Melissa Crandall Earth 2 Das Eden-Projekt Roman
Dieses Buch widme ich Edward, meinem Mann, der meine Welt durch seine ...
5 downloads
499 Views
546KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Melissa Crandall Earth 2 Das Eden-Projekt Roman
Dieses Buch widme ich Edward, meinem Mann, der meine Welt durch seine Unterstützung zu der besten aller Welten macht; Ginjer Buchanan, der Redakteurin, die zum richtigen Zeitpunkt an mich gedacht hat; Tony und Luke Perkins und Anthony, Theresa und Sharri Everett, für die ich mir eine bessere Welt wünsche; Gil, der besten aller Katzen, in memoriam; und Amanda und Duncan, mit dem Ausdruck der Reue und des Bedauerns. Es ist kaum eine Wiedergutmachung, aber dennoch gehört dieses Buch euch.
Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde: denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr. Offenbarung 21,1 Ich erschuf die Neue Welt, um das Gleichgewicht der Alten wiederherzustellen. George Canning The King's Message 12. Dezember 1826 Wir müssen eine neue Welt errichten; eine bessere Welt, in der die ewige Würde des Menschen respektiert wird. Harry S. Truman 23. April 1945 Es gilt eine neue Welt zu erobern. John Fitzgerald Kennedy 15. Juli 1960
Prolog Das Jahr 2184 Geduld hatte noch nie zu den Tugenden von Devon Adair gehört. Immerhin hatte dieser Umstand dazu geführt, daß sie eine der eigenwilligsten und karrierebesessensten, aber ganz nebenbei auch eine der bekanntesten und reichsten Frauen der Welt geworden war. Wo immer sie in Erscheinung trat, wurde sie ohne Umschweife als die führende Persönlichkeit auf dem Gebiet der Entwicklung und Konstruktion von Weltraumstationen anerkannt; und von denen waren mittlerweile ein ganze Menge im Raum zwischen Venus und Neptun verankert. Kurz, es gab wohl keine einzige Tür, die Devon verschlossen blieb, wenn sie ihren Namen nannte, weder auf der Erde noch an irgendeinem anderen Ort im Weltall. Aber all das war im Moment vollkommen ohne Bedeutung. Und sollten sich die Dinge so weiter entwickeln, wie sie es befürchtete, würde sich ihr Leben sowieso von Grund auf ändern. Nichts, absolut gar nichts würde mehr so sein wie vorher. Aufs äußerste angespannt durchmaß Devon immer und immer wieder die volle Länge des Warteraums. Ab und zu setzte sie sich in einen der Sessel, allerdings nur, um schon kurze Zeit später wieder nervös aufzuspringen und erneut auf dem dunkelgrünen Teppich hin und her zu wandern. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, sie schien es keine zwei Sekunden an derselben Stelle auszuhalten. Allerdings ließ sie dabei die Flügeltür am Ende des Warteraums nicht einen Moment aus den Augen. Hinter dieser Sicherheitssperre lag eine eigene Welt aus Untersuchungsräumen, Krankenzimmern und
Diagnosestationen, in die Devon Adair nicht eindringen konnte. Gleich welchen, Einfluß die bloße Nennung ihres Namens überall sonst hatte, zu diesem Heiligtum würde er ihr nicht Zutritt verschaffen. Diese Türen waren das einzige Hindernis, bei dessen Überwindung ihre Position und ihre Macht versagten. Wie inständig sie auch bat und flehte, stritt und forderte, Dr. Vasquez stellte sich auf eine Art und Weise taub, die Devon wahnsinnig machte. Fürs erste zumindest ließ er sie nicht durch diese Tür, so einfach war das. In seinen Augen spielte es keine Rolle, wer sie war und über wieviel Macht und Einfluß sie verfügte. Im Gegenteil, als sie versucht hatte, den Arzt damit unter Druck zu setzen, hatte er sie derart vernichtend angesehen, daß sie den Streit mit ihm verloren gegeben hatte wie ein verzogenes Kind, das sich nach seinen eigenen Spielregeln geschlagen sieht. In der sterilen Abgeschlossenheit dieser Krankenhausstation war es vollkommen unerheblich, welche Rolle sie draußen spielte. Die Selbstverständlichkeit, mit der andere Leute, vor allem das Krankenhauspersonal, durch die Flügeltür kamen und gingen, zerrte noch weiter an Devons Nerven. Einige liefen mit besorgten und frustrierten Gesichtern an ihr vorüber, während andere langsam und gelangweilt durch das Wartezimmer schlenderten und den Eindruck vermittelten, als versuchten sie nur, bis zum Ende ihrer Schicht die Zeit totzuschlagen. Aber im Gegensatz zu Devon besaßen sie alle das Recht, ungehindert durch diese Tür zu gehen. Wenn sie die Besucherin überhaupt beachteten, dann nur, um ihr einen neugierigen Blick zuzuwerfen, in dem manchmal auch eine Spur Mitleid lag. Devon war sich ziemlich sicher, daß man sie nicht deswegen so ansah, weil sie eine bekannte Persönlichkeit war. Nein, diese Blicke wurden ihr aus einem ganz anderen Grund zugeworfen, einem Grund, der wie ein stummer Schrei durch die stillen Korridore des Gebäudes hallte und in Devons Innerstem stumm, aber quälend widerklang. Es gab nur einen einzigen Grund,
warum Devon hier war - warum Eltern überhaupt in dieses Krankenhaus kamen -, und das Wissen darum machte ihr plötzlich in aller Brutalität klar, daß sie von jetzt an eine Paria, eine Ausgestoßene war. Daß heute keine anderen Eltern anwesend waren, mit denen sie über ihre Angst hätte sprechen können, war ihr nur recht. Sie gehörte nicht zu den Leuten, die sich Fremden gegenüber leicht öffneten und ihre Gefühle bloßlegten. Irgendwo hinter diesen großen Türen befand sich Ulysses, ihr Sohn; eingesperrt in einem Untersuchungszimmer, wo man ihn untersuchte und mit Spritzen quälte. Jeder hier konnte zu ihm, nur sie nicht. Diese erzwungene Tatenlosigkeit war grausam und erfüllte Devon mit einem Gefühl der Ohnmacht, das neu für sie war und ihren Lebensnerv mit einer Heftigkeit traf, daß sie vor Verzweiflung laut hätte schreien können. War das der Preis der Macht, daß man sich ihrer ausgerechnet dann nicht bedienen konnte, wenn man sich am hilflosesten fühlte? Allmählich dämmerte es Devon Adair, daß alle Macht der Welt nutzlos war, wenn es um das »wirkliche« Leben ging. Sie ballte die Hände zu Fäusten und schlug sich damit auf die Oberschenkel, bis es schmerzte. »Warum ausgerechnet man Kind?« stieß sie atemlos hervor und wiederholte ihre Frage immer und immer wieder, als wären diese Worte ein schutzbringendes Mantra oder ein beschwörendes Gebet. Aber leider gab es keinen Schutz, in dessen Obhut sie sich begeben konnte und der diese furchtbare Bedrohung von ihr nahm. Es gab Leute, die behaupteten, Gott hätte schon vor langer Zeit die Koffer gepackt, sein Haus geräumt und es den Mietern überlassen, für sich selbst zu sorgen. Wenn sich Devons schlimmste Befürchtungen im Hinblick auf Ulysses' Gesundheitszustand bewahrheiteten, dann gab es keinen Grund mehr, warum nicht auch sie genau das glauben und den nicht mehr anwesenden Vermieter für seinen Vertragsbruch verfluchen sollte.
Dabei hatte alles völlig normal begonnen! Ulysses war gesund und widerstandsfähig zur Welt gekommen und erfüllte seine fünfundzwanzigjährige Mutter mit großem Stolz. Dieses Ereignis stellte die Krönung von Devon Adairs bisherigem Leben dar. Doch fatalerweise war das Glück nur von kurzer Dauer. Innerhalb von nur wenigen Tagen erkrankte Uly und wurde immer schwächer. Devon war nicht in der Lage, ihre intuitiv richtige Einschätzung der Situation zu akzeptieren, und versuchte sich einzureden, daß es sich einfach um eine der gewöhnlichen Kinderkrankheiten handelte, die die moderne Medizin immer noch nicht besiegt hatte. Und was machte es schon, wenn sie aus Sorge um ihr Kind ein paar schlaflose Nächte verbrachte? Das taten andere Eltern schließlich auch. Aber es trat keine Änderung in seinem Zustand ein, die Krankheit wurde immer schlimmer, bis Uly schließlich nur noch ein Schatten seiner selbst war, ausgezehrt und winzig. Sie zwang ihn weiterhin in seinen Immuno-Anzug, auch wenn es deswegen regelmäßig Tränen und Wutanfälle gab. Schließlich konnte Devon sich den Tatsachen nicht länger verschließen. »Nur um sicherzugehen« brachte sie Uly zu Dr. Vasquez ins Krankenhaus der Raumstation, in dem die Kinder - und es waren immer nur Kinder - behandelt wurden, die unter dieser merkwürdigen neuen Krankheit litten, die allgemein nur als >das Syndrom< bezeichnet wurde. Aber natürlich litt Uly nicht an dieser Krankheit, er war nur ein bißchen schwächlich, das war alles. »Mrs. Adair.« Obwohl die Anrede völlig ruhig und emotionslos war und man der Stimme anmerken konnte, daß sie darauf trainiert war, nüchtern und sachlich zu klingen, erschrak Devon. Sie hatte weder Fußschritte gehört noch das Geräusch der sich öffnenden Tür. Direkt vor ihr stand Dr. Vasquez. Bei dem Gedanken, daß es einem wildfremden Menschen gelungen war, sie in einem
Moment der Schwäche zu überraschen, errötete sie. Das passierte ihr nicht allzuoft, und wenn, dann haßte sie sich dafür. Einen Blick hinter die Fassade erlaubte sie nur ihren Freunden, und davon hatte sie genaugenommen nur einen einzigen. Falls der Arzt, der einige Jahre älter war als sie, ihre Verlegenheit bemerkt haben sollte, so ignorierte er sie. Er zeigte ihr nur das angestrengte Lächeln desjenigen, der gezwungen ist, selbst dann ein freundliches, zuversichtliches Gesicht aufzusetzen, wenn ihm nicht im mindesten danach zumute ist. Devon bemerkte, daß seine Augen, die sie genau beobachteten, dieses künstliche Lächeln nicht widerspiegelten. Sollte er doch andere mit seinem Grinsen einlullen. Sie war zwar noch jung, aber was Mimik anging, war sie eine Expertin. Sie wußte, wie man ein Lächeln einsetzen konnte, um seine Ziele zu erreichen. Die Augen waren der Schlüssel zu jedem Menschen, sie verrieten die wahren Gefühle. Wenn Dr. Vasquez glaubte, Devon würde auf diese billige Masche hereinfallen, dann hatte er sich getäuscht. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, nicht so verdammt clever zu sein. In ihrer jetzigen Situation hätte es vielleicht ein echter Trost sein können, wenn sie etwas gutgläubiger und naiver gewesen wäre. »Sie ändern nichts, wenn Sie sich selbst schlagen, Mrs. Adair«, sagte er leise und fuhr sich mit der Hand über die müden Augen. Diese Geste verriet mehr über seine Erschöpfung als alle Worte. Devon sprang auf und schlug die Hände vors Gesicht, während sich tief in ihrem Innersten Furcht und Schrecken ausbreiteten. »Oh nein, bitte nicht...« »Beherrschen Sie sich!« fuhr Dr. Vasquez sie in einem Ton an, der keinen Widerspruch duldete. Devon hatte das Gefühl, als ob ihr die Worte im Hals steckenbleiben wollten und sie daran ersticken müßte. Ob sein Stirnrunzeln Wut oder Anstrengung signalisierte, wußte sie nicht zu entscheiden.
»Entschuldigen Sie, Mrs. Adair, aber ich habe im Augenblick weder Zeit noch Kraft, Sie mit irgendwelchen Plattheiten zu trösten. Wenn Sie das Bedürfnis haben, sich mit jemandem auszusprechen, kann ich nach einem Therapeuten schicken. Wenn nicht, sollten wir uns auf das Wesentliche konzentrieren.« Er wartete und beobachtete sie aufmerksam. Devon wurde auf einmal bewußt, daß sie den Kopf schüttelte, ohne recht zu wissen, warum. Dann nickte er und hob einladend einen Arm. »Kommen Sie mit.« Kommen Sie mit. Mehr nicht. Drei Worte, so einfach wie Abrakadabra, und schon war die vorher unüberwindbare Schranke passierbar für sie. Devon mochte zwar kein herzlich willkommener Gast sein, aber Vasquez' Einladung machte sie wenigstens zum geduldeten Besucher. Indem der Arzt die Flügel der Schwingtür öffnete und sie in den angrenzenden Flur führte, kam er Devon vor wie eine Art Moses. Das leise, singende Geräusch der sich hinter ihnen schließenden Tür klang in ihren Ohren wie eine Explosion, verhängnisvoll und dunkel. Und schon bereute sie fast, daß sie überhaupt in diese verborgene Welt hatte eindringen wollen. »Das hier ist die Aufnahme.« Vasquez' Stimme ließ sie wiederum aufschrecken. Devon merkte allmählich, wie durcheinander sie eigentlich war. Mit Mühe konzentrierte sie sich und nahm wahr, daß der Arzt mit ausholender Geste auf einige Büros und den in beruhigenden Farben gestrichenen Arbeitsbereich zu ihrer Linken wies. Hinter einem brusthohen Tresen arbeitete eine Reihe von Angestellten derart konzentriert und geschäftig, daß sich Devon das Bild eines Bienenstocks oder Ameisenhaufens aufdrängte, auch wenn sie beides selbstverständlich noch nie in freier Natur gesehen hatte. Nicht einer von ihnen lächelte bei ihrem Eintreten, nur wenige sahen kurz auf, um Dr. Vasquez zuzunicken oder das Gesicht zu einer Grimasse zu verziehen, die wahrscheinlich so etwas wie ein Lächeln andeuten sollte.
»Rechts geht es zur Beratung.« Vasquez wies mit der Hand auf eine geschlossene Glastür, hinter der sie jemanden, der einen Krankenhauskittel trug - ein Psychotherapeut? -, neben einem Mann sah, der mit gebeugtem Rücken an einem Tisch saß und das Gesicht in den Händen vergrub. Er bewegte sich in stillem Schmerz rhythmisch hin und her, während die Frau, die zu seiner anderen Seite saß, in stummer, ohnmächtiger Wut auf die Wand starrte. »Den Gang runter befindet sich die Physikalische Therapie«, fuhr Vasquez mit dem gleichen unbeteiligten Tonfall fort und zeigte einen Korridor entlang, der den Gang kreuzte, auf dem sie sich gerade befanden. »Ab einem bestimmten Punkt des Krankheitsverlaufs können sich die Kinder nicht mehr richtig bewegen. Wir versuchen zu verhindern, daß ihre Muskeln sich vollständig zurückbilden, und treten dem mit einer apparateunterstützten Bewegungstherapie entgegen, um den Verfallsprozeß zu verlangsamen. Die Übungen bewirken, daß sie zumindest einen kleinen Rest an Kontrolle über ihre Muskeln und ein gewisses Maß an Elastizität behalten. Außerdem ist das gut für ihre psychische Verfassung.« »Die Labors und die Bibliothek liegen an diesem und den beiden parallel dazu verlaufenden Korridoren.« Die Stimme des Mediziners wich tatsächlich niemals auch nur einen Deut von dieser eingeübten, unbeteiligten Eintönigkeit ab. Devon fühlte sich plötzlich daran erinnert, wie ihre Eltern sie im Alter von sieben Jahren einmal mit auf eine Reise zur Erde genommen hatten. »Zu ihrer Linken, meine Damen und Herren, sehen Sie die Freiheitsstatue«, hatte der Fremdenführer enthusiastisch verkündet. »Leider sind aufgrund des sauren Regens nur noch die Füße und der Saum des Gewandes erhalten.« »Der überwiegende Teil der Forschungsarbeit wird in diesem Trakt geleistet«, fuhr Vasquez fort. »Und unsere Ergebnisse werden sofort in die medizinischen Datenbanken des interstationären Netzwerks eingespeist.«
Uly hatte er bisher überhaupt noch nicht erwähnt, nicht ein Wort über seinen Zustand verloren. So wußte Devon immer noch nicht genau, was eigentlich los war. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Beschämt spürte sie, daß sie nicht den Mut aufbrachte, Vasquez direkt darauf anzusprechen, wenigstens im Moment nicht. Noch war sie nicht bereit, die Hiobsbotschaft zu ertragen, daß ihr ganzes Leben, ihre ganze Welt kurz davor stand, auseinanderzubrechen. »Wenn Sie mir bitte hier entlang folgen wollen, Mrs. Adair. Wir werden ...« »Kann ich die Kinder besuchen?« unterbrach sie ihn, ohne genau überlegt zu haben, was sie damit eigentlich bezwecken wollte. Vasquez, der schon vorangegangen war, blieb plötzlich stehen und drehte sich um. Fragend hob er die Augenbrauen und musterte lange und aufmerksam ihr Gesicht, bevor er antwortete. »Warum?« fragte er schließlich ganz ruhig. Mit diesem einen Wort wurde auf einmal die ganze Liebe offenkundig, die er für diese sterbenden Kinder empfand. Und seine Stimme verriet gleichzeitig den Wunsch, sie zu beschützen, wie auch seine Verzweiflung darüber, daß er einen möglicherweise aussichtslosen Kampf gegen die Krankheit führte. Devon fiel keine plausible Begründung für ihren Wunsch ein. Vor allem aber wollte sie nicht, daß ihre Antwort sich irgendwie gleichgültig, dumm oder abgedroschen anhörte. In dem Fall würde Vasquez sie durch das gesamte Krankenhaus schleifen, ohne sie auch nur einen einzigen Blick auf die Kinder werfen zu lassen, dessen war sie sich ganz sicher. Ja, warum wollte sie die Kinder sehen? »Ich weiß nicht«, erwiderte sie ganz offen. »Ich bin neugierig. Ich möchte einfach ...« Ärgerlich über ihre Unfähigkeit, sich verständlich zu machen, schüttelte sie den
Kopf. Es fehlten ihr die richtigen Worte, die in ihren eigenen, vor allem aber in Vasquez' Ohren aufrichtig geklungen hätten. Devon faltete die Hände und preßte sie zusammen. »Nein, es ist doch noch etwas anderes. Ich will wissen, was ...«, sagte sie leise und zuckte mit den Achseln. Sie fühlte sich plötzlich wie ein kleines Kind, das von seinem Lehrer bei etwas Unerlaubtem erwischt wird. »Ich muß wissen, was ... weil Uly ...« In Vasquez' Augen spiegelte sich für den Bruchteil einer Sekunde eine Emotion, die Devon nicht zu deuten vermochte; dann nickte er. »Ich danke Ihnen dafür, daß Sie ehrlich sind, Mrs. Adair. Es gibt eine ganze Menge Leute, die diese Frage nur stellen, weil sie sich davon den gleichen Schauder wie in einer Peep-Show erwarten - einen Blick auf die Freaks werfen und dann wieder mit dem sicheren Bewußtsein verschwinden, wie glücklich sie und ihre Kinder sein können, daß sie das Syndrom nicht haben. So etwas wie Mitgefühl für die betroffenen Kinder zu entwickeln käme ihnen nicht im entferntesten in den Sinn.« Plötzlich lächelte er und sah dadurch geradezu liebenswert aus. »Mir gefällt Ihre Einstellung, Mrs. Adair. Ich würde mich freuen, Sie den Kindern vorstellen zu dürfen. Hier entlang, bitte.« Er drehte sich herum und führte sie durch das wie ein Spinnennetz angelegte Korridorsystem. Devon glaubte ihm, daß er sie gerne mit den Kindern bekannt machen wollte. Und sicher verhielt er sich nicht nur so, weil sie die »richtige« Antwort gegeben hatte. Der Schmerz, den er aufgrund seiner Ohnmacht der Krankheit gegenüber wie eine tonnenschwere Last empfand, schien sich in einen gewissen Stolz verwandelt zu haben. »Sie müssen diese Kinder wirklich sehr gern haben, Dr. Vasquez. Ich meine, abgesehen von der Tatsache, daß sie Ihre Patienten sind, mögen Sie sie als Menschen, nicht wahr?« »Mrs. Adair, ich habe alle meine Patienten gern, und ich bin stolz darauf, das so sagen zu können. Die Anmut und Würde, die diese unendlich geprüften Wesen im Angesicht ihres
Schicksals zeigen, haben mich zutiefst überrascht. Sie haben mich alles über das Leben und den Tod gelehrt. Ich empfinde Ehrfurcht vor ihrer Weisheit und Demut vor ihrer Tapferkeit.« Er blieb vor einer Tür stehen und legte eine Hand auf die Klinke, während er sich zu Devon umdrehte. »Die Kinder sind nicht in Einzelzimmern untergebracht. Da sie ein ungeheueres Bedürfnis nach Gesellschaft haben, haben wir sie in einer einzigen, großen Abteilung zusammengelegt.« »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich Sie richtig verstanden habe ...« »Sie werden es schon noch verstehen«, versicherte er. Nun stieß er die Tür auf. »Treten Sie ein, und lernen Sie meine Freunde kennen.« Der Raum war völlig anders, als Devon ihn sich vorgestellt hatte. Sie hatte eine sterile Atmosphäre erwartet, lange Reihen von Betten, in denen die Patienten still und apathisch vor sich hinschliefen. Statt dessen waren da Farben, überall Farben, das ganze Spektrum eines Regenbogens, so bunt und aufdringlich, daß es beinahe schmerzte. Diese Ausstattung war zuviel für Devons derzeitige Verfassung. Daß in diesem Raum, in dem der Tod allgegenwärtig war, alles so demonstrativ fröhlich und positiv aussah, hinterließ einen schalen Geschmack in ihrem Mund. In dem Saal befanden sich zwölf, vielleicht dreizehn Betten. Sie waren in unregelmäßigen Abständen zu lockeren Reihen zusammengestellt worden. In jedem Bett lag ein krankes, geschwächtes Kind. Ein paar von ihnen waren Kleinkinder wie Uly, andere wenige Jahre älter, aber sie alle mußten ImmunoAnzüge tragen. Nur so, eingehüllt in diese Kokons, hatten sie eine Chance, den Tod wenigstens noch für kurze Zeit hinauszuzögern. Bei diesem Gedanken drehte sich Devon der Magen um. Einen Augenblick lang fürchtete sie, sich sofort, vor den Augen der Kinder übergeben zu müssen. Aber es gelang ihr, sich zu
beherrschen, die Welle der Übelkeit ging vorbei. Wie die meisten hatte auch sie Berichte über diese Krankheit gelesen, Videos gesehen und geglaubt, alles über das Syndrom zu wissen. Aber es war eine Sache, sich darüber in den Medien zu informieren, und eine ganz andere, persönlich mit der Krankheit konfrontiert zu sein. Devon hatte erwartet, daß es auf dieser Station leise zugehen müßte, daß kein Geräusch zu hören sein würde außer dem Flüstern der Atemgeräte, während sie Luft in die keuchenden Lungen der Kinder preßten, die um jeden für sie so kostbaren Tropfen Sauerstoff kämpften. Aber sie hatte sich getäuscht. Die künstlichen Lungen und das schwere Atmen waren zwar tatsächlich im Hintergrund zu hören, aber diese Geräusche wurden von den Stimmen der Kinder deutlich übertönt. Die Kleinen sprachen aufgrund ihrer Schwäche und Atemnot zwar leise, aber sie sprachen miteinander, lachten und sangen sogar, als triebe sie der Entschluß an, keinen Tag ihres kurzen Lebens zu verschenken. Sie hatten noch lange nicht kapituliert. Und plötzlich begriff Devon, was der Doktor gemeint hatte, als er von dem Bedürfnis seiner Patienten nach Gesellschaft gesprochen hatte. »Hi, Dr. Vasquez.« Das schwache, aber fröhlich klingende Stimmchen gehörte einem etwa siebenjährigen, dunkelhaarigen Mädchen, dessen große braune Augen aus seinem schmalen, beinahe knochigen Gesicht hervortraten. Die Kleine lächelte den Arzt glücklich an, während sie versuchte, das Kopfteil ihres Bettes in die Senkrechte zu bringen, um aufrecht sitzen zu können. Ein ehrliches, herzliches Lächeln lag auf den Lippen des Arztes, als er zu dem Bett des Kindes ging. »Hi, Leslie. Soll ich dir helfen?« »Machen Sie ... Witze?« Das Atemgerät verlieh ihrer Stimme einen blechernen Klang. Zwischen den einzelnen Worten mußte sie Pausen einlegen und nach Luft ringen, um überhaupt
weitersprechen zu können. Es kostete sie unsägliche Mühen, aber offensichtlich war sie genauso entschlossen, sich in ganzen Sätzen zu unterhalten, wie sie unbedingt ihr Bett allein aufrichten wollte. »Ich steh' auf ... und trete gegen das blöde Ding ... wenn es nicht gleich ... funktioniert.« In Anbetracht ihres Zustandes war das wohl kaum möglich. Dennoch gab Leslie nicht auf, sondern drückte weiter auf verschiedene Knöpfe in ihrer Reichweite, bis sich auf einmal das Kopfteil des Bettes mit einem geschäftigen Surren zu bewegen begann und das Mädchen in eine bequeme Sitzposition brachte. »Na also! Ich hab' doch gesagt ... daß ich's schaffen werde.« »Daran habe ich auch nicht eine Sekunde gezweifelt, Les«, antwortete der Arzt aufrichtig. »Du hast mehr Willenskraft in deinem kleinen Finger als die meisten Menschen in ihrem ganzen Körper. Wie geht es dir heute?« Während er mit ihr plauderte, betrachtete er sie mit einem prüfenden Blick. Manch anderer hätte sich bei so einer Untersuchung unwohl gefühlt, aber ihr schien das nicht das mindeste auszumachen. »So wie immer. Husten ... das übliche.« Leslie zuckte mit den Schultern. Offenbar hatte sie keine Lust, darüber in Gegenwart einer Fremden zu reden. Als sich Vasquez auf ihr Bett setzte, hielt sie ihm ihre Hand hin, aber so, daß er die Daten auf dem Display an ihrem Handgelenk nicht lesen konnte. »Könnten Sie noch mal ... meinen Puls ... fühlen? ... So wie die Leute es ... früher gemacht haben? ... Das war wirklich ... toll!« »Hat dir das gefallen? Dein Wunsch ist mir Befehl.« Seine Finger umschlossen vorsichtig ihr Handgelenk, während er auf seine Armbanduhr schaute. Devon hatte diese Methode der Pulsmessung noch nie erlebt. Neugierig trat sie einen Schritt vor, um besser sehen zu können. Sofort heftete Leslie wieder ihren aufmerksamen Blick auf sie. Noch nie war Devon von jemandem derart erbarmungslos gemustert worden.
»Sind Sie die Freundin von Dr. Vasquez?« fragte das Mädchen plötzlich ganz unverblümt und ließ ihre Blicke zwischen den beiden auf eine Art und Weise hin und her schweifen, die Bände sprach. Der Arzt reagierte gespielt beleidigt. »Hey! Ich dachte, du bist meine Freundin!« Sie lachte, und ihre blassen Wangen überzog ein rötlicher Schimmer. »Sie sind doch viel zu alt, Dr. Vasquez!« »Autsch. Das hat gesessen«, wimmerte er. »Schönen Dank für den Wink mit dem Zaunpfahl. Ob ich dich mit zur nächsten Fete nehme, muß ich mir noch mal schwer überlegen.« Devon lächelte das Mädchen an und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Devon Adair.« Falls sie erwartet hatte, das Mädchen würde auf die Nennung ihres Namens mit dem gleichen Respekt reagieren wie die meisten Menschen, hatte sie sich getäuscht. Leslie warf lediglich einen Blick auf die ihr entgegengestreckte Hand, machte aber keine Anstalten, sie zu schütteln. »Hi«, antwortete sie leichthin, beinahe herablassend. Dann musterte sie noch einmal Devons Gesicht, um sich schließlich wieder Vasquez zuzuwenden. »Haben Sie ... irgendwas ... von meinen Eltern ... gehört?« Der Ernst in ihrer Stimme stand in eigenartigem Gegensatz zu der Fröhlichkeit, mit der sie noch eben mit dem Arzt herumgealbert hatte. Ihre Augen hatten sich verdüstert, um ihren Mund lag ein regelrecht verkniffener Zug. Aus Vasquez' Blick sprach Bitterkeit. »Noch nicht, Kleines. Vielleicht melden sie sich ja morgen.« »Ja, vielleicht morgen«, stimmte Leslie lustlos zu. Das Glänzen, das seit Vasquez' Eintreten in ihren Augen gelegen hatte, war vollkommen verschwunden. Sie lehnte sich in die Kissen zurück und ließ durch einen Knopfdruck das Bett wieder in die Waagerechte sinken. »Ich glaube ... ich sollte mich ... ein bißchen ausruhen ... und dann ...«
Leslie sprach nicht weiter, denn in diesem Moment war vom anderen Ende des Zimmers her ein hoher Pfeifton zu hören. Unter den Kindern herrschte plötzlich absolute Stille, während aus allen Richtungen Krankenschwestern und Ärzte herbeieilten, fast lautlos auf den weichen Sohlen ihrer Stoffschuhe. Leslie hob spöttisch die Augenbrauen. »Sieht so aus ... als ob Evan ... es endlich ... geschafft hat«, flüsterte sie. »Hat der Junge ... ein Glück.« Sie warf noch einen Blick auf das Bett am anderen Ende des Zimmers und die Gruppe von Menschen, die sich jetzt darum versammelt hatte; dann drehte sie sich auf die andere Seite und tat so, als ob sie schliefe. Devon schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich verstehe nicht... Was ist denn passiert?« Vasquez gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, daß sie schweigen solle. Dann nahm er ihren Ellbogen und schob sie quer durch das Zimmer auf den Flur hinaus. Erst als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, ließ er ihren Arm los. Schockiert bemerkte sie, wie alt und grau er auf einmal aussah. Tränen standen in seinen Augen. »Dr. Vasquez!« rief sie erschreckt. »Geht es Ihnen nicht gut?« »Eines der Kinder ist gerade gestorben, Mrs. Adair«, gab er mit tonloser Stimme zurück und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Er hieß Evan Cortero. Letzte Woche ist er gerade acht Jahre alt geworden. Er hat immer gesagt, wenn es jemals wieder Tiere geben sollte, dann wollte er ein Schmetterling werden.« Es dauerte einen langen, qualvollen Moment, bis Devon vollends begriffen hatte, was der Arzt, gerade gesagt hatte. Welche tiefe Traurigkeit lag in dem Wunsch dieses toten Jungen! Und mit welch schrecklicher Leichtigkeit hatte Leslie den Tod Evans hingenommen, ihn sogar beneidet. Devon wußte nicht, was sie sagen sollte. »Das tut mir leid. Ich hatte keine Ahnung ...« Plötzlich lag in Vasquez' Blick nicht nur Schmerz, sondern auch Zorn. Der Arzt strahlte eine Wut aus, die Devon
unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ. Einen Moment lang war sie sich sicher, daß er sie gleich schlagen würde. »Nein, niemand hat eine Ahnung, Mrs. Adair«, fuhr er sie an. »Genau da liegt das Problem. Niemand außer mir und dem Krankenhauspersonal, den Kindern und ihren Eltern ... Wenn es nach mir ginge, hätte die ganze Welt diese Kinder vor Augen und zwar ständig ... morgens, mittags, abends. So wie ich.« »Ich habe die Filmberichte gesehen, aber ...« »Was sind diese lächerlichen Filmchen gegen die Wirklichkeit, Mrs. Adair? Die Realität findet dort drinnen statt!« Er deutete wütend mit dem Finger in Richtung der Tür. »Das ist wirklich. Wenn ich die Macht dazu hätte, würde ich dafür sorgen, daß niemand in diesem Universum auch nur für eine einzige Sekunde die Syndrom-Kinder vergißt. Ich würde dafür sorgen, daß an jeder freien Wand mit Plakaten über diese Krankheit informiert würde und anstelle der idiotischen Fernsehwerbung Berichte über die Opfer gesendet würden. Ich würde die Leute so lange mit der Nase darauf stoßen, bis sie keinen Bissen mehr hinunterbekämen. Ich würde ihnen Bilder von Krankenstationen vorführen, bis sie auch mit geschlossenen Augen nichts anderes mehr sehen könnten und in ihren Träumen das Elend wie ein nie endender Film ablaufen würde. Ich würde es ihnen unmöglich machen, die Krankheit zu vergessen, ihre möglichen Ursachen und alles, was womöglich noch auf uns zukommt, zu ignorieren. Vielleicht würde man dann endlich begreifen, daß das Syndrom nicht einfach als eine Kinderkrankheit abzutun ist.« Das Feuer in seinen Augen erlosch plötzlich, er räusperte sich, als ob es ihm peinlich wäre, daß er sich zu solch einer flammenden Rede hatte hinreißen lassen. Doch Devon spürte, daß Vasquez kein Schwätzer war, der sich nur deshalb für eine Sache engagierte, weil gerade alle darüber redeten. Der Arzt glaubte an das, was er gesagt hatte, seine Wut und Enttäuschung
waren aufrichtig. »Entschuldigen Sie bitte. Ich hatte nicht vor, eine Predigt zu halten.« Sie nickte. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, hatte sie das Gefühl, daß er ihr außerordentlich sympathisch war. »Ich bin froh, daß Sie's getan haben. Vielleicht brauchen wir mehr Menschen wie Sie, die imstande sind, die Leute wachzurütteln. Es bedeutet mir viel, daß es Ihnen mit dieser Sache so ernst ist.« »Die Sache an sich ist ernst, Mrs. Adair. Niemand scheint sich das klarzumachen, aber es geht um das Überleben der menschlichen Spezies.« Der Ton, in dem er das sagte, duldete keinen Widerspruch. Aber Devon war auch kaum danach zumute, ihm zu widersprechen. »Heißt das, daß sie eine Theorie über die Ursache der Krankheit entwickelt haben?« fragte sie. Trotz des Schauders, der ihr bei seinen Worten über den Rücken gelaufen war, siegte ihre Neugier. Vasquez machte eine abwehrende Handbewegung. »Das erkläre ich Ihnen vielleicht ein anderes Mal.« Er wandte sich um und ging in Richtung Ausgang den Korridor hinunter. »Ich möchte nicht indiskret erscheinen, Dr. Vasquez«, sagte Devon im Gehen. »Aber warum hat Leslie nach ihren Eltern gefragt?« Er sah sie nicht an, als er antwortete. »Sie sind indiskret, aber ich sehe keine Veranlassung, Ihnen nicht die Wahrheit zu sagen. Leslies Eltern kamen mit ihrer Tochter vor sechs Jahren zu mir. Sie haben sie hier im Krankenhaus in meine Obhut gegeben und sind dann spurlos verschwunden.« Devon runzelte verwirrt die Stirn. »Ist ihnen etwas passiert? Was ist aus ihnen geworden?« Der Arzt schenkte ihr einen Blick, den er sich für komplette Vollidioten aufgespart zu haben schien. »Woher soll ich das wissen? Sie haben sich aus dem Staub gemacht und waren clever genug, jede Spur zu verwischen.« Als sie ihn immer noch
verständnislos ansah, seufzte er. »Man nennt das Kindesaussetzung, Mrs. Adair. Nie davon gehört?« Devon blieb stehen, sie spürte ihr Herz rasen. Das Gefühl der Mutterliebe, das Ulys Geburt in ihr erweckt hatte, kämpfte mit aller Kraft gegen die Vorstellung, daß Eltern, Vater oder Mutter, dazu fähig sein konnten, ihr Kind zu verlassen. Und erst recht nicht ein so fröhliches, liebenswertes und intelligentes Kind wie Leslie. Und was ist mit deiner eigenen Familie, Devon? fragte sie sich. Sie haben dich zwar nicht weggegeben, dafür aber einfach nicht zur Kenntnis genommen, nie beachtet. Es gibt viele Möglichkeiten, seine Kinder zu verlassen. Vielleicht stimmte das, aber immerhin hatte sie Yale gehabt. In ihren Augen war der Lehrer mehr wert als Hunderte von Müttern und Vätern. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Angst verwandelte ihren Magen in einen Eisklumpen. Aber es war sinnlos, die Augen noch länger vor der Wahrheit verschließen zu wollen. »Dr. Vasquez, hat mein Sohn das Syndrom?« Endlich, sie hatte es gesagt. Sein Gesicht und seine Augen verrieten keinerlei innere Regung. »Ja, Mrs. Adair.« Gedanken und Bilder rasten durch ihren Kopf. Wie mechanisch suchte sie mit einer Hand Halt an der Wand. Ihr Atem ging so schnell, daß sie meinte, daran ersticken zu müssen, in den Augen fühlte sie brennende Tränen. Da hast du's, Devon. Jetzt ist es draußen, nichts mehr zu verheimlichen. Kein Weg zurück. Sie schloß die Augen vor diesen Gedanken. Von irgendwoher, tief aus ihrem Inneren, stieg ein Schrei auf, ein Wimmern tödlichen Schmerzes, das nicht über ihre Lippen kam. Ihr Herz schlug noch, ihr Körper funktionierte, aber etwas in ihr war in diesem Moment gestorben. So still und leise wie Evan Cortero. Sie fühlte Schwindel aufsteigen, der sie in einem Malstrom von Emotionen fortzureißen drohte. Mit geschlossenen Augen kämpfte sie dagegen an. Verflucht, sie
würde diesem Gefühl nicht nachgeben. Und sie würde auch nicht in Ohnmacht fallen wie eine der Heldinnen aus diesen uralten Groschenromanen. »Mrs. Adair? Devon?« Das erste Mal nannte Dr. Vasquez sie bei ihrem Vornamen. Es war ihr nicht unangenehm, im Gegenteil. Von jetzt an verband sie beide etwas miteinander, das die Förmlichkeit, sich beim Nachnamen zu nennen, nicht duldete. Sie fragte sich, wie er wohl heißen mochte. Als ob das jetzt eine Rolle spielte. In Zukunft würden sie noch genug Gelegenheit haben, sich besser kennenzulernen. Sie öffnete die Augen und schüttelte den Kopf, als er ihr durch eine Geste zu verstehen gab, daß sie sich auf ihn stützen sollte. »Kann ich jetzt meinen Sohn sehen?« flüsterte sie. »Sind Sie sicher, daß Sie nicht lieber ...« »Ich möchte meinen Sohn sehen. Bitte.« Nicht aufgeben, du darfst nicht aufgeben, nicht aufgeben, nichtaufgeben ... nichtaufgeben ... Er nickte, als schien er zu verstehen. »Selbstverständlich.« Bis zu dem Raum, in dem Uly wartete, waren es nur ein paar Schritte. Eingehüllt in seinen Immuno-Anzug, lag er in der ausgepolsterten Vertiefung des Untersuchungstisches und verfolgte das Farbenspiel auf dem Bildschirm an der Decke, den man eingeschaltet hatte, um ihn beschäftigt zu halten. Das Geräusch der sich öffnenden Tür lenkte seine Aufmerksamkeit von dem Monitor ab. Als er seine Mutter erkannte, lächelte er ihr fröhlich und zahnlos entgegen - wie ein ganz normales Baby. Das hieß, wie ein ganz normales Baby, das das Syndrom hatte. Die Vorstellung, daß er einmal ausgelassen schreiend durch die Gegend laufen würde, war in diesen Sekunden zum bloßen Wunschtraum geworden. »Hi, Süßer«, sagte sie und haßte den tränenerstickten Klang ihrer Stimme. Sie kitzelte ihn am Bauch und beugte sich hinunter, um ihn zu küssen. »Wie geht es meinem großen
Jungen? Warst du auch brav, während Dr. Vasquez dich untersucht hat?« Uly lachte sie an, während ihm der Sabber übers Kinn lief. Er wedelte mit seinen kleinen Armen, als wollte er winken, versuchte aber nur, seine Zehen zu greifen. Das leise gurgelnde Geräusch, das jeden seiner Atemzüge begleitete, versuchte Devon mit aller Gewalt zu ignorieren. »Hi, Champ.« Vasquez hielt Uly einen Finger hin und lächelte, als der Junge ihn ergriff und festhielt. »Tut mir leid, daß du so lange warten mußtest. Ich habe deiner Mutter das Krankenhaus gezeigt und dabei ganz die Zeit vergessen. Kannst du mir verzeihen?« Er bewegte seinen Finger hin und her und lachte, als Uly anfing, so etwas wie eine Antwort zu plappern. Während Devon die beiden beobachtete, wurde ihr auf einmal klar, warum Vasquez sie auf der Station herumgeführt hatte. Sie fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen. Unvermittelt schob sie den Arzt beiseite, beugte sich zu Uly hinunter und nahm ihn auf den Arm. Über seinen Kopf hinweg schoß sie Vasquez einen kämpferischen Blick zu. »Ich lasse ihn nicht hier bei Ihnen« erklärte sie mit fester Stimme. Vasquez sah sie fassungslos an. »Das ist nicht Ihr Ernst.« »Oh, doch. Und ob das mein Ernst ist.« Sie drehte sich um und ging auf die Tür zu. Er versuchte sie aufzuhalten. »Mrs. Adair, Sie können unmöglich zu Hause für Uly sorgen. Am Anfang, ja, da mag das noch gehen. Aber was wird, wenn die Krankheit weiter fortschreitet? Er wird rund um die Uhr betreut werden müssen. Der Tag hat nicht genug Stunden ...« »Ich werde mir die Zeit nehmen. Wenn es nötig ist, mache ich die Stunden! Aber niemand wird mir mein Kind wegnehmen. Haben Sie verstanden? Niemand! Mein Kind wird nicht st ...« Sie schwieg, aus Angst, sie würde das Schicksal
vorsätzlich herausfordern, wenn sie das Wort aussprach. »Auf Wiedersehen, Dr. Vasquez.« »Mrs. Adair, bitte.« Die Tür fiel hinter ihr ins Schloß, so daß Devon nicht mehr hörte, was der Arzt noch sagte. Immerhin versuchte er nicht, ihr zu folgen. Devon wußte nicht, was sie dann getan hätte. In Ohnmacht fallen? Kämpfen? Einen hysterischen Anfall bekommen? Oder womöglich Uly aufgeben? Sie betrachtete das Kind in ihren Armen, während sie die Flure des Krankenhauses entlang auf den Ausgang zuhastete, und drückte den Kleinen noch fester an sich. Niemals. »Uly?« fragte sie und versuchte dabei, fröhlich und zuversichtlich zu klingen, während sie gleichzeitig das Gefühl hatte, als ob alles in ihr einem Trümmerfeld glich. »Liebling, was meinst du, wollen wir in den Zoo gehen? Wir könnten uns den Tyrannosaurus Rex und den Beagle ansehen.« In dem Zoo gab es selbstverständlich keine echten Tiere, die meisten Arten waren schließlich schon längst ausgestorben. Aber dank den vor langer Zeit in den Vergnügungsparks der Erde perfektionierten Techniken vermittelten die dort gezeigten Hologramme einen extrem lebendigen Eindruck. Uly konnte ihr natürlich nicht wirklich antworten. Alles, was er von sich gab, war unverständliches Geplapper in seiner Babysprache. Und schon bald schmiegte er den Kopf an ihre Schulter und schlief ein. Die Leichtigkeit, mit der er in diesen anderen Zustand hinüberglitt, ließ Devon erschaudern: Wenn es für ihn so einfach war, die Augen zu schließen, einzuschlafen und sie allein zu lassen, was konnte ihn dann daran hindern, für immer von ihr zu gehen? Sie beschloß, trotzdem den Zoo zu besuchen. Das schlafende Kind in den Armen, sah sie sich eine Projektion nach der anderen an, aber sie war viel zu sehr in ihre Gedanken versunken, um wirklich wahrzunehmen, was sie sah. Sie betrachtete den Tyrannosaurus Rex und den Beagle, Pferde und
Wale, Lemminge und Ameisenbären, bis ihr mit einem Schlag deutlich wurde, daß sie sich in einem Theater des Todes befand. Nicht eine der hier gezeigten Spezies hatte überlebt, nicht eines dieser Tiere war noch auf der Erde oder sonstwo in ihrem Planetensystem zu finden. Sie waren für immer verschwunden so, wie echtes Gras oder Schnee; so, wie Evan Cortero und Leslies Eltern ... »>Sprach der Rabe: Nimmermehr<«, murmelte Devon und verließ fluchtartig den Zoo. Sie ließ Taxis, Kleinbusse und die Kabinen des Röhrentransportsystems an sich vorbeifahren, ohne einzusteigen. Mit ihrem Kind, das für sein Alter viel zu leicht war, auf dem Arm lief sie stundenlang wie eine Besessene durch das Menschengewühl, vorbei an Leuten, die einen abendlichen Einkaufsbummel machten oder zum Essen gingen, die von der Arbeit kamen oder auf dem Weg zu ihrer Schicht waren. Wenn jemand überhaupt Notiz von ihr nahm, dann nur, um dieser Frau auszuweichen, deren Ausdruck wilder Entschlossenheit eine nahezu greifbare, undurchdringliche Mauer um sie herum aufbaute. Ein paar Leute warfen im Vorübergehen flüchtig mitleidige Blicke auf Uly in seinem Immuno-Anzug, und Devon konnte sich nur mit Mühe beherrschen, um diese Passanten nicht in aller Öffentlichkeit anzuschreien. Wofür hielten die sich, daß sie es wagten, ihren Sohn anzustarren? Sie sollten lieber nach Hause gehen und dem Schicksal danken, daß ihre eigenen Kinder gesund waren. Erst als Devon endgültig zu einem Entschluß gekommen war, begab sie sich auf den Heimweg. Devons Wohnräume gehörten zu den geschmackvollsten und elegantesten auf der ganzen Raumstation. Geld, Status und Einfluß schienen unweigerlich auch Luxus mit sich zu bringen. Aber all das haßte Devon jetzt. Was nutzten ihr Designermöbel und Antiquitäten, wenn ihr Baby sterbend in ihren Armen lag? Sie schob den schlafenden Uly ein wenig höher auf die Schulter, damit sie eine Hand frei hatte, um am Eingang ihrer
Wohnung den Sicherheitscode eingeben zu können. Aber noch bevor sie die erste Ziffer getippt hatte, wurde die Tür schon von innen geöffnet. Vor ihr stand Yale - groß, eindrucksvoll und respekteinflößend wie damals, als sie den Lehrer zum ersten Mal gesehen hatte. Er schien sie erwartet zu haben. Vielleicht hatte er nach ihr Ausschau gehalten, vielleicht aber auch einfach nur gespürt, daß sie kam. Oder war er besorgt gewesen, weil es bereits recht spät war? Wahrscheinlich alles zugleich, wenn man sich das Gesicht ansah, das er machte. »Devon!« schalt sie der alter Cyborg. »Ich bin halb krank vor Sorge! Ist dir eigentlich klar, wie spät es ist? Wo bist du bloß gewesen ...« Erst jetzt bemerkte er ihren müden, erschöpften Ausdruck, der in dem hellen Licht, das aus der Wohnung fiel, noch erschreckender wirkte, und streckte seine starken, mechanischen Arme aus, um ihr Uly abzunehmen. Yale war der einzige, dem sie ihren Sohn überließ. »Du brauchst jetzt nichts zu sagen, Devon. Ich werde den Kleinen zu Bett bringen und dann gleich zu dir kommen. Das Essen ist noch warm.« Mit raschen Schritten ging er den Flur hinunter und brachte Uly in sein Zimmer. Yale hatte eines ihrer Lieblingsgerichte gekocht, doch es war Devon unmöglich, auch nur einen Bissen herunterzubekommen. Ein paar Minuten lang stocherte sie in ihrem Essen herum, dann gab sie es schließlich auf und schob den Teller weg. Sie stand auf und ging zu einer Vitrine in der anderen Ecke des Zimmers, einer echten Antiquität. Normalerweise trank sie kaum Alkohol, vor allem, weil das synthetische Zeug, das man in der Regel angeboten bekam, ihr nur Kopfschmerzen verursachte. Aber zu den Privilegien, die ihre steile Karriere mit sich brachte, gehörte auch, daß sie sich echten Alkohol leisten konnte. Und jetzt hatte sie das Gefühl, daß sie einen Drink vertragen könnte, ja, daß sie einen brauchte - und vielleicht nicht nur einen. Sie goß sich ein Glas Whisky ein und setzte sich wieder an den Tisch.
Als Yale ein paar Minuten später aus Ulys Zimmer kam, saß sie immer noch dort, unbeweglich und mit starrem Blick. Er blieb einen Augenblick in der Tür stehen und beobachtete sie. Dann kam er an den Tisch und setzte sich mit einem Seufzer auf den Stuhl ihr gegenüber. »Irgend jemand hat mal gesagt, daß es keinen Whisky gibt, der wirklich weich schmeckt«, bemerkte er beiläufig, als wollte er eine ganz gewöhnliche Konversation einleiten. »Der einzige Unterschied ist angeblich der zwischen hart und härter.« Devon, die kaum zugehört hatte, nickte mechanisch. Dann aber weinte sie auf einmal leise los. Die Verzweiflung stach ihr wie ein Dolch ins Herz. Eigentlich hatte sie erwartet, daß sie ihren Schmerz und ihre Angst laut herausschreien müßte, doch jetzt merkte sie verwundert, daß ihr Kummer sich im stillen Luft verschaffte. Vielleicht lag es daran, daß sie Uly, der nur ein paar Meter entfernt schlief, nicht erschrecken wollte, aber sie weinte lautlos, die Tränen flössen über ihr Gesicht, und das Schluchzen blieb ihr im Hals stecken, so daß sie das Gefühl hatte, ersticken zu müssen. Sie zitterte und mußte das Glas abstellen, weil sie Angst hatte, es gegen den Tisch zu schlagen und zu zerbrechen. Dann bekam sie nur noch mit, daß Yale sie in den Arm nahm und sie auf seinen Schoß zog, wie damals, als sie noch ein kleines Kind war und er ihr neuer Lehrer, der einzige Erwachsene, der sich wirklich um sie kümmerte. Er hielt Devon in seinen Armen, bis sie sich allmählich beruhigte, und streichelte ihr übers Haar. Sein Hemd war naß von ihren Tränen. Den Kopf gegen seine Brust gelehnt, lauschte sie dem tröstend regelmäßigen Schlag seines Herzens, das in den vergangenen Jahren mehr als einmal repariert worden war. »Yale, Uly hat das Syndrom«, flüsterte sie schließlich. »Sie wollten ihn gleich im Krankenhaus behalten.« »Ich nehme an, nur über deine Leiche, stimmt's?« fragte er nüchtern. »Ich kann dich denken hören, Devon Adair. Und ich
rieche förmlich die durchgebrannten Sicherungen. Was hast du jetzt vor?« Sie hob den Kopf und sah ihn an, während sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht wischte. »Glaub mir, ich habe das alles gründlich überlegt, Yale. Und ich habe in den letzten Stunden die extremsten Gefühle durchlebt, von dem Wunsch, Ulys Krankheit nicht wahrhaben zu wollen, bis hin zu unbändiger Wut. Aber ich will verflucht sein, wenn ich jemals das Todesurteil für meinen Sohn einfach hinnehme.« »Und weiter?« Aus Yales Mund klang die Frage weder provozierend noch ungeduldig, sondern einfach interessiert. Sie holte tief Luft. Sie wußte, daß Yale immer auf ihrer Seite stehen würde, was immer sie auch unternahm. Und das Wissen, daß er ihr vertraute und sie unterstützen würde, verlieh ihr Mut und Zuversicht. »Und weiter? Seit ich aus dem Krankenhaus raus bin, habe ich eine Menge nachgedacht.« Ihre Augen bekamen auf einmal einen kalten Glanz, tief in ihrem Innern spürte sie eine eiserne Entschlossenheit wachsen. »Es ist mir gleichgültig, ob es mich mein ganzes Vermögen und meine Karriere kostet, Yale, oder ob ich bis ans Ende des Universums reisen muß: Ich werde eine Möglichkeit finden, das Leben meines Sohnes zu retten!«
l Acht Jahre später Die Geschehnisse der letzten Jahre standen Devon Adair lebhaft vor Augen. Auch wenn sie damals in einer ersten Reaktion fluchtartig das Krankenhaus verlassen hatte, mußte sie sich später, als Ulys Zustand sich verschlechterte, doch wieder an Dr. Vasquez wenden. Häufig diskutierte sie mit dem Arzt seine Theorie über die Ursachen für das Syndrom. Vasquez war der Ansicht, daß die gegenwärtigen Lebensbedingungen einen idealen Nährboden für die Krankheit lieferten. Vor rund sechs Generationen hatte eine Umsiedlung der Weltbevölkerung von der Erde auf sterile Raumstationen stattgefunden, die das menschliche Immunsystem nicht länger im nötigen Maße forderten; nach Vasquez' Auffassung erwies sich dieser Schritt im nachhinein nicht nur als Segen. Als Konstrukteurin eben solcher Raumstationen focht Devon diese Hypothese anfangs natürlich vehement an. Aber je länger sie sich mit dem Thema befaßte, desto weniger konnte sie die Augen vor den Fakten verschließen. Das Leben an Bord der Stationen war zweifelsohne relativ angenehm, wenn man vom Dasein nicht mehr erwartete als Ordnung, Sauberkeit und Bequemlichkeit. Doch das Auftauchen des Syndroms und die katastrophalen Auswirkungen, die es auf die Gesundheit der Kinder hatte, störten diese Idylle doch empfindlich. Zu Beginn war die Krankheit nur selten aufgetaucht, aber im Laufe der Jahre ließ sich ein deutlicher Anstieg der Zahl von ihr betroffener Kinder verzeichnen. Und allem Anschein nachhielt diese Tendenz auf erschreckende Weise an. Im Gegensatz zur Mehrheit der Ärzte, die das Syndrom auf einen neuartigen Virus zurückführten, vertrat Dr. Vasquez die Theorie, daß seine Ursache vielmehr in einem Mangel bestand: einem Mangel an
natürlichen Lebensgrundlagen, über die die Menschheit einmal verfügt hatte - damals, vor der völligen Ausbeutung und Vergiftung des Planeten Erde. Auf den Stationen gab es weder so etwas wie frische Luft noch natürliches, unaufbereitetes Wasser. Was Dr. Vasquez' Ansicht nach nicht nur den Kindern, sondern der gesamten Menschheit fehlte, wenn sie überleben wollte, war die Erde selbst. Aber der Planet war tot, für immer unbewohnbar gemacht von den Menschen und ihrer Gier nach materiellen Reichtümern. Vasquez' Theorie war nicht nur radikal, sondern auch in manchen Punkten wenig schlüssig. Außerdem basierte sie überwiegend auf bloßen Annahmen und intuitiv gewonnenen Vermutungen. Aber je länger Devon sich mit dem Arzt auseinandersetzte, je gründlicher sie sich mit seinen Publikationen zu diesem Thema befaßte, desto mehr gelangte sie zu der Überzeugung, daß er recht hatte. Bis sie schließlich alles auf eine Karte setzte und gemeinsam mit Vasquez einen formellen Antrag stellte: Sie wollte versuchen, für ihren Sohn und all die anderen syndromkranken Kinder einen anderen Planeten, eine neue Erde, Erde 2, zu finden. Und sie hatten Erfolg mit ihrem Gesuch - sonst wäre sie jetzt nicht hier. Devon riß sich aus ihren Gedanken und blieb in der Tür zu der engen, düsteren Kabine an Bord des Raumschiffs Eden Project Advance stehen. Yale und Uly waren offensichtlich vollkommen in ihre Geographie-Stunde vertieft. Keiner von beiden schien bemerkt zu haben, daß sie eingetreten war. Zumindest ließen sie sich nicht im mindesten von ihrer Gegenwart stören. Zwischen ihnen schwebte das schillernd bunte Hologramm eines Globus, das der Lehrer mit seiner mechanischen Hand in den Raum projiziert hatte und das ihre Gesichter in ein sanftes, versöhnliches Licht tauchte. Wie verschieden waren sie doch, diese beiden Gesichter. Yales Züge verrieten Spuren seines Alters, aber auch seiner Weisheit, während ihr Sohn blaß aussah, von der Krankheit gezeichnet.
Der langsam rotierende, in den Farben weiß, grün und blau schillernde Planet sah auf den ersten Blick der Erde verdächtig ähnlich. Nur bei näherem Betrachten erkannte man, daß die ausgedehnten Landmassen nicht den alten fünf Kontinenten glichen. Und auch die Meere, die sie voneinander trennten, hatten nichts mit den grauen Schlammassen der von der Erde bekannten Ozeane gemein. Devon betrachtete den Globus mit einer Aufmerksamkeit, die schon an Faszination grenzte. Sie fühlte einen Stolz in sich aufsteigen, der ihr beinahe die Tränen in die Augen trieb. Vor acht Jahren war all das nichts weiter als ein Traum gewesen, der absurde Plan eines verrückten Arztes und einer nicht weniger verrückten Frau, die wild entschlossen war, nicht tatenlos zuzusehen, wie ihr Sohn eines langsamen, qualvollen Todes starb. Acht Jahre lang hatte es für Devon nichts anderes gegeben als diese wahnwitzige Idee und ihre Hoffnungen, die so empfindlich und zerstörbar waren wie Spinnweben. Aber das Netz einer Spinne kann auch erstaunlich widerstandsfähig sein. In diesem Augenblick schwebte vor Devons Augen das Bild einer neuen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die sie selbst durch die Kraft ihrer Träume erschaffen hatte - und durch den Willen, das zu erreichen, was sie sich einmal vorgenommen hatte. Dieser Planet, auf den Navigationskarten als G889 verzeichnet, würde ihre neue Heimat werden und mit Gottes Hilfe die Heilung bringen, für die die syndromkranken Kinder und ihre Eltern jahrelang gebetet hatten. Yale unterbrach seinen Vortrag und warf einen besorgten, aufmerksamen Blick auf Uly. Eingehüllt in seinen ImmunoAnzug, den er wie eine zweite Haut ständig tragen mußte, saß er dem Cyborg gegenüber, den schräg gelegten Kopf in eine Hand gestützt. Er sah auf den Globus und bot das Bild gespannter Aufmerksamkeit. Aber sein Blick schien irgendwie abwesend, als ob er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war.
Yale räusperte sich und sprach mit noch tieferer Stimme als sonst, um seiner Autorität Geltung zu verschaffen. Devon, die das alles beobachtete, konnte ihm insgeheim nur Glück dabei wünschen. Der Lehrer ließ sich nämlich genauso leicht wie sie selbst immer wieder von Uly um den Finger wickeln, und der Junge wußte das nur allzugut. »Ulysses, hörst du mir zu?« Uly zuckte leicht zusammen und blinzelte mit den Augen, um sich aus seinen Träumen wieder in die Wirklichkeit zurückzuholen. Der vorwurfsvolle Unterton in der Stimme seines Lehrers schien ihn allerdings nicht im mindesten zu stören. Sollte er wegen seiner Unaufmerksamkeit ein schlechtes Gewissen haben, dann ließ er sich das jedenfalls nicht anmerken. »Sag mal, Yale«, fragte er, und sein röchelnder Atem ging so schwer, daß er sogar das Geräusch des Atemgerätes übertönte, »glaubst du, daß ich laufen kann, wenn wir auf den Planeten kommen? Weißt du, ich meine einfach so, aus dem Raumschiff raus.« Yale seufzte, und Devon überkam eine Welle der Sympathie für den alten Cyborg. Offensichtlich wollte er weder der Begeisterung Ulys von vornherein einen Dämpfer aufsetzen noch andererseits die unrealistischen Träume des Jungen nähren, bevor nicht klar war, was diese neue Welt, auf die sie alle so viele Hoffnungen setzten, wirklich zu bieten hatte. »Nein«, sagte er daher vorsichtig, »ich glaube kaum, daß du sofort wirst laufen können, wenn wir auf dem Planeten landen. Aber mit der Zeit schon, da bin ich sicher. Gut, können wir jetzt mit dem Unterricht fortfahren?« Uly verzog enttäuscht den Mund und lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. Es war nicht zu übersehen, daß er sich zu Tode langweilte. Für ein Kind mit einer derart lebhaften Phantasie war es eine Qual, durch den Immuno-Anzug praktisch zur Bewegungslosigkeit verdammt zu sein. Alles in ihm verlangte danach, durch die Gegend zu rennen und zu springen,
so wie jeder andere Achtjährige auch. Aber sein Körper, dieser Verräter, hinderte ihn daran. »Also, machen wir weiter! Es wird angenommen, daß der Kontinent New Pacifica im Westen durch das Meer von Antius begrenzt wird.« Yale fuhr mit dem Finger der anderen, seiner menschlichen Hand die Konturen auf dem Globus nach. »Und genau an dieser Küste werden wir landen.« Uly rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, bis er schließlich seine Mutter entdeckte,, die immer noch in der Tür stand. Bei ihrem Anblick leuchteten seine Augen mit einer Lebhaftigkeit, die sein zerbrechlicher, magerer und kranker Körper nicht zum Ausdruck bringen konnte. »Wird es auf dem Planeten auch wilde Tiere geben, Mom?« fragte er aufgeregt. Über den Kopf des Jungen hinweg warfen sich Devon und Yale einen Blick zu, in dem Nachsicht und zugleich auch ein wenig trauriges Amüsiertsein zum Ausdruck kamen. Beide hielten sie ihr Lächeln zurück, weil sie wußten, daß sich der Junge sonst beleidigt fühlen würde. Er sollte nicht glauben, daß sie sich über ihn lustig machten. Je älter Uly wurde und je mehr sich sein körperlicher Zustand verschlechterte, desto erstaunlicher entwickelten sich seine Intelligenz und seine geistigen Fähigkeiten, ganz so, als versuchten sie, den physischen Mangel auszugleichen. Vor allem die Phantasie des Jungen war ausgesprochen lebhaft. Devon und Yale kannten inzwischen Ulys Vorliebe für wilde, abstruse Geschichten, die er sich ausdachte. Andere Leute dagegen, die nicht so vertraut mit ihm waren, brauchten manchmal schon eine Weile, bis sie merkten, daß der Junge nicht alles, was er sagte, ernst meinte, sondern nur so etwas wie ein Gedankentraining betrieb, ein mentales Übungsprogramm. Selbst seine Mutter vergaß das von Zeit zu Zeit. Devon trat jetzt ganz in die Kabine und schloß die Tür hinter sich. Drei Schritte, mehr brauchte man nicht, um den kleinen, beengten Raum zu durchqueren, und Devon konnte sich zu
ihrem Sohn hinunterbeugen, ihm das Haar aus dem Gesicht streichen und ihm zur Begrüßung einen Kuß auf die Stirn drücken. »Was tun wilde Tiere denn, Uly?« fragte sie, während sie das kleine Meßgerät am Halsausschnitt seines ImmunoAnzuges so drehte, daß sie die Anzeigen im Licht des GlobusHologramms erkennen konnte. Glücklicherweise waren die Ergebnisse normal, zumindest so normal, wie sie bei einem Kind mit fortschreitendem Syndrom eben sein konnten. Sie warf Yale einen Blick zu und bedeutete ihm, den Jungen hochzunehmen, während sie die Decke auf seinem Bett zurückschlug. Uly zuckte mit den Schultern. Die Fürsorglichkeit seiner Mutter hatte er klaglos über sich ergehen lassen, auch wenn er sich die Haare sofort wieder in die Stirn gekämmt hatte. »Weiß nicht«, antwortete er, bevor ihm eine genauere Bestimmung einfiel. »Große auf jeden Fall.« Er nickte entschlossen und legte seine Arme um den Hals des Lehrers, der sich zu ihm hinunterbeugte, um ihn hochzuheben. Mit zwei Schritten hatte Yale die Kojen an der gegenüberliegenden Wand erreicht und legte das Kind auf die unterste. »Vielleicht noch größer als unser Raumschiff!« Seine Augen glänzten, so deutlich sah er das von ihm phantasierte Wesen vor sich, und auf seinen Wangen lag jetzt ein rosiger Hauch, der Gesundheit vortäuschte, wo keine war. »Mit einer Haut wie ... wie ... der Elefant in meinem Virtual-Reality-Spiel, weißt du? Aber das Tier auf dem neuen Planeten hat auch Zähne ...!« Er hustete, ein kurzes trockenes Husten, das ihn für einen Moment am Weiterreden hinderte. Wenn ein anderes Kind so gehustet hätte, eines, das nicht an dem Syndrom litt, hätte man dem kaum Bedeutung beigemessen. Aber in Ulys Fall war dieses Husten für Devon und Yale ein Vorbote der Angst und des Todes. Sie erstarrten und beobachteten den Jungen sorgenvoll, wie er nach Luft rang.
»Es hat riesengroße Reißzähne!« fuhr Uly begeistert fort. Von der inneren Unruhe, die seine Mutter und sein Lehrer unter Kontrolle zu halten versuchten, schien er nichts mitzubekommen. »Reißzähne, die aus seinem Maul rausschießen wie ... wie Fangarme. Und, und ...« Wieder hinderte ihn der Husten am Reden, doch diesmal war der Anfall so stark, daß sich der kleine Körper vor Schmerzen zusammenkrümmte. Keuchend und mit blau angelaufenem Gesicht zog der Junge die Knie an die Brust. Devon geriet in Panik. Hastig griff sie nach dem Wasserschlauch, der am Kopfende der Koje in die Wand eingelassen war, und gab ihrem Sohn etwas zu trinken, während Yale die Sauerstoffversorgung am Immuno-Anzug überprüfte und ein paar Einstellungen veränderte. Uly trank gehorsam ein paar Schlucke Wasser. Da Devon ihm den Schlauch so weit wie irgend möglich in den Mund geschoben hatte, blieb ihm allerdings auch nicht viel anderes übrig. Er hustete immer noch, aber die Beschreibung seines Phantasiewesens gab er dennoch nicht auf. »Und ... und an jedem Fangarm hat dieses Tier neun Finger!« Ob es daran lag, daß er endlich seine Beschreibung zu Ende gebracht hatte, an dem Schluck Wasser oder der Regulierung der Sauerstoffzufuhr, die Yale vorgenommen hatte, auf jeden Fall ließ der Husten nach. Genauso plötzlich, wie er gekommen war, hörte der Anfall auch wieder auf. Uly lehnte sich in die Kissen zurück und grinste triumphierend. »Also, was glaubst du, Mom? Wird es solche Ungeheuer auf dem neuen Planeten geben?« fragte er, und es war ihm anzusehen, daß er nichts dagegen hätte, wenn es so wäre. Devon holte tief Luft, um ihr Herz, das wie rasend gegen ihren Brustkorb hämmerte, dazu zu zwingen, wieder ruhig und gleichmäßig zu schlagen. Jeder dieser qualvollen Anfälle machte sie zu einem Nervenbündel und ließ sie fürchten, es könnte der letzte, der tödliche sein. Uly brauchte nur ein bißchen
zu husten, sich nur zu räuspern, schon krampfte sich ihr Herz zusammen, und vor ihren Augen entstand in erschreckender Deutlichkeit das Bild ihres Sohnes, der tot in seinem Bett lag. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sorgfältig darauf bedacht, das Headset nicht herunterzureißen, das sie trug, um mit der Brücke des Raumschiffes in Verbindung zu bleiben. Dann steckte sie den Wasserschlauch in die Wandhalterung zurück, bevor sie die Frage ihres Sohnes beantwortete. »Na, ich will doch sehr hoffen, daß wir solchen Monstern nicht begegnen werden.« Sie war erstaunt, um wie vieles ruhiger sie klang, als sie sich in Wirklichkeit fühlte. Sie zog die Bettdecke bis unter Ulys Kinn und legte eine Hand leicht auf seine Brust. »Und jetzt mußt du dich ausruhen. Das wird ein anstrengender Tag morgen.« Bei dem Gedanken an den nächsten Tag schien Ulys Sorge wie weggeblasen, daß er unter Umständen in nächster Zukunft doch keine Gelegenheit haben würde, einen Haufen Ungeheuer zu erledigen. »Darf ich im Cockpit beim Piloten sitzen, wenn wir abheben?« fragte er begierig. Bei der Vorstellung, daß Alonzo Solace, der absolute Superstar unter den Raumschiffpiloten, während des Starts gezwungen sein könnte, die nie endenden Fragen ihres neugierigen Sohnes zu ertragen, mußte Devon unwillkürlich lächeln. »Sicher«, antwortete sie leichthin und dankte Gott, daß Uly wenigstens nicht darum gebeten hatte, selbst das Schiff zu fliegen. Zumindest noch nicht ... Dann fügte sie aber doch noch eine ernsthafte Ermahnung hinzu: »Aber nur, wenn du still bist und den Piloten nicht die ganze Zeit über mit deinen Fragen löcherst.« Yale grinste amüsiert. »Dann brauchen wir uns um Alonzo ja keine Sorgen mehr zu machen.« Uly riß die Augen auf. »Das ist nicht fair. Ich kann schon meinen Mund halten, wenn ich ...«
In diesem Augenblick piepte es in Devons Kopfhörer. Mit einer Geste bedeutete sie Yale und Uly, einen Moment still zu sein. »Jetzt hast du die Möglichkeit, es zu beweisen, Uly«, flüsterte Yale, um ihn zu ärgern. Als Antwort streckte der Junge ihm nur die Zunge heraus. Mehr aus Gewohnheit runzelte Devon streng die Stirn über Ulys kaum ernst zu nehmende Ungezogenheit und schaltete ihr Headset auf optischen Empfang. Halbkreisförmig schoben sich die beiden Arme des winzigen Monitors vor ihr Gesichtsfeld, und sie mußte ein paarmal blinzeln, um ihre Augen an das nur ein paar Zentimeter entfernte Bild zu gewöhnen. Dann erkannte sie das Gesicht von Commander Broderick O'Neill. Die kantigen, leicht derben Gesichtszüge des großen, massigen Mannes und seine breiten Schultern erinnerten Devon immer an die Grizzlybären in einem von Ulys Virtual-RealityProgrammen. Allerdings war dieser Grizzly früher mit Leib und Seele Berufssoldat gewesen, und er verstand es wie kein zweiter, immer einen Weg durch das Labyrinth der Bürokratie zu finden. Devon war deshalb sehr dankbar dafür, daß O'Neill ihr Projekt für interessant genug befunden hatte, um daran teilzunehmen. Seit sie das erste Mal mit diesem verrückten und verzweifelten Plan auf ihn zugetreten war, hatte er sich weiß Gott schon etliche Male als überaus wertvoll und hilfreich erwiesen. Ohne seine Unterstützung wären sie wohl kaum dort, wo sie jetzt waren. Sie grüßte ihn mit einem kurzen Kopfnicken. »Guten Abend, Commander. Was kann ich für Sie tun?« Es war nicht O'Neills Art, überflüssige Höflichkeitsfloskeln auszutauschen, also kam er gleich zur Sache. »Es brennt, Dev. Kommen Sie ins Cockpit.« Ihr war sofort klar, daß er nicht von einem richtigen Feuer sprach. Aber worin auch immer die Krise bestand, auf die er anspielte, der Zeitpunkt war denkbar ungünstig. »Bitte, Commander, ich bringe gerade meinen Sohn zu Bett.«
O'Neill schüttelte den Kopf. »Das hier ist sehr dringend. Kommen Sie sofort.« Ohne daß er ein weiteres Wort gesagt hätte, verschwand sein Bild vom Monitor. Er erwartete, daß sie sich auf der Stelle auf den Weg machte, gehorsam und diensteifrig wie früher seine Rekruten. Devon kaute auf der Unterlippe herum und blickte weiter auf den leeren Monitor dicht vor ihren Augen. Die Selbstverständlichkeit, mit der O'Neill erwartete, daß sie seinen Anweisungen folgte, ärgerte sie. Sie war kein Mensch, der sich herumkommandieren ließ. Deshalb zog sie einen Moment lang ernsthaft in Erwägung, den Befehl einfach zu ignorieren; doch diesen Gedanken verwarf sie fast ebenso schnell, wie er in ihr aufgekeimt war. Schließlich konnte sie es sich kaum leisten, sich mit dem Commander zu überwerfen. Es war nun mal O'Neills Art, ohne große Umschweife auf den Punkt zu kommen und präzise Anweisungen zu geben, und sie war nicht der Mensch, der mit anderen über Benimmregeln stritt. Entscheidend war schließlich, daß er auf dieser Reise der befehlshabende Offizier war und ihm daher jener Respekt gebührte, der diesem Posten zukam. Außerdem wußte sie aus Erfahrung, daß sie sich auf sein Urteilsvermögen verlassen konnte. Und hatte er nicht schon oft genug bewiesen, wie sehr er es akzeptierte, daß ihr Sohn das wichtigste in Devons Leben war? O'Neill würde sie also kaum so dringend zu sich beordern, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Seufzend schob sie das Mikro in seine Halterung zurück, und die Arme des Monitors schoben sich automatisch beiseite. Devon begegnete Ulys und Yales neugierigen Blicken und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, worum's geht.« Dann lächelte sie ihren Sohn um Entschuldigung bittend an und fuhr ihm durchs Haar. »Tut mir leid, Champ. Aber ich muß jetzt gehen.« »Was ist denn passiert, Mom?« Ulys Stirn hatte sich in sorgenvolle Falten gelegt. Er hielt die Bettdecke, die er bis
unters Kinn gezogen hatte, so fest umklammert, daß die Fingerknöchel weiß hervortraten. »Müssen wir jetzt hierbleiben?« »Es gibt anscheinend ein Problem. Ich werde herausfinden, was los ist. Aber mach dir keine Sorgen, so schlimm wird es schon nicht sein.« Sie streichelte ihm über die Finger, bis sich sein Griff lockerte. Dann nahm sie seine Hände und steckte sie unter die Bettdecke. »Wir werden morgen früh pünktlich starten, das verspreche ich dir. Nichts kann uns davon abhalten, in unsere neue Heimat zu fliegen.« Zärtlich tippte sie mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Und jetzt mußt du schlafen.« »Okay.« Er kroch noch weiter unter die Bettdecke und blinzelte sie müde an. Devon sah ihm an, daß er kaum noch die Augen offenhalten konnte. »Mom?« »Schlaf!« befahl sie mit gespielter Strenge. »Ja, gleich. Aber, Mom ...« »Nicht gleich, sondern jetzt!« Bevor sie die Kabine verließ, legte sie im Vorbeigehen noch kurz eine Hand auf Yales Schulter und flüsterte ein »Dankeschön«. Dann lief sie rasch den Korridor hinunter. Selbst zu dieser späten Stunde waren noch zahlreiche Leute auf den Fluren, die ruhig und diszipliniert ihren Aufgaben nachgingen. Jeder von ihnen konzentrierte sich einzig und allein darauf, alles für den Start des Raumschiffs vorzubereiten, der früh am nächsten Morgen stattfinden sollte. In weniger als zwölf Stunden sollte die Zukunft für sie beginnen. Die Zukunft! Seitdem feststand, daß Uly am Syndrom erkrankt war, hatte Devon an nichts anderes mehr gedacht als an diese Zukunft. Jetzt lag sie vor ihr, zum Greifen nah, und Devon war wild entschlossen, diese Chance mit beiden Händen festzuhalten und nie wieder loszulassen. Obwohl Devon schnell ging, brauchte sie ein paar Minuten, bis sie die Galerie erreicht hatte, die oberhalb jenes Bereiches entlanglief, in dem die Kälteschlafkapseln untergebracht waren.
Von hier oben sahen die Kojen zwar aus wie ein lächerlicher Haufen rautenförmiger Zäpfchen, aber nur in diesen Kapseln konnten sie alle die Reise sicher überstehen. Nur im Kälteschlaf waren sie in der Lage, die schier unvorstellbare Distanz von zweiundzwanzig Lichtjahren bis nach New Pacifica zurückzulegen. Jetzt sah Devon dort unten einige Mitglieder der Raumschiffbesatzung, die an dem auf Brust und Schirmmützen angebrachten Logo des Eden-Projekts leicht zu erkennen waren, über das Deck eilen. Sie waren offensichtlich damit beschäftigt, die Kapseln einem letzten Test zu unterziehen; denn schließlich hing von deren Funktionstüchtigkeit das Überleben aller an Bord befindlichen Menschen ab. Ehe sie weiter die Galerie entlanglief, warf Devon noch einen flüchtigen Blick auf die Kapseln, deren Anordnung ihr so filigran wie ein Spinnennetz vorkam. Sie wußte, daß diese Kapseln als außerordentlich zuverlässig und sicher galten, aber trotzdem verursachten sie ihr ein flaues Gefühl in der Magengegend. Sie erinnerten einfach zu sehr an Särge. In Anbetracht der Tatsache, daß alle an Bord, sie selbst eingeschlossen, schon bald in einer von diesen Kisten liegen würden, war das kein sonderlich aufmunternder Gedanke. Am Ende der Galerie befand sich ein Lift, der sie innerhalb von wenigen Sekunden auf die Kommandoebene brachte. Dort befand sich das Cockpit, und es waren nur ein paar Schritte, bis sie vor dessen Tür stand. Sie legte ihre Hand auf das Feld für den Identitätscheck, die Tür glitt auf, und Devon trat ein. Eine Hand auf den Gürtelhalfter gelegt, stand Commander O'Neill über eine Computer-Konsole gebeugt und vermittelte den Eindruck, als wolle er den Monitor am liebsten zerschlagen. Neben ihm saß Baines, ein Techniker, und hämmerte mit dem Ausdruck wilder Entschlossenheit routiniert auf eine Tastatur ein. Weiter vorne, mit dem Rücken zu Devon, saßen der Pilot und die Navigatorin. Die beiden versuchten offensichtlich, an
ihren Konsolen das Problem - worin auch immer es bestehen mochte - in den Griff zu bekommen. Als Devon den Raum betrat, sah Alonzo sich für einen Augenblick um. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war derart angespannt und nervös, daß sich Devons Magen krampfartig zusammenzog. Alonzo winkte ihr kurz zu und konzentrierte sich dann wieder auf seinen Monitor. Über seine Schulter hinweg sah Devon, daß er das Bild einer Frau an seine Konsole geheftet hatte: sie fragte sich, wer aus der langen Reihe von Ehefrauen, Freundinnen und Geliebten des Piloten sie wohl sein mochte. Das düster sarkastische Grinsen, mit dem O'Neill sie jetzt ansah, gefiel Devon ganz und gar nicht. »Was ist passiert?« fragte sie besorgt. »Sehen Sie sich mal das hier an.« Mit einem Kopfnicken wies er auf den Monitor, vor dem Baines saß. Devon runzelte fragend die Stirn und trat neben den Techniker. Auf dem Bildschirm war schemenhaft ein digitales Nachrichtenvideo zu erkennen. Während Baines daran arbeitete, die Übertragungsfehler zu beseitigen, wurde das Bild langsam besser, bis es plötzlich scharf und deutlich zu erkennen war. Vor sich sah Devon die Journalisten eines bekannten Nachrichtenteams, die mit ernsten Gesichtern in die Kamera blickten. Einer von ihnen erklärte gerade: »Trotz massiver Einwände vor allem von einflußreichen Medizinern und Wissenschaftlern hatten die Vorbereitungen für diese Expedition bereits vor sechs Jahren begonnen.« ' Devon sah O'Neill verwundert an. »Wo kommt das her? InterNet? Oder über Satellit?« Der Commander schüttelte den Kopf und wartete schweigend, während Baines eine weitere Videosequenz auf den Bildschirm brachte. »Wie wir bereits berichteten«, fuhr der Nachrichtensprecher fort, »fand das Eden Project, dessen Ziel es war, die erste Kolonie im G-8 System zu errichten, heute früh
ein tragisches Ende. Das Raumschiff explodierte beim Start. Es gab keine Überlebenden.« Aus Devons Gesicht war jeglicher Tropfen Blut gewichen. Mit einer abfälligen Geste wies sie auf den Monitor. »Was soll das sein?« fragte sie aufgebracht. »Ein schlechter Scherz? Es dauert noch Stunden, bis wir starten!« O'Neill zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch, während er Devon düster ansah. »Das ist eine Pressemitteilung der Regierung, Adair«, sagte er mit Nachdruck, um keinen Zweifel daran zu lassen, daß es sich hier um alles andere als einen Scherz handelte. »Von drei verschiedenen Stellen genehmigt und neun Stunden vor der Sendung kodiert an die Nachrichtensender weitergegeben. Ich glaube nicht, daß sie vorhatten, uns damit zum Lachen zu bringen.« Baines nickte und warf erst O'Neill und dann Devon einen vielsagenden Blick zu. »Die Meldung ist mit einem Zeit-Code versehen. Sie wird um neun Uhr morgen früh ausgestrahlt«, fügte er grimmig hinzu. Devon starrte ihn fassungslos an und wollte kaum glauben, was sie da hörte. »Also eine Stunde nach unserem Start«, murmelte sie verwirrt. Dann lachte sie plötzlich los. Das alles war doch absurd! Aber selbst in ihren eigenen Ohren klang ihr Lachen bitter und kalt. »Was meinen Sie, O'Neill? Versuchen sie jetzt, uns einfach umzubringen, nachdem es ihnen nicht gelungen ist, uns auf legalem Wege aufzuhalten?« Er zuckte mit den Schultern. »Wenn wir dort draußen eine bessere Welt finden als die, die sie uns hier in ihren sterilen Konservendosen bieten, verlieren sie die Kontrolle.« Er besaß wirklich die Fähigkeit, Dinge auf den Punkt zu bringen. Dennoch ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. »Im übrigen lasse ich gerade auf dem gesamten Schiff ein ResonanzScanning vornehmen.«
Devon war klar, daß der Commander die Angelegenheit überaus ernst nahm. Und trotzdem, es war einfach unvorstellbar, daß ... »Glauben Sie wirklich, an Bord könnten Bomben sein?« Wie eine Schlange schloß und öffnete er langsam die Augenlider und sah sie in einer Weise an, die an sich schon alles sagte. »Sie etwa nicht?« Sie schluckte. »Wir können es nicht riskieren, den Start noch einmal zu verzögern«, sagte sie mit Nachdruck. Schon bei dem bloßen Gedanken, die Expedition aufschieben, womöglich sogar ganz aufgeben zu müssen, kochte sie innerlich vor Wut. Um jetzt klein beizugeben, hatten sie alle schon zu viel investiert. »Auf der Colony sind mehr als zweihundert Familien dabei, sich auf den Kälteschlaf vorzubereiten. Es ist mehr als fraglich, ob die Syndrom-Kinder eine weitere Verzögerung überleben.« Es lief ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie starrte auf den Monitor, auf dem die Nachrichtensequenz wiederholt wurde, und sah dann wieder zu O'Neill. »Es wird keine Verzögerung geben«, versprach er. »Wir starten pünktlich, wie geplant.« Devon sah ihm fest in die Augen. »Wir müssen jetzt starten.« Der Commander blickte sie lange und nachdenklich an. Dann setzte er ein schon fast gaunerhaftes Grinsen auf. Er wandte sich um und erhob seine Stimme, um sich über das leise Gemurmel der Crew hinweg Gehör zu verschaffen. »Solace, ich brauche eine Statusmeldung.« »Null minus achteinhalb Stunden«, gab der Pilot zurück. »Ich hab' Sie nicht angeheuert, um mir die Zeit durchzugeben«, knurrte O'Neill. Der Pilot drehte sich verwundert zu ihm um, die Irritation in seinen dunklen Augen war nicht zu übersehen. Er starrte den Commander einen Augenblick lang an, als würde er noch überlegen, ob er sich nicht womöglich verhört hatte. Dann aber lief ein breites, komplizenhaftes Lächeln über sein attraktives
Gesicht. Er warf einen kurzen Blick auf den Hauptschirm. »Die Tore stehen sperrangelweit offen«, bemerkte er beiläufig, als ob er übers Wetter plauderte. »Wenn Sie mich fragen, erwarten die ein Transportschiff.« O'Neill grinste zufrieden, bevor er im Kommandoton durchs Cockpit bellte: »Teilen Sie der Colony mit, daß es losgeht. Und trommeln Sie die Mannschaft zusammen, und zwar sofort!« Er sah noch einmal Devon an. »Das war's dann, Dev«, sagte er und gab ihr damit eine letzte Chance, ihre Entscheidung noch einmal zu überdenken. »Jetzt oder nie.« Devon blickte auf den Monitor, auf dem noch immer die Nachricht von ihrer aller Tod wiederholt wurde. Dann preßte sie die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen: »Jetzt!«
2 »Dad? Dad?« Bevor Danziger seine Tochter sehen konnte, hörte er sie schon den Korridor entlangkommen. Er hatte ein paar letzte Tests im Inneren des Raumschiffs vorgenommen und hing, mit dem Kopf nach unten, unter der Decke. Jetzt beobachtete er True, wie sie das Schott öffnete und einen Blick in den Raum warf, in dem er sich befand. Sie schien überzeugt zu sein, daß er hier war, und trat ein. Mit dem ihr eigenen raschen, entschlossenen Schritt lief sie den schmalen Korridor unter ihm entlang. Sie lief schon immer so, von dem Tag an, als sie ihre ersten Schritte getan hatte. Danziger hatte nicht oft Gelegenheit, sie unbemerkt zu beobachten, und genoß deshalb die wenigen Sekunden, die ihm blieben, bis sie ihn entdeckte. True war jetzt zehn und im letzten Jahr enorm gewachsen, so daß ihr kaum noch etwas von ihren alten Sachen paßte. Unter diesen Bedingungen war es gar nicht so einfach, dafür zu sorgen, daß sie immer anständig angezogen war. An ihrem Dickkopf hatte sich allerdings nichts geändert. Von wem hat sie den wohl, John? fragte er sich selbst mit einem Grinsen. Durch ihre plötzliche Größe wirkte sie noch dünner als zuvor. Doch so, wie ihr Stoffwechsel funktionierte, war es ja auch praktisch unmöglich, ein paar Pfund mehr auf ihre Knochen zu bekommen. Dieses Mädchen war einfach nicht in der Lage, irgend etwas langsam zu machen. Für Danziger war es verdammt frustrierend, zuschauen zu müssen, wie seine Tochter immer größer wurde. Nicht nur, weil er sich dadurch steinalt fühlte, sondern vor allem, weil True irgendwann erwachsen sein und ihn nicht mehr brauchen würde. Noch letztes Jahr war sie ein kleines Mädchen gewesen und
hatte wie ein Junge ausgesehen. Dreimal zäher als jedes andere Kind, das er kannte, und obendrein mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet. Und jetzt... Nun, dümmer war sie auf keinen Fall geworden, im Gegenteil. Außerdem war sie zugleich sein bester Kumpel, seine Meisterschülerin und der beste Partner, den er je gehabt hatte. Trotzdem, plötzlich fing sie damit an, ihre Haare sorgfältig zu kämmen und zu Frisuren zu stecken. Und sie betrachtete sich ausgiebig im Spiegel, wenn sie sich unbeobachtet glaubte. Bald würde die Natur ihren Lauf nehmen, und dann würden ein paar Knaben auftauchen, die ein ganz anderes Interesse an ihr hätten. Und dann ... Das Mädchen war ans Ende des Ganges gelangt, ohne ihn gefunden zu haben, und drehte sich um, die Hände in die Hüften gestemmt. Danziger sah ihr deutlich an, daß sie wütend war. Ob auf ihn oder auf sich selbst, weil sie nicht erreicht hatte, was sie wollte, ließ sich nicht sagen. »Dad?« rief sie noch einmal. »Ich weiß, daß du hier ...« Der Raum bewegte sich kaum merklich, und instinktiv stützte True sich an einer Wand ab. Plötzlich hatte ihre Stimme jeden ärgerlichen Ton verloren und klang verängstigt und unsicher, wie die eines kleinen, zehnjährigen Mädchens. Was für ein Trost! »Dad? Das Schiff bewegt sich!« Danziger zog sich in dem Geschirr, in dem er hing, hoch und brachte sich dadurch wieder in eine aufrechte Position. Er brauchte nur ein paar Sekunden, um die Deckenplatte unter dem Segment, an dem er gearbeitet hatte, wieder zu schließen, dann seilte er sich ab. Die Leichtigkeit, mit der er auf dem Boden landete, verriet nicht nur gutes Training, sondern auch die langjährige Erfahrung, die er sich als Mechaniker an Bord verschiedener Raumschiffe erworben hatte. »Fühlt sich ganz so an«, gab er anstelle eines Grußes zurück. »Was gibt's?« True wies mit dem Kopf in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Du wirst gesucht.« Sie faltete die Arme über der Brust und bedachte ihn mit diesem strafenden mütterlichen
Blick, den er sich gefallen lassen mußte, seit sie vier war. »Sie haben versucht, dich zu erreichen. Aber du hast dein Headset nicht auf.« Das »mal wieder« konnte sie sich sparen, es lag ohnehin unüberhörbar in ihrem Ton. Das war ein Köder, bei dem Danziger diesmal nicht anbiß. Seit Jahren stritten sie sich darüber, daß er das verdammte Ding nicht leiden konnte und immer wieder absichtlich vergaß, es aufzusetzen. Statt dessen stopfte er sein Headset wie ein gebrauchtes Taschentuch in die Hosentasche. Er haßte das Gefühl, immer und überall erreichbar zu sein. Mit einem Achselzucken schüttelte er ihren vorwurfsvollen Blick ab. »Ich kümmer' mich drum.« Dann nahm er sie am Oberarm, drehte sie herum und gab ihr einen zärtlichen Klaps auf den Po. »Geh und mach dich irgendwo nützlich«, schlug er ihr grinsend vor. Während er den Korridor hinunterging, wandte er sich nicht ein einziges Mal nach seiner Tochter um. Er wußte auch so, daß sie ihm giftige Blicke hinterherwarf. Die nächste Video-Konsole befand sich in dem Bereich, in dem die Kapseln für den Kälteschlaf standen, nur ein paar Schritte von dem Raum entfernt, in dem er gerade gearbeitet hatte. Vor dem Schirm drängten sich bereits eine ganze Reihe von Mitgliedern des Technikerteams. Danziger bahnte sich einen Weg nach vorne und begrüßte einige seiner Kollegen, während er sich die Hände an der Hose sauberwischte. Als er schließlich sah, was sich auf dem Schirm abspielte, bereute er sofort, daß er sich von True hatte finden lassen. Hätte er gewußt, daß O'Neill wieder mal eine seiner Predigten hielt, er hätte sich ganz bestimmt nicht bei seiner Arbeit stören lassen. Danziger stöhnte genervt. Er hatte zu tun und weder Zeit noch Lust, sich O'Neills neuesten Aufruf an die arbeitende Klasse anzuhören. An sich hatte er nichts gegen den Commander, nur die Art und Weise, wie O'Neill seine Auftritte inszenierte, konnte er partout nicht ausstehen. Dieser riesige Fleischkloß schien nicht zu begreifen, daß er nicht mehr beim
Militär war und einen Haufen von Rekruten vor sich hatte, die er herumkommandieren konnte. »Wir haben Anlaß zu der Vermutung, daß sich an Bord unseres Schiffes Sprengstoff befindet«, verkündete O'Neill düster und machte ein noch grimmigeres Gesicht, als er sah, wie undiszipliniert seine Zuhörer ihrer Überraschung Luft verschafften. »Der Resonanz-Scanner hat siebenundneunzig unregistrierte Gegenstände aufgelistet. Alle Sicherheitsbereiche des Schiffes müssen sofort durchsucht werden.« Unter den Mitgliedern des Technikerteams machte sich ein leises, aber entschieden unwilliges Stöhnen breit. Sprengstoff oder nicht, der Vorfall bedeutete einen Haufen Mehrarbeit, mit der sie nicht gerechnet hatten. Trotzdem dachte natürlich keiner auch nur im Traum daran, sich dem Befehl zu widersetzen. Ein kleiner Knall, und es gab sie alle nicht mehr. Sollte die Bombe detonieren, würde nicht einmal genug von ihnen übrigbleiben, das man in einen Sarg packen und nach Hause schicken könnte. Danziger war die Mehrarbeit vollkommen gleichgültig, ihn interessierte etwas ganz anderes, etwas, das ihm außerordentlich merkwürdig vorkam. Er beugte sich zu einem seiner Kollegen hinüber und fragte leise: »Ein Sprengstoff-Check, während wir abheben?« Sollte tatsächlich nur ihm diese ganze Geschichte spanisch vorkommen? Danzigers Nachbarn fiel fast der Unterkiefer herunter, als er begriff, welche Tragweite die Bemerkung hatte. Danziger hatte zwar leise gesprochen, aber offenbar nicht leise genug, daß O'Neill ihn nicht gehört hätte, denn der Commander warf ihm vom Monitor her einen vernichtenden Blick zu. Danziger blieb unbeeindruckt und schaute mit gespielter Unschuldsmiene zurück. So leicht ließ er sich nicht einschüchtern. »Hören Sie«, sagte der Commander in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, »finden Sie einfach den Sprengstoff, mehr nicht!« Damit beendete er die Übertragung.
»Mehr nicht«, wiederholte Danziger grimmig. »Ich frage mich nur, wieviel Zeit wir noch haben.« Wütend wandte er sich zum Gehen. Mit einer Leichtigkeit, die die Routine einer langen Flugpraxis verriet, brachte Alonzo die Advance auf eine Position hinter den massigen Rumpf der Colony, in der die Syndrom-Kinder und ihre Familien, das medizinische Personal, die Sicherheitsmannschaft und die übrigen Kolonisten, alle im Kälteschlaf, zu dem Planeten G889 reisen würden. Der Pilot lächelte zufrieden. Diese Mission und auch das leicht zu manövrierende Raumschiff waren ganz nach seinem Geschmack. »Ich habe Meldung von der Krankenstation. Alle zweihundertachtundvierzig Syndrom-Kinder sind sicher untergebracht.« Die Pilotin der Colony, Shelia Willis, kannte Alonzo schon seit Jahren, sie waren alte Freunde. Auf dem Monitor zu seiner Linken sah er, daß sie kurz von ihren Kontrollen aufsah und ihm zuzwinkerte. »Wir sind startbereit, Advance. Erwarte weitere Anweisungen.« Alonzo nickte. Die Startprozedur war für ihn reine Routine, er fühlte sich genauso locker und entspannt, als würde er mit Shelia bei einem Drink in einer Bar sitzen und über den weiteren Ablauf dieses Rendezvous nachdenken. Das vor jedem Start übliche hektische Treiben im Cockpit - etliche Menschen redeten durcheinander und liefen hin und her - störte ihn nicht im mindesten. Unbeirrt steuerte er das Raumschiff noch etwas dichter an die Colony heran, um für das Startmanöver anzukoppeln. »Nimm dich in acht, Shelia. Gleich gibt's einen Klaps auf den Hintern.« Amüsiert registrierte Alonzo, wie ihm die Pilotin als Antwort die Zunge herausstreckte. Plötzlich schaltete sich ein zweiter Monitor ein, auf dem er eine Angestellte der Raumschiffbasis erkannte.
»Eden Advance, hier spricht Basiskontrolle One-Nine«, sagte sie mit monotoner, gelangweilter Stimme. »Bitte bestätigen Sie. Es besteht eine No-Go-Anweisung für Ihr Schiff.« Auf der Suche nach O'Neill warf Alonzo einen raschen Blick über die Schulter. »Commander? Wollen Sie das vielleicht übernehmen?« O'Neill und Devon blickten von dem Monitor im hinteren Teil des Cockpits auf, auf dem sie die Bewegungen der Techniker verfolgt hatten, die noch immer das Schiff nach Sprengstoff durchsuchten. Von Devon gefolgt, ging der Commander zu Alonzo hinüber. Auf die Rückenlehne des Pilotensessels gestützt, sah er auf den Bildschirm. Sein Lächeln hatte den entwaffnenden Charme eines Entertainers aus alten Zeiten. Alonzo, der ihn beobachtete, hatte das sichere Gefühl, daß der Commander in seiner Jugend einigen Erfolg bei Frauen gehabt haben dürfte. »Hier spricht Commander Broderick O'Neill von der Eden Advance«, säuselte er freundlich, als ob er gerade nichts Besseres zu tun hätte. »Wir laufen uns nur mal 'n bißchen warm, One-Nine. Beziehen Position für Manana.« »Wir haben ein No-Go für Sie, Eden Advance«, wiederholte die Frau in der Basiskontrolle laut und langsam, als hielte sie O'Neill für einen Idioten, der nicht in der Lage war, einen einfachen Satz zu verstehen. »Bitte bleiben Sie in Warteposition; bis Sie weitere Anweisungen erhalten. Ungenehmigte Positionswechsel stellen eine Gefahr ...« O'Neill drückte auf einen Knopf und schaltete damit den Ton der Videoübertragung ab, so daß man nur noch die Mundbewegungen der Frau sah, die nichtsahnend in ihrem Vortrag über die Sicherheitsbestimmungen der Raumschiffstation fortfuhr. Alonzo grinste zufrieden. »Mir ist es noch nie gelungen, sie dazu zu bringen, die Klappe zu halten. Ihre Art gefällt mir, Commander«, sagte er anerkennend.
O'Neill kicherte. »Danke für das Kompliment, Solace. Ich dachte, wir könnten mal 'ne Pause vertragen.« Er sah an Devon, die einen einigermaßen besorgten Eindruck machte, vorbei und rief nach hinten ins Cockpit: .»Gibt's was Neues von den Technikern?« »Suche bisher negativ, Commander«, antwortete Baines. »Halten Sie mich auf dem laufenden«, befahl er und wandte sich wieder um. Dann lehnte er sich erneut mit seinem ganzen Gewicht auf die Rückenlehne von Alonzos Sessel und machte es sich bequem. »So, dann wollen wir mal sehen, was als nächstes passiert«, sagte er in aller Seelenruhe und grinste übers ganze Gesicht. Danziger durchsuchte systematisch einen Abschnitt des Korridors nach dem anderen. Er entfernte die einzelnen Platten der Wandverkleidung und leuchtete mit einer Taschenlampe in die Hohlräume, bevor er sie mit einem Scanner abtastete. Die Techniker hatten die vom Bordcomputer angegebenen Bereiche, in denen sich der Sprengstoff befinden sollte, unter sich aufgeteilt, um die Suche nach O'Neills »siebenundneunzig unregistrierten Gegenständen« zu beschleunigen. Aber trotzdem war es unumgänglich, das gesamte Raumschiff Zentimeter für Zentimeter zu untersuchen. Schließlich war es möglich, daß der Resonanz-Scanner nicht jede Unregelmäßigkeit aufgezeichnet hatte. Die mühsame, zeitraubende Arbeit ließ Danziger mit den Zähnen knirschen. Einmal angenommen, sie fanden wirklich Sprengsätze an Bord, dann blieb immer noch die Frage offen, mit welchem Zündmechanismus sie ausgestattet waren. Und, noch wichtiger, wieviel Zeit blieb ihnen, die Bomben zu entschärfen? Ein paar Stunden oder womöglich nur einige Sekunden? Daß offenbar jemand versuchte, ihre Expedition zu sabotieren und rücksichtslos einige hundert kranke Kinder (von allen anderen an Bord der beiden Schiffe gar nicht zu reden) in die Luft zu jagen, überraschte Danziger ganz und gar nicht. Er
gab sich zwar immer Mühe, so unauffällig wie möglich im Hintergrund zu bleiben, aber trotzdem war ihm nicht entgangen, daß Devon Adair mit ihrem Plan, die kranken, sterbenden Kinder auf eigene Faust zu retten, für eine Menge Aufruhr gesorgt hatte und auf massiven Widerstand gestoßen war. Der Welle von Hilfsbereitschaft und Unterstützung, die ihrer Aktion in der Bevölkerung entgegenschlug, standen erbitterte Machtkämpfe und üble Verleumdungen auf höchster Regierungsebene gegenüber. Sicher, er selbst war nicht viel mehr als eine Arbeitsbiene in diesem Staat, doch blieb ihm trotzdem nicht gänzlich verborgen, was sich hinter den Kulissen abspielte. Natürlich kannte er nicht die gesamte Geschichte, bei weitem nicht, aber er wußte genug, um angesichts dieser bedrohlichen Wendung nicht allzusehr überrascht zu sein. Das hieß allerdings nicht, daß er darüber nicht stinksauer gewesen wäre. Am Ende des Korridors kam jetzt eine Kollegin aus seinem Team in sein Blickfeld. Sie winkte, um sich bemerkbar zu machen. »Danziger!« schrie sie, »setz dein verdammtes Headset auf!« Verlegen und zugleich verärgert, legte er sein Werkzeug beiseite, um das zerknautschte Headset aus der Hosentasche zu zerren und aufzusetzen. Als die Monitorarme sich vor seine Augen schoben, sah er allerdings entgegen seiner Erwartung nicht seine Tochter vor sich, sondern ein anderes Mitglied der Technikercrew, einen kleinen, schmächtigen Burschen namens Weigman. »Auf Deck sieben ist nichts, Chef«, meldete er und erinnerte Danziger daran, daß irgend jemand auf die blöde Idee gekommen war, ihn für diese Aktion zum Leiter eines der Teams zu ernennen. Er nahm sich fest vor, sich den Namen dessen, der dafür verantwortlich war, gut zu merken, damit er es ihm bei Gelegenheit heimzahlen konnte. »Und du, hast du was entdeckt?« fragte Weigman.
»Keine Sorge«, antwortete Danziger, »wenn ich was finde, informiere ich euch. Halt dich weiter an deinen Plan und melde dich, wenn's was Neues gibt.« Im äußersten Winkel des Monitorfeldes blinkte ein rotes Licht und signalisierte, daß noch jemand ihn zu erreichen versuchte. »Wir sprechen uns später noch, Bill«, sagte Danziger und schaltete die zweite Meldung auf Empfang. »Ja, was ist?« Das runde Vollmondgesicht und die an eine Billardkugel erinnernde Glatze, die jetzt auf seinem Monitor auftauchten, gehörten eindeutig Larry Stidd. Hinter ihm stand eine Frau mit langem, gelocktem dunkelbraunem Haar, die einen einigermaßen verzweifelten Eindruck machte. Danziger fiel ein, daß er sie irgendwo schon einmal gesehen hatte. Das mußte auf der Cocktail-Party gewesen sein, die O'Neill gegeben hatte, bevor sie an Bord gegangen waren. Aber er brauchte eine Weile, bis er dem Gesicht auch einen Namen zuordnen konnte. Martin ... Bess Martin. Wenn er sich recht erinnerte, war sie mit einem Regierungsbeamten verheiratet, der als offizieller Beobachter an dieser »Vergnügungsreise« teilnahm. Sie sah nicht gerade glücklich aus, und er konnte ihr das nicht einmal verdenken. Was gab es Scheußlicheres, als einen Fremden in seine eigene Privatsphäre eindringen lassen zu müssen - noch dazu, wenn es sich dabei um Larry Stidd handelte? Larry war zwar lammfromm, aber er sah aus wie ein Preisboxer, der in seiner Freizeit Türen mit dem Kopf einrannte. »Warum sagen Sie mir nicht, wonach Sie suchen?« fragte Bess. »Vielleicht kann ich Ihnen helfen, es zu finden ...« Jetzt kam ein weiteres Mitglied der Technikercrew, ein junger Typ namens Vergos, ins Bild. Er hielt einen schwarzen Koffer in der Hand. »Was ist das, Ma'am?« fragte er mit durch die Übertragung leicht verzerrter Stimme. Bess schluckte und riß ihre unschuldigen Augen weit auf. »Er ... er gehört meinem Mann.«
Vergos fuhr mit dem Scanner über den Koffer und nickte, als der nichts Auffälliges anzeigte. »Keine Auslöser am Schloß.« Er öffnete den Koffer, und im gleichen Moment quoll aus ihm ein wahrer Strom von hauchzarten, federleichten, spitzenbesetzten Dessous hervor. Danziger amüsierte sich königlich, während Verges dunkelrot anlief und Stidd in haltloses Gelächter ausbrach. »Ihrem Mann, Ma'am?« »Der Koffer gehört ihm«, gab sie pikiert und sichtlich verlegen zurück und schloß rasch den Deckel. »Der Inhalt mir.« Noch immer lachend wandte sich Stidd über den Monitor an Danziger. »Wie ich Ihnen gerade mitteilen wollte, Chef«, sagte er grinsend, »in Sektor drei ist alles in Ordnung. Gibt's bei Ihnen was Neues?« »Negativ«, gab Danziger lachend zurück und fragte sich, wem die ganze Sache wohl peinlicher war, Vergos oder Bess Martin. »Ich geh' jetzt rauf zum Kommando-Deck. Over.« Er schaltete den Bildschirm ab, so daß sich die Monitorarme beiseite schoben. Dieses Mal ließ er jedoch das Headset auf, damit die Leute aus seinem Team ihn jederzeit erreichen konnten. Während er auf den Aufzug wartete, hörte er auf einmal die Stimme eines Kollegen über den Kopfhörer. Da er ,sich nicht an ihn richtete, nahm Danziger an, daß der andere nur aus Versehen sein Mikro eingeschaltet hatte. »Tut mir leid, daß ich Sie stören muß, Dr. Heller«, entschuldigte sich die Stimme höflich. »Aber ...« Den folgenden Geräuschen nach zu urteilen, räumte der andere ein paar Gegenstände aus einem Schrank. Dann war eine aufgeregte Frauenstimme zu hören. »Ich verlange, daß man mir erklärt, was hier eigentlich vor sich geht. Das Schiff hat sich in Bewegung gesetzt, bevor noch alle an Bord sind! Und was suchen Sie hier überhaupt?« »Sprengstoff, Madam«, antwortete der Techniker am anderen Ende in aller Seelenruhe. Dann herrschte plötzlich absolute Stille. Danziger dachte einen Moment lang, er hätte vielleicht
unbeabsichtigt seinen Kopfhörer ausgeschaltet. Aber nein, der war weiterhin auf Empfang gestellt. Noch immer war aus der Krankenstation kein Laut zu hören. Die Ärztin brauchte offensichtlich eine Weile, bis sie diese Nachricht verdaut hatte. Endlich kam der Lift, die Türen öffneten sich, und Danziger trat in die Kabine. Erst jetzt bemerkte er, daß er nicht allein im Aufzug war. Er nickte dem anderen Mann zu und sinnierte, an die Wand der Kabine gelehnt, über die Zufälle des Lebens. Sein Gegenüber war Bess Martins Mann. Morgan Martin trug einen dreiteiligen Anzug, der mit allen Mitteln daraufhin gestylt war, seinen astronomisch hohen Preis zu erkennen zu geben. Und auf der Stirn des Mannes schien das Wort »Regierungsangestellter« regelrecht eingraviert zu sein, so wichtig tat er. Martin beachtete Danziger gar nicht, sondern wanderte statt dessen nervös in der engen Kabine des Aufzugs hin und her, wobei er Danziger immer mehr an die Wand drängte. »Was zum Teufel geht hier eigentlich vor?« schrie er schließlich ungeduldig, fast hysterisch. »Wie bitte?« fragte Danziger, der nicht damit gerechnet hatte, daß Martin sich dazu herablassen könnte, einen einfachen Techniker anzusprechen. Ein wenig ruhiger wiederholte Martin seine Frage: »Was zum Teufel geht hier vor?« Dann starrte er ins Leere, und Danziger wurde plötzlich klar, daß er doch nicht mit ihm gesprochen hatte. »Was zum Teufel geht hier vor?« fragte Martin zum dritten Mal, jetzt mit einer anderen Betonung und Blick zum Fußboden. Es war offensichtlich, daß er diese eine einzige Zeile wirklich gründlich einstudieren wollte. Na, großartig, dachte Danziger. Es war schon schlimm genug, mit einem Typen in einer Fahrstuhlkabine eingeschlossen zu sein, der für die Regierung arbeitete. Aber dieser Martin war allem Anschein nach auch noch komplett verrückt. Es fehlte nur noch, daß er gewalttätig wurde.
Der Aufzug hielt auf dem Kommando-Deck, die Türen öffneten sich, und Martin rauschte an Danziger vorbei, als ob der gar nicht existierte. Mit wehenden Rockschößen lief er auf den Eingang zum Cockpit zu. Danziger sah ihm nach und war froh, daß er diesem Verrückten nicht länger Gesellschaft leisten mußte. Er folgte ihm in einigen Metern Abstand, den aktivierten Scanner in der ausgestreckten Hand. »Was zum Teufel ... äh ...« Die Respekt heischende Stimme kam ins Stocken, und der Mann, dem sie gehörte, schien sich jäh für einen Wechsel seiner Taktik zu entscheiden. »Gibt es irgendwelche Probleme?« fragte er jetzt in ungleich ruhigerem Tonfall und auch eine Spur neugierig. Devon wandte sich um. Diese Stimme, die erst autoritär und dann wie die eines Weichlings geklungen hatte, irritierte sie. Sie warf dem Mann, der gerade das Cockpit betreten hatte, einen mißbilligenden Blick zu. Sicher, sie hatte nicht nur die Zustimmung, sondern auch die Unterstützung der Regierung gebraucht, um das EdenProjekt zu verwirklichen; und im Gegenzug hatte sie zustimmen müssen, daß man ihr einen Regierungsvertreter als »Beobachter« auf das Schiff setzte. Aber das hieß noch lange nicht, daß ihr dieser Gedanke besonders zusagte. Devon hielt sich für einen Menschen, der in der Lage war, mit nahezu jedem gut zusammenarbeiten zu können. Aber nachdem sie diesen ewigen Jasager Morgan Martin mit seiner aufdringlichen und zugleich unterwürfigen Art etwas besser kennengelernt hatte, waren ihr doch Zweifel gekommen, ob sie mit solch einem Menschen überhaupt auskommen wollte. »Sie sind doch der Mann mit den Verbindungen zur Regierung, Martin«, knurrte O'Neill grimmig. »Warum sagen Sie uns nicht, was hier los ist?« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, gab Morgan zurück, während er näher auf Devon und den Commander zuging. Er machte eine weit ausholende Geste, als wollte er damit nicht nur das Cockpit, sondern auch die Colony und alles, was sich
jenseits der Schirme befand, einbeziehen. »Wer hat unseren Start autorisiert? Liegt eine Level-Six-Erlaubnis vor?« Die Videoverbindung mit der Basis stand noch, und O'Neill hatte in der Zwischenzeit auch den Ton wieder eingeschaltet, obwohl keiner im Cockpit großes Interesse daran hatte, sich mit dem Tower zu unterhalten. Die bisher ruhige, mehr auf Überredung zielende Stimme der für die Startkontrolle zuständigen Angestellten war allmählich zu einem ärgerlichen Kreischen angeschwollen. »Eden-Advance und Eden-Colony, Sie verstoßen gegen die Vorschriften! Bitte bestätigen Sie!« »Wäre vielleicht jemand so nett, sich mal mit diesen reizenden Leuten zu unterhalten?« fragte Alonzo und sah sich, in seinen Sessel zurückgelehnt, hilfesuchend um. »Ich hab' im Moment alle Hände voll zu tun.« Der Blick, den Devon dem Regierungsbeamten zuwarf, ließ Martin instinktiv ein paar Schritte zurückweichen. Aber damit nicht genug, packte sie ihn auch noch am Kragen und drängte ihn rückwärts in eine Ecke, wo sie ihn unsanft gegen die Wand stieß. Die Unnachgiebigkeit, mit der ihre Augen ihn durchbohrten, hatte schon Männer ganz anderer Kaliber auf die Knie gezwungen. Und der Ton ihrer leisen, entschlossenen Stimme machte nur allzu deutlich, daß es ihr verdammt ernst war mit dem, was sie sagte. »Da Sie noch an Bord sind, Mr. Martin, darf ich wohl davon ausgehen, daß Sie nicht wissen, was Ihre Freunde auf höchster Ebene sich für uns ausgedacht haben. Was glauben Sie, was morgen früh passieren wird?« Er sah sie vollkommen verwirrt an. »Wieso, sie werden die Starterlaubnis für den Flug zum Planeten G889 erteilen.« Devon lächelte eisig. »Sie dürfen noch einmal raten.« Aus dem Augenwinkel nahm Devon wahr, daß plötzlich einer der Monitore an Alonzos Platz, auf dem bisher nichts zu sehen gewesen war, aktiviert wurde. Kurz darauf erschien das Gesicht eines weiteren Kontrolloffiziers auf dem Bildschirm. »Solace?« fragte er und klang dabei so gelassen und vertraulich, als ob er
und der Pilot sich schon seit Urzeiten kannten und in praktisch jeder Bar des Sonnensystems miteinander gesoffen hatten. Und vielleicht traf das ja auch wirklich zu. »Bist du vollkommen verrückt geworden? Was hast du eigentlich mit diesen Spinnern am Hut? Los, kehr um und bring das Schiff zurück, bevor du deine Fluglizenz los bist.« Alonzo grinste. »Und wer bezahlt mich dann, One-Nine? Etwa du? Ich glaube kaum, daß du bei der Summe, die diese Leute mir geboten haben, mithalten kannst. Es ist auf jeden Fall genug, um mich nach diesem Flug zur Ruhe zu setzen. Du siehst, ich pfeife auf die Fluglizenz.« »Eden Advance.« Das war wieder die Startüberwachungstechnikerin von vorhin, die offenbar noch einmal ihr Glück versuchen wollte. Aber irgendwie klang sie inzwischen ziemlich resigniert. Während der ganzen Zeit, in der Alonzo mit dem Tower geplaudert hatte, waren die Raumschiffe auf ihrem Kurs geblieben, die Colony dicht gefolgt von der Advance. »Es gilt immer noch No-Go«, meldete die Frau überflüssigerweise. Als ob das nicht alle wußten. »Kehren Sie in den Dockbereich zurück. Ich wiederhole. Kehren Sie in den Dockbereich zurück! Wenn Sie nicht sofort umkehren, müssen wir den Sicherheitsdienst benachrichtigen.« O'Neill beugte sich zu dem Monitor hinunter, um sicherzugehen, daß das, was er jetzt sagte, auch wirklich verstanden wurde. »Benachrichtigen Sie von mir aus, wen Sie wollen. Wir machen uns jetzt aus dem Staub!«
3 O'Neill hatte seinen letzten Satz kaum beendet, als plötzlich das Chaos ausbrach. Im Kontrollraum der Basis herrschte helle Aufregung, das Stimmengewirr, das über die Videoverbindung übertragen wurde, übertönte für einen Augenblick jedes Geräusch im Cockpit. Nur Morgans wütendes Organ war noch lauter. »Was?!« schrie er fassungslos, stieß Devon zur Seite und stürmte nach vorne, auf den Platz des Piloten zu. Weit kam er allerdings nicht, da der Commander ihm entgegentrat und ihm eine seiner riesigen Pranken mitten auf die Brust pflanzte. Inmitten des Tohuwabohus nahm Devon wahr, daß sich die Tür zum Cockpit erneut öffnete. Resigniert wandte sie sich dem Eingang zu, um den nächsten ungebetenen Besucher in Empfang zu nehmen. Der Mann gehörte offensichtlich zu den Technikern. Sein Headset saß ein wenig schief auf dem Kopf, und das Namensschild auf seiner Uniform wies ihn als »Danziger« aus. Sein die Situation einschätzender Blick streifte Devon nur kurz und wanderte dann weiter über die Szene, die sich ihm im Cockpit bot. Dann fing er, ohne ein Wort zu verlieren, damit an, mit seinem Scanner den Raum abzusuchen. Nun erhob sich die Stimme der Fluglotsin über die Kakophonie, die im Tower herrschte. In einem Ton, der eindeutig signalisierte, daß sie nun endgültig nicht mehr zum Scherzen aufgelegt war, brachte sie alle anderen zum Schweigen. »Eden, wir haben die Schließung der Tore initiiert. Sie werden sie nicht passieren. Aktivieren Sie umgehend den Rückwärtsschub.« Devon trat hinter Alonzo und sah ihm über die rechte Schulter. Auf der anderen Seite stand O'Neill und starrte wie sie auf den Schirm vor ihnen, auf dem jetzt die Tore zu erkennen
waren, die sich tatsächlich langsam schlössen. Die Unausweichlichkeit, mit der dies geschah, wirkte quälend. »Kein Mensch wird die Tore für euch wieder öffnen, Solace«, ließ sich die Stimme des anderen Lotsen vernehmen. »Das Apex-Leitsystem wird jetzt auch deaktiviert.« Mit wachsender Besorgnis beobachtete Devon, wie die Orientierungslichter in dem langen Tunnel, der auf die Außentore zuführte, eines nach dem anderen erloschen. Vor ihnen lag jetzt alles im Dunkeln, nur das Licht, das die Scheinwerfer der beiden Schiffe warfen, sowie die spärliche Torbeleuchtung am Ende des Tunnels boten noch ein wenig Orientierung. »Wann hast du eigentlich zum letzten Mal ein Raumschiff manuell gesteuert, Lonz?« meldete sich wieder die Fluglotsin. Sie machte einen außerordentlich ruhigen und zuversichtlichen Eindruck, ihre Stimme klang grenzenlos geduldig. Sie verstand es wirklich, jeden glauben zu machen, daß sie ausschließlich in Alonzos Interesse handelte. Was denn auch sonst, dachte Devon verbittert. Und die Schweine - wenn es noch welche gäbe lernten das Fliegen... Der einschmeichelnde Ton der Lotsin irritierte Devon zutiefst. Hielt sie Alonzo für einen Idioten? Rechnete sie wirklich damit, daß er auf diese offensichtliche Masche hereinfiel? Und wenn er's tat? Was würde dann aus ihnen allen werden? »Wenn du den Schiffsrumpf beschädigst, bekommen wir beide echte Schwierigkeiten«, warnte die Lotsin. Diesmal schwang in ihrer Stimme ein mütterliches »Ich tue das alles doch nur zu deinem Besten« mit. Alonzo beugte sich in seinem Sessel leicht vor und ließ seine Hände mit einer fast schon zärtlichen Geste über die Kontrollkonsole gleiten. Anscheinend wahllos drückte er die verschiedensten Knöpfe und betätigte eine Reihe von Hebeln. Devon hatte nicht die geringste Ahnung, was der Pilot da tat,
aber sie vertraute ihm. Alonzo erweckte den Eindruck, als ob er es gewohnt wäre, das, was er sich einmal vorgenommen hatte, auch zu erreichen. »Wie schön, daß du mir so viel Vertrauen entgegenbringst, One-Nine«, gab er träge zurück, vollkommen unbeeindruckt von der Warnung der Lotsin. »Ich werd's mir merken.« O'Neill beugte sich zu ihm hinunter, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei kam er ihm so nahe, daß sich unter dem Atem des Commanders ein paar kleine Härchen bewegten. »Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, Kid«, sagte O'Neill leise. »Wenn du wirklich so gut bist, wie du immer behauptest...« - er kniff die Augen zusammen - » ... dann packst du's.« Alonzo nickte kaum merklich, um seine Mundwinkel spielte ein Grinsen. Plötzlich wurde Devon klar, was passieren würde, was sie durch ihren verzweifelten Wunsch, keine Sekunde länger auf der Raumstation zu bleiben, ausgelöst und somit auch zu verantworten hatte. Ihre Hände gruben sich in die Rückenlehne von Alonzos Sessel. »Navigator«, sagte Alonzo - jetzt, wo es darum ging, daß er sein Können bewies, war auf einmal alles Spielerische aus seiner Stimme verschwunden -, »ich werde Ihnen die Koordinaten für unseren Kurs ansagen.« Die Frau auf dem Platz des Navigators drehte sich zu ihm um und starrte den Piloten fassungslos an. »Im Startkanal?« fragte sie mit einem Gesichtsausdruck, als ob sie Alonzo für völlig durchgedreht hielt. »Und ohne Apex?« Seine Augen hatten einen entschlossenen, fast harten Ausdruck, als er sie ansah. »Folgen Sie einfach meinen Anweisungen!« befahl er in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Mochte O'Neill auch noch so kampferprobt sein, spätestens jetzt war klar, wer der wahre Kapitän dieses Schiffes war. Devon schluckte nervös und wandte den Blick keine Sekunde von dem Zwischenraum ab, den die Tore noch freiließen. Für
ihren Geschmack verengte er sich viel zu schnell. Nach vorne sehen, in die Zukunft. Nach vorne sehen, auf ein Kind, das keine Krankheit mehr kennt. »Los, mach schon ...« flüsterte sie beschwörend und war kaum in der Lage stillzustehen. »Mach schon ...« »Wo wollen Sie denn hin, Devon?« fragte plötzlich eine beherrschte und zugleich verführerische Stimme in ihrem Rücken. Überrascht zuckte sie zusammen und wandte sich langsam um. O'Neill, der noch immer neben ihr stand, fluchte leise vor sich hin, bevor auch er sich umdrehte. Auf einem Monitor im hinteren Teil des Cockpits, wo Baines saß, war jetzt das verschlafene Gesicht von Dison Blalock zu sehen, dem Commissioner der Hafenbehörden. Nur wer Dison so gut kannte wie Devon, nur wer es verstand, hinter die ihn schützende Fassade von Beherrschtheit und Überzeugungskraft zu blicken, merkte seinen Gesichtszügen an, daß er nicht gerade glücklich darüber war, mitten in der Nacht geweckt worden zu sein. Devon holte tief Luft. So schnell würde sie nicht aufgeben, sie würde ihm widersprechen, so gut sie konnte. Doch bevor sie zu Wort kam, schob sich bereits Morgan ins Blickfeld des Monitors. »Mr. Blalock, Sir, ich bin Morgan Martin, Regierungsbeamter, Ebene vier. Ich wollte Sie nur davon in Kenntnis setzen, daß ich die Vorgänge auf diesem Schiff in keiner Weise gutheiße ...« Er kreischte auf, als O'Neill ihn grob beiseite stieß. »Legen Sie sich wieder schlafen, Blalock«, riet der Commander mit einer weitaus weniger einschmeichelnden und aalglatten Stimme als sein Gegenüber. »Das hier träumen Sie nur.« Blalock nahm von O'Neill genausowenig Notiz wie von Martin. Statt dessen fixierte er weiterhin Devon Adair, und zwar in einer Weise, die diese selbstbewußte Frau nervös machte. Abgesehen davon fand sie seinen Blick einfach unverschämt.
»Laut Zeitplan werden Sie in acht Stunden starten, Devon«, sagte er beschwichtigend. »Mit diesem unerlaubten Manöver setzen Sie allerdings Ihre Abreise generell aufs Spiel.« Aus dem Augenwinkel konnte Devon erkennen, was sich auf dem Hauptschirm vorne im Cockpit abspielte. Die Schiffe hatten das Tunnelende beinahe erreicht, durch den immer schmaleren Spalt der sich schließenden Tore, der ihr schon jetzt zu eng schien, um sie unbeschadet hindurchzulassen, drang das erstaunlich helle Glitzern der Sterne. Aber Alonzo steuerte weiter unbeirrt auf den Ausgang zu. O'Neill stand mittlerweile wieder hinter dem Piloten und überließ es Devon, mit Blalock fertig zu werden. Devon wußte nicht recht, was sie davon halten sollte. Durfte sie sich geschmeichelt fühlen, weil er so viel Vertrauen in sie setzte? Oder ließ er sie einfach im Stich? »Devon«, fuhr Blalock fort und lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Monitor. »Bedenken Sie doch, all die Jahre der Planung, all die Hindernisse, die Sie überwunden haben ...« »Elf Nord, vier Grad«, murmelte Alonzo. Die Tore wurden immer bedrohlicher, sie erschienen ihr jetzt wie die Wände eines Canyons. Devon spürte, daß sie anfing zu schwitzen. »Markierung«, sagte die Navigatorin leise und beobachtete konzentriert die Kontrolltafeln vor ihr. Auf ihrer Oberlippe glänzten kleine Schweißperlen. »Ich weiß, daß wir es Ihnen nicht leicht gemacht haben«, gab Blalock zu und bemühte sich, ein möglichst zerknirschtes Gesicht an den Tag zu legen. Dann jedoch änderte er seine Strategie unvermittelt und redete in einem vorwurfsvollen Tonfall mit ihr, fast so, als hätte er es mit einem uneinsichtigen Kind zu tun. »Aber jetzt müßten Sie sich nur noch acht Stunden gedulden. Warum halten Sie sich nicht an die Regeln?« Wenn es etwas gab, das Devon nicht ausstehen konnte, dann war es das Gefühl, von oben herab behandelt zu werden. Schlagartig wurde ihr bewußt, daß Dison Blalock sie die ganzen Jahre über so behandelt hatte. Er hatte sie gegängelt, und sie
hatte sich das gefallen lassen, ohne es zu merken, so geschickt hatte er sich hinter der Fassade des fürsorglichen Vaters versteckt. Und weil sie das alles plötzlich durchschaute, fühlte sie sich schlagartig wieder selbstbewußt genug, um ihm entgegenzutreten. »Man könnte auch sagen, daß mir nun endgültig der Geduldsfaden gerissen ist, nachdem Sie den Start für unsere Expedition jahrelang hinausgezögert haben.« Für einen Sekundenbruchteil schimmerte in Blalocks Blick Irritation auf, dann hatte er sich, Profi, der er war, wieder unter Kontrolle. Aber Devon war seine Enttäuschung nicht entgangen, und das erfüllte sie mit Genugtuung. »Devon, alles, was wir in der Vergangenheit getan haben, war zu Ihrem eigenen Besten. Um Sie vor dem Unbekannten zu schützen!« »Blalock«, erwiderte sie und gab ihrer Stimme einen leicht verärgerten Unterton. »Sie haben doch die wissenschaftlichen Daten der Raumsonden selbst gesehen. Der Planet hat eine Bewohnbarkeitsrate von dreiundachtzig!« »Ich weiß«, gab er bereitwillig zu, was sie noch skeptischer machte. »Aber noch ist kein Mensch so weit ins All vorgedrungen, Devon. Ich glaube kaum, daß Ihnen das, was sie auf Planet G889 vorfinden, gefallen wird.« Devon bemerkte, daß sich Danziger, der das gesamte Cockpit, Konsole für Konsole systematisch mit dem Scanner absuchte, langsam der Stelle näherte, an der sie selbst stand. Ohne daß Blalock ihn sehen konnte, untersuchte er eine Reihe von Monitoren, die neben dem Bildschirm standen, auf dem der Commissioner sprach. Plötzlich leuchteten und blinkten alle Kontrollampen des Scanners auf. Devon blieb fast das Herz stehen. In diesem Moment hörte sie über das Headset, das sie noch immer trug, O'Neills Stimme: »Lassen Sie ihn nicht vom Haken, Adair. Wie's aussieht, haben wir gerade einen ganz dicken Fisch gefangen.«
Sie schluckte trocken und gab sich alle Mühe, weder ihre Nervosität noch ihren Ärger noch irgend ein anderes Gefühl zu zeigen. Vor allem aber durfte Blalock ihr nicht ansehen, daß sie ihm dicht auf den Fersen waren. Schweißperlen traten auf ihre Oberlippe, und sie fragte sich besorgt, ob ihre Verstellungskünste überzeugend genug waren. »Glauben Sie, daß mir gefällt, was sich hier auf unseren Raumstationen abspielt, Dison?« fragte sie. »Die Syndrom-Kinder sterben! In zwei Generationen ist möglicherweise die gesamte Menschheit ausgestorben!« Blalock nickte mit einer Miene, die zwischen dem Ausdruck väterlichen Mitgefühls und dem Habitus des gütigen, verständnisvollen Gemeindepfarrers schwankte. Doch Devon wußte aus Erfahrung, daß der Commissioner den Fakten und Daten, die ihre Theorie unterstützten, keinen Glauben schenkte. »Devon, glauben Sie mir, es tut mir in der Seele weh, daß Ihr kleiner Junge krank ist. Es ist traurig, wenn ein Kind stirbt. Aber den Tod hat es schon immer gegeben. Das ist doch kein Grund, wegzulaufen und alles Vertraute einfach hinter sich zu lassen.« Für Blalock nicht sichtbar, bemühten sich Danziger und O'Neill, den verdächtigen Monitor aus seiner Halterung zu lösen und umzudrehen. An seiner Rückseite klebte ein kleiner, schwarzer Kasten. »Oh, mein Gott«, flüsterte Morgan irgendwo hinter Devon. »Sie werden uns alle töten.« O'Neill durchbohrte ihn mit einem Blick, der ihn auf der Stelle zum Schweigen brachte. Währenddessen klemmte sich Danziger den Monitor unter den Arm, als handelte es sich um nichts weiter als die Aktentasche mit seinem Frühstücksbrot, und brachte ihn mit einer so unglaublichen Selbstverständlichkeit aus dem Cockpit, daß Devon schwer beeindruckt war. O'Neill warf ihr noch einen vielsagenden Blick zu, ehe er Danziger folgte, um das Ding zu beseitigen, bevor es in die Luft ging und aus ihnen allen - aus den Schiffen, den
Kindern, einfach aus allem - eine tragische Episode der Geschichte machte. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Dison?« fragte Devon, entschlossen, ihn weiter beschäftigt zu halten, wie O'Neill es verlangt hatte. Sie konnte noch immer kaum fassen, daß er Morgan Martins Gewimmer offensichtlich nicht gehört hatte, und schickte ein stilles Gebet der Dankbarkeit in den Himmel. »Ich dachte, wir hatten die Starterlaubnis ...?« »Selbstverständlich, nur die Genehmigung von Ebene sechs fehlt eben noch«, schleimte er versöhnlich. »Das wissen Sie doch. Ich tue alles, was in meiner Macht steht, um das für Sie zu regeln.« Und ohne die Genehmigung von Ebene sechs gehen wir nirgendwohin. Sie riskierte einen schnellen Blick über die Schulter. Morgan tänzelte nervös hin und her; während er wie gebannt auf den Hauptschirm starrte. Die Colony vor sich her schiebend, durchfuhr ihr Schiff jetzt die Tore, die sich bereits so weit geschlossen hatten, daß es fast unmöglich schien, daß die beiden Raumschiffe sie noch passierten. Morgan krallte sich an der Rückenlehne von Alonzos Sessel fest, die Knöchel weiß vor Anstrengung, und jammerte leise: »Oh, mein Gott... Oh, mein Gott...« »Sie wissen genausogut wie ich, Devon«, fuhr Blalock fort, »daß es ein paar Leute gibt, die einen Erfolg Ihrer Expedition um jeden Preis verhindern wollen.« Devon drehte sich wieder zu dem Monitor herum und beschloß, erst dann wieder einen Blick auf diese Tore zu riskieren, wenn sie sie passiert hatten. Sie hoffte nur, daß Alonzo als Pilot wirklich so gut war, wie immer behauptet wurde. Jetzt hörte sie O'Neills Stimme über den Kopfhörer, die kaum mehr als ein entferntes Flüstern war: »Adair, halten Sie ihn noch 'ne Weile beschäftigt. Wir brauchen noch etwas Zeit.« Zeit? Wieviel Zeit? Wo waren Danziger und O'Neill, und was würden sie mit der Bombe machen? Und Morgan Martin
steigerte sich allmählich in einen hysterischen Anfall hinein, weil er glaubte, sie würden zwischen den sich schließenden Toren zermalmt. »Was kostet es euch schon, uns fortzulassen, Dison? Zwei lächerliche Raumschiffe, eine Handvoll von Leuten, die sowieso niemand will und über die hinter ihrem Rücken die schrecklichsten Gerüchte verbreitet werden. Die meisten sind doch froh, wenn wir endlich verschwinden.« Mit einer Geste der Hilflosigkeit breitete der Commissioner die Arme aus und zuckte die Schultern. »Wenn's nach mir ginge, wärt ihr schon lange weg.« Dann nahm seine Stimme einen etwas ernsteren, tieferen Klang an, er spielte wieder den Vater, der sein Kind über die weniger schönen Seiten des Lebens aufzuklären hat. »Wir befinden uns zur Zeit in einer schwierigen Situation, Devon. Es gibt eine ganze Menge innenpolitische Probleme. Und Ihre Expedition trägt zu dieser Krise einiges bei.« Devon verschränkte die Arme vor der Brust und verfolgte beharrlich ihren Argumentationsstrang. »Keines der am Syndrom erkrankten Kinder ist älter als neun Jahre geworden. Mein Sohn ist jetzt acht. Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie er stirbt.« Wie oft hatte sie das alles schon gesagt? Und wie oft sollte sie es noch wiederholen? Als das Heck ihres Schiffes die Tore streifte, war bis ins Cockpit ein leises, wimmerndes Ächzen zu hören. Dann schlössen sie sich endgültig - hinter ihnen. Morgan schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Er sank auf den Boden und heulte ein ums andere Mal: »Oh, mein Gott ... Oh, mein Gott...« »Wir sind draußen«, flüsterte Alonzo Devon zu. »Wenn jetzt noch der Commander und Danziger gute Arbeit leisten ...« »Devon, ich flehe Sie an.« Blalock sprach mit größter Eindringlichkeit und beugte sich noch weiter vor. Sie hatte das Gefühl, als ob seine starke Persönlichkeit den ganzen Bildschirm einnahm. »Entfernen Sie sich nicht von der Station
Sub-Space Zero! Zu Ihrem eigenen Besten, bleiben Sie um Himmels willen in der Nähe.« Skeptisch zog sie eine Augenbraue hoch. »Warum, Dison? Was soll das bedeuten? Wollen Sie mir damit sagen, daß wir in Gefahr sind?« Wo zum Teufel waren bloß Danziger und O'Neill? Machten sie einen Spaziergang mit dem verfluchten Monitor? Panik stieg in ihr auf, sie fühlte sich zittrig und hilflos. Wenn nicht bald etwas geschah, würde sie Blalock nicht mehr länger hinhalten können. In diesem Moment vernahm sie den erlösenden Seufzer von Alonzo: »Rein damit in den Müllcontainer«, murmelte er. »Und dann raus mit dem Mist.« Auf einmal wurde Devon klar, daß der Pilot die ganze Zeit über Danzigers und O'Neills Aktionen auf dem Monitor verfolgt hatte. Am liebsten hätte sie ihn dafür geküßt. Und wahrscheinlich hätte ihm das sehr gefallen. »Devon, Sie sind in Gefahr, wenn Sie sich nicht unserem Schutz unterstellen.« Blalocks Stimme hatte wieder diesen weichen, verführerischen Klang angenommen, den er immer dann anschlug, wenn er besonders überzeugend wirken wollte. »Sie müssen mir vertrauen, Devon. Ich versuche doch, Ihnen zu helfen. Ich bin Ihr Freund ...« Jetzt kam O'Neills Stimme blechern über den Kopfhörer: »Alles in Ordnung.« Devon hatte plötzlich das Gefühl, als drohten ihre Beine nachzugeben. Doch zu ihrer eigenen Verwunderung stand sie noch immer, sicher und aufrecht, als hätte man sie wie all die Geräte im Cockpit am Boden festgeschraubt. In diesem Augenblick fühlte sie sich so stark wie nie zuvor. Die PseudoMacht, die sie früher ausgeübt hatte, war nichts gegen dieses überwältigende Gefühl. Sie fixierte Blalock mit der gleichen Intensität, mit der seine Augen sie unzählige Male gefesselt und gefügig gemacht hatten.
Und es bereitete ihr eine innere Genugtuung, als sie bemerkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Es sah ganz so aus, als ob ihm in diesen Sekunden bewußt wurde, daß er nicht der einzige im Universum war, der Macht über andere ausüben konnte. »Eines habe ich gelernt, Dison ...« Devon beugte sich vor und legte eine Hand auf den Bildschirm. »Ich habe schon lange keine Freunde mehr.« »Bleiben Sie bitte dran ...« Doch sie schaltete den Monitor aus. Plötzlich aber hörte sie seine Stimme hinter sich und wirbelte herum. Sie hatte vergessen, daß die kleineren Monitore einer zweiten Konsole noch eingeschaltet waren. Blalock schien alle Diplomatie zum Teufel gejagt zu haben. Seine Gesichtszüge waren wutverzerrt, er sah aus, als wäre er auch zum Töten bereit. Wie passend das doch war, dachte Devon bitter. »Ich kann jetzt nichts mehr für Sie tun«, erklärte er mit kalter Stimme. »Ich kann Sie nicht mehr beschützen. Ich wünschte, Sie hätten auf mich gehört...« In diesem Augenblick erleuchtete eine riesige Explosion den Hauptschirm und erfüllte das gesamte Cockpit mit gleißender Helligkeit. Einen Moment lang standen sie alle wie geblendet da. Alonzo stieß einen Freudenschrei aus und sprang aufgeregt aus seinem Sessel auf. Martin dagegen lag reglos, in sich zusammengekauert hinter dem Platz des Piloten auf dem Boden und vermittelte den Eindruck, als hätte er sich gerade in die Hose gemacht. Devon starrte auf den Hauptschirm und verfolgte, wie sich die Teile des Monitors, an dem der Sprengkörper befestigt gewesen war und den die Explosion zerfetzt hatte, in alle Himmelsrichtungen verstreuten. Ein zufriedenes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Dann signalisierte ihr Headset eine Videomeldung, und sie aktivierte die Monitorarme. »Das muß man Ihnen lassen, in sentimentalen Abschiedsszenen sind Sie unübertroffen«, lobte O'Neill grinsend.
Sie verzog den Mund. »Aber wie lange wird es dauern, bis sie merken, daß sie uns nicht erwischt haben?« »Oh, ich nehme an, das wissen sie bereits«, antwortete der Commander und bestätigte damit Devons Vermutung. Morgan, der noch immer auf dem Fußboden lag, hob vorsichtig den Kopf. Er sah aus wie eine Schildkröte. »Sie werden uns nicht verfolgen.« Devon war sicher, daß das weniger eine Behauptung als eine ängstliche Frage sein sollte. Sie blickte auf den Heckschirm und sah, wie sich der riesige Komplex der Raumstation langsam in der Dunkelheit verlor. Sie seufzte. »Für die sind wir schon tot«, bemerkte O'Neill als Antwort auf die Frage des Regierungsbeamten. »Während wir hier miteinander reden, senden sie schon die Nachrichtenmeldung über unseren tragischen Unfall. Ab jetzt sind wir ganz auf uns gestellt. Es gibt kein Zurück mehr.« Devon war dieser Zustand nur zu vertraut, und sie fühlte sich wohl in ihm wie in einem bequemen, alten Mantel. Nach all den Jahren hatte sie keine Angst mehr davor, auf sich allein gestellt zu sein. »Ein Zurück, hat es das je gegeben?« fragte sie müde lächelnd. Dann legte sie eine Hand auf die Lehne von Alonzos Sessel. »Bringen Sie uns hier weg«, sagte sie mit ruhiger Stimme, als er sich zu ihr umdrehte. »Zu Befehl, Madam«, gab er zurück. Und schon im nächsten Moment hörte sie das Geräusch der anlaufenden Maschinen, und dieses Geräusch klang verdammt gut nach Freiheit.
4 Devons Stiefel verursachten einen metallenen Klang auf der Galerie, die durch den Bereich mit den Kälteschlafkapseln führte. Sie lief rasch, um in ihre Kabine zu kommen und nach Uly zu sehen, bevor sie wieder in das kontrollierte Chaos des Cockpits zurückkehren mußte. Diese kleine Pause kam ihr mehr als gelegen. Nicht nur, weil sie ihr die Chance bot, ihre reichlich verworrenen Gedanken zu ordnen, sondern auch, weil sie auf diese Weise Alonzos großspuriger Angeberei und O'Neills unerträglicher Selbstgefälligkeit entkam. Klar, die beiden hatten allen Grund, stolz auf sich zu sein. Aber trotzdem ... Die Notwendigkeit, mehr oder weniger Hals über Kopf und auf eigene Verantwortung starten zu müssen, und die Entdeckung der Bombe - mein Gott, eine echte Bombe! - hatten ihre Nerven ganz schön strapaziert, auch wenn sie sich das nicht anmerken ließ. Den Göttern - wie viele auch immer es geben mochte - sei Dank, hatten sie auf der Colony keine weiteren Bomben gefunden. Im Moment wünschte Devon sich nichts mehr, als zu ihrem Sohn ins Bett zu kriechen, sich die Bettdecke über die Ohren zu ziehen und zur Abwechslung mal jemand anderen die Verantwortung übernehmen zu lassen. Aber noch konnte sie sich nicht zurückziehen, noch lange nicht. Manchmal fragte sie sich, ob sie solch einen Punkt je in ihrem Leben erreichen würde. Sie war noch nie der Typ gewesen, der in aller Seelenruhe zusieht, wie sich andere in den Mittelpunkt stellen und das Kommando übernehmen. Ob ihr das gelingen würde, wenn sie erst einmal in New Pacifica waren? Oder würde sie sich wieder für alles verantwortlich fühlen? Sie kannte sich selbst gut genug, um die Antwort auf diese Frage zu erahnen.
Ein sarkastisches Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn sie sich den Luxus erlaubte, nichts weiter zu tun, als sich blind durch die Tage treiben zu lassen und sich einfach über das zu freuen, was das Leben ihr brachte, ohne Sorgen und Ängste. Ein derart unbekümmerter Alltag würde sie wahrscheinlich schneller in den Wahnsinn treiben als das Leben, das sie bisher geführt hatte. Nach all den Jahren mußte sie wohl oder übel akzeptieren, daß es ihr anscheinend nur dann richtig gutging, wenn sie im Streß war. Und trotzdem, so radikal sich auch ihr Leben verändert hatte, seit sie wußte, daß Uly krank war, hätte sie sich doch niemals ein anderes Leben gewünscht, wenn die Voraussetzung dafür gewesen wäre, auf Uly zu verzichten. Sie bog um eine Ecke und stieß beinahe mit Yale zusammen, der ihr entgegenkam. Sofort war ihr mütterlicher Instinkt alarmiert. »Ist alles in Ordnung mit Uly?« Der Lehrer nickte. »Ihm geht's gut. Devon. Hör auf, dir Sorgen zu machen.« »So leicht gewöhnt man sich das nicht ab.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wurde sich auf einmal bewußt, wie verschwitzt sie sich nach der ganzen Aufregung, vor allem nach dem nervenaufreibenden Gespräch mit Blalock, fühlte. Sie sehnte sich nach einer Dusche. »Wo ist Dr. Vasquez? Ich kann ihn über das Headset nicht erreichen. Er müßte Uly allmählich auf den Kälteschlaf vorbereiten.« »Devon ...« Yale warf einen Blick auf die angespannten Gesichter der Leute, die an ihnen vorbeiliefen. Dann nahm er ihren Arm und zog sie in eine etwas ruhigere Ecke. »Vasquez ist nicht an Bord.« »Was?« fragte sie fassungslos. Es bedurfte nur noch eines einzigen Tropfens, um das Faß überlaufen zu lassen und das Faß der Sorgen, das Devon mit sich herumschleppte, war bereits sehr voll.
Yale nickte. In diesem Moment wirkte er steinalt. Rührte das daher, weil er einfach nur erschöpft war, oder litt er darunter, ihr diese Nachricht überbringen zu müssen? »Offenbar wollte er vor dem Start noch einmal nach den Kindern auf der Colony sehen.« »Aber alle waren angewiesen, an Bord zu gehen!« schrie Devon wütend. »Was hat er sich dabei gedacht, das Schiff ohne Rücksprache mit mir zu verlassen?« Ihr Magen krampfte sich zusammen, als ihr klar wurde, was das bedeutete. »Mein Gott... wir haben keinen Arzt.« »Dr. Heller ist an Bord«, korrigierte er sie. Devon schnaubte verächtlich. »Heller? Sie ist die Jüngste in Vasquez' Team, kaum qualifiziert genug, um seine Assistentin zu sein.« Yale räusperte sich vernehmlich und wies mit den Augen über Devons linke Schulter. Sie preßte die Lippen zusammen, weil sie wußte, daß sie das, was jetzt kam, hassen würde. Als sie sich umdrehte, sah sie sich Julia Heller gegenüber, die gerade den Flur entlanggekommen war. Für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie sich hinter der Maske ärztlichen Unbeteiligtseins verbarg, war ihr anzumerken, daß sie jedes Wort gehört hatte. »Dr. Heller ist gekommen, um Uly auf den Kälteschlaf vorzubereiten«, sagte der alte Cyborg mit einem leicht tadelnden Unterton in der Stimme. Devon ärgerte sich über ihren Ausbruch, aber das bedeutete noch lange nicht, daß sie sich bei der Ärztin entschuldigen würde. Alles, was sie über Julia Heller gesagt hatte, entsprach schließlich der Wahrheit, auch wenn man den Sachverhalt sicher etwas höflicher hätte darstellen können. Anstelle einer Begrüßung ließ Devon es also bei einem Kopfnicken bewenden. Als deutlich wurde, daß Ulys Mutter nicht daran dachte, als erste das Wort zu ergreifen, erklärte Julia höflich: »Ich werde seinen Kälteschlaf vierundzwanzig Stunden lang überwachen, bevor wir in die Kapseln steigen.«
All das wußte Devon bereits, Vasquez hatte sie schließlich über jeden einzelnen Schritt genauestens unterrichtet. Sie war nicht gerade glücklich über diese letzte Wendung des Schicksals, und noch verärgerter war sie darüber, daß sie nichts, verdammt noch mal gar nichts unternehmen konnte. Außer sich auszumalen, wie sie Vasquez den Hals umdrehen würde, wenn sie ihn das nächste Mal sah. »Ist in Ordnung. Sie sollten gleich damit anfangen.« »Ich nehme an, Dr. Vasquez hat Sie darüber aufgeklärt, daß ein gewisses Restrisiko bestehen bleibt, wenn ein Kind, das so krank ist wie Uly, in den Kälteschlaf geschickt wird - selbst unter optimalen Bedingungen.« »Die wir nicht mehr haben«, gab Devon kurz angebunden zurück. »Ja, ich bin mir des Risikos bewußt.« Dachte diese Frau, sie wüßte nicht, in welcher Gefahr sich ihr Sohn befand? »Aber wir haben keine andere Wahl, oder?« Julia erblich angesichts dieses Sarkasmus, ließ sich jedoch nicht einschüchtern. »Nein, Madam.« »Dann sollten Sie sich jetzt wohl besser an die Arbeit begeben, nicht wahr?« Sie musterte die junge Ärztin mit einem Blick, der deutlich sagte, daß sie für den Augenblick entlassen war. »Yale, ich werde bei O'Neill im Cockpit sein. Sag Uly, daß ich nachher noch einmal zu ihm komme.« Devon wandte sich um und ging, bevor der Cyborg noch etwas entgegnen konnte. Im Moment stand ihr der Sinn absolut nicht nach einer Lektion in Sachen Höflichkeit. Sie wollte nichts weiter, als mit ihrem Sohn allein sein, nur sie beide, ohne daß diese Heller und ihre medizinischen Apparate sie störten. Aber natürlich hatte Julia recht. Uly mußte auf den Kälteschlaf vorbereitet werden und, noch wichtiger, er mußte vierundzwanzig Stunden lang überwacht werden, bevor alle anderen in die Kapseln gingen. Devon mußte ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse diesen Notwendigkeiten zwangsläufig unterordnen, auch wenn sie vor Wut und
Frustration am liebsten laut aufgeschrien hätte. Aber sie tat es nicht. Es waren zu viele Leute in der Nähe. Vielleicht ergab sich ja später noch die Möglichkeit, sich diesen Luxus zu erlauben. Sie betrat den Fahrstuhl und schlug mit der Hand so hart gegen den Knopf, der die Tür schloß, daß es schmerzte. Verdammt! Ging denn heute alles schief? Dieser Eindruck schien sich zu bestätigen. Denn als sie wieder das Cockpit betrat, sah sie, daß sich O'Neill und Danziger wie zwei Kampfhähne gegenüberstanden und feindselig anstarrten. Der Commander hatte wütend sein Kinn vorgeschoben, und Devon dachte, daß sie ihn noch nie so aufgebracht gesehen hatte. Danziger dagegen wirkte kalt wie Eis. Wie zum Teufel machte er das nur, nach allem, was passiert war? »Jetzt hören Sie mir mal zu«, bellte O'Neill, »Sie können allen, von den Mechanikern bis zum Küchenpersonal, sagen, daß sich an unserem Vertrag nichts geändert hat: Transport zum Planeten und zurück.« »Ich frage nicht für die Crew«, gab Danziger mit ruhiger Stimme zurück, in der nur eine leise Spur von Ungeduld mitschwang. Wie lange mochten er und O'Neill sich schon streiten, fragte sich Devon. »Ich will das für mich selbst wissen. Im Vertrag stand nichts von Bomben und auch nichts davon, daß wir ohne offizielle Genehmigung den Hafen verlassen. Ihnen kann das egal ein, Sie bleiben schließlich auf dem Planeten. Aber ich muß auch nach dieser Reise noch mit den Behörden der Raumstation zusammenarbeiten.« »Ach ja, richtig. Nach zweimal zweiundzwanzig Jahren«, spottete O'Neill. »Was glauben Sie, wie viele Generationen sich in dieser Zeit in den Behörden die Klinke in die Hand geben werden?« »Sagen Sie allen, daß sie ihre Gefahrenzulage ausbezahlt bekommen«, schaltete Devon sich ein, um der Auseinandersetzung ein Ende zu bereiten, bevor sie noch weiter
eskalierte. Daß Danziger offenbar nichts weiter wollte als mehr Geld, enttäuschte sie allerdings. Danziger nickte nur kurz. »In Ordnung, mehr wollte ich nicht wissen.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Cockpit. O'Neill warf Devon einen Blick zu, der Bände sprach, und sie antwortete mit einem verstehenden Lächeln. Oh ja, Typen wie Danziger kannten sie beide nur zu gut. Na schön, wenigstens blieb er nicht bei ihnen auf New Pacifica. Das war doch schon ein Trost. Jetzt erwachte einer der Monitore vor Alonzos Augen zum Leben und zeigte Shelia, die Pilotin der Colony. »Eden Advance, hört ihr uns? Wie sind bereit zum Abkoppeln.« Alonzo stieß einen theatralischen Seufzer aus. »Du brichst mir das Herz.« »Ich bin sicher, das läßt sich auch wieder kitten, Lonz«, spottete die Pilotin. O'Neill setzte sich auf den freien Platz des Kopiloten und beugte sich zu dem Bildschirm vor. »Sagen Sie Ihren Passagieren, sie sollen sich keine Sorgen machen. Bis sie aus dem Kälteschlaf aufwachen, werden ihre Häuser in New Pacifica schon fertig sein.« »Ist in Ordnung, ich werd's ihnen sagen, Sir«, bestätigte Shelia. Devon sah zu, wie Alonzo routiniert ein paar Schalter und Hebel betätigte, um die Abkopplung einzuleiten. Auf dem Hauptschirm war zu sehen, wie sich die beiden Raumschiffe voneinander lösten und die Ankopplungsvorrichtung der Advance wieder im Rumpf verschwand. Dann überholte die Advance das größere Schiff und zog mit steigender Geschwindigkeit davon. »Danke für's Anschieben«, meldete sich Shelia. »Schlaft gut.« »Auf Wiedersehen, Shelia«, seufzte Alonzo und legte mit einer pathetischkomischen Geste eine Hand auf sein Herz.
Devon war sich allerdings ziemlich sicher, daß der Pilot seine hübsche Kollegin bereits so gut wie vergessen haben würde, sobald sich vor ihm die unendliche Weite des Weltraums aufgetan hätte. »Schade, daß ich dich nicht mitnehmen kann.« »Den Satz hab' ich irgendwo schon mal gehört«, gab Shelia trocken zurück und schaltete die Übertragung ab. Alonzo schien eine Sekunde lang tatsächlich verdattert zu sein, doch schon im nächsten Moment machte er es sich lachend in seinem Sessel bequem. »Also schön, meine Herren«, sagte Devon, »ich bin im Kälteschlafbereich, falls Sie mich brauchen.« Und damit ging sie auf die Tür zu. O'Neill machte Anstalten, aufzustehen. »Adair, wir müssen noch ...« Mit erhobener Hand bedeutete sie ihm, daß es sinnlos war, weiterzusprechen. »Das mag alles sein, Commander, aber Sie werden warten müssen. Ich habe mich schon davon abhalten lassen, meinen Sohn zu Bett zu bringen, aber ich werde mich nicht daran hindern lassen, bei ihm zu sein, wenn er in den Kälteschlaf fällt. Jeder Einwand ist zwecklos.« Sie gab sich Mühe, das höflich genug zu sagen, aber ihr Ton machte deutlich, daß O'Neill Ärger mit ihr bekommen würde, wenn er jetzt nicht nachgab. Der Commander war klug genug zu wissen, wann es besser war, einzulenken. Er setzte sich wieder. »Also gut, dann reden wir später miteinander.« Devon winkte ihm kurz zu und verließ das Cockpit. Einen Augenblick lang hatte sie die Vision, daß es ganz egal war, wohin sie ging. Am Ende würde sie doch immer wieder hier, im Herzen des Raumschiffs landen. Die Kälteschlafkapseln waren an den Wänden entlang in Reihen aufgestellt und sahen aus wie Miniaturzüge, die nur auf ein Startsignal zum Abfahren warteten. Devon lächelte, als ihr dieser Vergleich durch den Kopf ging. Auf jeden Fall war er
wesentlich angenehmer als das Bild von den Särgen, das sie ein paar Stunden vorher so erschreckt hatte. Diese »Miniaturzüge« boten ihren Passagieren eine sichere Reise durch zweiundzwanzig Jahre. Und wenn sie aufwachten... Ein kleine, kalte Hand schob sich in die ihre und rief sie in die Gegenwart zurück. Sie sah zu Uly hinunter, der in einer der offenen Kapseln lag, kniete sich nieder und lächelte den Kleinen so zuversichtlich und ermutigend an, wie sie nur konnte. »Ich liebe dich, Champ.« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn. Als sie bemerkte, daß er sich über diese Geste ärgerte und für einen Augenblick seine Angst vergaß, wurde ihr Lächeln noch zärtlicher. Sie beugte sich zu ihm herab und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Seine Haut war kühl, doch Devon atmete den Geruch achtjähriger Vertrautheit ein. Mit seiner freien Hand faßte Uly sie am Kragen und zog sie so dicht zu sich heran, daß sich ihrer beider Atem vermischt hätte, wäre da nicht das Atemgerät zwischen ihnen gewesen. Er rieb seine Wange gegen ihre in einer Geste der Liebkosung, die sie beide vor langer Zeit für sich erfunden hatten. Dann ließ er sie wieder los, so daß er ihr in die Augen sehen konnte. »Ich werde erst in zweiundzwanzig Jahren wieder aufwachen, aber es wird mir vorkommen wie morgen, stimmt's?« fragte er ängstlich. »Stimmt. Du wirst glauben, du hättest nur eine Nacht geschlafen«, versicherte sie. Uly blickte sie weiter unverwandt an. »Und du hast keine Angst, daß ich vielleicht nicht wieder aufwache, oder?« Wieviel Mut erforderte es wohl,, diese Frage auszusprechen? Devon spürte, wie stolz sie auf ihren Sohn war. »Du wirst aufwachen, Uly«, sagte sie überzeugt. »Das verspreche ich dir. Und wenn du wach bist, dann sehen wir uns gemeinsam unser neues Zuhause an.« Sie lächelte und gab ihm einen kleinen Stubser auf die Nasenspitze. »Dann kannst du mir auch das Ende der Geschichte mit dem Monster erzählen.«
Er nickte und lächelte zurück. »Mach ich«, versprach er. Ohne ihren Blick von seinen Augen zu lösen, stand sie auf. Ich will so tapfer sein wie er, dachte sie und gab sich alle Mühe, den Jungen nicht spüren zu lassen, was in ihr vorging. Er sollte nicht merken, wie zerrissen sie sich fühlte unter dem Ansturm der widersprüchlichsten Gefühle und Gedanken, die ihr durch den Kopf schössen. Julia trat aus dem Winkel hervor, in den sie sich rücksichtsvoll zurückgezogen hatte, während Devon ihrem Sohn gute Nacht sagte. Die Ärztin beugte sich zu dem Jungen hinunter, legte den Sedator an seinen Nacken und aktivierte ihn. Innerhalb von Sekunden schlössen sich seine Augenlider bleischwer, und sein ohnehin schwacher Atem, verlangsamte sich. Hinter ihrem Rücken hörte Devon Schritte. Ohne daß sie sich umdrehen mußte, spürte sie, daß es Yale war. »Gute Nacht, Uly«, sagte der Lehrer mit einer Wärme und Zuneigung, die seine tiefe Stimme weicher als gewöhnlich klingen ließ. »Gute Nacht«, murmelte der Junge mit unendlich müder Stimme. Dann kämpfte er noch einmal mit aller Macht gegen den Schlaf an und versuchte ein letztes Mal, die Augen wenigstens einen Spalt weit zu öffnen. »Ich liebe dich, Mom«, flüsterte er. Dann schlief er ein. Devon schluckte, aber der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. Sie strich Uly über die Wange, die sich unendlich weich und flaumig anfühlte. Er war noch ein kleines Kind, und trotzdem hatte er schon so vieles hinter sich. Jetzt lag eine ganze Welt von Möglichkeiten vor ihm. Was konnte sie Besseres tun, als dieser Welt genauso mutig entgegenzusehen wie er? Sie trat einen Schritt zurück und nickte Julia kurz zu. Als Yale seine warmen Hände auf ihre Schultern legte und sie in den Arm nahm, fühlte sie sich geborgen und getröstet. Julia schloß die Kapsel und begann die Geräte einzustellen, die Ulys Schlaf während der nächsten vierundzwanzig Stunden überwachen
würden, bevor sie selbst und all die anderen auf dem Schiff sich ebenfalls in den Kälteschlaf begeben würden. »Wir sind Pioniere auf dem Weg in eine große, unbekannte, neue Welt«, flüsterte Yale Devon ins Ohr. »Mit uns bringen wir nichts als Fragen. Wird dieser Planet der Schlüssel zum Überleben der Menschheit sein? Und werden seine Kontinente für uns die gleichen Versprechen bereithalten wie einst für unsere Vorfahren die Weite der Neuen Welt?« Devon stiegen Tränen in die Augen, während sich ihr Innerstes vor Liebe und Angst zugleich zusammenkrampfte. Sie hatte die letzten acht Jahre ihres Lebens für diesen Augenblick gekämpft. Sollte New Pacifica Uly keine Heilung bringen, würde ihr am Ende nichts anderes übrigbleiben, als seinem qualvollen Sterben hilflos zuzusehen. Diese Vorstellung war so furchtbar, daß sie nicht einmal daran denken mochte. Sie glaubte an ihren Traum, sie mußte an ihn glauben, sonst wäre alles umsonst gewesen. Die Kapsel war jetzt geschlossen. Durch die Sichtluke in ihrem Deckel betrachtete Devon noch einmal Ulys Gesicht. Er sah so friedlich aus. Es war das erste Mal, daß sie von ihm über einen längeren Zeitraum getrennt war, einen Zeitraum, der ihr wie eine Ewigkeit vorkam. »Aber die wichtigste Frage ist«, fuhr Yale mit noch leiserer Stimme fort, so daß nur sie ihn hören konnte, während er sie zwang, ihm ins Gesicht zu sehen, »wird es Uly gelingen, das Monster zu bezwingen?« Furcht, Sorge und Unsicherheit flohen in die Dunkelheit. Devon Adair warf den Kopf zurück und lachte.
5 Zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt Alonzo war sich nie ganz sicher, mit welchem seiner Sinne er beim Aufwachen aus dem Kälteschlaf die Welt um sich herum zu registrieren begann. Er hatte das schon so oft erlebt, daß es für ihn zur reinen Routine geworden war. Etwas, das ihm einfach passierte, ohne daß er sich über den Vorgang im einzelnen bewußt war. Aber das war vielleicht auch ganz gut so, und er sollte dem Himmel dafür danken. Denn er hatte von Leuten gehört, denen es nie gelungen war, mit den physischen und psychischen Nebenwirkungen des Kälteschlafs zurechtzukommen. Nur gut, daß er nicht zu diesen Weichlingen gehörte, sonst hätte ihm sein Job als Pilot kaum solchen Spaß gemacht. Und bei Gott, er liebte seinen Beruf. Und, noch schlimmer: ohne den Kälteschlaf wäre er schon lange gestorben, wahrscheinlich an Altersschwäche. Wie konnte man nur ans Sterben denken, wenn es noch so viel zu entdecken und zu erobern gab - Frauen eingeschlossen. Wie auch immer es also im einzelnen vor sich gegangen sein mochte, auf einmal spürte Alonzo, daß in seinen Körper das Gefühl zurückkehrte; seine neuronalen Synapsen spuckten und sprühten Funken wie früher, in grauer Vorzeit, die Zündkerzen eines Autos, wenn es lange gestanden hatte. Alonzo holte tief Luft, mußte kurz husten und öffnete dann die Augen, geblendet von der Deckenbeleuchtung. Er verspürte den dringenden Wunsch nach einer Tasse Kaffee. Dieses Bedürfnis nach Koffein am frühen Morgen mußte wohl etwas sein, das genetisch im Menschen verankert war. Jedenfalls hatte es sich über Jahrhunderte hin erhalten. Der Deckel seiner Kälteschlafkapsel hatte sich bereits beiseite geschoben. Der Computer war darauf programmiert
worden, Alonzo als ersten zu wecken, sobald das Raumschiff die zuvor eingestellten Orbitalen Koordinaten an der Oberfläche von G889 erreicht hatte. G889! Er schnaubte verächtlich. Was für ein idiotischer Name für einen Planeten! Konnten die sich nicht mal was Originelleres ausdenken? Alles bekam entweder Nummern oder wurde »New dieses« und »New jenes« genannt, so wie dieser Kontinent, auf dem sie bald landen würden, New Pacifica hieß. Was sollten diese Reminiszenzen an einen Planeten, den sie schon lange verlassen hatten, weil sie ihn haßte und der darüber hinaus praktisch unbewohnbar geworden war? Alonzo begriff es nicht. Wenn es nach ihm ginge, würde er den Planeten Namen geben, die wirklich gut klangen. Wie zum Beispiel ... Ja, wie zum Beispiel Solace. Das war ein Name, der die Touristen scharenweise anziehen würde, Besucher, die doch genau das suchten, was dieser Name beinhaltete. Etwas, das sie nicht in den Läden der Raumstationen oder auf dem Schwarzmarkt kaufen konnten. Mit einem Namen wie Solace ließ sich Geld machen, und das nicht zu knapp. Er grinste und begann, die Dioden zu entfernen, die sich an seinen Schläfen, den Schultern, der Brust, den Innenseiten seiner Arme und in den Leistenbeugen befanden. Dann tastete er nach der Konsole zu, seiner Linken und gab eine Reihe von Zahlen und Buchstabenkombinationen ein, um dem Computer mitzuteilen, daß er wach war. Nach einem langen Kälteschlaf war es das Beste, wenn man sich zunächst einmal ausgiebig räkelte, um die Muskeln aufzuwärmen. Alonzo nahm sich Zeit für diese Übung und genoß das Gefühl der Beweglichkeit, das sich langsam wieder einstellte, wie eine Katze, die einen ausgiebigen Mittagsschlaf gehalten hat. Dann ließ er seine Gelenke krachen und fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln, bis er schließlich voller Energie aus der Kapsel heraussprang. »Aaah!« Seine Stimme hallte von den Wänden des großen Raumes wider. Der Fußboden war verdammt kalt! Er tanzte auf
seinen nackten Füßen ein Weilchen hin und her, bis er sich einigermaßen an die Kälte gewöhnt hatte. Dann lief er zum Computer hinüber, um die Daten der anderen Passagiere zu überprüfen. Ein kurzer Blick auf den Monitor zeigte, daß alles in Ordnung war. Nun stellte sich die entscheidende Frage, wen er zuerst aufwecken sollte. Als Pilot hatte er so etwas wie ein Vorrecht, darüber zu entscheiden, obwohl natürlich alle davon ausgingen, daß zuerst die wichtigen Leute an Bord aus dem Kälteschlaf geholt werden sollten - in diesem Fall also O'Neill und diese Adair. Aber »sollten« hieß für Alonzo noch lange nicht »müssen«. Stirnrunzelnd überlegte er. Für einen Berufssoldaten war O'Neill ganz in Ordnung, bestimmt nicht schlechter als ein Haufen anderer Leute, die Alonzo im Laufe seiner langen und abwechslungsreichen Karriere kennengelernt hatte. Und diese Devon Adair schien auch ganz akzeptabel zu sein. Auf jeden Fall hatte sie Mut und eine Menge Energie. Andererseits war er Danziger noch etwas schuldig dafür, daß er die Bombe so schnell gefunden und entsorgt hatte. Ohne ihn wäre diese Reise schon eine ganze Weile früher zu Ende gewesen. Tja, und dann war da noch diese hübsche Ärztin ... Der Pilot grinste, während er mit den Fingern auf dem Monitor herumtrommelte. Zum Teufel, er würde Julia und Danziger einfach gleichzeitig aufwecken und abwarten, wer von beiden zuerst zu ihm ins Cockpit kam. Seine Präferenzen waren natürlich eindeutig. Er hatte schließlich sehr lange geschlafen und fühlte sich bestens ausgeruht... Er gab die Befehle ein, um die Aufwachprozedur für Danziger und die Ärztin zu aktivieren, und programmierte dann den Computer so, daß der Kälteschlaf der anderen Passagiere erst eine Stunde später beendet werden würde. Auf diese Weise blieb ihm genug Zeit, sich in Ruhe fertigzumachen, das ganze heiße Wasser in der Dusche aufzubrauchen und ins Cockpit zu
gehen, um nach dem Rechten zu schauen, bevor er dort Besucher empfing. Cool. »Na los, Mann!« schrie eine penetrant fröhliche Stimme irgendwo in Danzigers Kopf. »Es ist Show-Time!« »Was?« fragte er verwirrt und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Sein Mund fühlte sich an, als ob er mit Watte ausgestopft war. »Show-Time!« wiederholte die Stimme und begann, ein militärisches Wecksignal zu singen. »Es ist Zeit aufzustehn, es ist Zeit aufzustehn, es ist Zeit aufzustehn am Mooooooooooorgen!« Danziger war für einige Sekunden hellwach und kämpfte gegen das verführerische Bedürfnis an, sofort wieder wegzudämmern. Schließlich zwang er sich dazu, die Augen zu öffnen. Seine Lider waren schwer wie Blei. Er blinzelte ein paarmal, um den Wunsch nach Schlaf endgültig zu vertreiben, und runzelte die Stirn über das, was er da hörte. Anfangs hatte er geglaubt, dieser Idiot, der noch immer den Weckruf sang, sei Teil eines blödsinnigen Traums gewesen. Aber jetzt war Danziger klar, daß er nicht träumte. Stöhnend, mit Gliedern, die so steif waren, als ob sie ihm jedes einzelne der zweiundzwanzig in Bewegungslosigkeit verbrachten Jahre heimzahlen wollten, richtete er sich langsam in seiner Kälteschlafkapsel auf. Neben seiner stand Trues Kapsel. Durch die Sichtluke im Deckel sah er sie friedlich schlummern. Er ließ seinen Blick über die Reihen der Kälteschlafkapseln schweifen, in denen die anderen Passagiere noch bewegungslos lagen, bis er schließlich Alonzo Solace entdeckte, der am anderen Ende des Raumes singend seine Liegestütze machte. Danziger starrte ihn entgeistert an. Vielleicht war er ja doch noch nicht richtig wach. Das mußte ein Traum sein. Niemand, absolut niemand hatte ein Recht, schon am frühen Morgen derart gut gelaunt und aktiv zu sein. Der Pilot trug kein Hemd,
so daß man bei jedem Liegestütz das Spiel seiner gut ausgebildeten Muskeln an Rücken und Schultern beobachten konnte. Und dabei schien er nicht einmal ins Schwitzen zu geraten. Danziger beschloß, daß er ihn haßte. »Achtundneunzig.« Alonzo hatte aufgehört zu singen und zählte laut. »Neunundneunzig ... hundert!« Mit dem letzten Liegestütz sprang er mühelos auf die Füße und richtete sich auf. Er schien kaum außer Atem zu sein. Als der Pilot registrierte, daß Danziger ihn anstarrte, grinste er breit. »He! Willkommen bei den Lebenden, Mann! Ich geh mal eben schnell unter die Dusche, bevor's hier wieder richtig losgeht. Wir sehen uns später.« Und damit sprintete er zwischen den Reihen der Kälteschlafkapseln davon. Danziger schüttelte den Kopf und überlegte, ob er nicht doch noch ein bißchen schlafen sollte. Aber dann schwang er entschlossen ein Bein aus der Kapsel. Er hatte genug geschlafen. Zeit, in die Gänge zu kommen. Alonzo pfiff laut vor sich hin, während er das Kontrollprogramm über den Computer laufen ließ, um festzustellen, daß alles in bester Ordnung war. Zwischendurch nippte er immer mal wieder an dem brühendheißen, dampfenden Kaffee, der neben ihm auf der Konsole stand. Er unterbrach seine Arbeit für einen Moment und lauschte. Doch, er hatte richtig gehört, der Fahrstuhl hielt gerade auf der Cockpit-Ebene. Also, wenn das Schicksal es gut mit ihm meinte, dann ... Die Tür öffnete sich, und Alonzo mußte sich alle Mühe geben, um nicht triumphierend zu grinsen. Na bitte, Fortuna meinte es mehr als gut mit ihm. Sie liebte ihren guten Jungen Alonzo! Die Glasoberfläche des Hauptschirms reflektierte Julias Spiegelbild. Selbst nach dem langen, tiefen Kälteschlaf und mit leicht zerwühlten Haaren und müden Augen sah sie einfach umwerfend aus. Die Ärztin war in der Tür zum Cockpit stehengeblieben und beobachtete Alonzo eine Weile lang
schweigend. Es gefiel ihm, daß sie ihn so aufmerksam ansah, und er arbeitete in aller Seelenruhe weiter. Sie sollte ruhig denken, daß er sie noch nicht bemerkt hatte. Schließlich trat sie ein paar Schritte vor; hinter ihr schob sich die Tür mit einem leisen Zischen zu. »Reine Routinesache«, sagte er, ohne sich zu ihr umzudrehen. »Ich überprüfe nur unsere Position, damit wir wieder in unsere kalten Betten springen können, falls wir ein paar Lichtjahre vom Kurs abgekommen sein sollten.« »Natürlich.« Julia streifte einen Diagnosehandschuh über, trat hinter ihn und legte ihre flache Hand auf seinen Nacken. Ihre Berührung fühlte sich nicht schlecht an, aber noch lieber wäre ihm gewesen, wenn sie ihn ohne diesen Handschuh angefaßt hätte. Dann beugte sie sich ein wenig zu ihm hinunter, um die medizinischen Daten besser von dem kleinen Display an ihrem Handgelenk ablesen zu können. Alonzo lächelte gewinnend und versuchte, im Spiegel des Hauptschirms ihrem Blick zu begegnen. »Sie werden feststellen, daß ich mich bester Gesundheit erfreue. An mir ist noch alles dran.« »Ich weiß«, antwortete sie abwesend und führte ihre Hand auf seine Halsschlagader, um den Puls zu messen. Er setzte eine Unschuldsmiene auf und sah sie mit großen Augen an. »Wissen Sie ... was hielten Sie davon, wenn ich die anderen noch eine Weile schlafen lasse und wir beiden ein bißchen miteinander ...« Er überließ es ihr, sich den Rest des Satzes zu denken. Sie warf ihm einen kühlen, abschätzigen Blick zu. »Euch Piloten fällt auch nie eine intelligentere Anmache ein, was?« konterte sie angewidert. Alonzos Lächeln wurde noch breiter. Es gab also Erfahrungen, die sie beide teilten, etwas, worüber sie reden konnten. Das war doch immerhin ein Anfang, alles weitere
würde sich schon ergeben. »Heißt das, daß Sie schon häufiger Flüge im Kälteschlaf begleitet haben?« Sie schnaubte verächtlich. »Sagen wir mal. Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.« Alonzo schwang in seinem Stuhl zu ihr herum und genoß es, ihr schönes Gesicht aus der Nähe betrachten zu können. Sie wich seinem Blick aus und legte ihre flache Hand auf seinen Brustkorb während sie die Meßergebnisse aufmerksam studierte. »Bei mir liegt kein Befund vor«, versicherte Alonzo. »Bin noch nicht lang genug dabei, um krank zu werden.« Für diese Bemerkung erntete er nur ein kurzes ironisches Lächeln, während sie nach seinem Handgelenk griff, um dort die Werte zu messen. Er nutzte die Gelegenheit und nahm ihr Kinn in seine freie Hand. »Warten Sie mal«, murmelte er, »Sie haben da noch ein bißchen Schlafsand im Auge«. Dann versuchte er, ihn sanft zu entfernen. Die Ärztin wich ihm jedoch aus, indem sie den Kopf zur Seite drehte. Die weiche Linie ihres Kinnes fühlte sich unter seinen Fingern an wie fließende Seide. »Was machen Sie da ...?« fragte Julia verwirrt. »Oh, Mann ...« stöhnte Danziger mit rauher, verschlafener Stimme. Leicht taumelnd stolperte er ins Cockpit. »Warum schickt mich nicht jemand zurück ins Bett?« Verlegen machte Julia ein paar Schritte weg von Alonzo, der seinen Ärger im ersten Moment nur schlecht unterdrücken konnte. Dieser verdammte Danziger tauchte aber auch im denkbar ungünstigsten Augenblick auf! Dann jedoch tröstete er sich mit dem komischen Anblick, den der Knabe bot. Sein Haar lag auf einer Seite des Kopfes vollkommen platt an, auf der anderen stand es zu Berge, und die Tränensäcke unter seinen Augen waren einfach gigantisch. Es bestand kein Zweifel, dieser Mann litt unter einem zweiundzwanzig Jahre alten Kater. »Tut mir leid, Kumpel«, sagte der Pilot mitfühlend. »Aber wir sind ganz exakt auf Kurs. Ich hab' unsere Wette also
gewonnen. Sagen Sie Ihren Jungs Bescheid, daß sie mir ihren Einsatz rüberschieben sollen.« Danziger blinzelte ihn gequält an. »Lassen Sie mich raten«, knurrte er. »Sie sind ein Morgenmensch, hab' ich recht?« Er lehnte sich gähnend gegen eine Konsole. Alonzo grinste übers ganze Gesicht, als ob er sich die Schadenfreude darüber, daß er offenbar der einzige war, der sich prima und absolut hellwach fühlte, gar nicht verkneifen wollte. »Zweiundzwanzig Lichtjahre können einen ganz schön umhauen, was? War das Ihr erster Kälteschlaf?« »Der dritte«, antwortete Danziger gähnend und kratzte sich am Kopf, wodurch seine Haare noch mehr durcheinander gerieten. Darm starrte er ein bißchen dümmlich auf die funkelnden Sterne auf dem Hauptschirm. »Allerdings nie länger als neunzehn Monate Standardzeit. Ich glaube, ich hab' irgendwas geträumt, was absolut Bizarres.« Der Pilot schüttelte den Kopf. »Ich nicht, ich hab' das mit dem Kälteschlaf schon so oft mitgemacht, daß ich gar nichts mehr träume.« Er zuckte mit den Schultern, als sei ihm das alles relativ gleichgültig. »Nur daran, daß sich während der Zeit, in der man schläft, die Welt so rasant verändert, habe ich mich nie gewöhnt.« Er beugte sich vor, nahm das Foto in die Hand, das er an seine Konsole geheftet hatte, und betrachtete es nachdenklich. Die Frau auf dem Bild war sehr hübsch. Keine Schönheit wie Julia Heller, aber trotzdem ... »Man schläft tief und fest«, sinnierte er, »und wenn man aufwacht, ist nichts mehr so, wie es mal war ...« Als er Julias Blick auf sich ruhen spürte, blickte er zu ihr auf und lächelte ein wenig verlegen. »Wahrscheinlich ist sie inzwischen Großmutter«, fügte er seufzend hinzu und ließ das Foto in eine Schublade fallen. Das Bedauern, das er dabei empfand, war nicht besonders groß. Wie gewonnen, so zerronnen. »Dafür verdient man in unserem Job schließlich 'ne ganze Menge, stimmt's?«
Er spürte, daß nicht nur Julia ihn ansah. Als er einen Blick auf Danziger warf, stellte er fest, daß der ihn anstierte, als wäre er von einem anderen Stern. »Sagen Sie mal, wie alt sind Sie denn, Mann?« Alonzo schenkte ihm ein verschmitztes Lächeln. »Auf jeden Fall um einiges älter als Sie, Kid.« Damit wandte der Pilot sich wieder seinem Monitor zu und überließ es den beiden anderen, zu entscheiden, ob das, was er gesagt hatte, der Wahrheit entsprach oder nicht. Zwanzig Minuten später, nachdem sich Julia davon überzeugt hatte, daß Danziger und Alonzo den Kälteschlaf gut - Alonzo vielleicht sogar ein wenig zu gut - überstanden hatten, machte sich wieder auf den Weg in den Schlafbereich. Devon Adair hatte sie dringend gebeten, zu kommen, weil Uly nicht aufwachen wollte und nicht einmal auf die Stimme seiner Mutter reagierte. Devon kniete neben der offenen Kapsel, in der der Junge lag und hielt seine Linke mit beiden Händen umklammert. Während Julia den Kleinen untersuchte, indem sie den Diagnosehandschuh über seinen Körper führte, wanderte Devons sorgenvoller Blick ständig zwischen ihr und dem blassen, reglosen Gesicht ihres Sohnes hin und her. Julia mußte sich alle Mühe geben, um nicht die Geduld zu verlieren, denn Devon versuchte immer wieder einen Blick auf die Ergebnisse zu bekommen, und versperrte der Ärztin dabei mehrfach die Sicht. Es war ja zu verstehen, daß sie sich Sorgen machte, aber warum vertraute sie ihr nicht einfach und ließ sie ihren Job machen? »Er ist immer noch bei siebenundneunzig«, klagte Devon. »Das ist vollkommen in Ordnung«, versicherte Julia und legte die Hand mit dem Diagnosegerät in Ulys Nacken. Die Werte, die sein Immuno-Anzug anzeigte, entsprachen denen, die sie mit dem Handschuh ermittelt hatte.
»Er hätte doch schon reagieren müssen.« In Devons Stimme lag jetzt Panik. In der Hoffnung, endlich ein Lebenszeichen von ihrem Sohn zu erhalten, rieb sie aufgeregt seine kleine Hand. »Sein Herzschlag normalisiert sich langsam«, sagte Julia nach einem weiteren Blick auf den Diagnosehandschuh. »Das EEG sieht ganz gut aus.« »Er braucht so lange!« stöhnte Devon. »Ja, aber durch die Krankheit war sein Organismus von Anfang an auch sehr viel schwächer als der jeder anderen Person an Bord«, erinnerte Julia sie. »Wir müssen ihm einfach ein bißchen mehr Zeit geben.« »Ich glaube, wir sollten ihm ein Stimulans geben.« Der Ton in dem Devon das sagte, machte deutlich, daß das weder eine Frage noch eine Bitte, sondern eindeutig ein Befehl war. Über den Körper von Uly hinweg sah Julia die andere einige Sekunden lang irritiert und verärgert an, doch Devon gab ihrem Blick nicht nach. Schließlich wandte sich die Ärztin seufzend ab und öffnete ihre Tasche. Befehle waren ihr an und für sich zuwider. Sie tat nahezu alles, wenn jemand sie darum bat, doch wenn dieser Jemand glaubte, über sie bestimmen zu können, biß er bei der jungen Ärztin auf Granit. Sicher, Devon war die Chefin an Bord, aber trotzdem ... Sie sah auf den eher spärlichen Bestand an Medikamenten in ihrer Tasche, nahm aber keines davon heraus, sondern wandte sich wieder an Devon. »Glauben Sie mir«, sagte sie in einem Ton, der wesentlich geduldiger klang, als sie sich fühlte, »ich weiß, was ich tue. Bevor ich Assistenzärztin bei Dr. Vasquez wurde, habe ich ...« »... mit summa cum laude in Diagnostischer Analyse promoviert. Ich habe ihre Akten eingesehen.« Julia schwieg einen Moment. Daß Devon bestens über sie informiert war, überraschte sie eigentlich nicht, es paßte zu dieser Frau. Und überhaupt, was hatte Julia eigentlich anderes erwartet? Jemand wie Devon Adair ließ ihren Sohn nicht von
irgendeinem x-beliebigen Arzt behandeln! Außer, wenn es sich nicht verhindern ließ, und in der gegenwärtigen Situation war Julia nun einmal die einzige Spezialistin an Bord. Selbst Devon Adair hatte also keine andere Wahl. »Dann wissen Sie sicherlich auch, daß mich meine Eltern genetisch auf den Beruf der Medizinerin vorprogrammieren ließen.« Devon nickte. »Ihre Herkunft entschädigt in gewisser Weise für ihre mangelnde Erfahrung«, gab sie zu, »aber im Augenblick braucht mein Sohn ...« Bevor Devon der jungen Frau noch weitere Taktlosigkeiten an den Kopf schleudern konnte, war plötzlich ein Husten zu hören ... Ulys Husten! Julia kniete sich neben seine Kapsel und begann erneut, ihn mit dem Diagnosehandschuh zu untersuchen. Alle lebenswichtigen Organe zeigten entschieden bessere Werte als zuvor. »Uly? Kannst du mich hören?« Devon faßte seine Hand noch fester, als der Junge seine Augen für einen kurzen Moment öffnete und dann anscheinend sofort wieder in tiefen Schlaf fiel. »Uly!« rief sie. »Liebling! Ich bin hier.« Er schlug die Augen wieder auf, brauchte aber eine Weile, bis er das Gesicht seiner Mutter fixiert hatte. »Sind wir schon da?« fragte er. Devon liefen die Tränen die Wangen hinunter. Während sie seine Hand gegen ihre Lippen drückte, sah sie Julia mit dem Ausdruck tiefer Anerkennung und Dankbarkeit an. Für die Ärztin war es nur schwer vorstellbar, daß dieselbe Frau noch vor ein paar Sekunden ihre Fähigkeiten in Frage gestellt hatte. Mit Devon Adair zusammenzuarbeiten war wie eine Fahrt mit der Achterbahn. »Noch nicht ganz«, erklärte Devon ihrem Sohn. »Aber bald sind wir da.« Es war Julia unangenehm, diese rührende Szene zu stören. Aber der Patient mußte aufstehen und sich ein bißchen bewegen.
Überraschenderweise stritt Devon dieses Mal nicht mit ihr über die Indikation, sondern lächelte Julia im Gegenteil sogar freundlich an. Und dann ließ sie die Hand ihres Sohnes los und trat sogar einen Schritt zurück, um der Ärztin nicht im Wege zu stehen. Es war schon absurd. Jedesmal, wenn Julia glaubte, sie hätte nun begriffen, wie am besten mit dieser Frau auszukommen war, tat Devon genau das Gegenteil von dem, was sie erwartet hatte. »Uly?« Julia schob einen Arm vorsichtig unter seine Schultern. »Du mußt mir jetzt ein bißchen helfen ...« Sie lächelte, als sie sah, wie die Augen des Jungen allmählich wach wurden. Langsam setzte er sich mit ihrer Hilfe auf und sah sich noch müde, aber zugleich auch neugierig um. In einem anderen Teil des Kälteschlafbereichs stand Danziger lässig an die Wand gelehnt und beobachtete seine Tochter amüsiert dabei, wie sie versuchte, nach dem langen Schlaf nicht nur die Orientierung, sondern auch das Gleichgewicht wiederzufinden. Taumelnd und stolpernd rannte True buchstäblich gegen Wände, was ihr allerdings nicht viel auszumachen schien. Sie trudelte durch die Gegend wie eine vom Queue schlecht getroffene Billardkugel. Kaum war sie gegen einen Gegenstand, der ihr im Weg stand, gestoßen, prallte sie auch schon wieder ab und taumelte in eine andere Richtung, nur um sofort auf das nächste Hindernis zu treffen. Der Anblick war einfach zum Lachen, und Danziger hätte ihr noch eine ganze Weile zusehen können, wäre nicht plötzlich das Gefühl in ihm aufgekeimt, daß sein Amüsiertsein vielleicht doch nicht die passende Reaktion eines Vaters auf die Schlaftrunkenheit seiner Tochter war. Er stieß sich von der Wand ab, trat hinter sie und umfaßte mit beiden Händen ihre Schultern. Dann schob er sie auf den Waschraum zu. »Komm, Kleines, putz dir die Zähne. Du mußt mir oben ein wenig helfen.«
True war so daneben, daß sie nicht einmal nach dem Frühstück fragte; und das war doch gewöhnlich eines ihrer Lieblingsthemen, wie überhaupt alles, was mit Essen zu tun hatte. Ihr Kopf fiel nach hinten, so daß ihr Haar seine Hand streifte. »Ich bekomme eine Katze, nicht wahr?« lallte sie, noch immer vollkommen schlaftrunken. »Ich habe geträumt, ich hätte eine Katze.« Ihr Vater nickte vorsichtshalber erst einmal, um sie zum Weitergehen zu bewegen, und drückte ihr eine SonarZahnbürste in die Hand. »Eine echte Katze?« Er lächelte. »Hast du etwa auch geträumt, daß wir in der Interstationen-Lotterie gewonnen haben?« »Hey!« rief True und drehte sich empört zu ihm um. Endlich zwang sie sich, wach zu werden. »Du hast gesagt, daß wir nach dieser Reise reich sein werden.« »Aber doch keine Millionäre«, neckte er sie. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was eine Genehmigung für Haustierhaltung kostet?« Er drehte seine Tochter um und schob sie weiter in Richtung Waschraum. »Geh jetzt erst mal da rein und mach dich fertig. Du findest mich auf dem KommandoDeck.« Er ließ sie los und ging auf den Ausgang zu, doch schon im nächsten Augenblick kam sie hinter ihm hergerannt und hängte sich mit solcher Macht an seinen Ärmel, daß er fast das Gleichgewicht verlor. Sie zog ihn zu sich hinunter, bis ihre Gesichter sich fast berührten, und sah ihn aus hellwachen Augen an. Ihr Atem roch wirklich schlecht. »Eins wollen wir doch mal klarstellen, Dad«, sagte sie mit todernster Stimme und übertriebener Deutlichkeit, damit er auch jedes Wort verstand. Das hatte sie von ihm, so sprach er auch immer mit ihr, wenn er sauer war. »Sobald wir die anderen auf dem Planeten abgeliefert haben und wieder zu Hause sind, bekomme ich eine Katze. Nicht irgend so 'ne billige synthetische, sondern eine echte. Und damit Ende der
Diskussion. Haben wir uns verstanden?« Dabei schaute sie so finster drein, als wollte sie ihren Vater mit ihren Blicken durchbohren. Danziger hütete sich, ein paar alberne Sprüche loszulassen, und hielt ihrem Blick ernsthaft stand. Aus leidvoller Erfahrung wußte er, daß in Situationen wie diesen mit True nicht zu spaßen war. Wenn sie in dieser Stimmung war, duldete sie nämlich nicht einmal den Widerspruch ihres Vaters. Und abgesehen davon hatte er tatsächlich gesagt, er würde ihr vielleicht eine Katze kaufen, wenn sie wieder zu Hause wären. Vielleicht. Sie deutete seinen Blick richtig und lächelte zufrieden wie jemand, der weiß, daß er einen Punkt gemacht hat. Dann ließ sie seinen Arm los und trat einen Schritt zurück. »Schön, dann ist ja alles klar«, sagte sie liebenswürdig und erklärte damit die Auseinandersetzung für beendet. »Ich seh' dich dann oben.« Und sie verschwand im Waschraum. Danziger sah ihr nach, einmal mehr von der starken Persönlichkeit seiner kleinen Tochter überwältigt. Schließlich überflog ein glückliches Lächeln sein Gesicht, in dem sich unmißverständlich Stolz widerspiegelte. Er hatte wirklich Respekt vor diesem eigenartigen Kind. Pfeifend machte er sich auf den Weg zur Technikerzentrale, um seine Ausrüstung zu holen. »Ich glaub's einfach nicht. Wieso habe ich mich bloß auf diese Geschichte eingelassen?« nörgelte Morgan Martin, während er sich eine saubere und gebügelte Hose anzog. Nach dem Duschen standen ihm die Haare in kleinen, feuchten Büscheln zu Berge. »Ich meine, ich hasse Reisen, ich hasse diese Ziege Adair, dieses Fräulein Haltet-die-Welt-an-meinSohn-ist-krank-mein-CyborgLehrer-und-ich-wollen-hier-weg.« Er fuhr in die Ärmel eines frischen Hemdes und zerrte es sich über den Kopf. Den Kopf noch im Kragen, hielt er einen Moment in der Bewegung inne und überlegte. »Wie konnte ich
nur so bescheuert sein? Doppeltes Jahresgehalt, Beförderung auf Ebene vier ... Die hatten vor, mich umzubringen. Bess - mich!« Der Regierungsbeamte zog das Hemd ganz über den Kopf und strich es glatt. »Ich habe denen praktisch meine Seele verkauft ...« Mit drohend ausgestrecktem Zeigefinger wies er auf seine Frau. »Ich will dir sagen, was wir machen werden: Wir werden uns auf dem guten alten G889 einen netten Claim abstecken, dann fahren wir mit der Colony wieder auf die Station zurück, verkaufen die Schürfrechte und ...« Er redete nicht weiter, sondern warf statt dessen nur die Hände in die Luft. Nun, was sie dann tun würden, war ja wohl offensichtlich. Als er allerdings keine Begeisterungsstürme für diesen phantastischen Plan erntete, betrachtete er seine Frau das erste Mal, seit er aus dem Kälteschlaf aufgewacht war, etwas aufmerksamer. Bess saß auf dem Bett ihrer Kabine und musterte ihr Ebenbild in einem Spiegel. Mit einer Hand strich sie sich forschend, beinahe zögernd über das Gesicht. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie ihm auch nur einen Moment zugehört hatte. »Was ist los?« fragte er gereizt. Die Art, wie sie sich im Spiegel anstarrte, paßte ihm ganz und gar nicht. »Was soll das Theater?« Sein Ärger schien sie überhaupt nicht zu erreichen. »Ich fühle mich älter«, flüsterte sie, während sie den Kopf hin und her drehte, um ihr Gesicht von allen Seiten zu betrachten. Morgan rollte genervt mit den Augen. »Aber, nein! Das haben wir doch alles schon hundertmal besprochen. Im Kälteschlaf kann man nicht altern. Das ist biologisch absolut unmöglich. Klar?« Seine Frau nickte, sah aber weiter mit unglücklichem Gesicht in den Spiegel. »Ich hab' ja auch nicht gesagt, daß ich wirklich älter geworden bin, sondern daß ich mich älter fühle. Gefühle lassen sich nicht auf Eis legen.«
Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, und Morgan bemerkte, daß Bess einsam und unendlich traurig aussah. Er ging zu ihr, nahm ihre Hand und beugte sich hinunter, um sie sanft aufs Haar zu küssen. »Es tut mir leid, Süße. Du mußt entschuldigen, aber ich bin zur Zeit einigermaßen unter Druck. Du weißt doch, daß du das Wichtigste in meinem Leben bist.« Sie sah zu ihm auf, angesichts von so viel Neuem verängstigt und durcheinander. Er lächelte sie aufmunternd an, bis sich endlich auch auf ihr Gesicht ein schüchternes Lächeln stahl. Dann küßte er seine Frau zärtlich auf den Mund. Sollte Morgan Martin allerdings geglaubt haben, aus diesem Kuß könnte sich womöglich mehr ergeben, dann hatte er die Rechnung ohne Commander O'Neill gemacht. Denn plötzlich donnerte dessen Stimme mit dem ihm eigenen ruppigen Pathos über die Sprechanlage des ganzen Schiffes: »Das Ziel unserer Reise ist nicht länger ein winziges, fernes Staubkorn in der Weite des Universums, Leute. Es liegt ganz nah vor uns.« Ein leichtes Vibrieren signalisierte, daß der Antrieb des Schiffes aktiviert wurde. Morgan spürte, daß sich die Advance auf einmal anders, schneller bewegte. »Denen, die uns hierher gebracht haben, also dem Flugpersonal, wünschen wir einen angenehmen Heimflug. Allen anderen rate ich, sich lieber jetzt noch mal ausgiebig zu amüsieren. Sobald wir gelandet sind, werdet ihr nämlich keine Gelegenheit mehr dazu haben«, beendete O'Neill seine Ansprache. In den darauffolgenden Sekunden der Stille sahen sich Bess und Morgan einen Moment lang mit großen Augen an. An Romantik war jetzt nicht mehr zu denken. Wie auf Kommando verfielen beide auf einmal in hektische Aktivität und stopften alles, was nur greifbar war, in Taschen und Koffer, um für die Landung gerüstet zu sein. Während er packte, arbeitete Morgans Hirn fieberhaft. Um Bess' alberne Angst vor dem Altern konnte er sich im Moment
wirklich nicht kümmern. Er dachte über etwas ganz anderes nach. Was für einen phantastischen Deal würde er machen, wenn er einer Minengesellschaft die Schürfrechte für diesen Planeten verkaufte - so teuer wie möglich natürlich! Schließlich hatte er nicht umsonst als gutbezahlter Unterhändler für die Regierung gearbeitet. Es würde nicht mehr lange dauern, dann hätten er und Bess für den Rest ihres Lebens ausgesorgt!
6 Wenn sie arbeitete, runzelte True die Stirn. Sie hatte das schon immer gemacht, schon seit ihrem achtzehnten Lebensmonat vertiefte sie sich so sehr in alles, was zufällig ihre Aufmerksamkeit erregte, daß sich auf ihrer Stirn mittlerweile kleine Linien und Falten zeigten, wie man sie normalerweise nur bei wesentlich älteren Menschen sieht. Die senkrechten Linien zwischen ihren Augenbrauen hatten sich schon vor langer Zeit nicht mehr geglättet und waren ihr inzwischen so vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild. Sie konnte sich nie richtig entscheiden, ob ihr diese Falten gefielen oder nicht. Manchmal, wenn sie sich morgens die Zähne putzte und in den Spiegel schaute, dachte sie, daß sie ihrem Gesicht irgendwie Charakter verliehen, sie weise erscheinen und ihrem Vater ähnlich werden ließen, wogegen sie prinzipiell nichts einzuwenden hatte. Auf der anderen Seite gab es allerdings auch Augenblicke, in denen ihr die Vorstellung, alt auszusehen, überhaupt nicht gefiel, sondern eher Angst machte. Und wenn sie sich mal wieder mit Danziger gestritten hatte, fand sie den Gedanken, ihm durch ihre Falten ähnlich zu sehen, schlicht und einfach »zum Kotzen«. Jetzt kniete sie auf dem Boden eines extrem engen Ganges und spürte, wie ihr allmählich die Beine einschliefen, weil sie sich zu lange nicht bewegt hatte. True war damit beschäftigt, eine peinlich genaue Bestandsliste der mechanischen Werkzeuge aufzustellen, die auf dem Schiff vorhanden waren: Das Mädchen wußte nur allzu gut, daß sich auch bei dieser Tätigkeit ihre Stirn wieder in Falten legte. Aber dagegen konnte man nun mal nichts machen. Eine Macke war eben eine Macke. Seufzend gab True den Code eines jeden Werkzeugs und die genaue Stückzahl in den kleinen Computer ein, den sie um das Handgelenk trug.
Allerdings war sie nur mit halber Sache bei der Arbeit, denn ihre Gedanken waren zu einem großen Teil damit beschäftigt, wie sie ihre Katze nennen sollte. Oder ihren Kater? Aber das Geschlecht spielte im Grunde keine Rolle, sie würde nehmen, was sie bekommen konnte. Schließlich hatte sie so lange gewartet und so lange auf ihren Vater eingeredet, daß es wirklich nur noch eine Nebensache war, ob nun Katze oder Kater. Es würde ganz einfach wunderbar sein, jemanden zum Schmusen zu haben, jemanden, den man in den Arm nehmen und mit dem man reden konnte, ein Wesen, das auf ihrem Bett schliefe und kein Stofftier wäre. Die konnten einem immer nur in der Phantasie antworten, und True hatte manchmal das Gefühl, daß das, was sie sich zusammenphantasierte, allmählich immer langweiliger wurde, als würde ihre Vorstellungskraft langsam austrocknen. Sie fragte sich, ob das etwa auch zu diesem elenden Prozeß des Erwachsenwerdens gehörte. True war derart in die Suche nach dem Namen für ihre Katze vertieft, daß sie nicht bemerkte, wie jemand langsam den Gang hinunterkam. Als sie dann plötzlich ein regelmäßiges metallisches Klacken hörte, warf sie einen schnellen Blick über die Schulter und starrte Uly an, der vom anderen Ende des Korridors auf sie zukam. Er ging sehr langsam und vorsichtig, eingezwängt in den obligatorischen Immuno-Anzug, die Beine gestützt durch metallene Schienen. Und genau diese Schienen verursachten beim Gehen diese eigenartigen klirrenden Geräusche. Eigentlich wollte True nur einen ganz beiläufigen Blick auf diesen komischen Jungen werfen, den sie während der ganzen Reise noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Dann aber war sie von dem makaberen Anblick, den der Kleine bot, derart fasziniert, daß sie ihn unverhohlen anstarrte. Noch nie zuvor war sie einem Syndrom-Kind begegnet - und es war tatsächlich etwas völlig anderes, ob man so einem Kranken leibhaftig gegenüberstand oder nur Video-Aufnahmen von ihm sah.
Außerdem schaltete sie sowieso immer um, wenn das Fernsehen diese furchtbaren Bilder brachte. Obwohl ihr Gegenüber nur ein kleines, mageres Kind war, kam er ihr irgendwie unheimlich, fast furchterregend vor. Seine Haut war fast weiß, wie ausgebleicht, und spannte über den Knochen, so daß seine Augen tief in ihre Höhlen zurücktraten. So ungefähr mußte eine Leiche aussehen. Der Immuno-Anzug tat ein übriges, um den Eindruck zu verstärken, als ob der Junge von einem anderen Stern kam. Inzwischen hatte Uly bemerkt, daß das Mädchen ihn fixierte, und war ein paar Schritte vor True stehengeblieben. Damit hörte auch das metallische Klirren seiner Beinschienen auf; das einzige Geräusch, das die Stille jetzt noch unterbrach, war Ulys laut rasselnder Atem, wenn er Luft holte. True fragte sich, ob er selber atmete oder ob das in den Anzug eingebaute Gerät das für ihn erledigte. Traf letzteres zu, dann war er doch eigentlich schon so gut wie tot, oder nicht? Wie dem auch sei, sprechen konnte er jedenfalls noch. »Starr mich bitte nicht so an«, bat er höflich, aber mit einer Stimme, die für einen Achtjährigen viel zu müde und alt klang. »Tu ich ja gar nicht«, gab True schnippisch zurück. Natürlich war das gelogen, aber lieber wäre sie gestorben, als das zuzugeben. Sie spürte, wie sie vor Scham knallrot wurde. Trotzdem dachte sie nicht daran, gerade jetzt wegzusehen, damit er womöglich glaubte, daß ... Egal, sollte er doch glauben, was er wollte. Daß sie ihn so anstarrte, war ihm wahrscheinlich schrecklich peinlich, aber der Junge ließ sich absolut nichts anmerken, sondern erwiderte ihren Blick geradezu herausfordernd. Für eine freundlichere Begrüßung war es jetzt endgültig zu spät. Die beiden hätten ihren Wettstreit, wer als erster dem Blick des anderen auswiche, wahrscheinlich noch stundenlang fortgesetzt, hätte True nicht in diesem Augenblick Yale bemerkt, der, einen Rollstuhl vor sich herschiebend, auf sie
zukam. Die ihr angeborene Neugier brachte sie wieder mal in die größte Verlegenheit. Dieser Lehrer war mindestens genauso interessant wie ein Sieg über den unbekannten Kleinen, denn True hatte noch nie einen Cyborg mit eigenen Augen gesehen. Man mußte sich das mal vorstellen: Er - oder sollte sie lieber sagen: es? - war steinalt und funktionierte immer noch! Alle anderen Cyborgs aus der Yale-Reihe der Lehrer-Modelle waren schon lange aus dem Verkehr gezogen worden, um umprogrammiert oder verschrottet zu werden ... nur dieser hier nicht. True hatte keine Ahnung, warum, konnte sich aber vorstellen, daß das irgend etwas mit Ulys Mutter zu tun haben mußte. Auf jeden Fall war Yale total veraltet, ein Relikt aus einem anderen Zeitalter, praktisch so etwas wie eine Antiquität mit einer extrem störanfälligen menschlichen Anatomie. Eigentlich war das doch unvorstellbar in einer Zeit, in der man nur noch Roboter einsetzte, die sich problemlos recyclen ließen, wenn man sie nicht mehr brauchte. Dieser Gedanke brachte True ins Grübeln. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte Devon Adair dafür gesorgt, daß Yale noch nicht zum alten Eisen gelegt worden war, und das bedeutete doch, daß der alte Mann zumindest in ihren Augen noch zu irgend etwas gut war. True konnte sich zwar beim besten Willen nicht vorstellen, worin der Nutzen eines uralten Cyborgs bestehen sollte, aber sie fand die Idee, daß Alter und Nützlichkeit sich nicht kategorisch ausschlössen, wie immer behauptet wurde, überaus faszinierend. Deshalb beschloß sie, später noch einmal darüber nachzudenken - dann, wenn dieser merkwürdige Junge verschwunden war und sie endlich einen Namen für ihre Katze gefunden hatte. Die Art und Weise, wie Yale sie anlächelte, machte ihr bewußt, daß sie auch ihn unverhohlen angestarrt hatte. Daß der Cyborg im Gegensatz zu dem Jungen weniger peinlich berührt als vielmehr amüsiert reagierte, mochte daran liegen, daß er ein
paar Jahre länger Zeit gehabt hatte, sich an die neugierigen Blicke der anderen zu gewöhnen. Verlegen senkte True den Blick und starrte auf den offenen Werkzeugkoffer, der vor ihr stand, und den Computer an ihrem Handgelenk, dessen blinkende Anzeige signalisierte, daß er auf die nächste Eingabe wartete. »Uly? Du solltest dich jetzt nicht zu sehr anstrengen.« Der Rollstuhl summte leise, während Yale ihn näher heranfuhr und neben dem Jungen abstellte. »Guten Tag.« Diese Worte waren an Trues gesenkten Kopf gerichtet. »Wir haben schon gehört, daß noch ein Kind an Bord ist.« Kind? Wen nannte er hier ein Kind? Beleidigt starrte True weiterhin zu Boden und auf den Werkzeugkoffer. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie mit der Inventarisierung aufgehört hatte. Auf keinen Fall wollte sie den Eindruck erwecken, es gäbe für sie nichts Besseres zu tun, als hier dumm rumzusitzen. »Mein Dad gehört zum Techniker-Team«, murmelte sie, ohne den Blick zu heben. Sie wollte nicht allzu unhöflich erscheinen, aber dieser Cyborg und sein komischer Schützling sollten ruhig merken, daß sie reichlich zu tun hatte und es sich nicht leisten konnte, sich ständig unterbrechen zu lassen. »Tja.« True glaubte, in der Stimme des Lehrers Ironie zu hören, und ärgerte sich. Was sollte das, machte er sich lustig über sie, oder was? Gleichzeitig war sie auf sich selbst sauer, weil sie so verlegen wurde. »Zu schade nur«, fuhr der Lehrer fort, »daß sich unsere Wege so bald schon wieder trennen.« »Mhm.« Sie beugte den Kopf noch tiefer über ihre Arbeit und fuhr fort, die einzelnen Werkzeugteile zu registrieren. Dabei war ihr klar, daß sie alle Nummern noch einmal würde überprüfen müssen, um sicherzugehen, daß sie nicht aus lauter Verwirrtheit irgendwelche blöden Fehler gemacht hatte. Na toll, dann durfte sie wegen dieser beiden Clowns also auch noch Überstunden machen!
Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille. Dann hörte True hinter sich ein Geräusch und warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter. Endlich war die Gelegenheit gekommen, den Cyborg und das kranke Kind in Aktion zu beobachten. Mit unverhohlener Neugierde sah sie zu, wie Yale Uly half, es sich im Rollstuhl bequem zu machen. Jetzt beugte sich der Lehrer zu dem Jungen hinunter, der ihm etwas ins Ohr flüsterte, und lachte leise. Sollte das ein Witz über sie gewesen sein, dann war True das total egal. Wenn sie erst mal wieder zu Hause war, würden sie schon noch sehen! Sie hatte ja schon jetzt genug zu erzählen, um die Kinder der anderen Techniker zu beeindrucken. Allein die Geschichten über diesen Jungen und den Cyborg reichten für Monate. Währenddessen saß Devon in ihrer Kabine und brütete vor dem Wandmonitor über den Bauplänen für die Eden-Siedlung. Selbst nachdem sie schon Hunderte von Stunden an ihnen herumgefeilt, sie immer und immer wieder verändert und verbessert hatte, fand Devon diese Pläne noch immer faszinierend. Noch faszinierender allerdings war das Wissen, daß diese »bloßen« Zeichnungen schon bald eine konkrete Form annehmen und Wirklichkeit werden sollten. Sie bildeten die Grundlage für ein neues Zuhause, in dem Uly und all die anderen Syndrom-Kinder ganz normal und gesund aufwachsen und eine Heimat finden würden. So zumindest sah ihr Traum aus. Und wenn es nötig war, würde sie sogar ihr eigenes Leben geben, um diesen Traum für ihren Sohn zu verwirklichen. Sie gab einen Befehl auf der Tastatur ein, um den Darstellungswinkel der Zeichnung zu verändern, weil sie sich zum x-ten Male von der Korrektheit ihrer Pläne überzeugen wollte. Während sich die Objekte auf dem Bildschirm wie schwerelos drehten, um die gewünschte Ansicht aufzubauen, tauchte plötzlich in einer Ecke des Monitors O'Neills feistes, strahlendes Gesicht auf. Die Selbstzufriedenheit, die er nach
ihrer grandiosen Flucht von der Raumstation zur Schau gestellt hatte, schien ihn auch im Kälteschlaf nicht verlassen zu haben. »Sie sollten so schnell wie möglich ins Cockpit kommen, Devon!« polterte der Commander mit glänzenden Augen und stolzgeschwellter Brust los. »Das hier wird Ihnen bestimmt gefallen!« Devon wußte sofort, wovon er sprach, wovon er einfach sprechen mußte. Sie sprang von ihrem Stuhl auf, rannte zur Kabine hinaus und lief den Korridor hinunter. Die Vorfreude, aber auch ein wenig Furcht davor, ihre hohen Erwartungen könnten enttäuscht werden, brachten sie fast um den Verstand. Wie eine Wahnsinnige rannte sie die Gänge des Schiffs hinunter und rief den Leuten, die sie fast umgerannt hätte, flüchtige Entschuldigungen zu. Als sie dann zu schnell um eine Ecke biegen wollte, rutschte sie aus und stolperte gegen eine Wand. Aber selbst dieser kleine Zwischenfall konnte sie nicht daran hindern, ihren Weg mit unvermindertem Tempo fortzusetzen. Endlich erreichte sie den Korridor, an dessen Ende sich der Fahrstuhl zum Cockpit befand. Zu ihrer Rechten riß jemand eine Tür auf und rief ihr nach: »Was ist passiert?« Aus dem Augenwinkel erkannte sie Morgan Martin, der ihr folgte. Sie kümmerte sich nicht weiter um ihn. Sollte er doch glauben, was er wollte. Devon stürzte in den Fahrstuhl, sah durch die sich schließenden Türen noch kurz Morgans verdutztes Gesicht und wartete dann, nervös von einem Bein auf das andere tänzelnd, ungeduldig darauf, daß der Lift sie endlich zu O'Neill brachte. Warum dauerte das alles nur so verdammt lange? Sobald der Fahrstuhl gehalten und die Türen sich geöffnet hatten, sprintete sie quer über den Flur ins Cockpit. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen, gebannt von dem, was sie auf dem Hauptschirm sah. Sie hatten tatsächlich ihr Ziel erreicht. Das Bild, das sich ihr bot, war überwältigend, es war mehr als das ... es war einfach unbeschreiblich. Die Szenerie auf dem
Monitor war um vieles phantastischer als alles, was sie sich auf Grundlage der Daten und Analysen, der Berichte und Satellitenbilder vorher ausgemalt hatte. Und, noch wichtiger: was sie jetzt sah, existierte nicht nur in ihrer Phantasie, das hier war Realität. O'Neill, dem es offensichtlich schwerfiel, seinen Blick von dem Planeten loszureißen, der wie ein leuchtender Edelstein auf dem blauen Samtkissen des Alls ruhte, trat einen Schritt zur Seite, um hinter Alonzos Sessel Platz für Devon zu machen. »Schauen Sie ihn sich nur genau an, Devon«, murmelte er mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. Und warum sollte er auch nicht stolz sein? Er hatte allen Grund dazu, wie jeder andere an Bord auch. Wenn es Menschen gelang, Träume Wirklichkeit werden zu lassen, hatten sie schließlich in gewisser Weise so etwas wie ein Wunder vollbracht. Im Moment konnte Devon allerdings immer noch nicht recht glauben, daß ihr Traum tatsächlich wirklich geworden war. Doch ihre neue Heimat war nicht länger eine bloßes Hologramm, das Yale aus seinen Fingerspitzen hervorzauberte; es war nicht länger nur ein winziger Punkt in der Weite des Universums, der manchmal nur deshalb zu existieren schien, weil Devon Adair verbohrt und verbissen an ihn glaubte. Nein, ihr künftiges Zuhause lag vor ihnen, zum Greifen nahe, ein wunderschöner, blau, weiß und grün schillernder Planet vor dem Hintergrund ihr unbekannter Sternenkonstellationen. Doch die würde sie im Laufe der Jahre schon kennenlernen, wenn sie sie Uly und später, so Gott wollte, ihren Enkelkindern zeigte. Die Umrisse der Kontinente und der riesigen Ozeane waren deutlich zu erkennen und gaben dem Planeten ein eigenes, unverwechselbares Gesicht. Der erste Eindruck von New Pacifica gehörte - nach dem Anblick ihres neugeborenen Sohnes natürlich - fraglos zum Schönsten, was Devon je gesehen hatte. Sie war sprachlos, und selbst wenn sie die richtigen Worte für diese überwältigenden Gefühle gefunden hätte, wäre sie
vermutlich kaum in der Lage gewesen, sie herauszubringen. Also sagte sie gar nichts, sondern schwieg einfach und blieb, ganz in den Anblick versunken, reglos stehen. O'Neill, der die attraktive Frau die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet hatte, grinste und legte ihr unter polterndem Gelächter einen Arm um die Schultern. »Ich hätte nie gedacht, daß ich den Tag erleben werde, an dem Devon Adair nicht weiß, was sie sagen soll. Also, hier haben Sie, was Sie wollten. Ein neues Zuhause.« Ein neues Zuhause! Irgendwo tief in Devons Innerem zerplatzte bei diesen Worten ein Knoten. Übermütig warf sie den Kopf zurück und lachte vor Freude. Dann fiel sie dem vollkommen überraschten O'Neill um den Hals und gab sogar Alonzo einen Kuß auf die Wange, den dieser nur zu gerne erwiderte, so daß sie seinen warmen Atem ganz dicht an ihrem Ohr spürte. Morgan, der sich in den Kopf gesetzt zu haben schien, als der neugierigste Mensch aller Zeiten in die Annalen des Universums einzugehen, hatte sich inzwischen auf Zehenspitzen ins Cockpit geschlichen und stand jetzt ebenfalls hinter dem Stuhl des Piloten. Selbst dieser arrogante Regierungsbeamte schien von dem Anblick des Planeten tief beeindruckt zu sein. »Wir haben es geschafft«, hauchte er fast schon ehrfürchtig. O'Neill nickte. Der Commander hatte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, mit stolzgeschwellter Brust vor den anderen aufgepflanzt, als wollte er sein Innerstes nach außen kehren: jeder Zentimeter ein Eroberer! »Ja, alter Knabe«, gab er selbstzufrieden zurück, »jetzt sind wir auf der anderen Seite der Sterne.« Alonzo nahm an seiner Konsole ein paar Einstellungen vor, um weitere Aufnahmen des Planeten auf die Monitore zu bekommen. »Wie war's mit einem anderen Blick auf Ihren Kontinent, dieses New Pacifica?« schlug er vor.
Auf den Bildschirmen, die sich direkt vor dem Piloten befanden, erschienen nun eine Reihe von faszinierenden Luftaufnahmen: Fruchtbare, tiefgrüne Landschaften und zerklüftete Küstenlinien, die sanft in flache Strande ausliefen oder als felsige Buchten dem Ansturm der kristallklaren Wogen standhielten, wechselten sich mit bedrohlich düsteren Gebirgen ab, deren schneebedeckte, strahlend weiße Bergspitzen im Licht der Sonne das Auge des Betrachters blendeten. O'Neill schlug mit der geballten Faust auf die Rückenlehne von Alonzos Sessel. »Zur Hölle mit Dison Blalock«, knurrte er. »Wir haben's geschafft!« Ein Gefühl, so unerbittlich scharf wie die Klinge eines Skalpells, durchfuhr Devon, so daß es ihr unmöglich war, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen. Aber was hätte sie auch noch sagen können? Plötzlich überkam sie der dringende Wunsch, zu fliehen, allein zu sein. Schnell wandte sie sich um und lief hinaus. Sie hörte O'Neills Stimme, der ihr irgendeine Frage nachrief, achtete aber nicht mehr darauf, sondern rannte genauso schnell, wie sie gekommen war, den Weg zu ihrer Kabine zurück. Unterwegs gab sie sich alle Mühe, sich ihre Empfindungen nicht anmerken zu lassen. Keiner von denen, die ihr neugierig nachstarrten, sollte sehen, daß sie den Tränen nahe war. Als sie sich ihrer Kabine näherte, wurde sie gewahr, daß Uly allein in seinem Rollstuhl vor der Tür saß und offenbar vergeblich versuchte, die Tür zu öffnen. Bei dem Geräusch ihrer Schritte wandte er sich zu ihr um. Sein Gesicht spiegelte im ersten Moment Erleichterung, dann Besorgnis wider, denn er bemerkte sofort, in welch aufgelöstem Zustand sie sich befand. »Mom? Ist alles in Ordnung?« Ohne zu antworten, schob sie sich an ihm vorbei in die Kabine. Sie hoffte, daß er später ihre Entschuldigung annehmen würde, daß sie ihm würde klarmachen können, warum sie jetzt nicht stehenbleiben konnte. Zum ersten Mal seit Ulys Geburt
hatte sie ihm nichts zu geben, zum ersten Mal fühlte sie sich so erschöpft, daß sie all ihre Kraft für sich selbst brauchte. Mit dem letzten Rest an Selbstbeherrschung schloß sie die Tür hinter sich und brach hemmungslos in Tränen aus. Später fand sich Devon dann in einem Sessel wieder, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie dort hingelangt war. Sämtliche Gefühle, die sich in ihr seit Jahren aufgestaut hatten, brachen jetzt hervor. Ihre Schultern zitterten, und sie schluchzte noch immer hemmungslos. Doch sie weinte nicht aus Trauer - die Tränen, die Devon Adair vergoß, waren Tränen des Stolzes über ihren Erfolg. Für Alonzo und O'Neill war es Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Seitdem er aus dem Kälteschlaf aufgewacht war, hatte es den Piloten in den Fingern gejuckt, einen ganz bestimmten Schalter zu betätigen. Nun war endlich der Moment gekommen. Gespannt sah der Commander zu, wie Alonzo die große, tellerförmige Kommunikationssektion vom Raumschiff abkoppelte und sie durch das Zünden der Steuerdüsen in Richtung des Planeten lenkte, um sie in die Reichweite seiner Anziehungskraft zu bringen. »Kommunikationssektion abgekoppelt«, meldete Alonzo, während er auf dem Monitor verfolgte, wie sich die Sektion, die inzwischen auf dem Hauptschirm nicht mehr zu sehen war, immer weiter vom Schiff entfernte. »Eintritt in die Atmosphäre beginnt ... bei drei ... zwei ... eins ... Eintritt erfolgt. Zunahme der Gravitation um vier-Strich-fünf und weiter steigend. Mit Kurs auf New Pacifica.« Die Kameras des Raumschiffs verfolgten die beeindruckend große Kommunikationssektion, die jetzt in die wolkenverhangene Atmosphäre des Planeten eindrang und den programmierten Zielpunkt auf einem seiner Kontinente ansteuerte. »Okay«, flüsterte der Commander leise und stützte sich mit verschränkten Armen auf die Rückenlehne von Alonzos Stuhl.
»Ganz sachte, mein Mädchen ... Noch ein bißchen weiter runter und dann ... Sorg dafür, daß Papi stolz auf dich ist. Jetzt den Schub ein bißchen erhöhen ... ja, göttlich ...« Auf dem Bildschirm konnte man deutlich den Fortschritt der Landevorbereitungen verfolgen. Die Teleskopstelzen wurden langsam ausgefahren, drei Fallschirme öffneten sich, um den rasanten Fall der Sektion zu verlangsamen. »Gegenschubdüsen sind gezündet«, meldete der Pilot und fokussierte die Kameras noch einmal nach, um sich auf die nächsten Augenblicke vorzubereiten, die zumindest für ihn spannender als jeder Krimi waren. Das Aufsetzen der Kommunikationssektion auf dem Planeten stellte einen kritischen Moment dar und war für einen Perfektionisten wie Alonzo eine Herausforderung allerersten Ranges. Schließlich lieferte er sein absolutes Meisterstück ab eine samtweiche Landung. Zufrieden rieb er sich die Hände. »Das war doch schon mal ganz nett.« Als er allerdings O'Neills strahlendes Gesicht bemerkte, mußte der Pilot kopfschüttelnd grinsen. Es war nicht zu übersehen, daß »Papi« wirklich stolz auf sein Baby war. Devon hatte inzwischen ihre Fassung einigermaßen zurückgewonnen und saß nun mit ihrem Sohn vor dem Wandmonitor ihrer Kabine. Gemeinsam betrachteten sie eine Orbitalaufnahme ihres Planeten. Devon fühlte sich nicht in der Lage, den Blick vom Schirm abzuwenden, so gefesselt war sie von dem, was sie sah. Da lag er also vor ihr, ihr Planet. Trotzdem konnte sie es immer noch nicht fassen, daß sie am Ziel waren, daß der Traum von G889 und New Pacifica Wirklichkeit geworden war. Obwohl sie fast vollständig von diesem Anblick gefangengenommen war, entging ihr doch kein einziger Atemzug, den Uly neben ihr so vorsichtig tat, als hätte er Angst, diesen Augenblick zu zerstören, wenn er nur einmal tief Luft holte. Langsam, eher instinktiv schob er seine Hand unter die ihre. Dabei sah er aber nicht seine Mutter an, sondern das Bild
auf dem Monitor. Und als er schließlich etwas sagte, sprach er so leise, daß seine Stimme kaum zu hören war: »Danke, Mom«, flüsterte er. Devon fühlte sich in diesem Moment glücklicher als je zuvor in ihrem Leben.
7 Commander O'Neill ließ sich auf dem Kopilotensitz nieder und beugte sich nach vorn, um näher an das Mikro des Aufnahmegerätes zu kommen, das vor ihm stand. »Alles bereit?« fragte er. Alonzo nickte. Er hatte das Kinn in eine Hand gelegt und den Ellbogen lässig auf den einzigen Platz seiner Kontrolltafel gestützt, an dem sich keine Knöpfe, Schalter, Mikros oder Monitore befanden. »Alles bereit, Commander. Wenn Sie so weit sind, können wir mit der Übertragung anfangen.« Die Vorfreude auf das, was nun folgen sollte, entlockte O'Neill ein schadenfrohes Grinsen. »Warum also noch Zeit verlieren?« Alonzo wußte, daß diese Frage eigentlich ein Befehl war. »Aye, aye, Sir«, gab er zurück und betätigte einen Schalter. Durch ein Kopfnicken gab er O'Neill zu verstehen, daß der Kanal für die Übertragung frei war. Das, was der Commander zu sagen hatte, wurde nun nicht nur an jedes an Bord befindliche Terminal gesendet, sondern auch in das gemeinsame Netz der Erde und ihrer künstlichen Satelliten eingespeist. »Sektor sieben, hier spricht Commanding Officer Broderick O'Neill vom Eden Project. Ich weiß, daß es ein paar Jährchen dauern wird, bis ihr diese Botschaft empfangen könnt. Ihr habt drei Versuche, herauszufinden, von wo aus wir senden! Doch ich verrate es euch: Diese Übertragung kommt von keinem anderen Ort als unserer voll funktionstüchtigen terrestrischen Sendeanlage in New Pacifica auf dem Planeten G889.« Der Commander rieb sich vergnügt die Hände, er fühlte sich offensichtlich ausgesprochen wohl in seiner Rolle. Gleichzeitig wünschte er, er könnte dabeisein und Dison Blalocks Gesicht sehen, wenn der Hafen-Commissioner diese Nachricht empfing.
»Ich habe eine kleine Botschaft für die von euch, die noch nicht in Rente sind ... für Blalock, Adam, McMann und alle anderen, mit denen ich mir im Laufe der Jahre auf Pluto sechs die Köpfe eingeschlagen habe. Und glaubt mir, Freunde, meine Botschaft kommt von Herzen: Ihr könnt mich alle mal an meinem ordengeschmückten Arsch lecken!« Verdammt zufrieden mit sich selbst schaltete O'Neill mit einer triumphierenden Geste das Mikro ab und lehnte sich gemütlich in seinem Sessel zurück. Die Techniker im Cockpit gaben es auf, ihr Lachen noch weiter zurückzuhalten, und stießen ein Jubelgeheul aus. O'Neill hoffte nur, daß alle anderen an Bord sich ebenfalls gut amüsierten. Denn nach allem, was sie durchgemacht hatten, um hierher zu kommen, hatten sie es verdient, einmal herzhaft zu lachen. Und wenn es auf Kosten der Schweinehunde von der Station geschah, dann um so besser. Er warf Alonzo einen fragenden Blick zu, doch der Pilot sah ihn, ohne eine Miene zu verziehen, völlig ungerührt an. »Was ist?« fragte O'Neill. Alonzo zuckte beiläufig die Schultern. »Sie werden 'n bißchen übermütig, stimmt's?« O'Neill schnaubte leicht verärgert. »Ja, ein bißchen.« Er stand auf und schlug dem Piloten leicht auf die Schulter. »Solace, sorgen Sie nur dafür, daß Sie das Schiff genauso sicher runterbringen wie diese Satellitenschüssel, und wir beide sind im Geschäft.« Alonzo nickte. »Fangen Sie schon mal an mit dem Auszahlen. Ich sag >Stop<, wenn's soweit ist.« »Über die Einzelheiten unterhalten wir uns später, Kumpel. Ich bin in meiner Kabine, falls Sie mich brauchen.« O'Neill erhob sich und machte sich auf den Weg. Man hatte versucht, sie durch Verrat und Sabotage daran zu hindern, diesen Planeten zu erreichen. Und O'Neill tat es verdammt gut, all denen eins auswischen zu können, die versucht hatten, nicht nur ihre Mission, sondern sogar sie selbst zu vernichten. Wenn
er in der Lage gewesen wäre, den Behörden auf der Station mehr als nur einen Funkspruch zu schicken, hätte er vielleicht versucht, diese Schweine mit allem drum und dran in die Luft zu jagen. Sollten sie doch ihre eigene Sch... zum Frühstück fressen! Im Hinausgehen hörte der Commander, wie Alonzo damit begann, die Abwurfsequenz für die Frachtkapseln zu initialisieren. Dies kommentierte er mit einer Bemerkung, die die Mannschaft mit Lachen quittierte. Ausgezeichnet, dachte O'Neill, das war es, was die Männer brauchten, Humor und gute Laune. Je mehr, desto besser. O'Neill verließ das Cockpit, ging durch den Korridor zur Toilette und schloß die Vakuumtür hinter sich. Der winzige Raum war nicht größer als eine Besenkammer. Jedes Geräusch von draußen drang nur noch sehr gedämpft herein, so daß fast vollkommene Stille herrschte. O'Neill hatte nicht vor, die Toilette wirklich zu benutzen, deshalb klappte er den Deckel hinunter, um sich zu setzen. Ein paar Sekunden lang tat er nichts weiter, als den ungewohnten Luxus der Stille und Ungestörtheit zu genießen. Endlich fühlte er sich mit sich und der Welt in Einklang. Zufrieden zog er aus der Innentasche seiner Jacke ein schmales Glasröhrchen hervor, in dem sich eine echte Zigarre befand, eine von der alten Erde. Er drehte und wendete das Röhrchen in der Hand und genoß diesen Anblick von Schönheit und Eleganz; vor allem aber genoß er die Vorfreude auf den bevorstehenden Genuß. Diese Zigarre hatte ihn ein kleines Vermögen gekostet, aber man hatte ihm garantiert, daß sie nicht nur echt war, sondern auch mit jedem Zug so phantastisch schmecken würde, wie sie aussah. Und das war ihm die Sache wert gewesen. Der Commander schob das Röhrchen in der Hand hin und her und erfreute sich an dem Gefühl des kalten, glatten Glases. Schließlich öffnete er es, zog die Zigarre vorsichtig mit zwei Fingern heraus und legte das leere Röhrchen auf die Konsole über dem Waschbecken. Die Zigarre unter die Nase haltend,
atmete er ihren Duft wie ein kostbares Parfüm ein. Schließlich plazierte er sie vorsichtig zwischen seinen Lippen. Der bittere Geschmack der trockenen Tabakblätter war köstlich. O'Neill zündete die Kostbarkeit mit dem Feuerzeug seines Schweizer Offiziersmessers an. Die Tabakblätter knisterten. Er machte ein paar Züge, und aus der Flamme, die beim Anzünden kurz aufgelodert war, wurde ein rosiges Leuchten, das sich mit jedem weiteren Zug in dunkelrote Glut verwandelte. Rauch stieg auf und umhüllte seinen Kopf, bevor er durch den Ventilator verschwand. Der Commander zog ganz ruhig und gleichmäßig an seiner Zigarre, sog den Rauch tief in die Lungen ein und hielt ihn dort für einen Augenblick, um den Genuß dieses vorzüglichen Elends voll auszuschöpfen. Jawoll, der Schwarzmarkthändler hatte nicht zu viel versprochen. Diese Zigarre rechtfertigte ihren Preis in der Tat. Für eine Weile schien die Zeit stillzustehen. O'Neill vergaß alles um sich herum. Jetzt zählten nur noch dieser kleine Raum und diese Zigarre. Dies war einer der raren Augenblicke im Leben des Commanders, den er als perfekt bezeichnen würde; er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so glücklich gewesen war. Zur Krönung dieses Moments fehlte eigentlich nur noch, daß ... Ein leichtes Beben erschütterte den Raum. Verwundert sah O'Neill auf und bemerkte, daß das leere Glasröhrchen auf der Konsole sacht hin und her rollte. Dann wurde das Beben stärker. Noch bevor er es auffangen konnte, fiel das Röhrchen zu Boden und zerbrach in tausend winzige Stücke. Mit wachsender Verwirrung sah O'Neill sich um und stand auf ... als plötzlich das gesamte Schiff so heftig zu schaukeln begann, daß er beinahe zu Boden geschleudert wurde. O'Neill schlug gegen die Wand, die Zigarre flog aus seiner Hand und rollte hinter die Toilette. Er griff nach dem Türknopf, rutschte jedoch ab und bemühte sich noch einmal, ihn zu fassen zu bekommen. Nachdem er ihn erst in die falsche Richtung zu drehen
versuchte, gelang es ihm schließlich, das Schloß zu öffnen und die Tür aufzudrücken. Auf dem Korridor schlug ihm das ohrenbetäubende Geheul der Sirenen entgegen. Auf dem gesamten Flur liefen von Panik erfüllte Passagiere und Mannschaftsmitglieder herum, die aufgeregt und verängstigt durcheinanderschrien. Keiner hatte auch nur die geringste Ahnung, was eigentlich vor sich ging. O'Neill kam kaum aus der Toilette heraus, so stark war der Druck der Menschenmenge, die sich an ihm vorbeidrängte. Bemüht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, kämpfte er sich wie ein großes, gegen den Strom schwimmendes Tier voran, bis er schließlich das Cockpit erreicht hatte. Und die ganze Zeit über schaukelte und bebte das Schiff immer unkontrollierter. Als O'Neill ins Cockpit stolperte, sah er Alonzo leichenblaß vor seiner Konsole sitzen, schweißnaß vor Angst. Mit aller Kraft versuchte der Pilot, das Schiff mit Hilfe manueller Steuerung unter Kontrolle zu bekommen. »Was zum Teufel geht hier vor?« brüllte O'Neill, um sich über den Lärm hinweg Gehör zu verschaffen. »Die Frachtkapseln lassen sich nicht abkoppeln!« schrie Alonzo zurück. Er hatte den Kontrollhebel so fest umklammert, daß seine Fingerknöchel vor Anstrengung weiß waren. »Die Dinger ziehen uns mit nach unten!« O'Neill sah über die Schultern des Piloten hinweg auf den Hauptschirm. Die erste Kapsel, die beim Eintritt in die Atmosphäre von G889 zu glühen begonnen hatte, hatte sich nur halb vom Raumschiff gelöst und zog es durch ihr Gewicht mit nach unten. Gleichzeitig wurde der Planet auf dem Schirm immer größer. Die Advance raste mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zu. O'Neill schnappte sich das Mikro. »Technik! Koppeln Sie die verdammte Frachtkapsel ab! Lassen Sie sie fallen! Sofort!« Auf einem der Monitore erschien Danzigers aschfahles Gesicht. Mit blutverschmierter Hand winkte er resigniert ab.
»Der Abkopplungsmechanismus ist defekt!« schrie er. »Wir müssen in ein Magnetfeld geraten sein!« »Dann sprengen Sie die Kapsel ab!« brüllte O'Neill, aufgebracht und zugleich halb verrückt vor Angst. Jetzt, wo sie so weit gekommen waren und ihr Ziel fast erreicht hatten, durfte die Expedition einfach nicht so enden, verdammt noch mal! Er würde das nicht zulassen! »Machen Sie schon ...« »Die Zünder reagieren nicht!« fauchte Danziger zurück, genauso wütend und von Panik erfüllt wie der Commander. »Glauben Sie, das haben wir noch nicht probiert? Es funktioniert nicht! Aber wenn Sie glauben, daß Sie's besser können, bitte ...« Die Übertragung wurde jäh unterbrochen, und O'Neill starrte auf einen leeren Bildschirm. Um ihn herum schrien die Passagiere, am Rande der Hysterie. Devon hätte nie gedacht, daß sie mit Uly auf dem Arm so schnell und vor allem so lange laufen könnte. Der Junge selbst war kaum mehr als ein Fliegengewicht, aber sein ImmunoAnzug wog etliche Pfund und machte den Kleinen so zu einer schweren Last - einer Last allerdings, die sie nie im Leben und unter keinen Umständen aufgegeben hätte. Immer wieder wurde Devon von Passagieren behindert, die in Panik zu fliehen versuchten und in ihrer verzweifelten Jagd nach Sicherheit ohne Sinn und Verstand in alle Richtungen drängten. Dicht hinter sich spürte Devon die Sicherheit vermittelnde Nähe Yales, der die Arme voll hatte mit allem, was er im Augenblick der Flucht noch hatte zusammenraffen können. »Es wird Ihnen nichts passieren!« rief er jedem zu, der noch einigermaßen ansprechbar schien. »Wir haben drei Rettungskapseln an Bord, genug Platz für alle. Versuchen Sie, Ruhe zu bewahren. Es gibt keinen Grund zur Panik!« Hätte Yale versucht, gegen das Heulen des Windes anzupfeifen, wäre ihm wahrscheinlich größerer Erfolg beschieden gewesen. Denn das Leben und Handeln dieser
Menschen wurde im Augenblick ausschließlich von Panik bestimmt, von einer Panik, die schon in wenigen Minuten für alle den sicheren Tod bedeuten konnte, falls sich nicht irgend jemand fand, der das Kommando und damit die Verantwortung übernahm. Diese Person würde allerdings nicht Devon Adair sein. Oh nein, nicht dieses Mal. Dieses Mal weigerte sie sich, auf den ihr nur allzu vertrauten Sirenengesang zu reagieren. Jetzt zählte einzig und allein, daß sie Uly in Sicherheit brachte. Alle anderen mußten sich ausnahmsweise mal um sich selbst kümmern. Überrascht stellte sie fest, daß sie deswegen noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen spürte. Doch schon im nächsten Moment, in dem sie wieder gegen die ihr entgegendrängende Menschenmenge ankämpfte, war ihr nicht einmal dieser Gedanke noch wichtig. Morgan Martin stieß seine Frau auf den Korridor hinaus und schob sie, die Hand auf ihrem Rücken, weiter den Flur hinunter. In dem verzweifelten Versuch, so schnell wie möglich einen Fluchtweg zu finden, schien er es in Kauf zu nehmen, daß er sie beinahe überrannte. »Glaub mir, Bess, wir werden nicht mit diesem Ding abstürzen!« schwor er heldenhaft, obwohl er sich vor Angst fast in die Hose machte. »Wir werden hier nicht krepieren!« »Aber unsere Sachen!« jammerte Bess und versuchte, wieder umzukehren. Dabei hatte sie doch immerhin eine kleine Tasche bei sich, die sie fest an ihren Körper preßte. Morgan packte sie grob am Ellbogen und zerrte sie rücksichtslos weiter den Gang entlang, so daß sie beinahe stolperte. Im Gegensatz zu den meisten anderen Passagieren wußte Morgan ganz genau, wohin er zu laufen hatte. Er war glücklicherweise der Typ, der routinemäßig sofort erst mal den sichersten Fluchtweg auskundschaftete, egal, wo er war, ob in der Straßenbahn, einem Konferenzsaal oder der Küche seines Nachbarn. Es machte sich bezahlt, wenn man im vorhinein
wußte, wie man am schnellsten aus einer möglicherweise bedrohlichen Situation herauskam. Und so kannte Morgan Martin ganz genau den Weg zu jeder einzelnen Rettungskapsel. Als sie bei jener Kapsel ankamen, die Morgan für ihre Flucht vorgesehen hatte, war er allerdings doch einigermaßen überrascht, daß außer ihnen weit und breit kein Mensch zu sehen war. Glück gehabt! So mußten sie sich wenigstens nicht um einen Platz in der Kapsel streiten. Bess fuhr sich mit der Hand durch das in Unordnung geratene Haar. »Morgan, woher wußtest du, daß dieses Ding hier ist?« Ohne die Zeit mit langen Erklärungen zu verschwenden, öffnete er die Einstiegsluke und schob seine Frau wortlos hinein. Jetzt hörte er vom anderen Ende des Korridors her jemanden rufen. »True! Wo bist du, True?« Das war dieser Techniker, dieser Danziger, der nach seiner rotzfrechen Tochter suchte. Wenn der glaubte, er konnte mit ihnen kommen, dann hatte er sich getäuscht. Diese Kapsel hatte Morgan für sich reserviert, und er hatte nicht vor, auf andere Passagiere zu warten. Schließlich konnte das Schiff jeden Moment auseinanderbersten. Morgan kletterte ebenfalls in die Kapsel, schloß die Luke und verriegelte sie. Er hörte Danziger hinter ihm her schreien: »Hey! Hey, warten Sie noch! Hey!« Als Morgan aufsah, traf ihn Danzigers Blick, der ihn durch die Glasscheibe der Luke anstarrte. Seinem Gesicht nach zu urteilen, wußte der Techniker genau, wer Morgan war und was er vorhatte. »Morgan, hilf mir!« jammerte Bess, die ihren Sicherheitsgurt nicht finden konnte. Und als sie ihn endlich gefunden hatte, wußte sie vor lauter Angst nicht, was sie damit tun sollte. »Ich krieg' das Ding nicht fest!« Morgan fühlte sich wie hypnotisiert von Danzigers Blick. »Halt den Mund, Bess!« fuhr er seine Frau in einem Ton an, der sie sofort zum Schweigen brachte. »Mach dir keine Sorgen, wir werden nicht sterben!«
Ein paar Sekunden lang hielt Morgan noch dem Blick Danzigers stand, der sich ihm förmlich ins Gehirn brannte. Dann wandte er sich ab, um den Abkopplungsmechanismus zu aktivieren. Die Kapsel löste sich mit einem lauten, dumpfen Zischen. Rasch entfernten sie sich von dem immer kleiner werdenden Raumschiff und rasten auf die Atmosphäre des Planeten zu. Bess' Schreie begleiteten sie wie ein Kondensstreifen. Alonzo wußte, daß er einer Katastrophe ins Auge sah. Dies war ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Das Schiff ließ sich einfach nicht mehr unter Kontrolle bringen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Eden Advance unter den Erschütterungen in tausend Teile zerbersten und ihn selbst in den Weltraum hinausschleudern würde. Na ja, es gab wahrscheinlich grausamere Todesarten. Doch dann riß er sich zusammen. Scheiß drauf! Wer sagte eigentlich, daß auch er sich diese uralte edle Regel, wonach der Kapitän das sinkende Schiff zuletzt verläßt, zu eigen machen mußte? Neben ihm warf O'Neill mit einer Geste der Resignation die Hände in die Luft. »Vergessen Sie's, Solace! Abbrechen! Und zwar sofort!« Er schnappte sich eine Waffe und ein Schulterhalfter von dem Haken in der Nähe des Ausgangs und rannte zum Cockpit hinaus. Die wenigen Mannschaftsmitglieder, die sich bis jetzt noch im Cockpit aufgehalten hatten, folgten ihm. Verzweifelt und verbittert darüber, daß er ein ausgezeichnetes Raumschiff kampflos aufgeben sollte, versuchte Alonzo ein letztes Manöver. Eine Sekunde lang sah es so aus, als ob es funktionieren könnte, doch dann erwies es sich als genauso erfolglos wie alle anderen. Alonzo glaubte fast, aus unendlicher Ferne das triumphierende Lachen des Schicksals zu hören. Wehmütig ließ er ein letztes Mal seinen Blick über das
Cockpit schweifen, um Abschied von seinem Schiff zu nehmen. Dann folgte er O'Neill. Das war doch einfach nicht zu fassen! Danziger kochte vor Wut, während er den Weg zurücklief, den er gekommen war, und suchte abermals fieberhaft jede Ecke und jeden Winkel nach seiner Tochter ab. Er konnte es noch immer nicht glauben! Dieser Morgan war ein solches ... ein solches ... Danziger fehlten die Worte. Für das, was Morgan Martin gerade getan hatte, gab es keinen Ausdruck. Nur Bess tat ihm leid, für sie empfand er mehr Mitleid als je zuvor für einen Menschen. Ihr wünschte er nichts Böses, aber wenn es in diesem Universum eine Gerechtigkeit gab, dann mußte Morgans Rettungskapsel auf ihrem Flug zum Planeten in eine Million kleine Stücke zerspringen. Oder noch besser wäre eine Bruchlandung, die Bess überlebte, während von Morgan nichts weiter übrigblieb als ein kleines, ekelhaftes Häufchen Schleim, so daß er aussah wie etwas, das Trues hypothetische Katze ausgespuckt hätte. Yeah. Das wäre nicht schlecht, so würde die Sache Danziger gefallen. Er riß die Tür zum Kälteschlafbereich auf und sah sich um. »True!« schrie er und öffnete den Deckel der ersten Kapsel. Fehlanzeige, hier war niemand. Er ging zur nächsten Kapsel. »True! Mach schon! Wir müssen verschwinden!« Murphys Gesetz zufolge findet sich das, wonach man sucht, immer erst an der Stelle, an der man zuletzt nachschaut. Folgerichtig entdeckte Danziger seine Tochter in der letzten Kapsel. Starr vor Angst hatte sie sich zusammengekauert und die Arme fest um ihre Knie geschlungen. Noch nie zuvor hatte er seine Tochter derart verzweifelt weinen sehen. Er nahm ihre Arme, zog sie auf die Füße und hob sie aus der Kapsel, doch das Mädchen reagierte kaum auf seine Berührung. Als er sie vor sich her aus dem Kälteschlafbereich schob, konnte sie sich kaum auf den Füßen halten. Trotzdem drängte er sie weiter und zwang sie zu laufen, um eine der anderen Rettungskapseln zu erreichen.
Durch den Korridor, der vor ihnen lag, kam ihnen eine Gruppe von Menschen entgegen, die genauso verzweifelt wie sie nach einer Fluchtmöglichkeit suchten. Danziger gab ihnen durch Winken zu verstehen, daß sie stehenbleiben sollten. »Hier ist keine Kapsel mehr!« schrie er. »Sie ist weg. Kehren Sie um!« Die Leute blieben stehen, sahen sich ratlos an und kehrten dann tatsächlich um. Danziger lief mit ihnen zusammen den Korridor in entgegengesetzter Richtung wieder hinunter, bis sie auf einen der Hauptflure des Schiffes gelangten. Doch dort prallten sie mit einer zweiten Gruppe zusammen, die sie zu verschlingen drohte wie das Meer einen Fluß. Ein paar Leute stürzten und wurden von dem Getrampel so vieler Füße überrannt. Danziger riß seine Tochter an sich, nahm sie auf den Arm und bahnte sich einen Weg durch die panische Menge, um sie alle in Sicherheit zu bringen. Doch gerade als sie die zweite Rettungskapsel erreicht hatten, wurde ihnen die Einstiegsluke vor der Nase zugeschlagen. Das darf doch nicht wahr sein, dachte Danziger. Nicht schon wieder! Außer sich vor Wut, hämmerte er gegen die Luke und sah durch das Guckloch die Menge der dicht gedrängten Menschen und deren furchtverzerrte Gesichter. »Wir haben keinen Platz mehr!« rief ihm die Navigatorin von drinnen aus zu. »Hier sind schon zu viele! Nehmen Sie die andere!« Und wieder hörte Danziger dieses verdammte Zischen ... Die Kapsel hatte sich gelöst und war verschwunden. »Nehmen Sie die andere.« Das ist leichter gesagt als getan, dachte Danziger. Hoffentlich gibt es überhaupt noch eine andere! Er wandte sich um und rannte mit True an der Hand wieder den Korridor hinunter, während sein Herz wie wild hämmerte. Die anderen folgten ihm blind. Die Leute waren wie Schafe und liefen dem hinterher, der als einziger zu wissen schien, wo es langging. Während Alonzo sich wohl oder übel von den Passagieren mitreißen ließ, die schreiend, schubsend und drängelnd den
Korridor hinunterliefen, um die letzte der Rettungskapseln zu erreichen, hörte er plötzlich das verzweifelte Rufen einer Frau. Er bemühte sich, sie über die Köpfe der anderen hinweg auszumachen, und entdeckte schließlich Julia, die in der Mitte des Korridors auf dem Fußboden kniete. Neben ihr lag offen ihre leere Arzttasche. Die junge Frau versuchte fieberhaft, den verstreuten Inhalt aufzusammeln, doch die inzwischen vollends in Panik geratenen Leute überrannten sie einfach. Sie zerbrachen die aus der Tasche gefallenen medizinischen Geräte und Medikamente, traten wie blind auf Julias Hände, stießen sie rücksichtslos in die Seite oder stolperten über sie. Alonzo kämpfte sich bis zu ihr durch, bückte sich, griff wahllos ein paar der in der Nähe herumliegenden Gegenstände, stopfte sie in den Arztkoffer und drückte ihn Julia in die Hand. »Kommen Sie! Wir haben keine Zeit mehr! Das Schiff bricht auseinander!« Julia klemmte sich den Koffer unter den Arm und versuchte, so schnell wie möglich noch mehr einzusammeln und in ihre Taschen zu stopfen. »Nein!« schrie sie. »Ich gehe nicht ohne die Medikamente und die Geräte!« Über ihren Köpfen öffneten sich unter dem Druck des zerberstenden Schiffes die Entsorgungsschächte wie geifernde Mäuler, schmutziges, stinkendes Abwasser regnete auf sie herunter. »Was sind Sie nur für eine blöde und verbohrte Frau ...« fluchte Alonzo. Er war drauf und dran, sie einfach hier sitzenzulassen, zumindest tat er einen Augenblick lang so, indem er sich wegdrehte, als wollte er mit den anderen fliehen. Doch als schon alle an ihnen vorbeigelaufen waren, wandte er sich wieder zu ihr um. Legte einen Arm um Julias Taille, hob sie hoch und legte sie sich einfach wie einen Sack über die Schulter. Während sie schrie und strampelte, lief er mit ihr zu der wartenden Rettungskapsel.
Als Alonzo die Kapsel schon fast erreicht hatte, hörte er O'Neill hektisch schreien: »Luke schließen! Wir verlassen das Schiff!« Alonzo traute seinen Ohren nicht. Sollte der Commander tatsächlich bereit sein, Menschen auf dem Schiff zurückzulassen, nur um seine eigene Haut zu retten? Der Pilot stieß einen wütenden und zugleich entsetzten Schrei aus, als sich Devons klare, laute Stimme über den Lärm erhob und dem Befehl des Commanders widersprach: »Halt, nicht bevor alle in der Kapsel sind! Los, kommen Sie, beeilen Sie sich!« Ein paar Meter vor ihm stieg Danziger mit seiner Tochter auf dem Arm als einer der letzten durch die Luke. Also dann, dachte Solace. Ihm mußte Devon das nicht zweimal sagen, seine Mutter hatte schließlich keinen Idioten großgezogen. Er faßte Julia noch fester, ohne Rücksicht darauf, ob er ihr dabei jeden Knochen brechen würde, und rannte los. Kaum hatte er die Luke erreicht, schob er Julia schon in die Rettungskapsel. Dann kletterte er selbst hinterher und stieß die Ärztin unsanft in die hinterste Ecke dieses total überfüllten Rettungsgefährtes, damit sie erst gar nicht auf die idiotische Idee kommen konnte, womöglich wieder auszusteigen, um den Rest ihrer ohnehin zerstörten medizinischen Ausrüstung zu holen. Danziger stand mit dem Rücken zur Wand und hielt True im Arm, die mit schreckgeweiteten Augen wie hypnotisiert ins Leere starrte. Auf dem Boden kniete Devon und umklammerte ihren Sohn, während der Lehrer hinter ihr stand und wie eine schützende Gottheit über die beiden wachte. Der Pilot nickte Devon unendlich dankbar und erleichtert zu, dann schloß er die Luke hinter sich. Ein rascher Blick auf die zusammengepferchten Menschen sagte ihm, daß er unter diesen Umständen nicht in der Lage war, für mehr Sicherheit der Passagiere zu sorgen. Es mußte so gehen. Ein letztes Mal lauschte er wehmütig dem Ächzen und Stöhnen des auseinanderbrechenden Schiffes, das im Sterben lag. Dann legte er die Hand auf den Abkopplungshebel. »Sind alle an Bord der
Rettungskapseln, oder befindet sich noch jemand auf dem Schiff?« »Koppeln Sie sie ab, Mann!« befahl O'Neill mit donnernder Stimme aus dem hinteren Teil der Kapsel. »Koppeln Sie ab!« »Ich fragte ...«, wiederholte Solace laut und deutlich, um sich über den Lärm hinweg verständlich zu machen, »... ob alle an Bord sind?« Dabei sah er allerdings nicht O'Neill, sondern Devon an. Bis zu diesem Moment war es ihm vollkommen gleichgültig gewesen, wer hier eigentlich der Boß war, diese Adair oder der Commander. Das zu entscheiden war ihm nicht wichtig erschienen. Die Eden Foundation hatte ihn für einen Haufen Geld engagiert, und das war das einzige, was zählte. Bis vor wenigen Minuten ... Dann aber hatte Devon Adair den Befehl zum Warten gegeben, und damit hatte sich für Alonzo einiges geändert. Die Frage, wen er als seinen Chef betrachtete, war jedenfalls eindeutig beantwortet. Devon nickte, sie sah blaß und angestrengt aus. »Legen Sie ab.« Alonzo legte den Hebel um, der den Abkopplungsmechanismus aktivierte, und schon im nächsten Moment war das pfeifende Zischen zu hören, das signalisierte, daß sich ihre Rettungskapsel vom Mutterschiff getrennt hatte. Was dann folgte, war furchtbar. Schrecklicher als alles, was er sich je vorgestellt hatte, und schlimmer als jede noch so harte Flugsimulation während seiner Ausbildung. Die Kapsel schaukelte derart heftig hin und her, daß die Passagiere wie Kieselsteine in einer Blechdose durcheinandergeschleudert wurden. Während sie unaufhaltsam auf den Planeten zurasten, versuchte jeder, sich irgendwo festzuklammern, um auf den furchtbaren Aufprall, der ihnen bevorstand, vorbereitet zu sein. Trotzdem herrschte eine geradezu unheimliche Stille in der Kapsel, niemand sagte auch nur ein einziges Wort, als ob alle vor Angst wie versteinert waren. Alonzo sah durch das
Sichtfenster der Luke, und für ein paar Sekunden geriet noch einmal die Advance in sein Blickfeld, die nun führerlos durch das All trieb und eine Frachtkapsel nach der änderen verlor. »... Himmlischer Vater!« Yales sonore Stimme war klar und deutlich zu hören. »Behüte und beschütze uns in deiner Stärke und führe uns ...« »Dad!« schrie ,True Danziger, die auf Zehenspitzen stand und aus der einzigen Backbordluke der Kapsel hinaussah. »Gleich schlagen wir auf dem Planeten auf!«
8 O'Neill kannte Schlachten, und er kannte ihre Folgen. Noch halb betäubt von der Bruchlandung, war ihm in den darauffolgenden Sekunden zu Bewußtsein gekommen, daß alle Schlachten einander mehr oder weniger ähnelten. Und dabei spielte es auch keine große Rolle, ob man mit Waffen kämpfte oder nicht so ziemlich jedermann focht jeden Tag alle möglichen Kämpfe durch, und die Folgen waren eigentlich immer die gleichen, egal, welche spezielle Strategie man gewählt hatte. Im Inneren der Rettungskapsel herrschte Dunkelheit. Die Lampen waren beim Aufschlag mit einem grellen, die Augen blendenden Aufblitzen erloschen. Durch die feinen Risse der äußeren Hülle drangen nun schwache Lichtstrahlen herein und gestatteten es dem Commander, einen ersten Blick auf die von dem Aufprall durcheinandergeworfenen Gestalten zu werfen. Er erkannte Alonzos große, fragende Augen, und schließlich konnte er auch Devon ausmachen, deren Wangenknochen den vagen Lichtschimmer widerspiegelten. Sie hielt Uly in den Armen, und Yale hatte sich schützend über sie gebeugt. Danziger und seine Tochter lagen auf dem Boden, bei ihnen befand sich Julia und blinzelte verwirrt um sich. Daneben lagen Baines und zwei weitere Besatzungsmitglieder, Walman und Magus, und hinter ihnen sah er vier Kolonisten, deren Namen O'Neill nicht kannte. Zwei von ihnen schrien hysterisch, vermutlich aus Angst, doch vielleicht hatten sie sich auch verletzt. Andere fluchten lauthals und benutzten dabei Ausdrücke, die selbst er, trotz seiner langjährigen Erfahrung als Berufsoffizier, nicht kannte. Nach und nach kamen alle wieder zu sich und versuchten, sich im Halbdunkel zu orientieren. Ihre Tasche immer noch fest unter den Arm geklemmt, stand Julia
langsam auf, ging von einem zum anderen und fragte, ob irgend jemand medizinische Hilfe benötigte. O'Neill hielt es für wenig wahrscheinlich, daß die Ärztin einigermaßen zusammenhängende Antworten bekam. Mühsam schob sich der Commander nun durch die sich entwirrenden Menschenknäuel in die Richtung, in der seiner Erinnerung nach die Einstiegsluke liegen mußte. »Alle mal herhören!« rief er und erhob seine Stimme über den Lärm, der sich zu panischem Geschrei zu steigern drohte. Er wählte eine Lautstärke, die schon früher nie die gewünschte Wirkung verfehlt hatte, weder bei einfachen Rekruten noch bei höheren Offizieren. Plötzlich herrschte absolute Stille. »Seien Sie still und bewahren Sie Ruhe«, befahl er. Dann ging er zur Luke und trat neben Baines, der sich über die dort installierten Instrumente beugte. »Irgendwelche Ergebnisse?« »Ich versuche gerade, etwas rauszukriegen.« Nachdem er eine Weile auf die Anzeigen gestarrt hatte, schüttelte Baines den Kopf. »Ich bekomme keine vernünftigen Werte«, bemerkte er schließlich enttäuscht. »Was meinen Sie damit?« insistierte der Commander, offenbar nicht willens, sich mit Baines' Antwort zufriedenzugeben. »Wir brauchen dringend Daten über die Zusammensetzung der Atmosphäre.« »Das ist mir durchaus bewußt, Sir«, gab Baines leicht gereizt zurück, und O'Neill war klug genug, nicht darauf einzugehen. Schließlich standen alle unter ziemlichem Druck, waren reizbar und nervös. »Aber ich bekomme einfach keine vernünftigen Werte. Die Instrumente zeigen absolut nichts an, vielleicht sind sie beim Aufprall zerstört worden. Ich kann Ihnen keine Daten geben.« Keine Daten. Verflucht. Sie hatten herausbekommen wollen, ob sie in der Atmosphäre des Planeten leben konnten, bevor die Tür geöffnet wurde; und jetzt sah es danach aus, als müßten sie
die Tür öffnen, um zu prüfen, ob man in der Luft überleben konnte. »Öffnen Sie die Luke«, ließ sich aus dem Hintergrund der Kapsel Devons ruhige Stimme vernehmen. O'Neill blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie mittlerweile aufgestanden war. Neben ihr erkannte er Yale, der Uly in seinen Armen hielt. Der Junge hatte die Augen geschlossen, und sein Kopf lag kraftlos auf der Schulter des großen Mannes. Bei diesen miserablen Lichtverhältnissen konnte man unmöglich sagen, ob er verletzt war oder ... tot. Wenn er tatsächlich tot war, würde Devon das nicht lange überleben. O'Neill registrierte, daß sich die Blicke aller Kapselinsassen hoffnungsvoll auf Devon richteten. Offensichtlich vertrauten sie darauf, daß diese Frau schon die richtige Entscheidung treffen würde. Schließlich waren sie ja auch vor allem hier, weil Devon Adair die gesamte Expedition in Gang gesetzt hatte. O'Neill fragte sich - nicht zum ersten Mal -, wer der eigentliche kommandierende Offizier dieser Mission war. Der Commander sah ihr lange in die Augen, bis Devon schließlich mit den Schultern zuckte, so daß er durch einen Riß im Ärmel ihres Hemdes ihre nackte Haut schimmern sah. »Wo sollen wir sonst hin?« fragte sie. »Ewig können wir hier drinnen schließlich nicht bleiben.« Und damit hatte sie vollkommen recht. Trotz der feinen Risse in der Kapselhülle wurde die Luft allmählich stickig und hinterließ einen schalen Geschmack auf der Zunge. O'Neill räusperte sich und schob Baines mit dem Ellbogen zur Seite. »Achtung, Leute! Wir öffnen die Luke«, bellte er und betätigte ein paar Schalter. Sekundenlang passierte überhaupt nichts, so daß O'Neill schon dachte, die Luke hätte sich verklemmt; dann aber glitt sie geräuschlos auf. Von draußen flutete Licht herein und brachte eine Welle frischer, fremder Luft ins Kapselinnere. Ausnahmslos alle hielten instinktiv den Atem an. Selbst O'Neill wurde ein Teil dieser von einer uralten menschlichen
Todesfurcht getriebenen Menge, als er das eigenartige Schweigen registrierte, das durch kollektiv angehaltene Luft, wie vor dem »Amen« in der Kirche, hervorgerufen wird. Wer würde als erster das Risiko eingehen und durchatmen? Angewidert von seiner Feigheit, wollte der Commander gerade entschlossen Luft holen, als Devon, die es nicht mehr länger aushielt, ihm zuvorkam. Laut hörbar sog sie die Luft ein, und es passierte ... nichts. Nun holten auch die anderen tief Luft, und kurz darauf redeten und schrien alle wieder aufgeregt durcheinander. O'Neill ließ den gewaltigen Lärm hinter sich, kletterte durch die Luke nach draußen und setzte entschlossen einen Fuß auf den Boden der Neuen Welt. Als er versuchte, durch die staubige Luft in die grelle Sonne zu blinzeln, begannen seine Augen zu tränen. In einem milden Wind tanzten grüne Blätter, und über bestimmten Stellen des Bodens standen kleine Staubwirbel, die aber sofort in sich zusammenfielen, wenn der Wind in eine andere Richtung drehte. Hinter O'Neill drängten sich die Schiffbrüchigen und starrten hinaus. Dann folgten sie seinem Beispiel und traten ebenfalls ins Freie. Eine Weile lang standen sie alle schweigend und ehrfurchtsvoll staunend herum und bewunderten die Lichtung, auf der sie gelandet waren. Doch allzulange konnten sie sich diesen Luxus nicht leisten, denn es ging vordringlich darum, sich um die Verletzten zu kümmern, die Vorräte zu ordnen und Sicherheitsmaßnahmen einzuleiten. Julia sah nach den Verwundeten und behandelte sie. Die junge Ärztin konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor in ihrem Leben derart unter Druck gestanden zu haben. Selbst als das Raumschiff von der Station geflüchtet oder als sie erfahren hatte, daß Dr. Vasquez nicht mit an Bord war, hatte sie sich nicht annähernd so überfordert gefühlt.
Sobald sich die Passagiere halbwegs von dem Schock der Bruchlandung erholt hatten, machten sich ihre diversen Verletzungen bemerkbar. Julia versuchte allen zu helfen, so gut es nur eben ging, sah sich aber leider schon bald an ihren Grenzen angelangt. Zum einen war sie die einzige, die über mehr als rudimentäre medizinische Kenntnisse verfügte, zum anderen besaß sie kaum noch ein Zehntel ihrer Ausrüstung. Wie sollte sie ohne Medikamente und Geräte jemals mit den Problemen so vieler Menschen fertig werden? Während Julia noch darum bemüht war, wenigstens so zu tun, als ob sie alles unter Kontrolle hätte, und sich nicht der Verlockung eines sie aller Verpflichtungen enthebenden hysterischen Anfalls zu überantworten, begann sie, den Inhalt ihrer Taschen und des Notfallkoffers einer genauen Prüfung zu unterziehen, um einen Überblick über das ihr Verbliebene zu erhalten. Zu ihrer großen Erleichterung fand sich in ihrer rechten Jackentasche ein Inhalationsgerät zur Lungendiagnose. Damit lief sie sofort zu Uly hinüber, der neben seiner Mutter im Schatten der havarierten Rettungskapsel saß. Der Junge lag regungslos in Devons Armen und beobachtete mit weit aufgerissenen Augen die Instrumente, die in seinen Anzug integriert waren. »Mein Blutdruck ist viel zu hoch!« rief er aufgeregt. »Keine Sorge, Uly, das ist noch ganz in Ordnung«, versuchte Julia ihn mit sanfter Stimme zu beruhigen und hoffte dabei, daß sie recht hatte und das Kind tatsächlich keinen größeren Schaden genommen hatte. »Du bist nur aufgeregt und verängstigt. Und nun will ich einen tiefen Atemzug haben. Ja, so ...« Uly atmete gehorsam ein und blies die Luft anschließend in den Luftbeutel des Diagnosegerätes. Schon im nächsten Augenblick zog sich sein Körper wie eine geballte Faust zusammen, und er bekam einen heftigen Hustenanfall.
»Was ist los?« fragte Devon besorgt, die Augen starr auf die Anzeigen des Inhalationsgerätes gerichtet. Sie hatte einen Arm um den Hals ihres Sohns gelegt, während sie mit der anderen Hand in kreisenden Bewegungen seinen Rücken massierte, um den Krampf zu lösen. »Wie geht es ihm?« Noch ehe Julia antworten konnte, sah sie, daß Yale sich durch die kleinen Gruppen Schiffbrüchiger, die sich inzwischen zusammengefunden hatten, schlängelte und zu ihnen hinüberkam. Bitte nicht, flehte die Ärztin, die befürchtete, er könnte sie um Hilfe bitten. Es war nicht so, daß sie den Lehrer nicht mochte - sie kannte ihn ja nicht einmal gut genug, um sich ein Urteil über ihn zu bilden, wußte nur, daß Devon und Uly große Stücke auf ihn hielten; doch Julia hatte nicht die geringste Ahnung, wie man einen Cyborg medizinisch versorgte. Aus irgendeinem Grund schien ihr das eher in den Zuständigkeitsbereich Danzigers oder Alonzos zu gehören, also in die Hände eines Mechanikers oder Technikers. Aber leider war im Augenblick keiner der beiden in der Nähe, um ihr, wenn nötig, aus der Patsche zu helfen. Yale wirkte besorgt und nervös, als er sich neben Devon niederließ. Trotzdem nahm er sich die Zeit, um Uly ermutigend zuzulächeln und ihm zärtlich übers Haar zu streichen, bevor er sich mit gesenkter Stimme an Devon wandte. »Kein Signal von den anderen Kapseln.« Da Julia noch immer mit Ulys Lungendiagnose beschäftigt war, konnte sie nicht umhin, mitzuhören, was die beiden redeten. Als sie diese nur für Devon bestimmte Nachricht hörte, blickte sie unwillkürlich auf, wandte sich jedoch schnell wieder ihrem Patienten zu, weil sie bemerkte, daß der Cyborg sie mißtrauisch musterte. Dachte der Bursche etwa, sie würde lauschen? Es war verdammt schwierig, nicht hinzuhören, wenn man so dicht aufeinanderhockte. Devon zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Versucht es weiter«, antwortete sie. Yale nickte und gab Uly einen
aufmunternden Klaps auf den Oberschenkel; dann ging er davon. Endlich signalisierte das Diagnosegerät durch ein akustisches Signal, daß die Untersuchung abgeschlossen war. Julia warf einen Blick auf die Ergebnisse und sah Devon an, die einen abgespannten und besorgten Eindruck machte. »Keinerlei Anzeichen für ein Trauma. Er ist in Ordnung.« »Dem Himmel sei Dank«, stieß Devon seufzend hervor und schloß für einen Moment die Augen, als ob sie sich hinter ihren Lidern verstecken wollte. Das war eine Taktik, die Julia nur allzu vertraut war; doch daß auch Devon Adair sie anwandte, machte der Ärztin diese kühle und überlegte Frau ein wenig sympathischer. Vielleicht unterschieden sie sich ja gar nicht so sehr voneinander. Julia tätschelte lächelnd Ulys Bein und erhob sich. »Du machst das ganz phantastisch, Uly. Ich muß mich jetzt um die anderen kümmern. Aber bald bin ich wieder bei dir, und dann untersuche ich dich noch einmal gründlicher, okay?« Der Junge nickte. Für den Moment schien er vollauf zufrieden damit zu sein, daß er der Rettungskapsel ohne größere Blessuren entronnen war und sicher in den Armen seiner Mutter lag. »Okay, Dr. Heller. Und vielen Dank.« »War mir ein Vergnügen, Champ«, erwiderte sie. Zum ersten Mal hatte sie seinen Spitznamen benutzt, und ihr gefiel das Lächeln, das sie damit sowohl auf Ulys als auch auf das Gesicht seiner Mutter gezaubert hatte. Auf einmal fühlte sie sich bei weitem nicht mehr so ausgelaugt und überfordert wie noch ein paar Minuten zuvor. Zuversichtlich und mit gestärktem Selbstvertrauen wandte sie sich wieder den anderen Patienten zu. O'Neill unterzog indessen die Lichtung, auf der ihre Rettungskapsel gelandet war, einer genaueren Untersuchung. Es war schwierig für ihn, seine widersprüchlichen Gefühle und Gedanken auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Auf jeden
Fall verspürte er Erregung und Spannung, und natürlich auch Erleichterung und Freude darüber, daß alle den Absturz überlebt hatten. Gleichzeitig machte der Commander sich Sorgen über das Schicksal der anderen Rettungskapseln, den Zustand ihrer Passagiere und den Verbleib der Frachtkapseln. Hatten sie die Explosion des Schiffes überstanden? Waren sie rechtzeitig abgesprengt worden? Alles wirbelte in seinem Kopf durcheinander, vermischte sich, und übrig blieb ein Gefühl von ... höchster Erregtheit, Spannung und Begeisterung. Denn letztlich war er in eine Lage geraten, von der er immer geträumt, die er jahrelang heimlich herbeigesehnt hatte: Er hatte die Chance, noch einmal ganz von vorn zu beginnen, ein vollkommen neues Leben zu führen in einer unberührten, rauhen Wildnis, die er bezwingen und seinen eigenen Gesetzen unterwerfen konnte. Die Menschen hatten die Tiefen der Meere erforscht und waren zu den Sternen aufgebrochen; sie hatten den Everest und den Kilimandscharo erstiegen und jeden Planeten des Solarsystems betreten; aber hier ... hier war alles neu, wild und völlig unerforscht. Dieses Land war weit, unberührt und ungebändigt. Und er war der Mann, der diese Wildnis zähmen würde. Der Commander schlenderte zu Yale hinüber und versuchte, einen möglichst beiläufigen Eindruck zu erwecken. Glücklicherweise hatten alle genug mit ihren eigenen Angelegenheiten zu tun, so daß sie ihm keine besondere Aufmerksamkeit schenkten. Er beobachtete die vom Wind bewegten Bäume, um sicherzugehen, daß sich in den schwankenden Wipfeln kein unsichtbarer Feind verbarg. Sicher, in den Berichten über G889 stand, daß es nicht die geringsten Anzeichen für irgendeine Form von Zivilisation auf dem Planeten gab. Aber O'Neill ließ sich dadurch nicht in falscher Sicherheit wiegen. Es gab genug unzivilisierte Lebewesen hier draußen im Universum, und er konnte gut darauf verzichten, daß sie ihn unvorbereitet angriffen.
»Hören Sie, mein Freund.« Er griff nach Yales Arm, um den Cyborg auf sich aufmerksam zu machen, und ließ ohne große Umstände eine der Waffen, die er vom Schiff mitgenommen hatte, in dessen große Hand gleiten. »Tun Sie mir den Gefallen und achten Sie auf alles, was sich bewegt. In Ordnung?« Yale wog prüfend die Waffe in seiner Hand und hantierte damit auf eine Art und Weise herum, die einen Profi vermuten ließ. Das Gefühl der Erleichterung, das O'Neill überkam, als er sah; wie der Cyborg mit der Waffe umging, war jedoch nur von kurzer Dauer; denn Yale gab sie ihm mit einem bedauernden Lächeln zurück. »Ich ... äh ... kann das leider nicht machen.« Die Hand des Commanders schloß sich um die kleine Waffe und ließ sie in der Handinnenfläche verschwinden. Dann blickte er den Lehrer mit gerunzelter Stirn an. »In das Yale-Programm ist eine Aversion gegen Waffen eingebaut, richtig?« fragte er mit kaum verhohlener Mißbilligung. Yale nickte, die Augen noch immer auf die Waffe in O'Neills Hand gerichtet; sein Gesichtsausdruck war für den Berufssoldaten wie ein aufgeschlagenes Buch. Der Cyborg hatte etwas wiedererkannt, etwas aus der Vergangenheit, das er irgendwann einmal besessen und später verloren haben mußte. Aber ob Yales Erinnerung an Waffen eine gute oder eine schlechte war, konnte O'Neill nicht sagen. Allein die Tatsache, daß sich hinter Yales stoisch ruhiger Fassade mehr ereignete, als der Cyborg nach außen dringen ließ, war schon verblüffend. Bisher hatte O'Neill ihn immer als etwas sehr Altes, Archaisches gesehen, als ein Objekt, das Devon seit ihrer Kindheit begleitete; doch in diesen Sekunden genügte ein Blick in das Gesicht des alten Mannes, um O'Neill zu der Feststellung gelangen zu lassen, daß man nie nur nach dem äußeren Schein urteilen sollte. »Okay«, sagte O'Neill und nickte. Es hatte keinen Zweck, eine Diskussion zu beginnen, Yale konnte einfach nicht gegen seine Programmierung handeln. Also ging der Commander zu Baines, der eben aus einem Gebüsch hervorkroch, wo er sich
offensichtlich erleichtert hatte. O'Neill wußte, daß Baines einen militärischen Hintergrund hatte und über hervorragende Kenntnisse in der Waffentechnik verfügte; er konnte mit einer Waffe umgehen und würde den Job ohne Zögern übernehmen, da war sich O'Neill ganz sicher. Und sei es auch nur, um sich mit ihm gut zu stellen. O'Neill zog den jungen Techniker zur Seite und redete mit ihm. In Gedanken war er allerdings noch immer mit Yale beschäftigt, der sich als neue und unbekannte Größe herausgestellt hatte, als Joker in diesem Spiel. Danziger versuchte True eine Wolldecke umzulegen, um dem Mädchen nach dem furchtbaren Absturz ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit zu vermitteln; doch seine Tochter wollte einfach nicht stillhalten. Tatsächlich gelang es ihr, mit einer Hand aus der Decke zu schlüpfen und den Boden zu berühren. Sie nahm etwas Erde in die Hand, starrte sie verwundert an und beobachtete fasziniert, wie sie durch ihre Finger rieselte und dabei eine braune Spur zurückließ. »Ist das Dreck, Dad?« Sie hob kurz den Kopf, registrierte, daß er nickte, und richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf den Erdboden. Zunächst strich sie mit den Fingerspitzen behutsam darüber, dann probierte sie aus, wie sich die Erde an den verschiedenen Partien ihrer Hand anfühlte. Sie formte kleine Kugeln, nahm kleine Steine auf, roch daran und fuhr sich damit vorsichtig übers Gesicht. Danziger beobachtete gerührt, mit welcher Begeisterung seine Tochter diese für sie vollkommen neue Welt erkundete. True war wie verändert, und er ließ sie gewähren, selbst dann noch, als schließlich die Decke vollends herabglitt und auf den Boden rutschte. Manchmal wirkte sie einfach schon verdammt erwachsen für ihr Alter, doch in Momenten wie diesem war sie plötzlich wieder ein kleines Kind, das sich für jede neue Entdeckung aufrichtig begeistern kann. Für einen kurzen, flüchtigen Augenblick war Danziger fast froh darüber, daß sie Schiffbruch erlitten hatten; denn für ein Kind wie True mußte es phantastisch sein, an einem Ort wie diesem aufzuwachsen.
»Daddy, sind das Steine?« Unwillkürlich mußte er lächeln. Er hob die Decke auf und legte sie ihr wieder über die Schultern. Und die nächsten paar Minuten verbrachte er ausschließlich damit, seine Tochter in den Armen zu halten und sich über sie zu freuen ... sich darüber zu freuen, daß sie alle noch am Leben waren und True ihm diese Fragen stellen konnte. Julias wachsender Optimismus, sie könnte die Situation unter Kontrolle bringen, wurde zusätzlich verstärkt durch die erfolgreiche Behandlung der kleinen Schramme und Abschürfungen, die die meisten Insassen der Rettungskapsel erlitten hatten. Doch als sie zu Alonzo kam, wurde ihre Zuversicht zerschmettert wie Glas und brach in tausend Stücke. Sie hatte sich bereits gefragt, wo er steckte, und die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie sie ihm möglichst unverfänglich dafür danken konnte, daß er ihr das Leben gerettet hatte; er sollte sich auf gar keinen Fall in seiner Eroberungslust ermuntert fühlen. Außerdem war sie noch immer ziemlich sauer, weil er sie davon abgehalten hatte, ihre Ausrüstung mitzunehmen. Trotzdem, es war noch immer besser, jetzt ohne diese Dinge auskommen zu müssen, als jenes Schicksal zu erleiden, das sie auf dem Schiff zweifellos ereilt hätte. Wenn sie doch nur ein paar mehr Sachen hätte mitnehmen können ... Sie fand Alonzo schließlich bei der Kapsel. Er saß in der offenen Luke und war offensichtlich noch völlig benommen von der unsanften Landung. Seine Beine hingen merkwürdig verdreht in der Luft, und von seiner Stirn zog sich ein dünner Blutfaden über das Gesicht. »Ich hab' versucht, sie zu halten«, murmelte er und starrte auf seine Hände. »Es hätte nicht funktioniert, wenn ich versucht hätte, das ganze Schiff hin und her zu schütteln, um die Frachtkapsel loszuwerden. Es hätte nicht funktioniert.« Er schüttelte den Kopf. »Ich konnte doch nicht...«
Sein immer wiederkehrender Singsang bereitete Julia nicht halb soviel Sorgen wie seine Beine. Das flaue Gefühl in ihrem Magen sagte ihr, daß irgend etwas mit ihnen nicht stimmte. »Halten Sie einen Moment still!« bat sie den Piloten und führte den Diagnosehandschuh - eine der wenigen nützlichen Sachen, die sie im Chaos der überstürzten Flucht hatte greifen können behutsam über seine Beine. Als sie die Ergebnisse auf dem Display las, biß sie sich erschrocken auf die Lippen. Irritiert versuchte Alonzo, sie wegzuschieben. Seine Pupillen waren vom Schock geweitet... oder von den Schmerzen? Davon war auszugehen, bei der Diagnose! »Lassen Sie mich in Ruhe, ich hab' mir nur die Knöchel verstaucht, mehr nicht. Bitte, geben Sie mir eine Minute Zeit, und ich bin wieder völlig in Ordnung!« Er massierte sich die Schläfen und verschmierte dabei das Blut auf seiner Stirn. »Ich gebe Ihnen sogar vierundzwanzig Stunden«, gab Julia unglücklich zurück. »Sie haben mehrere Brüche im linken Schienbein und im rechten Knie. Bis morgen abend werden Sie auf keinen Fall gehen können.« Er griff nach ihrer Hand und drehte sie in der Absicht, selbst einen Blick auf die Ergebnisse auf dem Display werfen zu können, so heftig herum, daß er ihr weh tat. Auf seinem Gesicht machten sich Unglauben und Bestürzung breit, als Julia ihre Hand wegzog und sich daran machte, seine beiden Hosenbeine der Länge nach aufzuschneiden. Dabei kamen braungebrannte, muskulöse Beine zum Vorschein, die mit Blutergüssen nur so übersät und außerdem merkwürdig verdreht waren. Auf einmal fluchte Alonzo laut los - auf Spanisch. Julia, die in den romanischen Sprachen ganz gut bewandert war, errötete und versuchte, seine Flüche einfach zu ignorieren. »Was ist los?« Sie runzelte fragend die Stirn. Doch dann ahnte sie plötzlich, warum der Pilot dermaßen außer sich war. Sie riß erschrocken die Augen auf. »Sagen sie bloß, Sie haben sich
keine vorbeugende Spritze zur beschleunigten Knochenregeneration geben lassen?!« Alonzo schüttelte den Kopf. In seinem Gesicht spiegelte sich Panik. »Die haben nur die Kolonisten bekommen«, jammerte er verzweifelt. »Ich hatte doch nicht vor, auch nur einen Fuß auf diesen Planeten zu setzen.« Die Ärztin starrte ihn sprachlos an. Sie stand vor einer Situation, die sie nun wirklich nicht hatte vorhersehen können: »Traditionelle Medizin« stand nämlich schon lange nicht mehr auf den Lehrplänen der Universitäten. Was sollte sie also tun? Danziger war froh, daß er sich nützlich machen und den anderen Passagieren helfen konnte. Doch als er später nach True suchte und lediglich die Decke fand, die in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden lag, wurde er unruhig. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und reckte seinen Hals in alle Himmelsrichtungen. Endlich entdeckte er seine Tochter hinter der letzten Passagiergruppe. Sie war gerade drauf und dran, den Abhang eines Hügels hinaufzuklettern, der sich ein paar Meter von ihrem provisorischen Lager entfernt sanft erhob. »True!« schrie er. »Komm sofort hierher zurück!« Entweder hörte sie ihn wirklich nicht, oder aber - und das hielt er für wahrscheinlicher - sie wollte ihn nicht hören, denn sie stapfte den Abhang unbeirrt weiter hinauf. Danziger kannte seine Tochter gut genug, um an ihrem entschlossenen Gang zu erkennen, daß sie irgendeiner Sache auf der Spur war. Sie mußte etwas entdeckt haben, und ihrer Neugier hatte True noch nie widerstehen können. Danziger schüttelte ärgerlich den Kopf und lief ihr hinterher. Es fiel ihm nicht sehr schwer, True einzuholen, da sie inzwischen auf der Kuppe des Hügels angekommen und dort stehengeblieben war. Als ihn nur noch wenige Meter von ihr trennten, bemerkte er, daß sich ihre Schultern anspannten und sie wie gebannt auf irgend etwas starrte. Alarmiert rannte er zu ihr, um
herauszufinden, was True derart in Aufregung versetzte. Aber da war überhaupt nichts zu sehen, zumindest nichts, was eine Gefahr darstellte. Was True zu faszinieren schien, war anscheinend allein die Landschaft, die vor ihnen lag. Auch Danziger hatte so etwas noch nie im Leben zu Gesicht bekommen. Völlig anders als in den unzähligen Videos oder in seinen Träumen, breitete sie sich vor ihnen aus, so weit das Auge reichte, bis zum Horizont und weit darüber hinaus. Er fand keine Worte, um diesen ersten Eindruck zu beschreiben. Denn Worte, die die Unberührtheit und Weite dieser Landschaft charakterisieren konnten, existierten kaum noch in ihrer Sprache, seit die Menschen die alte Erde so weit zerstört hatten, daß sie derartige Idyllen überhaupt nicht mehr zu bieten hatte ... Es war eine unvorstellbar weite, aufregende Landschaft, die sich jeder Beschreibung entzog und Danziger den Atem nahm. Sein Herz schlug schon in heftiger Vorfreude darauf, was sich womöglich hinter dem Horizont auftun würde. Nicht ein einziges Gebäude unterbrach das grüne Dach der Bäume, nicht eine einzige Brücke überspannte den in einiger Entfernung dahinfließenden Fluß; alles, was die lichte Schönheit der Ebene trübte, waren die Schatten der Wolken, die in einiger Höhe über den strahlend blauen Himmel zogen. Zu seiner Rechten - es Osten zu nennen, erschien Danziger naheliegend,, obwohl er noch nicht die geringste Ahnung über die Himmelsrichtungen auf diesem Planeten hatte - gingen gerade zwei Monde auf. Danziger hatte nicht bemerkt, daß ihm jemand gefolgt war, bis er ganz in seiner Nähe einen Ausruf der Bewunderung hörte. Er drehte sich um und erkannte Devon, auf deren Gesicht das gleiche ungläubige und verwunderte Staunen lag wie auf seinem. Um seinen Mund spielte ein Lächeln, er trat einen Schritt nach vorn, um neben seiner Tochter zu stehen. Dann legte er einen Arm um ihre Schultern und drückte sie fest an sich. »Alles in Ordnung, Partner?« fragte er.
Als ob sie vergessen hatte, wie man blinzelte, starrte True ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schlang einen Arm um seine Taille. »Ist das ... ist das alles Schmutz?« John Danziger lachte, und der Klang seiner Stimme hallte weit über das Land, das noch keines Menschen Fuß betreten hatte.
9 Am Horizont gingen zwei riesige Monde auf und zogen unglaublich langsam und majestätisch über den Himmel; so ähnlich mußte es vor vielen Jahrhunderten gewesen sein, wenn die Galeonen die Weltmeere berühren. Verglichen mit diesem Anblick war der kleine Satellit, der das klägliche Etwas umkreiste, das von der alten Erde noch übrig war, ein trauriges Nichts. Morgan Martin hätte allerdings alles dafür gegeben, wenn er in diesem Moment von der sicheren Raumstation aus den Mond der Erde hätte betrachten können. Statt dessen aber befand er sich in einer fremden Welt, ein Schiffbrüchiger, einsam und verlassen, der unendlichen Weite dieses nächtlichen Himmels mit seinen unbekannten Sternenkonstellationen hilflos ausgeliefert. Schließlich riß er seinen Blick von dem Schauspiel am Himmel los, das ihm solche Angst bereitete, und betrachtete unglücklich und mißtrauisch das kleine Feuer, das seine Frau angezündet hatte. »Ich ... ich glaube nicht, daß das eine besonders gute Idee war, Bess.« Bess, die neben ihm vor den Überresten der Rettungskapsel hockte, schüttelte den Kopf. Nach der unsanften Landung sah sie genauso schmutzig und zerkratzt aus wie ihr Mann. »Ich hab das Gefühl, daß wir jeden Moment verhaftet werden«, sagte sie und lächelte schnell, als sie Morgans entsetzten Blick bemerkte. »Seit meiner Kindheit war es auf der Erde verboten, Holz zu verbrennen«, erklärte sie. »Alles andere haben wir allerdings verheizt.« Gedankenversunken zupfte sie an dem zerrissenen Ärmel ihrer Jacke.
In der Hitze des Feuers knisterte ein Ast und sprühte glühendrote Funken. Erschrocken wich Morgan zurück. »Was ist das? Es gerät außer Kontrolle!« Im Licht der Flammen sah Morgan, daß Bess die Unverschämtheit besaß, über seine Furcht zu lachen, während sie sich vorbeugte, um mit einem langen Stock das Feuer zu schüren. Normalerweise hatte er nur Geringschätzung für seine Frau übrig, zumal dann, wenn die Sprache auf ihre Herkunft kam. In den Augen derer, die - wie er bereits auf den Raumstationen aufgewachsen waren, galten Leute, die von der Erde stammten, als äußerst bemitleidenswerte Wesen. Aber in Situationen wie dieser fragte sich Morgan, ob diejenigen, die auf der Erde groß geworden waren, nicht doch mehr zu leisten vermochten, als man ihnen auf den ersten Blick zutraute. Er hätte zum Beispiel nie vermutet, daß Bess wußte, wie man ein Feuer machte ... »Sei unbesorgt, Liebling«, versicherte sie und legte ihren improvisierten Schürhaken beiseite, um Morgan beruhigend das Bein zu tätscheln. »Ich paß schon auf. Und falls es noch andere Überlebende gibt«, fügte sie ermutigend hinzu, »finden sie uns vielleicht, wenn sie das Feuer sehen.« Morgan nickte niedergeschlagen. »Falls.« Er warf einen ängstlichen Blick über die Schulter in die immer finsterer werdende Nacht. Dunkelheit hatte er noch nie gemocht. Verdammt, er hatte eigentlich bis zu diesem Tag überhaupt nicht gewußt, was das war, echte Dunkelheit. Und die Nacht hier war wirklich rabenschwarz. Er biß die Zähne zusammen und wünschte, er hätte eine Batterie Halogenstrahler, um die Dunkelheit zu erhellen und der Nacht ihren Schrecken zu nehmen. »Ich fürchte, wir sind die einzigen, die es aus dem Schiff raus geschafft haben, Bess. Ich ... ich ...« Er holte tief Luft und schüttelte reumütig den Kopf. »Ich fühle mich wirklich mies, weil wir die anderen einfach ihrem Schicksal überlassen haben ...«
Bess rückte näher an ihn heran und legte eine Hand auf seinen Arm. »Hör auf, dir Vorwürfe zu machen, Morgan«, befahl sie sanft, aber entschieden. »Du hast mir doch erklärt, wie es war, du konntest nichts dafür, unsere Rettungskapsel hat sich losgerissen.« Sie drückte seinen Arm und lehnte sich an seine Schulter. »Weißt du, es ist ein Glück, daß es dir noch gelungen ist, die Luke rechtzeitig zu schließen. Eigentlich bist du ein Held.« Ihre Worte taten ihm gut, und wie schon so oft, badete er sich förmlich in dem beruhigenden Klang ihrer Stimme. Aber Bess' letzte Bemerkung bohrte sich wie ein Stachel in sein Inneres, denn er wußte, daß er seine Frau belogen hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er noch einmal den entsetzten Ausdruck auf Danzigers Gesicht, als die Rettungskapsel sich von dem Raumschiff löste. Nervös löste er sich aus Bess' Umarmung. Plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz im Nacken und schlug instinktiv mit der flachen Hand zu. Als er anschließend seine Finger im Schein des Feuers untersuchte, sah er, daß Blut an ihnen klebte. »Verdammt! Was war das?« »Nur ein Insekt, ein Floh oder eine Mücke«, gab Bess seelenruhig zurück und starrte weiter geistesabwesend in das Feuer. Dann lächelte sie, als hätte sie gerade in den tanzenden Bewegungen der Flammen irgend etwas besonders Schönes entdeckt. »Mich beißen sie schon seit Sonnenuntergang. Ist nicht weiter schlimm, Schatz.« »Nicht weiter schlimm?!« Morgan sprang den Tränen nahe auf. »Soll das heißen, daß es hier Ungeziefer gibt? Das halte ich nicht aus, Bess! Was sollen wir bloß machen?« Bess nahm seine Hand und brachte ihn dazu, sich wieder an das wärmende Feuer zu setzen. Dann zog sie ihren Mann zu sich heran und legte seinen Kopf in ihren Schoß. »Ruhig, sei ganz ruhig. Es wird alles gut«, flüsterte sie und wiegte ihn sanft hin
und her. »Warum machst du nicht einfach die Augen zu und schläfst ein wenig?« Morgan klammerte sich an sie und starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an. »Ich kann hier draußen nicht schlafen!« jammerte er. »Es ist alles zu ... zu groß!« Er versuchte, sich aus ihrer Umarmung zu befreien. »Komm schon, hilf mir, Bess. Wir müssen versuchen, den Transponder in Ordnung zu bringen und Kontakt mit den anderen aufzunehmen.« »Nein«, gab sie zurück und zog ihn wieder an sich. »Das machen wir morgen, wenn es hell ist. Du wirst sehen, wenn erst mal die Sonne wieder scheint, werden wir uns besser fühlen.« Allmählich zeigten ihre Worte den erwünschten Effekt. Morgan entspannte sich, sein Körper gab sich dem gleichmäßigen, sanften Schaukeln hin, der Klang ihrer Stimme beruhigte ihn. Langsam fielen seine Augen zu. »Wir haben unser Feuer«, murmelte Bess und lächelte versonnen. »Es wird uns wärmen ... und die Tiere abschrecken.« Entsetzt riß Morgan die Augen wieder auf. »Tiere?!« kreischte er. »Was für Tiere?« True saß auf dem Boden neben ihrem Vater, der lang ausgestreckt im Gras lag und schlief. Neugierig ließ sie ihren Blick über das in der Dunkelheit richtig abenteuerlich anmutende Camp schweifen, das sie alle gemeinsam notdürftig aus Decken und Planen errichtet hatten, sobald die Verletzten versorgt worden waren. Ein paar der Passagiere und Crewmitglieder schliefen bereits tief und fest, nahezu bewußtlos vor Erschöpfung und Erleichterung. Vielleicht gelang es ihnen ja, die Katastrophe der vergangenen Stunden aus ihren Träumen zu verbannen; vielleicht träumten sie sogar davon, daß alles nach Plan verlaufen war und sie sicher gelandet waren? Andere dagegen saßen um das kleine Feuer herum, das sie angezündet hatten, und fürchteten sich davor, in dieser fremden Welt
einzuschlafen. Wer konnte ihnen garantieren, daß sie auch wieder aufwachen würden? True hatte keine Angst vor dem Einschlafen, sie hatte nur ihre Zweifel, ob ihr das überhaupt gelingen würde. Wie konnte man schlafen, wenn es da draußen, gleich außerhalb ihres Camps, so vieles zu entdecken, zu sehen und zu hören gab? Plötzlich wurde die Dunkelheit für einen kurzen Moment erleuchtet, und True sah am Nachthimmel ein paar Blitze aufzucken. Angestrengt lauschend wartete sie auf den Donner, aber alles blieb still. Ihr Vater hatte einmal erzählt, daß man feststellen konnte, wie weit ein Gewitter entfernt war, wenn man die Sekunden zwischen Blitz und Donner zählte. Aber daran, wie das genau funktionierte, konnte sie sich in diesem Moment nicht erinnern, zu viel anderes ging ihr durch den Kopf. Außerdem bekam sie allmählich Hunger. Also tastete sie zwischen den Decken, auf denen sie saß, nach dem Weizenriegel, den ihr irgend jemand vor einer Weile zugeworfen hatte. Ein paar Meter entfernt unterhielten sich Devon, Yale und Commander O'Neill, und zwar so laut, daß True sie problemlos belauschen konnte. Ein weiteres Mal zuckten Blitze durch die Nacht, und die drei sahen zum Himmel auf. Dann nahmen sie ihr Gespräch wieder auf, wobei O'Neill gleichzeitig mit einem Transponder in einer langsamen Kreisbewegung alle vier Himmelsrichtungen absuchte. »Die Signale stammen eindeutig von einer unserer Frachtkapseln«, versicherte er. »Ich fürchte, die anderen fünfzehn Kapseln sind über den ganzen Planeten verstreut.« Yale sah dem Commander über die Schulter und warf einen Blick auf das Display des Transponders. »Kapsel zwölf. Laut Inventarliste ist sie mit Fahrzeugen und einem VTO-Flugzeug bestückt, wahrscheinlich auch Kleidung, vielleicht Waffen ...« Devon unterbrach ihn. »Was meint ihr, wie lange die Nacht dauern wird? Zehn Stunden etwa?« Sie sah zum Himmel hinauf.
O'Neill nickte. »Beim ersten Tageslicht gehen wir los.« Devon nickte abwesend und starrte weiter in die Dunkelheit. Nach einer Weile legte Yale eine Hand auf ihren Arm. »Devon, ist alles in Ordnung?« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie sich gewaltsam in die Wirklichkeit zurückholen müßte. »Ja, alles in Ordnung. Aber das alles ist so unfaßbar ... Wenn so die Erde vor ein paar Jahrhunderten ausgesehen hat...« »Wir haben die Chance für einen zweiten Versuch bekommen«, gab der Cyborg zurück. »Du hast recht, es ist wirklich kaum faßbar, und dennoch, wir sind hier.« O'Neill sah sie an und grinste. »Lassen Sie uns nicht zu sentimental werden, okay?« neckte er, zufrieden, daß Yale und Devon sein Lächeln erwiderten. Dann versetzte er Yale einen kameradschaftlichen Schlag auf die Schulter, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. True, die das alles beobachtete, konnte sich eigentlich kaum vorstellen, daß dem Cyborg diese Vertraulichkeit gefiel. »Ruhen Sie sich aus, wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.« O'Neill nickte Yale und Devon abschließend noch einmal kurz zu und wandte sich zum Gehen. True folgte den breiten Schultern des Commanders mit den Augen, bis ihr Blick schließlich auf Uly haftenblieb, der ein paar Meter entfernt auf dem Boden saß. Der Junge hatte eine Decke um seine Hüften geschlungen und sah in seinem silbrigen, in der Dunkelheit schillernden Immuno-Anzug schlimmer aus als die Monster aus Trues Alpträumen. In diesem Moment stieß sie endlich auf den Weizenriegel. Sie machte es sich auf ihrer Decke bequem, indem sie sich im Schneidersitz so hinsetzte, daß sie Uly und den Commander im Auge behielt. Dann riß sie mit den Zähnen die Plastikverpackung des Riegels auf, brach ein großes Stück ab und stopfte es sich in den Mund. Sie hatte so einen Hunger, daß ihr sogar dieses langweilige Zeug wie eine Delikatesse vorkam.
»Heb' dir lieber ein bißchen für morgen auf, Mädchen«, murmelte ihr Vater schlaftrunken mit geschlossenen Augen und zog seine Decke ein wenig fester um sich. True hätte sich denken können, daß er noch nicht fest schlief. »Mach ich«, antwortete sie kauend und bemerkte in diesem Moment, daß Uly sie beobachtete. Sie kam sich vor wie einer von diesen Flüchtlingen von der Erde, die sich gierig den Mund mit Essen vollstopfen. Sie wurde rot vor Scham und starrte trotzig zurück, als wollte sie ihn mit ihrem Blick durchbohren. Der Junge nahm die Herausforderung an und versuchte, ihrem Blick so lange wie möglich standzuhalten. Doch True hatte den längeren Atem, er senkte den Blick und begann, umständlich an seiner Decke herumzunesteln, um seine Niederlage zu überspielen. Plötzlich fiel ein Weizenriegel in seinen Schoß, so daß er gezwungen war, aufzusehen. Neben ihm ließ sich O'Neill schwer und behäbig im Gras nieder. True beobachtete, wie Uly dem Commander den Riegel mit spitzen Fingern zurückgab, als ob er sich davor ekelte, ihn auch nur anzufassen. Doch O'Neill warf ihn zurück, und er landete zwischen den Beinen des Jungen. »Was anderes gibt's nicht, Uly«, sagte er streng, aber nicht unfreundlich. »Iß.« Dieses letzte Wort klang fast wie ein Befehl, und True war gespannt, wie Uly darauf reagieren würde. Schließlich war der Commander nicht sein Vater oder so was. Aber dieser Schwächling gab nach, nahm den Riegel und riß widerwillig die Verpackung auf, bis ein Ende des fleischfarbenen Rechtecks sichtbar wurde. Er roch daran, und es war nicht zu übersehen, daß er Ekel empfand, als er sich daran machte, ein Stück abzubeißen. Doch in diesem Moment rettete ihn die Stimme O'Neills. »Kommt her, ich werde euch Kindern mal was zeigen.« Errötend stellte True fest, daß der Commander sie ansah und zu sich herüber winkte. Schon wieder hatte man sie dabei
ertappt, daß sie jemanden anstarrte! Was konnte O'Neill schon Spannendes zu zeigen haben? Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie seine Einladung nicht einfach ignorieren sollte. Dann warf sie einen Blick auf ihren Vater, der jetzt wirklich fest zu schlafen schien. Also stand sie auf und ging langsam auf den Commander und den Jungen zu. Sie bewegte sich dabei so vorsichtig, als ob sie Angst hätte, O'Neill könnte sie verspeisen statt des Weizenriegels, in den er gerade mit Genuß biß. Zu ihrer eigenen Verwunderung fühlte sie sich nicht einmal in der Lage, Ulys aufsässigem Blick zu begegnen. O'Neill sah von einem Kind zum anderen, bevor er schließlich aus seiner Hosentasche eine silberne Münze hervorholte. »Wißt ihr, was das ist?« fragte er und legte sich die Münze in die Handfläche, damit sie sie genauer betrachten konnten. True hockte sich neben ihn und schüttelte den Kopf. Uly, der so tat, als ob sie gar nicht existierte, verneinte ebenfalls. . »Das ist mein Glücksbringer«, fuhr der Commander stolz fort, während er die Münze zwischen Daumen und Zeigefinger rieb. »Ein Relikt aus alten Zeiten.« »Was ist das?« fragte Uly neugierig und rückte ein bißchen näher heran, um besser sehen zu können. »Eine Münze, Geld. Die Menschen auf der Erde haben diese Dinger gegen Waren eingetauscht, früher, als es noch keine Käufer-Codes gab.« Er schnippte die Münze in die Luft und fing sie wieder auf. Dann betrachtete er sie mit einem regelrecht verliebten Blick. »Auf der einen Seite ein Büffelkopf, auf der anderen Seite ein Indianer. Eine Huldigung an eine Zeit, in der die Menschen noch auf der Suche nach der Wildnis waren, nach ihren unerforschten Weiten.« »Was ... was ist aus der Wildnis geworden?« flüsterte True ehrfurchtsvoll und spürte, daß sie Angst vor der Antwort auf diese Frage hatte.
O'Neill schüttelte den Kopf. »Die Wildnis ist die gleiche geblieben, kleines Mädchen. Es waren die Menschen, die sich verändert haben. Sie sind faul geworden, ängstlich. So wie unsere Regierungen auf den Raumstationen, die beschlossen haben, daß es einfacher ist, auf seinem Hintern sitzen zu bleiben und jeden aufzuhalten, der herausfinden will, ob die Wildnis noch existiert.« Er streckte noch einmal seine offene Handfläche aus, in der der Nickel glänzte. »Na los, ihr dürft sie anfassen. Ist schließlich ein Teil unserer Geschichte.« Eins nach dem anderen strichen die Kinder vorsichtig über die Münze, sorgfältig darauf bedacht, sich dabei nicht aus Versehen zu berühren. Uly setzte gerade zu einer Frage an, als vom anderen Ende des Camps her eine Stimme nach O'Neill rief. »Commander?« meldete sich Baines. »Wollen Sie die Marschroute für morgen festlegen?« O'Neill winkte ihm zu. »Ich komme gleich.« Dann stand er auf und machte Anstalten, die Münze wieder in seine Hosentasche zu stecken. Plötzlich aber drehte er sich noch einmal um und warf sie Uly zu. »Behalt du sie eine Weile«, schlug er vor. »Bringt dir Glück auf unserem neuen Planeten.« Und damit ging er davon. Nun waren True und Uly also allein. Sicher, die Erwachsenen waren ganz in ihrer Nähe, aber in Trues Augen war sie jetzt allein mit dieser Göre. Sie war eifersüchtig, weil O'Neill ihm die Münze gegeben hatte, aber wesentlich stärker war ein ganz anderes Gefühl. Beiläufig zeigte sie auf Ulys Abendessen. »Du magst Weizenriegel wohl nicht besonders, was?« Sie verzog das Gesicht und nickte verständnisvoll, während sie sich vertraulich zu ihm vorbeugte. »Ich hab mal von 'nem Jungen gehört, der daran erstickt ist.« »Wirklich?« fragte Uly fasziniert.
Sie nickte. »Mhm. Der wurde ganz blau im Gesicht und so ... Wenn du den Riegel also nicht essen willst...« Ihr wurde sofort klar, daß sie zu dick aufgetragen hatte. Uly war zwar noch ein kleiner Junge, aber so leicht ließ er sich nicht an der Nase herumführen. Enttäuscht rückte er ein Stück von ihr weg und sah sie mißtrauisch an. Seinem Gesicht nach zu urteilen, kaufte er dem Mädchen das plötzliche Interesse an seiner Gesundheit nicht ab. »Hab schon verstanden«, sagte er verächtlich. »Du willst was, also hast du beschlossen, ausnahmsweise mal nett zu dem Blödian zu sein.« »Du spinnst ja!« gab sie zurück. Sie war ärgerlich, weil er sie durchschaut hatte, und noch ärgerlicher, weil ihr plötzlich klar wurde, daß sie genau das gedacht hatte. Aber es war doch nicht ihre Schuld, daß er so bescheuert aussah und das Syndrom hatte! Uly schien genau zu wissen, wie sie über ihn dachte, und es machte ihn wütend. Er hob den Weizenriegel auf und hielt ihn ihr mit ausgestreckter Hand hin. »Willst du?« bot er freundlich an. Sie beäugte ihn argwöhnisch. Ihr siebter Sinn sagte ihr, daß das eine Falle war, aber Uly sah sie so unschuldig an, daß True wider besseren Wissens beschloß, sein Angebot anzunehmen, und nach dem Riegel griff. Sie hatte ihn fast schon in der Hand, als Uly ihn über die Schulter nach hinten schleuderte, so daß er irgendwo zwischen ein paar Felsen verschwand. »Bitte, bedien dich«, höhnte er mit einem triumphierenden Lächeln. Dann wandte er sich ab, zog seine Decke enger um sich und legte sich hin. True sprang auf die Füße und sah auf ihn hinunter. Am liebsten hätte sie ihm einen ordentlichen Fußtritt versetzt und sich dann aus dem Staub gemacht, aber sie tat es nicht. Schwer atmend betrachtete sie ihn eine Weile und wußte nicht, was sie fühlen oder denken sollte. Sie war wütend auf diesen kleinen
Mistkerl, dem es gelungen war, sie reinzulegen; doch zugleich hatte sie auch das Gefühl, daß sie sich vielleicht bei ihm entschuldigen müßte. Aber dazu war sie viel zu stolz. Also stolzierte sie schließlich, ohne ein Wort zu sagen, davon. Nein, nörgelte eine Stimme in ihr, es ist nicht deine Schuld, daß er bescheuert aussieht und das Syndrom hat. Aber seine ist es auch nicht. Was sie zu diesem Zwerg gesagt und wie sie versucht hatte, ihn auszutricksen, hinterließ ein ganz mieses Gefühl in ihr. Das hielt allerdings nur so lange an, bis ihr wieder der Weizenriegel einfiel. Ihr Magen knurrte und verlangte nach Nahrung. Niemand würde den Riegel jetzt noch wollen, nachdem er irgendwo in der Landschaft herumgelegen hatte. Jeder, der ihn fand, würde sicherlich glauben, daß er schlecht war oder so was ... Sie sah sich um. Fast alle hatten sich inzwischen hingelegt. Aber schliefen sie auch? Andererseits sah es nicht so aus, als ob irgend jemand es bemerken würde, wenn sie wegschlich ... Vorsichtig, aber zugleich mit dem Ausdruck größter Selbstverständlichkeit durchquerte sie das Camp und verschwand hinter den Felsen, hinter denen der Weizenriegel liegen mußte. Es war nicht schwer, ihn zu finden, da die Verpackung hell im Licht der zwei Monde glitzerte. True sah sich noch einmal um, um sicherzugehen, daß sie wirklich nicht beobachtet wurde, dann biß sie ein Stück ab. Was für eine Wohltat! Selbst wenn das Zeugs furchtbar schmeckte. Sie lehnte sich gegen einen der größeren Felsen und kaute versonnen lächelnd vor sich hin. Ihre Gewissensbisse wegen Uly waren zumindest für den Augenblick wie verflogen, True gab sich ganz dem Genuß des Essens hin. Sie riß die Packung noch ein Stück weiter auf, um auch an die letzten Krümel zu kommen ... und erstarrte. Ihr Instinkt, so etwas wie ein siebter Sinn, auf den ihr Vater sie gedrillt hatte, sagte ihr, daß sie nicht allein war. Irgend etwas war ganz in ihrer
Nähe, und dieses Etwas war kein Mensch. Ohne den Kopf auch nur einen Millimeter zu bewegen, verrenkte sie sich fast die Augen, um zur Seite zu schielen ... Mit einem Schrei stieß sich True von dem Felsen ab und drehte sich im Sprung, um ihrem Gegner in die Augen sehen zu können. Von dem Felsen sprang ein kleines Wesen herunter und drehte sich genau wie True in der Luft, um direkt ihr gegenüber auf seinen Hinterpfoten zu landen. Dann richtete es sich zu seiner vollen Größe von etwa vierzig Zentimetern auf und starrte sie aus großen, weit hervortretenden Augen an. Was zum Teufel war das? Es sah ein bißchen wie eine Eidechse aus, doch hatte True noch nie gehört, daß die auf den Hinterbeinen Männchen machten. Das Wesen hatte einen runden, vorstehenden Bauch und kein Fell. Seine bräunlichgelbe Haut sah an einigen Stellen schuppig aus und an anderen eher wie der Panzer einer Schildkröte. Über den Rücken lief vom Kopf bis hinunter zum Schwanz ein zackiger Schuppenkranz. Der Schwanz selbst war dick und fleischig und schien dem Wesen dazu zu dienen, das Gleichgewicht zu halten. Seine Pfoten waren breit, fast schwimmflossenartig und bis auf vier kräftige Krallen an den Vorderpfoten beziehungsweise drei an den hinteren ohne erkennbare Glieder. Seine Augen waren groß und rund, die Pupillen schwarz und die Iris gelb mit einem violetten Ring; und es schloß sie genauso wie eine Eidechse, indem es auch die unteren Augenlider bewegte. Die Ohren standen seitlich vom Kopf ab, die Schnauze war kurz und gedrungen und kräuselte sich, wenn es schnüffelte, um Witterung aufzunehmen. True starrte dieses merkwürdige Wesen wie gebannt an. Schließlich traute sie sich, einen vorsichtigen Schritt auf das Tier zuzugehen. Das Wesen starrte zurück und machte dann ebenfalls einen kleinen Schritt auf sie zu. Behutsam kam True noch ein wenig näher, und das Wesen tat wieder das gleiche. True mußte unwillkürlich lächeln, und sie hätte schwören
können, daß das Wesen zurücklächelte. Allerdings wirkte sein Grinsen ein wenig furchterregend, auch wenn es wahrscheinlich nicht so gemeint war. Plötzlich fiel True ein, daß sie ja noch immer den Weizenriegel in der Hand hielt. Hatten Tiere nicht angeblich immer Hunger? Jede hastige Bewegung vermeidend, brach sie den Rest des Riegels in zwei Hälften und schob die eine dem Wesen zu. »Miez, Miez, Miez!« lockte sie mit einschmeichelnder Stimme. Das Tier, oder was auch immer es war, beäugte das Stück Weizenriegel zuerst argwöhnisch, kam dann aber näher, nahm es zwischen die Vorderpfoten, schnupperte daran und zerbrach es schließlich in zwei Hälften. Die eine schob es zurück zu True und gab dabei ein leises Maunzen von sich, das eindeutig eine Imitation ihres Lockrufs sein sollte. Und damit war es endgültig um True geschehen, alle Vorsicht wich einem Gefühl der Liebe für diese kleine Kreatur. »Ich weiß, daß du kein Kätzchen bist«, murmelte sie. »Nur was bist du dann?« Aber außer einem überraschten Blick aus zwei großen Augen bekam sie keine Antwort. Behutsam streckte sie eine Hand aus. Dad würde ihr nie verzeihen, wenn dieses Wesen ihr den Arm abriß, nur weil sie so unvorsichtig war. Aber sie konnte dem Impuls, es anzufassen, einfach nicht widerstehen. »Kann ich ...?« Langsam beugte sie sich zu dem Tier hinunter und streichelte sanft über seinen Kopf. Doch dann jagte das Wesen ihr einen gehörigen Schrecken ein, denn es sprang auf ihre Schulter - und warf sie dabei fast um - und vergrub sich sofort in ihrem Haar. True versuchte, das Wesen zu fassen zu bekommen, und fragte sich, was sie tun sollte: es lieber wieder auf die Erde setzen oder mit ihm schmusen? »True? Was machst du denn da?« Es war die Stimme ihres Vaters, die aus der Dunkelheit hinter den Felsen kam. Sie fuhr herum und hätte sich vor Schreck fast in die Hose gemacht. Das brachte sie auf eine exzellente Idee für eine
Ausrede. Sie gab sich alle erdenkliche Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, lächelte Danziger unschuldig an und hoffte, daß das Tierchen auf ihrer Schulter sich nicht bewegte. »Ich mußte mal«, erklärte sie. Danziger nickte. Dem Ausdruck auf seinem Gesicht nach zu urteilen, war er sich nicht ganz sicher, ob er ihr das glauben sollte. Aber zumindest für den Augenblick schien er bereit, diese Erklärung zu akzeptieren. »Na schön, aber bummel nicht zu lange rum, sondern komm lieber schlafen. Wir brechen morgen sehr früh auf.« »Ich komme sofort, sobald ich fertig bin«, versprach sie und lächelte ihn an, bis er endlich ging. Dann nahm sie das Tier vorsichtig von ihrer Schulter und verstaute es unter ihrer Jacke. Auf der Stelle rollte es sich zu einem Ball zusammen und schmiegte sich an sie, als ob sie seine Mutter wäre. Vielleicht war seine Mutter ja tot? War es deswegen so zutraulich? Erkannte es sie etwa als Ersatz an? Dieser Gedanke erfüllte True mit Stolz. Während sie der Glaubwürdigkeit halber noch eine Weile hinter den Felsen wartete, spürte sie das Tierchen, wie es sich warm an ihren Körper schmiegte. Dann ging sie ins Camp zurück. Über ihr glitzerte der Sternenhimmel, und True war zufrieden mit sich und der Welt.
10 Ein sanfter Stoß in die Rippen weckte True früher, als ihr lieb war. Sie knurrte mürrisch, drehte sich auf die andere Seite, schob einen Arm unter den Kopf und vergrub die Nase in der Ellenbeuge. Selbst in diesem halbwachen Zustand vergaß sie jedoch nicht das kleine Tier, das sich unter der Jacke an ihre Brust schmiegte. Entsprechend vorsichtig bewegte sie sich, um es nicht zu erdrücken. Unter der Decke legte sie den anderen Arm schützend über das kleine, warme Knäuel und spürte dessen Herzschlag auf ihrer Haut. Dieses Tier war besser als jede Katze. Oder gab es vielleicht Katzen, die einen umarmten? »Nun mach schon, True.« Ihrem Vater gelang es, zugleich geduldig und beharrlich zu klingen. »Steh endlich auf.« Er versetzte ihr einen weiteren Stoß, dieses Mal allerdings auf den Po und nicht halb so sanft wie zuvor. Mit einem verschlafenen Aufschrei fuhr True hoch, hielt dabei aber die Decke um die Schultern geschlungen, damit ihr Vater nicht die verräterische Beule in der Jacke bemerkte. Gleichzeitig hoffte sie, daß das Tier sich nicht allzusehr erschreckte und zu fliehen versuchte. Dann wäre das ganze Versteckspiel umsonst gewesen. Mürrisch sah sie durch ihre zerzausten, in die Stirn hängenden Haare zu ihrem Vater auf. »Sehr komisch«, knurrte sie gähnend. »Ist nicht zu übersehen, daß du dich amüsierst«, gab ihr Vater trocken zurück und grinste. »Na los, mach dich fertig, Partner. O'Neill will, daß wir uns verdammt schnell auf den Weg machen. Ich hab' dich so lange wie möglich schlafen lassen. Aber jetzt mußt du mir ein bißchen zur Hand gehen und unsere Sachen zusammenpacken. Außerdem will ich, daß du noch was ißt, bevor wir aufbrechen. Du wirst die Energie nötig haben.
Sieht ganz so aus, als ob wir 'ne schöne Strecke zurücklegen werden.« »Wie weit gehen wir heute?« fragte sie und setzte sich etwas bequemer hin. Das Tier bewegte sich, und True hielt es vorsichtig, aber bestimmt fest. Hoffentlich biß es sie nicht. »Weiß nicht, aber so wie ich O'Neill kenne, wird's nicht gerade ein Spaziergang.« Er warf ihr einen Weizenriegel zu. »Du ißt den und packst dann unsere Sachen zusammen, in Ordnung? Ich werd' mal sehen, ob ich einem von den anderen zur Hand gehen kann.« »Okay«, stimmte True bereitwillig zu. Sie stand auf, die Decke noch immer um die Schultern geschlungen, und stiefelte in Richtung der Felsen. Ihr Vater schien noch immer nichts bemerkt zu haben. »Ich geh nur mal eben Pipi machen ...« rief sie ihm über die Schulter zu. »Aber beeil dich«, ermahnte er sie streng und ging quer durch das kleine Camp zu Devon, Uly und Yale hinüber. »Beeil dich, beeil dich«, äffte sie ihn nach. »Was glaubt der denn, wie schnell man pinkeln kann?« Nicht daß sie wirklich vorhatte, sich zu erleichtern, sie brauchte vielmehr ein wenig Zeit, um sich ungestört Gedanken darüber zu machen, wie sie das Tier einigermaßen bequem und vor allem unbemerkt transportieren konnte. Und überhaupt, wie mochten diese Wesen wohl heißen? Hatten sie überhaupt einen Namen? Oder konnte vielleicht sie diese Wesen taufen? Schließlich war sie ja ihre Entdeckerin. Da ihr dieser Gedanke recht einleuchtend erschien, verbrachte sie eine geraume Weile damit, sich einen möglichst wissenschaftlich klingenden Namen auszudenken. Vielleicht würde sie dadurch sogar berühmt! Doch da ihr auf Anhieb keine passende Bezeichnung einfiel, wandte sie sich zunächst einmal wieder dem Transportproblem zu und kam zu dem Schluß, daß ihr Rucksack das perfekte Versteck war.
Die nächsten Minuten verbrachte True damit, allen möglichen Krimskrams aus dem Rucksack zu räumen, um ein bequemes Nest daraus zu machen. Dann setzte sie das Wieauch-immer-es-heißen-Mochte hinein, und das Tier schien sich sofort wie zu Hause zu fühlen. Jedenfalls sah es sie außerordentlich zufrieden an, bevor es sich einrollte und die Vorderpfoten schützend über den Kopf legte, um auf der Stelle einzuschlafen. Waren diese Wesen vielleicht nachtaktiv? In dem Fall standen True in Zukunft wohl recht aufregende Nächte bevor. »Schlaf gut, mein Kätzchen«, murmelte sie liebevoll, band den Rucksack lose zu und setzte ihn auf den Rücken. Als True in das Camp zurückkam, herrschte dort bereits Aufbruchstimmung. Fast alle waren mit dem Packen fertig, und sie mußte sich beeilen, um nicht die letzte zu sein. Hoffentlich hatte ihr Vater nicht gemerkt, wie lange sie weg gewesen war. Während sie sich mit der einen Hand den Weizenriegel in den Mund stopfte, suchte sie mit der anderen ihre Sachen zusammen. Als sie alles verstaut hatte, beobachtete sie aus einiger Entfernung, wie zwei der kräftigeren Crewmitglieder Alonzo, dessen Beine die Ärztin in Ermangelung anderer Medikamente geschient hatte, auf eine provisorische Trage hoben. Der Pilot machte einen außerordentlich finsteren Eindruck und vermied es, den anderen in die Augen zu sehen. Am liebsten hätte er wohl irgend jemandem den Kopf abgerissen. Der Pilot hatte Augen und Mund fest zusammengekniffen; ob vor Schmerz oder Ärger, konnte True nicht beurteilen. Sie wußte nur, daß ihr Vater manchmal genauso aussah, wenn ihn irgendwelche Sorgen quälten, und daß es dann am besten war, ihm aus dem Weg zu gehen. Die massige Gestalt des Commanders schob sich zwischen True und Alonzo und versperrte dem Mädchen die Sicht auf die weiteren Transportvorbereitungen für den Piloten. »Wir müssen 27,8 Kilometer zurücklegen, um Frachtkapsel zwölf zu
erreichen. Das könnten wir vor Sonnenuntergang schaffen«, verkündete O'Neill mit lauter Stimme und wedelte dabei mit dem Transponder herum. »Die Frachtliste zeigt, daß wir dort eine ganze Reihe nützlicher Ausrüstungsgegenstände vorfinden werden.« Er setzte sich den Rucksack auf, der vor ihm auf dem Boden stand, und zurrte so lange an den Gurten herum, bis er bequem auf seinem breiten Rücken saß. Dann begab er sich an die Spitze der kleinen Karawane. »Wir werden eine Basis errichten und versuchen, Kontakt zu den beiden anderen Rettungskapseln aufzunehmen. Außerdem befindet sich in Frachtkapsel zwölf ein VTO-Flugzeug - wir werden also in der Lage sein, nach New Pacifica zu fliegen«, rief er enthusiastisch. Alonzo schien von dieser frohen Botschaft ganz und gar nicht beeindruckt zu sein - im Gegenteil, er machte hinter O'Neills Rücken eine obszöne Geste. Als er bemerkte, daß True ihn mit großen Augen ansah, lächelte er sie verlegen an und zuckte mit den Schultern. Unsicher grinste sie zurück, schlug die Augen nieder und lief zu ihrem Vater, der bereits am Anfang des Zuges seine Position eingenommen hatte, gleich hinter den Adairs. O'Neill drehte sich noch einmal um, um einen letzten prüfenden Blick auf »seine Leute« zu werfen. »Alles in Ordnung bei Ihnen, Adair?« Devon nickte entschlossen. Sie und Yale standen vor einer Art Schlitten, den man für Uly gebaut hatte; beide hielten sie eine Zugleine in der Hand. Auf dem Schlitten lag der Junge, eingebettet in ein paar Kleidungsstücke, die die Stöße auf dem unebenen Weg abfangen sollten. »Alles klar«, gab Devon zurück und lächelte ihrem Sohn aufmunternd zu. »Also gut, Leute. Dann kann's losgehen.« O'Neill wandte sich wieder um und sah auf den Weg, der vor ihnen lag. Meister effektvoller Auftritte, der er war, wartete er einen Moment, bevor er den Arm hob und mit weit ausholender Geste nach vorne durchzog. »Ganze Kolonne, Marsch!« rief er, und der Zug setzte sich in Bewegung.
Der Marsch wäre nicht so beschwerlich gewesen, wenn es im Laufe des Tages nicht unerträglich heiß geworden wäre. Der Boden, auf dem sie liefen, war einigermaßen eben, nur hier und da ein wenig steinig, und auch die Steigungen, die sie zu überwinden hatten, waren nicht allzu steil. Doch die Hitze war kaum auszuhalten. Zur Mittagszeit tauchte die Sonne alles in ein gleißendes Licht, wie True es noch nie zuvor erlebt hatte. Sie war an die verschiedenen programmierten Wetterbedingungen gewöhnt, die in den Gärten und Erholungsanlagen der Raumstationen herrschten, und hatte dank der Errungenschaften von Virtual-Reality auch die »Erfahrung« anderer Klimata gemacht, aber verglichen mit der Wirklichkeit auf G889 war das alles nichts. Innerhalb kürzester Zeit war ihre Haut dort, wo sie der Sonne ausgesetzt war, rot verbrannt und spannte, während sich unter jedem Kleidungsstück die Hitze staute, so daß sie schon bald klitschnaß war. Unter den Achseln, auf dem Rücken und an den Innenseiten der Oberschenkel lief ihr der Schweiß nur so herunter. Ihre Füße schwitzten und juckten in den Stiefeln, so daß sie am liebsten die Schuhe ausgezogen hätte. Aber dafür ergab sich keine Gelegenheit. Allmählich verlangsamte sie ihr Tempo und ließ sich immer weiter zurückfallen, bis sie schließlich am Ende des Zuges angelangt war. Allerdings war nicht Müdigkeit die Ursache, sondern das Verlangen, ein paar Minuten allein und unbeobachtet zu sein. Als sie sicher sein konnte, daß niemand sie beobachtete, nahm sie ihren Rucksack vom Rücken und öffnete ihn vorsichtig. Das Tierchen sah sie aus schläfrigen Augen an und streckte seinen Kopf ein Stück heraus, um sich neugierig umzusehen. True lächelte und kraulte es unter dem Kinn. Das Wesen machte die Bewegung nach und kraulte sie ebenfalls. Behutsam schob True es wieder in den Rucksack zurück. Dann beeilte sie sich, um die anderen wieder einzuholen, bevor ihr Vater sich womöglich Sorgen machte und nach ihr suchte.
Danziger war dort, wo sie ihn erwartet hatte: an der Spitze des Zuges. Obwohl Trues Vater auf einer Raumstation geboren und aufgewachsen und noch nie zuvor in seinem Leben auch nur eine einzige Meile zu Fuß gegangen war, zeigte er nicht die geringsten Ermüdungserscheinungen. Allerdings lief auch ihm der Schweiß in Strömen das Gesicht herab, und sein durchnäßtes Hemd klebte ihm am Körper; seine Wangen, die Unterarme und der Nacken waren rot verbrannt. Danziger sah seine Tochter neugierig an, als sie ihn endlich eingeholt hatte und nun versuchte, mit seinem Tempo Schritt zu halten. »Mußtest du schon wieder pinkeln?« fragte er. Also hatte er bemerkt, daß sie verschwunden war. Das hätte sie sich eigentlich denken können. Sie zuckte mit den Achseln und sah zu Boden, als ob sie auf den Weg achtete, um nicht zu stolpern. »Ich hatte einen Stein im Schuh, und damit ich nicht alle anderen aufhalte, wenn ich ihn raushole, bin ich ein bißchen zurückgeblieben.« Er betrachtete sie nachdenklich und nickte. »Gut gemacht, True. Ich bin stolz auf dich. Aber nächstes Mal sagst du mir vorher Bescheid, in Ordnung? Ich habe nämlich schon angefangen, mir Sorgen zu machen.« Seine Fürsorglichkeit störte sie ausnahmsweise einmal nicht, im Gegenteil. Das Gefühl, von ihm geliebt zu werden, erfüllte sie mit einer Wärme, die nichts mit der Hitze der Sonne zu tun hatte. »Okay. Dad. Tut mir leid.« »Kein Problem.« Er sah wieder nach vorne und runzelte die Stirn, so daß sich der Schweiß in den Falten sammelte. True folgte seinem Blick und sah, daß Devon und Yale sich mit Ulys Schlitten abquälten. Offensichtlich erwies sich die Idee, den Jungen auf diese Weise zu transportieren, als wenig praktikabel. Auf jeden Fall schienen die beiden einige Mühe zu haben, vorwärtszukommen.
»Bin gleich wieder da«, murmelte Danziger und lief ein paar Schritte voraus. Was hatte er vor? Was wollte er denn bei diesen Adairs? Ohne viele Worte zu verlieren, trat Danziger hinter den Schlitten. »Ich werde Ihnen helfen«, schlug er in einem freundlichen, aber bestimmten Ton vor, der keinen Widerspruch duldete. In einem einzigen, harmonischen Bewegungsablauf nahm er seinen Rucksack ab, legte ihn auf den Schlitten und hob statt dessen Uly auf seine Schultern. Der Junge riß verwundert und zugleich auch ein wenig ängstlich die Augen auf, so daß True verächtlich den Mund verzog. So ein Baby! Ihr Vater war nun wirklich der letzte, vor dem man Angst haben mußte. Er würde nie im Leben irgend jemandem weh tun. Na ja, andererseits konnten die Adairs das natürlich nicht wissen. Und True fragte sich, ob es in dem Immuno wohl kühler oder womöglich noch heißer war. Aber so, wie sie dieses verzogene Balg kannte, war vermutlich auch noch eine Klimaanlage in seinem Anzug. Devon konnte gar nicht so schnell reagieren, wie sich Danziger ihren Sohn auf den Rücken hob. Sie wandte sich um und warnte: »Vorsichtig!« Danziger schob den Jungen noch ein Stückchen hoch, um ihn besser tragen zu können, und sah zu Uly auf, der ihm über die Schulter schaute. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Alles in Ordnung, Junge?« Uly nickte. »Ja, Sir«, versicherte er mit rasselndem Atem. »Mir geht's gut.« Es war unübersehbar, daß es Devon einige Überwindung kostete, die Verantwortung für ihren Sohn zumindest für einen Augenblick einem anderen zu überlassen. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und nestelte an Ulys Immuno-Anzug herum. »Passen Sie bitte auf, daß die Schläuche nicht herausrutschen«, sagte sie leise, ohne Danziger ins Gesicht
zu sehen. Dann fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. »Danke.« Danziger warf ihr einen Blick zu, sagte aber nichts, sondern marschierte einfach weiter, den Blick geradeaus gerichtet und Uly fest im Griff. True spürte, wie sich in jeder Faser ihres Körpers Eifersucht breit machte, weil ihr Vater sich so fürsorglich um ein anderes Kind kümmerte. Sollte sich dieser komische Junge doch einen eigenen Vater suchen. Ihrer stand jedenfalls nicht zur allgemeinen Verfügung. O'Neill, der die ganze Zeit an der Spitze des Zuges gegangen war, trat für einen Augenblick beiseite, um die Nachfolgenden an sich vorbeiziehen zu lassen, und sah sich um. Es war bereits Nachmittag, und sie hielten immer noch ein recht akzeptables Marschtempo. Trotzdem fürchtete der Commander ständig, daß irgend jemand zurückfiel und sich in dem unbekannten Terrain verlief. Er mußte unbedingt dafür sorgen, daß die Leute dichter beisammenblieben, wenn er nicht das Risiko eingehen wollte, bei Anbruch der Dunkelheit jemanden zu verlieren. Verflucht, war das heiß! Selbstverständlich hatte er so eine Hitze schon früher erlebt, aber daß er unter derart extremen klimatischen Bedingungen einen vollen Tag lang stramm marschiert war, lag doch schon eine ganze Weile zurück. Abgesehen davon hatte natürlich niemand mit dieser Situation gerechnet. Wenn alles nach Plan verlaufen wäre, hätte es keinerlei Probleme geben dürfen. Aber es zeigte sich einmal mehr, wie weit man kam, wenn man sich einbildete, alles vorausberechnen zu können! O'Neill nickte Devon zu, die ihn jetzt passierte, und reihte sich neben ihr wieder in den Zug ein. Vor ihnen gingen Yale und Danziger. So, wie sie die Köpfe zusammengesteckt hatten, schienen sie sich gut miteinander zu unterhalten. Uly, der eingeschlafen war, hing wie ein nasser Sack auf dem Rücken des Mechanikers, während sein Kopf bei jedem Schritt sacht hin und her wippte.
»Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, daß sich die Luft hier von ganz allein bewegt«, sagte Devon zu O'Neill und fächelte sich mit der Hand Kühlung zu. »Und er ist viel größer, als ich dachte.« »Wer?« »Der Himmel. Ich meine, ich hatte vorher versucht, mir sein endloses Blau vorzustellen ...« Sie schien irritiert zu sein von ihrer eigenen Begeisterung. »Ich nehme an, für Sie ist das alles nichts Neues, Sie haben selbstverständlich schon echte Himmel gesehen, nicht wahr?« »Auf meiner Fahrt zur Erde, '64.« Er schüttelte den Kopf und sah zu der gleißenden Sonne hinauf. »Aber der Himmel dort war ganz anders, nicht so klar und weit, sondern grau und undurchdringlich.« Seine Augen suchten den Horizont ab, und er seufzte. Hatte die Erde wirklich einmal so ausgesehen wie dieser Planet? Und wenn es so war, was hatte die Menschheit nur dazu getrieben, diesen herrlichen Planeten in eine einzige riesige Müllhalde zu verwandeln? Er schüttelte noch einmal den Kopf, sagte aber nichts. Die Antwort auf diese Frage kannte er nur zu gut. Einige Stunden später stand O'Neill, der vorausgegangen war, um den Weg zu erkunden, auf einer Anhöhe und schaute in das Tal hinunter, das sich vor ihm ausbreitete. Was er dort unten sah, erfüllte ihn mit einem Gefühl tiefster Befriedigung. Nun würde sich doch noch alles zum Guten wenden, von jetzt an konnte nichts mehr schiefgehen, das fühlte er ganz genau. »Da unten ist sie!« rief er, ohne sich umzuwenden, und wartete darauf, daß die anderen ihn einholten und so wie er in den Genuß dieses phantastischen Anblicks kamen. Vor ihnen lag ein breites Tal mit einer erstaunlich vielfältigen Vegetation. Neben wogenden Feldern mit hohen Gräsern wechselten sich Buschgebiete, Felsen und kleine Wäldchen ab, so daß es ganz danach aussah, als hätte sich Mutter Natur nicht
entscheiden können und der Landschaft deshalb von allen möglichen Formen ein bißchen geschenkt. In der Talsohle, nicht weit von der Stelle entfernt, an der sie standen, lag die Frachtkapsel. Das massive Behältnis war zwar auf die Seite gekippt, sah aber weitestgehend intakt aus. Erschöpft, wie sie waren, klang das Jubelgeheul der Leute eher kläglich, doch schon im nächsten Moment rafften sie noch einmal all ihre Energien zusammen und rannten, jede Vorsicht über Bord werfend, den Abhang zur Kapsel hinunter. O'Neill und Devon tauschten einen raschen, triumphierenden Blick aus. Unwillkürlich veranstalteten sie alle einen Wettlauf, ein Rennen, in dem es keine Rolle spielte, wer gewann und wer verlor. Es tat einfach gut, zu laufen, den weichen Boden des Abhangs unter den Füßen zu spüren und von der Eintönigkeit des Fußmarsches erlöst zu sein. Alle Erschöpfung schien einem Gefühl der Erleichterung und Aufregung zu weichen. O'Neill brachte sich fast um, um die Kapsel als einer der ersten zu erreichen. Vollkommen außer Atem kam er schließlich an, schlug mit der flachen Hand auf die Außenwand und fühlte sich dabei wie ein stolzer Vater. Dann ging er auf die andere Seite der Kapsel, um den Öffnungsmechanismus der Tür zu aktivieren und ... blieb wie angewurzelt stehen. Seine Euphorie war im Nu verflogen. Er drehte sich zu den anderen um, und der Ausdruck auf seinem Gesicht ließ sie wie erstarrt stehenbleiben. Erschreckt und verängstigt bildeten sie einen Halbkreis um die Kapsel und wagten nicht, sich ihr weiter zu nähern. »Was zum Teufel ...?« murmelte O'Neill fassungslos. Das durfte doch nicht wahr sein! Die eine Seite der Kapsel war offenbar durch die Bruchlandung erheblich beschädigt worden. Das allein war nicht weiter verwunderlich und vor allem keine Katastrophe. Aber ... O'Neill brachte kein Wort hervor und machte statt dessen nur eine hilflose Geste. Die Ladeluken waren aufgerissen worden und schwangen leise jammernd im Wind, während das Innere
der Hauptkammer so jungfräulich aussah, als wäre die Kapsel gerade frisch vom Fließband gekommen. Bis auf ein paar nutzlose Kleinigkeiten war sie leergeräumt. Jedes wichtige Ausrüstungsstück war verschwunden. Devon schob sich mit Danziger und Yale im Schlepptau an den hilflos gaffenden Leuten vorbei, um nach vorn zu kommen. Als sie endlich mit eigenen Augen sah, was O'Neill und die anderen so erschreckt hatte, blieb sie leichenblaß stehen. »Oh mein Gott«, stieß sie atemlos hervor, »man hat uns bestohlen.« Entschlossen, die Fassung wiederzugewinnen, richtete sich O'Neill auf und drehte sich langsam im Kreis, um jeden Stein, jede Felsspalte und jeden Baum gründlich in Augenschein zu nehmen. Er wollte einfach nicht glauben, daß Devon recht hatte. Aber wie sonst sollten die Sachen aus der Kapsel verschwunden sein? Das alles war einfach nicht zu erklären. Irgend etwas war hier faul, und zwar so faul, daß es zum Himmel stank. »Wir sind nicht allein«, murmelte O'Neill in die atemlose Stille hinein. Und alle Blicke richteten sich auf Devon - die Frau, die sie in diese fremde Welt gebracht hatte.
11 Devon war völlig unklar, wie sie sich verhalten sollte. Aus den Blicken, mit denen sie bedacht wurde, sprachen Angst und Sorge. In manchen Gesichtern glaubte sie sogar den Vorwurf des Verrats zu lesen. Und ein paar Leute sahen sie tatsächlich so an, als hätten sie ihr Urteil bereits gefällt; und der Richterspruch sah lebenslänglich, wenn nicht sogar das Todesurteil vor. Ihr Kopf arbeitete fieberhaft, um eine Erklärung zu finden. Konnte es sein, daß die Frachtkapsel von einem Tier aufgebrochen worden war? In Vorbereitung ihrer Exkursion hatte man immer und immer wieder alle verfügbaren Daten zu dem Planeten G889 überprüft, aber aus keinem Bericht ließ sich auf die Existenz höher entwickelter Lebewesen schließen. Es war lediglich die Rede von ein paar Vögeln und größeren Säugetieren gewesen. Nichts hatte auf das Vorhandensein intelligenter Lebensformen hingewiesen - doch die mußte es geben, sofern man das Ausrauben einer Frachtkapsel für einen Beweis von Intelligenz ansehen wollte. Nichts hatte auch nur im entferntesten die Vermutung nahegelegt, daß sich auf diesem Planeten Humanoiden befinden könnten. Aber warum ging sie eigentlich so selbstverständlich davon aus, daß das Wesen, das sie beraubt hatte, humanoid war? War das nicht ein arrogantes anthropozentrisches Vorurteil, aus dem auch eine Spur von Fremdenfeindlichkeit sprach? Devon ärgerte sich über sich selbst, denn sie hatte geglaubt, über diese Vorurteile lange hinweg zu sein. Und sie ärgerte sich auch darüber, daß sie in den langen Jahren der Vorbereitung auf diese Reise G889 und vor allem New Pacifica praktisch schon als ihr Eigentum betrachtet und sich die Details über das Leben dort so ausgemalt hatte, wie es ihren Idealvorstellungen entsprach. Na schön, sie war in den Ring gestiegen, die Realität hatte ihr einen
ordentlichen Kinnhaken versetzt, und jetzt mußte sie sehen, wie sie wieder auf die Beine kam, während die anderen, die verwirrten, verängstigten und wütenden Zuschauer dieses Kampfes, sie auch nicht eine Sekunde aus den Augen ließen. Danziger, der irgendwo zu ihrer Linken stand, räusperte sich, und sofort starrten ihn alle an. Vorsichtig hob er Uly von seinen Schultern und setzte ihn auf den Boden. Dann schob er die Leute beiseite, die zwischen ihm und Devon standen, und baute sich neben ihr auf. »Bevor jemand auf die Idee kommt, sie zu lynchen, schlage ich vor, ein paar Wachen aufzustellen. Wer auch immer unsere Vorräte gestohlen hat, er könnte sich hier noch rumtreiben. Und dann sollte jemand feststellen, was sich noch in der Kapsel befindet. Vielleicht sind ja nicht alle Kammern leer.« »Ausgezeichneter Vorschlag«, stimmte O'Neill schnell zu, und Devon hatte den Eindruck, als ob der Commander verärgert darüber war, daß er nicht selbst auf diese Idee gekommen war. »Und was werden Sie machen?« keifte eine Frauenstimme aus der letzten Reihe. Danziger schenkte der Frau ein eisiges Lächeln. »Alles, was ich kann«, gab er ruhig zurück. »Sie auch?« Damit hatte er nicht nur sie, sondern auch alle anderen in ihre Schranken verwiesen. Die Spannung löste sich, und die Gruppe begab sich an die Arbeit. Devon wischte sich die schwitzenden Hände an der Hose ab und versuchte zu lächeln. »Ich wäre auch allein mit der Situation fertiggeworden.« »Ich weiß.« Danziger zuckte die Achseln. »Na ja ...« Sie streckte ihm die Hand entgegen. »Danke, daß Sie mich unterstützt haben.« Er warf einen Blick auf ihre Hand, ergriff sie aber nicht, so daß Devon sie schließlich verlegen in die Tasche steckte. »Sie brauchen mir nicht zu danken. Wenn ich Sie unterstütze, dann nur so lange, bis ich rausgefunden habe, was hier eigentlich vor
sich geht. Sollten Sie einfach einen Fehler gemacht haben, okay, damit kann ich leben. Aber sollte ich dahinterkommen, daß Sie gewußt haben, daß es hier Wesen gibt, die eine Bedrohung für uns darstellen können, und Sie das Leben von Hunderten ahnungsloser Menschen riskiert haben, um sich Ihren eigenen Traum zu erfüllen, dann können Sie ganz sicher sein, daß ich der erste bin, der nach Ihrem Blut schreit.« Er wandte sich ab und ging davon. Devon sah sich außerstande, irgend etwas zu erwidern. Aber sie konnte hier nicht ewig tatenlos herumstehen. Als sie sah, daß Julia sich um Uly kümmerte, ging sie zu O'Neill hinüber, der vor der Öffnung der ausgeraubten Hauptkammer der Frachtkapsel stand. Drinnen suchten Danziger und Yale nach irgend einem Hinweis auf die Identität der fremden Wesen, die die Kapsel aufgebrochen hatten. Doch der Lichtstrahl aus dem Arm des Cyborg beleuchtete lediglich einen leeren Boden und leere Wände. »Irgend jemand hat hier drinnen gründlich aufgeräumt«, bemerkte Danziger, und seine Stimme hallte von den kahlen Wänden der geräumigen Kammer wider. »Ein VTO-Flugzeug, Titanium-Bauteile für Häuser, wahrscheinlich auch ein Fahrzeug ...« Yale schüttelte den Kopf angesichts dieser Verlustliste. Danziger fuhr mit der Hand über die Ladeluke, die mit solcher Wucht zerquetscht worden war, daß sie aussah wie eine Ziehharmonika. »Wie sieht's mit der Kammer aus, in die sie nicht eingedrungen sind? Hat jemand 'ne Ahnung, was da drin ist?« »Leider nein. Inventarlisten für die einzelnen Kammern sind nicht verfügbar.« »Na großartig«, knurrte Danziger unwirsch, und Devon konnte ihm das kaum übelnehmen. Sie hätte am liebsten selbst laut geflucht. Der Mechaniker trat aus der Hauptkammer in den Vorraum, wo Baines und Walman auf den Knien lagen und
versuchten, die Luke der einzigen Kammer zu öffnen, die nicht aufgebrochen worden war. »Und, könnt ihr schon was sehen?« Baines schüttelte den Kopf und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von Stirn und Oberlippe. »Noch ein paar Zentimeter vielleicht...« Mit einer Kopfbewegung wies Walman auf die leere Hauptkammer hinter ihnen. »Ich sag' euch eins, wir können nur hoffen, daß der, der die Kapsel aufgerissen hat, nicht noch mal zurückkommt.« Die drei anderen unterbrachen für einen Moment ihre Arbeit und warfen sich einen Blick zu, der Bände sprach; selbst aus der Entfernung, aus der Devon die beiden beobachtete, war diese Reaktion nicht zu übersehen. Dann schauten sie sich wie auf Kommando alle gleichzeitig nach allen Seiten um. Wäre ihre Lage nicht so ernst gewesen, hätte Devon am liebsten laut gelacht. Danziger riß sich zusammen. »Wir sollten versuchen, etwas zu finden, womit wir die Luke aufbrechen können. Ich will wissen, was da drin ist.« Er kletterte aus der Kapsel, ging wortlos an Devon und O'Neill vorbei und machte sich gemeinsam mit Yale auf die Suche nach irgend etwas, das sich als Brechstange benutzen ließ. Währenddessen berührte O'Neill unauffällig Devons Arm und zeigte auf den Boden, wo die Abdrücke eines Fußes mit drei Zehen zu sehen waren. Die Spur führte von der Frachtkapsel direkt zu einem nahe gelegenen Wäldchen. »Die durch die Sonden ermittelten Informationen über den Planeten gaben doch nicht den geringsten Hinweis auf die Existenz einer wie auch immer gearteten Zivilisation, nicht wahr?« Er sprach leise, aber eindringlich auf Devon ein. »Keinerlei Anzeichen für Gebäude, Straßen, Landwirtschaft...« Devon beobachtete noch immer aufmerksam das Wäldchen, in dem die Räuber verschwunden sein mußten. Schließlich setzte sie sich in Bewegung und ging auf die Bäume zu. O'Neill blieb keine andere Wahl, als ihr zu folgen, wenn er die
Unterhaltung mit ihr fortsetzen wollte. »Wer oder was auch immer hier am Werk war, er hat offensichtlich ein Interesse an technischen Geräten«, konstatierte Devon. Aber was zum Teufel will dieses Wesen ausgerechnet mit einem Flugzeug? »Devon«, zischte O'Neill leise und berührte sie am Ellbogen, um sie zum Stehenbleiben zu bewegen. »Wir haben alle Meßergebnisse der Sonden überprüft, die in den letzten fünfundzwanzig Jahren von diesem Planeten zurückgekommen sind. Denen zufolge gibt es hier nichts außer Pflanzen und ein paar Tieren ...« Devon verstand nicht, warum der Commander so verschwörerisch tat. Die Fußspuren waren schließlich kein Geheimnis. Und selbst wenn sie noch kein anderer bemerkt hatte, so war die aufgebrochene Kapsel doch Beweis genug. Die hatte schließlich jeder mit eigenen Augen gesehen. Es lag für jeden auf der Hand, daß sie offensichtlich nicht die einzigen intelligenten Lebewesen auf G889 waren. Doch was O'Neill da sagte, war in anderer Hinsicht interessant, es warf ein neues Licht auf einen Gedanken, den sie schon vor einer Weile gehabt hatte. Wie hatte sie nur so naiv sein können? »Richtig, Commander, die Ergebnisse der Sonden, die von der Regierung freigegeben worden sind ... für die Nachrichtensender. Wir haben gesehen, was die Öffentlichkeit sehen sollte, und zwar genau das, was sie uns zeigen wollten ... mehr nicht.« Er warf ihr einen kritischen Blick zu und verzog das Gesicht. »Wagen Sie sich da nicht ein bißchen zu weit in unbekannte Gewässer, Adair?« Sie reckte trotzig das Kinn hoch. »Dann beweisen Sie mir, daß ich im Unrecht bin«, sagte sie herausfordernd. Auch wenn O'Neill ihren Standpunkt nicht teilte, war ihm anzusehen, daß er zumindest ernsthaft über diese Möglichkeit nachdachte. Vielleicht stimmte er ihr auch nur deshalb nicht zu, weil ihre Theorie beinahe zu offensichtlich und zu plausibel
war, um glaubwürdig zu sein. Aber in der Tat war eine ganze Reihe von merkwürdigen Dingen passiert. Dison Blalock hatte ihren Tod gewollt, und seit diesem Zeitpunkt, seit diesem Verrat an ihrer Freundschaft, hielt Devon so gut wie alles für möglich. »Die Anthropologen erzählen uns schon seit Jahrzehnten, daß es möglicherweise irgendwo in der Galaxis intelligentes Leben geben könnte«, setzte der Commander noch einmal an. »Aber ist Ihnen schon mal aufgefallen, daß man nie mehr als ein paar Planktonvarianten gefunden hat, wohin und wie weit auch immer man gereist ist?« Verärgert über O'Neills väterlichen Tonfall, wies Devon mit ausgestrecktem Arm auf die zerstörte Frachtkapsel. »Broderick«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »wollen Sie mir erzählen, daß irgendeine Planktonvariante unsere Ausrüstung gestohlen hat?« Bevor sie sich weiter streiten konnten, räusperte sich in ihrer Nähe jemand laut und vernehmlich; es war Yale, der eine große, längliche Metallkiste unter dem Arm trug. »Zwei der Kolonisten haben dies dort hinten in den Büschen gefunden, Commander. Offensichtlich ist es den Räubern nicht gelungen, sie zu öffnen. Es steht Ihr Code drauf.« Auf O'Neills Gesicht zeigte sich nach dieser überraschenden Eröffnung ein solches Maß an Erleichterung und Freude, daß Devon ihn verwundert anstarrte. Einen derartigen Gefühlsausbruch hatte sie dem Commander nicht zugetraut. »Da sieh mal einer an ... es gibt also doch so etwas wie eine kosmische Gerechtigkeit, was?« Er bedeutete Yale, die Kiste abzusetzen. Dann kniete er nieder, um eine Zahlenkombination in das Schloß einzugeben und den Deckel zu öffnen. »Habt ihr noch mehr gefunden?« fragte Devon, während sie O'Neill neugierig beobachtete. Der Lehrer schüttelte den Kopf. »Nichts von Bedeutung«, sagte er bedauernd. »Nur ein paar unbrauchbare Kleinigkeiten, mehr nicht.«
Sie seufzte enttäuscht. »Kein Flugzeug, keine Fahrzeuge, keine Roboter...« In diesem Moment gab O'Neill ein zufriedenes Grunzen von sich und hob vorsichtig ein altes Jagdgewehr aus der Kiste. Liebevoll strich er über den Lauf, schaute durchs Visier und stützte schließlich den Schaft aufs Knie, so daß die Waffe im Sonnenlicht ölig glänzte. Das war's? Deswegen hatte O'Neill sich so aufgeregt? Nun gut, wenn sie es recht bedachte, konnte Devon seine Erleichterung vielleicht sogar verstehen. Sie standen einem unbekannten Gegner gegenüber und mußten auf Nummer Sicher gehen. Und wenn Waffen zur Sicherheit beitrugen ... In diesem Moment war Trues laute, hohe Stimme zu hören. »Hey! Kommt her! Wir haben jemanden gefunden! Er ist eingeschlossen!« Devon lief sofort los, und dicht hinter sich hörte sie die schweren Schritte von O'Neill und Yale, die ebenfalls zu der Frachtkapsel rannten. Danziger hatte seine Jacke ausgezogen und schwitzte trotzdem wie ein Schwein. Mit der provisorischen Brechstange, einer schweren Metallschiene, die die Räuber der Frachtkapsel losgerissen hatten, versuchte er, die Ladeluke der einzigen noch intakten Kammer aufzuhebein. Er unterbrach seine Arbeit nur, um sich den beißenden Schweiß aus den Augen zu wischen. »Halten Sie durch! Können Sie das Schloß nicht von innen öffnen?« »Ich wünschte, darauf könnte ich Ihnen eine Antwort geben«, antwortete eine merkwürdig gutgelaunte, männliche Stimme aus dem Inneren der Kammer. »Aber was sind schon Wünsche ...« Danziger schnitt ihm das Wort ab. »Also gut, warum helfen Sie mir nicht ein bißchen und schieben die Luke mit der Hand weiter auf?« »Wenn ich eine Hand hätte, könnte ich Ihnen auch zwei Füße zum Schieben geben.«
Der Mechaniker fluchte leise vor sich hin. Für wen hielt sich dieser Komiker eigentlich? Wenn es ihnen nicht bald, und zwar verflucht bald gelang, die Luke aufzubrechen, würde er da drinnen ersticken. War ihm das nicht klar? Oder versuchte er, sich durch seine Witzeleien selbst Mut zu machen? Wenn das der Fall war, dann war er entweder wirklich tapfer oder ein Vollidiot. »Ich brauche Hilfe«, kommandierte Danziger, und sofort eilten ihm mehrere der umstehenden Männer und Frauen zur Seite. Mit vereinten Kräften versuchten sie, die Luke von unten her aufzuhebein. Endlich gelang es ihnen, die schwere Stahltür wenigstens an einer Stelle ein kleines Stück aufzubiegen. Im Inneren der Kammer war es stockdunkel. Danziger streckte den Arm so weit wie möglich durch die schmale Öffnung und tastete so lange herum, bis er schließlich auf etwas stieß, das er herauszog ... Verwundert betrachtete er den Gegenstand in seiner Hand. Ganz offensichtlich handelte es sich um den Kopf eines Roboters, um das neurale Netz der Einheit. Danziger schüttelte belustigt den Kopf und schmunzelte. Daß es an diesem Tag noch etwas zu lachen gab, hatte er nun wahrlich nicht erwartet. »Sieht ganz nach einer Zero-Einheit aus ... oder zumindest nach einem Teil davon.« »Der Teil ist nichts ohne das Ganze«, philosophierte der Kopf fröhlich vor sich hin. »Ich habe einen kompletten Körper in der Kammer, aus der Bauarbeiter-Serie. Jederzeit bereit, sich New Pacifica hundertprozentig zur Verfügung zu stellen, Sir.« Danzigers Schmunzeln wurde zu einem breiten Grinsen. Um zu sehen, ob der Kopf irgendwelche Beschädigungen aufwies, drehte er ihn langsam um und betrachtete ihn von allen Seiten. »Ich weiß nicht, wie's um New Pacifica steht, aber wir könnten den Rest von dir ganz gut gebrauchen.« Und damit warf er den Kopf einem der Umstehenden zu, der ihn überrascht auffing.
»Nicht so stürmisch, Kumpel«, mahnte der Kopf, und in seinem »Gesicht« blinkten ein paar Kontrolleuchten auf. »Tut mir leid.« Danziger nahm die Brechstange wieder auf und bedeutete seinen Helfern mit einem Kopfnicken, daß es Zeit war, sich erneut der widerspenstigen Luke zu widmen. Julias Besorgnis über Alonzos Zustand wuchs von Stunde zu Stunde. Sie verabreichte ihm Beruhigungsmittel und konnte ihn dadurch zumindest in einen Zustand versetzen, in dem er seine Schmerzen nicht so spürte. Diese Form der Therapie gefiel ihr zwar nicht sonderlich, aber auf ein Breitband-Schmerzmittel würde sie wohl oder übel bis zur Ankunft der Colony verzichten müssen, und damit war erst in ein paar Monaten zu rechnen, viel zu spät, um dem Piloten noch zu helfen. In der Zwischenzeit konnte sie nur hoffen und beten, daß sich bis dahin nicht noch jemand ernsthaft verletzte. Die sterile Zuverlässigkeit ihres Labors zu Hause auf der Raumstation erschien ihr Ewigkeiten entfernt. Viel besorgniserregender als Alonzos Schmerzen war allerdings sein psychischer Zustand. Bis vor kurzem hatte er noch einen recht stabilen Eindruck gemacht, zwar verärgert über seine Verletzung und begreiflicherweise frustriert, weil es ihm nicht gelungen war, das Raumschiff zu retten, aber im großen und ganzen normal. Doch seit einiger Zeit schien er sich in eine Traumwelt zurückgezogen zu haben, aus der heraus er nicht mehr wahrnahm, was um ihn herum vor sich ging. Seine Träger hatten ihn in eine Hängematte gelegt und einen provisorischen Sonnenschutz für ihn gebastelt, so daß er die Arbeiten der anderen an der Frachtkapsel beobachten konnte. Aber Alonzo hatte nicht ein einziges Mal zu ihnen hinübergesehen; es sah so aus, als würde er alles überhaupt nicht wahrnehmen. Nichts von dem, was um ihn herum geschah, schien bis zu ihm durchzudrängen, er nahm nicht einmal Notiz von Julia, die ihn so gut, wie es eben ging, medizinisch versorgte. Die attraktive Ärztin hätte auf Anhieb mindestens ein Dutzend verschiedene
Seren nennen können, die den Patienten aus seiner Lethargie herausgerissen und in die Wirklichkeit zurückgebracht hätten; aber da ihr nicht ein einziges davon zur Verfügung stand und sie darüber hinaus noch nicht einmal über die notwendigen diagnostischen Möglichkeiten verfügte, um herauszufinden, was ihm eigentlich fehlte, fühlte sie sich außerordentlich hilflos. Dieses Gefühl war neu für Julia, und sie konnte nicht behaupten, daß es ihr sonderlich gefiel. Und als ob das nicht schon genug war, mußte sie ihn jetzt mit einer weiteren schlechten Nachricht konfrontieren. Sie war gerade dabei, eine Bestandsaufnahme ihrer medizinischen Vorräte zu machen, die sie auf einer Kiste ausgebreitet hatte. Das Ergebnis war deprimierend. Sie richtete sich auf und sah zu dem Piloten hinüber. »Haben Sie Schmerzen?« fragte sie. Alonzo antwortete nicht, bewegte sich nicht, schien vollkommen apathisch. Was starrte er nur die ganze Zeit über ah? Seine Zehen? Den Boden? Oder irgend etwas, das keiner außer ihm sehen konnte? Dann blinzelte er. Das war wenigstens etwas, obwohl sich Julia auch nicht für eine Sekunde der Hoffnung hingab, dies sei eine Reaktion auf ihre Frage. »Ich hätte sie schaukeln sollen«, sagte er tonlos. Immer wieder der gleiche Vorwurf. Wie konnte sie ihn davon überzeugen, daß das alles nicht seine Schuld war? »Alonzo ....« Sie ging zu ihm hinüber und kniete sich neben seine Hängematte. Die Wunde auf seiner Stirn war wieder aufgebrochen und blutete. Sie trug ein wenig von einer Salbe auf, die sie in der Tasche hatte, und ließ ihren Finger auf der Wunde liegen. Seine Stirn fühlte sich gefährlich heiß an. »Wenn ich sie geschaukelt hätte«, fuhr er fort, »wäre die Kapsel vielleicht abgefallen.« Mit der anderen Hand griff Julia nach seinem Handgelenk und drückte es mitfühlend. »Ich bin sicher, daß Sie getan haben, was Sie konnten. Sie sind der geborene Pilot, mit Leib und Seele.«
Plötzlich leuchteten seine Augen mit einer fast unglaublichen Klarheit. Zornig starrte er sie an, entzog seine Hand ihrem Griff und umschloß ihre Finger. »Was verstehen Sie schon davon?« fragte er mit beißendem Sarkasmus. Alonzo drückte ihre Hand so stark, daß es schmerzte, aber Julia versuchte nicht, sich aus seinem Griff zu befreien. Statt dessen nahm sie den Finger von der Wunde auf der Stirn und stellte zufrieden fest, daß die Salbe gewirkt hatte. Von dem Schnitt war nicht mehr übriggeblieben als eine kaum sichtbare Narbe, dünn wie ein Haar. »Was ich von Leib und Seele verstehe? Eine ganze Menge. Genug jedenfalls, um zu wissen, daß einem Selbstmitleid nicht weiterhilft.« Er starrte sie mit einer Eindringlichkeit an, die fast unheimlich war. Dann ließ er plötzlich ihre Hand los. »Sie sind ein Chromosomen-Cocktail, stimmt's?« So wie er das sagte, klang es wie ein Vorwurf. Als sie nickte, fauchte er: »Das sollte verboten werden!« Schockiert riß sie die Augen auf. Gerade er mußte das sagen! Er bemerkte ihren verletzten Blick und deutete ihn richtig. »Oh, ich bin sicher, daß sie eine gute Ärztin sind ...« Julia machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ja, aber nicht gut genug, um Ihnen Ihr Selbstvertrauen zurückzugeben, nicht wahr?« Wieder dieser unerträglich forschende, rätselhaft dunkle und zugleich strahlende Blick. »Woher nehmen Sie eigentlich die Frechheit, mir zu sagen, ich soll aufhören, mich selbst zu bemitleiden?« Er richtete sich ein wenig in seiner Hängematte auf. »Sie haben doch nicht die leiseste Ahnung, was ich dort oben durchgemacht habe.« Zornig wies er zum Himmel hinauf. Sein Blick wurde noch düsterer, als er bemerkte, daß die Ärztin ihn ignorierte und statt dessen in ihren Taschen herumwühlte. Sie hatte gerade eine Idee, die das Problem mit diesem Piloten wenigstens vorläufig lösen konnte. Und sie würde ihren
Gedanken in die Tat umsetzen, sobald sie gefunden hatte, wonach sie suchte. »Nun?« Alonzo wartete offensichtlich noch immer auf eine Antwort. »Nun was?« fragte Julia zurück und beugte sich vor, um ihre Hand für einen Augenblick auf seinen Nacken legen zu können. Als sie die Hand wegzog, klebte auf seiner Haut eine kleine, silberne Scheibe. Alonzo tastete danach. »Was machen Sie da? Ich will kein Schlafmittel ...« Doch seine Augenlider flatterten schon, und ihn überfiel eine Müdigkeit, die ihn innerhalb weniger Sekunden unweigerlich in riefen Schlaf sinken lassen würde. Vergeblich versuchte er, die Sedativ-Kapsel wieder zu entfernen. Julia nahm lächelnd seine Hände und zwang sie mit sanfter Gewalt auf seinen Bauch. »Tut mir leid, Alonzo. Ich will nicht, daß Sie sich zu sehr aufregen. Es gibt nämlich schlechte Neuigkeiten: Ich verfüge leider über kein Medikament zur beschleunigten Knochenheilung. Die Kisten mit den medizinischen Versorgungsgütern sind gestohlen worden, wie alles andere auch. Ihre Beinbrüche werden also auf die traditionelle, natürliche Art heilen müssen.« Es war nicht zu übersehen, daß der Pilot sich alle Mühe gab, wachzubleiben und vor allem seine Wut nicht verrauchen zu lassen; aber er führte einen aussichtslosen Kampf. »Natürliche Art? Soll das heißen ... Wochen?« Er konnte die Augen nicht mehr offenhalten. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus, der beinahe wie ein Stöhnen klang. Julia stand auf und sah noch einen Moment zu, wie sich der Brustkorb des Piloten im Schlaf regelmäßig hob und senkte. »Nein, mein Freund«, sagte sie dann. »Monate.« Danziger war zufrieden mit seiner Arbeit. Der Spalt, durch den er den Kopf der Zero-Einheit geholt hatte, war mittlerweile so groß, daß ein Kind hindurchschlüpfen konnte. Auf dem
Bauch liegend, half er True, sich in die einzige Kammer zu zwängen, die die Räuber nicht leergeräumt hatten. »Vorsichtig, Süße«, warnte er seine Tochter, die Hände um ihre Knie geschlungen. Dann schob er sie behutsam ein Stückchen weiter in die Kammer hinein. Sie wand ihren zierlichen Körper und robbte auf Knien und Ellbogen vorwärts, wie die Soldaten in den alten Filmen. Der Lichtstrahl der Lampe, die sie ums Handgelenk trug, tanzte analog zu ihren Bewegungen ruckartig hin und her, so daß Danziger im Inneren der Kammer kaum etwas erkennen konnte. Als er schließlich Trues Beine losließ und sie ganz in der Kammer verschwand, spürte er ein flaues Gefühl in der Magengegend. »Kannst du was sehen, True?« »Dad ...« In ihrer Stimme, die merkwürdig dumpf aus dem Inneren der Kammer klang, schwang Aufregung und ungläubiges Staunen mit. »Hier drin ist ein TransRover!« »Eins von diesen alten solarbetriebenen Modellen von der Erde?!« Sie ließ den Lichtkegel einmal kurz durch die Kammer streifen, so daß Danziger zumindest schemenhaft einige Gegenstände erkennen konnte, bevor sie die Lampe wieder auf das riesige, altmodische Fahrzeug richtete. In dem grellen Licht der Stablampe sah der TransRover aus wie ein ausgestopfter Wal oder Dinosaurier im Museum. In einem Anfall stiller Verzweiflung schlug Danziger seinen Kopf gegen die aufgebogene Luke. »Die haben sich ja wirklich Mühe gegeben mit unserer Ausrüstung!« murmelte er in bitterer Ironie vor sich hin und hoffte, daß Devon in der Nähe war und seine Bemerkung gehört hatte. True hörte nicht auf, begeistert all die Dinge aufzuzählen, die sie entdeckte. »Hier ist mindestens noch ein ATV ... und 'n SandRail! Und ...« Danziger schnitt ihr das Wort ab, als er merkte, daß die Umstehenden allmählich etwas ungeduldig wurden. »Siehst du die Roboter-Einheit, Süße?«
True leuchtete suchend umher. Schließlich entdeckte sie unter dem TransRover den Rest von Zeros Körper. »Hab' ihn gefunden.« Sie kniete nieder und schob sich bäuchlings unter das Fahrzeug. So weit Danziger das von seiner Position aus erkennen konnte, schien der Roboter in recht guter Verfassung zu sein. Jedem, der wie Danziger eine Zeitlang in den Docks gearbeitet hatte, war die kompakte Form des weißbunten Körpers vertraut. »In Ordnung, versuch mal, ob du an die Kontrollen am Hals herankommen kannst.« True war mit einer Behendigkeit unter den TransRover gekrochen, als ob sie nie im Leben etwas anderes getan hatte, und hatte den massigen Rumpf in Augenschein genommen. Sie überlegte einen Augenblick und berührte dann vorsichtig eines der blinkenden Lichter am Hals des Körpers. Im nächsten Moment erwachte die Roboter-Einheit zum Leben, rollte sich auf die Seite und stand auf. Im Licht der Lampe an Trues Handgelenk konnte Danziger erkennen, daß seine Tochter vor Aufregung die Augen weit aufgerissen hatte. »Wahnsinn!« schrie sie begeistert und wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. »Er summt!« Danziger sah über die Schulter nach Zeros Kopf, den einer der Umstehenden wie einen Football unterm Arm trug. »Dein Körper summt immer, wenn du nicht in der Nähe bist, richtig?« fragte Danziger. Dem Kopf gelang es, den Eindruck zu vermitteln, als ob er mit den Schultern zuckte. »Woher soll ich das wissen? Schließlich bin ich dann nicht in der Nähe ...« Einen Moment lang war Danziger sprachlos. Die Logik dieses Roboters war wirklich unschlagbar. Doch ihm blieb nicht viel Zeit, sich über ihn zu amüsieren. Denn plötzlich begann die gesamte Frachtkapsel wie verrückt hin und her zu schaukeln. Danziger gelang es gerade eben noch, sich in Sicherheit zu bringen, bevor die Luke mit Gewalt von innen aufgestoßen wurde. Das kreischende Geräusch der brechenden Scharniere
schmerzte in den Ohren. Ein paar Sekunden lang drohte Zeros Körper das Gleichgewicht zu verlieren, da er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Luke geworfen hatte. Doch dann hatte er sich wieder unter Kontrolle und stand wie ein siegreicher Held auf der Schwelle der Frachtkapsel. Auf dem Rücken trug er True. So hat sie früher immer auf seinen Schultern gesessen, dachte Danziger. Früher ... Er mußte wohl lernen zu akzeptieren, daß sie nicht länger sein kleines Mädchen war und sich langsam aber sicher von ihm entfernte. True lachte ausgelassen, während sie sich von dem Rücken des Roboters auf den Boden gleiten ließ. Die Umstehenden begrüßten sie mit Beifallsrufen, und alles redete wild durcheinander. Als Danziger den Kopf entgegennahm, sah er aus dem Augenwinkel, daß Uly die ganze Szene mit unverhohlenem Neid beobachtete. Zum ersten Mal verspürte der Mechaniker Mitleid mit diesem kranken Kind. Es mußte wirklich furchtbar sein, mit einer Krankheit geboren zu werden, die den sicheren Tod bedeutete. Wie hätte sein eigenes Leben ausgesehen, wenn True nicht als quicklebendiges und kerngesundes Baby zur Welt gekommen wäre? Diese Vorstellung ließ Danziger schaudern. Er konnte verdammt froh und dankbar sein, daß er mit seiner Tochter bislang ein derart glückliches Leben geführt hatte. »Gute Arbeit, Süße.« Es war nicht zu übersehen, daß True über dieses Lob vor Stolz fast platzte. Danziger setzte den Kopf des Roboters nun auf den Rumpf und klinkte ihn in die dafür vorgesehen Halterungen ein. Endlich wieder hundertprozentig einsatzbereit, formte Zero mit seinem dicken, mechanischen Daumen und dem Zeigefinger einen Kreis. »Okay«, verkündete er mit übertriebener Begeisterung. Danziger war sich sicher, daß er innerhalb kürzester Zeit durchdrehen würde, wenn er diese
Stimme ständig hören müßte. »Fühle mich wie ein neuer Mensch.« »Großartig, dann sollten wir ...« In diesem Moment kam O'Neill, sein Jagdgewehr über die Schulter gehängt, zu ihnen herüber und warf einen Blick in die Kammer der Frachtkapsel. »Hey! Hat irgend jemand von Ihnen 'ne Ahnung, wie man diesen uralten TransRover zum Laufen bringt?« Danziger seufzte resigniert. Er warf True einen Blick zu und sah sofort, daß sie wußte, was er dachte. »Sicher«, rief er und hob die Hand, um sich bemerkbar zu machen. »Ich kenn' mich mit den Dingern aus.« Es sah ganz so aus, als ob er heute nicht mehr zur Ruhe kommen würde. Aber als er bemerkte, daß True wie selbstverständlich zu ihm kam, um ihm zu helfen, war ihm das auf einmal vollkommen egal. Allzu weit hatte sie sich offenbar doch noch nicht von ihm entfernt.
12 Vielleicht war dies genau der richtige Moment, um endgültig verrückt zu werden, dachte Morgan. Irgendwie, ob durch die Gnade eines gütigen Gottes, sein Karma oder weil er sein Leben lang täglich brav die Unterwäsche gewechselt hatte, war es ihm und Bess vergönnt gewesen, diese furchtbare Nacht, allein und ungeschützt inmitten dieser grauenhaften Wildnis, zu überleben. Allerdings konnte er auf solch ein Erlebnis in Zukunft gerne verzichten. Aus Angst davor, daß sich das Feuer entgegen den Versicherungen seiner Frau ausbreiten oder ausgehen könnte, wenn er auch nur eine Sekunde einschlief, hatte er kein Auge zugetan. Aber an Ruhe und Entspannung war angesichts dieser vielen widerlichen, unaufhörlich summenden Insekten ohnehin nicht zu denken gewesen. Zu Millionen waren sie über ihn hergefallen und hatten ihn zerbissen und zerstochen. Dann war da noch dieser Lärm gewesen, Geräusche, die von großen Tieren stammen mußten, die sich durchs Unterholz schlichen und sie belauerten. Und schließlich hatten diese verdammten Monde mit ihrem unheimlichen kalten Licht jeden Gedanken an Schlaf unmöglich gemacht. Bess allerdings hatte geradezu unverschämt süß und selig neben ihm geschlummert, als würde sie das alles überhaupt nicht stören. Wahrscheinlich lag das daran, daß sie auf der Erde aufgewachsen war. Die Leute dort waren sowieso ein Haufen Wilder. Das war schließlich allgemein bekannt. Der Regierungsbeamte saß jetzt neben den Überresten ihres Feuers und hatte die Einzelteile des Transponders vor sich auf einem großen Stein ausgebreitet. All diese Teile erschienen ihm unendlich kompliziert; wie das Ding funktionieren sollte, war Morgan ein Rätsel. Aber er arbeitete fieberhaft daran. Je eher er
aus dieser gottverlassenen Gegend verschwinden konnte, desto besser. »Okay ...« Er leckte sich die Lippen und runzelte die Stirn, während ihm der Schweiß in die Augen rann. Es war unerträglich heiß in der Sonne, aber diese verfluchten Insekten schienen die Hitze zu meiden und sich nur auf einen zu stürzen, wenn man so blöd war, sich in den Schatten der umstehenden Büsche und Bäume zu verziehen. Deshalb zog er es vor, in der Hitze zu leiden, wenn sich dadurch vermeiden ließ, daß die Viecher sich auf seinem ganzen Körper breitmachten. »Pole der Code-Einheit vertauschen ...« Verbittert murmelte er ein paar Flüche vor sich hin, während er ratlos die beiden Kabel in seiner Hand anstarrte. Bess trat aus der Rettungskapsel und blieb in deren dürftigem Schatten stehen. Unter der bereits durchweichten Bluse rann ihr der Schweiß den Hals und den Oberkörper hinunter. »Sieh dir doch bloß mal an, wie wir aussehen«, sagte sie und wischte sich mit der flachen Hand über Stirn, Wangen und Hals. »Kein Wunder, daß wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Ich werde dir ein paar frische Sachen aus dem Koffer holen, Liebling. Du wirst sehen, ein sauberes Hemd wirkt Wunder.« Morgan seufzte gereizt und kniff frustriert die Lippen zusammen. Er war wütend auf seine Frau, den verfluchten Transponder, sich selbst und vor allem auf das ganze gottverdammte Universum. »Bess, bitte! Ich versuche gerade, ein Signal von einer unserer Frachtkapseln zu orten. Stör mich jetzt nicht.« Aus dem Gebüsch zu ihrer Rechten war ein Pfeifen zu hören, das Morgan nicht weiter beachtete. An diesem verhaßten Ort gab es so viele Geräusche! Was da pfiff, war wahrscheinlich nichts weiter als einer dieser idiotischen Vögel, die die ganze Zeit herumlärmten. »Morgan ... hast du das gehört?«
»Was gehört?« fragte er, ohne von dem zerlegten Transponder aufzusehen. Warum verschwand sie nicht endlich und ließ ihn in Ruhe arbeiten? Ein zweiter kurzer, schriller Pfiff war zu hören, dann herrschte für einen kurzen Augenblick absolute Stille. (Welch ein Segen! Für Morgans Geschmack war die Natur auf diesem Planeten ohnehin entschieden zu laut.) Plötzlich raschelte es im Gebüsch, genau an der Stelle, wo Bess stand. Morgan saß wie vom Schlag gerührt da; nur ganz langsam und vorsichtig hob er den Kopf und starrte auf die Büsche. »Da ist irgendwas ...« flüsterte Bess und jagte ihrem Mann noch mehr Angst ein, als er ohnehin schon hatte, indem sie sich neugierig dem Gebüsch näherte. Er wollte schreien, brachte jedoch kaum mehr als ein klägliches Wimmern heraus. Bess hatte nur ein paar Schritte gemacht, als das Rascheln lauter wurde und sich die Zweige der Sträucher heftiger bewegten. Sie nahm sich die Warnung zu Herzen und blieb stehen. Mit schräg gelegtem Kopf versuchte sie, durch den dichten Vorhang der Blätter hindurchzusehen. »Morgan, sieh dir das an ...« sagte sie leise. Es kostete ihn eine schier unendliche Überwindung, aufzustehen und sich zu seiner Frau hinüberzuschleichen. Sicherheitshalber blieb er ein paar Meter hinter ihr stehen, warf einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter und sah ... ein Augenpaar, das ihn aus dem Schutz der Blätter zu durchbohren schien. Irgend etwas saß in diesem Gebüsch und starrte sie an! Bess kreischte auf, schnappte sich einen halb verbrannten Knüppel von der Feuerstelle und flüchtete sich an die Seite ihres Mannes. Morgan hatte nur noch einen Gedanken: zu fliehen. Aber die Beine versagten ihm den Dienst, er blieb wie angewurzelt stehen. In seiner Panik verkroch er sich hinter seiner Frau. Er faßte sie bei den Armen und hielt sie wie einen Schild vor sich, während er gleichzeitig versuchte, seine Fassung nicht vollkommen zu verlieren und möglichst souverän
zu wirken. »Hab' ...« Mehr brachte er nicht heraus. Sein Mund war wie ausgedörrt, er schluckte krampfhaft. Dann wagte er einen vorsichtigen Blick über ihre Schulter und sah, daß die Augen verschwunden waren. »Hab' keine Angst«, stieß er mit etwas sicherer Stimme hervor. »Was auch immer das war, es ist weg.« Doch ein weiterer Pfiff strafte ihn Lügen. Das Wesen war noch immer da. Und plötzlich waren auch die Augen wieder zu sehen, dieses Mal direkt vor ihnen, nur ein paar sich sanft bewegende Blätter trennten sie noch von diesem unheimlichen Etwas, dessen Augen sie unverwandt anstarrten. Morgan fragte sich, ob er seine Augen nicht einfach schließen sollte, am besten für immer. »Ich ... ich schlage vor, wir gehen zum Angriff über«, flüsterte er Bess kaum hörbar ins Ohr. »Nein, nein, nein«, widersprach sie entschlossen und erhob warnend eine Hand. »Warte.« »Ich warte ja, Bess«, zischte er gereizt. »Aber das Ding verschwindet nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Tiere darf man nicht unnötig reizen.« Vollkommen verdattert starrte Morgan seine Frau an, bevor er genervt stöhnte: »Wo bist du denn schon mal lebenden Tieren begegnet?« Bess zuckte die Schultern. »Auf der Erde«, gab sie zurück und zuckte noch einmal mit den Achseln, als ob ihr das immens peinlich wäre. »Dort gab es Ratten.« Morgan verzog angewidert das Gesicht. Dann holte er tief Luft und legte mit sanftem Druck eine Hand zwischen ihre Schulterblätter. »Auf mein Kommando, Bess: Achtung, fertig, los!« Laut schreiend stürzten sie in die Büsche, und Bess, die Morgan vor sich herschob, schwang ihren Knüppel wie ein Schwert. Unter dem Knacken der Äste schlugen sie sich durch das dichte, mehrere Meter breite Gebüsch. Als sie auf der
anderen Seite wieder herauskamen, sahen sie gerade noch, wie ein merkwürdig geducktes, kleines Wesen behende davonsprang und sich quer über die Lichtung in den Wald schlug. »Mein Gott!« keuchte Morgan und stützte sich auf seine Frau, während er versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Hast du das gesehen? Es ... es ... war bekleidet!« Bess schüttelte den Kopf. »Das war vielleicht nur sein Fell«, schlug sie nach Luft schnappend vor. Aber sonderlich überzeugt schien auch sie von dieser Erklärung nicht zu sein. »Und die Kapuze?, Gehört die auch zu seinem Fell?« Jetzt hörten sie erneut dieses Pfeifen, diesmal jedoch hinter ihnen, bei ihrer Lagerstelle. Ohne nachzudenken, stürzten sie sich wieder ins Gebüsch und liefen den Weg zurück, den sie gekommen waren. Daß ihnen dabei Äste ins Gesicht schlugen und Dornen die Haut zerrissen, schienen sie gar nicht zu bemerken. Wenige Meter von ihrem Lager entfernt blieben sie stehen, um sich möglichst unbemerkt anzuschleichen. Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, näherten sie sich der Feuerstelle. Für einen Augenblick hatte Morgan sogar die Insekten vergessen. Dann entdeckten sie das Wesen, oder zumindest eines, das genauso aussah. Es saß in der Mitte ihres Lagerplatzes auf seinen Hinterbeinen und starrte auf die bruchgelandete Rettungskapsel. Morgan entschied, daß es eigentlich kein Fehler sein konnte, wenn er auf der Stelle einen Herzinfarkt bekam. Damit könnte er sich und allen anderen eine Menge Ärger ersparen. Das Wesen hob seine Vorderpfote, die wie eine knochige Hand aussah, an die Lippen und begann zu pfeifen. Eine eigenartig gespenstische Melodie erfüllte die Luft, die in ihrer Fremdartigkeit etwas zugleich Betörendes und Unheimliches hatte. Irgendwo in der Ferne wurde die Melodie wiederholt, aber es handelte sich um kein Echo, sondern um die Antwort eines anderen Wesens, das die Botschaft des ersten weitergab.
Morgan war sich absolut sicher, daß es sich um eine Botschaft handelte und daß diese Wesen miteinander kommunizierten. Aber worüber redeten sie? Was harten sie sich über die Rettungskapsel mitzuteilen? Und wie viele von diesen Tieren waren in der Nähe ... falls es überhaupt Tiere waren? Und wo genau waren sie? Morgan hätte gerne alles getan, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Dann kam ihm ein noch viel beunruhigenderer Gedanke. Wenn sie sich tatsächlich über die Rettungskapsel unterhielten, redeten sie dann etwa auch über ihn und Bess? Verflucht, warum hatten Adair und O'Neill eigentlich nichts davon gesagt, daß es auf diesem Planeten intelligente Lebewesen gab? Was sollte das: Wollten sie eine Welt kolonisieren, die bereits bevölkert war? Plötzlich richtete sich das Wesen zu seiner voller Größe auf, und Bess und Morgan erstarrten in ihrem Versteck. Das Tier fixierte noch immer die Rettungskapsel und sprang auf seinen krummen Hinterbeinen in die Luft, wobei es abwechselnd von dem einen Fuß auf den anderen hüpfte. Dabei bemerkte Morgan, daß das fremdartige Wesen nur drei Zehen hatte. »Was macht es denn da?« flüsterte Bess. »Woher soll ich das wissen«, gab Morgan zurück. »Vielleicht Gymnastik.« Doch jede weitere Spekulation über dieses Thema erübrigte sich; denn in diesem Augenblick trat das Wesen vor die Luke der Rettungskapsel, ergriff sie mit beiden Vorderpfoten und riß sie mit einer Leichtigkeit aus ihren Angeln, die geradezu an Zauberei grenzte. Schließlich lud es sich die schwere Metallplatte auf den Rücken, als ob es sich um ein Spielzeug handelte, und trollte sich in den Wald davon. Mit offenen Mündern starrten die beiden ihm nach. Endlich fand Morgan die Sprache wieder. Mit einem Seitenblick auf seine Frau murmelte er entschlossen: »Ich muß diesen Transponder reparieren. Und zwar sofort.«
Danziger hatte sich zu einer kurzen Pause durchgerungen und sich in den Schatten der zerstörten Frachtkapsel gesetzt, von wo aus er Uly beobachtete. Der Junge lag in einer Hängematte, die man zwischen zwei Bäumen aufgehängt hatte, und starrte in die Baumkronen und den Himmel über sich. Lustlos folgte sein Blick den sich im Wind leise bewegenden Blättern, dem Flug der Vögel und Insekten und dem Zug der Wolken, die sich wie in einer langsamen, feierlichen Prozession über den Himmel schoben. Noch nie im Leben hatte Danziger jemanden gesehen, der einen dermaßen gelangweilten Eindruck machte. Es mußte die Hölle sein, wenn man so krank war wie dieser Junge. Jeder ging automatisch davon aus, daß er ohne fremde Hilfe zu überhaupt nichts imstande war. Und so bekam er nicht einmal die Chance, es wenigstens zu versuchen. Dieser letzte Gedanke brachte Danziger auf eine Idee. Er war sich sicher, daß Uly nicht bemerkt hatte, daß er ihn beobachtete. Also stand er auf und schlenderte wie zufällig zu dem Jungen hinüber. »Hey, Kid«, begrüßte er ihn beiläufig. »Kannst du mir mal helfen?« Durch all die Schläuche und Apparaturen des ImmunoAnzuges, die sein Gesicht halb verdeckten, sah Uly ihn an, als ob er seinen Ohren nicht traute. Daß ihm jemand diese Frage stellte, kam wohl nicht allzuoft vor. »Was kann ich denn schon machen?« fragte er mit der traurigen Resignation desjenigen, der es gewohnt ist, bei jedem Spiel ausgeschlossen zu werden. Das Selbstmitleid in Ulys Stimme trieb Danziger auf die Palme, aber er ließ sich nichts anmerken. Er haßte es, wenn Leute sich resigniert in ihr Schicksal ergaben und die Verantwortung für ihr eigenes Leben anderen überließen. Aber in Ulys Fall war das ja noch halbwegs zu verstehen. Alle hatten ihm immer das Gefühl vermittelt, daß er aus eigener Kraft nichts unternehmen konnte. Wie hätte er also vom Gegenteil überzeugt sein können? Hatte man ihm jemals die Chance gegeben, herauszufinden, ob er nicht doch etwas zustande brachte, wenn
er es sich nur fest vornahm? Doch wie konnte er erwarten, daß es ihm jemals besser gehen würde, wenn er sich nicht selbst ein bißchen Mühe gab, gesund zu werden? »Ich werd's dir zeigen«, gab Danziger zurück und bückte sich, um Uly hochzuheben und auf den Arm zu nehmen. Dieses Kind war wirklich federleicht, noch leichter als True in seinem Alter, obwohl schon sie sehr zierlich gewesen war. Danziger trug Uly um die Frachtkapsel herum auf die andere Seite und setzte ihn auf den Fahrersitz des kleinen, vierrädrigen ATV, den sie aus der intakten Kammer geborgen hatten. Dann schob er den Sitz so weit wie möglich vor, um den Jungen näher an die Kontrollen zu rücken. »Wie sieht's aus? Kommst du an die Schalter?« Ausgeschlossen, nie im Leben! dachte Uly, aber um nichts in der Welt hätte er das zugegeben. Schließlich stand für ihn so etwas wie ein Abenteuer auf dem Spiel. Schweigend starrte er auf die Armaturentafel und beugte sich vor, um zu versuchen, die Kontrollen mit den Fingerspitzen zu erreichen. Nur wenige Zentimeter trennten ihn von den Schaltern und Hebeln, die für ihn ein nie gekanntes Maß an Freiheit bedeuten konnten. Er biß die Zähne zusammen. Unter der blassen Haut seiner Wangen traten die Kieferknochen hervor, als er sich weiter nach vorne reckte, um den Kampf gegen seinen schwachen Körper zu gewinnen. Endlich berührten seine Fingerspitzen die Armaturentafel, streiften sie wie der flüchtige Kuß eines Verliebten, doch nur für Sekunden, dann sank der Junge erschöpft zurück. Er gab nicht auf, lehnte sich noch einmal vor und schloß schließlich seine schmalen Finger vorsichtig und zugleich ungläubig, daß er es geschafft hatte, um den Steuerknüppel des ATV. In diesem Moment kam O'Neill vorbei. Er hatte das Gewehr über den Rücken gehängt, als ob er auf Großwildjagd gehen und mindestens einen Elefanten erlegen wollte. Mit gerunzelter Stirn blieb er stehen und betrachtete Danziger und den Jungen.
»Wollten Sie sich nicht um den SandRail kümmern, mein Freund?« fragte er streng. Der Mechaniker erwiderte seinen Blick unbeeindruckt. Glaubt der Kerl, er kann mir vorschreiben, was ich zu tun habe? dachte er. »Ich denke, wir sollten alle mobil sein«, gab er zähneknirschend zurück, während er sich zwang, ruhig zu bleiben. Vielleicht halten die anderen diesen Jungen ja nur für ein lästiges Gepäckstück, aber ich nicht, verflucht noch mal ... Zu Danzigers Überraschung nahm sich O'Neill einen Moment Zeit, um über seine Bemerkung nachzudenken, anstatt einfach davonzugehen und ihn zu ignorieren. Vielleicht war der Gedanke dieses Mechanikers gar nicht so falsch, dachte der Commander. In Anbetracht der prekären Situation, in der sie sich befanden, mußte in der Tat jeder von ihnen in der Lage sein, sich frei zu bewegen ... und sei es, um im schlimmsten Fall so schnell wie möglich fliehen zu können. O'Neill nickte kurz. »Gute Idee«, gab er großzügig zu und ging hocherhobenen Hauptes davon. Arroganter Schnösel, dachte Danziger wütend und wandte sich wieder Uly zu, der ihm hoffentlich nicht ansah, was ihm durch den Kopf ging. Er trat einen Schritt zurück, um den Kleinen auf dem Gefährt besser in Augenschein nehmen zu können, und tätschelte liebevoll einen der Kotflügel. »Er ist zwar keine Schönheit, aber ein Mann braucht schließlich einen fahrbaren Untersatz, hab' ich nicht recht?« Uly sagte immer noch nichts, aber seine Augen wurden vor Staunen immer größer. »Was?« fragte Danziger und breitete mit gespielter Überraschung die Arme aus. »Hast du geglaubt, ich würde dich weiter durch die Gegend tragen?« Und augenzwinkernd fügte er hinzu: »Oder willst du etwa getragen werden?« Der Kopf des Jungen fuhr herum, und er sah Danziger mit einer Ernsthaftigkeit an, die den Mechaniker fast zum Lachen brachte. »Nein, Sir!« versicherte er rasch und mit fast schon
fieberhaftem Nachdruck. »Nein! Der ATV ist völlig in Ordnung.« »Okay, dann will ich dir mal erklären, wie er funktioniert.« Er nahm Ulys Hand und legte sie auf den Steuerknüppel. »Wenn er nicht anspringen will, mußt du ein bißchen an dem Knopf hier rumspielen und dreimal draufspucken. Ansonsten brauchst du nur diesen Steuerknüppel zu bewegen, mehr nicht.« $r trat zurück und gab dem Jungen mit einer Geste zu verstehen, daß er es versuchen und einfach losfahren sollte. Einen Augenblick lang zweifelte Danziger an Ulys Courage, doch dann schlössen sich die Finger des Jungen fest um den Steuerknüppel, und der ATV machte einen Satz nach vorn. »Sachte, sachte«, rief Danziger und sprang zur Seite. Das Fahrzeug kam zum Stehen, Uly hatte vor Scham einen roten Kopf bekommen, und in seinem enttäuschten Blick spiegelte sich die Gewißheit wider, daß er nun für immer vom Fahrersitz des ATV verbannt würde. »Es besteht kein Grund zur Eile«, beruhigte Danziger, der sich nur allzugut an die Katastrophe seiner ersten Fahrstunde erinnern konnte. »Nimm dir Zeit.« Uly nickte eifrig und versuchte es noch einmal. Ganz behutsam setzte er den ATV in Bewegung, und das Gefährt rollte langsam auf seinen großen Reifen davon. »Hey!« rief Danziger ihm nach. »Vergiß nicht, zu lenken!« Der Junge bewegte den Steuerknüppel, vollführte eine noch etwas wackelige Wende von hundertachtzig Grad und steuerte wieder auf den Mechaniker zu. Auf seinem Gesicht lag das strahlendste und zufriedenste Lächeln, das Danziger je gesehen hatte. Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben war Uly in der Lage, sich selbständig und frei zu bewegen! True lag unter dem SandRail und überprüfte Reifen und Bremsen des Geländefahrzeugs, mit dem ihr Vater und Commander O'Neill eine Erkundungsfahrt in die Umgebung machen wollten, um etwas über den Verbleib der gestohlenen Gegenstände aus der Frachtkapsel herauszufinden; außerdem -
und das war noch erheblich wichtiger - hofften sie, Informationen zu bekommen über die Wesen, die sie bestohlen hatten. True war sich nicht sicher, welches Gefühl überwog, wenn sie an ihren Vater dachte. War es Wut oder Sorge? Sie hatte beobachtet, wie er Uly in den ATV gesetzt hatte und wie dankbar und begeistert der Junge ihn dafür angesehen hatte. Sie war eifersüchtig. John Danziger war ihr Vater, und er hatte genug damit zu tun, sich um sie zu kümmern. Er brauchte nicht noch ein Kind. Und was war, wenn er noch ein Kind wollte? Dieser Gedanke war True unerträglich. Sie überlegte, ob sie in letzter Zeit irgend etwas angestellt hatte. Als sie noch klein war, hatte Danziger sie immer damit aufgezogen, er würde sie umtauschen, wenn sie nicht brav wäre. Vielleicht machte er ja jetzt Ernst mit dieser Drohung? . Auf der anderen Seite war sie nicht gerade begeistert von der Vorstellung, daß ihr Vater an dieser Erkundungsfahrt teilnehmen wollte. Commander O'Neill und seine altmodische Waffe erschienen True nicht unbedingt als Garantien für die Sicherheit ihres Vaters. Aber wahrscheinlich konnte ihr Dad ganz gut auf sich selbst aufpassen. Schließlich hatte er das auch schon getan, bevor sie auf der Bildfläche erschienen war. Trotzdem, ungefährlich war diese Aktion gewiß nicht. Da draußen warteten eine Menge unbekannter Dinge auf sie. In diesem Moment fiel ihr das kleine Wesen wieder ein. Sie hatte es den ganzen Tag nicht gesehen, seit sie es am Morgen aus dem Rucksack gelassen hatte, damit es sich etwas zu essen suchen konnte. True zweifelte nicht daran, daß das Tier in der Nähe war. Aber so lange sie es nicht sah, hatte sie Angst, daß jemand anders es sich schnappen und zu seinem Eigentum erklären würde. Uly zum Beispiel war das durchaus zuzutrauen. Irgend etwas schlug gegen ihren Stiefel, und sie hob den Kopf, um zu sehen, was es war. Neben ihrem Fuß lag ein Werkzeug, das vorhin noch auf einem der Sitze des Fahrzeugs
gelegen hatte, da war sie ganz sicher. Verstohlen sah sie sich um und stieß einen leisen, kaum hörbaren Pfiff aus. »Komm her, mein Kätzchen«, lockte sie flüsternd, aber nichts rührte sich. Der Klang näherkommender Stimmen hinderte sie daran, weiter zu suchen. Unglücklich und in Sorge um ihr Tierchen, kroch True wieder unter das Fahrzeug und machte mit ihrer Arbeit weiter, allerdings nicht ohne ab und zu ein paar neugierige Blicke aus ihrem Versteck zu werfen. Obwohl sie noch jung war, wußte True, daß die Langeweile viele Gesichter hat. Devons Gesicht zum Beispiel spiegelte ganz entschieden Langeweile wider, als sie gemeinsam mit O'Neill auf den SandRail zukam. Der Commander trug noch immer sein Gewehr über der Schulter, nahm es aber alle paar Schritte ab, um damit auf irgend etwas, Bäume, Steine oder Büsche, zu zielen und so zu tun, als wollte er abdrücken. Seit er seine Waffe wiedergefunden hatte, war er ungewöhnlich aufgeräumt und gab sich noch jovialer als gewöhnlich. True fand allerdings seine Keine-Angst-ich-beschütze-alle-Show wenig überzeugend. »Zwei Tonnen Ausrüstung und Lebensmittel, Devon«, sagte der Commander, während er erneut mit angelegtem Gewehr irgend etwas aufs Korn nahm. »Sollen wir das in Ermangelung von Glasperlen und Talmie einfach diesen zurückgebliebenen, dreizehigen Hominiden überlassen?« »Hören Sie, Broderick, ich versuche nicht, Sie zu belehren«, sagte Devon in einem Tonfall, der deutlich machte, daß sie dieser Diskussion allmählich überdrüssig war. »Aber ...« »Dann tun Sie's nicht«, schnitt er ihr grob das Wort ab. »Diese Sachen gehören uns, Devon. Genauso wie dieser Planet, der nur darauf wartet, daß wir ihn erobern!« Und was kommt als nächstes? fragte sich True, während sie die letzte Schraube festzog. O'Neills Krönung? Noch jemand kam auf den SandRail zu und blieb direkt vor ihr stehen. True erkannte die Stiefel ihres Vaters. »True?« rief er. »Bist du soweit? Ist er fahrbereit?«
Sie schob sich unter dem Fahrzeug hervor und jagte Devon einen gehörigen Schrecken ein, denn Ulys Mutter hatte nicht damit gerechnet, daß jemand in der Nähe war. Sie wurde regelrecht rot, und True fragte sich, ob es Devon peinlich war, daß sie dieses Gespräch mitgehört hatte. Mit den Händen klopfte sie sich den Staub von der Hose. »Ja«, antwortete sie nörgelig, noch immer nicht sicher, ob sie wegen der Sache mit Uly und dem ATV auf ihren Vater sauer sein sollte. Möglichst unauffällig sah sie sich um. Wo zum Teufel war nur ihr Tierchen? »Fahrbereit.« »Was suchst du denn?« fragte ihr Vater neugierig, dem offenbar nichts entging. »Nichts«, versicherte sie und steckte die Hände in die Hosentaschen, um klarzumachen, daß sie nicht vorhatte, ihn zum Abschied zu umarmen. Danziger sah sie streng an. »Ich hoffe, du hast nicht eins meiner Werkzeuge verbaselt. Wenn ich zurückkomme, will ich alles vollständig sehen, verstanden?« Sie nickte. »Alles klar, Dad. Viel Spaß.« Er sah sie noch einen Augenblick nachdenklich an. Für Trues Geschmack gab er sich viel zu schnell damit zufrieden, daß sie ihn nicht umarmen wollte. Mist! Er zwinkerte ihr einmal kurz zu und wandte sich dann an O'Neill. »Von mir aus kann's losgehen.« Der Commander schwang sich in den Jeep und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem. »Sie fahren«, sagte er, Danzigers Einverständnis voraussetzend. Zwischen Danzigers Brauen bildete sich eine ärgerliche Falte. Über den Kopf des Commanders hinweg warf er Devon einen genervten Blick zu, den diese mit einem verstehenden Lächeln beantwortete. »Sehen Sie sich bitte vor«, sagte sie und schlug zum Abschied einmal kurz auf den Kotflügel des Jeeps. Danziger quittierte das Verhalten des Commanders mit einem Kopfschütteln und stieg auf der Fahrerseite ein. Er startete den
Motor, legte den Gang ein und fuhr los. True winkte ihm pflichtbewußt nach und beschloß, sich wieder auf die Suche nach ihrem Tierchen zu begeben. Aber erst mußte sie noch Devon loswerden. »Haben Sie schon gesehen, womit Uly durch die Gegend fährt?« fragte sie mit einer Unschuldsmiene. Dabei wußte sie genau, daß sie mit dieser Bemerkung ihr Ziel schon so gut wie erreicht hatte. Und richtig, Devon fuhr aufgeregt herum und starrte sie mit großen Augen an. »Was?« fragte sie fassungslos. »Uly steuert ein Fahrzeug?« Sie warf einen Blick auf die Stelle unter den Bäumen, wo Uly in seiner Hängematte liegen sollte. Aber dort war er nicht. Sie schlug ihre Hände vor den Mund, um einen entsetzten Schrei zu unterdrücken. Ohne auf eine Antwort des Mädchens zu warten, rannte sie los, um ihren Sohn zu suchen. Zufrieden grinsend machte True sich daran, die Werkzeuge ihres Vaters einzusammeln, um sich dann endlich nach ihrem neuen Haustier umsehen zu können. Uly Adair sollte nicht glauben, daß sie ihm ihren Vater kampflos überließ. Es war damit zu rechnen, daß seine Mütter wegen der Geschichte mit dem ATV so sauer wurde, daß sie Danziger nie wieder auch nur in die Nähe ihres Sohnes ließ. Ein beruhigender Gedanke. True schloß den Werkzeugkoffer. Die erste Runde hatte sie auf jeden Fall gewonnen.
13 Der Mann, der nie träumte, hatte einen Traum. Alonzo war wieder auf dem Raumschiff, saß angeschnallt auf seinem vertrauten Platz und kämpfte mit den Kontrollsignalen, die nicht reagieren wollten, während das Schiff durch die Frachtkapseln, die sich nicht ausklinken ließen, unweigerlich in die Tiefe gezogen wurde. In rasendem Tempo näherten sie sich der Oberfläche des Planeten, der auf dem Frontschirm des Cockpits immer größer wurde. Sie stürzten ab! Das Schiff würde zerschellen, und sie mußten alle sterben! Endlich gelang es ihm, den Gurt zu lösen, aufzuspringen und aus dem Cockpit zu laufen. Hinter ihm explodierten die Kontrollarmaturen und gingen unter einem sprühenden Funkenregen in Rauch auf. Mit letzter Kraft, verzweifelt zur Flucht entschlossen, warf Alonzo sich durch die offene Tür des Cockpits ... und landete auf blanker, kalter Erde. Kein Staubkorn wirbelte von dem Boden auf, den die Füße unzähliger Generationen festgestampft hatten. Nach Luft ringend, stützte er sich auf Hände und Knie und sah sich verwundert um. Alonzo befand sich in einer Art Höhle. Da es fast vollkommen dunkel war, war es schwer, ihre genauen Ausmaße zu bestimmen, aber er hatte das Gefühl, als ob sich um ihn herum ein riesiger weiter Raum öffnete. Er hockte sich hin und fuhr mit den Händen über den kalten Boden, rieb mit den Fingern daran, bis ein wenig Erde haftenblieb. Er hob die Hand zur Nase, um daran zu riechen, als ein angenehmer Windhauch sein Gesicht berührte, der seinen Lungen guttat, die noch von den Dämpfen des verbrennenden Kunststoffs auf dem Raumschiff gereizt waren. Die Luft in der Höhle roch feucht, aber weder schimmelig noch stickig, sondern irgendwie rein. Der Geruch der Erde zu seinen Füßen war anders. Er drang in
seine Nase, sein Gehirn und sein Blut. Es war ein Geruch, den er noch nie wahrgenommen hatte und der ihm doch vertraut vorkam, als würde er ihn seit seiner Geburt kennen. Es war der Geruch einer reichen, einer freigebigen Welt, einer Welt, die für ihre Kinder sorgte. Alonzo fühlte sich merkwürdig hingezogen zu dieser Erde, zu dieser Welt, als ob er zu ihr gehörte. War es ein Geräusch oder eine plötzliche Eingebung, was ihn aufblicken ließ? Vor ihm stand unvermittelt eine bedrohliche, riesige Gestalt, die Beine mißgestaltet und plump. Das spärliche Licht, dessen Ursprung Alonzo nicht ergründen konnte, tauchte das Wesen in ein unheimliches Licht. Alonzo sprang auf die Füße und wirbelte herum, um dieser schaurigen, furchteinflößenden Erscheinung zu entfliehen. Doch er stieß gegen etwas, das er im ersten Moment für die Wand der Höhle hielt. Er stolperte und versuchte, an der Wand Halt zu finden, aber sie gab nach. Instinktiv schaute der Pilot nach oben. Sein Entsetzen ließ den Schrei, den er ausstoßen wollte, in seiner Kehle ersticken. Vor ihm stand eine riesige, grauenerregende Gestalt, finster und muskulös, die sich zu ihm hinunterbeugte. Das flache Gesicht mit der platten Nase und dem weit aufgerissenen Mund kam immer näher und ... Alonzo riß die Augen auf. Einen Moment lang wußte er nicht, wo er sich befand. Strampelnd und wild um sich tretend, versuchte er zu fliehen, ohne Rücksicht auf den Schmerz in seinen Beinen. Doch dann drangen die Bilder und Geräusche des Lagerplatzes in sein Bewußtsein: Julia, die sich um jemanden kümmerte, der sich den Arm verletzt hatte; True, die auf der Suche nach irgend etwas durch das dichte Gebüsch kroch; die Stimmen von Fremden, die ihm allmählich vertraut wurden; das Geräusch eines laufenden Motors, den jemand einzustellen versuchte; die Stimme dieses idiotischen Arbeitsroboters, der lautstark vor sich hinsang. Endlich wachte er auf.
Alonzo sank erleichtert in die Hängematte zurück und schluckte. Sein Herz raste, und sein Blutdruck war so sehr in die Höhe geschnellt, daß das Rauschen in seinen Ohren zumindest für den Moment den ständig pochenden Schmerz in den Beinen überdeckte. Er war sich nicht sicher, was ihm mehr Angst einjagte: das Bild dieser monströsen Gestalt mit ihren schaudererregenden ledrigen Gesichtszügen, das ihm immer noch vor Augen stand, oder die Tatsache, daß er einen Traum gehabt hatte. Er hatte geträumt! Das war das Beunruhigendste an der ganzen Sache. Denn er träumte doch nie, hatte zumindest schon seit Ewigkeiten nicht mehr geträumt. Als er Danziger erzählt hatte, er würde keine Träume kennen, hatte er die Wahrheit gesagt. Der Schalter, der die Träume in Gang setzt, funktionierte bei ihm schon lange nicht mehr, und er konnte nicht behaupten, daß ihm dadurch irgend etwas fehlte. Aber jetzt hatte er einen Traum gehabt, daran bestand kein Zweifel; denn schließlich war diese Gestalt verschwunden, sobald er die Augen geöffnet hatte. Und dieser Traum war der reine Horror gewesen, als ob ihm sein Unterbewußtsein alle traumlosen Nächte seines gesamten Lebens auf einen Schlag heimzahlen wollte. Alonzo holte tief Luft, um seinen rasenden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Auf keinen Fall wollte er wieder einschlafen. Weder jetzt noch später; wer wußte, ob ihn nicht wieder solch ein Alptraum erwartete, sobald er die Augen schloß? Mit Mühe gelang es ihm, sich in der Hängematte auf die Seite zu drehen. Diese Stellung war außerordentlich unbequem, aber genau das, was er jetzt brauchte. Der Schmerz in seinen Beinen lenkt« ihn wenigstens von dem grauenvollen Traum ab. Danziger fragte sich, ob nicht vielleicht Selbstmord eine Lösung war. Wenn er sich noch lange O'Neills großkotziges Gequassel anhören mußte, würde er sich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit die Pulsadern aufschneiden oder mit dem
Kopf so lange gegen einen Baum rennen, bis es mit ihm aus war. Andererseits war es vielleicht auch keine schlechte Idee, statt dessen O'Neill umzubringen. Ein ausgesprochen verführerischer Gedanke! Jetzt aber Schluß mit den dummen Witzen, ermahnte er sich. Ohne sich anmerken zu lassen, wie genervt er war, steuerte er den SandRail durch das trockene Flußbett, in dem deutlich die Fußspuren dieser dreizehigen Wesen zu sehen waren, die ihre Frachtkapsel ausgeraubt und die Vorräte weggeschleppt hatten. O'Neill fuchtelte ständig mit dem Gewehrlauf vor seiner Nase herum, und Danziger gab sich alle Mühe, nicht zu explodieren. Er wünschte sich bei Gott, der Schwätzer würde das Ding endlich runternehmen! Jetzt zielte der Commander auf einen mächtigen Baumstamm. Wollte er dem Baum vielleicht drohen, ihn zu erschießen, wenn er ihm nicht verriet, wo ihre Vorräte geblieben waren? Diesem Verrückten war alles zuzutrauen. »Sehen Sie das? Einfache Laser-Zielvorrichtung. Da hat der Gegner noch eine Chance. Diese Hitzesucher sind nur was für Weichlinge und Tunten.« Dieses Macho-Gerede vom Bezwingen der Wildnis war schon etwas seltsam in einer Zeit, in der es eigentlich keine Wildnis mehr gab; zumindest nicht zu Hause, auf den Raumstationen. Abgesehen davon entsprach die Eroberung fremder Welten ohnehin nicht unbedingt Danzigers Vorstellung von einem gelungenen Freizeitvergnügen. Trotzdem konnte er sich der Faszination, die diese alte Waffe auf ihn ausübte, nicht völlig entziehen. »Ist das echtes Holz?« fragte er und betrachtete den dunklen Gewehrkolben. O'Neill nahm die Waffe herunter und legte sie sich auf die Knie. Mit einer Hand strich er zärtlich über Lauf und Kolben, als würde er den Körper einer Frau liebkosen. »Walnuß«, gab er stolz zurück. »Solche Waffen werden seit dem einundzwanzigsten Jahrhundert nicht mehr hergestellt. Es ist schon Jahre her, daß ich mit dieser Schönheit geschossen habe.«
Er begegnete Danzigers erstauntem Blick. »Das war bei einer Jagdveranstaltung der Generalität.« Danziger nickte. Die Erwähnung dieser illustren Gesellschaft konnte ihn kaum beeindrucken, aber O'Neill zuliebe verzog er anerkennend den Mund. »Sie müssen 'ne ganze Menge Orden haben, um so eine Einladung zu bekommen.« Der Commander nickte. »Ein paar«, antwortete er bescheiden. »Und ich nehme an, hier draußen werden es noch ein paar mehr.« Die wachsende Begeisterung in seiner Stimme war unüberhörbar. Danziger sah seinen Begleiter einigermaßen befremdet von der Seite her an. Die Augen des Commanders waren auf den Horizont gerichtet, als suchte er dort nach etwas, was schon lange nicht mehr existierte. »Sind Sie deswegen hergekommen?« fragte Danziger neugierig. »Hier liegt die letzte Wildnis, mein Sohn«, gab O'Neill in einem väterlichen Tonfall zurück, der Danziger die Haare zu Berge stehen ließ. »Die letzte.« Plötzlich sprang O'Neill auf. Danziger trat auf die Bremsen und brachte den SandRail zum Stehen. Der Commander riß das Gewehr hoch und legte an. Es herrschte absolute Stille, die nur von dem leisen Summen des Motors unterbrochen wurde. Es vergingen einige spannungsgeladene Sekunden, bis O'Neill, ohne einen Schuß abgegeben zu haben, sein Gewehr senkte und sich wieder setzte. Auf seine Oberlippe und die Stirn war Schweiß getreten. »Manchen Männern fehlt da einfach etwas«, sagte er mit einem abschätzigen Seitenblick auf den Mechaniker. Danziger war für dieses Männlichkeitsgehabe kaum anfällig. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, sich trotzdem vorzustellen, wie es wäre, wenn er O'Neill tötete. Devon war alles andere als glücklich darüber, daß Uly mit dem ATV durch die Gegend fuhr, aber sie konnte ihn um nichts
in der Welt dazu bewegen, von dem Ding runterzusteigen. Julia wollte seine Atemwerte überprüfen, doch der Junge bestand darauf, daß sie das tat, während er in diesem verdammten Fahrzeug saß, das Danziger für ihn zusammengebastelt hatte. Auf der einen Seite war Devon dem Mann wirklich dankbar dafür, daß er sich so nett um ihren Sohn kümmerte. Aber andererseits ärgerte es sie auch, daß er sich in ihre Angelegenheiten mischte. Wenigstens um ihre Meinung hätte er sie fragen können, bevor er Uly den Floh mit dem ATV ins Ohr gesetzt hatte. »Mom«, erklärte Uly in dem geduldigen Ton eines Kindes, das versucht, seinen Eltern klarzumachen, daß sie sich wie komplette Idioten benehmen. »Das Fahrzeug ist genauso sicher wie mein Rollstuhl.« »Wirklich?« Sie versuchte erst gar nicht, ihre Skepsis zu verbergen, obwohl eigentlich auch sie davon ausging, daß Danziger ihren Sohn nicht auf den ATV gesetzt hätte, wenn das gefährlich gewesen wäre. »Ich weiß nicht recht.« Julia unterbrach ihren Streit, indem sie sich zu Uly hinüberbeugte und ihm zum ersten Mal, seit sie auf dem Planeten angekommen waren, das Atemgerät abnahm. »Okay, atme ganz ruhig weiter«, befahl sie. Der Kleine traute der Sache noch nicht so recht und holte nur sehr vorsichtig Luft, ohne dabei das Gesicht der Ärztin aus den Augen zu lassen. Julia hielt ihm das Diagnosegerät hin, so daß er sich das Mundstück zwischen die Lippen schieben konnte. »Und jetzt puste so kräftig rein, wie du kannst.« Während Uly so tief wie möglich ausatmete, beobachtete Devon konzentriert den Luftbeutel. Die Ergebnisse waren bei weitem nicht so gut, wie sie gehofft hatte, aber sie versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Gut gemacht, Uly.« Sie nahm ihn in den Arm. »Stimmt«, pflichtete Julia bei. »Das war gar nicht schlecht.« »Mein bestes Ergebnis?« fragte er hoffnungsvoll.
»Beinahe«, versicherte Devon und bemerkte, wie enttäuscht er sie ansah. »Sind meine Werte kein bißchen besser geworden?« fragte er nach. »Du hast doch gesagt, ich werde hier gesund!« »Das wirst du auch«, beruhigte Devon ihn, auch wenn ihr der weinerliche Unterton in seiner Stimme auf die Nerven ging. Sie konnte nur hoffen und beten, daß sie dem Jungen keine falschen Versprechungen gemacht hatte. Sie würde es sich nie verzeihen, wenn ihr Sohn ihretwegen hier in der Fremde sterben müßte. »Abgesehen davon«, fuhr sie neckend fort, »mußt du dich selbst ein bißchen anstrengen. Hast du gedacht, du kannst dich auf die faule Haut legen und in aller Seelenruhe abwarten, bis es dir bessergeht?« Sie sah ihn gespielt vorwurfsvoll an und beugte sich zu ihm hinunter, um ihre Nase an seiner zu reiben. Endlich lächelte er schüchtern und nickte kaum merklich. Sie hatte also recht gehabt. Devon richtete sich wieder auf. »Na schön, dann zeig mir mal, wie du mit diesem Ding fährst. Bis zu dem Baum da hinten und wieder zurück. Aber sieh dich vor!« »Stoppst du meine Zeit?« fragte er begeistert und fuhr los. Der ATV holperte auf den Baum zu, und der zierliche Junge schaukelte in seinem Sitz hin und her. Sobald Uly sie nicht mehr sehen konnte, ließ Devon die Maske vorgetäuschten Optimismus fallen. »Sein Zustand hat sich zumindest nicht verschlechtert«, versuchte Julia sie aufzumuntern. »In Anbetracht der Belastungen, denen er in den letzten Tagen ausgesetzt gewesen ist, grenzt das zwar nicht gerade an ein Wunder, aber es ist immerhin etwas.« Devon hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Sohn, der sich immer weiter entfernte. Jetzt kam er an den Baum, fuhr um ihn herum und hielt sein Fahrzeug einen Moment an, um ihr zuzuwinken. Sie winkte zurück. Dann hustete Uly, nur ein einziges Mal zwar,
doch Devon ließ sofort enttäuscht ihre Hand sinken und ballte sie zur Faust. Instinktiv trat sie einen Schritt vor, um zu ihm zu gehen und ihm zu helfen, überlegte es sich dann aber doch anders. Nicht nur Uly, auch sie selbst hatte ein paar Dinge zu lernen. Und warum nicht jetzt damit anfangen? »Ich will doch nichts weiter, als daß mein Sohn gesund wird.« Julia berührte besänftigend ihren Arm. »Auf der Grundlage der heutigen Ergebnisse spricht nichts dagegen.« Die Ärztin hatte wohl recht. Wahrscheinlich war Devon wirklich zu ungeduldig; man konnte schließlich nicht erwarten, daß ein einziger Tag genügte, um das Leid von neun Jahren Krankheit auszulöschen. Uly hatte sich inzwischen auch ohne die Hilfe seiner Mutter von dem Hustenanfall erholt und setzte den ATV wieder in Bewegung. Ein paar Sekunden später hielt er neben ihnen an. »Willst du mal mitfahren?« fragte er seine Mutter herausfordernd. Noch nie hatte Devon ein solches Leuchten in seinen Augen gesehen. Allein dafür war sie Danziger unendlich dankbar. Insgeheim entschuldigte sie sich dafür, daß sie vorhin so wütend auf den Mechaniker gewesen war, und wünschte ihm viel Glück bei seiner Erkundungsfahrt mit O'Neill. »Glaubst du, daß das Ding uns beide trägt?« Als Uly eifrig nickte, schwang sie sich auf den Sitz hinter ihm. und legte die Arme um ihn, fest überzeugt, daß sie sich gerade auf ein unkalkulierbares Abenteuer eingelassen hatte. »Aber fahr nicht zu schnell«, ermahnte sie ihn. Natürlich holte der Kleine jetzt erst recht alles aus dem Gefährt an Geschwindigkeit heraus, was es hergab. Auf der Motorhaube des SandRails stehend, suchte Danziger mit einem Telescanner den Horizont ab. Er konnte sich nicht helfen, der Planet, den Devon Adair sich als neue Heimat für die Syndrom-Kinder auserkoren hatte, war wirklich faszinierend. Was er sonst noch zu bieten hatte, würde sich zeigen müssen.
Aber allein für den Anblick dieser Landschaft hatte sich die Reise gelohnt. Die beiden Kundschafter hatten die Ebene mit den hohen Gräsern, Büschen und Bäumen, in der sich das Lager der Gestrandeten befand, hinter sich gelassen und waren schließlich zu einer Hügelkette gelangt, die die natürliche Grenze zu einer weitläufigen Steppe darstellte. Vor Danzigers Augen erstreckte sich eine riesige sandige Ebene, in der es nur spärliche Vegetation gab. Die Bedingungen für den Einsatz des Telescanners waren ideal, und Danziger wünschte, er könnte True dies alles zeigen. Ein paar Meter entfernt kniete O'Neill im Sand und untersuchte die Spuren der dreizehigen Wesen. Allem Anschein nach hatten sie sich an dieser Stelle zerstreut, denn die Fußabdrücke führten jetzt in alle Himmelsrichtungen. Zu Danzigers großem Erstaunen hatte der Commander sich von seiner Waffe getrennt und sie im Wagen liegengelassen. Offensichtlich war er endlich zu der Überzeugung gelangt, daß die Fußspuren doch nicht so gefährlich waren, um sie mit der Waffe in Schach halten zu müssen. Danziger nahm den Scanner von den Augen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Meilenweit nichts zu sehen«, berichtete er. »Ich kann keinerlei Bewegung ausmachen.« Er sprang vom Wagen und ging zu O'Neill hinüber, um ihm den Scanner zu geben. Vielleicht wollte der Commander sich mit eigenen Augen davon überzeugen. Aber der schüttelte nur den Kopf. »So leicht werden wir uns nicht geschlagen geben, Danziger«, sagte er entschlossen. »So leicht nicht.« Peng! Danziger, der sich instinktiv geduckt hatte, brauchte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, was geschehen war. Aus dem Gewehr, das auf dem Rücksitz des SandRail lehnte, hatte sich ein Schuß gelöst. Aber das war doch unmöglich! Im gleichen
Moment wie O'Neill fuhr er herum und sah ein kleines, dickbäuchiges, einer Eidechse nicht unähnliches Tier, das einen erschrockenen Satz weg von dem Gewehr auf den Beifahrersitz machte. »Was zum Teufel ...« fluchte O'Neill und zog eine Pistole. Bis zu diesem Augenblick hatte Danziger nicht einmal bemerkt, daß der Commander ein Halfter mit einer zweiten Waffe trug. Was war los? Brütete der Kerl die Dinger aus? Oder nahm er diese Pistole gar jeden Abend mit ins Bett? O'Neill legte mit ausgestreckten Armen seine Waffe auf das Tier an, während er sich ihm langsam, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, näherte. Und dieses Tierchen äffte ihn nach! Selbst einen Zeh seiner Vorderpfote hatte es gekrümmt, als ob es an einem imaginären Abzug ziehen wollte. Danziger hatte das Gefühl, als würde ihm das Herz stehen bleiben. War O'Neill verrückt? Da im SandRail saß doch nur ein kleines Tier, ein Etwas, in das sich seine Tochter Hals über Kopf verlieben würde, sobald sie dieses Wesen nur sähe. Und abgesehen davon war die Art, wie es das wichtigtuerische Gehabe des Commanders nachmachte, außerordentlich komisch. »Hey, O'Neill, entspannen Sie sich. Vielleicht sollten wir uns lieber ein bißchen zurückhalten ...« Der Commander verzog angewidert den Mund, und Danziger fragte sich, wem seine Verachtung galt - ihm, dem Tierchen oder ihnen beiden zusammen. »Wenn ich mich zurückhalten wollte, dann wäre ich auf einer Raumstation geblieben«, sagte er und zielte. Danziger wußte, was geschehen würde, doch bevor er noch ein einziges Wort sagen oder irgend etwas unternehmen konnte, hatte O'Neill schon geschossen. Das Tier stieß einen gellenden Schrei aus und sprang zur Seite, während die Kugel aus O'Neills Waffe die Rückenlehne des Beifahrersitzes zerfetzte. Mit weit aufgerissenen Augen wandte das Tier langsam den Kopf zur Seite, um sich das Loch im Polster anzusehen. Dann drehte es sich zu O'Neill um und musterte ihn
mit großen, gelben Augen, aus denen eine geradezu erschreckende Intelligenz sprach. Tief in seinem Inneren sagte eine Stimme Danziger, daß ihm dieser Blick nicht gefiel. Er wünschte, O'Neill würde endlich zur Vernunft kommen und diese verdammte Waffe wegstecken. »Hey, O'Neill, Sie wissen doch gar nicht, worauf Sie sich da einlassen ...« Für einen Augenblick ließ sich der Commander durch die Bemerkung von seinem Ziel ablenken. »Ich stelle mich der Herausforderung der Wildnis«, sagte er in einem Ton, als ob damit alles erklärt und Danziger ein Idiot wäre, der nichts begriff. »Mehr nicht.« Dann hob er wieder die Waffe und legte auf das Tier an. Er kniff ein Auge zusammen, sein Finger krümmte sich langsam um den Abzug ... Die Art und Weise, wie das Tier in diesem Moment ein Glied seiner Vorderpfote ausstreckte, wäre in jeder Bar der Raumstationen als obszöne Geste gedeutet worden. Dann zuckte O'Neill plötzlich zusammen und griff sich mit einer Hand an den Hals. »Ahh«, stöhnte er. »Sind Sie in Ordnung?« fragte Danziger besorgt. Offensichtlich steckte so etwas wie ein Stachel im Hals des Commanders. Als er ihn mit zusammengekniffenen Fingern herauszog und hochhielt, sah Danziger, daß es sich um eine kleine, halbmondförmige Kralle handelte. O'Neill fluchte. »Dieser Hurensohn, das verdammte Ding brennt wie ...« Dann verlor er das Gleichgewicht und geriet ins Taumeln. Die Klaue entglitt seiner zitternden Hand und fiel in den Sand. »Verflucht, dieses kleine Biest hat...« Er schnappte nach Luft, sein Mund öffnete und schloß sich, ohne daß er ein Wort herausbrachte. »Heilige ...« Keuchend sank er auf die Knie. Danziger lief zu ihm, doch O'Neill war bereits zusammengebrochen und lag mit dem Gesicht im Sand. »Hey, hey ...« Danziger ließ sich neben dem korpulenten Mann auf die Knie fallen. »Hey, O'Neill!« schrie er. Als er seinen Begleiter auf den Rücken drehte, wich er erschrocken zurück. Das Gift
hatte das Gesicht des Mannes blau anlaufen lassen, seine Züge waren grauenhaft verzerrt. Er stierte an Danziger vorbei ins Leere, seine weit aufgerissenen Augen schienen nichts mehr zu erkennen. Danziger versuchte, O'Neills Puls zu fühlen, doch sein Herz schlug schon nicht mehr. Er riß dem Commander das Hemd auf und begann mit einer Herzrhythmusmassage. »Oh mein Gott, oh mein Gott ...« stammelte er vor sich hin, während er mit beiden Händen auf O'Neills Brustkorb drückte und betete, der Mann möge doch atmen, wenigstens einmal tief durchatmen. »Nun kommen Sie schon, Mann, tun Sie mir das nicht an«, bat er und pumpte weiter, immer wieder. Beatmen, pumpen, wieder beatmen. Pulskontrolle, pumpen, pumpen, pumpen, beatmen. Immer und immer wieder ... Aus dem Augenwinkel nahm er eine Bewegung wahr und sah zu dem SandRail hinüber. Während seine Hände wie automatisch weiterhin O'Neills Brustkorb bearbeiteten, registrierte er, wie das Tierchen, dieses niedliche kleine Wesen mit den tödlichen Krallen, im Wagen seine Bewegungen nachäffte. Mit übereinandergelegten Vorderpfoten drückte es auf das Polster des Sitzes und versuchte, dem Kunststoffbezug Leben einzuhauchen. Unter anderen Umständen hätte sich Danziger wahrscheinlich über dieses Verhalten köstlich amüsiert; jetzt aber starrte er das Tier nur stumm und erschrocken an. Schließlich schien dem Wesen dieses Spiel zu langweilig zu werden, und es trollte sich davon. Lautlos und ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwand es in einem Gebüsch. Danziger gab nicht auf. Er durfte nicht aufgeben. Er wollte, daß O'Neill atmete, daß er lebte. Er wollte, daß das alles nicht wahr war.
14 Uly hatte noch nie in seinem Leben an einer Beerdigung teilgenommen. Während er auf seinem ATV saß und den Indian Nickel, den O'Neill ihm geschenkt hatte, in der Hand versteckt hielt, versuchte er sich so unauffällig wie möglich umzuschauen, um auch ja nichts zu verpassen. Da Danziger ein paar Stunden benötigt hatte, um Commander O'Neill in das Lager zurückzubringen, hatte bei seiner Rückkehr bereits die Leichenstarre eingesetzt. Uly konnte zwar nur einen ganz kurzen Blick auf die Leiche werfen (Leiche! Schon allein das Wort war faszinierend!), bevor seine Mutter alles verdarb und ihn wegschickte. Aber dieser eine Blick hatte fast schon genügt, um seine kindlich morbide Neugierde zu stillen. O'Neill schien irgendwie unbeweglicher zu sein als sonst. Er machte einen steifen und unhandlichen Eindruck, als Danziger ihn von dem SandRail hinunterhob. Am Hals war eine rote Stelle von der Größe eines Tennisballs zu erkennen, die geschwollen und entzündet aussah. Für Uly war das alles unheimlich, aber gleichzeitig auch ungeheuer spannend. Das Entsetzen und die Trauer der Erwachsenen über diese Tragödie, wie sie es nannten, ließen ihn einigermaßen kalt. Ihn interessierte einzig und allein die Leiche. Bevor sie den Commander beerdigten, wollte er sich den leblosen Körper wenigstens einmal ganz genau ansehen und, falls er sich das traute, vielleicht sogar anfassen. Grübelnd kaute Uly auf der Unterlippe herum. Es war schon eigenartig, seit der Commander tot war, sah er diesen Mann eigentlich nur noch als so etwas wie eine Sache an. Inzwischen hatten sich alle Kolonisten auf dem Kamm des Hügels, an dessen Fuß sich das Lager befand, versammelt und um eine Grube herum aufgestellt, die ein paar Männer
ausgehoben hatten. Obwohl es noch früh am Morgen war, wärmten die Sonnenstrahlen bereits, und das Rauschen des Windes im hohen Gras bildete einen erdigen musikalischen Kontrapunkt zu Yales tiefer, sonorer Stimme, die bis ins Tal hinunter trug. »Vergib uns Herr, wenn es dieser Zeremonie an Würde und Feierlichkeit mangelt. Aber das Ritual einer Beerdigung ist bei uns, die wir seit Generationen im All leben, in Vergessenheit geraten.« Devon legte Uly eine Hand auf die Schulter. Der Junge hatte wie alle anderen den Kopf zum Gebet gesenkt, blickte jedoch verstohlen zu seiner Mutter auf. Der Schock über O'Neills Tod hatte deutliche Spuren in Devons Gesicht hinterlassen. Sie war blaß und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Verwundert bemerkte Uly, daß sie weinte. Er wußte, daß sie O'Neill gemocht und in ihm sowohl einen Freund als auch einen Partner gesehen hatte; aber daß sie wegen dieses Mannes Tränen vergoß, überraschte und erschreckte ihn dennoch. Schließlich hatten die beiden sich nicht sonderlich nahegestanden und überdies recht häufig gestritten. Alles in allem empfand Uly die Trauer seiner Mutter deshalb als außerordentlich verwirrend. Er warf einen verschämten Blick auf den Rest der Trauergemeinde. True stand neben ihrem Vater, den Uly insgeheim für einen tollen Typ hielt. Er hatte eigentlich ein viel besseres Kind als seine Tochter verdient, und Uly schwebte auch schon sehr konkret vor, um welches Kind es sich dabei handeln könnte. Danziger sah furchtbar aus. Er hatte sein möglichstes getan, um O'Neill wieder ins Leben zurückzuholen, aber vergeblich. True, die seine Hand hielt, sah immer wieder besorgt zu ihm auf, während sie ihm mit der anderen Hand beruhigend und tröstend über die Finger streichelte ... wie eine Mutter. Baines und die anderen hielten sich im Hintergrund. Ein wenig abseits stand Julia, die sich um Alonzo kümmerte, den
man auf seiner Trage heraufgebracht hatte. Auch die beiden sahen blaß und traurig aus. Die ganze Zeit über hatte Yale weitergesprochen, und Uly versuchte sich wieder auf das zu konzentrieren, was der Lehrer sagte. »Der Herr segne unseren Bruder Broderick O'Neill«, intonierte der Cyborg mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf. »Der Herr behüte ihn, er lasse sein Angesicht leuchten über ihm und schenke ihm Frieden.« Dann bückte er sich, nahm ein wenig Erde auf und streute sie in das offene Grab. »Universum zu Universum, Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Er schwieg einen Augenblick. Uly glaubte, das Gebet sei beendet, und sah auf, aber alle anderen hielten noch immer die Köpfe gesenkt. Nur Yale schaute zu ihm und lächelte ihn warmherzig an. Das erste Mal, seit Danziger mit dem toten O'Neill ins Lager zurückgekommen war, fühlte Uly sich wieder glücklich. »Herr, bewahre und behüte uns«, fuhr Yale fort, »wenn wir unsere Schritte auf den Pfad in die Ungewißheit lenken. Und schließe unsere Brüder in dein Herz, mit denen zusammen wir uns auf diesen beschwerlichen Weg gemacht haben und über deren Aufenthalt wir nichts wissen. Bewahre sie vor dem Übel, ob im Leben oder, wider all unsere Hoffnung, im Tod. Amen.« Dieses letzte Wort wurde von allen anderen wiederholt, bevor sie sich zum Gehen wandten, um die Grabstätte zu verlassen und ins Lager zurückzukehren. Nur zwei Männer blieben mit Schaufeln in der Hand neben der Grube stehen. Da sie mit dem Rücken zum Grab standen und leise miteinander redeten, sah Uly endlich seine Chance gekommen, noch einen letzten Blick auf den Toten werfen zu können. Seine Mutter war bestimmt zu sehr in ihre Trauer versunken, um zu bemerken, daß er ihr nicht gleich folgte. Noch dazu wurde sie in diesem Moment von Danziger beiseite gezogen, der ihr offensichtlich etwas mitzuteilen hatte. Während die beiden gemeinsam den Abhang
hinuntergingen, fuhr Uly vorsichtig mit dem ATV an das offene Grab heran. Er wollte nur einmal kurz hineinsehen ... Aus dem Augenwinkel nahm Uly auf der anderen Seite der Grube eine Bewegung wahr und erkannte True, die sich fast den Hals verrenkte, um einen Blick in das Grab zu werfen. Offenbar wollte auch sie die Leiche noch einmal anschauen. Plötzlich erschien ihm dieses Mädchen in einem vollkommen anderen Licht, zum ersten Mal empfand Uly ihre Anwesenheit als nicht unangenehm, im Gegenteil, er freute sich, dieses Erlebnis mit jemandem teilen zu können. Die beiden Kinder lächelten einander verschwörerisch zu, während sie sich, jedes auf einer Seite des Grabes, noch ein Stück näher heranschlichen und einen vorsichtigen Blick auf die in ein Tuch gehüllte Leiche warfen. »Kinder«, donnerte in diesem Moment eine tiefe Stimme, die direkt aus dem Grab zu kommen schien. Entsetzt fuhren beide hoch und stießen wie aus einem Munde einen Schrei aus. Am Kopfende des Grabes stand Yale. »Es tut mir leid, wenn ich euch einen Schrecken eingejagt habe«, sagte er in einem Tonfall, der in Ulys Ohren alles andere als bedauernd klang. »Ich hab mich nicht erschreckt«, erklärte True. Sie war bemüht, ihre Fassung wiederzugewinnen, und sah Yale herausfordernd an. »Und ich erschrecke mich nie«, erinnerte ihn Uly. »Stimmt, das hatte ich fast vergessen.« Yale ließ sich langsam, mit knackenden Gelenken auf die Knie sinken, um auf die Kinder weniger einschüchternd zu wirken, und winkte sie zu sich. »Wollt ihr mit mir darüber reden, was mit Commander O'Neill passiert ist?« fragte er mit ernster Stimme. True zuckte die Schultern und machte ein Gesicht, als ob für sie bereits alles völlig klar wäre. »Er ist tot.« Dann runzelte sie die Stirn. »Aber warum legen wir ihn in die Erde?«
Der alte Cyborg spielte mit dem Gras zu seinen Füßen, indem er mit der Hand sanft über die Halme fuhr. »Für jeden von uns kommt einmal der Zeitpunkt, an dem wir an den Ort zurückkehren müssen, von dem wir zu kommen glauben«, erklärte er. »Die Erde, auch diese neue Erde, ist der Ort, wo das Leben beginnt. Und wenn es endet, wird die Erde der Ort sein, an dem wir unsere letzte Ruhe finden.« »Aber ich bin nicht auf der Erde geboren«, wandte Uly ein und fragte sich, was wohl passieren würde, wenn er starb. Würden sie einen Ort für ihn finden oder ihn einfach irgendwo unter einen Busch legen? »Ich auch nicht«, fügte True hinzu. Uly beugte sich auf seinem ATV vor und griff nach Yales Hand. Seine zarten, kleinen Finger schlössen sich um den rauhen, vom Alter gezeichneten Zeigefinger des Cyborgs. Ihre Blicke trafen sich. »Werden wir alle in die Erde zurückkehren, Yale?« fragte er feierlich. Auf dem Hügel erschien Zero mit einer großen Metallplatte, mit der O'Neills Grab abgedeckt werden sollte. Die Männer, die mit ihren Schaufeln auf den Roboter gewartet hatten, gingen nun zum Grab hinüber, um die schwere, fruchtbare Erde auf den Leichnam zu häufen. Ohne den Blick von Ulys Gesicht zu wenden, bedeutete Yale ihnen mit einer Geste, daß sie noch einen Augenblick warten sollten. »Bis dahin wird noch sehr, sehr viel Zeit vergehen«, sagte er überzeugt. »Aber wir müssen uns vorsehen. Wir befinden uns auf einem fremden Planeten. Hier ist alles anders als zu Hause. Commander O'Neill starb, weil er das vergessen hatte. Weil er nicht daran gedacht hat, daß hier selbst ein kleines Tier, auch wenn es noch so niedlich ist, den Tod bringen kann.« Uly merkte, daß True neben ihm unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Das war ihr kaum übelzunehmen, denn der Blick, mit dem der Lehrer sie beide ansah, war selbst für seinen Geschmack sehr streng.
»Also gut, solltet ihr jemals so ein Tier sehen, dann erwarte ich von euch, daß ihr euch auf jeden Fall von ihm fernhaltet.« Sein Tonfall machte deutlich, daß das keine Bitte, sondern eine strikte Anweisung war. Und Uly wußte aus Erfahrung, daß Yale nur dann Befehle gab, wenn er dafür gute Gründe hatte. Deswegen nickte er mit ernstem Gesicht. »Ich versprech's.« Yale sah True prüfend an, aber sie begegnete seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ist in Ordnung, ich auch.« »Gut.« Yale stand auf und legte jedem Kind eine Hand auf die Schulter. »Dann gehen wir jetzt zurück zu den anderen.« Er gab Zero und den Männern ein Zeichen, und sie begannen, das Grab zuzuschaufeln. Am Rande des Camps stand Danziger breitbeinig auf der hohen Stoßstange des TransRover und beugte sich über dessen Motorraum. Er wollte den uralten Jeep reparieren, damit ihnen neben dem SandRail noch ein zweites Fahrzeug zur Verfügung stand. Der SandRail jagte ihm sowieso jedes Mal, wenn er ihn ansah, Schauer über den Rücken. Immer wieder schoß ihm das Bild in den Kopf, wie dieses unheimliche Wesen die Rückenlehne des Beifahrersitzes bearbeitet hatte. Und der ATV gehörte, so wie Danziger sich das von Anfang an gedacht hatte, praktisch allein Uly. Der Mechaniker hatte den Motor des archaischen Fahrzeugs mittlerweile fast schon komplett auseinandergenommen, und die Einzelteile lagen wild verstreut herum. Aber das Ganze hatte trotzdem System. Das einzige, was Danziger störte, war Devons Gegenwart. Sie unterhielt sich in der ein paar Meter entfernten, unter einer Plane provisorisch errichteten »Kommandozentrale« mit Yale. Warum Devons Gegenwart ihn allerdings derart irritierte, konnte er sich nicht genau erklären. Und das störte ihn noch mehr. »Hier haben wir die Kommunikationssektion abgeworfen«, hörte er Yale sagen, während er sich weiter vorbeugte, um die Eingeweide des TransRover zu untersuchen. »Eine der
Frachtkapseln haben wir ja bereits gefunden, aber wo die anderen fünfzehn sind, läßt sich nur erraten.« »Und wir befinden uns wo genau?« fragte Devon mit heiserer, erschöpfter Stimme. Danziger hatte den Eindruck, daß Devon durch den Streß und die Tragödie von O'Neills Tod ziemlich überwältigt worden war. »Unsere Rettungskapsel ist etwa an dieser Stelle abgestürzt. Wenn man unseren Fußmarsch einkalkuliert, müßten wir uns jetzt in dieser Region hier befinden.« »Dann sind wir also wenigstens auf dem richtigen Kontinent?« fragte Devon besorgt. Während er so tat, als ob er sich den Schweiß von der Stirn wischte, sah Danziger wieder zu den beiden hinüber. Yales mechanischer Arm projizierte ein Hologramm, das eine stark vergrößerte Ansicht des Kontinents zeigte. »New Pacifica erstreckt sich bis zu dieser Küste hin. Und wir befinden uns hier ... mehr oder weniger 5409 Meilen entfernt.« Da liegt also das Problem, dachte Danziger, der mit seinen Gedanken wieder ganz bei der Arbeit war. Den Kopf in den Motorraum vergraben, streckte er eine Hand aus der Haube heraus und sagte: »Gib mir 'n Neuner Anthrosceptor.« Hinten auf dem TransRover hatte True sich zusammengekauert wie ein Äffchen niedergelassen, das Werkzeug ihres Vaters vor sich ausgebreitet. Schweigend reichte sie ihm das verlangte Teil. »Wußten Sie«, meldete sich Zero, der neben dem Fahrzeug eifrig von einem Bein auf das andere tänzelte, um seine Hilfsbereitschaft unter Beweis zu stellen, »wußten Sie, daß ich mit einer ganzen Reihe von Sceptoren und Retractoren ausgerüstet bin?« »Kein Interesse«, fertigte True ihn kurz ab. Danziger drehte das Werkzeug, das sie ihm gegeben hatte, in der Hand hin und her und sah es irritiert an. Mit wütendem Blick gab er es ihr zurück. Wenn sie sein Handlanger sein wollte,
sollte sie gefälligst aufpassen und seine Anweisungen befolgen. Tausendmal hatte er ihr das schon gesagt. »True, ich brauche einen Neuner.« »Tut mir leid.« Rasch tauschte sie das Werkzeug aus, und er lächelte sie kurz an, um sich für seinen scharfen Ton zu entschuldigen. Wen wunderte es, wenn sich das Kind im Moment nicht richtig konzentrieren konnte, ihm selber ging es schließlich kaum anders. Fehler unterliefen jedem, besonders in einer Ausnahmesituation wie dieser. Denn normal war es nicht, wenn man auf einem fremden Planeten Schiffbruch erlitt und ein Mitglied der Crew von einem Tier getötet wurde, das wie ein niedliches, überdimensionales Spielzeug aussah. »... dann sollten wir uns auf den Weg machen, sobald alle Fahrzeuge startbereit sind«, hörte Danziger Devon sagen. Sie seufzte. »Wir wollten Pioniere sein, Yale, und wir sind schon so weit gekommen ...« »Dad?« Trues Stimme klang zaghaft. Er sah sie an und bekam einen Schreck. Offensichtlich hatte auch sie der Unterhaltung von Devon und Yale gelauscht, jedenfalls machte sie einen verängstigten Eindruck. »Werden wir jemals wieder nach Hause kommen?« Sie biß sich auf die Lippen, als würde sie jeden Augenblick losweinen. Jetzt reichte es. Daß ihn Devons Gegenwart irritierte, war eine Sache, aber wenn diese Frau auch noch seiner Tochter Angst machte und tatsächlich das vorhatte, was er vermutete, dann mußte er unbedingt etwas unternehmen. Wesentlich heftiger als beabsichtigt, warf er True das Werkzeug zu, das er noch in der Hand hielt, und sprang von dem TransRover. Den verletzten Blick, mit dem True ihn ansah, ignorierte er, damit konnte er sich auch später noch auseinandersetzen. Jetzt mußte er sich erst mal um etwas anderes kümmern. Entschlossen wischte er sich die Hände an der Hose ab und marschierte auf Yale und Devon zu.
»Entschuldigen Sie«, sagte er so höflich, wie es ihm in diesem Moment möglich war, »ich hatte nicht vor, ihr Gespräch zu belauschen, aber habe ich das richtig gehört? Sie planen eine Reise?« Yale warf Devon mit gerunzelter Stirn einen vielsagenden Blick zu. Als sie antwortete, sprach sie bemüht ruhig, vorsichtig jedes Wort abwägend. »Wir haben die Marschroute nach New Pacifica festgelegt. Dort befindet sich unsere Kommunikationssektion.« Das mußte Danziger erst einmal verdauen. Er hatte also richtig gehört, die beiden beabsichtigten tatsächlich, einen Fußmarsch von ein paar tausend Meilen anzutreten. Vor Anspannung und Wut krampfte sich sein Magen zusammen, doch es gelang ihm, sich zu beherrschen. Er wandte sich an Yale: »Wären Sie so freundlich, mich einen Augenblick mit Ihrer Chefin allein zu lassen?« Als der Cyborg zögerte, zauberte Danziger ein gewinnendes Lächeln aufs Gesicht, das allerdings alles andere als ehrlich gemeint war. »Keine Sorge, ich bin ein guter Junge.« Doch bei diesem Hünen half ihm das nicht weiter. Erst als Devon dem Lehrer durch ein Kopfnicken zu verstehen gab, daß sie einverstanden war, ließ er die beiden allein. Danziger trat einen Schritt näher und sprach so leise, daß niemand außer Devon ihn hören konnte. »Wissen Sie was, Sie sind noch verrückter, als mir die Leute erzählt haben. Glauben Sie im Ernst, Sie können uns alle quer über diesen verdammten Kontinent schleifen? Mindestens die Hälfte von uns sollte nicht einmal einen Fuß auf diesen Planeten setzen, geschweige denn, ihn erwandern!« »Mit tut das alles schrecklich leid«, erwiderte sie aufrichtig. »Aber wir sind nicht weit genug gekommen, um jetzt aufgeben zu können.« Sie sah auf die Mylar-Karte hinunter, die auf dem Tisch vor ihr ausgebreitet lag. Offenbar hielt Devon das Gespräch damit für beendet und wollte den Mechaniker gnädig entlassen. Das gab Danziger den
Rest, er schlug mit der Faust auf den Tisch. Wenigstens für einen Augenblick würde sie ihm schon zuhören müssen. »Was ist los mit Ihnen, Adair? Stehen Sie unter Schock, oder was? Wir haben eine Bruchlandung auf diesem Planeten gemacht.« Überdeutlich betonte er jedes Wort, als ob er mit einem kleinen, unverständigen Kind spräche. »Wir haben fast unsere gesamte Ausrüstung verloren. Und ich war Zeuge, wie ein Mann von einem Wesen getötet wurde, das aussah wie ein Plüschtier. Vielleicht ist es Ihnen noch nicht aufgefallen, aber die Pläne haben sich geändert. New Pacifica steht nicht mehr an erster Stelle.« Vollkommen ruhig und beherrscht richtete Devon sich auf und sah ihn an. Unter anderen Umständen hätte er ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit vermutlich bewundert. »Doch. Es geht um die zweihundertachtundvierzig Familien auf der Colony, die in weniger als sechsundzwanzig Monaten auf diesem Planeten landen werden und denen ich einen voll ausgerüsteten Vorposten zugesichert habe.« »Das ist einzig und allein Ihre Mission«, erwiderte Danziger aufgebracht. »Wir anderen versuchen lediglich zu überleben!« Vollkommen ruhig trat Devon noch einen Schritt näher und sah ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, in die Augen. »Sie sind über die Risiken dieses Jobs informiert worden, als Sie Ihren Vertrag unterschrieben haben. Und man hat Ihnen mehr als das Vierfache des üblichen Gehalts gezahlt.« Sie schob ihm warnend ihren Zeigefinger unter die Nase, und eine Sekunde lang dachte er darüber nach, ihn abzubeißen. »Und wagen Sie es nicht noch einmal, den Tod von Commander Broderick O'Neill in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Der Mann war mein Freund.« Als Danziger antwortete, sprach er langsam und mit eiskaltem Tonfall. »Hier geht es weder um Verträge noch um Freundschaften. Lassen Sie abstimmen, wer sich Ihnen anschließen will.«
Das war eine Herausforderung zum offenen Kampf. Jedoch war Danziger völlig klar, daß sich diese Frau selbst von einer Abstimmungsniederlage nicht aufhalten lassen würde. Falls niemand mit ihr gehen wollte, würde sie sich Yale und ihren Sohn schnappen und allein losziehen. Dickköpfig genug schien sie jedenfalls zu sein. Devon starrte den Mechaniker mit funkelnden Augen an. Er bemerkte, daß ihre Hände leicht zitterten, aber als sie sprach, blieb ihre Stimme ruhig und beherrscht. »Ich danke Ihnen für Ihren Ratschlag, Mr. ...« Sie versucht, mich zu demütigen, dachte Danziger. In dem Moment, wo ihr die Argumente ausgehen, tut sie so, als ob ich ein Niemand bin, dessen Namen sie nicht einmal kennt. Diese Masche war wirklich zu billig! Wäre er nicht so wütend gewesen, er hätte am liebsten lauthals gelacht. »Danziger«, erinnerte er sie, ohne eine Miene zu verziehen. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn so davonkommen zu lassen. »Allerdings brauche ich im Moment einen funktionierenden TransRover viel dringender als gute Ratschläge. Glauben Sie, daß Sie in der Lage sind, dafür zu sorgen?« Damit hatte sie sich den letzten Rest an Sympathie verscherzt, die er möglicherweise noch für sie empfand. Die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, wurde er jedoch nicht mehr los. Denn in diesem Augenblick stieß Julia, die sich etwas außerhalb des Camps aufhielt, einen panischen Schrei aus. »Oh, mein Gott! Dort oben, auf dem Hügel!« Danziger wirbelte herum und sah erst zu Julia und dann in die Richtung, in die sie zeigte. Was sich dort vor seinen Augen abspielte, ließ ihn seinen Streit mit Devon auf der Stelle vergessen. In seinen Eingeweiden machte sich eine noch nie gespürte Angst breit. Verglichen mit dem, was er jetzt empfand, war jedes Gefühl der Furcht, das er vorher gekannt hatte, nur ein Witz.
Oben auf dem Hügel standen bewegungslos drei riesige, breitschultrige Gestalten, die Speere in den Händen zu halten schienen. Vor dem Hintergrund des strahlenden Himmels waren lediglich ihre Umrisse zu erkennen, aber die waren schon furchterregend genug. Sieht so aus, als wollten unsere Nachbarn auf einen Besuch vorbeischauen, dachte Danziger - Nachbarn allerdings, von deren Existenz sie bis dahin nicht einmal etwas geahnt harten.
15 Auch Devon dachte nicht mehr eine einzige weitere Sekunde an ihren Streit mit Danziger. Als sie den Blick endlich von den Gestalten auf dem Hügel losreißen konnte, begab sie sich unverzüglich auf die Suche nach ihrem Sohn und diesem verfluchten ATV. »Uly? Uly?« Panik stieg in ihr auf wie eine alles verschlingende Welle. Wo zum Teufel steckte er nur? Hoffentlich war er nicht in den Wald gefahren. Warum war er jetzt nicht hier, an ihrer Seite? Warum ...? »Uly!!« schrie sie so laut, wie sie nur konnte. »Ich bin hier, Mom«, antwortete der Junge seelenruhig. Er stand direkt hinter ihr. Devon bekam vor Erleichterung weiche Knie. Einen Augenblick nahm sie sich Zeit, ihn in den Arm zu nehmen und so heftig an sich zu drücken, daß er um ein Haar von seinem ATV gefallen wäre. Dann ließ sie ihn wieder los. »Los Uly, fahr ins Camp zurück. Schnell, du mußt dich beeilen!« Sie mußte ihn nicht zweimal bitten. Geschickt setzte er zurück, wendete das Fahrzeug und holperte im nächsten Moment mit dem großrädrigen Gefährt in Richtung Camp davon. Devon sah ihm einen Moment nach, um sich davon zu überzeugen, daß er in Sicherheit war. Dann wandte sie sich wieder diesem neuen Gegner zu. Der Mut und die Entschlossenheit, die sie dabei zur Schau stellte, entsprachen allerdings nicht im geringsten dem, was sie fühlte. Mit den Augen suchte sie den Hügel und die davor gelegene Wiese ab. Aus allen Richtungen rannten Kolonisten und Besatzungsmitglieder der Advance mit bleichen, entsetzten Gesichtern auf das Lager zu. Vielleicht brauchte jemand ihre Hilfe, bevor sie sich selbst in Sicherheit brachte? Unruhig
tänzelte sie von einem Bein aufs andere, unfähig, stillzustehen, bis schließlich auch sie dem Fluchtinstinkt nachgab und loslief. True hatte kaum gesehen, wer oder was da auf dem Hügel stand, als ihr Vater sie schon an sich riß und unter den Arm klemmte wie früher, als sie noch ein kleines Mädchen war und er »Flugzeug« mit ihr gespielt hatte. Er warf sie auf den Sitz der Führerkabine des TransRover, stieg aber selbst nicht ein, sondern schlug von außen die Tür zu und brüllte ihr seine Befehle zu. »Verriegel die Tür, verstanden?« »Was machst du da?!« schrie True zurück, wütend und starr vor Angst. »Daddy, komm rein!« Durch die schweren Türen und das dicke, bruchsichere Glas der Windschutzscheibe war kaum zu verstehen, was er sagte. »Bleib da drin! Egal was passiert!« rief er und sah sie streng an. Wenn er sie so anschaute, war es besser, ihm nicht zu widersprechen, das wußte True aus leidvoller Erfahrung. »Öffne auf keinen Fall die Tür!« Für den Bruchteil einer Sekunde bröckelte seine Fassade, und True sah, daß er Angst hatte und sich Sorgen machte. Er liebte sie so sehr, daß er bereit war, sein Leben zu opfern, wenn er sie dadurch schützen konnte. Ob sie damit einverstanden war, spielte nicht die geringste Rolle. Es war offensichtlich, von wem True ihren Dickschädel geerbt hatte. Danziger sprang auf die Erde, schnappte sich ein Rohr als Waffe und baute sich breitbeinig vor dem TransRover auf, um diesen Wesen, sollten sie sich vom Hügel herunterwagen, einen angemessenen Empfang zu bereiten. Währenddessen hämmerte True wütend gegen die Scheiben. Wie konnte er ihr das antun? Wenn er sich schon nicht gemeinsam mit ihr im Wagen in Sicherheit brachte, dann wollte sie wenigstens bei ihm da draußen sein, wenn er diesen ... diesen Dingern entgegentrat. Plötzlich hatte True eine Idee. Sie setzte sich vor die Armaturentafel und begann, die Video-Kameras einzurichten. Der Monitor schaltete sich ein, und während die Kameras sich
noch an ihre Objekte heranzoomten, zeichnete sich ein immer deutlicheres Bild ab. Doch schon im nächsten Augenblick bereute True ihre Neugierde. Denn auf dem Monitor erschien ein Gesicht mit einem riesigen, weit aufgerissenen Schlund und einer lederartigen Haut, die aussah wie geschmolzenes, zerlaufenes Wachs. Anstelle einer Nase hatte das Wesen eine ledrige, plattgedrückte Hautfalte mit großen, runden Nasenlöchern. Die gelben Augen verschwanden fast zwischen den schlaffen, lappigen Falten, die von seiner Stirn hinunterhingen. Und diese Augen starrten True auf dem Monitor an, als wüßten sie genau, daß sie beobachtet wurden - und auch von wem. Eine Art Urinstinkt ergriff Besitz von True - der Jäger wurde zum Gejagten; in ihrer Panik schrie sie, so laut sie konnte. Im Lager herrschte Chaos, und Yale sah sich außerstande, irgend etwas dagegen zu unternehmen. Uly und Devon befanden sich fürs erste in Sicherheit, aber es gelang dem Cyborg nicht, die anderen so weit zu beruhigen, daß sie ihm wenigstens einen Moment lang zuhörten. Was er auch tat oder sagte, alles schrie und rannte ohne Sinn und Verstand durcheinander. Jeder glaubte, er allein wüßte, was zu tun sei, und alle versuchten, sich Gehör zu verschaffen. Dabei übersahen sie leider, daß es tatsächlich Wege gab, wie sie sich schützen konnten. Vor allem aber durfte es nicht wegen einer unüberlegten Aktion zu einem Krieg mit diesen Wesen kommen, die bisher nichts weiter getan hatten, als sie aus einiger Entfernung zu beobachten. Devon stand inmitten der aufgebrachten Menge und versuchte, die Kolonisten mit allen Mitteln der Überredungskunst davon abzubringen, das dürftige Waffenlager zu plündern. Es war keine Lösung, den Planeten mitsamt seinen Bewohnern in die Luft zu jagen. Aber selbst das mußte man diesen Menschen, die blind vor Furcht waren, erst einmal klarmachen. Yale wollte gerade zu ihr gehen und sie bei ihrem Versuch, die anderen zu beruhigen, unterstützen, als sein Blick auf Zero
fiel, der in der Nähe der Frachtkapsel damit beschäftigt war, den verletzten Piloten in Sicherheit zu bringen. Der Lehrer runzelte nachdenklich die Stirn, während er zusah, wie der Roboter Alonzo vorsichtig auf den Boden bettete und dafür sorgte, daß er einigermaßen bequem lag. »Devon!« rief Yale. Als die Frau ihren Namen hörte, fuhr sie herum, sichtbar fertig mit den Nerven. Alle zerrten an ihr herum, und schon wieder wollte jemand etwas von ihr. Doch als sie merkte, daß Yale nach ihr gerufen hatte, entspannte sich ihr Gesicht. »Devon, ich habe eine Idee ...« Ein paar Minuten später machte Zero sich mit eckigen Schritten auf den Weg zu den Wesen, die noch immer bewegungslos auf der Kuppe des Hügels standen. Unten im Lager herrschte Totenstille. Atemlos verfolgte die Menge, die sich wie eine verängstigte Schafherde im Schutz der zerstörten Frachtkapsel hinter Yale und Devon zusammengedrängt hatte, jede Bewegung des Roboters. Mit ruhiger Stimme sprach Yale in den Transmitter, den er in der Hand hielt. »Vergiß nicht, Zero, wir wollen nur Kontakt zu ihnen aufnehmen«, erinnerte er. »Kontakt soll es denn auch sein«, antwortete der Roboter in seiner verschrobenen Art. Devon beugte sich vor, um einen besseren Blick auf den kleinen Monitor zu bekommen, der ihnen übermittelte, was der Roboter sah: das sich sanft im Wind wiegende Gras auf dem Abhang und in einiger Entfernung davon die dunklen Silhouetten der riesigen Gestalten, die vor dem freundlichen, blauen Himmel um so bedrohlicher aussahen. Einen Moment lang knisterte und rauschte es im Lautsprecher, dann hörte man etwas, das tatsächlich wie Musik klang! Yale stöhnte, und Devon warf ihm einen fragenden Blick zu. »Was um alles in der Welt ist das?« Der alte Lehrer schüttelte seufzend den Kopf und schloß für einen Moment erschöpft und resigniert die Augen, während er sich die Schläfen rieb. Dieser Roboter raubte ihm den letzten
Nerv. »Der Narr summt die >Battle Hymn of the Republic<«, erklärte er. Devon mußte trotz der bedrohlichen Lage lachen. Sie hatte den Eindruck, daß nicht mehr viel fehlte, und sie würde hysterisch. Doch dann hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie strich sich das Haar zurück und verfolgte gebannt die immer kleiner werdende Gestalt des Roboters, der mit langsamen, gleichmäßigen Schritten den Abhang hinaufging. Rechts von ihm waren die Steine und die aufgehäufte Erde über O'Neills Grab zu erkennen. Das leise Summen des Roboters, das über den Transmitter deutlich zu hören war, stand in eigenartigem Kontrast zu der gespannten Stille, die im Lager herrschte. Unbeirrbar ging Zero weiter auf die Wesen zu, die wie versteinert schienen. Jetzt trennten den Roboter nur noch etwa hundert Meter von ihnen, und je näher er ihnen kam, desto mehr verdeckte sein massiger Körper ihre Gestalten. Yale nahm erneut den Monitor zu Hilfe, um sehen zu können, was auch Zero sah. Mit jedem Schritt wurde das Summen des Roboters lauter. Plötzlich lief er schneller und machte riesengroße Schritte. Dabei steigerte er das Crescendo seines seltsamen Gesangs, so daß man glaubte, einem kaputten Radio zuzuhören. Doch in dem Moment, in dem er ein Fortissimo erreicht hatte, verstummte er auf einmal und blieb nur wenige Meter von den Gestalten entfernt stehen. Bis zu diesem Augenblick hatte dem Cyborg die Redewendung »es ist so still, daß man eine Stecknadel fallen hört«, nie recht eingeleuchtet. Aber nun, während sie sich alle atemlos um den Monitor drängten, begriff er, was damit gemeint war. Zero stand dicht genug vor den Gestalten, um den Leuten vor der Frachtkapsel ein genaueres Bild von ihrem Aussehen zu übermitteln. Über die Lautsprecher war das typische Summen einer sich automatisch fokussierenden Kameraoptik zu hören.
»Kann man schon was sehen?« flüsterte eine ängstliche Stimme aus dem Hintergrund. Yale machte eine ungeduldige Handbewegung um sie zum Schweigen zu bringen; er wollte nicht eine Sekunde abgelenkt werden. Doch in dem Moment, in dem die Augen des Roboters ein Bild übermittelten, das scharf genug war, um den Wartenden eine Ahnung davon zu geben, wie diese Gestalten aus der Nähe betrachtet aussahen, hoben sie langsam ihre Speere und bewegten sie aufeinander zu. Als ihre Spitzen sich berührten, wurde der Hügel in ein gleißendes Licht getaucht, das in den Augen schmerzte. Der Monitor zeigte nichts mehr, und die geblendeten Menschen im Tal wichen wie verängstigte Tiere zurück, die Hände schützend über die Augen gelegt. Das ganze dauerte nur ein paar Sekunden, denn genauso schnell, wie es gekommen war, verschwand das Leuchten auch wieder. Zero stand noch immer unbeweglich auf dem Hügel und verdeckte diese Gestalten durch seinen massigen Körper. Irgend jemand wollte sich von der Gruppe entfernen, offenbar in der Hoffnung, von einer anderen Stelle aus besser sehen zu können, doch Yale hielt ihn mit ausgestrecktem Arm zurück. Bevor er nicht herausgefunden hatte, was gerade geschehen war, sollte gefälligst jeder auf seinem Platz bleiben. »Zero?« rief Yale in den Transmitter, ohne den Hügel aus den Augen zu lassen. »Hörst du mich?« Der Kopf des Roboters drehte sich erst zur einen, dann zur anderen Seite, während er den Hügel absuchte. »Sie sind ... nichts«, antwortete er schließlich mit verblüffender Logik. »Ich kann sie nicht sehen.« Bei diesen Worten ging ein Raunen durch die Menge. Mit einer einzigen Handbewegung brachte Devon die Leute zum Schweigen. Dann riß sie Yale den Transmitter aus der Hand. »Aber sie waren doch eben noch da! Wo ...«
»Moment«, unterbrach Zero sie. »Ich registriere eine Bewegung.« Mit ein paar Schritten erreichte er den Kamm des Hügels. »Zero!« rief Devon außer sich vor Aufregung. »Was siehst du?« Yale legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. Plötzlich flackerte der Monitor wieder auf und zeigte in rascher, schwindelerregender Abfolge die Bilder dessen, was der Roboter sah, während er den Kopf hin und her wandte, um seine Umgebung zu scannen. Schließlich blieb sein Blick auf zwei winzigen Gestalten haften, die sich ihm über die Ebene auf der anderen Seite des Hügels näherten. »Sie kommen auf uns zu«, berichtete er. »Und ...« Wieder war das Geräusch summender Motoren zu hören, während der Roboter die Gestalten über sein Teleobjektiv allmählich Bild für Bild näher heranholte. Die Spannung machte Yale fast krank, und trotzdem war er nicht in der Lage, seine Augen auch nur eine Sekunde von dem Monitor loszureißen. Endlich schien Zero die optimale Vergrößerung erreicht zu haben und begann, das Bild zu fokussieren. Alle hielten den Atem an ... und plötzlich erkannte der Cyborg die Gestalten von Morgan und Bess Martin. Sie sahen zwar beide unglaublich erschöpft aus, doch an dem leichten, elastischen Schritt der Frau, die voranging, sah man, daß sie nicht zum ersten Mal in ihrem Leben einen langen Fußmarsch hinter sich brachte. Im Schlepptau hatte sie ihren Mann, der jammernd und lamentierend ihre Hand umklammerte und sich schweißüberströmt und scheinbar nur noch mit letzter Kraft durch den Sand schleppte. Als Zero sich jetzt wieder meldete, war seine Stimme nur noch ein Flüstern. Es klang fast so, als hätte der Roboter Angst. »Sie leben.« Devon, die vor lauter Anspannung noch nicht einmal bemerkt hatte, daß der Monitor wieder funktionierte, starrte verwirrt auf den Transmitter. »Was soll das denn heißen?«
Yale legte einen Arm um ihre Schultern, während er ihr mit der anderen Hand den Transmitter abnahm und beiseite legte. Dann schob er sie zum Monitor hinüber. Einen Augenblick war sie sprachlos. Dann aber führte sie die kleine Prozession an, die aus dem Lager heraus auf den Hügel zuging, um die Martins in Empfang zu nehmen, die sich jetzt über die Kuppe und schließlich den Abhang hinunterquälten. Inzwischen hatte sich die Nacht über das Lager gelegt. Für den Moment zumindest waren die Gestalten - oder waren es nur Erscheinungen gewesen? - auf dem Hügel vergessen, und alle feierten die glückliche Ankunft von Bess und Morgan. Bess hörte nicht auf, jedem zu erzählen, daß es nur dem Mut und der Tapferkeit ihres Mannes zu verdanken war, daß sie diese furchtbaren Strapazen überlebt hatten. Danziger hätte am liebsten gekotzt. Er hielt sich etwas abseits von den anderen, die im Kreis um das lodernde Lagerfeuer herumsaßen und an den Resten ihres Abendbrotes herumkauten. Viel hatte es nicht zu essen gegeben, ein paar Weizenriegel und jede Menge Käse, den sie in der Frachtkapsel gefunden hatten. Aber es war immer noch besser, als zu hungern. Morgan hielt Hof und genoß es, im Mittelpunkt zu stehen. Er hatte die Rolle des Helden mit einer Selbstverständlichkeit übernommen, als hätte er nie auch nur eine Sekunde daran gezweifelt, daß er sie sich verdient hatte. Danziger fragte sich, warum dieser Kerl nicht schon lange erstickt war, wenn man sich ansah, wie er das Essen in sich hineinstopfte und gleichzeitig unaufhörlich dummes Zeug laberte. »Es war die Hölle, nicht wahr?« stimmte Morgan jemandem zu, der auf der anderen Seite des Feuers saß. »Ich meine, als das Schiff auf den Planeten zustürzte und wir uns in den Klauen der Schwerkraft befanden, war mein erster Gedanke, daß wir alle sterben müßten.« Er unterbrach seine Ausführungen einen Moment, um sich ein weiteres Stück Käse in den Mund zu
schieben und hinunterzuschlingen. Lächelnd rieb er sich den Bauch. »Mmmm, endlich wieder richtiges Essen.« Bess, die neben ihm saß, beugte sich zu ihm hinüber und legte ihm zärtlich eine Hand aufs Knie. Die Geste sprach Bände über die Liebe, den Stolz und die Bewunderung, die sie für ihren Mann empfand. »Ich kann euch gar nicht sagen, wie furchtbar ich mich gefühlt habe. Morgan und ich haben in der Rettungskaspel gewartet, aber bevor noch jemand zusteigen konnte, riß sich die Kapsel los ...« Weil er es offenbar nicht ertragen konnte, wenn seiner Frau auch nur für Sekunden mehr Aufmerksamkeit als ihm geschenkt wurde, schnitt Morgan ihr das Wort ab und erzählte die Geschichte selbst weiter. »Ja, das war schrecklich! Allein der Gedanke, daß wir euch vielleicht nie wiedersehen würden ...« Er war ein geübter Redner und wußte, wie er das Publikum für sich gewinnen konnte. Traurig schüttelte er den Kopf und schaute betreten zu Boden. »Und dann schloß sich plötzlich die Luke. Ich hatte furchtbare Angst, daß jemand versuchen könnte, doch noch in die Kapsel zu kommen. Er wäre unweigerlich zerquetscht worden ...« Wieder fassungsloses Kopfschütteln. Vielleicht lag es daran, daß Danziger sich bewegt hatte. Bis jetzt hatte er sich schweigend im Hintergrund gehalten, auch wenn er vor Wut fast explodiert wäre. Möglicherweise hatte Morgan Martin aber auch intuitiv den Haß und die giftigen Blicke gespürt, die Danziger ihm über das Feuer hinweg zuwarf. Was auch immer der Grund sein mochte, Morgan schaute jedenfalls genau in diesem Moment in Danzigers Richtung und bemerkte zum ersten Mal seit seiner Ankunft im Lager den Mechaniker, der ihn schweigend aus dem Schatten heraus beobachtete. Das Blut wich aus seinem sonnenverbrannten Gesicht, als ob ein Vampir ihn bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hätte. Sekundenlang starrten die beiden Männer sich wortlos an. Niemandem schien Morgans Schweigen aufzufallen, da Bess
inzwischen den Faden der Erzählung wieder aufgenommen hatte. Danziger wandte seinen eiskalten Blick nicht ab, um Morgan spüren zu lassen, daß er ihm seine Lügenmärchen nicht abkaufte und ihn für einen Feigling hielt. Morgan schrumpfte förmlich zusammen. Er war wie gebannt, es kostete ihn ungeheure Mühe, sich diesem Blick schließlich doch zu entziehen. Selbst das Essen schmeckte ihm nicht mehr. Er stellte seinen Teller beiseite und blickte mit betretener Miene ins Feuer. »Es war ... es war ... die Hölle«, flüsterte er, und Bess legte ihm tröstend einen Arm um die Schulter. Einen Augenblick lang herrschte teilnahmsvolles Schweigen. In die Stille hinein meldete sich schließlich Julia zu Wort. Verglichen mit Morgans schwadronierendem Tonfall klang ihre Stimme ruhig, aber auch ein wenig ängstlich. »Will denn niemand über das reden, was wir heute nachmittag gesehen haben?« Das Schweigen der anderen wurde nun eisig. Ein paar Leute warfen ihr sogar ärgerliche Blicke zu, als hätte die Ärztin etwas Unanständiges gesagt. Danziger trat aus dem Schatten ein wenig näher ans Feuer. Es war ihm völlig egal, wenn man ihn mit ärgerlichen Blicken bedachte, er war heute abend ohnehin nicht zu höflichem Geplauder aufgelegt. »Habt ihr euch nicht darauf geeinigt, daß es Tiere waren?« fragte er zynisch. »Tiere haben keine Speere bei sich«, bemerkte jemand. »Nein«, pflichtete Danziger bei und fügte mit Nachdruck hinzu, »zumindest nicht die, die wir kennen.« Wann würden diese Leute endlich begreifen, daß sie sich hier nicht auf vertrautem Terrain befanden? Terra incognita, so nannte man das doch wohl. Sie aber glaubten, daß auf diesem Planeten alles genauso sein mußte wie vor ein paar Jahrhunderten auf der Erde - oder zumindest wie das, was sie darüber gelesen hatten. Aus O'Neills Tod hatten sie offenbar noch immer keine Lehre gezogen.
»Ich denke, wir haben uns das alles nur eingebildet«, konstatierte eine Frau derart oberlehrerhaft, daß Danziger sie am liebsten geohrfeigt hätte. »Die Felsbrocken auf dem Hügel...« »Und wie erklären Sie sich dieses Leuchten?« unterbrach Julia, die offenbar zu den wenigen gehörte, die wirklich wissen wollten, was geschehen war. Als sie keine Antwort auf ihre Frage bekam, fuhr sie fort: »Die Sonne jedenfalls ruft solche Effekte nicht hervor.« Wieder herrschte ratloses Schweigen. Niemand hatte eine Erklärung für dieses Phänomen, und allem Anschein nach wollte auch niemand dieser Frage ernsthaft nachgehen. Sollen sie doch weiterschlafen, dachte Danziger verbittert. Vielleicht beschert ihnen ihre Ignoranz wenigstens ein paar schöne Alpträume. »Nun, ich weiß nicht, was es mit diesem Licht auf sich hat, von dem Sie reden«, schaltete sich Morgan in jovialem Tonfall ein und stellte dabei eine Autorität zur Schau, die in Danziger Mordgelüste weckte. Es hatte nicht viel gefehlt, und dieser Mann hätte seine Tochter auf dem Gewissen gehabt! »Aber wir haben eines dieser Wesen von nahem gesehen. Im Grunde genommen ähneln sie unseren Affen.« Er schob sich noch ein Stück Käse in den Mund. »Im übrigen sind sie sehr schreckhaft und lassen sich leicht verscheuchen«, fügte er lässig hinzu, als ob damit alle Fragen erschöpfend beantwortet wären. »Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.« Devon stellte ihre Kaffeetasse beiseite und schlang die Arme um ihre angezogenen Knie. »Es gibt vieles auf diesem Planeten, das uns fremd und unbekannt ist...« Danziger schnaubte verächtlich. Je rätselhafter die Dinge um sie herum waren, desto verbohrter hielten diese Ignoranten doch an dem fest, was ihnen bekannt vorkam. »Freut mich, daß auch Sie endlich darauf gekommen sind«, sagte er bissig und warf ihr einen zynischen Blick zu, bevor er sich umwandte und ging. Er durchquerte das Lager, vorbei an denen, die sich bereits schlafen gelegt hatten, und vorbei an Alonzo, der seinem
gequälten Gesicht nach zu urteilen entweder Schmerzen oder einen Alptraum hatte. Endlich kam er zu dem Schlafplatz, den er für sich und seine Tochter ausgesucht hatte. True lag eingerollt wie ein kleines Kind auf der Seite, den Kopf auf den Arm gelegt, und schlief tief und fest. Bei ihrem Anblick mußte Danziger unwillkürlich lächeln, auch wenn er sonst nicht den geringsten Anlaß zur Freude sah. Einen Augenblick lang betrachtete er im diffusen Licht der beiden Monde das friedliche Gesicht seiner Tochter, bevor er ihr die Decke über die Schulter zog. Dann verließ er das Camp und ging in die Nacht hinaus. Er brauchte Zeit, um allein zu sein, Zeit zum Nachdenken, wie er sich und True aus dieser Situation herausbrachte. Was mit den anderen passierte, war ihm egal. Die sollten selbst sehen, wie sie zurechtkamen. Im Halbschlaf registrierte True, daß ihr Vater sie zudeckte, und sie lächelte unbewußt. Es war schön zu spüren, daß sich jemand um einen kümmerte. Aber ihr Vater hatte sich eigentlich immer um sie gekümmert. So lange sie denken konnte, war er immer für sie dagewesen; und sie versuchte, sich dafür zu revanchieren, wenn auch auf ihre bisweilen etwas eigenwillige Art. Das Mädchen war bereits wieder fest eingeschlafen und träumte gerade einen sehr schönen Traum, als ihm plötzlich ein warmer, nach Tier riechender Atem ins Gesicht blies. True wachte auf und verzog bei dem merkwürdigen Geruch die Nase. Verschlafen blinzelte sie umher, bis sie das vertraute Gesicht ihres »Kätzchens« vor sich sah. Froh, daß es endlich wieder aufgetaucht war, lächelte sie, und das Tier machte sie wie üblich nach und grinste zurück. Doch dann kamen True plötzlich Zweifel. Nach dem, was mit Commander O'Neill passiert war ... Mißtrauisch wich sie ein Stück zurück, und das Wesen imitierte sie erneut. Dabei sah es so niedlich aus, daß True vor Entzücken fast dahinschmolz. »Du bist gefährlich«, schalt sie liebevoll,, doch das Tierchen sah sie so mitleiderregend an, daß
sie nicht anders konnte und ihre Decke anhob, damit es darunter schlüpfen konnte. »Ich darf das zwar nicht ...« Doch was sollte schon passieren? Das Tier kroch zu ihr ins Bett, und True nahm es in den Arm wie einen großen Teddybär. Es schmiegte seine Nase an ihren Hals, so daß es kitzelte, und True kicherte leise. »Gute Nacht«, flüsterte sie. Dann zog sie sich die Decke über den Kopf und war schon bald wieder eingeschlafen. Der Mann, der nie träumte ... hatte schon wieder einen Traum. Alonzo stand auf einer weißen Hochebene, auf der der Wind den Sand vor sich hertrieb. Die Landschaft jenseits der Ebene blieb vollkommen konturlos. Seine Kleider flatterten im Wind, der sich auf seinem Gesicht warm und trocken anfühlte und nach Erde schmeckte. Seine Beine waren wieder gesund, stark und kräftig, als hätten sie nie der Schienen und Krücken bedurft. Dann bemerkte er ein leises Donnern, das von überallher zu kommen schien und allmählich anschwoll. Wahrscheinlich war dieses Donnern schon dagewesen, bevor er es gehört hatte, so leise zunächst, daß er es zunächst lediglich als ein leichtes Vibrieren wahrgenommen haben mochte. Er sah sich verwirrt um, und das Donnern wurde immer lauter und bedrohlicher. Der Boden unter seinen Füßen begann zu beben, und auf einmal wußte Alonzo, daß das Donnern aus der Erde kam und genau dort, wo er stand, an die Oberfläche drang. Intuitiv sprang er zur Seite, gerade noch rechtzeitig, bevor sich an eben der Stelle, an der er Sekunden zuvor gestanden hatte, ein riesiges Wesen aus dem Erdreich erhob. Mit der anmutigen, explosiven Kraft eines Baumstammes schob es sich aus dem Boden himmelwärts und ließ dabei auf Alonzo einen Schauer kleiner Steine und Erdbrocken niedergehen, die genauso rochen wie der Wind. Der Pilot hob schützend die Arme über den Kopf, während er gleichzeitig den Versuch machte, einen Blick auf dieses Wesen zu werfen. Doch das bereute er schon im nächsten Atemzug, und ein Schrei des
Entsetzens zerriß seine Kehle; denn die Augen dieses Giganten starrten ihn aus einem Gesicht an, dessen Haut aussah wie trockenes, vernarbtes Leder. »Was zum Teufel...« Bei dem Anblick des Wesens verlor Alonzo auch den letzten Rest Mut. Er wandte sich ab, um zu fliehen, doch vor ihm erhoben sich zwei weitere dieser Wesen aus dem Boden und versperrten ihm den Weg, so daß er erschrocken zurückwich. Jetzt streckten sie ihre Arme nach ihm aus und begannen, in einem eigenartigen, unheimlichen Singsang zu reden. »Wer seid ihr ...« Alonzo schüttelte verständnislos den Kopf. Er wollte nur noch weg! In einem vergeblichen Versuch, seine Ohren vor den verwirrenden Lauten der Wesen zu verschließen, hielt er sich krampfhaft die Ohren zu. Er war den Tränen nahe, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzugehen oder sich wieder umzudrehen. »Was wollt ihr von mir?« schrie er. Ihr eigenartiger Singsang war die einzige Antwort. Alonzo sah sich um, drehte sich auf der Suche nach einem Fluchtweg im Kreis und mußte schließlich erkennen, daß er eingekreist war. Überall um ihn herum schössen weitere Monstren aus der Erde und stiegen mit einer Leichtigkeit empor, die ihm Schauer über den Rücken jagte. Der Singsang wurde immer lauter und verwirrender. Ihre Stimmen überlagerten sich und verwoben sich zu einem einzigen, unwirklichen Klangteppich. Plötzlich glaubte Alonzo ein paar Wörter verstehen zu können. Oder täuschte er sich? »... zum Teufel...« Er fuhr herum, um herauszufinden, woher die Worte kamen, und sah sich wieder nur mit diesen furchterregenden ledrigen Gesichtern und den schmalen gelben Augen konfrontiert, die ihn anstarrten. »Was war das? Wer hat das gesagt?« Jetzt hörte er eine zweite Stimme hinter sich. Oder war es die gleiche? » ... was zum Teufel...«
Vollkommen verwirrt drehte er sich abermals um. Ein weiteres Wesen sprach, dann noch eines und noch eines. Aber nein, »Wesen« war das falsche Wort. Alonzo hatte nicht die geringste Ahnung, woher diese Erkenntnis plötzlich kam, aber auf einmal wußte er, daß die einzige richtige Bezeichnung für diese Wesen »Terrianer« sein mußte. Auch wenn er dieses Wort noch nie zuvor gehört hatte, zweifelte er nicht daran, daß das ihr Name war. Seit Urzeiten nannten sie sich so. Nie wieder würde er diesen Namen vergessen. »... Wer seid ihr ...« »... Was wollt ihr ...« Immer mehr von ihnen redeten nun, und Alonzo drehte und drehte sich, bis ihm schwindlig war. Erschöpft und voller Angst jagte er weiter diesen Lauten nach, die sich wie Worte seiner Muttersprache anhörten, wie menschliche Worte! Die Terrianer kamen immer näher, ohne daß er hätte sagen können, wie sie sich bewegten. Sie schienen fast zu schweben, zu fließen wie Sand. Und die ganze Zeit über starrten sie ihn unverwandt an. »Wo bin ich hier?« schrie Alonzo verzweifelt. Er sank auf die Knie. »Bitte, aufhören! Wer seid ihr ...?« Er ließ die Stirn auf den Boden sinken und schlang die Arme um den Kopf. »Nein!« brüllte er in dem verzweifelten Versuch, ihren unaufhörlichen Singsang durch seine eigene Stimme zu übertönen. »Bitte! Laßt mich in Ruhe ...« Etwas berührte ihn, streichelte zaghaft seine Hand ... eine menschliche Hand, nicht die rauhen, ledrigen Finger eines Terrianers. Alonzo griff danach wie ein Ertrinkender und ließ sich von ihr wegziehen, weg von den Terrianern, zurück in die Realität. Er lag auf dem Boden unter der Hängematte, zusammengerollt wie ein Embryo, und weinte wie nie zuvor in seinem Leben. Den hämmernden Schmerz in den Beinen, der durch den Sturz aus der Hängematte noch unerträglicher geworden war, hieß er willkommen wie eine lang verloren
geglaubte Geliebte. So wußte er wenigstens, daß er lebte, daß er hier im Lager war, bei den anderen. Der Schmerz half ihm, aus diesem Traum zu fliehen, ihn hinter sich zu lassen wie die ekelerregenden Arme der Terrianer, die versucht hatten, nach ihm zu greifen ... Neben ihm kniete Julia und strich ihm das Haar aus der schweißbedeckten Stirn, während sie beruhigend auf ihn einredete wie auf ein kleines Kind. Noch immer zitternd vor Furcht, sah er sie hilfesuchend an, und sie nahm ihn in den Arm. Noch nie hatte er sich so verzweifelt nach der Nähe eines anderen Menschen gesehnt wie in diesem Moment. Er brauchte die Wärme ihrer schützenden Arme, das sanfte, beruhigende Schaukeln und den weichen Klang ihrer Stimme. Es dauerte einige Minuten, bis er sich so weit beruhigt hatte, daß er seine Umgebung wieder wahrnahm: das Lagerfeuer, um das herum noch immer ein paar Kolonisten saßen, die zwei Monde am Himmel und die in ihre Decken eingehüllten Schlafenden. Doch noch immer verfolgten ihn die Bilder aus seinem Traum wie Momentaufnahmen des Grauens. »Aber ich träume doch nicht«, wimmerte er, »ich träume nie...« Doch so sehr sich Alonzo auch dagegen wehrte, dieser Satz entsprach nicht mehr der Wahrheit. Er wußte nicht mehr, was er noch glauben sollte.
16 Uly lag wach und starrte in den nächtlichen Himmel mit den zwei Monden und den unzähligen Sternensystemen, von denen er einige aus den Unterrichtsstunden mit Yale kannte. Jedoch gab es hier weder einen Großen noch einen Kleinen Bären und auch keinen Orion. Vereinzelt zogen Wolken über den Himmel, deren stumme Prozession den majestätischen Herden der lange ausgestorbenen Büffel auf der Erde glich. Versteckt in den Blätterlauben der Bäume und Büsche, bereiteten sich Vögel, für die die Kolonisten vermutlich bald schon Namen finden würden, auf ihren morgendlichen Gesang vor. Ansonsten herrschte absolute Stille, bis auf das leise Murmeln Zeros, der während seiner Wachrunde um das Lager mit sich selbst sprach, und das rasselnde Geräusch, das Ulys Respirator bei jedem Atemzug von sich gab. Gott, wie er das Ding haßte! Mehr als einmal war er schon versucht gewesen, sich den Schlauch einfach aus dem Mund zu reißen und es ohne diese Maschine zu versuchen. Natürlich hatte er das zuletzt doch unterlassen, einerseits, weil er selbst Angst vor den Folgen hatte, andererseits, weil er seine Mutter und Yale nicht für immer unglücklich machen wollte. Er wollte nicht sterben. Er wollte leben! Aber die Aussicht, sein vermutlich nicht besonders langes Leben an diesem Respirator hängen zu müssen, war alles andere als ermutigend. Und obwohl er erst acht Jahre alt war, fragte sich der Junge doch öfter, ob es nicht besser war, gleich zu sterben. Seine Mutter allerdings hatte den Kampf nie aufgegeben, und sie hatte ihm tatsächlich zu einer zweiten Chance verhelfen: G889 verhieß ihm die Möglichkeit, ein Leben frei von den Behinderungen zu führen, die das Syndrom mit sich brachte. Und er wollte seinen Teil dazu beitragen, gesund zu werden.
Uly reckte und streckte sich, vorsichtig darauf bedacht, weder seine Mutter noch den leise vor sich hinschnarchenden Yale zu wecken. Obwohl er annahm, daß es noch etliche Stunden bis zum Morgen waren, fühlte er sich wach und ausgeruht. Der Gedanke an diese merkwürdigen Gestalten Von gestern, die so etwas wie die Ureinwohner dieses Planeten sein mußten, ließ ihn nicht in Ruhe. Er glaubte seiner Mutter, daß sie nichts von der Existenz vernunftbegabter Wesen auf diesem Planeten gewußt hatte. Aber wo hatten sich diese Wesen dann die ganze Zeit über versteckt, daß sie bei den Untersuchungen des Planeten nicht entdeckt worden waren? Wenn man der Geschichte von Mr. und Mrs. Martin Glauben schenken konnte - und Bess schien Uly ganz vertrauenswürdig, während er bei Morgan so seine Zweifel hegte , gab es offensichtlich noch eine weitere Lebensform. Natürlich konnte das auch eine Abart der ersten sein, aber so wie Morgan die Kreaturen beschrieben hatte, schienen sie keinerlei Ähnlichkeit mit den Wesen vom gestrigen Nachmittag zu haben. Wenn er doch nur in diese Welt, die doch in gewisser Weise ganz speziell seine war, hinausgehen könnte, um das alles selbst zu erkunden! Er würde am Ende nicht an seiner Krankheit, sondern aus lauter Frustration darüber sterben, daß er immer und ewig dieses Atemgerät mit sich rumschleppen mußte. Ein paar Meter entfernt bewegte sich plötzlich etwas. Uly stockte der Atem, sein Herz hämmerte wie wild. Waren diese Wesen zurückgekommen, um sich die Fremden aus der Nähe anzusehen? Hatten sie sich gar an Zero vorbei ins Lager geschlichen, um sie alle zu töten, während sie ahnungslos schliefen? Er wollte gerade seine Mutter und Yale wecken, als er abermals eine Bewegung wahrnahm, dieses Mal ganz in seiner Nähe. Im Licht der Monde erkannte er, daß die Gestalt, die dort herumlief ... True war. Was für eine Enttäuschung! Für ihn wäre
es allemal interessanter gewesen, sich mit den Eingeborenen herumzuschlagen als mit dieser Rotzgöre. Das Mädchen gab sich offensichtlich große Mühe, niemanden aufzuwecken. Sie schlich auf Zehenspitzen durchs Lager und sah sich ständig um, als befürchtete sie, irgend jemand könne sie beobachten. Uly stellte sich schlafend und gab keinen Ton von sich, verfolgte jedoch mit größter Aufmerksamkeit, wie True schließlich hinter einem kleinen, grasbewachsenen Hügel verschwand. Sie hatte ihre Arme so merkwürdig vor dem Bauch verschränkt, daß Uly sich fragte, ob ihr vielleicht schlecht war. Aber wenn sie krank war, warum hatte sie dann nicht ihren Vater oder Julia aufgeweckt? Und warum war sie dann so nervös? Nein, sie mußte irgend etwas anderes vorhaben. Aber was? Neugier mochte zwar, wie ein altes englisches Sprichwort behauptete, der Tod der Katze sein, aber Ulysses Adair hatte diese Eigenschaft noch nie größeren Ärger eingebracht als ein wenig Schelte von seiner Mutter oder von Yale. Daher beschloß er, dem Mädchen zu folgen. True plante irgend etwas, wovon niemand wissen sollte, und Uly hatte das Gefühl, es wäre seine Pflicht, nach dem Rechten zu sehen. Immerhin war er der Sohn der Chefin dieser Mission! Und außerdem konnte er True ohnehin nicht ausstehen. Sollte sie in Schwierigkeiten geraten, durfte er sich das auf keinen Fall entgehen lassen. Langsam setzte er sich auf und ließ dabei weder Yale noch seine Mutter aus den Augen. Ihrem regelmäßigen Atmen nach zu urteilen, schienen beide fest zu schlafen. So leise wie möglich erhob er sich und schlich zu seinem ATV hinüber. Allerdings konnte er es nicht vermeiden, daß seine Beinschienen ab und zu schepperten, und jedesmal wartete er wie erstarrt, ob nicht irgend jemand von diesem schrecklichen Geräusch aufgewacht war. Schließlich hatte er das Fahrzeug erreicht und schob es langsam den Hügel hinauf, hinter dem True verschwunden war. Der ATV war zwar nicht sonderlich schwer,
aber für Uly, der solche Anstrengungen nicht gewohnt war, bedeutete diese Prozedur harte Arbeit. Schon nach wenigen Metern war er in Schweiß gebadet und das Innere seines Immuno-Anzuges klitschnaß. Trotzdem gab er nicht auf, sondern biß die Zähne zusammen und kämpfte gegen seine Erschöpfung an, bis er schließlich, vollkommen außer Atem, oben auf dem Hügel ankam. Er setzte sich auf sein Gefährt und rollte auf der anderen Seite langsam den Abhang hinunter. Erst jetzt startete er den Motor, der so leise lief, daß man ihn aus dieser Entfernung vermutlich im Lager nicht hören würde. Auf der ebenen, unbewachsenen Fläche, die sich bis zum Waldrand erstreckte, war es nicht schwer, True zu entdecken. Obwohl sie auf die Unebenheiten des steinigen Untergrundes achten mußte, lief sie relativ schnell auf den Wald zu. Sollte sie vorhaben, sich in dem dichten Unterholz zu verstecken, hatte er mit dem ATV keine Chance, sie weiter zu verfolgen; denn ihr ohne das Fahrzeug nachzulaufen, dazu war er viel zu schwach. Bei dem Gedanken, daß sein Abenteuer schon so schnell beendet sein könnte, stiegen ihm Tränen der Wut und der Enttäuschung in die Augen. Glücklicherweise blieb True am Waldrand stehen, sah sich noch einmal rasch nach allen Seiten um und kniete sich dann auf den Boden. Uly konnte sein Glück kaum fassen, sie hatte ihn nicht bemerkt. Er drosselte den Motor des ATV noch weiter und pirschte sich ganz langsam und leise von hinten an das Mädchen heran. Dann sah er, daß sie ihr Hemd öffnete und vorsichtig etwas daraus hervorzog ... Was zum Teufel war das? Was hielt sie da in der Hand verborgen? Er konnte es nicht erkennen, bis sie schließlich seufzend ein Etwas vor sich auf die Erde setzte. Uly war sprachlos. Das Ding, das da auf dürren Hinterbeinchen vor True stand, sah genauso aus wie jenes Tier, das Danzigers Beschreibung zufolge Commander O'Neill getötet hatte. War es etwa dasselbe? Wußte Danziger von diesem Tier? Steckte er womöglich hinter allem? Und war True dann nicht
eine Mörderin? Tausend Fragen schössen Uly durch den Kopf, während er True dabei beobachtete, wie sie sich von ihrem »Kätzchen« verabschiedete. »Ich kann dich leider nicht behalten«, flüsterte sie traurig. »Die Erwachsenen sagen, du bist gefährlich.« Schließlich stand sie auf und winkte dem »Kätzchen« zu. Das Tierchen winkte zurück und machte ein Gesicht, das fast noch betrübter als das des Mädchens wirkte. True schniefte, weil ihr nun doch die Tränen kamen. Das Tier schlich traurig zu ihr, sprang hoch, schnappte sich einen Zipfel ihres Hemdes und kletterte auf ihren Arm. True vergrub ihren Kopf an seinem Körper, als es sich an ihren Hals schmiegte und sie mit seinen dünnen Ärmchen umschlang wie ein kleines Baby seine Mutter. True wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Als das Tierchen seine Schnauze an ihrem Haar rieb, sah es True über die Schulter ... und entdeckte Uly. Es gab ein quiekendes Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus Überraschung und Neugier klang. True fuhr erschrocken herum. Als sie Uly sah, verengten sich ihre gefährlich funkelnden Augen zu engen Schlitzen. »Was machst du denn hier?« fauchte sie ihn an. Zur Abwechslung störte ihn der Ton nicht, in dem sie mit ihm sprach. Dafür hatte er viel zu viel Angst vor diesem Vieh auf ihrem Arm, das ja höchstwahrscheinlich O'Neill umgebracht hatte. »Das ist so ein Tier wie das, das den Commander getötet hat, stimmt's?« fragte er und wünschte zugleich, er hätte Unrecht. »Geh ins Lager zurück«, zischte True. »Du hast hier draußen nichts zu suchen ...« »Ach ja?« fragte er und rollte in seinem ATV ein Stückchen näher heran, ohne das Tier, das sich an Trues Hemd festklammerte, auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. »Du ja wohl auch nicht. Dabei weißt du genau, daß diese Tiere gefährlich sind. Yale hat uns gesagt, daß wir ihnen nicht zu nahe kommen sollen.«
»Meins ist nicht gefährlich!« erklärte True aufgebracht und drückte das Tierchen noch fester an sich. »Der einzige, der hier gefährlich ist, bist du! Das ist alles deine Schuld. Wärst du nicht krank, dann hätten wir nicht hierherkommen müssen!« »Glaubst du?« gab Uly nicht weniger giftig zurück. »Es ist auf jeden Fall deine Schuld, wenn uns dieses Tier alle umbringt, und ich werd's meiner Mutter sagen!« Er griff nach dem Steuerknüppel, um den ATV zu wenden und ins Camp zurückzukehren. »Das wirst du nicht!« schrie True und stürzte sich auf ihn. Behende wie ein kleiner Affe sprang sie auf den ATV und prügelte sofort auf ihren Kontrahenten ein, während sich das Tier noch fester an sie klammerte. Uly hob die Arme vor den Kopf, um sich vor Trues Schlägen zu schützen, und versuchte, das Mädchen von dem Fahrzeug herunterzustoßen. Dabei streifte er das Tier, wich erschrocken zurück und stieß dabei aus Versehen gegen den Gashebel. Der Motor des ATV heulte auf, und das Fahrzeug raste mit Höchstgeschwindigkeit in den Wald. True gab ihre Attacke dennoch nicht auf, so daß Uly keine Chance hatte, an den Hebel zu kommen und den ATV zu stoppen. Sie schlug auf den Kleinen ein wie ein Preisboxer, und jeder Schlag saß und tat höllisch weh. Ulys Versuche, sie vom Fahrzeug herunterzuschubsen, waren vollkommen wirkungslos. Es gelang ihr jedesmal, ihm auszuweichen und ihn dann mit um so mehr Wucht wieder anzugreifen, bis Uly schließlich zurückzuschlagen begann. Er landete tatsächlich ein paar Treffer, einer davon so gut plaziert, daß es True fast vom ATV heruntergeschleudert hätte; aber sie klammerte sich verzweifelt an dem Fahrzeug fest, wild entschlossen, den Jungen so lange zu verprügeln, bis er nur noch Sterne sah. »Laß mich los, du blöde Kuh!« schrie Uly, als der ATV gefährlich ins Schwanken geriet. Mit unvermindertem Tempo
rasten sie durch den Wald, und einen Augenblick lang wunderte sich Uly, warum sie nicht schon lange gegen einen Baum gefahren und mitsamt dem Fahrzeug in die Luft geflogen waren. »Du bist schuld!« kreischte True wütend. »Du bist an allem schuld! Du und dein blödes Syndrom!« »Laß mich los!« Endlich gelang es ihm, sich aus ihrem Griff zu befreien, indem er ihre Finger so weit zurückbog, daß sie vor Schmerz laut aufschrie. Sein Versuch, die kleine Furie mit aller Kraft wegzustoßen, bedeutete das Ende. Der ATV geriet ins Schlingern, raste in ein Gebüsch, und Uly flog durch die Luft. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, dauerte in Wirklichkeit aber nur Bruchteile von Sekunden, dann landete er mit dem Hintern voran auf dem Boden. Durch die Wucht des Aufpralls schien seine Wirbelsäule zusammengestaucht zu werden, und seine Zähne schlugen gegeneinander. Währenddessen raste der ATV mit True und dem Tier weiter und verschwand im dichten Ende des dunklen Waldes. Das letzte, was Uly sah, bevor sich die Blätter wie ein Vorhang vor das Fahrzeug schoben, war der helle Fleck von Trues Gesicht, die ihn vollkommen verdattert anstarrte. »Hey!!« rief er und winkte. »Hey!!« Aber sie war schon verschwunden ... und er war plötzlich allein an diesem unbekannten Ort. Verloren und verlassen in einem finsteren Wald auf einem unheimlichen Planeten. Einige Sekunden lang blieb er regungslos sitzen und versuchte, das Gefühl der Angst und Einsamkeit zu verdrängen. Er war mutterseelenallein. In seinen Tagträumen hatte er sich oft vorgestellt, ganz allein die phantastischsten Abenteuer zu bestehen. Aber natürlich hatte er sich dabei auch immer vorgestellt, er wäre gesund und stark genug zum Kämpfen. Dieses Szenario hingegen, in dem sein einziger Schutz aus einem Immuno-Anzug bestand, war in seiner Phantasie nicht vorgesehen gewesen.
Der Junge schaute sich hilfesuchend um. So weit er sehen konnte, rührte sich nichts. Allerdings hieß das nicht viel, denn das dichte Blätterdach der Bäume ließ kaum Mondlicht hindurch, so daß es fast stockdunkel war. Und alles, was Uly hörte, war sein eigenes Atemgeräusch, das in der Stille, die um ihn herum herrschte, noch lauter klang als gewöhnlich. Plötzlich knackte ganz in seiner Nähe ein Ast. Uly riß den Kopf herum und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Er hoffte inständig, daß es True war, die da herumschlich. Doch außer den sich sanft im Wind bewegenden Blättern war nichts zu sehen und zu hören ... außer vielleicht einem leisen Flüstern. »Hallo?« fragte Uly so zaghaft, daß seine Stimme kaum zu vernehmen war. »Ist da jemand?« Keine Antwort. Also blieb er verängstigt sitzen. Er war erschöpft, alles tat ihm weh. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß irgend jemand kam und ihm half. Wenn es sein mußte, würde er sogar True akzeptieren. Vor Selbstmitleid und Angst begann er schließlich jämmerlich zu schluchzen. Mit den Tränen kamen auch die Vorwürfe. Hier herumzusitzen und zu weinen war keine Lösung für den Sohn der Leiterin dieser Expedition. Und es war ebenfalls keine Lösung, wenn er jemals gesund werden und ohne fremde Hilfe zurechtkommen wollte. Danziger und seine Mutter hatten ihm gesagt, daß er selbst etwas dazu beitragen mußte, wenn sich sein Zustand verbessern sollte. Also durfte er jetzt nicht hier sitzen bleiben und auf Hilfe warten, sondern er mußte für sich selbst sorgen und allein den Weg ins Lager suchen. Unter ziemlichen Schmerzen stand er langsam auf und sah sich um. In welche Richtung sollte er gehen? Nun, diese Frage war leicht zu beantworten, denn der ATV hatte auf seiner Irrfahrt durch den Wald eine deutlich sichtbare Schneise hinterlassen. Zweige waren geknickt, Blätter abgerissen, und die Erde war aufgewühlt. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, den
Weg zurück zum Lager zu finden, wenn er nur diesen Spuren folgte und sich Zeit ließ und nicht überanstrengte. Kaum war er ein paar Meter gegangen und hatte den ersten Schritt auf dem Weg in die Unabhängigkeit getan, als er wieder das Knacken eines Astes hörte. Wie versteinert blieb er stehen. Noch ein Ast ... und noch einer. Irgend etwas kam ihm immer näher. Vor Angst standen Uly buchstäblich die Haare zu Berge, er spürte am ganzen Körper ein Kribbeln unter der Haut. Wieder knackte ein Ast, dieses Mal ganz in seiner Nähe! Das war zu viel, Uly ergriff in Panik die Flucht und rannte los, ungeschickt und unkoordiniert, weil er nie richtig laufen gelernt hatte. Abgesehen davon waren seine Beinschienen nicht dazu gedacht, mit ihnen durch stockfinstere, Wälder zu rennen. Er stolperte von einem Baum zum nächsten und riß sich an der Rinde die Hände und den Immuno-Anzug kaputt. Aber egal, wohin er auch lief, die Fußschritte folgten ihm und kamen immer näher. Wer auch immer sein Verfolger war, er war darauf aus, ihn einzuholen. Und es würde ihm gelingen, denn Uly war schwach, krank und schwach! Eine unbeschreibliche Angst zog dem Kleinen die Brust zusammen, er sah keine Möglichkeit, seinem unsichtbaren Gegner zu entkommen! In seiner Panik lief er ziellos hin und her und verirrte sich schließlich zwischen den Bäumen. Niemals würde er den Weg zurück zum Lager finden! Und die Schritte kamen immer näher! Voller Angst warf er einen Blick über die Schulter und versuchte, seinen Verfolger zu entdecken. Dabei stolperte er über einen auf dem Boden liegenden Baumstamm. Uly stürzte und fiel mit dem Gesicht in den Morast. Schlamm spritzte in alle Richtungen und bedeckte den Jungen vom Kopf bis zu den Füßen. Und noch immer kamen die Schritte näher, sein Verfolger lief immer schneller, als würde auch er jetzt rennen. In größter Verzweiflung versuchte Uly, sich den
Schlamm aus den Augen zu wischen, um endlich etwas erkennen zu können. In diesem Moment brach sein Verfolger durch die Büsche und schien im Begriff zu stehen, sich auf ihn zu stürzen. Uly stieß einen schrillen Schrei aus, er hatte das Gefühl, als wollte sein Herz stehenbleiben. Doch dann hielt der Verfolger unvermittelt inne, starrte ihn an und schrie ebenfalls laut los. Völlig fassungslos sah Uly, daß vor ihm auf dünnen Hinterbeinen ein Tierchen saß wie jenes, das True vorhin auf dem Arm gehabt hatte. Vielleicht war es sogar dasselbe. Das Wesen sah ihn mitleidig an, als hielte es ihn für komplett verrückt. Dann aber sprang es auf Uly zu und gab ihm zu verstehen, daß es mit ihm spielen wollte. Uly seufzte erleichtert auf. Das Blut pochte so laut in seinen Ohren, daß er kaum noch etwas hören konnte. Der anstrengende Lauf durch das Unterholz und seine Angst hatten ihn zu sehr erschöpft, als daß; er jetzt noch genug Energie aufbringen konnte, um sich vor diesem Tier zu fürchten. Mit seinem faltigen Gesicht und den neckischen Posen, die es vollführte, war dieses Wesen zudem so putzig, daß Uly unwillkürlich lachen mußte. Vielleicht war es auch die furchtbare Spannung, unter der der Junge gestanden hatte, die sich auf diese Weise Luft machte. Auf jeden Fall lag er innerhalb weniger Sekunden auf dem Rücken und hielt sich den Bauch vor Lachen. Das Tierchen, dem das ausgelassene Verhalten des Jungen ebenso zu gefallen schien, wie umgekehrt seine Faxen zu Heiterkeitsausbrüchen bei Uly geführt hatten, rollte sich auch auf den Rücken und legte seine Vorderpfoten auf den Bauch; dann verzog es seine Schnauze zu einem breiten Grinsen. Ob gefährlich oder nicht, Uly war das in diesem Augenblick vollkommen egal. Er streckte eine Hand aus, um das Tier zu streicheln, und war überglücklich, als das Tier seine Zärtlichkeit erwiderte und ihm vorsichtig und sanft über die Haare und sein Gesicht strich. Trotz der gefährlich aussehenden Krallen fühlten
sich die Pfoten dieses Wesens samtweich an. Jetzt konnte Uly sogar verstehen, warum True so vernarrt in dieses Tierchen war. Er hatte Danzigers Bericht und Yales Warnung nicht vergessen, aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, daß ein so süßes Ding jemanden ernsthaft verletzen, geschweige denn umbringen konnte. Vielleicht hatte Mr. Danziger sich ja getäuscht. Wenn man zudem bedachte, daß Commander O'Neill das Tier immerhin erschießen wollte, war es nur zu begreiflich, daß es sich gewehrt hatte. Nichts störte diese Idylle, bis das Tierchen plötzlich einen ängstlichen Schrei ausstieß und mit den Hinterbeinen ein paarmal auf den Boden stampfte. Dann rannte es weg, ganz offensichtlich, um sich zu verstecken. Erschrocken richtete Uly sich auf und schaute sich verwirrt und besorgt zugleich um. Aber er bemerkte nichts, was dem Tierchen eine solche Angst hätte einjagen können ... bis auf ein leises, fernes Donnern ... Dann, ohne jede Vorwarnung, schössen plötzlich links und rechts von ihm zwei kräftige Arme aus dem Boden, griffen nach ihm und legten sich wie Schlingpflanzen um seine Taille. Einen Augenblick war der Junge stumm vor Schreck, dann ergriff ein Angstgefühl von ihm Besitz, wie er es nie zuvor erlebt hatte. Unaufhaltsam wurde er in die Erde gezogen, während er wie von Sinnen schrie und wild um sich trat. Das letzte, was er von der oberirdischen Welt sah, war True. Sie hatte seine Schreie gehört und war zurückgekommen. Unter anderen Umständen hätte Uly sie um die draufgängerische Geschicklichkeit, mit der sie den ATV lenkte, sicherlich beneidet. Sie trat auf die Bremsen, sprang vom Fahrzeug und kam zu Uly hinübergerannt. Aber es war schon zu spät. Erde drang ihm in Augen und Nase. Er konnte nichts mehr sehen! Dann bekam er keine Luft mehr! Ein paar Sekunden lang hörte er noch Trues Schreie ... dann war er in der Erde versunken.
17 Irgendwo in der Nähe weinte seine Tochter, doch zum ersten Mal seit ihrer Geburt ignorierte Danziger Trues Kummer, obwohl ihm ihr hysterisches Schluchzen fast das Herz brach. An seiner Hose und an seinen Händen klebte Dreck von dem feuchten Waldboden, den er mit bloßen Händen aus der Erde schaufelte. Neben ihm kniete Devon, grub ebenfalls fieberhaft den weichen, feuchten Humus beiseite und versuchte gleichzeitig verzweifelt, über das in Ulys Immuno-Anzug integrierte Headset eine Verbindung zu ihrem Sohn herzustellen. »Uly! Melde dich! Wo bist du?!« Als sie keine Antwort erhielt, schüttelte sie niedergeschlagen den Kopf und wühlte um so angestrengter weiter in der Erde, die sie wie ein Hund, der nach seinem Lieblingsknochen sucht, durch die Beine hindurch hinter sich schleuderte. »Ich weiß nicht!« schluchzte True auf eine Frage, die Danziger nicht gehört hatte. Als er sich besorgt zu ihr umblickte, sah er, daß Yale sich neben das völlig aufgelöste Kind gehockt hatte und ihm tröstend einen Arm um die Schultern legte. Im stillen dankte Danziger dem Cyborg dafür, daß er sich um seine Tochter kümmerte, auch wenn es ihn ein wenig eifersüchtig machte. »Wir hatten uns ein bißchen gestritten und ich ... ich ... auf einmal waren da diese Arme, sie kamen aus der Erde raus und ... es ging alles so schnell... und dann war er verschwunden ...« Ihre großen Augen füllten sich wieder mit Tränen, sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Uly?« schrie Devon wieder, leichenblaß vor Angst. An ihren bloßen Armen klebte bis zu den Ellbogen der Dreck. »Uly? Kannst du mich hören?« Ihre glühenden Augen suchten Danzigers Blick, bevor sie sich wieder über das Loch vor ihnen beugte, das immer größer und tiefer wurde. »Wo ist er? Bitte ...«
Es klang wie ein Gebet, auch wenn Danziger nicht wußte, ob es an Gott oder ihn gerichtet war. Näherkommende Motorengeräusche kündigten die Ankunft des SandRails an, in dem Julia, Baines und noch ein weiteres Mitglied der Raumschiffbesatzung saßen. Die Ärztin sprang aus dem Fahrzeug und packte sofort ihre Geräte und Medikamente aus. »Verflucht, Zero!« schrie Danziger, während er angestrengt weiter grub. »Wie weit noch?« Der Roboter, dessen Transponder das Signal überwachte, das von Ulys Immuno-Anzug abgestrahlt wurde, stand dicht neben dem Loch. »Wir befinden uns direkt über ihm«, antwortete er. »Noch genau zweiundfünfzig Zentimeter.« »Gott sei Dank«, flüsterte Devon und schaufelte weiter die Erde aus dem Loch. »Warum laßt ihr ihn nicht graben?« wollte der Kollege von Baines mit einem Blick auf Zero wissen. »Für solche Arbeiten ist er doch da.« Da Devon schwieg, sah Danziger sich genötigt, die Frage zu beantworten. »Er ist für die Erledigung schwerer Aushubarbeiten ausgelegt, viel zu grob für eine derartige Aufgabe!« stieß er atemlos hervor. »Er könnte das Kind verletzen!« Dann stand er auf, schnappte sich eine Schaufel, die am Boden lag, und grub wie ein Besessener weiter. Im Licht der Arbeitslampe tanzte sein Schatten auf dem Waldboden wie ein gigantischer Dämon aus dem Märchen hin und her. Er warf die Schaufel beiseite und ließ sich wieder auf die Knie fallen, um die lose Erde mit den Händen fortzuschieben. »Ich sehe ihn«, schnaufte er und tastete mit den Fingern nach dem Kind. »Ich glaube, gleich haben wir ihn.« Er wühlte weiter, spürte etwas unter seinen Fingern, bekam es zu fassen und zog es heraus ... Es war ein Stück von Ulys Immuno-Anzug. Eine Welle des Entsetzens brach über die kleine Gruppe verzweifelter Menschen hinweg und ließ sie erstarren. Bis auf
Trues Schluchzen herrschte Totenstille. Mit zitternden Fingern riß Devon dem Mechaniker den Stoffetzen aus der Hand und preßte ihn an ihr Gesicht. In unbeschreiblichem Schmerz sank sie in sich zusammen, ihre Schultern zuckten, sie schluchzte hemmungslos in den Immuno-Anzug hinein. Danziger starrte fassungslos in das trügerische Loch hinein. »Wir gehen das alles falsch an«, murmelte er, ohne selbst genau zu wissen, was er damit meinte. Doch noch während er sprach, wuchs die Überzeugung in ihm, daß er recht hatte. »Es muß einen Weg nach unten geben ...«Er stand auf und streckte seinen schmerzenden Rücken. Sein Blick fiel auf True, die ihn von der anderen Seite der Grube her aus verweinten, schreckgeweiteten Augen ansah. Schon im nächsten Moment kam sie zu ihm gelaufen, schlang ihre Arme um seine Taille und verbarg ihr Gesicht an seiner Brust. Unfähig, sie anders zu trösten, hielt er sie ein paar Sekunden lang fest, bis er schließlich Julia durch ein Kopfnicken zu verstehen gab, daß er mit ihr sprechen mußte. »Sorgen Sie dafür, daß alle den Wald verlassen«, sagte er ruhig und entschlossen. »Ich will nicht, daß noch mehr von uns von diesen Wesen überwältigt werden ... Ich bleibe mit Zero hier. Alle anderen kehren ins Lager zurück.« »Dad ...« True wollte protestieren, biß sich aber gleich auf die Lippen, als er den Kopf schüttelte. »Alle«, wiederholte Danziger in diesem Keine-Wider-redeTon, den sie nicht ausstehen konnte. Julia nickte wortlos und deutete mit einer fragenden Kopfbewegung zu Ulys Mutter hinüber, die noch immer zusammengekauert auf dem Boden saß. Als Danziger Devon ansah, starrte sie ihn aus verweinten und zugleich wild entschlossen funkelnden Augen an. Die Botschaft dieses Blicks war eindeutig: Sie würde um keinen Preis ohne ihren Sohn in das Lager zurückkehren. »Nein«, sagte Danziger mit fester Stimme und schüttelte erneut den Kopf. »Es ist zu gefährlich. Ich werde Ihren Sohn da
herausholen. Egal wie.« Als er bemerkte, daß Julia ihre Sachen wieder einpacken wollte, legte er eine Hand auf ihren Arm, um sie davon abzuhalten. »Lassen Sie das hier. Ich weiß, wie man mit einem Respirator umgeht.« Mit trotzig erhobenem Kinn stand Devon auf, den Stoffetzen von dem Immuno-Anzug ihres Sohnes an die Brust gepreßt. »Ich bleibe hier, bis wir ihn gefunden haben«, erklärte sie in einem Tonfall, der signalisierte, daß ihr Entschluß unverrückbar feststand. Schniefend wie ein kleines Mädchen, wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht und schmierte sich dabei Erde auf die Wangen. Danziger hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß es Situationen gab, in denen es besser war, einfach nachzugeben, als sich auf einen Streit einzulassen, den man ohnehin nicht gewinnen konnte. Abgesehen davon verloren sie durch unnötige Diskussionen nur wertvolle Zeit, und letzten Endes verstand er Devons Haltung. Auch um hätte schließlich niemand von hier fortgebracht, wenn True dort unten wäre. Höchstens mit brutaler Gewalt. Er nickte. »Julia, wir werden über die Headsets in Verbindung bleiben. Sollten wir uns nicht mehr melden oder Sie bekommen mit, daß uns etwas zugestoßen ist, brechen Sie sofort die Zelte ab und verschwinden so schnell wie möglich von hier. Ich habe keine Ahnung, wo Sie hingehen können, aber Sie dürfen auf keinen Fall hierbleiben. Haben Sie mich verstanden?« Sicher, die Ärztin hatte verstanden. Aber Danziger sah ihr an, daß ihr das alles ganz und gar nicht gefiel. Bis jetzt waren immer andere Leute für diese Expedition zuständig gewesen, und nun kam er daher und übertrug ihr die Verantwortung für den Fall, daß er und Devon vor ihren Herrgott treten müßten. Danziger wußte nicht, ob sie dieser Aufgabe gewachsen war, in gewisser Weise rechnete er sogar damit, daß sie scheitern würde. Andererseits hatte er gesehen, mit welcher Autorität sie
dem Dickschädel Alonzo gegenübergetreten war ... Eigentlich mußte sie also nur lernen, auch mit einer größeren Menschenmenge fertig zu werden. Julia warf Devon einen fragenden Blick zu, um von ihr die Bestätigung zu erhalten, daß sie Danzigers Anweisungen zustimmte. Devon nickte, und Julia, die noch immer so aussah, als ob sie jede andere Aufgabe lieber übernommen hätte, machte sich daran, die Leute über den bevorstehenden Aufbruch zu informieren. Erst als die anderen sich auf den Weg zu den Fahrzeugen machten, befreite sich Danziger behutsam aus Trues Umarmung, hockte sich vor ihr nieder und blickte in ihre vom Weinen geröteten Augen. »Hör mir gut zu, mein Kleines: Du wirst den TransRover allein reparieren.« Er schwieg einen Moment. True brach bei diesen Worten erneut in Tränen aus und rieb sich mit ihren kleinen Fäusten die Augen. »True«, sagte er, ohne die Stimme zu heben, jedoch in einem etwas strengeren Tonfall, »du bist eine gute Mechanikerin. Ich zähle auf dich.« Angestrengt bemüht, mit dem Weinen aufzuhören, blinzelte sie ihn an und holte tief seufzend Luft, bevor sie entschlossen nickte. »Okay, Dad«, sagte sie mit zittriger Stimme. »Ich mach's.« Sie umarmte ihn noch einmal und ging dann, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, zu den Fahrzeugen hinüber. »Sie können gut mit ihr umgehen.« Danziger ließ seinen Blick von True zu Devon und wieder zurück wandern. Seine Tochter war inzwischen auf den Fahrersitz des TransRovers geklettert, bevor einer der Erwachsenen ihr diesen Platz streitig machen konnte. Dann startete sie den Motor. Danziger war überrascht über Devons Kompliment und zugleich ein bißchen verlegen. Darüber, ob er gut mit seiner Tochter umgehen konnte, hatte er sich eigentlich nie Gedanken gemacht; er und True gehörten einfach zusammen, mehr nicht. »Danke, Sie sind aber auch keine schlechte Mutter.«
So wie Devon den Immuno-Anzug ihres Sohnes an sich preßte, machte sie nicht den Eindruck, als ob sie ihm glaubte. »Also los«, sagte Danziger. »Machen wir uns an die Arbeit und holen Uly da raus.« »John.« Erschrocken darüber, daß ihn jemand bei seinem Vornamen rief, zuckte Danziger zusammen. Er hatte nicht damit gerechnet, daß überhaupt jemand seinen Vornamen kannte. Als er sich umwandte, sah er Yale, der mit einem langen Knüppel, den er hier im Wald gefunden haben mußte, auf die Wurzeln eines riesigen alten Baumes zeigte, der über und über mit Moos bewachsen war. »Ich habe hier was entdeckt, was Sie sich unbedingt anschauen sollten.« »Hatte ich nicht gesagt, alle außer Zero, Devon und mir sollten ins Lager zurückgehen?« fragte Danziger leicht gereizt. Aber der Cyborg ließ sich nicht provozieren, sondern zuckte nur gelassen mit den Achseln. »In vielerlei Hinsicht ist Uly auch mein Sohn. Also werden Sie mich ebensowenig zum Gehen zwingen können wie Devon. Außerdem bin ich größer und stärker als ihr beide zusammen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Und jetzt sehen Sie sich an, was ich hier entdeckt habe.« Ein leiser Windhauch fuhr in die Decken und Planen, die zwischen Stangen und Ästen aufgespannt worden waren, um den Kolonisten tagsüber Schatten zu spenden und sie nachts vor Kälte und Feuchtigkeit zu schützen. Alonzo allerdings zog es vor, direkt unter freiem Himmel zu schlafen. Wenn er in den Sternenhimmel sah, fühlte er sich so ähnlich wie im All... Dazu verurteilt, mehr oder weniger bewegungslos in seiner Hängematte zu liegen, hatte der Pilot nichts anderes zu tun, als tatenlos zuzusehen, was um ihn herum vor sich ging, und seinen Gedanken nachzuhängen. Da seine Grübeleien immer wieder die Bilder heraufbeschworen, die er vergessen wollte, versuchte
er, sich so gut wie möglich dadurch abzulenken, daß er die anderen beobachtete. Im Lager herrschte eine gespannte und niedergeschlagene Stimmung. Alle warteten auf Neuigkeiten von Uly, Devon und Danziger. Der Pilot hatte sich nie besonders viel aus Kindern gemacht und war - jedenfalls so weit er das wußte - selbst nie Vater geworden. Trotzdem hoffte selbstverständlich auch er, daß dem kleinen Adair nichts zugestoßen war und sie ihn bald finden würden. Abgesehen davon, daß Uly an dieser furchtbaren Krankheit litt, schien er ein ganz netter Junge zu sein, mit einer blühenden Phantasie und ein wenig ungezogen ... wie die meisten Kinder in diesem Alter. In mancher Hinsicht erinnerte Devons Sohn den Piloten daran, wie er selbst als kleiner Junge gewesen war. Aber das lag schon so viele Jahre zurück, daß er sich kaum noch daran erinnerte. »Etwas so Großes kann nicht einfach spurlos vom Erdboden verschwinden«, hörte er Morgan sagen. Er schaute zu den Martins hinüber, die nur ein paar Meter von ihm entfernt unter einem provisorischen Zeltdach saßen und anscheinend glaubten, er würde schlafen. Alonzo konnte einfach nicht begreifen, wie Bess es mit diesem Mann aushielt. Warum sie ausgerechnet einen solch widerlichen Typen geheiratet hatte, würde ihm ewig ein Rätsel bleiben. »Ich bin fest davon überzeugt, daß das Mädchen sich alles nur einbildet.« Morgan warf einen vielsagenden Blick auf True, die beim Licht einer Arbeitslampe verbissen versuchte, den Motor des TransRovers in Ordnung zu bringen. Bess schlang die Arme um ihre angezogenen Beine. »Und was ist mit dem Tier, das die Luke von unserer Rettungskapsel gerissen hat, Liebling? Ich meine, wie willst du das erklären?« Morgan verdrehte die Augen und sah seine Frau an, als ob er ihr zu verstehen geben wollte, sie möge doch lieber den Mund halten, wenn sie die Zusammenhänge nicht begriff. »Ich weiß es nicht, Bess. Vielleicht gab es ja gute Gründe dafür, daß diese
Expedition nicht offiziell genehmigt wurde. Und vielleicht säßen wir jetzt nicht alle in diesem Schlamassel, wenn unsere hochverehrte Leiterin sich nicht immer wie der liebe Gott aufführen würde.« Bess sah ihren Mann schweigend und mit finster zusammengezogenen Brauen an. Alonzo konnte nicht sagen, ob sie eher besorgt oder verärgert war. Auf jeden Fall wippte sie nervös mit dem Fuß, bevor sie schließlich mit mühsam beherrschter, eiskalter Stimme fragte: »Ist dir eigentlich klar, Morgan, daß ihr Junge verschwunden ist und keiner weiß, ob er noch lebt?« Der Regierungsbeamte breitete in einer unschuldigen Geste beide Hände aus. Dieser Knabe ist wirklich mit allen Wassern gewaschen, dachte Alonzo. Ein echter Profi, wenn es darum geht, die passenden Gefühle zur Schau zu stellen. »Aber Bess, ich mache mir genausoviel Sorgen um den Kleinen wie jeder andere auch! Ich sage doch nur, daß das alles keinen Sinn ergibt. Wesen, die aus der Erde wachsen? Das ist physikalisch vollkommen unmöglich!« Das glaubst du, dachte Alonzo. Hätte er Ulys Verschwinden verhindern können, wenn er den anderen von seinen Träumen erzählt hätte? Aber allein schon der Gedanke, er müßte diese schrecklichen Traumbilder in Worte fassen, machte Alonzo Angst. Selbst wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, das, was er im Schlaf gesehen hatte, würde für immer sein Geheimnis bleiben. Der Pilot drehte sich auf die Seite und hörte den Martins nicht weiter zu. Er hatte genug mitbekommen und wußte mehr, als er je im Leben hatte wissen wollen. Als Danziger den Kopf des Roboters aus dem Schacht hochzog, den Yale zwischen den weitverzweigten Wurzeln des alten Baumes entdeckt hatte, legte sich das Seil in ordentliche kleine Schlaufen zu seinen Füßen. Zeros Haupt war über und über mit Erde verdreckt und sah aus wie ein mit
Schokoladenstreuseln überzogener Pudding. »Da unten gibt es eine ganze Reihe von Gängen und Tunneln«, berichtete er. »Groß genug für einen Menschen?« fragte Danziger und starrte in das gähnende Dunkel hinunter. Von hier oben sah das alles eigentlich überhaupt nicht bedrohlich aus. Doch wenn man erst mal da unten war, dachte man wahrscheinlich anders darüber. »Ja.« Der Körper des Roboters, der in Ruhestellung auf dem Waldboden gewartet hatte, erhob sich, während der Kopf noch immer an dem Seil hing und in Danzigers Hand hin und her schwang wie ein Pendel. »Aber als Zero-Einheit bin ich mit diversen Aushubwerkzeugen ausgestattet.« Danziger schürzte die Lippen und nickte, um dem Roboter zu zeigen, daß er ihm zugehört hatte. Das war ein nettes Angebot, aber ... Danziger hakte das Seil aus und warf den Kopf des Roboters Yale zu, damit er ihn wieder auf den Körper montierte. »Selbstverständlich sind sie fast komplett von unseren Freunden aus der Frachtkapsel gestohlen worden«, fuhr Zero gutgelaunt fort, »aber ...« Devon, die sich bis jetzt abwartend im Hintergrund gehalten hatte, trat zu Danziger. »Ich werde runtergehen«, sagte sie entschlossen. Mit einem Blick signalisierte Yale dem Mechaniker, daß Devon in diesem Punkt auf keinen Fall nachgeben würde. Trotzdem versuchte er es. »Bei allem Respekt«, begann Danziger höflich, »den Teufel werden Sie tun.« »Das ist mein Sohn da unten!« »Ich kann Sie gut verstehen, Devon. Wahrscheinlich sogar besser, als Sie glauben«, gab er besänftigend zurück und wünschte für einen Augenblick, er würde über Morgan Martins diplomatische Fähigkeiten und seine Wortgewandtheit verfügen. Statt dessen konnte er sich nur auf die ihm eigene Direktheit verlassen, die ihm schon oft genug eine Menge Ärger eingebracht hatte. »Aber wir haben bereits Commander O'Neill
verloren, dessen unbedachtes Verhalten ihn das Leben gekostet hat. Ich kann nicht zulassen, daß Sie den gleichen Fehler begehen, solange es noch andere Möglichkeiten gibt. Sie können mir glauben, daß ich nicht besonders scharf darauf bin, in dieses Loch zu klettern und mein Leben aufs Spiel zu setzen. Aber hier geht es nicht mehr nur um Uly, sondern um all die Menschen im Lager, für die Sie die Verantwortung tragen. Diese Leute verlassen sich auf Sie.« Das war zwar ein Schlag unter die Gürtellinie, aber er hatte gesessen. Ob es Devon nun gefiel oder nicht, sie war für die Kolonisten so etwas wie die gute Fee aus dem Märchen, ohne deren Fürsorge sie verloren waren. Danziger bückte sich, um sein Headset aufzuheben, das er sich mit einer Geschicklichkeit über den Kopf streifte, die langjährige Routine verriet. Dann hakte er das Ende des Seils an seinem Gürtel fest. »Ich werde Sie über alles auf dem laufenden halten, was ich da unten sehe«, versprach er. Es war nicht zu übersehen, daß Devon diese Entwicklung überhaupt nicht gefiel und sie dem Mechaniker höchst ungern nachgab. »Hör zu Kumpel«, wandte sich Danziger nun an Zero, »wenn ich schreie, holst du mich so schnell wie möglich wieder nach oben, klar?« »Klar.« Danziger spürte, wie sein Herz anfing, schneller zu schlagen. Wahrscheinlich war es besser, wenn er nicht lange darüber nachdachte, was ihn dort unten erwarten konnte. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging er zu dem Loch, setzte sich auf dessen Rand und ließ sich langsam in den Schacht hinabgleiten. Während Zero ihn vorsichtig an dem Seil herabließ, leuchtete Danziger mit seiner Taschenlampe die Wände des Schachts entlang in die Tiefe. »Zero«, fragte er in das Mikro seines Headsets, »kannst du mich empfangen?«
»Sir«, kam die prompte Antwort, »ich verfüge über ausgezeichnete Empfangsgeräte mit enormer Reichweite.« Na gut, dachte Danziger, hoffentlich sind die nicht auch gestohlen worden. Endlich berührten seine Füße den Grund des Schachts. Vorsichtig leuchtete er mit der Taschenlampe in alle Richtungen, konnte aber nichts Bedrohliches entdecken. Also löste er das Seil von seinem Gürtel und kappte damit die einzige Verbindung zur Oberwelt, die ihn im Notfall hätte retten können. Als er sich vorsichtig den dunklen Gang, der vor ihm lag, hinuntertastete, drang ihm der Geruch feuchter Erde in die Nase. True starrte schon eine ganze Weile auf den Motor des TransRovers, ohne wirklich hinzusehen, was sie da tat. Sie fühlte sich unendlich traurig und niedergeschlagen. Sollte Uly sterben, dann war das einzig und allein ihre Schuld, weil sie ihr »Kätzchen« unbedingt hatte behalten und sich selbst dann nicht hatte von ihm trennen wollen, als sie erfahren hatte, daß ein solches Wesen einen Mann wie Commander O'Neill töten konnte. Hätte sie Yales Rat befolgt und sich von dem Tier ferngehalten> wären sie und Uly nicht in Streit geraten; er wäre nicht von dem ATV gefallen und auch nicht in die Erde gezogen worden ... Zum wiederholten Mal in dieser Nacht rannen ihr die Tränen die Wangen hinunter. Wütend und verzweifelt fuhr sie sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Wie geht's, kleines Mädchen?« fragte jemand hinter ihr. True fühlte sich ertappt. Wer besaß die Frechheit, sich an sie heranzuschleichen und sie »kleines Mädchen« zu nennen? Damit war ihr schon O'Neill auf die Nerven gegangen! Verlegen und zornig zugleich drehte sie sich um und erkannte Bess Morgan. Die Frau sah sie mit einer Freundlichkeit und Offenheit an, die True unerträglich fand. Sie sollte bloß nicht erwarten, daß True nett zu ihr war. »Ich repariere den TransRover«, gab sie
kurz angebunden, beinahe mürrisch zurück und beugte sich wieder über den Motor. Sie hoffte, daß Bess den Wink mit dem Zaunpfahl verstehen und wieder verschwinden würde. Aber diese Frau war entweder total bescheuert oder genauso dickköpfig wie sie selbst. Sie ging einfach nicht weg. »Kann ich dir vielleicht helfen?« fragte sie. Als True keine Antwort gab, kam sie einen Schritt näher und streckte ihr die Hand entgegen. »Ich bin Bess. Ich glaube, wir haben uns noch nicht vorgestellt. Wie heißt du?« Ihr Vater hatte ihr beigebracht, nicht unhöflich zu sein. Also schaute True, wenn auch widerwillig, für einen Moment von ihrer Arbeit auf. Die ihr angebotene Hand ergriff sie allerdings nicht. »True Danziger. Und ich brauche keine Hilfe, danke.« Verdammt! Wann begriff diese Frau endlich, daß sie allein sein wollte? Doch statt zu verschwinden, kam Bess noch näher und warf einen Blick in den Motorraum des Fahrzeugs. »Ich weiß nicht«, murmelte sie, »aber wir hatten früher zu Hause einen Minentraktor. An dem hab' ich manchmal ein bißchen herumgebastelt, auf dem Hof hinter dem Haus meiner Eltern.« Lächelnd sah sie das Mädchen an. »Mit solchen Geschichten können Sie mich nicht beeindrucken«, gab True schnodderig zurück und beugte sich wieder über den Motor, wild entschlossen, nicht mehr aufzuschauen, egal, was diese Frau auch sagte. Wenn sie nicht ganz begriffsstutzig war, hielt sie jetzt endlich den Mund und zog sich zurück. Aber so schlau war sie offenbar nicht. Im Gegenteil, Bess brachte es tatsächlich fertig und legte sanft ihre Hand auf Trues Handgelenk und hielt es fest! True erstarrte und wußte vor lauter Peinlichkeit nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. »Was passiert ist, ist nicht deine Schuld, True«, sagte Bess leise. »Ich bin sicher, daß sie Uly finden werden, mach dir keine Sorgen. Wir müssen jetzt alle zusammenhalten.«
Am liebsten hätte True der aufdringlichen Frau gesagt, sie möge ihre Banalitäten für sich behalten, doch aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund blieben ihr die Worte im Hals stecken. Sie konnte sich kaum noch an ihre Mutter erinnern. Wenn sie in den vergangenen Jahren von jemandem zärtlich und tröstend berührt worden war, dann war das immer ihr Vater gewesen. Und nun kam diese Frau, eine Fremde, und zeigte ihr gegenüber eine Form der mütterlichen Fürsorge, die True schon fast vergessen zu haben glaubte. Das Mädchen hielt still und wartete, daß diese peinliche, sie in höchstem Maße verstörende Situation endlich vorüberging. Schließlich ließ Bess ihre Hand los und kehrte zu ihrer Schlafstelle zurück. True lauschte auf das Geräusch der sich entfernenden Schritte und wagte erst dann, einen Blick über die Schulter zu werfen, als die Frau weit genug weg war. Verwirrt sah sie Bess nach ... Doch dann bemerkte sie etwas anderes, das sofort ihre Aufmerksamkeit erregte. Auf der Kuppe des Hügels bewegte sich etwas ... und dann erkannte sie dort bleich und starr im Licht der Monde drei einsame, riesige Gestalten. »Oh nein«, stöhnte sie und wünschte verzweifelt, ihr Vater wäre hier. Der entsetzte Klang ihrer Stimme ließ jeden im Lager aufhorchen. »Sie sind zurückgekommen!«
18 Als sie sah, daß immer mehr Gestalten auf dem Hügel erschienen, schien es Julia, als würde eine eiskalte Hand ihr Herz umklammern. Erst waren es drei, dann fünf, schließlich acht Wesen, die starr und bewegungslos dort oben verharrten. Sie hoben sich bedrohlich von dem tiefschwarzen Nachthimmel ab, an dem die Sterne funkelten und glänzten wie Juwelen auf einem Samtkissen. Der schwache Schein des Lagerfeuers warf unheimlich zuckende Schatten, und ein sanfter Windhauch strich durch Julias Haar und ließ es vor ihren Augen flattern. Als sie sich die Strähnen aus dem Gesicht strich, erkannte sie, daß wie aus dem Nichts eine weitere Gestalt auf dem Hügel erschienen war ... und dann noch eine .. und noch eine ... Alonzo stöhnte auf, als stünde er vor dem Ersticken. Julia sah zu ihm hinüber. Das Gesicht des Piloten war leichenblaß und angstverzerrt, er versuchte krampfhaft, sich in der Hängematte aufzurichten. Sie hätte zu ihm gehen und ihm helfen sollen, doch statt dessen starrte sie wie gebannt auf den Hügel, auf dem gerade wieder zwei Gestalten erschienen waren. Sie traten scheinbar mühelos auf die Kuppe und verharrten dort bewegungslos wie riesige, alte Bäume, die auf das Lager herabstarrten. Genauso regungslos und starr standen hier unten die Kolonisten und blickten wie hypnotisiert zu dem Hügel hinauf. Morgan Martin hatte irgendwo einen Telescanner aufgetrieben, den er an die Augen führte und dabei wild an den Kontrollknöpfen herumfummelte, um sich diese Gestalten in Großaufnahme ansehen zu können. »Oh ...« Sein leises Stöhnen klang wie ein langer, qualvoller Seufzer. »Oh, mein Gott...«
Bess klammerte sich ängstlich an seinen Arm, unfähig, den Blick von dem Hügel abzuwenden, auf dem noch immer weitere dieser furchterregenden Gestalten erschienen. »Morgan, diese Wesen sehen anders aus als das Tier bei unserer Rettungskapsel.« »Das habe ich auch schon bemerkt«, fuhr der Regierungsbeamte seine Frau barsch an. Inzwischen waren bereits sechzehn dieser Wesen dort oben auszumachen, und es kamen noch immer welche dazu. Im Lager herrschte Totenstille, niemand wagte sich zu rühren, als wären sie alle von diesem Blick verhext, mit dem die Wesen sie beobachteten. Es war schlimmer, als angegriffen zu werden ... Plötzlich ließ Morgan den Scanner fallen und griff nach einem Gewehr, das auf einem Tisch lag. »Worauf warten wir noch?« fragte er und wedelte aufgeregt mit der Waffe herum. »Darauf, daß sie uns töten?« »Liebling, sei vorsichtig!« bat Bess und versuchte, ihm das Gewehr abzunehmen. »Morgan!« schrie Julia und lief zu ihm hinüber, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was sie tun sollte. »Nein!« Aber es war zu spät. Morgan hatte das Gewehr schon angelegt, zielte und drückte ab. Das Geschoß verfehlte die Gestalten auf dem Hügel nur um wenige Meter und schlug in den Boden ein, wo es einen Krater aufriß, aus dem Erdbrocken und Steine hoch in die Luft flogen. Durch die Reihen der Gestalten auf dem Hügel ging nur eine leichte Bewegung, wie von einem Windhauch; dann standen sie wieder genauso unbeweglich wie vorher und sahen auf das Lager hinab. Morgan fluchte und zielte von neuem, doch bevor er einen zweiten Schuß abgeben konnte, waren die Kolosse mit der gleichen unerklärlichen Leichtigkeit hinter dem Kamm des Hügels verschwunden, wie sie zuvor dort aufgetaucht waren. Für Bruchteile von Sekunden war ein leises, kaum wahrnehmbares Donnern zu hören, dann herrschte wieder
Totenstille, nur das Rauschen der Blätter im Wind war noch zu vernehmen. Morgan grinste triumphierend und schulterte das Gewehr wie nach einer erfolgreich beendeten Großwildjagd. »Seht ihr? Die Sprache der Waffen versteht jeder. Wir werden ihnen zeigen, wer hier der Boß ist.« Julia hörte ihm kaum zu, sondern starrte noch immer auf den Hügel. Ihr ging nicht aus dem Kopf, mit welch magischer Leichtigkeit diese Gestalten aufgetaucht und wieder verschwunden waren. Und dann dieses leise Donnern, das so klang, als ob von irgendwoher Erde und Felsbrocken herabfielen. Wenn sie dann noch bedachte, was True erzählt hatte, als sie schluchzend ohne Uly ins Lager zurückgekommen war ... Sie stieß Morgan beiseite und rannte los. »Idiot!« schrie sie ihm noch zu. »Hey!« Der Regierungsbeamte stolperte und hielt sich an seiner Frau fest, um nicht zu fallen. »Wo wollen Sie denn hin?« Es war der Ärztin völlig egal, ob sie sich in Gefahr begab und daß sie gegen Danzigers Anweisungen verstieß; es war ihr ebenfalls egal, was Morgan oder sonst jemand von ihr dachte, sie lief so schnell sie konnte den steilen, steinigen Abhang hinauf. Kurz bevor sie den Kamm erreichte, blieb sie atemlos stehen. Dann machte sie auch den letzten Schritt und stand auf der Kuppe des Hügels ... aber auf der anderen Seite war absolut nichts zu sehen. Keuchend und mit schmerzenden Lungen suchte sie im silbrigen Licht der zwei Monde nach den Gestalten oder irgendwelchen Spuren, die sie doch hinterlassen haben mußten. Aber da war nichts, absolut nichts. Es war, als seien die Wesen nie dagewesen. Dann aber fiel ihr Blick auf den Boden, und ihr blieb fast das Herz stehen. Genau vor ihren Füßen lag der Schlüssel zu allem, man mußte nur richtig hinsehen: Dort, wo die Gestalten gestanden hatten, war die Erde kaum sichtbar aufgewühlt, locker
und feucht wie an jener Stelle im Wald, wo Uly verschwunden war. Vor Aufregung zitternd, kniete Julia sich hin und ließ die lose Erde durch ihre Finger rinnen. Erstaunt stellte sie fest, daß sie sich so weich anfühlte wie die Wange eines Kindes. »Uly? Hörst du mich, Uly?« Vorsichtig tastete sich Danziger durch das Labyrinth von schmalen, düsteren Tunneln und Gängen unter der Erdoberfläche. Ab und zu fiel ein schwacher Lichtschimmer in die Gänge, der von phosphoreszierenden Pilzen oder ähnlichem stammen mochte. Aber Danziger versuchte im Moment gar nicht, das genauer zu ergründen, da er befürchtete, herauszufinden, daß diese Lichtquellen nicht zufällig hier waren. Der Gedanke, daß irgend jemand diese Höhlen nicht nur gebaut, sondern auch noch mit Licht ausgestattet hatte, war alles andere als angenehm. Es war irgendwie tröstlich, daß er die Stablampe dabei hatte, auch wenn deren Strahl viel zu schwach war, um hier unten weiter als ein bis zwei Meter sehen zu können. Plötzlich glaubte er, aus einem der Seitengänge ein Geräusch gehört zu haben, und blieb stehen. Danziger lauschte angestrengt, doch da war nichts zu hören; vermutlich war es doch nur ein Windhauch gewesen. Also ging er weiter. Danziger hatte bereits mit Staunen festgestellt, daß die Gänge über ein Lüftungssystem verfügten, das selbst in dieser beträchtlichen Tiefe für ausreichenden Sauerstoff sorgte. Dies war ein weiterer Beweis dafür, daß irgend jemand diese Höhlen und Gänge künstlich angelegt hatte. Die Beschaffenheit des Bodens, den Tausende von Füßen festgestampft haben mußten, und die symmetrische Anlage der Gänge sprachen ebenfalls für diese These. Danziger sprach leise in das Mikro seines Headsets: »Es sieht aus wie ein unterirdisches Flußbett oder eine verlassene Mine.«
Als er an eine besonders niedrige Stelle kam und den Kopf einziehen mußte, vernahm er Devons Stimme, die sich über den Kopfhörer dünn und blechern anhörte. »Irgendein Zeichen von Uly?« fragte sie, obwohl sie doch sicher wissen mußte, daß sie es zuerst erfahren würde, wenn er irgend etwas fände. »Fußabdrücke vielleicht? Spuren eines Kampfes?« Sie klang besorgt und ängstlich. Die tapfere Anführerin der Expedition war offenbar von einer Furcht erfüllt wie nie zuvor in ihrem Leben und gab sich verdammt viel Mühe, dies zu verbergen. Danziger wünschte, er könnte ihr etwas mitteilen, das sie beruhigte. »Nein, nichts. Sieht so aus, als ob hier seit Ewigkeiten niemand mehr gewesen ist.« Doch wie lange dauerte eine Ewigkeit hier unten? Irgend jemand oder irgend etwas hatte einmal hier gelebt, daran bestand kein Zweifel. Die Frage war nur, ob diese Wesen sich immer noch hier aufhielten, auch wenn es auf den ersten Blick nicht danach aussah. Der Mechaniker gelangte an eine Stelle, an der sich zwei Gänge kreuzten, die wesentlich breiter und höher als die anderen waren. War er auf einen der Hauptgänge dieser unterirdischen Welt gestoßen? Danziger sah sich nach allen Richtungen um. »Uly? Uly!« In dem kahlen Gewölbe hallte seine Stimme gespenstisch von den Wänden wider, und dieses Echo war die einzige Antwort, die er erhielt. Er verließ sich auf seine Intuition und entschied sich für einen der Gänge. Wie vermutlich jeder andere auch, der mit Morgan Martin zu tun hatte, faßte Julia den Entschluß, diesen Idioten bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umzubringen. Wie zum Teufel hielt Bess es nur mit ihm aus? Sie machte doch einen durchaus normalen und vernünftigen Eindruck. Der Streit mit dem Beamten er selbst sprach beschönigend von einer »Konferenz« - wurde immer unerträglicher. Schamlos machte sich der Mann die Angst der Leute zunutze, die in ihrer Panik vermutlich allem zugestimmt hätten, und wiegelte sie gegen Julia auf. Danziger
hatte ihr die Verantwortung für die Gruppe übertragen, und einige der Kolonisten standen auch hinter ihr. Aber es war klar, daß Morgan Martin um jeden Preis das Kommando übernehmen wollte. Und wie seine Entscheidungen aussahen, hatte man ja vorhin gesehen. In seiner maßlosen Dummheit war dieser Kerl imstande, ihrer aller Leben aufs Spiel zu setzen. Verdammt! Hatte er denn überhaupt nichts aus O'Neills Tod gelernt? »Julia! Julia!« schrie jemand atemlos und zerrte an ihrer Jacke. Wer wollte jetzt schon wieder etwas von ihr? Aufgebracht fuhr Julia herum und sah in Trues erschrecktes und blasses Gesicht. Julia nahm das Mädchen bei den Schultern. »Was willst du, Liebes? Was ist los?« »Es ist wegen ...« True war so außer Atem, daß sie husten mußte. »Es ist wegen Alonzo. Er ruft die ganze Zeit nach Ihnen.« True zerrte ungeduldig an Julias Ärmel, und die Ärztin ließ sich von ihr wegziehen. Ein paar Leute folgten ihnen neugierig. Katastrophen, vor allem, wenn sie anderen zustießen, fanden immer Zuschauer, dachte Julia. In diesem Punkt änderten sich die Menschen niemals. Der Pilot sah furchtbar aus, er war leichenblaß und starrte ins Nichts. Julia bedeutete den anderen, nicht näherzukommen, während sie sich neben die Hängematte kniete und ihm behutsam eine Hand auf die Schulter legte. »Alonzo? Geht es Ihnen nicht gut?« Der Verletzte schien zunächst nicht reagieren zu wollen, sondern starrte weiterhin mit glasigen, fiebrigen Augen ins Leere. Dann bewegten sich seine Lippen, er murmelte irgend etwas vor sich hin, das Julia nicht verstehen konnte. »Was haben Sie gesagt?« fragte sie und beugte sich weiter vor. Alonzo fuhr sich nervös mit der Zunge über die trockenen und aufgerissenen Lippen. »Es sind ... Terrianer«, flüsterte er.
Die Ärztin sah ihn verwirrt an. Was zum Teufel meinte er bloß? »Was? Was wollen Sie damit sagen, Alonzo? Wer sind Terrianer?« Jetzt suchte er mit den Augen den Horizont ab, als ob er erwartete, dort etwas zu sehen. Plötzlich ahnte Julia, was er vielleicht meinte, und es lief ihr eiskalt über den Rücken. »Sie«, antwortete Alonzo, als ob jedem klar sein müßte, wen er meinte. »Die Gestalten, die aus der Erde kommen.« »Alonzo! Erkennen Sie mich, Alonzo?« Julia bewegte eine Hand vor seinen Augen, um seine Pupillenreflexe zu testen. Lächelnd drehte er ihr den Kopf zu, und Julia beobachtete aufmerksam sein Gesicht, vor allem die Augen. Unter medizinischen Gesichtspunkten schien ihm außer seinen Beinbrüchen nichts zu fehlen. Eigentlich machte er einen fast schon normalen Eindruck. Sicher, er war ein wenig verwirrt. Aber wer war das schließlich nicht? Sie standen alle unter Streß, was unter den gegebenen Umständen nicht weiter verwunderlich war. Und trotzdem ... hinter diesen Augen ging noch irgend etwas anderes vor sich, etwas, das ihr unheimlich war und das sie am liebsten nicht näher ergründen wollte. »Alonzo, woher wissen Sie, wie diese Gestalten heißen?« Der Pilot stierte sie an, wenngleich sich Julia nicht sicher war, daß er sie wirklich wahrnahm. Dann hörte sie jemanden etwas von einem Hitzschlag murmeln und wurde wütend. Hielten sie eigentlich alle für inkompetent? Als ob sie nicht alles daran gesetzt hatte, um eben das zu verhindern. Julia ignorierte die Bemerkung und blickte in Alonzos fiebrige Augen. Schließlich fuhr er sich noch einmal mit der Zunge über die Lippen, als ob er etwas sagen wollte, und sie beugte sich wieder zu ihm hinunter, um sein schwaches Flüstern verstehen zu können. »Ich ... ich habe mit ihnen geredet.« Seine Stimme klang jämmerlich und verängstigt, wie die eines kleinen Kindes, das jeden Moment anfangen will zu weinen.
»Was haben Sie getan?« fragte sie erstaunt. Langsam dämmerte ihr die volle Bedeutung seiner Worte und wuchs zu einem unglaublichen, phantastischen Gedanken. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sich Devon dermaßen müde und erschöpft gefühlt, weder in den Jahren, als sie alles darangesetzt hatte, um die oberste Sprosse auf der Karriereleiter zu erklimmen, noch zu dem Zeitpunkt, als sie erfahren hatte, daß Uly am Syndrom litt. Und selbst die Jahre, in denen sie darum gekämpft hatte, ihren Traum von einer neuen Heimat für ihr Kind in die Tat umzusetzen, hatten sie nicht derart ausgelaugt. Ulys Verschwinden aber hatte ihr den letzten Rest an Widerstandskraft geraubt. Niedergeschlagen sah sie zu, wie Zeros Sensoren Danzigers Weg durch die unterirdischen Höhlen verfolgten. Yale saß neben ihr auf einem umgestürzten Baumstamm und beobachtete sie. Er war sicher nicht weniger müde und besorgt als seine Schülerin. »Devon, geh zurück ins Lager und ruh dich ein wenig aus. Es genügt, wenn ich hierbleibe.« Eigentlich hätte er wissen müssen, daß sie dieses Angebot niemals akzeptieren würde; deshalb schüttelte sie noch nicht einmal den Kopf. »Zweiundzwanzig Lichtjahre, und wofür?« Sie breitete resigniert die Hände aus. »Ich habe noch nicht kapituliert«, sagte der Lehrer ruhig, als würde es nicht auch ihn große Überwindung kosten, die Hoffnung nicht aufzugeben. »Und du hast es auch nicht, das weiß ich. Wir werden Uly finden.« Devon wünschte sich nichts sehnlicher auf der Welt, als ihm glauben zu können; aber das war schwer, sehr schwer. Sie haßte sich selbst für ihre Zweifel. »Wie vermessen bin ich nur gewesen«, sagte sie zu ihm aufblickend, »wie konnte ich nur all diese Menschen hierherbringen?« »Du hast sie nicht hergebracht, Devon«, gab Yale zurück. »Sie sind dir gefolgt. Und zweihundertachtundvierzig Familien,
die sich noch auf dem Weg zu diesem Planeten befinden, werden dir das bestätigen, wenn sie erst einmal hier sind.« Die Macht dieser Worte und die tiefe Überzeugung, die hinter ihnen stand, erschütterten Devon. Einen Augenblick lang wußte sie nicht, was sie sagen oder tun sollte, denn der Gedanke an die Kolonisten ließ die Last der Verantwortung noch schwerer wiegen. »Ich weiß nicht ... Vielleicht hatten wir nicht das Recht dazu, Yale. Vielleicht ist es uns nicht bestimmt, bis ans Ende des Universums zu reisen, um unsere eigene Haut zu retten.« Yale legte seine Hand unter ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Vielleicht sind wir noch gar nicht angekommen«, sagte er mit fester Stimme. Devon seufzte unsicher, sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. In diesem Moment meldete sich Julias Stimme über den Kopfhörer. »Devon? Devon, hören Sie mich?« Die Ärztin klang furchtbar aufgeregt. Gott, was war jetzt passiert? Devon warf Yale einen besorgten Blick zu und schob sich die Monitorarme des Headsets vor die Augen. Noch bevor Julias Gesicht zu erkennen war, meldete sie sich über das Mikro. »Ich höre. Was ...« Doch Julia unterbrach sie mit leuchtenden Augen. »Ich glaube, wir haben eine Möglichkeit gefunden ...« »Wovon reden Sie?« fragte Devon und versuchte, sich von Julias Optimismus nicht allzu schnell mitreißen zu lassen. Julia warf irgend jemandem neben ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Ich rede von Uly«, gab sie zurück, als ob damit alles erklärt sei. »Ich glaube, wir wissen jetzt, was beziehungsweise wer ihn in seiner Gewalt hat. Möglicherweise können wir Kontakt mit ihnen aufnehmen.« »Was?!« Devon starrte sie vollkommen entgeistert an. Während Julia ihr auseinandersetzte, was sie vermutete, versuchte Devon ihr zu folgen und nicht einfach abzutun, was jedem vernünftigen Menschen wie Phantasterei vorkommen
mußte. Und gleichzeitig spürte sie, wie tief in ihrem Inneren die Rose der Hoffnung zu neuer Schönheit und Kraft erblühte; kein Winter würde diese Blume jemals zerstören können.
19 Die Zwillingsmonde standen am Nachthimmel und tauchten den Wald in ein silbernes Licht. Die kleine Gruppe saß mittlerweile schon eine ganze Weile zusammen, aber Julia glaubte nicht, daß es ihr gelungen war, Devon und Yale von ihrem Plan zu überzeugen. Aber sie gab nicht auf und redete weiter, obwohl sie nicht einmal sicher war, daß Ulys Mutter ihr überhaupt richtig zuhörte. Devon saß mit abwesendem Blick in der Runde und schien nur darauf zu warten, daß Danziger sich endlich über den Kopfhörer meldete, um ihr mitzuteilen, ob er etwas Neues auf seiner Wanderung durch die labyrinthischen Gänge der Terrianer entdeckt hatte. »Ich kann natürlich nicht garantieren, daß es so funktioniert«, fuhr Julia beharrlich fort. »Aber es scheint mir doch zumindest eine plausible Erklärung zu sein. Auf dem Hügel war der Erdboden an der fraglichen Stelle jedenfalls genauso aufgewühlt wie hier.« Sie versuchte, einen Blickkontakt zu Devon herzustellen, scheiterte jedoch und wandte sich deshalb wieder an Yale, der sie nachdenklich und ruhig ansah. »Immerhin wäre es doch möglich, daß sie versucht haben, über Alonzos Träume mit uns in Kontakt zu treten.« Zu Julias Überraschung merkte Devon bei diesen Worten auf und blickte sie an. »Und Sie glauben, daß sie noch einmal versuchen werden, uns zu erreichen?« Zero meldete Danziger den aktuellen Status. »Sie befinden sich jetzt in einer Tiefe von zweihundertfünfzig Metern.« Julia warf Yale einen Blick zu. »Ich weiß es nicht, aber es käme auf einen Versuch an. Warum schicken wir Alonzo nicht einfach in den Schlaf und warten ab, was passiert?« Sie sah den Piloten an, der mit geschienten Beinen neben ihr auf dem Waldboden saß. Er wirkte mager und verhärmt und hatte dunkle
Ringe unter den Augen. Jetzt fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen und zuckte die Achseln. »Hey, ich kann nichts versprechen. Wie gesagt, ich hab' sie im Traum gesehen, mehr nicht.« »Was mit Uly geschehen ist, war kein Traum«, wandte Yale ein. »Hallo!« Danzigers Stimme ließ sie alle aufhorchen. »Leute, könnt ihr mich hören?« Devon brachte die Monitorarme ihres Headsets in Position, um Danziger nicht nur hören, sondern auch sehen zu können. »Was?« fragte sie gespannt. »Was gibt's?« »Ich ... ich bin hier auf etwas gestoßen.« Julia beugte sich vor, um über Devons Schulter hinweg einen Blick auf den Monitor zu werfen. Als sie bemerkte, daß Alonzo vergeblich versuchte, sich so weit aufzurichten, daß auch er etwas sehen konnte, ergriff sie tröstend seine Hand und hielt sie fest. »Moment mal«, sagte Danziger und verstellte die Kamera seines Headsets so, daß sie wenigstens ansatzweise zu sehen bekamen, was er selbst sah. Das Licht seiner Stablampe reichte nicht aus, um den riesigen Raum, in dem er sich befand, auch nur annähernd auszuleuchten. Aber was man erkennen konnte, war wirklich phantastisch. In die nach innen gewölbten Wände waren kunstvolle Arkaden gehauen worden. »Seht ihr das?« fragte Danziger staunend. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß das Tiere gewesen sind. Wer oder was auch immer hier unten lebt, es steht auf einer sehr hohen Entwicklungsstufe.« Julia spürte, daß Devon sie anstarrte, und blickte deshalb von dem Monitor auf, um dem stahlharten, trotzigen Blick der Expeditionsleiterin zu begegnen. »Also, was werden wir jetzt tun?« fragte die Ärztin ruhig. Devon stand auf. »Ich werde versuchen, Kontakt zu ihnen aufzunehmen«, sagte sie entschlossen. »Geben Sie mir das Sedativ.«
»Devon, das ist zu gefährlich ...« wandte Yale ein. »Glauben Sie nicht, daß es besser ist, wenn Alonzo ...« setzte auch Julia an, aber jede Diskussion war zwecklos. Denn schon im nächsten Augenblick hatte Devon ihr das Sedativ-Plättchen geschickt wie ein Taschendieb aus der Hand gerissen und sich an den Hals gesetzt, ehe Julia überhaupt reagieren konnte. »Was auch immer geschieht, weckt mich nicht auf«, befahl Devon. Der Blick, mit dem sie Yale und Julia bei diesen Worten bedachte, machte deutlich, daß sie keinen Widerspruch duldete. Bereits nach wenigen Sekunden lösten sich Devons Gesichtszüge, ihr Kopf fiel nach hinten, und sie wäre zu Boden gefallen, wenn Yale sie nicht aufgefangen hätte. Behutsam legte er seinen Schützling auf die Erde, kniete sich hin und bettete Devons Kopf in seinen Schoß. Nach ein paar Minuten prüfte Julia die Herzfrequenz und Augentätigkeit der Schlafenden. »Kein REM«, sagte sie beunruhigt und deutete auf Devons ruhige Lider. »So funktioniert es nicht. Alonzo, Sie sind derjenige, mit dem sie Kontakt aufgenommen haben, Sie müssen Devon begleiten.« Das attraktive Gesicht des Piloten spiegelte einen Moment lang Furcht und Schrecken wider; dann starrte er vollkommen ausdruckslos vor sich hin. »Ich ...« Er sah Julia an, dann wanderte sein Blick zu Devon, die vollkommen entspannt und traumlos zu schlafen schien. Schließlich ergab er sich in sein Schicksal. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, legte er sich neben Ulys Mutter und ließ sich von Julia das Sedativ verabreichen. Innerhalb von nur wenigen Sekunden war auch er eingeschlummert. Routiniert schloß die Ärztin beide Schlafenden an ein Meßgerät an, das ihre Herzfrequenz und andere lebenswichtige Daten aufzeichnete. Devons Herzschlag raste bereits und wurde immer schneller, während sich ihre Augen in der REM-Phase schnell hin und her bewegten. Was sah und was fühlte sie wohl
in ihrem Traum? Alonzos Herzschlag hingegen war noch völlig ruhig und normal. Seufzend wandte Julia sich einen Moment ab und strich sich frustriert durchs Haar. »Julia ...« rief Yale. Sie fuhr herum und erkannte an den Augenlidern des Piloten, daß auch er sich nun in der REM-Phase befand. Seine Herzfrequenz war dramatisch gestiegen und schien in einem wahnsinnigen, besorgniserregenden Wettlauf mit derjenigen Devons konkurrieren zu wollen. Danziger blieb stehen und lauschte gespannt in das dunkle Spinnennetz der unterirdischen Gänge hinein. War das der Wind, oder hatte er tatsächlich eine Stimme vernommen? Jetzt hörte er das Geräusch noch einmal. Eindeutig ... das war die Stimme einer Frau, die verzweifelt etwas rief, das Danziger aus der Entfernung allerdings nicht verstehen konnte. War das der Schrei einer dieser Gestalten ... oder eines Menschen? Einer Frau, die sich einen Dreck darum scherte, ob sie sich in Gefahr begab; einer Frau, die hartnäckig und dickköpfig sein konnte, alles zu riskieren, wenn es um ihren Sohn ging ... Danziger kannte nur einen einzigen Menschen, auf den diese Beschreibung paßte. Fluchend lief er in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Obwohl er kaum die Hand vor seinen Augen erkennen konnte, raste er so schnell wie irgend möglich die Gänge hinunter, hin zu dieser Stimme, zu der jetzt, wenn er seinen Ohren trauen konnte, eine zweite gekommen war. Devon schlug die Augen auf und sah sich um. Sie lag auf der kühlen Erde, und der dunkle, weiche Boden unter ihrem Kopf roch angenehm nach Leben und Wachstum. Der Raum, in dem sie sich befand, schien riesig, aber vollkommen leer zu sein. Den einzigen Schmuck stellten eine Reihe arkadenartiger Nischen dar, die in die ansonsten leeren Wände eingegraben waren. »Uly?« fragte sie leise und stand auf. »Uly?« In alle Richtungen rief sie den Namen ihres Sohnes. Immer lauter wurden ihre Rufe. »Uly! Uly!«
Doch vergeblich, außer dem Echo ihrer Stimme, das von den Wänden widerhallte, als wollte es sie verhöhnen, erhielt sie keinerlei Antwort. Vorsichtig begann sie, den Raum zu erkunden und die Wände abzusuchen. Aber dort war nichts zu erkennen außer diesen Nischen, die nirgendwo hinführten. Es gab weder Fenster noch Türen, die Finsternis wurde lediglich von einem diffusen Leuchten unterbrochen, das an verschiedenen Stellen durch Decke und Wände drang. Wodurch dieses Licht verursacht wurde, blieb Devon ein Rätsel. Sie fuhr mit dem Finger die Konturen eines Nischenbogens nach und hatte auf einmal das Gefühl, daß sie beobachtet wurde. Blitzschnell drehte sie sich um, doch da war nichts, nichts außer dem leeren Raum und den erdigen Wänden. Trotzdem, sie hätte schwören können ... Und im nächsten Moment stand jemand hinter ihr, ergriff ihre Arme und hielt sie fest! Sie versuchte, sich aus der Umklammerung zu befreien, trat um sich und schrie bis ihr schlagartig bewußt wurde, daß von der Person, die sie festhielt, keine Feindseligkeit ausging. Sie wehrte sich nicht länger, sondern vertraute sich den schützenden Armen an, die sie umfingen; vertrauensvoll ließ sie den Kopf nach hinten auf Alonzos Brust sinken. »Ich bin bei Ihnen, Devon«, sagte der Pilot und lockerte seinen Griff, als er spürte, daß sie sich beruhigt hatte. »Ich bin bei Ihnen. Sie sind nicht allein.« Sie drehte sich um und sah zu ihm auf, unendlich dankbar und erleichtert, ihn zu sehen. Alonzo stand vor ihr, ohne Krücken oder Beinschienen, und sah genauso stark, selbstbewußt und zuversichtlich aus wie am Tag ihrer ersten Begegnung. Allein dies war Beweis genug, daß sie sich tatsächlich in der Traumwelt der Terrianer befand und nicht in einem ihrer eigenen Träume gefangen war. Devon wollte ihm gerade sagen, wie froh sie über seine Anwesenheit war, als ein leises Donnern den Raum erzittern
ließ. Dieses Grummeln nahm allmählich zu und wurde bald so laut, daß es nicht nur jedes Wort, sondern auch jeden Gedanken übertönte; und dann schoß vor ihnen ein Terrianer aus dem Boden - wie eine knospende Pflanze. Als hinter ihnen ein zweiter Terrianer aus der Wand trat, wichen Devon und Alonzo erschrocken zurück. Die beiden wirbelten herum, doch schon war wie aus dem Nichts ein drittes dieser Wesen erschienen. Sie waren eingeschlossen, jeder Fluchtweg war versperrt. Mit glühenden Augen betrachtete Devon die riesigen Gestalten, ihr Herz raste vor Wut und Angst. »Mein Sohn!« sagte sie fordernd, und obwohl sie keine Ahnung hatte, ob die Terrianer ihre Sprache überhaupt verstanden, zweifelte sie nicht daran, daß diese furchterregenden Gestalten genau wußten, was sie von ihnen wollte. »Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht?« Die Terrianer antworteten nicht, sondern starrten schweigend auf den Boden. Als Devon ihren Blicken folgte, entdeckte sie, daß dort eine kleine Hand, eine nur allzu vertraute Kinderhand, alle Gesetze der Physik Lügen strafend, entschlossen aus dem Boden herauskam. »Uly!« rief Devon aufgewühlt und sprang mit einem Riesensatz zu der Stelle, an der sie die Hand ihres Sohnes erkannt hatte. Sie fiel auf die Knie ... und lag auf dem Boden der Kälteschlafsektion ihres Raumschiffs. Einen Augenblick glaubte sie, allein im Raum zu sein, bis sie plötzlich über ihrem Kopf ein Geräusch hörte und nach oben sah. »Ich nehme an, Sie wissen, daß ein gewisses Risiko bestehen bleibt, wenn ein Kind, das so krank wie Uly ist, in den Kälteschlaf geschickt wird ...« hörte sie Julia sagen. Dies war eine exakte Wiederholung der Szene, die zweiundzwanzig Lichtjahre entfernt stattgefunden hatte, nur stand sie dieses Mal oben auf der Galerie, die Hände in den Hosentaschen, und blickte auf eine Frau herab, die mit ihrem besorgten,
mütterlichen Gesichtsausdruck genauso aussah wie Devon selbst. »Ja, ich bin mir des Risikos bewußt«, antwortete ihr Alter ego, dessen Stimme irgendwie verwässert klang. »Aber wir haben keine andere Wahl, oder?« Und bei diesen Worten wandte sie sich um und sah Devon in die Augen. Devon kam es so vor, als müßte sie für immer hier stehenbleiben, gefangen von ihrem eigenen Blick. Doch dann zog ein neues Geräusch ihre Aufmerksamkeit auf sich. Sie blickte sich um und sah erneut ihr Spiegelbild. Diesmal stand sie neben einer der Kälteschlafkapseln und war gerade dabei, Uly gute Nacht zu sagen. Genau wie Devon es in der Realität getan hatte, hielt diese Frau seine Hand und strich ihm das Haar aus der Stirn, während der Junge sie halb irritiert und halb ergeben mit einem Blick ansah, den Devon nur zu gut kannte. Als sie bemerkte, wie Uly dieses Abbild ihrer selbst anlächelte und schlaftrunken »Ich liebe dich, Mom« sagte, brach es ihr fast das Herz. Die ganze Szene wirkte derart real, daß Devon hoffnungsvoll zu dem Kind hinüberging, um es in den Arm zu nehmen. Vielleicht war es ja doch nicht nur ein Traum? »Uly ...?« Doch plötzlich befand sie sich auf einem langen, leeren Flur irgendwo in einem anderen Teil des Raumschiffs. Wo genau sie war, konnte sie nicht erkennen. Um sie herum herrschte absolute Stille, so daß sie ihren eigenen Herzschlag hörte. Doch wie schon die Male zuvor wurde sie wieder durch ein Geräusch aufgeschreckt, und wie schon zuvor drehte sie sich abermals danach um. Sie sah Ulys leeren Rollstuhl, der den Korridor hinunterfuhr und mit solcher Geschwindigkeit um eine Ecke bog, daß er fast umkippte. Dann verschwand er aus ihrem Blickfeld, und Devon lief ihm so schnell sie nur konnte hinterher. Doch als sie die Ecke erreichte, war der Rollstuhl nicht mehr zu sehen. Statt dessen schaute sie nun in einen in grelles Licht getauchten Raum, in dessen Zentrum Uly stand.
Der Kleine sah vollkommen gesund aus, mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen. Dies war ein Traum, den Devon kannte. Sie träumte ihn seit Jahren. »Mom ...?« fragte der Junge verwirrt und bewegte staunend seine gesunden Arme und Beine. Devon kniff die Augen zusammen, um sie vor dem grellen Licht zu schützen, und lief auf ihren Sohn zu. Sie wollte ihn retten und in ihren Armen von hier wegbringen. Sie war schon fast bei ihm ... da fand sie sich unversehens auf einer Hochebene wieder. Bis zu den Knöcheln steckte sie in dem weißen Sand, den der Wind vor sich hertrieb und der sich wie ein feiner Überzug auf alles legte. Es war sehr heiß. Die Sonne brannte gnadenlos, das grelle Licht drohte Devons Augen in ihren Höhlen zum Kochen zu bringen. »Sie furchten sich vor uns.« Verwirrt und wütend, weil irgend jemand ein makaberes Spiel mit ihr trieb und ihr Uly jedes Mal wieder entriß, sah Devon sich um. Hinter ihr stand Alonzo, dessen Kleider im heißen Wind flatterten. Seine Haare und Wimpern waren von einer Schicht weißen Staubes bedeckt. »Wir verwirren sie«, fuhr der Pilot fort, während er sie mit eigenartig abwesendem Blick ansah. »Und warum führen sie uns in die Irre?« fragte Devon. »Warum tun sie das?« Anstelle einer Antwort wies Alonzo auf eine Sanddüne zu ihrer Rechten, auf der die Terrianer standen. In einer langen Reihe verharrten sie einer neben dem anderen, stumm und unbeweglich, wie schon zuvor auf dem Hügel bei dem Lager. Der Sand zu ihren Füßen bewegte sich, als würde eine unsichtbare Hand ihn formen, bis schließlich ein Relief entstand, in dem Ulys liegende Gestalt zu erkennen war. Devon lief darauf zu, und wider Erwarten wurde sie dieses Mal nicht an einen anderen Ort versetzt, als sie das Traumbild ihres Sohnes mit Händen zu greifen versuchte. Devon fiel auf
die Knie und griff nach Ulys Hand; doch kaum hatte sie diese berührt, zerfiel sie unter ihren Fingern zu weißem Staub. Unsäglich verzweifelt stand Devon auf und stieß einen hilflosen, klagenden Schrei aus. »Uly!« Jetzt erhob sich der Wind und peitschte ihr Sand ins Gesicht, und in dem immer greller werdenden Licht losten sich allmählich alle Konturen auf, bis sie weder Alonzo noch die Terrianer erkennen konnte. Jetzt befand sie sich wieder in dem unterirdischen Gewölbe und starrte auf den Sand, der ihr durch die Finger rieselte. Vor ihr standen wie zu Beginn ihrer Traumreise die drei Terrianer und Alonzo. Daß Uly nicht da war, überraschte Devon nicht mehr. Sie fühlte sich besiegt, geschlagen. In dieser Traumwelt gab es nichts, worauf sie Einfluß nehmen konnte. Die Terrianer kontrollierten alles. Es war ihre Welt - wie auch die reale, die oberirdische Welt, wie dieser ganze Planet diesen Wesen gehörte. Devon wußte jetzt, daß sie sich getäuscht hatte, als sie glaubte, sie könne diese Welt einfach zu ihrem Eigentum erklären. Auf einmal redeten die Terrianer wild durcheinander. Ihre eigenartige Sprache war in Devons Ohren nichts weiter als ein monotoner, an den Nerven zehrender Singsang; sie hätte vor Frustration und Verzweiflung am liebsten laut aufgeschrien. Mit den Händen hielt sie sich die Ohren zu und sah sich hilfesuchend um. Sie entdeckte Alonzo, der mit zur Seite geneigtem Kopf dastand und den Terrianern nicht nur aufmerksam zuhörte, sondern sogar zu verstehen schien, was sie sagten. »Sie ... sie sagen, wir seien früher schon einmal hier gewesen.« »Das ist nicht wahr!« rief Devon und schüttelte entschieden den Kopf, in der Hoffnung, die Terrianer würden diese Geste verstehen. »Nein! Wir waren noch nie hier. Noch nie!« Das Pfeifen und Flüstern, mit dem die Terrianer auf Alonzo einredeten, wurde deutlich lauter und klang aufgeregt, fast
aggressiv. Erstaunt riß Devon die Augen auf... der Pilot antwortete ihnen in ihrer Sprache. »Sie bestehen darauf, daß wir schon einmal hier gewesen sind«, übersetzte er, und Devon sah, daß er den Terrianern glaubte. »Sie haben Angst vor uns und fürchten, daß wir ihnen Unheil bringen. Sie sagen, wir hätten schon einmal Spuren des Bösen auf ihrem Planeten hinterlassen.« Erneut schüttelte Devon ungläubig den Kopf, nicht fähig, dieser Geschichte Glauben zu schenken. »Aber nein! Wir sind gekommen, weil wir eine Zuflucht suchen, einen Raum zum Leben! Wir ...« Sie verstummte, denn sie sah, daß sich zu ihren Füßen der festgestampfte Boden bewegte und zu einem Symbol, einem Zeichen zusammenschob. Im ersten Moment konnte sie nicht erkennen, was es darstellen sollte; dann aber erkannte sie es überdeutlich: »E2«. Devon lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, vollkommen verwirrt blickte sie zu den Terrianern auf. Es kostete sie große Mühe, nicht vor dem Anblick dieser Gesichter zurückzuschrecken, in denen so viel Fremdartiges und Unheimliches, für Devons Augen abstoßend Häßliches lag. Einer der Terrianer erhob seine Stimme, und Alonzo fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen, während er ihm zuhörte. Mit gerunzelter Stirn teilte der Pilot Devon schließlich mit, was der Terrianer gesagt hatte. »Ulys Rückkehr ist kein Geschenk. Wenn sie ihn uns zurückgeben, hätte das einen ... einen Preis.« »Was wollen sie?« stieß Devon ohne Zögern hervor und wandte den Blick nicht von den Gesichtern der Terrianer ab. »Was ist ihr Preis?« »Devon«, warnte der Pilot. »Bedenken Sie ...« »Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen«, sagte sie entschlossen. »Devon.« Alonzos Stimme klang eindringlich. »Das ist nicht unser Kampf.«
»Das ist mir egal! Ich werde alles tun, was sie verlangen.« Mit erhobenem Kopf sah sie dem Terrianer direkt in die Augen. »Nehmt mein Leben für das meines Sohnes«, bot sie an. Alonzo versuchte den Blick zu deuten, mit dem die Terrianer die Fremde schweigend ansahen und sich ihr Gesicht einprägten, das Gesicht einer Frau, die sich so weit in ihr Reich vorgewagt hatte. Dann sagten sie wieder etwas zu dem Piloten, der es zögernd übersetzte. »Devon, sie ... sie trauen uns nicht. Sie zweifeln an unserer Reinheit, unseren Absichten, unserem Leben. Sie sind anders als wir.« Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, daß er nicht glaubte, auch nur ansatzweise erklären zu können, wie anders die Terrianer wirklich waren, wie sie lebten, was sie fühlten und was sie dachten. Die Terrianer bewegten sich in einem Windhauch, den offensichtlich nur sie spüren konnten, und zogen sich langsam zurück. Sie wurden eins mit den Wänden und entzogen sich Devons Blick, ihre Körper verschmolzen geradezu mit der Erde, als wären sie selbst aus diesem Stoff. Einer vor ihnen zögerte für Sekundenbruchteile, bevor auch er vollends verschwand; doch die Umrisse seiner Gestalt zeichneten sich noch immer im dunklen Lehm der Wand ab, einladend streckte er Devon eine Hand entgegen, als wollte er sie zum Mitkommen auffordern. In Panik ergriff Devon den Arm des Piloten. »Warum gehen sie, Alonzo? Bitten Sie sie, zu bleiben! Mein Sohn ... bitte!« Verzweifelt mußte sie zusehen, wie auch die Hand, die der Terrianer ihr noch immer entgegenstreckte, allmählich mit dem Lehm verschmolz, bis nur noch die Finger aus der Wand ragten ... Devon hatte ihren Entschluß gefaßt. Lieber wollte sie kläglich scheitern, als es gar nicht erst versucht zu haben. Rasch lief sie quer durch den Raum auf die Wand zu und berührte die Hand genau in dem Moment, in dem auch die Fingerspitzen zu verschwinden drohten. »Uly?« fragte sie hoffnungsvoll.
Plötzlich griff eine starke, rauhe Hand nach ihr und zog sie langsam, aber unerbittlich in die Wand hinein. Voller Panik versuchte Devon, sich zu wehren. Doch der Griff um ihr Handgelenk wurde fester. »Alonzo!« schrie sie verängstigt und sah sich verzweifelt nach ihrem Begleiter um. Aber der Pilot war verschwunden, als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Erschrocken und fasziniert zugleich registrierte Devon, wie zuerst ihre Hand und dann der ganze Unterarm mit der Wand verschmolz. Wie eine Krankheit ergriff der Lehm nun auch von ihrem Oberarm und von der Schulter Besitz und verschluckte sie lautlos. Jetzt trennten nur noch wenige Zentimeter ihr Gesicht von der Wand. Devon schloß die Augen, und schon im nächsten Augenblick spürte sie, wie kühle Erde sie umschloß. Danziger hörte Devons Schreie und blieb einen Moment stehen, um sich zu orientieren. Mit der Hand berührte er die Wand zu seiner Linken, die sich unter seinen Fingern kühl und rauh anfühlte und einen Geruch verströmte, den er nur aus seinen Träumen kannte. Es hörte sich so an, als wäre Devon unmittelbar hinter dieser Wand, die nur einige Zentimeter dick zu sein schien. Doch als er versuchte, mit den Fingern ein Loch in die Masse zu graben, mußte er einsehen, daß er sich getäuscht hatte; sie war doch wesentlich massiver. Vielleicht hatte er sich auch in bezug auf Devons Schreie getäuscht? War sie wirklich hier unten, ganz in seiner Nähe? Sollte das der Fall sein, dann mußte er sie für ihren Mut bewundern, auch wenn er sie zugleich dafür verfluchte. War es nicht schon genug, daß er ein paar hundert Meter unter der Erde nach einem kranken Kind suchte? Mußte er jetzt auch noch dessen Mutter retten? Die Kolonisten verfügten nur über eine einzige Taschenlampe, und die hatte Danziger bei sich. Sollte Devon es tatsächlich fertiggebracht haben, in völliger Finsternis hier unten herumzuirren?
Während Danziger weiterging, achtete er gespannt auf jedes Geräusch, und seine Augen wanderten mit der Präzision eines Metronoms über den breiten Gang, der sich scheinbar endlos lang vor ihm erstreckte. Obwohl der Mechaniker im schwachen Lichtschein der Taschenlampe nur wenig sehen konnte, steigerte er sein Tempo. Schließlich machte der Gang wieder eine Biegung, und Danziger befand sich erneut in einem dieser riesigen Gewölbe. Er blieb wie angewurzelt stehen. In der Mitte des Raumes lag Uly, scheinbar leblos, mit ausgestreckten Gliedern; der Junge sah aus wie eine achtlos weggeworfene Marionette. »Bitte, laß ihn noch leben!« flehte Danziger. Wie sollte er es jemals bewerkstelligen, Devon die Nachricht vom Tod ihres Sohnes zu überbringen? Er fiel neben dem Jungen auf die Knie und strich ihm behutsam das Haar aus der Stirn. »Uly ...« Aber der Junge reagierte nicht. Verwundert stellte Danziger fest, daß sein ganzer Körper von feinem, weißem Staub bedeckt war, der aussah wie Wüstensand. Aber wie war das möglich, hier, zweihundertfünzig Meter unter der Erde? Danziger tastete nach Ulys Halsschlagader und war unendlich erleichtert, als er spürte, daß der Puls ruhig und regelmäßig ging. Gott sei Dank, der Junge lebte! Als er ihn hochhob, hatte er den Eindruck, daß Uly schwerer, vielleicht sogar ein bißchen kräftiger war, als er ihn in Erinnerung hatte. Aber das konnte auch eine Illusion sein ... Mit dem Kind auf dem Arm verließ Danziger die Halle, trat wieder auf den Gang und verfolgte weiter die zuvor eingeschlagene Richtung. Einen kurzen Moment lang hatte er das Empfinden, er würde beobachtet, doch dieses Gefühl schien zu trügen; jedenfalls konnte Danziger unbehelligt weiterlaufen. Nach einer Weile erreichte er eine Stelle, an der der Weg steil nach oben führte, und kurz darauf sah er, daß durch eine Öffnung am Ende dieses Ganges das Licht der aufgehenden
Sonne fiel. Dort mußte der Ausgang sein. Erleichtert blieb er einen Augenblick stehen, um sich auszuruhen. Plötzlich nahm er ganz in seiner Nähe eine Bewegung wahr, die ihn in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Vor ihm stand wie aus dem Nichts ein Terrianer. Wenn seine Sinne ihm keinen Streich spielten, dann war der Bursche tatsächlich einfach so aus der Wand herausgekommen. Einen Moment lang starrten die beiden sich gegenseitig an, so daß Danziger zum ersten Mal die Gelegenheit hatte, einen Eingeborenen aus der Nähe zu betrachten. Diese Wesen gehörten zwar nicht gerade zum Schönsten, was er in seinem Leben gesehen hatte, doch fielen ihm andererseits auf Anhieb ein paar Raumfahrer ein, die auch nicht besser aussahen, selbst wenn sie ausnahmsweise einmal nüchtern waren. Plötzlich fühlte sich der Mechaniker so müde wie nie zuvor in seinem Leben. Er hatte die ganze Nacht damit zugebracht, dieses Kind zu suchen, und er hatte es tatsächlich gefunden. Seine Mission war beendet. Sollte Devon tatsächlich durch dieses Labyrinth unterirdischer Gänge irren, würde er später noch einmal zurückkommen, um sie zu suchen. Jetzt war es erst einmal Zeit. Uly nach draußen zu bringen. Kaum hatte er den ersten Schritt in Richtung Ausgang gemacht, da verschwand der Terrianer auf genauso mysteriöse Weise, wie er gekommen war. Anscheinend verschmolz er mit der Wand. Doch das war Danziger inzwischen gleichgültig. Er hatte genug von dieser unterirdischen Welt. Danziger schob Uly in eine bequemere Position, so daß der Kopf des Jungen sanft auf seiner Schulter zu liegen kam, und trat hinaus in den Morgen. Mühsam öffnete Devon ihre bleischweren Lider ... und erkannte verschwommen das Gesicht Julias. Mit gerunzelter Stirn versuchte sie sich daran zu erinnern, was geschehen war. Dann kehrte schlagartig ihre Erinnerung zurück, und sie setzte sich mit einem Ruck auf. Doch diese Bewegung war zu abrupt -
Devons Kreislauf rebellierte, ihr wurde schwindlig, und einen Moment lang glaubte sie, sie würde in Ohnmacht fallen. Sie sackte zur Seite weg und stützte sich auf die Schulter der Ärztin, während ihr schwarz vor den Augen wurde. »Ist alles in Ordnung, Devon?« fragte Julia besorgt. »Was ist passiert?« »Ich ... ich weiß nicht genau.« Devon blickte sich um, darum bemüht, sich wieder in der realen Welt zurechtzufinden. Alonzo, der neben ihr lag, schlief noch tief und fest. Aber offensichtlich träumte er einen friedlichen Traum, denn er lächelte im Schlaf. Bei seinem Anblick überkam Devon ein Gefühl der Zuneigung und Dankbarkeit. Der Pilot hatte großen Mut bewiesen, als er ihr auf die Reise ins Traumreich gefolgt war. »Devon!« Yale war aufgestanden und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf einen Hügel. Seine erschöpften Gesichtszüge spiegelten eine ungeduldige Spannung wider, wie Devon sie noch nie zuvor an ihm gesehen hatte. Eine Vorahnung ergriff von Devon Besitz, die sich gleichermaßen auf Angst und Hoffnung gründete. Sie sprang auf, schob Julia, die sie stützen wollte, beiseite und erkannte schließlich in einiger Entfernung eine Gestalt, die sich ihnen rasch näherte. Dann wurde deutlich, daß es sich um zwei Personen handelte. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Devon ihren Sohn, der den Hügel herab auf sie zulief. Dicht dahinter folgte Danziger; er schien zu lachen. Uly rannte schnell und bewegte seine Arme und Beine koordiniert und rhythmisch. Der Junge hatte weder seinen Immuno-Anzug noch die Beinschienen an und atmete ohne den Respirator. Und er lachte, lachte lauthals wie ein unbekümmertes, glückliches Kind. »Dem Himmel sei Dank«, stießen Julia, Yale und Devon fast gleichzeitig hervor. Dann rannte die erleichterte Mutter zwischen den Bäumen hindurch auf die beiden zu, um Uly in die Arme zu schließen ... um ihren Sohn willkommen zu heißen in
einem Leben, das sie sich schon so lange für ihn gewünscht und für das sie so lange und so hart gekämpft hatte. Auf halbem Wege trafen sie aufeinander und liefen sich fast gegenseitig über den Haufen, weil keiner von ihnen in der Lage war, seiner überschäumenden Gefühle Herr zu werden. Devon drückte ihren Sohn an sich, um ihn kurz darauf auf Armeslänge von sich zu schieben und lange und bewundernd zu betrachten. Gesund! Schmutzig! Das Gesicht zerkratzt! Die Kleider über und über mit Staub bedeckt, strahlte er sie aus glücklichen, großen Augen an, und sie begriff: Es war wahr! Dies war kein Traum! Es hatte alles tatsächlich stattgefunden. Den Terrianern war gelungen, was niemandem zuvor gelungen war und was sie selbst kaum noch für möglich gehalten hätte. Devon wußte nicht, welchen Preis sie am Ende dafür zu zahlen hatte, doch das spielte keine Rolle. Dieser Augenblick allein rechtfertigte jeden Preis. Erneut zog sie ihren kleinen Sohn an sich, während er seine Arme um sie schlang und sie so heftig drückte, wie er nur konnte. »Ich bin da«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich bin da, Mom.« Devon konnte die Tränen nicht länger zurückhalten und blinzelte Danziger, der inzwischen bei ihnen angekommen war, aus feuchten Augen an. Er hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten, um die beiden in diesem einzigartigen Moment nicht zu stören. Zunächst blieb er unschlüssig bei ihnen stehen, doch dann bezogen Mutter und Sohn ihn in ihre Umarmung ein. Als Yale, Zero und Julia bei ihnen anlangten/hielten sich die drei noch immer fest umarmt.
20 Nach der Rückkehr in das provisorische Lager hielt Devon eine kurze Rede. Sie war dankbar dafür, daß ihr die Sonne direkt ins Gesicht schien, weil sie dadurch einen Grund hatte, sich ständig die Augen zu reiben. Neben ihr stand Uly, gesund und kräftig, ein Wirklichkeit gewordener Wunschtraum. Obwohl Devon wußte, daß alle ihr zuhörten, verwirrte es sie, daß die Blicke der Anwesenden immer wieder auf ihren Sohn fielen. Aber konnte sie es den Leuten übelnehmen, daß sie den Jungen derart fasziniert anstarrten? Schließlich konnte auch sie nicht umhin, alle paar Augenblicke ungläubig zu ihm hinüberzuschauen. »Wenn wir im Schnitt zwölf Meilen pro Tag schaffen, können wir in neun Monaten in New Pacifica sein. Dann haben wir immer noch ein Jahr Zeit, um alle notwendigen Vorbereitungen für die Ankunft der Kolonisten zu treffen.« Sie legte eine Pause ein, um sich erneut die Tränen aus den Augen zu wischen, und bemerkte, daß Danziger sie lächelnd ansah. Der Mechaniker saß oben auf dem TransRover und hatte seine Arme fest um True geschlungen, die es sich zwischen seinen Knien bequem gemacht hatte. »Mir ist klar, daß das kein Kinderspiel wird. Und auch ich weiß nicht mehr über diese Welt als ihr. Aber eins weiß ich ganz sicher: New Pacifica existiert. Und irgend etwas sagt mir, daß wir dort in Frieden und Sicherheit leben werden.« Als sie abermals einen Blick auf Uly warf, konnte sie sich nicht länger beherrschen: sie nahm ihren Sohn in die Arme und zog ihn an sich. Zum wiederholten Mal durchfuhr sie das Gefühl, daß sie Zeugin eines Wunders geworden war. Sie lächelte dem Kleinen zu, ehe sie den Blick wieder auf die Versammelten richtete. »Ich denke, die Genesung meines
Sohnes ist Beweis genug, daß wir fest an eine glückliche Zukunft glauben können.« »So einfach ist das also?« schaltete sich Morgan in der ihm eigenen, unverschämten Art ein. In den hinteren Reihen stöhnten einige Zuhörer genervt auf, und Devon konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Warum mußte dieser Wichtigtuer auch zu allem seine überflüssigen billigen Kommentare abgeben? Selbst seiner Frau, die neben ihm stand, schien sein Verhalten unendlich peinlich zu sein. »Sie beschließen das, und wir haben uns alle auf den Weg zu machen. So haben Sie sich das gedacht, nicht wahr?« »Nein«, gab Devon einfach und geradlinig zurück. Über die Köpfe der Menge hinweg warf sie Danziger einen vielsagenden Blick zu. »Wir werden darüber abstimmen.« Ein Grinsen glitt über das Gesicht des Mechanikers, und er winkte ihr beifällig zu. »Ich bin dafür, daß wir gehen.« Julia streckte ihre Hand hoch in die Luft, damit jeder sie sehen konnte. Alonzos Arm schnellte ebenfalls in die Höhe. Seit ihrer Rückkehr aus der Traumwelt, in der sie mit den Terrianern in Verbindung getreten waren, war der Pilot sehr ruhig und nachdenklich gewesen, und Devon hatte sich schon gefragt, worüber er die ganze Zeit nachdachte. Hinter sich sah sie nun Yale den Arm heben. Eine Hand nach der anderen reckte sich in die Höhe, und mit einem strahlenden Lächeln hob auch Bess Martin ihre Hand. Als Morgan sie deswegen schief ansah, hob sie seinen Arm ebenfalls hoch und drückte ihm einen zärtlichen Kuß auf die Wange. Devon unterdrückte ein Lächeln. Bess schien zu wissen, wie man mit Morgan Martin umzugehen hatte. Erneut sah sie zu Danziger hinüber. True hatte bereits ihre Hand in der Luft und winkte damit wie wild hin und her, damit auch ja alle ihre Zustimmung deutlich sehen konnten, Danzigers Entscheidung ließ jedoch noch immer auf sich warten.
Erwartungsvoll sah Devon ihn an, und er erwiderte ihren Blick selbstbewußt, ehe sich auch sein Arm hob. Als sie die vielen erhobenen Arme sah, atmete Devon erleichtert auf. Alle stimmten dem Plan zu. Sie hatten diesen Planeten betreten, ohne sich zu kennen, und auch die Erfahrungen der vergangenen Tage hatten sie nicht gerade zu Freunden gemacht. Aber wenn sie sich jetzt auf die Reise begaben, dann verfolgten sie alle ein gemeinsames Ziel. Die Kolonisten hatten sich abmarschbereit bei der zerstörten Frachtkapsel versammelt. Auf ein Zeichen von Devon hin setzte sich die kuriose Prozession in Bewegung, die aus ein paar Fahrzeugen, einem Roboter, einem Cyborg und einem kleinen Häuflein von Menschen bestand, die ausnahmslos Zuversicht ausstrahlten. Noch ein paar Tage zuvor, als sie alle unter dem Schock von Broderick O'Neills Tod gestanden hatten, hätte Devon es nie für möglich gehalten, daß sie sich schließlich doch noch auf den Weg machen würden. Die Leiterin der Expedition stand auf der Kuppe des Hügels und suchte mit dem Telescanner den Horizont ab. Der Boden vibrierte leicht unter ihren Füßen, doch dieses Mal waren es nicht die Terrianer, die sich näherten, sondern der TransRover, der sich schnaufend den Hügel hinaufschob. Das Fahrzeug ächzte und quietschte unter dem Gewicht der Passagiere und der Ausrüstungsgegenstände, die sie aus der Frachtkapsel hatten bergen können. Devon setzte den Scanner ab und beobachtete Danziger, der es sich auf dem Fahrersitz bequem gemacht hatte. Die beiden nickten einander freundlich zu, ehe der Mechaniker den TransRover vorsichtig und langsam die andere Seite des Hügels hinabsteuerte. Dahinter folgte True mit dem SandRail. Sie fuhr im Schrittempo, und neben dem Fahrzeug ging Uly und lauschte mit großen, ernsten Augen aufmerksam den ausführlichen Erklärungen des Mädchens zur Funktionsweise des Motors.
Obwohl Devon noch immer fürchtete, daß ihr Sohn sich überanstrengen könnte, ließ sie ihm die Freude, zum ersten Mal in seinem Leben das zu tun, was er wollte. Noch einmal suchte sie mit dem Telescanner die Ebene ab, und wieder schien alles ruhig zu sein. Nichts deutete auf eine Gefahr für den Treck hin. Doch auch wenn die imposanten Gestalten der Terrianer nicht am Horizont auftauchten, war sich Devon der Tatsache bewußt, daß die Eingeborenen jede ihrer Bewegungen verfolgten. Eine Lebensform, die in so perfektem Einklang mit der Erde lebte, daß sie sie zu einem Bestandteil ihres Körpers machen konnte, wußte mit großer Sicherheit alles, was auf der Erdoberfläche ihres Planeten vor sich ging. »Vor vier Tagen ist hier ein Häufchen Außerirdischer gelandet...« Fragend schaute sie Yale an, der unbemerkt neben sie getreten war. An den Gedanken, daß auf C889 sie die Außerirdischen waren, mußte sich Devon erst einmal gewöhnen. »Und?« forderte sie den Lehrer zum Weiterreden auf. »Und? Wir begeben uns auf eine Wanderung, die uns quer über einen unbekannten Planeten führen wird - in der Hoffnung, daß wir irgendwie schon an unser Ziel gelangen werden. Doch bis dahin werden wir uns immer und immer wieder die gleichen Fragen stellen: Wann fordern die Terrianer die Begleichung unserer Schuld ein? Und was wird sich uns noch alles in den Weg stellen?« Devon nickte, Yales Worte hatten sie nachdenklich gestimmt. Allerdings mußte sie schon bald wieder lächeln, als aus dem Treck völlig unerwartet ein Marschlied ertönte, dessen Urheber zweifelsohne Zero war. »Wir müssen uns vor allem fragen, ob wir es aushalten, monatelang mit Zero zu reisen, ohne ihn umzubringen.« »Ein Sprachmodul zu deaktivieren ist nicht dasselbe wie ein Mord«, entgegnete Yale und zog eine Augenbraue hoch. Dann setzte er sich in Bewegung, um dem Zug zu folgen.
Ein weiteres Motorengeräusch kündigte Devon das Erscheinen Alonzos an. Der Verletzte saß auf dem ATV, den Uly ihm nur allzugern zur Verfügung gestellt hatte, allerdings nicht, ohne dem geduldigen Raumfahrer zuvor eine sorgfältige Unterweisung im Gebrauch dieser hochkomplizierten Maschine angedeihen zu lassen. Devon sah zu ihm hinüber und lächelte ihn an. »Was ist los, Alonzo? Alles in Ordnung?« Er schüttelte den Kopf und schaute sie nachdenklich an. »Ich weiß nicht, Devon. Ich weiß nicht, was wir ihnen versprochen haben. Wie hoch wird der Preis sein, den wir zu zahlen haben?« Devon war sich sicher, daß Alonzo ihren Besuch bei den Terrianern nicht bereute. Vermutlich wollte er nur etwas wie eine Bestätigung erhalten, daß sie keinen Fehler gemacht hatten. Allerdings wußte sie selbst nicht genau, ob sie ihm damit dienen konnte. Dann jedoch fiel ihr Blick auf Uly - und dieser Anblick war Antwort und Bestätigung genug. Wie der Junge gesund und munter neben dem SandRail herlief, um bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit zur Seite zu springen und irgend etwas genauer in Augenschein zu nehmen, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte, trieb ihr fast wieder die Tränen in die Augen. Sie holte tief Luft. »Ich weiß es auch nicht. Aber«, fuhr sie entschieden fort, nachdem sie dem Piloten einen bedeutungsvollen Blick zugeworfen hatte, »aber ich würde es genauso wieder machen.« Das kleine Tier, Trues »Kätzchen«, das in der Sprache der Terrianer »Koba« hieß, lief in dem verlassenen Lager herum, schnüffelte an der kalten Feuerstelle und sah dem Wagenzug nach, der in der Ferne verschwand. Es hatte die Gesellschaft der fremden Lebensform genossen, von der es gefüttert und gestreichelt worden war. Man konnte nicht behaupten, daß das Tier True richtiggehend vermißte, aber es registrierte ihre
Abwesenheit und trauerte ihr in dem Maß nach, in dem Tiere dazu in der Lage sind. Plötzlich hörte der Koba ein kreischendes Geräusch, als ob Steine auf Metall kratzten. Er setzte sich auf seine Hinterpfoten, stellte die Ohren auf und lauschte aufmerksam. Aufgeregt sprang er den Abhang hinauf, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, und versteckte sich zwischen den Steinen. Dann schaute er sich vorsichtig um. Vielleicht waren sie doch nicht alle fortgezogen! Als der Koba erkannte, wer das Geräusch verursacht hatte, duckte er sich erschrocken hinter einen Felsbrocken. Der Anblick des gedrungenen Hominiden, des Grendlers, der ein paar Meter entfernt kauerte, machte ihm angst. Breitbeinig hockte der Grendler neben einer Metallplatte, die er offensichtlich gerade zur Seite geschoben hatte, und war gerade dabei, mit einem Werkzeug Steine und Erde aus der Grube zu holen, in die die Menschen ihren toten Kameraden gelegt hatten. Der Koba kräuselte angewidert die Nase. Grendler fraßen fast alles. Das Geräusch sich nähernder Schritte veranlaßte den Koba, sich noch tiefer zwischen die Felsen zu ducken. Hinter einem riesigen Findling trat ein fremdartiges Wesen hervor, eines, das der Koba noch nie gesehen hatte und das auch nicht zu denen gehörte, die gerade die Gegend verlassen hatten. Der Fremde war groß, kräftig und machte einen bedrohlichen Eindruck. Seine zerrissenen Kleider flatterten im Wind. Einen Moment lang überlegte der Koba, ob er zu ihm hinüberlaufen und um Futter betteln sollte. Aber dann sah er die finsteren, unheimlichen Augen des Fremden und zog es vor, in seinem Versteck zu bleiben. »Gaal.« Die Stimme des Grendlers klang kehlig, als ob er es nicht gewohnt war, seine Zunge zum Sprechen zu benutzen. Der Fremde bückte sich und nahm einen langen, schmalen Gegenstand in Empfang, den der Grendler ihm aus der Grube
reichte. Mit seinen langen, kräftigen Fingern strich er zärtlich über O'Neills Gewehr, bevor er sich die Waffe über die Schulter hängte. Er trat einen Schritt nach vorn und beobachtete lächelnd, wie der Wagenzug hinter dem nächsten Hügel verschwand. Langsam erstarrte das Lächeln und verwandelte sich in ein bösartiges, gemeines Grinsen. Der Fremde betastete seinen Hals, und als er die Hand wegzog, wurde eine Tätowierung sichtbar, ein Symbol aus zwei stilisierten Schriftzeichen. Es war dasselbe Symbol, das Devon in der Höhle der Terrianer gesehen hatte: »E2«.