BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 41
DAS FALSCHE UNIVERSUM von Marc Tannous Die RUBIKON hat die Große Mage...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 41
DAS FALSCHE UNIVERSUM von Marc Tannous Die RUBIKON hat die Große Magellansche Wolke erreicht und dringt unter John Clouds Kommando tiefer in sie ein. Von hier flohen die Foronen vor Jahrzehntausenden vor einem übermächtigen Gegner, den Virgh. Cloud und seine Freunde begegnen den Satoga, die aus der Kleinen Magellanschen Wolke stammen und denen der erste Vorstoß in die Nachbargalaxis gelungen ist. Cloud schließt Freundschaft mit dem Kommandanten der PERSPEKTIVE, einem Satoga namens Artas. Ihre Wege trennen sich bald darauf wieder. Wenig später stößt die RUBIKON erstmals auf aktive Virgh. Sie greifen das Heimatsystem der Cirr an. Das Eingreifen der RUBIKON endet in einem Fiasko. Nathan Cloud, Johns dem Irrsinn verfallener Vater, führt das Schiff schließlich zu einem Ort, von dem ein mysteriöser, nur von ihm und besonders »anfälligen« Personen wahrnehmbarer Lockruf ausgeht; zu einem insektenstockartigen Gebilde, an dem zu aller Überraschung die PERSPEKTIVE »klebt«. Offenbar wurden die Satoga ebenfalls hierher gelockt. Da greifen die Virgh an. Sie sind wild entschlossen, auch die RUBIKON in ihre Gewalt zu bringen – oder zu vernichten...
Es war das reinste Inferno. Und John Cloud, der Mann aus der Vergangenheit, befand sich mitten drin. Vom geschlossenen »Sarkophag« des Kommandositzes aus, nahm er alles über die Rezeptoren des Rochenraumers wahr. Überwältigt von der schieren Masse der Superdreizacks, die sich wie ein Insektenschwarm aus dem bienenstockartigen Gebilde gelöst hatten, stöhnte er leise auf. Mit jeder Sekunde strömten weitere von ihnen aus, um sich in den Pulk derer einzureihen, die sich der Vernichtung der RUBIKON verschworen hatten. Wie eine zweite Haut aus purer Energie leckten die Einschläge der mächtigen Waffen über die Außenhülle seines Schiffes. Die Situation schien ausweglos. Was John Cloud selbst mit jeder Faser seines Körpers spürte, bestätigten ihm die unaufhörlich auf ihn einprasselnden Statusmeldungen. Obwohl er die KI angewiesen hatte, alle verfügbare Energie in das Abwehrsystem zu leiten, würden die Schilde dem Dauerbeschuss nicht mehr lange standhalten. Ihr völliger Zusammenbruch stand kurz bevor. Und dann ist alles aus!, zuckte es durch Clouds Gedanken. Im nächsten Moment kam es noch schlimmer. Torell zeigt keinerlei Wirkung!, meldete die KI. Stelle Angriff ein. Clouds Magen verklumpte sich. In Torell hatte er seine letzten Hoffnungen gesetzt. Seine PSI-Strahlung wirkte sich direkt auf das Nervensystem des Gegners aus, zerrüttete es und stürzte den Betroffenen in tiefe Depressionen. Bei den Virgh schien es aus irgendeinem Grund zu versagen. Und die herkömmlichen Energiegeschütze hatten sich gegen die Übermacht der Dreizacke als so hilfreich erwiesen, wie ein Glas Wasser gegen einen Flächenbrand.
Sie waren erledigt. Es sein denn... Cloud zögerte. Es gab noch eine letzte Chance Konnte, nein, durfte er es wagen? Ihre relative Nähe zum »Stock«, jenem gigantischen Gebilde, aus dem sich die Virgh-Schiffe in den Raum ergossen, barg ein unschätzbares Risiko. An seiner Außenwand klebte noch immer die PERSPEKTIVE, das Schiff des Satoga Artas, wie ein Insekt in einem Spinnennetz. Unter Umständen konnte Clouds Notfallplan ihr Ende bedeuten. Aber gab es für die Satoga überhaupt noch eine Chance? Bereits im System der Cirr war Clouds Versuch gescheitert, über die Black Box, die Artas ihnen überlassen hatte, Kontakt zur PERSPEKTIVE aufzunehmen. Er hatte jedoch nicht gewusst, dass sich die Satoga zu diesem Zeitpunkt bereits in den Fängen der Virgh befunden hatten. Als sich die RUBIKON dem Stock genähert hatte, hatten die Virgh bereits damit begonnen, die PERSPEKTIVE mit Hilfe roboterartiger Geschöpfe in ihre Einzelteile zu zerlegen. Schilde nähern sich erneut der Belastungsgrenze..., meldete die KI, als wollte sie Clouds Aufmerksamkeit wieder auf die Ausweglosigkeit ihrer eigenen Situation lenken. Tatsächlich spürte er, wie die Abwehr unter dem unaufhörlichen Beschuss kollabierte. Einmal hatte sie bereits kurz davor gestanden, doch irgendwie hatte er es geschafft, sie vor der Vernichtung zu bewahren. Wie viel Zeit bleibt uns noch?, fragte er. Wenige Sekunden. Seit die KI Cloud als einzige Autorität akzeptierte, hatte sie sich ganz auf den Mann von der Erde eingestellt, sich seinen Wünschen und Bedürfnissen angepasst. Noch bevor Cloud seine Frage gestellt hatte, hatte er seine Entscheidung bereits getroffen.
Jetzt teilte er sie auch der Schiffsinstanz mit. Aktiviere die Kontinuumwaffe! Clouds eigene Worte ließen ihn schaudern. Seit er das Kommando der RUBIKON übernommen hatte, hatte er sich innerlich geschworen, diese so gewaltige wie heimtückische Waffe nur im absoluten Notfall einzusetzen. Aktivierung eingeleitet, folgte sofort die Bestätigung. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Cloud spürte, wie der Schwanz des Rochens aktiviert wurde, das Schiff damit auf das Doppelte seiner ursprünglichen Länge wuchs. Im nächsten Augenblick begann er auch schon, um sich zu tasten, um die RUBIKON mittels Gravitationsanker im Normaluniversum anzuketten. In einem immensen Kraftakt richtete sie den Schweif zielgenau auf die Virgh-Schiffe aus, deren Besatzungen nicht einmal zu ahnen schienen, welches Unheil ihnen drohte und die deshalb ihre Angriffe unvermindert fortsetzten. Wie immer begann es mit einem purpurnen Leuchten, das die Spitze des Schweifs erhellte, dabei von grellen Blitzen umzüngelt wurde. So bedrohlich dies schon wirkte, war es doch nicht mehr als die Vorbereitung auf ein Inferno, das kurz davor stand, entfesselt zu werden. Mit einem Mal loderte der Schweif grell auf. Energielanzen lösten sich von seiner Oberfläche, schossen in die Dunkelheit des Alls. Die Virgh schienen sich der ungeheuren Gefahr, die ihnen drohte, noch immer nicht bewusst zu sein. Sie nahmen die RUBIKON weiter unter Beschuss, ohne auch nur Anstalten zu machen, eine Feuerpause einzulegen. Währenddessen entfaltete die Kontinuumwaffe ihre teuflische Wirkung. Zuerst waren es nur winzige Risse im Universum, die sich jedoch in rasender Geschwindigkeit
vergrößerten, sich dabei verästelten und so ständig neue Verbindungen schufen. Eine Kluft breitete sich aus. Ein riesiger, gähnender Schlund, umzüngelt von Blitzen, erfüllt von einem gespenstischen Licht, so kalt und abweisend, als würde es direkt aus den Tiefe der Hölle emporsteigen. Gleichzeitig zerrten ungeheure Gravitationskräfte an allem, was sich in der Nähe des Dimensionsrisses aufhielt. Cloud spürte, wie auch die RUBIKON von dem gewaltigen Sog erfasst wurde und nur mit Hilfe der zuvor ausgeworfenen Gravitationsanker ihre Position im Normaluniversum verteidigen konnte. Durch die Sensoren des Schiffes beobachtete Cloud, wie die ersten Dreizackschiffe vom Sog erfasst wurden. Zu seinem Entsetzen hielt sie nicht einmal das davon ab, ihr Angriffsfeuer fortzusetzen. Und auch die anderen Schiffe, die von der Anziehungskraft des Dimensionsrisses bisher verschont geblieben waren, setzten ihre Attacken unvermindert fort. In ihren Plänen schien die völlige Vernichtung der RUBIKON oberste Priorität einzunehmen – noch vor der Verteidigung des eigenen Lebens. Schilde kurz vor dem Kollaps, meldete die KI in gewohnt nüchterner Art. Verdammt!, dachte Cloud. Es sind zu viele! Obwohl die mörderischen Dreizacks zu Dutzenden in den bodenlosen Schlund gerissen wurden, schien sich die Zahl derer, die das Rochenschiff weiter unter Beschuss nahmen, kaum zu verringern. Im Gegenteil. Ihr Aufgebot schien aus dem Stock ständig neu gespeist zu werden! Zusammenbruch des Abwehrsystems in fünf... vier... drei... Das ist das Ende, war sich John sicher. Wenn die Schilde kollabierten, gab es nichts mehr, was die RUBIKON dem massiven Angriffsfeuer noch entgegensetzen konnte.
Zwei... eins... Die ersten Erschütterungen folgten übergangslos. Sie trafen das Schiff mit der Wucht von Titanenfäusten. Und mit jedem einzelnen Hieb schienen Clouds Sinne zu explodieren, obwohl er bereits mehrere Filter zwischen sich und die Sensoren geschaltet hatte. Blitze zuckten vor seinen Augen und ein heißer, tobender Schmerz brachte seine Nervenenden zum glühen. Gleichzeitig war da dieser gewaltige Sog des Dimensionsrisses, der mit jeder Sekunde stärker wurde. Und wieder schlugen Energiegeschosse der Feindschiffe in die Außenhülle der RUBIKON ein. Die Schwere der Treffer schien die Wirkung der Gravitationsanker empfindlich zu schwächen. Schon jetzt bereitete es der RUBIKON erhebliche Mühe, sich den auf sie einwirkenden Kräften zu widersetzen. Cloud kam es vor, als sei jede einzelne Zelle seines Körpers an Gummiseilen befestigt, die unaufhörlich an ihnen zerrten, sich immer mehr spannten und kurz vor dem Zerreißen standen – was auch geschah! Mit einem heftigen Ruck löste sich das Rochenschiff, wurde förmlich aus seiner Verankerung im Normaluniversum katapultiert. Cloud sah die Kluft zwischen den Dimensionen auf sich zurasen, wie das Maul eines gewaltigen Fisches. Es war so weit. Ebenso wie zuvor Dutzende der Dreizackschiffe tauchte die RUBIKON in den Spalt ein. Er füllte Clouds gesamtes Blickfeld aus, wie ein gewaltiger, rotierender Tunnel. Es schien so, als würde das Schiff von oben herab ins Zentrum eines Wirbelsturms gesaugt. Das Ziehen in Johns Gliedern erreichte seinen Höhepunkt. Ihm war, als würden unsichtbare Kräfte versuchen, sein Inneres nach außen zu stülpen.
Alles um ihn herum war erfüllt von waberndem, zuckendem Licht, während er sich fühlte, als würde er aus großer Höhe dem Erdboden entgegenrasen. Dunkle Schleier, durchsetzt mit grell lodernden Sternen, breiteten sich vor ihm aus, raubten ihm zunehmend die Sicht. Das war's dann wohl, ging es ihm fast beiläufig durch den Kopf, während sein Bewusstsein in lichtlose Tiefen trudelte. Er glaubte noch zu spüren, wie sich die Kluft zwischen den Dimensionen hinter dem Schweif des Schiffs wieder schloss. Dann erlosch jede Wahrnehmung… *** Seit jenem Tag im Jahre 2019, an dem sein Vater, Nathan Cloud, von der ersten Marsmission nicht zurückgekehrt war, hatte John sich immer gefragt, wie es wohl sei, zu sterben. War es ein kaum wahrnehmbarer Übergang in eine andere Daseinsstufe? Gab es einen lauten Knall, oder geschah es leise und friedvoll? Verursachte es Schmerzen, oder war es vielleicht sogar angenehm? Im ersten Moment, als John zu sich kam, glaubte er, endlich Antworten auf all diese Fragen gefunden zu haben. Der Tod war also dunkel und lautlos, wie die Weiten des Alls. Es gab keine Himmelspforte, keine Wolken mit Harfe spielenden Engeln. Nur ein vollkommenes, alles umfassendes Nichts. Erst als John das Pochen seines eigenen Herzschlags vernahm, ahnte er, dass irgendetwas an seiner Vermutung nicht stimmen konnte. Tastend streckte er die Hände aus – und stieß gegen einen harten Widerstand, der sich in alle Richtungen fortsetzte, seinen Körper wie eine Schale umhüllte. Der Sarkophag, wurde es ihm bewusst. Kein Zweifel. Er saß also noch immer im Kommandositz der RUBIKON. Doch was war geschehen?
Dunkel erinnerte er sich an Superdreizacks der Virgh, an den Dauerbeschuss, den gewaltigen Sog... Offenbar hatte die RUBIKON den Eintritt in den Dimensionsriss überstanden. Doch zu welchem Preis? Wo waren sie gelandet? Und was war mit dem Schiff geschehen? Vergeblich versuchte John, mit der KI in Kontakt zu treten. Wie es schien, waren sämtliche Funktionen im Innern des Sitzes ausgefallen. Was war mit den anderen? Mit Scobee, Jelto, Aylea...? Hatten sie den Eintritt in die Dimensionsspalte überlebt, oder...? John konnte den Gedanken nicht zu Ende zu führen. Er zwang sich förmlich dazu, sich erst einmal um sein eigenes Problem zu kümmern. Wenn es ihm nämlich nicht bald gelang, den Sarkophag zu öffnen, und die Versorgung ausgefallen war, würde ihm langsam aber sicher der Sauerstoff ausgehen. Er versuchte noch einmal Kontakt zur KI zu bekommen, streckte seine geistigen Fühler aus, schrie förmlich auf mentalem Wege nach Hilfe. Ohne Erfolg. Ich bin lebendig begraben! Dieser Gedanke nährte ein Gefühl, das er bisher erfolgreich zurückgedrängt hatte – langsam aufsteigende Panik, die sein Bewusstsein befiel und sein Denken lähmte. Ihm fiel auf, dass sich seine Atmung bereits beschleunigt hatte. Der Puls in seinen Schläfen begann zu pochen, als würde irgendjemand mit einem kleinen Hammer von innen dagegen schlagen. In diesem Moment wurde ihm klar, dass er gerade seinen persönlichen Albtraum erlebte. Tatsächlich konnte er sich kaum eine schlimmere Todesart vorstellen, als auf engstem Raum eingesperrt zu sein und mitzuerleben, wie die Luft mit jedem Atemzug knapper wurde. Er formte die Rechte zur Faust und hämmerte sie gegen die Innenwand. Gleichzeitig wurde ihm die Sinnlosigkeit dieses Unterfangens bewusst.
Selbst wenn es ihm gelungen wäre, sich bemerkbar zu machen – wer hätte ihn hören sollen? Scobee, Aylea und Jelto hatten ebenfalls jeder in einem der Schalensitze gesessen, als die RUBIKON in den Dimensionsriss gesaugt worden war. Somit teilten sie vermutlich sein Schicksal. Sein Vater Nathan war in seiner Kabine eingeschlossen. Jarvis war eine Hoffnung, aber möglicherweise litt auch sein Kunstkörper unter dem Technikausfall. Und Sobek und Siroona, die beiden Foronen? Sie ruhten noch immer in den Staseblöcken, in denen Cloud sie zwangsweise »kalt gestellt« hatte, nachdem sie in selbstmörderischer Absicht fast das Schicksal der gesamten RUBIKON besiegelt hätten. Wenn die KI nicht bald wieder zum Leben erwachte, würde das alles keine Rolle mehr spielen. Nach einem weiteren Versuch, den Kontakt zu ihr wiederherzustellen, musste er sich eingestehen, dass von dieser Seite wohl keine Hilfe zu erwarten war. Hektisch begann er damit, die Innenseite des Sarkophags abzutasten. Es musste doch einen Weg geben, ihn im Notfall auch manuell zu öffnen. Oder hatten die Erbauer des Schiffes in ihrer Überheblichkeit eine solche Notsituation, einen völligen Systemausfall, kategorisch ausgeschlossen? Immer hektischer glitten Johns Fingerkuppen über die Gerätschaften, drückten Knöpfe, zogen Hebel. Ihm war jedes Zeitgefühl abhanden gekommen. Er konnte nicht einmal schätzen, wie viel Zeit seit seinem Erwachen vergangen war. Er ahnte jedoch, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis ihm die Luft in diesem winzigen Raum ausgehen würde. John zwang sich dazu, möglichst flach zu atmen, obwohl ihm bereits jetzt schwindlig wurde und ein grelles Flimmern die Dunkelheit vor seinen Augen verdrängte.
Keine Panik. Nur keine Panik… John Cloud wiederholte die Worte im Geiste, wie ein beruhigendes Mantra, das ihm dabei helfen sollte, im Angesicht seiner eigenen Hilflosigkeit die Fassung zu bewahren. Sollte er den Sturz durch den Dimensionsriss überstanden haben, nur um jetzt elend zu ersticken? Angesichts der hoch modernen Technik, die ihn umgab, fand er diesen Gedanken umso bizarrer. Er hatte häufig genug am eigenen Leibe erfahren, welche unglaublichen Dinge er von diesem Kommandositz aus hatte bewirken können. Und jetzt gelang es ihm nicht einmal, ihn aus eigener Kraft zu öffnen? Johns Atem wurde immer flacher. Er spürte, wie seine Sinne schwanden. Wie er erneut in diesen lichtlosen Abgrund stürzte, aus dem er sich gerade noch mühsam befreit hatte. Und dieses Mal würde er dem Tod nicht mehr so leicht von der Schippe springen. Gleichzeitig wurde er sich einer gewissen Ironie bewusst. Er hätte nie gedacht, dass er die Bezeichnung »Sarkophag«, die Scobee und er von Anfang an für die rundum geschlossenen Hüllen der Kommandositze benutzt hatte, einmal so wörtlich würde nehmen müssen. Zum wiederholten Male glitten seine Hände über ein und dieselbe Stelle neben dem Sitz. Tasteten über Erhöhungen und Vertiefungen, die er zuvor nie bewusst wahrgenommen hatte. Kam es ihm nur so vor, oder wurden seine Bewegungen allmählich langsamer? Auf einmal glaubte er, einen schwarzen Tunnel zu sehen. Und ein helles Licht, das am Ende auf ihn wartete. John schloss die Augen und schüttelte den Kopf, um die Trugbilder zu vertreiben. Wenn er erst einmal anfing zu halluzinieren, war er bereits verloren. Seine Kehle schnürte sich zusammen.
Jetzt war es so weit. Panik durchbrach den mentalen Damm, der ihr bis jetzt Einhalt geboten hatte. Wie eine Flutwelle schwemmte sie durch seinen Körper, während er wild mit den Armen zu rudern begann. Zuckungen erfassten seine Glieder. Sein ganzer Körper begann zu beben und sein Herz fühlte sich an, als wolle es in seiner Brust explodieren. Und dann – John verstand erst nicht, was da geschah – öffnete sich der Deckel des Sarkophags mit einem dumpfen Laut. Er konnte es kaum glauben. Im ersten Moment hielt er es für eine weitere Halluzination. Sein Oberkörper schnellte in die Höhe, während er mit hektischen Atemzügen Luft in seine Lungen pumpte. Kraftlos beugte er sich über den Rand des Schalensitzes, als würde er befürchten, dass sich der Deckel jeden Moment von selbst wieder schloss. Und wer garantierte ihm, dass das nicht geschah...? Immerhin hatte er nicht die leiseste Ahnung, wieso sich der Deckel überhaupt geöffnet hatte. Die Antwort lieferte ihm ein Blick in den Fußbereich, wo ein Hebel zur Seite geklappt war. In seiner Panik musste er ihn irgendwie mit dem Fuß umgelegt und damit die manuelle Öffnung aktiviert haben. Das sollte ich mir fürs nächste Mal merken, dachte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es dauerte noch eine Weile, bis er die Kraft fand, ganz aufzustehen und den Sitz zu verlassen. Aber immerhin war er dazu in der Lage, seine Umgebung näher zu betrachten. Als Erstes viel ihm auf, dass offenbar sämtliche Systeme an Bord den Geist aufgegeben hatten. Dennoch war es nicht dunkel in der Kommandozentrale. Stattdessen herrschte ein mattes, grünliches Zwielicht, das direkt aus den Wänden, dem Boden und der Decke zu kommen
schien. So, als habe das Material das Licht zuvor gespeichert um es jetzt abzugeben. Dennoch... Es war eine seltsame, fast schon apokalyptisch anmutende Beleuchtung, die nicht annähernd mit den üblichen Lichtverhältnissen zu vergleichen war. Johns Beklemmung wuchs, als ihm klar wurde, dass er es offenbar mit einem technischen Totalausfall zu tun hatte. Die Holo-Säule in der Mitte der Zentrale war erloschen. Und auch sonst schien keines der Instrumente noch aktiv. Sie ist tot, dachte Cloud mit Entsetzen. Der Körper der RUBIKON hatte den Sturz durch die Dimensionen offenbar heil überstanden, doch ihre Funktionen, ihre Seele, all das, was das Material mit so etwas wie Leben erfüllt hatte, war gestorben. Mit zusammengepressten Lippen drängte John Cloud die Hoffnungslosigkeit zurück, die mit dieser Erkenntnis über ihn kam. Es gab dringlichere Dinge, um die er sich jetzt kümmern musste. Sein Blick fiel auf die Hüllen der vier Sarkophage, unter denen jeweils einer seiner Freunde Platz genommen hatte, und die noch immer verschlossen waren. Die Sorge um sie, die er angesichts seiner eigenen Lage zunächst verdrängt hatte, war sofort wieder da. Um Scobee machte er sich weniger Sorgen als um Aylea und Jelto. Die GenTec besaß immerhin die Möglichkeit, ihre Körperfunktionen auf ein Minimum hinunterzufahren und damit in eine Art »Winterschlaf« zu sinken, in dem sie für eine relativ lange Zeit mit sehr wenig Sauerstoff auskommen konnte. Jarvis, der Amorphe, war ohnehin nicht so leicht klein zu kriegen. Aber wieso ist sein Sarkophag geschlossen?, überlegte Cloud. Der ehemalige GenTec konnte sich auch ohne Hilfe der
Kommandositze mit der KI der RUBIKON vernetzen. Und was ist mit Jelto und Aylea? Mit Entsetzen dachte Cloud daran, wie es ihm selbst noch vor wenigen Augenblicken ergangen war. Wie mussten sich da erst das Mädchen oder der Florenhüter fühlen – falls sie überhaupt noch am Leben waren. John konnte nur hoffen, dass sie das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt und daher nichts von ihrer Lage mitbekommen hatten. Mit zwei langen Sätzen überwand er die Distanz zu jenem Sitz, den Aylea bestiegen hatte. Eine kurze Untersuchung der Außenhülle schien seine Befürchtung zu bestätigen – sie war völlig glatt, ohne die geringste Unebenheit. Also gab es auch keinerlei sichtbare Vorrichtungen, mit denen der Sarkophag von außen geöffnet werden konnte. Vorsichtig schlug Cloud mit der flachen Hand auf die Oberseite und lauschte. Im Innern blieb alles still. Er versuchte es noch einmal und presste dabei das Ohr auf die glatte Oberfläche. Auch dieses Mal erhielt er keinerlei Reaktion. Aber vermutlich dämpfte das Material viel zu sehr, als dass mittels Klopfzeichen eine Verständigung möglich gewesen wäre. Cloud stöhnte und fuhr sich durch die blonden Haare. Die Zeit lief ihm davon. Jeden Moment konnte seinen Freunden die Luft ausgehen – falls das nicht schon längst passiert war. Wie konnte er ihnen nur klarmachen, auf welchem Wege sie den Deckel ihres Gefängnisses öffnen konnten? Ein leises Geräusch ließ ihn herumfahren. Sein Blick wanderte durch die Zentrale. Die Elektronik war noch immer vollkommen tot, und dieses seltsame Zwielicht verstärkte diese unwirkliche Atmosphäre noch. Woher war der Laut gekommen, der sich wie ein leises Knacken angehört hatte?
Er hielt den Atem an, lauschte. Da war es wieder! Und diesmal deutlich lauter als zuvor. Johns Blick wanderte über den Halbkreis der sieben Kommandositze. Wenn ihn nicht alles täuschte, war das Geräusch von dort gekommen, wo... Schon im nächsten Moment wurde seine Vermutung bestätigt. Cloud wollte noch in Deckung gehen, doch da war es bereits passiert. Wie von einer Explosion erfasst, zerplatzte einer der Sarkophage mit solcher Wucht, dass Trümmerteile meterweit durch die Luft geschleudert wurden. Ungläubig starrte John auf die Überreste des Behälters, aus denen sich jetzt eine silbrig schimmernde Masse schob, noch auf dem Schalensitz zu einer Säule zusammenfloss, die kurz darauf menschliche Konturen annahm. »Jarvis!«, rief Cloud. Er konnte nicht mehr an sich halten. Er musste den Namen des Freundes einfach hinausschreien, sich damit von all seinen Emotionen, seinen aufgestauten Ängsten und Sorgen befreien. »Verdammt«, sagte Jarvis, während er den Sitz verließ und zu Boden sprang. »Entschuldige meinen Anflug von Vandalismus. Das Ding ist die reinste Sardinenbüchse. Ich musste mir ein wenig Platz verschaffen.« »Du ahnst nicht, wie froh ich bin, dich zu sehen«, sagte Cloud völlig aufrichtig. Jarvis sah sich um. »Ich merke schon, irgendetwas ist nicht ganz nach Plan verlaufen.« »Das ist wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrtausends.« Cloud lächelte finster. »Aber dazu später mehr. Wir müssen erst einmal Aylea, Jelto und Scobee befreien.« »Die drei sind noch da drin eingesperrt?«, fragte Jarvis besorgt.
»Leider. Ich habe alles versucht, aber die verfluchten Dinger lassen sich nur von innen öffnen. Glaubst du, du kannst da was machen?« Jarvis gab keine Antwort. Cloud beobachtete gebannt, wie er vor Ayleas Behälter trat, wie seine schillernde Gestalt erneut zerfloss und sich wie eine Öllache auf dem Boden um den Sarkophag herum ausbreitete. Cloud hatte diesen Vorgang schon einige Male beobachtet, noch bevor die frühere Rüstung des toten Foronen Mont das Bewusstsein des sterbenden Jarvis aufgenommen hatte. Dennoch faszinierte er ihn immer wieder von neuem. Die quecksilberartige, sich ständig in Bewegung befindende Masse, hatte bereits damit begonnen, an der Außenhülle des Behälters emporzukriechen. Sie musste dabei mit unglaublichem Druck auf das Material einwirken. Cloud vernahm bereits ein leises Knacken, mit dem sich erste Risse bildeten. Trotz der immensen Kraft, die der Amorphe aufwandte, ging er äußerst behutsam zu Werke. Bei aller Dringlichkeit durfte er nicht riskieren, dass die Sarkophaghülle implodierte und das eingeschlossene Mädchen verletzte. Ganz allmählich wurden die Risse breiter, verdichteten sich zu einem Netzwerk, aus dem bereits einzelne Stücke herausbrachen und ins Innere des Behälters rieselten. Schließlich zog sich die amorphe Masse zurück und floss über den Boden auf den benachbarten Sarkophag zu, in dem der Florenhüter gefangen war. Für Cloud gab es indes kein Halten mehr. Er stürmte auf Ayleas Sitz zu und fing an, die bereits vorhandenen Löcher zu vergrößern, indem er weitere Stücke mit den Händen herausbrach. Sie ließen sich so leicht lösen wie vorgestanzte Puzzleteile. Jarvis hatte ganze Arbeit geleistet. In Windeseile hatte Cloud den Körper des Mädchens freigelegt.
Aylea hatte die Augen geschlossen. War sie noch bewusstlos? Oder war sie...? Cloud legte zwei Finger auf ihre Halsschlagader. Für einen entsetzlich langen Moment glaubte Cloud, dass sie die Zehnjährige tatsächlich verloren hatten. Doch im nächsten Augenblick spürte er ein schwaches, gerade noch wahrnehmbares Pulsieren. John atmete auf, schob die Arme unter ihren kleinen Körper, hob ihn vorsichtig heraus und legte ihn zu Boden. Jarvis hatte sein Werk an Jeltos Sarkophag inzwischen beendet und sich Scobees zugewandt. Cloud hörte ein leises Husten und stellte erleichtert fest, dass der Florenhüter es ausgestoßen hatte. Rasch lief er zu ihm und befreite auch ihn aus den Trümmern seines Gefängnisses. Die Augenlider des Klons flatterten bereits, obwohl er noch nicht vollständig zu sich gekommen war. Wie Aylea hatte auch er keine sichtbaren Verletzungen davongetragen. Cloud konnte nur hoffen, dass der turbulente Flug durch den Dimensionsriss und der zeitweilige Sauerstoffmangel keine bleibenden Schäden hinterlassen hatten. Kurz darauf war auch Scobee befreit. Wie John vermutet hatte, hatte die GenTec ihre Körperfunktionen heruntergefahren, sodass sie vermutlich noch längere Zeit in dieser Lage hätte ausharren können. »Denkst du, sie werden wieder die Alten?«, fragte Jarvis, während er sich über Aylea beugte. Cloud zuckte mit den Schultern. Die Freude darüber, seine Freunde lebend wiederzusehen, änderte nichts an der Misslichkeit ihrer Lage, oder der Tatsache, dass ihnen die wahren Probleme wohl noch bevorstanden… ***
Es dauerte eine Weile, bis sich alle einigermaßen erholt hatten. Während Scobee verhältnismäßig schnell wieder auf den Beinen war, brauchten Aylea und vor allem Jelto noch einige Zeit, um ihre Benommenheit abzuschütteln. Scobee ließ es sich indes nicht nehmen, sich mit wachsender Verwunderung mit den neuen Gegebenheiten vertraut zu machen. Das Versagen jeglicher Elektronik an Bord, die vollkommene Stille, die damit einherging, sowie das diffuse, aus den Wänden kommende Licht, schufen eine gespenstische Atmosphäre und verstärkten zunehmend das Gefühl der Abgeschiedenheit. »Wo sind wir hier nur gelandet?«, murmelte sie, mehr zu sich selbst, während sie den pechschwarzen Panoramaschirm betrachtete. »Ich erinnere mich noch an unzählige Dreizackschiffe. Den Sog, der die RUBIKON urplötzlich erfasste...« Cloud trat neben sie und legte ihr in einer freundschaftlichen Geste die linke Hand auf die Schulter. »Ich sah mich gezwungen, den Schwanz des Rochens zu aktivieren«, erklärte er. Die GenTec sah ihn ernst an. Mehr musste John nicht sagen. Sie hatte in der Vergangenheit mit eigenen Augen gesehen, wozu diese Waffe fähig war. »Es gab keine andere Möglichkeit«, sagte Cloud bedauernd. »Die Schilde hielten dem zunehmenden Dauerbeschuss nicht länger stand. Leider traf das auch auf die Gravitationsanker zu, die uns im Normaluniversum hielten.« »Die RUBIKON wurde also in einen Dimensionsriss gezerrt.« Es war Aylea, die es als Erste aussprach. John und Scobee drehten sich zu ihr um.
Sie war noch immer etwas blass im Gesicht und ihre Hände zitterten leicht. Ob das an den körperlichen Strapazen lag, oder an der eben geäußerten Erkenntnis, war schwer zu sagen. »Bevor wir spekulieren, wo wir sind, sollten wir versuchen, dass Schiff wieder flott zu kriegen«, meinte Scobee. »Danach sehen wir weiter.« »Weißt du auch schon, wie du das anstellen willst?«, fragte Jarvis, der sich zu ihnen gesellte. »Soweit ich es beurteilen kann, liegt dieses verdammte Schiff komplett auf Eis.« John und Scobee erwiderten seinen Kommentar mit tadelnden Blicken, mit denen sie ihn baten, in Ayleas Gegenwart von allzu großer Schwarzseherei Abstand zu nehmen. Doch das vermeintliche Kind zeigte sich wieder einmal deutlich reifer und abgeklärter, als es Cloud von einem Mädchen ihres Alters erwartete. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, dass er eine Zehnjährige dieser Zeit nicht mit ihren Altersgenossen des frühen 21. Jahrhunderts gleichsetzen konnte. »Ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Ihr müsst keine Rücksicht auf mich nehmen. Es ist offensichtlich, dass, wir in der Klemme stecken.« Nach kurzem Schweigen fuhr Jarvis fort. »Ich habe mir erlaubt, einige der Gerätschaften unter die Lupe zu nehmen. Alles, was ich bisher weiß, ist, dass wir es mit einem Totalausfall zu tun haben. Ich sage es nicht gern, aber so tot habe ich das Schiff bisher noch nie erlebt...« Die anderen schwiegen betreten. Plötzlich fragte Jarvis: »Spürt ihr das auch?« John runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Ich spüre eine Art Erschütterung. Ich fürchte«, der Amorphe zögerte kurz, »wir sind nicht mehr allein an Bord!« ***
Jarvis hatte seine Vermutung kaum ausgesprochen, als ein leises Zischen zu hören war. Fast gleichzeitig fuhr die Gruppe herum, in Richtung des Eingangsschotts, wo das Geräusch aufgeklungen war. Tatsächlich hatte sich das Schott wie von selbst geöffnet. Doch das war nicht die eigentliche Überraschung. Es waren die acht Gestalten, die im nächsten Moment die Zentrale stürmten. Alle waren über zwei Meter groß, hatten völlig haarlose flache Schädel und knochige, von einer dünnen Membran überzogene Gesichter. Foronen, ein gutes Dutzend an der Zahl! Und ihr Auftreten vermittelte nicht den Eindruck, als seien sie in friedlicher Absicht gekommen… *** Es dauerte einige Sekunden, bis John Cloud seine Überraschung verdaut hatte. Die Foronen hatten sich in zwei Reihen hinter dem Schott aufgebaut. John sah sie sich genau an. Obwohl sich die Außerirdischen in ihrer Physiognomie für menschliche Augen kaum voneinander unterschieden, hatte er seit seiner ersten Begegnung mit Sobek, Siroona und anderen Foronen allmählich gelernt, auf winzige Details zu achten, mit deren Hilfe er sie einigermaßen auseinander halten konnte. Zumindest auf den ersten, oberflächlichen Blick kam es ihm nicht so vor, als sei er einem von ihnen schon einmal begegnet. Sekundenlang standen sie einfach nur da und starrten sie mit ihren augenlosen Gesichtern an. Da Cloud – Dank der Protopartikel in seinem Körper – als einziger Mensch die foronische Sprache beherrschte, beschloss
er, selbst die Initiative zu ergreifen. Er trat einen Schritt vor und wollte gerade zu einem Gruß ansetzen, als... Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er noch zu sehen, wie die Luft vor dem Gesicht eines der Foronen zu flirren begann, wie man es häufig an heißen Tagen beobachten kann. Hier beschränkte es sich jedoch auf einen etwa faustgroßen Bereich, der plötzlich in Bewegung geriet und rasend schnell auf ihn zuschoss. Cloud wollte noch ausweichen, da traf es ihn auch schon mit immenser Kraft. Es fühlte sich an, als würde ein glühendes Stück Metall durch seinen Brustkorb geschmettert, dort rasend schnell schmelzen, um sich dann überall in seinem Körper zu verteilen. Stöhnend sank Cloud zu Boden. Er spürte, wie ihm seine Glieder nicht mehr gehorchten. Es fühlte sich an, als seien sie durch ein schnell wirkendes Nervengift gelähmt worden. Kurz darauf fielen Scobee, und dann Aylea wie zwei gefällte Bäume neben ihm zu Boden. Obwohl er zu keiner Regung mehr fähig war, blieb Cloud bei vollem Bewusstsein und konnte beobachten, wie Jarvis auf die Angreifer zuging. Die Foronen wirkten einen Moment lang unschlüssig. Vielleicht wunderten sie sich über das seltsame Wesen, das ihnen da entgegentrat. Ihre Verwunderung hielt nicht lange an. Wieder sah Cloud dieses kugelförmige Flirren, das einer der Foronen offenbar allein Kraft seiner Gedanken vor seinem Gesicht entstehen ließ, und das so schnell auf Jarvis zuschoss, dass seine Flugbahn mit dem bloßen Auge kaum noch zu verfolgen war. Der GenTec reagierte fast ebenso schnell. Zunächst sah es so aus, als sei die Energiesalve in seinen Kopf gedrungen, habe ihn dabei gespalten.
Einen Augenblick später erkannte Cloud, dass sich das amorphe Material bereits kurz vor dem Einschlag der Energiekugel geteilt hatte, sodass diese einfach durch Jarvis hindurchgezischt und dicht hinter ihm verpufft war. Doch mit diesem Ausweichmanöver gab sich der ehemalige GenTec nicht zufrieden. Er faltete seine Hände, ließ sie ineinander fließen, sodass sie zu einer dolchartigen Spitze wurden. Gleichzeitig stieß er die Arme nach vorn, die dabei immer länger wurden, sodass die Spitze genau auf jenen Foronen zuraste, der eben noch Jarvis attackiert hatte. Der Forone, bei dem es sich um den Anführer zu handeln schien, sah die Gefahr kommen, wich zur Seite aus. Der Stachel stieß ins Leere. Cloud wollte seinem Freund noch eine Warnung zurufen, aber er war zu langsam. Hilflos musste er mit ansehen, wie sich vor den Köpfen vier weiterer Foronen neue Energiebälle bildeten und Jarvis aus mehreren Richtungen gleichzeitig in die Zange nahmen. Dem GenTec gelang es noch, dem ersten auszuweichen. Aber die anderen drei donnerten in seinen unförmigen Leib, rissen ihn dabei an mehreren Stellen auf. Auf der gesamten Oberfläche der amorphen Masse bildeten sich kleine Bläschen, die bis auf Murmelgröße anwuchsen und wieder zerplatzten. Was auch immer da mit Jarvis passierte, Cloud konnte nur hoffen, dass es seinem amorphen Ersatzkörper keine bleibenden Schäden zufügte. Schließlich zerfloss die Masse zu einer blasenschlagenden, unförmigen Pfütze am Boden. Jetzt gab es nichts mehr, was die Foronen aufhalten konnte. Mit ausladenden Schritten verteilten sie sich in der Kommandozentrale, wobei sich jeweils einer von ihnen neben
einem Mitglied der lahmgelegten, auf dem Boden verteilten RUBIKON-Besatzung postierte. Clouds Blick kroch an der massigen Gestalt des Anführers hinauf, der genau vor ihm stehen geblieben war, und der seinerseits auf ihn hinunterblickte als wäre er ein lästiges Insekt, das er jeden Moment zertreten würde. »Wer... seid ihr?«, presste Cloud auf foronisch hervor und merkte dabei, dass ihm sogar das Sprechen Probleme bereitete. Der Forone ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er eine Antwort gab. Cloud hatte den Eindruck, dass er das nur tat, um ihm zu zeigen, dass er den Menschen gegenüber nicht im Mindesten auskunftspflichtig war. Schließlich begann seine Sprechmembran zu vibrieren. Doch die Worte, die daraus hervordrangen, bestätigten nur Clouds schlimmste Befürchtungen. »Wir sind die neuen Herren dieses Schiffs!« Cloud fröstelte, als ihm auffiel, wie sehr ihn der Forone an Sobek erinnerte, den ersten der Hohen Sieben. Rein äußerlich unterschieden sich beide zwar deutlich voneinander – wenn man wusste, worauf man achten musste. Doch beide strahlten diese charismatische Unnahbarkeit aus, die Cloud stets als erdrückend empfunden hatte. Er schloss kurz die Augen, sammelte neue Kraft. »Was... geschieht mit... uns?«, fragte er dann. Diesmal folgte die Antwort prompt, als würde sie auf der Hand liegen. »Ihr werdet das Schiff verlassen.« »Unmöglich!« Die Antwort platzte so abrupt aus Cloud heraus, dass er fast selbst davor erschrak. Gleichzeitig glaubte er den Zorn zu erkennen, der sich in den fremdartigen Zügen des Außerirdischen manifestierte. »Das ist nicht unsere Entscheidung«, fügte er deshalb schnell hinzu. »Man lässt mich nicht von hier gehen.« »Wer sollte dich daran hindern?«
»Die Künstliche Intelligenz dieses Schiffes«, erklärte Cloud, dem das Sprechen zunehmend leichter fiel. »Ich bin der Einzige, den sie noch als Autorität anerkennt. Sie erlaubt mir nicht, von Bord zu gehen.« Obwohl der Forone äußerlich keine Regung zeigte, kam es Cloud so vor, als würden ihn seine Worte in hohem Maße amüsieren. Im nächsten Augenblick tat er etwas, dessen Sinn sich Cloud zunächst nicht erschließen wollte. Er hob die Hände und berührte in einem ganz bestimmten Rhythmus verschiedene Punkte seiner spärlichen, lederartigen Kleidung. Der Bewegungsablauf dauerte eine halbe Minute und erinnerte an ein fremdartiges Begrüßungsritual. Schließlich hielt er inne und erklärte: »Dein Problem ist hiermit gelöst. Du kannst das Schiff nun ungehindert verlassen.« Cloud war noch immer ratlos. »Was hast du getan?« »Ich habe deine Ankettung an dieses Schiff beseitigt, die mit Hilfe der Protopartikel in deinem Körper erfolgt war«, sagte der Forone, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. »Hätte ich es nicht getan, hätte dich die KI bei einem unbefugten Verlassen des Schiffes mittels eben jener Partikel getötet...« »Mein Gott...«, stöhnte Cloud. Was der Forone ihm da erklärte, war nichts anderes, als dass sein Leben bis zu diesem Moment in den Händen einer verfluchten Maschine gelegen hatte. Er hatte diese Erkenntnis nicht einmal ansatzweise verdaut, als er sich urplötzlich in die Höhe gerissen fühlte. Der Forone hatte sich über ihn gebeugt, ihn am Arm gepackt und hochgezerrt. Am meisten überraschte ihn dabei, dass seine Beine ihm nicht mehr den Dienst versagten. Cloud wusste nicht, ob es an der Berührung durch den Foronen lag, oder ob die Wirkung der Energiekugel ganz einfach nachgelassen hatte.
Sicher war nur, dass sein Lähmungszustand aufgehoben war und er wieder frei über seinen Körper bestimmen konnte. Wie irrig diese Annahme war, wurde ihm bewusst, als der Forone ihn erneut packte, wie eine Puppe um neunzig Grad herumwirbelte und nach vorne stieß. Cloud stolperte zwei, drei Schritte in Richtung des Panoramaschirms, bremste dann ab – und erstarrte. Direkt vor ihm war die Luft in hektisch zirkulierende Bewegung geraten. Es sah aus, als würden die einzelnen Luftpartikel durch Leuchtfarbe sichtbar gemacht und von einem gigantischen Ventilator zum Rotieren gebracht. Gebannt starrte Cloud in diesen riesigen bunten Lichtkreisel, der fast vom Boden bis zur Decke der Zentrale reichte, und vom dem eine geradezu hypnotische Wirkung auszugehen schien. Obwohl ihm seine Instinkte Gefahr signalisierten, konnte er nicht anders, als die Hand danach auszustrecken. Schon in dem Moment, in dem seine Fingerkuppen die wogende Masse berührten, kam es ihm so vor, als würde er eine Membran durchstoßen. Seine Finger verschwanden dahinter, sodass es aussah, als seien sie oberhalb der Knöchel abgehackt worden. Er wollte gerade seine Hand zurückziehen, als eine klammerartige Berührung an seinem rechten Arm ihn davon abhielt. Der Forone war neben ihn getreten, hatte ihn gepackt und zerrte ihn nun mit sich, genau auf den bizarren Luftkreisel zu. Es war nur ein Schritt. Cloud spürte, wie etwas über ihn glitt wie ein dünner, samtener Vorhang. Für die Dauer eines Herzschlags sah er nichts als gleißendes Licht. Dann klärte sich sein Blickfeld.
Es dauerte jedoch weitere Sekunden, bis sein Gehirn die Bilder, die jetzt auf ihn einströmten, umsetzen konnte und er begriff, was er da sah. Es war ein tunnelartiges Gebilde aus purem Licht, dessen Ränder wie eine Zentrifuge rotierten und dabei in allen Farben des Regenbogens leuchteten. Einen Moment lang fragte sich Cloud, ob das, was er da sah, Wirklichkeit war oder nur eine Ausgeburt seines eigenen Geistes – ausgelöst durch irgendein verfluchtes Halluzinogen, das der Forone ihm verabreicht hatte. Er kam jedoch nicht mehr dazu, diesen Gedanken einer ernsthaften Prüfung zu unterziehen. Als würde er von einer fremden Macht dazu gezwungen, setzte er einen Fuß vor den anderen. Gleichzeitig schien es, als würde er mit diesem einen Schritt eine Distanz von zehn, zwanzig Metern überwinden, so schnell glitten die diffusen Wände des Tunnels an ihm vorbei. Urplötzlich war da nur noch Dunkelheit. Im ersten Moment hatte John das Gefühl zu fallen. Instinktiv ruderte er mit den Armen, um seinen vermeintlichen Sturz abzufangen. Doch schnell merkte er, dass es nur eine Illusion gewesen war. Er fiel nicht, er stand, während sich über, unter und vor ihm die Schwärze des Alls ausbreitete. Offenbar hatte sich der Tunnel nicht aufgelöst. Die Wände waren lediglich unsichtbar geworden. Cloud drehte sich um, blickte hinter sich. Und noch einmal musste er um Fassung ringen. Es war die Rochengestalt der RUBIKON, die da bewegungslos im All hing, wie ein vor Äonen gestrandetes Wrack. Die räumliche Distanz, die zwischen ihm und dem Schiff lag, veranschaulichte Cloud, wie weit ihn der eine Schritt wirklich gebracht hatte. Es mussten mehrere Meilen sein.
Wahrscheinlich hätte er noch eine Ewigkeit lang sprachlos verharrt, hätte ihn der Forone nicht erneut gepackt und herumgerissen. Cloud taumelte vorwärts. Wieder kam es ihm vor, als befände er sich im freien Fall. Mit jedem Schritt, den er tat, schien er sich schneller fortzubewegen. Es war, als würden sie mit Siebenmeilenstiefeln durch den freien Raum rennen. Wohin gehen wir? Cloud war sich nicht sicher, ob er die Frage wirklich ausgesprochen oder nur in Gedanken geäußert hatte. Wie auch immer, der Forone schien sie gehört zu haben, denn seine Antwort folgte prompt. Dorthin, wo alles seinen Ursprung hat. Ins Machtzentrum, von Samragh. Nach Poranauu... Cloud kam nicht mehr dazu, das Gehörte gedanklich zu verarbeiten. Mit einem Mal ging alles ganz schnell. In einer Geschwindigkeit, die nicht mehr zu begreifen war, näherten sie sich einem hellen Punkt im All, der dabei immer größer wurde. Kurz darauf erkannte Cloud, dass es in Wahrheit zwei Punkte waren. Zwei Monde, die einen großen, ockergelben Planeten umkreisten. Während der Doppelmond in seinem Blickfeld zu immenser Größe anschwoll, bemerkte Cloud ein leuchtendes Gebilde, das beide wie eine Brücke miteinander zu verbinden schien. Bald schon waren seltsam geformte Gebäude zu erkennen die wolkenkratzerartig in den Himmel ragten. Und wuselndes Leben, das die Straßenschluchten erfüllte. Eine Stadt... Poranauu..., ging es Cloud noch einmal durch den Kopf, während sie ungebremst darauf zurasten. Und obwohl er die Sprache der Foronen verstand, wurde ihm der Sinn dieses Namens erst jetzt so richtig bewusst.
Poranauu. Stadt zwischen den Monden... Dann erfolgte der Einschlag. *** Fassungslos, noch immer zu keiner Regung fähig, musste Scobee mit ansehen, wie John und der Forone vor ihren Augen verschwanden. So als würde ein unsichtbares Maul sie verschlucken. »Was habt ihr mit ihm gemacht?« Eigentlich wollte sie die Frage hinausbrüllen, doch als die Worte ihre Lippen verließen, waren sie nicht mehr als ein klägliches Wimmern. Eine Antwort hatte sie ohnehin nicht erwartet. Im Gegensatz zu John, der es mit Hilfe der Protoartikel in seinem Körper verstand, mit den Foronen in ihrer Sprache zu kommunizieren, war sie darauf angewiesen, dass ihre Gesprächspartner Englisch mit ihr sprachen, so wie es Sobek und Siroona häufig getan hatten. Von jenen finsteren Gesellen, die vor wenigen Minuten die Zentrale gestürmt hatten, konnte sie das wohl nicht erwarten. Nichtsdestotrotz wurde ihre Frage beantwortet – zumindest auf nonverbalem Wege... Der Forone, der sich vor ihr aufgebaut hatte – und der einen Kopf kleiner und einen Hauch schmächtiger als sein Anführer war –, zerrte sie brutal auf die Beine. »Scobeeee!« Es war Aylea, die ihren Namen in schriller Tonlage schrie. Die Stimme des Mädchens klang noch in ihren Ohren nach, während der Forone sie mit sich riss und das flirrende, bunte Etwas sie beide verschlang... ***
Urplötzlich verlangsamte sich ihr Fall. Gleichzeitig wurden die Wände des Tunnels wieder sichtbar, so wie bis kurz nachdem sie die RUBIKON hinter sich gelassen hatten. Von der Außenwelt war nun nichts mehr zu sehen. Dennoch konnte John spüren, dass sich die Distanz, die sie mit jedem ihrer Schritte zurücklegten, deutlich verringerte. Gerade als John sich fragte, welche Entfernung sie seit Verlassen der RUBIKON überwunden hatten, blieb der Forone stehen und hielt ihn an der Schulter zurück. Knapp eine Armlänge von ihnen entfernt baute sich eine weitere Membran auf, ähnlich jener, die in der Zentrale der RUBIKON aus dem Nichts entstanden war. Mit einer gebieterischen Geste befahl ihm der Forone, die Barriere als Erster zu durchschreiten. John zögerte. Was würde ihn auf der anderen Seite erwarten? Waren sie tatsächlich in jener merkwürdigen Stadt zwischen den Monden gelandet? Es war nicht zuletzt seine kaum noch zu zügelnde Neugier, die ihn dazu veranlasste, durch die Membran zu treten. Wieder spürte er eine sanfte Bewegung, wieder sah er zunächst nur ein grelles Licht, das jedoch schnell verschwand. Das erste, das sich in seine Wahrnehmung drängte, war ein anhaltender Geräuschpegel, sowie hektische Bewegungen, wohin er den Blick auch richtete. Fasziniert um sich schauend trat er einen Schritt vor. Ein schnarrendes Geräusch ließ ihn im Stand herumfahren. Er sah gerade noch eine Art Schwebegleiter, der in rapidem Tempo auf ihn zuhielt. In Gedanken sah John sich bereits von der runden Schnauze des Fluggeräts erfasst und durch die Luft geschleudert. Kurz bevor diese Vision Wirklichkeit werden konnte, packte ihn eine unnachgiebige Pranke von hinten an der Schulter und riss ihn brutal zurück.
Nur eine Armlänge von John entfernt jagte der Gleiter an ihm vorbei. Der durch den Luftzug entstehende Sog war stark genug, um den Menschen von den Beinen zu reißen – würde er nicht im Griff der schraubstockartigen Pranke hängen. Sie gehörte dem Foronen, der sich jetzt neben ihm aufbaute und ihm einen scharfen Zischlaut entgegenstieß, den Cloud mühelos als Zurechtweisung interpretierte. »Du hättest mich ja auch vorwarnen können, dass wir mitten auf einem verfluchten Highway landen«, gab John bissig zurück. Allmählich wurde ihm die ganze Sache zu viel. Er wollte endlich Antworten auf die Fragen, die seinen Kopf in einen brummenden Bienenstock verwandelten. Wohin hatte man ihn gebracht? Warum hatte man ihn dorthin geschafft. Wer waren diese Foronen, und vor allem: Was, zur Hölle, wurde hier eigentlich gespielt...? Als Cloud sich umsah, stellte er fest, dass sie sich nicht unter freiem Himmel befanden, sondern in einer geschlossenen Kuppel. Er warf den Kopf in den Nacken. In welcher Höhe sich die silbern schimmernde Decke der Halbkugel über den Boden spannte, war schwer zu sagen. Cloud schätzte ihren Radius ganz spontan auf mindestens hundert Kilometer. Es konnte aber auch genauso gut das Doppelte sein. Und in allen Richtungen schwirrten Fahrzeuge und Fluggeräte mit Geschwindigkeiten von gut hundert Stundenkilometern aneinander vorbei, untereinander durch und übereinander hinweg, ohne sich dabei an eine erkennbare Ordnung zu halten. Manche von ihnen schrammten nur Zentimeter aneinander vorbei, dennoch schien es keine Zusammenstöße zu geben. Es sah vielmehr so aus, als würden sie über automatische Steuerungen verfügen, die ihre Flugbahnen in Abstimmung mit den anderen Flugkörpern in ihrer Umgebung genau berechneten.
Cloud hatte Mühe, den Blick für längere Zeit auf ein bestimmtes Objekt zu richten. Zu viele waren es, die da wie ein Heer von Insekten in allen Höhenlagen durcheinander wuselten. Ihm fiel jedoch auf, dass sie sich in Form und Größe zum Teil sehr voneinander unterschieden. Manche waren flach wie eine Flunder, andere dagegen kugelrund. Einige waren so groß wie ein Reisebus, und wieder andere gerade groß genug, dass ein Kind darin Platz gefunden hätte. »John!« Erst als er hörte, wie jemand seinen Namen rief, gelang es ihm, sich von dem Anblick zu lösen. Er erkannte Scobees Stimme noch bevor er sich zu ihr umgedreht hatte. Sofort ließ ein Teil der Anspannung von ihm ab, die ihn befallen hatte, seit er von seinen Freunden getrennt worden war. Die GenTec musste gerade erst durch das Tor getreten sein. Verwirrt – wie jemand, den man aus tiefstem Schlaf gerissen hatte – torkelte sie auf ihn zu. »Verdammter Mist«, keuchte sie und blieb vor ihm stehen. »Was für ein Trip. Ich...« Sie verstummte, als ihr Blick an John vorbei und in die Weite des Terminals glitt. Mindestens eine halbe Minute lang beobachtete sie das hektische Treiben mit tellergroßen Augen. »Meine Güte...«, presste sie endlich hervor. »Ja, meine auch...« John grinste angestrengt. »Und bevor du fragst: Nein, ich habe keine Ahnung, wohin man uns entführt hat.« »Hast du die beiden Monde gesehen?«, fragte Scobee übergangslos. »Es sah aus, als würde diese seltsame Stadt sie aneinander ketten.« »Poranauu«, sagte Cloud, als würde das alles erklären. Als er Scobees fragenden Blick sah, fügte er hinzu: »Das ist der Name der Stadt. Poranauu, die Stadt zwischen den Monden.
Offenbar handelt es sich dabei um eine Art Machtzentrum der Foronen.« Scobee zog ihre Augenbrauen-Tattoos in die Höhe. »Davon haben Sobek und Siroona nie etwas erwähnt.« »Vielleicht hatten sie ihre Gründe dafür«, meinte Cloud nachdenklich. »Aber vielleicht haben sie selbst noch nie etwas davon gehört.« »Du meinst, die Stadt wurde erst in jüngerer Zeit errichtet? Nach dem großen Exodus? Aber wie ist das möglich? Warum wurde Poranauu bisher von den Virgh verschont?« Cloud schüttelte den Kopf und drehte seine Handflächen nach außen. »Keine Ahnung. Ich habe den Eindruck, dass hier so einiges faul ist.« »Damit wären wir schon zu zweit...« John und Scobee sahen sich nach dem Sprecher um. Es war Jarvis, der sich zu ihnen gesellte. Sein amorpher Körper war vom Kontakt mit den Energiekugeln etwas angeschlagen. An einigen Stellen warf die ansonsten glatte Oberfläche noch immer Blasen. »Was ist mit den beiden anderen?«, fragte Cloud. »Nachdem man uns drei an denselben Ort verfrachtet hat, nehme ich an, dass Aylea und Jelto bald folgen werden. Was die Typen mit denen, die nicht in der Zentrale waren, machen werden, kann ich mir auch nicht vorstellen.« Tatsächlich verging nicht ganz eine Minute bis zuerst Aylea und kurz darauf der Florenhüter, jeweils in Begleitung eines weiteren Foronen, durch das Portal torkelten. Beide wirkten zunächst etwas verstört, schienen aber in relativ guter körperlicher Verfassung zu sein. Auch wenn die Kirlianhaut des Florenhüters etwas matt und angegriffen wirkte. Es dauerte nicht lange, bis sich ein Gleiter senkrecht neben dem Pulk aus vier Menschen, fünf Foronen und einem Amorphen absenkte.
Er hatte eine annähernd elliptische Form und schien groß genug zu sein, um knapp die Hälfte von ihnen aufzunehmen. Dieser Eindruck bestätigte sich, als sich eine Luke in der völlig glatten Oberfläche öffnete und den Blick auf sechs muschelförmige Sitze freigab, von denen jeweils drei einander gegenüberlagen. Einen Fahrersitz gab es nicht. Anscheinend wurde das Gefährt automatisch gelenkt. »Einsteigen!«, befahl der Anführer der Foronen, was seine Artgenossen offenbar als Aufforderung sahen, sich drohend hinter den Gefangenen aufzubauen. »Wohin bringt ihr uns?«, fragte Cloud, ohne wirklich mit einer Antwort zu rechnen. Umso überraschter war er, als der Forone sagte: »Zunächst geht es zur Klassifizierung, wo der Rat der Drei eure Absichten überprüft. Danach werdet ihr dem Herrscher vorgeführt. Er allein entscheidet über euer weiteres Schicksal.« John war sich nicht sicher, was die Worte des Foronen im Einzelnen zu bedeuten hatten. Doch allein sein letzter Satz war nicht gerade dazu angetan, seine Sorgen zu zerstreuen… *** Wenn John Cloud seiner inneren Uhr noch trauen konnte, dauerte die Fahrt mit der eiförmigen Kapsel nicht länger als fünf Minuten. Es war eine gewöhnungsbedürftige Art der Fortbewegung. Da das Gefährt keinerlei Fenster besaß, konnten die Insassen nur ahnen, wohin die Reise ging. Cloud hatte zumindest den Eindruck, dass sie mehrmals in schnellem Wechsel sowohl Flughöhe, als auch -richtung änderten. Schließlich endete die Fahrt und das Schott öffnete sich lautlos. Der foronische Anführer, der sie als einziger begleitet hatte, forderte sie auf, die Kapsel zu verlassen.
Während des Fluges war Cloud mehrmals versucht gewesen, eine Bemerkung über ihr Zweckbündnis mit den Sieben Hohen, den Herrschern des foronischen Volkes, fallen zu lassen. Doch jedes Mal verkniff er es sich. Die Tatsache, dass er zwei von ihnen an Bord der RUBIKON in Stasetanks kaltgestellt hatte, hätte sehr leicht missverstanden werden können – mit möglicherweise fatalen Konsequenzen für sie alle. Cloud erhob sich als Erster, streckte seinen Kopf durch die Ausstiegsluke und sah sich um. In der Wand zu seiner Linken befanden sich mehrere Tunnel. Vor jedem von ihnen parkte eine weitere jener eiförmigen Transportkapseln. Oder besser gesagt, sie schwebten – genau wie die Kapsel von Cloud und seinen Freunden – knapp hinter den Tunnelausgängen über dem Boden. Rechterhand erstreckte sich ein langer, belebter Gang mit zahlreichen Abzweigungen. Es waren jedoch nicht nur Foronen, die zielstrebig ihres Weges gingen. Cloud entdeckte zahlreiche weitere Geschöpfe, einige von ihnen so fremdartig, dass er sie im ersten Moment gar nicht als Lebewesen identifizierte. Da war zum Beispiel ein Ding, das wie ein langer Bambusstab aussah. Erst als es sich auf zwei dünnen, drahtigen Beinen in Bewegung setzte, merkte John, dass es sich dabei um etwas Lebendiges handelte. Ein weiteres Wesen erinnerte an eine stachelbewehrte Bowlingkugel, die im Zick-Zack-Kurs über den Boden rollte. Aus der benachbarten Transportkapsel wurde gerade eine Gestalt gezerrt, die aussah wie ein lebendiges Knochengerüst. Tatsachlich schien das Wesen keinerlei Körperfett, Muskeln oder innere Organe zu besitzen. Seine pergamentartige Haut spannte sich – durchzogen von einem dünnen, bläulichen Adernetzwerk – direkt über die blanken Knochen.
Es wehrte sich mit Händen und Füßen gegen seinen Abtransport durch drei foronische Wächter, die sich in einem Halbkreis um das Wesen herum postierten. Urplötzlich bäumte es sich auf und brach zuckend zusammen, wie von einem Elektroschocker getroffen, ohne dass dabei eine sichtbare Waffe zum Einsatz gekommen war. Regungslos blieb es liegen, bis einer der Foronen ihn aufhob und sich wie ein nasses Handtuch über die Schulter warf. Cloud atmete zischend aus. Erst jetzt fiel ihm auf, dass auch alle anderen dieser fremdartigen Wesen einen oder mehrere foronischen Bewacher an ihrer Seite hatten. Wie Häftlinge, die zu ihren Zellen geführt werden, ging es Cloud durch den Kopf. Da traf ihn ein Stoß in den Rücken, und er stolperte aus der Transportkapsel in den Gang. Bevor er dazu kam, sich über die unsanfte Behandlung zu beschweren, bauten sich wie aus dem Nichts zwei weitere Foronen neben ihm auf und nahmen ihn in ihre Mitte. »Sind sie das?«, fragte einer den Foronen, der hinter Cloud aus der Kapsel stieg. Die Antwort musste nonverbal, vielleicht sogar auf telepathischem Wege erfolgt sein, denn einen Moment später packten sie ihn an den Armen und schleiften ihn mit sich. Gleichzeitig hörte er, wie seine Freunde unter Scobees lautem Protest aus der Kapsel gescheucht wurden. Es war das Letzte, was er von ihr hörte, bevor sie voneinander getrennt wurden. Die Foronen brachten Cloud in einen nahe gelegenen schlecht beleuchteten Raum und zwangen ihn auf eine Pritsche, von der er sich aus irgendeinem Grund aus eigener Kraft nicht mehr erheben konnte. Gleichzeitig verschwamm die Umgebung vor seinen Augen. Hatten sie ihm irgendein Betäubungsmittel injiziert?
Es musste wohl so sein, denn sein Geist driftete immer mehr, bis er endlich in einen traumlosen Schlaf sackte... *** Als John erwachte, hatte sich seine Umgebung verändert. Anders als der Raum zuvor war dieser hier von einem rötlich schimmernden Licht erfüllt, das keinen erkennbaren Ursprung besaß und sich hauptsächlich auf einen Radius von knapp drei Metern um seinen Platz herum konzentrierte. Jenseits davon verschwamm alles in diffusem Zwielicht, sodass die Größe des Raumes kaum zu schätzen war. Er saß in einer Art Schalensessel, der sich jeder seiner Bewegungen anpasste und den Eindruck vermittelte, als würde er frei in der Luft schweben. Vielleicht tat er das sogar. Cloud war zu erschöpft, um sich nach unten zu beugen und nachzusehen. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass er nicht mehr gefesselt war, sondern sich frei bewegen konnte. Einen Moment lang war er versucht, aufzustehen und sich in seiner Umgebung umzusehen. Doch da bemerkte er, dass er nicht allein war. Undeutlich erkannte er die Konturen von drei Gestalten, die einige Meter von ihm entfernt saßen. Dem Körperbau nach schienen es Foronen zu sein. Mehr war in dem schlechten Licht nicht zu erkennen. Im nächsten Moment sprach ihn auch schon einer von ihnen an. »Wer bist du? Woher kommst du?« Cloud konnte nicht sagen, welcher der drei Foronen gesprochen hatte, doch seine Stimme klang scharf und unnachgiebig. John überlegte nur kurz, dann beschloss er, mit offenen Karten zu spielen. Sie hatten ihn in der Hand, konnten mit ihm machen, was sie wollten. Wenn er kooperierte, hatte er
wahrscheinlich die besten Möglichkeiten, das alles unbeschadet zu überstehen. Schließlich hatte er nichts Böses im Sinn. »Mein Name ist John Cloud. Ich und meine Begleiter kommen vom Planeten Erde. In der Galaxie Bolcrain.« »Bolcrain?«, sagte ein anderer, dessen Stimme etwas höher, schnarrender klang, als die des ersten. »Das Schiff, mit dem ihr gekommen seid«, sagte der Dritte im Bunde, »ist zweifellos foronischen Ursprungs. Wie ist es in euren Besitz gelangt?« Cloud atmete noch einmal tief durch, dann beschloss er, die Bombe platzen zu lassen. »Bei dem Rochen handelt es sich um SESHA, jene Arche, mit der vor Jahrtausenden ein Großteil eures Volkes aus Samragh floh. Sie...« »Wie kannst du es wagen?«, unterbrach ihn der erste mit donnernder Stimme. »Nie würde ein Forone aus Samragh fliehen! Seit Äonen herrscht unser Volk uneingeschränkt über diese Galaxie. Ich frage dich also noch einmal: Wie seid ihr an Bord eines foronischen Schiffes gelangt?« John senkte den Kopf und rieb sich die Schläfen. Er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen und konnte nur hoffen, jeden Moment schweißgebadet daraus hochzuschrecken. »Wir sind Verbündete der Sieben Hohen«, sagte er kraftlos. »Sie selbst haben uns an Bord der SESHA geholt.« Seit ihrer Ankunft auf Poranauu hatte sich Cloud gefragt, wie die Foronen wohl auf die Erwähnung ihrer Herrscher reagieren würden. Mit allem hätte gerechnet, doch ganz gewiss nicht damit. »Du musst lange in der Stase verbracht haben«, sagte der Erste und seine Stimme klang höhnisch. »Samragh wird von einem einzigen Herrscher regiert. Und ich bezweifle, dass er jemals von dir gehört hat...« Cloud musste schlucken. Was er die ganze Zeit schon innerlich geahnt, aber sich geweigert hatte, es auszusprechen,
schien sich mit den letzten Worten des Foronen endgültig zu bestätigen. Wenn er die Wahrheit sagte, und Cloud sah keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln, befand er sich hier in einer Realität, die sich in eklatanter Weise von seiner eigenen unterschied. Hatte sie der Sprung durch den Dimensionsriss tatsächlich in eine Art Paralleluniversum katapultiert? In eine andere Dimension, in der die Entwicklung der Foronen in völlig anderen Bahnen verlaufen war? »Ihr seid nicht das erste Fremdschiff, das in letzter Zeit wie aus dem Nichts in Samragh aufgetaucht ist«, erklärte der Forone mit der schnarrenden Stimme. »Die Besatzungen der anderen Schiffe verhielten sich jedoch ganz anders als ihr. Sie schienen allein daran interessiert zu sein,Tod und Verderben über uns zu bringen.« Eine weitere Ahnung begann in Clouds Denken Gestalt anzunehmen. Die Schiffe, von denen der Forone sprach, mussten jene Dreizacks gewesen sein, die vor der RUBIKON in den Schlund gezogen worden waren. »Was geschah mit diesen Eindringlingen?«, fragte Cloud. »Da sie nicht zur Kapitulation bereit waren, mussten wir sie mitsamt ihrer Schiffe vernichten.« Cloud atmete innerlich auf. Damit war zumindest dieses Problem aus der Welt. Nicht auszudenken, wenn die VirghSchiffe ihren Zerstörungshunger in dieser Dimension, die bisher offenbar von ihnen verschont geblieben war, fortgesetzt hätten. »Arbeitet ihr mit diesen Wesen zusammen?«, fragte der dritte Forone. »Haben sie euch gar als Spione geschickt?« »Nein«, wehrte Cloud ab. »Wir waren selbst auf der Flucht vor ihnen als... es uns hierher verschlug.«
Die Foronen schwiegen. Cloud vermutete, dass sie sich auf telepathischem Wege berieten. Schließlich ergriff wieder der Erste das Wort. »Du scheinst die Wahrheit zu sagen. Zumindest scheinst du selbst an deine Worte zu glauben.« Cloud entspannte sich ein wenig. Er hatte bereits geahnt, dass die Foronen über irgendeine Möglichkeit verfügten, seine Aussagen zu überprüfen. Wahrscheinlich hing es mit dem seltsamen Stuhl zusammen, in dem er saß. Er schien eine Art Lügendetektor zu sein, mit dem sie den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen messen konnten. »Ich frage dich also noch einmal«, sagte der zweite Forone. »Wie war es euch möglich, unbemerkt bis ins Zentrum unseres Herrschaftsgebietes vorzudringen?« Cloud überlegte sich seine Antwort gut. Jetzt da er wusste, dass sie ihn jeder Lüge sofort überführen würden, schien es ratsam, sich so weit wie möglich an die Wahrheit zu halten. »Ich bin mir da selbst nicht so ganz sicher«, sagte er schließlich. »Wir wurden von mehreren jener Schiffe angegriffen, die auch euch bedroht haben. Schließlich sahen wir uns gezwungen, die Kontinuumwaffe unseres Raumschiffs einzusetzen, um einen Dimensionsriss zu erzeugen. Leider wurden wir selbst in diesen Riss gezogen, nachdem er mehrere unserer Feinde erwischt hatte.« Nach Clouds Erklärung verstrich eine kleine Ewigkeit, ohne dass einer der Foronen etwas sagte. Vermutlich berieten sie erneut auf telepathischem Wege darüber, was von seinem Bericht zu halten war. Endlich brach der erste von ihnen das Schweigen. »Willst damit wirklich sagen, ihr seid Reisende aus einer anderen Dimension?« Cloud räusperte sich. »Ehrlich, für mich ist das mindestens so schwer zu glauben wie für euch. Aber es ist nun mal die einzig vernünftige Erklärung für alles, was passiert ist.«
Wieder verging einige Zeit, bevor der Forone sagte: »Wir wollen dir und deinen Freunden dabei helfen, in eure Welt zurückzukehren. Bis wir euer Schiff wieder flott gemacht haben, bitten wir euch, unsere Gäste zu sein.« »Das wissen wir zu schätzen«, gab Cloud zurück. Trotz dieses überraschenden Angebots wollte sich bei ihm keine Erleichterung einstellen. Er kannte die Mentalität der Foronen mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie nie aus purer Freundlichkeit agierten. Alles was sie taten, diente nur ihren eigenen Zielen. Nicht zuletzt deshalb hatte Cloud das unbestimmte Gefühl, dass auch diese drei Vertreter ihrer Art nicht mit offenen Karten spielten. Gäste, hatte der Forone sie gerade genannt. Ohne undankbar sein zu wollen, konnte sich Cloud nicht des Eindrucks erwehren, dass er in Wahrheit Gefangene hatte sagen wollen. *** Der Fremde scheint die Wahrheit zu sagen, meinte der erste des Triumvirats, nachdem John Cloud von einem Dienerroboter aus dem Verhörsaal geführt worden war. Untereinander unterhielten sie sich die Hauptverantwortlichen der Abteilung für Spionageabwehr stets auf telepathischem Wege. Obwohl es schwer zu glauben ist, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu. In der Tat, gab ihm der zweite Recht. Vor allem, was er über die Sieben Hohen gesagt hat, erfüllt mich mit Zweifeln. Dennoch. Die Existenz des Schiffes scheint seine Worte zu bestätigen.
Die Sieben Hohen, sagte der Dritte andächtig. Ich hielt sie bisher für einen Mythos. Herrschten sie einst wirklich über unser Volk? Es gibt Überlieferungen, die dieses belegen. Unheilsschwangere Stille hing nach den Worten des zweiten im Raum. Sie alle wussten von den alten Überlieferungen. Sie wussten auch, dass der Besitz dieser Aufzeichnungen jedem Bewohner Samraghs aufs Strengste verboten war. Stillschweigend beschlossen sie, das Thema nicht weiter anzutasten. Schließlich gab es Wichtigeres zu tun. Urplötzlich veränderten sich die Lichtverhältnisse. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes, wo eben noch dunkle Schatten genistet hatten, wurde es schlagartig hell. Gleichzeitig verlor die Wand auf dieser Seite ihre Stofflichkeit, wurde durchscheinend, sodass man in den dahinter liegenden Raum blicken konnte. Es war mehr eine Kammer. Ein Käfig für ein Wesen, das den foronischen Wissenschaftlern, die sich mit ihm beschäftigt hatten, ein noch größeres Rätsel war, als die übrigen Besatzungsmitglieder des gestrandeten Raumschiffs. Sein Körper glänzte silbern und konnte offenbar jede beliebige Form annehmen. Im Augenblick kauerte es in der Gestalt auf dem Boden, die rudimentär der der Foronen glich. Offenbar hatte es aufgegeben, nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. Trotz seiner Andersartigkeit hatte ein erster Scan ergeben, dass es ein richtiges Bewusstsein besaß, das dem seiner Freunde sehr ähnlich war. Doch das war nicht alles. Da war noch etwas. Etwas, das verborgen in ihm schlummerte und von dem nicht einmal es selbst etwas zu ahnen schien. Der allmächtige Herrscher wird interessiert sein, davon zu erfahren, meinte der erste nach einer Weile.
Seine Artgenossen stimmten ihm stillschweigend zu... *** »John!« Scobee sprang von ihrem Platz auf, als Cloud den Raum betrat. Die Erleichterung stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Wir dachten schon, wir würden dich nie wiedersehen.« Er versuchte, die Sorge in seinen Zügen mit einem Lächeln zu überdecken. Ein Blick in Runde genügte, um festzustellen, dass alle anwesend waren – selbst sein Vater, der blicklos eine Wand anstarrte. Doch einer fehlte. »Wo ist Jarvis?« Die Besorgnis kehrte in Clouds Antlitz zurück. »Wissen wir nicht«, sagte Aylea, die sich einigermaßen erholt zu haben schien. »Sie haben ihn kurz nach der Fahrt in diesem Gleiter von uns getrennt. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.« John nickte. Er nahm sich vor, sich nach dem Verbleib seines Freundes zu erkundigen, sobald ihm ein Forone unter die Augen trat. Im Moment waren sie allein, auch wenn Cloud überzeugt davon war, dass man sie aus dem Verborgenen heraus belauerte. Nichtsdestotrotz nutzte er diesen Moment der Ruhe, um den anderen zu berichten, was ihm während seines Verhörs widerfahren war – und was er selbst dabei herausgefunden hatte. Verwunderung war noch eine untertriebene Umschreibung für die Reaktion der drei Menschen auf seinen Bericht, auch wenn Aylea schließlich meinte: »So verrückt es auch klingt, es
ergibt einen Sinn. Die RUBIKON stürzte durch das Tor zu einer anderen Dimension.« »Bist du sicher, dass alle Virgh-Schiffe, die mit uns in den Spalt gesaugt wurden, vernichtet sind?«, fragte Scobee, die das Gehörte, so verrückt es auch klang, angesichts dessen was sie bisher gehört und gesehen hatte, zu akzeptieren schien. Cloud nickte entschieden. »Offenbar haben sich die Foronen dieser Realität jeden Winkel Samraghs Untertan gemacht und besitzen die Möglichkeit, jedes Fremdschiff in diesem Bereich zu orten. Ich bin davon überzeugt, dass uns zumindest die Virgh für die Dauer unseres Aufenthalts keinen Ärger mehr bereiten.« Scobee stutzte. »Die Dauer unseres Aufenthalts? Siehst du etwa eine Möglichkeit, in naher Zukunft von hier wegzukommen?« »Die Foronen haben versprochen, uns zu helfen. Sie wollen die RUBIKON wieder flott machen und uns zurück in unsere eigene Dimension schicken.« Die Zweifel, die weiter in seinem Hinterkopf nagten, verschwieg er. Zum einen, weil er keine Beweise für eine mögliche Unaufrichtigkeit der Foronen hatte. Zum anderen, weil er die Hoffnung, die er in Jeltos und Ayleas Gesichtern sah, nicht gleich wieder zerstören wollte. Vielleicht irrte er sich ja und tat seinen Gastgeber Unrecht. Vielleicht hatten die hiesigen Foronen aufgrund ihrer anders verlaufenen Geschichte ganz andere Wertmaßstäbe entwickelt. Bevor sie ihre Unterhaltung fortsetzen konnten, öffnete sich das einzige Türschott des Raumes und zwei Gestalten traten ein. Die eine war ein Forone, der für einen Vertreter seiner Rasse etwas schmächtig geraten war. Allerdings war auch er deutlich über zwei Meter groß. Sonderbar war jedoch vor allem der zweite Kerl, der ein Stück hinter ihm ging. Er war kleiner – deutlich kleiner – als
sein Begleiter. Oder als John Cloud. Genaugenommen überragte selbst Aylea ihn um einige Zentimeter. Er hatte einen kleinen, runden und völlig kahlen Kopf, mit spitzen, eng anliegenden Ohren. Obwohl er die Größe eines Kindes hatte, war sein Gesicht das eines Greises, mit zahlreichen tiefen Furchen, die seine Haut wie ein Netzwerk aus Gräben und Kanälen durchzog. Seine, im Vergleich zum Rest des Gesichts, übergroßen Augen, waren stark nach links und rechts versetzt, ähnlich wie bei einem Reptil. Eine Nase besaß er nicht, dafür einen schmalen lippenlosen Mund, der fast vom rechten bis zum linken Ohr reichte – sofern er Ohren gehabt hätte. Seine Haut war fast völlig weiß und mit einigen dunklen Punkten durchsetzt. Er trug einen eng anliegenden, latexartigen Anzug, durch den sich jede einzelne Rippe abzeichnete, die aus seinem hageren Körper stach. »Das Triumvirat lässt verkündigen, dass es euer Schiff in diesem Moment nach Poranauu überführen lässt«, sagte der Forone. »Da seine Reparatur einige Zeit in Anspruch nehmen wird, übergibt er euch in die Obhut eines unserer Helfer, der euch die Stadt zeigen wird.« Damit war zweifelsohne jene seltsame Kreatur gemeint. »Was ist mit Jarvis?«, fragte Cloud und fügte hinzu: »Ohne ihn gehen wir nirgendwo hin.« »Leider geht es eurem Freund mit dem Kunstkörper nicht besonders gut. Er wurde durch die Attacke unseres Erkundungstrupps stark geschwächt. Er benötigt noch etwas Erholung, wird aber in absehbarer Zeit genesen. Das Triumvirat bedauert diese Unannehmlichkeit zutiefst.« Cloud war von der Antwort zutiefst beunruhigt, gleichzeitig aber auch höchst skeptisch. Es fiel ihm schwer zu glauben, dass die amorphe Masse, die einst dem Foronen Mont als Rüstung gedient hatte, der Energieattacke nicht getrotzt hatte.
Andererseits... Was wusste er schon über die Wirkung dieser merkwürdigen Waffen, die die hiesigen Foronen offenbar allein kraft ihrer Gedanken einsetzen konnten. »Ich will ihn sehen«, beharrte Cloud. »Bring mich zu ihm!« »Ganz wie du wünschst«, sagte der Forone. »Wir haben ihn in einem Komplex in unmittelbarer Nähe des Herrschaftspalastes untergebracht. Da ihr als persönliche Gäste des Herrschers ohnehin dort nächtigen werdet, habe ich Quarton angewiesen, euch dorthin zu bringen.« Der greise Gnom nickte eifrig. Cloud und Scobee tauschten einen skeptischen Blick. Persönliche Gäste des Herrschers? Keinem von beiden gefiel die Sache. Andererseits... Was blieb ihnen anderes übrig, als ihren Gastgebern zu vertrauen? *** Zielstrebig bewegten sich die beiden Foronen durch den endlos erscheinenden Korridor des geborgenen Rochenschiffs. RUBIKON, hatte der Kommandant dieses Schiffes es genannt. Fremdartig hallte der Name in Torkons Gedanken nach. Der Anführer des Trupps, der zur weiteren Erkundung des Fremdschiffs entsandt worden war, war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Es war kein foronisches Wort, trotz des unverkennbar foronischen Ursprungs dieses Schiffes. Woher kam es, wer hatte es erbaut? Sicher war nur, dass es nicht aus Samraghs gut bestückter Flotte stammte. Gab es etwa Foronen, die außerhalb ihrer Heimatgalaxie lebten?
Foronen, die Samragh vor langer Zeit verlassen hatten, um in weiter Ferne eine neue Zivilisation zu gründen? Torkon wusste, dass es nicht seine Aufgabe war, sich über solcherlei Dinge den Kopf zu zerbrechen. Befehle zu empfangen und sie auszuführen, das war es, was man von ihm erwartete. Willst du mir nicht endlich sagen was es ist, das du mir so dringend zeigen musst?, fragte er seinen Begleiter nach einer Weile. Ihr müsst es euch selbst ansehen, gab dieser zurück. Wir sind gleich da. Er deutete auf ein geschlossenes Schott am Ende des Korridors. Torkon bemerkte, wie er seine Schritte ungewollt beschleunigte. Seine Neugier war erwacht. Sein angeborener Forscherdrang, der genauso zu einem guten Soldaten gehörte wie Ausdauer und Geschicklichkeit. Das Schott öffnete sich wie von selbst, als sie sich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatten. Torkon betrat den Raum als Erster. Fünf weitere Mitglieder seines Trupps hatten sich dort bereits eingefunden. Als sie ihn kommen sahen, ließen sie eine militärische Grußformel erklingen. Anschließend wichen sie nach links und rechts aus, sodass ihr Anführer seinen Blick auf das richten konnte, was sie selbst bis zu diesem Moment bestaunt hatten. Dass es sich dabei um zwei aufrecht stehende Staseblöcke handelte, hatte Torkon bereits aus der Entfernung gesehen. Nicht jedoch die beiden Gestalten, die in ihrem Innern schliefen. Bei ihnen handelte es sich – und das erschien so unglaublich, dass Torkon abrupt stehen blieb – unverkennbar um Foronen.
Nach einer kleinen Ewigkeit, als ihm bewusst wurde, dass seine Leute eine Entscheidung von ihm erwarteten, rührte er sich. »Worauf wartet ihr?«, schmetterte er ihnen entgegen. »Holt sie da raus!« Sofort begannen zwei von ihnen damit, den Erweckungsvorgang einzuleiten. Sie begannen mit dem männlichen Foronen mit der imposanten Statur. Somit war er auch der Erste, der ihnen schließlich aus dem Stasetank entgegentrat. »Wer bist du?«, fragte Torkon ihn. Der Angesprochene sah aus, als müsse er selbst erst in den Tiefen seines Gedächtnisses nach einer Antwort forschen. Seid demütig! Denn ich bin Sobek, sagte er. Oberster der Sieben Hohen! Herrscher über das mächtige Volk der Foronen... Die Gruppe erstarrte. *** Nach einem weiteren Flug in einer jener eiförmigen Transportkapseln folgten John Cloud und seine Begleiter Quarten zu einem Hangar, in dem Fluggeräte aller Formen und Größen untergebracht waren. Quarten wandte sich an ein Wesen, das entfernt an eine grau gefärbte Salatgurke erinnerte und offenbar für die Wartung und Verwaltung der Maschinen zuständig war. Überhaupt fiel Cloud auf, dass alle niederen Hilfsarbeiten in Poranauu nicht von Foronen, sondern von diversen Dienerspezies erledigt wurden, die offenbar von überallher aus Samragh stammten. Quarten erwies sich als unterhaltsamer und vor allem gesprächiger Zeitgenosse, auch wenn Cloud als Einziger von dieser Gesprächigkeit profitierte. Das gnomartige Wesen
bediente sich nämlich der foronischen Sprache, die er, wie Cloud mit einigem Amüsement feststellte, nicht ganz akzentfrei beherrschte. Die Art, wie er die komplizierten Zischlaute ausstieß, ließ vermuten, dass er sie nicht von Kindesbeinen an beherrschte, sondern sie erst mühsam hatte erlernen müssen. Als Cloud ihn darauf ansprach räumte Quarten völlig offen ein, dass die Worte seiner Muttersprache dem foronischen gegenüber tatsächlich ziemlich fremd waren und aus schnell aufeinander folgenden Klacklauten bestanden, deren Bedeutung sich mit wechselnder Tonhöhe änderte. Er selbst, so erfuhr Cloud, stammte von einem sehr wasserreichen Planeten am Rande der Kleinen Magellanschen Wolke, der im Zuge der foronischen Expansion vor einer halben Ewigkeit erobert und ins Reich Samragh eingegliedert worden war. Als Cloud ihn fragte, ob er denn keinen Groll gegen jene Machthaber hege, die sein Volk unterworfen hatten, entgegnete er nur: »Bevor die Foronen kamen, waren es andere, denen wir dienten. Und wieder anderen vor ihnen. Mein Volk ist nicht zum Herrschen bestimmt. Wir werden als Sklaven geboren und sterben als Sklaven. So war es schon immer. So ist es uns vorherbestimmt.« Während er das sagte, reckte er die drei Finger seiner rechten Hand gen Himmel und spreizte sie in einem bestimmten Winkel voneinander ab. Cloud vermutete, dass es sich dabei um eine Art religiöses Ritual handelte, hakte aber nicht nach. Nachdem die Formalitäten geklärt waren, führte der Verwalter des Hangars sie zu einem länglich geformten Gleiter mit flacher Schnauze, der nicht nur deutlich größer als die Transportkapseln war, sondern zu Johns Erleichterung auch mehrere Fenster besaß.
Er sah ein bisschen so aus wie die Miniaturausgabe eines Jumbos, dem man die Flügel abgebrochen hatte. Das Fluggerät verfügte über drei Passagierreihen mit jeweils zwei benachbarten, durch einen schmalen Mittelgang voneinander getrennten Sitzen. Aylea und Jelto nahmen auf den mittleren beiden Platz, Scobee und Cloud auf den vorderen. Johns Vater Nathan setzten sie in die letzte Reihe. Zur Überraschung aller schwang sich Quarten nicht auf den Pilotensitz, sondern nahm lediglich einige Einstellungen an den Armaturen vor, ging dann bis zur hinteren Reihe und ließ sich dort auf den linken Sitz fallen. Kurz darauf stieg die Maschine langsam und völlig lautlos in die Höhe. Den Blick durch das linke Seitenfenster gerichtet, sah Cloud die Wände des Hangars senkrecht an sich vorbeiziehen. Schließlich fiel sein Blick auf ein wahrhaft gigantisches Häusermeer. Der Gleiter war durch eine Öffnung, die sich in der Decke des Hangars aufgetan hatte, ins Freie geglitten, wie Cloud mit einem Blick nach unten feststellte. Jetzt schwebte er sekundenlang am Fleck und gestattete den Insassen damit, das atemberaubende Panorama dieser bizarren Stadt zum ersten Mal aus nächster Nähe zu betrachten. Obwohl er technisch versiert war, verstand Cloud vieles von dem, was er da sah, nicht einmal annähernd. Da waren riesige Gebäude mit völlig abstrusen Formen und ohne erkennbare Architektur. Er sah röhrenartige Gebilde, die die ganze Stadt wie ein Adernetzwerk durchzogen. Der Luftraum wurde von diversen Fluggeräten beherrscht, doch auch unten, in den Straßenschluchten der Stadt, herrschte eine Hektik, die Cloud beim bloßen Hinsehen nervös werden ließ. »Poranauu ist das einzige Bindeglied zwischen den beiden Monden Tamon und Hentauu, wobei es sich bei Letzterem um
einen Hohlkörper handelt, dessen Inneres eine gigantische Raumschiff-Werft beherbergt.« Interessant, dachte Cloud. Konnte es sein, dass die RUBIKON dorthin verfrachtet worden war? Angesichts der gigantischen Ausmaße des Rochenraumers erschien ihm das zumindest sehr wahrscheinlich. »Gemeinsam umkreisen Poranauu und die beiden Monde einen kleinen Wüstenplaneten namens Hortos«, erklärte Quarten weiter. John tat sein Bestes, um seinen Freunden die wichtigsten Informationen zu übersetzen. »Leben auf Hortos ebenfalls Foronen?«, wollte Scobee wissen. John fragte Quarten danach. »Wenige«, war seine Antwort. »Es gibt dort eine einzige Forschungsstation, sowie einige Dörfer der dort beheimateten Ureinwohner. Der Technisierungsgrad liegt jedoch deutlich unter dem von Poranauu.« Unwillkürlich fragte sich Cloud, wie wohl die Entwicklung der Milchstraße in dieser Dimension verlaufen war. Welche Zivilisationsstufe hatten die Menschen inzwischen erreicht? Existierten sie überhaupt, oder hatte eine winzige Abweichung im kosmischen Entwicklungsprozess die Entstehung von Leben auf der Erde verhindert? Und falls ja, gab es dann vielleicht sogar einen zweiten John Cloud, der in eben diesem Moment nach Spuren seines auf dem Mars verschollenen Vaters suchte? Clouds Gedankenspiel wurde jäh unterbrochen, als Quarton verkündete: »Das da hinten ist die Residenz des Herrschers, die den Mittelpunkt von Poranauu bildet.« Clouds Blick fiel durch das Fenster auf das gigantische Gebäude, das ihm bereits aus einiger Entfernung aufgefallen war.
Seine Form erinnerte an die einer Pyramide. Mit Ausnahme des kugelförmigen Gebildes, das auf seiner Spitze saß. »Dort, ganz oben, befinden sich die Residenzräume des Herrschers«, erklärte Quarton. »Aber ihr werdet ihn ja bald selbst kennen lernen.« Cloud war sich noch immer nicht so ganz sicher, ob er das wirklich wollte… *** Es gab Tage, da glaubte er zu spüren, wie die Last der Jahre auf seinen Schultern lag, als wollte sie ihn erdrücken. Ihn strafen für den Verrat, der das Fundament für seine nun schon Ewigkeiten währende Herrschaft war. Ihn plagten keine Gewissenbisse wie sie bei Angehörigen niederer Rassen häufig zu beobachten waren. Er bedauerte nicht, was er getan hatte, war er doch überzeugt davon, einzig und allein im Sinne seines Volkes gehandelt zu haben. Die Entwicklung, die Samragh seit dem Tag seiner Machtergreifung genommen hatte, schien seine Einschätzung zu bestätigen. Nein, was ihn hin und wieder plagte, war der Gedanke, irgendwann einmal von seiner Vergangenheit eingeholt zu werden. Sicher, er hatte alles in seiner Macht stehende unternommen, um die alten Zeiten vergessen zu machen. Auch gab es niemanden, der sich an seine Tat hätte erinnern können. Generationen waren seitdem geboren worden und auch wieder gestorben. Zivilisationen waren vernichtet worden und neu erstanden. Die einzige Konstante in dieser ständigen Veränderungen unterworfenen Welt war er selbst. Er war das Glied, das alles zusammenhielt. Die Brücke zwischen Heute und Gestern.
Und seit er das Geheimnis ewigen Lebens ergründet hatte, es wie seinen Augapfel hütete, wusste er auch, dass es für alle Zeiten so bleiben würde wie es war. Bis vor kurzem hatte es keinerlei Anzeichen gegeben, dass sich daran irgendwann einmal etwas ändern könnte. Doch nun waren sie erschienen. Diese merkwürdigen Fremden. Wie aus dem Nichts waren sie aufgetaucht. An Bord eines Schiffes mit foronischer Technik. Und wenn es stimmte, was man ihm berichtet hatte, war der Moment, in dem ihn seine Vergangenheit einholen würde, nun gekommen. Stolz wanderte sein Blick über den Panoramaschirm seines Audienzsaales. Dort zu sehen war die Silhouette einer Stadt, die ihm buchstäblich zu Füßen lag. Poranauu war für ihn nicht nur eine Heimat. Sie war die Manifestation der Überlegenheit seines Volkes. Eine Überlegenheit, die es allein ihm zu verdanken hatte. Der Anblick gab ihm die Kraft, die er benötigte, um sich den vor ihm liegenden Herausforderungen zu stellen. Vielleicht, dachte er im nächsten Moment, waren die jüngsten Entwicklungen gar nicht so schlecht. Vielleicht konnte er ja sogar einen Nutzen daraus ziehen, so wie er es immer getan hatte. Gestärkt von diesem letzten Gedanken, entsandte er einen mentalen Befehl, der genau jene erreichte, für die er bestimmt war. Nur Augenblicke später öffnete sich das breite Eingangsschott und zwei seiner Untertanen betraten den Saal. Sie hatten einen durchsichtigen quaderförmigen Behälter bei sich, den sie auf einem Anti-Grav-Feld vor sich herschoben. Der Inhalt war nicht schwer zu erkennen, wenn auch für Unwissende schwer zu deuten.
Eine silbern glänzende, amöbenartige Masse, die sich in ständiger Bewegung zu befinden schien. So, als würde ein Heer von Insekten über die Oberfläche wuseln. Der Herrscher teilte den beiden Foronen auf telepathischem Wege mit, dass sie ihre Schuldigkeit getan hatten. Er wartete noch, bis sich das Schott hinter ihnen geschlossen hatte, dann trat er vor und beugte sich zu dem Behälter hinab. Augenblicklich kroch die Masse an der Außenwand ihres Käfigs hoch. So als würde sie seine Präsenz deutlich spüren. Als könne sie es nicht erwarten, sich auf ihn zu stürzen. Der Herrscher stieß einen amüsiert klingenden Laut aus. Wie viel Zeit war vergangen, seit er ein solches Relikt vergangener Tage zum letzten Mal gesehen hatte? Allein die veraltete Technik ließ vermuten, dass es Äonen her sein musste. Er öffnete den Behälter, indem er ihn gleichzeitig an drei bestimmten Druckpunkten berührte. Kurz darauf tropfte die Masse auch schon vor ihm zu Boden. Formte sich dabei und bildete eine Gestalt nach, die ganz langsam, angefangen bei den Füßen, Stück für Stück vor ihm in die Höhe wuchs. Der Herrscher spürte sofort, dass die Informationen, die man ihm übermittelt hatte, korrekt waren. Etwas bewohnte diesen Körper. Etwas mit erstaunlich hoher Intelligenz... Und dann spürte er noch etwas. Im ersten Moment konnte er es kaum glauben. Er musste sich irren. Nein, es war zweifellos vorhanden, so wie es zuvor die Untersuchungen der Nano-Struktur vorgefunden hatten. Er hatte die Feststellung kaum getroffen, als dieses seltsame Wesen plötzlich in seine Richtung sprang, als wollte es ihn attackieren.
Der mentale Befehl erreichte es im selben Moment, in dem der Herrscher ihn ausgesandt hatte. Er spürte, wie es versuchte, sich dagegen zu wehren. Die Programmierung des Materials war jedoch stärker als das Bewusstsein, das in ihm wohnte. Die Gestalt krümmte sich zusammen. Ihre Konturen zerflossen, wurden zu einem unförmigen Klecks, der sich wie von einem Magneten angezogen auf den Herrscher zubewegte. Dieser stand völlig still und ließ es geschehen, wie die Masse zuerst über seine Füße floss, an seinen Beinen emporkroch und den Rest seines Körpers umhüllte, bis sie den Zweck erfüllte, für den sie ursprünglich erschaffen worden war. Seinem Träger als Rüstung zu dienen... Freilich konnte seine überholte Technik den heutigen Waffensystemen nicht einmal mehr ansatzweise trotzen. So war es weniger ein Gefühl von Sicherheit, das den Herrscher beim Anlegen der Rüstung überkam, als vielmehr eine gewisse Vertrautheit. Lass mich... gehen! Es war eine schwache, verzerrt klingende Stimme, die mit einem Mal in seinen Gedanken aufblitzte. Sie musste jenem Bewusstsein gehören, das sich unerhörter Weise in der Rüstung eingenistet hatte. Der Herrscher schleuderte ihm ein mentales Lachen entgegen. Du lebst in einem gestohlenen Körper und wagst es, Forderungen zu stellen? Er ist... nicht... gestohlen, gab das Bewusstsein zurück. Er wurde... mir... geschenkt. Von wem? Wer könnte wohl die Macht besitzen, einer niederen Kreatur wie dir ein solch wertvolles Geschenk zu machen?
Sobek!, stieß der andere hervor. Der oberste der Hohen Sieben! Er hat mir das Leben gerettet, indem er mein Bewusstsein in den Körper des Amorphen transferierte! Der Herrscher zuckte bei der Erwähnung des Namens innerlich zusammen. Auch wenn er die Zusammenhänge noch immer nicht vollends verstand, hatte er den Eindruck, dass doch alles irgendwie einen Sinn ergab. Sobek also, sagte er, und gab seinen Worten einen betont höhnischen Unterton. Hat er dir auch gesagt, wem er die Rüstung entwendet hat? Obwohl das fremde Bewusstsein schwieg, spürte der Herrscher, dass es die Antwort kannte. Du hast richtig gehört. Sobek hatte überhaupt nicht das Recht, dir die Rüstung zum Geschenk zu machen. Der Einzige, dem so etwas zusteht, ist sein wahrer Besitzer. Mit einiger Genugtuung spürte der Herrscher, wie eine wachsende Unsicherheit das fremde Bewusstsein erfasste. Möchtest du ihn vielleicht kennen lernen? Ihn fragen, was er davon hält, dass du dich in seinem Eigentum eingenistet hast? Er wartete nicht mehr auf eine Antwort, sondern streckte seine mentalen Fühler nach der Nano-Struktur des Amorphen aus, veränderte sie. Nun blieb auch dem Eindringling namens Jarvis nicht länger verborgen, mit wessen Geist er sich diesen Körper teilte. Das Ausmaß dieser Erkenntnis, das spürte der Herrscher ganz deutlich, war so immens, dass es durchaus die Macht besaß, ein Wesen wie Jarvis in den Wahnsinn zu treiben. *** Der Raum, in den sie ihn gebracht hatten, wirkte ungastlich, geradezu bedrohlich.
Und das, obwohl es dort vollkommen dunkel war und er seine Umgebung nicht einmal schemenhaft erkennen konnte. Es lag auch nicht an den energetischen Fesseln, mit dem man ihn auf die Pritsche fixiert hatte. Es war mehr das unerklärliche Gefühl, dass er eigentlich gar nicht hier sein durfte. Seit Sobek erwacht war, hatte er den unbestimmten Eindruck, nicht ihn diese Welt zu gehören. Es war nicht nur die Reaktion der Foronen auf ihn. Obwohl diese ihn wohl am meisten erschüttert hatte. Immerhin schien er ihnen nicht nur ein Unbekannter zu sein, sie weigerten sich darüber hinaus ganz offen, seine oder Siroonas Autorität anzuerkennen. Wie lange hatte er in der Stase gelegen? War tatsächlich so viel Zeit vergangen, dass die Herrschaft der Sieben Hohen in Vergessenheit geraten war? Seine Erinnerungen an die Ereignisse vor seinem Einritt in die Stase waren dunkel und lückenhaft. Vor allem erinnerte er sich noch an ein merkwürdiges, nie erlebtes Gefühl. Einen inneren Drang, dem eigenen Leben ein Ende zu bereiten. War das der Grund, warum ihn John Cloud in den Stasezustand versetzt hatte? Cloud... Unwillkürlich fragte er sich, was mit dem Mann aus Bolcrain wohl geschehen war. Lebten er und seine Artgenossen noch? Bestand für Sobek überhaupt eine Chance, es jemals zu erfahren? Die Foronen, die ihn geweckt hatten, verweigerten ihm nicht nur jegliche Antworten auf seine Fragen. Sie schotteten ihre Gedanken regelrecht vor ihm ab, als fürchteten sie, er könne ihnen etwas entlocken, das sie auf gar keinen Fall preisgeben wollten. Ohne ein Wort der Erklärung hatten sie ihn und Siroona abgeführt und durch einen energetischen Tunnel geschleust.
Nach Poranauu. Sobek hatte den Namen noch nie gehört. Er kannte auch keine Stadt, die zwei Monde miteinander verband. Da er sich – aufgrund der Planetenkonstellationen, die er auf dem Weg durch den Tunnel erblickt hatte –, sicher war, dass er sich noch immer in Samragh befand, nahm er dies als weiteres Indiz dafür, dass seit seinem Eintritt in die Stase sehr viel Zeit vergangen sein musste. Gerne hätte er gewusst, wie seine Gefährtin Siroona die Lage beurteilte. Leider hatten die Foronen sie kurz nach ihrem Erwachen voneinander getrennt. Zuerst hatte Sobek noch versucht, sich gegen die unerhörte Behandlung zu wehren. Zu seiner Überraschung verfügten die Foronen dieser Zeit jedoch über schier übermächtige Kräfte. Allein unter Einsatz ihrer Gedankenkraft hatten sie ihn in seine Schranken gewiesen. Die Schmach über diese Niederlage drückte auf Sobeks Gemüt. Zum einen, weil er es nicht gewohnt war, in einem Kampf Mann gegen Mann zu unterliegen. Zum anderen, weil es eben einfache Foronen gewesen waren, die ihn überwältigt hatten. Foronen, die sich weigerten, ihn als ihren Herrscher anzuerkennen. Seine Gedanken versiegten, als ein summendes Geräusch erklang, dass aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Zum wiederholten Mal versuchte er, sich auf seiner Pritsche zu bewegen. Doch die unsichtbaren, energetischen Fesseln, die sie um seinen Körper geschlungen hatten, gaben nicht im Mindesten nach. Plötzlich wurde es hell. Ein gleißendes, stroboskopartiges Licht blitzte auf. Es schien sich direkt in seinen Geist zu bohren, als wollte es ihn öffnen, sodass andere darin forschen konnten. Wie heißt du?
Die Frage klang inmitten seiner eigenen Gedanken auf. Sobek, erwiderte er, ohne es zu wollen. Mein Name ist Sobek. Woher kommst du?, fragte die Stimme, die vollkommen klanglos war. Samragh... Ihm war, als würde mit jeder Antwort eine völlige Auslotung seines Gedächtnisinhaltes vorgenommen. Doch so sehr er sich auch dagegen wehrte, er konnte sich diesen nach Informationen tastenden Fühlern einfach nicht verweigern. Es sprudelte nur so aus ihm hervor, als würden ihm sämtliche Erinnerungen an sein früheres Leben gewaltsam entrissen. Das geschah so schnell, dass er das Gefühl hatte, selbst im Strudel seiner eigenen Worte mitgerissen zu werden. Virgh... SESHA... Bolcrain... Vaaren... Tovah’zara... Cloud... Dann wurde es wieder dunkel um ihn. *** Ein kurzer Rundgang durch die unteren Ebenen des Palastes bestätigte den Eindruck, den er auf John Cloud bereits von außen gemacht hatte. Er erinnerte nicht einmal annähernd an die prunkvollen Königshäuser, die Cloud von der Erde des 21. Jahrhunderts in Erinnerung hatte. Es war alles sehr schlicht und zweckmäßig gehalten. Kalte Technik statt schmuckem Zierrat war offenbar das Motto seines Erbauers gewesen. Die zahllosen Räume und Korridore erinnerten Cloud ein wenig an ein Raumschiff. Es hätte ihn daher auch nicht
gewundert, wenn sich der Palast plötzlich in die Luft erhoben hätte. Die Fortbewegung im Innern des riesigen Komplexes geschah hauptsächlich durch Teleportation. Teleporter, mit denen sich jeder – im Rahmen seiner Befugnisse – übergangslos von einem Raum zum anderen teleportieren konnte, gab es praktisch an jeder Ecke. Nachdem sie Quarton gut eine Stunde lang durch die zahllosen Räume des »Low-Security«-Bereichs im unteren Drittel des Palastes gefolgt waren, fiel John auf, dass Jelto und Aylea immer mehr zurückfielen. Die Erschöpfung stand ihnen in den Gesichtern geschrieben, und ihre Körperhaltung verriet, dass sie bereits buchstäblich auf dem Zahnfleisch gingen. Die Anstrengungen der letzten Stunden forderten ihren Tribut. John wies Quarton darauf hin. Dieser zeigte sich verständnisvoll. »Ich werde dafür sorgen, dass man euch auf eure Quartiere bringt.« »Eigentlich«, meinte Cloud, »würden wir zunächst gerne Jarvis wiedersehen.« »Eurem Freund geht es gut«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Ihr könnt euch gleich selbst davon überzeugen.« Cloud fuhr herum. Die Stimme gehörte einem Foronen, der unvermittelt hinter ihnen stehen geblieben war. Seine Anwesenheit war für Cloud ein weiterer Beweis dafür, dass man sie seit ihrer Ankunft wahrscheinlich keine Sekunde lang aus den Augen gelassen hatte. »Wir sind bereit«, nickte Cloud. »Bringt uns zu ihm!« Der Forone gab keine Antwort, sondern forderte sie auf, ihm zu folgen. Über einen in die Wand eingelassenen Teleporter gelangten sie in einen wabenförmigen Korridor.
Cloud wäre den Weg lieber zu Fuß gegangen. Es gefiel ihm nicht, dass er nicht genau wusste, wohin der Teleporter sie gebracht hatte. Sie folgten dem Foronen bis zu einem Schott auf der rechten Seite, das lautlos vor ihnen zur Seite glitt. »Dies ist euer Quartier«, erklärte er. »Ruht euch aus. Diejenigen von euch, die mich begleiten möchten, werde ich jetzt zu eurem Freund führen.« John warf Scobee einen Blick zu. »Das wäre dann nur ich«, erklärte er. Wenn es schon unumgänglich schien, die Gruppe zu trennen, dann wollte er wenigstens Scobee zum Schutz bei den anderen lassen. Die GenTec nickte. Sie hatte verstanden. »Folg mir«, bat der Forone. *** Mit geschlossenen Augen studierte der Herrscher den ellenlangen Bericht, der ihm gerade übermittelt worden war. Er war froh, dass er nicht darauf angewiesen war, die Schriftzeichen über sein Sehorgan aufzunehmen, das diese dann umständlich an sein Gehirn weitergeleitet hätte, wo sie dann erst verarbeitet worden wären. Mittels eines Projektors, der wie eine Haube auf seinem Kopf saß, war es ihm möglich, die Informationen direkt in seine Gedanken zu übertragen. So konnte er sie in irrsinniger Geschwindigkeit verarbeiten. Er vermochte Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, eigene Anmerkungen hinzufügen und Verweise zu setzen. Vieles von dem, was er las, war zwar interessant, aber von nicht unmittelbarer Bedeutung. Es dauerte eine Weile, bis er zum eigentlichen Kern seines Interesses vordrang.
Interessant. Sehr interessant... Die Entdeckung, die die Foronen in den Tiefen des geborgenen Raumschiffs gemacht hatten, stellte alles in den Schatten. Alle an der Mission Beteiligten waren deshalb auch umgehend zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden. Auf keinen Fall durften die Informationen, die sie mitgebracht hatten, an die Öffentlichkeit gelangen. Nein, für den inneren Frieden Samraghs wäre das gar nicht gut. Er öffnete die Augen, als ihn eine weitere Mitteilung erreichte. Transformation abgeschlossen. Sehr gut. Der Herrscher setzte die Projektionskappe ab und erhob sich. Den Bericht würde er später zu Ende studieren. Das hier war im Moment wichtiger. Er betrat den Teleporter, der rechts neben seinem Schreibtisch in die Wand eingelassen war, und bestimmte sein Ziel. Kurz darauf fand er sich in einem kleinen, mit zahlreichen technischen Gerätschaften vollgestopften Raum wieder. Der Amorphe lag unförmig in einer durchsichtigen Wanne. Kleine Tentakel erhoben sich immer wieder aus seinem Körper, nur um im nächsten Moment wieder in sich zusammenzufallen. Der Vorgang der Transformation schien die Nanostruktur aufs Äußerste strapaziert zu haben. Der Herrscher hatte sich zunächst allein gewähnt. Jetzt hörte er leise Schritte, die sich ihm von hinten näherten. Er drehte sich um und sah Gluuton, den Anführer seines persönlichen Wissenschaftsteams. Im nächsten Augenblick fiel der Blick des Herrschers auf die foronenähnliche, aber durch und durch künstlich erschaffene Gestalt aus weichem, nachgiebigen, aber ungeheuer strapazierfähigen Material, die neben Gluuton stand.
Es handelte sich dabei um eine unbearbeitete Rohform einer Serie von Androiden, die in foronischen Labors in Massenproduktion hergestellt wurden, und deren Zweck es war, auf lebensfeindlichen Planeten niedere Arbeiten zu verrichten. Die Oberfläche dieses Exemplars war noch völlig glatt. Die typischen Merkmale, die jedem Androiden ein eigenes Aussehen gaben, fehlten. Er war nur ein Rohling ohne eigene Prägung. Und dennoch besaß er etwas, das keiner seiner Artgenossen jemals besessen hatte. »Ich habe das schlafende Bewusstsein in die Biomasse transferiert, so wie ihr es wolltet«, erklärte Gluuton. »Hat es funktioniert?« »Es sieht ganz danach aus. Die Hirnströme, die wir gemessen haben, deuten darauf hin, dass die Biomasse das Bewusstsein angenommen hat.« Der Herrscher zeigte sich zufrieden. »Ist es... schon wach?« »Ich wollte es euch überlassen, es zu wecken.« Der Herrscher trat zwei Schritte vor. Als er nur noch eine Armlänge von dem Androiden entfernt war, streckte er seine geistigen Fühler aus. Er tastete durch die künstliche Schädeldecke und suchte nach dem, den er zu finden hoffte. Tatsächlich, da war etwas! Der Herrscher packte zu, riss das Bewusstsein aus seinem widernatürlichen Schlaf, in den es nach dem Tod seines Körpers gefallen war. Schließlich war es so weit. Die bisher geschlossenen, künstlichen Augen des Androiden öffneten sich. Wo bin ich? Und dann: Wer bin ich? Dein Name ist Mont. Du bist einer der Hohen Sieben. Herrscher eines mächtigen Volkes. Ich... erinnere mich, kam es zaghaft zurück.
Langsam hob der Androide die Hand, sah sie sich lange an. Ein Ausdruck von Verwunderung erfüllte die künstlichen Augen. Das ist nicht mein Körper, stellte er fest. Was ist mit mir geschehen? Du wirst es erfahren. Bald. Ich wette, du brennst darauf, deinem Mörder gegenüberzutreten... *** Während Cloud dem Foronen folgte, machte sich Unruhe in ihm breit. Es war unwahrscheinlich, dass Samraghs Herrscher Sobek und Siroona noch immer nicht gefunden haben sollten. Allein die Tatsache, dass ihn noch niemand darauf angesprochen hatte, machte ihn stutzig. Der Fund der beiden Hohen musste für einiges Aufsehen gesorgt haben, auch wenn die ehemaligen Herrscher in dieser Welt längst in Vergessenheit geraten waren. Er beschloss, seine Wachsamkeit noch einmal zu erhöhen. Der Forone führte Cloud zurück zu dem Teleporter, durch den sie erst vor wenigen Minuten gekommen waren und forderte ihn auf, ihn zu betreten. Der Korridor, in dem sie sich rematerialisierten, glich dem, den sie gerade verlassen hatten, bis ins Detail. Der Mann von der Erde folgte dem Foronen bis zu einem weiteren Türschott, vor dem er schließlich stehen blieb. »Sind wir da?«, fragte Cloud mit kratziger Stimme. Eine innere Stimme mahnte ihn zur Vorsicht. Irgendetwas am Verhalten des Foronen war merkwürdig, auch wenn Cloud es noch immer nicht verstand, sämtliche Verhaltensweisen dieser fremden Spezies genau zu deuten. Das Türschott glitt auf, und gab den Blick auf ein weiteres Schott frei, knapp drei Meter hinter dem ersten.
»Geh hinein!«, sagte der Forone mit vibrierender Sprechmembran. »Dein Freund wartet bereits auf dich.« Wahrscheinlich war es die Neugier, die ihn unvorsichtig werden ließ. Er konnte nicht länger warten, musste sich einfach Gewissheit verschaffen. Er trat durch das erste Schott, das sich kurz darauf hinter ihm schloss. Gefangen!, zuckte es noch durch seine Gedanken. Da öffnete sich bereits das zweite Schott. Clouds Blick fiel in einen winzigen, kargen Raum, der an eine Gefängniszelle erinnerte. Sofort entdeckte er die beiden Gestalten, die mindestens so überrascht waren wie er selbst. Sobek und Siroona. Beide standen mit gespreizten Armen an der Rückwand des Raumes. Offenbar hatte man sie mit Hilfe einer Art Magnetfeld gefesselt. Und das konnte auch für John und seine Freunde nichts Gutes bedeuten. *** Vor allem Sobek war es sichtlich unangenehm, dass ausgerechnet John Cloud ihn in dieser misslichen Lage fand. Für das einst so stolze Foronen-Oberhaupt war das der Höhepunkt einer langen Reihe von Demütigungen, die er erfahren hatte, seit der Mensch das Kommando an Bord des Seelenschiffes übernommen hatte. Cloud wandte sich zunächst dem Türschott zu, das sich in diesem Moment schloss. Er eilte noch hin, aber es genügte ein kurzer Blick um zu erkennen, dass es auf dieser Seite keinen Öffnungsmechanismus gab. »Verdammt...« »John Cloud«, sagte Sobek. »Ich muss gestehen, dass ich überrascht bin, dich hier zu sehen.«
»Ich wünschte, ich könnte das auch von euch behaupten«, knurrte Cloud. »Ich hätte es vorhersehen müssen. Wie konnte ich nur so blind sein?« »Zumindest scheinst du mehr über unsere Misere zu wissen als wir«, entgegnete Siroona. »Wie wäre es für den Anfang mit ein paar Erklärungen?« Cloud nickte und begann zu erzählen. Die Foronen nahmen seine Ausführungen teilnahmslos und ohne jede Regung auf. Sie schienen nicht besonders bestürzt oder auch nur überrascht zu sein. Als er geendet hatte, glaubte er, bei Sobek sogar eine gewisse Erleichterung auszumachen. Ihn schien es am meisten gewurmt zu haben, dass er nicht gewusst hatte, was hier gespielt wurde. Jetzt, da er eine Erklärung für die mysteriösen Vorgänge hatte, schien ein Teil seiner inneren Anspannung von ihm abzufallen. Immerhin... Ein Problem zu erkennen, war der erste Schritt auf dem Weg zu einer Lösung. Außerdem hatte Sobek jetzt einen Sündenbock, den er für seine Situation verantwortlich machen konnte: »Foronische Hochtechnologie in den Händen einer niederen Rasse«, meinte er in Anspielung auf Clouds gewagten Einsatz der Kontinuumwaffe. »Das konnte ja nicht gut gehen.« »Die Virgh hatten uns in der Zange«, verteidigte John sein Vorgehen. »Der Zusammenbruch der Schilde stand kurz bevor und...« »Du hättest SESHA nie in eine derartige Lage bringen dürfen. Ein guter Kommandant erkennt eine Gefahrensituation, bevor sie eskaliert.« »Das sagst ausgerechnet du?«, platzte es aus Cloud heraus. »Du hast das Schiff um ein Haar ins Verderben gerissen. Hätte Jarvis dich nicht außer Gefecht gesetzt, wären wir längst alle tot.« Das schien gesessen zu haben. Sobek schwieg, auch wenn er nicht das geringste Anzeichen von Reue zeigte.
Cloud schluckte seinen Zorn hinunter. »Anstatt uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen, sollten wir lieber überlegen, wie wir aus diesem Schlamassel herauskommen.« »Es müsste uns nur gelingen, SESHA wieder in unsere Gewalt zu bekommen«, sagte Siroona. »Die KI würde einen Weg zurück in unser eigenes Universum finden.« »Wenn’s weiter nichts ist«, knurrte Cloud bissig. »Vielleicht fragen wir unsere Gastgeber einfach mal ganz höflich, ob sie uns das Schiff nicht freundlicherweise zurückgeben könnten.« »Das wäre eine Möglichkeit«, entgegnete Siroona völlig ernst. Sie berieten sich noch eine Weile, jedoch ohne zu einem Ergebnis zu gelangen. Irgendwann, nachdem sie sich schon mehrere Male gedanklich im Kreis gedreht hatten, ergriff Siroona das Wort und erzählte, wie es ihr und Sobek nach ihrer Erweckung aus dem Staseschlaf ergangen war. Cloud erfuhr, dass man sie gleich nach ihrer Ankunft getrennt voneinander verhört hatte. Allerdings war dies offenbar weniger das übliche FrageAntwort-Spiel, als vielmehr eine völlige Auslotung ihrer Gedächtnisinhalte. »Sie wissen jetzt also, wer ihr seid«, murmelte Cloud. Er war sich jedoch nicht so ganz sicher, ob das nun gut oder schlecht war. Hatte es auch in dieser Realität einst eine Herrschaft der Sieben Hohen gegeben? Und falls ja, wie war diese beendet worden? Hatte es einen Aufstand gegeben? Eine Art Staatsstreich? Die Behandlung, wie sie den beiden Hohen zuteil wurde, ließ jedenfalls nicht darauf schließen, dass man über ihre Rückkehr besonders erfreut war. Irgendwann – Cloud hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren – wurde das Schott geöffnet und zwei foronische Wärter betraten die Zelle.
»Das wurde aber auch Zeit«, knurrte Cloud, der mit angewinkelten Beinen auf dem Boden saß. »Könnt ihr mir verraten, warum man uns eingesperrt hat?« Zuerst sah es nicht so aus, als wolle der Forone die Frage beantworten. Doch dann sagte er: »Ihr werdet verdächtigt, eine Verschwörung gegen unseren Herrscher initiiert zu haben.« »Wir kennen euren Herrscher nicht einmal«, widersprach Cloud. »Alles, was wir wollen, ist, zurück in unser eigens Universum zu gelangen.« Die Wärter gingen nicht weiter auf Clouds Worte ein. Stattdessen lösten sie Sobeks und Siroonas Fesseln, sodass sich die beiden Hohen wieder frei bewegen konnten. »Alles, was ihr zu eurer Verteidigung vorzubringen habt, könnt ihr dem Herrscher gleich selbst sagen«, erklärte der zweite Forone, während er die Gefangenen aus der Zelle führte. »Ihr bringt uns zu ihm?«, fragte Cloud. Ein Hoffnungsfunke glomm in ihm auf. Vielleicht zeigte sich der Herrscher ja etwas vernünftiger, wenn sie ihm ihre Situation persönlich erklärten. Über einen weiteren Teleporter brachte man sie in einen kleinen Raum, der Cloud an die Schaltzentrale eines Militärkomplexes erinnerte. Ringsum waren unzählige Monitore in die Wände eingelassen. Sie zeigten gestochen scharfe, dreidimensionale Bilder aus ganz Poranauu. Offenbar hielt man die Bewohner der Stadt unter ständiger Beobachtung. Zähe Minuten vergingen, bis sich das Schott am gegenüberliegenden Ende des Raumes öffnete. Die beiden Wachen forderten John, Sobek und Siroona auf, den kurzen Korridor zu betreten, der nun vor ihnen lag, und der an einem weiteren Schott endete. Sie selbst machten keine Anstalten, mit ihnen zu gehen. »Na, dann wollen wir den Herrscher mal nicht unnötig warten lassen«, murmelte Cloud.
Sobek ging als Erster, gefolgt von Siroona. Cloud blieb dicht hinter den beiden. Sie hatten den Gang kaum betreten, als sich auch das zweite Schott vor ihnen öffnete. Cloud konnte zunächst nichts erkennen, weil ihm die massigen Körper der Foronen die Sicht verdeckten. Erst als Sobek und Siroona durch das Schott getreten waren und dicht dahinter verharrten, konnte auch er einen ersten Blick in den Raum werfen. Er war nicht sehr groß, und genauso schlicht und zweckmäßig eingerichtet wie der Rest des Palastes. Auch hier entdeckte Cloud zahlreiche technische Vorrichtungen, deren Sinn sich ihm nicht erschloss. Ein riesiger, dunkler Panoramaschirm nahm die komplette Wand auf der linken Seite des Raumes ein. In der Mitte führte ein kleines Treppchen auf eine Art Podest, mit einer, vermutlich von Antigravpolstern getragenen, horizontal in der Luft schwebenden Platte. Dahinter, in einem muschelförmigen Sessel, thronte die Gestalt eines Foronen. Er hatte den Ankömmlingen den Rücken zugewandt. Erst als sich das Schott hinter ihnen geschlossen hatte, drehte er sich mitsamt dem Sessel um. Besonders Sobek war wie vom Donner gerührt, als er sah, wer da in einiger Entfernung vor ihm saß. Seine Sprechmembran begann erregt zu vibrieren, was bei ihm, wie John inzwischen wusste, ein Ausdruck höchster Überraschung war. Er selbst hätte den foronischen Herrscher wahrscheinlich gar nicht gekannt, hätte Siroona im nächsten Moment nicht laut und ehrfurchtsvoll seinen Namen gerufen. »Mont...?« ***
»Sobek, Mont, Mecchit, Sarac«, begann der Herrscher die Namen der Hohen Sieben aufzuzählen, während er sich von seinem Platz erhob. »Ogminos, Epoona.« Er machte eine kurze Pause, dann sprach er auch den letzten Namen aus, gab ihm allerdings eine ganz besondere Betonung. »Siroona...« Während er die Stufen hinabstieg, bemerkte Cloud die amorphe Rüstung, die seinen Körper umhüllte. Einen kurzen Moment lang schien sie sich von ihrem Träger lösen zu wollen. Dann war der Augenblick auch schon vorbei und sie schmiegte sich wieder gehorsam an ihn. Mont schien es überhaupt nicht bemerkt zu haben. Er fuhr ungerührt fort. »Die Sieben Hohen... Einst gehörte auch ich zu ihnen.« Cloud vermutete, dass der Herrscher ihm zuliebe seine Sprechmembran benutzte. Aus irgendeinem Grund wollte er, dass auch der Mann von der Erde hörte, was er zu sagen hatte. »Diese Zeit der faulen Kompromisse, der ständigen Unterordnung ist allerdings lange vorbei. Geteilte Macht, das lernte ich bald, ist das wohl größte Hemmnis für die Entwicklung eines Volkes. Eine Bündelung unserer gemeinsamen Macht war daher auch die einzige Möglichkeit, um die Entwicklung unseres Volkes voranzutreiben.« »Du hast deine Gefährten verraten und die Herrschaft an dich gerissen«, stieß Sobek hervor. »Eine wahrhaft ehrenvolle Tat...« Obwohl sich keine Regung in Monts Gesicht abzeichnete, kam es Cloud so vor, als würden ihn Sobeks Worte amüsieren. »Du musst es wissen«, entgegnete er mit seltsamem Unterton. »Oh, ich nehme an, dass es dir nie in den Sinn kommen würde, Verrat an deinen Gefährten zu üben...« Cloud bemerkte, wie sich eine eigenartige Spannung zwischen den beiden Foronen aufbaute. Die Luft knisterte förmlich, als Mont nur eine Armlänge entfernt vor Sobek stehen blieb.
Obwohl sie aus unterschiedlichen Dimensionen stammten, sich nie zuvor begegnet waren, wirkten sie wie Erzfeinde, die sich zum ersten Mal seit Ewigkeiten gegenüberstanden. Worauf auch immer sich diese Feindschaft gründete, Siroona schien genauso wenig darüber zu wissen wie John, obwohl sie und Sobek eine innige, um nicht zu sagen romantische Beziehung verband. So wie zuvor mit Mont... Eine leise Ahnung erhob sich in Cloud, auch wenn ihm der Gedanke überaus bizarr erschien. Wurde er hier etwa gerade Zeuge eines Eifersuchtdramas? Einer Dreiecksgeschichte wie aus einem Kitschroman des frühen 21. Jahrhunderts? »Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte Mont, nachdem sich die Rivalen eine Zeit lang schweigend beäugt hatten. Wie aufs Stichwort glitt das Schott hinter ihnen auf. Sobek, Siroona und Cloud schnellten herum. Zunächst wusste keiner von ihnen etwas mit dem gesichtsund geschlechtslosen Ding anzufangen, das da vor ihnen stand. Es sah aus wie eine Puppe, die auf wundersame Weise zum Leben erwacht war. Nach einem Moment des Schweigens wandte sich das Wesen an Sobek. Seine kaum erkennbaren Lippen spalteten sich. Und ohne dass sich auch nur der Hauch einer Gefühlsregung in den künstlichen Augen abzeichnete, sagte er: »Sei gegrüßt! Du feiger Mörder!« *** Siroona brach das Schweigen als Erste. »Mont?« Cloud runzelte die Stirn. Die Stimme des Wesens hatte künstlich und abgehackt geklungen. Wie eine Maschine eben, nicht wie ein Wesen aus Fleisch und Blut.
Und doch schien irgendetwas Siroona davon überzeugt zu haben, ihren verstorbenen Gefährten im Körper des Androiden wiedergefunden zu haben. »Was sagst du da?«, fragte Cloud. »Er ist es«, sagte Siroona voller Überzeugung. »Ich spüre sein Bewusstsein. Es... sucht den Kontakt zu mir.« John hatte das Gefühl, dass Sobek es auch spürte. Er wirkte jedoch ungehalten und – wenn das bei einem Foronen überhaupt möglich war – in zunehmendem Maße nervös. John warf einen Blick in Richtung von Mont, dem Herrscher, sah dann wieder den Androiden an. Wie war das möglich? Wie konnte Mont zweimal existieren? Und warum steckte sein zweites Ich in einem künstlichen Körper? Siroona gab ihm die Antwort auf seine unausgesprochene Frage. »Er ist der Echte«, sagte sie leise und sah dabei noch immer den Androiden an. »Wir sind beide ein- und derselbe«, wiedersprach der Herrscher amüsiert. »So wie auch du und jene Siroona, die ich einst kannte, dieselben sind. Jede eine perfekte Kopie der anderen, durch nichts voneinander zu unterscheiden. Lediglich winzige Abweichungen in der Entwicklung unserer Realitäten haben dafür gesorgt, dass unsere Leben in so unterschiedlichen Bahnen verlaufen sind. In meiner Wirklichkeit waren wir beide nie ein Paar.« »Weil es nie dazu kommen konnte!«, fuhr Sobek ihn an. »Was hast du mit uns gemacht, nachdem du uns verraten und die Herrschaft an dich gerissen hast?« Der Herrscher ließ zur Antwort nur ein zischendes Schnauben vernehmen. Er wusste genau, dass Sobeks Worte nicht von dem Vorwurf ablenken konnten, der ausgesprochen im Raum hing.
Sobek streckte seine Klauenhand nach Siroona aus, doch sie drehte sich abrupt von ihm weg. »Ist es wahr, was er sagt?«, fragte sie. »Hast du...?« »Er tat es, als wir alle noch in der Stase lagen«, sagte der Androide. »Er hatte nicht einmal den Mut, es in einem fairen Zweikampf auszutragen.« Seine künstlichen Fäuste ballten sich, doch irgendetwas hielt ihn davon ab, seinem Widersacher an die Gurgel zu springen. Das Schweigen, das jetzt einsetzte, ließ John vermuten, dass die beiden Hohen ihr Gespräch auf eine mentale Ebene verlagert hatten. Er selbst verstand noch immer nicht, wie das alles möglich war. Wie war Monts Bewusstsein in diese Realität gelangt? Sein Blick fiel zum wiederholten Male auf den Herrscher. Und wieder fiel ihm auf, dass sich seine Rüstung einen Moment lang aufzubäumen schien, um kurz darauf von einer unsichtbaren Kraft niedergerungen zu werden. Es genügte John jedoch, um etwas zu erkennen, das sich für den Bruchteil einer Sekunde auf der Brust des Foronenherrschers abgebildet hatte. Es hatte ausgesehen wie der Abdruck eines Gesichts, das ihn mit gequälter Miene anstarrte. Cloud hielt es zunächst für eine Sinnestäuschung. Doch auf einmal war er sich dessen nicht mehr so ganz sicher. Seine Brauen schoben über seiner Nasenwurzel zusammen, seine Hände wurden feucht. *** »Jarvis...?«, fragte er in die Stille hinein. Selbst Sobek und Siroona, die sich in den letzten Minuten nur noch auf sich konzentriert hatten, sahen irritiert dabei zu,
wie sich John auf den Herrscher zubewegte, dann innehielt, auf seine Rüstung starrte und die Augen zusammenkniff. »Ich merke, du hast deinen Freund erkannt«, sagte Mont. »In der Tat habe ich mir erlaubt, mir meine Eigentum zurückzuholen.« »Jarvis ist niemandes Eigentum«, stieß John zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Nicht sein Geist, wohl aber die Rüstung, die ihm als Gefäß dient«, gab Mont zurück. »Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte sie ihm entrissenen und ihn damit ins Verderben gestürzt?« »Die Rüstung gehört nicht dir sondern...« Clouds Blick zuckte unwillkürlich in die Richtung des Androiden. »Im Grunde hast du Recht, obwohl das andererseits keinen großen Unterschied macht.« Cloud begann zu verstehen. »Monts Bewusstsein hat sich also im Moment seines Todes mit seiner Rüstung vereint. Du hast es dort aufgestöbert und in dieses Ding transferiert.« »Ich war selbst überrascht, als ich meine mentalen Fühler in die Rüstung schlug und dort auf mein eigenes, schlafendes Ich stieß. Ich musste es einfach wecken, ihm erzählen, was ich zuvor beim Durchstöbern von Sobeks Gedächtnisinhalt erfahren hatte. Wann bekommt man schon die Gelegenheit, seinen eigenen Mörder zu treffen?« Cloud ballte die Fäuste. Sein Gehirn pochte, während es die Informationen verarbeitete, die in den letzten Minuten auf ihn eingestürmt waren. Sobek – ein Mörder an seinem Gefährten. Jarvis – zur Rüstung eines Toten degradiert. Die Dinge liefen zunehmend aus dem Ruder. Zuvor hatte er noch gehofft, ein Gespräch mit dem foronischen Herrscher könnte alles zum Guten wenden. Doch diese Hoffnung wurde nun vor seinen Augen zerstört.
Und wie die Dingen standen, stellte sich ihre Zukunft noch weitaus düsterer dar. Wenn Mont in grauer Vorzeit wirklich die Sieben Hohen ausgeschaltet hatte, um sich selbst an die Spitze des Foronenreiches zu setzen, musste er um jeden Preis verhindern, dass irgendjemand davon erfuhr. Und das wiederum bedeutete, dass er Sobek, Siroona, John und alle die mit ihnen in diese Welt gekommen waren, für immer zum Schweigen bringen musste. »Wie wäre es mit einem Deal?«, startete Cloud einen letzten Versuch, den Herrscher auf ihre Seite zu bringen. »Wenn du uns – einschließlich Jarvis – in unsere Realität zurückzukehren lässt, wird niemals jemand etwas von deinem Verrat an deinem Volk erfahren.« »Ich haben einen besseren Vorschlag«, gab Mont zurück. »Zu meinem eigenen Vergnügen behalte ich meine Rüstung und euer Schiff, lasse euch in den tiefsten Kerker von Poranauu werfen und sehe dabei zu, wie ihr einer nach dem anderen elend zugrunde geht...« Cloud presste die Lippen zusammen. Monts Worte erweckten bei ihm nicht den Eindruck, als sei dieser Vorschlag verhandelbar… *** Willst du sie wirklich sterben lassen?, fragte Mont, der Androide, nachdem die Foronen und der Mann aus Bolcrain fortgebracht worden waren. Mont, der Herrscher, war über diese Frage etwas verwundert. Sobek hat dich getötet. Hinterhältig und aus niedersten Motiven. Würde es dir keine Genugtuung bereiten, ihn sterben zu sehen? »Doch«, sagte der Androide laut. Er hatte seinen neuen Körper noch nicht so ganz unter Kontrolle. Die freie Wahl
zwischen telepathischer und verbaler Kommunikation funktionierte daher noch nicht so ganz reibungslos. Aber was ist mit Siroona?, fügte er mental hinzu. Sie trifft keine Schuld. Ich... wir können es nicht riskieren, sie am Leben zu lassen, gab der Herrscher zu bedenken. Sie weiß bereits zu viel. Sie würde uns nicht verraten. Uns verbindet etwas ganz Besonderes. Allein ihre Existenz ist ein zu hohes Risiko. Niemand darf erfahren, dass noch eine der Sieben Hohen am Leben ist. Der Androide schwieg. Und obwohl seinen künstlichen Augen keinerlei Leben beherbergten, wirkten sie in diesem Moment traurig. »Warum hast du es getan?«, fragte er nach einer Weile mit schnarrender Stimme.« Was getan?, fragte der Herrscher, obwohl er genau wusste, was sein anderes Ich meinte. Es irritiert mich, dass du es fertig gebracht hast, deine Gefährten zu verraten. Ich wäre dazu nie im Stande gewesen. Oder vielleicht doch...? Er schien zu überlegen. Seine falschen Augenlider klappten aufgeregt auf und zu. Wenn ich du bin, und du ich, dann müssen unter gleichen Rahmenbedingungen auch unsere Handlungen und Entscheidungen die gleichen sein. Der Herrscher ahnte, worauf der Androide hinauswollte, schwieg jedoch. Demnach hast du es deshalb getan, und ich nicht, weil sich dir eine Gelegenheit bot, die ich nie hatte. Hätte ich unter denselben Bedingungen genauso gehandelt? Dann musste ich die Antwort auf die Frage nach dem Warum in mir selbst suchen... Eine plötzliche Erkenntnis formte sich in den Gedanken des Androiden.
Er äußerte sie laut und voller Überzeugung: »Ich bin ein Verräter!« Der Herrscher fand nicht, dass dieser Satz nach ihm selbst klang… *** Kurz nachdem John, Sobek und Siroona zu den anderen gebracht worden waren, erfolgte ihre Verlegung in einen anderen Bereich des Palastes. Auch wenn John unter dem Begriff »Kerker« etwas anderes verstand, so diente der Raum, in den man sie brachte, wohl doch genau diesem Zweck. Er war fensterlos, wie all die anderen Räume des Palastes, die sie bisher gesehen hatten. Die Wände waren weich und nachgiebig, fast gummiartig. Möbel gab es keine. Wer sich ausruhen wollte, musste mit dem blanken Boden vorlieb nehmen, doch allein Jelto, Nathan und Aylea machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Während sie mit angewinkelten Beinen in einer Ecke ihres Gefängnisses kauerten, tigerten John und Scobee rastlos umher wie zwei Tiere in Gefangenschaft. Erst nachdem sich das Türschott hinter ihnen geschlossen hatte, war John dazu gekommen, den anderen von ihrer Audienz beim Herrscher der Foronen zu berichten. Scobee hatte ihrer Verwunderung immer wieder durch starkes Kopfschütteln, oder ein verhaltenes »Das gibt’s doch nicht!« Ausdruck verliehen. Am liebsten hätte John darauf verzichtet, seine Freunde auf das Schicksal vorzubereiten, das Mont für sie vorgesehen hatte. Da er das nicht konnte, hatte er ihnen möglichst schonend erklärt, dass seitens der Foronen keine Rede mehr davon war, ihnen dabei zu helfen, die RUBIKON flott zu machen und in ihr eigenes Universum zurückzuschicken.
Genau wie John dachte auch Scobee nicht einmal ansatzweise daran, sich mit ihrer Lage abzufinden. Obwohl es ausweglos erschien, berieten beide schon seit gut einer Stunde über einen möglichen Ausweg aus ihrer Misere. »Der Einzige, der die Möglichkeit hätte, etwas auszurichten, ist Jarvis«, meinte Scobee schließlich. »Du hast ihn nicht gesehen, Scob, sonst wäre dir klar, dass er dazu nicht in der Lage ist. Mont hat ihn völlig in seiner Gewalt. Jeder Versuch, sich gegen ihn aufzulehnen, ist bereits im Ansatz gescheitert. Nein, wir müssen es irgendwie schaffen, noch einmal vor den Herrscher geführt zu werden. So lange man uns hier gefangen hält, sind uns die Hände gebunden. Wir...« Die Unterhaltung dauerte noch eine ganze Weile und bildete die einzige Geräuschkulisse im Raum. Sobek und Siroona waren seit geraumer Zeit nur noch mit sich selbst beschäftigt. Obwohl keiner der beiden sprach, waren sie doch in eine eifrige Diskussion vertieft, in der Siroona immer wieder ihrem Zorn und ihrer Enttäuschung über Sobeks Verhalten Ausdruck verlieh. Und auch Jelto und Aylea und Nathan Cloud hatten sich in ihre eigene Welt zurückgezogen, in der jeder seinen trüben Gedanken nachhing, hin und wieder mal einen davon laut aussprach. »Ich glaube trotzdem, dass uns Jarvis hier rausholt«, sagte Aylea nach einer Weile und ärgerte sich darüber, wie wenig überzeugend sie dabei klang. Trotzdem hatte sie den Eindruck, als würde Jeltos matt gewordene Aura für einen kurzen Moment wieder aufleuchten. Er glaubt wirklich daran, dachte Aylea und bekam fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie wünschte sich so sehr, seine Hoffnung teilen zu können, bewahrte sie ihn doch vor dem freien Fall in den Schlund völliger Verzweiflung…
*** Mont, der Androide, hatte lange nachgedacht, obwohl das Ergebnis dieses Denkprozesses eigentlich schon vorher festgestanden hatte. Wenn er ehrlich mit sich selbst war, hatte er seine Entscheidung bereits in dem Moment getroffen, in dem er Siroona gegenübergetreten war. Er durfte nicht erlauben, dass ihr etwas geschah. Auf eine gewisse Weise fühlte er sich immer noch für sie verantwortlich. Und so ersann er einen Plan... Die reibungslose Durchführung dieses Plans erforderte einige Vorbereitungszeit. Und fast alles, was er zur Vorbereitung benötigte, befand sich in den Gedanken seines eigenen Ichs – gewissermaßen. Natürlich musste er vorsichtig sein und durfte nicht gierig werden, wenn er nach den entsprechenden Informationen forschte. Immer nur für ganz kurze Zeit drangen seine geistigen Fühler in das Bewusstsein des Herrschers ein und zogen sich still und leise wieder zurück. Meist tat er es jedoch, wenn der Herrscher gerade abgelenkt war und sich auf irgendeine andere Sache konzentrierte. So dauerte es einige Zeit, bis der Androide Mont fand, wonach er suchte. Dennoch war er der Meinung, dass es die Mühe wert war. Als die erste Etappe genommen war, ging alles relativ schnell. Von Anfang an hatte er gewusst, dass er einen Verbündeten brauchte. Jemanden, dem der Herrscher fast so sehr vertraute wie seinem zweiten Ich. Und er musste nicht lange nach solch einem Verbündeten suchen. Die erste Kontaktaufnahme erfolgte in einem Moment, in dem der Herrscher schlief. Eigentlich schlief er nicht wirklich.
Herkömmlicher, natürlicher Schlaf war in dieser Welt längst keine Notwendigkeit mehr. Der Herrscher zog sich lediglich dann und wann in einen sargähnlichen Kanister zurück, der seine Körperfunktionen für kurze Zeit drastisch reduzierte, und beruhigend auf sein Bewusstsein einwirkte. Die Zeitspannen, die er für diese Erholungsphasen benötigte, waren jedoch so kurz, dass sich der Androide beeilen musste, wollte er nicht mitten in der Durchführung seines Vorhabens überrascht werden. So passte er den Moment, in dem der Herrscher sich zur Ruhe bettete, genau ab. Als er sich vergewissert hatte, dass keine Wachen in der Nähe waren, schlich er sich an den Schlafenden heran. Seit sich der Herrscher die frühere Rüstung seines anderen Ichs angeeignet hatte, trug er sie stets am Leib. So auch jetzt. Als sich der Androide näherte und durch den durchsichtigen Deckel des Stasebehälters blickte, sah er, wie der Amorphe sanft zuckte. Die einlullende Wirkung des Behälters schien sich auch auf ihn zu übertragen, sodass er selbst jetzt, wo das Bewusstsein des Herrschers seinen sonst so unnachgiebigen Griff gelockert hatte, keine Chance zur Gegenwehr hatte. Nun, das würde sich gleich ändern. Der Androide fühlte eine zunehmende Spannung in sich aufsteigen. Er hatte einige Male dabei zugesehen, wie sein anderes Ich den Öffnungsmechanismus des Behälters ausgelöst hatte. Er betätigte ihn und beobachtete mit seinen künstlichen Augen, wie der Deckel des Tanks zur Seite glitt. Da lag er, der unsterbliche Herrscher, wie zur Totenruhe gebettet. Ab jetzt musste alles schnell gehen, da das Öffnen des Sarges gleichzeitig auch den Weckmechanismus ausgelöst hatte.
Der Androide Mont tastete mit seinen geistigen Fühlern nach dem Wesen, das sich um den Körper des Herrschers geschlungen hatte. Sofort spürte er, dass ihn eine Artverwandtschaft mit dem Amorphen verband. Wie er war es ein Mischwesen, ein Hybrid. Ein natürlicher Geist in einem künstlichen Körper. Mont schob den Gedanken beiseite, tastete sich weiter, drang in die amorphe Masse ein und nahm Kontakt zu dem Wesen auf, das darin wohnte. Zunächst nahm es ihn kaum wahr. Es war schwach, niedergerungen und in Ketten gelegt. Mont erhöhte den Druck, holte es heraus aus seiner Apathie. Wer bist du?, fragte es und gab sich die Antwort kurz darauf selbst: Mont? Dem Androiden war nicht entgangen, dass sich die Köperfunktionen des Herrschers beharrlich ihrem Normalzustand näherten. Sie durften keine Zeit verlieren. Ich bin gekommen, um dich aus deiner Knechtschaft zu befreien. Wehr dich gegen deinen Unterdrücker. Mit vereinten Kräften können wir es schaffen. In diesem Moment schnellte der Herrscher in die Höhe. Mont, der Androide, wich unwillkürlich zurück. »Was geht hier vor?«, donnerte der Herrscher. Seine Sprechmembran sah aus, als wolle sie gleich platzen. Jetzt!, brüllte der Androide in Gedanken und spürte zugleich, wie sich das Wesen namens Jarvis im Körper des Amorphen aufbäumte. Der Herrscher wurde von dieser Aktion völlig überrumpelt. Der Androide spürte, wie er sich wehrte, wie er den Willen des Amorphen zu brechen versuchte – und schlug zu! Mit einem Mal fokussierte der Androide all seine mentale Kraft auf den Geist des Herrschers, prügelte mit unsichtbaren Fäusten auf ihn ein. Rasend vor Wut drängte ihn der Forone zurück, musste dabei jedoch von Jarvis ablassen. Langsam aber sicher gewann dieser die Oberhand.
Der Androide bemerkte, wie lange dünnen Tentakel aus der Oberfläche der Rüstung hervorgeschossen kamen, sich in irrsinniger Geschwindigkeit um den Körper des Herrschers schlangen, ihn buchstäblich niederrangen, sodass dieser mit einem Aufschrei in den Behälter zurücksank. Blitzschnell hatte sich die amorphe Masse über jeden Quadratzentimeter des Körpers des Herrschers ausgebreitet, versiegelte damit auch die unzähligen Hautkapillaren, die die Atmung der Foronen bestimmten Der Herrscher bekam keine Luft mehr. Der Androide konnte dabei zusehen, wie seine Bewegungen schwächer und schwächer wurden und sein Bewusstsein in einen tiefen Schlund hinabgerissen wurde. Irgendwann war es vorbei, und der Herrscher bewegte sich nicht mehr. Der Amorphe ließ von ihm ab, floss von seinem Körper. Ist er tot?, fragte Mont, während Jarvis neben ihm in die Höhe wuchs und dabei menschliche Konturen annahm. »Nein«, sagte Jarvis. »Aber er wird lange brauchen, um sich von der Attacke zu erholen. Er...« Er verstummte. Wie der Androide hatte auch er das Zischen vernommen, mit dem sich das Türschott geöffnet hatte. Blitzschnell huschten sie zur Seite und pressten sich flach gegen die Wand. Verschwindet! Es war Mont, der Androide, der den beiden foronischen Wächtern, die jetzt durch das Schott stürmten, diesen Befehl mental entgegenbrüllte. Augenblicklich hielten sie inne. Der Herrscher Mont war so weit in den Sarkophag zurückgesunken, dass sie ihn von ihrer Position aus nicht sehen konnten. Wir haben einen mentalen Hilferuf vernommen, gab einer der beiden zurück. Sie schienen tatsächlich keinen Unterschied zwischen dem Bewusstsein des Herrschers und dem des Androiden zu erkennen.
Wohl deshalb, weil es keinen gibt, dachte Mont und gab sich Mühe, diesen Gedanken vor der Wahrnehmung der Wachen abzuschirmen. Es ist alles in Ordnung!, fuhr er sie an Und setzte dabei ganz auf ihre Autoritätshörigkeit. Geht jetzt! Sofort! Die Wachen zogen sich zurück. Ihr Herrscher hatte gesprochen, und es gab nichts, was weitere Fragen gerechtfertigt hätte. Doch bevor sich das Schott hinter ihnen geschlossen hatte, überlegte er sich noch einmal anders. Halt, wartet noch! Die Schritte stoppten. Bringt mir die gefangene Foronin. Teleportiert sie direkt in den Thronsaal! »Was ist mit meinen Freunden?«, zischte Jarvis und riskierte dabei sogar, von den Wachen gehört zu werden. Mont überlegte. Da ihm die Zeit davonlief und er keine Entdeckung riskieren wollte, lenkte er ein. Holt auch die anderen, die mit ihr in den Kerker geworfen wurden! Alle?, ließ eine der Wachen vernehmen. Mont zögerte zunächst. Alle!, entgegnete er schließlich. Vielleicht bekam er ja doch noch die Chance, sich eigenhändig an seinem Mörder zu rächen... Die beiden Kunstwesen ließen noch einige Momente verstreichen, bis sie sich ganz sicher waren, dass die Wachen gegangen waren, bevor sie durch das Schott in den Thronsaal traten. Zur Erleichterung des Androiden schien ihn das Sicherheitssystem, das sein Bewusstsein beim Betreten des Raumes automatisch scannte, als Mont, den Herrscher, anzuerkennen. Er hoffte, dass das auch bei allen anderen Sicherheitsschranken funktionieren würde. »Was jetzt?«, fragte Jarvis.
»Wir warten«, sagte der Androide und deutete auf den Teleporter, der sich neben dem verdunkelten Panoramaschirm befand. *** Unter den Gefangen war mittlerweile Ruhe eingekehrt. Selbst John und Scobee hatten irgendwann einsehen müssen, dass sie so nicht weiterkamen, und ihre Diskussion eingestellt. Jeder von ihnen saß auf dem Boden und hatte sich in seine eigene Gedankenwelt geflüchtet. Die Müdigkeit stand ihnen ins Gesicht geschrieben, dennoch weigerten sie sich, ihr nachzugeben. Ganz im Gegensatz zu Jelto und Aylea und Nathan, die schon vor einer ganzen Weile eingedöst waren. John wusste nicht, wie viel Zeit seit ihrer Gefangennahme vergangen war. Er hätte geschworen, dass es mehr als vierundzwanzig Stunden sein mussten. Daher hielt er es auch zunächst für einen Streich seiner Sinne, als er hörte, wie das Eingangsschott der winzigen Zelle geöffnet wurde. Müde drehte er sich um und sah zwei foronische Wachen. »Aufstehen!«, rief eine von ihnen. Scobee warf Cloud einen fragenden zu, woraufhin er den Befehl übersetzte. Vom Lärm geweckt schrak auch Aylea hoch, rieb sich die müden Augen und wirkte sichtlich enttäuscht, als sie erkennen musste, dass dies kein Albtraum war. »Der Herrscher will euch sehen«, sagte die andere Wache und fügte hinzu: »Alle!« Cloud übersetzte. Aylea stieß Jelto in die Seite, sodass der Florenhüter ebenfalls wach wurde. Nathan Cloud schrak automatisch aus seinem Schlaf, vermutlich durch die Geräusche in seiner Umgebung geweckt. Sobek und Siroona blieben so stumm und
unbewegt, wie sie es während der ganzen letzten Stunden gewesen waren. »Na so was...«, murmelte Scobee. »Mont hat Sehnsucht nach uns.« »Wahrscheinlich hat er uns noch nicht genug gedemütigt und will noch eins drauflegen«, mutmaßte Cloud, kurz bevor er sich als Erster aus der Zelle scheuchen ließ. »Dein Gemüt war auch schon mal sonniger«, knurrte die GenTec, die dicht hinter ihm blieb. »Schweigt!«, befahl einer der Wärter, dann trieb er die Gruppe den Gang hinunter. Erst als sie dessen Ende erreichten, entdeckte Cloud den Teleporter, der auf der rechten Seite in die Wand eingelassen war. Der Forone befahl ihm, den Teleporter zu betreten. Die Umgebung verschwamm vor Clouds Augen, als der Sprung eingeleitet wurde. Fast übergangslos lichtete sich sein Blickfeld, und er sah den Thronsaal, so wie er ihn von seiner ersten Begegnung mit dem Herrscher kannte. Doch statt Mont erwartete ihn jemand, mit dem er am wenigsten gerechnet hatte. »Jarvis!« John schrie den Namen des Freundes förmlich hinaus. »Mann, siehst du schlecht aus«, sagte der ehemalige GenTec und grinste verhalten. »Du musst gerade reden«, witzelte Cloud. »Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch ein verfluchter Mantel...« Jetzt erst entdeckte er den Androiden, der ein Stück abseits stand. »Wo ist der Herrscher?«, fragte er ihn. Mont erklärte kurz, was geschehen war. Cloud konnte es kaum fassen. »Ihr habt ihn überwältigt?« »Ja, aber wir müssen uns beeilen. Wahrscheinlich dauert es nicht lange, bis er wieder auf den Beinen ist.«
Bald hatten auch die übrigen Menschen und Siroona den Teleportationssprung vollzogen. Alle waren gleichermaßen überrascht wie erfreut. Siroona wurde von Mont besonders inständig begrüßt. Spätestens jetzt war allen klar, dass sie es in der Hauptsache ihr zu verdanken hatten, dass sich Mont auf ihre Seite geschlagen hatte. Schließlich traf auch der Letzte im Bunde ein. Der Androide fror förmlich ein, als Sobek ihm aus dem Teleporter entgegentrat. »Ich bin überrascht, dass du mich noch in deine Pläne mit einbeziehst«, sagte der Forone, nachdem er die Situation erfasst hatte. »Ich habe angenommen, dass dir das tiefste Loch gerade tief genug ist, um mich darin verrotten zu sehen.« »Man kann sich nicht jeden Wunsch erfüllen«, sagte der Androide erstaunlich trocken. »Ich will ja nicht stören«, meinte Cloud, bevor die Situation eskalieren konnte. »Vielleicht sollten wir uns erst einmal in Sicherheit bringen, bevor wir uns Gemeinheiten an den Kopf werfen.« Mont gab ihm Recht und erläuterte seinen Plan. Aus dem Gedächtnisinhalt seines anderen Ichs hatte er erfahren, dass die RUBIKON, wie Cloud bereits vermutet hatte, nach Hentauu gebracht worden war, genauer gesagt in die riesige Werft des ausgehöhlten Mondes. »Es gibt eine direkte Teleporter-Verbindung zwischen dem Thronsaal und der Werft. Wir müssen den Palast also nicht einmal verlassen. Allerdings...« »... wissen wir nicht, wo genau wir dort landen werden«, beendete Jarvis. »So ist es«, sagte Mont. »Die Werft ist gigantisch. Wie weit wir dort unbemerkt kommen werden, ist ungewiss. Möglicherweise müssen wir uns den Weg sogar freikämpfen.« »Das wird schwer, ohne Waffen«, sagte Scobee.
»Daher sollten wir einen Zwischenstopp einlegen und uns welche besorgen«, erwiderte Mont. »In den Katakomben unter dem Gebäude befinden sich mehrere Waffenlager. Sie werden allerdings streng bewacht und sind per Teleporter nicht direkt zu erreichen.« »Wie schätzt du unsere Chancen ein?«, fragte Cloud. Der Androide zögerte kurz. »Gut genug, um es zu versuchen.« Cloud nickte entschlossen. Mehr konnte man nicht verlangen. »Okay«, murmelte er, während er nachdachte. »Mein Vater, Jelto und Aylea bleiben hier. Scob, du passt auf die drei auf, Mont und Jarvis kommen mit mir!« Keiner widersprach. Cloud strahlte eine solche Entschlossenheit aus, dass ihn alle Anwesenden, sogar Mont, wie selbstverständlich als ihren Anführer akzeptierten. »Gut«, sagte er noch und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Packen wir es an! Ich bin es allmählich Leid, schon wieder herumgeschubst zu werden...« *** John, Jarvis und Mont teleportierten sich zunächst so nah wie möglich an das Waffenlager und legten den restlichen Weg zu Fuß zurück. Dabei konnten sie sich lange einigermaßen unbehelligt durch die Katakomben bewegen. Auch dieser Bereich des Palastes wurde zum Großteil von elektronischen Sicherheitssystemen überwacht. Vom Teleporter aus mussten sie, alles in allem, vier Schleusen überwinden, bevor sie den Sektor erreichten, in dem die Waffen gelagert wurden. Tatsächlich schien Mont so etwas wie ein lebendes Sesamöffne-dich für den gesamten Palast zu sein. Das System war
offenbar so auf den Herrscher abgestimmt, dass seine bloße Anwesenheit genügte, damit sich alle Tore vor ihm öffneten. Erst mit zunehmender Nähe zum Lager waren verstärkt foronische Wachen an zentralen Punkten positioniert worden. Das Trio musste daher einige Umwege durch die labyrinthartigen Katakomben in Kauf nehmen. Auch dabei erwies sich die Hilfe des Androiden als unverzichtbar. Zielsicher schleuste er sie durch sensible, gut bewachte Bereiche, bis sie schließlich an eine weitere Biegung kamen. Sie führte in einen Gang, an dessen Ende ein schwer bewaffneter Wächter seinen Dienst versah. Dabei war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, worauf sich seine Aufmerksamkeit richtete. Cloud jedenfalls sah um ihn herum nur kahle Wände, ohne jede Erhebung oder Vertiefung. »Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?« »Nein«, lautete die ehrliche Antwort des Androiden. »Dafür konnte ich mich nicht lange genug in die Gedanken des Herrschers einklinken. Dennoch glaube ich, dass das Lager ganz in der Nähe seinmuss.« »Na gut, versuchen wir’s«, knurrte Cloud und wischte sich die Handflächen am Stoff seines Raumanzugs ab. Ihnen allen waren klar, dass der Rückweg sich weitaus schwieriger gestalten würde... Cloud wandte sich an Jarvis, gab ihm das Okay zum Angriff. Er folgte wie besprochen. Da sie jetzt wussten, dass das amorphe Gewebe von Monts ehemaliger Rüstung der ultramodernen Waffentechnik der hiesigen Foronen nicht standhalten würde, musste es schnell gehen. Jarvis ließ seinen Körper zerfließen. Als er nur noch ein großer, wuselnder Fladen war, mit einer Dicke von etwa einem halben Zentimeter, kroch er über die Wand hinauf zur Decke.
Anschließend jagte er wie ein Geschoss in den Gang hinein, in dem der Wächter seinen Dienst versah. Bevor dieser wusste, wie ihm geschah, ließ sich Jarvis auf ihn fallen, hüllte ihn gänzlich ein wie zuvor den Herrscher und zwang ihn zu Boden. Es dauerte nicht lange, bis die Bewegungen des Foronen erlahmten und er regungslos liegen blieb. Erst jetzt ließ Jarvis von ihm ab und floss in seine menschliche Gestalt zurück. »Gut gemacht«, lobte Cloud, während sich er und der Androide bereits näherten. Seine Blicke irrten ziellos umher. Gab es hier wirklich den Eingang zu einer Waffenkammer? Die Antwort auf seine unausgesprochene Frage folgte prompt. Kaum hatte Mont einen bestimmten Punkt übertreten, erklang auch schon ein leiser Piepston. Die komplette Rückwand des Ganges verschwand ganz einfach, als würden sich ihre Partikel in Sekundenschnelle auflösen. »Faszinierende Technik«, murmelte Cloud und ging weiter. Wie der Korridor war auch der Raum dahinter von einem schwachen Glimmen erfüllt, das keine bestimmten Quelle hatte, sondern einfach nur da war. Der Raum war nicht besonders groß, fast schon winzig – und er war völlig leer. »Verdammt!« Cloud drehte sich zu dem Androiden um. »Da war anscheinend schon jemand vor uns hier.« Mont gab keine Antwort. Er ging an Cloud vorbei zur Stirnwand des Raumes und blieb einen halben Meter davor stehen. Dann streckte er die Hand aus und ließ sie vor der Wand kreisen, als würde er sie abtasten. Völlig lautlos löste sich ein etwa dreißig Zentimeter breites, rechteckiges Teilstück aus der Wand und glitt wie eine Schublade vor. Cloud trat neben den Androiden. Es war tatsächlich eine Art Schublade – ein hohler Quader, der an der Oberseite offen war.
Darin befand sich ein handlicher Gegenstand, dessen Funktion zunächst rätselhaft erschien. Es war ein länglicher Stab, der Cloud an einen Elektroschocker erinnerte. Er nahm ihn heraus, drehte ihn in den Händen. Schließlich zuckte er mit den Achseln und ließ ihn unter seinem Raumanzug verschwinden. »Ich hoffe, es handelt sich hierbei wirklich um eine Waffe und nicht einen Lockenwickler«, knurrte er. Mont sah ihn verständnislos an, doch Cloud winkte ab. Er streckte die Hand aus, wie er es zuvor bei dem Androiden gesehen hatte. Wieder löste sich ein quaderförmiger Behälter. Darin lag ein ovaler Gegenstand, der ein bisschen wie eine glatt geschliffene Handgranate aussah. Er steckte sie ebenfalls ein und öffnete weitere Schubladen. In kurzer Zeit hatten sie genug Waffen gesammelt, um jeden aus ihrer Gruppe, Aylea und Jelto eingeschlossen, damit zu versorgen. »Jetzt aber nichts wie raus hier!«, sagte er und scheuchte Jarvis und Mont zurück in den Gang. Die am Boden liegende Wache schien bisher nicht bemerkt worden zu sein. Um sie herum blieb es verdächtig still, was für Cloud noch kein Grund für überschwängliche Freude war. Auf leisen Sohlen, wie Diebe in der Nacht, schlichen sie den Weg zurück, den sie gekommen waren. Auch dieses Mal gelangten sie problemlos durch die Sicherheitsschleusen. Sie hatten es fast geschafft, nahmen die letzte Abzweigung vor der Stelle, an der sich der Teleporter befand – und erstarrten. Nur wenige Schritte entfernt, genau um den Teleporter herum, hatte sich ein Aufgebot von fünf Foronen versammelt, die offenbar nur auf sie gewartet hatten! ***
Es war eine Kurzschlusshandlung, dessen wurde sich John später bewusst. Er hatte die Foronen kaum erblickt, als seine Hand auch schon zur Hosentasche zuckte, das eiförmige Ding, das er dort verstaut hatte, herausriss und dem Pulk entgegenschleuderte. Die Wächter hatten keine Chance mehr, sich in Sicherheit zu bringen. Kaum war die Granate zwischen ihnen auf dem Boden gelandet, da explodierte sie auch schon. Nun, explodieren war eigentlich weit übertrieben. Vielmehr ging ein kurzes blitzlichtartiges Zucken von ihr aus, das die Foronen für den Bruchteil einer Sekunde in grelle Helligkeit tauchte. Das Licht war längst erloschen, als ihre massigen Körper einer nach dem anderen wie gefällte Bäume zu Boden gingen. Erst als sie regungslos liegen blieben, verstand Cloud, was da gerade passiert war. »Kleine Ursache, große Wirkung«, murmelte er beeindruckt und setzte sich in Bewegung. Sie durften keine Zeit mehr verlieren. Das nächste Aufgebot war wahrscheinlich schon auf dem Weg. Als er die leblos am Boden liegenden Foronen erreichte, stoppte er noch einmal, bückte sich nach der Granate und drehte sie in der Hand. Es war schwer zu erkennen, ob sie noch zu gebrauchen war. Äußerlich gab es keinen Hinweis darauf, dass sie nur für den einmaligen Gebrauch bestimmt war. Die Oberfläche war noch so glatt und makellos wie zuvor. Cloud zuckte mit den Schultern und steckte sie wieder ein. Jarvis und Mont hatten bereits den Teleporter erreicht und winkten aufgeregt. »Komm schon!«, rief der Amorphe, während der Androide die entsprechenden Einstellungen an dem Teleporter vornahm. »Bald wird hier die Hölle los sein!«
Cloud lief zu ihnen, ließ jedoch Jarvis den Vortritt. Erst als dessen Teleportation abgeschlossen war, folgte er ihm. Wieder geschah der Wechsel aus den Katakomben in den Thronsaal fast übergangslos, als würde John lediglich durch eine Tür in einen anderen Raum treten. Die anderen erwarteten ihn bereits. Jarvis musste ihnen bereits von dem geglückten Einsatz erzählt haben. Jeder von ihnen, selbst Jelto, wirkte jetzt hoffnungsvoller als vor ihrem Aufbruch. Sie warteten noch bis sich Mont zu ihnen gesellt hatte. Doch der Androide hatte keine guten Nachrichten zu vermelden. »Die nächste Wachmannschaft ist bereits unterwegs. Es kann nicht lange dauern, bis sie hier eintrifft...« »Also beeilen wir uns besser«, knurrte Cloud und forderte seine Freunde dazu auf, sich auf die Teleportation vorzubereiten. Mont erklärte sich dazu bereit, den gefährlichen Sprung in die Mondwerft als Erster zu wagen. Doch wo genau würde er dort landen? Würde man ihn bereits erwarten? Ihn vernichten, sobald sich sein Körper in der Gegenstation zu materialisieren begann? Bald würden sie es wissen. Ob ihnen dieses Wissen dann noch etwas nutzen würde, stand auf einem anderen Blatt… *** Die Teleportation lief in geordneter Form ab. Nachdem Mont den Zielort bestimmt und sich selbst teleportiert hatte, ließ Cloud etwa eine Minute verstreichen, bevor Scobee, die sich als zweite gemeldet hatte, den Sprung machen sollte. Es folgten Jarvis, Aylea, Jelto und Nathan. Cloud ging als Letzter. Kurz bevor er den Teleporter betrat, fühlte er noch einmal eine kaum zu ertragende Spannung in
sich aufsteigen. Dann verschwamm das Bild des Thronsaal vor seinen Augen und ging über in – den Blick in einen bodenlosen Abgrund. Cloud kippte nach vorn, glaubte zu fallen! Er streckte die Arme seitwärts aus, als wären sie Flügel, mit denen er den Sturz auffangen konnte. Einen Herzschlag später verstand er, dass er sich nicht im freien Fall befand. Er stand vielmehr auf einem etwa zwei Meter breiten Podest vor dem Abgrund. Clouds Puls normalisierte sich wieder. Mit dem Ärmel seines Raumanzugs wischte er sich den Schweiß von der Stirn und presste sich gegen die Wand in seinem Rücken. Nur allmählich erhielt er einen Überblick über das, was er da vor sich sah. Die einzelnen Eindrücke, die in ihrer Gesamtheit zu gewaltig waren, um sie alle auf einmal wahrzunehmen, fügten sich mehr und mehr zu einem Bild zusammen. Dem Bild einer gigantischen Halle, die nach unten bis ins Bodenlose zu reichen schien, während sich in weiter Höhe eine gewölbte Decke wie ein silbern glänzender Himmel darüber spannte. Der Bereich dazwischen war in unzählige Ebenen unterteilt. Und auf jeder einzelnen von ihnen standen Raumschiffe in schier endloser Reihe. Durch die Mitte der Ebenen zog sich ein kilometerlanger Graben, über den die Raumschiffe zwischen den einzelnen Decks hin und her wechseln konnten. Und genau in der Mitte dieses Grabens, auf einem Vorsprang, der sich nach links und rechts endlos fortsetzte, vermutlich sogar die gesamte Halle umrundete, befand sich der Teleporter den John Cloud gerade verlassen hatte. »Mund zu, es zieht!«, hörte er plötzlich eine bekannte Stimme. Scobee!
Erst jetzt bemerkte John, dass seine Freunde neben ihm standen und sich ebenso an die Rückwand der Werft pressten wie er selbst. »Ganz schön beeindruckend, nicht wahr?«, meinte sie und lächelte knapp. »Allerdings«, murmelte Cloud. »Ich frage mich ernsthaft, wie wir hier fündig werden sollen.« Die Antwort gab dieses Mal Aylea, die neben ihn trat und die rechte Hand in die Höhe streckte. Johns Blick folgte der Verlängerung ihres Zeigefingers, wanderte über Dutzende von Decks, bis er fand, worauf sie ihn aufmerksam machen wollte. Auf der obersten Ebene, schier endlos weit entfernt, aber genau über ihnen, ragte etwas über den Rand des Decks hinweg in den Graben hinein. Es war winzig, mit dem bloßen Auge gerade noch wahrzunehmen. Und doch erkannte John sofort, worum es sich dabei handelte. Um das Teilstück des Flügels eines Rochens… *** Cloud war über die Entdeckung sowohl erfreut, als auch besorgt. Sie wussten jetzt zwar, wo die RUBIKON abgestellt worden war, doch wie sollten sie dorthin gelangen? Er sah sich noch einmal um und entdeckte mehrere röhrenartige Vorrichtungen, die in relativ geringen Abständen zueinander in die Wände eingelassen waren. »Ist das eine Art Aufzug?«, fragte er in die Runde und deutete auf eine der Röhren.
»Möglich«, antwortete der Androide Mont, der sich besonders angesprochen fühlte. »Wir sollten uns das mal genauer ansehen...« Cloud nickte und ließ den Blick noch einmal über die Werft schweifen. Überall auf den Decks waren Foronen mit der Wartung der Raumschiffe beschäftigt. Sie waren jedoch so weit entfernt, dass sie im Detail kaum zu erkennen waren. Cloud hoffte darauf, dass auch sie möglichst lange unbemerkt blieben. Bisher hatte sie keiner auch nur eines Blickes gewürdigt. Die Ruhe könnte trügerisch sein, dachte er. Vielleicht zieht sich genau in diesem Moment die Schlinge zu. Er drängte diesen Gedanken zurück und machte sich stattdessen daran, die Waffen zu verteilen, die sie in den Katakomben des Palastes erbeutet hatten. »Los geht’s!«, sagte er dann mit grimmiger Miene. *** Sie hielten sich dicht an der Wand und bewegten sich in gebückter Haltung vorwärts. Falls jemand direkt in ihre Richtung blickte, würde er sie zwar dennoch sehen, aber die auf den Decks verweilenden Foronen schienen zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt zu sein, um zu merken, was um sie herum geschah. Es dauerte gut fünf Minuten bis sie eine der durchsichtigen Röhren erreichten. Ein kurzer Blick genügte, um zu erkennen, dass Cloud mit seiner Vermutung Recht gehabt hatte. »Ein Antigrav-Lift«, sagte Sobek, der während der ganzen Zeit verdächtig schweigsam gewesen war. »Schnell, rein mit euch!«, zischte Cloud. Ohne jede weitere Diskussion betraten sie den Lift, dessen Technik auf einer Aufhebung der Schwerkraft basierte und
seine Insassen quasi freischwebend wie auf Wolken in die Höhe beförderte. Die Röhre war breit genug um fünf von ihnen gleichzeitig aufzunehmen, daher teilten sie sich in zwei Gruppen auf. Scobee ging mit Aylea, Jelto und Jarvis und Nathan voran. Cloud sah ihnen nach, während sie mit hoher Geschwindigkeit in die Höhe rasten. Kurz darauf betrat er zusammen mit Sobek, Siroona und Mont den Lift. Die Fahrt war schnell. Dennoch schien sich die Zeit zu einer kleinen Ewigkeit zu dehnen, bis der Lift schließlich stoppte. Das Erste, was Cloud sah, als er aus dem Lift auf das Deck trat, waren seine Freunde, die in einiger Entfernung nebeneinander stehen gebheben waren und auf eine dunkle Wand starrten, die vor ihnen in die Höhe wuchs. Und obwohl sie so dicht vor ihnen stand, dass sie in ihrer Gesamtheit nicht zu erfassen war, wusste Cloud, dass es die Außenwand der RUBIKON sein musste. Während die restlichen Decks zahlreiche Raumschiffe beherbergten, hatte hier nur das Rochenschiff Platz gefunden. Aber allein die Tatsache, dass dieser Gigant vollständig auf das Deck passte, vermittelte Cloud einen ungefähren Eindruck von der Größe der Werft. Und obwohl er das Schiff mittlerweile in- und auswendig kannte, war auch er von der Erhabenheit dieses Anblicks zutiefst ergriffen. »Wir haben es geschafft...«, hörte er Jelto sagen. Doch mit einem Mal änderte sich alles. Urplötzlich waren sie da! Weit über hundert Foronen! Es war eine kleine Armee, die jetzt hinter dem Schiff hervortrat und sich davor formierte, als würde sie noch auf einen letzten Befehl warten. Ich wusste es!, dachte Cloud und ballte die Fäuste. Es ging alles viel zu leicht!
Noch waren die Foronen weit von ihnen entfernt. Doch da stürmten sie los! Und John Cloud löste sich auf… *** Hilflos blickte Scobee auf die Waffe, die John ihr zuvor gegeben hatte. Es handelte sich dabei um einen länglichen Stab, von dem sie noch nicht einmal wusste, wie sie ihn benutzen sollte. Vielleicht konnte sie damit sogar eine Hand voll ihrer Gegner erledigen. Doch dass sie damit diese Hundertschaft stoppen konnte, daran war nicht zu denken. Scobee, Aylea und Jarvis wichen zurück, während sie beobachteten, wie die Meute immer näher rückte. Was sollten sie tun? Zurück in den Antigrav-Lift und auf eine andere Ebene der Werft flüchten? Doch was dann? »Es sieht nicht gut aus«, sagte sie. »Vielleicht sollten wir uns lieber verdrücken. Was denkst du, John? John?« Da sie keine Antwort erhielt, drehte sich Scobee um. Sie dachte zuerst, dass der Kommandant in Gedanken vertieft war und sie deshalb nicht gehört hatte. Doch als sie den Blick auf die Stelle richtete, an der er eben noch gestanden hatte, erkannte sie ihren Irrtum. Er war verschwunden… *** Es geschah so schnell wie ein Wimpernschlag. Gerade noch hatte John gemeinsam mit seinen Freunden auf dem Deck der Mondwerft gestanden, und schon im nächsten Moment hatte sich seine Umgebung komplett geändert.
Sie war ihm nicht fremd, ganz im Gegenteil. Im Laufe der letzten Wochen und Monate war sie für ihn zu einer Art zweiten Heimat geworden. Die Zentrale der RUBIKON! Und dann meldete sich zu seiner Überraschung auch noch die KI zu Wort. Teleportation abgeschlossen! Willkommen an Bord, John Cloud! Jetzt wurde ihm so einiges klar. Die Schiffsinstanz musste seine Anwesenheit gespürt und ihn zu sich geholt haben. Außerdem stellte er fest, dass das Schiff offenbar wieder funktionstüchtig war. Ob die Foronen es flott gemacht hatten oder ob es am Ende doch noch seine Selbstreparaturkräfte aktiviert hatte, war dabei einerlei. Hauptsache war, dass alles funktionierte und er und die anderen schleunigst von hier verschwinden konnten. Die anderen! Die Überraschung über den abrupten Ortswechsel sowie die Freude über die wundersame Genesung des Schiffes hatten ihn für einen kurzen Moment vergessen lassen, dass sich seine Freunde noch immer einer Hundertschaft von feindlich gesonnen Foronen ausgesetzt sahen. Ohne zu überlegen schwang er sich in den KommandoSarkophag, aus dem er sich erst vor kurzem nur mit Müh und Not befreit hatte. Kurz darauf schloss sich der Deckel über ihm. Kontakte wurden hergestellt, und er sah wieder mit den Augen des Schiffes. Doch was er da sah, erfüllte ihn mit blankem Entsetzen. *** »Was sollen wir nur tun?« Es war Ayleas angsterfüllte Stimme, die Scobee aus ihrer Starre riss.
John war verschwunden und selbst Sobek, Siroona und der Androide, die neben ihm gestanden hatten, schienen keine Ahnung zu haben, wie es passiert war. Sie waren wie erstarrt. Scobee fühlte sich dem Rest gegenüber verpflichtet, an seiner Stelle das Kommando zu übernehmen. »Aylea, Jelto, ihr bleibt in der Nähe des Lifts!« Die beiden gehorchten. Scobee achtete nicht darauf, sondern bat die anderen, ihr ihre Waffen zu zeigen. Während Sobek, Siroona und Jarvis nicht den Ansatz einer Ahnung hatten, was ihre Waffen bewirkten, konnte ihr der Androide immerhin erklären, welche Bewandtnis es mit dem faustgroßen, eiförmigen Gegenstand hatte, den er an sich genommen hatte. Und was er da berichtete, klang interessant. »Wie viele Foronen waren es, die ihr damit erledigt habt?«, wollte Scobee wissen. »Fünf«, gab Mont zurück. Scobee runzelte die Stirn. »Denkst du, es wird auch mit der zehnfachen Anzahl fertig?« »Sofern sie sich auf relativ engem Raum befinden, halte ich es für möglich.« Scobee blickte auf, schaute in Richtung der wilden Meute, die sich ihnen bereits auf etwa zweihundert Meter genähert hatte. »Es ist dennoch riskant«, sagte sie dann. »Wir müssen sie bis auf Wurfweite herankommen lassen, bevor wir dieses Ding gegen sie einsetzen können. Und bis dahin werden sie uns längst mit ihren eigenen Waffen attackiert haben...« Mit Schrecken dachte sie an die Energiekugeln, die sie ihnen kurz nach ihrem Eindringen in die Zentrale der RUBIKON entgegengeschleudert hatten. Scobee fiel auf, dass Mont nachdenklich geworden war. Sein Blick wanderte auf die Granate in seiner Hand, dann zu Siroona, dann wieder auf die Granate. Und dann... Er rannte los, genau auf die angreifende Horde zu! »Mont!«
*** Ganz deutlich sah John seine Freunde vom geschlossenen Sarkophag-Sitz aus mit den Augen des Schiffes. Und er sah die Welle der foronischen Krieger, die ihnen erbarmungslos entgegenbrandete. John konzentrierte sich auf Scobee und die anderen. Visierte sie mit den Rezeptoren des Schiffes an. Und befahl ihm, sie zu sich zu holen… *** Es war Siroona, die mit bebender Membran Monts Namen gerufen hatte. Doch auch davon ließ sich der Androide nicht zurückhalten. Er beschleunigte seine Schritte sogar eher noch. Er tut es für sie, wurde Scobee augenblicklich bewusst. Nur für sie... Kurz bevor er die ersten der heranstürmenden Foronen erreicht hatte, donnerte ihm auch schon das Blitzlichtgewitter ihrer Waffen entgegen. »Mont!« Wieder Siroona. Die ersten Krieger überranten ihn, noch bevor er zu Boden gesackt war – und ein kurzer Blitz zuckte inmitten des Pulks. Er dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Doch er reichte aus, um den Großteil der Angreifer zu Boden zu schmettern. Einige schienen tot zu sein. Andere, die sich am Rande des Lichtradius bewegt hatten, waren nur verletzt. Und wieder andere überstanden den Angriff gänzlich unbeschadet. Das alles sah Scobee, kurz bevor die Umgebung vor ihren Augen verschwamm – und sie sich in der Zentrale der RUBIKON wiederfand, zusammen mit Aylea, Jelto, Sobek, Siroona und Nathan Cloud.
Verwundert schaute sie sich um. Alle Systeme schienen einwandfrei zu funktionieren. Doch was war passiert? Ihr Blick fiel auf den geschlossenen Sarkophag. John! *** Teleportation abgeschlossen, klang die Meldung der KI in seinen Gedanken auf. Ausgezeichnet. Als Nächstes ließ Cloud die Geschütze auf eine bestimmte Stelle des gewaltigen Kuppeldachs ausrichten, das einige Kilometer über ihnen lag. Er hatte die KI zuvor einige Messungen vornehmen lassen und festgestellt, dass genau dort eine Schleuse durch die oberen Schichten des Mondes an die Oberfläche führte. Diese Schleuse war immens groß. Groß genug jedenfalls, um das Rochenschiff aufzunehmen. Allerdings war sie derzeit versiegelt. Als die Geschütze bereit waren, eröffnete Cloud das Feuer. Die mächtigen Geschütze der RUBIKON brannten sich in Sekundenschnelle durch den Zugang der Schleuse, und Cloud gab den Befehl zum Start. Er konnte es kaum noch erwarten, diesen verfluchten Doppelmond, die Stadt und ihre verfluchten Bewohner hinter sich zu lassen. *** Erst in den Weiten des Alls, Poranauu und die beiden Monde waren hinter ihnen zu winzigen Punkten zusammengeschrumpft, öffnete sich der Sarkophag, und John Cloud kletterte hinaus.
Das Wiedersehen verlief herzlich, auch wenn es von der Trauer um den Androiden Mont getrübt wurde. Nur einer von ihnen war nicht besonders betroffenen von diesem Verlust. Es sah ganz danach aus, als ob Sobek wieder einmal die Oberhand behalten hatte. Falls Siroona das auch so sah, würde es sich zeigen. Cloud fiel jedenfalls auf, dass sie ihm ganz unverblümt aus dem Weg ging. »Die KI hat inzwischen eine Möglichkeit ermittelt, wie wir unter erneutem Einsatz der Kontinuumwaffe in unsere Dimension zurückzukehren können«, verkündete Cloud schließlich. »Ich finde, wir sollten nicht noch mehr Zeit verlieren.« Er dachte dabei nicht nur an ihr eigenes Schicksal, sondern auch an das der Satoga, die sie – wenn auch unfreiwillig – am Stock der Virgh zurückgelassen hatten. Er schwang sich erneut in den Sarkophag und gab der KI den Befehl zum Einsatz der Kontinuumwaffe. Wieder fuhr der Schweif des Rochens aus, doch dieses Mal verzichtete die KI auf alle Gravitationsanker und wehrte sich auch nicht dagegen, in den Spalt gesogen zu werden, der kurz darauf vor ihnen aufklaffte. Im Gegenteil. Sie hielt mit voller Kraft darauf zu. Und wieder versank das Schiff für einen kurzen Moment im Strudel der Dimensionen. *** Als John zu sich kam, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass die Systeme des Schiffes den Sprung überstanden hatten und allesamt noch funktionierten. Messungen ergaben, dass der Sprung ins eigene Universum tatsächlich geglückt war, sie sich jedoch weit abseits ihres Ausgangspunktes befanden. Cloud nahm an, dass es sich dabei
ziemlich genau um die Distanz zwischen dem System von Poranauu und dem des Stocks handeln musste. Besser hätte es gar nicht laufen können. Sie hatten sich dem Angriff der Virgh entzogen und konnten jetzt in aller Ruhe einen Weg ersinnen, um möglichst unbemerkt zum Stock zurückzukehren und die Satoga aus den Klauen der Virgh zu befreien. Artas, wir kommen!, dachte er und befahl der RUBIKON, Mut aufzunehmen… ENDE
BAD EARTH Im kommenden Band gibt es ein Wiedersehen mit »alten Bekannten«. Wir werfen einen Blick auf Kalser, die Welt der Nargen – und auf Jiim, der dabei ist, ein uraltes Geheimnis zu enträtseln – und seiner Heimat, seinem Volk endgültig den Rücken zu kehren.
Der letzte Ganf lautet der Titel des mitreißenden Romans, mit dem Luc Bahl sein Bad-Earth-Debüt gibt.