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EP- KRIMINALROMANE Die neue Erfolgsreihe aus dem Erich-Pabel-Verlag THRILLER – EP-Kriminalromane – verkörpern den modernen Typ des „harten“ Kriminalromans, wie er sich, seit Jahren im Ausland, insbesondere in Amerika, Frankreich und England, durchgesetzt hat. Im Gegensatz au dem klassischen englischen Detektivroman, dessen Handlung von der Gedankenkonstruktion ausgeht und bei dem die rein logische Lösung des Kriminalfalls das Primäre ist, bringt der moderne amerikanischfranzösische Kriminalroman die Handlung in einem harten Wirklichkeitsstil. Die Helden werden nicht, wie im englischen Detektivroman, vor der Brutalität der Ereignisse geschont, sondern mitten hineingestellt und der Tragik, der Unsicherheit und Lebensangst unserer Zeit ausgeliefert. Die Entwicklung in der modernen Kriminal-Literatur führt zum erregenden Spannungsroman – zum „THRILLER“ (engl. Wort, sprich: sriller), der trotz seiner harten Ausdrucksform das Menschliche in den Vordergrund stellt und eines der ewigen Themen „Der Mensch im kriminalistischen Konflikt mit seiner Umwelt“ in den verschiedensten Variationen gestaltet. Die Anfang März neu erscheinende EP-Romanreihe THRILLER, 96 Seiten, Preis 1,– DM, setzt die Erfolgslinie der UTOPIAGroßbände und UTOPIA-Krimi fort und bringt, aus dem Französischen und Englischen übersetzt, Bestseller auf dem Gebiet des „harten“ Kriminalromans.
Sie lesen in UTOPIA.Krimi 1:
Das Experiment des Grauens von Jean David Kann ein Mann einen Lastwagen ins Wasser werfen? Kann ein Mann einen tonnenschweren Steinsockel sterilen und ihn von einem Dach auf die Straße werfen? Kann er eine ganze Schule mit zwei Omnibussen entführen? Lauter unlösbare Fragen. Aber Jelly Roos, ein beherzter Reporter, klemmt sich dahinter. Er kommt einer Sache auf die Spur, die so unglaubwürdig klingt, daß zuerst mehrere Menschen das Leben und er einen Arm verlieren muß, bevor die Polizei eingreift und mit einem Panzer erscheint. Aber wer steht hinter all diesen rätselhaften Ereignissen? Und wer ist Otto? Sie erfahren es auf den folgenden Seiten. Der Roman UNE CHOSE DANS LA NUIT von Jean David war im Ausland Fesselnd wie EDGAR WALLACE ein großer Erfolg. Er beschränkt sich nicht auf eine Kriminalhandlung, sonGeheimnisvoll wie dern läßt Sie ebenso stark auch das EDGAR A. POE Geheimnisvolle, Unerklärliche, aber Zukunftweisend wie auch menschliche Schicksale erleben. HANS DOMINIK Dieser Roman wird auch in Deutschsind land wie eine Bombe einschlagen und UTOPIA-Krimi Sie werden ihn wie Zehntausende vor Ihnen atemlos in einem Zug auslesen.
UTOPIA-Krimi erscheinen monatlich
UTOPIA-Krimi bringen in vier Wochen den utopisch-phantastiseheb Kriminalroman
Die Todesspinne von Benoit Becker Benoit Becker, einer der bekanntesten Verfasser utopisch-phantastischer Kriminalromane, hat in seinem Roman EXPEDITION EPOUVANTE meisterhaft geschildert, wie selbst in unsere Zeit das Überwirkliche, ja Phantastische einbrechen kann und unsere kalte Vernunft zuschanden werden läßt. Ein erregender, ungewöhnlicher Roman, der Sie mit jeder Seite mehr und mehr in seinen Bann schlagen wird. Bereits auf den ersten Seiten werden Sie fasziniert und gefesselt von einer Handlung, die Ihnen den Atem nimmt. Die turbulenten Geschehnisse stellen Ihre Nerven auf eine harte Zerreißprobe, und Sie müssen schon eine große Portion Mut mitbringen, wenn Sie über alle Runden der Angst und Furcht kommen wollen. Die geheimnisvolle Atmosphäre eines Edgar A, Poe schlägt Ihnen in diesem Roman entgegen, und Sie müssen sich außerdem gegen die Fesselungskünste eines Edgar Wal-lace wehren. Ein bekannter Franzose hatte recht, als er zu diesem Roman sagte: „Alles in allem, man geht beim Lesen der ‚Todesspinne’ ein Wagnis ein. Man muß als Leser entweder hart im Nehmen sein, oder man darf diesen Roman nicht lesen, wenn man allein im Zimmer ist.“
UTOPIA-Krimi lesen bedeutet eine Nacht ohne Schlaf verbringen
UTOPIA-Krimi Utopisch-phantastischer Kriminalroman Das Experiment des Grauens Von Jean Davis Origibaltitel: UNECHOSE DANS LA NUIT Übersetzt aus dem Französischen Von Fritzheinz van Doornick Erich Pabel Verlag Rastatt
UTOPIA-Krimi – utopisch-phantastische Kriminalromane Deutsche Lizenzausgabe 1956 im Verlag Erich Pabel, Rastatt (Baden), Copyright by Fleuve Noir, Paris. Herausgeber und Verleger sowie Gesamtherstellung und Auslieferung: Druck- und Verlagshaus Erich Pabel, Rastatt (Baden). Alleinauslieferung für Österreich: Eduard Verbik, Salzburg, Gaswerkgasse 7. – Erscheint monatlich. Zur Zeit ist Anzeigenpreisliste Nr. 4 vom 15. Juli 1955 gültig. – Gewerbsmäßige Weiterverbreitung dieses Heftes in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers zulässig. Gewerbsmäßiger Umtausch, Verleih oder Handel unter Ladenpreis vom Verleger untersagt. Scan by Brrazo 03/2010 – Zuwiderhandlungen verpflichten zum Schadenersatz.
1. Kapitel Baxter war nahe daran, zu explodieren. „Nicht ein einziges Verbrechen?“ „Kein einziges, Chef.“ „Arme Menschheit! Und wie ist es mit Unfällen?“ „Werfen Sie bitte einen Blick auf die Statistiken; wir erlebten das seit drei Jahren unfallärmste Wochenende.“ „Verdammte Automobilisten … Politik interessiert Sie natürlich nicht?“ „Sie fällt nicht in mein Arbeitsgebiet; zudem geht der Streik der Hafenarbeiter seinem Ende entgegen.“ „Der Teufel soll die Hafenarbeiter holen. Und weil die Welt in Langeweile ertrinkt, erwarten Sie, daß der ‚Guardian’ seinen Betrieb einstellt!“ „Das habe ich niemals gefordert, Chef“, stellte ich klar. „Dann aber, verehrter ‚Herr’ Roos, haben Sie bitte die Freundlichkeit und sagen Sie mir, was ich in meinem Blatt veröffentlichen soll! Ich setze nämlich voraus, daß es Ihren Kollegen ebenso sehr an Phantasie mangelt wie Ihnen.“ Die Szene, die sich schon viele Male wiederholt hatte, begann mich zu langweilen. „Herr Baxter“, bemerkte ich nach einer Weile des Überlegens, „seit fünfzehn Jahren arbeite ich für den ‚Guardian’. Seit fünfzehn Jahren bringe ich täglich meine Artikel, und ich weiß, daß der Großteil der Leser die Zeitung nur meiner Artikel wegen kauft!“ „Roos!“ „Ich kann Ihnen den Beweis liefern; außerdem kenne ich meinen Beruf. Und wenn ich Ihnen nun erkläre, daß sich in dieser Woche tatsächlich nicht das geringste ereignet hat, dann …“ „Roos, vom journalistischen Standpunkt aus …“ 7
„Ich weiß, vom journalistischen Standpunkt aus passiert immer etwas. Deshalb verspreche ich Ihnen, daß Sie in spätestens zwei Stunden mein Manuskript haben sollen, und es wird ebenso leidenschaftlich, spannend und erregend wie an anderen Tagen sein.“ „Hätten Sie es nicht gleich mitbringen können?“ „Das war ausgeschlossen, weil sich vorhin noch nichts ereignet hatte.“ „Und was ist seit Ihrer Ankunft hier geschehen?“ „Ich habe soeben festgestellt, daß dem Zoologischen Garten ein Raubtier entflohen ist!“ Ohne ein Wort hinzuzufügen, stand ich auf und griff nach meinem Hut. Ich wußte, daß ich meine Stellung aufs Spiel setzte, aber ich hatte genug von Baxters ewigen Wutanfällen. Schließlich gab es neben dem „Guardian“ auch noch andere Zeitungen in der Stadt. Baxter brauchte eine Weile, bis er begriffen hatte. Dann platzte er. „Roos!“ heulte er auf. Ich werde niemals erfahren, was sich gegen mich vorbereitete, denn in diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Donavan kam in den Raum gestürzt. „Chef, eine ganz große Sensation!“ Donavan gehörte zu den Fotoreportern des Hauses. „Hat man Ihnen niemals beigebracht, daß man vor dem Betreten eines Raumes seine Hand zur Faust ballt, zum Anklopfen erhebt und …“ „Chef“, lachte Donavan, „wenn man so etwas mitbringt, hat man kein Klopfen nötig.“ Er hielt Baxter einen noch feuchten Abzug unter die Nase. Baxter setzte seine Brille auf, sah das Bild an und warf ihm einen harten Blick zu. „Sind Sie verrückt geworden, Donavan?“ „Ich hatte tatsächlich geglaubt, daß ich den Verstand verloren 8
habe. Ich mußte mich an meinem Kodak festhalten, um nicht auf den Rücken zu fallen.“ „Und wo wollen Sie diese Aufnahme gemacht haben?“ „Erkennen Sie die Stelle denn nicht?“ Baxter schüttelte den Kopf. „Es ist die Lincoln-Brücke.“ Der Chef warf noch einen Blick auf die Aufnahme und riß sie dann langsam in kleine Fetzen. „Mister Baxter …!“ protestierte Donavan und stotterte vor Erregung. „Herr Donavan“, entgegnete Baxter ihm eiskalt, „ich entsinne mich noch genau des Tages, an dem Sie Ihren Anstellungsvertrag unterzeichneten. Ich habe Sie …“ „Aber …“ „Ich habe Sie als Reporter und nicht als Märchenerzähler angestellt. Wenn ich Fotomontagen haben will, lasse ich mir einen unserer Fachleute kommen.“ „Es ist keine Montage! Ich habe die Aufnahme heute früh um 6 Uhr gemacht!“ „Herr Donavan …“ Jetzt hatte ich endgültig genug von Baxters großherrlichem Benehmen. So wartete ich die unvermeidliche Auseinandersetzung gar nicht ab, sondern verdrückte mich unauffällig. Ich stellte mich in den Fahrstuhl, wo Joe mich mit den Worten begrüßte: „Knallt’s, Herr Roos?“ „Es knallt!“ antwortete ich traditionsgemäß. Vom Redaktionsgebäude ging ich zu Tonys Drugstore, wo wir gewöhnlich Brötchen oder Würstchen aßen. Abwesend grüßte ich die Bekannten und setzte mich in eine Ecke – in der stillen Hoffnung, daß das Straßenbild mir vielleicht einen Einfall gebe. Vor mir lag ein Notizblock, der sich langsam mit sinnlosen Zeichnungen bedeckte. Und dann sah ich Cora kommen. 9
Der Hut saß schief auf ihrem Kopf, und ihr Blick war ärgerlich. Sie setzte sich an meine Seite und gab mir nicht einmal einen Kuß. „Was ist denn los?“ fragte ich, von unklarer Hoffnung angespornt. „Makkaroni …“, antwortete sie einfach. Ich sah sie verblüfft an und gab meine Verständnislosigkeit zum Ausdruck. „Vorhin war ich in einem Warenhaus, um ein Meter Seidenband zu kaufen. Ich mußte durch die Lebensmittelabteilung. Die Makkaroni waren eingetroffen!“ „Ich verstehe noch immer nicht.“ „Makkaroni für die Italiener … Sie schlugen sich beinahe um Teigwaren, Olivenöl, Tomatensaft und Gorgonzola. Und ich wurde von der Menge überlaufen. Mein Hut flog davon, ich wurde zwischen zwei Eisschränke gequetscht und mußte mit den Fäusten um mich schlagen, um endlich freizukommen. Dabei hat man mir fast die Kleider vom Leib gerissen.“ „Wo war das denn?“ „Bei Harpers.“ „Endlich ein Ereignis! Komm …“ Ich stand auf, warf ein Geldstück auf den Tisch und packte Cora bei der Hand. „Jelly, was ist denn mit dir los?“ „Die erste Sensation, die sich seit acht Tagen in dieser Stadt ereignet. Schnell!“ Wir bestiegen meinen Wagen, und als wir uns dem in der Hafengegend gelegenen Warenhaus genähert hatten, stellte ich fest, daß der Anmarsch der Italiener noch an Umfang gewonnen hatte. Ich sah einige Polizisten auf das Geschäft zulaufen. Ich hielt an und stieg aus, während Cora im Fahrzeug blieb. Bereits in der Tür erkannte ich, daß der Zwischenfall den Umfang einer Katastrophe anzunehmen schien. Es war, als ob alle am Hafen wohnenden Italiener hier zusammengekommen seien. 10
Da waren Frauen aller Altersklassen, hübsche und dicke, kleine und große, die heulten, brüllten, seufzten und einen teuflischen Lärm verübten. Angsterfüllt waren die Verkäuferinnen geflüchtet; man bediente sich selbst und warf das Geld einfach hinter die Theke. Abteilungsleiter, Polizisten und selbst Vertreter der Direktion versuchten vergeblich, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Ich umschlich das Schlachtfeld, kam in die Wäscheabteilung und redete eine neugierig auf die Theke gesprungene Verkäuferin an. „Was geschieht hier eigentlich?“ „Die Italiener kaufen ihren Chianti und ihre Spaghetti.“ „Und weshalb kommen sie in Stoßtrupps?“ „Weil sie drei Monate auf ihre Lieblingsspeise haben verzichten müssen. Durch den Hafenarbeiterstreik …“ „Richtig! Ich danke Ihnen.“ Durch eine andere Tür eilte ich hinaus. Cora saß geduldig im Wagen. „Du sollst hundert Meter Seidenband haben!“ rief ich begeistert. „Ein Meter genügt mir, wenn ich nicht noch mal eine solche Szene mitmachen muß.“ „Und jetzt fahren wir essen.“ Doch zuvor kehrten wir in den Drugstore zurück, wo ich in aller Eile vier Seiten vollschmierte, von denen es nach Knoblauch. Chianti und würzigem Käse stank. Den Artikel ließ ich sofort zur Redaktion des „Guardian“ bringen. * Am nächsten Morgen gegen 8 Uhr war ich eben intensiv mit meinen Schinkeneiern beschäftigt, als der Fernsprecher weckte. Zu meiner Überraschung rief Baxter höchstpersönlich an. Es war mehr als selten, daß er seine Untergebenen in ihren Wohnungen störte. 11
„Hören Sie zu, Roos, man hat Donavan als Toten aufgefunden!“ „Als Toten?“ „Als Ermordeten, besser gesagt; man hat ihn in gräßlicher Weise umgebracht.“ „Gütiger Himmel!“ „Sie suchten ja nach Sensationen; jetzt haben Sie eine. Die Polizei ist bereits an Ort und Stelle. Das Verbrechen ereignete sich …“ „Auf der Lincoln-Brücke!“ rief ich aus, von irgendeiner Ahnung getrieben. „Wie haben Sie das erraten?“ „Das kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.“ Ich hing ab, ging ins Schlafzimmer, hauchte der noch im Schlummer liegenden Cora einen Kuß auf die Stirn und eilte in die Garage.
2. Kapitel Donavan konnte noch nicht lange tot sein, denn unterwegs wurde ich von einigen Polizisten und einem Krankenwagen überholt. Die Brückenaufgänge wimmelten von Menschen. Ich stellte meinen Wagen in eine Nebenstraße und raste auf die Brücke, zeigte meine Ausweise und erreichte jene Stelle, die jetzt „Schauplatz des Verbrechens“ hieß. Das Bild, das mich hier erwartete, übertraf in seiner grauenvollen Häßlichkeit alles, was menschliche Phantasie sich vorstellen kann. Es war, als ob ein Panzer schwersten Kalibers über Donavan hinweggerollt sei. Fassungslos standen Polizisten und Krankenträger vor dem Leichnam. Einer von ihnen, der Inspektor, war mir von Ansehen bekannt. Ich stellte mich ihm vor. „Hat Pech gehabt, Ihr Kollege.“ „Was ist ihm denn eigentlich geschehen? Wer hat ihn ums Leben gebracht?“ 12
„Ich weiß es nicht; man hat ihn bei Tagesanbruch hier gefunden. Kannten Sie ihn?“ „Natürlich.“ „Was war er für ein Bursche? Hatte er Feinde?“ „Ebenso viele oder wenige wie Sie und ich. Doch ich frage mich umsonst nach dem Mann, der es fertigbringen könnte, ihn auf der Lincoln-Brücke mit einer tonnenschweren Keule niederzuschlagen.“ „Vielleicht handelt es sich um einen Unfall?“ „Ausgeschlossen!“ Ein Wagen kam angebraust, dem der Polizeiarzt entstieg. Er betrachtete den Toten und schauderte. „Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich ein solches Bild gesehen“, erklärte er. „Damals handelte es sich um einen Burschen, dem ein Haus über dem Kopf zusammengebrochen war.“ „Hier ist aber kein Haus zusammengebrochen!“ Der Inspektor wandte sich nervös zur Seite. „Was ist denn los?“ Ein uniformierter Motorradfahrer war eingetroffen und übergab ihm eine Meldung, die er hastig überflog. Seine Augen rundeten sich vor Erstaunen. Kopfschüttelnd gab er das Papier an mich weiter. In der vom dritten Kommissariat stammenden Meldung hieß es: „Für Leutnant Fisholt. Jeffries-Statue in der Park Avenue ist umgeworfen worden. Sockel ist verschwunden. Interessiert Sie das? Major Hind.“ „Aus was ist dieser Sockel?“ fragte er mich plötzlich. „Aus Beton, wenn ich die Denkmäler meiner Stadt richtig kenne.“ „Trauen Sie sich zu, ihn zu stehlen?“ „Heute gewiß nicht.“ Der Arzt schaltete sich wieder in die Unterhaltung ein. „Major Hinds Hinweis hat etwas für sich. Hier handelt es sich um ein ganz ungewöhnliches Verbrechen; gleichzeitig erhalten wir die 13
Nachricht von einem weiteren, absonderlichen Ereignis. Beide stehen vielleicht miteinander in Verbindung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Donavan von dem Sockel eines Denkmals erschlagen wurde.“ „Einverstanden“, nickte Fisholt. „Wer aber hat den Sockel genommen, um Donavan damit zu ermorden?“ „Das ist ein polizeiliches Problem und nicht meine Sache“, bemerkte der Arzt. „Handelt es sich um ein großes Denkmal? Ich entsinne mich im Augenblick nicht …“ „Nein, das Denkmal ist nicht übergroß, aber der Sockel muß immerhin zwischen drei und fünf Tonnen wiegen. Doktor, kehren Sie auf die Erde zurück!“ „Wenn Sie wollen, gern; dann sagen Sie mir eine andere Lösung. Wo ist der Sockel denn geblieben?“ „Jener Mann, der stark genug war, ihn davonzutragen, hat ihn wahrscheinlich mit sich genommen. Das wenigstens wage ich zu behaupten, ohne mich als einen Narren zu betrachten.“ „Vielleicht wurde er ins Wasser geworfen …“, bemerkte ich. Die Menge der Neugierigen wurde immer dichter, doch im Gegensatz zu ähnlichen Aufläufen an anderen Tagen vernahm man jetzt so gut wie kein Wort. Es war, als ob dumpfe Angst über den Leuten lagere. Leutnant Fisholt zuckte die Schultern. „Weiteres Hierbleiben ist ganz zwecklos. Doktor, tun Sie alles, um mir einen möglichst gründlichen Rapport zu beschaffen.“ In diesem Augenblick drängte sich ein anderer Wagen langsam durch die Menge. Da die Polizei jeden Verkehr auf der Brücke verboten hatte, mußte es sich bei dem Ankömmling um eine wichtige Persönlichkeit handeln. Als das Fahrzeug näher kam, erkannte ich Baxters Buick. Also hatte der Alte sich selbst zum Kommen aufgerafft. Er stieg aus, betrachtete zögernd den Leichnam und kam auf mich zu. Fisholt musterte ihn mit finsteren Blicken. 14
„Baxter, Herausgeber des ‚Guardian’“, stellte der Alte sich vor. „Einer meiner besten Mitarbeiter hat mich verlassen.“ Er zerdrückte eine nicht vorhandene Träne, und die Blitzlichter einiger Pressereporter leuchteten auf. Ich dachte an gestern und an die Art, in der er Donavan behandelt hatte. „Und Sie hatten das alles vorausgesehen, Roos!“ Er verwechselte immer alles, doch Fisholt war nicht gewillt, die Bemerkung zu überhören. Er fuhr herum, als ob etwas ihn gestochen habe. „Was ist das? Sie hatten das Verbrechen vorausgesehen?“ „Gewiß doch“, nickte Baxter. „Ich habe überhaupt nichts vorausgesehen“, widersprach ich wütend. „Erklären Sie bitte!“ „Heute früh, als ich ihn anrief …“, begann Baxter in feierlichem Tonfall. „Heute früh, als Sie mit mir sprachen, habe ich lediglich erraten, wo dieser Mord sich ereignete!“ stellte ich klar. „Und Sie wissen genau, weshalb ich es erraten konnte.“ „Der Teufel soll mich holen, wenn …“, knurrte Baxter. „Das ist ja hochinteressant“, knurrte Fisholt. „Vielleicht unterhalten wir uns darüber auf dem dritten Kommissariat? Ich will ja nicht behaupten, daß ein Mann wie Sie das JeffriesDenkmal stahl, aber …“ Baxter schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Zeit; man erwartet mich auf einer Verwaltungsratssitzung. Befragen Sie lieber meinen Reporter.“ Er schüttelte den Kopf. „Wie kommen Sie überhaupt auf den Gedanken, daß ich ein Denkmal gestohlen haben könnte?“ Er warf Fisholt einen finsteren Blick zu. „Für wen halten Sie mich, Herr?“ Ich wollte eingreifen und vermitteln, doch Baxter ging bereits auf seinen Wagen zu. Er öffnete die Vordertür und setzte sich neben den Fahrer. Langsam fuhr der Buick an. 15
Und alles das, was sich jetzt ereignete, spielte sich in Bruchteilen von Sekunden ab. Irgendwo hörte man zunächst den schrillen, spitzen Schrei einer Frau; dann wurde ein Pfeifen laut, wie es allen denjenigen in Erinnerung geblieben ist, die im Kriege das Fallen von Bomben hörten. Alles hob den Kopf. Eine gewaltige, riesige Masse stürzte durch die Luft auf uns zu. Der Gegenstand wurde immer größer, seine Schnelligkeit steigerte sich. Es war unmöglich, genau zu erkennen, wo das unheimliche Ding niederstürzen würde. Aus der Menge stieg ein Heulen auf. Man flüchtete in alle Richtungen. Eine hundertstel Sekunde später stürzte die Masse nieder. Die Brücke begann zu zittern, und vorübergehend glaubte ich, sie würde zusammenbrechen. Ich zog den Kopf ein. Es gab einen fürchterlichen Stoß, dem sofort eine Explosion folgte. Ein glühendheißer Luftstoß umgab mich. Das Bild war entsetzlich. Der Steinblock hatte den hinteren Teil von Baxters Wagen getroffen, der sofort in Brand geraten war. Zugleich war die Masse zersprungen und hatte unzählige Menschen durch kleinere oder größere Trümmer zu Boden geschleudert. Aus dem brennenden Tank des Fahrzeugs kam das Benzin und hüllte alles in eine Flammenwand. Alle Unverletzten rasten davon, ich wollte mich ihnen anschließen, doch fiel mir Baxters Wagen ein. Er stand in hellen Flammen. Die Insassen, dachte ich, die Insassen! Ich warf einen Blick hinter mich und sah, wie der im ersten Entsetzen geflüchtete Fisholt im Laufschritt zurückkehrte. Sein Anblick machte mir Mut. So raste ich durch die Flammen auf den Wagen zu, versuchte, die Türen zu öffnen. Ich verspürte unsägliche Qualen. „Roos, kommen Sie zurück!“ brüllte Fisholt hinter mir. 16
Ich fühlte, wie seine Hände mich packten und durch die Flammen auf die Brücke zurücktrugen. „Lassen Sie mich!“ heulte, weinte, schrie ich. „Ich muß ihnen helfen.“ Ich wollte aufstehen, aber Fisholt hielt mich fest. Noch einmal bäumte ich mich auf und verlor dann das Bewußtsein.
3. Kapitel Ich erwachte in einem Zimmer des St.-Georg-Spitals. Schmerzen hatte ich nicht, fühlte mich aber entsetzlich müde. Mein Gesicht und meine Hände waren verbunden. Am Fenster stand Cora und blickte auf die Straße hinaus. Es war so angenehm, am Leben zu sein. Noch rief ich nicht nach Cora; ganz langsam wollte ich in das Dasein zurückfinden. Doch ehe ich etwas hätte sagen können, wandte sich Cora um, sah mich lange an und sagte kopfschüttelnd: „Ich weiß nicht, ob ich dich küssen oder verprügeln soll. Sag mal, Jelly, schämst du dich nicht? Im Alter von fünfunddreißig Jahren spielt man nicht mehr den Helden.“ „Das war es nicht, Cora; es war einfach stärker als ich. Andere mögen vielleicht von Heldentum reden, doch derjenige, der die Tat begeht, handelt in einem geradezu traumhaften Zustand.“ „Verzeih mir, Jelly“, sprach Cora hastig, „ich wollte dir keinen Vorwurf machen. Ich bin aber am Ende meiner Kraft.“ „Warum denn nur, Cora? Ich lebe doch!“ „Gewiß, aber drei Stunden habe ich im Wartezimmer gesessen, während man dich behandelte.“ „Drei Stunden Pflege – einiger lächerlicher Brandwunden wegen?“ „Beruhige dich, Jelly!“ Coras Haltung kam mir seltsam vor. Sie hatte sich wieder an das Fenster gestellt. 17
„Von wem sind die Blumen?“ fragte ich, nur um etwas zu sagen. „Von mir – und von Frau Baxter“, antwortete Cora, ohne sich umzudrehen. „Schon von Frau Baxter?“ wunderte ich mich. „Sie stehen hier bereits seit vorgestern!“ Ich war so überrascht, daß ich die Stirn hochzog, und diese unbeabsichtigte Bewegung verursachte mir einen solchen Schmerz, daß ich einen leisen Schrei nicht unterdrücken konnte. Cora fuhr herum. „Jelly!“ rief sie aus. Sie eilte an das Bett und drückte auf einen Glockenknopf. Mein Atem ging hastiger, der Schmerz wurde unerträglich. Ich mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht aufzubrüllen. Unklar bemerkte ich, wie die Tür geöffnet wurde, man gab mir eine Spritze, und um mich wurde es Nacht. * Als ich wieder erwachte, war ich allein im Zimmer. Neue Blumen standen auf meinem Nachttisch, für mich gegenwärtig der einzige, dazu sehr ungewisse Kalender. Unsicher begann ich, meinen Arm zu heben; nur zu deutlich war die Erinnerung an den ersten Schmerz noch in mir. Der Arm war bis über die Finger hinaus eingebunden. Langsam versuchte ich, mich zu entspannen, und empfand, daß ich etwas stärker geworden war. Donavan … Baxter … Der Sockel des Jeffries-Denkmals … Ich versuchte, mich zu erinnern, aber meine Gedanken verwirrten sich. Wo mochte Cora sein? Gewiß, sie konnte nicht ihre Tage im Spital verbringen; trotzdem aber wollte ich wissen, wo sie sich befand. Minuten vergingen, lang wie Jahrhunderte. Überall herrschte 18
tiefes Schweigen, das gewohnte und doch so unfaßbare Schweigen eines Krankenhauses, das nur gelegentlich von leichten und schleppenden Schritten unterbrochen wurde. Und über dem Waschbecken befand sich kein Spiegel … Dann kam der Arzt, und ich hatte mit ihm eine lange Unterredung. Er schüttelte den Kopf. „Ausgeschlossen, Roos! Sie wissen, daß es unmöglich ist.“ „Sie wollen mir wohl etwas von der Ethik des ärztlichen Berufs vorsingen?“ Ich versuchte, zu lachen. „Wahrscheinlich glauben Sie, mich gerettet zu haben?“ „Wir haben getan, was wir konnten; ich gebe zu, daß es nicht wunderbar ist, aber Sie leben!“ Dann sagte er mir, was mein künftiges Leben sein würde, und abermals lachte ich bitter auf. „Nennen Sie das ein Leben – mit einem entstellten Gesicht, einer plastischen Maske auf der Haut und … Da ergreift ja selbst ein Henker die Flucht.“ „Sie werden keinen Menschen in die Flucht jagen!“ widersprach er. „Die Gesichtsmaske wird so vollkommen sein, daß …“ „Und meine Frau!“ rief ich aus. „Glauben Sie, daß ich es jemals wagen würde, mich Cora mit einer plastischen Gesichtsmaske zu nähern? Nein, Doktor, seien Sie so nett und vergessen Sie irgend etwas – eine Pastille, eine Tinktur, ein Pülverchen, das mich von allen Leiden erlöst!“ „Krampf, mein Junge!“ lachte der Arzt. „Ich will, daß Sie am Leben bleiben und wieder ein vernünftiger Mensch werden. Und ich setze meine Ehre aufs Spiel, daß es mir gelingen wird. Lassen Sie mir ein oder zwei Jahre Zeit; dann werden wir eine neue gesichtsästhetische Behandlung beginnen und …“ Abermals lachte ich auf. „Ich verstehe Ihre Haltung, mein Alter“, sprach der Arzt beruhigend. „Ein so lebendiger und aktiver Mensch wie Sie muß sich ja gegen den Schlag des Schicksals empören.“ „Lassen Sie doch diese Redereien!“ 19
„Es sind keine Redereien; außerdem weiß ich, unter welchen Umständen Sie verletzt würden.“ Er steckte eine Zigarette an, beugte sich über mich und führte sie sanft zwischen meine Lippen. „Etwas verwundert mich an Ihnen“, fuhr er dann fort. „Man hat mir immer gesagt, daß Sie ein Kämpfer seien, im guten Sinne des Wortes.“ „Wollen Sie jetzt Märchen erzählen?“ „Und jetzt, da Sie einen ernsten Kampf um das eigene Leben zu fechten haben, geben Sie nach, lassen Sie sich sinken und denken an Selbstmord!“ Ich stieß einen Fluch aus. * Und dann, eines Tages … Zunächst roch ich Rosenduft, und noch ehe ich die Augen öffnete, begriff ich, daß man wieder einmal die Blumen gewechselt hatte. Dann sah ich, wie der Arzt sich über mich beugte, und als ich sein Lächeln erkannte, hatte ich keine Erklärung mehr nötig. „Bravo, Alter“, sagte ich ihm, „Sie haben gewonnen!“ Ohne Antwort zu geben, reichte er mir sein Zigarettenpaket. „Sie wissen doch genau, daß ich nicht zugreifen kann; Sie haben mir ja die rechte Hand amputiert.“ „Immerhin haben Sie noch einen linken Arm“, stellte er sachlich fest. Tatsächlich, ich hatte noch einen linken Arm, eine linke Hand, und konnte sie bewegen. Ich warf einen Blick um mich und stellte zu meiner Verblüffung fest, daß sich über dem Waschbecken wieder ein Spiegel befand. Noch immer hielt der Arzt mir die Zigaretten unter die Nase, ich griff zu, führte sie an den Mund und fühlte, daß auch mein Gesichtsverband verschwunden war. Sofort richtete ich mich auf, 20
verließ das Bett und schritt, von dem Doktor aufmerksam beobachtet, vorsichtig bis an das Becken, sah mich im Spiegel an. Das also war ich, wie einst und doch vollkommen neu: ich hatte ein faltenloses, seltsam kühles und glattes neues Gesicht bekommen. „Wunderbare Arbeit“, meinte grinsend der Arzt. „Außerdem brauchen Sie sich nicht mehr zu rasieren.“ Ich kehrte ins Bett zurück, und er gab mir endlich Feuer. „Können Sie mir auch mein künftiges Lebensprogramm bekanntgeben?“ fragte ich spottend. „Setzen Sie sich sofort mit Leutnant Fisholt in Verbindung; er zerplatzt beinahe vor Begierde, Sie zu sehen.“ „Dann soll er doch kommen.“ „Nein, mein Lieber“, widersprach er, „Sie sind mir lange genug lästig gefallen. Ich habe Ihre Kleider kommen lassen. Da liegen sie. Ziehen Sie sich an und verschwinden Sie!“ „Sie glauben also …?“ „Ich glaube nicht, sondern ich weiß. Auf Wiedersehen!“
4. Kapitel Dann stand ich auf dem Bürgersteig, vor dem Spital. In der Pförtnerloge warf ich einen raschen Blick auf den Kalender. Er zeigte den 18. April an. Folglich war ich über drei Wochen im Krankenhaus gewesen. Ich blickte um mich und fühlte mich in meinem doch so vertrauten Anzug recht unbehaglich. Um den Hals hatte ich eine Krawatte, die die Pflegerin mir gebunden hatte. Dazu hatte sie behauptet, daß ich mir binnen einer Woche ganz ausgezeichnet mit meiner linken Hand helfen könne, selbst beim Krawattenbinden. In der linken Tasche befanden sich ein Paket Zigaretten und ein Feuerzeug; dafür aber war mein Geldbeutel leer wie der Kopf eines Zeitungsverlegers. 21
Zunächst hatte ich die Absicht, zur Redaktion zu gehen, verzichtete dann aber auf die Ausführung dieses Planes. Obwohl es mir alles andere als angenehm war, jetzt die Gattin meines verstorbenen Chefs zu besuchen, zog ich dieses vor. Sie war gewiß die einzige, die mich nicht auslachen würde; sie war auch die einzige, vor der ich mich nicht schämte. Nach einigen Schritten rief ich eine Taxe an und ließ mich zur Villa Leslie Baxters bringen. Eine Viertelstunde später waren wir am Ziel. Der Hausmeister öffnete. Ich kannte den Burschen, da ich den Alten ungezählte Male besucht hatte. Hingegen wußte er mich nicht unterzubringen, weshalb ich meinen Namen nannte. „Oh, Herr Roos!“ rief er aus. Er war ein gutgezogener Diener und verzog keine Miene. „Ich komme eben aus dem Spital und habe keinen Pfennig in der Tasche. Würden Sie wohl den Fahrer bezahlen?“ „Gewiß doch, Herr Roos.“ Noch ehe ich ausgesprochen hatte, war er bereits auf den Chauffeur zugeeilt, zahlte und führte mich in den Salon. „Ich werde die gnädige Frau unterrichten.“ Während ich unruhig wartete, fragte ich mich, wie Leslie mich wohl empfangen würde. Sie war eine nette Frau, etwa vierzig Jahre alt, und bedeutend liebenswürdiger als ihr stets tobender Gatte. Bis heute hatte ich mich stets gut mit ihr verstanden. Nervös ging ich hin und her, bis sich die Tür öffnete und sie eintrat. „Jelly!“ rief sie aus. Sie verschlang mich geradezu mit den Augen und zitterte etwas, sagte aber kein Wort. Dann wollte sie mir die Hand reichen, erkannte meinen leeren rechten Ärmel und errötete. „Ich habe noch eine linke Hand, Leslie, aber sie ist vorerst sehr gebrechlich.“ „Natürlich, Jelly, setzen Sie sich. Ob ich wohl jemals in der Lage sein werde, Ihnen …“ 22
„Leslie, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann schneiden Sie nie wieder dieses Thema an. Wenn ich Danksagungen beanspruchen wollte, wäre ich nicht nach hier gekommen, um Sie zu stören.“ „Mich stören? Aber Jelly!“ „Ein Bursche meiner Art ist immer ein Störenfried. Widersprechen Sie nicht, denn ich weiß Bescheid. Ich möchte mich jetzt ganz nüchtern unterhalten; Sie wissen, daß ich noch nie in der Lage war, großartige und feierliche Reden zu führen. Sie dürfen aber überzeugt sein, daß ich Ihren Kummer kenne und ich diesen aufrichtigen Herzens teile.“ „Jelly, besser könnte kein Mensch sich ausdrücken.“ „Bei mir ist es etwas anderes. Man hat mich sozusagen gegen meinen Willen dem Leben zurückgegeben. Jetzt, da es geschehen ist, muß ich auch mein Dasein führen. Weshalb ich fragen wollte: Glauben Sie, daß ein Bursche meiner Art dem ‚Guardian’ auch nur den geringsten Dienst leisten kann? Wenn das nicht der Fall ist, dann sagen Sie es offen; ich werde dann eine andere Arbeit suchen.“ „Sie sind ein Narr, Jelly. Sie wissen genau, daß die Zeitung Joes Eigentum war. Thomas ist noch nicht alt genug, um die Nachfolge seines Vaters anzutreten; er ist vor ein paar Tagen erst fünfzehn Jahre alt geworden.“ „Sie beabsichtigen wohl nicht …“ „Doch, Jelly! Sie sind einer unserer ältesten Mitarbeiter und besitzen alle Qualitäten, um …“ „Nein, Leslie, das ist ja Unsinn. Sie glauben sich mir gegenüber verpflichtet, weil … Es gibt Kerls, die mehr auf Draht sind als ich, die für den Posten eines Chefredakteurs hervorragend geeignet sind. Welche Autorität könnte ich mit meinem plastischen Gesicht schon haben?“ „Aber …“ „Nein, nein! Nehmen Sie Steward; er ist der gegebene Mann. 23
Wenn es Ihnen recht ist, verlange ich nicht mehr, als jene Arbeit fortzusetzen, die ich bis jetzt für den ‚Guardian’ getan habe. Mir stellt sich nur eine Frage: Werden Sie es aushalten können, mich in meiner gegenwärtigen Aufmachung zu sehen?“ „Jelly, ich verstehe Sie nicht! Was hat das denn mit mir zu tun?“ „Weil ich nur mehr mit Ihnen verhandeln möchte. Ich will mich in der Redaktion nicht mehr sehen lassen. Ich bringe Ihnen meine Artikel, Sie zahlen mich aus und …“ „Ich verstehe“, unterbrach sie mich. „Verstehen Sie auch richtig? Wird es Ihnen möglich sein, immer wieder dieses tote Gesicht anzusehen und durch mich an Joes Tod erinnert zu werden?“ „Es wird mich vor allem daran erinnern, daß im Augenblick höchster Gefahr ein herzhafter Mann da war, der ihm helfen wollte. – Wie hart Sie geworden sind, Jelly.“ „Ich bin noch niemals weichherzig gewesen.“ „Fast habe ich nicht den Mut, Sie zu fragen, wie Sie sich Cora gegenüber verhalten wollen.“ „Ich werde sie selbstverständlich verlassen.“ „Vor ein paar Tagen war sie bei mir; sie möchte Sie so gern wiedersehen.“ „Sie würden mir den größten Dienst tun, Leslie, wenn Sie sie überzeugen wollten, daß ihr einziges Heil in einer Scheidung liegt. Ich habe vom ‚Guardian’ noch für vierzehn Tage Gehalt zu bekommen; können Sie mir das Geld vorschießen?“ „Natürlich, Jelly. Und was Cora anbelangt, möchte ich Sie um etwas bitten. Gestatten Sie mir, daß ich mich ein wenig nach ihr umsehe. Es ist ja beinahe, als ob sie Witwe sei. Ich weiß, daß sie leidet, zumal Sie ihr jeden Krankenbesuch verboten hatten.“ „Wenn Sie es wünschen, Leslie! Sie sind jedenfalls ein feiner Kerl.“ Ich steckte mein Gehalt ein und ging. 24
In einer anderen Taxe ließ ich mich zum dritten Kommissariat fahren. Unterwegs übte ich das Zigarettenanzünden. Es gelang nach dem dritten Versuch. Im Wachlokal ließ ich mich bei Fisholt melden; allzu großes Aufsehen schien mein Gesicht hier nicht zu erregen. Fisholt empfing mich sofort, sah mich lange an und sagte dann: „Die Jungens haben Sie ganz nett hergerichtet.“ „Sie sind offenbar leicht zufriedenzustellen.“ „Jedenfalls haben Sie sich nicht gleich nach dem Unfall gesehen. Ich dachte nicht, daß ich Sie noch lebend ins Spital bringen würde.“ „Am erstaunlichsten war, daß ich nicht den geringsten Schmerz verspürte.“ „Ich kenne das; man ist wie betäubt. Haben Sie seit Ihrer Einlieferung ins Krankenhaus Zeitungen gelesen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Folglich wissen Sie nicht, was sich seit Ihrem Unfall ereignet hat?“ „Wollen Sie behaupten, daß sich neue Zwischenfälle ereignet haben?“ „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Es ereignen sich die seltsamsten Dinge; ich kann aber nicht behaupten, daß sie mit den drei Wochen alten Geschehnissen in Verbindung stehen.“ „Erzählen Sie!“ „Vor allem habe ich eine Frage an Sie zu richten, die ich Ihnen schon vor drei Wochen stellen wollte. Leider ließ man mich nicht ins Spital.“ „Ich weiß, was Sie andeuten wollen. Es handelt sich um die Auseinandersetzung, die ich mit Baxter hatte.“ „Er behauptete, daß Sie den Unfall vorausgeahnt hätten.“ „Das stimmt nicht ganz; er verwechselte stets alles. Es handelt sich hier um eine eigenartige Tatsache, deren Bedeutung ich 25
allerdings nicht beurteilen kann. Am Tage vor seinem Tod kam Donavan in Baxters Büro und brachte ihm eine Aufnahme. Nach seiner Behauptung handelte es sich um ein sensationelles Dokument. Baxter sah es an und warf Donavan vor, ihm eine Trickaufnahme zu bringen. Worauf er das Bild zerriß.“ „Was war denn auf der Fotografie zu sehen?“ „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich entsinne mich aber, daß Donavan erwähnte, die Aufnahme auf der LincolnBrücke geschossen zu haben. Als mir der Alte dann anderntags telefonisch bekanntgab, daß Donavan ermordet worden sei, erriet ich instinktiv, daß sich das Verbrechen auf der Lincoln-Brücke zugetragen haben mußte. Das war alles.“ „Und Sie wissen wirklich nicht, was die Aufnahme zeigte?“ „Ich habe nicht die geringste Ahnung“, wiederholte ich. „Hingegen bin ich inzwischen überzeugt worden, daß es sich nicht um eine Trickaufnahme handelte; Donavan muß tatsächlich etwas Ungeheuerliches beobachtet haben.“ Ich überlegte. „Wahrscheinlich begab er sich anderntags nochmals auf die Brücke und wurde dort zum Opfer eines – eines –, also ich weiß nicht, was. Und was haben Sie hierüber erfahren?“ „Sehr wenig. Eines allerdings haben wir festgestellt: Die Masse, die plötzlich aus der Luft auf die Brücke fiel, war tatsächlich der Sockel des Jeffries-Denkmals.“ „Das konnte ich noch erraten, ehe ich die Besinnung verlor.“ „Es ist beinahe sicher, daß Donavan durch den Sockel erschlagen wurde. Anschließend hat man den Sockel auf das Dach eines benachbarten Hauses geschleppt; diese Tatsache ließ sich mühelos an zahlreichen Löchern und Rissen im Treppenaufgang des betreffenden Gebäudes erkennen. Später ist der Sockel dann vom Dach des Hauses aus auf uns geworfen worden.“ „Und wie schwer ist das Ding?“ „Zwei Tonnen; ich fand die Angabe im Stadtarchiv.“ 26
„Ist Ihnen denn klar geworden, wie diese Masse auf das Hausdach gebracht werden konnte?“ Fisholt zuckte die Schultern. „Es ist mir unerklärlich. Normalerweise wäre ein Kran erforderlich.“ „Gibt es keine Zeugen?“ „Nicht einen einzigen. In jener Ecke ist es bei Tagesanbruch ziemlich einsam. Und wenn Sie nun meine Ansicht hören wollen, Roos, dann sage ich Ihnen, daß jemand, nämlich ein Mensch, den Sockel nach oben getragen hat. Es gibt keine andere Lösung.“ „Kennen Sie zufällig den letzten Weltrekord im Gewichtheben, Fisholt?“ „Auf diesem Gebiet bin ich nicht gut unterrichtet, glaube aber, daß die Bestleistung hundertfünfzig Kilogramm noch nicht erreicht.“ „Und Ihr Sockel?“ „Ich weiß ja, daß meine Vermutungen unsinnig sind, und doch gibt es keine andere Lösung.“ „Denken Sie vielleicht an einen Roboter?“ „Ich denke an gar nichts. Ich weiß nur, daß die Wissenschaft immer weiter fortschreitet. Dinge, die Ihren Großvater noch vor Entsetzen hätten aufschreien lassen, bringen heute einen dreijährigen Knaben zum Lachen.“ „Ausgezeichnet. Nehmen wir also an, daß so ein überstarker Bursche den Denkmalssockel ausgerissen hat. Er benutzte ihn als Keule und schlug Donavan damit tot. Dann trug er ihn auf das Dach eines Hauses und warf ihn uns an den Kopf. So war es doch?“ „So ungefähr.“ „Dann geben Sie wohl auch zu, daß dieser Bursche weitaus den Rahmen jener Leute sprengt, die gemeinhin zu den Kunden eines Polizeikommissariats gehören?“ Er nickte, ich holte eine Zigarette aus meinem Paket und 27
brachte sie gleich beim ersten Versuch zum Glimmen. Langsam wurde ich stolz auf mich. „Glauben Sie, daß eine Aussicht besteht, die Überbleibsel der von Baxter zerrissenen Aufnahme zu finden?“ „Nach drei Wochen, Fisholt? Ich gebe zu, daß der Journalismus ein staubiges Handwerk ist, aber in diesem Maße …“ „Es ist also aussichtslos?“ „Jedenfalls will ich den Versuch unternehmen. Wie wäre es, wenn Sie mir jetzt einen kleinen Bericht über die anderen Ereignisse geben wollten, von denen Sie vorhin sprachen?“ „Vor allem handelt es sich um das Verschwinden von Personen.“ „So etwas geschieht häufig.“ „Gewiß, und deshalb ziehe ich auch keine übereilten Schlüsse. Das erste Verschwinden ereignete sich am Tage vor dem Unfall. Nicht ein Mensch, sondern ein mit Orangen beladener Lastwagen wurde gestohlen.“ „Ihr Ungeheuer hatte Hunger!“ „Möglich. Jedenfalls sind Fahrzeug, Chauffeur und Beifahrer seither nicht wieder aufgetaucht. Am 1. April verschwand Miß Florida.“ „Ein Aprilscherz.“ „Sie ist nie wieder gesehen worden“, erklärte Fisholt und wirkte verärgert. „Haben Sie noch niemals von Entführungen gehört?“ „Am 5. April verschwand Miß Texas.“ „Vielleicht hat Ihr Roboter eine Vorliebe für Schönheitsköniginnen.“ „Am 10. April verschwand eine ganze Schule mit Lehrern und Professoren. Sie befanden sich auf einem Ausflug in DoradoArkansas.“ „Was heißt das, eine ganze Schule?“ „Es handelt sich um hundertzwanzig Schüler, vier Lehrer 28
und einen Professor. Man hat bis jetzt noch keine Spur von ihnen entdeckt.“ Das nahm mir doch den Atem. „Am 15. April ereignete sich dasselbe – im Abilene-Texas. Diesmal handelte es sich um hundertzehn Schüler und drei Professoren.“ „Knaben oder Mädchen?“ „Knaben!“ „Und es gibt keine Spur, kein Indiz?“ „Keine Spur, ein einziges Indiz. Es wurden jedesmal zwei Autobusse beobachtet.“ „Wiesen die Fahrzeuge besondere Kennzeichen auf?“ „Es waren ganz alltägliche Wald- und Wiesenbusse.“ „Gibt es noch etwas anderes?“ „Es wären noch zahlreiche Dinge zu erwähnen, aber wir wissen nicht, ob wir sie mit unserem Fall in Verbindung bringen sollen oder nicht. Gegenwärtig betätigen wir uns lediglich als Kuriositätensammler.“ „Beispielsweise …?“ „Am 7. April wurde ein vom Schlachthaus Tuscaloosa kommender Zehntonner von einigen Männern angehalten. Unweit von Anniston wurde der Wagen zwangsweise entladen und leer zum Weiterfahren gezwungen. Als die Polizei zwei Stunden später eintraf, entdeckte sie nicht die geringste Spur.“ „Das war zu erwarten – nach zwei Stunden!“ „Der Zwischenfall ereignete sich in der größten Einsamkeit. Roos, auf Ihre geistreichen Kommentare können Sie verzichten.“ „Gern. Lassen Sie mich also zusammenfassen: Zwei Pin-upGirls, etwa 250 Schüler, Lehrer und Professoren, zehn Tonnen Frischfleisch, ein Lastwagen mit Orangen …“ „Mehr habe ich Ihnen nicht zu bieten.“ „Es genügt, Fisholt. Jetzt gehe ich auf die Jagd.“ 29
„Seien Sie beruhigt, Roos; auch die Polizei ist nicht untätig gewesen, was immer Sie auch denken mögen.“ Ich erhob mich, steckte eine neue Zigarette an und ging nachdenklich hinaus.
5. Kapitel Ich nahm mir ein Zimmer im „Splendid“, ein kleines Appartement mit Bad. Dort ließ ich mir auch meine Mahlzeiten servieren, denn ich hatte keine Lust, meine Zirkusnummer in der Öffentlichkeit vorzuführen. Meine linke Hand machte gewaltige Fortschritte. Ich erlernte das Schreiben. Für meine Artikel wollte Leslie mir eine Stenotypistin schicken; ich lehnte jedoch ab und mietete mir ein Diktaphon. Jeden Morgen gab ich die Diktatrollen im „Guardian“ ab. Ich hatte eine Pressekampagne gegen „Otto“ gestartet. Ich könnte auch heute noch nicht sagen, warum ich das geheimnisvolle Ungeheuer Otto getauft hatte – dieses Monstrum, das uns offenbar den Krieg erklärt hatte. Durch Leslie erfuhr ich bald, daß meine Publikationen die Auflage des Blattes gesteigert hatten. Cora rief mich zweimal an. Sie sagte mir, daß mein Unfall kein Scheidungsgrund sei, doch ich blieb unerbittlich. Ich konnte mir vorstellen, was geschehen wäre, wenn ich nachgegeben hätte. Eine Woche lang hätten wir uns über das Wiedersehen unvorstellbar gefreut. Dann wäre ein Monat des Mitleids und anschließend das Stadium des Ekels gekommen. Das wollte ich lieber vermeiden. Man verläßt sich besser mit guten Erinnerungen. Nach einer Woche hing mir der Zimmerjournalismus zum Hals heraus. Ich stattete Fisholt einen Besuch ab. Die Polizei hatte nicht den geringsten Fortschritt gemacht; sie begnügte 30
sich damit, auch weiterhin kuriose Tatsachen zu sammeln: Honigdiebstahl in Georgien, Diebstahl von infraroten Bestrahlungslampen in einer Fabrik für medizinische Instrumente. Und so fort. In New Mexico war erneut eine ganze Schulklasse entführt worden. Wieder einmal hatte man zwei Autobusse beobachtet. Diesmal erwähnte man, daß sie khakifarben waren. Ich fragte Fisholt: „Sehen Sie irgendeine Verbindung zwischen den Geschehnissen auf der Lincoln-Brücke und diesen außergewöhnlichen Ereignissen?“ „Nicht die geringste“, antwortete er. „Und Sie?“ „Ebensowenig.“ „Und doch habe ich das Gefühl, daß hier eine Beziehung bestehen muß“, sagte er nach einer Weile. „Mir geht es wie Ihnen“, nickte ich und ging. Ich kehrte ins Hotel zurück, sprach einen Artikel ins Diktaphon, von dem ich wußte, daß er Aufsehen erregen würde, und stellte erneut fest, daß ich den Konservenjournalismus satt hatte. Wenn ich nicht Moos ansetzen wollte, mußte ich mich endlich an die Luft begeben. Gesundheitlich fühlte ich mich bedeutend besser. Ich war stark wie ein Bantuneger, und vor meiner linken Hand begann ich mich beinahe zu fürchten. Bald würde ich mich selbst bestehlen können, ohne etwas davon zu merken. Leslie schenkte mir einen neuen Wagen mit automatischer Gangschaltung. Ein Studebaker-Sportkabriolett. Man konnte es mit einem Finger fahren. Außerdem beschaffte ich mir eine künstliche rechte Hand. Unter diesen Umständen das Zimmer zu hüten, war wahrhaft verbrecherisch. So fuhr ich den Wagen erst einmal ein – draußen auf abgelegenen Landstraßen, und später, zur Nachtzeit, auch in der Stadt. Dabei bekam ich plötzlich Lust, den „Guardian“ zu besuchen. Es war doch mehr als eigenartig, mein Büro wiederzusehen, 31
das noch immer unbesetzt war. Die Nachtredaktion war bei der Arbeit, bestehend aus einigen Burschen, die mich abwesend ansahen, ohne mich zu erkennen. Die Jungens interessierten mich nicht; ich wollte mit den Damen vom „Besenkorps“ sprechen, die wir immer anklagten, wenn uns irgend etwas – ein Manuskript, ein Bleistift oder ein Brief – verschwunden war: die Putzschicht. Diese kleine Armee trat jeden Morgen gegen 3 Uhr ihren Dienst an. Sie besaß ihren eigenen General, eine Miß Stratford, die sechzig Jahre alt war und einen Kinnbart trug. Mitunter, wenn ich Nachtdienst hatte, traf ich mit ihr zusammen. Außerdem hatte sie Gruppenführer, die jedoch häufig wechselten. Es war meine Absicht, Miß Stratford zu interviewen, aus gewiß leicht zu erratenden Gründen. Kurz nach 3 Uhr begann ich sie zu suchen. Ich entdeckte sie in einem Stübchen, in dem sie mit majestätischem Blick das Abholen der Besen, Schrubber und des Putzmaterials durch ihre kleine Armee überwachte. Sie hatte mich nicht kommen hören, und ich wollte sie vorerst nicht stören. Als sie sich dann umwandte und mich sah, stieß sie einen Entsetzensschrei aus. Das schwache Licht machte mich natürlich nicht anziehender. „Erschrecken Sie nicht, Miß Stratford! Ich bin Jelly Roos.“ „Herr Roos – verzeihen Sie bitte!“ „Klar. Ich an Ihrer Stelle hätte wahrscheinlich noch lauter geschrien. Gucken Sie mich jetzt lange und gründlich an, bis Sie sich an mein plastisches Gesicht gewöhnt haben. Hinterher können wir uns miteinander unterhalten, ohne daß Sie mit den Zähnen klappern müssen.“ „Ich bin schon bereit, Herr Roos. Häßlich sind Sie jedenfalls nicht.“ „Das sagt mir jedermann. Bald werde ich glauben, daß ich noch das Große Los gezogen habe und früher ein entsetzlich abstoßender Bursche war.“ 32
„Das wollte ich niemals behaupten.“ „Ich weiß; ich machte ja auch nur einen Scherz. Doch ich bitte Sie, mich niemals zu besuchen, während ich meine Morgentoilette mache. Ich müßte Sie sonst ins Krankenhaus bringen. Haben Sie einen Augenblick Zeit für mich? Wir können uns in mein Arbeitszimmer setzen.“ „Ich lasse es jede Nacht putzen, Herr Roos, damit Sie es immer bereit finden.“ „Das ist wunderbar.“ Wir betraten den Fahrstuhl, und Miß Stratford setzte sich mir gegenüber. Sie sah mich noch einmal gründlich an, seufzte und fragte dann: „Was kann ich für Sie tun?“ Wir gingen in mein Arbeitszimmer, und ich bot ihr einen Stuhl an. „Ich möchte, daß Sie mir erzählen, was aus dem Inhalt der Papierkörbe wird, sobald diese in Ihre Macht geraten.“ „Die werden natürlich ausgeleert.“ „Das ist schon ein ausgezeichneter Ausgangspunkt. Doch ich möchte Einzelheiten wissen. Wo, wann, wie, warum? Das sind die vier Fragen, die ich mir stelle, wenn ich nicht über die dritte Zeile eines Artikels hinauskomme.“ „Wo, wann, wie, warum?“ Ich nickte. „Eine Frage kann ich selbst beantworten: Die Körbe werden geleert, weil sie voll sind.“ „Das ist doch selbstverständlich.“ „Sie sehen, wie ausgezeichnet wir uns verstehen. Und wo werden die Körbe ausgeleert?“ „In einem unserer Keller.“ Sie beugte sich etwas vor. „Im ganzen Haus sind sechzig Papierkörbe zu entleeren. Manche quellen geradezu über. Außerdem sind da noch die Papierreste, die aus den Ateliers und der Druckerei kommen. Um die kümmern sich die Arbeiter.“ 33
„Das alles bringen Sie also in den Keller. Und wenn er gefüllt ist?“ „Dann kommt der Lastwagen einer Fabrik und holt das Papier ab. Ist hier vielleicht etwas verloren gegangen?“ „Nein, nichts ist verloren gegangen. Ich möchte nur wissen, was aus einer Aufnahme wurde, die am 28. März absichtlich in einen Papierkorb geworfen wurde. Liegt die noch immer im Keller?“ „Ganz gewiß nicht. Der Lastwagen kommt jeden Monat, gewöhnlich zwischen dem Ersten und Fünften.“ „Danke, Miß Stratford; mehr wollte ich nicht wissen.“ Die arme Alte ging und schien sehr aufgewühlt zu sein. Ich aber fühlte mich in meinem Arbeitszimmer geradezu behaglich; fast war es wie vor zwei oder drei Monaten. Cora ärgerte sich natürlich, wenn ich Nachtdienst hatte, weshalb ich sie oft mitten in der Nacht anrief. Wirklich, ich mußte mich vor meiner linken Hand hüten. Beinahe instinktiv hatte sie nach dem Hörer gegriffen … Otto – nur Otto durfte mich interessieren. Ich würde ganz großartige Artikel über Otto schreiben. Cora mußte mir einfach gleichgültig sein. Und ich begann mir einzureden, daß sie eine schlechte Köchin war. Dann entdeckte ich zu meiner Freude im Schreibtisch noch eine Flasche Scotch. Es war ein herrlicher Fund. * Offenbar schnarchte ich wie ein Schwein, als man mich gegen 10 Uhr in meinem Büro entdeckte. Zum Glück war meine Maske nicht verrutscht. Rasch zog ich mich in das Badezimmer zurück und schloß mich ein, um gründliche Toilette zu machen. Als ich mich entsprechend hergerichtet hatte, sah ich aus wie ein junger Star und schien soeben ein Schaufenster des Waren34
hauses Harpers verlassen zu haben. Natürlich der Konfektionsabteilung. Ich wirkte wie mein eigenes Mannequin. Trotzdem blieb die Tatsache bestehen, daß ich mich im Redaktionsgebäude des „Guardian“ befand und das Haus nicht verlassen konnte, ohne ungezählte Menschen zu treffen. So nahm ich meinen Mut in beide Hände und klopfte an die Tür Stewards, der den Posten eines Chefredakteurs einnahm. Ein grünes Licht flammte auf, und ich trat ein. Er sah mich an, und ich muß gestehen, daß dieses Erkennen nicht einmal eine Sekunde dauerte. Er stand sofort auf und kam auf mich zu. „Grüß dich, Jelly! Ich bin verdammt froh, dich wiederzusehen.“ „Mir geht es ebenso.“ „Es war wohl schwer, den Weg nach hier zu finden, was?“ „Das stimmt.“ „Dabei sitze ich auf deinem Platz. Wenn du dich bei Leslie nicht so verrückt benommen hättest …“ „Aber nein, mein Alter!“ „Übrigens bin ich nach wie vor der Meinung, daß du hier arbeiten müßtest. Nicht deiner Rettungstat wegen, sondern weil du etwas kannst. Sag nur ein Wort, und ich gehe! Und ich werde sogar glücklich sein, wenn …“ „Du bist ein feiner Kerl, mein Alter. Nein, bleib nur hier sitzen. Ich hätte vielleicht Verstand genug, um einen guten Chefredakteur abzugeben, finde aber keinen Geschmack an der Schreibtischarbeit. Außerdem brauche ich deine Hilfe, gelegentlich.“ „Ich stehe dir ganz zur Verfügung.“ Anschließend ging ich von Büro zu Büro und wurde überall freundlich aufgenommen. Wir waren früher schon eine famose Bande, und wir sind es auch geblieben. In jedem Zimmer mußte ich einen heben, und als ich eine Stunde später in Stewards Arbeitszimmer zurückkehrte, hatte ich einen leichten sitzen. Trotzdem wußte ich noch, um was ich ihn bitten wollte. 35
„Hör zu, Bob, dir unterstehen hier nunmehr sämtliche Dienststellen. Weißt du eigentlich, welche Firma alles Altpapier ankauft?“ Er sah mich unsicher an. „Wahrscheinlich handelt es sich um einen Papierfabrikanten.“ Steward rief die Verwaltung an, ließ sich die erforderliche Auskunft geben und gab sie an mich weiter. „Das muß ganz in der Nähe sein“, stellte ich fest. Er schien etwas unsicher zu sein. Vielleicht glaubte er, daß ich den Verstand verloren hatte. „Deine Artikel über ‚Otto’ waren ganz ausgezeichnet.“ „Ich fange erst an, mein Alter; jetzt geht es richtig los!“ „Hat die Auskunft, die ich dir eben gab, etwas mit diesem Otto zu tun?“ „Natürlich. Ottos Bild muß sich in dieser Fabrik befinden.“ „Allmächtiger! Woher weißt du das?“ „Am Vorabend seines Todes war die Aufnahme von Baxter in den Papierkorb geworfen worden. Leb wohl, Bob! Jetzt, da ich den ersten Schritt getan habe, werde ich häufiger in die Redaktion kommen.“ Ich ließ den Lift kommen. Der Boy öffnete die Tür, sah mich an und fragte: „Knallt’s?“ Und dann war es, als ob etwas in seiner Stimme zerbreche. Mutig wiederholte er: „Knallt’s, Herr Roos?“ „Es knallt, mein Junge!“ antwortete ich. * War es eine Enttäuschung? Hatte ich mit dieser Tatsache gerechnet? In der Papierfabrik erfuhr ich, daß die Abfälle des „Guardian“ bereits zermahlen waren. Man zeigte mir sogar einen gewaltigen Kessel, in dem der Teig kochte – eine eigenartige Mischung aus Briefumschlägen und mißlungenen Presseartikeln. 36
In dem kochenden Gemisch befand sich mit Sicherheit auch eine Aufnähme Ottos bei der Ausübung seiner Tätigkeit.
6. Kapitel Mitunter sind die einfachsten Gedanken schwieriger zu fassen als die kompliziertesten philosophischen Probleme. Zunächst sagte ich mir, daß Donavan wahrscheinlich bitterböse gewesen sein mußte, als der Alte ihm seine Aufnahme zerriß. Dann aber wurde mir klar, daß sein Ärger wahrscheinlich rasch verflogen war. Er konnte ja einfach einen neuen Abzug machen. Einen ganzen Tag brütete ich über diesen Gedanken nach. Dann wurde mir klar, daß für jeden Abzug ein Negativ erforderlich war, das man wahrscheinlich nicht vernichtet hatte. Und wenn mir jemand aus diesem langsamen Denken nun einen Vorwurf machen will, dann sei ihm gesagt, daß selbst die schärfsten Köpfe einmal versagen können. Sofort raste ich in den „Guardian“ und riß die Tür der Dunkelkammer auf – trotz der vehementen Proteste Slims, der am Entwickeln war. „Was willst du, Ritter ohne Gesicht?“ warf er mir zu und verstummte dann verlegen. „Ritter ohne Gesicht?“ wiederholte ich. „Soll ich das sein?“ „Die Kollegen haben diesen Ausdruck gefunden. Otto gegen den Ritter ohne Gesicht … Und davon abgesehen, hattest du noch einen besonderen Wunsch, oder bist du nur gekommen, um meine Aufnahmen zu vernichten?“ „Entschuldige, Slim, aber ich habe es eilig. Wo hat Donavan seine Sachen?“ „In der Kabine sechs. Soll ich dir sie zeigen?“ „Wenn du nichts anderes vorhast.“ Er öffnete die Tür zu einem kleinen Laboratorium. Hier waren 37
noch zahlreiche Filme zum Trocknen aufgehängt. Donavan war ein Anhänger der Kleinbildkameras und machte seine Aufnahmen mit einer Retina. Man war hier ebenso beengt wie in einer Traubenkelter. Die Trauben wurden allerdings durch Filme ersetzt. „Was suchst du eigentlich?“ „Seine letzten Aufnahmen; eine Fotografie, die er kurz vor seinem Tode schoß.“ „Handelte es sich um etwas Sensationelles?“ „Wahrscheinlich. Ich denke an Ottos Porträt.“ „Dann wirst du kaum Aussicht haben, es hier zu finden. Sobald es sich um eine außergewöhnliche Aufnahme handelte, pflegte Donavan den Film zu Hause zu entwickeln. Er hatte immer Angst, man könne ihm einen Schnappschuß stehlen.“ „Trotzdem möchte ich einmal nachsehen.“ „Gewiß, wir werden alle vorhandenen Aufnahmen überprüfen. Wir betrachten die Bilder durch den Projektionsapparat. Gedulde dich einen Augenblick.“ Er schnappte sich die Filme und führte mich in sein Labor. Dort prüften wir die Negative. Ottos Porträt befand sich nicht unter ihnen. „Es tut mir leid, Slim; sei jedenfalls bedankt.“ Ich ging in die Verwaltung, wo man mir Donavans Adresse gab. Die mich außerordentlich überraschte: Der Fotograf hatte am Wilsonkai gewohnt, also am linken Ufer des Flusses. Sofort begab ich mich in seine Wohnung. Das Haus lag etwa fünfzig Meter von der Lincoln-Brücke entfernt. Ich trat ein und ging zur Hausmeisterin. Da in ihrer Wohnung ein angenehmes Halbdunkel herrschte, konnte sie mein eigenartiges Gesicht nicht allzu deutlich erkennen. Sie fragte nach meinem Begehren. „Ich bin Jelly Roos, ein Reporter vom ‚Guardian’. Hier hat doch Donavan gewohnt?“ 38
„Über zehn Jahre sogar.“ „Er gehörte zu meinen besten Freunden. Ist seine Wohnung schon weitervermietet?“ „Nein. Er hatte für drei Monate vorausgezahlt. Ich warte noch immer, daß jemand von seiner Familie kommt, um seine Sachen abzuholen. Bis jetzt aber hat sich noch keiner gemeldet.“ „Kann ich die Wohnung sehen?“ „Da muß eine schöne Unordnung herrschen.“ „Das ist unwichtig. Ich möchte feststellen, wie Donavan ums Leben gekommen ist. Vielleicht finde ich eine Andeutung unter seinen Sachen.“ „Kommen Sie mit.“ Wir erstiegen zwei Stockwerke. Sie öffnete und ließ mich eintreten. Wir kamen, in ein kleines Vorzimmer, das in den Wohnraum führte. Dort erst sah mich die Hausmeisterin im vollen Licht. Sie zuckte nicht einmal zusammen. Sie sagte einfach: „Also Sie sind derjenige, der …“ „Ja, ich bin’s“, nickte ich trocken. Das Wohnzimmer war Donavans Abbild. Die Wände waren mit vergrößerten Aufnahmen bedeckt. Es gab Bilder aller erdenklichen Art. Momentaufnahmen von Unglücksfällen, Sportfotos und Schnappschüsse hübscher Mädchen. Donavan war wirklich ein hervorragender Könner gewesen. Auf dem Tisch lag ein schmutziges Tischtuch; in einer Tasse stand noch etwas Kaffee. Die Hausmeisterin war etwas beschämt. „Fassen Sie nichts an! Es ist hervorragend, daß hier noch nicht aufgeräumt wurde.“ „Das ahnte ich bereits“, log sie mit wunderbarer Sicherheit. Mir kam ein Gedanke. „Ich bin augenblicklich wohnungslos. Ich möchte Donavans Appartement gern übernehmen – im gegenwärtigen Zustand.“ „Wenn Sie es wünschen. Aber …“ 39
„Ich zahle die Miete sofort und für drei Monate im voraus.“ Sie nannte einen Preis, und ich legte den Betrag auf den Tisch. Sobald sie gegangen war, stellte ich mich an das Fenster. Von hier aus hatte man eine glänzende Aussicht auf jenen Brückenteil, auf dem sich die Katastrophe ereignet hatte. Von hier aus hatte Donavan vielleicht auch die strittige Aufnahme gemacht – möglicherweise mit einem Teleobjektiv. Ich begann mein neues Heim zu durchsuchen. Das Bett des Wohnschlafzimmers war nicht benutzt worden; offenbar hatte Donavan seine letzte Nacht wachend verbracht. Dann gab es zwei Sessel und einen Tisch, eine kleine Bibliothek. Überall lagen Filme umher, selbst auf dem Fußboden. Eine Tür ging zur Küche, die andere ins Badezimmer. Hinter einer dritten Tür befand sich ein Abstellraum, den Donavan in eine Dunkelkammer umgewandelt hatte. Ein scharfer Geruch von Säuren stieg auf; in den Tisch geschraubt, ließ der Vergrößerungsapparat erkennen, daß er noch jüngst benutzt worden war. Ein Film war in ihn eingespannt. Ich schaltete den Strom ein; sofort wurde das vergrößerte Bild im Negativ auf die Tischplatte geworfen. Mühelos konnte ich erkennen, was diese Aufnahme darstellte: auf der Lincoln-Brücke stand ein Mann, der mit seinen Armen einen Eintonnerlastwagen in die Höhe stemmte. Es war unglaublich. Natürlich hatte ich etwas Verblüffendes erwartet, aber dieser Anblick fuhr mir geradezu in die Beine. Und sofort begann ich mit der Arbeit, um eine Vergrößerung herzustellen. Als der Abzug hergestellt und getrocknet war, kehrte ich in den Wohnraum zurück und ließ mich in einen Sessel sinken. Das also war das Bild, das Baxter am Vorabend seines Todes betrachtet und zerrissen hatte. Es war nicht sehr deutlich, weil Donavan es vermutlich aus der Ferne und gegen die aufgehende Sonne geschossen hatte. Ich begriff, daß Baxter an eine Trick40
aufnahme gedacht hatte; wahrscheinlich wäre ich derselben Meinung gewesen. Der Anblick war ungeheuerlich. Da war ein Mann, dessen Züge kaum zu erkennen waren, dessen Kleidung sich kaum beschreiben ließ, ein Mann jedenfalls, nicht größer und anders als du und ich, dem kein Mensch besondere Kräfte zutrauen mochte. Und der hielt den Lastkraftwagen in der Hand, hatte ihn hoch über den Kopf erhoben. Ich steckte mir eine Zigarette an, stellte die Aufnahme vor mich hin und lehnte mich zurück. Seit nahezu einem Monat lebten wir in einer Atmosphäre des Übernatürlichen, hatten aber allein, die Wirkungen, nicht die Ursachen kennengelernt. Gemeinhin ist es ja so, daß Auswirkungen einen rationell denkenden Menschen selten stören, weil er für sie letzten Endes stets eine vernünftige Erklärung finden wird. Trotz meiner bombastischen Artikel über Otto war ich bis jetzt überzeugt gewesen, daß sich das Problem auf recht primitive und einfache Art lösen werde. Nun aber sah ich mich plötzlich direkt vor das Phänomen gestellt, dem ich trotz allem nicht glauben wollte. Mein Verstand rief mir zu: Mag die Wissenschaft auch noch so bedeutende Fortschritte machen, nie wird ein Mensch es fertigbringen, das Gewicht, die Last einer Tonne zu stemmen. Vor mir stand eine von Donavan gemachte Aufnahme. Und dann war dieser Sockel, der vor meinen Augen von einem Dach geschleudert worden war. Donavans Fernsprecher war noch nicht abgestellt worden. Ich griff nach dem Hörer, rief das dritte Kommissariat an und ließ mir Fisholt geben. „Gibt’s was Neues?“ fragte er. „Ich weiß, wo Ihr Lastwagen mit Orangen ist!“ „Und wo soll er sich befinden?“ „Im Strom, neben der Lincoln-Brücke, etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt.“ 41
„Sind Sie sicher?“ „Ich wette tausend gegen einen Dollar.“ „Sind Sie etwa ins Wasser getaucht?“ „Nur im Geist, mein Lieber … Wenn Sie den Wagen finden, gebe ich Ihnen als Belohnung Ottos Bild!“ „Hören Sie, Roos …“ „Sobald Sie soweit sind, können Sie mich anrufen – unter der Nummer WIL 33-39.“ Anschließend sprach ich mit dem „Guardian“ und unterrichtete Slim, daß in etwa einer Viertelstunde auf der LincolnBrücke einige sensationelle Aufnahmen zu schießen seien. Er versprach mir, sofort zu kommen. Dann schob ich meinen Sessel an das Fenster und nahm einen ausgezeichneten Logensitz ein. Zunächst sah ich Slim angewandert kommen; er schritt ruhig und gelassen dahin und hatte seinen Apparat um den. Hals hängen. Die Polizei ließ noch zwanzig Minuten auf sich warten. Plötzlich traf Fisholt wie ein Rennfahrer ein, sprang aus dem Wagen und bezeichnete den Platz, an dem der ihm folgende fahrbare Kran Aufstellung nehmen sollte. In Fisholts Wagen war ein Bursche, den ich nicht kannte. Er stieg aus, warf einen Blick in das Wasser, öffnete hierauf den Kofferraum und entnahm ihm die Taucherausrüstung eines „Froschmannes“. In aller Seelenruhe begann er, sich aus- und entsprechend anzukleiden. Als er bereit war, stellte er sich auf den Haken der Krankette und gab ein Zeichen. Langsam begann die Kette nach unten zu sinken; der Mann tauchte mit ihr ein und verschwand. An der Oberfläche des Wassers war ein Wirbeln von Luftblasen. Zuschauer hatten sich inzwischen angesammelt, während Fisholt am Geländer lehnte und erregt in die Tiefe starrte. Nach einigen Minuten wurde der Taucher wieder sichtbar und ließ sich von dem Kran nach oben winden. 42
Auf der Brücke angelangt, setzte er den Helm ab und unterhielt sich lebhaft mit Fisholt. Nach einer Weile kehrte er ins Wasser zurück. Er verschwand, und dann sah ich, wie die Kette hin und her bewegt wurde. Diesmal war er länger unter Wasser, und als er dann wieder auftauchte, machte er Fisholt ein Zeichen, während er selbst einfach an das Ufer schwamm. Er stieg an Land, kam auf die Brücke zurück und leitete selbst die nun folgenden Manöver. Der Kran bekam Druck, und die Kette spannte sich. Ich hörte das Knattern des Motors und dazu ein häßliches Knirschen. Langsam wurde die Kette eingezogen, allgemach wurde der gewaltige Haken sichtbar und dann das Hinterteil des Lastwagens. Der „Froschmann“ hatte es fertiggebracht, den Haken in der für einen Anhänger bestimmten Öffnung zu befestigen. Unendlich langsam löste sich der Wagen aus dem Wasser – schmutz- und schlammbedeckt, häßlich und abstoßend anzuschauen. In der Fahrerkabine glaubte ich eine menschliche Gestalt zu erkennen. Als das Fahrzeug über dem Geländer schwebte, fuhr der Kran zurück, die Kette gab nach, und langsam wurde der Lastkraftwagen auf die Brücke gestellt. Sofort stürzten die Polizisten sich auf die Kabine, um sie zu öffnen. Ein gewaltiger Wasserguß strömte ihnen entgegen, und dann sah ich so etwas wie eine menschliche Form. Slim schoß Aufnahme um Aufnahme und mußte sich glücklich fühlen, weil er der einzige anwesende Reporter war. Als er glaubte, sein Ziel erreicht zu haben, sprang er in eine Taxe und ließ sich vermutlich in den „Guardian“ zurückbringen. Fisholt blickte in alle Richtungen und entdeckte dicht neben sich eine Fernsprechkabine. Er trat ein, und gleich darauf läutete mein Telefon. „Hallo, Roos …“ 43
Ich konnte ihn beim Sprechen sehen, und das machte mir enormes Vergnügen. „Sind Sie vielleicht ein Hexenmeister?“ „Möglicherweise.“ Er mußte vor Erregung schwitzen, denn ich sah, wie er den Hut absetzte. „Behalten Sie nur den Hut auf dem Kopf“, rief ich ihm zu. „Sie werden sich sonst einen Schnupfen holen. Wie wollen Sie jetzt Ihre Untersuchung fortsetzen?“ „Gütiger Himmel, Roos …!“ rief er aus. „Raufen Sie sich nicht die Haare und erholen Sie sich wieder. Ich bleibe bei meinem Wort. In zehn Minuten bringe ich Ihnen Ottos Bild.“ Er hing heftig ab, warf einen wütenden Blick um sich und setzte sich in seinen Wagen.
7. Kapitel Fisholt legte die Aufnahme auf seinen Schreibtisch zurück. Mindestens eine Viertelstunde lang hatte er sie gründlich studiert. „Glauben Sie daran?“ fragte er endlich. „Sie haben doch den Lastwagen gefunden?“ „Allerdings …“ „Sehen Sie, Fisholt, langsam habe ich mich zu der Anschauung bekehrt, daß dieses außergewöhnliche Wesen vorhanden ist.“ „Kurze Zeit hatte ich gehofft, es könne sich um einen Gorilla, einen Orang-Utan oder ähnliches handeln.“ „Selbst der stärkste Affe brächte es nicht fertig, 2 Tonnen zu stemmen.“ „Ein Mensch noch weniger!“ „Das berührt mich im Augenblick noch nicht so sehr; etwas anderes beunruhigt mich bedeutend mehr. Ich halte nämlich für 44
ungewöhnlich, daß dieser Koloß plötzlich am 27. März auftritt, am 28. März sich abermals bemerkbar macht und dann spurlos von der Erdoberfläche verschwindet!“ „Sie hörten doch von meinen verschiedenen, eigenartigen Tatsachen.“ „Sicher, hier handelt es sich um zahlreiche verblüffende Geschehnisse, von denen jedoch keines auf Ottos Linie liegt. Ich möchte sogar sagen, daß jene Ereignisse seine Möglichkeiten übersteigen.“ „Was wollen Sie denn noch mehr?“ „Otto kann nicht gleichzeitig zwei Autobusse führen.“ „Wissen Sie, unter den gegenwärtigen Umständen …“ „Nein, Fisholt, das ist eine schlechte Methode. Wenn auch die Wirklichkeit verändert scheint, so dürfen wir uns doch nicht in den Irrsinn treiben lassen. Bis jetzt wissen wir nur eines von Otto: Er ist mit unbeschreiblichen Kräften ausgestattet. Doch um gleichzeitig zwei Fahrzeuge zu führen, müßte er sein Können bis zur physischen Persönlichkeitsspaltung steigern. Und diese Fähigkeit streite ich Otto ab.“ „Vielleicht haben Sie recht.“ „Die von Ihnen erwähnten Überfälle können nicht von Otto durchgeführt worden sein; an ihnen waren mehrere Männer beteiligt.“ „Welche Fähigkeiten sprechen Sie Ihrem netten kleinen Burschen denn zu?“ „Die Kraft, zwei Tonnen zu heben und zu stemmen. Alles andere, sofern die Dinge überhaupt miteinander in Verbindung stehen, alles andere schreibe ich auf das Konto einer Organisation, deren Ziele ich nicht kenne. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch Otto irgendwie dieser Organisation entstammt. Und deshalb wiederhole ich nochmals, daß Ottos Verschwinden mich beunruhigt. Hätte ich die Gewißheit, daß dieses Verschwinden endgültig ist, dann würde ich mich mit Leichtigkeit 45
trösten und dächte nicht daran, mich um die Lösung des Rätsels zu bekümmern. Aber wir wissen nicht, was aus Otto geworden ist, und deshalb ruht sein Schatten noch immer drohend auf der Stadt. Auf der Stadt und vielleicht sogar auf dem ganzen Land …“ „Eine wunderbare Rede, Roos, doch wohin wollen Sie nun kommen?“ „Ich bin nicht hier, um Ihnen Kindermärchen zu erzählen.“ „Das war mir von Anfang an klar.“ „Machen Sie sich also auf die Suche nach Otto. Sie haben sein Bild und wissen, daß er ein Mensch und ein Mann ist. Selbst ein Mann, der ganze Tonnen transportiert, muß Spuren hinterlassen. Vielleicht sogar mehr als jeder andere. Übrigens noch eine Frage: Welches ist die genaue Anschrift des Hauses, von dessen Dach aus der Sockel auf uns geschleudert wurde?“ Er griff nach einem Aktenstück und nannte mir eine Nummer am Wilsonkai. Ich verabschiedete mich und begab mich zum „Guardian“, um dort sofort die Dunkelkammern aufzusuchen. Vor dem Eintreten klopfte ich diesmal an. Slim war beim Entwickeln seiner Filme. „Es war großartig“, sagte er sofort. „Aber ich verstehe den Zweck nicht ganz.“ „Die Bilder sollen meinen heutigen Artikel illustrieren. Außerdem bringe ich hier Donavans letzte Aufnahme. Mach einen Abzug davon und vergiß bitte nicht, daß diese Fotografie für den ‚Guardian’ wertvoller ist als der Kohinoor.“ Ich ging in mein Arbeitszimmer, ließ mir eine Stenotypistin kommen und diktierte meinen ersten Kampfartikel. Dabei witzelte ich etwas über die Polizei, weil so etwas den Lesern immer Vergnügen bereitet. Leslie trat ein, als ich eben die letzten Worte sprach. Die Sekretärin ging, und Leslie setzte sich mir gegenüber. Einen Augenblick sahen wir uns schweigend an. 46
„Mir fällt eben Ihr Besuch bei mir ein, Jelly. Damals fragten Sie mich, ob Sie mir irgendwie von Nutzen sein könnten. Wissen Sie, daß wir unsere Auflage verdreifacht haben?“ „Ich weiß …“ „Und nur Ihnen haben wir es zu verdanken!“ „Nein, Leslie, nicht mir; wir konnten die Auflage erhöhen, weil wir dem Publikum die entsprechende Sensation bieten können. Außerdem sitzen wir als Beobachter in der Bühnenloge, die wir allerdings beide sehr teuer haben bezahlen müssen.“ „Ihre Artikel, Jelly …“ „Die könnte jedermann schreiben. Wir haben einen richtiggehenden goldenen Rohstoff, und wir sind dazu die rechten Leute, ihn entsprechend zu bearbeiten. Wenn wir das nicht fertigbrächten, wären wir keine Journalisten.“ Leslie seufzte. „Darf ich Ihnen etwas über Cora sagen?“ „Sie dürfen, Leslie.“ „Sie versteht Ihre hartnäckige Weigerung nicht, sich mit ihr zu treffen. Ihre Haltung wäre begreiflich, wenn Sie das Leben eines Einsiedlers führen würden. Aber nein, Sie haben Ihre frühere Aktivität aufgenommen, sitzen wie einstmals in Ihrem Büro und …“ „Weil ich inzwischen begriffen habe, daß mein Plan unausführbar blieb, solange ich mich von der Außenwelt isolierte.“ „Und Cora …“ „Fremden gegenüber habe ich meine Scheu überwinden können, Leslie. Bei Cora aber ist das Problem etwas anders geartet. Sie kennen doch meine Ansicht.“ „Cora begreift Ihre Skrupel, läßt Ihnen aber erneut sagen, daß sie sich unendlich freuen würde, wenn Sie wieder zu ihr …“ „Damit soll sie nicht rechnen!“ „Coras Gesundheitszustand beunruhigt mich.“ „Pflegen Sie sie doch, Leslie.“ Leslie war gekränkt, aber ich konnte es nicht ändern. Warum ließ sie mich mein Leben auch nicht fortsetzen! 47
Ich fuhr fort: „Haben Sie mir sonst etwas zu sagen?“ „Ja. Ich habe einen Anruf vom Dienststellenleiter für öffentliche Arbeiten erhalten. Er möchte Sie sprechen.“ „Mich?“ „Jawohl, Sie, Jelly Roos!“ rief sie wütend aus. Sie stand auf, ging und warf die Tür mit Wucht hinter sich ins Schloß. * Ehe ich die Redaktion verließ, ging ich nochmals in die Dunkelkammer, um mir Slims Aufnahmen anzusehen. Er hatte eine gute Serie zusammengebracht. Zusammen mit Donavans Bild ging ich zum Umbruchredakteur und gab ihm meine Anweisungen. Anschließend begab ich mich ins „Splendid“ und verabschiedete mich. Ein Groom packte meinen Koffer und legte ihn in den Wagen. Ich begab mich in meine neue Wohnung. Unterwegs hielt ich nach dem Gebäude Ausschau, von dessen Dach der Sockel auf die Brücke geworfen worden war. Etwas überrascht stellte ich fest, daß sich im Erdgeschoß ein chinesisches Restaurant befand. Das war mir bis heute noch nicht aufgefallen. Langsam erstieg ich die Treppe und war beim Betreten der Wohnung wieder einmal angeekelt über den Schmutz, der sich hier aufgestapelt hatte. Ursprünglich hatte ich die Absicht gehabt, mir selbst eine Mahlzeit zu kochen, doch in dieser Umgebung hätte ich keinen Bissen über die Lippen gebracht. Ich ging wieder hinab und war entschlossen, irgendwo in der Stadt zu speisen, als mir das chinesische Restaurant wieder ins Gedächtnis kam. Ich trat näher und betrachtete die traditionelle Laterne mit den unverständlichen Schriftzeichen. Dann blickte ich durch das Fenster; nicht ein einziger Gast war anwesend. Was mir nur angenehm war. Langsam trat ich ein; die Tür ließ ein etwas schrilles Glocken48
spiel ertönen, und ein hinter der Theke im Halbschlaf hockender Mann fuhr auf. Er warf mir einen fragenden Blick zu und kam dann angewatschelt. „Für essen?“ „Um zu essen!“ Er legte eine Speisekarte vor mich hin, einen richtiggehenden, mindestens dreißig Seiten starken Katalog. Allein vier Seiten waren nur für Suppen vorgesehen – und das alles auf chinesisch. Er begriff meine Unsicherheit. „Für einen Dollar Essen?“ fragte er schließlich. „Einverstanden.“ Der Mann verschwand nach hinten, während ich mir das Lokal betrachtete. Es enthielt eine Mischung von Plunder, echtem exotischen Scharm, von Schmutz und Elend. Eine kleine, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alte Chinesin bediente mich. Sie war hübsch und traurig, sagte kein Wort und kehrte sofort in die Küche zurück. Dann erschien sie abermals und stellte zahlreiche kleine Näpfchen vor mich hin. So ging sie einige Male hin und her, und nach einer Weile war mein Tisch überfüllt mit den unerfindlichsten Gerichten. Einiges erkannte ich: ein Stückchen Huhn, etwas Haifischflosse und Bambussprossen. Der Rest blieb mir unverständlich. So pickte ich wie ein Huhn, mal aus diesem, dann aus jenem Napf. Das Essen war ausgezeichnet. Plötzlich fuhr ich zusammen. Ein schwerer Lastwagen mußte über den Kai gefahren sein, denn das Haus begann plötzlich zu dröhnen und zu zittern. Ich warf dem Restaurateur einen fragenden Blick zu. Lächelnd zuckte er die Schultern. Langsam aß ich weiter. Ich hätte leidenschaftlich gern einen Spaziergang durch das Haus gemacht, doch da ich allein war, dünkte mich das Unternehmen zu gefährlich. Nach der Mahlzeit ließ ich mir die Toilette zeigen; man deu49
tete auf eine Tür, und hinter ihr entdeckte ich eine nach oben führende Treppe. Leidenschaftlich gern wäre ich rasch hinaufgegangen, stellte aber fest, daß der Gasthausbesitzer mich beobachtete. Weshalb ich gelassen an meinen Tisch zurückkehrte. Ohne ein Wort zu sagen, brachte mir der Mann eine Tasse Pfefferminztee. Langsam schlürfte ich das Getränk ein, das genau so gut war, wie man es überhaupt machen konnte. Hier kam mir alles sehr geheimnisvoll vor, doch chinesische Gaststätten sind immer in irgendeiner Weise geheimnisvoll. Allerdings hatte man vom Dach dieses Hauses den Denkmalssockel in die Tiefe geworfen. Wahrscheinlich war der Wirt gründlich verhört worden, und ich konnte mir vorstellen, wie er seine Ahnungslosigkeit beteuert hatte. Ich rief mir eine Warnung zu, denn ich wollte mich nicht von meiner Phantasie zu irgendwelchen Ausgefallenheiten verleiten lassen. Für mich durfte es nur Tatsachen und sonst nichts anderes geben. So warf ich einen Dollar auf den Tisch und schickte mich an, das Lokal zu verlassen. Als ich die Hand eben auf den Türgriff gelegt, hatte, wurde das Haus erneut erschüttert. Man hätte an ein Erdbeben glauben mögen. Sogar das Glockenspiel begann zu klingen. Rasch öffnete ich die Tür und sah hinaus: Weit und breit war nicht ein einziges Fahrzeug zu erblicken. Da warf ich dem Wirt einen fragenden Blick zu, doch dieser lächelte mich nur an und schüttelte den Kopf. So ging ich das Ufer entlang und betrachtete die Häuser. Das Gebäude, in dem sich das Restaurant befand, gehörte demselben Block an, in dem ich Wohnung gefunden hatte. Ein Haus trennte die beiden Baulichkeiten. Es waren drei völlig gleichartige Gebäude, die vermutlich von einem phantasielosen und geldbedürftigen Unternehmer in aller Eile errichtet worden waren. Ich warf einen Blick auf das Wasser des Stromes. Vor eini50
gen Stunden fand man in ihm einen Lastwagen mit Orangen und einen toten Mann. Doch wie alltäglich zog der Strom beinahe gemächlich und sehr friedlich dahin. Kein Mensch war zu sehen, und unwillkürlich überlief mich ein Schauer. Rasch wies ich mich zurecht. Ich durfte mich auf keinen Fall von meiner Phantasie treiben lassen. Und doch ergriff mich ein Gefühl der Unwirklichkeit. Hastig kehrte ich in Donavans Wohnung zurück, die mir trotz des Schmutzes jetzt der gastlichste Ort der Welt dünkte. Ich löschte das Licht und blickte hinaus auf die Uferstraße. Von der Laterne des chinesischen Restaurants ging ein fahles Licht aus. Plötzlich zeichnete sich in der Tür ein Schatten ab. Es war der Wirt. Auch er lehnte sich an die Tür und starrte ins Wasser. Ob er mich dort suchte? Eine ganze Weile blieb er wie erstarrt stehen. Dann kehrte er zurück. Alles war totenstill; die ganze Stadt schien im tiefsten Schlummer zu liegen. Irgendwo würde auch Fisholt schlummern und von einer Beförderung träumen. An anderer Stelle setzten sich jetzt die Rotationsmaschinen des „Guardian“ in Bewegung und vervielfältigten Ottos Bild in vielen tausend Exemplaren. Irgendwo ärgerte sich Leslie, und Cora … Mir war plötzlich, als ob ich die Erschütterung des Hauses bis hierhin verspürte. Im Büfett klangen die Gläser; zugleich vernahm ich ein dumpfes Donnern, als ob irgendwo ein Gewitter tobe. Unvermittelt wurde ich mir meiner unvorstellbaren Einsamkeit bewußt. Für mich gab es nur eine Verbindung zur Außenwelt: den Fernsprecher. Ich griff nach dem Hörer, legte ihn aber wieder zurück. Wen sollte ich wohl anrufen? Der einzige Mensch, mit dem ich hätte sprechen mögen, war für mich gestorben. Und wieder erzitterten die Häuser. Jelly, solltest du Angst haben?
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8. Kapitel Als ich nach sehr unruhiger Nacht die Augen aufschlug, war es mehr als 10 Uhr. Sofort ging ich ans Telefon und alarmierte Miß Stratford. Ich bat sie, mit ihrer Putzfrauenarmee raschest bei mir aufzukreuzen, um hier eine gewaltige Säuberungsaktion vorzunehmen. Trotzdem fühlte ich mich rasch wieder von dem Unbehagen befangen, das mich bereits am Vorabend heimgesucht hatte. Weshalb ich einen so starken Kaffee kochte, daß er selbst einen Toten zum Leben erweckt hätte. Anschließend zog ich mich an und ging aus. Unbehelligt stand mein Wagen vor der Tür. Eine frühlingsmäßige Sonne lachte am Himmel. Ich warf einen Blick auf das chinesische Restaurant, das im Sonnenlicht sehr unscheinbar wirkte. Die Lincoln-Brücke sah geradezu anziehend aus. Und doch lag etwas Beunruhigendes, Bedrückendes in der Luft. Es war nur schwer zu verspüren, doch in meinem gegenwärtigen Zustand der Überempfindlichkeit war ich solchen Gefühlen nur zu leicht zugänglich. Ich zuckte die Achseln und stieg ein, fuhr zum Verwaltungszentrum, verbrachte eine gute Viertelstunde damit, einen Parkplatz zu finden und setzte den Wagen schließlich auf jenen Platz, der dem Herrn Bürgermeister persönlich reserviert war. Anschließend verlief ich mich natürlich in den zahlreichen Gängen und Treppen, deren widerspruchsvolle Pfeile jeden Menschen verwirren mußten. Erst nach vielen Fragen fand ich den Dienststellenleiter des Amtes für öffentliche Arbeiten. Man meldete mich an, und ich trat ein. Mir gegenüber saß ein kleiner, rundlicher und rosenfarbiger Mann. Er war von liebenswürdiger Kahlheit und schien ungemein gutmütig zu sein. „Wie geht es Ihnen, Herr Roos? Leider hatte ich bis heute noch nicht das Vergnügen.“ 52
„Danke sehr. Und was kann ich für Sie tun?“ Er bot mir eine Zigarre an, die ich zurückwies. Dann lehnte er sich behaglich in seinen Sessel. „Ich weiß, wie wunderbar Sie sich benommen haben“, begann er. Allmächtiger … Vor solchen Einleitungen hatte ich schon immer maßlose Angst. Früher hatte ich die Gewohnheit, sie durch ein verärgertes Stirnrunzeln abzukürzen. Heute war mir das nicht möglich, und so sprach er unablässig weiter. Was wollte er eigentlich von mir? „Nun bin ich ein begeisterter Leser Ihrer Artikel. Welche Wortgewalt, welch ein Stil … Sie machen Ihrer Berufsklasse nur Ehre.“ Unbehaglich rutschte ich hin und her. Als ich seine Lobeshymnen schließlich nicht mehr aushielt, fragte ich: „Weshalb haben Sie mich eigentlich kommen lassen?“ „Ich will es Ihnen erklären, Herr Roos. Ihre Kampagne erfreut mich, und es ist meine Absicht, zu ihr ein Steinchen beizutragen, damit das ganze Gebäude errichtet werden kann.“ „Wissen Sie, es handelt sich wohl kaum um ein konstruiertes Gebäude. Irgendwo lebt ein Ungeheuer, und jeder Bürger ist in Gefahr.“ „Ich weiß, und mein kleines Steinchen kann vielleicht helfen, irgendwo eine Lücke zu verstopfen, den Gegner zu bezwingen. Herr Roos, Sie wissen, daß man sich nur zu oft über die staatlichen und städtischen Dienststellen lustig macht, weil sie jedes, aber auch jedes Dokument aufbewahren.“ „Das stimmt“, nickte ich, „aber lustig sollte man sich nicht darüber machen. Man sollte lieber weinen.“ „Sie werden bald Ihre Ansicht wechseln. Vor zwei Tagen, nach der Lektüre eines Ihrer Artikel, fiel mir ein eigenartiger Brief ein, der meiner Dienststelle zuging – zu einem Zeitpunkt, da der Hafenarbeiterstreik sich auf seinem Höhepunkt befand. 53
Damals sprachen wir von dem Brief eines Verrückten – und doch wurde dieses Schreiben nicht weggeworfen. Es wurde abgelegt.“ Er überreichte mir ein handgeschriebenes Schriftstück folgenden Inhalts: „Sehr ehrenwerter Herr Ingenieur, würden Sie Ihrem sehr untertänigen Diener gestatten, Ihnen in Ihren gegenwärtigen Schwierigkeiten zur Hilfe zu kommen? Zweitausend Hafenarbeiter sind in den Streik getreten. Zehn meiner Mitarbeiter werden sie mühelos ersetzen können, bis Sie den Konflikt beigelegt haben. Sollte mein Angebot Ihre Billigung finden, dann lassen Sie doch bitte ein Inserat in der Presse erscheinen. Ich stehe sofort zu Ihrer Verfügung. Dr. Fang“ „Was halten Sie von dem Brief?“ drängte der Ingenieur. „Ich weiß noch nicht … Er ist eigentlich Sache der Polizei.“ „Sie sollten das Angebot jedenfalls kennenlernen. Stellen Sie sich zehn Ungeheuer von der Art eines Otto vor!“ „Ich wage es nicht, daran zu denken.“ „Sie enttäuschen mich, Herr Roos. Und dieser Briefstil, der Name – erinnert beides nicht an …“ „… einen Chinesen. Gewiß doch. Aber es gibt mehr als 450 Millionen Chinesen.“ „Was schlagen Sie vor?“ „Man sollte den Brief der Polizei übergeben. Sie allein hat die Möglichkeit, den Absender ausfindig zu machen. Ich vermute, daß Sie keinerlei Anzeige aufgaben.“ „Natürlich nicht.“ „Jetzt ist es leider zu spät. Otto hat sich außerhalb der Gesetze gestellt. Wenn zwischen ihm und dem Verfasser des Schreibens eine Beziehung besteht …“ 54
„Ziehen Sie aus dem Brief denn nicht den geringsten Schluß?“ „Vorerst noch nicht. Allenfalls einige Vermutungen.“ „Und wenn Sie mir die bekanntgeben wollten?“ Ich haßte nichts mehr als diese Kleinbürger, die es sich angelegen sein ließen, den Meisterdetektiv zu spielen. Doch ich wollte diesen unglücklichen Burschen nicht einschüchtern, zumal er ja nur seine Pflicht erfüllt hatte. „Ich habe mit Leutnant Fisholt wiederholt über den Fall gesprochen“, erläuterte ich endlich. „Wir glauben an das Bestehen einer Organisation, deren Zwecke wir aber nicht kennen. Ihr schreiben wir einige recht geheimnisvolle Handstreiche zu und halten nicht für ausgeschlossen, daß Otto irgendwie mit dieser Organisation in Verbindung steht. Das ist alles. Dieses Schreiben hier könnte nun von der Organisation gekommen sein. Ich glaube, daß es am besten ist, den Brief sofort Leutnant Fisholt zu übergeben. – Meinerseits bin ich der Meinung, daß es besser ist, nichts von dem Brief in der Fresse zu erwähnen; es wäre zwecklos, den Feind schon jetzt aufmerksam zu machen. Obgleich ich große Lust habe, mich mit ihm auseinanderzusetzen.“ Zuletzt war ich geradezu höflich geworden. Die Besprechung war beendet, und ich fuhr zur Redaktion. * Ich diktierte meinen Artikel und fühlte mich plötzlich sehr müde. Seit ich das Spital verlassen hatte, führte ich ein übersteigertes Leben. Jetzt trat die unvermeidliche Reaktion ein. So setzte ich mich in den Wagen und verließ die Stadt. Ich fuhr nach Summer Beach, wo ich meine letzte Mahlzeit in Coras Gesellschaft eingenommen hatte. Den Wagen bremste ich am Ufer des Meeres. Ich hätte gern begriffen, was eigentlich sich in mir abspielte. Es gab Gründe 55
genug, die mir das Leben verekeln konnten, aber diese Gründe konnten meine, Unruhe nicht erklären. Mir war fast, als ob ich einem tragischen Unheil entgegenginge. Dabei war mir mein Leben ganz unwichtig geworden. Ich täuschte mir selbst etwas vor, denn in Wahrheit waren mir Otto und die entführten Schulklassen ganz uninteressant. Doch das Berufsleben hatte mir so etwas wie ein normales Dasein vorgespiegelt. Ich schrieb Artikel, wie ich es immer getan hatte. Ich kam mit den Leuten zusammen und vergaß oftmals, daß ich ein plastisches Gesicht aus Ersatzstoffen spazierentrug. Und doch war mir klar, daß ich mich nicht auf dem richtigen Wege befand. Irgend etwas anderes rief nach mir … In mir erwachte ein ganz neuartiges, nie gekanntes Gefühl – das der Angst … Es war die uralte, atavistische Angst, die Angst des primitiven Menschen, für den alles Unerklärliche ein Geheimnis und furchterregend war. Ich glaubte nicht, daß ich direkt verfolgt wurde, doch eine unsichtbare Kraft drängte mich nach … zu … aber ich wußte nicht, wohin. Ich hatte immer einen recht klaren Kopf besessen und verstand es, mich selbst zu erkennen. Und so glaubte ich zu begreifen, daß ich allgemach das normale Leben verließ, um an der Seite der normalen Menschen zu vegetieren. Den ganzen Tag verbrachte ich am Strand, wodurch meine Melancholie sich nur steigerte. Gegen 10 Uhr traf ich wieder in meiner Wohnung ein. Jetzt war ich reif für jeden beliebigen Irrsinn, vorausgesetzt, ich würde durch ihn von meinem Bann befreit. Fast eine Viertelstunde benötigte ich, um festzustellen, daß Miß Stratfords Besengarde ein wahres Wunderwerk verrichtet hatte. Doch ich war nicht mehr interessiert. Mich zog nur etwas an, und das war das chinesische Restaurant. Ursprünglich wollte ich dort essen, aber mir war bald klar geworden, daß ich hierdurch auch nicht mehr als am Vorabend erreicht hätte. 56
Nach einer Weile hielt ich es nicht mehr aus. Ich verließ die Wohnung und ging nach oben. Eine Taschenlampe nahm ich mir mit. Vom obersten Treppenabsatz aus führte eine Leiter auf das Dach. Die erstieg ich und befand mich wenig später unter freiem Himmel. Von hier aus konnte man die ganze Stadt erkennen, die schläfrig schien, aber, noch nicht eingeschlafen war. Ich überstieg ein Gitter und befand mich auf dem Dach des nächsten Hauses. Dann folgte das Gebäude des chinesischen Restaurants. Lange sah ich es an, ehe ich sein Dach betrat. Von dort aus warf ich einen Blick auf mein eigenes Haus und stellte bald fest, wo ich hier eine Eingangsfalltür zu suchen hatte. Ich öffnete und stieg behutsam hinab. Hier lag alles im tiefsten Schweigen und in größter Dunkelheit. Mir war unvorstellbar, daß dieses Haus die Zufluchtsstätte der Organisation sein sollte, die wir so dringend suchten, aber ich vermutete, daß sie mit ihr irgendwie in Verbindung stand. Ich stieg ein Stockwerk hinab. Alles blieb ruhig. Im Restaurant war wahrscheinlich kein einziger Gast mehr, sofern überhaupt jemand hier gegessen hatte. So ging ich weiter. Das Hinabsteigen der Treppen war mir mehr als unangenehm, denn die Stufen krachten erbärmlich. Minütlich glaubte ich, jemand vor mir auftauchen zu sehen. Und dann begann das Haus wieder zu erzittern. Ich kannte bereits dieses Phänomen, doch es erschreckte mich genauso wie beim erstenmal. Endlich erreichte ich das Erdgeschoß. Sekundenlang dachte ich an die Tatsache, daß ich unbewaffnet war; in welcher Weise aber hätte eine Waffe mir nützen können? Ich befand mich in dem Vestibül, das zu den Toiletten führte und wußte nicht, was beginnen. Ich kam mir lächerlich vor und zitterte; außerdem lief ich Gefahr, durch einen Hausbewohner oder einen verspäteten Gast entdeckt zu werden. 57
Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit, und so erkannte ich auch die Tür, die in einen Keller führte. Ich öffnete behutsam, konnte aber das Kreischen der Angeln nicht verhindern. Plötzlich stockte mir der Atem, denn das Haus erzitterte von neuem, und zwar heftiger denn je zuvor. Fast war mir, als ob ich mich im Mittelpunkt eines heftigen Erdbebens befinde. Schwere Schläge und Stöße prasselten gegen die Mauern. Jetzt aber wollte ich nicht mehr vorsichtig sein, sondern wissen. So ließ ich meine Lampe aufleuchten. Eine schmale Treppe führte nach unten. Ich stieg hinab und befand mich bald in einem Keller, in dem Lebensmittel aufgestapelt waren. Und dann begann das Erdbeben wieder. Ich wußte jetzt, daß die Stöße in meiner unmittelbaren Nähe entstanden und wurde von wahrhaft panischer Angst ergriffen. Entsetzt lehnte ich mich an eine Wand. Durch die hastige Bewegung entfiel mir die Lampe, und ich begann in nervöser Weise zu zittern. Es war mir unmöglich, mich und meine Bewegungen zu kontrollieren. Irgendwie wurde mir klar, daß ich allein durch mein Hiersein eine geheimnisvolle Kraft ausgelöst hatte. Lange Zeit blieb ich unbewegt stehen, bis ich langsam die Überlegungskraft zurückgewann. Ich ließ mein Feuerzeug aufflammen und entdeckte sofort die Stablampe, die in die Mitte des Kellers gerollt war. Zum Glück war die Birne nicht zerschlagen, und sie brannte wie zuvor. Und in diesem Augenblick stellte ich fest, daß ich auf einer Falltür stand. Ich sprang zur Seite. Lange, unendlich lange sah ich das Viereck an. Die Falltür wurde durch einen Stein verschlossen, der scharnierähnlich in eine Bodenöffnung eingelassen war. Ein in einer gemauerten Öffnung liegender Ring sollte vermutlich dazu dienen, das Beiseiteschieben des Scharniers zu erleichtern. In diesem Augenblick wußte ich bereits, was sich hinter der 58
Falltür verbarg. Dort gab es einen Graben, einen Keller, ein Loch, und in diesem Loch … Mit Sicherheit war anzunehmen, daß Otto sich nicht selbst einsperrte. Dort unten war er ein Gefangener; von irgendwo wurde er verpflegt, irgendwie auch freigelassen – unter bestimmten Voraussetzungen … Eine unvorstellbare Neugier bemächtigte sich meiner. Ich wollte, ich mußte das Ungeheuer sehen. Selbst wenn man mir überzeugend dargestellt hätte, daß ich das Abenteuer nicht überleben würde, hätte ich es wahrscheinlich doch unternommen. In einer Kellerecke entdeckte ich eine Eisenstange, die wahrscheinlich als Hebel diente beim Öffnen der Falltür. Ich ergriff sie mit meiner einzigen Hand, führte sie in den Metallring ein und stützte mich dann auf sie. Wieder wurde das Haus erschüttert, und die Erschütterung dünkte mich stärker denn je. Der die Falltür bildende Stein mußte erstaunlich schwer sein, denn es kostete mich gewaltige Anstrengungen, ihn im Scharnier herumzudrehen. Und dann ließ ich den Lichtstrahl meiner Lampe in die Tiefe fallen. Dort war ein Wesen, Mensch oder Tier, das von einer Ecke zur anderen lief und sich gegen die Wände warf, die unter seinen Stößen erzitterten. Der Graben war mindestens drei Meter tief und sah abstoßend aus. Als das Licht hinabfiel, blieb das Ungeheuer stehen und wandte mir sein abstoßendes Gesicht zu. Ich konnte jetzt nicht mehr zweifeln, daß dieses Geschöpf ein Mensch war oder zumindest gewesen war. Außerdem gehörte es der weißen Rasse an. Sein Körper war kräftig gebaut, doch nichts ließ die unglaubliche Stärke erraten, die in ihm schlummerte. Plötzlich begann er zu knurren. Erschreckt trat ich zur Seite. Er spreizte die Beine, entspannte sich, sprang und blieb mit den Händen an der Falltüröffnung hängen. 59
Er schaukelte über der Tiefe hin und her, und ich war wie hypnotisiert. Jetzt genügte ein einziger Klimmzug, und er würde vor mir stehen. Endlich gelang es mir, meine Lähmung abzuschütteln. Unablässig den Lichtstrahl gegen seine Augen führend, umschritt ich langsam die Falltür und warf mich plötzlich gegen den Stein. Dieser fiel auf die beiden Hände. Der Mann heulte auf, zog aber die Finger nicht zurück. Wie irrsinnig warf ich mich auf den Stein und glaubte in meiner Überheblichkeit, daß er die Hände zurückziehen, sich wieder auf den Boden fallen lassen würde. Dann aber fühlte ich, wie die Falltür sich unter mir zu heben begann – langsam zwar, aber sicher und unentrinnbar. Da stieß ich einen Entsetzensschrei aus und rannte davon.
9. Kapitel Sobald ich in meiner Wohnung war, stürzte ich mich an das Telefon und rief Fisholt an. Während ich auf die Verbindung wartete, stand ich am Fenster und beobachtete den Ausgang des chinesischen Restaurants. Endlich hatte ich den Leutnant in der Leitung und setzte ihn von der Lage in Kenntnis. Kaum fünf Minuten später hörte ich die Polizeisirenen. Die Wägen breiteten sich fächerartig auf dem Kai aus und nahmen dem Restaurant gegenüber Aufstellung. Sofort ging ich hinab und trat auf Fisholt zu. „Er ist noch nicht ’rausgekommen“, rief ich aus. „Glauben Sie, daß er sich noch immer in seinem Loch befindet?“ „Ich weiß nicht. Geben Sie mir zwei bewaffnete Leute, und ich sehe nach …“ „Sie sind wohl verrückt geworden? Das ist jetzt Polizeisache. Sie haben es mir oft genug gesagt. Ich sehe selbst nach.“ 60
„Dann diene ich Ihnen als Führer.“ Fisholt holte sich zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Leute, zückte seinen eigenen Revolver, und wir betraten das Restaurant. Ich stieß die Hintertür auf, und gleich darauf standen wir vor der zum Keller führenden Treppe. Die Waffen schußbereit unter den Arm geklemmt, gingen die beiden Plattfüße vor. Fisholt folgte ihnen, während ich mit meiner Lampe leuchtete. Einige Sekunden später waren wir im Keller. Die Falltür stand offen; der Graben war leer. „Er ist entkommen!“ rief Fisholt wütend aus. „Gehen wir hinauf.“ Auf dem Kai fanden wir uns wieder. Die Männer waren unruhig, was sich mühelos verstehen ließ. Das Haus schien gänzlich verlassen. Alle Waffen waren schußbereit. Fisholt ließ auf alle vorhandenen Fenster und auf das Dach zielen. „Was sollen wir jetzt machen?“ fragte ich. „Abwarten“, antwortete Fisholt. „Sie werden verstehen, daß ich keine Leute ins Haus schicken will. Sie wären mit Sicherheit verloren.“ „Das verstehe ich. Und wenn er sich nun stundenlang verschanzt?“ „Und wenn es Tage dauert, Jelly Roos … Nicht ein einziger meiner Leute betritt das Haus. Wir werden es belagern, wir werden, wenn es nötig werden sollte, sogar die Armee alarmieren.“ Und so warteten wir, in nervöser, fast grausamer Ungeduld. Obwohl die Lösung nahe schien, hatte meine Unruhe sich noch gesteigert. Trotzdem eilte ich zur nächsten Telefonkabine, um Slim zu rufen. Hier war nicht ein einziger Zuschauer. Hier und dort hatten sich Leute an den Fenstern gezeigt, sich dann aber hastig wieder zurückgezogen und wahrscheinlich abgesperrt. Wir sahen deutlich, daß hier und dort schwere Möbel gegen die Fenster gerückt wurden. 61
Plötzlich tönte ein Schrei auf. „Rette sich, wer kann …“ Instinktiv warfen wir uns nieder. Als nach fünf Sekunden nichts geschehen war, öffnete ich die unwillkürlich geschlossenen Augen und begriff nicht sofort, warum der Schrei ausgestoßen worden war. Tür und Fenster des Restaurants waren nach wie vor geschlossen. Und dann fiel mein Blick auf das Dach. Dort stand Otto. Er hatte einen Schornstein ausgerissen und hielt ihn im Arm. „Fisholt, bei allen Teufeln … Sehen Sie nach oben!“ Der Polizist warf einen Blick auf das Dach und kroch sofort zu seinem Sendewagen. Er griff nach dem Mikrophon und befahl: „Alle Scheinwerfer sind auf das Dach zu richten. Versucht, den Burschen zu blenden!“ Sofort flammten überall Scheinwerfer auf. Sie tasteten eine Weile die Hausfassade ab und blieben dann auf dem Dach hängen. Otto stieß ein Knurren aus, das wir deutlich vernahmen. Fisholt hob seine Waffe und feuerte auf das Ungeheuer einen Schuß ab. Er leerte eine ganze Ladung, ohne daß Otto sich rührte. „Der Bursche muß aus Holz gemacht sein“, rief er wütend aus. „Wahrscheinlich zittern Sie vor Angst“, spottete ich. Otto bewegte sich nicht, und sein Schatten hob sich vom Nachthimmel ab. Das Warten auf etwas, das nicht kommen wollte, wurde beinahe unerträglich. Wir waren von zahlreichen Wagen umgeben, und der Zwischenfall vom Monat März konnte sich minütlich wiederholen. Endlich schien das Ungeheuer sich zu entschließen. Es machte eine Bewegung und schleuderte den Schornstein von sich. Wir hörten sein unheimliches Pfeifen. Dann stürzte das seltsame Geschoß ins Wasser. Eine Sekunde später begannen die Maschinengewehre zu knattern. Otto aber schien unverwundbar zu sein. Verblüfft starrte er um sich und zog sich dann zurück. 62
„Wer wohnt eigentlich in dem Haus?“ fragte Fisholt plötzlich. „Meines Wissens nur der chinesische Restaurateur und eine kleine, chinesische Magd, die vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt sein mag.“ „Gibt es hinten einen Ausgang?“ „Ich weiß nicht; aber man könnte über das Dach meines Hauses an ihn herankommen“, sagte ich. Ich deutete auf das Haus. Ohne Fisholts Antwort abzuwarten, sprang ich auf und rannte der Tür zu. Von zwei Männern begleitet, jagte der Leutnant mir nach. Wir hetzten die vier Treppen hinauf; ich erklomm die Leiter und hob vorsichtig die Falltür. Otto rannte noch immer hin und her. Offenbar suchte er nach einem Projektil, das er seinen Angreifern an den Kopf werfen konnte. „Kann man ihn sehen?“ fragte Fisholt. „Dahinten ist er.“ „Dann macht los, Jungens, schießt, und zielt vor allem auf den Kopf!“ Die beiden Männer streckten sich aus, nahmen Otto genau ins Visier und drückten gemeinsam ab. Sofort führte Otto beide Hände an den Kopf. Blutbedeckt zog er sie zurück und begann plötzlich zu weinen wie ein kleines Kind. Die Blauen waren derartig verblüfft, daß sie ihr Schießen unterbrachen und sich fassungslos anstarrten. „Jetzt heult der Knabe“, rief Fisholt aus. „Hat man so etwas schon einmal gesehen?“ Wie mochte es geschehen, daß mir Otto ausgerechnet in diesem Augenblick plötzlich sympathisch wurde? Ich weiß wirklich nicht, welche Macht mich zwang, plötzlich aufzustehen und langsam auf ihn zuzuschreiten. „Roos, wollen Sie sofort zurückkommen! Das ist ein Befehl, 63
Roos! Machen Sie nicht schon wieder neue Dummheiten! Roos!“ Ich ging einfach weiter. Otto sah mir entgegen und hielt sich seinen Kopf. Als ich mich ihm auf etwa fünf Meter genähert hatte, steigerte sich sein Weinen zum entsetzten Schluchzen, während er angsterfüllt zurückwich. Mir wurde klar, daß die beiden MaschinengewehrFeuerstöße ihm wehgetan hatten, daß er – wahrscheinlich nur leicht – verletzt war und nun Angst bekam. Doch ich ging weiter auf ihn zu. Plötzlich stieß Otto einen wahren Entsetzensschrei aus. Er eilte auf das Geländer zu, übersprang es und ließ sich einfach in die Tiefe fallen. Auf dem Kai wurde es lebendig. Die Scheinwerfer wechselten die Richtung, während wir vier uns an den Dachrand stürzten und nach unten beugten. Otto krümmte sich wie ein Wurm. Wahrscheinlich hatte er sich wieder einmal wehgetan. „Auseinander da unten!“ brüllte Fisholt von oben. „Laßt die Wagen vorfahren!“ Alle Polizisten sprangen in die Fahrzeuge, deren Motoren sofort aufbrummten. Otto stand wieder auf. Er schüttelte sich etwas und ging auf einen Wagen zu, der sofort davonbrauste. So ließ er diesen verschwinden und ging auf ein anderes Fahrzeug zu, das gleichfalls sofort startete. Eine Minute lang spielte sich da unten ein richtiggehendes Karussell ab, ein unheimliches Versteckspiel zwischen Mensch und Fahrzeugen. Immer wieder sprang Otto auf einen Wagen zu, der rasch entfloh, um in geringer Entfernung wieder stehen zu bleiben. Das schien ihn anfänglich zu belustigen, doch dann wurde er böse. Er packte einfach eine Laterne, riß sie aus und warf sie vor einen Lastwagen. Zum Glück konnte der Fahrer noch im letzten Augenblick das Steuer herumreißen und auf diese Weise dem Projektil entgehen. 64
„Diesen Burschen kann man nur mit Kanonen umlegen“, sagte Fisholt wütend. „Kann man von Ihrer Wohnung aus telefonieren?“ „Gewiß. Was wollen Sie denn tun?“ „Einen Panzer anfordern.“ Er verschwand. Im Grunde genommen war seine Absicht so schlecht nicht. Das unheimliche Schauspiel zog mich in grausiger Weise an. Wieder hatte das Versleckspiel begonnen. Was erwarteten die Plattfüße eigentlich von ihrem Unternehmen? Wollten sie Otto ermüden? Das war doch lächerlich. Plötzlich sah ich einen Lastwagen am äußersten Rande des Kais auftauchen. Er hatte mindestens achtzig Sachen drauf und ließ dazu die Sirene heulen. Die anderen Fahrzeuge stoben auseinander und machten den Weg frei. Erstaunt blieb Otto auf der Straßenmitte stehen und hielt die Arme weit ausgebreitet. Der Lastkraftwagen raste direkt gegen ihn an, Otto wurde in die Luft geschleudert und kam erst 20 Meter weiter wieder auf den Boden zurück. Dann gab es einen fürchterlichen Krach. Der Wagen war mit großer Wucht gegen eine Hauswand gerannt, während Otto sich unversehrt wieder erhob. Hastig, aber sehr benommen stiegen die Polizisten aus dem beschädigten Fahrzeug. Otto schüttelte sich, als ob er ins Wasser gefallen sei, und stürzte sich dann auf das bewegungslose Fahrzeug. Er packte es wutentbrannt, stemmte es hoch über den Kopf und warf es mit gewaltigem Schwung in den Strom. Mit Befriedigung bemerkte ich in diesem Augenblick das Aufblitzen eines Blitzlichts. Slim war am Werk. Die Polizisten flüchteten in aller Eile auf andere Fahrzeuge zu, die sie hastig aufnahmen. Das Spiel wurde grausam. Hastig verließ ich meinen Aussichtspunkt und stürzte die Treppe hinab. Otto marschierte jetzt über die Brücke und ging 65
in die Stadt. Es war entsetzlich. Er konnte unvorstellbares Unheil heraufbeschwören. Fisholt tauchte wieder auf. „Er muß unbedingt daran gehindert werden, in die Stadt zu kommen!“ rief ich aus. „Ich möchte schon, aber wie soll es geschehen? Abschießen können wir Ihn nicht. Ich habe eben mit der Garnison telefoniert. Dort besitzt man einen einzigen leichten Panzer mit einer winzigen Kanone. Binnen weniger Minuten wird man sich von dort aus über Sprechfunk mit mir in Verbindung setzen.“ Otto spazierte weiter über die Lincoln-Brücke. Auf Fisholts Befehl fuhren die Lastwagen los. Zwei Personenwagen überholten sie, fuhren rechts und links an Otto vorbei und blieben dann vor ihm. Mit äußerster Lautstärke ließen sie ihre Sirenen aufheulen, um die Öffentlichkeit zu warnen. Die Lastwagen hielten sich hinter dem Ungeheuer. Plötzlich fragte ich: „Haben Sie eigentlich Scharfschützen?“ „Alle Polizisten sind gute Scharfschützen.“ „In diesem Fall spreche ich von Männern, die noch auf 30 Meter ins Schwarze treffen.“ „Was sollte das nützen?“ „Es ist nur ein Gedanke von mir.“ „Tom und Steve!“ rief Fisholt zwei Männern zu, die noch nicht auf die Fahrzeuge zurückgekehrt Waren. „Steigt bei uns ein.“ „Ich möchte noch eine Anregung geben“, bemerkte ich. „Der Herr General wünschen“, spottete Fisholt. „Lassen Sie ein paar Mann zurück, die das chinesische Restaurant durchsuchen. Sie sollen jeden dort vorgefundenen Menschen unbedingt festnehmen.“ Fisholt gab neue Befehle, worauf wir in seinem Wagen Platz nahmen. Rasch hatte das Automobil den kuriosen Zug wieder erreicht, der Ottos Spuren folgte. 66
„Und was soll jetzt geschehen?“ fragte er. „Ich möchte Ihnen folgenden Vorschlag machen: Wir überholen Otto, wenden und warten, bis er – hell erleuchtet von den Scheinwerfern – etwa zwanzig Meter vor uns ist.“ „Und dann?“ „Und dann werden Ihre beiden Scharfschützen auf seine Augen zielen!“ „Man muß schon Journalist sein, um so etwas auszuhecken“, knurrte er. „Und wenn er sich nur gekitzelt fühlt?“ „Dann werden wir etwas anderes ausfindig machen.“ „Habt ihr verstanden? Vorwärts, Bob.“ Der Wagen raste los und überholte die Laster. Otto hatte inzwischen das jenseitige Ufer erreicht. Entschlossenen Schrittes ging er auf die Stadt zu, gleichgültig und an den sich in seiner Nähe abspielenden Geschehnissen in keiner Weise interessiert. Unser Fahrzeug überholte ihn, schlug einen Bogen und blieb in hundert Meter Entfernung vor ihm stehen. Bob ließ die Scheinwerfer aufleuchten. Sofort stiegen Tom und Steve aus und knieten sich nieder. Sie waren mit leichten Karabinern bewaffnet. „Ihr zielt also auf die Augen!“ befahl Fisholt. „Und zittert nicht!“ setzte ich hinzu. Otto war noch sechzig Meter entfernt. Er hatte seinen Schritt verlangsamt, ging aber weiter auf die Scheinwerfer zu. Die beiden Blauen hatten die Gewehre auf die Kotflügel gelegt. „Befehlen Sie Feuer, Herr General?“ fragte Fisholt in spöttischer Unterwürfigkeit. „Gern“, antwortete ich. „Und wo bleibt Ihr Panzer?“ „Ich warte noch immer auf den Anruf.“ Otto war uns bis auf vierzig Meter nahegekommen. Die anderen Lastwagen waren stehengeblieben und hatten die Sirenen abgestellt. Man hörte nur noch das Geräusch von Ottos Schritten. 67
Er war jetzt dreißig und dann nur mehr fünfundzwanzig Meter von uns entfernt. „Nun?“ fragte Fisholt nervös. „Achtung, ihr Jungens!“ Als er sich uns auf fünfzehn Meter genähert hatte, befahl ich: „Feuer!“ Die Schüsse krachten. Sofort warfen Tom und Steve sich in den Wagen, Bob gab Gas und brauste davon. Otto ging weiter, etwas unsicher und schwankend zwar, aber er ging. „Eben ruft mich der Panzer an“, flüsterte Fisholt beeindruckt. „Lassen Sie ihn kommen, damit endlich Schluß gemacht wird“, rief ich gequält. Fisholt befahl in das Mikrophon: „Roosevelt Avenue, Ecke Park Avenue … Rasch!“ Otto ging weiter, unbewegt den Scheinwerfern folgend. Noch immer fuhren wir im Rückwärtsgang. Plötzlich sagte der Fahrer: „Da kommt der Panzer, direkt hinter uns.“ „Gib acht!“ Wir schwenkten zur Seite und fuhren auf den Bürgersteig, um zwischen zwei Bäumen stehenzubleiben. In etwa hundert Meter Entfernung war der Panzer stehengeblieben. „Fahren Sie langsam auf den Mann zu, der sich in der Mitte der Roosevelt Avenue hält!“ befahl Fisholt. „Laden Sie – fahren Sie weiter vor – zielen Sie aufs Herz – und jetzt: Feuer!“ Eine gewaltige Detonation ließ alle Fensterscheiben erzittern. Otto brach zusammen.
10. Kapitel „Otto ist endlich tot!“ Aus der Art, in der Fisholt sich bequem in seinen Ledersessel 68
gleiten ließ, dabei ein seliges Lächeln auf den Zügen, erkannte ich, daß er viel mehr Beamter als Polizist war. „Ja“, stimmte ich zu, „Otto ist tot. Halten Sie den Fall damit für erledigt?“ „Pah … Nein, vielleicht nicht. Aber man könnte sich eine kleine Ruhepause gönnen.“ „Ungefähr dreihundert junge Leute sind verschwunden, ungezählt Ihre hübschen Pin-up-Girls.“ „Das stimmt, doch diese Dinge ereigneten sich in anderen Bundesstaaten, für die ich nicht zuständig bin. Für mich ist der Fall praktisch erledigt.“ „Tatsächlich?“ „Natürlich. Otto ist doch tot.“ „Einverstanden, aber wer ist Otto?“ „Er wird augenblicklich seziert.“ „Und warum hielt der Wirt des chinesischen Restaurants ihn in seiner Gewalt?“ „Der Bursche ist festgenommen worden. Wir können ihn jederzeit verhören.“ „Warum wurde Donavan umgebracht?“ „Woher soll ich das wissen?“ „Ich glaube es zu erraten und kann wahrscheinlich mühelos Donavans letzte Lebensstunden rekonstruieren. Eines Morgens sieht er Otto von seinem Fenster aus auf der Brücke umhergehen. Aus irgendwelchen Gründen erweckt er sein Mißtrauen. Er packt seinen Apparat und schießt eine Aufnahme – in jenem Augenblick, da Otto sich anschickt, einen Lastkraftwagen ins Wasser zu werfen. Donavan entwickelt den Film und bringt ihn zur Redaktion, wo Baxter ihm hell ins Gesicht lacht. Was bleibt Donavan noch zu tun? Er muß andere Aufnahmen machen, um Baxter zu überzeugen. So bleibt er eine Nacht am Fenster und beobachtet die Lincoln-Brücke.“ Fisholt starrte vor sich hin. 69
„Bei Tagesanbruch taucht Otto wieder auf. Nur zu seinem Vergnügen hat er den Sockel eines Denkmals abgerissen und mit sich geschleppt. Donavan stürzt sich auf ihn und macht Blitzlichtaufnahmen von ihm. Und Sie haben gesehen, wie sehr das Ungeheuer von dem Licht irritiert wird. Der Rest ist Ihnen bekannt …“ „Warum konnte sich Otto frei bewegen?“ „Wahrscheinlich war er entflohen. Vielleicht hatte der Chinese vergessen, die Falltür zu schließen.“ „Warum ist Otto dann überhaupt nach Hause zurückgekehrt?“ „Weil er Hunger hatte. Das scheint die einzige logische Erklärung zu sein. Otto war wie ein Tier; wie sie, hat auch er den Nestinstinkt.“ „Das Amt für öffentliche Arbeiten hat mir übrigens einen Brief zugehen lassen.“ „Ich kenne das Schreiben. Hieraus läßt sich schließen, daß es eine Organisation gibt, die die Ottos serienweise herstellt. Los, Fisholt, werden Sie sich endlich einmal wachrütteln und aufraffen? Die Arbeit wartet auf Sie!“ „Natürlich werde ich eine Meldung schreiben.“ „Schön, ich habe verstanden. Regen Sie sich aber bitte nicht auf, wenn sich ein neues Unheil ereignen sollte!“ „Man kann wohl kaum voraussagen, daß …“ „Sie haben recht, das kann man nicht.“ „Wollen wir jetzt den Chinesen verhören?“ „Ich muß gestehen, daß Ottos Autopsie mich im Augenblick bedeutend mehr interessiert. Der Chinese wird uns vielleicht erzählen, woher Otto kommt, doch zunächst möchte ich wissen, wie er entstanden ist.“ „Einverstanden“, nickte Fisholt und stand auf. „Wir fahren zur Universitätsklinik. Kommen Sie.“ Wir begaben uns sofort auf den nur wenige Minuten dauernden Weg, durchquerten rasch die Gänge und kamen bald darauf 70
in die pathologische Abteilung, in der die Sektionen vorgenommen wurden. Mindestens zwanzig Ärzte drängten sich um den Tisch, während der Chefarzt für Chirurgie sich selbst um den Toten bemühte. Wir mußten uns unseren Weg richtiggehend bahnen. „Na, Doc?“ fragte Fisholt fröhlich. „Hoffentlich kommen Sie nicht, um sich das Resultat der Autopsie zu holen?“ „Das ist im Augenblick unsere Absicht.“ „Dann müssen Sie später wieder vorbeikommen. Wir sind noch nicht so weit!“ Er ließ uns einen Blick auf den Leichnam werfen, dessen Haut geradezu metallisch schimmerte. „Ist er überhaupt ein Mensch?“ fragte ich. „Er kommt mir wenigstens so vor“, grinste der Arzt spöttisch. „Aber aus was ist er gemacht? Wir haben ungezählte Schüsse gegen ihn abgefeuert, die ihn einfach nicht zu belästigen schienen.“ Der Arzt warf mir einen fast bösen Blick zu, und Fisholt mußte einige beruhigende Blicke an ihn richten. „Ich kann Ihnen noch nicht sagen, aus welchem Material dieser Mann geschaffen wurde. Auf den ersten Blick ist er ebenso gebaut wie Sie und ich, aber Haut und Fleisch sind durch irgendeine Behandlung stärker ais Stahl geworden. Über die Ursachen dieser Wandlung aber lassen sich nach einer so kurzen Prüfung noch keine Angaben machen.“ „Es kann sich also nicht um eine natürliche Entwicklung handeln?“ „Das ist ganz ausgeschlossen. Nicht die tollste Vererbung könnte eine solche Ungeheuerlichkeit erzeugen. Vergessen Sie nicht, daß es sich um einen Menschen handelt.“ „Vielleicht durch Spezialnahrung?“ „Es gibt keine einzige Nahrung, die die Muskeln zu Stahl machen kann.“ 71
„Eine andere Frage: Kann der vor Ihnen liegende Mann sich vielleicht selbst dieser Spezialbehandlung unterzogen haben?“ „Das möchte ich bezweifeln. Ich kann mich natürlich täuschen, möchte aber behaupten, daß es sich um eine alles andere als angenehme Behandlung handelt. Außerdem …“ Er dachte kurz nach und fuhr dann fort: „Außerdem handelt es sich wahrscheinlich um eine Behandlung wissenschaftlicher Art. Otto ist unzweifelhaft das Resultat eines ungeheuerlichen Experiments – aber eines Experiments auf wissenschaftlicher Grundlage. Er hat gar nichts von einem Intellektuellen an sich. Ich habe Kopf und Gehirn noch nicht untersucht, bin aber jetzt schon überzeugt, daß dabei meine Ansicht bestätigt wird.“ „Wie ist möglich, daß er den Kugeln des Polizisten entgehen konnte?“ „Seine Haut ist ebenso widerstandsfähig wie Metall. Sie ähnelt dem Panzer eines Insekts.“ „Wir befürchten nun, daß es noch mehr Ungeheuer in der Art eines Otto gibt. Halten Sie das für möglich?“ „Gemeinhin kann ein einmal erfolgreiches Experiment mit demselben Erfolg wiederholt werden. Das Ungeheuerliche der Tatsache nimmt ihr nichts von ihrer Wirkung.“ „Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird, die Behandlungsart herauszufinden, durch die Otto zu dieser Widerstandskraft kam?“ „Das ist möglich, aber nicht sicher.“ Ich warf Fisholt einen Blick zu. „Sind Sie jetzt befriedigt?“ fragte er mit angedeutetem Lächeln. „Man kann niemals zuviel lernen“, entgegnete ich. „Jetzt wollen wir unseren Chinesen besuchen.“ Wir kehrten zum 3. Kommissariat zurück, um dort zu erfahren, daß der inhaftierte Chinese Selbstmord begangen hatte. *
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Die beiden folgenden Tage waren wahrhaft enttäuschend. Fisholt ruhte auf seinen Lorbeeren aus. Das Ausbleiben eines jeden neuen Zwischenfalles machte ihn beinahe anmaßend. Er beschränkte sich darauf, eine eingehende Meldung zu verfassen! Ich selbst hatte mich mit Intensität an das Verfassen meiner Artikel gemacht. Die ganze amerikanische Presse begeisterte sich für Otto, und meine Publikationen erschienen in fünfzehn der bedeutendsten Zeitungen. Von medizinischer Seite war vorerst nichts zu erfahren; die Ärzte behaupteten, daß sie zunächst eine lange und gründliche Untersuchung anstellen müßten. Bei der Durchsuchung des chinesischen Restaurants waren keinerlei sensationelle Funde gemacht worden. Weshalb ich mich gezwungen sah, das bisherige Material neu zu verarbeiten, was jedem guten Journalisten außerordentlich mißfällt. Ich verfaßte wütende Artikel gegen die Hersteller dieser Ungeheuer und galt bald als erster Verteidiger der amerikanischen Freiheiten und Bürgerrechte. Eine unklare Stimme sagte mir dabei, daß ich mich durch mein Tun selbst in mein Unglück stürzte. Was mich aber gleichgültig ließ. Ja, wenn sich mir nur die geringste Gelegenheit geboten hätte, wäre ich sofort mit fliegenden Fahnen in den Krieg gezogen. Stewart ließ mich zu sich in die Redaktion kommen. Zunächst äußerte er seine Befriedigung über meine Artikel und sagte dann: „Das alles aber läßt mich nicht vergessen, daß du zu meinen Freunden gehörst, Jelly. Bist du nicht auch der Meinung, daß du manchmal etwas zu sehr vom Leder ziehst?“ Ich zuckte nur die Achseln, kehrte nach Hause zurück und sichtete nochmals das vorhandene Material. In einer Hinsicht hatte Fisholt recht behalten: der Fall Otto war erledigt. Blieben nur noch die unerklärlichen Zwischenfälle: die Entführung ei73
niger Schulklassen, von Schönheitsköniginnen und Nahrungsmitteln; dazu der seltsame Brief von Dr. Fang. Wie ließ sich das alles unter einen Hut bringen? Am übernächsten Abend bekam ich einen Anruf, von Leslie. Sie schien unvorstellbar erregt. „Jelly, können Sie sofort kommen?“ „Was ist denn los?“ „Ich erzähle es Ihnen hier.“ Ohne zu zögern, setzte ich mich in den Wagen und fuhr zu Baxters Villa. Der Butler brachte mich sofort in den Salon. Wenig später tauchte Leslie auf. „Was ist los?“ wiederholte ich ungeduldig. „Eine schreckliche Nachricht, Jelly. Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen beibringen soll.“ „Cora?“ „Sie ist seit gestern verschwunden! Ich weiß nicht, was ich tun soll.“ Umsonst versuchte ich, aus Leslie nähere Einzelheiten zu ziehen. Sie konnte nur schluchzen und weinen, wußte aber nichts zu sagen. Die Nachricht schmetterte mich geradezu nieder, und doch hatte ich vorausgeahnt, daß sich etwas Ähnliches ereignen würde. Ich durchsuchte ihr Zimmer in Leslies Villa, unterhielt mich mit dem Butler, der nichts wußte. Dann befragte ich die Nachbarn. Entmutigt kehrte ich zum Wilsonkai zurück. Ich hatte nicht einmal Lust, die Polizei zu alarmieren. Wieder einmal mußte ich in den Krieg ziehen, ganz allein – in den Krieg gegen das Unbekannte.
11. Kapitel Die Nacht verbrachte ich am Fenster und sah hinaus, ohne etwas zu entdecken. Nicht eine Menschenseele machte sich bemerkbar. 74
Allgemach begriff ich, was es heißen wollte, wenn man von dem „Wälzen eines Problems“ sprach. Ich ging die Geschehnisse von allen Seiten an, entdeckte aber nicht das geringste Indiz, kein noch so geringfügiges Element, um die Jagd zu beginnen. Man hatte Cora entführt … Gab es etwas Einfacheres und Leichteres? Ein Wagen hielt vor der Villa – vielleicht als sie nach Hause kam. Ein Mann stieg aus und drückte ihr eine Pistole in die Rippen, um ihr dann das Einsteigen zu. befehlen. Das alles dauerte zwei Sekunden. Anschließend fuhr der Wagen wieder fort, und jetzt konnte Cora überall in der Welt sein. Weshalb wurde Cora entführt? Wahrscheinlich wollte man mich lähmen, und das ließ erkennen, daß meine Artikel sie störten. Stewart hatte recht gehabt, ich hatte zu scharf vom Leder gezogen. Doch ich hatte immer geglaubt, daß ich ihr Gegner sei; wie schon so manches Mal, hatte ich mich für schlauer gehalten, als ich in Wahrheit war. Jetzt wurde es Tag. Draußen war es grau und nebeltrübe, so daß der Strom fast nicht zu erkennen war. Dicke Dampfwolken schienen vom Wasser aufzusteigen. Ich warf einen Blick auf die Uhr: es war kurz nach sechs. Ich würde auch meine linke Hand noch hergeben, wenn mir nur etwas Vernünftiges einfiele. Dann aber überstürzten sich die Ereignisse, plötzlich und in ganz unerwarteter Weise. In rasender Fahrt tauchte auf der Lincoln-Brücke plötzlich ein Wagen auf, den ich wegen des Nebels früher nicht hatte sehen können. Er fuhr langsamer und langsamer, bis er unmittelbar vor meinem Hause stehenblieb. Sofort begriff ich, was geschehen würde: auch ich sollte entführt werden, und das alles würde nur wenige Sekunden dauern. Ich warf einen Blick auf das Telefon. Man sollte jemand unterrichten. Doch ehe ich beispielsweise Fisholt erreicht hatte, würde es bereits zu spät sein. 75
Ein Mann verließ den Wagen und ging auf die Haustür zu. Mir kam ein anderer Gedanke. Ich stürzte auf das Diktaphon und stellte es an. Während der Apparat anlief und die Röhren sich erwärmten, betrachtete ich den Wagen. Dann begann ich sofort zu sprechen: „Man wird mich gleich entführen. In einem Lincolnwagen, der in Texas registriert ist. Limousine schwarzer Färbung …“ Es war mir nicht möglich, die Nummer zu erkennen. Bereits läutete es an der Wohnungstür. Da ich meiner Erinnerung nach nicht abgeschlossen hatte, rief ich: „Herein!“ Ich überprüfte den Sitz meiner Gesichtsmaske und warf dann das Tischtuch über das Diktaphon, so daß nur das Mikrophon unbedeckt blieb. Man klopfte an die Tür, und erneut sagte ich: „Herein!“ Der Griff drehte sich, und der Mann trat ein. Im Handumdrehen hatte ich ihn gründlich gemustert. Auch er sah ungemein stark und kräftig aus, hatte aber nichts von Ottos bestialischer Primitivität an sich. „Mister Roos?“ fragte er. „Der bin ich. Was wünschen Sie?“ „Ich möchte Ihnen diesen Brief übergeben.“ Er überreichte mir einen an mich adressierten Umschlag. Sofort erkannte ich Coras Handschrift. „Ist das ein Brief meiner Frau?“ fragte ich, mehr für das Diktaphon als für den Mann. „Ich weiß es nicht, mein Herr.“ Ich riß den Umschlag auf und las mit lauter Stimme: „Jelly, ich bin entführt worden. Es gibt anscheinend nur eine Möglichkeit, mich zu finden: wenn nämlich du dem Mann folgst, der dir diesen Brief bringt. Bis jetzt bin ich gut behandelt worden, weiß aber nichts von ihnen. Ebenso wenig ahne ich, ob mein Leben bedroht wird. Jelly, komm mir zur Hilfe. Du allein kannst mich befreien! Cora“ 76
„Wo ist meine Frau?“ „Sie werden es erfahren, wenn Sie mir folgen.“ „Und wann soll ich Ihnen folgen?“ „Jetzt sofort!“ Er redete mit ruhiger Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Nur um Zeit zu gewinnen und vor dem Diktaphon vielleicht eine Angabe zu machen, fragte ich weiter: „Kann ich einige Toilettenartikel mitnehmen?“ „Man wird Ihnen dort alles geben, was Sie benötigen.“ „Dort?“ „Folgen Sie mir, mein Herr, und versuchen Sie nicht, die Aufmerksamkeit der Nachbarn zu erwecken, was mehr als bedauerlich wäre.“ Ich zögerte noch einen Augenblick, wußte aber nicht, was ich noch tun sollte. Was konnte ich den Leuten hinterlassen, die hier vielleicht eine Untersuchung durchführen würden? „Ich bitte Sie, mein Herr“, drängte er gelassen. „Ich folge Ihnen.“ Wir verließen die Wohnung. Er ging vor mir her, ohne jede Furcht, ohne sich umzuwenden, als ob er wüßte, daß er unverwundbar war. Auf dem Kai öffnete er die Tür des Wagens und hieß mich, an seiner Seite Platz zu nehmen. Er war ganz allein. Sofort ließ er den Motor an und fuhr dem Süden der Stadt zu. Ich verhielt mich schweigend. Was hätte das Reden auch genutzt? Der Fahrer hätte mir wahrscheinlich doch nichts mitgeteilt. Als wir die Stadt hinter uns hatten, raste er über die Autostraße, wechselte aber bereits nach fünf Meilen, um über Straßen zweiter und dritter Ordnung zu jagen. Er schien mich durch einen richtiggehenden Irrgarten zu führen, doch es gelang mir, mich nach der langsam durchbrechenden Sonne zu orientieren. Auf diese Weise erkannte ich, daß wir hoch immer dem Süden zufuhren. 77
Ich entnahm meinem Etui eine Zigarette und stellte fest, daß mir nur mehr zwei Stück blieben. Ich brannte eine von ihnen an und sagte: „Ich habe keine Zigaretten mehr.“ „Da sind welche“, erwiderte er. Er öffnete ein Fach, in dem Zigaretten in großer Zahl und aller erdenklichen Marken lagen. „Außerdem habe ich noch nicht gefrühstückt.“ „Sie können essen, wann immer Sie Hunger haben. Proviant finden Sie auf dem Rücksitz.“ Ich wurde geradezu verwöhnt. Dabei ging die Fahrt in rasender Geschwindigkeit weiter. Ich versuchte, unterwegs die Namen der Dörfer meiner Erinnerung einzuprägen, gab die Absicht aber bald wieder auf. Aus der Tasche zog ich Coras Brief, den ich wieder und wieder las. Ich war überzeugt, daß man ihr das Schreiben diktiert hatte. Es war ebenso neutral und anonym wie eine Banknote. Ich steckte es zurück. Eine unangenehme Schlaffheit gewann meinen Körper. Nach wie vor jagte die Landschaft im Zeitraffertempo an mir vorüber. Und dann kam die Angst. Ich hätte ausgezeichnet verstanden, wenn dieser Bursche mir einen Pistolenknauf in die Rippen gedrückt hätte, wenn auf dem Rücksitz zwei Burschen säßen, die zu jeder Schlechtigkeit fähig waren. Diese gelassene Selbstsicherheit jedoch war um vieles beunruhigender. Er hatte nicht einmal meine Taschen durchsucht. Und ich wußte, daß ich nichts unternehmen konnte. Ich war zum Spielzeug in der Hand unbekannter Kräfte geworden. Ich würde ebenso wie die dreihundert Schüler irgendwo im Ungewissen, Unklaren verschwinden. Mit Jelly Roos war es aus … Die Fahrt wurde nur zweimal unterbrochen. Gegen Mittag hielt der Fahrer in einem Fichtenwald und packte die Vorräte aus. Wir aßen im Auto. Mir bot er kaltes Brathuhn an, während er sich mit Früchten begnügte. 78
Um 3 Uhr hielten wir abermals – vor einer Tankstelle. Der Mann verließ seinen Platz, ohne mich überhaupt zu warnen. Er wartete, bis der Tank gefüllt war, worauf wir weiterfuhren. An der Härte des Bodens und der veränderten Vegetation erkannte ich, daß wir uns dem Süden näherten. Gemüseplantagen lösten die gewöhnlichen Äcker ab. Gegen 7 Uhr unterbrach ich ein zweites Mal die Stille und fragte: „Sind Wir bald da? Ich werde langsam müde.“ „Noch knapp hundert Kilometer“, entgegnete er phlegmatisch. Ich warf einen Blick auf den Kilometerzähler und dann auf die Landschaft hinaus, die von Minute zu Minute ein anderes Bild bot. Es gab keinen Zweifel mehr, daß wir uns mitten in Texas befanden. Am Horizont zeichnete sich eine Bergkette ab, die nach meiner Überzeugung nur das Guadalupenmassiv sein konnte. Ich überwachte genau den Kilometerzähler, denn ich wollte einen letzten Versuch unternehmen, um meinen Weg bekanntzugeben. Als das Fahrzeug rund fünfundneunzig Kilometer zurückgelegt hatte, steckte ich eine neue Zigarette an und überwachte genau die Straße. In meiner Linken hielt ich Coras sorgfältig gefalteten Brief. Endlich sah ich rechter Hand die Lichtreklame einer Tankstelle. Der Fahrer achtete in keiner Weise auf mich. Als wir an der Tankstelle vorbeikamen, ließ ich zusammen mit dem Zigarettenstummel auch Coras Schreiben hinausfallen. Seit einer halben Stunde befanden wir uns im Gebirge. Die Straße beschrieb die tollsten Kurven, doch der Fahrer dachte nicht daran, seine Geschwindigkeit herabzusetzen. Plötzlich hielt er an und wandte sich mir zu. „Ich habe den Befehl bekommen, Ihnen die Augen zu verbinden“, sagte er und holte ein schwarzes Tuch aus der Tasche. Ich zuckte nur die Schultern. Was hätte ein Protestieren schon genützt? So ließ ich mir die Augen verbinden. 79
Vor meinem Unfall hätte ich sofort versucht, den Stoff zu bewegen oder zu verschieben. Heute verhinderte die Gefühllosigkeit der Maske jeden ähnlichen Versuch. Das Fahrzeug legte noch einige zwanzig Kilometer zurück. Dann fühlte ich, wie es eine enge Kurve beschrieb und stehenblieb. Der Chauffeur öffnete die Tür und half mir beim Aussteigen. Dann wechselte er mit jemand einige leise Worte, worauf mich ein etwas rauherer Mann beim Arm faßte. Ich mußte gehen und dann eine Stufe erklettern. An dem Echo meiner Schritte erkannte ich, daß wir wahrscheinlich durch einen weiten Gang marschierten, in dem es mutmaßlich keinerlei Möbel gab. Dann hielt er mich an und drehte mich um. Ich fühlte, wie Hände meine Taschen durchsuchten. Irgendwo kreischte ein Schlüssel. Ich wurde vorwärtsgestoßen. Dann sagte eine unbekannte Stimme: „Wenn die Tür geschlossen ist, können Sie die Augenbinde abnehmen.“ Beinahe sofort vernahm ich das Geräusch einer zufallenden Tür. Sekundenlang blieb ich bewegungslos stehen, führte dann meine linke Hand nach hinten und begann den Knoten aufzuknöpfen. Das, was ich dann sah, erstaunte mich. Unter anderen Umständen hätte ich mir wahrscheinlich gesagt, daß ich mich in einer Kaserne befinde. Doch es war nicht so richtig eine Kaserne. Eher hätte man von einem Lazarett sprechen können. Langsam ließ ich meinen Blick umherwandern.
12. Kapitel Ich befand mich in einem großen Zimmer mit gestrichenen Wänden, an denen zwölf spartanisch einfache Betten, richtiggehende Barras-Schlafstellen, aneinandergereiht waren. Über 80
jedem Bett befand sich ein kleines Wandschränkchen; an deren Füßen ein Tisch und eine Fiebertabelle. Sieben der Betten waren belegt; fünf waren leer. Einem der unbelegten Betten näherte ich mich. Über dem noch leeren Blatt der Fiebertabelle stand mit Tusche geschrieben – „Jelly Roos“. Alles war vorbereitet worden, doch mein Kommen war offenbar unbeachtet geblieben. Ich war todmüde und legte mich sofort ins Bett … Mein Schlaf war schwer und unruhig. Als ich am nächsten Morgen erwachte, stand ein Mann am Fuß meines Bettes. Offenbar handelte es sich um einen Unglücksgenossen, der in demselben Zimmer untergebracht war. „Wer sind Sie?“ fragte er, als er mich die Augen aufschlagen sah. „Mein Name steht vor Ihnen am schwarzen Brett. Oder können Sie nicht lesen?“ „Ein Name bedeutet uns nichts. Warum sind Sie hier?“ „Weil eine Bande von Verbrechern mich gestern morgen entführen ließ!“ Er schien nicht sehr überzeugt und fragte weiter: „Weshalb tragen Sie eigentlich eine Maske?“ „Weil das, was darunter zu sehen ist, recht häßlich und abstoßend wirkt.“ „Ein Unfall?“ Seine Fragen ärgerten mich. Hübsche Frauen gab es hier nicht, und so riß ich die Maske einfach ab. „Zufrieden?“ fragte ich. „Entschuldigen Sie bitte“, erwiderte er beschämt. „Sie müssen nämlich wissen, daß …“ Er unterbrach sich und warf den anderen, im Bett liegenden Männern einen Blick zu. Ich sah mir die Leute an. „Was soll ich wissen?“ 81
„Wir müssen allem und allen gegenüber mißtrauisch sein.“ „Werden Sie denn mißhandelt?“ „Nein, wir werden nicht mißhandelt. Trotzdem ist es schlimmer.“ Ich stand auf und zog meine Hose an, um dann jeden einzelnen Gefangenen anzusehen. Alle ertrugen meinen Blick, obwohl ich die plastische Maske nicht wieder angelegt hatte. Es war das erstemal, daß ich mein entstelltes Gesicht zeigte. Doch welche Bedeutung hatte das heute? „Los!“ begann ich endlich. „Entleeren Sie Ihren Sack und quetschen Sie sich aus. Wer sind Sie?“ Der Mann, an den ich mich gewandt hatte, erwiderte: „Wir kommen von drei verschiedenen Lehrinstituten.“ „Dann weiß ich auch, wer Sie sind. Ich weiß von den Entführungen der Schulklassen. Wie sind dieselben denn vor sich gegangen?“ „Wir machten einen Ausflug, um botanische Studien durchzuführen, und befanden uns in der Umgebung von Abilene. Schon den ganzen Tag waren wir unterwegs, und die Kinder waren recht müde geworden. Auf dem Rückweg kreuzten wir zwei Autobusse. Der Fahrer des ersten Wagens hielt an, stieg aus und fragte mich, ob wir müde seien. Da die Fahrzeuge unbesetzt nach Abilene fahren sollten, schlug er uns vor, einzusteigen und mitzukommen. Natürlich nahmen wir an – und als wir in den Fahrzeugen waren, schlossen irgendwelche automatische Gitter die Fenster. Gleichzeitig wurden die Türen blockiert. So fuhren wir die ganze Nacht, um am Morgen hier abgesetzt zu werden.“ „Und die anderen?“ fragte ich und richtete mich an die restlichen Bewohner der kasernenähnlichen Stube. „Es handelt sich um mehr oder weniger gleichgeartete Geschichten“, antwortete ein etwa fünfundzwanzigjähriger Mann. „Wir hatten lediglich einen Ausflug gemacht.“ 82
„Wunderbar“, lachte ich bitter. „Und was machen Sie hier?“ „Nichts“, erwiderte der erste der Männer. „Wir werden gepflegt wie … Jeff, der einer unserer Lehrer war, hat den treffenden Ausdruck gefunden. Wir werden hier gepflegt und behandelt, als ob wir Gefangene von Menschenfressern seien und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verspeist werden sollten. Man mißt unsere Temperatur und überwacht uns genau. Wir werden sogar geröntgt.“ „Ein herrliches Leben also.“ „Ich befürchte, daß Sie in einigen Stunden weniger erbaut sein werden!“ „Was werde ich denn in einigen Stunden erleben?“ „Haben wir heute den 7. Juni?“ „Ja. Handelt es sich um einen bedrohlichen Unglückstag?“ „Für uns unbedingt.“ „Dann mal los, mein Alter! Erzählen Sie etwas mehr und spannen Sie mich nicht auf die Folter.“ Doch trotz meiner Anstrengungen war es mir unmöglich, den Männern irgendeine Auskunft zu entziehen. Sie schienen sich vor etwas außerordentlich zu fürchten. So stand ich auf. Mit meiner künstlichen Hand verjagte ich eine Ameise, die über meine Linke lief. Fast unbewußt gingen meine Augen bis zur Wand. Eine ganze Kolonne von Ameisen erkletterte die Mauer. Sie bildeten einen richtiggehenden Heerwurm und verloren sich irgendwo an der Zimmerdecke. Da diese Erscheinung in diesen südlichen Gegenden mehr oder weniger alltäglich war, legte ich ihr nicht zu große Bedeutung bei. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Alle fuhren auf, und die Bewegung war so erschreckend aufeinander abgestimmt, daß ich ungewollt gleichfalls erschrak. Doch es erschien nur ein chinesischer Boy, der das Frühstück brachte. Sobald er gegangen war, versuchte ich, die Laune der anderen zu heben und rief so 83
fröhlich wie nur möglich: „Jetzt mal los, ihr Jungen! Beginnt zu essen und laßt diese Begräbnismienen fahren.“ Doch es war eine Predigt in der Wüste. Ich war der einzige, der nach den knusprigen Hörnchen griff und heißen Kaffee trank. Als ich die trostlosen Gesichter der anderen sah, verging mir jedoch der Appetit. Ich aß nur einige Bissen, warf dann das Hörnchen zurück auf den Tisch und stand auf. „Ich bin unter etwas anderen Voraussetzungen nach hier gekommen“, begann ich. „Hören Sie zu; ich will Ihnen meine Geschichte erzählen …“ Und ich begann, die Gesamtheit meiner Abenteuer zu berichten – von jenem Augenblick an, da Donavan in Baxters Arbeitszimmer gekommen war. Aber sie hörten nicht zu … Sie pfiffen auf meine Abenteuer. Immer häufiger blickten sie auf ihre Uhren. Ich war beinahe am Verzweifeln. Es schien unmöglich, ihnen ein Wort zu entreißen. So sah ich den Ameisen zu, die unablässig ihren Marsch der Zimmerdecke entgegen fortsetzten. Ob es wohl immer dieselben Tiere waren, oder war ihre Zahl so groß, daß sie niemals ein Ende nahm? Gegen 10 Uhr schien ihre Nervosität ihren Höhepunkt zu erreichen. Ihre Stimmung steckte an. Ich begann mich recht unbehaglich zu fühlen. „Was ist eigentlich aus Ihren Schülern geworden?“ fragte ich – nicht aus Neugier, sondern nur, um etwas zu sagen und dieses Schweigen zu brechen. „Wir wissen es nicht“, antwortete der Mann, der mich als erster angeredet hatte. „Haben Sie denn niemals den Versuch unternommen, hier hinauszukommen? Haben Sie niemals jemand gesehen?“ „Ein Entfliehen ist unmöglich. Gesehen haben wir nur den Boy und …“ „Und wen?“ 84
Doch sie versanken wieder in ihrem verbissenen Schweigen. Neben dem Zimmer befand sich ein Waschraum, den ich aufsuchte. Dort säuberte ich mich gründlich, um dann in den Schlafsaal zurückzukehren. Die Atmosphäre war noch angespannter und erregender, sofern solches überhaupt möglich war. Jetzt klebten ihre Blicke geradezu an den Zifferblättern ihrer Uhren, um allenfalls furchtsam zur Tür zu gehen. Auch ich sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor elf. Nachdenklich legte ich mich auf mein Bett. Noch immer erkletterten die Ameisen die Wand. Wohin mochten sie wohl verschwinden? Ich versuchte eben, dieses Geheimnis zu ergründen, als die Tür aufging. Alle Bewohner des Raumes sprangen auf und verkrochen sich in der äußersten Ecke des Raumes. Ein Mann von der Art eines Otto erschien in der Öffnung. „John White!“ rief er aus. Ein Schrei wurde laut, ausgestoßen von einem der Männer, die sich verkrochen hatten. Der Otto zuckte die Schultern, ging in das Zimmer und packte White beim Arm. Es gab nicht einmal einen Kampf. White wurde einfach auf die Schulter genommen und hinausgetragen. Dann wurde die Tür wieder zugeschlagen, und wir hörten, wie seine Hilferufe sich in der Ferne verloren. „Wußten Sie, daß man ihn holen würde?“ fragte ich nach einer Weile. „Nein, doch seit wir hier sind, wird jeden vierten Tag um 11 Uhr ein Name aufgerufen.“ „Und was macht man mit den Leuten?“ Der andere hob den Arm und ließ ihn wieder sinken. „Sie sind niemals zurückgekehrt.“ Bis um die Mittagszeit blieben sie niedergeschlagen; dann nahmen ihre Züge langsam wieder etwas Farbe an. Ich verstand 85
jetzt, daß sie sich in einem Zustand tiefster Niedergeschlagenheit befanden. Sie würden drei Tage in maßloser Furcht verleben, worauf dann ihre Angst am vierten Tage sich zu unvorstellbaren Höhepunkten steigern würde. „Wieviele waren es bis jetzt?“ fragte ich. „Es ist der vierte, der gegangen ist.“ „Schließlich läßt nichts darauf schließen, daß man ihnen etwas antun will“, sprach ich beruhigend. „Vielleicht werden sie sogar freigelassen? Das Leben hier ist doch schließlich nicht allzu abwechslungsreich.“ Natürlich glaubte ich kein Wort von dem, was ich sagte. „Hier leben wir wenigstens, mein Herr“, antwortete mir der Mann. Doch der Selbsterhaltungstrieb, der Lebensinstinkt, gewann wieder sein Recht, und so wurde bald das hier „alltägliche“ Dasein wieder aufgenommen. Rasch hatte ich begriffen, daß man wie im stummen Einvernehmen niemals den „vierten Tag“ erwähnte. Ich mußte erneut meine Abenteuer erzählen, denen man diesmal in größter Aufmerksamkeit lauschte. Anschließend diskutierte man ausführlich die Folgerungen, die sich aus meinen Erlebnissen ergaben. Was mich nun anbelangte, so hatte ich tatsächlich für kurze Zeit geglaubt, daß ich Cora zu sehen bekommen würde. Irgendwie hatte ich mir vorgestellt, daß der Gegner trotz allem ein ehrliches Spiel treiben würde. Inzwischen aber war mir klar geworden, daß man mir eine Falle gestellt hatte, in die ich in geradezu lächerlicher Unüberlegtheit hineingetappt war. Ich war nicht mehr oder weniger als diese unglücklichen Lehrer und hatte früher oder später irgendeinem mir noch unbekannten Experiment als „Material“ zu dienen. Die Spuren, die ich bei meinem Aufbruch hinterlassen hatte, waren geradezu kindisch gewesen. Es gab zwar einige Aussich86
ten, daß man sich über mein Verschwinden beunruhigen würde, und es war möglich, daß Fisholt meine Wohnung durchsuchen kam. Hingegen hielt ich es für unwahrscheinlich, daß er überhaupt merken würde, daß ich ihm eine Nachricht durch das Diktaphon hinterlassen hatte. Doch selbst wenn er die Tonbänder abspielen ließ, war so gut wie nichts gewonnen. Er erfuhr lediglich, daß ich entführt worden war – durch ein Fahrzeug, das texanische Kennzeichen trug. Und Texas ist bekanntlich sehr groß. Schließlich war da noch Coras Brief; er konnte aber vom Wind davongetragen worden sein, war vielleicht auch fortgefegt worden, ohne daß ein Mensch ihn las. Befand sich Cora wohl in demselben Gebäude wie wir? Würde sie gleichfalls Gegenstand eines schauerlichen Versuchs sein? Plötzlich wurde ich wütend auf mich selbst. Mir fehlte zwar manches von meiner früheren Schönheit, aber ich hatte nicht die geringste Lust, mich hier als Versuchstier behandeln zu Lassen. So setzte ich mich hin und schrieb auf eine Papierserviette: „Herr Doktor Fang, ich habe Ihnen eine dringende Mitteilung zu machen und zugleich ein Geschäft vorzuschlagen. Jelly Roos“ Als der Boy eintraf, übergab ich ihm das Schreiben und sagte ihm: „Gib das sofort deinem Chef!“ Der Bursche schien sehr verblüfft, nahm die Serviette aber entgegen. Ich glaubte zwar nicht an einen Erfolg, aber dann würde ich eben etwas anderes suchen. Ich war gewillt, mich zu wehren wie ein Teufel im Weihwasserkessel. Sofern nicht – ja, sofern ich nicht an einem bestimmten vierten Tag geholt worden war, vormittags um elf Uhr. 87
Am nächsten Tag erlebten wir eine stärkere, geradezu schauerliche Invasion von Ameisen. Das Bett Brents, der einer der Junglehrer von Dorado war, wurde geradezu überschwemmt, während er im Schlaf lag. Wir mußten alle mit Hand anlegen, um die kleinen Tiere zu vertreiben. Woher mochten alle diese Ameisen wohl kommen? Unablässig erkletterten irgendwelche Kolonnen die Wände oder stiegen diese hinab. Am Ende des zweiten Tages gelang es mir, die Männer ein wenig zu zerstreuen. Ich zeichnete ein Kartenspiel – mit Hilfe all der Visitenkarten, die sie in ihren Brieftaschen hatten. So gelang es uns für die Dauer einer Stunde, das schreckliche Bangen zu verjagen. Doch Zerstreuungen dieser Art mußten ganz einfach von kurzer Dauer sein. Der Abend brachte wieder seine atavistische Angst, denn der Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts beginnt sich zu fürchten und zu ängstigen, wenn die Nacht einbricht. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich kaum von seinen Vorfahren, den Höhlenbewohnern. Am dritten Tag steigerte sich die Spannung. Meine Unglücksgefährten wurden stumm und grau vor Furcht. Ich hatte jede Hoffnung verloren, eine Antwort zu erhalten auf meinen eigenartigen Brief; allerdings war mein Bluff auch viel zu dünn und durchsichtig gewesen, um Erfolg zu haben. Dr. Fang – sofern es hier überhaupt einen Dr. Fang gab – dachte nicht daran, auf meine lächerlichen Vorschläge hereinzufallen, wie Jelly Roos ihn gegenwärtig überhaupt nicht mehr zu beunruhigen schien. Eine Flucht …? Die Fenster unseres Saales hingen über einer tiefen Schlucht. Die einzige Tür war fest verschlossen; dazu war ich überzeugt, daß hinter ihr ein Bursche wachte, der vielleicht nicht nur Ottos Aussehen, sondern auch seinen Charakter hatte und nur darauf 88
wartete, sich mit uns in einen sinnlosen Kampf einlassen zu können. So brach der Morgen des „vierten Tages“ an. Ich war ebenso grau, bangend und zittrig wie die anderen und schämte mich nicht, meine Furcht einzugestehen. Als sich dann gegen 11 Uhr die Tür öffnete und der neue Otto in dem Eingang erschien, zeigte ich mich ebenso erbärmlich wie die anderen und drängte mich mit ihnen zusammen in eine Ecke. „Jerome Morgan!“ rief der Mann.
13. Kapitel Erst am übernächsten Tag kam man mich holen. Der Mann erschien in der Tür und rief meinen Namen. „Jelly Roos!“ Mit einem gewaltigen Satz waren wir alle gleichzeitig auf den Beinen. Die Art, wie dieser Mann meinen Namen ausrief, dazu seine Handbewegungen, entsetzten mich. Mir war, als ob man mich in ein eiskaltes Bad gestürzt hatte. Der Schlag kam um so überraschender, als wir heute ja keinen „vierten Tag“ hatten und es erst 10 Uhr vormittags war. Die anderen seufzten und schienen erleichtert angesichts der neuen Galgenfrist, die ihnen mein Vorzitieren vor einen Unbekannten brachte. Dann warfen sie mir mißtrauische Blicke zu. Beinahe unbewußt und ohne eigentlichen Grund ging ich an mein Bett zurück und setzte meine plastische Gesichtsmaske auf. Der Mann wartete in größter Geduld. Ich folgte ihm, worauf er die Tür sorgfältig hinter sich schloß. Als ich dann das Vestibül sah, begriff ich sofort, daß wir uns in einem ehemaligen Kloster befinden mußten, das uns heute als Gefängnis diente. Eine breite Kolonnade schien sich geradezu 89
in der Unendlichkeit zu verlieren. Von den Fenstern aus sah man kleine, versteckt liegende Gärten. Mein Wächter schritt an meiner Seite. Er schien mich nicht in der geringsten Weise zu beachten, aber ich wußte längst, was ich von dieser scheinbaren Gleichgültigkeit zu halten hatte. Nirgendwo waren Spuren menschlichen Lebens zu erkennen. Hingegen wimmelte es hier geradezu von Ameisen, die die einzigen Lebewesen waren und beinahe an jeder Säule der riesigen Galerie zu finden waren. Als wir das Ende des gewaltigen Ganges erreicht hatten, gingen wir nach rechts, um schließlich vor einer Art. Tür stehenzubleiben, die sich mir als großes Gitter zeigte. Mein Wächter öffnete mit Hilfe eines Schlüssels, der an seinem Gürtel hing. Dann standen wir vor einer Treppe. Einmal unten angelangt, befanden wir uns in einem unterirdischen Gang, der vor einer anderen Treppe endete, die wir diesmal erklimmen mußten. Unterwegs hatte ich zahlreiche stählerne Türen bemerkt, die an beiden Seiten des unterirdischen Ganges eingelassen waren. Sie erinnerten irgendwie an die Safetüren der Banken, und ich war überzeugt, daß sie sich nicht durch Schlüssel, sondern nur durch Stromzufuhr oder Stromunterbrechung öffnen ließen. Schließlich erreichten wir ein anderes Gebäude, das bedeutend moderner war und eher einer großen Villa denn einem Kloster ähnelte. Man führte mich in eine große Halle und hieß mich, Platz zu nehmen. Und dann verließ mich mein Wächter. Nach wie vor bin ich der Meinung, daß ich in diesem Augenblick hätte flüchten können. Doch dann dachte ich, daß mein Gegner vielleicht ehrliches Spiel treibe. Außerdem war es, als ob eine unsichtbare Macht mich an meinen Sitz gefesselt halte. Selbst wenn man mir die Tore weit geöffnet hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre, die Straße 90
zur Freiheit vor mir zu sehen, wahrscheinlich hätte ich weder die Kraft noch die Energie besessen, mich von meinem Stuhl zu erheben und davonzulaufen. Eine mir gegenüber gelegene Tür ging plötzlich auf, und instinktiv stand ich auf. Sofort begriff ich, daß ich dem Herrn dieses Hauses gegenüberstand. Er war ein Chinese, das ließ sich nicht bezweifeln. Sein Gesicht hatte jene Undurchdringlichkeit, zugleich aber auch jene Unerschütterlichkeit, die uns so oft in vielen Büchern beschrieben wurden, ohne daß diese Beschreibung auch nur annähernd der Wahrheit gerecht werden konnte. Ebensowenig ist es übrigens bis heute gelungen, das gütige und gleichzeitig doch so grausame Lächeln richtig zu beschreiben, diese Augen von einer durchdringenden Intelligenz zu schildern, die jeden vor ihnen stehenden Menschen im Handumdrehen in ihren Bann ziehen. Er verneigte sich sehr höflich und geradezu ergeben. „Wollen Sie mir die große Ehre erweisen, bei mir einzutreten, Herr Roos?“ Ich deutete eine Verbeugung an und betrat sein Arbeitszimmer. Auf den ersten Blick konnte man erraten, daß man sich hier im Räume eines Gelehrten und Wissenschaftlers befand, hätte aber selbst als Fachmann große Mühe gehabt, nun genau festzulegen, welche Wissenschaft dieser Mann nun pflegte. Die Wände waren bedeckt sowohl mit anatomischen wie auch entoraologischen Zeichnungen und Plänen sehr komplizierter und seltsamer Maschinen. „Nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er nach einer sehr langen Zeit. Ich ließ mich in den Sessel sinken, auf den er deutete, worauf er sich mir gegenüber setzte. „Sie sind also Doktor Fang?“ erkundigte ich mich in begreif91
licher Neugier. Zustimmend senkte er den Kopf und lächelte geheimnisvoll. Dann sagte er: „Ich konnte wirklich nicht vorausahnen, daß der von mir geschriebene Brief so berühmt werden würde.“ „Nur ein Zufall brachte ihn mir zu Gesicht“, erklärte ich. „Derzeit befindet sich das Schreiben im Polizeiarchiv. Und ich hege die aufrichtige Hoffnung, daß dieser Brief dazu beitragen wird, Sie so bald wie nur möglich verhaften zu lassen!“ Er warf mir einen undurchdringlichen Blick zu und seufzte leise auf. „Sie sind wirklich ein echter und guter Amerikaner, Mister Roos!“ „Wo ist meine Frau?“ „Nicht weit von hier, und ihr geht es ausgezeichnet.“ „Kann ich sie sehen?“ „Ich hatte es Ihnen doch versprochen. Sie müssen die Verzögerung entschuldigen, die mich an der Verwirklichung meines Versprechens hinderte, aber die Arbeit, die große Arbeit …“ Seine unvorstellbare Ruhe begann mich zu erregen. „Herr Doktor Fang“, sagte ich, „ich bin nicht nach hier gekommen, um den Nachtisch vor der Suppe zu verspeisen. Großartige Verbindlichkeiten und gesellschaftliche Formen sind unter uns wohl kaum mehr angebracht.“ Ich beugte mich etwas vor, um möglichst ruhig weiterzusprechen: „Ich bin Ihr Gefangener, vielleicht sogar in kürzester Zeit Ihr Opfer. Lassen Sie uns deshalb in aller Klarheit und ohne Umschweife miteinander reden, sofern es Ihnen irgendwie möglich ist. Ich weiß bereits sehr viel über Sie und Ihre Organisation. Meine Folgerungen aus diesem Wissen habe ich aufgezeichnet und an sicherster Stelle hinterlegt. Ich habe nur eine Bitte an Sie: Lassen Sie meine Frau wieder frei, dann können Sie mit mir machen, was immer Sie wollen. In diesem Fall werde ich dafür sorgen, daß meine Akten vernichtet werden!“ 92
„Sie sind vermutlich ein ausgezeichneter Pokerspieler, Herr Roos?“ Wieder lächelte er. „Ich glaube, Sie täuschen sich über meine Absichten ganz erheblich. Gewiß, Sie sind hier gegen Ihren Willen, aber deshalb bin ich Ihnen doch verpflichtet.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ „Sie haben mir nämlich einen unvorstellbar großen Dienst erwiesen“, behauptete er. „Dann möchte ich aber doch wissen, um welchen Dienst es sich handelt.“ Er wurde sehr höflich. „Durch Ihre Weitsicht und Ihr Geschick war es möglich, jene Persönlichkeit zu vernichten, die Sie Otto nannten.“ Diese Erklärung verblüffte mich ungemein. „War denn Otto nicht eines von Ihren Geschöpfen?“ „Doch, doch … Leider aber hat er sich gegen meinen Willen meiner Macht entzogen.“ Er lehnte sich bequem zurück. „Dieser Otto, wie Sie ihn nannten, brach also hier aus und beging entsetzliche, unvorstellbare Verbrechen, zu deren Opfern auch Sie gehörten. Seine Flucht und sein Tun hinderten mich, die verdienten Früchte einer jahrelangen, wissenschaftlichen Arbeit zu genießen …“ „Wenn Sie Ihre wissenschaftliche Arbeit erwähnen, meinen Sie damit wahrscheinlich Ihre Fähigkeit, alltägliche Menschen in so etwas wie Panzer umzuwandeln?“ „Das ist nur eine Seite des ganzen Fragenkomplexes.“ „Oder ihnen eine Haut zu geben, die ebenso hart und widerstandsfähig ist wie Stahl?“ „Auch das ist nur eine Nebenerscheinung der ganzen Angelegenheit, die ich die sogenannten sekundären Folgen nennen möchte.“ Durchdringend sah er mich an. „Mister Roos, die wissenschaftlichen Erfolge, die ich erzielen konnte, sind sozusagen das Resultat von schwersten Bemü93
hungen, die mehrere Generationen meiner Familie angestellt haben. Diese Erfolge müssen die Menschheit sowohl in materieller wie auch in philosophischer Weise interessieren. Schließlich darf ein kleiner Unfall, wie er mir durch Ottos Flucht zustieß, nicht den Gang der Welt dem Fortschritt zu verhindern. Deshalb, und auch aus anderen Gründen, brauche ich einen Menschen Ihrer Art, der meine Arbeit und meinen guten Willen bezeugen, der meine Leistungen verbreiten kann.“ „Das alles hört sich ganz wunderbar an. Wo aber sind die Männer geblieben, die bei mir im Zimmer untergebracht waren und von denen Sie jeden vierten Tag einen holen ließen?“ „Glauben Sie mir, das ist ganz uninteressant. Was bedeutet ein Mann, was bedeuten selbst zehn oder hundert Männer gegenüber dem Fortschritt der ganzen Menschheit?“ „Ach, diesen Standpunkt nehmen Sie ein?“ „Nicht nur ich“, verbesserte Dr. Fang mit sanftem Lächeln. „Mein Standpunkt ist auch derjenige vieler Staaten und Nationen, die Millionen ihrer Angehörigen opferten, um Kriege zu führen, die nach ihrer Überzeugung im Interesse der Menschheit erforderlich waren.“ „Und was ist aus diesen dreihundert jungen Leuten geworden? Aus den Schönheitsköniginnen, die verschwunden sind?“ „Auch diese werden Sie sehen. Sie alle befinden sich wohl und sind gesund; sie alle sind bereit, die Grundlagen für eine neue Menschheit zu schaffen.“ Ich erschauerte, wenn ich mir vorstellte, was dieser Narr mit den jungen Leuten vielleicht angestellt haben mochte. „Dr. Fang“, begann ich wieder. Er unterbrach mich. „Wissen Sie eigentlich, was Myrmekologie ist?“ Ich schüttelte den Kopf. „Nein. Ich muß gestehen, daß ich dieses Wort niemals gehört habe.“ 94
„Der Ausdruck ist mehr als barbarisch, das will ich gern zugeben. Er bezeichnet das wissenschaftliche, das echt gelehrte Erforschen des Lebens der Ameisen. Seit mehreren Generationen befaßt meine Familie sich ausschließlich mit Myrmekologie. Und mein Großvater hatte als erster den kühnen Gedanken, das Leben der Menschen dem der Ameisen zu verbinden.“ „Lassen Sie diesen häßlichen Tieren doch den ihnen gebührenden Platz in der Natur, schenken Sie ihnen ihre Ruhe und überlassen Sie es den Menschen, sich nach bestem Können gegen diese Geschöpfe zu verteidigen.“ Er schien fast beleidigt. „Mister Roos, wissen Sie eigentlich, daß Ameisen bereits in der Tertiärzeit zu finden waren? Man hat zahlreiche Exemplare der verschiedenen Gattungen aus dieser Erdepoche entdeckt. Sie ähneln in jeder Beziehung den Ameisen von heute. Da, sehen Sie …“ Aus einem Schrankfach holte er ein Stück Bernstein, das er mir überreichte. Neugierig sah ich es an. Sehr deutlich sah man zwei fossile Ameisen, die den heutigen, von mir so oft beobachteten Tieren in jeder Beziehung ähnlich schienen. „Dieses kleine Stück Bernstein“, fuhr Fang fort, „ist mehrere hunderttausend Jahre alt. Ameisen gab es bereits zu Anbeginn der Welt. Ihr Gedächtnis ist vererblich; sie weiß mehr über die Geschichte der Erde als alle Historiker zusammengenommen. Und wenn in einigen hundert Millionen Jahren die Sonne auszuglühen und kälter zu werden beginnt, wird es wieder die Ameise sein, die unter dem Einfluß der infraroten Strahlen stärker sein wird als alle anderen Geschöpfe der Erde. Und dann wird sie vielleicht allein fähig sein, diese Erde zu beherrschen.“ „Sie haben aber doch wohl nicht vor, die Menschen zu Ameisen zu verwandeln und sie ein ameisenähnliches Leben führen zu lassen?“ 95
„Nein, das wäre sinnlos. Hingegen ist es meine Absicht, den Menschen die guten und hervorragenden Eigenschaften der Ameise zu verleihen: ihre Widerstandskraft nämlich und ihren Mut, vor allem aber ihren sozialen Aufbau, der gegenüber der menschlichen Gesellschaftsordnung Tausende von Jahren im voraus ist.“ Plötzlich kam mir ein Buch von Maeterlinck in Erinnerung, das ich in meiner Jugend einmal gelesen hatte. Auch er drückte sich ähnlich aus, ohne allerdings mit seinen Forderungen so weit zu gehen, daß die Menschen in Erdgalerien wohnen sollten. „Wie wollen Sie denn zu solchen Resultaten kommen?“ fragte ich interessiert. „Durch die Injektion eines Serums, das ich auf Grund meiner Forschungen entwickeln konnte.“ „Folglich ist es Ihre Absicht, die gesamten Erdenbewohner impfen zu lassen?“ erkundigte ich mich weiter. „Nein, auf keinen Fall! Nur wirklich gesunde Menschen kommen in Frage. Außerdem sehe ich die künstliche Befruchtung vor.“ „Sie schaffen also eine Ameisenkönigin“, murmelte ich vor mich hin und war maßlos entsetzt. Plötzlich glaubte ich zu begreifen, zu welchem Zweck die Schönheitsköniginnen von Florida und Texas entführt worden waren. Mit äußerster Mühe gelang es mir jedoch, mich zu beherrschen und meine Abscheu nicht laut in. die Welt zu schreien, denn um keinen Preis durfte ich dieses Ungeheuer gegen mich aufbringen. Zunächst einmal ging es darum, Fangs Vertrauen zu gewinnen und ihn nicht zu verärgern. Sollte es mir tatsächlich gelingen, zu seinem Vertrauten zu werden, dann würde es mir vielleicht auf irgendeine Weise gelingen, die Außenwelt zu alarmieren und die dreihundert Menschen zu retten, die gegenwärtig Gefahr liefen, zu Opfern des Chinesen zu werden. 96
„Und doch habe ich etwas einzuwenden, Doktor“, bemerkte ich und versuchte, honigsüß zu sprechen. „Das einzige Muster Ihres Verfahrens, das ich in Freiheit gesehen habe, dieser Otto, scheint mir nicht gerade …“ „Ottos Fall ist sehr einfach“, unterbrach er mich. „Er war das Resultat meines ersten Experiments. Da ich mir und den gemachten theoretischen Erfahrungen gegenüber noch mißtrauisch war, nahm ich einen geistesschwachen, sehr primitiven Menschen, um mit ihm meine Versuche zu machen. Was ein großer Irrtum war. Da der Bursche nicht ein Fünkchen Intelligenz besaß, war es ihm auch nicht möglich, den gesellschaftlichen Geist der Ameisen anzunehmen. Er nahm von ihnen lediglich die Kraft und Stärke.“ „Sind die Ameisen denn so stark?“ „Sie können mühelos das Dreißigfache ihres Gewichts tragen. Otto war fähig, zwei oder drei Tonnen zu heben, weil seine Muskeln gehärtet waren. Die Härtung konnte erwirkt werden durch Injektionen, die zu einem gewissen Teil aus Formicin bestanden.“ „Und was ist Formicin?“ „Es ist der Name meines Serums. Otto unterstand der steten, unablässigen Bewachung durch einen meiner Diener, und dieser war der einzige Mensch, der einigen Einfluß auf ihn ausüben konnte. Und eines Tages flüchtete dieser Mann, er flüchtete und nahm Otto mit sich. Es war seine Absicht, sich seiner zu bedienen – zu allem anderen als lauteren Zwecken.“ Er seufzte leise auf, sah vor sich hin und schien in Bedenken versunken. Erst nach einer Weile fuhr er fort. „Ich habe die beiden überall suchen lassen, ohne sie zu finden. Erst im Monat März dieses Jahres wurde mir klar, was aus ihnen geworden war. Doch zu diesem Zeitpunkt lag der Fall bereits in den Händen der Polizei, und ich durfte mich nicht mehr einmischen. Was Sie verständlich finden werden. Ebenso verständlich aber dürfte Ihnen sein, daß es nicht meine Absicht 97
sein konnte, mich und meine Arbeiten bekanntzumachen. Reklame liegt mir nämlich gar nicht“, endete er mit süffisantem Lächeln. „Und was hatte es mit dieser Hautschicht auf sich, die ihn bedeckte? War sie ebenfalls durch Ihre Formicin-Einspritzungen verursacht worden?“ „Nein; in diesem Falle handelt es sich um eine andere Art von Injektionen: um solche von Chitin. Es handelt sich darum, die Haut zu verhärten. Chitinpanzer findet man bei dem Hummer, der Krabbe, den Krustentieren und natürlich bei den Ameisen … Später allerdings habe ich das Verfahren, den Menschen einen Chitinpanzer zu schaffen, wieder aufgegeben. Menschen werden hierdurch nur entstellt und zu widernatürlichen Wesen. Chitinpanzer dienen den Tieren als eine Art Knochenbau; der Mensch aber hat sein eigenes Skelett.“ Ich dachte eine Weile nach. Alles das, was ich jetzt gehört hatte, verblüffte, mich außerordentlich. Zwar war ich nach wie vor gewillt, den Mann für wahnsinnig zu halten; andererseits aber konnte ich nicht vergessen, daß ich Otto gesehen hatte – bei seinen gräßlichen Verbrechen, aber auch auf dem Operationstisch eines Krankenhauses. Und er war tatsächlich stark gewesen. Ich fragte weiter: „Wie aber gewinnen Sie Ihr Serum?“ „Das ist die einzige Frage, auf die ich Ihnen nicht antworten kann, Herr Roos.“ Er erhob sich. „Kommen Sie, ich werde Ihnen meine Anlagen zeigen.“
14. Kapitel Wir begaben uns zunächst in die Parkanlagen, die begreiflicherweise von Ameisenhaufen übersät waren. „Es gibt über siebentausend verschiedene Ameisenarten“, erklärte Fang so begeistert, als ob er ihr Schöpfer sei. 98
Jeder Ameisenhaufen hatte etwa drei Meter im Durchmesser und war von Drähten umgeben, die unter elektrischer Spannung standen. Die Haufen selbst waren bedeckt von Myriaden dieser lebhaften und sich unablässig bewegenden Tiere, deren Eifer und Tätigkeit mir völlig unverständlich blieb. Nach einer Weile gründlichen Beobachtens stellte ich fest, daß hier noch andere, diesmal kleinere Ameisen vorhanden waren, die sich rings um die großen Amazonen zu tun machten. „Ich kann einige kleinere Tiere sehen.“ „Sehr richtig. Es sind die Sklaven der Amazonen. Diese Amazonen sind unfähig geworden, eine Arbeit selbst zu verrichten; aus diesem Gründe üben sie richtiggehende Überfälle auf die Gegner aus und stehlen ihnen die Larven. Sie behandeln diese sehr gut und machen aus ihnen schließlich ihre Sklaven. Und das hier sind die peruanischen roten Ameisen.“ „Sie sind gewaltig!“ rief ich aus. „Außerdem ist ihr Biß sehr schmerzhaft. Dort haben Sie die sogenannten Messor structor. Es sind Erntearbeiterinnen. Sie sammeln Körner und speichern sie auf für den Winter – allerdings erst, nachdem sie sie geschält und in der Sonne getrocknet haben.“ Bestürzt und geängstigt ging ich an Dr. Fangs Seite. Längst hörte ich nichts mehr von den Erklärungen, die er mir bereitwillig und ausführlich gab. Das alles war mehr als phantastisch, es war geradezu unheimlich. In äußerster Ruhe und Gelassenheit schritt der kleine Mann an meiner Seite. Wir waren völlig isoliert, und kein einziger seiner Beschützer, nicht eine Wache, war zu sehen. Sollte er sein Können, seine Erfahrungen und sein Wissen auch an sich selbst erprobt haben? Besaß auch er diese unvorstellbaren Kräfte? Fang setzte sich auf eine Bank und forderte mich auf, an seiner Seite Platz zu nehmen. „Sie hören mir nicht mehr zu“, stellte er sachlich, aber nicht unfreundlich fest. „Doch ich verstehe Ihre Interesselosigkeit; 99
schließlich können Sie sich kaum für diese Dinge begeistern, da Sie ja nicht wie ich Ihr Leben inmitten dieser bewunderungswürdigen Tiere verbracht haben. Sie haben auch noch nicht den gewaltigen Nutzen begriffen, den die Menschheit aus einer Umwandlung ihres Seins ziehen kann.“ In mir drängten sich so viele Fragen, daß ich nicht wußte, wie und womit ich beginnen sollte. „Der Mann, der mich vor ein paar Tagen holen kam – war er ebenfalls …?“ „Das ist doch selbstverständlich. Er hätte Sie durch einen einzigen Händedruck zerquetschen können. Hatten Sie vielleicht den Eindruck, daß er ein brutaler Mensch war?“ Ich verzichtete darauf, ihm eine Antwort zu geben. Fang gehörte mit Sicherheit zu den gefährlichsten Menschen, die diese Erde bevölkerten – gefährlich vor allem, weil er genial war. Aber dieses Genie hatte seine gräßlichen Schattenseiten. Völlig von sich überzeugt, der unbedingten Meinung, im Recht zu sein, glaubte er, daß ihm auch alles erlaubt sei, daß er grausam, gewissen- und erbarmungslos sein durfte. „Auch Ihnen, Herr Roos, würde eine Injektion unseres Serums ganz vorzügliche Dienste leisten.“ „Großer Gott, nein!“ rief ich aus und sprang entsetzt auf. „Eine Spritze würde Ihre Haut stärken; Ihr Gesicht, dessen Aussehen ich hinter der Maske erraten kann, wäre bald wieder ganz, oder doch fast ganz normal. Nur eine Kleinigkeit Chitin …“ „Lassen Sie uns doch bitte den Rundgang fortsetzen“, drängte ich. Mit einem seltsamen Lächeln sah er mich lange Zeit an, um sich dann endlich zu erheben. Langsam, mit gemächlichen Schritten kehrten wir zur Villa zurück. Er hielt sich immer etwas vor mir, und so legten wir den vorhin gemachten Weg jetzt in der entgegengesetzten Richtung zurück; anschließend begaben wir uns in den unterirdi100
schen Gang, durch den mich der Wächter geführt hatte. Als wir die Gänge hinter uns gelassen hatten, fanden wir uns in dem ehemaligen Kloster wieder. Nach einer Weile blieb Fang vor einer Tür stehen, hob den Verschluß eines Gucklochs, trat zur Seite und sagte: „Sehen Sie selbst!“ Ich kam näher. Vor mir sah ich ein großes Zimmer, einen saalähnlichen Raum, der den Aufenthaltsraum, den man mir und meinen Leidensgefährten zugewiesen hatte, an Größe beachtlich übertraf. Hier befanden sich etwa vierzig Betten, von denen jedes durch einen Knaben belegt war. Ich fühlte die Beine unter mir schwach werden und mußte mich schutzsuchend an die Wand lehnen. „Sind das – sind das die Schüler, die Sie entführt haben?“ brachte ich endlich stammelnd über meine Lippen. „Sie haben es erraten. Sie werden bereits behandelt. Rund drei Monate lang müssen sie äußerst sorgsam und voller Aufmerksamkeit gepflegt werden und unter Beobachtung bleiben. Unablässige Beobachtung ist von äußerster Wichtigkeit, denn die Reaktion auf das Serum ist ungemein stark. Sie werden das begreifen; man kann die Natur eines Menschen nicht verwandeln, ohne dabei die Gefahr ernster Zwischenfälle heraufzubeschwören.“ Unsicher sah ich ihn an. „Hat Ihre Behandlung nun in einem jeden Fall Erfolg?“ „Leider nicht; die Zahl der Ausfälle ist sehr groß.“ „Und wie hoch ist der Prozentsatz derjenigen, an denen das Experiment nicht gelingt?“ „Ich muß gewöhnlich mit rund fünfzig Prozent Ausfällen rechnen.“ Diejenigen aber, die diese sinnlose Kur überstehen sollten, würden sich ihrerseits als Ungeheuer aus den Betten erheben, 101
würden vielleicht so etwas wie menschliche Ameisen sein in einer Welt, die ihnen feindlich gesinnt war, die sie verfolgen und auslöschen würde, weil sie sich in einen zu schroffen Gegensatz zur sozialen Gesellschaftsordnung gestellt hatten. Das Schauspiel bedrückte, erschütterte und entsetzte mich gleicherweise. Wir erreichten eine neue Zelle, ich preßte mein Auge an das Guckloch und hatte Mühe, einen Schrei zurückzuhalten. Ich blickte in einen kleinen Raum, der Cora als Gefängnis diente. Cora saß vor dem Fenster, wandte sich aber plötzlich um, als ob sie meine Nähe geahnt hätte. Es kostete mich unvorstellbare Selbstbeherrschung, mich nicht in blinder Wut auf Fang zu werfen. Lediglich das Bewußtsein, hierbei unbedingt zugrunde zu gehen, ließ mich Zurückhaltung bewahren. „Wollen Sie sich mit ihr unterhalten?“ fragte er. „Nein!“ Ich schüttelte den Kopf. „Wir wollen weitergehen.“ Ich mußte mich unbedingt beherrschen, mußte klug und vorsichtig sein. Unter unsäglichen Anstrengungen gelang es mir, wenigstens nach außen Ruhe zu bewahren. In der nächsten Zelle wurde eines der Pin-up-Girls gefangen gehalten; eine junge Frau von großer Schönheit und makellosem Körperbau. Sie mochte vielleicht achtzehn Jahre alt sein. Ob sie wohl ahnte, welches Schicksal sie erwartete? Sie sollte „Ameisenkönigin“ werden … In der folgenden Zelle saß die andere Schönheitskönigin. Sie weinte bitterlich. Ich hatte nicht den Mut, sie lange zu betrachten. Fang öffnete schließlich eine etwas entfernt gelegene Tür, die in ein heiles und freundliches Zimmer führte. „Hier können Sie wohnen, sofern Sie Lust haben.“ „Kehre ich denn nicht mehr zu den anderen zurück?“ „Das wäre jetzt nicht mehr angebracht. Ich werde Sie künftig so oft besuchen, wie immer es mir möglich ist, und werde Sie 102
von meinen Arbeiten wie auch meinen Absichten in Kenntnis setzen.“ Mit diesen Worten entfernte er sich und ließ mich einfach in dem Eingang stehen. Ich wußte nicht, was ich von ihm halten sollte. So betrat ich schließlich mein neues Zimmer und schloß hinter mir die Tür. Und dann erst, in diesem Augenblick, wurde mir richtig klar, daß ich nicht mehr eingesperrt war. War es ein Versehen? War es ein unvorstellbarer Beweis des Vertrauens? Eines jedenfalls mußte ich mir zugeben: trotz meines Grauens, trotz des unvorstellbaren Widerwillens, den dieser Mann mir einflößte, hatte er mich in einigen Augenblicken, unseres Beisammenseins geradezu bezaubert und gepackt. Ich war also frei – sozusagen ein freier Mensch. Wie weit aber mochte diese Freiheit gehen? Durfte ich in den Gängen spazieren? Würde man mir erlauben, mein Auge an die Türöffnungen zu pressen? Würde es mir schließlich gelingen, durch die Gittertür des unterirdischen Ganges zu kommen? * Der Tag verstrich langsam. Ich begann mich nach meinen Leidensgenossen zu sehnen. Wieder entsann ich mich ihrer mißtrauischen Blicke im Augenblick meines Aufbruchs. Hatten sie nicht recht, wenigstens in gewisser Hinsicht mißtrauisch zu sein? So kam endlich die Nacht. Zweimal hatte man mir bis jetzt zu essen und zu trinken gebracht, und nicht ein einziges Mal war meine Tür abgeschlossen worden. Mehrere Male hatte ich vorsichtig, zögernd und ungemein, ängstlich die Tür aufgestoßen und in den langen, leeren Korridor geblickt. Nicht ein einziger Mensch war zu sehen; kein 103
Schrei, nicht das geringste Geräusch war zu vernehmen. Es war beinahe, als ob an diesem Ort nur die Toten zu Hause wären. Nach und nach wurde mein Denken klarer, und ich begann Pläne zu schmieden. Hier lagen dreihundert junge Leute, sämtlich im Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren. Sie stellten immerhin eine Macht dar. Es fehlte ihnen lediglich der Anführer. Und wenn es mir nun gelänge, sie aufzurütteln und anzutreiben? Wenn ich Fang richtig verstanden hatte, waren seine Komplicen zwar noch immer ungemein stark, besaßen aber nicht mehr die Unverwundbarkeit Ottos. Ein gutgezielter Schlag mit einem harten Gegenstand, ein Hieb auf den Schädel beispielsweise würde sie ebenso zusammenbrechen lassen wie jeden anderen Sterblichen. Vielleicht konnte man die Kerle in irgendeiner Weise überraschen; dann müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelingen würde, ihrer Herr zu werden. Die Hoffnung, die ich kurze Zeit gehegt hatte, die allerdings sehr vage Hoffnung, daß die Polizei uns hier auffinden werde auf Grund der schwachen Indizien, die ich hinterlassen konnte, hatte sich gänzlich verflüchtigt. Fisholt mußte andere und handgreiflichere Spuren bekommen, um etwas zu entdecken. Wieder einmal öffnete ich die Tür. In den Korridoren war es jetzt dunkel. Die Lampen, die wahrscheinlich von einer ferngelegenen Zentrale gesteuert wurden, waren erloschen, dafür aber schien seit drei Tagen der Mond, und man konnte einigermaßen deutlich sehen. Irgendwo in der Ferne leuchteten Lichter und ich war überzeugt, daß Fang dort in einem seiner Laboratorien arbeitete. Die Zimmer lagen zum Glück in der entgegengesetzten Richtung, und nach dort ging ich nun – langsam, leise und auf den Zehenspitzen. Die beiden ersten Türen interessierten mich nicht. Die dritte 104
führte in Coras Zimmer. Ich versuchte sie zu öffnen, aber sie war abgeschlossen. So drückte ich mein Auge an das Guckloch. Cora lag auf ihrem Bett, schien aber wach zu sein; denn ich sah, wie sie sich hin und her bewegte. Nach einer Weile richtete sie sich auf. Erstaunt, mit etwas entsetzter Furcht, blickte sie in meine Richtung. Dann stand sie auf und kam auf mich zu. „Ich bin es, Cory, ich – Jelly“, flüsterte ich sofort. „Jelly!“ Sie stieß einen leisen Schrei aus. „Ist das die Möglichkeit? Bist du gekommen, um mich zu befreien?“ „Cora, ich bin leider auch Gefangener wie du und die anderen. Man hat mich entführt.“ „Aber du kannst dich frei bewegen?“ „Zumindest hier im Gang.“ „Glaubst du, daß wir ’rauskommen?“ „Ich hoffe es wenigstens. Hier befinden sich noch 300 gefangene Kinder. Ich möchte versuchen, sie zum Aufstand, zur Empörung anzustacheln.“ „Warum sind sie denn hier?“ „Es würde zu lang dauern, wenn ich es dir jetzt erklären wollte. Cora, sei überzeugt, daß ich alles, aber auch alles unternehmen werde, um dich hier wieder hinauszubringen.“ „Jelly, ich möchte dich ganz fest in meine Arme schließen!“ „Mir geht es ebenso, Coral.“ „Geh noch nicht! Bleibe in meiner Nähe.“ „Hör zu, Cora, ich muß diese Gelegenheit wahrnehmen. Augenblicklich werde ich weder kontrolliert noch überwacht oder beobachtet. Ich will mich deshalb in das Zimmer der Kinder schleichen und versuchen, mit ihnen zu sprechen. Wenn ich zurückkomme, klopfe ich bei dir an.“ „Sei vorsichtig, Jelly, sei vorsichtig! Ich besitze nur dich auf der Welt und möchte dich um keinen Preis verlieren.“ „Ich werde vorsichtig sein. Auf bald, Liebes!“ 105
Ebenso leise und zurückhaltend wie zuvor ging ich weiter, bis ich die Tür des ersten Schlafsaals erreichte. Hier blieb ich eine Weile atemlos stehen. Wenn diese Tür verschlossen sein sollte – und es ist mehr als wahrscheinlich, daß man sie abgeschlossen hat –, würde ich wahrscheinlich die denkbar größten Schwierigkeiten haben, mit den Jungen die Verbindung aufzunehmen. Unhörbar legte ich die Hand auf die Türklinke und mußte zu meinem Staunen feststellen, daß diese nachgab. Sofort wurde ich ungeheuer mißtrauisch und blickte in alle Richtungen, ohne einen Beobachter zu entdecken. Dann trat ich ein – noch leiser, noch langsamer und sehr zögernd, denn es lag immerhin die Gefahr nahe, daß sich hier oder in der Nähe ein Wächter oder ein Pfleger aufhielt. Ein erster, prüfender Blick aber ließ mich keinen Erwachsenen erkennen. Ich sah nur die vierzig Betten, die nebeneinander an den Wänden standen – ganz wie in einem Krankenhaus. Langsam ging ich auf das erste Bett zu. In ihm lag ein verhältnismäßig kleiner Knabe. Er schien ruhig und friedlich zu schlafen, glaubte ich zumindest, bis ich sah, daß seine Augen weit geöffnet waren. Und doch … Ich griff nach seinem Arm und bewegte ihn sanft hin und her. Er reagierte nicht, antwortete nicht, gab nicht das geringste Lebenszeichen von sich. So trat ich an das zweite Bett, wo mich dasselbe jämmerliche Schauspiel erwartete: auch er war völlig unbeweglich, schien in einer Art Starrkrampf zu liegen, hatte aber die Augen weit geöffnet. Auch ihn begann ich zu schütteln, ohne daß es mir gelang, ihn aus seiner Starre zu befreien. Unruhe und Erregung wurden stärker in mir. Zwar hatte das Grauen vor dem Unerklärlichen mich bis jetzt nicht eine Minute 106
verlassen, doch jetzt steigerte meine Angst sich geradezu zum Entsetzen. Weiter schritt ich zwischen den Betten dahin. Überall zeigte sich mir dasselbe Schauspiel, so daß ich mich plötzlich zu fragen begann, ob diese jungen Leute tatsächlich noch am Leben waren. So beugte ich mich über einen von ihnen und hörte, wie er leise, aber regelmäßig und ruhig atmete. Schließlich verließ ich das Zimmer und ging in den nebenan liegenden Schlafraum. Auch hier befanden sich vierzig kleine Burschen, die ebenfalls in einer Katalepsie lagen. Plötzlich verstand ich, warum es nicht nötig war, die Türen ihrer Schlaf- und Krankensäle zu schließen. Und damit brach meine letzte Hoffnung zusammen. Ich wußte, daß ich niemals die Kraft haben würde, ganz allein den Kampf gegen Fang aufzunehmen. Müde und hinfällig kehrte ich in mein Zimmer zurück, vergaß aber nicht, unterwegs an Coras Tür zu klopfen. Sie schien mich ungeduldig erwartet zu haben, denn sie meldete sich sofort. „Wie steht es?“ fragte sie erregt. „Ich weiß noch nicht. Ich mochte sie nicht wecken“, antwortete ich. Es war mir unmöglich, ihr die Wahrheit zu gestehen. „Warum denn nicht, Jelly? Nicht wahr, es ist etwas geschehen? Es spielt sich etwas Schauerliches ab?“ „Ja“, gab ich nach langem Zögern zu. „Man hat sie, glaube ich, betäubt. Eine andere Erklärung kann ich einfach nicht finden. Morgen werde ich einen neuen Versuch unternehmen. Schlaf, Kleines! Ich weiß zu meinem Glück, daß du wenigstens nichts zu fürchten hast.“ „Jelly …“, flüsterte sie noch. Doch ich hatte nicht den Mut, noch länger hier zu stehen. Ich kehrte in mein Zimmer zurück.
107
15. Kapitel Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich sofort von unvorstellbarer Angst ergriffen, die mir zunächst ganz unerklärlich war. Bis mir plötzlich einfiel, daß wir heute den „vierten Tag“ hatten … Obwohl das Schicksal mich aus der Umgebung meiner Leidensgefährten gelöst hätte, glaubte ich, ihre Angst, ihr Grauen bis nach hier zu verspüren. Vielleicht würde mein eigenes Geschick sich erst etwas später erfüllen, vielleicht hatte man mir eine Art Galgenfrist gegeben, aber ich bezweifelte nicht, daß mein eigenes Schicksal nicht weniger schrecklich als das meiner Unglücksgenossen sein würde. Ich blickte beinahe ebenso oft auf die Uhr, als ob ich mich im Kreis der anderen befinde, und je näher der fatale Zeitpunkt kam, um so angstvoller wurde ich. Dabei konnte ich mir mühelos ausmalen, wie das Grauen in Ihnen größer wurde, zumal sie erlebten, wie ihre Zahl immer mehr abnahm. Heute zählten sie nur noch fünf Männer, so daß die Aussichten, ins Ungewisse verschleppt zu werden, für jeden einzelnen von ihnen größer wurde. Mit Entsetzen dachte ich an den Zeitpunkt in sechzehn Tagen, da nur mehr zwei von ihnen vorhanden sein würden. Was würde danach geschehen? Würde Fang weitere Menschen entführen lassen? Irgendwie stellte ich mir vor, daß die Unglücklichen dem Chinesen zu medizinischen Zwecken, vielleicht zur Herstellung seines Serums, dienten. Oder daß er sie gleichfalls benutzte, um aus ihnen neue „Ottos“ zu fabrizieren. Der Gedanke an alle diese Möglichkeiten war für mich schließlich so grauenvoll, daß ich mit Gewalt versuchte, mich auf andere Dinge zu konzentrieren. 108
Langsam, unendlich langsam verstrich die Zeit. Vorsichtig öffnete ich die Tür und warf einen Blick hinaus. Der Gang war noch ebenso leer wie zuvor. Ich blieb vor dem geöffneten Türspalt stehen und blickte in alle Richtungen, um mich jetzt, am hellen Tage, mit meiner Umgebung vertraut zu machen. Direkt unter dem Gang, in den meine Tür sich öffnete, lag ein kleiner Garten, der auf der anderen Seite durch eine neue Galerie sein Ende fand. Irgendeine Stimme sagte mir, daß sich dort drüben mein erster Unterkunftsraum befunden haben mußte. Allerdings gab es dort drüben zahlreiche Türen, doch ich war überzeugt, daß eine von ihnen in den Raum führte, den gegenwärtig meine Leidensgenossen bewohnten. Um 11 Uhr wurde die herrschende Stille plötzlich durch einen Schrei unterbrochen. Ich rannte hinaus und sah, wie auf der anderen Galerie eine Tür aufging. In ihr erschien eine menschliche Gestalt, die einen anderen Mann mit sich schleppte. Wieder wurde einer der Unglücklichen einem ungewissen Schicksal zugeführt. Selbst auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, trat ich bis tief in den Kreuzgang hinein und starrte nach drüben. Dann erkannte ich den Bedauernswerten. Es war Brent, einer der Junglehrer von Dorado. Fangs Diener hatte ihn sich einfach über die Schulter geworfen und trug ihn ohne die geringste Mühe in Fangs Laboratorium. In einem kaum zu beschreibenden Zustand furchtbarer Erregung kehrte ich in mein Zimmer zurück. Als man mir mittags mein Essen brachte, weigerte ich mich, es anzurühren. Und dann packte mich unvorstellbare Wut. Da ich sie an irgend jemand, an irgend etwas auslassen mußte, stürzte ich mich auf eine Ameisenkolonne, die dicht hinter meinem Bett die Wand erklomm. Mit einem meiner Schuhe bewaffnet, begann ich, unter den 109
Tieren ein fürchterliches Massaker anzurichten, zerschlug sie einzeln oder in ganzen Gruppen. Von den zerschlagenen Tieren ging ein abstoßender Gestank aus. Doch neue Ameisen erschienen, krochen unablässig weiter. Nur ihre Richtung änderte sich jetzt: Sie schlugen um den Schauplatz meines verderbenbringenden Handstreichs einen gewaltigen Bogen, setzten aber unablässig ihren für mich ganz sinnlosen Marsch fort. Es war geradezu, als ob über mir irgend etwas sie unwiderstehlich anziehe. Mein Kampf dauerte nahezu zwei Stunden. Schließlich war die Wand geradezu schwarz von erschlagenen Ameisen, die ich mit äußerster Befriedigung betrachtete. Die Kolonne der Ameisen war bedeutend dünner geworden, und schließlich brach sie gänzlich ab. Erschöpft warf ich mich auf mein Bett und schlief ein. Als ich wieder erwachte, war es mir, als ob es im Kloster unruhig geworden sei. Es war jedoch mehr ein Gefühl, das mich heimsuchte, als ein überzeugendes Wissen, denn als ich mich aufrichtete, um zu lauschen, konnte ich kein, Geräusch vernehmen. Ich ging zur Tür und öffnete. Hier war alles still und leer wie immer. So kehrte ich in mein Zimmer zurück und begann auf und ab zu gehen. Mir war klar, daß ich mich in einem Zustand kaum zu überbietender Übererregung befand. Die Tatsache, daß ich mich hier in halber Freiheit bewegen konnte und doch zur völligen Ohnmacht verurteilt war, ließ in mir eine unvorstellbare Wut erwachen. Was eigentlich hatte mich vermuten lassen, daß das Kloster unruhiger geworden war? Hatte ich zuvor einen Traum gehabt, aus dem ich zu hastig erwacht war? Bis jetzt hatte ich nichts gesehen oder entdeckt, das meine Vermutung bestätigte. Es war im Gegenteil ruhiger, stiller und unheimlicher denn je zuvor. 110
Gegen 10 Uhr erhob sich der Mond. Innerlich fühlte ich mich hin und her gerissen zwischen den widerspruchsvollsten Gefühlen. Ich sehnte mich danach, mit Cora zu sprechen, ihr einen Gruß zuzuflüstern, und fürchtete mich zugleich, sie enttäuschen, ihr gestehen zu müssen, daß meine dürftigen Pläne plötzlich, einer nach dem anderen, zusammengebrochen waren. Kurz vor Mitternacht hörte ich im Korridor einen Schritt. Ich stürzte an das Guckloch und sah Dr. Fang, der langsam seinem Laboratorium zuschritt. Ich wartete, bis er verschwunden war, konnte mich dann aber nicht mehr zurückhalten. Leise riß ich die Tür auf und schlich ihm ebenso unhörbar nach. Ich ging unendlich langsam, hielt mich auf den Zehenspitzen und blieb nach jedem Schritt stehen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, als ob das Geräusch meiner Schritte wie Donner in den Gewölben des Klosters widerhalle. Trotzdem ging ich zielbewußt auf Fangs Pavillon zu, in dem ich sein Laboratorium vermutete. Ich konnte das kleine Gebäude im Mondlicht klar und deutlich erkennen. Dort, wo der Gang sein Ende nahm, befand sich eine kleine Treppe, die in einen Garten hinabführte – und in dessen Mitte stand das Haus, durch dessen Fenster nunmehr das Licht fiel. Nunmehr war ich fest entschlossen, jegliche Vorsicht, Zurückhaltung und Unsicherheit zu vergessen. Sie hätten mir in meiner gegenwärtigen Lage wahrscheinlich auch nicht mehr viel nützen können. So erreichte ich den Garten, ging durch eine niedere, jedoch unverschlossene Tür und blieb stehen, um das eigenartige Gebäude gründlich zu betrachten. Es war ein achteckiger Pavillon, wie man ihn heute noch in einzelnen italienischen und spanischen Klöstern findet und die für bestimmte kleinere, religiöse Zeremonien – Kindtaufen bei111
spielsweise – benutzt werden. Vielleicht hatte auch dieses Gebäude früher einmal ähnlichen Zwecken gedient. An einer der acht Seiten sah ich eine hohe, breite und sehr starke Tür, die mit religiösen Ornamenten geschmückt war. Umsonst versuchte ich, die Tür zu öffnen; sie war hermetisch verschlossen. Die Fenster lagen in mindestens drei Meter Höhe, doch ich fühlte mich von geradezu morbider, wütender Gier getrieben, zu wissen, zu sehen und zu erfahren. Ich wollte feststellen, was mit Brent geschehen war, was Fang unternahm, was sich im Innern dieses Hauses ereignete. Ohne die geringste Vorsicht, ohne auch nur in schwacher Weise meine Schritte zu dämpfen, ging ich um das ganze Gebäude, bis ich schließlich einen Blitzableiter entdeckte, der hier in die Erde verlief. Hier würde ich die gewünschte Gelegenheit finden, zumal die Wände aus alten Ziegelsteinen bestanden und manche Öffnung besaßen, die mir als Stütze für meine Füße dienen konnten. Ehe ich mich an den Aufstieg machte, warf ich prüfende Blicke in alle Richtungen. Kein Mensch war zu sehen; hier schien alles einsam und verlassen wie während des ganzen Tages. So packte ich mit meiner linken Hand den starken Draht, bediente mich meines rechten Ellenbogens als Stütze und begann damit eine entsetzlich schwierige, langsame und schmerzliche Kletterpartie, wobei ich mir jede Wandöffnung zunutze machte. Nach etwa einer Viertelstunde war ich kaum einen Meter hoch gekommen und mußte meinen Anstieg unterbrechen, um mich auszuruhen und wieder zu Atem zu kommen. Und dann, nach unendlicher Mühsal, nach kaum zu beschreibenden Schwierigkeiten, die nur derjenige nachfühlen kann, der selbst ein Krüppel ist und jemals versuchte, eine steile Wand zu erklimmen, gelangte ich an ein Fenster. 112
Ich brauchte eine ganze Weile, ehe ich mich zurechtfand und die innere Anlage des Gebäudes begriffen hatte. An den acht Innenwänden fanden sich Experimentiertische und kleine Schränkchen mit allen erdenklichen medizinischen Instrumenten. Das war nicht erstaunlich, sondern entsprach ganz der Einrichtung eines Laboratoriums. Verblüffend aber war der Mittelpunkt des kleinen Hauses. Hier befand sich ein großes, gemauertes Rondell, das beinahe der Manege eines Zirkus ähnelte. Da mir jedoch der Sinn dieser Anlage nicht klar wurde, konzentrierte ich mein Interesse nunmehr auf die anwesenden Personen. Da war einerseits Fang, der sich mit seinen Instrumenten zu tun machte, und andererseits der Junglehrer Brent, den man vollkommen entkleidet auf einen Operationstisch geschnallt hatte. Brent bewegte sich nicht und schien betäubt zu sein, doch an dem gelegentlichen Zucken seiner Glieder sah ich, daß er am Leben war. Dann ging Fang langsam auf ihn zu und schnallte ihm einen Apparat um den Arm, um Brents Blutdruck zu messen. Anschließend entnahm er ihm eine Blutprobe und spritzte sie in eine Reagenzröhre – wahrscheinlich, um jetzt oder später eine Analyse zu machen. Fang arbeitete in größter Ruhe, schien sehr gelassen und war offenbar überzeugt von seiner Macht. Auch schien er sich nicht im geringsten vor einer möglichen Verfolgung oder Strafe durch das Gesetz zu fürchten. Eine Weile arbeitete er mit einem Bunsenbrenner, um die einzelnen Blutreaktionen zu beobachten und zu notieren, starrte mindestens fünf Minuten lang in ein Mikroskop und ging dann wieder auf den Unglücklichen zu. Diesmal hatte er eine PravazInjektionsspritze in der Hand, gab dem Unglücklichen zunächst eine Injektion und begann danach eine Rückenmarkspunktion. Das alles dauerte ziemlich lange Zeit, doch Brent rührte sich 113
nicht. Ich war überzeugt, daß er nach allen Regeln der Kunst betäubt worden war. Zwar hatte ich bis jetzt die Beobachtungen mehr oder weniger ruhig, sozusagen journalistisch neutral registriert. Dann aber wurde der Mensch in mir wach. Plötzlich empfand ich, daß hier nicht eine medizinische Operation, sondern ein wahrscheinlich teuflisches Experiment vorgenommen wurde. Diese Erkenntnis versteinerte mich geradezu. Dann begann ich zu zittern – vor Angst und vor Grauen. Ich ließ mich einfach nach unten fallen und blieb wie betäubt liegen. Zum eigentlichen Leben und zur Besinnung erwachte ich erst durch einen zwar nicht großen, aber abstoßenden Schmerz. Wahrscheinlich hatte ich nicht mehr als zehn Minuten in den Sträuchern und dem Gestrüpp gelegen, aber diese kurze Zeit hatte genügt, um die Ameisen anzulocken. Mindestens zehn dieser ekelhaften Tiere spazierten über meiner Hand und meinem Unterarm. Ich verjagte sie angewidert, sprang hoch und raste in mein Zimmer. Dort ließ ich das Waschbecken voll Wasser laufen und streckte meinen Kopf hinein, bis ich einfach nicht mehr konnte. Dann entkleidete ich mich und wusch mich von Kopf bis zu Fuß ab. Hastig zog ich mich danach an. Ich konnte nicht anders, ich mußte unbedingt mit Cora sprechen, mußte mich überzeugen, daß sie am Leben, daß ihr nichts zugestoßen war. Sobald ich angekleidet war, riß ich meine Zimmertür auf und raste an ihre Stube. Ich öffnete das Guckloch und konnte sie sehen. Sie lag auf ihrem Bett und war deutlich zu erkennen. Während ich sie beobachtete, warf sie sich auf ihrem Lager unablässig hin und her. Wenigstens in dieser Beziehung beruhigt, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Der Gedanke, nunmehr auch meinerseits ins Bett zu gehen, kam mir nicht einmal. Es wäre mir unmöglich gewesen, auch nur eine Sekunde zu schlafen; die schauerlichen 114
Beobachtungen, die ich gemacht hatte, das Bild des an den Operationstisch gefesselten Brent, der hilflos dem Chinesen ausgeliefert war, ließ mich einfach nicht los. Ich hatte jeden Zeitbegriff verloren, dachte auch nicht mehr an den Ort, an dem ich mich befand. Eine einfach nicht zu unterdrückende Empörung grollte in mir. Ich fühlte nur instinktiv, daß ich jede Selbstkontrolle verloren hatte. Aus der Ferne hörte ich Fangs Schritt, der gemessen aus seinem Pavillon zurückkehrte. Ich blickte in alle Richtungen und packte schließlich einen Stuhl, der die einzige greifbare Waffe darstellte. Als Fang sich unweit meines Zimmers befand, öffnete ich die Tür, stürzte hinaus und schlug dem Chinesen den Stuhl mit voller Wucht auf den Kopf. Er wankte nicht einmal, sondern drehte sich nur sehr überrascht um. Es, war beinahe, als ob ich ihm ein abgebranntes Zündholz an den Kopf geworfen habe. „Herr Roos!“ „Sie sind der erbärmlichste, der niederträchtigste Verbrecher, den diese Erde jemals getragen hat!“ brüllte ich ihm ins Gesicht. „Es gibt kein einziges Gesetz, das Ihren Untaten gerecht wird; es gibt keine einzige Strafe, die streng genug wäre, um einen Unmenschen Ihrer Art zur Verantwortung zu ziehen!“ „Kehren Sie sofort in Ihr Zimmer zurück!“ Fangs Ton hatte gewechselt. Seine Stimme klang zischend und scharf; zugleich bohrte er seinen Blick in meine Augen, als ob er mich hypnotisieren wolle. Ich lachte höhnisch auf. „So leicht werden Sie mich nicht zum Schweigen bringen. So lange noch Kraft in mir sein wird, so lange ich noch atmen kann, werde ich alles tun, um Sie zu vernichten!“ Er hob den Arm und stieß mich einfach zurück. Es war dies eine einfache, scheinbar ganz leichte Bewegung, aber sie genügte, mich zurück in mein Zimmer taumeln zu lassen, wo ich 115
von der unerwarteten Wucht seines Angriffs über meine eigenen Füße fiel. Sofort sprang ich wieder auf und wollte mich erneut auf ihn stürzen, doch inzwischen hatte Fang die Tür geschlossen. Mit aller verfügbaren Kraft warf ich mich gegen die Tür, um sie zu sprengen, doch ich hatte nicht die geringste Aussicht, sie zu zerschlagen. Erschöpft unterbrach ich schließlich mein sinnloses Tun. Mir war klar geworden, daß ich mir allenfalls die Schulter zerschmettern würde, ohne irgendein anderes Resultat zu erzielen. Und dann war ich völlig erschöpft und dem Zusammenbruch nahe. Tränen standen in meinen Augen. In hilfloser Wut brach ich auf meinem Bett zusammen und fiel in einen tiefen Schlaf, der erfüllt war von entsetzlichen Träumen. Ich hatte begriffen, daß ich Cora niemals wiedersehen würde, ja, mir war klar geworden, daß ich niemals wieder einen anderen lebenden und normalen Menschen treffen sollte. Seit drei Tagen war ich eingesperrt, lebte ich in der tiefen Abgeschlossenheit eines Strafgefangenen. Jeden Morgen kam der Boy, um mir etwas zu essen zu bringen, aber er kam nicht allein. Er war begleitet von einem richtiggehenden Koloß, von einem Mann, der ein wahrer Menschenberg war. Man öffnete die Tür, warf verächtlich ein Stück Brot auf den Boden – und damit war es vorbei. Außer diesen beiden, einem Alpdruck entsprungenen Gestalten sah ich niemanden. Seit drei Tagen hatte ich kein Auge mehr geschlossen. Wenn ich noch ein Gesicht gehabt hätte wie andere Menschen, müßte ich bleich sein wie ein Toter. Ich fühlte mich hundeelend, war wie zerschlagen und hatte die Empfindung, als ob man mir jeden Knochen, im Leib zerbrochen habe. 116
Und dann brach der „vierte Tag“ an – zusammen mit einer strahlenden, beglückenden Sonne. Doch ein nicht zu erklärendes, bedrückendes Vorgefühl ließ mich ahnen, daß dieser „vierte Tag“ der meine sein würde. Und das innere Bewußtsein, den Höhepunkt und damit das Ende des Kampfes erreicht zu haben, beruhigte mich etwas. Mehr oder weniger glaubte ich zu ahnen, was mich erwartete, und diese Ahnung war so grauenvoll, das Wissen um meine mutmaßliche Zukunft und mein Ende so entsetzlich, daß ich einfach keine Angst, mehr verspüren konnte. Wenn ich die Dinge ganz genau und im physikalischen Sinne nehmen wollte, sagte ich mir, war ich ja längst, war ich seit meinem durch Otto provozierten Unfall gestorben. War ich seit drei Tagen vollkommen tot. Und was jetzt noch kommen konnte, bedeutete mir wenig oder gar nichts. Um 11 Uhr war ich bereit. Ich stand neben der Tür und wartete. Aber nichts geschah. Ich starrte vor mich hin und fühlte nichts mehr. Von irgendeinem ferngelegenen Kirchturm läutete es Mittag, und noch immer war man nicht gekommen, um mich zu holen und in den Tod zu führen. In mir zitterte alles vor Angst und Empörung. Daß man doch endlich Schluß mache mit mir. Möge der Himmel Erbarmen mit mir haben, da ich solches bei Fang nicht zu finden glaubte. Beinahe ungeduldig wartete ich auf die Lösung, auf das unvermeidliche Ende der Tragödie. Ich sehnte beinahe das Eintreffen Fangs herbei, wünschte, daß er kommen oder mich holen lasse, um mir seine Einspritzung zu geben. Es war mir völlig gleichgültig, was danach mit mir geschehen würde. Der Nachmittag verging und dann der Abend. Wenn ich nur die geringste Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich nach einem Weg gesucht, um meinem Leben ein Ende zu bereiten. Dieses 117
Warten auf den unvermeidlichen, unabwendbaren Tod dünkte mich eine stärkere Folter als das Sterben, als die Vernichtung selbst. Wie ein Narr rannte ich auf und ab, hin und her, sinnlos, ziellos, immer nur mein unvermeidliches, wahrscheinliches grausames Ende erwartend. Es war beinahe Mitternacht, als die Tür plötzlich geöffnet wurde. „Endlich“, seufzte ich leise. Im Eingang erschien der wiederholt beobachtete Bursche – einer von Fangs mörderischen Ottos. „Jelly Roos!“ rief er einfach.
16. Kapitel Mit aller nur verfügbaren Gewalt nahm ich mich zusammen und schritt ruhig, nach außen beinahe gelassen, auf die Tür zu. Im Korridor stand Dr. Fang und musterte mich mit grausamem Lächeln. „Es tut mir wirklich leid, daß ich zu dieser Maßnahme gezwungen wurde, Herr Roos“, sprach er süßlich und tat, als ob er das alles tatsächlich bedauern würde. „Ich hatte mit mehr Verständnis von Ihrer Seite gerechnet.“ Ich musterte ihn, und dann überkam mich die Wut. „Sie sind ein abstoßender Schmutzhaufen, Fang, sind schlimmer als der erbärmlichste Abschaum der Menschheit. Und da ich weiß, daß ich sozusagen ein Sterbender bin, will ich noch einen Wunsch äußern: daß nämlich die Polizei Sie bald entdecken, daß Ihr Ende noch gräßlicher und erbärmlicher sein möge als das meine!“ Er grinste und zuckte dann die Achseln. „Kommen Sie!“ forderte er mich ungeduldig auf, ohne auf meine Verwünschung einzugehen. 118
„Vergessen Sie nicht, Fang, daß alles bezahlt werden muß, daß Sie für jedes Unrecht Rechenschaft abzulegen haben!“ rief ich ihm noch zu. Er gab einen Befehl, den ich nicht verstand, worauf sein Wächter mich einfach in den Arm nahm und davontrug. Plötzlich vernahm ich einen Schrei. „Jelly!“ So erstickt und undeutlich die Stimme auch sein mochte, begriff ich doch, daß Cora von mir Abschied nahm. Arme Cora, dachte ich; ihre Zukunft war kaum aussichtsreicher und besser als die meine. Der Koloß brachte mich an die Tür des Pavillons, wo er mich auf die Füße stellte. Dann gab er mir einen Stoß, der mich bis in die Mitte des Raumes taumeln ließ. Erst nach einer Weile stellte ich fest, daß der Wächter bei Fang geblieben war und mich nicht aus den Augen ließ. Sollte der Doktor sich etwa vor mir fürchten? Erwartete er vielleicht einen neuen Angriff? Man zwang mich, in eine Ecke des Raumes zu treten. Von dort aus beobachtete ich gespannt und mit einem Interesse, das beinahe so stark war, als ob es sich hier um das Schicksal eines mir Unbekannten gehandelt hätte, die Vorbereitungen, die Fang zu treffen begann. Gleichzeitig stellte ich fest, daß das Rondell oder die zirkusähnliche Manege, die ich neulich vom Fenster aus gesehen hatte, von starkem Plexiglas umgeben war. Und dort, auf diesem kleinen Kreis, wimmelte es geradezu von Ameisen. Instinktiv begann ich zu ahnen, welches Schicksal Fang mir zugedacht hatte, und erschauerte. Überlegend ließ ich mich auf den Boden sinken, bemerkte aber, daß der Wächter mich aufmerksam beobachtete. Fang hingegen schien in keiner Weise an mir interessiert. Er machte sich an Reagenzröhren, Eprouvetten und einem Mikroskop zu schaffen. 119
Plötzlich wandte der Chinese sich mir zu. „Sie sind doch Journalist“, sagte er spöttisch. „Ich werde Ihnen Gelegenheit geben, ganz neuartige, nie gekannte Eindrücke in sich aufzunehmen.“ Er gab dem Koloß einen Wink, worauf dieser langsam auf mich zukam – offenbar, um mich zu packen und irgend etwas mit mir anzustellen. Ich hatte Zeit gehabt, mich gründlich umzusehen. So packte ich eine auf einem Tisch stehende Flasche, die vermutlich eine Säure enthielt, und schleuderte sie dem Ungeheuer ins Gesicht. Die Flasche zersplitterte, der Mann stieß einen gellenden Schrei aus und führte eine Hand an die Augen. „Verdammter Hund!“ Geblendet, offenbar Schmerzen leidend und in maßloser Wut taumelte der „Otto“ auf mich zu. Ich stellte ihm geschickt ein Bein, er stürzte und fiel auf die gläserne Wand der Manege, die krachend auseinander barst. Der Mann mußte nicht nur unvorstellbare Kräfte haben, sondern auch schwer sein wie ein Lastwagen, denn er riß eine gewaltige Öffnung in das splitterfeste Glas. Er stieß einen Wutschrei aus, der weniger mir als den Ameisen galt, die sich sofort auf ihn stürzten. Langsam erhob er sich und tastete um sich. Sehen konnte er noch immer nichts. „Glauben Sie, daß Sie auf diese Weise Ihrem Schicksal entgehen können?“ fragte Dr. Fang und kam langsam auf mich zu. Ich griff nach einer anderen Flasche und schleuderte sie nach ihm. Er bückte sich blitzschnell, die Flasche zerknallte an der Wand, und in dem Raum verbreitete sich ein scharfer, abstoßender Geruch, der irgendwie an faule Eier und Schwefel erinnerte. Und dann hatte Fang mich gepackt. Er nahm mich hoch, als ob ich ein kleines Kind sei. Mit meiner Hand schlug ich auf seinen Schädel, aber es war geradezu, als ob ein einjähriges 120
Kind versucht hätte, mit seinen schwachen Fingern eine stählerne Wand zu zertrümmern. Heulend, die Hände an die Augen haltend, stampfte der „Otto“ hin und her. Er achtete nicht mehr auf uns. Fang sah mich höhnend an. „Das sollen Sie mir büßen, Bursche!“ rief er aus. Seine Augen leuchteten mordgierig. Er hob mich hoch und warf mich mit ungeheurer Wucht zu Boden – mitten in die Ameisen hinein. Bereits beim Aufprall verlor ich das Bewußtsein.
17. Kapitel Ich öffnete die Augen. Mein erster Blick fiel auf einen riesigen Gladiolenstrauß, der neben meinem Bett auf dem Nachttischchen stand. Und sofort begriff ich, daß wir jetzt Sommer haben mußten. Sommer, dachte ich, wie seltsam. Sommer … Es war beinahe, als ob diese Tatsache ungewöhnlich, seltsam und erstaunlich sein müsse. Dann sah ich einen Mann vor mir stehen und hatte keine Mühe, in ihm den Arzt zu erkennen – jenen Arzt, mit dem ich mich schon gestritten hatte, den ich damals bat, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Er sah noch immer selbstbewußt, sehr anständig und vernünftig aus, ganz wie ein Mann, der sich seiner Pflichten und Aufgaben bewußt war und sich von keinem Menschen auch nur einen Finger breit von seinem Wege abbringen ließ. Am Fenster standen Cora und Fisholt. Die beiden unterhielten sich miteinander. Wie kam ich eigentlich nach hier? Was hatte mich erneut in das Krankenzimmer gebracht? War alles, was hinter mir lag, nichts als ein furchtbarer Traum, ein Alpdruck gewesen? Eigentlich war ich doch tot, dachte ich. Eigentlich hatte Fang 121
mich umgebracht, und wenn ich hier im Paradies war, nun, dann war ich es recht zufrieden. Der Arzt warf mir einen Blick zu, beugte sich über mich und fuhr dann herum. „Er hat die Augen aufgeschlagen!“ rief er aus. Cora und Fisholt kamen herbeigestürzt und sahen mich an, als ob ich ein Weltwunder sei. Ich grinste. Es war doch klar, daß ich die Augen geöffnet hatte. Das war doch selbstverständlich, oder galt so etwas hier als erstaunlich? Schließlich hatte ich ja Augen, um zu sehen, und nicht, um sie geschlossen zu halten. Doch etwas quälte mich. Der Teufel mochte wissen, was ich eigentlich wieder in diesem abstoßenden Krankenhaus suchte. Und keiner sprach ein Wort; alles musterte mich geradezu erschüttert, daß ich mir vorkam wie der Held eines drittklassigen Films kurz vor dem happy end. Ich wollte den Mund öffnen, um etwas zu sagen, doch ich hatte einen widerlichen, geradezu abstoßenden Geschmack auf der Zunge. Außerdem schien in mir alles gelähmt und brackig. Es gelang mir nicht, auch nur ein Wort zu stammeln. „Sei still, ganz still!“ flüsterte Cora mir zu. „Und bleib ruhig; reg dich nicht auf!“ „Sie hat recht, alter Junge“, nickte Fisholt mit seiner so rauhen und mir doch sympathischen Stimme. „Halt also den Mund und versinke in Schweigen.“ Aber ich wollte sprechen, ich wollte nicht schweigen. Nach unendlicher Mühe, unter großen Schwierigkeiten gelang es mir endlich, drei Worte zu keuchen. „Ich habe Durst.“ Cora griff sofort nach einem Glas, das sie an meine Lippen führte. Entsetzt ließ ich mich zurücksinken. Wo war meine Gesichtsmaske? 122
„Meine Maske?“ rief ich beinahe gequält aus. „Vorerst wollen wir die Maske beiseite lassen!“ antwortete der Arzt. Er entfernte sich, kam aber gleich darauf zurück und trug einen großen Spiegel in der Hand, den er vor mich hielt. Wie damals, als ich mich so sehr verbrannt hatte, war ich eingewickelt wie eine Mumie. Ich hätte nicht sagen können, warum, aber es war Tatsache, daß der Anblick des bandagierten Gesichtes mich ungemein beruhigte. Ich versuchte mich zu erinnern, bemühte mich, mir die letzten Ereignisse ins Gedächtnis zu rufen. Plötzlich entsann ich mich und stieß einen Entsetzensschrei aus. „Die Ameisen!“ Beruhigend beugte der Arzt sich über mich. „Fürchten Sie nichts, Roos!“ sagte er mit geradezu väterlicher Stimme. „Die Ameisen werden Ihnen nichts mehr tun.“ Endlich leerte ich das Glas, das Cora an meine Lippen hielt. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl des Wohlbehagens überkam mich. Ich ließ mich zurücksinken, entspannte mich und schlief rasch ein.
18. Kapite1 Wie viele Tage ich erst im Schlaf und dann im Halbschlummer in einem unklaren Dahinträumen verbrachte, weiß ich nicht. Als ich wieder erwachte und mir meiner Umgebung richtiggehend bewußt wurde, standen Chrysanthemen auf dem Tischchen. Ich war ganz allein im Zimmer und fühlte mich um vieles besser, fühlte mich vor allem stärker. Außerdem war ich bedeutend ruhiger geworden, und dazu hatte ich gewaltigen Hunger. Doch um keinen Preis der Welt hätte ich mich dazu aufge123
rafft, auch nur eine Bewegung zu machen. Abwesend, in einem angenehmen Halbschlaf träumte ich vor mich hin und rührte mich nicht, bis die Pflegerin das Zimmer betrat – dieselbe hübsche, blondhaarige Schwester, die mich schon früher gepflegt und betreut hatte. In der Tür blieb sie eine Weile stehen, um mich nachdenklich anzublicken. Sie machte eine Bewegung, als ob sie ihr doch gar nicht verrutschtes Kleid glätten wollte. Dann kam sie langsam auf mich zu. „Schau einmal an!“ sagte sie. „Sind Sie endlich erwacht und dem Leben wiedergegeben worden?“ „Zumindest teilweise“, antwortete ich. „Das erstaunt Sie wahrscheinlich?“ „Natürlich“, nickte sie. „Schließlich liegen Sie schon seit zwei Monaten in diesem Zimmer.“ Sie verließ den Raum, und nach wenigen Minuten kam der Arzt in den Raum gestürzt. „Jetzt sind Sie aber gerettet!“ rief er aus. „Das ist ja erfreulich“, antwortete ich, obwohl ich gar nicht begriff, was eigentlich mit mir geschehen war. Er beugte sich eine Weile über mich, tat dies und jenes, schüttelte etliche Male den Kopf, als ob er seinen Augen nicht trauen wollte, und ging dann wieder, nachdem er einige bissige Bemerkungen über die Widerstandskraft unnützer Journalisten gemacht hatte. Und dann kam Cora. Auch sie beugte sich über mich, aber sie stellte keine Untersuchungen an, sondern gab mir einen zärtlichen Kuß auf den Mund. Zu diesem Zeitpunkt fragte ich mich nicht, was sie eigentlich küßte, denn ich dachte gerade nicht daran, daß ich ja eigentlich kein Gesicht mehr hatte. Erst nachher wurde ich unruhig und auch ein wenig ärgerlich. Schließlich traf auch Fisholt ein und sah beamtenmäßiger aus 124
denn je. Ich hatte noch nie einen Polizisten kennengelernt, der auf mich einen ähnlich verknöcherten und bürokratischen Eindruck machte. „Darf ich jetzt endlich einmal erfahren, was sich hier abspielt und was mit mir geschah?“ erkundigte ich mich und stellte fest, daß meine Stimme geradezu beleidigt klang. „Wann immer du willst, mein Liebling.“ Das war Cora, und aus ihren Worten sprach übergroße Liebe und Zärtlichkeit. „Du bist krank, sehr krank gewesen, und eine Zeitlang glaubten wir, daß es mit dir zu Ende sei. Jetzt aber hast du nichts mehr zu fürchten.“ Ihre Augen standen voller Tränen, und doch war sie hübscher und anziehender denn je. Fisholt schien irgendwie verstört oder beschämt. Jedenfalls zog er sich plötzlich zurück und stellte sich an das Fenster. Er tat, als ob da draußen irgend etwas maßlos Interessantes zu sehen sei. Allgemach begann ich, mich meiner Erlebnisse zu entsinnen. Ich sah Fangs abstoßendes Gesicht vor mir, dachte an Brent, und dann fiel mir ein, wie man mich unter die Ameisen geworfen hatte. Ich fragte mich, wie ich wohl ausgesehen haben mochte – damals, als unzählige dieser roten und gefräßigen Tiere sich auf mich stürzten. „Fisholt!“ rief ich plötzlich aus. „Kommen Sie her! Ich möchte jetzt endlich wissen, wie es Ihnen gelang, uns zu entdecken und zu befreien.“ Ich musterte ihn fragend. „Ich nehme doch an, daß wir Ihnen unser Leben zu verdanken haben?“ „Mehr oder weniger“, knurrte er unwirsch. „Und wie es sich in solchen Fällen gehört, traf ich gerade noch in letzter Minute ein, um …“ Er unterbrach sich. „Erzählen Sie, Fisholt!“ drängte ich weiter. „Haben Sie wenigstens daran gedacht, mein Diktaphon ablaufen zu lassen, um sich meine Erklärung anzuhören?“ 125
„Das ist doch selbstverständlich.“ „Dann fangen Sie bitte von vorne an. Ich möchte endlich wissen, wie sich das alles abgespielt und was sich in meiner Abwesenheit ereignet hat. Wer hat eigentlich Alarm geschlagen?“ „Es war Leslie Baxter. Als sie feststellte, daß Sie nicht zur Redaktion kamen, als sie auf ihre verschiedenen Anrufe in Ihrer Wohnung keine Antwort bekam, suchte sie mich auf und erzählte mir, daß Ihre Frau entführt worden war. Worauf ich mich gleich in Ihre Wohnung begab.“ „Und dort dachten Sie natürlich sofort an mein Diktaphon?“ spottete ich. „Das ließ sich nicht vermeiden“, antwortete Fisholt gelassen, „denn der Apparat lief immer noch.“ Das war richtig. Ich hatte damals keine Gelegenheit gefunden, um ihn abzustellen. „So ließ ich das Tonband ablaufen und hörte auf diese Weise Ihr Gespräch mit einem unbekannten Autofahrer. Worauf ich nicht mehr lange zögerte, sondern alle zuständigen Stellen alarmierte und mich nach Texas begab.“ Er zog einen Stuhl heran und setzte sich, um eine Weile nachdenklich vor sich hinzustarren – gerade, als ob er Gedanken und Erinnerungen sammeln müsse. „Ihre Angaben waren natürlich mehr als mager“, fuhr er fort. „Texas ist ein Riesenland, und das Suchen nach Ihnen kam dem legendären Forschen nach einer Stecknadel in einem Heuhaufen gleich. Doch auf die Gefahr hin, Ihre Gegner zu alarmieren, wandten wir uns durch den Rundfunk an die Öffentlichkeit und forderten die Bevölkerung zur Mitarbeit auf. Außerdem baten wir sie, uns jedes in irgendeiner Weise ungewöhnlich scheinende Ereignis zu melden.“ Er steckte sich eine Zigarette an, nach der er sich offenbar schon eine ganze Weile gesehnt hatte. 126
„Und da brachte man uns den Brief, den Ihre Frau geschrieben und den Sie vor einer Garage verloren hatten.“ „Verloren …?“ Meine Stimme klang empört. „Fisholt, Sie unterschätzen mich. Ich hatte den Brief absichtlich fortgeworfen – in der Hoffnung, daß man ihn finde und Ihnen zukommen lasse. Ich wollte Ihnen auf diese Weise ein Lebenszeichen und zugleich einen wichtigen Hinweis geben.“ „Wie dem auch sei“, fuhr der Polizeileutnant fort, „in jenem Augenblick wußten wir jedenfalls, daß Sie durch die betreffende Gegend gekommen waren. Wir hielten uns am Fuß der Guadalupen-Berge auf und führten umfangreiche Suchaktionen durch, die jedoch nicht den geringsten Erfolg zeitigten.“ In seine Erinnerungen versunken, starrte er eine Weile vor sich hin. „Eines Abends aber erblickten wir in der Ferne ein Feuer“, sprach er dann weiter. „Hierdurch wurde unsere Aufmerksamkeit und später unser Mißtrauen erweckt. So gingen wir den Rauchwolken nach – nicht eben überzeugt, aber doch in der vagen Hoffnung, etwas zu entdecken.“ „Ein Feuer?“ fragte ich verwundert. „Hat denn da etwas gebrannt?“ „Jetzt“, bemerkte Fisholt mit seiner schweren Stimme, „ist Ihre Frau an der Reihe.“ „Bitte, Cora.“ „Gern, mein Lieber! An jenem Abend, an dem das elende Gesindel dich mit sich ins Laboratorium schleppte, verursachtest du einen derartigen Lärm, daß ich ihn einfach nicht überhören konnte. So stellte ich mich an die Tür und lauschte. Sehr bald war mir klar geworden, daß die Leute beabsichtigten, dich irgendwie, auf eine mir unbekannte Art, zu töten. Ich war geradezu verzweifelt und suchte dann nach einer Möglichkeit, die mir helfen sollte, die Aufmerksamkeit der Außenwelt auf 127
das Kloster zu lenken. Und ich fand eine solche Möglichkeit.“ Sie atmete erregt und stoßweise. Offenbar ließ die Erzählung die Erinnerung an die dramatischen Geschehnisse wieder in ihr wach werden und sie diese miterleben, als ob sie sich eben erst zugetragen hätten. „Ich riß alles, was sich in meinem Bett befand, heraus, stapelte es am Fenster auf und steckte es dann in Brand – als eine Art feuriges Fanal.“ Das hörte sich sehr einfach und alltäglich an, aber ich konnte mir vorstellen, welch ungeheuren Schwierigkeiten sich einer unerfahrenen Frau durch diese Aufgabe gestellt hatten. „Das Feuer ergriff bald das ganze Holz – und es entstanden riesige Flammen, die dann eine Gruppe von Polizisten herbeiriefen. Erzählen Sie jetzt weiter, Herr Fisholt!“ „Meinetwegen“, nickte er lächelnd. „Sie entsinnen sich, daß wir mit Ihrem Otto recht schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Können Sie sich erinnern, daß wir eine Kanone brauchten, um ihn endlich zu erledigen?“ „So kurz ist mein Gedächtnis nun auch wieder nicht. Sie führten also eine Kanone mit sich?“ „Nein; Geschütze hätten uns auf unserer Suche doch etwas zu seht behindert. Nach einigem Nachdenken hatte ich ein bequemeres und vor allem wirkungsvolleres Mittel gefunden.“ „Jetzt machen Sie mich aber wirklich neugierig!“ rief ich aus und versuchte vorsichtig, mich etwas bequemer zu legen. „Flammenwerfer!“ sprach er lächelnd. „Donnerwetter!“ rief ich aus und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. „Lassen Sie mich weiter erzählen“, bat er und zerdrückte seine verrauchte Zigarette. „Wir sahen also in der Ferne einen Brand aufflackern und stellten fest, daß das Feuer in einem alten Kloster ausgebrochen war. Das Kloster hatte schon früher unsere 128
Aufmerksamkeit erregt, aber die Bevölkerung hatte erklärt, daß es verlassen und von keinem Menschen bewohnt sei.“ Jetzt beugte er sich etwas vor, als ob er dem nun folgenden Teil seines Berichts größeren Nachdruck verleihen wollte. „Trotzdem wollten wir uns überzeugen, was hier geschah, denn daß ein unbewohntes Kloster von selbst in Brand geraten konnte, dünkte uns ausgeschlossen. So klopften wir an – einige Male, bis man uns öffnete …“ Jetzt war auch er erregt. Seine Augen funkelten, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. „Ein komischer Bursche kam auf uns zu, sah uns eine ganze Weile grinsend an, packte dann einen meiner Männer, hob ihn hoch und warf ihn uns einfach an den Kopf.“ „Wieder einmal ein Otto“, nickte ich. Obwohl ich grinste, konnte ich ein Erschauern nicht unterdrücken. „Natürlich begriff ich sofort, daß ich hier einen der kleinen Panzermenschen unseres Doktor Fang vor mir hatte, und zündete blitzschnell“, setzte Fisholt seine Erzählung fort. In ihm schien es jetzt noch vor unterdrückter Wut zu kochen, und er hatte alles Beamtenmäßige verloren. Jetzt war er nur mehr Mann und Kämpfer, und ich konnte mir mühelos ausmalen, welch unvorstellbarer Zorn ihn erfüllte, als er jenem „Otto“ so plötzlich gegenüberstand. „Natürlich dachte ich gar nicht daran, mich erst auf lange Verhandlungen einzulassen oder Untersuchungen anzustellen, sondern setzte einen der Flammenwerfer in Tätigkeit. Und das überraschte ihn so außerordentlich, daß er nicht einmal einen Schrei ausstoßen konnte. Und ich kann Ihnen schwören“, seine Stimme klang grimmig, „daß er seit jenem Augenblick nicht einmal mehr ein Hundertgrammgewicht stemmen kann.“ Fast eine Minute herrschte tiefstes Schweigen. Ich versuchte mir die Szene auszumalen und bedauerte nur, ihr nicht beigewohnt zu haben. Doch ich war zu jenem Zeitpunkt ja in 129
schmerzhafter Weise und anderweitig beschäftigt und mußte mich mit Dr. Fang und seinem Bullen herumschlagen. „Von diesem Augenblick an“, erläuterte Fisholt, „entwickelten sich die Dinge in etwas unklarer Weise und lassen sich chronologisch kaum mehr erzählen, da sich zuviel auf einmal zutrug. Es gelang uns jedenfalls, in diese seltsame Festung einzudringen – und mit den Flammenwerfern bahnten wir uns einen Weg. Zunächst entdeckten wir die Galerien, in denen die Gefangenen eingesperrt waren – und unter ihnen befand sich auch Ihre Gattin.“ Fisholt warf Cora einen lächelnden Blick zu, und diese errötete. „Frau Roos“, erläuterte er in gutmütigem Spott, „war nämlich nahe daran, gebraten zu werden – in dem von ihr entfachten Feuer. Außerdem entdeckten wir zwei geradezu großartige Mädels, die verschwundenen Schönheitsköniginnen, bei deren Anblick meine Männer beinahe in Anbetung gefallen wären.“ Verlegen kratzte er sich das Kinn. „Dann rief Ihre Frau uns zu“, fuhr er mit zu Boden gesenktem Blick fort, „daß jetzt gewiß nicht der Augenblick sei, mit jungen Damen zu flirten. Sie erklärte uns, daß Sie in Fangs Händen, daß Sie in Lebensgefahr seien und kaum große Aussicht hätten, unversehrt davonzukommen, sofern wir nicht raschest einschreiten würden. Weshalb wir unsere Hetzjagd nach dem Chinesen fortsetzten.“ Wieder unterbrach er sich und warf mir einen nachdenklichen Blick zu. „Cora deutete uns die Richtung an, in die Sie nach ihrer Vermutung verschleppt worden waren. Wir erreichten den Pavillon, und dort stellte sich Fang uns entgegen. Leider sahen wir uns gezwungen, auch gegen ihn den Flammenwerfer einzusetzen.“ 130
Er unterbrach sich plötzlich und warf mir einen spöttischen Blick zu. „Sprechen Sie doch weiter!“ rief ich ungeduldig aus. „Und dann fanden wir Sie – im Begriff, sich leidenschaftlichen entomologischen Studien hinzugeben. Mit anderen Worten: Sie lagen in einem Ameisenhaufen.“ Es entstand kurzes Schweigen, und dann fragte ich: „Was ist aus den Gefangenen geworden?“ „Nur noch vier der Professoren waren am Leben. Die anderen waren durch die wahnwitzigen Experimente des verdammten Chinesen vernichtet worden.“ „Und was geschah mit den Kindern?“ „Auch sie haben wir entdeckt.“ Fisholts Züge wurden plötzlich ernst. „Konnten sie gerettet werden?“ Der Polizeioffizier senkte den Kopf. „Leider nicht, mein Alter. Wir konnten einfach nichts für sie tun, obwohl die größten medizinischen Kapazitäten sich um sie kümmerten und sie zu heilen versuchten. Sie lagen alle in einer Art Starrkrampf, und keiner der Ärzte war fähig, ein Mittel zu entdecken, das sie wieder ins Leben zurückgerufen hätte. Nach etwa einem Monat sind sie alle sehr sanft entschlafen …“ Wieder wurde es still. „Und dieser Otto, der sich mit Fang im Laboratorium befand? Ich hatte ihm kurz zuvor eine Flasche mit irgendeiner Säure an den Kopf geworfen.“ Über Fisholts Züge flog ein schwaches Lächeln. „Er gebärdete sich wie ein Wahnsinniger und wollte offenbar das ganze Haus auf den Kopf stellen. Unseren Flammenwerfern war er allerdings nicht gewachsen.“ „Und“, endlich wagte ich es, die mich am meisten interessierende Frage zu stellen, „was war mit mir?“ „Das war, wie Kipling gesagt hätte, eine andere Geschichte. 131
Sie waren so von Ameisen bedeckt, daß Sie kaum mehr zu sehen waren, und da ich kein anderes Mittel wußte“, er machte eine entschuldigende Handbewegung, „holte ich mir zwei meiner Burschen herbei und warf Sie einfach in einen Teich. Auf diese Weise wurden Sie ziemlich rasch von den Ameisen befreit, doch ich kann Ihnen versichern“, ein neues Lächeln zog über sein Gesicht, „daß Sie alles andere als schön anzusehen waren. Sie waren nicht nur zerbissen, sondern hier und dort sogar angefressen. Sie müssen ein sehr schmackhaftes Fleisch haben, mein Lieber.“ „Und dann …?“ „Den Rest erzählt Ihnen der Arzt.“ „Dann also los. Ich möchte jetzt alles hören.“ „Sie wurden in einem Krankenwagen nach hier gebracht“, sprach jetzt der Doktor, „und ich kann Ihnen versichern, daß Sie ganz gewiß nicht schön anzusehen waren.“ „Ist es denn unbedingt nötig, mir meine Häßlichkeit immer wieder vorzuhalten?“ murrte ich. „Lassen Sie doch diese Kleinigkeiten.“ „Sie litten an etwas wie einer allgemeinen Blutvergiftung – und während eines ganzen Monats waren Sie dem Tode näher als dem Leben. Aber Sie wurden gerettet – und dann stellte ich etwas ganz Unerwartetes, Außergewöhnliches fest. Diese vielen tausend Bisse mit Formol … Sie wissen wahrscheinlich, daß die Ameisen ein Formol genanntes Gift aussondern?“ unterbrach er sich und sah mich fragend an. „Ich wußte es zwar, aber auch wenn es nicht der Fall gewesen wäre, spielt es gegenwärtig kaum eine Rolle. Was hatten also die Formolstiche mit mir zu tun?“ „Ich möchte geradezu von Injektionen sprechen“, meinte der Arzt nachdenklich. „Dieses Gift hatte die unerwartete Wirkung, Ihre Haut in verblüffender Weise zu stärken, zu festigen und zu härten. Nicht einmal Ihr Gesicht war davon ausgenommen.“ 132
Nun fiel mir ein, daß Dr. Fang mir damals eine Kur vorgeschlagen hatte – nach seinen Rezepten. Dann aber entsann ich mich, daß Cora mich geküßt hatte … „Und dann, mein Alter?“ drängte ich. „So erzählen Sie doch und lassen Sie sich nicht jedes neue Wort entlocken.“ Ich versuchte, oberflächlich und heiter zu sprechen, fühlte mich aber nicht ganz wohl. „Und dann hielt ich es für richtig, eine kleine Operation an Ihnen vorzunehmen – eine sogenannte gesichtsästhetische Operation. Einen solchen Plan hatte ich bekanntlich schon gefaßt, als Sie das erstemal mein Patient waren; damals wollten Sie mich aber nicht anhören, sondern …“ Er zuckte nur die Achseln und sah mich bedeutungsvoll an. Ich wurde etwas verlegen. „Natürlich hätte ich Sie vorher eigentlich fragen müssen, aber Sie besitzen nun einmal einen so unverträglichen Charakter, und deshalb …“ „Wollen Sie im Ernst behaupten?“ „Es genügte, Ihren Schlaf auf künstliche Weise um einen Monat zu verlängern.“ „Zum Teufel, Doktor, wollen Sie damit andeuten, daß …?“ „Ich will Ihnen Ihr Gesicht einmal zeigen, Roos.“ Ich warf einen Blick auf Cora, die mich anlächelte. Dann griff ich an mein Gesicht. Die Haut war sanft und weich. Der Doktor holte einen Spiegel von der Wand und hielt ihn vor mich hin. Rasch schloß ich die Augen, und meine linke Hand verkrampfte sich erregt in dem Bettuch. Dann richtete ich mich etwas auf … – Ende –
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… und hier noch eine Leseprobe aus dem nächsten Band der UTOPIA-Krimi-Reihe „Die Todesspinne“ von Bemoit Becker Die turbulenten Geschehnisse in diesem utopischen Kriminalroman stellen die Nerven auf eine harte Zerreißprobe, und der Leser muß schon eine große Portion Mut mitbringen, wenn er über alle Runden der Angst und Furcht kommen will. In diesem Roman schlägt ihm die geheimnisvolle Atmosphäre eines Edgar A. Poe entgegen, er muß sich zudem gegen die Fesselungskünste eines Edgar Wallace wehren …
Nach einem Augenblick erhob er sich und öffnete einen Tresorschrank in der Ecke. Er betrachtete seinen Inhalt, richtete den Blick auf die alte Pendeluhr und zog eine Grimasse, als er sah, daß es kaum vier Uhr war. Heute, am Freitag, konnte er nicht vor sieben Uhr anfangen. Er ging in die Küche und fand auf dem Tisch einen Zettel, den ihm seine Zugehfrau hinterlassen hatte: „Im Kühlschrank ist noch ein Rest kaltes Huhn.“ Gesvre machte sich eine Tasse Kaffee, setzte sich damit ins Wohnzimmer und trank sie langsam aus. Er wartete geduldig, und die Stunden vergingen. Es wurde dunkel, aber er machte kein Licht. Gesvre konzentrierte sich und bereitete sich auf das vor, was er tun wollte. Um halb sieben Uhr rief er La Salège an. Frau Larin kam ans Telefon und sagte, Monica sei aufgewacht und hätte etwas gegessen, sei aber fast sofort wieder eingeschlafen. Gesvre stellte noch einige gleichgültige Fragen und wiederholte dann, er käme am nächsten Morgen vorbei. Als er eingehängt hatte, war es fast sieben Uhr. Er ging langsam in sein Arbeitszimmer zurück, überzeugte 134
sich eingehend davon, daß die Wohnungstür zweimal abgeschlossen war. Und dann begann das Ritual des Liebeszaubers. * Schon seit mehreren Jahren täuschten sich alle und insbesondere Monica Sorano über Nicolas Gesvres Absichten. Als Monica begann, mit Alain Sorano auszugehen und ihn dann heiratete, schien Gesvre von Anfang an dafür zu sein. Wenn er wirklich in Monica verliebt gewesen war, so schien diese Leidenschaft, die er übrigens nie eingestanden hatte, vergangen zu sein; alle waren sich darin einig, daß das junge Paar keinen besseren Freund hatte als ihn. Das ging soweit, daß Gesvre seine eigenen Arbeiten über die Magie Indiens vernachlässigte, um sich an Soranos Untersuchungen zu beteiligen, die damals die unbekannten Riten Südamerikas behandelten. Als Sorano begann, seine Amazonasexpedition vorzubereiten, galt es sofort als abgemacht, daß er seine üblichen Mitarbeiter zugunsten Gesvres aufgab. Als sie zu zweit auf die Reise gegangen waren, schienen sie tatsächlich zwei geistige Brüder, die dasselbe Abenteuer suchten. In Wirklichkeit verzehrte sich Gesvre in Haß und Leidenschaft – Haß gegen Sorano und Leidenschaft für Monica. Die Liebe, die er für sie empfand, war unendlich mächtiger, als irgend jemand annahm, und als sie sich dem verführerischen Sorano zuwandte (durch meine Schuld, dachte er oft wütend … hatte er sie nicht miteinander bekannt gemacht?), war er wie vernichtet. Und als er merkte, daß Monica Alain liebte, war es zu spät. Er konnte nur seine Gefühle in sich hineinfressen, seinen Groll insgeheim nähren und abwarten. Bei der Heirat war er Monicas Trauzeuge und an diesem Tage 135
glaubte er, im Wahnsinn zu versinken. Er war der einzige, der genau wußte, warum er beim Diner bei Maxims, das der Zeremonie folgte, soviel getrunken hatte, daß er fast leblos nach Hause gebracht wurde. In der Folgezeit hatte er immer ein freundliches Gesicht zur Schau getragen; mit den Jahren wurde seine unterdrückte Wut immer heftiger und seine Leidenschaft brennender. Aber er wartete geduldig ab, denn er ahnte, seine Stunde würde noch kommen. Aber wie? Er wußte, es lange nicht, sondern vertraute dem Zufall. Er zweifelte nicht daran, daß sein vertrauter Umgang mit dem jungen Paar ihm eines Tages die erwartete Gelegenheit verschaffen würde. Sie kam mit der Expedition nach Amazonien. Sie kam an jenem Tage … * An jenem sonnenlosen Tage am Todesfluß … Die Caboclos hatten sie, einer nach dem anderen, verlassen. Alain Sorano war erschöpft, noch erschöpfter als Gesvre und wollte umkehren. Aber Nicolas Gesvre wußte, daß seine Stunde endlich gekommen war. Als er Wochen später wieder in Frankreich ankam, und bei Monica den verzweifelten treuen Freund spielte, war er nur noch ein Verbrecher. Der Zyklon, der Alain Sorano in die Tiefe des Rio da Morte riß, hatte nur in seiner Einbildung existiert. In Wirklichkeit war das Wetter an jenem Morgen im Tal zwar verhangen, aber ruhig, und Sorano hatte nach einer ruhig durchschlafenen Nacht wieder Vertrauen gefaßt. Er hatte sich dem Ufer genähert, und Gesvre war ihm mit den Augen gefolgt. Er selbst hatte nicht geschlafen. Während der Nacht hatte er 136
mehrmals die eine oder andere Waffe ergriffen, die neben ihm lag: ein Buschmesser, einen Dolch oder eine Pistole, war aber immer wieder aus Furcht oder aus einem letzten Rest von Gewissensbissen von seinem Vorhaben zurückgeschreckt. Im selben Augenblick da Sorano in die Lancha stieg, um nachzusehen, ob sie nicht leck geworden war, schwankte Gesvre zwischen dem ihn fast zum Wahnsinn treibenden Verlangen, gleich Schluß mit ihm zu machen, und seinem Willen, nichts zu tun, seinen Gefährten nicht zu ermorden. Und dann hatte Sorano selbst über sein Geschick entschieden. Als Gesvre sich nämlich dem Ufer näherte, hatte sich Sorano zu ihm gewandt und gesagt: „Ich gäbe weiß Gott was darum, zu wissen, warum ich hierher gefahren bin. Zum Teufel, ich kann Dir versichern, daß ich jetzt lieber in La Salege wäre und Monica umarmen würde.“ Monica. Es durchfuhr Gesvre wie mit Messern. Zum tausendsten Mal sah er blitzartig Monica vor sich, eng umschlungen von Soranos Armen, wie sie ihm Liebesworte ins Ohr flüsterte. Kaum wußte er noch, daß er die Pistole erhoben hatte. Zwei Schüsse fielen fast gleichzeitig wie Peitschenhiebe und ließen für einen kurzen Augenblick das ständige Konzert der Sumpfbüffel im Fluß verstummen. Sorano brach in Lancha zusammen. Im selben Moment riß das Haltetau, und der Strom riß das schmale Boot mit sich weg in unbekannte Gewässer. Gesvre hatte ihn in einigen Minuten aus den Augen verloren; er stand, die Füße im Schlamm unbeweglich am Ufer, und starrte vor sich hin, während die Musik der Sumpfbüffel wieder angefangen hatte … *
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Er fuhr hoch. Es schlug sieben Uhr. Er verjagte seine Gedanken und öffnete den Tresor. Aber das Bild Soranos, der in sich zusammenfiel, und des Bootes, das in den Strom hineinschoß, blieben noch einen Augenblick in seinem Gehirn hängen. Er stand brüsk auf und machte mit trockener Kehle, kalten und zitternden Händen hastig Licht. Er durfte nicht daran denken. Tu etwas! Denk nicht mehr daran! Aber er hörte noch einen Schrei in seinen Ohren. Soranos Schrei, als er zusammenbrach: „Gesvre! Nick … Du …“ und danach das dumpfe Plätschern der Sumpfbüffel und das Klatschen des Todesflusses. Er hatte Sorano erschossen, aber …
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