Rainer Maria Rilke
Das Florenzer Tagebuch
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Band 79 der Bibliothek Suhrkamp
Rainer Maria Ri...
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Rainer Maria Rilke
Das Florenzer Tagebuch
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 79 der Bibliothek Suhrkamp
Rainer Maria Rilke Das Florenzer Tagebuch
Suhrkamp Verlag
Der Text folgt der Ausgabe: Rainer Maria Rilke, Tagebücher aus der Frühzeit. Herausgegeben von Ruth Sieber-Rilke und Carl Sieber. Insel Verlag 942. S. 5–20
Erste Auflage 982 Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung des Insel Verlags Frankfurt am Main © Insel Verlag 942 Alle Rechte vorbehalten Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Das Florenzer Tagebuch
Alle Menschen lieben den Liebenden. Emerson Ich bin nur der, der den Zug beginnt. ›Alle, die in Schönheit gehn, werden in Schönheit auferstehn …‹ Unser Wille ist nur der Wind, der uns drängt und dreht, weil wir selber die Sehnsucht sind, die in Blüten steht. … da kann ich nichts als leise sein und Atem holen – tief. Ich stelle einfach Versuche an, ein endlos Suchender mit keiner Vergangenheit hinter mir. Emerson ›Etwas Einfaches, Liebes mit blauem weitem Himmel darüber.‹
Lou
Aus unserm winterlieben Gelände bin ich fern in den Frühling verbannt; wie ich zage an seinem Rand, legt sich mir leuchtend das neue Land in die zweifelnden Hände. Und ich nehme das schöne Geschenk, will es still gestalten, all seine Farben entfalten und es – lächelnd und ungelenk – DIR entgegenhalten.
ICH kann nur schweigen und schauen … Konnte ich einmal auch tönen? Und die Stunden sind Frauen, die mich mit lauter blauen, blinkenden Wonnen verwöhnen. Soll ich die Tage dir schildern oder mein Abendgemach? Meine Wünsche verwildern, und aus allen Bildern gehn mir die Engel nach. Florenz, 5. April [898]
HIER ist des Lebens stille Opferstelle. Hier ist der Tag noch tief. Hier baut die Nacht sich um den Traum wie eine Taufkapelle. Hier hegte sich das Leben Herz und Helle, und hier war Alles Ahnen seiner Macht: 9
der Frauen Festlichkeit, der Fürsten Pracht und die Madonnen, die der Dank erdacht, und eines Mönches Zittern in der Zelle … Florenz, 6. April 898
RENAISSANCE I SCHWEIGENDER wurde der Dornenumdrohte, immer leiser wurde sein Leid. Und das Volk ist zur Freude befreit: Einsame Eiserne hoben die rote Fahne der Kraft auf die Zinnen der Zeit. Alle wandern in weißem Gewand tiefer ins Leben und finden das Land, das ganz von Ahnen durchglüht ist. Die einzige nur, die schon müd ist, – die Madonna – rastet am Rand. Florenz, 7. April 898
UND soll ich sagen, wie mein Tag verrollt? Früh zieh ich durch die strahlenden Viale zu den Palästen, drin ich wachsend prahle, und mische mich auf freier Piazzale ins braune Volk, wo es am tollsten tollt. Nachmittag bete ich im Bildersaale, und die Madonnen sind so hell und hold. Und komm ich später aus der Kathedrale, ist schon der Abend überm Arnotale, 0
und ich bin leis und langsam müd und male mir Gott in Gold … Florenz, 8. April 898
DAS war ein spätes Sich-Umsonnen nach einem Tage, bang und bleich; ich weiß nicht, wo der Glanz begonnen, doch alles war auf einmal reich, – und war, als lächelten zugleich in allen Kirchen die Madonnen. Florenz, 8. April 898
RENAISSANCE II DA war der Glaube nicht das Traumvertrauen, das alle feig die Finger falten hieß, – und war ein Lauschen, und die Liebe ließ sie Bilder beten und Gebete bauen. Empfand ein Einsamer: ihm wurde weit, – so stieg er nieder in sein stilles Keimen, und seine Freude fand den Gott bereit; er holte aus dem Zweifel den Geheimen und hob ihn zitternd in die Herrlichkeit. San Domenico bei Fiesole, 9. April 898
OB ich schon ruhig und reif genug bin, das Tagebuch, welches ich Dir heimbringen will, zu beginnen, – ich weiß es nicht. Aber ich fühle, daß meine Freude fremd und unfestlich bleibt, solange Du nicht – wenigstens durch irgendeine innige und aufrichtige Einzeichnung derselben in ein Buch, das Dir eignet, zur Vertrauten wirst. So beginne ich denn; und ich nehme es gerne zum Omen an, daß ich diesen Beweis meiner Sehnsucht anfange in diesen Tagen, die um ein ganzes Jahr hinter denen stehen, da ich ebenso sehnsüchtig einem Unbestimmten entgegenging und noch nicht wußte, daß Du die Erfüllung bist, der ich mich vorbereitete in lauschenden Liedern. Seit vierzehn Tagen wohne ich in Florenz. Am Lungarno Serristori, unweit von dem Ponte delle Grazie, steht das Haus, dessen flaches Dach in seinem überdachten wie in seinem himmelweiten Teil mir zugehört. Das Zimmer selbst ist eigentlich nur der Vorraum – es faßt auch die vorn dritten Stock herauf führende Treppe mit ein –, und als das eigentliche Wohngemach stellt sich die hohe, weite Steinterasse dar, die nun allerdings so prächtig ist, daß ich da gut wohnen und auch wohl einen werten Gast würdig empfangen könnte. Die Wand meines Zimmers ist nach außen hin mit gelben, reif duftenden Rosen und kleinen gelben Blumen überblüht, die wilden Heckenröschen nicht unähnlich sind; sie steigen nur etwas stiller und gehorsamer die hohen Spaliere hinauf, zwei zu zwei, etwan wie die Engel des Fra Fiesole zu Lohn und Lobgesang des Jüngsten Gerichtes. In Steinbecken vor diesen Mauern sind viele Stiefmütterchen wach geworden, die wie warme, wachsame Augen dem Tun und Ruhn meiner Tage nachgehen. Ich möchte immer so sein, daß sie nicht erstaunen müssen über mich 2
und daß ich ihnen wenigstens in meinen tiefsten Stunden wie ein lang verwandtes Wesen erscheine, dessen letzter Glaube ein festlicher und lichter Frühling ist und weit dahinter eine schwere, schöne Frucht. – Aber wie weit verblaßt die Pracht dieser einen Wand vor der hellen Herrlichkeit der drei anderen Seiten, vor denen die Landschaft selber hängt. weit, warm, ein wenig stilisiert durch die Schwache meines Auges, das nur Farbenakkorde und Summen von Linien zu erkennen vermag. Reich am Morgen im Glanze von hundert Hoffnungen, fast flimmernd vor ungeduldiger Erwartung, reich am Mittag, satt, beschenkt und schwer, und von schlichter Klarheit und heiliger Hoheit im verklingenden Abend. Dann beginnt die Stunde, da die Luft wird wie blauer Stahl, und die vielen Dinge schleifen sich scharf daran. Schlanker scheinen die Türme aus dem Gewoge der Kuppeln aufzusteigen, und die Zinnen des Signorieenpalastes sind wie verhärtet in ihrem alten Trotz. Bis sich die Stille übersternt und das milde Licht alles wieder besänftigt mit seiner weichen, zaghaften Zärtlichkeit. Das große Leisewerden rollt wie ein hoher Strom über Gassen und Plätze hin, drin alles nach einem kurzen Ringen untergeht, – und endlich ist nur ein Zwiegespräch wach, ein Hin und Wider dämmernder Fragen und dunkler Antworten, ein sich ergänzendes breites Brausen: der Arno und die Nacht. Am sehnsüchtigsten ist es um diese Zeit; und wenn dann tief unten irgendeiner ein wehmütiges Lied zur Mandoline träumt, so denkt man nicht daran, es einem Menschen zuzuschreiben; man fühlt, wie es unvermittelt aus dieser weiten Landschaft steigt, die nicht mehr schweigen kann in ihrem sehnsüchtigen, seltsamen Glück. Sie singt wie eine einsame Frau, die in tiefer Nacht den Namen ihres fernen Geliebten 3
klingt und sich müht, in dieses enge, arme Wort ihre ganze Zärtlichkeit und ihre Glut und alle Schätze ihres tiefen Wesens hineinzudrängen. Am dekorativsten aber sind die roten Abende. Über den Cascinen ist der letzte, löschende Glanz, und der Ponte vecchio, an dem die alten Häuser nesterähnlich kleben, flicht sich wie ein schwarzes Band durch sonnengelbe Seide. In versöhnten Tönen von Braun und Grau dehnt sich die Stadt aus, und die Berge von Fiesole tragen schon die Farben der Nacht. San Miniato al Monte allein hat noch immer Sonne in dem schlichten lieben Gesicht, und ich versäume nie, mir sein letztes Lächeln zu holen als eine leise, vollendende Gnade. Vielleicht wirst Du erstaunen, daß mir in Florenz noch nichts geworden ist als die paar unbedeutenden Gedichte, die diesen Zeilen vorangehen. Das lag daran, daß ich zunächst nicht allein blieb. In den ersten beiden Tagen nahm sich meiner Dr. L. der Pariser Korrespondent, sehr gütig an und half mir das und jenes finden, wenn er auch mit seiner Art jede Stimmung in mir niederdrückte. Dann, sobald ich in der Pension untergebracht war, erwies sich, daß Endells Vetter, Professor B. aus Berlin, mein Nachbar sei, und diese Überraschung hatte zur Folge, daß wenigstens die Nachmittage fortab ihm, seiner Frau und mir gemeinsam gehörten. Es waren gewiß Stunden, die nicht zu den Verlusten zählen, reich durch die bereite Güte dieser beiden trefflichen Menschen, – aber doch ohne den Klang, der über den Augenblick hinaus nachzittert. Indessen, nicht nur an den Menschen lag mein Verstummen. Vielmehr an den Dingen. Trotzdem Florenz vor mir so weit und willig ausgebreitet liegt (vielleicht gerade deshalb) verwirrte es mich zuerst so, daß ich die Eindrücke kaum zu sondern vermochte und unter4
zugehen glaubte in dem großen Wellenschlagen einer fremden Herrlichkeit. Eben jetzt erst beginne ich Atem zu holen. Die Erinnerungen werden klarer und isolieren sich voneinander, ich fühle, was in meinen Netzen blieb, und merke, daß es mehr ist, als ich erwartet habe. Ich weiß, was mein Besitz geblieben ist, und Stück um Stück davon will ich ausbreiten vor Deinem lieben, lichten Auge. In aller Behaglichkeit, ohne Dich von Ort zu Ort zu jagen und ohne gründlich sein zu wollen, zeig ich Dir das und das, sage Dir, was es mir soll, und lege es wieder in meinen Vorrat zurück. Ob ich Dir ein Bild von Florenz damit gebe – weiß ich nicht; denn ich bringe Dir nur das, was ich mir ganz eigen weiß; und das gehört ja nun mir zu und nicht mehr der lichten Lilienstadt; jedenfalls aber hab ich dieses Stück meiner selbst in Florenz gefunden, und das kann nicht zufällig sein. Du erwartest ja auch kein Reisehandbuch von mir, keine vollständige, lückenlose und chronologisch geschlichtete Sammlung, nicht wahr? Der erste Abend ist mir zunächst in seiner Bedeutung erinnerlich. Trotz der Ermüdung nach der vielstündigen Reise, die ich auf Koffern erbärmlich überdauern mußte, ging ich abends aus meinem Hotel die Gassen entlang, fand die Piazza Vittorio Emanuele und trat ganz zufällig auf den Platz der Signorie. Atembeklemmend in seiner felssteilen, wehrhaften Wucht steigt vor mir der Signorieenpalast auf, und ich glaube, ich spüre seinen grauen, schweren Schatten über mir. Hoch über die zinnenscharfen Schultern des Baus reckt der Wachtturm seinen sehnigen Hals in die nahende Nacht. Und er ist so hoch, daß mich der Schwindel packt, wie ich aufblicke bis zu seinem behelmten Haupt, und wie ich mich ratlos nach einem Schutz umsehe, breitet 5
mir eine herrliche weite Halle ihre breiten Bogen entgegen: die Loggia dei Lanzi. An zwei Löwen vorüber trete ich in ihre Dämmerung ein, aus welcher die weißen Marmorbilder mir entgegenkommen. Den ›Raub der Sabinerinnen‹ kann ich erkennen, und an der Rückwand wächst der Schatten des erzenen Perseus von Benvenuto Cellini, und ich erstaune angesichts der Silhouette vor der schönen, sieghaften Beweglichkeit und dem stolzen Schwung dieses Bildes, das ich niemals von ferne zu werten vermocht hatte, und ich werde mit jeder Minute ruhiger und betrachtender bei diesen hohen, hellen Bildern, die mir immer bekannter scheinen, überhegt von dieser so sicher gespannten ernsten Halle, welche auf den starken gotischen Säulen mit vollem Vertrauen ruht. Da empfängt eine Gestalt für mich eine Bestimmung: Andrea Orcagna, der Schöpfer dieses Baus, ist mir kein eitler Name mehr; ich fühle die Klarheit eines Mannes und den tiefen, treuen Ernst eines Einsamen über mir. Diese Hallen hat ein Herr des Lebens gewölbt, ein stiller und festlicher, der Säulen schuf nach seinem Ebenbilde und das Dach darüber senkte nach dem Muster des Lebens, dunkel lastend und doch kein Druck für das bewußte Streben der stämmigen Pfosten. Und der erste Renaissancemensch weiht mich so ein in das Geheimnis seiner Zeit. Ich bin mitten hineingeraten. Ich empfinde gleichsam den Takt tieferer Atemzüge, gegen den mein Atemholen ein Kindertrippeln ist, und mir wird seltsam frei und bang in diesem Bau, wie dem Kind, das die Rüstung eines Ahnen auf den Schultern trägt und dem neben der Freude an dem Glanz schon die wehe Wucht des Panzers fühlbar wird, die es aus seinem Kinderstolz bald in die zitternden Kniee zwingen wird. – Dann, wie ich an den Rand der Halle nach rechts trete und 6
seitwärts blicke, tut sich mir, wo ich es nicht ahnte, ein dunkler, leerer Platz auf, ein engerer Markusplatz ohne die helle Festlichkeit des Domes. Zwei hohe, stumme Gebäude, von Lauben unterhöhlt, laufen nebeneinander hin wie in stetem Sichumfassen-Wollen, bis am Ende ein ungeduldiger Bogen von einem zum anderen springt. Über dem Bogen steht irgendeine weiße Herrschergestalt. Und wie mein Auge zurück die Lauben entlang streift, geschieht ein Bewegen; aus dem Dunkel treten lauter lichte Gestalten hervor, als ob sie jemandem entgegen wollten. Ich blicke mich um, aber es ist niemand hinter mir, – kann ihr Begrüßen mir gelten? Plötzlich empfind ich es deutlich. Und in scheuer Beschämung eile ich ihnen entgegen, der Kleine, Namenlose, Unwürdige, und gehe dankbar und fromm von einem zum anderen, von jedem gesegnet, jeden erkennend: Andrea Orcagna, als erster, wie ich ihn gedacht, den Blick überwundenen Sinnes voll, hoch emporgehoben und die Stirne so, daß viel Licht darauf Raum hat. Und Giotto, in Grübeln versunken, und Michelangelo und Lionardo. Dann auch die Dichter Boccaccio, Petrarca, mit Begeisterung umkränzt, Dante … So sah ich ihnen allen ins Gesicht und stärkte mich an ihrer Stille. Dann trat ich durch den Bogen am Rande des Platzes und sah die Nacht über dem Arno blühen, und die kleinen Häuser und die hohen Paläste schienen mir bekannter und verständlicher als vor einer Stunde; denn ich hatte die Menschen gesehen, die aus den kleinen Häusern heraus in die hohen Paläste und über diese hinauswuchsen in die eine ewige Heimat aller Hoheit und Herrlichkeit. – Am ersten Abend war ich des Bewußtseins froh, daß mein Hiersein nach Wochen zählen wird; denn ich fühlte: Florenz erschließt sich nicht wie Venedig 7
dem Vorübergehenden. Dort sind die hellen, heiteren Paläste so vertrauensselig und beredt, und wie schöne Frauen verharren sie immerfort am Spiegel des Kanals und sorgen, ob man ihnen das Altern nicht anmerkt. Sie sind glücklich in ihrem Glanz und haben wohl nie andere Wünsche gehabt, als schön zu sein und alle Vorzüge dieses Besitzes zu zeigen und zu genießen. Deshalb geht der Flüchtigste beschenkt von ihnen, reicher wenigstens um dieses unvergleichliche goldene Lächeln der festlichen Fronten, das zu jeder Stunde des Tages in irgendeiner Nuance wach bleibt und nachts der etwas zu süßen, hingebenden Melancholie weicht, welche in den venezianischen Erinnerungen jedes hastigsten Italienfahrers Raum gewann. Anders in Florenz: Fast feindlich heben die Paläste dem Fremden ihre stummen Stirnen entgegen, und ein lauschender Trotz bleibt lange um die dunklen Nischen und Tore, und selbst die klarste Sonne vermag nicht seine letzten Spuren zu löschen. – Ganz seltsam wirkt, besonders inmitten des aufrichtigen Lebens der modernen Straßen, in denen das Volk seine Feste feiert und seine Geschäfte schreit, diese mißtrauische Wehrhaftigkeit der alten Bürgerpaläste, dieser breiten, riesigen Bürgerbogen mit ihrem ewigen Ernst, der versteinert scheint in den Furchen der mächtigen Quadern. Wenige und sparsame Fenster mit einem Schmuck, dessen Glanz höchstens dem Lächeln eines verschüchterten Kindes anähnelt, unterbrechen das schwere Schweigsamsein und fürchten sich, etwas von dem Sinn zu verraten, der diese Mauern beseelt. In ungeduldiger, steiler Strebekraft aber quellen aus den Steinspalten die Fackelhalter und Flaggenringe hervor; als sei das Ganze innen solchen Eisens voll, so winden sich diese Gebilde als ein eherner Überfluß warnend und wachend aus dem Rie8
senbau. Und hoch über den Rand streckt sich ein strenges und schlichtes Kranzgesims forschend vor, meistens im Zahnschnitt, wie eine Reihe lauernder Pfeilschützen, die von ihrer Schau herab den Eingang verteidigen. Es sind die Denkmale einer starken und streitbaren Zeit, die Zeugen jener Werdetage der Florentiner Würde, in denen aus Trotz und Tüchtigkeit sich der Sockel baute für die heitere Kunst seiner hellsten Tage. Und selbst in den Bauten der späteren Vollrenaissance findet diese alte weise Vorsicht noch Recht und Raum; sie bestimmte jene lapidare, gewaltige Schönheit des Florentiner Palastes, als dessen würdige Wohner michelangel[e]ske Gewaltgestalten erscheinen könnten. Hast du aber einmal das Vertrauen dieser Paläste errungen, so erzählen sie dir gern und gütig die Sage ihres Daseins in der herrlichen, rhythmischen Sprache ihrer Höfe. Auch da scheint die Architektur immer bis in die guten Denkmale der Hochrenaissance hinein ihre ernste Würde bewahrt zu haben. Aber die abweisende Verschlossenheit ist dem verständigen und bewußten Sich-Anvertrauen trefflicher Menschen gewichen, welche ohne Pose und ohne Ängstlichkeit geben, im Gefühl, daß doch nur der Beste ihr Bestes empfängt; denn nur ihm kann es durch das Begreifen zum Besitze werden. An Stelle der schweigsamen Quadern sind im ganzen Untergeschoß breite Arkaden getreten, welche eine schattige Heimlichkeit behüten und sich oft noch in einem Teil des ersten Stockwerks in doppelter Ordnung mit Säulen fortsetzen und dann eine Fülle von Durchblicken bieten, die wie leise und intime Geständnisse sind und das schöne Verhältnis zu dem Schauenden noch reizender gestalten. Der Schmuck, der sich an die Säulen anschmiegt, ist in den besten Fällen unaufdringlich und selbstverständlich, ein 9
schöner Gedanke oder ein liebes Gefühl, bei Gelegenheit der Säule ausgesprochen, – und stimmt dann wohl zu der maßvollen Festlichkeit der Kapitelle, die, oft antik oder der Antike frei nachgebildet, sich eben nur so weit unter der Last des Architravs entschälen, als natürlich und notwendig ist, die schlanke Kraft ihres Schaftes durch diesen stummen, sieghaften Kampf mit dem Gegendruck zu verwerten. Ihr Sieg wird obendrein noch durch Lünetten und Rosen gefeiert, welche zwischen den Arkadenbogen oder an der hinteren Wand der Gewölbe zwischen den Pfeilern oder den Konsolen, die die Decke auffangen, in reicher und unermüdlicher Abwechslung des Motivs erscheinen, und durch die Statuen, die da und dort in den schattigen Nischen aufleuchten. Manchmal sind in jener Wand, welche ohne Schmuck und Bogen ärmlich scheinen würde, die Wappen der früheren Besitzer, in freien Reihen aufsteigend, an gemauert, und diese Seite wirkt dann wie überwältigend in der schlichten Art ihrer Erzählung: wie ein greiser Enkel, der als der Letzte eines Adelsstammes die Taten seiner eisernen Ahnen im gerechten Gedächtnis versammelt und von ihrer Hoheit und Herrlichkeit in stolzen und unnahbaren Worten leise wie aus eigener Erinnerung spricht und sich gar nicht darum kümmert, ob ihn irgendwer hört. Die schönsten dieser Höfe zeigen dem Eintretenden auch einen Teil der Treppe, die dann – wie im Palazzo del Podesta in Florenz –, an die Wappenwand angeschmiegt, von breiter Brüstung andererseits begrenzt, unter hohen Torbogen in ritterlichen Stufen aufwärts führt und in einem der prächtigen hellen Säle mündet. Aus dem moosüberwucherten Marmorboden des Hofs grenzt der lichte Tag mit einem scharfen Strich gegen den steingrauen Schat20
ten ab, und die Linie erscheint nur mittinnen durch das Brunnenrund gebrochen, das auf einigen Stufen, wie ein kleiner Hausaltar das Herz des Hauses: Kühle und Klarheit für die Heimischen und für den willkommenen Gast – bedeutet. Solche Brunnensteine sind auch die Mittelpunkte jener von kleinen Gärten ausgefüllten Hof räume, wie [sie] zum Beispiel die Certosa des Val d’Ema und andere Klöster besitzen. Über dem Brunnenschlund ist dann von Rand zu Rand ein verziertes Eisen gewölbt, welches die Schnur des Eimers hält, oder es dient ein Joch, das zwei schlichte Säulen über den Brunnen heben, diesem Sinn. In den Klosterhöfen herrscht mehr Schlichtheit und Einförmigkeit als bei der Innenarchitektur jener reichen Patrizierhäuser. Man sieht ihnen wohl an, daß nicht der Wille eines einzelnen hier waltet und Festlichkeit und Freude will, sondern daß viele einander hier erdulden und gewöhnen sollen, Menschen, die vergessen, daß es irgendwo noch Wünsche gibt außer der Einsamkeit und der Stille, welche die Arkaden ängstlich umranden. Und weil die ganze Welt in diesem engen Rahmen Raum und Recht gewinnen will, so sind Gärtchen drin eingebettet, die viele, viele kleine, weißkiesige Wege haben; zwischen Reihen wilder Rosen leiten sie immer wieder ineinander und enden schließlich an der einen Zypresse, die schon hart an der Mauer emporsteigt. Die Sehnsucht hat sie so in dieser vielen Verzweigung geführt; ein kleines, versöhntes Symbol des großen Irrens, eine Erinnerung an das viele, das die Gänge nicht mehr umspannen. Und zwischen den Pfaden geht in fröhlichen Farben die unverbrauchte Liebe dieser armen Kapuzinerhände auf und glüht und blüht in ihrer ganzen seligen Unschuld. Und da will mir die Frührenaissance doppelt lieb2
lich erscheinen: von einem Frühling umwildert. Und die Meister müssen das wie ich empfunden haben, als sie ihre milden Madonnen schufen, denen sie in das Kirchendunkel ein Stück Himmels mitgaben und deren Engeln sie nur eine Pflicht auferlegten: in Schönheit und Geduld den Kranz schwerer Früchte zu tragen, der die einsame Frühlingsfrau wie eine Verheißung umrahmen soll. Ich habe jeden Tag den guten Willen gehabt, in meinen Aufzeichnungen fortzufahren; aber erst heute, am 7. Mai, finde ich mein Buch ernstlich wieder, lese das Vergangene durch und lehne mich zurück und denke so still über das Ligurische Meer hin. Diese ferne Fläche wird nicht mehr so verwirrend sein wie jenes Genetze seltsamer Gassen, aus dem ich endlich wie in jäher Flucht mich losgerissen habe. Ich konnte dieses Schauen nicht mehr ertragen. Nach aller Kunst wieder einmal Natur. Nach dem vielen das eine, nach dem Suchen diesen einen großen und unerschöpflichen Fund, in welchem tief innen noch unberührte Künste einer leisen Erlösung entgegenwarten. Ich kann mir denken, daß ich Rom länger ertrüge und daß die Kunst einer anderen Zeit es mir gestattet hätte, in allmählichen, täglich wachsenden Aufzeichnungen nach und nach ihre Umrisse ungefähr nachzuzeichnen. Es wäre in diesem Falle ein Bild entstanden, welches den Charakter des ersten Schauens ziemlich aufrichtig wiedergäbe und also diejenige höchste und klarste Empfindung meiner Eindrücke, welche für alle Erinnerung wertvoll ist, aufbewahren könnte. Aber nur bei der Antike ist dieser erste Eindruck der klarste und bedeutendste und ebenso wieder bei jenem Gipfel der Renaissance, wie er durch Raffael und einige andere Künstler bezeichnet wird. 22
Nicht als ob ein längeres Betrachten ihrer Werke dadurch überflüssig wäre: frommes Vertiefen kann manche Schönheit inniger und verständlicher machen; aber es ragt doch keine Empfindung mehr über die Reife jenes ersten Genusses hinaus, und das rasche Wort wird das richtigste sein – stets vorausgesetzt, daß es nur eine Freude und kein Urteil geben und einschließen will. Den Werken der vorraffaelischen Zeit gegenüber gibt es kein erstes Wort – ich glaube, ebenso für den einfachen wie für den richtenden Schauer –, es gibt da nur ein erstes Schweigen. Deshalb geschieht das Seltsame: das Verhältnis von Bild und Gast bleibt kein einseitiges, wie zum Beispiel bei einer der Madonnen des Urbinaten, die in teilnahmsloser Ruhe die mehr oder weniger aufrichtige Bewunderung des Fremden hinnimmt; es entsteht im ersten Augenblick ein Verkehr zwischen beiden, stille Zwiegespräche reißen die Brücken zwischen ihnen nieder, und ein versöhnendes Schweigen richtet sie wieder auf. Ein Sich-feindlich-Werden wechselt rasch ab mit dem Gefühl freudiger und festlicher Liebe, und den Minuten lichten Verstehens folgt ein ängstliches Entfremden nach. Wir stehen mit einem Male dem Menschen gegenüber, der ein Stück seines Glaubens und seiner Sehnsucht in dem dauernden Werke mit hastigen oder mit zärtlich zagenden Händen geformt hat. Wir empfinden mit einem Male, daß diese Madonnen nicht Denkmale einer stillen Dankbarkeit, daß sie nur Marksteine eines ernsten und dunklen Weges zur Sonne sind, und wir wissen, daß der Grad ihrer Schönheit ungefähr andeuten kann, wie nah oder weit sie vom Ziele sind. Denn die Schönheit ist die unwillkürliche Geste, die einer Persönlichkeit eignet. Sie wird vollkommener, je mehr Hast und Angst von ihr abfallen, je sicherer 23
der Künstler wird, den Weg zu schreiten, der zu seiner heiligsten Erfüllung führt. 7. Mai Es kann kein Mensch aus sich so viel Schönheit heben, daß sie ihn ganz verdeckt. Seines Wesens ein Stück sieht immer dahinter hervor. Aber in den Gipfelzeiten der Kunst haben einzelne neben ihrer Schönheit so viel edles Erbtum vor sich aufgebaut, daß das Werk nicht mehr nach ihnen verlangt. Neugier und Sitte des Publikums suchen und finden ihre Persönlichkeit; aber es ist keine Not dazu. In solchen Zeiten gibt es eine Kunst, aber keine Künstler. Es wechseln immer wieder drei Generationen. Eine findet den Gott, die zweite wölbt den engen Tempel über ihn und fesselt ihn so, und die dritte verarmt und holt Stein um Stein aus dem Gottesbau, um damit notdürftig kärgliche Hütten zu bauen. Und dann kommt eine, die den Gott wieder suchen muß; und einer solchen haben diese angehört: Dante und Botticelli und Fra Bartolome [Bartolommeo]. Das Versöhnte und Liebliche, welches man an den Werken Raffaels schätzt und bewundert, ist ein seltener Triumph: es bedeutet eine Höhe der Kunst, aber keine Höhe des Künstlers. Präraffaeliten: einfach eine Laune. Der glatten Schönheit müde, sucht man die mühsame – nicht? Wie äußerlich das gedacht ist! Der Kunst müde, sucht man den Künstler und will in jedem Werke die Tat erkennen, die den Menschen erhob, den Sieg über etwas in ihm und die Sehnsucht nach sich selbst. 24
In täglich wiederholten Notizen angesichts der Bilder des Quattrocento hätte ich nichts geben können als die Reisehandbücher auch. Denn das Maß abstrakter Schönheit, das in den Dingen steckt, haben diese unübertrefflich erkannt und festgestellt. So daß man bei flüchtiger Überlegung sich ganz unwillkürlich jener infamen halbwissenschaftlichen Worte bedient, die, einst scharf und passend, durch den vielen unwürdigen Gebrauch flach und nichtssagend geworden sind. Ein Italien-Handbuch, welches zum Genuß anleiten wollte, dürfte ein einziges Wort und einen einzigen Rat enthalten: Schau! Wer eine bestimmte Kultur in sich hat, muß mit dieser Anleitung auskommen. Er wird nicht eine Reihe von Kenntnissen erwerben und kaum erraten, ob dieses Werk aus der Spätzeit eines Künstlers stammt oder ob in jenem die, ›breite Manier seines Meisters‹ sich geltend macht. Aber er wird eine Fülle von Willen und Macht erkennen, die aus Sehnsucht und Bangen kam, und wird durch diese Offenbarung besser, größer und dankbarer werden. Das ist das Entsetzliche: in anderen Ländern reisen die meisten Menschen vernünftig. Sie lassen sich oft vom Zufall leiten, entdecken schöne und überraschende Dinge, und eine Fülle von Freuden fallen ihnen reich und reif in den Schoß. In Italien laufen sie blind an tausend leisen Schönheiten vorbei zu jenen offiziellen Sehenswürdigkeiten hin, die sie doch meistens nur enttäuschen, weil sie, statt irgendein Verhältnis zu den Dingen zu gewinnen, nur den Abstand merken zwischen ihrer verdrießlichen Hast und dem feierlich-pedantischen Urteil des Kunstgeschichtsprofessors, welches der Baedeker ehrfurchtsvoll gedruckt verzeichnet. 25
Fast würde ich denen den Vorzug geben, welche von Venedig als erste, weit überragende Erinnerung mitbringen: das gute Kotelett, welches sie bei Grünwald und Bauer gegessen haben; denn sie bringen doch wenigstens eine aufrichtige Freude mit, etwas Lebendiges, Eigenes, Intimes. – Und im Rahmen ihrer engen Kultur beweisen sie Geschmack und Genußfähigkeit. Diese falsche Erziehung zur Kunst hat alle Begriffe verschoben: der Künstler soll mit einem Male so eine Art Onkel sein, der seinen Neffen und Nichten (dem geneigten Publikum) einen Sonntagsspaß vormachen soll: das ist das Kunstwerk. Er malt ein Bild oder meißelt eine Statue, und der Zweck: mein Gott: Hinz und Kunz, die ihn gar nichts angehen, zu erfreuen, durch den guten Gedanken ihre faule Verdauung zu fördern und mit dem willigen Werk ihre Stube zu schmücken … So möchte das Publikum den Künstler; deshalb diese philisterhafte Furcht vor dem Unerfreulichen in der Kunst, vor dem Traurigen oder Tragischen, dem Sehnsüchtigen und Grenzenlosen, dem Furchtbaren und Drohenden, – dessen man im Leben hinreichend hat. Darum die Zuneigung zu dem harmlos Heitern, dem Spielerischen, Ungefährlichen, Nichtssagenden, Pikanten, – zu jener Kunst von Philistern für Philister, die man genießen kann wie einen Nachmittagsschlaf oder wie eine Prise Schnupftabak. – Das gute Publikum selbst aber übt doch gern ein sachverständiges Richteramt aus, und wenn es den Künstler nur als eine Art Spaßmacher gelten läßt, der für eine erhebende oder lösende Freude zu sorgen hat, ist es doch keineswegs mit jeglicher Freude 26
zufrieden. Es gewinnt so den Anschein, als gäbe es wirklich eine Wechselbeziehung zwischen dem Schaffenden und der Menge; und es stehen denn auch viele nicht an, von einem erziehlichen Einfluß der Kunst einerseits und andershin von den Anregungen zu schwärmen, welche der Künstler aus dem Volke empfängt. Ganze Generationen wachsen auf, gedeihen und altern in dieser Kunstmeinung. Bei den meisten von uns war sie die Atmosphäre unserer Kindheit. Darum haben wir etwas wie eine gehässige Erinnerung in uns, die uns ungerecht macht gegen manchen. Aber wir müssen hart sein, um stark zu bleiben. Wisset denn, daß die Kunst ist: das Mittel Einzelner, Einsamer, sich selbst zu erfüllen. Was Napoleon nach außen war, das ist jeder Künstler nach innen. Es geht über Siege wie über Stufen aufwärts. Aber hat Napoleon jemals dem Publikum zuliebe gesiegt? Wisset denn, daß die Kunst ist: ein Weg zur Freiheit. Wir sind alle in Ketten geboren. Der und jener vergißt seine Ketten: er läßt sie versilbern oder vergolden. Wir aber wollen sie zerreißen. Nicht mit häßlicher und wilder Gewalt; herauswachsen wollen wir aus ihnen. Wisset denn, daß der Künstler für sich schafft – einzig für sich. Was bei euch Lachen wird oder Weinen, muß er mit ringenden Händen formen und aus sich hinausheben. Er hat im Innern nicht Raum für seine Vergangenheit, darum gibt er ihr in Werken ein losgelöstes, eigenmächtiges Dasein. Aber nur weil er keine andere Materie weiß als die eurer 27
Welt, stellt er sie in eure Tage. Sie sind nicht für euch. Rühret nicht daran, und habet Ehrfurcht vor ihnen. Es liegt eine unsägliche Brutalität in dem augenblicklichen Verhältnis der Menge zum Künstler. Seine Geständnisse, die sich hilflos in die Form der anderen Dinge flüchten, gelten den vielen nicht anders wie die Dinge auch. Alle haben ihre Hände daran; alle dürfen sagen, was ihnen recht ist und was ihrer Willkür nicht paßt. Alle nehmen das heilige Gerät in die Hand wie einen Gegenstand des täglichen Gebrauchs, wie einen Besitz, den sie jeden Augenblick zerschellen dürfen ohne Strafe: Tempelschänder! Deshalb muß des Künstlers Weg dieser sein: Hindernis um Hindernis überbrücken und Stufe um Stufe bauen, bis er endlich hineinblicken kann in sich selbst. Nicht angestrengt, gezwungen, auf den Zehen: ruhig und klar wie in eine Landschaft. Nach dieser Heimkehr in sich selbst ist eine müßige Freude Tat um Tat; sein Leben ist eine Schöpfung, und es bedarf der Dinge nicht mehr, die außen sind. Er ist weit, und aller Reife Raum ist in ihm. Des Künstlers Schaffen ist ein Orden: er stellt aus sich hinaus alle Dinge, die klein und vergänglich sind: seine einsamen Leiden, seine unbestimmten Wünsche, seine ängstlichen Träume und jene Freuden, welche welken werden. Dann wird es weit in ihm und festlich, und er schuf das würdige Heim für – sich selbst. Oft hab ich so große Sehnsucht nach mir. Ich weiß, der Weg ist noch lang; aber in meinen besten 28
Träumen sehe ich den Tag, da ich mich empfangen werde. In diesem lieben Winter sprachen wir einmal davon: ob der Schaffende von dem anderen wesentlich unterschieden ist. Gedenkst Du’s? Heute erst weiß ich die Antwort. Der Schaffende ist der weitere Mensch, der, über welchen hinaus die Zukunft liegt. Der Künstler wird nicht in aller Zeit neben dem Menschen bestehen. Bis der Künstler, der Beweglichere, Tiefere, reif und gattungskräftig wird, bis er lebt, was er jetzt träumt, verarmt der Mensch und stirbt nach und nach aus. Der Künstler ist die Ewigkeit, welche hineinragt in die Tage. Langsam geht die Entwicklung vor. aber der Umstand, daß Jahrtausende Künstlertums die höhere Gattung noch nicht abgegrenzt haben, darf nicht entmutigen. Viel edler Irrtum verzögert den Weg. Und dann ist alle Zeit auch ein lächerlich kleines Maß einem solchen Ziel. Wenn es für den Künstler eine Verheißung gibt, der er vertrauen kann, ist es: der Wille zur Einsamkeit. Ist die langsame Entwicklung so seltsam? Ist es nicht, daß einer mit anderen Organen und Sinnen mit dieser Welt sich abfinden muß? Und das sind Konflikte, die noch neben dem tiefen Zwiespalt stehen, der in seiner eigenen inneren Entwicklung und Reife sich begründet. Jeder schafft die Welt neu mit seiner eigenen Geburt; denn jeder ist die Welt. Aber es gibt außerdem eine, nein tausend andere historische Welten, und über den Vereinbarungen, eine zur gemeinschaftlichen für alle zu erheben, verrinnt des Lebens 29
größter Teil, und seine beste Kraft erschöpft sich darin. Da man doch nicht aufhört, von dem erziehlichen Einfluß der Kunst zu reden: gewiß wirkt sie bildend, doch nur auf den, welcher sie schafft; denn sie steigert seine Kultur. Jede Kunsttat bedeutet eine Befreiung, und Kultur besitzen will nichts anderes heißen als befreit sein. So ist die Kunst der Weg zur Kultur für den Künstler. Aber nur seine Kunst und einzig für ihn. Alle Werke sind für den Künstler Vergangenheiten, und sie haben nur den Wert lieber Erlebnisse für ihn: einen einfachen Erinnerungswert; deshalb ist es auch möglich, daß der Schaffende in einem Werke etwas Überwundenes haßt. Es kann deswegen doch ein aufrichtiges und herzliches Werk gewesen sein, ja es bleibt vielleicht sein – aufrichtigstes. Dieses ist auch nicht das Bedeutende seines Tuns. Der Gewinn ist einzig die wachsende Klarheit seines Lebens, welche ich immer nur mit diesem Namen nennen kann: der Weg zu sich selbst. Weißt Du, in dem Lyrik-Vortrag hab ich so stark betont, wie sehr mir jeder Stoff als Vorwand zu bestimmten tief intimen Geständnissen erscheinen mag. Ahnungsvoll damals. Jetzt bin ich in allen diesen Empfindungen bewußter und werde deshalb in meinem Schaffen naiver sein; denn das Bewußtsein steigert meine Kultur, und diese ist mir Gewähr, daß ich die rechten Schalen wähle, um meine stillen Befreiungen wie Blüten und Früchte hineinzulegen.
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Siehe: ich habe geglaubt, ich werde eine Offenbarung mit heimbringen über Botticelli oder über Michelangelo. Und ich bringe nur eine Kunde mit – von mir selber, und gute Nachrichten sind es. Lange hab ich die Kunstwerke besucht in Florenz. Stundenlang hab ich vor irgendeinem Bild gesessen und meine Meinung darüber gefaßt und sie später durch Burckhardts schönes Urteil gesiebt. Und siehe: meine Meinung war wie viele Meinungen. Darauf vergaß ich einmal vor dem ›Magnifikat‹ des Botticelli mein Urteil und das der anderen auch. Da geschahs. Ich sah in einen Kampf und empfand einen Sieg. Und meine Freude war wie keine Freude sonst. Da war der Bann gebrochen: es war, als wäre ich eben erst würdig geworden, in einen Kreis von Männern einzutreten, von denen ich bislang aus zehntem Munde hatte erzählen hören. Wie anders sie waren als das Gerücht! Wie sie so ganz dieselben waren wie die Besten von uns. Ihre Sehnsüchte dauern in uns fort. Und unsere Sehnsüchte bleiben, bis wir ermattet sind, in anderen wach, bis sie sich in irgendwelchen Letzten erfüllen. Diese erst sind dann ein Beginn. Wir sind Ahnungen und Träume. Und wenn sie zehntausendmal Madonnen machten und Heilige, und wenn manche von ihnen im Mönchsgewande und auf den Knieen malten, und wenn ihre Madonnen Wunder tun bis in diese Tage herein: sie haben alle doch nur einen Glauben besessen, und eine Religion hat sie durchglüht: die Sehnsucht nach sich selbst. Ihre höchsten Entzük3
kungen waren die Funde, welche sie in ihrer eigenen Tiefe taten. Zitternd hoben sie sie ins Licht. Und weil das Licht damals des Gottes voll war, so nahm ER ihre Gaben an. Vergeßt nicht, daß diese Menschen eben erst begannen, in sich zu blicken. Da fanden sie Reichtümer gehäuft. Eine große Seligkeit überkam sie, und Glück macht freigebig. Sie wollten von ihren Schätzen schenken, und an Würdige schenken. Und da war niemand weithin – denn Gott … Die Religion ist die Kunst der Nichtschaffenden. Im Gebete werden sie produktiv: sie formen ihre Liebe und ihren Dank und ihre Sehnsucht und befreien sich so. Sie erwerben auch eine Art kurzlebiger Kultur; denn sie lösen sich von vielen Zielen zu einem los. Aber dies eine Ziel ist nicht ihr eingeborenes, und es ist allen gemeinsam. Eine gemeinsame Kultur gibt es aber nicht. Kultur ist Persönlichkeit; das, was man bei einer Menge so nennt, ist gesellschaftliches Übereinkommen ohne innere Begründung. Der Nichtkünstler muß eine Religion – im tiefinnern Sinn – besitzen, und sei es auch nur eine, die auf gemeinsamem und historischem Vereinbaren beruht. Atheist sein in seinem Sinne ist Barbar sein. Und mit einem Male erkannte die Kirche, daß sie nur Vorwand sei, und erhob sich in Zorn und Haß: Botticelli und Savonarola. Und doch war es so gleichgültig, ob Botticelli die Venus oder die Madonna malte; es wurde doch immer seine wunde und verweinte Sehnsucht. Und woran er zugrunde ging, war, daß er ein Ziel suchte außer sich selbst. Er verirrte sich in einen einsamen dunklen Tod. 32
Savonarola kommt immer wieder. Seid auf der Hut vor seiner Wiederkehr. Wenn ihr entbehren wollt, verleugnet ihr euch. Er will euch arm. Der Wille eurer Kunst aber ist: euch heiter, weit und reich zu machen. Und wenn es nur das wäre. Wer den Glauben nicht hat, hat die Kraft nicht. Aber ein Abtrünniger reißt viele mit, und die vielen sind ein Stück ihrer Zeit. Und auch die Echten müssen in dieser Zeit leben. Und wenn sie nun wieder enger wird und ängstlicher, haben ihre Gesten nicht Raum. Künstler sollen einander meiden. Die große Menge rührt nicht mehr an sie, wenn ihnen erst bestimmte Befreiungen gelungen sind. Zwei Einsame aber sind eine große Gefahr füreinander. Es soll keiner tasten an des anderen Kunst. Denn nimmt er von einem Größeren, so verliert er sich; und neigt er zu der Art eines Engeren hin, so entweiht er sich und nimmt seinem Gemüt die Keuschheit; aber von des anderen Kultur darf der Künstler gerne und dankbar empfangen. So bilde jeder den zweiten zu höherer Menschlichkeit und also zu reinerer Kunst. Aber haben nicht viele der Besten sich die Alten zum Vorbild genommen? Hat nicht der Geist der Antike gerade jene mächtige Bewegung geweckt, deren ewige Beweise ich in Florenz liebte und bewunderte? Eben weil ihre Kunst so voll war höchster und reifster Menschlichkeit, durfte sie mit so tiefem Recht wahrhaft erziehlich wirken und der Kunst ein neues Geschlecht schenken. Was die Schöpfer des Quattrocento von ihnen nachahmten, war mehr 33
ihr Mut als ihre Art. Dafür spricht: sie fanden ja auch nicht zu den Griechen hin, sondern zu sich selbst. Und bei Shakespeare ist das gleiche zu sagen. Wer edel und ernst ist, ahmt nicht den kleinen Gesten einer Persönlichkeit nach – sondern ihrem breiten Stil, der aber ist bei jedem Großen: der einsame Weg zu sich selbst. Fra Bartolome [Bartolommeo] steht mir höher als Raffael; denn der junge Raffael hat von seiner Zeit nicht nur Kultur empfangen, sondern auch Kunst. Das Verschulden freilich lag an seiner Zeit, die viel zu früh die Schranke zwischen beiden im Gefühl ihrer Reife vernichtet hatte, so, daß Weg und Ziel eine Weile dasselbe schien. Die Zeit hatte gerade noch Kraft, einen Künstler aus sich zu heben, aber sie starb bald in einer Reihe kläglicher Dilettanten ab. Künstler wie Raffael sind immer Höhepunkte, da aber der Weg nicht zu Ende ist, muß es immer ein Bergab geben hernach und ein großes Irren und eine tiefe Entmutigung. Die Fürsten und das unterste Volk haben im Grunde das richtigste Gefühl gegen die Kunst: Gleichgültigkeit. Der reiche halbadlige und bürgerliche Mittelstand simuliert jene gezwungene Teilnahme, die so viel Lächerlichkeiten mit sich bringt. Was der Fürst für die Kunst tut, tut er im Sinne des Staates. Denn diesem ist daran gelegen, die Kunst als etwas von ihm Begünstigtes und gern Gesehenes erscheinen zu lassen, gleichberechtigt mit 34
der anerkannten Kirche und anderen die Autorität unterstützenden Einrichtungen. Und doch erscheint er mir in seiner Förderung stets wie das republikanische Frankreich, das Napoleons Pläne reifen läßt, indem er das unterstützt, was über ihn hinaus dauern wird. Aber so ist es: jeder Staat trägt einen Zukunftsstaat in sich und muß den Keim oft gegen Willen – nähren. Es sei denn, daß der Fürst selbst Künstler ist, [wie] zum Beispiel Lorenzo de Medici, il Magnifico. Und den hat eigentlich nur sein Künstlertum gefürstet. Folgendes Glaubensbekenntnis spricht er aus: ›Alle Menschen werden mit einem ureigenen Durst nach Glückseligkeit geboren, und zu diesem Ende, als zu dem einzig wahren Ziel, strebt jedes menschliche Tun hin: aber das ist die Schwierigkeit: zu erkennen, was Glückseligkeit ist und worin sie besteht; und nicht weniger schwer ist es, das erkannte Ziel zu erreichen; diesem streben nun die Menschen auch auf sehr verschiedenen Wegen zu. Und dann – nachdem die Menschen in ihrer Gemeinsamkeit sich dieses Ziel gesetzt haben, beginnen sie, jeder in seiner Art, danach zu suchen. Und dadurch, daß die Allgemeinheit sich diesen Einzelinteressen zulieb spaltet und jeder einzelne, seiner Anlage und Art gemäß, sich bemüht: entsteht jene Vielseitigkeit menschlichen Tuns und die Schönheit und der größere Reichtum des Lebens an begehrten Dingen, ähnlich dem Zusammenklang gleichgestimmter verschiedener Töne zur versöhnten Harmonie.‹ ›Und vielleicht,‹ fügt der Dichter Lorenzo diesem menschlichen Fürstenwort an, ›vielleicht hat der, welcher nicht irren kann, aus diesem Grund (um die Welt schöner und reicher zu machen) bewirkt, 35
daß der Weg zur Vollkommenheit schwer und dunkel sei.‹ Ich habe fast nur in dem Büchlein der Gedichte Lorenzos gelesen; ich habe die Villa Poggio a Cajano besucht, drin oft jenes platonische Kollegium des Magnifico sich zusammenfand, welchem Marsilio Ficino, Polizzian und Botticelli angehörten. Ich habe – leider umsonst – versucht, auch in die Villa in Carreggi einzudringen, wo zwei Zeiten einander gegenübertraten. Sterbende haben oft Visionen. Das, was sich vorbereitet, ist in einem Augenblick vollendet vor ihrem geistigen Schauen. Als Lorenzo den Tod erwartete, war die Zukunft schon erfüllt; es bedurfte keiner Vision. In der Gestalt Savonarolas war alle Dunkelheit der beginnenden Zeit zusammengeballt und aller Haß der kommenden Tage. Es war ja auch nicht der Glaube an das Licht, der ihn verbrannte. Es war die eifersüchtige Kirche. Darum breitete sein Geist sich aus über Jahrhunderte, und der Rauch seines Scheiterhaufens ist immer noch vor der Sonne, auch in diesen Tagen noch! Die, welche die meiste Sehnsucht haben, wissen nicht zu sagen, wonach. Dann aber kommt der Versucher und sagt: ›Gott ist es und seine Güte, wonach euch verlangt, verleugnet euch, und ihr werdet ihn finden.‹ Da gehn sie hin und verleugnen sich. Und da haben sie keine Sehnsucht mehr. Das ist endlich aller Historie Wert: zu sehen, daß niemals die Massen entscheiden. Der Kampf, der den Sieg in sich hat und die letzte Entscheidung und die nächste Zukunft, spielt sich immer zwischen zwei Einsamen ab. Irgendwo bäumt sich plötzlich 36
eine ganze Zeit in einer Gestalt auf gegen eine andere. Die Träger der fernsten Zukunft aber gehen leise lächelnd an allen Kämpfen hin, wie Mönche, die den Klosterschatz in Sicherheit haben. Sie haben nur zu behüten. Schützet die Kunst, daß sie nicht erfahre von dem Streit des Tages; denn ihre Heimat ist jenseits aller Zeit. Ihre Kämpfe sind wie die Stürme, die den Samen bringen, und ihre Siege sind dem Frühling ähnlich. Ihre Werke sind: unblutige Opfer eines neuen Bundes. Da muß ich oft an Goethe denken, der die große, heldenhafte Erhebung des deutschen Volks in seiner Kunst durch kein Werk bezeichnete. Wie hätte etwas, das den Zwist verherrlichte, ein Baustein seines reichen, reifen und klar gewordenen Wesens sein können? Nationale Kunst! Und jede aufrichtige Kunst ist national. Die Wurzeln ihres Wesens wärmen sich in dem. heimatlichen Grund und empfangen ihren Mut von ihm. Aber schon der Stamm steigt einsam auf, und wo die Krone sich entbreitet, da ist niemandes Reich. Und es kann sein, daß die dumpfe Wurzel nicht weiß, wann die Zweige in Blüten stehn. Es wächst ja jeder von den vielen zu sich. Wenn einer sich einmal gefunden hätte und sich begrüßt hätte, könnte er ja vielleicht zu den vielen wiederkehren und ihr Heiland sein; sie würden ihn kreuzigen oder verbrennen. Und aus dem, was hernach von ihm bleibt, würden sie sich eine Religion zurechtmachen. 37
Ein solcher dürfte aber kein Künstler gewesen sein. Denn wenn ein Schaffender zu sich fand, bleibt er in seiner Einsamkeit; er will in der Heimat sterben. Gäbe es Götter, wir könnten es nie erfahren; denn daß wir um sie wissen, genügt, sie zu vernichten. Daß alle Großen doch nur Parvenüs waren, beweist, daß sie immer zur Menge zurückkamen. Könige von der Pike auf, die ihre anderen Verwandten zu Fürsten und Herzogen machen wollen. Gütige, die von ihren prächtigen Gewändern an die Armen schenken und vergessen, daß diese die Riesenmäntel zerschneiden müssen, um sie zu gebrauchen. Daß die Kunst in ihren Höhen nicht national sein kann, macht: jeder Künstler wird eigentlich in der Fremde geboren; er hat nirgends eine Heimat außer bei sich. Und seine Werke, welche die Sprache dieses Landes verkünden, sind seine eigentlichsten. Ja ich möchte dies sogar für eines der tiefsten Merkmale eines Künstlertums halten: der Alltagsmensch geht aus seiner Heimat in die Fremde; er altert sozusagen ins Ungewisse hinein. Der Künstler, der aus dunkler Fremde kommt, von den vielen Rätseln her, wird immer heller und heiterer und sicherer in seinem Gang. Alle Dinge werden ihm vertrauter, und es gibt für ihn nur noch ein großes Wiedersehen, Erkennen und Grüßen. Und wenn nun die beiden sich unterwegs finden – ist es noch seltsam, daß sie einander nicht verstehen? Aber es gibt wirklich einen Punkt, da sie aneinan38
der vorübergehen; der, welcher in die Fremde geht, der Philister, bemüht sich dann sehr, mit dem anderen Bruderschaft zu schließen und ihn zur Teilnahme an seiner Wanderschaft zu bewegen. Er ist immer für Geselligkeit und Eintracht. Wie gesagt, das unterste Volk hat wie in vielem Sinn auch dem Kunstwerk gegenüber die richtigste Meinung. Es empfindet in seiner Ruhe dessen Überflüssigkeit, und in seinem Affekt haßt es jedes Marmorbild und wirft mit Steinen danach; wie denn nicht: Kunstwerke sind die Freibriefe der einzigen kronenechten Aristokratie, jener, die ihre Ahnen noch vor sich hat! Wer zuerst nach Italien kommt, der hat, zumal wenn er Deutschland kennt, seine Freude an dieser vertraulichen Gemeinsamkeit, in welcher die großen Kunstwerke und das Volk so miteinander hinleben; irgendein armer Teufel schläft hart unter Cellinis ›Perseus‹ in der Loggia des Orcagna seinen Hunger aus, und keine Ketten trennen die Brunnen und Bildsäulen ab, welche die großen Plätze zieren. Schon ist man bereit, an eine gewisse Sympathie zu glauben, bis man erkennt: das Volk ist nicht anders wie der Mann, der neben Schubert oder Beethoven gewohnt hat: erst stört ihn die beständige Musik, dann ärgert sie ihn, und endlich: merkt er sie nicht mehr. Als ich den ersten Tag in Florenz war, sagte ich jemandem: »Unter diesen Dingen heranzuwachsen, in all dieser Herrlichkeit groß zu werden, das muß auch im dunkelsten Volk eigentümliche erziehliche Wirkungen haben. Eine gewisse Schönheit, eine gewisse Ahnung von Größe muß doch bis in seine 39
Mühe und Ärmlichkeit hinabreichen und mit seinen anderen Eigenschaften in ihm aufwachsen.« Ich kann mir nun selbst antworten: Das Volk wächst mittinnen dieser Schönheit auf wie das Kind des Wärters im Löwenkäfig. Es denkt stets dem ernsten Tier gegenüber: ›Ich tu dir nichts, solang du mir nichts tust.‹ Nun tut aber die Kunst dem Pöbel manchmal weh … und dann: o, ich bin in den Tagen von Florenz abgereist, als revoltierende Burschen Steine in die Loggia dei Lanzi warfen. Das war immer so. Die Kunst geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg. Das wird immer sein. ›Volk‹ ist überhaupt nur eine Entwicklungsstufe; es ist die Zeit der Unmündigkeit und Angst, da jeder seinen Bruder bittet, bei ihm zu bleiben. Wie die Ausdrücke jeder Sprache auf gemeinschaftlicher Vereinbarung beruhen, so bestimmte man auch das Wort ›Gott‹. Darin sollte alles sein, was irgendwie wirkte, ohne daß man es sonst zu nennen und zu erkennen vermochte. Deshalb: als der Mensch sehr arm war und sehr wenig wußte, war Gott sehr groß. Mit jeder Erfahrung fiel irgendwas aus seinem Machtkreis heraus, und als er endlich fast nichts mehr besaß, da sammelten Kirche und Staat gemeinnützige Eigenschaften für ihn, an die nun keiner rühren darf. Das ist oft im Wesen unfähiger Menschen, sie wollen sich, solang es geht, von den Eltern erhalten und verantworten lassen. Solange dieser Gott lebt, sind wir alle Kinder und unmündig. Er muß einmal sterben dürfen. Denn wir wollen selbst Väter werden. 40
Aber er ist ja tot; die alte Geschichte von Kara Mustafa. Die Wesire des Reiches müssen von seinem Sterben schweigen, damit die Janitscharen sich nicht empören und weiter kämpfen. O wenn doch die Völker in der ersten Angst ihrer Kindheit schöpferisch gewesen wären: dann hätten sie wirklich einen Gott gemacht! Gott ist das älteste Kunstwerk. Er ist sehr schlecht erhalten, und viele Teile sind später ungefähr ergänzt. Aber es gehört natürlich zur Bildung, über ihn reden zu können und die Reste gesehen zu haben. Als alle Völker noch wie ein Mann waren, bildeten sie Gott aus Sehnsucht. Gott wird ein Wunder tun: jeder Mann wird werden wie ein Volk. Jeder kommt in Trauerkleidern vom Sterbebette seines Kindheitsgottes; aber bis er zuversichtlich und festlich geht, geschieht in ihm die Auferstehung Gottes. Das ›Publikum‹ fühlt sich dem Schaffenden gegenüber doch endlich nur wie bei einem fremden, exotischen Volksstamm: ihre Tänze haben keinen Takt für sie, und ihr Jubel ist ihnen ebenso wenig Musik wie ihre Sehnsucht. Ihre Sprache scheint ihnen seltsam und nie vernommen. Auch sieht ihnen einer wie der andere aus, und sie unterscheiden nur: ›Alte‹ und ›Junge‹ und ›Jüngste‹ und ›Schöne‹ und ›Häßliche‹ … Nicht einmal Mann und Weib wissen sie oft zu erkennen, das macht die Kleidung der Barbaren … Jahrmarktssitten und Jahrmarktskultur haben die 4
Leute: Tamtam und roter Fahnenstoff und Bajazzo. Und dann sollte einer mit der Marholm ›reisen‹ und einer mit Strindberg und einer mit Sudermann und schreien: ›Abnormität!‹ Jahrmarktskultur das! Jeder Autor, der, vom Applaus gerufen, vor den Vorhang tritt, sollte das tun müssen nach seinem Absterben bis zum Jüngsten Tage. Das wäre für ihn eine fatale Bemühung und für die Leute ein willkommener Aktschluß. Aber das gehört nicht herein; denn ›die Schaubühne, als un-moralische Anstalt betrachtet‹, füllte ein ganzes Buch, – und ich will die Seiten für liebere und intimere Worte rein erhalten! Darum ist das Drama so unwürdig: weil es das Publikum braucht. Ich meine, daß auch von da die Rückwirkung geschah auf die anderen Künste, als ob ein Kunstwerk erst da wäre von dem Augenblick an, da es die Menge beschaut und bekrittelt. Im Gegenteil, es gibt wenig Kunstwerke, die diese Probe ohne inneren Schaden überstehen. Wie protzenhaft sind diese Phrasen! Es stirbt irgendein Künstler; mit einem Mal sind seine Werke geistiges Eigentum der ganzen gebildeten Welt. Womit hat sie den Besitz erkauft? Ja, zum Teufel, dann laßt doch eure Bücher nicht drucken und eure Werke nicht ausstellen, wenn sie uns nichts angehn, kann einer belehren. – Wir aber müssen unsere Vergangenheit in Werken aus uns herausstellen, abschließen. Sie sind erst vollendet, wenn sie nicht mehr Teile sind unser selbst, 42
wenn sie übersetzt sind in eure Umgangssprache, das heißt, wenn das Buch Buch, das Bild Bild in eurem Sinne ist. Dann ist keine Brücke mehr von uns dazu, dann sind sie hinter uns, und wir können uns auf sie stellen. Den andern: ihr habt die Welt eng gemacht, jahrhundertelang. Wo wir nun irgendeine Tat hinstellen, überall stoßt ihr daran: eure Schuld. Wer von Kunst spricht, muß notwendig die Künste meinen; denn sie sind Ausdrucksweisen einer Sprache. Nur die Musik kann ich hier nie eingeschlossen denken. Ich habe ihr noch nie auf irgendeinem Wege mich nahen dürfen. Aber ich glaube doch, daß ihre Stellung eine wesentlich andere ist als die der anderen Künste. Der Tondichter muß seine Geständnisse nicht so mitten in den Alltag stellen. Er schenkt die schlafenden Möglichkeiten in seinen Befreiungen, und nur wer den Zauberspruch weiß, vermag sie wieder zu wecken zu Freude und Festlichkeit. Doch sind gerade in dieser Kunst noch eine Fülle ergänzender Offenbarungen enthalten. Oft scheint mir, sie ist in allen anderen Künsten drin und kommt uns leiser aus ihren Werken entgegen. Wirklich: die Stimmung, die ein Bild oder ein Gedicht hervorruft, gleicht in so vielem Sinn einem Lied. Es wird die Zeit kommen, da ich auch von diesem reden darf. Denn ich werde die Musik suchen. Ich fühle ja: sich nur werden lassen, nicht drängen und nicht grübeln. Wie ein Morgen kommt jede Klarheit hinter jeder Nacht. 43
Durchaus dilettantisch aber sind auf jeden Fall die Versuche, einzelne Künste aufeinander einzustimmen und zu einem Ziele zu verbünden. Wenn auch alle Künste das gleiche Ende haben, sie können es doch nicht gleichzeitig auf einem Wege erreichen. Sie sind nur angetan, in solcher Verknüpfung eine die andere zu engen und zu beeinflussen. In jedem Werke einer der Künste müssen alle Wirkungen ›der Kunst‹ erfüllt sein. Ein Gemälde darf keines Textes, eine Statue keiner Farbe – in malerischem Sinn – und ein Gedicht keiner Musik brauchen, vielmehr muß in jedem alles enthalten sein. Nur ein so willfähriger und grober Rahmen wie die Bühne konnte daher auch eine Vereinigung von Text und Musik befürworten, wie sie in der Oper und Operette zutage tritt. Daß dabei die Musik als das naivere Element das sieghafte bleibt, spricht nur für die Ungerechtigkeit einer derartigen Vermählung. Diese Verknüpfung ist denn auch einem Zugeständnis an das Publikum entsprungen, das sich in seiner Trägheit am liebsten eine Kunst von der zweiten kommentieren lassen möchte. Schnellmaler bei Musikbegleitung, wie die Tingeltangel sie vorführen, sind ein erfreuliches Gegenstück der Operehe. Die Menge wollte am liebsten alle Künste untereinandermischen, bis dabei die Kunst verloren ginge. Gute Musik in einem schönen Raum zu hören, ist freilich eine andere Sache; wie es denn eine dekorative Verwendung der Künste gibt, die sich von einer Vermengung wohl unterscheidet, weil sie in ihrem Nebeneinander sehr wohl als geschmackvolle 44
Füllung eines Raumes wirken kann. Alle Künste sind dann gleichsam außer Tätigkeit, müßig, lauschend und nur mit einem kleinen Teil ihres Wesens bei der Sache. Die Vereinigung dekorativ verwerteter Künste geschieht ja auch nicht unmittelbar, sondern vielmehr in der Empfindung des Genießenden. Und das Lied? Sollte das nicht als eine volkstümliche Auslegung des Gedichtes genügend gerechtfertigt sein? Daß es bei uns salonfähig wurde, zeugte nicht gegen Abstammung und Ursprung. Es hat. den Weg gemacht wie eben der Tanz auch. Lessing (der ebenso weit über seiner Zeit war, als er von einer lebendig-warmen Kunstmeinung entfernt blieb) empfand schon wohl die Gefahr, welche in der Vermischung der Künste liegt, und sprach in seiner bekannten Schrift manchen guten Grundsatz aus; zumal der vom ›Transitorischen‹ wird seine Bedeutung nie verändern können. Es ist übrigens eine eigene Sache um die Gesetzgebung – den Künsten gegenüber. Es müssen immer erst große Werke geschehen, aus welchen intellektuelle Köpfe dann die Regel ableiten. Die Zeit aber, welche klare Kunstregeln besitzt, ist stets schon eine Verfallsperiode und – was noch ärger scheint – eine Epoche der Nachahmung. Es ist ganz offenbar: im Werke des Genies ist das Gesetz das notwendige Zufällige. Von dem einen besonderen Erstlingsfall losgelöst, verallgemeinert, wird es zur Hauptsache und erzieht Formalisten und ängstliche Pedanten. 45
Das Publikum im weiteren Sinne würde niemals der Gesetzmäßigkeit in irgendwelchen Werken nachspüren, aber die Kritiker betrachten dies als ihres Amtes; denn in dieser Art allein können sie bei den heterogensten Künstlern gemeinsame Gesichtspunkte finden und so aus vielen Einzelnen Gruppen, Schulen und Kreise bilden, welches bequem und ihrem Ordnungssinn wohltuend ist. Solange die Kritik nicht Kunst neben den anderen Künsten ist, bleibt sie kleinlich, einseitig, ungerecht und unwürdig. Wie viel Ungerechtigkeiten hat der Ahn aller Kunstkritik, Vasari, auf dem Gewissen! Und doch, wie hoch steht er in seiner naiven Anerkennung über dem Gehaben seiner verkrüppelten Nachfahren. Die Kritiker sind wie die Einsager in den Schulbänken; sie lachen in sich, wenn der Nachbar Publikum ihre leichtsinnig falschen Einflüsterungen dummen Vertrauens wiederholt. Man denke sich Michelangelo in irgendeiner Zeitung besprochen, gleichviel, ob gelobt oder getadelt. Mit jenen im vielen Gebrauch glänzend gewordenen Phrasen jüdischer Spitzfindigkeit. Ich glaube, der hätte den Kritiker zurechtgehauen wie einen vermeißelten Marmorblock. Murat, der ohne Zweifel ein hoher Held war, hat seinem Richter gegenüber gesagt: »Wer will mich richten? Als Marschall Frankreichs kann ich nur von Marschällen, als König nur von Königen gerichtet werden!« 46
Selbst die Nachwelt hätte nicht das Recht, zu richten, wenn sie nicht den einen Vorzug hätte: eine vergangene Zeit ohne Haß und ohne Neid betrachten zu können. Aber auch dieses Urteil ist einseitig genug; denn jede Nachwelt ist die Frucht der vorhergehenden Perioden und trägt vieles aus ihnen in sich mit. Sie sollte sich damit begnügen, das, welches von den Vätern her in ihr lebt, zu lieben und zu hüten; denn auch nur dieses ist wirksam und fruchtbar in ihr. Man ist überhaupt gegen ein Kunstwerk ungerecht, sobald man es mit anderen im Bunde beurteilen will. Das führt am Ende zu Fragen wie: Raffael oder Michelangelo, Goethe oder Schiller, Sudermann oder –, und die guten Deutschen haben stets geschwärmt für solche Gesellschaftsspiele. Vielleicht wird man einmal erkennen, daß solche Fragen ein Zeichen großer Unreife sind. Muß denn geurteilt sein? Bei einem Musikstück ist es noch am ehesten möglich, daß einer naiv genießt: die Musik rinnt ihm angenehm durch die Nerven und setzt seine Fußspitze in Bewegung, und er fühlt sich ganz gemein wohl dabei. Vor einem Bild kommt ihm schon die Angst: nur schnell, schnell denken und so irgend etwas Technisches von ›breitem Pinsel‹ oder ›fleißiger Arbeit‹ – und die zweite Angst: ob das Urteil ihn auch nicht irgendwie schädigen wird in den Augen seines Begleiters. An den besterntesten Bildern der Galerie hangen schon förmlich diese Urteile wie die Silberherzen bei den Gnadenmadonnen: ›Für wunderbare Heilung aus Urteilsnöten.‹ Es ist gewiß: die Bilder selbst nehmen mit der Zeit Unarten an: die vornehmsten Tizians und Tinto47
rettos benehmen sich so galeriekeck wie die frechsten Rubensporträts. Der Weg zu dem wahren Wert aller Werke geht durch die Einsamkeit. Sich mit einem Buch, mit einem Bild, mit einem Lied einschließen, zwei bis drei Tage, seine Lebensgewohnheiten kennen lernen und seinen Seltsamkeiten nachgehen, Vertrauen zu ihm fassen, seinen Glauben verdienen und irgendwas mit ihm zusammen erleben: ein Leid, einen Traum, eine Sehnsucht. So ist mir mein Grasset lieb geworden, der in der Blütenstraße mit Lauscheaugen nach den Fürstenhäusern sah, so hab ich vor Dir Deine ›Ruth‹ lieben gelernt. Es kann nur ganz wenig solcher Werke geben. Sie sind wie Bilder lieber Menschen, die sich irgendwo in ganz fernen Ländern dunkel nach etwas sehnen, was wir sind. Wir begegnen ihnen nie; es bleibt immer viel wehmütige Sehnsucht über ihnen. Nur der kann wirklich über ein Buch oder ein Bild klar sein, der es besitzt. Gelegentlich gesehene Galeriebilder verwirren. Wir nehmen in den Augen neben ihnen – selbst wenn sie in einem Räume isoliert hängen – den Eindruck dieses fremden Raumes, irgendeine Geste des Galeriedieners und vielleicht überdies die Erinnerung an einen Geruch mit, der nun in ungerechter Weise unser Gedenken aufdringlich begleitet. Das alles, welches unter bestimmten Umständen als eine Ergänzung der Stimmung wirken könnte, ist in seiner grausamen Stillosigkeit und Zufälligkeit brutal. Es ist wie der Besuch bei einem großen und bedeutenden Mann im Hotel. Ich erinnere mich mehrerer solcher Besuche; 48
davon steht bei dem einen neben der Erscheinung der betreffenden Persönlichkeit ein Nachtkasten, dessen Türchen beständig krähend aufging, und irgendein verlaufener Pantoffel unabweisbar in meinem Sinn, und den anderen kann ich mir nur in Begleitung eines arg verwüsteten Frühstückstabletts vorstellen, über welches quer ein Hemdkragen wie eine Brücke ausgespannt war. Bei Büchern ist das ganz ebenso. Ein mir gewohntes Exemplar erzählt mir seine Sache mit aller Vertraulichkeit. Je öfter ich es benütze, je näher liegt es mir, ihm einmal die Geschichte zu erzählen, während es den Zuhörer spielt. Ein befreundetes Buch geht gern und willig diesen muntern Wechsel ein, und es erwachsen gar schone Situationen daraus. Mit der Zeit steht in dem Buch das Zehnfache von dem, was es wirklich gedruckt enthält; ich lese meine eigenen Erinnerungen und Gedanken immer wieder mit. Es ist nicht mehr in dem Deutsch von dem und jenem geschrieben, es ist mein ureigenstes Idiom. Aber dasselbe Buch in einer anderen Ausgabe ist wie ein Mensch, der mir irgendwo in der Fremde begegnet und von dem ich kaum zu sagen weiß, ob er mir nur vom Vorübergehen oder vom Verkehr bekannt sei. Gegen geborgte Bücher behält man stets eine gewisse formelle Höflichkeit. Ich würde das Buch, welches ein Mädchen mir geborgt hat, nie im Bette oder in Morgenkleidung lesen und ein Werk aus der großen Bücherei eines Kollegen nicht in meine enge Büchersammlung stellen, sondern ihm einen bevorzugten Platz auf meinem Tisch zuweisen. Wenn ich vollends einen Vorgesetzten hätte – das muß wie eine zu niedrige Zimmerdecke sein –, 49
könnte ich Bücher, von ihm entlehnt, doch unmöglich anders als mit dem Hut in der Hand gebrauchen; kurz, man gewinnt kein Verhältnis zu solchen Büchern, man bleibt stets ›per Sie‹ mit ihnen. Was ist mir dieser ›Lorenzo de Medici‹ lieb geworden, den ich in Poggio a Cajano, in Florentiner Kirchen und am Meer und tief im Abend des Pinienwaldes gelesen habe. – Immer irgendwo aufgeschlagen mit wahllosem Griff. Wie man von den Wiesen her irgendwo in den Wald tritt. Er war überall traut. So soll man überhaupt Gedichtbücher lesen. Am Rande hin, ein Stück waldein und dann wieder in die Sommersonne. Dann behält ein jedes seine Bedeutung: die Kühle, der Duft, der Glanz. In Florenz, da es keine Wälder gibt (kaum ein paar stadtarme Bäume irgendwo), sind die Kirchen wie Wälder. In Santissima Annunziata zum Beispiel oder in Santo Spirito könnte ich ganz gerne eine Stunde lang und länger sitzen und lesen. In Santa Maria Novella vollends in den alten bequemen Chorherrenbänken unter den Ghirlandajos länger noch bleiben, ohne zu lesen. Diese Fresken erschienen mir als Ghirlandajos liebenswürdigste Arbeit: Novellenbilder im vollsten Sinn. Lapidare Illustrationen der Geschichte der Maria. Rechts unten: das bekannte Fresko, die Geburt der Maria darstellend. Die Wehestube einer edlen Florentiner Dame, ähnlich wie auf der Darstellung des Andrea del Sarto in der Vorhalle der Santissima Annunziata, breit und mit Geduld erzählt, so wie alte Leute tun, die am liebsten immer wieder von vorn anfangen möchten. Etwas geschwätzig durch die vielen mü50
ßigen Frauen, die ziemlich gleichgültig in den Raum der Chornische heraussehen und durch die Absicht des Malers, möglichst viel Florentiner Schönen durch diese Verewigung zu schmeicheln, bedingt. Damals – glaube ich – empfand man schon ein bedeutendes Hemmnis in diesem Erzählenmüssen lang bekannter alter Geschichten, und man mochte auch schon fühlen, wie unmalerisch es doch eigentlich sei, immer wieder Handlung statt Situation, Ereignis statt der Ereignismöglichkeit bieten zu sollen. Man suchte sich an den Porträts, welche man als werte und vornehme Aufgabe erkannt hatte, einigermaßen schadlos zu halten und betonte diese neben der Architektur und den jungen Errungenschaften der Linearperspektive weit über den Vorgang hinaus, wie um bei einer anderen Zeit sich zu rechtfertigen. Diese Art hat etwas von dem Meinetwegen-Achselzucken des Untergebenen hinter dem Rücken des Herrn: ›Wenn er es denn schon mal nicht anders will!‹ Mit wie kecker Schalkhaftigkeit und mit freudigem, selbstbewußtem Trotz hat der unvergleichliche Benozzo Gozzoli derartige ›Aufgaben‹ sich selbst interessant und dem echten Kunstgedanken fruchtbar gemacht. Die Fresken in der Kapelle des Palastes Medici-Ricardi (Ecke der Via (larga) Cavour), die so leuchtend in Farbe und Auffassung sind, erscheinen wahre Hymnen des Lebens. Der Zug der Könige aus dem Morgenlande ist zu einem Jagdbild des fürstlichen Hofes und seiner Gäste geworden und behielte, auch wenn nicht die Menge feiner Porträtköpfe dem Werke ein eigenes Gepräge gäbe, davon losgelöst, reinen und reizvollen Kunstgeschmack. Damals waren gerade orientalische Fürsten mit ihrem Gefolge zu dem ferraresi5
schen Kirchenkonzil gekommen und hatten es – da ernste Arbeit nicht zu Erfolgen wuchs – vorgezogen, als Gäste der Medici fröhliche Feste zu feiern. Wie denn überhaupt das Festliche diesen Tagen so trefflich gelang. Man sieht es diesen Menschen an, wie sie sich inmitten von Prunk und Freude so recht heimisch fühlen, wie sie Gewand und Geschmeid ohne weichliche Eitelkeit wie etwas Selbstverständliches tragen, wie ein Symbol jener hellen Herrlichkeit, die sie immer mehr und immer mutiger in sich selbst entdeckten. Der alte Cosimo ist ganz patriarchalische Würde und bürgerliche Güte, der rastlose Erwerber, Gründer und Pater patriae in jedem Zug und jeder Falte. Der Mann, der keinen Titel braucht, weil er alle Würden werktätig erfüllt und sich durch eine bestimmte Stellung nur beengt und beängstet fühlte. Er baut sich keinen Thron, obwohl er es täglich vermöchte. Er weiß: Throne können stürzen. Aber aus sicheren Stufen türmt er seinen Ruhm und bleibt auf der höchsten sitzen; das erfüllt den Zweck: denn auch von da kann er, wie von einem Herzogstuhl, alles übersehen und zu dem Ziele seines Willens und des allgemeinen Wohles hinleiten. Man sieht diesem Manne an, daß er sich ein fürstliches Begräbnis verbieten und einfach, schlicht und schlecht wie irgendein Bürger wird schlafen wollen in San Lorenzo; denn nur der sich täglich Prunk durch Taten verdient, hat ein Anrecht darauf; der Müßige soll still sein und nichts vom Leben wollen. – Wie anders sieht schon auf diesem Bilde sein Enkel, der junge, kränkliche Lorenzo, aus. Er wird schon auf den Höhen groß. Die Schönheit ist ihm nichts, das man mühsam verdienen muß; denn müßte man also, dürfte man auch nie der Angst vergessen, sie wieder zu verlieren. Und eine Angst 52
– welche auch immer – wäre etwas Demütigendes für ihn. Schönheit erscheint ihm des Fürsten erster Besitz und sein stolzestes Recht. Er trägt sie selbst nicht im Antlitz; denn er müßte sonst vielleicht um sie bangen: ein Haß, eine Krankheit, ein Leid hätte sie zerstören können. Er hat sie tief in sein Wesen versenkt von Kindheit auf, und da hat sie mit ihren Wurzeln sein Edelstes umflochten, und sie trinkt Kraft daraus und blüht in seinen Gesten und Worten und Taten. Will er ihr aber einmal ins Angesicht schauen: sie lächelt ihm im eigenen Blut mit den Lippen des schönen Giuliano, seines jungen Bruders, so vertraut und träumerisch entgegen, und sie segnet ihn oft aus dieser jugendlich reinen Gestalt heraus und begleitet ihn so – leider nur eine kurze Zeit. In Santa Maria del Fiore trifft der Mörderdolch, dem er selbst in Geistesgegenwart entgeht, den lichten Giuliano zu Tode. Mitten in seinem Mai, in all seiner kinderreichen, sorgenfremden Schönheit, jeder Enttäuschung und jedem Schmerz zuvor, findet ihn die feige, feile Waffe des unverdienten Feindes, und alle ihre blinde Grausamkeit wirkt doch wie eine Güte, wie eine schützende Vorsehung diesem ahnungslosen Jüngling gegenüber, der tiefer im Leben vielleicht sich und seine Sehnsucht verloren und einmal müde, ohne ein Lächeln, hätte sterben müssen. Er will mir als die liebste Lebensgestalt dieser lebensglänzenden Zeit in Erinnerung bleiben; denn er ist die einheitlichste, feinste, traumhafteste von allen. Kein Schatten ist über ihm und in ihm. Seine Taten hat keine Geschichte verzeichnet, und seine Siege haben keine Reiche begründet. Und doch muß jedes Lächeln von ihm ein goldechtes Fürstengeschenk gewesen sein denen, die es würdig empfingen. Seine ganze Kindheit klingt in lauter Festlichkeit; und ein je53
der Tag muß seinem jungen Mut wie ein neues Land gewesen sein, daraus ihm alle Freude in heller Huldigung entgegenkam, und jede Nacht mag wie ein Märchenschloß ihn überwölbt haben mit ihrer weichen, blauseidenen Zärtlichkeit. Und an der Grenze seines Mannbarwerdens empfindet er mit einem Male, wie alles dieses leise, einsame Erleben sich zu regen beginnt in seiner Seele und wie seine Frühlingserfahrung Lied wird in seinem erwachten Gemüt. Und er trägt – er weiß kein würdigeres Ziel – diese Lieder, die ihm wie erste Erlösungen geschehen, in eine der dunkelsten Gassen von Florenz zu einem armen, geliebten Mädchen hin und stiftet damit eine Kirche in ihrem Herzen … Und keiner hat je diese Lieder klingen gehört als seine heimliche Geliebte. Sie sind vergangen wie er selbst, und der Sohn, den ihm das Mädchen, Wochen nach seiner Ermordung, einsam gebar, hat sie nie von dem Munde der Mutter vernommen; denn sie gab ihm ihr eigenes Leben hin. So war Giuliano der Frühlingsliebe, der sterben mußte, als es Sommer werden wollte. Da war seine sonnige Sendung erfüllt. Und in der ganzen Frührenaissance ist etwas von dem Wesen des blonden Jünglings. Eine keusche Kühle ist in ihren Madonnen und die herbe Kraft junger Bäume in ihren Heiligen. Die Linien sind alle wie Ranken, die in feierlicher Schweigsamkeit irgend etwas ganz Heiliges umschließen, und die Gesten der Gestalten sind zögernd, lauschend, einer zitternden Erwartung voll. Sie sind alle von der Sehnsucht geweiht, aber jung in all ihrem Tun, finden sie innerhalb dieser Sehnsucht kleine, leise beglückende Ziele und rasten bei ihnen wie vor den Symbolen einer anderen tiefen Erfüllung. Sie empfinden eine Fülle von Ewigkeiten, und weil sie nir54
gends bis an die Grenzen gehn, finden sie nirgends Schranken. Sie haben einen stillen und strengen Willen in sich, aber es ist derselbe Wille, der in den weichen Winden wirkt, und so müssen sie niemals Bewegungen wagen, die heftig und hastig sind. Sie sind so ganz eins mit ihrer Zeit, das macht sie schön. Und sie sind weder hart noch bang; denn weder haben sie sich diese Zeit erzwungen, noch sind sie ihre zufälligen Früchte. In einem steten Verkehr, in williger Hingabe und liebevollem Erraten haben sie eines im andern sich gebildet und erzogen und ranken eines am andern hinan zu derselben Seligkeit. Alle ermattenden und entmutenden Kämpfe nach innen fehlen, und die Kräfte vereinen sich versöhnt in einem einzigen breiten, geduldigen Strebestrom. Das war der Frühling. Es kam noch kein Sommer seither; und wenn auch alle recht haben, die diese Renaissance für unwiederbringlich halten, vielleicht darf unsere Zeit den Sommer beginnen, der zu diesem fernen und festlichen Frühling gehört, und langsam zur Frucht entfalten, was sich damals in der weißen Blüte schon vollendete. Wir haben seither Jahrhunderte erlebt. Der große Frühling verwilderte in ihnen, ohne daß seine letzte Schönheit Frucht werden konnte. Da wir nun wieder diese innerste Schönheit begreifen und erkennen, kann unsere Liebe sie vielleicht weiter reifen lassen? Wir sind älter geworden, nicht nur um Jahre, auch um Ziele. Wir sind bis an die Marken der Zeit gegangen, und Tausende haben an ihren Schranken gerüttelt. Es ist Zeit, daß wir uns bescheiden. Des Frühlings blasse Endlosigkeit haben wir als Lüge erfunden, und unsere wunden Hände zeugen von 55
der Unüberwindbarkeit der letzten Mauern. Aber wir dürfen auch nicht über sie hinaus unsere armen Träume senden wie Ölzweigtauben; sie werden nicht wiederkehren. Wir müssen Männer sein. Wir brauchen die Ewigkeit, denn nur sie gibt unseren Gesten Raum; und doch wissen wir uns in enger Endlichkeit. Wir müssen also innerhalb dieser Schranken eine Unendlichkeit schaffen, da wir an die Grenzenlosigkeit nicht mehr glauben. Wir dürfen nicht an das weite, blühende Land denken, sondern müssen des umzirkten Gartens uns erinnern, der auch seine Unendlichkeit hat: den Sommer. Helft uns also dazu. Einen Sommer gründen, das müssen wir. Wir sind nicht mehr fähig einer Blütenkunst. Unsere Kunst muß uns nicht allein schmücken, sondern auch wärmen; wir sind in dem Alter, da man manchmal fröstelt an frühen Frühlingstagen. Wir sind nicht mehr Naive; aber wir müssen uns befehlen, primitiv zu werden, damit wir bei jenen beginnen können, die es von Herzen waren. Wir müssen Frühlingsmenschen werden, um in den Sommer zu finden, dessen hohe Herrlichkeit wir verkünden sollen. Nicht Zufall und Laune und Mode führt uns zu denen hinter Raffael. Wir sind die fernen Erben, die berufen wurden um der vielen Vermächtnisse willen. Ich möchte immer irgendwem (ich weiß nicht, wem) sagen: ›Nicht traurig sein.‹ Und es ist mir, als wäre das ein gar vertrauliches Geständnis, das ich ganz leise und zärtlich aussprechen müßte und in tiefer Dämmerung. 56
Wir haben alle etwas wie eine Angst in uns. Wie Mütter werden wir sein. Aber wir sind noch wie Mädchen, die heiße Hände haben und wehe Träume; aber ihr müßt es hören: Wie Mütter werden wir sein! Nach der neuen Angst kommt eine neue Glückseligkeit. Das war immer so. Nur glauben müßt ihr lernen; ihr müßt fromm werden in einem neuen Sinn. Eure Sehnsucht müßt ihr über euch haben, wo ihr auch seid. Fassen müßt ihr sie mit beiden Händen und sie in die Sonne tragen, wo sie am seligsten ist; denn eure Sehnsucht muß gesund werden. Wenn ihr noch ein Zittern in euch habt oder einen Zweifel, werft ihn hinter euch. Und wenn er auch aufwächst hinter eurem Weg: Berge stehn dann vor der Vergangenheit. Wie hab ich das an Dir bewundert, Liebe: dieses sorglose Vertrauen zu allen Dingen, diese furchtfremde Güte. Jetzt kommt es auch zu mir, auf anderem Weg. Ich bin wie ein Kind, welches am Abgrund hing. Es ist getrost, wenn die Mutter es in lieber, leiser Stärke faßt, ist auch Tiefe noch unter ihm und spreizen sich Dornen zwischen seiner Wange und ihrer Brust. Es fühlt sich gehalten, gehoben – und ist getrost. Weil ich oben von Giuliano de Medici gesprochen habe: es wird eine Zeit kommen, da keinen das Schicksal besiegt, ehe er nicht fruchtbar war. Es werden Tage der Ernte kommen. Und jeder wird die Lieder, die er der Geliebten schenkt, erwachen 57
hören im Munde der Mutter, die ihm den Sohn groß wiegt. Es werden Tage der Ernte kommen. So rein, wie jede Geliebte war in der Frühlingsrenaissance, so heilig wird jede Mutter sein in dem Sommer, den wir beginnen. Damals habt ihr die Madonnen als mütterliche Jungfrauen geschaffen; unsere Geliebten werden jungfräuliche Mütter sein. O wenn ich euch doch allen sagen konnte, was für eine Zeit das ist! Es tut mir so weh, daß viele unfestlich und ohne Hoffnung sind. Ich möchte eine Stimme haben wie das Meer und doch ein Berg sein und im Sonnenaufgang stehen: damit ich euch alle wachleuchten, überragen und aufrufen könnte. Heute schreibt mir eine Mutter, die tief in vieler Bangigkeit war, ehe das Wunder ihr geschah, sie schreibt: ›Jetzt ist der Frühling auch zu uns gekommen, allerdings ziemlich stürmisch und verweint; aber mir kommt es vor, als ob ich noch nie einen Frühling gesehen hätte … Heute hab ich den ganzen Nachmittag mit dem Rolf im Garten gesessen, und er ist mir an der Luft aufgeblüht wie eine Rose; er ist viel schöner geworden, seit Sie ihn nicht gesehen, hat mehr Haare bekommen und seine großen Augen behalten.‹ Ich lese das wie eine Hymne, Lou. Und ich ersehne den Augenblick, da ich es vor DIR lesen werde; da wird es Melodie empfangen. Nur Kraft brauche ich. Alles andere weiß ich in mir, um zum Verkünder zu werden. Ich will nicht durch 58
alle Lande gehen und meine Lehre [zu] verbreiten suchen. Ich will es überhaupt nicht zur Lehre erstarren und versteinern lassen. Ich will es leben. Und nur in Deine Seele. Liebling, will ich pilgern, tief, tief hinein, bis hin, wo sie Tempel wird. Und dort will ich meine Sehnsucht wie eine Monstranz heben in DEINE Herrlichkeit hinein. Das will ich. Du hast mich leiden gesehen und mich getröstet. Auf Deinen Trost will ich meine Kirche bauen, in welcher die Freude helle Altäre hat. Vielleicht bin ich noch nicht bestimmt, den Sommer zu sehen, von dem ich weiß, daß er kommen wird. Vielleicht hab ich selber nur Frühlingskraft trotz allem und allem. Aber den Mut zum Sommer hab ich und den Glauben der Seligkeit. Die in der Renaissance bekamen auch eine wachsende Kraft, die schon fast Sommer sein wollte: Michelangelo wuchs, Raffael stand in Blüten. Aber es wurde nicht Frucht; es war Juni, heißer, heller Gewitterjuni. Sie waren so kühn geworden nach der ersten Angst des Anfangs. Sie hätten bald alles in einem Atem gelebt bis ans Ende. Aber die liebevolle Ordnung hemmte ihr Ungestüm. Die Blüten krankten und starben, die, welche Frucht werden wollten nämlich. Die kühlen, köstlichen harrten wie verzaubert der Erlösung, und warten noch. Damals war Mai, und die Welt sollte nicht alles auf einmal haben, Blütezeit und Ernte – und … jetzt wird Sommer sein.
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Nicht kennen dürft ihr sie und einteilen und richten, wie ihr es gerne wollt. Lieben müßt ihr sie. Könnt ihr das noch? Das ist die Prüfung. Was sie schweren Herzens verließen, solltet ihr leichten Mutes vollenden. Ihr seid die Denkmäler jener, und wenn ihr wollt, werdet ihr euch selber Denkmäler werden! Und die Müdigkeit müßt ihr vergessen; die habt ihr denen nachgeahmt, welche am Rande des Quattrocento sahen: es will Sommer werden, und wir können nur blühen, – und sie wurden abschiedsbang – und denen, welche fühlten: wir dürfen nicht in den Sommer hinein reifen, – und sie wurden wild und trotzig – und müde dabei. – Ihr aber habt keinen Grund, müde zu sein, und keine Zeit; denn bislang habt ihr nur ein Erbteil und keinen Erwerb, Träume und keine Tat. Ihr habt aber die Sendung Taten zu tun, wie jenen Taten geschahn. Jene freuten sich, damit sie leiden könnten; ihr littet einer neuen Freude entgegen! Aber würdig müßt ihr sein, rein und priesterlich. Keine Liebschaften dürft ihr haben, sondern eine Liebe. Keine Sehnsüchte, sondern eine Sehnsucht, und eure Tage dürfen nicht voll von Sensationen sein und Verwirrungen; es muß eine klare, kristallene Festlichkeit darüber wachsen, in der euere Gestalten sich schön und schlicht bewegen. Aber ihr könnt alles das haben, wenn euch danach verlangt: Liebschaften, Sensationen und Trunkenheit; denn ihr müßt brauchen, was in euch ist, und wahr sein ist das einzige Gebot.
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Seid nur einen Tag unmodern, dann werdet ihr sehen, wieviel Ewigkeit ihr in euch habt. Die die Ewigkeit fühlen, sind über aller Angst. Sie sehen in jeder Nacht die Stelle, wo es Tag werden wird, und sind getrost. Furchtlosigkeit ist dem Sommer not. Der Frühling kann bange sein, seinen Blüten ist die Bangigkeit wie eine Heimat; die Frucht aber braucht schwere und ruhige Sonne. Alles muß wie ein Empfang sein: breite Tore und sichere, sehnige Brücken. Ein Geschlecht, welches in Angst geboren wird, kommt in der Fremde zur Welt und findet nie nach Haus. Ihr dürft nichts Heiligeres haben als das Mütterliche. Jeder Schmerz, welchen ihr einem hoffnungskranken Weibe antut, zittert in zehn Generationen voraus, und jede Traurigkeit, die ihr in ihrem Auge verschuldet, breitet über hundert zagende Zukünfte ihre schrecklichen Schatten. Wären eure Eltern sommerlicher gewesen, so hättet ihr den Frühling besessen ohne Kampf und wäret nicht matt und bestaubt vom Rückweg aus der Fülle fremder und feindlicher Gefühle. Es wird keiner Frucht finden, der nicht Ehrfurcht hat. Denn Schamlosigkeit ist wie ein Sturm, der das Unreife von den Zweigen reißt. So werdet ihr keine Gegenwart leben, sondern werdet euch selber wie Künftige sein. Ihr werdet vor euch hergehen, und so könnt ihr des Weges nicht fehlen. 6
Das haben die Frühlingskünstler nicht gekonnt. Sie irrten wohl zu sich hin. Aber sie wußten nur ganz dunkel, wo sie eigentlich wohnten, und glaubten ihrer Zeit kinderwillig, daß die weißen Marmorgräber ihre Heimat seien. Und da eilten sie denn nicht mehr und drängten nicht und gingen langsam durch lauter Licht zu dem Ort, wo sie sich eine Kirche über ihrem stillen Ziel gewölbt hatten. Wir brauchen keine Kirchen zu bauen. Von uns darf nichts übrig bleiben. Wir trinken uns leer, wir geben uns hin, wir breiten uns aus – bis einmal unsere Gesten in winkenden Wipfeln sind und unser Lächeln in den Kindern aufersteht, die darunter spielen … Es war ein seltsamer Sonntag, dieser 22. Mai. Ein tiefer Tag. Mir gelang auch, in diesen Blättern zu verzeichnen, was ich lang in mir brennen fühlte, ein Geständnis und eine Klarheit und einen Mut. Auf einem weiten Gang in der festlichen Pineta geschahen mir die drei Mädchenlieder, die mich beglücken mit ihrer Innigkeit, und DEINE hohe Hymne, die das neue Skizzenbuch beschloß. Es war mir so recht feierlich zumut: ich kann aber kein Fest haben ohne DICH. Und so rückte ich meinen hohen Armstuhl herbei, träumte DICH darin, setzte mich gegenüber und las, während draußen immer mehr Abend wurde, ein Lied nach dem anderen und sang das eine und weinte das zweite und war lauter Seligkeit und Weh: Spielzeug in den Händen dieser zarten blassen Lieder, die mir nun antaten, wie ich ihnen tat. Alle Sehnsucht und Zärtlichkeit, die ich darin verschloß, kam über mich und umgab mich wie ein wilder Frühling und hob mich auf wie mit leisen, weißen, heimlichen Händen – 62
ich weiß nicht, wohin. Aber so hoch, daß die Tage waren wie kleine Dörfer mit roten Dächern und winzigen Kirchtürmen und die Erinnerungen wie Menschen, die klein und still in ihren Türen stehen und auf irgendwas warten … Nachdem ich das Buch durchgelesen und alle diese Wonnen und Wehgefühle wie aus einem Quell getrunken hatte, war ich dankbarer Weihe voll. Und ich habe gekniet inmitten des Abendglanzes, der aufging an meinen hohen Zimmerwänden wie ein Goldbergwerk. Und mein schauerndes Schweigen war ein tief erzitterndes Gebet zu dem heiligen Leben, dem ich so nahe war in den seligen Schaffensstunden. Daß ich würdig werden möchte, in Treue und Vertrauen in seine Erfüllungen einzugehen, daß meine Freude ein Teil werden möchte seiner Herrlichkeit und mein Leid fruchtbar und groß würde wie das selige Weh seiner Frühlingstage. Und daß die Versöhnung wäre über mir, die über allen seinen Werken ist wie die ewig gleiche, ewig gebende Sonne, und daß ich in diesem stillen Licht MIR entgegengehe, ich, der Pilger, dem Ich, das König ist und ein Rosenreich hat und eine Sommerkrone mitten im Leben von Ewigkeit her. Und daß ich stark würde und mächtig über die Eintagsängste und über die Qualen aus einer Nacht. Und daß ich erfülle, was ich als Sendung fühle. Und daß ich fühle, wenn ich es erfülle, damit ich dadurch reicher und weiter werde und eines hohen, demütigen Stolzes voll. An diesen Schaffenstagen empfind ich es schon, wie die Hüllen von den Dingen sinken und wie alles vertrauensvoll wird und jeder Verstellung vergißt. Schaffensaugenblicke sind wie Dämmerungen 63
nach schweren Sommertagen. Wie junge Mädchen sind alle Dinge, weiß und leise und von einer lächelnden Trauer. Bis sie sich plötzlich mit einer fremden, heftigen Zärtlichkeit an dich schmiegen und zittern wie flüchtende Rehe und weinen wie Kinder im Traum: tief und trunken und atemlos. Als wollten sie sagen: ›O, wir sind ja nicht so, wie wir sind. Wir haben gelogen. Verzeih.‹ Und da hast du dann kühle, erbarmende, allwissende Hände und streichst ihnen sanft über die Stirne damit … Es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblikken sehe ich tief in die Erde hinein. Und sehe die Ursachen aller Dinge wie die Wurzeln breiter, rauschender Bäume. Und sehe, wie sie alle aneinander greifen und sich halten wie Brüder. Und sie trinken alle aus einem Quell. Und es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblicken sehe ich hoch in die Himmel hinein. Und sehe die Sterne wie stille, lächelnde Blüten dieser rauschenden Bäume. Und sie wiegen sich und winken einander zu und wissen, daß eine Tiefe ihnen Duft und Süße gibt. Und es sind nur Augenblicke, aber in diesen Augenblicken seh ich weit über die Erde hin. Und ich sehe, daß die Menschen starke und einsame Stämme sind, die wie breite Brücken von den Wurzeln zu den Blüten führen und ruhig und heiter die Säfte heben in die Sonne hinein. Gestern vormittags geschah noch eines, welches zu verzeichnen mir gut scheint. Ich schrieb, wie ich an jedem Morgen tue, auf meinem breiten Marmorbalkon sitzend, in dieses Buch. Der Garten vor mir 64
war einer scheuen und ängstlichen Sonne voll, und darüber hinaus über Düne und Meer waren erwartungsvolle Schatten eines breiten Gewölkes. Durch ein Kiesknirschen aufmerksam geworden, blick ich hinab und gewahre in der Mittelallee des Gartens einen Bruder von der Schwarzen Bruderschaft des Letzten Erbarmens in seinem schwarzen, glatten Faltenkleid und der schwarzen Gesichtsmaske, welche nur kleine Augenlöcher gestattet. Wie er so harrend mitten im Garten stand, in dem hellen roten Garten, drin Aurikel und Mohn und kleine rote Rosen in vollem Frühling stehen, war er wie der Schatten irgendeines zweiten, der riesig und unsichtbar sich neben ihm auftürmen mußte. Oder er war wie der Tod selbst, aber nicht der, welcher einen Ahnungslosen in Lebensmitten erfaßt, wie der freiwillig herbeigerufene, demütige Diener, der, auf eine bestimmte Stunde bestellt, Wort hält, gelassen eintritt und wartet: Sie haben befohlen. Und einen Augenblick harrte ich, verhehlten Atems, ob nicht wirklich irgendwer von der Terrasse treten, irgendein blondes Mädchen oder ein stiller harter Mann, und tief in Gedanken hinter dem Schwarzen her aus dem Garten schreiten wird. Einfach aus dem Garten – aus dem Garten … Es war bei alldem keine Angst in mir und keine von den Empfindungen, welche in den Tagen alten Aberglaubens mich besiegt hätten. Das Leben in seiner friedlichen Festlichkeit schien mir in dieser Stunde wie ein weiter Rahmen, in welchem alles Raum hat, und das Ende verlor seine Furcht, weil nahe neben ihm der Beginn stand und der Ausgleich der beiden wie in leiser und lächelnder Verabredung und nicht anders wie ein wiegendes Wellenschlägen geschah. Eine mächtige Versöhnung empfand ich durch dieses Gefühl, ich war wie auf 65
die Stirne geküßt von einem reichen und heiligen Lebenstrost, dessen Segen ich nie mehr verlieren konnte. Allein, grade weil ich so über dem Fürchten mich fand in diesem Augenblick, begriff ich die Wirkung gewisser seltsamer Fügungen. Der Frate, welcher für seinen demütigen Zweck sammeln gekommen war, wurde nicht bemerkt und klirrte mit dem Münzkasten, welches fremd und wie eine Kette klang. Nach vergeblichem Warten kehrte er um und schritt zögernd zum Gartentore hin; da schien irgendwer unten aus der Vorhalle zu treten, so daß er sich wieder etwas eiliger zum Hause herwandte. Er erhielt von einem Knaben eine Spende und verneigte sich erstaunlich tief vor dem Kinde, welches ihn mit neugierigen Blicken betrachtete. Dann ging er, immer noch zögernd, und stand mitten in der Allee still. Mein Bild von früher wurde wieder wach. Ich fühlte unten auf den Treppen ein weißes junges Mädchen stehen, das vor diesem Sommerglanz zögerte und nicht Abschied nehmen konnte von der hellen Herrlichkeit. Und endlich schickte sie bang dem ernsten, verhüllten Diener, den sie selber herbefahl, durch den Knaben ihr kleines Herz; das soll sagen: ›Ich habe mich geirrt, nimm das, und geh voraus. Ich kann noch nicht. Ich bin wirklich müd, wirklich. Lieben kann ich nicht mehr, nimm es. Aber laß mich noch schauen.‹ Und ich fühle gleichsam, wie zwei große traurige Augen Fragen hineinschatten in den lichten Tag: ›Nur noch schauen …‹ Und da geht er, geht ungern und ungläubig. Kommt sie nicht doch? Und er steht nochmals am Gitter, wo die frische Platane glänzt. Das Mädchen aber bleibt unten an eine Säule gelehnt und schaut über den Boten weg auf 66
das grüne, ferne, reglose Meer: ›Nur noch schauen.‹ Bei ihr hockt der Knabe, welcher das Herz trug, und weint … Dann verlor ich die Vision; aber ich dachte: er zögerte wirklich so lang. Wenn ich da oben auf meinem weit sichtbaren Balkon, vertieft, irgendeine unwillkürliche Bewegung gemacht hätte, er hatte sie gewiß für einen Ruf angesehen und wäre wiedergekommen; und ich weiß: ich hätte in überraschter Scham nicht verneint und ihm rasch etwas gegeben, um ihn los zu werden. Und er hätte dann nochmals an der Tür gezögert, und (in einem großen Haus am Meer tritt jeden Augenblick jemand ans Fenster) es hätte irgendwo einer eine ähnliche Geste getan, und er wäre nun auch zu dem gekommen: wir beide hätten uns gewiß beim nächsten Wiedersehen gemieden und nur von ferne angesehen. Und wenn wir beide Menschen wären, die viele Brücken haben zwischen sich, so hatte dieses hartnäckige Wiederkehren des Schwarzen gewiß auf uns gelegen wie eine Gefahr und wie eine arge Ahnung. Und ich dachte einer Situation, die, durch solchen Zufall beschwor[en], schwer und einem Schicksal verwandt werden könnte. Als ich dann nachmittags in den Garten trat, dachte ich dieser Erscheinung nicht mehr. Aber vorn an der Halle saß der eine unserer beiden Dachshunde und ließ sich durch meine Schmeicheleien gar nicht berühren wie sonst. Er schien in irgendeine tiefe Betrachtung versunken und sah doch nur in die Wand des Hauses hinein, die glatt und kahl und ohne irgendwelchen Halt war. Seine Augen zielten auch gar nicht dahin, es waren die blinden Blicke eines ernst Sinnenden, und auf dem ganzen Ge67
sicht des Tieres lag ein so steinerner Ernst, eine finstere Ergebenheit, die sich auch in der ganzen Haltung des Leibes seltsam ausprägte. Ich stand still, war verwundert und sagte im Weitergehen laut zu mir: »Ein Dackel mit der Manier einer Sphinx. Tief, rätselhaft, stumm.« Sagte das laut und vergaß es. – Dann gelangen mir meine Lieder, und Klanges voll kam ich im ersten Dämmer aus dem Wald. Mir kommt das Stubenmädchen irgendwo entgegen und sagt: »O, unser Padrone ist ganz trostlos; denken Sie, Signorino, der eine männliche Dachshund, den er vierzehn Jahre besaß, Sie erinnern sich seiner wohl, ist heute – jetzt – von einem Pferd gestoßen worden, taumelte und blieb auf der Stelle tot. Poverino.« Und sie grüßte lächelnd und ging mir vorbei. Darauf kommt es schließlich an: alles, eines des anderen wert, im Leben zu sehen; auch das Mystische, auch den Tod. Keines darf über das zweite hinausragen, ein jedes das nachbarliche bezähmen. Dann hat jedes seine Bedeutung und, was die Hauptsache ist: ihre Gesamtheit ist ein harmonisches Ganze voll Ruhe und Sicherheit und Gleichgewicht. Nur dann hat das Mystische sein Recht: wenn man ihm nicht andere Macht einräumt als den anderen Kräften auch. Aber für die Gerngläubigen wird es mit einem Male der heimliche Grund alles Geschehens, und die, welche sich darüber hinaus wähnen, erschüttert es durch das Gewaltsame seiner Erscheinung. Kunst ist aber auch Gerechtigkeit. Und ihr müßt, wollt ihr Künstler sein, allen Kräften das Recht las68
sen, euch zu heben und hinunterzudrücken, zu fesseln und zu befreien. Das ist nur Spiel, fürchtet es nicht. Ihr wißt, daß die Blume sich neigt, wenn der Wind es will, und ihr müßt werden wie sie: das heißt, voll eines tiefen Vertrauens. Nach dem Bettag ein Tag der Buße, so kommt es oft. Deinen Brief finde ich nach Tisch und bin bestürzt und bange gewesen. Jetzt bin ich noch traurig. Ich habe dem Sommer mich so entgegen gefreut und ihn wie eine liebe helle Verheißung empfunden über allem. Und jetzt kommen Zweifel und Sorgen, und alle Wege verwirren sich … wohin? – Es ist so dunkel um mich mit einem Male. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich fühle nur, daß ich mitten unter fremden Menschen einen Tag fahren muß und noch einen und einen dritten, um endlich bei Dir zu sein, – um vielleicht: Abschied zu nehmen. Aber ich fühle doch noch ein anderes in mir: warten. Es ist so viel Neues gedrängt vor mir, ich kann es nicht nennen und nicht unterscheiden. Aber hinaussehen eine Weile in Wald und Meer, in die große Allgüte dieser Herrlichkeit, und warten: Klarheit wird sein. Und Klarheit geschah. Heute ist keine Bangigkeit mehr in mir, sondern die helle Freude: Dich in sechs bis sieben Tagen wieder zu haben, Liebling. Ich sitze inmitten des Sommermorgens auf meinem Balkon und weiß 69
nur, daß diese innigste aller Erfüllungen, welche mir begegnen kann, mein nächstes Ziel ist. Und alles in mir zittert ihm entgegen. Freude macht schöpferhaft. Wir werden in dem hohen Glück des Wiederbesitzes sicher den besten Weg in diesen Sommer finden, den uns kein Zufall nehmen kann. Mir wenigstens ist er wie ein von hoher Macht zuerkannter Besitz, da er schon so lange meiner Hoffnung in Tag und Traum herzeigen war. Ich würde dann ohne große Rast von hier über Bologna, Verona, Ala, Innsbruck und München zu unserem Feste fahren und meine Liebe, reicher um die Erinnerungen aus Sehnsucht und Einsamkeit, vor Dir niederlegen. Was fürcht ich einen öden Strand im Ostpreußischen! Ich hab zwei Monate lang Schönheit geschöpft mit seligen Händen; ich habe genug davon, Schätze vor mir und Dir aufzutürmen, so, daß wir den vielen Menschen, die mit sein werden, verloren gehen. Und nun nütz ich die zwei oder drei Tage, die ich noch so Dir entgegenträume, im Duften dieser blauen Unendlichkeit, um Dir weiter zu erzählen von den Herrlichkeiten meiner Fremdlandstage. Und dabei wird es mir immer klarer, daß ich gar nicht von den Dingen rede, sondern davon, was ich durch sie geworden bin. Und dieses, welches ganz unwillkürlich geschieht, macht mich froh und hebt mich hinauf; denn ich empfinde, daß ich auf dem Wege bin, ein Vertrauter alles dessen zu werden, was Schönheit verkündet; daß ich nicht mehr bloß 70
ihr Lauschender bin, der ihre Offenbarungen wie stumme Gnaden empfängt, daß ich den Dingen immer mehr ein Jünger werde, der ihre Antworten und Geständnisse durch verständige Fragen steigert, der ihnen Weisheiten und Winke entlockt und ihre großmütige Liebe mit der Demut des Schülers leise lohnen lernt. Und durch diese gehorsame Hingebung geht der Weg zu jener ersehnten Brüderlichkeit und Gleichheit mit den Dingen, welche wie ein gegenseitiges Beschirmen ist und vor der die letzte Angst Sage wird. Es ist dann, als wären wir alle der gleichen Wesenheit und hielten uns bei den Händen. Und wir lieben uns so sehr, weil wir eines das andere gehoben und jedes jedem geholfen haben, in das glückliche Gleichgewicht jenes Vertrauens hinein, das uns brüderlich macht. Schon jetzt – und ich bin doch erst an der ersten Schwelle alles Verstehens – kommen Abende zu mir in den Wald, welche den Dingen um mich die Vorsicht nehmen und die ganze fremde Scham ihrer herben Keuschheit. Wie mit leisem Tadel tun sie das: ›Was verhüllt ihr euch? Seht ihr nicht, daß ein Freund steht mitten unter euch, der seine scheue Schönheit nicht findet, solange ihr in den Masken des Alltags bleibt!‹ Und da lächeln mich alle die Dinge an, wie Menschen lächeln, die sich einer guten Gemeinsamkeit aus fernen Tagen erinnern. Seit ich das verstehe: schweigsam sein, ist mir alles um so vieles näher gekommen. Ich war noch in meinem letzten Empfinden Kind und Kind in der Dun7
kelheit meiner Sehnsucht, als ich einen Sommer an der Ostsee war, an den ich nun denke: Wie gesprächig war ich Meer und Wald gegenüber, wie suchte ich, einer ungestümen Heftigkeit voll, über alle Schranken hinüberzureichen mit der voreiligen Begeisterung meiner Worte, und wie empfand ich doch an dem Septembermorgen, da ich vom trüben Strande Abschied holte, daß wir uns nie das Letzte und Seligste gegeben hatten und daß alle meine Entzückungen Table d’hôte-Gespräche waren, die weder an mein dämmerndes Gefühl noch an des Meeres ewiges Offenbaren rührten. Aber jetzt: es gibt wohl leise und seltene Gespräche noch, die sich zwischen den Dingen und meiner Liebe aufbauen; aber wenn sie uns vor die Augen wachsen wollen, dann siegt die Sehnsucht über alles Befangensein. Wir halten uns die Hände hin, und wenn das dann auch immer Begrüßung und Abschied ist in einem Atemzug, wir fühlen, daß die Schweigsamkeit zwischen beiden sich ausdehnen wird mit jedem Tage und mit jedem Tun und daß sie die Grenzen, die noch zusammenfallen, auseinander drängen wird, bis es von dem Finden zum Scheiden so weit sein wird wie vom Morgen zum Ave-Maria und daß dazwischen ein ganzer Tagvoll Ewigkeit dauern wird. Ich habe gestern am Abend mit meiner Tischnachbarin, einer jungen russischen Dame, einen weiten Gang an das Meer gemacht, auf welchem wir über die Kunst und das Leben jene schönen Müßigkeiten sagten, welche von den Dingen bloß träumen. Aber es fiel auch manches gute Wort. Der Weg führte waldentlang, und aller Rain war der kleinen Glühkäfer voll. (Meine innigen Erinnerungen an 72
diese schimmernden Wolfratshausener Nächte mochten verursacht haben, daß ich, in Dein-Gedenken vertieft, etwas Inniges über die Natur äußerte.) Darauf meine Begleiterin: »Sie sind gewiß immer in so nahem Verhältnis gewesen der Natur gegenüber – als Kind schon?« – »Nein,« sagte ich – und wunderte mich, wie meine Worte zärtlich klangen –, »es ist erst ganz kurze Zeit, daß ich so schaue und genieße. Wir gingen eine ganze Weile lang in Verlegenheit nebeneinander her, die Natur und ich. Wie neben einem Wesen war ich, das mir teuer ist, dem ich aber nicht zu sagen wage: ›Ich hab dich lieb.‹ Seither muß ichs einmal gesagt haben, ich weiß nicht, wann, aber ich fühle, daß wir uns fanden.« Später sagte die junge Dame: »Ich schäme mich, es zu sagen, aber ich bin wie tot; meine Freude ist so matt geworden, und ich will nichts mehr.« Ich tat, als vernähme ich nichts, und zeigte plötzlich in schneller Freudigkeit: »Ein Glühkäferchen, sehen Sie?« Sie nickte: »Da auch.« – »Und da – und da«, ergänzte ich und riß sie hin damit. »Vier, fünf, sechs –«, zählte sie weiter, ganz erregt; da lachte ich: »Sie Undankbare; das ist das Leben: sechs Glühkäfer und immer mehr. Und Sie wollen es verleugnen?!« Wenn ich denke, daß ich selbst einmal von denen war, die das Leben verdächtigten und seiner Macht mißtrauten. Jetzt würde ich es lieben auf jeden Fall. Ob es nun reich oder arm, weit oder eng mir zu eigen wäre. Soviel mir davon gehört, würde ich zärtlich lieben und alle Möglichkeiten meines Besitzes reifen lassen in meiner Innigkeit.
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Mit Herrn K. der nun hier ist als Begleiter des Professors Brentano, habe ich viel von diesem sonderbaren, vielseitigen Mann, viel von interessanten Ereignissen und endlich von Leopardi gesprochen, dessen Pessimismus uns beiden fatal, unkünstlerisch und roh erschien. Es kam zur Sprache, daß er immer krank gewesen sei. »Ja,« sagte ich, »sehen Sie, gerade an kranken Menschen werte ich es so tief, wenn sie das Leben lieben und von den kleinen, kühlen Blumen am Rand auf die unermeßliche Pracht seiner großen Gärten schließen. Sie können, wenn ihre Seele feine Saiten trägt, viel müheloser zum Ewigkeitsempfinden kommen; denn sie dürfen alles träumen, was wir tun. Und wo unsere Taten enden, da heben die ihren erst recht an, fruchtbar zu sein.« Es gehört eine große Feinheit der Anlage und Art dazu, das Stück Leben, welches die enge Körperlichkeit kranken Menschen gewährt, in aller naiven Froheit des Herzens so zu sehen, als ob es ein Ganzes wäre. Darin gleichsam alle Werkzeuge zu finden, deren es bedarf. Es ist wie ein knapper Reisefarbenkasten; der geschickte Könner wird nicht verlegen sein, aus den vorhandenen Tuben alle Töne, deren er braucht, zusammenzumischen. Und er wird nie daran denken, daß es andere Kästen mit reicherer Auswahl gibt. Das ist auch eines von den Grundgesetzen des Lebens: jeden Besitz als Ganzes zu empfinden; dann erscheint jede Ergänzung ein Überfluß, und des Reichtums ist kein Ende. – Herr K. erzählte auch von der Ausstellung moderner Gemälde und Plastiken, welche jetzt saisonmä74
ßig in Florenz besteht, und bedauerte, diese Zusammenstellung modernen Geschmackverfalles besucht zu haben. »In dieser echten Ahnung hab ich sie vermieden«, erwiderte ich, »und bin dessen froh. Mir genügte Dantes Kenotaph in Santa Croce, dessen Denkmal von Pazzi auf der Piazza davor und manches heutige Machwerk sonst (welches heutig bleibt und darum nie ewig wird), um in diesem Sinn vorsichtig zu sein. Immerhin hätte den Florentinern mit der Kunst und mit dem Geschmack zugleich der Marmor ausgehen dürfen. Allein die reiche und von Grund gebende Natur ist einer so komplizierten Vorsicht fremd, und so versündigen sich Stümper an demselben Stoff, den ihre Ahnen geadelt haben. Wie das denn immer geschieht. In dem vielen Schaffen der Renaissancekünstler scheint auch die ahnungsvolle Absicht verborgen, den Enkeln die Brüche in den Bergen von Massa und Carrara leer zurückzulassen!« Auf dem Wege nach Pietra Santa gibt es einen blutenden Berg. Wie ein verstaubtes Pilgerkleid schiebt er die Oliven zurück von dem steingrauen Leib und zeigt dem verträumten Tal, das nicht an ihn hat glauben wollen, die Wunde in der Brust: roter Marmor, in grauem Körper eingesprengt. Die Fahrt nach Pietra Santa, die ich noch in Gesellschaft des lieben österreichischen alten Ehepaares unternommen habe, bietet überhaupt so manchen Blick. Die Landschaft trägt flachen und freundlichen Charakter nur wenige Talstellen erscheinen von den blauen Bergen beengt, welche sich in so mäßigen, schönen Grenzen vom Himmel unterscheiden. Olivenwälder, darunter Schafe weiden, sind das ständige Seitenstück der geraden Straße, 75
welche endlich durch die Stadtmauern von Pietra Santa bricht und in dem Hauptplatze dieses Städtchens mündet; darauf natürlich ein Denkmal, ein Palazzo Publico mit bescheidenen Renaissance-Erinnerungen, ein ›Dom‹, den ein heimischer Künstler mit verschiedenen Marmorwerken – Chorbrüstung hinter dem Hauptaltar in der Art des Rovezzan – ausgeziert hat, und einem Baptisterium, in welchem sich irgendwelche Werke des Donatell befinden sollen. Von da zweigen dann die langen, einförmigen Straßen ab, welche den kühlen Schatten so eifersüchtig festhalten. Sie ruhen sich von ihrem weiten Weg dann und wann in einem kleinen Plätzchen (mit unvermeidlichem Denkmal Garibaldis oder Viktor Emanuels) aus oder scheinen vor einer der vielen Gedenktafeln oder Eckmadonnen (in der Art und ohne die Empfindung des Robbia) zögernd zu bleiben. Das ist der Grundcharakler aller dieser kleinen Orte von den ärmsten aufwärts bis zu denen, die einmal sogar das Zentrum waren, um welches ein Herzogtum kreisen sollte: wie Lucca. Letzteres gewinnt eigenartigen Wert durch die Wälle, welche im Zeichen einer friedsamen Zeit Alleen lichter Platanen heben, und durch seine Kirchen, besonders den Dom, der (in der zweiten Kapelle links vom Chor) das tadellose Meisterwerk des Fra Bartolomc [Bartolommeo], die reinste aller vorraffaelischen Madonnen, in welcher doch schon der beste Raffael gelöst ist, bewahrt. Die beiden großen Bilder dieses Meisters (im Palazzo Publico) ergänzen wundervoll diese kraftvolle Persönlichkeit, welcher Ruhe und Versöhnung so sehr Wesenseigenschaften waren, daß die Bilder trotz dieser Züge individuelle Geständnisse bleiben und eine tiefe, unvergeßliche Wirkung üben, durch die Sicherheit, mit welcher die Weltanschauung der sieghaften, 76
thronenden Herrlichkeit immer wieder ausgesprochen wird. Dieser Gott-Vater in seiner großen Geste ist ebenso Geständnis wie die beiden heiligen Frauen, die in zarter Frömmigkeit unter seiner Glorie knieen und mit ihrer horchenden, hingegebenen Schönheit ein Stück leichter lionardesker Landschaft umrahmen: verblauende Berge, zartstämmige, zitternde Bäume, und schimmernd führt ein Fluß an sonnigen Städten vorbei. Engel heben die Betenden sacht empor, Engel, die eben erst aus Wolken zu erstehen beginnen, während andere reife Engelknaben sich an dem Glanze des ernsten Vaters wärmen. Die Vornehmheit der Komposition, das situationhafte Ruhen der Persönlichkeiten und nicht zum wenigsten die Festlichkeit und schwere Pracht aller Farben erheben dieses Bild zu einer den ersten Wunderwerken nicht nachgebenden Bedeutung. Nicht in der Gesamtheit wie bei diesem, aber in der reizenden, reichen Auffassung einzelner Gruppen liegt das Sympathische des anderen Bildes (im selben Saale): ›Madonna, für das luccesische Volk bittend.‹ Die Bewegung der Madonna ist etwas zu heftig für die müde Frau, die sich von der besorgten Erwartung der zahlreichen Beter besser durch eine Fürbitte des leisen und tiefen Vertrauens denn durch dieses Beschwören abheben würde. Auch die fledermausflügelartige Dra[pierung] ihres dunkelblauen Mantels stört, weil sie eben als Drapierung wirkt, und der Christus, der, waagrecht nach vorn schwebend, ihr Flehen überschattet, ist nicht plastisch genug, um die schwierige Perspektive selbstverständlich zu machen. Das Bild sieht wie ein Experiment aus, zu welchem ja ein solcher König der Technik bei allem Ernst durch seine Zeit leicht verleitet werden konnte. Dort, wo er sich keine Probleme stellt, löst er unvermerkt die 77
schwersten Aufgaben und hat – nochmals gesagt – alles in letzter Vollendung erlangt, was, mit Peruginos Sentimentalität und Raffaels Jugend vereint, den berühmten Dreiklang ergibt, der in der Sixtinischen Madonna die höchste Reinheit bewahrte. – Neben diesen Bildern sind meine mächtigsten und fruchtbarsten Eindrücke: das ›Konzert des Giorgione‹, welches jene höchste Verherrlichung eines schweigsamen Gespräches dreier Menschen bedeutet, in Motiv und Malart und Stil und Stimmung so vollkommen, daß es wohl nie – und wenn wir noch soviel Klarheit über diese heilige Stille erringen sollten – wird übertroffen werden können. Ein Zustand und doch eine bewegte Handlung (im Seelensinn), eine Gruppe und doch eine strenge Trennung dreier Individualitäten, eine Erzählung und doch eine malerisch-reine Idee: so ist das ›Konzert‹. Und wie durch die eine Dämmerung ist das Zusammengehören und In-geistigem-Verkehr-Sein der drei Menschen auf das zarteste dadurch angemerkt, daß sie alle einem verhallenden Klang nachgehen, als drei Einsame, ungleich Reife auf verschiedenen Pfaden. So mühelos der Spieler, daß er, schon am Ziel, sich nach dem zurückgebliebenen Freunde umsieht, und sinnender Anstrengung voll der dritte. Aber man fühlt (und dieses ist die heimlich verheißene Steigerung), sie sind ebenbürtig und finden alle wieder irgendwo zusammen in einer letzten, jeden erlösenden Glückseligkeit. Es müssen sehr oberflächliche Betrachter Lorenzo Lottos Porträtköpfe der Spieler, von einer Zeit bezeichnend ›die drei Lebensalter‹ genannt, diesem Meisterwerke auch nur anähnelnd empfunden haben. Auch Giorgiones andere Werke (von schönen 78
Männerporträts abgesehen) dürften kaum sein Besitz sein oder aus einer frühen Zeit stammen. Lieber würde ich eine entzückende ›Santa Conversazione‹ (in den Uffizien mit Bellini erklärt) mit seinem Namen geschmückt wissen. Wem es auch zugehören mag, es ist ein so trefflich geständnishaftes Kunstwerk, daß es eine Persönlichkeit in seinem Raume erfüllt und nicht erst von irgendeiner ergänzt werden will. Hintergrund: bergige Landschaft (terra ferma), von Einsiedlern friedlich belebt und charakterisiert durch Landbau und Herdenzucht. Ein Tempelchen seltsam eigenwilliger Art schließt den Hintergrund gegen einen dunkelgrünen Teich ab, vor welchem sich der Schauplatz des eigentlichen Bildes – eine breite, feierliche Marmorterrasse – erbreitet. Eine Brüstung schlichter Ornamente umrandet diese Terrasse gegen den See und die Seiten hin und steigt links zu einem Throne auf, auf welchem [die] Madonna, leis, leidend, in schwarz-weißem Gewand, ihre wehmütige Herrschaft hält. Eine Heilge steht ihr, still und wartend, zu Seiten, und in dieser feinen Gestalt klingt die Festlichkeit voll an, welche in den anderen variiert sich erneut und vermannigfacht. Hinter der Brüstung, tiefer im Bild, steht der Heilige mit dem wachsam rastenden Schwert, und Petrus, neben ihm, hat sich, seiner sinnenden Beschaulichkeit gemäß, mit beiden Armen an das Steingeländer gelehnt. vor welchem ganz rechts ein Eremit und ein herrlich versöhnter San Sebastian, die Pfeile in den Wunden ruhen lassend, der einsamen Fürstin zögernd entgegengehen. In diesen beiden Gestalten erhebt sich die Ruhe zu einem leisen Rhythmus, um inmitten des Bildes zu heiterer Bewegung anzuwachsen, zum Spiel von ein paar nackten Kindern, die in reichster Ungezwungenheit um einen rund 79
beschnittenen Lorbeerbaum ihre innige Freude winden. Daneben hängt ein Vittore Carpaccio, den man für ein gutes Bild des Dante G. Rosetti halten möchte, so märchenhaft und heimlich ist Form und Farbe darin. Aber was ist diese, wenn auch nur dunkel, so doch immerhin ausgesprochene Märchenhaftigkeit der Venezianer im Vergleich zu den verheimlichten Mysterien, die in den Bildern Botticellis die eigentlichen Motive darstellen. Nicht in tiefem und schwerem Dunkel verbirgt sich hier das Geheimnisvolle. Hell und herrlich hat es irgendeinem Wesen sich geoffenbart. Allein das Wesen, in welchem das Glück dieser Enthüllung noch nachzittert, ist viel zu hilflos und primitiv, um die Tiefe des Geständnisses irgendwie widerzutönen. Es fühlt unermeßlichen Reichtum in sich, allein, wenn es davon schenken will, kann es seiner Fülle keine Spur aus seiner Seele lieben. Es bleibt arm, weil es keinen zum Mitwisser seiner Schätze zu weihen vermag, und einsam, weil ihm nicht gelingt, eine Brücke aus sich hinaus zu bauen. So gehen diese Wesen durch die Welt, ohne daran zu rühren, mit den stummen Sternen in sich, von denen sie keinem erzählen können. Das ist ihre Traurigkeit. Und eine Angst haben sie: daß sie selbst diesen Sternen mißtrauen werden, wenn sie immer so ganz allein an ihren Glanz und ihre Güte werden glauben sollen: Das ist ihre Angst. Dabei sind sie doch durchstrahlt von ihrem tiefinnersten Besitz dieser einsamen Helligkeit, mit der sie selig sein könnten, wenn sie mutiger und ohne Mitleid wären. 80
Das ist die Bangigkeit seiner Venus, die Furcht seines Frühlings, die müde Milde seiner Madonnen. Wie eine Schuld fühlen alle diese Madonnen ihr Unverwundetsein. Sie können es nicht vergessen, daß sie ohne Leiden geboren haben, wie sie ohne Glut empfingen. Es ist eine Scham über ihnen, daß auch sie nicht mächtig waren, das lächelnde Heil aus sich selbst zu heben, daß sie Mütter wurden ohne den Mut der Mutter. Daß die Frucht ihnen so in die Arme fiel, in diese sehnsüchtigen Mädchenarme, denen sie unverdient und schwer wird. Sie tragen endlich nur die Last der Ahnung, daß das Kind leiden wird, weil sie nicht gelitten haben, bluten wird, weil sie nicht geblutet haben, sterben wird, weil sie nicht gestorben sind. Dieser Vorwurf überschattet alles Licht ihres Himmels, und die Kerzen brennen bang und trübe darin. – Augenblicke gibt es, da die Pracht ihrer langen Throntage ein Lächeln um ihre Lippen legt. Dann stimmen die verweinten Augen seltsam dazu. Aber nach kurzem Schmerzlossein, das ihnen als Glück geschieht, erschrecken sie vor der fremden Reife ihres Frühlings und sehnen sich in aller Hoffnungslosigkeit ihrer Himmel nach einer heißen Sommerfreude voll irdischer Innigkeit. Und so wie die müde Frau das Wunder bereut, um des Wunderbaren willen, das es sie versäumen ließ, und die Ohnmacht umtrauert, den Sommer, dessen Keime sie im reifen Leibe fühlt, aus sich zu heben, so bangt die Venus, daß es ihr nie gelingen wird, die Schönheit, die sie bringt, zu verschenken unter die, welche danach dürsten, und so zittert der Frühling, weil er seinen letzten Glanz und seine tiefste Heiligkeit verschweigen muß. Und so sehr sind alle diese Werke voll des einen 8
Zwiespalts, daß man ihn sogar in der Art, wie sie erzählt, geschmückt und hingeschenkt sind, wiedererkennt: die zitternden Künstlerhände sieht man, die ringend sich bemühen, die goldechte Last tiefster Erfüllungen ganz aus der Seele zu heben, und die doch immer wieder ermatten an der hartnäckigen Unmöglichkeit und endlich verzweifelt reißen an dem heimlichen Reichtum. Da krampfen sich die Hände gewaltsam zusammen und verzerren die Linien zur Herbheit, zur Gehässigkeit, zur Häßlichkeit. Und dann löst Savonarola Krampf und Kampf aus ihnen. Er hebt sie hinaus aus den Tiefen des Geheimen in das Kirchenzwielicht der Entsagung. Und dort tasten sie unsicher und ziellos wie besänftigte Irre am Rande alter Erinnerung hin und bilden tote Sehnsüchte dumpf und demütig nach. Und das ist das Ende. So starb der, welcher die Sehnsucht hatte zur Frucht, aber dessen Kraft nur bis an die Marken des Frühlings reichte, bis dort hin, wo er schwer ist vor Süßigkeit, tief vor Reife und arm in der Ahnung eines, der da kommen wird … Und wenn ich mich nicht täusche, wenn wir (oder die hinter uns) jene sein sollten, welche zur Sehnsucht nach dem Sommer die Kraft zum Sommer haben (oder erringen), dann ist es nicht wunderbar, daß wir ihn nicht nur besser begreifen, ihm Denkmäler errichten und seiner Unsterblichkeit Kränze winden, sondern ihn auch lieben wie einen teuren Toten, der fiel, weil er so weit vor uns den Sieg erkämpfen wollte, der uns selber noch Traum ist und Ziel und Sehnsucht in unseren Schöpfertagen. O dieser rührende Schmerz der zu früh Gekomme82
nen: wie Kinder sind sie, die in das Christbaumzimmer finden, ehe die Kerzen brennen und ehe die Dinge strahlen. Sie möchten zurückfliehen von der Schwelle und bleiben dennoch stehen in der entzauberten Dunkelheit – bis ihre armen Augen sich daran gewöhnen. Fra Angelico ist der schärfste Gegensatz des Sandro Botticelli. Er ist zaghaft wie der allererste Frühling und gläubig wie dieser. Mag er Madonnen malen oder die Legenden irgendwelcher Heiliger (Kosmas und Damian, Akademie) zum Vorwurf wählen, er spricht in ihnen immer wieder in zitternden Worten das Bekenntnis seiner eigenen Demut aus. Und doch ist er ein Später mit den Gesten der Allerfrühsten, mit der Kühle ihres Gefühls und der Grenzenlosigkeit ihrer Hingebung. Nur umgürtet von San Marcos heimlich hütenden Klostermauern, konnte diese Kunst in so vergessener Keuschheit aufgehen und blühen und welk werden, ohne mehr zurückzulassen als etwan eine Maimorgen-Erinnerung in den Herzen einzelner Meister, welche, lebensdurstig, über diese fremde Seligkeit hinauswuchsen. Und es ist seltsam, daß gerade Benozzo Gozzoli der freiste und fröhlichste Verkünder der irdischen Freudigkeit werden sollte, der doch mitten unter den wunschlosen Heiligen des Giovanni Angelico Jüngling und Jünger war. Auf dem Campo santo von Pisa hat er glänzende Beweise seiner Gesinnung, seines Könnens und seines inneren Reichtums hinterlassen; die eine Längswand ist fast ganz mit seinen Fresken geschmückt, und es ist bewundernswert, wie trefflich er den knappen biblischen Stoffen Herrlichkeit und Menschlichkeit abgewann und die Mauern eines Kirchhofs in unbedenklicher Sorglosigkeit mit lauter Triumphen des Lebens 83
überdeckte, als wollte er dem, der hier unbeschränkter Gebieter ist, die Herrschaft verleiden und lästig machen. Auch der alte Meister vom ›Triumphe des Todes‹ und vom ›Jüngsten Gericht‹ (der Buffalmaco des Vasari), den er, als er an die Arbeit ging, nachbarlich wie eine stete Mahnung bemerken mußte, konnte seine naiven Absichten nicht im geringsten stören. Er kam und malte Leben und Lust, und der Frühling, welchen die hohen gotischen Arkaden umrahmen, baute seine heitern Rosen mitten in den Hof des Campo santo als ein Gleichgesinnter. – Und so scheint hier, dank dieses Bündnisses, auch heute noch das Leben sieghaft zu herrschen. Es ist nichts von der düstern Strenge eines Klosterhofes, weder in diesen kühn geführten Wölbungen der Halle noch in der selbstgefälligen Säulenarchitektur der Fenster, die sich gar nicht erschöpfen mögen in überraschenden Durchblicken; und auch das Bild vom Todestriumph scheint nur dazu da, die Glückseligkeit des tätigen Einsiedlerdaseins und der versöhnten Harmonie des Paradieses zu betonen. Diese letztere Darstellung, welche wohl dem Orcagna zu danken ist, wirkt wie ein bildgewordenes Minnelied inmitten der gräßlichsten Szenen, die wie schwere Träume anmuten. – Es liegt über allen diesen Gestalten etwas von dieser tatenlosen, müßigen Festlichkeit, welche wie ein Rasten ist nach weiten Wegen. Alle sind still und dankbar dieser gemeinsamen Einsamkeit und wie einer süßen Mattigkeit schwer, die sich in den vornehmen Falten ihrer lichten Gewänder geheimnisvoll verrät. Da wird noch nicht, wie bei späteren Darstellungen, um jeden Preis gegastet oder getanzt oder erzählt oder gesungen, man feiert eben so hin und freut sich des Bewußtseins seiner schlafenden Kraft oder träumenden Sehnsucht. Und etwas dieses un84
willkürlichen Brauchs ist im Volke wach geblieben, das habe ich neulich am Sonntag betrachten dürfen. Wie die Mütter und Alten und Kinder ihr ganzes Leben mit allen seinen kleinen Freuden und seinen verkümmerten Hoffnungen aus dem Wochendunkel heraus in die Sonne stellen – als ob sie es in einen Tempel trügen. Auf Stühlen. Stühlchen und Bänken sitzen sie alle vor den Türen, je nach Alter und Art schweigsam oder geschwätzig, sinnend oder betrachtend, und decken mit ihrer Heiterkeit alle Gassen entlang die nichtssagenden Stirnen ihrer armen Häuser zu. Da ist es dann gar erfolgreich, in einem Wagen über die dröhnenden Steine an ihnen vorbeizufahren; der Kutscher knallt heftig mit der Peitsche und setzt seinen Stolz darein, recht toll vorüberzutraben. Und sie sehen alle auf, neugierig und gleichgültig und gestört und grüßend. Es ist, als wären die Hütten gewendet durch irgendein Zauberwort, und du führest nun hart an lauter nackten Schicksalen hin, die sich deinem Auge willig hinhalten. Am späten Nachmittag aber kannst du im Walde die dunkeln Mädchen und die blonden finden und sehen, wie sie einander umfaßt halten, und fast ohne alles Gespräch in langen Reihen zögernd durch die steilen Pinienstämme schreiten; nur dann und wann hebt eine langsam zu singen an, leis, wie aus einer süßen Erinnerung heraus, und es fallen zwei oder drei Gefährtinnen mit lauteren Stimmen ein – wie zur Bestätigung. Und nach einigen Schritten geht das Lied wieder in ihren Bewegungen unter, aus welchen es sich zu lösen schien, und sie wandern tiefer in den Wald. Das ist der Sonntag. Hier trägt auch das Meer bei zu dieser Erziehung zur genügsamen Festlichkeit. Alle diese Menschen. Männer und Mädchen, wissen gar nicht, wie sehr 85
sie seine Schüler und Kinder sind und wie innig sie mit seiner Schönheit und mit seinem Zorn und mit seiner Unermeßlichkeit im Gemüte zusammenhängen. Wenn ein Tag reichen Fischzuges war, wie sie sich da am Abend auf dem Molo, der der Landung längs des Kanals entgegengeht, versammeln und warten und die Namen der Boote erraten, welche mit steilem, schmalem Segel wie Zypressen am Horizonte sich erheben und zwei zu zwei größer werden, bis sie wie eine Allee sind, die in die Unendlichkeit hinausleitet. Es ist eine helle Freude auf ihren wachsamen Zügen, und die tiefe Sonne zieht die Linie ihres Lächelns fern auf den Häuserfronten von Viareggio nach, so daß auch diese voll froher Teilnahme scheinen. Am Ende des Molos aber, wo der Empfang beginnt, da stehen wie in der alten Operette Damen und Fischermädchen, Soldaten und Mönche, Kinder, von Schwarzen Ordensschwestern behütet, und von dem vordersten Pfahl läßt irgendein brauner Bengel seine sandharten Beinchen wimpeln zum Willkommen. Und in lautloser Würde lenken die Kähne mit breiten, satten Abendsegeln in den schwarzwellenden Kanal. Alle Mannschaft steht um den Mast. Lachende Knaben, breite Männer, am Stamm still angelehnt, und Greise mit verrunzelten Zügen kauern in bunten Flikken am Steuer: ihre ganze alte Kraft scheint in der sehnigen, behaarten Hand versammelt, die die Steuerstange wie einen Schwertknauf umzwängt. So lenken sie herein, wie nach langer Fahrt, als ob sie da draußen gealtert wären und nun zum ersten Mal den Strand wieder fänden, den sie jungen Dunkels voll verlassen haben. Alle haben etwas vom Ernst der Ewigkeit, und man sieht ihren Brüsten an, daß sie breit wurden in der mutigen Furcht der Gefahr. 86
Wie im Südtirolischen auch hier: nur die Mütter erscheinen müde und früh alt. Solange sie nur Frühling sind, leise, helle, lächelnde Mädchen, – und dann versagt ihre Sommerkraft an den vielen Kindern und der vielen Arbeit. Sie sind endlich nur mehr Zähigkeit, mühsamer Widerstand gegen den Tod, der sie ihrem Haus und seiner Dürftigkeit zeitig entreißen will, – nur eine tägliche Auflehnung gegen die schmeichelnde Mattigkeit, mit welcher er sie verlocken will – nichts darüber hinaus. Es liegt über dem Verfall dieses Volkes das, was seine Blüte begründete: die Sommerunfähigkeit. Sie schuf die kühle Schönheit seiner Frühlingskunst und verschuldet nun die verhärmte Herbstlichkeit seines Zu-Ende-Lebens. – Da, in den kleinen Orten am Arno hin – in Rovezzano und Majano, dann an den hellen Rosenhängen von Fiesole, da kannst du kinderhaften Mädchen begegnen, die den Madonnen der Frühblüte nachgeraten. Sie sind wie späte Patenkinder dieser weißen Marmor-Marien der Settignano und Da Majano und Roselino. In diesen Meistern scheint mir die Frühlingsplastik ihre schönste Erfüllung gefunden zu haben – neben welcher ich nur noch der Robbias gedenken mag, die in ihren besten Arbeiten (Tabernakel in S. S. Apostoli) den ganzen Zauber ihrer Zeit und ihres Vertrauens der Ewigkeit gerettet haben. Es ist schon ein Reifer- und Wärmerwerden in der Buntheit dieser Tonarbeiten, eine leise Vermenschlichung des Wunderbaren, welche aus dem glatten, königlichen Marmor in diesen rauhen Ton herabsteigt, aus dem unnahbaren Palast in die festlich geschmückte Hütte, die mitten im Volke steht.
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Und kaum sie diesen Schritt nach vorwärts wagen, schon schlingt sich eine Sommerahnung in buntschweren Fruchtkränzen um sie, randet sie ein und begrenzt zugleich – seltsames Symbol – ihre heitere Herrlichkeit. Diese Robbias haben durch ein Jahrhundert hin die ganze Lieblichkeit ihrer Empfindung – unbekümmert um Geschmack und Meinung – festgehalten. Sie erkannten den Wert der entdeckten Form und fühlten, daß sie nicht darüber hinausgehen dürften, ohne zugleich die versöhnte Einheit ihrer Rundreliefs einzubüßen. Sie hatten einen kleinen Stoffkreis, ein schlichtes Material: aber weil sie sich in beide vertieften, so gewannen sie den Gestalten die zärtlichste Innigkeit und dem Ton seine feinsten Wirkungen ab. Besonders da, wo, wie bei Andrea, Luca und manchmal bei Giovanni, die Farben noch eine schlichte Beschränkung zeigen, wo das entzükkendste Blau das blendende Weiß dieser Engelsköpfe zu verklären scheint und sonst nur am Rande, in den Gewinden etwa, eine leichte Belebung wie eine fromme Hymne aus bunteren Tagen einstimmt in diese reinste Harmonie, da wird man einen Zauber empfinden, der alle Zeiten überdauert. Oder diese Tabernakel mit ihrer sich vertiefenden Mittelperspektive, zu welcher alle Gestalten in leisester Frömmigkeit hinstreben, und diese naiv-vertraulichen Wickelkinder an der Fronte des Ospedale degli innocenti und mehr der reizendsten Offenbarungen, die in Florenz und seiner Umgebung überreich zu finden sind. Man möchte meinen, diese della Robbias müßten jeder Florentinerin eine Madonna geschaffen haben nach ihrem Ebenbilde. Und wenn diese Madonnen auch nie große Wunder getan haben (wollte man solche, mußte man sich 88
eben zu den weißen und feierlichen in die Kirchen bemühen), sie haben doch den Mädchen auf jedes Gebet an jedem Morgen geantwortet: ›Lieblich seid ihr und licht, und das Leben ist eure Heimat, denn es ist hell und herrlich wie ihr. Geht hin und freut euch daran.‹ Und sie gingen hin und waren der Schönheit und Freude voll. Und das ist doch Wunders genug. Des Lorenzo il Magnifico Jubelverse aus den ›Canti‹ fallen mir ein, die alles Wirkens und Wesens Kern enthielten: Quant’ è bella giovinezza, ehe si fuge tuttavia. Chi vaol’ esser lieto, sia di doma non c’è certezza. Aber die letzte Zeit war keine Angst, es war nur der letzte Grund aller schnellen Fröhlichkeit und trug keine Sentimentalität in sich. Diese wird überhaupt erst in der Zeit der Ermüdung erfunden; als man nicht mehr den Mut zum großen Schmerz besaß und das Vertrauen zur Freude den Menschen entglitten war, da fanden sie zwischen beiden die Sentimentalität. Bei Botticelli ist keine Spur davon; denn es ist der tiefste Schmerz, der die immer wieder gewollte Seligkeit überschattet. Es ist nicht ein Verweilen in weichen, weichlichen Melodieen, es ist das Abschiednehmen einer sterbenden Seligkeit in seinen Bildern. In der Galerie des Fürsten Corsini, wo ein Botticelli (übrigens auch ein schöner Raffaelino da Garbo) neben lauter Spätitalienern hängt, kann man 89
sein Leid richtig begreifen lernen. Es ist wie ein Martyrtod neben dem ›schönen Sterben‹ eines Komödianten. Wo käme auch diesen Primitiven die Sentimentalität her, welche nur dort entsteht, wo kleine, verängstete Gefühle nicht mehr imstande sind, die Leere eines Menschen zu füllen; er ergänzt dann seine Innenarchitektur durch Statuen im Schwammstile des Bandinelli. Die füllen aus. Sentimentalität setzt Schwäche voraus, Liebe zum Leid. Aber ich glaube, man sieht keinem so wie dem Botticelli den Kampf mit dem Schmerze an. Und dieser Schmerz ist keine dumpfe, ziellose Traurigkeit (wie ich zu sagen versucht habe), sondern das Gefühl dieses unfruchtbaren Frühlings, der sich in seinen eigenen Schätzen erschöpft. Da könnte man Michelangelo eher sentimental nennen, wenn man bloß von seiner Form reden wollte. So groß und plastisch-ruhend bei ihm stets der Gedanke ist, so unruhig regsam ist die Linie selbst seiner ruhigsten Gestalten. Es ist, als ob einer zu Tauben oder Verstockten spräche. Er kann gar nicht genug betonen, und die Sorge, nicht verstanden zu werden, beeinflußt alle seine Geständnisse. Darum sehen endlich selbst seine intimen Offenbarungen wie Manifeste aus, die an den Ecken der Welt, allen sichtbar, aufgestellt zu werden verlangten. Was Botticelli, den Feineren, Lauschenderen, traurig machte, ließ ihn zügellos werden, und wenn Sandros Hände bebten vor Bangen, so hieben seine Fäuste ein Abbild seines Zornes in den zitternden Stein. 90
Hätte man Michelangelo nur einen Augenblick allein gelassen, er hätte seinen Meißel an die Welt angesetzt und aus dieser verdrückten Kugel einen Sklaven gemeißelt. Und der hätte dann sein Grabmal krönen müssen. Das war nun einer, der die Kraft hatte zum Sommer. Aber es war kein Raum da und kein Vorbild, Wenn er seinem Knaben David Riesenglieder gab, so wies er uns nur immer deutlicher auf die unreife Jugendlichkeit dieser Gestalt hin. Und wenn die Bäume bis über alle Berge hinaus ihre Blüten hüben, es würde doch immer nur ein unermeßlicher Frühling sein, der den Sommer nicht von der Sonne holen kann. Seine Madonnen verleugnen ihren Frühling. Auch sie geben vor, ganz irdisch glücklich zu sein und voll Erfühlung. Man könnte ihnen sogar glauben, daß sie den Erlöser in Weh geboren hätten. Aber diese Lüge macht sie hart und unweiblich, und sie kommen über die Jungfrauschaft und über die Mütterlichkeit in einer Gewaltsamkeit hinaus zu einer Art von trotzigem Heldentum. Michelangelo kam überhaupt, weil er zum Sommer nicht fand, oft über den Sommer hinaus. Und seine Mitstreber und Nachahmer bestätigen mit aller ihrer Talentlosigkeit den Verfall, den das Genie in so verzweifelten Schreien verkündete. Der gestrige Abend wuchs noch zu zwei guten Gesprächen an, welche in so engem Verhältnis zu meiner Stimmung und Gesinnung stehen, daß ich sie kurz verzeichnen will. Um ein halb sechs, inmitten 9
meiner Michelangelo-Gedanken, suchte mich Herr K. auf. Ich kam nun auch so schnell von dem, welches die Freude und der Fleiß meines Nachmittags gewesen, nicht los, sprach und sann weiter und kam endlich dazu, ihm in großen Zügen die Ideen jener Sommerkunst unserer Tage, welche die Erfüllung des Quattrocento-Frühlings werden soll, zu entbreiten. Das erfüllte ihn, den intellektuell Vorsichtigen, sehr, und es bedurfte meiner ganzen Kraft, in meiner Liebe und Innigkeit diesen Erkenntnissen gegenüber mich zu beschränken und nicht ins Unermessene hin zu predigen. Ich sprach wohl zwei Stunden rastensohne fort und hatte die innige Freude, an dem Glanze seiner Augen und an der veränderten Herzlichkeit seines Wesens den Erfolg zu fühlen. Ich wünschte so – rasch, rasch zu Dir zu können, denn ich weiß etwas in mir, was Du noch nicht kennst, eine neue große Helligkeit, die meiner Sprache Macht und eine Fülle von Bildern gibt. Ich entdecke mich jetzt manchmal dabei, wie ich mir selbst lauschend bin und in staunender Ehrfurcht von meinen eigenen Gesprächen lerne. Es tönt etwas tief aus mir, welches über diese Seiten, über meine lieben Lieder und über alle Pläne von künftiger Tat hinaus zu den Menschen will. Mir ist, als müßte ich reden, jetzt im Augenblicke der Kraft und Klarheit, da mehr aus mir spricht denn ich selbst: meine Seligkeit. Mir ist, als müßte ich alle Zögernden und Zweifelnden bekehren; denn ich habe mehr Macht in mir, als ich in Worten halten kann, und will sie daran wenden, Menschen zu befreien von der fremden Angst, aus der ich kam. Und man muß mir das ansehen; denn meine russische Nachbarin gab mir heute, als wir um neun Uhr abends zum Meere gingen, ihr Vertrauen in lauter schönen Schweigsamkeiten hin, so daß ich 92
mich wie ein Vater fühlte im Beschützenwollen und in der Obmacht. Und ich redete weiter; gerade dort, wo ich Herrn K. verlassen hatte, knüpfte ich an. Und es war, als übersetzte ich nur das große Tönen des einsamen Mondmeeres, das neben uns war, in Worte, und wir waren beide Lauschende dabei. Ich sagte: »Sie müssen das Vertrauen finden zu allem und den Ort, wo Raum ist für Ihren Reichtum, Sonst gehen Sie am Leben und an sich vorbei. Das wäre so schade. Es sind goldechte Schätze viel in beiden. Gehen Sie doch fort von der Heimat. Nicht so für sechs bis sieben Wochen. Gehn Sie fort. Es ist ein großer Unterschied darin. Für eine kurze Reise nehmen Sie doch nur ein weniges mit. Sie wählen das Notwendigste aus, und endlich im fremden Ort vermissen Sie manches. Nichts Wichtiges, aber etwas Liebes: ein Bild, ein Buch, eine Erinnerung; irgendeine Kleinigkeit vielleicht, welche Sie zu Hause kaum werten. Nun fehlt es Ihnen. So ist es auch mit dem geistigen Gepäck und dem Vorrat der Seele: Sie nehmen für sechs bis sieben Wochen nur das Passendste mit. Sie kommen in die Fremde und bleiben fremd, denn Sie haben nicht so viel Heimat mit, um sie um sich auszubreiten. Und dann das Begrenztsein: wenn Ihnen wirklich etwas im fernen Land entgegenkommt, welches viel, welches Sie von Ihnen verlangt, dann haben Sie sich nicht mit und denken auch: ›Wozu, morgen fahr ich doch wieder der Gewohnheit entgegen‹ …« Und so sagte ich vieles, dessen ich mich nicht entsinnen kann, und dann: »Ich möchte Ihnen irgend etwas zeigen von da draußen, wie ein Geschenk, das man aus einem märchenhaften Volk mitbringt und dabei vor staunendem Schauern sagt: ›Ja, solche Dinge gibt es dort.‹ So möchte ich Ihnen etwas zeigen.« – Als wir um ein halb elf am Tore standen, sagte die Da93
me: »Und Sie halten das nicht für unweiblich?« – »O,« sagte ich, »ein Mann kann reich sein im Besitz, eine Frau vergißt ihren Reichtum, wenn sie nicht von ihm schenken darf. Sie müssen Raum haben, irgend etwas aus sich herauszustellen. Irgendeine Mutterschaft müssen Sie erleben. Ein Tag muß kommen, der etwas will von Ihnen, und ein zweiter und ein dritter: jeder mit einem anderen Wunsch. Wenn Sie erst sehen, wie Sie alles erfüllen können, wird des Zutrauens und der Freude kein Ende sein. Versuchen Sie’s. Gehn Sie fort und denken Sie nicht an Heimkehr. Gehen Sie, wie man am Meer gehen möchte in der Nacht, immer so weiter hin unter den vielen stillen Sternen. Versuchen Sie’s.« – »Ich will es versuchen.« Und Sie reichte mir die Hand voll von einer schweren Dankbarkeit. Ein guter Abschluß für einen Tag – nicht? Ich blieb lange bei einer heimlichen Kerze in meinem hohen Armstuhl lehnen und dachte: ›Du Herrliche, Du, wie hast Du mich weit gemacht.‹ Denn wenn die italienischen Tage mich mit Schätzen beschenkten, Du hast Raum dafür geschaffen in meiner Seele, in welcher die Träume sich drängten und die vielen Bangigkeiten. Du hast mich festlich gemacht. Daß ich Dir so klar wiederkehre, Liebling, das ist das Beste, was ich Dir bringe. Ich weiß es: es wird nicht alles Hymne bleiben in mir, wie in diesen Tagen; es werden Dunkelheiten kommen und Verwirrungen. Aber ich habe tief in mir einen kleinen Garten, umgrenzt voll Feierlichkeit, bis zu dem wird keine Angst mehr reichen. Und wenn Du willst, werden wir mit jedem Jahr die Marken dieses Gartens erweitern. 94
Es ist doch so: jeder ist tiefinnen wie eine Kirche, und die Wände sind mit festlichen Fresken geschmückt. In erster Kindheit, da die Pracht noch frei liegt, ist es zu dunkel darin, um die Bilder zu sehen, und dann, wenn es lichter und lichter wird in der Halle, kommen die Knabentorheiten und die falschen Sehnsüchte und die durstende Scham, und diese übertünchen Wand um Wand. Und mancher geht weit ins Leben hinein und hindurch, ohne die alte Herrlichkeit unter der nüchternen Armut zu ahnen. Selig aber, wer sie fühlt, findet und heimlich enthüllt. Er beschenkt sich. Und er wird heimkehren in sich selbst. O, wenn unsre Eltern doch mit uns geboren würden, wieviel Rückwege und Bitterkeiten blieben uns erspart. Aber Eltern und Kinder können doch stets nur nebeneinander gehn, nie miteinander, ein tiefer Graben ist zwischen ihnen, über den sie sich dann und wann eine kleine Liebe reichen können. Die Eltern sollten uns nie das Leben lehren wollen; denn sie lehren uns ihr Leben. Die Mütter freilich sind wie die Künstler. Des Künstlers Mühe ist, sich selbst zu finden. Das Weib erfüllt sich im Kinde. Und was der Künstler stückweise sich entringt, das hebt das Weib wie eine Welt, voll von Mächten und Möglichkeiten, aus ihrem Schoß. Das Weib ist dann nicht am Ziel und darf nicht dem Kinde ihr eigenes Leben schenken. Denn dann beginnt ihr Weg zu dem Kinde. Eine Frau, welche Künstlerin ist, muß nicht mehr 95
schaffen, wenn sie Mutter wurde. Sie hat ihr Ziel aus sich hinausgestellt und darf im tiefsten Sinne Kunst leben fortan. Darum ist das Weib um so vieles reicher, weil es die Erfüllung, welcher der Künstler nur zureifen darf, wirklich erreicht. Darum kann es dem Schaffenden wie eine Prophetin sein, welche ihm in ihrer Liebe von der Herrlichkeit des Zieles erzählt. Des Weibes Weg geht immer zum Kinde, vor ihrer Mutterschaft und hernach. So wie sie sich begreift, nimmt sie ihr Ziel aus sich und stellt es mitten ins Leben hinein. Denn ihr Pfad soll in das Leben führen. Die Weiber, welche die vielen Kinder gebaren, gehen mit jedem nur an die Schwelle des Lebens; dort müssen sie schon umkehren, um einem neuen Kind entgegenzukommen. Die Kinder verwaisen dabei, und die Mutter hastet an den Marken des Lebens ungeduldig her und hin ohne Festlichkeit und Freude und wird müde und alt. Wenn man die Wärme unserer Zeit irgendwie beweisen wollte, müßte man von der wehen Seligkeit ihrer Künstler sprechen. Und das Buch würde heißen: ›Das Mütterliche in unserer Kunst‹, aber es wäre ein Verrat, dieses Buch. Wie bezeichnend ist es, daß andere das Menschliche das Allgemeine nannten, gleichsam den Ort, wo alle sich finden und erkennen. Man muß einsehen lernen, daß es gerade das Menschliche ist, welches uns einsam macht.
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Je menschlicher wir werden, desto verschiedener werden wir. Es ist, als würden plötzlich die Wesen sich vertausendfachen; denn ein Kollektivname, der früher über Tausende reichte, wird bald schon für zehn Menschen zu eng, und man wird gezwungen, jeden ganz einzeln zu betrachten. Man denke: Wenn wir statt Völkern, Nationen, Familien und Gesellschaften mal Menschen haben werden, wenn man selbst drei nicht mehr in einem Namen vereinen kann! Wird dann die Welt nicht größer werden müssen? Das hat freilich gute Wege: vorläufig ist das Bedürfnis, sich aneinanderzuschließen, sich gemeinsame Ziele zu setzen, noch – und vollends in Deutschland – sehr groß. Wodurch denn allerdings die Verantwortlichkeit des einzelnen bedeutend verringert und seine Kraft durch das vornehme Gefühl des Wettbewerbs künstlich gesteigert wird. Daß aber gerade in der Kunst das Bilden von ›Vereinen‹ immer noch in Blüte steht, ist ein Zeichen trauriger Unreife. Immer von Zeit zu Zeit tauchen wieder diese Prospekte auf, welche sich aus lauter ›Wir wollen …‹ geschmackvoll und bescheiden aufbauen. Da neulich wieder: ›Deutsche Bühnengesellschaft.‹ Zehn Geheimräte und Offiziere a. D. und Universitätsprofessoren, die dann und wann die Verpflichtung spüren, von wegen ihrer sozialen Stellung, etwas für die arme, bedürftige Kunst, die brav und bescheiden wie ein Lehramtskandidat ist, zu tun, schließen sich zusammen und sprechen neben anderem Bedeutenden auch dieses – ein für allemal – aus: ›Wir wollen eine Kunst für das ganze Volk.‹ – Was für eine unvorsichtige Überhebung, da das Volk, das dennoch die größere 97
Autorität ist, täglich dekretiert: ›Das Volk will keine Kunst.‹ Das zu einer Zeit, da wir beginnen, uns der Klarheit zu freuen, daß unsere Kunst nur dem Künstler selbst Erlösung werden kann und daß nur ganz wenige Eingeweihte, welche in diese Mysterien sehen, daran mit ihrer Freude teilnehmen können! Der Künstler kann eigentlich nur durch seine Persönlichkeit, seine überwundene Kunst, welche ich, wie schon früher, seine Kultur nennen möchte, auf weitere Kreise einwirken. Seine Werke sind Erlebnisse, in Stunden heiliger Dämmerung ein paar Tiefvertrauten erzählt. Und wenn sie doch unter den vielen stehen, sie werden nicht wirksamer dadurch; denn die, welche die Liebe nicht haben, reichen nicht daran. Aber unsere Museen sind doch Roheiten. Wie wenn einer Blätter aus verschiedenen und verschiedensprachigen Büchern blindlings herausreißen und in einem Prachtband zusammenzwingen würde, so sind unsere Museen. Von dem Platz, mit welchem alle ihre Neigungen und Fähigkeiten sie verknüpfen, losgerissen, sind alle diese Kunstwerke heimatlos und stehen wie Waisenkinder nebeneinander. Und es geht einem dann auch wie einer Schar von solchen uniformierten Kindern gegenüber. Man sieht nicht den Blonden, den Traurigen, den Sinnenden und den leise Klugen, man sagt: Zwanzig Waisenknaben. Wenn wenigstens die Werke eines Künstlers in einem Raum sich vertragen müssen; dann entsteht aus ihrem unwillkürlichen Zusammenwirken et98
was, was größer, beredter und offenbarender ist als jedes von ihnen. Ich denke an den Donatell-Saal im Bargello. Aber was wären alle diese Statuen ohne die polychrome Porträtbüste, welche den Niccolò da Uzzano darstellt. Das ist eine der seltsamsten Kunstoffenbarungen. Der Realist Donatell hat recht naiv empfunden, daß er nicht imstande ist, die Persönlichkeit dieses Mannes festzuhalten, ohne ihm zu allem Leben der Linien die Farbe zu geben, die ihn erst vollendet. Und da wurde nun dieses wundersame Werk. Ein nicht gerade geistreicher Kopf, in welchem Energie mit einem gewissen Sich-gehenLassen streitet, der sich einem doch in so voller Teilnahme entgegenkehrt, daß man meint, schon irgendeine Frage überhört zu haben, und beschämt nach einer raschen Antwort sucht. Man glaubt diesen Mann schon längst zu kennen und freut sich des Wiedersehens mit ihm. Und er geht auf diese Freude ein; denn sein freundliches Interesse scheint sie lebendig zu erwidern. Polychrome Plastik. Man hat dies in letzterer Zeit oft mit einem Fragezeichen versehen. Ich bin überzeugt, daß die Plastik, um ihre letzten Ziele zu erreichen, oft zur Farbe greifen muß, womit ja nicht gesagt ist, daß sie diese von der Malerei herholen soll. Wenn es sich um Porträtbüsten handelt, wird es Sache des Künstlers sein, zu bestimmen, ob eine Individualität, um sich ganz auszuprägen, der Farbe bedarf oder nicht, – und wie in allen Kunstdingen wird der einzelne Fall, das betreffende Motiv und endlich das Material, nicht aber ein allgemeingültiges Gesetz, entscheiden helfen. Es wird zum Beispiel möglich sein, die Blüte eines jungen und 99
blassen Mädchens in leise gelblichem Marmor zu wiederholen; da lassen sich, einen tief verständigen Künstler vorausgesetzt, dann auch alle grauen Äderchen des Materials geistreich verwerten. Vielleicht wird ein Greis oder ein kränklicher Mensch in weißem Marmor mit Bedeutung geschildert werden können, und es werden in diesem Fall die leeren Augen den Eindruck des Über-dem-Leben-Stehens ganz trefflich fördern. Ich denke mir zum Beispiel eine Büste Jacobsens aus diesem Stoffe. Bei einer schönen und reifen Frau wird ein weißbläulicher Marmor von Glanz und weicher Glätte das Entsprechende sein, und seine Absicht wird, durch Kontraste, zum Beispiel eine leicht golden stilisierte Schmuckverwendung oder eine angedeutete Färbung des Haares, unterstützt, sich klar erfüllen. Wie überhaupt teilweises Anwenden von Farbe eines der vorzüglichsten Mittel zur Charakterisierung sein dürfte. Verbindung von Erz, Bronze und Metall mit Stein an einer Gestalt hingegen wirkt durchaus dilettantisch und gesucht. Nur im kleinen und ganz vornehmen Material sollte es gebraucht werden, und man wird gewiß eine köstliche Freude an einem Kleinod haben, welches Gold und Elfenbein oder Silber und Ebenholz einheitlich für seinen Sinn beansprucht. Wie lächerlich aber wirken diese Bronzestühle und Metallkränze aller unserer weißen Denkmale! Das Material, welches zur Farbe geradezu hindrängt, ist der Ton, und es ist seltsam, daß es auf diesem Gebiete unserer Zeit sogar an Versuchen fehlt. Obwohl man weiß, daß die Griechen ihre Statuen zu polychromieren pflegten, geht man einer solchen Möglichkeit ängstlich aus dem Wege, im Gefühl, daß eine farbige Statue etwas Wachsfigurenhaftes hätte. Mit demselben Recht könnte man dem Bilde die Farbe streitig machen, aus 00
Furcht, daß es einem Öldruck leicht anähneln dürfte. Freilich, man wird eben auch hier viel lernen müssen, und mit der Farbe allein ist es nicht getan; man wird den Eigentümlichkeiten des Materials nachgehen und seinen Willen, sogar seine Laune bis zu einem gewissen Grade erfüllen müssen. Man wird wissen, ob beim Porträt Marmor oder Erz oder Ton geeigneter ist, jemandes Persönlichkeit zu schildern. Man wird ferner erwägen, wie nah oder wie fern der Betreffende dem Leben war, und wird einen Einsamen anders darstellen als den, der seine schönsten Freuden in der Geselligkeit fand. Man wird zu überlegen haben, ob es sich um ein Zeugnis der Unsterblichkeit oder um ein für die Familie gedachtes Bildnis handelt, und tausend Dinge mehr. Soll nun vollends ein großes Denkmal errichtet werden, so kommt in größerem Maße als sonst die dekorative Aufgabe hinzu. Man wird den Platz als Ganzes – das ist nun allerdings bei unseren Plätzen schwer – auffassen und ihm in dem Denkmal, das man seiner Mitte anvertraut, eine Steigerung geben. Der Fremdling, der die Stadt besucht, soll stets den Eindruck gewinnen, als wäre der bedeutende Unsterbliche immer da gewesen und die Häuser hätten sich nach und nach in ehrfurchtsvollem Kreise um ihn versammelt. Es ist doch interessant, bei solcher Gelegenheit über das Porträt und seine Stellung innerhalb der Kunst nachzudenken. Da scheint auf den ersten Blick das subjektiv Geständnishafte, das mir den Rang jedes Werkes bestimmt, vor einer rein stofflich-objektiven Aufgabe geflohen zu sein. Die Vertiefung in die fremde Individualität scheint hier über dem eige0
nen Klarwerden zu stehen und somit die ganze Anschauung arg zu gefährden. Dies kommt zunächst daher, daß durch die Eigenschaft des Porträts zum Mittel des Erwerbes die Gesichtspunkte nach falschen Richtungen hin sich verschoben haben und es schwer hält zu behaupten, daß das Publikum in diesem Sinne überflüssig sei, ebenso wie zu glauben, daß irgendein aufrichtiger Künstler das dringende Bedürfnis hätte, sich einen Kommerzienrat oder einen Erzbischof ›einzugestehen‹. Faßt man die Sache etwas vorurteilsloser, so ergibt sich, daß ein Kopf ebenso ein Vorwand werden kann zu gewissen letztpersönlichen Geständnissen wie etwan eine Landschaft und daß ein irgendwie eigenartiges Gesicht mit seinen Tiefen und Heimlichkeiten und dem wechselnden Offenbaren und Verbergen sicher kein engerer Raum ist als eine Meeresstimmung oder ein Waldmotiv. Wer die geforderte Ähnlichkeit als eine herrische Beschränkung auffaßt, mag immerhin bedenken, daß die Erreichung derselben vom Künstler die Entfaltung einer Reihe subjektivster Eigenschaften geradezu verlangt und daß schon in dem Umstände, nicht die Augenblicksmiene eines Menschen, nicht sein Gelegenheitsgesicht und seiner Alltagsgesten eine, sondern ein Mittel aus den Phasen seiner Persönlichkeit zuständlich zu machen, eine nur auf persönliche Art lösbare Aufgabe liegt. – Es ist etwas Selbstverständliches für den Künstler, allen Spuren und Ahnungen in einem Gesichte, das ihm als Motiv günstig naht, nachzuforschen, sie geduldig zu untersuchen – oder sie (je nach der Art seines Schaffens) mit einem Schlage wie in der Seele eines einzigen Blitzes zu erkennen und zu besiegen; und wenn er sie als Grund zu irgendwelchen eigenen Ge02
fühlsäußerungen benutzt, wird er ihre Eigenart – nicht nur in keinem Sinne gefährden, sondern sogar sie durchleuchten und erhöhen, gleichsam über jeden Zweifel hinausheben. Denn es bleibt für das subjektive Geständnis nur da Raum, wo der Vorwand in seiner ganzen Tiefe erfaßt und in allen seinen Hartnäckigkeiten besiegt ist. Und da ist mir, daß selbst das Meer in seiner Unendlichkeit kein breiterer Rahmen ist für die Fülle des Gestehens als das Angesicht und die Gestalt des Menschen, schon um der verwandteren und konzentrierteren Mittel willen. Und wenn dem echten Künstler das Gesicht allen Möglichkeiten seiner eigenen Empfindung weit genug erscheint, kann es wohl solche geben, welche das Porträt, als Kunstqualität betrachtet, wie ein Gedicht nach gegebenen Endreimen auffassen und mit mehr oder weniger Technik diese niedliche Spielerei befriedigen. Was dann allerdings gut genug ist, um nach Größe und Buntheit bezahlt zu werden. Das Recht, dann über Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zu urteilen, steht eigentlich nur bei der Photographie jemandem zu. Künstlerisch gemeinte Ähnlichkeit verhält sich zur Erscheinung eines Menschen, wie sich die Ekstase zur Ermattung verhält. Ist Botticelli in seinen Porträts etwan ein Demütigerer oder auf sich selbst Verzichtender? Der Vorwurf ist ihm kein anderer wie seine Madonna und seine Venus. Er bewältigt ihn, um darüberhin zu sich zu kommen. Vielleicht ist das Lenbachs bester Ruhm, daß er allen seinen Köpfen die Namen nimmt, und lägen noch so schwere Kronen darauf, – und sie alle ein03
fach zu Lenbachs macht. Was denn in diesem Fall nicht für alle eine Steigerung bedeuten mag. Aber an Tizian denke man oder an Giorgione oder endlich an irgendeinen der besten Gegenwärtigen. Daß mancher Künstler das Porträt, abgesehen von den drangehängten Vorurteilen, als Beschränkung empfindet, mag daran liegen, daß seine Zeitgenossen ihm enge sind. In allen anderen Motiven empfindet er die Ewigkeiten. Aus ihren Gesichtern aber sieht ihn nüchtern das Heute durch ängstliche Grenzen an. So geht es, glaub ich, Böcklin. Die im Quattrocento hatten diese Befürchtung nicht haben müssen. Sah ihnen gleichwohl ihre Zeit aus allen diesen Zügen entgegen, es war mehr Ewigkeit in ihrer Zeit. Man erstaunt förmlich: so viel Raum für Sonne war auf diesen Stirnen. Man mochte sich gewiß gerne sehen; aber man zog es vor, sich malen zu lassen, mit und neben anderen. Die Statue war eine Isolierung. Und im Bilde hatte man immer gleich seine ganze Zeit mit, einen goldenen Hintergrund, der wie ein eigener Reichtum wirkte. Man liebte diese Zeit und wollte, jeder soll wissen, daß man ihrer Kräfte Kind war. Da stellte man irgendeine Architekur hinter sich auf, eine helle Halle, einen stolzen Turm, einen trotzigen Wall. Man vergaß auch des Gartens nie. Wie im Grabe wollte man mit seinen Lieblingsdingen beisammen sein. Und selbst zu einer Zeit, da man von Perspektive schon manches wußte, malte man unbekümmert nebeneinander Menschen und Türme und Häuser 04
in gleicher Höhe. »O,« sagen die guten Leute davor, »diese kleinen Türme!« Weshalb sie nicht bewundernd: ›O, diese großen Menschen!‹ sagen! Die Plastik blieb dem Porträt damals ziemlich fern, zunächst wegen ihrer Bevorzugung des Nackten an sich, wegen ihrer vorzüglich dekorativen Absicht vielleicht. Und dann: inmitten der Zeit und des Lebens möchte man so manchen den Nachfahren zeigen, der in diesem Rahmen edel und würdig war. In dem dauerhaften Stein, in dieser weißen, zeitlosen Einsamkeit wollte man nur die Ewigkeitsreifen darstellen. Und da das Stehen eine Sitte des Lebens ist und sich in diesen engen Tagen wohl erträgt, für das Grenzenlose aber ganz gewiß eine zu profane Haltung wäre, wählte man diesen Gestalten eine feierliche Ruhe. Das leichte Gelöstsein dieser Glieder läßt nur eine Empfindung von friedlichem Rasten und keinen Gedanken an ein Müdewerden infolge der Stellung im Beschauer aufkommen. Aber auch kein ohnmächtiger Verfall betont irgendwie den körperlichen Tod; es ist eine stillende, stehende Kraft in dieser tiefen Reglosigkeit, die am besten den Eindruck der Ewigkeit vermittelt. Von solchem Sinne sind die herrlichen Renaissancedenkmäler der Bischöfe und Fürsten und Staatsmänner: die von Settignano und Roselino in Santa Croce und das Hauptwerk des Roselino in San Miniato al Monte, welche für eine weite Reihe italienischer Grabmäler vorbildlich blieben. Das ist kein Zufall; denn der Ernst und die Weihe, welche durch vornehme Einfachheit von Material, Profilierung und Ornament erreicht wurden, sind unübertrefflich und mußten so lange dem höchsten 05
Bedürfnis entsprechen, als man von einem Grabmal Versöhnung und hoffnungsreiche, hohe Heiterkeit, nicht Mystik, Sentimentalität und schmerzhafte Verzerrung wollte. Unsere Zeit konnte sich nicht ärger ins Gesicht schlagen, als indem sie neben diese Todesstätten, welche wie Schlußsteine vornehmer, reifer Lebensauffassungen sind, ihre marmornen Phrasen setzte und es wagte, Dante mit denselben feiern zu wollen! Alle Furcht des Todes fällt einem ab diesen Grabmälern gegenüber. Überhaupt erscheint der Erbfeind überwunden, wo ihn das Leben so naiv und schlicht (…) mit aller seiner Liebe und Lichtheit feiern kommt. Er ist wie durch Großmut beschämt und legt seine harten Hände verzichtend in die seines Besiegers. Und sagt: Meine Macht sei fortab dein. Es ist die einzige, die du noch nicht besitzest. Übe du auch diese Gewalt; denn da du schaffst und baust, kannst auch nur du wissen, was müde und hinfällig ist und des Endes bedarf. Diese Versöhnung gipfelt in dem ruhigen Rund, welches die schlafende Marmorgestalt schützend und abschließend überwölbt und ihren weißen Frieden noch feierlicher und einsamer macht. Diese Menschen wurden nicht vom Tode besiegt, und keine Spur von Widerstand, keine Erinnerung an Kampf macht die Falten ihres Gewandes hart oder verdunkelt ihre Stirnen. Selten treten gotische Elemente bei diesen Gräberstätten auf: irgendwelche vorlaute Türmchen oder phrasenhafte Bogen, welche Versprechungen ma06
chen wollen über dieses versöhnte Ende hinaus. Aber das Verhältnis der Gotik ist auch in der großen Architektur so. Sie ist der Gast, der den Sitten und Sagen des sonnigen Landes sich fügen muß, und wo sie ihr ganzes Wesen rücksichtslos ausstrecken und zeigen will, da entsteht hoch oben in den Gewölben, an den Kapitellen und die Gesimse entlang ein wahrer Kampf, in dem die gesunde und stolze Kraft der Renaissancegedanken mühlos lächelnd obsiegt. Ja, es ist ganz drollig, diese vielen gebändigten Spitzbogen und die verängstigten Türmchen zu sehen, die wie Schauspieler sind, welche inmitten ihrer Rolle stecken bleiben. Eine große Hilflosigkeit überkam sie. Mit einem Male haben sie keine Beweise mehr für die Himmel, die sie verkünden sollten, und stehen in knabenhafter Verlegenheit vor dem reifen, mitleidigen Verzeihen dieser marmorklaren Erdengedanken. Was sollte eine Zeit mit Verheißungen tun, deren alle Wünsche sich täglich erfüllten? Sie hatte die Himmel aus sich gehoben und getan, daß Sehnsucht und Seligkeit nur wie Dinge waren neben den anderen Dingen, nur wie Farben neben den vielen Farben, nur Klänge, nachbarlich in den Hymnen ihrer Festlichkeit; und indem sie alle Macht bezwang und keine Freude oder Erfüllung jenseits ihrer eigenen Schranken übrig ließ, wurde sie so weit, daß sie grenzenlos schien, und die Herrlichkeiten in ihr wurden tiefer und heiliger dadurch, daß sie sie alle mit warmer Liebe in den Armen hielt. Was bleibt einer Zeit, welche die reinste Glückseligkeit in den zeitlosen Himmeln und das blutigste 07
Leid irgendwo in der brennenden Hölle glaubt? Glanz und Dunkel, Liebe und Haß, Sehnsucht und Verzweiflung, Erfüllung und Ewigkeit, Zorn und Zagheit – das alles gehört ihr nicht zu. Sie liegt arm und farblos mittendrin und hat eine einzige Dämmerung über Nacht und Tag. Zoppot, am 6. Juli 898 Hier am Rande eines kühleren Meeres beende ich dieses Buch, welches ich mehr als dreimal verleugnet habe; denn viel Angst und Armut liegt zwischen damals und heute: Tage wie flache Landstraßen, an denen arme, kahle Kastanien stehen, Gedanken wie endlose Dörfer an ihnen mit stumpfen, stillen Stirnen und verregneten Fenstern. Das alles hat noch kommen müssen, und nicht, daß es kam, machte mich so, sondern daß es jetzt geschah, im Augenblicke, als ich nichts wünschte, als Dir viel Festlichkeit unversehrt und heilig zu bringen und Dich mit ihr zu umgeben wie mit einer bilderdunklen Nische. Aber ich war wie das Kind, das dem todkranken Schwesterchen zuliebe aus dem verlorenen Gehöft durch Nacht und Not zur Stadt läuft, die Arzenei zu holen, und im lichten Morgen, von kindischen Spielen verführt, den eigentlichen Sinn des Weges vergißt und heiter ohne die ersehnte Hilfe heimkehrt … Diese Heiterkeit wird ein Weinen werden, und eine Verzweiflung steht hinter ihr: so geschah mir. Dazu kam: die Umstände, unter denen wir uns zuerst wiedersahen, brachten mit sich, daß ich an Dir nur das und jenes aus dem Gestern sah; Vergangenes, Überwundenes, Enges, was uns gemeinsames Leid gewesen, drängte sich früher an mich heran als die Erinnerung an unser einsames Glück, das zeitlos und an kein Einst gebunden ist. Ich wußte 08
nur, daß Du geduldig meine zahllosen kleinen Klagen angehört hast, und bemerkte mit einem Mal, daß ich wieder klagte und Du wieder anhörtest, wie früher. Das beschämte mich so sehr, daß es mich fast verbitterte. Es paßte so gut zu den Prager Menschen, welche das ganze Leben lang ihre eigene Vergangenheit leben. Wie Leichen sind sie, welche nicht Frieden finden und deshalb in heimlicher Nacht immer wieder ihr Sterben leben und über die harten Grüfte hin aneinander vorübergehen. Sie haben nichts mehr; das Lächeln welkte auf ihren Lippen, und die Augen trieben mit dem letzten Weinen wie auf abendlichen Flüssen hin. Aller Fortschritt in ihnen ist nur, daß ihr Sarg zermorscht und ihre Gewänder zerfallen und sie selbst immer mürber und müder werden und ihre Finger verlieren wie alte Erinnerungen. Und davon erzählen sie sich mit den lang verstorbenen Stimmen: so sind die Menschen in Prag. Nun kam ich zu Dir voll Zukunft. Und aus Gewohnheit begannen wir unsere Vergangenheit zu leben. Wie konnte ich merken, daß Du frei und festlich wurdest bei dem Vertrauen dieses Buches, da ich DICH nicht sah, sondern nur Deine Nachsicht und Milde und das Bestreben, mir Mut und Freudigkeit zu geben. Mich konnte in diesem Augenblick nichts mehr empören als dies. Ich haßte Dich wie etwas zu Großes. Ich wollte diesmal der Reiche, der Schenkende sein, der Ladende, der Herr, und Du solltest kommen und, von meiner Sorgfalt und Liebe gelenkt, Dich ergehen in meiner Gastlichkeit. Und nun Dir gegenüber war ich wieder nur der kleinste Bettler an der letzten Schwelle Deines Wesens, das auf so breiten und sicheren Säulen ruht. Was half es, daß ich meine gewohnten Festtagswor09
te anzog? Ich fühlte mich immer lächerlicher werden in meiner Maskerade, und mir erwachte der dunkle Wunsch, mich in ein tiefes Nirgendwo zu verkriechen. Scham, Scham war alles in mir. Jedes Wiedersehen beschämte mich ja. Begreifst Du das? Immer sagte ich mir: ›Nichts kann ich Dir geben, gar nichts; mein Gold wird zu Kohle, wenn ich Dirs reiche, und ich verarme dabei.‹ Einmal kam ich ja so arm zu Dir. Fast als Kind kam ich zu der reichen Frau. Und Du nahmst meine Seele in Deine Arme und wiegtest sie. Das war gut. Damals küßtest Du mich auf die Stirne und mußtest Dich tief neigen dazu. Verstehst Du, daß ich an Dir aufwuchs bis hin, wo es ein kurzer Weg wird von Deinen Augen in meine Augen? Daß ich aber endlich, stammstark, mich zu Deinen Lippen neigen wollte, ähnlich wie Deine Seele einst sich meiner Stirne neigte? Nicht von Dir umschlungen wollte ich sein. Du solltest Dich an mich lehnen können, wenn Du müde bist. Nicht Deinen Trost wollte ich fühlen, sondern die Macht hätte ich in mir wissen mögen, Dich zu trösten, solltest Du je dessen bedürfen. Nicht die Erinnerung an die Berliner Wintertage wollte ich in Dir finden, Du solltest mehr denn je meine Zukunft sein, seit ich den Glauben hatte zum Glück und das Vertrauen zur Erfüllung. Und inzwischen sagte Dir dieses Buch, was mir unten geschah, und Du durchlebtest es wie einen tiefen Traum und wurdest die Zukunft. Aber da glaubte ich nicht mehr an sie. Ich war blind und bitter, hilflos und häßlicher Gedanken voll und tagaus, tagein von der Angst gequält: Du könntest jetzt beginnen, mich mit dem Reichtum, den ich Dir gebracht und den Du so schnell zu Deinem Besitz erhobst, zurückzubeschenken, und ich fühlte in den besten Stunden, wie ich schon begann, das, was ich 0
in seligen Siegen geholt hatte, als Almosen anzunehmen von Deiner unermüdlichen Güte. Ich hatte Dir goldene Schalen gebracht, helle Gefäße der Festlichkeit, und dann hatte ich Dich mit meiner Not gezwungen, aus dem Edelgut kleine Münzen für das Bedürfnis des Alltags zu prägen und mir so das Geschenk langsam zurückzuerstatten. Ich fühlte mich dabei so erbärmlich und elend werden, daß ich den letzten eigenen Reichtum verlor oder fortwarf und in meiner Verzweiflung nur ungewiß empfand, ich müsse fort aus dem Umkreis dieser Güte, die mich erniedrigte. Aber damals, gerade in dieser Erschütterung, wurde ich gewahr, daß, wenn ich überhaupt meine Erstarrung abstreifen und in einem Entschluß mich sammeln soll, jede meiner Taten, alle Bewegung in mir zu Dir hin will; da, als ich zum ersten Mal nach dieser stumpfen Trauer wieder an morgen denken mußte, als hinter Deiner Gestalt das Schicksal stand und durch Deine entfremdete Stimme mir die eherne Frage schickte: ›Was willst du tun?‹, da war alles in mir wie eiserlöst; aus der Scholle sprang die Welle und warf sich mit aller Wucht dem Ufer hin – ohne Zögern und ohne Zweifel. Als Du mich nach der Zukunft fragtest und ich hilflos lag und eine Nacht überwachte über dieser Bangigkeit, da wußte ich, als ich Dich am Morgen wiederfand, daß Du die immer Neue, die immer Junge, das ewige Ziel bist und daß es für mich eine Erfüllung gibt, welche alle umschließt: DIR entgegengehn. Wenn meine Geliebte ein armes, kleines Mädchen wäre, dann hätte ich von ihr Abschied nehmen müssen für immer; diese hätte die Vergangenheit geliebt und meine jungen Rosen immer mit den verblaßten Bändern gebunden, die ich ihr im Mai einst
gebracht habe. Darum müssen junge Männer so oft undankbar und unstet erscheinen, gerade diesen zarten und opferfrohen Wesen gegenüber, welche ihnen alles gegeben haben; diese Mädchen sind Violinen mit einem einzigen Lied, und sie wissen nicht, wann es zu Ende war. Deine Saiten sind reich; und wie weit ich auch gehen mag – Du bist immer wieder vor mir. Meine Kämpfe sind Dir längst Siege geworden, darum bin ich manchmal so klein vor Dir; aber meine neuen Siege gehören Dir mit, und mit ihnen darf ich Dich beschenken. Ich bin über Italien auf weitem Weg zu dem Gipfel gegangen, den dieses Buch bedeutet. Du hast ihn [in] raschen Stunden erflogen und standest, noch ehe ich ganz oben war, an seiner klarsten Spitze. Ich war hoch, aber noch inmitten von Wolken; Du wartetest über ihnen im ewigen Glanz. Empfange mich, Liebling. Sei immer so vor mir, Du Liebe, Einzige, Heilige. Laß uns zusammen aufwärts gehen, Du – so wie zum großen Stern hinauf, eines am anderen lehnend, eines im anderen ruhend. Und muß ich irgendwann den Arm von Deinen Schultern fallen lassen für eine Weile, ich fürchte nichts: auf der nächsten Höhe wirst Du lächelnd den Müden empfangen. Du bist nicht ein Ziel für mich, Du bist tausend Ziele. Du bist alles, und ich weiß Dich in allem; und ich bin alles und führe Dir alles zu bei meinem Dir-entgegen-Gehen. Ich muß nicht sagen: Verzeih! Denn ich bitte Dich in jedem Schweigen darum; ich muß nicht bitten: Vergiß! Denn wir wollen uns auch dieser Stunden erinnern, in denen ich von Dir wollte aus Scham; 2
und auf meiner blinden Flucht lief ich immer DIR entgegen. Und ich will auch nicht sagen: Vertrau! Denn ich weiß, daß dieses die Sprache ist, mit welcher wir uns in diesen neuen, heiligen Morgen erkannten und begrüßten nach einem langen Fernsein und einem fernen Beisammensein, das unsere letzte Trennung war und meine letzte Gefahr. – Und nun dieses Buches letzter Wert ist die Erkenntnis eines Künstlertums, das nur ein Weg ist und in einem reifen Dasein endlich sich erfüllt. Mit jedem Werke, welches Du aus Dir hebst, schaffst Du Raum für irgendeine Kraft. Und der letzte, welcher nach lange kommt, wird alles in sich tragen, was um uns wirksam und wesenhaft ist; denn er wird der größte Raum sein, erfüllt mit aller Kraft. Das wird nur einer erreichen; aber alle Schaffenden sind die Ahnen dieses Einsamen. Es wird nichts sein außer ihm; denn Bäume und Berge, Wolken und Wellen sind nur Symbole gewesen jener Wirklichkeiten, die er in sich findet. Alles ist in ihm zusammengeflossen, und alle Mächte, die sonst zerstreut einander bekämpften, zittern unter seinem Willen. Sogar der Boden unter seinen Füßen ist zuviel. Wie einen Gebetsteppich rollt er ihn zusammen. Er betet nicht mehr. Er ist. Und wenn er eine Geste tut, wird er erschaffen, hineinschleudern in die Unendlichkeit viele Millionen von Welten. Auf denen beginnt das gleiche Spiel: reifere Wesen werden sich erst mehren und dann sich vereinsamen und nach langem Kampfe endlich wieder einen erziehen, der alles in sich hat, einen Schöpfer von dieser Ewigkeitsart, einen ganz Großen im Räume, einen mit den plastischen Gesten. So rankt sich jedes Geschlecht wie eine Kette von Gott zu Gott. Und jeder Gott ist die ganze Vergangenheit einer Welt, ihr letzter Sinn, ihr einheitlicher Ausdruck und zu3
gleich die Möglichkeit eines neuen Lebens. Wie andere ferne Welten zu Göttern reifen werden – weiß ich nicht. Aber für uns ist die Kunst der Weg; denn unter uns sind die Künstler die Durstigen, die alles in sich trinken, die Unbescheidenen, die nirgends Hütten baun, und die Ewigen, die über die Dächer der Jahrhunderte reichen. Sie empfangen Stücke des Lebens und geben das Leben. Wenn sie einmal aber das Leben empfangen haben und die Welt in sich tragen mit allen Mächten und Möglichkeiten, werden sie etwas geben – darüber hinaus … Ich fühle also: daß wir die Ahnen eines Gottes sind und mit unseren tiefsten Einsamkeiten durch die Jahrtausende vorwärtsreichen bis zu seinem Beginn. Das fühle ich!
Nachwort Das Florenzer Tagebuch unterscheidet sich im Stil beträchtlich von seinen Nachfolgern aus der Frühzeit, dem Schmargendorfer und dem Worpsweder Tagebuch, denn es stellt wesentlich eine Sammlung von Einzelniederschriften über Florentiner Kunst und ihre Wirkung auf Rilke dar, während die folgenden Tagebücher Erlebnis auf Zeichnungen, Gedichte und Prosawerke in bunter Folge enthalten. Diese Verschiedenheit ist aber rein äußerlich begründet in der Vielfalt der Eindrücke, die in Florenz und in der Erinnerung daran in Viareggio auf Rilke so stark wirkten, während er in Worpswede und Schmargendorf viel mehr unter der Einheit eines Eindruckes in seinem nacheinander folgenden Ablauf – dem Eindruck der nordischen Landschaft und ihrer Künstler – stand. Hinzukommen mag auch, daß das Florenzer Tagebuch als ein Reisebericht für Lou Andreas-Salome geschrieben wurde, dagegen die anderen Aufzeichnungen sein persönlichstes Eigentum sind. So ist auch hier Entwicklung zu sehen, die von außen nach innen verläuft, vom Aphorismus zur Erlebnisniederschrift. Die Daten sind nur spärlich gegeben, so daß es nötig ist, die Tagebücher durch eine Zeittafel zu gliedern. Das in weißes Kunstleder mit eingeprägten Florentiner Lilien gebundene Florenzer Tagebuch beginnt mit dem Gedicht ›Aus unserm winterlieben Gelände bin ich fern in den Frühling verbannt …‹ vom 5. April 898 in Florenz, ist aber nur zum geringsten Teil in Florenz niedergeschrieben. Mit der Eintragung ›Ich habe jeden Tag den guten Willen gehabt, in meinen Aufzeichnungen fortzufahren …‹ (Seite 28) beginnen die Niederschriften in Viareggio, wo Rilke zwischen dem 6. und . 5
Mai 898 eintraf, was auch aus dem Text – ›Ich denke so still über das Ligurische Meer hin‹ – hervorgeht. Ende Mai bis Anfang Juni fuhr er über Prag, Berlin-Wilmersdorf nach Zoppot, wo die Eintragungen am 6. Juli fortgesetzt werden. Wenn man nun versucht, die Tagebuchaufzeichnungen in sein Werk einzuordnen, geht es einem ähnlich wie mit seinen Briefen. Wie dort vieles Nebensächliche neben zum Werk gereifter Prosa steht, so findet man in den Tagebüchern Gedichte, man möchte sagen: von Gelegenheitswert, und Prosastücke wie ›Frau Blahas Magd‹, die uns heute weniger wertvoll erscheinen, neben ausgereiften Niederschriften, die nach Form und innerem Wert ohne weiteres zum Werk zu rechnen sind. Es geht nicht an, die Tagebücher in Auszügen zu veröffentlichen, denn das Erlebnis des einen Tages setzt sich fort im anderen, und so muß auch das minder wichtig Scheinende seinen Platz behalten, den ihm Rilke angewiesen hat. In diesem Sinne sind die Tagebuchaufzeichnungen wie die Briefe ein Werk neben dem eigentlichen Werk, und so hat ihre Veröffentlichung in der vorliegenden Form ihre Berechtigung. Die Herausgeber
79 Kunstwerke sind die Freibriefe der einzigen kronenechten Aristokratie, jener, die ihre Ahnen noch vor sich hat.