Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 35
Das Erbe des Träumers von Hans Kneifel
Die Hauptpersonen des Romans: Akkathos – Ei...
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Dragon – Söhne von Atlantis Nr. 35
Das Erbe des Träumers von Hans Kneifel
Die Hauptpersonen des Romans: Akkathos – Ein Wanderer am Ende seines Weges. Dragon – Der Atlanter wird zum Träger eines dritten Auges. Umkathel – Ein Prophet wird befragt. Aerula-thane – Eine große Wanderwolke. Honigvogel – Bewohnerin der Ruinen von Merlane. Dragon, der König von Myra, ist weiter denn je von der Hauptstadt seines Reiches entfernt, das er mit dem Schwert eroberte. Denn als der König zusammen mit Ubali, seinem treuen Kampfgefährten, im »Götterwagen« nach Norden flog, um nach Spuren seiner atlantischen Vergangenheit zu suchen, wurde er in erbitterte Kämpfe mit einer Armee von Bestien verwickelt, die aus einem Weltentor hervorfluteten und die Bewohner des Eislands zu überrennen drohten. Um weitere mögliche Invasionen zu verhindern, blieb Dragon nichts anderes übrig, als selbst durch das Tor zu gehen und Danilas Welt zu betreten. Als dann Arric seinen Verrat begeht und das Weltentor für immer schließt, müssen Dragon und Ubali – jeder für sich, da sie getrennt werden – auf der fremden, wilden und gefährlichen Welt sofort um ihr Leben kämpfen, ehe sie überhaupt nach einer Möglichkeit der Rückkehr suchen können. Während Ubali im Reich der Tiermenschen mannigfaltige Kämpfe und Gefahren zu bestehen hat, ist Dragon – vorläufig wenigstens – ein glücklicheres Los beschieden, denn er erfreut sich als Danilas Retter der Gastfreundschaft von Odalik und dessen Leuten. Doch der Atlanter, der in Aerula-thane, der durch sein Eingreifen befreiten Wanderwolke, zugleich einen verläßlichen Weggenossen und ein schnelles Transportmittel gefunden hat, verläßt Odalik und seine Stammesgenossen schon nach kurzem Aufenthalt. Der Grund für Dragons Aufbruch ist DAS ERBE DES TRÄUMERS ...
1.
Der blinde Mann glaubte zu sehen, wie bleiche Nebelfetzen zwischen den Baumstrünken dahintrieben und sich langsam auflösten. Die Lähmung, die in der Nacht seinen geschundenen, kranken Körper heimgesucht hatte, ging langsam vorüber. Die Dunkelheit war vergangen, waagerecht fielen einzelne Sonnenstrahlen durch den dicht stehenden Wall der unzähligen Baumstämme. Der blinde Mann bewegte sich. Dabei stöhnte er vor Schmerzen. Sie waren überall, im Innern seines Körpers und in jedem Muskel. Der Körper sah gräßlich aus. Die bronzefarbene, schmutzige Haut war voller Insektenstiche, die sich entzündet hatten. Lange, schlechtverheilte Schnitte zogen sich kreuz und quer über die Glieder. Knie und Ellbogen waren voller Schorf, der hin und wieder aufbrach und blutete und eiterte. Mühsam richtete sich der Wanderer auf. Er umfaßte mit langsamen Bewegungen mit den Händen die Knie und drehte behutsam den Kopf. Sofort überfielen ihn wieder die Kopfschmerzen. Jeder Atemzug wurde zur Qual. Ich werde bald sterben. Aber ich muß meinen Weg zu Ende gehen. Ich bin schon lange in den warmen Zonen. Früher oder später stoße ich auf einen Stamm, der mich in Frieden sterben lassen wird und mir ein Begräbnis angedeihen läßt. Es lohnt sich, noch ein paar Anstrengungen auf mich zu nehmen. Die Krankheit war in ihm. Sie würde ihn niemals wieder verlassen. Er spürte es mit der Gewißheit eines Menschen, der schon zu lange gelebt hatte.
Die Morgenkälte überfiel seinen ungeschützten Körper, an dem er nur ein verschmutztes und zerrissenes Lendentuch und einen alten ledernen Gürtel trug. Vor ein paar Tagen hatte er den Rest der Stiefel weggeworfen. Auf der feuchten Haut bildeten sich zahllose kleine Erhebungen. Ein Schüttelfrost ergriff den Mann und quälte ihn erneut. Ich muß aufstehen. Etwas essen und trinken. Dann wieder nach Süden. So, daß ich die Sonne niemals im Rücken habe. Ich bin sicher, daß ich jemanden treffen werde! Und wenn es ein Wegelagerer ist, der mir einen schnellen, gnädigen Tod gönnt. Diese Nacht hatte er zwischen den Wurzeln eines mächtigen alten Baumes verbracht. Die knorrigen Ausläufer bildeten in der Nähe des Stammes eine Art offene Höhlung, und die schweren untersten Äste, von Lianen und langen Moosbärten behangen, waren wie ein Zelt gewesen, das Insekten und die Kühle der tiefen Nacht abhielt. Dort, im feuchten Laub und im Moos, hatte er sich zusammengerollt wie ein Tier, das sich zum Sterben legte. Er sah, als er den Kopf hob, die pendelnden Äste und Blätter vor sich. Er wußte nicht mehr, wieviel Tage er seit dem Verlassen der Wolke gewandert war, wieviel Nächte er gewacht, gefroren, gezittert und geschwitzt hatte. Er wußte nur eines genau: Ich werde bald sterben! Trotzdem versuche ich weiterzuwandern, bis mich der letzte Funke Leben verlassen hat! Er griff mühsam in die Zweige über sich und zog sich daran hoch. Sein Körper antwortete mit einer Welle wütender, dumpfer Schmerzen. Sein Schädel dröhnte wie eine Baumnuß, auf die man mit Steinen schlug. Der Ast, in dessen Zweige er seine schlanken, sehnigen Finger mit den Schwären und den abgebrochenen Nägeln
krallte, bewegte sich langsam nach oben, als habe der Baum erkannt, daß der Wanderer Hilfe brauchte. Jetzt stand der Mann da, schwankte leicht und atmete tief ein. Er breitete seine Arme aus und schob die traurig hängenden Zweige zur Seite. Sie öffneten sich wie ein Vorhang. Mit stolpernden Schritten ging der Wanderer geradeaus. Seine verhornten, weißen Augäpfel waren blind und unbrauchbar, aber der Geist des Wanderers erkannte trotzdem, was vor ihm lag. Unter den Sohlen raschelten Laubhaufen und knackten kleine Äste. Rundherum waren die Geräusche kleiner und großer Tiere. Sie schienen sich um den Mann nicht zu kümmern – es schien fast, als würden sie ausweichen. Ich ahne es! Ich habe von ihnen nichts zu befürchten. Sie erkennen, daß ich anders bin und bald sterben werde! Er wußte, wo Wasser war. Nur ein schmaler, klarer Bach mit kaltem Wasser, der sich zwischen den messerscharfen Gräsern durch den Wald wand. Langsam ging er darauf zu. Die Schwäche nistete in seinem Körper. Er sehnte sich nach Sonne, nach einem Tag, der ohne Schmerz sein würde. Direkt vor seinen Füßen sonnten sich zwei schwarze, unterarmlange Schlangen. Ihre Köpfe schnellten hoch, als er sich stolpernd und schwankend näherte. Die dreieckigen Schädel der Schlangen pendelten hin und her. Die Tiere waren aufgeregt und ringelten sich in die Angriffshaltung. Es waren Schlangen, deren Gift nur langsam tötete. Die Tiere zischten und bogen die langen Körper zurück, zielten von rechts und links auf die Knöchel des Wanderers. Er sah und hörte die Reptilien nicht. Dann aber, plötzlich, als habe man sie verscheucht, senkten die Tiere ihre drohenden Schädel wieder, schlos
sen die Rachen mit den hakenförmig gekrümmten Reißzähnen und ringelten sich auf den sonnenbestrahlten Steinen zusammen. Die handgroßen Blätter des Wassergrases richteten sich auf, als sie die erste Bewegung der tastenden Finger spürten. Die Ränder der Gräser waren messerscharf und vermochten die Haut bis auf die Knochen aufzureißen. Als sich die Berührung verstärkte und der Mann die Gräser zur Seite schob, um auf die flachen Steine und den Kies des Bachbettes zu treten, wurden die Blätter wieder schlaff und rollten sich halb ein. In den Wassergräsern bildete sich eine breite Schneise. Er ging zwei Schritte weiter und fühlte das eiskalte Wasser an den Schienbeinen höhersteigen. Der rasende Kopfschmerz machte ihn halb besinnungslos, als er sich bückte und versuchte, Wasser in die hohle Hand zu schöpfen. Er stützte sich mit einem vor Schwäche zitternden Arm ab und rutschte aus. Sein Knie schlug schwer gegen einen spitzen Bachkiesel. Wieder riß eine verschorfte Wunde auf und begann zu bluten. Er warf die Arme auseinander, um seinen Fall abzufangen, aber er schlug schwer in das eiskalte Wasser und kippte zur Seite. Er schrie auf vor Schmerzen. Als das Wasser in Mund und Rachen drang, wurde ein qualvolles Gurgeln und Husten daraus. Der Körper wurde von der Strömung halb herumgerissen, dann faßte er auf den Grund und zog sich hoch. Wieder stolperte der ausgemergelte Mann und fiel in ein tiefes, von der Strömung ausgegrabenes Loch. Nun stand der magere Fremde mit der Bronzehaut und dem jugendlichen Aussehen bis zu den Hüften im Wasser und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Er hustete lange und würgend.
Die zwei abgefaulten Zehen – sie waren auf dem Marsch durch den Schnee und über das Eis verdorben, und er hatte sie mit einem scharfkantigen Stein vom Fuß getrennt – schmerzten rasend. Längst war dort nichts mehr außer einem Knorpel und wild nachgewachsener Haut, aber noch immer fühlte er sie. Der gebrochene Finger der rechten Hand fühlte sich taub an. Von dem Glied ging im Takt des Herzschlags ein pochender Schmerz aus. Er bückte sich. Er wusch sein zerstochenes und aufgequollenes Gesicht mit Wasser und dem feinen Sand, dann versuchte er sich zu säubern, so gut es ging. Wieder trank er. Nur langsam klärte sich sein Kopf, und das Auge Vestas wurde wieder klar und durchscheinend. Plötzlich erstarrte der Wanderer. Rechts von ihm hörte er peitschende Zweige und die Tatzen eines großen und schweren Tieres. Das Gras rauschte, als das Tier sich durch die mannshohen Halme schob. Ein merkwürdiger Geruch kam auf den Wanderer zu. Dann hob er den Kopf und blickte in die Richtung, in der jener helle, flammend gestreifte Wassertiger stand. Die blicklosen weißen Augen starrten, nichts sehend und in ihrer Ausdruckslosigkeit fast drohend, in die Richtung des Raubtiers. Der Ton des sprudelnden Wassers veränderte sich. Der Tiger stand mit beiden Vorderbeinen im Wasser und sah den Fremden an. Es muß immer so sein wie bisher. Eines der Tiere kann mich töten. Aber es ist nicht der Tod, den ich will. Der Tiger trank geräuschlos. Vier Mannslängen waren zwischen dem Fremden und dem hungrigen Raubtier. Nach einiger Zeit riß der
Tiger den Rachen auf, von dem das Wasser perlte. Dann brüllte er einmal kurz und fauchend. Langsam, als wüßte er, daß Akkathos nicht flüchten konnte, schlich der Tiger auf den zitternden, triefenden Mann zu. Das Raubtier spannte seine Muskeln zum entscheidenden Sprung. Sie waren Brüder ... In gewisser Weise waren sie sich so ähnlich wie Zwillinge. Zweihundertfünfzigmal hatten sie den Wechsel des Jahres erlebt, aber noch immer wirkten ihre Körper jugendlich, schlank, sehnig. Beide waren sie einen Kopf größer als der Durchschnitt der Männer dieser Welt. Ihre Haut war bronzefarbig, schwarzes Haar ließ sie jung und männlich wirken. Aber das Haar von Akkathos war naß, schmutzig und verfilzt. Sein Gesicht war mit einem langen Bart bewachsen. Bevor er die Wolke bestiegen hatte, war dies alles anders gewesen, ganz anders ... Akkathos und Akkeron nannten sie sich, die Söhne Himurs. Ihr Vater Himur stammte noch aus der alten, grauen Zeit, in der Sagen und Märchen entstanden waren. Vesta war damals der Herr der Welt. Er, der Herr der Elemente, wurde von jenem Mächtigen gefangengenommen, den man als den Namenlosen heute verwünschte. Der Namenlose aber löste die Fesseln, von denen die Elementargeister gehalten wurden. Damit brach das Chaos über die Welt herein. Auch Vater Himur hatte nicht verhindern können, daß die entfesselten Elemente sich losrissen und aus jeder Ordnung tödliche und gefährliche Unordnung werden ließen.
Himur war der Gehilfe des Namenlosen gewesen. Er aber, dessen beide Söhne heranwuchsen und sich darauf vorbereiteten, ihr Erbe anzutreten, war dem Namenlosen gegenüber ohne Kritik. Der Gehilfe Himur war dem Namenlosen geradezu hörig. Zweimal tausend Jahre lang sorgte er nach der Vertreibung des Namenlosen dafür, daß die Insel unberührt von allen Veränderungen blieb. Von dieser Insel kam Akkathos. Von dort war er verstoßen worden. Zweitausend Jahre lang auf der Insel des Namenlosen. Zweitausend Jahre in der Residenz des ehemaligen Herrschers Vesta. Die Insel wurde zum Gefängnis für Vesta und blieb in dieser ganzen langen Zeit unangetastet und ohne jede Veränderung. Die befreiten Elementargeister legten ihre göttlichen Sitze ringförmig um Vestas Gefängnis an. Sie bauten mit ihren Mitteln gewaltige Sperren. Wildes, tobendes Wasser und wütende, schneidend scharfe oder kochend heiße Winde und Stürme, Wände aus Feuer und erstickendem Gas sorgten dafür, daß niemand die Insel betreten konnte. Sie fürchteten sich davor, daß jemand kommen und Vesta befreien konnte. Aber jeder, der auf der Insel lebte, konnte sie ungehindert verlassen. Diese Insel war nur einer von vielen Teilen der Welt, die sich immer wieder und unaufhörlich veränderten, verwandelten, sich gegenseitig beeinflußten, je nachdem, welche Kraft gerade die Oberhand gewann. Diese Welt änderte sich zum Guten oder zum Schlechten. Von der Idylle bis zum Chaos. Dann starb Himur. Er hatte nichts getan, um die Verhältnisse zu ändern. Vielleicht fürchtete er sich vor irgendeiner
Veränderung – vor jeder, die den bisherigen Zustand für ihn unerträglich machte. Nach seinem Tod mußten die beiden Zwillingsbrüder sein Vermächtnis übernehmen. Jetzt zeigte es sich, daß sie zwar Zwillinge, sich aber sehr unähnlich waren. Sie gerieten sehr bald in Streit. Akkathos wollte Vesta, den gefangenen Herrn der Elemente, befreien. Er wollte Vesta die Herrschaft wieder zurückgeben, damit das Chaos von der Welt wich. Akkathos war ein Freund der Ordnung. Er haßte es, daß die Geister miteinander stritten und dadurch die gesamte Natur und die Menschen unglücklich machten. Sein Bruder Akkeron erkannte die einmalige Möglichkeit, zum neuen Herrn der Elemente zu werden. Übermut und Größenwahn erfüllten ihn. Er war listiger und schneller zu jeder Handlung bereit als Akkathos. Er, Akkathos, aber war arglos und gutmütig. Kurz nach dem Tod seines Vaters bekam er zu spüren, daß sein Bruder mit allen Mitteln bestrebt war, den Weg der Macht zu beschreiten und sich seiner zu entledigen. Sehr schnell war der Streit entschieden, wer die Insel zu verlassen hatte. Akkeron handelte rasch und rücksichtslos ... Der Tiger sprang und landete dicht neben dem hungrigen Mann. Wasser spritzte auf. Dann schob sich der Rücken des Raubtiers dicht an die Knie Akkathos heran. Das nasse, warme Fell schabte an den Schenkeln des Mannes, sodann brummte das Tier auf und schob sich zwischen die Beine des Wanderers. Ein scheues Lächeln glitt über die verwüsteten, ausgemergelten Züge des Fremden. Langsam lief das Raubtier an. 10
Zuerst hob der Tiger den Wanderer aus dem tiefen Wasser heraus, dann lief er langsam am Ufer entlang und dann am Land weiter. Vor dem Tier und dem Träger von Vestas Augen wichen die Büsche zur Seite, bogen sich die Lianen auseinander, als ob unsichtbare Hände vor diesem seltsamen Gespann die Pflanzen berührten. In einem langsamen, wiegenden Trab ging es weiter. Akkathos spürte die weichen, schwachen Stöße des Tierkörpers unter sich. Er sank langsam in sich zusammen und fiel mit dem Gesicht auf den Rücken und den Hals des Raubtiers. Der Tiger merkte es, brummte verhalten und wurde langsamer. Er bog ab und befand sich nach einiger Zeit auf einem breiten, trockenen Tierpfad. Der Pfad schlängelte sich in wirren Windungen rund um die Bäume, entlang kleiner Felsen und dann durch hohes Gras. Akkathos roch einen neuen, anderen Geruch. Einen Geruch, den es auf seiner langen Wanderung nicht oft gegeben hatte. Er spürte, daß rund um ihn herum die Bäume und Büsche zurückwichen. Vor ihm befand sich eine Lichtung. Er hörte die Stimmen von Vögeln, das Rascheln kleiner Tiere und die Laute, mit denen hin und wieder Früchte aus den Zweigen fielen. Das Tier unter ihm blieb stehen. Alle Eindrücke, die Akkathos mit allen seinen Sinnen aufnahm, wurden durch das Auge Vestas verstärkt. Er sah nicht direkt, aber entwickelte durch das kleine dritte Auge eine Art inneres Sehen. Vor ihm zeigte sich dadurch, nicht ganz vollkommen, das Bild der Lichtung. Der Tiger hat mich zu einem Platz gebracht, an dem ich mich erholen kann. Ich muß essen und weiterwandern. Ich muß Sonne auf meine Haut wirken lassen – nur 11
Wärme kann mir helfen, noch einige Tage weiterzuleben. Ich muß einen Stamm oder eine Gruppe Jäger treffen! In der Mitte der Lichtung, die etwa zwanzig Mannslängen durchmaß, gab es einen runden Fleck aus Sand. Langsam reckten sich breite Äste voller großer Blätter über die Lichtung und tauchten eine Hälfte des Sandes in kühlenden Schatten. Akkathos merkte, daß kleine Tiere emsig herumkletterten und rannten und mit Zähnen und Krallen alle möglichen Früchte herbeibrachten. Sie legten sie am Rand des Sandes auf Blätter, die ein Baum abwarf. Der Tiger machte langsam einen runden Katzenbuckel, und vorsichtig ließ er den Mann von seinem Rücken gleiten. Der Wanderer ging mit kleinen Schritten auf den Mittelpunkt der Lichtung zu. Dort ließ er sich zu Boden sinken und fühlte sofort die Hitze der Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Er streckte sich aus und wälzte sich auf den Rücken. Dann tastete er nach den Früchten und Nüssen und begann zu essen. Erst jetzt fühlte er, wie hungrig er in Wirklichkeit war. Er blieb liegen und hörte, daß der Tiger die Lichtung wieder verließ. Ich bin von dem Ort hergewandert, wo die Nacht ein halbes Jahr dauert. Ich bin hier auf dem halben Weg. Die Sonne steht fast genau über meinem Kopf, so daß mein Schatten klein und kurz ist. Irgendwo hier muß ich auf Menschen stoßen. Ich brauche nur den Geruch nach Rauch in meiner Nase, dann weiß ich, wohin ich mich wenden muß! Er aß Früchte und Nüsse. Sein Magen füllte sich. Einige Lianen schwangen von den Bäumen und brachen ab, als er sie ergriff. Kühles, köstliches Wasser lief über seine Lippen. Akkathos war satt und schlief ein.
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Endlich wieder einmal, einen halben Tag lang und bis in den Abend hinein, schlief er tief und ohne quälende Träume. Er erwachte, von seinem Drang geweckt, Menschen zu finden. Einige Tage später, einige Tage näher dem Tod. Akkathos saß auf einem drei Manngrößen langen Baumstamm. Er trieb den Fluß hinunter, aber dies geschah auf eine merkwürdige Weise. Hinter dem Ende des Baumstamms bildete sich eine dreieckige, hohe Welle. Ihre Spitze faßte den Stamm und schob ihn vorwärts. Am anderen Ende schäumte das Wasser auf und bildete eine kleine Bugwelle. Der Stamm schwankte langsam hin und her – die Beine des Wanderers hingen im Wasser. Ich fühle es! Ich bin ziemlich nahe an einem Gebiet, in dem Menschen leben. Ich kann mich nicht irren! Es gab selbst für ihn untrügliche Zeichen. Es waren nicht mehr so viele Tiere im Wald. Öfters hatte es Pfade gegeben und längst erkaltete Feuerstellen. Hin und wieder roch Akkathos die Ausscheidungen von großen Tieren, vermutlich von wilden Rindern. In ganz kurzer Zeit würde er am Ziel sein. Die Tage, an denen er satt geworden war und in der Sonne gelegen hatte, hatten seinen Tod zweifellos hinausgeschoben. Aber er wußte mit der Sicherheit eines verwundeten Tieres, daß es keine sechs Tage mehr dauern würde, bis er starb. Die unbekannte Krankheit, die in seinem Körper wütete, war geblieben. Von Stunde zu Stunde wurde er schwächer. Nur noch mit ungeheurer Anstrengung konnte er sich bewegen. Heute half ihm das Wasser. 13
Es beschleunigte seine Geschwindigkeit, aber er konnte sich nicht nur seinem Einfluß auf die Natur anvertrauen. Sie würde ihm nur bis zu einem bestimmten Punkt helfen können. Akkathos klammerte sich an einen glitschigen, abgebrochenen Ast und hob ächzend seinen Kopf. Er versuchte, einen eindeutig menschlichen Geruch zu entdecken. Als wäre es vor einigen Jahren gewesen, erinnerte er sich an den Tag, an dem er Vestas Auge erhielt. Eines Morgens rief Vater Himur seine Söhne zu sich. Er deutete auf zwei Schemel und sagte: »Setzt euch. Heute wird etwas Wichtiges geschehen!« Er drehte sich halb herum und zeigte ihnen ein weißes Tuch, das auf dem Tisch ausgebreitet war. Darauf lagen kleine, scharfe Messer, Tuchfetzen und auf einem weißen Schälchen zwei Edelsteine. »Was ist das, Vater?« fragte Akkathos. Er wirkte verträumt und kindlich. Er besaß ein gutes Herz und war der lustigere von beiden. Himur hob die Hand. »Etwas Wichtiges, sage ich. Heute werde ich euch Vestas Augen schenken!« Akkeron sprang auf und wollte sich auf das Schälchen stürzen, aber eine harte Bewegung hielt ihn zurück. »Vestas Auge! Vater, ich danke dir!« rief Akkeron. »Du weißt noch gar nicht!« wies Himur ihn zurecht und hob eines der Juwelen hoch. Ein kleiner Stein, kleiner als der Nagel des kleinen Fingers, vielfach gebrochen. Als Himur ihn in die Sonne hielt, funkelte das Juwel auf. Ein Regen aus Strahlen in allen Farben schimmerte auf 14
wie ein kleiner Regenbogen. Akkathos schloß die Augen und begann zu träumen. Langsam legte Himur den Stein zurück. »Das ist ein Stein, ein edler Stein aus der geheimnisvollen Tiefe der Welt. Vitu, der Geist des Lebens, hat ihm die Macht über alles Getier eingehaucht. Erthu, der Erdgeist, verbarg ihn eine lange Zeit, damit seine Fähigkeiten reifen und von Jahrhundert zu Jahrhundert besser werden und wirksamer.« Himur sah seine Söhne an. Sein Blick war ernst und ging langsam von Akkeron zu Akkathos. Ahnte der Vater, daß er seinen Söhnen ein merkwürdiges und gefährliches Geschenk machte? »Skortsch, der Feuergeist, hat diesen Stein aus den kochenden Eingeweiden der Erde herausgebracht. Von ihm stammten der Glanz und das Leuchten. Tyde, der Wassergeist, hat den Stein reingewaschen vom unreinen Gestein, nachdem Aerula, der Geist der Luft, ihn aus den Felsen herausgebrochen hat. So sind die Eigenschaften sämtlicher Geister in diesem Stein.« Wieder hob der Vater einen Stein hoch und drehte ihn zwischen den Fingern. Ein unirdisches Funkeln und Glitzern erfüllte den großen Raum. »Aber es sind nur kleine Steine. Der Träger eines dieser Steine wird nicht uneingeschränkte Macht über die Natur haben. Aber die Natur wird seine Wünsche erkennen und sich danach richten. Freilich kann sie keine unerfüllbaren Wünsche erfüllen – sie wird tun, was sie kann, beileibe nicht mehr! Ihr werdet damit einen kleinen Wind regieren können, aber keinem Sturm Einhalt gebieten! Ihr könnt ein Tier zwingen, euch einen Wunsch zu erfüllen, aber euretwe15
gen wird kein Fisch fliegen und kein Vogel schwimmen können. Doch der Stein wird eure Sinne schärfen. Das Auge Vestas kann aber keinen Sinn ersetzen. Ihr müßt den Stein in der Haut tragen, nahe den Augen und nahe dem Gehirn. Ich werde ihn in eurer Stirn verankern.« Nach einer Weile fragte Akkathos: »Wird es weh tun, Vater?« »Nein. Nur ein ganz klein wenig!« versprach Himur. »Du zuerst, Akkeron!« Akkeron nickte trotzig. Er war entschlossen, den Schmerz schweigend zu ertragen. Akkeron setzte sich neben der Tischplatte auf einen dritten Hocker. Himur tupfte mit einem Lappen, den er aus einem kleinen Krug mit einer aromatisch duftenden Flüssigkeit getränkt hatte, die Haut über dem Nasenrücken, zwischen den schwarzen Augenbrauen. Augenblicklich breitete sich ein Gefühl eisiger Kälte aus. Akkeron fühlte nicht einmal mehr die Fingerspitzen seines Vaters, als der die Haut auseinanderdrückte und mit der Spitze des Messers einen kleinen Schnitt ausführte. Ein einzelner Blutstropfen sickerte langsam nach unten. Himur nahm einen der beiden Steine und tauchte ihn in eine andere Flüssigkeit. Dann drückte er den Stein tief in die schlitzförmige Wunde. Als er ihn losließ, haftete das Juwel von selbst. Unverwandt, mit zusammengebissenen Zähnen, sah Akkeron zu seinem Vater auf. »Du hast Schmerzen?« fragte Himur leise. »Nein. Alles ist eiskalt. Aber vom ›Auge‹ geht ein warmes, klopfendes Gefühl aus!« erwiderte der Junge. Himur nahm einen anderen tropfenden Lappen und preßte ihn einige Zeit lang auf den Stein und die Wunde. Langsam färbte sich der weiße Lappen rosa und dann rot. 16
Als er ihn wegnahm, hatte sich die Wunde geschlossen, und der Stein haftete über der Nase, tief in der Stirn. »Jetzt hast du das dritte Auge. Das Auge Vestas!« belehrte Himur seinen Sohn. »Ihr beide werdet lange brauchen, um euch an die Kraft dieser Juwelen zu gewöhnen. Hoffentlich könnt ihr die Kräfte ausnutzen. Und jetzt kommst du dran, Akkathos!« Auch Akkathos erhielt Vestas Auge, und da er ein Träumer und fast noch ein Kind war, sah und fühlte er durch dieses Auge ganz andere Dinge als sein wilder Bruder. Sie brauchten mehr als zwölf Jahre, um alle Geheimnisse des Steins zu erfahren und sie richtig anwenden zu können. Das, was Vater ihnen erzählt hatte, traf zu. Die Natur half ihnen im Rahmen ihrer Möglichkeiten, aber sie unterwarf sich ihnen nur in winzigen Ausschnitten. Aber Vestas Auge, jenes Juwel, das jetzt in der Sonne sprühte und leuchtete, schützte ihn nicht vor dieser furchtbaren Krankheit ... Dort im Norden, wo Schnee und Eis lagen, hatte er unter dem Schnee das Moos herausgekratzt und gegessen. Er hatte großen Tieren befohlen, kleine zu töten und diese Tiere dann mit scharfkantigen Steinen aufgeschlitzt und ihr dampfendes Fleisch mit bloßen Fingern zerrissen und roh gegessen. Einmal war in einen Baum ein Blitz eingeschlagen. Da hatte er Feuer gehabt und tagelang brennende Äste mit sich getragen. Dann hatte er ab und zu einen kleinen Braten gehabt. Aber er hatte kein Salz gefunden und manchmal verdor17
benes Wasser getrunken. Diese wahnsinnigen Schmerzen von damals, als er glaubte, seine Därme müßten ihm verbrennen, hatten nachgelassen. Aus den heftigen Schmerzen war die auszehrende Müdigkeit geworden, an der er sterben würde. Der Fluß führte von Norden nach Süden. Akkathos trieb auf seinem Baumstamm schnell dahin. Manchmal schüttelte einer der Bäume, die schwer über das Wasser hingen, seine Äste. Dann streckte der Wanderer die Hand aus und tastete nach einer Frucht, die wie von selbst in seine Finger glitt. Plötzlich, nach langer, ereignisloser Zeit ... Ich rieche Rauch! Ein Feuer! Von selbst kann es in diesem feuchten Wald nicht gebrannt haben. Und ich merke, daß die Bäume seltener werden, daß die Ufer zurücktreten. Ein flacher Hang löste die Uferbewaldung ab. Wie von Zauberhand gelenkt, steuerte der Baumstamm, langsamer werdend, auf das Ufer zu. Deutlich roch der Fremde im leichten Westwind frischen, würzigen Rauch. Dann schlugen die Geräusche an sein Ohr. Das Trappeln vieler Füße, das Schmatzen, mit den Klauen aus dem Morast gezogen wurden. Hin und wieder der langgezogene, ferne Laut eines Büffels oder Rindes. Wieder bewies das Auge seine Fähigkeit, und Akkathos merkte, daß ein Teil einer großen Herde vom Wasser wegtrabte, ein anderer Teil noch am Wasser stand und trank. Er fühlte Boden unter den Füßen und schwang sich mit einiger Anstrengung nach rechts. Dann tastete er sich durch Schlamm, zwischen Steinen und über niedergetrampeltes Gras ans Ufer. Rechts von ihm stand eine große Herde. Der Geruch der vielen Tiere verwischte die Witterung des Rauches in seiner Nase. Der Wande18
rer orientierte sich nach der Sonne und ging geradeaus, also nach Westen. Dann blieb er stehen. Der Fremde richtete seine Aufmerksamkeit auf eines der großen Tiere der Herde. Es war ein riesiger schwarzer Bulle mit zottiger Wamme und einem weit ausragenden Gehörn. Der Bulle warf den Kopf hoch und schrie laut und herausfordernd. Dann scharrte er unruhig mit den Klauen und setzte sich schließlich in Bewegung. Er kam direkt, den Kopf angriffslustig gesenkt, auf Akkathos zu. Eine Mannslänge, bevor die zitternden Spitzen der Hörner die Brust des Fremden berührten, blieb das Tier stehen. Heißer Atem schlug Akkathos entgegen. Er murmelte beruhigende Worte, und zusammen mit dem Klang seiner Stimme gewann das Auge Gewalt über das Tier. Der Bulle, von dem ein stechender Schweißgeruch ausströmte, drehte sich und bot dem Arm des Mannes den muskelbepackten Hals. Akkathos legte den linken Arm, der noch kräftiger war als der rechte, über den Hals und ließ sich von dem Tier schleppen. Sie schritten nach Westen, dem Rauch und dem Feuer eines unbekannten Stammes entgegen. Als der Mann das Tier zwang, war es kurz nach dem höchsten Stand der Sonne gewesen. Als Akkathos den Tod zum erstenmal spürte, begann der Abend. Ich schaffe es nicht mehr! Ich höre noch keine menschlichen Stimmen und nicht die Geräusche eines Lagers. Trotzdem werde ich es versuchen! Lauf schneller, mein Tier! Ich muß Menschen treffen und ihnen erklären, wer ich bin. Und vielleicht finde ich auch einen Mann, der das beenden kann, was ich so schlecht angefangen habe! 19
Er stolperte weiter geradeaus. Das Licht und die Wärme der untergehenden Sonne waren genau vor ihm, brannten auf seiner Haut. Er keuchte. Das Tier neben ihm spürte die Zeichen des nahenden Todes und wurde unruhig. Es ging mühsam und schleppend einen Hang aufwärts, an dem auf beiden Seiten Wald stand. Wieder wurde der Geruch des Feuers und des verbrannten Holzes deutlicher. Noch einige Stunden! Nicht mehr! Ich darf noch nicht sterben! Akkathos fühlte, wie eine tiefe Hoffnungslosigkeit von ihm Besitz ergriff. Die eisige Schwäche in den Gliedern und Gelenken breitete sich aus. Nur noch die fiebernde Angst, seine lange, mühevolle Wanderung nicht richtig zu Ende bringen zu können, hielt den Fremden noch aufrecht. Genau am Kamm des Hügels, in der Nähe von Felsen und Wald, von Feldern und Häusern, brach der Wanderer zusammen. Sein Arm löste sich vom Hals des Bullen, er knickte in den Knien zusammen und fiel auf die Seite. Er fühlte, wie das Dunkel der Bewußtlosigkeit sich über ihn senkte, schneller, als die Nacht sich in diesen Teilen der Welt senken würde. Der Bulle schüttelte sich, von der Fessel des strahlenden Auges befreit. Er witterte Menschen und Wasser. In einem langsamen, schwerfällig erscheinenden Trab rannte das Tier auf die Mitte der Siedlung zu.
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Ich dachte daran, daß ich mich schon fast fünf Tage bei Odaliks Stamm aufhielt und keinen Schritt weitergekommen war. Jeder war hilfreich wie ein Palastdiener in der Königsburg von Myra, aber niemand konnte mir helfen. Nicht einmal Umkathel, jener Mann von rund sechzig Sommern, der neben mir ging und mir heute – zum viertenmal! – die bekannten Antworten auf Fragen gab, die ich ihm schon mehrmals gestellt hatte. Aber ich wußte, daß das Unbewußte im Menschen seine eigenen Gesetzlichkeiten hatte. Es würde sich verraten, in einem unbewachten Augenblick. Ich, Dragon, war abermals gestrandet. Verfluchter Cnossos! Verflucht auch der, den sie hier den Namenlosen nannten, und dem ich bereits begegnet war. In Wirklichkeit wußte niemand etwas, mit dem ich einen Weg aus dieser Welt hinaus und zurück zur Erde finden würde, einen Weg zu meiner Erde. Ich berührte Umkathels Schulter und sagte drängend, fast bittend: »Als Zauberer der Piraten, während deiner langen Zeit auf den Flügeln von Aerula-thane, hast du niemals auch nur ein Wort davon gehört?« Der alte Mann neben mir schüttelte den Kopf. »Nein, mein Freund!« sagte er entschieden. Er schien etwas verdrossen zu sein, aber noch immer beantwortete er meine Fragen willig. Aber auch er wußte nichts. Danilas Welt – so nannte ich diesen Planeten, diese Parallelwelt. Es war eine Quasi-Erde, die auf ihre Art ebenso barbarisch war wie jener Planet, von dem die tote Mura und ich kamen. Aber ich mußte zurück. Ich mußte ein anderes Weltentor finden. Irgendwie wußte ich, daß es eines gab. Ich hatte es in meinen Träumen gesehen, und ich suchte es überall. 21
Während des Fluges, als Gefangener der Piraten, hatte ich ebenso während jeden Satzes gehorcht und aufgepaßt, den die anderen sprachen. Hier, im Stamm des Odalik, langweilte ich die jungen Menschen mit meinen bohrenden Fragen und weckte längst vergessene Erinnerungen bei den Alten. Jedoch eine Erinnerung an ein anderes Weltentor war nicht darunter. Bis zum heutigen Tag nicht. »Ich glaube dir, Umkathel«, sagte ich und lachte ihn beschwichtigend an. »Ich glaube dir, daß du nichts weißt Aber irgendwann könnte dein Verstand etwas gehört haben, was er nur widerwillig preisgibt.« Wir gingen in die Richtung, in der jener einzelne Baum stand, unter dem man bequem sitzen konnte und einen fabelhaften Blick über die kleine Siedlung der Rinderhirten hatte. Ich wurde an den kleinen, mutigen Zainu erinnert, wenn ich die Hirten sah und bemerkte, daß sie in der Lage waren, auch den letzten Rest des getöteten Tieres sinnvoll verwendeten. Umkathel blieb stehen und deutete auf eine Wolke, die im rotgoldenen Abendlicht über der Sonne entlangsegelte und mit dem dunkelnden Himmel verschmolz. »Ich bin ein alter Mann, Dragon aus der anderen Welt!« sagte er, und es war ihm sehr ernst. »Ich werde, zusammen mit meiner Priapa, in ganz kurzer Zeit nach Atheka fliegen. Ich hatte ein langes Leben, das mich immer und immer wieder gezwungen hat, zu denken, mich zu wehren, mich zu ducken. Ununterbrochen habe ich gearbeitet und versucht, den Sinn hinter den Dingen zu erkennen. Ich weiß alles, was ein Mann in meinem Alter und meiner Erfahrung wissen muß. Ich kenne die Gedanken der Piraten, ich weiß, was Sklaven denken, ich kenne die Tiere und unzählige 22
Dinge der Natur und des Himmels. Ich kenne sogar die Frauen, obwohl dies, wie du als erfahrener, junger Mann zugeben wirst, ungeheuerlich schwer ist.« Er lächelte kurz, dann fuhr er fort, ebenso ernst und nicht ohne eine deutliche Würde: »Ich kenne aber nur einen Teil der Welt. Ich kenne das Land nördlich und südlich des zerstörten Weltentors, also im Westen von den schneebedeckten Spitzen der Götterberge. Ich kenne auch das Land, von dem Nordmeer und Südmeer getrennt werden. Den Dschungel und die Wüste habe ich überflogen und auch die langen, buchtenreichen und gewaltigen Strände beider Meere. Ich kenne nicht den Teil des Landes, in dem der Sitz von Erthu sein soll und die Burg von Vitu. Aber eines sage ich dir, Dragon: Ich kenne kein Weltentor außer dem, aus dem ihr, Danila und du, gekommen seid! Und ich weiß, daß dort, wo wir geflogen sind, und wo ich jahrelang selbst wanderte, kein zweites Weltentor ist.« Er machte eine Pause. Wir gingen langsam den gewundenen Weg zu dem behauenen Steinblock hinauf, der vor dem Baumstamm im Erdreich versenkt und mit weichem Moos bewachsen war. Die Dunkelheit nahm zu, die Sonne war halb hinter dem Rand des Horizonts versunken. »Frage mich alles, was du willst, Dragon«, schloß er. »Ich werde dir auf alles, was ich weiß, eine lange Antwort geben. Aber frage mich nicht mehr nach dem Weltentor!« Ich begann zu lachen und schlug ihm versöhnlich leicht auf die Schulter.
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»Du hast dich in Feuer geredet, als spräche Skortsch aus dir, Umkathel. Ich werde dich nicht mehr belästigen.« Er nickte mehrmals und wickelte sich etwas fester in seinen Mantel ein. Wir standen jetzt auf der Spitze des Hügels. Ein schwarzer, nicht ganz gezähmter Bulle kam uns entgegen, aber er machte keinen Anstalten, uns anzugreifen. Er witterte Feuer und Wasser und lief im schaukelnden Trab den Hang abwärts. Aber ich glaubte Panik in den aufgerissenen weißen Augen des Tieres zu erkennen. »Er hat Durst!« brummte Umkathel und sah dem Tier nach. »Ja, vielleicht.« Wir setzten uns und schwiegen einige Zeit. Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Aerula-thane hatte mir versichert, mich überall dorthin zu tragen, wohin sie sich bewegen konnte, ohne selbst Schaden zu erleiden. Auch konnte ich noch einige Zeit in den buntbestickten Zelten und den einfachen Hütten des Hirtenvolkes bleiben. Danilas Glück war vollkommen; ein jeder sah es, wenn sie allein oder neben Adaran durch das »Dorf« schritt. Sie war förmlich wie eine Knospe aufgeblüht »Was wird mit Darraco geschehen?« fragte ich. Umkathel spuckte aus und erwiderte haßerfüllt: »Die entfesselte Natur des Dschungels in der Wilden Zone wird sie nacheinander vernichten! Oder Tiermenschen werden sie langsam in kleine Fetzen zerreißen! Hoffentlich erlebt Darraco selbst alle Qualen einzeln, die er im Lauf seines langen und unnützen Lebens anderen zugefügt hat.« »Ich sehe«, entgegnete ich und blickte in die feuerrote Sonne, die ihre letzten Strahlen nach allen Richtungen 24
ausschickte und die Landschaft verwandelte, »daß du ihn keineswegs liebgewonnen hast.« Er zuckte die Schultern. »Es ist leicht, zu vergessen. Aber es dauert noch einige Zeit. Alle Erinnerungen sind noch so frisch, daß sie schmerzen wie Peitschenhiebe.« »Ja. Das verstehe ich.« Ich blickte die Kuppe des Hügels an, den langgestreckten Rücken des Hanges, der den fernen Wald und den Fluß von der Siedlung und den Feldern trennte, von den Weiden und den Koppeln der gezähmten Wildrinder. Irgend etwas schimmerte dort auf, leuchtend und funkensprühend wie ein großer Edelstein. Ich griff langsam zu meinem Dolch und hörte, wie Umkathel sagte: »Du mußt alle Fragen, die du mir gestellt hast, Odalik stellen. Er kennt alle Sagen und Märchen aus der Vergangenheit. Und wenn er sie nicht kennt, dann erfindet er sie. Mir scheint, er ist ein bemerkenswerter Mann, Dragon.« Ich stand auf und deutete nach vorn. »Siehst du es auch?« Uns blendete die Sonne, aber als ich stand, wurde das Leuchten deutlicher und greller. Auch Umkathel bemerkte es jetzt. Zusammen gingen wir darauf zu. Ich zog den Dolch, und auch Umkathel griff unter seinen Umhang. Dann sahen wir, wovon das Leuchten und Strahlen ausging.
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2.
Nach drei schnellen Schritten waren wir bei der zusammengebrochenen, schlanken Gestalt angelangt. Ein Mann, der so aussah, als hätten ihn die Piraten zu Tode geschunden und dann über Bord einer Wolke gestoßen. Ich ging in die Knie und steckte den Dolch weg. »Er hat ... er hat ein drittes Auge!« stotterte Umkathel. Ich legte meine Finger behutsam an die Stellen, an denen man den Pulsschlag spüren konnte. Dann machte ich rasch ein Zeichen, Umkathel solle sich nicht bewegen. Ganz schwach spürte ich den Herzschlag des Mannes, der wie tot dalag. »Er lebt! Schnell! Wir tragen ihn im Mantel hinunter in mein Zelt!« sagte ich drängend. Wortlos nickte Umkathel und warf seinen Umhang von den mageren Schultern. Vorsichtig betteten wir den überraschend leichten Körper auf den Stoff. Der Mann war offenbar noch größer als ich, aber er sah schlank und sehnig aus wie ein gerade erwachsener Mann. Ich hob die Augenlider an – und erschrak. »Sieh! Hier!« flüsterte ich. Die Wimpern und die Brauen, zwischen denen ein Edelstein aus der Haut wuchs, waren kurz. Sie schienen abgesengt worden zu sein, vor einiger Zeit. Die Augen aber sahen aus, als ob der Mann mit einem glühenden Eisen geblendet worden sei. Weiße, verhornte Augen ohne Iris und Pupille. Wir hoben das Tuch an und gingen mit unserer Last schnell hinunter zu den Zelten. »Er ist geblendet worden«, sagte Umkathel hinter mir. »Ich habe es selbst erlebt bei einem Piratenüberfall. Man konnte die Schreie meilenweit hören.« 26
»Der Mann ist dem Tode nahe!« sagte ich und holte auf halbem Wege zum Dorf tief Luft. Dann schrie ich: »Odalik! Wir bringen einen Sterbenden! Holt Frauen und einen Mann, der etwas vom Heilen versteht!« »Rinde vom Traumbaum wird helfen! Zerstoßen, in heißer Milch! Etwas Wein!« brummte Umkathel zwischen einzelnen keuchenden Atemzügen. Schwer hing die Last zwischen uns. Unsere Finger krallten sich in den Stoff, aber mein Schrei hatte die Menschen aufgescheucht. Sie kamen zusammen, einige liefen uns entgegen und nahmen uns den Sterbenden ab. »Zu meinem Zelt! Vorsichtig! Bringt warme Felle und Decken!« donnerte ich. Umkathel stürzte davon, um in seinen Habseligkeiten zu wühlen. Kurze Zeit später umstand ein dichter Kreis von schweigenden Menschen eine kleine Gruppe vor meinem Zelt. Ein tragbares Bett war gebracht worden. Darauf lagen mehrere Felle und Pelze. Sie betteten den Fremden darauf und deckten ihn zu. Dann wurden Fackeln angezündet und in der Nähe des Lagers entfachten Knaben ein neues Feuer. Jemand schenkte Wein in einen Holzbecher. Ein anderer brachte warme Milch, in die man Eier verrührt hatte und Honig von wilden Bienen. Odalik kam, warf einen langen Blick auf den Mann und sah mich dann an. »Dragon! Dein Amulett!« stieß er hervor. Ich senkte den Kopf. Das Amulett, das mir Mura geschenkt hatte, leuchtete schwach. So schwach wie das Leben dort in dem Fremden. »Ich sehe!« sagte ich und hielt die Scheibe in meiner Hand. 27
Zwei Frauen kümmerten sich um den Mann. Noch immer lag er da wie tot. Aber jetzt wurde sein verwüstetes Gesicht gewaschen. Langsam und mit unendlicher Vorsicht flößte eine ältere Frau dem Fremden jene Honigmilch ein. Zu meiner Verwunderung trank er in kleinen Schlucken. »Halt!« sagte Umkathel und brachte eine Schale. »Tut das in die Milch, Frauen!« Die Hirtin wandte den Kopf und sah ihn voller Mißtrauen an. »Was ist das?« »Rinde vom Traumbaum. Nur ein wenig. Zermahlen. Es wird ihm helfen. Es belebt Herz und Körper.« Sie verrührte es mit einem Finger im Becher und setzte das Gefäß wieder an die Lippen. Ich betrachtete jetzt den Mann, dessen Brust sich zu heben und zu senken begann, etwas genauer. Zweifellos hing das Leuchten meines Amuletts mit jenem Juwel zwischen den Augen zusammen. Auch der kleine Stein glühte, aber das Glühen war schwach. Lang aufgeschossen, schlank, ein proportionierter Körper. Ein schmaler, rassiger Schädel. Das Gesicht hätte man schön und männlich nennen können, wenn nicht der struppige Bart und das verfilzte Haar voller Blattreste und Nadeln gewesen wären. Die Haut war schorfig und von entzündeten Insektenstichen übersät. Im gleichen Augenblick, als ich das dachte, öffnete der Fremde seine blicklosen Augen. Mit einem gedämpften Aufschrei wich die Menge zurück. Ich erkannte Priapa und Danila unter den Zusehenden. Der Fremde murmelte: »Wo bin ich?« Er hustete schwach. Milch lief aus seinen Mundwinkeln. Mit Bewegungen, die so leicht und vorsichtig wa28
ren, als gälten sie einem Säugling, tupfte die alte Frau die Spuren weg. »Du bist unter Freunden. Ein Hirtenstamm. Der Häuptling steht hier. Er ist Odalik!« »Danke!« flüsterte der Fremde. Sein Kopf, von der Hand der Hirtin gehalten, sank nach hinten. Ein Fell, das ein Hirte zusammenrollte, schob sich unter seinen Hinterkopf. Nach einer Weile, die uns endlos schien, öffnete der Fremde wieder den Mund und sagte leise, aber deutlich verständlich: »Ich bin Akkathos. Himur, der Diener des verdammten Namenlosen, war mein Vater. Ich komme von der Insel des Namenlosen.« Unter den Hirten machte sich Entsetzen breit. Umkathels Medizin hatte geholfen! So, wie es aussah, erholte sich der Fremde geradezu rasend schnell. Ich überdachte die Folgerungen, die sich ergaben. Von der Insel des Namenlosen, also nach den Erzählungen Odaliks von einer Insel, die sehr weit im Westen lag. »Mein Bruder«, begann Akkathos wieder, »ist vom Schöpferwahn und von der Herrschergier erfüllt. Unser Vater starb, und wir sollten sein Erbe antreten. Ich war es, der Vesta wieder befreien und ihm erneut zur Macht verhelfen wollte.« »Bei Vitu!« meinte Odalik. »Derlei habe ich noch nie gehört! Er lügt!« »Er stirbt!« sagte Umkathel hart. »Sterbende lügen selten«, sagte ich. »Hört zu, und bildet euch erst nachher eine Meinung!« »Er hat richtig gesprochen!« Die alte Frau nickte. Wieder entstand eine lange, qualvolle Pause. Die Atemzüge des Wanderers wurden schneller. Er richtete sich langsam auf, von den Armen der Hirtin gestützt. 29
Der Ring schloß sich. Niemand wagte zu atmen oder zu sprechen. Eine geheimnisvolle Stille trat ein, als mein Amulett stärker zu flackern begann und aufleuchtete wie ein naher Stern. »Ich wollte Vesta die Herrschaft über die Geister der Elemente wieder zurückgeben. Aber Akkeron war schneller und listiger als ich. Wir hatten unserem Vater geschworen, niemals das Blut des eigenen Bruders zu vergießen. Akkeron hat sein Wort gehalten.« Wieder ein Schwächeanfall. Wieder eine Pause. Eine zitternde Hand deutete auf mich. »Du! Wer bist du ?« »Ich bin Dragon. Ich kam durch das Weltentor. Dies hier ist nicht meine Heimat!« erwiderte ich laut. »Komm näher! Du bist stark. Ich sehe ein Zeichen auf der Brust leuchten. Du mußt mir ein Versprechen geben!« Ich erwiderte nach einigem Überlegen: »Ich bin nicht sicher. Ich werde tun, was ich vermag.« »Gut. Ich werde in kurzer Zeit sterben. Das ist wahr, sage nichts. Die braune Krankheit wuchert in mir wie ein gefräßiger Wurm. Ich sterbe noch vor Mitternacht. Bis dahin ...« Wieder schwieg er erschöpft. Ich griff hinter mich und zog mir einen dreibeinigen Schemel heran, setzte mich, und jetzt befand sich mein Kopf dicht neben dem Oberkörper des sterbenden Akkathos. Wieder sprach er weiter, als bedeutete jedes Wort einen rasenden Schmerz für ihn. »Akkeron handelte schnell. Er machte mich betrunken und blendete mich mit weißglühendem Schwert. Er hat mich immer gehaßt. Ich war ein Träumer, arglos und gutmütig. Er aber ist ein kalter, machtbesessener Herrscher – oder er will es werden. 30
Noch ... ist ... es ... nicht ... zu ... spät! Als ich aus meiner Betäubung erwachte, war ich auf einer Wanderwolke. Sie raste über Wasser und Land nach Norden und nach Nordosten. Dort, wo die Himmelsberge am niedrigsten und am kältesten sind, dort, wo Tage und Nächte halbe Jahre dauern, setzte mich die Wolke ab. Fern von jedem menschlichen Leben.« Also in der Nähe des Nordpols. Wieder ging ein Murmeln der Überraschung und des Unglaubens durch die Menge. Ein Mann, der von dort bis hierher zum Äquator gewandert war – das war mein Begriff für die Gegend, wo die Sonne nahezu senkrecht herunterstrahlte am Mittag –, mußte mehr aushalten als jedes andere lebende Wesen. Ich begann mich vor Akkathos zu fürchten. »Ich war sehr weit von Vestas Gefängnis entfernt. Ich wanderte nach Süden. Endlos lange. Ich bin blind, aber ich habe Vestas Auge. Akkeron wird schon jetzt versuchen, seine Macht zu erobern. Er will die Elementargeister unterjochen und in seine Knechtschaft zwingen. Zuerst will er Tyde bezwingen, dann möchte er Skortsch besiegen. Niemand hat seit zweitausend Jahren die Insel des Namenlosen betreten, weil die Geister gewaltige Hindernisse auftürmten. Akkeron und ich waren die einzigen lebenden Bewohner der Insel seit dem Tod des Vaters, und wir Zwillinge sind zweihundertfünfzig Jahre alt. Hunderte von Tagen bin ich gewandert. Das Auge, das Juwel in meiner Haut, hat mir geholfen. Ich kann damit die Natur beeinflussen. Wasser hilft mir, Tiere führen oder tragen mich, aber es gibt viele Gebiete, in denen nichts ist, das mir helfen konnte. Deswegen bin ich dem Tode nahe.« 31
Er schwieg, zu Tode erschöpft. Was er sagte, schien richtig zu sein. Aber mir schwirrten die Gedanken im Kopf herum wie ein Vogelschwarm in einer Tonne. Eine Geschichte, die so unglaublich war wie ... aber mein bisheriges Leben war, richtig betrachtet, eine ebensolche Kette nicht weniger unglaublicher Abenteuer gewesen. »Ich mußte menschliches Gebiet erreichen, und ich habe euch gefunden. Ein Bulle brachte mich bis hierher, aber auf einem Hügel verlor ich das Bewußtsein.« Je größer sich seine Lebensenergie aufbaute, desto heftiger leuchtete flackernd mein Amulett. »Pflanzen warfen mir Früchte zu und spendeten Schatten. Aber ich konnte nicht verhindern, daß ich gequält wurde, schlechtes Wasser trank und verdorbene Flechten kaute. Ich weiß, daß ich sterben muß. Versprich es mir, Dragon! Versprich es auch, Häuptling Odalik!« Wir murmelten beide gleichzeitig: »Was?« »Laßt mich in Skortsch eingehen, den Geist, dessen züngelnde Flammen immer in das Reich der Sonne und Sterne zeigen. Und laßt mich als Asche mit Aerula, Erthu und Tyde verschmelzen.« Der Häuptling und ich sahen uns an. »Wir versprechen es dir, Akkathos!« sagten wir feierlich. Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Es sah unglaublich eingefallen und ausgezehrt aus. Ich fühlte, obwohl mein Amulett leuchtete und strahlte, daß sein Ende nahe bevorstand. »Dragon, starker Fremder!« bat Akkathos. »Ja?« Hast du einen scharfen Dolch?« Ich griff an den Gürtel und zog langsam den scharfen, glänzenden Stahl aus der Scheide. »Was soll ich ...?« 32
»Gib ihn mir, ehe ich ihn nicht mehr halten kann!« Ich wußte nicht, was er vorhatte, aber ich reichte ihm die Waffe. Er tastete über Griff, Scheide und Spitze und hob dann beide Arme zur Stirn. Ein schneller Schnitt, aber es floß kein Blut. Dann hielt er in seinen wunden Fingern das Juwel, das er als Auge Vestas bezeichnet hatte. »Drücke das Auge an die Stirn oder lasse es fest hindrücken. Dann schneide in deine Haut, dort, wo auch ich den Schnitt habe. Sie, ich blute nicht! Du wirst keinen Schmerz spüren. Setze das Auge in deine Stirn ein, und du wirst zum Vasallen und Heerführer Vestas.« Ich erwiderte zögernd: »Nichts dergleichen habe ich vor, Akkathos!« »Du wirst fühlen, daß auch du die Natur beherrschen kannst. Sie wird es merken. Deine Kräfte sind größer als meine. Du wirst herrschen, die Natur wird dich lieben. Nur ein zweiter Schnitt, und du bist wieder frei. Ich war zuletzt so schwach, daß mich die Insekten stachen, wenn ich schlief. Nimm das Juwel! Nimm es!« Er reichte das Juwel mir. Ich nahm es entgegen und hörte den Dolch auf den Boden fallen. Mein Amulett leuchtete jetzt, als ich das Juwel vor meiner Brust in der Handfläche hielt, wie die aufgehende Sonne. Es überstrahlte mit seinem Glanz das Feuer und die Fackeln. »Ich nehme es!« sagte ich. »Aber auch ich habe eine Frage!« »Wenn ich die Antwort weiß ...?« flüsterte er mit brechender Stimme. »Ich kam durch das Weltentor westlich der Himmelsberge. Es muß ein zweites Weltentor geben. Kennst du es?« Akkathos fiel kraftlos zurück in die Arme der Hirtin, die ihn auffing und auf das Fell bettete. Aus seiner Keh33
le drang ein röchelndes Stöhnen. Schaum erschien auf seinen Lippen. Dann bewegte er unruhig den Kopf. »Nichts. Ich kenne keines. Mein Vater erzählte einmal davon, daß es ... es muß ein anderes geben. Aber ich weiß es nicht. Vielleicht berichtete Himur eine Sage. Es tut mir leid, mein Freund Dragon.« Er legte die Arme dicht an seine Seiten. Plötzlich schien ein kalter Wind durch unseren Kreis zu wehen. Feuer und Fackeln begannen zu flackern, als wäre Aerula in unsere Mitte gekommen. Plötzlich erlosch mein Amulett. Dunkelheit schlug über uns zusammen. Mit einer Stimme, die ich so weich noch nie gehört hatte, sagte Umkathel: »Er ist tot. Nun spürt er keine Schmerzen mehr.« Wir schwiegen bestürzt. Wir alle hingen unseren eigenen Gedanken nach. Ich sah in das Antlitz des Toten, das jetzt den Ausdruck endgültigen Friedens zeigte. Die Menschen verstreuten sich scheu und schweigend in alle Richtungen. Knisternd und mit einem Funkenregen erlosch eine Fackel. Im Wald begann ein Totenvogel zu schreien. Es klang wie das Rufen eines einsamen Kindes. Ich nahm das Juwel, das stumpf und glanzlos in meiner Handfläche ruhte. Dann bückte ich mich und hob das Messer auf. Einige Männer schleppten den Toten in ein leerstehendes Zelt. Ich entschloß mich rasch. Ein zweiter Schnitt würde mich befreien können, falls ich unter Vestas Auge litt. Mit dem Zeigefinger der linken Hand drückte ich den Stein gegen die Stirn. Dann packte ich den Dolch zwei Fingerbreit unterhalb der Spitze und setzte ihn an. Augenblicklich wurde meine Haut gefühllos. Ich schnitt eine knapp zwei Finger lange Wunde genau über der 34
Nasenwurzel ein, und dann schien es, als ob sich das Juwel selbst seinen Weg suchte. Es rutschte in den Schnitt hinein. Es gab nicht einmal einen Blutstropfen. Und keinen Schmerz. Ich spürte, wie sich die Haut zusammenzog. Ich schüttelte mich; mit einer solchen Wunde hätte ich im Kampf nicht einmal reagiert, aber mir selbst eine Wunde beizubringen, das war etwas anderes. Ich blieb sitzen und sah zu, wie das Feuer niederbrannte. Was sollte ich tun? Ich, der Vasall und Heerführer von Vesta?
Am nächsten Morgen fiel, als ich vor meinem ledernen, reich und bunt bestickten Zelt saß, ein Schatten auf den Tisch und das einfache, aber reichhaltige und gesunde Essen. Ich hob den Kopf. Es war der Häuptling oder besser der oberste Hirte dieses kleinen Stammes. 35
»Wir gehen heute in die Wälder und fällen Bäume«, sagte er. »Wir haben es dem Sohn Himurs versprochen, und wir halten unser Versprechen!« In der Nacht, die ich lange schlaflos verbracht hatte, waren mir viele Gedanken gekommen. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Umkathel und seine blonde, schöne Enkelin wollten heute oder morgen mit einer Tochter der Wolke Aerula-thane nach Atheka fliegen, und ich grübelte. »Ich werde mit euch gehen und euch helfen!« sagte ich. »Gut so! Glaubst du, was der sterbende Fremde erzählt hat?« erkundigte sich Odalik und ließ sich mir gegenüber nieder. Er starrte auf das Juwel in meiner Stirn und schüttelte dann den Kopf. Er schien es nicht glauben zu können. »Ja«, entgegnete ich. »Ich denke, ich kann fast alles glauben. Das Auge Vestas ... ich weiß noch nicht. Deswegen möchte ich mit euch in den Wald gehen. Was weißt du eigentlich über die Insel des Namenlosen und alle die Sagen und Märchen?« Der Vater der Hirten hob seine breiten Schultern und meinte unschlüssig: »Ich kenne einige Geschichten. Ich werde sie dir auf dem Weg zum Wald berichten. Aber die Namen habe ich niemals gehört. Akkeron und Akkathos. Du sagst, der Mann hat etwas durch das Juwel gesehen?« Ich spülte den letzten Bissen mit warmer Milch herunter und stand auf. »Ich fühle und sehe nicht«, sagte ich. »Aber in den nächsten Tagen wird sich herausstellen, was Vestas Auge wirklich leistet.« Ich sollte mich schnell eines Besseren überzeugen können. Aber das konnte ich noch nicht wissen. Wir 36
gingen nebeneinander auf das Zelt zu, in dem Akkathos aufgebahrt war. Die Hirten hatten den Körper mit breiten sauberen Leinenstreifen umwickelt. Wir starrten den schmalen, langen Körper an. »Ich glaube jedenfalls«, versicherte ich, »daß Akkathos tatsächlich Hunderte von Tagen gewandert ist. Sieh seine Sohlen an! Die Zehen sind aufgerissen. Zwei Zehen sind sogar abgeschnitten worden. Und er war blind, das sahen wir alle. Also muß ihn das Auge geschützt haben.« Der Häuptling nickte schwer und überlegte. Dann sagte er leise: »Er muß gemerkt haben, daß du ein besonderer Mann bist, Dragon. Er hat gehofft, du mögest sein Vermächtnis erfüllen, auch wenn er es nicht wörtlich gesagt hat. Wirst du es tun? Wirst du Vesta befreien?« Auch darüber hatte ich mir bereits Gedanken gemacht. Ich wußte es wirklich nicht. Andererseits hatte ich mich so gut wie verpflichtet, indem ich das Juwel annahm und einpflanzte. »Ich kann es noch nicht sagen!« beschied ich ihn. Wir verließen das offene Zelt und schlossen uns einer Gruppe von etwa zwei Dutzend junger Hirten an, die sich mit Äxten und Sägen ausgerüstet hatten. Auf dem Weg hierher hatte ich meine Fragen an Odalik gestellt. Es waren die gleichen Fragen, die auch Umkathel nicht hatte beantworten können. »Mein Freund«, erwiderte er, »ich habe dir alles gesagt. Wenn nicht einmal die Wolke das zweite Weltentor kennt – wer sollte es sonst kennen? Aber ich denke, ich weiß einen Ausweg.« »So?« 37
»Einen Weg für dich, Dragon. Akkathos hat sein Vorhaben nicht mehr selbst erledigen können. Er konnte Vesta nicht befreien. Versuche du es, denn du bist ein entschlossener Kämpfer.« Ich zuckte die Schultern. Ich erinnerte mich an den Schwur, den ich vor dem Scheiterhaufen getan hatte, auf dem anstelle von Muras sterblichen Resten ein Roboter verbrannte. Ich erinnerte mich an die letzten Augenblicke ihres langen Lebens, in der ich ihr versprochen hatte, auf »unserer« Welt gegen das Chaos zu kämpfen und zu versuchen, einen Zustand wieder herbeizuführen, der den goldenen Jahren der Zeit von Atlantis glich. Wenn ich hier auf Danilas Welt ein neues Ziel ins Auge faßte, dann beendete ich zumindest meine Unwissenheit und meine dadurch hervorgerufene Unschlüssigkeit. Ich würde mir ein neues Ziel setzen. Ich drehte mich herum und sah Odalik an, blickte über seine Schulter und sah, daß die Hirten ihre Äxte an die Bäume legten. »Wartet, Männer!« rief ich. Sie wandten sich überrascht zu mir herum. Ich hob einen Arm und sagte: »Der Sterbende schenkte mir das Auge Vestas. Er sagte, daß mir die Natur helfen und gehorchen würde. Ich möchte wissen, ob er log oder die Wahrheit sprach!« Ich schloß die Augen und verkroch mich sozusagen in meine eigenen Gedanken. Plötzlich merkte ich, wie ein Strom von Empfindungen in meinen Verstand einmündete. Ich begriff den Wald als einen großen, lebenden Organismus mit aktiven und sterbenden, mit jungen treibenden und alten, toten Zellen. Ich begriff ferner, daß der Wald sein eigenes Leben führte. Es war, als befände ich mich mitten in einer schweigenden Gemein38
schaft von Brüdern. Ich dachte an den Scheiterhaufen und an die Menge Holz, die wir brauchten. Ich dachte an die vielen toten Bäume, die der nächste Sturm umwerfen würde. Würden sie jetzt fallen, dann brauchten wir nicht zu arbeiten. Wir Menschen, dachte ich intensiv. Eine Menge von Gedanken und schlecht deutbarer Empfindungen drangen auf mich ein. Tiere wohnten in den Zweigen, Vögel hatten ihre Nester in den Ästen. Der Wald würde sie vertreiben müssen. Ein langanhaltendes Knistern und Prasseln riß mich aus meinen tiefen Gedanken. Ich öffnete die Augen und sah vor mir, wie einer der alten Bäume sich zu schütteln begann. Er zitterte und ächzte, obwohl nicht das leiseste Lüftchen wehte. Neben mir flüsterte Odalik entsetzt, beide Hände vor der Brust gekreuzt: »Vestas Auge! Dragon! Du hast Macht über den Wald!« Der riesige Baum drehte sich jetzt ein wenig. Äste brachen, und alte Früchte fielen herunter. Die Männer stoben auseinander. Ich zuckte entsetzt zusammen und stolperte vorwärts. »Achtung! Die Bäume fallen!« hallte ein Schrei durch das Knistern und Reißen des trockenen Holzes. Ich selbst war überrascht. Mehr als überrascht, denn ich hatte nicht glauben können, daß sich die Natur nach diesem Juwel und den Gedanken und Wünschen des Besitzers richten würde. Der Baum schwankte jetzt hin und her. Auch andere Bäume begannen sich zu bewegen. In einem großen Gebiet, völlig unregelmäßig verteilt, wankten die Stämme. Die Hirten rannten auf uns zu und versammelten sich um Odalik und mich, als fänden sie bei uns Schutz. Ich zählte ungefähr zwanzig Bäume, die sich jetzt wild 39
schüttelten. Ihre Kronen rauschten wie in einem Orkan. Ich stand schweigend da, blickte um mich, war unfähig, etwas zu sagen oder einen klaren Gedanken zu fassen. Endlich stand ich vor der Überzeugung, daß meine Gedanken zusammen mit der geheimnisvollen Kraft des Juwels eine gewaltige Macht darstellten. Es war keine Gedankenübertragung. Es war so, daß ich mich zu einem Teil der Natur machen konnte, wann immer ich es wollte. Hier bewies es sich zum erstenmal. Lange Risse zogen sich dicht über dem Boden durch die zwanzig Stämme. Rindenstücke platzten ab und flogen staubend zu Boden. Vögel flatterten auf und retteten sich auf die Äste der gesunden Bäume. Entlang zweier anderer Bäume kippte jener todgeweihte Stamm und krachte zu Boden, von uns weg, in eine andere Richtung. Er federte von dem nachgiebigen Waldboden kurz wieder hoch, dann lag er still da. Es regnete Nadeln, abgerissene Ästchen und Blätter. Sofort warf sich ein anderer Baum zur Seite, brach sich selbst ab. Die herausgerissenen Wurzeln hoben sich wie Schlangen aus dem Waldboden. Eine Flut von Geräuschen brach über uns herein. Langsam gingen wir rückwärts. Rings um uns schlugen krachend die schweren Stämme auf den Boden. Äste peitschten die Luft und gegen benachbarte Stämme. Die Blätter rauschten auf, wenn sie an der Borke der Schäfte entlangstrichen. Schließlich hatten wir zweiundzwanzig Bäume gezählt, die vom Wald ausgesondert worden waren. Nur noch lange Splitter von weißem und im Kern schwarzem Holz ragten wie Bündel von Speerspitzen aus dem grünen und braunen Waldboden hervor. Odalik wischte sich kalten Schweiß von der Stirn. 40
»Du bist so mächtig wie ein Geist der Elemente!« sagte er unsicher und fast ehrfürchtig. Ich wagte einen langen Blick in die schreckensbleichen Gesichter der Hirten. Sie hatten nichts begriffen und mußten an ein neues Wunder dieser rätselreichen Welt denken. Ich deutete auf das Juwel, das in der Sonne funkelte und erklärte: »Die Kraft, die diese Bäume umfallen ließ, war nicht in mir. Sie kommt aus dem Stein. Das dritte Auge, der Stein Vestas, hat Macht über die Natur. Ihr braucht keine Angst zu haben.« Von Westen näherte sich eine kleine Wolke. Sie nahm genau Kurs auf die kleine Siedlung. Es war ein Ableger Aerula-thanes, mit dem Umkathel und Priapa zu ihrem Stamm zurückkehren wollten. Mein Aufenthalt hier neigte sich dem Ende zu. Sechs Tage waren vergangen. Odalik deutete in den Wald hinein. »Geht«, sagte er, »und schlagt die Äste ab. Schichtet sie am Waldrand auf. Die Knaben und Frauen sollen sie holen. Ich gehe und hole die Zugtiere!« »Laß dir Zeit, Odalik!« war die Antwort. Kurz darauf hörten wir die Geräusche der Sägen und der Äxte, mit denen die Männer die Stämme in mannslange Stücke zersägten und die Äste von den morschen Stämmen schlugen. Wir gingen zurück und holten die Anführer der Gespanne mit ihren Tieren. Odalik deutete auf einen kleinen Hügel, der östlich der Siedlung lag. »Dort werden wir den Scheiterhaufen errichten. Dann treibt der Wind den Rauch und die Flammen nicht zu den Zelten.« Ich nickte schweigend und sah der Wolke zu, die über einer der Wiesen schwebte und zu äsen versuchte. 41
»Du weißt, daß vor dem Chaos, also in der Zeit vor zweitausend Jahren, auf dieser Welt das Paradies war?« fragte mich Umkathel. Wir bildeten eine kleine Gruppe. Wir sahen zu, wie die Hirten einen großen Holzstoß aufeinandertürmten und zwischen die dicken Balken und Stammabschnitte die abgeschlagenen Äste flochten. Von den Zelten her näherte sich ein schweigender Zug. Man brachte die Bahre mit dem eingewickelten Leichnam des Akkathos. »Ich weiß, Umkathel. Auch Odalik hat mir viel darüber berichtet.« Der weißhaarige Mann drehte seinen Kopf in die Richtung des mumienhaft aussehenden Körpers. »Akkathos hat versucht, das Paradies wieder zu uns zu bringen. Du solltest sein Erbe antreten.« »Ich glaube, ich sollte es tun«, antwortete ich. Auf meiner Schulter fühlte ich die ruhige Hand des Dorfältesten. »Mein Sohn«, warf Odalik ein, »ich weiß, wie dir zumute ist. Du bist von allem, was du kennst, abgeschnitten. Du suchst einen Weg zurück in deine Welt. Ich bin sicher, du findest eine Antwort auf die Fragen, die du uns pausenlos gestellt hast. Vielleicht gelingt es dir, Vesta zu befreien. Dann wirst du heimkehren können. Ich bin sicher,« »Das kann auch ich dir raten!« bemerkte Umkathel. Er warf im sinkenden Licht des Tages sehnsüchtige Blicke auf Aerula-thanes Tochterwolke, die sich auf die Weide gelagert hatte. »Still jetzt!« sagte ich und deutete auf die Fackeln und auf die Männer, die Akkathos brachten. Langsam versammelte sich die gesamte Bevölkerung des kleinen Zeltdorfs um den Holzstoß. Kräftige Männer hoben den 42
Leichnam hoch und betteten ihn auf die obersten Holzblöcke. Wieder eine Verbrennung, dachte ich. Wieder starb ein Mann, der Gutes wollte. Und wieder einmal sollte ich versuchen, ein Abenteuer auf einer unbekannten Welt zu bestehen und mich in Dinge einzulassen, von denen ich heute nichts ahnen konnte. Aber es gab wohl keinen anderen Weg zum zweiten Weltentor. Odalik nahm einem der Männer die Fackel aus der Hand, schwang sie im Kreis und ließ die Flammen hochflackern. »Du hast versprochen, ihm den letzten Dienst zu erweisen!« sagte er und gab mir die Fackel. Zweihundert Kinder und Erwachsene bildeten einen unregelmäßigen Ring um den Scheiterhaufen. Ich ging langsam auf das pyramidenartige Holzgerüst zu und zündete den Holzstoß an allen vier Seiten an. Knisternd fraßen sich die züngelnden Flammen durch die trockenen Zweige und Äste. Dann warf ich die Fackel ins Feuer. Ich trat zurück. Diese Art der Bestattung, das wußte ich aus den Berichten, war auf Danilas Welt sehr häufig. Der Tote wurde den Geistern der Elemente zurückgegeben. Er ging in Skortsch ein, aber seine Asche nahmen Tyde, Aerula und Erthu auf, Wasser, Wind und Erde also. Die Flammen begannen zu summen, knackend sprangen die Funken in alle Richtungen. Hitze begann auszustrahlen, der Schein der Flammen spiegelte sich in allen Gesichtern. Schon lange hatte es in diesem Hirtendorf keine Feuerbestattung mehr gegeben, das bewies das Gras, das aus der Asche der großen Feuerstelle gewachsen war. »Er geht ein in Skortsch!« rief Odalik. Von allen Seiten züngelten armlange Flammen nach oben. Rauch verhüllte den weißen Körper. Die Hitze 43
und die Helligkeit trieben die Menschen auseinander. Ich spürte, wie die Wärme auch die Haut meines Gesichts erreichte. Das Juwel begann wieder zu leuchten. Ein Luftzug entstand zwischen mir und dem Holzstoß und kühlte meine Haut. Wieder hatte die Natur einen ihrer Gunstbeweise gezeigt. Krachend und knisternd brannte der Holzstoß nieder. Wir sahen zu, wie der Leichnam verkohlte, verbrannte und zu Asche zerfiel. Schließlich war nur noch ein langgestreckter flacher Haufen abkühlender und sich langsam schwärzender Glut auf der Kuppe des Hügels übrig. Die Menge zerstreute sich, und ich verabschiedete mich von Priapa und Umkahtel. Dann rief ich die große Wolke. Aerula-thane! Du hast eine kleine Wolke geschickt, um meine Freunde zurück nach Atheka zu bringen. Hilf auch mir! In meinen Gedanken formten sich Worte und Begriffe. Ich habe dich verstanden, Dragon. Ich versprach, dir zu dienen. Ich werde selbst kommen und dich an jedes Ziel bringen, das ich erreichen kann. Ich lag in meinem Zelt und wartete. In einer Ecke hingen und standen meine Waffen. Ich mußte vorsichtig vorgehen, denn ich kannte die Gefahrenstellen nicht und konnte sie nicht umgehen. Was Umkathel und Odalik wußten, wußte jetzt auch ich. Wir haben ein kühnes Ziel, Aerula-thane! sagte ich unhörbar. Die Wolke schien sehr nahe zu sein, denn ihre Antworten waren klar und deutlich zu vernehmen. Ich hatte nicht die geringste Schwierigkeit. 44
Wo ist das Ziel? Ich mußte lächeln. Ich kannte nur die Begriffe, aber von dieser Welt gab es nicht einmal eine Karte. Die Auskünfte, die ich miteinander verzahnte und verband, ergaben nur ein sehr grobes Bild der Oberfläche von Danilas Welt. Kennst du das »Innere Reich« von Erthu? fragte ich. Ich kenne es. Es liegt unweit der Ruinen. In der großen Wüste, war die Antwort. Morgen bei Tagesanbruch werde ich auf dich warten! Ich komme! versprach ich. Ich trat vor das Zelt. Neben mir stand die Ausrüstung, die ich brauchte. Nahrungsmittel und Wasser und Schläuche voller Wein. Ich hatte alle meine Waffen angelegt und sah mich um. Das Zeltdorf schien fast leer zu sein, denn alle Hirten waren bei ihren Herden. Dann regte sich etwas zwischen den Zelten. Priapa, Umkathel und Odalik gingen über den kleinen Platz in der Mitte des Ortes. »Ihr geht zu der Wolke?« rief ich und ergriff meine Packen. »Es sind zwei Wolken!« rief Odalik zurück. »Eine kleine und die große Aerula-thane!« »Sie wird mich von euch fortbringen!« sagte ich. Wir gingen in die Richtung der Felder, wo sich die Wolkenmassen gelagert hatten. Sie versperrten die Sicht nach Norden. »Ich werde oft an dich denken!« versprach Odalik. »Wann immer du willst, sollst du unser Gast sein. Du bist immer bei den Hirten von Odaliks Stamm willkommen. Und dasselbe sage ich euch, ihr zwei!« »Wir danken dir!« erwiderte Umkathel würdevoll. 45
Wir erreichten die Felder. Ich sprach unhörbar mit der Wolke und sie mit mir. Eines war uns beiden sicher. Es würde ein aufregendes Abenteuer werden, und wir segelten dem Neuen, Unbekannten entgegen. Zwischen den beiden Wolken blieben wir stehen. Odalik war sehr ernst, als er sagte: »Ihr geht jetzt! Sieben Tage seid ihr unsere Gäste gewesen. Ich werde euch zum Abschied die Hände schütteln und wiederholen, was ich sagte: Ihr seid immer willkommen!« Wir verabschiedeten uns. Odalik und ich sahen zu, wie die kleine Wolke zwei Tentakel bildete und Umkathel und seine Enkelin hochhob und auf ihrer Oberfläche absetzte. Dann hob sie sich langsam vom Boden und stieg immer höher. »Ich wünsche dir, Dragon, alles Glück. Und von Danila soll ich dir sagen, sie ist glücklich und dankt dir für alles.« »Danke, Odalik«, antwortete ich leise. »Hoffentlich bringen sie mich nicht auch als Toten zurück zu dir. Ich fliege zur Großen Wüste, und alles kann geschehen. Ich rechne mit Kämpfen und Abenteuern.« »So wird es sein!« murmelte er. Ich spürte seinen harten Händedruck, dann erfaßte mich ein weicher, langer Tentakel und hob mich hoch. Ein anderer Wolkenarm ergriff das Gepäck. Wir schwebten durch die Luft, und dann formte Aerula-thane für mich einen bequemen Sitz. Ich hob die Hand und winkte hinunter zu Odalik. »Viel Glück!« schrie er, die Hände trichterartig an den Mund gelegt.
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»Und euch allen viele glückliche Tage!« rief ich zurück, dann merkte ich, wie sich die Wolke hob und gleichzeitig nach Westen driftete. Wir waren unterwegs. Ein kühler, spannungsvoller Morgen. Die Sonnenstrahlen wärmten meinen Rücken, als sich Aerula-thane von den Zelten entfernte. Ich warf einen langen Blick zurück. In dem Licht der frühen Stunden leuchteten die farbigen Stickereien an den Zeltwänden. Ein paar graue Rauchfäden stiegen zum Himmel. In der Ferne erkannte ich die kleinere Wolke, die Priapa und Umkathel zurückbrachte. Ich war allein, aber ich fühlte mich nicht einsam. Aerula-thane stieg höher und höher. Ein Luftstrom erfaßte uns, und die Wolke formte ein hohes, schräges Segel. Unsere Geschwindigkeit nahm zu. Weit geradeaus, einige Tagesmärsche entfernt, glaubte ich eine undeutliche, gelbe Wolke am Himmel zu erkennen, aber als ich blinzelte, verschwand sie wieder. Ich streckte meine Beine aus und richtete das Wort an die Wolke. Aerula-thane! Kennst du das innere Reich von Erthu? Ich meine, kennst du den genauen Weg zu den Ruinen von Merlane? Kennst du die Stämme, die auf diesem Weg anzutreffen sind? Die Antwort ließ einige Zeit auf sich warten. Die unfaßbare Nebelintelligenz einer Wolke schien zu überlegen, dann drangen die Worte und die Bilder Aerula-thanes in meine Überlegungen. Ich kenne vieles, aber ich habe diesen Weg noch nie selbst zurückgelegt. Wir werden oft anhalten müssen. Dann magst du Menschen befragen oder nach Zeichen suchen. Ich bin sicher, daß wir dein Ziel finden. Was willst du eigentlich im Mittelpunkt der Wüste? 47
Während der vergangenen Nacht hatte ich alles zusammengezählt, was ich über die Welt wußte. Ich war zu einem Entschluß gekommen. So konnte ich erwidern: Ich werde Erthu finden und mit ihm reden! Nach einer auffallend langen Zeit des Schweigens erwiderte die riesige Wolke, und ich glaubte, Erschrecken in ihrer lautlosen Antwort zu erkennen: Das ist ein gefährliches Vorhaben, würdig eines sehr mutigen Geistes. Aber du bist nur ein Mensch! Ein Mensch aber, dachte ich intensiv, der durch Mut ersetzen muß, was ihm an Wissen fehlt!
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3.
Wir segelten weiter, immer geradeaus nach Westen. Ich versuchte, während ich über den Rand der Wolke nach unten spähte, die Entfernung vom Boden abzuschätzen. Zweihundert Mannslängen vielleicht, etwas mehr oder weniger. Ein undeutlicher Schatten – unser Schatten – flog uns voraus und fiel und stieg über die Unebenheiten des Bodens. Rechts dehnte sich die Wüste aus, links befand sich der Dschungel. Von den beiden Meeren sah ich nichts, denn der Horizont war auf beiden Seiten von einem dunstigen Schleier bedeckt. Aerula-thane segelte ziemlich genau über dem Streifen, der Dschungel von Wüste trennte. Immer niedriger wurden die Bäume und Büsche, je mehr der Wald in den Sand und die hellen Felsen überging. Die Abstände zwischen den einzelnen Pflanzen wurden immer größer. Selbst das Gras verlor seine saftige Farbe und wurde, je mehr nördlich es stand, um so trockener und gelber. Schließlich erkannte ich nur noch die Schatten von Pflanzen, die durchaus so aussahen, als würden sie auch in »meiner« Welt vorkommen. Dicke Schalen und vermutlich Stacheln, außen eine ledrige Haut, innen feuchtigkeitsspeichernd. Ein stetiger, angenehmer Wind kam von Südosten. Das riesige Wolkensegel aus nebliger Substanz, das wie eine riesige Pyramide wirkte, fing die Luftströme auf und machte die Wolke schneller. Ich fühle deine Gedanken, Freund Dragon, meldete sich die Wolke in meinen Überlegungen. Du scheinst dich auf die kommenden Tage und die Abenteuer zu freuen! 49
Ich stimmte zu; Aerula-thane hatte recht. Mit einem Lachen erwiderte ich: Ich freue mich ebenso darauf, wie du dich über deine Freiheit freust, und darüber, daß die Piraten Darracos keine Lanzen mehr in deinen Körper bohren! Es war ein heißer Tag, und die Sonne brannte bereits, obwohl die Felsen und die Bäume noch lange Schatten nach Westen warfen. Aber hier oben fühlte der Wind meine Haut und fuhr durch mein Haar. Ich beobachtete wieder den Boden unter mir und versuchte, was ich sah, in eine Art undeutlicher Landkarte einzugliedern. Seit wir das Lager und seine Umgebung verlassen hatten, flogen wir direkt nach Westen, den unbekannten Ruinen von Merlane entgegen, die einige Tagesreisen weit entfernt waren – Tagesreisen für eine eilig fliegende Wolke, wenn sie keinen Sturm gegen sich hatte. Ich hob den Kopf und sah über die lange, gestreckte Fläche der Wolke nach vorn, an dem riesigen Unterteil des dreieckigen Segels vorbei, hinweg über die runden Kuppen und quellenden weißen Blasen. Über uns wölbte sich ein fast wolkenloser, blauer Himmel. Der Horizont rund um uns war undeutlich und noch immer dunstig. Aber geradeaus sah ich eine Wolkenwand, die vom Boden aus sich bis in unsere Höhe erstreckte oder noch höher. Sie war gelb oder leicht rötlich. Eine Hochstimmung hatte mich ergriffen. Sie hing zweifellos damit zusammen, daß ich mich auf diese Art und mit dieser Geschwindigkeit bewegte, hoch in der Luft und sämtlichen Gefahren des Bodens entzogen. Plötzlich sah ich, wie sich zwei der Schatten schräg vor uns bewegten. Sie befanden sich genau dort, wo ich 50
mich befunden hätte, wenn ich unten auf dem Erdboden versucht hätte, mich schnell nach Westen zu begeben. Aerula-thane! dachte ich. Ich höre? Gehe ein wenig tiefer und bleibe über den beiden Schatten dort vorn. Ich kann sie nicht erkennen, noch nicht. Aber erschrecke sie nicht zu sehr! Ich werde tun, was du verlangst! Die Wolke verkürzte das Segel und veränderte die Form der Nebelzusammenballung. Gleichzeitig sank sie schräg dem Boden entgegen, aber der Hauptteil schwebte über der heißen Wüste. Ich konnte ohne Mühe den Rand des Dschungels beobachten. Wir näherten uns den beiden Gestalten. Sie wurden deutlicher. Ich vermochte zu erkennen, daß es sich um ein Tier und um einen Menschen handelte. Ich beschattete die Augen mit der flachen Hand und starrte konzentriert nach unten. Dort, wo das Gras noch dicht und grün war, zwischen einzeln stehenden Büschen und in den langgezogenen Schatten der Bäume, wo Licht und schwarze Schatten ein verwirrendes Muster bildeten, rannte in einem langsamen, aber mühelos gleitenden Trab ein Tier. Es sah aus wie ein Panther, schwarz, fast ein wenig blauschimmernd, wenn sich das Tier in die Sonne schnellte. Ein schwerer, aber schlanker Panther, unter dessen Fell die dicken Muskeln spielten. Einmal wandte das Tier den Kopf und sah hinüber zur Wolke. Ich glaubte rötlich leuchtende Augen zu erkennen, war aber nicht sicher. Für einige Augenblicke verschwanden der schwarze Panther und sein Begleiter hinter Büschen und in der Schwärze der Schatten. Dann tauchten sie wieder auf und rannten über eine Stelle aus gelben Gräsern. Sand stob unter den Beinen der Laufenden hoch. 51
Ich beugte mich fasziniert vor. Neben dem Panther, eine Hand in das schwarze Fell des Nackens gekrallt, lief ein dunkelhäutiges Mädchen. Es war schlank, sehr sehnig und sah sehr gut aus. Sie trug nur wenige Kleidungsstücke, und diese schienen ebenfalls aus dunklem Fell zu bestehen. Mit der linken Hand stützte sie sich gegen das Tier und ließ sich mitziehen. In der Rechten hatte sie einen langen, weißen Stab, mit dessen Hilfe sie ebenfalls versuchte, ohne viel Kraftaufwand zu laufen. Mit dieser Geschwindigkeit und auf diese Art konnten der Panther und das Mädchen innerhalb weniger Stunden eine bemerkenswert große Entfernung zurücklegen, ohne sonderlich zu ermüden. Hast du genug gesehen? Kennst du die beiden? fragte Aerula-thane. Ich kenne sie nicht, muß ich zugeben. Aber warte noch ein wenig. Ich habe den verrückten Gedanken, als ob ich diese beiden dort unten irgendwie kennen müßte. Sie sind sicher Gestalten aus einem meiner wilden Träume! Ich warte! Die Wolke war schneller gewesen und hatte den Panther und das Mädchen, die in jeder ihrer Bewegungen königlich und selbstbewußt wirkte, überholt. Ich drehte den Kopf und betrachtete dieses ungleiche und sich doch so ähnliche Paar länger und genauer. Einige quälende Fragen drängten sich mir auf. Woher stammte der Eindruck, daß mir diese rennenden Wanderer, deren Ziel auch im Westen liegen mußte, bekannt schienen? Beide wirkten, als ob sie unter allen Umständen einen Punkt erreichen müßten. Es hing viel davon ab, daß sie ans Ziel kamen. Es war wie bei mir! Ich versuchte ja ebenfalls, auf dem Umweg über das Auge Vestas das an52
dere Weltentor zu finden! Suchten sie es ebenfalls? Oder war ihr Anliegen anderer Art? Ich bewunderte die prachtvolle Figur des Mädchens. Sie schwang die Beine und setzte die Füße, als habe sie ihr ganzes Leben lang, das vielleicht achtzehn Jahre lang gewährt haben mochte, nichts anderes getan. Sie machte den Eindruck einer Prinzessin aus dem Dschungel. Ihr Volk würde sie als Göttin verehren, dachte ich. Nichts anderes konnte es sein. Dann sah ich wieder den Panther. Ich wünschte den Gedanken nicht herbei, aber ich wurde an Ubali erinnert, den riesigen Schwarzen, der den Hirtenfürsten Zainu verlassen und mir bis hierher zum Weltentor gefolgt war. Ubali! Nichts hatte der schwarze Panther mit Ubali gemeinsam, abgesehen von der Farbe und von einer bestimmten Weise, sich zu bewegen. Ich hob traurig die Schultern und dachte an diesen treuen Freund und Kampfgefährten, der gleich mir hierher verschlagen worden war. Vermutlich moderten seine Knochen schon irgendwo zwischen den Himmelbergen und den Sümpfen in den Wäldern. Vergessen und verloren. Hast du genug gesehen? Ja, fliege weiter, Aerula-thane, bat ich. Ich habe mich getäuscht. Ich glaubte, in einem Tier einen meiner Freunde erkannt zu haben. Die Wolke nahm wieder Fahrt auf, vergrößerte das Segel und schwebte höher in die Luft. Ihre Antwort erstaunte mich mehr, als ich für möglich gehalten hatte. Das ist nicht ausgeschlossen. In dieser Welt geschieht vieles, was wie ein Wunder wirkt. Die Natur kann Menschen in Tiere und diese in Menschen verwandeln. Und weiter ging unser Flug. 53
Ich verfolgte die beiden Wesen, die kleiner und undeutlicher wurden und endlich mit dem Rand des Dschungels verschmolzen, solange ich es konnte. Dann aber, als ich nach vorn blickte und instinktiv nach dem Anblick der Ruinen, einer Oase, eines neuen Bildes suchte, das die Eintönigkeit der weißgelben und rötlichen Wüste unterbrach, sah ich die riesige spiralige Trombe aus Wolkenmasse. Eine Schwester von dir, Aerula-thane? fragte ich. Aus der gelbroten Wolkenwand, die noch vor einer Stunde die Sicht nach Westen versperrt hatte, war ein riesiger Turm geworden. Die Massen der erhitzten Luft schienen sich zu drehen. Der Turm war an seinem Fuß, mit dem er die Wüste berührte, sehr klein, aber er vergrößerte seinen Durchmesser mehr und mehr bis zum oberen Rand, der mit dem Weltall zu verschmelzen schien. Keine Schwester, auch keine Tochter! war die Antwort. Ein Sturm kommt von Westen. Er reißt ungeheuer viel Sand mit sich. Ich werde versuchen, auszuweichen. Das solltest du tun, denke ich! erwiderte ich. Je mehr wir uns der Wolke näherten, desto beklommener wurden meine Empfindungen. Jetzt sah ich es deutlicher. Eine gewaltige Masse Sand, von der Wüste hochgerissen und herumgewirbelt, befand sich in jener Trombe. Sie zog schnurgerade nach Osten, aber sowohl der Fuß änderte unaufhörlich seine Lage und Richtung, als auch das flache, ausfasernde Oberteil, das zur Seite glitt, nach vorn und hinten zuckte wie eine Schlange, die sich aufbäumte. Aerula-thane wich nach Norden aus. Sie wurde schneller, veränderte ununterbrochen die Stellung ihres Wolkensegels und kletterte höher. Alles auf dem Erdboden schrumpfte zu totaler Bedeutungslo54
sigkeit zusammen. Aus den einzelnen Bäumen wurden Flächen, die zusammenwuchsen. Aus diesen Flächen wurde eine riesige, grüne Schicht, nur hier und da von einem mäandernden Flußlauf oder einem See unterbrochen. Ein fahles, bedrückendes Licht breitete sich rund um uns aus. Die Wolke, auf der ich noch immer sicher und geschützt saß, stieg in beängstigender Geschwindigkeit schräg aufwärts und wich mehr und mehr nach Norden aus. Unter uns lag jetzt die Wüste. Du mußt nach Süden! rief ich in meinen Gedanken. Gleichzeitig spürte ich, wie zwei Windrichtungen sich aufhoben. Über der Wolke prallten der Sturm aus dem Westen und der Fahrtwind zusammen. Mein Haar begann wild zu wirbeln. Einzelne Staubkörner schlugen gegen die Haut der Hände und des Gesichts. Ich kann nicht! Der Sturm hat mich gepackt. Ich muß höher steigen! erwiderte Aerula-thane. Sie war groß und kräftig, aber der Sturm, der uns abtrieb, war stärker. Ich versank tief in dem weichen Gespinst der Wolke. Sie versuchte mit allen Kräften von der Wüste aus über den Dschungel zurückzukehren. Dabei kletterte sie höher und höher, um dem Sturm zu entgehen. Der riesige Wolkenturm lag jetzt wieder gerade vor uns und kam rasend schnell näher. Das Sonnenlicht schwand völlig. Das heulende und mahlende Geräusch, das ich hörte, wurde lauter und gefährlicher. Überall flogen jetzt Sandkörner schmerzhaft durch die Luft. Ich schaffe es nicht mehr! Wir kommen genau ins Zentrum des Sturms! rief die Wolke. Ich vertraue auf dich und deine Erfahrung! Bringe mich nicht um!, gab ich zur Antwort. Meine Wanderwolke hatte jetzt mit viel Mühe eine Höhe erreicht, die dem oberen Rand des sanderfüllten 55
Sturmturms entsprach. Gellend pfiff der Wind über die Oberfläche der Wanderwolke dahin und riß kleine Teile aus ihrer Masse heraus. Ich duckte mich und zog den Kragen meines Mantels über den Kopf. Die Sandkörner prasselten wie Nadeln gegen meine Haut. Die gesamte Wolke bebte und schüttelte sich, als sie versuchte, nach Süden zu gelangen. Das Segel bewegte sich unaufhörlich, kippte und kantete sich und bog sich unter den Sturmstößen. Ich konnte nichts mehr sehen, weil der Sand in den Augen schmerzte. Es war unmöglich, etwas anderes zu hören als das Heulen des Sturmes und das dumpfe Geräusch, das brodelnd aus dem Innern von Aerula-thane kam. Ich bedeckte Kopf und Schultern mit den Händen. Sandkörner knirschten zwischen meinen Zähnen. Hin und wieder, wenn ich ein Nachlassen im Kreischen des Sturmes hörte, wagte ich, die Augen zu öffnen. Ich mußte glauben, auf hoher See zu sein. Die Wanderwolke hob sich vorn und hinten und an beiden Seiten. Mein Magen machte sich bemerkbar. Aerula-thane zitterte und bebte und verformte sich ununterbrochen. Sie schien schwerer zu werden durch den Sand, der in ihr Gefüge eindrang und sie lähmte. Aber mit allen ihren unergründlichen Kräften versuchte Aerula-thane, sich über den Sturm zu erheben. Jetzt, nach eineinhalb Stunden des erbitterten Kampfes, nachdem wir uns im Zentrum des ringförmigen Sandsturms befanden, dachte ich zum erstenmal wieder an das Auge Vestas. Ich hatte es vollkommen vergessen gehabt; meine Gedanken waren woanders gewesen. Ich versuchte, auf ebensolche Weise mit dem Sturm in Verbindung zu treten, wie ich es mit dem Wald und 56
seinen kranken Bäumen geschafft hatte. Ich dachte konzentriert an ein Nachlassen des Sturmes und gab mich – in Gedanken – als Beauftragter Vestas zu erkennen. Ich schien erfolgreich zu sein ... Als ich, durch das Nachlassen der Sturmgeräusche ermutigt, die Augen wieder öffnete und mir den Sand aus dem Haar schüttelte, bemerkte ich, daß wir uns in dem Kern des Sturms befanden. Plötzlich erstarben alle Geräusche. Dann packte eine furchtbare Kraft die Wolke und schob und wirbelte sie nach Süden, in die Richtung auf den Dschungel. Steige höher, wenn du kannst! Wir haben es beinahe geschafft! sagte ich laut. Der Sturm schien sich nicht besänftigen zu lassen. Rund um uns befanden sich Zusammenballungen von Wasserdampf, gesättigt mit feinem, staubartigem Sand. Der riesige Kessel des Sturmes bewegte sich mit allem, was sich in ihm befand, auf den Wald zu. Wir waren hilflos. Die Sonne brannte mitleidlos herunter. Ich fühlte, daß die Luft dünner wurde, und schnappte nach Luft. Ich mußte keuchend husten, weil Sand in meinen Rachen drang. Ich versuche es! Die Wanderwolke zog das Segel ein und schien sich in eine Kugel verwandeln zu wollen. Ich rieb meine tränenden Augen und blickte über den Rand. Wir stiegen tatsächlich höher. Es ging quälend langsam. Ich begann zu ahnen, daß wir verloren waren, wenn uns die jenseitige Wand des Orkans erfaßte und herumwirbelte. Die Kräfte der Wanderwolke waren nicht unendlich. Fremde Luftströmungen ergriffen die Wolke, als sie sich aus dem Zentrum des Sturmes erhob und versuchte, über die oberen Ränder hinwegzukommen. 57
Der Himmel war strahlend blau, die Sonne loderte und brannte. Ich sah die langen Säulen von Sand aus der Wolke fallen und über der Wüste und dem Wald niedergehen. Die Sandmassen wirkten wie ein furchtbarer Regen oder ein Hagelschlag. Aber wir schafften es. Ich merkte, wie unter uns die turbulenten Massen nach Osten glitten. Wieder trafen uns furchtbare Stöße. Wir übersprangen den breiten braunen Saum, der sich kreisförmig nach beiden Seiten erstreckte. Es war ein gigantischer Sturm, mit dem wir kämpften. Unter uns war der Boden unsichtbar. Wir wurden plötzlich hochgehoben, mehrere hundert Mannslängen, und ich fühlte mich tief in die nachgiebige Wolkenmasse hineingepreßt. Dann fielen wir außerhalb des Sturmes in wirbelnde Luftmassen, wurden abermals in einen Sandschleier gehüllt und rasten schräg abwärts. Wir sind gerettet! sagte die Wolke. Sie war erschöpft. Ich fühlte mich müde und durchgeschüttelt, aber mit jedem Augenblick, mit dem wir uns von der Rückseite des Sturmes entfernten, wuchs mein Selbstvertrauen wieder. Vestas Auge hat den Sturm nicht besänftigen können! Er war zu groß und zu stark. Ich kam auf die Füße und ging vorsichtig bis an den Rand der Wolke. Tief unter uns sah ich den Dschungel. Wir waren stark abgetrieben worden und befanden uns in unglaublicher Höhe. Ich lachte kurz auf und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Der Dschungel war riesig, dehnte sich nach allen Seiten aus und ließ Flüsse, Lichtungen, kleine Berge und Seen erkennen. Ich hatte schon kurz nach dem Abflug nicht gewußt, wie die Landschaft bis zum Zentrum der Wüste aussah, aber jetzt war ich vollständig verwirrt. 58
Weißt du, wo wir uns befinden, Aerula-thane? Langsam schwebte die Wolke schräg abwärts. Noch immer schüttelte ich Sand aus meinem Haar und meiner Kleidung und spie Sand aus. Die einzelnen Zonen in der unermeßlichen Weite des Dschungels wurden deutlicher. Nein. Wir sind nach Süden abgetrieben und etwas zurückgeworfen worden! Ich sortierte meine Waffen und schüttelte mich. Ich mußte landen und nach dem Weg fragen. Wir hatten uns trotz allem sehr weit von Odaliks Lager entfernt, und es war durchaus möglich, daß Jäger oder Hirten in dieser Gegend etwas mehr von Erthu und den Ruinen von Merlane wußten. Dann segle bitte weiter, bis du eine Siedlung entdeckst. Dort werde ich fragen und mich nach den Ruinen erkundigen. Die Wanderwolke zeigte, daß sie mein Freund war. Sie schwebte tiefer hinunter und strich wie ein großer Vogel schnell über die Wipfel der Bäume hinweg. Ein Wolkensegel war errichtet worden, so daß der Wind uns schob und trieb. Unter mir wechselte in großer Schnelligkeit das Aussehen der Landschaft. Ununterbrochen änderten sich die Bilder, aber ich sah nirgendwo Rauch oder gar Hütten oder Zelte, im allgemeinen ein untrügliches Zeichen für menschliche Siedlungen. Der Flug ging weiter nach Westen. Stundenlang ... Am frühen Abend lag ich am vorderen Teil der Wanderwolke und spähte nach vorn. Die Sonne schien mir ins Gesicht, und meine Spannung hatte zugenommen. Ich war aufgebrochen, um den Erdgeist Erthu vor dem Zwillingsbruder Akkathos zu warnen. 59
Ich mußte oder sollte, um meinem Ziel näherzukommen, Erthu geneigt machen, der sich wieder unter die Herrschaft von Vesta begeben sollte. Aber Vesta selbst mußte erst aus der Gefangenschaft befreit werden, damit er wieder, nach zweitausend Jahren, zum Herrscher über die Geister der Elemente werden konnte. Aber ich wußte nur, was ich zu tun hatte – wie und an welcher Stelle ich es tun mußte, davon hatte ich keine Ahnung. Pausenlos drehte und wendete ich meinen Kopf und starrte konzentriert hinunter auf die Lichtungen, die kleinen Wiesen und die sandigen Strände kleiner Seen, um die Spuren menschlicher Behausungen zu entdecken. Langsam verging die Zeit, aber ich sah und hörte nichts. Auch Vestas Auge half mir nicht. Die Helligkeit des Tages schwand mehr und mehr dahin. Die Wanderwolke bewegte sich in langgestreckter Zickzacklinie über den Dschungel dahin und suchte ihrerseits nach Menschen. Schließlich, als es bereits stark dunkelte, sah ich links von der Flugrichtung einen feinen, dünnen Rauchfaden, der am Strand eines kleinen Urwaldweihers in die Luft stieg und in der Höhe der Wanderwolke zerfaserte. Halt, Aerula-thane! Flieg bitte einen Halbkreis und setz mich am Ufer des Tümpels neben den drei hohen Bäumen ab. Ich tue, was du willst, Dragon! Ich beugte mich vor und versuchte, mehr Einzelheiten zu erkennen. Ich sah aber nur den Rauch des unsichtbaren Feuers, der zwischen den Baumwipfeln hervorquoll. Bäume und Büsche umstanden den großen Tümpel so dicht, daß ich weder eine Hütte noch eine menschliche Gestalt erkennen konnte. Aber auf dem Sand unter den 60
ausladenden Ästen glaubte ich ein schmales Boot sehen zu können. Ich setze dich am gegenüberliegenden Ufer ab und bleibe in deiner Nähe, so daß du mich rufen kannst, wenn dir Gefahr droht! sagte die Wolke in meinen Gedanken. Ja, gut. Ich bewegte mich zurück zu meinen Waffen und schüttelte den letzten Sand aus den Falten meines Mantels. Dann legte ich langsam und bedächtig meine Waffen an, trank einen Schluck aus einem der Weinschläuche und wartete. Die Wanderwolke drehte nach Süden ab und flog dann wieder zurück nach Osten. Unablässig senkte sie sich tiefer. Direkt unter uns war jetzt der kleine See. Ich blieb am Rand des großen, weißen Gebildes stehen und sah zu, wie sich aus Aerula-thane ein Tentakel formte und nach mir griff. Die Wolkensubstanz hüllte mich ein, hob mich in einer vorsichtigen Bewegung durch die Luft und näherte sich dem Erdboden. Dann spürte ich den feuchten Sand unter den dünnen Sohlen meiner Stiefel und winkte lächelnd nach oben. Es sind nicht viele menschliche Spuren hier. Bleib trotzdem vorsichtig! warnte die Wolke. Ich drehte mich langsam um, spannte die Sehne meines Bogens und nahm ein paar Pfeile in die linke Hand. Ich blickte hinüber über den dunklen Wasserspiegel des Sees. Ein paar Vögel flogen auf und fielen links von mir wieder ins Schilf ein. Im Wald rund um mich waren nur die bekannten Geräusche der Tiere. Ein kaum merklicher Bodenwind ließ die Stämme und die Äste knarren. Wieder ergriff mich das Gefühl, als wäre ich eins mit der Umgebung. Ein großer Schwarm tanzender Mücken, die vor mir über dem Wasser sich zu zahlreichen Formen zusammenballten und wieder auseinanderstoben, 61
teilte sich, als ich hindurchschritt. Nicht eines der Insekten belästigte mich. Leise ging ich weiter. Von der Natur drohte mir keine Gefahr, aber vielleicht von den Jägern oder Fischern, die dort drüben, vierhundert Schritte von mir entfernt, ihre Hütten hatten. Ich sah die Flammen des Feuers und schemenhaft, halb in den Zweigen der Bäume verborgen, die Plattformen von Pfahlbauten. Schon hier roch es nach gebratenem Fisch. Ein Rudel rotfelligen Wildes, nicht größer als kleine Kälber, passierte die Büsche und bewegte sich schräg über meinen Weg dem Wasser zu. Alle Tiere hoben die Köpfe und sahen mich ruhig, ohne jede Furcht, aus großen, dunklen Augen an. Gräser bogen sich vor meinen Stiefelspitzen nach beiden Seiten, und scharfe Halme kräuselten sich ein. Ich blieb stehen, nachdem ich langsam und leise ein Viertel des Uferumfanges auf die Feuerstelle zugegangen war. Ich blickte hinüber und hob den Kopf, um nach Aerula-thane zu sehen, aber die Wolke war verschwunden. Sie weidete zweifellos in der Nähe und war bereit, mich zu holen, wenn ich mich in Gefahr befand und nach ihr rief. Das Feuer war nicht groß, aber heiß und mit hohen Flammen. Auf Dreifüßen hingen runde Kessel, aus denen ein heller Dampf sich kräuselte. Der Geruch aus den Kochkesseln zog zwischen den Büschen umher und stach mir verlockend in die Nase. Auf langen, geschälten Ästen drehten sich große Fische über der Glut. Ich hörte das leise Murmeln einer unverständlichen Unterhaltung. Am anderen Ende des Sees schrie ein kleines Tier. Dann gab es das Geräusch großer, nasser Schwingen und ein 62
langes, häßliches Krächzen. Ein Vogel fiel klatschend in das Wasser ein und flatterte noch ein paar Mannslängen, ehe er die Schwingen zusammenfaltete und den Kopf ins Wasser steckte. Ruhig beäugten mich Vögel und Tiere. Ein Baum warf eine birnenförmige Frucht ab, die direkt vor meinen Füßen im Gras landete. Ich griff nach der gelben Frucht, sah sie an und biß hinein. Sie schmeckte säuerlich, aber gut. Es waren drei Hütten, drei Mannslängen hoch in die Bäume gebaut, an den Ästen mit kunstvollen Lianenverbindungen verankert. Darüber erhoben sich schilfgedeckte Dächer und geflochtene Wände. Ich umrundete den letzten Teil des Sees und blieb stehen, als ich in Sichtweite des Feuers war. »Ich bin ein Freund und suche Antwort!« rief ich l eise. Stille. Die Unterhaltung der unsichtbaren Menschen dort brach ab. Selbst die Tiere schwiegen. Dann schob ich mich zwischen den Büschen hervor, die bereitwillig auswichen und mir den Weg freimachten. Zwischen mir und dem Feuer lag nur Sand, der mit den Spuren nackter Füße übersät war. Ein paar Fischgräten lagen dort. Das Kanu war hoch auf den Sand hinaufgezogen worden. Mit einem unaussprechlichen Gefühl ging ich weiter und bemühte mich, nicht in die Flammen zu sehen. Dann sah ich die Fischer. Sie saßen im Dunkel unter großen Blätterdächern, die sich von den Bäumen bis hierher erstreckten und leise im warmen Luftstrom zitterten. Ich erkannte einen alten Mann mit weißem Bart, einen jungen Mann und zwei Frauen. Sie saßen auf geflochtenen Stühlen und sahen mir mit aufgerissenen Augen entgegen. 63
Ich ging auf sie zu, legte Pfeile und Bogen auf den Sand und fragte leise, beunruhigt: »Seid ihr stumm? Habt Ihr Angst vor mir?« Als ich mich wieder aufrichtete, begegnete ich ihren Blicken. Sie waren mißtrauisch und fast feindselig. Ich breitete die Arme aus und hielt die Handflächen nach vorn. »Ich bin allein!« sagte ich. Nach einer quälend langen Weile des Schweigens sagte der alte Mann: »Wer bist du, Fremder?« »Ich bin nichts als ein Wanderer, der euch um Rat fragen will!« erwiderte ich. »Woher kommst du?« erkundigte sich der jüngere Mann. Er hielt den Griff seines Dolches in den Fingern. Ich lachte ihn freundlich an und sagte: »Ich komme vom Stamm des Odalik, des Hirtenfürsten.« »Dein Name?« Diesmal fragte eine der Frauen. Ich kam abermals ein paar Schritte näher und blickte sie der Reihe nach an. »Ich bin Dragon. Ein Fremder auf dieser Welt.« »Tritt näher, wenn du allein bist und uns nicht überfallen willst.« Ich lächelte noch immer, als ich auf die vier Personen zuging. Eine merkwürdige Spannung herrschte hier unter den Zweigen. Ringsherum war der Wald mehr als ruhig. Das Mißtrauen und die Furcht dieser vier Fischer schien sich auf die Natur übertragen zu haben. Dann bemerkte ich, daß im Schein des Feuers Vestas Auge zu flimmern und zu leuchten begonnen hatte. Ich faßte mit einer Hand hinauf zur Stirn und erklärte: »Das ist das Geschenk eines Toten. Er nannte diesen Edelstein Vestas Auge. Es ist nichts Böses, Fischer.« 64
Wieder fragte die jüngere der beiden Frauen mit einer dunklen, samtigen Stimme: »Wohin willst du? Oder bist du ein Waldjäger?« Ich schüttelte den Kopf und erwiderte achselzuckend: »Ich will nach Westen. In das Zentrum der Wüste. Ich suche die Ruinen der einstmals überaus großen und mächtigen Stadt Merlane.« Ich sah blitzartig das Erschrecken in ihren Gesichtern. Sie zuckten zusammen und schlugen die Hände vor den Mund. Dann erkundigte sich der Alte mit seiner brüchigen Stimme: »Nach Merlane? Also bist du entweder ein Plünderer, ein Pirat oder ein Wahnsinniger. Nur Wahnsinnige gehen in die Wüste. Nur ein Irrer spricht von Merlane, der verfluchten Stadt!« Ich stand noch immer vor ihnen wie ein kleiner Junge, der die Strafe des Vaters erwartet. »Ich bin kein Plünderer, sondern habe nur ein paar Fragen. Ich bin auch kein Pirat, denn die Wanderwolke, die mich trug, ist von den Piraten befreit worden. Und ich denke nicht, daß ich wahnsinnig bin. Darf ich mich zu euch setzen?« Ich nahm den Weinschlauch von der Schulter und schwenkte ihn einladend hin und her. Noch immer trafen mich mißtrauische Blicke, aber langsam erwachten die vier Menschen aus ihrer Starre. Ich war wohl in eine seltsame Versammlung geraten. Ich spürte auch zwischen den Fischern eine undeutliche Spannung, als ob ein Unbeteiligter in einen Raum getreten sei, in dem bisher ein scharfer Streit stattgefunden hatte. »Ja. Setz dich!« Der Alte hatte gesprochen. Der jüngere Mann, der einen nassen, schwarzen Haarschopf und einen eben65
solchen Bart hatte, stand wortlos auf und holte aus dem dunklen Hintergrund einen fünften geflochtenen Stuhl. Unfreundlich stellte er ihn vor mich hin. »Störe ich euch? Vielleicht kann ich eure Stimmung etwas lustiger machen, wenn ich euch einen Becher Wein eingieße?« fragte ich auffordernd. Plötzlich sprangen sie alle auf. Es war, als habe ich etwas Verbotenes gesagt. Diese seltsame Tafelrunde wurde von Augenblick zu Augenblick immer rätselhafter. Sie stolperten und rannten wie die Gehetzten in den Hintergrund, klammerten sich an die Holme der Leitern und rasten wie Urwaldtiere die Leitern hoch. Ich wartete verblüfft und setzte mich bequem hin, aber ich achtete darauf, daß ich schnell mein Schwert und meine Dolche erreichen konnte. Ich hörte über mir undeutliche Schreie, das Rumpeln und Klappern von irgendwelchem Hausrat, dann fielen sie mehr als daß sie kletterten die Leitern wieder herunter. Sie rannten auf mich zu – und hielten große, leere Holzbecher in den Händen. Ich begriff, begann schallend zu lachen – und das löste die Spannung. Ich zog den Verschluß aus dem Halsstück des Schlauches. Der Geruch der Suppe, der Bratengeruch der Fische und das Aroma des starken roten Weines mischten sich. Die vier Fischer begannen zu lächeln und zu lachen, als sei mein Heiterkeitsausbruch ein Zeichen gewesen. Ich goß einen Becher nach dem anderen halbvoll und zuckte dann die Schultern. Die jüngere der beiden Frauen, die bisher am meisten gesprochen hatte, griff in die Falten ihres dünnen Gewandes und holte einen fünften Becher hervor, den sie mir in die Hand drückte. »Danke, Tochter der Wellen!« sagte ich und goß auch diesen Becher voll. 66
Der Alte hob den Becher, roch daran und nippte vorsichtig. Dann ließ er ein begeistertes Schmatzen hören. »Willst du mit uns essen? Wir sind arm, aber die Fische sind gut gewürzt!« sagte er. »Mit Freuden!« erwiderte ich. »Ich bitte euch auch, hier irgendwo mein Nachtlager nehmen zu dürfen.« »Gern! Möge uns Tyde viele Gäste von deiner Art bescheren.« Wir tranken uns zu, und schlagartig verschwand der letzte Rest der unergründlichen, merkwürdigen Stimmung. Plötzlich kam Leben in die vier Fischer. Sie trugen ihre Sitze in die Nähe des Feuers und baten mich, mit ihnen zu kommen. Sie tranken von dem Wein, als sei dies eine seit langem entbehrte Kostbarkeit. Dann wurde der Kessel vom Feuer genommen. Der jüngere Mann, der überraschend muskulös und schlank war, deutete auf den See und sagte: »Wir sind Fischer, wie du wohl gesehen hast.« Ich warf einen Blick zu den einfachen Netzen, die an den Ästen zum Trocknen ausgespannt waren und erwiderte langsam: »Ich dachte es mir. Seit ihr eine Familie?« »Nein. Wir haben uns nur für kurze Zeit getroffen. Wir fischen an verschiedenen Stellen des Waldes. Wir warten auf die Karawane aus der Wüste.« »Wir verkaufen getrockneten Fisch!« meinte die jüngere Frau und warf mir einen lauernden Blick zu. Es war ein verlangender, gleichzeitig aber abwehrender Blick. Ich hob die Schultern. »Ihr verkauft Fisch an die Wüstenvölker?« »Ja«, kicherte der Alte. »Wir sind die einzigen Bewohner des Waldes, die von den Sklavenkarawanen nicht überfallen werden. Dafür bekommen wir Felle und Eisenarbeiten.« 67
Ich verstand. Unweit von hier oder wenigstens in relativ geringer Entfernung wohnten Wüstenstämme, die Menschen raubten und Handelskarawanen ausrüsteten. Wieder ein winziger Mosaikstein aus dem verwirrenden Bild dieser Welt mehr. »Laßt uns essen!« schlug die ältere Frau vor. Ich hatte sie genauer betrachtet und konnte mir jetzt ein Bild machen. Während der jüngere Mann einen flachen, mühlsteinförmigen Felsen heranrollte, der den Tisch ersetzen mußte, begann ich zu ahnen, daß ich hier auf eine merkwürdige Lebensgemeinschaft gestoßen war. Der alte Fischer strahlte eine einfache Art Altersweisheit aus. Ich sah zu, wie er und die junge Frau die gebratenen Fische auseinandernahmen und die Teile auf nasse, große Blätter legten. Sie schienen ihr Leben lang nichts anderes getan zu haben, als hier Fische zu fangen. Der junge Mann war trotzig und schien mit diesem Leben nicht zufrieden zu sein, aber er befand sich wohl gerade an der Schwelle der Einsicht, daß an allen anderen Stellen, die er sich vorstellen konnte, das Leben noch schlimmer sein würde. Die Frau, die mich jetzt bediente und sich immer dicht in meiner Nähe bewegte, war außergewöhnlich unzufrieden und würde den ersten Anlaß, der sich ihr bot, benutzen. Auch sie wollte den Wald verlassen, aber sie wußte, daß sie allein zu schwach dafür war. Die alte Frau schien die Vernünftigste zu sein. Sie widmete sich schweigend den Arbeiten, die das Essen mit sich brachte. Ich sah jetzt, daß die jüngere Frau sehr hübsch war. »Wie heißt du?« fragte ich leise und stellte meinen Becher neben die Blätter und die hölzernen Schalen voller dampfender Suppe. 68
»Ich bin Pecah! Gehst du morgen wieder?« »Ja, wahrscheinlich!« sagte ich und rückte meinen Sitz näher an den Tisch heran. Mein Juwel zwischen den Brauen glühte. Die Mücken und die stechenden Insekten, die in kleinen Schwärmen um die vier anderen Menschen herumschwirrten, belästigten mich keinen Augenblick. Die Käfer, die im Schein der zuckenden Flammen über den Stein krabbelten, machten einen Bogen um mein Essen. »Du willst wirklich nach Merlane?« »Ja!« sagte ich. Wir begannen zu essen. Die Suppe war heiß und schmeckte würzig und gut. Der Fisch, im eigenen Fett gebraten und mit allerlei Kräutern und Salz bestreut, war ein Essen für Feinschmecker, denn er besaß fast keine Gräten. Langsam leerte sich mein Weinschlauch. Etwas wie eine lockere, heitere Stimmung kam auf. Schließlich saßen wir da, in der Mitte des Tisches eine Schale voller kleiner, ovaler Nüsse, und wir unterhielten uns. Ich stützte mich auf die Ellbogen und hörte zu. Der Alte sagte in einem leiernden Singsang: »Sie kommen immer aus der Wüste. Schon seit zweimal zehn Jahren. Sie sagen, daß sie mit Tieren zwanzig oder mehr Tage unterwegs sind. Früher haben sie wahllos alle Stämme und Jäger in den Wäldern überfallen, Gefangene gemacht und sie in die Wüste verschleppt.« Die ältere Frau sah hoch. Sie hatte die hölzernen Schalen und die geschnitzten Löffel ineinandergeschichtet und kicherte giftig. Dann zischte sie: »Sie haben viele Sklaven in die Ruinen von Merlane verkauft! Haben sie gesagt!« Ich trank einen Schluck Wein, kaute einige Nüsse und fühlte das Knie der jungen Frau an meinem Schenkel. 69
»Wie weit ist dieser Händlerstamm in der Wüste von Merlane entfernt?« Der Alte hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. Er murmelte undeutlich: »Zehn Tage oder mehr. Ich weiß es nicht genau.« Ich sann nach, was ich gehört hatte. Dreißig Tagereisen zu Pferd oder auf anderen einigermaßen schnellen Wüstentieren, das waren nur einige Tage für die Wanderwolke. Vorausgesetzt, wir wurden nicht aufgehalten. Aber auch Aerula-thane wußte nicht genau, wo die alte Ruinenstadt lag. »Wann sollen die Händler kommen?« fragte ich. Pecah deutete über den Tisch auf dunkle Bündel, die zwischen den Ästen hingen. Das waren die vielen getrockneten und gesalzenen Fische. »Sie können morgen kommen oder in einem Mond. Sie sind niemals pünktlich. Deswegen haben wir uns hier versammelt.« »Ich verstehe«, sagte ich. »Aber keiner von euch hat Lust, mit den Wüstensöhnen zu gehen. Sie könnten auch euch in die Sklaverei verkaufen.« »Das fürchten wir.« Ich fragte sie systematisch aus, aber aus zwei Gründen erhielt ich nur ungenügende Antworten. Einerseits waren die Wälder und die fischreichen Teiche ihre Umwelt, die sie so gut wie nie verließen. Sie kannten die Wüste nicht. Ihre gesamte Welt war nur ein Teil der Wälder. Der zweite Grund war, daß sie sich fürchteten. Sie schienen zu viele Geschichten von Tod und Mord und Sklaverei über die Ruinenstadt Merlane gehört zu haben. Ob sie der Wahrheit entsprachen oder nicht, das konnte ich nicht herausfinden. Als der Weinschlauch leer war, stand ich auf. 70
Von unten her blitzten mich die feurigen Augen Pecahs an. »Morgen ziehe ich weiter«, sagte ich. »Ich werde mich beim Feuer hinlegen und in meinen Mantel wickeln.« »Wir stehen zeitig auf, um zu fischen.« Die Becher und die Schale mit Nüssen blieben auf der Steinplatte stehen. Der alte Mann, die ältere Frau und der junge Fischer kletterten die Leitern zu den Baumhütten hinauf. Pecah blieb bei mir stehen und lehnte sich gegen mich. »Nimm mich mit, Dragon!« sagte sie. Ich schüttelte langsam den Kopf und ging dann, um meine Waffen aufzuheben und zu einem Haufen zusammenzutragen. Ich wischte die Feuchtigkeit vom Schaft des Bogens. »Ich kann dich nicht mitnehmen«, sagte ich leise. »Niemand weiß, welchen Abenteuern ich ausgesetzt sein werde.« Sie nickte und lief dann plötzlich weg. Sie sagte kein einziges Wort. Ich fühlte mich, kaum daß ich mich in meinen Mantel gerollt und ausgestreckt hatte, wieder als Kind der Natur. Vestas Auge bewirkte, daß sich Zweige und Äste schützend um mich zusammenschoben. Das Moos und die Gräser unter mir schienen sich aufzublähen, damit ich weich lag. Schwache Wärme kam vom Feuer herbei und hüllte mich ein. Plötzlich schlief ich tief und erschöpft.
71
4.
Eine Hand berührte mein Gesicht. Ich erwachte und tastete langsam nach meinem Dolch. Als ich den Griff in den Fingern hatte, öffnete ich die Augen und blickte in das Gesicht von Pecah, das sich keine Handbreit über meinem Kopf befand. Wir waren allein mit einem Rest rotschwarzer Glut und in einem Wall von Zweigen und Blättern. Es war warm und still unter diesem Dach. Pecah atmete schwer und flüsterte: »Öffne deinen Mantel. Du nimmst mich nicht mit, aber du wirst meine Liebe nicht zurückweisen.« Ich ließ meinen Dolch los und setzte mich auf. Durch die Blätter kam der erste graue Schimmer des Morgens. Ich blickte Pecah an. Sie war jung, schön und ungemein begehrenswert. Sie trug nichts als einen dunklen Mantel, der sehr fadenscheinig war. Ich lächelte und flüsterte: »Ich bin ein Wanderer mit einem weiten Ziel. Wir werden uns sicher nicht mehr wiedersehen.« »Ist das wichtig?« fragte sie achselzuckend und kam in meine ausgebreiteten Arme. Sie preßte sich leidenschaftlich an mich und fuhr mit heißen Fingern durch mein Haar. »Bevor du in den Ruinen stirbst oder als Sklave verkauft wirst, sollst du noch einmal geliebt werden!« stieß sie hervor. »Ich sterbe nicht, und aus mir wird auch nie ein Sklave!« murmelte ich zwischen ihren herausfordernden Küssen. Sie riß den Mantel von ihren Schultern und streckte sich auf dem Moos aus. Ihre Finger tasteten über meine Haut. 72
»Warum mußt du gehen, Dragon? Warum bleibst du nicht hier?« Ich streichelte ihre Schultern und ihren Rücken. Pecahs Küsse waren heiß und leidenschaftlich, aber ich spürte, daß es nicht nur Leidenschaft war, die sie in meine Arme und auf mein Lager trieb. Sie hatte Angst. Sicher eine Angst, die sie selbst nicht genau erkannte, aber ich wußte dies. Denn auch ich war nicht frei von Furcht. Wir beide wußten nicht – auf verschiedene Weise –, was uns die nächsten Tage brachten. »Ich muß zurück in meine Heimat«, sagte ich. »Und dieser Weg führt über Merlane. Ob ich will oder nicht.« Sie flüsterte heiser: »Nimm mich mit!« »Nein«, sagte ich, dann schwiegen wir. Wir liebten uns und wußten beide, daß es das einzige Mal bleiben würde. Langsam kroch die Morgendämmerung herauf, während sich die Natur schützend und wärmend um den Raum über unseren ausgebreiteten Mänteln verflocht und verschlang. Eine Art Laubhütte bildete sich. Wir lösten uns voneinander, ich sah in Pecahs Augen. »Ich muß fort!« sagte ich. Sie sah sehr schutzlos und verletzlich aus. Langsam nickte sie. »Komm«, sagte sie dann. »Schwimmen wir ein wenig. Und dann werde ich dir etwas zum Essen machen.« »Ja, gern.« Die Büsche teilten sich, als wir hinunter zum Wasser liefen. Wir stürzten uns in das frische, aber nicht kalte Wasser und schwammen bis hinaus in die Mitte des Sees. Ich trocknete mich mit meinem Mantel ab und zog mich an, während Pecah in die Glut blies und den Suppenkessel über das neu aufflammende Feuer hängte. Ich war fertig und blickte mich einmal um. 73
Gerade war die Sonne aufgegangen. Der Himmel über der Lichtung färbte sich rosa und weiß. Aerula-thane! rief ich in Gedanken. Komm und hol mich ab. Ich bin dort, wo wir den Rauch des einsamen Feuers sahen. Ich weiß inzwischen einiges mehr über unseren Weg und unser Ziel! Ich brauchte nicht zu warten. Als stünde sie bereits direkt über uns, erwiderte die Wanderwolke: Ich komme, Dragon! Ich sah Pecah zu, die den Napf mit der angewärmten Suppe und einige Brotfladen vor mich auf die Steinplatte stellte. Von den drei anderen Fischern war noch kein Laut zu hören. Sie schienen noch in ihren Baumhütten zu schlafen. Pecah sah mir ins Gesicht, während ich aß. Ihr Blick war starr und voller Fragen. »Du bist fest entschlossen, Dragon?« Ich nickte. »Ja. Fest entschlossen.« Jetzt erst, im hellen Morgenlicht, konnte ich erkennen, daß sie eine echte Schönheit war. Schwarzes Haar, hellbraune Haut, riesengroße Augen und ein kühn geschnittenes Gesicht, schlank, aber mit der Figur einer geübten Schwimmerin. Ich schob den leeren Napf zurück und stand auf. »Vielleicht«, sagte ich vage, aber mit einer Spur Bedauern, »sehen wir uns wieder. Vielleicht dauert meine Irrfahrt in dieser Welt länger, als ich will. Ich danke dir für alles.« Sie blieb dicht vor mir stehen und schenkte mir einen unergründlichen Blick. Sie war jetzt ruhiger geworden. »Ich bin sicher, daß wir uns wiedersehen, Dragon. Früher oder später. Alles ist möglich!« 74
Sie küßte mich ein letztesmal. Ich hob den Kopf und sah, daß sich das Licht veränderte. Die Wanderwolke schwebte über dem See und bildete einen langen Tentakel aus. Zwischen den tautropfenden Büschen näherte sich die »Hand« der Wolke. Ich deutete darauf, während ich nach meinem Bogen griff. »Erschrick nicht!« sagte ich leise. »Ich reise auf einer Wanderwolke. Lebe wohl, Pecah!« Sie nickte nur und sah mir nach, bis ich durch die Luft schwebte und auf der Oberfläche Aerula-thanes abgesetzt wurde. Einen Augenblick lang war ich versucht, das Mädchen mitzunehmen, aber dann verwarf ich den Gedanken ebenso schnell, wie er gekommen war. Sie wäre eine Belastung gewesen und außerdem weit mehr gefährdet als ich. Wohin, Dragon? Hinaus zum Rand der Wüste, Aerula-thane. Und dann geradeaus nach Westen. Wir werden vielleicht auf einen Wüstenstamm stoßen, dort erfahren wir mehr über den Weg nach Merlane. Die Wanderwolke hob sich vom See und vom Dschungel hoch, setzte ein Segel und begann nach Westen zu ziehen. Ich machte es mir an der Spitze der langen, keilförmigen Form bequem und lag auf dem Bauch, den Kopf in die Hände gestützt. Unter mir zog die Landschaft vorbei. Dann, eine Stunde später, befanden wir uns wieder über dem Streifen, an dem Wüste und Urwald miteinander verschmolzen. Am frühen Nachmittag, als die Hitze über der Wüste unerträglich zu werden begann, entdeckte ich weit voraus einen hügelförmigen, grünen Schatten. Oder einen bewachsenen Berg. Dann begriff ich plötzlich – es war 75
eine Oase, deren Gewächse in der Mitte am höchsten standen. Eben tauchte die Oase am nördlichen Horizont auf. Ich vermeinte, hinter dem dunstigen Streifen das Nordmeer zu sehen, aber ich war nicht sicher. Viele Tagesreisen der nackten Wüste trennten den Waldrand von der Küste. Steuere auf die Oase zu, Wanderwolke! bat ich. Ich habe sie eben erkannt! erwiderte die Wolke. Sie änderte geringfügig ihre Richtung und bog nach Norden ab. Die Insel aus Grün inmitten der steinigen Wüste kam näher. Jetzt unterschied ich mehr Einzelheiten. Auch die Sandwüste, die bisher aus Sand und aufgeworfenen Dünen bestanden hatte, änderte sich. Täler und kleine Berge erschienen, die an der südlichen Kante abgebrochen schienen, als habe sich hier ein Streifen des Landes plötzlich abgesenkt. Der Sand war überall von verschieden großen Felsen und Steinen durchsetzt, die Steine warfen kurze Schatten, von denen das eintönige, ermüdende Bild mit lauter kleinen Punkten durchsetzt war. Das sind die rollenden Steine! Ein Schrei oder ein Geräusch setzt sie in Bewegung! warnte mich die Wanderwolke. Dank für die Warnung! Ich habe alles verstanden, was du mir über diese Steine berichtet hast! Ich sah einzelne Bäume und Büsche, die einen langen Stamm und eine nahezu runde Krone aufwiesen. Entlang der Felswände erkannte ich einen Pfad, der mitten durch das Gebiet der Felsen führte. Es mußte ein Pfad des Schweigens sein, dachte ich, denn schon ein Tritt eines Lasttiers konnte die kleinen Steine in Bewegung setzen, die ihrerseits die riesigen Felstrümmer rollen und poltern ließen. Die Wolke glitt unmerklich etwas höher und driftete jetzt nach Norden. Sie schlug einen 76
weiten Kreis um die Oase ein und übermittelte mir ihre Gedanken. Mein Amulett verstärkte sie und leitete sie in meinen Verstand. Ich kenne diesen Teil der Wüste nicht. Mag sein, daß ich vor vielen hundert Jahren darübergeflogen bin. Aber ich erinnere mich nicht mehr. Und da ich mir geschworen habe, dich vor Unglück und Gefahren zu schützen, bin ich eher zu vorsichtig! Recht so! dachte ich zurück. Wieder spähte ich nach unten. Ich merkte, wie mich eine deutliche Spannung ergriff. Ich konnte deutlich die kammförmigen Gräben erkennen, von denen kleinere, gewundene Wasseradern wegführten. Zwischen den dünnen Kanälen stand hoch das Gras. Die einzelnen Zonen waren durch niedrige Büsche mit leuchtenden Blüten abgegrenzt. Auf den Weiden sah ich Tiere, die eine Kreuzung zwischen Kamelen und Pferden in »meiner« Welt darzustellen schienen. Vereinzelte weiße Häuser mit roten Dächern und viereckigen Innenhöfen lagen an den Enden weißer Pfade. Die Oase ist bewohnt, stellte die Wolke fest. Ihr mächtiger Schatten glitt über die Weiden, die palmenähnlichen Bäume und über die Häuser. Tiere flüchteten schreiend, als sie die große Wolke dicht über sich erkannten. Fliege etwas höher und weiter von der Oase entfernt! bat ich. Die Menschen und die Tiere erschrecken sonst zu sehr. Jetzt sah ich, daß die Oase von einem Ringwall aus riesigen Steinblöcken umgeben war. Aber es waren nicht die rostbraunen Felsen und Steinbrocken, die im Sand der Wüste lagen, sondern schwarze Steine, größer als einige Männer, mit gerundeten Formen und weißer Aderung. Vermutlich sollte dieser riesige Kreis die Oase 77
von den Angriffen der rollenden Steinmassen schützen. Wie aber vermochten es diese schwarzen Steine, wenn es stimmte, daß die großen Felsbrocken ganze Berge überrollen konnten? Aerula-thane! Setz mich dort auf der leeren Weide ab. Dann zieh dich bitte in sichere Entfernung zurück und warte. Ich rufe dich, wenn ich in Gefahr bin. Aber ich denke, daß alles friedlich ist! Die Wanderwolke erwiderte: Trotzdem werde ich sehr aufmerksam sein! Sie beendete den großen Kreis und senkte sich wieder. Federvieh und kleine Tiere mit langen, weißen Hörnern stoben auseinander, als sei der Habicht über ihnen. Wir näherten uns einer abgefressenen Weide und einem großen Haus mit weißen Mauern, das von Bäumen umgeben war. Alles wirkte friedlich wie ein Bauerndorf am späten Morgen. Ein Wolkenarm faßte mich mitsamt den Waffen, die ich in den Händen hielt. Ich ließ die Speere und den Schild auf der Wolke zurück, schwebte rasch durch die warme Luft und wurde mitten auf der Weide abgesetzt. Ich blieb stehen und versuchte, die Stimmung um mich herum aufzunehmen. Die Tiere, die eben noch in wilder Flucht weggerannt waren, kamen zurück und sahen mich zutraulich an. Wieder wirkte das Auge Vestas. Ich trat auf den Pfad hinaus und ging langsam, mich oft und wachsam umschauend, auf den Mittelpunkt der Oase zu. Es roch nach frischgemähten Pflanzen, nach Wasser und den weißen Blüten der Sträucher. Niemand war zu sehen, aber ich war überzeugt, daß mich unzählige menschliche Augen beobachteten. Die Sonne traf mich, ich begann zu schwitzen. Dann trat ich in den Schatten der ersten Bäume hinein. Die Äste der 78
Bäume bildeten hier, am Rand der dichtbewachsenen Zone, lange Gänge, die kühl waren. In den Zweigen raschelte es. Langsam ging ich weiter, gespannt und bereit, einen Angriff abzuwehren. Der Gang aus Ästen und Blättern war zwanzig Mannsgrößen lang und mündete in eine Zone der Helligkeit. Ich blieb stehen, als vor meinen Augen die ersten Mauern und Häuser auftauchten. Winzige Fenster starrten mich wie blinde Augenhöhlen an. Niemand kam, niemand fragte. Kein Pfeil wurde auf mich abgefeuert. »He!« schrie ich. »Ihr braucht euch nicht zu verstecken!« In dieser Oase lebten Hunderte von Menschen. Allein die Häuser, die ich von der Wolke aus gesehen hatte, boten genug Raum für dreihundert Stammesangehörige. Ich stand jetzt nach einigen weiteren Schritten auf einem viereckigen Platz, der aus vielen Mauern, kleinen Treppen, vorspringenden Dächern und vielen dreieckigen Schatten bestand. In der Mitte befand sich ein hoher, gemauerter Brunnen mit Seiltrommel und Kurbel. »Ich bin allein! Ich bin kein Pirat!« rief ich. Der Klang meiner Stimme hallte von den weißgekalkten Wänden zurück. Noch immer zeigte sich niemand. Als sich die Wolke genähert hatte, waren hier wimmelnde Menschengruppen zu sehen gewesen. Ich zuckte die Schultern und ging quer über den Platz auf das nächste Tor zu, das seltsam hoch und schmal war und aus sauber verfugten Balken bestand. Mit der Faust hämmerte ich dagegen. Ein hohles Pochen antwortete aus dem Innern. Ich wartete. Viel zu lange, denn aus jedem dieser Fenster dort drüben beobachteten mich Augenpaare. Warum trauten sie sich nicht aus ihren Häusern hervor? 79
Ich drehte mich um, als ich ein Knarren hörte. Jetzt schienen die Bewohner der Oase ihre Angst oder ihre Scheu verloren zu haben. Ich sah zu, wie sich Türen öffneten und wie hinter den Mauern Köpfe und Gesichter auftauchten. In meinem Rücken wurde das Tor vorsichtig aufgezogen. »Ich bin kein Pirat«, sagte ich, ohne mich umzudrehen. »Warum habt ihr Angst vor mir?« Mehr und mehr Menschen erschienen an allen vier Seiten des Platzes. Sie kamen aus Kellern hervor und über die Treppen herunter. Auch auf den Dächern der Gebäude und Gehöfte erschienen Kinder und Erwachsene. Fast alle waren in kurze, weiße Gewänder gekleidet. Eine harte Stimme fragte hinter mir: »Was willst du hier, Fremder? Wir wollen kein Gäste!« Ich griff an mein Schwert und drehte mich wieder um. Ich starrte in ein braunes, von einem scharfen schwarzen Bart umrahmtes Gesicht. »Ich bin ein Wanderer und will nichts von euch außer einer Auskunft. Warum versteckt ihr euch?« Der hochgewachsene Mann mit den stechenden Augen schob sich an mir vorbei ins Freie. Er warf einen langen Blick auf das halbe Tausend der Menschen und nickte zufrieden. Jetzt sah auch ich, daß ein Drittel der Personen Männer waren – und bewaffnet. »Wir versteckten uns nicht, weil wir Angst vor dir hatten. Wir blieben unsichtbar, weil wir sehen wollten, ob du mutig bist oder feige.« Ich sah ihn herausfordernd an und sagte kurz: »Sollen wir es beweisen müssen? Ich will nichts als eine Antwort.« Er grinste kalt. 80
»Dann frage also!« Ich fühlte mich unbehaglicher denn je. Noch immer sprach niemand außer uns. Nur die Geräusche der Schritte, der tappenden Füße und der Waffen, wenn sie gegeneinander schlugen oder entlang der Wände scharrten, unterbrachen die Ruhe. Die Stimmung schlug eindeutig in Drohung um. Sonnenlicht funkelte auf den breiten Speerspitzen. Ein Raunen und Murmeln ging durch die Menge, als ich antwortete. Der Mann vor mir starrte begehrlich auf das Juwel in meiner Stirn. »Ich will zu den Ruinen!« Der Schwarzbärtige schlug seinen Mantel zurück, ging einige Schritte von der halb geöffneten Tür zurück und griff mit der Rechten an sein Schwert. Ich sah nun ein, daß sich hier eine Falle weit geöffnet hatte, um mich zu schlucken. Ich blickte herausfordernd in die stechenden Augen des Anführers dieser Oasenbewohner und hörte, wie er höhnisch erwiderte: »Zu den Ruinen? Die sind leer! Nur Gespenster und giftige Schlangen leben dort, Wanderer. Du solltest bei uns bleiben!« Ich warf den Bogen auf den Rücken und legte meine Hand ebenfalls an den Schwertgriff. »Ob Schlangen oder Gespenster. Ich muß zu den Ruinen. Kennst du den Weg?« Er nickte und ließ seine Augen über mich wandern, als schätze er meinen Wert ab. Jetzt verließen viele von den Kriegern ihre Plätze auf den Dächern und hinter den Mauern und näherten sich langsam. »Ich kenne den Weg. Ziemlich genau. Wir kennen alle Wege hier in weitem Umkreis«, sagte er und lachte kurz auf. »Aber ...?« 81
Ich schätzte meine Möglichkeiten ab, aus diesem Dorf wieder flüchten zu können. Die Übermacht war zu groß. War dies einer der Wüstenstämme, von denen mir die vier Fischer erzählt hatten? Dann würden sie versuchen, mich zum Sklaven zu machen. Ich bemerkte, wie sich der Schwarzbärtige die Lippen leckte, als sein Blick auf mein Amulett fiel. »Ich glaube kaum, daß du meine Wegbeschreibung brauchen wirst«, sagte er sarkastisch. »Du wirst die Oase nicht verlassen. Nicht mehr als freier Mann, sage ich.« Ich sprang zwei Schritte zurück und riß mein Schwert aus der Scheide. Als Antwort pfiff ein Pfeil heran und bohrte sich mit einem trockenen Krachen in die Tür. Aerula-thane! Ich bin in Gefahr! schrien unhörbar meine Gedanken. »Darüber denke ich anders«, sagte ich und drang auf ihn ein. Ich überlegte blitzschnell. Auf dem Weg, den ich hergekommen war, konnte ich die Oase nicht mehr verlassen. Sie wollten mir das Auge Vestas, das Amulett Muras und meine Freiheit nehmen. Es gab nur einen Weg hinaus, und er wurde mir von dem schwarzbärtigen Anführer versperrt, der jetzt sein langes Schwert in der Hand hielt und vor dem Eingang des Hauses stand. Noch immer grinste er mich höhnisch und siegessicher an. Ich hatte jetzt noch die Wahl zwischen der Sklaverei und der Möglichkeit, einen Kampf zu verlieren. Ich entschloß mich schnell und mit allen Konsequenzen für das zweite. »Geh mir aus dem Weg. Ich lasse mich nicht zum Sklaven machen!« sagte ich hart und sprang ihn an. Die Menge rundherum schrie auf. Ich sah, welchen Weg ich einschlagen mußte, um aus der Oase flüchten 82
zu können. Dann trafen sich unsere hochgerissenen Schwerter. Ich schlug abwechselnd von links nach rechts und trieb den Schwarzbärtigen drei oder vier Schritte auf den Hauseingang zu. Niemand hinter uns wagte, einen Speer zu werfen oder einen Pfeil abzuschießen, denn er hätte den Häuptling treffen können. Unsere Schwerter prallten klirrend und klingelnd aufeinander. Der Stahl blitzte im Sonnenlicht auf. Der Schwarzbart wehrte sich, konterte meine Schläge schnell und geschickt. Ich schrie lautlos mehrmals nach Aerula-thane und erkannte, daß ich sehr schnell handeln mußte. Als der Häuptling mit dem Rücken gegen die Mauer prallte, duckte er sich. Mein Schwerthieb ging knapp über seinen Kopf hinweg und zerfetzte in einem langen Riß den weißen Mantel, den er schützend hochgewirbelt hatte. Dann griff er hart und mit rasend schnellen Schlägen an. Ich wich zurück, aber ich ließ ihn nicht einen Moment lang aus den Augen. Wieder kreuzten sich die Klingen. Die Schläge klirrten auf und erzeugten zwischen den sonnenhellen Wänden harte Echos. Ich wich zurück und sah aus den Augenwinkeln, daß sich der Ring der Krieger abermals verdichtet hatte und nähergekommen war. Mindestens hundertfünfzig Männer verschiedenen Alters. Fünfzehn Schritte trennten uns nach einem wütenden Hagel von Schlägen von der halboffenen Tür. Ich hatte mit Mühe einige gefährliche Schläge abwehren können. Ich mußte mit dem Schwert diejenigen Schläge auffangen oder mit dem Körper ausweichen, die ich sonst mit dem Schild abgefangen hätte. Ich wirbelte herum und schlug einige Schnellschläge, die ich von Partho gelernt hatte. Das Schwert des Mannes wirbelte nach dem letzten Schlag davon. Ich wartete den Fall nicht mehr ab, 83
sondern schlug mit der breiten Seite meines Schwertes nach dem Kopf des Schwarzbärtigen, duckte mich und rannte auf die Tür zu. Ich warf mich durch die Öffnung, behielt das Schwert in der Hand und stieß mit der Schulter die Tür zu. Ich war allein, aber von draußen hallte das Geschrei des enttäuschten Anführers und der angreifenden Wüstenkrieger herein. Krachend schlug die Tür zu. Ich hämmerte mit einem einzigen Schlag des Schwertes den eisernen Riegel zu und lief dann geradeaus. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel. Durch kleine Fensteröffnungen fiel Sonnenlicht auf Boden und Wände. Ich stürmte in einen mittelgroßen Raum hinein. Eine Frau, die mich erblickte, schrie gellend auf. Einige Menschen waren hier an die Wand gefesselt. Andere kauerten auf den Knien und mahlten Korn. Ich rannte schnell durch den Raum auf einen bogenförmigen Durchgang zu. Dahinter sah ich das Grün von Pflanzen. Draußen verstärkte sich der Lärm. Ich blickte mich um und sah in schreckenerstarrte Gesichter. Die Sklaven schienen abgestumpft zu sein. Ich sprang durch den Torbogen, rannte geradeaus und befand mich in einem Bogengang, der aus steinernen, weißgeschlämmten Mauern und einer dunklen Holzdecke bestand. Am anderen Ende des langgestreckten Wohnbezirks mußten die Felder sein, denn alle diese Häuser mußten Ausgänge besitzen, die nicht auf den Platz hinauswiesen. Ich rannte, so schnell ich vermochte, durch den Bogengang, warf mich am Ende nach rechts und lief bis in die Mitte des Quergangs. Über die Mauern drang das aufgeregte Rufen und Schreien der Krieger an meine Ohren. Vor mir war eine Tür. 84
Ich packte einen Holzriegel und riß sie auf. Vor meinen Augen schwang die Tür nach außen und gab den Blick frei in eine dämmerige Scheune, die zur Hälfte Vorratslager, zur anderen Hälfte Stall war. Riesige Tonnen aus Lehm oder Ton standen aufgereiht nebeneinander und übereinander. Ich sah durch die breiten Ritzen eines Tores das Sonnenlicht. Reittiere waren rechts von mir angepflockt. Ich rannte geradeaus und öffnete die Querbalken des Tores. Noch waren meine Verfolger nicht um das Haus und die Gartenanlage herumgerannt. Aber jetzt konnte ich bereits die Geräusche lederner Sandalen im Innenhof hören. Ich entdeckte ein Pferd, das noch gesattelt und gezäumt war und wandte mich nach rechts. Ein paar Griffe, und ich hatte die Halteleine gelöst. Das Tier wieherte dumpf und schnaubte. Ich stieß es rückwärts, trieb es mit der Breitseite des Schwertes an und schwang mich in der Mitte des Stalles in den Sattel. Er war tief und zu klein für mich, aber es würde genügen. Dann, als ich hinter mir die ersten Verfolger auftauchen sah, schlug ich mit dem flachen Schwert auf die Kruppe des Tieres und schrie gellend auf. Das Pferd machte einen Satz, stieß ein schrilles Wiehern aus und kletterte vorn in die Höhe. Ich riß am Zügel. Das Pferd galoppierte an, ich zwang es genau auf den schmalen Spalt zwischen den Torflügeln. Das Tier scheute und wollte ausbrechen, aber eine geschleuderte Lanze kam von hinten, traf den Schenkel und riß eine Fleischwunde. Das Pferd senkte den Kopf und galoppierte an. Ich beugte mich tief im Sattel nach vorn und rammte das Schwert am ausgestreckten Arm geradeaus in den Spalt. Krachend, staubend und knarrend schwangen die Torflügel auf, als sich der schwere 85
Körper durch den Spalt schob und die Holzkonstruktion nach beiden Seiten auseinanderrammte. Ein schneller Blick meiner halb geblendeten Augen sagte mir, daß ich gute Chancen hatte. Von beiden Seiten kamen die Angreifer. Ich trieb das Tier an, legte mich flach auf den Hals des Tieres und lenkte es geradeaus. Vor mir waren einige Weiden, der Rand der höheren Gewächse und dann, weiter draußen, der steinerne Wall, der sich scharf gegen Himmel und Felder abhob. Dreißig Galoppsprünge brachten mich durch einen Hagel von Speeren und Pfeilen bis an einen niedrigen Zaun aus losen Holzstücken, Ästen und Seilen. Das Pferd sprang mit einem gewaltigen Satz darüber hinweg. Ich hörte das Pfeifen eines Pfeiles dicht vor meinem Gesicht. Ich zuckte zurück, drehte den Kopf und sah, daß es hart werden würde. Rechts und links des aufgeschwungenen Tores standen einige Bogenschützen und feuerten auf mich. Nach dem Sprung war ich mit dem blutenden, bockigen Tier fast außerhalb der Reichweite ihrer Bögen. In einem wilden, holprigen Galopp ging es über vierzig Mannslängen Felder und Weiden. Ich konzentrierte mich nur einen Augenblick lang und keineswegs besonders stark auf das Pferd, als mit dem störrischen Tier eine auffallende Veränderung vorging. Es wurde augenblicklich ruhiger, streckte sich und griff stärker und schneller aus. Der scharfe, kurze Galopp veränderte sich in harmonischer Weise. Das Pferd wurde augenblicklich schneller, lief ruhiger und gehorchte mir, ohne daß ich den Zügel zu halten brauchte. Wir galoppierten rasend schnell über ein abgeerntetes Feld dahin, übersprangen eine Tränke und ein paar Kanäle. Der Lärm wurde leiser, nur meine Stimme war noch immer laut zu hören. 86
Aerula-thane! Ich brauche dich! Wo bleibst du? Ich erhielt keine Antwort. In rasendem Galopp näherten wir uns dem Wall aus schwarzem Stein. Ich stellte mich in den Steigbügeln auf, schob mein Schwert in die Scheide zurück und drehte mich um. Jetzt preschten hintereinander zehn oder mehr Reiter aus dem Stall, den ich eben verlassen hatte. Sie spornten die Tiere zu äußerster Schnelligkeit an und schwangen Speere und Schwerter. Ich hielt mein Pferd vor dem schwarzen Wall an. Wo blieb die Wanderwolke? Ich mußte mich retten! Ich riß das Pferd herum und ritt nach links. Wieder arbeitete das Tier unter mir wie eine Maschine. Vestas Auge und die unergründlichen Kräfte, die von dem Juwel ausgingen, dirigierten das Tier. Wir ritten scharf entlang der schwarzen Felsen. Das Erdreich war im Laufe der Zeit immer mehr geworden, und ich konnte über die Felsen hinwegsehen. Draußen gab es nichts anderes als Steine und Sand. Aber es war Sand, der zwischen den tödlichen rollenden Steinen lag. Noch war das Geräusch der wirbelnden Hufe nicht laut genug, um kleinere Steine in Bewegung zu setzen, aber ich wußte, daß ich in wenigen Augenblicken dort hinausreiten mußte. Es war keine Lücke zwischen den Felsen. Auf der anderen Seite fielen sie drei oder vier Mannslängen tief ab. Ich setzte mich im Sattel zurecht und sah, daß meine Verfolger immer näher kamen. Ich mußte einen Durchgang finden. Ich hetzte entlang der Felsen und blickte nach rechts. Endlich sah ich zwischen den Felsen einen schmalen Durchgang. Ich riß das Pferd zurück; es stemmte die Vorderbeine in den Boden und rutschte mit den Hinterbeinen in eine Staubwolke. Dann warf es sich zur Seite und rannte auf den Durchgang zu. 87
Wenige Fingerbreiten neben den scharrenden Steigbügeln ragten die schwarzen Seiten der Felsblöcke auf. Der Stein strahlte eine klamme, bittere Kälte aus. Ich hielt mich vorsichtig davon fern und lenkte das Tier so schnell wie möglich durch den Spalt. Dann, als er sich wieder verbreiterte, standen wir plötzlich oben an einem steil abfallenden Hang, der von Steinbrocken übersät war. Das Pferd stand zitternd und biß auf den Zügel, senkte den Kopf und streckte den Hals. Was nun? Hinter mir wieder die Verfolger, vor mir eine Zone des Todes aus Sand und rollenden Steinen. Und noch immer keine Antwort von der Wanderwolke, die ich immer und immer wieder rief. Ich schloß die Augen, dachte an das Juwel und schlug dann dem Pferd die Fersen in die Weichen. Das Pferd wieherte erschrocken auf, gehorchte aber. Es machte einige tänzelnde, nervöse Schritte. Augenblicklich rannen schmale Bäche aus Sand abwärts, ein paar kleine Steine liefen, schlängelnde Spuren hinterlassend, nach unten. Mir stockte der Herzschlag, als das Pferd abrutschte und sieht erst nach einigen Mannslängen wieder zurechtfand. Ich balancierte mühsam im Sattel und hörte das fast metallisch klare Geräusch durch das Schnauben und Prusten des Pferdes, mit dem Steinen gegeneinander schlugen. Ein hartes, klickendes Geräusch. Einmal ... zweimal. Dann setzte sich rumpelnd und klappernd ein größerer Stein in Bewegung und ratterte entlang eines großen schrägen Felsens in die Tiefe. Andere Steine, von den lauten Klängen losgerissen, purzelten nach allen Richtungen auseinander. Mit dumpfem Krachen fuhr eine 88
kleine Steinlawine den Hang abwärts. Noch während diese Lawine polterte, kamen große und größere Felsen in Bewegung, krachten aufstäubend gegeneinander und rollten weiter. Alle Steine rollten, hüpften und sprangen von mir weg, hinaus in die Wüste, den Hang abwärts. Die Flanken des Pferdes zitterten wie in einem höllischen Fieber. Ich ritt wieder an, vorsichtig stieg das Tier, die Hufe weit aus dem treibenden Sand herausziehend, hangabwärts. Rechts und links von mir teilten sich die Steine. Sie rollten ununterbrochen weiter und erzeugten laute und immer lautere Geräusche, aber deutlich bildete sich in dieser Flut eine Gasse, die etwa eine Mannslänge breit war. Jetzt erkannte ich, daß mir abermals die Natur half und mir dank Vestas Auge einen weiteren Gunstbeweis lieferte. Ich schrie leise auf und brachte das Pferd wieder in Galopp. Das Tier verlor seine Furcht und stob den Hang hinunter, lange Sandfahnen hochwerfend und mehr rutschend als laufend. Ich lehnte mich weit zurück und hörte die Geräusche der näherkommenden Verfolger. Sie mußten dicht vor dem Spalt der schwarzen Felsbarriere sein. Jetzt, nach einigen Momenten, die für mich mit tödlicher Sorge erfüllt waren, erreichten wir das Ende des Hanges. Rund um uns war die Landschaft in Bewegung geraten. Überall stiegen Sandsäulen hoch. Donnernd krachten riesige, rollende Felsen zusammen und splitterten Brocken und Trümmer ab. Die Geräusche waren furchtbar. Ich hörte nicht einmal mehr das Keuchen und Schnappen des Pferdes. 89
In einem langgestreckten Galopp, aber durch den Sand und winzige Steine abgebremst, rannte das Pferd durch die Gasse zwischen den rollenden Felsen. Jetzt hatte sich die Bewegung der Steine und Felsen drastisch geändert. Zwar hielten sie noch immer einen breiten Sandstreifen frei, auf dem sich das Pferd schnell mit Schaum vor dem Maul, bewegte. Aber rechts und links dieses merkwürdigen Pfades herrschte das Chaos. Ein tödliches Chaos, das jeden, der hineingeriet, umbringen würde. Tonnen und aber Tonnen von Gestein waren in Bewegung. Eine dumpfe, rumpelnde Erschütterung durchzog den Boden. Das Trappeln der Pferdehufe ging darin unter. Zwei lange, dicke Sandwolken verdunkelten das Sonnenlicht. Ich konnte nur geradeaus sehen und entdeckte dort den Pfad des Schweigens, der in die leere Wüste hinausführte, mitten durch das ausgedehnte Gebiet der rollenden Steine. Wo war Aerula-thane? Hinter mir rutschten und stolperten die Pferde der Verfolger den Hang hinunter. Er war völlig frei von Steinen und Geröll, aber aufgewühlt. Die Verfolger wurden schneller, als sie die tiefgelegene Ebene erreichten, aber ich sah bereits den Punkt, an dem ich aus der flachen Wüstenfläche auf den Pfad hinausgaloppieren konnte. Ich ritt weiter. Die Wolken aus Sand trieben von beiden Seiten auf den Pfad zu, aber ein kurzer Windstoß fegte sie wieder auseinander. Die furchtbaren Geräusche blieben. Ich feuerte mein Pferd an und hustete. Das Tier raste in einer Reihe langer Sprünge durch den letzten Abschnitt des Sandes und kletterte rutschend und schnaubend einen kleinen Hang hinauf und stand dann 90
auf dem steinigen Pfad. Langsam drehte sich das Tier um, als ich am Zügel zog. Ich sah schräg hinunter in die Ebene. Ich zählte vierzehn Reiter, die hintereinander mit wehender weißer Kleidung und funkelnden Waffen über den schmalen Pfad galoppierten. Plötzlich rollte ein mittelgroßer Stein quer über den Pfad. Von der anderen Seite kam ein zweiter, und sie prallten mit großer Wucht gegeneinander. Das Pferd des ersten Reiters scheute und stieg hoch. Das grelle, ängstliche Wiehern hörte ich bis hierher, obwohl uns mehr als eine Bogenschußweite trennte. Der Reiter wurde in weitem Bogen abgeworfen, aber er kam wie eine Katze wieder auf die Füße und rannte weiter. Ein Felsblock, halb so groß wie ein Mann, rollte schräg auf ihn zu, erwischte ihn von schräg hinten und schleuderte ihn zu Boden. Dann verhüllte ein Wirbel aus gelbem Sand das Bild. Ich beugte mich vor, gleichzeitig packte mich das Entsetzen, lähmte mich und machte mich sprachlos. Die riesigen Steine rollten aus allen Richtungen heran. Mit allen vieren schlagend und keilend, schreiend und sich auf dem Rücken wälzend starb ein Pferd. Zwei Felsen rollten mehrere Male über das Tier hinweg und zermalmten es. Ich sah zwischen dem Sand und den Bewegungen der Steine einen großen blutigen Fleck. Dann rollte ein Felsen vor dem grausigen Bild vorbei, an einer Seite blutrot gefärbt. Wieder verhüllte Sand das Bild. Der Pfad, den die Natur für mein Pferd und mich freigehalten hatte, füllte sich mit Steinen. Sie rollten heran und bewegten sich wie unruhiges Wasser. Sie rollten in allen Größen, mischten sich, schlugen zusammen, trenn91
ten sich wieder und machten größeren Steinen Platz. Die kleinen Steine taumelten über die riesigen Brocken hinweg, überschlugen sich, krachten wieder zu Boden. Dazwischen sah ich in einer langen Folge, wie die Verfolger starben. Sie wurden zwischen übermannsgroßen Trümmern gepreßt und zerstampft. Sie wurden von einem Hagel kleinerer Steine erschlagen und zugedeckt. Sand und Blut mischten sich. Hin und wieder der Schrei eines Tieres oder eines Menschen. Ich schlug die Hände vor mein Gesicht und nahm sie erst wieder herunter, als ich von einem würgenden Husten befallen wurde. Eine gewaltige Wolke von Sand verhüllte den gesamten Raum zwischen dem Ring der schwarzen Steine und der Kurve des Pfades, auf dem ich stand. Das Tier unter mir rührte sich nicht. Der donnernde Lärm der Steine begann zu verebben. Die Bewegungen verlagerten sich nach rechts und links. Wellenförmig wogte es unter dem Sand, der langsam wieder herabsank und sich über Steine und Leichen legte. Ich gab mir einen Ruck; wieder einmal war ich in eine Falle dieses Planeten geraten, hatte nur um Haaresbreite das Leben behalten und trotzdem kein Wort erfahren. Wo war Aerula-thane? Ich legte meine Hände auf das Amulett und rief mehrmals nach der Wanderwolke. Schließlich erreichte mich eine ferne, undeutliche Antwort. Dragon! Ich war hungrig und müde. Ich mußte einen Platz finden, an dem ich ausgiebig weiden konnte. Jetzt bin ich gesättigt. Ich komme! Ich atmete auf. Dann schwang ich mich aus dem Sattel. Ich rutschte über die steile Böschung hinunter. Langsam und ohne Geräusche schoben sich Steine aller Größen auseinander 92
und gaben eine breite Bahn festgestampften Sandes frei. Ich lief schnell durch diese Gasse und kam an die Stelle, wo der zermalmte Kadaver des Pferdes lag. Ich blieb stehen und sah mich um. Da! Ein schwacher Laut. Ein gehauchtes Stöhnen. Ich fuhr herum und sah den riesigen Felsblock. Von ihm fiel Sand wie ein kleiner Wasserfall herunter. Dann weiteten sich meine Augen vor Schrecken. In den schmalen Spalten und Rissen des Blockes waren die Knie und die Handgelenke des Mannes eingeklemmt. Sie waren von der Wucht der vielen Zusammenstöße förmlich hineingepreßt worden. Der Block mußte mit dem Mann unter sich eine gehörige Strecke zurückgelegt haben. Die Gelenke und Teile der zermalmten, blutigen Glieder waren durch festgekeilte kleinere Steine und Felsbrocken gehalten. Der Kopf war wenig verletzt, aber blutüberströmt und sandbedeckt. Wieder bewegte sich der Kopf. Die Lippen formten unhörbare Worte. Ich näherte mich dem grausam zugerichteten Anführer. »Du ... wolltest ... Weg ...« murmelte er. Blut kam zwischen den aufgerissenen Lippen hervor. Dieser Mann würde nur noch wenige Augenblicke leben. Ich sagte laut: »Der Weg nach Merlane!« Eine lange Pause. Der Anführer atmete keuchend und röchelnd. Ich schwieg und sah kurz hinauf in den Himmel. Noch immer keine Spur der großen Wanderwolke. »Reite ... Sonnenuntergang!« »Ich habe verstanden!« sagte ich. »Warum seid ihr mir nachgeritten?« 93
»Wollte ... Auge Vestas ...«, röchelte er. Ein langes Zittern ging durch den zermalmten Körper. Neue Wunden rissen auf. »Drei Tagesritte ... sie werden dich im Turnier ... töten ...« »Turnier? Sie leben also noch in Merlane?« Nach einer endlos erscheinenden Pause sagte er keuchend: »Nur Gespenster. Bleich ... alles verfällt im Wahnsinn ... dort wirst du sterben!« Er schrie leise auf. Ein Blutstrom brach aus seinem Mund. Dann riß der Anführer die Augen auf, sah mich starr an und zuckte zusammen. Ich mußte mitansehen, wie er schnell, aber unter furchtbaren Qualen starb. Ich wandte mich ab und ging über den Pfad in meinen eigenen Spuren zurück zum Pferd, das geduldig und regungslos wartete. Als ich mich in den Sattel schwang, sah ich im Süden die Wolke. Sie war schwer und strich in geringer Höhe über die Wüste dahin, genau auf mich zu. Das Pferd trabte an. Ich lenkte es auf dem steinernen Pfad entlang des Abbruchs wieder in die Richtung der Oase. Als ich eine Art Tor in den schwarzen Steinen erblickte, hielt ich das Tier an. Die schwarzen Steine hatten offensichtlich eine magische Bedeutung, denn sie verhinderten, daß die rollenden Steine die Oase heimsuchten. Die Gesetze, nach denen hier die Natur handelte, wurden von Erlebnis zu Erlebnis verworrener und undurchschaubarer. Jetzt war die Wolke heran und schob sich zwischen mich und die Siedlung.
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Du warst in Gefahr, kann ich deinen Gedanken entnehmen? erkundigte sich Aerula-thane und bildete einen langen Tentakel aus. Allerdings. Aber ich bin noch einmal davongekommen! Die Macht von Vestas Auge, dem rätselhaften Erbe des Träumers, lähmte jetzt das Pferd, das den herannahenden Tentakel sah und kurz gescheut hatte. Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten und blieb stehen. Kennst du den Weg nach Merlane? Haben sie dir diese Auskunft gegeben? Ich lachte spöttisch auf und spuckte Sand zwischen meinen Zähnen hervor. Ich kenne den Weg! sagte ich in Gedanken. Der weiche Arm der Wolke hüllte mich ein und nahm mich auf. Er drehte sich in die Höhe und setzte mich wieder auf dem Vorderteil der Wanderwolke ab. Sofort nahm Aerula-thane den Flug wieder auf. Sie berichtete mir, daß sie während des Äsens eine ihrer Töchter getroffen hatte und deswegen wohl abgelenkt gewesen war. Ich zuckte die Schultern. Jetzt kannte ich den Weg zu den Ruinen der ehemals prächtigen Stadt Merlane. Aber ich wußte noch nichts von Erthu und noch viel weniger vom zweiten Weltentor. Und inzwischen griffen wieder die Sorgen nach mir. Ich dachte an die Menschen, die Städte und die Reiche, die ich verlassen hatte. Mehr denn je war die unmittelbare Zukunft für mich hinter einem dichten Vorhang aus Unwissenheit, Zufälligkeiten und Gefahren verborgen. Ich ahnte nicht einmal, was mich in Merlane erwartete.
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5.
Ich stand mitten auf einer ebenen Fläche. Mein Schatten lag hinter mir und war zwanzigmal so lang wie ich. Der Himmel vor mir war mit den irren Farben eines unwirklichen Sonnenuntergangs überzogen. Davor, scharf wie die Bilder von Puppen eines Schattentheaters, ragten die phantastischen Säulen, Kolonnaden und Türme der Stadt in diesen farbensprühenden Himmel. Soeben berührte eine mächtige, oval eingedrückte Sonne den Rand des Horizonts. Du bist sicher, daß ich dich jetzt verlassen kann? Du stehst vor deinem ersten Ziel, aber du weißt nicht, was dich erwartet. Je weiter ich von dir entfernt bin, mein Retter und Befreier Dragon, desto schlechter höre ich dich und desto undeutlicher. Und je länger brauche ich, um zu dir zu kommen. Ich habe keine Eile. Ich kann hier warten. Ich lächelte. Vor mir waren die Ruinen von Merlane. Eine Stadt, die einmal eine riesige Größe und eine entsprechende Bedeutung gehabt haben mußte. Zentrum der Künste und des Handels. Rundherum gab es heute nur sterile Wüste, in der nichts außer einigen kargen Bäumen wuchs. Aber hier war einst Kulturland gewesen: Äcker, Wiesen, Wälder. Der Sand hatte sie alle besiegt. Warum? Wahrscheinlich hatte damals selbst das Klima sich verändert, damals, als Vesta gefangengenommen wurde. Warte auf mich, sagte ich, eine Hand, auf dem Amulett. Aber es ist nicht wichtig, Aerula-thane, daß du in der Nähe wartest. Fliege zurück zum Dschungel und weide dort. Ich werde nach dir schreien, wenn ich deine 96
Hilfe brauche. Aber ich brauche sie wirklich, wenn ich rufe! Ich habe verstanden! Meine Waffen und das klein gewordene Bündel meiner übrigen Ausrüstung lagen neben mir im Sand. Vor mir erstreckte sich etwas, das einmal eine prunkvolle Allee gewesen sein mochte, bis in das Bild der untergehenden Sonne und zwischen die Töchter der Wanderwolke hinein, die von dem Licht rosa, rot und weiß gefärbt wurden. Nichts rührte sich. Die Stille der Landschaft wurde nicht einmal von dem silbernen Knistern und Rauschen bewegten Sandes unterbrochen. Ich danke dir für alles, Wanderwolke! sagte ich und hob einen Arm. Ich sah zu, wie die Wolke sich langsam hob und in die Richtung schob, aus der wir eben gekommen waren. Der Schatten glitt weit entfernt über den Sand. Dann war ich allein mit der Silhouette einer Stadt, die vor langer Zeit kaum weniger als siebzigtausend Einwohner gehabt haben mochte. Ich schulterte den Bogen, warf den Schild über meine Schultern, hob das Bündel auf und ging langsam geradeaus. Ich mußte in der Nähe von dem Geist der Erde sein! Aber wo befand sich dieser ... Geist. Wie konnte ich mit ihm in Kontakt treten? Meine Motive waren stark, aber nicht direkt auf Erthu gerichtet. Hinter allem, was ich unternahm, stand die Frage nach dem Weltentor. Ich legte zweihundertfünfzig Schritte zurück, bis ich schließlich vor dem Tor stand. Ich nannte es so, weil es aussah wie ein uraltes Tor, an dem Wetter, Sand und Zeit gearbeitet hatten. Bündel dünner Säulen aus einem grünen, leuchtenden Stein erhoben sich. Auf ihren Kapitellen waren noch dicke Steinplatten und die Reste stei97
nerner Giebel zu sehen, die teilweise heruntergefallen waren. Merlane war noch jetzt eindrucksvoll und strahlend. Während ich zwischen mannsgroßen Trümmern hindurch weiter geradeaus ging, sah ich, daß die Stadt offensichtlich auf einem kleinen, sehr flachen, aber sehr großen Hügel angelegt worden war. Im Zentrum, auf das ich mich zubewegte, hatte sie den höchsten Punkt. Dort standen wuchtige Türme, flankiert von breiten, von hier aus mauerähnlichen Bauwerken. Ich ließ das Tor hinter mir und ging weiter. Das Licht wich langsam, und ich beschleunigte meine Schritte. Eine merkwürdige Spannung hatte mich ergriffen. Die Wanderwolke hatte zusammen mit mir zweimal die Stadt umflogen – oder das, was von der Stadt übriggeblieben war. Dabei hatten wir festgestellt, daß die Ruinen bewohnt waren. Nahe des Zentrums, in einem unregelmäßigen, aber großen Kreis, hatten wir leuchtendes Grün entdeckt, die Spuren menschlicher Tätigkeiten gesehen. Es gab dort keinen Sand mehr, denn die Mosaiken der breiten Straßen waren aus der Höhe gut zu erkennen gewesen. Die Fragen drängten sich auf. Wer wohnte hier? Wieviel Personen hatten Unterschlupf in den steinernen Ruinen der einstigen Riesenstadt gefunden? Ich zuckte die Schultern in lautlosem Selbstgespräch und ging schnellen Schrittes weiter. Ich mußte auf mich, meine Waffen und die Hilfe vertrauen, die mir das Auge des unbekannten Vesta gab. Nichts war in dieser gespenstigen Stille in der farbigen Dämmerung des Sonnenuntergangs zu hören außer meinen eigenen Schritten. Sand knirschte zwischen den 98
Sohlen und den glatten Steinen unter der dünnen Sandschicht. Rechts und links sah ich die leeren Fronten großer Gebäude. Säulen standen wie alte Zähne in den Himmel, brachen aus einer einfarbigen Sandschicht hervor wie seltsame Pilze. Der Stein der Säulen war vom Sand und dem Wetter in den letzten zwei Jahrtausenden rundgeschliffen worden, aber hier und dort erkannte ich noch Umrisse von Gestalten und die Spuren von Reliefen. Die Säulen änderten ihre Farben alle fünfzig Schritte. Grün, blau, strahlend weiß, dunkelrot und stechend gelb. Zwischen mir und den Resten der Bauwerke befanden sich die alten, offensichtlich halb versteinerten Bäume. Sie bestanden nur noch aus Stämmen und wenigen Ästen, die sich wie abgefaulte Finger einer verdorrten Hand himmelan streckten und nun, im wechselnden Licht, zu zittern und sich gierig mir entgegen zu krallen schienen. Ich zwinkerte, und der Spuk war vorbei. Nun ging es langsam aufwärts. Die Dunkelheit senkte sich mehr und mehr über die Ruinen. Die Schatten wurden undeutlich und wichen einer durchdringenden Finsternis, in der sämtliche Eindrücke verschwanden und sich zurückzogen, als würden sie aufgesogen von den geheimnisvollen und leeren Tiefen zwischen Säulen und bröckelnden Mauern. Ich erschrak, als ich Geräusche hörte. Dann identifizierte ich sie. Pferdehufe! Vor mir bewegte sich ein Reittier in einem scharfen, kurzen Galopp. Ich würde dieses Geräusch aus Tausenden heraushören können. Echos zitterten zwischen den Mauern hin und her. Ein schwarzer Vogel, der auf der höchsten Zinne eines runden Turmes kauerte, warf sich 99
schräg abwärts und entfaltete rauschend seine Schwingen. Als nächstes sah ich den runden Feuerschein einer Fackel. Darunter entdeckten meine Augen einen Tierkörper, der sich tatsächlich in einem rasenden Galopp bewegte. Auf stumpfem Metall leuchteten spärliche Reflexe von den Flammen der Fackel auf. Aber ich sah einen riesigen Mantel, der von den Schultern eines Reiters wie eine waagrechte Fahne flatterte. Und auf diesem hellen Stoff funkelten die Reflexe des Lichts auf und brachen sich tausendfach in metallenen Stickereien oder in kostbaren Steinen. Der Reiter wirkte, wenn immer der Mantel sich in bestimmter Art bewegte, wie ein Feuerwerk. So sprengte er durch die Dunkelheit, die jetzt vollkommen war, auf mich zu. Ich zog mein Schwert, erhob den Arm aber nicht zum Schlag. Ich verließ die Mitte der Straße und lehnte mich an eine Säule. Noch immer hatte der Reiter mich zum Ziel. Ich wartete gespannt und unruhig. Dann rief der Reiter mit einer dunklen, nicht unangenehmen Stimme: »Willkommen, rüstiger Fremdling in unserer Stadt!« Ich zuckte zusammen; längst vergessene Floskeln, aus einem Buch mit vergessenem Titel vor Äonen gelernt, schossen mir in die Gedanken. Ich hob die Hand und sagte laut: »Ich danke dir für das Willkommen! In einer Welt, in der das Mißtrauen gegenüber dem Fremden regiert, ist dein Wort eine Abweichung, die in meinen Ohren klingt wie die Töne einer meisterlich geschlagenen Leier.« Ich mußte grinsen, als ich den verblüfften Ausdruck in seinem Gesicht sah. Er hielt sein Reittier, das wie ein Pferd mit fahlem Fell und überlangen Ohren aus100
sah, dicht vor mir an und schwenkte die Fackel, um ihre Flammen zu entfachen. Dann lachte der Mann, dessen Mantel nun wie ein Wasserfall über die Kruppe des Reittieres glitt. »Deine Stimme ist gut. Das, wie sie sagt, fügt sich würdevoll und vollkommen ein in das, was wir lieben und schätzen. Man schickte mich, um dich zu holen. Du willst unser Gast sein?« Ich verbeugte mich kurz, vollführte mit dem blanken Schwert eine demütige Bewegung, die er nicht mißdeuten konnte und schob dann die Waffe langsam in die Scheide zurück. »Mit allen Pflichten und Rechten!« bestätigte ich und sah zu ihm hoch. Ein Mann in mittleren Jahren. Ich sah unter einem leichten Helm blondes, jetzt fast weiß wirkendes Haar. Darunter helle Haut und helle Augen. Er wirkte wie der Angehörige eines Volkes oder einer Gruppe, die sich scheute, sich jemals dem hellen Licht der Sonne und ihren bräunenden Strahlen auszusetzen. Irgendwie drängte sich mir die Überlegung blutarm auf. Aber er wirkte keineswegs schwächlich oder degeneriert. Die Augen blickten mich klug und abschätzend an, dann vollführte er mit der Hand, die den Zügel losließ, eine einladende Bewegung. »Klettere bitte in den Sattel. Hinter mich. Es ist nicht weit bis zum ›Ersten Palast des Abends‹.« »Einverstanden«, sagte ich. »Eben sprach ich von den Pflichten und Rechten des Gastes. Ich kenne sie. Aber ... kennst du auch die Rechte und Pflichten der Gastgeber?« Eben noch war sein Gesicht heiter und offen gewesen. Jetzt verfinsterte es sich und er grollte: 101
»Mann! Du solltest deine Rede klug abwägen. Ein solches Wort, selbst mit Mut gesprochen, hat schon manchen Unfrieden gestiftet. Gerade wir, die wir die Seltenheit eines rüstigen Gastes bedauern, wissen, was wir ihm als Gastgeber schuldig sind. Komm und sieh selbst, aber dosiere deine Beleidigungen in Zukunft mehr!« Ich nickte und lächelte ihn offen an, während ich mich bückte und mein Gepäck aufhob. »Es war nicht meine Absicht, dich oder deine Freunde zu beleidigen.« »Recht so! Wie bist du hierher gekommen?« Ich hob die Schultern und erklärte leichthin: »Ich bin der Freund der größten Wanderwolke! Sie hat mich vor dem Tor der Stadt abgesetzt.« »Das adelt dich in meinen Augen noch mehr. Nur Piraten und ungewöhnliche Männer gehören zu den Wolkenreitern. Du mußt ein ungewöhnlicher Mann sein.« Ich behielt die Antwort, die ich geben wollte, wohlweislich für mich, näherte mich dem Tier mit dem weißgelblichen Fell und hob meinen Fuß bis zum leeren Steigbügel. Mit einem letzten Schwung kletterte ich in den Sattel. »Gehen wir zu den anderen!« sagte mein merkwürdiger Gefährte. Ich erkannte auf dem Rücken des weißen Mantels ein Bild aus Stickerei und aus kostbaren kleinen Steinen. Es sah aus wie ein unglaublich kostbar modellierter Metalltrinkpokal. »Mit Vergnügen. Wieviele Menschen leben hier?« »Ach«, sagte er unvermittelt, während er das Tier herumwarf und mit großen Sporen vorantrieb, »wir haben schon lange nicht mehr gezählt. Aber es werden einige Tausende sein.« »Ich bin gespannt!« sagte ich. 102
In einem gestreckten Galopp, der das Tier offensichtlich keineswegs anzustrengen schien, preschten wir dicht neben der Straßen im weichen Sand dahin. Vor uns wurden jetzt mehr und mehr Lichter oder Fackeln sichtbar. Ich merkte, daß es ein wenig stärker bergauf ging. Dann bogen wir nach rechts ab, und plötzlich schienen die riesigen Ruinen und die Reste gewaltiger Bauwerke ein besonderes nächtliches Leben zu bekommen. Aus dem Galopp wurde ein Trab, als wir – noch immer schweigend – den Rand der bewohnten Zone erreichten. Meine Spannung hatte jetzt einen Punkt erreicht, der kaum mehr zu steigern war. Ich glaubte, ich müsse mich in unmittelbarer Nähe von Erthu befinden, aber meine beiden Fragen an den Reiter im kostbaren Mantel waren unbeantwortet geblieben. Vor uns weitete sich ein riesiger, viereckiger Platz. Er war von den Resten der riesigen Gebäude umgeben, in deren Fenstern und Absätzen Tausende von Lichtern angezündet worden waren. Unter den Hufen des Reittieres bemerkte ich Gras oder Moos, jedenfalls klangen die Tritte plötzlich ganz anders. Wir ritten in ein riesiges Viereck von Lichtern hinein. Viele Menschen bewegten sich in der Nähe von Eingängen, Torbögen, Kolonnaden und Pergolen. Farben waren zu sehen, Metallgegenstände blitzten auf. Stimmengewirr erscholl. Ich hörte Musik und die Töne seltsamer Saiteninstrumente. Mein Führer ritt geradeaus und hielt vor einem riesigen Gewölbebogen an. Die heruntergebrochenen Teile, riesige Quader, waren bewachsen und bereits von den Wurzeln der Sträucher und Bäume überwuchert. »Wir sind da?« 103
»Wir sind im Mittelpunkt des Lebens. Wir kümmern uns nicht um die Gebäude. In den Mauern wirst du jedoch alles finden, was dein Herz begehren mag. Ich sage alles. Deine Sinne und Begehren sind nicht abgestumpft?« Ich schwang mich aus dem Sattel. Sofort wandte sich die Aufmerksamkeit von mindestens zweihundert Personen uns zu. Oben, auf der fernen Spitze des Turms, stieß ein Mann in ein schauerlich klingendes Horn. Dreimal schmetterte ein gellender, unmelodischer Ton über die Ruinen dahin und erzeugte mehrere Echos. »Nicht, daß ich wüßte. Aber ich bin kein Gott, sondern auch nur ein Mensch!« »Trefflich gesprochen!« sagte jemand in unserer Nähe. Der Reiter stieg ebenfalls ab und warf die Zügel achtlos einem Knappen zu, der herbeigeeilt war. Der Knabe nahm auch die Fackel in die Hand und entfernte sich mit dem Tier. Ich sah mich um. Der Sprecher war ein jüngerer Mann gewesen, bartlos und hoch aufgeschossen. Er trug eine leuchtende Blüte im Haar, dicht über dem Ohr. »Wo bin ich?« fragte ich und blickte in lauter weiße Gesichter, sah blondes oder weißes Haar und helle Augen. Die Dunkelheit und die nachlassende Wärme des Sonnentags schien die Bewohner der Ruinen ins Freie getrieben zu haben wie eine Wolke von Nachtschwärmern. »In Merlane, der überaus mächtigen und einst prächtigen Stadt!« sagte mein Führer salbungsvoll. »Ihr seid die Nachkommen der Bewohner – vor langen Zeiten war die Stadt voll von Menschen wie euch?« fragte ich. »So ist es. Aber du wirst von der Reise verschmutzt sein!« 104
Einige Mädchen drängten sich heran und betrachteten mich wie einen seltsamen Fundgegenstand. »So ist es!« gab ich zu. »Und er hat sicher auch Durst und Hunger!« Ich lächelte und versuchte, diese unnatürliche Stimmung und all das Unglaubliche, das ich sah, zu verarbeiten. »Auch das ist richtig!« mußte ich bekennen. Alle Menschen, die ich bisher gesehen hatte, schienen sich inzwischen von der Natürlichkeit ein gutes Stück entfernt zu haben. Sie scheuten das Tageslicht und zeigten sich nur abends und in den Nächten. Gleichzeitig schienen sie ebenso stark eine Tradition hochleben zu lassen, die es einmal gegeben haben mochte, vor zwei Jahrtausenden. Diese Stadt war verfallen, und das Leben, das sich in ihr noch regen mochte, war zweifellos nicht mehr als ein schwacher Abglanz der Zustände vor dieser unendlich langen Zeit. Seit damals war jedoch alles degeneriert. Nicht alles, korrigierte ich mich, aber zumindest das Verhalten dieser weißhäutigen Menschen. »Nimm ihn an die Hand, Honigvogel«, dröhnte eine Stimme auf. Sie gehörte einem großen Mann, der auf der Brust die gestickte Gestalt eines Tieres trug, das Ähnlichkeit mit einem Bären hatte. »Ja, Vater!« sagte eine andere Stimme. Sie klang sehr leise und sehr lieblich. Ich drehte meinen Kopf hin und her. Jetzt sah ich ein großes, schlankes Mädchen, das lächelnd auf mich zutrat und die Hand ausstreckte. »Komm mit mir, Fremder. Wie ist dein Name?« Einerseits war ich von der hier herrschenden offenen Herzlichkeit etwas betäubt, andererseits freute ich mich natürlich sehr darüber, wie einer der Ihren begrüßt zu werden. Aber von Augenblick zu Augenblick schien es mehr, als habe ich eine Zone milden Wahnsinns betre105
ten. Nun, ich würde nicht lange hier bleiben. Es würde wie in allen Gruppen und Siedlungen dieser Welt sein. Mein nächstes Ziel war Erthu. »Ich bin Dragon, der Weltenwanderer!« sagte ich. »In der Stadt wirst du deinen Namen ändern müssen!« sagte Honigvogel und ergriff meine Hand. Ihre Finger waren überraschend fest und kräftig. Die Umstehenden lachten freundlich, als wir den Kreis durchstießen. Ein Knappe trug meine Waffen und die Ausrüstung. »Namen ändern?« »Ja. Wir tragen alle die Namen unserer geistigen Totems.« Ich nickte schweigend und ging mit Honigvogel Hand in Hand auf das größte Gebäude zu, das aus den Mauern dieses Platzes vorsprang und ebenso vernachlässigt und halb von der Zeit zerstört war wie die anderen Bauwerke hier. Aber die Dunkelheit und die vielen Lichter machten aus trostlosen Fensterhöhlen und verfallenen Säulengängen eine anheimelnde Kulisse. Während wir durch ein langes Spalier von Menschen gingen, sah ich mir die Bewohner der Ruinenstadt genauer an. Sie alle waren in Weiß gekleidet. Fast ausnahmslos große, schlanke Menschen. Ich sah auch viele Kinder. Überall bemerkte ich teuren Schmuck und so gut wie auf jedem Mantel und auf den Brustteilen der Kleidung symbolische oder märchenhaft ausgeschmückte Tierzeichen. Honigvogels Totem war ein farbenprächtiger Vogel, der an einer ebenso künstlerisch gestickten und gewebten Blume Nektar trank. Im hellblonden, fast weißen Haar trug Honigvogel einen Kranz Blumen. Sie strahlte mich an, als wir in die Helligkeit eines langen Säulenganges traten. Hier waren sämtliche heruntergefallenen Trümmer sorgfältig weg106
geräumt worden. Hier und dort lag eine welkende Blüte auf dem Mosaikpflaster. Wieder mußte ich daran denken, daß vor zweitausend Jahren Merlane ein gewaltiges, von summendem Leben erfülltes Handelszentrum gewesen sein mußte. Die Handwerker, deren Spuren ich in Reliefen und abblätternden Kolossalgemälden sehen konnte, waren allesamt Künstler gewesen. Honigvogel mußte meine Blicke bemerkt haben, denn sie sagte: »Du bist voll des Staunens, Fremder?« »In der Tat«, entgegnete ich. »Ich dachte, die Stadt sei leer bis auf ein paar Giftschlangen in den Ruinen!« »Mitnichten!« sagte sie vorwurfsvoll und drückte meine Hand. »Noch viel ist vom alten Glanz übriggeblieben. Du wirst schon gemerkt haben, daß wir die Sonne nicht sehr schätzen und erst abends aktiv werden. Die Kühle der Nacht ist unser Element. Womit ich jedoch nicht gesagt haben will, edler Fremdling und Gast, daß wir uns nicht auch am Tag in der Glut bewegen können.« »Ich verstehe, schönste Honigvogel«, sagte ich. »Wohin bringst du mich in deiner lieblichen Güte?« Inzwischen machte es mir einen deutlichen Spaß, die krausen Wendungen der altertümlichen Sprache ebenfalls zu verwenden. »Alle diese mächtigen Häuser, Dragon, Mann der Stärke, sind innerlich sehr prunkvoll und bewohnt. Es gibt dort alles, was wir brauchen. Ich bringe dich zu meinen Schwestern und Dienerinnen. Sie sollen dich baden, trocknen und mit duftenden Ölen salben.« »Bei Vesta!« sagte ich verwundert. »Nie ward ich herzlicher willkommen geheißen!« »Und dann, nachdem du äußerlich einer der unseren geworden bist, wirst du neben mir im Festsaal sitzen. Mein Vater gibt ein Bankett. Die Tische werden sich bie107
gen, der Wein läuft in Strömen, und der Minne wird gepflegt wie in alten Tagen!« »Die Aussicht, schönste Honigvogel, berauscht mich auch ohne Wein.« »Du bist kein Barde?« »Nein«, sagte ich. »Mein Gesang würde die Gäste in alle Richtungen treiben.« »So bist du ein Mann des Schwertes?« »Man könnte es so nennen!« sagte ich. Die Warnung des sterbenden Oasenfürsten fiel mir ein. Nach ihm sollten es lauter Wahnsinnige sein, die mich töten würden. Entlang des Bogenganges kamen wir vorbei an kleinen Plätzen, an zahlreichen kleineren und größeren Gebäuden, an tanzenden Gruppen und an Gesellschaften, die laut und fröhlich im Freien zechten. Hier gab es Tiere und Rasen, Bäume und Blumen. Brunnen plätscherten in der Nacht. Ich hörte Gelächter und Lieder. Unbekannte Instrumente zirpten und bliesen. Schließlich standen wir vor einem langgestreckten, zehn oder mehr Mannslängen hohen Gebäude, dessen Fassade einigermaßen gut erhalten war. Ein mächtiges Tor stand weit offen. Wieder zog mich Honigvogel mit sich. »Hier bin ich zu Hause. Dies ist der Palast meines Vaters!« »Ich folge dir willig!« sagte ich. In einigem Abstand hinter uns schleppte der Knappe meine Ausrüstung. Ich drehte mich um und winkte ihm. Honigvogel drehte sich herum und musterte mein Gesicht, als sähe sie zum erstenmal einen Menschen. »Dieser Stein über deiner Nase, starker, schöner Fremder«, sagte sie. »Es ist ein Schmuck? Oder ein Zeichen deiner Sippe, deines Stammes?« Ich lächelte leicht und erklärte: 108
»Es ist ein Geschenk eines jetzt toten Mannes. Es ist Vestas Auge, so nannte er es. Es macht mich zu einem Mitglied der Natur dieser Welt. Du brauchst keine Angst zu haben, denn es ist ein gutes Zeichen mit mildtätiger Wirkung.« Sie küßte mich auf den Mund, stieß ein helles Lachen aus und sagte: »Ich habe keine Angst, Dragon. Aber dieses Zeichen macht dich anders. Alle werden deine Geschichte hören wollen.« »Ich werde sie gern berichten!« Sie brachte mich durch prächtig geschmückte Gänge, durch einen Treppenturm und einige Kammern in einen großen Saal. Dort wartete in der Mitte des Raumes ein Becken, voll mit dampfendem, wohlriechendem Wasser. Mädchen kamen uns entgegen, die nichts als kurze, weiße Hemden trugen. »Schwestern und geliebte Dienerinnen!« rief Honigvogel. »Dies ist Herr Dragon, der Schwertmann. Empfangt ihn würdig, badet und salbt ihn, bringt ihn in das Zimmer des Gastes und zeigt ihm den Weg zum Bankettsaal. Nein, laßt dies, ich werde ihn holen!« Honigvogel nickte mir lächelnd zu und sprach kurz mit dem Knappen, dann ließ sie mich mit der Schar der lächelnden Mädchen allein. Ich sah mich verwundert um. Dieser Raum war hervorragend erhalten. Die Mädchen umringten mich kichernd, betrachteten neugierig meinen Körper und meine Waffen, dann begannen sie, mich langsam zu entkleiden. Auch diese fünfzehn Mädchen hier trugen Blumen im Haar. Als ich die Stufen zum Wasser hinabstieg, folgten mir einige von ihnen. Sie trugen meine Kleidung weg, zwei von ihnen brachten neue Gewänder, und ich ließ 109
noch immer verwundert schweigend alles über mich ergehen. Zuerst brachten sie Schwämme, die mit einem seidigen Schaum gefüllt waren. Mein Körper wurde gewaschen, mit sanften Bürsten gestreichelt, meine Hände wurden gereinigt, sogar der Schmutz unter den Nägeln wurde von einem Mädchen entfernt. Ich versank in dem warmen, duftenden Wasser, das aus unergründlichen Tiefen durch ein steinernes Maul in das Becken lief. »Macht ihr dies bei jedem Fremden?« fragte ich einmal, zwischen zwei Behandlungen prustend. »Wir haben selten Gäste, und wir freuen uns, ihnen alles erweisen zu können, was wir haben.« Die Prozedur dauerte mindestens eine halbe Stunde. Ich wurde mehrmals gewaschen, abwechselnd mit warmem und kaltem Wasser behandelt, dann führten sie mich zu einer Bank, die mit weichen Decken belegt war. Dort massierten sie jede Handbreit meines Körpers, verwendeten duftendes Öl. Ich entspannte mich mehr und mehr. Ein anderes Mädchen trocknete und bürstete mein Haar. Sie verrieben duftende Essenzen auf meiner Haut. Ein Wohlgefühl, wie ich es schon lange nicht mehr gekannt hatte, durchzog mich wie ein Schauer. Dazu reichten sie einen hellen, rötlichen Wein, der ausgezeichnet schmeckte. Schließlich, als ich von der langen, unter ständigem Kichern vollzogenen Prozedur müde war, weckte mich ein warmes Getränk wieder auf. Zwei Mädchen standen vor mir. Sie hielten auf ihren ausgestreckten Armen weiße Gewänder. »Dies mußt du anziehen, Herr Schwarzer Falke!« Ich zog mich langsam an, runzelte die Stirn und fragte zurück: »Herr Schwarzer Falke? Warum dies?« 110
Zwei andere Mädchen drehten sich tänzerisch voneinander weg und entfalteten dabei einen langen, weißen Mantel. Ich erkannte in seiner Mitte die dunkle, golddurchwirkte Stickerei. Eindeutig das Bild eines kreisenden, zum Sturz bereiten Raubvogels, wenn auch heraldisch verfremdet. »Ich verstehe.« »Und nun, dein Zimmer.« Zwei der Mädchen packten mich an den Armen und zogen mich mit ihnen. Es ging über einen offenen Säulenhof, durch einen breiten Korridor und von dort in ein Zimmer. Eine alte, mit wertvollen Beschlägen versehene Tür öffnete sich fast geräuschlos. Ich hatte vor mir eine mittelgroße Halle. Dort brannten Scheite auf einem kaminähnlichen Ding, dort standen Öllampen, dort Möbelstücke. Schwere Vorhänge fielen von der Decke und den Wänden. Ein riesenhaftes Zimmer mit zwei großen Fenstern. Mit tiefen Verbeugungen zogen sich die Mädchen zurück. Auf einem Tisch entdeckte ich, saubergeputzt und nebeneinander ausgelegt, meine Waffen. Ich nickte zufrieden und ging, nachdem ich mir einen Becher Wein eingegossen hatte zum Fenster. Ich setzte mich auf die breite Fensterbank und wartete. Als die Herolde vor uns die schweren Vorhänge zurückrissen und wir in das blendende Licht des Bankettsaales traten, begannen rechts und links der Tür die Trommeln dumpf zu krachen. Zwanzig Männer stießen in die Fanfaren und schmetterten lange Signale in den riesigen Saal. Plötzlich bewegten sich mindestens dreihundert Köpfe, sechshundert Augen sahen uns entgegen. An meiner rechten Seite, ihre Hand auf meinen Arm gelegt, ging würdevoll Honigvogel die breite Treppe hinunter. 111
Ein anderer Herold drosch mit einem Hammer auf einen mannsgroßen Gong und verkündete: »Der hochedle, weitgereiste und überaus artige Herr Schwarzer Falke, Liebling der Geister, Mann der freien Rede und Scholar von Honigvogel, der liebreizenden Tochter von Herr Roter Bär. Nehmt Platz, hochedles Paar.« Das müßte Partho sehen, dachte ich, aber ich lächelte breit und blieb stehen, als wir die Treppe hinter uns hatten. Langsam hob ich die Hand. »Ich grüße euch alle, hochedle, tapfere und schöne Bewohner dieser mächtigen Stadt. Ich komme von weither, und wenn ich in der Ungeschicklichkeit dessen, der nicht alles kennt, etwas Dummes sage, so lacht herzhaft darüber, vergeltet es mir aber nicht. Ich danke für diesen überaus schönen und lieblichen Empfang!« Ich verbeugte mich. Die Frauen lachten und klatschten, die Männer schrien begeistert und trommelten mit den Griffen der Messer oder den Füßen von Trinkgefäßen auf den Tisch. Weißgedeckte Tische. Viele Becher und Humpen, Krüge und Pokale. Sie warteten alle ungeduldig aufs Essen. Honigvogel führte mich an den beiden Tischreihen entlang bis zu einem Platz am Quertisch. Dort saßen wir so, daß uns fast jeder sehen konnte. Sicher war dies der Zweck. Ich sah als Gastgeber den Herrn Roten Bären, der mir leutselig zuwinkte. Dreihundert oder mehr Wappentiere umgaben diesen Tisch. Jeder der Anwesenden verkörperte ein Tier. Einen Vogel, einen Fisch, ein Säugetier, aber auch Blumen und Wolken, Sterne und Gestirne waren zu sehen. Als die Mundschenke den Wein, die Milch oder ein frisch rie112
chendes, schäumendes Bier eingossen, wandte ich mich an Honigvogel. Ich berührte ihre Schulter und fragte: »Ich bin hier, um Erthu zu finden. Kennst du den Geist der Erde?« Honigvogel schenkte mir ein reizendes Lächeln und blickte mir tief und versunken in die Augen. »Warte auf morgen. Morgen ist der Tag, an dem viel gesprochen und gehandelt wird. Frage nicht. Genieße den Abend und die Nacht.« Ich nickte. Ein Tag mehr oder weniger war kein echter Verlust. Jedenfalls hatte Honigvogel nicht verneint, das konnte heißen, daß die Stadtbewohner etwas von oder über Erthu wußten. Ein farbiges, langes und kräftiges Mahl wurde hier ausgerichtet. Die Frauen und Männer an den vielen Tischen zechten und aßen gewaltige Mengen. Herr Roter Bär wandte sich an mich. »Du kommst von fern, Herr Schwarzer Falke?« Ich hob meinen prunkvollen Pokal und trank einen Schluck auf sein Wohl. »Ich komme von weither, Herr Roter Bär. Von den Himmelbergen. Ich habe einen langen beschwerlichen Weg hinter mir, mit vielen Abenteuern!« Er nickte. Dann deutete sein mächtiger Arm quer durch den Saal, der im Licht von Hunderten Öllampen funkelte, und sagte: »Wir werden viel Geselligkeit pflegen heute nacht. Die besten Weine in den Pokalen, schäumendes frisches Bier in den Humpen, Lieder und Tänze. Du scheinst ein Mann des Schwertes ebenso zu sein wie ein Mann der Erzählung! Du wirst uns einige deiner Abenteuer berichten!« »Fürwahr!« gab ich zu. »Ich werde es tun.« 113
Ich lehnte mich zurück und betrachtete die Szenerie um mich herum. Ich war in einer anderen Welt. Fürwahr, dies war es! Fernab der Wirklichkeit einer sterbenden Ruinenstadt, die unmöglich so vielen Menschen Leben geben und sie ernähren konnte, wurden hier Feste gefeiert wie im reichen Myra. Äußerster Prunk herrschte. Ich traute dieser entspannten Laune nicht – jedes Amulett hatte zwei Seiten. Das überaus reizende Fräulein Honigvogel lehnte sich an mich, traumversunken und leicht angeheitert. Sie spielte mit den Fingern meiner rechten Hand und war ausgesprochen lieblich und liebebedürftig. »Herr Roter Bär?« Mein Nachbar, der sich eben Witze erzählen ließ und achtlos die Musik überhörte, wandte sich um. »Ja? Du wünschest eine Antwort, Herr Schwarzer Falke?« »So ist es. Man sprach mir von morgen. Morgen geschähe, sagte man, allerlei, was ich noch nie gesehen und erlebt habe. Was ist es?« Er lachte dröhnend und schlug mir freundschaftlich auf die Schultern, daß ich mit dem Gesicht beinahe in meinen Teller fiel. »Vergiß das Morgen! Denke an heute! Heute ist das große Fest. Morgen wirst du alles erfahren. Und auch die tiefen Geheimnisse, die sich um Erthu ranken wie Blumen um eine reine Mädchenstirn.« Ich krümmte mich innerlich, aber ich nickte. »Ich werde deinen Rat, Herr Roter Bär, befolgen.« Es wurde, nachdem ich gewaltsam alle meine lastenden Gedanken und bohrenden Fragen beiseite geschoben hatte, ein langer Abend. Wir aßen und tranken. Ich hielt mich bei beidem zurück und beobachtete. Sänger 114
traten auf, Geschichtenerzähler und Musikanten. Das Volk der Merlaner verstand zu leben. Später stand ich auf, lieh mir von einem Barden eine Leier und zupfte ein paar kühne Akkorde. Ich erzählte der schweigenden und erstaunten Gesellschaft meine Abenteuer auf der Wanderwolke. Sie schienen hingerissen zu sein, aber ich wurde den Verdacht nicht los, daß sich hinter diesem scheinbar degenerierten Fest mehr verbarg. Nun, ich würde es morgen erfahren! Irgendwann verließ ich das Fest. Ein Teil der Gäste war gegangen, ein anderer Teil schlief am Tisch, ein dritter befand sich paarweise in dunklen Zonen der Halle und der abzweigenden Gänge und Kolonnaden. Ich war müde, aber hellwach. Ich suchte nach Zeichen, die mir verrieten, was morgen geschehen würde. Morgen ...? Ich erreichte meinen Raum. Riesige Vorhänge aus weißem Stoff waren vor die Fenster gezogen worden. Ich zog mich aus und legte mich ins Bett. Weiche Felle und kühle Decken nahmen mich auf. Ich vergaß, das kleine Öllämpchen auszublasen. Im Kamin knackte ein abkühlendes Scheit. Ich schlief ein. Ich erwachte nicht einmal richtig, als ich das Rascheln von Kleidern hörte und fühlte, wie ein schlanker, weißer Körper neben mir unter die Felle schlüpfte. Fräulein Honigvogel? Ich legte einen Arm um ihre Schultern und zog sie an mich. Als sich das Zimmer durch das Morgenlicht erhellte, erwachte ich. Der Tag, an dem ich alles erfahren sollte, war angebrochen. Ich richtete mich auf. Honigvogel wachte auf, klammerte sich an mich und flüsterte: 115
»Du hast etwas vergessen, Herr Schwarzer Falke!« »Ich vergesse nie, Schönste«, sagte ich und küßte sie. Was immer dieser Tag bringen würde, ich entschloß mich, ihn so angenehm wir möglich zu beginnen. ENDE Mit Vestas Auge, dem funkelnden Juwel, das in seine Stirn eingepaßt wurde, und seinem Versprechen, im Sinne des toten Akkathos zu wirken, hat Dragon ein Vermächtnis übernommen, das sich als gefährliche, ja tödliche Bürde erweist. Dies zeigt sich in dem Moment, als der Atlanter die Stadt Merlane erreicht und auf die RITTER DER WÜSTE stößt ... Mehr zu diesem Thema berichtet Hans Kneifel im nächsten Dragon-Band. Der Roman erscheint unter dem Titel: RITTER DER WÜSTE
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