New York in einer nahe gelegenen Zukunft:
Die Ausweiskarte des als vermißt geltenden
L. Murugan auf dem Bildschirm ...
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New York in einer nahe gelegenen Zukunft:
Die Ausweiskarte des als vermißt geltenden
L. Murugan auf dem Bildschirm des Tele-Workers
Antar führt zurück in die Vergangenheit.
Antar ist einem Geheimnis auf der Spur,
das verschiedene Epochen und Menschen
miteinander verbindet.
Wie kam es zur Lösung des Malaria-Puzzles
durch den Nobelpreisträger Sir Ronald Ross?
Warum stellt Murugan 1995 in Kalkutta
Nachforschungen über Ronald Ross an?
Was ist das Calcutta Chromosom und welche
besonderen Eigenschaften besitzt es?
Forschung als literarisches Abenteuer.
Ein Medizin-Thriller, eine wissenschaftliche Erkundung,
eine gespenstische Entdeckung.
Antar, ein ägyptischer Tele-Worker in New York, stößt am Bildschirm zufällig auf die Ausweiskarte seines früheren Kollegen L. Murugan. Antar erinnert sich, daß Murugan als Experte für den englischen Nobelpreisträger Sir Ronald Ross galt, der 1898 in Kalkutta das »Mala ria-Puzzle« löste. Murugan war 1995 zu einer umstrittenen Mission nach Kalkutta aufgebrochen, um vor Ort seine eigenwillige MalariaTheorie zu beweisen. Seither gilt er als vermißt. Antars Erinnerungen an seine Gespräche mit Murugan, bevor dieser nach Kalkutta aufbrach, die Rekonstruktion alter Schrift- und Ton dokumente und Online-Recherchen rund um den Globus erhellen Schritt für Schritt Murugans Motivation für seine Kalkutta-Reise. Die seltsa men Vorgänge im Tropenlabor von Ronald Ross werden ebenso hart näckig zurückverfolgt wie das irrlichternde Schicksal der Protagonisten von damals, das die Figuren der Gegenwart und Zukunft heimsucht. Amitav Ghosh entwirft in seinem packenden Roman das Bild eines alternativen Forschungsansatzes, der westliche Ratio und indische Intuition zu einer neuen Erkenntnis verschmilzt. Auf historischen Fakten basierend verzweigt sich dieser Roman in phantastischen Dimensionen und führt den Leser zum »mentalen Durchbruch«. Futuristische Compu tertechnologie und religiöse Zeremonien, außergewöhnliche Charaktere und stimmungsvolle Porträts Kalkuttas prägen einen neuen literarischen Höhepunkt im Werk des noch jungen Autors. Amitav Ghosh wurde 1956 in Kalkutta geboren und wuchs in Bangla desh, Sri Lanka und Nordindien auf. Er studierte in Delhi, Oxford und Kairo Geschichte und Sozialanthropologie und hat an verschiedenen Universitäten Indiens und Amerikas unterrichtet. Für seinen Erstlings roman »Bengalisches Feuer oder Die Macht der Vernunft« erhielt er den Prix Médicis Étranger, für »Schattenlinien« wurden ihm mehrere der wichtigsten indischen Literaturpreise zuerkannt. »In einem alten Land« hat ihm den Ruf eines subtil erzählenden Sachbuchautors eingebracht. Ghosh veröffentlichte zahlreiche Beiträge in Tageszeitun gen und Zeitschriften wie Granta, New Republic, New Yorker, The New York Times, Observer. Er ist verheiratet mit der Amerikanerin Deborah Baker, die als Verfasserin von Biographien bekannt geworden ist. Mit ihren Kindern leben sie in New York.
Amitav Ghosh
Das Calcutta
Chromosom
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martina Tichy
Non-profit ebook by tigger September 2003 Kein Verkauf!
Karl Blessing Verlag
Titel der Originalausgabe: The Calcutta Chromosome – A Novel of Fevers, Delirium & Discovery Originalverlag: William Morrow, New York
Der Karl Blessing Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann. 1. Auflage © Copyright der deutschsprachigen Ausgabe Karl Blessing Verlag, München 1996 © Copyright by Amitav Ghosh 1995 Umschlaggestaltung: Network, München Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb, Pößneck Printed in Germany ISBN 3-89667-006-9
FÜR KOELI
Ich danke Raj Kumar Rajendran vom Department of Computer Sciences an der Columbia University. Mein besonderer Dank geht an Alka Mansukhani vom Department of Microbiology des New York University Medical Center. Mit ihren Ideen und ihrer Unterstützung trug sie wesentlich zur Entstehung dieses Buches bei.
Heut’ gab ein milder Gott
In meine Hand ein Wunder. Preis
Und Ehre unsrem Gott!
Auf Sein Geheiß
Erforsch’ ich Sein’ geheimste Tat
Mit Mühen, tränenreich,
Und finde deine list’ge Saat,
O Tod, du Mörder bleich.
Das Wunder rettet in tiefster Not
Millionen aus tödlichem Krieg.
Sprich, wo ist dein Stachel, Tod?
O Hölle, wo dein Sieg?
Sir Ronald Ross
(Nobelpreis für Medizin, 1902)
TEIL 1
20. August: Mosquito day Eins Hätte das System den Bildlauf nicht gestoppt, wäre Antar nie aufgefallen, daß der Papierfetzen auf seinem Bildschirm der Rest einer Ausweiskarte war. Sie sah aus, als sei sie vor dem Verbrennen gerettet worden: die Plastikschicht war am Rand verzogen und geschmolzen. Die Schrift war größtenteils unleserlich, und ein Rußfleck verdeckte das Foto. Von einer Perforation in der linken oberen Ecke hing noch ein etwa zehn Zentimeter langes, rostiges Metallkettchen in einer Schlaufe herab wie ein schlaffer Schwanz. Das Kettchen, nicht die Karte, hatte das System aus dem Takt gebracht. Die Karte tauchte in einer der zahlreichen Inventarlisten auf, die mit monotoner Regelmäßigkeit um den Erdball gesendet wurden. Die Gründe dafür waren Antar nicht ersichtlich, er wußte nur, daß das System darin unschlagbar war. Sobald es damit loslegte, ließ es stundenlang eine endlose Folge von Dokumenten und Objekten durchlaufen und stoppte nur, wenn ihm etwas unterkam, das es nicht einordnen konnte, meistens ganz triviale Dinge. Einmal war es ein Briefbeschwerer in der Form einer gläser nen Schneekugel, ein anderes Mal eine Flasche mit Korrektur flüssigkeit aus dem Büro eines Wasserinspektors südlich des Aralsees. Beide Male geriet die Maschine nahezu außer sich 9
und feuerte eine Frage nach der anderen ab. Antar kannte das von Kindern: warum? was? wann? wo? wie? Aber Kinder fragen aus Neugier; bei diesen AVA/IIeSystemen war es etwas anderes, das er sich nur als simulierten Drang zur Selbstvervollkommnung erklären konnte. Er arbeite te nun schon seit einigen Jahren mit Ava und war immer wieder erstaunt über ihre Wißbegierde. Was sie nicht erkannte, zerlegte sie auf dem Bildschirm, produzierte mikroskopisch kleine Strukturanalysen, drehte die Bilder um und um, stellte sie auf den Kopf, kippte sie seitlich, ging bis in die letzten Einzelheiten. Sie hörte nicht auf, bis Antar ihr alles gesagt hatte, was er über das Ding wußte, mit dem sie gerade auf dem Bildschirm spielte. Er hatte versucht, sie auf ihre eigenen Lexikonpro gramme zu verweisen, aber das reichte ihr nicht. Irgendwo im Netz war sie offenbar darauf geeicht worden, Wissen aus erster Hand zu ergattern, und ließ sich davon nicht abbringen. Wenn sie schließlich das x-te nebensächliche Detail aus ihm heraus gequetscht hatte, wirbelte sie das Objekt, offenbar höchst zufrieden mit sich selbst, ein letztes Mal auf dem Bildschirm herum und legte es dann in den unendlichen Weiten ihres Speichers ab. Bei dem Briefbeschwerer hatte er erst nach einer vollen Mi nute gemerkt, was vorging. Er hatte mit einem geliehenen Gerät gelesen, das die Seiten aus einer Zeitschrift oder einem Buch auf die gegenüberliegende Wand projizierte. Solange er den Kopf nicht zu sehr bewegte und regelmäßig auf die richtige Taste drückte, entging es Ava, daß sie nicht seine volle Auf merksamkeit bekam. Das Gerät war natürlich verboten, eben weil es für Leute wie ihn gedacht war, die allein zu Hause arbeiteten. Beim ersten Mal ging es noch gut, doch bei der Korrektur flüssigkeit passierte es wieder: er las, starrte auf die Wand und paßte länger als eine Minute nicht auf. Plötzlich verfiel Ava in 10
tödliches Schweigen, und dann begannen Warnsignale über den Bildschirm zu zucken. Er ließ das Buch rasch verschwin den, doch sie hatte schon bemerkt, daß etwas nicht stimmte. Am Ende der Woche bekam er eine Nachricht von seinem Arbeitgeber, dem International Water-Resources Council, daß sein Gehalt wegen »sinkender Produktivität« gekürzt worden sei; ein weiterer Rückgang könne zu Abstrichen bei seiner Rente führen. Danach ging er kein Risiko mehr ein. Er nahm noch am sel ben Abend, als er zu seinem täglichen einstündigen Spazier gang Richtung Penn Station aufbrach, das Gerät mit. In dem Doughnut-Laden bei den Fahrkartenschaltern der Long Island Railroad, in dem er Stammgast war, gab er es dem sudanesi schen Bankkassierer zurück, der es ihm geliehen hatte. Antar stand ein Jahr vor der Pensionierung und wußte, daß er eine Kürzung seiner Rente nicht mehr würde einarbeiten können. Seit Jahren träumte er davon, New York zu verlassen und nach Ägypten zurückzukehren, endlich aus diesem muffigen Appar tement herauszukommen, wo er beim Blick auf die Straße nichts sah als reihenweise mit Brettern vernagelte Fenster in den grauen Fassaden von Gebäuden, die fast so leer waren wie das, in dem er wohnte. Danach machte er keinen Versuch mehr, Ava auszutricksen. Er widmete sich wieder seiner Arbeit, starrte geduldig auf die endlosen Inventarlisten und fragte sich, wozu das Ganze gut sein sollte. Vor Jahren, Antar war noch ein Junge, war eine Archäologin in dem kleinen ägyptischen Dorf aufgetaucht, in dem seine Familie lebte – auf einem der Wüste abgerungenen Stückchen Land am westlichen Rand des Nildeltas. Die Archäologin war eine uralte ungarische Emigrantin mit spröder, feingeäderter Haut wie ein vertrocknetes Eukalyptusblatt. Da niemand ihren Namen aussprechen konnte, nannten die Dorfkinder sie einfach al-Magari, die Ungarin. 11
Die Ungarin besuchte das Dorf im Lauf einiger Monate mehrmals. Die ersten paar Male brachte sie ein kleines Team von Assistenten und Arbeitern mit. Beschirmt von einem riesigen Hut saß sie auf einem Segeltuchstuhl und dirigierte die Ausgrabungen mit der silbernen Spitze ihres Stocks. Manchmal durften Antar und seine Vettern ihr gegen Bezahlung helfen, nach der Schule oder wenn ihre Väter sie von der Feldarbeit freistellten. Danach saßen die Jungen im Kreis und schauten zu, wie sie Sand und Erde mit Handbesen und Pinzetten durch kämmte und den Staub mit Vergrößerungsgläsern untersuchte. »Was tut sie da?« fragten sie einander. »Wozu soll das gut sein?« Die Fragen waren meist an Antar gerichtet, weil er derjenige war, der in der Schule stets eine Antwort parat hatte. Aber diesmal wußte auch er nicht Bescheid. Er war ebenso ratlos wie die anderen. Um jedoch seinem Ruf gerecht zu werden, holte er eines Tages tief Luft und verkündete: »Ich weiß, was sie da machen. Sie zählen den Staub. Sie sind Staubzähler.« »Was?« fragten die anderen verblüfft. Also erklärte er, die Ungarin zähle den Staub, so wie alte Männer Gebetsperlen zählten. Sie glaubten ihm, weil er der klügste Junge im Dorf war. Eines Nachmittags erinnerte sich Antar unvermittelt daran: eine sonnendurchflutete Vision von Sand und Lehmziegeln und knarrenden Wasserrädern. Er kämpfte gegen den Schlaf an, während ein besonders langes Bestandsverzeichnis durchlief. Es stammte aus einem Verwaltungsgebäude, das vom Interna tional Water Council übernommen worden war – irgendeine läppische kleine Filiale der Landwirtschaftsbehörden in Ovam boland oder Barotseland. Die Untersuchungsbeamten hatten Ava mit allem gefüttert, was sie nur finden konnten: Büro klammern, Aktendeckel, Disketten – der gesamte unendliche Büroschrott des zwanzigsten Jahrhunderts. Offenbar glaubten sie, daß alles, was sie an solchen Orten fanden, mit der Aus 12
beutung der weltweiten Wasserressourcen in Verbindung stand. Antar hatte nie ganz verstanden, warum sie sich so viel Mühe machten, aber an jenem Nachmittag, als er an die Archäologin dachte, wußte er es plötzlich. Sie glaubten, mit ihren Bewässe rungsexperimenten in die Geschichte einzugehen. Alles, was sie getan hatten und noch tun würden, wollten sie bis ins letzte Detail festhalten. Statt einen Historiker ihren Müll nach Bedeu tungen durchforsten zu lassen, wollten sie das selbst erledigen – und den ganzen Dreck mit ihren eigenen Bedeutungen versehen. Er setzte sich ruckartig auf und sagte auf Arabisch: »Genau das bist du, Ava, ein Staubzähler: ›Addaad al-Turaab‹.« Er sagte es im Flüsterton, aber Ava hörte ihn trotzdem. Er hätte schwören können, daß sie verblüfft war: ihr »Auge«, eine lasergesteuerte Überwachungskamera, richtete sich plötzlich auf ihn, während die Grafiken eines Bildschirmschoners das Programm verdeckten. Dann begann Ava Übersetzungen der arabischen Wendung auszuspucken, und zwar in allen Welt sprachen entsprechend ihrer Verbreitung in abnehmender Ordnung: Mandarin, Spanisch, Englisch, Hindi, Arabisch, Bengali … Erst war es noch witzig, aber als sie bei den Dialek ten des oberen Amazonas ankam, hielt Antar es nicht mehr aus. »Gib nicht so an!« schrie er. »Du brauchst mir nicht zu bewei sen, daß du alles weißt, Iskuti: halt die Klappe.« Statt dessen brachte Ava ihn zum Schweigen und pfefferte ihm gelassen weitere Übersetzungen hin. Antar lauschte staunend, wie sich »halt die Klappe« im Blätterrauschen des oberen Amazonas ausnahm.
13
Zwei Antar war schon im Begriff, Schluß zu machen, als die Karte mit dem Kettchen am Bildschirm auftauchte. Er behielt die Zeitanzeige im Auge, denn er hatte gehofft, ein paar Minuten früher fertig zu werden. Seine Nachbarin, eine junge Frau, die vor ein paar Monaten nebenan eingezogen war, hatte sich für diesen Abend bei ihm eingeladen. Sie wollte etwas zu essen mitbringen. Bevor sie kam, hätte Antar gern eine Weile Zeit für sich gehabt, um zu duschen und seinen üblichen Abendspa ziergang zur Penn Station zu machen. Bis zu seinem Feier abend um sechs blieb ihm noch eine gute halbe Stunde. Unruhig wie er war, hätte Antar die Karte vermutlich keines Blickes gewürdigt, sondern sie mit einem Tastendruck in das unendliche Dunkel von Avas Speicherzentrum befördert. Er schaute nur deshalb genauer hin, weil Ava wegen des Kett chens wieder einmal in blankes Unverständnis verfiel. Die Kette bestand aus winzigen, dichtgereihten Metallkügel chen. Obwohl sie verrostet und abgestoßen war und keine Nickelbeschichtung mehr hatte, erkannte Antar sie auf den ersten Blick. Er hatte selbst jahrelang eine solche Kette getra gen, als er noch bei LifeWatch arbeitete. LifeWatch war eine kleine, aber weltweit operierende und angesehene gemeinnützige Gesundheitsorganisation mit einer umfangreichen Epidemien-Datenbank. Für LifeWatch hatte Antar einen Großteil seines Lebens als Programmierer und Systemanalytiker gearbeitet. In gewisser Hinsicht war er dort immer noch angestellt, wenngleich LifeWatch seit langem, wie viele andere unabhängige Organisationen ihrer Art, von der riesigen Gesundheitsabteilung des neugegründeten Internatio nal Water Councils geschluckt worden war. Wie den meisten seiner Kollegen war auch Antar bis zur Pensionierung eine belanglose »Heimarbeit« zugewiesen worden. Obwohl er nunmehr formell vom Council bezahlt wurde, hatte er dessen 14
New Yorker Büroräume noch nie betreten. Wenn nötig, traten seine Arbeitgeber über Ava mit ihm in Verbindung, was nicht allzu häufig geschah. Antar erinnerte sich an die Zeit, als die Kettchen mit den Strichcode-Ausweisen zur Standardausrüstung bei LifeWatch gehörten. Manche trugen die Karten lieber mit Clips, doch er selbst hatte stets die Kettchen bevorzugt. Er ließ die Metallkü gelchen gern durch die Finger gleiten. Sie fühlten sich an wie winzige Gebetsperlen. Er verweilte noch einen Augenblick bei der Kette. Es gab sie seit Jahren nicht mehr, und er konnte sich nicht erinnern, wann sie eingeführt worden waren – vielleicht irgendwann in den achtziger Jahren. Damals war er schon weit über zehn Jahre bei LifeWatch. Er hatte gleich nach seinem Studienabschluß an der Patrice-Lumumba-Universität in Moskau dort angefangen. Damals vergaben die Russen noch Stipendien an Studenten aus armen Ländern, und Moskau bot weltweit die beste Ausbildung in linearer Programmierung. LifeWatch suchte international per Inserat einen Programmierer und Analytiker, um die Buchhaltung und den Zahlungsverkehr in das Online-System einzuspeisen. Es war eine Arbeit am Großrechner – nicht unbedingt das, was seiner Ausbildung entsprach. Andererseits war es ein gesicherter, solider Job mit Visumgarantie und Entlohnung in Dollar. Er hatte sich sofort beworben, allerdings ohne sich allzu viele Hoffnungen zu machen. Die Konkurrenz war groß. Schließlich stand er als dritter auf der Auswahlliste, doch die beiden vor ihm nahmen andere Angebote an. In Erinnerung daran, wie jene Ketten und die plastikbe schichteten Ausweiskarten sich angefühlt hatten, rieb Antar die Fingerspitzen aneinander. Die Ketten gab es in zwei Größen. Man konnte sie entweder um den Hals tragen oder durch ein Knopfloch stecken. Er hatte stets die kürzeren Ketten bevor zugt. Er nahm sich Zeit und tippte Antworten auf Avas Fragen ein. 15
Währenddessen spielte Ava pausenlos mit der Karte, wendete sie und vergrößerte in beliebiger Reihenfolge verschiedene Ausschnitte. Plötzlich zuckte ein Symbol schräg über den Monitor, drehte sich mehrmals schnell um die eigene Achse und wurde dabei immer kleiner. Antar sah es, kurz bevor es am Bildschirmrand verschwand. Er griff zur Tastatur und holte es langsam wieder zurück, plazierte es im Zentrum des Bildschirms und fixierte den Ausschnitt. Es war Jahre her, seit er das einst so vertraute Logo von Li feWatch – zwei stilisierte, ineinander verflochtene Lorbeer kränze – zuletzt gesehen hatte. Hier war es nun, vor ihm, zutage gefördert aus den Tiefen einer verlorengegangenen Ausweiskarte. Antar drehte die Karte auf dem Bildschirm um. Es faszinierte ihn, das so wohlbekannte und lange vergessene Symbol plötzlich wiederzusehen. Er ließ die Karte wieder im Originalformat auf dem Bildschirm erscheinen und vergrößerte sie behutsam. Kein Zweifel: es war eine Ausweiskarte von LifeWatch. Er vermutete, daß die Karte aus der Mitte der achtziger oder aus den frühen neunziger Jahren stammte. In jener Zeit hatte er so viele Stunden mit Tabellenkalkulationen zugebracht, daß er jeden Gehaltsempfänger von LifeWatch namentlich kannte. Er betrachtete die schmutzige alte Karte auf dem Bildschirm und fragte sich, wem sie wohl gehört hatte. Wenigstens den Namen würde er auf jeden Fall erkennen, vielleicht sogar das Gesicht auf dem Foto. Ohne weiter nachzudenken, tippte er eine Reihe von Befeh len ein. Avas Bildschirm wurde einen Augenblick lang leer, während sie damit begann, die Karte im Originalzustand wiederherzustellen. Sofort bereute Antar seinen Entschluß. Der Prozeß konnte eine Weile dauern, und er hatte nur noch fünf undzwanzig Minuten bis zum Feierabend. Verärgert trat er mit Wucht gegen den Fuß des Drehstuhls, daß es ihn herum wirbel 16
te. Dabei sah er noch, daß auf dem Bildschirm unter der Zeile »Herkunftsort« ein Wort erschienen war. Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden und brachte den Stuhl abrupt zum Still stand. Meistens kümmerte er sich nicht darum, woher die Inventar listen stammten; sie kamen in solchen Mengen herein, daß es auch kaum eine Rolle spielte. Doch jetzt war er neugierig, vor allem als er »Lhasa« auf dem Bildschirm las. Er versuchte sich zurückzuerinnern, ob LifeWatch in den achtziger und neunzi ger Jahren dort ein Büro gehabt hatte. Dann sah er, daß vor dem Wort »Lhasa« ein Symbol stand, welches anzeigte, daß der Gegenstand dort lediglich in den Informationsfluß einge gangen war. Der Fundort war ein anderer. Er schaute über die Schulter und entdeckte, daß mitten in seinem Wohnzimmer etwa einen Meter hinter ihm der schwa che Umriß eines riesigen weißen Dreiecks sichtbar wurde. Ava hatte mit einer holographischen Projektion der rekonstruierten Karte begonnen. Das verschwommene Dreieck war die stark vergrößerte obe re linke Ecke. Er trommelte mit den Fingern auf die Stuhllehne und überlegte, ob er Ava nach dem Fundort der Karte fragen sollte. Wenn etwas aus Lhasa kam, war das nicht immer leicht herauszubekommen. In Lhasa befand sich das kontinentale Kommandozentrum des Water Councils. Für die Angestellten des Councils war Lhasa deshalb die eigentliche Hauptstadt Asiens, weil es weltweit als einziges Kommandozentrum nicht nur eine, sondern gleich mehrere wasserreiche Regionen verwaltete: Ganges-Brahmaputra, Mekong, Trans-Jangtse und Huang-Ho. Alle Informationsflüsse des Councils in der östlichen Hälfte des Kontinents liefen über Lhasa. Demnach konnte die Karte an jedem Punkt zwischen Karatschi und Wladiwostok in das System eingegeben worden sein. Er blickte wieder über die Schulter. Ava brauchte länger, als 17
er gedacht hatte. Gerade begann sie mit dem Foto in der oberen rechten Ecke der Karte. Er schaute auf die Bildschirmuhr. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit für seinen Spaziergang zur Penn Station, bevor Tara, seine Nachbarin, herüberkam. Während er darauf wartete, daß Ava das Foto erstellte, tippte er einen weiteren Befehl ein, um die Herkunft der Karte zu rückzuverfolgen. Ava brauchte etwas länger als üblich, trotz dem dauerte es nur ein paar Sekunden, bis sie den Fundort der Karte rekonstruiert hatte. Es war Kalkutta.
Drei Ava kam mit der Karte nur langsam voran. Antar rollte inzwi schen auf seinem Stuhl so weit zurück, daß er durch die Wohn zimmertür in die Küche blicken konnte. Wenn er den Kopf drehte, sah er durch das Fenster über der Spüle gerade eben bis zu Taras Wohnung auf der anderen Seite des Luftschachts. Erleichtert stellte er fest, daß sie noch nicht zu Hause war. In der Wohnung war es dunkel. Gähnend lehnte er sich im Stuhl zurück. Seine Augen glänz ten bei dem Gedanken an die dampfende Tasse mit süßem, schwarzem Tee, die ihn im Neonlicht des Doughnut-Ladens an der Penn Station erwartete; an die anderen Stammkunden, die sich gelegentlich an dem Resopaltisch einfanden – der sudane sische Bankkassierer, die gutgekleidete Frau aus Guayana, die in einem Secondhandshop arbeitete, und der junge Mann aus Bangladesch, der den Zeitungskiosk in der U-Bahn betrieb. Oft saßen sie einfach in einvernehmlichem Schweigen um einen runden Tisch im hinteren Teil des Ladens, schlürften Tee oder Kaffee aus Pappbechern und sahen arabische und indische Videos auf einem tragbaren Fernseher. Hin und wieder kam auch ein Gespräch zustande, oder man tauschte Tips aus – über ein Gerät, das irgendwo günstig zu haben war, oder einen 18
neuen Trick, um die Münzautomaten der U-Bahn zu umgehen. Antar war Stammgast dieses Doughnut-Ladens geworden, weil der Besitzer Ägypter war wie er selbst. Nicht daß er das Arabischreden vermißte, keineswegs. Davon bekam er dank Ava tagsüber mehr als genug. Seit sie auf »Lokalisierung« programmiert worden war, sprach Ava mit ihm im ländlichen Dialekt des Nildeltas. Ihre stimmlichen Fähigkeiten reichten mittlerweile so weit, daß sie je nachdem, was gesprochen wurde, die Intonation wechselte, von jung zu alt oder von männlich zu weiblich. Antar beherrschte den Dialekt nicht mehr sehr gut. Er hatte mit vierzehn sein Dorf verlassen, war nach Kairo gegangen und war nie wieder zurückgekehrt. Manchmal konnte er Ava nicht ganz folgen. Und dann wieder um glaubte er bei einem ungewöhnlichen Ausdruck oder einer typischen Redewendung einen längst vergessenen Verwandten reden zu hören. Es war angenehm, abends diesen Stimmen zu entkommen, aus dem trostlosen, kalten Gebäude mit seinem stählernen Gerüst von verrosteten Feuerleitern zu treten und das metalli sche Echo auf seinen Treppen und Fluren nicht mehr zu hören. Es hatte etwas Belebendes, ja fast Magisches, von jener zugi gen Straße in die hellerleuchteten Passagen der Penn Station zu gehen, die Menschenmengen um die Fahrkartenschalter zu sehen, das Rumpeln der Züge unter den Füßen zu spüren und einen Straßenmusiker Didgeridoo spielen zu hören, dessen tiefe Baßtöne in den Betongängen wie ein verstärkter Herzschlag widerhallten. Und dann natürlich der Tee: der Besitzer bereitete ihn extra für Antar und sich in einem angeschlagenen Emailletopf zu. Er war dickflüssig und sirupartig mit einem Hauch von Pfeffer minz – so wie ihn Antar aus seiner Kindheit kannte. Er fuhr mit dem Finger über seinen feuchten Kragen. Es war schwül in der Wohnung. Wenn er die Fenster zumachte, wurde es zu heiß, wenn er sie offenließ, war es zu dumpfig. Unten 19
öffnete und schloß sich die Haustür in regelmäßigen Abstän den. Jedesmal wenn sie zufiel, spürte er die Erschütterung durch den Boden. Diejenigen, die in den Großhandelsfilialen und Lagerräumen auf den ersten drei Stockwerken arbeiteten, gingen jetzt nach Hause; wegen des langen Wochenendes waren sie etwas früher dran. Er hörte, wie sie auf der Straße, unterwegs zur U-Bahn-Station an der 7th Avenue, einander etwas zuriefen. Er atmete immer auf, wenn das Türenschlagen aufhörte und das Gebäude wieder still wurde. Früher waren alle Wohnungen im Haus an Familien vermie tet gewesen: große, lärmende Familien aus dem Nahen Osten und Zentralasien – Kurden, Afghanen, Tadschiken und sogar ein paar Ägypter. Er hatte oft an die Türen der Nachbarn klopfen und um Ruhe bitten müssen. Tayseer, seine Frau, war im letzten Drittel ihrer Schwangerschaft, die sie im Bett zu bringen mußte, sehr lärmempfindlich geworden. Früher war es ihr nie aufgefallen, wenn die Nachbarn sich lautstark über den Luftschacht hinweg unterhielten oder die Kinder im Flur Skateboard fuhren. Sie war in Hörweite der überdachten Souks am Bab Zuwayla in Kairo aufgewachsen und mochte die Basaratmosphäre dieses Gebäudes, wo jeder bei jedem herein schaute und man an Sommerabenden draußen auf dem kleinen Vorplatz saß, während die Kinder beim Feuerhydranten spiel ten. Sie mochte das Haus, obwohl das Viertel sie abschreckte, insbesondere der starke Verkehr zu beiden Seiten, auf dem West Side Highway und an der Zufahrt zum Lincoln Tunnel. Dennoch wollte sie gern dort wohnen. Sie stellte es sich leich ter vor, ein Kind hier aufzuziehen, wo schon so viele Frauen mit Kindern lebten. Aber letztlich war alles umsonst: eine Fruchtwasser-Embolie in der fünfunddreißigsten Schwangerschaftswoche kostete sie und ihr Baby das Leben. Mittlerweile waren sie alle fort, die lärmenden und feiernden Familien, die Tayseer so gefallen hatten. Sie waren allmählich 20
in Kleinstädte und Vororte gezogen, wie es der Familienzu wachs oder die beruflichen Veränderungen eben erforderten. Auch Antar hatte manchmal erwogen, wegzuziehen, konnte sich aber nie dazu entschließen. Zunächst hatte er erwartet, daß sich das Haus wieder füllen würde, nachdem die alten Nachbarn fort waren, so wie in früheren Generationen eine Einwandererwelle auf die nächste folgte. Doch an irgendeinem Punkt hatte sich dieser Ablauf verändert. Neue Verordnungen zur Wohnraumnutzung hatten die Hausbesitzer veranlaßt, leerstehende Wohnungen in Ge schäftsräume umzuwandeln. Bald lebten nur noch ein paar langjährige Bewohner wie er selbst im Haus, die auf die eingefrorenen, günstigen Mieten angewiesen waren. Jedes Jahr nahm die Zahl der Menschen ab und die der Lagerräume zu. Der Mann in der Nachbarwohnung war noch vor Antar hier eingezogen. Er war ein guter Schachspieler und behauptete, mit Tigran Petrokssian verwandt zu sein. Antar spielte gelegentlich eine Partie mit ihm und verlor immer haushoch. In einem heißen Sommer dann – war es vor fünfzehn oder zwanzig Jahren gewesen? – begann der Schachspieler körper lich und geistig zu verfallen. Er konnte sich nicht mehr konzen trieren und hatte kaum noch Kraft, die Figuren zu bewegen. Seine Neffen kamen aus North Carolina, wo der Rest seiner Familie lebte. Sie räumten die Wohnung aus und luden alles in einen gelben Umzugswagen. Bevor sie abfuhren, schenkten sie Antar zur Erinnerung ein Schachspiel aus Zinn; er hatte es noch irgendwo. Von seinem Wohnzimmerfenster aus sah Antar zu, wie sie mit dem Schachspieler im Umzugswagen davonfuh ren. Die nächste war eine Frau in der Wohnung unter ihm. Sie hatte im Haus gelebt, seit sie in den sechziger Jahren aus Aserbeidschan nach Amerika gekommen war. Sie hatte hier zwei Kinder aufgezogen und war hier alt geworden. Sie konnte 21
nirgendwohin, zumal ihre Augen immer schlechter wurden. In der vertrauten Umgebung kam sie noch allein zurecht. Woan ders wäre sie verloren gewesen. Die Kinder ließen sie auf ihre inständigen Bitten hin dort wohnen. Sie flogen alle zwei Monate aus dem kleinen Ort im mittleren Westen, wo sie lebten, zum Besuch her und ließen ihr zweimal wöchentlich durch ein Geschäft im Zentrum Lebensmittel anliefern. Und eines Tages brachte der Lieferantenjunge sie um, schlug ihr den Schädel mit einer gußeisernen Bratpfanne ein. Antar fand die Leiche. Er hatte sich an den Rhythmus ihrer Bewe gungen gewöhnt und wußte, daß etwas nicht stimmte, wenn er einen ganzen Tag das vertraute Pochen ihres Stocks nicht hörte. Vier Jahre lang lebte er allein im vierten Stock. Dann brachte Maria, die Guayanerin aus dem Doughnut-Laden, vor einigen Monaten Tara zur Penn Station mit und stellte sie den anderen Stammgästen vor. Mit ihrer feinknochigen Hakennase wirkte Tara wie ein kleiner Vogel. Sie war noch relativ jung – in den Dreißigern, schätzte Antar –, auf jeden Fall sehr viel jünger als Maria. Er vermutete sofort, daß sie aus Indien kam. Die Folge rung war nicht weiter schwer, weil Maria indischer Herkunft war und, wie er wußte, dort noch Verwandte hatte. Die beiden Frauen bildeten einen interessanten Gegensatz, schienen sich dabei jedoch sehr gut zu verstehen. Maria war groß, stattlich und stets gut gekleidet, obwohl sie kaum mehr als den Mindestlohn verdiente. Tara hingegen schien sich in westlicher Kleidung so unwohl zu fühlen, daß sie offensicht lich erst kurze Zeit hier war. Als sie zum ersten Mal an der Penn Station auftauchte, trug sie ein weites weißes Hemd, das ihr fast bis zu den Knien reichte, und dunkle Hosen, die lose um ihre Knöchel flatterten. Ihr Verhalten hingegen ließ nicht darauf schließen, daß sie neu im Land war. Bei der Vorstellung nickte sie Antar forsch zu, lächelte und ließ sich auf dem Stuhl neben ihm nieder. 22
»Was trinkst du da?« fragte sie und klopfte an seinen Becher. »Pfefferminztee«, antwortete er. »Der Besitzer des Ladens bereitet ihn extra auf ägyptische Art für mich zu.« »Grandios!« sagte sie. »Genau das, was ich mir vorstelle. Wärst du wohl so gut, ihn zu fragen, ob ich auch etwas davon bekommen kann?« Antar war verblüfft von ihrer Stimme, von ihrem starken Akzent und der umständlichen Ausdrucksweise. Im Hinausgehen, unterwegs zum Ausgang Broadway, nahm Maria ihn beiseite und erzählte ihm, daß Tara eine Wohnung suche. Sie hatte gerade eine Stellung gefunden und brauchte eine Unterkunft in Manhattan. »Was macht sie?« fragte Antar. »Kinderbetreuung«, sagte Maria. »Was denn, sie ist ein Au-pair-Mädchen?« Antar war über rascht. Er konnte sich irgendwie nicht recht vorstellen, daß Tara ihren Lebensunterhalt mit Babysitten verdiente. »Ja«, sagte Maria. Sie erklärte ihm, daß Tara als Au-pairMädchen mit einer Diplomatenfamilie aus Kuwait ins Land gekommen war. Es war jedoch nicht das Richtige gewesen, und sie hatte eine neue Stelle in Greenwich Village gefunden. Allerdings konnte sie bei der Familie, für die sie jetzt arbeitete, nicht wohnen. Antar nickte. Obwohl Maria es nicht ausdrücklich so sagte, nahm er an, daß Tara durch den Jobwechsel jetzt illegal im Land war und eine Wohnung brauchte, die sie bar bezahlen konnte, ohne viele Fragen beantworten zu müssen. Er zuckte die Achseln. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich kann nichts für sie tun.« Maria hob die Augenbrauen. »Aber ich habe gehört, in dei nem Haus steht so viel leer«, sagte sie. »Gibt es keine freie Wohnung auf deinem Stockwerk?« Antar war verblüfft. »Woher weißt du, wo ich wohne?« frag te er. Eins der ungeschriebenen Gesetze des Doughnut-Ladens 23
war, nicht allzusehr in die Privatsphäre der anderen einzudrin gen. Maria machte eine verwirrte Geste. »Ach, das habe ich von irgend jemand gehört …« sagte sie. Ihre Stimme verlor sich. Antar hatte sich daran gewöhnt, den vierten Stock ganz für sich allein zu haben. Er schreckte vor dem Gedanken an neue Nachbarn zurück. »Es wäre nicht das Richtige für sie«, sagte er. »Das Haus ist in einem grauenvollen Zustand, und die Wohnung auch.« Und doch gab er nach, als Maria ihn bat, Tara das Haus zu zeigen. Er dachte, das Viertel würde sie sofort abschrecken. Doch das war nicht der Fall. Tara gefiel die Wohnung auf Anhieb, und sie zog noch im selben Monat ein. Es war immer noch ungewohnt für ihn, in die Küche zu gehen und Licht auf der anderen Seite des Luftschachts zu sehen. Jahrelang hatte er die Vorhänge am Küchenfenster zugezo gen gelassen, weil es im Luftschacht nichts als tote Ratten und Tauben gab. Nun ertappte er sich häufig dabei, daß er hier länger als nötig verweilte. Antars Blick wanderte wieder zur Zeitanzeige. »Ist es schon Viertel vor sechs?« fragte er unwillkürlich laut. Sofort blaffte Ava eine Bestätigung und verkündete die Zeit im Stil eines ägyptischen Dorfaufsehers. Die Simulation war perfekt, bis hin zum Pochen eines hölzernen Stocks.
Vier Der Kopf auf dem Foto der Ausweiskarte nahm mitten im Wohnzimmer von oben nach unten allmählich Gestalt an. Als erstes erschien eine Haarpartie, sorgfältig geschnitten, aber ziemlich dünn und farblos. Sie gehörte eindeutig zu einem Mann. Dann folgten funkelnde schwarze Augen. Antar fragte sich, ob der Unbekannte wohl ein Ägypter sein mochte – 24
möglich, aber ebensogut konnte es sich um einen Pakistani, Inder oder Südamerikaner handeln. Sobald jedoch Wangen, Nase und Mund erschienen, gab es für Antar keinen Zweifel mehr. Er hatte Menschen stets gut lokalisieren können und war stolz darauf. Diese Fähigkeit gehörte dazu, wenn man sein Leben lang für eine internationale Behörde arbeitete. Der Mann war Inder, dessen war er sich ganz sicher. Das Bild war jetzt sehr groß und flatterte ein wenig wie ein Transparent im Wind. Die Wangen in dem Vollmondgesicht waren aufgeblasen wie bei einem Trompeter, das aggressiv vorspringende Kinn endete in einem sorgfältig kurzgeschnitte nen Spitzbart. Als Antar die Nase sah, stutzte er: es war eine Boxernase, mit plattem Rücken. Sie wirkte in dem wohlgenähr ten, runden Gesicht fehl am Platz – und zugleich irgendwie vertraut. Antar sprang vom Stuhl auf und trat einen Schritt zurück. Es war höchst eigenartig, ein flaches, zweidimensionales Foto in dreidimensionaler Projektion zu betrachten. Er ging von einer Seite zur anderen und hielt dabei den Blick auf den Mund gerichtet. Die Lippen waren wie zum Sprechen leicht geöffnet. Eine vage Erinnerung an jemand, dem er in Aufzügen und Fluren flüchtig begegnet war, stellte sich ein. Ein rundlicher kleiner Mann mit Schmerbauch, stets untadelig in Nadelstrei fenanzügen gekleidet, mit messerscharfen Bügelfalten und gestärkten Hemden, die Manschetten selbst an den heißesten Sommertagen zugeknöpft. Und ein Hut – er hatte stets einen Hut getragen. Deswegen hatte Antar ihn so lange nicht erkannt. Er hatte die Haare nie gesehen, weil sein Kopf immer bedeckt blieb – kein Wunder bei der spärlichen Haarpracht. Antar erinnerte sich nun deutlicher an den Mann, wie er ge schäftig, mit klackenden Schuhen, über die Marmorflure stolzierte und Akten unter dem Arm trug. Er entsann sich eines undefinierbaren Akzents, weder amerikanisch noch indisch 25
noch sonst etwas, und einer gellend lauten, selbstzufriedenen Stimme, die überfüllte Aufzüge beherrschte, durch die auf Hochglanz polierte Eingangshalle des Trusts hallte und amü sierte Blicke sowie geflüsterte Fragen nach sich zog: »Wer zum Teufel ist denn das?« – »Ach, das wissen Sie nicht? Das ist doch unser Mr. …« Er erinnerte sich an ein Zusammentreffen, eine Besprechung irgendwo, vor Jahren, an einem Tisch. Doch während die Erinnerung noch vage Gestalt annahm, zerrann sie auch schon wieder. Der Name: das war der Schlüssel. Wie lautete sein Name? Ein paar Sekunden später erschien er langsam, Buchstabe für Buchstabe, und plötzlich wußte Antar Bescheid. Schon nach den ersten vier Buchstaben stürzte er zu Avas Tastatur und gab ihn mit einem Suchbefehl ein. Der Name lautete L. Murugan. Die erste Suche blieb ergebnislos, also schickte Antar den Computer in die unermeßlichen Archive des Councils, wo die Berichte über alle früheren globalen Organisationen abgelegt waren. Es dauerte volle zehn Minuten, bis er Zugang zum System erhielt, dann aber ging es blitzschnell. Er lächelte, als er die altmodische Akte sah: ein winziges Symbol, der arabische Buchstabe ’ain, blinkte am oberen Bildschirmrand: darunter stand »L. Murugan«. Er kannte das Zeichen, hatte es selbst dorthin plaziert. Ein Kollege im Büro hatte damit begonnen, Wetten abzuschließen, wer das Recht schreibprogramm am häufigsten benutzte. Daraufhin hatte jeder seine Arbeiten mit einem eigenen Symbol gekennzeich net, ’ain war der erste Buchstabe seines Namens, ’Antar. Die Akte überraschte ihn: Er hatte sie sich länger und um fangreicher vorgestellt. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er eine Menge Material eingegeben. Er blätterte sie rasch bis zum Ende durch. Als er die letzte Zeile sah, lehnte er sich zurück und rieb sein 26
Kinn. Jetzt erinnerte er sich – er selbst hatte sie erst vor ein paar Jahren eingetippt. Vermißt seit 21. August 1995, stand da. Zuletzt gesehen in Kalkutta, Indien.
Fünf Am 20. August 1995, seinem ersten Tag in Kalkutta, wurde Murugan von einem Platzregen überrascht, als er gerade an der St. Pauls Cathedral vorbeiging. Er war auf dem Weg zum Presidency General Hospital an der Lower Circular Road, wo sich das Denkmal für den britischen Wissenschaftler Ronald Ross befinden sollte. Er hatte Bilder davon gesehen und wußte genau, wonach er suchen mußte. Es war ein in die Außenmauer des Hospitals eingelassener Bogen nahe dem Standort von Ross’ altem Labor. Der Bogen trug ein Medaillon mit einem Porträt und die Inschrift: In dem kleinen Labor siebzig Meter südöstlich dieses Tores entdeckte Oberstabsarzt Ronald Ross I.M.S. im Jahr 1898, auf welche Weise Malaria durch Moskitos übertragen wird. Er war schon fast da, als der Monsunregen ihn einholte. Er spürte die ersten Tropfen auf seiner grünen Baseballkappe, drehte sich um und sah eine dunkle Wasserwand über die Grünfläche des Sportplatzes auf sich zukommen. Er ging schneller und verfluchte sich, weil er seinen Schirm im Gäste haus gelassen hatte. Die Imbiß Verkäufer bei der Galerie der Schönen Künste, die ihre Körbe hastig mit Zeltplanen abdeck ten, hielten inne und starrten ihm nach, wie er in seinem Khakianzug und seiner grünen Baseballkappe vorübertrabte. Natürlich hatte er einen Schirm eingepackt, ein Prachtstück von einem Schirm, der sich auf Knopfdruck öffnete. Er wußte haargenau, was ihn um diese Jahreszeit in Kalkutta erwartete. 27
Doch der Schirm war noch in seinem Koffer, im Gästehaus an der Robinson Street. Vor lauter Eifer, zum Ross-Denkmal zu pilgern, hatte er vergessen, ihn auszupacken. Die Regenwand war ihm jetzt dicht auf den Fersen. In der Nähe erspähte er die offenen Tore des Rabindra-SadanAuditoriums und begann zu laufen. Ein hupender Minibus rauschte durch eine Pfütze an ihm vorbei und spritzte seine Khakihosen voll. Im Weiterrennen zeigte Murugan dem Schaffner, der aus der Bustür hing und ihn beobachtete, den hochgereckten Mittelfinger. Brüllendes Gelächter war die Antwort, und grünlich-graue Abgaswolken verpuffend zischte der Bus davon. Murugan erreichte Rabindra Sadan kurz vor der Wasserwand und rannte die Stufen hinauf. Das Foyer des Auditoriums war hellerleuchtet und mit Plakaten behängt. Von drinnen hörte er das Kratzen und Summen eines Mikrofons. Offenbar stand ein großes Ereignis bevor: eine Menschenmenge drängte durch die Tür ins Auditorium. Er sah ein mit Kabeln und Kameras beladenes Fernsehteam vorbeieilen. Dann gingen die Lichter aus, und er blieb allein im Foyer zurück. Er wandte sich um und sah durch ein Fenster auf die Mauern des P.-G.-Hospitals, in der Hoffnung, das Ross-Denkmal zu erspähen. In diesem Moment jedoch war über die Lautsprecher des Auditoriums eine dünne, krächzende Stimme zu verneh men. Ihr nachdrücklicher Ernst zwang ihn zum Zuhören. »Jede Stadt hat ihre Geheimnisse«, begann die Stimme, »doch Kalkutta, mit ihrem Hang zum Übermaß, besitzt davon so viele, daß sie geheimnisvoller ist als jede andere. Andernorts leben Geheimnisse, durch paradoxe Fügung, vom Erzählen. Sie flüstern Leben in graue Straßenecken und öde Gassen ein, in die von Abfall übersäten Hinterhöfe fensterloser Wohnhäuser und die geschwärzten Böden ölgetränkter Werkstätten. Doch hier in unserer Stadt, wo alle Gesetze, der Natur und des Menschen, schillernd in der Schwebe bleiben, bedarf das 28
Verborgene keiner Worte, um zum Leben erweckt zu werden; wie jedes Wesen, das in einer widernatürlichen Umgebung lebt, gewinnt es dort an Boden, wo es scheinbar am stärksten eingeengt wird – in diesem Fall also im Schweigen.« Überrascht blickte Murugan in dem verglasten Foyer umher. Es war nach wie vor leer. Dann sah er zwei Frauen die Stufen hinauflaufen. Sie eilten in die Halle und blieben an der Tür stehen, wo sie versuchten, sich die Nässe aus den Haaren zu schütteln und von ihren Saris zu streichen. Die eine war etwa Mitte Zwanzig, eine schmale, vogelartig wirkende Frau mit feinknochigem Gesicht, die einen losen, nicht mehr ganz sauberen Sari trug. Die andere, in einem schwarzen Baumwoll sari, war größer und, obschon noch jugendlich wirkend, viel leicht um die Vierzig, von dunkler Schönheit und zurückhal tender Eleganz. Eine breite weiße Strähne zog sich von oben bis unten durch ihr schulterlanges Haar. Auf dem Weg durch das Foyer bemerkte Murugan, daß beide Frauen an ihre Saris Presseabzeichen gesteckt hatten. Aus einigen Schritten Entfernung erkannte er ein vertrautes Em blem: beide Abzeichen trugen den Namen der Zeitschrift Calcutta. Der Anblick der gotischen Lettern versetzte Murugan einen leisen Stich; seine Eltern waren eifrige Abonnenten von Cal cutta gewesen. Das Wiedersehen mit dem vertrauten Schriftzug im Miniaturformat erweckte in ihm ein unmittelbares Gefühl von Verbundenheit mit den beiden Frauen. Er legte den Kopf schräg und las, daß die jüngere Frau Urmi la Roy hieß. Die große, elegante war Sonali Das. Murugan trat zu ihnen und räusperte sich.
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Sechs Urmila wollte Sonali gerade eine Frage stellen, als sie gestört wurde. Ärgerlich wandte sie sich um und erblickte dicht hinter sich einen kleinen, komisch aussehenden Mann, der sich eben räusperte. Ihre Augen weiteten sich beim Anblick seiner grünen Kappe, seines kleinen Spitzbarts und seiner schlamm bespritzten Khakihosen. Dann sagte er etwas in rasender Geschwindigkeit. Erst nach einer Weile erkannte sie, daß er Englisch mit einem Akzent sprach, wie sie ihn noch nie gehört hatte. Sie warf ihrer Freundin einen spöttischen Blick zu und hob die Brauen, doch Sonali beachtete sie nicht. Der Mann schien sie nicht im mindesten zu irritieren. Statt dessen lächelte sie ihm zu. »Entschuldigung«, sagte sie, »ich habe Sie nicht ganz verstanden.« Der Mann deutete mit dem Daumen über die Schulter in Richtung Auditorium. »Was zum Teufel ist da drin eigentlich los?« sagte er, diesmal etwas langsamer. Urmila antwortete vor Sonali, in der Hoffnung, daß er dann gehen würde. »Es ist eine Preisverleihung«, sagte sie. »Für Phulboni, den Schriftsteller, anläßlich seines fünfundachtzig sten Geburtstags.« Statt zu gehen, stellte der Mann sich nunmehr vor und mur melte einen Namen, der so ähnlich wie Morgan klang. Sonali schenkte ihm ein Lächeln, das leicht als Ermutigung mißdeutet werden konnte. Es war ihm nicht zu verdenken, daß er blieb. »Phulboni?« sagte Murugan und kratzte sich am Bart. »Der Schriftsteller?« »Ja«, sagte Sonali leise. »Unser größter lebender Schriftstel ler.« Urmila stieß Sonali sanft an. »Sonali-di«, sagte sie. »Ich wollte dich etwas fragen …« Der Mann sprach ohne Pause weiter, als hätte er ihren Ein 30
wurf nicht bemerkt. »Ja«, sagte er, »ich glaube, ich habe schon von ihm gehört.« Sonali griff in ihre Handtasche, holte eine Zigarette heraus und klappte das Feuerzeug auf. Urmila schrak leicht zusam men. Sie wußte natürlich, daß Sonali rauchte, hatte sie auch im Büro mit einer Zigarette gesehen. Aber hier, in der Öffentlich keit? »Sonali-di!« sagte sie gedämpft. »Ganz Kalkutta ist hier. Wenn dich jemand sieht …?« »Ist schon in Ordnung, Urmila«, sagte Sonali müde und deu tete auf das leere Foyer. »Niemand schaut her.« Sie zündete die Zigarette an, warf den Kopf zurück und blies den Rauch in die Luft. »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Murugan plötzlich. »›Phul boni‹ ist sein Künstlername, stimmt’s?« »Das ist richtig«, nickte Sonali. »Sein wirklicher Name ist Saiyad Murad Husain. Er begann, unter einem Künstlernamen zu schreiben, weil sein Vater drohte, ihn zu enterben, wenn er Schriftsteller würde.« »Das ist doch nur eine Legende«, sagte Urmila. »Phulboni wäre der erste«, sagte Sonali lachend, »der dir vorhält, daß immer ein Körnchen Wahrheit in den Legenden steckt.« Plötzlich dröhnte die Stimme des Schriftstellers deutlicher aus dem Lautsprecher. »Im Irrtum sind jene, die glauben, daß das Schweigen ohne Leben sei, unbeseelt, ohne Geist und Stimme. Dem ist nicht so. Das Wort ist für das Schweigen, was der Schatten für das Urbild ist, der Schleier für die Augen, der Geist für die Wahrheit, die Sprache für das Leben.« Sonali nahm einen tiefen Zug. »Hört ihn euch an!« sagte sie, den Kopf etwas geneigt, um jedes seiner Worte zu verstehen. »Heute ist er wieder ganz schön in Fahrt. Das passiert ihm in letzter Zeit öfter, besonders wenn er Englisch spricht. Ihr hättet ihn neulich bei der Alliance Française sehen sollen.« 31
Mißvergnügt bemerkte Urmila, daß Sonali Murugan wieder um zulächelte, beinahe als wolle sie ihn zum weiteren Verwei len einladen. Ihre Stimmung sank. Sonali machte dauernd solche Sachen – blieb stehen und redete mit Fremden, verwik kelte sich im Fahrstuhl in Gespräche und verpaßte dabei ihr Stockwerk und so weiter. Grundsätzlich hatte Urmila dagegen nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Sie fand es eher liebens wert, daß eine berühmte Persönlichkeit wie Sonali Das offen sichtlich so viel Vergnügen daran fand, mit Unbekannten zu sprechen. Doch heute hatte Urmila es eilig. Sie mußte noch einen Auftrag erledigen und wollte vorher mit Sonali sprechen. Vor ein paar Stunden hatte sie Sonali in ihrem Büro im fünf ten Stock aufgesucht und vorgeschlagen, mit ihr zusammen zu der Preisverleihung zu gehen. Sie hatte gehofft, unterwegs mit ihr sprechen zu können. Doch dann waren sie – natürlich – in einem Taxi gelandet, dessen Fahrer sich überhaupt nicht auskannte. Sonali und sie hingen die gesamten zwanzig Minu ten Fahrt von der Zeitschriftenredaktion in Dharmatola bis zum Rabindra-Sadan-Auditorium über den Vordersitz gebeugt und gaben dem Fahrer dauernd Anweisungen: »Hier rechts … aufpassen … da vorn kommt ein Bus … Achtung, ein Hund … vor uns ist ein Graben.« Und jetzt, wo sie endlich mit ihr allein war, kam dieser komi sche Kauz mit seiner Kappe und dem Spitzbart. Urmila überlegte, ob sie die Unterhaltung mit mehr Nach druck unterbrechen sollte, konnte sich jedoch nicht dazu durchringen. In ihrer Beziehung zu Sonali fühlte sie sich noch etwas unsicher. Es war ihr nicht einmal leichtgefallen, sie heute unaufgefordert in ihrem Büro aufzusuchen. Seit ihrem Collegeabschluß vor drei Jahren arbeitete Urmila bei Calcutta. Sie war stolz darauf, als einzige Frau in der harten Welt der Nachrichtenredaktion zu bestehen. Mittlerwei le stürmte sie bedenkenlos in das Büro des Innenministers im Writer’s Building und stellte bei den Pressekonferenzen des 32
Premierministers scharfe Fragen. Aber wenn es um Sonali Das ging, wurde sie ungewohnt schüchtern und wußte oft nicht, was sie sagen sollte. Sonali war eine stadtbekannte Persönlich keit; sie zählte zu denjenigen, über die man in Filmzeitschriften und Klatschkolumnen der Tageszeitungen liest, deren Namen man schon seine Tanten und Kusinen nennen hörte, und zwar tadelnd und bewundernd zugleich, in einer Mischung aus Neid und Entrüstung. Sie war einer jener Menschen, über die jeder mann sprach, ohne eigentlich recht zu wissen warum. Teilweise verdankte sie ihren Ruhm ihrer verstorbenen Mut ter, die in den vierziger und fünfziger Jahren eine berühmte Bühnenschauspielerin gewesen war. Doch hatte Sonali auch selbst als junges Mädchen bei einigen in Bombay gedrehten Filmen mitgespielt. Der erste war eine Sensation, weil er das übliche Gesang-und-Tanz-Schema durchbrach. Doch just in dem Moment, als sie am Beginn einer großen Karriere zu stehen schien, verließ sie Bombay und ging nach Kalkutta zurück. Einige Jahre später veröffentlichte sie ein wundervolles kleines Memoirenbuch mit witzigen, zugleich auch nachdenk lichen, ja wehmütigen Anklängen. Es beschrieb hauptsächlich ihre Mutter, aber auch ihre eigene Kindheit – die Freunde ihrer Mutter aus der Literaturszene, die alten Studios in Tollygunge und Bombay, die monströsen historischen Melodramen der bekanntesten Theatergruppen, auf deren Tourneen durchs Land sie ihre Mutter begleitete. Ein verwegener junger Regisseur machte aus dem Buch ein Bühnenstück, dieses wiederum wurde verfilmt und erntete bei Kritikern und Filmvereinen viel Beifall. Seither war Sonali Das berühmt, ohne etwas dazu zu tun – zumindest bis sie auf besonderen Wunsch des Verlegers als Redakteurin für die Frauenbeilage von Calcutta verpflichtet wurde. Ihr Einstieg bei Calcutta hatte Urmilas Neugier erregt, doch hatte sie keinen Moment lang damit gerechnet, daß sie Freun dinnen werden könnten. Und dann fand sie sich eines Tages 33
neben Sonali im Aufzug wieder. Sie erkannte sie sofort, ob wohl sie sie nur einmal, und das Vorjahren, gesehen hatte. Sonali hatte sich sehr verändert, in Urmilas Augen jedoch nur zum Vorteil: die weiße Strähne in ihrem Haar beispielsweise – sie versteckte sie nicht, mit gutem Recht. Sie paßte zu ihr, verlieh ihr etwas Besonderes. Nach dem ersten schnellen Blick fixierte Urmila die Fahr stuhltür, um Sonali nur ja nicht anzustarren. Doch ehe sie sich’s versah, hatte Sonali sie schon angesprochen. Minuten später saßen sie in der schmuddeligen kleinen Kantine der Redaktion beim Tee und schwatzten. An jenem Morgen war Urmilas Uhrarmband gerissen, als sie sich in einem überfüllten Minibus festklammerte. Es kam ihr dumm vor, das zu erwähnen – welches Interesse konnte jemand wie Sonali Das schon an einem gerissenen Uhrarmband haben? Doch statt gelangweilt zu reagieren, gab Sonali ihr einen guten Tip. Sie kannte einen Stand nahe dem Metro Cinema, wo man Uhrarmbänder für ein paar Rupien reparieren lassen konnte. Urmila war erstaunt, daß sie über derartige Dinge Bescheid wußte. Und in dem gleichen verbindlichen Ton erzählte nun Sonali dem Fremden mit dem Spitzbart, daß der Vizepräsident eigens aus Delhi angereist war, um Phulboni die Auszeichnung zu überreichen. Urmila überlegte: Sie konnten den Mann nur loswerden, indem sie einfach in das Auditorium gingen. »Komm, Sonali di«, sagte sie und berührte sie am Arm. »Gehen wir hinein, oder wir verpassen das Ganze.« Sonali nahm einen letzten, tiefen Zug und bohrte die Zigaret te in einen mit Sand gefüllten Aschenbecher. »Ich fürchte, wir müssen jetzt gehen«, sagte sie mit einem flüchtigen Lächeln zu Murugan. »Meine Freundin ist hier, um zu arbeiten.« Urmila ging voran zu einer Tür und stieß sie auf. Das Audito rium war voll; Kopf an Kopf reihte sich bis zur hellerleuchteten 34
Bühne, wo ein großer, weißhaariger Mann an einem Lesepult stand. Er trug ein schlichtes weißes Hemd und eine altmodi sche, hochtaillierte Hose in verblichenem Armeegrün. Die Punktscheinwerfer über ihm warfen lange Schatten auf sein zerfurchtes Gesicht, doch die dunklen, glänzenden Augen unter den vorspringenden Brauen waren unverkennbar. Urmila erstarrte; sie hatte schon viel von ihm gehört, auch viele seiner Schriften gelesen, ihn jedoch noch nie leibhaftig zu Gesicht bekommen. Zögernd trat sie in dem verdunkelten Gang einen Schritt vorwärts. Sie bemerkte, daß der Vizepräsident, der hinter Phulboni auf der Bühne saß, schläfrig auf seinem Stuhl schwankte. Der Schriftsteller umfaßte den Rand des Lesepultes, beugte sich vor und sprach mit leiser, rauher Stimme. »Das Schweigen der Stadt«, sagte er, »hat mich in all meinen Jahren als Schrift steller gestützt, hat mich am Leben erhalten in der Hoffnung, auch ich möge ihm anheimfallen, bevor meine Feder versiegt. Mehr Jahre, als ich zählen kann, bin ich im Dunkel dieser Straßen umhergewandert, auf der Suche nach dem unsichtbaren Wirken, das dieses Schweigen regiert, um darin aufzugehen, mit hinübergenommen zu werden, bevor meine Zeit ver streicht. Ich weiß, die Zeit des Übertritts ist nahe, und darum bin ich heute hier und stehe vor Ihnen: um die Herrscherin des Schweigens, jene geheimnisvollste aller Göttinnen, zu bitten, ja anzuflehen, mir das zu gewähren, was sie so lange verweigert hat – sich mir zu zeigen …« Urmila drehte sich kurz um. Murugan war ihnen gefolgt und stand hinter ihr, um sich ebenfalls in das Auditorium hineinzu drängen. Ein Türsteher mit einer Taschenlampe in der Hand näherte sich. Er warf einen Blick auf Sonalis und Urmilas Presseabzeichen und winkte sie durch. Während sie den dunk len Gang entlangschritt, blickte Urmila noch einmal zurück. Erleichtert sah sie, daß der Türsteher Murugan ins Foyer 35
hinausgeleitete. Auf der Bühne entstand einen Augenblick Unruhe: Der im mer wieder einnickende Vizepräsident war mit dem Kopf gegen die Rückenlehne seines Stuhls geschlagen.
Sieben Antar rief sein Kuriersignal auf und informierte die Zentrale des Councils, daß er die Ausweiskarte eines seit dem 21. August 1995 vermißten Angestellten von LifeWatch gefunden hatte. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück und begann die Akte durchzugehen, die Ava aus den Archiven des Councils zutage gefördert hatte. In etwa einer Stunde würde man sie dort zurückhaben wollen, und es war wohl besser, sie durchzu schauen, falls die Zentrale ihn mit weiteren Nachforschungen betraute. Er schätzte, daß er etwa zwanzig Minuten dafür brauchen würde; damit blieb ihm gerade noch genug Zeit für einen Spaziergang zur Penn Station, bevor Tara zum Abendes sen herüberkam. Binnen weniger Minuten stellte er fest, daß die Akte haupt sächlich aus Notizen und Ausschnitten von Zeitungsartikeln bestand, die in der Zeit von L. Murugans »Verschwinden« erschienen waren. Größtenteils gaben sie lediglich die Vermu tungen und Gerüchte wieder, die damals im Büro zirkulierten. Antar erinnerte sich, daß seinerzeit jedermann das »Ver schwinden« als eine euphemistische Umschreibung für Selbst mord verstanden hatte. Einige Ausschnitte bezogen sich auf die offensichtlich planund ziellosen Nachforschungen der indischen Polizei unmittel bar nach dem »Verschwinden«. Es war unschwer zu erkennen, daß auch sie unter diesem euphemistischen Begriff das gleiche verstanden wie Murugans Kollegen bei LifeWatch. Der letzte Teil der Akte erregte Antars Aufmerksamkeit. Der 36
betreffende Artikel stammte nämlich aus einer unerwarteten Quelle, dem internen Mitteilungsblatt von LifeWatch. Er war im erinnerungsträchtigen, zurückhaltend respektvollen Ton eines Nachrufs gehalten, obwohl der Verfasser Murugan stets betont als »vermißt« und nicht etwa als »verstorben« bezeich nete. Der Artikel begann mit der üblichen Anekdote über »Mr. Morgan« – »wie seine Freunde ihn nannten«. Er beschrieb ihn als »aufgeplusterten kleinen Gockel«, sprach, nicht ohne Sympathie, von seiner Kampflust, die ihn keinem Streit aus dem Weg gehen ließ, von seinem offenbar unstillbaren Rede fluß ebenso wie von seinen zahlreichen wertvollen Beiträgen als Chefarchivar von LifeWatch. Der Artikel erwähnte seine »globale« Kindheit, in der er mit seinem Vater, einem führen den Technologen, zwischen den Metropolen der Welt hin und her vagabundiert war, sowie seine Vorliebe für B-Movies aus Hollywood und alte amerikanische Fernsehserien, »die für viele wie ihn die einzige Konstante in ihren unsteten Reifejah ren zwischen den Kontinenten darstellten«. Als Studienabsolvent in Syrakus, so der Artikel, entdeckte »Morgan« die große Liebe seines Lebens: die medizinische Geschichte der Malaria. Er unterrichtete mehrere Jahre an einem kleinen College im nördlichen Teil des Staates New York und interessierte sich in dieser Zeit verstärkt für einen ganz speziellen Aspekt dieses Themas, nämlich die Frühge schichte der Malariaforschung. Auch später, als er schon für LifeWatch arbeitete, nutzte er jeden freien Augenblick, um diesen Forschungszweig weiterzuverfolgen – oft auf Kosten seiner eigenen Karriere. Er hatte in jenen Jahren wenig oder gar nichts publiziert, dabei jedoch oft in seiner flapsigen Art darauf verwiesen, er sei in der glücklichen Lage, mangels Konkurrenz auf seinem Gebiet die maßgebliche Autorität darzustellen. Sein Thema war die Forschungslaufbahn des britischen Dich ters, Romanciers und Wissenschaftlers Ronald Ross. 37
Er wurde 1857 in Indien geboren und 1902 für seine Arbeiten zum Lebenszyklus der Malaria-Parasiten mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Damals war man allgemein davon ausgegangen, daß diese epochale Entdeckung zur Ausrottung der wohl ältesten und weitestverbreiteten Krankheit der Welt führen werde – eine Erwartung, die bitter enttäuscht wurde, wie auch LifeWatch zu seinem Bedauern feststellen mußte. Hin und wieder hatte Murugan in einem Anflug von Ernsthaftigkeit zugegeben, daß sein Interesse an diesem doch recht obskuren Thema ursprünglich mit seiner eigenen Biographie zusammen hing. Die letzte entscheidende Phase seiner Arbeit absolvierte Ronald Ross im Sommer 1898 nämlich in Kalkutta, dem Geburtsort Murugans, den dieser allerdings schon früh verlas sen hatte. Vielleicht erklärte dieser biographische Anknüpfungspunkt Murugans obsessives Interesse. 1987 ließ er einige Freunde wissen, daß er seine Forschungen in einem Artikel mit dem Titel »Gewisse systematische Diskrepanzen in Ronald Ross’ Darstellung von Plasmodium B« zusammengefaßt hatte. Ein paar Kollegen äußerten Interesse, bekamen den Artikel jedoch nie zu sehen. Er wurde bereits im Vorfeld von den Zeitschrif ten, bei denen er ihn eingereicht hatte, so negativ bewertet, daß Murugan beschloß, ihn vor einer Veröffentlichung noch einmal zu überarbeiten. Der zweiten Fassung erging es allerdings nicht besser als dem Original. Sie trug den unglücklichen Titel »Eine alternati ve Interpretation der Malariaforschung im späten 19. Jahrhun dert: Gibt es eine geheime Geschichte?«. Sie wurde noch feindseliger aufgenommen als die erste Version und stempelte Murugan lediglich als Exzentriker ab. 1989 schrieb Murugan an die History of Science Society und regte für die nächste Tagung der Gesellschaft ein Forum zur frühen Malariaforschung an. Als der Vorschlag abgelehnt wurde, bombardierte er die Mitglieder des Auswahlkomitees 38
mit seitenlangen E-Mails. Ein Jahr später wurde er – ein bisher nie dagewesener Fall – aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Man drohte ihm gerichtliche Schritte an, falls er versuchen sollte, weiterhin an Sitzungen teilzunehmen. Daraufhin gab Murugan endgültig alle Bemühungen auf, seinen Fall in der Öffentlichkeit zu diskutieren. Ganz allgemein betrachteten Murugans Kollegen bei LifeWatch seine »Forschung« als harmloses, wenn auch zeitauf wendiges Hobby. Man nahm es ihm nicht weiter übel, solange es ihn nicht von seiner eigentlichen Arbeit ablenkte. Diejeni gen, die ihn gut kannten, merkten allerdings bald, daß ihn der Ausschluß aus dem Kreis der Wissenschaft stark mitgenom men hatte. Darin mochte auch durchaus die unmittelbare Ursache für sein zunehmend unberechenbares und obsessives Verhalten gelegen haben. Beispielsweise begann er etwa um diesen Zeitpunkt offen über seine Vorstellung von einem sogenannten »Anderen Geist« zu sprechen, eine Theorie, nach der eine oder mehrere Personen systematisch in Ronald Ross’ Experimente eingegriffen hatten, um die Malariaforschung in bestimmte Richtungen zu lenken und von anderen wegzufüh ren. Sein Eintreten für diese bizarre Hypothese entfremdete ihn Schritt für Schritt von einigen Freunden und Kollegen. Murugan glaubte fest, daß die Entwicklungen in der Malaria forschung zu Beginn der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts – wie etwa Patarroyos immunologische Arbeiten und die bahnbrechenden Erforschungen antigener Variationen beim Plasmodium falciparum-Parasiten – die bedeutendsten Fort schritte auf dem Gebiet seit Ross’ Arbeiten vor fast einem Jahrhundert darstellten. Murugan war überzeugt (und versuchte auch andere davon zu überzeugen), daß diese Entwicklungen sein Lebenswerk bestätigen würden. Der Wendepunkt erfolgte 1995, als er darum ersuchte, nach Kalkutta, an den Ort von Ross’ Entdeckungen, versetzt zu werden. Besonders wichtig war ihm, vor dem 20. August dort zu sein, jenem Tag, den 39
Ronald Ross in Erinnerung an eine seiner Entdeckungen zum »Welt-Moskito-Tag« bestimmt hatte. Bedauerlicherweise unterhielt LifeWatch kein Büro in Kal kutta und konnte aus finanziellen Gründen auch keines einrich ten, nur um Murugans Ansinnen zu entsprechen. Als jedoch deutlich wurde, daß Murugan auf jeden Fall dorthin wollte, selbst wenn es ihn seinen Job kostete, steckten einige Mitglie der der Organisation die Köpfe zusammen und zimmerten ein kleines Forschungsprojekt zurecht, das ihm, wenn auch unter großen finanziellen Einbußen, einen Aufenthalt in Kalkutta ermöglichte. Zu Murugans größter Freude arbeitete die Büro kratie schnell genug, so daß er wie gewünscht am 20. August 1995 in Kalkutta eintraf. Später, nach Murugans »Verschwinden«, erhoben sich vor wurfsvolle Stimmen, warum LifeWatch ihn überhaupt habe gehen lassen. Tatsache war jedoch, daß die Organisation alles in ihrer Macht Stehende unternommen hatte, um ihn davon abzuhalten. So hatten beispielsweise Vertreter der Personalab teilung im Juli 1995, kurz vor seiner Abreise, mehrere Gesprä che mit ihm geführt und versucht, ihn zur Aufgabe seines Projekts zu bewegen. Doch der Plan war zu jenem Zeitpunkt bereits zu einer so fixen Idee geworden, daß vermutlich nie mand mehr Murugan von seinem Weg hätte abbringen können. »Es erübrigt sich demnach«, fuhr der Artikel fort, »den Gön nern Murugans bei LifeWatch die Schuld für die traurigen Ereignisse im August 1995 anzulasten. Wünschenswerter wäre es vielmehr, gemeinsam mit ihnen um einen unersetzlichen Freund zu trauern.«
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Acht Von dem gewaltigen Regenguß war nur noch ein leichtes Nieseln geblieben. Murugan wechselte rasch vom Gelände des Rabindra-SadanAuditoriums zur verkehrsreichen Lower Circular Road. Ohne den geplagten Polizisten auf der Verkehrsinsel zu beachten, trat er geradewegs in den Strom der Fahrzeuge und marschierte quer durch. Mit erhobener Hand hielt er die näher kommenden Autos und Busse auf, scheinbar ohne ihr quietschendes Brem sen und wildes Hupen zu bemerken. Der Gehweg auf der anderen Seite war voll mit Fußgängern. Murugan wurde von einigen der in Richtung Harish Mukherjee Road und P.-G.-Hospital eilenden Menschen fast umgerissen. Als er sich dem Tempo der Menge angepaßt hatte, hörte er, wie jemand ihn rief. Er blieb ruckartig stehen, wurde jedoch sofort vom Strom der Fußgänger fortgeschoben. Im Weiterdrängen warf er einen schnellen Blick über die Schulter zurück. Wieder hörte er den Ruf: »Hey, Mister, wohin gehen?« Und wahrhaftig, aus der Menschenmenge hinter ihm hüpfte immer wieder der Kopf eines zahnlückigen, ausgemer gelten Jungen empor – offenbar ein zwielichtiger Schlepper, der ihn bereits früher am Tag direkt vor seinem Gästehaus angesprochen hatte. Murugan beschleunigte seine Schritte, und der Junge schrie erneut aus Leibeskräften: »Warten Sie, Mister, wohin gehen Sie?« Er trug ein ausgebleichtes T-Shirt, auf das ein Palmen strand und die Worte »Pattaya Beach« aufgedruckt waren. Murugan ärgerte sich, ihn wieder so dicht auf den Fersen zu haben; es hatte ihn zuvor schon viel Mühe gekostet, ihn abzu schütteln. Murugan erreichte die Mauer, die sich am Gehweg entlang zog, und wartete auf den Jungen. »Hör mal, Freundchen«, sagte er, erst in halbvergessenem Bengali und dann in Hindi. 41
»Hör auf, mir nachzulaufen. Du kriegst nichts von mir.« Der Junge entblößte lächelnd seine Zähne. »Dollar wech seln?« fragte er. »Guter Preis.« Murugan verlor die Geduld. »Kapierst du nicht?« schrie er. »In wieviel Sprachen soll ich’s dir noch sagen: no, na, nahin, nyet, nothing, nix. Ich will keine Dollars wechseln, und wenn doch, dann ganz bestimmt nicht bei dir.« Er griff in die Tasche und steckte dem Jungen eine Handvoll Münzen zu. »Mehr kriegst du nicht von mir«, sagte er. »Also nimm’s und verschwinde.« Er tauchte rasch wieder in die Menge ein und ließ den Jungen stehen, der auf die Münzen in seiner Hand starrte. Er war jetzt an der Ecke zur Harish Mukherjee Road. Geduckt bog Muru gan um die Ecke und preßte sich flach gegen die Mauer. Von der hetzenden Menge verdeckt, beobachtete er, wie sein Ver folger in die andere Richtung lief, sich umschaute und die Straße absuchte. Dann stürzte der Junge sich mitten in den Verkehr und machte sich eilends Richtung Victoria Memorial davon. »Schönen Abend noch«, murmelte Murugan und reihte sich wieder in die Menge ein. Hinter der Ecke ließ das Gedränge nach. Links von ihm lagen die roten Ziegelgebäude des P.-G.-Hospitals ein gutes Stück hinter der schulterhohen Begrenzungsmauer und dem schmalen Graben, der parallel dazu verlief. Murugan ging langsamer und hielt nach dem Denkmal in der Mauer Ausschau. Und plötzlich sah er es, auf der anderen Seite des Grabens. Einen Moment lang wurde es von den Scheinwerfern eines vorbeifahrenden Lastwagens angestrahlt: ein Bogen über einem verrosteten eisernen Tor. Den Scheitelpunkt zierte ein Medail lon mit Ronald Ross’ bärtigem Kopf im Profil. Etwas weiter rechts unten befand sich die Inschrift: In dem kleinen Labor siebzig Meter südöstlich dieses Tores entdeckte Oberstabsarzt Ronald Ross I.M.S. im Jahr 1898, auf welche Weise Malaria 42
durch Moskitos übertragen wird. Links waren drei Strophen von Ross’ Gedicht »Im Exil« in Marmor eingraviert. Murugan ließ den Blick über die vertrauten Verse gleiten: Heut’ gab ein milder Gott
In meine Hand ein Wunder. Preis
Und Ehre unsrem Gott!
Auf Sein Geheiß
Erforsch’ ich Sein’ geheimste Tat
Mit Mühen, tränenreich,
Und finde deine list’ge Saat,
O Tod, du Mörder bleich.
Das Wunder rettet in tiefster Not
Millionen aus tödlichem Krieg.
Sprich, wo ist dein Stachel, Tod?
O Hölle, wo dein Sieg?
Murugan begann zu lachen. Er drehte sich um, breitete die Arme aus und zitierte mit tiefer, unbekümmerter Stentorstimme aus demselben Gedicht: Betäubt fast blick’ ich um mich her
Und seh’ ein Totenreich.
Gerippe wandeln dort umher
Und liegen begraben zugleich.
Ein Volk von armen Seelen, seht,
Auf Not und Elends schmalem Grat,
Zermahlen zu Staub, verweht
Die Spreu der Menschensaat.
Applaus von der anderen Seite der Straße unterbrach ihn. »Sehr 43
gut, Mister«, rief eine Stimme. Murugan ließ die Arme sinken und spähte in das baumbeschattete Dunkel der gegenüberlie genden Straßenseite. Er erhaschte einen Blick auf ein bedruck tes T-Shirt und ein grinsendes, zahnlückiges Gesicht. »Verfolgst du mich etwa, Spreu der Menschensaat?« schrie er durch die um den Mund gewölbten Hände. »Warum? Was hast du davon?« Der Junge winkte zur Antwort und stürzte sich in den Ver kehr. Murugari sah einen Lastwagen aus der Richtung der Rennbahn näher kommen. Er wartete, bis er vorbeifuhr und dem Jungen die Sicht nahm. Dann wandte er sich um, setzte über die Mauer und ließ sich auf der anderen Seite des Bogens fallen. Seine Füße landeten in etwas undefinierbar Weichem. Erst hielt er es für Schlamm. Er spürte, wie die Feuchtigkeit das weiche Leder seiner neuen Slipper durchtränkte. Einen Augen blick später drang ihm der Geruch in die Nase. »Scheiße«, murmelte er und sah sich um. Er befand sich auf einem schmalen, überwachsenen Streifen Ödland hinter den Hauptgebäuden des Hospitals. Unmittelbar vor ihm standen ein paar unauffällige Nebengebäude und ein kleiner Zementbau mit einer Wasserpumpe. Im Widerschein des Lichts aus den Krankenstationen hoch über ihm sah Muru gan eine Meute von Hunden, die einen Abfallhaufen nach Eßbarem durchsuchte. Die Hand über den Augen, spähte er in die Schatten; es war niemand zu sehen außer einem alten Mann, der in einiger Entfernung an der Mauer hockte und sich das Hinterteil wusch. Vor ihm lagen Berge zerbrochener Ziegel und rundherum malerisch verteilte Scheißhaufen, die im Neonlicht der Straßenlaternen stumpfgrau leuchteten. Murugan hielt sich die Nase zu und preßte sich gegen die Wand. Auf der anderen Seite hörte er eilige Schritte näher kommen. Sie hielten inne, liefen zurück, kamen wieder. Er hörte, wie der Junge etwas vor sich hinmurmelte und dann 44
schnell davonging. Murugan atmete auf und begann sich seitwärts mit den Hän den an der Mauer entlangzutasten. Dabei stieß seine linke Hand an den Rand einer Öffnung in der rauhen Ziegelfläche. Muru gan beugte sich vor, um einen Blick darauf zu werfen, und entdeckte, daß die Öffnung eigentlich eine kleine Nische war, oder besser gesagt eine Lücke in der Rückwand des Denkmals, aus der einige Ziegel entfernt worden waren. Vorsichtig tastete er mit der Hand hinein. Sie stieß an etwas, einen kleinen Gegenstand. Seine Finger umschlossen ihn, und er zog ihn heraus. Es war eine kleine Tonfigur. Murugan hielt die Figur auf Armeslänge entfernt in den schwachen Schein der fernen Straßenlaterne. Sie bestand aus bemaltem Ton und war so klein, daß sie bequem in seine Handfläche paßte. Sie erinnerte ihn an die kleinen Götterstatu en, die seine Mutter auf Reisen bei sich gehabt hatte. Der mittlere Teil der Figur war ein einfacher, halbkreisför miger Hügel, grob geformt und ohne menschliche Züge, mit Ausnahme von zwei großen, stilisierten Augen, die nach dem Brennen in klarem Schwarz und Weiß bemalt worden waren. Sie ließen Murugan einen Moment zusammenzucken: im schwachen Neonlicht schienen sie zu glänzen, schienen ihn aus seiner geöffneten Handfläche von unten her direkt anzustarren. Es war, als fixierten sie ihn, als hielten sie seinen Blick gefan gen; er mußte blinzeln, bevor er wegschauen konnte. Er drehte den Gegenstand in seiner Handfläche. Rechts vom Hügel erschien ein winziger Vogel, eindeutig eine Taube, präzise und sorgsam mit Federn, Augen und allem übrigen modelliert. Aus der anderen Seite des Hügels ragte etwas hervor, das wie ein Armstumpf aussah und an dem ein kleiner, metallener Gegenstand befestigt war. Murugan konnte nicht erkennen, um was es sich handelte; er sah nur einen kleinen Zylinder aus Metall. Er betrachtete die Figur aus der Nähe und untersuchte sie sorgfältig, um herauszufinden, was der metalle 45
ne Gegenstand darstellte. Dabei wurde er erneut unterbrochen: »Mister, ich dich fin den. Was du hier machen?« Direkt über Murugans Kopf spähte das lachende Gesicht des Jungen über die Mauer. Murugan explodierte: »Geh mir aus den Augen, du Huren sohn!« schrie er. Der Junge grinste und schüttelte den Kopf. Dann erblickte er die Figur. Sein Arm schoß vor und entriß sie ihm. Murugan schnappte nach der Figur, schlug sie jedoch dem Jungen aus der Hand. Sie krachte auf der anderen Seite der Mauer zu Boden. Der Junge ließ sich daneben auf die Knie fallen. Murugan streckte sich und schaute über die Mauer. Auf allen Vieren sammelte der Junge die zerbrochenen Tonstücke auf. Er blickte Murugan über die Schulter hinweg an und stieß einen Fluch aus. »Du wolltest es so haben«, sagte Murugan. »Es ist nicht mei ne Schuld.« Mit dem Rücken zur Mauer bewegte sich Murugan nach links und stieg über die Exkremente und den Abfall. Bei einem niedrigen, verfallenen Nebengebäude aus roten Ziegeln, das fast vollständig von der umlaufenden Mauer verdeckt wurde, blieb er stehen. Der Bau wirkte wie eine leere Muschel. Zweige wuchsen aus dem geborstenen Putz, und an der Stelle der alten Fenster und Türen klafften Löcher. Murugan steckte den Kopf vorsichtig durch ein gähnendes Fensterloch. »Hallo«, rief er. »Ist da jemand?« Augenblicklich vernahm er ein Schwirren und Flattern. Et was traf ihn im Gesicht. Ein Taubenschwarm rauschte vorbei und streifte ihn mit den Federn. Murugan fuhr zurück und schützte seinen Kopf mit den Ar men. Ein anderes Geräusch dröhnte ihm noch in den Ohren. Erst nach einigen Sekunden wurde ihm bewußt, daß er aufge schrien hatte. Dann hörte er neben sich einen Kieselstein auf den Boden fallen. Er sah auf und erblickte den Jungen, der über 46
der Begrenzungsmauer hing und mit einem weiteren Stein auf ihn zielte. Murugan verschwand in einem Durchgang und rannte über den Hauptweg zum Tor des Hospitals. Beim Eingang, an der Gokhaie Road, warteten mehrere Taxis. Murugan sprang in das erstbeste und schlug die Tür zu. »Los, los«, rief er. »Weg hier.« Der Taxifahrer, ein Sikh, drehte sich um und sah ihn ruhig an. »Wohin?« fragte er in Hindi. »Robinson Street«, sagte Murugan, nach Luft ringend. »Zwi schen Loudon und Rawdon Street.« Der Fahrer drehte den Zündschlüssel. Röhrend startete der alte Ambassador und setzte sich gemächlich in Bewegung. Zusammengekauert spähte Murugan durch das Fenster auf die Straßen und Gehwege. Als er keine Spur von dem Jungen entdeckte, sank er in den Sitz zurück. Sein Blick fiel auf seine Schuhe, die mit braunen Flecken übersät waren. Ein übler Geruch stieg ihm in die Nase. Er schob die Füße unter den Vordersitz und hoffte, der Gestank würde nicht bis zum Fahrer dringen. Doch es roch weiterhin. Er wurde es einfach nicht los. Schließlich wickelte er sich ein Taschentuch um die Hand, zog die Schuhe aus und warf sie aus dem Fenster. Mit einem erleichterten Aufatmen ließ er sich in das Polster fallen. Unmittelbar darauf schlug jedoch etwas gegen die Heckscheibe. Er drehte sich um und sah gerade noch seinen zweiten Schuh durch die Luft fliegen. Er traf das Fenster, prallte ab und hinterließ einen langen braunen Streifen. Der Fahrer steckte den Kopf aus dem Fenster und schrie den Jungen an, der durch den Verkehr auf sie zuraste. Dann schal tete die Ampel um, die Autos hinter ihnen begannen zu hupen, und das Taxi fuhr davon. Als der Wagen in die Lower Circular Road einbog, erblickte er die hellerleuchtete Fassade des Rabindra-SadanAuditoriums. Er sah zwei Frauen die Stufen hinunterlaufen und reckte den Kopf aus dem Fenster. Das Taxi fuhr jetzt etwas 47
schneller, und er konnte nur einen kurzen Blick auf die beiden werfen, während sie zum Tor eilten. Er war fast sicher, daß es die zwei Frauen waren, mit denen er zuvor am Abend gesprochen hatte.
Neun In einem Punkt irrte der Artikel im Mitteilungsblatt von LifeWatch. Es hatte vor seiner Abreise nach Kalkutta nur eine Besprechung von Murugan mit einem Vertreter der Personal abteilung stattgefunden. In der Zentrale von LifeWatch an der West 57th Street fand Antar eines Morgens eine Akte auf seinem Bildschirm vor. Sie enthielt einen vollständigen Bericht über Murugans Anträge auf Versetzung. Die Akte mußte versehentlich bei ihm gelandet sein, dachte Antar. Offiziell gehörte er zwar zur Personalabtei lung, war jedoch fast ausschließlich für die Buchhaltung zuständig. Er schickte sofort eine Anfrage an seinen Abtei lungsleiter. Ein paar Stunden später wurde er in dessen Büro bestellt. Der Abteilungsleiter war ein ernster, gewissenhafter Schwe de, der keine Gelegenheit ausließ, seine Untergebenen daran zu erinnern, daß ihre vornehmste Aufgabe darin lag, sich um die anderen zu kümmern. »Wir wollen Sie ein bißchen vom Bild schirm loseisen«, sagte er zu Antar. »Heute beschäftigen Sie sich zur Abwechslung mal mit Menschen.« Er rief Murugans Akte auf und ging sie mit Antar durch. »Sehen Sie zu, daß Sie diesen Murugan wieder zur Vernunft bringen, vor allem was die Finanzen betrifft. Reden Sie mit ihm über Rentenansprüche und Krankenbeihilfe und dergleichen. Sie ersehen aus den Unterlagen, daß dieser Herr ein Viertel seines Gehalts allein für Unterhaltszahlungen verwendet. Wenn er wirklich auf diesen verrückten Trip nach Kalkutta geht, verdient er praktisch gar 48
nichts mehr.« Antar meldete sich am selben Nachmittag per E-Mail bei Murugan. Ein paar Tage später, kurz vor der Mittagspause, ließ sich eine durchdringende Stimme im Großraumbüro der Abteilung vernehmen. Er wußte sofort, wem sie gehörte, obwohl er den Sprecher von seiner Kabine aus nicht sehen konnte. Jovial begrüßte Murugan seine Bekannten: »Hallo, wie geht’s uns denn heute bei dem schönen Wetter? Und der Pollenflug hält sich auch noch in Grenzen!« Antar und sein Kollege in der Nachbarkabine blickten sich verblüfft an. Die Stimme stieg um mehrere Dezibel an: »Wo ist denn die ser Ant… Ant…?« »Hier bin ich«, rief Antar und sprang auf. Er streckte wie ein Schuljunge die Hand hoch, so daß sie über der Sperrholzwand seiner Kabine zu sehen war. »Bleib, wo du bist, Ant«, rief Murugan munter. »Ich schlän gle mich schon durch.« Einen Augenblick später erschien er am Eingang von Antars Kabine: ein adretter, beleibter Mann in einem dunklen Anzug mit Weste und einem Filzhut. Sie mußten etwa gleichaltrig sein, schätzte Antar, beide Anfang Vierzig. »Grüß dich, Ant«, Murugan hielt ihm mit einem strahlenden Lachen die Hand hin. »Netter Kasten, den ihr euch da hinge stellt habt.« Verdattert über diesen Auftritt, lächelte Antar schwach und deutete auf einen Stuhl. Er holte eine Liste von Zahlen hervor und begann ohne Umschweife mit seiner kleinen, vorbereiteten Rede, in der er erläuterte, daß eine Versetzung nach Kalkutta den Todesstoß für Murugans Karriere bedeutete. Dieser hörte dem Monolog schweigend zu, strich sich über den Bart und hielt seine glänzenden, stechenden Augen fest auf Antar gerichtet. Als Antar innehalten mußte, um Luft zu holen, 49
nickte er ihm aufmunternd zu. »Nur weiter, Ant«, sagte er. »Ich höre zu.« Die Trumpfkarte hatte Antar sich für den Schluß aufgespart. Jetzt spielte er sie aus. »Haben Sie denn auch an Ihre Ver pflichtungen gedacht?« begann er. Er räusperte sich, um einen Anflug von Verlegenheit zu überspielen. »Ihre Verpflichtungen gegenüber Ihrer geschiedenen Frau, meine ich?« sagte er dann. »Wenn Sie das Projekt weiterverfolgen, bleibt Ihnen selbst kaum noch etwas zum Leben.« Plötzlich beugte Murugan sich vor und sah Antar in die Au gen. »Warst du je verheiratet, Ant?« fragte er. Verdutzt ließ sich Antar in den Stuhl zurückfallen. Unwill kürlich nickte er. »Aber jetzt nicht mehr?« »Nein«, sagte Antar. »Jaja«, Murugan spitzte selbstzufrieden die Lippen. »Das habe ich mir gedacht.« »Wieso?« »Einfach so«, sagte Murugan. »Aber jetzt sag mal, Ant, zahlst du vielleicht auch Unterhalt? Du scheinst ja eine Menge über das Thema zu wissen.« »Nein!« sagte Antar heftig. »Meine Frau starb während ihrer ersten Schwangerschaft.« »Oje«, sagte Murugan. »Wart ihr lange zusammen?« »Ja.« Die Direktheit der Frage überrumpelte Antar. »Wissen Sie, ich war Waise, und ihre Familie hat mich sozusagen adoptiert, als ich noch ein Teenager war, in Ägypten. Sie war alles für mich …« Er brach verwirrt ab. Murugans Gesicht zeigte Mitgefühl. »Schöne Scheiße.« Er sah auf die Armbanduhr und schob den Stuhl zurück. »Komm, laß uns was schnabulieren.« Antar schwirrte noch der Kopf von den vielen Fragen. »Schna-bu-lieren?« fragte er verständnislos. Murugan brach in Gelächter aus: »Etwas essen gehen, es ist 50
Mittagszeit.« Antar hatte seine Mittagsmahlzeit dabei, wie immer: ein Sandwich und einen Apfel, in der Aktentasche gleich hinter ihm. Er aß mittags gern allein an seinem Arbeitsplatz. Doch das jetzt Murugan zu erklären, brachte er nicht fertig. »Gut«, sagte er. »Gehen wir.« Im Flur, auf dem Weg zum Aufzug, sagte Murugan leichthin: »Da hast du aber ganz schön was mitgemacht, hm?« Um das Gespräch von sich abzulenken, fragte Antar schnell: »Und du?« »Meine Scheidung lief ziemlich problemlos«, erwiderte Mu rugan beiläufig, als sie die zur Mittagszeit übliche Schlange am Aufzug erreichten. Seine Stimme schien im Lift noch anzu schwellen. »Die ganze Sache war ein Fehler – von unseren Familien arrangiert. Hielt bloß ein paar Jahre. Keine Kinder.« Murugan verfiel in kreischendes Gelächter, das blechern in der Kabine widerhallte. »Wie sind wir eigentlich auf das Thema gekommen?« fragte er. »Ach ja, du sagtest, ich würde als Scheidungswrack enden, wenn ich nach Kalkutta gehe.« Antar fing den Blick eines Bekannten auf und sah zu Boden, bis sie aus dem Aufzug stiegen. Sie gingen in ein kleines thailändisches Restaurant ganz in der Nähe des Gebäudes, in dem LifeWatch seine Büroräume hatte. Der Kellner nahm ihre Bestellungen auf, und einen Moment lang herrschte gezwungenes Schweigen. Antar sprach als erster. »Warum willst du denn so unbedingt nach Kalkut ta?« platzte er unvermittelt heraus. Er bereute es sofort. Nor malerweise erlaubte er sich keine Vertraulichkeiten gegenüber Fremden und schon gar nicht bei jemand, der so laut und unverfroren war wie dieser hier. Doch sosehr ihn seine Stimme und sein Benehmen auch abstießen, fühlte er sich andererseits auf unerklärliche Weise zu ihm hingezogen. Murugan lächelte. »Soll ich dir sagen, warum ich dahin muß, Ant?« fragte er. »Es ist ganz einfach. Ich weiß nicht, wie viele 51
Jahre mir noch bleiben, um etwas aus meinem Leben zu machen.« »Etwas aus deinem Leben machen?« fragte Antar mit einem spöttischen Unterton. »Was du da vorhast, bringt dich um alle Chancen – jedenfalls bei LifeWatch.« »Sieh es doch mal so«, sagte Murugan. »Es gibt tausend Menschen – nein, zweitausend … ach, vielleicht zehntausend, die dasselbe können, was ich gerade tue. Aber es gibt keinen Menschen auf dieser Erde, der mehr über mein Thema weiß als ich.« »Und das ist?« fragte Antar höflich. »Ronald Ross«, sagte Murugan. »Bakteriologe und Nobel preisträger. Glaub mir, was Ronnie Ross betrifft, bin ich Meister aller Klassen.« Ein Anflug von Skepsis mußte sich wohl auf Antars Zügen gezeigt haben, denn Murugan fuhr rasch fort: »Ich weiß schon, das klingt nach Angeberei, aber so grandios ist das Ganze nun auch wieder nicht. Ross war kein Pasteur oder Koch; mit seinem Werk war nicht viel Staat zu machen. Die Sache mit der Malaria war seine einzige bahnbrechende Arbeit. Und selbst die war ein einmaliger Schnellschuß. Weißt du, wie lange er dafür gebraucht hat?« Antar erwiderte mit einem höflichen Kopfschütteln. »Die eigentliche Forschung, die praktische Arbeit, dauerte von Anfang bis Ende genau drei Jahre. Drei Jahre, die er ganz in Indien zubrachte. Er begann damit im Sommer 1895 in einem kleinen, armseligen Armeecamp an einem Ort namens Secunderabad und absolvierte im Sommer 1898 den Endspurt in Kalkutta. Dabei war er die Hälfte der Zeit überhaupt nicht im Labor, sondern bekämpfte Epidemien, spielte Tennis und Polo, machte Ferien in den Bergen und so weiter. Nach meinen Berechnungen verbrachte er insgesamt rund fünfhundert Tage mit der Malariaforschung. Und weißt du was? Ich habe ihm auf jedem einzelnen dieser fünfhundert Tage nachgespürt. Ich 52
weiß, wo er war, was er tat, welche Objektträger er sich ansah. Ich weiß, was er zu sehen hoffte und was er wirklich sah, ich weiß, wer bei ihm war und wer nicht. Es ist, als hätte ich ihm über die Schulter geschaut. Auf die Frage seiner Frau: ›Und, wie war dein Tag, Schatz?‹, hätte ich ihr antworten können.« »Und wie hast du das alles herausgefunden?« fragte Antar mit hochgezogenen Augenbrauen. »Tja«, sagte Murugan, »das Gute an einem wie Ronald Ross ist, daß er alles aufzeichnet. Denk immer dran: der Knabe will die Geschichtsbücher umschreiben. Er will jedermann seine Version verkaufen; er überläßt nichts, keine einzige Minute, dem Zufall, soweit ihm das möglich ist. Er hat damit gerechnet, daß eines Tages einer wie ich daherkommt, und ich übernehme die Aufgabe mit Vergnügen. Wenn man’s genau betrachtet, ist es eigentlich ein Klacks: fünfhundert Tage im Leben eines Menschen.« »War Ross denn wirklich so interessant?« fragte Antar. »Interessant?« Murugan brach in Gelächter aus. »Ja und nein. Er war natürlich ein Genie, aber auch ein Ignorant.« »Aha«, sagte Antar, »erzähl weiter, ich höre zu.« »O.k.«, sagte Murugan, »also stell dir vor: der Knabe geht jagen, fischen, schießen, ein Kolonialtyp wie aus dem Bilder buch. Er spielt Tennis und Polo und geht auf die Wildschwein jagd. Sieht gut aus, kräftiger Schnurrbart, runde rosige Wan gen, geht abends hin und wieder gern aus, trinkt morgens manchmal Whisky zum Frühstück und wußte die längste Zeit nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Dachte, er würde gern was schreiben, versuchte es und verfaßte ein paar mittelalterliche Ritterromane. Dann sagte er sich: ›Zum Teufel, das bringt’s nicht, probieren wir es mit Gedichten.‹ Als das auch nicht hinhaut, liest ihm Papa Ross, ein großes Tier bei der britischen Armee in Indien, die Leviten: ›Scheiße nochmal, Ron, was treibst du da eigentlich, willst du mir das mal erklä ren? Unsere Familie ist in Indien, seit das Ganze hier erfunden 53
wurde, und sag mir einen gottverdammten Service, in dem kein Ross sitzt: Civil Service, Geological Service, Provincial Ser vice, Colonial Service … Die kenne ich, aber von einem Poetical Service habe ich noch nie was gehört. Dir gehören die Flausen ausgetrieben, mein Söhnchen, und ich sag dir auch wo, also hör gut zu. Es gibt einen Laden, wo die Familie Ross gerade Mangelware ist, nämlich den Indian Medical Service. Da steht dein Name drauf, und zwar so groß, daß du ihn noch vom Mond aus lesen kannst. Mach Schluß mit dieser Dichter scheiße, das bringt’s einfach nicht.‹ Also knallt Ronnie die Hacken zusammen und verkrümelt sich an die medizinische Fakultät nach London. Die nächsten Jahre läßt er sich treiben, schreibt ein paar Gedichte, tritt in Talentschuppen auf, denkt sich Konzepte für seinen nächsten Roman aus. Die Medizin ist ihm so egal wie nur was, aber er schafft’s trotzdem in den Indian Medical Service und schwups, ist er wieder in Indien, mit einem Stethoskop um den Hals, und schnipselt an Veteranen herum. Wieder läßt er sich ein paar Jahre treiben, spielt Tennis, reitet, alles wie gehabt. Und dann, eines Morgens, steigt er aus dem Bett, und die Wissenschaft hat ihn am Genick gepackt. Er ist verheiratet, hat Kinder, steht kurz vor der Midlife-crisis. Doch was tut er, statt brav Geld für einen motorisierten Rasenmäher zu sparen? Er schaut in den Spiegel und fragt sich: ›Was gibt’s in der Medizin gerade für heiße Eisen? Was steht an in der Welt der wissenschaftlichen Entdeckungen? Was bringt mir den Nobelpreis ein?‹ Und was sagt der Spiegel? Genau: Malaria – das ist angesagt in dieser Saison. Ronnie geht ein Licht auf, bis er strahlt wie die BrooklynBridge in klaren Nächten. ›Logisch‹, sagt er, ›daß ich da nicht gleich draufgekommen bin! Malaria, das ist es.‹« »Hatte Ross selbst Malaria?« fragte Antar. »Er bekam sie ungefähr nach der Hälfte seiner Forschungs zeit«, antwortete Murugan. Er taxierte Antar mit einem schar 54
fen Blick. »Warum fragst du? Hast du jemals Malaria gehabt?« Antar nickte. »Ja«, sagte er, »vor langer Zeit, in Ägypten.« Murugan richtete sich auf. »Das ist ja komisch«, sagte er. »In Ägypten ist die Malariarate ziemlich niedrig.« »Ich schätze, ich war eine Ausnahme«, sagte Antar. »Also warst du ein einmaliger Fall? Oder gab es einen lokal begrenzten Ausbruch?« »Weiß ich nicht«, sagte Antar kurz. »Kriegst du noch Rückfälle?« beharrte Murugan. »Manchmal«, sagte Antar. »Tja, so ist es«, sagte Murugan sarkastisch lächelnd. »Man denkt, es ist weg, und plötzlich heißt es: hey, lange nicht gesehen.« »Du also auch!« Antar zog die Augenbrauen hoch. »Und ob!« Murugan lachte. »Aber ich mach mir darum nicht allzu viele Gedanken. Vielleicht deshalb, weil Malaria nicht bloß eine Krankheit ist. Manchmal kann sie auch heilen.« »Heilen?« fragte Antar. »Was denn?« »Schon mal was von Julius Wagner von Jauregg gehört?« »Nein.« »Er hat auch einen Nobelpreis für Malariaforschung bekom men, ist sogar im selben Jahr wie Ronnie Ross geboren, aller dings in Österreich. Er war Psychologe, hat sich ein paarmal ernsthaft mit Freud in die Haare gekriegt. Aber seinen Heili genschein hat er sich damit verdient, daß er etwas über Malaria entdeckte, wovon Ross nicht den leisesten Schimmer haben konnte.« »Was denn?« fragte Antar. »Er entdeckte, daß man durch künstliche Malariainfizierung Syphilis heilen kann – zumindest im Stadium der progressiven Paralyse, wenn das Gehirn mitbetroffen ist.« »Das klingt unglaublich«, sagte Antar. »Allerdings«, sagte Murugan. »Aber es brachte ihm 1927 trotzdem den Nobelpreis ein. Künstlich hervorgerufene Malaria 55
war bis in die vierziger Jahre die Standardbehandlung bei syphilitischer Parese. Tatsache ist, daß Malaria Dinge mit dem Gehirn anstellt, zu denen es nur Vermutungen gibt.« »Zurück zu Ross«, sagte Antar. »Du hast gesagt, er bekam erst Malaria, als er schon mitten in der Arbeit steckte. Woher rührte dann sein Interesse?« »Es war der Zeitgeist«, sagte Murugan. »Malaria war damals der Hit. Alle Sonntagsblätter rissen sich darum, sie auf der Titelseite zu haben. Kein Wunder: Malaria stellt wohl die tödlichste Krankheit aller Zeiten dar. Neben der gewöhnlichen Erkältung ist sie die weitestverbreitete Erkrankung auf der Erde. Wir reden hier nicht über eine Seuche, die in irgendei nem Jahrhundert plötzlich aufkommt wie die Pest, die Pocken oder Syphilis. Malaria gibt es so ungefähr seit dem Urknall, und zwar ziemlich unverändert. Kein Ort auf der Landkarte blieb von ihr verschont. Ob am Polarkreis, auf eisigen Gipfeln oder in der sengenden Wüste, Malaria gibt’s überall. Wir sprechen hier nicht von Millionen von Fällen – eher von aberhundert Millionen. Wir wissen nicht einmal genau, wie viele es sind. Malaria ist so verbreitet, daß sie gar nicht überall erfaßt wird. Außerdem kommt sie in vielen Verkleidungen daher, ahmt die Symptome von mehr Krankheiten nach, als man überhaupt zählen kann: Hexenschuß, Grippe, Gehirnblu tung, Gelbfieber. Und selbst bei korrekter Diagnose hilft Chinin auch nicht in jedem Fall. Bei bestimmten Arten von Malaria kann man so viel Chinin konsumieren, wie man will, und landet trotzdem in der Leichenhalle. Malaria verläuft nur in einem Bruchteil aller registrierten Fälle tödlich, doch bei aberhundert Millionen Fällen macht auch ein Bruchteil schon die Gesamtbevölkerung eines kleineren Landes aus.« »Als Ross anfing«, sagte Antar, »erwachte also gerade ein neues Interesse an Malaria?« »Allerdings«, sagte Murugan. »Um die Mitte des neunzehn ten Jahrhunderts wurde die Welt der Wissenschaft allmählich 56
auf Malaria aufmerksam. Schließlich besiedelte in diesem Jahrhundert die alte Urmutter Europa die letzten unbekannten Gebiete: Afrika, Asien, Australien, Amerika und sogar die weißen Flecken auf ihrer eigenen Landkarte. Wälder, Ozeane, kriegerische Eingeborene – damit wird man leicht fertig, wenn man nur Dynamit und Kanonen hat. Das sind Kinkerlitzchen im Vergleich mit Malaria. Vergiß nicht, es war noch nicht lange her, seit praktisch alle Siedler am Mississippi jeden zweiten Tag ausfielen, weil sie ein Fieberanfall schüttelte. In den Sümpfen rund um Rom war es genau das gleiche, und auch in Algerien, wo die französischen Siedler sich breitmachten. Und genau in der Zeit begannen neue Wissenschaften wie die Bakteriologie und die Parasitologie in Europa Furore zu ma chen. Malaria wurde Nummer eins auf der Liste der For schungsvorhaben. Die Regierungen investierten kräftig in die Malariaforschung – in Frankreich, in Italien, in den USA, überall, nur nicht in England. Aber ließ sich Ronnie davon aufhalten? Nichts da, er zog sich nackt aus und sprang kopf über ins kalte Wasser.« Antar runzelte die Stirn: »Willst du damit sagen, daß Ross keinerlei offizielle Unterstützung von der britischen Regierung bekam?« »Im Gegenteil: das Empire unternahm alles Menschenmögli che, um ihn aufzuhalten. Außerdem waren die Briten, was Malaria angeht, hoffnungslos hintendran; die Pionierarbeit wurde in Frankreich und in den französischen Kolonien gelei stet, in Deutschland, Italien, Rußland, Amerika – überall, nur nicht dort, wo die Briten herrschten. Aber glaubst du vielleicht, Ross machte das etwas aus? Das muß man ihm lassen, er hatte Mumm, dieser Scheißkerl. Er ist in dem Alter, wo die meisten Wissenschaftler beginnen, an ihre Altersversorgung zu denken. Er hat keinen blassen Schimmer von Malaria. Er hockt irgendwo in der finstersten Provinz, wo man nicht einmal weiß, was ein Labor überhaupt ist. Seit seinem Abgang von der medizini 57
schen Fakultät hat er kein Mikroskop mehr in Händen gehabt. Er arbeitet in diesem lächerlichen, winzigen Laden von Indian Medical Service, der ein paar Ausgaben vom Lancet bezieht und sonst rein gar nichts, nicht einmal die Transactions of the Royal Society of Tropical Medicine, ganz zu schweigen vom Johns Hopkins Bulletin oder den Annales des Pasteur-Instituts. Aber das kümmert unseren Ronnie einen Dreck. Eines Tages steigt er in Secunderabad oder wo auch immer aus dem Bett und sagt mit seinem komischen, niedlichen englischen Akzent zu sich selbst: ›Ach, was soll ich heute bloß mit mir anfangen, vielleicht löse ich einfach rasch das wissenschaftliche Rätsel des Jahrhunderts, nur um ein paar Stunden totzuschlagen.‹ Was kümmern ihn die ernsthaften Mitstreiter auf dem Spielfeld. Vergiß Laveran, vergiß Robert Koch, den Deutschen, der mit Typhus herumgemacht hat und nun ebenfalls bei der Malaria gelandet ist; vergiß das russische Duo Danilewski und Roma nowski, die sich schon mit diesen Mikroben herumschlugen, als Klein-Ronald noch in die Windeln machte. Vergiß die Italiener, die eine ganze Nudelfabrik von Forschern auf Mala ria angesetzt haben. Vergiß W. G. MacCallum in Baltimore, der die Infektion von Vögeln mit Blutparasiten untersucht und kurz vor einem echten Durchbruch steht. Vergiß Bignami, Celli, Golgi, Marchiafava, Kennan, Nott, Canalis, Beau perthuy. Vergiß die italienische Regierung, die französische Regierung, die US-Regierung, die alle mit einem Haufen Geld der Malaria hinterherjagen, vergiß sie alle miteinander. Sie sehen Ronnie nicht einmal kommen, bis er soweit ist, die Uhren anzuhalten.« »Einfach so?« fragte Antar. »Allerdings. So fing es jedenfalls an. Und weißt du was? Er schaffte es. Er schlug die Laverans und Kochs und Grassis und die ganze italienische Bagage. Er schlug die Regierungen von Frankreich, Deutschland, Rußland und den USA, er schlug sie alle aus dem Feld. So lautet jedenfalls die offizielle Version: 58
Jung-Ronnie, das einsame Genie, spurtet über das Feld und gewinnt den Weltcup.« »Deine Version lautet anders, nehme ich an«, sagte Antar. »Du sagst es, Ant. Diese Geschichte kauf ich ihnen nicht ab.« »Warum nicht?« Ein Kellner erschien am Tisch und stellte Suppentassen vor sie hin. Murugan rieb die Handflächen aneinander und beugte sich über die nach Zitrone duftende Dampfwolke, die aus seiner Suppentasse aufstieg. »Ich nehme also an«, insistierte Antar, »daß du eine andere Vorstellung davon hast, wie Ronald Ross seine Entdeckungen machte?« »So kann man es auch ausdrücken«, sagte Murugan. »Wie lautet demnach deine Version der Geschichte?« fragte Antar. »Jetzt hör mal zu, Ant«, sagte Murugan und griff zum Löffel. »Ich erzähl dir die ganze Story, drei Bände von vorne bis hinten, wenn wir mal die Welt umsegeln. Du zahlst, und ich rede.« Antar lachte. »O.k.«, sagte er. »Wie wär’s mit ein paar Sei ten, zur Einstimmung?« Murugan zog einen langen, nassen Strang Nudeln mit Stäb chen hoch und schlürfte ihn in sich hinein, lehnte sich im Stuhl zurück und betupfte seinen Spitzbart mit einer Papierserviette. Als er nach einer kurzen Pause sprach, klang seine Stimme leise und sachlich. »Kann ich dir eine philosophische Frage stellen, Ant?« Antar rückte sich im Stuhl zurecht. »Nur zu«, sagte er, »wenn ich auch nicht gerade der richtige Typ für gewichtige Fragen bin …« »Sag mal, Ant«, Murugan fixierte Antar mit seinem durch dringenden Blick. »Sag mir eins: Hältst du es für natürlich, vorzugreifen – wissen zu wollen, was als nächstes geschieht?« »Na ja«, sagte Antar unbehaglich. »Ich weiß nicht recht, was 59
du eigentlich meinst.« »Dann will ich es so formulieren«, sagte Murugan. »Glaubst du, daß man alles wissen sollte, was man wissen kann?« »Natürlich«, sagte Antar. »Warum denn nicht?« »Gut«, sagte Murugan und tauchte seinen Löffel in die Sup pe. »Dann lasse ich dich ein paar Seiten lesen. Aber denk dran, du hast es so gewollt.«
Zehn Vielleicht würde sie jetzt endlich mit Sonali allein sein, hoffte Urmila, als sie aus dem Auditorium heraustraten. »Hast du ein paar Minuten Zeit?« begann sie. Doch Sonali eilte schon über die Zufahrt zur Straße. Urmila holte sie am Tor ein. Im gleichen Moment signalisier te heftiger Applaus aus dem Auditorium das Ende von Phulbo nis Rede. »Es tut mir leid, daß ich früher gehen muß«, sagte Sonali. »Ich wäre gern bis zum Ende geblieben, aber es ist schon nach acht, und ich muß unbedingt nach Hause.« »Oh«, machte Urmila in einem halbherzigen Versuch, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Hast du nicht noch einen Augen blick Zeit?« Sonali hielt inne. »Nein«, sagte sie. »Ich erwarte jemanden. Warum?« »Ich hätte gern mit dir gesprochen«, sagte Urmila. »Worüber?« »Über ihn«, sagte Urmila und deutete mit dem Kopf Rich tung Auditorium. »Über Phulboni.« »Und was genau?« »Ich soll einen Artikel über ihn schreiben«, sagte Urmila. »Und mir sind dabei ein paar Dinge unklar. Jemand sagte mir, ich solle dich deswegen fragen.« 60
»Mich?« fragte Sonali überrascht. »Ich weiß nicht, ob ich dir dazu viel sagen kann.« Einen Moment lang stand sie unentschlossen da. Dann warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und sagte: »Warum begleitest du mich nicht nach Hause? Dann können wir reden, bis mein Gast kommt.« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat Sonali vor und hielt ein Taxi an. Ungeachtet der Proteste schob sie Urmila hinein und stieg hinterher. »Alipore«, sagte sie zum Fahrer und kurbelte das Fenster herunter, als das Taxi an der kühlen, im Dunkeln liegenden Rennbahn vorbeirollte. Kurz vor der Alipore Bridge geriet das Taxi in einen Stau und kam quietschend zum Stehen. Sonali wandte sich zu Urmila. »Was wolltest du mich denn fragen?« Ihre Stimme vibrierte im gleichen Rhythmus wie der Wagen im Leerlauf. »Etwas über Phulbonis frühe Erzählungen«, sagte Urmila. Sonali hob die Brauen. »Aber warum gerade mich?« fragte sie. »Wer um alles in der Welt hat dich auf mich gebracht?« Urmila zögerte. »Eine Bekannte«, sagte sie. »Und wer?« fragte Sonali. »Du kennst sie auch«, sagte Urmila. »Oder kanntest sie zu mindest. Jedenfalls spricht sie viel von dir.« »Wer denn?« fragte Sonali. »Du machst mich wirklich neu gierig.« »Mrs. Aratounian.« Urmila nannte den Namen mit einem warmen Lächeln. »Mrs. Aratounian?« rief Sonali. »Du meinst die Mrs. Ara tounian von Dutton’s Gärtnerei an der Russell Street?« »Ja«, sagte Urmila. »Genau die. Erinnerst du dich an sie?« Sonali nickte, obwohl sie in Wahrheit Mrs. Aratounian seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und sich nur schwach einer gepflegten, recht einschüchternd wirkenden Frau mit schwar zem Rock und Goldrandbrille entsinnen konnte. Mit ihrer schallenden Stimme und ihrem schroffen Verhalten hatte sie 61
Sonali stets an die irischen Nonnen aus ihrer Klosterschule erinnert. Sie stammte aus einer armenischen Familie, die seit Generationen in Kalkutta lebte, erinnerte Sonali sich jetzt. Auch Dutton’s Gärtnerei gehörte ihnen schon seit einer halben Ewigkeit. »Mein Gott!« rief sie aus. »Dutton’s! Das muß Jahre her sein, seit ich zum letztenmal dort war.« »Aber weißt du was«, sagte Urmila hastig, »dort habe ich dich zum erstenmal gesehen.« »Bei Dutton’s?« Sonali starrte sie erstaunt an. »Kennen wir uns denn nicht erst, seit ich bei Calcutta bin?« »Na ja, direkt kennengelernt haben wir uns damals nicht.« Jetzt war Urrnila verlegen. Sie wünschte, sie hätte die Sache nicht erwähnt. Es war vor Jahren gewesen. Urrnila besuchte die letzte Klas se und war Schülervertreterin im Gartenkomitee. Deswegen hatten sie die Lehrmitglieder des Komitees an diesem Morgen im Schulbus zu Dutton’s Gärtnerei mitgenommen. Sie war nervös: Mrs. Aratounian flößte ihr mit ihrer harten Stimme und ihren stechenden Augen Angst ein. Beim letzten Mal hatte sie in der Gärtnerei eine Rose berühren wollen und dabei einen bohrenden Blick auf sich gerichtet gefühlt. Schuld bewußt fuhr sie herum, zog die Hand zurück, und tatsächlich beobachtete Mrs. Aratounian sie von der gegenüberliegenden Seite des Raumes. »Das ist eine Pflanze und kein Hund«, sagte sie, wobei ihre Goldrandbrille funkelte. »Und sie hat Dornen, weil sie nicht gekrault werden will.« Urmila wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Doch diesmal schien alles gutzugehen. Mrs. Aratounian überschlug sich fast vor Freundlichkeit. Sie deutete auf ein paar Chrysanthemen und sagte: »Suchen Sie sich eine aus, meine Liebe. Ich schenke sie Ihnen, ausnahmsweise.« Urmila betrachtete die Chrysanthemen, als plötzlich Unruhe an der Tür entstand. Sie wandte sich um und sah Sonali Das 62
hereinkommen. In der Gärtnerei herrschte Gedränge – es war die Jahreszeit, in der jedermann Samen und Pflanzen kaufte. Sonalis Eintritt erregte einiges Aufsehen. Sie hatte gerade ihr Buch veröffent licht, und ihr Bild war überall zu sehen. Mit ihrem grünweißen Chiffonsari und der großen, nach hinten ins Haar hochgescho benen Sonnenbrille wirkte sie durch und durch wie ein Film star. Urmila hatte kürzlich einen ihrer Filme gesehen. Sie starrte sie mit offenem Mund an und versteckte sich halb hinter den Chrysanthemen, um mit ihrer schmutzigen Schuluniform und ihren dünnen Zöpfen nur ja nicht gesehen zu werden. Während Sonali mit Mrs. Aratounian sprach, trat ein großer, kräftig gebauter Mann mit breitem Gesicht und ausgeprägter Kinnpartie an ihre Seite. Kinn und Brauen sprangen unter dem fast völlig kahlen Schädel stark hervor. Ganz offensichtlich waren die beiden zusammen hergekommen. Er wirkte alt neben ihr, fand Urmila, sah aber auf eine etwas brutale Art nicht schlecht aus. Sie fragte sich, wer er war. Dann sagte der Mann etwas zu Mrs. Aratounian. Zu Urmilas größter Bestürzung drehte diese sich um und deutete in ihre Richtung, auf die Chrysanthemen. Einen kurzen Moment stand Urmila unentschlossen da. Als sie sich gefaßt hatte, war es schon zu spät. Sie standen direkt vor ihr, und Sonali griff um sie herum nach einem Blumentopf. Urmila trat rasch zur Seite, um nicht im Weg zu stehen. In der Eile streifte sie jedoch Sonalis Arm. Der Topf fiel herunter, zerbarst mit einem fürchterlichen Krach und übersäte den Boden mit Blättern, Blüten und Erdkrumen. Voller Entsetzen ging Urmila in die Knie. Den Blick auf den Boden gerichtet, begann sie die verstreuten Tonscherben und die Erde zusammenzufegen. Sie wagte nicht aufzusehen und war den Tränen nahe. Dann näherten sich vor ihr zwei riesige Hände dem Boden 63
und füllten ihr ganzes Gesichtsfeld aus. Die Hände waren dicht und lockig behaart, die Knöchel hatten die Größe von Walnüs sen. Trotz aller Verwirrung bemerkte Urmila, daß eine Hand teilweise gelähmt war: der Daumen ruhte steif abgebogen in der Handfläche. Dann begannen die Hände ihr zu helfen und fegten unbeholfen die Erde zusammen. Urmila hob den Kopf und sah den Mann vor sich, der Sonali in den Laden gefolgt war. Er starrte sie an – nicht böse, aber fest und abschätzend. Etwas an seinem Blick erschreckte Urmila, und sie senkte die Augen. Im nächsten Moment spürte sie Sonalis Arme, die ihr aufhal fen. »Armes Ding«, sagte sie zu Mrs. Aratounian. »Es ist nicht ihre Schuld. Ich komme dafür auf.« Auf dem Rückweg zur Schule wurde Urmila im Bus heftig gescholten. Bald jedoch verloren die Lehrer das Interesse an ihr und begannen über Sonali Das und ihren Begleiter zu schwat zen. Urmila entdeckte zu ihrer Überraschung, daß sie seinen Na men kannte: es war Romen Haldar. Man hatte bei ihr zu Hause über ihn gesprochen. Er lebte in einem großen Haus unweit ihrer Wohnung. Sie wußte, daß er ein vermögender Bauunter nehmer war und viel Einfluß in einem wichtigen Klub besaß. Ihr jüngerer Bruder, der davon träumte, in der ersten Liga zu spielen, sprach oft von ihm. Als sie sich jetzt an den Vorfall erinnerte, konnte Urmila darüber lachen. »Es ist Jahre her«, sagte sie zu Sonali. »Ich schlug dir damals einen Blumentopf aus der Hand, Chrysan themen waren es.« »Ich erinnere mich nicht«, sagte Sonali. »Natürlich nicht«, sagte Urmila. »Aber du warst sehr nett zu mir, und Mrs. Aratounian auch. Danach wurden wir richtige Freundinnen.« »Also kennst du Mrs. Aratounian gut?« fragte Sonali. »Ich besuche sie hin und wieder«, sagte Urmila, »in ihrer 64
Wohnung an der Robinson Street. Sie ist immer sehr freundlich zu mir. Und auf ihre verschrobene Art ist sie durchaus interes sant. Außerdem ist ihre Wohnung so friedvoll, mit all den Pflanzen und den bequemen Sesseln und Sofas. Es tut gut, gelegentlich von der Redaktion wegzukommen. Wenn ich Zeit habe, schaue ich immer vorbei.« »Ich habe gehört, Mrs. Aratounian ist in Pension gegangen und hat Dutton’s verkauft«, sagte Sonali. »Bei der Lage muß sie ein Vermögen dafür bekommen haben.« »Das weiß ich nicht«, sagte Urmila. »Ich habe sie nie danach gefragt. Aber ich glaube eigentlich, daß es ihr seit der Pensio nierung finanziell nicht besonders gut geht. Ständig denkt sie sich neue kleine Einnahmequellen aus. Sie sagt: ›Ich war mein Leben lang Geschäftsfrau‹ – du weißt ja, wie sie redet –, ›und so sicher, wie zwei und zwei vier ist, werde ich damit nicht von heute auf morgen aufhören.‹« Sonali lachte. »Und was sind das für Einnahmequellen?« fragte sie. »Der letzte Plan war, zahlende Gäste aufzunehmen und aus ihrer Wohnung eine Privatpension für Geschäftsleute zu machen.« »Nein!« rief Sonali ungläubig aus. »Doch«, fuhr Urmila fort. »Sie hat sogar ein Schild an die Tür gehängt. Dummerweise sieht es nur niemand, weil man dazu die Treppe hinaufgehen muß, daher hatte sie bisher noch keine Gäste.« »Wie ist sie daraufgekommen?« wollte Sonali wissen. »Das habe ich sie auch gefragt«, antwortete Urmila. »Und sie sagte, der Bauunternehmer habe sie auf den Einfall gebracht, weil er gerade ein altes Haus gegenüber an der Robinson Street zu einem Hotel umbaut. Sie sagte: ›Dieses Schlitzohr hat die Stirn und stellt einfach ein Schild auf den Rasen. Als wär’s das Natürlichste der Welt: Hier entsteht das Hotel Robinson. Was er kann, das kann ich auch.‹« 65
Plötzlich schwieg Urmila bestürzt und schlug die Hände vor den offenen Mund. Sonali lächelte und nahm eine Zigarette aus ihrer Handta sche. »Vermutlich meinte sie Romen?« sagte sie trocken und schnipste das Feuerzeug an. »Er hat mir das Haus an der Robinson Street neulich gezeigt. Es ist sein ganzer Stolz, und er plant es völlig umzubauen.« Sie blies die Flamme aus und ließ den Rauch in kleinen Wölkchen aus ihren gespitzten Lippen entweichen. Urmila begann hastige Entschuldigungen zu murmeln. Sonali lachte. »Denk dir nichts. Es ist mir völlig egal, was die Leute über Romensagen. Du solltest nur hören, wie die Witz bolde in seinem Klub sich über ihn den Mund zerreißen. Natürlich ist der Wicket-Klub von Kalkutta der letzte Ort auf dieser Welt, wo es noch Witzbolde gibt, die nur dafür leben, Witze zu reißen.« Sie strich Urmila beruhigend über den Arm. »Hast du Romen eigentlich je kennengelernt?« fragte sie dann. »Nein.« Urmila schüttelte den Kopf. »Ich sah ihn nur dieses eine Mal in deiner Begleitung, bei Dutton’s.« »Ich glaube, er wird dir gefallen«, sagte Sonali. »Er hat ein ungewöhnliches Leben geführt, weißt du.« »Wirklich?« sagte Urmila in unverbindlichem Ton. Soweit sie sich an die Gerüchte erinnerte, hatte Romen Haldar mit nichts angefangen – war ohne einen Pfennig in der Tasche am Bahnhof Sealdah in Kalkutta angekommen. Sonali nickte. »Du wirst schon sehen«, meinte sie. »Er ist ganz anders, als die Leute ihn hinstellen. Heute abend wirst du ihn kennenlernen; er ist der Gast, den ich erwarte. Er sagte, er würde heute abend vorbeikommen.« Das Taxi hielt bei einem schweren, gußeisernen Tor. Sonali kramte in ihrer Handtasche und suchte nach Geld, um den Fahrer zu bezahlen. Ein uniformierter Portier trat aus einem Wachhäuschen. Er 66
warf einen aufmerksamen Blick auf sie, bevor er das Taxi in die exklusive Wohnanlage einließ. Sie bestand aus vier weit auseinander liegenden Appartementhäusern, deren Veranden alle einen wunderbaren Ausblick auf das Grün von Alipore boten. Als das Taxi durch das Anwesen fuhr, sah Sonali zu einem der Parkplätze der Anlage hin. Urmila folgte ihrem Blick zu einem diskreten kleinen Schild über einem leeren Platz. Dort stand: Reserviert – R. Haldar. Sonali seufzte. »Romen ist noch nicht da«, sagte sie. »Wir können uns unterhalten, bis er kommt.«
Elf Murugan kritzelte ein Datum auf die bunte Papierserviette des Restaurants und legte sie vor Antar hin. »So sieht es aus«, sagte er. »Es ist Mai 1895. Wir befinden uns im Militärhospital von Secunderabad, es ist so heiß, daß die Luft über dem Fußboden flimmert, keine Ventilatoren, kein Strom, ein Zimmer voller Glasgefäße, alle ordentlich in Regale gestellt, ein Schreibtisch und ein Stuhl mit gerader Lehne, ein einzelnes Mikroskop mit rundum verstreuten Glasplatten, darübergebeugt ein Typ in Uniform und ein Schwärm von Assistenten, die um ihn herumscharwenzeln. Das ist Ronnie, und der Rest ist Staffage, jedenfalls in Ronnies Augen. ›Tu dies‹, sagt er, und sie tun es, ›tu das‹, und sie kriechen vor ihm. So kennt er es von klein auf, so ist er es gewöhnt. Meistens weiß er nicht mal ihre Namen, kennt kaum ihre Gesichter. Das hat er nicht nötig. Wer sie sind, woher sie kommen und so weiter, vergiß es, interessiert ihn nicht. Ob es Kumpels sind oder Vettern oder Zellengenossen, ist Ronnie völlig egal.« »Moment mal«, unterbrach ihn Antar. »Mai 1895? Das heißt, Ronald Ross beginnt gerade mit der Malariaforschung?« 67
»Genau«, sagte Murugan. »Ronnie ist eben von einem Ur laub aus England zurück, bei dem er in London Patrick Man son getroffen hat.« »Patrick Manson?« Antar hob eine Braue. »Den mit der Ele phantiasis?« »Genau den«, sagte Murugan. »Manson ist einer von den absoluten Superstars. Er hat so lange in China gelebt, daß er eine Python mit Stäbchen häuten kann. Er hat das Buch über Filaria geschrieben, den Erreger der Elephantiasis. Jetzt ist er wieder in England und spielt für die Königin den Oberboß in der bakteriologischen Forschung. Doc Manson will den Mala riapreis kriegen – für England, sagt er, für das Empire: Scheiß auf die Krauts und die Franzmänner, auf die Itaker und die Yankees. Er ist zwar Schotte, aber wenn’s ernst wird, schreit er hurra für Königin und Vaterland. Ihm brauchst du nicht zu erzählen, daß der schönste Anblick für einen Schotten die Türme von London sind. Das hat er schon intus.« »Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Antar, »dann bewies Manson, daß Moskitos als Überträger für Filaria dienen. Stimmt das?« »Jawohl«, sagte Murugan. »Und jetzt schwant ihm, daß Moskitos auch etwas mit dem Malariaerreger zu tun haben. Er hat keine Zeit, die Arbeit selbst zu erledigen, also sucht er einen Fackelträger für Königin und Reich. Na, und wer kommt hereingeschneit? Ronnie Ross. Nur liegt Ronnie zu diesem Zeitpunkt dummerweise ziemlich weit hinten im Feld. Den größten Durchbruch des Jahrhunderts in der Malariaforschung hat er schlicht verpaßt. In den vierziger Jahren hatte nämlich ein Bursche namens Meckel winzige schwarze Pigmentkörn chen in den Organen von Malariapatienten gefunden – schwar ze Flecken, manche rund, manche sichelförmig, eingebettet in winzige Mengen von Protoplasma. Vierzig Jahre lang hatte kein Mensch die leiseste Ahnung, was das sein könnte. Der Durchbruch erfolgt 1880: Alphonse Laveran, ein französischer 68
Stabsarzt in Algerien, geht zum Mittagessen und vergißt eine Glasplatte unter seinem Mikroskop. Er kehrt von seinen auf Hickoryholz gegrillten Lammwürstchen zurück, und was sieht er? Eins dieser sichelförmigen Körnchen bewegt sich. Es fängt an zu tanzen, verwandelt sich in einen winzigen Oktopus, bildet Tentakel aus, bringt die ganze Zelle zum Wackeln. Laveran zählt zwei und zwei zusammen: das Ding bewegt sich, also ist es eine Mikrobe. Er telegraphiert an die medizini sche Akademie in Paris, daß er den Malariaerreger gefunden hat und daß es ein Lebewesen ist, ein Einzeller – ein tierischer Parasit. Aber Paris kauft ihm das nicht ab. Hier ist Pasteur der Boß, und er zahlt gutes Geld für die Jagd nach Bakterien. Keiner glaubt an Laverans Einzeller. Ebensogut hätte er be haupten können, den Yeti gefunden zu haben. Einige der renommiertesten Mediziner machen sich daran, die LaveranTheorie zu widerlegen. Nur die Italiener bekehren sich und werden ›Laveraniter‹. 1886 zeigt Camillo Golgi, daß Laverans Parasit in den roten Blutkörperchen wächst, seinen Wirt auf frißt und schwarzes Pigment ausscheidet. Das Pigment sam melt sich im Zentrum, während der Parasit sich teilt. Er de monstriert, daß die Malariarückfälle mit diesem System der ungeschlechtlichen Vermehrung zusammenhängen. Während hier die Gesellschaft langsam in Schwung kommt, hält Ronnie sich abseits. Er gehört zum Anti-Laveran-Lager und glaubt nicht an Laverans Mikrobe. Die letzten paar Monate hat er versucht, sie zu Gesicht zu bekommen, aber ohne Erfolg. Er hat sogar in einem Artikel zu beweisen versucht, daß Lave ran an Wahnvorstellungen leidet. In Mansons Labor sieht Ronnie die Mikrobe dann zum erstenmal. Er schwenkt um, und Manson schickt ihn postwendend zurück nach Indien, um nach dem Überträger zu suchen.« Antar unterbrach ihn: »Also hat eigentlich Manson die Ver bindung zwischen Malaria und Moskitos entdeckt?« »Die Idee war ja nicht neu«, sagte Murugan. »Die meisten 69
Kulturen, in denen Malaria vorkommt, wußten, daß es da eine Verbindung gibt.« »Trotzdem«, beharrte Antar. »Du sagst, Manson brachte Ross als erster auf die Idee?« »Man könnte sagen, daß Manson ihm die allgemeine Rich tung wies«, sagte Murugan. »Allerdings schickte er ihn auf einen hübschen Umweg. Er hatte nämlich die verrückte Theo rie, daß der Malariaerreger über das Trinkwasser vom Moskito zum Menschen gelangt. Und er wollte, daß Ronnie für diese seine Theorie die Kleinarbeit erledigte.« »Und Ross glaubte an diese Theorie?« »Allerdings.« »Und was passierte dann?« fragte Antar. »O.k., wir sind wieder im Jahr 1895. Ross ist ganz wild dar auf, an Doc Mansons Moskito-Wasser-Theorie zu arbeiten. Er geht in Madras von Bord und fährt mit dem Zug zu seinem Regiment, der 19. Madras-Infanterie. Es ist in Begumpett stationiert, einem Viertel von Secunderabad. Auf seinem Weg dahin sticht Ronnie Nadeln in alles, was sich bewegt. Als er nach Begumpett kommt, bietet er Geld für Blutproben von Malariafällen – gutes Geld, eine Rupie für jeden Piekser! Überleg mal, wir schreiben das Jahr 1895. Eine Rupie bedeutet einen Monat Reis für eine vierköpfige Familie. In der Gegend gibt es so viel Malaria, daß die Moskitos schon Überstunden machen und trotzdem nicht nachkommen. Und hier hockt Ronnie, zahlt gutes Geld für ein paar Tropfen Malariablut und findet keinen einzigen Spender. In der ganzen Stadt spricht man über den verrückten neuen Doktor, der ganz wild darauf ist, nackte Kerls mit Moskitos zusammen ins Bett zu stecken. Niemand kommt auch nur in seine Nähe; sie wechseln die Straßenseite, um ihm zu entgehen. Ronnie kommt sich auf einmal vor wie in einem Werbespot über Mundgeruch: wann immer er auf die Hauptstraße von Begumpett kommt, ist sie schlagartig leer. 70
Aber plötzlich hat er Glück. Als die Sache für ihn schon hoffnungslos zu sein scheint, bekommt er exakt am 17. Mai 1895 seinen ersten richtigen Malariafall – einen Patienten namens Abdul Kadir. Ronnie verliert keine Zeit: er zieht Abdul Kadir nackt aus, verfrachtet ihn in ein Bett unter ein nasses Moskitonetz und befreit darin eine Ladung Moskitos aus einem Reagenzglas. Am nächsten Morgen sichtet er die Beute, und mit einem Mal ist in Ronnies Labor in Begumpett der Teufel los. Bis dahin hatte er nur zwei der geißelförmigen Parasitenar ten gesehen. Am 18. Mai zerlegt er einen von Abdul Kadirs Moskitos (Moskito Nr. 18) und findet auf einen Schlag sechzig Parasiten. Vor Aufregung hüpft er fünfmal von seinem Mikro skop zum Fenster und zurück. An Doc Manson schreibt er, daß er ein phantastisches Exempel‹ gefunden hat. Und das ist erst der Anfang. Am 26. Juni 1895 sieht Ronnie die halbkugelige Transformation des Parasiten zum erstenmal, und Abdul Kadirs Blut leitet ihn auch in den folgenden Monaten durch alle entscheidenden Phasen seiner Forschung.« »Hat ein einzelner Fall denn so viel zu sagen?« fragte Antar. »Ronnie meinte, ja«, antwortete Murugan. »Für ihn war Ab dul Kadir von entscheidender Bedeutung für seine Arbeit. Er hatte schon eine ganze Reihe von Blutproben untersucht, aber keine von ihnen zeigte ihm je das, was er bei Abdul Kadir fand. Man sollte meinen, Malariaerreger hätten keine besonderen Lieblingsplätzchen, aber vielleicht gibt es doch so etwas. Möglicherweise zeigen sie sich in bestimmten Fällen deutli cher. Jedenfalls glaubte Ronnie das. Er war völlig auf Abdul Kadir und sein Blut fixiert. Wenn seine Parasiten mal ein paar Tage lang eine Pause einlegten, ging Ronnie die Wände hoch. ›Herrgott! Das Exempel, welches das Schicksal mir gesandt hat, vertrocknet!‹ schrieb er am 22. Mai an Doc Manson. Dieser Ignorant war so von sich überzeugt, daß er glaubte, das Schicksal habe ihn zu Großem ausersehen. Er wußte natürlich, daß Abdul Kadir ein Sonderfall war. Aber er fragte sich kein 71
einziges Mal, wieso der Kerl gerade dann hereingeschneit kam, als er ihn so dringend brauchte. Er hielt es einfach für einen Glücksfall.« »Laß mich mal etwas klarstellen«, sagte Antar. »Meinst du damit, Abdul Kadir kam nicht zufällig ins Krankenhaus?« »Natürlich stellt sich diese Frage«, sagte Murugan. »Sieh es doch mal so: Ross weiß, daß keiner sonst in seine Nähe kommt, selbst wenn er die Rate von einer Rupie pro Blutprobe verdop pelt und verdreifacht. Am 17. Juli schreibt er an Doc Manson: ›Die Leute aus dem Basar kommen nicht zu mir, obwohl ich ihnen eine phantastische Bezahlung biete: zwei oder sogar drei Rupien für einen einzigen Stich in den Finger, und noch viel mehr, wenn ich Parasiten finde. Sie halten es für einen bösen Zauber.‹ Dennoch fragt sich Ronnie nicht ein einziges Mal: Warum ist dieser Abdul Kadir hier und sonst niemand? Wieso glaubt er nicht, daß es ein böser Zauber ist? Was ist anders an ihm? Wo kommt er her? Was macht er hier? Welche Geschich te steckt dahinter? Wir sprechen nicht über Tiefenanalyse, nein, nur über ganz alltägliche Neugier. Aber das einzige, was Ronnie interessiert, ist der Lebenslauf seiner Malariaparasiten. Das Leben ihrer Wirte ist ihm völlig egal.« »Worauf willst du hinaus?« fragte Antar scharf. »Im Moment noch auf gar nichts«, sagte Murugan. »Ich halte nur die Tatsachen und ihre Reihenfolge fest.« »Na gut«, sagte Antar. »Mach weiter.« »O.k.«, sagte Murugan. »Spulen wir vor zur Woche nach Abdul Kadirs Eintreffen: 25. Mai 1895. Doc Manson fürchtet, daß Ronnie vom Weg abkommt, und erinnert ihn in einem Brief an seine Theorie, daß ›das Lebewesen im Moskito… durch Moskitoleichen zum Menschen gelangt‹. Er will, daß Ronnie einen Drink aus toten Moskitos mischt und jemandem verabreicht. Ronnie holt die Gläser heraus und fängt an zu mixen. Das Blöde ist nur, daß er nicht weiß, wem er ihn servieren soll. Er 72
findet einfach niemanden, der sich freiwillig für so einen Schwachsinn hergibt. Alles ist wie gehabt: Ronnie hockt in seinem Labor in Begumpett, die Party kann steigen, aber es kommen keine Gäste. Und was passiert? Ronnie hat wieder einmal Glück. Oder vielleicht ist es nicht einfach Glück, vielleicht hat er auch den Brief von Doc Manson auf dem Schreibtisch liegenlassen, und irgendwer hat ihn gelesen. Vielleicht. Jedenfalls tritt am 25. Mai 1895 um Punkt acht Uhr abends ein gewisser Lutchman in Ronnies Leben. Er ist bereit, Ronnies Cocktail zu trinken. Ronnie läßt die Korken knallen und holt die Moskito-Margarita aus dem Kühlschrank. Lutchman ist ein ›junger, gesund aussehender Bursche‹, wie Ronnie vermerkt – genau das Versuchskaninchen, nach dem er gesucht hat. Er erklärt Lutchman das Experiment und serviert ihm das Gebräu aus toten Moskitos. Lutchman tut so, als wüßte er nicht längst, worum es sich handelt, und kippt es hinunter. Ronnie hat ein bißchen Schiß, aber er läßt sich nichts anmer ken. Von Lutchman weiß er nur, daß er ›Sänftenträger‹ ist. Mit anderen Worten, die britische Regierung bezahlt ihn für einen Schwachsinnsjob. Ronnie ist wohl bewußt, daß Ihre Königliche Majestät über sein kleines Experiment nicht allzu erfreut sein dürfte, wenn sie in ihrem Schloß an der London Bridge oder sonstwo davon hören würde. Um die Spuren zu verwischen, schreibt er später an Doc Manson: ›Erwähnen Sie Lutchman um Himmels willen nicht bei der British Medical Association … einen Regierungsangestellten mit Fieber zu infizieren, gälte als Verbrechen.‹ Am nächsten Morgen hat Lutchman Fieber: 38 °C um acht Uhr früh. (›Wirkt krank‹, notiert Ronnie.) Scheint, als wär’s Zeit für Doc Manson, aus der Badewanne zu springen. Vielleicht wird Malaria ja wirklich durch tote Moski tos im Trinkwasser verbreitet. Ronnie ist drauf und dran, die gute Nachricht zu verbreiten, und bereitet sich schon auf Feierlichkeiten und Ehrungen vor. Aber dann kommt der 73
Dämpfer. Lutchman sieht nicht nur wieder gesund aus, er ist es auch. Er war einfach allergisch gegen tote Moskitos. Einen Tag später ist er fit wie ein Marathonläufer – keine Spur von Malaria in seinem Blut. Das war das Aus für die Moskitolei chen-Theorie. Ronnie ist am kritischen Punkt umgelenkt worden und kann wieder zu Abdul Kadir zurückkehren.« »Halt, halt«, unterbrach ihn Antar. »Das möchte ich noch klarstellen. Behauptest du, Lutchman wäre ganz gezielt in Ross’ Labor geschickt worden, um Mansons Theorie zu wider legen?« »Ich behaupte gar nichts«, sagte Murugan. »Ich registriere nur die Tatsachen, der Reihe nach. Und Tatsache ist: Ronnie arbeitet etwa seit einem Monat an den Malariaparasiten, als Abdul Kadir und Lutchman in sein Leben treten. Ronnie hat kein Geheimnis aus seiner Forschung gemacht; jedermann weiß, daß er Malariapatienten braucht. Falls – ich sage nur falls – jemand ihn beobachtete, falls jemand einen wissenschaftli chen Forscher suchte, um bestimmte Experimente durchzufüh ren, wäre ihm das Gerücht um diese Zeit zu Ohren gekommen. Dieser Jemand also, der genau beobachtet, vielleicht auch Ronnies Arbeitsnotizen und seine Briefe an Doc Manson liest, entscheidet, daß es nun Zeit für einen neuen Mitspieler wird. Zunächst müssen sie sicherstellen, daß Ronnie keine Patienten bekommt. Also verbreiten sie das Gerücht über den bösen Zauber, es schwirrt durch den Basar, und Ronnie wird zum Buhmann von Begumpett. Mitte Mai wissen sie, daß Ronnie allmählich verzweifelt: keine Patienten, keine Parasiten, nichts, gar nichts. Er kriegt einfach keine Leute und kapiert nicht wieso. Und nun schicken sie ihm Abdul Kadir mit seinen gigantischen Parasiten. Sie führen Ronnie an der Hand zu seinen ersten Ergebnissen, sind glücklich, alles läuft nach Plan, Ronnie bewegt sich genau dorthin, wo sie ihn haben wollen. Dann kriegt Ronnie den Brief von Boß Manson, und plötzlich läuft die ganze Sache aus dem 74
Gleis. Ronnie manövriert sich mit seinen toten Moskitos ins Abseits. Sie werden nervös, weil sie wissen, daß das eine Sackgasse ist. Sie müssen etwas finden, um ihn wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Und was tun sie? Sie schicken ihm Lutchman.« »Aber warum gerade ihn?« fragte Antar. »Ich will es mal so sagen«, antwortete Murugan, »wer immer Lutchman auswählte, wußte genau, was er tat. Zum einen waren sie in Mikroskopie genügend bewandert, um sicher zu sein, daß er keine Malariaparasiten im Blut hatte. An diesem Punkt kamen sie Ronnie zuvor. Man konnte sich leicht aus rechnen, was geschähe, wenn Ronnie nach Verabreichung des Moskito-Drinks an Lutchman auf ein positives Ergebnis käme. Er würde die Parasiten mit Doc Mansons Theorie in Verbin dung bringen und boing! aus wär’s mit dem schönen Plan. Am Ende sauste Ronnie noch Monate, ja Jahre in Begumpett herum und gäbe der 19. Madras-Infanterie tote Moskitos zu trinken. Also griffen sie ein und schickten ihm jemand, der frei von Parasiten war. Vergiß nicht, in dieser Gegend ist Malaria so weit verbreitet, daß sie überhaupt nicht mehr registriert wird. Es ist gar nicht leicht, jemanden zu finden, der keine Spur von Parasiten im Blut hat. Aber diese Jungs greifen einfach in die Tasche, holen den Richtigen heraus und schicken ihn nach Begumpett. Es funktioniert: Ronnie ist wieder auf der ge wünschten Spur und bleibt im Zeitplan. Und zudem haben sie Lutchman genau dorthin gesteckt, wo sie ihn haben wollen. Von hier aus kann er die ganze Sache in ihrem Sinn steuern.« »Aber war das nicht so offensichtlich«, fragte Antar, »daß Ronnie etwas merkte?« »Ronnie?« Murugan lachte. »Ronnie hätte nichts gemerkt, und wenn es in Großbuchstaben auf Lutchmans T-Shirt gestan den hätte. Er hatte für nichts Augen als für seine Parasiten. Da ihm, wie er schreibt, zu der Zeit gerade eine Hilfe fehlte, stellte er Lutchman als Hausdiener und Laufbursche an. Dabei wußte 75
er von ihm nicht mehr, als daß er ›Lutchman‹ hieß und von Beruf ›Sänftenträger‹ war. In den folgenden vierunddreißig Monaten, der gesamten Periode von Rons Malariaforschung, klebt Lutchman an ihm wie Kaugummi. Von Mai 1895 bis Juli 1898, als Ron in Kalkutta endgültig den Durchbruch schafft, weicht Lutchman praktisch nicht von seiner Seite. Er wird zu einer Art unent behrlichem Gepäckstück. ›Ich verließ Secunderabad mit meiner Minimalausrüstung‹, schreibt Ronnie, ›nämlich mit dem Mikroskop und meinem treuen Lutchman.‹ Nach einer Weile merkt sogar Ron, daß Lutchman ihm einige wichtige Wege ebnet. Im April 1897 macht er Ferien in den Nilgiri Hills und nimmt Lutchman mit nach Ootacamund – ›einem Fleckchen England auf den sanft gerundeten Gipfeln der Nilgiri Hills‹, wie Ron schreibt. Auf der Jagd nach Mala riaparasiten begibt er sich jedoch ins Tal hinunter zur Kaffee plantage von Westbury, und dort wird er zum ersten Mal in seinem Leben selbst von der Malaria erwischt. Während er sich davon erholt, setzt ihm Lutchman eine höchst bedeutsame Idee in den Kopf: daß nämlich nur eine bestimmte Moskitogattung Malaria überträgt. ›Ach wirklich?‹ ist alles, was Ron dazu zu sagen hat. Er hält es für Schwach sinn. Zwar hat er viele negative Resultate erzielt, ist aber nie auf den Gedanken gekommen, daß sie etwas mit Gattungsun terschieden bei Moskitos zu tun haben könnten. ›Weißt du was, Lutch‹, sagt Ron, ›wenn ich Hilfe brauche, dann sag ich’s dir vorher.‹ Doch der kleine Same, den Lutch man gesät hat, keimt in Ronnies Kopf. Er fängt an, alle Moskitogattungen zu mustern, die ihm unter die Augen kommen. Das Blöde ist nur, Ron hat keine Ahnung von Moskitos; das Wort Anopheles hat er noch nie in seinem Leben gehört. Schließlich jagt er Culex und Stegomyia nach, geht jeden Umweg, bloß nicht geradeaus. Lutchman muß erneut eingreifen. Am 15. August 1897 berät er sich mit den 76
anderen und beschließt, daß blitzschnell etwas geschehen muß. Ronnie beschreibt es so: ›Als ich am nächsten Morgen, dem 16. August, nach dem Frühstück wieder zum Hospital ging, zeigte mir der dortige Diener (dessen Namen ich leider verges sen habe) einen kleinen Moskito an der Wand, dessen Hinter leib sich nach außen wölbte.‹ Ronnie tötet ihn mit einer Rauchwolke aus seiner Zigarre und schneidet ihn auf: nichts. Doch immerhin ist er auf der richtigen Spur. Lutchman hat ihn auf die tatsächlichen Malariaüberträger aufmerksam gemacht. Daß sie Anopheles heißen, weiß Ron noch immer nicht; er nennt sie ›Tupfenflügel-Moskitos‹. Am nächsten Tag sorgt Lutchman dafür, daß Ronnie Nach schub bekommt. Durch den gleichen Diener schickt er ihm ein Glas voller Anopheles. ›Wahrhaftig‹, so Ronnie, ›da waren sie: rund ein Dutzend großer, brauner Geschöpfe mit zarten, spitz zulaufenden Körpern und gesprenkelten Flügeln, die hungrig durch den Gazeverschluß des Kolbens zu entweichen versuch ten, den ein guter Engel meinem treuen Diener gesandt hatte! – Tupfenflügel-Moskitos …‹ Ein guter Engel, ja von wegen! Bei Ronnie mußte es immer irgendein himmlischer Wink sein. Was sich direkt vor seiner Nase abspielte, das sah er nicht. Am 20. August 1897 gelingt Ronnie sein erster großer Durchbruch: er sieht Ablagerungen von Plasmodium-Zygoten im Magensack der Anopheles stephensii. ›Heureka!‹ schreibt er in sein Tagebuch. ›Das Problem ist gelöst.‹ ›Puh!‹ sagt Lutchman und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. ›Ich dachte schon, er kommt überhaupt nicht mehr drauf.‹ Später fragt ihn Ron: ›Sag mal, Lutch, woher hattest du ei gentlich diesen heißen Tip mit den Moskitoarten?‹ Lutchman mimt den Ahnungslosen: ›Ach, ein paar Dorfbewohner oben in den Hügeln haben eines Morgens beim Ziegenhüten mal darüber gesprochen.‹ Und Ron kauft ihm das glatt ab. Er glaubt allen Ernstes, Lutchman wäre auf diese brillante Idee gekom 77
men, als er mit glücklichen Eingeborenen in den Hügeln herumtollte. Was mir dabei so gefällt, ist die Absurdität des Ganzen. Ron nie denkt, er macht Experimente mit Malariaparasiten. Und dabei experimentiert man die ganze Zeit eigentlich mit ihm. Aber das kapiert er nicht, bis zu seinem Lebensende.«
Zwölf Auf der Chowringhee rollte das Taxi langsam im dichten Verkehr. Jedesmal, wenn Murugan sich umdrehte, glaubte er, den Jungen mit dem bedruckten T-Shirt zwischen den Autos auf sich zurennen zu sehen. Doch als das Taxi in die Theatre Road einbog, war noch immer keine Spur von ihm zu entdek ken. Murugans Finger lösten sich allmählich aus ihrer Ver krampfung. Etwa auf der Hälfte der Theatre Road sah Murugan einen Straßenhändler, der Gummislipper verkaufte, und ließ das Taxi anhalten. Er ließ sich mehrere Minuten Zeit für die Auswahl und fühlte sich danach erheblich besser. Wieder im Taxi, bedeutete er dem Chauffeur ungeduldig, weiterzufahren; er wollte endlich zurück in das Gästehaus an der Robinson Street. Zu dieser Unterkunft konnte er sich nur beglückwünschen. In derselben Straße hatte Ronald Ross während seiner Zeit in Kalkutta gewohnt, und zwar in Nr. 3, einer Europäern vorbe haltenen Pension. Das Gästehaus Robinson, in dem Murugan abgestiegen war, lag im vierten Stock der Nr. 22. Murugan hatte es durch reinen Zufall in einem getippten Verzeichnis bei der Touristeninformation am Flughafen gefun den. Die Frau am Schalter hatte versucht, ihm Fünf-SterneHotels wie das Grand und das Taj schmackhaft zu machen. Das von ihm herausgesuchte Gästehaus Robinson schien ihr su spekt. Es sei erst seit kurzem auf der Liste, erklärte sie ihm, sie 78
könne sich nicht dafür verbürgen und kenne auch niemanden, der dort schon abgestiegen sei. Er solle doch lieber in ein Hotel gehen. »Aber das liegt genau da, wo ich hin will«, sagte Murugan triumphierend, »in der Robinson Street.« Er hatte natürlich keine Ahnung, wie es dort aussah, und stellte erfreut fest, daß die Robinson Street eine begrünte und relativ ruhige Straße mit großen modernen Wohnblocks und ein paar altmodischen Kolonialvillen war. Nr. 22 zählte zu den älteren Gebäuden: ein wuchtiger, vierstöckiger Bau, dessen Balkone von anmutigen Säulen getragen wurden. Einst mochte es das prächtigste Haus dieser Straße gewesen sein – heute war die dorische Fassade stark in Mitleidenschaft gezogen, die Farbe abgebröckelt und der Verputz dunkel von Moder. Ein käfigähnlicher Aufzug beförderte ihn schnaufend durch das rundumlaufende Treppenhaus aus Teakholz in den vierten Stock hinauf. Er hielt an, und Murugan trat vorsichtig hinaus auf die rissigen Holzdielen des Treppenabsatzes. Ein Sonnen strahl, der durch ein Loch in einem farbigen Fenster fiel, beleuchtete ein kleines Schild neben der hohen Tür rechts von ihm, auf dem Gästehaus Robinson stand. Darunter hing ein Namensschild: N. Aratounian. Seinen Lederkoffer hinter sich herschleifend, ging Murugan zur Tür und läutete. Einige Minuten später hörte er Schritte auf der anderen Seite. Die Tür schwang auf, und er stand einer älteren Frau mit aschfahlem Gesicht gegenüber, die einen abgetragenen Morgenrock und Gummislipper trug. »Hi«, sagte Murugan und hielt ihr die Hand hin. »Ist noch was frei heute?« Die Frau ignorierte seine Hand und maß ihn stirnrunzelnd von oben bis unten durch ihre Goldrandbrille. »Was wollen Sie?« fragte sie gebieterisch. »Ein Zimmer«, antwortete Murugan. Er tippte auf das Schild an der Tür. »Das ist doch ein Gästehaus, oder?« Mrs. Aratounian legte den Kopf leicht schräg, um ihn durch 79
die untere Hälfte ihrer Bifokalbrille zu mustern. »Ich glaube, Sie haben sich noch nicht vorgestellt«, sagte sie dann. »Der Name lautet Murugan«, sagte er. »Sie dürfen mich aber gerne Morgan nennen.« Mrs. Aratounian rümpfte die Nase. »Also kommen Sie schon herein, Mr. Morgan«, sagte sie. »Allzu viel habe ich nicht anzubieten, aber ich zeige Ihnen mein freies Zimmer. Dann können Sie selbst entscheiden, ob Sie bleiben wollen oder nicht.« Sie geleitete Murugan durch ein muffiges Wohnzimmer, das mit Spieltischen, Zierdeckchen, silbergerahmten Fotografien und Porzellanfigürchen vollgestopft war. Eine weitere Tür führte in einen großen, sonnendurchfluteten Raum mit hoher Decke. Ein Bett mit Moskitonetz thronte in der Mitte auf dem Marmorfußboden, einsam wie ein treibendes Floß. Direkt darüber hing von einem eisernen Haken ein unförmiger Venti lator an einer langen Schnur herab. Von der gegenüberliegenden Wand ging ein kleiner Balkon ab. Murugan durchquerte den Raum, trat hinaus und lehnte sich über die Balustrade. Er blickte die Straße hinauf und hinunter, vom baumbestandenen Friedhof an der Ecke Loudon Street bis zur verkehrsreichen Rawdon Street zu seiner Rechten. Die Hand über den Augen, warf er einen Blick schräg hinüber auf Robinson Street Nr. 3 und erspähte inmitten von Zierpalmen eine große, altmodische Kolonialvilla hinter hohen Mauern. Die Front des Hauses war, wie er bemerkte, mit Bambusstan gen eingerüstet, und in der Zufahrt lagen Haufen von Ziegeln und Zement. Murugan ballte die Faust. Besser hätte er es gar nicht treffen können. »Ich nehme es«, sagte er zu Mrs. Aratounian. Er warf sein Gepäck auf das Bett, duschte und machte sich auf die Suche nach dem Ross-Denkmal. Das war erst vor einigen Stunden gewesen, doch jetzt bot die Robinson Street einen völlig anderen Anblick. Auf ihrer 80
ganzen Länge reihte sich Auto an Auto – nicht die üblichen Ambassadors und Marutis, sondern große japanische und deutsche Limousinen. Ihnen entstiegen Männer in gestärkten Lendentüchern und langen Hemden sowie diamantgeschmück te Frauen in traumhaft schönen Saris. Auf dem Gelände eines großen, vielstöckigen Wohnblocks wurde eine Hochzeit gefeiert. Unter dem karierten Baldachin eines bunten, offenen Pavillons dröhnte laute Musik. Ein von Scheinwerfern ange strahlter Bogen über dem Eingang trug die aus Blumen gebil deten Worte: »Neeraj heiratet Nilima«. Die ganze Straße war hell erleuchtet, mit Ausnahme von Nr. 3, das dagegen in tiefstes Dunkel getaucht schien, obwohl es direkt neben der Hochzeitsfeier lag. Auf seinem Weg zum Gästehaus blieb Murugan am Torweg von Nr. 3 stehen. Er sah nichts weiter von der Villa als die hohe Mauer mit ihren angeklebten Handzetteln und aufgemal ten Sprüchen. Die hellerleuchtete Umgebung schien die Schat ten um das Anwesen noch zu vertiefen. Die stählernen Tore waren, wie er bemerkte, mit einer schweren Kette verschlos sen. Er schlug ans Tor in der Hoffnung, daß es drinnen einen Wächter gab, der ihn hereinlassen würde. Niemand antwortete. Murugan trat zurück und betrachtete die hochaufragende Silhouette der Villa; von nahem war sie weit imposanter, als er erwartet hatte. Plötzlich fiel der Strom aus, und alle Lichter auf der Straße erloschen. Einen Moment lang herrschte absolute Stille; alles schien zu verstummen, abgesehen vom Zirpen der Zikaden in den Bäumen ringsum und dem Trompeten von Muschelhörnern in einiger Entfernung. In diesem Augenblick hörte Murugan aus der Villa das leise, glockenähnliche Klingeln von Blech zimbeln. Er schaute zu den verschlossenen Fensterläden hoch und entdeckte im Dunkel ein flackerndes, orangefarbenes Rechteck. Verblüfft fuhr er zusammen und sah erneut hin. Es war das 81
schwache Licht eines Feuers, das durch die abgesplitterten Kanten eines verrotteten Fensterrahmens drang. Dann sprang bei der Hochzeitsfeier nebenan mit ohrenbetäubendem Lärm ein Generator an, der Plattenspieler kam langsam wieder auf Touren und quälte sich mit seinem jäh unterbrochenen Film song durch die Oktaven hinauf. Murugan war jetzt ganz sicher, daß jemand in der Villa war. Nach den Geräuschen zu schließen, war dort irgendeine Zere monie im Gange. Er ging zum Tor und rüttelte an der Kette. Zu seiner Überraschung fiel sie einfach vom Torpfosten; man hatte vergessen, sie zuzuschließen. Murugan stieß das Tor auf und trat hinein. Es war dunkel, aber er hatte eine kleine Taschenlampe an seinem Schlüssel bund. Er nahm sie heraus, knipste sie an und leuchtete voraus. Der Strahl fiel auf Ziegel- und Zementhaufen in der Zufahrt. Ein Säulenvorbau am Scheitelpunkt des geschwungenen Fahrwegs wurde von einem Bambusgerüst verdeckt. Dahinter erblickte Murugan eine Tür, die in das stockdunkle Innere des Hauses führte. Brocken von Kies und Zement fingen sich in Murugans Gummisandalen, während er die Zufahrt hinaufschritt. Er schüttelte sie heraus und ging weiter bis zum Säulenvorbau, der in eine riesige Eingangshalle führte. Er hielt die Taschenlampe in das Dunkel. Ihr Strahl glitt über ordentlich in den Ecken aufgeschichtete Matratzen und Moskitonetze. Die Hände um den Mund gewölbt, rief er: »Ist hier jemand?« Den ohrenbetäubenden Krach des Generators nebenan ver mochte er nicht zu übertönen. Er sah sich um, folgte mit den Augen den unheimlichen Schatten, die über das höhlenartige Dunkel der Halle strichen. Dann hörte er etwas, ein dumpfes Pochen wie von einer Trommel. Es schien irgendwo im Haus zu sein, doch war er sich wegen des Generators und der plär renden Lautsprecher nicht ganz sicher. Als er weiter in die Halle vordringen wollte, erschien ein 82
zweiter Lichtstrahl an der Eingangstür. Eine zornige Stimme rief: »Wer ist da? Was machen Sie hier?« Er fuhr herum, und seine Taschenlampe beleuchtete einen Mann mit einer nepalesischen Kappe, offenbar ein Wächter, der auf ihn zulief und ärgerlich mit einem Gummiknüppel herumfuchtelte. Murugan hob zur Begrüßung lässig zwei Finger, obwohl ihm eigentlich nicht danach war. »Ich schau mich nur ein bißchen um«, sagte er. Der nepalesische Wächter hielt Murugan den Knüppel unter die Nase, drehte ihn um und begann ihn die Stufen des Vorbaus hinunterzuschieben. »Ich hab bloß mal einen Blick hineingeworfen«, sagte Muru gan sanft. »Und nichts angerührt.« Der Wächter ließ eine Tirade vom Stapel, die Murugan nur teilweise verstand. Es ging darum, daß niemand hier hereindür fe und innen umgebaut würde. Etwa auf der Hälfte der Zufahrt deutete der Wächter ärger lich zu einem großen Blechschild hinauf. Es war neben dem Weg an einen Baumstamm genagelt. Murugan wunderte sich, daß er es auf dem Hinweg übersehen hatte. Hier entsteht das Hotel Robinson – Privatbesitz – Betreten verboten – Besitzer und Bauunternehmer Romen Haldar Ltd. Murugan machte sich los und schaute das Schild genauer an. Der Wächter folgte ihm auf den Fersen, seine Stimme wurde immer lauter. Murugan -wandte sich unvermittelt zu ihm um. »Wer ist das?« fragte er. »Wer ist dieser Romen Haldar?« Der Wächter ignorierte seine Frage. Er packte ihn am Ellbo gen, riß ihn zur Seite und schob ihn weiter zum Tor. Murugan erspähte den Griff eines in der Scheide steckenden Krumm dolchs, der oben aus seiner Hose herausragte. Als der Wächter das Tor öffnete, warf Murugan einen letzten Blick zurück und ließ den Strahl seiner Taschenlampe über den Garten und die Schutthaufen gleiten. Er fiel auf eine Wäsche 83
leine, die zwischen zwei Palmenstämmen gespannt war. Neben Lendentüchern, Unterwäsche und Saris hing dort ein T-Shirt mit einem aufgedruckten Palmenstrand. Dann versetzte ihm der Wächter einen Stoß und schlug das Tor zu.
Dreizehn Antar goß Murugan im Restaurant eine weitere Tasse heißen, grünen Tee ein. »Hast du irgendwelche Theorien, wer Lutch man wirklich war?« »Ich habe ein paar Hinweise«, sagte Murugan. »Zu viele vielleicht. Mir scheint, er war überall und nirgends, wechselte die Namen und Identitäten wie sein Hemd. Ich vermute, er war der lange Arm für den wirklichen Kopf, der hinter dem Ganzen steckt.« »Aha«, sagte Antar. »Aber weißt du denn, abgesehen von dem, was Ross dazu zu sagen hatte, noch mehr über ihn?« »Allerdings«, antwortete Murugan. »Er wird in einem Tage buch erwähnt.« »In wessen Tagebuch?« fragte Antar. »Also«, begann Murugan, »wir wissen von jemand, der ein mal ein Wochenende in Rons Haus in Secunderabad verbracht hat. Lutchman war ebenfalls mit dabei. Für Ron war er fast wie ein Familienmitglied.« »Weiter.« »Bedenke folgendes«, sagte Murugan, »um die Zeit, als er mit der Malariaforschung anfängt, ist Ron glücklich verheiratet und hat mehrere Kinder. Zugleich ist er aber auch Offizier und unterliegt den Bedingungen des Militärdienstes. Das heißt, während er im Brutofen von Secunderabad schwitzt, lebt seine Familie mit einem ganzen Heer weiterer britischer Offiziers frauen oben in den Hügeln. 84
In seinen Memoiren widmet Ron seinen außerwissenschaftli chen Beschäftigungen in Secunderabad genau zwei Sätze: ›Am 23. [April 1895] ging ich nach Secunderabad … und lebte dort in einem Bungalow mit Hausdiener, zusammen mit Hauptmann Thomas, dem Adjutanten, und Leutnant Hole, beide Pfunds kameraden. Wir hatten die Offiziersmesse und den Secundera bad Club, wo wir Golf und Tennis spielten; doch hielt ich mir keine Ponys, da ich jederzeit mit Sonderaufgaben zur Malaria forschung betraut werden konnte.‹ Rons Leben in Secunderabad kann man sich leicht ausmalen. Es war so, wie man’s aus den Fernsehserien kennt: weitläufiger Bungalow im Kolonialstil, weißgetünchte Wände, kilome terhohe Decken, kühle, dunkle Räume, Elefanten auf der Zufahrt, Diener mit Turban, die die Sahibs unterwürfig begrü ßen, bekiffte Pagen, die mit Palmfächern durch die Luft we deln, Polo-Ponys, Tennisschläger, die ganze verdammte Palette. Laß dich nicht täuschen, wenn er von einem Bungalow spricht: das bedeutet nur die Kleinigkeit von mehreren Dutzend Räumen und zweitausend Quadratmetern Garten. Dazu kom men weit hinten, fast außer Sichtweite, die Quartiere für die Dienstboten: Raum an Raum, eine niedrige, lange Reihe. Diese Zimmer sind ziemlich klein, trotzdem leben in manchen sechs oder sieben Leute, ja sogar ganze Familien. Hier zieht Lutch man ein, genau einen Monat nach Rons Ankunft in Secundera bad. Aber Lutchman steht in der Hackordnung ziemlich weit oben, weil er vom großen Doktor-Sahib persönlich ausgesucht wurde. Er bekommt ein Zimmer für sich allein und richtet es sich mit seinen Sachen gemütlich ein. Das ganze Drum und Dran mit den Bungalows ist für Ron reine Routine, er nimmt kaum Notiz davon. Für ihn ist einer wie der andere – ob er nun in Secunderabad steht oder anders wo. Rund um den Erdball gibt es Tausende britischer Armeeof fiziere, die genauso leben wie er – in Südafrika, Malaysia, 85
Singapur, Kenia, wo du willst. Die meisten sind Ignoranten, die dir glatt abnehmen würden, daß Plasmodium der zweite Vor name von Julius Caesar war. Rein zufällig lebt nun in diesem einen Bungalow in Secunderabad ein Bursche, der hochkaräti ge Wissenschaft betreibt und damit so beschäftigt ist, daß er überhaupt nicht merkt, was um ihn herum passiert – und es passiert eine Menge, bloß ist dieser Idiot so ein verdammtes Genie, daß er nichts davon mitkriegt. Eines Tages bekommt er also Besuch zum Wochenende. Er heißt J. W. D. Grigson, kommt frisch aus Cambridge und arbeitet für eine Gesellschaft namens »Linguistic Survey of India«. Zwanzig Jahre später verfaßt er ein Buch mit dem Titel Ein komparativer Überblick über die phonetischen Strukturen der Sprachen und Dialekte Ostindiens. Es wird nicht gerade ein Bestseller, aber in seinem Bereich ein durchaus brauchbares Gegenstück zu den Verbrauchertips. Ein interessanter Typ, dieser Grigson; in den vierziger Jahren stirbt er in Nordburma bei dem Versuch, einen Stammesdisput zu schlichten. Wo er auch hingeht, macht Grigson sich Notizen, und zwar in rauhen Mengen: er führt Tagebuch, er schreibt Arbeitsproto kolle. Als das Ypsilanti College 1990 seine gesammelten Schriften erwarb, mußte man sie mit einem Laster abtranspor tieren. Es gibt nichts, buchstäblich nichts, was er nicht notiert. Er interessiert sich nämlich nicht nur für Sprachen, sondern auch ernsthaft für Anatomie. Was sich bewegt, wird von ihm untersucht; alles will er unter die Lupe nehmen. Grigson kommt also, um ein paar Tage im Bungalow zu verbringen, wo Ron derzeit lebt. Er und einer von Rons Mitbewohnern, Leut nant Hole, sind nämlich zufällig zusammen in die Grundschule gegangen. Die beiden können sich nicht ausstehen, aber schließlich haben ihre Mamas ihnen Manieren beigebracht. Als der Leutnant hört, daß Grigson in der Stadt ist, fragt er ihn also, ob er eine Unterkunft braucht. Das macht einen guten Eindruck und kostet nicht viel. Grigson sagt, klar, warum nicht, und zieht 86
für ein paar Nächte in das Gästezimmer. Binnen kurzem merkt Grigson, daß dieser Lutchman nicht ganz koscher ist; irgend etwas stimmt nicht, er weiß nur nicht was. Sie haben noch nichts weiter miteinander gesprochen als ›Möchten Sie etwas Tee, Sir?‹ und ›Klar, Lutch, schenk ein‹, aber Grigson läßt sich nicht täuschen. Etwas an der Art, wie Lutchman spricht, macht ihn neugierig; der Kerl gibt ihm Rätsel auf. Er versucht es mit einem kleinen Experiment: statt ihn ›Die ner‹ oder ›Boy‹ oder ›He, du da‹ oder was auch immer zu rufen, nennt er ihn plötzlich ›Lutchman‹. Er vermerkt in seinem Tagebuch, daß Lutchman nur einen winzigen Moment zögerte, bevor er antwortete. Es war genau jener Bruchteil einer Sekunde, den man braucht, wenn man auf einen fremden Namen reagiert. Nun ist Grigson sicher, daß er in Wirklichkeit nicht Lutchman heißt. Er nennt sich nur so, um vorzugeben, daß er aus der Gegend kommt. Grigson stellt bald fest, daß es einer der gebräuchlichsten Namen überhaupt ist; je nachdem, aus welchem Landesteil der Träger stammt, wird ›Lutchman‹ lediglich zu Laakhan oder Lokhkhon oder auch zu Lakshman. An jenem Abend fragt er Ron: ›Woher kommt dieser Lutch man eigentlich? Ist er aus der Gegend hier?‹ Ron hat gerade acht volle Stunden lang den Mageninhalt von Moskitos be trachtet und ist nicht in Stimmung für Small talk. Er sagt: ›Hab ich ihn nie gefragt. Wahrscheinlich ist er aus der Gegend hier.‹ ›Wirklich?‹ fragt Grigson. ›Nach seinen stimmlosen Labial lauten und den retroflektierten Dentallauten zu schließen, kommt er von sehr viel weiter nördlich.‹ ›Ach was‹, gähnt Ron. Er fragt sich, wie dieser Schwachkopf Grigson in sein Haus geraten ist. ›Ist das zu fassen? Jetzt werd’ ich aber erst mal ein bißchen Tennisspielen gehen.‹ Er ver schwindet in den Seitenflügeln und brüllt: ›Jemand Lust auf Tennis ?‹ 87
Mittlerweile sind es nicht mehr nur die retroflektierten Den tallaute, die Grigson an Lutchman faszinieren; sein Interesse richtet sich auf ganz andere, tieferliegende Regionen. Am nächsten Morgen bringt ihm Lutchman die erste Tasse Tee ans Bett. Grigson wittert seine Chance und sagt sich: O.k., gehen wir’s an. Er läßt seine Hand auf Lutchmans Arm ruhen, als er die Teetasse entgegennimmt. Im nächsten Moment hält er Lutchmans Hand. Dabei bemerkt er ein reizendes kleines Detail: an Lutchmans linker Hand fehlt der Daumen. Er scheint ihn auch gar nicht sehr zu vermissen: sein Zeigefinger ist so abgekrümmt, daß er wie ein Daumen funktioniert. Der nichtvorhandene Daumen macht Grigson ganz schön heiß. Er reibt über die Stelle. ›Hey Lutch‹, sagt er und klopft auf das Bett. ›Nicht so eilig, komm, setz dich doch und bleib noch ein bißchen da.‹ Dabei tut Grigson die ganze Zeit so, als spräche er nur Pidgin-Hindustani, wie alle anderen Engländer in Indien. Lutchman blickt ihn forschend an, als wolle er ihn genau unter die Lupe nehmen. Grigson ist das nur recht, er denkt sich so was wie: Wow, dieses neue Deo funktioniert wirklich super. Dann hören sie Ron aus seinem Zimmer rufen: ›He da, Diener, wo bleibt mein Tee?‹ Lutchman springt auf und flitzt davon. Grigson beschließt, es später nochmal zu versuchen. Er behält Lutchman im Auge und findet heraus, wo er wohnt. Er merkt sich, daß in seinem Fenster, hinten bei den Dienstbotenquartieren, eine große eiserne Laterne hängt. Abends gibt es eine Party im Secunderabad Club. Grigson geht hin, verdrückt sich aber bald. Er schützt Kopfschmerzen vor und will zum Bungalow zurückgefahren werden. Man arrangiert das für ihn, er kommt heim, stopft ein paar Kissen unter sein Moskitonetz und schlüpft hinaus. Die Nacht ist dunkel und mondlos. Es ist Monsunzeit, der Garten ein einziges Schlammfeld. Grigson watet mittendurch, 88
auf die Dienstbotenquartiere zu. Von den Nebengebäuden sieht er nur einen langen, schemenhaften Umriß im Dunkel. Er krempelt seine Pyjamahosen auf, schleicht auf Zehenspitzen zum Fenster und klopft an. Lutchmans Gesicht erscheint; er schaut zweimal hin, bis ihm fast die Augen aus dem Kopf fallen. ›Ich bin’s!‹ sagt Grigson. ›Wollte mir bloß mal deine Brief markensammlung ansehen.‹ Lutchman öffnet die Tür, und Grigson tritt ein. Das Zimmer ist winzig, es riecht nach Klei dung, nach Schweiß und Senföl. In einer Ecke steht ein Bettge stell aus zusammengeknüpften Hanfstricken, an einer Leine hängen ein paar Kleider. Es ist sehr dunkel. Das einzige Licht im Raum kommt von der Laterne im Fenster. Nachdem er es nun bis hierher geschafft hat, will er auch ordentlich was von dem Kerl zu sehen kriegen. Aber diese Lampe ist keine ge wöhnliche Lampe. Sie ist groß, robust und stabil, mit einer langen Stange und einer kleinen, kreisförmigen roten Glas scheibe. Grigson schaut nochmal hin, bis er weiß, was es ist: eine reguläre Signallaterne der Eisenbahn – die Sorte, mit der man Züge am Bahnhof zum Halten bringt. Solche Lampen kriegt man nicht im Laden nebenan; wenn er’s sich genau überlegt, ist es vermutlich sogar strafbar, sich so ein Ding ins Fenster zu hängen. Grigson ist mittlerweile ganz schön scharf; die Hose wird ihm eng. Andererseits platzt er fast vor Neugier. Er weiß nicht, was ihn mehr anmacht: Lutchmans geheime Reize oder die der Laterne. Er deutet auf die Laterne und fragt in Pidgin-Hindustani: ›Was ist das?‹ Lutchman stellt sich dumm: ›Was ist was?‹ ›Die Lampe da oben.‹ ›Ach die; na, das weißt du doch wohl.‹ ›Ja, aber wie sagst du dazu?‹ fragt Grigson. ›Was sollen die Fragen?‹ erwidert Lutchman. Er spricht auch 89
Pidgin-Hindustani, und Grigson hat Mühe, etwas herauszuhören. ›Ich bin bloß neugierig‹, sagt Grigson. ›Wieso?‹ fragt Lutchman. ›Bist du den ganzen Weg hierher gekommen, um mir dumme Fragen zu stellen?‹ ›Nein‹, antwortet Grigson. ›Ich bin bloß neugierig, das ist alles.‹ ›Neugierig auf was?‹ ›Auf Wörter.‹ ›Du willst also wissen, wie das Wort dafür heißt?‹ ›Ja‹, sagt Grigson. ›Genau das.‹ ›Warum hast du das nicht gleich gesagt‹, meint Lutchman. ›Das ist eine Laterne.‹ Und da wußte Grigson Bescheid: weil nämlich Lutchman das Wort nicht so aussprach, wie es hätte klingen müssen, wenn die Angaben zu seiner Herkunft gestimmt hätten. Er sagte ›Latel le‹. Grigson lächelt ihn an und sagt in Lutchmans Dialekt: ›Also heißt du in Wirklichkeit Laakhan, stimmt’s? So sagt man doch in der Gegend, wo du herkommst?‹ Sobald er dieses Wort ausspricht, wird Lutchmans Gesicht maskenhaft starr. Vor lauter Begeisterung über sein unfehlba res Gehör merkt Grigson nichts davon. Er droht Lutchman schelmisch mit dem Finger. ›Mich kannst du nicht täuschen‹, sagt er. ›Mit euch Eingeborenen kenne ich mich aus. Ich weiß bei euch allen genau, wo ihr hingehört. Diese Lehnwörter verraten euch jedesmal.‹ Jetzt kehrt plötzlich Leben in Lutchman zurück. Er schnappt sich die Laterne und sagt: ›Komm mit mir.‹ ›Wohin?‹ fragt Grigson, aber Lutchman ist schon aus der Tür. Grigson fängt ebenfalls an zu rennen. Zufällig ist Secunderabad, wie viele britische Garnisonsstäd te, ein großer Knotenpunkt der Eisenbahn. Der Bahnhof ist nicht weit von Ross’ Bungalow entfernt. Das Rangiergelände beginnt sogar nur ein paar hundert Fuß hinter dem Garten. 90
Aber Grigson ist neu im Ort und weiß davon nichts. Er rennt wie ein Verrückter Lutchmans rotem Licht hinterher. Er keucht: in seinem Kopf platzen die Endorphine wie Champag nerblasen. Er ist nicht gut in Form und verliert immer mehr die Orientierung, je schneller er rennt. Er gibt sein Letztes, aber die Laterne bleibt immer ein Stück chen vor ihm, tanzt auf und ab, dreht und wendet sich. Sie scheint ihn irgendwo hinzuführen. Es ist stockdunkel. Grigson sieht nur das Licht der Laterne. Er weiß nicht, wo er ist, spürt aber, daß er weder im Schlamm noch auf Gras läuft. Da sind Kieselsteine unter seinen Füßen. Er hört ein metallenes Ge räusch. Aber er ist sich nicht sicher. Er ist erschöpft, ihm dröhnen die Ohren. Dann hört er ein Geräusch, das ihm fast das Trommelfell sprengt: es ist ein Pfeifen. Er schaut zurück, und plötzlich ist ihm, als wäre das Kino gerade erfunden und er säße in der ersten Reihe: eine Lokomotive rast auf ihn zu und stößt Dampfwolken aus. Er verfällt in Panik und rennt zwischen den Gleisen los. Fast hätte es ihn erwischt, doch in letzter Sekunde springt er zur Seite. Die Puffer verfehlen ihn um Haaresbreite. Das rote Licht ist verschwunden. Irgendwie findet Grigson zum Bungalow zurück. Er ist verängstigt und überzeugt, daß Lutchman einen Unfall inszeniert hat, um ihn umzubringen. Er überlegt, ob er Ross warnen soll, welch seltsame Dinge unter seinem Dach vorgehen. Aber schließlich kneift er doch; denn dann müßte er auch erklären, was er beim Dienstbotenquartier zu suchen hatte. Was tut er also statt dessen? Er schreibt alles in sein Tagebuch. Am nächsten Morgen bedient ihn Lutchman wie immer am Frühstückstisch und sieht aus, als könne er kein Wässerchen trüben. Er ist der mustergültige Diener wie eh und je: lächelnd, unterwürfig, aufmerksam. Grigson beschließt, das Mittagessen anderswo einzunehmen. Er ist jung und hat das Leben noch vor sich. Mit dem nächsten Zug verläßt er Secunderabad.« 91
Vierzehn Sonali bemerkte, daß Urmila plötzlich in Schweigen verfallen war, nachdem sie ihr Wohnhaus betreten hatte. Sie sagte kein Wort, während sie auf den Aufzug warteten, schaute nur mit gespitzten Lippen in der Eingangshalle umher und registrierte jede Einzelheit. Offenbar kämpfte sie mit dem Impuls, etwas Mißbilligendes zu äußern. Nach all der Zeit, in der sie hier schon lebte, hatte Sonali vergessen, wie seltsam, ja grotesk ihr das Ganze anfangs erschienen war: die Marmorböden, die goldverzierten Spiegel an der Wand, die hohen Palmen mit ihren polierten Messing töpfen in den Ecken. Es war nicht gerade das, was man in Kalkutta zu sehen erwartete, außer in einem Fünf-Sterne-Hotel. Als Romen ihr das Gebäude zum erstenmal zeigte, hatte sie gedacht und auch geäußert, so könne man nicht leben – oder sie zumindest nicht. Man müsse sich viel zu viel darum sorgen, alles richtig zu machen: wo man die Wäsche aufhinge und ob man neue Möbel kaufen solle. Wie erwartet, hatte Romen nur gelacht. »Das gehört einfach dazu«, sagte er, »der ganze Marmor und das Messing und alles. Dafür bezahlen sie, die Leute, die diese Wohnungen kaufen. Du mußt das nicht ernst nehmen.« Der Aufzug kam, und Urmila betrat ihn, immer noch schwei gend. Sonali suchte nach Worten, um die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken. Sie wollte sie wissen lassen, daß sie nicht in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen, sondern einen Großteil ihres Lebens ihrer Mutter von einer engen kleinen Wohnung in die nächste gefolgt war. Für ihre Mutter war die Armut ein Schreckgespenst gewesen – und zugleich so vertraut, daß sie sich keine andere Lebensweise vorstellen konnte, selbst als sie über Geld verfügte. Doch dann glitt die Tür des Aufzugs zur Seite, und der Moment war verpaßt. Sonali schloß die Eingangstür auf und wunderte sich, daß die 92
Wohnung dunkel war. Sie knipste Licht an und führte Urmila hinein. »Niemand zu Hause?« fragte Urmila und sah sich in dem großen, zur Front verglasten Raum mit seinen Kaschmirteppi chen und den niedrigen, mit bunten Spiegelkissen aus Gujarat gepolsterten Stühlen um. »Es gibt einen Jungen, der kocht und saubermacht …« sagte Sonali und bot Urmila einen Stuhl an. »Sonst, wenn ich heim komme, sitzt er meistens auf dem Teppich, schaut Fernsehen und singt dazu aus voller Kehle.« Sie warf ihre Handtasche auf einen Stuhl und ging durch den Flur zur Küche, wobei sie überall Licht machte. Die Küche war aufgeräumt, alles stand an seinem Platz, und die marmornen Arbeitsflächen waren blitzblank. Sie ging schnell hindurch zu einem dahinterliegenden Raum und knipste die nackte Glüh birne an, die an einer verdrehten Schnur von der Decke herab hing. Das Zimmer war leer. Matratze und Bettzeug lagen, ordent lich zusammengelegt, am Fußende des leichten Bettgestells. Alles andere war fort: sein fürchterlich lautes Transistorradio, seine Slipper, die bedruckten T-Shirts, die er immer trug. Sie ging durch das Zimmer zu einem kleinen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Seite und zog eine Schublade heraus. Leer auch sie: alle seine Bücher, Stifte und Kugelschreiber waren verschwunden. »Ist er da?« rief Urmila. »Nein«, sagte Sonali verwirrt. »Ich glaube, er ist fort – alle seine Sachen sind weg.« Sie knipste das Licht aus und ging langsam zurück ins Wohnzimmer. »War er dein einziger Diener?« fragte Urmila. Sonali schüttelte den Kopf. »Er war eigentlich kein Diener«, antwortete sie. »Ich habe Dienstboten nicht gerne ständig im Haus.« »Was war er dann?« 93
»Tagsüber ging er zur Schule«, sagte Sonali. »Aber abends kochte er und machte sauber, wenn er es nicht vergaß. So lautete die Abmachung. Es war Romens Einfall. Einer seiner Subunternehmer oder sonst jemand fand den Jungen. Er führte in Vorortzügen den Pendlern Rechenkunststückchen vor und verdiente sich damit seinen Lebensunterhalt. Romen hielt ihn für eine Art Wunderkind und nahm ihn unter seine Fittiche.« Sonali öffnete zerstreut Türen und blickte in Räume und Bäder, als erwarte sie, ihn dort zu finden. »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Wo kann er nur hingegangen sein? Er hat kein Zuhause und kennt niemanden außer Romen.« Dann klingelte das Telefon im Wohnzimmer. Sonali lief hin und nahm den grauen, schnurlosen Hörer ab. Mit einer ent schuldigenden Geste zu Urmila entriegelte sie eine Tür und ging mit dem Telefon auf den Balkon. »Hallo«, sagte sie und drückte den Sprechknopf. Sie dämpfte ihre Stimme zu einem Flüstern. »Romen?« Das Telefon knackte, und eine Stimme drang durch das Summen der Leitung. Sonali wußte sofort, daß es nicht Romen war, sondern irgendein anderer Mann. Sie wurde starr vor Verlegenheit und Enttäuschung zugleich. »Könnten Sie mir bitte sagen«, erkundigte sich die Stimme in höflichem, formellem Bengali, »ob Mr. Romen Haldar wohl zu sprechen ist?« »Nein, leider nicht«, antwortete sie betont geschäftsmäßig, wie um jede Spur von Intimität zu tilgen, die vorher in ihrer Stimme mitgeschwungen hatte. »Wer spricht?« »Ach, er ist also nicht da?« die Antwort klang leise über rascht. »Nein«, erwiderte Sonali. Jetzt war die Überraschung auf ihrer Seite: die einzige Person, die jemals hier für Romen anrief, war seine Sekretärin. Diese Regel hatte nicht sie einge führt, sondern Romen. Sie rührte von einer seiner bizarren Vorstellungen zum Schutz der häuslichen Intimsphäre. Es sei 94
nur zu ihrem Besten, sagte er, um sie vor Klatsch zu bewahren – als ob dies die Leute vom Klatschen abhalten würde. »Wer spricht?« fragte sie, eher zaghaft als schroff. »Das spielt keine Rolle«, sagte die Stimme am anderen Ende. »Halt«, sagte sie schnell. »Einen Moment mal, wer sind Sie? Wer spricht da?« Die Leitung war bereits tot. Sie sank in einen Korbstuhl und legte den Hörer in ihren Schoß. Ein flatternder Vorhang irgendwo im Gebäude gegenüber erregte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Verdacht wurde unverzüglich bestätigt: die Nachbarn beobachteten sie wieder einmal. Sie erspähte gerade noch ein paar Köpfe, die sich wegduckten. Manchmal fragte sie sich, ob sie wohl Wachen an den Fen stern postiert hatten, die Ausschau auf ihren Balkon hielten. Was taten sie, wenn sie sie erspähten? Rannten sie durch die Wohnung und riefen: ›Sonali Das ist wieder auf dem Balkon, kommt schnell und schaut sie euch an!‹ Dabei taten sie immer so scheu, wenn sie ihnen im Aufzug oder auf dem Parkplatz begegnete – diese betuchten Herzchir urgen und Bankmanager und ihre in Chiffon gehüllten Gattin nen. Sie lächelten zum Zeichen des Erkennens und schlugen dann die Augen nieder, um sie nur ja nicht anzustarren. Hin und wieder erzählten sie ihr, wie sehr ihnen ihre Filme oder ihr Buch gefielen. Die älteren sprachen manchmal von der Schau spielkunst ihrer Mutter: wie sie den weiten Weg bis zu dem großen Segeltuchzelt in Narkeldanga zurückgelegt und Ein trittskarten für ein paar Groschen gekauft hatten, um Kamini debi in einer ihrer berühmten Rollen als Marie Antoinette, Königin von Frankreich oder als Rani Rashmoni zu sehen. Sie wußte, daß sie über Romen und sie klatschten. Oft ver spürte sie eine Art träger Neugier, was sie wohl für sie emp fanden. War es Mitleid? Verachtung? Zorn? Es hätte sie, wenn auch eher abstrakt, durchaus interessiert; grundsätzlich ließ es 95
sie natürlich kalt. Sie war mit Klatsch aufgewachsen. Ihre Mutter hatte zweimal soviel erdulden müssen und sich eben falls nichts daraus gemacht. Sie erhob sich, um hineinzugehen, setzte sich jedoch, einer Regung folgend, wieder hin und wählte die Nummer des Wicket-Clubs. Es läutete mehrmals, bis der Barchef schließlich abhob. »Javed?« fragte sie. »Salaam Memsahib«, er erkannte ihre Stimme sofort. »Ro men-sahib ist vor etwa einer halben Stunde gegangen.« »Vor einer halben Stunde?« fragte Sonali. »Das heißt, er war den ganzen Abend dort?« »Ja«, sagte der Barkeeper. »Er hat versucht, Sie zu erreichen. Ich hörte, wie er jemand bat, Ihre Nummer zu wählen. Er wartete eine Weile und ging dann.« »Oh«, sagte Sonali. Vor ihrem inneren Auge sah sie Romen am anderen Ende der hufeisenförmigen Bar stehen, groß, stämmig und kahlköpfig, wie er sich über das Telefon des Clubs beugte und die Sprechmuschel mit seinem eigenartig ungeschickten Griff festhielt. »Wissen Sie, wo er hinwollte?« fragte sie dann. »Nein«, kam die Antwort. »Ich weiß nur, daß er den Chauf feur mit dem Sierra heimgeschickt hat.« »Wie ist er dann fort?« »Er nahm ein Taxi.« »Ein Taxi!« Sonali war erstaunt. »Aber Romen nimmt immer sein Auto. Wo wollte er denn hin? Wissen Sie das?« »Nein«, sagte der Barchef, fügte dann jedoch an: »Einen Moment, Memsahib.« Er legte den Hörer ab, und sie hörte, wie er mit den anderen Barkeepern sprach. Dann kam er wieder ans Telefon. »Memsahib?« fragte er. »Der diensthabende Torwäch ter hat gehört, wie Romen-sahib mit dem Taxifahrer sprach.« »Hat er mitbekommen, wo er hinwollte?« fragte Sonali. »Ja. Er wollte zur Robinson Street und unterwegs noch beim 96
Park Circus haltmachen.« »Oh.« Sonali schaltete das Telefon aus und ging langsam wieder hinein. »Was ist los?« fragte Urmila und sprang auf. »Du bist so blaß.« Sonali ließ sich in einen Stuhl fallen. »Romen ist offenbar auf dem Weg in die Robinson Street«, sagte sie und biß auf ihre Finger. »Aha«, sagte Urmila. »War er dort verabredet?« »Nicht daß ich wüßte«, antwortete Sonali. »Und er wollte unterwegs beim Park Circus haltmachen.« »Warum gerade da?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte Sonali. »Der einzige, von dem ich weiß, daß er dort lebt, ist Phulboni. Aber Romen hat nicht erwähnt, daß er ihn besuchen wollte. Er sagte, er würde heute abend etwa um neun Uhr hierherkommen.« Urmila tätschelte ihren Arm. »Bestimmt kommt er bald«, sagte sie beruhigend. Sonali machte eine verwirrte Geste. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Heute scheinen alle zu verschwinden. Wenn er nicht bald kommt, muß ich ihn suchen gehen.« Sie lachte nervös. »Was wolltest du mich denn nun eigentlich fragen?« Urmila richtete sich eifrig auf. »Ich wollte wissen«, sagte sie, »ob du Phulboni jemals über einen gewissen Laakhan hast sprechen hören?« »Einen gewissen Laakhan?« Sonali ließ sich auf einem Sofa nieder. »Das ist ja interessant. Warum fragst du?«
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Fünfzehn Im Restaurant waren jetzt nur noch wenige Gäste. Alle gingen zurück an die Arbeit, und die Tische leerten sich rasch. Antar schaute von seiner Armbanduhr zu Murugan, der ihm gegenü bersaß. Er goß sich gerade aus der Kanne mit dem Bambusgriff Tee ein und achtete offenbar nicht auf die Zeit. Antar beschloß, noch ein paar Minuten zu bleiben. »Was ist denn so komisch?« fragte Murugan scharf. Seine Stimme durchschnitt das allgemeine Gemurmel. Antar fuhr verdutzt hoch: »Wie bitte?« »Warum lächelst du?« »Habe ich gelächelt?« »Allerdings«, sagte Murugan. »Na, dann habe ich wohl gelächelt.« »Hältst du das Ganze für einen Witz oder so was?« fragte Murugan. »Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll«, antwortete Antar. »Ich habe dir zugehört, und soweit ich sehe, hast du nicht die Spur eines echten Beweises, nichts, was die Sache irgendwie bestätigt …« »Und wenn ich dir nun sage, daß genau das mein Beweis ist?« »Der Mangel daran, meinst du?« Antar bemühte sich, nicht zu lächeln. »Ich meine, daß es um ein Geheimnis geht und damit logi scherweise keinerlei Beweise existieren.« Antar zuckte die Achseln. »Selbst wenn ich das zugestehe«, sagte er, »ergibt deine Version immer noch keinen Sinn. Wenn ich dich richtig verstanden habe, willst du darauf hinaus, daß dieses andere Team – um deinen Ausdruck zu gebrauchen – Ross bei seiner Forschung teilweise voraus war. Aber warum forschten sie dann nicht einfach selbst weiter? Warum veröf fentlichten sie ihre Erkenntnisse nicht und bewarben sich 98
ihrerseits für den Nobelpreis?« Murugan rieb mit der Hand über sein Kinn. »Gut«, sagte er nach einer langen Pause. »Ich skizziere dir ein Szenarium. Ich sage nicht, daß es so gewesen ist. Hör mir nur einfach bis zum Ende zu.« »Bitte sehr«, entgegnete Antar höflich. »Ich will es mal so ausdrücken«, begann Murugan. »Du weißt Bescheid über Materie und Antimaterie, nicht wahr? Und über Welten und Gegenwelten und Christ und Antichrist und so weiter? Nehmen wir also an, es gibt so etwas wie Wissen schaft und Gegen-Wissenschaft. Ganz abstrakt überlegt, meinst du nicht, daß das erste Prinzip einer funktionierenden GegenWissenschaft die Geheimhaltung wäre? Wie ich es sehe, müßte sie nicht nur verschweigen, was sie tut (darin sind die echten Wissenschaftler ohnehin unschlagbar), sondern das Schweigen auch zum Prinzip ihrer Arbeit machen, es als Technik oder Vorgehensweise einsetzen. Im Prinzip müßte sie von Anfang an jede direkte Kommunikation verweigern, denn indem sie kommuniziert, Ideen in Sprache verwandelt, würde sie ja behaupten, etwas zu wissen – und das wäre doch wohl das erste, was eine Gegen-Wissenschaft in Frage stellt.« »Ich komme nicht mit«, sagte Antar. »Was du da sagst, er gibt keinen Sinn.« »Du nimmst mir das Wort aus dem Mund«, sagte Murugan. »Darum geht es eben, daß es keinen Sinn ergibt, jedenfalls nicht in der herkömmlichen Art. Vielleicht begann dieses andere Team mit der Vorstellung, daß Wissen ein Widerspruch in sich selbst ist. Vielleicht glaubten sie, etwas zu wissen bedeute, es zu verändern. Indem du etwas weißt, änderst du bereits das, was du zu wissen glaubst, weißt also gar nichts. Du kennst nur seine Geschichte. Vielleicht glaubten sie, wirkliches Wissen beginne mit dem Eingeständnis, nichts wissen zu können. Verstehst du, was ich meine?« »Ich höre zu«, sagte Antar. »Fragt sich nur, was das bringt.« 99
»Vielleicht ist das Ganze blanker Unsinn«, sagte Murugan. »Aber versuchen wir doch, es für den Augenblick mal so hinzunehmen. Schauen wir uns die Arbeitshypothesen an, die dabei herauskommen. Zum Beispiel diese: Wenn etwas zu wissen tatsächlich bedeutet, es zu verändern, dann folgt daraus, daß eine Methode, etwas zu verändern – oder sagen wir, eine Mutation herbeizuführen –, darin bestünde, Wissen darüber zu erwerben. Richtig?« Antar nickte. »O.k.«, sagte Murugan. »Bleiben wir also ein bißchen dabei. Nehmen wir an, genau um die Zeit, als Ronnie mit seiner Malariaforschung beginnt, arbeitet die andere Person – jenes Team – ebenfalls mit Plasmodium falciparum, aber auf eine völlig unterschiedliche Art und Weise. Sie ist so anders, daß ein normaler Wissenschaftler keinen Sinn darin zu erkennen vermag. Wir behaupten aber, daß sie zufällig oder absichtlich gewisse Fortschritte erzielt haben. Sie sind mit ihrer Arbeit an einem Punkt angelangt, von dem es nicht mehr weitergeht. Sie stecken fest, kommen nicht vom Fleck – wegen kleiner Mängel in ihren eigenen Methoden, weil sie einfach nicht die richtigen Geräte haben oder was auch immer. Sie entscheiden, das Projekt durch eine Mutation des Parasiten einen großen Schritt vorwärts zu bringen. Die Frage ist nur, wie können sie den Prozeß beschleunigen? Und die Antwort lautet: Sie müssen einen konventionellen Wissenschaftler finden, der die Sache vorantreibt. Hier kommt Ronnie ins Spiel. Aber wie sollen sie es anfan gen? Sie können ihm nicht sagen, was sie wissen, weil das gegen ihre Religion verstößt. Außerdem können sie nicht einfach zu ihm hingehen und fragen: ›Hey, Ron, was tut sich denn gerade bei dir?‹ Überhaupt wären sie gar nicht erst an den Wachen der 19. Madras-Infanterie vorbeigekommen. Und selbst wenn, hätte Ronnie ihnen nicht geglaubt. Sie müssen es so hinstellen, als wäre er von selbst draufgekommen. Also 100
halten sie Kriegsrat und versuchen ihren nächsten Schritt zu durchdenken. Letztlich spricht ja nicht allzuviel für sie – sie sind Randerscheinungen, marginale Existenzen, weitab vom Zentrum, hoffnungslos im Abseits. Ein Vorteil: Sie sind viele und wissen alles über Ronnie, aber weder Ronnie noch irgendwer sonst weiß irgendwas über sie. Dazu haben sie noch die beste Parasitenkollektion in der Stadt. Sie müssen nur ihre Karten richtig ausspielen, und die Sache läuft.« »Schön und gut«, sagte Antar. »Aber das beantwortet noch immer nicht die grundlegende Frage.« »Und die wäre?« fragte Murugan. »Wozu das Ganze? Wozu sollte sich jemand solche Mühe machen? Was für Ross dabei herausspringt, ist sonnenklar: Ruhm, Zukunftschancen, Förderung, ein Nobelpreis. Aber was erhofften sich diese anderen Leute – ihre Existenz einmal vorausgesetzt – von dem Ganzen?« »Die Frage habe ich erwartet«, sagte Murugan. »Und wie derum weiß ich keine Antwort. Aber wenn ich recht habe – und so, wie dieses Spiel läuft, wirst du wohl nie herausfinden, ob ich recht habe oder nicht –, also wenn ich recht habe, und sei’s auch nur zu einem Bruchteil, dann war das, was diese Typen entwickelten, die revolutionärste medizinische Technologie aller Zeiten. Vergiß den Nobelpreis, vergiß Krankheiten und Heilungen und Epidemiologie und den ganzen Mist. Diese Typen waren auf etwas viel Größeres aus, auf den größten aller Preise, auf das größte Scheißspiel, das je ein menschliches Wesen ersonnen hat: nämlich auf die letztgültige Überwindung der Natur.« »Und was wäre das?« fragte Antar höflich. »Unsterblichkeit«, antwortete Murugan. Antar schlug auf den Tisch. »Ach so«, sagte er auflachend. »Du meinst, wie Osiris und Horus und Amun-Ra? Hofften sie, daß ihnen hübsche kleine Schakalköpfe wachsen würden? Oder sollten ihnen etwa Ibisschnäbel sprießen?« 101
»Vielleicht habe ich die Sache etwas überspitzt dargestellt«, sagte Murugan. »Was ich eigentlich meine, ist eine Technolo gie für interpersonelle Transferenz.« »Interpersonelle was?« fragte Antar. Bevor Murugan antworten konnte, erschien der Kellner und legte die Rechnung zwischen sie auf den Tisch. Er war mittle ren Alters und wirkte zaghaft und nervös. Die Hände reibend und übertrieben lächelnd, sah er zu, wie sie ihr Geld abzählten. Plötzlich setzte sich Murugan bolzengerade im Stuhl auf. »Ich gebe dir ein Beispiel«, sagte er. Er sprang hoch und brachte sein Gesicht dicht vor das des Kellners. Dann schrie er aus voller Kehle: »Hah!« Der Kellner taumelte zurück, mit offenem Mund und vor Entsetzen geweiteten Augen. Der Teller glitt ihm aus der Hand und zerschmetterte am Boden. Er fiel auf die Knie und begann, das Gesicht mit den Händen bedeckt, panisch zu wimmern. Antar, der sich halb erhoben hatte, erstarrte und gab keinen Laut von sich. Im ganzen Restaurant herrschte lähmendes Schweigen; mehrere Eßstäbchen blieben in der Luft hängen, während alle Köpfe sich zu Murugan wandten. Murugan beobachtete den Kellner mit unterdrückter Erre gung. Seine Augen funkelten erwartungsvoll. »Was soll das?« fragte Antar. Plötzlich wirbelte Murugan herum und sprang auf ihn los. Nase an Nase mit ihm brüllte er: »Buh!« Antar wich zurück und wischte mit dem Handrücken über sein Gesicht. »Hast du den Verstand verloren?« fragte er wütend. Lächelnd trat Murugan zurück. »Siehst du«, sagte er, »es hat funktioniert.« Nonchalant winkte er den wenigen verbliebenen Gästen zu. »Beruhigen Sie sich«, sagte er heiter. »Kein Grund zur Aufre gung. Nur ein kleiner Test zur Bandbreite individueller motori scher Reaktionen auf Streßsituationen.« 102
Er klopfte Antar auf die Schulter. »Siehst du«, sagte er. »Derselbe Reiz und unterschiedliche Reaktionen: er sagt tamatar und du sagst tamatim. Was wäre nun, wenn das ›im‹ und das ›ar‹ zwischen euch ausgetauscht würde? Er spräche mit deiner Stimme oder umgekehrt. Du wüßtest nicht mehr, wessen Stimme es ist. Und ist das nicht das Schrecklichste überhaupt, Ant? Etwas Gesprochenes zu hören und nicht zu wissen, wer es sagt? Nicht zu wissen, wer spricht? Denn wenn du nicht weißt, wer etwas sagt, dann weißt du auch nicht, warum es gesagt wird.« Das Schweigen brach, und eine Welle von empörtem Pro testgemurmel erhob sich im Restaurant. Der Kellner rappelte sich langsam vom Boden auf, während der Geschäftsführer zielstrebig auf ihren Tisch zusteuerte. Drei weitere Kellner folgten ihm dichtauf. Murugan warf ihnen einen hastigen Blick zu und zückte seine Geldbörse. »Was würdest du nun sagen, Ant«, fragte er, »wenn all diese Informationen durch die Chromosomen von Körper zu Körper übertragen werden könnten?« Er fuchtelte Antar mit der Geldbörse unter der Nase herum. »Wieviel wäre dir eine solche Technologie wohl wert, Ant? Stell dir vor, ein völlig neuer Anfang: Wenn dein Körper nicht mehr funktio niert, verläßt du ihn einfach und wanderst ab – du oder zumin dest ein symptomologisches Ebenbild von dir. Du fängst noch mal ganz von vorne an, ein anderer Körper, ein anderes Leben. Stell dir das vor: alles fehlerlos und neu wie am ersten Tag. Was würdest du dafür geben, Ant – für eine Technologie, die dir erlaubt, dich in deiner nächsten Inkarnation zu vervoll kommnen? Meinst du nicht, so was wäre dir einen kleinen Teil deiner Rente wert?« Die Kellner scharten sich um den Tisch, und Murugan brach ab, um sich ihnen zuzuwenden. »Ist schon gut«, sagte er und nahm ein Bündel Geldscheine aus seiner Börse. »Ich zahle alles.« 103
Ohne ihm Beachtung zu schenken, nahmen sie ihn bei den Armen und begannen ihn vom Tisch wegzuschieben. »He Jungs«, protestierte Murugan. »Ich hab doch gesagt, es war nur ein Experiment. Wo bleibt euer Forschergeist?« Die Kellner hoben ihn buchstäblich hoch und trugen ihn zur Tür. »Siehst du jetzt, warum ich nach Kalkutta muß, Ant?« rief Murugan, während sie ihn unerbittlich Richtung Ausgang expedierten. »Wenn es ein Calcutta Chromosom gibt, dann muß ich es finden. Ich schätze, ich brauche es nötiger als du.«
Sechzehn »Ich habe ein bißchen nachgeforscht«, sagte Urmila zu Sonali, »und dabei herausgefunden, daß Phulboni als junger Mann einen Erzählzyklus unter dem Titel Die Laakhan-Geschichten verfaßte. Sie erschienen in einer obskuren kleinen Zeitschrift und wurden nie mehr nachgedruckt. Ich habe die richtige Ausgabe schließlich in der Nationalbibliothek gefunden.« »Davon weiß ich überhaupt nichts«, sagte Sonali. »Vermut lich war ich noch zu jung, als sie erschienen.« »Jedenfalls sind die Erzählungen sehr kurz und drehen sich alle um eine Person namens Laakhan«, sagte Urmila. »In einer Geschichte ist er ein Briefträger, in einer anderen ein Dorf schulmeister und so weiter.« »Wie eigenartig«, sagte Sonali. »Ja, nicht wahr?« sagte Urmila. »Bei ihrer Erstveröffentli chung verstanden die Kritiker sie als eine Art kunstvoller Allegorie, in der die Figuren sich unterscheiden und doch wieder gleichen und alle sich mit allen mischen, etwas in der Art. Dann gerieten die Erzählungen in Vergessenheit. Aber als ich sie mir ansah, hatte ich ganz stark das Gefühl, daß noch mehr dahintersteckt.« 104
»Mehr?« fragte Sonali. »Was meinst du damit?« »Ich würde dafür nicht die Hand ins Feuer legen«, antwortete Urmila. »Aber als ich einmal mit Mrs. Aratounian sprach …« »Hat sie sie gelesen?« unterbrach sie Sonali mit hochgezoge nen Brauen. »Oh nein«, lachte Urmila. »Sie hat nicht viel Zeit für Litera tur. Außerdem – du weißt ja, wie sie ist – kann sie kein Wort Bengali, obwohl sie seit ihrer Geburt hier lebt. Aber sie hat einen scharfen Verstand, und es hilft mir oft weiter, etwas mit ihr zu besprechen. Im Lauf der Jahre hat sie mir viele gute Ratschläge gegeben. Sie war es übrigens auch, die vorschlug, ich solle mich an die Nationalbibliothek wenden.« »Aha«, sagte Sonali. »Sprich weiter.« »Ich erzählte ihr also von den Geschichten, und sie war so fort mit mir einer Meinung. ›Nichts als Sand in den Augen‹, sagte sie. ›Darauf gehe ich jede Wette ein.‹« »Was meinte sie damit?« »Sie glaubte, die Geschichten seien eine Botschaft, um je manden an etwas zu erinnern – an irgendein gemeinsames Geheimnis. Weißt du, so wie die merkwürdigen kleinen Nach richten, die man manchmal in den vermischten Anzeigen liest?« Sonalis Augen weiteten sich. »Interessant«, sagte sie. »Mög lich wäre es.« »Weißt du also etwas über diese Geschichten?« fragte Urmila eifrig. Sonali nahm einen Schluck Tee. »Ich weiß nicht, ob es ir gend etwas mit den Geschichten zu tun hat, von denen du sprichst«, sagte sie. »Aber mir ist bekannt, daß Phulboni als junger Mann etwas sehr Seltsames erlebte. Und das hatte tatsächlich mit einem ›Laakhan‹ zu tun.« »Wirklich?« Urmila richtete sich gespannt auf. »Was war das für ein Erlebnis?« »Es begann damit, daß meine Mutter ihn fragte, warum er 105
das Schießen aufgegeben habe.« »Schießen?« fragte Urmila überrascht. »Du meinst, Phulboni war früher ein Schütze?« »Ja«, sagte Sonali lächelnd. »Und zwar ein sehr guter. Ich erzähle dir, wie ich das erfahren habe.« Sie zog die Beine unter den Körper und machte es sich in den Kissen bequem, die die Armlehne des Sofas säumten. Die Erinnerung ließ ihr Gesicht in einem warmen Lächeln erstrahlen. »Phulboni ging bei uns ein und aus, als ich ein Kind war«, begann sie. »Er war für mich wie ein Onkel; ich nannte ihn Murad-mesho. Meine Mutter und ich lebten allein in einer winzigen Wohnung etwas abseits vom Park Circus. Die Woh nung war wirklich beengt, aber wir hatten stets viele Gäste, vor allem Schriftsteller und Künstler. Jeden Abend war mindestens ein halbes Dutzend Leute da, und Phulboni kam regelmäßig. Er trug stets das gleiche alte Paar verschlissener Hosen, den gleichen abgetragenen Ledergürtel und ein gestärktes weißes Hemd. Kennst du den Geruch von Stärke, wenn man schwitzt? So roch er immer – nach Zigaretten und verschwitzter Stärke. Er sah glänzend aus: über einen Meter achtzig groß, kerzen gerade und schlank wie eine Tanne. Damals war er sehr arm und lebte ganz allein. Seine Frau hatte ihn verlassen und war zu ihrer Familie zurückgegangen. Wenn er kam, flüsterte meine Mutter stets den Dienern zu, schnell hinunterzulaufen und ein warmes Reisgericht zu holen. Ursprünglich hatte er eine gute Stellung bei einem britischen Unternehmen, Palmer Brothers, gab sie jedoch auf, als er zu schreiben begann. Er wollte davon leben, doch sein Werk war für das große Publikum einfach zu schwierig mit all den Dialektwendungen aus Sprachen, von denen kein Mensch je gehört hatte. Weil sein Vater für einen Maharadscha in den Bergen von Orissa arbeitete, trieb er sich als Kind oft vollkommen unbeaufsichtigt im Dschungel herum und hatte die Sprache der Einheimischen gelernt. Später, als Künstler, nannte er sich nach dieser Region Phulboni. 106
Durch das freie Leben im Wald muß er schon sehr früh schießen gelernt haben, aber er sprach niemals darüber. Ich entdeckte nur durch Zufall, daß er ein ausgezeichneter Schütze war. Meine Mutter gastierte einmal mit einer Truppe irgendwo am Stadtrand von Kalkutta. Die Aufführung fand in der Arena eines Zirkuszelts statt. Drumherum gab es gleichzeitig einen Jahrmarkt mit Imbißständen, Karussells und dergleichen. Ich hatte mich in einen kleinen Hohlraum unter der hölzernen Bühne gezwängt und beobachtete die Menge, schnitt den Kindern Fratzen, was man eben so macht. Gespielt wurde Marie Antoinette, Königin von Frankreich. Meine Mutter war natürlich Marie Antoinette; sie kam langsam in die Jahre, und wenn es irgendwo eine böse Königin oder ein altes Scheusal von Schwiegermutter zu besetzen galt, kam die Reihe unwei gerlich an sie. Mama setzte gerade zu ihrer großen Rede an, du weißt schon, die berühmte: ›Sie haben keinen Reis? Dann sollen sie doch Pastetchen essen!‹ Plötzlich blickte ich auf und sah Phulboni hereinkommen. Ich rief ihn und rannte quer durch die Menge zu ihm. Wir hatten die Rede beide schon mindestens hundertmal gehört. Mir war langweilig, und statt die Aufführung anzuschauen, mußte er mit mir über den Jahrmarkt gehen, mir Süßigkeiten kaufen und so weiter. Dann kamen wir zu einem der Stände, wo man mit Luftgewehren Ballons schießen muß. Ich neckte ihn und sagte, versuch’s doch mal und schieß ein paar Ballons, ihr Schriftsteller bringt ja doch nichts zustande. Er sagte immer nein, nein, nein, aber schließlich gab er nach. Zu meinem Erstaunen verfehlte er bei den ersten zehn Schüssen kein einziges Mal das Ziel. Ich sagte: ›Das war pures Glück, ver such’s nochmal.‹ Er sagte: ›In Ordnung‹, ging fünf Schritte zurück und traf wiederum jedesmal. Er trat noch weiter zurück, mittlerweile war eine Traube von Menschen um ihn herum, die 107
ihm zusah. Kein einziger Fehlschuß. Schließlich flehte der Standbesitzer ihn an, aufzuhören: ›Bitte, Sahib, vergib mir, aber wovon soll ich meine Kinder ernähren, wenn du so wei termachst?‹ Ich erzählte meiner Mutter von dem Vorfall, und sie war ebenso überrascht wie ich. Phulboni hatte mit ihr nie über Schießen oder Jagen gesprochen. Sie fragte ihn danach, aber er tat es lachend ab. Meine Mutter ließ nicht locker. Eines Tages, als er eine Menge Rum getrunken hatte, setzte sie ihm so zu, daß er ihr eine Geschichte erzählte. Am nächsten Tag jedoch war er deswegen ganz aus der Fassung. Er wollte nicht, daß die Geschichte bekannt würde, und nahm ihr das Versprechen ab, sie niemandem weiterzuerzählen.« »Aha, ich verstehe.« Urmila konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht verbergen. »Danach begann er uns zu meiden«, sagte Sonali. »In ihren letzten Lebensjahren machte sich meine Mutter große Sorgen um Phulboni. Je berühmter er wurde, desto seltsamer benahm er sich. Er betrank sich und wanderte die ganze Nacht in den Straßen umher, als suche er etwas. Das tut er übrigens bis heute, wie ich gehört habe. Sie schlug ihm vor, bei uns zu wohnen, aber er wollte nicht. Er traf sich nicht mehr mit seinen alten Freunden und wollte eigentlich mit niemandem mehr etwas zu tun haben. Er kam nicht einmal zu ihr, als sie starb. Sie war überzeugt, er habe ihr nie verziehen, daß sie ihm diese Geschichte entlockt hatte, konnte aber nicht verstehen, warum. Und ich muß sagen, ich begreife es auch nicht.« »Sie hat sie dir also erzählt?« fragte Urmila. »Ja«, sagte Sonali. »Kurz bevor sie starb.«
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Siebzehn Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, biß Antar die Zähne zusammen, als er sich an jenen Tag in dem thailändischen Restaurant erinnerte: wie er angesichts der peinlichen Situation bewegungsunfähig auf seinem Stuhl gehockt und versucht hatte, den Blicken auszuweichen, die sich von den Nachbarti schen auf ihn richteten. Im Hinausgehen hatte er immerhin den Mut zu einer ge stammelten Entschuldigung an den Geschäftsführer aufge bracht. »Ich kenne ihn eigentlich gar nicht«, sagte er. »Das war unser erstes Treffen heute. Der Mann ist eindeutig verrückt. Ich hoffe nur, es war das erste und letzte Mal, daß ich etwas mit ihm zu tun hatte.« Zurück im Büro gab er alles, was er über Murugans Fall erfahren hatte, in den Computer ein und schick te die Akte an den schwedischen Abteilungsleiter zurück. »Wenn das heißt, sich mit dem menschlichen Aspekt einer Sache zu befassen«, erinnerte er sich an seinen Kommentar, »dann kümmere ich mich lieber wieder um meine Buchhal tung, vielen Dank.« Als er das Büro verließ, war er zuversichtlich, die ganze Sache damit hinter sich zu haben. Daheim jedoch fand er einen wild blinkenden Anrufbeantworter vor. Es waren drei Nach richten darauf. Eine böse Vorahnung überkam ihn: es war höchst selten, daß er auch nur eine einzige Nachricht bekam. Er konnte sich nicht erinnern, daß es jemals mehr gewesen wären. Sein Instinkt riet ihm, den Rückspulknopf zu drücken und das Band zu löschen. Statt dessen glitt seine Hand vor und drückte auf »Play« – nur um sicherzugehen, sagte er sich, um zu wissen, wer angerufen hatte. Seine schlimmsten Befürchtungen wurden unverzüglich bestätigt. Da war die Stimme wieder, sie drang plärrend aus dem Apparat und zerrte so noch stärker an seinen Nerven als in Wirklichkeit: »Hör zu, du gottverdammter Idiot, du glaubst 109
wohl, das Ganze ist nichts weiter als ein Hirngespinst, was?« Mit einem Daumenhieb unterbrach Antar die erste Botschaft und spulte vor zur nächsten. »Ich bin’s wieder«, ertönte die gleiche Stimme, »dein Freund Morgan. Deine dämliche Ma schine hat mich abgewürgt…« Antar spulte zur dritten und letzten Botschaft, und wieder erklang die Stimme: »Deine Maschine hat die Konzentrationsfähigkeit eines Suppenhuhns, weißt du das eigentlich?« Antar hieb mit einem Finger auf den Vorspulknopf und ließ ihn dort, bis das Band fast zu Ende durchgelaufen war. Den letzten Satz bekam er jedoch noch mit: »da wartet ein Doku ment auf dich, hier und jetzt, in deinem Eingangsverzeichnis …« Antar fuhr herum und blickte durch den Raum auf seinen Monitor. Tatsächlich, das Nachrichtensignal leuchtete am Bildschirm auf. Entnervt starrte er auf die blinkende, elliptische Oberfläche des altmodischen Bildschirms. Es war, als hätte er einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt. Er mußte sich sehr zusammennehmen, bevor er zur Tastatur gehen konnte. Ohne auch nur eine Zeile gelesen zu haben, löschte er das gesamte Dokument. Nun, auf dem Bettrand sitzend, versuchte Antar sich in das Jahr 1995 zurückzuversetzen. Er erinnerte sich, den Anrufbe antworter einige Zeit nach jenem Vorfall ausrangiert zu haben. Bei LifeWatch hatte er Voice-Mail und Anrufweiterschaltung, wenn er außer Haus war, und brauchte ihn daher sowieso nicht. Er kratzte sich am Kopf und überlegte, wo der Apparat hinge kommen war. Er hatte ihn verkaufen oder verschenken wollen, jedoch keinen Abnehmer dafür gefunden. Vage erinnerte er sich, ihn in eine Plastiktüte gepackt und in einen Schrank zu seinen alten Kleidern und Schuhen gesteckt zu haben. Der Wandschrank stand im Flur zwischen der Küche und dem Schlafzimmer – eine Höhle, die er im Lauf der Jahre mit Dingen aus seinem Leben vollgestopft hatte. Er erhob sich vom Stuhl, ging zum Schrank und warf einen zweifelnden Blick auf 110
die verschlossene Tür. Das letzte Mal hatte er sie vor einigen Wochen geöffnet, als er nach einem alten Laptop suchte; eine wahre Lawine ausrangierter Gegenstände war damals von den Regalen auf ihn niedergegangen. Er legte eine Hand auf den Griff und stemmte die Tür vorsichtig auf. Ein Zittern durchlief den Schrank, doch zu seiner Erleichterung blieb alles an seinem Platz. Er begann die Regale der Reihe nach auszuräumen und den Inhalt im Flur aufzustapeln: alte Schuhe, Toaster ohne Zeitau tomatik, kaputte Schirme, Faltordner. Und dann sah er ihn, versteckt hinter einem Stapel vergilbter arabischer Zeitungen: einen rechteckigen, braunen Umriß, in durchsichtige Plastikfo lie gewickelt. Er holte den Apparat herunter, ließ alles andere im Korridor liegen und trug ihn ins Schlafzimmer. Auf der Bettkante sitzend, packte er ihn aus und blies den Staub weg. Er rieb mit dem Finger über das rechteckige Plastikfenster, unter dem die Mikrokassette zum Vorschein kam, und drückte auf den Auswurfknopf. Zu seiner nicht geringen Überraschung schien der Mechanismus noch zu funktionieren. Die Kassette sprang heraus, und er reinigte sie sorgfältig mit einem Zipfel seines Bettlakens. Schließlich schob er sie wieder hinein und stöpselte den Ap parat ein. Das Blinklicht erschien, und die Kassette begann sich zu drehen. Untermalt vom Quietschen der verstaubten Spulen hörte er eine Stimme, nach all den Jahren etwas dumpf, aber immer noch mehr oder weniger vernehmbar. Er drehte die Lautstärke auf. »Hör zu, du gottverdammter Idiot«, sagte die Stimme, genau wie er sie in Erinnerung hatte, »du glaubst wohl, das Ganze ist nichts weiter als ein Hirngespinst, was? Ich habe keine Bewei se, meinst du? Also hör mal gut zu: ich weiß ja nicht, was bei dir so als Beweis gilt, aber ich hab da was, das mir vollauf genügt. 111
Erinnerst du dich, daß ich einen Typ namens W. G. MacCal lum erwähnt habe – einen Arzt und Wissenschaftler, dem 1897 ein großer Durchbruch in der Malariaforschung gelang? O.k., jetzt hör mal zu: dieser Typ zeigte, daß die kleinen ›Ruten‹, die Laveran gesehen hatte und die aus den glasartigen Membranen des Parasiten austraten, keine Geißeltierchen waren, wie der große Gelehrte glaubte. Nein, sie waren genau das, wonach sie aussahen, nämlich Spermien, und sie taten genau das, was Spermien tun, nämlich Eier befruchten. Man sollte meinen, es hätte keine Geistesgröße gebraucht, um das herauszufinden; da genügte doch ein Blick, verdammt noch mal. Tatsache ist aber, daß MacCallum als erster draufkam. Er war nicht der erste, der es sah, aber der erste, der den richtigen Schluß zog. Laveran sah es vor ihm, kapierte es aber nicht; vermutlich hatte der gute Junge anderes als Sex im Kopf. Ronnie sah es ungefähr ein Jahr vor MacCallum, und woran dachte er? An seinen Vater. Ohne Witz: er hielt die Geißeltierchen für eine Art Soldaten, die in den Krieg zogen, wie Papa Ross auf seinem Schimmel. Man muß sich das mal vorstellen: Ronnie sieht dieses Ding, das aussieht wie ein Schwanz. Es schwimmt über seine Glas platte und macht sich an ein Ei ‘ran, und was denkt Ronnie sich dabei? Er glaubt, die leichte Brigade bläst zum Angriff. Und die Moral von der Geschichte? Prüde bleibt prüde, ob im England von Königin Viktoria oder anderswo.« Hier war ein Piepston zu hören, und die Stimme brach abrupt ab. Einen Augenblick später setzte sie wieder ein: »Ich bin’s wieder, dein Freund Morgan. Deine dämliche Maschine hat mich abgewürgt. Also, wo war ich? Ach ja, bei MacCallum. Jedenfalls, MacCallum war ein junger, knackiger Yankee, mit Hormonen vollgestopft bis zum Platzen, und er erkannte sofort, was er da sah. So schnell er konnte, verfaßte er ein Papier und legte es bei dem großen Ärztetreffen 1897 in Toronto vor. Es kam so gut an, daß der Bakterienpapst, Lord Lister höchstpersönlich, ihn in sein Herz schloß. 112
O.k., also MacCallum fand es als erster heraus. Damals aber, als er mit seiner Forschung anfing, arbeitete er bei Johns Hopkins in Baltimore mit einem ganzen Team. Die anderen Mitglieder waren Eugene L. Opie und ein gewisser Elijah Monroe Farley. MacCallum und Opie waren die Gehirnakroba ten, Farley eher der Wasserträger und Laufbursche. Er blieb auch nicht lange dabei. Als das Team sich auf Malaria ein schoß, zog es Farley plötzlich in die weite Welt. Er ging als Freiwilliger zu einer Missionarstruppe in Boston, und ehe man sich’s versah, schipperte er ab nach Indien.« Hier erfolgte eine weitere Unterbrechung. Gereizt fuhr Mu rugans Stimme fort: »Deine Maschine hat die Konzentrationsfähigkeit eines Sup penhuhns, weißt du das eigentlich? O.k., soll ich dir sagen, woher ich das alles weiß? Also: vor ein paar Jahren sah ich Eugene L. Opies private Notizen in Baltimore durch. Als ich seine Laborberichte sichtete, was fiel da wohl heraus, hm? Ein Brief von Dr. Elijah Monroe Farley an Opie – als hätte er nur auf mich gewartet. Farley schrieb den Brief nach dem Besuch eines Labors in Kalkutta, das von einem gewissen D. D. Cunningham geleitet wurde. In eben jenem Labor absolvierte Ronnie 1898 seine letzte Runde. D. D. Cunningham war sein Vorgänger dort, und Ross kam erst Anfang 1898 hin. Dieser Brief stammte jedoch aus dem Jahr 1894 und war das letzte, was Elijah Farley je schrieb. Um auf den Punkt zu kommen: was stand nun in diesem Brief? Eine ganze Menge Zeug, seitenweise dies und das – aber mitten in all dem Schrott stand der eine Satz, der beweist, daß Farley schon lange vor MacCallum die Rolle der soge nannten ›Geißeltierchen‹ bei der geschlechtlichen Vermehrung erkannt hatte. Er wußte also bereits, was MacCallum noch gar nicht entdeckt hatte. Und als ich die Zeiten und alles andere überprüfte, stellte sich heraus, daß er das nur in Kalkutta herausgefunden haben konnte. Aber wer hatte ihn darauf 113
gebracht? D. D. Cunningham wußte nichts und interessierte sich auch nicht dafür, und Ronnie Ross steckte zu der Zeit forschungsmäßig noch in den Kinderschuhen. Tatsache ist, daß Ronnie die Sache mit den Geißeltierchen selbst nie auf die Reihe brachte; mit diesen Sexgeschichten unter seinem Mikro skop mochte er sich einfach nicht abgeben. Er kam erst 1898 darauf, als Doc Manson ihm eine Zusammenfassung von MacCallums Entdeckungen schickte. Und das ist noch nicht alles. Erinnerst du dich an Rons Assi stenten – Lutchman oder Laakhan oder wie du ihn auch nennen willst? Ich hab so ein Gefühl, daß Farley ihm lange vor Ross begegnet ist und vielleicht sogar mehr mit ihm zu tun hatte, als für ihn gut war. Dummerweise war Farleys Brief unkatalogisiert, und ich sah ihn nur dieses eine Mal. Ich legte ihn zurück und füllte einen Antrag zum Fotokopieren aus. Aber als ich das nächste Mal kam, war der Brief nicht mehr da. Der Bibliothekar glaubte mir nicht, weil er nicht im Katalog verzeichnet war. Ich habe ihn nie wieder gefunden, also fehlt mir strenggenommen der unwiderlegliche Beweis. Aber ich habe ihn gesehen und in Händen gehalten, und als ich an jenem Tag in mein Motel zurückkehrte, schrieb ich ihn aus der Erinnerung nieder. Weißt du was? Du kriegst einen Vorabdruck. Schau mal auf deinen Monitor: da wartet ein Dokument auf dich, hier und jetzt, in deinem Eingangsverzeichnis …«
Achtzehn Als Murugan in das Gästehaus kam, fand er Mrs. Aratounian, blaßgelbe Gimlets trinkend, vor dem Fernseher vor. »Ah, da sind Sie ja, Mr. Morgan«, sagte sie und klopfte auf das verschlissene Sofa mit den Schonbezügen. »Setzen Sie sich doch. Gerade fing ich an, mir Sorgen um Sie zu machen. 114
Hätten Sie gern einen Gimlet? Nein? Nur ein Schlückchen – einen kleinen Nachttrunk für süße Träume?« Mrs. Aratounian hatte den blausamtenen Morgenrock abge legt, in dem sie vormittags bei Murugans Ankunft erschienen war. Jetzt trug sie eine weiße Bluse und einen strengen schwar zen Rock. Zwei Flaschen mit Omar Khayyam Dry Gin und Rose’s Limonensaft standen neben ihr auf einem geschnitzten Tischchen. Sie verschwanden fast unter dem Blätterwald, der aus den verzierten Messingtöpfen wucherte. Leicht beunruhigt folgte sie Murugans Blick, der zum Tisch schweifte. »Nein?« fragte sie und blinzelte ihn über ihre Brille hinweg an. »Ist Omar Khayyam nicht Ihr Geschmack? Ich habe irgendwo noch eine Flasche Blue Riband Gin, für besondere Anlässe. Ich könnte schauen, ob ich sie finde; sie muß hier irgendwo sein.« »An Omar Khayyam ist nichts auszusetzen«, sagte Murugan. »Danke.« »Gut«, sagte Mrs. Aratounian. Sie nahm ein Glas, goß eine sorgfältig bemessene Portion Gin ein und füllte sie mit einem Schuß Limonensaft und einem Eiswürfel auf. »Nun, was haben Sie heute unternommen, Mr. Morgan?« fragte sie und reichte ihm das Glas. Bevor Murugan antworten konnte, ertönte plötzlich laute Musik aus dem Fernseher, und eine verbindliche Stimme verkündete: »Und nun folgt unser Nachrichtenmagazin …« »Nachrichten!« sagte Mrs. Aratounian sarkastisch und mach te es sich im Sofa bequem. »Die Ausfegerin erzählt mir mehr Nachrichten als dieses Ding da.« Auf dem Bildschirm erschien ein höflich lächelnder Mann, der ein durchgeknöpftes Hemd trug und einen Strauß welker Lilien vor sich stehen hatte. Er verkündete: »Der Vizepräsident hat heute in Kalkutta dem prominenten Schriftsteller Saiyad Murad Husain, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Phulboni, den Staatspreis verliehen.« Das Gesicht des Nach 115
richtensprechers verschwand abrupt vom Bildschirm, statt dessen sah man den schläfrig vor sich hinnickenden Vizepräsi denten auf der Bühne des Rabindra-Sadan-Auditoriums. »Oh nein«, stöhnte Mrs. Aratounian. »Das ist eine von diesen grauenvollen Zeremonien, bei denen jeder eine Rede hält. Ich muß mir wirklich Kabel zulegen. Alle im Haus haben es schon, nur ich nicht …« Die Kamera schwenkte zu dem gedrängt vollen, großen Au ditorium und holte die erste Reihe nahe heran. In einer Ecke des Bildausschnitts waren gerade noch zwei Frauen zu sehen, die im Gang standen. Eine der beiden wandte sich kurz zur Bühne und folgte dann der anderen Frau den Gang entlang. Plötzlich richtete Mrs. Aratounian sich kerzengerade auf. »Nanu«, rief sie aufgeregt und deutete mit ihrem Stock auf den Fernseher. »Das ist doch Urmila! Man stelle sich vor, Urmila im Fernsehen! Ich kannte sie schon, als sie noch ein Schulmäd chen im St. Mary’s Convent war.« Sie wandte sich vertraulich zu Murugan: »Als Stipendiatin natürlich – ihre Familie hätte sich eine Schule wie St. Mary’s niemals leisten können. Sie war das farbloseste kleine Ding, das man sich vorstellen kann, aber siehe da, vor ein paar Jahren bekam sie eine Anstellung bei Calcutta. Wo soll das hinführen, fragte ich sie, wenn ein Fratz wie du mir meine Nachrichten serviert?« Die Kamera schwenkte erneut über das Publikum, und die beiden Frauen kamen wieder ins Bild; die eine war weit voraus. »He!« Murugan schlug sich aufs Knie. »Die zwei kenne ich doch …« »Das ist Sonali Das«, rief Mrs. Aratounian. »Auch eine Kun din von mir, bei Dutton’s. Und dazu noch so prominent!« Sie warf Murugan einen vielsagenden Blick und ein Lächeln zu. »Ich könnte Ihnen einiges über sie erzählen«, sagte sie. Sie gluckste vor sich hin und nippte an ihrem Gimlet. Die Kamera schwenkte zur Bühne, und Phulbonis hagere 116
Züge erschienen in Großaufnahme. »Oh nein«, lamentierte Mrs. Aratounian entrüstet. »Der Himmel steh uns bei! Einer von diesen aufgeblasenen alten Schaumschlägern hält eine Rede. Den ganzen Tag geht das so. Ich muß mir wirklich Kabel zulegen; damit kann man sogar die BBC empfangen, habe ich gehört …« Plötzlich erfüllte die heisere, rauhe Stimme des Schriftstellers den Raum: »Mehr Jahre, als ich zählen kann, bin ich durch die verborgensten Straßen dieser geheimnisvollsten aller Städte gestreift, stets auf der Suche nach ihr, die mich so lange mied: der Stille. Wohin ich auch gehe, sehe ich Zeichen ihrer Ge genwart, in Bildern, Worten, Blicken, doch sind es nur Zei chen, nicht mehr …« Mrs. Aratounian pochte verärgert mit dem Stock auf den Boden. »Habe ich’s nicht gesagt, Mr. Morgan?« schnaubte sie. »Und ich wette eins zu hundert, daß das jetzt bis in alle Ewig keit so weitergeht.« Phulbonis Augen füllten sich mit Tränen: »Mit aller Kraft, die nur je ein Mensch aufzubringen vermoch te, habe ich versucht, meinen Weg zu ihr zu finden, mich ihr zu Füßen zu werfen, Eingang in den geheimen Zirkel um sie zu finden, mit meinem Haar den Staub von ihren Füßen zu neh men. Mit allen nur erdenklichen Mitteln habe ich sie gesucht, die unentrinnbare, stets flüchtige Herrin des Unausgesproche nen, sie umworben, umschmeichelt und angefleht, in den Kreis der Eingeweihten aufgenommen zu werden.« Mrs. Aratounian hieb mit dem Stock auf den Boden. »Wi derwärtig«, sagte sie. »Der Mann entblößt sich ja bis aufs Hemd. Unternimmt denn niemand etwas dagegen?« »Wie ein Baum seine Zweige ausbreitet«, fuhr die Stimme des Schriftstellers fort, »um eine unsichtbare Quelle des Lichts zu umschmeicheln, so ward jedes Wort, das mir je entströmte, für sie geschrieben. Ich suchte sie mit Worten, ich suchte sie mit Taten, vor allem jedoch suchte ich sie, indem ich ihr insgeheim die Treue hielt.« 117
Unvermittelt verschwand das Gesicht des Schriftstellers vom Bildschirm, und es erschien das Panorama einer idyllischen Berglandschaft. Die Stimme fuhr jedoch aus dem Off fort. Mrs. Aratounian verfiel in kreischendes Gelächter. »Sehen Sie sich das an, Mr. Morgan«, sagte sie. »Die sind so unfähig, daß sie ihn nicht einmal abschalten können.« Die Stimme des Dichters schnarrte weiter: »Wenn ich heute, in aller Öffentlichkeit, vor Ihnen stehe, so deshalb, weil ich am Rande der Verzweiflung bin und keinen anderen Weg mehr weiß, sie zu erreichen. Ich weiß, daß die Zeit zu Ende geht – ihre Zeit und meine. Ich weiß, der Übertritt ist nahe, er steht bevor, ich weiß es wohl …« Obwohl man das Gesicht des Schriftstellers nicht mehr auf dem Bildschirm sah, war es offenkundig, daß er schluchzte: »… während die Stunden verstreichen und vielleicht nur noch wenige Augenblicke übrig sind, bleibt mir nichts anderes mehr als diese letzte Bitte: Vergiß mich nicht. Ich habe dir gedient, so gut ich konnte. Nur ein einziges Mal sündigte ich gegen die Stille, in einem Augenblick der Schwäche, verführt von der, die ich liebte. Bin ich nicht genug gestraft? Was bleibt noch? Ich flehe dich an, ich flehe dich an, wenn es dich gibt, und daran habe ich keinen Moment gezweifelt – dann gib mir ein Zeichen deiner Gegenwart, vergiß mich nicht, nimm mich mit dir …« Der Bildschirm flimmerte, und es erschien erneut das leicht verschwitzte Gesicht des Nachrichtensprechers. Mit gezwun genem Lächeln begann er: »Wir bitten die Zuschauer um Verzeihung …« Mrs. Aratounian stand mühsam auf, ging zum Fernseher und schaltete ihn aus. »So einen Schwachsinn muß man sich nun anhören, nur weil man kein Kabel hat«, sagte sie angewidert. »Und das Abend für Abend. Sagen Sie, Mr. Morgan, bringt die BBC etwa jemals solchen Unfug?« 118
Neunzehn Antar schaltete den Anrufbeantworter aus und stand auf. Es war zwecklos, dem Dokument nachzutrauern, das Murugan ihm mit E-Mail zugeschickt hatte. Wenn er es damals nicht gelöscht hätte, so doch kurze Zeit später. Aber vielleicht … Vielleicht war es ja doch nicht unwiderruflich verloren. Wo möglich konnte Ava das Dokument aufspüren und rekonstruie ren. Ganz ausgeschlossen war das nicht; Ava kannte da ein paar gute Tricks. Antar ging zur Tür. Es gab nur einen Weg, das herauszufin den. Als er das Schlafzimmer gerade verlassen wollte, hörte er etwas – ein gedämpftes Geräusch wie von leisen Schritten. Er fuhr herum und blickte zur Wand. Dahinter, nur durch eine dünne Gipsschicht und eine zugemauerte Tür von ihm getrennt, lag Taras Wohnzimmer. Es war gespenstisch, wie der Schall sich durch die Wand übertrug. Vielleicht war Tara heimgekommen. Antar war sicher, etwas gehört zu haben. Er ging zur Wand und klopfte dagegen: »Tara, bist du da?« Niemand antwortete. Er eilte zum Küchenfenster und blickte über den Luftschacht hinweg zu Taras Wohnung. Sie lag im Dunkeln; offenbar war Tara noch nicht zu Hause. Er zuckte die Achseln. Es mußte wohl eine feuchte Holzdiele gewesen sein. Bei einem alten, in allen Fugen knarrenden Gebäude wie diesem konnte man das nie ganz sicher sagen. Er beugte sich über das Becken, spritzte sich Wasser ins Gesicht und griff nach einem Küchenhandtuch. Im Wohnzimmer setzte er sich an die Tastatur. Mit einem kurzen Befehl ließ er Ava von der Leine, um die gesammelten Daten all seiner alten, abgelegten Festplatten zu durchforsten. Es war nicht ausgeschlossen, da ja eine binäre »Geisterdatei« von Murugans gelöschter E-Mail-Botschaft noch irgendwo im System herumschwirrte. Es reichte die geringste Spur – den 119
Rest erledigte Ava. Sekunden später erschien eine Hand auf dem Bildschirm, die mit halbgeöffneten Fingern mürrisch abwinkte. Seit kurzem lernte Ava nämlich die Zeichensprache – natürlich im ägypti schen Dialekt –, und dies war ihr neues Symbol für »Fehlan zeige«. Dann veränderte sich die Geste: die nunmehr geschlossenen Finger zeigten nach oben, wie um Wasser zu schöpfen. Das hieß: »Warte, es kommt noch etwas.« Der Bildschirm wurde leer, und ihr Sprechmechanismus schaltete sich ein. Die Botschaft war durchaus noch auffindbar, teilte Ava ihm mit. Allerdings würde es eine Weile dauern. Sie war auf einer jener altmodischen, kontaktabhängigen alphabetischen Tastatu ren eingetippt worden. Die von den Tasten übertragenen elektronischen Signale waren möglicherweise noch aufzuspü ren. Es mußte dazu lediglich der elektronische »Fingerab druck« von Murugans E-Mail-Botschaft mit allen elektroni schen Signalen verglichen werden, die in der Ionosphäre noch herumschwirrten. Antar tippte die Frage ein, wie lange die gesamte Prozedur dauern würde. Ava ließ sich mit der Antwort einen Moment Zeit. Dann teilte sie mit, daß dazu etwa sechstausendachthundertzweiund neunzig Billionen Cunabytes zu sichten waren, mit anderen Worten rund fünfundachtzigmilliardenmal die geschätzte Summe aller daktylographischen Aktionen, die je von mensch lichen Wesen ausgeführt worden waren. Das Ganze würde mit Sicherheit mindestens fünfzehn Minuten dauern. Ava tippte zwei Namen ein – Cunningham und Farley – und ließ Ava loslegen. Plötzlich fühlte sich Antar sehr müde. Er blickte an sich her unter und sah, daß seine Hand leicht zitterte. Seine Stimmung sank, als er Stirn und Wangen berührte. Sie waren heiß und feucht; offenbar bekam er einen seiner Fieberanfälle, was 120
bedeutete, daß er heute wohl auf seinen Spaziergang zur Penn Station verzichten mußte. In gewisser Weise fühlte sich Antar fast erleichtert. Er be schloß sich hinzulegen, während Ava die Sphären absuchte. Antar war fast eingeschlafen, als Ava zwanzig Minuten spä ter mit einem Piepston einen Programmaufruf signalisierte. Er hievte sich aus dem Bett, kam schwankend auf die Beine und hüllte sich in einen Morgenrock. Dann steuerte er durch den Flur auf das Wohnzimmer zu. Auf dem Bildschirm erwartete ihn eine Botschaft: die Suche hatte ein paar Reste von Murugans verlorengegangener E-mailBotschaft zutage gefördert. Doch die Signale waren schwach und möglicherweise entstellt. Ava hatte die wiedergefundenen Fragmente durch einen Erzähllogik-Algorithmus geschleust und so die äußere Form der Botschaft wiederhergestellt. Für die Authentizität des restaurierten Textes konnte sie jedoch nicht garantieren. Antar tippte die Frage ein, ob Ava mit ihrem SimultanVisualisierungs-Programm eine Bildsimulation des Textes erstellen konnte. Dann hätte er den Text mit der Sim-VisMaske ansehen können. Er brauchte sich dazu nur hinzulegen und zu schauen; den Rest erledigte Ava. Seine Hände zitterten jetzt stark. Er wußte, daß er kaum mehr in der Lage war, ein langes Dokument zu prüfen. Auf Avas Bildschirm erschien eine Hand und winkte bedau ernd ab. Die Antwort war negativ; für eine zusammenhängende Bildkonvertierung war der Text zu stark zerstört. Das Beste, was sie anzubieten hatte, war eine verbale Wiedergabe. Antar zuckte zusammen; er haßte es, Avas flacher, eintöniger Stimme zuzuhören. Selbst zu lesen, war ihm jedoch in seinem derzeitigen Zustand praktisch unmöglich. Er griff nach dem Kopfhörer und rückte ihn zurecht.
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Zwanzig Es war schon nach elf, als Urmila heimkam. Die Wohnung lag im Dunkeln, und alle waren bereits im Bett. So leise wie möglich trat sie ein und blieb an der Tür stehen, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ihr jüngerer Bruder schnarchte im Wohnzimmer. Er hatte an diesem Nachmittag ein Fußballmatch in der zweiten Liga gespielt. Einer der freien Sportreporter war in die Nachrichten redaktion gekommen und hatte ihr erzählt, daß er fast ein Tor geschossen hätte. Sie ging auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer, wo er bei Licht auf dem Sofa lag. Er trug nur die blaue Trai ningshose seines Vereins. Ein Fuß war zu Boden geglitten, ein Arm hing über dem Rückteil des Sofas. Sein Kopf ruhte auf der Armlehne, und aus seinem offenen Mund rann ein Speichelfa den von der Zunge. In der Küche wartete ein Teller mit Essen unter einer Netz haube auf sie. Das Netz schien sich zu verflüchtigen, als sie das Licht anmachte; ein Schwarm von Kakerlaken verschwand in den Ritzen und Ecken. »Kann man hier eigentlich nicht in Ruhe schlafen?« brüllte ihr älterer Bruder aus dem Zimmer, das er mit seiner Frau und ihren drei Kindern teilte. »Wer macht denn um diese Zeit noch das Licht an?« Urmila sprang zum Lichtschalter und ließ dabei fast den Teller fallen. Tagsüber arbeitete ihr älterer Bruder als Vertreter einer Aktien- und Wertpapiergesellschaft. Abends verdiente er sich mit Nachhilfeunterricht für Schulkinder noch etwas dazu. Danach war er immer völlig erschöpft. Ihren Teller vorsichtig in der Hand balancierend, tastete sie sich im Dunkeln aus der Küche. Sie ging ins Bad, zwängte sich an dem Feldbett vorbei, in dem sie schlief, und lehnte die Tür an, bevor sie Licht machte. Auf der Bettkante sitzend machte sie sich lustlos über das kalte Linsengericht und die dünnen Fladenbrote her. 122
Schritte und ein Rascheln näherten sich vom Treppenabsatz, und als sie aufsah, stand ihre Mutter neben dem Feldbett. Sie trug ihren weißen Nachtsari. »Wann bist du denn heimgekom men?« fragte sie verschlafen. »Ich habe gewartet und gewartet …« »Warum?« fragte Urmila. »Du sollst doch nicht so lange aufbleiben – denk daran, was der Homöopath gesagt hat.« Die Mutter bedeutete ihr, leise zu sprechen. Dann setzte sie sich neben Urmila und legte eine Hand auf ihr Knie. »Ich mußte es dir doch heute noch erzählen, Urmi«, flüsterte sie. »Es gibt gute Neuigkeiten, ganz herrliche Neuigkeiten. Ich weiß doch, daß du dich auch darüber freust.« »Worüber?« fragte Urmila. »Das will ich dir ja gerade erzählen. Um acht Uhr hat der Sekretär des Wicket-Clubs angerufen. Es ging um deinen Bruder Dinu. Ich war am Telefon, und glaub mir, das erste, was ich sagte, war: Ach wenn nur meine Tochter hier wäre, sie würde sich so freuen …« Der Bezirkssekretär des Wicket-Clubs, sagte sie, habe ange rufen und mitgeteilt, daß ein Direktionsmitglied der Klubver waltung am folgenden Tag höchstpersönlich bei ihnen erschei nen und mit ihnen über Dinus künftige Karriere sprechen wolle. »Weißt du, was das heißt, Urmi?« sagte ihre Mutter, freude strahlend angesichts der plötzlichen Glückssträhne ihres Sohnes. »Was denn?« fragte Urmila. »Es heißt, daß dein Bruder einen Vertrag für die erste Liga bekommt. Jeder sagt das – wenn sie ein Direktionsmitglied der Klubverwaltung schicken, dann geht es um einen Vertrag in der ersten Liga.« »Bist du sicher?« fragte Urmila. »Es war doch schon oft von so einem Vertrag die Rede, und nie ist etwas dabei herausge kommen.« 123
»Aber diesmal ist es anders«, rief ihre Mutter. Sie legte den Arm um Urmilas Schultern und zog sie eng an sich. »Denk doch nur, Urmi, ein Vertrag für die erste Liga – das heißt Geld, und vielleicht auch eine Wohnung. Du kannst endlich mit dieser dummen Arbeit aufhören und zu Hause bleiben. Es wird alles bezahlt. Vielleicht können wir dich sogar verheiraten, bevor es zu spät ist. Wir könnten eine Anzeige in die Zeitung setzen …« »Es reicht, Mama«, sagte Urmila müde. Sie wußte genau, was nun kam: daß es höchste Zeit für sie war, ihr Haar immer dünner wurde und sie älter aussah, als sie war. Die Nachbarn tuschelten darüber, wie spät sie immer nach Hause kam … Urmila unterbrach sie rasch, bevor die Litanei losging. »Erst unterzeichnen wir mal den Vertrag«, sagte sie, »und dann kannst du an meine Hochzeit denken.« Der skeptische Unterton in ihrer Stimme entging der Mutter nicht. »Ich dachte, du würdest dich freuen, Urmi«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich glaubte, unsere Neuigkeit würde dich glücklich machen. Statt dessen ziehst du bloß ein langes Gesicht. Wir sind dir also ganz egal? Du denkst nur noch an deinen gräßlichen Job.« »Mama, wenn ich diesen Job nicht hätte«, sagte Urmila mü de, »wovon sollten wir dann leben? Wie weit reicht denn Papas Pension schon? Womit sollten wir die Kinder ernähren, willst du mir das mal sagen?« Ihre Mutter beachtete sie nicht; sie betupfte ihre Augen. »Das ist alles, woran du denkst«, sagte sie. »Geld, Geld, Geld. In deinem Herzen ist kein Platz für unsere Freuden und Sorgen. Du hättest sehen sollen, wie glücklich dein Bruder war, als ich ihm von dem Anruf erzählte. Die erste, an die er dachte, warst du. Er sagte, Schwesterchen muß morgen Fisch kochen, ir gendwas besonders Gutes, damit wir den Klubvertreter zum Abendessen einladen können.« Urmila sah sie ungläubig an. »Mama, ich kann morgen früh 124
keinen Fisch kochen«, sagte sie. »Ich muß um neun bei einer Pressekonferenz sein. Der Minister für Kommunikationswesen kommt mit dem ersten Flugzeug aus Delhi. Das heißt, ich muß spätestens um Viertel nach acht aus dem Haus, sonst schaffe ich es nicht rechtzeitig bis nach Dalhousie. Du weißt, was um die Zeit für ein Verkehr herrscht.« Ihre Mutter begann Klagelaute auszustoßen. »Aber Urmi, was sagst du da?« schluchzte sie. »Ist deine Arbeit etwa wich tiger als das Leben deines Bruders? Willst du damit sagen, daß irgend so ein hohes Tier aus Delhi dir mehr bedeutet als wir?« Sie schluchzte weiter, während Urmila schweigend auf der Bettkante saß. Schließlich stellte sie den Teller ab und fragte wütend: »Hat wenigstens schon jemand den Fisch gekauft?« »Nein«, sagte ihre Mutter. »Die Zeit war zu knapp, und wir hatten auch kein Geld. Du mußt ihn morgen früh von Gariahat holen.« »Ich kann morgens nicht auch noch nach Gariahat«, prote stierte Urmila. Aber sie gab auf, kaum daß sie den Satz ausge sprochen hatte. Es war sinnlos zu streiten; sie wußte, daß sie schließlich doch selbst gehen mußte. Ihr Vater würde es nicht tun, weil er mit seinen morgendlichen Atemübungen beschäf tigt war. Ihre Brüder schliefen um die Zeit noch. Ihre Schwäge rin wagte erst gar niemand zu fragen, und ihre Mutter würde auch nicht gehen. Wenn sie, Urmila, sie darum bitten würde, gäbe es Tränen und Vorwürfe: Wie kannst du so etwas von mir verlangen? Weißt du nicht, daß der Homöopath mir mit mei nem Asthma verboten hat, frühmorgens auszugehen? Dann würde Urmila entgegnen, daß ihr Asthma sie keines wegs davon abhielt, jeden zweiten Tag zu ihrem Guru nach Dhakuria zu pilgern, wo er sich seinen Anhängern bei Sonnen aufgang in einer speziellen Morgenandacht zeigte. Doch das würde sie nicht sagen, so sehr es ihr auch auf der Zunge lag. Statt dessen würde sie es sich selbst vorhalten, während sie im überfüllten Minibus nach Dalhousie ratterte, Ellbogen sich in 125
ihren Rücken bohrten und ihre Nase dem Geruch einer fremden Achselhöhle ausgeliefert war. Sie würde die Worte wiederkäu en, noch und noch – aber du gehst doch jeden zweiten Tag zu deinem Guru, Mama –, und würde wütender und wütender werden, bis sie schließlich irgend etwas Schreckliches tat wie neulich, als ihre Mutter sie zum Stand des Büglers geschickt hatte, um die Fußballshorts für ihren Bruder abzuholen, bevor sie den Minibus nahm. Im Bus hatte sie sich mit ihren in sich hineingemurmelten, nie ausgesprochenen Protesten dermaßen in Rage gebracht, daß sie schließlich den Fuß hob und irgend jemandem damit voll auf den Rist trat. Sie wußte nicht einmal, warum sie das tat. Vielleicht wollte sie nur das knirschende Geräusch hören, mit dem ihr Absatz sich in Fleisch und Kno chen bohrte. Und es hatte ihr Spaß gemacht, sich mit dem fetten kleinen Mann herumzustreiten, dem sie auf den Fuß getreten war. Den ganzen Weg von Lansdowne bis Lord Sinha Road hatten sie sich angebrüllt, bis er sich schließlich geschla gen gab und in finsteres Schweigen verfiel. Sie spürte, wie ihre Mutter sie bei der Schulter faßte. »Schlaf noch nicht ein, Urmi«, sagte sie. »Sag mir erst, ob du den Fisch holst und zubereitest.« »Vielleicht muß ich das ja gar nicht«, sagte sie müde. »Viel leicht kommt auch ein Fischverkäufer vorbei.« »Aber machst du es, so oder so?« beharrte ihre Mutter. »Ja, gut«, sagte Urmila resigniert. »Ich mach’s – aber jetzt laß mich endlich schlafen.« Die Mutter tätschelte ihre Schulter. »Ich wußte es doch«, sagte sie. »Meine gute kleine Urmi. Ach, wie wird dein Bruder sich freuen. Du hättest sehen sollen, wie aufgeregt er war, als ich ihm erzählte, daß Romen Haldar zu uns kommt …« Es dauerte eine Weile, bis der Name zu ihr durchdrang, doch dann fuhr Urmila hoch. »Wer?« fragte sie überrascht. »Romen Haldar«, wiederholte ihre Mutter. »Er ist der Abge 126
sandte des Klubs, der uns besuchen kommt. Du weißt, wer er ist, nicht wahr?« »Ja«, sagte Urmila schläfrig. »Das weiß ich. Es ist nur ein Zufall, das ist alles.«
Einundzwanzig Elijah Monroe Farley brach im Oktober 1893 nach Indien auf, begann Ava mit ihrer Geschichte, zwei Jahre nach seinem Weggang von den Forschungslaboren der Johns-HopkinsUniversität in Baltimore. Einige Freunde und Bekannte fuhren nach New York, um ihn zu verabschieden, darunter auch sein Mentor, der hochverehrte Malariaspezialist W. S. Thayer, und die beiden Mitarbeiter seines ersten Teams, W. G. MacCallum und Eugene L. Opie. Im Sommer 1894 wurde der junge Reve rend Farley einer abgelegenen kleinen Klinik in Barich an den Ostausläufern des Himalayas zugeteilt. Die Klinik unterstand der amerikanischen ökumenischen Mission, und ihre Mitarbei ter waren die einzigen ausgebildeten Mediziner in dem Bezirk. Farley war sechsundzwanzig Jahre alt, groß und schlaksig, mit rötlichbraunem Haar und moosgrünen Augen. Dank seiner asketischen, kontemplativen Natur fügte er sich leicht in die Unannehmlichkeiten seiner neuen Tätigkeit. Falls er die wis senschaftliche Arbeit überhaupt vermißte, ließ er es sich nicht anmerken; jede wache Minute verbrachte er in der Klinik. Nach fünf Monaten am Krankenhaus erhielt Farley seinen ersten Brief. Er kam von seinem alten Freund und Kollegen Eugene Opie aus Baltimore und enthielt größtenteils Trivialitä ten über das Wetter sowie die familiären und beruflichen Umstände gemeinsamer Bekannter. Doch Opie erwähnte auch – allerdings nur nebenbei – ein Forschungsprojekt, mit dem Mac Callum und er sich seit neuestem befaßten. Als vielbe schäftigter Forscher hatte er das Ganze schnell in Kurzschrift 127
hingeworfen und sich nicht weiter über die theoretischen Implikationen jener Arbeit ausgelassen. Farley war jedoch sofort klar, daß Opie und MacCallum auf die Entdeckungen des Franzosen Alphonse Laveran aufbauten. Diese unerwartete Neuigkeit machte Farley perplex. Als Student hatte er Laverans Werk, in der Annahme, es stehe allgemein in Verruf, wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ließ er sich von keinem Geringeren leiten als von William Osler, dem führenden Kopf von Johns Hopkins, der öffentlich seine Skepsis gegenüber der Laveran-Theorie geäußert hatte. Als Farley nach Indien ging, war er der festen Überzeugung, daß Laverans Ansichten auf dem großen Friedhof unhaltbarer medizinischer Spekulationen landen würden; um so größer sein Erstaunen, da sie nun offenbar wieder ausgegraben wurden. Einmal festgesetzt, drang die Vorstellung von der Wieder auferstehung der Theorien Laverans allmählich immer tiefer in das Gemüt des jungen Missionars ein und säte Zweifel und Unglauben, wo vorher alles so sicher erschienen war. Im Lauf der Zeit begannen diese Zweifel ihm auf subtile und unerwarte te Art und Weise zuzusetzen, ihm sein früheres Leben wieder vor Augen zu rufen und schließlich eine überwältigende Sehnsucht nach der schon halbvergessenen Alltagsroutine des Labors in ihm wachzurufen. Er begann bitter den Impuls zu bereuen, der ihn veranlaßt hatte, sein eigenes Mikroskop im Haus seiner Familie in Neuengland zu lassen. Sonst hätte er vor Ort mit Leichtigkeit ein improvisiertes Labor einrichten können. Dann jedoch entdeckte er eher zufällig, zwischen den Seiten eines Gebetbuches, die Visitenkarte eines englischen Ober stabsarztes namens Lawrie, der dem Indian Medical Service angehörte. Farley war Lawrie bei einem seiner gelegentlichen Besuche in der Missionszentrale in Kalkutta bereits begegnet. Während dieses kurzen Zusammentreffens hatte der Oberstabs arzt erzählt, er sei auf dem Weg nach Hyderabad, um dort als 128
Professor in der kürzlich vom Nizam, dem Prinzen jenes Staates, gegründeten medizinischen Hochschule zu wirken. Glücklicherweise hatte er seine neue Adresse auf die Rückseite der Karte gekritzelt, und Farley schickte ihm unverzüglich eine schriftliche Anfrage zum gegenwärtigen Meinungsstand bezüglich Laverans Ansichten. Er mußte nicht lange warten. Zu seiner größten Erleichterung antwortete Lawrie noch im gleichen Monat. Der Brief machte seine Verwirrung jedoch nur größer: Lawrie schien nach wie vor die Meinung zu vertreten, daß die Laveran-Theorie jeder Grundlage entbehre. Trotz der Bemühungen gewisser Anhänger, schrieb der Oberstabsarzt, bleibe es unbestritten – soweit das rational überhaupt zu entscheiden sei –, daß Laverans Spekulationen auf keinerlei empirischer Grundlage basierten. Er selbst sei neulich Zeuge eines Spektakels geworden, das als schlagender Beweis für diese Überzeugung geradezu komisch gewirkt haben würde, wenn der Protagonist dabei nicht eine solch unglückliche Figur abgegeben hätte. Ein reichlich von sich eingenommener und schnöseliger junger Stabsarzt namens Ronald Ross war soeben an das Armeehospital in Begumpett, unweit von Hyderabad, versetzt worden. Da er über mehr freie Zeit verfügte, als für ihn gut war, hatte Ross sich auf die Malariaforschung gestürzt – ein Feld, in dem er keinerlei praktische Kenntnisse besaß. Man hatte den jungen Mann mehr als einmal beim Secunderabad Club prahlen hören, wie gut er sich mit Laverans Schimären wesen auskenne. Er hatte auch ohne zu zögern eine Einladung angenommen, die Existenz dieses Lebewesens an der medizini schen Hochschule des Nizams in Hyderabad vor der versam melten Fakultät zu demonstrieren. Zu diesem Zweck lud er wahrhaftig einen zitternden Unglückseligen auf einen Ochsen karren und schleppte ihn achtzehn Kilometer über Stock und Stein bis zur Hochschule. Als es dann aber soweit war und alle 129
sich im Vortragssaal versammelt hatten, ließ sich im Blut dieses armen Kerls natürlich absolut nichts finden: keine Spur von Laverans Phantasiegebilden. Um eine Erklärung gebeten, stotterte Ross, der Parasit sei wohl vorübergehend inaktiv – als handle es sich dabei um einen Südländer, der seine tägliche Siesta braucht. Was ihn, Oberstabsarzt Lawrie, betraf, so setzte dieser pein liche Vorfall der ganzen Sache ein für allemal ein Ende. Er fügte jedoch an, daß er sehr wohl verstünde, wenn man sich ein eigenes Bild von der Angelegenheit machen wolle. D. D. Cunningham, einer seiner Kollegen beim Medical Service und Mitglied der Royal Society, ein Mann von solidem Charakter und wissenschaftlich nicht unbeschlagen, leite ein Labor in Kalkutta. Es sei zwar nicht mit den führenden Labors in Euro pa und Amerika vergleichbar, jedoch in Indien und möglicher weise sogar auf dem gesamten asiatischen Kontinent zweifellos die beste derartige Einrichtung. Cunningham war ebensowenig wie jeder andere von Laverans Theorie überzeugt, hielt sich jedoch aus dem Streit heraus und stellte seine Einrichtung gern einem guten Zweck zur Verfügung. Falls der Doktor es wün sche, werde er, Oberstabsarzt Lawrie, selbstverständlich ein Empfehlungsschreiben an Cunningham aufsetzen etc. etc. Farley antwortete Lawrie sofort und nahm sein Angebot an. Bald wurde vereinbart, daß er Cunninghams Labor in Kalkutta bei seinem nächsten Aufenthalt in der Missionszentrale einen Besuch abstatten werde. Erwartungsvoll bestieg Farley den Zug. Seine Aufregung hatte sich in keinster Weise gelegt, als er drei Tage später am Bahnhof Sealdah in Kalkutta ankam. Pünktlich um fünf Uhr am folgenden Nachmittag fand sich Farley zum Tee in Dr. Cunninghams Gästehaus ein. Dieser erwies sich als ein großgewachsener Mann von rosiger Ge sichtsfarbe. Er hieß Farley jovial willkommen und erkundigte sich eingehend nach dem Wohlergehen seines früheren Men 130
tors W. S. Thayer, dessen Arbeiten er kannte und offensichtlich sehr schätzte. Sie unterhielten sich eine Zeitlang über Dinge von allgemei nem Interesse, und Farley wurde bald klar, daß Cunningham, bei allen respektablen Leistungen aus früherer Zeit, das Inter esse an der Forschung wohl schon lange verloren hatte. Es überraschte ihn nicht sonderlich, als Cunningham ihm mitteilte, daß er in etwa drei Jahren pensioniert werde und sich bereits nach Möglichkeiten erkundigt habe, danach eine Privatpraxis in Kalkutta zu eröffnen. Als schließlich die Rede auf das eigentliche Thema kam, erwartete den jungen Missionar eine herbe Enttäuschung. Unvorhergesehene Umstände, so Cunningham, zwangen ihn, Kalkutta am nächsten oder übernächsten Tag zu verlassen; ein befreundeter Plantagenbesitzer in Assam war plötzlich erkrankt und hatte ihn zu sich bestellt. »Nun schauen Sie doch nicht gleich so verzweifelt, mein Junge«, bellte Cunningham und klopfte Farley auf den Rücken. »Morgen können Sie sich so viele Objektträger ansehen, wie Sie wollen. Glauben Sie mir, Sie werden schnell merken, daß an dieser Laveran-Geschichte nichts dran ist.« Am folgenden Tag hielten seine Verpflichtungen Farley bis weit in den Nachmittag in der Mission fest. Deshalb kam er erst um vier Uhr, als die Sonne schon tief über der Grünfläche des Paradeplatzes hing, zum Presidency General Hospital. Unter anderen Umständen wäre er wohl versucht gewesen, ein paar Minuten lang die maßvolle Eleganz der Anlage mit ihren Ziegelbauten, umgeben von wohlgepflegten Rasenflächen und baumbeschatteten Pfaden, zu bewundern. Da er jedoch seine Zeit unbedingt nutzen wollte, befragte Farley eilig einen Diener nach dem Weg zu Dr. Cunninghams Labor und begab sich raschen Schrittes dorthin. Das Labor lag weit zurückgesetzt auf dem ausgedehnten und dichtbewaldeten Gelände des Hospitals. Ein hohes Bambusdik 131
kicht schirmte es vom Hauptkomplex ab, und sein erster Anblick versetzte Farley in Erstaunen. Es wirkte völlig anders als alle Labore, die er bis dahin kann te: nichts hätte den düsteren Grabkammern unähnlicher sein können, in denen damals die meisten Laboratorien Amerikas und Europas ihre Existenz fristeten. Dies hier war einfach ein normaler Bungalow, wie es sie überall in den britischen Mili täreinrichtungen gab. Als er inmitten des schattigen Bambusdickichts stand, fühlte sich Farley seltsam unbehaglich. Er warf einen Blick zurück, sah jedoch niemanden, weder im Dickicht noch beim Bunga low. Dennoch hatte er das Gefühl, daß seine Anwesenheit nicht unbemerkt geblieben war. Wie zur Bestätigung wurde Sekun den später die Eingangstür des Bungalows aufgestoßen, und der große, rosige Dr. Cunningham trat auf die Veranda. »Ah, da sind Sie ja, Farley«, rief er. »Man hat mir schon Bescheid gesagt. Na, nun stehen Sie nicht rum, Mann, kommen Sie herein. Machen wir der Geschichte ein für allemal ein Ende.« Farley faßte sich, stieg die Stufen zum Bungalow hinauf und schüttelte Cunninghams große, fleischige Hand. Nach kurzer Begrüßung legte ihm der Ältere eine Hand auf die Schulter und führte ihn zu der offenstehenden Tür des Labors. Farley trat ein, blieb jedoch abrupt stehen, als er entdeckte, daß er von einer Frau im Sari und einem mit Pumphosen und Laborkittel bekleideten jungen Mann genauestens gemustert wurde. Die Frau starrte ihn so durchdringend und forschend an, daß er den Blick nicht von ihr abwenden konnte. Sie trug einen billigen, grellbunten Sari und war weder jung noch alt, viel leicht Ende Dreißig. Als sie mit ihrer Musterung fertig war, setzte sie sich auf den Boden und zog die Knie an. Cunningham hatte Farleys Verwirrung wohl bemerkt, denn er sagte: »Achten Sie gar nicht auf sie; sie liebt es, Leute anzu starren.« »Wer ist sie?« fragte Farley gedämpft. 132
»Ach, nur die Putzfrau«, erwiderte Cunningham beiläufig. Erst jetzt bemerkte Farley, daß sie einen Besen in der Hand hielt. »Sie ist ein ziemlicher Drachen«, fuhr Cunningham fort, »und schon seit Ewigkeiten hier. Sie wissen ja, wie sie sind: jeder Besucher muß einmal genau gemustert werden. Lassen Sie sich von ihr nicht aus dem Konzept bringen, sie ist völlig harmlos.« Farley sah, daß sie einen raschen Blick mit dem jungen Mann wechselte, der neben ihr stand. Er war fast sicher, daß sie sich in einer nahezu unmerklichen Geste der Verabschiedung zugelächelt und zugenickt hatten. Dann stand die Frau auf, wandte Farley den Rücken zu und ging zur anderen Seite des Raums hinüber, wie um zu signalisieren, daß ihr Interesse an ihm erschöpft war. Farley fühlte das Blut in sein Gesicht schießen. »Achten Sie gar nicht auf sie«, wiederholte Cunningham augenzwinkernd. »Sie ist nicht ganz bei Trost … wissen Sie.« Er bedeutete dem jungen Mann näherzutreten. »Und dieser Straßenjunge hier ist ein Diener, dem ich beigebracht habe, mir mit meinen Glasplatten zu helfen. Man könnte ihn wohl als meinen Assistenten bezeichnen.« Cunningham führte ihn zwischen den Tischen im Labor hin durch und deutete auf ein Mikroskop. »Hier können Sie arbei ten«, sagte er zu Farley. »Mein Diener wird Ihnen die ge wünschten Objektträger bringen.« Er erlaubte sich ein verächt liches Lachen, als er im Hinausgehen bemerkte: »Hoffentlich finden Sie, wonach Sie suchen.« Farley setzte sich ans Mikroskop, und in den folgenden ein einhalb Stunden brachte ihm der Assistent mehrere Dutzend Glasplatten zur Ansicht. Da der Mann nur ein Bediensteter war, hatte es Farley kaum überrascht, daß Cunningham ihn nicht namentlich vorgestellt hatte. Jetzt jedoch, als er ihm bei der Arbeit zusah, beeindruckte ihn die Geschicklichkeit des 133
jungen Mannes. Unter den gegebenen Umständen erschien er ihm als geradezu bemerkenswert tüchtig. Die Glasplatten jedoch, die er Farley vorlegte, bargen keine Überraschungen. Sie wiesen getrocknete Einfärbungen auf und boten das vertraute Bild von auffälligen, schwarz pigmentierten Zellen in malariainfiziertem Blut. Schon als Forschungsstudent in Baltimore hatte er Dutzende dieser Art gesehen. Von Lave rans Parasiten war nichts zu entdecken. Ohne einen seltsamen kleinen Zufall hätte er wohl bald aufgegeben. Nach etwa einer Stunde Arbeit am Mikroskop bekam Farley Durst und bat den jungen Assistenten um Wasser. Weisungs gemäß wurde ein Wasserglas geholt und vor ihn hingestellt. Er trank es zur Hälfte aus und stellte es, weil er den Rest für später aufheben wollte, in Reichweite direkt hinter sein Mikroskop. Ein paar Minuten später entdeckte er, als er vom Mikroskop aufsah, daß er, auf der konvexen Oberfläche des Wasserglases gespiegelt, den gesamten Raum hinter sich überblicken konnte. Zunächst dachte er sich nichts dabei, doch als er das nächste Mal aufsah, wurde sein Blick von einer Szene gefesselt, die sich eben hinter ihm abspielte. Der Assistent war nach hinten gegangen, um eine Platte mit Objektträgern zu holen, und flüsterte nun mit der Frau im Sari. Bald wurde klar, daß sie über ihn, Farley, sprachen. Ihre Köpfe, die einander zunickten und durch den Raum wiesen, wirkten in der verzerrten Spiegelung grotesk und beinahe bedrohlich. Farley beugte sich rasch über das Mikroskop, behielt das Glas jedoch im Blickwinkel. Was er als nächstes sah, war noch seltsamer als seine vorige Beobachtung. Nach Beendigung der geflüsterten Unterhaltung ging nicht etwa der junge Assistent, sondern die Frau zu den Schubfächern an der Wand. Sie wählte die Glasplatten aus, die ihm zur Musterung vorgelegt wurden. Farley beobachtete sie genau und sah, wie sie die Platten mit einer Schnelligkeit heraussuchte, die verriet, daß sie mit ihnen nicht nur vertraut 134
war, sondern genauestens wußte, was sie enthielten. Farley konnte kaum noch an sich halten. In seinem Kopf wirbelten Fragen durcheinander. Woher hatte eine Frau – und eine so ungebildete noch dazu – derartige Fachkenntnisse? Und wie hatte sie diese vor Cunningham verbergen können? Wieso stellte sie als offensichtliche Dilettantin, die nichts von den Prinzipien wußte, auf denen diese Kenntnisse beruhten, für den Assistenten eine solche Autorität dar? Je mehr er darüber nachdachte, desto überzeugter war er, daß sie ihm etwas vorenthielt. Mit gutem Willen hätte sie ihm zeigen können, wonach er suchte, nämlich Laverans Parasiten. Doch sie tat es nicht, weil sie ihn aus irgendeinem unerklärlichen Grund nicht für würdig befand. Eigentlich hätte Farley nunmehr gern diesen Ort verlassen – dieses sogenannte Labor, dessen wohlvertraute Instrumente ebenso abwegigen wie unerforschlichen Zwecken zu dienen schienen. Doch wenn er jetzt ging, das wußte er, würde er für immer von Ungewißheit und Zweifeln geplagt sein. Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzumachen, wohin das Ganze auch führen mochte. Und so zwang sich Farley, geduldig durch das Mikroskop blickend, dazubleiben und die belanglosen Glasplatten, die der junge Assistent ihm vorlegte, achtlos an sich vorbeiziehen zu lassen. Nach Ablauf einer halben Stunde sagte er zu dem jungen Mann: »Ich habe heute keine Spur von dem Parasiten entdeckt, weiß jedoch aus verbürgter Quelle, daß er tatsächlich existiert. Daher werde ich mit Cunningham-Sahib sprechen und mit seiner Erlaubnis meine Forschungen morgen fortsetzen.« Auf dem bis dahin stets lächelnden Gesicht des Assistenten zeichnete sich plötzlich größte Bestürzung ab. Farley sah, wie er einen raschen Blick mit der namenlosen Frau wechselte, die sie vorn anderen Ende des Labors scharf beobachtete. Dann begann er stammelnd eine Reihe von Einwänden zu erheben: es sei müßig, am nächsten Tag wiederzukommen, es gäbe 135
nichts zu sehen, das Ganze sei reine Zeitverschwendung und überhaupt würde Cunningham-Sahib nicht dasein. Er solle lieber später wiederkommen, an einem anderen Tag … in zwei Wochen, oder einem Monat, vielleicht gebe es dann etwas zu sehen … Die Vehemenz seiner Einwände bestätigte lediglich Farleys Verdacht. Der Mann hätte nicht deutlicher zeigen können, daß er und seine stumme Gefährtin im Hintergrund darauf brann ten, ihn loszuwerden. Offensichtlich durchkreuzte seine Anwe senheit am folgenden Tag irgendein zuvor geschmiedetes Komplott, einen Plan, der sich Cunninghams Abwesenheit zunutze machte. Farley spürte, daß er nun im Vorteil war. Ungerührt ging er an dem protestierenden Assistenten vorbei und sagte: »Nichts destotrotz werde ich morgen wiederkommen.« Und damit verließ er sie, um Cunningham zu suchen. Der Engländer saß im Nachbarzimmer auf einer Chaise longue und rauchte versonnen eine langstielige Pfeife. Als Farley ihn um Erlaubnis bat, am nächsten Tag fortfahren zu dürfen, blies er eine Wolke süßlichen Rauches aus und rief: »Aber natürlich, mein Junge! Wenn Sie unbedingt weiter diesem Laveran-Phantom nachjagen wollen, dann kommen Sie ruhig wieder her, so oft Sie wollen! Ich sage den beiden Be scheid.« Farley wollte schon gehen, zögerte jedoch. Er sah sich rasch um, ob niemand in der Nähe war, dann näherte er sich dem Engländer auf dem Sofa und ging neben ihm in die Knie. »Darf ich die Frage stellen, Sir«, flüsterte er Cunningham ins Ohr, »unter welchen Umständen Sie diese Frau in Ihr Labor aufgenommen haben?« »Mangala?« fragte Cunningham und deutete mit dem Pfei fenstiel über die Schulter. »Ja, falls das ihr Name ist.« »Wenn Sie wissen wollen, wo ich sie gefunden habe«, sagte 136
Cunningham, »dann lautet die Antwort: dort, wo ich alle meine Diener und Assistenten finde, nämlich bei dem neuen Bahnhof – wie heißt er noch? – ach ja, Sealdah.« »Am Bahnhof, Sir?« stieß Farley überrascht hervor. »Ganz genau«, antwortete Cunningham. »Das ist der Ort, wo man willige Arbeiter findet. Meine Rede, seit jeher – da gibt es jede Menge Leute, die Arbeit und ein Dach über dem Kopf suchen. Sehen Sie sich’s mal an, wenn Sie das nächste Mal dort sind.« »Aber Sir«, rief Farley aus, »Leute ohne Bildung und Fach kenntnis …« »Und wer kann meine Assistenten wohl besser ausbilden als ich selbst, hm?« konterte Cunningham. »Mir ist das jedenfalls weit lieber, als mich mit übereifrigen, halbgaren Studenten herumzuschlagen. Man erspart sich so viel unnützen und unnötigen Lehrstoff.« »Also haben Sie diese Frau – Mangala – angelernt?« fragte Farley. »Allerdings«, sagte Cunningham und blickte versonnen ins Leere. »Und nie sah ich ein flinkeres Paar Hände und Augen. Aber …« Cunningham zog ein langes Gesicht und tippte sich an die Stirn. »Sie ist nicht ganz da, wissen Sie«, sagte er. »Ihr Geist ist zerrüttet – durch Krankheit, Ausschweifung, was weiß ich.« »Und der junge Mann?« fragte Farley. »Was ist mit ihm?« »Er ist noch nicht lange hier«, antwortete Cunningham. »Mangala hat ihn hergebracht; sie sagte, er stamme aus ihrer Gegend.« »Und wo ist das?« »Nicht weit von dort, wo Sie sind«, sagte Cunningham. »Ich glaube, der Ort heißt Renupur – vielleicht sind Sie auf dem Weg hierher durchgefahren.« »Aber ja«, sagte Farley. »Auf der Strecke nach Kalkutta kam ich durch Renupur.« 137
Farley wollte gerade nach dem Namen des Assistenten fra gen, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er stand auf und sah der Frau namens Mangala direkt in die Augen. Sie funkelte ihn durch den Raum hinweg an, und die nackte Wut in ihrem Blick ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Im Hinausge hen bemerkte er, daß sie sich im Flüsterton mit dem jungen Assistenten beriet. Farley hatte kaum das Bambusdickicht vor dem Labor er reicht, als er schnelle Schritte hinter sich hörte. Sekunden später holte der Assistent ihn ein und erkundigte sich in höfli chem, fast beschwörendem Ton, wann genau er am nächsten Tag zu kommen gedenke. Um den Überraschungseffekt nicht zu verspielen, antwortete Farley unverbindlich: »Ich komme, wenn ich gerade in der Nähe bin. Mein Eintreffen braucht Sie nicht von Ihren täglichen Pflichten abzuhalten.« Damit wandte er dem niedergeschlagenen Assistenten den Rücken zu und ging davon. Ohne einen triftigen Grund dafür anführen zu können, ver brachte Farley einen Großteil der Nacht im Gebet. Doch konnte er nicht in Worte fassen, was ihm begegnet war und warum er es fürchtete. Und das wiederum bereitete ihm wirkliche Angst – daß er nicht beim Namen nennen konnte, was, wie er wußte, ihm zwingend bevorstand. Den ganzen Morgen blieb er in seinem Zimmer, rührte weder Essen noch Trinken an und ging erst weit nach Mittag hinaus. Daher war es wiederum spätnachmittags, bis er beim Hospi tal ankam. Anders als am Tag zuvor war der Himmel nun jedoch grau und bewölkt, und ein starker Wind blies über den Paradeplatz. Auf dem Weg zum Labor hatte Farley das Gefühl, als rege sich etwas in den Bambusbüscheln, die es vom Hospi tal trennten. Und wahrhaftig, als er in das Dickicht trat, sah er Schatten vor sich auf dem Pfad: drei verhüllte Gestalten, die langsam und schwerfällig auf das Labor zusteuerten. Eine böse Vorahnung ließ Farley stehenbleiben, dann faßte er sich jedoch 138
und ging weiter. Als er bis auf wenige Meter an die Gestalten herangekommen war, erkannte er in der kleinen Gruppe einen Mann, der ein Lendentuch trug, und eine Frau im Sari. Beide stützten eine weitere, fast bewegungsunfähige menschliche Gestalt. Er näherte sich und klimperte mit seiner Uhrkette, um sich bemerkbar zu machen. Sie blieben stehen und wandten sich zu ihm um. Farleys Blick richtete sich sofort auf die Gestalt zwischen ihnen. Es war ein Mann, ob jung oder mittleren Alters, war unmöglich zu sagen, denn das Gesicht unter der Kapuze war unbeschreiblich entstellt. Von den nach oben verdrehten Augen war nur das Weiße zu sehen, die Haut erschien fleckig, mit Papeln übersät, die Zähne in dem offenen, sabbernden Mund standen so stark nach innen, als seien sie ihm eingeschlagen worden. Farley hatte den Mann nur kurz gemustert, doch sein durch die monatelange Praxis in Barich geschärfter diagnosti scher Blick sagte ihm sofort, daß der Mann sich im letzten Stadium einer syphilitischen Demenz befand. Von Mitleid überwältigt, streckte Farley dem Elenden hilf reich eine Hand entgegen. Doch kaum hatten seine Begleiter ihn erblickt, als sie auch schon davonhasteten und mit dem Dunkel verschmolzen. Farley starrte ihnen nach und ging dann dem Pfad entlang zum Labor. Einige Meter vor dem Bungalow drang ein unerwarteter Klang an sein Ohr: ein leiser, einstimmiger Gesang aus vielen Kehlen. Er ging langsamer und hörte aufmerksam hin. Bald wurde ihm klar, daß der Klang nicht vom Bungalow kam, sondern aus einer anderen Richtung. Farley spähte aufmerksam durch Bäume und Bambusbüschel und sah schließlich, daß sich einige Menschen um ein nahe gelegenes, niedriges Nebenge bäude versammelt hatten. Sie hockten im Kreis um ein Feuer herum und sangen zur Begleitung von kleinen Messingzim beln, als stünde ein Ritual oder eine Zeremonie bevor. Neugierig geworden, eilte er auf das Nebengebäude zu, doch 139
da flog die Eingangstür des Labors auf, und der junge Assistent kam herausgelaufen. Er begrüßte Farley überschwenglich, nur um ihn rasch in das Haus zu führen. Als er gerade das Labor betreten wollte, bemerkte Farley, daß in einem angrenzenden Vorzimmer einige Unruhe herrsch te. Der Assistent versuchte ihn schnell daran vorbeizuziehen, doch Farley schlurfte absichtlich langsam und konnte so einen raschen Blick in den Raum werfen. Die Szene, die sich ihm bot, war so ungeheuerlich, daß er sich widerstandslos von seinem Führer in das Labor geleiten ließ. Was er sah, war folgendes: Die Frau namens Mangala saß an der gegenüberliegenden Wand auf einem niedrigen Diwan, und zwar allein, in Herrscherhaltung wie auf einem Thron. Neben ihr standen mehrere kleine Bambuskäfige mit jeweils einer Taube darin. Es waren jedoch nicht die Vögel an sich, sondern ihr Zustand, der ihn verblüffte. Zusammengesunken und zitternd lagen sie in ihren Käfigen am Boden und waren offen sichtlich dem Tode nahe. Das war noch nicht alles. Auf dem Boden hatten sich beim Diwan um die Füße der Frau etwa ein halbes Dutzend Men schen in diversen unterwürfigen Haltungen geschart. Manche berührten ihre Füße, andere lagen demütig am Boden. Zwei oder drei andere kauerten, in Decken gehüllt, an der Wand. Obwohl Farley nur im Vorübergehen ihre entstellten, blicklo sen Gesichter gesehen hatte, erkannte er sofort, daß auch sie, wie der Mann im Bambusdickicht, Syphilitiker im letzten Stadium jener furchtbaren Krankheit waren. Nun begann der junge Assistent mit der gleichen Farce wie am Vortag, brachte Glasplatten und eilte durch den Raum, als wolle er ihm zu einer außerordentlichen Entdeckung verhelfen. Farley erhob keine Einwände. Er prüfte mechanisch die Glas platten, die man ihm vorlegte, während seine Gedanken noch immer um das höchst seltsame Bild kreisten, das sich ihm draußen geboten hatte. 140
So befremdlich die Szenen auch wirken mochten, ein Aspekt davon war Farley aus eigener Erfahrung wohlvertraut. Mehr als einmal hatte er sich in Barich völlig verzweifelten, furchterfüll ten Familien gegenübergesehen, die einen tödlich erkrankten Verwandten durch Wälder und über Berge bis zur Klinik geschleppt hatten und dort nun ihre letzte Rettung sahen. Er kannte die Gesichter dieser Menschen, das beschwörende Flehen ihrer Stimmen, den flackernden Hoffnungsschimmer in ihren Augen. Sein Gewissen befahl ihm, hinauszugehen und ihnen zu raten, ihre Hoffnungen nicht an die Quacksalberei dieser Frau zu verschwenden – das Lügengespinst aufzudek ken, mit dem sie und ihre Lakaien diese einfachen Leute täuschten. Er wußte, es war seine Pflicht, ihnen zu sagen, daß die Menschheit keine Heilung für ihren Zustand kannte und diese falschen Propheten sie um ihr Geld brachten, das sie doch selbst so nötig brauchten. Doch er blieb, wo er war, und hoffte, mit einiger Geduld die Sache bis zum Ende durchzustehen. Minute um Minute, Stunde um Stunde blickte er stur in das Mikroskop und tat, als unter suche er alles gründlich, was ihm vorgelegt wurde. Im Lauf der Zeit spürte er die wachsende Ungeduld um sich her; er hörte eilige Schritte, fühlte Blicke, die sich in seinen Rücken bohrten und ihn zum Gehen drängten, damit sie mit dem weitermachen konnten, was sie geplant hatten. Doch er blieb an seinem Platz, still und unbeweglich, allem Anschein nach ganz von seinen Glasplatten in Anspruch genommen. Schließlich, als das Tageslicht schon fast verdämmert war, rief Farley: »Diener, seien Sie so freundlich und zünden Sie die Gaslampen an. Ich habe noch eine Menge zu tun.« Daraufhin machte der Assistent ihm Vorhaltungen: »Aber Sir, es ist doch nichts da, Sie werden nichts sehen, Sie ver schwenden nur Ihre Zeit, ohne jeden Grund.« Auf genau diesen Moment hatte Farley gehofft und gewartet. Nun sagte er mit erhobener Stimme: »Hör mir gut zu: Ich 141
werde dieses Labor nicht verlassen, bis ich die Transformatio nen gesehen habe, die Laveran beschreibt. Ich bin bereit, nötigenfalls die ganze Nacht hier zu verbringen. Ich bleibe da, solange es die Sache erfordert.« Damit beugte er sich wieder über das Mikroskop. Mittlerwei le hatte er jedoch in weiser Voraussicht erneut das Wasserglas vor sich hingestellt und sah nun aus den Augenwinkeln heraus, wie der Assistent sich einen Satz leerer Glasplatten schnappte und in das Vorzimmer schlüpfte. Sobald er draußen war, schritt Farley leise durch das Labor. Flach an die Wand gepreßt, schlich er zur Tür, bis er eine Position gefunden hatte, aus der er in das Vorzimmer blicken konnte, ohne selbst entdeckt zu werden. Farley glaubte, auf alles gefaßt zu sein, doch was er nun sah, traf ihn unvorbereitet. Zunächst näherte sich der Assistent der Frau namens Mangala, die immer noch auf ihrem Diwan thronte, und berührte mit der Stirn ihre Füße. Ganz in der Manier eines Höflings oder Anhängers flüsterte er ihr sodann etwas zu. Sie nickte zustimmend und nahm ihm die leeren Glasplatten ab. Als sie nach den Vogelkäfigen griff, ließ sie ihre Hand nacheinander auf jedem der Vögel verweilen, als sei sie noch unentschieden. Dann kam sie offenbar zu einem Entschluß. Sie griff in einen Käfig und nahm einen der zitternden Vögel auf ihren Schoß. Die Hände darüber gefaltet, begann sie den Mund zu bewegen wie bei einem leisen Gebet. Plötz lich tauchte ein Skalpell in ihrer rechten Hand auf. Sie hielt den Vogel von sich weg und köpfte ihn mit einer einzigen schnel len Handbewegung. Sobald der Blutfluß nachließ, ergriff sie die leeren Glasplatten, fuhr damit über den abgetrennten Hals der toten Taube und händigte sie dem Assistenten aus. Farley war geistesgegenwärtig genug, schnell durch den Raum zu seinem Mikroskop zurückzukehren. Er saß kaum, da kam der junge Mann auch schon herein. »Bitte sehen Sie sich diese an, Sir«, sagte er mit breitem Lächeln. »Vielleicht haben 142
Sie nun endlich Erfolg mit Ihrer Suche.« Farley drehte die Glasplatten in der Hand um und sagte: »Aber diese hier sind nicht korrekt eingefärbt. Das Blut darauf ist ja noch frisch.« »Ja, Sir«, sagte der Assistent beiläufig. »Vielleicht ist das, was Sie suchen, nur in frischen Blutproben zu sehen.« Farley legte die Glasplatte unter das Mikroskop und blickte hinein. Zunächst sah er nichts Ungewöhnliches – nichts, was ihm beispielsweise angezeigt hätte, daß dieses Exponat von einer Taube stammte. Er bemerkte die vertrauten Pigmentkörn chen. Doch plötzlich sah er eine Bewegung. Unter seinen Augen begannen amöbische Formen sich zu winden und zu regen, sich wellenförmig langsam über die Glasfläche zu schieben. Plötzlich gerieten sie in heftige Bewegung und begannen sich aufzulösen. In diesem Moment sah er, wie Laverans »Ruten« erschienen, zu Hunderten: winzige zylindri sche Gebilde, deren spitz zulaufende Köpfe sich durch das blutige Miasma bohrten. Farley begann der Schweiß von der Stirn zu tropfen, während er zusah, wie die Gebilde mit ihren Tentakeln sich in verzwei felter Suche dahinschlängelten, ringelten und wanden. Sein Atem ging schwer, ihm war plötzlich schwindlig. Er richtete sich keuchend auf, immer noch den Anblick dieser eigensinnig zappelnden Gebilde vor Augen. Sein Blick schweifte zum Fenster und entdeckte dort, ans Glas gepreßt, eine Reihe von Gesichtern, die ihn beobachteten, wie er sich in seinem Stuhl wand und den Schweiß von der Stirn wischte. Sein Blick fiel auf Mangala; sie stand vor allen anderen, starrte ihn an und lächelte vor sich hin. In der Hand hielt sie, für jedermann sichtbar, den Rumpf des enthaupteten Vogels, aus dessen grausiger Öffnung noch immer Blut herabtropfte. »Sag ihm«, sprach die Frau mit einem spöttischen Lächeln, »sag ihm, was er da sieht, ist das Glied der Kreatur, das in den Körper seiner Partnerin eindringt und das tut, was Männern 143
und Frauen zu tun bestimmt ist …« Und hier, in diesem Moment der Offenbarung, der deutlich macht, daß Farley bereits zu der Schlußfolgerung gelangt war, die seinen früheren Mitarbeiter berühmt machen sollte, endet der Bericht. Farley verlor nun endgültig die Fassung, schleu derte der Frau die Glasplatten entgegen und machte sich Hals über Kopf davon. Bevor er den Brief am nächsten Morgen frankierte, fügte Farley jedoch noch eine kurze handschriftliche Notiz an: »In aller Eile: viele meiner Befürchtungen haben sich in den letzten Stunden bestätigt. Kurz vor Morgengrauen klopfte es an meine Tür. Es war Cunninghams junger Assistent. Er sprach zu mir – ach, von so vielem –, ich werde Ihnen zu gegebener Zeit alles berichten. Gegenwärtig nur soviel: alles ist anders, als es erscheint – ein Phantom seiner selbst. Der junge Mann ver sprach, mir alles zu enthüllen, wenn ich ihn an seinen Geburts ort begleite. Glücklicherweise ist der Platz, von dem er sprach, nicht weit von meiner Klinik entfernt. Wir reisen morgen ab. Sobald ich mehr weiß, lieber Freund, schreibe ich erneut und ausführlicher …« Doch Elijah Farley kam nie in Barich an; er verschwand unterwegs und wurde nie wieder gesehen. Die Polizei ermittel te, daß er wie geplant tatsächlich den Zug ab Sealdah genom men hatte, jedoch vor seinem Ziel ausgestiegen war – bei einer abgelegenen, wenig frequentierten Station namens Renupur und in schwerem Monsunregen. Der späteren Darstellung eines Schaffners zufolge hatte ein junger Mann sein Gepäck getra gen. Plötzlich begann Ava zu piepsen: Rest nicht zu entziffern, Fortsetzung unmöglich …
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Zweiundzwanzig Murugan konnte nicht einschlafen. In Schweiß gebadet lag er wach unter dem Moskitonetz und sah zu, wie der Deckenventilator die schwere Monsunluft durchschnitt. Seine kurzen Flügel blitzten mit einschläfernder Monotonie in dem dünnen Lichtspalt auf, der durch die offen stehende Balkontür drang. Die Laken hatten sich um seine Taille zu einem feuchten, schweißgetränken Klumpen zusam mengeballt. Er zog sein Unterhemd aus, rollte es zusammen und warf es ins Zimmer. Bis auf die baumwollenen Boxer shorts war er jetzt nackt. Der Generator bei der Hochzeitsfeier weiter unten an der Straße dröhnte immer noch. Die Musik schien sogar lauter geworden zu sein. Doch trotz all des Lärms vernahm er deut lich, wie die Moskitos geduldig das Bett umsummten, nach Öffnungen suchten und sich aufgeregt zusammenrotteten, sobald eine Hand oder ein Fuß das Gewebe streifte. Bald konnte er nicht mehr sagen, ob das Summen innerhalb oder außerhalb des Netzes ertönte – ob das Prickeln in seinen Gliedern von ihren Attacken herrührte oder von den klammen Bettlaken, die sich an seiner Haut rieben. Er streckte sich flach auf der Matratze aus und versuchte stillzuliegen. Arme und Beine von sich gespreizt, wartete er – um herauszufinden, ob sie wirklich innerhalb des Netzes waren, ob seine gereizte Haut ihre Stiche noch wahrnahm. Es war seltsam, so ganz offen auf den feuchten Laken dazu liegen, in jener elementaren Haltung der Erwartung, der Um armung, der Sehnsucht. Als er auf seinen flach ausgestreckten Körper blickte, konnte er nicht sicher sagen, ob er darauf wartete, daß sie sich ihm zeigten, oder ob nicht vielmehr er sich ihnen zeigte – sich in den minutiösen Einzelheiten präsen tierte, die nur sie in ihrer Winzigkeit sahen und verstanden, weil nur sie Augen hatten, die nicht das Ganze erfaßten, son 145
dern die Teile in all ihrer Besonderheit. Unwillkürlich nahm er die Schultern zurück, bog das Kreuz durch, bot sich dar und wartete gespannt, wo sie ihn wohl zuerst berührten, wo er das erste leise Brennen ihrer Stiche spüren würde: auf Brust oder Bauch, am Unterarmmuskel oder in der rissigen Haut an seinem Ellbogen. Der Ventilator verschwamm, das Moskitonetz löste sich in einen milchigen Nebel auf. Er schwebte nun außerhalb und sah hinein, auf Menschen, die er kannte, gut kannte, wenn auch nur aus Büchern und Zeitungen. Und dann war er wieder drin, im Netz, als einer von ihnen; er lag nackt und bloß auf einem harten Bettgestell im Krankenhaus und sah, wie der englische Arzt ein Reagenzglas voller Moskitos im Netz freiließ. Seine Faust umklammerte noch die Münzen, die er am Tor des Krankenhauses bekommen hatte. Er hielt sie ganz fest und genoß das beruhigende Gefühl, sie in der Hand zu haben. Sie waren so kühl, so kantig und hart, sie machten alles so einfach und sauber: für eine Handvoll Münzen, eine Rupie, gab er das Ding, das in seinem Blut lebte, dem Doktor in Verwahrung. Er sah jetzt Gesichter rund um sein Bett, hinter dem Schleier des Moskitonetzes, die sich leicht wiegten wie SchilfrohrGesichter, die ihn beobachteten, seinen Körper studierten, der so aufdringlich nackt dort lag. Es waren Gesichter, die er kannte oder wiedererkannte: eine grauhaarige Frau, die ihn durch funkelnde Brillengläser anlächelte, ein zahnlückiger Junge, der grinsend das Bett umrundete, ein alter Mann mit Tränen in den Augen, der ihn aus dem Dunkel anstarrte, eine schmale junge Frau, die ihre Freundin bei der Hand hielt. Sie umstanden mit besorgten Mienen sein Bett wie Krankenschwe stern und Assistenzärzte, die darauf warteten, daß er in den Schlaf der Betäubung sank. Und nun erscheint der bärtige Engländer erneut. Er trägt seinen weißen Kittel, raucht eine Zigarre und ist mit einem halben Dutzend Reagenzgläser bewaffnet. Er hält ein kleines 146
Schmetterlingsnetz herein, zieht es wieder hinaus und fängt geschickt einen vollgesogenen Moskito in einem Reagenzglas ein. Die Öffnung verschließt er mit dem Daumen, um den er ein Taschentuch gewickelt hat. Er hält das Röhrchen hoch und zeigt es den anderen, die ihm begeistert applaudieren. Der Engländer nimmt einen tiefen Zug aus seiner Zigarre, bläst in das Reagenzglas und tötet das Insekt, dieses winzige sirrende Geschöpf, das sein Blut in sich trägt. Der Arzt hält es hoch und zeigt es den anderen, die gierig danach greifen. Sie wollen mit eigenen Augen sehen, was aus seinem Fleisch ans Tageslicht kam. Vor lauter Eifer entgleitet das Röhrchen ihren Fingern, es fällt zu Boden, zerbricht und erfüllt den Raum mit leisem Klirren. Plötzlich fuhr Murugan mit schweißüberströmtem Gesicht hoch. Er wußte nicht, ob er träumte. Im Netz wimmelte es von Moskitos. Er sah sie wie Sonnenstäubchen in dem schmalen Lichtstreifen tanzen, der sein Bett durchschnitt. Sein ganzer Körper glühte, er war mit Stichen förmlich übersät. Im Schlaf hatte er sich gekratzt; er sah Blut an seinen Fingernägeln und auf den Bettlaken. Wild weiterreibend stieg er aus dem Bett und ging im Zim mer umher. Die Luft war schwer von seinem eigenen Schweiß geruch. Er öffnete die Tür und trat auf den Balkon. Die Straße unter ihm war jetzt leer, doch der Generator in dem Gebäude weiter vorn lief immer noch. Der Bogen über dem Eingang zu der Hochzeitsgesellschaft erschien heller denn je und beleuch tete die ganze Straße. Gruppen von Arbeitern rannten hinein und hinaus, ihre Bambuskarren beladen mit Stapeln von Klappstühlen und Tischen. Plötzlich schoß mit quietschenden Reifen ein Taxi um die Ecke der Rawdon Street und hielt bei Nr. 3, am Tor der alten Villa. Eine Frau in einem Sari stieg aus. Aus der Entfernung konnte Murugan ihr Gesicht nicht erkennen, doch im Licht des Hochzeitsbogens erhaschte er einen Blick auf eine weiße 147
Strähne, die sich durch ihr Haar zog. Sie nahm einen Schlüssel aus der Tasche, schloß das Tor auf und ging hinein. Murugan wartete einen Augenblick, um zu sehen, ob sie wieder herauskäme, und ging dann zurück ins Schlafzimmer. Schon mit einem Fuß im Bett, hörte er irgendwo ganz in der Nähe eine Tür leise zufallen. Er stand wieder auf und steckte den Kopf in den Flur. Die Wohnung war dunkel und still. Er nahm eine Taschenlampe und ging durch das Wohnzimmer zum Schlafraum von Mrs. Aratounian. Neben der Tür kniete er sich hin und legte sein Ohr an eine Ritze. Von drinnen hörte er ein leises, rhythmisches Geräusch wie leichtes Schnarchen – möglicherweise auch ein Ventilator. Es war schwer zu sagen. Murugan zögerte und erwog nachzuschauen, ob mit Mrs. Aratounian alles in Ordnung war. Er entschied sich dagegen und ging auf Zehenspitzen rasch zurück in sein Zimmer. Auf der Türschwelle verspürte er einen scharfen, stechenden Schmerz in seinem rechten Fuß. Leise fluchend bückte er sich, um nachzusehen. In seiner Ferse war eine kleine Schnittwunde. Sie stammte von einem spitzen Gegenstand, der am Boden lag und im schwachen Licht glitzerte. Er hob ihn auf und betrachtete ihn. Es war eine gut zwei Zentimeter lange dünne Glasscherbe, wahrscheinlich von irgendeinem Röhrchen.
Dreiundzwanzig Es war nach eins, als Sonali beschloß, Romen suchen zu gehen. Sie fand keine Ruhe, und an Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Glücklicherweise kam genau in diesem Moment einer ihrer Nachbarn von einer Party im Taxi nach Hause. Sonali schnapp te ihre Handtasche, lief hinunter und sprang hinein, ohne 148
überhaupt nachzudenken, wo sie hinwollte. Einer Eingebung folgend und in Erinnerung an Romens Worte, die der Portier am Tor des Wicket-Clubs mitgehört hatte, befahl sie dem Chauffeur, zur Robinson Street zu fahren. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Romen dort um diese späte Stunde vorhaben mochte. Dennoch hatte sie, als das Taxi am Tor des alten Hauses hielt, das unerklärliche Gefühl, Romen dort zu finden. Glücklicherweise hatte er vor ein paar Tagen einen Satz Schlüssel in ihrer Wohnung liegenlassen. Sie hatte sie in ihre Handtasche gelegt und vergessen, sie zurück zugeben. Sie fand den passenden Schlüssel für das Tor, trat ein und wußte zunächst nicht weiter. Schließlich ging sie über den Kiesweg bis zu dem Säulenvorbau und schaute durch die Tür hinein. Drinnen war es stockdunkel, sie konnte nicht sehr weit sehen. Die Hände um den Mund gewölbt, rief sie: »Romen, bist du hier?« Es überraschte sie nicht, daß keine Antwort kam. Nebenan machte ein Generator furchtbaren Lärm. Ihre eigene Stimme war kaum zu hören. In ihrer Handtasche hatte sie, für den Fall, daß der Strom ausfiel, stets eine kleine Taschenlampe dabei. Sie nahm sie heraus und leuchtete damit in die große Halle vor ihr. Der Strahl kreiste langsam durch das Dunkel und fiel auf unordent lich gestapelte Matratzen und verbeulte Küchenutensilien. Vor einigen Monaten hatte Romen, voller Stolz auf seine Neuerwerbung, Sonali das Haus einmal gezeigt. Damals war die Halle voller Menschen gewesen, die kochten, aßen, schlie fen und ihre Kinder fütterten. Der ganze Bautrupp lebte in dem entkernten Haus. Sie stammten aus Nepal, insgesamt etwa dreißig Leute, die alten Frauen nicht mitgezählt, die man zum Kinderhüten mitgenommen hatte. Sie kochten auf einem gepflasterten Hinterhof und schliefen in den Hallen oder unter dem Säulenvorbau, wo sie eben Platz für ihre Bettgestelle und 149
Matratzen fanden. Sie waren alle miteinander verwandt, hatte Romen ihr erzählt: Söhne, Enkel, Schwiegertöchter, Mütter, Tanten – ein ganzes Dorf war hierhergezogen. Sie sah sich noch einmal um und starrte auf die unheimlichen Schatten, die durch das Dämmerlicht der Halle glitten. Ihre Habseligkeiten waren alle da, genau wie sie sie in Erinnerung hatte, doch sie selbst waren wie vom Erdboden verschluckt. Sie überschritt die Schwelle und tat ein paar zögernde Schrit te in die Halle hinein. Dann drang ganz schwach ein seltsamer Geruch zu ihr, und sie blieb sofort stehen. Zuerst roch es nach Rauch, und sie verspürte einen Moment lang Panik, irgendwo im Gebäude könne ein Feuer ausgebrochen sein. Sie schnup perte erneut und erkannte verwundert den unverwechselbaren Duft von Räucherstäbchen, den süßen, beißenden Geruch von brennendem Kampfer. Er trieb von irgendwo weiter hinten in die Halle herein. Sie ging ein paar Schritte weiter in die Dunkelheit hinein, und nun, nachdem sie sich an das dröhnende Maschinenge räusch nebenan gewöhnt hatte, drang ein anderer Klang an ihr Ohr: ein hohler, rhythmischer Ton, der neben dem hämmernden Generator kaum zu vernehmen war. Es klang wie die Trommeln bei großen religiösen Festen und Feiertagen, an denen die ganze Stadt von ihrem Dröhnen widerhallte. Der Klang schwoll an, als Sonali sich der prächtigen, impo santen Treppe im rückwärtigen Teil der Halle näherte. Plötz lich sah sie das geschwungene Geländer vor sich, dessen geborstene, rissige Stäbe schon in Rauch gehüllt waren. Sie leuchtete mit der Taschenlampe hinauf und sah, daß der Rauch von oben durch den Treppenschacht herabwallte. Er umgab sie in dichten Schwaden und zerstreute den Strahl ihrer Lampe zu einem schwachen milchigweißen Schein. Die Treppe war verrostet und entblättert. Bei ihrem letzten Besuch hier hatten die Arbeiter gerade damit begonnen, sie bis auf das Stahlgerüst abzutragen, um sie dann wieder in ihrer 150
einstigen Pracht erstehen zu lassen: herrlich geschwungen, mit Mahagoniholz und schmiedeeisernem Geländer. »Die Kon struktion ist noch stabil«, hatte Romen zu ihr gesagt. Sie war ihm vorsichtig von einem Tritt zum nächsten gefolgt und hatte sich beglückwünscht, ohne Straucheln oben angelangt zu sein. Jetzt wurde ihr mulmig zumute, als sie die Treppe hinaufblick te, die sich wie eine riesige Kletterpflanze in die Rauchschwa den emporwand. Sie rieb ihre tränenden Augen. Dann jedoch griff sie entschlossen nach dem Geländer und zog sich ein paar Stufen hinauf. Von einer Stahlschiene aus leuchtete sie mit der Taschen lampe voraus, bis ihr Schein ein paar Stufen weiter oben auf ein rostiges Metallstück fiel, das unter einer verfaulten Holz planke zum Vorschein kam. Sie erinnerte sich jetzt, daß Romen sie dazu angehalten hatte, nicht auf das Holz, sondern nur auf den Stahlrahmen zu treten. Sie beugte sich vor und sprang. Ihr Fuß glitt ab, doch sie konnte sich gerade noch am Geländer festhalten. Sie versuchte, nicht nach unten zu sehen, schloß die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Die Taschenlampe zwischen den Zähnen, kroch sie auf Händen und Füßen bis zum nächsten sicheren Tritt hinauf. Die folgenden Schritte, um die Biegung der Treppe herum, bewältigte sie auf die gleiche Weise. Nach einigen weiteren Stufen hielt sie inne, um wieder zu Atem zu kommen, und leuchtete mit der Ta schenlampe nach vorn. Das obere Ende der Treppe war nur noch ein paar Meter entfernt. Das Trommeln schien ganz aus der Nähe zu kommen; sie spürte, wie das Metall unter ihren Händen und Füßen im Rhythmus vibrierte. Als ihre Hand den Treppenabsatz erreichte, nahm sie die Taschenlampe aus dem Mund und legte sie auf ein Sims. Sie hievte sich hinauf und sank auf den Dielen zusammen. Das Trommeln umgab sie jetzt von allen Seiten, so laut und nah, daß sie nicht bestimmen konnte, aus welcher Richtung es eigentlich kam. Als sie sich umsehen wollte, streifte ihr Sari 151
die Taschenlampe. Sie rollte ein kurzes Stück und fiel vom Rand des Treppenabsatzes hinab. Sonali sah, wie sie durch den Treppenschacht wirbelte und ihr Schein in der Halle kreiste, bis sie zu Boden krachte und verlosch. Ein Schluchzen unterdrückend, setzte sie sich auf. Sie begann, zur Orientierung die Dielen um sich herum abzutasten, drehte sich dabei einmal um sich selbst und klopfte mit den Händen auf das rissige Holz. Dann stellte sie plötzlich fest, daß sie nicht mehr wußte, in welche Richtung sie schaute – ob zur Treppe oder von ihr weg. Sie hatte völlig die Orientierung verloren. Etwas schnürte ihr die Brust zusammen. Wenn sie noch län ger sitzenblieb und sinnlos herumfuchtelte, verschwitzt, von Rauch umgeben und vom Lärm der Trommeln betäubt, dann würde sie in Panik verfallen, soviel wußte sie. Sie stand auf und sah irgendwo vor sich einen schwachen orangefarbenen Schein inmitten der kreiselnden Rauchwolken. Nach einem vorsichtigen Schritt darauf zu ließ sie sich auf Hände und Knie nieder. Sie wagte nicht, über den verfaulten Boden zu gehen und begann statt dessen zu kriechen. Die Augen gegen den beißenden Rauch zusammengekniffen, bewegte sie sich Zenti meter um Zentimeter auf den Lichtschein zu. Nach einigen Metern erkannte sie, daß das Licht aus einem Bogengang drang. Und plötzlich wußte sie, wo sie war: vor dem Eingang zum größten Raum des Hauses, einem riesigen holzgetäfelten Spiegelsaal, der einst als Empfangsraum gedient hatte. Romen hatte darauf bestanden, ihn ihr zu zeigen – für ihn war es das Prunkstück des Hauses, das er originalgetreu wie derherstellen wollte. Sie schob sich näher zu dem Bogengang hin. Gestalten be gannen in dem rauchgeschwängerten Licht vor ihr Gestalt anzunehmen. Sie saßen im Schneidersitz, mit dem Rücken zu ihr, am Boden und blickten in die andere Richtung. Zuerst sah sie nur ein paar Köpfe, dann mehr und immer mehr, bis der ganze Raum mit Menschen erfüllt schien. Sie sangen etwas, 152
und einige schlugen mit Trommeln den Takt dazu, während andere sie auf kleinen Handzimbeln begleiteten. Sie konnte sich nicht überwinden, weiter vorzudringen, doch gab es auch kein Zurück; niemals würde sie ohne die Taschen lampe nach unten finden. Dann erinnerte sie sich an etwas, das Romen ihr bei ihrem Besuch gezeigt hatte: im hinteren Teil des Empfangsraumes gab es eine kleine erhöhte Galerie, die Empore, wie Romen sie nannte. Er hatte sie hinaufgeführt, um ihr zu zeigen, wie riesig der Raum von dort oben wirkte. Sie versuchte, sich zu beruhigen und sich über mehrere Monate hinweg bis zu jenem Tag mit Romen zurückzuversetzen. Sie hatten die Galerie über eine schmale, steile, fast leiterähnliche Treppe erreicht. Sonali versuchte, sich vor Augen zu führen, wo diese Treppe war. Sie kroch etwa einen Meter vor und entdeckte rechterhand den Eingang zu einem kleinen Vorraum. Langsam schob sie sich weiter, bis sie auf gleicher Höhe mit dem Eingang war und hineinschauen konnte. In der gegenüberliegenden Ecke ent deckte sie die Öffnung, die zu der Galerie hinaufführte; sie leuchtete orange in dem samtenen Dunkel des Zimmers. Soweit sie feststellen konnte, war niemand in dem Vorraum. Sie glitt um die Ecke und zog sich hoch. Dann schob sie sich mit ausgestrecktem Arm an der Wand entlang, bis ihre Hand auf das kalte Metall der Trittleiter traf. Sie trat zurück und schaute in die Öffnung zur Galerie, die sich jetzt direkt über ihr befand. Es war nichts weiter zu sehen als der Widerschein eines flackernden, orangefarbenen Feuers in den Rauchwolken. Sie ergriff die Leiter und stieg rasch hinauf. Oben schlug ihr unvermittelt dichter Qualm ins Gesicht und drang in ihre Lunge. Um nicht zu husten, stopfte sie sich schnell einen Zipfel ihres Saris in den Mund. Sonali sah sich um. Die schmale, baufällig wirkende Galerie war leer. Sie zog sich ganz hinauf und ließ sich flach auf den Boden sinken. Der Rauch war hier noch dichter; er fing sich 153
unter der Decke und durchzog die Galerie in Schwaden. Sie senkte den Kopf und bedeckte die tränenden Augen mit ihrem Sari. Sie brannten jetzt so stark, daß sie sie jeweils nur ein paar Sekunden geöffnet halten konnte. Als der Schmerz etwas nachgelassen hatte, schob sie den Kopf bis zur Kante vor und blickte hinunter. Sie erspähte Dutzende von Köpfen, männliche und weibliche, junge und alte, dicht an dicht gereiht. Ihre Züge waren durch den Rauch und den flackernden Feuerschein kaum zu erkennen, doch entdeckte sie ein paar wettergegerbte nepalesische Gesichter, die ihr von ihrem letzten Besuch mit Romen vertraut erschie nen. Der Rest war ein seltsam zusammengewürfelter Haufen: Männer in geflickten langen Hüfttüchern, eine Handvoll stark geschminkter Frauen in billigen Nylonsaris, ein paar junge Studenten und mehrere höchst adrett wirkende Frauen aus der Mittelschicht – eine Mischung, die höchst ungewöhnlich war. Zum Schutz vor dem Rauch kniff Sonali die Augen zusam men und folgte den Blicken zum Feuer, das am anderen Ende des Raumes brannte: ein glutrotes Häufchen zerfallener Kohle in einem umfunktionierten, zerbeulten Zementtrog. Dann durchzuckte sie ein panischer Schreck: eines der Gesichter am Feuer kannte sie. Sie sah noch einmal hin – es war ein klapper dürrer Junge in einem T-Shirt. Sonali wurde schwindlig: kein Zweifel, das war der Junge, der die letzten Monate in ihrem Dienstbotenzimmer gewohnt hatte. Er lächelte und sagte gerade etwas zu der neben ihm sitzenden Person. Vorn war ein Fleck freigeblieben. Ab und zu langten der Junge und die anderen Umsitzenden hin und berührten etwas. Sonali konnte nicht sehen, was es war; mehrere dichtgedrängte Köpfe nahmen ihr die Sicht. Die Menge schloß sich eng um das, was dort lag. Alle hier Versammelten schienen auf diesen Punkt zu starren. Sonali schloß die brennenden Augen und ließ den Kopf auf den Boden sinken. Ihr Sari war durchnäßt, und sie konnte sich 154
kaum noch rühren. Der Boden schien sich unter ihr langsam zu drehen. Sie wußte, daß sie nahe daran war, das Bewußtsein zu verlieren. Dann entstand Unruhe in der Menge, und Sonali zwang sich, wieder hinunterzusehen. Eine Gestalt war aus den Schatten getreten: eine Frau unbestimmten Alters, sehr schlicht geklei det in einem frischgestärkten Sari und einem um das Haar geschlungenen weißen Tuch. Sie war klein und von matronen hafter Figur. Sie wirkte sehr vertraut; Sonali war sicher, daß sie sie irgendwoher kannte, jedoch seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Über ihrer Schulter hing eine Baumwolltasche, wie sie Col lege-Studenten tragen. In der linken Hand hielt sie einen Vogelkäfig aus Bambus. Sie setzte sich ans Feuer und stellte die Tasche und den Vogelkäfig neben sich ab. Mit schnellen, routinierten Bewegungen griff sie in die Tasche und nahm zwei Skalpelle sowie ein Paar Glasplatten heraus. Sie arrangierte die Platten und die Skalpelle vor sich auf einem weißen Stück Stoff und griff erneut in die Tasche. Nun holte sie eine kleine Tonfigur heraus und berührte damit ihre Stirn, bevor sie sie neben sich stellte. Dann legte sie ihre Hände auf das, was vor dem Feuer lag, und lächelte. Ihr Gesicht erstrahlte vor Freude. Mit erhobener Stimme sprach die Frau in archaischem, länd lichem Bengali zu der Menge: »Die Zeit ist da, betet, daß alles wohlgehen möge für unseren Laakhan, auch dieses Mal.« Plötzlich überkam Sonali eine furchtbare Vorahnung. Den Kopf so weit hoch gereckt, wie sie es nur wagen konnte, ohne entdeckt zu werden, schaute sie erneut zu der freien Stelle am Feuer. Diesmal erspähte sie einen Körper, der dort am Boden lag. Das Trommeln schwoll an; hell blitzte Metall auf, ein dünner Blutstrahl spritzte hoch und tropfte zischend auf das Feuer. Sonalis Kopf schlug zu Boden, und alles wurde dunkel. 155
TEIL 2
Der Tag danach Vierundzwanzig Frühmorgens um Viertel nach sieben war Urmila mit ihren Kräften fast am Ende. Sie stand in der Küche und mahlte Gewürze. Der Schweiß tropfte ihr vom Gesicht auf den fettbe spritzten Sari. Seit einer Stunde war sie bereits auf, hatte ihren Eltern Frühstück gemacht, die Küche geputzt, ihren Neffen und ihre Nichte gefüttert und gebadet sowie das Trikot gewaschen, das ihr Bruder nachmittags für sein Fußballspiel brauchte. Spätestens um acht Uhr mußte sie gehen, wenn sie es noch rechtzeitig zur Pressekonferenz im Great Eastern Hotel schaf fen wollte. Dabei war noch die Sache mit dem Fisch zu erledi gen, und es ließ sich kein Fischverkäufer blicken. Urmila sah aus dem Küchenfenster und versuchte abzuschät zen, wie lange sie bis zum Gariahat-Basar und zurück brauchen würde. Wenn nicht bald ein Wunder geschah, kam sie in arge Bedrängnis. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, zum Basar zu gehen, einen Fisch auszusuchen, zu feilschen und so weiter – schneller war es nicht zu machen. Die Wohnung lag im dritten Stock eines Hauses, das auf allen Seiten von anderen vielstöckigen Gebäuden umgeben war. Abgesehen vom Balkon war das Küchenfenster der einzige Teil der Wohnung, der einen Ausblick bot. Man über blickte von dort einen winzigen Ausschnitt der Stadt – die 156
zerklüftete, ausufernde Skyline des südlichen Kalkutta er streckte sich vom Park unten in Längsrichtung bis zum Hori zont. Der Blick fiel auf von Moder dunkel verfärbte Dächer, die sich im schmutzigen Licht eines tiefhängenden Monsun himmels verloren. Unten im Park war bereits das übliche halbe Dutzend Krik ketspiele in Gang. Sie hörte den dumpfen Aufschlag von Holz auf Leder und ermunternde Zurufe. In einer anderen Ecke des Parks schwang unter dem Wellblechdach eines BodybuildingCenters ein halbes Dutzend Männer eifrig Keulen und absol vierte Liegestützen. Weiter weg erwachte die RashBehari Avenue allmählich zur morgendlichen Rush-hour. Doch die Gehwege waren noch relativ leer; nur ein paar Kunden hasteten vom Gariahat-Basar durch die Abkürzung zurück. Gemüse bündel hingen oben aus ihren Nylontaschen heraus. Die Abkürzung zum Gariahat-Basar zweigte ein paar hundert Meter weiter von der Hauptstraße ab. Es war eine lange, schmale Gasse, aus der ein weitläufiges, altes Haus mit einer Kieszufahrt, einem Säulenvorbau und einem sorgfältig gepfleg ten Garten herausragte. Das Haus war von der Küche aus gut zu sehen. Urmilas Blick fiel oft darauf, wenn sie dort arbeitete. Es war das Wohnhaus von Romen Haldar. In diesem Moment klingelte es an der Tür. »Es läutet, Urmi«, rief ihre Mutter aus dem Schlafzimmer. »Hörst du nicht?« Ihr Vater studierte auf dem Balkon die Familienanzeigen in der Zeitung – eine seiner beliebten Morgenbeschäftigungen. Dabei las er sich die Meldungen laut vor und spuckte die Namen aus wie zerkaute Fischgräten. Er ließ die Zeitung auf die Knie sinken und sah auf. »Wer ist das?« rief er. »Schaut denn niemand nach?« Prompt drang die Stimme ihrer Schwägerin aus dem Schlaf zimmer: sie stillte ihr Baby und konnte nicht aufstehen. Urmi las älterer Bruder war schon mit dem Morgenzug fort, und ihr 157
jüngerer Bruder schnipste im Bad mit den Fingern und sang »Disco diwana«. Nun rief die Mutter mit ihrer sanftesten, einschmeichelndsten Stimme: »Schau nach, Urmi, es hat ja sonst niemand Zeit …« Ich hab hier zu tun! wollte sie schreien. Seht ihr denn nicht, daß ich zu tun habe und zusehen muß, alles fertigzukriegen, bevor ich zur Arbeit gehe …? Es läutete erneut, und nun kam ihr sechsjähriger Neffe in die Küche gelaufen und zog an ihrem Sari. »Mach auf, Urmipishi«, sang er. »Urmi-pishi-kirmi-pishi, mach auf, mach auf …« Sie knallte den schweren Stößel in die Mulde des von Gelb wurz und Chili buntgefärbten Mörsers und zwängte sich an ihrem Neffen vorbei, der flach ausgestreckt am Boden lag. Als sie vorbeiging, streckte der Junge die Hände aus und hielt sie unten am Sari fest. Sie zog ihn ein paar Schritte weit mit und versetzte dann seiner geballten Faust einen Klaps. Er brach in ein Wehgeheul aus und rannte jammernd ins Schlafzimmer seiner Eltern: »Sie hat mich geschlagen, sie hat mich geschlagen, kirmi-pishi hat mich geschlagen …« Als sie die Tür entriegelte, hörte Urmila ihre Schwägerin aufschreien: »Wie kannst du es wagen, meinen Sohn zu schla gen?« Sie riß die Tür auf und erblickte draußen einen jungen Mann mit einem großen zugedeckten Korb. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen; für einen Verkäufer wirkte er fast zu jung. Er trug ein Hüfttuch und ein verschmutztes T-Shirt. »Du Schlampe«, drang die Stimme durch die offene Tür zu Urmila. »Glaubst du, ich weiß nicht, was du treibst, so spät wie du jede Nacht heimkommst? Dir werde ich eine Lektion erteilen. Ich werde dich lehren, meine Kinder zu schlagen …« Urmila trat hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Vor Verlegenheit klang ihre Stimme schrill, als sie ihn anfuhr: »Was wollen Sie?« Der junge Mann grinste ihr vergnügt zu und entblößte dabei 158
eine große Lücke in seinen Vorderzähnen. Urmila fühlte sich plötzlich tödlich beschämt bei dem Gedanken, daß sie sich, provoziert von ihrer Schwägerin, in Gegenwart eines Fremden so hatte gehenlassen. Sie wischte mit dem Handrücken über die Stirn. Ihre Miene verzerrte sich, als das Gewürzpulver zu wirken begann und eine brennende Spur über die Stirn zog. Rasch rieb sie sich mit einem Zipfel ihres Saris die Augen. »Was wollen Sie?« fragte sie nochmals, etwas ruhiger als vorhin. Der junge Mann hatte sich neben den Korb gehockt. Wieder um lächelnd deckte er eine Schicht Papier und Plastikfolie ab und enthüllte eine Lage Fisch, die im frühen Morgenlicht silbrig glänzte. Er grinste. »Ich wollte nur fragen, ob du heute früh vielleicht Fisch brauchst, Schwesterchen«, sagte er. »Mehr nicht.«
Fünfundzwanzig »Ich habe dich noch nie hier gesehen«, sagte Urmila und kniete sich neben den Fischkorb. Aus reiner Gewohnheit begann sie die Fische zu prüfen. Sie klappte auch die Kiemen zurück, dabei war es ihr heute vollkommen gleichgültig, was sie kaufte und wieviel es kostete. Der junge Fischverkäufer lächelte ihr fröhlich zu und wiegte den Kopf. »Ich komme von jetzt an regelmäßig«, sagte er. »Kauf mir einen ab, und du wirst sehen: ich habe den besten Fisch auf dem ganzen Markt, frisch aus dem Wasser.« »So reden alle Fischverkäufer«, erwiderte Urmila. »Das hat gar nichts zu bedeuten.« Der Fischverkäufer wurde ärgerlich. »Wenn du mir nicht glaubst, dann geh und hör dich um«, sagte er. »Ich verkaufe an die besten Häuser. Kennst du die Villa von Romen Haldar in 159
der nächsten Gasse?« Urmila blickte auf und hob die Brauen. »Weißt du was«, sagte er stolz. »Sie kaufen all ihren Fisch bei mir. Nur bei mir: Geh hin und frag, wenn du willst.« Er griff in den Korb und schob ein paar Fische beiseite. »Hier, ich zeig dir was«, sagte er. »Siehst du den hier, dieses Prachtexemplar? Den habe ich für sie reserviert. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin. Hab ihnen gesagt, daß ich heute etwas ganz Besonderes für sie hätte.« »Ich nehme ihn«, sagte Urmila. Der Fischverkäufer schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er grinsend. »Den kann ich dir nicht geben, der ist für sie reser viert. Aber ich geb dir den da, der ist genauso schön – schau her.« Urmila nickte ihm mit gleichgültiger Miene zu. »Also gut«, sagte sie, »dann diesen da.« Sie wies ihn an, den Fisch zu zerteilen, und ging hinein, um ihre Geldbörse zu holen. Als sie zurückkam, wartete schon ein Päckchen auf sie: der Verkäufer hatte die Fischstücke einzeln in Papier eingewickelt und das Ganze in einen Plastikbeutel gesteckt. Urmila schnalzte ärgerlich mit der Zunge, als sie das Päck chen sah. »Du hättest ihn nicht einwickeln sollen«, sagte sie. Der Fischverkäufer murmelte eine Entschuldigung und zählte sein Geld nach. Urmila ging hinein. Ihr blieb kaum noch Zeit. Sie eilte in die Küche und kippte den Inhalt des Päckchens in das Spülbecken auf einen Plastikteller. Die Fischstücke plump sten heraus und verteilten sich im ganzen Becken. Urmila verzog das Gesicht: das Einwickelpapier hatte sich vollgeso gen. Als sie vorsichtig ein Fischstück berührte, blieb Papier an ihrer Fingerspitze kleben. Sie hatte Mühe, es abzustreifen; es war zu einer scheußlichen, klebrigen Masse geworden. Angeekelt die Nase rümpfend, warf sie einen raschen Blick aus dem Fenster. Auf der RashBehari Avenue drängten sich Busse und Minibusse, die dicke Qualmwolken ausspuckten. Ihr 160
blieb nur noch eine halbe Stunde, wenn sie rechtzeitig zur Pressekonferenz im Great Eastern Hotel sein wollte. Wie wild begann sie zu schrubben. Nach ein paar Minuten stellte sie fest, daß Schrubben die Sache nur verschlimmerte. Das Papier grub sich dadurch nämlich noch tiefer in die Fischstücke hinein. Völlig außer sich rang sie die Hände und schälte einen Papierfetzen von ihren Fingern. Es war dünnes, billiges Xerox-Papier, wie es massen haft im Kopierraum von Calcutta verwendet wurde. So endet es also, dachte sie, als Einwickelpapier für Fisch. Sie blickte erneut auf die Plastiktüte und sah, daß noch viel Papier drinsteckte. Ein paar Stücke hatte das Blut bisher nicht durchtränkt. Sie schüttelte das noch trockene Papier auf die Arbeitsfläche und strich ein Blatt mit dem Handrücken glatt. Es war eine großformatige Fotokopie eines Zeitungsblatts in sehr feinem, englischen Druck. Das Schriftbild wirkte altmo disch. Sie erkannte auf den ersten Blick, daß es von keiner der gegenwärtig in Kalkutta erscheinenden englischsprachigen Zeitungen stammen konnte. Sie räumte ein Regalbrett frei und breitete die Seite aus. Der Druck war so fein, daß sie ihn kaum lesen konnte. Sie machte Licht und versuchte es erneut. Instinktiv suchte sie am oberen Rand nach dem Namen der Zeitung. Dort stand in schöner Frakturschrift The Colonial Services Gazette und daneben das Datum »Kalkutta, 12. Januar 1898«. Die Seite war in acht Spalten mit Dutzenden von mehr oder weniger gleichlautenden Anzeigen unterteilt: »D. Attwater Esq. als bevollmächtigter Finanzbeamter nach Almora versetzt«, »Soundso verläßt seinen Posten bei den Hafenbehörden in Kalkutta und geht als stellvertretender Hafenmeister nach Singapur« und dergleichen. Urmila ging sie flüchtig durch. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum jemand sich die Mühe machte, ein solches Verzeichnis längst vergangener bürokrati scher Vorgänge zu kopieren. Sie wollte die Seite schon in den 161
Abfalleimer werfen, als sie bemerkte, daß eine Anzeige mit Tinte unterstrichen worden war. Mit zusammengekniffenen Augen las sie: »Urlaubsgenehmi gung für Oberstabsarzt D. D. Cunningham, Presidency General Hospital, Kalkutta, vom 10. bis 15. Januar …« Urmila warf einen raschen Blick auf die Uhr über dem Eß tisch. Sie hatte jetzt wirklich keine Sekunde mehr zu verlieren; wenn sie mit dem Fisch nicht in zehn Minuten fertig war, würde sie zu spät zur Pressekonferenz kommen. Sie wußte, daß sie sofort mit der Kocherei beginnen mußte. Doch statt dessen holte sie die beiden letzten Papierstücke aus der Plastiktüte. Die nächste Seite war noch seltsamer als die vorige. Es war die Kopie einer Namensliste unter einem kunstvoll gestalteten, ihr unbekannten Emblem. Sie hielt es ans Licht und las »SouthWestern Railways«. Darunter war handschriftlich vermerkt: »10. Januar 1898, Passagierliste, Abteil 8«. Es folgte eine Liste von Namen. Urmila ging sie schnell durch; es schienen briti sche Namen zu sein. Langsam buchstabierend, las sie ein paar davon laut vor: »Major Evelyn Urquhart, D. Craven, Esq., Sir Andrew Acton, CIE …« Dann bemerkte sie, daß ein Name ganz unten auf der Liste unterstrichen war: »C. C. Dunn, Esq«. Merkwürdig, dachte sie. Der andere Name hatte D. D. So undso gelautet. Sie machte sich nicht die Mühe, nachzusehen, sondern schob die Seite weg und breitete das letzte Blatt aus. Es war wieder die Kopie einer Seite der Colonial Services Gazette, und zwar vom 30. Januar 1898. Sie warf einen raschen Blick darauf: eine weitere lange Liste von Versetzungen, Urlaubsgenehmigungen und Neuanstellungen. Wiederum war eine der Anzeigen unterstrichen. Sie besagte: »Hiermit wird öffentlich mitgeteilt, daß Oberstabsarzt D. D. Cunningham bis zu seiner Pensionierung beurlaubt bleibt. Seine Position wird Stabsarzt Ronald Ross vom Indian Medical Service überneh 162
men.« »Hast du noch nicht mit Kochen angefangen, Urmi?« rief ihre Mutter aus dem Schlafzimmer. »Es ist schon spät.« Urmila fuhr zusammen. Sie war wütend, weil sie soviel Zeit damit vergeudet hatte, benutztes Kopierpapier zu lesen. Sie schnappte sich die Blätter vom Regal, fegte sie beiseite und eilte zum Spülbecken. Der eingewickelte Fisch war nur noch eine stinkende, klebri ge Matsche. Mit Mühe schaffte sie es, sich nicht in das Becken zu übergeben.
Sechsundzwanzig Plötzlich begann Urmila vor Zorn zu zittern. Sie spürte, daß sie kurz vor einem ihrer Wutanfälle stand, die sie manchmal überwältigten, wenn sie für einen Artikel recherchierte. Mitt lerweile war sie so außer sich, daß sie weder an die Zeit dachte noch an die Pressekonferenz im Great Eastern, weder an den Nachrichtenredakteur noch gar an den Minister für Kommuni kationswesen aus Delhi. Sie stopfte die Fischstücke zurück in die Plastiktüte und marschierte zur Tür. Im Hinausgehen schnappte sie sich die fotokopierten Seiten und knüllte sie in ihrer Faust zu einem Ball zusammen. Ihre Mutter war aus dem Schlafzimmer gekommen, um nachzusehen, was los war. Mit offenem Mund sah sie zu, wie Urmila in ihrem fettbespritzten Sari, eine Papierkugel und eine Tüte mit Fisch fest umklammert, aus der Wohnung stampfte. »Wo gehst du denn hin, Urmi?« rief sie. »Ich bringe diesen Fisch zurück«, sagte Urmila im Hinaus gehen. »Wenn wir den essen, werden wir alle sterben. Schau dir bloß dieses widerliche Einwickelpapier an. Der Mann muß ihn zurücknehmen. Ich habe mehr als hundert Rupien für diesen Fisch bezahlt. So lasse ich mich nicht übers Ohr hauen.« 163
Die Eingangstür führte auf einen schmalen, offenen Gang, von dem neben ihrer eigenen noch drei weitere Wohnungen abgingen. Sicher würde der Fischverkäufer auch bei den anderen Türen anklopfen, dachte Urmila. Er mußte draußen zu finden sein. Doch der offene Gang war leer. Sie blickte nach rechts und dann nach links: keine Spur von dem jungen Mann mit dem Fischkorb. Urmila stand einen Moment unschlüssig da und läutete dann bei der Nachbarwohnung. Einige Zeit später öffnete sich die Tür, und ein Mann mittleren Alters in Pyjamahosen und einem Baumwollunterhemd spähte mißtrauisch heraus. »Ja?« sagte er. »Was wollen Sie?« Für einen Augenblick fehlten Urmila die Worte. Eine lange Geschichte von Zänkereien und Beschwerden lag zwischen seiner und ihrer Familie. Sie versuchte zu lächeln und fragte: »Hat heute morgen ein Fischverkäufer bei Ihnen geklingelt? Ein junger Mann in einem T-Shirt und einem karierten Hüft tuch?« Der Mann musterte sie spöttisch. Seine Augen glitten lang sam von der Plastiktüte mit dem Fisch zu ihrem zerknitterten, von Gewürzpulver fleckigen Sari. Urmila ließ sich nicht beirren. »Haben Sie ihn gesehen?« fragte sie noch einmal. »Nein«, antwortete der Mann. »Wir waren noch im Bett, als Sie geläutet haben.« »Was?« fragte Urmila. »Der Fischverkäufer war also nicht hier? Der mit dem Korb …« »Haben Sie nicht gehört?« schnauzte der Mann. »Wie ich schon sagte, wir haben tief und fest geschlafen!« Er schlug ihr die Tür vor der Nase zu. Urmila lief eine Treppe höher in den vierten und letzten Stock des Gebäudes. Die Stockwerke waren hier alle gleich, jeweils mit vier identischen, nebeneinanderliegenden Wohnun gen an einem offenen Gang. Von dem Fischverkäufer war auch 164
im vierten Stock nichts zu sehen. Sie drehte sich um und stürmte wieder hinunter. Auf jedem Treppenabsatz hielt sie an und spähte den langen Gang in beiden Richtungen entlang. Soweit sie feststellen konnte, war der Mann nicht mehr im Haus. Sie überprüfte den Gang im Erdgeschoß zweimal und lief dann zu dem kleinen Betelnußstand an der Straße nahe dem Hauseingang. Der Besitzer des Stands saß im Schneidersitz auf der Theke und betete, bevor er sein Tagwerk begann. Sie mußte warten, bis er ein Auge öffnete. »Was ist denn das?« fragte er mit einem erstaunten Blick auf ihr zerzaustes Haar und ihren zerknitterten Nachtsari. »Was tust du in dieser Aufmachung auf der Straße?« Sie fragte nach dem Fischverkäufer, und er schüttelte den Kopf: »Nein, ich habe niemanden gesehen. Wie du siehst, bin ich gerade erst gekommen.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging die Straße hinun ter. »Wo willst du hin?« rief der Betelnußverkäufer ihr nach. »Ich lasse nicht zu, daß der Mann mich am hellichten Tag betrügt«, sagte sie. »Ich werde ihn finden und mein Geld zurückverlangen.« Der Betelnußverkäufer lachte spöttisch. »Gib’s auf«, sagte er. »Diese Händler sind viel zu gerissen für eine wie dich.« »Das werden wir ja sehen!« rief Urmila über die Schulter zurück. Auf RashBehari drängte sich die übliche morgendliche Men ge von Fußgängern. Manche eilten nach Lansdowne, andere Richtung Gariahat. Man drehte sich nach Urmila um, die mit geballten Fäusten dahinmarschierte. Müßiggänger, die am Geländer lehnten und bei der Straße hockten, ließen ein paar Pfiffe und höhnisches Gelächter hören. Urmila ging einfach weiter, ohne sich ihres schmutzigen Saris und der durchweich ten Fischtüte überhaupt bewußt zu sein. 165
Sie bog von RashBehari in eine Gasse ein und stand schneller als erwartet vor zwei hohen schmiedeeisernen Toren. Ein stattlicher Türhüter in Khakiuniform hielt Wache am Tor. Direkt über ihm war eine kunstvoll gemeißelte, marmorne Namenstafel tief in die Wand eingelassen. Sie trug in reichver zierten bengalischen Lettern den Namen »Romen Haldar«. Der Torwächter musterte sie mißtrauisch von oben bis unten. »In welcher Angelegenheit kommen Sie?« fragte er, stellte sich ihr in den Weg und schlug mit dem Stock an seinen Schenkel. Ohne sich aufhalten zu lassen, schob Urmila ihn beiseite. »Machen Sie sich darum keine Gedanken«, sagte sie. »Bleiben Sie, wo Sie sind, und kümmern Sie sich um Ihre eigenen Angelegenheiten.« Sie marschierte über die Zufahrt auf die überdachte Veranda zu, die in das Haus führte. Der Torwächter nahm die Verfol gung auf, fuchtelte wild mit seinem Stock und schrie: »Halt! Da dürfen Sie nicht hinein.« »Dann sagen Sie mir«, erwiderte Urmila angriffslustig, »ob heute der Fisch Verkäufer schon hiergewesen ist?« »Was für ein Fisch Verkäufer?« sagte der Torwächter. »Hierher kommen keine Fischverkäufer. Wissen Sie nicht, wem dieses Haus gehört?« »Doch«, sagte Urmila. Der Torwächter beschleunigte plötzlich seinen Schritt, über holte sie und versuchte den Zuweg zu blockieren. Doch Urmila war daran gewöhnt, sich an Türhütern und Sekretären vorbei zudrängen. Er war ihr in keinster Weise gewachsen. Völlig unbeeindruckt ging sie an ihm vorbei. Fluchend folgte er ihr. Das Geschrei des Torwächters war im Haus nicht unbemerkt geblieben. Ein ältlicher Mann erschien auf der Veranda. Er hielt einen Füller in der Hand und trug ein gestärktes, langes weißes Hemd und ein Lendentuch. »Was geht hier vor?« fragte er und spähte irritiert über die Zufahrt. Als er Urmila erblickte, runzelte er die Stirn. »Ja, was 166
gibt’s?« fragte er und musterte sie angewidert. »Was wollen Sie? Keine Termine heute – alle Termine sind abgesagt.« Urmila ignorierte ihn. »Ich möchte Mr. Romen Haldar spre chen«, sagte sie. Der Sekretär blickte sie über den Rand seiner Brille hinweg finster an. »In welcher Angelegenheit wollen Sie Mr. Haldar sprechen?« fragte er. »Ich möchte ihn nach einem Fischverkäufer fragen, der heute morgen bei mir geläutet hat«, antwortete Urmila herausfor dernd. Dem Sekretär fiel die Kinnlade herunter. »Ein Fischverkäu fer?« fragte er. »Was für ein Fischverkäufer?« »Ein junger Mann«, antwortete Urmila. Sie versuchte ihn zu beschreiben, konnte sich jedoch nur noch an sein ausgebleich tes T-Shirt und sein breites, zahnlückiges Grinsen erinnern. »Er liefert regelmäßig Fisch hierher«, sagte sie. »Er war zu Ihnen unterwegs, das hat er mir selbst gesagt.« Sie hob die Fischtüte hoch und hielt sie dem Sekretär hin. »Hier, sehen Sie, das hat er mir heute morgen verkauft.« Der Sekretär wich zurück. »Bleiben Sie mir mit diesem ekel haften Ding vom Leib«, rief er und brachte seinen in makellose Baumwolle gekleideten Arm in Sicherheit. »Was ist das für ein Unfug? Seit Jahren hat kein Fischverkäufer mehr dieses Haus betreten.« »Aber er sagte mir, daß er Fisch an Mr. Haldar liefert.« »Dann hat er gelogen«, sagte der Sekretär. Urmila starrte ihn an. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Aber der Mann hat mir doch gesagt …« setzte sie an. Der Sekretär winkte ungeduldig ab. »Genug damit«, sagte er. »Verschwinden Sie jetzt.« Urmila schlug einen härteren Ton an. »Nein«, sagte sie. »Ich gehe nicht eher, bis ich mit Mr. Haldar selbst gesprochen habe.« »Ach, so ist das«, sagte der Sekretär. Mit erhobener Hand 167
gab er dem Torwächter, der bei der Tür stand, ein Zeichen. »Shyam Bahadur«, sagte er. »Begleite die Dame hinaus.« Urmila deutete mit dem Finger auf ihn und sah ihm direkt in die Augen. »Sie wissen wohl nicht, wer ich bin«, sagte sie mit fester, kühler Stimme. »Dann will ich es Ihnen sagen. Mein Name ist Urmila Roy, und ich bin Reporterin für Calcutta. Vielleicht sollten Sie ein wenig nachdenken, bevor Sie etwas Unüberlegtes tun.« Der Sekretär blickte noch finsterer als zuvor und ließ einen Schwall von Drohungen und Schmähungen auf sie niederge hen. Urmila hörte ruhig zu. Situationen wie diese waren ihr aus den letzten Jahren mehr als vertraut. Auf ihre Art genoß sie sie mittlerweile sogar. Sie wartete teilnahmslos, bis er Atem holen mußte. »Würden Sie mich dann wohl jetzt zu Mr. Haldar bringen?« sagte sie sanft. »Und bitte schnell, ich habe nicht viel Zeit. In Kürze soll ich bei einer Pressekonferenz des Ministers für Kommunikati onswesen im Great Eastern Hotel sein.« Der Sekretär begann plötzlich zu stottern. »Aber verstehen Sie doch«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel seines blütenweißen Hemds über die Stirn. »Ich kann Sie nicht zu Mr. Haldar bringen, weil ich gar nicht weiß, wo er ist. Er ist ver schwunden. Und er hat schon zwei Termine verpaßt.« Urmila starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber er sollte doch heute zum Abendessen zu uns kommen«, setzte sie zu einer sinnlosen Erklärung an. »Deshalb soll ich doch diesen Fisch kochen, und deshalb komme ich auch zu spät zu der Pressekonferenz …« Erneut hielt sie ihm die Fischtüte unter die Nase. Der Sekretär lächelte jetzt höhnisch. »Sie träumen wohl«, sagte er, »oder Sie sind verrückt. Mr. Haldar fliegt heute abend nach Bombay – er nimmt dort an einer Konferenz teil. Er wird weder Sie noch sonst irgend jemanden hier besuchen.« Mit einer abschließenden Geste wandte er sich dem Torwächter zu. 168
»Bring sie fort«, sagte er. »Ich will meine Zeit nicht länger mit diesem Unfug verschwenden.« Urmila ließ sich wegführen, doch auf halbem Weg zum Tor machte sie sich los. »Sie lügen«, schrie sie und schüttelte den Griff des Wächters ab. »Ich glaube Ihnen nicht. Damit kom men Sie nicht durch – Sie werden schon sehen …« Diesmal packte der Torwächter ihren Arm noch fester. Beim Versuch, sich zu befreien, stolperte Urmila, und plötzlich kam ihr der Kiespfad frontal entgegen.
Siebenundzwanzig Als sie die Augen wieder öffnete, lag Urmila im Schatten des Säulenvorbaus von Romen Haldars Villa. Sie sah nur ver schwommen und spürte einen stechenden Schmerz im Kopf. Eine große, undeutliche Form schwebte über ihr, und dahinter erschienen rund ein Dutzend schemenhafter Gesichter, die besorgt auf sie herabblickten. Eine Stimme dröhnte in ihr Ohr, doch sie konnte nicht verstehen, was sie sagte. Ihr Akzent war eigenartig. Jemand fächelte ihr mit einer Zeitung zu, ein anderer bot ihr ein Glas Wasser an. Etwas weiter hinten gesti kulierte und stritt der Torwächter mit jemand, den sie nicht sehen konnte. Allmählich sah sie klarer und erkannte, daß der große ver schwommene Fleck vor ihr ein Gesicht war, das Gesicht eines Mannes, eines Mannes mit einem kurzen, gestutzten Bart. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. »Miss Calcutta!« er rüttelte sie an der Schulter. »Nun los, wachen Sie schon auf. Wo haben Sie die her? Ich muß es wissen.« »Was meinen Sie?« fragte sie. Er wedelte mit etwas herum, das sie jedoch nicht erkennen konnte. »Die hier«, sagte er ungeduldig. »Das Zeug, was Sie dabei 169
hatten, diese Papiere.« Sie schüttelte seine Hand ab und setzte sich auf. »Wer sind Sie eigentlich?« fragte sie. »Und warum schreien Sie mich so an?« Er blickte verdutzt. »Erkennen Sie mich denn nicht?« fragte er. »Wir haben uns doch neulich im Auditorium getroffen.« »Wie meinen Sie das, wir haben uns getroffen?« erwiderte sie. »Ich weiß weder Ihren Namen noch wer Sie sind oder was Sie tun, gar nichts.« »Ich heiße Murugan«, sagte er. »Ich arbeite für LifeWatch.« Murugan nahm seine Brieftasche heraus und gab ihr eine Karte. »Ich weiß aber, wer Sie sind«, sagte er dann. »An Ihren Na men kann ich mich zwar nicht erinnern, aber ich weiß, daß Sie für die Zeitschrift Calcutta arbeiten.« »Mehr brauchen Sie auch nicht zu wissen«, sagte sie. »Wol len Sie mir nun erklären, was Sie hier eigentlich tun?« »Ich?« fragte Murugan. »Ich wollte Mr. Haldar um Erlaubnis bitten, sein Haus an der Robinson Street zu besichtigen, und deswegen kam ich her, um mich vorzustellen.« »Und warum haben Sie mich so angebrüllt?« »Ich muß wissen, wo Sie die hier gefunden haben.« Er zeigte ihr die zerknüllten Reste der Kopien, die sie in dem Fischpäck chen gefunden hatte. »Können Sie mir das sagen?« »Was fällt Ihnen ein!« rief sie. Sie stürzte sich auf ihn und entriß ihm die Blätter. »Das sind meine. Sie gehören mir.« »Das sind nicht Ihre«, sagte er und griff danach. »Sie haben nichts damit zu tun.« »Es sind meine, und sie bleiben bei mir«, erwiderte Urmila. Sie knüllte die Blätter zu einem festen kleinen Ball zusammen und steckte sie sich vorne in die Bluse. Murugan biß die Zähne zusammen. »Hören Sie«, sagte er. »Sie haben da etwas gefunden, das der Schlüssel zu einem der großen Geheimnisse des Jahrhunderts sein könnte, und Sie 170
wollen mit mir streiten, wer es in Gewahrsam nimmt?« Urmila erhob sich langsam. »Warum sind Sie denn so verses sen darauf?« fragte sie. »Es sind doch nur ein paar Fetzen Altpapier.« »O.k.«, sagte Murugan. »Wissen Sie was? Ich erspare Ihnen die Mühe, sie ins Klo zu spülen. Geben Sie sie mir zurück.« »Kein Grund, sich so aufzuregen«, sagte sie kalt. Sie stand ganz auf und blickte forschend in die Gesichter um sie herum. »Wo ist mein Fisch?« fragte sie in die Runde. Jemand reichte ihr das durchweichte Päckchen. Sie ergriff es und ging den Pfad hinunter zum Tor. Murugan lief ihr nach. »Warten Sie doch«, sagte er, um Selbstbeherrschung bemüht. »Hören Sie, was wollen Sie denn? Wollen Sie Geld oder so etwas?« Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu und ging weiter. »Was dann?« fragte Murugan. »Ich will wissen, was es mit diesen Blättern auf sich hat.« Er nahm sie beim Ellenbogen. »Hören Sie«, sagte er so sanft, wie es ihm nur möglich war. »Sie haben mir noch nicht einmal Ihren Namen genannt. Ich weiß nichts weiter von Ihnen, als daß Sie für Calcutta arbeiten.« »Mein Name geht Sie nichts an«, antwortete sie und schüttel te seine Hand ab. »Und fassen Sie mich gefälligst nicht an.« »Ach, auf die Tour also?« sagte Murugan mit erhobener Stimme. »Wie soll ich Sie dann nennen, da ich einer Vorstel lung nicht für würdig befunden werde? Miss Calcutta? Oder vielleicht einfach nur Calcutta, oder wäre das schon zu vertrau lich? Zu innig? Ihr Mann könnte mißtrauisch werden, ein Techtelmechtel vermuten, ein mächtiges Techteln, ein Hecheln und Schwächein …« »Ich bin nicht verheiratet«, sagte Urmila kalt. »Um so besser! Du hast meinen Tag gerettet, Calcutta. Ich zähle die Sekunden, bis das Schwächein vergeht und das Hecheln beginnt, aber bevor wir vor Hecheln vergehen, will 171
ich Dir noch was sagen, Calcutta, und deine Datenbanken ein bißchen auf Vordermann bringen. Wie das funktioniert? Ich werde deine Prioritäten ein bißchen mehr in Bezug zur Realität setzen. Nicht du stellst mir Fragen, verstehst du? Dr. Morgan entscheidet, was du wissen sollst und wann.« Sie kniff die Augen zusammen. »Ach, wirklich?« sagte sie. »Du willst eine Erklärung«, sagte er. »Und die bekommst du auch. Aber ich wähle die Waffen und den Austragungsort.« Er lief zur Straße vor und hielt ein Taxi an. »P.-G.-Hospital«, sagte er zu dem Sikh, der am Steuer saß. »Und zwar schnell.«
Achtundzwanzig Antar zitterte. Mittlerweile fühlte er sich richtig krank. Er mußte Tara irgendwie mitteilen, daß er nicht imstande war, mit ihr zu Abend zu essen. Zum Glück hatte sie seit einigen Wochen einen Piepser. Er wechselte das Bildschirmfenster und tippte ein paar Worte ein: Muß Abendessen leider absagen, Erklärung folgt. Er rief ihre Nummer auf und schickte die Botschaft durch. Der Piepser gehörte zum neuen Job, den Tara vor ein paar Wochen gefunden hatte. Sie arbeitete jetzt für eine Börsenmak lerin, die oft erst spätabends heimkam. Da sie mit ihrem vier jährigen Sohn in ständigem Kontakt bleiben wollte, hatte sie auf dem Piepser für Tara bestanden. Der Job war gut, sagte Tara, viel besser als der vorige. Sie wurde anständig bezahlt und, noch wichtiger, der Junge war nett und seine Mutter nicht allzu anspruchsvoll. Tara bedankte sich bei jeder Gelegenheit, daß Antar ihr bei der Jobsuche geholfen hatte. Dabei war es, wenn überhaupt, eine eher indirekte Hilfestel lung gewesen. Vor etwa einem Monat hatte er eines Morgens 172
bemerkt, daß sie sich zu einer Zeit in ihrer Wohnung aufhielt, in der sie normalerweise sonst arbeitete. Er stieß das Küchen fenster auf und rief hinüber: »Was ist los? Gehst du heute nicht zur Arbeit?« Sie steckte den Kopf in den Luftschacht hinaus und lächelte ihm kläglich zu. Ihr dünnes Haar war zu einem unordentlichen Knoten aufgesteckt, und sie schien sich nach dem Aufstehen nicht die Mühe gemacht zu haben, etwas Frisches anzuziehen. »Ich würde schon, wenn ich könnte«, sagte sie. »Aber der Job gehört nicht mehr mir.« »Was ist passiert?« »Na ja«, sagte sie. »Um mich nicht zu kränken, haben sie es so hingestellt, als ließen sie mich nur ungern gehen. In Wirk lichkeit brauchten sie aber jemanden mit gültigen Papieren, damit sie den Job von der Steuer absetzen können.« Sie zuckte die Achseln und verzog das Gesicht. »Oh«, sagte Antar. »So ein Pech.« Er brauchte einen Mo ment, um die Neuigkeit zu verdauen. »Und, hast du noch nichts anderes gefunden?« fragte er dann. »Ich dachte immer, alle reißen sich um Babysitter.« Tara schüttelte resigniert den Kopf. »Die besten Jobs werden im Internet angeboten«, sagte sie. »Und ich kann mir kein Newsabo leisten, geschweige denn überhaupt einen Computer. Und wenn ich einen hätte, wüßte ich nicht, was ich damit soll.« »Im Internet?« Antar staunte. »Au-pair-Jobs? Machst du Witze?« »Schön wär’s«, sagte sie. »Aber es stimmt. Ich habe im Irish Echo und in India Abroad nachgesehen – beide Male nichts.« Freudlos lächelnd nickte sie ihm zu. »Jetzt muß ich gehen«, sagte sie. »Sonst wird mein Tee kalt. Und so wie es aussieht, sollte ich wohl lieber keinen Teebeutel verschwenden.« Sie verschwand wieder nach drinnen. Die Unterhaltung ging Antar immer wieder durch den Kopf, während er auf Avas Bildschirm starrte. Die Unwägbarkeiten 173
ihrer Lebensumstände setzten ihm auf eine unerklärliche Art und Weise zu. Am nächsten Morgen ging er alle paar Minuten in die Küche, bis er sie in der Wohnung herumhantieren sah. Er beugte sich über das Spülbecken und rief: »Hör mal, ich habe eine Idee.« Sie lächelte ihm schwach zu. »Ja?« Man sah, daß sie vor lauter Sorgen kaum geschlafen hatte. »Ich habe einen alten Laptop in meinem Schrank«, sagte er. »Ich könnte ihn an Ava anschließen und ein Kabel zu dir hinüberlegen. Dann kannst du soviel im Internet surfen, wie du willst. Ich habe ihn ein paarmal aufgerüstet, und er funktioniert jetzt mit der entsprechenden Software tadellos. Vom Council kriege ich zwanzig Stunden pro Woche umsonst, und ich brauche kaum je auch nur einen Bruchteil davon. Ich habe mindestens tausend Stunden gut. Die kannst du haben.« Ihr schmales, feinknochiges Gesicht hellte sich auf. »Wirk lich?« fragte sie. »Das könntest du tatsächlich machen?« Sie zögerte, als könne sie ihr Glück nicht fassen. »Bist du auch sicher, daß das in Ordnung geht? Ich will nicht, daß du Schwierigkeiten bekommst.« Antar erwiderte mit einem Anflug von Nonchalance: »Es verstößt natürlich gegen alle Regeln. Der Council ist völlig panisch, was die Sicherheitsbestimmungen angeht. Aber ich denke, ich kann sie austricksen. Wenn du aufpaßt und keinen Unsinn machst, passiert uns nichts.« »Ich werde gut aufpassen«, sagte sie ernst. »Du hast mein Wort: ich werde nichts tun, was dich in Schwierigkeiten bringt.« Später am gleichen Tag installierte Antar die Verbindung. Es gab ihm einen Stich, seinen alten Laptop bei ihr zurückzu lassen. Es war ein koreanisches Modell aus den frühen neunzi ger Jahren, glatt und schwarz, mit schön gerundeten Ecken. Er hatte ihn stets geliebt: sein Gewicht in der Hand, das leise Klicken der Tastatur, die altmodischen Chromteile. 174
Er bot an, sie ein paar Stunden lang einzuweisen, aber sie lehnte ab. »Du hast dir schon so viel Mühe gemacht«, sagte sie. »Ich will dich nicht noch mehr belästigen. Lucky wird es mir zeigen, er versteht was davon.« »Lucky?« So hieß der junge Mann von dem Zeitungsstand an der Penn Station. Antar versuchte sich vorzustellen, wie er mit seinem ewigen Lächeln und seinen seltsam weit auseinander stehenden Zähnen vor dem Laptop saß und versuchte, Tara durch das Netz zu schleusen. Er hatte seine Zweifel, behielt sie jedoch für sich. Wie sich herausstellte, war Lucky offenbar ein guter Lehrer, denn Tara fand sich bald im Internet zurecht. Die ersten paar Tage überwachte Antar sie genau. Dann wurde er es leid, ihr durch die Au-pair-Anzeigen zu folgen, und überließ ihr das Feld. Binnen weniger Tage bekam sie den neuen Job und über schlug sich seither fast vor Dankbarkeit. Deshalb hatte sie heute abend auch herüberkommen wollen. »Ich kann’s mir nicht leisten, dich einzuladen«, sagte sie. »Aber dann will ich dich wenigstens hin und wieder mit anständigem Essen versor gen.«
Neunundzwanzig Auf halbem Weg zum P.-G.-Hospital las Urmila wieder und wieder die knallgelbe Inschrift auf der Seite eines überfüllten Minibusses, der auf der Lower Circular Road dicht neben ihrem Fenster stand. Das Taxi kam wegen des üblichen mor gendlichen Ansturms von Autos und Bussen kaum vom Fleck. Zögernd blickte Urmila zu den Fenstern des Minibusses hinauf. Ein Dutzend Menschen schien sie anzustarren. Schnell wandte sie sich ab. Vielleicht war es eben der Bus, den sie genommen hätte, 175
wenn sie heute zur Arbeit gefahren wäre. Vielleicht waren sie alle darin, die üblichen Mitfahrer: der alte Mann mit seinem Lendentuch, der in der Hauptbuchhaltung arbeitete und ein Buch über irgendein Thema schrieb, der Bahnangestellte, der jeden Morgen einen randvollen Essensbehälter zum »Strand« mitnahm, und die Frau von All India Radio, die letzte Woche versucht hatte, sie als Mitglied im »Klub der BBD-BaghMinibus-Passagiere« zu werben. Urmila machte sich auf dem Sitz klein. Die zusammenge knüllten Papierseiten kratzten unangenehm an der zarten Haut zwischen ihren Brüsten. Am liebsten hätte sie hineingegriffen und sie herausgeholt, aber das ging nicht, solange der Minibus so nah an ihrem Fenster stand. Wenn sie sie nun sähen, die Mitglieder des »Klubs der BBDBagh-Minibus-Passagiere«? Wenn sie wüßten, daß sie mit einem völlig Fremden zum P.-G.-Hospital unterwegs war? Was würden sie denken? Was würden sie davon halten? Plötzlich wurde sie wütend. »Was hat das P.-G.-Hospital eigentlich mit meinen Papierfetzen zu tun?« fragte sie, zu Murugan gewandt. »Warum schleppen Sie mich dahin? Was beabsichtigen Sie damit?« »Du wolltest eine Erklärung, Calcutta«, sagte Murugan. »So lautet die Abmachung. Ich werde dir diese Erklärung liefern, aber wo genau ich ansetze, das entscheide ich.« »Das heißt, Sie wollen beim P.-G.-Hospital ansetzen?« fragte sie. »Richtig«, sagte er. »Deswegen schleppe ich dich dahin.« Sie bemerkte, daß der Taxifahrer sie im Rückspiegel beo bachtete. Sie beugte sich vor und wedelte mit dem Fischpäck chen unter seiner Nase. »Was guckst du so, du Schwachkopf?« fuhr sie ihn an. »Schau lieber auf die Straße.« Eingeschüchtert senkte der Fahrer den Blick. »Wow!« sagte Murugan. »Wozu der Aufstand?« »Und Sie«, schrie sie ihn zornig an. »Wer sind Sie eigentlich 176
wirklich?« Ein Verdacht jagte den anderen: Sie erinnerte sich an all die Geschichten, die sie über ausländische Betrüger und Kidnapper und Mädchenhändler aus dem Nahen Osten gehört hatte. »Ich möchte wissen, wer Sie sind und was Sie in Kalkut ta tun. Ich will Ihren Paß sehen.« »Den habe ich im Augenblick nicht dabei«, sagte Murugan. »Aber das hier kann ich dir geben.« Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr seinen Personalausweis. Sie prüfte ihn sorgfältig, Buchstabe für Buchstabe, und ver glich das Foto mit seinem Gesicht. Als sie das Rabindra-Sadan-Auditorium erreichten, klopfte Murugan dem Fahrer auf die Schulter und zeigte die Straße entlang. »Da vorn«, sagte er. »Halten Sie da vorne an.« »Hier?« Urmila blickte auf eine Ziegelmauer hinter einem schmalen Graben. »Warum denn hier? Hier ist doch gar nichts. Der Eingang zum Hospital ist da drüben, wir sind schon dran vorbei.« »Den Eingang brauchen wir auch nicht«, sagte Murugan und gab dem Taxifahrer einen Fünfzig-Rupien-Schein. »Ich will dir genau hier etwas zeigen.« »Aber hier gibt es nichts zu sehen«, sagte Urmila mißtrau isch. »Das ist doch bloß eine Mauer.« »Schau mal da drüben«, sagte Murugan und zählte das Wechselgeld nach. Er deutete über die Schulter auf das Denk mal für Ronald Ross. »Hast du dir das mal richtig angesehen?« Urmilas Augen weiteten sich überrascht, als sie seinem Fin ger zu der Marmortafel am Scheitelpunkt des bescheidenen kleinen Bogens folgten. »Nein«, sagte sie. »Das habe ich noch nie bemerkt.« Sie begann laut zu lesen: »›In dem kleinen Labor siebzig Meter südöstlich dieses Tores entdeckte Oberstabsarzt Ronald Ross I.M.S. im Jahr 1898, auf welche Weise Malaria durch Moskitos übertragen wird.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Seltsam«, sagte sie. »Hunderte Male bin ich hier mit dem Bus umgestiegen. Ich kann gar nicht 177
zählen, wie oft ich an dieser Mauer entlanggegangen bin. Aber die Inschrift da oben habe ich nie gelesen.« »Niemand nimmt den armen Ron mehr wahr«, sagte Muru gan. Er ging ein Stück weiter die Straße entlang zu einem Tor. »Komm mit«, sagte er und winkte ihr zu. »Ich zeig dir noch was.« Eine kurze Kette hing zwischen den Torflügeln, so daß je weils nur eine Person durchgehen konnte. Murugan ging vor, und als Urmila ihn einholte, deutete er über das belebte Areal des Hospitals auf einen weit zurückgesetzten, würdevollen Ziegelbau. »Als Ronald Ross 1898 hierherkam, um zu arbeiten«, sagte Murugan, »da bestand das ganze P.-G.-Hospital nur aus diesem einen Gebäude.« »Woher wissen Sie das?« fragte sie. Er lachte. »Ganz einfach«, sagte er. »Zufällig sprichst du mit dem größten lebenden Experten, was Ronnie Ross angeht.« »Sie meinen sich?« fragte sie. »Du sagst es.« Er machte auf dem Absatz kehrt und betrat einen Pfad, auf dem es vor uniformiertem Krankenhausperso nal nur so wimmelte. »Sieh mal dort«, sagte er und deutete auf einen Komplex schachtelartiger, neuer Gebäude, die allesamt im tristen Gelb der städtischen Behörden gestrichen waren. »Keins von denen stand hier, als Ronnie in Kalkutta seine Malariaforschung betrieb. Abgesehen von seinem Labor und einigen Nebenge bäuden, in denen die Diener und Aufseher wohnten, gab es hier nur Bäume und Bambus und Grün.« Er hielt sich ein Taschentuch vor die Nase, als sie an einem Abfallhaufen vorbeikamen, wo Krähen, Hunde und Geier um Nahrungsreste und blutdurchtränkte Bandagen kämpften. In der Nähe standen Männer nebeneinander an einer Mauer, ungeachtet einer Notiz, welche ersuchte: »Bitte hier nicht urinieren.« 178
Murugan blieb auf einem freien Areal zwischen zwei Kran kenhausabteilungen stehen. Die eine trug eine Tafel »RossGedächtnisbau«. Er deutete auf einen altmodischen Bungalow aus Ziegeln, der in einen der neuen Flügel des Hospitals integriert worden war. »Schau, da drüben«, sagte er. »Das war Ross’ Labor.« Er ging zum Bungalow und machte sie auf eine marmorne Gedenktafel hoch oben an der Wand aufmerksam. Unter der stilisierten Darstellung eines Moskitos war eine Inschrift zu sehen. »Es ist viel zu weit oben«, sagte Urmila. »Wahrscheinlich steht dort, daß in diesem Labor der Stabsarzt Ronald Ross die bedeutende Entdeckung machte, wie Malaria durch Moskito stiche übertragen wird?« »In etwa«, sagte Murugan. Urmila verzog spöttisch das Gesicht. »Was für ein merkwür diges kleines Haus«, sagte sie. »Es steht so ganz für sich. Man kann kaum glauben, daß irgendwer dort irgendwas entdeckt hat.« »Noch weniger kann man sich vorstellen«, sagte Murugan, »daß dies einmal eins der best ausgestatteten Forschungslabo ratorien des ganzen indischen Subkontinents war.« »Wirklich?« fragte sie überrascht. Er nickte: »Allerdings. Und weißt du auch, wer es eingerich tet hat?« »Wie sollte ich?« sagte sie barsch. »Aber du weißt es«, sagte Murugan, »du trägst seinen Namen sogar mit dir herum.« Er deutete auf das Papier, das sie noch immer in ihrer Bluse stecken hatte. Sie drehte ihm den Rücken zu und holte das zusammenge knüllte Papier heraus. »Da«, sagte sie. »Zeig ihn mir.« Er wies auf eine der mit Tinte unterstrichenen Zeilen. »Das ist er. Oberstabsarzt D. D. Cunningham. Das ist der Typ, der das Labor hier eingerichtet hat«, sagte Murugan. »Ebenso wie 179
Ronnie Ross war er Arzt im Indian Medical Service, einer Einheit der britischen Armee in Indien. Aber Cunningham gehörte schon zu den höheren Semestern, er war wesentlich älter als Ross. Und er war ebenfalls Forschungswissenschaftler – ein Pathologe. Noch dazu gehörte er der Royal Society an, trug den Zusatz F. R. S. hinter seinem Namen, was zu der Zeit eines der feinsten Etiketten überhaupt war. In Kalkutta absol vierte Cunningham einen Großteil seiner Arbeit in diesem Labor hier. Er machte es zum bestausgestatteten Forschungs zentrum in diesem Teil der Welt. Ron machte es schließlich berühmt, aber ohne den alten D. D. wäre er nicht weit gekom men.« »Ich will es mal glauben«, sagte Urmila. »Aber ich verstehe noch immer nicht, was an diesen Blättern so besonders sein soll.« »Nur Geduld, Calcutta«, sagte Murugan. »Ich fange ja gerade erst an. Komm mit.« Er ging den Weg zurück, den sie gekommen waren, und führte sie durch einen engen Gang zu dem schmalen, verdreck ten Streifen, der den Ross-Gedächtnisbau von der Begren zungsmauer des Hospitals trennte. Das Bogendenkmal lag nun einige Meter zur Linken, und über die Mauer hinweg sahen sie gerade noch den stockenden Verkehr auf der Lower Circular Road. Murugan deutete auf eine Reihe niedriger, baufälliger Häu schen mit Wellblechdächern inmitten der Erd- und Schutthau fen, die an der Wand aufgetürmt waren. »Siehst du die Neben gebäude da drüben?« fragte er. »Dort wohnten die Dienstboten von Ronnie Ross. Einer von ihnen, er hieß Lutchman, war Ross’ rechte Hand. Gleich da drüben züchtete er die Tauben, die Ross für seine Forschung brauchte.« »Tauben?« sagte Urmila zerstreut und blickte angewidert auf die Exkrementhäufchen, die halb versteckt im Abfall lagen. »Hast du nicht gesagt, er arbeitete über Moskitos und Mala 180
ria?« »Nun ja«, erwiderte Murugan. »Ronnie Ross gab sich nicht immer nur mit den simplen Malariasorten ab. In Kalkutta begann er mit Halteridium zu arbeiten, einer verwandten Art, die bei Flugtieren auftritt. Man könnte sie als Vogelversion der Malaria bezeichnen.« »Wirklich?« Urmila schaute müde zu den umstehenden Bäumen auf. »Ja«, sagte er. »Und damit er immer genug Nachschub für seine Experimente hatte, hielten hier seine Assistenten, Lutch man und seine Mannschaft, eine große Anzahl infizierter Vögel. Und den ganzen Schwarm ließen sie im September 1898 frei, ein paar Tage nachdem Ross mit seiner letzten Reihe von Experimenten fertig war.« Er hob einen Stein vom Boden auf. »Ich zeig dir was«, sagte er und warf den Stein in die Richtung der Nebengebäude. Er landete im Abfall, und Sekunden später erhob sich ein Tauben schwarm, aufgeregt kollernd und heftig mit den Flügeln schla gend, in die Luft. Murugan trat zurück und beobachtete die Vögel, die über ihnen kreisten. »Es würde mich gar nicht wundern«, sagt er, »wenn da oben ein paar Nachfahren aus Lutchmans Schwarm dabei wären.«
Dreißig Auf Zehenspitzen spähte Urmila über die Begrenzungsmauer auf den Verkehr, der am Hospital vorbei über die Lower Circular Road rauschte. Es überraschte sie, wie abgeschirmt und in sich ruhend der Bungalow dalag, weitab von der Hektik des Krankenhausbetriebs und vom nahen Verkehrslärm. »Wie ruhig hier alles wirkt«, sagte sie und blickte von dem Nebengebäude zum Ross-Denkmal. »Es ist kaum zu glauben, daß ich hier zweimal täglich in der Rush-hour vorbeikomme.« 181
»Genau das dachte Ronnie Ross auch«, sagte Murugan. »Er glaubte, das Labor seiner Träume gefunden zu haben, als er zum erstenmal hierherkam.« Urmila trat von der Mauer zurück. »Wie ist Ross denn über haupt hierhergekommen?« fragte sie. Sie überflog die glattge strichenen Seiten in ihrer Hand. »Hat dieser D. D. Cunningham ihn eingeladen?« »Nein«, sagte Murugan. »Ganz im Gegenteil. Cunningham tat, was er konnte, um Ross von hier fernzuhalten. Ronnie schrieb ihm alle paar Monate Bettelbriefe, und Cunninghams Antwort war stets gleichlautend: schlicht und ergreifend nein.« »Aber«, wandte Urmila ein, »Ronald Ross ist trotzdem her gekommen, oder?« »Stimmt«, sagte Murugan. »Cunningham hielt Ross über ein Jahr lang hin. Und dann, eines Tages im Januar 1898, gab Cunningham aus heiterem Himmel klein bei. Ja, er reichte sein Abschiedsgesuch ein und reiste in solcher Hast nach England ab, daß er nicht mal seine Zahnbürste mitnahm. Am 30. Januar schließlich genehmigten die indischen Behörden die Verset zung von Ronnie Ross nach Kalkutta. Offiziell war das Ganze reiner Zufall. Angeblich sehnte sich Cunningham nach den niedlichen Fachwerkhäuschen seiner alten Heimat. Nur, letztlich landete er in einer Pension in Surrey mit Ausblick auf die städtischen Gaswerke. Will mir vielleicht einer erzählen, daß er diesen netten kleinen Laden hier aufgab, nur weil er Heimweh nach englischem Teegebäck hatte? Also weißt du, das glaube ich einfach nicht.« »Was meinst du denn?« fragte Urmila. »Warum, denkst du, ist er fortgegangen?« »Darauf habe ich keine Antwort«, sagte Murugan. »Aber ganz sicher ist etwa Mitte Januar 1898 etwas passiert, das Cunningham umstimmte. Und das war kein Zufall: irgend jemand hat hart daraufhingearbeitet.« Urmila musterte die Seiten erneut. »Hier, schau her«, sagte 182
sie und deutete auf eine Zeile. »Hier steht, daß D. D. Cunning ham Mitte Januar sechs Tage Urlaub bekam – vom zehnten bis fünfzehnten. Da muß es passiert sein.« »Richtig«, sagte Murugan. »Und nun sieh dir das Datum auf der Reservierungsliste der Eisenbahn an: am 10. Januar 1898 nahm jemand namens C. C. Dunn einen Zug nach Madras.« »Und wer war das?« »Niemand«, sagte Murugan. »Das ist es ja gerade. Ich denke, es sollte damit die Nachricht übermittelt werden, daß D. D. Cunningham an jenem Tag unter falschem Namen nach Ma dras reiste.« »Madras?« Urmila blickte stirnrunzelnd auf die Blätter. »Wieso Madras? Was könnte dort losgewesen sein? Ich schät ze, das läßt sich nach all der Zeit nicht mehr herausfinden?« »Sollte man meinen«, sagte Murugan. »Natürlich kann man nicht in den alten Ausgaben der Times nachschauen, was 1898 in Madras passierte. Ich weiß aber zufällig, daß tatsächlich jemand namens C. C. Dunn zu jener Zeit in Madras war. Ich hatte ihn nur nie mit D. D. Cunningham in Verbindung ge bracht. Es ging mir erst heute morgen auf, als ich dir diese Blätter aus der Hand nahm. Sie waren das fehlende Glied, verstehst du? Sie verknüpfen alles miteinander.« »Und woher wußtest du von diesem C. C. … wie auch im mer?« »Weil jemand mich darauf aufmerksam gemacht hat«, sagte Murugan. »Das ist eine lange Geschichte. Willst du sie wirk lich hören?« Urmila nickte nachdrücklich. »Vor ein paar Jahren«, begann Murugan, »versuchte ich in dem Laden, wo ich arbeite, das Malaria-Archiv auf Vorder mann zu bringen. Nach drei Monaten Aktenstudium über Nordafrika und den Nahen Osten stieß ich auf einen seltsamen Bericht über eine kleine, extrem ortsgebundene Epidemie in Nordägypten, etwa 45 Kilometer südlich von Alexandria. Sie 183
löschte die Bevölkerung eines winzigen Dörfchens binnen weniger Tage aus. Es gab weder Rückfälle noch weitere Ausbrüche. Dieses Dörfchen war von einer aus dem Süden zugewanderten Familie koptischer Christen gegründet worden. Sie hatten mit ihren Nachbarn nicht viel Kontakt und wohnten weitab vom nächsten Dorf. Als man ihre Leichen entdeckte, waren sie bereits in einem fortgeschrittenen Stadium der Verwesung.« »Was für eine Epidemie war es denn?« fragte Urmila. »Das weiß niemand genau«, antwortete Murugan. »Es wur den keine Autopsien gemacht. Wir wissen nur deshalb über haupt davon, weil ein britischer Gesundheitsbeamter einen kurzen Bericht darüber schrieb. Das war 1950, kurz nach dem Krieg, als das Land praktisch noch den Briten unterstand. Nach dem Bericht zu urteilen, war dieser Gesundheitsbeamte ein fähiger, nüchterner Mann. Er hatte seine ganze Karriere in Ägypten absolviert. Als er das Dorf besuchte, hatte man sich der Leichen bereits entledigt. Doch er berichtete von Zeugen aussagen, die auf zwei Symptome bei den Verstorbenen hin wiesen: Drüsenschwellungen am Hals und zahlreiche winzige Löcher in der Haut, ähnlich Insektenstichen. Er meinte, es könne sich um eine besonders bösartige Form von Malaria handeln, hatte jedoch keine Möglichkeit, sich diesen Verdacht bestätigen zu lassen. Die Leute aus den umliegenden Dörfern sprachen von einem möglichen Überlebenden: als man die Leichen zählte, fehlte ein vierzehnjähriger Junge. Angeblich wurde er um die Zeit, als die Krankheit ausbrach, beim Bahn hof eines nahe gelegenen Ortes gesehen. Der Gesundheitsbe amte hielt ihn für einen möglichen Überträger und versuchte, ihn zu finden. Eine Untersuchung des Jungen, hoffte er, würde vielleicht Hinweise darauf geben, was geschehen war. Aber er wurde nie gefunden.« »Also hatten sie keine Ahnung, was passiert war?« »Grundsätzlich nein. Der Gesundheitsbeamte gab zu, daß er 184
nicht wußte, worum zum Teufel es sich hierbei handelte. Er fugte an, er habe ein einziges Mal von ähnlichen Symptomen gehört, und zwar vor zwanzig oder mehr Jahren, weiter südlich in Luxor. Jemand hatte ihm erzählt, daß der Hobby-Archäologe Lord Carnarvon infolge eines Moskitostichs an Fieber und Drüsenschwellungen im Halsbereich erkrankt und schließlich gestorben war. Er zitierte sogar aus einem Brief, den die Tochter Seiner Lordschaft geschrieben hatte, kurz bevor er ins Gras biß. ›Du weißt doch von dem Moskitostich auf seiner [Papas] Wange, der ihm in Luxor Sorgen machte; gestern nun sind plötzlich alle Drüsen an seinem Hals angeschwollen, und letzte Nacht hatte er hohes Fieber, das bis heute anhält.‹« »Ich komme nicht mit«, sagte Urmila. »Es war die Rede von etwas, das angeblich 1898 in Madras geschehen sein soll. Wieso sind wir jetzt plötzlich dreißig oder fünfzig Jahre später in Ägypten?« »Genau das versuche ich ja gerade zu erklären«, sagte Muru gan. »Das kommt als nächstes. Also, nachdem ich den Bericht des Gesundheitsbeamten gefunden hatte, fragte ich herum, ob irgend jemand etwas dazu einfiel. Ich richtete sogar ein paar Anfragen an Chat-Groups im World Wide Web. Eines Tages loggte ich mich ein, und es wartete eine ellenlange Nachricht mit zig Seiten auf mich. Sie hatte keine Rückadresse noch sonst irgendwas, war einfach anonym verschickt worden. Wer auch immer der Absender war, er hatte sich einige Mühe gemacht, um nicht aufgespürt zu werden, wie ich bald heraus fand. Die Nachricht war auf so vielen verschiedenen Wegen weiter- und umgeleitet worden, daß ich keine Chance hatte, ihr auf die Spur zu kommen.« »Und was besagte diese Botschaft?« fragte Urmila. »Es war ein Exzerpt aus einem Buch einer tschechischen Psycholinguistin. Die Frau, um die es darin geht, gehörte zur ungarischen Oberschicht und hatte sich zu einer respektablen Amateurarchäologin und zu einer professionellen Exzentrikerin 185
gemausert, eine gewisse Gräfin Pongrácz. Gegen Ende ihres Lebens ging sie nach Ägypten. Zum letzten Mal gesehen wurde sie 1950; sie wollte mit Ausgrabungen irgendwo in der Nähe dieses kleinen Dorfes beginnen, wo die Krankheit ausgebro chen war. Niemand weiß, was mit ihr geschehen ist.« »Ich sehe immer noch keine Verbindung mit Madras im Januar 1898«, sagte Urmila. »Dazu komme ich jetzt«, sagte Murugan. »In ihrer Jugend war La Pongrácz eine Art Vorläuferin des Jet-sets der sechzi ger Jahre, reiste um die Welt, besuchte Gurus und so was. Im Januar 1898 war sie neunzehn Jahre alt und stand gerade am Beginn ihrer langen Karriere. Wo, meinst du, war sie da wohl?« »Wo?« fragte Urmila. »In Indien«, sagte Murugan. »Genauer gesagt in Madras. Man würde nun annehmen, daß um diese Zeit und in diesem Teil der Welt ein Guru-Groupie unweigerlich bei Madame Blavatsky und der Theosophischen Gesellschaft landete, so sicher, wie ein Missile-Flugkörper auf Wärmequellen los schießt. Aber falsch geraten. Gräfin Pongrácz war Feinschmeckerin, was Gurus betrifft, und ließ sich nicht mit Fertiggerichten abspeisen. Der Guru, auf den sie sich einschoß, war Madame Blavatskys Erzrivalin – ein finnisches Gewächs namens Madame Liisa Salminen, die einen eigenen kleinen Verein betrieb: die Gesellschaft der Spiritualisten. Die Gräfin war Madame Salminens Lieblingsjüngerin, und sie notierte alles, was mit ihrer Meisterin geschah.«
Einunddreißig Am Abend des 12. Januar 1898, so der Bericht der Grófné Pongrácz, versammelten sich einige wenige auserwählte Spiritualisten wie gewöhnlich in einem Haus, das die Gesell 186
schaft für ihre wöchentlichen Séancen mit Mme. Salminen angemietet hatte. Mehrere unabhängige Quellen bestätigen, daß diese Séancen grundsätzlich sehr würdevoll und nach strengen Regeln verliefen. Sie begannen für gewöhnlich mit einem kleinen Empfang, bei dem Mme. Salminen hofhielt und chine sischen Tee ausschenken ließ. An diesem Abend jedoch wurde der feierliche Ernst der Teegesellschaft durch einen unpassen den und unerwarteten Eindringling jäh unterbrochen. In Ma dras gab es viele, die es danach verlangte, in den intimen Kreis um Mme. Salminen aufgenommen zu werden. Angeblich war schon einiges versucht worden, um sich in die Gruppe einzu schmuggeln. Nicht allein die bloße Tatsache, daß ein ungebe tener Gast erschien, versetzte daher die versammelten Spiritua listen in Erstaunen, sondern vor allem die Feststellung, daß der Betreffende nicht im entferntesten zu der Sorte zu gehören schien, die sonst Eingang in eine solche Gruppe suchte. Ganz im Gegenteil. Es muß hier angemerkt werden, daß Spirituali sten, Theosophen und ihre Mitläufer generell auf Angehörige der britischen Militär- und Zivilverwaltung mit unverhohlenem Abscheu herabsahen – ein Gefühl, das in überreichem Maß erwidert wurde. Die wechselseitige Abneigung ging so weit, daß in den Kasernen von Fort St. George in Madras der Ausruf aus dem Munde eines Kavalleristen »Lieber werd’ ich Spiritua list« in seiner unterschwelligen Bedeutung mit einer Phrase wie »Lieber sterb’ ich« gleichgesetzt wurde. Umgekehrt hätte der Satz »Lieber werd’ ich Oberstleutnant« eine ähnlich klare Aussage über die Präferenzen von Spirituali sten und dergleichen enthalten. Doch wurde aus der kurzen, aber anschaulichen Darstellung der Gräfin deutlich, daß der betreffende Eindringling zweifellos dem Militär zuzuordnen war. Sie beschrieb ihn auf ihre unnachahmliche ungarische Art als einen stattlichen Engländer von Ende Fünfzig mit gerötetem Gesicht, lichtem Haar und einem Husarenschnurrbart. Er befand sich offensichtlich in einem Zustand extremer Gefühls 187
Verwirrung; man beobachtete, daß er die Hände rang und heftig an seinem Schnurrbart zog. Seine Augen waren blutun terlaufen und rot entzündet, als habe er seit Tagen nicht ge schlafen. Doch trotz dieses überreizten Zustands verriet ihn etwas in seiner Haltung. Die Gräfin jedenfalls vermutete in ihm sofort einen Offizier hohen oder mittleren Ranges, möglicher weise aus einem Infanterieregiment. Um so größer ihre Überra schung, als der Eindringling bei seiner Vorstellung keinerlei Rang oder Regiment erwähnte. Sie empfand dies als schroffe Abfuhr, ja als Beleidigung ihrer Beobachtungsgabe. Man muß bedenken, daß Gräfin Pongrácz auf ihre Abstammung von keinem geringeren Soldaten als dem großen Attila höchstper sönlich pochte und zudem in der K.u.k.-Zeit am Hof von Buda ebenso selbstverständlich verkehrte wie in den Soldatentaver nen von Pest. Daß sie sich in den Kennzeichen irrte, die einen Angehörigen des Militärs charakterisierten, war mehr als unwahrscheinlich. Die Vorbehalte der Spiritualisten wurden dadurch noch wei ter verstärkt, daß der Eindringling gewisse Schwierigkeiten zu haben schien, sich an seinen eigenen Namen zu erinnern. Schließlich stellte er sich, nicht ohne einiges Zögern, als C. C. Dunn vor. Kaum war diese flüchtige Bekanntmachung beendet, als der sogenannte Mr. Dunn sich dem imposanten Haupt von Mme. Salminen zuneigte und ihr etwas zuzuflüstern begann. Die Gräfin war gerade in der Nähe und verstand es, ohne auch nur das geringste Anzeichen von Aufmerksamkeit zu verraten, ihr Ohr in jene Richtung zu lenken. So bewandert sie zweifel los in dieser seltenen aristokratischen Kunst war, fing sie doch kaum mehr als ein paar abgerissene Satzfetzen auf: »Von weither … Sie zu sehen … Träume … Visionen … Tod … flehe Sie an … Wahnsinn … Vernichtung.« Die Gräfin ging, in Übereinstimmung mit vielen Anwesen den, davon aus, daß Mme. Salminen mit dem Fremden kurzen Prozeß machen würde, wie es bei etlichen anderen bereits der 188
Fall gewesen war. Doch hierin unterschätzten sie die imposante Finnin. Mme. Salminen hegte ein großes Interesse für Men schen, die Anzeichen extremer Gefühlszustände zeigten. Sie glaubte, daß heftige Leidenschaft durch geschickte Steuerung die Bedingungen für von ihr so genannte »mentale Durchbrü che« schaffen könne. Deshalb dachte sie gar nicht daran, den aufgewühlten Mr. Dunn fortzuschicken, sondern hieß ihn im Gegenteil herzlich willkommen und lud ihn zur Teilnahme an der Gesellschaft ein, die sich mittlerweile zur eigentlichen Séance an den Tisch begab. Man muß hier betonen, daß die Berichte der Gräfin Pongrácz über Séancen nicht immer leicht nachvollziehbar sind. Oft warf sie ihre Eindrücke unmittelbar nach der Sitzung rasch hin, wenn sie sich selbst noch in einem nicht unbeträchtlichen Erregungszustand befand. In diesen Situationen begann das makellose Hochdeutsch, in dem ihre Berichte abgefaßt waren, oft Einbrüche zu erleiden. Manchmal wurde der Druck so groß, daß ihr Gefühl für Syntax sich gänzlich auflöste und sie statt vollständiger Sätze reihenweise scheinbar unzusammenhän gende Silben niederschrieb. Dank einer intensiven Computer analyse erkannte man diese phonemischen Häufungen als eine Melange aus zentraleuropäischen Dialekten wie dem Sloweni schen sowie bestimmten ungebräuchlichen karpatischen Varianten des Finno-Ugrischen – Kenntnisse, die sie allesamt zweifellos dem breitgefächerten Hauspersonal im Kastély Pongrácz zu verdanken hatte. Wir können natürlich nicht davon ausgehen, daß die Gräfin eine zuverlässige Zeugin war oder daß aus den skelettierten Wortassoziationen in ihrem Tagebuch eine akkurate Darstel lung abgeleitet werden kann. Ihre Berichte werden jedoch häufig durch das bestätigt, was über das Protokoll und das Prozedere von Mme. Salminens Séancen bekannt ist, und diese Tatsachen sind allgemein unbestritten. Normalerweise zogen sich Mme. Salminen und ihre kleine Schar nach dem Tee in 189
einen nur von einer Kerze erleuchteten Raum zurück. Die versammelte Gesellschaft setzte sich um einen massiven Holztisch, reichte sich die Hände und versuchte, ihre Konzen tration auf einen Punkt zu lenken, wobei Mme. Salminen gewissermaßen als Brennglas für die verstreuten Energien ihrer Gedanken diente. Um als Erfolg gewertet zu werden, mußte eine solche Sitzung eine der »Manifestationen« mentaler Energie hervorbringen, die den Spiritualisten so lieb und teuer waren – Phänomene wie Tischklopfen, automatisches Schrei ben, Geisterstimmen und so weiter. Zu bestimmten, besonderen Gelegenheiten wurden die wenigen Auserwählten sogar mit dem sozusagen renommiertesten aller mentalen Preise belohnt, nämlich mit einer Art Licht, das man als »ektoplasmisches Leuchten« bezeichnete. Daß »Manifestationen« dieser Art unter den Bedingungen kollektiver Hysterie sehr leicht herbei zuführen sind, ist natürlich bereits mehrfach demonstriert worden und bedarf hier keines Kommentars. Festgehalten werden muß jedoch, daß das »Leucht« Phänomen zu den seltenen und ungewöhnlichen Vorkommnis sen zählte. Es entstand meist erst gegen Ende einer Sitzung, und ihm gingen unweigerlich andere Manifestationen wie Tischklopfen etc. voraus. Bei der Zusammenkunft, mit der wir uns im Augenblick beschäftigen, kam Gräfin Pongrácz neben Mme. Salminen zu sitzen. Ihr Gegenüber war der ungebetene Gast, der sich Mr. C. C. Dunn nannte. Es scheint nun, daß die Gräfin, trotz eindeutig anderslautender Instruktionen seitens Mme. Salminen, während dieser Sitzungen gelegentlich ihren Blick über die Runde schweifen ließ. So bemerkte sie, daß nach etwa zwanzig Minuten Mme. Salminen und Mr. Dunn offenbar in eine Art Trance verfallen waren. Ihre Köpfe hingen vornüber und berührten fast den Tisch. Als dieser Zustand über eine beträcht liche Zeitspanne anhielt, begann die Gräfin den sonst undenk baren Schritt zu erwägen, die Sitzung zu unterbrechen (un 190
denkbar deshalb, weil man damals glaubte, eine Unterbrechung würde einen »Geist« in interplasmischen Schwebezuständen gefangensetzen). In dem Moment jedoch, als sie diese Möglichkeit in Betracht zog, wurde Mme. Salminens Kopf plötzlich und ruckartig bis zur Stuhllehne hochgerissen, sie starrte zur Decke, mit aufgelö stem Haar und schlaff offenstehendem Mund, aus dem Spei chelfäden rannen. Dann wurde Mr. Dunn leibhaftig vom Tisch rückwärts weggeschleudert und an die Wand gepreßt, wobei seine Beine in der Luft hingen. Im nächsten Moment erlosch die einzige Kerze, und der Raum versank plötzlich in undurch dringlichem, samtenem Dunkel. Der schwere Tisch fiel mit einem heftigen Krach auf die Seite, und Mr. Dunn stürzte zu Boden, wobei er, offenbar in Hindustani, schrie: »Rette mich … sie … verfolgt mich … flehe um Gnade …« Das Seltsamste an diesen Halluzinationen war, wie die Grä fin berichtet, daß selbst in jenem Dunkel, das nicht nur die Ab Wesenheit von Licht war, sondern vielmehr sein Gegenteil – eine Antithese, die nur vor dem geistigen Auge begreifbar erscheint –, daß sie also selbst in diesem völligen Dunkel C. C. Dunn klar und deutlich sehen konnten, wenn auch nicht auf die Art, die Licht erforderlich macht. Sie sahen, wie er kämpfte, sein Gesicht sich in Agonien verzerrte. Sie beobachteten seine vergeblichen Versuche, das, was ihn so eisern im Foltergriff hielt, abzuschütteln – all dies konnten sie sehen, doch nicht ein einziges Mal erblickten oder erahnten sie zumindest die Ursa che seiner Angst: welche Macht, welche Instrumente oder Mittel diese grausigen Agonien bewerkstelligten. Sein Gesicht war aschfahl vor Furcht, und sie sahen, wie er mit den Armen ruderte und etwas abwehrte, eine Hand oder vielleicht auch irgendein Instrument. Er kauerte auf dem Boden, erschöpft, aber nicht bewußtlos, doch dann änderte sich ebenso plötzlich die Art seines Kampfes. Nun schien er mit einem Tier zu ringen, das seine Fänge um seine Kehle schließen wollte, und 191
stieß immer wiederkehrende Beschwörungsformeln aus. Dann ließ der Lärm unvermittelt nach, und die Kerze flamm te wieder auf, so daß sie nicht länger im Dunklen saßen. Sie öffneten die Augen und stellten fest, daß der Tisch exakt dort stand, wo er vorher gewesen war, und sie alle auf ihren Plätzen saßen. Nur der unangekündigte Gast kauerte – völlig nackt – in einer Ecke. Nun sprach Mme. Salminen zum erstenmal, und zwar in einem so leisen Flüsterton, daß er nur für die neben ihr sitzende Gräfin vernehmbar war. Die ganze Zeit über hatte Mme. Salminen ausgebreitet in ihrem Stuhl gelegen, mit zurückge worfenem Kopf und leeren, blicklosen Augen. Sie sprach, noch ohne das Bewußtsein völlig wiedererlangt zu haben. Der Satz, der ihren Lippen entwich, lautete: »Ich kann nichts tun. Die Stille fordert ihn für sich.« Nach diesen wenigen Worten sank sie über dem Tisch zu sammen. Ihre verängstigten Anhänger brachten sie unverzüg lich in ihr Schlafzimmer, wo sie bis weit in den folgenden Tag hinein blieb. Sobald sie wieder zu sich kam, schickte sie sofort nach der Gräfin. Die beiden Frauen blieben mehrere Stunden in dem verschlossenen Raum allein. Leider verfaßte die Gräfin niemals eine schriftliche Darstel lung ihres Gesprächs an jenem Tag, soll es jedoch verschie dentlich als Wendepunkt in ihrem Leben beschrieben haben. Der tatsächliche Einfluß von Mme. Salminen auf die weitere Karriere ihrer Jüngerin ist allerdings umstritten. Als sie bei spielsweise ihre archäologische Pionierarbeit bei der Ausgra bung früher manichäischer und nestorianischer Stätten in Zentralasien, Nepal und Bengalen auf den Einfluß von Mme. Salminen zurückführte, verstanden ihre Freunde dies eher als Lippenbekenntnis – als Hommage einer dankbaren Jüngerin. Was jedoch ihr Eintreten für die Lehren von Valentinus, dem alexandrinischen Philosophen aus der Frühzeit der Christen heit, betraf, waren sie eher geneigt, ihre Behauptungen für bare 192
Münze zu nehmen. Als sie versicherte, Mme. Salminen habe ihr die Wahrheit der Valentinschen Kosmologie offenbart, deren oberste Gottheiten der Abgrund und die Stille seien, männlich der eine und weiblich die andere, den Geist respekti ve die Wahrheit versinnbildlichend, zweifelten nur wenige ihre Darstellung an, da solche Überzeugungen offensichtlich keiner prosaischen Erklärungen bedurften. Sosehr ihre Freunde auch an ihre exzentrischen Einfalle ge wöhnt waren, machten sie sich doch ernsthaft Sorgen, als sie gegen Ende der vierziger Jahre nach Ägypten ging, um die heiligste Stätte des antiken Valentinus-Kultes zu suchen: den verschollenen Schrein der Stille. Einige erinnerten sich später, nach ihrem Verschwinden, daß sie oft von einer Beschreibung gesprochen hatte, die sie Mme. Salminen verdankte: ein kleines Dörfchen am Rande der Wüste, mit Dattelpalmen und Lehm hütten und knarrenden Wasserrädern.
Zweiunddreißig Urmila zitterte trotz der schwülen Wärme. »Glaubst du, es hängt alles zusammen?« fragte sie. »Die Nachricht, die man dir geschickt hat, und dieses Papier, in das der Fisch eingewickelt war …« »Machst du Witze?« fragte Murugan. »Natürlich hängt es zusammen. Dein Einwickelpapier bringt alles miteinander in Verbindung. Sieh’s doch mal so: Cunninghams Labor war das einzige auf dem ganzen Kontinent, wo Ron auch nur den Hauch einer Chance für einen Durchbruch hatte. Ron wußte das und gierte Ende 1897 darauf, seinen Arsch Richtung Kalkutta in Bewegung zu setzen. Aber Cunningham wollte nicht. Dieses Labor war sein Allerheiligstes, und er dachte nicht daran, es sich von irgend so einem Milchbubi durchein anderbringen zu lassen. Ergo: wenn Cunningham das Haupt 193
hindernis für Rons Versetzung nach Kalkutta war, folgt daraus, daß er um diese Zeit – Ende 1897 – das größte individuelle Hindernis für die Lösung des Malariarätsels darstellte. Wenn jemand Ron in dieser Phase über die Schulter schaute, brauchte er nicht lang, um das herauszufinden. Was tun sie also? Sie nehmen eine Auszeit, halten Kriegsrat, und als sie wieder auf dem Feld erscheinen, haben sie einen neuen Schlachtplan: Cunningham muß verschwinden. Und genau das geschieht. Im Januar 1898 überlegt Cunningham es sich plötzlich anders. Er wirft das Handtuch und verkrümelt sich nach England. Dazwi schen legt er einen Boxenstop in Madras ein, wo er irgendeine psychotische Episode durchlebt. Dieses Papier hier und die Nachricht auf meinem Bildschirm – jemand versucht, mir die Verbindungen aufzuzeigen. Sie wollen mich wissen lassen, daß ich auf der richtigen Spur war.« »Moment mal«, sagte Urmila. »Was meinst du damit, ›sie wollen dich wissen lassen‹? Nicht du hast die Papiere gefun den. Ich war es – und ich habe dich nur zufällig getroffen – weil du gerade in Romen Haldars Haus warst, als ich … als ich ohnmächtig wurde.« »Ach ja?« fragte Murugan. »Na, dann erzähl mir doch mal genau, wie du diese Blätter ›gefunden‹ hast, und dann schauen wir, ob deine Zufallstheorie dem standhält.« Urmila begann ihm von den Vorfällen am Morgen und am Abend zuvor zu berichten – der Anruf für ihre Familie, ihr Versprechen, Fisch zu kochen, und das schicksalhafte Klingeln an der Tür um Viertel nach sieben. Noch während sie die Geschichte erzählte, wurde ihr Bericht allmählich immer stockender. Als sie zu dem unbekannten Fischverkäufer kam, sank ihre Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern herab. »Aber wozu sollte jemand die ganze Sache derart umständ lich inszenieren?« fragte sie. »Wenn sie dich etwas wissen lassen wollen, warum sagen sie es dir nicht einfach? Warum ziehen sie mich mit hinein und Romen Haldar und …« 194
Murugan blieb stehen und kratzte sich am Bart. »Die Wahr heit ist«, sagte er, »daß ich es nicht weiß. Aber ein paar Dinge sind sonnenklar. Jemand versucht uns auf einige Verbindungen hinzuweisen. Sie versuchen uns etwas zu sagen, etwas, das sie sich nicht selbst zusammenreimen wollen. Das heißt, wenn wir bis zum Ende durch sind, haben wir eine ganz neue Geschich te.« »Wozu?« fragte Urmila. »Welchem Zweck soll das dienen? Was haben sie davon, ob wir bis zum Ende durchkommen oder nicht?« »Ich bin nicht völlig sicher«, sagte Murugan, »aber ich schät ze, ich könnte ein mögliches Szenario skizzieren.« »Nur zu«, sagte Urmila. »Gut«, sagte Murugan. »Einmal angenommen, nur ange nommen, du hättest die Überzeugung – frag mich nicht warum und wieso, das Ganze ist ein reines Hypothesenspiel –, also angenommen, du glaubst, etwas zu kennen bedeutet, es zu verändern. Dann würde daraus doch folgern, daß etwas be kanntzumachen eine Methode wäre, eine Veränderung herbei zuführen? Oder eine Mutation zu bewirken, wenn dir das besser gefällt.« Urmila gab einen zweifelnden Laut von sich. »Gehen wir einen Schritt weiter. Aus dieser Überzeugung würde folgern, daß eine Methode, gewisse Dinge bekanntwer den zu lassen, darin bestünde, eine bestimmte Veränderung oder Mutation herbeizuführen. Man müßte dabei sehr vorsich tig vorgehen, weil das Experiment nicht funktioniert, solange es nicht zu irgendeiner echten Entdeckung führt. Es wäre beispielsweise sinnlos, sich einfach jemanden aus der Menge herauszupicken und zu sagen: ›Hey, hier ist eine Zwei und da noch eine. Zähl sie zusammen, und was kommt dabei heraus?‹ Das wäre keine echte Entdeckung, weil die Antwort schon bekannt ist. Man müßte daher die Versuchskaninchen auf die richtige Bahn lenken und abwarten, daß sie von selbst drauf 195
kommen.« »Du willst also sagen«, erwiderte Urmila, »daß jemand dich auf diese umständliche Art durch mich etwas wissen läßt und das Ganze eine Art Experiment ist, mit dem sie versuchen, etwas zu verändern?« »Ich hätte es nicht besser ausdrücken können.« »Aber was denn zu verändern?« rief Urmila. »Und warum? Was haben sie mit uns vor?« »Das wissen wir nicht«, sagte Murugan. »Wir wissen weder was noch warum.« »Du meinst also«, sagte Urmila, »daß wir in einem Experi ment stecken und nicht wissen, warum und worauf es hinaus läuft?« »Richtig«, sagte Murugan. »Tatsache ist, daß wir es mit Leu ten zu tun haben, für die das Schweigen eine Religion darstellt. Wir wissen nicht einmal, was wir nicht wissen. Wir wissen nicht, wer dazugehört und wer nicht. Wir wissen nicht, wie viele Stränge sie in der Hand haben. Wir wissen nicht, wie viele Fäden wir für sie knüpfen sollen und wie viele sie für den nächsten hängenlassen.« »Du meinst«, sagte Urmila, »ein anderer soll den Rest he rausfinden – später irgendwann?« »Ich nehme an, das ist der Fall, ja«, sagte Murugan. »Diese Menschen haben es nicht eilig. Sie haben seit ungefähr einem Jahrhundert sorgfältig ausgewählte Fingerzeige ausgelegt, und hin und wieder beschließen sie, aus Gründen, die nur sie kennen, ein paar Auserwählte darauf aufmerksam zu machen. Nur weil zufällig du und ich dabei sind, heißt das noch lange nicht, daß die Liste damit beendet ist.« »Wo führt das alles hin?« fragte Urmila. »Wo wird es en den?« »Das wird es nicht«, antwortete Murugan. »Ich sag dir, wie es funktioniert: den richtigen Zeitpunkt, um die letzte Seite aufzuschlagen, müssen sie sehr sorgfältig auswählen. Denn 196
indem sie ›Ende‹ unter die Geschichte schreiben, hoffen sie ja, damit den Quantensprung in die nächste auszulösen. Doch damit das passiert, müssen zwei Dinge präzise zusammenfal len: Der Abspann muß in exakt dem gleichen Augenblick erscheinen, in dem die Geschichte demjenigen enthüllt wird, für den sie sie aufheben.« »Worauf warten sie also?« fragte Urmila. »Kann alles mögliche sein«, antwortete Murugan. »Vielleicht warten sie darauf, eine bisher unbekannte Art von Malaria zu finden. Oder vielleicht warten sie auf eine Technologie, mit der sie ihre Geschichte diesem Auserwählten schneller und leichter übermitteln können, eine Technologie, die das Ganze weit anschaulicher inszeniert als alles, was heute verfügbar ist. Oder vielleicht warten sie auf beides. Wer weiß?« Ein Donnergrollen unterbrach ihn. Urmila sah sich schnell um und fand eine geschützte Stelle unter dem überhängenden Dach des verfallenen Nebengebäudes. Sie zwängte sich darun ter und kauerte sich, die Knie ans Kinn gezogen, auf den Boden. Murugan folgte, kroch neben sie und kreuzte unbehol fen die Beine. Binnen Minuten strömte der Regen über das Vordach vor ihnen herab. Die Arme um die Knie geschlungen, starrte Urmila auf die durchsichtige Regenwand. Alles erschien jetzt so unklar: der Anruf vom Klub, der Fischverkäufer am Morgen, Romen Haldar, Sonali Das. Es war so schwierig zu erkennen, was dazugehörte und was nicht. Das Küchenfenster mit Ausblick auf das Haus von Haldar, gehörte das dazu? Ihre Eltern? Ihre Brüder? Ihre Schwägerin? (Nein, sie nicht.) Gehörte es dazu, daß sie diesen gräßlichen, schmutzigen Sari anhatte, voller Flecken von Gelbwurz und Fischblut? Gehörte es dazu, daß sie heute morgen an die Tür der Gangopadhyayas geklopft und sie aufgeweckt hatte? Und welch merkwürdige Vorstellung, daß all das geschehen war, während sie nur daran dachte, schnellstmöglich den Fisch zu kochen, damit sie den BBD 197
Bagh-Minibus nehmen und rechtzeitig zur Pressekonferenz des Ministers für Kommunikationswesen im Great Eastern Hotel sein konnte. Wenn sie jetzt daran dachte, schien es eine Ewig keit her zu sein. Sie wußte kaum noch, warum der Minister für Kommunikationswesen und seine Pressekonferenz so wichtig gewesen waren, warum sie es so eilig gehabt hatte, dorthin zu kommen, warum es dem Nachrichtenredakteur so am Herzen lag. Was hätte der Minister schon groß gesagt? Daß Kommuni kation eine gute Sache war? Daß er in diesem Amt seine Lebensaufgabe sah? Wie seltsam wäre es gewesen, an einer Tastatur zu sitzen und sich eine gute Schlagzeile für folgende Einleitung auszudenken: Der Minister für Kommunikationswe sen erklärte heute bei einer Pressekonferenz, er sei fest davon überzeugt, daß im Kommunikationswesen der Schlüssel für Indiens Zukunft liege. In gewisser Weise erschien es fast weniger seltsam, hier zu sein und auf dieser tropfenden Veran da zu sitzen, wo es überall nach Scheiße roch, als einem fetten alten Mann aus Delhi zuzuhören, wie er in ein krächzendes Mikrofon sprach. Es war leichter zu verstehen, warum sie hier war, zusammengekauert in der feuchten Ecke dieses verfalle nen Nebengebäudes, als zu erklären, warum sie versucht hatte, Fisch zu kochen, damit ihr Bruder in eine Fußballmannschaft der ersten Liga aufgenommen wurde. Es erschien sinnvoller, Murugan über Ronald Ross reden zu hören, als sich Sorgen zu machen, ob sie sich in einen BBD-Bagh-Minibus hineinquet schen konnte, um noch rechtzeitig zu einer Pressekonferenz im Great Eastern zu kommen. Und dies, obwohl sie nie zuvor von Ronald Ross gehört, nie zuvor mit diesem Mann gesprochen hatte, der jetzt dicht neben ihr saß, sein Bein an ihrem. Er war anders als alle, die sie kannte, aber daran war natürlich nichts auszusetzen. Es war nett, jemand Neuen kennenzulernen, und auch sein Bart war nett, er wirkte wie eine Bürste. Wie wäre es wohl, ihn zu berühren – seinen Bart –, begann sie zu überlegen und wurde sich dann überrascht bewußt, daß sie ihn berührte, 198
nicht seinen Bart, aber seinen Schenkel, der angenehm warm und gar nicht feucht an ihrem ruhte. Draußen auf der Straße donnerten noch immer die Busse im Regen vorbei. Sie sah, wie die Menschen sich hinter den beschlagenen Fenstern drängten, unter ihren Schirmen den Gehweg entlanghasteten, in den Nandan-Kinokomplex und in die Akademie der Schönen Künste eilten. Welch merkwürdiger Gedanke, daß Murugan und sie nur eine lächerliche kleine Mauer von ihnen trennte, nur eine kleine Mauer, doch sie erfüllte ihre Funktion ebenso gut, als wäre sie die Chinesische Mauer, denn sie verbarg sie und ihn vor den Blicken der anderen. In gewisser Weise war es wie in einem Reagenzglas. So fühlte es sich vielleicht an: man wußte, daß auf dieser Seite des Glases etwas geschehen würde und auf der anderen nicht. Es war eine Wand zwischen einem selbst und allen anderen, all den Menschen in den Bussen und Minibussen, die nach ihrem morgendlichen Reis von Kankur gachi und Beleghata und Bansdroni zur Arbeit eilten, den Geruch von Linsen noch unter jedem Fingernagel. Sie waren nur auf der anderen Seite der Mauer und doch so weit fort. Sie würden nichts davon mitbekommen, selbst wenn er sein Hemd auszog und sie mit den Fingernägeln von seiner Brust bis zum Bauch hinunterfuhr. Sie würden es nicht mitbekommen, wenn er die Hose bis zu den Knöcheln gleiten ließ und ihre Hand in seinem Schoß lag statt in ihrem, ihr Zeigefinger durch das krause Haar in seiner Leistengegend strich. Sie würden es nicht mitbekommen, wenn sie ihre Bluse abstreifte und sein Arm um ihre Schulter lag, seine Hand ihre Brust umfaßte und sein Daumennagel über ihre Brustwarze rieb. Sie würden es nicht wissen, hätten nicht die geringste Ahnung, während sie auf dem Weg zur Arbeit vorüberhasteten, und eigentlich war die Vorstellung nicht so abwegig – sein Arm um ihre Schulter und seine Hand auf ihrer Brust. Es würde ebenfalls eine Art Expe riment sein, genau das – ihn zwischen ihren Beinen zu spüren, seine Lippen auf ihrem Hals, etwas Lebendiges tief in ihrem 199
Inneren zu fühlen. Welch anderes Wort könnte es dafür geben als »Experiment« – etwas Neues, etwas, von dem sie wußte, daß es sie verändern würde, selbst wenn es nur ein paar Minu ten oder gar Sekunden dauerte. Etwas, das auf Wegen zustande kam, die weitab ihrer Vorstellungskraft lagen, und das sie in keinster Weise beeinflussen konnte.
Dreiunddreißig Nachdem er sich vergewissert hatte, daß seine Nachricht an Tara durchgegangen war, holte Antar sich in der Küche ein Glas Wasser. Taras Wohnung war noch immer dunkel, doch ihre weißen Spitzenvorhänge blähten sich gespenstisch in der leichten Abendbrise. Sie hatte wieder die Fenster unten ein paar Zentimeter offengelassen. Antar biß sich auf die Lippe. Seltsam, daß er es nicht schon früher bemerkt hatte. Er machte sich immer Sorgen, wenn sie das tat. Es war ihm nach wie vor ungewohnt, daß jetzt noch jemand hier wohnte, der Fenster öffnete und Türen schloß. Ein anderes Mal, als sie die Fenster offengelassen hatte, war nachmittags unerwartet ein Sturm losgebrochen. Ava hatte Antar frühzeitig gewarnt. Sie unterbrach eine ihrer endlosen Inventarlisten und teilte ihm mit, daß schlechtes Wetter im Anzug sei. Er ging durch die Wohnung und schloß die Fenster. In der Küche bemerkte er, daß Taras Fenster offenstanden – nicht ganz, aber doch gute zehn Zentimeter oder etwas mehr. Die weißen Spitzenvorhänge ihres Wohnzimmers flatterten im Wind. Als er eine halbe Stunde später nochmals nachsah, waren die Vorhänge weg. Der Wind hatte sie von der Stange gerissen. Sturmböen peitschten den Regen herein. In den folgenden Stunden zog es Antar wieder und wieder zum Küchenfenster. 200
Er fühlte sich irgendwie verantwortlich, als trage er die Schuld daran. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was Wind und Regen in der Wohnung anrichteten. Doch er konnte es sich nur zu gut vorstellen: wie das Wasser über den Holzboden strömte und sich rund um die Binsenmatten sammelte, die sie so sorgsam und präzise ausgelegt hatte. Taras Freunde, Lucky und Maria, hatten ihr beim Herauftra gen geholfen, als sie vor ein paar Monaten eingezogen war. Antar hatte gestaunt, wie wenig sie besaß: einen Futon, einige Laken und Matten, zwei Tische und ein paar Stühle, die aussa hen, als hätte sie sie von der Straße aufgelesen. An den Wän den hing nichts weiter als einige kalligraphische Schriftrollen. Diese waren nun ruiniert. Er sah, wie sie zerfleddert, in wilden weißen Fransen, von den Wänden ihres Wohnzimmers hingen. Der Wind hatte sie in Fetzen gerissen. Weit schlimmer war, daß er sie nicht benachrichtigen konnte. Damals hatte sie noch keinen Piepser. Sie arbeitete bei der vorigen Stelle, und er wußte ihre Telefonnummer nicht. Er konnte nichts tun als warten. Als die Lichter in ihrer Wohnung angingen, war der Sturm schon vorbei. Antar eilte in die Küche, um ihr zu sagen, was passiert war, und entdeckte, daß nicht Tara, sondern Lucky in die Wohnung gekommen war. Er räumte bereits eifrig auf. Antar behielt ihn im Verlauf der nächsten Stunde unauffällig im Auge. Offenbar wußte Lucky nicht, daß er gesehen werden konnte. Er zog sein T-Shirt und die Hose aus und schlang ein Küchenhandtuch um seine Lenden. Dann wischte er auf Knien den Fußboden auf, nicht nur einmal, sondern zweimal. Antar schaute zu und hoffte nur, er werde keinen Schaden anrichten. Lucky war notorisch ungeschickt, ließ ständig Tabletts fallen und verschüttete Tee. Er hatte »zwei linke Daumen«, wie Tara oft sagte. Kurz danach hörte Antar, wie Taras Tür zufiel. Er ging in die Küche, um nachzusehen, ob sie endlich daheim 201
war. Er sah sie, wie sie müde ihre Handtasche abnahm und zu Boden fallen ließ. Dann eilte Lucky aus einem anderen Raum hinzu – um sie zu begrüßen, wie Antar dachte. Was er jedoch statt dessen tat, versetzte Antar in Erstaunen. Er warf sich vor Tara auf den Boden und berührte ihre Füße mit seiner Stirn. Taras erste, instinktive Reaktion war, durch die Wohnung zu Antars Küchenfenster zu blicken. Als sie Antar dort stehen sah, wurde sie sehr verlegen. Sie winkte ihm gezwungen zu und murmelte dann etwas zu Lucky, der sich mit dümmlichem Gesichtsausdruck wieder aufrappelte. Antar war ebenfalls verlegen, brachte jedoch ein Lächeln und ein Winken zustande. Er hatte stets angenommen, daß sie nur gute Freunde waren, und sich sogar gefragt, ob sie vielleicht etwas miteinander hatten – obwohl ihm Lucky ein wenig zu jung für sie schien. Doch Tara erklärte ihm später, sie seien entfernte Verwandte – daher die Begrüßung. Und nun war es wieder soweit, sie hatte ihr Fenster offenge lassen. Antar zuckte die Achseln. Wenigstens regnete es heute nicht. Er hielt sein verschwitztes Gesicht über das Spülbecken und ließ Wasser darüberlaufen. Er war auf dem Weg ins Schlafzimmer, als das Telefon läute te. Er nahm den Anruf im Wohnzimmer entgegen und ließ sich in den Stuhl gegenüber von Avas Bildschirm fallen. Es war Tara, und sie klang ein wenig atemlos. »Hast du meine Nachricht bekommen?« fragte Antar. »Allerdings«, antwortete sie. »Es klang so geheimnisvoll, daß ich einfach nachfragen mußte, was los ist.« »Ach, nichts Besonderes«, erwiderte Antar. »Reine Routine arbeit, die länger dauert als geplant.« »Ach wirklich?« sagte sie. »Klingt furchtbar wichtig.« »Außerdem fühle ich mich nicht wohl.« »Kann ich irgendwie helfen?« Ihre Stimme war sofort voller 202
Anteilnahme. »Gibt es irgendwas, was ich für dich tun kann?« »Alles in Ordnung. Ich habe das schon früher mitgemacht.« »Ich könnte vorbeikommen«, sagte sie. »Du brauchst es nur zu sagen.« »Nein, vielen Dank.« Er beschloß, das Thema zu wechseln. »Von wo rufst du an?« fragte er. »Vom Spielplatz an der 97. Ecke Riverside«, sagte sie. »Mein kleines Monster versucht gerade, auf einen Dinosaurier aus Fiberglas zu klettern.« »Du bist beim Spielplatz?« fragte Antar erstaunt. »Aber ich höre gar keine Kinder.« Sie lachte. »Nein. Die meisten sind weiter vorn bei den Ra sensprengern und lassen sich naß regnen.« Antar schwieg verwirrt. Irgend etwas schien nicht ganz zu stimmen. »Gibt es denn öffentliche Telefonzellen am Spiel platz?« fragte er. »Nein«, sagte sie. »Oder falls doch, benutze ich jedenfalls keine davon. Eins von den Au-pair-Mädchen hat mir ihr – wie heißt das noch? – dieses tragbare Dingsda geliehen. Ich glaube, ich laß dich jetzt lieber in Ruhe. Sag Bescheid, wenn du es dir anders überlegt hast mit dem Abendessen. Ich kann in ein paar Minuten dasein.« »Hast du ein paar Minuten gesagt?« fragte Antar. »Aber von der 97. Straße brauchst du doch mindestens eine halbe Stunde bis hierher. Selbst mit dem Taxi …« »War nur so dahingesagt …« antwortete sie rasch. Genau in diesem Moment ließ Ava einen Klingelton hören, um anzuzeigen, daß sie auf Standby umschaltete. Eine Sekunde später hörte Antar den gleichen Ton über die Telefonleitung. »Ich muß Schluß machen«, sagte Tara. Antar fuhr zusammen. »Warte einen Moment …« rief er ins Telefon. Aber die Leitung war schon tot. Antar starrte auf den Hörer, ohne recht zu wissen, was ei gentlich vorgegangen war. Einen Moment lang hatte es so 203
geklungen, als sei Tara mit ihm im gleichen Raum, als habe er das Echo des Klingeltons aus ihrer Sprechmuschel gehört. Er legte den Handrücken auf seine Stirn. Sie war sehr heiß, was ihn nicht überraschte. Zweifellos hatte er jetzt wirklich hohes Fieber. Er entschied, daß es Zeit für ihn wurde, sich hinzulegen.
Vierunddreißig Murugan legte seinen Taschenkalender auf die Knie, schützte ihn mit einem Arm gegen den Regen und begann, mit einem Kugelschreiber auf einer leeren Seite zu zeichnen. Als er fertig war, riß er das Blatt heraus und gab es Urmila. Es war die Skizze einer kleinen Figur – ein halbrunder Hügel mit zwei aufgemalten Augen, flankiert von einer winzigen Taube und einem halbkreisförmigen Instrument. »Hast du so was schon mal gesehen?« fragte er. Urmila musterte die Zeichnung genau und runzelte die Stirn. »Schon möglich, aber ich hätte wohl nicht darauf geachtet«, sagte sie. »So sehen viele Tempelfiguren aus – abgesehen von diesem Ding da. Was ist das?« Sie deutete auf das Instrument. »Ich schätze, es soll ein altmodisches Mikroskop sein«, sagte Murugan. »Was stellt die Figur denn dar?« »Wenn ich raten soll, würde ich sagen, dies war die Geburts helferin bei Rons Entdeckung«, sagte er. »Ich vermute, daß sie hinter dem ganzen Experiment stand.« »Du meinst, es war eine Frau?« fragte Urmila. Murugan nickte. »Wo hast du sie gefunden?« »Da drüben«, sagte Murugan und deutete mit seinem Stift zur Mauer. Es regnete jetzt so stark, daß die Nische kaum zu sehen war, obwohl sie nur ein paar Meter entfernt lag. Er erklärte, 204
wie er die kleine Figur dort am Abend zuvor entdeckt hatte. Urmila hörte aufmerksam zu. Als er fertig war, nickte sie leicht, wie zur Bestätigung. »Seltsam«, sagte Urmila. »Neulich las ich gerade ein Buch mit Essays von Phulboni – du weißt schon, der Schriftsteller, der gestern im Rabindra Sadan einen Preis bekam. Was du erzählst, erinnert mich an etwas, das er vor langer Zeit schrieb. Ich kann die Passage fast auswendig. Sie beginnt so: ›Ich habe nie herausgefunden, ob das Leben in den Worten liegt oder in den Bildern, im Sprechen oder im Sehen. Entsteht eine Ge schichte durch die Worte, die ich aus meinem Geist heraufbe schwöre, oder lebt sie bereits irgendwo, umschlossen von Lehm und Ton – in einem Bild, das heißt, in der gestalteten Nachahmung des Lebens?‹« Urmila fuhr fort: »Offenbar schrieb Phulboni vor vielen Jah ren eine Geschichte über eine Frau, die ein Bad nahm …« Sie sprach mit tiefer Stimme weiter, um den Schriftsteller nachzu ahmen: »›… Eine Frau, die sich in nichts von Hunderten anderer Frauen unterschied, wie man sie jeden Tag aus den Fenstern von Autos und Bussen sieht, eine Frau, die sich den Staub des Tages im kühlen, halb mit Unkraut überwachsenen Wasser eines Teichs in einem Park vom Leibe wusch – einem Teich wie so viele in unserer Stadt, im Minto-Park, oder in Poddopukur oder einem Dutzend anderer. Die Frau kniet in dem weichen, zähen Schlamm, das Wasser reicht wie ein dunkler Vorhang bis zu ihrem Kinn, so daß sie für einen Moment das Oberteil ihres schmutzigbraunen Saris von den Schultern streifen und mit den Fingerspitzen über ihre Brüste streichen kann. Sie fährt mit einem Stück Seife über die verhär tete Haut ihrer von Säuglingen zerbissenen Brustwarzen und gleitet mit der Hand dann tiefer, vorbei an den Falten ihres ausgelaugten Bauches, und noch weiter, tiefer und tiefer, fährt mit der schäumenden Seife über die geteilten Lippen, die ein Dutzend Kinder in das Bett ihres Mannes ausgespien haben, 205
und noch tiefer in den samtigen, feuchten Schlamm, die Seife klebt an ihren Fingern, und dann unversehens gleitet ihr Fuß ab, und sie klammert sich, einen panischen Augenblick lang, an den Schlamm, der plötzlich so weich, so schwammig und nachgiebig ist wie der Tod selbst, ihre Hände krallen sich in das unermeßlich tiefe Dunkel, und dann, als sie schon der Vernichtung ins Angesicht zu blicken glaubt, kratzt der Rand eines Fingernagels plötzlich über etwas Festes, Scharfkantiges, etwas mit erlösenden, rettenden, lebensspendenden Ecken, etwas himmlisch Hartes, das ihr jenen Moment lang Halt gibt, den sie braucht, um sich wieder an die Oberfläche zu kämpfen und tief die feuchte Luft einzuatmen, die über unserer Stadt hängt. Und als ihr Rumpf aus dem Wasser auftaucht, mit entblößten Brüsten, das schwarze Haar bis zu den Knien herabhängend, schleudern ihre Arme einen Wasserbogen hoch in die Luft, und sie ruft: ›Sie hat mich gerettet, sie hat mich gerettet‹, und mit einem Mal springen all die anderen Badenden hinein, ihre Füße wirbeln das glatte braune Wasser zu einem schäumenden Morast auf, und sie nehmen sie bei den Armen, ziehen sie ans Ufer, während sie, immer noch Wasser ausspeiend, weiter schreit: ›Sie hat mich gerettet, sie hat mich gerettet!‹ Als sie auf dem Gras liegt, biegen sie ihre Faust auf und sehen, daß sie einen Gegenstand umschlossen hielt, einen polierten grauen Stein, aus dessen Zentrum ein weißer Kreis wie ein allsehendes Auge hervorstarrt. Sie schreit, sprudelt durch einen Schwall von verschlucktem Schlamm und Wasser hervor, sie will das kleine Ding nicht hergeben, das ihr Halt gab und sie vor dem Ertrinken bewahrte, doch die anderen entreißen es ihr, denn sie wissen, daß der Stein, der sie rettete, dieses kleine, lebensspendende Stück Fels, nichts anderes war als eine wundersame Manifestation von … ja, wovon? Sie wissen es nicht, sie glauben nur an die Echtheit des Wunders …‹« 206
Urmila holte Atem und wandte sich zu Murugan. »Und dann«, sagte sie, »ging Phulboni eines Tages, viele Jahre später, an einem Park vorbei und sah einen kleinen Schrein, geschmückt mit Blumen und Opfergaben. Er blieb stehen und fragte nach, doch konnte ihm niemand sagen, wen der Schrein ehrte und wie er dorthingekommen war. Weil er es unbedingt herausfinden wollte, ging er nach Kalighat, in eine der Gassen, wo diese Figuren hergestellt werden. Und dort fand er jemanden, der ihm fast die gleiche Geschichte erzählte wie seine eigene, doch hatte der Mann nie von Phulboni gehört und nie etwas von ihm gelesen. Als er fertig erzählt hatte, wußte Phulboni nicht mehr zu sagen, was zuerst geschehen war oder ob alles zur Entstehung der Figur gehörte: ihr Ruhen im Schlamm, das Schreiben seiner Geschichte, die Entdeckung der Badenden und die Erzählung, die er gerade in Kalighat gehört hatte.« Murugan strich mit einem Fingernagel durch seinen Kinn bart. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. Urmila streckte prüfend eine Hand hinaus in den Regen. Es nieselte nur noch leicht. Sie versetzte Murugan einen Rippen stoß. »Komm«, sagte sie, »gehen wir.« »Wohin?« fragte Murugan. »Nach Kalighat«, sagte sie. »Vielleicht finden wir dort etwas über die Figur heraus, die du gesehen hast.«
Fünfunddreißig Auf dem Weg nach Kalighat, als sie die regenglänzenden Straßen durch die beschlagene Scheibe des Taxis betrachtete, kam Urmila eine lebhafte Erinnerung an die Gasse, zu der sie jetzt fuhren: niedrige Hütten mit Wellblechdächern an einem schmalen, gewundenen Sträßchen, die Gehwege gesäumt von Reihen graubrauner Tonfiguren, manche nur Torsos mit schwe 207
ren Brüsten, doch ohne Kopf, aus deren Hälsen Strohbüschel sprossen, manche ohne Beine, ohne Hände, manche mit Ar men, die sich in leeren Gesten um unsichtbare Objekte – Waffen, Sitars, Schädel – legten. Eine Tante von ihr lebte in der Nähe, in einem großen, alten Haus, das weit aus den umliegenden Gassen herausragte. Als Kind war sie oft durch das Sträßchen gegangen, um ihre Tante zu besuchen. Voll Staunen hatte sie zugesehen, wie Brüste und Bäuche unter den knetenden Fingern der Handwerker Form annahmen, und sich über ihre intimen Kenntnisse jener Spek tralkörper verwundert. Im Haus ihrer Tante ging sie oft auf den Balkon, blickte auf die Gasse mit ihren Reihen von Tonfiguren herunter und beobachtete die Bildner bei der Arbeit, nahm genauestens wahr, wie unterschiedlich sie Köpfe und Hände modellierten, sah, wie die Figuren mit den Jahreszeiten wech selten. Im Januar erschien eine wahre Phalanx von Ma Sho roshshotis, alle mit Schwan und Sitar versehen, den Emblemen der Göttin, und im Herbst waren es Ma Durgas, umgeben vom gesamten Pantheon ihrer Familie, zu deren Füßen sich Mahis hashur wand. Das Taxi blieb an der Ecke zur Gasse stehen, und sie traten in den feinen, dunstigen Nieselregen hinaus. Murugan zahlte, und Urmila führte ihn rasch zu den geduckten Werkstätten mit ihren Bambuswänden am Ende der Gasse. Hunderte glücksse lig lächelnder Gesichter glitten auf ihrem hastigen Weg an ihnen vorbei, manche in Segeltuch gehüllt, die Augen blicklos, die Arme in unbeweglicher Segnung ausgestreckt. Urmila lachte. »Was ist?« fragte Murugan. »Als Kind hatte ich oft einen Traum«, sagte Urmila schmun zelnd. »Ich träumte, daß ich eines Tages die Wohnungstür öffnete und draußen eine kleine Gruppe von Göttern und Göttinnen stand, die mit ihren tönernen Fingerspitzen die Glocke läuteten. Ich machte auf und hieß sie mit gefalteten 208
Händen willkommen, und sie glitten auf ihren Schwänen, Ratten, Löwen und Eulen herein, und meine Mutter führte sie zu dem kleinen Resopaltisch, an dem wir essen. Sie setzten sich auf unsere Stühle, und meine Mutter lief hin und her, kochte Tee und servierte Pfannkuchen, während wir ehr furchtsvoll zusahen, die Hände zum Gebet gefaltet. Wir boten dem Schwan und der Eule Süßigkeiten an, und Ma Kali lächel te uns mit ihren brennenden Augen zu, Ma Shoroshshoti spielte ein paar Töne auf der Sitar, und Ma Lokhni saß mit gekreuzten Beinen auf ihrem Lotos und hielt die Hand empor, genau wie auf den Etiketten der Dosen mit geklärter Butter.« Sie blieb an der offenen Tür einer Werkstatt stehen. »Versu chen wir es hier«, sagte sie und führte ihn hinein. Sie traten durch den offenen Eingang in das schwach beleuchtete Innere der Werkstatt und sahen eine Unmenge lächelnder, fleischfar biger Gesichter. Irgendwo zwischen den starren Figuren nahm Urmila eine Bewegung wahr. »Ist da jemand?« rief sie. »Wer ist da?« Die Gestalt verschwand so schnell, wie sie aufgetaucht war, hinter einem etwa zwei Meter hohen, tanzenden Ganesh. »Wir wollten uns nur mit Ihnen unterhalten«, sagte Urmila. Ein älterer Mann löste sich aus einer Pantheon-Gruppe auf einem Sockel und stand plötzlich vor ihr. Er trug eine Pluder hose und ein Netzhemd, und sein schmales, mißmutiges Ge sicht erschien finster verzerrt. Urmila trat zurück und spießte sich um ein Haar an einem Speer auf, den eine gelassen drein blickende Ma Durga in den Händen hielt. »Vorsicht«, zischte der Mann. Er betrachtete sie mißtrauisch, wie sie ihren feuchten, fleckigen Sari glattstrich. »Was wollen Sie?« fragte er. »Wir haben gerade eine Menge zu tun und keine Zeit für Unterhaltungen.« Urmila faßte sich und schlug sofort ihren professionellen Ton an. »Ich arbeite als Reporterin für Calcutta«, sagte sie mit 209
kühler, fester Stimme. »Und ich möchte Ihnen eine Frage stellen.« Der Mann runzelte noch stärker die Stirn. »Was für eine Frage?« sagte er. »Wozu? Ich weiß nichts. Wir verstehen nichts von Politik.« »Es geht nicht um Politik.« Urmila drückte ihm Murugans Zeichnung in die Hand. »Können Sie mir sagen, was das für eine Figur ist?« Der Mann kniff die Augen zusammen und warf einen schar fen Blick auf Murugan. »So was habe ich noch nie in meinem Leben gesehen«, sagte er und gab die Zeichnung zurück. »Ich kenne alle Götterbilder, die es gibt, und so eins habe ich noch nie gesehen.« Urmila wandte sich zu Murugan, um zu übersetzen, aber er winkte ab. »Das hab ich verstanden«, flüsterte er. »Aber mein Gefühl sagt mir, daß er lügt.« »Sie wissen also nichts über diese Figur?« fragte Urmila den Mann in den Pluderhosen. »Sind Sie ganz sicher?« »Haben Sie nicht gehört?« fragte der Mann mit erhobener Stimme. »Ich sagte nein! Wie oft soll ich das noch sagen?« Ein paar jüngere Männer hatten sich mittlerweile um sie geschart. Als Urmila ihnen die Zeichnung hinhielt, trat der ältere Mann dazwischen. »Was können sie Ihnen schon sagen?« fragte er. »Das sind doch halbe Kinder.« Vor sich hinmurrend, drängte er Urmila und Murugan hastig zur Tür. Er schob sie hinaus und scheuchte sie ungeduldig davon: »Gehen Sie, nun gehen Sie schon, hier gibt es nichts für Sie.« Er sah ihnen nach und verschwand dann im Inneren der Werkstatt. »Na ja«, sagte Murugan und wischte sich den Staub von den Händen. »Mehr werden wir aus ihm wohl nicht herauskrie gen.« Urmila wollte schon gehen, als Murugan sie plötzlich fest 210
hielt. »Sieh nur! Da drüben!« sagte er und hielt den Atem an. Sein Finger deutete auf ein Kind, ein sechs- oder siebenjähriges Mädchen, das am Straßenrand saß und mit einer Puppe spielte. »Was denn?« fragte Urmila. »Sieh doch, was sie der Puppe gerade in die Hand gegeben hat«, flüsterte Murugan ihr ins Ohr. Urmila schaute genauer hin und bemerkte nun, daß das Mäd chen versuchte, der blicklosen Plastikpuppe einen winzigen, halbrunden Gegenstand in die starren Hände zu drücken. »Was ist es?« fragte sie. »Ich kann es nicht erkennen.« »Siehst du das nicht?« sagte Murugan. »Es ist ein stilisiertes kleines Mikroskop, genau wie das, was ich gesehen habe.« Er stieß sie an: »Geh hin und frag sie, woher sie es hat.« Urmila ging einen Schritt vorwärts. Als ihr Schatten näher kam, blickte das Mädchen auf, und seine Augen weiteten sich argwöhnisch. Urmila lächelte ihr beschwichtigend zu und ließ sich langsam neben ihr auf die Knie nieder. »Oh, das ist aber schön«, sagte sie sanft in kindgerechtem Bengali und zeigte auf das winzige Mikroskop, das sich jetzt im Griff der Puppe befand. »Es gehört mir«, sagte das Mädchen abwehrend und schloß die Faust um die Puppenhand. »Ja, natürlich gehört es dir«, sagte Urmila. »Dein Vater hat es dir geschenkt, nicht wahr?« Das Mädchen nickte langsam und nachdrücklich. Sie deutete mit dem Kopf Richtung Werkstatt. »Mein Vater ist da drin«, sagte sie. »Er hat viele davon gemacht.« »Ja?« Urmila nickte ermunternd. »Sie sind für das große Fest heute abend«, bemerkte das Mädchen. »Wirklich?« Urmila lächelte. »Ich wußte gar nicht, daß es heute abend ein Fest gibt.« »Doch«, nickte das Mädchen nachdrücklich. »Heute ist der letzte Tag des Festes von Mangala-bibi. Papa sagt, heute abend 211
wird Mangala-bibi in einen neuen Körper schlüpfen.« »Und in welchen?« fragte Urmila. »Den sie sich ausgesucht hat natürlich«, sagte das Mädchen. »Niemand weiß, wessen Körper es ist.« Murugan zischte Urmila ins Ohr: »Frag sie nach Lutchman.« Doch bevor Urmila noch etwas sagen konnte, stürmte ein Mann aus der Werkstatt, hob das Mädchen hoch und trug es hinein. Dann erschien wieder der ältere Mann in den Pluderho sen, mit einem Stock in der Hand. »Wieso sind Sie immer noch da?« schrie er Urmila an. »Warum haben Sie mit dem Kind gesprochen? Sind Sie etwa Kidnapper? Ich werde gleich die Polizei holen.« »Nicht nötig«, sagte Urmila und stand auf. »Wir gehen schon.« Sie berührte Murugan am Arm und ging rasch die Gasse hinunter.
Sechsunddreißig Antar dämmerte gerade in den Schlaf hinüber, als Ava einen dringenden Aufruf signalisierte. Es war nicht sehr laut. Antar fühlte es eher durch die Schwingungen des Bodens in seinem Bauch, als daß er es hörte. Er steuerte vorsichtig das Wohnzimmer an und entdeckte tief in Avas Briefschlitz den schemenhaften Umriß eines Päck chens. Es war eine Akte, die ihm der Abteilungsleiter des Councils für Humanressourcen persönlich übersandt hatte. Zunächst dankte man ihm dafür, wieviel Zeit und Energie er bisher in den Fall L. Murugan investiert hatte. Dann ließ man ihn höflich, aber unmißverständlich wissen, da er bereits »mit den Einzelheiten vertraut« sei, solle er die Sache weiterverfol gen. Er erhielt hiermit die Genehmigung, in direkte Verbin dung mit dem Vertreter des Councils in Kalkutta zu treten, um alle erforderlichen Befragungen durchzuführen. Es folgte eine 212
lange Sequenz von Paßwörtern und Zugangsberechtigungen. Antar brauchte einige Minuten, um eine Befehlskette zu sammenzustellen, mit der Ava nach Kalkutta durchkam. Danach ging er in die Küche und hielt sein Gesicht unter das fließende Wasser. Taras Wohnung war immer noch dunkel, mit Ausnahme eines Lichts im Wohnzimmer, das sie Tag und Nacht brennen ließ. Als Antar sein Gesicht abtrocknete, schoß etwas aus dem Luftschacht empor und begann heftig gegen die Fensterscheibe zu schlagen. Antar fuhr zurück und riß die Arme hoch: es war eine Taube, die gegen das Glas flatterte. Ihre kleinen, glänzen den roten Augen starrten ihn einen Moment lang an, dann war sie fort. Antar goß sich ein Glas Wasser ein und nahm es mit ins Wohnzimmer. Dann begann er, die Befehlskette abzufeuern. Es dauerte genau 5,65 Sekunden, bis sie beim PC im Büro des Council-Repräsentanten in Kalkutta haltmachte. Sie traf auf eine Barriere und begann herumzuzappeln wie ein Fisch im Netz. Hektisch signalisierte sie zurück, es sei niemand im Büro, und die einzige Person mit direktem Zugang sei der Leiter selbst. Und dieser war zu Hause, mit eingeschaltetem Abschirmsystem zum Schutz seiner Privatsphäre. Ohne einen Shatter-Befehl konnte Ava nicht durchkommen. Antar suchte den Code aus seiner Liste von Zugangsberech tigungen heraus und gab den Befehl ein. Ava kam in einer Sekunde durch, und einen Augenblick später erschien in Antars Wohnzimmer eine holographische Projektion des Büroleiters, eines großgewachsenen, dickbäuchigen Peruaners. Er stand gerade unter der Dusche. Die Augen geschlossen, summte er vor sich hin und kratzte sich die Hoden. Antar widerstand der Versuchung, »Buh!« zu rufen und räusperte sich statt dessen diskret. Der Büroleiter öffnete sehr langsam ein Auge und sah un gläubig umher. Als er erkannte, was los war, fuhren seine 213
Hände blitzartig hinunter und bedeckten seine Genitalien. Er begann zu schreien, wobei seine Stimme von einem tonlosen Keuchen zu einem hohen, spitzen Kreischen anschwoll. Er ließ sich auf Hände und Knie fallen und krabbelte, Wasser und Schaum verspritzend, wie wild umher. Antar nahm an, daß er nach einem Handtuch suchte, konnte jedoch das restliche Badezimmer nicht sehen. Auf ihn wirkte der Büroleiter wie festgeklebt, als krieche er verzweifelt mitten im Wohnzimmer auf einem Förderband. Der Büroleiter sprang auf, schnappte sich ein Handtuch und wickelte es sich um die Hüften. »Du Scheiß-Hurensohn«, übersetzte Ava sein Gebrüll in volkstümliches Arabisch mit einem Unterton von Schadenfreude. »Das kannst du doch nicht machen! Ich werde dich zur Rechenschaft ziehen, dafür wirst du bezahlen! Du kommst ins Gefängnis, wart nur …« Antar versuchte eine Erklärung, aber er hörte nicht zu. Daher belegte Antar das Bad mit dem Alarmsignal, bis er sich beru higte und nach seinen Kleidern suchte. Während er sich anzog, murrte er weiter vor sich hin. »Du weißt ja nicht, wie es in dem Büro zugeht«, knurrte er und streifte die Hose über. »Ich muß hier alles alleine machen.« »Ist denn viel zu tun?« fragte Antar und versuchte, mitfüh lend zu erscheinen. »Viel zu tun!« rief der Büroleiter mit einem sarkastischen Lachen. »Das ist ja gerade das Problem, es gibt überhaupt nichts zu tun, nachdem der Fluß nun nicht mehr durch die Stadt fließt. Ich muß mir Arbeit für das Büro ausdenken. Immer wieder rege ich Projekte an, aber die Leute hier lassen den Council einfach nicht ran. So was habe ich noch nie erlebt. Im letzten Jahr haben sie uns ein einziges Projekt genehmigt. Und weißt du, was das ist?« »Was denn?« fragte Antar. »Ein Heim!« sagte der Direktor mit erhobenen Händen. »Ein Heim für Bedürftige, so umschreiben wir es. Sie haben hier ein 214
großes Fort namens Fort William. Es wurde von den Briten im achtzehnten Jahrhundert erbaut. Der Council hat es beschlag nahmt, wußte jedoch nichts damit anzufangen. Das einzige, worauf sich alle einigen konnten, war die Idee mit dem Heini. Und das tue ich also jetzt: ich leite ein Heim.« Er war jetzt fertig angezogen, saß am PC und ging seine Dateien durch. »Also, was wolltest du wissen?« fragte er über die Schulter hinweg. »Eine Ausweiskarte in einem Inventar? Das ist leicht – sie kann nur von einem Ort stammen.« Er hackte ein paarmal auf die Tastatur. »Ja«, sagte er. »Das habe ich mir gedacht. Sie stammt aus einem Inventar des Heinis von Fort William.« »Weiter«, sagte Antar. »Hm«, sagte der Büroleiter. »Offenbar wurde sie in der Ab teilung für Alternative Innere Zustände gefunden …« Er blinzelte Antar über die Schulter hinweg zu. »Was wir alten Knacker noch Irrenanstalt nannten«, sagte er. »Es heißt hier, daß sie heute morgen in das System eingegeben wurde. Sie fanden sie bei der Registrierung eines Insassen. Wenn jemand neu hereinkommt, wird immer eine Leibesvisitation gemacht«. Er starrte auf die Frontplatte und grinste Antar verschlagen an. »Nach dem, was ich hier sehe«, sagte er, »schätze ich, der Mann, nach dem du suchst, befindet sich in einem inneren Zustand, wie er alternativer gar nicht sein könnte.« »Wer war es?« fragte Antar. »Er wollte keinen Namen nennen.« »Wo wurde er gefunden?« Der Büroleiter starrte wieder auf die Frontplatte. »Es heißt hier«, sagte er, »daß er sich an einem Bahnhof den Behörden stellte – einer Station namens Sealdah.« »Wann kann ich mit ihm sprechen?« fragte Antar. »Du willst mit ihm sprechen?« stöhnte der Büroleiter. »Ist dir klar, daß ich ihn dazu herbringen muß? Das hier ist die einzige 215
abgesicherte Kommunikationseinrichtung des Councils, hier bei mir zu Hause. Was ist, wenn er hier in einen akuten alterna tiven inneren Zustand verfällt und alles kurz und klein schlägt? Was ist, wenn er den PC kaputtmacht?« »Ich kümmere mich um die Versicherung«, sagte Antar. »Hol ihn her, so schnell es geht.« Er schaltete ab, bevor der Büroleiter protestieren konnte. Dann taumelte er zurück ins Bett.
Siebenunddreißig Als sie an den Imbißständen auf der Shyama Prasad Mukherjee Road vorbeiging, stieg Urmila der unwiderstehliche Duft von Fischhackbällchen und gefülltem Fladenbrot in die Nase. Er drang aus der Tür der Dilkhusha Cabin. »Ich sterbe, wenn ich nicht bald etwas zu essen kriege«, sagte sie zu Murugan. Ohne Umstände bugsierte sie ihn in das Lokal und führte ihn zu einer mit Vorhängen abgeteilten Nische. Sie glitt auf eine Bank und bedeutete Murugan, sich ihr gegenüber zusetzen. Fast im gleichen Moment erschien ein Kellner mit zwei lappigen Speisekarten in der Hand. Urmila bestellte für beide und zog, sobald der Kellner fort war, den Vorhang zu. »Jetzt erzähl mal«, sagte sie und beugte sich über den Tisch. »Wer ist dieser Luchman, von dem du dauernd redest?« »Lutchman, meinst du«, korrigierte Murugan. »So hätte Ronnie Ross gesagt. Jedenfalls hat er es so buchstabiert.« »Aber der Name muß Luchman gelautet haben«, sagte Urmi la. »Ross hat vermutlich nur englisch buchstabiert.« »Egal«, sagte Murugan. »Wer weiß, wie seine Mutter ihn nannte? Wir waren ja nicht dabei. Jedenfalls, Lutchman war dieser junge Mann, der am 25. Mai 1895 um acht Uhr abends bei Ronnie Ross auftauchte und sich als Versuchskaninchen anbot. Schließlich blieb er die nächsten drei Jahre bei Ron und 216
tat alles für ihn, schnitt ihm die Frühstücksbrötchen auf und numerierte seine Glasplatten. Jedesmal, wenn Ron in die falsche Richtung geriet, war Lutchman da, fing ihn ab und wies ihm den richtigen Weg. Er bezeichnete sich als ›Sänftenträger‹, aber ich schätze, damit führte er Ronnie an der Nase herum.« »Aber«, wandte Urmila ein, »woher wußte er denn, wohin er Ronald Ross lenken sollte?« »Das ist eine lange Geschichte«, sagte er. »Ich gebe dir die Kurzversion: Vor ein paar Jahren fand ich einen Brief, den ein amerikanischer Missionsarzt namens Elijah Farley in Kalkutta geschrieben hatte. Bevor er auf die Religion umschwenkte, betrieb Farley medizinische Forschungen in den Staaten, an der Johns Hopkins. Als Student hatte er mit einigen der bedeutend sten Malariaforscher zusammengearbeitet. Das letzte, was er je schrieb, war dieser Brief, in dem er ei nen Besuch von Cunninghams Labor in Kalkutta schildert. Er sah dort einiges, das dem aktuellen Stand der internationalen Wissenschaft – hm, vielleicht drei oder vier Jahre voraus war. Allerdings konnte er sich überhaupt keinen Reim darauf machen, weil es völlig anders war als alles, was er je gelernt hatte.« »Nicht so schnell«, sagte Urmila. »Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was du mir damit sagen willst. Sprichst du über Cunninghams eigene Forschungsarbeit?« Murugan lachte: »Nein. Cunningham hatte keine Ahnung.« »Wer war also dann mit dieser Arbeit befaßt?« »Farley war der Meinung«, sagte Murugan, »daß es die Leute im Labor waren, Cunninghams Diener und Assistenten.« Urmila wandte ein: »Aber Cunninghams Assistenten hätten ihm doch wohl gesagt, was sie taten.« »Nun ja«, sagte Murugan. »Sie waren eine ziemlich wilde Mischung. Cunningham wollte nämlich keine studierten Collegebürschchen aus Kalkutta, die ihm sein Labor durchein anderbrachten, Fragen stellten und so was. Deswegen lernte er 217
seine Assistenten lieber selbst an.« »Wer waren sie?« fragte Urmila. »Und wo fand er sie?« »An dem letzten Ort, der einem dazu einfallen würde«, sagte Murugan. »Beim Sealdah-Bahnhof. Die Station war noch recht neu, aber wer Leute wollte, die so ziemlich allein dastanden, abgebrannt waren und nicht wußten wohin, der wurde hier fündig. Cunningham graste hin und wieder den Bahnhof ab, und wenn er etwas Passendes fand, bot er ihnen Arbeit gegen Kost und Logis – nichts Besonderes, irgendeine niedrigst bezahlte Tätigkeit im Labor als Ausfeger, ›Sänftenträger‹ und ähnlichen Mist. Sie sprangen natürlich drauf an – was hatten sie schon zu verlieren? Sie konnten in den Nebengebäuden an der Krankenhausmauer leben und dafür ein bißchen im Labor helfen: es war ein nettes, kleines Arrangement.« »Er hat sie also unterrichtet?« fragte Urmila. »Sie angelernt und so weiter?« »Nicht wirklich«, sagte Murugan. »Vielleicht brachte er ihnen bei, ein bißchen Englisch zu lesen, und zeigte ihnen möglicherweise auch ein paar Dinge, aber völlig zusammen hanglos. Es war ihnen vermutlich auch so egal wie nur was. Doch gab es eine Person, eine Frau, die sich im Labor tummel te wie ein Fisch im Wasser. Ich schätze, binnen weniger Jahre war sie Cunningham in ihrem intuitiven Verständnis von den fundamentalen Problemen der Malariaforschung weit voraus.« »Aber wer war diese Frau?« fragte Urmila. »Und wie hieß sie?« Murugan lächelte. »Laut Farley«, sagte er und wischte mit dem Ärmel über seine feuchte Stirn, »war ihr Name Mangala.« Urmila schnappte nach Luft. »Mangala?« rief sie. »Du meinst, wie Mangala-bibi – der Name, den das Mädchen genannt hat?« »Vermutlich könnte man sie als Prototyp bezeichnen«, sagte Murugan. »Und wer sie war – wer weiß? Daß sie überhaupt existierte, wissen wir nur durch Elijah Farleys Brief. Und selbst 218
den gibt es nicht mehr – zumindest ist er in den Katalogen nicht auffindbar.« »Was schrieb Elijah Farley über sie?« »Nicht viel«, sagte Murugan. »Er wußte nur, was Cunning ham ihm erzählte – daß er sie am Sealdah-Bahnhof gefunden hatte, daß sie bitterarm war und möglicherweise an erblicher Syphilis litt. Doch dann stellt sich die große Frage: Fand Cunningham sie oder fand sie ihn? Jedenfalls erlebte Farley in dem Labor Dinge, die ihn davon überzeugten, daß sie weit mehr über Malaria wußte, als Cunningham ihr je hätte beibrin gen können.« »Wirklich?« sagte Urmila und runzelte ungläubig die Stirn. »Hätte sie sich solche Techniken tatsächlich selbst aneignen können?« Murugan zuckte die Achseln. »So was ist schon passiert«, sagte er. »Denk an Ramanujan, den Mathematiker in Madras. Er erfand einen Gutteil der modernen Mathematik zum zweiten Mal, weil er einfach nicht wußte, daß es schon entdeckt worden war. Und bei Mangala war es ja nicht Mathematik, sondern Mikroskopie, für die es damals noch eher handwerkliches Geschick brauchte. Mit echtem Talent konnte man es darin weit bringen, wie die Karriere von Ronnie Ross zeigt. Und bei dieser Frau kann man nicht nur von Talent sprechen, sondern vielleicht sogar von Genie. Man muß auch bedenken, daß sie unverbildet war und nichts sie hinderte, was einem konventio nell ausgebildeten Wissenschaftler möglicherweise im Weg stand. Sie hatte keinen Haufen Theorien im Kopf, mußte keine Papiere verfassen oder Beweise konstruieren. Anders als Ross brauchte sie keine zoologische Studie, um zu erkennen, daß es einen Unterschied zwischen culex und anopheles gab. Sie sah es einfach, so wie du und ich den Unterschied zwischen einem Dackel und einem Dobermann sehen. Formelle Klassifizierun gen waren ihr egal. Tatsächlich war ihr eigentlich sogar die Malaria egal. Vielleicht deswegen steckte sie sich hinter 219
Ronnie Ross und schob ihn auf die Zielgerade. Sie arbeitete auf etwas ganz anderes hin und glaubte, daß sie ihren endgültigen Durchbruch nur schaffen würde, wenn sie Ronnie Ross zu seinem verhalf. Sie hatte Größeres im Sinn als den Malariaer reger.« »Und zwar was?« fragte Urmila. »Das Calcutta Chromosom.« Mit einem diskreten Hüsteln schob der Kellner den Vorhang beiseite und verteilte ihre Bestellungen auf dem Tisch. Urmila wartete, bis er fort war. »Was hast du da gerade gesagt?« »Das Calcutta Chromosom«, sagte Murugan. »So nenne ich das, worauf sie hinarbeitete.« »Jetzt blicke ich wirklich nicht mehr durch«, sagte Urmila. »Ich lebe hier seit meiner Geburt, aber von dem, was du da erzählst, habe ich noch nie etwas gehört.« »Tja, und wer weiß, ob du je etwas davon hören wirst?« sagte Murugan. »Oder auch ich? Ob es überhaupt existiert oder je existiert hat? Im Augenblick ist das ganze für mich eine reine Vermutung.« »Aber es muß doch irgend etwas geben, worauf deine Ver mutungen beruhen«, sagte Urmila. Murugan gab keine Antwort. »Na komm«, redete sie ihm bittend zu. »Schließlich stecken wir beide drin. Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren.« Murugan zögerte. »Willst du es wirklich wissen?« Sie nickte. »O.k., ich werde dir erzählen, was mich darauf gebracht hat«, sagte Murugan immer noch zögernd. »Aus Farleys Brief schloß ich, daß Mangala den Malariaerreger zur Behandlung einer anderen Krankheit verwendete.« »Welcher Krankheit?« »Syphilis«, sagte Murugan. »Oder genauer gesagt, syphiliti sche Parese – das letzte, paralytische Stadium der Syphilis. 220
Nach Farleys Bericht gab es offenbar einen geheimen Zirkel von Menschen, die glaubten, daß Mangala über eine Heilme thode verfügte. Vergiß nicht, wir befinden uns am Ende des neunzehnten Jahrhunderts – lange vor der Erfindung von Penicillin. Für Syphilis gab es damals weder eine Behandlung noch Heilung. Millionen Menschen auf der ganzen Welt starben alljährlich daran. Diejenigen, die zu Mangala kamen, glaubten vielleicht, sie sei eine Hexe, eine Zauberin, eine Göttin oder was auch immer. Es spielt keine Rolle – die kon ventionellen medizinischen Behandlungen der Syphilis waren damals auch nicht viel mehr als Hokuspokus. Bleiben wir bei dem alten Sprichwort: Kein Rauch ohne Feuer. Wenn eine große Gruppe von Menschen glaubte, daß Mangala sie heilen oder auch nur halbwegs wirksam behandeln konnte, dann doch wohl deshalb, weil sie gewisse Erfolge erzielt hatte. Die Leute sind ja nicht verrückt: schließlich kamen sie von weither zu ihr und waren demnach wohl überzeugt, daß sie ihnen einen Hoffnungsschimmer anzubieten hatte.« »Und was für eine Behandlung war das deiner Meinung nach?« fragte Urmila. »Da habe ich nur wilde Vermutungen, o.k.? Aber wenn du darauf bestehst, würde ich sagen, daß sie zufällig auf eine Variante einer Methode stieß, die jemandem namens Julius Wagner von Jauregg 1927 den Nobelpreis einbrachte. Nun rate, was für eine Behandlung das war?« Urmila sah von ihrem Teller auf. »Du weißt doch genau, daß ich keine Ahnung habe«, sagte sie. »Also was?« Murugan bohrte mit dem Finger in die knusprige, gewölbte Kruste seines gefüllten Fladenbrotes ein Loch, aus dem ein Dampfwölkchen aufstieg. »Gut, ich sag’s dir: Wagner von Jauregg wies nach, daß die syphilitische Parese häufig durch künstliche Infizierung mit Malaria geheilt oder zumindest gelindert werden kann. Er injizierte den Patienten tatsächlich malariainfiziertes Blut über einen kleinen Einschnitt. Es war 221
ein ziemlich primitiver Vorgang, der aber komischerweise funktionierte und bis zur Einführung von Antibiotika die Standardbehandlung blieb. Jede größere Klinik für Ge schlechtskrankheiten hatte ihren kleinen Inkubatorraum mit einem Schwarm von Anopheles. Stell dir das vor: Kliniken, die Krankheiten züchteten! Andererseits, was ist natürlicher, als Feuer mit Feuer zu bekämpfen? Letztlich funktionieren Impf stoffe nach dem gleichen Prinzip, allerdings aktivieren sie das Immunsystem des Körpers gegen sich selbst. Dies ist der einzige in der Medizin bekannte Fall, bei dem eine Krankheit mit einer anderen bekämpft wurde. Bis heute weiß niemand genau, wie die Behandlung von Wagner von Jauregg funktionierte. Es interessiert auch keinen mehr. Wissenschaftlich gesehen war das Ganze ein Skandal, dem die Medizin mehr oder weniger dankbar den Rücken kehrte, als Antibiotika aufkamen. Der olle Julius machte sich selbst auch nicht allzu viele Gedanken. Schließlich war er kein Biologe, sondern Kliniker und Psychologe. Er glaubte, der Heilungsprozeß werde durch die Erhöhung der Körpertempera tur des Patienten in Gang gesetzt. Dabei irritierte es ihn offen bar nicht, daß kein anderes Fieber dieselbe Wirkung hervorrief. Es ist jedoch durchaus möglich, daß Malaria sich auf einem anderen Weg auf die progressive Paralyse auswirkte: über das Gehirn, zum Beispiel. Syphilis weicht unter anderem die Barriere zwischen Blutgefäßen und Gehirn auf. Malaria wirkt ebenfalls auf das Gehirn ein, aber anders. Deshalb wird die Malaria falciparum auch zerebrale Malaria genannt. Andere Malariaarten haben jedoch ebenfalls merkwürdige Auswirkun gen auf das Neuralsystem. Viele, die Malaria hatten, wissen, daß ihre halluzinogene Wirkung jede bewußtseinsverändernde Droge übertreffen kann. Deshalb glaubten primitive Völker mitunter, Malariakranke seien von einem Geist besessen. Nun kommt Mangala ins Spiel. Offenbar stieß sie zufällig zur gleichen Zeit wie der Herr Doktor auf diese Behandlung, fügte 222
allerdings eine kleine Variante an. Soweit uns ihr Vorgehen bekannt ist, arbeitete sie offenbar mit einer sehr merkwürdigen Malariaart. Durch irgendeine primitive Zuchtmethode hatte sie nämlich eine Spezies entwickelt, die in Tauben kultiviert werden konnte. Ich vermute, sie fand einen Weg, den Erreger zu übertragen, so daß der Vogel als Reagenzglas oder als Nährboden dienen konnte. Nun wird’s wirklich wild. Aber ich riskier’s: Meiner Mei nung nach erkannte Mangala im Lauf der Zeit allmählich, daß ihre Behandlung häufig seltsame Nebeneffekte zeitigte, die wie bizarre Persönlichkeitsstörungen wirkten. Bloß waren es keine Störungen, sondern Transpositionen. Sie zählte zwei und zwei zusammen und kam darauf, daß sie tatsächlich eine Übertra gung willkürlich verteilter Persönlichkeitsmerkmale vom Malariaspender zum Rezipienten vor sich hatte – mit Hilfe des Vogels natürlich. Und sobald sie das erkannte, war ihr mehr und mehr daran gelegen, diesen Aspekt isoliert zu behandeln, um kontrollieren zu können, auf welche Weise die Übertragun gen funktionierten.« »Ich glaube, ich komme nicht mehr mit«, sagte Urmila. »Was genau willst du denn damit sagen?« »Was ich sagen will? Nun, ich sage, daß meiner Meinung nach Mangala auf etwas stieß, für das weder sie noch Ronnie Ross noch irgendein anderer Wissenschaftler jener Zeit einen Namen hatten. Nennen wir es der Einfachheit halber ein Chromosom, obwohl der Witz bei der Sache ist: wenn es sich wirklich um ein Chromosom handelt, dann sozusagen nur um ein erweitertes – ein analoges. Denn das, worüber wir hier sprechen, verhält sich zu dem Mendelschen Standard-Pantheon von dreiundzwanzig Chromosomen wie Ganesh zu den Göt tern: es ist anders, einzigartig, es tanzt aus der Reihe – und ist eben deshalb mit Standardmethoden der Forschung nicht greifbar. Darum nenne ich es das Calcutta Chromosom. Einer der Gründe, warum das Calcutta Chromosom mit nor 223
malen Methoden nicht gefunden werden kann, besteht darin, daß es anders als die Standardchromosomen nicht in jeder Zelle vorhanden ist. Oder wenn doch, dann so tief verschlüs selt, daß man es mit den gegenwärtigen Techniken nicht isolieren kann. Es ist nicht in jeder Zelle vorhanden, weil es nicht, wie die übrigen Chromosomen, paarweise vorkommt. Und es kommt nicht paarweise vor, weil es sich nicht in Eizelle und Spermium aufteilt. Und warum das? Ich sag’s dir: Es ist ein Chromosom, das nicht durch geschlechtliche Vermehrung von Generation zu Generation weitergegeben wird. Es entwik kelt sich durch Neukombination und ist bei jedem Individuum anders. Deshalb findet man es nur in bestimmten Zellen. In regenerativem Gewebe kommt es einfach nicht vor. Es existiert nur in nichtregenerierbarem Gewebe, mit anderen Worten: im Gehirn. Ich will es so ausdrücken: Wenn es wirklich so etwas wie das Calcutta Chromosom gibt, dann konnte nur eine wissenschaft lich völlig unbeleckte Person wie Mangala es finden – wenn sie auch nicht wußte, was es war, und keinen Namen dafür hatte. Denn hier haben wir es mit menschlichen Charaktermerkmalen in biologischer Ausprägung zu tun, die weder direkt vom GenPool ererbt noch in diesen übertragen werden. Es ist genau das Konstrukt, das für einen konventionellen Wissenschaftler am schwersten zu akzeptieren ist. Die Biologen stehen unter starkem Druck, ihre Erkenntnisse politischen Überzeugungen anzupassen. Die Rechten sitzen ihnen im Nacken, für alles Gene zu finden, von Armut bis Terrorismus, damit sie ein Alibi haben, die Armen zu kastrieren oder den Nahen Osten mit Atombomben auszuradieren. Die Linken springen im Dreieck, wenn man wagt, von der biologischen Vorprägung menschli cher Eigenschaften auch nur zu sprechen. An diesem Ende des Spektrums wird alles auf die Sozialisation zurückgeführt. Aber wenn man mal nachdenkt, erscheint es ganz logisch, daß bestimmte Merkmale eine biologische Entsprechung 224
haben. Doch wer sagt denn, daß sie von der Biologie bestimmt sein müssen? Vielleicht funktioniert es genau andersherum – daß sie die Biologie prägen. Wer weiß? Und nur weil diese biologischen Entsprechungen nicht durch geschlechtliche Vermehrung übermittelt werden, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht auf andere Weise zwischen Individuen übertragen werden können. Hier kommt Mangala ins Spiel. Sie zäumte das Pferd am falschen Ende auf, indem sie auf den Übertragungsvorgang stieß, nicht auf das Chromo som selbst – schließlich wußte sie nicht einmal, was ein Chro mosom überhaupt ist. Das wußte damals niemand. Sie kam durch die Malaria darauf. Eine der Besonderheiten des Mala riaerregers liegt darin, daß er seine DNA ›abschneiden und wieder ankleben‹ kann – das vermag neben ihm nur noch das Trypanosoma. Und darin lag einer der Gründe für die Schwie rigkeit, einen Impfstoff gegen Malaria zu entwickeln. Denn speziell der Malariaerreger verändert im Lauf seines Lebens zyklus ständig seine Proteinhülle. Bis also das Immunsystem des Körpers gelernt hat, die Bedrohung zu erkennen, hatte der Erreger genügend Zeit für einen kleinen Kostümwechsel vor Beginn des nächsten Aktes. Vielleicht stieß Mangala zufällig genau darauf, daß der Mala riaerreger aufgrund seiner rekombinatorischen Fähigkeiten dieses Stückchen DNA tatsächlich auflösen kann, indem er es aufsplittet und neu verteilt. Wenn es nun auf einen Patienten mit poröser Blut-Gehirn-Barriere rückübertragen wird, kommt die Information möglicherweise mit und sorgt in den Hirnwin dungen des Wirts für ein paar neue Anschlüsse. Ich nehme an, sobald sie auf diesen Prozeß stieß, ließ sie alles andere liegen und konzentrierte sich darauf, ihn weiter auszuarbeiten, und zwar in zwei Richtungen. Zum einen versuchte sie, auf irgendeine Art das Syphilis-Stadium zu umgehen. Und zum anderen wollte sie das Chromosom beim Übertragungsprozeß stabilisieren. Denn bis dahin spaltete der 225
Erreger es auf die bizarrsten Weisen auf, und sie wollte bestimmen, welche Eigenschaften übermittelt werden sollten. Vermutlich war Mangala etwa um 1897 herum in einer Sackgasse gelandet und zu der Schlußfolgerung gelangt, daß sie mit den bestehenden Malariaarten nicht mehr weiterkam. Deswegen war sie so versessen darauf, daß Ronnie die ganze Sache herausfand und publizierte. Sie glaubte wirklich, die Verbindung zwischen dem Erreger und dem menschlichen Geist sei so eng, daß mit dem Bekanntwerden seines Lebens zyklus der Erreger spontan in eine Richtung mutieren würde, die ihre Arbeit einen Schritt weiter brächte. Sie war überzeugt, aus jeder Sackgasse herauszukommen, indem sie eine Mutation herbeiführte.« Urmila schob ihren leeren Teller beiseite und fragte: »Wie denn?« »Indem sie versuchte, bestimmte Dinge bekanntzumachen.« »Und hatte sie Erfolg?« wollte sie wissen. Murugan lächelte. »Ich schätze, das werden wir noch heraus finden.« »Wie das?« »Vermutlich ist das der Inhalt dieses Experiments.« »Aber warum so? Warum nicht …?« »Verstehst du denn nicht?« sagte Murugan. »Sie steckt nicht da drin, weil sie wissenschaftliche Ambitionen hat, sondern weil sie sich für eine Göttin hält. Und das bedeutet, sie will der Geist sein, der alles steuert. Wie sie es sieht, dürfen wir nichts über sie oder ihre Motive oder sonst etwas von ihr wissen. Das Experiment funktioniert nur, wenn die Gründe dafür uns völlig unersichtlich sind, so unerforschlich wie eine unheilbare Krankheit. Gleichzeitig aber muß sie versuchen, uns etwas von ihrer eigenen Geschichte wissen zu lassen, denn das gehört auch zu dem Experiment.« »Warum sprichst du über sie, als sei sie noch am Leben?« fragte Urmila. »Meinst du, das ist wirklich der Fall? Daß sie es 226
irgendwie geschafft hat …?« Murugan lächelte. »Nun«, sagte er, »was meinst du denn?« Urmila wurde es plötzlich kalt. Sie kreuzte die Arme über der Brust. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie. Dann griff sie nach dem Vorhang und riß ihn beiseite. Als sie in den Gastraum blickte, schien alles augenblicklich innezuhalten. Es war, als ob jeder im Raum sich umwandte und sie anstarrte – die anderen Gäste, die Kellner, die schlampigen Collegestudenten am Nachbartisch –, als hätten sie die ganze Zeit nur darauf gewartet, ihr ins Gesicht zu sehen. Sie zog den Vorhang rasch wieder zu. »Aber was ist mit Lutchman?« fragte sie. »In dem, was du erzählt hast, ist keinerlei Beweis für eine Verbindung zwischen Mangala und Lutchman enthalten. Wer war dieser Lutchman überhaupt? Wo kam er her?« »Du berührst einen wunden Punkt, Calcutta«, sagte Murugan. »Da weiß ich auch nicht weiter. Ich habe nur Teile und Stücke – keinen Anfang, keine Mitte und mit Sicherheit kein Ende.« »Gib mal ein Beispiel«, sagte Urmila. »Was sind diese Teile und Stücke, von denen du sprichst?« »Farleys Brief ist die wichtigste Quelle«, sagte Murugan. »Er schreibt, daß ein weiterer Bursche mit Mangala in Cunning hams Labor arbeitete. Er scheint etwa im gleichen Alter wie Lutchman gewesen zu sein und paßt recht gut in das Gesamt bild.« »Das ist noch nicht allzuviel«, sagte Urmila. »Wohl wahr«, gab Murugan zu, »allerdings scheinen einige Verweise im Brief darauf hinzudeuten, daß dieser Assistent derselbe war, der am 25. Mai 1895 bei Ross aufkreuzte.« »Welche Verweise?« fragte Urmila. »Wir wissen zum Beispiel aus anderer Quelle, daß Lutchman ein Problem mit seinen Fingern hatte – das heißt, an seiner linken Hand fehlte der Daumen. Er war deswegen jedoch manuell nicht weniger geschickt. Vermutlich war es angebo 227
ren, denn sein Zeigefinger hatte offenbar perfekt die Aufgaben des Daumens mit übernommen …« Etwas regte sich in Urmilas Gedanken – eine ferne Erinne rung. »Was ist?« fragte Murugan. »Warum runzelst du die Stirn?« Sie biß sich auf die Lippe: »Ich glaubte, mich an etwas zu erinnern, aber ich komme nicht mehr dahinter. Egal, mach weiter. Sagt Farley etwas über die Hand des Assistenten?« »Nicht direkt«, sagte Murugan. »Aber in einem Satz schreibt er: ›in Anbetracht der Umstände war er erstaunlich geschickt‹ oder irgendwas in der Art. Ich vermute, mit ›Umständen‹ spielt er auf die Hand dieses Burschen an.« »Ist das alles?« fragte Urmila enttäuscht. »Eins gibt es noch. Am Ende schreibt Farley, daß der Assi stent einen falschen Namen verwendete.« »Und wie lautete sein richtiger Name?« »Ich wünschte, ich wüßte es«, sagte Murugan. »Aber ich weiß es nicht. Farley erwähnte ihn nicht in seinem Brief. Er verließ Kalkutta am gleichen Tag, als er den Brief abschickte. Man berichtete, daß er am Sealdah-Bahnhof einen Zug bestieg und ein junger Mann, auf den die Beschreibung des Assistenten paßte, ihm das Gepäck trug. Man beobachtete auch, wie sie später zusammen bei einer verlassenen kleinen Station ausstie gen. Farley wurde nie wieder gesehen. Ein paar Monate später, im Mai 1895, spazierte ›Lutchman‹ in das Labor von Ronald Ross in Secunderabad.« »Das könnte reiner Zufall sein«, sagte Urmila. »Könnte«, sagte Murugan. »Bleibt aber noch ein weiterer seltsamer Zufall.« »Ja?« »Und zwar«, sagte Murugan, »habe ich aus anderer Quelle erfahren, daß auch Lutchman in Wirklichkeit anders hieß.« »Nämlich?« fragte Urmila. »Laakhan«, antwortete Murugan. 228
Urmila schlug die Hände vor den Mund. »Schnell, sag mir«, bat sie, »wie hieß die Station, bei der Farley und der Assistent zum letztenmal gesehen wurden?« »Renupur«, sagte Murugan. Sie starrte ihn an, ohne einen Laut von sich zu geben. Murugan ergriff ihre Hand und schüttelte sie. »He, aufwa chen«, sagte er. »Was ist los?« »Ich glaube bloß, daß ich ein fehlendes Stückchen einsetzen kann«, sagte Urmila. »Wie das?« »Gestern abend war ich bei Sonali-di zu Hause, und sie er zählte mir etwas, das sie von ihrer Mutter gehört hatte: eine Geschichte, die Phulboni vor vielen Jahren zugestoßen ist.«
Achtunddreißig Im Jahre 1933, bald nachdem er seine erste und einzige Stelle angetreten hatte, wurde Phulboni in den entlegenen Provinzort Renupur geschickt. Er arbeitete für eine bekannte britische Firma namens Palmer Brothers, die Seife, Öl und andere Haushaltsartikel herstellte. Das Unternehmen war berühmt für sein weitgespanntes Ver triebsnetz, das bis in die kleinsten Orte und Dörfer reichte. Jeder Neuling in der Firma mußte ein paar Jahre lang in einer Region umherreisen, Dorfläden besuchen, die örtlichen Händ ler kennenlernen, in Teebuden hocken, Landwirtschaftsausstel lungen und Messen besuchen. Phulboni, der frischgebackene Vertreter, hatte noch nie von Renupur gehört. Er stellte Erkundigungen an und erfuhr zu seiner Freude, daß der Ort, so winzig er auch war, über eine Bahnstation verfügte. Jeden zweiten Tag verkehrte dort ein Zug, der Kalkutta mit dem Baumwollmarkt von Barich ver band. 229
In der Luftlinie lag Renupur nur 450 Kilometer von Kalkutta entfernt, doch die Fahrt zog sich kurvenreich über Darbhanga und eine weite Strecke der großen Maithil-Ebene ziemlich öde dahin. Phulboni ließ sich jedoch von der Aussicht, zwei Tage im Zug verbringen zu müssen, nicht etwa abschrecken, im Gegenteil: er freute sich darauf. Er liebte alles, was mit der Eisenbahn zu tun hatte – Bahnhöfe, Lokomotiven, Kursbücher, den beißenden Geruch von Kreosot in den teakholzgetäfelten Schlafwägen. Nichts bereitete ihm mehr Vergnügen, als an einem offenen Fenster, den Wind im Gesicht, vor sich hinzu träumen. Seine Begeisterung steigerte sich noch, als er von den guten Jagdmöglichkeiten in den Wäldern um Renupur hörte. Bezeichnenderweise hatte er sein erstes Gehalt für einen neuen Mehrfachlader vom Kaliber .303 ausgegeben. Nun brannte er natürlich darauf, ihn auch zu benutzen. Es war Mitte Juli. Der Monsun hatte eingesetzt, und ganz Ostindien triefte vom Regen. Einige der bekannt ruhelosen Flüsse der Region waren über die Ufer getreten und hatten die weiten, flachen Ebenen überschwemmt. So bedrohlich diese Wassermassen für diejenigen waren, die doch davon auch lebten, so anders wirkten sie auf den flüchtigen Betrachter im Zug, der sie aus sicherer Entfernung vom hohen Bahndamm aus erblickte. Die stille Wasserfläche, die sich weit und silbrig glänzend unter dem tiefhängenden Monsunhimmel erstreckte, bot einen faszinierenden, verzaubernden Anblick. Phulboni, der in den Hügeln und Wäldern von Orissa aufgewachsen war, hatte dergleichen noch nie zuvor gesehen – jene endlose, majestätische Ebene, in der sich der wildbewegte Himmel spiegelte. Bevor sie Darbhanga verließen, hatte Phulboni den Zug schaffner gebeten, ihm Bescheid zu sagen, wenn sie sich Renupur näherten. Die Fahrt dauerte acht Stunden, die für den jungen Schriftsteller jedoch wie im Flug vergingen. Lange bevor er sich an der Landschaft satt gesehen hatte, erschien der 230
Schaffner und teilte ihm mit, daß sie schon fast in Renupur waren. Phulboni war überrascht. Vom Fenster aus sah er nichts als überflutete Felder. Die stillen Wasserflächen wurden nur von geometrisch exakt gezogenen Deichstraßen und Dämmen unterbrochen. Gelegentlich zeigte ein weit entferntes Rauch wölkchen, das spiralförmig aus einer Baumgruppe aufstieg, ein Dorf oder einen Weiler an, doch sah er keinerlei Anzeichen für eine Siedlung von der Größe, die eine Bahnstation gerechtfer tigt hätte. Als er seine Verwunderung darüber dem Schaffner mitteilte, hörte Phulboni zu seinem Entsetzen, daß der Ort gute vier Kilometer von der gleichnamigen Station entfernt lag. Renupur war in keinster Hinsicht groß oder bedeutend genug, um einen Abzweig der Bahnstrecke von Darbhanga nach Barich zu rechtfertigen. Die Dorfbewohner Renupurs, die sich dieser Einrichtung zu bedienen wünschten, waren gezwungen, sich in einem Ochsenkarren zum Bahnhof zu begeben. Die Station Renupur verdankte ihr Bestehen eigentlich eher den Anforde rungen der Technik als den Bedürfnissen der hiesigen Bevölke rung. Laut Vorschrift der Bahnbehörde mußten einspurige Strecken wie diese in regelmäßigen Abständen Nebengleise aufweisen, damit entgegenkommende Züge ungefährdet passieren konnten. Daher kam Renupur in den Genuß eines Bahnhofs, der eigentlich nicht viel mehr war als eine Ortstafel und ein Bahnsteig an einem Nebengleis. Das Ganze war natürlich reiner Bürokratismus und Paragra phenreiterei, meinte der Schaffner. Auf dieser Strecke bestand eigentlich gar kein Bedarf für ein Nebengleis. Ihr Zug war der einzige, der hier auf ganzer Länge verkehrte. Er tuckerte dahin und hielt bei jeder sich bietenden Gelegenheit an, bis er die Endstation erreichte. Dort drehte er einfach um und fuhr wieder zurück. Auf der ganzen Strecke bis nach Darbhanga kam ihm niemals ein Zug entgegen. 231
Der Schaffner bot einen seltsamen Anblick. Sein Gesicht erschien grotesk verzerrt: die Kinnlade war gegen den Oberkie fer so stark verschoben, daß sein Mund in einer schiefen, grinsenden Grimasse ständig offenstand. Nun gab er ein trockenes, rasselndes Lachen von sich. Er lehnte sich aus dem Fenster und zeigte auf einen Gleisabschnitt, der einige hundert Meter parallel neben der Hauptstrecke entlangführte und sich dann wieder mit ihr vereinigte. Die Gleise waren so verrostet und überwachsen, daß man sie kaum erkennen konnte. »Und hier sehen Sie das Nebengleis von Renupur«, sagte er, sein Gesicht dicht vor Phulbonis, und versprühte von Betelnuß blutrot gefärbte Speicheltröpfchen über ihn. »Wie Sie wohl erkennen, ist es nicht in Gebrauch. Angeblich wurde es nur ein einziges Mal benutzt, und zwar vor vielen, vielen Jahren.« Phulboni achtete nicht auf ihn. Er war zu sehr damit beschäf tigt, sich die Betelnußspritzer aus dem Gesicht zu wischen. Der Zug kam quietschend zum Stehen. Der Schaffner riß eine Tür auf und kletterte, beladen mit Phulbonis Gewehrfutteral und seinem Mantelsack, hastig herab. Bevor Phulboni ihm noch ein Trinkgeld geben konnte, war er schon wieder im Zug und winkte mit seiner grünen Flagge. »Warten Sie doch einen Moment«, rief Phulboni verdutzt. Der Zug ließ ein Pfeifen ertönen und fuhr langsam an. Phulboni schaute sich um und stellte zu seinem nicht gerin gen Erstaunen fest, daß niemand außer ihm in Renupur ausge stiegen war. Er warf dem Zug einen letzten, sehnsüchtigen Blick hinterher und sah, wie der Schaffner mit seinem aberwit zig klaffenden Mund ihn von einem Fenster aus beobachtete. Dann pfiff der Zug ein weiteres Mal, und das seltsam verzerrte Gesicht verschwand in einer Rauchwolke. Phulboni zuckte die Achseln und bückte sich, um sein Ge päck aufzuheben. Er hatte es eilig, zum Dorf zu kommen, und hob instinktiv die Hand, um einen Kuli herbeizuwinken. Erst jetzt bemerkte er, daß nirgendwo Kulis zu sehen waren. 232
Die Station war die kleinste, die Phulboni je gesehen hatte, kleiner sogar als jene winzigen Dorfbahnhöfe, die man zuwei len mit schläfrigem Blick unerwartet aus dem Fenster eines Schnellzuges erspäht und die ebenso rasch wieder verschwin den, wie sie aufgetaucht sind. Denn selbst die kleinsten Statio nen haben für gewöhnlich zumindest einen Bahnsteig und oft auch ein paar Holzbänke. Der Bahnsteig in Renupur hingegen war nur ein festgetrampeltes Stück Erde, dessen Oberfläche Unkraut und ein paar geborstene Pflastersteine zierten. In hundert Meter Abstand voneinander hingen am Gleis zwei knarrende Tafeln mit der jeweils kaum lesbaren Aufschrift »Renupur«. Auf halbem Weg dazwischen stand ein baufälliger, im üblichen Eisenbahnrot gestrichener Ziegelbau mit Blech dach, der als Signalraum und Bahnwärterhäuschen diente. Nirgendwo waren Häuser oder Hütten zu sehen, keine Dorfbe wohner, keine Zugschaffner, keine neugierig starrenden Bau ern, keine Straßenbengel, keine Imbißverkäufer, keine Bettler, keine schlafenden Reisenden, nicht einmal der unvermeidliche bellende Hund. Als Phulboni sich umsah, stellte er fest, daß die Station leer war – absolut leer. Es war nichts und niemand, kein einziges menschliches Wesen, irgendwo zu sehen. Dieser Anblick war so verblüffend, daß er seinen Augen nicht traute. Nach den Erfahrungen des jungen Schriftstellers waren Bahnhöfe mehr oder weniger voll. Weniger voll hieß, daß man ungehindert durchgehen konnte, ohne Leute beiseite schieben zu müssen. Wenn dies, selten genug, einmal der Fall war, sagte man überrascht: »Der Bahnhof ist heute aber leer!« – ein rein metaphorischer Begriff, der die Kulis und die Händler, die dösenden Passagiere, die wartenden Verwandten und derglei chen außer Acht ließ, welche einen zwar nicht direkt behinder ten, dennoch aber unzweifelhaft vorhanden waren. Dies bedeu tete, soviel der junge Schriftsteller wußte, daß ein Bahnhof »leer« war. Aber das hier? Bei allem Talent fiel Phulboni kein 233
Wort zur Beschreibung eines Bahnhofs ein, der buchstäblich einsam und verlassen dalag. Dem jungen Mann sank der Mut, als er jenen öden Ort be trachtete. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte und wie. Weder Straßen noch Pfade waren zu sehen. Die Station thronte auf dem Bahndamm wie eine kleine Insel in einem Meer von glitzerndem Hochwasser. Phulboni hatte angenommen, jemand würde ihn vom Bahn hof abholen – ein Ladeninhaber, ein Standbesitzer oder ir gendwer sonst, der mit Produkten von Palmers handelte. Doch nun war er hier in Renupur und, so weit er sehen konnte, gehörte ihm der Bahnhof allein. Er hob seine Bettrolle auf, hängte sich das Gewehr über die Schulter und begab sich zum Signalraum, um nach dem Bahnhofsvorsteher Ausschau zu halten. Nach den ersten paar Schritten hörte er hinter sich eine Stimme »Sahib, Sahib« rufen. Er drehte sich um und sah einen kleinen, säbelbeinigen Mann den Bahndamm hinaufklettern. Er trug eine lehmverschmierte Pluderhose sowie die Dienstjacke eines Eisenbahnangestellten und hielt einen Messingkrug an der Tülle. Der Anblick eines anderen menschlichen Wesens erleichterte Phulboni dermaßen, daß er ihn am liebsten umarmt hätte. Eingedenk seiner Position als Vertreter von Palmer Brothers jedoch erwartete er ihn mit gestrafftem Rücken und hochge recktem Kinn. Der Mann erreichte Phulboni und nahm ihm die Bettrolle ab. »Sei gegrüßt, Sahib«, sagte er keuchend. »Was soll ich ma chen? Jedesmal, wenn der Regen anfängt, geht’s bei mir los: hin und her, raus aus den Feldern und wieder hinein. Und wenn ich bloß eine Banane esse – sie schießt durch mich durch und wieder hinaus wie eine Kanonenkugel. Es ist eine Plage. Diezu-Hause-ist, sagt immer zu mir, ›Budhhu Dubey, wenn du kein Bahnhofsvorsteher wärst, sondern eine Kuh, dann könnte ich deinen Dung wenigstens fürs Essenkochen hernehmen‹. 234
Und ich sage zu ihr, ›Frau, denk ein bißchen nach, bevor du sprichst. Überleg doch mal, wenn ich eine Kuh wäre und kein Bahnhofsvorsteher, für wen solltest du dann noch kochen?‹« Um Phulbonis Mund zuckte es, doch wußte er als Neuling nicht recht, welcher Ton in einer solchen Situation für einen Vertreter von Palmer Brothers angemessen war. Budhhu Dubey spürte sein Zögern und bot sogleich ein Bild der Zer knirschung. »Ach, Sahib«, sagte er. »Budhhu Dubey ist ein Dummkopf, daß er einem großen Sahib wie dir von seinem Dung erzählt. Vergib mir, vergib mir …« Er warf sich Phulboni zu Füßen. Der Schriftsteller konnte ihn gerade noch daran hindern, seine Schuhe mit der Stirn zu polieren. Phulboni zog ihn brüsk hoch. »Genug davon«, sagte er. »Wie komme ich denn nun nach Renupur?« »Das ist es ja eben«, sagte der Bahnhofsvorsteher entschuldi gend. »Selbst mit einem Boot würdest du heute nicht nach Renupur kommen.« Phulboni war bestürzt. »Aber wo soll ich denn wohnen?« fragte er. »Was soll ich tun?« »Mach dir keine Sorgen, Sahib«, sagte der Bahnhofsvorste her mit einem breiten Grinsen. »Du wirst bei mir wohnen.« Er erklärte, ein Ladenbesitzer aus Renupur habe ihn benachrich tigt und gebeten, sich um Phulboni zu kümmern. Phulboni überdachte den Vorschlag eine Weile. »Wo wohnst du denn?« fragte er schließlich. »Gleich da drüben«, sagte der Bahnhofsvorsteher, »hinter den Bäumen dort.« Er deutete in die Ferne zu einer Gruppe von Mangobäumen auf einer leichten Anhöhe. Phulboni schätzte, daß gute zwei bis drei Meilen überfluteter Ebene zwischen dem Ort und dem Bahnhof lagen. »Wir sind bald da«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Deine Taschen lassen wir im Signalraum, und dann gehen wir los. Du 235
wirst sehen, wenn wir dort sind, hat Die-zu-Hause-ist etwas Gutes fertig, extra für dich.« Er hob Phulbonis Bettrolle hoch und steuerte, auf seinen Säbelbeinen schwankend, den Signalraum an. Phulboni folgte in geringem Abstand mit seiner Gewehrtasche aus Segeltuch. Der Bahnhofsvorsteher drückte die Tür vorsichtig auf und führte Phulboni hinein. Als sie drin waren, schlug ein Wind stoß die Tür zu. Plötzlich befanden sie sich in einem von Spinnweben durchzogenen Halbdunkel. Der Raum war sehr klein. Es gab nur die eine Tür und ein einziges Fenster mit geschlossenen Läden. Ein verstaubter Schreibtisch stand in einer Ecke. Im übrigen wirkte der Raum verlassen und unbenutzt. Erst als Phulbonis Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erspähte er an der gegenüberliegenden Wand ein altes, leichtes Bettgestell, auf dessen geflochtener Unterlage eine zerrissene Matte lag. Phulboni ging hin und schlug darauf, daß der Staub aufwirbelte. »Wem gehört das?« fragte er den Bahn hofsvorsteher. »Ach, das steht schon immer hier«, sagte dieser abweisend. »Es gehört den Schlangen und Ratten.« Er stieß rasch die Tür auf und trat hinaus. »Laß uns jetzt gehen, Sahib, es wird bald dunkel.« Phulboni ließ den Blick erneut durch den Raum schweifen. Diesmal entdeckte er in der Wand eine kleine Nische, in der eine Signalleuchte stand. Phulboni ging hinüber, um sie von nahem zu betrachten, und sah zu seiner angeneh men Überraschung, daß die Laterne kürzlich gereinigt und poliert worden war. Das Zinngehäuse war blitzblank, und die runde Glasscheibe im Fenster der Laterne erstrahlte im Wider schein des Sonnenlichts leuchtend rot. Phulboni wollte mit einem Finger an das Glas klopfen, als der Bahnhofsvorsteher durch den Raum auf ihn zugestürzt kam, seine Hand wegschob und ihn zurückhielt. »Nein, nein!« rief er. »Tu das nicht.« 236
Phulboni fuhr überrascht zusammen, und der Bahnhofsvor steher wiederholte hitzig: »Nein, nein, die darf man nicht anfassen.« »Faßt du sie denn nicht an?« fragte Phulboni, nun noch über raschter. »Wer macht sie denn sauber und poliert sie?« Der Bahnhofsvorsteher tat die Frage mit einer Handbewe gung ab und murmelte irgend etwas von Bahneigentum. »Wir sollten jetzt gehen, Sahib«, sagte er und versuchte Phulboni zur Tür zu bugsieren. »Es wird dunkel, wir müssen uns beeilen.« Der Schriftsteller zuckte die Achseln, bückte sich und hob seine Bettrolle auf. »Nein«, sagte er und warf sie auf das Gestell. »Nein. Ich bleibe heute nacht hier.« Dem Bahnhofsvorsteher fiel die Kinnlade herunter, und ein entsetzter Ausdruck machte sich auf seinem gutmütigen, leicht dümmlichen Gesicht breit. »Nein, nein, Sahib«, sagte er mit erhobener Stimme. »Das kannst du nicht machen – das geht nicht. Es ist unmöglich.« »Warum?« fragte er. So trostlos der Raum auch erschien, die Aussicht, eine Nacht dort zu verbringen, erschien ihm immer noch weit besser, als zwei Meilen durch die Wasserfluten zu waten. »Nein, nein«, rief der Bahnhofsvorsteher. »Nicht doch, schlag dir das aus dem Kopf.« Panik schwang in seiner Stimme mit, und auf seiner Stirn schimmerten Schweißperlen. »Aber ich komme hier schon zurecht«, sagte Phulboni. »Nein, Sahib, du darfst hier nicht bleiben«, beschwor ihn der Bahnhofsvorsteher. »Komm mit zu mir nach Hause. Ich lasse dich nicht ganz allein hier.« Das gab für Phulboni den Ausschlag. »Ich werd’s hier sehr gemütlich haben«, sagte er. »Mach dir um mich keine Sorgen.« Bevor der Bahnhofsvorsteher noch antworten konnte, schnürte er schon seinen Reisesack auf. Wie alle Zugreisenden jener Tage war Phulboni für einen solchen Fall bestens ausgerüstet: in seiner Bettrolle befanden 237
sich eine dünne Matratze, ein Kissen sowie diverse Laken und Handtücher. Als er es aufschnürte, entrollte sich das Bündel wie ein fertiges Bett. »Schau«, sagte er mit einer triumphierenden Gebärde. »Ich werde hier sehr gut schlafen.« »Nein«, sagte der Bahnhofsvorsteher und zerrte an seinem Reisebündel. »Das kannst du nicht. Es ist nicht sicher.« »Nicht sicher?« fragte Phulboni. »Wieso? Was soll mir schon passieren?« »Alles mögliche«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Wir sind hier schließlich nicht in der Stadt. An einsamen Orten wie diesem kann dies und das passieren. Da gibt es Diebe und Banditen und Straßenräuber …« Phulboni brach in Gelächter aus. »Bei all dem Wasser rings um«, sagte er, »brauchen Straßenräuber ein Boot, um herzu kommen. Und dann müssen sie es immer noch damit aufneh men.« Er klopfte auf seine Segeltuchtasche mit dem Gewehr. »Und Schlangen?« fragte der Bahnhofsvorsteher. »Ich habe keine Angst vor Schlangen«, sagte Phulboni lä chelnd. »Da, wo ich aufgewachsen bin, nahmen die Leute Pythons als Kopfkissen her.« Der Bahnhofsvorsteher warf einen verzweifelten Blick in den Raum, auf den schmutzigen, mit Abfällen überhäuften Schreib tisch und die Unmengen von Spinnweben, die in schwärzlichen Waben von der Decke hingen. »Aber was willst du essen, Sahib?« fragte er. »Da dein Haus nicht weit entfernt liegt«, sagte Phulboni gelassen, »wird es dir hoffentlich nicht allzuviel Mühe berei ten, mir aus deiner Küche etwas herzubringen.« Der Bahnhofsvorsteher seufzte. »Gut, Sahib«, sagte er zö gernd. »Tu, was du willst, aber schieb nachher ja nicht die Schuld auf Budhhu Dubey.« »Keine Sorge«, sagte Phulboni. Er hielt sich für einen Ken ner, was Dorfbewohner betraf, und wußte, daß die Landbevöl 238
kerung oft festgefaßte Meinungen über bestimmte Dinge hegte. »Wenn mich Schlangen oder Straßenräuber angreifen«, sagte er lächelnd, »dann trage ich ganz allein die Schuld.« Der Bahnhofsvorsteher zog ab, und Phulboni ging daran, auszupacken und seine Sachen zu ordnen. Er stieß die Fenster läden auf und ließ die Tür weit offenstehen. Nach etwas Staubwischen und Saubermachen sah der Raum schon viel freundlicher aus. Dadurch ermutigt, beschloß Phulboni, auch das Bettgestell abzustauben und zu säubern. Er zog das Reisebündel vom Bett, trug die verschlissene, alte Matte nach draußen und klopfte sie gründlich aus, daß eine Staubwolke daraus aufwirbelte. Sobald sie sich gelegt hatte, entdeckte Phulboni ein seltsam geformtes Zeichen auf der Matte: einen verblaßten, rostroten Fleck. Er legte die Matte auf den Boden und sah genauer hin. Es war der Abdruck von zwei großen, nebeneinanderliegen den Händen. Doch war etwas Seltsames an ihnen, etwas, das nicht ganz stimmte. Phulboni mußte den Kopf zur einen und zur anderen Seite drehen, bis er herausfand, was es war: der Abdruck der linken Hand wies nur vier Finger auf. Der Dau men fehlte. Etwas leicht Gespenstisches und Bedrohliches wohnte dieser eigenartigen Form inne, die da auf den vergilbten Binsen sichtbar wurde. Er rollte die Matte zusammen und räumte sie weg. Dann ging er wieder hinein, hievte das Reisebündel auf die bloßen Stricke des Bettgestells und richtete sich eine gemütliche Schlafstätte her. Er legte die Nachtkleidung zurecht und arrangierte, hübsch ordentlich nebeneinander, sein Rasier zeug für den nächsten Morgen in der Nische neben der Signal leuchte. Er trat zurück und sah sich um: alles schien nun in schönster Ordnung, und dennoch wurde er ein ungutes Gefühl nicht los. Er beschloß, einen Spaziergang zu machen. Es war jetzt später Nachmittag. Die Wolken hatten sich ge lichtet, die Sonne schien hell aus dem vom Regen reingewa 239
schenen Himmel und tauchte alles um ihn her in ein schillerndes, glänzendes Licht. Phulboni ging die Gleise entlang, sprang von Schwelle zu Schwelle und beobachtete, wie die Schienen auf den Horizont zuliefen und die überfluteten, schimmernden Felder rechts und links des hohen Bahndamms durchschnitten. Als er die Stelle erreichte, an der die Gleise sich teilten, warf er einen Blick zur Seite auf das überwachsene Nebengleis. Er bemerkte flüchtig, daß die stählernen Leitzungen, die das Nebengleis mit der Hauptstrecke verbanden, mangels Benut zung völlig eingerostet waren. Dann fiel sein Blick auf eine Familie von Reihern, die die von Unkraut überwachsenen Schienen des Nebengleises als Ausguck für die Jagd benutzten. Gefesselt von diesem Anblick, näherte er sich verstohlen den Vögeln und setzte sich in sicherer Entfernung auf eine Schiene. Ein Erdwall, der einst ein Bahnsteig gewesen sein mochte, zog sich zwischen den parallel laufenden Bahngleisen hin. Den Rücken an den Wall gelehnt, saß der Schriftsteller müßig da und beobachtete die Reiher eine gute Stunde lang, wie sie sich an den Fröschen gütlich taten, die unten auf den überfluteten Feldern herumpaddelten. Erfüllt von einem Gefühl des Friedens und Wohlbehagens, stand er schließlich auf und streckte sich. Er war jetzt doppelt froh, daß er beschlossen hatte, im Signalraum zu bleiben und nicht im Haus des Bahnhofsvorstehers. Orte wie dieser er schlossen sich nur in völliger Einsamkeit. Er ging vergnügt weiter, wobei er auf einer Schiene balan cierte. Es war jetzt kurz vor Sonnenuntergang, und die tieftrei benden, flachen Wolkenfetzen über ihm waren von scharlachund magentaroten Streifen durchsetzt. Bei der Weiche, die das Nebengleis und die Hauptstrecke wieder miteinander vereinte, beschloß Phulboni umzukehren. Er blieb stehen und warf einen letzten Blick auf die überfluteten Felder, die im Licht des Sonnenuntergangs prachtvoll leuchteten. Unversehens fiel sein Blick auf den roten Griff des Schalthebels. Zu seiner Überra 240
schung bemerkte er, daß der Mechanismus gut in Schuß zu sein schien. Der Schalthebel wies keinerlei Rostspuren auf, noch waren die Drähte, die ihn mit den Leitzungen verbanden, im mindesten überwachsen, obwohl sie ganz nahe am Boden verliefen. Im Gegenteil, die tiefen Furchen im Gras darunter wiesen aufregelmäßige Überholung und Benutzung hin. Phulboni hatte ein angeborenes Interesse für alles Mechani sche. Er genoß die Berührung von kaltem Metall und erfreute sich an einem schönen, wohlgeschmiedeten Stück aus Eisen oder Stahl. Er überquerte die Schienen und musterte den blitzblanken eisernen Schalthebel. Irgendwie stimmte es ihn zufrieden, in dieser scheinbar unpassenden Umgebung auf ein so wohlgepflegtes Teil einer Maschinerie zu stoßen. Als er sich mit ausgestrecktem Arm hinbeugte, hörte er einen Ruf. Er richtete sich auf und sah, wie der Bahnhofsvorsteher sich den Damm hinaufkämpfte. Er winkte wie wild und bedeu tete Phulboni, von dem Schalthebel wegzubleiben. In der einen Hand trug er ein Stoffbündel, in der anderen einen irdenen Krug. Phulboni spürte plötzlich, daß er hungrig war wie ein Wolf. Er winkte und eilte rasch über die Gleise zurück. Der Bahnhofsvorsteher erwartete ihn hundert Meter weiter vorn am Gleis. Er runzelte ärgerlich die Stirn. »Hör mal«, sagte er dem Schriftsteller. »Du magst ein großer Sahib sein und alles, aber wenn du klug bist, dann mach dich hier an nichts zu schaffen.« Er dachte nach und fügte an: »Das ist Staatseigentum, es gehört der Bahn.« Phulboni hatte dem Bahnhofsvorsteher eigentlich gratulieren wollen, wie gut er den Schaltmechanismus der Station in Schuß hielt. Nun hörte er ihm verlegen schweigend zu und wußte nicht, was er sagen sollte. Der Bahnhofsvorsteher drückte ihm das Stoffbündel und den irdenen Krug in die Hand. »Stell sie einfach in eine Ecke, wenn du fertig bist«, sagte er schroff. »Ich kümmere mich morgen 241
früh darum.« Er schlurfte rasch zum Bahndamm und hangelte sich seitlich zu dem überfluteten Feld hinab. Phulboni faßte sich und rief: »Bleib doch noch einen Mo ment und iß etwas mit mir, bevor du gehst!« »Ich komme morgen früh wieder«, antwortete der Bahnhofs vorsteher über die Schulter hinweg. Etwas an diesem hastigen Abgang versetzte Phulboni in Un ruhe. Vom Rand des Bahndamms aus rief er: »Masterji, hast du mir irgend etwas verschwiegen?« »Morgen«, rief der Stationsvorsteher zurück. »Morgen … alles … es wird schon dunkel …« Das platschende Geräusch eiliger Schritte übertönte seine Stimme. Phulboni fühlte sich seltsam verlassen, wie er da im letzten Tageslicht auf dem öden Bahngleis stand. Er ging langsam zurück zum Signalraum und stieß die Tür auf. Drinnen war es dunkel, doch ein metallisches Glitzern lenkte seinen Blick auf den Boden. Es war die geschwungene Klinge seines Rasier messers. Daneben lagen verstreut der Topf mit Rasierschaum, der Rasierpinsel und das Alaunstück, die er in die Nische gestellt hatte, bevor er spazierengegangen war. Phulboni stellte Essen und Getränk auf dem Schreibtisch ab und schaute umher, ob das Fenster aufgeschwungen war und dadurch Zugluft oder einen Windstoß hereingelassen hatte. Doch das Fenster war nach wie vor fest verschlossen. Da ihm keine bessere Erklärung einfiel, entschied er, daß die Gegen stände wohl heruntergeweht worden waren, als er die Tür geöffnet hatte. Er hob sie auf und arrangierte sie erneut ordent lich in der Nische neben der Signalleuchte. Er beschloß, draußen zu essen, solange es noch hell war. Nachdem er Essen und Wasser hinausgetragen hatte, ließ er sich im Schneidersitz nieder und öffnete das Stoffbündel. Er fand einen Stapel Fladenbrote, eine üppige Portion eingelegter Mangos und eine Menge goldgelber Kartoffeln mit dicker Masala-Kruste. Er glaubte, noch niemals etwas so Köstliches 242
gerochen zu haben, und fiel mit Appetit darüber her. Gerade war er mit dem dritten gefüllten Fladenbrot halb fertig, als er im Raum hinter sich etwas zu Boden fallen hörte. Verdutzt schaute er über die Schulter. Durch die offene Tür sah er, daß sein Rasiermesser und die anderen Utensilien auf dem Boden lagen. Dabei war nichts in den Raum hineingekommen, und der Wind hatte sich gelegt. Einen Moment lang überfiel ihn Unbehagen, doch dann meldete sich der Hunger wieder. Nach dem Essen wusch er sich die Hände, trank ausgiebig aus dem Wasserkrug und lehnte sich zurück, zufrieden mit einem kleinen Zweig in den Zähnen stochernd. Das Gefühl von Wohlbehagen stellte sich wieder ein, als er in der leichten Brise saß und dem Chor der Frösche und Grillen zuhörte, der von den überfluteten Feldern zu ihm heraufdrang. Ein solch tiefer Frieden verdiente etwas ganz Besonderes, fand er. Es war ein würdiger Anlaß für eine seiner seltenen Zigarren. Phulboni rauchte nicht viel, doch ein- oder zweimal in der Woche zündete er sich nach einem guten Essen gern eine ordentliche Zigarre an. Er erinnerte sich, ein paar für die Reise eingepackt zu haben, wußte jedoch nicht mehr genau, wo er sie hingesteckt hatte. Der Signalraum war jetzt stockdunkel, doch er hatte eine Streichholzschachtel griffbereit. Er zündete ein Streichholz an, und sein Blick fiel sogleich auf die schimmernde Signalleuchte in ihrer Nische. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er hob die Later ne hoch und schüttelte sie. Das Geräusch von schwappendem Öl sagte ihm, daß sie gefüllt war. Rasch riß er das Glasfenster auf und hantierte an der Schraube, die den Docht hielt. Mit ein paar Umdrehungen schob er den Docht gute zwei Zentimeter höher und zündete ihn an. Als er das Fenster wieder zuschnap pen ließ, erfüllte strahlendrotes Licht den Raum. Mit sich zufrieden ging er zu seinem Reisebündel und be gann in den Taschen nach der Blechdose mit den Zigarren zu suchen. Er hatte sie eben gefunden, als hinter ihm ein metalli 243
sches Klicken ertönte und das Licht ausging. Phulboni schnalz te verärgert mit der Zunge, weil er vor dem Anzünden der Laterne die Tür nicht geschlossen hatte. Er ging zum Schreib tisch hinüber und ließ ein weiteres Streichholz aufflammen. Dann sah er jedoch genauer hin und entdeckte, daß er sich geirrt hatte: das Licht war nicht durch einen Windstoß erlo schen, sondern der Docht wieder in die Fassung zurückgedreht worden. Stirnrunzelnd fingerte er an der Schraube herum und überlegte, ob sie sich gelockert haben konnte. Es war nicht mit Sicherheit zu sagen. Schließlich drehte er den Docht einfach hoch und zündete ihn wieder an. Diesmal achtete er darauf, die Laterne in eine windgeschützte Ecke zu stellen. Dann zündete er sich eine Zigarre an und lauschte im Schneidersitz auf der Schwelle den Myriaden von Insekten der Monsunzeit. Als er die Zigarre halb geraucht hatte, hörte er, wie sich die Schraube in der Laterne wiederum drehte. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, daß das Licht ausgegan gen war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Dann fiel ihm sein Gewehr ein, und er lehnte sich wieder zurück. Soviel er wußte, war gegen einen .303er nichts auszurichten. Beruhigt paffte er weiter an seiner Zigarre. Er rauchte sie bis zum Ende und stand dann auf. Es kostete ihn etwas Überwindung, wieder in den Signalraum zu gehen, aber jetzt blieb ihm nichts anderes übrig. Er wußte, daß er das Haus des Stationsvorstehers allein und im Dunklen niemals finden würde. Ruhig und wohlüberlegt bereitete sich Phulboni auf die Nacht vor. Um Streichhölzer zu sparen, schlüpfte er im Dunk len in seinen Pyjama. Danach zog er den stabilen Ledergürtel aus seiner Hose und zurrte damit den Türgriff fest. Er nahm das Gewehr aus der Tasche und legte es in bequemer Reichweite auf den Boden neben sein Bett. Dann legte er sich hin, den Blick auf die Tür gerichtet. Eigentlich hatte er erwartet, daß er lange wachliegen würde. Doch nach dem langen Tag war er 244
todmüde. Binnen weniger Minuten schlief er tief und fest. Regentropfen auf seinem Gesicht weckten ihn. Er fuhr ver dutzt hoch und griff instinktiv nach seinem Gewehr. Die Tür war offen, sie schwang im Wind, und der Regen schwallte in den Raum hinein. Er kämpfte sich aus dem Bett und verfluchte sich, weil er die Tür nicht ordentlich verschlossen hatte. Der Gürtel lag, noch zugeschnallt, beim Eingang. Er hob ihn auf, zog die Tür zu und band den Gürtel erneut, so fest er konnte, um den Türpfosten. Er trat zurück und zündete ein Streichholz an, um nachzusehen, ob der Gürtel halten würde. Dabei bemerkte er, daß die Signalleuchte nicht mehr in der Ecke stand, wo er sie zuletzt hingestellt hatte. Er schaute umher, vom Schreibtisch bis zur Nische: die Laterne war nirgendwo zu sehen. Sie schien verschwunden. Schlaftrunken, wie er war, dachte Phulboni zunächst, der Bahnhofsvorsteher müsse hereingekommen sein und die Laterne mitgenommen haben, während er schlief. Vielleicht war irgendwo am Gleis ein Unglück passiert. Er löste den Gürtel und blickte in den peitschenden Regen hinaus. Wahrhaf tig, da war es: ein kleines, kreisrundes rotes Licht, das etwa fünfzig Meter weiter vorn am Gleis auf und ab tanzte. »Masterji, Masterji!« schrie Phulboni ihm durch die gewölb ten Hände aus voller Kehle nach. Doch das Licht setzte seinen Weg fort, was kein Wunder war: der Wind heulte und trieb den Regen vor sich her. Phulboni dachte keine Sekunde nach. Er zog seine Schuhe an, wickelte ein dickes Handtuch um die Hüften und rannte hinaus. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, sein Gewehr mitzunehmen. Doch bei der Vorstellung, was Regen und Schlamm damit anrichten würden, ließ er es bleiben. Er straffte die Schultern und ging zum Gleis, die Augen gegen den Ansturm des Windes halb geschlossen. Erst als er das Neben gleis schon fast erreicht hatte, begann er sich zu fragen, wie der 245
Stationsvorsteher eigentlich in den von innen verriegelten Signalraum hineingekommen sein sollte. Phulboni stolperte weiter und machte längere Schritte, um den Abstand zwischen den Schwellen zu überspringen. Das Holz war durch die Nässe rutschig geworden, und er hatte Mühe, auf den Beinen zu bleiben. Manchmal verlor er das rote Licht aus den Augen, hatte jedoch das Gefühl, ihm näher zu kommen. Jedesmal, wenn er es erspähte, schien er etwas dichter daran zu sein als zuvor. Dann sah er, zwischen zwei heftigen Regengüssen, daß das Licht die Richtung wechselte und nach rechts abbog. Er war nicht mehr sicher, wo er sich befand, nahm jedoch an, daß der Stationsvorsteher dort angelangt war, wo die Schienen zu dem Nebengleis abzweigten. Erstaunt fragte er sich, was für ein Notfall es wohl sein mochte, der den Bahnhofsvorsteher bewogen hatte, bei Sturm den ganzen Weg bis zum Nebengleis zu laufen. Nun verlor er das Licht aus den Augen und ging etwas lang samer. Angesichts der Dunkelheit heftete er seine Augen auf die Schienen, um sicherzugehen, daß er den Abzweig zum Nebengleis nicht verpaßte. Letztlich fand er ihn nur, weil er zufällig auf die gebogenen Leitzungen stieß. Er tastete sich mit dem Fuß voran und folgte den Schienen, die nach rechts führten. Nach ein paar Schritten blieb er stehen, hielt die Hand über die Augen und schaute umher. Irgendwo in einem Regenwirbel erspähte er das tanzende rote Licht. Es schien jetzt viel näher zu sein und fast am Fleck zu bleiben. Nach einigen weiteren Schritten war er ganz sicher. Das Licht bewegte sich nicht mehr. Es stand offenbar auf dem Boden, neben dem Gleis – vermutlich ganz in der Nähe der Stelle, an der er zuvor gesessen und den Reihern beim Fischen im Wasser zugesehen hatte. Er war überzeugt, daß der Bahn hofsvorsteher ihn gesehen hatte und nun auf ihn wartete. Die 246
Hände vor den Mund gewölbt, schrie er erneut aus Leibeskräf ten: »Masterji, Masterji!« Das Licht schien ihm aufmunternd zuzunicken, und er be gann schneller zu laufen, so schnell er nur konnte, um es einzuholen. Doch dann, plötzlich, als das Licht keine zwanzig Fuß mehr entfernt war, stolperte er. Er fiel vornüber, konnte jedoch gerade noch seine Hände ausstrecken, um nicht mit dem Kopf auf den kalten Stahl zu prallen. Erleichtert atmete er tief durch, stützte sich auf und um klammerte mit einer Hand die Schiene. Und dann, gerade als er wieder zu Atem kam, spürte er, wie die Schiene zitterte. Er legte beide Hände darauf. Kein Zweifel: ein sich nähernder Zug ließ sie vibrieren. Phulboni war völlig verdutzt: Daß hier irgendwo ein Zug vorbeikam, war praktisch ausgeschlossen. Der Zug, den er genommen hatte, würde nicht vor Morgengrauen von Barich zurückkommen, und andere Züge verkehrten auf dieser Strecke nicht. Doch selbst wenn – warum sollten sie auf das Neben gleis umgelenkt werden, und wer hätte dafür die Weichen gestellt? Er war dem Stationsvorsteher die letzten paar Minuten gefolgt und wußte, daß er nicht in die Nähe des Stellhebels gekommen war. Und dennoch täuschten ihn seine Sinne nicht: die Schienen erbebten unter seinen Händen, und die Vibrationen wurden allmählich immer stärker. Er legte das Ohr auf die Schiene und horchte angestrengt. Was er hörte, war das unverwechselbare Grollen eines näher kommenden Zuges. Er donnerte auf ihn zu, war schon ganz nahe. In letzter Sekunde warf er sich seitwärts vom Bahndamm und rollte zum Wasser hinunter. Noch im Fallen sah Phulboni die Lichter des Zuges im Wi derschein über die überschwemmten Felder zucken. Er hielt sich an einem Busch fest, den Kopf nur Zentimeter über dem Wasser. In eben jenem Moment hörte er einen Schrei, ein wildes, unmenschliches Geheul, das die stürmische Nacht 247
durchschnitt. Es schleuderte ein einziges Wort in den Wind hinaus – »Laakhan« – und wurde sodann von dem Lärm des dahindonnernden Zuges erstickt. Phulboni klammerte sich kopfunter, das Wasser vor Augen, an die Böschung. Er hatte aus dieser Lage das Nebengleis nicht im Blick, sah jedoch ganz deutlich die Lichter des Zuges, die über die Fluten glitten, spürte, wie der Bahndamm unter seinem Gewicht erbebte, hörte das gequälte Keuchen der Lokomotive und roch die Kohle des Dampfkessels. Denken konnte er in der ganzen Zeit jedoch nur eines: wie knapp er dem Tode entkommen war. Zitternd vor Erleichterung und Furcht, lag er ein paar Minu ten da. Es war immer noch stockdunkel, doch der Sturm hatte etwas nachgelassen. Sobald seine Hände wieder ruhig waren, kämpfte er sich hoch und begann den Bahndamm hinaufzuklet tern. Als er wieder festen Boden unter den Füßen spürte, rief er »Jemand da?«, nur für den Fall, daß derjenige, der den Schrei ausgestoßen hatte, noch in Hörweite war. Niemand antwortete. Er ließ sich auf die Knie nieder und begann die Erde ringsum abzutasten, um die Schienen zu finden. Er wußte, daß er ohne sie nicht zum Signalraum zurückkehren konnte. Nach ein paar Minuten streifte seine Hand etwas Kaltes. Mit einem Seufzer der Erleichterung umfaßte er die Schiene mit beiden Händen. Da er völlig die Orientierung verloren hatte, dauerte es ein paar Minuten, bis Phulboni bewußt wurde, daß die Schiene, die noch vor kurzem so heftig unter seinem Griff erbebt war, nun völlig still und bewegungslos dalag. Er wußte, daß Eisenbahn schienen den Klang von Zügen meilenweit in beiden Richtun gen übertrugen. Der Zug war erst vor kurzem über das Neben gleis gefahren, er konnte nicht mehr als eine Meile entfernt sein. Er legte das Ohr auf die Schiene und horchte angestrengt. Das einzige Geräusch, das er hörte, waren Regentropfen, die auf Metall pladderten. Dann streifte er Unkraut, das die Schie 248
nen überwucherte. Er tastete ungeduldig mit den Händen die Schiene in beiden Richtungen ab. Nichts wies daraufhin, daß das Gestrüpp, das er am Nachmittag auf den Gleisen gesehen hatte, von einem durchfahrenden Zug plattgedrückt worden war. Jetzt verspürte Phulboni Angst, stärker als je zuvor in seinem Leben – Angst, die seine Gedanken lähmte und ihn nicht mehr klar sehen ließ. Er stand auf dem Gleis, schaute wie betäubt umher und sah plötzlich das rote Licht wieder. Es kam aus etwa hundert Meter Entfernung langsam auf ihn zu. Phulboni begrüßte es mit einem erleichterten Ausruf: »Ma sterji, Masterji, hier bin ich …« Der Ruf blieb ohne Antwort, doch die Laterne bewegte sich ein wenig schneller. Wie er so dastand und das Licht beobach tete, wurden Phulbonis Gedanken etwas klarer. Er starrte auf die Laterne und versuchte einen Blick auf das Gesicht dahinter zu erhaschen. Doch er sah nichts. Das Gesicht blieb in Dunkel heit gehüllt. Phulboni drehte sich um und lief davon. Er lief so schnell wie noch nie, rang nach Atem in dem Bemühen, auf den schlüpfri gen Schwellen nicht auszugleiten. Einmal blickte er über die Schulter und sah, daß die Laterne ihm folgte und der Abstand geringer wurde. Er lief noch schneller, sich selbst vorantrei bend und stöhnend vor Angst. Dann sah er vor sich den Signalraum aus der Dunkelheit Gestalt annehmen. Er warf einen letzten Blick zurück. Die Laterne war jetzt nur noch ein paar Schritte hinter ihm, an ihrem stählernen Griff war deutlich eine Hand erkennbar. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung stürzte Phulbo ni auf den Signalraum zu und taumelte durch die Tür. Das Gewehr lag noch an derselben Stelle neben seinem Bett. Er packte es, drehte sich um und zielte mit dem Lauf auf die Tür. Er entriegelte es, als die Laterne in der Tür erschien. Sie kam herein und näherte sich ihm. Eine Hand wurde sichtbar, in das 249
rote Licht der Laterne getaucht. Das Gesicht war noch immer im Dunklen, doch plötzlich dröhnte erneut jene unmenschliche Stimme durch den Raum. Sie sprach nur das eine Wort »Laak han«. Und dann feuerte Phulboni aus kürzester Entfernung in das Fenster der Laterne. Der Gewehrknall erfüllte den Raum wie Dynamit, das in einer Höhle explodiert. Der Rückstoß des Laufs traf den Dichter am Kinn und warf ihn hart gegen das Bett.
Neununddreißig Als Phulboni wieder zu Bewußtsein kam, dämmerte es bereits, und er starrte in das grinsende Gesicht des Bahnhofsvorstehers. Er war nicht mehr im Signalraum. Der Morgen brach an, und er lag draußen auf dem Rücken, auf irgend etwas Weichem. »Ich sagte zu der Die-zu-Hause-ist«, bemerkte der Bahnhofs vorsteher, »ich sagte zu ihr, ›wirst schon sehen, kein Grund, sich Sorgen zu machen, ihm geht’s gut‹.« Phulboni schloß die Augen. Er war so erleichtert, sich unver letzt und in Sicherheit zu wissen, daß die gesamte Anspannung aus seinem Körper wich. »Ich hatte ganz schöne Mühe, dich hier herauszuziehen, Sa hib«, sagte der Bahnhofsvorsteher. »Kam mir vor, als war dein Riesengestell aus Messing. Ich mußte ziehen und ziehen und ziehen, und das auch noch ganz allein. Aber ich sagte mir, ›Budhhu Dubey, was auch geschieht, du mußt ihn von diesem schrecklichen Ort wegbringen, und wenn du dir das Kreuz dabei brichst. Solange er hier drin ist, gibt es keine Hoffnung für ihn. Du mußt ihn rausbringen.‹« »Was ist denn passiert?« fragte Phulboni. »Wo war ich, als du mich gefunden hast?« »Ich kam, so früh ich konnte«, sagte der Bahnhofsvorsteher. 250
»Die-zu-Hause-ist weckte mich, als es noch dunkel war, und sagte, ›jetzt geh und schau nach, ob mit dem armen Mann alles in Ordnung ist‹. Ich eilte her, so schnell ich konnte. Ich fand dich auf dem Boden, das Gewehr lag auf dir. Erst dachte ich, du wärst tot. Aber dann merkte ich, daß du noch atmest, und zog dich hinaus.« »Und die Laterne?« fragte Phulboni. »Ich habe darauf ge schossen. Hast du kein Glas im Signalraum gesehen?« Der Stationsvorsteher runzelte die Stirn: »Welche Laterne?« »Die Signallaterne«, sagte Phulboni. »Die, die gestern in dem Raum stand.« »Sie war am gleichen Ort«, sagte der Stationsvorsteher. »Glattpoliert und sauber; niemand faßt sie je an. Sie ist immer so, immer am selben Ort, immer sauber, kein Staubflöckchen darauf.« Er fächelte Phulboni heftig mit einem Bananenblatt zu. »Die ser Bahnhof ist ein schrecklicher Ort«, sagte er. »Kein Mensch aus den Nachbardörfern nähert sich ihm nach Einbruch der Dunkelheit auch nur auf eine Meile. Mit allem Gold des Himmels könnte man sie nicht dazu bringen. Ich hab’ versucht, es dir zu sagen, aber du wolltest ja nicht hören.« »Jetzt höre ich«, sagte Phulboni. »Ich will wissen, was pas siert ist.« Der Bahnhofsvorsteher seufzte. »Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll«, meinte er. »Einem großen Sahib wie dir. Ich kann dir nur erzählen, was die Leute hier so reden – die einfachen Dorfleute, so wie ich …« Phulboni hörte mit geschlossenen Augen zu und strich mit der Hand über seine Stirn. »Was reden die denn, die Leute?« sagte er. »Ich möchte es wissen.« Und wie es ein glücklicher Zufall wollte, griff er mit der Hand nach hinten und streifte eine Schiene, ein Stück kalten, vibrierenden Stahls. Er öffnete die Augen – und sah nichts als Blätter und Bäume vor einem rosigen Morgenhimmel. Weder der Bahnhofsvorsteher noch 251
sonst irgend jemand war zu erblicken. Er stellte fest, daß er auf einer Matratze quer über den Schienen des Nebengleises lag. Zögernd streckte er einen Arm aus und berührte die Schiene. Und dann warf sich Phulboni zum zweitenmal von den Glei sen. Diesmal konnte er seinen Fall jedoch eher bremsen, so daß er nur wenige Zentimeter entfernt war, als der Zug über das Nebengleis und die Matratze raste, auf der er eben noch gele gen hatte, und sie in Fetzen riß. Diesmal war der Zug nur allzu echt: er sah die entsetzten Gesichter der Heizer und Lokomo tivführer, während der Zug vorbeidonnerte, hörte das Quiet schen der Bremsen und das Aufschrillen der Pfeife. Er kletterte zum Nebengleis hoch und begann zu laufen. Er holte den Zug etwa eine Meile weiter vorn ein, wo er schließ lich zum Stehen gekommen war. Die Heizer und die Lokomotivführer prüften die Leitzungen und Weichen, um herauszufinden, wie die Gleise umgestellt worden waren. Unbegreiflich, sagte der erste Lokomotivführer: das Nebengleis war seit Jahrzehnten nicht mehr in Benutzung und der Mechanismus vor Jahren abgebaut worden. Der Zug wäre beinahe entgleist, ein Wunder nur, daß es nicht geschehen war, bei all dem Schutt auf den verrosteten, überwachsenen Gleisen. Phulboni sagte: »Vielleicht hat der Stationsvorsteher die Weichen aus Versehen umgestellt?« Der erste Lokomotivführer war ein grauhaariger alter Vete ran anglo-indischer Herkunft. Er lächelte Phulboni eigenartig an und sagte: »In Renupur gibt es seit über dreißig Jahren keinen Stationsvorsteher mehr.« Dann erschien der Schaffner, dienstfertig wie eh und je, und führte Phulboni zu einem leeren Abteil in der ersten Klasse. Später, als der Zug sich Richtung Darbhanga in Bewegung gesetzt hatte, machte er sich an ihn heran und flüsterte dem Dichter ins Ohr: »Sie haben Glück gehabt. Immerhin sind Sie noch am Leben.« 252
»Wieso?« fragte Phulboni. »Gab es denn andere, die …?« »In meinem ersten Jahr als Zugschaffner, also ‘94, gab es schon mal einen, der nicht soviel Glück hatte. Er starb dort, genau so, auf den Schienen liegend, bei Morgendämmerung. Die Leiche war so zerstückelt, daß man nie genau herausfand, wer es war, aber man munkelte, es sei ein Ausländer gewesen.« Er lächelte Phulboni melancholisch an. »Niemand kommt nachts je in die Nähe des Bahnhofs«, sagte er. »Warum haben Sie mir das nicht vorher gesagt?« fragte Phulboni. »Ich hab’s ja versucht«, sagte der Schaffner mit einem schie fen Lächeln. »Aber Sie hätten mir sowieso nicht geglaubt. Sie hätten gelacht und gesagt, ›ach, diese Dörfler, ihre Köpfe sind voll von Einbildungen und Aberglauben‹. Jeder weiß, daß Stadtmenschen wie ihr immer das Gegenteil von dem tun, was man ihnen rät.« Phulboni mußte zugeben, daß er recht hatte, entschuldigte sich und bat den Schaffner, sich zu ihm zu setzen und ihm alles zu erzählen, was er wußte. Viele Jahre lang, so der Schaffner, hatte ein junger Bursche namens Laakhan in dem Signalraum gelebt. Bald nach der Errichtung des Bahnhofs hatte es ihn von irgendwo hierherge weht, nachdem er durch eine Hungersnot zum Waisenkind geworden war. Er war ein kleiner Stromer mit einem dünnen, ausgemergelten Körper und einer mißgebildeten Hand. Der Signalraum stand damals leer, weil kein Bahnangestellter an einem solch einsamen, abgeschiedenen Ort leben wollte. Also richtete Laakhan sich dort ein. Die durchkommenden Schaffner und Heizer brachten ihm bei, die Signallaterne zu benützen und die Weichen zu stellen. Er war der Eisenbahn nützlich und durfte dafür dort wohnen. Der Junge war schon ein Teenager, als schließlich ein Bahn hofsvorsteher für Renupur gefunden wurde. Dieser war, wie sich herausstellte, ein orthodoxer Vertreter einer oberen Kaste. 253
Der Bursche war ihm auf Anhieb zuwider, er betrachtete ihn als Beleidigung seiner Person. Den Dorfbewohnern sagte er, Laakhan sei schlimmer als ein Unberührbarer. Von ihm gehe Ansteckungsgefahr aus, er sei möglicherweise das Kind einer Prostituierten, und seine mißgebildete linke Hand deute auf eine Erbkrankheit hin. Er versuchte sein Bestes, den Jungen vom Bahnhof zu vertreiben, aber Laakhan wußte nicht wohin. Der Junge baute sich eine Bambushütte auf dem unbenutzten Nebengleis und versuchte, sich möglichst nicht blicken zu lassen. Dies versetzte den Stationsvorsteher in nur noch größere Wut. In einer mondlosen Nacht versuchte er während eines Sturms, den Jungen zu töten, indem er die Weichen umstellte und einen Zug auf ihn zurasen ließ. Niemand jedoch kannte die Station besser als Laakhan, und es gelang ihm zu entkommen. Statt seiner stolperte der Bahnhofsvorsteher über die Schie nen und fiel vor den Zug. Seither gab es in Renupur keinen Stationsvorsteher mehr. In Phulbonis Hirn wirbelten die Fragen durcheinander. Da er gerade einem ähnlichen Tod entronnen war, brannte er vor Neugier, das weitere Schicksal des Jungen zu erfahren. »Erzäh len Sie mir mehr«, bat er den Schaffner. »Was ist aus Laakhan geworden? Ich muß es wissen, sagen Sie es mir.« »Da gibt es nicht mehr viel zu erzählen«, erwiderte der Schaffner. »Die Leute sagen, er sei als blinder Passagier mit einem Zug nach Kalkutta gefahren. Angeblich lebte er im Sealdah-Bahnhof, bis eine Frau ihn auflas und bei sich wohnen ließ.« »Ist das alles?« fragte Phulboni hartnäckig. »Wer war diese Frau? Was geschah mit Laakhan?« Der Schaffner blickte kleinlaut drein. »Mehr weiß ich nicht«, sagte er. »Außer …« »Außer was?« »Der Mann, der vor mir diese Stellung hatte, erzählte mir 254
einmal etwas. Er sagte, er habe mit dem Ausländer gesprochen, der dann in Renupur starb. Er, der Ausländer, sei zu ihm auf den Bahnsteig gekommen, als er gerade zur Abfahrt winken wollte. Er sagte, er reise zusammen mit einem jungen Mann, der aus Renupur stamme. Als Sahib war der Ausländer natür lich in der ersten Klasse, der andere Mann hingegen in der dritten. Doch nun fand er den jungen Mann nicht mehr: er war verschwunden. Mein Vorgänger konnte ihm nicht helfen. Seines Wissens war niemand sonst in Renupur ausgestiegen. Der Ausländer war sehr ärgerlich und sagte, er würde am Bahnhof warten. Der Schaffner, mein Vorgänger, riet ihm, was immer auch geschähe, nachts nicht beim Bahnhof zu bleiben. Er tat, was er nur konnte, um ihn zur Weiterreise zu bewegen, doch der Sahib lachte nur und sagte: ›Ach, ihr Dörfler …‹«
Vierzig »Oh mein Gott!« rief Urmila plötzlich und riß den Plastikvor hang der Nische beiseite. »Was ist?« fragte Murugan. »Sonali-di«, erwiderte Urmila. »Ich muß telefonieren.« Sie eilte durch das Restaurant zum Schreibtisch des Ge schäftsführers im hinteren Teil und griff zum Telefon. Muru gan bezahlte die Rechnung. Als er bei ihr war, starrte sie entsetzt auf den Hörer. »Sonali-di ist verschwunden«, sagte sie. »Sie ist nicht im Büro und auch nicht zu Hause. Man hat versucht, sie zu errei chen, weil sie heute morgen nicht bei der Dienstbesprechung war. Seit gestern abend hat sie niemand mehr gesehen. In ihrer Wohnung geht keiner ans Telefon. Offenbar war ich die letzte, mit der sie gesprochen hat.« »Wann war das?« »Ungefähr um halb elf, schätze ich«, sagte Urmila. »Wir 255
waren zusammen in ihrer Wohnung, und etwa um die Zeit bin ich gegangen.« »Dann habe ich Neuigkeiten für dich, Calcutta«, sagte Muru gan. »Ich habe sie noch nach dir gesehen.« »Was?« rief Urmila. »Aber du kennst sie doch gar nicht.« »Trotzdem habe ich sie gesehen«, sagte Murugan. »Gestern abend ging ich ungefähr um eins auf meinen Balkon und sah, wie sie aus einem Taxi stieg und in das Haus Robinson Street Nr. 3 ging …« Mit einem verzweifelten Schrei schob Urmila ihn beiseite: »Warum hast du mir das nicht gesagt?« Sie lief zur Straße und hielt ein Taxi an. »Komm schon«, rief sie ihm über die Schul ter hinweg zu. »Wir müssen uns beeilen.« Murugan stieg nach ihr ein und knallte die Tür zu. »Robinson Street«, sagte Urmila zu dem Taxifahrer. »Zwi schen Loudon und Rawdon.« Dann wandte sie sich zu Murugan. »Wir müssen Sonali-di finden«, sagte sie. »Wir müssen versuchen, sie zu warnen.« »Warum sie?« fragte Murugan. »Verstehst du denn nicht?« fragte Urmila. »Weil sie auch mit drinsteckt. Sie hat mir diese Geschichte erzählt.« Die abendliche Rush-hour setzte ein. Kaum hatte das Taxi Chowringhee erreicht, herrschte dichter Verkehr. Urmila hing über dem Vordersitz und trieb den Fahrer zur Eile an. Als Murugan erneut zu Urmila sprach, klang seine Stimme ungewohnt ruhig. »Hör zu, Calcutta«, sagte er. »Du bist seit heute morgen unterwegs. Vielleicht solltest du dir mal eine kleine Auszeit gönnen und die Dinge überdenken.« »Was überdenken?« fragte Urmila zerstreut. Sie waren jetzt auf der Theatre Road neben dem Kenilworth Hotel, und überall duftete es nach Kebab. »Ob du noch tiefer in die Sache einsteigen willst«, sagte Murugan. »Was bleibt mir denn übrig?« fragte sie überrascht. 256
»Wir könnten das Taxi hier anhalten lassen«, sagte Murugan. »Und du könntest aussteigen und heimgehen, zurück zu dem, was vorher war.« Ein Schatten legte sich über Urmilas Gesicht. »Heimgehen?« sagte sie leise zu sich, den Blick auf die ge pflegten, hellen Gebäude des British Council geheftet. Wenn sie heimging, mußte sie unterwegs Fisch kaufen. Ihre Mutter würde ihr nicht glauben, wenn sie erzählte, daß Romen Haldar abends nicht zu ihnen kommen würde, um ihrem Bruder einen Vertrag für die erste Liga anzubieten. Im Geist hörte sie sie schon lamentieren: »Oh, wir sind dir also ganz egal, deine Familie bedeutet dir gar nichts, du kümmerst dich nur um dich und deine Karriere, deswegen will dich auch keiner heiraten, Mrs. Gangopadhyaya hat es neulich erst gesagt …« Urmila wandte sich zu Murugan und schüttelte entschieden den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Ich will nicht nach Hause.« »Es ist dein Leben, Calcutta«, sagte Murugan gleichmütig. »Du mußt es am besten wissen.« Ein Rückstau an der Kreuzung Loudon Road brachte das Taxi abrupt zum Stehen. Urmila wandte ihren Blick von der Pierre-Cardin-Boutique an der Ecke ab. Ihre Augen hefteten sich, vor Neugier funkelnd, auf Murugan. »Und was ist mit dir?« fragte sie ihn. »Warum machst du noch weiter? Was hat dich überhaupt so weit getrieben?« »Kannst du dir das nicht denken?« fragte Murugan. Urmila schüttelte den Kopf: »Nein.« Murugan lächelte ihr finster zu. »Nicht ich«, sagte er, »son dern etwas in mir drin.« »Meinst du Malaria?« »Das auch«, sagte Murugan. »Und was noch?« fragte Urmila. Einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Murugan gedämpft: »Syphilis.« Urmila fuhr zusammen und schrak unwillkürlich zurück. 257
Murugan wandte sich ihr mit zusammengekniffenen Augen zu. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte er. »Es ist nicht ansteckend. Offiziell bin ich schon lange geheilt.« »Es tut mir leid …« Mehr wagte Urmila nicht zu sagen. Murugans Blick verweilte auf den Läden, Imbißständen und Reisebüros entlang der Straße. »Ich schätze, hier irgendwo hat es angefangen.« Er deutete auf die Häusersilhouette. »Auf der Free School Street. Ich war fünfzehn und hatte mir nach der Schule einen Film im Globe angesehen. Auf dem Heimweg kam ich am New Market vorbei, und da machte sich einer an mich ran und flüsterte mir was ins Ohr. Ich hielt ihn für einen Zuhälter; damals las ich eine Menge amerikanischer Detektiv geschichten. Ich stand da in meiner tintenverklecksten Schul uniformhose und einem verschwitzten Hemd, meine Bücher und Notizhefte in einem Bündel über der Schulter. Er trug ein grünkariertes Hüfttuch, hatte einen bleistiftdünnen Schnurrbart und kleine, blutunterlaufene Augen. Er zwinkerte, bevor er mir ins Ohr flüsterte, grinste mich an und entblößte dabei sein Pferdegebiß. Sein Atem roch schal nach Betelnuß und Alkohol. Es war unwiderstehlich. Ich hatte nur fünf Rupien, aber das reichte. Er führte mich in eine der winzigen Gassen rund um Free School Street, eine Ecke weiter als die armenische Schule, wo William Thackeray geboren wurde. Wir gingen eine dunk le, stinkende Treppe hinauf, die aussah, als ende sie im Arsch der Welt. Doch oben war plötzlich alles durchflutet von Licht und Lärm und Stimmen und Musik – wie auf einem Jahrmarkt: ein riesiger Raum, kleine Kabinen mit Vorhängen, Betelnußund Teeverkäufer und all diese Frauen, die nebeneinander auf Stühlen an der Wand saßen, die Handgelenke mit Blumen geschmückt. Es gab kein Zurück mehr für mich – ich war geliefert. Ich liebte sie, liebte alles an ihnen, selbst die Art, wie sie hinter meinem Rücken über mich lachten, als ich nachher die Treppe hinunterlief, die Hose erst halb zugeknöpft.« Er schwieg und lächelte vor sich hin. 258
»Und dann«, sagte er, »zeigten sich die ersten Anzeichen: Ausschlag, Papeln und gelockerte Zähne. Ich kleidete mich anders, trug immer mehr und mehr Schichten, selbst an den Tagen im Juni, wo die Hitze einem wie ein Dampfhammer ins Gesicht schlägt. Ich konnte den Ausschlag – ach, ich weiß nicht wie lange, auf jeden Fall monatelang – verbergen, ob wohl es schon wehtat, mein Gott, und wie es wehtat. Als es dann schließlich an den Tag kam, gab es kein Drumherumre den mehr. Deshalb mußte meine Familie die Stadt verlassen – wegen der Schande.« »Aber Syphilis ist heutzutage heilbar, oder?« fragte Urmila. »Mit Antibiotika?« »Sicher«, sagte Murugan. »Ich wurde geheilt. Heilen läßt es sich jetzt – wenn man mal davon absieht, was dabei mit deinem Hirn geschieht.«
Einundvierzig Der Regen, der durch die offenstehenden Fensterläden herein wehte, weckte Sonali. Ihre Augen waren verklebt und ge schwollen, und sie hatte Mühe, die Lider zu öffnen. Sie lag auf der Seite und starrte auf einen Staubfaden, der sich am Rand einer Holzdiele gebildet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Die Wand hätte irgend eine Wand und irgendwo sein können. Sie wußte weder, wie lange sie schon hier war, noch was sie auf dem Boden tat. Ihr erster Instinkt war zu erstarren, vollkommen stillzuhalten, wie eine Eidechse, sich unsichtbar zu machen. Während sie bewegungslos am Boden lag, begann sie zu horchen und sich darauf zu konzentrieren, was sie hörte. Allmählich vernahm sie das Geräusch von Autos auf einer nahe gelegenen Straße, Gedudel aus einem Transistorradio, Fahrradglocken, einen Motor mit Fehlzündung – der übliche 259
Straßenlärm, allerdings in einiger Entfernung. In ihrer unmit telbaren Umgebung hingegen war kein Geräusch zu verneh men. Sie hörte nichts, absolut nichts, was ihr Aufschluß dar über gegeben hätte, wo sie war oder ob sich noch jemand im Raum befand. Und dann drang etwas an ihr Ohr, das näher klang als die Geräusche von der Straße: ein metallenes Quietschen, der Klang eines schlechtgeölten Scharniers, eines langsam auf schwingenden, schweren Tores. Einen Augenblick später hörte sie Schritte auf Kies. Offenbar kamen sie näher, auf sie zu. Sie drehte sich langsam um und stellte fest, daß sie in einer schmalen hölzernen Galerie am Boden lag. Sie stemmte sich hoch, schob sich Zentimeter um Zentimeter bis zum Rand und schaute hinab. Unter ihr lag ein riesiger, leerer Raum. Verblassender Däm merschein fiel durch ein zerbrochenes Oberlicht. Am anderen Ende des höhlenartigen Raumes entdeckte sie ein Häufchen Asche und halbverbrannte Zweige. Nun wurde die Erinnerung wieder wach: die Treppe, der Lärm, der Rauch, die Men schenmenge, die sich um einen Körper scharte. Keuchend beugte sie sich erneut hinab. Es war niemand zu sehen. Der Raum war leer. Die Schritte waren jetzt im Haus, und zwar unten, vermutlich irgendwo bei der Treppe. Sonali zog rasch den Kopf zurück und lag, apathisch ein- und ausatmend, still da. Sie kletterten über die baufällige Treppe hinauf. Sonali konn te das Geräusch ihrer Schuhe auf dem stählernen Rahmen hören. Sie vernahm den Klang einer Stimme – einer Männer stimme, irgendwo draußen. Dann kam auch eine Frauenstimme dazu, noch immer gedämpft, obwohl ihre Schritte irgendwo unter ihr ertönten, sehr nahe beim Empfangsraum. Sie hörte, wie die Füße eintraten, hin- und hergingen. Dann vernahm sie nur noch das Pochen ihres Blutes in den Ohren. Sie schloß die Augen, biß sich auf die Lippe und versuchte 260
allen Mut zusammenzunehmen, um hinunterzuschauen. »Hier ist niemand«, sagte eine Stimme. Es war eine Frau, die da sprach – eine bekannte, eine vertraute Stimme. Ganz langsam hob sie den Kopf und schob sich zentimeter weise zum Rand. Dann schrie sie: »Urmila!« »Sonali-di!« keuchte Urmila und wirbelte herum. Gleichzei tig rief Murugan: »Sie ist da oben, komm!« Sonali ließ den Kopf erleichtert zu Boden sinken. Dann wa ren sie oben in der Galerie bei ihr, halfen ihr die Leiter hinun ter, hielten ihre Hände, und sie weinte, rang nach Atem und hörte zwischen den Schluchzern, wie sie zu sprechen versuch te, darum kämpfte, etwas Zusammenhängendes herauszubrin gen, doch die Worte kamen alle verkehrt heraus, völlig durch einander, in einem sinnlosen Wirrwarr. »Beruhige dich, Sonali-di«, sagte Urmila. »Es ist schon gut, wir sind ja jetzt da. Sag, was machst du hier? Wann bist du gekommen?« Sonali umklammerte Urmilas Hand noch stärker. »Ich kam spät letzte Nacht«, sagte sie. »Ich suchte nach Ro men. Irgendwie wußte ich, daß er hier sein würde.« »Hast du ihn gefunden?« fragte Urmila. Sonali begann erneut zu schluchzen. »Das ist ja das Seltsame, Urmila«, sagte sie. »Ich weiß es nicht.« Sonali begann ihnen zu erzählen, wie sie mit dem Taxi zur Robinson Street gefahren und die Treppe hinaufgestiegen war – der Rauch, die Menschen, der Weg zur Galerie hinauf, der Junge, die Frau im Sari, das Feuer, der Körper … »Und dann streckte sie die Hände aus«, sagte Sonali, »be rührte den Körper, der vor dem Feuer lag, und nannte ihn Laakhan. Bevor ich ohnmächtig wurde, sah ich gerade noch, wer es war.« Sie schluckte.
»Wer denn?« fragte Urmila.
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»Es war Romen.« Sonali begann zu schluchzen. »Und die Frau«, mischte Murugan sich ein, »wer war sie? Kannten Sie sie?« Sonali drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und wischte sich das tränenüberströmte Gesicht an ihrer Bluse ab. »Ich weiß nicht genau«, sagte sie. »Sie wirkte so vertraut, aber ich konnte mich nicht erinnern.« Urmila nahm ihre Hand und schob Murugan mit dem Ellbo gen beiseite. »Versuch es, Sonali-di«, sagte sie. »Versuch es und erinnere dich. Wer war sie?« Sonalis Augen weiteten sich, als sie Urmila ins Gesicht blick te. »Es war jemand, den du kennst, Urmila«, sagte sie. »Da bin ich mir sicher. Deswegen kam sie mir bekannt vor – jemand, von der du mir erzählt hast, die ich seit Jahren nicht gesehen habe.« Plötzlich taumelte Urmila zurück und ließ Sonalis Hand fal len. »Nein«, wimmerte sie, die Hände vor den Mund geschla gen. »Nein, nicht Mrs. …« »Doch«, sagte Sonali. »Sie war es – Mrs. Aratounian.«
Zweiundvierzig Als Antar erwachte, stellte er fest, daß sein Bettzeug schweiß durchtränkt war und seine Kehle brannte. Er schwankte zur Tür und blickte den Flur entlang. Die Küche schien von ihm fortzugleiten, in die Ferne zu entschwinden. Er spürte, wie seine Knie nachgaben, und mußte sich gegen die Wand lehnen, um aufrecht zu bleiben. Er wandte den Kopf, betrachtete seine Handfläche und sah, daß sie zitterte – ein schwacher Schimmer vor der flachen, weißen Wand. In aufwallender Panik schlug er mit den Händen auf seine Wangen, auf die Brust und die Seiten und fühlte, daß es ihn am ganzen Körper schauderte. Immer noch an die Wand gelehnt, machte er einen Schritt auf 262
die Küche zu. Jetzt schien es etwas besser zu gehen, er war nur noch einen guten Meter von der offenen Tür zum Wohnzimmer entfernt, das auf halbem Weg zwischen Küche und Schlafraum vom Flur abging. Er beugte sich vor, tastete nach der Türkante und versuchte sich weiterzuziehen. Seine Finger fanden die Tür und schlossen sich um den Griff. Dann durchlief ein starker Schauer seinen ausgestreckten Arm, und er riß ruckartig die Hand zurück, als sei sie auf etwas Unerwartetes gestoßen. Er spürte, wie sich die Härchen in seinem Gesicht aufrichteten, während er an der Wand lehnte und sich auf die Knöchel biß. Es war, als wäre etwas in dem Raum – eine Gegenwart, die sein Körper erfühlt hatte, bevor er von ihrem Vorhandensein wußte. Er tastete sich langsam vor, schob sich von der Wand weg und trat durch die Tür. Dort blieb er wie versteinert ungläubig stehen. Seine Beine knickten ein, und er fiel zu Boden. Mitten in seinem Wohnzimmer saß ein nackter Mann, der an einen Gnom erinnerte. Wie eine Matte hing verfilztes, klebri ges Haar bis zu seinem geschwollenen, aufgeblähten Bauch herab. Stroh und welke Blätter klebten an seinem Oberkörper, und seine Schenkel waren mit Schlamm und Exkrementen ver schmiert. Die Hände ruhten im Schoß, zusammengehalten von einem Paar stählerner Handschellen. Er starrte Antar mit blutunterlaufenen, schmutzverkrusteten Augen an. Die Lippen zu einem Grinsen verzogen, entblößte er gelbe, verfaulte Zähne. »Was ist los?« dröhnte plötzlich eine Stimme durch den Raum und übertönte Avas leise Betriebsgeräusche. »Du woll test mich doch sehen, oder? Ich bin bloß ein bißchen früh dran, das ist alles.« Antar rappelte sich auf und ging langsam zu Avas Bedie nungsfeld hinüber. Er merkte, daß er sich in die Ecken drückte, mit dem Rücken zur Wand, um so weit wie möglich von der 263
Gestalt entfernt zu bleiben – als sei sie tatsächlich vorhanden. »Wo bist du gewesen?« brüllte die Gestalt ihm nach. »War um hast du mich so lange warten lassen?« Antars Blick fiel auf die schlammverkrusteten Schenkel, und mit einem unwillkürlichen Schaudern wandte er sich ab. Er griff zur Tastatur und schrieb die Bildvektoren um. Ein Zittern durchlief die Projektion, und der Rumpf des Mannes verschwand. Nun war nur noch der Kopf übrig, der in diesem riesigen, weit überdimensionierten Format wie ein Teil einer monumentalen Statue wirkte. »Konntest wohl den Anblick meines Körpers nicht mehr ertragen«, sagte der Mann und lachte wieder. Nun sah Antar die Maden in seinem Haar. Der Anblick war so grotesk, daß er zum Bedienungsfeld griff und den Kopf abschnitt. Als jedoch der flache Querschnitt durch den Hals langsam in Sicht kam, mußte er erkennen, wie realistisch Ava vorging: jede Arterie und Vene des abgetrennten Kopfes war deutlich zu erkennen. Er sah die pulsierenden Kapillargefäße, und selbst der Blutfluß wurde in der entsprechenden Richtung und Bewegung wiedergegeben, so daß es aussah, als sprudelte ihm der Lebenssaft aus dem Hals. Antar würgte: der Kopf erinnerte ihn fatal an eine Vision, die häufig in seinen schlimmsten Alpträumen wiederkehrte. Es war ein Ausschnitt aus einem mittelalterlichen Gemälde, das er einst in einem europäischen Museum gesehen hatte – das Bild eines geköpften Heiligen, der sein eigenes tropfendes Haupt nonchalant unter dem Arm hielt wie einen frischgepflückten Kohlkopf. Der Mann fing an zu schreien, während sein Kopf weiter und weiter zurückkippte. »Setz mich ab, du Bastard«, brüllte er. »Sieh mir in die Au gen.« Antar kippte das Bild nochmals mit einem Befehl, und die roten, glühenden Augen hefteten sich auf ihn. »Du willst also 264
wissen, was mit Murugan passiert ist?« fragte er. »Ja«, sagte Antar. Der Mann verfiel erneut in irres Gelächter. »Ich frage dich noch einmal«, sagte er. »Bist du ganz si cher?«
Dreiundvierzig Es regnete heftig, als sie schließlich unter dem Säulenvordach der baufälligen alten Villa standen. Die Neonlichter der Robin son Street erglühten in verschwommenem Grün wie die Be leuchtung eines Aquariums. Urmila und Sonali zogen sich ihre Saris über den Kopf, während sie unter dem Säulendach standen und in den strömenden Regen blickten. Murugan lief die kiesbestreute Auffahrt hinunter. Am Tor blieb er stehen und schaute zu den beiden Frauen zurück, die noch immer unent schlossen unter dem Säulendach warteten. »Kommt schon!« schrie er aus vollem Hals und trieb sie weiter. »Los, beeilt euch.« Seine Stimme drang seltsam körperlos, vom Wind zerstreut und vom Regen gedämpft, zu ihnen unter das Dach. Urmila zog Sonali am Arm, und sie rannten, zögernd zunächst und dann schneller, hinter Murugan her, der die Straße entlang auf den Eingang von Nr. 22 zusprintete. Murugan bog blindlings durch das Tor von Mrs. Aratounians Haus und lief frontal in etwas hinein, das in der schmalen Zufahrt stand. Er rappelte sich auf und sah, daß es zwei Hand karren aus Bambus waren, die den Eingang versperrten. Sie waren hochbeladen und mit festgezurrten Planen aus durch scheinendem Segeltuch bedeckt. Er rieb sich noch fluchend die Knie, als Sonali und Urmila nachkamen. Urmila drängte sich schnell an den Karren vorbei, ging zum Eingang und steuerte auf den Lift zu. Auf halbem 265
Weg durch die schwach beleuchtete Halle bemerkte sie zwei Männer in Hüfttüchern und Unterhemden, die bei der Treppe hockten und Zigaretten rauchten. Neben ihnen stand ein großes Möbelstück, eine schwere Anrichte aus Mahagoniholz. Urmila blieb abrupt stehen und blickte zwischen den beiden Männern und der Anrichte hin und her. Die Männer starrten in unerschütterlicher Ruhe zurück, während sich die Rauchkringel über ihren Köpfen langsam auflösten. Sonali blieb neben ihr stehen. »Was ist los?« »Die gehört Mrs. Aratounian«, sagte Urmila und deutete auf die Anrichte. »Sie stand in ihrem Eßzimmer. Ich erinnere mich genau.« »Stimmt«, sagte Murugan. »Ich habe sie gestern abend noch dort gesehen.« Urmila fragte die beiden Männer in Hindi: »Woher haben Sie das?« Einer der beiden deutete mit dem Daumen über die Schulter hinweg und die Treppe hinauf. Einen Augenblick später hörten sie ein lautes Krachen, gefolgt von Ächzen und Fluchen. Drei Männer mit nackten Oberkörpern trugen ein riesiges Sofa aus bedrucktem Chintzstoff über die Windungen der Treppe herunter. »He!« sagte Murugan. »Das gehört auch Mrs. Aratounian. Darauf habe ich gestern abend gesessen und ferngesehen.« Mit erhobener Stimme sagte Urmila: »Was geht hier vor?« Einer der Männer zielte und schnippte seinen Zigaretten stummel in eine Ecke. Dann stand er gemächlich auf und streckte sich. »Jemand zieht aus«, sagte er gähnend und lehnte sich an die Anrichte. »Und wir tragen die Möbel weg.« »Wer zieht aus?« fragte Urmila. Der Mann zuckte die Achseln und schob die Schulter unter die Anrichte. »Woher soll ich das wissen?« Urmila lief zum Lift, öffnete die Tür und bedeutete Murugan und Sonali, ihr zu folgen. Sie quetschten sich neben ihr hinein, 266
und sie drückte den Knopf zur vierten Etage. Keiner sagte ein Wort, während der uralte Lift langsam durch den Hohlraum des Treppenhauses emporstieg. Der Aufzug hielt an, und Urmila stieg aus. Als ihr Blick auf Mrs. Aratounians Tür fiel, erstarrte sie. Die Tür stand weit offen und wurde durch einen Ziegelstein festgehalten. Licht drang aus der Wohnung und vergoldete die zerschrammten, staubigen Dielen des Treppenabsatzes. Auf der Wand neben der Tür waren anstelle der Namensschilder nur noch zwei blasse, rechteckige Flecken zu sehen. Ihre Blicke wurden unwiderstehlich in den Eingang gezogen. Die Halle dahinter stand leer, das ganze Durcheinander und die Nippessachen waren verschwunden, und auch an den Wänden hingen keine Bilder mehr. Während sie noch dastanden und starrten, kamen zwei Männer heraus, die bis zum Platzen vollgestopfte Jutesäcke über die Schulter geworfen hatten. Murugan setzte sich als erster in Bewegung. Er rannte durch das leere Wohnzimmer in den Raum, in dem er letzte Nacht geschlafen hatte. Urmila folgte ihm wie in Trance, dicht gefolgt von Sonali. Einen Augenblick später drang ein Aufschrei aus Murugans Zimmer: »Meine Sachen sind weg. Alles – mein Laptop, meine Kleider, mein Vuitton-Koffer, alles …« Murugan kam mit wildem Blick zurückgerannt: »Sogar das Bett und das Moski tonetz – einfach alles weg …« Irgendwo hinter ihnen, auf dem Flur, der zur Küche führte, ertönten Schritte. Alle drei drehten sich gleichzeitig um und sahen sich einem dünnen Mann mit Brille gegenüber, der Hosen und ein verschlissenes Hemd trug. Ein Bleistift steckte hinter seinem Ohr, und in einer Hand hielt er einen Klemm block und ein Bündel zusammengehefteter Papiere. In der anderen hatte er eine Handvoll Erdnüsse. Er starrte sie mit durch die Brille riesig vergrößerten Augen an. »Wer sind Sie?« fragte er, verständnislos blinzelnd. »Was 267
machen Sie hier?« »Und wer sind Sie?« fauchte Urmila. »Und was machen Sie in Mrs. Aratounians Wohnung?« Der Mann erstarrte und runzelte die Stirn. Sein Blick huschte ärgerlich von Urmilas Gesicht zu Murugan. Dann sah er Sonali, und plötzlich erschlafften seine Züge. Sein Arm hob sich langsam und zitternd empor, die Erdnüsse fielen zu Bo den. Sein Mund klappte auf, und die Augen wurden noch größer, quollen förmlich über den Brillenrand. »Aber«, stammelte er und deutete mit dem Zeigefinger in ihre Richtung. »Aber, Sie sind … Sie sind … Sie sind ja Sonali Das.« Sonali nickte und schenkte ihm ein zurückhaltendes Lächeln. Er schluckte heftig, wobei sein Adamsapfel wie ein Schwim mer auf und ab hüpfte. »Wissen Sie, wer sie ist?« fragte er die anderen, stotternd vor Aufregung und sie mit einem Sprühnebel von Spucke über schüttend. »Sie ist Sonali Das … die große Schauspielerin … nie hätte ich mir träumen lassen …« Er wippte jetzt auf den Zehenspitzen, das Gesicht rot vor Freude und Erregung. »Oh Madame«, sagte er zu Sonali, »wir sehen Ihre Filme mindestens zweimal pro Jahr im Bansdroni-Filmverein. Auf mein Betreiben, wenn ich so sagen darf – ich bin Schatzmei ster, Mitbegründer und Bezirkssekretär. Sie können bei Bans droni fragen, wen Sie wollen, alle werden Ihnen sagen: Bolai da läßt kein Jahr verstreichen, ohne sämtliche Filme mit Sonali Das mindestens zweimal zu zeigen. Einmal gab es deswegen sogar einen Antrag auf Aussetzung, aber …« Es verschlug ihm die Sprache, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Oh Madame Sonali«, sagte er, »für mich sind Sie größer als Anna Magnani in ›Rom – Offene Stadt‹, größer als die Garbo in der ›Kameliendame‹, ja sogar größer als …« Er schluckte, wie um Mut zu fassen. »Jawohl«, sagte er dann 268
mit einem Anflug von Verwegenheit. »Ich spreche es aus, warum auch nicht? Größer sogar als die unvergleichliche Madhabi in Chamlata.« Sonali lächelte ihm verlegen zu. Murugan konnte seine Ungeduld nicht länger im Zaum hal ten. »Können wir diese Fan-Club-Geschichten vielleicht auf später verschieben?« explodierte er und drohte mit der Faust. Der Mann fuhr zusammen und klopfte sich mit den Finger knöcheln auf den Schädel, als wolle er sich aus einem Traum reißen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich sollte mich nicht so in Aufregung versetzen lassen.« Urrnila klopfte ihm freundlich auf die Schulter. »Das macht nichts«, sagte sie. »Was Sonali-di betrifft, haben Sie völlig recht. Aber im Moment beschäftigt uns etwas ande res. Wir wollten Mrs. Aratounian besuchen. Wissen Sie, wo sie ist?« »Mrs. Aratounian?« fragte der bebrillte Mann verträumt, wobei sein Blick wieder zu Sonali schweifte. »Sie ist fort.« »Fort wohin?« fragte Murugan. »Einfach fort.« Der Mann zuckte die Achseln und verlor das Interesse an der Unterhaltung. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er wandte sich mit strahlendem Gesicht an Sonali. »Wür den Sie sich wohl zu einem Auftritt vor unserer Gesellschaft bereit erklären?« fragte er. »Wäre das möglich, Madame?« Sonali antwortete mit einer einstudierten Geste, die weder Zustimmung noch Ablehnung signalisierte. Murugan packte den Mann am Arm und schüttelte ihn heftig. »Später«, brüllte er. »Darüber können Sie sich doch später unterhalten. Erst sagen Sie uns, wo Mrs. Aratounian ist. Und wo sind ihre Sachen – ihre Möbel und Pflanzen und so weiter? Und meine Sachen – mein Koffer, mein Laptop und alles andere?« Der Mann rümpfte mißbilligend die Nase und schüttelte Mu rugans Griff ab. »Nebenbei bemerkt«, sagte er, »es ist ganz 269
unnötig, daß Sie so laut werden.« »Entschuldigung«, sagte Murugan. »Ich wollte mich nur Ihrer Aufmerksamkeit versichern, bevor sie wieder abschweift. Wie ich schon sagte, wo ist das Ganze hin: meine Sachen und ihre Sachen?« Der Mann blickte ihn durch seine blinkenden Brillengläser verständnislos fragend an. »Wissen Sie das denn nicht?« fragte er. »Sie hat alles verkauft. An den New Russell Exchange. Deshalb bin ich ja hier. Ich bin leitender Angestellter der Abteilung für Sammlungen und Schätzungen.« »Aber heute morgen war doch noch alles da«, stieß Murugan atemlos hervor. »Ich meine, ich habe gestern hier übernachtet. Als ich heute morgen ging, waren die Sachen noch da. Sie kann es doch unmöglich heute alles verkauft haben.« Der Angestellte schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »Na türlich nicht«, sagte er. »Solch ein Verkauf läßt sich nicht an einem Tag erledigen! Allein die gesetzlichen Formalitäten … da gilt es die Registrierung des Verkaufs zu beachten, und die eidlichen Erklärungen, und die Stempelgebühr.« Er hielt Murugan seinen Klemmblock hin. »Da, sehen Sie«, sagte er und deutete mit seinem Bleistift darauf. »Das ist der Vertrag.« Über seine Schulter hinweg betrachteten Murugan und Urmi la den Durchschlag eines langen, getippten Dokuments. Der Briefkopf lautete New Russell Exchange, Auktionen und Schätzungen. Den Rand jeder Seite zierte ein buntes Sammel surium von Gerichtsmarken, Initialen und Unterschriften. Summend blätterte der Angestellte das Dokument durch. Am Ende hielt er mit einem triumphierenden Ausruf inne. »Hier«, sagte er. »Sehen Sie? Der Vertrag wurde auf den Tag genau vor einem Jahr unterzeichnet und besiegelt. Mrs. Aratounian verkaufte alles hier Befindliche unter der Bedingung, daß der Abtransport exakt ein Jahr später stattfände.« Er ließ die Seiten zurückblättern und tippte mit dem gum 270
mierten Ende seines Bleistifts auf das Dokument. »In dieser Liste ist alles aufgeführt«, sagte er. »Mrs. Aratou nian zeigte mir heute morgen persönlich, wo jeder Gegenstand auf der Liste zu finden ist. Das gesamte Wohnungsinventar wurde hier zum Zeitpunkt der Bewertung verzeichnet, unmit telbar vor dem Verkauf der Wohnung.« Urmila rief ungläubig aus: »Die Wohnung wurde verkauft?« »Ja«, sagte der Angestellte. »Die neuen Besitzer werden sie heute übernehmen.« Murugan starrte ihn entgeistert an. »Aber«, begann er, »aber meine Sachen können doch nicht auf der Liste stehen. Damals war ich noch gar nicht da.« Der Angestellte musterte Murugan fragend. »Heißt das, Sie erheben Anspruch auf bestimmte Gegenstände?« fragte er. »Ich muß Sie darüber informieren, daß wir kraft dieses Vertrags gesetzlich dazu berechtigt sind, alles in der Wohnung Befindli che zu entfernen.« »Ich erhebe keinerlei Ansprüche«, sagte Murugan. »Ich will nur wissen, was mit meinen Sachen passiert ist.« »Worum handelte es sich?« fragte der Angestellte. »Können Sie sie beschreiben?« Murugan nickte: »Ein Koffer, ein Laptop – so was in der Art.« Der Angestellte ging mit dem Bleistift die Liste durch und summte vor sich hin. »Hier!« sagte er und deutete auf eine Zeile. »Koffer, ledern, sowie diverses Reisezubehör und importierte elektronische Geräte.« Murugan verfiel in Schweigen, starrte auf den Klemmblock und schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber das ist doch Wahnsinn«, sagte er. »Ich meine, daß ich heute hier sein würde, habe ich vor einem Jahr nicht mal geahnt.« Der Angestellte drückte Murugan den Klemmblock in die Hand und ging zu Sonali hinüber. Er holte ein Stück Papier aus seiner Hosentasche und gab es ihr. »Bitte, Madame«, sagte er, 271
»würden Sie mir wohl ein Autogramm geben … damit ich es im Verein zeigen kann …« Sonali nahm das Papier und den Bleistift, den er ihr hinhielt. Sie kritzelte ihren Namen und gab ihm das Papier zurück. Er hielt es andächtig in seinen gewölbten Handflächen. »Wenn Sie wüßten, was das für mich bedeutet«, hauchte er, »zwei berühmte Persönlichkeiten an einem Tag – das ist mehr, als ich mir je hätte träumen lassen.« Murugan erschien wieder und drängte sich zwischen sie. »Ich habe noch eine Frage an Sie«, sagte er. »Hat Mrs. Aratounian irgend etwas Schriftliches hinterlassen? Fotokopien, alte Zeitungsausschnitte oder dergleichen?« Der Angestellte neigte den Kopf und betrachtete Murugan mit einem verwirrten Stirnrunzeln. »Interessant, daß Sie das fragen«, sagte er. »Wenn wir eine Wohnung ausräumen, liegt normalerweise eine Menge Altpapier herum. Aber hier war gar nichts. Keine Zeitungen oder alte Bücher, nichts. Ich habe nachgesehen, weil ich die hier in Papier wickeln wollte.« Er öffnete die Faust und zeigte ihnen seine restlichen Erdnüsse. »Aber ich konnte nirgendwo auch nur ein Papierfetzchen finden. Deshalb mußte ich für das Autogramm von Madame nochmals das Papier verwenden, das Mrs. Aratounian mir kurz vor ihrem Weggang gab.« »Was für ein Papier?« fragte Murugan. Der Angestellte nahm langsam die Hände auseinander und zeigte ihnen das Stück Papier, auf dem Sonali soeben unterschrieben hatte. »Wann hat Mrs. Aratounian Ihnen das gegeben?« wollte Murugan wissen. »Und warum?« »Sie sagte, wenn irgendjemand herkäme, solle ich sagen …« »Was sagen?« Der Angestellte schielte auf das kleine Papierstück. »Daß sie um acht Uhr dreißig einen Zug nimmt«, sagte er. »Vom Seal dah-Bahnhof, nach Renupur.« »Was!« rief Murugan. »Schnell – wieviel Uhr ist es jetzt?« 272
Urmila ergriff das Handgelenk des Angestellten und sah auf seine Armbanduhr. »Viertel vor acht«, sagte sie. »Vielleicht schaffen wir es gerade noch, wenn wir sofort ein Taxi finden.« Sie ließ seine Hand fallen und fragte den Angestellten: »Warum haben Sie uns das nicht früher gesagt?« »Ich wußte es doch nicht«, erwiderte er einfältig. »Ich dach te, sie meinte jemand anderen.« »Wen?« fragte Murugan. »Phulboni«, sagte der Angestellte. »Phulboni!« rief Sonali. »Ja«, sagte der Angestellte. »Phulboni höchstpersönlich. Der große Schriftsteller – er war vor kurzem erst hier. Er sagte, jemand sei gestern nacht sehr spät zu seinem Haus gekommen und habe eine Nachricht hinterlassen, er solle hierherkommen. Schauen Sie …« Er drehte das Papier um und deutete auf ein weiteres hingekritzeltes Autogramm. Murugan bewegte sich zur Tür. »Komm«, sagte er zu Urmila. »Beeilen wir uns.« Urmila und Sonali folgten ihm im Laufschritt. Der Angestell te blieb einen Moment lang wie betäubt stehen. Sie waren schon halbwegs unten, als er, über dem Treppenschacht hän gend, ihnen nachrief: »Madame … meine Einladung …« Niemand antwortete. Unten an der Treppe hielt Urmila für einen Moment inne, um wieder zu Atem zu kommen. »Sonali-di«, sagte sie keuchend. »Warum kommst du mit? Du brauchst nicht mitzugehen.« Sonali brach in Gelächter aus. »Natürlich komme ich mit«, sagte sie. »Aber warum?« fragte Urmila. »Du weißt doch gar nichts von der ganzen Sache.« »Es gibt aber etwas, das wiederum ihr nicht wißt«, sagte Sonali. »Was?« »Daß Phulboni mein Vater ist«, sagte Sonali. »Wenn Phul 273
boni und Romen fort sind, wozu soll ich dann noch bleiben?« Ein überraschter Schrei hallte durch den Treppenschacht. »Oh mein Gott!« ertönte keuchend die Stimme des Angestell ten. »Phulboni ist Ihr Vater, Madame? Oh mein Gott! Was werden sie beim Filmverein dazu sagen?« Sie hörten ihn die Treppe hinunterstampfen und liefen auf die Straße hinaus. Murugan hatte bereits ein Taxi angehalten. »Schnell«, sagte er zu dem Fahrer. »Sealdah – so schnell Sie nur können.«
Vierundvierzig Als das Taxi um eine Ecke schlingerte und in die Park Street einbog, griff Murugan nach Urmilas Hand und umschloß sie mit seinen Händen. »Ich möchte, daß du mir etwas versprichst, Calcutta«, sagte er. »Was?« fragte Urmila. »Wovon redest du?« Murugan zog heftig an ihrer Hand. »Versprich es mir, Cal cutta«, sagte er. »Versprich mir, daß du mich mitnimmst, wenn ich es nicht allein schaffe.« Urmilas Augen weiteten sich. »Wohin willst du es schaf fen?« »Wohin auch immer.« Sie lachte laut heraus und warf den Kopf zurück. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« »Versprich es trotzdem«, beharrte Murugan. »Versprich, daß du mich mitnimmst, auch wenn sie wollen, daß du mich da läßt.« »Warum sollte dich irgend jemand dalassen wollen?« fragte Urmila. »Du weißt als einziger, was geschehen ist und was gerade geschieht. Du hast selbst gesagt, daß jemand sich große Mühe macht, dir Verbindungen aufzuzeigen.« 274
»Das ist ja gerade das Problem«, sagte Murugan. »Meine Rolle dabei war, einige Fäden zusammenzuknoten, damit sie das ganze Päckchen, schön ordentlich gebündelt, irgendwann demjenigen welchen übergeben können, auf den sie warten.« »Und woher weißt du, daß nicht du derjenige welche bist?« »Ich kann es nicht sein«, sagte Murugan kategorisch. »Sieh mal, der einzige Weg, wie sie der Tyrannei des Wissens ent fliehen können, ist, sie gegen sich selbst zu wenden. Aber damit das funktioniert, müssen sie einen einzigen, perfekten Augenblick der Entdeckung zustande bringen, in dem die entdeckende Person zugleich das darstellt, was entdeckt wird. Das Problem mit mir ist, daß ich zu viel und doch zu wenig weiß.« »Aber wer ist es dann?« fragte Urmila. »Ich wünschte, ich könnte es dir sagen«, antwortete Muru gan. »Aber ich kann es nicht. Eigentlich sollte ich dir diese Frage stellen.« »Was meinst du damit?« fragte Urmila. »Verstehst du es immer noch nicht?« fragte Murugan mit einem kläglichen halben Lächeln. »Nein«, sagte Urmila. »Ich weiß nicht, wovon du redest.« Murugan sah ihr in die Augen. »Siehst du denn nicht?« fragte er. »Du bist diejenige, die sie erwählt hat.« Urmila schnappte nach Luft. »Wofür?« »Für sich.« Plötzlich fiel Murugan, für Urmila völlig überraschend, auf die Knie und zwängte sich in den schmalen Freiraum vor dem Rücksitz. Er beugte sich hinunter und berührte ihre Füße mit seiner Stirn. »Vergiß mich nicht«, bat er. »Wenn es in deiner Macht steht, das Geschriebene zu verändern, dann nimm mich darin auf. Laß mich nicht zurück. Bitte.« Urmila lachte. Sie legte eine Hand auf seinen Kopf und einen Arm um Sonalis Schultern. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich nehme euch beide mit, wohin ich auch gehe.« 275
Dann erspähte sie den Taxifahrer, der sich über die Rückleh ne hinweg den Hals verdrehte und obszön grinste. »Und du schau gefälligst auf die Straße«, sagte sie barsch. »Das geht dich nichts an.«
Fünfundvierzig »Erinnerst dich wohl nicht mehr an mich, hä?« sagte der Kopf zu Antar. »Dein alter Kumpel aus dem Thai-Restaurant!« »Murugan!« rief Antar. »Du sagst es«, sagte Murugan. »Ich bin’s.« »Bist du es wirklich?« fragte Antar. »Allerdings«, sagte Murugan. »Ich habe lange darauf gewar tet, mit dir in Kontakt zu treten. Dachte, mit der Ausweiskarte würde es am schnellsten gehen.« »Aber man sucht seit Jahren nach dir«, sagte Antar. »Wo bist du gewesen?« »Ich hab dich das schon einmal gefragt«, sagte Murugan. »Und ich frage es nochmal. Willst du es wirklich wissen?« »Ja«, sagte Antar. »O.k., Ant«, sagte Murugan lachend. »Du mußt es wissen. Wenn du es herausfinden willst, brauchst du dir nur das Gerät da zu schnappen.« Das körperlose Kinn zeigte in die Richtung von Antars Si multan-Visualisierungs-Helm. »Du meinst, es ist da drin?« keuchte Antar. »Das kann nicht sein. Niemand hat Zugang …« »Schätze, wir sind reingeraten, als es noch ging«, sagte Mu rugan. »Jedenfalls ist alles da drin und wartet nur darauf, daß du den Knopf drückst.« Langsam und überlegt griff Antar nach dem Helm, setzte ihn auf und ließ die Videobrille vor seinen Augen einrasten. Er drückte auf eine Taste, und plötzlich erschien ein Mann, der 276
vor einer grauen Kathedrale eine breite Straße entlangging. Er trug Khakihosen und eine grüne Baseballkappe. Es war Muru gan. Er blieb stehen und sah über die Schulter: dunkle, drohen de Wolken näherten sich über einer weiten Grünfläche. Ein Minibus raste vorbei und ließ eine Wasserfontäne aus einer Pfütze aufschießen. Murugan begann zu laufen. Antar warf einen raschen Blick auf die Anzeige des Übertra gungsdatums am unteren Ende des dreidimensionalen Panora mabildes. Sie stand auf 17.25 Uhr. Antar schnappte nach Luft. Das konnte nur bedeuten, daß jemand etwa um die Zeit begon nen hatte, das SimVis-System zu laden, als Ava auf Murugans Ausweiskarte stieß. Nun stand Murugan im Foyer eines großen Auditoriums, und zwei Frauen liefen die Treppe hinauf. Sie kamen näher, und plötzlich erkannte Antar in der einen Tara – nur trug sie einen Sari. Sie sprach mit Maria, die ebenfalls in einen Sari gekleidet war. Er spürte eine kühle, sanfte Berührung auf seiner Schulter, und er fuhr hoch, um den SimVis-Helm abzunehmen. Doch nun legte sich eine Hand beschwichtigend aufsein Handgelenk, und eine Stimme, Taras Stimme, flüsterte ihm ins Ohr: »Schau weiter zu, wir sind da – wir sind alle bei dir.« Es waren jetzt Stimmen überall, in seinem Zimmer, in sei nem Kopf, in seinen Ohren, als sei eine Menge Menschen mit ihm im Raum. Sie sagten: »Wir sind bei dir, du bist nicht allein. Wir helfen dir hinüber.« Er lehnte sich zurück und seufzte wie seit vielen Jahren nicht mehr.
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