Das Erwachen Version: v1.0
Ein Geheimnis, aus Träumen geboren. Eine junge Frau, bar jeder Erinnerung. Das furchtbare E...
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Das Erwachen Version: v1.0
Ein Geheimnis, aus Träumen geboren. Eine junge Frau, bar jeder Erinnerung. Das furchtbare Erbe einer Rasse, so alt wie die Wurzeln der Menschheit. Eine Bestim mung, die nach hundert Jahren Schlaf ihre Erfüllung finden soll. VAMPIRA erwacht. Und macht sich auf, eine feindli che Welt zu entdecken. Begleiten Sie sie auf ihrem ge fährlichen und leidenschaftlichen Weg. Folgen Sie den Vampiren auf ihren nächtlichen Pfaden. Dies ist der erste Band einer Reise zu den Quellen des Lebens und des Blutes. Lilith erwacht. Das Abenteuer beginnt …
Schwerer Regen fiel, als sie im Herzen des Sturms erwachte. Wind böen durchzausten ihr nasses Haar. Sie war durstig, aber das Was ser, das über ihr Gesicht rann und sich in den Mundwinkeln sam melte, ekelte sie. Obwohl sie mit Schlamm beschmutzt auf dem Boden lag, war sie gespenstisch schön. Schlank und biegsam wirkte ihr Körper, durch trainiert bis in die letzte Faser ihrer Muskeln und Sehnen. Zugleich drückte er die Weiblichkeit schlechthin aus. Das anmutige Gesicht wurde von hohen Wangenknochen und leicht schrägstehenden Au gen geprägt. Bleich war ihr Teint. Der Busen hob und senkte sich unter raschen Atemzügen. Sie riß die Augen auf. Zunächst war da nichts außer verschwommenem Grau. Es war finster. Kein Stern erhellte den Himmel, und doch ahnte sie den blassen Mond hinter den Wolken. Die Atmosphäre war elektrisch aufgeladen. Immer wieder zückten Blitze über einen falschfarbenen Himmel. Falsch? Wieso falsch? Wo bin ich …? Wie auf ein Stichwort hin zerriß der dunkle Wolkenmantel. Am östlichen Horizont zeigte sich ein erster Silberstreif. Und endlich er kannte sie, wo sie sich befand. Ein Friedhof, durchzuckte es sie unbehaglich. Durch milchig-fahle Röte sah sie sich in einem Labyrinth aus Grä bern und Pfaden. Gräber, die zu locken schienen, als zerfalle unter ihrer krumigen Schicht nicht nur totes Fleisch, sondern als verberge sich darunter etwas höchst Lebendiges … Erregt tanzte ihre Zunge über die Lippen und zog sich, angewidert von der faden Nässe, wieder zurück. Der wahre Durst blieb unge stillt. Sie erhob sich aus dem feuchten Gras. Sie wußte, daß es Gras war,
obwohl es sich ebenfalls … falsch anfühlte. In ihrer unmittelbaren Nähe schlug ein Blitz ein. Eine wilde Entla dung gestauter Energie, die Ozongeruch freisetzte. Graberde bebte, als wollte sie in einer gigantischen Eruption das Tiefverborgene freisetzen, das die blutjunge, verwirrte Frau mit Sin nen ahnte, die wie selbstverständlich funktionierten. Ein altes Holzkreuz mit verblichener Schrift flammte getroffen auf. Trotz des strömenden Regens brannte es wie ein Fanal. Die Frau glaubte, erneut ohnmächtig werden zu müssen, als sie taumelnd auf die Beine kam. Sie preßte ihre Hände vor die Augen. Blind und dennoch katzenhaft geschmeidig lief sie los und wich da bei den Grabkreuzen aus, als würde sie von einem Instinkt geleitet. Nur bei den Grabsteinen versagte ihre Intuition, und sie prallte eini ge Male hart dagegen. Unter einem Baum, dessen gewaltige Krone ein halbes Dutzend Gräber beschirmte, blieb sie schweratmend stehen. Ihr Brustkorb hob und senkte sich wie rasend. An ihrem Körper spannte ein unbe kanntes, häßliches Kleid. Die Nässe setzte Modergeruch frei, und auch sonst fühlte es sich an wie altes, durchweichtes Spinngewebe. An einigen Stellen war es bereits zerrissen, als hätte ein Kampf statt gefunden. Ich erinnere mich nicht! Die Leere in ihrem Kopf ließ sie zittern. Sie preßte die Fäuste ge gen ihre Schläfen. Die Haltlosigkeit, mit der ihr Bewußtsein ohne den sicheren Anker einer Erinnerung dahindriftete, ließ sie innerlich verkrampfen. »Wer … bin ich …?« Ihr Schrei suchte ein Echo im dämmernden Morgen. Graues Licht schien aus der Erde hervorzukriechen. Der Sturm flaute ab.
Ein Geräusch in unmittelbarer Nähe lenkte sie ab. Bevor sie ihm folgen konnte, wurde das Brennen an ihrem Hals, das schon gerau me Zeit da gewesen sein mußte, stärker. Sie hatte es verdrängt, weil die anderen Eindrücke vorgeherrscht hatten. Jetzt juckte es wie ein Wespenstich. Sie wollte sich kratzen und stockte in der Bewegung. Ihre Finger waren mit Blut benetzt. Blut …? Sie bemerkte, daß sich die Wahrnehmungsweise ihrer Augen ver änderte, je mehr sich der Tag durchsetzte. Der Rotschimmer, der bis jetzt über allem gelegen hatte, verschwand, und die Umgebung nahm eine ungewohnte Schärfe an. Jede Kontur schien mit einem Stift nachgezogen zu sein. Dadurch wirkte die Landschaft fast rea ler, als daß es glaubwürdig war. Der unbekannte Friedhof wirkte uralt, und, das spürte die Frau im modrigen Kleid deutlich, er strömte Böses aus. Es war mehr als eine bloße Ahnung, daß hier Mörder und anderes Gelichter begraben la gen, als wäre damit alles getan, was geschehen mußte, um die Schande vom Gesicht der Erde zu waschen. Es war nicht so. Sie spürte, daß die unheilige Kraft der Mörder hier immer noch schlummerte, nur darauf wartete, erweckt zu werden … Von wem? Sie schauderte. Ihr Blick reichte bis weit hinaus aufs Meer. Über der malerischen Bucht, deren Namen sie, wenn sie ihn jemals kannte, vergessen hatte wie alles übrige auch, klarte der Himmel auf. Marionettenhaft setzte sie sich in Bewegung. Um sie herum erstar ben Wind und Regen, und sie folgte dem einzigen noch hörbaren Geräusch, das wie dumpfer, monotoner Trommelschlag klang. Ein paar Gräber weiter fand sie seine verblüffende Ursache:
Ein Mann unbestimmbaren Alters lag am Boden. Er blutete aus dem Mund. Sein haarloser Schädel schlug immer wieder unkontrol liert gegen eine Grabplatte aus Marmor, weil sich der Körper des Mannes in spasmischen Krämpfen wand. Er war nicht bei Bewußt sein und schien Hilfe dringend nötig zu haben. Die selbst hilfsbedürftige Frau kniete neben ihm nieder. Der Mann war durchschnittlich gekleidet. Stangenware. Das Ge sicht war ohne das gewisse Etwas, das die Frau unbewußt suchte. Es war sogar eher unterdurchschnittlich. Der Mann schien in eine gewalttätige Auseinandersetzung ver strickt gewesen zu sein. Sein Hemd war zerrissen. Eine haarlose, feiste Brust war sichtbar. Vielleicht sind wir beide Opfer eines Überfalls geworden. Vielleicht ken nen wir uns, dachte die Frau und fügte verzweifelt hinzu: Aber warum erinnere ich mich an nichts? Der Mann schwitzte … nein, falsch, er dampfte regelrecht, obwohl keine Wärme von ihm ausstrahlte. Sein Puls war schon so schwach, daß er sich nicht ertasten ließ. Er mußte schon früher nicht sehr gesund ausgesehen haben. Sein Fleisch war aufgedunsen wie das eines Gewohnheitstrinkers. Er hat te einen nahezu kalkigen Teint. Dort, wo sich die Lippen etwas zu rückgeschoben hatten, schimmerte Blut zwischen den Zähnen, ver mutlich von inneren Verletzungen. Die immer noch nach dem Pulsschlag forschenden Finger der Frau hielten inne. Sie konnte den Blick nicht mehr von dem Blut wenden. Etwas Magisches ging davon aus. Das plötzliche Röcheln des Mannes löste den Bann. Die geschlossenen Augen in dem wächsernen Gesicht sprangen auf wie von einer Stahlfeder getrieben. Lautlos. Die Pupillen dahin ter glommen in scharlachroter Begierde.
Klauenartig gekrümmte Hände griffen nach der Frau. Sie versuch te zurückzuweichen, aber der Unbekannte bekam ihr morsches, alt modisches Gewand zu fassen, das kaum Widerstand bot. Er zerrte daran. Es zerriß. Sekundenlang glotzte er auf ihre nackten Brüste. Dann schlug er ihr mit der schwammigen Faust brutal in den Ma gen. Der Hieb kam so ansatzlos, daß keine Gegenwehr möglich war. Sie klappte zusammen, stürzte über ihn. Blutiger Geifer flog von sei nen Lippen, als er mit seinen Händen ihre schmale Taille umklam merte. Gier war plötzlich in seinen Augen. Was hatte er vor? Sein Gesicht tauchte vor ihren Augen auf. Sein Mund klaffte wie eine schwärende Wunde. Fauliger Atem entströmte ihm, während seine Hände sie im Nacken packten und näher heranzuziehen ver suchten. Die blutroten Augen glommen nun so stark, als hätte sich ein Feu er in seinem Schädel entzündet. Unartikulierte Laute rannen über die Lippen, die sich wie die Lefzen eines Tieres zurückzogen. Eine unheimliche Metamorphose setzte ein. Das unattraktive Gesicht wurde zur wölfischen Grimasse, als die Kiefer sich verschoben und die Zähne zu wachsen begannen … Erinnerungen drängten an die Oberfläche. Sie erlebte ein machtvolles Déjà vu und schrie mit fremd klingen der, maskulin gefärbter Stimme auf. Von explodierender, animalischer Wut wurde sie meterweit durch die Luft geschleudert. Sie schlug dumpf auf den schlammigen Pfad, rollte ab und kam gedankenschnell wieder auf die Beine. Heulen erfüllte die Luft. Der Schatten des Angreifers wuchs neben ihr auf. Sie wußte plötz lich, daß das Blut auf den gebleckten Zähnen nicht von inneren Ver
letzungen stammte, sondern daß es ihr Blut war! Sie beide waren sich schon einmal begegnet! Sie beide hatten gegeneinander ge kämpft, bevor … Bevor was? »Wer bist du?« fauchte sie. Die eigene Aggressivität erschreckte sie nur im ersten Moment, dann empfand sie sie als normal. Die häßliche Fratze lachte. Zugleich trat ein gehetzter Zug in die Scharlachaugen. Als würde ihm etwas bewußt, das er die ganze Zeit übersehen hatte. Zähe Sekunden stierte der feiste Kerl an ihr vorbei. Durch sie hindurch. Dann schnellte er aus dem Stand nach oben, krallte sich in ihre Schultern und suchte mit seinen Zähnen nach ih rem Hals! In Panik stemmte sie sich dagegen. Ihre Finger versanken in schwammigen Wangen. Sein Atem streifte sie wie ein Pesthauch. Das hungrige Fauchen klang jetzt entschlossener, und wieder schwindelte ihr vor der abgründigen Kraft, die diesem unansehnli chen Körper innewohnte. Das Licht in den Augen des Unheimlichen schien zu explodieren. Die Muskeln spannten sich wie Stahlseile unter bleicher Haut. Fast spielerisch entledigte er sich ihrer Hände. Dann war der Weg frei. Nadelspitze Zähne trafen die bereits verkrustete Stelle, unter der ihre Halsschlagader pulsierte. Ziehender Schmerz setzte ein. Ich will nicht sterben! dachte sie. Dieses Monstrum … Und eine Stimme aus der Tiefe wisperte: Wehr dich, Närrin! Sie wußte nicht, wie. WER BIN ICH? Das Schmatzen brachte sie fast um den Verstand. WEHRE DICH!
Sie sah vorbei an dem Mann, der ihr Gewalt in einer Form antat, die sie in immer tiefere Verwirrung stürzte. Sie sah den Horizont. Die Sonne ging auf, als wollte sie dem Ster ben einen würdigeren Rahmen verleihen. Goldene Strahlen tasteten nach dem ungleichen Paar, das in mörderischer Umarmung am Bo den rang, geisterten über die Körper … Und etwas noch Unfaßbareres geschah! Der Mann (Mann? Eher ein wildes Tier!) zuckte von ihr zurück. Sein Gesicht tauchte als düster verzerrte Grimasse im Schlagschatten der Sonne auf. Dann taumelte er um sich schlagend und schreiend von ihr fort. Wie jemand, der mit etwas Brennbarem übergossen und angezündet worden war. Seine Schreie hallten über den Friedhof, der im Morgenlicht leben de Schatten zu gebären schien. Die Haut des Kahlköpfigen schlug Blasen. Rauch stieg auf. Zunächst winzige Haarrisse weiteten sich zu Spalten und Klüften, hinter denen es wie sonnenheißes Magma kochte. Die Frau richtete sich benommen vom Boden auf. Sie sah den Flie henden gerade noch zusammenbrechen. Der Sturz löste Arme und Kopf vom Rumpf. Aus Hals und Stümpfen zuckten bläuliche Blitze, dann zerfiel der ganze Körper, bis nur noch ascheähnliche Flocken und die Kleidung übrig blieben. Und die Unversehrtheit des An zugs belegte, daß keine tatsächliche Hitze gewirkt hatte. Etwas Kaltes hatte diesen Mann verzehrt! Schaudernd blickte die Frau zu der Stelle, wo der Anzug des Man nes lag. Erstaunlicherweise empfand sie kein Grauen. Sie fühlte sich eher wie nach der Bewältigung einer Prüfung. Aber sie wußte immer noch nicht, wer sie oder dieser unheimliche Angreifer war! Sie wußte nicht einmal, wo sie sich aufhielt! Die Ungewißheit zog sie zur Kleidung des Mannes, die sie fahrig
durchwühlte. Sie fand einen Schlüsselbund und eine Brieftasche. Beim Aufklappen fiel ein vergilbter Zettel ins Gras, den sie aufhob. In kaum leserlicher Handschrift stand darauf: Lilith Eden, 333, Pad dington Street. Nicht die Adresse, der Name elektrisierte sie. Für unbestimmbare Zeit vergaß sie alles um sich herum. Lilith Eden … War sie das? Obwohl die verlorene Erinnerung auch jetzt nicht zurückkehrte, weckte der Name Hoffnung in ihr, eine Spur gefunden zu haben. Die Adresse hingegen war ihr fremd und immer noch kein Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Sie durchwühlte die Brieftasche und fand mehrere Geldscheine. Eine Zehn-Dollar-Note, die sie gegen die Sonne hielt, zeigte das Konterfei eines gewissen Francis Greenway. Dieser Schein und alle anderen, die sie fand, waren keine amerikanischen, sondern australi sche Dollars. Ihr Blick suchte die Meeresbucht, die sie nach ihrem Erwachen ge sehen hatte. Aber gewaltige Grabbauten verstellten die Sicht. Australien, dachte sie. Dies ist Australien … Es war ein irgendwie völlig abstrakter Gedanke. Sie hatte keinen sicheren Beweis für ihre These außer ein paar Geldscheinen, und sie fand auch keine Ausweispapiere mit dem Namen und der Adresse des Toten. Als sie Brieftasche und Schlüsselbund fallen ließ und nach etwas suchte, worin sie das Geld verstauen konnte, bemerkte sie erst, in welch heruntergekommenem Zustand ihre eigene Kleidung war. So maßlos zerfleddert, daß sie sekundenlang versucht war, sich den Anzug des Toten überzustreifen, um dieses … Kleid loszuwerden, das zu allem anderen Übel auch noch anwidernd roch.
Sie unterließ es. Aus der Wunde an ihrem Hals drang kaum noch Blut, aber sie konnte nicht sagen, wieviel sie bereits verloren hatte. Vielleicht wür de sie sterben … Wirklich schwach fühlte sie sich nicht mehr. Beinahe leichtfüßig setzte sie sich in Bewegung und strebte dem Ausgang des Friedhofs zu, von dem sie plötzlich wußte, wo er zu finden war. Ihre Gedanken kreisten um die einzige Frage, die zählte: WER BIN ICH? Die Antwort, das ahnte sie längst, würde keine Erlösung sein. Der alte Herr kam im Nebel. Nebel umgab ihn wie eine Wolke, die bodennah dahinzog, den Schritten ihres Verursachers immer einen Meter voraus. Niemand hatte ihn kommen sehen, und das Rauschen der Schwingen war längst verklungen. Der Flug durchs Morgengrau hatte ihn erschöpft, denn nach Ta gesanbruch litt auch seine Macht. Selbst das Aufrechterhalten des Nebels fiel ihm schwer. Aber er hatte den Impuls gespürt und war sofort aufgebrochen. Er war der Älteste der Sippe, der Stärkste. Mühelos fand der Nebel den Weg zum Ort der Vernichtung. Die Fährte war frisch. Der alte Herr schien über den Boden des Totenackers zu schwe ben. Es mochte am Dunst liegen, der ihn umgab wie eine fahle Aura. Geweihte Erde, Kruzifixe und Heiligenfiguren mied er bewußt. Dort, wo die Dienerkreatur gestorben war, blieb der alte Herr ste hen, kramte in seinem Umhang und förderte ein Fläschchen aus ge schwärztem Glas hervor. Als er den Korken öffnete, entströmten ät zende Dämpfe. Ein paar Tropfen des Inhalts fielen in den Staub, der anders aussah als die umgebende Friedhofserde. Wie Ascheflocken.
Sofort blitzte es auf, und schneller, als ein menschliches Auge es hätte erfassen können, blähten sich aus der Asche die Umrisse einer feisten, haarlosen Gestalt. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte die Erscheinung stabil. Als sie in einem zweiten Lichtblitz verging, blieben nicht einmal Ascheflocken zurück. Aber der alte Herr schien zufrieden. Sein Verdacht war bestätigt. »Hadrum …«, wisperte er, und seine Stimme klang keineswegs gebrechlich, sondern voll barbarischer Wildheit. »So hat der Impuls mich also nicht getrogen. Hadrum, mein Diener, ich hatte dich fast vergessen. Wer hat dir das angetan? Was suchtest du hier, obwohl du hättest dort wachen sollen …?« Geräusche ließen ihn verstummen. Holpern, Schritte, dumpfe Schläge, Metall auf Metall … Der alte Herr, eben noch mit dem Gedanken an Rückzug beschäf tigt, hielt im Nebel inne. Selbst unsichtbar, beobachtete er das Nä herkommen eines sehnigen jungen Mannes in Arbeitskleidung, der eine Schubkarre zwischen den engen Pfaden vor sich herschob. Auf der Karre rutschte eine Schaufel hin und her. Der alte Herr machte keine Anstalten zu weichen, als die Karre ge nau auf ihn zukam. Der frühe Arbeiter war in Gedanken versunken. Er wurde auf die seltsame Nebelerscheinung erst aufmerksam, als die Schubkarre bereits Zentimeter hineingetaucht war. Jetzt erst blieb der junge Mann abrupt stehen. Kopfschüttelnd blickte er auf die Nebelballung. Es war dieselbe Sekunde, in der der alte Herr entschied, eine klei ne Stärkung könne nicht schaden. Der Tag hatte, obwohl kaum eine Stunde alt, bereits viel Kraft gekostet. Und er mußte gerüstet sein, um zu überprüfen, was sich mit Ha drums Tod andeutete. War es möglich, daß die alte Prophezeiung, vor der Landru ge
warnt, an die aber kaum einer der Alten wirklich geglaubt hatte, sich tatsächlich erfüllte? Nach beinahe hundert Jahren …?! Der junge Arbeiter umrundete neugierig die Schubkarre. Mit aus gestreckten Armen machte er einen Schritt in den Nebel. Er starb schnell. Als der alte Herr das Genick seines Opfers brach, blieb das Blut noch lange genug warm. Erst nachdem er gesättigt und überrascht vom prickelnden Geschmack seiner Beute war, wur de ihm bewußt, daß er dieses Zufallsgeschenk gar nicht hätte töten müssen. Mit Hadrums Tod war ein Platz freigeworden. Ein junger, unverbrauchter Diener hätte die alte Garde etwas aufgefrischt. Der alte Herr beschloß, das Versäumte bei nächster Gelegenheit nachzuholen. Er tat, was getan werden mußte, beseitigte die Spuren, säuberte sein Gesicht und verließ den Ort der Tat. Die Kraft der Sonne nahm zu, und allmählich verflüchtigte sich der Nebel. Schon kurz nach Verlassen des Friedhofs war nichts mehr davon übrig. Übrig war nur ein harmlos aussehender, grau gekleideter alter Herr, der sich erstaunlich behende durch den Morgen einem be stimmten Ziel zuwandte …
* Sie irrte durch menschenleere Straßen. Das Frühlicht schien ihre Haut entlangzuzüngeln und über die Augen direkt ins Innere ihres Körpers zu gelangen wie in einen leeren Kokon, der ausgefüllt wer den wollte. Das Licht tat nicht weh, aber es war neu und mutete ebenso fremdartig an wie andere Details ihrer Umgebung. Obwohl sie weiter unter Erinnerungsverlust litt, hegte sie gewisse Erwartungen. Sie sah tausend Dinge, von denen sie zu wissen mein
te, wie sie aussehen sollten. Selten deckte sich ihre Erwartung jedoch mit der Realität. Das ängstigte und verwirrte sie immer stärker. Der Gedanke an die Behörden verbot sich von selbst. Sie ahnte, worauf es hinauslaufen würde, wenn sie sich der Polizei anvertrau te. Eine erniedrigende, psychiatrische Untersuchung wäre das min deste, was ihr drohte, wenn sie ihr Erlebnis auf dem Friedhof schil derte. Sie wollte aber den Rest ihres Lebens in keiner geschlossenen Anstalt verbringen, auch wenn ein boshaftes Gefühl ihr suggerierte, daß sie genau dort hingehörte! Je weiter sie sich vom Friedhof entfernte und je mehr Zeit ver strich, desto zweifelhafter wurde ihr, was sie gerade erlebt hatte. Um nicht völlig die Bindung zur Wirklichkeit zu verlieren, war sie versucht, an eine Halluzination zu glauben. Ein Mann, der sie gebissen hatte und dann im Licht der aufgehen den Sonne zu Staub zerfallen war …? Wie in einer fremden Haut eingesperrt, irrte sie durch die Straßen eines Viertels, das viktorianisches Flair ausströmte. Gußeiserne De kors bestimmten den Baustil. Jeder kleine Vorgarten besaß ein Schutzgitter, dessen Vertikalstreben wie in den Boden gerammte Lanzen drohten. Die Gärten waren gepflegt, beinahe steril in ihrer Ordnung. Unkräuter hatten hier, wo alles einem pedantisch genau en Plan zu entsprechen schien, keinen Platz. Die Sonne gewann rasch an Kraft. Die Kopfschmerzen auch. Instinktiv huschte die Frau von Schatten zu Schatten. Die Kälte, die von ihrem nassen Kleid ausging, spürte sie dabei kaum noch. Überall auf der Straße glitzerten noch kleine Wasserpfützen. Dort, wo der nächtliche Regen in Rinnsteinen zur Kanalisation floß, wich die Frau aus, weil das fließende Wasser ihr ähnliches Unbehagen be reitete wie die Kreuze auf dem Friedhof.
Eine Katze, die aus einem der Ziergärten gesprungen kam, blieb sekundenlang mit gesträubtem Fell vor ihr stehen. Dann ver schwand sie kreischend hinter Sträuchern. Ich muß ein phantastisches Bild abgeben … Das war Galgenhumor. Verzweiflung. »Mein Gott …!« Die zitternde Stimme kam aus einer Seitengasse. Sie gehörte einer älteren Frau, die ihre kaum erwachten Blumen im Vorgarten mit ei ner Zinkgießkanne traktierte, obwohl es doch eben erst geregnet hatte. Die starken Gläser der Brille vergrößerten ihre Augen so stark, daß sie dahinter mitleiderregend eingesperrt wirkten. »Sie bluten ja!« Sie ließ die Gießkanne fallen und eilte durch ein quietschendes Gartentürchen herbei. »Ein Unfall …?« Ich … weiß es nicht! Wer bin ich? Die junge Frau war kaum in der Lage zu antworten. Sie sah die Alte an. Obwohl sie nicht daran zweifelte, daß diese es gut mit ihr meinte, wich sie vor ihr zurück. Ihre Hand tastete zum Hals. Sie hat te nicht mehr daran gedacht, daß sie verletzt war, und als sie über ihre Haut strich, erkannte sie, daß der Blutstrom aufgehört hatte. Es war nur noch altes Blut, das daran klebte. Das Gewebe um die Wun de fühlte sich seltsam taub an und war erstaunlicherweise bereits vernarbt. Diese Entdeckung trug mehr zu ihrer weiteren Verwirrung bei, als sie darüber hinweghalf. Sie wünschte sich, der Frau nie begegnet zu sein. »Kein Unfall. Mir geht es gut …« »Aber Kindchen, Sie …« »Mir geht es gut, danke! Es ist alles in Ordnung!« Ihr Gegenüber versteifte. Ein verklärter Ausdruck legte sich auf
das faltige Gesicht der besorgten Lady. Sie hatte Ähnlichkeit mit Frauen, die ein entbehrungsreiches Leben in dünner Hochgebirgs luft führten und in deren Züge sich ihr ganzes Leben niederschrieb. Jede Furche eine Erfahrung. » … geht es gut …«, echote sie jetzt. Ihre Augen wirkten wie dunkle Tümpel, in die jemand versehentlich Steine geworfen hatte.« … alles in Ordnung …« Als die junge Frau die Seitengasse hinter sich ließ und noch einmal zurückblickte, stand die Alte immer noch an derselben Stelle. Ihr Blick war ins Nirgendwo gerichtet. Die Frau im nassen Kleid setzte ihren Weg fort. Erst viel später kam ihr in den Sinn, daß sie eine gute Gelegenheit verpaßt hatte, wenigstens in Erfahrung zu bringen, wo sie sich befand. Vielleicht waren die Kopfschmerzen daran schuld, daß sie immer mehr Mühe hatte, klare Gedanken zu fassen. Die Sonne kam ihr fremd und feindselig vor. Völlig anders als die Jahre zuvor … Wieder schnappte sie nach dem Zipfel, der sich von ihrem frühe ren Leben zeigte, aber wieder kam sie zu spät. Dann sah sie das Taxi. Es rollte aus einer der Nebenstraßen des Viertels. Vermutlich hatte es die »Überlebenden« einer feuchtfröhli chen Party nach Hause chauffiert. Sie stoppte es, als es schon fast an ihr vorbei war. Der Wagen hielt, aber das Bremsmanöver kam zögernd. Vermut lich lag es an ihrer Kleidung. Aber sie hätte selbst in einem Kartof felsack noch attraktiv ausgesehen, und vielleicht war es das, was den Fahrer bewog, doch zu halten. Sie öffnete die Beifahrertür und beugte sich hinab. Der Fahrer sah gut aus. Ein junger Kerl, dessen sonniges Gemüt an diesem Morgen noch nicht recht zum Ausbruch gekommen war. Kopfschüttelnd verweigerte er ihr den Zustieg und deutete ziemlich
bestimmt mit dem Daumen nach hinten. Sie begriff. Das Polster im Fond war auf einer Seite naß und roch nach Erbro chenem. Sie setzte sich daneben. »Nicht noch eine von der Sorte!« seufzte der Fahrer. »Ich habe ge rade eine sogenannte feine Lady abgeladen, die voll wie ‘ne Strand haubitze war. Hab’ keine Lust, schon wieder eine Generalreinigung hinzulegen …!« Sie schloß kurz die Augen. Die Worte des Mannes drangen ihr kaum ins Bewußtsein. Sie erinnerte sich an das Geld und den Zettel in ihrer Faust und reichte beides nach vorn, wo sie einfach die Hand öffnete und es Scheine regnen ließ. Der hellblonde Sportstyp starrte erst sie und dann das Geld an. »Ich mache keine Fernfahrten, Lady. Nur der Stadtbereich …« »Paddington Street«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen. Seine Blicke spürte sie trotzdem. Sie kribbelten wie Ameisen auf ihrer Haut. »Paddington Street?« fragte er gereizt. »Das ist gleich um die Ecke … Wollen Sie mich verschaukeln, Miss? Offenbar habe ich ein be sonderes Händchen für Freaks. Ich warne Sie.« »Dreihundertdreiunddreißig«, unterbrach sie ihn. »Bitte!« Ob es an diesem Zauberwort lag, daß er anfuhr, wußte sie nicht. Die noch offene Tür wurde vom Schwung des Starts zugeschlagen. Die Frau öffnete die Augen. Die Kopfschmerzen hatten etwas nachgelassen. Im Rückspiegel sah sie die geradeaus gerichteten Au gen des Mannes. Blaue, trotz einer gewissen Starre lebendige Augen …
Ihr Blick glitt weiter. Sein sehniger Körper war durchtrainiert. Man sah, daß er mehr für sich tat, als den ganzen Tag anderen Leuten Bewegung zu ersparen und dafür Geld einzustreichen. Er trug ein helles Polohemd über knielangen Shorts und offene Sandalen. Er war nicht sehr braun, und das gefiel ihr. Ein bohrendes, nicht eindeutig zu bestimmendes Verlangen erfüll te sie plötzlich. Ihr Herz schlug schneller. »Wie heißt du?« fragte sie spröde, weil sie begriff, wonach ihr ge lüstete. Sein Körper sah vielversprechend aus. Ausdauernd. Die bisherige Verwirrung fiel von ihr ab und wich einer ganz eige nen Art von Spannung. »Nick«, sagte er. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie war immer noch nicht ganz frei in Gedanken, aber das Erlebte belastete sie nicht länger. Ein an deres, stärkeres Gefühl gewann die Oberhand. Gleichzeitig begriff sie, daß Nick sie an Harold erinnerte. Harold? »Wo sind wir hier, Nick?« Sie ließ die Zügel etwas schleifen, lockerte den Ton, und mußte prompt hinnehmen, daß er rief: »He, wenn du unter Drogen stehst, ist die Fahrt sofort zu Ende, Lady! Ich habe nicht die geringste Lust.« »Wo, Nick?« »Sydney.« »Sydney?« »Australien.« Sie wußte, wo Sydney lag. Sie war nur völlig überrascht, obwohl
die Dollarscheine bereits deutliche Hinweise geliefert hatten. Was es ihr erschwerte, sich mit dem Gedanken anzufreunden, war auch, daß der Stadtname weder echte Vertrautheit weckte noch Erinne rungen freisetzte. »Halt an!« befahl sie. Er stoppte. »Wie weit ist es noch?« fragte sie. »Das ist die Paddington Street«, sagte er, was ihren Blick veranlaß te, die strenge Häuserzeile entlangzustreifen. Auch hier war der ur englische Einfluß nicht zu übersehen. »Eine halbe Meile bis zur ver langten Hausnummer …« »Was ist das für ein Park?« fragte sie und deutete nach links. Der Fahrer nannte einen Namen, den sie nie gehört zu haben glaubte und auch gleich wieder vergaß. »Fahr dort hinein!« Er stellte keine Fragen. Er lenkte das Taxi auf einen Weg, der für Autos gesperrt und nicht motorisierten Spaziergängern vorbehalten war. Kurz darauf stoppte er unter den tiefhängenden Ästen eines Flaschenbaumes. Sekundenlang hing Stille im Innern des Wagens. Dann stieg die Frau entschlossen aus und streifte das nasse, in seinen Nähten knir schende Kleid ab. Ließ es achtlos ins Gras sinken. Darunter war sie nackt. Ihre Figur war von berückender Schönheit. Fast morbide Anzie hungskraft ging davon aus. Etwas ganz und gar Tabuloses … Die schlummernde Kraft unter der makellosen, zugleich vornehm blassen Haut war zu ahnen, dennoch wirkte dieser Körper in erster Linie fraulich. Um das, was sie damit vorhatte, genießen zu können, lockerte sie
erneut etwas die Zügel. Nick wachte wie aus einem Traum auf. Gehetzt blickte er sich um. Er schien nicht zu begreifen, wie er an diesen Ort gekommen war. Doch dann fingen seine Blicke die Frau ein, und sein Widerstand er lahmte. Ein Stöhnen löste sich aus seiner Brust. Kopfschütteln war das letzte halbherzige Bemühen, der Versuchung zu widerstehen. Keinesfalls abwehrend streckte er die Arme aus, als sie ihm entge genkam. Die Berührung ihrer Lippen lockte einen weiteren, unarti kulierten Laut aus seiner Kehle. Ihre Zunge drängte spielerisch. Daß ihre Haut kühl war, kam ihm gelegen. Seine Hände gingen auf Wan derschaft und erkundeten jede erreichbare Stelle. Strichen über die steil aufgerichteten Brustwarzen. Weckten Lust, die so neu war, so aufregend, daß sie sich kaum noch kontrollieren konnte. »Geht’s auch bequemer?« fragte sie heiser. Nach oben fehlte der Bewegungsraum, den sie sich wünschte. Den sie brauchte. Er reagierte mechanisch. Der Sitz gab nach und klappte zurück. Sie glitt sofort in die richtige Position und setzte sich rittlings auf ihn. Während er ihr fasziniert zusah und dem sanften Wippen ihrer Brüste folgte, begann sie, ihn zu entkleiden. Sie rutschte und wand sich wie eine Schlange, bedeckte ihn mit Küssen, streichelte, knetete und massierte Brust, Bauch und Lenden des Mannes und trieb sie beide allmählich in einen Rausch, in dem sie alles um sich herum vergaßen. Als er endlich in sie eindrang, wurde ihr Verlangen nicht gestillt, sondern trieb einem weiteren Höhepunkt entgegen. Sie konnte sich nicht länger beherrschen. Sie schrie. Ihre Finger spreizten sich und hinterließen tiefe Spuren in seinem Rücken. Wäre er nicht selbst im Taumel gefangen gewesen, hätte er
die damit verbundenen Schmerzen spüren müssen. So hielt er aus. Sein verschwitztes Haar klebte in der Stirn. Er stöhnte laut. Sie lachte. Kehlige Laute entwichen ihrem Mund. Sie ließ sich gehen. Vollkommen. Sie dachte nicht nach. Sie lebte. Was geschah, war ihr vertraut und doch völlig neu. Noch nie, des sen war sie sich sicher, hatte sie das Spiel der Spiele so intensiv ge nossen. Sie ritt auf einer Welle, die über einen Ozean einem unbestimmten Ziel entgegenraste. Immer schneller. Als Nicks Körper im Orgasmus erzitterte, fiel auch die letzte Schranke in ihr. Als er am wehrlosesten war, wurden ihre Küsse zu einem einzigen saugenden Biß, der ihr mehr Befriedigung verschaff te, als sie es je für möglich gehalten hätte. Sie schmeckte sein Blut und schauderte vor sich selbst. Ernüchtert zuckte sie zurück. Die Magie verpuffte. Das Entsetzen auf seinen Zügen schien ihr wie ein Spiegel ihrer ei genen Empfindungen. »Ich …«, setzte sie an und glitt von ihm herab. Er rollte reglos beiseite. Als sie ihn untersuchte, merkte sie, daß er lediglich ohnmächtig war. Sein Puls ging kräftig. Sehnsüchtig roch sie seinen speziellen Duft. Die Male an seinem Hals waren kaum sichtbar, aber sie selbst spürte noch deutlich den auserlesenen Ge schmack auf ihrer Zunge. Er würde überleben, davon war sie überzeugt. Auf rätselhafte Weise waren die Einstiche bereits blockiert. Kein Tropfen drang mehr aus der klopfenden Ader unter der Haut. Als könnte sie es dadurch, daß sie den Ort ihrer Tat verließ, unge
schehen machen, floh sie schockiert aus dem Taxi. Schockiert über das, was sie getan hatte und was ihr zeigte, daß sie kaum besser war als die Kreatur, die ihr auf dem Friedhof nach dem Leben getrachtet hatte. Mechanisch schlüpfte sie in das klamme Kleid zurück. Visionen, von Blut, Gefahr und einem unheimlichen alten Haus begleiteten ihre Schritte durch den immer noch schläfrigen Stadtteil, in dem sich kein Mensch zeigte, als ahnten die Bewohner der Häu ser, daß sich etwas durch ihre Straße trieb, dem zu begegnen nicht ratsam war … Die Numerierungen der Häuser glitten wie in Trance an ihr vor bei. Als sie die richtige Adresse erreichte, brauchte sie die 333 nicht zu suchen. Sie wußte, daß sie heimgekommen war! Lilith Eden, 333, Paddington Street …
* Das Grundstück wurde von einer hohen, moosbewachsenen Mauer umgeben. Riesige Bäume schufen immerwährenden Schatten und verhinderten zugleich den Blick auf alles, was sich dahinter befand. Lilith stemmte die Hände gegen ein schmiedeeisernes, verschlos senes Tor. Durch die Stäbe sah sie einen mit Steinen gepflasterten Weg, der sich im Pflanzendickicht verlor. Sie hätte sich das Kleid, das ihr nicht gehörte, am liebsten vom Leib gerissen. Sie haßte es, weil es sie an ihre unbeherrschte, unent schuldbare Tat erinnerte. Woher sie das Wissen nahm, daß ihr das Kleid gar nicht gehörte, reihte sich nahtlos in die anderen Rätsel ein. Sie rüttelte an dem eisernen Tor. Obwohl sie keine Ahnung hatte,
was dahinter wartete, spürte sie, daß sie angekommen war. Etwas regte sich in ihrem Gehirn. Sie atmete schneller. Dann schien etwas aus ihren Händen auf das Tor überzufließen, worauf es unversehens nachgab. Lilith wurde regelrecht in den ver wilderten Garten gezerrt! Stolpernd kämpfte sie um die Balance. Hinter ihr fiel das Tor krachend ins Schloß zurück. Sie unterdrückte den Reflex, das Tor erneut zu prüfen. Sie war dort, wohin es sie aus tiefstem Herzen gezogen hatte. Fast mecha nisch setzten sich ihre Beine in Bewegung. Sie folgte dem Weg, der nicht wirklich vor dem wuchernden Grün aufhörte, sondern sich wie ein Tunnel, von Strauchwerk überdacht, durch Äste und Zwei ge bohrte, gerade hoch genug, um aufrecht gehen zu können. Der üppige Pflanzenwuchs ließ nach einer Weile nur noch wohltuend gedämpftes Licht durch. Lilith nahm sich die Zeit, sich die Gewächse näher anzusehen. Da bei erschrak sie, als sie die allmähliche Veränderung bemerkte. Hat ten die Pflanzen in Tornähe noch kraftstrotzend und gesund ge wirkt, so waren nun mehr und mehr Verkrüppelungen zu beobach ten. Verätzte Blätter und Zweige, die zunächst an Schädlings- oder Pilzbefall denken ließen, wiesen bei genauerer Betrachtung auf ver seuchtes Erdreich hin. Auf manchen Blättern haftete noch Nässe. Die Tropfen schillerten jedoch wie giftige Quecksilberkügelchen. Der Pfad wurde glitschiger. Lilith wußte, daß sie hier nicht zum ersten Mal lief. Sie versuchte, die negativen Gefühle, die sie beschlichen, im Zaum zu halten, aber kurz bevor das Gebäude in Sicht kam, wurde es noch schlimmer. Sie passierte eine Region, in der die Bäume und Sträucher regel recht verdorrt waren. Blattlose Skelette ragten mahnend zum Him mel. Selbst das lichte Gras wirkte gelblich-grau, als wäre ihm sein
Chlorophyll entzogen worden. Als Mauern vor Lilith aufwuchsen, blieb sie betroffen stehen. Sie erkannte das Haus ihrer Vision eindeutig wieder. Ein Haus wie kein anderes: eigentlich ein massiver Klotz, wie von einem Riesen willkürlich in die Landschaft gestellt. Seine Fassade war dunkelbraun. Die Putzschicht erinnerte an eine unter heißer Flamme geschmolzene Glaslegierung. Das mit bräunlichen Schin deln gedeckte Dach war etwas vorgezogen. Die zahlreichen Fenster darunter starrten wie leere Augenhöhlen auf sie hinab. Lilith suchte nach einem Portal, das bald darauf vor ihr auftauchte. Die dazugehörige Treppe wurde zu beiden Seiten von steinernen Fabelwesen bewacht. Die Darstellung der Zwitterwesen aus wölfi schen Schädeln, menschlichen Gliedern und geschuppten Leibern brachte eine besondere Saite in Lilith zum Klingen. Dennoch blieb sie nicht stehen, um sich die Skulpturen näher zu betrachten. Über wenige Stufen erreichte sie das breite, keineswegs einladen de Portal. Dort machte sie eine verblüffende Entdeckung – so außergewöhn lich, daß sie wiederum geneigt war, an ihrem Verstand zu zweifeln. Die Tür war nicht echt. Bei genauerem Hinsehen erkannte man, daß es nicht mehr als die Andeutung einer Tür war – eine bloße At trappe! Verwirrt tasteten ihre Finger über das Material, das sich auf selt sam beängstigende Weise lebendig anfühlte. Grund ihrer Verwirrung war, daß sie zu wissen glaubte, schon ein mal durch diese Tür, die gar nicht existierte, gegangen zu sein … Sie blickte empor zum nächstgelegenen Fenster. War es auch eine bloße … Attrappe?
Lilith hämmerte mit den Fäusten gegen das Hindernis; kein noch so dumpfer Ton erklang. Die Mauer mit der plastisch angedeuteten Tür sog jedes Geräusch förmlich in sich ein. Lilith hielt inne. Aus dem Unterbewußtsein stiegen Fragmente von Erinnerungen auf und sagten, daß es noch eine andere Tür geben mußte. Sie umrundete das Haus. Auf der Rückseite erlebte sie die nächste herbe Enttäuschung. Auch die dortige Tür war nur vorgegaukelt. Lug und Trug. Frustriert lehnte sich Lilith dagegen. Ihre Hände glitten ziellos über die erhabenen Strukturen des Steins. Was sollte ein Haus ohne Türen? Ein Haus, dessen Zugänge, einschließlich der Fenster, Attrappen waren? Wäre nicht dieses unveränderte Gefühl gewesen, das Innere schon einmal betreten zu haben, hätte sie glauben können, das unmögliche Gebäude sei aus einem Guß errichtet worden. Ein klobiges Ding, ohne Sinn und Zweck … Enttäuscht wollte sie sich abwenden und weiter nach einem Zu gang suchen, den es dem Anschein nach nicht gab. Ob ihre Hände dabei eine bestimmte Stelle berührt hatten, wußte sie im nachhinein nicht mehr. Jedenfalls gab die Attrappe unter ihr nach, wie zuvor das verschlossene Tor in der Gartenmauer. Dennoch war es etwas völlig anderes, durch eine Tür zu gehen, die gar nicht da war. Lilith taumelte in ein dunkles Loch, das sie förmlich einatmete. Dann stand sie auf der anderen Seite, wo die Tür wiederum nur auf gemalt wirkte. Die Atmosphäre hier war fast sakral, wie in einer Kirche – und
doch völlig anders. Kerzen brannten. Sie standen auf Jugendstilmö beln, als würden sie seit tausend Jahren brennen, ohne dabei von ih rer Substanz zu verlieren. Der Eingangsbereich erweiterte sich zu ei ner kleinen Halle, die bestürzend vertraut wirkte wie vieles andere, ohne daß Lilith es zu fassen vermochte. Gobelins schmückten die Wände. Dicke, flauschige Teppiche dämpften den Schritt. Viele Türbögen führten in viele Richtungen. Ein breiter Treppenaufgang verband das Erdgeschoß mit dem dar überliegenden Stockwerk. Mehr als von allem anderen fühlte Lilith sich aber von den Bildern an den Wänden angezogen. Merkwürdige, düstere, schwarzweiße Bilder, die den Betrachter in sich hineinzuziehen schienen und fast dreidimensional wirkten … Nur zögernd betrat Lilith die Halle. Auch hier brannten Kerzen in tiefhängenden Lüstern oder auf kunstvoll geschmiedeten Ständern. Aber sie selbst war die einzige Quelle, die Geräusche verursachte. Ihr Atem, ihre Schritte – sogar ihr Herzschlag schien Widerhall in den wuchtigen Wänden, dem Boden und der hohen Decke zu fin den. Einmal, als sie einhielt, war ihr, als hörte sie ein Herz in den Wän den schlagen. Um sich von dem Druck auf ihrer Brust zu befreien, rief sie: »Hal lo! Ist da jemand?« Ihre Stimme schwankte, zitterte. Vielleicht, weil sie wußte, daß ihr niemand antworten würde. Niemand war da … Unsicher setzte sie ihren Weg fort. Ihre Sinne gaukelten ihr Bewe gungen vor, wo keine waren. Sie gelangte in ein großes Zimmer, das vollständig eingerichtet war und, obwohl nirgends auch nur ein Staubkörnchen lag, seit ewig langer Zeit nicht mehr betreten worden zu sein schien. Hohe Regale waren mit alten Büchern und Folianten
gefüllt. Dazwischen hingen die seltsamen Bilder, die nach Lilith zu rufen schienen. Die sie anzogen und abstießen zugleich. Sie kämpfte dagegen an, ohne zu wissen, warum. Bis ihr Blick ein ganz besonderes Bild unter der Sammlung streifte. Sofort bündelte sich all ihre Aufmerksamkeit auf diese Darstellung, die so farblos wirkte wie alle anderen, aber eine besondere Person zeigte: eine aus drucksvolle Frau, die zwiespältige Gefühle in Lilith freisetzte. Sie hatte glattes, schwarzes Haar, das bis zu den Schultern fiel. Der Blick der Augen kam so lebendig herüber, als könnte sie der Be trachterin jeden Moment zuzwinkern. Ein starkes Gefühl sagte Lilith, daß sie dieser Frau ähnlich sah, ohne diese Frau zu sein. Sie vertiefte sich in das umrahmte Bild und verlor dabei jedes Gefühl für ihre Umgebung, die ihr jetzt in Teilen wirklicher erschien als das, was sie draußen gesehen und erlebt hatte, mit Ausnahme vielleicht von … Sie drängte die sehr lebhafte Erinnerung an Nick zurück. An das, was er in ihr und was sie an ihm angerichtet hatte … Sie kehrte in die Halle zurück, diesmal auf gezielter Suche nach ei nem Spiegel, in dem sie sich betrachten konnte. Als sie nicht fündig wurde, wandte sie sich der nach oben führenden Treppe zu. Die verschwommenen Visionen von Gefahr, von Blut und von Jä gern, die ihr auflauerten, kehrten schon nach wenigen Stufen so hef tig zurück, daß sie sich am Geländer festhalten mußte. Das Kleid, das in der kurzen Zeit hier drinnen staubtrocken geworden war, be gann zu jucken und zu kratzen. Aber Lilith beherrschte sich und be hielt es an. Sie atmete tief durch und setzte ihren Weg fort. Jede Stu fe eine Vision, so dunkel und unverständlich, daß Lilith nun ernst haft um ihren Verstand zu fürchten begann. Am Ende der Treppe wichen die schattenhaften Erinnerungen. Li lith blickte angstvoll nach unten zurück und zweifelte, daß sie die
sen Weg noch einmal gehen konnte, nachdem sie wußte, was er in ihr auslöste. Ein neuer, von Kerzen erhellter Korridor öffnete sich vor ihr. Sie betrat den erstbesten Raum zu ihrer Rechten. Das Zimmer gehörte, wie sich an vielen Details erkennen ließ, ei ner jungen Frau. Zwischen Fensterattrappen hing ein einzelnes, schwarzweißes Bild. Es zeigte zwei Kinder, beides Mädchen, von denen das eine trotz seiner Jugend erstaunliche Ähnlichkeit mit der Frau in der Bibliothek hatte. Unmittelbar daneben hing ein Spiegel. Der erste Spiegel, den Lilith in diesem Haus sah. Sie trat darauf zu. Erregung griff nach ihr, als sie sich vor das kunstvoll geschliffene Glas im protzigen Holzrah men stellte. Sie blickte hinein und sah zunächst nur etwas, das an eine bewegte Wasseroberfläche erinnerte. Sehr zögernd bildete sich ein ver schwommenes Gesicht darin ab, das seine Unschärfe nicht verlor. Als ihr Blick unzufrieden zu dem Kinderbild zurückschweifte und sich dem anderen Mädchen darauf zuwandte, wurde das Verlangen übermächtig, die Hand auszustrecken und das klare, kindliche Ge sicht zu berühren. Sie bezähmte sich. Dennoch geschah etwas, worauf sie die ganze Zeit sehnlich gewartet hatte: Ein Fragment ihrer Erinnerung kehrte zurück! Mit solcher Macht, daß sie den festen Halt unter den Füßen zu ver lieren schien, zurücktaumelte, den Spiegel zu fassen bekam und ihn ungeschickt von der Wand riß. Sie sank zu Boden, in einem Meer von Scherben, und blieb dabei wie durch ein Wunder unverletzt. Jede der verstreuten Scherben schien eine verloren geglaubte Erin nerung zu bergen. Sie starrte in die erste, und …
* Erinnerung Sie war zwölf Jahre alt, und wüstenhafte Hitze lag wie eine Glocke über der Stadt. Keine Wolke trübte den Himmel. Kein Lüftchen wehte. Die Sonne hing bewegungslos im Zenit. Die Schule war zu Ende. Sie lagen am Pool im Garten vor dem Elternhaus ihrer gleich altrigen Freundin Marsha. »Was unternehmen wir heute noch?« fragte Lilith. »Kino?« fragte Marsha. Kein Schweißtropfen glänzte auf ihrem freien Oberkörper oder einer anderen Stelle ihrer wohltuend blei chen Haut. »Oder einfach weiter faulenzen?« Sie lagen »oben ohne« auf ausgebreiteten Badetüchern im Gras. Li lith maß kritisch die Fortschritte, die ihr Busen in der letzten Zeit ge macht hatte. Sie war früh entwickelt und konnte zufrieden sein. Sie hatte bemerkt, daß Marsha, bei der sich noch gar nichts tat, manch mal neidisch darauf schielte. »Irgend etwas müssen wir noch unternehmen!« sagte Lilith. Mars ha war schon immer etwas träge gewesen. Sie waren zusammen aufgewachsen und zusammen eingeschult worden. Lilith liebte die Schule – nur mit manchen Lehrern hatte sie Proble me. Marsha hingegen verehrte manchen Lehrer, haßte aber die Schule … »Gehen wir zum Strand«, schlug Marsha vor. Begeistert klang es nicht. Ihr hätte auch der Pool gereicht. Lilith wollte etwas erwidern, hielt aber plötzlich inne, weil ein ganz eigenartiges Gefühl in ihr aufstieg.
Sie blickte sich um. Ihr Blick suchte den Fehler, den sie gerade ent deckt zu haben glaubte. Etwas stimmte nicht. Es war so still …! Außer ihrer eigenen und der Stimme ihrer Freundin schien keine andere Geräuschquelle zu existieren. Die Sonne brannte mit unbarmherziger Wucht auf sie nieder. Dorthin, wo sie seit Stunden saßen, ohne daß ihre blasse Haut auch nur eine Rötung zeigte … »Was ist?« fragte Marsha. »Spürst du es nicht auch?« fragte Lilith. »Was?« Sie versuchte, ihre Wahrnehmungen in Worte zu kleiden. Marsha lachte sie aus, sprang auf, nahm Anlauf und tauchte mit einem Kopfsprung ins Schwimmbecken. Lilith blieb sekundenlang beleidigt sitzen. Dann merkte sie, daß Marsha nicht wieder auftauchte. Eigentlich war Marsha wasserscheu. Daß sie in den Pool gesprun gen war, war schon ungewöhnlich. Auch Lilith betrachtete Wasser lieber, als daß sie darin badete oder schwamm. Sie hatte schon immer eine unerklärliche Scheu davor ge habt. Aber noch nie hatte es sie so große Überwindung gekostet wie heute, an den Rand des Beckens zu treten. Die Furcht, Marsha könn te im Übermut etwas zugestoßen sein, schnürte ihr die Kehle zu. Die Oberfläche des Pools war glatt wie ein Spiegel. Von Marsha war keine Spur zu sehen. Liliths Herz hämmerte. Sie beugte sich suchend vor. Das Becken schien tiefer geworden zu sein, als sie es in Erinnerung hatte, sehr viel tiefer. Sie sah keinen
Grund, statt dessen … Das Antlitz der fremden, gleichzeitig seltsam vertrauten Frau, das sich plötzlich auf der Oberfläche spiegelte, steigerte ihre Angst zu blanker Hysterie. »Marsha …!« Marsha blieb verschwunden. Obwohl sich die Oberfläche des Pools in plötzlich aufkommendem Wind kräuselte, schälten sich immer mehr Konturen der fremden Frau heraus. Sie winkte Lilith. Das Wetter schlug um. Lilith hatte keinen Blick dafür; gebannt starrte sie auf die Frau, die ihr zuwinkte, als wollte sie sie auffor dern, ins Wasser zu springen. Dunkle Wolken jagten wie im Zeitraffer über den Himmel, der sich ebenfalls im Wasser spiegelte. Wind wurde zu Sturm, und Li lith wurde von einer heftigen Böe zu Boden gedrückt. Dicht vor ihr tauchte Marsha prustend aus den Fluten. Sie schrie verzweifelt um Hilfe und versank sofort wieder, als würde sie von etwas nach unten gezogen. Lilith handelte, ohne zu überlegen. Die fremde Frau war vergessen. Nur Marsha zählte, als sie hinter der Freundin hersprang und in das Wasser tauchte, das sich anders als sonst anfühlte. Sie riß ihre Augen auf und suchte nach Marshas Verbleib. Die Freundin blieb unauffindbar. Dafür schien der Schwung, mit dem Lilith gehechtet war, kraftvol ler als beabsichtigt. Tiefer und tiefer wurde sie getrieben. Das Was ser bot kaum Widerstand, so daß es eigentlich kein Tauchen war, sondern ein Sturz.
Lilith wurde klar, daß sie dagegenhalten mußte, um wieder recht zeitig nach oben zurückkehren und Luft schnappen zu können. Ihre energischen Schwimmbewegungen bewirkten jedoch kein Abbremsen. Sie stürzte weiter. Von Marsha war immer noch keine Spur. Die Luft wurde knapper. Die Tiefe nahm kein Ende. Kein Boden kam in Sicht. Es ist unmöglich! dachte sie. Der Pool kann so tief nicht sein … War der Pool überhaupt noch ein Pool? Lilith litt an Erstickungserscheinungen, aber selbst diese schienen ihr seltsam unwirklich. Etwas grotesk Absurdes tauchte unter ihr auf. Ein uraltes Haus, dessen Dach sprunghaft näherkam! Den Mund zu einem lautlosen Schrei geöffnet, brach sie durch die Ziegel des Daches. Der Aufprall raubte ihr das Bewußtsein, aber sie nahm das Gefühl mit, weiter zu stürzen, durch eine Decke, eine weitere Etage, immer tiefer, bis sie irgendwo zerschmettert wurde …
* Zwischen Scherben kam sie unversehrt zu sich, und wieder hing ihr Blick an dem Wandbild, das sie mit Marsha zeigte. Sie kannte jetzt wieder ihren Namen – das andere Mädchen war sie selbst. Das Bild vor ihren Augen hatte sich in einem entscheidenden De tail verändert: Es war nicht mehr schwarzweiß, sondern farbig! Lilith schwindelte. Mühsam kam sie auf die Beine. Wie durch ein Wunder hatte sie keine einzige Schnittverletzung davongetragen,
und auch jetzt, als sie barfuß die Flucht aus diesem Zimmer antrat, passierte ihr nichts. Angst trieb sie aus dem Raum. Teppiche dämpften ihre Schritte wie moosiges Polster. Lange empfand sie namenloses Entsetzen, weil selbst dieses ersehnte, erste Aufblitzen einer vagen Erinnerung nur bitteren Nachgeschmack hinterließ. Ihr Leben, jetzt und vorher, schien ein einziger Alptraum! Als sie sich etwas beruhigt hatte, fand sie sich in einem anderen Raum wieder. Eine Art Speisezimmer. Die Anrichte und der Tisch mit vier Stühlen in der Mitte boten keine andere Deutung an. Hier, wie überall, brannten Kerzen, die nicht kleiner wurden. De ren Licht immer gleich blieb. Hier, wie überall, hingen Bilder an den Wänden. Unglaublich viele Bilder. Schwarzweiß und düster. Eine Idee, die Lilith bei dem Anblick beschlich, wollte nicht mehr weichen, bis Lilith ihr nachgab. Sie trat vor und berührte ein Bild, das in diesem Raum aufgenommen worden sein mußte. Es zeigte eine Familie, die beim gemeinsamen Abendbrot saß. Lilith streckte die Hand aus. Ein Gefühl, als wollte sie wider alle Vernunft eine glühende Herdplatte berühren, durchströmte sie. Das Bild war kühl, und es veränderte sich nicht, wie von Lilith ins geheim erwartet. Offenbar hatte nicht ihr Hautkontakt die »Einfär bung« bei dem anderen Bild bewirkt. Etwas anderes mußte dahin terstecken. Lilith ging näher an die fotografische Wiedergabe dieses Raumes heran und faßte den Teenager, der mit seinen Eltern am Eßtisch saß, schärfer ins Auge. Etwas geschah. Ihr wurde schwindelig. Ihr Blick verschwamm, be
gann sich zu drehen. Als würde er weiter in das Bild hineingezogen, obwohl sie doch stehengeblieben war. Es war ein bißchen wie Sterben: Jemand oder etwas knipste erneut die Gegenwart aus, und die Vergangenheit kroch aus den Schatten ihres Geistes hervor und überwältigte sie mit brachialer Wucht …
* Erinnerung Sie war siebzehn Jahre alt und bis an die Grenze der Ohnmacht ver liebt. Sie hätte die Welt umarmen können. Der oft graue Alltag hatte neue Farbtupfer erhalten, und die Schule war zum notwendigen Übel verkommen, obwohl Lilith kurz davor stand, aufs College zu wechseln. Mit Marsha. Aber was war eine beste Freundin gegen einen Freund …? Gegen Küsse im Mondschein, Heavy Petting auf Parkbänken, im Geräte raum der Turnhalle, auf dem Rücksitz eines geliehenen Autos …? Lilith stocherte träumend in ihrem Essen. Zum Abendbrot hatten sie sich am Tisch versammelt. Dad, Mum und sie. Das war Traditi on. Bald würde es überholte Tradition sein, denn Lilith träumte von ei ner eigenen Bude, und spätestens mit Besuch des College würden ihre Eltern nicht umhin kommen, ihre Unabhängigkeit zu finanzie ren … Sie stockte. Dachte so ein braves Mädchen? Ich bin nicht brav!
Oh, nein, ein paar Jungs auf ihrer Schule hätten dies gewiß bestäti gen können. Sie schmunzelte still in sich hinein. Joey hatte Augen gemacht, als sie ihm dorthin griff, wohin noch kein anderes Mädchen gelangt hatte … Ich will nicht brav sein! Ihre Eltern unterhielten sich über belangloses Zeug. Wie jeden Abend, wenn Dad nach einem langweiligen Bürotag nach Hause kam. Lilith blickte an ihrer erhobenen Gabel vorbei auf ihre Mutter und verlor die Fassung, als sie durch sie hindurch auf die gegenüberlie gende Wand blicken konnte! Lilith vergaß den mundgerechten Bissen auf der Gabel. Und als sie dasselbe Phänomen bei ihrem Vater bemerkte, war sie einem Schrei krampf nahe. Sie versuchte zu sprechen, aber ihre Stimme versagte. Wie Geister saßen ihre Eltern am Tisch. Spukhaft. Aber sie selbst schienen es nicht zu bemerken. Weiter plätscherte ihr Gespräch über den Hund des Nachbarn, die Diskrepanz zwischen der Wettervor hersage für heute und dem tatsächlichen Wetter, den Krieg … Welchen Krieg? Als das Essen anfing, wie ein aufgespießter Wurm auf den Zacken der Gabel zu zucken, ließ sie alles fallen. Es klirrte nicht einmal, als die Gabel auf den Porzellanteller traf. Ihre Eltern unterbrachen ihre Konversation nicht. Lilith faßte nach dem Arm ihres Vaters … und griff durch ihn hin durch! Ihre Mutter sagte scharf: »Macht das ein braves Mädchen?« Ihr Vater lächelte und machte eine beschwichtigende Geste. Als
wäre nichts Besonderes geschehen, holte er etwas aus der Tasche seines Jacketts. »Das hätte ich fast vergessen. Ich habe dir ja etwas mitgebracht …« Er stellte ein in rotes Wachspapier eingeschlagenes Kästchen vor sie hin, mitten in den Teller mit dem Essen. »Worauf wartest du? Willst du nicht auspacken?« Nein! wollte sie schreien. Aber sie nickte und zog die Umhüllung mit spitzen Fingern aus einander. Mum und Dad lächelten. In dem Kästchen war eine Schneekugel. Eine von der Sorte, die winzige Styroporflocken in einer klaren Flüssigkeit »schneien« ließ, wenn man sie ein paarmal umdrehte oder schüttelte. Lilith starrte hinein und spürte, wie ihr das Blut in den Adern ge rann. Das uralte Haus darin schien sie aufzusaugen. Es war ihr Eltern haus; ein perfektes Modell, was die Architektur anging, nur viel finsterer, zerfallener und von einer Ausstrahlung, die kaum zu ertra gen war. Lilith wollte von ihrem Stuhl aufspringen und fortrennen. Aber das Haus in der Kugel fesselte sie und zwang sie auf unerklär liche Weise, nach der Halbkugel zu greifen und sie aus dem Käst chen zu heben. Die Glasglocke hatte ein unheimliches Gewicht. Bleiern ruhte sie in Liliths Händen, die sich nichts sehnlicher wünschte, als das furchterregende Ding wieder fallen zu lassen. Es ging nicht. Das Gehäuse klebte regelrecht an ihren Fingern. Als hätten sich Li liths Poren in winzige Saugnäpfe verwandelt. Schwer wie das Leid der Welt ruhte das Gebilde in ihren Handflächen. Und das Unbegreifliche setzte sich fort.
Lilith spürte die Anziehung, die von dem uralten Gemäuer in der Kugel ausging. Die an ihr zu zerren begann, sie erst lockte, dann zwang, sich näher einzulassen auf den Inhalt der Kugel. Wie ein schwarzes Samenkorn keimte plötzlich der Wunsch in Liliths Be wußtsein, herauszufinden, was es mit diesem abstrusen Geschenk ihres Vaters auf sich hatte. Kaum hatte sich diese Absicht in ihren Gedanken artikuliert, wur de der Sog stärker – unwiderstehlich. Das feste Glas der Halbkugel verwandelte sich in Rauch, der Li liths Hände eintauchen und zugleich schrumpfen ließ. Nach den Händen folgten die Arme, Schultern, der Kopf … Liliths Blick stieß wie durch eine dichte Wolkendecke, und plötz lich war das Haus unter ihr nicht mehr winzig klein, sondern riesen groß! Sie schrie erst, als nur noch ihre Beine und Füße bei ihren Eltern am Abendbrottisch saßen und der Rest bereits in der Kugel steckte. Nur der Himmel über dem auf sie zustürzenden Haus hörte ihre Schreie. Die unsichtbare Kraft holte sich auch noch den Rest ihres Körpers, machte ihn winzig klein oder das uralte, düstere Haus un ter ihr unendlich groß … Lilith wurde fortgerissen. Immer schneller. In das Haus in der Ku gel. In das dortige Eßzimmer, in dem keine Eltern beim Abendbrot saßen. In dem nur sie war. Und ihre Angst. Die Phobie, daß sie nun eingesperrt sein könnte für alle Zeiten. Oder daß jemand dort, wo sie herkam, die »Schneekugel« in seine Hand nahm und kräftig schüttelte …
*
Als sie aus diesem neuen Alptraum erwachte, litt sie unter solchem Realitätsverlust, daß sie sich minutenlang kaum von der Stelle zu rühren wagte und sich fragte, ob sie denn tatsächlich aufgewacht war, oder ob der Traum weiterging. Das Eßzimmer sah genauso wie in der Kugel aus, und genauso, wie sie es betreten hatte. Schwarzweiß-Bilder an allen Wänden. Mo mentaufnahmen eines Lebens … Wessen Leben? Liliths …? Ich bin Lilith. Sie empfand plötzlich mehr panisches Entsetzen davor, daß es wahr sein könnte, als davor, nicht zu wissen, wer sie war. Ein Hauch von Ungewißheit wäre ihr lieber gewesen als diese grauen hafte Bestimmtheit, die aus ihrem Unterbewußtsein wisperte: Du bist Lilith! Du bist es! Ihr Blick fing das Bild ein, das ihre Aufmerksamkeit vor der Vision erregt hatte. Es hatte sich verändert, war zum Anachronismus inmitten der an sonsten monochromen Darstellungen geworden! Es mußte eine Verbindung bestehen zwischen dem Aufflackern ih rer Erinnerung und der anschließenden Farbigkeit der Bilder. Zwei mal war Lilith damit konfrontiert worden. Sie glaubte inzwischen zu wissen, daß sie Jahre in diesem Haus gelebt hatte, hier aufgewachsen war. Es war ihr Elternhaus … … oder etwas völlig Fremdes? Wenn sie reglos dastand und nur noch das Klopfen ihres Herzens und das Rauschen ihres Blutes zu hören dachte, mischten sich nach kurzer Zeit Töne dazwischen, die von keinem anderen Menschen stammen konnten. Es waren Geräusche, die das Haus erzeugte. Un
erklärliche, schaurige Laute, gerade noch am Rande der Hörschwel le. Wer bin ich, außer daß ich LILITH bin? Schon an der Fragestellung war zu erkennen, daß sie kurz davor stand, den Verstand zu verlieren. Vielleicht bin ich schon wahnsinnig. Vielleicht ist alles Illusion! Ich könnte aus einer Klapsmühle ausgebrochen sein. Mein Erlebnis auf dem Friedhof … nur eine Ausgeburt meines Schwachsinns … Zitternd ging sie durch den Raum und starrte auf die Bilder, die Ausschnitte aus ihrem Leben zu zeigen schienen. Aber im Gegen satz zu dem einen, das nun bunt und lebendig wirkte, rief keines dieser Bilder ein Echo in ihrer Seele hervor. Die anderen Bilder brachten nichts Verschüttetes ans Licht und wurden selbst nicht zu Leben erweckt …? War das die Erklärung? Lilith zitterte stärker. Reagierten die Schnappschüsse darauf, ob sie sich an eine Bege benheit ihres Lebens erinnerte? »Aktivierte« ihre Erinnerung die Bil der, die bis dahin ein Schattendasein fristeten? Dann wären es keine normalen Bilder gewesen, sondern … Was? Lilith hielt es nicht länger im Eßzimmer aus. Mit weichen Knien trat sie auf den Korridor hinaus und wankte ihn entlang. Sie fühlte sich trunken und ernüchtert zugleich. Sie wußte nur eines ganz sicher: Sie hatte Angst. Schreckliche Angst, überhaupt nicht zu existieren, sondern selbst nur der Traum von jemandem zu sein, dessen Existenz beendet war, wenn dieser Jemand die Augen aufschlug … Unversehens fand sie sich vor dem schmalen Leiteraufgang zum
Dachstuhl wieder. Die Klapptür in der Decke war geöffnet. Sie wur de von einem dünnen Holzstab gehalten, und dahinter wartete Zwielicht. War dort oben jemand? »Hallo!« rief sie gequält hinauf. »Ist da wer …?« Ihre Stimme schien von den Wänden aufgesogen zu werden. Nie mand antwortete. Woher sie den Mut nahm, wußte sie nicht, aber sie legte die Hand auf die Leiterführung und kletterte langsam die Sprossen nach oben. Es ging ganz leicht. Im Dachstuhl brannte keine Kerze. Die Düsternis wurde durch nichts erhellt. Nur unmittelbar hinter der Öffnung drang von unten etwas Licht herein. Lilith blieb auf einer der letzten Sprossen stehen und blickte sich um. Direkt über sich sah sie das Gebälk des Daches. Helles Holz, das wie frisch geschlagen und von kundigen Händen bearbeitet wirkte. Nagelneu. Sauber, ohne ein einziges Spinnengewebe. Liliths Hände, die sich an der Einschalung der Bodentür festhielten, fanden kein Staubkorn, nicht die geringste Spur von Schmutz. Lilith lauschte angestrengt, konnte aber nichts hören, was auf die Anwesenheit einer anderen Person hinwies. Dennoch rief sie erneut. »Wenn hier jemand ist …!« Sie verstummte. Ihr Mund war plötzlich trocken. Die Angst, je mand könnte antworten, wurde so übermächtig, daß sie die Leiter, so schnell sie konnte, wieder hinabstieg. Das Herz hämmerte ihr bis zum Hals, und als sie wieder hoch blickte – war die Luke geschlossen! Wieder hastete sie durch Gänge. Das Haus schien über unermeß
lich viele Korridore und Zimmer zu verfügen … Ein Ölgemälde – das einzige gemalte Bild inmitten von gerahmten Fotografien – hielt sie auf und bannte ihren Blick. Es zeigte einen sportlichen jungen Mann, dem man ansah, daß er seinen Körper pflegte, und in dessen Augen unverhohlen Begehren glomm. Harold? Ihr Blick wanderte abwärts und fand eine Signatur. Lilith. Hatte sie dieses Bild gemalt? Harold und Lilith … Sie spürte Schmerzen in der Brust. Ihr Blick kehrte zu den Augen des Mannes zurück, und die Erinnerung kam so gewaltig über sie, daß sie in die Knie ging und aufstöhnte, ohne den Blick von dem Gemälde abzuwenden. Sie tauchte in die Augen des Mannes hinein und sah sich selbst, wie sie sich darin spiegelte. Wie sie Lust empfand. Wie Hitze sie durchströmte, als gäbe es nichts, was dieses Feuer je wieder zum Er löschen hätte bringen können …
* Erinnerung Sie war immer noch siebzehn Jahre alt und wohnte immer noch im Haus ihrer Eltern. Aber dies war Harolds Schlafzimmer. Bei ihm zu Hause. Er hatte »sturmfreie Bude«. Seine Eltern besuchten eine Theaterveranstaltung und wollten danach noch essen gehen. Es würde spät werden. Es sollte spät werden. Zu ihren eigenen El tern hatte Lilith gesagt, sie würde bei Marsha übernachten.
Sie war nervös, aber auch voller Neugier. Sie und Harold hatten noch nie richtig miteinander geschlafen – in der Phantasie aber schon oft. Lilith sehnte sich nach dieser Gelegenheit. Sie sehnte sich nach sei nem Körper, der ihre Hormone in Aufruhr versetzte, seit sie ihn zum erstenmal überall berühren durfte. Sie halfen sich gegenseitig aus den Kleidern. Kerzen brannten. Dann, als sie mit Harold nackt auf sein schmales Bett sinken wollte, schüttelte er bestimmt den Kopf. Er legte den Finger auf ihre halb geöffneten Lippen, nahm sie bei der Hand und führte sie über den Gang bis hin ins elterliche Schlafzimmer. Sie versteifte. »Das dürfen wir nicht!« flüsterte sie heiser, zitterte aber zugleich vor Erregung. Die Wände des Zimmers waren raffiniert verspiegelt. Hinter den Fenstern lauerte Nacht. Hier gab es keine Kerzen. Mit einem Dim mer ließ sich das elektrische Licht regulieren. Die Spiegel, die Liliths Schönheit nur verschwommen gerecht wurden, gaben auch Harolds männlichen Körper wieder und erregten Lilith so sehr, daß ihr eine Serie kleiner spitzer Schreie entschlüpfte. Sie ließ alle Hemmungen fallen. Harold drängte sie auf das kühle Laken. Die Decken waren bereits zurückgeschlagen. »Ich liebe dich!« hauchte er verlangend. Seine Augen schimmer ten. Ihre Lippen verschmolzen zu innigen Küssen, bis sich unüberseh bar etwas bei ihm regte. Es fesselte ihre Aufmerksamkeit absolut, weil sie sich nichts Beängstigenderes und zugleich Faszinierenderes vorstellen konnte. Sie war so hungrig … Er war jetzt zärtlich und behutsam. Er hatte sie dort, wohin seine
Phantasie ihn geleitet hatte. Lilith war selbst erstaunt, wie wenig mädchenhafte Zurückhaltung sie ihm entgegensetzte. Sie ließ sich einfach gehen, setzte Lippen, Hände, ja selbst ihr langes schwarzes Haar ein, um ihn um den Verstand zu bringen. Er lohnte es ihr mit vorbehaltlosem, jugendlichem Draufgänger tum, streichelte und küßte ihre schon vollen Brüste, ihren Bauch, ihre Scham. Etwas unbeholfen glitt er in sie hinein. Seine anschließenden Stöße kamen erst tastend, dann immer heftiger, sicherer, und peitschten sie in schwindelerregende Höhen. Sie glühte vor Fieber. Sie genoß das Spiel. Sie wollte mehr! Auf dem Höhepunkt glaubte sie vage, Blut zu schmecken, aber sie achtete nicht darauf. Andere, tiefer verwurzelte Empfindungen ufer ten aus. Ihre Nerven sandten plötzlich ungewöhnliche Signale an ihr Hirn. Sie hatte die Vision, durch einen tiefen, dämmrigen Wald zu laufen, ganz dicht über dem feuchten Grund. Das imaginäre Gehölz schwitzte verdorbene Dünste aus. Liliths Kehle entwichen Laute, die nach ganz anderem dürsteten als nach Erklärungen, was mit ihr ge schah. Die fremden Gefühle überschwemmten sie wie ein Rausch. Sie hielt inne, ohne daß Harold es merkte. Er bewegte sich rhyth misch weiter. Auch bei ihm war etwas in Gang geraten, das sich schwer bremsen ließ. Er genoß es, sich auszutoben. Zweifellos. Bis … »Lilith?« Seine Stimme kam wie durch Watte. Sie klang … beunruhigt. Lilith gab keine Antwort. Sie konnte nicht antworten. Etwas ließ
die Anmut aus ihren Zügen verschwinden – etwas, das sie, selbst wenn sie gekonnt hätte, nicht mehr aufhalten wollte. Es war ein Teil von ihr, das sein Recht einforderte … »Lilith! Was hast du? Was geht …« Er verstummte. Längst war er über ihr erstarrt. Aufflackernde Pa nik verzerrte sein schweißgerötetes Gesicht. Lilith sah an ihren Armen herab. Während in ihr etwas zu wachsen begann, sproß auch etwas auf ihrer gerade noch glatten Haut. Haare. Pelziger Bewuchs, der sich zeitrafferartig zu einem seidig glänzen den Fell verdichtete, das nach und nach Besitz von ihrem ganzen Körper, einschließlich Gesicht und Brüsten, nahm! Die Verwandlung war von keinem Schmerz begleitet. Eher vom Gegenteil. Stärkeres Begehren denn je pochte in Liliths Schläfen. Daß Harold aufgehört hatte, mitzugehen, den Rhythmus zu bestimmen, störte sie nicht länger. Impulse, die ihren Blick trübten, zugleich aber auf etwas fixiert waren, was unter Harolds maskenhaft blasser Haut strömte, verdrängten jeden Anflug von Vernunft oder Beherr schung. Lilith musterte ihre Hände, die zu Klauen mit rasiermesserschar fen Krallen geworden waren. Er starrte auf ihre Hände. Er schrie. Er versuchte, von ihr herunterzukommen, aber sie hielt ihn bereits fest. So unwiderstehlich fest, daß sich ihre Pranken bis auf die Kno chen zu bohren schienen. Er schrie jetzt vor Qual. Die Lust war erloschen. Bei ihm jedenfalls.
Eine Sekunde lockerte sich Liliths Griff, weil die gequälten Schreie sie beinahe ernüchterten. Beinahe. Harold nutzte die winzige Unsicherheit und rollte von ihr weg. Seine Arme streiften ihre Hände von sich. Er stürzte auf den Boden neben dem elterlichen Bett. Lilith fauchte. Als er zu ihr aufblickte, kauerte sie auf der Matratze wie ein sprungbereites Raubtier. Ihre Augen waren die eines vorzeitlichen Jägers. Etwas Unstetes glomm darin. Wachsam und in jedem Belang überlegen. Harold wagte nicht, sich zu voller Größe aufzurichten. Er fürchtete offenbar, das Wesen, in das seine Freundin sich verwandelt hatte, zu provozieren. Geduckt wich er zur Fensterfront zurück. Unter der leicht vorstehenden Bank drückte er sich gegen die Wand. Die ange winkelten Arme hob er schützend, obwohl ihm klar zu sein schien, daß er Lilith damit nicht aufhalten konnte. Sein Mund klaffte wie ein Loch in seinem Gesicht. Die Zunge dar in schien nicht mehr fähig, verständliche Laute zu formulieren. Es weckte kein Mitleid. Liliths Muskeln spannten sich. Dieser Mann konnte ihr geben, wonach es in ihr schrie. Dieser Mann war so gut wie jeder andere, was die Kostbarkeit be traf, die in seinen Adern klopfte … »Nein!« schrie er, als er sah, daß sie gleich losschnellen würde. Die Bettfederung ächzte unter der unbändigen Kraft, die sich auf engster Fläche sammelte. Wieder sah sie sich über dämmrigen Grund hecheln, das bevor zugte Wild hetzen …
Sie wollte es nicht! Sie gierte danach! Sie … Aufheulend visierte sie Harold an, der wie hypnotisiert zu ihr starrte. Ihre Klauen zuckten. Ihre Kiefer weiteten sich, als gäbe es kein Li mit. Als sie sprang, war von dem Kampf, der sich in ihrem Hirn ab spielte, nichts zu sehen. Harold schloß die Augen. Er sah einen wölfischen Rachen auf sich zukommen. Doch statt auf ihn niederzustürzen, schnellte der haari ge, auch jetzt noch animalisch reizvolle Körper über ihn hinweg. Ein gräßliches Geräusch. Fensterglas barst. Lilith verweigerte sich den Triumph im letzten Moment selbst. Durch eine entscheidende Korrektur ihres Muskelspiels flog sie über das fast sichere Opfer hinweg, anstatt es zu reißen, und brach durch das darüber befindliche Fenster. Die Scheibe barst. Lilith stürzte in die Tiefe und bereute es noch während des freien Falls, noch ehe ihre Pfoten Boden berührten, ihren Drang nicht gestillt zu haben. Welch unfaßbare Vergeudung! Die Schwerkraft zerrte an ihr, und die Fassade eines wolkenkrat zerhohen Hauses wischte an ihr vorbei. Der rasende Sturz schien nie aufzuhören. Wie ihre Gier. Nie …
*
Als sie zu sich kam, kniete sie immer noch im Korridor des unmögli chen Hauses, das keine realen Türen und Fenster besaß und doch begehbar war. Ich will nicht mehr! dachte sie. Keine Erinnerungen mehr! Ich ertrage es nicht länger … Es war zermürbend. Und längst mißtraute sie den Bildern, die aus ihrem Unterbewußtsein nach oben schwemmten, ebenso wie jenen an den Wänden. Vieles daran stimmte nicht, konnte nicht stimmen, war Lüge! Was war überhaupt wahr? Wie betäubt torkelte sie den Flur entlang, stieß gegen Möbel, die wie Holz aussahen, sich aber viel härter anfühlten, wankte weiter und stieß gegen eine neue Tür, die sich vor ihr öffnete. Dahinter gähnte Dunkelheit. Aber nur für einen Wimpernschlag. Kerzen flammten auf. In einem großen Bett lag, wie aufgebahrt, eine unbekannte Greisin. Sie war nicht tot. Ihre Augen blickten Li lith hoffnungsvoll entgegen, und ihre Brust hob und senkte sich in flachen Atemzügen. Das erste, was Lilith auffiel, war, daß die alte Frau ein fast identi sches Kleid trug wie sie selbst. Wie angewurzelt blieb Lilith in der offenen Tür stehen. Sie ver suchte zu ergründen, ob sie Opfer einer erneuten Vision war oder ob diese Begegnung wirklich stattfand. In diesem Moment öffnete die Greisin den Mund. »Du bist zurückgekommen, Lilith«, seufzte sie mit brüchiger Stim me. »Ich dachte schon …« Sie sprach nicht aus, was sie gedacht hatte. Sie winkte Lilith schwach zu sich heran, und die gehorchte nach kurzem Zögern. Nicht die uralte Frau, wohl aber deren Stimme wirkte vertraut. »Wer sind Sie? Sie nennen mich Lilith … Ist das mein Name?« Sie war sich bis zu diesem Augenblick nicht völlig sicher gewesen.
Die Greisin zuckte zusammen, nickte dann. Ihre arthritischen Hän de, auf denen sich, wie im Gesicht, neben Knoten auch braune Al tersflecke fanden, krallten sich in das knirschende Bettuch. »Du fragst, wer ich bin …?« Die Augen der alten Frau schimmerten trä nennaß. »Was ist passiert, Lilith?« Sie versuchte sich aufzurichten, aber selbst dazu war sie zu schwach. Lilith glaubte allen Ernstes, die Gelenke oder Knochen der Greisin knirschen zu hören. Wie alt mochte diese Frau sein, die ihren Namen nicht nannte und statt dessen sagte: »Du hättest nach deinem Erwachen nicht fortge hen dürfen … Du hast die Wiege zu früh verlassen … viel zu früh … Das war nicht gut … Es …« Die Wiege? Die Alte redete irre. Lilith zweifelte allmählich, daß es überhaupt Sinn machte, sich mit ihr zu unterhalten. Dennoch war es ihr nicht möglich, einfach wie der zu gehen. Wohin auch? Diese uralte, wohl weit über hundertjäh rige Frau war bei aller Gebrechlichkeit die erste real wirkende Per son, der Lilith in diesem merkwürdigen Haus begegnete. Obwohl ihr die Greisin starkes Unbehagen bereitete, setzte Lilith sich neben sie auf die Bettkante. Dabei bemerkte sie, daß beide Arme der Frau mit Einstichen übersät waren. Venen traten bläulich unter der fast durchscheinenden Haut hervor. Das Unbehagen wuchs, als Lilith nach der Hand der Greisin griff und sie drückte. Gleichzeitig überfiel sie ein unbeschreibliches Ge fühl der Heimkehr. Sie mußte an sich halten, um nicht selbst in Trä nen auszubrechen. Kannst du überhaupt weinen? Sie begriff nicht, was ihr Unterbewußtsein mit diesem Einwand meinte. »Wer bin ich? Wer sind Sie? Müßte ich Sie kennen …?«
Die Fragen drängten über ihre Lippen. Auch die dünnen Lippen der Greisin bewegten sich. »Du hast alles vergessen? Alles?« Ein Seufzer, als wollte sie nie wieder Luft holen, leerte die Lungen der alten Frau. Dann schöpfte sie doch wieder Atem und fuhr leise fort: »Ich habe mir immer vorgestellt, wie es wäre, wenn du erwachst … Die vielen Jahre des Wartens … Ich hat te immer Angst, daß etwas schiefgehen könnte. Nun ist es gesche hen. Selbst deine Eltern ahnten nicht, wie du reagieren würdest, wenn die Träume enden. Wenn die Zeit reif ist. Aber selbst wenn sie es geahnt hätten – was hätten sie tun sollen …?« Lilith stoppte sie mit sanftem Händedruck. »Meine Eltern,?« fragte sie. »Wo sind sie?« Ein weiterer schmerzlicher Zug prägte sich in das Gesicht der Greisin. »Sie sind nicht mehr, und auch ich muß nun sterben … Es fällt mir schwer, denn ich ahne, daß der Plan gescheitert ist … So lange habe ich dich gehütet … Warum mußtest du hinaus? Du warst noch nicht soweit. Du weißt nichts von dem, was draußen auf dich lauert! Sie warten nur darauf, deiner habhaft zu werden …!« »Wer? Wer lauert mir auf?« unterbrach Lilith erregt. Sie dachte daran, was ihr auf dem Friedhof widerfahren war. Die Greisin riß die Augen auf und fragte, als hätte sie gar nicht zu gehört: »Du weißt wirklich nicht, wer ich bin? Ich dachte immer, du müß test es fühlen! Ich war so sicher, daß es so sein würde …« »Nein!« Lilith haßte sich, weil sie die Hoffnung der Frau nicht er füllen konnte. »Wer sind Sie?« Zum erstenmal öffnete sich der Mund der Alten so weit, daß man sehen konnte, daß ihr alle Zähne fehlten. Graues, schorfiges Zahn fleisch dorrte darin – sonst nichts. »Marsha«, gab sich die Frau mit matter Stimme zu erkennen, und
unendliche Traurigkeit schwang darin. »Ich bin … Marsha …« Lilith krümmte sich. Die Erinnerung kehrte mit Macht zurück. Die Erinnerung an den Vorabend, als sie geweckt worden war. Von dieser alten, unansehnlichen, zahnlosen Vettel, deren Anblick Lilith bis ins Mark geschockt hatte. Als sie dann noch mit Marshas Stimme auf sie eingeredet hatte, war Lilith zunächst wie zur Salzsäule er starrt gewesen. Sie erinnerte sich an keine Details mehr. Ihre Erinne rung setzte erst wieder mit der kopflosen Flucht durch das Laby rinth des Hauses ein. Sie war davongerannt wie jemand, der abrupt aus tiefem Koma gerissen und sofort mit einer alles entscheidenden Frage konfron tiert wurde, die keine Zeit ließ, sich erst langsam zurechtzufinden. Das Erwachen war wie ein schmerzvoller Geburtsakt wider Willen gewesen. Qual, Wollust, Zweifel und Furcht in einem. Tastende Suche nach der Mutter, die nicht da war. Die nicht mehr da war …
* Erinnerung »Bleib! Bleib doch! Geh nicht! Du darfst nicht …!« Die Stimme der steinalten Frau, die vorgab, Marsha zu sein, holte Lilith immer wieder ein. Das Haus war ein gigantischer Resonanz körper, der unter den krächzenden Schreien der Lügnerin wider hallte. »Lilith, ich bitte dich … Du darfst nicht hinaus! Wenn sie dich auf
spüren, töten sie dich, und alles wäre vergebens gewesen! Die vielen Jahre … Mein Blut …« Die Türattrappe tauchte vor Lilith auf. Sie merkte gar nicht, daß es keine wirkliche Türe war. Sie stieß da gegen … … und war draußen. In einem Garten, der anders war, als sie ihn kannte. Nicht das Le ben, der Tod hauste hier. Eine Fremde tat sich vor ihr auf, verwir render noch als das Innere des Hauses, dem sie gerade entronnen war. Oberflächlich war alles, wie sie es zu kennen glaubte. Auch das Haus sah in der Dunkelheit aus wie das Haus, in dem sie geboren und aufgewachsen war. Falsch waren nur die Details. Die Farbe des Grases im Mondschein. Der Geruch des Regens, der aus bleiernen Wolken lautlos auf war men Boden fiel. Das Sternenzelt … Sie rannte über den dunklen Gartenpfad auf das Tor zu, das auf sprang, kaum daß sie Hand anlegte. Dann stand sie auf der Straße. Der Regen machte ihr Angst. Leute, die sie in der Ferne sah, machten ihr Angst. Vorbeifahrende Autos mit blendenden Scheinwerfern … all das chaotische Gewimmel, das sie so nicht kannte! In ihrer Erinnerung war immer ein Ereignis dem anderen gefolgt – hier liefen zahllose Eindrücke gleichzeitig ab. Sie wußte nicht, was sie zuerst verarbeiten sollte. Sie kam sich vor wie mitten auf einer mehrspurigen Schnellstraße, auf der sie von allen Seiten überholt wurde, ohne eine Chance zu haben, Schritt zu halten.
Als sie zum Haus zurückblicken wollte, lag es hinter Bäumen ver borgen. Daß es da war, spürte sie. Aber sie fürchtete sich davor, zu rückzukehren. Zu dem zahnlosen, runzeligen Weib, das sie belogen hatte … Marsha. Lilith fiel nichts Besseres ein, als sich in die Richtung zu wenden, wo sie das Haus von Marshas Eltern wußte. Das Haus mit dem Swimmingpool … Der Regen wurde stärker. Die Geräusche der Nacht fremder. Ein mal, als sie zurückblickte, glaubte sie, einen Schatten zu sehen, der ihr folgte. Aber überall waren Schatten, und als sie sich vergewis sern wollte, war niemand mehr zu sehen. Das Kleid, das sie trug, sog die Nässe förmlich in sich auf. Schwer klebte es auf Liliths Haut. Ihre Brüste schmerzten. Die Warzen hat ten sich verhärtet und rieben gegen den modrigen Stoff. Sie erinnerte sich vage, nackt gewesen zu sein, als sie die Augen aufgeschlagen hatte. Die Greisin hatte vor ihr gestanden und ihr dieses Kleid hingehal ten. In ihrer ersten Verwirrung hatte Lilith es übergestreift. Erst da nach war ihr bewußt geworden, daß sie in einem Sarg zu sich ge kommen war … Sie weigerte sich zu glauben, daß die Greisin Marsha gewesen sein sollte. Daß ihre Eltern tot seien … Alles Lüge! Hunger und Durst quälten sie jetzt. Ihre Eingeweide brannten. Harold, dachte sie flüchtig. Sollte sie sich lieber an ihn wenden? Seltsamerweise fiel es ihr schwer, den Gedanken an ihren Freund
festzuhalten. Er war flüchtig wie durch die Finger rinnender Sand … Passanten, die um diese Zeit noch unterwegs waren, wich sie in stinktiv aus. Es kam zu keiner wirklichen Begegnung, und ein paar Straßen weiter näherte sie sich bereits Marshas Adresse. Sie hatte sich noch keine Gedanken gemacht, was sie ihrer Freun din überhaupt sagen wollte. Weniger denn je war für sie selbst faß bar, was geschehen war. Was sie in solche Verwirrung versetzt hat te. Hatte sie nur schlecht geträumt? Irrte sie als Schlafwandlerin durch Sydneys Vorortstraßen? Vollends durcheinander erkannte sie, daß dort, wo Marshas El ternhaus hätte stehen sollen, sich nur weitläufig umzäuntes Gelände befand. Ein … Friedhof. Unschlüssig stand sie vor dem offenen Tor und sah sich um. Sie konnte sich nicht verlaufen haben, denn die gegenüberliegende Straßenseite sah aus, wie Lilith sie kannte. Jedes Haus, jeder Baum und Strauch waren am richtigen Platz. Nur diese Seite war verändert. »Oh, Marsha …!« Liliths Stimme klang beschwörend. Ohne es eigentlich zu wollen, betrat sie den Gottesacker. Sofort be gann sie zu zittern. Der Ort setzte ihr zu. Dennoch wanderte sie ziel los über die nächtlichen Wege. Nieselregen fiel. Der Wind war stärker geworden, und irgendwo in der Ferne grollte Donner. Lilith setzte sich auf eine Bank und versuchte, Ordnung in ihre wirbelnden Gedanken zu bringen. Daß sie in Wirklichkeit schlief und alles nur träumte, war eine Hoffnung, für die sie noch keinen
unumstößlichen Beweis gefunden hatte. Obwohl ihr alles unwirklich und ungewohnt anmutete. Sie beschloß, umzukehren, als ganz in ihrer Nähe Zweige knack ten. Jemand kicherte. Panik machte Liliths Kehle eng. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie leichtsinnig es von ihr war, sich hier allein in der Dunkelheit herum zutreiben, wenn dies kein Traum war. Eine Gestalt näherte sich aus den Büschen. Ein … Mann? Die Wolken am Himmel rissen auf. Mondlicht sickerte herab. »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte eine Stimme unter dem breitkrempigen Hut. »Ich freue mich, dich endlich persönlich kennenzulernen, kleine Lilith …« Er kannte ihren Namen? Aber warum sagte er »kleine Lilith«? Sie war kein Kind mehr. Sie … Er setzte sich neben sie. Sie spannte ihre Muskeln und versuchte die Schatten zu durchdringen, die der Hut warf. Aber sein Gesicht blieb unsichtbar. »Wer sind Sie?« fragte sie. Er kicherte verlegen. »Entschuldige, daß ich mich nicht vorgestellt habe. Ich bin Hadrum. Wir kennen uns noch nicht, nein. Nicht persönlich. Ich gehe oft an deinem Haus vorbei. Ein sehr … ungewöhnliches Haus, findest du nicht auch?« »Was wollen Sie von mir?« »Reden. Dich kennenlernen.« Er machte eine Ungewisse, schatten hafte Geste. »Wenn man so lange gewartet hat wie ich …« »Gewartet?« Er kicherte erneut. Allein dieser mißglückte Ausbruch von Heiter
keit genügte, ihn unsympathisch zu finden. Als er seine Hand un aufgefordert auf Liliths Knie legte, war das Maß des Erträglichen be reits überschritten. Er fühlte sich … widerlich an. Entweder bemerkte er ihren Unwillen nicht, oder es scherte ihn nicht. »Gewartet«, wiederholte er. »Jahrein, jahraus gewartet. Die Welt hat sich verändert in all der Zeit. Ich hatte schon nicht mehr ge glaubt, daß es eines Tages geschehen würde … Ich glaube, niemand hat es noch geglaubt. Es war einfach zur Gewohnheit geworden, nachts im Garten zwischen den seit hundert Jahren dorrenden Bäu men zu sitzen, sich Vögel vorzustellen, die in den Ästen zwitschern, dem Haus zuzusehen, wie es sich als einziges Ding auf der Welt nicht verändert hat … Und zu warten.« Seine Hand wanderte Zentimeter höher hinauf, und Lilith war nicht imstande, sich zu bewegen. »Oh, ich denke, ich hätte noch viele Jahre warten können. Manche Gewohnheiten sind die schlechtesten nicht. Ich kenne meinesglei chen, die ein übleres Los haben. Obwohl … Ich kenne auch solche, die das große Los gezogen haben. Die sich frei bewegen unter denen, zu denen ich auch einmal gehörte. Die stark sind und sich nehmen, was sie brauchen, wann immer sie wollen. Solche, die Macht besit zen. Landru zum Beispiel … Ja, ja, auch unsereins hat Idole. Sich wieder einmal bei Tag bewegen zu können, oh, es wäre köstlich, ich glaube es sicher, obwohl ich mich kaum noch daran erinnere, wie es einst war …« Lilith verstand kaum etwas von dem, was er sagte. Nur eines. »Sie müssen sehr alt sein.« sagte sie vorsichtig. »Sehr alt?« Er legte den Kopf etwas schiefer und schien nachzu denken. Obwohl seine Hand trotz des Regens trocken war, meinte sie zu spüren, daß sie eine Art Schleimspur hinterließ, als sie wie
derum Zentimeter höher und nun bereits unter den Saum ihres nas sen Kleides glitt. »Nein, sehr alt bin ich, glaube ich, nicht. Es kommt darauf an, welche Maßstäbe man setzt. Landru, zum Beispiel …« »Wer ist Landru?« »Du kennst ihn nicht?« Zum erstenmal schwang neben Redselig keit auch hörbar Mißtrauen in seiner Stimme. »Du hast nie von ihm gehört?« »Nie.« Er kicherte. »Ich glaube dir, Kleines! Weißt du, wir beide sollten Freunde werden. Wir könnten uns gegenseitig bestimmt viel geben.« Lilith spürte ein Würgen in der Kehle. Hadrums Finger fuhren plump zwischen ihre Beine, und endlich gelang es ihr, die Lähmung abzustreifen und von der Bank aufzu springen. »Sie Schwein!« preßte sie hervor. Hadrum blieb ungeniert sitzen. »Aber, aber. Behandelt man so Freunde? Du weißt nicht, was ich für dich riskiere. Eigentlich müßte ich längst Meldung bei denen gemacht haben, die mich als Wächter abgestellt haben …« Er mißdeutete den Ausdruck auf ihrem Gesicht und fügte schnell hinzu: »Halt, keine Angst, lauf nicht fort! Ich habe nicht vor, dich zu verraten!« Lilith wünschte sich, sein Gesicht sehen zu können. Aber der Mond war wieder hinter Wolken verschwunden, und … Sie sah sein Gesicht! Von einem Wimpernschlag zum anderen war die Nacht nicht mehr schwarz. Lilith nahm alles deutlich, wenn auch wie durch einen blutigen Schleier wahr. Das feiste, aufgedunsene Gesicht. Die leeren Augen …
Sie fragte sich, wie wohl ihre eigenen Augen, die auf so merkwür dige Weise die Dunkelheit überlisteten, aussehen mochten, und wich noch weiter vor Hadrum zurück. »Verraten?« echote sie. Er nickte leutselig. Offenbar begriff er anhand ihres Verhaltens, daß sie ihn nicht mehr nur ahnen, sondern sehen konnte, doch es überraschte ihn nicht. Das legte den Schluß nahe, daß Hadrum sie schon die ganze Zeit auf ähnliche Weise gesehen hatte. Wer war er? Wer war sie? ICH WEISS, WER ICH BIN! Wußte sie es wirklich? Hatte sie nicht auch geglaubt, hier das Haus ihrer Freundin zu fin den? Statt dessen war sie umgeben von Gräbern. Lilith versuchte, sich aus dem Würgegriff des Absurden zu befrei en. Es gelang ihr nicht. Sie stand immer noch im Bann dieses Man nes, der mehr über sie zu wissen schien als sie selbst. »Du bist etwas Besonderes«, sagte Hadrum. »Hundert Jahre wußte niemand, was eines Tages dem Versteck entschlüpfen würde. Ob noch etwas herauskäme, oder ob alles nur Bluff war, damals …« »Damals?« »Bevor dein Vater starb, verfluchte er die Vampire! Nicht nur die Sippe dieser Stadt – er verfluchte sie alle!« Bevor er starb … »Weiter!« drängte Lilith. »Erzählen Sie weiter!« Aber Hadrum schwieg. Er schien sich am Zwiespalt ihrer Gefühle zu weiden. Erst nachdem eine Weile vergangen war, sagte er: »Du wirst alles erfahren. Aber nicht hier.« Er streckte die Hand aus.
»Komm mit zu mir! Hier sind wir nicht sicher. Wir dürfen keine Zeit vergeuden. Man wird nach mir suchen. Diese Stadt wird nicht mehr sicher sein, und es ist beschwerlich, zu fliehen, wenn man nur bei Nacht oder mittels besonderer Vorkehrungen reisen kann …« »Warum sollte ich fliehen?« »Warum sollte ich fliehen?« Hadrum lachte meckernd. Dann hielt er jäh inne. Seine klumpige Zunge strich über die Lippen, und er fragte lauernd: »Du weißt wahrhaftig nicht, wer du bist?« Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie es denn?« Er stand auf. Wie ein schwerfälliger alter Mann schlurfte er auf sie zu. »Du wirst alles erfahren«, erneuerte er sein Angebot. Er versuch te nach ihr zu greifen. Die Bemühung sollte tapsig wirken, aber als Lilith auswich, fauchte er böse. Plötzlich hatte sie das dringende Gefühl, daß er bluffte. Daß er gar nichts oder nur sehr wenig von ihr wußte, dies aber ge schickt zu verbergen versuchte. Als ihr diese Erkenntnis dämmerte, war es beinahe zu spät. Hadrum ließ die Maske des Gönners fallen. Behende, wie Lilith es nie erwartet hätte, stürmte er auf sie zu. Die Gier sprengte seine Zü ge. »Ich war immer ein Niemand!« keuchte er. »Ein Befehlsempfänger oder – wie es die Alten nennen würden – eine ›Dienerkreatur‹ …! Das ist vorbei! Man erzählt sich wahre Wunderdinge über dich und die Kräfte deines Blutes … Laß es mich kosten! Laß es wie eine Saat in mir aufgehen und mich zu etwas Würdigerem, Mächtigerem ma chen!« Er heulte auf wie ein brünstiges Tier. Während er plapperte, hielt er ihren Körper umschlungen, als wollte er Lilith auspressen. »Wenn es stimmt, was man sich über dich erzählt, könnte dein Blut mich vielleicht sogar so weit erfrischen, daß ich endlich wieder bei Tag wandeln kann …«
Er quietschte vor Sehnsucht. Aus seinem Mund rann zäher Spei chel. Liliths Blicke durchdrangen weiter die Nacht und offenbarten je des grausame Detail. Sie sah spitze Eckzähne, die wie Reißzähne funkelten und, wäh rend sie freigelegt wurden, noch zu wachsen schienen. Hadrums Kiefer verwandelten sich. Mit seiner Redseligkeit war es vorbei. Er hielt sie fest wie ein Gefäß. Er wollte aus ihr trinken! Sein Kopf stieß vor … Lilith wehrte sich, ohne zu denken. Mit einem Ruck, der Hadrums Arme zu zerreißen drohte, streifte sie die Umklammerung ab und rammte dem Bleichen das Knie in den Unterleib. Wäre er ein richtiger Mann gewesen, der seine Juwelen an der richtigen Stelle trug, hätte er sich vor Schmerz am Boden wälzen müssen. Hadrum reagierte wie ein Neutrum. Nur die Wucht des Trittes trieb ihn von Lilith fort. Schon setzte er nach. Was er sicher wähnte, wollte er nicht mehr entrinnen lassen. Seine Augen glühten. Die Nasenflügel blähten sich wie Nüstern. Als er Lilith zum zweiten Mal ansprang, wurden sie beide zu Bo den gerissen und wälzten sich zwischen den Gräbern. Ein Kampf auf Leben und Tod entbrannte. Lilith wurde endgültig klar, daß sie nicht träumte. Es sei denn, man konnte von seinem Traum getötet werden … Hadrums Hände schienen sich zu Klauen zu verformen, und Lilith hatte das Empfinden, als reiße der Bleiche ihr ganze Fleischfetzen aus dem Rücken. Seine Gier zu Anfang schien nur vorgegaukelt ge
wesen zu sein. Die Frau interessierte ihn nicht. Er wollte die Droge Lilith. Er wollte ihr Blut, um das eigene aufzuwerten … Wieder schnappten seine Kiefer nach ihrem Hals. Er war außer sich. Wie tollwütig. Liliths großes Handicap war, daß sie immer noch nicht alles über sich wußte. Sie spürte, daß sie stärker war als Hadrum. Aber sie konnte ihre Überlegenheit noch nicht umsetzen. Wirre Gedanken lenkten sie ab. Gedanken, die sie schwächten. WER BIN ICH? Der Wind frischte auf. Sturmböen peitschten Regen in ihr Gesicht. Hadrum schlug mit geballten Fäusten nach ihr. Die Blitze, die aus den Wolkenbergen über dem Friedhof zuckten, schien er nicht wahrzunehmen. Sein starrer Blick war auf das Blut unter Liliths Haut gerichtet. Er schien es strömen zu sehen. Es schien in seinen Pupillen widerzuleuchten … WOHER KOMME ICH? In Liliths Gehirn tobte ein Sturm, der heftiger und elementarer war als jener, unter dem sich die Grabbauten zu ducken schienen. Ihre Augen flackerten. Wieder stießen Hadrums Zähne zu. Etwas in ihr sprengte die Grenzen, die es gezähmt hatten. Etwas explodierte wie eine Sternen-Nova. Lilith nahm nicht mehr bewußt wahr, daß Hadrums Körper von ihr fortgeschleudert wie eine Stoffpuppe durch die Luft segelte und den Kopf voran gegen ein steinernes Grabmal schlug. Das Krachen des Schädelknochens übertönte kurz sogar den Ge
witterdonner. Lilith taumelte noch sekundenlang durch die Nacht, ehe ihr Kör per meuterte und der Wille ihn verließ. Sie stürzte, wo sie gerade stand. Und wachte erst wieder im Herzen des Sturms auf, als Windböen ihr nasses Haar durchzausten. Als …
* Der Kreis schloß sich. Lilith hielt sich an der alten, halb verrotteten Bettumrandung fest. Sie bebte unter dem Nachhall der Erinnerung. Die greisenhafte Frau streckte die Hand nach ihr aus. Sie hustete, und Tränen liefen über ihre faltige, bleiche Haut, in der dunkle, warzenförmige Punkte auf fielen, als hätten sich Parasiten eingenistet. »Ich hätte es wissen müssen«, seufzte sie, »daß dich mein Anblick erschreckt. Es ist lange her. Alles ist so schrecklich lange her … Für mich. Für dich ist es vielleicht nur ein Wimpernschlag, seit wir als Kinder miteinander spielten …« Ein Wimpernschlag. Lilith lauschte der Stimme. Sie war nicht imstande zu begreifen, aber sie fühlte plötzlich, daß diese alte, ausgemergelte Frau im Bett wirklich Marsha sein könnte. Ihre beste Freundin Marsha, deren El ternhaus sie letzte Nacht vergeblich gesucht und statt dessen nur einen Friedhof gefunden hatte. Wie konnte das alles sein? Wo endeten die wirren Visionen, und wo begann die Wahrheit …?
Sie griff nach Marshas Hand. Die müden Augen der Frau leuchteten. Auch etwas wie Neid schwang darin mit, und im nächsten Moment sprach sie aus, was sie dachte. »Ich habe mir oft gewünscht, ich könnte mit dir tauschen. Die vie len Jahre, die du so langsam gealtert bist, während ich …« Ihre Stim me versagte. Lilith drückte sanft die von Gicht gekrümmten Finger der Frau. »Ich verstehe immer noch nicht. Erzähl mir alles. Sag mir, was ge schehen ist. Was ist mit dir geschehen?« Sie hatte tausend andere Fragen, aber sie fielen ihr nicht ein. Nicht in diesem Moment. Immer noch forschte sie nach vertrauten Zügen im Gesicht der Greisin. Und fröstelnd fand sie sie … »Ich sterbe«, sagte Marsha, so sachlich, daß Lilith einen Klumpen im Bauch spürte. »Ich mußte dich vorzeitig wecken, weil ich meinen Tod nahen fühle! Es geschieht zu früh. Ich konnte meiner schweren Aufgabe nun doch nicht ganz gerecht werden. Ich hoffe dennoch, daß nicht alles vergebens war. Als du gestern geflohen bist, dachte ich, es sei aus! Aber du bist zurückgekehrt, ich weiß nicht, wie. Ha ben sie …« Sie stockte. Ihr Atem ging wie eine Rassel. Der eingefal lene Brustkorb hob und senkte sich kurzatmig. Dann kam eine ruhi gere Phase. »Haben sie«, setzte sie neu an, »dir nicht aufgelauert …? « Obwohl Lilith ahnte, wie kostbar jede Minute war, schilderte sie Marsha, was sie erlebt hatte. Sie tat es knapp und prägnant. Für manches fand sie sicherlich nicht die richtigen Worte, aber Marsha schien keine Mühe zu haben, sie zu verstehen. »Er hätte mich fast getötet. Ich hatte Glück«, schloß sie. Die Greisin schüttelte den Kopf, sparte aber ihren Atem für ande res. »Mir bleibt nicht mehr viel Zeit«, flüsterte sie. »Es gäbe so viel
zu sagen. Es soll nicht sein. Ich bin trotzdem froh, dich noch einmal wach zu sehen und dir sagen zu können, daß …« Sie hustete erneut, und diesmal klang der Husten wirklich gefährlich. Lilith versuchte, ihr zu helfen. Sie beugte sich über Marsha (war sie es wirklich?) und wollte ihr helfen, sich etwas aufzurichten, um besser durchatmen zu können. Die Greisin wehrte ab. Fast barsch. »Laß … laß mich …! Hör zu!« Sie winkte Lilith näher. Lilith gehorchte widerstrebend. Erst als sie mit dem Ohr fast am Mund der Frau hing, sprach diese weiter. Erschöpft. Ohne Kontrolle über den Klang ihrer Stimme. »Es gibt … eine Botschaft …« »Eine Botschaft?« Marsha schlug nach ihr. »Unterbrich … mich nicht! Eine Botschaft deiner …« Stöhnen bäumte den knochigen Körper auf.» … Mutter!« »Meiner Mutter?« entfuhr es Lilith. In ihr schien ein Fieber zu ent flammen. Ungeduldig wartete sie darauf, daß die Greisin fortfahren möge. Marsha war zu schwach, sie ein weiteres Mal zu rügen. Sie röchel te, und diesmal kam ein dünner Blutschwall hoch, der geradezu per vers anziehend auf Lilith wirkte. Sie witterte das Blut, und obwohl es nicht mit dem eines Mannes zu vergleichen war, kam eine Unruhe über sie, daß sie nur mühsam an sich halten konnte. »Hier … im … Haus …«, schnarrte Marsha. »Such danach … Such den Ort … wo du … geschlafen … hast … Wird alles erklären … Al les …!« Der greisenhafte Körper erschlaffte. Als Lilith sich aufrichtete, war Marsha tot.
Aber ihr Blut war noch warm. Lilith nahm sich, was sie brauchte, ehe sie aufbrach, um die Bot schaft ihrer Mutter zu suchen. Ihrer Mutter, deren Name ihr selbst bei äußerster Konzentration nicht einfiel …
* Der Mann hinter dem Lenkrad des Cabbys kam stöhnend zu sich. Die Lust war Ernüchterung gewichen, und die blutigen Striemen, von scharfen Fingernägeln auf seinem Rücken hinterlassen, kom plettierten das Gefühl, gerädert worden zu sein. »Biest!« knirschte er. »Dieses … Biest!« Unter Schmerzen richtete er sich auf, brachte den Sitz wieder in die richtige Lage. Obwohl die schwarzhaarige Schönheit keine physische Gewalt hatte anwenden müssen, um ihn zu dieser »Auto-Nummer« zu überreden, fühlte er sich von ihr völlig »überfahren«. Es war, als hätte ihm diese Nymphe mit dem Engelsgesicht und den Krallen einer Teufelin das Hirn ausgesaugt. Er konnte sich kaum bewegen, war immer noch nicht ganz zurück in der Wirklich keit. Diejenige, die für seinen Zustand verantwortlich war, war ver schwunden. Natürlich. Lilith Eden, 333, Paddington Street, hatte auf dem Zettel gestanden, den sie ihm gegeben hatte, und nachträglich schien es ihm, als hät ten sich diese wenigen Worte mit Feuer in seine Netzhäute geschrie
ben. Unvergeßlich. Mit der flachen Hand schlug er sich ein paarmal rechts und links ins Gesicht. Der Blick in den Rückspiegel brachte anschließend sei nen Herzschlag zum Stocken. Bin ich das? Erschüttert folgte er den Konturen, die markanter geworden wa ren, weil ihm die Erschöpfung eines vierundzwanzigstündigen Dschungelmarsches aus den Augen entgegenstarrte. Dunkle Schat tenränder und Tränensäcke, die vorher nicht dagewesen waren. Er schlug so heftig mit der Faust gegen den Spiegel, daß er danach fürchtete, sich die Knöchel gebrochen zu haben. Während er sie kne tete, nahm er einen neuen Anlauf, klare Gedanken zu fassen. Als etwas von außen gegen die Türfensterscheibe kratzte, wurde er daran erinnert, daß seine Hose inklusive Slip immer noch bis zu den Knöcheln hinuntergerollt waren. Ein Bild für die Götter, war der erste sarkastische Gedanke. Dann sandte er ein Dankgebet zum Himmel, daß draußen keine ältliche Jungfer, sondern ein seriöser älterer Herr stand und zu ihm hereinstarrte. Die Hände des Fremden fuhren über die Scheibe, als wollten sie deren Haltbarkeit testen. Dabei schabten die überlangen Fingernägel über das Glas. Es klang wie Kreide auf einer Schultafel. Nick sträubten sich die Nackenhaare. Er beeilte sich, der nirgends genau definierten Kleiderordnung seines Jobs wieder gerecht zu werden. Das Hemd fand er auf dem Rücksitz. Es war zerrissen; kaum mehr lohnend, es überzustreifen. Nick kurbelte das Fenster einen Spalt herunter. Die Hände des Fremden fielen weg. »Ja?« Nick gab seiner Stimme einen mürrischen Klang. »Kann ich
Ihnen irgendwie –« Er verstummte. Der alte Herr mit dem rosigen, fast faltenfreien Gesicht lächelte. Nick hatte noch nie einen Menschen mit solchen Augen gesehen. Tiefrot und feucht schimmerten sie. Ein Albino, durchzuckte es ihn. Aber dann hätte das Haar heller sein müssen. Viel heller. Vielleicht gefärbt. Es soll ja auch eitle Männer geben … Der alte Herr legte nun beide Hände oben auf die Kante der Fens terscheibe und krümmte die Finger nach innen. Ein Wort hatte er immer noch nicht gesprochen. Aber Nick fühlte sich plötzlich wie der schläfrig. »Wer –«, setzte der alte Herr mit sonorer Stimme an. Aber auch er sprach seine Frage nicht zu Ende. Die gebeugte Ge stalt schnellte nach oben, so rasch, daß man der Bewegung kaum folgen konnte. Der Körper straffte sich. Zwei, drei Personen näher ten sich dem Taxi von der anderen Seite. Zwei Frauen, eine mit ei nem Schäferhund »bewaffnet«, und ein uniformierter Polizist. Nick hörte das Stimmengewirr und streifte die Befangenheit ab, die der alte Herr in ihm bewirkt hatte. Er blickte nach rechts durch die gegenüberliegende Scheibe und sah die Gruppe aus der De ckung einiger Büsche heraustreten. Sofort deuteten die beiden Frau en auf Nick. Der Hund kläffte. Nick wandte sich nach links und stellte fest, daß der alte Herr ver schwunden war. Er mußte die kurze Gelegenheit genutzt haben, um sich davonzustehlen. Der Polizist schob sich vor Nicks Augen und streckte die Hand aus., »Weisen Sie sich bitte aus«, verlangte er. »Sie wissen, daß Sie hier nicht parken dürfen. Außerdem muß ich der etwas pikanten Be hauptung zweier Ladies nachgehen, Sie hätten nackt in ihrem Fahr
zeug geschlafen.« Sein Blick glitt über Nicks lädierte Kleidung. »Ha ben Sie etwa …?«
* Lilith durchstreifte ein gespenstisches Haus. Im Grunde war sie verwirrter als vorher, und zum erstenmal kam ihr in den Sinn, eine Gefangene dieser Mauern zu sein … Die Begegnung mit der Greisin hatte ihr keine Antwort auf die wirklich bohrenden Fragen ihrer Herkunft gegeben. Sie suchte das Zimmer auf, das – inzwischen wußte sie es – einmal ihr gehört hatte. Das Zimmer mit dem zerbrochenen Bild. Als sie es erreichte, stellte sie fest, daß der Raum zwar noch vor handen war, aber nicht nur die Scherben und das Bild, sondern die gesamte Einrichtung war verschwunden! Der Raum war kahl. Abweisend. Die Wände nackt und von einer Farbe wie rohes Fleisch. Das modrige Kleid juckte stärker denn je auf Liliths Haut. Sie hatte gehofft, etwas Passendes in einem der Schränke zu finden. Nun, da kein Möbel mehr da war, mußte sie diese Hoffnung fahren lassen. Nur kurz hielt sie sich in dem kahlen Zimmer auf. Unwillkürlich hatte sie erwartet, eine neue Vision zu empfangen, aber das war nicht geschehen, und so setzte sie ihre Suche durch die anderen Räume fort. Die Zimmer waren ausnahmslos leer. Alles hatte sich verändert. Die vielen Bilder, die Streiflichter ihres Lebens wiedergaben, hin gen zwar noch an den Wänden, jedoch war der Inhalt der Umrah
mungen verschwunden. Stattdessen pulsierte dort etwas Dunkles wie ein Organ in einem geöffneten Leib … Lilith verließ das obere Stockwerk. Trotz der Ereignisse war sie ru higer geworden. Es war, als liefen ihr Verstand und ihre Gefühle auf zwei getrennten Schienen. Auch das Erdgeschoß erforschte sie nur flüchtig. Als sie die Trep pe zum Keller erreichte, wußte sie, wohin ihr Drang sie wirklich lei ten wollte. Obwohl auch die Kerzen verschwunden waren, herrschte im gan zen Haus weiterhin dieselbe unveränderte Helligkeit. Der Keller – das wurde sofort deutlich – machte eine Ausnahme. Gleich hinter dem Türaufbau begann die Dunkelheit wie flüssiger Teer. Lilith hatte das Gefühl, in etwas Zähes hineinzuwaten, das sie dann aber doch gewähren ließ. Sie fand Stufen und einen Handlauf, der auf eine spiralförmig nach unten laufende Wendeltreppe hin wies. Selbst Liliths nachterprobte Augen sahen lange Zeit nichts. Sie mußte sich vorsichtig am Geländer entlangtasten. Die Stufen schienen kein Ende zu nehmen. Die Luft wurde sticki ger; sie schien kaum noch mit Sauerstoff angereichert zu sein. Pene trante Gerüche hafteten ihr an, als wäre sie in ihrer Gesamtheit schon einmal durch Lungen gelaufen und verbraucht wieder ausge atmet worden. Partikel und Sporen schienen in der Luft zu schwe ben. Heftiger Hustenreiz engte Lilith die Kehle. Ohne Ankündigung berührten ihre nackten Füße eine kalte Bo denplatte am Ende der Treppe, und sofort flammte Licht auf, dessen Ursprung nicht zu erkennen war. Matte, schwefelgelbe Helligkeit, die den schlimmen Zustand des Gewölbes offenbarte, das sich hier unten ausbreitete. Lilith starrte nach oben. Aber die Wendeltreppe verbarg sich wei
terhin neugierigen Blicken. Schon nach wenigen Windungen verlor sie sich in tintiger Schwärze. Lilith ließ ihren Blick durch den unterirdischen Raum schweifen, der schon durch seinen Schmutz und die wie erstarrt zwischen ural tem, morschem Gebälk hängenden, fragilen Spinngeweben einen krassen Gegensatz zu allem darstellte, was ihr im Haus oben und selbst im Dachstuhl begegnet war. Grob behauene Steinpfeiler stützten die niedrige Decke, die Lilith, wenn sie die Arme hob, fast berühren konnte. Dazwischen liefen ge sprungene, wurmlöchrige Holzbalken, an denen Eisenketten und anderes Gerät unbekannten Zweckes hingen. Das Spinngewebe war schwarz vom Alter. Es hing überall schwer und vollgesogen mit der Kellerfeuchte wie Vorhänge herab. Kein Luftzug brachte Bewegung in die Netze, die von ihren Erbauern schon vor langer Zeit aufgege ben worden zu sein schienen. Eine dicke Staubschicht, mit Fußspuren übersät, lag auf dem Bo den. Auch dort, wo Lilith abwartend gestanden hatte, hinterließen ihre nackten Füße, als sie jetzt langsam tiefer in das Gewölbe eindrang, Eindrücke, die den vorhandenen ähnelten. Bei genauerer Betrach tung wurde deutlich, daß sich ein, zwei Fußformen und -größen ständig wiederholten. Kleine, schmale Frauenfüße. Mehr als zwei Personen schienen hier unten seit einer kleinen Ewigkeit nicht mehr ein- und ausgegangen zu sein. Ein Knirschen im Fels ließ Lilith zusammenzucken. Es hörte sich an, als rieben die einzelnen Gesteinsschichten gegeneinander oder als ginge etwas in dem darüber erbauten Haus vor … Die Furcht, bei einem Einsturz lebendig begraben zu werden, sprang sie an wie ein wildes Tier. Nur das untrügliche Gefühl, daß hier unten das auf sie warten könnte, wovon die Greisin gesprochen
hatte, ließ sie aushalten. Eine Botschaft ihrer Mutter … Was sie dann beim weiteren Vordringen fand, war eine weitere Steigerung der herrschenden, bedrückenden Atmosphäre. Lilith lief wie magisch angezogen auf den Sarg zu, der in der Mitte des Kellers auf einem kniehohen, steinernen Podest ruhte. Es war ein Holzsarg. Schwarzlackiert. Alt. Lockend … Es traf Lilith wie ein Schock, als sie ihren Vornamen auf dem an sonsten schlichten, zierdelosen Deckel las. Sie ging davor auf die Knie. Ihre Finger tasteten über die erhabene Schrift. Jeder Buchstabe war ein Stich ins Herz. Ehe sie daranging, den Deckel zu heben, fragte sie sich, was sein würde, wenn dieser Sarg gar nicht leer wäre … Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Der Deckel war federleicht. Lautlos schwang er an den Scharnie ren nach oben. Lilith starrte in den Sarg, der dazu einlud, sich ihm anzuvertrauen. Sich hineinzubetten, den Deckel zu schließen und die Zeit in Dun kelheit und Stille zu überdauern. Stunden, Tage, Monate … Sie widerstand. Der Sarg war nicht ganz leer. Liliths Blicke blieben an dem gewagt geschnittenen roten Kleid hängen, das jemand der Länge nach über die Polsterung gelegt hat te.
Dieses Kleid sah anders aus als jenes, das sie trug. Neu. Bequem. Sündig …? Herrlich! Lilith dachte augenblicklich an das, was Nick mit ihr ge trieben hatte. Oder sie mit ihm. Im Gegensatz zu dem, was sie mit Harold erlebt hatte, war die Er innerung an den Taxifahrer taufrisch und überhaupt sehr lebendig. Der Sex mit Harold erschien ihr im Rückblick wie ein Erlebnis aus zweiter Hand. Enttäuschend, wenn man die Meßlatte höhersetzte … Fast von selbst fiel das juckende Kleid von ihr ab. Als es den Stein boden berührte, knisterte es und begann endgültig zu zerfallen. Lilith bemerkte es nicht. Sie hatte bereits nach dem roten Kleid im Sarg gegriffen. Es fühlte sich an wie ein kühler Hauch. Sie brauchte nicht viel zu tun, um es anzuziehen. Es stülpte sich über ihre Haut, als sei es nur dafür geschaffen. Hauteng und paßgenau umfloß es Liliths Figur nur bis knapp unter den Po. Ein unglaubliches Gefühl der Erregung durchströmte sie. Hier? Dann kam die Kehrseite der Medaille. Ein kurzer, heftiger Schmerz durchzuckte jeden Quadratzentime ter der vom Kleid bedeckten Haut – als würden sich unzählige win zige, mit Widerhaken besetzte Zähne hineinbeißen … So blitzartig der Schmerz gekommen war, so verebbte er auch wie der. Lilith, die reflexartig die Augen geschlossen hatte, blinzelte irri tiert, als sie an sich herabsah.
Das Kleid aus dem Sarg umschmiegte sie wie eine zweite Haut. Es saß befremdlich perfekt, und es würde jeden, der sie darin zu Ge sicht bekam, um den Verstand bringen. Männer und Frauen! Lilith atmete ein paarmal tief durch. Danach tat sie den Schmerz als eine Reaktion ihrer überreizten Sinne ab. Ganz so einfach waren die Dinge jedoch nicht gelagert. Der Schmerz war nur ein Vorbote gewesen. Eine Vision von solcher Stärke, daß alles vorherige wie ein laues Lüftchen vor dem eigentlichen Orkan anmutete, kam über sie! Liliths Körper fand gerade noch den Weg in den Sarg, wo sie sich entspannt ausstreckte, ehe der Deckel zuklappte und der »Film« vor ihrem geistigen Auge startete …
* Sydney, 1896 Der Wind, der vom offenen Meer herübertrieb, schmeckte salzig. Möwen kreischten. Die Bucht lag noch im Morgendunst, als das Schiff, das die Liebenden zwei Tage zuvor auf der südlichen Hemi sphäre abgesetzt hatte, Anker lichtete. »Ich habe Angst«, gestand der bärtige Mann. Die Morgenkälte schien er nicht zu spüren. Nackt kehrte er zu der zusammengerollt auf ihrem Lager wartenden Frau zurück, die mit offenen Augen schlafen konnte, genau wie sie nun mit geschlossenen Augen wach te. Ihr Atem ging stoßartig. Der Mann betrachtete sie eine Weile stumm. Dann legte er sich zu
ihr. Die eine Hand suchte ihren warmen Schoß, die andere ihre Brüste. »Sag etwas«, bat er. Sie bewegte kaum die Lippen, die ihm soviel Befriedigung ver schafften. »Was möchtest du hören?« Kehlig war ihre Stimme. »Daß wir endlich außer Gefahr sind – außerhalb ihrer Reichweite …« Er schwieg. »Das werden wir nie wieder sein. Es sei denn …« Sie brach ab. »Es sei denn?« Sie erhob sich mit raubtierhafter Geschmeidigkeit. Erst als sie knie te, sich auf ihren Fersen niederließ und dabei den Oberkörper ker zengerade reckte, wurde der Gürtel sichtbar, der sich wulstartig um ihre schmale Taille schlang. Sonst war sie nackt wie ihr Begleiter. »Vergiß es!« »Wie könnte ich …?« Ein feines Lächeln umspielte seinen Mund, der wie eine Wunde inmitten des dunklen Bartes klaffte. Er hat den Ernst immer noch nicht begriffen, dachte die Frau. Er kokettiert immer noch mit der Gefahr, die sein eigentliches Vorstel lungsvermögen sprengt. Für ihn werde ich immer eine Exotin blei ben. Ich kann ihm geben, was keine andere Frau ihm gab. Es waren fremde, verbotene Gefühle, denen sie nachgegeben hatte. Es war gegen das Gesetz. Aber sie bereute nichts. Nach den Regeln der Familie hatte sie das Recht auf ihre Existenz verwirkt. Aber es war alles noch sehr viel komplizierter … »Warum mußten wir aus England fort, wenn es gleich wäre, wo wir uns verstecken?« fragte er. »Weil wir wenigstens versuchen müssen, ihnen zu entkommen –
und weil ich einen Vorsprung wollte. Viel Zeit bleibt nicht mehr …« Sie benetzte ihre Lippen. Obwohl sie gerade erst aufgehört hatten, überkam sie schon wieder das Verlangen, mit ihm zu schlafen. Begriff er überhaupt, welches Opfer sie gebracht hatte? Sie ging der Frage nicht weiter nach, sondern zog ihn zu sich. Ge meinsam sanken sie auf das Lager. Ihre Zunge zeichnete eine feuch te Spur von seinem Hals bis zu seinem rechten Fuß, wo sie ihm übermütig in den großen Zeh biß. Daß sie spitze Zähne hatte, war ihm bekannt. Er stöhnte. »Glaubst du nicht, es wäre an der Zeit, sich allmählich nach einem anderen Platz umzusehen als diese baufällige Hütte?« »Später«, wisperte sie. »Soll es doch spüren, daß wir uns lieben. Gibt es etwas Gedeihlicheres als die Emotionen zweier, die sich lie ben?« Er verstand nicht. Erst als sie über ihm lag und den Rhythmus be stimmte, dämmerte ihm der Hintersinn ihrer Worte. Er wurde steif wie ein Brett. Nicht nur an einer bestimmten Stelle – überall. »Wie meintest du das eben?« Normalerweise reagierte sie auf Unterbrechungen äußerst unge halten. Diesmal schien sie regelrecht darauf gewartet zu haben. »Wir werden ein gemeinsames Kind haben«, sagte sie rauchig. »Eine Tochter …« Seine Augen weiteten sich. Einen Moment fürchtete sie, sie könnte zu weit gegangen sein, und er würde unter ihr sterben. »Reiß dich zusammen, oder willst du, daß unser Kind gleich zur Halbwaisen wird?« spöttelte sie. Er packte sie und warf sie auf den Rücken. Unwillkürlich stießen seine Lenden noch einmal zu, was sie durchaus zu genießen schien.
Dann küßte er sie mit solcher Leidenschaft, daß sie nicht mehr an sich halten konnte und ihn erneut zu mehr anstachelte. Erst als sie erschöpft nebeneinander lagen, sagte er: »Ich wußte nicht, daß das möglich ist …!« »Ich schon.« Sie lachte angeregt. »Seit wann weißt du es?« »Seit wir es zeugten. Ich wußte es am selben Tag …« Er blieb hartnäckig. »Wann?« »Kurz bevor ich darauf drängte, England zu verlassen.« »Vor drei Monaten also … Dann bleiben uns noch sechs …« Er starrte verklärt zur löchrigen Decke empor, durch die der rauhe See wind pfiff. Sie nickte. »Noch sechs Wochen.« Er verstand nicht, daß sie sich nicht versprochen hatte. »Monate!« korrigierte er. »Wochen«, widersprach sie selbstsicher, wie nur eine Frau es sein konnte, die werdendes Leben in sich trägt. »Vergiß nicht, wer ich bin. Bei uns gehen die Uhren anders als bei euch lächerlichem Ge würm …« Sie liebte es, über die Menschen zu lästern, die man – so beliebte sie es auszudrücken – trinken konnte. Er zweifelte plötzlich, daß es mehr war als ein launiger Scherz von ihr. »Und du weißt schon, daß es ein Mädchen wird? Woher?« Ihre Antwort verblüffte ihn nicht weniger als alles andere. »Eine Frau fühlt so etwas. Außerdem habe ich es mir gewünscht.« Er legte behutsam die Hand auf ihren flachen Bauch. Kopfschüt telnd zog er sie zurück. Er glaubte, sich lächerlich zu machen. Aber sie holte seine Hand zurück. Nach einer Weile überkam ihn ein seltsames Gefühl.
Sie lächelte wissend. Aber es brauchte noch viel Überzeugungskraft, bis er ihr in voller Konsequenz glaubte. Noch am selben Tag suchten sie nach einer sicheren Bleibe in der aufstrebenden Stadt, die unter dem Schutz der britischen Krone stand. Die Hafengegend wimmelte von Abenteurern und gescheiterten Existenzen. Viele hatten ihr letztes Hab und Gut in der alten Heimat verhökert, um eine Schiffspassage über den Ozean zu ergattern. Wo der Erlös nicht für die komplette Familie gereicht hatte, waren Kara wanen von Männern allein gekommen, um ihr Glück zu machen. Ir gendwo war Gold gefunden worden, und seither war der Verstand daheim geblieben. Erwachsene Menschen gebärdeten sich wie Nar ren, wenn es darum ging, ein paar Nuggets aus einem fast vertrock neten Fluß oder Creek zu waschen. Sydney war eine der ersten Anlaufstationen dieser Tage. Viel Ge sindel trieb sich herum. Eine Frau – noch dazu, wenn sie so auffällig gut aussah und sich so selbstbewußt bewegte wie diese – war nor malerweise selbst in männlicher Begleitung nicht sicher vor trunke nen Matrosen, geketteten Häftlingskolonnen oder ebenfalls gekette ten frustrierten Aboriginals, die als billige Arbeitssklaven auf einem der Märkte versteigert wurden. Nicht minder schlimm waren die so genannten »Ordnungshüter«: korrupt, cholerisch und immer auf der Suche nach einem hübschen Mädchenhintern. Erstaunlicherweise kümmerte sich niemand um das Paar, das sich überall nach einem erschwinglichen Haus erkundigte. Manchmal bewegten sie sich wie zwei aus der Kulisse herausgeschnittene Per sonen zwischen den abgerissenen, aggressiv grölenden und wegen jeder Kleinigkeit zum Töten bereiten Gestalten. Die wenigsten hatten nichts auf dem Kerbholz.
Straßen und Gassen erinnerten vielfach an einen orientalischen Ba sar, und das Schreien der Kakadus in den Käfigen ähnelte dem Plär ren kleiner, getretener Kinder. »The Rocks«, die Sträflingscamps, mieden sie. Schließlich fanden sie etwas außerhalb, südwestlich vom Stadtkern gelegen, ein noch nicht vollendetes Haus, dessen Besitzer kürzlich zwischen den Hin terhofabfällen einer Metzgerei gefunden worden und kaum noch von diesen zu unterscheiden gewesen war. Offenbar war er jeman dem in die Quere gekommen. Kopf, Gliedmaßen und Rumpf lagen weit verstreut unter dampfenden Eingeweiden. Das war vor der Ankunft des ungleichen Paares geschehen. Sie hatten nichts damit zu tun, waren nur Nutznießer, da die britische Krone das Anwesen nach diesem Verbrechen zu einem Spottpreis loszuwerden versuchte. Bislang hatte noch niemand Interesse ge zeigt. Nachdem sie es bezogen hatten, blieb ihnen noch genügend Geld, um das Gebäude nach ihren Vorstellungen vollenden zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt verbarg bereits ein dichter Park das Haus. Eine hohe Mauer folgte nun. Die noch nicht gefüllten Fenster und Türöff nungen ließen sie zumauern, was erstaunlicherweise keinerlei Ver wunderung bei den Handwerkern hervorrief. Für diese war es eine Baustelle wie jede andere. Wenn sie abends nach Hause zurückkehr ten, klimperten Münzen in ihren Taschen, und in ihren Schädeln summte die Erinnerung an Taten, die sie so nie ausgeführt hatten … Die Bauarbeiten gediehen prächtig. Dem Mann aber, der mit seiner besonderen Frau von England in diese Strafkolonie gekommen war, fiel von Tag zu Tag stärker auf, daß sich seine Geliebte, mit der ihn kein Trauschein, wohl aber et was viel Stärkeres verband, veränderte. Eine tiefe Traurigkeit hatte sie befallen. Ihre Sehnsucht, ihm kör
perlich nahe zu sein, wuchs dabei in gleichem Maße wie sein Ein druck, daß sie sich innerlich von ihm entfernte. Bis er sie eines Tages, nur drei Tage vor dem von ihr genannten Termin ihrer Niederkunft, zur Rede stellte. Sie gab zunächst nur ausweichende Antworten. Und die Art, wie sie ihn ansah oder berührte und liebkoste, ließ eigentlich keinen Zweifel, daß sie ihn mehr liebte als alles andere auf der Welt. Halb wegs besänftigt,ließ er dennoch nicht locker. »Was ist es dann, was dich so traurig macht? Alles sieht gut aus. Du sagtest selbst, du könntest dieses Haus in eine Festung verwan deln, in der unser Kind keine Angst vor Nachstellungen haben muß. Was aber ist es dann, was dich sorgt? Ich spüre es doch, da ist etwas!« »Das ist der Nachteil, wenn man zu eng miteinander verflochten ist.« Selbst in dieser Situation war ihr Ton nicht frei von Spott. »Man kann einfach nichts vor dem anderen verbergen …« »Du verbirgst also etwas?« »Ja.« Er fühlte keine Erleichterung, sie endlich so weit gebracht zu ha ben. Etwas nicht Erklärbares schnürte ihm die Kehle zu. Er brauchte nur in ihre unergründlichen Augen zu blicken, um kalt entsetzt zu sein. »Und was?« Sie nahm seine Hand und saugte zärtlich an seinen Fingern. Dabei wirkte sie abwesend. Als wäre ihr Blick in ein unentdecktes Land gerichtet. »Du weißt ja nun, daß uns ein Kind beschieden ist«, sagte sie be dächtig. Er nickte. »Ich bin eine Vampirin, und du ein Mensch«, fuhr sie fort. »Das
verleiht dem an sich natürlichen Trieb, sich fortpflanzen zu wollen, eine besondere Dimension.« »Worauf willst du hinaus?« Er konnte seine Ungeduld weder leug nen noch länger zügeln. Eine immer düsterer werdende Spannung erfüllte ihn. Daß ihre Traurigkeit nicht davon rührte, daß sie ihm et was Positives mitteilen wollte, stand längst für ihn außer Zweifel. Soviel menschliches Gespür besaß er, ohne magische Kräfte bemü hen zu müssen. »Wenn ein Vampir sich mit einem Menschen einläßt«, sagte sie, »verstößt er gegen elementare Gesetze – darüber sprachen wir oft.« Wieder nickte er. Die Ungeduld ließ seine Lippen zittern. »Die schlimmste aller Verfehlungen aus Sicht der Meinen ist und wird es immer bleiben«, sponn sie den begonnenen Faden weiter, »wenn man sich in Liebe zu einem Sterblichen bekennt, und wenn dieser Liebe etwas entsprießt, das …« »Weniger poetisch, bitte!« unterbrach er sie nervös. Da er der Ro mantiker war, konnte sie erahnen, wie es in ihm aussah. Sie verzieh ihm achselzuckend. »Ich will es kurz machen: Wenn unsere Liebe nicht stark genug ist, wird unser Kind tot zur Welt kommen.« Seine Züge verkrampften. Erst recht, als er erfaßte, daß dies noch gar nicht der wahre oder einzige Grund ihrer Traurigkeit war. »Das wird es nicht!« versuchte er, sie zu ermuntern. »Unsere Toch ter wird leben! An dem, was uns verbindet, gibt es nicht den ge ringsten Zweifel!« Sie lächelte herb. »Davon bin ich auch überzeugt.« »Wo liegt also das Problem?« Sie versuchte ein Lächeln, das frei war von Schmerz oder Melan cholie, frei von allem.
»Es ist uns vorherbestimmt«, offenbarte sie immer noch schwer mütig, und es war keine Frage, wen sie mit »uns« meinte, »daß eine Vampirin, die ein lebendes Kind gebiert, bei dessen Geburt stirbt …« Er stand da wie vom Donner gerührt und schien zu überlegen, ob er es ihr glauben konnte. »Das ist nicht wahr …« »Es ist wahr. Es wäre töricht, sich auf etwas anderes zu verlassen. Die Regeln sind uralt. Und sie werden Bestand haben, bis eines Ta ges der Kosmos erlischt.« Er hatte sie noch nie so reden hören. Er war geschockt über ihre drastische Wortwahl. Am meisten setzte ihm aber die – bei aller Traurigkeit – Selbstverständlichkeit zu, mit der sie ihm nahege bracht hatte, daß er nur noch zwischen ihr oder dem Kind in ihrem Uterus wählen konnte. Daß dieses Kind zugleich ihr Todesurteil darstellen würde, wenn es beim Verlassen ihres Leibes lebte! Schon ihre nächsten Worte ließen vermuten, daß er nicht einmal mehr diese Wahl hatte. Für die Vampirin, die sich gegen die Gesetze ihrer Art gestellt hatte, schien es keinen nennenswerten Zweifel dar an zu geben, daß sie das Kind lebend gebären würde. »Ich verstehe nicht, wie du uns das antun konntest, wenn du wuß test, wie es endet!« erregte er sich. Aber schon beim nächsten Satz sank seine Stimme in tiefe Apathie. »Wenn es wahr wäre, was du sagst, wäre es nichts anderes, als begingest du einen angekündigten Selbstmord …« Sie nahm seine Hand. »Ich weiß, daß du es nicht anders sehen kannst, und ich wollte, ich dürfte dir mehr über meine Beweggrün de sagen. Wenn ich es täte, brächte ich unser Kind in Gefahr. Ich kann nicht ausschließen, daß du eines Tages in die Gewalt unserer Verfolger gerätst. Es wäre unvertretbar, dir Wissen zu verleihen, das
man als Waffe gegen unser Kind einsetzen könnte.« Er stand da, als blickte er in einen Abgrund, der sich vor ihm auf getan hatte. Er mied ihren Blick, und wenn er ehrlich war, haßte er sie in diesem Moment. »Du hast kein Vertrauen«, murmelte er. Als sie antwortete, war sie ihm noch nie unnahbarer erschienen. »Dir wird nichts erspart bleiben«, sagte sie. »Ich kann dir nichts er sparen. Auf mich selbst wartet eine Hölle, die schlimmer ist als das Sterben selbst. Laß mich jetzt allein. Ich muß mich um die Wiege un serer Tochter kümmern. Damit sie behütet aufwachsen kann. Keiner meiner oder deiner Art soll ungebeten ihre Entwicklung stören kön nen …« Ohnmächtig ballte er die Fäuste. »Aberglaube«, preßte er hervor, als könnte er damit ein längst feststehendes Schicksal abändern. »Was du redest, ist alles nur gottverdammter Aberglaube …!« »Schweig!« fauchte sie. »Niemals diesen Namen!« Er verstand nicht, was sie damit sagen wollte, wandte sich brüsk ab und verließ den Raum.
* »Aberglaube!« hatte er sie angeschrien. Aber nun, drei Tage später an ihrem Sterbebett, bereute er es, und er begriff, daß Aberglaube ein sehr starker Glaube sein konnte. »Du hast dir nichts vorzuwerfen.« Sie gab ihrer Stimme festen Klang, aber er mußte sie nur anschauen, um zu wissen, daß es zu Ende ging. Sie hatte fast ohne seine Hilfe entbunden, und das winzige Bündel lag nun eng an ihre Brust geschmiegt. Es ihr fortzunehmen, hatte er
nicht übers Herz gebracht, obwohl das Grauen vor dem Moment, wenn das Kind merken würde, daß seine Mutter es verlassen hatte, ihn bis ins Mark lähmte. »Ich habe alles vorbereitet …« Ihr bleiches Gesicht leuchtete wie das einer Heiligen. Er hatte nie eine betörendere Mutter gesehen und das Kind bisher keines Blickes gewürdigt. »Du mußt mir versprechen, es nie zu hassen«, sagte sie jetzt, weil sie seine geheimen Gedanken ahnte. »Versprich es mir jetzt! Es kann nichts dafür, daß ich sterben muß. Es war meine alleinige Entschei dung!« Er ballte die Fäuste. »Ich verspreche es.« »Ich will, daß es Lilith heißt«, sagte sie. »Lilith Eden.« Zum erstenmal zeigte sich etwas anderes als heillose Verzweiflung in seiner Miene. »Niemand von uns heißt Eden!« Sie nickte. Ihr Arm umschloß das stille Bündel, das nicht ein einzi ges Mal geschrien hatte, als es in die ungewohnt kalte Welt hinaus mußte. Von Anfang an hatte es befremdlich fertig ausgesehen. Nicht wie andere Neugeborene, deren runzlige Haut sich erst glätten und deren weiche Knochen erst härten und endgültige Form annehmen mußten. Und sie hatte recht behalten. Es war ein Mädchen. »Ich weiß, daß es nicht einfach für dich wird. Du wirst dieses Haus nur noch für das Allernotwendigste verlassen können. Die Siegel sind auf dich abgestimmt – auf dich und Lilith, eines Tages. Nie mand sonst wird ihre Wiege betreten können, es sei denn, du hast eines Tages Verlangen nach einer anderen Frau, was ich dir nicht verdenken würde. Du mußt meinetwegen nicht zum Mönch wer den, aber bedenke: Wen immer du erwählst, daß er an deiner Hand die Siegel überwindet – es wird nur nach einer Seite funktionieren.
Wenn du glaubst, einen Menschen zu euch holen zu müssen, dann wird euch diese Gesellschaft bis zu dessen Tod erhalten bleiben! Nur du oder Lilith einst wirst ein- und ausgehen können. Sollte ei ner von meinesgleichen versuchen, dir zu folgen, oder ohne dich einzudringen, wird er qualvoll zugrunde gehen … Mehr konnte ich nicht tun, aber ich weiß, es wird genügen.« Sie sprach so sicher. So felsenfest im Angesicht ihres Todes. »Ich wußte nicht, daß du solche Macht besitzt«, sagte er rauh. »Ich dachte immer, ich wüßte, für wen mein Herz schlägt. Aber heute zweifele ich daran …« Die Trauer in ihren Augen schien überzulaufen. »Ich konnte dir nicht alles sagen. Ich kann es auch jetzt nicht. Es ist besser, wenn du nicht alles weißt. Die Verantwortung würde dich erdrücken.« »Wovon redest du?« »Von Lilith …« Ihre Stimme wurde schwächer. »Von ihrer Bestim mung.« Mit den letzten Atemzügen ihres erlöschenden Lebens weihte sie ihn in Mysterien ein, die ihm den Atem verschlugen. Sie reichte ihm auch einen Beutel, in dem sich ein fast durchsichtiges Pulver befand, und teilte ihm mit, welche Bewandtnis es damit hatte. Und welche Bewandtnis es mit diesem Haus hatte, das sie in ein fluchbeladenes Pharaonengrab verwandelt hatte. Ihre letzten Worte, bevor sie starb, waren: »Du wirst keine Proble me mit Lilith haben. Sie ist nicht wie andere Kinder. Du mußt nur dafür sorgen, daß sie hin und wieder den Stoff des Lebens erhält – alles andere geschieht von selbst. In hundert Jahren wird sie reif sein, diesen Hort zu verlassen und sich ihrer Bestimmung zu stellen …« Sie erklärte noch, was sie mit »Stoff des Lebens« meinte. Blut, hallte es in seinen Schläfen, als sie für immer die Augen
schloß. Als er seine Tochter aus ihren erstarrenden Armen nahm, löste sich kein Laut aus seinem Mund. Lilith schien zu spüren, daß sie ihm ausgeliefert war. Zugleich machte er eine Entdeckung, die es ihm augenblicklich und fortan unmöglich machte, sie zu hassen: Sie sah genau aus wie ihre Mutter – hatte schon als Neugeborenes ihre Augen, ihre Züge, ihr stilles, wissendes Lächeln … Seine nächste Sorge war, daß die Geliebte zu Staub zerfallen könn te. Er wußte um diese Eigenart ihres uralten Volkes. Aber nichts dergleichen geschah. Ihr Antlitz blieb anmutig auch im Tod, und er begrub sie am tiefs ten Punkt des Kellers, um außerhalb des Hauses nicht Gefahr zu laufen, daß die, die sie haßten, sie wieder ausgruben, um ihre grau sigen Riten mit dem Körper zu begehen. Die Andeutungen über Liliths »Bestimmung« ließen ihn nie wie der los. Jahre später bemerkte er, daß am Sterbebett mehr als nur das Gehörte auf ihn übergegangen sein mußte. Bei allem, was gesch ah, wußte er stets intuitiv, wie er zu handeln hatte. Wie von ihr beschworen, verließ er immer nur kurz das Haus und seine Tochter, die sich zu einem Wesen entwickelte, das ihm mehr und mehr unheimlich wurde. Als er das Alleinsein mit ihr psychisch nicht mehr ertrug, erinnerte er sich an eine bestimmte Passage der Prophezeiung. Er holte sich jedoch keine andere Frau, sondern eine Spielkamera din für Lilith. Er stahl ein Kind aus einem Heim. Einem Heim, das diesen Na men nicht verdiente. Es war das Kind eines hingerichteten Mörders und einer Hure, die von einem ihrer Freier erwürgt worden war. Das Mädchen war fünf Jahre alt, als er es an der Hand durch die Siegel führte. Sein Name war Marsha.
In diesem Jahr, in dem das Commonwealth of Australia gegründet wurde, das den Schwarzen ihre Bürgerrechte verweigerte, kam es auch zu einem ersten merkwürdigen Vorfall, wie er sich in den Jah ren danach in unterschiedlicher Weise häufiger wiederholte. Liliths Vater beobachtete einen Aboriginal, der im Garten des Hauses wanderte und jeden Flecken, jeden Baum, jede Blume in sei ner Sprache besang. Dieser Eingeborene sah völlig anders aus als diejenigen, die missioniert in ihren Reservaten hausten, oder in Eisen gelegt für ihre weißen Herren schufteten. Dieser Aboriginal bewegte sich durch den Garten, als gehörte ihm alles, was sich hier erhob, einschließlich des Hauses! Liliths Vater erwog, ihn zu vertreiben. Aber dann verzichtete er darauf, weil der Aboriginal in seinem schlichten Lendenschurz und der breiten, unschuldsvollen Physiognomie – einem in Windeln ge wickelten Kleinkind nicht unähnlich – keinen feindseligen Eindruck vermittelte. Nachdem er die Plätze im Garten besungen hatte, ließ er sich an ei ner Stelle, von wo aus er das Haus im Blick hatte, auf der Erde nie der, verfiel in Meditationsstarre und kauerte dann stundenlang reg los – bis er irgendwann, ebenso unbemerkt, wie er die Mauer über wunden hatte, wieder verschwand. In den Wochen und Monaten danach tauchte er immer wieder ein mal auf. Er schien harmlos, so daß die Dinge im Haus davon unbe rührt ihren Fortlauf nahmen. Wie Lilith, wurde auch Marsha in gewissen Abständen mit Hilfe des hinterlassenen Pulvers in einen dosierten magischen Schlaf ver setzt, der mehrere Zwecke in sich zu vereinen schien. Die »Schlaf phasen« halfen, die ungeheure Zeitspanne von hundert Jahren bis zu Liliths »Reife« zu ertragen. Außerdem träumten die beiden her
anwachsenden Mädchen in diesen Etappen »ein ganz normales Le ben«, in dem die Uhren langsamer liefen, als es der Realität außer halb des Hauses entsprach. Ein Jahr drinnen waren vier bis fünf Jah re draußen. Auch Marsha benötigte mit der Zeit keine normale Nahrung mehr. Das Pulver stellte ihren Stoffwechsel um. Sie schien überhaupt nichts mehr zu sich nehmen zu müssen und ging auch immer selte ner in den magischen Schlaf. Zwischen ihr und Liliths Vater entwi ckelte sich eine Beziehung, als wäre Marsha seine leibliche Tochter. Sie sprachen viel miteinander. Marsha, inzwischen verständig ge nug, übernahm freiwillig Pflichten und wurde von Liliths Vater all mählich eingeweiht, welche besondere Bewandtnis es mit Lilith hat te. Im Gegensatz zu Marsha benötigte Lilith in gewissen Abständen frisches Menschenblut. Weshalb ihr Vater wiederum genötigt war, hin und wieder das Haus zu verlassen, um es zu besorgen. Eines Tages – Lilith lag einmal mehr in magischem Schlaf, Marsha zufällig nicht – ging Liliths Vater, wie Dutzende Male davor, durch die Siegel, und Marsha mußte hilflos mitansehen, wie er direkt vor dem Haus von einer Horde angefallen wurde, die sich im Laufe des grausamen Geschehens als Vampire verrieten. Marsha war zu diesem Zeitpunkt biologisch etwa zwölf Jahre alt. Draußen hingegen schrieb man das Jahr 1929. Liliths Vater hatte keine Chance. Er versuchte noch, zurück ins Haus zu fliehen, aber das ließen sie nicht zu. Er wurde hingerichtet, indem man sein Genick brach und ihn dann fortschleifte. Das Ganze kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn all die Jahre hatte es so ausgesehen, als wäre die Furcht von Liliths Mutter übertrieben gewesen. Bis auf den friedlichen Aboriginal hatte sich nie auch nur eine Gestalt innerhalb der Gartenmauern gezeigt. Die
Siegel wirkten schon auf die Ferne und hielten Neugierige davon ab, das Grundstück betreten zu wollen. Nun, mit der Ermordung, setzte eine Phase stürmischer Ein bruchsversuche ein – die allesamt scheiterten. Niemandem gelang es, den magischen Schutz zu überwinden. Aber viele versuchten es. Für Marsha begann die Zeit ihrer eigentlichen Bewährung. Sie fand einen Brief, den Liliths Vater vorausschauend für den Fall hinterlassen hatte, daß er eines Tages nicht mehr von einem seiner Ausflüge zurückkehren würde. Dieses Schreiben eröffnete ihr, daß es nicht genügend magisches Pulver gab, um zwei Personen über längere Zeit in jenem unerklärlichen Traumzustand zu halten. Und es enthielt zugleich eine makabre Bitte. Da Marsha allein nicht imstande war, durch die Siegel zu gehen und auch Lilith dazu noch nicht in der Lage gewesen wäre, mußte eine andere Lösung gefunden werden, die Tochter einer Vampirin und eines Normalsterblichen am Leben zu erhalten. Im magischen Schlaf, soviel war Marsha längst klar, benötigte Lilith am wenigsten von dem »Lebenssaft«, den das mütterliche Erbe in ihr forderte. Was lag näher, als Lilith von nun an permanent schlafend zu halten? Liliths Vater hatte diesen Ausweg erkannt, mit dem für Marsha nicht unproblematischen Zusatz, daß sie Lilith von nun an immer wieder kleinere Mengen ihres eigenen Blutes durch Transfusion zu führen müsse. Eine entsprechende Vorrichtung fand Marsha im Keller. Sie hätte sich weigern können. Niemand war mehr da, der sie zwingen konnte, dieses Opfer zu bringen. Sie hätte Lilith wecken können, aber dann hätte sie vermutlich nie die Reife erlangt, die nö tig war, um eines Tages ihrer Bestimmung nachzukommen. Marsha weigerte sich nicht. Sie war längst zu einem Bestandteil des Planes geworden, von
dem nicht einmal Liliths Vater wirkliche Details gekannt hatte. Die nächsten Jahre und Jahrzehnte wurden einsam. Es war in höchstem Maße schmerzvoll für Marsha, die Spielkame radin von einst nicht altern, sondern reifen zu sehen. Lilith erblühte fast zeitlupenhaft zu einer begehrenswerten, bildschönen jungen Frau. Für Marsha verlief diese Phase, in der sie vom Kind zur Frau und schließlich zur Greisin wurde, mit alptraumhafter Geschwindigkeit. Sie war selbst ein hübsches Mädchen gewesen. Aber in der Zeit, da sie Männern hätte den Kopf verdrehen können und auch unter ent sprechenden Bedürfnissen litt, war niemand da, der sie hätte befrie digen können. Diese Jahre und die ständige Blutentnahme hinterließen Spuren. Marsha schwankte zwischen Depressionen und der Hoffnung, daß ihr Leben vielleicht doch noch eine Wende erfahren könnte. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Aber es war um das Jahr 1980, als etwas geschah, das Marshas Hoffen kurzzeitig aufflackern ließ. An einem Tag im Herbst führten Geräusche sie in einen der obenliegenden Räume. Als sie ein Zim mer öffnete, stand unvermittelt der Aboriginal vor ihr, den sie über die Jahre immer wieder im Garten beobachtet hatten. Er sagte kein Wort und zeigte auch keine Furcht, wie ein ertappter Sünder etwa. Er starrte Marsha nur durchdringend an, machte einen Schritt auf sie zu und war verschwunden. In den Jahren danach glaubte Marsha immer mehr an eine Sinnes täuschung. Schlüssige Beweise, daß die Begegnung wirklich stattge funden hatte, fand sie nie. Und so verlor sich auch diese Hoffnung, es könnte möglich sein, das Haus doch noch zu verlassen. Die Siegel widerstanden jedem ihrer Versuche. Sie alterte normal.
Der einzige, bis zuletzt wirksame Effekt des in der Kindheit verab reichten Pulvers war, daß sie auf keinerlei Nahrung angewiesen war. Anderenfalls hätte sie kläglich zugrunde gehen müssen. Die Angriffe der Vampire wurden mit der Zeit immer seltener und hörten irgendwann gänzlich auf. Dann kam der Tag, da Marsha ihr Ende nahen fühlte. Sie hatte in zwischen untrügliche Sensibilität erlangt, was ihren genügsamen Körper anging. Der Tod ließ ihr keine andere Wahl, als Lilith nun doch vorzeitig zu wecken. Zwei Jahre vor der Erfüllung der Prophezeiung. Marsha redete sich ein, daß diese zwei Jahre nicht ins Gewicht fal len würden. Liliths Reaktion, als sie geweckt wurde, belehrte sie ei nes Besseren. Aber es war zu spät. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Der Schock, den das Herausreißen aus dem magischen Schlaf aus löste, ließ Lilith völlig konfus aus dem Haus fliehen. Die Siegel boten ihr kaum Widerstand. Sie rannte hinaus in eine fremde, gewalttätige Welt, die sie noch nie zuvor außer in ihren Träumen betreten hatte. Es konnte nicht gutgehen …
* Es war nicht gutgegangen! Und doch, so ahnte Lilith, als die Szenen der Vergangenheit erlo schen, es hätte schlimmer für sie enden können!
Noch wesentlich schlimmer. Dieser Hadrum war ein Wächter gewesen, der nach der Ermor dung ihres Vaters jahrzehntelang darauf gewartet hatte, daß wieder jemand das Haus verließ. Es mußte andere Wächter gegeben haben. Auch heute noch. Sol che, die das Haus bei Tag im Auge behielten. Hadrum war dazu nicht befähigt gewesen. Das hatte seine vernichtende Reaktion auf Sonnenlicht bewiesen … Lilith lag noch lange in der wohligen Dunkelheit des Sarges und dachte über das nach, was sie auf so ungewöhnliche Weise erfahren hatte. Konnte sie den Erinnerungen trauen? Sie hatte die Ereignisse von damals bis heute erlebt, nicht einfach nur gezeigt bekommen. Aber aus wessen Sicht? Sie hatte neben den Bildern auch die Gedanken und Gefühle wechselnder Personen empfangen. Erst die ihrer Mutter, dann von ihrem Vater, später von Marsha. Woher waren diese Informationen gekommen? Hatte das Haus sie gespeichert gehabt? Der Sarg gar? Während sie grübelte, tasteten ihre Hände an sich herab … Sie stieß den Deckel nach oben. Ungewisses Licht, dessen Quelle immer noch verborgen blieb, er füllte das Gewölbe. Lilith sah den Verdacht, der sie beschlichen hatte, als ihre Finger ins Leere getastet hatten, bestätigt: Das Kleid, das sie gefunden und angezogen hatte, war verschwun den. Sie war, bis auf eine Kleinigkeit, wieder nackt. Ein wulstiger
Gürtel, den Lilith sofort wiedererkannte, umschlang ihre schmale Taille. Genauso hatte der Gürtel ausgesehen, den ihre Mutter getragen hatte! Vor beinahe hundert Jahren …? Urplötzlich überkamen Lilith Zweifel, daß sie die Botschaft, von der Marsha gesprochen hatte, überhaupt schon gefunden hatte. Un ter einer Botschaft ihrer Mutter stellte sie sich etwas viel Persönli cheres vor als das eben Erlebte … Bemerkenswert war auch, daß Lilith sich auch nach dieser »haut nahen Vision« nicht an die Namen ihrer Eltern erinnern konnte. Da für entsann sie sich, daß hier unten das Grab ihrer Mutter zu finden sein sollte. Sie kletterte aus dem Sarg, in dem sie – sie konnte es immer noch nicht recht glauben – so lange Zeit überdauert hatte. Die Vorrichtung, mit der Marsha Transfusionen durchgeführt hat te, stand hinter einem Pfeiler in der Nähe. Der Apparat sah primitiv und bedrohlich aus. Das Grundgerüst schien aus grauem, verstei nertem Holz zu bestehen. Glasballons und Gummischläuche, die in nadelspitzen Metallkanülen endeten, an denen noch etwas Dunkles haftete, vervollständigten das Bild. Lilith forschte vergeblich nach Einstichen in ihrer Haut. Marsha hatte von Transfusionen gesprochen, und in den Armen der Greisin hatte Lilith auch deutlich die Narben der Einstiche gesehen. Marsha … Die Jahre mit ihr nur Träume? Nur Illusionen, vorgegaukelt von einem magischen Pulver? Aber warum? Lilith hatte ein nach menschlichen Maßstäben etwa 20jähriges Le
ben erträumt, während draußen, in dem, was die Wirklichkeit zu sein schien, 98 Jahre verstrichen waren! Neben der tiefen Erschütterung, die diese Erkenntnis hinterließ, blieb das Warum? Sie hätte noch Dutzende dieser »Warums« hinzufügen können. Auch Marsha hatte von »Reife« und »Bestimmung« gesprochen, ohne dabei konkret zu werden. Vermutlich hatte sie gar nicht mehr darüber gewußt. Bei Liliths Mutter lag der Fall anders. Lilith hatte das Gefühl, ab sichtlich von ihr im Ungewissen gelassen worden zu sein! Ich bin eine Vampirin – zumindest zur Hälfte, dachte sie und setzte sich langsam in Bewegung. Ihre Nacktheit störte sie immer noch nicht, zumal sie keine Kälte spürte. Sie bemühte sich, den Gürtel, der sich eng um ihre Hüfte schlang, zu öffnen. Es scheiterte. Sie hatte vorerst keine andere Wahl, als den Gürtel weiter zu tragen, auch wenn ihr rätselhaft blieb, wie er an ihren Körper gelangt war. Lilith versuchte sich zu erinnern, wo ihr Vater ihre Mutter beige setzt hatte. Genaues hatte die Vision nicht verraten, und das Gewölbe war weitläufig genug, um noch einiges verborgen zu halten. Die Wände, die es eingrenzten, sahen wie aus dem nackten Fels herausgehauen aus. Lilith hatte den sehnlichen Wunsch, die letzte Ruhestätte ihrer Mutter zu sehen. Ohne auf den Schmutz und die Spinnweben zu achten, suchte sie alle Ecken und Winkel ab. Sie gelangte dabei auch in eine Zone, wo zwar dieselbe Staubdicke lag wie überall, aber niemand seine Fuß spuren hinterlassen hatte.
Erstaunt beobachtete Lilith das Phänomen, daß auch ihre Füße kei ne Eindrücke hinterließen. Sie lief über den Staub wie über ein moo siges Polster. Wenn sie weiterging, richteten sich die Dellen wieder auf und wurden unsichtbar. Ein paar Schritte weiter war es wieder normal. Hier blieben die Spuren. Fasziniert schritt Lilith das Gebiet ab. Binnen kürzester Zeit hatte sie mit ihren Füßen eine Fläche »abgesteckt«, die etwa ein Meter auf zwei Meter maß. Diesem »nachfedernden« Bereich widmete sie ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Sie stellte sich in die ungefähre Mitte und ließ sich auf ihre Knie nieder. Dann begann sie, die Staubschicht beiseite zu wischen, was wider Erwarten ganz einfach war. Außerhalb der Rechteckfläche türmte sich der Schmutz etwas höher. Lilith arbeitete schneller, als der glatte, glasartige Boden sichtbar wurde. Zunächst glaubte sie, in einen Spiegel zu blicken, weil ein verschwommenes Gesicht zu ihr hochstarrte. Dann erkannte sie die Wahrheit, und ihr Herz geriet für ein paar Schläge außer Takt. Mutter! Niemand sagte ihr, ob sie recht hatte. Aber wem sollte das pup penhafte Gesicht, das aus dem Glas zu ihr heraufstarrte, sonst gehö ren? In fiebriger Hast legte sie die gesamte Fläche blank. Der Körper der in den Boden eingelassenen Nackten sah aus wie in Bernstein gegossen – und er hatte frappierende Ähnlichkeit mit Lilith, die bis auf den Gürtel ebenfalls nackt war. Hundert Jahre hatten den toten Körper nicht verwesen lassen. Auch wenn er nur so verschwommen sichtbar war wie Liliths Spie gelbild, gab es daran keinen Zweifel. »Mutter!« Diesmal schrie Lilith es laut.
Sie rutschte auf den Knien und rieb mit den Händen über den glä sernen Boden, der hart war wie Diamant. Sie beugte sich vor, bis ihre Brüste auflagen, und suchte nach einer Deckelfuge. Der seltsa me Gürtel schabte dabei über den Boden. Lilith hatte nie mit einer Antwort auf ihren Ausruf gerechnet. Doch im nächsten Moment erwachte eine fremde Stimme zwischen ihren Gedanken. »Ich habe immer gehofft, daß dieser Moment kommen würde. Daß du deine Reife erreichst und deine Wiege als Kämpferin verläßt …« »Mutter?« Lilith hielt den Atem an. Ihre Nervenenden brannten, als würde sie im Hitzeinferno eines Scheiterhaufens stehen. Die Stimme, die keinen Schall benötigte, um getragen zu werden, und die dennoch zu verstehen war, schwankte vor Wehmut. »Wenn alles gutgegangen ist, dürften jetzt genau hundert Jahre nach dem Kalen der der Menschen verstrichen sein. Dein Vater mag tot sein. Er war kein Vampir und damit nicht unsterblich. Selbst ICH, eine aus der Alten Fami lie, mußte erst sterben, damit DU leben konntest! Oh, wie sehr ich hoffe, alles richtig gemacht zu haben! Ich werde es nicht mehr erfahren. Oder vielleicht doch eines fernen Tages, aber bis dahin ist es noch ein langer, gefährlicher und sehr komplizierter Weg. Ich gehe davon aus, daß auch dich der Durst nach Blut manchmal peini gen wird. Du bist zwar zur Hälfte Mensch, aber die andere Hälfte – mein Erbe – wird sich nicht immer unterdrücken lassen. Versuche gar nicht erst, dagegen anzukämpfen. Du kannst nicht aus deiner Haut – niemand ver mag das. Wir alle, ganz gleich ob Mensch oder Vampir, folgen vorgezeich neten, verwobenen Schicksalspfaden. Es kann ein Leben oder eine Ewigkeit dauern, alle Zusammenhänge zu durchschauen. Den wenigsten gelingt es, mehr als einen winzigen Ausschnitt der Rätsel, mit denen sie verkettet
sind, zu erhaschen. Du wirst viele Fäden entwirren, viele Geheimnisse schauen, das wurde dir bestimmt. Halte dir immer vor Augen, daß du ANDERS bist, einma lig! Du mußt keine Rücksichten auf andere nehmen. Du wirst nur dir selbst Verantwortung zollen müssen. Wenn du glaubst, deinen besonderen Durst stillen zu müssen, stille ihn! Nimm dir stets, was du brauchst! Ein Menschenleben ist bedeutungslos. Sie ahnen ja nicht einmal, wie sie all die Jahrtausende nur von uns benutzt wurden. Daß wir sie in grauer Vorzeit, als wir noch VIELE waren, hielten wie Vieh …« Lilith erschauderte unter den schroffen Worten. Es traf sie unvor bereitet. Sie hatte sich ihre Mutter nach dem, was sie visionär ge schaut hatte, anders vorgestellt. Warmherziger. Alles in ihr sträubte sich dagegen, sich die »Philosophie« ihrer Mutter zu eigen zu machen. »Hast du nicht einst auch einen … Menschen geliebt?« Daran, daß die Stimme einsetzte, ehe sie ausgesprochen hatte, und überhaupt nicht auf ihren Einwand einging, erkannte Lilith endgül tig, daß sie einer Täuschung erlegen war. Ihre Mutter sprach nicht jetzt zu ihr. Das, was Lilith »hören« konnte, war vermutlich die kon servierte Botschaft, von der Marsha gesprochen hatte. Ein Dialog war nicht möglich. Sie konnte nur zuhören. Nicht einmal widerspre chen, wo es ihrer Meinung nach nötig gewesen wäre. » … kann dir keine goldene Zukunft verheißen«, fuhr die Geiststimme fort. »Deine Bestimmung ist auf einen einfachen Nenner zu bringen: Er heißt KAMPF. Du wirst dich mit Feinden bekriegen, die jeder Beschrei bung spotten und hier und heute deine Vorstellung sprengen würden. Landru ist einer von ihnen. Merke dir diesen Namen gut: LANDRU. Vor ihm nimm dich besonders in acht. Er schwor schon damals, alles zu tun, um MICH zu vernichten. Wenn die Kunde ihn erreicht, daß du dem siche ren Hort entschlüpft bist – und sie wird ihn erreichen! – wirst du nirgends
mehr sicher vor ihm sein. Viel kann ich dir nicht über ihn sagen. Wenig ist über seine Herkunft be kannt, und selbst dieses Wenige ist voller Widersprüche. Seines Aussehens wegen nennen sie ihn auch ›den Fahlen‹. Er wandelt seit mindestens 900 Jahren auf der Erde. Vielleicht noch länger. Seine Spuren verwischen, im Dunkel der Zeiten. Über deine Bestimmung darf ich dir nichts verraten – was dir schon zeigt, daß auch ich nicht aus freien Stücken so handelte, wie es geschah. Nicht einmal dein Vater ahnte, wie fremdbestimmt ich war. Ich konnte mich meinem Schicksal so wenig widersetzen wie du dich dem deinen. Vor dergründig wird es darum gehen, Vampire zu stellen, wo immer du ihnen begegnest oder wo sie dir nachstellen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, die eine Seite der Medaille. Irgendwann, so steht es geschrieben, wirst du selbst die ganze Wahrheit erkennen. Trete bis dahin allen Vampiren und denen, die mit ihnen paktieren, gnadenlos gegenüber – auch wenn es dich verwundern mag, daß eine Vampirin wie deine eigene Mutter dir solches abverlangt. Vieles ist nicht, wie es dir jetzt noch erscheint. Schrittweise wirst du erfahren, wo dein Schicksalsfaden endet. GEH DEINEN WEG! Das ist alles, was ich dir noch raten kann. An Feinden wird kein Mangel herrschen. Nimm jede Herausforderung an. Folge deinem Gefühl. Auch deinen Trieben. Verleugne nichts, was dich bewegt. Freunde müssen nicht immer als solche erkennbar sein – dasselbe trifft auf deine Feinde zu. Was ich vorhin über die Menschen sagte, mag dich erschreckt haben. Aber es gibt natürlich Ausnahmen wie deinen Vater. Ein Mensch kann dir geben, was kein Vampir je vermag. Ich habe es geschätzt. Und wenn du mir nur ein bißchen ähnlich bist, wirst du erfahren, was ich meine … Noch einmal: Geh deinen Weg!
Bekämpfe die Vampire! Behalte das Kleid – dir bleibt ohnehin keine Wahl mehr. Es ist mein teu erstes Vermächtnis. Der Preis, es zu tragen, ist hoch. Aber der Lohn ist hö her … Und jetzt kämpfe wohl, meine wunderschöne Tochter Lilith. Mache deinem Namen Ehre!«
* Wie betäubt richtete Lilith sich auf. Woher hatte ihre Mutter gewußt, daß ihre Tochter eines Tages schön sein würde … War sie das über haupt, wunderschön? Der Boden hatte seine Transparenz verloren und wirkte überhaupt nicht mehr gläsern wie zuvor. Er unterschied sich in nichts von der Umgebung, und als Lilith die Probe aufs Exempel machte und mit dem Fuß Staub auf die Rechteckfläche schaufelte, machte es keinen Unterschied mehr, ob sie innerhalb der Grabumrisse darauf trat oder außerhalb. Der »Polstereffekt« war verschwunden. Der auch nach fast hundert Jahren scheinbar völlig unversehrte Körper ihrer toten Mutter hatte sich jedem Blick entzogen. Es gab nicht einmal mehr einen stichhaltigen Beweis, daß der Leichnam tatsächlich hier unter dem Stein verborgen lag … Geh deinen Weg! Lilith straffte sich. Sie selbst brauchte keine Beweise. Sie wußte, daß sie sich all dies nicht nur eingebildet hatte. Die Botschaft ihrer Mut ter hatte eine Wandlung in ihr vollzogen. Das ganze Ausmaß würde ihr erst viel später bewußt werden. Lilith kehrte zu dem leeren Sarg zurück, wo sie viele Jahre ein Le ben geträumt hatte, das in dieser Weise nie stattgefunden hatte. Sie
hatte vieles an der Wirklichkeit als falsch empfunden, weil es in ihrer Traumvorstellung anders gewirkt hatte. Die Farben. Die Gerüche. Wie sich Gras anfühlte. Oder die sexuelle Vereinigung zweier Kör per … Bekämpfe die Vampire! War Hadrum ein Vampir gewesen? Er selbst hatte sich als »Die nerkreatur« bezeichnet. Als Sklave, der von eigener Macht und An erkennung träumte. Rein äußerlich hatte er – soweit Lilith es beurteilen konnte – alle Attribute eines Vampirs besessen. Nach allem, was sie visionär geschaut und erfahren hatte, war Li lith jedoch sicher, daß es Unterscheidungen unter Blutsaugern geben mußte. Sie selbst hatte auch dieses unselige, unstillbare Verlangen nach Blut. Wurden die Menschen, von denen sie »trank«, deshalb auch auto matisch zu … Dienerkreaturen? Obwohl sie nicht wußte, woher sie die Überzeugung nahm, glaub te sie es nicht. Hadrum war von der aufgehenden Sonne getötet worden. Ihr selbst hatte das Tageslicht nur Kopfschmerz verursacht. Lag diese »Immunität« an ihrem menschlichen Erbteil oder gab es Vampire, die wie sie das Tageslicht nicht zu scheuen brauchten? Ihre Mutter schien sich, zumindest zeitweise, auch bei Tag zu rechtgefunden zu haben, und sie war eine reinblütige Vampirin ge wesen … War sie das? Lilith gestand sich ein, daß sie immer noch viel zu wenig über ihre Eltern wußte. Behalte das Kleid!
Sie zuckte zusammen. Wie von selbst tasteten ihre Finger nach dem Gürtel, der sich anstatt des Vermächtnisses ihrer Mutter um ihre Taille schmiegte. Sie verstand immer noch nicht, was geschehen war, während die Vergangenheit lebendig vor ihrem Geist auferstanden war. Mit dem gefundenen Kleid, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, war sie in den Sarg gestiegen – nur mit einem Gürtel wieder heraus … Ein Hauch von Eiseskälte streifte sie. Es gab nur eine denkbare Er klärung: Außer ihr war doch noch jemand im Haus, und dieser Je mand mußte den Tausch vollzogen haben, während sie in einem Trancezustand im Sarg gelegen hatte! Sie schauderte bei dem Gedanken. Inzwischen wußte sie, daß es sich um keine ihr vertraute Person handeln konnte. Vater, Mutter und »Gouvernante« waren tot … Ein Donnerschlag hallte wie ein drohender Gong durch das Ge wölbe und schreckte Lilith auf. Ihr wurde bewußt, daß sich etwas in der Atmosphäre des Hauses verändert hatte, seit sie in den Keller hinabgestiegen war. Schon bei ihrer Ankunft hatte sie dieses Knir schen im Fels gehört – nun war ihr, als schwankte der Boden unter ih ren Füßen. Als wanderten die Wände auf sie zu, um sie zu zermal men … Sie beeilte sich, zur Treppe zu gelangen. Auch dort wartete nicht mehr jene rabenschwarze Dunkelheit, die den Blick auf die Wendelkonstruktion verhüllt hatte. Alles war un natürlich erhellt, und Lilith stockte der Atem, als sie sah, wie hoch sich die Treppenspirale erstreckte. So weit war sie herabgestiegen? Die Stufen schienen sich kilometerweit in die Höhe zu schrauben. Es mußte eine Täuschung sein!
Lilith sah sich ein letztes Mal um, ehe sie den Fuß auf die Treppe setzte. Elmsfeuer durchtanzten das Gewölbe. Überall flackerten Lichtent ladungen und produzierten ein unwirkliches, trockenes Gewitter, immer wieder durchdrungen von Donnerschlägen, die ihren Ur sprung oben im Haus zu haben schienen und sich bis hier herunter pflanzten. Lilith riß sich von dem faszinierenden Schauspiel los und rannte treppauf. Es kann nicht wahr sein, redete sie sich ein. Die Treppe ist niemals so hoch! Doch sie kam kaum von der Stelle. Bleigewichte schienen an ihren Beinen zu zerren. Das Knirschen im Fels und anderer Lärm wurden so laut, daß sie fürchtete, alles könnte über ihr zusammenstürzen und sie unmittelbar bei ihrer Mutter begraben … Als es wahrhaft apokalyptisch wurde, blickte sie hinter sich und bemerkte zu ihrer Verblüffung, daß sie bereits gut die Hälfte der Treppe hinter sich gebracht hatte. Mitten in die Erleichterung, daß es doch voranging, brach das be reits bewältigte Treppenstück mit Getöse unter ihr weg. Von unten stob eine riesige Staubwolke zu Lilith empor und hüllte sie ein, ohne daß sie aufhörte, weiterzulaufen. Wie die Restkonstruktion tragfähig blieb, war ihr egal. Sie dachte nicht darüber nach, sondern holte das letzte aus ihrem Körper her aus. Mit einem Schrei rettete sie sich aus der Kellertür und blieb keu chend auf dem Boden liegen. Sie war wütend und erschöpft zu gleich. Sie haßte dieses Haus plötzlich – und irritierenderweise hatte sie das Gefühl, als ob das Haus auch sie nicht mehr mochte. Nach ein paar Minuten der Erholung kehrte sie zur Kellertür zu rück und warf einen Blick nach unten. Die Staubwolke hatte sich ge
legt. Die Treppe hörte auf halber Strecke zum Keller einfach auf. Un ten lagen die Trümmer verstreut. Bis zum Boden waren es etwa dreißig bis vierzig Meter – bei wei tem kein Kilometer! Lilith wich kopfschüttelnd zurück. Sie spürte den Drang, das Haus so rasch wie möglich zu verlassen. Zuvor wollte sie aber noch einmal in das Zimmer zurückkehren, wo die Greisin gestorben war, die ihr zunächst als Spielgefährtin und später dann als aufopferungsvolle Behüterin gedient hatte. Das Gefühl, indirekt die Schuld an Marshas lebenslänglicher Ge fangenschaft zu tragen, saß Lilith immer noch wie ein Kloß in der Kehle. Insgeheim erwartete sie, daß Marshas Sterbezimmer nach den all gemeinen Veränderungen nicht mehr so aussehen würde, wie sie es verlassen hatte. Doch der Raum war, was seine Einrichtung anging, unverändert. Nur das Bett war leer. Erst jetzt erkannte Lilith, daß sie mit etwas in dieser Art gerechnet hatte. Nach ihrem Kleid war nun auch Marshas Leichnam ver schwunden. Steckte ein und derselbe Täter dahinter? Aber wer, außer ihr, ging hier noch ein und aus? Freund oder Feind? Ein Freund hätte sie nicht bestohlen … Oder doch? »Freunde müssen nicht immer als solche erkennbar sein – dasselbe trifft auf deine Feinde zu«, fiel ihr das Orakel ihrer Mutter ein. Sie erstarrte, als sich etwas von ihren nackten Füßen löste, das wie die Schatten ihrer Füße anmutete! Als würde ein Geist Fußstapfen erzeugen, die erloschen, sobald er
den nächsten Schritt tat … Die Schattenfüße verließen Marshas Sterbezimmer. Obwohl Lilith diese Beobachtung erst einmal verdauen mußte, folgte sie den schemenhaften Füßen, die nicht ihr selbst, sondern ei nem Mann zu gehören schienen. Das Ziel schien der Raum zu sein, in dem sie beim ersten Betreten ihr Jungmädchenzimmer wiedererkannt zu haben glaubte. Hier la gen plötzlich wieder die Spiegelscherben am Boden, ohne daß ande res Mobiliar zurückgekehrt war. Der Fremde, der am Boden saß, war ihr nicht gänzlich unbekannt. Es war der Aboriginal, der schon von ihrem Vater und später von Marsha in Garten und Haus beobachtet worden war. Obwohl dieser Mann einen Anzug wie ein weißer Geschäftsmann trug, gab es dar an keinen Zweifel. Sein grimmig breites Gesicht wurde von filzlocki gen, eisgrauen Haaren und einem ebensolchen Bart umrahmt. Die Wangen waren eingekerbt und bildeten ein strenges, umgedrehtes V, das von der Nasenwurzel bis unter die Ohren reichte. Die Augen lagen so weit in den Höhlen, daß sie von den wulstigen Brauen be schattet wurden. Der Aboriginal besaß eines dieser Gesichter, das noch nie gelächelt zu haben schien, weil es andere Formen der Heiterkeit kannte oder überhaupt keinen Frohsinn. Erstaunlicherweise dachte Lilith keine Sekunde an ihre Nacktheit. Der Fremde wirkte jenseits von Gut und Böse. Seine Augen waren auch nicht auf sie, sondern – sie fröstelte – in sie gerichtet. Das Gefühl, etwas sagen zu müssen, war nicht länger zu unter drücken. »Wer sind Sie?« Ihre Stimme schien von den Scherben aufgesogen zu werden. Der Aboriginal erhob sich. Seine Hände waren gespreizt. Die hel
len Höfe seiner Fingernägel zeigten auf Lilith. »Ich kenne Sie!« versuchte sie ihn zu einer Reaktion zu bewegen, mit der sie etwas anfangen konnte. »Haben Sie … Marsha beseitigt?« Er stand nur statuesk da, aber plötzlich fühlte Lilith ihre Haut von wüstenhafter Hitze umweht. Hinter dem Aboriginal verschwand die Wand, der Boden veränderte seine Beschaffenheit, und unver mittelt glaubte sie, mitten im australischen Outback zu stehen, unter sengender Sonne. Einen Lidschlag später war nicht nur die Landschaft, sondern auch der Aboriginal verschwunden. Das Zimmer präsentierte sich wieder kahl und öde. Die zurückgelassenen Scherben schmolzen wie Tautropfen auf einem heißen Stein. Rückstände hinterließen sie nicht. Wie Marsha. Wie der Aboriginal. Lilith wandte sich ab. Die Wände des Zimmers bogen sich von ihr weg. Die Türöffnung wurde auseinandergezogen wie Knetmasse. Als sie aber über den schwankenden Boden hindurchgehen wollte, schnellte alles zusam men und versuchte, sie zu zerquetschen. Etwas stach in Liliths Nieren, als wollte es ihr die Sporen geben. Der Schmerz schloß ihr kurz die Augen. Danach war das Zimmer wieder normal. Das unterschwellig Be drohliche blieb jedoch. Sie begriff endgültig, daß sie hier nicht län ger geduldet wurde. Irgendein schwer nachvollziehbarer Mechanis mus war in Gang geraten. Was der Auslöser dafür gewesen war, ließ sich schwer bestimmen. Ich bin zu früh erwacht, dachte Lilith verschwommen. Doch ihr fehl te das Wissen um Zusammenhänge, so daß sie nicht wirklich sagen
konnte, ob in ihrem vorzeitigen Verlassen des Hauses der Grund für die überall spürbaren Veränderungen lag. Immerhin war sie zurück gekehrt. Es war müßig, darüber nachzudenken. Es war auch sinnlos, über den geheimnisvollen Aboriginal zu grü beln, der – wenn er mit jenem identisch war, den ihr Vater und Marsha beobachtet hatten – schon ein hohes Alter haben mußte. Schon damals hatte er alt ausgesehen. Heute mußte er ein Methusa lem sein! Erregte Stimmen lenkten ihre Aufmerksamkeit ab. Sie kehrte ins Erdgeschoß zurück. Die Rufe, das wurde bald deutlich, kamen von draußen. Jemand war im Garten. Dann geschah etwas Unheimliches. Als hätte das Haus auf ihren Wunsch reagiert, das Treiben dort draußen sehen zu können, wurden die Außenwände plötzlich durchscheinend. Klarer noch als der Deckel über dem Grab im Kel ler! Es schien überhaupt keine Barriere mehr zwischen der Vorhalle und dem Garten, wo sich eine aufgeregte Menge eingefunden hatte, zu existieren. Aber die Art und Weise, wie sich die Menschen be nahmen, verriet, daß dieser Effekt nur einseitig war! Vergeblich rannte man draußen gegen die Attrappen an, die man als solche offenbar erkannt hatte. Woher die vielen Leute kamen, begriff Lilith erst, als sie Nick un ter ihnen entdeckte. Heißes Verlangen durchströmte ihre Lenden. Sie verstand selbst nicht, daß sie in dieser Situation daran denken konnte. Der Taxifahrer, einige Uniformierte und viele Schaulustige dräng
ten sich in der verdorrten Zone vor dem Haus und mühten sich red lich – einstweilen aber noch ohne Erfolg – Zugang ins Haus zu fin den. Ein etwas abseits stehender, alter Herr fiel Lilith auf, aber erst beim zweiten Hinsehen begriff sie, wer sich hinter der Maske des Biedermanns versteckte. Ein Vampir! Lilith erstarrte kurz vor Furcht. Dann schüttelte sie den lähmen den Einfluß ab und suchte nach einem Ausweg. Eine Weile lauschte sie den Worten, die draußen gesprochen wurden. Immer wieder wurde lauthals Unglaube darüber geäußert, daß es ein Haus wie dieses überhaupt gab. Ein Haus ohne Zugänge … Das war das zen trale Gesprächsthema, an dem sich der alte Herr jedoch nicht betei ligte. Er schien nur zu beobachten und darauf zu warten, daß etwas geschah, das ihm Gelegenheit gab, aktiv zu werden. Er wird dich töten! Er dich oder du ihn. Der Schnellere, der Bessere und Stärkere wird überleben! Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie wußte, daß ihr Verstand die Wahrheit gesagt hatte. Aber sie wollte jetzt keine Konfrontation. Sie war noch nicht bereit. Die Siegel hielten noch stand, aber Lilith ahnte, daß der Schutz der Attrappen nicht mehr lange bestehen würde. Die Sicherheit, die da von vorgegaukelt wurde, war so trügerisch wie die aufgemalten Fenster und Türen. Etwas an dem Haus hatte sich seit ihrem Erwachen nachteilig ver ändert. Seine Tarnkraft und sein Schutz schienen zu zerfallen, mit je der verstreichenden Minute mehr. So viele Jahre hatte Magie das Haus vor neugierigen Menschen und zerstörungswütigen Vampiren behütet. Nun schien es nur eine Frage der Zeit, bis man draußen Mittel und Wege fand, einzudringen, und dann … Ich muß weg!
Sie warf einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu Nick, der sie immer noch reizte. Natürlich hatte er gewußt, zu welcher Adresse sie sich wenden wollte. Er hatte die Polizei hierher geführt. Ihre Nacktheit wurde jetzt zum Problem. Sie brauchte dringend et was zum Anziehen, um nicht sofort aufzufallen. Nur mit einem selt samen Gürtel bekleidet, würde sie Schwierigkeiten haben, sich län ger als fünf Minuten auf freiem Fuß zu bewegen. Sie hatte ihre Befürchtung noch nicht zu Ende gedacht, als der Schmerz einsetzte und sich Dunkelheit wie ein stählerner Kokon um sie herum errichtete. Tausend nadelspitze, widerhakende Zähne bis sen sich in ihre Haut. Etwas dem Tode Ähnliches senkte sich über sie. Dann kehrte ihre Wahrnehmungsfähigkeit zurück. Sie sah an sich herab. Sie trug ein eher schlichtes, locker fallendes, knielanges Kleid in biederem Grau – nicht zu vergleichen mit dem sündhaft kurzen Kleid, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte! Eine Woge der Lust folgte dem Aussetzen jeder Wahrnehmung. Als sie auch unter dem Kleid keinen Gürtel mehr ertasten konnte, keimte ein phantastischer Verdacht in Lilith auf. Waren Gürtel und Kleid … eins? War sie doch noch im Besitz des Vermächtnisses, das die Stimme ihrer Mutter als ihr »teuerstes« bezeichnet hatte? War es ihr gar nicht gestohlen worden, weder von dem schweigsamen Abo riginal, noch von irgend jemand sonst? Aber dieses Kleid sah ganz anders aus … Ein Kleidungsstück, das Mimikryfähigkeit besaß und sich auf Wunsch seiner Trägerin der jeweiligen Situation anpaßte …? Ein verrückter Gedanke. Lilith unternahm dennoch einen Test, wollte die Probe aufs Exem pel machen. Sie wünschte sich mit aller Intensität das Kleid zurück, das sie als Hinterlassenschaft ihrer Mutter im Keller gefunden hatte.
Enttäuscht stellte sie fest, daß nichts passierte. Der Stoff auf ihrer Haut änderte seine Schlichtheit nicht. Vielleicht ist er nur intelligenter als du, dachte Lilith sarkastisch. Er weiß, was besser für dich ist in dieser speziellen Situation. Dann geschah doch noch etwas. Ein prickelndes Gefühl kroch wie Gänsehaut über ihren Körper. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie alles andere als brav gekleidet. Wie in einem kurzen Aufblitzen sah sie etwas an sich, das noch viel anrüchiger wirkte als das Ür sprungskleid: ein knappes, rot-schwarzes Kostüm, ergänzt von oberschenkelhohen, schwarzen Stulpenstiefeln und bis zu den Ellen bogen reichenden, gleichfalls schwarzen Handschuhen … Als Lilith einmal blinzelte, war der verschwommene Eindruck ver schwunden. Das Rumoren aus dem Herzen des Hauses erinnerte sie daran, was vorrangig war. Sie verschaffte sich einen Überblick, wo sie das Gebäude unbe merkt verlassen konnte. Die Menschen drängten sich hauptsächlich vor beiden Türattrappen. Seitliche Fenster, ebenfalls nur Attrappen, beachtete niemand. Als Lilith durch die Siegel ging, hatte sie das unbestimmte Gefühl eines Abschieds für immer. Es machte sie unermeßlich traurig, denn sie wollte zurückkehren. Vielleicht nicht heute oder morgen – aber ir gendwann. Zum Grab ihrer Mutter …
* Die Sonne stand wie ein glutroter Ball am Himmel und bereitete Li lith die bereits bekannten Kopfschmerzen. Doch das Unwohlsein
wich rasch einer Vielfalt auf sie einstürzender Bilder. Lilith hatte Mühe, ihre Schritte gelassen durch das abendliche Sydney zu len ken. Bohrender Hunger fraß in ihren Eingeweiden und ließ alles, was Vergangenheit war, nebensächlich erscheinen. Ihre Kehle war wie ausgedörrt, und zum ersten Mal, seit sie Nick ohnmächtig im Taxi zurückgelassen hatte, spürte sie wieder dieses unzähmbare Verlangen, das nur ein Mensch stillen konnte. Die Be gierde, die nach fremder Haut schrie. Und nach Blut. Warmem, pul sierendem, erregendem Blut. Die Straßen, Plätze und Häuser waren voll davon, der Tisch reichlich gedeckt. Lilith ging schneller. Einen jungen, dandyhaften Typen, der aus seinem Cabrio, das am Straßenrand parkte, übermütig zu ihr herüberpfiff, schien sie anzu lächeln. Er zumindest mochte es glauben. Insbesondere, als sie ziel strebig auf ihn zusteuerte. In Wahrheit war es viel mehr als ein Lä cheln. Sie zeigte Zähne … ENDE
Der Moloch von Adrian Doyle Lilith wagt den Schritt in die Wirklichkeit – in eine Welt, die sie nur aus ihren Träumen kennt. Unvorbereitet steht sie ihren Feinden und tausend Gefahren gegenüber, noch verwirrt von den Enthüllungen ihrer toten Mutter. Und während sie noch ihr erstes Opfer sucht, um den brennenden Durst nach Sex und Blut zu löschen, hinterläßt sie einen Moloch, der ebenfalls auf Opfer aus ist. Doch dessen Gelüste sind gänzlich ande rer Natur – verhängnisvoll und grausam für alle, die ihn betreten. Er ist das Haus. Ein Vampir ganz besonderer Art:
DER MOLOCH