aus einem Stoff der Verneinung und Annullierung gemacht ist; so verfahre ich mit großen realen Räumen meines Seins, die mich, in meinem Selbstporträt unterdrückt, gegenüber meiner eigenen Wirklichkeit verklären. Wie sollte ich mich da nicht irren hinsichtlich der inneren Vorgänge meiner Selbsttäuschung? Denn der Prozess, der einen Aspekt der Welt oder eine Traumgestalt in eine mehr als wirkliche Wirklichkeit reißt, reißt auch eine Gefühlserregung oder einen Gedanken ins mehr als Wirkliche. Er nimmt ihnen mithin jeden Beigeschmack des Edlen oder Reinen, wenn sie ihn, was fast immer der Fall ist, nicht verdienen. Man beachte, daß meine Objektivität absolut ist, sie kann gar nicht absoluter sein. Ich erschaffe den absoluten Gegenstand, mit Eigenschaften des Absoluten in seiner Konkretheit. Ich bin nicht vor dem Leben im eigentlichen Sinne geflohen, derart daß ich für meine Seele ein weicheres Bett gesucht hätte, ich habe nur das Leben ausgetauscht und in meinen Träumen die gleiche Objektivität gefunden, die ich im Leben gefunden habe. Meine Träume — das untersuche ich an anderer Stelle — erheben sich unabhängig von meinem Willen und prallen auf mich und verletzen mich. Oft bestürzt mich das, was ich in mir entdecke, es beschämt mich (vielleicht weil in mir doch noch ein menschliches Gefühl übriggeblieben ist — was ist das Schamgefühl sonst?) und erschreckt mich. In mir hat der ununterbrochene Reigen der Phantasien die Aufmerksamkeit ersetzt. Ich bin dazu gelangt, den gesehenen Dingen, selbst wenn ich sie schon traumhaft gesehen habe, andere Träume, die ich mit mir führe, zu überschichten. Hinlänglich aufmerksam, um die Dinge im Traum zu erblicken, wie ich das nenne, lege ich das Geträumte über den gesehenen Traum und
schiebe in die von der Materie bereits entblößte Realität ein immaterielles Absolutes ein. Daher meine Geschicklichkeit, verschiedene Ideen gleichzeitig zu verfolgen, die Dinge zu beobachten und gleichzeitig von sehr verschiedenen Angelegenheiten zu träumen, gleichzeitig von einem wirklichen Sonnenuntergang über dem Tejo und von einem Traummorgen über einem inneren Pazifik. Und die beiden Träume schieben sich einer in den anderen, ohne sich zu vermischen, ohne eigentlich mehr zu vermischen als den gefühlshaft unterschiedlichen Zustand, den jeder von ihnen auslöst, und ich bin wie jemand, der auf der Straße viele Leute vorübergehen sieht und zur gleichen Zeit in seinem Inneren ihrer aller Seelen spürt — während er zur selben Zeit die unterschiedlichen Körper auf einer Straße voller Beinbewegungen aneinander vorübergehen sah.
15.5.1932
Nichts belastet so sehr wie fremde Zuneigung — auch nicht fremder Haß, denn der Haß setzt häufiger aus als die Zuneigung; da er eine unangenehme Gefühlsbewegung ist, neigt er instinktiv für den, der ihn empfindet, dazu, weniger häufig aufzutreten. Aber der Haß bedrückt uns ebenso wie die Liebe; beide suchen und stöbern uns auf, sie lassen uns nicht allein. Mein Ideal wäre es, alles in Romanform zu erleben und im Leben auszuruhen — meine Gefühlsregungen zu lesen, meine Verachtung dieser Regungen zu leben. Für denjenigen, dessen Phantasie auf der Oberfläche der Haut sitzt, sind die Abenteuer eines Romanhelden eigene Erregung genug und noch mehr, weil es die seinigen und die unsrigen sind. Es gibt kein Abenteuer, das so groß sein könnte wie Lady Macbeth mit wahrer, unmittelbarer Liebe geliebt zu haben; was kann jemand, der so geliebt hat, anderes tun als zur Erholung weiter niemanden in diesem Leben lieben? Ich weiß nicht, welchen Sinn diese Reise hat, die ich zwischen zwei Nächten in Gesellschaft des ganzen Weltalls zu unternehmen
gezwungen worden bin. Ich weiß, ich kann lesen, um mich zu unterhalten. Ich betrachte die Lektüre als die einfachste Art und Weise, diese wie jede andere Reise unterhaltsam zu gestalten; ab und zu hebe ich die Augen von dem Buch empor, das mich wahrhaft empfinden läßt, und schaue wie ein Fremder auf die vorüberfliehende Landschaft: Felder, Städte, Männer und Frauen, Zuneigungen und Sehnsüchte — und all das ist nicht mehr für mich als eine Episode meiner Erholung, eine träge Unterhaltung, bei der ich meine Augen nach allzu vielen gelesenen Seiten ausruhen lasse. Nur das, was wir träumen, ist, was wir wahrhaft sind, denn das übrige gehört, weil es verwirklicht ist, der Welt und allen Leuten. Wenn ich irgendeinen Traum verwirklichen könnte, wäre ich eifersüchtig auf ihn, denn er hätte Verrat an mir geübt, indem er sich verwirklichen ließ. Ich habe alles verwirklicht, was ich wollte, sagt der Schwächling, und das ist eine Lüge; wahr ist, daß er alles, was das Leben mit ihm angestellt hat, prophetisch geträumt hat. Wir verwirklichen nichts. Das Leben zieht uns an wie ein Magnetstein, und wir sagen in der Luft: »Ich bewege mich.« Was auch immer dieses unter dem Projektor der Sonne und dem Flitterwerk der Sterne gemimte Zwischenspiel sein mag, es ist gewiß nicht unangebracht zu wissen, daß es ein Zwischenspiel ist; wenn das, was jenseits der Türen des Theaters liegt, das Leben ist, werden wir leben; wenn es der Tod sein sollte, werden wir sterben und das Stück hat nichts damit zu tun. Deshalb fühle ich mich nie der Wahrheit so nahe, so spürbar eingeweiht wie bei den seltenen Malen, wenn ich ins Theater oder in den Zirkus gehe: Dann weiß ich, daß ich im Grunde einer vollkommenen Abbildung des Lebens beiwohne. Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die Clowns und die Zauberkünstler sind so wichtig und so nichtig wie Sonne und Mond, Liebe und Tod, Pest, Hunger und Krieg in der Menschheit. Alles ist Theater. Ach, will ich wirklich die Wahrheit? Ich werde den Roman fortsetzen . . .
23.6.1932
Das Leben ist eine experimentelle Reise, die unfreiwillig unternommen wird. Es ist eine Reise des Geistes durch die Materie, und da es der Geist ist, der reist, lebt man in ihm. Es gibt infolgedessen kontemplative Seelen, die intensiver und extensiver und stürmischer gelebt haben als andere, die äußerlich gelebt haben. Das Ergebnis ist alles. Was man gefühlt hat, war das, was man gelebt hat. Man geht so erschöpft aus einem Traum hervor wie aus einer sichtbaren Anstrengung. Nie hat man so sehr gelebt wie wenn man viel gedacht hat. Wer am Rande des Saals steht, tanzt mit allen Tanzenden. Er sieht alles und, weil er alles sieht, erlebt er alles. Da alles, wenn man das Fazit zieht, unsere Empfindung ist, ist die Berührung mit einem Körper ebensoviel wert wie sein Anblick oder sogar die schlichte Erinnerung an ihn. Ich tanze mithin, wenn ich tanzen sehe. Ich sage wie der englische Dichter, als er erzählte, er betrachte, der Länge nach ins Gras gestreckt, drei Schnitter: »Ein vierter mäht, und das bin ich.« All das, was ich hier so aussage, wie ich es fühle, sage ich mit Bezug auf die große, scheinbar grundlose Müdigkeit, die mich heute plötzlich überkommen hat. Ich bin nicht nur ermüdet, sondern verbittert, und die Bitterkeit ist auch eine Unbekannte. Ich bin aus Angst am Rande der Tränen — nicht solchei Tränen, die man weinen kann, sondern der Tränen, die man zurückdämmt, Tränen einer Krankheit der Seele, nicht eines fühlbaren Schmerzes. So viel habe ich gelebt, ohne gelebt zu haben! So viel habe ich gedacht, ohne gedacht zu haben! Auf mir lasten Welten erstarrter Gewalttätigkeiten und ohne Bewegung erlebter Abenteuer. Ich bin dessen übersatt, was ich nie besessen habe und auch nie besitzen werde, überdrüssig auch der etwa in der Zukunft existierenden Götter. Ich trage mit mir die Wunden aller Schlachten herum, die ich vermieden habe. Mein Muskelleib ist zerschlagen von der Anstrengung, die ich gar nicht unternommen habe. Trübe, stumm, nichtig . . . Der Himmel dort oben ist der Himmel eines toten, unvollkommenen Sommers. Ich betrachte
ihn, als ob er nicht dort wäre. Ich schlafe, was ich denke, ich liege im Gehen, ich leide, ohne zu fühlen. Meine große Nostalgie ist auf das Nichts gerichtet, ist nichts, wie der hohe Himmel, den ich nicht sehe und den ich unpersönlich anstarre.
23.12.1933
Alle jene unglücklichen Zufälle unseres Lebens, bei denen wir uns lächerlich oder gemein oder rückständig betragen haben, sollten wir im Licht unserer intimen Heiterkeit als Reisemühsal betrachten. In dieser Welt sind wir willentliche oder unwillentliche Reisende zwischen nichts und nichts oder zwischen allem und allem, Passagiere, die den Widrigkeiten der Fahrt, den Plackereien des Reisewegs nicht allzu viel Gewicht beimessen dürfen. Damit tröste ich mich, ich weiß nicht ob, weil ich mich wirklich getröstet fühle, ob, weil in alledem wirklich etwas steckt, was mich trösten kann. Doch die künstliche Tröstung wird mir zur Wahrheit, wenn ich nicht an sie denke. Und außerdem gibt es so viele Tröstungen! Es gibt den hohen blauen Himmel, der rein und heiter ist und an dem immer unvollkommene Wolken schweben. Es gibt die leichte Brise, die die harten Zweige der Bäume bewegt, wenn es auf dem Lande ist, und die aufgehängte Wäsche in den vierten oder fünften Stockwerken flattern läßt, wenn es in der Stadt ist. Es gibt die Hitze und die Kühle, wenn es sie gibt, und immer erscheint im Hintergrund (?) mit Sehnsucht oder Hoffnung und einem magischen Lächeln am Fenster der Welt etwas, von dem wir wünschen, es möge an die Tür unseres Wesens klopfen, wie Bettler, die Christus sind.
Reisen? Existieren ist reisen genug. Ich fahre von Tag zu Tag wie von Bahnhof zu Bahnhof im Eisenbahnzug meines Körpers oder meines Schicksals und beuge mich über die Straßen und die Plätze, über die Gebärden und die immer gleichen und immer verschiedenen Gesichter, wie eben Landschaften sind.
Wenn ich mich meiner Phantasie überlasse, sehe ich. Was tue ich anderes, wenn ich reise? Nur äußerste Schwäche der Einbildungskraft rechtfertigt, daß man den Ort wechseln muß, um zu fühlen. »Jede Straße, sogar diese Straße von Entenpfuhl trägt dich ans Ende der Welt.« Doch das Ende der Welt ist, sobald man die Welt vollständig umkreist hat, das gleiche Entenpfuhl, von dem man ausgegangen ist. In Wahrheit ist das Ende der Welt wie ihr Anfang unsere Auffassung von der Welt. In uns sind die Landschaften Landschaft. Deshalb erschaffe ich sie, indem ich sie mir vorstelle; wenn ich sie erschaffe, sind sie; wenn sie sind, sehe ich sie wie die anderen. Wozu reisen? Wo wäre ich in Madrid, in Berlin, in Persien, in China oder an beiden Polen anders als in mir selbst und in Typ und Art meiner Wahrnehmungen? Das Leben ist das, was wir aus ihm machen. Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern das, was wir sind.
Der einzige wahre Reisende, den ich gekannt habe, war ein Laufjunge in einem Büro, in dem ich seinerzeit angestellt war. Dieser Junge sammelte Werbebroschüren von Städten, Ländern und Transportgesellschaften; er besaß Landkarten — die einen aus Zeitungen herausgerissen, die anderen hier und dort zusammengebettelt —; er besaß auch aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Illustrationen: Landschaften, Bilder von exotischen Bräuchen, Bilder von Dampfern und Schiffen. Er suchte die Reisebüros im Namen eines angeblichen oder vielleicht auch im Namen eines wirklich vorhandenen Büros auf und erbat sich Prospekte über Reisen nach Italien, Reisen nach Indien und Prospekte, welche die Verbindungen zwischen Portugal und Australien schilderten. Er war nicht nur der größte, weil wahrste Reisende, den ich gekannt habe: er war auch einer der glücklichsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Es tut mir leid, daß ich nicht weiß, was aus ihm geworden ist; freilich vermute ich nur, daß es mir leid tun sollte; in Wirklichkeit tut es mir nicht leid, denn heute, wo
zehn Jahre oder mehr seit der kurzen Zeit, in der ich ihn gekannt habe, verstrichen sind, ist er gewiß ein reifer Mann, stupide und pflichteifrig, vielleicht verheiratet, eine soziale Stütze für irgendjemanden — bei lebendigem Leibe verstorben. Vielleicht ist er sogar körperlich gereist, er, der so gut mit der Seele reisen konnte. Ich erinnere mich plötzlich: er wußte genau, mit welchen Eisenbahnverbindungen man von Paris nach Bukarest gelangte, mit welchen Eisenbahnverbindungen man England durchreisen konnte, und an der fehlerhaften Aussprache der fremden Namen bemerkte man seine von einer Aureole umstrahlte Seelengröße. Heute, jawohl, existiert er wohl nur noch als Toter, aber vielleicht erinnert er sich eines Tages im Alter, daß es nicht nur besser, sondern wahrer ist, von Bordeaux zu träumen als in Bordeaux auszusteigen. Das alles mag vielleicht eine andere Erklärung haben; vielleicht wollte er auch nur jemanden nachahmen. Oder . . . Ja, ich meine bisweilen, wenn ich den abschreckenden Unterschied zwischen der Intelligenz der Kinder und der Dummheit der Erwachsenen betrachte, daß uns in der Kindheit ein Schutzgeist begleitet, der uns seine eigene astrale Intelligenz ausleiht und der uns später, vielleicht bekümmert, aber einem hohen Gesetz gehorchend, wie die Tiermütter ihre herangewachsenen Jungen verläßt und das Mastschwein werden läßt, das wir schicksalhaft werden müssen.
Es gibt eine Gelehrsamkeit der Erkenntnis, die im eigentlichen Sinne das ist, was man Gelehrsamkeit nennt, und eine Gelehrsamkeit des Verstandes, die das ist, was man Kultur nennt. Es gibt aber auch eine Gelehrsamkeit der Sensibilität. Die Gelehrsamkeit der Sensibilität hat nichts zu tun mit der Lebenserfahrung. Die Lebenserfahrung lehrt uns nichts, so wie die Geschichte über nichts informiert. Die wahre Erfahrung besteht darin, den Kontakt mit der Wirklichkeit einzuschränken und die Analyse dieses Kontakts zu verstärken. So gelangt die Sensibilität in die Breite und in die Tiefe, weil alles in uns liegt; es genügt, daß wir es suchen und zu suchen verstehen.
Was heißt reisen und wozu dient reisen? Jeder Sonnenuntergang ist der Sonnenuntergang; es ist nicht notwendig, daß man sich ihn in Konstantinopel anschaut. Und das Gefühl der Befreiung, das von den Reisen ausgeht? Das kann ich erleben, wenn ich von Lissabon in die Vorstadt Benfica fahre und weit intensiver als jemand, der von Lissabon nach China fährt, denn wenn die Befreiung nicht in mir ist, ist sie nirgendwo. »Jede Straße«, hat Carlyle gesagt, »sogar diese Straße von Entenpfuhl führt dich bis ans Ende der Welt.« Aber wenn man die Straße von Entenpfuhl ganz bis zum Ende verfolgt, kehrt man nach Entenpfuhl zurück; derart daß Entenpfuhl, wo wir schon gewesen sind, eben das Weltende ist, das wir suchen wollten. Condillac beginnt sein berühmtes Buch mit dem Satz: »So hoch wir auch steigen und so tief wir hinuntergehen, nie kommen wir aus unseren Empfindungen heraus.« Wir können nie aus uns selbst aussteigen. Nie gelangen wir zu jemand anderem, nur wenn wir uns mit der sensiblen Phantasie zu anderen machen. Die wahren Landschaften sind diejenigen, die wir selber erschaffen, weil wir, da wir ihre Götter sind, sie so sehen, wie sie wirklich sind, das heißt so wie sie geschaffen wurden. Keiner der sieben Teile der Welt ist derjenige, der mich interessiert und keinen kann ich wirklich sehen; den achten Teil durchlaufe ich und er ist mein. Wer alle Meere durchkreuzt hat, hat nur die Eintönigkeit seiner selbst durchkreuzt. Ich habe mehr Meere als alle durchkreuzt. Ich habe mehr Berge gesehen als es auf Erden gibt. Ich bin schon durch mehr Städte gekommen, als es gibt, und große Flüsse, die auf keiner Welt zu finden sind, strömten unter meinen betrachtenden Augen dahin. Wenn ich reisen würde, fände ich nur die schwache Kopie dessen vor, was ich schon ohne zu reisen gesehen hatte. In den Ländern, die die anderen aufsuchen, haben wir es mit Namenlosen und Fremden zu tun, in den Ländern, die ich besucht habe, bin ich nicht nur der versteckt genießende, inkognito Reisende gewesen, sondern auch die königliche Majestät ihres Herrschers, das Volk mit seinen Sitten und Bräuchen und die ganze Geschichte jener Nation und aller übrigen. Sogar die Landschaften und die Häuser habe ich gesehen, weil ich sie gewesen bin und in Gott erschaffen hatte aus der Substanz meiner Phantasie.
Der Verzicht ist die Befreiung. Nicht wollen ist können. Was kann mir China geben, was mir meine Seele nicht schon gegeben hätte? Und wenn es mir meine Seele nicht geben kann, wie könnte es mir China geben, wenn ich doch mit meiner Seele China erleben werde, falls ich es erleben sollte? Ich kann im Orient Reichtum suchen, nicht aber Reichtum der Seele, denn der Reichtum meiner Seele bin ich, und ich bin, wo ich bin, ohne Orient oder mit ihm. Ich begreife wohl, daß jemand reist, der unfähig ist zu fühlen. Deshalb sind die Reisebücher als Erfahrungsbücher so ärmlich und besitzen ihren Wert nur dank der Phantasie dessen, der sie schreibt. Und wenn derjenige, der sie schreibt, Phantasie besitzt, kann er uns ebenso mit der minuziösen, photographisch getreuen Beschreibung imaginärer Landschaften entzücken wie mit der zwangsläufig weniger minuziösen Beschreibung der Landschaften, die er zu sehen glaubte. Wir alle sind kurzsichtig, den Blick nach innen ausgenommen. Nur der Traum ist klarsichtig. Im Grunde kennt unsere Erfahrung der Erde nur zweierlei: das Universale und Besondere. Das Universale beschreiben heißt das beschreiben, was jeder menschlichen Seele und jeder menschlichen Erfahrung gemeinsam ist — den weiten Himmel mit dem Tag und der Nacht, die sich mit ihm und an ihm abspielen; das Strömen der Flüsse — alle mit dem gleichen geschwisterlich frischen Wasser; die Meere, diese bebend ausgedehnten Berge, die die Majestät der Höhe im Geheimnis der Tiefe bewahren; die Felder, die Bahnhöfe, die Häuser, die Gesichter, die Gebärden; die Kleidung und das Lächeln; die Liebe und die Kriege; die Götter, die endlichen und die unendlichen; die formlose Nacht, Mutter des Weltenursprungs; das Fatum, das geistige Ungeheuer, das alles ist. . Indem ich dies beschreibe oder etwas ebenso Universales, spreche ich mit der Seele die primitive, göttliche Sprache, die Sprache Adams, die alle verstehen. Aber welch eine verwirrte, babylonische Sprache müßte ich sprechen, wenn ich den Lift von Santa Justa in Lissabon, die Kathedrale von Reims, die Hosen der Zuaven oder die Art beschreiben wollte, wie das Portugiesische in der Provinz Träs-os-Montes ausgesprochen wird? Diese Dinge sind Zufalle der Oberfläche; man kann sie abschreiten, aber nicht fühlen. Am Lift von Santa Justa ist universal die Mechanik,
welche unser Leben erleichtern hilft. An der Kathedrale von Reims ist weder die Kathedrale noch Reims universal, sondern die religiöse Majestät der Bauwerke, an denen man die Tiefe der menschlichen Seele erkennen kann. An den Hosen der Zuaven ist die farbige Tracht ewig, sie stellt eine gesellschaftliche Einfachheit dar, die auf ihre Weise eine neue Nacktheit ist. An den regionalen Ausspracheverhältnissen ist der heimische Stimmklang von Leuten universal, die spontan leben, die Unterschiedenheit dicht beieinander wohnender Menschen, die Unterschiedlichkeit der Völker und die weite Mannigfaltigkeit der Nationen. Für uns ewig durch uns selbst Vorüberziehende gibt es keine Landschaft außer dem, was wir sind. Wir besitzen nichts, weil wir nicht einmal uns besitzen. Wir haben nichts, weil wir nichts sind. Welche Hände soll ich zu welchem Weltall ausstrecken? Das Weltall ist nicht mein: ich bin es.
15.5.1930
Ein kurzer Blick auf freies Feld über eine Mauer der Vorstädte befreit mich vollständiger als eine ganze Reise jemand anderes befreien würde. Jeder Blickpunkt ist die Spitze einer umgekehrten Pyramide, deren Basis unbestimmbar ist.
Jedes Mal, wenn ich reise, reise ich intensiv. Die Erschöpfung, die mir eine Zugfahrt bis Cascais einträgt, ist derartig, als hätte ich in dieser kurzen Zeit die Land- und Stadtschaften von vier oder fünf Ländern durchreist. In jedem Haus, an dem ich vorbeifahre, in jeder Villa, in jedem mit stillem Weiß gekalkten Häuschen fühle ich mich für Augenblicke leben, zuerst glücklich, dann gelangweilt, später ermüdet; und ich fühle, daß ich, wenn ich es verlassen habe, eine mächtige Sehnsucht nach der Zeit, in der ich dort gewohnt habe, mit mir trage. Derart daß alle meine Reisen eine schmerzlich-glückliche Ernte großer Freuden, beträchtlichen Überdrusses und zahlloser falscher Sehnsüchte sind.
Wenn ich an Häusern, Villen und Landhäuschen vorüberfahre, erlebe ich in mir alles Leben der Geschöpfe, die sich dort aufhalten. Ich durchlebe all ihr häusliches Leben zur gleichen Zeit. Ich bin Vater, Mutter, Kinder, Vettern, Dienstmädchen und der Vetter des Dienstmädchens zur gleichen Zeit und alles zusammen dank meiner besonderen Kunst, gleichzeitig verschiedene Empfindungen zu spüren, gleichzeitig äußerlich beim Sehen und innerlich beim Fühlen das Leben verschiedener Wesen mitzuerleben.
Der Gedanke an Reisen lockt mich nur im übertragenen Sinne, als ob es ein geeigneter Gedanke wäre, um jemanden zu locken, der nicht ich wäre. Die ganze weitläufige Sichtbarkeit der Welt durchläuft in einer Bewegung farbigen Überdrusses meine erwachte Phantasie; ich entwerfe einen Reiseplan wie jemand, der keine Gesten mehr vollführen will, und die vorweggenommene Erschöpfung durch die möglichen Landschaften läßt wie ein roher Windstoß die Blume meines stagnierenden Herzens verkümmern. Wie die Reisen, so die Lektüre, und wie die Lektüre, so alles übrige. Ich träume vom Leben eines Gelehrten im stummen Zusammenleben mit den Alten und den Modernen, bei dem ich mein Gefühlsleben mit Hilfe der fremden Gefühlsregungen erneuern könnte und mich vollsaugen mit den Widersprüchen der Denker und der Fast-Denker, und das ist die Mehrzahl derjenigen, die schreiben. Doch sogar die bloße Absicht zu lesen vergeht mir, wenn ich irgendein Buch vom Tisch nehme, das körperliche Faktum, lesen zu müssen, macht mir die Lektüre wertlos . . . Genauso verkümmert meine Absicht zu reisen, wenn ich zufällig an einem Ort vorüberkomme, wo man die Reise antreten kann, Und ich kehre zu den beiden nichtigen Dingen zurück, deren ich gewiß bin, weil ich ebenfalls nichtig bin — zu meinem Alltag, dem eines unbekannten Passanten, und zu meinen Träumen, der Schlaflosigkeit eines Wachenden. Und wie die Lektüre, so alles übrige . . . Sobald man von irgend etwas träumen kann, was den stummen Ablauf meiner Tage
tatsächlich unterbrechen könnte, erhebe ich meine Augen in schwer lastendem Protest zu der Sylphide auf, die mein eigen ist, zu jenem armen Luftgeist, der vielleicht eine Sirene sein würde, wenn er zu singen gelernt hätte.
Der Stolz ist die gefühlte Gewißheit der eigenen Größe. Die Eitelkeit ist die gefühlte Gewißheit, daß die anderen diese Größe an uns bemerken oder sie uns zuschreiben. Die beiden Gefühle verbinden sich nicht notwendigerweise, und sie widerstreiten sich auch nicht von Natur aus. Sie sind verschiedenartig, wenngleich miteinander vereinbar. Der Stolz für sich allein ohne den Zusatz der Eitelkeit stellt sich im Endergebnis als Schüchternheit dar: Wer sich groß fühlt, jedoch nicht darauf vertraut, daß ihn seine Mitmenschen als groß anerkennen, fürchtet sich, die Meinung, die er von sich selber hat, mit der Meinung zu konfrontieren, die seine Mitmenschen von ihm haben. Wenn die Eitelkeit allein ohne den Zusatz des Stolzes vorhanden ist, was durchaus möglich, wenngleich selten ist, manifestiert sie sich im Ergebnis durch ihren Wagemut. Wer die Gewißheit hat, daß seine Mitmenschen ihn für wertvoll halten, befürchtet nichts von ihnen. Es kann körperlichen Mut ohne Eitelkeit geben; es kann moralischen Mut ohne Eitelkeit geben; aber es kann keinen Wagemut ohne Eitelkeit geben. Und unter Wagemut kann man das Vertrauen in die Initiative verstehen. Der Wagemut kann ohne körperlichen oder moralischen Mut auskommen, denn diese Wesenszüge gehören einer anderen Ordnung an und sind mit ihm unvereinbar.
23.3.1933
Das Leben ist für die meisten Menschen eine Plackerei, die man übersteht, ohne sie zu bemerken, etwas Trauriges, was aus heiteren Interludien besteht, ähnlich den Anekdoten, die man sich während der Totenwache erzählt, um die Stille der Nacht und die
Verpflichtung zum Wachen zu überbrücken. Ich habe es immer unnütz gefunden, das Leben als ein Tränental zu betrachten: gewiß, es ist ein Tränental, aber es wird darin nur selten geweint. Heine hat gesagt, nach den großen Tragödien müßten wir uns immer am Ende schneuzen. Als Jude und folglich universaler Geist hat er mit Klarheit die universale Natur der Menschheit durchschaut. Das Leben wäre unerträglich, wenn wir uns seiner bewußt würden. Glücklicherweise ist das nicht der Fall. Wir leben mit der gleichen Unbewußtheit wie die Tiere, auf die gleiche nichtige und nutzlose Weise, und wenn wir den Tod vorwegnehmen, von dem zu vermuten, wenn auch nicht klar auszumachen ist, daß sie ihn nicht vorwegnehmen können, nehmen wir ihn durch so viel Vergessen und so viele Zerstreuungen hindurch vorweg, daß wir kaum behaupten können, daß wir an ihn denken. So leben wir und es ist wenig, um uns den Tieren überlegen zu fühlen. Wir unterscheiden uns von ihnen in der rein äußerlichen Einzelheit, daß wir sprechen und schreiben können, daß wir eine abstrakte Intelligenz besitzen, um uns davon abzulenken, daß wir eine konkrete besitzen, und um Unmögliches auszusinnen. All das jedoch sind Akzidenzien unseres fundamentalen Organismus. Das Sprechen und Schreiben verändert nicht unseren ursprünglichen Instinkt, zu leben ohne zu wissen wie. Unsere abstrakte Intelligenz dient nur dazu, Systeme oder halbsystematische Ideen zu ersinnen, ausgehend von der allgemeinen Lage von Mensch und Tier, sich in der Sonne zu befinden. Unsere Vorstellung vom Unmöglichen ist vielleicht nicht einmal uns allein zu eigen, denn ich habe Katzen den Mond anschauen sehen, und ich weiß nicht, ob sie ihn nicht für sich haben wollten. Die ganze Welt, das ganze Leben ist ein weitläufiges System von Unbewußtheit, die durch unser individuelles Bewußtsein hindurch am Werke ist. So wie man aus zwei Gasen, wenn ein elektrischer Strom durch sie hindurchfährt, eine Flüssigkeit machen kann, so macht man aus zweierlei Bewußtsein — dem unseres konkreten und dem unseres abstrakten Seins — wenn das Leben und die Welt durch sie hindurchgehen, ein höheres Bewußtsein.
Glücklich mithin derjenige, der nicht denkt, weil er instinktgemäß und dank seiner organischen Bestimmung das verwirklicht, was wir alle auf Umwegen und infolge einer anorganischen oder gesellschaftlichen Bestimmung verwirklichen müssen. Glücklich derjenige, der sich am meisten den Tieren annähert, denn er ist ohne Mühsal, was wir alle dank auferlegter Mühsal sind; denn er kennt den Weg nach Hause, den wir anderen nicht finden, es sei denn auf Feldwegen von Fiktion und Heimkehr; weil er verwurzelt wie ein Baum einen Teil der Landschaft und mithin der Schönheit bildet und nicht wie wir ist: Mythen der Landschaft, Statisten in der lebendigen Tracht der Nutzlosigkeit und des Vergessens.
Wir vergöttern die Vollkommenheit, weil wir sie nicht erreichen können; wir würden sie verwerfen, wenn wir sie hätten. Das Vollkommene ist unmenschlich, denn das Menschliche ist unvollkommen. Der taube Haß auf das Paradies — unser Wunsch gleich dem der armen Unglücklichen, es möge doch im Himmel Land geben. Jawohl, nicht die Ekstasen des Abstrakten, auch nicht die Wunder des Abstrakten können eine fühlende Seele entzücken: Sondern die Heime und Hänge der Berge, die grünen Inseln auf blauen Meeren, die Wege unter den Bäumen und die langen Ruhestunden auf den Gutshöfen der Altvorderen, auch wenn wir sie niemals besitzen. Wenn es keine Erde im Himmel gibt, ist es besser, es gibt überhaupt keinen Himmel. Alles sei dann das Nichts und der Roman ohne Fabel gehe zu Ende. Um die Vollkommenheit zu erreichen, wäre eine außermenschliche Kühle notwendig, und dann gäbe es kein Menschenherz, mit welchem man die eigene Vollkommenheit lieben könnte. Wir staunen andächtig über das Vollkommenheitsstreben der großen Künstler. Wir lieben ihre Annäherung an das Vollkommene, wir lieben sie jedoch, weil es nur eine Annäherung ist.
So hart auch das Leben mit dem Durchschnittsmenschen umspringen mag, er hat zumindest das Glück, nicht ständig das Leben denkend verbringen zu müssen. Das Leben äußerlich, seinem Ablauf folgend, zu erleben wie eine Katze oder ein Hund — das tut das Gros der Menschen, und so muß man das Leben leben, damit es die Zufriedenheit von Katze und Hund gewähren kann. Denken heißt zerstören. Der Vorgang des Denkens selbst zeigt es dem Gedanken an, weil denken zerlegen ist. Wenn die Menschen über das Geheimnis des Lebens nachzudenken vermöchten, wenn sie die tausend Verwicklungen fühlen könnten, welche die Seele in jeder Einzelheit des Handelns bespitzeln, würden sie niemals handeln, ja sie würden sogar nicht leben. Sie würden sich vor lauter Schreck umbringen wie diejenigen, die Selbstmord begehen, um nicht am nächsten Tage guillotiniert zu werden.
Die instinktive Beständigkeit des Lebens durch das Auftreten der Intelligenz hindurch liefert mir Stoff für die intimsten und anhaltendsten Betrachtungen. Die irreale Verkleidung des Bewußtseins dient nur dazu, um für mich jene Unbewußtheit hervortreten zu lassen, die sich nicht verkleidet. Von der Geburt bis zum Tode lebt der Mensch als Sklave der gleichen Äußerlichkeit seiner selbst, die auch die Tiere besitzen. Das ganze Leben hindurch lebt er nicht, sondern vegetiert in höherem Grade und mit größerer Komplexität. Er orientiert sich an Normen, von denen er nicht weiß, daß sie existieren, und auch nicht, daß er sich an ihnen orientiert, und seine Ideen, seine Gefühle, seine Handlungen erfolgen unbewußt — nicht weil ihnen das Bewußtsein abginge, sondern weil es in ihnen nicht zweierlei Bewußtsein gibt. Einen fernen Schimmer der Illusion — das und nicht mehr besitzt der größte der Menschen. Ich verfolge mit schweifenden Gedanken die Durchschnittsgeschichte der Durchschnittsleben. Ich sehe, wie sie in allem Sklaven des unterbewußten Temperaments, der fremden äußeren Umstände und der Impulse des Zusammen- und Auseinanderlebens
sind, die in, durch und mit diesem unbewußten Temperament zusammenstoßen. Wie oft habe ich sie den gleichen Satz sagen hören, der das ganz Sinnlose, das ganze Nichts, die ganze Unwissenheit ihres Lebens symbolisiert. Es ist der Satz, den sie bei jedem materiellen Genuß anbringen: »Das hat unsereins nun vom Leben . . .« Hat wo? Hat wofür? Hat wozu? Es wäre betrüblich, sie mit Fragen wie diesen aus dem Schatten aufscheuchen zu müssen. So spricht ein Materialist, denn jeder Mensch, der so redet, ist, wenn auch nur unbewußt, ein Materialist. Was denkt er sich denn vom Leben zu haben und auf welche Weise? Wohin will er denn mit den Schweinskoteletts und dem Rotwein und dem Zufallsmädchen? In welchen Himmel, an den er doch nicht glaubt? In welche Erde, der er doch nur die Fäulnis bringt, die sein ganzes Leben latent gewesen ist? Ich kenne keinen tragischeren Satz, der das Menschliche der Menschheit vollkommener entlarven würde. So würden die Pflanzen reden, wenn sie zu erkennen wüßten, daß sie die Sonne genießen. So würden die niederen Tiere zum Menschen von ihren somnambulen Vergnügungen reden, wenn sie sich ausdrücken könnten. Und wer weiß, ob ich bei der Niederschrift dieser Worte bei dem unklaren Eindruck, sie könnten überdauern, nicht ebenfalls meine, die Erinnerung daran, sie geschrieben zu haben, sei das, »was ich vom Leben gehabt habe«. Und wie der nutzlose Leichnam des Durchschnittsmenschen, in die gemeinsame Erde sinkt, sinkt auch der nutzlose Leichnam meiner für das Warten geschaffenen Prosa ins allgemeine Vergessen hinab. Weshalb spotte ich über die Schweinekoteletts, den Wein, das Mädchen meines Mitmenschen? Brüder in der gemeinsamen Unwissenheit, verschiedene Arten des gleichen Bluts, unterschiedliche Ausformungen derselben Erbschaft — wer von uns kann den anderen verleugnen? Man verleugnet seine Frau, aber weder Vater noch Mutter noch Bruder.
Die Lektüre der Zeitungen, die vom ästhetischen Standpunkt aus immer peinlich ist, ist es häufig auch vom moralischen Stand-
punkt aus, selbst für denjenigen, der wenig moralische Skrupel kennt. Die Kriege und die Revolutionen — und eines von beiden ist stets im Gange — verursachen bei der Lektüre ihrer Auswirkungen nicht Entsetzen, sondern Langeweile. Nicht die Grausamkeit all dieser Toten und Verwundeten, das Opfer all derer, die im Kampfe sterben oder getötet werden, ohne zu kämpfen, lastet hart auf der Seele, sondern mehr noch die Dummheit, die Leben und Güter einsetzt für etwas unausweichlich Nutzloses. Alle Ideale und alle ehrgeizigen Plane sind, ein Wahnwitz männlicher Gevatterinnen. Es gibt kein Imperium, das es wert wäre, daß um seinetwillen eine Kinderpuppe entzweiginge. Es gibt kein Ideal, das das Opfer einer blechernen Eisenbahn verdiente. Welches Imperium ist nützlich, welches Ideal vorteilhaft? Alles ist Menschheit und die Menschheit ist immer dieselbe — veränderlich, aber nicht verbesserungsfähig, schwankend, aber unfähig zum Fortschritt. Was kann der kluge Mann angesichts des unabwendbaren Laufes der Dinge, dieses Lebens, das wir haben, ohne zu wissen wie, und verlieren werden, ohne zu wissen wann, des zehntausendfach gespielten Schachspiels, das der Lebenskampf in der Gemeinschaft darstellt, des Überdrusses, vergebens zu betrachten, was sich nie verwirklichen läßt [. .,] — was kann er anderes tun als für sich Ruhe erbitten, um ja nicht ans Leben denken zu müssen, denn leben müssen fordert uns gerade genug; einen kleinen Platz an der Sonne und in der Luft brauchen wir und zumindest die Illusion, daß jenseits der Berge Friede herrscht.
Die Geschichte verneint die Stabilität. Es gibt Perioden der Ordnung, in denen alles niederträchtig, und Perioden der Unordnung, in denen alles sublim ist. Zeiten der Dekadenz sind fruchtbar an männlichen Geistern, Epochen der Stärke an geistigen Schwächlingen. Alles vermischt und überkreuzt sich, und es gibt keine Wahrheit außer Wahrheitsvermutungen. So viele hohe Ideale sind auf den Mist gefallen, so viel wahres Streben im Abwasser untergegangen!
Für mich sind sie alle gleich, Götter oder Menschen, in der weitschweifigen Verwirrung ihres Ungewissen Schicksals. Sie ziehen in diesem anonymen vierten Stockwerk in Abfolgen von Träumen an mir vorüber, und sie bedeuten für mich nicht mehr als sie für diejenigen bedeutet haben, die an sie geglaubt haben. Negerfetische mit hilflos erschrockenen Augen, Tiergötter der Primitiven aus verschlungenen Wildnissen, Figur gewordene Symbole der Ägypter, helle griechische Gottheiten, starre römische Götter, Mithras, Herr der Sonne und der Gefühlserregung, Jesus, Herr der Folgerichtigkeit und der Karitas, verschiedene Auffassungen des gleichen Christus, heilige neue Götter der neuen Ortschaften, alle ziehen vorüber im Totenzug des Irrtums und der Illusion. Sie ziehen alle dahin, und hinter ihnen ziehen als leere Schatten die Träume, von denen die schlechtesten Träumer meinen, sie ruhten fest auf der Erde, weil sie ihren Schatten auf den Boden werfen — armselige Begriffe ohne Seele und Gestalt wie Freiheit, Menschheit, Glück, bessere Zukunft und Wissenschaft von der Gesellschaft — in der Einsamkeit der Finsternis schleppen sie sich dahin und werden wie Blätter ein wenig vorwärtsgeschleift von der Schleppe eines königlichen Mantels, der von Bettlern geraubt worden ist.
Alles, was uns an Unangenehmem im Leben zustößt — wenn wir eine lächerliche Figur machen, wenn wir uns schlecht betragen, wenn wir in einer Tugend zu wünschen übriglassen — muß man als bloßen äußeren Zufall ansehen, außerstande, die Substanz unserer Seele zu erreichen. Betrachten wir es wie Zahnschmerzen oder Hühneraugen des Lebens, Dinge, die uns lästig fallen und doch, obwohl sie uns betreffen, rein äußerlicher Natur sind, mit denen sich nur unsere organische Existenz zu befassen hat oder um die sich nur unsere Lebenskraft sorgen muß. Wenn wir diese Einstellung erreichen, die auf andere Weise auch diejenige der Mystiker ist, sind wir nicht nur vor der Welt geschützt, sondern auch vor uns selbst, denn wir besiegen, was in uns äußerlich und jemand anderes ist, unser Gegenteil und daher unser Feind.
Daher konnte Horaz von dem Gerechten sprechen, der unerschrocken bleibt, selbst wenn rings um ihn her die Welt einstürzt. Das Bild ist absurd, sein Sinn ist richtig. Auch wenn rings um uns her unser fiktives, weil mit uns koexistierendes Sein einstürzen sollte, müssen wir unerschrocken bleiben — nicht weil wir gerecht sind, sondern weil wir wir selbst sind, und daß wir wir sind, bedeutet, nichts zu tun zu haben mit äußerlichen Dingen, die einstürzen können, auch wenn sie über dem einstürzen, was wir für sie sind. Das Leben muß für die besten ein Traum sein, der sich Vergleichen entzieht.
Die unmittelbare Erfahrung ist Ausflucht oder Versteck derjenigen, die phantasielos sind. Wenn ich von den Wagnissen lese, die der Tigerjäger auf sich genommen hat, habe ich alles an Wagnissen kennengelernt, was die Mühe lohnt, außer dem Wagnis selber, das so wenig die Mühe lohnte, daß es vorübergegangen ist. Die Männer der Tat sind die unfreiwilligen Sklaven der verstehenden Menschen. Die Dinge haben nur Wert in der Auslegung. Einige schaffen also Dinge, damit die anderen sie in Leben verwandeln, indem sie sie in Bedeutung umsetzen. Erzählen heißt schaffen, denn leben bedeutet nur gelebt werden.
Sich nichts unterwerfen — weder einem Menschen, noch einer Liebe, noch einer Idee: jene ferne Unabhängigkeit besitzen, die darin besteht, nicht an die Wahrheit zu glauben, auch nicht, wenn es sie gäbe, auch nicht an die Nützlichkeit ihrer Erkenntnis — das ist der Zustand, in welchem, scheint mir, das intime geistige Leben derjenigen, die nicht gedankenlos leben, sich selbst gegenüber ablaufen muß. An etwas hängen — das bedeutet Banalität. Glaubensbekenntnis, Ideal, Frau oder Beruf — all das heißt Zelle und Handschellen. Sein heißt frei sein. Sogar der Ehrgeiz ist, wenn Stolz und Leidenschaft mit beteiligt sind, eine Last; wir würden nicht stolz sein, wenn
wir begreifen würden, daß er eine Schnur ist, an der man uns zieht. Nein: auch keine Verbindlichkeit gegen uns! Frei von uns selbst wie von den anderen, kontemplativ ohne Ekstase, Denker ohne Schlußfolgerungen, werden wir, befreit von Gott, die kleine Pause durchleben, welche die Zerstreutheit der Henkersknechte unserer Ekstase uns beim Aufenthalt vergönnt. Morgen erwartet uns die Guillotine. Wenn sie uns nicht morgen erwartet, dann übermorgen. Genießen wir, in der Sonne spazierengehend, die Stille vor dem Ende, ignorieren wir freiwillig die Verfolgungen. Die Sonne wird unsere faltenlosen Stirnen vergolden und die Brise Frische atmen für denjenigen, der die Hoffnung aufgegeben hat. Ich werfe den Federhalter auf den Schreibtisch, und er rollt über die abschüssige Platte, an der ich arbeite, zurück, ohne daß ich ihn aufhöbe. Ich habe alles auf einmal gefühlt. Und meine Freude äußert sich in dieser Geste einer Wut, die ich nicht empfinde.
Ich glaube nicht an das Glück der Tiere, allenfalls wenn es mich reizt, davon zu reden, um einem Gefühl, das dieses mutmaßliche Glück unterstreichen soll, Nachdruck zu verleihen. Um glücklich zu sein, muß man wissen, daß man glücklich ist. Es gibt kein Glück im traumlosen Schlaf, sondern nur beim Erwachen mit dem Wissen, daß man traumlos geschlafen hat. Das Glück liegt außerhalb des Glücks. Es gibt kein Glück außer einem Glück bei vollem Bewußtsein. Aber das Bewußtsein des Glücks ist unglücklich; denn sich glücklich wissen heißt einsehen, daß man durch das Glück hindurchgeht und es alsbald hinter sich lassen muß. Wissen heißt töten, im Glück wie in allem übrigen. Nicht wissen jedoch heißt nicht existieren. Nur das Absolute Hegels hat es auf etlichen Seiten vermocht, zwei Dinge gleichzeitig zu sein. Das Nicht-Sein und das Sein verschmelzen nicht in den Empfindungen und Gründen des Lebens: sie schließen sich aus infolge einer umgekehrten Synthese.
Was tun? Den Augenblick isolieren wie ein Ding und jetzt glücklich sein in dem Augenblick, in dem man das Glück spürt, ohne an etwas anderes zu denken als an das, was man fühlt, und das übrige auszuschließen, indem man alles ausschließt. Den Gedanken einkerkern in die Empfindung [. . .] . . . das klare mütterliche Lächeln der erfüllten Erde, der verschlossene Glanz der hohen Finsternisse [. . .] Dies ist mein Glaube am heutigen Abend. Morgen früh wird es nicht mehr derselbe sein, weil ich morgen früh schon ein anderer sein werde. Was werde ich morgen glauben? Ich weiß es nicht, denn man müßte bereits das Morgen erleben, um es zu wissen. Auch der ewige Gott, an den ich heute glaube, wird es morgen wissen und nicht heute, weil ich heute ich bin und er morgen vielleicht bereits niemals existiert hat.
21.6.1934 Sobald wir diese Welt als eine Illusion und ein Trugbild betrachten können, können wir alles, was uns widerfährt, als einen Traum ansehen, als etwas, was zu sein vortäuschte, weil wir gerade schliefen. Und dann entsteht in uns eine subtile tiefe Gleichgültigkeit gegenüber allen Mißgeschicken und Katastrophen des Lebens. Die Verstorbenen sind um eine Straßenecke gebogen, und deshalb sehen wir sie nicht mehr; die Leidenden ziehen an uns vorbei; wenn wir fühlen, wie ein Alptraum, wenn wir denken, wie eine unwillkommene Phantasievorstellung. Und unser eigenes Leid wird nicht mehr sein als dieses Nichts. In dieser Welt schlafen wir auf der linken Seite, und in unseren Träumen vernehmen wir das bedrängte Pochen unseres Herzens. Weiter nichts . . . Ein wenig Sonne, ein kleiner Luftzug, ein paar Bäume, die die Entfernung einrahmen, der Wunsch, glücklich zu sein, der Kummer darüber, daß die Tage vorbeigehen, die Wissenschaft immer ungewiß und die Wahrheit immer noch zu entdecken i s t . . . weiter nichts, weiter nichts . . . Jawohl, weiter nichts . . .
Je weiter wir im Leben vordringen, desto mehr überzeugen wir uns von zwei Wahrheiten, die sich indessen widersprechen. Die erste ist, daß gegenüber der Wirklichkeit des Lebens alle Fiktionen der Literatur und der Kunst erblassen. Sie gewähren ganz sicherlich ein edleres Vergnügen als die Vergnügungen des Lebens; sie sind jedoch wie die Träume, in denen wir Gefühle empfinden, die man im Leben nicht fühlt, wo sich Formen zusammenfinden, die sich im Leben nicht begegnen; sie sind jedoch Träume, aus denen man ohne Erinnerungen oder Sehnsucht aufwacht, mit denen wir hernach ein zweites Leben führen könnten. Die zweite Wahrheit ist diese: da es der Wunsch jeder edlen Seele ist, das Leben ganz zu durchlaufen, Erfahrungen über alle Dinge, alle Orte und alle gelebten Gefühle zu sammeln und dies unmöglich ist, kann das Leben nur subjektiv zur Gänze gelebt werden; nur verneint kann man es in seiner totalen Substanz ausleben. Diese beiden Wahrheiten lassen sich nicht auf einen Nenner bringen. Der kluge Mann wird sich dessen enthalten, sie vereinigen zu wollen und wird sich ebenfalls davor hüten, die eine oder die andere abzulehnen. Dennoch muß er der einen nachfolgen, voller Sehnsucht nach derjenigen, der er nicht folgt; oder beide verwerfen, indem er sich in einem eigenen Nirwana über sich selbst erhebt. Glücklich, wer vom Leben nicht mehr verlangt als es ihm aus eigenem Antrieb gibt und sich vom Instinkt der Katzen leiten läßt, die die Sonne suchen, wenn die Sonne scheint, und wenn sie nicht scheint, die Wärme, wo sie auch sein möge. Glücklich, wer mit Hilfe der Phantasie von seiner Persönlichkeit abdankt und sich an der Betrachtung fremden Lebens ergötzt und so zwar nicht alle Eindrücke, aber doch das äußere Schauspiel aller Eindrücke erlebt. Glücklich endlich, wer von allem abdankt und wem, weil er von allem abgedankt hat, nichts genommen oder verkürzt werden kann. Der Bauer, der Novellenleser, der reine Asket — diese drei sind die eigentlichen Lebenskünstler, denn diese drei danken von ihrer Persönlichkeit ab — der eine, weil er instinkthaft lebt, was unper-
sönlich ist, der andere, weil er aus der Phantasie lebt, was Vergessen bedeutet, der dritte, weil er nicht lebt und, da er nicht tot ist, schläft. Nichts befriedigt mich, nichts tröstet mich, ich bin alle Dinge — ob sie gewesen sind oder nicht — gründlich satt. Ich will keine Seele haben, und ich will auch nicht von ihr abdanken. Ich wünsche, was ich nicht wünsche, und danke von dem ab, was ich nicht habe. Ich kann weder nichts noch alles sein: Ich bin die Brücke des Übergangs zwischen dem, was ich nicht habe, und dem, was ich nicht will.
14.5.1930
Die Wirklichkeit als eine Form der Illusion anerkennen und die Illusion als eine Form der Wirklichkeit ist gleichermaßen notwendig und gleichermaßen nutzlos. Das kontemplative Leben muß, um überhaupt existieren zu können, die objektiven Akzidenzien als zerstreute Prämissen einer unerreichbaren Konklusion betrachten; doch sie muß gleichzeitig die Zufälligkeiten des Traums als in gewisser Weise der auf sie gerichteten Aufmerksamkeit würdig betrachten, dank welcher wir zu kontemplativen Menschen werden. Jedes Ding ist, je nachdem, wie man es betrachtet, ein Wunder oder ein Hindernis, ein Alles oder ein Nichts, ein Weg oder eine Sorge. Es auf immer verschiedene Weise betrachten heißt, es erneuern und durch sich selbst vervielfältigen. Deshalb hat der kontemplative Geist, der nie aus seinem Dorf herausgekommen ist, gleichwohl das ganze Universum zu seiner Verfügung. In einer Zelle oder in einer Wüste liegt das Unendliche beschlossen. Auf einem Stein schläft man kosmisch. Es gibt jedoch Augenblicke der Meditation — und sie ereilen alle diejenigen, die meditieren —, wo alles als verbraucht, als alt, als schon dagewesen erscheint, selbst wenn uns sein Anblick noch bevorsteht. Denn so sehr wir auch über etwas nachdenken und es beim Nachdenken verwandeln, nie werden wir es in etwas verwandeln, was nicht die Substanz unseres Nachdenkens sei. Es
überkommt uns dann der Drang nach dem Leben, wir möchten erkennen ohne die Erkenntnis, nachdenken nur mit den Sinnen oder auf eine berührbare, fühlbare Art denken von innen aus dem gedachten Gegenstand heraus, so als ob wir das Wasser und er ein Schwamm wäre. Dann erleben wir auch unsere Nacht, und die Ermüdung durch alle Gefühlserregungen vertieft sich dadurch, daß es schon von sich aus tiefe Gefühlserregungen des Denkens sind. Doch es ist eine Nacht ohne Ruhe, ohne Mondschein, ohne Gestirne, eine Nacht, in der alles umgekehrt worden wäre — das Unendliche innerlich und eng und der Tag zum schwarzen Futter eines unbekannten Anzugs. Besser ist es, jawohl, besser, immer die menschliche Schnecke zu sein, die liebt und ahnungslos ist, der Blutegel, der abstoßend ist, ohne es zu wissen. Die Unwissenheit als Leben, das Fühlen als ein Vergessen! Welch verlorene Episoden auf der grünweißen Schaumspur der ausgefahrenen Karavellen, dem kalten Speichel des hohen Steuerruders, das unter den Augen der alten Kajüten als Nase herausragt!
14.4.1930
In der hohen Einöde der Berge empfinden wir, wenn wir dorthin gelangen, das Gefühl eines Privilegs. Wir ragen mit unserer Statur höher auf als die Höhe der Berge. Das Höchste der Natur liegt, zumindest an jenem Ort, unter den Sohlen unserer Füße. Wir sind unserer Stellung nach Könige der sichtbaren Welt. Rings um uns her ist alles niedriger: das Leben ist ein abfallender Hang, eine ausgedehnte Ebene zu Füßen der Höhe und des Gipfels, den wir darstellen. Alles in uns ist Zufall und Hinterhältigkeit, und die Höhe, die wir innehaben, haben wir nicht inne; wir sind in der Höhe nicht höher als unsere Höhe. Sogar das, was wir unter unsere Füße treten, erhebt uns; und wenn wir hoch stehen, geschieht es eben dadurch, daß wir höher stehen. Man atmet besser, wenn man reich ist; man ist freier, wenn man berühmt ist; sogar einen Adelstitel zu führen bedeutet einen
kleinen Berg. Alles beruht auf Fiktion, aber die Fiktion ist nicht einmal immer unser Werk. Wir steigen zum Berg auf oder man hat uns zu ihm hinaufgebracht oder wir kommen schon im Haus auf dem Berge zur Welt. Groß jedoch ist derjenige, der zu der Einsicht gelangt, daß die Entfernung vom Tal zum Himmel oder vom Berg zum Himmel, die den Unterschied ausmacht, keinen Unterschied ausmacht. Doch wenn Gottes Fluch sich in Blitzen äußern würde, wie der des Jupiter, in Winden toben würde wie der des Äolus, wäre es unser Schutz, nicht emporgestiegen zu sein, und unsere Verteidigung, auf dem Boden zu kriechen. Wahrhaft klug ist, wer die Möglichkeit zur Höhe in den Muskeln fühlt und die Verneinung des Aufstiegs in der Erkenntnis. Schauend besitzt er alle Berge; dank seiner Situation besitzt er alle Taler. Die Sonne, die die Gipfel vergoldet, wird sie für ihn mehr vergolden als für denjenigen, der sie dort oben ertragen muß; der hohe Palast in Wäldern ist schöner für denjenigen, der ihn vom Tal aus anschaut, als für denjenigen, der ihn in den Sälen vergißt, die ihn zum Gefängnis machen. Mit diesen Reflexionen tröste ich mich, da ich mich schon nicht mit dem Leben trösten kann. Und das Sinnbild verschmilzt mir mit der Wirklichkeit, wenn ich, Passant mit Leib und Seele, auf diesen Straßen der Unterstadt, die auf den Tejo zuführen, die hellen Hügel von Lissabon wie fremden Ruhm von den mannigfachen Lichtern einer Sonne erglänzen sehe, die schon nicht mehr im Untergang begriffen ist.
10.4.1930
Das ganze Leben der menschlichen Seele ist eine Bewegung im Halbschatten. Wir leben in einer Dämmerung des Bewußtseins, niemals dessen sicher, was wir sind, oder dessen, was wir zu sein glauben. In den besten von uns lebt die Eitelkeit aufgrund von irgend etwas, steckt ein Irrtum, dessen Winkel wir nicht kennen. Wir sind etwas, was sich in der Pause eines Schauspiels abspielt; manchmal erblicken wir flüchtig durch bestimmte Türen hin-
durch etwas, was vielleicht nichts anderes als ein Bühnenbild ist. Die ganze Welt wirkt verworren wie Stimmen in der Nacht. Ich habe eben diese Seiten, auf denen ich mit einer Klarheit Buch führe, die in ihnen fortwirkt, erneut überlesen und muß mich fragen: Was ist das und wozu ist es? Wer bin ich, wenn ich fühle? Als was sterbe ich, wenn ich bin? Wie jemand, der aus großer Höhe das Leben im Tal wahrzunehmen versucht, betrachte ich mich selbst von einem Gipfel aus und bin bei alledem eine undeutliche und verworrene Landschaft. In diesen Stunden eines Abgrunds in der Seele bedrückt mich die kleinste Einzelheit wie ein Abschiedsbrief. Ich fühle mich beständig am Vorabend eines Erwachens, ich erleide mich als Verpackung meiner selbst, und ich ersticke an Schlußfolgerungen. Gern würde ich schreien, wenn meine Stimme irgendwo hindringen könnte. Doch ein großer Schlaf macht mir zu schaffen und verlagert sich von den einen Empfindungen zu den anderen wie eine Abfolge von Wolken, jener Wolken, die mit grün und anderen Sonnenfarben den Rasen der ausgedehnten Felder im Halbschatten belassen. Ich bin wie jemand, der auf gut Glück sucht und nicht weiß, wo der Gegenstand steckt, von dem man ihm nicht gesagt hat, was er ist. Wir spielen Verstecken mit niemandem. Irgendwo gibt es eine transzendente Ausflucht, eine verfließende Gottheit, die nur vom Hörensagen bekannt ist. Ja, ich lese noch einmal diese Seiten, die alles Mögliche darstellen: Ärmliche Stunden, kleine Ruhepunkte oder Illusionen, große, auf die Landschaft übertragene Hoffnungen, Leiden wie Zimmer, die man nicht betreten darf, gewisse Stimmen, eine große Erschöpfung, das noch zu schreibende Evangelium. Jeder einzelne hat seine Eitelkeit und die Eitelkeit jedes einzelnen läßt ihn vergessen, daß es andere mit gleicher Seele gibt. Meine Eitelkeit sind ein paar Seiten, ein paar Abschnitte, einige Zweifel. . . Ich lese von neuem? Lüge! Ich wage nicht von neuem zu lesen. Ich kann nicht von neuem lesen. Wozu dient es mir, von neuem zu lesen? Was hier steht, ist ein anderer. Ich verstehe davon bereits nichts mehr. . .
5.2.1932
Mich schmerzt mein Kopf und das Weltall. Die körperlichen Schmerzen, die deutlicher Schmerzen sind als die moralischen, lösen durch ihren Reflex im Geiste Tragödien aus, die nicht in ihnen enthalten sind. Sie bringen eine Ungeduld mit allem mit sich, die, weil sie sich auf alles bezieht, selbst die Sterne nicht ausschließt. Die verfehlte Auffassung, wonach wir als Seelen die Folgen von etwas Materiellem, genannt Gehirn, sind, das seiner Herkunft nach innerhalb von etwas anderem Materiellen, genannt Schädel, existiert, kann ich nicht teilen, ich habe sie nie geteilt, und ich werde sie, glaube ich, niemals teilen können. Ich kann kein Materialist sein, wie man, glaube ich, diese Auffassung nennt, weil ich keine deutliche Verbindung — eine sichtbare Verbindung möchte ich sagen — zwischen einer sichtbaren Masse grauer oder andersfarbiger Materie und dem Etwas herstellen kann, das hinter meinem Blick die Himmel anschaut und überdenkt und sich Himmel vorstellt, die gar nicht vorhanden sind. Doch auch wenn ich nie in den Abgrund der Annahme stürzen kann, daß eine Sache nur deshalb eine andere sein könnte, weil sich beide am gleichen Ort befinden, wie eine Wand und mein Schatten auf dieser Wand, oder daß die Abhängigkeit der Seele vom Gehirn mehr sei als daß ich für meine Fahrt von dem Gefährt abhänge, in dem ich reise, so glaube ich doch, daß es zwischen demjenigen, was in uns nur Geist ist und demjenigen, was in uns Geist des Körpers ist, eine Beziehung des Zusammenlebens gibt, innerhalb derer Auseinandersetzungen entstehen können. Und üblicherweise entstehen diese dadurch, daß die gewöhnlichere Person derjenigen, die weniger gewöhnlich ist, lästig fällt. Heute schmerzt mich mein Kopf, und der Schmerz rührt vielleicht vom Magen her. Doch der Schmerz wird, wenn er einmal vom Magen auf den Kopf übertragen worden ist, die Meditationen unterbrechen, die ich mit diesem Gehirn anstelle. Wer mir die Augen zuhält, macht mich nicht blind, und doch hindert er mich zu sehen. Und so finde ich jetzt, weil mich der Kopf schmerzt, das in diesem Augenblick eintönige und sinnlose Schauspiel des-
sen, was ich mir als Außenwelt nur widerwillig mitansehe, ohne Wert und Adel. Der Kopf tut mir weh, und das will heißen, daß mir die Beleidigung bewußt ist, die mir die Materie zufügt. Weil sie mich wie alle Beleidigungen empört, versetzt sie mich auch in die geeignete Stimmung, mich mit allen Leuten anzulegen, diejenigen eingeschlossen, die mir nahestehen und mich gar nicht beleidigt haben. Ich möchte sterben, zumindest zeitweilig, aber das, wie gesagt, nur weil mich der Kopf schmerzt. Und in diesem Augenblick fallt mir auf einmal ein, mit wieviel größerer Noblesse einer der großen Prosaschriftsteller das ausdrücken würde. Er würde Periode nach Periode das anonyme Leid der Welt darstellen; vor seinen ganze Abschnitte ersinnenden Augen würden die Dramen der irdischen Menschen in ihrer Mannigfaltigkeit auftauchen und beim Pochen fiebriger Schläfen würde sich auf dem Papier eine ganze Metaphysik des Unglücks erheben. Mir jedoch fehlt der stilistische Adel. Mich schmerzt der Kopf, weil mich der Kopf schmerzt. Mich schmerzt das Weltall, weil mich der Kopf schmerzt. Doch das Weltall, das mich wahrhaft schmerzt, ist nicht das wahre, das existiert, weil es nicht weiß, daß ich existiere, sondern mein ureigenes, das mich, wenn ich mit den Händen durch mein Haar fahre, fühlen zu lassen scheint, daß mein Haar ganz allein deshalb leidet, um mich leiden zu lassen.
Bisweilen fühle ich mich, ich weiß nicht warum, von einem Vorzeichen des Todes berührt . . . Sei es eine unbestimmte Krankheit, die sich nicht in Schmerz materialisiert und deshalb schließlich vergeistigt, sei es eine Erschöpfung, die einen so tiefen Schlaf verlangt, daß bloßes Schlafen ihr nicht genügt — sicher ist, daß ich mich fühle, als ob mir am Ende einer immer bösartiger werdenden Krankheit ohne Gewaltanwendung oder Sehnsucht die Decke aus meinen schwachen Händen entglitte . . . Dann betrachte ich, was das ist, was wir Tod nennen. Ich meine nicht das Geheimnis des Todes, das ich nicht durchdringen kann, sondern die körperliche Empfindung, daß das Leben aufhört. Die Menschheit hat Angst vor dem Tode, aber auf unbestimmte
Weise; der Durchschnittsmensch schlägt sich recht gut bei dieser Übung, der kranke oder alte Durchschnittsmensch betrachtet selten mit Entsetzen den Abgrund des Nichts, das er diesem Abgrund zuschreibt. All das ist ein Mangel an Phantasie. Nicht besser geht es demjenigen, der glaubt, daß der Tod ein Schlaf ist. Weshalb sollte er das sein, wenn der Tod nicht dem Schlaf ähnelt? Das Wesentliche des Schlafs ist, daß man aus ihm erwacht, und aus dem Tode, nehmen wir an, erwacht man nicht. Und wenn der Tod dem Schlaf ähnelt, müßten wir doch die Vorstellung haben, daß wir aus ihm erwachen. Das ist es jedoch nicht, was sich der normale Mensch vorstellt: Er stellt sich den Tod wie einen Schlaf vor, aus dem man nicht erwacht, was nichts aussagt. Der Tod, sagte ich, ähnelt dem Schlaf nicht, denn im Schlaf ist man lebendig und schläft; ich weiß nicht, wie jemand dem Tod irgend etwas ähneln lassen kann, da er doch keine Erfahrung von ihm haben kann oder irgend etwas, womit er ihn vergleichen könnte. Mir erscheint der Tod, wenn ich einen Toten sehe, wie eine Abreise. Der Leichnam macht mir den Eindruck einer abgelegten Kleidung. Jemand ist fortgegangen und brauchte nicht mehr den einzigen Anzug zu tragen, den er getragen hatte.
Ich fühle die Zeit mit einem gewaltigen Schmerz. Immer erfaßt mich übertriebene Rührung, wenn ich irgend etwas verlassen muß. Das ärmliche möblierte Zimmer, worin ich ein paar Monate zugebracht habe, der Tisch des Hotels in der Provinz, in dem ich sechs Tage gelebt habe, sogar der traurige Wartesaal des Bahnhofs, in dem ich zwei Stunden in Erwartung des Zuges vergeudet habe — ja, doch die angenehmen Dinge des Lebens schmerzen mich metaphysisch, wenn ich sie verlassen muß und mit der gesammelten Sensibilität meiner Nerven daran denke, daß ich sie nie wiedersehen und mein nennen werde, mindestens nicht in diesem genauen und ganz bestimmten Augenblick. In meiner Seele tut sich ein Abgrund auf, und ein kühler Hauch der Stunde Gottes streift über mein blasses Gesicht. Die Zeit! Die Vergangenheit!(?) Das, was ich war und nie wieder sein werde! Das, was ich besaß und nie wieder besitzen
werde! Die Toten! Die Verstorbenen, die mich in meiner Kindheit geliebt haben. Wenn ich an sie denke, vereist meine ganze Seele, und ich fühle mich aus den Herzen verbannt, einsam in der Nacht meiner selbst, wie ein Bettler weinend über das geschlossene Schweigen aller Türen.
23.5.1932
Ich weiß nicht, was die Zeit ist. Ich weiß nicht, welches ihr wahres Maß ist, falls sie überhaupt eines hat. Ich weiß, daß die Uhrzeit falsch ist: sie unterteilt die Zeit räumlich, von außen. Die gefühlte Zeit, weiß ich, ist ebenfalls falsch: sie unterteilt nicht die Zeit, sondern unsere Empfindung von der Zeit. Die Zeit der Träume ist gleichfalls falsch; in ihnen streifen wir das eine Mal eine verlängerte, das andere Mal eine verkürzte Zeit und, was wir erleben, ist übereilig oder langsam infolge irgendeines Vorgangs beim Verfließen der Zeit, dessen Natur ich nicht kenne. Zuweilen meine ich, alles sei falsch, und die Zeit sei nur ein Rahmen,um das einzufassen, was ihr fremd ist. In der Erinnerung an mein vergangenes Leben sind die Zeiten auf sinnlosen Ebenen angeordnet, und ich bin bei einer bestimmten Begebenheit meiner feierlichen fünfzehn Lebensjahre jünger als bei einem anderen Vorkommnis meiner unter Spielzeugen sitzenden Kindheit. Das Bewußtsein verwirrt sich mir, wenn ich an diese Dinge denke. Ich ahne einen Irrtum in alledem; ich weiß jedoch nicht, auf welcher Seite er steckt. Es ist, als wohnte ich einer Art Zauberkunststück bei, bei dem ich mich, weil es ein solches ist, betrogen fühle, aber dennoch nicht herausbringen kann, worin Technik oder Mechanik des Betruges bestanden haben. Dann überkommen mich absurde Gedanken, die ich jedoch nicht als vollkommen absurd abweisen kann. Ich überlege mir, ob ein Mensch, der langsam in einem schnell fahrenden Wagen nachdenkt, nun rasch oder langsam fährt. Ich überlege mir, ob die identischen Geschwindigkeiten wirklich gleich sind, mit denen der Selbstmörder sich ins Meer stürzt und jemand anderer auf der Esplanade das Gleichgewicht verliert. Ich überlege mir, ob die
Bewegungen wirklich synchron sind, die die gleiche Zeit beanspruchen, in denen ich eine Zigarette rauche, diesen Abschnitt niederschreibe und auf dunkle Weise nachdenke. Von zwei Rädern an derselben Achse können wir uns vorstellen, daß immer eines weiter vorn rollt, auch wenn es sich nur um Bruchteile von Millimetern handelt. Ein Mikroskop würde diese Verschiebung übertreiben, bis es fast unglaubhaft erschiene und unmöglich, wenn es nicht wirklich wäre. Und warum sollte das Mikroskop nicht recht behalten gegen das unzureichende Sehvermögen? Sind das unnütze Betrachtungen? Ich weiß es wohl. Sind es Illusionen der Betrachtung? Das räume ich ein. Was ist das aber für ein Ding, das uns mißt ohne Maß und uns tötet, ohne zu sein? Und in diesen Augenblicken, in denen ich nicht einmal weiß, ob die Zeit existiert, fühle ich sie wie eine Person und habe Lust einzuschlafen.
14.9.1931
Nach den ersten weniger heißen Tagen des endenden Sommers erschienen im Zufall der Abende sanftere Farbwirkungen am weiten Himmel, Ansätze zu einer frischen Brise, die den Herbst ankündigten. Noch vergilbt das Laub nicht, noch lösen sich nicht die Blätter ab, noch herrscht nicht jene unbestimmte Angst, die unsere Wahrnehmung der sterbenden Natur begleitet, weil wir von ihr auf unser eigenes Ende schließen. Es war wie eine Erschöpfung nach der Anstrengung, ein vager Schlaf, der auf die letzten Gebärden des Handelns folgte. Ach, es sind Abende von einer so schmerzlichen Gleichgültigkeit, daß der Herbst, bevor er noch in den Dingen anhebt, in uns anhebt. Jeder Herbst, der ins Land zieht, steht dem letzten Herbst näher, den wir erleben werden, und dasselbe gilt auch vom Sommer; doch der Herbst erinnert seinem Wesen nach an das Vergehen aller Dinge und im Sommer ist leicht zu begreifen, daß wir ihn vergessen können. Es ist noch nicht Herbst, noch liegt nicht das Gelb der abfallenden Blätter in der Luft oder die feuchte Traurigkeit der Zeit, die sich später als Winter entpuppen wird,
Doch es liegt eine Spur vorweggenommener Traurigkeit, ein für die Reise gekleidetes Leid in dem Gefühl, in dem wir vage aufmerken auf die farbige Verschwommenheit der Dinge, auf den veränderten Ton des Windes, auf die ältere Stille, die sich, wenn die Nacht einbricht, durch das Weltall hin ausbreitet. Jawohl, wir werden alle vergehen, wir werden als Ganzes vergehen. Nichts wird übrigbleiben von alledem, was mit Gefühlen und Handschuhen hantiert hat, von alledem, was über den Tod und die Lokalpolitik geredet hat. Wie das Licht die Gesichter der Heiligen und die Gamaschen der Vorübergehenden erhellt hat, wird die Abwesenheit des Lichtes das Nichts im Dunkeln lassen, dem Überrest der Tatsache, daß die einen Heilige gewesen sind und die anderen Gamaschenträger. In dem weiten Wirbel, in welchem sich die ganze Welt träge bewegt — vergleichbar dem Wirbeln trockener Blätter — sind die Königreiche ebensoviel wert wie die Kleider der Näherinnen, und die Zöpfe blonder Kinder kreisen im gleichen tödlichen Kreislauf wie die Zepter, die Imperien vorstellten. Alles ist nichts, und im Atrium des Unsichtbaren, dessen offene Tür vorne nur eine verschlossene Tür erkennen läßt, tanzen, Sklavinnen dieses Windes, der sie ohne Hände aufwirbelt, alle kleinen und großen Dinge, die für uns und in uns das gefühlte System des Weltalls gebildet haben. Alles ist Schatten und aufgewirbelter Staub, weder gibt es eine Stimme außerhalb des Geräusches, das der Wind aufhebt und fortträgt, noch eine Stille außerhalb der Stille, die der Wind zurückläßt. Einige leichte Blätter, die, weil leichter, weniger an der Erde haften, fliegen hoch auf aus dem Wirbel des Atriums und sinken entfernter nieder als der Kreis der schwereren. Andere nahezu unsichtbare, ebenfalls Staub und nur verschieden, wenn wir den Staub aus der Nähe betrachten, bereiten sich selbst im Wirbel ihr Bett. Wieder andere, Miniaturen von Baumstämmen, werden im Kreis fortgeweht und finden hier oder dort ihr Ende. Eines Tages — am Ende der Erkenntnis aller Dinge — wird die Tür im Hintergrund aufgehen und alles, was gewesen ist — Sternen- und Seelenmüll — wird aus dem Hause gefegt, damit das, was vorhanden ist, von vorne beginnen kann. Mein Herz schmerzt mich wie ein Fremdkörper. Mein Gehirn erlebt alles schlafend, was ich fühle. Jawohl, es ist der Herbstanfang,
der der Luft und meiner Seele jenes Licht ohne Lächeln bringt, das mit totem Gelb das verworrene Rund der wenigen Wolken des Sonnenuntergangs säumt. Jawohl, es ist der Herbstanfang und, in dieser durchsichtigen Stunde, die klare Erkenntnis vom namenlosen Ungenügen aller Dinge. Der Herbst, jawohl, der Herbst, das Vorhandene oder das, was vorhanden sein wird, und die vorweggenommene Erschöpfung aller Gebärden, die vorweggenommene Enttäuschung aller Träume. Was kann ich erwarten und erhoffen? Schon wirbele ich in Gedanken unter Blättern und Staub des Atriums auf der sinnlosen Kreisbahn eines nichtigen Dinges und raschle als etwas Lebendiges auf den sauberen Fliesen, die eine winklige Sonne — ich weiß nicht wo — mit Endstimmung vergoldet. Alles, was ich gedacht habe, alles, was ich erträumte, alles, was ich getan oder nicht getan habe — all das wird im Herbst davonwirbeln wie die verbrauchten Streichhölzer, die den Boden in verschiedenen Richtungen bedecken, oder die zu falschen Kugeln zerknitterten Papiere oder die großen Imperien, alle Religionen, die Philosophien, mit denen die schläfrigen Kinder des Abgrunds gespielt haben, als sie sie entwarfen. Alles, was meine Seele war, von allem, was ich erstrebte, bis hin zu dem gewöhnlichen Hause, in dem ich wohne, von den Göttern, die ich besaß, bis hin zu Chef Vasques, den ich ebenfalls habe, geht alles im Oktober davon, alles im Oktober, in der gleichgültigen Zärtlichkeit des Oktobers. Alles im Oktober, jawohl, alles im Oktober . . .
2.2.1931 Je höher ein Mensch steht, auf desto mehr Dinge muß er verzichten. Auf dem Gipfel gibt es nur Platz für den Menschen allein. Je vollkommener, desto vollständiger; und um so vollständiger, desto weniger jemand anders. Diese Betrachtungen stellte ich bei mir an, nachdem ich in einer Zeitung den Bericht vom großen vielfältigen Leben eines berühmten Mannes gelesen hatte. Es war ein amerikanischer Millionär, und er war alles gewesen, was man sich vorstellen kann. Er hatte besessen, was immer er erstrebt hatte — Geld, Liebschaften,
Zuneigung, Hingabe, Reisen, Sammlungen. Nicht daß Geld alles vermag, aber der große Magnetismus, mittels dessen man viel Geld anzieht, vermag in der Tat beinahe alles. Als ich die Zeitung auf den Cafehaustisch niederlegte, dachte ich darüber nach, daß der Kassierer, mit dem ich oberflächlich bekannt bin, der alle Tage wie auch heute wieder an einem Ecktisch im Hintergrund zu Mittag ißt, innerhalb seiner Sphäre dasselbe von sich behaupten könnte. Alles was der Millionär gehabt hat, hat auch dieser Mann gehabt; in geringerem Maße, das ist wahr, aber doch eben seiner Statur angemessen. Die beiden Männer haben dasselbe erreicht, und auch in ihrer Berühmtheit besteht kein Unterschied, denn auch darin stellt der Unterschied der Umgebung die Identität her. Es ist niemand auf der Welt, der nicht den Namen des amerikanischen Millionärs kennen würde; aber es gibt auch niemanden in der ganzen Kaufmannschaft von Lissabon, der nicht den Namen des Mannes kennen würde, der hier zu Mittag ißt. Die beiden Männer haben letztlich alles erreicht, was die Hand erreichen kann, wenn man den Arm ausstreckt. Ihre Arme waren verschieden lang; in allem übrigen waren sie gleich. Ich habe es nie fertiggebracht, diese Art von Menschen zu beneiden. Ich habe stets gefunden, daß die Kunst darin besteht, das zu erreichen, was man nicht erreichen kann, zu leben, wo man sich nicht befindet, nach seinem Tode lebendiger zu sein als im Leben, kurz, etwas Schwieriges, ja Absurdes zu erreichen, die Wirklichkeit der Welt wie Hindernisse zu überwinden. Wenn man mir sagen würde, das Vergnügen, zu überdauern, wenn man nicht mehr existiert, sei null und nichtig, so würde ich erstens antworten, daß ich nicht weiß, ob es so ist oder nicht, denn ich weiß über das menschliche Überleben nicht mit Gewißheit Bescheid; ferner würde ich antworten, daß das Vergnügen am künftigen Ruhm ein gegenwärtiges Vergnügen ist — nur der Ruhm als solcher gehört der Zukunft an. Und es ist ein Vergnügen des Stolzes, das kein materieller Besitz zu vermitteln vermag. Es mag illusorisch sein, aber, es sei wie es sei, es ist umfassender als das Vergnügen, nur das zu genießen, was hier ist. Der amerikanische Millionär kann nicht hoffen, daß die Nachwelt seine Ge-
dichte würdigen wird, weil er keine geschrieben hat; der hiesige Kassierer kann nicht annehmen, daß sich die Nachwelt an seinen Gemälden ergötzen wird, weil er keine gemalt hat. Ich jedoch, der in diesem Leben ein Nichts ist, kann die Aussicht auf die Zukunft genießen, indem ich diese Seite überlese, denn ich schreibe sie wirklich nieder; ich kann wie auf einen Sohn auf den Ruhm stolz sein, den ich erlangen werde, denn zumindest besitze ich etwas, womit ich ihn erlangen kann. Und wenn ich daran denke und vom Tisch aufstehe, erhebt sich meine unansehnliche Statur voll innerer Majestät über Detroit, Michigan und die gesamte Kaufmannschaft von Lissabon. Ich muß freilich feststellen, daß ich eingangs ganz anderen Überlegungen nachging. Eingangs dachte ich über das wenige nach, das jemand im Leben darstellen muß, wenn er überleben soll. Die eine Überlegung ist so viel wert wie die andere, denn beide sind die gleichen. Der Ruhm ist keine Medaille, sondern ein Geldstück: auf der einen Seite zeigt es die Figur, auf der anderen die Wertangabe. Für die höheren Werte gibt es keine Geldstücke: sie bestehen aus Papiergeld, und dieser Wert ist immer wenig. Mit dieser metaphysischen Psychologie trösten sich schlichte Geister wie ich.
Der Mensch darf sein eigenes Gesicht nicht sehen können. Das ist das Allerschlimmste. Die Natur verlieh ihm die Gabe, sein Gesicht ebenso wie seine eigenen Augen nicht ansehen zu können. Nur im Wasser der Flüsse und Seen konnte er sein Antlitz erblicken. Und die Stellung, die er dabei einnehmen mußte, war symbolisch. Er mußte sich bücken, sich niederbeugen, um die Schmach zu begehen, sich anzuschauen. Der Schöpfer des Spiegels hat die menschliche Seele vergiftet.
Die gemeinste aller Notwendigkeiten — die vertrauliche Mitteilung, das Geständnis. Es ist die Notwendigkeit der Seele, sich nach außen zu stülpen.
Bekenne, warum nicht, aber bekenne nur, was du nicht fühlst! Befreie deine Seele, warum nicht, von der Last ihrer Geheimnisse, indem du sie aussprichst; aber wie gut, daß du das Geheimnis, das du preisgibst, niemals ausgesprochen hattest. Belüge dich lieber selbst als diese Wahrheit mitzuteilen! Sich ausdrücken heißt immer irren. Sei dir stets bewußt: sich ausdrücken bedeute für dich nichts anderes als lügen.
Die Untätigkeit tröstet über alles hinweg. Nicht handeln gibt uns alles. Phantasieren ist alles, sofern es nicht zum Handeln tendiert. Niemand kann König der Welt sein, es sei denn im Traum. Und jeder von uns, wenn er sich wirklich kennt, will König der Welt sein. Nicht zu sein, obwohl man daran denkt, bedeutet den Thron. Nicht zu wollen, obwohl man es wünscht, bedeutet die Krone. Wir besitzen das, wovon wir abdanken, weil wir es im Traum unberührt bewahren.
Die Freiheit ist die Möglichkeit zur Isolierung. Du bist frei, wenn du dich von den Menschen entfernen kannst, ohne daß dich die Notwendigkeit des Gelderwerbs, der Herdentrieb, die Liebe, der Ruhm oder die Neugier, die in Stille und Einsamkeit keine Nahrung finden können, zu ihnen treiben. Wenn es dir unmöglich ist, allein zu leben, bist du als Sklave auf die Welt gekommen. Du kannst alle Größe des Geistes besitzen und alle Größe der Seele: du bist ein armer Sklave oder ein intelligenter Sklave: nur frei bist du nicht. Und die Tragödie liegt nicht bei dir, denn die Tragödie, so auf die Welt gekommen zu sein, liegt allein beim Schicksal. Wehe dir jedoch, wenn allein der Druck des Lebens dich zwingt, Sklave zu sein. Wehe dir, wenn dich die Not, obwohl du frei geboren bist und fähig, dir zu genügen und dich abzusondern, zum Zusammenleben zwingt. Das, ja, das ist deine Tragödie, die du mit dir führst. Frei geboren zu werden macht die Große des Menschen aus, macht den demütigen Eremiten den Königen und den Göttern
selber überlegen, die sich in ihrer Kraft genug sind, aber nicht in der Verachtung dieser Kraft. Der Tod ist eine Befreiung, denn sterben heißt niemand anders mehr benötigen. Der arme Sklave sieht sich zwangsweise befreit von seinen Vergnügungen, seinem Kummer, seinem erwünschten Routineleben. Frei sieht sich auch der König von seinen Besitzungen, die er nicht aufgeben wollte. Diejenigen, die Liebe verschwendeten, sehen sich frei von den Triumphen, die ihr ein und alles waren. Die Siegreichen sehen sich frei von den Siegen, zu denen ihr Leben bestimmt war. Deshalb adelt der Tod, er hüllt den armen absurden Leib in eine unbekannte Galakleidung ein. Dort liegt jetzt ein Befreiter, auch wenn er gar nicht befreit werden wollte. Dort liegt nun kein Sklave mehr, auch wenn er seine Sklaverei unter Tränen verloren hat. Wie ein König, dessen größten Prunk sein Königsname darstellt und der, mag er als Mensch gleich lächerlich sein, als König überlegen ist, so kann der Tote mißgestalt sein, aber er ist überlegen, weil der Tod ihn befreit hat. Ermüdet schließe ich die Fensterflügel, ich schließe die Welt aus und erlebe für einen Augenblick die Freiheit. Morgen werde ich wieder Sklave sein; jetzt jedoch, mit mir allein, ohne irgendjemanden nötig zu haben, nur befürchtend, daß irgendjemandes Stimme oder Gegenwart mich stören könnte, erlebe ich meine kleine Freiheit, meine Augenblicke »in excelsis«. Auf dem Stuhl, in den ich mich zurücklehne, vergesse ich das mich bedrückende Leben. Es schmerzt mich nur, daß es mich geschmerzt hat.
Geld ist schön, weil es eine Befreiung bedeutet. Nach Peking reisen und dort sterben wollen und das nicht zu können, gehört zu den Dingen, die auf mir lasten, wie die Idee einer künftigen Weltkatastrophe. Die Käufer unnützer Dinge sind klüger als sie selbst meinen — sie kaufen kleine Träume. Beim Ankauf sind sie Kinder. Alle kleinen nutzlosen Gegenstände, deren Wink sie zum Kauf veranlaßt hat, besitzen sie in der glücklichen Haltung eines Kindes, das
Muscheln am Strand aufliest — ein Bild, das mehr als irgendein anderes das ganze mögliche Glück enthält. Muscheln am Strand auflesen! Niemals sind für das Kind zwei Muscheln gleich. Es schläft ein mit den beiden schönsten in der Hand, und wenn es sie verliert oder wenn man sie ihm wegnimmt — was für ein Verbrechen! ihm Teile der Seele zu rauben! ihm Teile seines Traums zu rauben! — weint es wie ein Gott, dem man sein eben geschaffenes Universum wegnimmt.
Litanei Wir verwirklichen uns nie. Wir sind zwei Abgründe — ein Brunnen, der den Himmel anstarrt.
Omar Khayyam Der Lebensüberdruß Khayyams ist nicht der Überdruß jemandes, der nicht weiß, was er tun soll, weil er wirklich nichts tun kann oder zu tun versteht. Dies ist der Überdruß derjenigen, die tot auf die Welt gekommen sind und derer, die sich legitim auf Morphium oder Kokain einrichten. Der Überdruß des persischen Weisen ist tiefer und edler. Es ist der Überdruß jemandes, der klar gedacht und festgestellt hat, daß alles dunkel ist; der alle Religionen und alle Philosophien überdacht und dann wie Salomon gesprochen hat: »Ich habe gesehen, daß alles Eitelkeit und Anfechtung des Geistes gewesen ist . . .« Oder wie ein anderer König, der Kaiser war, Septimius Severus, gesagt hat, als er sich von der Macht und von der Welt verabschiedete: »Omnia fui, nihil. . .« »Ich bin alles gewesen; nichts lohnt die Mühe.« Das Leben, hat Tarde gesagt, ist die Suche nach dem Unmöglichen durch das Nutzlose hindurch; so könnte auch Omar Khayyam gesprochen haben, wenn er so gesprochen hätte.
Deshalb der ständige Hinweis des Persers auf den Genuß des Weins. Trink! Trink! lautet seine ganze praktische Philosophie. Das ist kein freudiges Trinken, das trinkt, damit noch mehr Freude aufkomme, damit sie noch mehr sie selber werde. Es ist auch kein verzweifeltes Trinken, das trinkt, um zu vergessen, um weniger verzweifelt zu sein. Zum Wein gehören Freude und Handeln und Liebe, und es fällt auf, daß bei Khayyam kein energisches Wort, kein liebevoller Satz zu finden ist. jene Saki, deren graziöse Gestalt in den Rubayat undeutlich aufscheint (selten aufscheint!), ist nur »das Mädchen, das den Wein kredenzt.« Der Dichter ist ihrer Schlankheit dankbar, wie er der schlanken Amphore dankbar war, in welcher der Wein enthalten war. Die Freude spricht vom Wein wie der Dekan Aldrich*: [Si bene quid memini, sunt causae quinque bibendi: Hospitis adventus, praesens sitis atque futura, Aut vini bonitas, aut quaelibet altera causa!] Die praktische Philosophie Khayyams schrumpft mithin zu einem sanften Epikureertum ein, das sich bis zu dem Minimum des Wunsches nach Vergnügen verflüchtigt hat. Es genügt ihm, Rosen anzuschauen und Wein zu trinken. Eine leichte Brise, ein Gespräch ohne Absicht oder Plan, einen Becher voller Wein, dazu Blumen, darin und in nichts weiter gipfelt der höchste Wunsch des persischen Weisen. Die Liebe erregt und ermüdet, das Handeln verzettelt und geht fehl, niemand gelangt zum Wissen, und das Denken färbt alles trübe. Besser ist es daher, unser Wünschen und Hoffen einzustellen, den vergeblichen Anspruch, die Welt erklären zu wollen und das törichte Vorhaben, zu verbessern oder zu regieren, fahren zu lassen. Alles ist nichts oder, wie es in der griechischen Anthologie heißt: »Alles kommt aus der Unvernunft«, und es ist ein Grieche und also ein rationaler Mensch, der das sagt.
* Dekan Aldrich, englischer Humanist und Vizekanzler der Universität Oxford (17. Jhdt.). (A. d. Ü.)
Wir werden gleichgültig bleiben für Wahrheit oder Lüge aller Religionen, aller Philosophien, aller umsonst nachprüfbaren Hypothesen, die wir Wissenschaften nennen. Ebensowenig wird uns das Schicksal der sogenannten Menschheit kümmern, das, was sie in ihrer Gesamtheit erleidet oder nicht erleidet. Karitas, gewiß, dem »Nächsten« gegenüber, wie es im Evangelium heißt, nicht dem Menschen gegenüber, von dem darin nicht die Rede ist. Irgendwie sind wir alle so: Was geht uns, die Besten unter uns, ein Massaker in China an? Schmerzlicher berührt uns, den Phantasievollsten unter uns, die ungerechte Ohrfeige, die man vor unseren Augen auf der Straße einem Kind gegeben hat. Karitas für alle, Intimität für niemanden. So interpretiert Fitzgerald, der englische Übersetzer, an einer Stelle seiner Anmerkungen die ethische Haltung Khayyams. Das Evangelium empfiehlt die Liebe zum Nächsten: es empfiehlt nicht Liebe zum Menschen oder zur Menschheit, um die sich wirklich niemand kümmern kann. Man wird vielleicht wissen wollen, ob ich mir die Philosophie Khayyams zu eigen mache, so wie ich sie hier, ich glaube zutreffend, von neuem darstelle und auslege. Ich antworte, ich weiß es nicht. Es gibt Tage, an denen sie mir als die beste und sogar als die einzige aller praktsichen Philosophien erscheint. Es gibt andere Tage, an denen sie mir nichtig, tot und nutzlos vorkommt wie ein leeres Glas. Ich kenne mich nicht, weil ich denke. Ich weiß daher nicht, was ich tatsächlich denke. Es wäre nicht so, wenn ich ein gläubiger Mensch wäre; aber es wäre ebenfalls nicht so, wenn ich verrückt wäre. In Wahrheit würde ich ein anderer sein, wenn ich ein anderer wäre. Jenseits dieser Dinge der profanen Welt gibt es, das ist richtig, die Geheimlehren der Initiationsorden, die offenkundig sind, wenn sie geheim sind, und verhüllt, wenn öffentliche Rituale sie zur Darstellung bringen. Es gibt Okkultes oder Halb-Okkultes in den großen katholischen Riten, im Marienritus der Römischen Kirche oder in der Zeremonie des Geistes in der Freimaurerei. Doch wer sagt uns letztlich, ob der Eingeweihte, wenn er sich im Innersten der Geheimnisse auskennt, mehr ist als die geizige Beute eines neuen Gesichtes der Illusion? Was hat er für eine
Gewißheit, wenn ein Verrückter seiner Verrücktheit sicherer sein kann als er? Spencer hat gesagt, unser Wissen sei eine Sphäre, die, je mehr sie sich erweitere, an desto mehr Stellen das berühre, was wir nicht wissen. Auch gehen mir bei diesen Anmerkungen über Ein weih ungsriten die schrecklichen Worte eines Meisters der Magie nicht aus dem Sinn: »Ich habe Isis gesehen«, sagt er, »ich habe Isis schon angerührt: dennoch weiß ich nicht, ob sie existiert.« Der persische Dichter ist ein Meister der Trostlosigkeit und der Enttäuschung.
Mehr als einmal hat mich, wenn ich gemächlich durch die abendlichen Straßen spazierte, die höchst befremdliche Gegenwart der Organisation der Dinge mit bestürzender Gewalt in der Seele getroffen. Es sind nicht so sehr die Dinge der Natur, die mich so sehr beeindrucken, die mir so mächtig diese Empfindung vermitteln: Eher sind es die Straßenzüge, die Schilder, die gekleideten und redenden Menschen, die Arbeitsplätze, die Zeitungen, die Intelligenz all dieser Phänomene. Oder besser gesagt die Tatsache, daß es Straßenzüge, Schilder, Arbeitsplätze, Menschen und Gesellschaft gibt, und alles verständigt sich miteinander, folgt bekannten Wegen und erschließt neue. Ich betrachte mir den Menschen und stelle fest, daß er so unbewußt lebt wie ein Hund oder eine Katze; er hat die Gabe der Sprache dank einer Unbewußtheit anderer Ordnung; er organisiert sich in Gesellschaften infolge einer Unbewußtheit anderer Ordnung, die derjenigen der Ameisen und Bienen gänzlich unterlegen ist. Und dann erstaunt mich mehr als die Existenz von Organismen, mehr als die Existenz strenger physikalischer Gesetze die welterschaffende und weltdurchdringende Intelligenz. Dann beeindruckt mich, immer wenn ich so fühle, der alte Satz irgendeines Scholastikers: Deus est anima brutorum, Gott ist die Seele der Tiere. So wollte der Urheber dieses wunderbaren Satzes die Sicherheit erklären, mit welcher der Instinkt die niederen Lebewesen leitet, an denen man keine Intelligenz oder doch kaum
mehr als einen Ansatz zur Intelligenz wahrnehmen kann. Doch wir alle sind niedere Lebewesen — sprechen und denken sind nur neue Instinkte, weniger sicher als die übrigen, weil sie neu sind. Und den Satz des Scholastikers, der so richtig ist in seiner Schönheit, kann man erweitern, und so sage ich: Gott ist die Seele von allem. Ich habe nie begriffen, daß jemand, der einmal das große Faktum der universalen Uhrmacherei in Betracht gezogen hat, den Uhrmacher leugnen kann, dem selbst Voltaire nicht ungläubig gegenüberstand. Ich begreife wohl, daß man, wenn man gewisse scheinbar von einem Plan abweichende Fakten überdenkt (aber man müßte den Plan kennen, um zu wissen, ob es sich wirklich um Abweichungen handelt) dieser höchsten Intelligenz ein Element der Unvollkommenheit zuschreiben kann. Ich verstehe das, auch wenn ich es nicht akzeptieren kann. Ich verstehe auch noch, daß man angesichts des Bösen auf der Welt die unendliche Güte dieser schöpferischen Intelligenz nicht akzeptieren kann. Ich verstehe das, auch wenn ich es ebenfalls nicht akzeptieren kann. Daß man aber die Existenz dieser Intelligenz, also Gottes, leugnet, scheint mir eine jener Dummheiten zu sein, die sooft Menschen zu schaffen machen, die in allem übrigen überlegen sein können; wie denjenigen, die sich immer beim Addieren irren oder denjenigen, die nichts mit Musik oder Malerei oder Dichtung anfangen können. Ich akzeptiere, sagte ich, weder das Argument vom unvollkommenen Uhrmacher noch das vom Uhrmacher ohne Güte. Ich akzeptiere das Argument vom unvollkommenen Uhrmacher nicht, weil die Einzelheiten der Weltregierung und -einrichtung, die uns als Fehler oder Unsinn erscheinen, nicht wahrhaft als solche ausgegeben werden können, ohne daß wir den Gesamtplan kennen. Wir erkennen deutlich in allem einen Plan; wir bemerken gewisse Dinge, die uns sinnlos vorkommen, aber es bleibt doch zu bedenken, daß es dafür, wenn es in allem übrigen einen Grund gibt, es auch dafür denselben Grund geben wird, den es in allem gibt. Wir sehen den Grund, jedoch nicht den Plan; wie können wir also sagen, daß gewisse Dinge außerhalb des Plans liegen, von dem wir nicht wissen, wie er beschaffen ist? So wie ein Dichter
subtiler Rhythmen einen unrhythmischen Vers zu rhythmischen Zwecken einschalten kann, das heißt zu dem gleichen Zweck, von dem er sich zu entfernen scheint, und ein Kritiker, puristisch eher auf die Gleichförmigkeit als auf den Rhythmus bedacht, diesen Vers irrtümlich als verfehlt bezeichnen kann, so kann auch der Schöpfer das einschieben, was unsere enge Vernunft(?) als Arhythmien im majestätischen Verlauf seines metaphysischen Rhythmus ansieht. Ich akzeptiere nicht, sagte ich, das Argument vom Uhrmacher ohne Güte. Ich räume ein, daß es ein Argument ist, auf das zu antworten schwieriger ist, aber es ist das nur dem Schein nach. Wir können behaupten, daß wir nicht recht wissen, was das Böse sei und deshalb nicht feststellen können, ob eine Sache gut oder böse sei. Sicher ist indessen, daß ein Schmerz, auch wenn er zu unserem Guten vorhanden ist, an sich selbst ein Übel ist, und das genügt, damit es Böses auf der Welt gibt. Es genügt ein Zahnschmerz, um an der Güte des Schöpfers zu verzweifeln. Nun, der wesentliche Irrtum dieses Arguments scheint in unserer vollständigen Unkenntnis des göttlichen Plans zu liegen und unserer Unkenntnis dessen, was das geistig Unendliche als intelligente Person sein mag. Die Existenz des Bösen ist eines, die Ursache für seine Existenz ein anderes. Die Unterscheidung ist vielleicht derart subtil, daß sie als sophistisch erscheinen mag, aber sicher ist, daß sie richtig ist. Die Existenz des Bösen kann nicht abgestritten werden, doch die Bosheit der Existenz des Bösen kann man nicht akzeptieren. Ich muß bekennen, daß das Problem weiterbesteht, aber es besteht weiter, weil unsere Unvollkommenheit weiterbesteht.
6.4.1930
Das Ambiente ist die Seele der Dinge. Jedes Ding hat seinen eigenen Ausdruck, und dieser Ausdruck kommt ihm von außen zu. Jedes Ding ist der Schnittpunkt von drei Linien, und diese drei Linien machen die Sache aus: eine Quantität Materie, die Art, wie
wir sie interpretieren, und das Ambiente, in dem sie sich befindet. Dieser Tisch, an dem ich eben schreibe, ist ein Stück Holz, ist ein Tisch und ein Möbelstück unter anderen in diesem Zimmer. Mein Eindruck von diesem Tisch muß, wenn ich ihn umschreiben will, aus den Feststellungen zusammengesetzt sein, daß er aus Holz ist, daß ich das Holz einen Tisch nenne und ihm einen gewissen Gebrauch und Zweck zuschreibe und daß sich auf ihm die Gegenstände, in deren Überschichtung er seine äußere Seele findet samt dem, was auf ihm abgelegt wurde, widerspiegeln, in ihn eingehen und ihn verwandeln. Und die Farbe selbst, in der er gestrichen wurde, das Verblassen dieser Farbe, seine Flecken und Risse — all dies, wohlgemerkt, ist ihm von außen zugekommen, und das ist es, was ihm mehr als seine Essenz aus Holz die Seele verleiht. Und das Innere dieser Seele, sein Tischsein, wurde ihm ebenfalls von außen verliehen, nämlich seine Persönlichkeit. Ich meine daher, daß kein menschlicher oder literarischer Irrtum vorliegt, wenn man den Dingen, die wir unbelebt nennen, eine Seele zuschreibt. Ein Ding sein heißt Gegenstand einer Zuschreibung sein. Es mag falsch sein zu sagen, daß ein Baum fühlt, daß ein Fluß »dahinläuft«, daß ein Sonnenuntergang schmerzlich ist oder das stille Meer (blau dank einem Himmel, der nichts mit ihm zu tun hat) lächelt (weil außerhalb des Meeres die Sonne scheint). Doch ein gleicher Irrtum ist es, irgendeinem Ding Schönheit zuzuschreiben. Ein gleicher Irrtum ist es, irgendeinem Ding Farbe, Form und womöglich sogar Sein zuzuschreiben. Dieses Meer ist Salzwasser. Dieser Sonnenuntergang heißt, daß das Sonnenlicht auf diesem Breiten- und Längengrad zu fehlen beginnt. Dieses Kind, das vor mir spielt, ist eine geistige Anhäufung von Zellen — mehr, es ist ein Uhrwerk subatomarer Bewegungen, eine merkwürdige elektrische Konglomeration von Millionen Sonnensystemen in kleinster Miniaturausgabe. Alles kommt von außen, und die menschliche Seele selbst ist vielleicht nicht mehr als der Sonnenstrahl, der glänzt und vom Boden isoliert, auf welchem der Misthaufen liegt, der unser Körper ist. In diesen Überlegungen steckt möglicherweise eine ganze Philosophie für jemanden, der die Kraft haben könnte, Schlußfolge-
rungen zu ziehen. Ich habe sie nicht, mir kommen nur vage Gedanken an logische Möglichkeiten, und alles verflüchtigt sich mir zu der Vision von einem Sonnenstrahl, der Mist wie dunkles, feucht zusammengepreßtes Stroh vergoldet und nicht als nahezu schwarzes Erdreich neben einer Mauer aus Felsgestein weiterbestehen läßt. So bin ich. Wenn ich denken will, sehe ich. Wenn ich in meine Seele hinabsteigen will, bleibe ich plötzlich selbstvergessen zu Beginn der Treppenspirale in die Tiefe stehen und erblicke durch das Fenster des hohen Stockwerks die Sonne, die mit ihrem Abschiedsrot die weite Landschaft der Dächer durchtränkt.
6.5.1930
Die Metaphysik ist mir immer als eine verlängerte Form von latentem Wahnsinn erschienen. Wenn wir die Wahrheit kennten, würden wir sie sehen; alles übrige ist System und Drumherum. Wenn wir denken, muß uns die Unverständlichkeit des Weltalls genügen; es verstehen zu wollen heißt, unser Menschentum ablegen, weil Mensch sein wissen heißt, daß man nicht verstehen kann. Man bringt mir den Glauben wie ein verschnürtes Bündel auf einem fremden Tablett. Man möchte, daß ich ihn annehmen, aber nicht öffnen soll. Man bringt mir die Wissenschaft wie ein Messer auf einem Teller, mit welchem ich die Blätter eines Buches mit weißen Seiten aufschneiden werde. Man bringt mir den Zweifel wie Staub in einer Schachtel; doch wozu bringt man mir die Schachtel, wenn in ihr nur Staub ist? In Ermangelung von Wissen schreibe ich; und ich benutze die großen fremden Begriffe der Wahrheit gemäß den Anforderungen der Gefühlsbewegung. Wenn die Gefühlsbewegung klar und schicksalhaft ist, spreche ich ganz selbstverständlich voa den GÖTTERN, und so passe ich die Emotion in mein Bewußtsein von der Vielfältigkeit der Welt ein. Wenn die Gefühlsbewegung tief ist, spreche ich ganz selbstverständlich von Gott, und so fasse ich sie in ein einziges Bewußtsein. Ist die Gefühlsbewegung ein
Gedanke, spreche ich ganz selbstverständlich vom Schicksal, und so lasse ich sie fließen wie einen Fluß, der Sklave seines eigenen Bettes ist. Einige Male wird der Satzrhythmus selbst das Wort Götter und nicht Gott verlangen; ein andermal werden sich die beiden Silben »Götter« aufdrängen, und mit den Worten wechsle ich das Weltall; ein andermal wird im Gegensatz dazu die Notwendigkeit eines inneren Reimes ins Gewicht fallen, eine Verlagerung des Rhythmus, ein Erschrecken des Gefühls, und dementsprechend kommen Polytheismus oder Monotheismus zum Zuge und werden entsprechend bevorzugt. Die Götter sind eine Funktion des Stils.
3.3.1931
Viele Leute haben den Menschen zu definieren versucht und im allgemeinen hat man ihn im Kontrast zu den Tieren definiert. Deshalb ist bei den Definitionen des Menschen der Gebrauch des Satzes »der Mensch ist ein Tier . . .« plus ein Adjektiv häufig oder »der Mensch ist ein Tier, das . . .« und dann kommt das, was man zu seiner näheren Bestimmung sagen will. »Der Mensch ist ein krankes Tier«, hat Rousseau gesagt, und zum Teil trifft das zu. »Der Mensch ist ein vernünftiges Tier«, sagt die Kirche, und zum Teil ist es wahr. »Der Mensch ist ein Tier, das Werkzeuge benutzt«, sagt Carlyle, und auch das stimmt zum Teil. Doch diese Definitionen und andere ähnliche bleiben immer unvollkommen und gehen an der Sache vorbei. Und der Grund dafür ist sehr einfach: es ist nicht leicht, den Menschen von den Tieren zu unterscheiden; es gibt kein sicheres Kriterium, um den Menschen von den Tieren zu unterscheiden. Das Leben der Menschen läuft in der gleichen inneren Unbewußtheit ab wie das Leben der Tiere. Dieselben tiefen Gesetze, welche die Instinkte der Tiere von außen steuern, regieren — ebenfalls von außen — die Intelligenz des Menschen, die nichts anderes zu sein scheint als ein in Ausbildung befindlicher Instinkt, unbewußt wie jeder Instinkt und weniger vollkommen, weil noch nicht fertig ausgebildet.
»Alles kommt von der Unvernunft«, heißt es in der griechischen Anthologie. Und wirklich, alles rührt von der Unvernunft her. Abgesehen von der Mathematik, die es nur mit toten Zahlen und leeren Formeln zu tun hat und deshalb vollkommen logisch sein kann, ist die Wissenschaft nur ein Spiel von Kindern in der Dämmerstunde, die Schatten von Vögeln einfangen und Schatten von Gräsern im wehenden Wind anhalten wollen. Es ist seltsam und merkwürdig, daß es, obwohl man nicht leicht Worte findet, mit denen man den Unterschied zwischen Mensch und Tier definieren kann, gleichwohl leicht ist, eine Art und Weise zu finden, um den höheren Menschen vom durchschnittlichen abzuheben. Nie habe ich den Satz des Biologen Haeckel vergessen, den ich in der Kindheit der Intelligenz gelesen habe, wenn man sich mit populärwissenschaftlichen Werken und den Argumenten gegen die Religion befaßt. Der Satz lautet so oder fast so: sehr viel weiter sei der höhere Mensch (ein Kant oder ein Goethe, sagt er, wenn ich mich recht entsinne) vom durchschnittlichen entfernt als der Durchschnittsmensch vom Affen. Diesen Satz habe ich nie vergessen, weil er stimmt. Zwischen mir, der ich nur wenig bedeute in der Ordnung der denkenden Wesen, und einem Bauern aus Loures besteht ohne Zweifel ein größerer Unterschied als zwischen diesem Bauern und ich möchte nicht einmal sagen einem Affen, sondern einer Katze oder einem Hund. Keiner von uns, von der Katze bis zu mir, führt in der Tat das Leben, das ihm auferlegt wurde, oder erlebt das Schicksal, das ihm zugewiesen ist; wir sind alle gleichermaßen Derivate von etwas anderem, Schatten von Gesten, die jemand anderes vollführt, verkörperte Wirkungen, fühlende Folgerungen. Doch zwischen mir und dem Bauern gibt es einen Qualitätsunterschied, der von der Existenz des abstrakten Denkens und der interesselosen Gefühlsregung in mir herrührt; und zwischen ihm und der Katze besteht im Geiste nicht mehr als ein Gradunterschied. Der höhere Mensch unterscheidet sich vom niederen Menschen und von den Tieren, seinen Brüdern, durch die einfache Eigenschaft der Ironie. Die Ironie ist das erste Anzeichen dafür, daß das Bewußtsein bewußt geworden ist. Und die Ironie durchläuft zwei
Stadien: das nach Sokrates benannte Stadium, als er sagte: »Ich weiß, daß ich nichts weiß« und das nach Sanches benannte Stadium, als er sagte: »Ich weiß nicht einmal, ob ich nichts weiß.« Der erste Schritt gelangt an jenen Punkt, an dem wir dogmatisch an ihm zweifeln, und jeder höhere Mensch vollzieht ihn und erreicht ihn. Der zweite Schritt gelangt an jenen Punkt, an dem wir an uns und unserem Zweifel zweifeln, und nur wenige Menschen haben ihn in der kurzen, aber dennoch so langen Zeit vollzogen, innerhalb derer wir, die Menschheit, Sonne und Nacht auf der mannigfaltigen Oberfläche der Erde erblickt haben. Sich kennen heißt irren, und das Orakel, das da gesagt hat: »Erkenne dich selbst!« hat dem Menschen eine größere Aufgabe zugewiesen als die Arbeiten des Herkules und ein schwärzeres Rätsel aufgegeben als das der Sphinx. Sich bewußt verkennen, das ist der Weg. Und sich bewußt verkennen ist tätige Anwendung der Ironie. Ich kenne nichts Größeres, nichts, was dem Menschen, der wahrhaft groß ist, eigentümlicher wäre als die geduldige, ausdrucksstarke Analyse der Art und Weise dieses Uns-Verkennens, die bewußte Aufzeichnung der Unbewußtheit unseres Bewußtseins, die Metaphysik der autonomen Schatten, die Poesie der Dämmerung der Enttäuschung. Doch immer täuscht uns etwas, immer stumpft jedwede Analyse ab, immer liegt die Wahrheit, auch wenn sie falsch ist, jenseits der anderen Straßenseite. Und das ist es, was mehr schmerzt als das Leben, wenn es ermüdet, und mehr als alles Erkennen und das Nachdenken über das Leben, die nie aufhören zu ermüden. Ich erhebe mich von dem Stuhl, auf dem ich mich, zerstreut auf den Tisch gelehnt, damit unterhalten habe, mir diese regellosen Eindrücke zu erzählen. Ich erhebe mich, ich erhebe den Körper auf ihn selber und trete ans Fenster hoch über den Dächern, von wo aus ich sehen kann, wie die Stadt schlafen geht in der beginnenden Stille. Der Mond erhellt groß, weiß und traurig das eingeebnete Häusermeer. Und der Mond scheint mit seiner Kühle das ganze Geheimnis der Welt zu erleuchten. Er scheint alles zu zeigen: und alles ist Schatten mit wenig Licht untermischt, falsche Zwischenräume, absurde unterschiedliche Ebenen, Zusammenhanglosigkeit des Sichtbaren. Es geht keine Brise, und es scheint,
daß das Geheimnis größer wird. Ich spüre Ekel im abstrakten Denken. Nie werde ich eine Seite schreiben, die mich oder irgend etwas enthüllen wird. Eine leichte Wolke schwebt verschwommen über dem Mond, wie ein Versteck. Ich weiß von nichts, wie diese Dächer. Ich bin gescheitert wie die ganze Natur.
8.4.1931
Trostlos eintönige Wolken begleiteten den ganzen Tag, und mich beschäftigten die Nachrichten, es sei eine Revolution im Gange. Diese Nachrichten erfüllen mich, einerlei, ob sie falsch oder richtig sind, immer mit einem besonderen Unbehagen, mit einem Gemisch aus Verachtung und körperlichem Ekel. Es schmerzt meine Intelligenz, daß da jemand meinen kann, er ändere etwas, indem er sich gebärdet. Gewalt, sie sei welcher Art auch immer, war für mich immer eine besonders auffällige Form von menschlicher Dummheit. Außerdem sind alle Revolutionäre Dummköpfe, ebenso wie es, in geringerem Grad, weil weniger unbequem, alle Reformer sind. Revolutionär oder Reformer — der Irrtum ist der gleiche. Unvermögend, die eigene Haltung dem Leben gegenüber, das alles ist, oder dem eigenen Sein gegenüber, das fast alles ist, beherrschen oder verbessern zu können, geht der Mensch dazu über, die Mitmenschen und die Außenwelt verändern zu wollen. Jeder Revolutionär, jeder Reformer ist ein auf Abwege Geratener. Kämpfen bedeutet, außerstande zu sein, sich selbst zu bekämpfen. Reformieren heißt, selbst nicht besserungsfähig zu sein. Der wahrhaft sensible und wahrhaft vernünftige Mensch versucht naturgemäß, wenn ihm das Böse und die Ungerechtigkeit auf der Welt zu schaffen machen, zuerst im Nächstliegenden Besserung zu schaffen, und das findet er in seinem eigenen Wesen. Diese Bemühung kann ihn das ganze Leben hindurch beschäftigen. Für uns hängt alles von unserer Weltauffassung ab; unsere Weltauffassung verändern heißt für uns die Welt verändern, und das heißt die Welt überhaupt ändern, denn sie wird für uns
niemals etwas anderes sein außer dem, was sie für uns ist. Jene innere Gerechtigkeit, mit deren Hilfe wir eine flüssige schöne Seite niederschreiben, jene wahre Reform, dank welcher wir unsere abgestorbene Sensibilität wieder lebendig werden lassen — das ist die Wahrheit, unsere Wahrheit, die einzige Wahrheit. Das übrige, was auf der Welt vorhanden ist, ist nur Landschaft, ein Rahmen, der unsere Empfindungen einfaßt, ein Einband dessen, was wir denken. Und Landschaft ist sowohl die farbige Landschaft der Dinge und der Wesen — Felder, Häuser, Plakate und Trachten — als auch die farblose Landschaft der eintönigen Seelen, die für einen Augenblick mit altertümlichen und verbrauchten Gesten an die Oberfläche steigt und dann wieder absinkt auf den Grund der fundamentalen Torheit der menschlichen Ausdrucksweise. Revolution? Veränderung? Ich will nur, daß die trägen Wolken verschwinden sollen, die den Himmel grau einseifen; ich will, daß die Bläue zwischen ihnen hervortritt, eine sichere und klare Wahrheit, weil sie nichts ist und auch nichts verlangt.
13.12.1932
Seit ich nachdenke und nach dem Maße meiner Kräfte beobachte, habe ich bemerkt, daß die Menschen in nichts die Wahrheit wissen oder übereinstimmen, was im Leben wesentlich oder nützlich wäre. Die genaueste Wissenschaft ist die Mathematik, die in der Abgeschlossenheit ihrer eigenen Regeln und Gesetze lebt; sicherlich dient sie, um angewandt andere Wissenschaften zu erhellen, aber sie erhellt, was diese preisgeben, sie hilft nicht, es zu entdekken. Bei den übrigen Wissenschaften kann nur das als sicher und anerkannt gelten, was für die höchsten Zwecke des Lebens nichts wiegt. Die Physik weiß wohl, welches der Koeffizient der Ausdehnung des Eisens ist; sie weiß nicht, welches die wahre Mechanik der Beschaffenheit der Welt ist. Und je weiter wir emporsteigen in dem, was wir wissen möchten, desto mehr steigen wir in dem, was wir wissen, hinunter. Die Metaphysik, die die Leitwissenschaft sein sollte, weil sie und nur sie es ist, die sich den
höchsten Zwecken der Wahrheit und des Lebens zuwendet, ist keine wissenschaftliche Theorie, sondern nur ein Haufen Ziegelsteine, der in diesen oder in jenen Händen Häuser von keinerlei Gestalt bildet, die kein Mörtel zusammenhält. Ich bemerke auch, daß zwischen dem Leben der Menschen und dem der Tiere kein anderer Unterschied besteht als in der Art und Weise, wie sie sich irren oder verkennen. Die Tiere wissen nicht, was sie tun: sie werden geboren, sie wachsen, sie leben, sie sterben ohne Gedanken, ohne Rückblick oder wahrhafte Zukunft. Wie viele Menschen jedoch leben anders als die Tiere? Wir schlafen alle, und der Unterschied liegt nur in den Träumen und in Grad und Qualität des Träumens. Vielleicht weckt uns der Tod auf, aber darauf gibt es auch keine Antwort; es gibt lediglich die Antwort des Glaubens für den, für den glauben besitzen heißt, der Hoffnung für den, für den wünschen besitzen heißt, und der Liebe für denjenigen, für den geben empfangen heißt. Es regnet an diesem kalten traurigen Winterabend, als ob es so eintönig seit Weltbeginn geregnet hätte. Es regnet und meine Gefühle senken ihren rohen Blick auf den Boden der Stadt, auf dem ein Wasser abläuft, das nichts ernährt, nichts wäscht und nichts erheitert. Es regnet, und ich spüre plötzlich die unermeßliche Bedrückung, ein Tier zu sein, das nicht weiß, was es ist, das Gedanken und Gefühlsregungen erträumt, eingerollt wie in einer Schutzhütte in einer räumlichen Gegend des Seins, zufrieden mit ein bißchen Wärme wie mit einer ewigen Wahrheit.
18.7.1916
Kein Problem findet eine Lösung. Keiner von uns entwirrt den gordischen Knoten; wir alle geben es auf, oder wir schneiden ihn durch. Wir lösen brüsk mit dem Gefühl die Probleme der Intelligenz, und wir tun es entweder aus Denkmüdigkeit oder aus der Scheu heraus, Schlußfolgerungen zu ziehen, oder auch infolge der absurden(?) Notwendigkeit, eine Stütze zu finden oder auf Grund des Herdentriebs, zu den anderen und zum Leben zurückzukehren.
Da wir niemals alle Elemente einer Frage kennen können, können wir sie auch niemals lösen. Um die Wahrheit zu erreichen, fehlen uns Daten, die dafür genügen würden, und geistige Pro2esse, welche die Auslegung dieser Daten erschöpfen würden.
26.7.1934
In jedem Geist, der nicht mißgestaltet ist, existiert der Glaube an Gott. In jedem Geist, der nicht mißgestaltet ist, existiert kein Glaube an einen klar bestimmten Gott. Es ist ein vorhandenes und unmögliches Wesen, das alles lenkt; dessen Person, falls es sie hat, niemand bestimmen kann; dessen Zwecke, falls es solche kennt, niemand begreifen kann. Indem wir es Gott nennen, sagen wir schon alles, weil wir es, da das Wort keinerlei genauen Sinn hat, damit benennen, ohne etwas auszusagen. Die Attribute des Unendlichen, Ewigen, Allmächtigen, Allgerechten oder Allgütigen, die wir ihm zuweilen aufkleben, fallen von selber ab wie alle unnötigen Adjektive, wenn das Substantiv genügt. Und Er, dem wir, weil er Undefiniert ist, keine Attribute beilegen können, ist eben deshalb das absolute Substantiv. Die gleiche Gewißheit und die gleiche Unbestimmtheit herrschen in Bezug auf das Überleben der Seele. Wir alle wissen, daß wir sterben; wir alle fühlen, daß wir nicht sterben werden. Es ist nicht eigentlich ein Wunsch oder eine Hoffnung, die uns diese dunkle Vision bringt, daß der Tod ein Mißverständnis ist: Es ist eine in unserem Inneren angestellte Vernunftüberlegung [. . .]
Nichts ärgert mich so wie die gesellschaftlichen Moralbegriffe. Schon das Wort »Pflicht« ist mir unangenehm wie ein Eindringling. Aber die Begriffe »Bürgerpflicht«, »Solidarität«, »Humanität« und andere desselben Kalibers widern mich an wie Schmutzkübel, die man aus den Fenstern über mich ausgießt. Ich fühle mich beleidigt bei der Unterstellung, daß diese Ausdrücke etwas
mit mir zu tun haben könnten, daß ich ihnen nicht allein einen Wert, sondern gar noch einen Sinn beilegen könnte. Vor kurzem habe ich im Schaufenster eines Spielzeuggeschäfts etwas gesehen, was mich an das Wesen dieser Begriffe erinnerte. Ich sah auf fingierten Tellern fingierte Mahlzeiten für Puppentische. Was soll man dem Menschen, so wie er real vorhanden ist, sinnlich, egoistisch, eitel, ein Freund seiner Mitmenschen, weil er die Gabe der Rede hat, ein Feind seiner Mitmenschen, weil er die Gabe des Lebens hat, was soll man diesem Menschen schenken, womit er, wie mit den sinn- und klangleeren Wörtern, Puppen spielen kann? Das Regieren beruht auf zwei Dingen: zügeln und betrügen. Das Dumme an diesen mit Flitterwerk glitzernden Begriffen ist, daß sie weder zügeln noch betrügen. Sie berauschen höchstens, und das ist etwas anderes. Wenn ich etwas hasse, ist es ein Reformer. Ein Reformer ist ein Mensch, der die oberflächlichen Übelstände der Welt erkennt und sich vornimmt, sie zu heilen, indem er sie fundamental verschlimmert. Der Arzt versucht, den kranken Körper dem gesunden anzupassen; aber wir wissen nicht, was im gesellschaftlichen Leben gesund oder krank ist. Ich kann die Menschheit nur als eine der letzten Schulen der dekorativen Naturmalerei betrachten. Grundsätzlich unterscheide ich einen Menschen nicht von einem Baum; und ganz bestimmt ziehe ich vor, was meine denkenden Augen mehr erheitert, mehr fesselt. Wenn der Baum mich mehr fesselt, bedrückt es mich mehr, daß man den Baum absägt, als daß der Mensch stirbt. Es gibt verblassende Sonnenuntergänge, die mich mehr schmerzen als der Tod von Kindern. In allem bin ich, was nicht fühlt, damit ich es fühlen kann. Fast spüre ich Schuldgefühle, weil ich diese vagen Reflexionen zu dieser Stunde niederschreibe, in der aus den Grenzen des Abends eine farbige leichte Brise aufsteigt. Nicht die Brise nimmt die Farbe an, sondern die Luft, in der sie unbestimmt schwebt; aber da es mir so scheinen will, daß sie selbst sich einfärbt, muß ich eben das zum Ausdruck bringen, denn ich muß notgedrungen aussagen, was ich meine, da ich ich selbst bin.
Ich habe stets einen beinahe körperlichen Ekel vor dem Geheimnisvollen verspürt — vor Intrigen, Diplomatie, Geheimgesellschaften oder Okkultismus. Vor allem haben mich stets die beiden letzteren geärgert — die Anmaßung, die gewisse Menschen hegen, sie kennten dank einem Einvernehmen mit Göttern oder Meistern oder Demiurgen — sie allein unter Ausschluß aller übrigen — die großen Geheimnisse, die das Fundament der Welt bilden. Ich kann nicht glauben, daß dem so ist. Wohl kann ich glauben, daß jemand dieser Ansicht ist. Warum sollten diese Herrschaften nicht alle verrückt oder in einer Täuschung befangen sein? Weil es eine ganze Anzahl von ihnen gibt? Schließlich gibt es auch kollektive Halluzinationen. An diesen Meistern und Kennern des Unsichtbaren beeindruckt mich vor allem, daß sie, wenn sie schreiben, um uns ihre Geheimnisse mitzuteilen oder aufzudringen, allesamt schlecht schreiben. Mich beleidigt die Annahme, daß ein Mensch in der Lage sein soll, den Teufel zu beherrschen und gleichzeitig außerstande, die portugiesische Sprache zu beherrschen. Warum sollte der Umgang mit den Dämonen leichter fallen als der Umgang mit der Grammatik? Warum kann jemand, der durch langes Training der Aufmerksamkeit und des Willens, wie er behauptet, astrale Visionen zu haben vermag, mit geringerem Aufwand an beidem nicht die Vision der Syntax erlangen? Was gibt es in Dogma und Ritual der hohen Magie, was jemanden daran hindern könnte, nicht einmal klar zu schreiben — denn es mag ja sein, daß Dunkelheit zum Wesen des Okkulten gehört —, aber doch wenigstens elegant und flüssig, denn selbst innerhalb des Abstrusen muß doch beides möglich sein. Warum sollte die gesamte seelische Energie auf das Studium der Sprache der Götter verschwendet werden und nicht ein schäbiger Rest übrigbleiben, mit welchem man Farbe und Rhythmus der Sprache der Menschen studieren kann? Ich mißtraue den Meistern, die nicht einmal Grundschulmeister zu sein vermögen. Sie sind für mich wie jene sonderbaren Dichter, die unfähig sind, sich wie die übrigen auszudrücken. Ich lasse gelten, daß sie befremdlich sind; es wäre mir jedoch lieb, wenn
sie mir den Beweis liefern könnten, daß sie befremdlich, weil den normalen Menschen überlegen, sind und nicht etwa wegen ihres Unvermögens innerhalb des normalen Bereichs. Es soll große Mathematiker geben, die sich bei einfachen Additionsaufgaben irren; aber hierbei geht es nicht um Irrtümer, sondern um Unkenntnis. Ich akzeptiere durchaus, daß ein großer Mathematiker zwei und zwei zu fünf addiert; das ist ein Akt der Zerstreutheit, und er kann bei uns allen vorkommen. Was ich nicht akzeptiere, ist, daß er beispielsweise nicht weiß, was addieren bedeutet und wie man addiert. Und das eben ist der Fall bei den Meistern des Okkulten in ihrer übergroßen Mehrheit.
Jede ihrer selbst würdige Seele möchte das Leben im Extrem ausleben. Sich zufrieden geben mit dem, was man ihm gibt, ist Sklavenmentalität. Mehr erbitten ist Besonderheit der Kinder. Mehr erobern ist Besonderheit der Narren [. . .] Das Leben im Extrem leben bedeutet, es bis an die Grenze hin zu leben, aber es gibt drei Arten, dies zu tun, und jeder edlen Seele fällt es zu, eine dieser Arten auszuwählen. Man kann das Leben im Extrem leben durch den extremen Besitz des Lebens, durch eine odysseehafte Reise durch alle erlebbaren Empfindungen, durch alle Formen nach außen gewendeter Energie. In allen Epochen der Welt sind freilich diejenigen selten, die ihre Augen in einer Erschöpfung schließen können, welche die Summe aller Erschöpfungen ist, weil sie alles auf jegliche Weise besessen haben. Nur wenige können derart vom Leben fordern und erhalten, daß es sich ihnen mit Leib und Seele hingibt; sie brauchen nicht eifersüchtig auf das Leben zu sein, weil sie wissen, daß sie seine Liebe ganz besitzen. Doch das muß ohne Zweifel der Wunsch jeder hohen und starken Seele sein. Wenn diese Seele jedoch feststellt, daß ihr eine solche Verwirklichung unmöglich ist, daß sie keine Kraft besitzt zur Eroberung aller Teile des Ganzen, so bleiben ihr zwei andere Wege, die sie einschlagen kann — der eine besteht in der vollständigen Abdankung, in der formellen vollständigen Enthaltung, die in die Sphäre der Sensibilität verbannt,
was sie im Bereich der Aktivität und der Sensibilität nicht integral besitzen kann. Besser ist es, hoheitsvoll nicht zu handeln als nutzlos, fragmentarisch und unzureichend zu handeln wie die überflüssige Mehrheit der Menschen; der andere Weg führt zum vollkommenen Gleichgewicht: er sucht nach der Grenze, an welcher die Begierde nach dem Extremen vom Willen und von der Gefühlsbewegung aus in die Intelligenz übertritt und der ganze Ehrgeiz nunmehr darauf gerichtet ist, nicht das ganze Leben zu leben, nicht das ganze Leben zu fühlen, sondern das ganze Leben zu ordnen, es in Harmonie und verständiger Koordinierung auszufüllen. Der Drang zu begreifen, der für so viele edle Seelen den Drang zur Tat ersetzt, gehört in die Sphäre der Sensibilität. Die Intelligenz an die Stelle der Energie setzen, die Verbindung zwischen Wille und Gefühl zerbrechen, allen Gesten des materiellen Lebens das Interesse entziehen, das ist etwas, was mehr wert ist als das Leben, wenn man es erreichen kann. Die Argonauten haben gesagt, Seefahrt sei not, aber zu leben sei nicht not. Mögen wir Argonauten einer krankhaften Sensibilität sagen, daß fühlen not ist, daß aber leben nicht not sei.
Ich formuliere gern. Besser gesagt: ich mache gern Worte. Wörter sind für mich berührbare Körper, sichtbare Sirenen, verkörperte Sinnlichkeit. Vielleicht gerade weil die wirkliche Sinnlichkeit für mich kein wie immer geartetes Interesse besitzt — nicht einmal ein geistiges oder ein erträumtes —, hat sich die Begierde bei mir in das verwandelt, was in mir Wortrhythmen schafft oder sie von anderen vernimmt. Ich erbebe, wenn jemand gut formuliert. Manche Seiten von Fialho*, manche Seiten von Chateaubriand lassen mein ganzes Leben in allen Adern kribbeln, lassen mich zitternd rasen, ganz still sein wegen eines unerreichbaren Genus-
* Fialho de Almeida (1857-1911), portugiesischer Erzähler des »fin de siècle« (A. d. Ü.)
ses, den ich auskoste. Sogar manche Seiten von Vieira* lassen mich mit der kalten Vollkommenheit ihrer syntaktischen Ingenieurskunst erzittern wie einen Zweig im Wind, im passiven Delirium eines bewegten Dinges. Wie alle großen Liebenden habe ich Gefallen an der Wonne der Selbstaufgabe, bei welcher der Genuß der Hingabe voll durchlitten wird. Und so schreibe ich oft, ohne denken zu wollen, in einem äußeren Wachtraum und lasse dabei zu, daß mich die Wörter streicheln, während ich wie ein kleines Mädchen auf ihrem Schoß sitze. Es sind Sätze ohne Sinn; morbid fließen sie dahin, flüssig wie gefühltes Wasser, wie die Selbstvergessenheit eines Baches, in dem sich die Wellen vermischen und ins Unbestimmte verrinnen, ständig andere werden und sich selber nachfolgen. So ziehen Ideen und Bilder, zitternd vor Ausdrucksgewalt, durch mich hindurch mit ihrem tönenden Gefolge abgestufter Seidenstoffe, in denen ein Mondlicht des Gedankens gesprenkelt und undeutlich flimmert. Ich weine über nichts, was das Leben bringt oder nimmt. Es gibt jedoch Prosaseiten, die mich zu Tränen hingerissen haben. Ich erinnere mich, als ob ich sie vor mir sähe, an die Nacht, in der ich als Kind zum ersten Mal in einer Anthologie die berühmte Passage Vieiras über König Salomon las. »Es erbaute Salomon einen Palast . . .« Ich las das zitternd und verwirrt zu Ende, und dann brach ich in glückliche Tränen aus, wie sie mir kein wirkliches Glück je entlocken würde, wie keine Traurigkeit des Lebens sie mich jemals weinen lassen wird. Die hieratische Bewegung unserer klaren majestätischen Sprache, die Gewandung der Gedanken in den einzig zu ihnen passenden Gedanken, dieses Wasserfließen, weil eine geneigte Fläche vorhanden ist, dieses Vokalerschaudern, dessen Klänge ideale Farben sind — all das berauschte mich instinktiv wie eine große politische Leidenschaft. Und wie schon gesagt, ich weinte; heute, in der Rückerinnerung, weine ich immer noch. Und das nicht — keineswegs — aus Sehnsucht nach der Kindheit, nach der ich gar keine Sehnsucht * Pater Antonio Vieira (1608—1697), Jesuit, Verfasser sprachlich geschliffener Kanzelreden
verspüre: sondern aus Sehnsucht nach der Gefühlsgewalt jenes Augenblicks, aus Kummer darüber, diese große symphonische Gewißheit nicht mehr zum ersten Mal lesen zu können. Ich besitze weder politisches noch soziales Gefühl. Ich besitze jedoch in einem gewissen Sinne ein hohes patriotisches Empfinden. Mein Vaterland ist die portugiesische Sprache. Es würde mir nichts ausmachen, wenn Portugal einer Invasion oder einer Besetzung zum Opfer fiele, sofern man mich nicht persönlich behelligte. Aber mit wahrem Haß, mit dem einzigen Haß, zu dem ich fähig bin, hasse ich nicht den Menschen, der schlechtes Portugiesisch schreibt, auch nicht den Menschen, der nichts von der Syntax weiß, sondern eine schlecht geschriebene Seite, als wäre es eine lebende Person, eine fehlerhafte Syntax, als wären es Menschen, auf die man einprügeln darf, eine Orthographie ohne Ypsilon, als wäre es Auswurf, der mir unabhängig von dem, der ihn ausspuckt, Ekel einflößt.* Jawohl, denn auch die Orthographie ist ein Lebewesen. Das Wort ist vollständig, wenn es gesehen und gehört wird. Und die Galakleidung der griechisch-römischen Vermittlung hüllt mir die Rechtschreibung in ihren wahren Königsmantel, dank welchem sie Herrin und Königin ist.
Ein Werk schaffen und es nach seiner Vollendung schlecht finden gehört zu den seelischen Tragödien. Vor allem ist es dann eine solche, wenn man einsehen muß, daß dieses Werk das beste ist, das man zustandebringen konnte. Doch bei der Niederschrift eines Werkes im vorhinein zu wissen, daß es unvollkommen und verfehlt bleiben muß — das ist der Gipfel der Selbstquälerei und der Folterung und geistigen Demütigung. Nicht allein bei den Versen, die ich jetzt schreibe, spüre ich, daß sie mich nicht zufriedenstellen, sondern ich weiß auch, daß die Verse, die ich in Zukunft schreiben werde, mich ebenfalls unbefriedigt lassen werden. Ich weiß das philosophisch und körperlich, dank einer dunklen, gladiolengeschmückten Einsicht. * Pessoa hat sich bis zu seinem Lebensende geweigert, die Richtlinien der portugiesischen Rechtschreibungsreform zu übernehmen, die u. a. das bis dahin gebräuchliche «y» ausmerzte. (A. d. Ü.)
Warum schreibe ich dann also? Weil ich, der Prediger des Verzichts, noch nicht gelernt habe, ihn vollkommen in die Praxis zu übersetzen. Ich habe noch nicht gelernt, von meiner Neigung zu Vers und Prosa abzudanken. Ich muß schreiben, als hätte ich eine Strafe abzubüßen. Und meine größte Strafe besteht in dem Wissen, daß das, was ich schreibe, ganz nichtig, verfehlt und unsicher ausfällt. Schon als Kind habe ich Verse geschrieben. Damals schrieb ich völlig verunglückte Verse, doch ich hielt sie für vollkommen. Nie wieder werde ich das fälschliche Vergnügen erleben, ein vollkommenes Werk hervorzubringen. Was ich heute schreibe, ist weitaus besser. Es ist sogar besser, als es die besten schreiben könnten. Und doch bleibt es unendlich weit hinter dem zurück, wovon ich aus einem mir unklaren Grunde weiß, daß ich es schreiben könnte — oder vielleicht sogar müßte. Ich weine über meine schlechten Kindheitsverse wie über ein totes Kind, einen toten Sohn oder eine letzte entschwundene Hoffnung.
Ich überlese erneut hellwach und langsam Abschnitt um Abschnitt alles, was ich geschrieben habe. Und ich finde, alles ist belanglos, und es wäre besser gewesen, wenn ich es nicht geschrieben hätte. Den abgeschlossenen Dingen, seien es Imperien oder Plätze, haftet, weil sie abgeschlossen sind, das Erbübel der wirklichen Dinge an, unser Wissen nämlich, daß sie vergänglich sind. Nicht das jedoch empfinde ich schmerzlich in den langsamen Augenblicken meiner erneuten Lektüre. Mich schmerzt, daß es nicht der Mühe wert gewesen ist, dies alles niederzuschreiben, und daß ich die Zeit, die ich mit meiner Niederschrift verlor, nur in der nunmehr zerstobenen Einbildung gewonnen habe, diese Aufzeichnungen seien der Mühe wert gewesen. Alles, was wir erstreben, erstreben wir aus Ehrgeiz, aber entweder werden wir diesem Ehrgeiz nicht gerecht und sind dann arm dran, oder wir meinen, wir wären ihm gerecht geworden, und dann sind wir reiche Narren. Mich schmerzt, daß das Beste schlecht ist und ein anderer, wenn es ihn so gäbe, wie ich ihn erträume, es besser gemacht
haben würde. Alles was wir tun, in der Kunst oder im Leben, ist nur die unvollkommene Kopie dessen, was wir zu tun vorhatten. Es erreicht weder die äußere noch die innere Vollkommenheit; es verstößt nicht nur gegen die Regeln dessen, was eigentlich sein müßte, sondern auch gegen die Regeln dessen, von dem wir gemeint hatten, daß es sein könnte. Wir sind nicht allein hohl von innen, sondern auch von außen, Parias der Vorwegnahme und der Verheißung. Mit welcher Kraft einer einsamen Seele schrieb ich Seite um Seite nieder und erlebte Silbe um Silbe die falsche Magie nicht des von mir tatsächlich Geschriebenen, sondern dessen, von dem ich glaubte, ich hätte es geschrieben! Dank welcher ironischen Hexerei hielt ich mich für den Dichter meiner Prosa in dem beflügelten Augenblick, in dem sie rascher als die Bewegungen meiner Feder wie ein trügerischer Racheakt für die Beleidigungen des Lebens entstand! Heute sehe ich bei der erneuten Lektüre meine Puppen aufplatzen, aus ihren Rissen quillt das Stroh heraus und sie leeren sich, ohne gewesen zu sein . . .
Zuweilen denke ich mit traurigem Vergnügen daran, daß ich, wenn dereinst in einer Zukunft, der ich nicht mehr angehören werde, diese Sätze unter Lobsprüchen überdauern, doch noch zu guter Letzt Menschen finden werde, die mich »verstehen«, meine Leute, meine wahre Familie, wie geschaffen dazu, in ihrem Schoß auf die Welt zu kommen und geliebt zu werden. Doch weit davon entfernt, in dieser Familie auf die Welt zu kommen, werde ich schon seit langem verstorben sein. Ich werde nur in effigie, als Abbild verstanden werden, wenn die Zuneigung den Verstorbenen nicht mehr für die ausschließliche Abneigung entschädigen kann, die ihm zuteil wurde, als er noch am Leben war. Eines Tages wird man vielleicht einsehen, daß ich wie kein anderer meine eingeborene Pflicht als Dolmetscher für einen Teil unseres Jahrhunderts erfüllt habe; und wenn man das verstanden hat, wird man schreiben, daß ich zu meiner Zeit unverstanden blieb, daß ich unseligerweise Ablehnung und Kälte zu spüren bekam und daß es schade ist, daß mir dies widerfahren mußte.
Und wer dies schreibt, wird zu der Zeit, in der er es schreibt, wie meine jetzige Umgebung meinem Nachfolger in jener künftigen Zeit verständnislos gegenüberstehen. Denn die Menschen lernen nur zum Nutzen ihrer Urgroßeltern, die schon verstorben sind. Nur den Toten wissen wir die wahren Lebensregeln beizubringen. An diesem Abend, an dem ich dies schreibe, ist der Regentag stehengeblieben. Die Heiterkeit der Luft streift übermäßig frisch die Haut. Der Tag geht nicht in grau zu Ende sondern in blassblau. Vages Blau spiegelt sich sogar auf dem Straßenpflaster wider. Zu leben schmerzt, aber nur von weitem. Fühlen ist unwichtig. In manchen Schaufenstern geht die Beleuchtung an. In einem anderen hohen Fenster liegen Leute und sehen zu, wie die Arbeit zu Ende geht. Der Bettler, der mich streift, würde staunen, wenn er mich kennte. Im weniger blassen und weniger blauen Himmel, der sich in den Gebäuden spiegelt, wird es mehr und mehr Abend. Senke dich leicht hernieder, Ende des sicheren Tages, an dem sich die Glaubenden und die Irrenden in die übliche Arbeit verstricken und in ihrem eigenen Schmerz das Glück der Unbewußtheit verspüren. Senke dich leicht hernieder, verschwindende Lichtwelle, Melancholie des nutzlosen Abends, schleierloser Nebel, der in mein Herz eindringt. Senke dich leicht und sanft hernieder, unbestimmte hellblaue Blässe des wässrigen Abends — leicht, sacht und traurig auf die schlichte kalte Erde. Senke dich leicht herab, unsichtbare Asche, schmerzbefrachtete Eintönigkeit, Langeweile ohne Erstarrung.
Beim Blick auf die überreichliche literarische Produktion oder auf die ausgedehnten und vollständigen Werke so vieler Autoren, die ich kenne, spüre ich in mir einen unbestimmten Neid, eine verächtliche Bewunderung, ein unzusammenhängendes mixtum compositum der Gefühle. Etwas Vollständiges und Ganzes schaffen, es sei gut oder schlecht — und wenn es auch niemals völlig gut ausfällt, so ist es doch oft nicht gänzlich schlecht — jawohl, etwas Vollständiges schaffen macht mich vielleicht neidischer als irgend etwas anderes.
Mit dem Werk geht es mir wie mit einem Kind; es mag so unvollkommen sein wie jedes menschliche Wesen, aber es gehört doch zu uns, wie die Kinder. Und ich selber, der ich so selbstkritisch bin, daß ich nur Defekte und Mängel wahrnehme, ich, der nur Abschnitte, Brocken, Ausschnitte aus dem Inexistenten zu schreiben wagt, ich selbst bleibe in dem wenigen, das ich zu Papier bringe, ebenfalls unvollkommen. Besser wäre mithin entweder ein vollständiges Werk, auch wenn es schlecht ist, denn es ist auf alle Fälle ein Werk, oder ein Verstummen der Worte, das gänzliche Schweigen der Seele, die damit ihre Unfähigkeit zu handeln eingesteht. Ich frage mich oft, ob nicht alles im Leben auf Degeneration beruht. Das Sein ist keine Annäherung — es ist ein Vorher oder ein Drumherum. So wie das Christentum nur eine Degenerationserscheinung des abgesunkenen Neuplatonismus gewesen ist [. . .], die Judaisierung des falschen römischen Hellenismus, so ist unsere Epoche (?) die vielfältige Abweichung von allen großen Vorhaben, aus deren Bankrott die Ära, die Summe von Verneinungen, entstanden ist, in denen wir unsere Bestätigung finden. Wir erleben einen Zwischenakt mit Orchestermusik. Doch was habe ich in meinem vierten Stockwerk mit diesen soziologischen Überlegungen zu schaffen? All das ist für mich ein Traum wie die Prinzessinnen von Babylon und, daß wir uns mit der Menschheit befassen, ist nichtig und abermals nichtig — eine Archäologie der Gegenwart. Ich werde im Nebel versinken wie ein Fremdling. Eine menschliche Weinrebe, abgelöst vom Traum der Mauer, ein Schiff mit überflüssigem Sein an der Oberfläche aller Dinge.
1.12.1931
Die Kunst besteht darin, die anderen Menschen fühlen zu lassen, was wir fühlen, sie von sich selbst zu befreien und ihnen unsere Persönlichkeit für diese besondere Befreiung vorzuschlagen. Was
ich im Innersten fühle, ist absolut unübertragbar; je tiefer ich es fühle, desto weniger mitteilbar ist es. Damit ich also jemand anderem das, was ich fühle, vermitteln kann, muß ich meine Gefühle in seine Sprache übersetzen, das heißt das, was ich fühle so aussagen, daß er, wenn er es liest, genau das fühlen kann, was ich gefühlt habe. Und da der andere Mensch dank einer Voraussetzung der Kunst nicht diese oder jene Person ist, sondern alle Leute, das heißt die Person, die allen Personen gemeinsam ist, muß ich meine Gefühle in ein allgemein menschliches Gefühl umwandeln, auch wenn ich dabei die wahre Natur dessen, was ich gefühlt habe, verforme. Alles was abstrakt ist, ist schwer zu begreifen, denn es ist für Abstraktes schwierig, die Aufmerksamkeit eines Lesers zu finden. Deshalb muß ich ein einfaches Beispiel geben, in welchem sich meine Abstraktionen konkretisieren. Angenommen, mich überkommt aus irgendeinem Grunde, vielleicht weil mich das Ausstellen von Rechnungen oder die Langeweile der Untätigkeit erschöpft haben, eine vage Lebenstraurigkeit, eine Angst vor mir selbst, die mich verwirrt und beunruhigt. Wenn ich diese Gefühlsbewegung in Sätze kleiden will, die sie ganz aus der Nähe erfassen, so werden sie, je näher ich sie fasse, immer mehr zu meinen eigenen und für andere immer weniger nachvollziehbar. Und wenn ich sie schon nicht anderen vermitteln kann, dann ist es gleich richtiger und leichter, sie zu empfinden, aber nicht niederzuschreiben. Angenommen jedoch, ich möchte sie anderen mitteilen, das heißt ich will aus meiner Emotion Kunst machen: Kunst machen heißt, auf die anderen unsere intime Identität mit ihnen übertragen; ohne eine solche Übertragung gibt es weder Kommunikation noch die Notwendigkeit, sie herzustellen. Dann prüfe ich, welches wohl die allgemein menschliche Gefühlsregung sein mag, die Typus und Form dieser Gefühlslage aufweist, in der ich mich eben jetzt befinde. Ich suche nach den besonderen Gründen dafür, daß ein Buchhalter erschöpft oder ein Lissaboner gelangweilt sein kann. Und ich komme zu dem Schluß, die allgemeine Gefühlsbewegung, die das gleiche Gefühl in einer Durchschnittsseele widerspiegle, sei die Sehnsucht nach der verlorenen Kindheit.
Dann habe ich den Schlüssel für die Tür zu meinem Thema gefunden. Ich beschreibe und beklage meine verlorene Kindheit; ich verweile gerührt bei den Einzelheiten von Bewohnern und Mobiliar des alten Hauses in der Provinz; ich beschwöre das Glücksgefühl herauf, keine Rechte und Pflichten zu haben, frei zu sein, weil man weder zu denken noch zu fühlen versteht — und diese Evokation wird, wenn sie als Prosastück und visionäres Bild gut ausgeführt ist, in meinem Leser genau die Emotion auslösen, die ich empfunden habe und die gar nichts mit meiner Kindheit zu tun hatte. Habe ich gelogen? Nein, ich habe begriffen. Denn die Lüge besteht hier ganz allein in der Anerkennung der wirklichen Existenz der anderen Menschen und der Notwendigkeit, ihrer Existenz unsere eigene anzupassen, die sich ihr doch nicht recht anpassen kann. Die Lüge ist hier einfach die ideale Sprache der Seele, denn so wie wir uns der Worte bedienen, die auf absurde Weise artikulierte Laute sind, um unsere intimsten und subtilsten Gefühls- und Denkregungen in wirkliche Sprache zu übersetzen, obwohl unsere Wörter sie zwangsläufig niemals voll und ganz wiedergeben können, so bedienen wir uns der Lüge und der Fiktion, um uns miteinander zu verständigen, was man mit der eigentlichen unmittelbaren Wahrheit nie erreichen könnte. Die Kunst lügt, weil sie gesellschaftsbezogen ist. Und es gibt nur zwei große Formen der Kunst — die eine wendet sich an unsere tiefe Seele, die andere an unsere aufmerksame Seele. Die erste ist die Dichtung, die zweite der Roman. Die erste lügt ihrer ganzen Anlage nach; die zweite lügt ihrer Absicht nach. Die eine beansprucht, uns die Wahrheit vermittels mannigfaltigen Regeln folgenden Zeilen zu vermitteln, welche die Eigenart der Sprache Lügen strafen; die andere beansprucht, uns die Wahrheit durch eine Wirklichkeit hindurch zu vermitteln, von der wir alle genau wissen, daß es sie nie gegeben hat. Fingieren heißt lieben. Nie sehe ich ein hübsches Lächeln oder einen bedeutungsvollen Blick, ohne nicht sofort darüber nachzusinnen — einerlei, wem Blick oder Lächeln gehören —, welcher Politiker uns da kaufen will, welche Dirne erreichen möchte, daß wir sie kaufen. Doch der Politiker, der uns einkauft, hat zumin-
dest an seinem Kauf Freude gehabt; und die Dirne, die wir kaufen, hat sich zumindest darüber gefreut, daß wir sie gekauft haben. Wir können, so sehr wir das auch möchten, der universalen Brüderlichkeit nicht entgehen. Wir lieben alle einander, und die Lüge ist der Kuß, den wir austauschen.
Schreiben heißt vergessen. Die Literatur ist die angenehmste Art und Weise, das Leben zu ignorieren. Die Musik wiegt ein, die visuellen Künste beleben, die lebendigen Künste (wie Tanz oder Theaterspielen) unterhalten. Die erste jedoch entfernt sich vom Leben, weil sie aus ihm einen Traum macht; die zweiten hingegen entfernen sich nicht vom Leben — die einen, weil sie sichtbare und mithin vitale Formeln verwenden, andere, weil sie vom menschlichen Leben selber leben. Das ist nicht der Fall der Literatur. Sie simuliert das Leben. Ein Roman ist die Geschichte dessen, was niemals gewesen ist, und ein Drama ist ein Roman ohne Erzählkunst. Ein Gedicht ist der Ausdruck von Ideen oder Gefühlen in einer Sprache, die niemand verwendet, denn niemand spricht sich in Versen aus.
18.10.1931
Ich ziehe die Prosa als Kunstart dem Vers vor, und das aus zwei Gründen, von denen der erste, mein eigener, darauf fußt, daß ich keine andere Wahl habe, weil ich unfähig bin, in Versen zu schreiben. Der zweite hingegen ist Allgemeingut und, wie ich meine, kein Schatten und keine Verkleidung des ersten. Es lohnt sich daher, daß ich ihn näher ausführe, weil er den inneren Sinn allen Kunstwertes berührt. Ich betrachte den Vers als etwas Mittleres, als einen Übergang von der Musik zur Prosa. Wie die Musik ist der Vers durch rhythmische Gesetze eingegrenzt, die, selbst wenn es nicht die starren Gesetze des regelmäßigen Verses sind, doch als Schutzvorrichtungen, Zwänge und automatische Vorrichtungen zur Einengung und Züchtigung wirken. In der Prosa reden wir frei. Wir
können musikalische Rhythmen einbeziehen und dennoch denken. Wir können poetische Rhythmen einbeziehen und dennoch außerhalb ihrer stehen. Ein gelegentlicher Versrhythmus stört die Prosa nicht; ein gelegentlicher Prosarhythmus bringt den Vers zum Stolpern. In der Prosa ist die gesamte Kunst zusammengefaßt — einesteils weil im Wort die ganze Welt enthalten ist, andernteils weil im freien Wort die ganze Möglichkeit enthalten ist, die Welt auszusagen und zu denken. In der Prosa geben wir alles transponiert wieder: Die Farbe und die Form, welche die Malerei nur direkt bringen kann, als solche und ohne die Dimension des Intimen; den Rhythmus, den die Musik nur direkt vermitteln kann, als solchen, ohne Formgestalt oder die zweite Gestalt der Idee; die Struktur, die der Architekt aus harten, vorgegebenen, äußeren Dingen formen muß, können wir in Rhythmen, Unschlüssigkeiten, Abläufen und flüssigem Stil aufführen; die Wirklichkeit, die der Bildhauer in der Welt zurücklassen muß, ohne Aura oder Substanzverwandlung; schließlich auch die Poesie, in welcher der Dichter, wie der Eingeweihte in einem okkulten Orden, ein wenn auch freiwilliger Diener eines bestimmten Grades der Einweihung und eines Rituals ist. Ich bin überzeugt, daß es in einer vollkommen zivilisierten Welt keine andere Kunst außer der Prosa geben wird. Wir würden die Sonnenuntergänge den Sonnenuntergängen überlassen und in der Kunst nur danach trachten, sie mit Worten verständlich zu machen und so in eine in Farbe begreifbare Sprache zu überführen. Wir würden keine Skulpturen aus den Körpern schaffen; angeschaut und betastet, würden sie selbst ihren beweglichen Umriß und ihre sanfte Wärme behalten. Wir würden Häuser erbauen, nur um in ihnen zu wohnen, und das ist ja schließlich auch ihre Zweckbestimmung. Die Poesie würde bleiben, damit die Kinder der künftigen Prosa näherkommen könnten, denn gewiß ist die Poesie etwas Kindliches, Mnemotechnisches, ein Behelf und ein Beginn. Sogar die kleineren Künste oder diejenigen, die wir so nennen, spiegeln sich murmelnd in der Prosa wider. Es gibt eine Prosa, die tanzt und singt und deklamiert sich selbst. Es gibt
Wortrhythmen, in denen sich die Idee schlängelnd entkleidet — in durchsichtiger und vollkommener Sinnlichkeit. Und es gibt in der Prosa zuckende Subtilitäten, in denen ein großer Schauspieler, das WORT, in seiner körperlichen Substanz rhythmisch das ungreifbare Mysterium des Universums verwandelt.
Immer habe ich in Amiels Tagebuch mit Verdruß die Hinweise darauf, daß er Bücher publiziert hat, gelesen. Seine ganze Gestalt erfährt dadurch einen Bruch. Wenn das nicht wäre, wie groß würde er sein! Das Tagebuch Amiels hat mich immer geschmerzt um meinetwillen. Als ich an den Punkt kam, wo er sagt, daß die Frucht des Geistes auf ihn als »Bewußtsein des Bewußtseins« herabgefallen sei, habe ich das als direkte Anspielung auf meine Seele betrachtet.
Wenn ich »König Lear« geschrieben hätte, hätte ich mein ganzes späteres Leben mit Gewissensbissen verbracht. Weil dieses Werk so groß ist, daß seine unglaublichen Mängel, seine monströsen Mängel sogar in den Geringfügigkeiten hervortreten, die zwischen bestimmten Szenen und ihrer möglichen Vollkommenheit liegen. Das ist keine Sonne mit Sonnenflecken, es ist eine geborstene griechische Statue. Alles, was geschaffen wurde, weist Irrtümer auf: fehlerhafte Perspektiven, Ignoranz, Symptome schlechten Geschmacks oder Schwächen und Unaufmerksamkeiten. Niemand besitzt die Götterkraft, so groß zu planen, daß auch das Werk groß wird; niemand hat das Glück, dies je vermocht zu haben. Was nicht auf einen Wurf gedeiht, leidet unter dem zufälligen Wesen unseres Geistes. Wenn ich das bedenke, überfällt mich eine gewaltige Trostlosigkeit und die schmerzhafte Gewißheit, niemals etwas Gutes und Nützliches für die Schönheit vollbringen zu können. Es gibt keine Methode, um die Vollkommenheit zu erreichen, man müßte denn Gott sein. Unsere größte Anstrengung dauert ihre Zeit; innerhalb
der Zeit, die sie vorhält, durchquert sie verschiedene Stadien unserer Seele, und jedes seelische Stadium stört, da es nicht ein anderes ist, mit seiner Eigenart die Individualität des Werkes. Wir haben nur die Gewißheit, schlecht zu schreiben, wenn wir schreiben; das einzige große und vollkommene Werk ist dasjenige, von dessen Verwirklichung man niemals träumen kann. Hör mich noch weiter an und hab Mitleid mit mir! Hör all dies an und sag mir dann, ob nicht der Traum mehr wert ist als das Leben! Die Arbeit führt nie zu Ergebnissen. Die Anstrengung führt niemals irgendwohin. Nur die Enthaltung ist nobel und rühmlich, weil sie es ist, die zur Einsicht gelangt, daß die Verwirklichung stets hinter der Absicht zurückbleibt und das geschaffene Werk immer ein grotesker Schatten des erträumten Werkes ist. Könnte ich nur in Worten, die man hinterher laut lesen und hören kann, die Dialoge der Personen meiner imaginären inneren Dramen zu Papier bringen: die Handlung dieser Dramen ist bruchlos, die Dialoge sind ohne Fehler, aber weder zeichnet sich in mir die Handlung in ganzer Länge ab, so daß ich sie niederschreiben könnte, noch sind es im eigentlichen Sinne Wörter, die die Substanz dieser intimen Dialoge ausmachen, so daß ich sie nach aufmerksamem Zuhören in eine schriftliche Form übertragen könnte. Ich Hebe einige lyrische Dichter, weil sie die richtige Intuition besaßen, niemals mehr als einen Moment des Gefühls oder des Traums in Kunst übertragen zu wollen. Was man unbewußt schreiben kann, das umfaßt das mögliche Vollkommene. Kein Shakespeare-Drama befriedigt so sehr wie ein Gedicht von Heine. Heines Lyrik ist vollkommen, und jedes Drama — von Shakespeare oder irgendeinem anderen — ist immer unvollkommen. Ja, wenn man ein Ganzes erbauen und aufrichten könnte, was wie ein menschlicher Körper wäre, völlig kongruent in allen Teilen und lebensvoll, wenn man die zerstreuten Eigenheiten zur Einsicht bringen könnte! . . . Du, der du mich hörst und doch kaum verstehst, du weißt nicht, was das für eine Tragödie ist! Vater und Mutter verlieren, weder Ruhm noch Glück erreichen, keinen Freund und auch keine Geliebte haben — das alles kann man ertra-
gen kann man, von etwas Schönem zu träumen, das man weder in der Tat noch in Worten erreichen kann. Das Bewußtsein der vollkommen vollbrachten Arbeit, das Sättigungsgefühl angesichts eines abgeschlossenen Werkes — wie sanft ist der Schlaf unter diesem schattigen Baum im stillen Sommer!
27.7.1930
Die meisten Leute kranken daran, daß sie nicht aussagen können, was sie sehen und was sie denken. Man behauptet, es sei nichts schwieriger als eine Spirale in Worten zu definieren: Man muß dazu, sagt man, in der Luft mit der literaturlosen Hand eine ansteigend geordnete, eingerollte Gebärde vollführen, dank welcher sich diese abstrakte Figur der Sprungfedern oder mancher Treppen den Augen darstellt. Doch sobald wir uns daran erinnern, daß reden erneuern heißt, können wir eine Spirale ohne Mühe definieren: es ist ein Kreis, der aufsteigt, ohne je imstande zu sein, sich zu schließen. Die meisten Leute, ich weiß es wohl, würden es nicht wagen, auf diese Weise zu definieren, weil sie annehmen, daß definieren das aussagen heißt, was die anderen hören möchten, und nicht das, was man sagen sollte, um zu definieren. Besser gesagt: eine Spirale ist ein virtueller Kreis, der sich aufsteigend entfaltet, ohne je zu seiner Verwirklichung zu gelangen. Aber nein, diese Definition ist ebenfalls noch abstrakt: Ich werde eine konkrete Formulierung suchen und alles wird klar sein: eine Spirale ist eine Kobra, die sich vertikal nicht einrollt. Die ganze Literatur besteht aus einer Anstrengung, das Leben wirklich werden zu lassen. Wie alle wissen, selbst wenn sie unwissentlich handeln, ist das Leben in seiner unmittelbaren Wirklichkeit absolut unwirklich; die Felder, die Städte, die Ideen sind absolut künstliche Dinge, Ausgeburten unserer komplexen Wahrnehmung unserer selbst. Alle Eindrücke sind unübertragbar, es sei denn, wir verwandeln sie in literarische. Die Kinder sind literarische Wesen, weil sie so reden, wie sie fühlen und nicht wie jemand fühlen muß, der wie jemand anderes fühlt. Ich habe einmal ein Kind, das ausdrücken wollte, es befände sich am Rande
des Weinens, nicht etwa sagen hören: »Ich habe Lust zu weinen«, wie ein Erwachsener, das heißt ein Dummkopf sagen würde, sondern: »Ich habe Lust auf Tränen.« Und dieser ganz und gar literarische Satz, der so literarisch ist, daß er bei einem berühmten Dichter als affektiert wirken würde, wenn et ihn sagen könnte, gibt sprechend die heiße Gegenwart der Tränen wieder, die bitter aus den Lidern strömen. »Ich habe Lust auf Tränen!« Jenes Kleinkind hat seine Spirale gut definiert! Aussagen! Aussagen können! Durch die geschriebene Stimme und das geistige Bild existieren können! Das macht den Wert des Lebens aus; das übrige sind Männer und Frauen, angebliche Liebschaften und künstliche Eitelkeiten, Ausflüchte der Verdauung und des Vergessens, Leute, die zappeln wie Käfer, wenn man einen Stein aufhebt unter dem großen abstrakten Felsen des blauen sinnlosen Himmels.
Die Kunst befreit uns auf illusorische Weise von dem Schmutz des Seins. Solange wir die Leiden und die Schmach Hamlets, des Prinzen von Dänemark, fühlen, fühlen wir die unsrigen nicht — gemeine Leiden, weil es unsere sind, und gemein, weil sie gemein sind. Die Liebe, der Schlaf, die Drogen und die Gifte sind Elementarformen der Kunst, oder, besser gesagt, sie bringen die gleiche Wirkung hervor wie sie. Aber auf Liebe, Schlaf und Drogen folgt allemal die Desillusionierung. Die Liebe wird man satt, oder sie enttäuscht. Aus dem Schlaf erwacht man und, während man geschlafen hat, hat man nicht gelebt. Die Drogen bezahlt man mit dem Ruin derselben Physis, zu deren Stimulierung sie gedient haben. Aber in der Kunst gibt es keine Desillusionierung, denn die Illusion war von Anfang an einkalkuliert. Aus der Kunst gibt es kein Erwachen, denn in ihr schlafen wir nicht, wenn wir auch träumen mögen. In der Kunst gibt es keinen Tribut, keine Strafe, die wir bezahlen müßten, weil wir sie genossen haben. Den Genuß, den sie uns bietet, brauchen wir, da er in gewisser Weise nicht der unsrige ist, weder zu bezahlen noch zu bereuen.
Unter Kunst verstehen wir alles, was uns ent2Ückt, ohne daß es uns gehört — die Spur unserer Durchreise, das einem anderen Menschen gewährte Lächeln, den Sonnenuntergang, das Gedicht, das objektive Weltall. Besitzen heißt verlieren. Fühlen ohne zu besitzen, heißt bewahren, denn es bedeutet, aus einer Sache ihr Wesen herauszuziehen.
Die Literatur, die eine mit dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit ist, scheint mir das Ziel zu sein, das jede menschliche Anstrengung ansteuern sollte, wenn sie wahrhaft menschlich und nicht ein Überrest der Tierhaftigkeit wäre. Ich glaube, eine Sache ausdrücken heißt ihre Kraft bewahren und ihr den Schrecken nehmen. Die Felder sind grüner in der Beschreibung als in ihrem Grün. Wenn man die Blumen mit Sätzen beschreibt, die sie im Bereich der Phantasie definieren, besitzen sie Farben von einer Haltbarkeit, die ihr zellenhaftes Leben nicht hergibt. Sich bewegen heißt leben, sich aussagen heißt überleben. Es gibt nichts Wirkliches im Leben, was nicht deshalb wirklich ist, weil man es gut beschrieben hat. Kleinkarierte Kritiker pflegen darauf hinzuweisen, daß ein Gedicht in hymnischen Rhythmen letztlich doch nur aussagt, daß der Tag schön ist. Aber auszudrücken, daß der Tag schön ist, ist schwierig, und auch der schöne Tag selber geht vorüber. Wir müssen mithin den schönen Tag in einem blühenden, geräumigen Gedächtnis aufheben und auf diese Weise die Felder oder Himmel der leeren, vorübergehenden Außenwelt mit neuen Blumen oder neuen Sternen bestirnen. Alles ist, was wir sind, und alles wird für diejenigen, die uns in der Mannigfaltigkeit der Zeit nachfolgen werden, so sein, wie wir es uns intensiv vorgestellt haben, das heißt wie wir es dank unserer Phantasie wahrhaft gewesen sind. Ich glaube nicht, daß die Geschichte mit ihrem großen farblosen Panorama mehr ist als eine Abfolge von Deutungen, ein verworrener Konsens zerstreuter Zeugen. Romanciers sind wir alle, und wir erzählen, wenn wir sehen, weil sehen so verwickelt ist wie alles übrige.
In diesem Augenblick kommen mir so viele fundamentale Gedanken, so viele wahrhaft metaphysische Dinge möchte ich mitteilen, daß ich auf einmal müde werde und die Entscheidung fälle, nicht weiterzuschreiben, nicht weiterzudenken, sondern geschehen zu lassen, daß mir das Ausdrucksfieber Schlaf schenkt und ich mit geschlossenen Augen all das, was ich gesagt haben könnte, wie eine Katze streichele.
Nachwort des Übersetzers
Fernando Pessoas »Buch der Unruhe« ist posthum im Jahre 1982 in Lissabon veröffentlicht worden, 47 Jahre nach dem Tode des Dichters, dessen Lebenszeit die gleiche Anzahl von Jahren umfaßt hatte (1888— 1935). Die große Verspätung der Publikation seines wichtigsten Werkes in Prosa erklärt sich zum einen durch die Schaffensweise des Autors, dem an der Niederschrift seiner Einfälle mehr gelegen war als an deren Publikation, zum anderen durch das zeitraubende Geduldspiel von Auffindung, Entzifferung und Anordnung der hand- und maschinenschriftlich überlieferten Manuskripte, die Pessoa vor der geplanten Publikation selbst nicht mehr überarbeiten konnte. Verschiedene Herausgeber haben sich um diese Edition bemüht, bis es endlich dem verdienten Lissaboner Literaturwissenschaftler Jacinto do Prado Coelho unter Mitarbeit von Maria Aliete Galhoz und Teresa Sobral Cunha gelang, die 520 Fragmente zu einer lesbaren Ausgabe zu vereinigen. Pessoa hat am »Buch der Unruhe« über zwanzig Jahre lang gearbeitet. Die ersten Aufzeichnungen stammen aus dem Jahr 1913, die letzten, wenn die Datierungen nicht trügen, aus dem Jahr 1934. Nur ein kleiner Teil ist zu Lebzeiten des Autors in den Zeitschriften der Epoche veröffentlicht worden. Die frühen Texte stehen noch ganz im Zeichen des späten Symbolismus und verteidigen — ganz im Sinne von Pessoas damaligen poetologischen Vorstellungen: »Die moderne Kunst ist Traumkunst« — den Vorrang des Traums gegenüber der Wirklichkeit. Der zweite, intensivere Produktionsschub setzt, wie die Daten zeigen, 1929 ein und erstreckt sich bis 1934; während dieses Zeitraums scheint der Dichter, wie das Vorwort zeigt, ernstlich daran gedacht zu haben, seine geplante, aber bei Lebzeiten nie realisierte Werkausgabe mit dem »Buch der Unruhe« zu eröffnen. Diesen Plan hat er erst im letzten Lebensjahr zugunsten der Arbeit an der nationalmystischen »Botschaft« (Mensagem) aufgegeben. Pessoa hat das »Buch der Unruhe« zunächst einem gewissen Vicente Guedes,
gegen 1930 dann dem Hilfsbuchhalter Bernardo Soares zugeschrieben, der eine gewisse Ähnlichkeit, wenngleich keine Identität mit dem Autor aufweist. Bernardo Soares arbeitet — wie Pessoa — in einem Handelshaus der Lissaboner »Baixa«, der Unterstadt, aber nicht als relativ frei über seine Zeit verfügender kaufmännischer Übersetzer wie der Dichter, sondern als kleiner Angestellter mit kärglich bemessener Freizeit. Soares wohnt — wie Pessoa — in einem möblierten Zimmer der Altstadt und frequentiert die kleinen Speiselokale dieser Gegend, in denen noch heute die Geschäftsleute und Angestellten Alt-Lissabons ihre Mahlzeiten einnehmen. Soares ist Schriftsteller — wie Pessoa —, aber er bevorzugt die Prosa und betrachtet das Verseschmieden als Beschäftigung für Kinder (Fragm. 235). eine Denkart, die der Dichter Pessoa schwerlich teilen konnte. In einem Brief an den Kritiker J. G. Simöes hat der Autor konstatiert: »Bernardo Soares ist kein Heteronym, sondern eine literarische Persönlichkeit.« Als »Tagebuch eines Gefangenen« des Alltags hat der französische Pessoa-Kritiker Robert Brechon die Aufzeichnungen des Hilfsbuchhalters definiert. Nach der Zuschreibung dieser Texte an eine unscheinbare Persönlichkeit, die Pessoa ähnelt, ohne mit ihm identisch zu sein, hat sich der Stil der Aufzeichnungen verändert. An die Stelle des manierierten Spätsymbolisten tritt ein präziser formulierender Moralist, der die Stilmittel des Gedichtes in Prosa nicht verschmäht. Soares fragt immer konzentrierter nach der Bestimmung des Menschen, nach dem Sinn seines Lebens und den Geheimnissen seines Ichs. Seine Aufzeichnungen sind keine Konfessionen im Sinne des hl. Agustinus oder Rousseaus, sondern Beobachtungen und Meditationen über die Welt im allgemeinen und die eigene Persönlichkeit im besonderen. Intimität wird hier nicht angestrebt. Zweimal zitieren die Texte das »Tagebuch« Amiels, der im Portugal der Zwanziger Jahre viel gelesen wurde; zur bohrenden Selbstanalyse des Genfer Autors bestehen in Pessoas Texten gewisse, wenn auch ferne Analogien. Auch dort, wo der Moralist Pessoa-Soares Lissaboner Straßen und Örtlichkeiten zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt, ist der Gesichtspunkt niemals provinziell: Die Rua dos Douradores, die »Straße der Vergolder«, in der sich das unscheinbare Leben des
Hilfsbuchhalters Soares abspielt, ist ein verkleinertes Abbild der ganzen Welt. So liefert uns das Fragm. 7 den Schlüssel zum rechten Verständnis des »Buchs der Unruhe«: »Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in einem Geschäft mit einem anderen Stoff in irgendeiner anderen Altstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir summieren und gehen dahin; wir schließen die Bilanz und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.« Die Rua dos Douradores ist also nichts anderes als eine portugiesische Metapher für die Wirklichkeit des Lebens überhaupt. Sie verhilft Soares zur Erkenntnis des Lebenssinns respektive -unsinns: »Jawohl, diese Rua dos Douradores umfaßt für mich den gesamten Sinn der Dinge, die Lösung aller Rätsel, abgesehen davon, daß Rätsel existieren, was keine Lösung finden kann.« (Fragm. 13) Der übernationale Charakter dieses Buches zeigt sich auch in seinen literarisch-philosophischen Anspielungen: Neben den von Pessoa verehrten portugiesischen Autoren (allen voran der Sprachmeister des Barock, Antonio Vieira, und Cesário Verde, kaufmännischer Angestellter und Dichter der Stadt Lissabon) finden wir Engländer (Shakespeare, Milton, Carlyle), Nachklänge der in Südafrika genossenen Schulbildung, aber auch Franzosen (Chateaubriand, Vigny, Verlaine) und Deutsche (Heine, Chamisso, Hegel und . . . Haeckel). Pessoa-Soares bezeichnet sich selbst als »Decadent«, und für dieses Dekadenzbewußtsein macht er seine Epoche, das »Fin de siecle« und das beginnende 20. Jahrhundert verantwortlich, das den Spätgeborenen keinerlei Gewißheit belassen hatte. Da ist kein politisches, religiöses oder moralisches Credo, das man glaubhafterweise übernehmen könnte — und so sieht sich Pessoa-Soares auf seinen Solipsismus zurückgeworfen, eingemauert in das Reich der Träume ohne Zugang zum Handeln, ohne Zugang zum Mitmenschen. Der andere Mensch erscheint als etwas Wildfremdes, sein bloßes Vorhandensein wird gelegentlich angezweifelt; ausdrücklich werden Revolutionen und Reformen verworfen; der Autor versteht sich als »Erzieher zur Gleichgültigkeit« gegenüber den Ansprüchen des Kollektivs, als »indisciplinador de almas«, als
einer, der die Seelen aus ihrer Disziplin reißt. Aus seiner Ablehnung des Kommunismus hat Pessoa nie ein Hehl gemacht; die gesamte Fragestellung des Marxismus — Leninismus berührt ihn nicht. Für ihn zählt ausschließlich das Rätsel der Individualität und des Lebens; wer will, kann ihm ohne Zweifel elitären Hochmut vorwerfen. Dieser wird jedoch gedämpft durch eine fast selbstzerstörerische Neigung zur Abwertung der eigenen Person und des Menschen überhaupt; die Abneigung gegen alles Kollektive schließt auch eine im ganzen Werk des Dichters zu belegende Ablehnung des Krieges und des politischen Machtstrebens ein. Zwischen uns und Pessoas Fragmenten liegt mehr als ein halbes Jahrhundert. Das führt zu sonderbaren Verschiebungen der Perspektive: Vor fünfzig Jahren konnten die ständig wiederkehrenden Hinweise auf Lebensekel und Überdruß als intuitiv bekundete Verwandtschaft mit den Vertretern der Existenzphilosophie erscheinen, die Pessoa mit großer Sicherheit nicht gekannt hat; heute erscheinen uns diese Kennzeichen des »Buchs der Unruhe« eher als Fortsetzung der Fin-de-siecle-Mentalität in die Epoche der Existenzphilosophie hinein. Das im ganzen Werk des Dichters stark artikulierte Leiden am Bewußtsein läßt sich auch bei anderen Autoren der ersten Jahrhunderthälfte beobachten: Bei Ludwig Klages ebenso wie bei Gottfried Benn, um nur deutsche Beispiele anzuführen. Die Aufspaltung des Ichs in eine Vielzahl von UnterIchs mit eigener Biographie und eigenständigem Werk steht in einem klaren zeittypischen Bezug zu verwandten Persönlichkeitsspaltungen bei Unamuno, Antonio Machado, Henri Michaux u. a. Eigentümlicherweise haben Äußerungen von Pessoa-Soares, die ganz der Fin-de-siecle-Mentalität anzugehören scheinen, durch den Abstand der Jahrzehnte neue Aussagekraft erhalten. Dazu gehört das ständige Pochen auf den Primat der Phantasie und des Traumes. Die diesbezüglichen Fragmente lesen sich wie Aufforderungen, zu den vorgestanzten Bildern und Meinungen der Medien Abstand zu halten. Wie ein Hohn auf die Reisewut unserer Tage klingt der Satz: »Was wir sehen, ist nicht das, was wir sehen, sondern das was wir sind.« Auch die »Ästhetik der Abdankung«, die im »Buch der Unruhe« anklingt und in Pessoas dichterischem Werk mehrfach gegenwärtig ist, ist des Nachden-
kens wert. Sie gehört zu den persönlichsten Einsichten des Moralisten Pessoa, zu seinem Rückzug auf das Minimum des Stoikers: »Glücklich endlich, wer von allem abdankt und wem, weil er von allem abgedankt hat, nichts genommen oder verkürzt werden kann« (Fragm. 199). Diese Selbstaufgabe schließt die Überzeugung nicht aus, daß die Nachwelt dem Abgedankten eine Gerechtigkeit widerfahren lassen wird, die bei der Mitwelt nicht zu finden war. Kein Leser wird sich der abgründigen Traurigkeit entziehen können, die aus diesen Niederschriften eines gänzlich Einsamen aufsteigt. Es ist eine existentielle Traurigkeit, die nichts erhofft und nichts erwartet, sich allenfalls an den atmosphärischen Vorgängen in der Außenwelt, Sonnenschein und Wind, innerlich aufrichtet und von der sanften Ironie des Dichters gemildert wird. Sie lastet schwerer als die vergleichbare Traurigkeit eines J. L. Borges, weil die Filterung durch literarische Anspielungen entfallt und der Autor alles ganz unmittelbar erlebt und schwer nimmt. Den einzigen Lichtblick im düsteren Weltbild des Hilfsbuchhalters stellt sein unerschütterlicher Glaube an den Wert der Literatur dar. Eben hier, wo der Mensch von heute eher zu einer gewissen Skepsis neigen würde — hat die Literatur noch ein Publikum und eine Zukunft? — neigt Pessoa-Soares zum Optimismus. Mit Nietzsche, Heinrich Mann, Benn und anderen ist Pessoa einig in der Überzeugung, daß die Kunst, und speziell die literarische Kunst der einzige Bereich ist, in welchem der Nihilismus der Epoche ausgeschaltet ist: ». . . in der Kunst gibt es keine Enttäuschung, weil die Täuschung von Anfang an inbegriffen war« (Fragm. 239). Der Dichter mag, seiner Bestimmung zum fragmentarischen Ausdruck bewußt, unter der Unabgeschlossenheit und der notgedrungenen Unvollkommenheit seiner Hervorbringungen leiden, aber er bleibt dennoch überzeugt, daß alle Möglichkeiten des menschlichen Geistes in der literarischen Tätigkeit gipfeln: »Die Literatur . . . scheint mir das Ziel zu sein, das jede menschliche Anstrengung ansteuern sollte, wenn sie wahrhaft menschlich und nicht ein Überrest der Tierhaftigkeit wäre . . . Sich bewegen heißt leben, sich aussagen heißt überleben.« (Fragm. 240) So ist das »Buch der Unruhe« das Dokument eines an sich und seiner Umwelt leidenden Menschen, der vom Dekadenzbewußtsein seiner (englischsprachigen) Anfänge nie losgekommen ist,
auch wenn Teilstücke des Werkes, die Gedichte von Caeiro und Campos, eine Reaktion auf dieses Dekadenzbewußtsein erkennen lassen. Der mitteleuropäische Leser wird ohne Schwierigkeiten Beziehungen zu anderen, verwandten Autoren aufspüren: Er wird sich an Huysmans' Roman »A Rebours«, an Rilkes »Malte Laurids Brigge« und an das Tagebuch Amieis erinnern. Ungeachtet mancher Ähnlichkeiten wird er feststellen, daß der Dichter Pessoa die Originalität des Moralisten Pessoa bestimmt und so vielleicht angeregt werden, sich über den Moralisten einen Zugang zum Dichter zu verschaffen. Die vorliegende deutschsprachige Ausgabe berücksichtigt nur knapp die Hälfte der in der Originalausgabe versammelten Fragmente. Allerdings die bessere Hälfte, wie der Übersetzer zuversichtlich meint, und den Umfang der Fragmente angehend gewiß 2/3 der Originalausgabe. Wir wissen nicht, wie ein von Pessoa selbst redigiertes »Buch der Unruhe« ausgesehen haben würde: Die lange Entstehungszeit hat dazu geführt, daß wir es im Grunde mit zwei »Büchern« zu tun haben, einem »Proto-Buch« spätsymbolistischen Charakters und dem für unsere Begriffe »definitiven«, aus den Jahren 1929—1934 stammenden »Tagebuch« des Bernardo Soares. Der Übersetzer hat gemeint, die frühen Fragmente zugunsten der späteren vernachlässigen zu sollen. Die deutschsprachige Ausgabe versucht, alles Lückenhafte oder bloß Wiederholende auszusondern und aus der Materialienfülle der Originalausgabe ein von Anfang bis Ende lesenswertes Buch herauszufiltern. Auf eine Wiedergabe der Varianten ist im Interesse besserer Lesbarkeit verzichtet worden; der Übersetzer hat fast durchgängig dem Haupttext den Vorzug vor den Varianten in den Fußnoten gegeben. Die gegenüber der Originalausgabe veränderte Anordnung der Fragmente erklärt sich aus unseren vom portugiesischen Herausgeber abweichenden Kriterien. Die Zahlen der Originalausgabe sind am Rand der einzelnen Fragmente eingeklammert hinzugefügt worden. Möge der deutschsprachige Leser über das hier gestrafft vorgelegte Werk des Moralisten Pessoa einen neuen Zugang zum Werk des Dichters finden! Georg Rudolf Lind