BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
DAS ENDE DER FREIHEIT
von Susan Schwartz John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m ...
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BAD EARTH
Die große Science-Fiction-Saga
DAS ENDE DER FREIHEIT
von Susan Schwartz John Cloud 28 Jahre alt, 1,84 m groß, blaue Augen, Sohn von Nathan Cloud, der die erste Marsmission führte später dann selbst Kommandant von Mission II, die den Roten Planeten im Jahr 2041 erreichte. In Clouds Körper kreisen immer noch Reste von Protomaterie, die es ihm ermöglichen, die Sprache der Foronen zu beherrschen. Cloud wurde durch die Manipulation des Außerirdischen Darnok in eine düstere Zukunft verschlagen, in der die Menschen »Erinjij« genannt werden. Taurt, der Wächter Ein »Schein-Geschöpf« aus Protomaterie, das den Bau des Aqua-Kubus von Beginn an miterlebte. Erinjij Sinngemäß: »Geißel der Galaxis« - Bezeichnung, welche die Milchstraßenvölker den rücksichtslos expandierenden Menschen verliehen haben. Die galaktische Position der Erde ist den Außerirdischen dabei bislang unbekannt - mit einer Ausnahme: Der Keelon Darnok kennt die Koordinaten und ermöglichte Cloud und Scobee so erst die Heimkehr ins Sonnensystem. Die Erinjij beherrschen als einzige bekannte Spezies die so genannte »Wurmlochtechnik«. Über das künstlich erschaffene Jupiter-Tor gelangen sie zu in der Nähe von Wurmlöchern gelegenen Außen-Basen, von wo aus sie ihre aggressiven Eroberungsfeldzüge koordinieren. Die Foronen Die Namen ihrer Anführer lauten Sobek, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos, Epoona und Siroona; die beiden Letztgenannten sind weiblich. Mont ist tot. Die Foronen sind die wahren Herren der RUBIKON II (SESHA). Scobee 20 Jahre alt, 1,75 m groß, ihre Augen sind nicht nur nachtsichtig, sondern können auch die Farbe wechseln; Grundfarbe ist jadegrün. Weiblicher Klon und Vorlage (Matrix) für sämtliche nach ihrem Vorbild gezüchteten Scobee-GenTecs (genetisch optimierte Menschen), von denen mehr als ein Dutzend bei der Reise zum Mars ums Leben kam. Scobee ist zusammen mit John Cloud und den beiden GenTecs Resnick und Jarvis in ungewisser Zukunft gestrandet. Tovah'Zara Ein legendenumwobener Ort: ein gigantischer Würfel, dessen Kantenlänge eine Lichtstunde beträgt. Er ist vollständig mit Wasser gefüllt und treibt durchs All. In seinem Innern »schwimmen« ganze Planeten und andere Körper. Das Mädchen Aylea Im »Paradies« einer irdischen Metrop (Metropole) aufgewachsenes 10-jähriges Mädchen - das unversehens die Schattenseite der Gesellschaft kennen lernt und ins so genannte »Getto« abgeschoben wird, wo die Rechtlosen der neuen Menschheit ihr Dasein fristen. Dort traf sie auf John Cloud. Die irdischen Astronauten John Cloud, Scobee, Resnick und Jarvis gelangen durch Manipulationen des Außerirdischen Darnok in die düstere Zukunft des Jahres 2252. Dort werden die Menschen Erinjij genannt - »Geißel der Galaxis«. Im sagenumwobenen Aqua-Kubus finden sie ein rachenförmiges Raumschiff, das sie auf den Namen RUBIKON II taufen. Die GenTecs Resnick und Jarvis verschlägt es auf Umwegen zum Mars, Cloud und Scobee zur Erde, wo sie erfahren, wer hinter der Erdinvasion von 2041 steckt. Die Master entpuppen sich Angehörige der vernichtet geglaubten Keelon, Darnoks Volk. Indessen erwachen auf der RUBIKON II die wahren Herren des Schiffes, die von den Bewohnern des Aqua
Kubus mystifizierten Sieben Hirten. Sie weisen die Menschen in ihre Schranken und bergen in der Folge eine uralte Station auf dem Mars. Resnick stirbt kurz zuvor, und Jarvis überlebt nur aufgrund eines »Gefallens« der Hirten: Sein Bewusstsein wird in den Körper eines foronischen Kunst geschöpfes transferiert. Unmittelbar nach diesen Geschehnissen verlässt die RUBIKON II das Sonnensystem und nimmt Kurs auf die Ewige Stätte des Aqua-Kubus, aus der die Menschen sie entführten. Dort angekommen vollzieht sich ein Jahrtausende alter Plan. Überragende außerirdische Technologie kommt zum Einsatz und multipliziert die Arche der Foronen. Aus einem Fabelschiff werden plötzlich Dutzende baugleicher Giganten. Ein sonderbares Wesen namens Taurt erzählt die Geschichte des Aqua-Kubus... Prolog Vergangenheit: Luur »Komm schon, Juuna, wir müssen los!«, drängelte Karri. »Warum hast du es so eilig?«, gab Juuna zurück. Sie scharrte mit den Hinterbeinen in ihrem Sandbett, bis es ihren Ansprüchen genügte. Juuna legte sehr viel Wert auf perfekte Sandmuster. Zum Schluss griff sie in eine bauchige Schale, öffnete die Hand und pustete den hauchfeinen blauen Staub über das Sandbett. Der Staub verteilte sich willkürlich und verlieh den Mustern Schatten und Tiefe, mit einem geheimnisvollen Glanz. Karri, der stets ein wenig nervös war, verharrte für einen Moment. »Du bist eine wahre Künstlerin«, sagte er voller Stolz. »Du brauchst dazu nicht einmal deinen Geist anzustrengen, um Dinge von solcher Schönheit zu schaffen.« Juunas Heim war eine Augenweide. Sie arrangierte es jeden Tag aufs Neue, wie ein Kunstwerk, das nie fertig wurde. Blumen und Gräser, Skulpturen und Sandbilder. Ein dreidimensionales Gemälde von beeindruckender Schönheit. Ihre Anregungen holte Juuna sich aus der Natur selbst - aus dem Dschungel, der ihre Stadt umgab. »Du übertreibst«, versetzte Juuna und zog die breiten Lippen weit auseinander. »Es gibt Hunderte, die viel besser sind als ich.« »Sagt die Künstlerin, die in ihrem Regal die wichtigsten Kunstpreise Luurs sammelt und die gerade in den Regierungsrat gewählt wurde«, bemerkte Karri. »Also, wollen wir jetzt in den Dschungel, oder nicht?« »Wir wollen«, bekräftigte Juuna. »Denn wer weiß, wie oft ich dazu noch Gelegenheit habe, sobald ich den Regierungsgeschäften nachgehen muss...« Mit ihren kräftigen Beinen konnten die Luuren größere Entfernungen ausdauernd, mühelos und schnell bewältigen, aber sie hatten auch nichts gegen Bequemlichkeit. Karri und Juuna setzten sich daher rittlings auf den Sehweber und sausten in mittlerer Höhe zwischen den Stufenhäusern der Stadt Richtung Dschungel. Der Sturm der vergangenen Nacht war vorüber, der Tag strahlend schön. Bald tauchten die beiden Luuren mit ihrem Gefährt in die dampfige Hitze des Urwalds ein. Auf sie prasselten viele verschiedene Stimmen ein, kreischend, pfeifend und summend. Zwischen misstönendes Gebrüll mischte sich harmonisches Trillern, beides vereinte sich zu ziemlich nervenaufreibendem Lärm. Selbst an einem Feiertag, wenn die ganze Stadt unterwegs war, gab es dort keinen solchen Krach wie hier in der ungebändigten Natur. Hinzu kam das scheinbare Durcheinander der wild wu chernden Vegetation. Manchmal konnte man die einzelnen Pflanzen nicht mehr voneinander unterscheiden, weil sie sich im Lauf des Wachstums untrennbar miteinander verflochten hatten. Gerade deswegen kam Juuna gerne hierher, dies war ihre Inspiration. Außerdem hatte es den Reiz der Gefahr. Die Luuren hatten sich zwar über den ganzen Planeten verteilt und kunstvolle Städte errichtet, aber zumeist am Grund großer, verödeter Krater. In die Natur griffen sie so wenig wie möglich ein, daher konnte es durchaus passieren, dass so manche Pflanze oder so manches Tier einen ungewohnten Besucher als willkommene Abwechslung im Speiseplan betrachtete. Juuna machte Karri auf eine Familie kurzfedriger, rüsselnasiger Garrangoks aufmerksam, die sich
geschickt von Baum zu Baum hangelten. Sie folgten dem fordernden Husten des Patriarchen und wurden von einer Schar flötender Schillerjabels begleitet. »Was findest du nur an diesen kreischenden Biestern?«, fragte Karri entgeistert. »Und die Schillerjabels können einem auch ganz schön auf die Nerven gehen mit ihrem ausdauernden, eintö nigen Gedudel und nervösem Herumflattern!« »Karri, du bist eine richtige Stadtpflanze, unbeweglich und unflexibel«, bemerkte Juuna seufzend. »Warum kannst du dieses überquellende Leben nicht schön finden?« »Schön finde ich die Kunst, ein Gebäude zu bauen«, erwiderte Karri, »seinem Wachstum zuzuschauen, es nach meinem Willen zu formen und zu wissen, dass es Bestand haben wird. Dies ist harmonische Ruhe und Eintracht.« »Ich geb's auf«, meinte Juuna, allerdings keineswegs gekränkt. Sie schätzte es sehr, dass sie und Karri völlig verschiedene Charaktere hatten, da wurde es nie langweilig.
Sie landeten am Ufer eines Sees, der still und tiefblau in eine tiefe Senke am östlichen Rand des
Waldes eingebettet war. Juuna sprang vom Sehweber, stützte sich bequem auf ihren langen,
kräftigen Schwanz und sah sich um.
»Ich glaube, das ist ein guter Platz«, erklärte sie.
»Ist mir recht«, sagte Karri, der Juuna nie widersprach.
Sein Blick glitt über Juunas orangefarbene Muster, die sich über ihren grünhäutigen Rücken hinweg
zogen. In Gedanken ergänzte er die Linien unter der Kleidung. Jeder Luure besaß eine einzigartige
Maserung auf seinem Rücken, und Juunas Muster waren die Schönsten, die Karri je gesehen hatte,
er hätte sie blind malen können. Sie versinnbildlichten, dass Juuna etwas ganz Besonderes war.
Deshalb bewunderte er sie und wich nicht mehr von ihrer Seite.
»Sieh mal, dort drüben ist ein Steg.« Juuna zeigte auf eine weit entfernte Stelle, fast am
gegenüberliegenden Ufer.
Karri konnte beim besten Willen nichts erkennen.
»Sind deine Augen so scharf?«, rief er erstaunt.
»Natürlich nicht«, antwortete sie belustigt. »Ich habe mir künstliche Linsen implantieren lassen.
Das ist sehr wichtig für meine Mikrokunstwerke, verstehst du? Ich glaube, da ist auch ein Boot.
Vielleicht können wir eine kleine Tour unternehmen, was meinst du?«
Karri zögerte etwas. »Ich weiß nicht... und wenn das Boot kentert? Du weißt, ich bin kein guter
Schwimmer.«
Juuna quakte vor Vergnügen, sie konnte sich kaum mehr halten. »Karri, du solltest dich selbst mal
hören. Total lebensuntüchtig, wenn du mich fragst!«
»Ich frage mich eher manchmal, weshalb du mich duldest«, murmelte Karri peinlich berührt. Seine
normalerweise tiefroten Rückenmuster wurden blass.
»Weil du ein begnadeter Lehmformer bist, natürlich«, antwortete sie sanft. »Du bist der beste
Baumeister, den es je gab. Ich kenne niemanden mit so ausgeprägten mentalen Kräften wie dich.
Eine bessere genetische Vermischung kann ich mir nicht vorstellen. Unsere Kinder müssen Genies
werden!«
Das spornte Karri sofort an. »Also, worauf warten wir?«
Sie flogen mit dem Schweber zu dem Steg, an dem ein Boot befestigt war. Ähnlich wie der
Schweber verfügte es über ein Antigravfeld, das es knapp über dem Wasser hielt.
Juuna aktivierte die Eigentumsplakette und fragte an, ob das Boot zu vermieten war. Kurze Zeit
später meldete ein elektronischer Piepton die Bestätigung, und die Verankerung löste sich
automatisch, das Steuerpult wurde aufgeklappt und gab die aktivierten Kontrollen frei.
Bald darauf wünschte sich Karri, nie an Bord gegangen zu sein.
Juuna ließ das Boot tatsächlich zu Wasser, gab Gas und flitzte voller Begeisterung über den See,
eine schmale Furche ins Wasser pflügend, mit hoch spritzender Gischt an den Seiten. Sie zögerte
nicht vor rasanten Kurven und kreuzte quer über den See, bis sie schließlich den Motor abstellte
und das Antigravfeld wieder aktivierte.
»Ist es nicht wunderschön?«, fragte sie und streckte sich auf dem sanft dahindümpelnden Boot aus.
»Ich habe schon jede Menge Ideen, was ich aus all diesen Anregungen machen werde.«
»Ich auch«, gestand Karri. »Als Erstes werde ich fortan stets ein Beruhigungsmittel bei mir führen,
wenn ich mit dir unterwegs bin. Und als Zweites überlege ich ernsthaft, ob ich nicht mal einen See
anlegen soll, mit einer schwebenden Burg darüber, oder so ähnlich.«
»Warum nicht darauf schwimmend?«
»Was denkst du, welchen Wellengang es hei den Stürmen gibt? Außerdem sind die meisten Städter
so wie ich: dem direkten Kontakt mit Gewässern eher abgeneigt. Nein, das muss schon Sicherheit
bieten.«
»Wie du meinst. Ich bin mehr fürs Abenteuerliche.« Juuna holte ihre Aufzeichnungsmappe hervor,
schaltete sie an und tippte eifrig auf die Sensorfelder.
Nach einer Weile fiel ihr auf, wie still Karri war.
»Was ist los?«, wollte Juuna gerade fragen, als plötzlich ein Schatten auf sie herabfiel. Ein tiefer
Schatten, anders als bei einer Wolke. Schlagartig wurde der See düster, schlagartig verstummten
alle Stimmen im Wald, als verharrten auch die Tiere in ungläubigem Staunen.
Juuna hatte fast das Bedürfnis, sich zu ducken, als wäre es eine Drohung, die da vom Himmel
herabfiel. Schwerfällig kamen ihre Gedanken wieder in Bewegung. Wenn sie in ihre Inspirationen
vertieft war, konnte sie sich nur mühsam wieder davon losreißen und brauchte eine Weile, his sie
wieder ganz bei sich war.
Ihr Blick fiel auf Karri, der auf einmal neben ihr stand, einen Arm nach ihr ausgestreckt. Sein Kopf
war nach oben gerichtet, sein breiter Mund stand leicht offen. Ein Flackern war in seinen Augen,
das Juuna sich nicht erklären konnte; das sie erschreckte.
Langsam folgte sic dem Blick seiner nach oben gerichteten Augen und sah... und sie wusste, dass in
ihren Augen nun dasselbe Flackern war wie bei Karri. Sie erstarrte, unfähig, die Augen
abzuwenden.
»Ist dir das Abenteuer genug...?«, fragte Karri.
Juuna tastete nach ihm und spürte, wie er gleichzeitig seinen Arm um sie legte. Ob er nun Schutz
suchte oder sie beschützen wollte - es war gleich. Unsicher klammerten sie sich aneinander, immer
noch unschlüssig, ob sie träumten oder wachten.
»Was ist das?«, flüsterte Juuna. »Nichts von dieser Welt«, gab Karri zitternd zurück.
Ein Licht strömte aus dem riesigen Gefährt über ihnen, erfasste die beiden Luuren. Die Form des
unbekannten Flugkörpers war mit nichts vergleichbar, was die Luuren je gebaut hatten.
Vor allem war es aus Metall, ein Werkstoff, den die Luuren nur für ganz wenige Dinge, wie
Maschinen, verwendeten. Es war ein unbekanntes, kostbares Metall, das erkannte Karri auch aus
der Entfernung, so glatt, so glänzend, so... kalt.
»Wir träumen, Karri«, stieß Juuna hervor.
»Ich wünschte, es wäre so«, antwortete der Gefährte. »Aber ich fürchte, es ist die Wirklichkeit. Es...
es ist ein Schiff. Ein Raumschiff...«
»Du behauptest allen Ernstes, da sind Wesen an Bord von... einem anderen Planeten?«, stotterte
Juuna.
»Eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Aber... unsere Wissenschaftler haben doch herausgefunden, dass es in unmittelbarer Nähe kein
anderes intelligentes Leben außer uns gibt, und dass es nicht möglich ist, weitere Entfernungen
außerhalb unseres Systems zurückzulegen...«
»Anscheinend haben die da oben eine Möglichkeit gefunden, sehr schnell zu fliegen«, meinte Karri
lakonisch.
»Und... was wollen sie ausgerechnet von uns? Denkst du, sie kommen in Frieden?«
Karri antwortete nicht mehr, aber sein Zittern sagte Juuna genug.
1.
Gegenwart: im Königinnenpalast
Das uralte Wesen näherte sich John Cloud.
»Das sind sie also«, sagte Taurt, der Wächter.
Er war ein Wesen, aus Protomaterie einem Foronen nachgebildet, Tausende von Jahren alt. Sobek
hatte Cloud und Jarvis zu ihm geführt. Auch der Forone begegnete Taurt offenbar zum ersten Mal
seit dem Erwachen aus der Stasis. Die Begrüßung der beiden war kurz und trocken ausgefallen, und
Taurt hatte in wenigen Worten seinem Herrn mitgeteilt, dass alles wie geplant vorbereitet sei.
Nun wandte sich der Schein-Forone den Menschen zu.
Cloud zuckte mit keiner Wimper, als lange, dürre Spinnenfinger zuerst seine Schulter berührten,
dann über sein Gesicht tasteten, jede Kontur nachfuhren. »Die berüchtigten Erinjij, die Geißel der
Galaxis, wie man euch nennt.« Taints Sprechmembran flatterte leicht. »Ziemlich mickrige
Bürschlein, findest du nicht, Sobek?«
»Das Aussehen ist nicht alles«, sagte Cloud, bevor der Forone etwas sagen konnte. »Übrigens bin
ich kein Angehöriger der Erinjij.«
»Das weiß ich natürlich«, krächzte der uralte Wächter. »Du kommst aus der Vergangenheit. Du
begutachtest sozusagen dein Erbe. Oder sollte ich sagen, du fliehst davor'?«
Cloud antwortete nicht.
Taurt stieß ein kratzendes Geräusch aus. »Ich hatte lange nicht mehr so viel Abwechslung, deshalb
wirst du meine Fragen wohl verzeihen, John Cloud. Ich habe gehofft, dich einmal persönlich zu
treffen, denn meine Sinne sind auf die Entfernung nicht mehr so scharf wie einst. Und es
kommuniziert sich so leichter, da ihr ja nichts von der Telepathie versteht. Ich kann von dir eine
Menge erfahren...«
»Das kann warten, Taurt«, unterbrach Sobek - war er ungehalten, überlegte Cloud. »Im Augenblick
ist es eher umgekehrt, die Menschen bekommen Informationen von uns.«
Für einen Moment herrschte Stille, und Cloud spürte einen leichten Druck im Kopf. Er vermutete,
dass Taurt und Sobek sich mental austauschten und gleichzeitig versuchten, in seinen Gedanken
herumzukramen. Cloud war sich nicht klar über Sobeks Motivation. Aber das würde sich noch klä
ren, da war er sich sicher. Immerhin schien es endlich einmal ein paar Antworten zu geben, und da
er im Augenblick nichts Besseres zu tun hatte, konnte er genauso gut abwarten und zuhören.
Nach einigen Minuten kam wieder Bewegung in Taurt, und er schlurfte auf Jarvis zu.
»Hallo, Verwandter!«, grüßte er den GenTec.
Cloud sah, wie sein Gefährte etwas zurückwich, offensichtlich unangenehm berührt.
»Warum sagst du das?«, fragte Jarvis.
Taurt tippte mit einem Knochenfinger an seine Brust. »Wir sind uns ähnlich wie niemand sonst,
Freund. Es sind verschiedene Methoden - du bestehst aus Nano-Technologie, ich aus Protomaterie
, aber wir beide sind künstliche Wesen. Ich hätte nicht gedacht, jemals einem Wesen zu begegnen,
das...«
»Ich bin immer noch ein Mensch, was meinen Verstand, mein Bewusstsein, meine Seele betrifft«,
widersprach Jarvis. »Ich habe lediglich den Körper gewechselt.«
»Ach, wirklich?« Taurts Stimme klang höhnisch. »Du willst behaupten, dass du auf ebenso
natürliche Weise wie John Cloud gezeugt und geboren wurdest?«
»Nein«, gab Jarvis zu. »Aber...« »Der einzige Unterschied zwischen uns beiden war einmal dein
organisches Gehirn, das du nicht mehr besitzt«, sagte Taurt überheblich. »Ansonsten bist du
gezüchtet, ebenso wie ich, und optimiert, programmiert.«
»Hör auf damit!«, fuhr Cloud dazwischen.
Der Schein-Forone drehte ihm leicht den Kopf zu. »Aber natürlich.« Auch jetzt ließ er seine
Überlegenheit durchklingen. »Ich war nur neugierig, das ist alles. Wenn man so lange lebt wie ich,
ist Neugier so ziemlich das Einzige, was noch bleibt. Denn das Wissen endet nie - hoffe ich zumin
dest -, und ich war schon immer sehr wissbegierig.
»Dann haben wir wohl doch eine Gemeinsamkeit«, versetzte Jarvis. »Ich denke, es ist an der Zeit,
dass du ein wenig mehr über dich erzählst.«
Taurt nahm eine präsentierende Haltung an. »Sieh mich an, Jarvis, ich bin deine Zukunft. Wir beide
sind intelligenter Geist in einer künstlichen Hülle. Wir beide leben, und eines Tages, nach
Jahrzehntausenden, wirst du so sein wie ich. Nicht dem Tod preisgegeben, und doch alternd. Nichts
ist von ewigem Bestand, und ich spüre den Verfall. Fast unsterblich, das sind wir, du und ich. Wie
gefällt dir das?«
»Nicht besonders«, antwortete Jarvis ohne zu zögern. »Ich habe sicher kein Vergnügen daran zu
sehen, wie rings um mich herum meine Freunde sterben und sich alles verändert, was ich kenne.«
Das Protowesen lachte, zumindest interpretierte Cloud das röhrende Geräusch so. »Man gewöhnt
sich daran. Du hast gar keine andere Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl«, brummte Cloud.
Sobek schaltete sich nun wieder ein. »Taurt ist vermutlich eines der ältesten Lebewesen dieser
Galaxis«, sagte er. »Er wurde erschaffen, um unseren Plan weiterzuführen, während wir in Stasis
lagen, denn im Gegensatz zu ihm sind wir zwar langlebig, aber nicht unsterblich.«
Und dann berichtete er Cloud und Jarvis von dem Plan der Hirten seit Anbeginn, von der
»Rekrutierung« der Heukonen und dem Bau des Aqua-Kubus, einem gewaltigen Jahrhundertwerk,
und schließlich Taurts Erschaffung, als Wächter über die Jahrtausende und die Ewige Stätte.
John Cloud versuchte, nicht an die Trockenheit in seinem Mund zu denken und konzentrierte sich
lieber auf den Bericht.
2.
Vergangenheit: Mont
»Zielgebiet erreicht«, meldete die Ortung.
»Gut. Wir umkreisen den Planeten in so großer Höhe, dass wir nicht entdeckt werden können. Aufklärungssonden losschicken.«
»Zu Befehl. Anti-Ortungs-Schirm aktivieren?«
»Vorsichtshalber, ja. Soweit ich unterrichtet bin, besitzen die Bewohner keine hoch technisierte Ortung, aber man kann nie wissen. Zunächst braucht niemand zu wissen, dass wir hier sind.«
Mont stand aufgerichtet in der Zentrale seines Schiffes und beobachtete das großformatige Holoschaubild, das in verschiedenen Vergrößerungen und Ausschnitten den Planeten unter ihm zeigte.
Für diese Erkundung hatte der Hirte den Expeditionsraumer W'MAY genommen, der eine gut ausgerüstete wissenschaftliche Abteilung besaß.
Die W'MAY war eines der wenigen perfekt ausgestatteten Schiffe, denen die Flucht mit dem Konvoi aus Samragh gelungen war. Die letzte Schlacht lag noch nicht so lange zurück, um nicht immer noch im Bewusstsein lebendig zu sein, nahezu in jedem Moment. Die Foronen hatten alles auf eine Karte setzen müssen und Glück gehabt. Der grausame Feind, die Virgh, war in diesem Gefecht vernichtet oder in die Flucht geschlagen worden - aber zu einem sehr hohen Preis. Gerade mal zehn Prozent der ursprünglichen Flotte konnte weiterfliegen, in die Nachbargalaxis Bolcrain, um sich dort zu verstecken. Besonders schmerzte es Mont, Siroonas Kummer unmittelbar miterleben zu müssen. Siroona und Sobek hatten ihr Erstgeborenes in diesem furchtbaren Krieg opfern müssen. Ausnahmsweise einmal war Mont froh, nicht an Sobeks Stelle zu sein. Es bestand wenigstens wieder Aussicht - jetzt mehr denn je -, dass eines Tages er, Mont, ein Kind
mit Siroona haben würde. Mont war sich nicht sicher, ob seine Angebetete sich genau darüber im Klaren war, was er für sie empfand. Natürlich sah sie ihn als Freund und gestattete ihm, sie zurückhaltend zu umwerben. Aber dass Siroona für Mont alles war und er sogar sein Leben für sie gegeben hätte, hatte er ihr nie gesagt und stets gehofft, dass seine Gefühle ihn während des mentalen Kontaktes nicht verrieten. Das war etwas, das Siroona nicht so schnell erfahren durfte - und noch weniger Sobek. Außerdem schien es Mont so, als sei er der Einzige im Hohen Rat, der mit Sobeks Dominanz nicht einverstanden war. Die anderen stimmten diesem eigentlich immer zu, es gab nur sehr selten Widerspruch. Da Mont also allein war mit seinen Bedenken - und vor allem wegen Siroona schwieg er, schluckte die Kritik hinunter und gestattete Sobek, sich für den Obersten der Foronen zu halten. Im Grunde genommen hatte Sobek nur Glück gehabt; diese Position hatte er sich keineswegs erarbeitet oder verdient. Schon vom Alter her war Mont ihm voraus. Aber als der Krieg ausbrach, hatte Sobek sich als schnell handelnder, entscheidungsfreudiger und - wie Mont zugeben musste genialer Stratege erwiesen, und Siroona hatte sich ihm zugewandt. Wer konnte erahnen, wie alles gekommen wäre, wenn die Virgh nie aufgetaucht wären... Mont versuchte, nicht zu oft an die verlorene Heimat und die Bedrohung durch die Virgh zu denken. Wichtiger war es jetzt, zu überleben. Die Aufklärungssonden hatten interessante Ergebnisse aus diesem System gebracht. Mont wandte sich an Faroo, den wissenschaftlichen Leiter des Expeditionsteams, der soeben in der Zentrale der W'MAY erschienen war. »Dort unten existiert eine intelligente Spezies, Reptilwesen.
Erste Messungen haben ergeben, dass sie über eine ungewöhnliche Hirnstruktur verfügen.«
»Psi-begabt?«, fragte Faroo. Mont hatte den Wissenschaftler bisher nicht über den Grund der Reise
aufgeklärt. Jeder der Hohen Sieben - vielleicht mit Ausnahme von Epoona - hielten sich gern bis
zum letzten Moment bedeckt, selbst ihren unmittelbaren Untergebenen gegenüber.
»Ja, es sieht so aus«, bestätigte Mont. »Allerdings zeigen ihre Gehirnwellen andere Muster als
unsere. Es ist unwahrscheinlich, dass sie über Telepathie verfügen.«
»Und um herauszufinden, welche Fähigkeiten es sind, sind wir hier«, vermutete Faroo.
»Wir erwarten, dass sie für uns von Nutzen sind. Dennoch benötigen wir umfangreiche Tests. Wir
dürfen uns keine Fehler erlauben. Es ist sicherer, ausreichend Zeit zu investieren, um ganz sicher zu
gehen.«
»Verstanden. Ich werde mein Labor instruieren, dann können wir beginnen.«
Faroo verließ die Zentrale, und Mont richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Holo.
Gleichzeitig studierte er die von den Sonden in kurzen Abständen gelieferten Daten.
Es war eine Dschungelwelt, tropisch warm und feucht. Kaum ein Ort, der nicht von Pflanzen überwuchert war. Selbst in den seltenen baumlosen Savannen wuchs das Gras noch meterhoch. Herden riesiger Sauropoden wanderten durch diese Savannen und sorgten dafür, dass keine größeren Bäume wuchsen. Sie rupften ununterbrochen Gras und bahnten sich mit säulenartigen Beinen ihren Weg. Die Herden ließen jedoch kein verwüstetes Land hinter sich, denn die Natur existierte hier im Einklang. Das Gras war zäh und richtete sich zum Großteil wieder auf, sobald der Druck von ihm wich, und es schien sehr schnell zu wachsen. Raubtiere zeigten sich hin und wieder als Einzelgänger oder im Rudel; klauenbewehrte, flinke Wesen mit hornigen Schuppen oder Stacheln. Es war kein Anblick, der Mont gefiel. Aber es war wichtig, alles in Augenschein zu nehmen, auch wenn es noch so unbedeutend erschien. Es durfte nichts übersehen werden, was für ihre Zwecke dienlich sein konnte. Die Dschungelwälder waren von oben nahezu undurchdringlich. Nur ganz selten einmal lockerte sich das Blätterdach auf und gab den Blick frei auf das, was darunter lag, aber nie bis zum Boden.
Scans zeigten, dass es hier nur so von Leben wimmelte, vom Insekt bis zum großen Räuber. Die größte Anzahl boten Baumbewohner, teils geflügelt, in allen Größen. In wenigen Augenblicken hatten die Bio-Messgeräte über hunderttausend Arten allein in dem gerade überflogenen Gebiet erfasst und gezählt. Es waren auch einige halb intelligente Organismen darunter, jedoch nicht für Monts Zwecke geeignet, denn sie besaßen keine paranormale Begabung. »Ab jetzt wird es interessant«, meldete die Foronin an der Ortung. »Das Gebiet, das wir als Erstes überflogen haben, scheint so ziemlich das größte natur belassenes Areal zu sein. Aber nun steuern wir auf Siedlungen zu.« Bei der Entstehung des Systems musste es zu einigen Katastrophen gekommen sein. Mont sah vernarbte Wunden aus der Vorzeit, riesige, am Grund verödete Krater, die Meteoreinschläge hinterlassen hatten, und die sich über den ganzen Planeten verteilten. Und in diesen Kratern hatten die Intelligenzwesen Städte errichtet, die durchaus einem modernen Standard entsprachen. Sie beherrschten die Antigravtechnik und verstanden sich auf geradezu künstlerische Bautechniken. Kein Gebäude glich dem anderen, sie beschrieben sogar Kurven und Biegungen und verzweigten sich, verbanden sich mit anderen Häusern und wuchsen dabei in schwindelnde Höhen. »Die Vorfahren müssen einst auf Bäumen gelebt haben«, stellte Mont fest. »Diese Strukturen gleichen den Wäldern, die wir gerade überflogen haben.« Auffällig waren die vielen Balkone, Terrassen und Plattformen. Die Bauweise war sehr offen, es gab kaum verschlossene Türen, die Fenster besaßen keine Scheiben, auch keine energetischen Sperren. »Das sieht so... lebendig aus«, bemerkte die Orterin. Mont wusste nicht einmal ihren Namen, für solche Details interessierte er sich nicht. Unaufgefordert fuhr sie fort: »Ich meine, das Material der Gebäude... Sie bestehen aus Lehm!« Mont horchte auf. Aus Lehm solche Städte zu bauen, war eine beachtliche Leistung - und eigentlich statisch gar nicht möglich, nicht in dieser Größenordnung. »Analyse«, forderte er. Es zeigte sich, dass der Grundstoff tatsächlich Lehm war. Aber es war auch anderes, unbekanntes organisches Material dabei, dessen chemische Formel keinen rechten Aufschluss darüber gab, woher es stammte. Die Formel wies allerdings darauf hin, dass es sich um ein äußerst kompaktes, haltbares und strapazierfähiges Material handelte, Metall nicht unähnlich. Diese Gebäude konnten Jahrhunderte ohne besondere Pflege überdauern. »Und das in diesem Klima«, überlegte Mont laut. »Bei der hohen Luftfeuchtigkeit kann eigentlich nichts lange von Bestand sein.« »Sie verwenden auch Metalle, und zwar in einer rostfreien Legierung«, berichtete die Orterin weiter. »Sie setzen diese Metalle aber in kleinem Rahmen ein, für Maschinen, ihre Gleiter, und so fort.« »Als Stützpfeiler für die Gebäude?« »Nein. Stützpfeiler oder Gerüste haben diese Gebäude nicht.« Sie waren in sich stabil, was dieses Material noch interessanter machte. »Und es fehlt noch etwas.« Mont war sich nun sicher, dass er sich auf der richtigen Fährte befand. »Um solche Konstruktionen zu erschaffen, braucht es eine Menge Maschinen. Ich kann aber keine Einzige entdecken, geschweige denn eine Fabrik, die Bauteile und Aggregate - irgendetwas dieser Art - produziert.« »Vielleicht sind sie mit dem Bauen fertig?«, vermutete die Orterin. »Damit ist man nie fertig«, wies Mont sie in ungehaltenem Tonfall zurecht. »Eine Bevölkerung wächst ständig, das wird hier nicht anders sein. Da sie zudem hauptsächlich Künstler zu sein scheinen, werden sie ständig neue Museen, Galerien und Ähnliches errichten. Bedingt durch die Feuchtigkeit gibt es hier oft Regenfälle, sie können nicht einfach alles unter freiem Himmel veran stalten.« »Aber... wie bringen sie das zuwege?«, fragte die Orterin ratlos. »Genau das«, sagte Mont zuversichtlich, »ist der Grund, weswegen wir hier sind...«
Die Kraterstädte verteilten sich über den ganzen Planeten. Dabei blieben die umgebenden Savannen und Dschungel ab einem bestimmten Radius absolut natur belassen. Die Bewohner der Städte schienen keine Sorge zu tragen, dass eines Tages Horden wilder Tiere in das fremde Revier eindringen würden. »Sie haben das Gleichgewicht erhalten«, äußerte Mont. »Die natürliche Umgebung ist groß genug für die animalischen Lebensformen, sodass sie sie nicht verlassen.« In den Städten herrschte lebhaftes Treiben. Die Bewohner waren Sauroide mit einem langen Echsenschwanz und vier Extremitäten, wobei sie die langen Arme auch zum Laufen einsetzen und dadurch beachtliche Spurts hinlegen konnten. Das machten aber eigentlich nur noch die Kinder, die Erwachsenen bewegten sich normalerweise nur auf den kräftigen Hinterbeinen und waren immer noch flink genug. Vor allem konnten sie weit springen und größere Entfernungen in Kürze zurücklegen, was Verkehrsmittel so gut wie überflüssig machte. Dennoch benutzten sie kleine Gleiter, auf denen sie rittlings saßen - manchmal ganze Familien oder Schwebebahnen, die niemals anhielten, weil man auf sie jederzeit auf- und wieder abspringen konnte. »Es sind gesellige Wesen«, stellte Mont fest. Er beobachtete einen friedlichen Umgang miteinander, vor allem den lebhaften Kindern gegenüber zeigten sich die Sauroiden äußerst nachsichtig. Mont sah Faroo wieder die Zentrale betreten. Er musste dazu nicht den Kopf drehen, denn durch die Sinneszellen, die sich über seinen ganzen Kopf verteilten, besaß er absolute Rundumsicht. »Eine friedliche, glückliche kleine Welt«, bemerkte der Wissenschaftler. »Sie führen keine Kriege und beschäftigen sich eigentlich den ganzen Tag damit, irgendetwas zu bauen. Für die Ernährung müssen sie nicht viel tun, die Natur bietet ihnen alles, was sie brauchen. Mit dem geringsten Aufwand können sie ihre Felder bestellen. Sie haben automatische Erntehelfer und Zuchtfarmen für Tiere, die zum Verzehr gedacht sind. Ein Geldsystem kennen sie nicht, jeder bekommt, was er gerade braucht.« »Und keine Kriege.« Mont rieb sich den Handrücken. »Unvorstellbar. Es scheint, wir haben ein kleines Paradies gefunden.« Mont wies den Schiffscomputer an, Unterhaltungen und Sendungen der Wesen aufzunehmen und abzuspielen. Bald darauf war die Zentrale erfüllt von schnatterndem, quakendem Stirnmengewirr und trillernden Gesängen. In einem weiteren Holo, das sich neben dem Panoramabild aufbaute, wurden Sequenzen von Radiosendungen eingespielt. Holografische Bildübertragungen gab es nur bei Funkgesprächen, die über kleine, auf den Handrücken geklebte Sender geführt wurden. Der Schiffscomputer brauchte nicht lange, bis er das Idiom übersetzen konnte, und die Foronen lauschten eine Weile dem vielstimmigen Geschnatter. Sie erfuhren, dass das Volk sich selbst Luuren nannte, nach ihrer Welt Luur. Sie waren die vorherrschende Spezies ihres Planeten, hochintelligent und friedlich. Ihre technischen Errungen schaften benutzten sie voller Begeisterung und waren ständig dabei, Neues zu erfinden. Der Wunsch, in den Weltraum zu reisen und nach anderem Leben zu suchen, war nicht besonders ausgeprägt. Die Luuren fühlten sich auf ihrem Planeten sehr wohl, was kein Wunder war, denn sie litten nicht die geringste Not und konnten das Leben in vollen Zügen genießen, was sie auch taten. »Ein Volk der schönen Künste«, stellte Faroo fest. »Ihr gestalterischer Einfallsreichtum ist beachtlich, und sie wenden eine Menge Energie auf für ihre Kreativität. Selbst ihre Ruhelager werden noch zu Kunstwerken arrangiert.« Natürlich machten die Scans nicht vor den Gebäuden Halt, sondern durchleuchteten alles bis ins kleinste Detail und lieferten Ausschnitte aus den Behausungen der Luuren.
»Mir fällt auf, dass sie für diese Lager Sand und Kies verwenden«, sagte Mont. »Das passt zu den Städten, die sie ausschließlich in Trockenzonen errichtet haben. Obwohl sie in einer sehr feuchten Welt leben, scheinen sie das Wasser nicht besonders zu schätzen.« »Sie scheinen das eher als Lebensphilosophie zu sehen, auf diese Weise die Natur nicht zu sehr zu beeinträchtigen«, wandte Faroo ein. »Aber ihre Nahrung enthält auch Fleisch. Wie passt das zusammen?« »Das müssen wir sie fragen, Mont. Ich verstehe diese Art der Nahrungsaufnahme ohnehin nicht und finde sie.. . abstoßend.« Dem konnte Mont nur zustimmen. »Deswegen werden sie unsere Entwicklungsstufe auch nie erreichen.« Der Hirte sinnierte einige Momente über die gesammelten Daten nach, dann ordnete er an: »Ich denke, wir haben uns einen ausreichenden Überblick verschafft und sollten nun unbemerkt ein paar Exemplare zur Untersuchung holen. Finden wir heraus, mit wem wir es zu tun haben.«
Die ersten Opfer »Was tust du?«, flüsterte Karri. Es war natürlich völliger Unsinn, die Stimme zu senken, aber das geschah einfach unwillkürlich. »Ich versuche, den Rat zu erreichen«, antwortete Juuna. Sie bearbeitete das auf den Handrücken geklebte Funkgerät, aber nichts geschah. Es baute sich kein winziges Holo auf, die Tasten sprachen nicht einmal auf die Aktivierung an. »Klar«, sagte Karri. »Sie stören natürlich den Funk, damit sich die Nachricht nicht wie ein Lauffeuer ausbreitet.« Gleichzeitig hämmerte er hektisch auf das Steuerpult des Bootes ein. »Und hier ist es dasselbe - es tut sich nichts.« »Was bezwecken sie nur mit diesem Licht?«, rief Juuna und rannte vom einen Ende des Bootes zum anderen. Es gab keine Möglichkeit, dem Licht zu entkommen. Es sei denn... »Karri, komm ins Wasser, rasch!« Abwehrend hielt er die Hände hoch. »Auf keinen Fall!«, protestierte er. »Das... das kann ich nicht!« »Narr!« Juuna machte einen Satz auf ihren Gefährten zu, versetzte ihm einen kräftigen Stoß und ging mit ihm zusammen über Bord. Karris weit aufgerissener Mund schloss sich augenblicklich, die gelben Augen traten ihm aus den Höhlen, und er schlug wild um sich. Dabei trat er versehentlich Juuna, die ihm daraufhin eine kräftige Kopfnuss verpasste, ihn am Arm packte und mit sich tiefer hinab in den See zog. Karri, der keine andere Wahl hatte, passte sich schließlich ihren Schwimmbewegungen an und stellte fest, dass es gar nicht so schwer war. Mit schlängelnden Bewegungen und kräftigen Beinstößen kam er schnell voran, fast so gut wie an Land. Weshalb hatte er sich immer vor dem Wasser gefürchtet? Die Schwimmkunst war den Luuren offensichtlich angeboren, auch den fest verwurzelten Städtern, die sich kaum in die Natur wagten. Schließlich aber musste Karri auftauchen, er hatte keine Zeit gehabt, Atem zu schöpfen, bevor Juuna ihn ins Wasser beförderte. Er machte seiner Gefährtin ein Zeichen und schwamm vorsichtig aufwärts. Gierig schnappte er nach Luft. »Streck den Kopf nicht zu weit aus dem Wasser!«, zischte Juuna, die um ihn herum schwamm. »Aber sie können uns doch orten, oder?« »Ich glaube nicht, Karri. Das Licht ist weitergewandert, siehst du? Möglicherweise haben sie Schwierigkeiten, uns zwischen all den anderen Lebensformen wieder zu finden.« »Zwischen all den. . . Wovon sprichst du?« Karri starrte ins Wasser. Und dann sah er, was Juuna meinte. Von unten, von allen Seiten näherten sie sich. Sie waren lang und schmal, mit breiten, flachen Schädeln und einem zähne starrenden Maul. Ihre Körper waren mit großen, teilweise gezackten
Schuppen bedeckt, die vielfarbig blinkten und aufleuchteten, sobald Sonnenlicht auftraf. Irritierend
und daher eine gute Tarnung. Sie waren kaum auszumachen, erschienen nicht mehr als teils dunkle,
teils schillernde Schemen im Wasser. Und sie waren sehr schnell.
»Was ist das?«, keuchte Karri entsetzt.
»Gungis«, gab Juuna Auskunft. »Normalerweise sind sie harmlos und scheu, aber im Augenblick ist
Paarungszeit, und da sind sie sehr aggressiv und vor allem hungrig.«
»Und was können wir tun?«
»Wir können versuchen, das Boot zu erreichen.«
Juuna schoss wie ein Pfeil davon, und Karri paddelte aufgeregt hinterher, die Angst verlieh ihm
enorme Kräfte.
Die Gungis folgten ihnen, doch zum Glück für die beiden Luuren kamen sie sich dabei gegenseitig
in die Quere. Ein Gungi hatte Karri schon fast erreicht, er spürte ein flüchtiges Streichen an seinem
strampelnden Fuß, doch da schoss ein anderes Tier dazwischen, schnappte zu und verbiss sich im
Rivalen. Blut floss, das die anderen Gungis nur noch mehr zur Raserei brachte, und bald kochte das
Wasser hinter den beiden Fliehenden in einem wilden Kampf.
»Wir können es schaffen!«, rief Juuna, die schon fast am Boot war. »Lass dich nicht ablenken,
Karri!«
Karri schwamm um sein Leben, aber allmählich verließen ihn die Kräfte, und ihm fiel wieder ein,
warum er normalerweise das Wasser mied - weil es zu viele Gefahren barg und das Schwimmen
eine Menge Energie verbrauchte!
Zwei Gungis schnitten ihm jetzt zu seinem Schrecken den Weg ab, eines hob den Kopf aus dem
Wasser und zischte den Luuren aus weit geöffnetem Rachen an.
»Juuna!«, schrie Karri verzweifelt.
Sie kletterte gerade über den Bootsrand, und er sah das entsetzte Flackern in ihren gelb leuchtenden
Augen.
»Pass auf!« Sie schlug die Hände vors Gesicht, als das riesige Maul auf Karri herab fuhr...
3.
Zum ersten Mal an Bord
John Cloud ahnte bereits, worauf die Geschichte hinauslief. Schließlich hatte er die Luuren als Gestalter im Aqua-Kubus als Erstes kennen gelernt. Sie hatten zum Glück rechtzeitig erkannt, dass er und seine Gefährten noch lebten, bevor sie die fast ertrunkenen Menschen in Protomaterie umwandelten. Dennoch konnte Cloud sich einer gewissen Faszination nicht erwehren, wozu die Foronen fähig waren, bei einem schier unglaublichen Ideenreichtum. Taurt erwies sich als unterhaltsamer Erzähler. Vor allem schien er über seine Herren, die Hohen Sieben, sehr genau Bescheid zu wissen und ihre Gedanken bis ins Intimste zu kennen. Cloud war es nicht entgangen, dass Sobek auf den Namen Mont empfindlich reagierte. Dabei konnte Cloud nicht genau sagen, wie das zu erkennen war - eine veränderte Haltung, ein hellerer Farbton, eine eigenartige Bewegung in dem normalerweise starren Gesicht. John Cloud war ein guter Beobachter und empfänglich für die Stimmungen anderer. Er hatte genug Zeit mit Sobek verbracht, um ihn immer besser zu verstehen. Und ein Verdacht keimte in ihm auf: Als Einziger der Foronen hatte Mont die Stasis nicht überlebt. Ein seltsamer Zufall, wenn man es recht bedachte.
Karri schlug verdutzt die Augen auf. Über sich sah er eine graue, kaum strukturierte Decke.
Vermutlich aus Metall, jedenfalls kein vertrautes Material.
Vorsichtig bewegte der Luure seine Finger, wackelte mit den Zehen.
»Ich bin gar nicht tot?«, flüsterte er.
»Nein«, antwortete eine vertraute Stimme. »Aber es wäre vielleicht besser.«
Karri richtete sich auf, drehte sich zur Seite und erblickte Juuna auf der anderen Seite des kleinen,
eckigen Raumes. Mehr als zwei Pritschen hatten darin keinen Platz. Es gab kein Fenster, keinen
frischen Windhauch, keinen Ausblick auf das Land. Alles war grau.
Juuna hockte zusammengekauert, den Schwanz um sich geschlungen, auf der Pritsche und
beobachtete Karri, der sich jetzt langsam aufsetzte.
»Bist du in Ordnung?«, fragte er.
»Sicher«, sagte sie mit einem seltsam gleichgültigen Ton.
Karri tastete sich ab. Ihm fehlte nichts, seine Haut war nicht einmal angeritzt. »Aber... was ist
geschehen? Wo sind wir?«
»Kannst du dir das nicht denken?« Juuna wies mit dem Daumen nach oben. »Die haben uns. In dem
Moment, als ich dachte, es sei alles aus, wurden wir erfasst. Und nach oben gezogen. Du warst zu
dem Zeitpunkt ohnmächtig, und ich tat so, als wäre ich es auch. Sie nahmen uns an Bord und
brachten uns hierher.«
»Konntest du sie sehen?«
»Nein, ich wagte es nicht, die Lider auch nur ganz leicht zu heben. Aber ich hörte sie. Sie... haben
schreckliche Stimmen, Karri. So... tot... ich kann es dir nicht erklären. Und wenn ich das hier so
sehe... haben wir nichts Gutes zu erwarten...«
Karri wechselte von seiner Liege zu Juunas und legte den Arm um sie. »Du darfst nicht gleich alles
so düster sehen, Juuna. Wahrscheinlich schlägt diese Umgebung dir aufs Gemüt. Das muss doch
nicht gleich bedeuten, dass diese Wesen keinen Sinn für das Schöne haben.«
»Warum lassen sie uns warten, Karri?«
»Wie lange sind wir denn schon hier?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie leise. »Sie haben uns doch alles weggenommen.«
Erst jetzt bemerkte Karri, dass er keine Kleidung mehr trug. Seine Haut war matt graugrün, und er
vermutete, dass seine Rückenzeichnung genauso wie Juunas nahezu verblasst war. »Warum tun sie
das? Das ist... würdelos.« Allmählich verstand er, was Juuna meinte.
Juuna drehte den Kopf. »Ich vermute, dass das hier so eine Art Untersuchungsraum ist. Sie
beobachten uns wahrscheinlich und führen erste Messungen durch.«
»Was können wir tun?«, fragte Karri verzagt.
»Nichts«, sagte Juuna mutlos.
Und dabei hatte dieser Tag so schön angefangen...
Schließlich wurden sie zu dem Anführer der fremden Wesen gebracht. Karri erblickte ein riesenhaftes, mächtiges Geschöpf, offensichtlich kein Luure. Es ähnelte keinem Wesen, das er jemals gesehen hatte. Der Außerirdische ging sehr aufrecht, er brauchte keinen Stützschwanz, seine Beine waren lang und gerade, die Arme endeten in klauenartigen Händen. Das Erschreckende an ihm war aber, dass er kein Gesicht besaß. Keine Augen, keinen Mund. Und dennoch, das spürte Karri genau, sah dieses Fremdwesen ihn ganz genau, geradezu in ihn hinein, und erforschte ihn. Die Angst, von den Gungis gefressen zu werden, war eine Sache gewesen und in dem Moment bestimmt das Schlimmste, was Karri je empfunden hatte. Aber das hier war etwas ganz anderes. Karri verspürte eine tiefe, existenzielle Furcht, ein abgrundtiefes Entsetzen. Wenn er je darüber nachgedacht hatte, ob die Luuren eines Tages Außerirdischen begegnen würden, so lag ihm dieser Wunsch nun absolut fern, und er wünschte sich, dass der Albtraum ein Ende nähme. Doch das war erst der Anfang... »Willkommen«, sprach der Außerirdische mit tiefer, erschreckend ausdrucksloser Stimme - »tot« war genau die richtige Bezeichnung dafür, die Juuna gewählt hatte. Er beherrschte die Sprache der Luuren perfekt. »Mein Name ist Mont. Wir Foronen kommen aus den Tiefen des Weltraums, und
wir haben viel mit euch vor.« Karri und Juuna schwiegen. Sie ließen sich von den freundlichen Worten des Foronen nicht täuschen, sie wussten nun ganz genau, was ihnen blühte: Sie beide waren die Versuchsobjekte, der Beginn einer langen Testreihe, um festzustellen, was genau die Foronen mit ihnen anstellen konnten. Mont redete noch eine ganze Weile, und der Druck, den Karri seit Betreten des Raumes im Kopf verspürt hatte, nahm stetig zu. »Warum wir?«, fragte Juuna leise zitternd, als der Hirte endete. »Ihr besitzt eine ganz besondere Gabe, die gefördert werden muss, damit sie einer großen Sache dienen kann«, antwortete der Riese. »Ich glaube, Juuna meinte, warum wir beide«, warf Karri zaghaft ein. »Es ist... wie eine Entführung.« »Exakt so ist es auch«, stimmte Mont gelassen zu. »Natürlich hätten wir euer ganzes Volk in Aufregung versetzen und Freiwillige suchen können. Aber gesetzt den Fall, eure Fähigkeiten reichen nicht aus, hätten wir ganz umsonst Unruhe in euer harmonisches Gefüge gebracht. Ich habe es schon erlebt, dass eine solche Begegnung zum Untergang einer Zivilisation führte. Wir wollen deshalb sehr vorsichtig vorgehen.« Karri tastete nach Juunas Hand. »Aber wir wünschen keine Zusammenarbeit«, sagte er tapfer. »Außerdem werden wir sicher schon vermisst. Es ist bei uns nicht üblich, dass Personen einfach verschwinden. Man wird so oder so auf euch aufmerksam werden, also könnt ihr euch genauso gut öffentlich zeigen. Juuna ist Mitglied des Regierungsrates, sie kann...« »Wir sind nicht auf diplomatischer Mission unterwegs«, unterbrach Mont. »Ihr habt gar keine andere Wahl. Wir holen uns, was wir benötigen, denn wir haben keine Zeit für lange Plaudereien. Wir arbeiten effizient.« Er stand auf. »Aber ihr braucht keine Sorge zu haben. Euch wird nichts geschehen. Wenn wir genug erfahren haben, könnt ihr wieder nach Hause.« Karri und Juuna wurden in ihren winzigen Raum zurückgebracht...
»Ich glaube dem kein Wort«, stieß Karri hervor.
»Denkst du, ich?« Juuna spuckte auf den Boden. »Sie haben uns die Kleidung nicht zurückgegeben,
sie fragen uns nicht, was wir essen oder trinken, unsere Bedürfnisse interessieren sie nicht im
Geringsten. Ich weiß gar nicht, warum Mont überhaupt mit uns gesprochen hat.«
»Um uns zu zeigen, wie mächtig er ist.« Karri griff nach Juunas Hand und drückte sie an seine
Brust. »Juuna, wir brauchen uns nichts vorzumachen. Wir werden nie mehr von hier wegkommen,
und ich glaube, dass Schreckliches mit uns geschehen wird. Darauf sollten wir uns vorbereiten.«
»Wie denn?«, flüsterte sie. »Wir haben so etwas doch noch nie erlebt. Ich meine, wir haben darüber
nachgedacht, ob es dort draußen noch Leben gibt, aber das hier... das konnten wir uns doch niemals
ausmalen! Wir befinden uns in einem Raumschiff, das im Orbit unserer Welt fliegt, besetzt mit
grausigen Wesen, die keine Achtung vor dem Leben anderer haben. Wie soll ich das verkraften?«
»Darum geht es ja, Juuna«, wisperte Karri. »Wir haben gar keine andere Wahl, wir müssen das jetzt
durchstehen. Denk... denk einfach an etwas Schönes. An all das, was für uns bis gestern noch ganz
selbstverständlich war. Und daran, dass ich dich liebe, an unsere Kinder, die wir gemeinsam haben
werden. Stell dir vor, es wäre so. Lass dich nicht ablenken davon.«
Juuna betrachtete ihren Gefährten aufmerksam. »So habe ich dich noch nie erlebt, Karri, dafür
bewundere ich dich. Aber ich habe trotzdem eine Frage: Denkst du, es wäre besser mitzumachen
oder alles zu verweigern?«
»Wieso?«
»Ich denke an unser Volk. Ich glaube, wir entscheiden darüber, ob es leben oder sterben wird. Ich
traue es Mont zu, das er unseren Planeten zerstört, wenn wir seinen Ansprüchen nicht genügen,
einfach so... als Lektion. Oder, um nicht zu verlieren.«
Karri spürte, wie seine Lippen feucht wurden, in seinen Mundwinkeln sammelte sich Speichel.
Juuna hatte Recht. Sie mussten diese Entscheidung treffen, hier und jetzt. Aber woher sollten sie wissen, was richtig war? »Wenn wir uns verweigern, töten sie uns gleich und holen andere«, überlegte Karri laut. »Das halte ich für eher wahrscheinlich. Die Frage ist, wie sehr hängen wir am Leben? Wie sehr lassen wir uns demütigen, bis wir aufgeben und den Tod herbeisehnen?« »Vielleicht aber ergibt sich auch irgendwie die Gelegenheit, etwas zu unternehmen«, zischelte Juuna. »Eine Warnung abzusetzen, beispielsweise.« »Und was soll das bringen? Sie sind doch viel stärker als wir. Sollen wir sie mit Sand und Blumen bewerfen?« »Dann werden wir, du und ich, unsere Würde behalten und die Zusammenarbeit verweigern. Wie es aussieht, gibt es keinen Ausweg, unser Volk wird so oder so vernichtet.« So entschieden sie. Mont machte sich nicht besonders viel aus derartigen Entscheidungen. Karri und Juuna wurden gar nicht erst gefragt, ob sie mitarbeiten wollten oder nicht. Mont machte ihnen von sich aus klar, dass sie keine Wahl hatten - er sah diese Untersuchungen als überlebensnotwendig an. Immerhin sprach er kein geheucheltes Bedauern aus, sondern machte lediglich deutlich, dass er bereit war, für das Überleben seines Volkes das gesamte Universum zu opfern, wenn es notwendig sein sollte. Und so mussten Karri und Juuna eine Menge aushalten. Körper und Geist wurden auf jede nur erdenkliche Weise untersucht und erforscht, und nahezu keine Methode war angenehm. Karri hätte nie geahnt, wie leidensfähig er war, wie sehr er an seinem kümmerlichen Leben hing, obwohl er wusste, dass er keine Zukunft mehr hatte. Nach einer Weile lernte er es, die Schmerzen abzuschalten, ihnen zu entfliehen, indem er sich in die Scheinwelt flüchtete, die er Juuna vorgeschlagen hatte. Er stellte sich vor, glücklich mit ihr zu sein, und Gebäude zu bauen, wie sie die Welt noch nie gesehen hatte. Und immerzu schien die Sonne, es war warm und heiter, und alles gut.
Eines Tages ließ Mont Karri zu sich bringen.
»Wo ist Juuna?«, fragte der Luure, kaum dass er gegenüber dem Hirten Platz genommen hatte.
Seitdem sie zur ersten Untersuchung getrennt abgeholt worden waren, hatten sich die beiden Luuren
nicht mehr gesehen.
»Sie ist wohlauf, ebenso wie du«, antwortete Mont.
Karri war versucht, zu lachen. Von ihm selbst war nicht mehr viel übrig. Er war nur noch ein
Schatten seiner selbst, und von Würde war gar nicht mehr zu reden. Keine Stelle seines Körpers, die
nicht abgetastet und durchbohrt worden wäre. Die demütigenden Prozeduren waren nicht mehr
aufzuzählen. Karri war zerrüttet, an Körper und Geist.
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte er.
Mont aktivierte wortlos ein Holo und zeigte einen kargen Raum, in dem Juuna kauerte. Karri
erkannte sie kaum wieder, und vor Erschütterung brachte er einige Momente kein Wort heraus.
Dann bat er: »Kann ich sie sprechen?«
»Nur zu.«
Karri zögerte einen Moment, versuchte sich möglichst gut zu präsentieren, dann sagte er leise:
»Juuna...«
Sie sah auf, als sie seine Stimme erkannte, und blickte via Holo direkt in seine Augen. »Du siehst
furchtbar aus«, stellte sie fest.
»Wir sind immer noch ein schönes Paar«, erwiderte Karri. »Erinnerst du dich an das, was ich dir
gesagt habe?«
»Natürlich, Karri, und ich denke daran, immerzu...«
»Das genügt.« Mont trennte die Verbindung.
Karri wandte ihm sein müdes, ausgemergeltes Gesicht zu. »Was nun?«
Der Forone beugte sich leicht vor. »Es ist erstaunlich, wie widerstandsfähig ihr seid. Jeder Einzelne von euch. Für ein Volk, das niemals schlechte Erfahrungen gemacht hat, seid ihr erstaunlich anpassungsfähig.« Karri entnahm seinen Worten, dass inzwischen weitaus mehr Luuren als nur er und seine Gefährtin entführt worden waren. Aber offenbar kamen die Foronen nicht recht weiter. »Vielleicht hättet ihr euch all das ersparen können, wenn ihr einfach gesagt hättet, was ihr von uns erwartet«, meinte er. »Nein, die Untersuchungen waren unerlässlich. Ihr seid eine ganz einzigartige Spezies mit einem gewaltigen Psi-Potenzial. Ihr besitzt eine Gabe, die bisher unbekannt ist, die wir nicht definieren können.« Der Hirte aktivierte ein anderes Holo, das Ausschnitte der Städte Luurs zeigte. »Diese Ge bäude sind nicht auf traditionellem Wege errichtet worden. Wir haben das Material analysiert, nichts davon ist auf natürlichem Wege entstanden. Wie habt ihr das gemacht?« »Ach, das ist es also. Ihr schätzt unsere Fähigkeiten als Baumeister?« Karri war erneut versucht, zu lachen. »Ihr baut mächtige Raumschiffe wie dieses, überwindet den Weltraum, und wollt, dass wir etwas für euch bauen?« »Ja, weil es etwas ganz Besonderes ist, was ihr da baut. Und damit du verstehst, weswegen wir gerade diese Kunstfertigkeit benötigen, werde ich dir etwas zeigen.« Und Mont ließ den Wasserkubus vor Karris ungläubigen Augen erscheinen, erzählte seine Geschichte und die derzeitigen Bemühungen, das Hilfsvolk, das dieses Gebilde konstruiert hatte, in den Würfel zu integrieren. »Wir müssen Ressourcen aus uns selbst erschaffen. Und wir brauchen eine ganz besondere Technik. Wir glauben, dass ihr sie herstellen könnt.« Seltsamerweise fühlte Karri sich ein wenig getröstet, als er erfuhr, dass es nicht nur den Luuren schlecht ergangen war, dass auch ein anderes Volk von den Foronen in Dienst genommen worden war. Das war fast ein geteiltes Leid... »Ihr könnt es nicht«, flüsterte Karri. »Ich verstehe. Wir sind die einzigen mit dieser Gabe, ihr könnt sie nicht kopieren. Das heißt also, ihr braucht uns.« Ein Licht ging ihm auf, und da straffte sich seine Haltung. »Das bedeutet, dass ihr sofort mit diesen grausamen Versuchen aufhört! Und ihr werdet Juuna freilassen. Überhaupt alle, die noch hier sind. Dafür werde ich bleiben und euch zeigen, wie wir es machen.« In Monts Gesicht regte sich nichts, wie immer. »Du bist nicht in der Lage, Bedingungen zu stellen.« Nun lachte Karri doch noch. »Und ob, Mont. Denn du bist am Ende deiner Weisheit, sonst hättest du mich nicht zu dir kommen lassen. Du hast herausgefunden, dass ich der begnadetste Baumeister meines Volkes bin. Und du hast verstanden, dass ich dir freiwillig helfen muss, weil es anders nicht funktioniert. Ihr könnt unseren Geist nicht manipulieren oder konditionieren, dass wir unter eurem Bann alles für euch tun. Daher sage ich dir jetzt, Mont: Entweder du gehst auf meine Bedingungen ein, oder aus unserem Geschäft wird nichts.« »Du wagst kühne Worte, dabei könnte ich dein ganzes Volk vernichten.« »Nur zu! Ich habe ohnehin nichts mehr zu verlieren. Ich bin doch schon tot, nicht wahr? Und wenn du jeden Luuren umbringst, war alles umsonst. Also schlage ich vor, wir gehen einen Kompromiss ein und arbeiten ab jetzt zusammen.« Mont zögerte. Dann gab er nach: »Einverstanden.« »Gut«, sagte Karri. »Als Erstes lässt du mir meine Kleider bringen und etwas Anständiges zu essen, unten von meiner Welt.« 4. Das Ultimatum John Cloud fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Mehr als einmal war er versucht, Sobek anzugreifen,
ihm die Arroganz aus dem Leib zu prügeln. Er dachte sich tausend Strafen aus für die
Grausamkeiten, die die Foronen begangen hatten.
Jedoch musste er sich ehrlich eingestehen, dass Sobek wahrscheinlich nicht einmal verstehen
würde, weshalb er bestraft wurde. Die Foronen hatten keine Ehr- oder Moralbegriffe wie die Menschen. Ihnen bedeutete das Leben anderer einfach nichts, sie sahen es als wertlos an, sobald es nicht mehr für sie von Nutzen war. Abgesehen davon konnte Sobek ihn mit einem Fingerschnippen quer durch die Halle befördern, und Cloud würde sich sämtliche Knochen brechen, ohne Sobek auch nur einen einzigen Kratzer zufügen zu können. Und da waren noch Scobee und die anderen. Er war für sie verantwortlich. Also musste er gute Miene zum bösen Spiel machen. Cloud blieb nichts anderes übrig, als seinen Zorn hinunterzuschlucken und weiterzulauschen.
Mont ließ die Umwelt einen Moment lang auf sich einwirken. Er war froh seinen Panzer zu haben,
der jedem Schutzanzug überlegen war und seinen Körper vor der hohen Luftfeuchtigkeit bewahrte.
Das Atmen fiel den übrigen Foronen schwer. Nur er wurde ausreichend mit Sauerstoff versorgt.
Seine Artgenossen ließen den Helm geschlossen.
»Wie kann man nur auf so einer Welt leben und noch dazu Intelligenz entwickeln?«, fragte er
Faroo, der nach ihm aus der Fähre gestiegen war.
Hinter ihnen krochen die Überlebenden heraus, sich gegenseitig stützend, klapprig und müde. Ein
wenig erschrocken blinzelten sie in das helle Sonnenlicht, so lange hatten sie es entbehrt. Dann
traten sie mit staunenden Gesichtern ins Freie hinaus, konnten es noch gar nicht glauben, wieder in
ihrer Welt zu sein, die tropische, reine Luft zu atmen. Rasch wurden sie munter und entfernten sich
mit zusehends größeren Schritten von der Fähre, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Wird es nicht an der Zeit, Sobek und den übrigen Rat zu benachrichtigen?«, stellte Faroo eine
Gegenfrage. »Immerhin ist es bis jetzt sehr viel versprechend verlaufen, und er wartet sicherlich
bereits ungeduldig auf Nachricht.«
»Das hat Zeit«, wiegelte Mont ab. »Ich bin Sobek gegenüber zu nichts verpflichtet, er ist nicht mein
Vorgesetzter. Ich allein entscheide, wann wir die anderen in Kenntnis setzen, verstanden?«
»Selbstverständlich«, sagte Faroo und nahm augenblicklich eine demütige Haltung ein.
Mont, der schon bereit gewesen war, mentalen Druck auszuüben, entspannte sich wieder. Kein
Mitglied der Hohen Sieben duldete Widerspruch oder gar Zweifel an seinen Entscheidungen. Und
Mont hatte seine Gründe, Sobek nicht zu früh zu informieren.
»Kann ich dich sprechen?«, erklang eine Stimme in Monts Gedanken, und er erkannte erstaunt
einen Luuren. War der Sauroide umgekehrt? Er wagte es, den Mächtigen einfach so anzusprechen?
»Ich bin Juuna«, fuhr das Reptilwesen fort. »Karris Gefährtin. Ich habe gesehen, dass er nicht mit
uns ausgestiegen ist.«
»Nein, er bleibt bei uns«, antwortete Mont, immer noch viel zu erstaunt, um das aufmüpfige Wesen
zu ignorieren.
»Ich verstehe. Ich nehme an, er hat dir etwas angeboten im Tausch gegen unsere Freilassung?«
»Das geht dich nichts an.«
Das abgemagerte, zerbrechlich wirkende Wesen richtete sich auf, und in seinen gelben Augen
entzündete sich eine Flamme. »Ich habe gesagt, dass ich Karris Gefährtin bin, Hoher Herr. Und ich
werde nicht ohne ihn gehen.«
Mont überlegte kurz. »Dann wirst du gar nicht gehen.«
»Das ist genau das, was ich vorhabe. Ich will zurück zu Karri.«
»Du bist für uns nicht mehr von Nutzen. Du kannst wählen: Hier zu sterben, oder in dein Heim
zurückzukehren.«
Juuna nickte heftig mit dem Kopf, eine aggressive Abwehrreaktion. Ein instinktives Verhalten der
Urahnen, das noch in ihren Genen steckte, und das die Foronen hervorgeholt hatten.
»Ich bin sehr wohl von Nutzen, Mont«, zischte sie, »denn ich gehöre dem Regierungsrat an. Ich
kann den Kontakt zu meinem Volk herstellen, auf diplomatischere Weise, als du es vorhast. Denn
so wie ich das sehe, hat Karri etwas herausgefunden, das du brauchst - aber nur von lebenden Luuren erhalten kannst, nicht von den Toten.« Mont drehte den Kopf zu der Luurenfrau. Sie stand Karri in nichts nach und konnte ebenso gut Schlüsse ziehen wie er. Selbst nach dieser Tortur noch. Das imponierte ihm auf eine gewisse Weise und erleichterte ihm vor allem die Arbeit. »Gut, du kannst als Mittlerin auftreten.«
Die Landung der Fähre war natürlich nicht unbemerkt geblieben. Die Radiosendungen, die diesmal nicht gestört wurden, berichteten bereits in alle Teile der Welt, dass Außerirdische auf Luur gelandet waren. Mit einem Schlag lag die ganze Geschäftigkeit nieder, und überall liefen die Luuren zusammen, um über diese Unfassbarkeit zu diskutieren und mehr zu erfahren. Die Fähre war nicht weit von der Hauptstadt Luura am Rand der Ödnis gelandet, und Mont konnte einen ganzen Strom Neugieriger ausmachen, die ihm auf dem Weg nach unten entgegenkamen. Zahlreiche Sehweber, bis an die Grenze des Fassungsvermögens besetzt, flogen über sie hinweg. Die ehemaligen Versuchsobjekte, die schon voraus auf dem Weg nach Hause waren, wurden voller Sorge und Schrecken in Empfang genommen und sofort an die medizinische Station weitergeleitet es gab nur eine Einzige, denn die Luuren waren so gut wie gegen alles resistent und nicht krank heitsanfällig. Das brachte Mont und seinen Begleitern natürlich misstrauische Blicke ein, aber das störte ihn nicht im Geringsten. Er hatte nicht vor, sich als Freund zu präsentieren. Als Juuna erkannt wurde, wurden Rufe laut, die jedoch sofort verstummten, als sie die Hand hob und das Zeichen für Schweigen machte. Mont registrierte dies sehr wohl. Die Luuren waren bereit, sich einer anerkannten Autorität widerspruchslos zu unterwerfen. Wenn man dieses Verhalten förderte, war es später sehr von Nut zen. Er dachte dabei an so etwas wie ein Kastensystem, in dem jeder Luure für die Aufgabe geboren wurde, die er zu bewältigen hatte. Daraus konnte man hervorragend Spezialisten züchten, die sich nur auf die Erfüllung ihrer Pflicht konzentrierten, ohne über den Tellerrand zu blicken. Das bedeutete absolut loyalen Dienst während der Stasis der Foronen. Eine Sicherheit mehr. Juuna wird von gutem Nutzen sein, dachte der Hirte. Bald darauf erreichten sie die Stadt und wurden vom obersten Gestalter empfangen, der sich als Luuras Verwaltungsvorstand namens Pakku vorstellte. »Wir heißen euch willkommen, Sternenreisende«, sagte er förmlich. »Darf ich euch bitten, mir zu folgen. Ihr werdet vom Regierungsrat bereits erwartet.« Der Regierungsrat tagte in einem großen Stadion unter freiem Himmel. Holoschaubilder zeigten in augenfreundlicher Vergrößerung die acht Luuren, die im Rund auf einem Podium in der Mitte des Stadions saßen. Auf den Rängen tummelten sich bereits viele tausend Zuschauer, und ständig wur den es mehr. »Wir haben eine offene Regierung«, erläuterte Juuna. »Einmal im Monat halten wir eine Volksversammlung ab, erstatten Bericht über unsere Arbeit und stellen neue Pläne vor oder diskutieren Anträge. Es ist eigentlich nicht notwendig, das jeden Monat zu machen, aber es ist ein willkommener Anlass für eine große Zusammenkunft, was wir sehr schätzen.« Ein Raunen ging durch das Stadion, als Mont und seine Begleiter das Podium betraten. Auch auf die Entfernung waren sie noch gut erkennbar. Die holografische Vergrößerung flößte den Luuren nicht unbedingt Vertrauen ein. Juuna übernahm die Vorstellung der Außerirdischen, und sie nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Sie berichtete, wie sie zusammen mit Karri entführt, wie sie über Wochen hinweg auf alle mög lichen Weisen getestet wurde, was ihr verändertes Aussehen erklärte. Sie sagte aber auch, dass die Denkweise der Foronen sehr fremd sei und sie sich nichts Schlechtes dabei dachten. »Sie sind stärker als wir«, führte Juuna mit elektronisch verstärkter, weithin hallender Stimme aus.
»Ein Volk des Krieges. Sie sind Eroberer. Sie haben unsere Welt in ihrer Hand, und wir haben
nichts entgegenzusetzen.«
»Dann bedeutet es, wir müssen uns unterwerfen?«, fragte ein Ratsmitglied.
Im Stadion, das inzwischen vollbesetzt war, wurde es mucksmäuschenstill.
»So sieht es aus«, sagte Juuna. »Allerdings«, fuhr sie mit erhobener Stimme fort, als ein Raunen
durch die Reihen ging, »sind die Foronen nicht an unserer Welt interessiert, sondern an uns!«
Mont trat nach vorne.
»So ist es«, setzte er mit kraftvoller, kalter Stimme fort. »Die Luuren besitzen die besondere Gabe,
kraft ihres Geistes Material zu formen und es so stabil zu halten, dass sogar Gebäude damit errichtet
werden können. Ihr seid in der Lage, aus einfachem Lehm Unglaubliches zu vollbringen. Wir haben
vor, diese Gabe zu fördern.«
Der Hirte machte eine bedeutungsvolle Pause. Man hätte in die Stille hinein ein Sandkorn über eine
Treppe rollen hören können.
»Ja, ihr habt richtig gehört«, sprach Mont schließlich weiter. »Ihr seid zu mehr fähig als zur
Konstruktion primitiver Bauwerke. Ihr verschwendet euer Talent mit nutzloser Kunst. Diese
einzigartige Gabe darf nicht einfach hier vor sich hin vegetieren, bis sie eines Tages wegen
Unterforderung wieder verkümmert. Wir werden euch fördern, euch dabei helfen, dieses Talent
auszubauen. Wir werden euch mit in den Weltraum nehmen.«
Juuna hob die Hände, als viele Stimmen durcheinander schrien.
»Nicht das ganze Volk!«, rief sie.
»Nein, wir werden nur eure Fähigsten, Talentiertesten mitnehmen«, bestätigte Mont. »Eure Elite,
die Besten der Besten. Sie werden das All durchreisen und ungezählte Wunder erleben.«
Die Verwirrung ergriff nun auch die Regierungsmitglieder. Ihre breiten Münder wurden in den
Mundwinkeln feucht, ihre Augen quollen aus den Höhlen.
»Und wenn wir das Angebot ablehnen?«, fragte einer von ihnen, ein älterer Mann namens Gatay.
»Du missverstehst mich«, korrigierte Mont. »Ich habe kein Angebot gemacht. Das ist die
Bedingung.«
Nach und nach versiegte der Tumult zu entsetztem Schweigen. »Bedingung...?«, echote Gatay.
»Allerdings. Andernfalls werden
wir euch und eure Welt vernichten!«
Dieser Tag, der Bedeutendste seit Bestehen des Volkes der Luuren, wurde zugleich auch ihr schwärzester. Sie erhielten Besuch aus dem Weltraum, aus einer fernen Galaxis. Aber anstatt kulturellen Austausch zu üben, sich vorsichtig kennen zu lernen, vielleicht sogar Freundschaft zu schließen, traten die Außerirdischen als Invasoren auf und diktierten bereits in den ersten Augenblicken der Begegnung ihre Bedingungen. Ohne Kompromisse. Die Luuren waren nicht dumm. Sie begriffen, dass die Foronen nicht zu Verhandlungen bereit waren und ihre Bedingungen notfalls mit Gewalt durchsetzen würden. Dass sie über ausgeklügelte, tödliche Waffen verfügten, daran zweifelte niemand. Es reichte schon Monts selbstbewusste Arroganz, die Aura von Aggressivität, die er verströmte. Er log bestimmt nicht. Die Luuren besaßen überhaupt keine Waffen. Sie waren nicht in der Lage, sich zu verteidigen, weder körperlich noch geistig. Sie waren friedliche Wesen, denen aggressives Verhalten und Machtgier fern war. So wurden sie im Verlauf eines einzigen Herzschlages erobert. Die Foronen hatten ihre Macht dadurch demonstriert, dass sie in der Lage waren, durch das All zu reisen - und aus Juuna und anderen Leidensgenossen Schatten ihrer Selbst zu machen. Juuna wandte sich dem Foronen zu. Mit leicht bebender Stimme fragte sie: »Und welche Garantien bekommen wir, dass ihr euer Wort haltet und in Frieden wieder abzieht, wenn die Besten von uns
mit euch gegangen sind?« »Du meinst einen Vertrag?« Mont stieß ein schnarrendes Geräusch aus. »Also gut, schließen wir einen Vertrag. Doch es kommt auf dasselbe heraus: Vertraut oder nicht. Das ist eure Sache. Es ist so, wie ich sagte: Wir sind nur an eurer Elite interessiert. Der Rest kümmert uns nicht.« »Das können wir nicht so einfach entscheiden«, erwiderte Juuna. »Wir brauchen Bedenkzeit. Es ist bei uns Sitte, das ganze Volk anzuhören, das bedeutet Verhandlungen über ganz Luur hinweg.« »Ich habe schon gesagt, dass ich nicht verhandle.« »Und wir können niemanden zwingen, sich zu opfern. Es muss freiwillig geschehen. Dieses Recht wirst du uns zugestehen, Mont, denn vielleicht wählen wir den Tod, und du hast überhaupt nichts.« Mont schwieg einige Momente. »Also gut«, gab er dann nach. »Ich gebe euch eine Frist von einem Monat eurer Zeitrechnung. Dann werde ich zurückkehren und eure gesamte Elite von ganz Luur hier im Stadion abholen. Und damit ihr versteht, wie ernst es mir ist: Sollte sich auch nur einer weigern, werde ich ein Exempel sta tuieren. Und das so lange, bis er sich freiwillig ergibt.« »Das haben wir verstanden«, sagte Juuna. »Dann dürfen wir dich bitten, uns nun zu verlassen, denn die Frist ist kurz genug.«
Mont kehrte hochzufrieden auf die W'MAY zurück.
»Sie werden klein beigeben«, sagte er zu Faroo.
»Was tun wir so lange?«
»Ich werde mit Sobek sprechen und anschließend einige Schiffe mitbringen, die die Luuren
aufnehmen sollen. Ihre Zahl wird nicht so gering sein.«
»Glaubst du, sie werden es tun?«
»Da bin ich mir ganz sicher. Letztendlich hängen sie am Leben. Sie werden auf alles eingehen, was
ich verlange, und ein Stück von sich selbst aufgeben. Damit sind sie schon gut vorbereitet auf die
genetischen Veränderungen, die wir vornehmen müssen, um sie dem Leben in Tovah'Zara
anzupassen.«
5.
Verzweifelte Aktionen
John Cloud konnte sich vorstellen, was für ein Sturm auf Luur losging, nachdem Mont und seine Begleiter in ihr Schiff zurückgekehrt waren. Er fühlte mit den Luuren, und wenn es überhaupt noch möglich war, empfand er immer noch mehr Zorn auf die Rücksichtslosigkeit der Foronen. Gleichzeitig musste er Parallelen zu seinem eigenen Volk ziehen. Die Erinjij hatten sich gewandelt in den vergangenen Jahrhunderten und standen den Foronen an Skrupellosigkeit in nichts nach. Wenn Cloud allein daran dachte, was das Mädchen Aylea ihm erzählt hatte, wie beispielsweise die Bevölkerung eines ganzen Planeten als Sklaven für ein Menschen-Spiel gehalten wurde, konnte ihm übel werden. Erinjij und Foronen passten eigentlich bestens zusammen, dachte er. Nur, wie passe ich in Sobeks Pläne hinein? Und meine Freunde? Was erwartet er von mir? Er dürfte mich inzwischen gut genug kennen, dass ich nichts von dem, was die Foronen in der Vergangenheit taten, gutheißen kann. Er sollte wissen, dass diese Berichte unsere Beziehung nicht gerade positiv beeinflussen. Wenn er nur wüsste, was gerade in Sobek vorging! Diese völlige Ausdruckslosigkeit, das Fehlen der Augen und des Mundes, irritierte Cloud mehr denn je. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich weiter auf die Geschichte zu konzentrieren und abzuwarten...
Ganz Luur war in Aufruhr. Zum ersten Mal in der Geschichte konferierte der Regierungsrat Tag und Nacht, und seine Mitglieder zerbrachen sich die Köpfe über das, was sie jetzt tun sollten. Sie hatten sich in einem Gebäude völlig abgeschottet, um nicht abgelenkt zu werden. Von außen konnten keine Lösungen kommen, das Volk war verwirrt und verzweifelt. Sie mussten unter sich herausfinden, welche die beste Entscheidung war. »Einen Besten von uns haben sie schon«, sagte Juuna. »Karri. Mont ist nicht bereit, ihn freizulassen. Deshalb ist es für mich keine Frage, wie ich mich entscheide, denn ich werde meinen Gefährten nicht verlassen.« »Aber wenn wir uns alle opfern, hat das Volk keine Regierung mehr«, meinte Gatay, der Älteste im Rat. »Na und?« Pakku trommelte mit zwei Fingern auf die Tischplatte. »Das Volk kann eine neue Regierung wählen. So wichtig sind wir nun auch nicht, unsere Arbeit kann jeder andere ebenso gut machen.« Gatay musste dem gezwungenermaßen mit einem Quaklaut zustimmen. »Dann bist du für eine Auslieferung?«, fragte Juuna. »Aber natürlich, wenn es unser Volk rettet«, antwortete Pakku ohne zu zögern. »Nach dem, was ich deinen Berichten entnehme, können die Foronen uns nicht allzu viel antun, wenn wir gehorchen. Sie sind auf unsere Mitarbeit angewiesen.« »Das glaubst du doch selbst nicht«, spottete Hagga, ein weibliches Ratsmitglied. »Sie werden uns so lange bearbeiten, bis wir mürbe sind und bereit, alles zu tun, nur damit sie aufhören. Die Gesichtslosen sind zu allem fähig, und sie nehmen keine Rücksicht. Ihnen ist es gleichgültig, auf welche Weise sie uns zur Mitarbeit bringen - Hauptsache, sie bekommen das, was sie wollen.« »Das mag sein«, erwiderte Pakku ungehalten, »aber wenn ich schon gehen muss, dann klammere ich mich an dieser Lüge fest, um wenigstens ein bisschen Hoffnung zu haben. Sonst kann ich meine Angst nicht überwinden, verstehst du?« Gatays Reptilienschwanz strich hektisch über den Boden. »Ich bin bereit, mich zu opfern, keine Frage. Aber... welche Garantie haben wir, dass sie danach wirklich abziehen?« »Gar keine, das ist ja das Problem«, versetzte Juuna. »Immerhin hat Mont diejenigen am Leben gelassen, die er für wertlos erachtete. Darunter auch mich. Wir haben eine kleine Chance, mehr nicht. Wenn wir nicht gehorchen, werden wir hundertprozentig vernichtet.« »Nur wegen dieser... Virgh«, stieß Hagga hervor. »Weil sie solche Angst vor ihrem übermächtigen Feind haben und feige sind, radieren sie alles aus, was anderen nützen könnte! Diese Foronen sind verabscheuungswürdig.« »Daran besteht kein Zweifel.« Juuna breitete die Hände aus. »Aber wir sollten uns auf unser Problem konzentrieren. Meiner Ansicht nach sollten wir alle Hochbegabten hierher transportieren und versuchen, sie zum Opfergang zu überreden.« »Wissen wir denn, wie viele Mont mitnehmen will?«, warf Gatay ein. »Mont hat keine Zahl genannt«, antwortete Juuna. »Aber da er die Besten der Besten will, und zwar alle, kommen wir in jedem Fall auf mehrere Tausend.« »Ich finde«, sagte Gatay, »dass jeder selbst entscheiden soll, was er tun will. Wir können doch niemanden zwingen, sich zu opfern.« Juuna wedelte heftig mit einem Finger. »So einfach dürfen wir es uns nicht machen, Gatay. Wir sind der Regierungsrat, und wir haben Verantwortung. Wir müssen Überzeugungsarbeit leisten, das ist unsere Pflicht.« Es gefiel niemandem. Aber sie hatten keine andere Wahl...
Die Begabtesten auszuwählen, war nicht weiter schwierig - sie waren ohnehin bekannt. Es blieb keinem verborgen, wenn ein Luure besonders erfolgreich war im Gestalten und im Kunsthandwerk. Vor allem durch regelmäßige planetenweite Wettbewerbe, die stets ein großes Fest und eine enorme
Herausforderung waren, der sich keiner entziehen wollte, waren die Namen archiviert und brauchten nur abgerufen zu werden. Und das tat Juuna. Sie nahm es auf sich, mit jedem einzelnen der Begabten zu sprechen und ihn zu überreden, nach Luura zu kommen und auf die Abreise zu warten. Wie es sich zeigte, war es gar nicht so schwierig. Einige waren sogar schon angereist, denn für die Möglichkeit, in den Weltraum zu gelangen, waren sie bereit, fast alles zu tun. Sie waren begeistert von der Idee, die Wunder des Alls kennen zu lernen. Und da sie bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht hatten, redeten sie sich ein, dass die Foronen in Wirklichkeit gar nicht so schlimm seien. Andere waren bereits zu demselben Schluss gekommen wie der Regierungsrat und brauchten nur den kleinen Anstoß von Juuna, um zuzustimmen.. Allerdings gab es auch welche, die Angst hatten und sich weigerten. Juuna wusste, dass sie sie nicht zwingen konnten. Und sie war sich sicher, dass Mont keinesfalls wissen konnte, wie viele »Besten der Besten« es überhaupt gab und ihm nicht auffallen würde, wenn ein kleiner Prozentsatz fehlte. Juuna war bereit, auch die Zweitbesten anzusprechen, um möglichst viele zusammenzukriegen. Auf diese Weise wurden es viele Tausend, eine Zahl, die Mont wirklich zufrieden stellen sollte. Gatay und die übrigen Ratsmitglieder waren derweil anderweitig tätig. Sie scharten besonders vertrauenswürdige, bereits angereiste Hochbegabte um sich und erläuterten ihnen ihren Plan. Da sie den Foronen nicht über die Spitze ihres Reptilschwanzes hinaus trauten, waren sie übereingekommen, so viele wie möglich von der Bevölkerung zu verstecken. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Foronen den ganzen Planeten in die Luft jagten, war relativ gering. Aber man wusste nicht, ob Mont mit der Auswahl zufrieden war und nicht einfach aus Bösartigkeit einige Luuren erschoss. Egal, wie weit das Zerstörungswerk ging - ein paar würden überleben. Tief versteckt im Inneren des Planeten. Glücklicherweise hatten die Luuren einst zwischen manchen Städten, die nicht zu weit auseinander lagen, unterirdische Tunnel angelegt, bevor sie den Segen der Antigravtechnik entdeckt hatten. Auf diese Weise konnten sie damals die gefährlichen Dschungelwälder umgehen und in kürzester Zeit von einer Stadt zur nächsten reisen. Dieses System wurde nun weiter ausgebaut, natürliche Kavernen und Höhlen mit eingebunden, und die Gestalter schufen in kürzester Zeit eine kleine unterirdische Welt. Primitiv und einfach, aber es würde zum Überleben für Hunderte von Jahren reichen und als Herberge dienen. Gatay und seine beiden besten Schüler vollbrachten eine großartige Leistung, als sie die Wände mit Lehm auskleideten und dessen Struktur so veränderten, dass sie wie ein Schutzschild wirkte. Sie hofften, auf diese Weise den Ortungen der Foronen entgehen zu können. Noch bevor die Höhlen fertig waren, zogen bereits die ersten nach unten, installierten Versorgungsaggregate und gruben weitere Tunnel, die direkt in die Wälder führten, als Fluchtwege und zur Besorgung von Nachschub. Rasch spielte sich alles ein, und Gatay konnte getrost wieder an die Oberfläche zurückkehren; von nun an kamen die künftigen Höhlenbewohner gut allein zurecht. Und keinen Augenblick zu früh, denn die Frist lief bald ab - und noch vor der Zeit entdeckten die Luuren zahlreiche ungewöhnliche Objekte im Weltall, die Kurs auf Luur nahmen.
Juuna fungierte als Sprecherin, als Mont, Faroo und weitere Begleiter mit wuchtigen Schritten ins Stadion kamen und auf dem Podium Aufstellung nahmen. Wieder waren die Tribünen bis auf den letzten Platz besetzt. Darüber hingen die Schiffe der Außerirdischen wie ein drohendes Unwetter, den Himmel und die Sonne verdunkelnd. »Wie habt ihr entschieden?«, erkundigte sich der mächtige Hirte.
»Wir gehorchen«, antwortete Juuna. »Aber nur aus dem Grund, um unser Volk zu retten. Wir
erwarten von dir als Gegenleistung den friedlichen Abzug, und dass unsere Welt nie mehr von den
Foronen behelligt wird. Wir wollen weiter in Ruhe und Frieden leben wie bisher. Am kosmischen
Geschehen wollen wir nicht teilnehmen und uns auch nicht in kriegerische Auseinandersetzungen
verfeindeter Völker hineinziehen lassen. Es ist Unrecht, was du tust, und wir hoffen darauf, durch
unser Opfer ausreichend Respekt zu erlangen, dein Wort zu halten.«
»Nichts anderes war vereinbart«, sagte Mont. »Ich habe schon deutlich gemacht, dass wir kein
weiteres Interesse an euch haben.«
»Dann können wir mit dem Verladen beginnen«, meinte Juuna.
»Wie viele sind es?«, fragte Mont.
»Etwa dreißigtausend.« Juuna hoffte, den Foronen damit beeindrucken zu können.
»Nicht mal genug, dieses Stadion zu füllen«, erwiderte er stattdessen.
»Du hast gesagt, die Besten der Besten, nicht unser ganzes Volk«, versetzte Juuna wütend.
»Nun gut. Alle Freiwilligen sollen sich morgen in diesem Stadion einfinden. Wir werden sie im
Schnellverfahren einem Eignungstest unterziehen und sehen, wen wir mitnehmen.«
»Aber...«
»Was hast du erwartet? Wir brauchen keine Stümper, die ihr für Genies haltet, die aber nur
irgendwelche Kunstwerke schaffen können. Wir haben ganz bestimmte Vorstellungen über die
Talente, die wir benötigen. Außerdem«, fügte Mont mit einer Spur Häme in der Stimme hinzu,
zumindest kam es Juuna so vor, »die Aussortierten können hier bleiben und brauchen kein Opfer zu
bringen. Darüber solltest du dich freuen.«
Aber Juuna freute sich nicht...
Die Foronen bauten seltsame Apparaturen auf, und dann kamen die »Auserwählten« einer nach dem anderen an die Reihe. Die Prozedur dauerte nur wenige Augenblicke, und Juuna konnte nicht erkennen, nach welchem Prinzip die Foronen die Auswahl trafen. Diejenigen, die sie aussonderten, durften nach Hause gehen. Die anderen wurden gruppenweise zu den Fähren geführt. Vom Regierungsrat wurden alle genommen - mit einer Ausnahme. Juuna war bis zum Schluss lediglich als Beobachterin anwesend, und es schien ganz so, als würde Mont ohne sie abreisen. Die letzte Regierende von Luur dachte an ihre Welt, ahnte, was dort draußen außerhalb des Stadions vor sich ging. Millionen beobachteten via Holoübertragung die Abreise ihrer Artgenossen. Die meisten von ihnen hinterließen eine große Familie, Kinder und Anverwandte, die es kaum fassen könnten, was mit ihnen geschah. Die Welt hatte sich für immer verändert. Es war fraglich, ob die Luuren jemals wieder so unbeschwert das Leben genießen könnten, oder ob sie nicht an vielen Tagen Unheil erwartend ängstliche Blicke zum Himmel werfen würden. Sie würden ihren Nachkommen von diesem Wandel erzählen und sie davor warnen, zu unbesorgt zu sein. Es war fraglich, ob diejenigen, die in die Unterwelt geflohen waren, sich je wieder ans Tageslicht zurückwagten. Es war fraglich, ob die Luuren weiterhin so offene, frei zugängliche Gebäude an exponierten Stellen schufen. »Unser Aufenthalt ist beendet«, sagte Mont zu Juuna. »Du kannst deinem Volk sagen, dass der Alltag wieder einkehrt. Es wird kein Wiedersehen geben.« »Mein Volk wird das selbst merken, sobald der Himmel wieder frei ist. Ich komme mit«, erwiderte Juuna. »Ich habe dir bereits gesagt, dass ich keine Verwendung mehr für dich habe.« Mont wirkte
ungehalten. »Du kannst gehen.«
»Nein.«
Mont neigte sich leicht zu Juuna herab. »Ich dulde keinen Widerspruch, Juuna.«
Aber sie verharrte trotzig. »Du nimmst Karri mit, weil er der beste Baumeister ist. Aber auch ich
kann etwas für dich tun.«
»Du bist nur eine Künstlerin.« Der Hirte wandte sich erneut zum Gehen.
»Ich bin Gestalterin, Mont«, rief sie ihm nach. »Hochbegabt auf meinem Gebiet. Ich habe einen
Sinn für das Ästhetische, und ich kann vielen Dingen eine Form geben. Ich habe viele Jahre Studien
im Dschungel betrieben, und ich erkenne inzwischen sogar die Struktur organischer Wesen auf
mentalem Wege. Ich verstehe etwas von Biochemie und Formeln und davon, wie man sie verändert.
Was denkst du, weshalb ich in den Rat gekommen bin? Doch nicht wegen meiner hübschen
Arrangements in meinem Haus. Ich bin mir sicher, dass du mich brauchen kannst.«
Mont blieb tatsächlich stehen. Und drehte sich langsam zu ihr um. »Du bluffst.«
»Vielleicht«, meinte Juuna leichthin. »Vielleicht habe ich auch eure famosen Messgeräte überlistet.
Willst du das Risiko eingehen?«
Mont zögerte sichtlich.
»In Ordnung«, sagte er dann. »Ich werde dich testen. Bringe mir einen Anzug, der besser ist als
dieser hier, den ich trage.«
Der Forone wusste, dass das unmöglich war. Trotz aller Fertigkeit war es der Luurin unmöglich, die
Nanotechnologie zu überbieten. Aber es würde interessant sein, was sie schuf.
»Einverstanden«, stimmte Juuna zu und hob die Hand zur Bekräftigung.
Endlich durfte Juuna Karri wieder sehen. Mont hatte es ihr ohne weiteres gestattet.
Mit Juuna ging die letzte Hochbegabte an Bord. Knapp zwanzigtausend Angehörige der Elite
befanden sich jetzt auf fünf Schiffe verteilt, zusammengepfercht in kleinen Räumen, und warteten
auf den Abtransport. Keiner von ihnen wusste, wohin es ging, oder was von ihnen erwartet würde.
Sie bekamen es kaum mit, als die Schiffe Luurs Umlaufbahn verließen. Es gab keine Fenster, und
sie hatten nicht einmal die Möglichkeit, das Wunder des ersten Raumfluges mitzuerleben, zu sehen,
wie die Heimatwelt rasch immer kleiner und kleiner wurde, bis sie nur noch ein winziger Punkt im
schwarzen Nichts war, der schließlich auch verschwand.
Juuna machte das nichts aus, sie war froh, endlich wieder bei ihrem Gefährten zu sein.
Karri sah den Umständen entsprechend gut aus. Er hatte etwas zugenommen und wirkte nicht mehr
so verzagt.
Eine Weile saßen sie nur still nebeneinander, hielten sich an den Händen und genossen das stille
Glück des Wiedersehens.
»Wie ist es dir ergangen?«, fragte Juuna schließlich.
»Nicht schlecht«, antwortete er. »Sie haben mir ausreichend Nahrung gegeben und mich gut
behandelt. Ich wurde ziemlich eingespannt in eine Menge Tests, in denen ich Mont demonstrieren
sollte, was genau unser Psi-Talent ist. Es war zugegebenermaßen nicht uninteressant. Vor allem
dieser eine Wissenschaftler, Faroo, ist sehr viel zugänglicher als Mont.«
»Hast du irgendetwas vom Flug mitbekommen?«
»Leider nein. Ich war entweder im Labor oder hier. Es kam auch sonst niemand, um mich
anzuschauen, ich habe immer nur Faroo, einen oder zwei Assistenten und Mont gesehen. Ich weiß
also überhaupt nicht, was uns erwarten wird. Allerdings wirkten die Foronen ziemlich... entzückt
über meine Fähigkeiten.«
Nun war Juuna mit dem Bericht dran. Als sie endete, sagte Karri: »Juuna, warum hast du das getan?
Warum bist du mitgekommen?«
Juuna streichelte seine Hand. »Weil ich dich nicht verlassen will, Karri. Egal was geschieht, wir
gehören zusammen.«
»Aber ist das richtig? Tun wir das Richtige?« »Was meinst du?« »Juuna, wir werden nicht mehr als Sklaven sein", sagte Karri eindringlich. »Wir haben keine eigenen Rechte mehr, keine Freiheit, nichts. Wir sind auf Gedeih und Verderb den Gesichtslosen ausgeliefert, und ich glaube nicht, dass wir von ihnen jemals Respekt erwarten können, auch wenn wir gute Dienste leisten.« Juuna schwieg einen Moment. Dann sagte sie entschlossen: »Karri, das mag alles gut und schön sein. Wir können uns natürlich auf unseren Stolz berufen, unsere Ehre, unsere Moral. Aber was haben wir davon? Nur den Tod.« »Du schlägst also vor, uns wie Opportunisten zu verhalten?« »Wenn es unser Überleben sichert, ja.« Karri neigte den Kopf, die Mundwinkel weit nach unten gezogen. »Ich hätte nie gedacht, das von dir zu hören...« »Karri, begreife doch.« Juuna stieß ihn leicht an. »Wir können der Veränderung nicht entgehen. Es kann nicht für immer so sein, wie wir es gewohnt sind. Die Bedingungen haben sich geändert, und wir müssen uns anpassen oder untergehen. Du musst dir überlegen, was dir wichtiger ist: Sich festzuklammern an den Werten, die wir einst aufgestellt haben, sich an die Traditionen zu halten und damit unweigerlich alles zu verlieren. Oder dich anzupassen und das Überleben zu sichern.« »Sprichst du etwa von Kindern?«, entfuhr es ihm erschrocken. »Natürlich. Unser Volk wird fortbestehen.« »Auch wenn wir uns selbst verraten?« »Ein ausgerottetes Volk hat keine Identität mehr.« »Juuna, Mont hat sein Wort gegeben!« »Und du glaubst ihm das? Ich bin nicht so naiv, Karri. Mont denkt überhaupt nicht daran, unseren Planeten in Ruhe zu lassen. Die Art, wie er gesagt hat, dass es kein Wiedersehen geben wird, hat meinen Verdacht bestätigt. Wahrscheinlich bombardiert er in diesem Moment schon unsere Städte und rottet unser Volk aus.« Seine Augen flackerten orange. »Aber... warum?« »Die Virgh, Karri. Die Foronen haben solche Angst vor ihnen, dass sie alle Spuren auslöschen, und wenn es ein ganzer Planet ist. Keine Zeugen. Und die Virgh können sich unsere Kräfte nicht auch noch zunutze machen. Mont hat nach seiner Denkweise gar keine andere Wahl, als Luur zu vernichten. Wenn du in Ruhe darüber nachdenkst, wirst du erkennen, dass das die einzige logische Schlussfolgerung aus allem ist, was wir bisher mit den Foronen erlebt haben.« Juuna sprach ganz ruhig, als diskutierten sie nur über ein Problem der Einrichtung. Karri erkannte, dass seine Gefährtin sich von Anfang an intensive Gedanken gemacht hatte. Trotzdem war er immer noch entsetzt darüber, dass sie offenen Auges ihr Volk in die Sklaverei schickte. »Aber ist es das wert? Alles aufzugeben, nur um zu überleben?« »Das haben mich die Foronen gelehrt, Karri. Überlege doch mal, sie haben sogar ihre eigene Galaxis verlassen. Sie hatten keine Ahnung, was sie hier erwartet - es hätte genauso gut ein Feind sein können, noch mächtiger als die Virgh. Sie richten sich darauf ein, Jahrtausende hier zu verbringen. Verstehst du, was das für ein Zeitraum ist? Wir müssen lernen, auch in solchen Zeiträumen zu denken. Bisher haben wir immer nur in den Tag hinein gelebt. Aber nun, an genau diesem Punkt, legen wir den ersten Stein für die Zukunft unseres Volkes. Zeit wird vergehen, viel Zeit. Aber die Veränderungen sind unvermeidlich. Dann werden wir wieder frei sein und irgendwo neu anfangen können. Ein neues Paradies erschaffen.« »Oh, Juuna«, seufzte Karri. »Ich wünschte, ich hätte deine Zuversicht.« »Das ist keine Zuversicht«, erwiderte Juuna bitter. »Das ist nackte Verzweiflung und der Wunsch, zu überleben.« 6.
Ein teuflischer Plan
Jarvis hatte das Gefühl, in seinem neuen Körper ersticken zu müssen. Es war schon schlimm genug, dass er für einen Foronen geformt worden war aber ausgerechnet noch Mont, der sich kaum we niger skrupellos und grausam als Sobek erwies. Ich habe damit nichts zu tun, flüsterte es in seinem Hinterkopf. Ich habe Mont gedient, wie ich nun dir diene. Sei still, befahl Jarvis, frustriert und verärgert. Er war es nicht gewohnt, mehr als nur ein Bewusstsein zu spüren, eine fremde Stimme zu vernehmen, die nicht einmal menschlichen Ursprungs war. Der GenTec hatte zwar noch nicht alles erfahren, aber wie es aussah, hatte Mont seinen Tod verdient. Das reichte aus, in Jarvis den Wunsch zu erwecken, den Anzug auszuziehen, von seinem Leib zu reißen, und ihn zu zerstören. Aber GenTec Jarvis hatte keinen Körper mehr. Das war eben die Tragödie - er war die Rüstung! Juuna hatte genau die richtigen Schlüsse gezogen. Bevor die foronische Flotte das Luur-System verließ, ordnete Mont ein flächendeckendes Bombardement der Städte an. Der Hirte wusste schon, weshalb er den Gestaltern an Bord keine Informationen über die Abreise zukommen ließ. Es war besser, wenn sie nicht erfuhren, was mit ihrer Heimatwelt geschah. »Bist du zufrieden?«, fragte Faroo das Mitglied der Hohen Sieben. Sie hielten sich in der Zentrale auf und sahen zu, wie der Planet brannte. Die Ortungen ergaben, dass schon beim ersten Bombardement fast die Hälfte der Bevölkerung ausgelöscht worden war. Die Überlebenden befanden sich nun auf der panischen Flucht in die Dschungelwälder oder in Höhlen unter der Oberfläche. »Allerdings«, sagte Mont. »Die Expedition war ein voller Erfolg. Ich hätte gar nicht zu hoffen gewagt, dass wir so viele Gestalter mitnehmen können. Erstaunlich, sie sind sich immer noch nicht bewusst, über welche enormen Kräfte sie verfügen.« »Unser Glück ist es, dass sie nichts Schlechtes kennen und daher harmlos und naiv sind, das macht es für uns nur umso leichter. Der letzte Widerstand wird bald brechen, dann werden sie loyal zu uns stehen.« Faroo deutete auf das Holoschaubild. »Vielleicht wäre es besser, den Planeten radioaktiv zu verseuchen, um ganz sicher zu gehen, dass keiner überlebt. Zu viele retten sich in die Höhlen.« »Ich weiß, dass sie schon vorher ein Fluchtsystem angelegt haben«, erwiderte Mont. »Einige aus der Elite haben sich vor unserer Rückkehr dorthin zurückgezogen. Aber das wird ihnen nichts nützen, ich habe mir dazu bereits etwas überlegt.« Faroos Gehirn sandte einen überraschten Impuls aus. »Ich hätte angenommen, dass du den ganzen Planeten vernichtest.« »Nein.« Mont hatte seine Gründe, aber die würde er Faroo nicht preisgeben. Sie hingen mit Sobek zusammen. Eine Art Rückversicherung. »Es gibt eine andere Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass keiner mehr das Talent der Luuren nutzen kann.« »Da bin ich gespannt«, sagte Faroo neugierig. »Du wirst es erfahren«, wich Mont aus. Er reichte dem Wissenschaftler einen Speicherkristall. »Zunächst einmal wirst du die hier aufgelisteten Luuren einem intensiven Lernprogramm in Hyperphysik und einigen anderen Themen unterziehen, du findest alles in der Datei. Sobald wir die SESHA erreicht haben, werden wir die Gruppe mit den Heukonen zusammenbringen, damit sie meinen Plan realisieren.«
Die SESHA wartete in der Nähe einer kurz vor der Supernova stehenden Sonne, deren
Strahlungsintensität jede Entdeckungsgefahr nahezu ausschloss.
»Ich gratuliere dir zu deinem Erfolg«, begrüßte Siroona den soeben zurückgekehrten Mont. »Mit
unserem Großprojekt läuft alles zufrieden stellend, die Heukonen haben sich gut eingelebt.«
»Die Luuren werden sich auch schnell eingewöhnen«, antwortete Mont und übergab ihr einen
Datenspeicher. »Hier sind alle notwendigen Daten für die Anpassung ans Wasser. Die genetische Modifizierung dürfte kein Problem darstellen.« »Ich werde mich sofort an die Arbeit machen. Bleibst du nun hier?« »Nein, ich muss noch einmal nach Luur zurück. Ich habe dort noch etwas zu erledigen, aber dann ist dieses Projekt endgültig abgeschlossen, und wir brauchen uns keine Gedanken mehr zu machen.« »Das ist gut. Sobek beschäftigt sich bereits mit dem Bau der Stasis-Kammern. Wir liegen perfekt im Zeitplan. Und bisher gibt es keine beunruhigenden Zeichen, dass die Virgh uns auf der Spur sind.« »Sie werden uns nicht finden. Aber wir sie, eines Tages, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«
Mont ging nun daran, die Heukonen und die Luuren zusammen an die Konstruktion eines ganz speziellen Apparates zu setzen, der seine eigene Idee und Erfindung war. Er konnte sich dabei ungestört fühlen, denn die anderen Mitglieder der Hohen Sieben waren allesamt beschäftigt, und nicht einmal Sobek würde es wagen, ihm ungehörige Fragen zu stellen. Mont war sich nicht sicher, ob der Apparat überhaupt funktionierte. Tat er nicht, was von ihm erwartet wurde, könnte er Luur noch immer völlig zerstören. Hatte er aber Erfolg, so hatte er die Grundlage zu einer neuen Waffe geschaffen. Es konnte nur positiv enden. Unbemerkt von den anderen begann Mont, Pläne für seine eigenen Zwecke zu entwickeln, die zwar allesamt der gemeinsamen Sache dienlich waren, aber noch einen zusätzlichen Nutzen für ihn persönlich hatten. Erst, wenn der Versuch zu seiner Zufriedenheit verlaufen war, würde Mont Sobek und die anderen davon in Kenntnis setzen. Ohne natürlich die genauen Hintergründe zu nennen. Wenn es funktionierte, blieb stets ein Hintertürchen offen... Doch zuerst einmal musste das Gerät gebaut werden...
Heukonen und Luuren waren beide friedliche Spezies und hatten keine Probleme, miteinander auszukommen. Sie waren sich darüber einig, dass ihr gemeinsamer Feind die Foronen waren und sie zu einem Sklavendasein verdammt waren. Andererseits aber hatten sie keine Wahl und fügten sich besser in das Unvermeidliche, um das Beste daraus zu machen. »Eines Tages werden wir es sowieso vergessen haben«, sagte Juuna zu Karri. »Vielleicht schon unsere Kinder. Die Foronen werden uns modifizieren, damit wir gefügig werden und auf Gedeih und Verderb loyal sind.« »Das bedeutet, dass wir nie mehr frei sein werden, und du widersprichst dir damit selbst in Bezug auf eine frühere Behauptung. Bei der Abreise hast du ganz andere Dinge gesagt, erinnerst du dich?«, versetzte Karri. »Das weiß ich«, gab Juuna zu. »Aber inzwischen muss ich einsehen, dass die Foronen gründlicher vorgehen, als ich es wahrhaben wollte. Doch die Hoffnung ist nicht ganz verloren. In unserem kollektiven Erinnerungsvermögen, tief in unseren Genen, wird das Bewusstsein an die Freiheit erhalten bleiben. Du kannst es niemals völlig ausmerzen. Die Foronen haben in uns uralte Instinkte und Empfindungen wieder hervorgebracht, die wir ursprünglich vor hunderttausend Jahren verloren hatten - Angst, Hass, Aggressivität, und so weiter. Solange wir also Luuren bleiben, wird unsere Identität niemals ganz ausgelöscht sein. Und solange die Foronen nicht vergessen, woher wir kamen, werden wir es auch nicht.« »Ich habe Albträume, Juuna. Und Schuldgefühle. Unser Volk ist wahrscheinlich untergegangen,
und ich habe überlebt...« »So geht es uns allen. Ich habe mich umgehört - keiner von uns hat Fragen gestellt, ob Mont sein Versprechen gehalten hat. Keiner von uns weiß, ob Luur noch existiert.« Karri betrachtete düster seine Hände. »Wir wurden auserwählt, weil wir als die besten Gestalter unseres Volkes gelten. Dafür durften wir überleben. Und alle anderen, die weniger Glück hatten als wir, sind nun tot.« »Das wissen wir doch nicht sicher, Karri«, versuchte Juuna ihren Gefährten zu trösten. »Natürlich sind sie das, erinnere dich an deine eigenen Worte!«, wehrte Karri ab. »Wir brauchen uns nichts vorzumachen, Juuna. Wir müssen mit dieser Schuld leben.« Juuna war nicht seiner Meinung. »Wir haben so entschieden, wie es uns am besten erschien - jeder von uns tat das. Und es blieb uns auch nichts anderes übrig. Die Foronen haben uns dazu gezwungen. Ohne die Invasion der Gesichtslosen wäre es nie zu dieser Tragödie gekommen. Ich teile deine Schuldgefühle, Karri, weil wir das Leben achten und Ungerechtigkeit verabscheuen. Wenn wir uns schuldig gemacht haben, dann aber nur in der Hinsicht, dass wir am Leben geblieben sind. Wobei du von Anfang an keine Wahl hattest, denn Mont nahm dich gefangen und gab dich nicht mehr heraus. Ich hingegen habe um einen Platz auf diesem Schiff gekämpft, um in deiner Nähe zu sein.« Karri schwieg eine Weile. Dann murmelte er: »Du hast Recht. Wir dürfen nicht länger grübeln, sondern müssen uns den Tatsachen stellen. Ich werde tun, was die Foronen verlangen.« »Es wird uns nicht schlecht ergehen, Karri. Du wirst es sehen. Schauen wir nach vorn, in die Zukunft, und finden wir uns damit ab, dass für das Volk der Luuren eine ganz neue Ära angebrochen ist.« So oder ähnlich liefen viele Unterhaltungen unter den Luuren ab. Sie entschieden sich alle für Pragmatismus und beschlossen, fortan nicht mehr über die Vergangenheit zu sprechen. Sie würden mit den Foronen zusammenarbeiten, genauso wie es die Heukonen gelernt hatten. Immerhin waren die Luuren nicht ganz allein den Gesichtslosen ausgeliefert, es gab Leidensgenossen. Das war sogar so etwas wie ein Trost. Außerdem kamen die Luuren ab sofort kaum mehr dazu, über ihr trauriges Schicksal zu sinnieren, da sie sofort intensiv in Anspruch genommen wurden. Vor allem Mont drängte auf die Erledigung seines Auftrags. Karri arbeitete nicht an dem besonderen Apparat, er war für die ersten Versuche mit Protomaterie vorgesehen. Juuna war mit eingeteilt, da sie ja sozusagen noch in der Probezeit war und Monts Anzug modifizieren musste. Die übrigen Luuren wurden in bestimmten Fachgebieten ausgebildet und voneinander abgesondert. Gleichzeitig begann Siroona mit den genetischen Modifikationen. Im Lauf der Zeit würde sich in der Gesellschaft der Luuren ein strenges Kastensystem bilden, und die körperlichen Veränderungen würden auch äußerlich sichtbar werden: Ihre Haut färbte sich schwarz, und zwischen Fingern und Zehen wuchsen ihnen Schwimmhäute. Sie passten sich an das Leben unter Wasser an, als hätten sie es nie verlassen.
Schließlich war der geheimnisvolle Apparat fertig. Da sie keinen Testlauf starten durften, wussten weder Heukonen noch Luuren, ob er funktionierte. Sie konnten sich vor allem keine rechte Vorstellung darüber machen, wozu er überhaupt diente. Mont gab keinerlei Erklärung dazu ab, ließ die Maschine auf die W'MAY bringen und brach ein letztes Mal Richtung Luur auf. Ein nahezu verwüsteter Planet erwartete ihn. Fast zwei Drittel aller Wälder waren zerstört. Die Flora würde sich wieder erholen, aber das würde mindestens Jahrhunderte dauern. Von den Städten der Luuren war nichts mehr übrig, sie waren dem Erdboden gleich gemacht worden. In den Kratern hatten sich neue, tiefe Wunden gebildet, die teilweise immer noch brannten und schwelten. In der
Umgebung außerhalb der Kraterränder existierte nichts mehr, das Land war verbrannt und tot.
Einige Luuren hatten sich tief in die Dschungel zurückgezogen und fristeten dort ein trauriges
Dasein. Sie hatten kleine Siedlungen mit Schutzmauern darum errichtet, aber oft genug fielen sie
den wilden Tieren zum Opfer, wenn sie auf die Jagd gingen. Die Wildnis war gefährlicher denn je.
Eines Großteils ihres Lebensraumes beraubt, galt es für die animalischen Räuber nur noch zu
überleben. Sie fraßen alles, was ihnen in die Fänge geriet und fielen in der Not sogar gegenseitig
übereinander her.
Das ökologische Gefüge war bedenklich aus dem Gleichgewicht geraten, und es war abzusehen,
dass viele Arten aussterben würden. Der Planet würde sich eines Tages von der Verwüstung
erholen, aber sein Gesicht wäre ein anderes.
Und Mont beabsichtigte, den noch eins draufzusetzen. Es wäre vielleicht möglich, die neuen
oberirdischen Siedlungen der Luuren auszumerzen, eine nach der anderen, aber in den inzwischen
weit verzweigten, gut ausgebauten und abgesicherten Höhlensystemen konnte er keinesfalls alle
Überlebenden finden.
Aber das brauchte er auch gar nicht.
Mit einer Gruppe technisch ausgebildeter Foronen landete der Hirte am Ufer eines Sees und ließ in
der Mitte eine Station auf einer künstlichen Plattform errichten. In dieser Station wurde seine
Erfindung installiert.
Nach Abschluss der Arbeiten inspizierte Mont alles und zeigte sich zufrieden.
Dann wies er seine Leute an, in die Fähre zu steigen, abzufliegen und im sicheren Abstand
außerhalb des Orbits auf Monts Signal zu warten, dass er abgeholt werden wollte.
Es ging Mont dabei nicht um die Sicherheit der Foronen. Sondern er wollte unter keinen Umständen
eine Niederlage eingestehen müssen, falls der Apparat nicht funktionierte.
Und wenn er explodierte - nun, dann hatte Mont es sich selbst zuzuschreiben und sich maßlos
überschätzt. Dann geschah ihm Recht.
Der Hohe Hirte wartete, bis die Fähre aus seinem Blick verschwunden war. Ein verabredeter Impuls
bestätigte ihm kurz darauf, dass Funkkontakt möglich war.
Nun war der entscheidende Moment gekommen.
Mont ließ sich Zeit, dachte noch einmal an den Segen, den die Luuren den Foronen brachten, an das
große Werk, zu dessen Vollendung sie beitrugen, und an diesen kleinen Planeten, der einst ihr
Paradies gewesen war.
Im Grunde genommen tat er ein gutes Werk. Er ersparte den zurückgelassenen Luuren den
Kummer, in einer zerstörten Welt dahinvegetieren zu müssen. Vermutlich wären sie ohnehin
degeneriert, weil sie sich von dem Schock vielleicht nie mehr erholt hätten.
Ein einziger, kurzer Tastendruck genügte.
Der Apparat sprang an.
Und kurz darauf zeigte sich, dass er perfekt arbeitete...
Die Luuren hatten keine Zeit mehr darüber nachzudenken, was mit ihnen geschah. Im Bruchteil eines Augenblicks wurden gleichzeitig alle Geister, Seelen, wie immer man es ausdrücken mochte, aus den Körpern der überlebenden Luuren gerissen, flächendeckend auf dem ganzen Planeten, und nicht ein Einziger entkam. Die entrissenen Seelen wurden von einer künstlichen mentalen Strahlungskraft bis ins Magnetfeld Luurs gesogen und dort für immer fest gebannt, unsterblich für alle Zeiten. Sie konnten dort alles sehen und hören, alles empfangen und empfinden, aber sie waren nie mehr handlungsfähig. Lebendig begraben, auf eine ganz neue, grausame Weise. Die seelenlosen Körper unten starben jedoch nicht. Sie überlebten, fielen auf das primitive Dasein eines Urtiers zurück, das nur noch seinen Instinkten folgte, fraß und sich vermehrte. Auf dieser Stufe erstarrte das körperliche Volk der Luuren, unfähig, jemals wieder Intelligenz zu entwickeln.
Das Wissen und die Psi-Kraft ruhte in einem Gefängnis hoch über der Welt, an der Grenze
zwischen dem Irgendwo und dem Nirgendwo. Solange Monts Maschine ihren Dienst versah,
solange waren die Geister verdammt.
Und diese Maschine war für die Ewigkeit gebaut, wobei das natürlich relativ war. Aber Mont war
sicher, dass sie mehrere hunderttausend Jahre ihren Dienst verrichten konnte. Und wenn sie dann
doch einmal versagte oder gar abgeschaltet wurde, war es für die gefangenen Seelen längst zu spät,
sie konnten nicht mehr zurück.
Zufrieden kehrte Mont zur SESHA zurück und unterrichtete seine sechs Gefährten über seine Tat.
Der Feldversuch hatte sich erfolgreich gezeigt. Es stand nichts im Wege, wieder solche Apparate
einzusetzen, wo auch immer es ihnen beliebte.
7. Anpassung Jarvis und Cloud gaben durch nichts zuerkennen, was sie von den Erzählungen Taurts hielten. Thema waren nicht nur die Luuren, es ging auch um die Heukonen, die letzte Schlacht der Foronen mit den Virgh, und die Entscheidung der Hirten, die Heimatgalaxis für sehr lange Zeit zu verlassen. Sobek äußerte sich selten, ergänzte höchstens einmal oder stellte das eine oder andere richtig. Er erkundigte sich nicht, was die Menschen zu dem zu sagen hatten, was sie erfuhren. Es gab auch keine längere Pause. Das Protowesen machte nur hin und wieder Absätze, um auf einen anderen Bericht umzuschwenken. Cloud überlegte zwischendurch, ob er unterbrechen sollte, aber er ließ es sein. Jede Information über die Vergangenheit war wichtig für sein Handeln in der Zukunft. Je mehr er über die Foronen erfuhr, umso besser. Also stellte Cloud seine Fragen zurück für den Moment, wenn Taurt endete, dann würde man weitersehen. So lange würde es vermutlich auch nicht mehr dauern. Eigentlich fehlte nur noch die Geschichte der Vaaren, die Cloud ohnehin interessierte, da er über diese seltsamen Wesen bereits eigene Vermutungen angestellt hatte. Außerdem war die Erinnerung an seine Begegnung mit der inzwischen verstorbenen Vaaren-Königin noch ziemlich frisch im Gedächtnis. Ein kurzer Blickkontakt mit Jarvis zeigte Cloud, dass der GenTec ähnliche Überlegungen anstellte: Der Blick war teils fragend, teils fordernd, und eine Geste des GenTec zeigte an, dass Jarvis sich zurückhalten wollte. Wobei Cloud sicher war, dass es dem Gefährten schwer fiel. Wie musste er sich fühlen, als Träger von Monts Anzug so viel über die Gräueltaten des eigentlichen Besitzers zu erfahren! John Cloud erinnerte sich an eine Begebenheit in seiner Kindheit: Er hatte seinen Vater gefragt, wie es wohl war, ein fremdes Herz in sich zu haben. Würde man sich verändern? Gab es noch Überreste des ursprünglichen' Trägers, die auf einen übergreifen konnten? Zum Glück, hatte Nathan Cloud erwidert und seinem Sohn über den Kopf gestreichelt, brauche man heutzutage nicht mehr darüber nachzudenken. John brauche sich darüber keine Sorgen zu machen. Wenn man in der Lage sei, Menschen in Biolabors zu züchten, dann natürlich auch Organe. Dennoch wurde John Cloud noch einmal mit dieser Frage konfrontiert, als er herausfand, dass die Wissensimplantate, die ihn zum Allrounder auf der ungewissen zweiten Marsexpedition machen sollten, aus dem Prionen-Destillat Verstorbener gewonnen worden waren. Seymour war durch die Implantate in den Wahnsinn getrieben worden, und auch John Cloud war manchmal nahe daran gewesen, wenn die Visionen aus den Bewusstseinsfragmenten übermächtig wurden. Glücklicherweise hatte der Außerirdische Darnok ihn von den Visionen befreien können. Die Fragmente waren endgültig tot, nur noch das Wissen vorhanden. Dennoch war ein Kind heitstrauma zum reellen Alptraum geworden. Bei Jarvis mochte es jetzt ganz ähnlich sein. Sein Geist war in ein Erzeugnis aus Protomaterie transferiert worden, das ein eigenes Bewusstsein besaß. Wie würden sie sich arrangieren? Würde der Anzug sich stets absolut loyal verhalten und sich Jarvis unterwerfen? Oder würde er eines Tages versuchen, die Kontrolle zu übernehmen? Es würde ja schon zu Konflikten führen, wenn er
seinem neuen Besitzer regelmäßig Dinge einflüsterte... An dieser Stelle seiner Gedanken hätte Cloud beinahe aufgelacht. Wofür hielt er sich eigentlich selbst? In seinem Körper kreisten doch selbst noch Reste von Protomaterie! Konnte er denn absolut sicher sein, stets er selbst zu sein? In seinem Verstand ruhten die Wissensimplantate, in seinem Körper Protomaterie. Möglicherweise Zeitbomben. Was von dem ursprünglichen Menschen John Cloud, auf natürlichem Wege gezeugt von Nathan Cloud, war denn noch übrig? Es war eigentlich unheimlich, als hätte er als Kind schon eine erste Vision von dem gehabt, was auf ihn zukam, und seine Angst in Fragen gekleidet. Diese Angst hatte sich viel schlimmer bewahrheitet, als er es für möglich gehalten hätte. Das brachte Clouds Gedanken weiter zu Scobee. Wie mochte sie sich gefühlt haben, als sie erfuhr, dass sie die Matrix für alle weiteren Scobee-Klone war, und darauf konditioniert, Reuben Cronenbergs hörige Geliebte zu sein? John hatte ihr schwere Vorwürfe gemacht, sich für eine Weile von ihr abgewandt, sie als Verräterin betrachtet. Dabei sollte gerade er wissen, dass man nicht immer für seine Taten allein verantwortlich, dass man nicht immer allein Herr seiner Sinne und Entscheidungen war. Was sie wohl gerade macht?, fragte sich Cloud. Ob sie noch in der Zentrale wartet oder die Gelegenheit nutzt, um sich einmal genauer umzuschauen? Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Taurts Stimme plötzlich lauter wurde. Vielleicht hatte das Protowesen gemerkt, dass er nicht mehr die uneingeschränkte Aufmerksamkeit hatte. John Cloud verdrängte alle Gedanken und konzentrierte sich wieder auf die Erzählungen. Das gigantische Projekt der Foronen war eines Tages fertig. Die Kanten maßen inzwischen eine Lichtstunde, eine fast unvorstellbare Größe. Die neuen Sektoren des riesigen kosmischen Gefährts wurden nun geflutet und der erste Testflug unternommen. Die Antriebsaggregate arbeiteten weitgehend zufrieden stellend, es waren allerdings noch ein paar Verbesserungen notwendig. Die Vergrößerung von einer Lichtminute auf eine Lichtstunde brachte doch erheblich mehr Aufwand mit sich, als ursprünglich angenommen. Vor allem war der Anspruch der Foronen sehr hoch, da der Würfel über Jahrtausende hinweg seinen Weg durchs All ziehen sollte, und den größten Teil davon nahezu unbeaufsichtigt. Die Versuche mit der Protomaterie klappten perfekt, und die Errichtung der Protowiesen ging mit der endgültigen Fertigstellung des Kubus einher. Die Hirten zeigten sich sehr zufrieden über die Fähigkeiten der Luuren. Eine lange Eingewöhnungszeit gab es für sie nicht. Siroona trieb ihre genetischen Modifizierungen im Eiltempo voran, damit der Umzug von den nicht gefluteten, streng abgeschotteten Räumen ins Wasser so schnell wie möglich vonstatten gehen konnte. Karri und Juuna waren die ersten Probanden gewesen; zu ihnen schien Mont eine Art Beziehung zu haben, da sie die Ersten waren, die er auf sein Raumschiff entführt hatte. »Ich weiß nicht so recht, was ich mir wünschen soll«, sagte Karri zu Juuna, als sie nach der ersten Injektion zurück auf ihr winziges Quartier durften. Was den Platz betraf, war es ziemlich bizarr. Die Luuren waren bereits allesamt im Kubus untergebracht - umgeben von einer schier endlosen Weite, mussten sie sich auf engstem Raum zusammendrängen. Die Foronen sahen keine Veranlassung, ihnen adäquate Unterbringungen zukommen zu lassen, obwohl so viel Platz da war. Aber es war ja nur auf Zeit, und solange mussten die Luuren eben Geduld zeigen. Die Heukonen, die den Würfel gebaut hatten, waren bereits an das Wasser angepasst und kamen häufig zu Besuch. Ebenso wie die Luuren waren sie heimatlos und den Foronen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das schweißte zusammen. Die Hirten hatten nichts dagegen, sie befanden sich unerreichbar und unangreifbar auf der SESHA und zeigten sich nur noch selten. Ihre Befehle konnten sie genauso gut auch per Funk übermitteln. Abgesehen davon hätten weder Heukonen noch Luuren gewusst, wie sie gegen ihre Herren rebellieren sollten. Sie konnten nirgendwo hin, und in der Kriegsführung kannten sie sich überhaupt nicht aus. Sie hatten sich in ihr Schicksal gefügt und entschieden, in ihrer neuen Welt ein gemein
sames Sozialgefüge zu bilden. Wobei ganz klar war, dass die Luuren einen Rang niedriger standen als die Heukonen, die begnadete Wissenschaftler waren und wahre Wunder der Technik konstruieren konnten - das beste Beispiel war der Wasserwürfel. Sie hatten sogar eine Technik gefunden, den Wasserdruck im Inneren des Riesengebildes durchgehend konstant und die Temperatur auf einem angenehmen Level zu halten. Und sie waren zuerst da gewesen, lange vor den Luuren. Die Luuren nahmen es hin, auf ihre eigene fatalistische Weise. Sie waren bereits so sehr ihrer Identität und ihres Selbstbewusstseins beraubt, dass es ihnen nichts ausmachte. Hauptsache, sie konnten einigermaßen friedlich leben und hatten eine Aufgabe, die ihrem Dasein einen Sinn gab. Das allerdings sollte sich mehr erfüllen, als sie es je erträumt hätten. Noch ahnten sie es nicht, aber die Luuren waren dazu ausersehen, ihr ganzes Psi-Können einzusetzen und eine einzigartige Technik zu schaffen, bis zu Raumschiffen, die aus Protomaterie bestanden. Im Vergleich dazu waren ihre Bemühungen auf ihrer Heimatwelt geradezu lächerlich gewesen. Zweifelsohne würden die Luuren so in Anspruch genommen werden, dass sie keine Zeit mehr haben würden, mit dem Schicksal zu hadern oder ihr Dasein als sinnlos anzusehen. Doch so weit war es noch nicht. Im Augenblick mussten sie noch zusammengequetscht in gefluteten Räumen darauf warten, ans Wasser angepasst zu werden.
»Und was wünschst du dir?«, fragte Juuna ihren Gefährten.
»Ich habe zwei Möglichkeiten«, antwortete Karri. »Entweder ich hoffe darauf, dass es schief geht.
Dann bin ich tot, habe alles überstanden, und die Foronen haben das Nachsehen. Das wäre eine
schöne Rache.«
»Rache ist nicht unsere Art«, wandte Juuna ein.
»Ich weiß. Deswegen schwanke ich ja zwischen dieser und der zweiten Möglichkeit, nämlich zu
überleben und so schnell wie möglich dort hinaus zu können. Hier drin werde ich nämlich bald
verrückt.«
»Ich hoffe, dass wir überleben, Karri, sonst wäre ja alles umsonst gewesen.«
Und sie überlebten. Aber es wurde eine sehr harte Zeit.
Zunächst sah es so aus, als würde sich überhaupt nichts tun. Doch dann, mitten in einer Ruhephase,
wachten Karri und Juuna von unerträglichen Schmerzen gepeinigt auf.
Zuerst versuchten sie sich zusammenzureißen und Würde zu bewahren. Aber die Pein wurde so
unerträglich, dass sie sich schließlich laut schreiend über den Boden wälzten und wünschten, tot zu
sein.
»Was ist mit euch?«, fragte Gatay in heller Aufregung, der nebenan wohnte und sofort kam. Der
Regierungsrat war natürlich längst aufgelöst, doch die ehemaligen Mitglieder blieben auch noch
weiterhin zusammen.
»Es brennt!«, schrie Karri. »Ich verbrenne von innen!«
»Es zerreißt mich!«, brüllte Juuna. »Mein Innerstes stülpt sich nach außen!«
Das Problem war, dass für die Luuren keine Möglichkeit bestand, Kontakt zu den Hirten
aufzunehmen. In ihren Behausungen gab es nur im sanitären Bereich technische Einrichtungen,
sonst nichts. Während der »Übergangsphase« war es nicht gestattet, was immer das auch bedeuten
mochte.
Gatay versuchte hilflos, den beiden auf ihre Liegen zu helfen. Bequeme Sandkuhlen wie auf Luur
gab es natürlich auch nicht mehr. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, stieß er verzweifelt hervor.
Karri und Juuna konnten nicht antworten, sie waren viel zu sehr mit der Folter ihrer Umwandlung
beschäftigt. Aus ihrem Mund floss der Speichel, und sie übergaben sich zuckend. Ihre scharfen
Krallen kratzten über den Boden.
Voller Schrecken beobachteten die Artgenossen das Leid; die Wände der Kammern waren allesamt
durchsichtig. Das Schlimmste war, dass niemand etwas unternehmen konnte.
Aber die beiden schafften es. Bis zur Wachschicht kamen sie halbwegs wieder zu sich. Die
Krämpfe ließen nach, und sie wankten in die Sanitärkabine, um sich zu reinigen.
»Ich weiß nicht, ob ich das noch einmal durchstehe«, sagte Karri, als sie später ins Labor zu Siroona
gebracht worden waren. Er konnte nicht richtig gehen und zog das linke Bein hinter sich her.
»Es wird leichter«, behauptete die Hirtin.
»Es wäre schon eine Erleichterung gewesen, wenn wir um Hilfe hätten rufen können«, nuschelte
Juuna. Ihr Mund stand leicht offen, ihre Zunge war geschwollen und hing ein Stück heraus.
»Oh, aber ihr wart nicht in Gefahr«, meinte Siroona leichthin, während sie die neue Injektion
vorbereitete.
»Wie ist das gemeint?«, fragte Karri.
»Nun, ich habe euch beobachtet. Denkt ihr, ich riskiere einen Misserfolg?«, lautete die Antwort.
Juunas gelbe Augen weiteten sich. »Du... hast einfach zugesehen, während wir halb krepierten?«
»So sieht es aus.«
»Aber warum hast du uns nicht geholfen? Uns ein Schmerzmittel gegeben?«
»Dafür bestand keine Veranlassung.«
»Wie kannst du das beurteilen?«, schrie Karri fassungslos.
»Nun, so schlimm war es doch nicht. Ihr seid jetzt hier, ist das nicht der beste Beweis? Ich glaube,
ihr überbewertet die Sache und solltet nicht so viel Selbstmitleid haben.«
»Ich glaube es nicht!«, keuchte Juuna. »Was sind wir eigentlich für dich? Maschinen? Kannst du dir
nicht vorstellen, dass wir denkende, fühlende Wesen sind, die ein Anrecht auf Respekt haben?«
Juuna näherte sich ihr. »Wir haben Hochachtung vor eurem Talent. Ihr seid es, die nicht
angemessen reagieren und die vorhandene Intelligenz ausnutzen. Und nun halte still für die zweite
Dosis.«
Karri sah Juuna zusammenzucken und entschied in diesem Moment, dass es genug war. Er sprang
auf, nahm all seine Kräfte zusammen und stieß sich vom Boden ab. Er schoss quer durch den Raum,
mit gesenktem Kopf, den er in Siroonas Leibesmitte mit der Wucht des Sprungs hineinrammte.
Die Hirtin stieß einen überraschten Ruf aus, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Karri fegte die
Versuchsanordnung vom Tisch, schlug mit dem kräftigen Schwanz auf die summenden Maschinen.
Dann rannte er aus dem Raum. »Verzeih mir, Juuna!«, rief er und floh, über den Gang, stieß jeden
um, der sich ihm in den Weg stellte.
Es dauerte natürlich nicht lange, bis Karri wieder eingefangen war. Unversehrt, aber wie ein Häuflein Elend, wurde er zurück in sein Quartier gebracht, wo Juuna schon wartete. Karri brach schluchzend auf seiner Liege zusammen, und Juuna blieb nichts anderes übrig, als sich zu ihm zu setzen und in den Arm zu nehmen. »Was hast du dir dabei gedacht, Dummkopf?«, fragte sie sanft. »Wohin wolltest du denn fliehen?« »Ich - ich weiß es nicht«, stieß er stockend hervor und wischte die Tränen ab. »Ich konnte einfach nicht mehr, mir war alles gleich, ich wollte nur weg...« »Haben sie dir etwas getan? Dich bestraft?« »Gar nichts. Sie fingen mich, Siroona gab mir die zweite Dosis, dann brachten sie mich her. Völlig wortlos. Als wäre ich nur eine leere Schachtel, unbedeutend und wertlos.« Karri rappelte sich auf und beruhigte sich allmählich. »So weit ist es also mit uns gekommen. Wir fangen an, gegen andere aggressiv vorzugehen, greifen sie an, aber völlig ohne Wirkung. Wir sind es wohl nicht wert. Nicht einmal für einen Vergeltungsakt.« Juuna seufzte. »Ich glaube, du wirst gestraft genug sein, wenn die Wirkung der Injektion wieder einsetzt. Und ich bin froh, dass dir nichts geschehen ist. Du kannst dir meinen Schrecken gar nicht vorstellen, als ich zusehen musste, wie du durchdrehst! Also versprich mir, keine solchen Dummheiten mehr zu machen. Ich verstehe, was in dir vorgeht und dass du verzweifelt bist. Es geht
mir nicht anders. Aber da müssen wir jetzt durch.«
»Bist du sicher?« Karri sah seine Gefährtin kummervoll an. »Wäre es nicht besser, einfach
aufzugeben?«
»Möchtest du das denn? Ganz aufrichtig?«, fragte Juuna ernst.
Karri grunzte und ließ den Kopf hängen. »Nein«, flüsterte er. »Ich hänge einfach immer noch zu
sehr an meinem kümmerlichen Leben.«
Immerhin stimmte es, was Siroona gesagt hatte: Der zweite Schub war tatsächlich nicht mehr so
schlimm wie der Erste. Oder sie fingen bereits an, sich an den Schmerz zu gewöhnen.
Insgesamt fünf Injektionen gab es, und bereits nach der Dritten konnte man das Ergebnis ahnen.
Der Metabolismus der beiden Luuren veränderte sich deutlich, und es war kein Wunder, dass sie für
die Umkrempelung so leiden mussten. Das deutlichste Beispiel war, dass zwischen ihren Fingern
und Greifzehen deutlich sichtbar Schwimmhäute zu wachsen begannen. Ihre Haut wurde dunkler
und farbloser, verlor zusehends den satten Grünton. Nur die Rückenzeichnungen blieben
unverändert und wechselten je nach Stimmung.
»Ich bin sehr zufrieden«, äußerte sich Siroona schließlich. »Alle Werte entsprechen der Norm. Wie
fühlt ihr euch?«
Karri und Juuna sahen sich an. Juuna übernahm es, zu antworten: »Wir haben uns daran gewöhnt.
Ich kann dir nicht sagen, ob besser oder schlechter. Nur... anders. Als ob wir in fremden Körpern
stecken. Aber es ist nicht mehr zu unangenehm, und Schmerzen haben wir auch keine mehr.«
»Nun gut. Dann unternehmen wir den letzten Test und können den Rest von euch anpassen.«
»Was für ein letzter Test?«, fragte Karri.
»Dummkopf«, schnarrte Juuna. »Wann wirst du je erwachsen?«
Siroona geleitete die beiden zu einer Schleuse, und Karri begriff. »Oh.«
»Geht schon«, befahl die Hirtin.
Karri zögerte. »Die Anpassung erfolgt langsam, oder? Ich meine, wenn es nicht funktioniert...«
»Selbstverständlich. Du brauchst keine Sorgen zu haben.«
Das war natürlich eine glatte Lüge. Aber das hätte Karri sich eigentlich denken können.
Siroona verließ die beiden in der Schleuse, riegelte sie ab und ließ Wasser einlaufen.
»Sie wird es schon nicht ganz fluten, oder?«, meinte Karri zaghaft. »Ich meine... wir können ja den
Kopf unter Wasser halten und probieren zu atmen, und wenn es nicht klappt, gehen wir wieder
rein.«
Juuna gab keine Antwort, sondern atmete tief ein und aus. »Spare lieber deinen Atem«, war alles,
was sie zwischen zwei Atemzügen hastig hervorstieß.
Karri wurde es Angst und Bange, er weigerte sich aber trotzdem, den Tatsachen ins Gesicht zu
sehen. »Aber...«, fing er an, doch in diesem Augenblick wurde das Schleusenschott ins Wasser
abrupt geöffnet, und die Fluten drangen mit aller Gewalt herein, schlugen über dem Luuren
zusammen, der Sog riss ihn nach draußen, wirbelte ihn herum, dass er fast das Bewusstsein verlor.
Als er sich schließlich wieder in der Gewalt hatte, paddelte er zur Schleuse zurück und musste
feststellen, dass sie geschlossen war. Durch die durchsichtigen Scheiben konnte er Siroona sehen,
die sie beobachtete.
Karri war sicher, wenn Siroona ein Gesicht und bösartigen Humor besessen hätte, hätte sie jetzt
hämisch gegrinst. Er kam sich vor wie eine luurische Zackenfliege in der Gewalt eines noch sehr
kleinen Luurenkindes. Das kam oft vor, die Kleinen begannen ihre Reaktionsgeschwindigkeit schon
zu testen, kaum dass sie krabbeln konnten. Dann fingen sie gern Fliegen und bissen ihnen
nacheinander die Beine ab, dann die Flügel, bis sie die armen geschundenen Wesen schließlich ganz
vertilgten.
Luureneltern konnten ihren Sprösslingen das niemals abgewöhnen, sie machten es alle und
verstanden nicht, wenn sie dafür bestraft wurden.
Nun war Karri die Fliege und sein Leben keinen feuchten Lehm mehr wert. Er hatte es natürlich die ganze Zeit über gewusst, aber eben nicht wahrhaben wollen, und in diesem Moment wurde es ihm am Grausamsten bewusst. Jetzt ging es ihm wirklich ans Leben, es gab keinen Ausweg mehr. Voller Entsetzen hielten Karri und Juuna die Luft an, packten sich an den Händen und starrten sich in die Augen. Wenn, dann sterben wir gemeinsam, bedeutete das. Und es entstand ein stiller Wettkampf, wer es länger mit angehaltenem Atem aushalten würde. Karri konnte schließlich nicht mehr. Seine Lungen schrien nach Luft, ein lähmender Druck lag auf seinen Gehörgängen, ihm wurde schwindlig. Dies also, stellte er für sich fest, war der schreckliche Moment des Ertrinkens, wo man erkannte, dass nur noch ein Atemzug Leben und Tod trennte - ein tödlicher Atemzug, wenn man nur Wasser einatmete. Er versuchte, den Moment hinauszuzögern, wie es jeder Ertrinkende tat. Seine Augen quollen vor Panik und Atemnot aus den Höhlen, und er vermutete, dass sein Anblick auf Juuna denselben schrecklichen Eindruck machte wie ihrer auf ihn. Auch Juuna konnte nicht mehr lange durchhalten, er sah es ihr an. Wie würde es dann sein? Wahrscheinlich zappelten sie noch eine Weile herum, bis die Bewegungen erlahmten, und alles aufhörte, selbst der Schmerz und die Angst, und sie... Es ging nicht mehr, er konnte den Reflex nicht mehr länger unterdrücken. Karri riss den Mund auf, ließ das Wasser ungehindert einströmen, erwartete den grässlichen Moment des Erstickens... und stellte fest, dass das Wasser seine Lungen niemals erreichte. Sein veränderter Metabolismus griff jetzt instinktiv ein, versiegelte die Kehle und schleuste das Wasser umgehend durch die neuen Klappen an seinem Hals wieder hinaus, die Kiemen öffneten sich, filterten den Sauerstoff heraus, verteilten ihn im Blutkreislauf, und Karri stellte verdutzt fest, dass er tatsächlich unter Wasser atmen konnte und ganz sicher nicht sterben würde. In Juunas aufgerissenen Augen erkannte er, dass sie soeben dasselbe durchmachte. Sie ließen sich los und wagten den ersten vorsichtigen Schwimmzug. Und dann sausten sie durch das Wasser, als wären sie niemals außerhalb gewesen, selbst der einstmals so wasserscheue Karri. Zum ersten Mal seit der Entführung und Begegnung mit den Außerirdischen durchlebte Karri ein ungeheures Glücksgefühl. Am liebsten hätte er laut gejubelt, aber das wäre trotz allem nicht angebracht gewesen. Diese Genugtuung wollte er Siroona nicht gönnen, sonst erwartete sie am Ende noch Dankbarkeit. Und das wäre zu viel gewesen. Aber in diesem Augenblick war Karri glücklich, noch am Leben zu sein. Und er war froh, dass Juuna ihn dazu gezwungen hatte, durchzuhalten. Sie war immer noch an seiner Seite. Mit ihr, dachte Karri, konnte er alles durchstehen. Das Wichtigste war, dass sie zusammen blieben. Alles andere war zweitrangig. Allmählich fing er an, sich mit seinem Schicksal nicht nur abzufinden, sondern auch zu versöhnen.
Nachdem Karri und Juuna gezeigt hatten, dass Siroonas Gencocktail genau richtig war, wurden im Eilverfahren alle übrigen Luuren angepasst. Diesen war das Recht, denn nun konnten sie endlich die drangvolle Enge ihrer Unterkünfte verlassen und sich in der fast grenzenlosen Weite des Was serwürfels entfalten. Die Anpassung klappte nicht bei allen. Manche reagierten allergisch, andere überhaupt nicht. Am tragischsten traf es Gatay. Bei ihm brachte der injizierte Gencocktail ungebremste Veränderungen hervor. Wucherungen platzten durch seine Haut, auf dem Rücken wuchs ihm ein Knochenkamm. Schon nach der zweiten Injektion musste er ins Wasser, weil seine Lungen ihre Tätigkeit eingestellt hatten. Karri und Juuna kümmerten sich um ihn, doch sie konnten nicht viel machen außer Trost spenden. Gatays Beine wuchsen zusammen und bildeten Flossen, seine Arme verlängerten sich, die Finger wurden lang und dünn, mit Schwimmhäuten, die schon am ersten Fingerglied wuchsen. Der ehemalige Regierungsrat wurde immer größer und monströser. Bald war sein Kopf so
zugewuchert, dass er nicht mehr sprechen und nichts mehr sehen konnte. Kurz darauf starb er.
Andere starben schneller. Die Artgenossen trauerten um jeden Einzelnen von ihnen. Nun waren sie
gemeinsam so weit gegangen, es war schwer, sich damit abfinden zu müssen, dass es nicht alle
schafften.
Doch statistisch betrachtet war es nicht mehr als ein Prozent, das die Anpassungsprozedur nicht
überlebte. Das war ein hervorragender Schnitt und verdeutlichte die Fähigkeiten der Foronen.
Schließlich waren alle Luuren in das Innere des Kubus entlassen.
Die Arbeit in den Protowiesen konnte nun endgültig aufgenommen werden.
Das war nun endlich eine Aufgabe, der sich die Luuren zuwenden konnten, und sie stellte höchste
Ansprüche. Gab ihrem Leben einen Sinn, forderte sie.
Vor allem Juuna war eifrig dabei; sie stand Mont gegenüber immer noch in der Pflicht, seinen
Anzug zu verbessern. Sie bekam einen Prototyp eines Foronenanzugs und fing an zu
experimentieren. Obwohl sie es nicht gern zugab, reizte sie die Aufgabe.,
Aber Karri erging es nicht anders. Mit derselben Begeisterung, mit der er früher aus Lehm
Kunstwerke geschaffen hatte, stürzten er und seine Artgenossen sich heute auf die Umwandlung
toter organischer Stoffe in Protomaterie, und von Protomaterie in die gewünschte Form
Maschinen, Einrichtungen, eben alles, was die Foronen wünschten.
Und das alles mit ihrer phänomenalen Paragabe. Sie waren tatsächlich Gestalter, großartige
Schöpfer, deren wahres Potenzial aber damit noch lange nicht vollends ausgeschöpft worden war,
sondern gerade erst behutsam aufgebaut wurde. Kein Luure hätte geglaubt, zu welchen Leistungen
er tatsächlich fähig war, hätte er einen Ausblick auf die fantastischen Dinge bekommen, die einst
selbstverständlich sein würden.
Ein erster Höhepunkt war die amorphe Rüstung, die Juuna schließlich Mont präsentierte.
»Ich habe meine Aufgabe erfüllt«, erklärte sie. »Probiere ihn an.«
Mont tat es und war erstaunt. Er wirkte sogar erfreut, falls Juuna sein Verhalten richtig deutete.
»Er ist perfekt«, gab er zu. »Genau das, was wir brauchen.«
»Ich habe es dir gesagt. Ich glaube, ich habe mir das Recht verdient, weiterzuleben.«
»Wie bitte?«
»Nun, unsere Abmachung. Du wolltest mich nur mitnehmen und am Leben lassen, wenn ich diesen
Anzug formen kann.«
»Ach ja?«
»Du erinnerst dich nicht mehr?« Juuna konnte es kaum fassen. Er hatte es vergessen! Einfach so!
»Nein.« Mont strich über das fließende Gewimmel seines Anzugs. »Aber du hast gute Arbeit
geleistet. Du wirst noch sechs weitere solcher Anzüge herstellen.«
»Ja?«
»Wir sind sieben Hirten. Wir benötigen diese Rüstungen für uns, sie werden unsere
Vormachtstellung umso mehr hervorkehren. Aber nur insgesamt sieben, nicht einen mehr,
verstanden?«
»Ja, Herr.« Das war Juuna recht. Sie hatte schon befürchtet, jetzt Zehntausende herstellen zu
müssen, für jeden einzelnen Foronen. Für Fließbandarbeit war sie nicht geschaffen, sie brauchte
ständige Abwechslung, immer neue Herausforderungen.
Aber was sie immer noch nicht überwinden konnte, war Monts Gleichgültigkeit. Juuna hatte die
ganze Zeit über geglaubt, dass ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Dabei hatte der Hirte
wahrscheinlich schon kurz nach dem Abflug ihr Gespräch vergessen, und sie hätte sich überhaupt
keine Sorgen zu machen brauchen.
Nun, das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Es gab andere, wichtigere Dinge, und eines davon
musste Juuna jetzt unbedingt zur Sprache bringen: »Wie ist es eigentlich mit der Reproduktion,
Herr?«
Mont, immer noch mit seinem neuen Anzug beschäftigt, fragte irritiert: »Wovon sprichst du?«
»Ich... bin im Zyklus der Fruchtbarkeit. Und ich möchte mit meinem Gefährten zusammen ein
Gelege gründen. Wäre das möglich?« Juuna war die Frage etwas peinlich, aber sie kam nicht darum
herum. Sie wurde schließlich nicht jünger.
Der Hirte begriff. »Das wäre sogar sehr erwünscht. Je eher, desto besser. Wir brauchen ständig neue
Arbeitskräfte, unser Werk ist noch lange nicht getan.«
»Schön und gut, aber dazu müssen bestimmte Voraussetzungen geschaffen werden, sonst klappt es
nicht.«
»Tatsächlich?«
»Ja. Wir brauchen eine Einrichtung wie auf Luur. Und... eine Intimsphäre. Ein Nest für die Kinder.
Alles Mögliche.«
Mont hob die Hand. »Schafft euch selbst, was ihr braucht. Ihr habt das Material, die Protowiesen.
Macht, was ihr wollt, Platz haben wir genug.«
Hoch zufrieden kehrte Juuna zu ihren Artgenossen zurück, rief Karri, Pakku und noch einige andere
zusammen. »Heute ist ein besonderer Tag, den wir feiern sollten«, sagte sie aufgeregt in die Runde.
»Wir werden den Grundstein für unser eigenes Heim, die Stätte der Luur, legen!«
Die Erlaubnis, passend für die eigenen Bedürfnisse ein Heim zu bauen, spornte die Luuren enorm
an. Nun wussten sie, dass sie in dem Wasserwürfel überleben würden, eine neue Zivilisation
gründen.
Da noch niemand wusste, inwieweit die genetische Veränderung Einfluss auf die Fortpflanzung
hatte, boten sich Karri und Juuna wieder einmal als Versuchsobjekte an.
Diese erste Generation konnte natürlich noch nicht im Wasser geboren und aufgezogen werden.
Karri baute für ihren Nachwuchs das erste Heim, und Juuna stattete es innen aus. Es stand ihrer
Wohnung auf Luur in nichts nach, als es fertig war. Sogar Blumen formte sie aus der Protomaterie,
unvergänglich und leuchtend. Die Wände waren undurchsichtig, mit Platten verkleidet, reichhaltig
mit Ornamenten verziert. In den Räumen herrschte ein warmes, diffuses Licht. Juuna schuf
Sandkuhlen, die denen auf Luur sehr ähnlich waren, eine für sich und eine für das Gelege.
Als sie fertig waren, spürte Juuna, dass es soweit war, und zog sich zurück. Nicht einmal Karri
durfte jetzt zu ihr, und für einige Zeit wusste niemand, was im Inneren der »Brutkammer«, wie sie
es scherzhaft nannten, vor sich ging.
Schließlich tauchte Juuna in der Schleuse auf und gab Karri, der wie vereinbart jeden
Schichtwechsel einige Zeit davor wartete, ein Zeichen.
Das war der aufregendste Moment in Karris Leben. Juunas Gesicht war undurchdringlich, er wusste
also nicht, was auf ihn zukam.
Doch was er dann erblickte, hätte er niemals erwartet.
Es waren Vierlinge! Vier entzückende, kleine, quakende Lurche, die unsicher und wacklig in der
Sandkuhle herumkrabbelten und erste zaghafte Versuche unternahmen, miteinander zu spielen.
Karri platzte beinahe vor Stolz und war Juuna mehr denn je ergeben. »Jetzt wird alles gut«, meinte
er voller Hoffnung.
Auch die Untersuchungen ergaben, was der erste Augenschein versprochen hatte: Die Kinder waren
gesund, und sie trugen bereits die neuen Erbanlagen in sich.
»Bereits die dritte Generation wird im Wasser geboren werden«, prophezeite Pakku. »Oder in
Trockenkammern, wie es uns beliebt.«
Wobei die Luuren bereits jetzt das Wasser nicht mehr gern verließen. Sie genossen die
Schwerelosigkeit, die unbeschränkte Freiheit. Im Trockenen fühlten sie sich gar nicht mehr so wohl,
die Haut trocknete schnell aus, man spürte sein eigenes Gewicht und konnte nicht mehr
unbeschwert dahin treiben.
Der Wandel war schnell vollzogen, genauso wie bei den Heukonen.
Die Luuren hatten ihren Platz gefunden.
8. Die Vaaren
Nun ist es hoffentlich bald zu Ende, dachte John Cloud, der allmählich ungeduldig wurde. Die Geschichte der Vaaren stand noch aus, aber sie kam jetzt hoffentlich dran. Es genügte jetzt, mehr brauchte er wirklich nicht zu wissen. Generationen vergingen. Das Leben spielte sich ein, und bald wussten die Luuren nichts mehr über ihre Vergangenheit. Natürlich wurden noch die Geschichten weitergegeben, doch sie klangen inzwischen wie Märchen, Legenden aus uralter Zeit, von einem fernen, mystischen Ort. Die Lebenserwartung der Luuren wurde drastisch eingeschränkt. Lediglich der Erste Aufbereiter erhielt eine ums Fünffache verlängerte Spanne. Eine von den Foronen genetisch installierte Innere Uhr beendete das Leben genau im vorgesehenen Moment. Die Luuren waren inzwischen in allen wichtigen Bereichen des Kubus angesiedelt. Ihr bald nach der Eingewöhnung eingeführtes Kastensystem hatte sich bisher bestens bewährt. Ihre Schöpfungen suchten ihresgleichen und waren einzigartig. Mit den Heukonen hatten sie nicht mehr so viel Kontakt wie zu Beginn. Die beiden Völker hatten sich schnell auseinander gelebt, nachdem jeder seine spezielle Aufgabe zugewiesen bekommen hatte. Ihre Einsatzbereiche waren zu weit entfernt, jeder achtete nur auf die Erfüllung seiner ihm auferlegten Pflicht. Der Kontakt mit den sieben Hirten fand nur noch gelegentlich statt. Fast wurden sie schon zur Legende, als jene allmächtigen Herrscher, die weit über allem standen und von ihrer unerreichbar hohen Warte aus jeden einzelnen Vorgang im Kubus genau beobachteten, darüber wachten, und Befehle erteilten. Mancher Luure hielt sie für Schöpfer, denn immerhin hatten sie etwas so Großartiges wie den Wasserkubus erschaffen. Natürlich mit der Hilfe anderer, den Heukonen, so wie die Luuren Helfer waren. Aber das änderte nichts an der Allmacht der Hirten, die sich jederzeit ihrer Helfer bedienen konnten, wie es ihnen beliebte. Zweifel kam nie auf. Nicht, weil es niemand wagte - es gab keinen Grund dazu. Die Dinge waren, wie sie waren, daran gab es nichts zu rütteln. Sie kannten nichts anderes mehr. Nur einmal kam Unruhe auf, als sich die Hohen Sieben noch einmal auf den Monitoren überall im Kubus zeigten. »Wir setzen euch davon in Kenntnis, dass es eine neue Spezies gibt«, sprach Sobek, der Oberste der Hirten. »Es ist eine ganz besondere Spezies, die es nie zuvor gab. Ihr werdet sie Vaaren nennen. Und ihr werdet ihnen gehorchen. Sie sind ab sofort eure Herren, sie werden eure Arbeit organisieren und kontrollieren. Es gibt keinen Zweifel an ihrer Vormachtstellung. Ihre Aufgaben und alles Weitere werden sie euch dann selbst präsentieren. Empfangt die Vaaren mit dem gebotenen Respekt.« Das war natürlich eine Überraschung, mit der niemand gerechnet hatte. Viele Fragen schwirrten durch die Wasser des Kubus. Woher kamen die Vaaren? Wer waren sie? Wo wurden sie rekrutiert? Antworten wurden bald gefunden und gegeben: Die obersten Techniker der Heukonen wussten, dass in letzter Zeit kein Volk aufgenommen und verändert wurde. Es handelte sich vielmehr um ein geheimes Projekt, an dem die Foronen seit vielen Jahren in strenger Zurückgezogenheit gearbeitet hatten - und nun das Ergebnis präsentierten: die Vaaren. Sie waren eine Züchtung, entstanden in den foronischen Genlabors, aus Biomasse herangewachsen. Or ganisches, absolut neu geschaffenes Leben, was noch viel mehr war, als die Luuren jemals zu schaffen in der Lage waren. Über die Zutaten wurde nichts bekannt, also aus welchem Genpool dieses geheimnisvolle neue Volk entstanden war. Die Foronen bewiesen, dass sie ihren Hilfsvölkern noch immer um ein großes Stück voraus waren und eine ungeheure Macht besaßen. Die Heukonen murrten allerdings schon. Bisher hatten sie die Vormachtstellung inne gehabt, und nun sollten sie sie einfach räumen? Das passte ihnen ganz und gar nicht. Aber da sie nicht wussten,
wie sie protestieren sollten, und es auch nicht wagten, fügten sie sich letztendlich. Die Luuren, die ohnehin in der Rangordnung ganz unten standen, hatten kein Problem damit. Ihr Wille war schon lange gebrochen worden. Solange sich in ihrer Arbeit nichts änderte und sie ihr Leben so führen durften, wie sie es gewohnt waren, war es ihnen ziemlich schnuppe, von wem sic die Anweisungen erhielten.
Es dauerte nicht lange, bis sich die Vaaren vorstellten. Logge sah sie als Erster in seiner Abteilung.
Er war zum Wachdienstüber die Protowiesen eingeteilt. Natürlich wechselten sich die Schichten
rund um die Uhr ab, aber es gab immer Ruhephasen, in denen die Protowiesen nicht gestört werden
durften. Es hatte sich herausgestellt, dass sie dann leichter formbar waren.
Logge schwamm ruhig über die Wiesen dahin. Der Wachdienst war eine angenehme Einrichtung,
man wurde von niemandem gestört und konnte entspannt eigenen Gedanken nachhängen.
Da sah Logge auf einmal in der Ferne ein diffuses, weißliches Leuchten, das allmählich näher kam.
Es sah aus wie... ja, weiße Fäden, die scheinbar ziellos durchs Wasser waberten, jedoch Kurs auf
ihn nahmen.
Der junge Luure überlegte, Alarm zu schlagen. Immerhin hatte es so eine Erscheinung noch nie
gegeben, und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Andererseits war es lächerlich, welche Gefahren konnte es im Kubus denn schon geben?
Doch nun hatten ihn die weißen Fäden schon erreicht, umschwebten ihn, berührten ihn... und da
hatte Logge auf einmal Bilder in seinem Kopf, die ihm etwas übermittelten, das er später, seinen
Artgenossen gegenüber, als Dialog wiedergab:
Hab keine Angst.
Was bist du?
Wir sind die Vaaren. Wir kommen, um dir zu zeigen, wer wir sind. Wir sind gerade überall im
Kubus unterwegs und stellen uns vor. Verstehst du, dass wir deine Herren sind?
Logge dachte erschrocken: Wie können weiße Fäden so denken? Und mir solche Bilder übermitteln? Er wagte sich nicht mehr zu rühren, als sich in seinem Gehirn ein mächtiger Druck aufbaute, als würde es von allen Seiten zusammengequetscht. Das tat nicht wirklich weh, aber es war sehr unangenehm. Anscheinend wurde ihm gerade sehr deutlich gemacht, dass die Vaaren keine Fragen und Zweifel duldeten. Wir sind die Vaaren. Du wirst es sehen. Die weißen Fäden, die ihn regelrecht umschlungen hatten, lösten sich jetzt von Logge, tanzten durch das Wasser, und dann fingen sie an, sich miteinander zu verflechten, eine Form anzunehmen, Gestalt... Getrennt voneinander entstanden zwei ätherische, weiß leuchtende Gestalten, wie eine anmutige, schmale, zarte Ausgabe der Foronen. Wie zwei Seelen, die einen Körper annehmen konnten. Ihr seid das Schönste, das ich je gesehen habe, gestand Logge hingerissen. Eine der ätherischen Gestalten berührte ihn behutsam, es war ein sanftes Streicheln, kaum zu spüren, aber dafür drangen die telepathischen Bildübertragungen umso machtvoller in seinen Verstand. Wir werden gut für dich und deinesgleichen sorgen, Logge. An eurem Leben wird sich nichts ändern, wir werden darauf so wenig Einfluss wie möglich nehmen.
Bald wusste jeder Heukone und jeder Luure, um wen es sich bei den Vaaren handelte. Sie ließen keinerlei Zweifel darüber offen, dass sie ihre Aufgabe als oberste Instanz sehr ernst nahmen. Sie
agierten anstelle der Hirten, die sich nun gänzlich in den Hintergrund zurückzogen. Aber auch die Vaaren führten ein heimliches Leben. Es wurde nichts weiter über sie bekannt, weder über ihre Herkunft, noch wie sie lebten, sich vermehrten, wie lange ihre Lebensdauer war, wovon sie sich ernährten. Sie waren und blieben ein geheimnisvolles, unergründliches Volk. Die Vaaren errichteten gewaltige Korallenstädte, in denen man sich leicht verlieren konnte, begannen mit einem Zentrum, um das herum sich die Stadt gleichmäßig in alle Richtungen ausbreitete. Im Herzen der größten Stadt befand sich der Königinnenpalast. Die Königin der Vaaren besaß die höchste Macht und alle notwendigen Befugnisse, um über Gericht zu sitzen und Urteile zu fällen. So etwas kam sehr selten vor, denn Heukonen und Luuren wussten ganz genau, wo ihr Platz war. Im Auftrag der Vaaren halfen sie bei der technischen Einrichtung der Korallenstädte, bauten Raumschiffe für sie, mit denen sie sich durch den Kubus bewegten, und verfeinerten die Technik. Die Vollendung des Kubus stand kurz bevor. Mit der Erschaffung des Protowesens Taurt erreichten die Luuren den vorläufigen Höhepunkt ihres Könnens, von jetzt an durften sie sich zu Recht als »Meister der Materie« bezeichnen. Taurt war in jeder Hinsicht perfekt und dafür ausersehen, die Ewige Stätte zu schaffen, in der SESHA positioniert werden sollte. Dies war nochmals ein großes, lange dauerndes Werk, das den Hilfsvölkern alles abverlangte. In dieser Zeit verblasste allmählich die Erinnerung an die Sieben Hohen Hirten. Noch vor der Erschaffung Taurts hatte man sie nicht mehr gesehen. Der für diesen Zweck geschaffene Wächter durfte sich überall frei bewegen und wusste innerhalb kürzester Zeit alles, was innerhalb des Kubus vor sich ging. Er nahm das Heft in die Hand. Taurt stand sogar noch über den Vaaren. Er war nun die allerhöchste Instanz und machte den Hilfsvölkern klar, dass die Hirten längst nur noch Legende waren, Götter, die sich für immer in ihr Elysium zurückgezogen hatten, da ihre Schöpfung nun vollendet war. Der Name »Forone« wurde nirgends mehr erwähnt, das Wissen über das Aussehen der Schöpfer ausgemerzt. Die Ewige Stätte wurde zum Heiligen Bezirk ernannt, den niemand bei Todesstrafe betreten durfte, denn sonst, so hieß es, würde der gesamte Kubus untergehen. Die Grenze wurde von treibenden holografischen Tafeln markiert, die die Hirten als Vermächtnis hinterlassen hatten, bevor sie sich endgültig auf die SESHA zurückzogen. Das gewaltige Projekt war damit vollendet, und Taurt übernahm die Aufgabe des Wächters. Die Spuren waren allesamt verwischt, nichts wies mehr auf die Foronen als Erschaffer des Kubus hin. Heukonen und Luuren hatten vergessen, wer die Hirten waren, und die Vaaren bewachten den Heiligen Bezirk und sorgten dafür, dass niemand die Gebote übertrat. Auch sie selbst wussten nicht mehr, weshalb. Doch sie versahen ihren Dienst voller Leidenschaft und Hingabe, in religiöser Verehrung der geheimnisvollen Schöpfer, die inzwischen namenlos waren. Mit ihren Protomaschinen suchten die Vaaren ständig den Kubus nach unerwünschten Eindringlingen ab und eliminierten sie, um sie in den Kreislauf einzufügen und zu Protomaterie umwandeln zu lassen. Als Taurt nach Jahrhunderten feststellte, dass alles planmäßig lief, dass das Leben sich eingespielt hatte und jeder seiner Aufgabe nachging, ohne sie zu hinterfragen, als die Vergangenheit nur mehr ein dunkler Schatten war, über den man nichts mehr wusste, zog auch er sich zurück. Er bezog seine eigene Heimstatt, um von hier aus mit seinen mentalen Kräften die Vorgänge im Kubus zu überwachen, zu ruhen und auf das Erwachen seiner Herren eines fernen Tages zu warten. Bald war auch Taurt vergessen, und niemand wusste mehr, dass die Vaaren nicht die wahren Herrscher des Kubus waren. Während Sobek und seine Gefährten, während das gesamte verbliebene Volk der Foronen in Stasis verharrte und die Jahrtausende ohne zu altern schlafend überdauerte, zog der Aqua-Kubus seine einsame Bahn durch das Universum, wartend auf den Tag des Erwachens. 9.
Was wird die Zukunft bringen? Taurt schwieg. Der Bericht war endlich zu Ende. Für eine Weile herrschte Schweigen. Zunächst musste das Gehörte verdaut, zusammengefasst und geordnet werden. »Was ich an der ganzen Sache nicht verstehe«, sagte John Cloud schließlich, »ist dieses viele Wasser. Weshalb ausgerechnet ein geflutetes Raumschiff?« »Ich dachte, das wäre längst offensichtlich geworden«, antwortete Sobek. »Wo würdest du dich verstecken, um den Feind in die Irre zu führen?« Cloud runzelte die Stirn. Dann hellte sich sein Gesicht auf. »Natürlich dort, wo er es nicht vermutet. Und Wasser ist für euch...?« »Äußerst unangenehm«, vollendete der Hirte den Satz. Wie stets war seinknöchernes Gesicht starr, es besaß keine Mimik in menschlichem Sinne. Cloud hatte allerdings das Gefühl, als würde eine leichte Wellenbewegung über seine dünne Gesichtshaut wogen. Ein Ausdruck unangenehmen Befindens? Erschauern? Sobek fuhr fort: »Wir kommen aus der Wüste. Heiße, trockene Luft, glühender Sand, das ist unser Element. Dort, wo es am ödesten ist, sind wir glücklich.« »Aber... dort gibt es doch nichts«, wandte Jarvis ein. »Wie habt ihr es geschafft, euch so zu entwickeln? Wovon habt ihr euch ernährt, wenn nicht von Tieren oder Pflanzen? Und ihr könnt doch nicht ganz auf Wasser verzichten, oder?« Cloud beobachtete den Hirten aus halb geschlossenen Augen. Zum ersten Mal zeigte Sobek sich geradezu redselig, wenn nicht gar leutselig. Dass er sich nun offenbarte, musste einen Hintergedanken haben. Von menschlicher Warte aus betrachtet ging John Cloud davon aus, dass Sobek auf der Suche nach Verbündeten war und jetzt eine Art Vertrauensbeweis lieferte, nachdem er Cloud und seine Leute wohl für »würdig« befunden hatte. Im Augenblick spielte es allerdings keine Rolle. Cloud entschloss sich weiterhin zu gesundem Misstrauen und sah keinen Grund, Sobek fortan als vertrauenswürdig einzustufen. So, wie er die Foronen bisher kennen gelernt hatte, handelten sie niemals emotional oder impulsiv. Einzig und allein auf ihren Vorteil bedacht, versuchten sie alles und jeden für ihre Zwecke zu benutzen. Was sie dabei anderen antaten, bekümmerte sie nicht im Geringsten. Die Moralbegriffe, mit denen John Cloud aufgewachsen war, waren ihnen völlig unbekannt. Falls sie überhaupt eine Moral besaßen, bezog sie sich nur auf sie selbst - und zwar eher noch auf die Anführer der Foronen, als auf das ganze Volk; auch hier wurden Unterschiede gemacht, wie Cloud bereits beobachtet hatte. Jedenfalls war es interessant, was Sobek preisgab: »Unsere Heimatwelt besaß eine ganz besondere Atmosphäre. Sie war sehr stark mit Schwebepartikeln angereichert, Nährpartikeln, die wir durch unsere Haut aufnahmen. Wir brauchten uns nur auf einen Dünenkamm zu stellen, in den Wind, und uns berieseln lassen.« »Dazu waren sicher viele Stunden notwendig«, meinte Jarvis. »In den Dämmerungsstunden morgens und abends war die Luft am meisten damit angereichert, und es gab immer Wind. Das reichte aus.« »Dann atmet ihr vermutlich auch über die Haut«, äußerte Cloud. »Und eure Anzüge sind in Klimazonen außerhalb eurer Ursprungswelt überlebensnotwendig?« »Richtig erkannt«, stimmte Sobek zu. »Wir haben allerdings an unserem Kopf spezielle Atemöffnungen, mit denen wir aus nährstoffarmer, dünner Luft Sauerstoff filtern können. Damit können wir für einige Zeit auch ohne Anzug überleben. Aber um Nährstoffe aufnehmen zu können, müssen wir uns in spezielle Kammern begeben, die auf der SESHA in für euch unzugänglichen Bereichen liegen. Für uns Hirten gibt es allerdings eine Erleichterung: Unsere speziellen Rüstungen sind in der Lage, uns Nährstoffe im ausreichenden Maße zuzuführen, so dass wir ungebunden sind.« John Cloud nickte, das hatte er nach den bisherigen Ausführungen vermutet. Die ungewöhnliche Physiognomie der Foronen erklärte sich nun, weshalb sie keine Augen, keine Kauwerkzeuge, keine ausgeprägten Geruchsorgane besaßen. Auf ihrer Ursprungswelt war dies alles nicht notwendig
gewesen, sie hatten niemals auf die Jagd gehen oder Landwirtschaft betreiben müssen. Umso erstaunlicher war es, zu welcher Größe und Intelligenz sich diese Wesen entwickelt hatten. Irgendein entscheidender Faktor in der Evolution, der auf der Erde unbekannt war...
»Es muss euch große Überwindung gekostet haben, den Aqua-Kubus überhaupt zu planen«,
bemerkte Cloud.
»In der Tat gab es erheblichen Widerstand«, bestätigte Sobek. »Viele Angehörige meines Volkes
konnten sich nicht vorstellen, in der Umgebung von Wasser weiterexistieren zu müssen. Selbst das
Argument der Stasis fand kaum Anklang - die Vorstellung, ertrinken zu müssen, ist so etwas wie
eine Urangst von uns. Auch technischer Fortschritt kann so etwas nicht einfach austilgen.«
»Dann kam es also darauf an, welche Furcht größer war - die vor den Virgh, oder dem Wasser«,
meldete sich Jarvis zu Wort.
»Letztendlich ging es um die Existenz. Als Anführer unseres Volkes hatten wir Hirten das letzte
Wort, und wir entschieden übereinstimmend, dass der Plan durchgeführt wurde. Unser Volk musste
sich fügen. Wir versprachen den Foronen, die den größten Widerwillen hatten, als Erste in Stasis
gehen zu dürfen, und damit brach der Widerstand.«
»Aber was machte euch so sicher, dass die Virgh auf den Trick hereinfielen?«
Sobek stieß ein schnarrendes Geräusch durch seine Sprechmembran aus. »Ganz einfach, wir haben
stets nur Wüstenplaneten erobert und kolonisiert. Sie fanden uns auf keinem einzigen Planeten, der
auf der Oberfläche einen größeren Wasseranteil hatte. Selbst als die Hetzjagd losging, mieden wir
solche Planeten, und die Virgh bekamen durchaus mit, was mit uns vorging, wenn wir auf feuchten
Planeten notlanden mussten. Sie machten sich sogar einen Spaß daraus, uns dorthin zu jagen, ehe
sie uns abschossen. Der Gedanke an viel Wasser war für uns damals noch undenkbar. Und genau
deshalb kamen wir auf diesen zunächst absurd erscheinenden Plan.«
»Und bis heute hat es funktioniert.« Jarvis betrachtete einen Moment die größtenteils versteinerten,
uralten Korallenstämme. Ein Plan, der über die Jahrtausende hinweg durchgeführt wurde.
Unvorstellbar selbst für einen genoptimierten, nahezu perfekten Menschen wie ihn.
Wie schnell einen die Vergänglichkeit einholen konnte, hatte Jarvis erst vor kurzem am eigenen
Leib erlebt. Nun steckte sein Bewusstsein in diesem Amorphen; ein Zustand, über den er zuvor
niemals nachgedacht, den er vermutlich sogar entsetzt abgelehnt hätte.
Ein kurzer Blickaustausch zeigte Jarvis, dass Cloud dasselbe dachte wie er:
Eine kleine Unregelmäßigkeit konnte dazu führen, dass ein Vorhaben in einer Katastrophe endete.
Doch den Foronen war es gelungen, ein Meisterwerk zu schaffen, das alle Zeiten unbeschadet
überstand und seinen vorgezeichneten Weg ging. Das war eine Leistung, die Achtung verdiente,
auch wenn man dem Charakter des Volkes aus der Großen Magellanschen Wolke nicht viel
abgewinnen konnte.
Die Foronen waren Eroberer, machtbesessen und despotisch. Aber auch geniale Erfinder und
Strategen.
Sobek stimmte Jarvis zu: »Funktioniert? Ja, so sieht es aus. Aber es besteht kein Grund zur
Euphorie. Noch wissen wir nicht, ob diese Opfer von Wert waren. Irgendwo dort draußen können
immer noch die Virgh auf der Lauer liegen - oder die Herren der Großen Magellanschen Wolke
sein, wie ihr unsere Heimatgalaxis Samragh nennt.«
»Glaubst du im Ernst, dass die Virgh immer noch auf der Suche nach euch sind?«, fragte Cloud
ungläubig.
»Wir sind doch auch noch hier«, antwortete Sobek schlicht.
»Aber es kann sich inzwischen viel verändert haben...«, gab Jarvis zu bedenken.
»Nichts hat sich geändert«, dröhnte Sobeks Stimme durch den uralten Prunksaal. »Mir ist klar, dass
kurzlebige Wesen wie Menschen nichts von diesen Dingen verstehen. Aber du kannst mir glauben,
Jarvis, das diese Geschichte noch nicht zu Ende ist.«
»Es ist jedenfalls die Geschichte eines beispiellosen Versteckspiels«, räumte John Cloud ein.
Eine Weile herrschte Stille; Sobek schien leicht abwesend zu sein. Vermutlich übermittelte er gerade mental Befehle. »Aber jetzt drängt sich mir die Frage auf: Was habt ihr vor? Wie soll es weitergehen?« So beeindruckt Cloud auch war, allmählich musste Sobek zum Kern der Sache kommen. Die Historie, die Taurt berichtet hatte, konnte nicht allein der Selbstdarstellung dienen. »Ja, wollt ihr euch immer weiter Systeme einverleiben und Sklavenvölker heranzüchten?«, schlug Jarvis in dieselbe Kerbe. Sobek hob eine Hand; vermutlich nicht, um zu beschwichtigen, sondern um einen weiteren Wortschwall zu verhindern. Seine hoch aufgerichtete Haltung machte ziemlich deutlich, dass er keinen Widerspruch oder verbalen Angriff gegen sich duldete. »Keineswegs. Was Tovah'Zara betrifft, so ist es vollendet. Nicht zuletzt dank Taurt.« Er wies auf das Protogeschöpf, das sich schweigend, ohne jemanden zu beachten, auf einem zusammengestürzten Korallenstamm lümmelte. Der Hirte fuhr fort: »Die wichtigste Waffe gegen unseren Erzfeind war die Zeit. In Tovah'Zara sollte eine kleine Ewigkeit überbrückt werden. Nachdem die Virgh uns solange nicht gefunden haben, hegen wir die Hoffnung, dass sie möglicherweise nicht bis heute überdauert haben - oder degeneriert sind. Es gibt einige Möglichkeiten, aber wie ich vorhin schon sagte: Solange wir es nicht wissen, besteht kein Grund zur Euphorie.« »Das Wichtigste an diesem Plan war natürlich die Ewige Stätte«, erklang unerwartet Taurts trockene Stimme aus dem Hintergrund. »Sie war meine Hauptaufgabe, denn sie war für diesen einen großen Moment in langen Jahrhunderten der Mühsal erschaffen worden. Sie musste vervollkommnet und gepflegt werden, um nach dieser langen Periode zu funktionieren. Es gab ja keinen Testlauf oder so.« »Was ihr erlebt habt, war etwas Einmaliges, das Ergebnis all dieser Bemühungen, und der Kernpunkt unseres Plans«, setzte Sobek fort. »Nun, nachdem es uns gelungen ist, SESHA zu vervielfachen, einschließlich unserer größten Waffe Torrel, besitzen wir ein gewaltiges Machtpotenzial, das uns die triumphale Rückkehr nach Samragh ermöglicht. Wir haben eine unüberwindliche Flotte und keinen Grund mehr, vor den Virgh zu fliehen. Ab jetzt wird es umgekehrt sein.« John Cloud fröstelte es, unbewusst rieb er sich die Arme. Er wusste nicht, ob Sobek allein größenwahnsinnig war, oder ob die übrigen fünf verbliebenen Hirten ihn voll unterstützten. Ihm schwindelte bei dem Gedanken, was die Foronen mit ihrer Flotte in der Großen Magellanschen Wolke anrichten mochten, besessen von einer jahrtausendealten Furcht vor einem Erzfeind und dem Wunsch, den verlorenen Thron zurückzuerobern. Immerhin, mochte man sagen, besser dort als in der Milchstraße, die bereits genug eigene Probleme hatte. So weit entfernt waren die Erinjij, die heutigen Menschen, auch nicht mehr von dem Machtstreben der Foronen. Cloud erinnerte sich an Szenen aus Taurts Bericht, unter anderem an ein System, das von skorpionund spinnenähnlichen Wesen bevölkert gewesen war, den Pandinen und Dolomeden. Diese beiden Völker hatten einen äonenlangen Krieg gegeneinander geführt. Und genau in dem Moment, als sie endlich Frieden geschlossen hatten und dabei waren, gemeinsam den Weltraum zu erobern, waren sie vom Aqua-Kubus verschlungen worden, dessen Wasser alles Leben auslöschte. Welch grausame Ironie, dachte der Mann. Welch ein Glück für uns, dass die Foronen das Solsystem als Verteidigungswall gegen die Virgh wählten, anstatt es sich ebenfalls einzuverleiben. Aber wozu das Ganze? Weshalb haben sie alles auf ihrem Weg vernichtet, was ihrer Ansicht nach nicht nutzbringend war? Es war John Cloud in diesem Moment gleichgültig, ob Sobek seine Gedanken lesen konnte oder nicht. Er war sich nicht sicher, wie er und seine Gefährten sich nun verhalten sollten. Keinesfalls
sah er sich als Verbündeten der Foronen - aber auch nicht als Feind. Gab es eine Möglichkeit, sich
neutral zu trennen? Würde Sobek sie gehen lassen?
Wohl eher nicht, vermutete Cloud resignierend. Sonst hätte er sich doch nicht die Mühe gemacht,
uns alles zu erzählen.
Seine Abneigung gegen die Foronen wuchs von Minute zu Minute.
»Dann werdet ihr bald aufbrechen?«, fragte er mit so unverfänglicher Stimmlage wie nur möglich.
»Wir«, korrigierte Sobek. »Wir werden gemeinsam aufbrechen und in die alte Heimat
zurückkehren.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, stieß Jarvis hervor. Er warf einen verstörten Blick zu Cloud, der jedoch
nickte.
»Es ist ihm Ernst«, versetzte er.
Irgendwie hatte John Cloud es schon die ganze Zeit gewusst, nicht nur geahnt. Aber er hatte sich
hartnäckig an einen kleinen Rest Hoffnung geklammert, als bisher unbeabsichtigt aufgetauchte
Variable in dem Meisterplan außen vor gelassen zu werden, und hatte sich gewünscht, dass die
Foronen ihn fortschicken und ihre Strategie auf linearem Wege weiter verfolgen würden.
Er hatte sich getäuscht.
Und John Cloud fühlte die Kälte jetzt bis ins Mark seiner Knochen.
ENDE
Sie lasen einen Roman mit der Bastei Zinne.
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