Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 467 Dhork
Das Chaos von Lamur von Hubert Haensel Dhuul Larx auf dem Weg zur Ma...
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Atlan ‐ König von Atlantis Nr. 467 Dhork
Das Chaos von Lamur von Hubert Haensel Dhuul Larx auf dem Weg zur Macht Atlans kosmische Odyssee, die ihren Anfang nahm, als Pthor, der Dimensionsfahrstuhl, das Vorfeld der Schwarzen Galaxis erreichte, geht weiter. Während Pthor und die Pthorer es immer wieder mit neuen Beherrschern und Besatzern zu tun bekommen, ist der Arkonide zusammen mit seinen Gefährten Razamon und Grizzard auf Veranlassung von Duuhl Larx, dem Herrn des Rghul‐Reviers, nach Dorkh gebracht worden, um dort eine Mission im Sinne des Dunklen Oheims zu erfüllen. Doch Dorkh, das Pthor in vieler Hinsicht gleicht, ist eine Welt voller Schrecken und voller Gewalt, und den drei Männern von Pthor wird bald klar, daß sie eine fast unlösbare Aufgabe vor sich haben. Ihre Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen und selbst in aussichtslosen Situationen zu überleben, sind jedoch so ausgeprägt, daß sie bisher alles überstanden haben, was Dorkh gegen sie aufzubieten hatte. Während Dorkh nun auf eine Reise ins Ungewisse geht, zusammen mit Atlan und seinen Gefährten, blenden wir um und verfolgen die weiteren Aktionen des Duuhl Larx, in dessen Gewalt sich nach wie vor Koratzo und Copasallior, die beiden Magier von Oth, befinden. Von Wahnsinn und Machtgier besessen, schlägt Duuhl Larx erneut zu und verursacht DAS CHAOS VON LAMUR …
Die Hauptpersonen des Romans: Duuhl Larx und Thamum Gha ‐ Die Neffen des Dunklen Oheims im tödlichen Duell. Koratzo und Copasallior ‐ Zwei Magier im Bann des Duuhl Larx. Koy und Kolphyr ‐ Der Trommler und der Bera im Land der Magier. Balduur ‐ Der Odinssohn muß um sein Leben kämpfen.
1. »Bestimmt er ist mit kleines Schiff nach Pthor zurückgekehrt.« Wer da so radebrechte, war kein anderer als Kolphyr. Aus seinen vorstehenden Glubschaugen funkelte er den neben ihm reitenden Koy an. Sein großer Mund mit den wulstigen Lippen verzog sich zu einem lauten Lachen. Er zeigte nach Südwesten, als der Trommler den Kopf schüttelte. Plötzlich konnte er sich wieder in einwandfreiem Pthora verständlich machen: »Ich bin überzeugt davon, daß Atlan an Bord dieses Schiffes war. Wer sonst hätte es nötig, sich derart heimlich zu nähern? – Wollen wir wetten?« »Was hättest du mir schon zu bieten?« Koy, der Trommler, wandte sich nur kurz um und blickte dann wieder geradeaus. Deshalb sah er auch nicht, daß sich Kolphyrs Gesicht zu einem anzüglichen Grinsen verzog. »Einen dicken, langen Kuß!« bot er an. Koy fuhr entsetzt auf. »Bleib mir bloß mit deinen Lippen vom Leib«, fauchte er und bewegte drohend seine Broins. »Leider«, murmelte der Dimensionsforscher. »Niemand kann mich leiden. Ich bin einsam, seit Atlan und Razamon verschwunden sind.« Er stöhnte herzerweichend und trieb sein Yassel zu einer schnelleren Gangart an. Durch die steppenhafte Landschaft westlich von Zbahn zog eine
seltsame Karawane … Voran, in aufrechter Haltung auf seinem Reittier sitzend, ein kleiner Mann, der aber keineswegs schwächlich wirkte. Er war breit gebaut und muskulös. Ein langer, roter Bart bedeckte fast sein ganzes Gesicht. Sator Synk hatte den größtmöglichen Abstand zu seinen Robotern gewählt, die die Nachhut bildeten. Hinter ihm ritten eine Frau und ein Junge, diese wiederum gefolgt von Koy und Kolphyr. Die Frau war dem Aussehen nach zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren alt. Kupferfarbene Haut und langes, tiefblau schimmerndes Haar, das ihr bis zu den Ellbogen hinabreichte, verliehen ihr einen exotischen Reiz. Zum Reiten hatte Leenia ihren seitlich geschlitzten Rock mit einer Hose vertauscht, denn sie wollte niemanden ablenken, schon gar nicht Sator Synk, der auf gewisse Weise einen selbstzufriedenen Eindruck machte. Der Junge war kein anderer als Bördo, Sigurds Sohn. Er wirkte unruhig und nervös und kauerte zusammengesunken auf seinem Yassel. Nur hin und wieder, wenn Fenrir wie ein lautloser Schatten neben ihm auftauchte, hob er den Kopf und redete mit dem Wolf. Nachdem sich in den letzten Tagen die Ereignisse geradezu überstürzt hatten, blieb nun schon seit Stunden alles ruhig. Eintönig und ermüdend war der lange Ritt. »Wir können von Glück reden, daß wir vom Wachen Auge aus das landende Raumschiff entdeckten«, murmelte Kolphyr. »Ich weiß«, wehrte Koy barsch ab. »Das hast du mir inzwischen schon oft genug erklärt.« »Weil du mir einfach nicht zuhören willst.« »Aber ich weiß, was du sagst.« »Wirklich?« »Ja, verdammt.« Leenia wandte sich zu Kolphyr um. »Ihr zwei solltet wirklich weniger streiten«, sagte sie. »So geht das
nun schon, seit wir von der FESTUNG aufgebrochen sind.« »Bera nie streiten«, protestierte Kolphyr. »Bera immer lieb sein. Dich küssen?« Sein Gesicht nahm einen verklärten Ausdruck an. »Ich gebe es auf«, stöhnte Leenia. Sie wandte sich an den neben ihr reitenden Jungen: »Was meinst du, Bördo?« »Mir doch egal«, brummte Bördo mißmutig. »Als ich zu Sigurds Lichthaus reiten wollte, haben sie mir auch nicht geholfen. Von mir aus kann der Bera mit seinem großen Maul den Androidensproß ruhig verschlingen.« Kolphyr wandte sich an ihn. »Du kannst ruhig allein weiterreiten«, sagte der grüne Riese. »Niemand zwingt dich, bei uns zu bleiben. Wenn du dir einbildest, deinen Vater in seinem Lichthaus zu finden, dann verschwinde endlich. Aber verschone uns mit deiner schlechten Laune.« »Pah!« machte Bördo und setzte ein zorniges Gesicht auf. Der von Bördo geforderte Umweg hätte zwar nur wenige Stunden in Anspruch genommen, wenn aber wirklich Freunde mit dem kleinen Raumschiff im Gebiet der Barriere gelandet waren, dann galt es keine Zeit zu verlieren. Ohne daß Leenia ihn bemerkt hätte, ritt Sator Synk plötzlich neben ihr. Barsch funkelte er sie an. »Würdet ihr bitte etwas mehr Rücksicht nehmen und kein solches Geschrei veranstalten, das man bis nach Orxeya hören kann. Ich bin froh, daß mich diese verflixten Roboter endlich in Ruhe lassen, und ihr … ach.« Er winkte ab. Scheinbar unbewußt ließ er seinen Blick zurückschweifen. Nur wenige Meter hinter ihm schwebte Diglfonk, gefolgt von den übrigen Guerillas. Synk zuckte zusammen. Ein verhaltenes Stöhnen drang über seine Lippen, während er sein Reittier wieder antreiben wollte, um möglichst schnell möglichst weit weg zu kommen. Aber mitten in der Bewegung hielt er inne. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Erstaunen, und sein Bart begann leicht zu
zittern. Dann unendlich vorsichtig, wandte er nochmals den Kopf. Es kostete ihn sichtliche Überwindung, die Roboter der Reihe nach anzublicken. Sie schwebten etliche Handbreit über dem Boden und zogen innerhalb weniger Augenblicke an ihm vorüber, ohne ihn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Diesmal zumindest sah er ihr Schweben nicht als neue Provokation an – solange er sich nicht die Füße wund laufen mußte, ging er großzügig darüber hinweg. Irgendeine Ahnung ließ ihn zählen. Lautlos bewegte er dabei die Lippen. Aber als der letzte Roboter an ihm vorbei war, schrie er laut auf. »Zwölf!« hallte seine Stimme über die Steppe. »Bei der Seele von Pthor, es sind nur zwölf.« In jäh aufkommender Verzweiflung schüttelte Synk den Kopf. Das war ungeheuerlich. »Diglfonk!« kreischte er. »Komm sofort zurück!« Die ganze Karawane geriet ins Stocken, doch der Orxeyaner überging diese kleine Panne geflissentlich. Die Hände auf beide Oberschenkel aufgestützt und die Ellbogen nach außen abgewinkelt, so starrte er dem Roboter entgegen, der aufreizend langsam auf ihn zuschwebte. Natürlich nur, um ihn zu ärgern. Diglfonk hielt unmittelbar vor dem Yassel an und ließ sich zu Boden sinken. Synk funkelte ihn von oben herab wütend an. »Wo ist Acht?« fragte er mit gefährlich leiser Stimme. »Rede endlich.« Täuschte er sich, oder zögerte dieser heimtückische Blechkasten tatsächlich? Die Antwort war ungeheuerlich: »Ich weiß es nicht«, erklärte Diglfonk. Für eine Weile verschlug es Synk die Sprache. »Du weißt es nicht?« sagte er dann. »Nein, Herr!« »Aber … aber das ist unmöglich.«
»Nichts ist unmöglich, was Tatsachen beweisen.« »Verschone mich mit derart albernen Weisheiten.« Sator Synk beugte sich weit über den Hals seines Yassels nach vorn. »Wo ist Acht?« fragte er lauernd. Ruhig bleiben! ermahnte er sich dann zum wiederholten Mal. Sie wollen nur, daß du die Fassung verlierst. Nach drei tiefen Atemzügen wurde er tatsächlich ruhiger. Zum Glück für ihn, denn sonst hätte Diglfonks Erwiderung seine letzten Nerven gekostet. »Ich sagte bereits, daß ich nichts über den Verbleib von Acht weiß«, schnarrte der Roboter. »Ich kann keine Verbindung zu ihm bekommen.« »Nein?« In Synks Gesicht zuckte nicht ein Muskel. »Nein!« bestätigte Diglfonk. »Verdammt nochmal, weshalb ist Acht überhaupt verschwunden«, brüllte der Orxeyaner im nächsten Augenblick los. »Wenn ich mich richtig entsinne, hat er von mir keinen Befehl dazu erhalten.« Der Roboter schwieg. »Ist … ist er tot?« fragte Synk dann schon wesentlich leiser. »Vielleicht.« Warum nur hatte er nicht besser aufgepaßt? Er hätte es wissen müssen. Man durfte diese Blechkerle nicht einen Moment lang allein lassen, ohne daß sie Dinge taten, die er ihnen nie gestattet hätte. Synk schluckte. »Wo ist Acht? Wir sollten wenigstens seine Überreste mitnehmen, bevor sie verrosten.« »Ich glaube nicht, daß dies nötig ist«, wandte Leenia ein. »Außerdem verlieren wir dadurch nur Zeit.« Synk wandte sich ihr zu. »Es ist nötig«, sagte er, und der Klang seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er es ernst meinte. »Du weißt eben nicht, daß nur wegen mir die Trümmer dreier Roboter auf einem
fernen Planeten liegen. Viedenkork, Heiswell und Tobarstien hießen sie; ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich mein Leben nicht auf Wolterziel beenden mußte. Sie waren wirkliche Freunde.« Es kostete ihn eine gehörige Portion Anstrengung, dies zuzugeben, und kaum war es über seine Lippen, als er das Gesagte auch schon wieder bereute. Während er sich erschrocken mit der Hand über den Mund fuhr, schielte er zu Diglfonk hinunter, der jedoch zum Glück nichts davon gehört zu haben schien. »Wo ist dieser Acht verschwunden, und weshalb?« wollte jetzt Koy wissen. »Es war in der Nähe des kleinen Wäldchens«, sagte der Roboter. »Ich gab ihm den Auftrag nachzusehen, nachdem er als einziger von uns einen kurzen magischen Impuls geortet hatte.« »Dann trägst du auch die Verantwortung«, platzte Synk heraus. »Weshalb hast du mich nicht vorher gefragt?« »Ich wollte dich nicht stören, Herr. Schließlich empfindest du unsere Gegenwart als unangenehm.« Der Orxeyaner schnappte nach Luft. Er stemmte die Hände in die Seite und funkelte Diglfonk wütend an. Aber er wußte nichts zu erwidern. »Kann es sein, daß Acht mit Magiern zusammengetroffen ist?« fragte Leenia schnell. Als der Roboter dies bestätigte, wenn auch unter Vorbehalt, fuhr sie fort: »Dann bin ich dafür, daß wir umkehren. Unser Ziel war ohnehin die Große Barriere von Oth, weil uns die Magier am ehesten Auskunft darüber geben können, wer in ihrem Herrschaftsbereich gelandet ist. Mag sein, daß wir uns so einen langen Ritt ersparen können.« * »Bei Odin, weshalb mußte alles so geschehen?« Der einsame Reiter achtete nicht auf den Weg. Unstet wanderte
sein Blick über die Steppe dem fernen Horizont entgegen, vor dem sich die düstere Silhouette eines Waldes abzeichnete. Muskulös und athletisch war der Mann, aber er saß vornübergebeugt im Sattel wie einer, der die besten Jahre seines Lebens nur noch aus der Erinnerung kannte. Ein bitterer Zug lag um den Mund. Gleichgültigkeit lag in jeder seiner Bewegungen. Der Mann schien mit sich und der Welt abgeschlossen zu haben. Nichts an ihm erinnerte noch an den großen Kämpfer, der er einmal gewesen war. Das Schwert an seiner Seite und der am Sattel befestigte Schild schienen Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche zu sein. Immer wieder murmelte der Mann leise vor sich hin. Er schien es selbst kaum wahrzunehmen, aber der Klang seiner Stimme hielt ihn wach. »Odin, mein Vater, wärest du hier, niemand hätte es gewagt, deine Söhne so zum Narren zu halten.« Obwohl der Stimmenmagier Koratzo versucht hatte, Balduur klarzumachen, welchen Kräften er und seine Brüder zum Opfer gefallen waren, konnte er den Schock noch immer nicht ganz überwinden, den die plötzliche Erkenntnis ausgelöst hatte. »Opal!« Ein heiseres Stöhnen drang über seine Lippen. Plötzlich glaubte er sie vor sich zu sehen, jene traumhaft schöne Frau, die einmal sein Leben bestimmt hatte, für die er sogar mit Freuden in den Tod gegangen wäre. Ihr rotblondes, bis zu den Hüften hinabreichendes Haar wehte im Wind. Diese Fee aus dem Sternenarchipel Zuklaan wandte sich ihm zu. Und sie lächelte. Zum erstenmal, so weit er zurückdenken konnte, öffnete sie die Augen. Balduur glaubte, in ihnen die Ewigkeit zu erblicken. Die Pracht funkelnder Sterne zog ihn in ihren Bann. Abrupt zügelte er sein Reittier. Später vermochte er nicht zu sagen, wie lange er regungslos
verharrt hatte. Aber die Zeit war unwichtig. Was zählte, war nur der Glaube, ihr nahe gewesen zu sein – näher als je zuvor. Nur langsam wurde es Balduur klar, daß er unverwandt in die Sonne starrte, deren Strahlen trotz ihres schwarzen Kerns blendeten. Seine Augen tränten. Als er sich umsah, schien die Steppe unter wallenden Nebeln zu versinken. Balduur fluchte unbeherrscht, denn er wurde sich plötzlich seines Wachtraums bewußt. Seine Finger verkrampften sich um die Zügel, gleichzeitig rammte er dem Yassel die Hacken in die Seite. Das Tier raste los. Eine flüchtige Bewegung in der endlos scheinenden Ebene ließ ihn aufmerken. »Ho!« Balduur lenkte sein Yassel in die neue Richtung. Da war es wieder. Ein Kopf reckte sich aus dem hohen Gras, das sich leicht im Wind wiegte. Im Schein der Sonne gleißten zwei Hörner, als bestünden sie aus purem Silber. Aus großen Lichtern beäugte das Tier den näherkommenden Reiter. Im nächsten Augenblick richtete es sich auf vier dünnen, sehnigen Läufen zitternd auf. Ein Springbock. Balduur konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt eines dieser flinken und äußerst scheuen Geschöpfe zu Gesicht bekommen hatte. Es mußte eine kleine Ewigkeit her sein. Sein Jagdeifer erwachte. Die unverhoffte Begegnung war eine Abwechslung nach seinem Sinn. Denn dieses Tier war Legende. Es hieß, daß demjenigen, dem es gelang, die Hörner eines Springbocks zu erbeuten, keine Freude des Lebens mehr versagt blieb. Das Tier ließ ihn bis auf etwa fünfzig Meter herankommen, dann warf es sich herum und hetzte mit wilden Sprüngen davon. Der Sohn Odins jagte auf seinem Yassel hinterdrein. Nicht einen Gedanken verschwendete er daran, daß die Legende unrecht haben möge. Balduur glaubte in diesem Moment an die Verheißung, weil er sie
einfach glauben wollte. Sie war für ihn so etwas wie ein Halm, an den er sich klammern konnte, ein Versuch, der bedrückenden Wirklichkeit wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen. Das Yassel holte auf. Balduur riß sein Schwert aus der Scheide und stieß ein triumphierendes Geheul aus. Der Springbock wurde langsamer, schien zu lahmen. Nur noch wenige Meter. Der Sohn Odins riß sein Reittier herum, während das Schwert in seiner Rechten durch die Luft schnitt. Praktisch im letzten Moment brachte der Springbock sich mit zwei blitzschnellen Sätzen außer Reichweite. Balduur hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten und nicht aus dem Sattel zu stürzen. Wütend auf sich selbst, brüllte er auf. Weiter ging die Jagd, durch hohes Gras, über Gräben und Hügel hinweg. Und allmählich begann der Sohn Odins zu begreifen, weshalb die Legende den nur selten vorkommenden Springböcken geradezu magische Fähigkeiten andichtete. Schließlich bezweifelte er sogar, daß er mit einer weitreichenden Skerzaal zum Schuß kommen würde. Das gejagte Wild war ihm über. Wurde das Yassel langsamer, verhielt auch der Springbock in seinen Bewegungen, zeigte sogar Anzeichen von Erschöpfung, die aber schnell wieder verflogen, sobald Balduur sein Tier erneut antrieb. Er fluchte gottserbärmlich. Hatte sich alles auf Pthor gegen die Söhne Odins verschworen? Allein die Vorstellung war nicht dazu angetan, seine schlechte Laune zu bessern. Nach einem abermals erfolglosen Versuch, ließ er endlich von dem Springbock ab, der schnell in der Ferne verschwand. Das Yassel schwitzte von der übermäßigen Anstrengung, und auch Balduur selbst fühlte eine gewisse Schwäche. Gemächlich ritt er dann weiter. Der Wald, den er vor kurzem noch aus weiter Ferne gesehen hatte, war zum Greifen nahe. Balduur hoffte, in seinem Schatten eine klare Quelle zu finden, die ihn erfrischen konnte. Denn die Sonne brannte heiß auf die Steppe herab
und ließ die Luft flimmern. Der Himmel über diesem Teil von Pthor war nahezu wolkenlos. Der leuchtende Reflex, den er plötzlich bemerkte, entlockte ihm ein Stöhnen. Aber als sich nach einer Weile noch immer nichts bewegte und der helle Schimmer blieb, schob er den Gedanken an einen zweiten Springbock beiseite. Wie Metall glänzte es im Licht der hoch stehenden Sonne. Vorsichtig ritt Balduur näher heran. Er wußte um die vielen Gefahren, die der Dimensionsfahrstuhl für den Ahnungslosen bereithielt. Zuerst glaubte er, einen Zugor vor sich zu haben, doch schließlich erkannte er, daß es sich um eine Spaccah handelte, wie die Krolocs im Korsallophur‐Stau sie benutzt hatten. Die schalenförmige schwarze Scheibe lag unmittelbar am Waldrand zwischen dichtem Gestrüpp verborgen. Balduur sprang ab und ging zu Fuß weiter. Mit dem Schwert schlug er eine schmale Bresche in das Buschwerk, ständig darauf gefaßt, angegriffen zu werden. Aber nichts rührte sich. Kein Kroloc stürzte aus dem Wald hervor und richtete seine Energielanze auf ihn. Wahrscheinlich hatte niemand den Absturz überlebt. Auf den ersten Blick sah es so aus, als sei das Fahrzeug explodiert und habe sich tief in das Erdreich hineingebohrt. Die Außenhülle war an vielen Stellen aufgerissen. Verborgene Metallstreben reckten sich anklagend in den Himmel. Durch sie war Balduur überhaupt erst aufmerksam geworden. Die Spaccah war groß genug, um mindestens sechs Krolocs Platz zu bieten. Wahrscheinlich war sie während des Kampfes um Pthor abgeschossen worden. Wie lange lag das jetzt zurück? Balduur dachte mit Schaudern daran. Zu Tausenden hatten die Invasoren den Wölbmantel durchbrochen und den Tod über das Weltenfragment gebracht. Aber wohin war die Besatzung dieses Fahrzeugs verschwunden? Der Sohn Odins machte sich daran, die Trümmer einer näheren
Betrachtung zu unterziehen. Mit einem wütenden Fußtritt beförderte er eine Strebe zur Seite. Nur um Haaresbreite entging er den nachrutschenden Metallteilen. Von da an war er vorsichtiger. Nirgendwo fand er auch nur die Spur eines Krolocs. Irgendwie war er sogar enttäuscht. Doch dann blieb sein Blick an einer merkwürdig gezackten Platte hängen. Feine Rillen, die wie die Abdrücke nadelscharfer Zähne wirkten, zogen sich über ihre Oberfläche. Vorsichtig tastete Balduur mit den Fingern darüber hinweg. Ein Tier, das Metall fraß? Der Gedanke ließ ihn schaudern. Solch eine Bestie konnte es nur bei den Horden der Nacht gegeben haben. Im aufgewühlten Erdreich zeichnete sich eine schmale Spur ab, kaum breiter als eine Hand, doch vergleichbar mit den Abdrücken, die die Raupenketten von Heimdalls Truvmer hinterlassen hatten. Balduur folgte der Fährte, die in den Wald hineinführte. Zwischen den ersten Bäumen fand er die Überreste einer Metallkugel, die so groß wie seine Faust gewesen sein mochte. Auch sie wies dicht beieinanderliegende feine Rillen auf. Im weichen Moos verlor sich die Spur dann. Wütend blieb Balduur stehen und sah sich um. »Bei Odin …«, begann er, unterbrach sich aber, weil er etwas entdeckt hatte, was das Interesse wert war: Ein Erdhügel, anscheinend frisch aufgeworfen, aber doch von Moos und Gräsern bedeckt. Nur wirkten die Pflanzen welk, und zwischen ihnen schimmerte es weiß hervor. Balduur stieß sein Schwert in den Haufen hinein und zerstörte ihn. Doppelt faustgroße runde Gebilde kamen zum Vorschein, die von einer gallertartigen Schicht überzogen waren, und in denen es heftig pulsierte. »Eier?« murmelte er verblüfft. Es mußten Dutzende sein, die durch Erde und Pflanzen vor dem Austrocknen geschützt worden waren. Balduur bückte sich und hob eines davon auf. Es fühlte sich warm
an und ein wenig glitschig. Und zweifellos lebte es, denn der Sohn Odins spürte das Pulsieren nicht nur in seinen Fingerspitzen, sondern es zog sich sogar seinen Arm hinauf bis in die Schulter. Im Innern des Eies befand sich ein dunkler Kern, der aussah wie ein spiralig zusammengerollter langer Wurm. Balduur hob es hoch und betrachtete es von allen Seiten. Immer deutlicher wurde dabei der Eindruck, daß es sich bewegte. Völlig unerwartet platzte die Schale. Eine ätzende, giftig‐gelbe Flüssigkeit verspritzte nach allen Seiten. Balduur schrie auf und ließ das Ei fallen. Sein Gesicht und die Hand brannten wie Feuer. Warm rann es ihm über die Haut. Blut! stellte er fest, als er in einer Reflexbewegung darüberwischte. Aber so schnell wie der Schmerz aufgetreten war, so schnell verschwand er auch wieder. Aus tränenden Augen blickte Balduur auf die leere Schale vor seinen Füßen. Unbeherrscht trat er zu, und mit einem schmatzenden Laut brach das weiße Gebilde endgültig entzwei. Fast gleichzeitig aber spürte der Sohn Odins die heftige Berührung an seinem Bein. Wie ein Blitzschlag durchzuckte es ihn, und er war für Augenblicke unfähig, sich zu bewegen. Doch dann ließ er sein Schwert herniedersausen. Die blitzende Klinge schnitt durch den meterlangen Wurm, der sich in seine Kleidung verbissen hatte. Sich heftig krümmend, fiel das abgeschlagene Schwanzende zu Boden, während der Kopf mit den nadelscharfen Zähnen unverrückbar fest hing. Noch einmal schlug Balduur zu. Aber seine Waffe beschrieb einen abrupten Bogen und traf hart auf den Boden. Sie fuhr einem zweiten Wurm mitten ins aufgerissene Maul und spaltete ihn der Länge nach. Im letzten Moment hatte Balduur die drohende Gefahr erkannt, die sich von der Seite her näherte. Ein Großteil der nun verstreut liegenden Eier war aufgebrochen und hatte seinen Inhalt freigegeben. Zappelnde, schlangenartige Geschöpfe, die innerhalb von Augenblicken zu einer beachtlichen
Größe anschwollen. Eine blitzschnelle Drehung zeigte Balduur, daß sie von allen Seiten kamen. Angewidert spie er aus. Diese Höllenbrut konnte tatsächlich nur ein Überbleibsel der einstigen Horden der Nacht sein. Denn die Ebene Kalmlech war nahe. Geschuppte Leiber … In ihrem Aussehen erinnerten sie an kleine Lindwürmer, und die Art, wie sie sich näherten, ließ ohne jeden Zweifel eine gewisse Koordination erkennen. Ehe Balduur es sich versah, hatten sie ihm jede Möglichkeit genommen, auszuweichen. Ihr Verhalten als intelligent zu bezeichnen, wäre wohl dennoch übertrieben gewesen. Balduur blieb auch keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Er sah nur noch geifernd aufgerissene Mäuler und hornbewehrte peitschende Schwänze, die Moos und Erde aufwirbelten. Mit kurzen, harten Hieben schlug er auf alles ein, was sich bewegte. Keuchend ging sein Atem, und jedesmal, wenn das Schwert einen der Würmer spaltete, fühlte er einen schmerzhaften Stich bis in die Schulter hinauf. Schwer wie Blei wurde sein Arm, unkontrolliert die Streiche, die er führte. Und dann geschah es, daß ein zappelndes Etwas sich in der Klinge verbiß. Balduur schrie auf. Mit der Breitseite schmetterte er das Schwert gegen einen Baum, konnte den Angreifer aber nicht abschütteln. Immer enger zog sich der Ring aus zuckenden Leibern. Balduur wirbelte jetzt seinen Schild durch die Luft. Doch er konnte nicht verhindern, daß die Würmer seine Beine erreichten. Es waren zu viele.
2. Verzweiflung wollte ihn überfallen und das bittere, bisher nie gekannte Gefühl der Einsamkeit. In der Tronx‐Kette, dem Reich der sieben Gipfel, hatten die Magier stets zusammengehalten und sich in geradezu vollkommener Weise mit ihren Fähigkeiten und ihrem Wissen ergänzt. Und genau das fehlte ihm jetzt. Vielleicht hätte die Gemeinschaft es ihm ermöglicht, den Bann des scheinbar wahnsinnig gewordenen Neffen Duuhl Larx zu brechen. Allein schaffte er es nicht, konnte sich nicht gegen die unheimliche Macht auflehnen, die ihm ihren Willen aufzwang. Auch Copasallior, der in der Rangfolge der Magier am höchsten Stehende, war machtlos. Sie hatten ihre Chance zu fliehen gehabt und sie vertan, weil ihre Magie, sonst nahezu unschlagbar, nicht stark genug gewesen war, gegen die böse Aura des Neffen zu bestehen. Das Negative, das von ihm ausstrahlte, war stärker geworden, seit er die SchwarzschockEnergie in sich aufgenommen hatte. Alles in Koratzo verkrampfte sich. Die Einsicht, hilflos zu sein, schmerzte. Selbst Überlegungen wie die, die er soeben wälzte, wurden unmöglich, sobald Duuhl Larx in seine Nähe kam. In stummer Verzweiflung ballte der Stimmenmagier die Fäuste. Er wußte nicht zu sagen, wie lange er nun schon dastand und seinen Blick über den Raumhafen von Lamur schweifen ließ, ohne ein bestimmtes Ziel zu haben. Außer vielleicht die GOLʹDHOR, das goldene Raumschiff der Magier. Allmählich gelangte er zu der Überzeugung, daß er sich getäuscht hatte. Er hätte die Anwesenheit des magischen Schiffes wahrnehmen müssen. Andererseits hatte er während seiner Flucht durch den Palast von Gaudhere die GOLʹDHOR in ihrer unverwechselbar insektenhaften Form eindeutig erkannt. »Wo ist sie?« murmelte Koratzo leise vor sich hin. »Sie kann sich nicht in Luft aufgelöst haben.«
Der Klang seiner eigenen Stimme übte einen beruhigenden Einfluß auf ihn aus. Er fühlte sich wieder ausgeglichener, obwohl ihn der Gedanke nicht mehr losließ, Ugharten könnten das goldene Raumschiff erbeutet und nach Lamur entführt haben. Das wäre eine Erklärung gewesen, die einzig logische im Augenblick. Es hatte zu schneien begonnen. Ein böiger Westwind peitschte dicke Flocken über das endlos scheinende Gelände des Raumhafens. Der Stimmenmagier zuckte zusammen, als er hinter sich leise Schritte vernahm, und wirbelte förmlich herum. »Du bist es, Copasallior.« Auf seinem Gesicht zeichnete sich eine deutlich Erleichterung ab. Besänftigend hob der Weltenmagier zwei seiner Arme. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte er. »Nur – solange Duuhl Larx nicht in der Zentrale weilt, sollten wir die Gelegenheit nutzen. Sicher gibt es eine Möglichkeit für uns, seinem Zugriff zu entgehen.« »Vielleicht.« Koratzo zuckte mit den Schultern. »Aber du hast gesehen, was geschah, als du mich mit Hilfe deiner Transmitterkräfte zurück nach Pthor versetzen wolltest.« Copasallior fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. Eine Geste der Verlegenheit? »Das war eine spontane Handlung«, gab er schließlich zu. »Unüberlegt und nur aus der unverhofften Möglichkeit heraus geboren. Möglicherweise war sie deshalb von vornherein zum Scheitern verurteilt – vielleicht aber auch, weil unsere Freunde aus der Barriere gleichzeitig versuchten, mit uns in Verbindung zu treten. Es muß einer von Glyndiszorns Tunneln gewesen sein, der nach der HERGIEN tastete.« »Bist du dir dessen sicher?« Der Weltenmagier nickte. »Ich spürte die Magie und hörte Stimmen, die mich riefen. Leider durfte ich mich ihnen nicht widmen, denn sonst wärest du unweigerlich meiner Kontrolle entglitten und irgendwo in den
Welten des Jenseits verschwunden.« »Werden sie es wieder versuchen?« wollte Koratzo wissen. »Du kennst Glyndiszorn …«, gab Copasallior zur Antwort. Mehr brauchte er dazu nicht zu sagen. »Wir müssen einen Weg finden … Wer weiß, wozu der Neffe uns mißbrauchen will.« Mit Schaudern dachte Koratzo daran, daß er gegen seinen Willen gezwungen worden war, einen Ugharten mit den Lauten der Vernichtung zu töten. Und das war sicher erst der Anfang gewesen. Es bedurfte keiner großen Phantasie, sich vorzustellen, was noch kommen würde. »Wir sollten uns aber darüber klar sein«, erwiderte Copasallior langsam, als müsse er über seine Worte erst noch nachdenken, »daß wir gegen Duuhl Larx unter normalen Voraussetzungen nichts ausrichten können. Mir scheint, daß diese unsichtbare dunkle Aura, die den Neffen umgibt, uns scheitern läßt. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, daß er unangreifbar geworden ist. Irgendeinen schwachen Punkt muß er haben, und genau den gilt es herauszufinden.« »Zweifellos ist Duuhl Larx nicht mehr ganz bei Verstand, was ihn um so gefährlicher macht …« Koratzo hatte noch etwas hinzufügen wollen, unterbrach sich aber, weil er plötzlich jenes eigenartig lähmende Gefühl verspürte, das ihm nur zu gut bekannt war. Ein unangenehmes Prickeln zog sich durch seinen Nacken, schien seine Nervenbahnen zu erfassen und lähmte seine Gedanken. Er brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, daß es Copasallior in diesem Augenblick ähnlich erging. Duuhl Larx hielt sich wieder in der Zentrale auf. Von beiden Magiern unbemerkt, mußte er vor wenigen Augenblicken erst den Raum betreten haben. »Denke daran«, flüsterte der Weltenmagier schnell. »Sein schwacher Punkt …« Dann war der Neffe heran. Niemand vermochte zu sagen, wie Duuhl Larx eigentlich aussah, denn er verbarg sich stets hinter einer leuchtenden Hülle aus
Energie. Vielleicht ist seine Gestalt seine wahre Schwäche, durchzuckte es Koratzo. Hätte er es sonst nötig, sich hinter diesen zuckenden Flammen zu verbergen? »Ich werde nicht länger warten«, verkündete der Neffe. »Jedenfalls nicht an Bord dieses Raumschiffs. Wenn Thamum Gha zurückkehrt, wird er mich dort vorfinden, wo er mich am wenigsten erwartet: in seinem Palast. Und ihr werdet mich begleiten, denn vielleicht benötige ich eure Hilfe.« »Was sollen wir tun?« fragte Copasallior stockend. Duuhl Larx schien zu lachen. »Das wirst du früh genug erfahren, Magier. Vielleicht bereitet es dir sogar Vergnügen, mir zur Macht zu verhelfen. Eines Tages wirst du dich rühmen dürfen, mein Sklave zu sein.« »Niemals!« preßte Copasallior zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Aber er wußte gleichzeitig, daß er den Befehlen des Neffen gehorchen mußte. Sobald dieser ihn berührte, war nicht einmal mehr passiver Widerstand möglich. * Copasallior und Koratzo verließen die HERGIEN nur wenig später an Bord eines kleinen Gleiters, der von einem ebenfalls beeinflußten Ugharten gelenkt wurde. Der Flug führte nach Westen, wo in fünfzig Kilometer Entfernung das Ziel des Neffen lag. Im stillen fragte sich der Stimmenmagier, was sie wohl antreffen würden. Schließlich hatte er bereits für etliche Stunden im Palast von Gaudhere geweilt. Würde sich dort die Frage klären lassen, was geschehen war? Immer unwirklicher erschienen ihm seine Erlebnisse, die Flucht vor den Robotern, die Entdeckung der GOLʹDHOR. Dennoch glaubte Koratzo zu fühlen, daß er der Antwort ganz nahe war.
Der Gleiter flog langsam und unmittelbar über dem Boden. Neben ihm schwebte Duuhl Larx im Schutz seiner glühenden Sphäre. Im Dunst des Schneetreibens wirkte er wie ein Wesen aus einer anderen Welt, Gefahr verheißend, drohend. Mit bloßem Auge war nicht viel zu erkennen. Lediglich auf den Bildschirmen des Gleiters zeichnete sich der westliche Teil des Hafengeländes ab. Hier standen überwiegend Frachter, deren Ladung wohl für den Palast des Neffen bestimmt war. Der Ugharte hielt Abstand zu ihnen. Koratzo machte die Gedanken des Piloten für sich hörbar, aber er fand nur unbedingten Gehorsam, nicht die Spur einer Auflehnung, wie dies bei Theimor der Fall gewesen war. Vielleicht gelang es ihm, den Ugharten zu beeinflussen … Der Wille dazu war zweifellos vorhanden, doch der Stimmenmagier schaffte es einfach nicht, sich über die von Duuhl Larx erhaltenen Befehle hinwegzusetzen. Unter Umständen, wenn er mehrere Stunden Zeit gehabt hätte, aber so lange würde der Neffe nicht warten. Spätestens in fünfzehn Minuten war der Palast von Gaudhere erreicht. Die Anstrengung trieb Koratzo den Schweiß auf die Stirn, und er begann zu zittern. Dennoch gab er nicht auf. Irgendwo hinter ihm wurde ein Stöhnen laut, das nichts anderes war als die Wiedergabe seiner Empfindungen über ein unbewußt errichtetes Stimmenzentrum – ein Ventil, durch das die aufgestaute magische Energie entweichen konnte, bevor sie Koratzo an den Rand des beginnenden Zusammenbruchs führte. Seine Finger verkrampften sich um die Armlehnen seines Sitzes; seine Augen schienen blicklos in weite Ferne zu starren. Sämtliches Blut wich aus seinem Gesicht, das plötzlich weiß wurde wie Marmor vom Hang der Töpferschnecke. Er begann, zusammenhangloses Zeug zu stammeln, redete wirr, wie im Fiebertraum. Für Copasallior hatte es den Anschein, als unterhielte sich der Stimmenmagier mit einem unsichtbaren Wesen. Leb wohl, im Tal der tausend Blüten. Sinnend dachte er über die
Bedeutung nach, die diese Worte haben mochten, doch blieb sie ihm verborgen. Koratzo schrie. Aber als der Weltenmagier ihm beruhigend jeweils zwei Hände auf Schultern und Arme legte, verstummte das Stimmenzentrum. Koratzo wandte den Kopf. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Copasallior an, während er scheinbar nur langsam aus seiner Traumwelt zurückfand. »Ich«, begann er, unterbrach sich, als wolle er das Erlebte für sich behalten, fuhr dann aber stockend fort: »Ich habe es noch einmal erlebt. Doch je öfter ich darüber nachdenke, desto unwirklicher erscheint mir alles.« Seufzend ließ er sich nach vorne sinken und vergrub sein Gesicht in den Handflächen. Erst nach einer Weile ließ er sich wieder vernehmen. »Es ist, als könnte ich die Zukunft ahnen. In unmittelbarer Nähe des Palasts liegt das Wrack eines abgestürzten Organschiffs. Ich habe mit der sterbenden Galionsfigur gesprochen, einem Wesen von unvergleichlicher Zartheit …« Er wandte sich an den Ugharten, der vor den Kontrollen saß. »Kannst du feststellen, ob sich in der Nähe des Palasts die Trümmer eines Raumschiffs befinden?« Koratzo mußte den Piloten ein zweitesmal ansprechen, bevor dieser reagierte und, da die Frage in keinerlei Widerspruch zu seiner Order stand, etliche Schaltungen durchführte. Auf mehreren Bildschirmen zeichneten sich dem Stimmenmagier unverständliche Symbole ab. »Die Ortungen ergeben nichts«, antwortete der Ugharte schließlich. »Vor uns befinden sich nur noch drei Frachter auf ihren Landefeldern.« »Ein Fehler ist ausgeschlossen?« »Die Technik des Guftuk‐Reviers versagt nicht.« Antimagie! dachte Koratzo herablassend. Im Gegensatz zu magischen Geräten unterliegt sie einem naturgegebenen Verschleiß, der sie anfällig für
Störungen werden läßt. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als dem Piloten zu glauben. In gewisser Weise war dessen Feststellung sogar eine Bestätigung für ihn. »Kenne ich die Zukunft?« murmelte er. Wieder sah er den Weltenmagier an: »Kann ich wirklich der Zeit voraus gewesen sein?« Copasallior wußte keine Antwort darauf, zumal ihn das plötzliche Flackern einiger Kontrollen ablenkte. Auch Koratzo wurde aufmerksam. »Was ist das?« fragte er den Piloten. »Alarm!« Der Ugharte sagte es so ruhig und gelassen, als ginge ihn das alles gar nichts an. In gewisser Hinsicht mochte das auch stimmen, denn in Duuhl Larxʹ Befehl war davon nicht die Rede gewesen. »Will man uns aufhalten?« Eine unverständliche Hoffnung keimte in Copasallior auf. »Nein. Der Alarm betrifft den gesamten Raumhafen. Sämtliche Startvorbereitungen sind sofort abzubrechen; kein Fahrzeug darf in den nächsten Minuten noch in der Luft sein.« »Also auch wir nicht.« Der Ugharte schwieg. Aber er traf keine Anstalten, den Gleiter zu landen. »Was bedeutet der Alarm?« wollte Copasallior wissen. »Thamum Gha, der Neffe des Dunklen Oheims, landet.« Und plötzlich war da eine Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher, laut und dröhnend. Sie gab Anweisung, den nächsten Frachter anzufliegen und sich hinter den auf dem Landefeld aufgetürmten Containern zu verbergen. Koratzo war erneut blaß geworden. »Wir hätten es uns denken können«, murmelte er, »daß Duuhl Larx nicht darauf verzichtet, uns zu kontrollieren. Wahrscheinlich kann er jedes Wort mithören, das hier gesprochen wird. Nur so ist es ihm möglich, sofort
einzugreifen, falls sein Bann von uns abfällt.« »Richtig, Magier.« Die Stimme troff förmlich vor Hohn. »Ich werde jeden töten, der sich meinen Interessen widersetzt.« Der Gleiter war kaum gelandet, als sich ein gewaltiger Schatten vor die zeitweise sichtbare Sonne schob und diese verdunkelte. Den Gedanken des Ugharten konnte Koratzo entnehmen, daß es sich um die THEISIS handelte, Thamum Ghas Flaggschiff. Nie zuvor hatte er einen größeren Raumer gesehen. Selbst die Transporter, die in der Senke der verlorenen Seelen die bedauernswerten Schläfer an Bord genommen hatten, waren im Vergleich zu diesem Schiff klein gewesen. Die THEISIS verkörperte die Macht des Neffen Thamum Gha auf eine recht deutliche Weise. Denn immerhin herrschte dieser über ein Revier, das näher zum Zentrum der Schwarzen Galaxis gelegen war als die Herrschaftsbereiche der Neffen Duuhl Larx oder Chirmor Flog. Das Organschiff glich einer äußerst unregelmäßig geformten, an den Polen plattgedrückten riesigen Kugel von mindestens zwei Kilometern Durchmesser. Gigantische Flammenzungen peitschten die sich auflösenden Wolkenfetzen, als es zur Landung ansetzte. Ein wahrer Orkan wirbelte über das Hafengelände. Die beiden Magier fröstelten. Sie hatten den Gleiter verlassen, um das Schauspiel direkt miterleben zu können. Nur wenige Meter vor ihnen stand Duuhl Larx. Der Neffe schien zur Salzsäule erstarrt. Er kümmerte sich nicht um sie und gab auch mit keiner Bewegung zu erkennen, daß er ihre Anwesenheit bemerkt hatte. Für einige Augenblicke spielte Koratzo mit dem verlockenden Gedanken, Larx zu paralysieren. Aber er konnte seine Stimme nicht aussenden. Etwas Ungreifbares hinderte ihn daran. Als er fühlte, daß seine Sinne sich zu verwirren begannen, brach er seine Bemühungen ab. Die THEISIS landete kaum mehr als fünf Kilometer entfernt. Eine merkliche Erschütterung durchlief den Boden, als das mächtige Schiff aufsetzte. Sekunden später fauchten ein letztesmal erhitzte
Luftmassen über das Gelände. Dann wurde es schlagartig still. Das Donnern der Triebwerke verstummte. Koratzo empfand Angst vor dem, was nun kommen würde. Gleichzeitig aber hoffte er, daß Thamum Gha stärker sein möge als Duuhl Larx. Es wäre einfach gewesen, dem Herrscher über das Guftuk‐Revier mit Hilfe seiner magischen Stimme eine Warnung zukommen zu lassen und sich so seines Wohlwollens zu versichern. Doch leider versagte Koratzos Magie, sobald er nur an diese Möglichkeit dachte. Endlich fiel die Starre von Duuhl Larx ab. Langsam wandte er sich zu den beiden Magiern um, die hinter ihm standen und darauf warteten, daß irgend etwas geschah. »Er wird bald kommen«, sagte der Neffe, und seine Aura flammte vorübergehend düster auf. »Thamum Gha ist nur ein weiterer kleiner Schritt auf meinem Weg, an dessen Ende ich der Herrscher über die Schwarze Galaxis sein werde.« Er schwieg, als warte er darauf, von Copasallior oder Koratzo eine Zustimmung zu erhalten. Das Schneetreiben war schwächer geworden. Koratzo versuchte zu erkennen, was sich bei der THEISIS tat, aber noch schien dort alles ruhig. »Ihr bleibt hinter den Containern verborgen, bis Thamum Gha heran ist«, befahl der Neffe jetzt. »Sobald man mir Widerstand entgegensetzt, wendet ihr eure besonderen Kräfte an. Du, Koratzo, wirst jeden Gegner töten, der es wagt, auch nur die Hand gegen mich zu erheben, und du, Copasallior, wirst sie ins All versetzen, falls ihrer zu viele werden.« Er verlangte keine Bestätigung, weil er sich seiner Macht über die Magier sicher war. Wenn sie auch innerlich widerstrebten, so würden sie doch tun, was er von ihnen forderte. In der THEISIS öffnete sich eine Bodenschleuse. Von Antigravfeldern getragen, schwebte ein Fahrzeug daraus hervor
und wurde auf dem Landefeld abgesetzt. Viel mehr ließ sich auf die Entfernung nicht erkennen. Dann kam das Gefährt rasch näher: ein bodengebundener Gleiter, der sich mittels eines Prallfelds vorwärtsbewegte. Er war groß genug, um einem Dutzend Personen Platz zu bieten, war aber nur zur Hälfte besetzt, jedoch derart prächtig aufgeputzt, als gelte es, eine Truppenparade abzunehmen. Seine Hülle gleißte und funkelte im Sonnenlicht, als bestünde sie aus geschliffenen Diamanten. Die Lichtbrechung erzeugte den Eindruck eines fahrenden Regenbogens, über dem etliche bunte Wimpel flatterten. Das Verdeck war eingefahren, und nur die große Frontscheibe schützte die Passagiere vor dem Fahrtwind. Wenn der Gleiter die einmal eingeschlagene Richtung beibehielt, würde er kaum weiter als einen Kilometer entfernt am Versteck der beiden Magier und des Neffen Duuhl Larx vorüberkommen. »Thamum Gha begibt sich tatsächlich in seinen Palast«, murmelte Copasallior. Wie Koratzo scheute auch er vor der Konfrontation zurück. Er wollte nicht töten, aber er würde es tun müssen, wenn die Situation dies erforderte. Denn der Neffe hatte es befohlen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, glühte Duuhl Larxʹ Aura düsterer. Fast greifbar schien die Ausstrahlung des Bösen. Dann war der Gleiter heran. Koratzo erkannte Thamum Gha. Neben ihm saßen vier bewaffnete Ugharten in den Polstern des Fahrzeugs, das von einem Roboter gelenkt wurde. Ein weiterer Roboter, dessen Waffenarme aktiviert waren und rötlich leuchteten, stand im Fond. Einen halben Meter über dem Boden schwebend, kam Duuhl Larx hinter den Containern zum Vorschein. Ohne zu zögern, raste er los, durch seine glühende Sphäre weithin sichtbar. Aber er entwickelte sofort eine beträchtliche Geschwindigkeit, die diesen Nachteil zweifellos wieder wettmachte. Die Ugharten um Thamum Gha reagierten kaum langsamer als der Roboter. Da war kein Anzeichen einer Schrecksekunde. In dem
Augenblick, in dem sie das näherkommende leuchtende Etwas bemerkten, rissen sie ihre Waffen hoch und feuerten. Unmittelbar vor und neben Duuhl Larx schlugen die tödlichen Energiestrahlen ein. Scheinbar unbeirrt raste der Neffe weiter. Kaum noch vierhundert Meter trennten ihn von dem Fahrzeug, als die nächste Salve traf. Es sah so aus, als würde die Flammenaura unter dem Feuerschlag explodieren. Blitze zuckten nach allen Seiten und brachten, wo immer sie auftrafen, den Boden zum Schmelzen. Aber schon glitt Duuhl Larx aus dem entstandenen Feuerball hervor. Obwohl der Gleiter nun beschleunigte, wurde die Distanz, die ihn noch von seinem Opfer trennte, schnell geringer. Koratzo konnte den Blick nicht abwenden. In diesem Augenblick beherrschte ihn die Frage, wie Duuhl Larx den anderen Neffen wohl umbringen würde. Mit bloßen Händen – falls er überhaupt Extremitäten besaß, die mit Händen zu vergleichen waren? Duuhl Larx und Chirmor Flog hatten kaum Ähnlichkeit miteinander besessen. Der Neffe aus dem Marantroner‐Revier war nicht viel mehr als ein Krüppel gewesen, dem der Großteil seines Körpers fehlte. Wie Duuhl Larx aussah, wußte niemand zu sagen. Koratzo wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er sah, daß Copasallior die Arme ausstreckte. Wieder wurde Duuhl Larx vom Gleiter aus unter Feuer genommen. »Hilf mir!« stöhnte der Weltenmagier. Auf seiner Stirn perlte der Schweiß. Aber auch Koratzo war unfähig, etwas zu tun. Weder vermochte er die sich anbahnende Katastrophe zu verhindern, noch konnte er Duuhl Larx vor den Waffen der Verteidiger schützen, wie dieser es befohlen hatte. Seine magischen Sinne versagten. Eine endlose Leere schien sich in seinem Schädel auszubreiten, verbunden mit quälenden Schmerzen. Koratzo taumelte und hatte Mühe, sich noch auf den Beinen zu halten. Ein flüchtiger Blick zur Seite verriet ihm, daß Copasallior mit
ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. War die unmittelbare Nähe der beiden Neffen schuld daran, in Verbindung mit dem fast krampfhaften Bemühen, dem auferlegten Zwang zu entgehen? In diesem Moment prallten Duuhl Larx und Thamum Gha aufeinander. Koratzo schrie auf, und der Klang seiner eigenen, natürlichen Stimme erschreckte ihn. Dort, wo eben noch die flammende Sphäre gewesen war, breitete sich eine fast vollkommene, lichtschluckende Schwärze aus. Als sie den Gleiter erfaßte, setzte schlagartig dessen Antrieb aus. Das Fahrzeug krachte zu Boden. Wie gebannt starrte Copasallior auf den schwarzen Fleck. Ihm war, als blicke er in die Abgründe der Hölle, die sich vor ihm öffneten. »Das Böse hat sich selbst gerichtet«, stammelte er.
3. »Hier hat Acht sich von uns getrennt«, schnarrte Diglfonk. Sator Synk funkelte den Roboter wütend an. »Bist du dir wirklich sicher?« fragte er mit einem lauernden Unterton. »Mir erscheint das Gelände hier nicht markanter als anderswo.« Diglfonk streckte einen Tentakel aus und zeigte nach Norden. »Siehst du das ausgeglühte Band der Straße der Mächtigen, Herr? Es ist exakt neunhundertachtunddreißig Meter von uns entfernt. Und dort«, er deutete nach Westen, »erstreckt sich jener Wald am Horizont, von dem die fraglichen Impulse ausgingen.« »Sicher kannst du mir auch die Entfernung angeben.« »Fünf Kilometer und dreihundert Meter«, lautete die spontane Antwort. »Ach!« Sator Synk griff sich an den Kopf und schüttelte sich. Weder Leenia noch Koy oder Kolphyr konnten erkennen, ob sein Entsetzen echt war oder nur gespielt. Aber plötzlich sah der Orxeyaner auf, und um seine Mundwinkel lag ein unverkennbar zynischer Zug. »Gibt es überhaupt etwas, was du nicht weißt?« fragte er Diglfonk. »Ja, Herr«, antwortete der Roboter. »Sooo«, dehnte Synk überrascht. Mit allem schien er gerechnet zu haben, nicht jedoch damit, daß Diglfonk frei heraus zugeben würde, etwas nicht zu wissen. »Was ist es?« »Ich kann dir nicht sagen, wo Acht sich im Augenblick befindet und was mit ihm geschehen ist.« »Nein!« brüllte Synk auf. »Nein. Sagt mir, daß das nicht wahr ist. Weckt mich auf, falls ich träume. Es ist ein Alptraum. Diese Klapperkiste macht mich noch völlig verrückt. Ich hasse diese Roboter, ich hasse sie alle …« Völlig unvermittelt brach er ab und
starrte Kolphyr an, der sein Froschmaul zu einem breiten Grinsen verzog. »Möchte wissen, was es da zu feixen gibt, du grüner Riese«, fauchte er schließlich. »Wenn du meine Probleme hättest, würdest du anders denken. Ich wünsche sie dir an den Hals, diese wildgewordene Meute aus Wolterhaven. Vielleicht schmusen sie sogar mit dir, wenn du sie nur recht freundlich darum bittest.« Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle Kolphyr diesen Vorschlag tatsächlich in Erwägung ziehen, doch dann platzte er mit lautem Gelächter heraus. »Sei endlich still!« schrie Synk ihn an. Aber der Bera lachte, bis ihm die Augen tränten. Dabei verbreitete er einen immer strenger werdenden Zimtduft, der die anderen Schritt für Schritt aus seiner Nähe vertrieb. Nur Diglfonk blieb unmittelbar neben ihm stehen und wartete mit dem Gleichmut einer Maschine. Endlich schien Kolphyr sich wieder gefangen zu haben. Nur noch ein stoßweises Glucksen drang aus seinem Rachen hervor. »Es ist nur«, grinste er und wandte sich an den Orxeyaner, »endlich hast du zugegeben, daß du verrückt bist.« »Ich …?« Ein Loch gähnte plötzlich mitten in Synks wallendem Bart, weil er vergaß, den Mund zu schließen. »Ja, du«, nickte Kolphyr und war dabei sichtlich bemüht, einen möglichst ernsten Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern. »Ich habe es schon lange geahnt, aber nun habe ich endlich die Gewißheit. Dein Roboterfimmel schreit zum Himmel.« »Werde bloß nicht poetisch«, protestierte Synk. »Niemals habe ich so etwas von mir behauptet. Ich hätte überhaupt keinen Grund dazu.« »Willst du abstreiten, daß du sagtest, du würdest noch völlig verrückt? Wohlgemerkt: du wirst nicht erst verrückt, sondern völlig, was vorausgesetzt, daß du bereits …« »Ich leugne!« Sator Synk war drauf und dran, sich auf den Bera zu stürzen, zu dem er aufsehen mußte.
»Diglfonk, wiederhole deinem Herrn, was er gesagt hat. Aber wörtlich«, forderte Kolphyr. »Diese Klapperkiste macht mich noch völlig verrückt. Ich hasse diese Roboter, ich …« »Schluß jetzt!« Plötzlich stand Leenia zwischen ihnen, und in ihren Augen leuchtete es grell auf. »Wir haben wahrhaftig anderes zu tun, als uns gegenseitig zu beschimpfen. Kolphyr, es ist unfair von dir, Diglfonk gegen Sator auszuspielen.« »Ein so großer Bera tut das nicht«, fügte der Orxeyaner hinzu und erntete dafür vernichtende Blicke sowohl von Leenia als auch von Kolphyr. »Vielleicht reiten wir endlich weiter«, schlug Koy vor. »Seht euch Fenrir an, er fiebert vor Ungeduld.« Der große graue Wolf hatte die Ohren aufgestellt, und seine Rute peitschte das Gras. Er fletschte die Zähne. Aus seinem Rachen drang ein drohendes Knurren. Endlich ließ sich auch Bördo vernehmen. »Fenrir wittert etwas«, sagte der Junge. In mäßigem Tempo ritten sie dann weiter, ihnen voran schwebten die Robotguerillas, deren Ortungen ununterbrochen arbeiteten. Je weiter sie kamen, desto nachdenklicher wurde Synk. Fast schien es, als fürchte er sich davor, Acht wirklich aufzuspüren. Sie erreichten den Wald, ohne daß sie eine Spur des vermißten Roboters gefunden hätten. Der Orxeyaner zügelte sein Yassel. »Wenn Diglfonk und seine Guerillas versagen«, sagte er zu den anderen, »wie sollen wir in dieser Wildnis einen verlorengegangenen Roboter finden?« »Willst du aufgeben?« fragte Koy irritiert. »Das ist doch sonst nicht deine Art.« »Würdest du es gefälligst mir überlassen, was ich tue und was nicht«, erwiderte Synk gereizt. Während er sich noch in eine Erregung hineinsteigerte, die die Adern an seinen Schläfen anschwellen ließ, verschwand der Fenriswolf im dichten Unterholz.
Niemand bemerkte es. Erst sein Heulen sorge dafür, daß man ihn vermißte. »Ich glaube, Fenrir will uns etwas zeigen«, sagte Bördo. »Wir sollten ihm folgen«, stimmte Kolphyr zu. »Der Ruf kam von dort drüben.« Er zeigte nach rechts hinüber, wo das dichte Gestrüpp schon nach wenigen Metern den ersten großen Bäumen wich. Wie zur Bestätigung ließ Fenrir jetzt ein heiseres Bellen hören. »Worauf warten wir noch?« Bördo trieb sein Yassel mitten durch die Büsche. Sator Synk folgte ihm, dann Leenia, Kolphyr, Koy und die Roboter. Der Junge war auch der erste, der das nahezu kreisrunde Loch im Waldboden entdeckte. Es durchmaß mindestens vier Meter. Fenrir kauerte an seinem Rand, die Lefzen hochgezogen und den Blick unverwandt in die Tiefe gerichtet. »Ich empfange diese Impulse, von denen Acht gesprochen hat«, ließ Diglfonk sich plötzlich vernehmen. »Sie scheinen zum Teil magischer Natur zu sein, aber sie sind doch gleichzeitig so fremdartig, daß mir keine Rückschlüsse auf ihre Entstehung möglich sind.« Bördo sprang ab und band sein Reittier an einem weit herabhängenden Ast fest. Als er sich dann zu Fuß der Grube nähern wollte, ertönte von dort ein seltsam schabendes Geräusch. Winselnd zog sich Fenrir einige Schritte zurück. Ein länglicher Kopf, dem einer riesigen Schlange nicht unähnlich, schoß in die Höhe. Ein dicker, weißer Körper folgte. Aber nur für wenige Sekunden starrten rot glühende Augen den Ankömmlingen entgegen, dann ließ das Monstrum sich wieder zurückfallen. »Du bleibst hier.« Kolphyr erwischte den Jungen gerade noch am Hemd, als dieser vorspringen wollte. »Für dich ist das zu gefährlich. Wenn jemand nachsieht, dann bin ich es.« Aber schon war Sator Synk an ihm vorbei und starrte in das Loch hinunter, das mehr als drei Meter tief war. Was er sah, ließ ihn zittern. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht, denn etwas
Ähnliches hatte er erwartet. Aber er schaffte es nicht einmal, den Blick abzuwenden. War er dafür verantwortlich? »Nein!« stöhnte der Orxeyaner und wurde abwechselnd blaß und dann wieder blutrot. »Alles, bloß das nicht.« Es war nicht das Tier, gut und gerne dreimal so lang wie Synk, das diesen erschreckte, denn er hätte es sich zugetraut, diesen Riesenwurm mit einigen wohlgezielten Schwertstreichen in handliche Teile zu zerlegen. Es war vielmehr der Roboter, der mit erloschenen Sehzellen am Grund der Grube lag, inmitten einer Vielzahl dürrer Äste und verwelktem Laub. Unverkennbar Acht. Die weit ausgestreckten Tentakel bewiesen, daß er sich bis zuletzt zur Wehr gesetzt hatte. Plötzlich war Synk nur noch von dem einen Gedanken besessen, den Roboter dort unten herauszuholen. Vielleicht ließ er sich noch reparieren. Er durfte einfach nicht tot sein. Allerdings hielt der Riesenwurm Acht mit seinem Schwanz fest umschlungen und würde seine Beute wohl kaum freiwillig wieder hergeben. Eine ruckartige Bewegung. Der Kopf schnellte hoch und entblößte dabei mehrere Reihen nadelscharfer Zähne. Sator Synk prallte zurück. Diglfonk! schoß es ihm durch den Sinn, während er sich noch überlegte, ob er angreifen oder sich lieber etliche Meter weit zurückziehen sollte. Der Anführer der Guerillas mußte ihm sagen können, ob Acht noch am Leben war. Wenn nicht … In jäh aufkommender Verzweiflung ballte der Orxeyaner die Fäuste. Er wandte sich um. »Diglfonk«, begann er, »du mußt …« Seine Erfahrung im Umgang mit den zeitweise doch recht widerspenstigen Robotern verriet ihm, daß bei seinem Gegenüber auf einmal einige Drähte locker waren. Diglfonk wirbelte nämlich mit seinen Tentakeln durch die Luft, als gelte es, einen ganzen
Schwarm angreifender Flugsaurier zu verscheuchen. In seinen Sehzellen blitzte es auf. »Diglfonk!« Der Roboter senkte sich auf den Boden herab und bewegte sich auf normale Art weiter. Er schien von Synk nur insoweit Kenntnis zu nehmen, als er plötzlich einen Arm auf den Orxeyaner zuschnellen ließ und ihn hart zur Seite wischte. Sator Synk strauchelte und wäre gestürzt, hätte Kolphyr ihn nicht im letzten Moment noch aufgefangen. »Laß mich«, schrie er. »Ich schlage den Kerl zu Schrott.« Der Bera war so verblüfft, daß er tatsächlich ausließ. Im nächsten Moment prallte Synk mit voller Wucht gegen den Roboter, der daraufhin begann, sich im Kreis zu drehen. Alle guten Vorsätze scheiterten an der unnachgiebigen Härte des Metalls und daran, daß der Orxeyaner mit dem Kopf zuerst zugeschlagen hatte. Die Folge davon würde wohl eine wunderschöne Beule auf seiner Stirn sein. Diglfonk wirbelte jetzt auf die Grube zu. Doch Synk sah nicht, was weiter geschah, weil er abgelenkt wurde. Hinter ihm kreischte und krachte es. Der Anblick einer Horde wildgewordener Roboter versetzte ihn in Panik. »Eins!« schrie er. »Zwei, Drei – hört auf mit diesem Unsinn!« Aber sie achteten nicht auf ihn. Mochte der Dunkle Oheim wissen, was in sie gefahren war. Wenn sie so weitermachten, würden sie innerhalb weniger Stunden den gesamten Wald in Brennholz verwandelt haben. »Aufhören! Ich befehle es euch!« »Was hast du nun angerichtet?« Leenia kam auf den Orxeyaner zu und blickte ihn vorwurfsvoll an. »Ich? Ausgerechnet ich? – Hilf mir lieber.« »Und wie soll ich …?« Das Geräusch eines stürzenden Baumes übertönte für wenige Sekunden jedes Gespräch. Ein mächtiger Stamm fiel, den ein Mann allein nicht hätte umfassen können. Abgerissene Äste klatschten zu
Boden. Dann ging ein Ächzen durch die Wipfel. Der Stamm blieb hängen, von weit ausladenden Kronen aufgefangen. Mit einem letzten unheilvollen Zittern kam er zur Ruhe. Auch die züngelnden Flammen erstarben, nachdem sie in der feuchten Rinde kaum Nahrung fanden. Flammen? Synk war einem Tobsuchtsanfall nahe, als er erkannte, daß einer der Roboter seine Strahlwaffe benutzt hatte, um den Baum zu fällen. »Wenn wir nichts dagegen unternehmen, stecken sie den ganzen Wald in Brand«, behauptete Bördo. »Du hast recht, mein Junge.« Sator Synk wirbelte herum. Er schien etwas zu suchen. »Diglfonk!« kreischte er. »Wo ist dieser Verrückte?« Endlich hatte er einen handfesten Beweis dafür, daß alle Roboter unzuverlässig waren. Er hatte es schon immer vorausgesehen, daß sie eines Tages durchdrehen würden. Nun wurden seine Erwartungen sogar noch um ein Vielfaches übertroffen. Er war in ein Tollhaus geraten. »Wenn du Diglfonk suchst«, sagte Koy und deutete auf das Loch, »der liegt dort unten und rührt sich nicht mehr.« »Warum nur? Warum mir das?« Synk stürzte vor und blickte dann erschüttert in die Tiefe. Der Riesenwurm hatte sich bereits um sein zweites Opfer geschlungen. Koy, der Trommler, begann die Kugelenden seiner Broins leise gegeneinander zu schlagen. »Bist du verrückt?« fuhr Synk auf. »Du könntest die Roboter erwischen.« »Aber irgend etwas müssen wir unternehmen, und zwar schnell.« Unzweifelhaft war die Jagdlust in Koy erwacht, die wohl eine seiner hervorstechendsten Eigenschaften war. »Wenn dir das zu gefährlich ist«, wandte Kolphyr ein und grinste den Orxeyaner an, »dann könnte ich auch ein winziges Stückchen Antimaterie abspalten.«
»Und damit den ganzen Wald in die Luft blasen. Untersteh dich.« Wieder splitterte irgendwo ein Baum und stürzte donnernd zu Boden. »Unsere Yassels!« Leenias Ausruf kam zu spät. Die Tiere hatten sich losgerissen und stoben in panischem Entsetzen auseinander. Zum Glück entfernten die Roboter sich allmählich, sonst wäre es zweifellos gefährlich geworden. »Wenn ich nur wüßte, was sie dazu veranlaßt hat«, überlegte Koy. »Hat Diglfonk nicht von einer Art magischer Impulse gesprochen?« sagte Kolphyr. Leenia nickte. »Dann müssen diese die Roboter verwirrt haben.« »Bei denen waren von Anfang an einige Schrauben locker«, behauptete Synk, doch niemand reagierte darauf. »Das einzige Wesen in unserer Nähe, das dafür in Frage kommen könnte, ist der Riesenwurm«, fuhr Kolphyr fort. »Das übernehme ich.« Bevor der Orxeyaner auch nur reagieren konnte, ließ Koy seine Broins schneller zusammenschlagen. Das Untier schien die gerichteten psionischen Strömungen deutlich wahrzunehmen. Es schnellte förmlich in die Höhe, und sein Schwanzende peitschte über die beiden Roboter. Koy stöhnte verhalten auf. Er hatte nicht erwartet, daß der Wurm ihn sofort als den Gegner einstufte, der ihm Schmerzen zufügte. Dem Tier deshalb eine gewisse Intelligenz zuzugestehen, wäre wohl übertrieben gewesen. Aber ganz sicher handelte es aus dem untrüglichen Instinkt der Wildnis heraus. Ein weit aufgerissenes, geiferndes Maul näherte sich dem Trommler. Koy begann zu schwitzen. Doch er durfte jetzt nicht aufhören. Seine Broins waren die einzige Waffe, die er besaß. Wenn sie versagten … Plötzlich spürte er eine Berührung. Nicht körperlich – es war
vielmehr, als breite sich etwas in seinen Gedanken aus. Vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen. Weshalb trommelte er? Er wußte es nicht, fühlte sich nur mit einemmal so unsagbar müde. »Koy!« Erst der Aufschrei brachte ihn wieder zur Besinnung. Nur noch Zentimeter von ihm entfernt, funkelten fingerlange, spitze Zähne. Dann ging alles sehr schnell. Kolphyr hatte den Riesenwurm unmittelbar hinter dessen Kopf geklammert, konnte sich aber nur für wenige Augenblicke halten und wurde zur Seite geschleudert. Sator Synk drosch mit aller Kraft auf den geschuppten Körper ein, ohne jedoch die dicken Hornplatten durchschlagen zu können. Lediglich Leenias Bemühungen schienen von Erfolg gekrönt, denn ein violettes Flimmern huschte über den Schädel des Tieres und breitete sich schnell aus. Aber da zeigte auch Koys Trommeln endlich den erhofften Erfolg. Noch einmal bäumte sich der Wurm auf, dann platzten Teile seines Körpers förmlich auseinander. Im Bewußtsein seines Sieges sank Koy haltlos zu Boden. »Das war knapp«, hörte er. »Ich hätte nie gedacht, daß die Bestie in der Lage sei, solche Kräfte zu entwickeln.« Kolphyr half ihm dann dabei, sich wieder zu erheben. »Ein gefährlicher Gegner«, murmelte der Trommler. »Er widerstand auch meinen Broins praktisch bis zum letzten Moment. Hoffentlich laufen nicht noch mehr solcher Ungeheuer in dieser Gegend herum.« Ein Freudenschrei ließ ihn aufsehen. Wie ein Irrwisch tanzte Sator Synk um die Grube herum. Augenblicke später schwebte Diglfonk in die Höhe, gefolgt von Acht. Beide Robotguerillas landeten unmittelbar vor dem Orxeyaner. »Ich weiß jetzt, was mit Acht geschehen ist«, schnarrte Diglfonk eilfertig. »Dieses Tier verfügte über besondere Kräfte halb magischer Natur, mit denen es Teile unserer künstlichen Gehirne lahmlegen
konnte. Dabei bestand allerdings auch die Gefahr, daß es, innerhalb gewisser Grenzen natürlich, zu Fehlschaltungen kommen …« »Verstehst du unter ›gewissen Grenzen‹ auch die Brandrodung eines ganzen Waldgebiets?« fauchte Synk ungehalten. »Mir scheint, du tickst noch immer nicht richtig.« »Ich habe soeben Verbindung zu Eins bis Sieben und Neun bis Zwölf aufgenommen«, erwiderte Diglfonk. »Sie bedauern, was vorgefallen ist und haben jegliche ungewollte Tätigkeit bereits eingestellt.« »Das bringt uns unsere Yassels auch nicht zurück. Sollen wir vielleicht zu Fuß bis in die Barriere laufen?« »Selbstverständlich nicht, Herr. Ich gebe Anweisung, die Reittiere wieder einzufangen.« »Wir warten darauf«, donnerte Synk. Kolphyr legte ihm besänftigend eine Hand auf die Schulter und schürzte die Lippen. »Sie tun bestimmt ihr Bestes«, sagte er. »Ach was.« Synk schüttelte sich ab. »Überall wo Roboter auftauchen, gibt es nur Unglück und Verwirrung. – Habe ich es nicht gesagt? Verdammt, Bördo, bleib hier!« Aber der Junge wollte ihn nicht mehr hören. Er rannte hinter Fenrir her, der mit einigen Sätzen tiefer im Wald verschwand und dabei ein drohendes Bellen hören ließ. »Muß man denn auf jeden aufpassen?« schimpfte Synk. »Ihm geschieht schon nichts«, meinte Koy besänftigend. »Immerhin ist er Sigurds Sohn.« »Das hat gar nichts zu bedeuten. Fenrir muß irgendeine Gefahr gewittert haben.« »Ich habe eine Ortung«, meldete Diglfonk überraschend. »Sehr schwach zwar, aber eindeutig aus der Richtung, in der die beiden verschwunden sind.« »Was ist es?« »Dieselben halbmagischen Impulse, wie der Riesenwurm sie
abgegeben hat.« Sator Synk zögerte nicht eine Sekunde lang. »Hinterher!« schrie er, und Leenia, Koy und Kolphyr folgten ihm. * Wie ein Berserker schlug und trat er um sich. Unter seinen Stiefeln zerquetschte er zuckende Leiber, das Schwert bohrte sich in gierig aufgerissene Mäuler, und mit dem Schild schmetterte er sie zur Seite. Dennoch war die Übermacht erdrückend. Von allen Seiten kamen sie, flink und wendig, und sie lernten schnell. Vor allem seine Beine waren das Ziel ihrer blitzschnellen Vorstöße. Schon blutete Balduur aus vielen winzigen, aber tiefen Wunden. Endlich gelang es ihm, den Wurm abzustreifen, der sich in seinem Schwert verbissen hatte. Die Klinge mähte die Angreifer reihenweise nieder, und die aufgeschlitzten Körper ließen den Boden schlüpfrig werden. Balduur mußte nun auch um einen sicheren Stand kämpfen. Für jedes Tier, das er tötete, schienen zwei neue auf ihn zuzukriechen. Obwohl das Gelege, das er zerstört hatte, groß gewesen war, konnte es doch keinesfalls so viele Eier enthalten haben, denn es wimmelte förmlich von meterlangen Würmern. Sicher existierten mehrere solcher Erdhaufen. Deshalb glaubte Balduur auch nicht, daß ausgerechnet durch sein Erscheinen das Schlüpfen ausgelöst worden war. Die Eier mochten wochenlang unter der wärmenden Schicht aus Moos und Erde gelegen haben, und während dieser Zeitspanne hatten die Würmer sich entwickelt. Balduur horchte auf. In das Rascheln, mit dem sich die geschuppten Körper über den Boden schlängelten, mischte sich ein anderer, bekannter Laut. Das langgezogene Heulen eines Wolfes. »Fenrir!« Für die Dauer eines Herzschlags hielt der Sohn Odins
ein, dann schlug er verbissener um sich als zuvor. Da war es wieder. Lauter und nicht mehr allzu weit entfernt. Nur Augenblicke später erschien ein großer grauer Schatten zwischen den Bäumen. »Fenrir«, rief Balduur noch einmal. Ihre Blicke kreuzten sich, und während der Wolf drohend den Rachen aufriß, mußte der Sohn Odins daran denken, daß er dieses prächtige Tier beinahe getötet hätte. Damals, als er vor Schmerz über den Verlust seiner geliebten Opal kaum noch hatte klar denken können. Und nun? Balduurs erster Gedanke war, daß er Fenrir nun wohl für immer verlieren würde, und er fühlte so etwas wie Wehmut in sich aufsteigen. Aber dann mußte er erkennen, daß der Wolf den scharfen Zähnen der Würmer geschickt auswich, als wüßte er um deren Gefährlichkeit. Ein Tier nach dem anderen packte Fenrir im Genick. Er biß ihnen die Köpfe ab, war mal hier mal dort, aber nie länger als wenige Sekunden auf einem Fleck. Endlich war es Balduur möglich, eine Bresche in die sich windenden Leiber zu schlagen. Sein Schwert säte reichlichen Tod. Aber plötzlich hielt Fenrir inne und lief einige Schritte in den Wald zurück. Balduur bemerkte es und wandte sich ebenfalls um. Ein Junge stand da, keuchend die Arme vor den Leib gepreßt. »Bördo«, entfuhr es dem Recken. Der Junge sah ihn aus großen Augen an. »Wo ist mein Vater?« kam es über seine Lippen.
4. Auch Koratzo konnte den Blick nicht abwenden. Da seine magischen Sinne versagten, wußte er nicht, was sich innerhalb der fast vollkommenen Schwärze abspielte. Eigentlich waren es nur Bruchteile von Sekunden, die dieser Zustand währte, doch den Magiern erschienen sie wie eine kleine Ewigkeit. Hatten sie gehofft, die beiden Neffen würden sich gegenseitig auslöschen, so wurden sie bitter enttäuscht. Duuhl Larx war noch immer von seiner flammenden Sphäre umgeben, als er sich jetzt aus dem Gleiter löste und langsam in die Höhe stieg. Trotz des heftigen Zusammenpralls schien er ganz und gar unversehrt geblieben zu sein. Auch Thamum Gha wies keinerlei Verletzungen auf, soweit dies auf die Entfernung hin zu erkennen war. »Was mag geschehen sein?« Duuhl Larxʹ Absicht war es gewesen, den anderen umzubringen, das hatte er schon auf Pthor zu erkennen gegeben. Daß der Herrscher über das Guftuk‐Revier noch lebte, schien zu bedeuten, daß er einen Fehlschlag erlitten hatte. Tatsächlich zögerte Duuhl Larx noch, denn er verharrte nur wenige Meter über dem Gleiter. Plante er einen zweiten Angriff? Koratzo war der erste, der die Veränderung spürte: Etwas stimmte nicht mit Thamum Gha. »Der Neffe ist anders geworden«, sagte er zu Copasallior. »Ich fühle es, und die Wahrnehmung wird ständig deutlicher. Fast möchte ich meinen, daß er seine Persönlichkeit eingebüßt hat.« Der Weltenmagier zuckte nur mit den Schultern. »Vielleicht sollten wir hingehen und nachsehen.« »Und wenn Duuhl Larx damit nicht einverstanden ist«, wandte Koratzo ein. »Dann wird er uns zurückschicken, und wir werden gehorchen.
Aber versuchen sollten wir es wenigstens. Möglicherweise bietet sich uns eine Gelegenheit zur Flucht, oder wir können die beiden gegeneinander ausspielen.« Koratzo schien zu lauschen. Mit den Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen. Allmählich wichen die Schmerzen von ihm, die ihn seit der Begegnung der Neffen quälten. Undeutlich glaubte er zu hören, was einige Ugharten in seiner Nähe dachten. Aber es war verworrenes Zeug, aus dem er nicht schlau wurde. Trotzdem fühlte er sich irgendwie an ein ganz bestimmtes Ereignis erinnert. Und da war noch etwas. Seine vorsichtig tastenden Sinne griffen ins Leere, wo eigentlich das Böse sein sollte. Es war nicht mehr vorhanden. – Jedenfalls dort, wo Thamum Gha sich befand. Aber der Neffe lebte noch. Ganz schwach hörte der Stimmenmagier seine Gedanken. Der Herrscher über das Guftuk‐Revier, Herr über Leben und Tod von Milliarden intelligenter Lebewesen, rief um Hilfe. Die Entfernung war zu groß, um seine schwächer werdende Stimme verstehen zu können, doch Koratzo machte sie für den Weltenmagier hörbar. Thamum Gha schien den überraschenden Angriff auf sich nicht verwinden zu können. Es mußte ein Schock für ihn gewesen sein, sich plötzlich einem gleichwertigen Gegner gegenüberzusehen, noch dazu auf Lamur, der Hauptwelt seines Reviers, auf der er sich sicherer fühlen durfte als irgendwo sonst. Völlige Verzweiflung kennzeichnete seinen jetzigen Zustand. Seine Schreie klangen wie die eines Sterbenden, der sich ein letztes Mal gegen sein Schicksal aufbäumt und alle Kraft zusammennimmt, um dem Tod doch noch zu entgehen. Dabei war Thamum Gha nicht im geringsten verletzt worden. Das bewiesen allein schon die Gedankenfetzen, die Koratzo auffing. »Da«, rief Copasallior und streckte einen Arm aus. »Duuhl Larx
entfernt sich. Ich glaube, er kehrt zur HERGIEN zurück.« Tatsächlich verschwand die leuchtende Sphäre nun schnell in der Ferne. Ungläubig starrten die Magier hinterher. Fast war es ihnen, als würde sich eine unsichtbare Fessel ein wenig lockern. »Er hat uns vergessen«, murmelte Koratzo. »Das gibt es doch nicht – oder?« »Wir sollten uns jetzt um Thamum Gha kümmern«, gab Copasallior zurück. Er sprang in den offenstehenden Einstieg des Gleiters, und Koratzo folgte ihm. Der Ugharte saß noch immer reglos vor den Kontrollen. Er gehorchte den Befehlen der Magier, ohne daß diese ihre Magie anwenden mußten. Der Gleiter startete mit höchsten Beschleunigungswerten und landete nur wenige Augenblicke später neben dem beschädigt auf der Piste liegenden Fahrzeug des Neffen. »Sieh dir das an!« Koratzo deutete durch die Scheiben der Kanzel nach draußen. Von hier aus bot sich ein wesentlich besserer Überblick über das Hafengelände, als aus der unmittelbaren Nähe des Frachters, wo Landestützen und riesige Stapel ausgeladener Waren die Sicht zum Teil versperrten. »Sie laufen umher wie eine aufgescheuchte Herde junger Ortnys«, stellte Copasallior fest. »Keiner von ihnen scheint recht zu wissen, was geschehen ist.« Tatsächlich herrschte auf dem Landefeld eine deutliche Verwirrung. Ugharten rannten ziellos durcheinander; irgendwo starteten einige Gleiter, stiegen fast senkrecht in den sich wieder mit düsteren Wolken überziehenden Himmel und verschwanden in der Ferne. Niemand kümmerte sich um die HERGIEN, obwohl auch dort plötzlich Ugharten waren. »Das sind die Besatzungen der gelandeten Schiffe«, erklärte Koratzo. »Sie wurden durch einen Alarm aufgeschreckt, sind sich aber nicht schlüssig, was nun zu tun ist.« »Kannst du ihre Gedanken hören?« »Nur sehr schwer. Irgend etwas liegt über dem Gelände, das sich
störend auswirkt – eine böse Kraft, die große Ähnlichkeit hat mit der Ausstrahlung eines Neffen.« Thamum Gha befand sich noch immer in seinem offenen Gleiter. Allerdings war er allein, von den ihn begleitenden Ugharten war weit und breit nichts zu sehen. Koratzo hob eine Strahlwaffe auf, die unmittelbar neben dem Fahrzeug lag. »Sie müssen in panischem Entsetzen geflohen sein«, sagte er. »Wenn man bedenkt, in welch jämmerlichem Zustand sich der Neffe befindet, ist das nicht weiter verwunderlich.« Copasallior nickte nur. Zielstrebig ging er weiter und stieg schließlich in den Gleiter. Der Robotpilot war zerstört, schwelende Trümmerstücke lagen meterweit verstreut. Wahrscheinlich hatte Duuhl Larx ihn zuerst ausgeschaltet und die Maschine dadurch zum Absturz gebracht. Nicht die kleinste Wunde war an Thamum Ghas mächtigem Körper zu sehen. Trotzdem schrie und jammerte der Neffe, als wäre sein Ende bereits greifbar nahe. »Ihm fehlt nichts«, stellte Koratzo fest, »wenn man davon absieht, daß seine negative Ausstrahlung verschwunden ist. Ein wenig erinnert mich das an den Schwarzschock. Auch Chirmor Flog hat das Böse, das in ihm steckte, abgeben müssen, ohne aber deshalb gleich zu sterben.« Copasallior winkte verächtlich ab. »So sind sie alle«, sagte er leise. »Das Leben eines einzelnen oder gar eines Volkes bedeutet ihnen nichts, doch wenn es ihnen an den eigenen Kragen geht, brechen sie zusammen und verlieren die Nerven.« »Ich glaube nicht, daß Duuhl Larx einen zweiten Angriff wagen wird, nachdem inzwischen wahrscheinlich halb Lamur in Aufruhr geraten ist«, erwiderte Koratzo. »Sicher will er mit der HERGIEN den Planeten schnellstens verlassen. Er wird die Rache der Ugharten fürchten, und vielleicht bietet er in diesem Augenblick ein noch
minder erbarmungswürdiges Bild als Thamum Gha.« »Wir könnten den Neffen töten«, überlegte Copasallior. »Vielen Völkern würden wir damit einen großen Gefallen erweisen.« Über Koratzos Gesicht huschte ein Grinsen. Langsam hob er die Strahlwaffe und richtete sie auf Thamum Gha, während sein Finger sich dem Auslöser näherte. Hatte der Neffe bisher keine Notiz von ihnen genommen, so riß er jetzt etliche seiner Arme hoch und streckte sie abwehrend von sich. Das dritte Auge auf seiner Stirn veränderte sich – die dunkelblaue Pupille verschwand fast völlig, und die bislang schmale, gelbe Iris wurde beherrschend. Ein Ausdruck tiefempfundener Furcht? Thamum Gha murmelte irgend etwas Unverständliches, aber seine Stimme klang längst nicht mehr so dumpf und drohend, wie dies bislang der Fall gewesen war. Koratzo senkte die Mündung der Waffe wieder. Angesichts des schlimmen Zustands, in dem der Herrscher über das Guftuk‐Revier sich befand, empfand er keine Rachegelüste. »Was hilft es, wenn ich ihn umbringe«, sagte er. »Niemandem wäre damit geholfen, denn der Dunkle Oheim würde innerhalb kürzester Frist einen neuen Neffen schicken. Ich glaube, daß Thamum Gha uns lebend viel mehr von Nutzen sein kann. Ob freiwillig oder nicht, er wird uns sagen müssen, was er über den Dunklen Oheim weiß und was dieser mit Pthor vorhat. Eine solche Gelegenheit bietet sich vielleicht nie wieder. Sollen wir sie ungenutzt verstreichen lassen und uns später deswegen Vorwürfe machen?« »Glaubst du, es schaffen zu können?« fragte Copasallior. »Sobald der Neffe sein Entsetzen und die Furcht, die er noch empfindet, überwunden hat. Alles, was ich dazu brauche, ist Zeit.« Copasallior deutete über das Landefeld. »Hier werden wir nicht mehr lange Ruhe haben«, sagte er. »Dort hinten kommen die ersten Ugharten. Ich schaffe Thamum Gha in unseren Gleiter, dann verschwinden wir von hier.«
Doch der Weltenmagier sollte nicht mehr dazu kommen, seinen Entschluß auszuführen. Er war gerade im Begriff, den für einen gemeinsamen Schritt durch das Nichts erforderlichen Körperkontakt herzustellen, als sich Thamum Ghas Haltung schlagartig veränderte. Koratzos warnender Aufschrei kam zu spät. Einer der insgesamt zwanzig aus dem Oberkörper des Neffen hervorwachsenden Arme, ein biegsamer, muskulöser Tentakel, traf Copasallior mit der Wucht einer Peitsche an der Schläfe. Ohne einen Laut von sich zu geben, stürzte der Magier wie vom Blitz gefällt zu Boden. Dafür richtete Thamum Gha sich auf. Er schrie nicht mehr. In seine Augen trat ein Ausdruck größten Erstaunens, so als könne er nicht begreifen, was mit ihm geschehen war. Er betrachtete Koratzo nicht. Sein Blick richtete sich auf einen Punkt, der irgendwo hinter dem Stimmenmagier lag. Gleichzeitig öffnete er den Mund zu einem wüsten Fluch. Koratzo spürte, daß etwas geschah, worauf er keinen Einfluß nehmen konnte. Die Gedanken des Neffen entglitten seinen magischen Sinnen. Das einzige, was er noch wahrnahm, bevor seine Kräfte erneut versagten, war eine jäh aufflammende Hoffnung und schier grenzenloser Haß. Thamum Gha wurde zusehends stärker, wenngleich er auch jetzt nur eine schwache negative Aura ausstrahlte. Deutlich fühlte der Stimmenmagier, daß diese nicht von dem Neffen kam, sondern … Koratzo wirbelte herum. Verstehen und Enttäuschung zugleich zeichneten sich in seinen Zügen ab. Nur wenige hundert Meter hinter ihm schwebte ein großer, kastenförmiger Roboter. Wegen seiner grauen Färbung verschmolz er fast mit den Wolken im Hintergrund und war eigentlich nur durch seine Bewegung auszumachen. Er kam schnell näher. Eindeutig von ihm ging diese bösartige Strahlung aus.
»Wallcorm«, murmelte Thamum Gha leise, und im selben Augenblick wußte Koratzo, daß er den Gersa‐Predogg, den persönlichen Berater des Neffen vor sich hatte, der wahrscheinlich, wie alle anderen Roboter dieses Typs, aus dem Zentrum der Schwarzen Galaxis stammte. Krampfhaft hielt der Magier die erbeutete Strahlwaffe umklammert. Aber er wagte nicht zu schießen. Seine Erfahrung sagte ihm, daß er damit allein nichts würde ausrichten können. Er hörte nicht einmal mehr die Gedanken der näherkommenden Ugharten. Alles versank wie unter einem dichten Nebel. In einem Anflug von Panik versuchte Koratzo, die Laute der Vernichtung auf den Gersa‐Predogg zu richten. Es gelang ihm nicht. Doch dafür tobten plötzlich wahnsinnige Kopfschmerzen durch seinen Schädel. Da war es wieder, das unbeschreiblich Böse, dessen Ansturm ihn taumeln ließ. Aber nicht von Thamum Gha ging es aus, sondern von Wallcorm, der bis auf wenige Meter herangekommen war. Schwärze griff nach Koratzo. Der Raumhafen von Gaudhere verschwamm vor seinen Augen, und mit ihm zusammen verschwanden Dinge, die eben noch bedeutungsvoll gewesen waren. Der Stimmenmagier glaubte zu schweben. Noch fühlte er, daß die Empfindung nicht seine eigene war, aber er war bereits zu schwach, um sich dagegen zu wehren. Immer schneller und immer höher wirbelte er davon, schwerelos, gleich einer Feder im Orkan, die nirgendwo Ruhe findet. Er vermochte nicht zu sagen, ob es Sekunden waren oder Ewigkeiten, aber als die wallenden Nebel dann schwanden, schwebte er irgendwo im Nichts. Koratzo schrie, doch kein Laut drang über seine Lippen. Er achtete kaum auf die innere Stimme, die ihm einreden wollte, daß alles nur ein Trugbild sei. Wer bin ich? Beinahe schmerzhaft traf ihn die Frage nach dem
eigenen Ich. Er wußte keine Antwort darauf, weder auf diese noch auf die anderen Fragen, die nacheinander in seinem Bewußtsein entstanden, ohne daß er selbst sie formte. Aber er begann nachzudenken, weil sie ihm keine Ruhe ließen. Schattenhafte Erinnerungen zogen an ihm vorüber. Da waren Berge, schroff und schneebedeckt, andere bis in die höchsten Höhen von bunten Blumen bewachsen. Und sieben Gipfel, um die sich seine Gedanken immer wieder von neuem drehten. Pthor! flüsterte es in ihm. Du kommst aus diesem Land, das den Bemühungen zweier Neffen widerstand. Der Name erschreckte ihn, war er doch mit Unangenehmem verbunden. Scuddamoren, Trugen und Organraumschiffe – ja, er wußte, was damit gemeint war. »Der Dimensionsfahrstuhl«, brachte er leise hervor, aber der Klang seiner Stimme erreichte nie sein Ohr. Er stutzte. Seine Umgebung schien von Magie geprägt, so wie die Speicher am Skatha‐Hir, von denen Wohl und Wehe der Großen Barriere abhing. Niemals hätte es geschehen dürfen, daß die negativen von euch in die Verbannung geschickt wurden. Nur deshalb konnte die Entwicklung auf Pthor einen Weg nehmen, der nie vorgezeichnet worden war. Nicht nur der Vonthara hat versagt, nun richten auch die Neffen des Dunklen Oheims ihre Kräfte gegeneinander. Wieder kam die Schwärze, die sich scheinbar zu einem Ring zusammenballte und ihn einhüllte. Schier unerträglich wurde der Eindruck des Bösen, der davon ausstrahlte. Koratzo schauderte. Plötzlich wußte er wieder seinen Namen, auch daß Duuhl Larx ihn und Copasallior zu seinen Sklaven gemacht und verkündet hatte, daß er Thamum Gha töten würde, um seine Macht zu vergrößern. *
Der Stimmenmagier lag in verkrümmter Haltung auf den Polstern des Gleiters, als er wieder zu sich kam. Leer und ausgebrannt fühlte er sich, konnte sich jedoch an alles erinnern, was im Lauf der letzten Minuten geschehen war. Denn daß er kaum längere Zeit bewußtlos gewesen war, bewies ihm ein rascher Blick in die Runde. Unmittelbar vor ihm stand der Gersa‐Predogg, von dem neue Kräfte auf Thamum Gha überströmten. Wahrscheinlich nur deshalb war die Nähe des Roboters überhaupt zu ertragen. Der Neffe hatte sich vollends aufgerichtet und starrte zur HERGIEN hinüber. »Duuhl Larx ist eine Gefahr für die Schwarze Galaxis geworden«, sagte er. »Wir müssen ihn beseitigen.« Noch fühlte Koratzo seine Glieder schwer wie Blei, und nur langsam gewann er die Kontrolle über sie zurück. Aber seine Gedanken überschlugen sich bereits. Er wußte, daß er einem Verhör unterzogen worden war. Thamum Gha selbst war noch immer zu schwach. Also mußte der kastenförmige Roboter dahinterstecken, mit dessen Erscheinen niemand gerechnet hatte. An diesem Punkt seiner Überlegungen angelangt, zögerte Koratzo erstmals. Undeutlich erinnerte er sich daran, daß Duuhl Larx während des Anflugs auf Lamur die Galionsfigur der HERGIEN nach Wallcorm gefragt, jedoch keine zufriedenstellende Antwort erhalten hatte. Demnach schien der Neffe zumindest um die Gefahr gewußt zu haben, die von dem Roboter ausging. Triebwerkslärm ließ den Stimmenmagier aufsehen. Aber er konnte nicht erkennen, was da über den Raumhafen hinwegraste, weil die tief hängenden Wolken es vor seinen Blicken verbargen. Im nächsten Moment blitzte es drüben bei der HERGIEN grell auf. Sonnenhelle Energiestrahlen schlugen rings um das Organschiff ein. Erst jetzt bemerkte Koratzo, daß die HERGIEN in einen Schutzschirm gehüllt war. Duuhl Larx mußte den Angriff vorhergesehen haben. Doch weshalb startete er nicht?
Der Lotse der HERGIEN erwiderte den Feuerschlag. Irgendwo über den Wolken, schon etliche Kilometer entfernt, erfolgte eine heftige Explosion. Noch konnte der Neffe sich wirksam verteidigen. Aber sobald die ersten Raumschiffe in den Kampf eingriffen, würde er einen verdammt schweren Stand haben. Koratzo wußte nicht zu sagen, weshalb er sich darüber den Kopf zerbrach. Eigentlich hätte ihm Duuhl Larxʹ Schicksal egal sein können. Stöhnend kam Copasallior wieder zu sich. Niemand hinderte ihn daran, daß er sich mühsam erhob. Mit vier Händen gleichzeitig mußte er sich abstützen, um nicht erneut zu fallen. Sein Gesicht war aschfahl. Als er Koratzo aus seinen versteinert wirkenden Augen anblickte, wußte dieser sofort, daß man auch den Weltenmagier einem lautlosen Verhör unterzogen hatte. Offenbar verfügte der Gersa‐Predogg über Kräfte, die es ihm erlaubten, selbst Magier zu beeinflussen. Ob dies allerdings unter anderen Umständen auch möglich gewesen wäre, wagte Koratzo zu bezweifeln. Wallcorm packte den Weltenmagier an der Schulter und zwang ihn herum. Koratzo registrierte die Erregung, die Copasallior dabei ergriff. Aber auch er selbst wurde unruhig. Weshalb ließ Thamum Gha sie noch immer am Leben? Doch nur, um sie gegen seinen Widersacher aus dem Rghul‐Revier einzusetzen. Nur den Magiern würde es möglich sein, in Duuhl Larxʹ Nähe zu gelangen. Die Worte des Gersa‐Predogg gaben ihm endlich letzte Gewißheit. Wallcorm forderte Copasallior auf, sich an Bord der HERGIEN zu begeben. Aber der Weltenmagier schaffte es noch nicht. In der augenblicklichen Verfassung war er unfähig, Duuhl Larx in irgendeiner Weise zu schaden. Auf der einen Seite hätten beide Magier alles dafür getan, um wieder nach Pthor zurückkehren zu können, auf der anderen waren
die Befehle des Neffen nach wie vor wirksam und ließen nicht einmal passiven Widerstand zu. Erneut rissen glühende Energiefinger die Wolkendecke auf und leckten gierig nach der HERGIEN. Der Schutzschirm absorbierte die Treffer mühelos. Dann feuerten die Geschütze des Organschiffs. Koratzo zählte fünf kurz hintereinander erfolgende Detonationen. In unmittelbarer Nähe schlugen brennende Trümmer auf. Erregt fuchtelte Thamum Gha mit einer Vielzahl seiner Arme in der Luft herum. Der Gersa‐Predogg redete ununterbrochen auf ihn ein. Der Stimmenmagier verstand plötzlich, weshalb die HERGIEN nur von leichten Kampfgleitern aus angegriffen wurde. Thamum Gha hatte kein Raumschiff in der Luft. Und jeder Startversuch wäre von der HERGIEN aus sofort mit Waffengewalt beendet worden, denn gerade in dieser Phase war ein Organschiff am leichtesten zu verletzen. Selbst die THEISIS wäre bei einem solchen Versuch zumindest schwer angeschlagen worden. Andererseits bestand aber auch für Duuhl Larx vorerst keine Chance, von Lamur zu entkommen. Er hatte zu lange gezögert. Nur der Tod Thamum Ghas konnte ihm noch einen entscheidenden Vorteil bringen. Der Neffe wirkte mit seiner Größe von gut und gerne drei Metern und seine unzähligen verschiedenartigen Gliedmaßen imposant. Aber Koratzo ahnte, daß er nicht viel mehr war als eine leere, ausgebrannte Hülle. Nur die Nähe seines Gersa‐Predogg schien ihn überhaupt noch auf den Beinen zu halten. Ihm fehlte der Funke, der sein Leben lebenswert machte. Und dieser Funke war das Böse an sich, die Ausstrahlung, die auch Wallcorm ihm nicht innerhalb von Minuten neu verleihen konnte. Während der Stimmenmagier noch überlegte, wurde eine fremde Stimme laut. Sie kam aus einem Lautsprecher des Gleiters, den der Roboter wohl mittels Funkimpuls aktiviert hatte. Koratzo fühlte einen Schauder über seinen Rücken hinunterrieseln. Die Stimme weckte ganz bestimmte Erinnerungen
in ihm. Es war die Galionsfigur eines Organschiffs, die scheinbar verzweifelt nach der Kontrollstelle rief. Wahrscheinlich befand sie sich im Anflug auf den Raumhafen von Gaudhere. Der Neffe zog ein Mikrophon zu sich heran. »Hier spricht Thamum Gha«, sagte er. »Kannst du mich hören, Krileis?« »Ich verstehe dich«, antwortete die zarte Stimme. »Was ist geschehen? Meine Besatzung reagiert nicht mehr. Hängt das mit dem Alarm zusammen, der gegeben wurde?« »Unwichtig«, antwortete der Neffe barsch. »Deine Position?« »Im Augenblick zweihundert Kilometer über Gaudhere.« »Hast du das Organschiff in der Ortung, das von meinen Robotgleitern angegriffen wird?« »Es steht im westlichen Sektor.« »Du mußt es vernichten.« »Allein auf mich gestellt, kann ich keinen Angriff fliegen«, erwiderte die Galionsfigur. »Du mußt!« Thamum Gha unterbrach die Verbindung. Ein triumphierendes Lachen war in seinem Gesicht, als er die beiden Magier ansah. Koratzo fühlte, daß er zu zittern begann. Was nun geschehen würde, durfte er nicht zulassen. Du, Koratzo, wirst jeden Gegner töten, der auch nur die Hand gegen mich erhebt, hämmerte es in seinem Gehirn. Der Gersa‐Predogg war der Feind, den es zu vernichten galt. Nur er gab Thamum Gha noch die Kraft, einen Angriff zu befehlen. Aus weiter Ferne erklang das Donnern auf Gegenschub arbeitender Triebwerke. Der Stimmenmagier versank in eine körperliche Starre, die Ausdruck war seiner fast schon übermenschlich zu nennenden Konzentration. Er fühlte, daß auch Copasallior nicht tatenlos zusah. Es bedurfte keiner großen Anstrengung, um seine Kräfte und die
des Weltenmagiers zusammenzuführen. Im Verbund waren sie um ein Vielfaches stärker, und sie schlugen zu, ohne zu zögern. Das anfliegende Raumschiff näherte sich schnell. Jeden Augenblick konnte es durch die Wolken brechen und etliche Breitseiten abfeuern. Unbewußt wartete Koratzo auf diesen Moment. Ihn interessierte das Schicksal gerade dieses Organschiffs. Würde es den Schutzschirm der HERGIEN wirklich aufbrechen können? Seine Laute der Vernichtung richteten sich auf Wallcorm, glitten aber an dem Roboter ab, wie ein schräg geworfener Kieselstein auf der Oberfläche eines Sees abprallt. Die Luft über dem Raumhafen schien aufzuglühen, als eine Salve aus mindestens einem halben Dutzend Schiffsgeschützen die HERGIEN traf. Ugharten, die sich in unmittelbarer Nähe aufhielten, vergingen in der sich ausbreitenden Hitzewelle. Vielleicht wäre der Angriff sogar ein Erfolg geworden, hätte auch die THEISIS eingreifen können. Aber zwischen ihr und der HERGIEN standen zwei Frachter. Wallcorm schien bemerkt zu haben, daß die Magier ihre Kräfte gegen ihn richteten. Koratzo taumelte unter dem unerwarteten Anprall des Bösen. Instinktiv fühlte er, daß Copasallior und er verloren waren, wenn es ihnen nicht gelang, den Roboter umgehend unschädlich zu machen. Jetzt feuerte auch die HERGIEN. Ihr Schutzschirm glühte bereits in einem düsteren Rot und erinnerte Koratzo an die flammende Sphäre, von der Duuhl Larx eingehüllt wurde. Plötzlich war da eine fremde Stimme, gegen die er sich nicht zur Wehr setzen konnte. Sie kam aus seinem tiefsten Innern, vom Grund seiner Seele, und sie befahl ihm, Duuhl Larx zu retten, selbst unter Einsatz des eigenen Lebens. Koratzo wuchs förmlich über sich selbst hinaus. Seine Magie glitt nicht mehr an Wallcorm ab; einzelne Teile des Roboters begannen sich tatsächlich aufzulösen.
Thamum Gha kreischte auf, als er schlagartig von den Impulsen des Gersa‐Predogg abgeschnitten wurde. Wallcorm benötigte seine Kräfte, um sich wirksam verteidigen zu können. Noch einmal fühlte Koratzo den Ansturm unsagbar bösartiger Impulse. Aber die Schmerzen, die sie hervorriefen, blieben erträglich. In diesem Augenblick schlug Copasallior zu. Koratzo wußte später nicht zu sagen, ob er den grauenvollen Aufschrei wirklich gehört, oder ob er ihn sich nur eingebildet hatte. Jetzt jedoch glaubte er, Thamum Gha schreien zu hören wie jemand, der sich in höchster Todesnot befindet. Der Gersa‐Predogg verschwand, tauchte etliche Meter entfernt wieder auf und wurde erneut halb durchsichtig. Die Luft um ihn herum flimmerte. Dann, von einer Sekunde zur anderen, war der Platz, an dem Wallcorm eben noch gestanden hatte, leer. Ächzend brach Thamum Gha zusammen. Mit einem Schlag schien er jeglichen Lebenswillen verloren zu haben. Der Lärm über dem Raumhafen steigerte sich ins schier Unerträgliche. Ein glühendes Fanal durchbrach die aufreißende Wolkendecke. Es war das angreifende Organschiff. Aber keine Energieschüsse lösten sich mehr aus seinen Projektoren. Auf den ersten Blick waren die schweren Beschädigungen zu erkennen. Teile der Außenhaut fehlten völlig, im Innern des Raumers brannte es. Wie ein Stein fiel das Schiff fast senkrecht in die Tiefe. Ein Absturz mußte verheerende Folgen nach sich ziehen, den kaum jemand im Umkreis von vielen Kilometern überleben konnte. Koratzo sah, daß der Weltenmagier ihm eine Hand entgegenstreckte.
5. »Wo ist Sigurd?« wiederholte Bördo gereizt, als Balduur ihm nicht sofort antwortete. Doch der Sohn Odins ging nicht auf die Frage ein. Keuchend schwang er noch immer sein Schwert, und jeder Schlag kostete einem Wurm das Leben. Es waren wenige geworden, die sich ihm noch entgegenreckten. Die letzten überließ er Fenrir, der ihren spitzen Zähnen immer wieder geschickt auswich. Mit dem Handrücken wischte Balduur sich den Schweiß aus dem Gesicht. Dann erst wandte er sich erneut dem Jungen zu, der ihn ungehalten anfunkelte. »Dein Vater ist nicht hier«, sagte er. »Wir haben uns getrennt, weil unser Weg nicht derselbe ist.« Bördo gebrauchte einen Fluch, woraufhin Balduur irritiert die Brauen zusammenzog. »In deinem Alter, mein Junge, habe ich noch kein so forsches Benehmen an den Tag gelegt. Was machst du überhaupt allein hier? Pthor ist unsicher geworden, und wie leicht könnte dir etwas zustoßen.« »Deine Belehrungen kannst du dir sparen«, erwiderte Bördo gereizt. »Ich weiß sehr gut auf mich aufzupassen.« »Du solltest dennoch nicht …« begann Balduur erneut, wurde aber sofort unterbrochen. »Bisher hast du es nicht für nötig gehalten, dich um mich zu kümmern – genauso wenig wie deine Brüder. Nun pfeife ich auf deine Vorschriften.« Balduur, der kräftige Recke, stand da und wußte nichts darauf zu erwidern. Fast wirkte er ein wenig hilflos. Seine fahrige Handbewegung sollte wohl eine Entschuldigung ausdrücken. »Die Zeiten haben sich geändert«, begann er schließlich. »Die Zeiten?« Bördo stampfte wütend auf. »Ich glaube eher, daß
die Söhne Odins sich verändert haben. Was ist nur aus ihren Idealen geworden? Fremde herrschen über Pthor, und niemand ist da, der den Kampf gegen sie aufnimmt …« »Du wirst ungerecht.« Bördo wollte noch etwas sagen, unterbrach sich aber, weil hinter ihm plötzlich Schritte laut wurden. Während er herumwirbelte, sah er Balduur sein Schwert hochreißen. Aber es war nur Kolphyr, der sich mit der Gewalt eines Panzerstiers einen Weg durch den Wald bahnte. Der Riese blieb unvermittelt stehen, als er Balduur bemerkte. Aber erst die Kadaver der Würmer entlockten ihm einen überraschten Ausruf. Er sah sofort die Ähnlichkeit zwischen diesen kleinen Tieren und dem um etliches größeren, das von Koy getötet worden war. »Das also hat Diglfonk geortet«, sagte er. Dann wandte er sich Balduur zu: »Wo sind Heimdall und Sigurd? Doch hoffentlich nicht …« Er ließ den Satz offen, als er den Ausdruck des Erschreckens auf Bördos Gesicht bemerkte. Hinter Kolphyr kamen nun auch die anderen. Allen voran Sator Synk, der wirklich erleichtert schien, den Jungen unverletzt vorzufinden. »Du hier, Balduur?« fragte er erstaunt. »Ich hätte dich in der Nähe der FESTUNG vermutet, zusammen mit deinen Brüdern.« Der Sohn Odins wischte sein Schwert im dichten Moos ab, bevor er es in die Scheide zurückgleiten ließ. Beinahe unwillig wandte er sich dann wieder den anderen zu. »Ich habe mich von ihnen getrennt«, gab er zu verstehen. »Es ist wahrlich an der Zeit, sich zurückzuziehen, auch wenn Sigurd und Heimdall nicht ganz meiner Meinung sind.« »Gerade jetzt braucht Pthor eine starke Hand«, brauste Bördo auf. In Balduurs Blick lag eine bittere Selbsterkenntnis. Der Junge mochte ihn nicht verstehen, weil er in seinem Alter noch an Ideale glaubte. »Wenn die Dinge beginnen, einem über den Kopf zu wachsen«,
sagte der Sohn Odins nach einer Weile, »ist es an der Zeit, das Handeln anderen zu überlassen, die es besser machen.« »Du machst dir unberechtigt Vorwürfe«, wandte Koy ein. Balduur schüttelte den Kopf. »Die Erkenntnis ist bitter, aber meine Brüder und ich waren nichts weiter als der Spielball unheimlicher Kräfte. Wir haben vieles falsch gemacht, was wir früher hätten erkennen müssen. Was bleibt mir nun anderes übrig, als mich in die Einsamkeit zurückzuziehen? Die Erinnerungen an vergangene Zeiten werden mir helfen zu vergessen.« Bördo trat vor Balduur hin und stemmte die Fäuste in die Hüfte. »Du hast bloß Angst davor, die Verantwortung zu übernehmen für das, was geschehen ist. Ich schäme mich deiner.« Balduur ließ seine Rechte vorschnellen, aber Bördo bückte sich blitzschnell, und sein Onkel griff ins Leere. Im Nu war der Junge außer Reichweite. »Ich sollte dir das Fell versohlen, Bürschchen«, brummte der Recke. »Du bist ein wenig zu vorlaut.« »Und du faul und feige.« »Nicht, Balduur.« Kolphyr vertrat dem Sohn Odins den Weg. »Er soll nur kommen«, keifte Bördo. »Bestimmt ist er tapfer genug, um es mit einem Knaben aufzunehmen.« »Das geht zu weit«, ließ sich jetzt auch der Trommler vernehmen. »Ach was.« Bördo wurde immer wütender. »Ist Sigurd auch deiner Meinung, du Großmaul?« »Er ist es nicht«, sagte Balduur leise. »Und jetzt sei endlich still, ich will nichts mehr davon hören.« »Natürlich. Aber deine Brüder im Stich lassen, wenn sie dich brauchen, das kannst du.« Plötzlich hielt Bördo einen dicken Knüppel in Händen und traf Anstalten, sich auf Balduur zu stürzen. Sein erster Schlag ging zwar ins Leere, doch setzte er sofort nach. Da war Fenrir zwischen ihm und Balduur und fletschte die Zähne. Ein drohendes Knurren drang aus dem halb geöffneten Rachen des
Wolfes. Der Junge wollte ihn mit einer herrischen Handbewegung zur Seite scheuchen. »Hau ab, Grauer. Das geht dich nichts an!« Aber Fenrir blieb an seinem Platz. Aus unerfindlichen Gründen schien er ausgerechnet in diesem Augenblick beschlossen zu haben, sich wieder seines früheren Herrn anzunehmen und ihn zu verteidigen. Als Bördo den Knüppel hob, duckte er sich zum Sprung. Der Junge ließ den Arm dann wieder sinken. Fast gleichzeitig verstummte der Wolf, blieb aber weiterhin wachsam. Bördo schüttelte den Kopf. Tränen standen ihm in den Augen. »Warum tust du das?« murmelte er. »Weshalb beschützt du ihn?« Kolphyr trat hinzu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Bördo wollte zuerst aufbrausen, überlegte es sich dann aber doch anders. »Er wird seine Gründe dafür haben«, sagte der Bera. »Genauso wie du es für richtig hältst, dich mit Balduur zu schlagen, anstatt zu versuchen, ihn zu verstehen.« »Das kann man nicht vergleichen. Er hat meinen Vater im Stich gelassen.« »Du bist sturer als ein Maulesel.« »Und du stehst mir im Weg, Dicker.« Bördo holte aus und schlug Kolphyr mit der Faust in den Magen. Aber der Bera lachte nur. Und als der Junge nach seinen Beinen trat, genügte ein leichter Druck, und Bördo setzte sich unfreiwillig auf mehrere scharfkantige Steine. Endlich verstummte er, wenngleich seine wütenden Blicke mehr sagten, als Worte es in diesem Augenblick vermocht hätten. Balduur hielt ihm die Hand hin, aber Bördo tat so, als bemerkte er dies nicht. »Schade«, sagte der Sohn Odins. »Ich wollte dir gerade vorschlagen, daß wir gemeinsam zum Lichthaus zurückreiten. Dann kannst du selbst mit Sigurd sprechen, falls er noch dort ist.« »Wirklich?«
»Mein Wort gilt noch immer«, nickte Balduur. »Fenrir nehmen wir selbstverständlich mit«, fügte er hinzu, als der Wolf zu ihm aufsah. »Ich glaube«, sagte Bördo und erhob sich ächzend, »niemand wird etwas dagegen haben, wenn ich mit Balduur zusammen meinen Vater suche.« Leenia schüttelte den Kopf. »Wir können dich verstehen. Geh den Weg, den du glaubst, gehen zu müssen. Wir wünschen dir viel Glück.« »Eigentlich gibt es auch für mich anderes zu tun, als nach diesem mysteriösen Schiff zu suchen, das irgendwo in der Nähe der Barriere gelandet ist«, ließ Sator Synk sich plötzlich vernehmen. »Unser Land wartet auf jemanden, der es von den Invasoren säubert. Ich habe gegen die Eimerköpfe gekämpft und werde es auch mit diesen zotteligen Gestalten aufnehmen, die nun überall herumlungern.« »Allein wirst du nicht sehr viel ausrichten können«, gab Koy zu bedenken. Synk sah ihn erstaunt an. »Immerhin habe ich noch die Roboter«, erwiderte er. »Es scheint mein Schicksal zu sein, mit ihnen zusammen durch das Land zu ziehen. Eines Tages werde ich mich vielleicht sogar an sie gewöhnt haben.« »Du bist ein wahrer Held«, grinste Koy. Kolphyrs Einwand, daß möglicherweise Atlan mit dem kleinen Raumschiff nach Pthor zurückgekehrt sein könnte, wischte der Orxeyaner mit einer verächtlichen Geste beiseite: In diesem Fall hätte der Arkonide längst einen Weg gefunden, um sich mit seinen Freunden in Verbindung zu setzen. Wer immer sich also an Bord befunden hatte, es konnte weder Atlan noch Razamon sein. »Wenn du nichts gegen meine Begleitung einzuwenden hast, Sator«, sagte Leenia, »dann schließe ich mich dir an. Ich glaube, daß wir uns um die Magier nicht mehr zu kümmern brauchen. Sie stellen ja nun keine Gefahr mehr dar.«
Synk nickte. »Den Ugharten müssen wir auf die Finger sehen«, bestätigte er. Dann wandte er sich an den Bera: »Dich brauche ich bestimmt nicht zu fragen. Aber Koy …?« »Ich gehe mit Kolphyr«, entschied der Trommler. »Unser Ziel ist nach wie vor die Große Barriere von Oth.« Der Wind trug ihnen lauter werdendes Hufgetrappel zu. »Das werden Diglfonk und seine Guerillas sein, die unsere Yassels eingefangen haben«, behauptete Bördo spontan. »Was ist, Sator, weshalb macht du plötzlich ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter?« Es waren wirklich die Roboter, die die Reittiere vor sich her trieben. »Beeilt euch gefälligst«, rief Synk ihnen entgegen. »Wir müssen weiter.« Er hatte den Eindruck, daß Diglfonks Sehzellen heller leuchteten als jemals zuvor. Der Roboter richtete mehrere Tentakel auf die Überreste der von Balduur und Fenrir getöteten Würmer. »Sämtliche Ortungen sind erloschen«, schnarrte er. »Es scheint keine weitere Brut zu existieren.« »Zum Glück.« Balduur zeigte zum Waldrand hinüber. »Tiere, die ihren Appetit mit Metall stillen, sind mir zutiefst zuwider. Dort drüben liegt eine Spaccah, die deutlich die Spuren nadelscharfer Zähne zeigt. Sogar mein Schwert schien eine dieser Bestien für einen besonderen Leckerbissen zu halten.« Sator Synk ließ sein Yassel stehen, das er gerade besteigen wollte, und wirbelte herum. »Metall?« fragte er ungläubig, und ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Koy, sollte dir jemals wieder ein Riesenwurm über den Weg laufen, dann töte ihn bitte nicht. So ein Tier könnte mich von einer großen Plage befreien.« *
Grimand hatte die Höhle verlassen, in der er vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte, und war wieder auf dem Weg nach Norden. Je weiter er kam, desto unheimlicher wurde ihm das Land, durch das er sich bewegte. Vieles von dem, was die Ugharten über die Magier und die Große Barriere von Oth zu wissen glaubten, hatte er bisher für unwahrscheinlich gehalten. Aber nun, da er sich mit eigenen Augen überzeugen konnte, packte ihn die Furcht mit eisiger Hand. Grimand beschleunigte seinen Schritt. Das Schwert, das er in der Höhle gefunden hatte, hielt er fest umklammert. Ihn beruhigte allein schon das Gefühl, nicht völlig hilflos zu sein. Unverhofft tat sich eine Schlucht vor ihm auf. Etliche hundert Meter tief fiel der Fels fast senkrecht ab. Grimand hätte fliegen müssen, um auf die andere Seite zu gelangen. Suchend sah er sich um. Weiter im Osten zeichnete sich eine Verbindung zwischen den beiden Wänden ab. Vielleicht eine Brücke. Also kletterte Grimand weiter. Immer wieder brach lockeres Geröll unter seinen Füßen aus und polterte den Abhang hinunter. Und mehr als nur einmal konnte der Ugharte sich gerade noch im letzten Moment festklammern. Er schauderte, wenn er in den Abgrund blickte. Die Bäume, die dort unten wuchsen, wirkten winzig klein, dabei konnten sie durchaus mit jedem Urwaldriesen konkurrieren. Endlich wurde der Hang flacher. Eine dünne Schicht Erde und üppig wuchernde Pflanzen gaben besseren Halt. Grimand blieb stehen, um zu verschnaufen. Da er seinem Ziel nun schon wesentlich näher gekommen war, konnte er erkennen, daß es sich um eine Hängebrücke handelte, die im warmen Aufwind leicht schaukelte. Der heisere Schrei eines Raubvogels ließ ihn aufsehen. Hoch oben, im flirrenden Dunst des Tages, kreiste ein mächtiges Tier, dessen Flügelspannweite gut sechs Meter betrug. Flughäute
verliehen ihm von unten gesehen die Form eines Dreiecks. Der Ugharte kannte Flugsaurier von mehreren jungfräulichen Welten des Guftuk‐Reviers und wußte aus eigener Erfahrung von deren Gefährlichkeit. Aber einem solch großen Exemplar war er glücklicherweise nie begegnet. Das Tier verschwand hinter einer Wolke. Als Grimand es dann wieder entdeckte, kreiste es an ganz anderer Stelle und ließ sich langsam tiefer sinken. Wieder dieser gellende, durch Mark und Bein gehende Schrei. Der Ugharte schauderte. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht Hals über Kopf zu fliehen, denn es sah ganz so aus, als hätte die Echse ihn inzwischen entdeckt. Mit kräftigen Schlägen ihrer Schwingen kam sie näher. Grimands Hand umklammerte den Knauf des Schwertes. Aber er ahnte, daß er im Ernstfall damit kaum etwas gegen einen angreifenden Flugsaurier ausrichten konnte, dessen Krallen mindestens ebenso scharf waren wie die Klinge aus Stahl. Ein mannshoher Findling gab ihm eine trügerische Deckung. Dann war das Tier heran. Lautlos schwebte es über der Schlucht und strebte dem nächsten Gipfel zu, der sich in einiger Entfernung in Schnee gehüllt zeigte. Im Gegensatz zu dem stahlenden Sonnenschein, der über der Barriere lag, ballten sich über jenem Berg düstere Gewitterwolken zusammen. Ein Schauspiel, das Grimand dem Wirken der Magier zuschrieb. Aber nicht das war es, was ihn zu einem erschreckten Aufschrei veranlaßte, sondern vielmehr das Wesen, das auf dem Rücken der Flugechse thronte, als säße es im Sattel eines Reittiers. Deutlich sah der Ugharte die Zügel, die aus dem scharfkantigen Schnabel des Tieres herausragten und in der Hand des muskulösen, rothaarigen Riesen zusammenliefen. Grimand blieb unbehelligt. Dennoch wagte er sich erst hinter dem Felsblock hervor, als die Echse in der Ferne verschwunden war. Einige Bergdohlen ließen sich wieder von den Aufwinden tragen,
nachdem sie zuvor ihr Heil in der Flucht gesucht hatten. Kurze Zeit später erreichte der Ugharte die Brücke. Sie war ein wackliges Gebilde, das vor allem aus zwei dicken Führungsseilen und zwei weiteren armdicken Stricken bestand, zwischen denen in unregelmäßigen Abständen dünne Bretter befestigt waren. Die ganze Konstruktion ächzte und knarrte, als Grimand vorsichtig an den Seilen zog. Aber ihm blieb keine andere Wahl, als sich der Brücke anzuvertrauen. Die ersten Schritte wagte er mit dem Mut eines Verzweifelten, jeden Moment darauf gefaßt, sich mit einem blitzschnellen Sprung in Sicherheit bringen zu müssen. Dann ging er vorsichtig weiter, ohne jedoch auf einem einzelnen Brett länger als unbedingt nötig zu verweilen. Er traute dem Holz nicht, das im Lauf vieler Jahre oder gar Jahrzehnte morsch geworden war. Grimand erreichte die Mitte der Brücke, die hier beträchtlich schwankte. Krampfhaft klammerte er sich an den Seilen fest, zog sich mehr vorwärts als er lief. Das Schwert steckte in seinem Gürtel. Unter ihm gähnte die Schlucht. Ein schäumender Wildbach wälzte sich an ihrem Grund dahin. Eine plötzliche Böließ die Konstruktion erzittern. Grimand schrie auf. Aber irgendwie schaffte er es, auf den Beinen zu bleiben. Immer näher kam er der gegenüberliegenden Wand, bis ihn schließlich nur noch wenige Schritte von dem Felsen trennten. Das war aber auch der Augenblick, in dem eines der beiden Führungsseile mit peitschendem Knall riß. Die Brücke drehte sich. Grimand hing plötzlich schräg in der Luft. Nur mit der Linken hatte er noch festen Halt. Seine Füße glitten von den Brettern ab. Jede Bewegung erzeugte zwar größere Schwankungen, aber der Ugharte versuchte verzweifelt, sich weiterzuziehen. Sekunden später riß auch das zweite Seil. Grimand konnte nicht vermeiden, daß er hart gegen den schroffen Fels prallte. Ein wahnsinniger Schmerz tobte durch seinen Brustkorb, vorübergehend wurde ihm schwarz vor Augen. Doch die Finger der
rechten Hand fanden Halt an einem winzigen Vorsprung. Im nächsten Moment faserte das Seil aus seiner Verankerung. Grimand sah ihm nach, wie es in der Tiefe verschwand. Der Blick in den Abgrund ließ ihn schaudern, jetzt, da er nahezu hilflos in der Steilwand hing, nur wenige Meter unterhalb der rettenden Kante. Er konnte sich kaum noch halten, als seine Füße endlich eine Rinne fanden, die unter seinem Gewicht nicht sofort ausbrach. Es kostete ihn unsagbare Mühe, sich langsam in die Höhe zu arbeiten. Aber er schaffte es, wenngleich er anschließend vor Erschöpfung zusammenbrach. Irgendwann raffte Grimand sich wieder auf. Die Sonne war ein Stück weitergewandert, brannte jedoch noch immer unbarmherzig vom Himmel. Eine kleine, klare Quelle spendete erfrischendes Naß, das wohlschmeckend war und belebend. Nachdem der Ugharte getrunken hatte, fühlte er sich wieder frisch. Er setzte seinen Weg fort und erreichte eine hügelige Ebene, die irgendwann einmal fruchtbar gewesen sein mochte, jetzt aber mehr einem ausgedehnten Trümmerfeld glich. Entwurzelte Bäume bestimmten das Bild; mächtige Felsblöcke, die von den nahen Berghängen herabgestürzt waren, hatten das Land aufgerissen, und eine geradlinig verlaufende, tiefe Erdspalte trennte es in zwei Hälften. Grimand wußte nicht, daß die Verwüstungen die Folge der Auseinandersetzung um die ORSAPAYA waren, als die durch den Schwarzschock negativ gewordenen Magier versucht hatten, den Knoten um die Barriere zu sprengen. Der schmale Pfad allerdings, der mitten hindurch führte, war unversehrt geblieben. Er lenkte seinen Schritt in diese Richtung, ohne sich unnötige Gedanken zu machen. Für ihn zählte nur, daß er schnell nach Norden kam. Ein eigenartig prickelndes Gefühl breitete sich in ihm aus. Noch beachtete er es kaum. Doch als es dann immer stärker wurde und überaus lästig, blieb er endlich stehen.
Das Prickeln ging von seiner linken Hüfte aus, genau von der Stelle, wo das Schwert mit seiner Kleidung in Berührung kam. Zauberei? Grimand riß die Waffe heraus. Sie wog schwer in seiner Hand, schwerer, als er es gewohnt war. Und sie schien plötzlich von innen heraus zu glühen. Er schrie auf und schleuderte das Schwert von sich. Aber es blieb keine zwei Schritte von ihm entfernt in der Luft hängen und kehrte dann wie von selbst in seine Hand zurück. Fast gleichzeitig zuckte ein blendender Blitz auf, spaltete die Krone eines in der Nähe liegenden Baumriesen. Grimand wagte vor Schreck kaum noch zu atmen. Ein zweiter Blitz, ein dritter, begleitet von dröhnendem Donner. Sturm kam auf und peitschte lockere Erde vor sich her. Innerhalb weniger Augenblicke steigerte er sich zum Orkan. Der Ugharte konnte nicht lange gegen diese entfesselten Naturgewalten ankämpfen. Er wurde von ihnen mitgerissen und hatte Mühe, sich noch auf den Beinen zu halten. Das Schwert in seiner Hand wog wie Blei. Eine unfaßbare Kraft hinderte ihn daran, seine Finger von dem reich verzierten Knauf zu lösen. Pechschwarze Nacht senkte sich herab. Von einer Sekunde zur anderen brach eine eisige Kälte herein. Schnee fiel, der Grimand innerhalb kürzester Zeit bis an die Knie reichte. Hagel folgte. Ungeschützt war der Ugharte den Geschoßen ausgesetzt, die mit großer Wucht auf ihn herniederprasselten. Erst als er das Schwert schützend über seinen Kopf hob, brach das Unwetter ab. Dafür wurde es fast unerträglich heiß. Grimand begann zu schwitzen. Er stöhnte, rang nach Atem. Viel hätte er jetzt für einen Schluck kühles Wasser gegeben. Was er erlebte, konnte nichts anderes als das Werk eines dieser verdammten Magier sein. »Komm her«, schrie Grimand. »Komm her und kämpfe wie ein
Mann!« Aber niemand antwortete ihm. Nur das Schwert schien noch heller aufzuglühen. Wie ein Irrer fuchtelte er damit in der Luft herum. Und siehe da, auf welche Weise auch immer, die Waffe schien das verrückt spielende Wetter tatsächlich beeinflussen zu können. Grimand begriff, daß Magie dem Schwert anhaftete. Natürlich! Wie hatte er auch jemals etwas anderes annehmen können, nachdem er es im Land der Magier gefunden hatte? Der Weg, den er ging, war plötzlich wieder trocken. Keine Spur mehr von Schnee, Hagel oder dem Schmelzwasser, das eben noch seine Beine benetzt hatte. Nur noch ein laues Lüftchen umspielte ihn und brachte den Duft blühender Pflanzen mit sich. Grimand schritt zügig aus, das Schwert mit ausgestrecktem Arm vor sich haltend. Unbewußt ahnte er, daß er soeben eine magische Sperre überwunden hatte, wenngleich er nichts vom Wettermagier Breckonzorpf wußte und davon, daß die Bewohner der Großen Barriere von Oth während ihrer negativen Phase Zäune und Fallen errichtet hatten, um ihre Ansprüche auf bestimmte Gebiete deutlich hervorzuheben. Grimand hatte das Ende des Tales erreicht, als er die beiden Magier entdeckte. Sie standen auf einer kleinen Anhöhe, kaum mehr als hundert Meter von ihm entfernt, und zweifellos hatten sie ihn bereits bemerkt, denn ihre Gesichter waren ihm zugewandt. Grimand war entschlossen, zu kämpfen. Er würde sich nicht aufhalten lassen. Den Grünhäutigen, der ihm als der gefährlichere Gegner erschien, mußte er als ersten besiegen. In diesem Augenblick war der Ugharte überzeugt davon, daß sein Schwert ihm helfen würde. *
Nach dem Fehlschlag mit Glyndiszorns Tunnel hatten die vier ehemaligen Rebellen sich wieder in die Tronx‐Kette zurückgezogen, jedoch nicht, um sich dort der Ruhe oder gar Erholung hinzugeben. Auf dem Weg vom Gnorden in ihr Revier waren sie anderen Magiern begegnet und hatten diese zum Teil ohne große Überredungskünste zum Mitgehen bewegen können. Immerhin ging es darum, Copasallior und Koratzo aus der Gewalt des Neffen Duuhl Larx zu befreien, und vor diesem Ziel mußten alle Eigenbröteleien zurückstecken. Nun waren sie schon zehn, und mit dieser kleinen Streitmacht hätte Querllo es mit jedem aufgenommen. Aber leider gab es vorerst keinen Weg, um Pthor zu verlassen, und außerdem mußte man auf das gestörte Gleichgewicht innerhalb der Barriere Rücksicht nehmen. Entsprechend bedrückt war die Stimmung unter den Magiern. »Glyndiszorn muß es noch einmal versuchen«, sagte Ajyhna, die Gedankenmagierin, und sprach damit aus, was alle dachten. Sie, außer dem Traummagier Kolviss die einzige Nichtmenschliche in dieser Versammlung, war nicht sehr mächtig. Dennoch hatte ihre Stimme Gewicht wie die der anderen. Im Augenblick hatte sie eine Gestalt angenommen, die Rischa ähnlich war, zartgliedrig und mit langem, wehendem Haar. Nur ihre weißen Augen standen in krassem Gegensatz zu dieser Erscheinung und wirkten fremd und unheimlich. Normalerweise, das heißt, immer dann, wenn Ajyhna nicht mit anderen Magiern zusammen war, wurden sie völlig von struppigem, grauem Pelz verborgen. Ajyhna war von Natur aus etwa eineinhalb Meter groß und über und über behaart. Es hieß, daß ihre Artgenossen vor vielen tausend Jahren die Stahlquelle im Blutdschungel erschaffen haben sollten, der mancher eine hervorragende Waffe zu verdanken hatte. Sie selbst sprach nicht über die Vergangenheit, auch nicht zu Taldzane, ihrem Begleiter. »Ich glaube nicht, daß wir Glyndiszorns Entscheidung in
irgendeiner Weise werden beeinflussen können«, gab Antharia zu verstehen. »Ungefähr so weit waren wir schon einmal«, brummte Howath. »Und niemand hat etwas erreicht«, fügte Torla hinzu. »Außer vielleicht, daß der Knotenmagier nun doch vorsichtiger geworden ist.« »Keiner von uns konnte die Komplikationen voraussehen«, stieß Opkul hastig hervor. »Das ist kein Grund, um vorschnell aufzugeben.« »Laßt mich in die FESTUNG gehen, und ich schlage den Ugharten die Schädel ein, um an ein Raumschiff zu kommen.« Taldzane war aufgesprungen und nahm Herzfinder in die Hand. »Setze dich wieder und höre zu«, bestimmte Kolviss. »Auch wenn du dich manchmal wie ein echter Schlagetot benimmst, wissen wir doch alle, daß du im Grunde genommen ein gutmütiger Bursche bist, dem nichts über seine Gemütlichkeit geht. Wem willst du also imponieren, Schwertmagier?« Taldzane erwiderte nichts darauf. Aber er steckte sein uraltes, schartiges und völlig zerkratztes Schwert, das er in einem Anflug von Ironie Herzfinder genannt hatte, wieder in die Scheide. Beinahe zärtlich streichelte er über den Knauf, der nicht weniger schäbig und unbrauchbar wirkte als die schmale Klinge. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu warten«, behauptete Haswahu. »Schließlich sind wir auf Glyndiszorn angewiesen.« »Vielleicht doch nicht«, ließ sich Opkul vernehmen. Diejenigen, die ihn daraufhin ansahen, bemerkten, daß seine violette Iris sich rasend schnell veränderte. Opkul sah in die Ferne. »Koy und Kolphyr sind wieder in der Barriere«, erklärte er. »Ich habe sie eben erst entdeckt. Unter Umständen können die beiden uns weiterhelfen.« »Wo sind sie?« fragte Taldzane, der bisher weder den Bera noch den Trommler kannte. »In ihrer Nähe verläuft eine magische Straße«, sagte Opkul. »Ich
werde die beiden holen.« Aber dann zögerte er. Und er zeigte den anderen auf einer Marmorkugel, was er mit Hilfe seiner Magie in weiter Ferne sah. »Das ist Breckonzorpfs Werk«, stellte Rischa fest. »Erstaunlich, wie lange seine Sperren gehalten haben.« Opkul wandte sich an den Schwertmagier. »Ich glaube«, sagte er, »du solltest mich begleiten.« Das Abbild eines Ugharten verblaßte wieder. Niemand wußte, wie dieses Wesen unbemerkt in die Barriere gelangt sein konnte.
6. Koratzo ergriff die Hand des Weltenmagiers, aber Copasallior zögerte plötzlich, den Schritt durch das Nichts zu tun. Die Gefahr schien abgewandt, als das abstürzende Organschiff ein letztesmal beschleunigte, wieder an Höhe gewann und über sie hinweg nach Westen schoß. Doch dann versagten seine Triebwerke endgültig. Der Boden zitterte unter der ungeheuren Wucht des Aufpralls. Ein dunkler Rauchpilz stieg vom Ort des Absturzes aus in den Himmel. Koratzo wußte: Das war in unmittelbarer Nähe des Palasts von Gaudhere gewesen. Nur die Galionsfigur hatte überlebt, aber ihr würde niemand mehr helfen können. Krileis. Thamum Gha hatte ihren Namen genannt. Auf eine Weise, die er sich selbst nicht erklären konnte, war der Stimmenmagier vom Schicksal dieses bedauernswerten Geschöpfes betroffen. Erst Copasalliors Worte holten ihn aus seinen Gedanken in die Realität des Augenblicks zurück: »Ich glaube, daß wir nun nichts mehr zu befürchten haben. Der Gersa‐Predogg ist jenseits der Wirklichkeit, falls er überhaupt noch existiert.« Koratzo beugte sich über den Neffen, der in verkrümmter Haltung am Boden des Gleiters lag. »Zweifellos geht es ihm schlechter«, sagte er. »Nicht nur ihm«, stellte Copasallior fest. Mit allen sechs Armen zugleich deutete er über das Gelände des Raumhafens. Es war unverkennbar, daß überall dort das Chaos herrschte, wo Ugharten ihre Schiffe verlassen hatten. Aber auch Angehörige anderer Völker schienen völlig die Orientierung verloren zu haben. Kopflos rannte alles durcheinander. »Dort drüben!« In dem Frachter in ihrer unmittelbaren Nähe öffnete sich eine
Schleuse. Zwei raumtaugliche Gleiter mit Stummelflügeln für den atmosphäregebundenen Gleitflug schossen mit Höchstbeschleunigung daraus hervor, in ihrem Hangar ein waberndes Inferno hinterlassend. Die beiden Magier sahen sich erschrocken an. Im Nu rasten die Maschinen steil in den Himmel. Sie zogen eine weite Schleife und kehrten dann im Sturzflug zurück. Koratzo schrie auf, als er ihren Kurs erkannte. Sie würden ihr Mutterschiff rammen. Aber praktisch im allerletzten Moment scherten die Gleiter aus. Kaum einen Meter über dem Landefeld jagten sie dahin. Ugharten warfen sich zu Boden, wurden von den Triebwerksstrahlen erfaßt und hochgewirbelt. »Das müssen Wahnsinnige sein.« Koratzo mußte schreien, um den aufbrandenden Lärm noch zu übertönen. Er hatte kaum geendet, als am Horizont kurz hintereinander zwei heftige Explosionen erfolgten. Dichte schwarze Rauchwolken stiegen auf. Immer mehr Fahrzeuge kreisten nun gleich einem Schwarm wütender Hornissen ziellos über dem Raumhafen. Manche von ihnen torkelten durch die Luft, als seien die Piloten unfähig, die schweren Gleiter zu lenken. Andere wieder kollidierten miteinander und stürzten ab. Bereits in den ersten Minuten gab es unzählige Tote. Ugharten verbrannten in den Wracks ihrer Maschinen oder wurden von Trümmern erschlagen. Fast gleichzeitig starteten am Horizont mehrere Raumschiffe. Allein schon die Schwerfälligkeit, mit der sie sich erhoben, ließ deutlich werden, wie es um ihre Besatzungen bestellt war. »Nicht einmal die Galionsfiguren schaffen es, die Schiffe heil in die Luft zu bringen«, stellte Copasallior fest. »Wahrscheinlich sind sie in den selben Taumel verfallen wie alle anderen Lebewesen auch. Allerdings ist es schwer, sich vorzustellen, daß dies allein durch den Zustand des Neffen ausgelöst wurde.«
»Das zeitliche Zusammentreffen kann nicht rein zufällig sein«, erwiderte Koratzo. »Die Ugharten ließen bereits ein ähnlich unkontrolliertes Verhalten erkennen, als Duuhl Larx mit Thamum Gha zusammenprallte.« Eines der eben gestarteten Raumschiffe sackte plötzlich ab. Da der Lotse noch dazu auf Gegenschub schaltete, war der Absturz unvermeidlich. Teile eines Kontrollgebäudes stürzten in sich zusammen, ein zweites Organschiff wurde ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen und kippte mit aufgerissenem Rumpf auf die Seite. Zum Glück kam es zu keiner Explosion, die für unzählige Besatzungsmitglieder den Tod bedeutet hätte. »Kannst du erkennen, wodurch das alles ausgelöst wird?« fragte Copasallior. Koratzo schüttelte den Kopf. »Das ist es eben«, sagte er. »Ich kann zwar hin und wieder einige Gedankenfetzen hörbar machen, aber sie ergeben keinen Sinn. Auf eine mir unverständliche Weise scheint die Psyche der Ugharten gelitten zu haben. Auch die Vertreter anderer Rassen sind davon betroffen.« »Dann ist anzunehmen, daß es überall auf Gaudhere ähnlich aussieht wie hier.« »Falls die Erscheinung nicht räumlich begrenzt ist. Ich …« Koratzo unterbrach sich, weil eine Gruppe von Ugharten direkt auf ihren Gleiter zukam. Ihre Gedanken waren nur schwer zu erfassen, und was er zu hören bekam, war genauso verworren wie alles, was sich seit einigen Minuten auf dem Raumhafen abspielte. »Sie scheinen nicht einmal zu wissen, wo sie sich befinden«, sagte er zu Copasallior. »Es ist, als träumten sie mit offenen Augen.« »Wenn wir herausfinden, was geschehen ist, können wir vielleicht helfen.« Der Weltenmagier deutete auf Thamum Gha, dessen Gesicht bleich und eingefallen wirkte. Die Ugharten waren inzwischen bis auf weniger als fünfzig Meter herangekommen. Zur Überraschung der Magier nahmen sie von
dem Gleiter keinerlei Notiz. Eine flüchtige Bewegung Copasalliors, im nächsten Moment stand eines der dicht behaarten Wesen neben ihm. Die anderen entfernten sich wieder, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen – sie nahmen sein Verschwinden überhaupt nicht zur Kenntnis. »Er denkt so gut wie gar nicht«, stellte Koratzo fest. »Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich sagen, daß in seinem Gehirn nicht ein Funke von Intelligenz vorhanden ist. Als wäre sein Ich dabei, sich langsam aufzulösen.« Der Stimmenmagier hatte kaum geendet, als er aus schreckgeweiteten Augen zuerst den Ugharten und dann Thamum Gha anstarrte. »Nein«, sagte er dann leise vor sich hin. »Das wäre zu phantastisch.« »Wovon redest du?« wollte Copasallior wissen. Koratzo war im Begriff, abzuwinken, überlegte es sich aber doch anders. »Nur ein unverhoffter Einfall«, meinte er. »Allerdings müßte ich es feststellen können, wenn Thamum Gha die Geisteskräfte seiner Untergebenen aufsaugt.« »Um zu überleben? Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, wie es auf den ersten Blick vielleicht erscheint. Aber wenn du mit deiner Vermutung recht hast, wird auf Lamur bald jegliches Leben erloschen sein.« »Eine schreckliche Vision: Während wir nach einem Weg suchen, um Thamum Gha zu helfen, saugt er Tausenden das Leben aus dem Leib.« Koratzos Stimme veränderte sich kaum merklich, als er jetzt den Ugharten ansprach. Jedes Wort war von hypnotischer Wirkung. Die Haltung des Ugharten versteifte sich. Koratzo fragte ihn nach dem Namen, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Er befahl dem Wesen, Thamum Gha anzusehen – wieder nichts, außer einem kurzen Zusammenzucken, das aber völlig
bedeutungslos sein mochte. »Was sagen seine Gedanken?« fragte Copasallior. »Nichts, obwohl ich deutlich fühle, daß er denkt. Aber da ist etwas unsagbar Fremdes, das ich nicht greifen kann, das seine Gehirnströme ableitet, ohne daß es mir möglich ist, denselben Weg zu beschreiben.« Koratzo verstärkte die Wirkung seiner hypnotischen Stimme, bis er nahe daran war, dem Ugharten das Bewußtsein zu rauben. Doch auch dadurch erreichte er nicht mehr als ein unverständliches Gestammel. »Es hat keinen Sinn«, sagte er schließlich. »Wenn wir eine Antwort auf seine Fragen haben wollen, müssen wir uns an den Neffen halten. Hier allerdings stirbt er uns. Sieh ihn dir an, er verfällt zusehends.« »Wo sollen wir hin mit ihm? Wenn es überall auf Gaudhere ähnlich aussieht, kann ihm niemand mehr helfen.« »Wir müssen ihn in seinen Palast schaffen. Dort gibt es einen eigenen medizinischen Trakt. Selbst wenn die Ärzte ausgefallen sein sollten, die Roboter werden sich mit dem Metabolismus des Neffen auskennen.« Der Weltenmagier nickte, dann bückte er sich zu Thamum Gha hinab, um den für einen gemeinsamen Sprung erforderlichen Körperkontakt herzustellen. »Aber irgendeinen Zielpunkt mußt du mir genauer beschreiben«, bat er Koratzo. Zuallererst dachte der Stimmenmagier an den sterilen Raum mit den sonnenhell leuchtenden Lampen und blitzenden Instrumenten, in dem er aus seiner Ohnmacht erwacht war – gerade noch rechtzeitig, um dem Skalpell zu entgehen. Aber es war egal, wo Thamum Gha ankam. Die Roboter würden ihn überall schnell finden. Ein erschreckter Aufschrei des Weltenmagiers riß Koratzo aus seinen Überlegungen. Copasallior fuchtelte mit allen sechs Armen
gleichzeitig in der Luft herum, während Thamum Gha leise röchelnd vollends in sich zusammensank. Der Ugharte stand scheinbar unbeteiligt daneben und starrte ins Leere. Mehr und mehr wichen seine Gedanken einer unbeschreiblichen Leere, die Koratzo überaus vertraut vorkam. Aber ausgerechnet jetzt konnte der Stimmenmagier sich nicht damit befassen, da ihm Copasalliors befremdliches Verhalten wichtiger erschien. Er erinnerte sich nicht, ihn jemals derart verstört gesehen zu haben. Versagte Copasalliors Magie? Wurde auch er jetzt von dem unheimlichen Geschehen beeinflußt? Nach wie vor herrschte eine unbeschreibliche Hektik, rannten Ugharten ziellos durcheinander. Allerdings konnte insofern von einer Beruhigung der Lage gesprochen werden, als kaum noch Gleiter starteten und die Maschinen, die als erster in der Luft gewesen waren, sich inzwischen in alle Richtungen entfernt hatten. Auch zeugten etliche schwelende Trümmerhaufen von der Unfähigkeit manches Piloten. Endlich wandte der Weltenmagier sich Koratzo zu. Aus seinem Blick sprachen Zweifel und Verständnislosigkeit. »Das ist mir noch nie passiert«, murmelte er so leise, daß der andere Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Ich kann den Neffen nicht transportieren. Thamum Gha würde dabei sterben, und ich weiß nicht einmal, wieso.« »Wir müssen ihn in den Palast schaffen. Auf dem schnellsten Weg«, sagte Koratzo. Daß der Herrscher über das Guftuk‐Revier mit dem Tod rang, war kaum noch zu übersehen. Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, das nun einem Totenschädel glich, über den sich eine pergamentartige, runzlige Haut spannte. Tief eingefallen und von dunklen Rändern umgeben waren seine drei Augen. »Ich kann es nicht verantworten.« Copasallior richtete sich aus seiner gebückten Haltung auf. Thamum Gha stöhnte leise, ein Zucken durchlief seinen mächtigen Körper. »Wenn wir ihn nicht in den Palast bringen, ist das sein sicherer
Tod«, behauptete Koratzo. Im gleichen Augenblick erfaßte er Copasalliors Gedankeninhalt in seiner ganzen Tragweite. Seine Augen weiteten sich in ungläubigem Erstaunen. »Ja«, nickte der Weltenmagier. »Jetzt weißt du es. Ich kann selbst nicht begreifen, wie es zu einer solchen Erscheinung kommen kann.« »Aber … das ist unmöglich. Der Neffe ist genauso ein Wesen aus Fleisch und Blut wie jeder andere. Liegt es vielleicht daran, daß noch immer Duuhl Larxʹ Einfluß in dir nachwirkt?« »Das wäre zu einfach. Immerhin hat es vorhin bei dem Ugharten auch geklappt. Wenn ich Thamum Gha nicht in seiner Gesamtheit zu erfassen vermag, so liegt dies einzig und allein an ihm selbst. Irgend etwas ist bei ihm anders, ohne daß ich feststellen kann, was.« Der Neffe bäumte sich auf. Sein Atem flatterte, und sein Blick, in dem eine unsagbare Qual verborgen lag, richtete sich auf die beiden Magier. »Duuhl Larx«, murmelte er mit leiser, brüchig werdender Stimme, »ist eine Gefahr. Warnt den Dunklen Oheim – er …« Gurgelnd brach Thamum Gha mitten im Satz ab. Obwohl seine Lippen sich noch bewegten, brachte er keinen Laut mehr hervor. »Er phantasiert bereits«, sagte Copasallior. »Wie anders könnte er glauben, daß wir den … Beim Crallion, vielleicht haben wir noch eine Chance, manches zu erfahren.« Weit beugte er sich zu Thamum Gha hinab, achtete nicht darauf, daß dessen drittes Auge mitten auf der Stirn allmählich glasig wurde. Der Herrscher über das Guftuk‐ Revier schien in endlose Ferne zu blicken, ohne noch wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. »Wer ist der Dunkle Oheim?« fragte der Weltenmagier eindringlich. »Was weißt du über ihn?« Koratzo schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er, und seine Stimme klang bitter. »Thamum Gha hört deine Frage zwar, aber er versteht nicht, was du von ihm willst. Er hat nur noch unsagbare Schmerzen.«
Der Neffe schrie auf. Sein Antlitz schien sich zu verdunkeln. Im gleichen Augenblick glaubte Koratzo die Pein unzähliger Lebewesen zu empfinden. Koratzo mußte verblüfft feststellen, daß er zitterte, als die Empfindung endlich von ihm wich. Zutiefst aufgewühlt, wandte er sich wieder dem Magier zu. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, murmelte er. »Dieses Wesen ist von einer Fremdartigkeit, für die es keinen Ausdruck gibt. Ähnliches habe ich bisher noch bei keinem anderen gespürt.« »Chirmor Flog war ein Krüppel und ohne seine künstliche Prothese nicht mehr lebensfähig«, erinnerte Copasallior. »Und die negative Aura von Duuhl Larx ist inzwischen so stark, daß Magie allein sie kaum noch durchdringen kann.« »Deine Schwierigkeiten, Thamum Gha zu transportieren, werden mir jetzt erst richtig bewußt«, fuhr Koratzo fort. Der Weltenmagier nickte. »Wo ich auch mit ihm hingehe, ich kann nicht mehr als einen Teil von ihm mitnehmen, nur die Gliedmaßen, zu denen ich einen direkten Körperkontakt herstelle.« Ein letztes Mal bäumte sich der Neffe sich auf, seine Arme schlugen unkontrolliert um sich. Dann sank er haltlos zurück. »Es ist vorbei«, sagte Koratzo tonlos. »Duuhl Larx hat gesiegt.« * Die beiden Magier hatten erwartet, daß sich innerhalb kürzester Zeit das herrschende Chaos noch verschlimmern würde. Aber sie schienen sich getäuscht zu haben. Beinahe gespenstisch wirkte die Ruhe, die auf dem Gelände des Raumhafens Einzug hielt. Alles was Beine hatte und noch fähig war, sich auf ihnen fortzubewegen, schlurfte davon. Plötzlich wußte jeder wieder, wohin er gehörte. War eben noch eine aufgeregte Hektik bestimmend gewesen, so schien jetzt Lethargie die Ugharten und
anderen Wesen befallen zu haben. Schon wenige Minuten nach Thamum Ghas Tod war nicht ein einziger Gleiter mehr in der Luft. Und wo der Lotse eines Organschiffs die Triebwerke hochgefahren hatte, um zu starten, erstarben diese in einem letzten Wimmern. »Kein Alarm; keine Truppen, die aufmarschieren, um die Lage unter Kontrolle zu bringen und die Attentäter zu bestrafen. Ich verstehe das nicht. Obwohl Lamur die Hauptwelt des Guftuk‐ Reviers ist, zeigt sich niemand davon betroffen, daß Thamum Gha nicht mehr lebt.« Copasallior sah den Stimmenmagier fragend und auffordernd zugleich an. Koratzo zuckte nur mit den Schultern. Was hätte er auch darauf erwidern sollen? Doch dann machte er jene Entdeckung, die ihm schlagartig wieder ins Gedächtnis rief, was er wegen der sich überstürzenden Ereignisse mehrmals aus seinen Gedanken verdrängt hatte. Gleichzeitig wurde ihm bewußt, daß seit Duuhl Larxʹ Attentat nicht viel mehr als eine halbe Stunde vergangen war. Koratzo schickte seine Stimme aus, aber kaum einer der Ugharten reagierte darauf. Überrascht stellte er fest, daß es ihm allmählich leichter fiel, seine Magie anzuwenden. Verlor der Bann des Neffen, unter dem er gestanden hatte, langsam an Wirkung? Dennoch konnte er keine Gedanken hörbar machen, außer denen des Weltenmagiers. Und genau das bewies ihm, daß mit den Ugharten etwas geschah, das sich seinen Sinnen entzog. Sie gingen zu ihren Schiffen zurück, aber sie dachten dabei an nichts. In ihren Gehirnen war eine Leere, die Koratzo erschreckte. Er kannte diese Wahrnehmung, hatte sie bereits einmal gemacht, als er auf seinem Weg durch die verschneite Einöde in die Stadt Drieves gelangt war. Genauso war es auch jetzt: Stumpfsinn schlug ihm von allen Seiten entgegen; die Ugharten schienen ihren Lebenswillen verloren zu
haben. Wenn Koratzo darüber nachdachte, dann fügte sich eines ins andere. Ganz Lamur war von einer deutlichen Ausstrahlung des Bösen umgeben gewesen – bis zu jenem Augenblick, in dem Duuhl Larx und der Herrscher über das Guftuk‐Revier aufeinanderprallten. Von da an war diese Aura schwächer geworden, und jetzt breitete sich ein Hauch von Tod und Vergänglichkeit aus. Genau das gleiche hatte er gefühlt, nachdem Copasallior ihn von Bord der HERGIEN aus auf den Kontinent versetzt hatte. Nur hatte er sich zu jener Zeit das plötzliche Fehlen der ausgeprägten bösen Strahlen nicht erklären können. Und dann das über dem Palast von Gaudhere abstürzende Organschiff. Obwohl er dessen spektakuläres Ende vor wenigen Minuten erst miterlebt hatte, hatte er doch vor Stunden schon mit der sterbenden Galionsfigur gesprochen, einem unvergleichlich zarten Wesen, dessen Wehmut und ungestillte Sehnsucht sich auch auf ihn übertragen hatten. Der Schluß, den Koratzo daraus zog, war ebenso logisch wie phantastisch. Endlich hatte er Gewißheit, daß er sich in der Zukunft befunden hatte – in einer von unzähligen möglichen. Und alles entwickelte sich so, wie er es kannte. Während er noch darüber nachdachte, übermittelte er bereits seine Gedanken an Copasallior, damit dieser ebenfalls informiert war. »Es muß sich um einen jener unwahrscheinlichen Zufälle gehandelt haben«, sagte der Weltenmagier nach längerem Zögern, »die unseren Wissenschaften immer wieder neue Impulse verleihen. Auf diese Weise kommt unser Denken nie zum Stillstand, und die Kraft der Magie strebt von einem Höhepunkt zum anderen. Eines Tages wird sie die alles umfassende Macht sein, die jedes antimagische Gerät überflüssig werden läßt.« »Die Stimme, an der ich arbeite, ist ein Teil davon«, warf Koratzo ein. Copasallior nickte. »Noch kann ich keine fundierte Erklärung dafür geben, weshalb
du, anstatt zurück nach Pthor zu gelangen, in die Zukunft versetzt wurdest«, fuhr er fort. »Aber vielleicht war der Weg in die Barriere durch die Magie von Glyndiszorns Tunnel verlegt. Es mag sein, daß du in die Zukunft von Lamur gelangtest, weil zu dieser Zeit kaum noch eine böse Ausstrahlung den Planeten erfüllt. Immerhin haben wir mit aller Kraft versucht, uns von dem Bösen zu befreien.« »Also der Weg des geringsten Widerstandes«, überlegte Koratzo. »Mit wenigen Worten kann man es kaum treffender ausdrücken«, stimmte Copasallior zu. »Ungeahnte Perspektiven ergeben sich daraus. Falls jemals die Zeiten wieder ruhiger werden, können wir uns völlig neuen Forschungen widmen. Aber noch glaube ich nicht daran. Außerdem hat sich inzwischen sehr viel verändert.« »Du gibst dich wieder einmal zu skeptisch.« »Ein gesundes Mißtrauen hat noch niemandem geschadet.« »Wenn du willst, können wir sofort nach Pthor zurückkehren«, sagte Koratzo. Copasallior funkelte ihn an. »Meinst du, das hätte ich nicht bereits versucht? Es ist, als würde Duuhl Larx noch immer neben mir stehen und mich daran hindern.« »Dann eben in einigen Tagen«, meinte der Stimmenmagier. »Irgendwann wird der Bann von dir abfallen.« Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Die GOLʹDHOR«, sagte er. »Möglicherweise landet sie schon in wenigen Stunden.« »Wenn die Zukunft sich wirklich erfüllt«, schränkte Copasallior ein. Koratzo zuckte zusammen. Für einem Moment huschte ein Schatten über sein Gesicht, und Enttäuschung zeichnete sich in seinem Blick ab. »Was ist los mit dir?« fragte der Weltenmagier sofort. Ihm war nicht entgangen, daß Koratzos ganze Haltung sich plötzlich verändert hatte. »Mir war, als hätte ich soeben wieder das Böse gespürt, das von
Duuhl Larx ausgeht. Aber es ist schon vorbei.« Copasallior wirbelte förmlich herum. Seine Augen suchten die ferne HERGIEN. Das Organschiff stand noch immer unverändert auf seinem Landeplatz. Ein Start schien nicht unmittelbar bevorzustehen. Dann fühlte auch er es. Die Ausstrahlung war unverkennbar. Und sie war um einiges stärker geworden. »Dort!« schrie Koratzo auf. Copasallior folgte dem ausgestreckten Arm des Stimmenmagiers. Duuhl Larx kam zurück! Der Neffe bewegte sich in seiner flammenden Sphäre ungeheuer schnell und geschickt. Er kam von Westen her, aus der Richtung, aus der man ihn am wenigsten erwartet hätte. Vielleicht war er im Palast gewesen, wer konnte das wissen. Auf jeden Fall war er heran, bevor die Magier Zeit hatten zu reagieren. Aber es wäre ihnen ohnehin nicht möglich gewesen, sich seinem Zugriff zu entziehen. Fast schien es, als hätte Duuhl Larx nur den Tod seines Opfers abgewartet. Obwohl er hinter seinem Energieschirm verborgen blieb, wirkte er doch kräftiger als zuvor. Vielleicht war es aber auch die ihn umgebende Aura des Bösen, die diesen Eindruck hervorrief. Denn sie war deutlich angewachsen. Koratzo und Copasallior bekamen dies bereits zu spüren, als der Neffe noch gut zwanzig Meter von ihnen entfernt war. Alle Gedanken an Flucht oder gar Gegenwehr wurden mit einem Schlag bedeutungslos. »Ich bin stolz auf euch«, begann der Neffe, und seine Stimme troff vor Spott. »Dieser Gersa‐Predogg hatte nicht einmal mehr die Zeit, den Dunklen Oheim von den Vorgängen auf Lamur zu unterrichten.« Koratzo begriff fast schlagartig. Die Erkenntnis, nichts aus eigenem freien Willen heraus getan zu haben war bitter. Die ganze
Zeit über hatte Duuhl Larx im Hintergrund gelauert und gewartet. – Aus Angst davor, mit Wallcorm zusammenzutreffen, weil er dem Roboter nicht gewachsen gewesen wäre? Konnte er es dann in Zukunft mit einem Gersa‐Predogg aufnehmen, jetzt, nachdem er ähnlich der Schwarzschock‐Energie auch die Kräfte des Neffen Thamum Gha in sich aufgenommen hatte? Lautes Gelächter drängte sich in die Überlegungen des Stimmenmagiers. Es waren Duuhl Larxʹ Gedanken, die er hörte. Für einen kurzen Moment ließ der Neffe ihn an seinem Triumph teilnehmen, dann schlug die dunkle Aura wieder über ihm zusammen. »Zurück zur HERGIEN!« befahl Duuhl Larx. Die Magier ahnten, daß er den Weg zur Macht eben erst beschritten hatte. Sie würden ihm selbst bis ins Zentrum der Schwarzen Galaxis folgen, ohne sich gegen den Zwang zur Wehr setzen zu können. Wenn nicht das Schicksal ihnen in die Hände spielte, mußten sie Sklaven bleiben …
7. Während der Nacht hatten Koy und Kolphyr nur wenige Stunden gerastet, um ihren Yassels ein wenig Ruhe zu gönnen, und waren dann zügig weiter nach Süden geritten, so daß sie bereits in den frühen Morgenstunden die Große Barriere von Oth erreichten. Dort, wo sich vor nicht allzu langer Zeit noch Glyndiszorns Knoten erstreckt hatte, war das Land verwüstet und wirkte wie mit einer riesigen Pflugschar umgegraben. Das Gebiet der Barriere umfaßte sanft gerundete Berge und landschaftlich reizvolle Täler ebenso wie Dutzende schroffer Gipfel und steil abfallende, sogar für Bergziegen unwegsame Schluchten. Selbst auf einem schnellen Yassel benötigte man Tage, um das Land der Magier in seiner ganzen Ausdehnung zu durchmessen. Die beiden Reiter wußten deshalb, wie schwierig es sein würde, auf Magier zu treffen, von denen manche ganze Bergzüge für sich beanspruchten. Koy und Kolphyr befanden sich im Gebiet zwischen dem Gnorden, wo sie das Luftschiff des Knotenmagiers Glyndiszorn wußten, und dem Karsion, dem Sitz des Wettermagiers Breckonzorpf. Beide zählten ohne Zweifel zu den Mächtigen und würden ihnen Auskunft geben können, wer mit dem kleinen Raumschiff nach Pthor gekommen war, dessen Landung unmittelbar am westlichen Rand sie vom Wachen Auge aus verfolgt hatten. »Wir reiten zum Gnorden«, bestimmte der Trommler spontan. »Der Berg liegt westlich und damit unserem Ziel um einiges näher als die Behausung von Breckonzorpf.« Kolphyr war damit einverstanden. Nach etlichen Stunden wurde das Gelände unwegsamer. Das Tal, dessen Verlauf sie bisher gefolgt waren, verengte sich zu einem Cañon mit steil aufragenden kahlen Felswänden.
Kolphyr zügelte sein Yassel und stützte sich mit beiden Armen auf dessen Rücken. Fragend sah er Koy an. »Reiten wir weiter, oder kehren wir um?« »Ich weiß nicht.« Der Trommler zuckte mit den Schultern. »Wir verlieren Zeit, wenn wir den Aufstieg über den schmalen Saumpfad nehmen. Das hätten wir uns fünf Kilometer eher überlegen sollen. Andererseits kann es passieren, daß wir plötzlich vor einem unüberwindbaren Hindernis stehen, wenn wir in die Schlucht eindringen.« »Eben«, nickte Kolphyr. »Wieso grinst du plötzlich über das ganze Gesicht?« »Ich?« Koy bemühte sich, ernst dreinzublicken, was ihm aber gründlich mißlang. »Ich frage mich nur, ob dein Yassel den Aufstieg überhaupt schaffen kann.« »Wieso?« »Fünf Zentner auf dem Rücken sind nicht gerade wenig.« »Ha«, machte der Bera. »Ausgerechnet du mußt das sagen, wo du doch alle paar Stunden die besten Bratenstücke in dich hineinstopfst. Eines Tages wirst du mindestens ebenso …« »Ich weiß, ich weiß.« Koy winkte ab. »Du nimmst keine Nahrung zu dir, falls du mir das vorhalten willst.« »Wir reiten weiter«, entschied Kolphyr dann. Schon kurze Zeit später traten die Felsen so eng zusammen, daß kaum noch ein Durchkommen war. Insbesondere der Bera tat sich mit seiner Leibesfülle doch recht schwer. Er spielte bereits mit dem Gedanken an eine Umkehr, als der schmale Spalt sich langsam wieder verbreiterte. Daran, daß die Wände des Cañons nicht mehr so schroff waren, glaubte er schließlich zu erkennen, daß das Schlimmste inzwischen hinter ihnen lag. »Glück gehabt«, murmelte Koy mit einem anzüglichen Seitenblick. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, und in der Tiefe der Schlucht war die Luft schwül und stickig. Entsprechend erleichtert waren die beiden, als sie nach mehr als einer Stunde eine weite,
hügelige Ebene vor sich sahen. Das Fell ihrer Yassels war klatschnaß. Erschrocken starrte der Trommler auf die verwüstete Landschaft. »Das sieht aus, als hätte ein Riese wie du versucht, Brennholz zu schlagen.« Kolphyr ging souverän über diese Anzüglichkeit hinweg. »Das dürfte eine Folge des Kampfes um die ORSAPAYA sein«, sagte er. »Islar hat meine Maschine wirklich im allerletzten Moment fertiggestellt.« »Dort drüben.« Koy deutete nach links hinüber, wo sich kaum mehr als hundert Meter entfernt eine aufrecht gehende Gestalt bewegte. Zunächst glaubte auch Kolphyr, einen der Magier vor sich zu haben, doch schnell erkannte er, daß er sich getäuscht hatte. »Ein Ugharte«, stellte er verblüfft fest. Das überaus dicht beharrte Wesen kam zielstrebig auf sie zu. Koy und Kolphyr stiegen ab und warteten. Außer einem Schwert trug der Ugharte keine andere Waffe sichtbar mit sich. Dann hatte er die beiden erreicht. Im letzten Moment sprang der Bera zur Seite; wo er eben noch gestanden hatte, schmetterte die schartige Klinge auf den Boden. Der Ugharte stieß ein heiseres Gebrüll aus und setzte sofort nach. Kolphyr wich mehrmals geschickt aus. Es machte ihm geradezu Spaß zu sehen, wie das Gesicht des Angreifers immer verbissener wurde. Doch dann stolperte er über einen Stein und fiel auf den Rücken. Im nächsten Augenblick war der Ugharte über ihm. Kolphyrs einziger Gedanke galt seinem Velst‐Schleier. Wenn das Schwert ihn durchdrang, würde wohl nichts mehr von der Großen Barriere von Oth übrigbleiben. Doch da zeigte sich, daß Koy auf der Hut war. Er trommelte mit seinen Broins, und die zerstörerischen Impulse richteten sich auf das Schwert, das jedoch nicht in tausend Stücke zersprang, sondern hell
zu leuchten begann. Einen Augenblick lang zögerte der Ugharte, und diese kurze Zeitspanne genügte Kolphyr, um sich zur Seite zu wälzen und wieder auf die Beine zu kommen. Koys Broins bewegten sich jetzt rasend schnell. Plötzlich wurde der Ugharte von einem hellen Schimmer eingehüllt, der zuerst seinen Schwertarm erfaßte und dann den ganzen Körper. Der Trommler schrie auf, sank langsam in die Knie. Sein Gesicht verzerrte sich zur schmerzerfüllten Grimasse, während die Kugelenden seiner Fühler schlaff wurden. Kolphyr begriff nicht recht, was geschah. Aber er gab sofort dem Ugharten oder dessen leuchtender Waffe die Schuld an Koys Zusammenbruch. Mit zunehmender Härte drang der Behaarte auf ihn ein. Kolphyr wich seinen Hieben geschickt aus, während er gleichzeitig nach etwas suchte, womit er sich wirksam verteidigen konnte. Sein Blick fiel auf einen etwa armlangen, versteinert wirkenden Ast. Während er sich blitzschnell danach bückte, riß ihn ein Schwertstreich beinahe von den Beinen. Kolphyr hatte das Gefühl, ein bodenloser Abgrund würde sich unter ihm auftun. Jede einzelne Nervenfaser in seinem Körper schien sich in einen Eisklumpen zu verwandeln. Sekundenlang stand er wie gelähmt, dann erfaßte ihn eine Welle der Panik. Aber das Schwert war an seinem Velst‐Schleier abgeglitten, ohne ihn zu beschädigen. Kolphyrs bewußtes Denkvermögen setzte erst wieder ein, als er den Ast wie eine Keule über dem Kopf schwang. Das Stück Holz schmetterte gegen die Klinge, gerade als der Ugharte einen zweiten Treffer anbringen wollte. Es zerbrach in zwei ungleich große Teile. Das kurze Stück, das dem Bera verblieben war, warf dieser kurzerhand dem Angreifer an den Kopf. Aber der entging dem Geschoß durch eine Drehung zur Seite. Im nächsten Augenblick sah Kolphyr sich einem zweiten,
unverhofft aufgetauchten Gegner gegenüber. Es war ein breitschultriger, düster wirkender Hüne mit dunklem Haar, einem krausen Vollbart, der sein Gesicht breiter wirken ließ, als es in Wirklichkeit sein mochte, und gewaltigen Händen. In der Rechten hielt er ein altes, abgewetztes Schwert, in der Linken hingegen gleich vier Waffen mit blanken, blitzenden Klingen, die aussahen, als wären sie eben erst angefertigt worden. Schon wollte Kolphyr sich wutentbrannt auf den vermeintlichen neuen Angreifer stürzen, als er eine zweite Person bemerkte, die sich noch zurückhielt. »Opkul!« rief er aus. Demnach mußte der Hüne ein Magier sein, den er bisher noch nicht kennengelernt hatte. Dieser hob das einzelne Schwert und richtete dessen Spitze auf den Ugharten. »Stellt ihn, Herztöter!« murmelte er, so leise, daß Kolphyr Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Aber tötet ihn nicht!« Wie von Geisterhand bewegt, lösten sich die vier schmalen Schwerter aus seiner Hand und schwebten durch die Luft. Der Ugharte reagierte darauf mit einem entsetzten Aufschrei. Obwohl er sich wacker hielt, zeichnete sich doch sehr schnell ab, daß er den Kampf verlieren würde. Der Magier kicherte. »Langsamer!« befahl er. »Laßt ihm Gelegenheit, sein Können zu beweisen.« Es war ein Bild, das beinahe gespenstisch anmutete. Aber der Klang der sich kreuzenden Klingen war sehr real. »Mach ein Ende.« Opkul kam heran. Kolphyr kannte den Blickmagier inzwischen gut genug, um zu wissen, daß dieser ungeduldig war. Der andere wollte den Befehl an seine Schwerter weitergeben, brachte aber nur ein klägliches Stöhnen über die Lippen. Die Waffe in der Hand des Ugharten verschleuderte plötzlich Blitze. Meterweit wurden die vier Herztöter zurückgeworfen. Doch sie griffen wieder an, mit einer Unermüdlichkeit, deren kein Wesen aus Fleisch und
Blut fähig gewesen wäre. »Sie schaffen es nicht allein.« Der Hüne raffte sich auf und sprang vor. Er schwang sein Schwert mit einer Kraft und Behendigkeit, als wäre es ein Teil seines Körpers. »Mit Herzfinder wird er die Entscheidung herbeiführen«, sagte Opkul beiläufig. Kolphyr sah ihn fragend an, erhielt jedoch keine weitere Erklärung. Endlich, nach abermals mehreren Minuten, verlor der Ugharte seine Waffe. Laut schreiend rannte er in die Richtung davon, aus der Koy und Kolphyr gekommen waren. Erst als er bemerkte, daß niemand ihn verfolgte, wurde er langsamer. »Ich glaube, mein Kopf zerspringt jeden Moment«, stöhnte der Trommler. »Dieses verdammte Schwert …« »Das hier?« Der Hüne hatte die letzten Worte gehört und hielt ihm die erbeutete Waffe hin. Koy nickte. »Ein wunderschönes altes Stück«, erklärte der Magier strahlend. »Es muß Jahrtausende alt sein, und wahrscheinlich gehörte es einem Vorgänger von mir. Seine Magie, Verderben bringende Einflüsse von seinem Besitzer abzuhalten, ist noch immer wirksam. Mir scheint, du hast es zu spüren bekommen.« »Das ist Taldzane, der Schwertmagier«, sagte Opkul und kam damit einer entsprechenden Frage des Trommlers zuvor. »Wieso begegnen wir uns ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt?« wollte Kolphyr wissen. Der Blickmagier erklärte es ihm. »Also kein Zufall. Dann weißt du sicher auch, was es mit dem kleinen Raumschiff auf sich hat, das im westlichen Teil der Barriere gelandet ist«, platzte der Bera heraus. Erstaunt registrierte er, daß Opkuls Züge sich verhärteten. Der Magier schwieg. »Ist Atlan damit gelandet?« Opkul wirkte irgendwie bedrückt. Anstelle einer Antwort sagte er: »Begleitet uns in die Tronx‐Kette. Eure Yassels könnt ihr hier zurücklassen, wir benützen eine der magischen Straßen. Die Tiere werden sich schnell einer der frei lebenden Herden anschließen.
Aber nehmt ihnen die Sättel ab. Wir Magier reiten ohne diese Hilfsmittel.« »Warum so geheimnisvoll?« fragte Koy. »Wir wollen erst mit Koratzo sprechen. Bringe uns zu seiner Wohnhalle.« »Ich fürchte, das läßt sich nicht machen«, sagte Opkul. »Der Stimmenmagier weilt nicht mehr auf Pthor.« Nach und nach rückte er dann mit der ganzen Geschichte heraus. Alles Unheil hatte mit dem Schwarzschock begonnen. Koy und Kolphyr kannten dies zum Teil aus eigenem Erleben. Neu für sie waren jedoch die Ereignisse, nachdem sie die Barriere wieder verlassen hatten. Und sie zeigten sich entsetzt, als sie erfuhren, daß Duuhl Larx bereits mit Koratzo und Copasallior an Bord eines Organschiffs unterwegs war. »Was immer der Neffe auch tut«, meinte Kolphyr, »ob der geplante Mord an Thamum Gha nun stattfindet oder nicht, am Ende wird Pthor dafür büßen müssen. Aber ich verstehe nicht, weshalb die Magier bisher nichts Ernsthaftes unternommen haben. Ihr seid mächtig genug.« »Glyndiszorn ist gescheitert«, wandte Opkul ein. »Niemand sonst kann Lamur erreichen. Wir haben auch kein Raumschiff zur Verfügung.« »Sage das nochmal«, bat Kolphyr. »Was?« »Das mit dem Raumschiff. Es stehen genug Organschiffe in der Nähe der FESTUNG, deren Besatzungen ihr sicher leicht beeinflussen könnt. Außerdem existiert noch die GOLʹDHOR. Soviel ich weiß, kamen bisher weder Scuddamoren noch Trugen oder Ugharten an sie heran.« Opkul nickte. »Das magische Raumschiff mag sie nicht und wehrt sich gegen jeden Versuch, es zu betreten«, bestätigte er. »Aber es wird bewacht. Die Ugharten warten nur darauf, daß wir uns in seiner Nähe blicken lassen. Ich habe die Strahlkanonen gesehen, die auf die GOLʹDHOR
gerichtet sind.« Kolphyr wischte den Einwand mit einer verächtlichen Handbewegung zur Seite. »Ihr werdet doch einen Weg finden, mit den Ugharten fertig zu werden.« »Was kann schon passieren?« fragte Koy. »Wenn alle Ugharten so rennen …« Er deutet nach Norden, wo sich in einiger Entfernung die Steilwände des Cañons abzeichneten. »Vielleicht habt ihr sogar recht«, sagte Opkul nach offenbar reichlicher Überlegung. »Aber allein kann ich die Entscheidung nicht treffen. Wir müssen mit den anderen darüber reden.« * Duuhl Larx schien es plötzlich eilig zu haben, von Lamur wegzukommen. Kaum hatte sich das äußere Schleusenschott hinter ihm und den beiden Magiern geschlossen, als er auch schon der Galionsfigur den Befehl zu Startvorbereitungen erteilte. Fünf Minuten später war es dann soweit. Auf brodelnden Feuerstrahlen schoß die HERGIEN in den Himmel. Koratzo suchte vergeblich nach der GOLʹDHOR, denn schon nach wenigen Augenblicken war der Raumhafen von Gaudhere unter der Wolkendecke verschwunden. Die Ortungen zeigten mehrere Einheiten im Anflug auf den Planeten. Allerdings gab es keinen Funkkontakt zwischen diesen Schiffen und Lamur. Die Hauptwelt des Guftuk‐Reviers schwieg. Koratzo dachte an die GOLʹDHOR und an seine Freunde aus der Tronx‐Kette. Im Augenblick achtete Duuhl Larx nicht auf ihn, so daß er sich wirklich konzentrieren konnte. Als ihn schließlich die Kräfte verließen und er schweißüberströmt in seinem Sessel lag, wußte er, daß seine Stimme zur rechten Zeit am
richtigen Ort sein würde. * Koy, Kolphyr und ihre beiden Begleiter platzten mitten in eine erregte Debatte hinein. Die Magier, die sich in der geräumigen Höhle zusammengefunden hatten, schienen ihr Erscheinen nicht einmal zu bemerken, so sehr waren sie damit beschäftigt, sich gegenseitig ihre Meinungen kundzutun. Und das zum Teil in einer Lautstärke, die selbst Koratzo Ehre gemacht hätte. Erst als Kolphyr sich mehrmals vernehmlich räusperte, trat Ruhe ein. Plötzlich stand der Bera im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses, aber es waren nur mißbilligende Blicke, die man ihm zuwarf, und er wußte gleichzeitig, daß er einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte, die Magier derart jäh in ihrer Debatte zu unterbrechen. Opkul rettete die Situation, indem er in kurzen Sätzen schilderte, welchen Vorschlag Koy und Kolphyr zu machen hatten. »Das hört sich gut an«, meinte Kolviss, nachdem der Blickmagier geendet hatte. »Aber leider glaube ich nicht, daß es sich ebenso einfach durchführen läßt. Hinzu kommt, daß die GOLʹDHOR sich noch immer nicht ganz wieder erholt hat. Wir können es einfach nicht riskieren, sie im Strahlfeuer der Organschiffe zu verlieren.« »Koratzo und Copasallior sollten uns das Risiko wert sein«, warf Antharia ein. »Es geht nicht allein um die beiden«, sagte Querllo. »Das Schicksal von ganz Pthor hängt davon ab.« Koy, der Trommler, nickte. »Nach allem, was ich inzwischen gehört habe, müssen wir Duuhl Larx daran hindern, sein Vorhaben auszuführen. Und das können wir eben nur, wenn uns ein Raumschiff zur Verfügung steht.« »Du sagst, wir?« Die zwei Meter durchmessende Meduse Kolviss
taumelte scheinbar erregt durch die Luft. »Ganz recht«, erwiderte Koy. »Kolphyr und ich sind selbstverständlich mit von der Partie.« »Da hört ihr es«, rief Antharia ungehalten aus. »Sollen wir uns später einmal vorhalten lassen, wir, die Magier von Oth, hätten nicht erkannt, wann es zu handeln galt?« »Darum geht es nicht.« Kolviss schwebte bis dicht unter die Decke empor. »Jeder von euch weiß, daß es die Speicher am Skatha‐Hir überlasten und vielleicht zur Katastrophe führen würde, wenn zu viele von uns Pthor verlassen. Und wer hat wirklich eine Chance, gegen Duuhl Larx zu bestehen, wenn nicht einmal Koratzo und der Weltenmagier sich aus seiner Gewalt befreien können?« Betretenes Schweigen auf der einen Seite, zögernde Zustimmung auf der anderen, antwortete ihm. »Ich verstehe euch nicht«, platzte Kolphyr heraus. »Seit wann halten die Magier hinter dem Berg, wenn es darum geht, ihre Stärke zu beweisen?« »Wir sollten abstimmen«, schlug Rischa vor. »Richtig«, nickte Antharia. »Sonst vertrödeln wir noch mehr Zeit. Also, wer ist dagegen, daß wir versuchen, mit der GOLʹDHOR zu starten?« »Ich«, kam es von Kolviss. Opkul und Querllo zögerten, desgleichen Ajyhna und Howath. »Ich kann euch ohnehin keine Hilfe sein«, erklärte der Feuermagier. »Und wer ist dafür?« fragte Antharia weiter. Das waren sie selbst und Rischa, der Schwertmagier, dann Haswahu und Torla. »Also die Hälfte von uns«, stellte die Pflanzenmagierin enttäuscht fest. »Ich hatte gehofft, es würden mehr sein.« »Auch wenn ich nicht überzeugt bin, Koratzo kann auf mich zählen«, sagte Querllo spontan. »Wir aus der Tronx‐Kette lassen unsere Freunde nicht im Stich«,
stimmte Opkul zu. Damit waren dann also klare Verhältnisse geschaffen. »Hoffentlich überseht ihr nichts«, kam es von Kolviss. »Ein einziger Ugharte hätte genügt, um sämtliche Besatzer auf Pthor und darüber hinaus ganz Lamur rebellisch zu machen. Die Folgen brauche ich euch wohl nicht zu schildern.« »Du meinst …«, begann Opkul, sich jedoch keiner Nachlässigkeit bewußt. »Ganz recht«, erwiderte der Traummagier. »Jener Ugharte, den ihr in eurer Großzügigkeit habt laufen lassen. Er hatte nichts anderes im Sinn, als seinen Neffen vor den Magiern zu warnen, die zusammen mit Duuhl Larx unterwegs sind, um ihn zu töten. Grimand, so nennt er sich, war an Bord der HERGIEN, bevor Copasalliors Magie ihn wohl versehentlich in die Barriere versetzte. Wenigstens wißt ihr jetzt, welches Risiko er für uns bedeuten kann.« »Ich nehme an«, sagte Opkul und starrte zu Kolviss hinauf, der noch immer unmittelbar unter der Decke schwebte, »daß du bereits eingegriffen hast.« »Ganz recht«, entstand die Antwort des Traummagiers in seinen Gedanken ebenso wie in den Gehirnen der anderen. »Dieser Grimand weiß nicht mehr, was in den letzten Tagen geschehen ist. Er glaubt, daß er einen Unfall hatte und dabei das Gedächtnis verlor. Jetzt irrt er ziellos umher.« »Konntest du mehr in Erfahrung bringen, Kolviss? Jede Einzelheit kann für uns wichtig sein.« »Der Ugharte wurde von Bord der HERGIEN aus nach Pthor zurückversetzt, als das Organschiff bereits auf Lamur gelandet war. Wieviel Zeit inzwischen vergangen ist, weiß ich leider nicht, aber es ist möglich, daß Duuhl Larx sein Vorhaben bereits ausgeführt hat.« »Um so wichtiger ist es für uns, rasch zu handeln«, sagte Opkul. »Ich werde zu Glyndiszorn gehen und ihn bitten, uns noch einmal zu helfen. Er darf einfach nichts dagegen haben, daß wir die Barriere verlassen.«
»So, darf er nicht«, ertönte plötzlich eine mürrische Stimme. Der Magier mit dem Fernblick fuhr erschrocken herum. »Glyndiszorn!« »Mich hättest du nicht erwartet. Aber heraus mit der Sprache: Wer will die Barriere verlassen, und weshalb?« »Wir haben beschlossen, die GOLʹDHOR zurückzuerobern und mit ihr nach Lamur zu starten.« »Habt ihr von einem Fehlschlag immer noch nicht genug?« »Kein Bewohner von Pthor sollte tatenlos zusehen, wie seine Welt langsam, aber sicher vor die Hunde geht«, sagte Kolphyr. »Das ist ein Wort«, nickte Glyndiszorn. »Ich bin ohnehin gekommen, um euch meine Hilfe anzubieten. Das Mißgeschick, das mir mit dem Tunnel nach Lamur unterlaufen ist, läßt mich nicht ruhen.« »Dich trifft keine Schuld, Knotenmagier. Jeder von uns weiß, daß du wirklich alles versucht hast.« »Deshalb werde ich euch auch zur FESTUNG bringen. Aber keinesfalls alle. Das lassen die energetischen Verhältnisse innerhalb der Barriere nicht mehr zu. Drei Magier, Opkul, mehr kann ich dir als Begleitung nicht zugestehen. Und auch dann darfst du keinen der Mächtigen auswählen, deren Fortgang unweigerlich den Tod aller Bewohner von Oth zur Folge hätte.« »Was ist mit mir?« wollte Querllo wissen. »Ich bin Koratzos ältester Freund.« Glyndiszorn zögerte, stimmte aber zu, als Opkul sich nachdrücklich für eine Begleitung durch den Lichtmagier einsetzte. Nach einigem Hin und Her standen auch die beiden anderen fest. Der Knotenmagier war mit Ajyhna und Taldzane einverstanden. Im Schein der untergehenden Sonne glühten die höchsten Gipfel der Barriere in einem düsteren Rot, als die Magier ihre Versammlung auflösten.
8. Im Schutz der beginnenden Nacht brachte Glyndiszorn die vier Magier sowie Koy und Kolphyr auf das Gelände der FESTUNG. Er ging den Weg mehrmals und trat jeweils mit zweien von ihnen durch eine Falte hindurch, doch gelang es ihm nicht, sie im Innern des goldenen Raumschiffs abzusetzen. Zum Teil mochte das an der von den Organschiffen ausgehenden Aura liegen, zum größten Teil aber sicherlich an der GOLʹDHOR selbst, die sich noch immer nicht völlig erholt hatte und gegen alles sperrte, was von außen her auf sie eindrang. Ihr goldener Schimmer durchbrach die Schwärze der Nacht als warte sie sehnsüchtig darauf, sich endlich wieder erheben zu dürfen, losgelöst von den Fesseln der Schwerkraft sich in ihr Element zu schwingen, den Weltraum. Noch blieb alles ruhig. Am meisten fieberte wohl Kolphyr dem Augenblick entgegen, in dem sie das goldene Raumschiff betraten. Die Überlegung, ob es Koy und ihn auch akzeptieren würde, schob er schnell wieder beiseite. Die GOLʹDHOR faszinierte ihn – auf gewisse Weise wirkte sie auf ihn wie der Ausdruck unbezwingbarer Freiheit. Nur wenig mehr als fünfzig Meter … Die Rampe war ausgefahren, aber die Schleuse geschlossen. Ob sie sich öffnen würde, sobald das Schiff die Magier bemerkte? Glyndiszorn brachte Querllo und Taldzane als letzte zur FESTUNG. Bevor jemand noch etwas sagen konnte, war er schon wieder verschwunden. »Er hätte uns wenigstens Glück wünschen können«, murmelte Koy betroffen vor sich hin. Aber er wußte selbst, daß der Knotenmagier stets wortkarg und mürrisch war, und das entschuldigte sein barsches Verhalten natürlich. Etwa eintausend Meter entfernt und nur als Schatten zu erkennen, standen zwei größere Organschiffe. Auch wenn keine Ugharten in
der Nähe zu sein schienen, so bedeutete das noch lange nicht, daß sie nicht in diesem Augenblick bereits bemerkt hatten, wer sich der GOLʹDHOR heimlich näherte. Sand knirschte unter ihren Füßen, als sie sich auf das goldene Raumschiff zu bewegten. Kolphyr konnte sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. Vielleicht wäre es anders gewesen, hätte er Koratzo oder Kolviss neben sich gewußt, denen ihre Magie sofort die Anwesenheit noch unsichtbarer Gegner verraten hätte. So war es eigentlich nur Opkul, der mit seinem Fernblick Ugharten oder Angehörige anderer Hilfsvölker aufspüren konnte. Aber selbst er konnte nicht überall zugleich hinsehen. War da nicht etwas? Der Bera verharrte mitten im Schritt. Auch die anderen blieben stehen. Eine flüchtige Bewegung, ein leises Geräusch … Opkuls warnender Ausruf kam den Bruchteil einer Sekunde vor dem grell aufzuckenden Blitz, der die Finsternis jäh aufriß. Nur um Haaresbreite entgingen die Magier den tödlichen Energien einer Strahlwaffe. Dort, wo im Widerschein des Abstrahlpols ein Ugharte sichtbar geworden war, schlugen mehrere Lichtlanzen ein, deren Wucht stark genug war, um den Boden meterweit aufzuwühlen. Querllo hatte spontan gehandelt, aber keineswegs in der Absicht zu töten. Daß der Angreifer im Glutball seiner explodierenden Waffe verging, hatte er nicht gewollt. Plötzlich wurde es lebendig ringsherum. Es mußten Dutzende von Ugharten sein, die sich von allen Seiten her näherten. Vereinzelte Energieschüsse zuckten durch die Nacht, ohne jedoch zu treffen. Aber fast gleichzeitig flammten bei den Organschiffen Scheinwerfer auf, deren taghelle Lichtkegel sich zielstrebig der GOLʹDHOR näherten. Eine Wolke aus dicht geballten Funken huschte über das Gelände, fächerte sich innerhalb weniger Augenblicke auf und stürzte sich auf die näherkommenden Ugharten, die sofort gelähmt zu Boden
sanken. Dennoch wurden es immer mehr. Von allen Seiten eilten sie herbei. Gleißender Lichtschein erfaßte die Gottesanbeterin. Unmittelbar vor Kolphyr begann plötzlich der Boden zu glühen. Der Bera warf sich herum und die ungeheure Hitze eines zweiten Energieschusses verfehlte ihn nur knapp. Koy hastete die Rampe zum goldenen Raumschiff hinauf, unmittelbar gefolgt von Ajyhna und Opkul. Taldzane schien unschlüssig zu sein, ob er seine Schwerter gegen die heranstürmenden Ugharten einsetzen sollte. Doch Querllo und Koy sorgten bereits für Verwirrung unter den Angreifern; der eine, weil er immer neue paralysierende Wolken entstehen ließ und blendende Lichtlanzen verschleuderte, der andere, weil er seine Broins einsetzte und so mancher Ugharte, der gerade die Waffe hob, ein scheinbar aus dem Nichts heraus kommendes dumpfes Trommeln hörte und schreiend zusammenbrach. Ein bewaffneter Gleiter donnerte über das Gebiet der FESTUNG hinweg. Unmittelbar vor dem Kopf der GOLʹDHOR riß ein armdicker Energiestrahl einen tiefen Krater in die Erde. »Tu uns einen Gefallen und öffne die Schleuse«, murmelte Kolphyr. »Laß uns nicht im Stich.« Aber nichts geschah. Statt dessen rasten weitere Maschinen im Tiefflug über sie hinweg. Offenbar zögerten die Ugharten noch, auf die GOLʹDHOR zu schießen. Hofften sie noch immer, das goldene Raumschiff eines Tages für sich zu gewinnen? Irgendwo in der Ferne erfolgte eine Explosion. Flammen schossen in den Himmel empor. Gleich darauf sanken viele der Angreifer wie vom Blitz gefällt zu Boden. Sie hatten die kleine Gruppe, die sich verbissen gegen die wachsende Übermacht verteidigte, beinahe erreicht. Andere warfen die Waffen weg und begannen, wie besessen herumzuhüpfen. Ihr Anblick ließ die Vermutung aufkommen, daß sie nicht mehr Herr ihrer Sinne waren.
»Was …?« Koy erschrak, als Glyndiszorn unverhofft neben ihm stand. »Ich habe mir erlaubt, euch zu helfen«, sagte der Knotenmagier auf seine mürrische Art. »Kolviss und Haswahu sind irgendwo dort draußen. Aber gegen mögliche Robotbesatzungen, die die Schiffsgeschütze bedienen, können auch sie nichts ausrichten.« »Die GOLʹDHOR läßt uns nicht ein«, sprach Taldzane aus, was Glyndiszorn bereits mit einem Ausdruck ungläubigen Erstaunens auf seinem Gesicht festgestellt hatte. »Sie muß!« Der Knotenmagier legte seine Hände gegen die Schleuse. Nicht nur er fühlte plötzlich die wohlwollenden Impulse, die von dem Schiff ausgingen. Hatte die GOLʹDHOR jetzt erst erkannt, wer da Einlaß begehrte? Kolphyr wußte, daß ihm im Augenblick niemand diese Frage beantworten konnte. Das Schott öffnete sich. Der Bera taumelte vorwärts – er glaubte, in eine andere Welt zu kommen. Alles um ihn herum war von einer vollendeten Harmonie. Als er sich umdrehte, war Glyndiszorn bereits verschwunden. Opkul und der Lichtmagier stürmten in die Zentrale hinauf, während die anderen sich noch bewundernd umsahen. Dem Trommler schien es der flirrende Vorhang aus winzigen, goldgläsernen Plättchen im Brustabschnitt der Gottesanbeterin besonders angetan zu haben. Opkul sprach mit der GOLʹDHOR. Er spürte, daß sie äußerst positiv auf die Anwesenheit der Magier reagierte, sie führte auch jeden seiner Befehle sofort aus, aber sie redete noch nicht zu ihm. Ein schwerer Schlag erschütterte das goldene Raumschiff. Eine blendende Lichtfülle ergoß sich über sein Inneres. Niemand brauchte es auszusprechen, daß in diesem Moment die Organschiffe das Feuer eröffnet hatten. Aber die Schutzschirme hielten. Mit einem einzigen Satz schwang sich die Gottesanbeterin in die
Luft. Sie war so schnell, daß ihr keiner der anderen Raumer folgen konnte. Innerhalb weniger Minuten versank Pthor in der Schwärze des Alls. * Im Orbit um Lamur kreisten etliche Organschiffe. Doch weder Landungen noch Starts erfolgten, auch Funksprüche wurden nicht beantwortet. »Ich verstehe das nicht«, sagte Querllo, nachdem die GOLʹDHOR wiederholt auf Kollisionskurs mit einigen besonders großen Schiffen gegangen war, ohne eine wie auch immer geartete Reaktion damit hervorzurufen. »Beinahe gespenstisch«, nickte Opkul. »Als wären die Raumer von ihren Besatzungen verlassen.« Er forderte die GOLʹDHOR auf, nach der HERGIEN Ausschau zu halten und in ihrer Nähe zu landen. Aber das Raumschiff mit dem Duuhl Larx Pthor verlassen hatte, war verschwunden. Überhaupt schienen recht eigenartige Zustände auf Lamur zu herrschen. Die GOLʹDHOR wurde nicht angegriffen, als sie dicht über den großen Raumhafen hinwegflog. Überall schlenderten Ugharten über das Landefeld, ziellos, ohne Hast und Eile. Sie sahen nicht einmal auf, als der Schatten der Gottesanbeterin sie streifte. Aber keine Spur von den Neffen und den beiden verschleppten Magiern. »Eigentlich läßt das alles nur einen einzigen Schluß zu«, sagte Opkul bedrückt. »Thamum Gha ist tot. Weshalb sonst sollten die Ugharten wie in Trance herumlaufen, ohne erkennbares Ziel, sinnlos, wie es scheint? Und die vielen ausgeglühten Wracks, die überall herumliegen. Vielleicht ist es zu einem Kampf gekommen.« »Landen wir«, schlug Querllo vor, »und sehen wir uns ein wenig
um.« Die GOLʹDHOR senkte sich in der Nähe einiger Hafengebäude auf die Piste herab. Während der Lichtmagier, Koy und Kolphyr das Schiff verließen, blieben Opkul und die beiden anderen an Bord zurück. Opkul war bemüht, eine rasche Genesung der Gottesanbeterin herbeizuführen, wenn er auch noch nicht wußte, wie dies geschehen sollte. Vielleicht blieb ihm wirklich nichts anderes übrig als abzuwarten, bis das magische Raumschiff wieder zu sprechen begann. Mit seinem Fernblick hatte er zwar erkennen können, daß es in den Gebäuden genauso aussah wie überall auf dem Raumhafen, aber Querllo und seine Begleiter wollten sich an Ort und Stelle umhören. Und das war doch etwas anderes, was vielleicht zu greifbaren Ergebnissen führen würde. Allerdings kehrten die drei dann ziemlich ratlos zurück. Was sie vorgefunden hatten, wußte Opkul, daß sie aber keinem der Ugharten auch nur eine brauchbare Information entlocken konnten, wollte er anfangs nicht glauben. Nicht einmal der Verbleib der HERGIEN hatte sich klären lassen. »Vielleicht kann uns die GOLʹDHOR weiterhelfen«, murmelte er schließlich niedergeschlagen, obwohl er selbst nicht so recht an diese Möglichkeit glaubte. Zu seiner völligen Überraschung zeigte das goldene Raumschiff jedoch durch Lichtsignale an, daß es zumindest die Richtung kannte, in die Duuhl Larx aufgebrochen war. »Die Frage ist nur«, warf Taldzane ein, »ob wir es überhaupt wagen sollen, die Verfolgung aufzunehmen, oder ob wir dadurch nicht noch zusätzlich die Aufmerksamkeit des Dunklen Oheims auf Pthor und seine Bewohner lenken.« Die GOLʹDHOR nahm ihnen die Entscheidung ab. Unerwartet, ohne daß jemand ihr den Befehl dazu erteilt hätte, startete sie. Und während sie eine erneute Schleife über dem Raumhafen zog und dabei langsam an Höhe gewann, hallte in ihr eine Stimme
wider, die jeder kannte: »Ich wußte, daß ihr kommen würdet«, klang es laut zwischen den gläsern schimmernden Wänden auf. »Wer immer die GOLʹDHOR fliegt, es kann nur ein Magier sein. Hoffentlich kann ich diese Botschaft zu Ende sprechen, denn Copasallior und ich befinden sich noch immer in der Gewalt des Neffen, und wie es aussieht, können wir uns auch in absehbarer Zeit nicht daraus befreien. Duuhl Larx hat sein Vorhaben wahrgemacht und den Herrscher über das Guftuk‐Revier getötet. Er ist jetzt stärker als zuvor, und er wird seinen Weg der Gewalt gehen bis hin zum Dunklen Oheim. Ich habe nur eine Bitte: Helft, die Gefahr abzuwenden, die Pthor von diesem Wahnsinnigen droht. Nehmt dabei aber auf mich keine Rücksicht.« Als die Stimme schwieg, sagte Opkul nur ein Wort: »Koratzo!« Und darin drückte sich alles aus, was er und seine Freunde in diesem Augenblick empfanden. Ein wenig waren sie dankbar, daß ihnen die GOLʹDHOR die Entscheidung abgenommen hatte. ENDE Weiter geht es in Atlan Band 468 von König von Atlantis mit: Die rebellische Seele von H. G. Francis