Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 683 Hexenkessel Alkordoom
Das Fragmentwesen von H. G. Francis
Sein Z...
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Atlan - Im Auftrag der Kosmokraten
Nr. 683 Hexenkessel Alkordoom
Das Fragmentwesen von H. G. Francis
Sein Ziel ist die Rache
Im Jahr 3818 wird Atlan aus seinem Dasein als Orakel von Krandhor herausgerissen. Der Grund für diese Maßnahme der Kosmokraten ist, daß Atlans Dienste an einem anderen Ort des Universums viel dringender benötigt werden als im Reich der Kranen. Neuer Einsatzort des Arkoniden ist die Galaxis Alkordoom, wo eine Entwicklung im Gang ist, die das weitere Bestehen der Mächte der Ordnung in Frage stellt. Bereits die ersten Stunden von Atlans Aufenthalt in Alkordoom zeigen auf, wie gefährlich die Situation ist. Der bestandene Todestest und der Einsatz im Kristallkommando beweisen jedoch Atlans hohes Überlebenspotential. Dennoch gerät der Arkonide in die Gewalt der Crynn‐Brigadisten – und ihm droht die Auslöschung seiner Persönlichkeit. Doch Atlan wird rechtzeitig genug von Celestern gerettet, Nachkommen entführter Terraner, die den Arkoniden in ihre Heimat New Marion bringen. Und als Atlan von einer Gefahr erfährt, die den Bewohnern des Planeten droht, greift er ein. Er verhindert die Vernichtung einer ganzen Welt, doch er kann nicht verhindern, daß das Minu‐Cuzz und das Fract‐Cuzz zusammenfinden und ihren Rachefeldzug beginnen als DAS FRAGMENTWESEN …
Die Hauptpersonen des Romans: Das Minu‐Cuzz und das Fract‐Cuzz ‐ Ein Fragmentwesen vereinigt sich. Per Arens ‐ Ein Hypnotisierter. Buster McMooshel. ‐ »Medizinmann« der Celester. Atlan ‐ Der Arkonide wird gekidnappt. Sarah Briggs ‐ Das Objekt einer Erpressung. Flora Almuth ‐ Insassin eines Heims für geistig Behinderte.
1. Das Fract‐Cuzz war in der Nähe. Dessen war sich das Minu‐Cuzz völlig sicher. Es hatte das Bruderwesen gespürt, und seitdem hatte sich etwas in ihm verändert. Die Sehnsucht nach dem anderen Teil seines Ichs war überwältigend geworden. Wenn es nur mehr Ruhe gehabt hätte, sich auf das Fract‐Cuzz zu konzentrieren. In seiner unmittelbaren Nähe hielten sich einige Voorndaner auf, und sie störten. Das Minu‐Cuzz war eines der Restteile der früheren Facette Cuzz, die von Zulgea von Mesanthor entmachtet und gespalten worden war. Bei diesem Anschlag, mit dem Zulgea von Mesanthor die Macht errang, überlebten zwei Fragmente des ursprünglichen Körpers. Insofern war es ein Teilmord gewesen. Seltsamer Begriff, dachte das Minu‐Cuzz. Mord – das ist etwas Endgültiges, gleichbedeutend mit Tod. Nicht mehr umkehrbar. Gibt es einen Teilmord, oder war dies nicht mehr als die schwerste Form von Körperverletzung und Verstümmelung? Er schob diese Gedanken von sich. Das eine Fragment war das unsichtbare Fract‐Cuzz. Nach ihm sehnte das Minu‐Cuzz sich in einer derart übersteigerten Form, daß ihm ein weiteres Leben ohne diesen Teil seines ursprünglichen Ichs völlig undenkbar erschien. Das Minu‐Cuzz bestand nur aus einem Kopf, der
menschenähnlich war. Es hatte einen kahlen, hellblauen Schädel. Die übergroßen Augen waren erfüllt von Trauer. Der Kopf saß auf einer Scheibe aus Metall, die einen Durchmesser von 22 Zentimetern hatte und fünf Zentimeter dick war. In ihr verbargen sich die miniaturisierten Anlagen zur Lebenserhaltung und zur Steuerung des Fragments. Das Minu‐Cuzz hatte selbst keine Extremitäten. Es hatte nichts, womit es irgend etwas anfassen oder bewegen konnte, und es wäre vollkommen wehrlos gewesen, wenn es sich nicht mit der Metallplatte auf die Schultern des als Menschen verkleideten Roboters Traunich gesetzt hätte, nachdem es den Kopf der Maschine entfernt hatte. Jetzt diente ihm der Roboter als Fortbewegungsmittel, und es nutzte seine Arme, um hantieren zu können. Die Hypnosewaffe war stumpf geworden. Daher hatte das Minu‐ Cuzz sich zurückziehen und verstecken müssen. Es befand sich in der weitgehend entvölkerten ehemaligen Hauptstadt Voorndans, und es hatte Angst. Es spürte die Nähe des unsichtbaren Fract‐Cuzz, aber es konnte sich diesem nicht mitteilen. Es konnte nicht auf sich aufmerksam machen, und es bebte innerlich, weil es fürchtete, das andere Fragment seines ursprünglichen Körpers könne sich von ihm entfernen, ohne es bemerkt zu haben. Das Minu‐Cuzz war entschlossen, die Stadt Edelkraut und den Kontinent Palmwiese sofort nach der Vereinigung mit dem Fract‐ Cuzz zu verlassen und zum Kontinent Hain überzuwechseln. Dort wußte es Atlan und die ANIMA. Sie waren sein nächstes Ziel. Mit ihrer Hilfe werde ich Zulgea angreifen, dachte es. Sie werden mir helfen, diese Kreatur zu vertreiben. Doch noch war es nicht soweit. Es hatte wenig Sinn, darüber nachzudenken, wie es Zulgea von Mesanthor entmachten konnte, bevor die ersten Schritte getan waren. Disziplin ist notwendig, hämmerte es sich ein. Jetzt kommt es wirklich darauf an. Fehler dürfen dir nicht mehr unterlaufen. Du mußt das große Ziel im Auge behalten, aber du mußt dich ihm Schritt für Schritt nähern, und jeder einzelne Schritt muß sorgfältig
geplant und ausgeführt werden. Sobald es sich mit dem Fract‐Cuzz vereinigt hatte – was hoffentlich bald geschah – brauchte es ein Transportmittel, denn bei der Verschmelzung mußte es sich von dem Robotkörper trennen, und mit seinem eigenen Körper war es über große Strecken hinweg nicht beweglich genug. Es hatte zwei Möglichkeiten, nach Hain zu kommen. Es konnte eine der Transmitterlinien oder einen Gleiter benutzen. Keine Frage, was ich nehme, dachte es. Natürlich den Transmitter. Doch es konnte die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Celester die Verbindungen gekappt hatten, nachdem es zu der Katastrophe unter den Voorndanern gekommen war. Dabei waren über neunzig Prozent der Bevölkerung dahingerafft worden. Das Minu‐Cuzz stand in einer Parknische an der Flanke eines Hochhauses etwa hundert Meter über einem parkähnlichen Gelände. Wo blieb das Fract‐Cuzz? Spürte es seine Nähe nicht ebenfalls? Das Minu‐Cuzz schickte hypnotische Impulse in die Umgebung hinaus, um auf sich aufmerksam zu machen. Als keine Antwort kam, drehte es sich um und schritt mit Hilfe seines Robotkörpers zu einem abgestellten Gleiter hinüber. Es setzte sich hinter die Steuerelemente und drückte die Starttaste am Armaturenbrett. Nichts geschah. Verblüfft blickte das Fragment auf die Instrumentenanzeigen. Der Computer wies aus, daß ein Schwingquarz fehlte. Durch diesen wurde der Energiefluß von der Energiezelle zum Antigrav gesteuert. Ohne ihn lief gar nichts. Der Gleiter war nicht zu gebrauchen. Da siehst du es! schalt das Minu‐Cuzz sich. Du überlegst, wie du Zulgea von Mesanthor beseitigen kannst, aber du hast nicht dafür gesorgt, daß du den ersten Schritt zu ihrem Tode zurücklegen kannst. Du hättest die Maschine schon längst überprüfen müssen. Zeit genug hast du gehabt. Du hast gewartet und nichts weiter
getan, als dich deiner Sehnsucht nach dem Fract‐Cuzz hingegeben. Dies ist das Verhalten eines Verlierers. Erzürnt über die eigene Nachlässigkeit verließ es die Parknische und wechselte in eine weite Halle über. In dieser hatte noch vor wenigen Tagen ein lebhaftes Treiben geherrscht. In ihr war ein Einkaufs‐ und Vergnügungszentrum gewesen, in dem Tag und Nacht Tausende von Voorndanern ihre Besorgungen gemacht oder Zerstreuung gesucht hatten. Jetzt hielt sich niemand mehr darin auf. Roboter hatten dafür gesorgt, daß die Toten beseitigt wurden. Auf dem Boden lag nichts mehr herum. Alles funkelte ebenso sauber wie steril. Die Lichter waren ein wenig schwächer als sonst, was darauf hinwies, daß die Energieversorgung nicht mehr so einwandfrei wie gewohnt funktionierte. Und noch etwas fiel dem Minu‐Cuzz auf. Eine menschengroße Puppe lag vor einem der Geschäfte. Sie ruhte mit dem Gesicht auf dem Boden. Ein kastenförmiger Roboter war kaum zwei Meter von ihr entfernt. Er hatte seine Greifarme nach ihr ausgestreckt, konnte sie jedoch nicht mehr erreichen, da ihm die Energie fehlte. Alles geht zu Ende, dachte das Minu‐Cuzz. Er ging zu der Puppe hinüber und drehte sie auf den Rücken. Die Augen des Dekorationsstücks ruckten einige Male hin und her, dann blieben sie starr nach oben gerichtet, fixiert auf ein unsichtbares Etwas, das sich auf seiner Stirn befand. Irgendwo hinter ihm polterte klirrend ein Metallkörper zu Boden. Das Minu‐Cuzz fuhr erschrocken herum. Es hob die Hände, um einen möglichen Angriff abwehren zu können. Aus einem der Geschäfte taumelte eine voorndanische Frau hervor. Der Tod hatte ihr Gesicht bereits gezeichnet. Sie streckte die Arme nach ihm aus, öffnete den Mund, brachte jedoch keinen Laut mehr hervor, und brach sterbend zusammen. Das Minu‐Cuzz blieb einige Minuten lang stehen. Es empfand kein Mitleid für die Frau. Die Voorndaner hatten sich ihr Ende selbst
zuzuschreiben. Die Seuche war durch ihre eigene Schuld entstanden. Niemand konnte ihnen noch helfen. Das Minu‐Cuzz durchquerte ein Geschäft, in dem seltene Tierhäute verkauft worden waren, und trat in eine Parknische hinaus. Hier standen zwei Gleiter. Es setzte sich in eine der beiden Maschinen und versuchte, sie zu starten. Doch auch hier war ein lebenswichtiges Teil ausgefallen, so daß es nicht starten konnte. Die Situation war so ungewohnt, daß Minuten vergingen, bis das Minu‐Cuzz sie wirklich akzeptierte. Gleiter waren so zuverlässige und funktionssichere Maschinen, daß ein Versagen praktisch nicht in Frage kam. Und ausgerechnet jetzt mußte es auf zwei Gleiter stoßen, die ausgefallen waren. Es setzte sich in die andere Maschine, aber auch diese war unbrauchbar. Das geht nicht mit rechten Dingen zu! Das Minu‐Cuzz entfernte einen Teil der Karosserieabdeckung und blickte forschend auf das Antriebsaggregat. Was hast du dir eigentlich davon versprochen? fragte es sich. Du hast keine Ahnung, wie so etwas aussehen muß. Hast du gedacht, du entdeckst den Fehler und kannst ihn beseitigen? Narr! Es verließ die Parknische und kehrte in das Einkaufszentrum zurück. Im ersten Moment fiel ihm nicht auf, daß sich etwas verändert hatte. Doch dann blieb es wie angewurzelt stehen. Die tote Voorndanerin lag noch an der gleichen Stelle. Aber die Puppe war nicht mehr dort, wo sie gewesen war. Irgend jemand hatte sie zu den Toten gebracht, und deren Hände in die ihren gelegt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Minu‐Cuzz sich absolut sicher gefühlt. Die Voorndaner waren durch die Seuche derart geschwächt, daß es von ihrer Seite keinen Widerstand erwartete. Und wenn sich ihm tatsächlich jemand in den Weg gestellt hatte, so hatte es ihn mit hypnotischen Befehlen ausgeschaltet. Das Minu‐Cuzz hörte, wie etwas surrend durch die Luft flog.
Dann schlug ein dünner Metallpfeil gegen die Schulter seines Robotkörpers. Das Fragment drehte sich erschrocken um sich selbst, konnte den Angreifer jedoch nicht entdecken. Das Einkaufs‐ und Vergnügungszentrum schien nach wie vor verlassen zu sein. Aus verborgenen Lautsprechern an der Decke hallte ein alarmierendes Signal auf ihn herab. Unwillkürlich blickte es nach oben. Dann ertönte eine Stimme. »Wir wissen jetzt, daß du dafür verantwortlich bist, Gesandter des Todes«, rief sie. »Du wirst dafür bezahlen. Du wirst leiden, so wie noch nie jemand für das gelitten hat, was er getan hat. Du allein bist verantwortlich.« »Wovon redest du?« fragte das Minu‐Cuzz. »Ich verstehe dich nicht.« Höhnisches Gelächter antwortete ihm. »Leugne nicht, Gesandter des Todes. Sieh dich um in der Stadt und auf diesem Kontinent. Wo sind sie geblieben, die lachenden Gesichter? Wo sind sie – die Männer, Frauen und Kinder? Hörst du ihre Stimmen noch? Vernimmst du ihr Weinen?« Das Fragment begriff, und ihm war, als ob ein eisiger Wind über seinen Schädel streiche. Die Voorndaner machten ihn für das grauenvolle Ende ihres Volkes verantwortlich. Sie gaben ihm die Schuld dafür, daß tödliche Mikroorganismen entstanden waren. Dabei hatte es nicht das geringste damit zu tun. Sie selbst hatten das Unheil mit ihrem Giftangriff auf das Raumschiff ROULETTE eingeleitet. Sie sind wahnsinnig! fuhr es ihm durch den Kopf. Die letzten Überlebenden haben den Verstand verloren. Jetzt bäumen sie sich noch einmal auf. Ich muß so schnell wie möglich verschwinden, oder ich muß mich tagelang mit ihnen herumschlagen. Zulgea von Mesanthor hätte den Vorteil davon. Sie hätte Zeit gewonnen. Sie könnte ihre Macht weiter festigen. Es eilte zu einem Antigravschacht und wollte einsteigen, fuhr
dann aber im letzten Moment zurück. Was hinderte die Voorndaner daran, das Kraftfeld abzuschalten, sobald es im Schacht war? Es war so einfach, es zu töten. Das Minu‐Cuzz rannte quer durch die Halle zu einem anderen Ausgang und von dort zum Hauptparkplatz, auf dem mehr als zwanzig Gleiter standen. Sie können nicht alle ausgefallen sein, dachte es. Doch es begriff sehr schnell, daß seine Gegner keine halben Sachen machten. Keine einzige Maschine war flugbereit. An jedem Gleiter fehlte ein lebenswichtiges Teil. Das Minu‐Cuzz fuhr herum und wollte in die Halle zurückkehren, doch jetzt schlossen sich die gepanzerten Brandschutztüren, und aus den Lautsprechern hallte Gelächter. Erschrocken lief das Fragment bis zur äußersten Kante des Parkplatzes. Hier legte es sich auf den Boden und blickte in die Tiefe. Etwa fünf Meter unter ihm befand sich ein anderer Parkplatz. Auf ihm standen zwölf Gleiter. Das Minu‐Cuzz schob sich mit den Beinen voran über die Kante und ließ sich dann langsam darüber hinweggleiten, bis es sich schließlich nur noch mit den Händen hielt. Vorsichtig schwang es sich hin und her und warf sich dann mit der ganzen Kraft seines Robotkörpers nach vorn. Es stürzte in die Tiefe, prallte nur wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt auf, brach in die Knie und hatte sekundenlang Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Dann endlich gelang es ihm, sich vornüberfallen zu lassen. Es kroch von der Kante fort bis zu einem der Gleiter hin, sprang auf und versuchte, die Maschine zu starten. Sie haben alle Antigravgleiter beschädigt! erkannte es gleich darauf. Sie wollen mit aller Macht verhindern, daß ich die Stadt verlasse. Es verzichtete darauf, auch die anderen Maschinen zu überprüfen, um nicht unnötig Zeit zu verlieren, und flüchtete ins Innere des Gebäudes. Über die Nottreppe stürmte es nach unten. Es schnellte
sich von Treppenabsatz zu Treppenabsatz hinunter und bewegte sich dabei so schnell, daß ihm kein Voorndaner hätte folgen können. Es erwartete, am Ausgang des Gebäudes aufgehalten zu werden, doch kein Voorndaner stellte sich ihm in den Weg. Ungehindert trat es ins Freie hinaus. Und wieder fühlte es die Nähe des anderen Fragments. Das Fract‐Cuzz ist da, dachte es verzweifelt, aber ich finde nicht die Ruhe, mich auf es zu konzentrieren. Ich brauche Abgeschiedenheit. Es ist, als ob die Voorndaner wüßten, daß es genügt, mich zu beschäftigen. Sie können doch nicht ahnen, daß sie allein dadurch die Vereinigung unmöglich machen. Es rannte durch eine parkähnliche Anlage. Dabei wurde ihm bewußt, daß es Zehntausende von Gleitern in der Stadt geben mußte. Die Voorndaner konnten nicht alle lahmgelegt haben. Dazu wäre eine Armee von Spezialisten nötig gewesen. In der Stadt aber konnten höchstens noch einige hundert Voorndaner leben. Und auch sie hatten den Tod vor Augen. Sie waren entkräftet. Es war ausgeschlossen, daß sie noch große Aktivität entwickelten. Die Transmitterverbindungen kommen nicht mehr in Frage. Sie werden ganz sicher bewacht. Die Voorndaner warten nur darauf, daß du dorthin gehst. Das Minu‐Cuzz blieb stehen. Ich brauche Ruhe! Ich darf nicht die Übersicht verlieren. Ich bin ihnen noch immer überlegen. Es kann nicht anders sein. Es lief an einigen verlassenen Spielhöllen vorbei bis zu einer Antigravstraße. Vom sanften Druck des Antigravfelds erfaßt, glitt es einige Kilometer weit darüber hin, bis es meinte, sich weit genug von den Voorndanern entfernt zu haben, die sich an ihm rächen wollten. Es verließ die Antigravstraße, die direkt in einen der sogenannten Glückspaläste mündete, und setzte sich auf eine Bank an einem Brunnen, obwohl es so etwas wie körperliche Schwäche oder Erschöpfung nicht kannte. Gedankenverloren blickte es auf
Wasserspiele, die mit einem positronischen Musikinstrument gekoppelt waren. Im Rhythmus der Musik tanzten die Wasserstrahlen. Das rötliche Licht der Sonne spiegelte sich darin. Abermals spürte es die Nähe des Fract‐Cuzz. Unwillkürlich sprang es auf und sah sich um. Es konnte nicht mehr weit von ihm entfernt sein. Warum reagierte es nicht? Folgte es nicht ebenfalls dem Verlangen, der körperlichen Verschmelzung zu einem Wesen? Dachte es nicht ebenfalls daran, den Kampf gegen Zulgea wieder aufzunehmen? War es sich dessen nicht bewußt, daß beide Fragmente zusammen stärker waren als jedes einzelne für sich? »Wo bist du?« rief es laut. »Ich weiß, daß du hier irgendwo bist.« »Ja, ich bin hier«, antwortete eine haßerfüllte Stimme. Sie kam aus einem Lautsprecher. »Ich sehe deinen blauen Kopf, der wohl auf dem Körper eines Roboters sitzt, und ich denke daran, wie ich dich für das unendliche Leid bestrafen kann, das du über mein Volk gebracht hast.« Mein Volk? Das Minu‐Cuzz blickte sich verwundert um. Das waren neue Töne. Sah der Voorndaner sich als Herr der Überlebenden an? Es schien so. »Wo bist du?« fragte es laut. »Zeige dich. Ich will mit dir reden.« Einige Minuten verstrichen, ohne daß etwas geschah. Dann trat eine kleine, humanoide Gestalt aus dem Schatten eines Gebäudes hervor. Sie war nur mit einem Tuch bekleidet, das sie sich um die Hüften geschlungen hatte. In den Händen hielt sie einen Energiestrahler. Das Gesicht war mit grauen Streifen überdeckt. Im ersten Moment glaubte das Minu‐Cuzz, es nur mit diesem Voorndaner zu tun zu haben, doch schon wenig später merkte es, daß es sich geirrt hatte. Eine Gruppe von wenigstens zwanzig Männern folgten dem Anführer. Alle waren mit Energiestrahlern bewaffnet. Auf den Dächern erschienen die Gestalten von mehreren Frauen. Auch sie hatten tödlich wirkende Waffen. »Die Stunde der Rache ist nah«, rief der Herr der Voorndaner.
* »Der Herr hat es gegeben«, sagte Benjamin Boz Briggs. Er senkte den Kopf und blickte auf seine Hände hinab. »Wir wollen dankbar sein.« Das durch Erbfolge bestimmte Oberhaupt der Celester nickte Atlan aufmunternd zu und begann zu essen. Er war ruhig gefaßt wie immer. Wie sehr ihn die Berichte über die Ereignisse der letzten Tage erschüttert hatten, war ihm nicht anzumerken. Drei‐B, wie er meistens genannt wurde, war grauhaarig und trug einen kurz gehaltenen Vollbart. Atlan respektierte ihn. Er hatte ihn als Führungspersönlichkeit schätzen gelernt. »Ich habe mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen«, erklärte Drei‐B. »Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß sich das Minu‐Cuzz noch auf New Marion aufhält.« Atlan schüttelte den Kopf. »Das halte ich für unwahrscheinlich«, widersprach er. Er schob den Teller, von dem er gegessen hatte, von sich. »Hast du einen Grund für diese Annahme?« fragte der Alte. »Die Auseinandersetzungen um die ROULETTE«, erwiderte der Arkonide. »Das Minu‐Cuzz war plötzlich verschwunden. Es hätte sich jedoch ganz sicher noch gemeldet, wenn es Informationen von mir benötigt hätte. Nein, ich gehe davon aus, daß es getötet wurde.« Er erhob sich. »Entschuldige mich«, bat er, »ich bin verabredet.« Briggs lächelte. »Sarah«, sagte er verstehend. »Vergiß nicht, meine schöne Enkelin von mir zu grüßen.« Als Atlan gegangen war, erschien Arien Richardson in dem Lokal. Er setzte sich zu dem Alten an den Tisch. Der »Feuerwehrmann«, wie er meistens genannt wurde, stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und beugte sich weit vor.
»Das trifft sich gut«, sagte er. »Ich habe einen Bärenhunger und könnte für drei essen. Ich hoffe, du hast noch ein wenig Zeit, bevor dich die Regierungsgeschäfte wieder in Anspruch nehmen?« Drei‐B lachte. »Nur zu«, entgegnete er. »Mit dir wollte ich ohnehin reden.« »Was gibt es?« fragte der Chef der sogenannten »Feuerwehr«, einer Eingreiftruppe, der es unter anderem gelungen war, Atlan herauszuholen, als dieser sich in höchster Not befand. »Ich sagte schon zu Atlan, daß ich das Minu‐Cuzz noch auf New Marion vermute, aber er interessiert sich nicht sonderlich dafür. Seine Gedanken scheinen sich ein wenig zu sehr mit Sarah zu befassen.« »Ist das so verwunderlich? Sarah ist schließlich ein ungewöhnlich schönes Geschöpf, und ich kenne eigentlich keinen Mann; der nicht die Augen verdreht, wenn er sie sieht. Atlan kann sich glücklich schätzen, daß sie seine Gefühle erwidert.« »Schon richtig. Es ist wirklich nicht überraschend. Doch wir dürfen das Minu‐Cuzz nicht außer acht lassen. Es könnte uns gefährlich werden.« »Mir scheinbar nicht.« »Eben. Das hat mich stutzig gemacht. Du warst teilweise und zeitweise immun gegen die Macht des Minu‐Cuzz, und ich frage mich, warum das so war.« »Ich bin eben was Besonderes«, scherzte Richardson. »Ich mache mir Sorgen.« »Das überrascht mich nicht. Du gehst eben immer von den schlechtesten aller Möglichkeiten aus.« »Lieber das Schlimmste annehmen und dann angenehm überrascht werden, als umgekehrt.« »Und was wäre in diesem Fall das größte Übel?« »Ich kann nicht ausschließen, daß alle Celester von dem Minu‐ Cuzz in den Bann geschlagen werden.« »Diese Befürchtung erscheint mir aber doch recht extrem«,
erwiderte Richardson. Er lächelte. »Davon ist doch überhaupt nichts zu spüren. Nirgendwo ist irgend etwas geschehen, was uns alarmieren sollte. Glaube mir, meine Leute halten die Augen offen.« »Vielleicht ist das Minu‐Cuzz nicht in Hain, sondern in Palmwiese. Möglicherweise ist die Reichweite seiner Kräfte gering. Wer sagt denn, daß es uns aus dieser Entfernung etwas anhaben könnte, und wer kann ausschließen, daß in Hain alles ganz anders wäre?« »Na schön.« Arien Richardson lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Welche Konsequenzen willst du aus diesen Gedanken ziehen?« »Ich möchte, daß du zu Buster McMooshel gehst. Sofort.« »Zum Medizinmann? Warum das?« »Er soll dich untersuchen. Ich werde dich begleiten.« Richardson schüttelte verwundert den Kopf und widmete sich dann dem riesigen Steak, das auf seinem Tisch erschien. Benjamin Boz Briggs beobachtete ihn. Er konnte nicht umhin festzustellen, daß es zur Zeit wirklich nichts anderes für den Feuerwehrmann gab als das Stück Fleisch auf seinem Teller. Er verzehrte es mit einem Genuß, der jeden Gedanken an andere Dinge ausschloß. 2. Das Minu‐Cuzz wollte sich zur Flucht wenden, doch in diesem Augenblick empfing es einen Geistesimpuls vom Fract‐Cuzz. Es fühlte sich, als sei es von einem Blitz getroffen worden. Wie gelähmt blieb es auf der Stelle stehen. Die Gruppe der Voorndaner teilte sich. Die Männer schwärmten aus und bildeten einen Halbkreis. Dann schritten sie langsam und lauernd auf es zu, als fürchteten sie, es könnte plötzlich und mit explosiver Gewalt über sie herfallen.
Sie sind alle krank! erkannte das Minu‐Cuzz. Sie sehen grau und alt aus. Es ist, als ob ihre rote Haut von einem Schimmel überzogen wäre. Ihre Augen sind stumpf, und ihre Lippen sind aufgequollen. Bei ihnen ist das Krankheitsbild ganz anders als bei den anderen. Das muß etwas zu bedeuten haben. »Bist du dir eigentlich dessen bewußt, was du getan hast?« schrie der Anführer der Gruppe. »Millionen Tote gehen auf dein Konto. Und für jeden einzelnen von ihnen werden wir uns rächen.« Die anderen reckten die Arme in die Höhe und begannen wüst zu schreien. Das Minu‐Cuzz fühlte, daß etwas über seinen Kopf hinwegstrich. Es fuhr herum, konnte niemanden sehen und spürte gleichzeitig die körperliche Nähe des Fract‐Cuzz. Die Vereinigung hätte stattfinden können, wenn die Voorndaner nicht gewesen wären. Verzweifelt wandte das Minu‐Cuzz sich dem Anführer zu. Mit aller Macht versuchte es, diesen zu hypnotisieren. Doch schon nach wenigen Sekunden begriff es, daß sein Angriff wirkungslos verpuffte. Entweder waren die Kranken immun, oder seine Kräfte reichten nicht mehr aus, sie zu beeinflussen. Es stürzte sich auf den Voorndaner, der ihm am nächsten war, wirbelte ihn herum und schleuderte ihn gegen die anderen. Damit verschaffte es sich den winzigen Vorsprung, den es benötigte. Es hetzte über den Platz und flüchtete in einen überdachten Durchgang hinein. Dann sah es in den spiegelnden Scheiben, daß die Kranken sich neu formiert hatten und schießen wollten. Es warf sich gegen eine der Scheiben, durchbrach sie und rollte sich über den Boden zu einer nach unten führenden Antigravschräge hin. Es glitt über die Kante und rutschte in die Tiefe, als die ersten Energiestrahlen einschlugen. Die sengende Hitze trieb es zu noch größerer Eile an. In diesen Sekunden dachte es nicht mehr an das Fract‐Cuzz, sondern nur noch daran, wie es überleben konnte. Wie nicht anders zu erwarten, war das Antigravfeld ausgefallen.
Daher sprang das Minu‐Cuzz auf, sobald es meinte, einen genügend großen Vorsprung gewonnen zu haben, und lief weiter in eine Halle hinein, in der Tausende von Spielautomaten der unterschiedlichsten Art standen. Vor dem Erscheinen der ROULETTE war der Raum von brodelndem Leben erfüllt gewesen. Voorndaner hatten sich dem Spielrausch ergeben und versucht, einen finanziellen Gewinn zu machen. »Nicht so schnell«, flüsterte eine dumpfe Stimme in alkordischer Sprache. Das Minu‐Cuzz blieb wie angewurzelt stehen. »Fract‐Cuzz«, antwortete es. »Du bist es. Du mußt es sein.« »Ich bin es«, erwiderte das unsichtbare Fragment. »Wir müssen zueinander finden.« »Dazu brauchen wir Ruhe. Unter den gegebenen Umständen kann es keine Vereinigung geben.« Die Stimmen der Voorndaner hallten zu ihnen herab. Sie machten deutlich, daß die Verfolger unerbittlich näher rückten. »Ich werde sie ablenken«, versprach das Fract‐Cuzz. »Sie können mich nicht sehen. Ich werde sie verwirren und auf eine falsche Spur locken. Wir sehen uns an der Transmitterstation Süd wieder.« »Ich bin sicher, daß die nicht mehr funktioniert.« »Womit du sogar recht hast. Aber darum geht es nicht. In der Nähe der Station parkt ein Gleiter, für den ich das fehlende Teil habe.« Das Minu‐Cuzz lachte triumphierend. »Jetzt geht es Zulgea an den Kragen«, sagte es voller Zuversicht. »Wir werden diese Hexe vertreiben. Sie soll bereuen, jemals nach der Macht gegriffen zu haben.« »Keine Frage«, erklärte das Fract‐Cuzz. »Zulgea von Mesanthor wird stürzen.« Das Minu‐Cuzz sah, daß einige Voorndaner mit angeschlagener Waffe in die Spielhalle kamen. Es trennte sich von dem unsichtbaren Fract‐Cuzz und eilte auf allen vieren davon. Es blieb ständig in der
Deckung der Spielautomaten und bewegte sich lautlos voran. »Der Roboter mit dem blauen Kopf ist verschwunden«, rief einer der Kranken. »Unsinn«, schrie der Anführer der Horde zurück. »Es ist hier. Ich spüre seine Nähe. Ich fühle die Aura des Bösen und Verseuchten.« Das Minu‐Cuzz näherte sich dem rückwärtigen Ausgang der Halle. Es wich einem Roboter aus, der die sterblichen Reste eines an der Seuche Verstorbenen beseitigte. Vor dem Fragment lag ein etwa dreißig Meter langer Gang, der zu einer Panzerglastür führte. Er war wie eine Falle. Wenn es sich darauf hinauswagte, bot es sich den Verfolgern völlig ungedeckt. Ein einziger Schuß aus einer der Energiewaffen mußte tödlich sein. Jetzt bist du dran! dachte das Minu‐Cuzz. Es war, als ob das andere Fragment seines ehemaligen Körpers diese Gedanken aufgefangen hätte. Plötzlich schrie der Anführer der Voorndaner auf. »Etwas hat mich berührt«, kreischte er und schlug wild mit den Armen um sich. »Hier war etwas.« Im nächsten Moment stürzte einer der anderen Männer zu Boden. »Und mich hat etwas umgerissen«, erklärte er mit angstvoll geweiteten Augen. »Der Blaue hat sich unsichtbar gemacht. Jetzt bringt er uns alle um, so wie er unsere Brüder und Schwestern getötet hat.« . Die Voorndaner zogen sich erschreckt zurück, verließen die Halle jedoch nicht. Das Minu‐Cuzz nutzte die Chance, die sich ihm bot. Es sprang auf und rannte in den Gang hinein. Es war bereits an der Tür, bevor der erste der Verfolger die Flucht bemerkte, und als der Energiestrahl das Panzerglas sprengte, war es schon in Sicherheit. Es eilte einen gepflasterten Weg entlang, der zwischen einigen Spielsalons hindurchführte, und stieß wenig später auf einen Park. Auf dem Boden kauerten zwölf voorndanische Männer und Frauen. Das Minu‐Cuzz blieb unwillkürlich stehen, weil es einen Angriff erwartete. Dann aber sah es, daß es Sterbende vor sich hatte. Die
Voorndaner waren an der Seuche erkrankt, die das ganze Volk dahingerafft hatte. »Es tut mir leid«, sagte es. »Ich wollte, ich könnte euch helfen.« »Das kann niemand mehr«, antwortete eine der Frauen traurig. »Wir haben uns unser eigenes Grab geschaufelt.« Kraftlos sank sie nach vorn. Ihre Augen brachen. Es ist, als hätte Zulgea, die Hexe, ihnen das Leben aus den Adern gesaugt, dachte es, während es langsam weiterging. Die einen werden wahnsinnig, die anderen resignieren – und alle sterben. Ungehindert erreichte es die Transmitterstation Süd. Hier hatten sich etwa dreihundert Voorndaner versammelt. Die meisten lagen oder saßen auf dem Boden. Nur wenige standen vor den Toren der Station. Alle waren krank und ohne Hoffnung. Sie hatten sich an dieser Stelle eingefunden, weil sie geglaubt hatten, daß der Weg zum Kontinent Palmwiese offen war. Mittlerweile hatten sie erkannt, daß die Celester ihnen nicht helfen konnten und auch nicht bereit waren, sie mit Hilfe des Transmitters zu sich zu holen und bei sich sterben zu lassen. Das Minu‐Cuzz zog sich schweigend zurück, umrundete einen künstlich angelegten Brunnen und entdeckte dann den Gleiter, den das Fract‐Cuzz gemeint hatte. Als es ihn erreichte, vernahm es die Stimme des anderen Fragments. »Ich habe die Maschine bereits repariert. Wir können starten. Die Fanatiker haben ihre letzten Kräfte vertan. Niemand wird uns aufhalten.« Das Minu‐Cuzz stieg ein und setzte sich hinter die Steuerelemente. Die Tür neben ihm öffnete sich, und das unsichtbare Fract‐Cuzz drängte sich herein. »Starte.« Einige der Voorndaner hoben müde die Köpfe, als der Gleiter aufstieg. Einer der bewaffneten Männer trat taumelnd unter den Bäumen hervor, aber er hatte nicht mehr die Kraft, seine Waffe auf die Maschine zu richten und auszulösen.
»Damit können wir nach Palmwiese fliegen«, sagte das Fract‐ Cuzz. »Zunächst aber werden wir uns vereinigen. Du hast lange genug mit diesem Robotkörper leben müssen.« * Buster McMooshel blickte Drei‐B voller Skepsis an. »Der junge Mann hat sich als immun erwiesen«, stellte er fest. »Na und? Ist das ein Grund, einen Medizinmann bei seiner Arbeit zu stören?« Er wandte sich ab, ging zu einem der robotischen Geräte hinüber und überprüfte die ausgeworfenen Analyseergebnisse. Er schien vergessen zu haben, daß Benjamin Boz Briggs und Arien Richardson zu ihm gekommen waren und eine Bitte ausgesprochen hatten. Buster McMooshel war ein alter, celestischer Wissenschaftler, der sich in erster Linie mit Krankheiten, Psi‐Effekten und biologischen Problemen beschäftigte. Er trug keinen offiziellen Titel und ließ sich nur selbstironisch »Medizinmann« nennen. Er lebte in Downtown‐ Celeste, wo er in einem alten Fachwerksbau seine Laboratorien und eine Praxis mit mehreren Helfern und robotischen Geräten eingerichtet hatte. Arien Richardson betrachtete den Medizinmann staunend. Es war lange her, daß er ihm begegnet war. Genaugenommen erinnerte er sich kaum noch daran. Es war in seiner Kindheit gewesen. McMooshel sah aus wie ein achtzigjähriger Mann, obwohl er sicherlich noch jünger war. Er maß nur etwas mehr als anderthalb Meter und hatte einen Buckel auf der rechten Schulterseite. Zweifellos hätte er das Knochengerüst an dieser Stelle richten lassen können, doch das wollte er offenbar nicht. Eine solche Korrektur wäre mit einem Krankenlager und einigen Tagen Untätigkeit einhergegangen. Diese aber wären ihm lästig und hinderlich zugleich gewesen. Er ging gebeugt, als könne er sich nicht
aufrichten. Sein Kopf war völlig haarlos und kugelrund. Immer wieder strich er sich mit der rechten Hand über den Schädel und tastete diesen ab, als suche er nach einem letzten Haar, das diese Kahlheit durchbrach. Mit der linken Hand konnte er, wie Richardson wußte, nicht so gut fühlen, denn der linke Arm bestand vom Ellenbogen ab aus einer Prothese. Diese war so perfekt gefertigt, daß sie nicht als solche zu erkennen war. Unwillkürlich blickte Richardson Briggs an, der neben ihm stand und verhalten lächelte. Drei‐B hatte ihm auf dem Weg vom Restaurant hierher erzählt, daß die Kunsthand durch eine positronische Mikromechanik gesteuert wurde, die über einen Bio‐ Transmitter mit den Nerven seines Oberarms verbunden war. Das hatte zur Folge, daß er die Hand ebensogut wie eine normale Hand bewegen konnte. Briggs hatte ihm auch gesagt, daß McMooshel mehrere kleine Hohlräume in dem künstlichen Arm hatte, in denen er ihm wichtige Utensilien aufbewahrte. »In meinen Augen ist seine Immunität gegen die hypnotischen Kräfte des Minu‐Cuzz eine Sensation«, sagte Drei‐B. »Ich werde nicht so ohne weiteres darüber hinweggehen.« Buster McMooshel drehte sich um und lehnte sich rücklings gegen einen Instrumentenschrank. »Ach«, erwiderte er. »Und jetzt meinst du Alleswisser, daß diese Immunität einen medizinischen Grund haben muß.« »Medizinisch oder biologisch. Such dir was aus«, empfahl ihm Briggs. »Da wachsen mir doch gleich goldene Haare«, stöhnte der Medizinmann. Er strich sich behutsam tastend über den Hinterkopf. »Weißt du überhaupt, wovon du redest?« »Von deiner Genialität.« McMooshel kicherte gekünstelt. »Sei nicht albern, Benjamin«, wies er ihn zurück. »Wo soll ich suchen?« Er griff nach einem Skalpell, das auf dem Tisch lag.
»Soll ich den jungen Mann vielleicht aufschneiden und nachsehen, ob er irgend etwas im Gehirn hat, was ihn immun macht?« Er seufzte. »Wenn du mir doch bloß nicht immer mit einem solchen Blödsinn kommen würdest.« »Fabelhaft«, sagte Benjamin Boz Briggs. »Ich wußte doch, daß du einverstanden sein würdest. Wie lange wirst du für diese Arbeit brauchen?« Buster McMooshel richtete die Spitze des Skalpells auf Richardson. »Das kommt darauf an, wie lange dieser junge Mann stillhält«, erklärte er mit todernster Miene. »Auch bei dem heutigen Stand der Medizin muß man so etwas ohne Betäubung machen.« Arien Richardson schluckte. Erschrocken blickte er Drei‐B an. »Meinst du wirklich, daß eine solche Untersuchung notwendig ist?« fragte er. »Überleg doch mal. Das Minu‐Cuzz hat sich nicht mehr bemerkbar gemacht. Wahrscheinlich existiert es überhaupt nicht mehr.« »Die Untersuchung ist abgeschlossen«, eröffnete der Medizinmann den beiden verblüfften Besuchern. »Tatsächlich?« entfuhr es Richardson. »Ja, ich weiß, wodurch die Immunität bewirkt wurde.« »Erzähle keine Märchen«, bat Briggs. »Du kannst es noch gar nicht herausgefunden haben«, zweifelte Richardson. »Doch, doch. Als dieser junge Mann dem Minu‐Cuzz begegnete, hatte er so viel Angst, daß er überhaupt nicht mehr zu hypnotisieren war«, erklärte McMooshel. »Kapiert und zufrieden? Dann kann ich mich ja wieder meiner Arbeit widmen und muß mir nicht länger die Zeit stehlen lassen.« Arien Richardson atmete tief durch. »Wer läßt sich schon gern den Kopf aufschneiden?« fragte er. »Nicht?« Buster McMooshel schien maßlos erstaunt zu sein. »Na ja, wenn es so ist, finden wir vielleicht eine andere Möglichkeit.«
In seinen Augen blitzte es auf, und jetzt begriff Richardson, daß der Mediziner sich über ihn lustig gemacht hatte. Er errötete vor Ärger, wobei er sich selbst allerdings mehr Vorwürfe machte als McMooshel. Benjamin Boz Briggs lachte laut. »Also – gib dir Mühe, Medizinmann. Ich erwarte viel von dir«, verabschiedete er sich. Er hob grüßend den Arm, dann fiel die Tür hinter ihm zu. »Und jetzt zu dir«, sagte McMooshel. Er schob die Hände in die Taschen seines Hosenanzugs. Dieser war ursprünglich weiß gewesen, hatte aber im Lauf der Zeit gelitten und eine Reihe von Einfärbungen davongetragen. »Wir werden dir zunächst einmal Blut abzapfen.« »Ich bin nicht nüchtern«, erwiderte Richardson. »Ich meine, ich habe gerade etwas gegessen.« »Das spielt für die Art der Untersuchung, die ich vorhabe, keine Rolle.« Richardson rollte den Ärmel seiner Jacke hoch. Er war ein harter und kampferprobter Mann, aber der Medizin stand er skeptisch gegenüber, und daß er sich eine metallisch blitzende Nadel in den Arm stechen lassen sollte, gefiel ihm überhaupt nicht. Verdammt! dachte er. Dieser McMooshel hat mich auf Anhieb erkannt. Er wußte schon, wie er mich behandeln mußte, als ich gerade eben eingetreten war. Seine Hochachtung vor dem kleinwüchsigen Mann stieg beträchtlich. * Atlan blickte Sarah Briggs bewundernd an. Ihr schwarzes Haar glänzte im Licht der tiefstehenden Sonne. Der Wind wehte ein paar Blütenblätter heran und trieb sie über ihr Gesicht. Sie lächelte. »Ein schöner Abend«, sagte sie.
»Du wolltest mir mehr über dich erzählen«, erinnerte er sie. Ihre Augen verdunkelten sich. »Da gibt es nicht viel zu berichten«, erwiderte sie. »Eigentlich habe ich dir schon alles gesagt.« »Das Gefühl habe ich nicht. Ich merke doch, daß du ein Problem hast.« »Psychoanalyse?« Ihr Lächeln vertiefte sich, und in ihren Augen blitzte es auf. »Überhaupt nicht. Davon halte ich nicht viel. Außerdem braucht man keine psychologischen Kenntnisse, um sich darüber klarzuwerden, daß dich irgend etwas beschäftigt.« »Du läßt nicht locker, wie?« »Was ist es?« »Meine Eltern«, gestand sie zögernd ein. Sie stand auf und ging einige Schritte in den Garten hinein, in dem sie Erholung suchten. »Ich weiß so wenig über sie.« »Was weißt du?« »Meine Mutter ist schon sehr früh verstorben. Ich habe sie nie gekannt. Ich bin noch ein Kind gewesen.« »Hast du Drei‐B oder deine anderen Verwandten nicht gefragt?« »Sie weichen mir aus«, seufzte sie. »Von sich aus schneiden sie dieses Thema nie an, und wenn ich frage, heißt es nur lapidar, daß beide umgekommen sind. Niemand sagt mir, wann und wie das war.« »Das ist allerdings seltsam.« »Mehr als das.« »Du fürchtest, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist?« »Liegt das nicht auf der Hand?« Sie kehrte zu ihm zurück. »Ich habe mich wirklich bemüht, etwas herauszufinden, indem ich auch andere gefragt habe. Aber eine befriedigende Antwort habe ich nicht erhalten. Warum nicht? Ganz gleich, was mit meinen Eltern war, man muß es mir sagen.« »Natürlich«, erwiderte er, obwohl ihm die Sorgen übertrieben
erschienen, die Sarah sich machte. Er nahm sich vor, bei Benjamin Briggs einige Auskünfte einzuholen. Dabei ließ er sich allerdings mehr von der Liebe zu Sarah als von seinem Interesse für ihre Eltern leiten. »Du wirst mir helfen?« »Ich verspreche es dir.« »Es ist wichtig«, beteuerte sie. »Ich bin ganz sicher, daß es ein Geheimnis um meine Eltern, zumindest um meine Mutter gibt. Man würde sich mir gegenüber anders verhalten, wenn es nicht so wäre.« »Hast du eine Vermutung?« Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. »Eine Vermutung? Nein. Ich habe nichts, womit ich etwas anfangen könnte. Meine Mutter muß irgend etwas angestellt haben, was man ihr heute noch ankreidet. Es muß etwas Böses gewesen sein, womit sie unserem ganzen Volk geschadet hat. Aber selbst dann müßte man mit mir darüber reden. Mit Schweigen bestraft man mich für etwas, was ich nicht zu verantworten habe.« Der Arkonide konnte nicht umhin, ihr recht zu geben. Es war allerdings merkwürdig, daß Benjamin Boz Briggs und die anderen Verwandten Sarahs sich nicht über ihre Eltern äußern wollten. Was auch immer diese angerichtet haben mochten, es lag weit zurück und mußte eigentlich vergeben und vergessen sein. 3. Eine ungeheure Erregung überfiel das Minu‐Cuzz, als der Gleiter weit außerhalb der Stadt auf einer Insel mitten in einer ausgedehnten Seenplatte landete. »Ich habe dir etwas mitgebracht«, erklärte das Fract‐Cuzz in alkordischer Sprache, und zugleich erschien ein Ringband. Es sah aus wie ein Stirnband aus einem flexiblen Stoff. Es war rubinrot und etwa vier Zentimeter breit.
»Was ist das?« fragte das Minu‐Cuzz. »Ein Psi‐Spalter«, erwiderte das unsichtbare Teil seines ursprünglichen Körpers. »Es ist ein Gerät, das gegen die Hexe gerichtet ist. Es bringt speziell die Kraft Zulgeas zum Erlahmen.« »Ein Psi‐Spalter«, staunte das Minu‐Cuzz und legte sich das Band um den Kopf. »Das könnte eine wertvolle Waffe gegen die Hexe sein.« »Ohne dieses Gerät wird es keine Rache geben«, prophezeite der Unsichtbare. »Zulgea würde uns abwehren, bevor wir auch nur das geringste erreicht hätten.« »Du hast recht.« Das Minu‐Cuzz verließ den Gleiter. »Wie ich sehe, denkst auch du nur an Rache.« »Du – ich. Ich – du! Wir sind beide eins. Wir sind eine Persönlichkeit. Es gibt kein Ich und kein Du, sondern nur ein Wir. Es darf niemals anders sein, zumal wir ohnehin schon schwach genug im Vergleich zu der Hexe sind.« »Verzeih. Ich war gedankenlos.« Das Minu‐Cuzz horchte verwundert in sich hinein. Seit der Aufspaltung des Ursprungskörpers hatte es an nichts anderes gedacht als an die Vereinigung der Fragmente. Jetzt war es soweit, und es zögerte. Ich habe Angst, erkannte das Fragment. Ich fürchte mich davor, mich von meinem Lebenserhaltungssystem zu trennen. Ich habe Angst, dabei zu sterben. Dann hätte Zulgea endgültig gesiegt. Niemand wäre mehr da, der sie bedrohte. Der unsichtbare Rüssel des Fract‐Cuzz berührte ihn. »Ich weiß, was du empfindest«, sagte das andere Fragment. »Ich verstehe dich. Es ist nicht leicht. Du brauchst dir jedoch keine Sorgen zu machen. Ich werde dein Leben erhalten.« »Natürlich. Es war dumm von mir.« Das Minu‐Cuzz setzte sich auf den Boden, damit der Kopf in annähernd der gleichen Höhe war wie der Oberteil des glockenförmigen Körpers des Fract‐Cuzz. Damit waren alle
Voraussetzungen für eine Vereinigung der beiden Fragmente gegeben. Vorsichtig löste es sich mitsamt der Metallscheibe vom Robotkörper und schwebte dann zum Fract‐Cuzz hinüber. Es senkte sich auf diesen herab, und dann schoben sich eine Reihe von Organfäden zu ihm hin, ertasteten die Nervenstränge und Blutgefäße und stellten behutsam die ersten Verbindungen her. Allmählich verlor das Minu‐Cuzz die Angst. Es merkte, daß sein Leben nicht bedroht war. Die nervöse Anspannung legte sich, und damit wurden die Voraussetzungen für den Abschluß des Geschehens immer besser. Schließlich – nach Stunden – hatten sich die beiden Fragmente zu einem neuen Wesen, dem Cuzz, vereinigt. Das Cuzz war unsichtbar. * Benjamin Boz Briggs betrat das Fachwerkhaus von Buster McMooshel zwei Tage nach dem Besuch mit Richardson abermals. Er konnte den Mediziner jedoch nicht sofort sprechen, da dieser ein Kind behandelte. McMooshel dachte nicht daran, die Behandlung zugunsten des Oberhaupts der Celester zu unterbrechen. Er blickte nur kurz auf, als einer seiner Mitarbeitet ihm mitteilte, daß Drei‐B da war, und befaßte sich dann wieder mit dem Kind. Erst nach etwa einer Stunde betrat er das Labor, in dem Briggs vor einem Fernsehgerät saß und die Nachrichten verfolgte. »Ich hätte ganz gern gewußt, wie weit du bist«, sagte das Oberhaupt der Celester, nachdem er McMooshel begrüßt hatte. »Du scheinst zu glauben, daß ich sonst nichts weiter zu tun habe«, erwiderte der »Medizinmann«. »Hast du gesehen, wie voll das Wartezimmer ist? Wir haben eine Grippe‐Epidemie. Nicht weiter gefährlich, aber es macht die Leute kaputt und legt meine Forschungsarbeit lahm.«
Drei‐B lächelte. »Du hast also schon ein greifbares Ergebnis vorliegen«, stellte er fest. McMooshel seufzte. »Du kannst einem jede Freude nehmen«, beschwerte er sich. »Ich habe Tag und Nacht geschuftet, um dem Geheimnis der Richardson‐ Immunität auf die Spur zu kommen, und jetzt willst du alles in einem knappen Satz erfahren.« »Was ist es, großer Medizinmann?« Buster McMooshel setzte sich auf einen Hocker, Unzufrieden blickte er Drei‐B an. »Ein Enzym«, antwortete er. »Du willst mich auf den Arm nehmen«, entgegnete Briggs. »Ein Enzym sollte dafür sorgen, daß Arien immun gegen die Hypno‐ Kräfte des Minu‐Cuzz ist?« »Genau das ist der Fall«, bestätigte der Wissenschaftler. »Enzyme sind, wie du weißt, in der lebenden Zelle gebildete organische Katalysatoren. Sie setzen sich zusammen aus einer einfacheren Wirkungsgruppe, dem Koenzym, und einem hochkomplizierten, kolloidalen Eiweißkörper, dem Apoenzym als Trägersubstanz für das wirkungsspezifische Koenzym. Beide Teile zusammen bezeichnen wir auch als Holoenzym. Mit ihrer spezifischen Wirkung machen die Enzyme zum Beispiel die Verdauung möglich. Sie sind für die Atmung unabdingbar und greifen in zahllose andere Geschehnisse im menschlichen Körper ein.« »Ist mir alles klar«, erwiderte Drei‐B. »Aber was hat das mit Arien zu tun?« »Sämtliche Stoffwechselreaktionen benötigen Enzyme als Katalysatoren«, fuhr McMooshel ungerührt fort. »Und bei der Hypnose, wie das Minu‐Cuzz sie angewandt hat, finden ganz offensichtlich Stoffwechselreaktionen im Gehirn des betroffenen Wesen statt. Diese Hypnose stellt also einen objektiv nachweisbaren, organischen Vorgang dar.«
»Wie kannst du objektiv etwas nachweisen, was du gar nicht verfolgt hast?« »Ich habe einige der Opfer des Minu‐Cuzz untersucht und dabei Feststellungen gemacht, die ich hier und an dieser Stelle erläutern könnte. Doch das würde zu weit führen. Ich habe noch etwas anderes zu tun. Mein Wartezimmer ist voll, und ich kann nicht meine ganze Zeit mir dir verquatschen. Du mußt daher akzeptieren, was ich dir sage.« Briggs lächelte kaum merklich. »Einverstanden, Buster.« »Also gut.« Der Mediziner hustete. Er erhob sich und ging zu einem der Analyseroboter hinüber. »Kommen wir auf den nachweisbaren Vorgang im Gehirn der Betroffenen zurück. Wie bei allen solchen Reaktionen sind auch hier Enzyme als Katalysatoren notwendig.« »Und die hat Arien nicht«, vermutete Briggs. Der »Medizinmann« seufzte. »Ich hoffe, ich kann irgendwann einmal meinen Satz zu Ende bringen, ohne ständig von dir unterbrochen zu werden. Das Gegenteil ist der Fall. Arien Richardson verfügt über ein Enzym, das sozusagen ein Katalysatorblocker ist. Es verhindert die Reaktion. Das Enzym, ich habe es Anti‐Moosh genannt, sorgt dafür, daß die Gehirnzellen die für die Hypnosewirkung notwendigen Proteine nicht herstellen kann. Kapiert? Enzyme sind Katalysatoren, und ohne die geeigneten Katalysatoren läuft eben nichts – vor allem dann nicht, wenn es nicht die richtigen sind.« »Ich habe es begriffen«, betonte Briggs. »Eine großartige Leistung.« »Warten wir es ab«, schlug der Mediziner vor. »Bis jetzt ist alles graue Theorie. Den Beweis der Wirksamkeit erhalten wir erst dann, wenn sich mehrere Versuchspersonen als immun gegen die Hypnosekräfte des Minu‐Cuzz erweisen. Vorher sind wir auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeiten angewiesen.«
»Ist mir klar. Frage: Läßt sich das Anti‐Moosh in ausreichend großer Menge herstellen, so daß wir alle Celester damit versorgen können?« »Antwort: Nein.« Drei‐B blickte den Arzt verwirrt an. Er wußte mit dieser Auskunft nichts anzufangen. »Würdest du dich dazu aufraffen können, mir etwas deutlicher zu sagen, was du meinst?« »Also noch einmal. Langsam zum Mitschreiben. Wir können vorerst nur eine kleine Menge Anti‐Moosh herstellen. Sie wird gerade ausreichen, die wichtigsten Persönlichkeiten unseres Volkes abzusichern. Erst in einigen Monaten werden wir so weit sein, daß wir alle Celester damit impfen können.« »Dann wollen wir keine Zeit verlieren«, erwiderte Briggs. »Beginne sofort mit der Produktion des Abwehrstoffs. Planziel ist eine ausreichende Menge für alle Celester. Die dafür nötigen Mittel kannst du anfordern. Ich werde dafür sorgen, daß es keine bürokratischen Hindernisse gibt.« »Kann ich mich jetzt wieder meinen Patienten widmen?« »Bitte.« »Großartig. Du glaubst nicht, was ich zu hören bekomme, wenn ich sie noch länger warten lasse.« Briggs lächelte. »Ich verschwinde ja schon«, sagte er und wollte hinausgehen. Doch in diesem Augenblick kamen Atlan und Sarah herein. Er begrüßte sie freundlich, während Buster McMooshel sich unwillig mit der Hand über die Glatze fuhr und düster dreinblickte. »Da wachsen mir doch gleich goldene Haare«, seufzte er. »Glaubt ihr eigentlich, daß ich überhaupt nichts zu tun habe?« »Unser Medizinmann hat einen Abwehrstoff gegen die Hypnokräfte des Minu‐Cuzz entwickelt«, berichtete Briggs. »Wir haben vor, alle wichtigen Persönlichkeiten damit zu impfen und damit einen Angriff des Minu‐Cuzz auf uns unmöglich zu machen.
Auf keinen Fall darf es diesem Wesen gelingen, eine gegen uns gerichtete Streitmacht aus unseren eigenen Reihen zu bilden.« »Habt ihr den Verstand verloren?« fragte Sarah. »Das kann doch nicht euer Ernst sein! Ihr entwickelt einen biologischen Stoff, und ihr wollt ihn injizieren, ohne daß er vorher in vivo getestet worden ist? Wenn ich euch richtig verstanden habe, ist er bisher nur in vitro, also im Reagenzglas, geprüft worden, und niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, ob er die in ihn gesetzten Erwartungen tatsächlich erfüllt.« »Sarah, ich muß dir doch wohl nicht erklären, daß die Biotechnik schon lange so weit ist, daß sie gezielt Präparate entwickeln kann, ohne die Wirkungen dabei ständig im Tierversuch kontrollieren zu müssen.« McMooshel strich sich nervös über die Glatze. »Die Bedenken, die du vorbringst, waren vielleicht vor hundert Jahren berechtigt, aber doch nicht mehr heute.« »Pah«, fuhr sie auf. »Das ist nichts als Gerede. Die Voorndaner sind noch nicht einmal alle tot. Viele leben noch, aber auch sie haben keine Hoffnung. Ein ganzes Volk hat sich vor unseren Augen durch ein allzu riskantes biologisches Manöver selbst ausgerottet. Die voorndanischen Wissenschaftler haben ein Gift an Bord der ROULETTE gebracht. Dort hat dieses zusammen mit in der ROULETTE vorhandenen Mikroorganismen reagiert und sich zu einem tödlichen Stoff für die Voorndaner entwickelt. Die Folgen kennt ihr.« »Welch ein Redefluß aus so schönem Mund«, spöttelte McMooshel. »Welch ein Temperament in deinen Augen.« »Ich meine es ernst«, erregte sich Sarah. »Ich bin gegen solche Experimente, wie ihr sie vorhabt. Ich habe Angst davor, daß wir uns ebenfalls ausrotten. Wie könnt ihr nur so sicher sein, daß ihr alles, aber auch wirklich alles mit Hilfe der Computer kontrollieren und beherrschen könnt? Das haben die Voorndaner auch gedacht. Die Zahl der Opfer ist bekannt. Über 8 Millionen!« »Wirf bitte nicht alles in einen Topf«, bat McMooshel. Er war ernst
geworden, da er erkannt hatte, daß Sarah aus tiefempfundener Sorge heraus gesprochen hatte. »Hier geht es um körpereigene Stoffe, bei denen sich bereits eindeutig gezeigt hat, daß sie ungefährlich sind.« »Ach ja? Tatsächlich?« »Aber sicher doch, Sarah. Ich habe dieses Anti‐Moosh‐Enzym bei Arien ausfindig gemacht, isoliert und untersucht. Es ist eines von über 700 Enzymen, die bisher bekannt sind, und von denen sich kein einziges als gefährlich für uns erwiesen hat. Arien hat dieses Enzym in sich, solange er lebt, und es hat ihn nicht eine Minute lang krank gemacht. Obwohl ich schon aus diesem Grund Gefahren für uns ausschließen konnte, habe ich eine schier endlose Reihe von Tests durchgeführt, die sich in diesem Zusammenhang als sinnvoll erwiesen haben. Bei keinem einzigen von ihnen kam ein Ergebnis heraus, das mich hätte besorgt machen können.« »Dennoch weigere ich mich. Ich werde mir diesen Stoff nicht injizieren lassen. Auf keinen Fall.« »Darüber werden wir noch befinden«, bemerkte Briggs. »Du gehörst nun einmal zum Kreis jener, bei denen das Minu‐Cuzz ansetzen könnte. Daher werden wir uns überlegen müssen, was wir zu tun haben, wenn du bei deiner Weigerung bleibst.« »Ich finde, wir sollten nicht übertreiben«, lächelte Atlan, bevor Sarah etwas darauf entgegnen, und der Streit allzu hitzig werden konnte. »Bisher ist durch nichts bewiesen, daß das Minu‐Cuzz noch existiert. Wir sollten unsere Blicke auf andere Dinge richten.« »Sehr richtig«, ereiferte Buster McMooshel sich. »Raus mit euch. Ich habe Patienten. Oder glaubt ihr, daß ich Lust habe, jeden Tag sechzehn Stunden zu arbeiten?« »Du solltest in die Gewerkschaft gehen«, empfahl ihm Briggs. »Dann brauchst du nur acht Stunden am Tag zu arbeiten.« »Bin ich ja«, antwortete der »Medizinmann« mit todernstem Gesicht. »Na also – warum bist du dann sechzehn Stunden im Dienst?«
»Weil ich in zwei Gewerkschaften bin«, fauchte McMooshel zurück. Damit stürmte er hinaus. Sarah blickte ihm lächelnd nach. »Er hat mir den Wind aus den Segeln genommen«, stellte sie fest. »Na schön, aber dennoch lasse ich mich nicht impfen.« »Wir reden später noch einmal darüber«, schlug Drei‐B vor. »Jetzt hätte ich noch etwas Dienstliches mit dir zu bereden. Wir sollten dazu in mein Büro gehen.« »Laßt euch nicht aufhalten«, sagte der Arkonide. »Wir sehen uns dann.« »Wo finde ich dich?« fragte sie. »In der Flußschleife. Dort soll es heute einen ausgezeichneten Fisch geben.« Das Restaurant, das Atlan angegeben hatte, lag am Rand von Downtown. Sein Name erinnerte an das Siedlungsgebiet, in dem der Besitzer sich vor langen Jahren niedergelassen hatte, bevor er sich dazu entschlossen hatte, in die Stadt zu ziehen. Die Gaststätte war bis auf den letzten Platz besetzt. Der Arkonide wollte es bereits wieder verlassen. Doch der Wirt bemerkte ihn und führte ihn zu einem kleinen Tisch, an dem ein alter Mann saß und einen braungebackenen Fisch verzehrte. »Steven, du hast sicherlich nichts dagegen, daß Atlan sich zu dir setzt«, sagte er. »Nur zu«, antwortete der Alte mit krächzender Stimme. »Wenn er die nötigen Eßmanieren hat, ist er mir willkommen.« Er riß den Kopf des Fisches mit den Fingern ab und lutschte ihn schlürfend und schmatzend aus. Dabei beobachtete er den Arkoniden mit vergnügt funkelnden Augen. »Der Fisch ist einmalig«, schwärmte er. »Es gibt ihn nur in dieser Jahreszeit, wenn die Schwärme für einige wenige Tage an die Küste kommen, um hier zu laichen. Danach verschwindet er wieder in der Tiefsee und bleibt unerreichbar für uns. Am besten schmeckt er vor der Eiablage, aber natürlich wäre es Wahnsinn, ihn dann zu fangen und zu töten. Wir würden die Bestände in wenigen Jahren
vernichten, wenn wir verhinderten, daß die Fische ablaichen.« »Ist mir klar«, erwiderte der Arkonide. Er ging auf das Thema ein, das der Alte angeschlagen hatte, und vergaß darüber beinahe, das Essen zu bestellen. »Ich habe dich mit Sarah zusammen gesehen«, sagte Steven plötzlich. »Hübsches Mädchen – fast wie ihre Mutter.« Atlan blickte den Alten überrascht an. Dies war das erstemal, daß jemand von Sarahs Mutter gesprochen hatte. »Du hast sie gekannt?« fragte er. »Die Marie? Aber ja. Ich war mit ihr in der Ausbildung. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe.« »Wie war sie? Und wo ist sie geblieben?« Der Alte zuckte mit den Schultern und trank schlürfend etwas Wein. »Ich habe sie aus den Augen verloren. Ich mußte ins Quellgebiet des großen Flusses hinauf und kam erst nach Jahren zurück. Da war Marie verschwunden. Es hieß, daß sie Celeste verlassen hat. Ich weiß nicht, ob das wahr ist.« Er trank seinen Wein aus und rülpste behaglich. »Erzähle mir mehr über Marie«, bat der Arkonide. »Mehr weiß ich nicht. Tut mir leid. Wozu willst du was über sie wissen?« »Das hat keinen besonderen Grund.« Der Alte bestellte eine Nachspeise und neuen Wein. Dann kam er auf die Fische zurück – offenbar sein Lieblingsthema – und plauderte fast eine Stunde lang mit Atlan über sie. Er berichtete von Exkursionen auf See, bei denen er riesige Fische gejagt und erbeutet hatte. Dann verabschiedete er sich. »War nett, mal mit dir zu reden, Atlan«, sagte er, stand auf, stülpte sich einen fettigen Hut auf den Kopf und ging. Er bezahlte seine Zeche beim Wirt und kehrte danach noch einmal zu dem Arkoniden zurück. »Mir ist noch was eingefallen«, sagte er. »Wenn du unbedingt
mehr über Marie wissen willst, dann frage doch ihre Zwillingsschwester Flora Almuth. Ich habe gehört, daß sie noch auf Celeste lebt. Ist vielleicht nur ein Gerücht, aber du kannst es ja mal versuchen.« »Das werde ich. Verlaß dich drauf«, erwiderte der Aktivatorträger. * Beide hatten den gleichen Fehler gemacht – das Fract‐Cuzz ebenso wie das Minu‐Cuzz. Sie hatten nicht daran gedacht, daß sie den Gleiter nicht mehr fliegen konnten, wenn sie erst zum Cuzz vereint waren. Jetzt stand das Fusionswesen vor der Maschine und erkannte das Versäumnis. Es hatte ein rüsselartiges Gebilde, das im weitesten Sinne als Extremität zu bezeichnen war. Aber es war Sitz der verschiedenen Wahrnehmungsorgane und keineswegs so etwas wie ein Greifwerkzeug. Ich muß es versuchen, dachte das Cuzz. Es wird zur Not gehen, ist aber keine Lösung. Ich habe keine andere Wahl, als mir Helfer zu suchen, sonst kann ich den Ozean nie überqueren und nach Hain fliegen. Es glitt in die Maschine und streckte den Rüssel zu den Bedienungselementen aus. Es war nahezu hilflos. Obwohl es kaum etwas Einfacheres gab, als einen Antigravgleiter zu fliegen und zu steuern, stieß er auf nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten, da beim Start zwei Tasten zugleich berührt werden mußten. Es konnte das Problem schließlich nur dadurch lösen, daß es seine Nase auf die eine Taste preßte, während es die andere mit der Spitze des Rüssels herabdrückte. Cuzz atmete auf, als der Gleiter aufstieg, und es gelang ihm relativ leicht, ihn auf den Kurs zur Stadt zu bringen, Unwillkürlich richtete es eine Frage an das andere Teil seines Ichs, und es wunderte sich,
daß keine Antwort kam. Danach erst wurde ihm bewußt, daß es nun keine zwei Fragmente mehr gab, sondern nur noch eine Einheit. Es dauerte kaum zwei Minuten, bis die Maschine über jenem Gebiet schwebte, in dem das Minu‐Cuzz den fanatisierten Voorndanern begegnet war. Es landete zwischen den Hochhäusern neben einem kugelförmigen Spielautomaten. Vor diesem kauerten bewaffnete Voorndaner auf dem Boden. Keiner von ihnen richtete die Waffe auf den Gleiter. Alle blickten teilnahmslos vor sich hin. Sie dämmerten dem Tod entgegen. Cuzz erteilte drei von ihnen den hypnotischen Befehl, zu ihm in den Gleiter zu steigen. Sie gehorchten. »Wir wollen nach Hain«, erklärte das unsichtbare Wesen. »Startet und bringt uns hin.« Einer von ihnen setzte sich hinter das Steuer und lenkte den Gleiter steil in die Höhe. Rasch blieb die Stadt zurück. Es funktioniert wieder, dachte das Cuzz. Sie reagieren auf die Hypnose. Auch die Celester werden es tun. Um jedes erdenkliche Risiko auszuschalten, befahl Cuzz den Voorndanern, die Waffen hinauszuwerfen. Auch jetzt gehorchten sie. Wenig später kippte einer von ihnen nach vorn und rutschte vom Sitz. »Was ist mit ihm?« fragte das Cuzz. »Er ist tot«, antwortete der Mann am Steuer, ohne sich umzudrehen. »Hinaus mit ihm.« Für einen Moment schien es, als wollten die Voorndaner sich wehren und sich gegen den hypnotischen Befehl behaupten, dann aber öffneten sie die Tür und stießen den Toten hinaus. Er stürzte aus einer Höhe von etwa zwei Kilometern in die See. Cuzz bedauerte den Tod des Mannes nicht. Ihm war egal, was mit den Voorndanern geschah, und wider Erwarten befriedigte es ihn auch nicht, daß er einige von jenen Männern als Helfer ausgewählt hatte, die ihn vor einigen Stunden gehetzt hatten. Seine einzige
Sorge war, daß die beiden anderen auch starben, bevor der Gleiter den Kontinent Hain erreicht hatte. Sie war nicht unberechtigt. Als der Gleiter etwa die Hälfte der Strecke nach Hain zurückgelegt hatte, mußte Cuzz den zweiten Voorndaner hinausstoßen lassen. Danach beobachtete es den anderen mit höchster Aufmerksamkeit. Vergeblich dachte es darüber nach, wie es sein Leben verlängern und den unvermeidlichen Tod hinausschieben konnte. Es wird kritisch werden, wenn wir Hain erreichen, dachte es. Die Celester wissen nicht, was aus mir geworden ist. Sie könnten mich erwarten, und es wäre gut, wenn sie dann wenigstens jemanden sehen könnten, der am Steuer dieser Maschine sitzt. Es selbst konnte den Gleiter nur unter größten Mühen steuern. Komplizierte Manöver, wie sie bei einer möglichen Verfolgung nötig waren, konnte er auf keinen Fall allein fliegen. Meine Hypno‐Kräfte müssen mir helfen! Sie sind wieder stärker geworden. Damit werde ich mich durchschlagen. Stunden vergingen, bis endlich die Küste von Hain auftauchte. Der Voorndaner hielt sich mit letzter Kraft aufrecht. Doch Cuzz gab ihn nicht frei. Immer wieder erteilte es ihm neue Hypnobefehle, ließ dadurch seinen Lebensfunken aufglühen, zwang ihn, letzte und allerletzte Reserven zu nutzen. Der Bildschirm am Armaturenbrett erhellte sich, und das Gesicht eines Celesters erschien. »Wir haben euch in der Ortung«, erklärte der Mann. Er hatte ein hartes, kantiges Gesicht mit tiefen Furchen in den Wangen. »Identifiziert euch.« Der Voorndaner versuchte zu antworten, brachte jedoch keine verständlichen Laute über die Lippen. »Hilfe«, röchelte Cuzz. »Helft mir.« »Lande«, befahl der Celester. Der Pilot brachte die Maschine vor einigen flachen Gebäuden auf den Boden herab, schaltete den Antigrav aus und fiel dann tot in die
Polster der Sitze zurück. Cuzz sah, daß sich fünf Celester dem Gleiter näherten. Er überschüttete sie mit hypnotischen Impulsen, als sie die Tür neben dem Fahrersitz öffneten. 4. Das Datenzentrum befand sich in einem der moderneren Gebäude außerhalb von Downtown. Eine junge Frau kam aus ihrem Büro und begrüßte den Arkoniden. »Ich bin Anna Tharia«, sagte sie. »Meine Assistentin hat mich sofort informiert, als sie dich gesehen hat. Kann ich dir irgendwie helfen? Ich werde alles tun, was irgendwie im Rahmen meiner Möglichkeiten ist.« Sie hatte schulterlanges, blondes Haar und dunkelbraune Augen, die einen eigenartigen, überaus reizvollen Kontrast zu ihrem Haar bildeten. Die hohen Wangenknochen waren mit Sommersprossen übersät. Sie war unsicher. Ihre Blicke wichen ihm aus, und sie schien sich nur unter großen Anstrengungen zu einem Lächeln durchdringen zu können. Jede ihrer Gesten verriet Abwehr. Sie schien von vornherein bestrebt zu sein, sich gegen die Vorwürfe zu verteidigen, die sie von ihm erwartete. Daß er sie im Datenzentrum besuchte, hatte sie alarmiert, da er alle zugänglichen Daten auch direkt über Interkom abrufen konnte. »Ich habe eben gehört, daß irgendwo in der Stadt eine Flora Almuth lebt«, erklärte der Arkonide. »Ich habe ihren Namen in den Interkom gegeben, aber er war nicht im Teilnehmerverzeichnis enthalten. Sie hat offenbar keinen Anschluß.« Anna Tharia lächelte ungläubig. »Keinen Interkomanschluß? Atlan, so etwas gibt es nicht. Wenn diese Frau überhaupt existiert, dann muß sie einen Anschluß haben. Du hast einen Fehler gemacht.«
Sie ging zum nächsten Interkom, schaltete ihn ein und programmierte das Suchwort »Flora Almuth« ein. Eine Schrift erschien auf dem Bildschirm: »Teilnehmer nicht bekannt.« Ihr Gesicht verschloß sich, und das Lächeln erlosch. »Flora Almuth?« fragte sie. »Genau das ist der Name.« »Eine solche Person gibt es nicht in der Stadt.« »Nur weil sie keinen Telekomanschluß hat? Anna, es muß eine andere Möglichkeit geben.« »Mir ist keine bekannt«, erwiderte sie abweisend. »Was soll das überhaupt? Willst du mich kontrollieren? Dazu hast du kein Recht.« »Warum so empfindlich, Anna? Ich bin hier, weil ich eine Information benötige. Weiter nichts.« »Eine Flora Almuth existiert nicht. Man hat dir einen Bären aufgebunden.« »Das glaube ich nicht«, erwiderte der Aktivatorträger. »Ich halte meinen Informanten für zuverlässig.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und blickte an Atlan vorbei zum Fenster hinaus. Sie antwortete nicht. »Leben Celester irgendwo draußen auf dem Land als Eremiten?« »Ja, aber sie sind alle über Interkom erreichbar.« »Ist vor kurzem eine Flora Almuth gestorben? Vielleicht ist ihre Nummer gelöscht worden?« »Dann hätte der Interkom sie ausgewiesen. Die Information erlischt erst zwei Jahre nach dem Tod eines Teilnehmers.« »Dann weiß ich auch nicht mehr weiter. Vielen Dank jedenfalls.« Atlan ging zur Tür, blieb dann jedoch stehen und drehte sich um. »Was gibt es noch?« fragte sie. »Ich dachte gerade daran, daß Flora Almuth krank sein könnte. Was ist mit den Männern und Frauen, die in den Krankenhäusern liegen? Ich meine jene Patienten, die als Pflegefälle anzusehen sind, von denen man weiß, daß sie das Krankenhaus erst nach ihrem Tod wieder verlassen werden?«
Ihre Miene hellte sich etwas auf, und ein zaghaftes Lächeln erschien auf ihren Lippen. »An die habe ich nicht gedacht«, gestand sie. »Das wäre eine Möglichkeit.« Sie bat den Arkoniden, ihr zu folgen, und eilte in einen Nebenraum. Hier befand sich eine Computerstation. Sie tippte erneut das Suchwort »Flora Almuth« ein, und gleich darauf erschien ein längerer Schriftabsatz auf dem Bildschirm. »Tatsächlich«, sagte sie verblüfft. »Das sind die Daten einer Flora Almuth. Sie lebt noch.« Aufgeregt wandte sie sich dem Arkoniden zu. Ihre Wangen röteten sich. »Natürlich lebt sie. Was rede ich für einen Unsinn? Es ist ja keine Eintragung über ihr Ableben vorhanden. Entschuldige. Ich bin so aufgeregt.« »Ist das nur, weil ich hier bin, um Informationen einzuholen? Oder hat das mit dieser Flora Almuth zu tun?« Sie wich ihm aus. »Ich bin es nicht gewohnt, Besuch zu bekommen«, erklärte sie kühl. Atlan blickte auf den Bildschirm. »Durch Zufall habe ich eine Spur gefunden«, berichtete er eine halbe Stunde später, als er Sarah aus dem Büro von Benjamin Briggs abholte. »Deine Mutter hatte eine Zwillingsschwester namens Flora Almuth. Sie lebt hier in der Stadt und befindet sich in einem Heim für geistig Behinderte.« »Ich muß sie sehen«, erwiderte Sarah temperamentvoll. »Sofort.« »Das habe ich mir gedacht«, lächelte der Arkonide. »Komm. Es ist nicht weit.« Das Sanatorium befand sich am Rand der Stadt. Es lag in einem kleinen Tal oberhalb eines Sees. Die Patienten waren in einer Reihe von bungalowartigen Häusern untergebracht, so daß die Anlage in keiner Hinsicht an Krankenhäuser in herkömmlichem Sinn
erinnerte. Flora Almuth bewohnte ein Haus, das von immergrünenden Bäumen eingefaßt wurde. Sie saß auf der Terrasse im Schatten, als Atlan und Sarah von einer Assistenzärztin zu ihr geführt wurden. Mit einem stillen Lächeln blickte sie auf die Blumenrabatte vor dem Haus. »Du hast Besuch, Flora«, sagte die Ärztin. Flora hob rasch den Kopf und winkte mit schlaffer Hand einer imaginären Person zu, die sie irgendwo auf dem See wahrzunehmen schien. »Guten Tag, Kiki«, sagte sie. Dann neigte sie den Kopf zur Seite, und ihre Augen weiteten sich verwundert. Sie schien eine Stimme zu hören, die zu ihr sprach. Von Atlan und Sarah nahm sie keine Notiz. »Du kannst uns mit ihr allein lassen«, sagte der Arkonide zu der Ärztin. »Wir werden behutsam mit ihr umgehen und sie auf keinen Fall aufregen.« Die Ärztin, eine hohlwangige, überanstrengt aussehende Frau, nickte ihm ernst zu und zog sich zurück. »Sie sieht aus wie ich«, sagte Sarah. Sie setzte sich in einen der Korbsessel neben Flora Almuth. »Sie ist nur älter, und ihr Haar ist grau geworden. Sie hat ein paar Falten, aber sonst ist sie dir absolut ähnlich.« »Flora – hörst du mich?« fragte Sarah sanft. Unendlich langsam drehte Flora den Kopf herum und wandte sich ihr zu. Für einen kurzen Moment schienen sich ihre Augen zu beleben. Die Lippen strafften sich. Sie hob die Hände und streckte sie Sarah entgegen, ließ sie jedoch wieder sinken, bevor diese sie berühren konnte. »Der See ist silbern. Die Vögel schwimmen drauf«, sang sie mit heller, kindlich klingender Stimme. »Nie kommen sie ans Ufer.« »Flora«, sagte Sarah eindringlich. »Erinnerst du dich an Marie? An meine Mutter?«
»Marie? Oh, ja. Marie.« »Sie erinnert sich, Atlan«, rief Sarah erregt. »Hast du es gehört? Flora, du mußt mir von meiner Mutter erzählen. Bitte. Ich muß alles über Marie wissen.« Flora lachte leise vor sich hin, und ihre Augen verloren ihren Glanz. »Ich will Klavier spielen«, murmelte sie. »Marie kann das nicht. Nur ich.« Sarah senkte erschüttert den Kopf. »Sie lebt in einer anderen Welt«, erkannte sie. »Sie hört mich überhaupt nicht, und sie begreift nicht, was ich von ihr will.« »Du mußt Geduld mit ihr haben«, erwiderte der Arkonide. »Ihr Geist hat sich verwirrt. Du kannst nicht erwarten, daß sie so schnell auf deine Fragen reagiert. Dazu ist sie gar nicht in der Lage.« Er setzte sich neben Flora Almuth in einen Korbsessel. Sanft legte er ihr die Hand auf den Arm. »Wir sind froh, daß wir dich gefunden haben«, sagte er. Flora Almuth wandte sich ihm zu. Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Augen leben, erkannte der Extrasinn. Sie nimmt dich wahr. »Ich freue mich über den Besuch«, flüsterte Flora Almuth. »Ich erinnere mich nicht daran, daß ich jemals Besuch hatte. Warum seid ihr hier? Ich kenne dich nicht.« »Es geht um meine Mutter«, rief Sarah. »Wo ist Marie?« »Marie?« Die Kranke atmete plötzlich schneller. Sie richtete sich auf und fuhr sich mit der rechten Hand über die Augen. »Du bist Sarah, nicht wahr? Marie hatte eine Tochter, die Sarah heißt.« »Ja, die bin ich.« Flora Almuth lächelte. »Du wirst deiner Mutter begegnen, Sarah. Ja, ich weiß es. Ich weiß es wirklich.« »Dann lebt sie noch?« Sarah schien sich dessen nicht bewußt zu sein, daß sich das Verhalten der Kranken ganz plötzlich verändert hatte.
»Natürlich lebt Marie«, erklärte Flora Almuth. »Woher weißt du das?« Sarahs Stimme ließ erkennen, daß sie voller Zweifel war. Sie glaubt Flora nicht. Woher sollte diese es auch wissen? Wahrscheinlich erinnert sie sich an das, was vor Jahren war, als sie geistig noch gesund war. Diese Zeit hält sie jetzt für die Gegenwart. Tatsächlich liegt schon alles weit zurück. Aber das weiß sie nicht, weil sie seit jener Zeit in einem geistigen Dämmerzustand lebt. »Darüber habe ich nicht den geringsten Zweifel«, antwortete Flora Almuth. Jetzt sprach sie mit weicher, angenehmer Stimme, die ganz und gar nichts Kindliches mehr an sich hatte. »Marie ist meine Zwillingsschwester. Ein unsichtbares Band verbindet uns miteinander. Wenn Marie tot wäre, würde ich es fühlen.« »Kannst du uns auch sagen, wo Marie ist?« Atlan zog seine Hand von ihrem Arm zurück. Er wollte seine Frage noch ergänzen, bemerkte dann jedoch, wie der geistige Funke geradezu schlagartig in dem Gesicht Flora Almuths erlosch. Tatsächlich antwortete diese nicht, sondern blickte mit wieder leeren Augen auf den See hinaus. »Es ist vorbei«, flüsterte Sarah enttäuscht. »Sie hatte einen lichten Moment, aber jetzt hört sie uns nicht mehr.« Du hast sie berührt, meldete der Logiksektor. Du hättest deine Hand nicht zurückziehen dürfen. Überrascht horchte der Arkonide in sich hinein. Dann streckte er die Hand aus und berührte den Arm Flora‐Almuths erneut. Im gleichen Moment kehrte das Leben in ihre Augen zurück. »Du hast mich etwas gefragt«, sagte sie nachdenklich. »Was war das doch?« Sie strich sich mit leichter Hand über die Stirn. »Oh, mein Erinnerungsvermögen läßt nach. Ich vergesse immer so schnell. Im Moment muß ich direkt überlegen, wo ich bin.« »Wir haben von Marie, meiner Mutter, gesprochen«, erklärte Sarah rasch. »Du hast gesagt, daß sie lebt. Aber wo ist sie?« »Wo Marie ist? Das entzieht sich meiner Kenntnis«, erwiderte
Flora Almuth. »Es tut mir leid, aber es würde dir sicher keine Freude machen, sie zu sehen.« »Warum nicht? Sie ist meine Mutter.« »Deine Mutter ist schon früh krank geworden. Und sie ist es noch heute. Ich glaube, es war der Tod deines Vaters, der ihren Geist verwirrt hat. Davon hat sie sich nie erholt. Sie hat ihn sehr geliebt.« »Dann ist meine Mutter … geisteskrank?« Flora Almuth legte die Finger beider Hände an den Kopf und massierte sich die Schläfen. »Entschuldige. Das Gespräch strengt mich sehr an. Ich habe Kopfschmerzen. Laßt uns ein andermal miteinander reden.« »Nur noch eine Antwort, bitte. Ist meine Mutter wahnsinnig?« »Es tut mir leid für dich, Sarah, aber das ist sie. Der Tod deines Vaters hat Marie um ihren Verstand gebracht.« Atlan zog seine Hand von ihrem Arm zurück, und er beobachtete, wie Flora Almuth in ihren geistigen Dämmerzustand zurücksank. »Komm«, bat er. »Laß uns gehen. Sie ist müde.« Sarah hauchte ihrer Tante einen Kuß auf die Wange. »Wir werden dich wieder besuchen«, versprach sie, doch Flora Almuth schien sie nicht zu hören. Atlan schloß sich der Ärztin an, als diese ins Verwaltungsgebäude ging. Sarah gab ihm mit einem Kopf schütteln zu verstehen, daß sie nicht mitgehen wollte. Das Verwaltungsgebäude war ein etwas größerer Bungalow, der sich ansonsten jedoch nicht von den anderen Bauten des Sanatoriums unterschied. »Wer bezahlt eigentlich für Flora Almuth?« fragte der Arkonide, einem plötzlichen Gedanken folgend. Die Ärztin blickte ihn forschend an. Sie schien nicht ganz sicher zu sein, daß er die Frage ernst gemeint hatte. »Du«, antwortete sie dann. »Ich. Sarah. Alle. Jeder ein wenig. Mit anderen Worten, der Staat kommt für die Kranken auf. Also wir alle durch die Steuern, die wir zahlen. Ich weiß, daß eine andere
Regelung vorstellbar ist, aber wir Celester haben niemals über eine solche auch nur diskutiert.« Sie führte den Aktivatorträger in einen Raum, in dem ein Computer stand, und rief die Daten Flora Almuths ab. Sie deutete auf den Bildschirm, als die Schrift darauf erschien. »Hier wird Marie Almuth erwähnt«, sagte sie. »Siehst du? Da steht: Die Zwillingsschwester von Marie Almuth.« Atlan wollte eine weitere Frage stellen, doch in diesem Augenblick kam eine Helferin herein und bat die Ärztin, zu einer Patientin zu kommen. »Ich muß gehen«, sagte diese und reichte dem Arkoniden die Hand. »Ich hoffe, du warst mit dem Besuch zufrieden.« »Was Marie betrifft …« »Tut mir leid«, unterbrach sie ihn energisch. »Die Patienten gehen vor.« Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu gehen. »Ich hoffte, ich würde noch irgend etwas über deine Mutter erfahren«, sagte er, als er wieder bei Sarah war. »Leider muß ich dich enttäuschen.« Sie nickte nur und gab sich mit dieser Auskunft zufrieden. Gedankenverloren verließ sie an seiner Seite das Sanatorium. Atlan aber gab noch nicht auf. Später, als er allein war, setzte er sich an sein Interkom und betätigte sich als Hacker. Wie erwartet, stieß er auf zahlreiche Hindernisse, die von der Positronik aufgebaut worden waren. Doch er konnte sie überwinden, weil er eine Information besaß, die normalerweise einem Außenstehenden nicht zugänglich war. Als die Assistenzärztin die Daten Floras abgerufen hatte, war für den Bruchteil einer Sekunde der Computerkode auf dem Bildschirm erschienen. Das war eine Zahlen‐ und Symbolkette, die normalerweise niemand so schnell in sich aufnehmen und behalten konnte. Der Arkonide hatte jedoch ein fotografisches Gedächtnis. Er hatte sich den Kode eingeprägt, konnte ihn in den Interkom geben und sich mit seiner Hilfe an den
Sanatoriumscomputer heranarbeiten. Es gelang ihm, die positronischen Sperren zu überwinden. Als er danach den Namen Marie Almuth eingab, erschienen die persönlichen Daten von Sarahs Mutter auf dem Bildschirm. Aufatmend lehnte der Arkonide sich zurück. Marie Almuth war tatsächlich vor zwanzig Jahren im Sanatorium gewesen. Sie hatte eines Tages den Verstand verloren und danach Selbstmord begangen. Als Todesursache wurde »unbekannt« angegeben. Atlan stutzte. Bei einem Selbstmord kann die Todesursache nicht unbekannt sein. Irgend etwas stimmte nicht bei der Eintragung. Entweder Marie Almuth hatte Selbstmord begangen, dann mußte die Todesursache bekannt sein. Unbekannt konnte sie nur sein, wenn man sie unter ungeklärten Umständen tot aufgefunden hatte. Aber dann war es falsch, von Selbstmord zu sprechen. Bleibt noch die Möglichkeit, daß sie verschwunden ist, und daß die Eintragung in der Kartei unter der Annahme erfolgte, daß sie tot ist Das würde bedeuten, daß Flora Almuth die Wahrheit gesagt hat, erwiderte der Arkonide auf die Bemerkung seines Extrahirns. Es könnte heißen, daß Marie noch lebt! * Daniel Gilling erhob sich von seinem Schreibtisch. »Habe ich richtig gehört?« fragte der Kommandant einer kleinen Küstenwachstation. Er war der Neffe des Traditionshüters Curt Gilling, der in der Stadt Celeste lebte. »Du hast gesagt, von See her ist ein Gleiter gekommen?« »Ja«, antwortete Ely Gorman. »Ein Voorndaner war an Bord. Er ist unmittelbar nach der Landung gestorben. Die Maschine steht da draußen.«
Gilling ging zum Fenster und blickte hinaus auf den Parkplatz, der der Wachstation vorgelagert war. Ein flammend roter Gleiter stand zwischen den grauen Maschinen der Wachmannschaft. Er wurde von fünf Männern umringt, die eine eigentümlich starre Haltung angenommen hatten. »Was ist denn da los?« fragte er. »Die Sache mit den Voorndanern ist nicht gerade angenehm«, gab Ely Gorman zu bedenken. »Viele von uns meinen, daß wir etwas tun sollten, um ihnen zu helfen. Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie ein ganzes Volk untergeht.« »Das tun wir auch nicht«, erwiderte Daniel Gilling. »Ich weiß, daß Buster McMooshel Tag und Nacht gearbeitet hat, um ein Gegenmittel gegen das Gift zu finden, das für die Seuche verantwortlich ist. Soweit ich verstanden habe, hat sich durch das Zusammentreffen des Giftes mit den Mikroorganismen an Bord der ROULETTE ein Virus herausgebildet. McMooshel hat kein Gegenmittel gefunden. Er ist hilflos gegen den Virus. Schließlich hat er resigniert. Glaube mir, niemandem ist das schwerer gefallen als ihm.« »Ich verstehe das nicht«, gestand Ely Gorman. »Wir sind in der Medizin so weit. Warum können wir denn nicht bei dieser Seuche helfen?« Daniel Gilling blickte verunsichert auf den Gleiter, bei dem sich nach wie vor nichts tat. Die Wachen standen nur um die Maschine herum. Für den Kommandanten sah es aus, als ob sie angestrengt horchten. »Wir sind weit in der Medizin. Das ist richtig«, erklärte er. »Aber es genügt eben nicht, ein pathogenes, also krankheitserregendes Virus zu identifizieren, so wie McMooshel es getan hat. Man muß auch ein Mittel finden, mit dem man dieses Virus abtöten kann. Das allein wäre kein Problem. Das Virus aber befindet sich im Organismus der Voorndaner, und diese müssen die Behandlung schließlich überleben.«
»Ja – ich verstehe«, erwiderte Ely Gorman. »Dazu sind Reihenuntersuchungen notwendig. Tierversuche sind unabdingbar. Erst wenn sich bei ihnen gezeigt hat, daß man die Krankheit wirksam bekämpfen kann, darf man den Einsatz des Medikaments am Menschen wagen. Solche Untersuchungen und Prüfungen können Monate oder gar Jahre dauern. Die Voorndaner aber sterben wie die Fliegen. Innerhalb weniger Tage sind über neunzig Prozent dieses Volkes an der Seuche gestorben. Vorhin habe ich die Nachrichten gehört. Aus jüngsten Untersuchungen geht hervor, daß heute kaum noch zehntausend Voorndaner von ehemals acht Millionen leben.« »Es ist nicht zu fassen«, stöhnte Ely Gorman. »Wir können froh sein, daß wir auf dieses Virus nicht reagieren.« Daniel Gilling nickte. »Unter solchen Umständen kann auch ein McMooshel nichts ausrichten. Verstehst du? Das ist, als wenn man aus einem Sieb trinken wollte. Bevor man den ersten Schluck genommen hat, ist schon nichts mehr im Sieb.« »Du meinst, bevor der Medizinmann ein wirksames Gegenmittel gefunden hat, gibt es schon keine Voorndaner mehr?« »Ich sehe, du hast kapiert.« Gilling schüttelte den Kopf. »Verdammt noch mal, was ist da unten los? Komm. Das sehen wir uns an. Die Wachen benehmen sich, als hätten sie den Verstand verloren.« Die beiden Männer verließen den Raum und glitten eine Antigravschräge zum Erdgeschoß hinunter. Plötzlich griff sich Gilling an den Kopf. »Du meine Güte«, stöhnte er. »Wie konnte ich nur so blind sein.« »Was ist los?« fragte Gorman. »Das liegt doch auf der Hand. Das Minu‐Cuzz ist in dem Gleiter. Es hat die Männer hypnotisiert. Vor zwei Stunden erst ist eine Warnung von Drei‐B eingelaufen. Ich habe sie für nicht so wichtig angesehen. Jetzt haben wir den Salat.«
Die beiden Offiziere verließen das Wachgebäude. Daniel Gilling löste seinen Kombistrahler vom Gürtel. »Das Minu‐Cuzz ist unsichtbar«, erläuterte er, obwohl Gorman ebensogut informiert war wie er. »Wir müssen davon ausgehen, daß es sich noch immer im Gleiter befindet.« Sie gingen um die Ecke des Gebäudes und traten auf den Parkplatz hinaus. »Zurück, Männer«, rief Gilling. »Geht weg vom Gleiter.« Die Wachen drehten sich mit marionettenhaften Bewegungen um. »Macht Platz«, befahl er. »Ich will das Schußfeld frei haben.« Er hob den Kombistrahler und zielte auf das Innere der Maschine. In diesem Moment feuerte eine der Wachen auf ihn. Gilling sah es aufblitzen, aber ihm blieb keine Zeit mehr zu reagieren. Ely Gorman stürzte nach vorn. Er erfaßte, daß Gilling tot war und daß die Verantwortung für die Wach‐ und Ortungsstation damit auf ihn übergegangen war. Mit den gleichen Mitteln wie Gilling versuchte er, gegen das Minu‐Cuzz vorzugehen. Er wollte auf das unsichtbare Wesen schießen, das er im Innern des Gleiters vermutete. Auch er kam nicht dazu. Zwei der Soldaten töteten ihn mit ihren Energiestrahlern. »Es tut mir leid«, sagte Cuzz mit dumpf klingender Stimme. »Die beiden haben sich mir widersetzt.« Die Soldaten standen bewegungslos auf der Stelle. Keiner von ihnen blickte auf die sterblichen Überreste der beiden Offiziere. »Befindet sich noch jemand hier, der Widerstand leisten könnte?« fragte Cuzz. »Niemand, Herr«, antwortete Per Arens, ein untersetzter Mann mit nervös zuckenden Lidern. Er hatte sich für die Küstenstation gemeldet, weil er die Möglichkeit hatte, von hier aus Tauchexpeditionen zu unternehmen und dabei das Meer zu erforschen. Er hatte mit seinen Forschungsarbeiten viel für die Verbesserung der Lebensqualität auf New Marion geleistet. »Die
gesamte Besatzung steht vor dir.« »Ausgezeichnet«, lobte Cuzz. »Aber für euch bin ich nicht der Herr. Das ist zu wenig. Ich bin der Herr der Erwartung. Ich werde euch ins Glück führen und euch dabei behilflich sein, die grausame Herrschaft der Hexe zu beenden. Gemeinsam werden wir gegen Zulgea von Mesanthor ziehen und sie vernichten. Ich, der Herr der Erwartung, werde die Macht übernehmen und euch dann an meiner Güte teilhaben lassen. Ich werde euch neues Lebensglück bringen und euch den Sinn des Lebens bewußt machen. Freut euch auf die heraufziehende neue Zeit.« »Wir freuen uns«, antworteten die hypnotisierten Männer mit monotoner Stimme. Cuzz störte nicht, daß die Männer nicht aus freien Stücken heraus gesprochen, sondern nur seine eigenen Gedanken und Empfindungen wiedergegeben hatten. Es wollte gar nicht wissen, was sie dachten. Es wollte sich selbst Mut machen und sich zu seinem ersten Erfolg gratulieren. Es war ja auch sonst niemand da, der es hätte tun können. »Ich will zur Hauptstadt«, erklärte es den Männern. »Wie heißt sie, und wo ist sie?« »Celeste ist unsere Hauptstadt«, antwortete Per Arens. »Sie liegt südöstlich von hier. Wir bringen dich hin.« »Wir fliegen mit den Militärgleitern«, entschied Cuzz. »Damit erregen wir weniger Aufsehen als mit der Maschine, mit der ich gekommen bin.« Minuten später waren zwei Gleiter in der Luft und entfernten sich mit hoher Geschwindigkeit von der Küstenstation. Cuzz triumphierte. Seine hypnotischen Kräfte waren zurückgekehrt, und sie waren stärker als je zuvor. Es konnte sich die Männer Untertan machen. Sie mußten ihm gehorchen, und die Hypnose wurde selbst durch Tötungsbefehle nicht aufgehoben. Während des Fluges, bei dem Per Arens neben ihm saß, ließ es sich von diesem Informationen über die Stadt Celeste und die
wichtigsten Persönlichkeiten der Celester geben. Auf diese Weise reicherte es sein Wissen über Atlan, Drei‐B, Buster McMooshel, Arien Richardson, Sarah und einige andere an. Es hatte vorher schon viel von ihnen gewußt, erhielt nun aber Informationen, die es ihm er möglichten, sie noch besser zu beurteilen. »Ich benötige einen Stützpunkt in Celeste«, erklärte es mit lauter Stimme, obwohl hypnotische Impulse genügt hätten, die Männer auf seine Wünsche einzustimmen. »Wir werden an einer unauffälligen Stelle der Stadt landen und dann in ein Gebäude eindringen, in dem wir uns niederlassen können, ohne Aufsehen zu erregen. Ich erwarte Mitarbeit. Welches Gebäude ist am besten für uns geeignet?« Die Männer reagierten mit einer Reihe von Vorschlägen, die Cuzz jedoch alle nicht recht begeisterten. Das Regierungsgebäude war ihm für die erste Stufe zu extrem, und ein Wohngebäude draußen am Stadtrand war ihm zu bedeutungslos. »Vielleicht ein Sanatorium für geistig Behinderte«, sagte Per Arens. »Es liegt isoliert, ist aber nicht allzuweit von Downtown entfernt. Die Menschen, die im Sanatorium leben, werden keinen Widerstand leisten. Von dort aus kannst du alle Informationsmöglichkeiten ausschöpfen, und niemand wird so schnell auf den Gedanken kommen, dich da zu suchen.« »Eine gute Idee«, lobte Cuzz. »Bevor Drei‐B begriffen hat, daß ich noch lebe und in Celeste bin, habe ich ihn schon entmachtet. Wir fliegen bis in die Nähe des Sanatoriums und gehen das letzte Stück zu Fuß. Wie ich dorthin komme, ist meine Sache. Bewegt euch so unauffällig wie möglich.« »Am einfachsten ist es für uns, wenn wir uns im Schutz der Dunkelheit ins Sanatorium vorarbeiten«, erwiderte Per Arens. »Genau das ist meine Absicht.« 5.
Die Stadt Celeste lag im Dunkeln. Niemand bemerkte die Gleiter, die am Stadtrand landeten. Die fünf Celester stiegen aus, und auch Cuzz verließ die Maschine. Unsichtbar bewegte es sich zwischen den Celestern voran. Wenig später stiegen die Gleiter wieder auf. Per Arens hatte sie so programmiert, daß sie zur Küstenstation zurückkehrten. Arens war am leichtesten von allen zu lenken. Er sprach auf den geringsten hypnotischen Impuls an. Cuzz hatte ihn fest unter Kontrolle. Von ihm brauchte es nicht zu befürchten, daß er sich auflehnte und ausbrach. Ganz anders dagegen Simon Richard, ein entfernter Verwandter von Arien Richardson. Dieser schlaksige, junge Mann bewegte sich träge und offenbar stets unter größten Anstrengungen. Er machte den Eindruck, als koste es ihn die große Mühe, die Augen offenzuhalten. Cuzz spürte deutlich, daß das Bild äußerer Trägheit nicht mit dem Inneren übereinstimmte. Simon Richard leistete Widerstand. Er kämpfte gegen die hypnotische Klammer. Immer wieder versuchte er, auszubrechen und irgend etwas anderes auszuführen, als Cuzz ihm befohlen hatte. Er ahnt nicht, daß er mit seinem Leben spielt, dachte das Doppelfragment. Wenn es mir nicht gelingt, ihn wirklich unter Kontrolle zu bringen, muß ich ihn liquidieren. Per Arens hob beide Arme. Suchend blickte er sich um. »Wo bist du, Herr der Erwartung?« fragte er. »Ich kann dich nicht sehen.« Cuzz gab ein wenig von seiner Zurückhaltung auf. Er lockerte den Schirm der Unsichtbarkeit, so daß die Celester schemenhafte Umrisse seines Äußeren erkennen konnten. »Was hast du mir zu sagen, Per?« »Da drüben ist das Sanatorium. Keine fünfzig Meter von uns entfernt.«
»Worauf warten wir dann noch?« »Es gibt automatische Sicherungseinrichtungen«, erläuterte der Celester. »Im Sanatorium schalten sich Kameras ein, wenn wir durch das Portal gehen. Damit wird noch kein Alarm ausgelöst, aber man wird auf uns aufmerksam.« »Das spielt keine Rolle. Ihr geht voran. Ich bleibe hinter euch.« »Wohin wenden wir uns?« »Zum Verwaltungsgebäude. Dort finden wir die wichtigsten Persönlichkeiten der Anlage.« Die Celester gehorchten. Selbst Simon Richard ging widerspruchslos durch das Portal. Seine Füße schlurften über den Kies und erzeugten dabei ein für Cuzz unangenehmes Geräusch. Das unsichtbare Wesen verzichtete jedoch darauf, den jungen Mann mit hypnotischen Befehlen zu korrigieren. Es wollte ihn zu keinem größeren körperlichen Aufwand zwingen, um seine innere Auflehnung nicht zu verstärken. Als die Gruppe das Verwaltungsgebäude erreichte, kam ihr die Assistenzärztin entgegen. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen. Sie sah überanstrengt und übermüdet aus. »Was kann ich für euch tun?« fragte sie. »Geh ins Bett und schlaf dich aus«, erwiderte Per Arens. »Du machst wohl Witze, wie?« Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich wollte, ich könnte es mir leisten, aber hier geht alles drunter und drüber. Ich bin die einzige, die zur Zeit den Dienst ausüben kann. Die anderen liegen alle mit der Grippe flach.« »Dennoch wird sie jetzt schlafen, nicht wahr, Herr?« »Du hast vollkommen recht, Per. Genau das wird sie tun«, kündigte Cuzz an. Die Assistenzärztin fuhr sich mit den Händen über die Augen. Sie taumelte erschöpft, wandte sich um und kehrte mit schleppenden Schritten in das Verwaltungsgebäude zurück. Per Arens folgte ihr. Er sah, daß sie sich im Bereitschaftsraum auf eine Couch legte und sofort einschlief.
Er lächelte zufrieden, wandte sich ab und blickte der Reihe nach in die anderen Räume des Verwaltungsgebäudes. Er fand drei Frauen und vier Männer, die alle im tiefen Schlaf lagen. Er versuchte, einen der Männer zu wecken. Es war ein älterer Mann. Ein kleines Schild auf seiner Brust wies ihn als Chefarzt Gores aus. Er hatte gerötete und verquollene Augenlider, und er hustete ständig. Er wachte nicht auf, obwohl Per Arens kräftig an seiner Schulter rüttelte. Cuzz hat sie alle im Griff, dachte der Celester. Er hustete ebenfalls. Es ist gut, daß wir uns auf den Herrn der Erwartung verlassen können. Er kehrte zum Warteraum zurück, wo sich auch die anderen vier Männer aufhielten. Für einen kurzen Moment wurde Cuzz sichtbar. »Es ist alles in Ordnung«, meldete er. »Sie schlafen.« »Was geschieht bei einem medizinischen Notfall?« fragte Simon Richard. Er richtete sich auf, und sein Gesicht rötete sich. Verwirrt sah er sich um. Er wußte, daß er im Sanatorium war, aber ihm war offenbar nicht klar, wie er hierher gekommen war. »Nichts«, antwortete Cuzz. Er konzentrierte sich voll auf Richard und brachte ihn rasch wieder unter seine Kontrolle. »Bist du beruhigt?« »Natürlich, Herr«, erwiderte der Celester. Er nieste und rieb sich den Hals. »Ich habe so ein Kratzen im Hals. Ob man hier Medikamente findet?« »Seht euch um«, befahl Cuzz. »Versorgt euch mit allem, was ihr benötigt.« Es ließ vier der Männer gehen, hielt aber Per Arens zurück, als dieser den Raum ebenfalls verlassen wollte. »Du bleibst hier«, sagte es. »Ich brauche Informationen, und du wirst mir helfen, sie einzuholen.« »Das ist kein Problem«, entgegnete Arens. »Ich habe vorhin gesehen, wo die Computer stehen.« Cuzz bedachte ihn mit lobenden Worten, nachdem der Celester es ins Informationszentrum geführt hatte. Per Arens lächelte. Seine
Finger glitten über die Tastaturen des Computers, und gleich darauf leuchteten die ersten Schriftblöcke auf dem Bildschirm auf. »Ich will die Namen der Patienten wissen«, erläuterte Cuzz. »Und du wirst mich darüber informieren, ob es irgendwelche Verbindungen von ihnen zu Drei‐B, Atlan oder einer anderen wichtigen Persönlichkeit gibt.« »Da ist nur diese Flora Almuth«, berichtete Per Arens, nachdem er die Kartei der Patienten durchgegangen war. »Sie ist die Tante von Sarah und somit auch mit Drei‐B verwandt.« »Ausgezeichnet. Wo ist sie?« Der Celester erklärte es ihm. »Wir bringen alle Patienten unter meine Kontrolle«, verkündete Cuzz. »Du wirst mich begleiten. Wir suchen alle der Reihe nach auf. Diese Flora Almuth werden wir uns gesondert vornehmen.« »Es sind alles geistig Behinderte«, bemerkte Per Arens. »Du wirst kaum etwas mit ihnen anfangen können.« »Das ist mir klar. Mir geht es zunächst auch nur darum, alle in den Griff zu bekommen. Keiner darf uns verraten. Erst wenn ich die Macht über Celeste ergriffen habe, werden diejenigen begreifen, was geschehen ist, die dann noch frei sind.« Cuzz verließ zusammen mit dem Celester das Verwaltungsgebäude und zog von Bungalow zu Bungalow, ohne einen von ihnen zu betreten. Von draußen überschüttete es die Häuser mit hypnotischen Befehlen und machte sich auf diese Weise alle Patienten Untertan. Erst weit nach Mitternacht kehrte es in das Verwaltungsgebäude zurück. »Wir legen eine Ruhepause ein«, entschied es. »Morgen geht es weiter.« Damit zog es sich in einen abgelegenen Raum zurück und ließ sich dort auf den Boden sinken. Ein Teppich diente ihm als Polster. Es schlief ein. Cuzz brauchte diese Ruhepause dringend. Die Anstrengungen der letzten Stunden hatten es erschöpft. Vor allem die Vereinigung der
beiden Fragmente hatte viel Energie gekostet. Jetzt glaubte es, sich ein wenig Zeit nehmen zu können, um seine Kräfte zu regenerieren und über die weiteren Schritte seines Racheplanes nachzudenken. * Als Atlan das Büro von Benjamin Boz Briggs betrat, saß dieser hinter seinem Arbeitstisch über einer Unterschriftenmappe, obwohl der Bürobetrieb in den anderen Abteilungen des Regierungsgebäudes noch gar nicht begonnen hatte. Drei‐B unterbrach seine Arbeit und kam dem Arkoniden entgegen, um ihn zu begrüßen. »Was führt dich schon so früh am Morgen zu mir?« fragte er. »Es geht um Sarahs Mutter und deren Zwillingsschwester«, erwiderte Atlan. »Also um Flora Almuth.« »Was ist mit ihr?« Briggs schien überaus überrascht zu sein, weil er sich für die Tante Sarahs interessierte. »Sie befindet sich in einem Sanatorium.« »Das weißt du? Warum hast du Nachforschungen betrieben? Wäre es nicht besser gewesen, diese Dinge auf sich beruhen zu lassen?« Atlan ließ sich in einen Sessel sinken. »Warum hast du Sarah gegenüber verschwiegen, daß Flora hier in der Stadt lebt?« Drei‐B kehrte hinter seinen Arbeitstisch zurück. Er setzte sich ebenfalls. »Ich habe es mir gewiß nicht leichtgemacht, Atlan«, erwiderte er nach geraumer Zeit. »Ich vermute, du hast auch erfahren, was mit Sarahs Mutter geschehen ist?« »Allerdings. Aber ich würde es gern noch einmal von dir hören.« »Sie hat den Verstand verloren und Selbstmord verübt. Das war vor etwa zwanzig Jahren. Ich erinnere mich nicht mehr so genau an die näheren Umstände. Ich weiß nur, daß aus dem Sanatorium die Nachricht kam, daß Marie tot ist. Bei der Feuerbestattung war ich
dann zugegen.« »Aber du hast Marie nicht mehr gesehen?« Briggs blickte ihn verwundert an. »Nein? Wozu? Sie war tot.« »Das war die Information, die man dir gegeben hat. Aber vielleicht war sie nicht richtig?« Drei‐B seufzte. »Das ist eben genau das, was ich stets befürchtet habe, Atlan«, sagte er. »Deshalb haben wir Sarah gegenüber geschwiegen. Es ist nicht leicht für sie, mit der Tatsache zu leben, daß sowohl ihre Mutter als auch deren Zwillingsschwester geistesgestört waren oder sind. Natürlich hat sie Angst, daß mit ihr ähnliches geschehen könnte. Diese Angst wollten wir ihr ersparen. Wir hatten gehofft, daß sie irgendwann vergessen würde, nach ihrer Mutter zu fragen, aber anscheinend haben wir uns geirrt.« »Ich bin sicher, daß damals irgend etwas Mysteriöses geschehen ist«, eröffnete ihm der Arkonide. »Ich glaube nicht an den Selbstmord. Im Sanatorium hat sich etwas ereignet, was dringend geklärt werden sollte.« »So kenne ich dich gar nicht, Atlan. Haben wir nicht schon genügend Probleme? Müssen wir uns mit so alten Geschichten herumschlagen, die ganz sicher keinen Einfluß mehr auf unser Leben haben werden?« »Das ist es eben, was ich bezweifle. Ich glaube, daß es von entscheidender Bedeutung für uns alle sein wird, daß wir das Schicksal von Marie Almuth aufklären.« »Wie kommst du darauf?« Briggs war bestürzt. Erst jetzt erfaßte er, daß der Arkonide es wirklich ernst meinte und nicht nur Fragen stellte, um Sarah einen Gefallen zu tun. »Ich habe mich mit Flora Almuth unterhalten und dabei eine seltsame Beobachtung gemacht«, erklärte der Aktivatorträger. »Ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß Flora Almuth wieder vollkommen gesund werden kann. Bei ihr liegt nur eine kleine
Störung vor. Ein guter Arzt müßte in der Lage sein, sie zu beseitigen.« »Das wird schon seit Jahren versucht.« »Eben das glaube ich nicht, Ben. Der Fall Flora Almuth ist zu ernst, als daß ich mit ein paar nichtssagenden Bemerkungen darüber hinweggehen werde. Heute besucht Sarah ihre Tante noch einmal. Ich hoffe, daß sie weitere Indizien dafür findet, daß Flora manipuliert worden ist.« Drei‐B sprang auf. »Manipuliert? Hast du den Verstand verloren? Wer sollte ein derartiges Verbrechen an ihr verübt haben?« * »Herr der Erwartung – bist du hier?« Cuzz schreckte aus dem Schlaf auf. Es brauchte einige Sekunden, bis es wieder wußte, wo es war. Per Arens stand in der Tür und sah sich suchend um. »Was ist geschehen?« fragte Cuzz. »Besucher kommen«, berichtete der Celester, der sichtlich erleichtert war, weil er Cuzz gefunden hatte. »Ausgezeichnet. Es geht also weiter.« Das unsichtbare Wesen verließ den Raum und eilte zu den anderen Celestern, die teilnahmslos neben den Computern standen. »Ich glaube, Sarah ist unter den Besuchern«, meldete Simon Richard. Er nieste kräftig, und seine Stimme klang rauh. Cuzz horchte auf. Niemand war ihm willkommener als ausgerechnet die Enkelin des celestischen Oberhaupts. »Wo sind die Besucher?« erkundigte es sich. »Wir haben sie zu den Patienten geschickt«, antwortete Per Arens. »Auch das Pflegepersonal, das die Roboter dirigiert, ist dort.« Ich scheine ein wenig zu lange geschlafen zu haben, dachte Cuzz.
Wortlos verließ er das Verwaltungsgebäude und machte sich auf den Weg, um alle unter Kontrolle zu bringen, die noch geistig frei waren. Es begann bei den nächsten Bungalows und schlug dann einen großen Bogen, um sich schließlich dem Haus zu nähern, in dem Flora Almuth untergebracht war. Schon von weitem sah es sie mit ihrer Besucherin Sarah auf der Terrasse sitzen. Cuzz spürte Erregung in sich aufkommen. Es stand vor einem entscheidenden Schritt. Wenn es gelang, Sarah unter Kontrolle zu bekommen, hatte es einen Faustpfand gegen Atlan in der Hand. Eine Beziehung, wie sie zwischen ihr und Atlan besteht, scheint auch hier ungewöhnlich zu sein, dachte es. Immerhin sprechen die Männer darüber. Cuzz erinnerte sich nicht mehr an die Zeit, als es sich selbst für das andere Geschlecht interessiert hatte. Das war vor dem Anschlag Zulgea von Mesanthors gewesen, bei dem es in mehrere Fragmente aufgesprengt worden war. Vorsichtig tastete es sich an die beiden Frauen heran, die nur wenige Worte miteinander wechselten. Freudig überrascht stellte es fest, daß keine von ihnen Widerstand leistete. Beide sprachen auf die hypnotischen Impulse an, und beide gehorchten, als es ihnen befahl aufzustehen und die Terrasse zu verlassen. Als die beiden Frauen sich ihm näherten, eilte Per Arens aus der entgegengesetzten Richtung herbei. Mit einem geistigen Impuls informierte es ihn darüber, wo es sich aufhielt. Arens blieb unmittelbar neben ihm stehen. »Atlan ist gelandet«, berichtete der Celester. Er blickte ins Leere und sprach in die Luft, da er Cuzz nicht sehen konnte. »Er ist gerade eben mit einem Gleiter eingetroffen.« »Wir müssen ihn haben«, entgegnete Cuzz. »Sollen wir ihn töten?« fragte Per Arens. »Nein. Wir nehmen ihn gefangen. Als Toter nützt er uns nichts.« Cuzz blickte die beiden Frauen an. »Geh zu den anderen und
informiere sie. Ich werde dafür sorgen, daß Flora Almuth und Sarah Atlan entgegengehen. Das wird ihn ablenken. Dann kreist ihn ein und schaltet ihn aus.« »Ich habe verstanden, Herr.« »Dann verschwinde.« Per Arens eilte davon. Sarah und ihre Tante waren stehengeblieben. Mit leeren Augen blickten sie auf die Blumen am Wegrand. »Weiter«, befahl Cuzz ihnen mit lauter Stimme. »Wollt ihr Atlan nicht empfangen?« * Arien Richardson sah, wie Atlan das Regierungsgebäude verließ. Er wollte mit ihm sprechen, kam jedoch zu spät. Der Arkonide stieg in einen Gleiter und startete. Als der »Feuerwehrmann« das Gebäude betrat, begegnete er Drei‐ B, der an einem Automaten stand und diesem ein Getränk entnahm. »Zu dir wollte ich, Ben«, sagte er. »Mir ist etwas aufgefallen.« »Dir auch? Heraus damit.« Richardson blickte Briggs forschend an. »Moment mal, du siehst aus, als ob du Ärger gehabt hättest.« »Ärger nicht gerade, aber Atlan hat eine schwerwiegende Beschuldigung erhoben, der ich unbedingt nachgehen muß. Er hat einen Verdacht, und ich muß das überprüfen. Aber lassen wir das. Kommen wir zu dir.« Die beiden Männer gingen in das Büro des celestischen Oberhaupts. »Was ist dir aufgefallen? Weshalb bist du hier?« »Ich habe heute morgen eine Computerkontrolle durchgeführt«, berichtete Richardson. »Dabei bin ich auf eine Nachricht von einer Küstenstation gestoßen, in dem von einem Gleiter die Rede ist. Diese Maschine ist vom Kontinent Palmwiese herübergekommen.«
»Ja – und?« »Du hast recht. Es ist nicht der erste Gleiter, der registriert worden ist. Schon häufig haben Voorndaner gehofft, sich dadurch retten zu können, daß sie nach Hain überwechseln. In allen Fällen aber ist der ersten Meldung wenigstens eine zweite gefolgt.« »In diesem Fall nicht?« »Die Küstenstation schweigt. Ich habe versucht, sie über Interkom zu erreichen, aber ohne Erfolg. Deshalb habe ich mich entschlossen, hinzufliegen und mich dort umzusehen. Ich bin lediglich hier, um dich zu informieren.« »Nimmst du deine Söhne mit?« »Nein. Sie bleiben hier. Ich will, daß sie sich in Celeste umsehen.« Briggs lächelte. »Ich verstehe«, sagte er. »Du teilst also meine Sorgen. Du hältst es für möglich, daß sich das Minu‐Cuzz bei uns einschleicht und für Unruhe sorgt.« »Wenn es nur Unruhe wäre, würde es mich nicht aufregen«, entgegnete der »Feuerwehrmann«. »Ich fürchte jedoch, daß es sehr viel schlimmer werden kann. Mit seinen hypnotischen Fähigkeiten kann dieses Geschöpf uns in eine Katastrophe stürzen.« »Eben deshalb entwickeln wir das Anti‐Moosh. Buster arbeitet mit Hochdruck daran.« »Das wollte ich wissen, bevor ich starte. Wie lange kann es dauern, bis wir eine ausreichend große Kernmannschaft von Leuten bilden können, die nicht hypnotisiert werden können?« »Eine Woche ist das Minimum«, erwiderte Drei‐B. »Solange müssen wir noch durchhalten.« An diese Worte mußte Arien Richardson immer wieder denken, als er sich mit seinem Gleiter der Küste näherte. Er war in höchster Sorge, denn unter den gegebenen Umständen war die Stadt Celeste dem Minu‐Cuzz hilflos ausgeliefert. Wenn es diesem gelang, seine Macht in wenigen Tagen zu etablieren, dann stand die Kernmannschaft auf verlorenem Posten, bevor sie ihre Arbeit
überhaupt aufgenommen hatte. Vorsichtig näherte er sich der Küstenstation. Er landete mehrere Kilometer von ihr entfernt zwischen einigen Felsen und beobachtete sie mit Hilfe der Fernoptik. Erst als sich nach etwa einer halben Stunde nichts geregt hatte, flog er bis zur Station. Er raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu, stürzte sich dann aufs Dach herab, setzte die Maschine dort ab und eilte mit angeschlagener Waffe in das obere Geschoß hinab. Minuten später wußte er, daß sich niemand mehr in der Station aufhielt, und daß die beiden Toten nicht dazu dienten, ihn in eine Falle zu locken. Keimbeißerkäfer waren zu Hunderten über die Toten hergefallen. Er vertrieb sie mit Hilfe von weitgefächerten Energiestrahlen. Dann schweißte er die Toten in Plastikfolien ein, so daß sie sicher vor den Insekten waren. Auch den Voorndaner behandelte er in dieser Weise. Danach untersuchte er den Gleiter nach Spuren. Er entdeckte einige Abdrücke am Armaturenbrett, die nicht zu einem menschlichen Wesen paßten. Sie konnten vom Minu‐Cuzz stammen, waren jedoch kein eindeutiger Beweis dafür, daß dieses im Gleiter gewesen war. Er rief Drei‐B über Interkom an und berichtete. »Dann ist eingetreten, was ich befürchtet habe«, sagte Briggs anschließend. »Ich bin ganz sicher, daß wir es mit dem Minu‐Cuzz zu tun haben.« »Und jetzt?« fragte Richardson. »Wirst du einen allgemeinen Alarm auslösen?« »Auf keinen Fall. Ich will nicht, daß es zu einer Panik kommt. Ich muß mir noch überlegen, was zu tun ist. Inzwischen werde ich mit unserem Medizinmann reden.« Er schaltete ab. Arien Richardson stieg zum Dach empor und startete. Er überlegte, wohin sich das Cuzz gewandt haben konnte, kam jedoch
zu keinem überzeugenden Ergebnis. Er beschloß, mit Atlan zu reden und die nächsten Schritte mit ihm zu beratschlagen. In Celeste erfuhr er, daß der Arkonide und Sarah schon seit Stunden nicht mehr gesehen worden waren. Buster McMooshel vermutete, daß sie einen Jagdausflug in die Wildnis unternommen hatten. »Die wollen nicht gestört werden«, erklärte er schmunzelnd. »Kann man ja auch verstehen.« Auch Benjamin Boz Briggs wußte nicht, wo der Arkonide und seine Enkelin waren. »Wie du weißt, hat Atlan mit mir über Flora Almuth gesprochen und über Marie«, sagte er. »Vielleicht ist er noch einmal ins Sanatorium gegangen, um mit Flora zu reden. Er hat so etwas angedeutet.« Arien Richardson fühlte, wie sich etwas in ihm verkrampfte. Das Sanatorium! dachte er. Geistig behinderte Menschen. Wenn das Minu‐Cuzz sich dorthin zurückzieht und auf dem Gelände des Sanatoriums mit hypnotisierten Männern und Frauen einen Stützpunkt errichtet, wird niemand Verdacht schöpfen. Kein Mensch wird sich etwas dabei denken, wenn er jemanden sieht, der sich hölzern bewegt oder sich seltsam benimmt. Man wird die Opfer des Cuzz für Patienten halten – bis es zu spät ist. 6. »Das ist mir egal«, sagte Arien Richardson, als eine Sekretärin ihn im Vorzimmer von Drei‐B aufhalten wollte. »Ob er in einer Sitzung ist oder nicht, ich muß ihn sprechen.« Hilflos sah sie zu, wie er durch das Büro stürmte und die Tür zum Sitzungsraum aufstieß. Hier saß Benjamin Boz Briggs mit mehreren Mitarbeitern zusammen. Auch Buster McMooshel war da.
»Das Cuzz ist da«, sagte Richardson. »Es ist hier in der Stadt. Im Sanatorium für geistig Behinderte.« Briggs sprang auf. »Ist das wahr?« fragte er. »Ich bin dort gewesen«, berichtete der »Feuerwehrmann«. »Ich habe mich eingeschlichen und aus einem sicheren Versteck heraus beobachtet. Die Männer der Küstenstation halten sich auf dem Gelände auf. Auch Sarah ist dort. Für einen kurzen Moment wurde das Cuzz sichtbar. Ich habe das glockenförmige Wesen gesehen. Es hat jetzt einen hellblauen Schädel. Durch das Tor sind mehr als zweihundert Männer und Frauen aus der Stadt hereingekommen. Sie haben sich wie ganz normale Besucher benommen, standen später aber nur teilnahmslos herum, als wüßten sie mit sich nichts anzufangen.« »Wir müssen sofort etwas unternehmen«, drängte Buster McMooshel. »Der Meinung bin ich auch«, erwiderte Richardson. »Fragt sich nur, was wir tun können. Mittlerweile haben die meisten Männer und Frauen das Sanatorium verlassen. Sie haben sich in alle Winde zerstreut. Auch Sarah und Flora Almuth sind nicht mehr dort.« »Du hättest früher Alarm schlagen müssen«, warf Drei‐B ihm vor. »Das konnte ich nicht«, verteidigte Richardson sich. »Man hätte mich erwischt, wenn ich mein Versteck zu früh verlassen hätte, und dann wäre überhaupt keine Information zu euch durchgekommen. Wir müssen jetzt davon ausgehen, daß sich das Cuzz mitten in der Stadt befindet, und daß es ständig weitere Männer und Frauen hypnotisiert und sich somit gefügig macht.« Betroffen blickten sich die Mitglieder des Staatsoberhaupts an. Sie kamen sich hilflos vor. Niemand wußte, was nun zu geschehen hatte. »Was glaubst du, welches Ziel das Cuzz verfolgt?« fragte Buster McMooshel. »Ich weiß es nicht«, gestand Richardson. »Ich kann nur vermuten,
daß es versuchen wird, die Bewohner der ganzen Stadt zu hypnotisieren. Das wäre das Ende unserer Freiheit. Alles würde zusammenbrechen. Wir wären nicht mehr als willenlose Marionetten in den Händen dieser Kreatur.« »Wir müssen alle paralysieren«, schlug eine junge Frau vor. »Alle?« entgegnete Briggs. »Was heißt das? Willst du jeden paralysieren, der dir verdächtig vorkommt? Das würde dann dazu führen, daß viele freie Menschen ausgeschaltet werden und unter Umständen gerade diejenigen übrigbleiben, die bereits hypnotisiert worden sind. Und Cuzz haben wir damit noch lange nicht unschädlich gemacht. Nein, das Risiko ist viel zu hoch.« »Aber irgend etwas müssen wir doch unternehmen«, sagte Richardson. »Wir können nicht tatenlos zusehen, wie Cuzz die Macht über uns alle ergreift.« »Wir müssen die Menschen impfen«, antwortete Drei‐B. »Wir haben gar keine andere Wahl. Wir müssen sofort damit beginnen. Je mehr Einwohner dieser Stadt auf diese Weise abgesichert werden, desto mehr vermindern sich die Chancen unseres Gegners.« »Ich habe nur eine beschränkte Menge des Impfstoffs zur Verfügung«, gab McMooshel zu bedenken. »Sie reicht für höchstens hundert Personen.« »Das ist besser als gar nichts. Wenn wir diese hundert Personen geimpft haben, können wir daran denken, alle anderen zu paralysieren«, sagte Drei‐B. »Und danach kann dann die Suche nach Cuzz beginnen. An die Arbeit, Medizinmann. Wir haben keine Zeit zu verlieren.« * »Geht«, befahl Cuzz. »Wir verlassen diesen Ort.« Es stand vor dem Verwaltungsgebäude. Über hundert Männer und Frauen umringten es. Unter ihnen befanden sich auch Flora
Almuth und Sarah. Für einen kurzen Moment wurde das fremdartige Wesen sichtbar. Es streckte den Rüssel mit den verschiedenen Wahrnehmungsorganen in die Höhe und sah sich um. Als es nirgendwo etwas entdeckte, was seinen Argwohn erregen konnte, befahl es den Aufbruch, Die Hypnotisierten schlossen sich ihm an, und niemand bemerkte, daß es immer mehr Celester in seinen Bann schlug, als es dem Raumhafen zustrebte. Sein unfreiwilliges Gefolge zerstreute sich über die Straßen der Stadt und zog auf Umwegen zum Raumhafen. Dort trafen schließlich zweiundneunzig Männer und Frauen ein. Die anderen verloren sich in den Straßen der Stadt. Normalerweise hätten die Hypnotisierten durch die hölzerne und steife Art, in der sie sich bewegten, Aufsehen erregt. Doch Cuzz arbeitete sich unter höchster Konzentration voran. Ununterbrochen schickte es hypnotische Impulse aus, die alle Menschen erfaßten, denen es sich auf weniger als hundert Meter näherte. Der hypnotische Bann sollte sich erst sehr viel später lösen, so daß Cuzz den Raumhafen ungehindert erreichen konnte. Es befand sich unmittelbar hinter Flora Almuth und Sarah, als es sich ANIMA näherte und diese mit hypnotischen Impulsen angriff. Cuzz spürte Widerstand, aber es gelang ihm, diesen zu brechen. Dazu war höchste Konzentration nötig. Die Anstrengung wurde so groß, daß es vorübergehend sichtbar wurde. * »Ich habe es geahnt«, sagte Arien Richardson. »Cuzz will ANIMA. Seht hin. Es führt Flora Almuth, Sarah und noch einige andere zu ANIMA.« Er stand zusammen mit seinen beiden Söhnen Spooner und Volkert hinter einigen Bäumen am Rande des Raumhafens. Buster McMooshel gesellte sich zu ihnen. Wortlos blickte er zu ANIMA
hinüber. »Da ist es«, rief Spooner. »Ich habe Cuzz gesehen. Es hat ANIMA bereits erreicht.« »Können wir denn überhaupt nichts tun?« fragte Volkert, der sichtlich schockiert war Über die Ereignisse. »Wir können doch nicht dulden, daß Cuzz ANIMA entführt.« Fünf Soldaten kamen mit einem Gleiter und landeten unmittelbar neben dem Raumschiff. Sie stiegen aus und schleppten ein großes Bündel an Sarah vorbei ins Schiff. »Wo ist Cuzz?« Buster McMooshel verließ die Deckung und trat auf das offene Landefeld hinaus. »Das ist es ja gerade«, entgegnete Arien Richardson verbittert. »Wir wissen nicht, wo es ist. Eben war es sichtbar, aber wir haben nicht aufgepaßt. Wir hätten sofort schießen müssen. Jetzt ist es zu spät. Wir sehen es nicht mehr, und mit den Individualtastern richten wir nichts aus, weil es sich mitten unter den Männern und Frauen verbirgt, die es in seine Gewalt gebracht hat. Deshalb können wir nichts ausrichten. Dabei ist klar, daß wir es erwischen müssen, oder es macht uns fertig und verschwindet dann auf Nimmerwiedersehen.« »Aber wir dürfen es doch nicht entkommen lassen«, stöhnte Spooner Richardson. Er griff nach dem Arm seines Vaters. »Wir gehen an Bord«, entschied Arien Richardson. »Los. Kommt. Wir tun so, als wären wir auch hypnotisiert. Wir mischen uns unter die anderen. Wenn wir Glück haben, fallen wir nicht auf.« Er ging zu McMooshel. »Hast du Anti‐Moosh dabei?« fragte er. »Eine ganze Tasche voll.« Der Mediziner nahm eine bauchige Tasche auf, die er neben sich auf den Boden gestellt hatte. »Damit können wir alle befreien, die mit Cuzz an Bord gehen«, erläuterte er, »Vorausgesetzt, es gelingt uns, sie zu impfen.« »Vorsicht«, rief Volkert Richardson.
Er zog seinen Vater und den »Medizinmann« zur Seite. Zwischen zwei Häusern traten drei Männer und zwei Frauen hervor. Ihnen war anzusehen, daß sie unter Hypnose standen. Mit unbeholfen wirkenden Bewegungen schritten sie an ihnen vorbei. »Los. Mitgehen«, befahl Arien Richardson. »Versucht, euch ebenso zu verhalten wie sie.« Er drängte Buster McMooshel zwischen die beiden hypnotisierten Männer, so daß er durch diese abgeschirmt wurde. Dann schritt er vor ihnen her, die Blicke starr auf ANIMA gerichtet. »Was soll das?« murmelte der »Medizinmann«. »Muß diese Rempelei sein?« »Du bist der einzige, der eine Tasche trägt«, erwiderte der hochgewachsene »Feuerwehrmann« leise. »Meinst du, das fällt nicht auf? Also sei froh, wenn du dich hinter uns verstecken kannst.« »Wo ist Atlan«, fragte Spooner unruhig. »Wieso meldet er sich nicht? Er müßte doch auch gemerkt haben, was gespielt wird.« »Sei still«, zischte sein Vater. »Kein Wort mehr. Cuzz darf uns nicht hören.« McMooshel schimpfte leise vor sich hin. Die Situation gefiel ihm nicht. Die Versuchung, sich nach Cuzz umzusehen, war groß. Doch er wußte, daß er die Blicke unverwandt nach vorn richten mußte, wenn er nicht auffallen wollte. Irgendwo am Rand des Raumhafens befand sich Benjamin Boz Briggs mit einigen Männern und beobachtete das Geschehen. Er konnte nichts tun, ohne das Leben der parapsychisch beeinflußten Männer und Frauen zu gefährden. McMooshel atmete hörbar auf, als er ANIMA erreicht hatte und in das Innere des zur Zeit kugelförmigen Raumschiffs vorgedrungen war. Die Schlummernde hatte eine silbergraue Farbe, so daß ihre Körpersubstanz wie Metall aussah. »Ob sie auch hypnotisiert ist?« flüsterte Spooner Richardson. »Keine Ahnung«, wisperte Volkert zurück. »Wir werden es bald erfahren.«
Die Schleuse schloß sich hinter ihnen, und ein Ruck ging durch das lebende Raumschiff. Es startete. * Benjamin Boz Briggs blickte fassungslos auf die startende ANIMA. »Was ist los?« brüllte er in das Mikrofon seines Kombigerätes, das er am Handgelenk trug. »Wieso setzt ihr die Fesselfelder nicht ein? Wo bleiben die Traktorstrahlen? ANIMA darf New Marion nicht verlassen.« Die glanzlosen Augen eines offensichtlich hypnotisierten Mannes blickten ihn an. »Der Herr der Erwartung hat einen gegenteiligen Befehl gegeben«, erklärte der Mann. »Ihm sind wir gefolgt.« Drei‐B schaltete aus. Schockiert lehnte er sich mit dem Rücken an eine Hausmauer und beobachtete die in den Wolken verschwindende ANIMA. Ich hätte damit rechnen müssen, daß Cuzz meine Leute im Abwehrzentrum ausschaltet. Wir haben die falschen Männer geimpft. Cuzz hat dafür gesorgt, daß nicht sie an den Energieprojektoren saßen, sondern andere, so daß niemand den Start verhindern konnte. Er raffte sich auf und eilte zum Kontrollgebäude des Raumhafens hinüber. Curt Gilling, der Traditionshüter, tauchte unter den Bäumen neben dem Gebäude auf und gesellte sich zu ihm. Der Halbbruder Sarahs strich sich die blonden Haare aus der verschwitzten Stirn. »So was nennt man Schach«, sagte er, »aber noch nicht Matt.« »Wie meinst du das?« fragte Briggs seinen Berater. »Vorläufig hat Cuzz alle Trümpfe auf seiner Seite. Es hat Sarah, und ich fürchte, Arien, Spooner, Volkert und der Medizinmann werden einen schweren Stand an Bord haben. Außerdem ist Atlan verschwunden.
Entweder befindet er sich noch im Sanatorium, oder Cuzz hat ihn an Bord gebracht und verschleppt. Für mich ist das eine klare Niederlage.« »Du hast ein Scharmützel verloren, Ben«, erwiderte Gilling. »Aber das ist auch alles. Wir müssen ANIMA verfolgen. Ich bin überzeugt davon, daß sich früher oder später eine Gelegenheit für uns ergeben wird, in das Geschehen einzugreifen.« »Das können wir nur hoffen.« Briggs sah sich um. Von allen Seiten näherten sich ihm Männer, Frauen und Kinder. Allen war anzusehen, daß sie das parapsychische Joch abgeschüttelt hatten und erschüttert erfaßten, was geschehen war. Die Angst vor einer Wiederholung der Ereignisse stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie begriffen, wie hilflos sie gegen den Angreifer gewesen waren, und daß sich der Vorfall zur Katastrophe für New Marion hätte ausweiten können, wenn Cuzz nicht freiwillig abgezogen wäre. »Wir werden ANIMA folgen«, beschloß Drei‐B. »Curt, du kommst mit mir zur Praxis von McMooshel. Wir holen Anti‐Moosh. Ich will, daß alle Besatzungsmitglieder der PENNSYLVANIA damit geimpft werden. Los. Wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn wir der ANIMA auf den Fersen bleiben wollen.« Minuten später betrat er zusammen mit Curt Gilling die Laborräume von Buster McMooshel. Er rief dessen Assistenten zusammen und forderte ihnen die Restbestände von Anti‐Moosh ab. »Stellt mehr davon her, wenn ihr könnt«, befahl er. »Die akute Gefahr für die Bevölkerung von New Marion scheint abgewendet zu sein – nicht durch unser Verdienst, sondern weil Cuzz unseren Planeten aller Wahrscheinlichkeit nach verlassen hat. Was jetzt noch von dem Impfstoff vorhanden ist, benötigen wir für die Besatzung der PENNSYLVANIA.« »Von einem Impfstoff zu sprechen, dürfte nun wirklich nicht korrekt sein«, bemerkte Hellas Arkten, ein grauhaariger, kleiner Mann mit asketischem Gesicht und kurz geschorenem Haar. Seine Wangen strafften sich, so daß sich die Falten um seinen Mund
herum noch tiefer einkerbten als sonst. »Bei dem Anti‐Mposh handelt es sich um ein Enzym, das …« »Wir nennen es Impfstoff, auch wenn es falsch sein mag«, fuhr ihm Drei‐B über den Mund. »Diskutieren können wir später. Wenn es dir Spaß macht, kannst du dir eine Bezeichnung ausdenken, die besser ist.« »Das habe ich bereits getan«, erklärte Arkten steif. »Es ist …« »Wir wollen doch auf Ordnung achten«, unterbrach Briggs ihn erneut. Er gab es dem Pedanten mit gleicher Münze zurück. »Ich möchte einen schriftlichen Antrag auf meinem Schreibtisch sehen, wenn ich wieder zurück bin. Alles klar?« »Ich habe verstanden«, erwiderte Hellas Arkten, obwohl er sicherlich nicht begriffen hatte, was ihm Drei‐B zu verstehen geben wollte. Einer der anderen Assistenten händigte Briggs den Restbestand Anti‐Moosh aus und gab ihm eine Hochdruckspritze. »Die Menge reicht aus für die Besatzung der PENNSYLVANIA«, sagte er. Als Briggs das Haus verließ, wartete Curt Gilling bereits mit einem Gleiter auf ihn. »Die Besatzung der PENNSYLVANIA ist verständigt«, berichtete er. »Das Schiff ist startbereit.« Das Oberhaupt der Celester nickte nur. Hoffentlich machen wir keinen Fehler, wenn wir New Marion verlassen, dachte er. Der Start der Schlummernden könnte ein Trick sein, mit dem Cuzz uns ins Weltall locken will. Wenn er nicht mitgeflogen, sondern hier geblieben ist, hat er immerhin erreicht, daß die gesamte Führungsmannschaft abgezogen ist. »Was ist los?« forschte Gilling. »Sind dir Bedenken gekommen?« »Ja – allerdings. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, ANIMA zu folgen.« Der Traditionshüter lachte. »Das ist es eben, was unser Leben so schwer macht«, entgegnete er
in seiner humorvollen Art. »Die Klugen sind so voller Zweifel, und die Dummen sind sich ihrer Sache so sicher.« Briggs blickte ihn ernst an. »Ich wüßte nur gern, ob ich Cuzz zu den Klugen oder den Dummen zählen muß.« * Sarahs Augen blitzten. »Das Cuzz hat mir das Oberkommando über ANIMA übertragen«, erklärte sie mit lauter Stimme. »Ich erwarte Gehorsam und Disziplin von euch. Wir stehen im Dienst des Herrn der Erwartung. Wir werden tun, was in unseren Kräften steht, damit er sein Ziel erreicht.« »Wenn ich nicht genau wüßte, daß sie unter seinem Zwang steht«, flüsterte Arien Richardson Buster McMooshel zu, »würde ich sie für verrückt halten.« Sie befanden sich in einem großen Raum unmittelbar neben der Schleuse, durch die sie hereingekommen waren. Plötzlich taumelten die Männer und Frauen vor ihnen zur Seite. Ein unsichtbarer Körper drängte sich durch die Reihen der Celester. Auf diese Weise wurde für die drei Richardson und Buster McMooshel deutlich, daß das Cuzz quer durch den Raum eilte. Gleich darauf bildete ANIMA eine glockenförmige Öffnung von etwa anderthalb Metern Höhe, und für einige Sekunden wurde das Fragmentwesen sichtbar. Spooner hatte das Gefühl; daß die übergroßen Augen ihn scharf musterten, und er hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, und am liebsten hätte er sich abgewendet. Er schaffte es, mit hängenden Schultern und halbgeschlossenen Lidern auf der Stelle zu verharren und den Eindruck zu erwecken, als werde er gleich vor Müdigkeit umfallen und einschlafen. Dann schloß sich die Lücke, und das fremdartige Wesen
verschwand. »Teufel auch«, murmelte Spooner. »Beinahe hätte ich mich verraten.« »Vergiß es«, rief ihm McMooshel. »Hilf mir lieber.« »Was hast du vor?« »Ich werde Sarah als Oberkommandierende absetzen«, erwiderte der »Medizinmann« schmunzelnd. »In dieser Rolle gefällt sie mir überhaupt nicht.« Sarah blickte ihn stirnrunzelnd an, als er sich ihr näherte. »Was hast du da hinter deinem Rücken?« fragte sie voller Argwohn. Sie wich zwei Schritte vor ihm zurück. Ihr flackernder Blick verriet, wie unsicher sie war. »Nichts weiter«, erwiderte er, schob die Hochdruckspritze geschickt in eine der hinteren Taschen seiner Kombination und strich sich suchend und tastend mit beiden Händen über den kahlen Schädel. »Was beunruhigt dich, Sarah? Sind wir nicht hier, um dem Herrn der Erwartung zu dienen? Du ebenso wie ich und alle anderen?« Ihre Miene hellte sich auf. Verwirrt blickte sie zur Decke hoch, als könne sie bei den Leuchtelementen ANIMAS eine Antwort auf die Fragen finden, die sie beschäftigten. Sie kämpfte offenbar gegen die Zwangsjacke der Hypnose an, war jedoch nicht stark genug, sie abzuschütteln. »Ja, das ist wahr.« Zwei Schritte trennten sie noch voneinander. Buster McMooshel schob die Hände hinter den Rücken, und als er sie wieder nach vorn brachte, hielt er die Hochdruckspritze in seiner Faust verborgen. Er brauchte das Gerät nur an ihre Haut zu setzen und auszulösen, um eine ausreichend große Menge des Präparats in ihren Kreislauf zu bringen. Doch dazu mußte er die letzten anderthalb Meter überwinden, die noch zwischen ihnen lagen. Einer der Wachen von der Küstenstation stellte sich ihm in den Weg.
»Moment mal«, sagte er. »Mit dir stimmt doch was nicht, Medizinmann. Ich kenne dich. Du hast irgendwas vor.« Jetzt griff Arien Richardson ein. Er trat rasch neben McMooshel. Breit lächelnd legte er diesem den Arm um die Schultern und schob ihn zugleich etwas näher an Sarah heran. »Wir stehen im Dienst des Herrn«, erklärte er. »Wir kennen nur Gehorsam. Du zweifelst doch wohl nicht daran? Dazu hast du kein Recht.« »Laß nur«, bat McMooshel. »Wozu diese Unruhe? Wir haben alle gleiche Interessen. Es sollte keine Uneinigkeit geben.« Damit schob er sich an dem Mann vorbei, zog die überraschte Sarah an sich, setzte ihr die Spritze an den Arm und injizierte ihr das Präparat. Die junge Frau fuhr erschrocken zurück. Ihre Augen weiteten sich angstvoll. »Was hast du getan?« fragte sie. Der Mann von der Küstenstation warf sich auf McMooshel und versuchte, ihm die Spritze zu entreißen. Doch jetzt packte ihn Arien Richardson am Kragen und riß ihn hoch. McMooshel warf ihm die Hochdruckspritze zu, und er drückte sie dem Widerspenstigen in den Nacken. Im nächsten Moment rebellierten die anderen Helfer des Cuzz. Sie erfaßten nicht, was der »Feuerwehrmann« getan hatte, begriffen aber, daß er sich gegen den Herrn der Erwartung gewandt hatte. Sie schrien laut auf und versuchten zu ihm zu kommen. Spooner und Volkert stellten sich ihnen in den Weg. »Beruhigt euch«, sagte Arien laut. »Es ist alles in Ordnung. Ich habe einen Feind unseres Herrn entdeckt und unschädlich gemacht. Das ist alles. Ich habe nichts getan, was uns schaden könnte.« »Und das ist sogar die Wahrheit«, murmelte McMooshel. Er wandte sich ab, damit die anderen sein Lächeln nicht sehen konnten. »Allerdings hat das wenig mit den Interessen des Cuzz zu tun.« Richardson und der Mediziner ließen Sarah allein. Das Präparat
wirkte nicht sofort, sondern brauchte Zeit, sich in ihrem Körper zu entwickeln. Die junge Frau ließ sich auf den Boden sinken. Sie war bleich, und ihre Augen blickten suchend umher. Sie wußte, daß McMooshel und Arien Richardson ihre Freunde waren, aber noch konnte sie nicht richtig beurteilen, was geschehen war. »Und wie geht es nun weiter?« flüsterte Richardson. »ANIMA«, antwortete McMooshel. »Jetzt ist sie dran.« Er hantierte an der Tasche herum, die er mitgebracht hatte, füllte die Hochdruckspritze, drückte sie gegen den metallisch aussehenden Boden und entleerte sie. Das Anti‐Moosh schoß in die lebende Materie der Schlummernden und wurde so vollkommen aufgenommen, daß noch nicht einmal ein feuchter Fleck zurückblieb. McMooshel füllte die Spritze einige weitere Male und pumpte eine erhebliche Menge des Impfstoffs in das lebende Raumschiff. Er hoffte, dieses dadurch vollständig aus der Hypnosewirkung befreien zu können.
Als etwa eine halbe Stunde verstrichen war, erhob sich Sarah und kam zu den beiden Männern herüber. Sie ließ sich neben ihnen auf den Boden sinken. Sie hielt den Kopf gesenkt und gab nach außen hin nicht zu erkennen, daß sie mit ihnen reden wollte. »Was ist passiert?« wisperte sie Arien Richardson zu. »Wieso bin ich an Bord ANIMAS? Sind wir noch auf New Marion, oder sind wir gestartet?« Richardson unterrichtete sie. Er sprach so leise, daß sie Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Bist du wieder in Ordnung?« fragte er schließlich. »Vollkommen«, erklärte sie. »Wo ist Atlan?« »Wir wissen es nicht, aber wir vermuten, daß er an Bord ist.« »Das müssen wir herausfinden«, erwiderte sie. »Ich werde versuchen, das Cuzz zu täuschen.« 7. »Wir müssen alle impfen«, sagte Spooner Richardson drängend. »Sarah und ANIMA genügen nicht.« »Ich habe kein Anti‐Moosh mehr«, erwiderte der »Medizinmann« lapidar. Er blickte Spooner an und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Hm? Weitere Vorschläge?« »Das kann doch nicht wahr sein«, stöhnte Spooner. »Du hast alles verpulvert, um ANIMA damit zu versorgen? Dabei weißt du noch nicht einmal, ob sie überhaupt darauf anspricht.« »Das tue ich«, ertönte eine helle Stimme neben ihnen. Sie kam direkt aus der Wand, wo ANIMA unbemerkt von ihnen einen Kontaktknoten gebildet hatte. »Aber leider wirkt das Zeug nur in einem kleinen Bereich. Außerdem schmeckt es geradezu scheußlich, und es macht mich schwindelig.« »Das tut mir leid, ANIMA«, sagte Spooner rasch. »Ich hatte keine andere Möglichkeit, dir zu helfen. Ich hoffe, du nimmst diese
kleinen Nachteile in Kauf?« »Natürlich. Ich habe ja gar keine andere Wahl.« »Wir müssen diesen Flug abbrechen«, fuhr Spooner fort. »Lande auf irgendeinem Planeten, auf dem wir atmen können.« »Weißt du überhaupt, wohin das Cuzz will?« fragte McMooshel. »Nach Crynn«, antwortete das Raumschiff. »Cuzz glaubt, mir seinen Willen aufzwingen zu können. Das mißfällt mir. Ich mag das nicht.« »Wer mag das schon?« entgegnete Arien Richardson. »Kannst du den Flug unterbrechen?« »Ich will es versuchen.« »Warum fängst du das Cuzz nicht ein?« forschte Spooner hitzig. »Du weißt doch, wo es ist. Du könntest eine Kammer bilden, die es nicht mehr verlassen kann.« »Das hilft nichts, junger Mann«, erwiderte ANIMA. »Solltest du vergessen haben, daß es mich mit seinen hypnotischen Kräften beeinflussen kann? Ich habe schon versucht, es einzufangen, aber es ist mir mißlungen. Es hat mir befohlen, ihm den Weg frei zu machen. Und das habe ich getan. Ich konnte nicht anders.« »Aber du kannst frei mit uns sprechen.« »Das habe ich der Injektion zu verdanken. Sie hat einen Teil meines Körpers und meines Ichs befreit. Leider wirkt dieses scheußlich schmeckende Zeug nicht überall. Hättest du nicht darauf achten können, daß ein Präparat etwas angenehmer ist, Medizinmann?« McMooshel räusperte sich, um Zeit zu gewinnen. »Es tut mir aufrichtig leid, ANIMA«, antwortete er dann. »Leider weiß ich über deinen Geschmack so gut wie gar nichts.« »Er ist nicht sonderlich ausgefallen, wenn du das meinst.« »Vielleicht sollten wir uns ein andermal darüber unterhalten, ANIMA«, sagte er bedächtig. »Ich habe dir dieses Enzym injiziert, um dir zu helfen. Wenn wir wieder auf New Marion sind, könntest du mir ein paar Infos über dich selbst zukommen lassen. Ich werde
dann bei meinen künftigen Arbeiten deine speziellen Bedürfnisse berücksichtigen. Einverstanden?« »Das hört sich recht gut an.« »Ich habe eine andere Frage, ANIMA. Kannst du mehr von diesem Enzym herstellen?« »Diese Idee habe ich auch schon gehabt«, erwiderte das Raumschiff. »Leider muß ich dich enttäuschen. Ich kann es nicht.« McMooshel wollte eine weitere Frage stellen, doch ANIMA gab ihm mit einem Zischlaut zu verstehen, daß er schweigen sollte. »Ich habe ein Sonnensystem entdeckt«, erläuterte die Schlummernde. »Wir nähern uns ihm. Es hat mehrere Planeten. Wenn einer von Ihnen für euch geeignet sein sollte, werde ich dort landen. Oh, jetzt erinnere ich mich. In diesem Sonnensystem bin ich schon einmal gewesen. Der vierte Planet heißt Morrbatt. Ich kenne ihn von früher. Ihr findet dort gute Lebensbedingungen vor. Ich lande im Norden. Dort werdet ihr ein für euch angenehmes Klima vorfinden.« »Gut«, lobte Arien Richardson. »Ausgezeichnet. Wir verlassen uns ganz auf dich. Jetzt müssen wir noch wissen, ob Atlan an Bord ist.« »Er ist hier«, eröffnete die Schlummernde ihnen. »Ich habe versucht, ihm zu helfen, aber es ist nicht gelungen.« Arien Richardson gab sich damit noch nicht zufrieden. Er stellte noch einige Fragen mehr, aber ANIMA antwortete nicht. Entweder stand sie unter dem Einfluß des Cuzz und konnte sich nicht mehr frei äußern, oder sie war der Ansicht, daß sie genug gesagt hatte. Die Celester mußten sich damit zufrieden geben. »Was geschieht nach der Landung?« fragte Spooner nach einiger Zeit. »Wir versuchen zunächst, Atlan zu befreien. Dann werden wir Cuzz aus dem Schiff vertreiben«, erwiderte sein Vater. »Und wenn das nicht gelingt, verlassen wir das Schiff. Mit Atlan natürlich. Früher oder später muß Cuzz herauskommen, denn ANIMA wird sicher nicht weiterfliegen.«
»Und was machen wir dann mit Cuzz?« erkundigte sich Volkert. »Wir müssen es töten«, erklärte Arien Richardson hart. »Wir haben keine andere Wahl.« * Cuzz wiegte sich in Sicherheit. Der Plan schien perfekt zu sein. Jetzt kam es nur noch darauf an, unbemerkt bis ins Zentrum der Facette vorzustoßen und dort den Kampf mit Zulgea von Mesanthor aufzunehmen. Es fühlte sich stark genug dazu. Ich habe Waffen in der Hand, mit der ich die Hexe täuschen und ausmanövrieren kann, dachte es voller Vorfreude. Ich werde sie überraschen. Bevor sie weiß, was geschieht, ist sie schon entmachtet, und dann werde ich meine Rache vollziehen. Cuzz befand sich in einem kleinen Raum im unteren Bereich ANIMAS. Hin und wieder schickte es hypnotische Impulse aus, um das lebende Raumschiff und die Celester an sich zu binden. Keiner sollte die Möglichkeit haben, sich von ihm zu lösen. Der Gedanke, die Celester könnten ein Gegenmittel entwickeln, kam ihm nicht ein einziges Mal. Es war viel zu sehr mit Zukunftsplänen befaßt. Immer wieder mußte es an jene Zeit denken, in der es selbst die Macht als Facette innegehabt hatte. Ich werde vieles anders machen, wenn ich wieder an der Spitze stehe, schwor es sich. Ich werde dafür sorgen, daß mir niemand die Macht streitig machen kann. Zulgea, die Hexe, wird einen qualvollen Tod sterben. In aller Öffentlichkeit wird sie ihr Leben aushauchen. Es horchte auf. Hatte es nicht die Stimmen der Celester gehört? »Was ist los?« rief es. »Antworte.« »Eine Störung«, erklärte ANIMA mit Hilfe eines Kontaktknotens. »Einer der Gefangenen hat sich aufgelehnt, aber die anderen haben
ihn mittlerweile beruhigt.« Cuzz fuhr zusammen. Einer der Gefangenen? Wie kam das lebende Raumschiff zu einer solchen Äußerung? Erschrocken überschüttete es ANIMA mit hypnotischen Impulsen und befahl ihr danach erneut, ihm Bericht zu erstatten. »Ich habe es dir schon gesagt, Herr der Erwartung. Es ist alles wieder in Ordnung.« Die Schlummernde war sichtlich bemüht, es zu beruhigen. Cuzz wurde hellwach. Es spürte, daß etwas nicht stimmte. Wenn ANIMA von »Gefangenen« sprach, dann war eine gewisse Kritikfähigkeit vorhanden. Diese aber hätte bei einer vollkommen funktionierenden Hypnose nicht da sein dürfen. Also hatte das Raumschiff sich zumindest zum Teil seiner parapsychischen Klammer entzogen. Cuzz war bemüht, sein Mißtrauen zu verbergen. Es gab sich arglos, während es fieberhaft überlegte, wie es ANIMA wieder ganz unter seine Kontrolle bringen konnte. »Dann ist es ja gut«, erklärte es, während es sich auf den Weg zu den Celestern machte. Unsicher glitt es durch das Raumschiff. Seine Bewegungen waren elegant und fließend – bis es die Veränderungen fühlte, die mit ANIMA beim Landeanflug auf den Planeten Morrbatt vorgingen. Es merkte, daß die Schlummernde, es mit dem Aufbau von neutralisierenden Antigravfeldern täuschen wollte, aber es tat, als sei es nach wie vor ahnungslos. Seltsam! dachte es verwirrt. Ein Teil des Raumschiffs unterwirft sich meinem Willen, während ein anderer Teil widerspenstig geworden ist. * Arien Richardson und Buster McMooshel erhoben sich, während
Sarah sich dem Kontaktknoten zuwandte. »Wo ist Atlan?« fragte sie leise. »ANIMA – wir müssen es wissen. Bitte, führe uns zu ihm.« Wenige Schritte vor ihnen tat sich plötzlich die Wand auf. Sarah folgte den beiden Männern in einen Gang hinein, der schräg nach unten führte. Schon nach wenigen Schritten traten ihnen zwei grobschlächtige Männer entgegen, die aus einem Seitengang kamen. »Wohin wollt ihr?« fragte einer von ihnen. »Hat der Herr der Erwartung dir nicht gesagt, daß wir kommen?« fragte McMooshel. »Da könnten einem doch glatt goldene Haare wachsen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Seltsam«, wunderte sich der andere. »Wir wissen von nichts. In diesem Teil des Schiffes hat niemand etwas zu suchen. Also, verschwindet, oder wir machen euch Beine. Geht zu den anderen zurück.« Er zog einen kleinen Energiestrahler unter seiner Jacke hervor und richtete ihn auf McMooshel. Der »Medizinmann« hob abwehrend die Hände. »Nicht doch, nicht doch«, lächelte er. »Wir gehen ja schon. Nichts liegt uns ferner, als euch Schwierigkeiten zu machen.« In diesem Augenblick spaltete sich der Boden unter den Füßen des Bewaffneten. Ein Feld erhöhter Schwerkraft entstand und riß ihn und seinen Begleiter in die Tiefe. Haltsuchend warfen die beiden Hypnotisierten die Arme hoch, konnten sich jedoch nicht mehr abfangen und verschwanden. Die Lücke schloß sich wieder. »Geht weiter«, bat ANIMA. »Und beeilt euch. Cuzz ist unterwegs zu Atlan. Er befindet sich in einem Bereich meines Körpers, den ich nicht kontrollieren kann. Ich kann es also nicht aufhalten.« Sarah und die beiden Männer begannen zu rennen, obwohl sich etwa zehn Meter vor ihnen eine geschlossene Wand aus grauer Materie erhob. Als sie sie erreicht hatten, spaltete sie sich, und sie konnten den Arkoniden sehen, der auf dem Boden lag. Schimmernde Energiefesseln umhüllten seinen Körper so fest, daß
er sich nicht rühren konnte. »Endlich«, ächzte er mühsam atmend. »Löst diese Bänder. Sie schnüren mir die Luft ab.« Der winzige Projektor für die Energiestränge befand sich am Rücken des Arkoniden, wo er unerreichbar für ihn war. Er war durch eine Zahlenkombination gesichert. Doch diese herauszufinden, war nicht weiter schwer. Richardson schaffte es mit Hilfe seines Armbandkombigeräts in knapp zwei Minuten. Dann erloschen die Energiebänder. Stöhnend streckte sich der Arkonide aus, während Sarah ihm die Handgelenke massierte und ihn zugleich über die Lage informierte. »Wir werden gleich auf Morrbatt landen«, schloß sie. »Wahrscheinlich ist es das beste, wenn wir die ANIMA dann sofort verlassen.« Atlan stand auf. »Wer hat dich so gefesselt?« fragte Richardson. »Lange hättest du es bestimmt nicht mehr ausgehalten.« »Es war einer der Männer von der Küstenstation«, erwiderte der Arkonide. »Man kann ihm keinen Vorwurf machen. Er war hypnotisiert und wußte nicht, was er tat.« »Beeilt euch«, flüsterte ANIMA. »Cuzz kommt.« »Wir müssen zur KORALLE«, rief Atlan. »Ich hoffe, daß Drei‐B uns folgt. Wir müssen ihm unbedingt ein Funksignal geben, oder er findet uns nie.« »Dazu ist keine Zeit«, antwortete die Schlummernde. »Ich werde nachher versuchen, eine Hand herauszubilden und das Signal auszulösen. Jetzt müßt ihr gehen.« Sie fuhren herum und liefen den Gang zurück. Die Schlummernde leitete sie in einen steil nach oben führenden Gang, in dem sie die Gravitationsverhältnisse so einrichtete, daß sie das Gefühl hatten, abwärts zu gehen, nachdem sie ihn betreten hatten. Die Wand schloß sich hinter ihnen. »Ich bin gelandet«, verkündete das Raumschiff, und gleich darauf
konnten Sarah und die drei Männer durch eine quadratische Öffnung in eine üppig grünende Landschaft hinauslaufen. Sie befanden sich in einem langgestreckten Tal, das von sanft ansteigenden Bergen eingefaßt wurde. Es mündete in einem Fjord. Riesige, weiße Vögel kreisten über dem Wasser. Sie stürzten sich immer wieder in die Wellen und holten Fische daraus hervor. Durch das Raumschiff ließen sie sich nicht stören. »Ich bin gespannt, was jetzt geschieht«, sagte Sarah. »Ich glaube, ANIMA wird ihre ungebetenen Gäste kurzerhand hinauswerfen.« Sie behielt recht. An der Unterseite des zur Zeit kugelförmigen Raumschiffs entstanden fünf große Löcher. Durch diese rutschten die hypnotisierten Celester heraus – und wahrscheinlich auch Cuzz. Den aber konnte niemand sehen. Danach veränderte ANIMA ihr äußeres Bild. Sie wurde zu einem löcherigen Gebilde, das wie ein ins Riesenhafte vergrößerter Bimsstein aussah. Einige Männer und Frauen versuchten, an Bord zurückzukehren. Doch das gelang ihnen nicht. ANIMA reagierte nicht mehr. Sie lag still vor einer Felswand und schien nichts weiter als ein großer Stein zu sein. * Obwohl Cuzz auf Widerstand vorbereitet war, wurde es von der Reaktion ANIMAS völlig überrascht. Schräg unter ihm tat sich eine Öffnung auf, durch die es wogendes Gras sehen konnte. Es geriet in den Sog einer erhöhten Schwerkraft. Vergeblich stemmte es sich dagegen. Bevor es sich recht versah, stürzte es die Schräge hinunter und sank ins Gras. Die Öffnung schnappte hörbar zu, und damit war ihm der Rückweg verschlossen. Voller Wut und Enttäuschung griff Cuzz das Raumschiff mit Hypnoseimpulsen an, erreichte damit jedoch nicht das geringste. Zornig sah es sich um. Es machte zwei Gruppen aus. Auf der einen
Seite standen die Celester, die sich nach wie vor in seiner Gewalt befanden. Einige Schritte davon entfernt redeten Sarah, Atlan, Buster McMooshel und Arien, Richardson miteinander. Richardsons Söhne hielten sich bei der ersten Gruppe auf. Cuzz beschickte alle mit seinen parapsychischen Kräften, resignierte jedoch rasch, als es merkte, daß es keine Wirkung erzielte. Sie können sich abschirmen, erkannte es erschrocken. Es beobachtete, wie die Immunen zu den anderen hinübergingen und sich unter sie mischten. Die Absicht war unverkennbar. Sie wollten verhindern, daß es sie von den Beeinflußbaren unterscheiden konnte. Wartet nur! dachte es. Euch mache ich einen Strich durch die Rechnung. Es entfernte sich vom Raumschiff, da es einsah, daß es dieses vorläufig nicht für sich zurückgewinnen konnte. Lauernd verharrte es unter einem Felsen, beobachtete Atlan und die Celester, und überlegte. Es wollte Zeit gewinnen. Da es unsichtbar war, brauchte es nicht zu befürchten, entdeckt zu werden. Es glaubte, in Ruhe einen tödlichen Plan gegen Atlan, Sarah und die anderen Immunen entwickeln zu können. Es war fest entschlossen, diese abzuschütteln, damit sie ihm auf seinem weiteren Weg zur Facette Zulgea von Mesanthor keine Steine in den Weg legen konnten. * Ein untersetzter Celester mit nervös zuckenden Lidern wandte sich Atlan zu. Er lächelte gezwungen. Seine Augäpfel ruckten ständig nach links und rechts, als fürchte er, von dort angegriffen zu werden. Er machte den Eindruck eines Mannes, der sich seiner Sache nicht sicher war, und der wußte, daß er kein Entgegenkommen zu erwarten hatte. Er war sichtlich bemüht,
überzeugende Worte zu finden. »Kann ich mal mit dir reden, Atlan?« fragte er. Cuzz schickt ihn, warnte das Extrahirn. Er versucht, dich durch unsicheres Gehabe zu täuschen. »Was gibt es denn?« »Vielleicht können wir etwas zur Seite gehen?« Er hustete. Seine Nase war gerötet. Er war offensichtlich nicht gesund. Er litt unter der Grippe, die in Celeste grassiert hatte. Jetzt fehlten ihm die nötigen Medikamente. »Wenn du mir etwas zu sagen hast, kannst du es auch hier tun«, erwiderte der Arkonide. Buster McMooshel und Arien Richardson waren aufmerksam geworden. Sie traten etwas näher heran, während Sarah auf dem Felsen sitzenblieb, auf den sie sich gesetzt hatte. Spooner und Volkert Richardson schlenderten aus der Gruppe der beeinflußten Celester heran. »Was will Cuzz uns mitteilen?« fragte Spooner. »Oder willst du behaupten, daß es nicht um ihn geht?« »Per Arens ist mein Name«, stellte der Celester sich vor. Er nieste mehrere Male und entschuldigte sich anschließend dafür. »Eigentlich wollte ich nur fragen, ob jemand von euch mir ein Grippemittel oder wenigstens ein paar Taschentücher geben kann.« »Tut mir leid. Ich habe nichts dabei«, antwortete McMooshel. Er kramte in den Taschen seiner Kombination herum. »Ich kann dir höchstens mit ein paar Ratschlägen dienen.« Per Arens schüttelte den Kopf. »Danke. Das hilft mir auch nicht weiter.« In diesem Moment schrie Sarah auf. Atlan fuhr herum. Er sah, daß mehrere Männer die junge Celesterin gepackt hatten und wegzerrten. Er wollte ihr zu Hilfe eilen, doch jetzt warfen sich ihm zehn Männer entgegen und schirmten sie gegen ihn, McMooshel und die Richardsons ab. In Sekundenschnelle verschwanden die Männer mit Sarah in einem kleinen Wäldchen.
Volkert Richardson fällte Per Arens mit einem mächtigen Hieb an den Kopf. »Du Verräter«, fuhr er ihn an. »Das sollst du mir büßen.« Arens nieste und hustete. Er stand auf, schüttelte den Kopf, drehte sich um und ging davon, als sei nichts geschehen. Als Arien Richardson zur Waffe griff, fielen vier Männer über ihn her und schlugen ihn zu Boden. Spooner reagierte ungemein schnell. Er schaffte es, aus dem Knäuel der beeinflußten Männer zu entkommen, das ihn und die anderen aufhalten wollte. Er flüchtete hinter einen Felsen und hob seinen Kombistrahler hoch in die Luft, so daß jeder ihn sehen konnte. »Hört auf«, rief er. »Oder ich schieße auf euch.« Per Arens lachte laut. »Natürlich schießt du nicht«, erwiderte er. Aufreizend langsam kehrte er zu der Gruppe zurück. Er ging auf Spooner zu und streckte ihm die Hand entgegen. Seine Lider zuckten heftig. Dennoch machte er keinen unsicheren Eindruck mehr. »Gib mir deine Waffe.« »Ich denke gar nicht daran.« Arens winkelte den rechten Arm an und deutete nach oben. »Dann solltest du mal zu den Felsen hinaufsehen«, riet er Spooner. Etwa fünfzig Meter über ihm stand Sarah auf der Kante des nahezu senkrecht abfallenden Felsens. Zwei Männer hielten sie an den Armen. »Wenn du mir die Waffe nicht gibst, stoßen wir sie herunter«, drohte Arens. 8. Drei‐B war in höchster Sorge, als er endlich mit der PENNSYLVANIA starten konnte. Nervös stand er in der Zentrale, während Curt Gilling in einem
der Sessel Platz genommen hatte. Sam Israel, der Kommandant der PENNSYLVANIA, wandte sich ihm zu. Er war ein etwas übergewichtiger Mann, der große Ruhe ausstrahlte. Er trug ebenso wie Briggs einen kurzgeschorenen Bart. Das schüttere Haar hatte er sich nach vorn gekämmt, um kahle Stellen über der Stirn zu verdecken. »Wir finden ANIMA«, versprach er. »Soeben erhalte ich von New Marion die genauen Kursdaten. Die Raumüberwachungsstationen haben den Start der Schlummernden verfolgt, und die Computer haben den Kurs hochgerechnet. Wir werden ihm folgen.« Benjamin Briggs fuhr sich voller Unruhe mit dem Handrücken über den Mund. »Schön und gut«, erwiderte er. »Aber reicht das aus? Wir wissen nicht, wie weit ANIMA fliegt. Wenn sie uns kein Funksignal sendet, verlieren wir sie.« »Ein Signal kann nur jemand von der KORALLE aus senden«, erwiderte der Kommandant. »Wir können nur hoffen, daß Arien Richardson oder einer der anderen auf den klugen Gedanken kommt, das zu tun.« Die PENNSYLVANIA beschleunigte mit Höchstwerten und verließ das Sonnensystem. Sie raste hinter der Schlummernden her, die sich mittlerweile Lichtjahre weit entfernt hatte. »Es ist aussichtslos«, stöhnte Drei‐B. »Wir haben keine Chance, ihnen zu helfen.« Curt Gilling lächelte. Benjamin Boz Briggs ging mal wieder von der schlimmsten aller Möglichkeiten aus. * Flora Almuth, die sich bisher schweigend zurückgehalten hatte, trat plötzlich vor. Sie streckte die Arme hoch und blickte furchtsam zu
Sarah hinauf. »Nein«, bat sie. »Tut ihr nichts. Ihr dürft ihr nichts tun. Bitte, laßt sie in Ruhe.« Per Arens ging zu ihr und legte ihr den Arm um die Schulter. »Beruhige dich«, sagte er sanft. »Es muß sein. Verstehst du denn nicht? Der Herr der Erwartung muß darauf bestehen, daß wir gehorsam sind.« »Der Herr der Erwartung? Wo ist er? Ich sehe ihn nicht.« »Er ist in der Nähe. Du mußt ihm gehorchen.« Er führte sie zur Seite und gab sie in die Obhut eines anderen Mannes. Dann wandte er sich dem Arkoniden zu. »Entscheide dich, Atlan. Entweder ihr übergebt uns eure Waffen, oder Sarah stirbt. Ich warte nicht lange.« »Wir haben wohl keine andere Wahl«, entgegnete der Aktivatorträger. Er zeigte seine leeren Hände. »Ich habe allerdings keine Waffe. Und die anderen? Frage sie selbst.« McMooshel und die drei Richardsons übergaben ihre Energiestrahler. Per Arens befahl den beiden Männern auf dem Felsen, Sarah freizulassen. Triumphierend richtete er eine der erbeuteten Waffen auf den Arkoniden. »Das Blatt hat sich schnell gewendet«, sagte er. »Cuzz hat gewonnen.« »Noch lange nicht«, erwiderte Atlan. »Sieh dir doch ANIMA an. Glaubst du, daß Cuzz diesen Planeten damit verlassen kann? Das Schiff weigert sich, irgend jemanden an Bord zu lassen. Und solange das der Fall ist, hat Cuzz so gut wie nichts erreicht.« Arens ließ die Waffe sinken. Er wußte, daß der Arkonide recht hatte – und mit ihm war sich Cuzz darüber klar geworden. »Solltest du einen von uns töten, wird ANIMA starten und niemals mehr hierher zurückkehren«, fuhr der Arkonide fort. »Überlege dir also genau, was du tust.« In diesem Moment wurde Cuzz sichtbar. Das glockenförmige Wesen mit dem menschlich aussehenden Kopf war nur wenige Schritte von Atlan entfernt. Diesem fiel als erstes das rote Stirnband
auf, das Cuzz trug. Es bildete einen scharfen Kontrast zu dem blauen Kopf. Überrascht fragte sich der Unsterbliche, welche Bedeutung das Band haben konnte. »Du wirst mich nicht aufhalten«, schrie Cuzz Atlan zu. Seine Augen wirkten unglaublich groß. Der Kopf wurde dunkelblau, und die Adern an ihm traten weit hervor. Es war unverkennbar, daß Cuzz Mühe hatte, sich zu beherrschen. Der Zorn drohte es zu übermannen. »Ich bin auf dem Weg zur Macht. Ich werde Zulgea von Mesanthor vernichten. Ich werde die Hexe aus dem Universum entfernen. Glaubst du wirklich, daß ich mich von dir behindern lasse?« »Ohne unsere Hilfe kommst du nicht weiter«, entgegnete der Arkonide gelassen. »Ich bringe euch alle um. Ich lasse euch töten.« »Es steht dir frei, das zu tun, aber dann bist du verloren. ANIMA wird dich hier zurücklassen. Was wird dann aus deiner Rache? Zulgea von Mesanthor wird noch nicht einmal erfahren, daß du sie töten wolltest.« Cuzz schnappte nach Luft. Die Augen traten weit aus seinem Schädel hervor, und der Rüssel mit den verschiedenen Wahrnehmungsorganen streckte sich steil in die Höhe. »Tötet Sarah!« befahl das fremdartige Wesen. Mehrere Männer packten die junge Frau und zerrten sie zu Cuzz hinüber. »Los doch. Tötet sie.« »Nein. Laßt sie in Ruhe«, rief Atlan und trat rasch hinzu, bevor die hypnotisierten Männer den Befehl ausführen konnten. »Hört nicht auf ihn«, schrie Cuzz. »Ich will, daß sie stirbt.« »Dann wird ANIMA dich auf diesem Planeten zurücklassen. Das ist sicher«, erklärte Atlan. »Ach, tatsächlich?« Das blaue Gesicht verzerrte sich. »Das glaube ich nicht, denn du wirst ANIMA befehlen, mich nach Crynn zu
bringen.« »Wie kannst du sicher sein, daß sie das tun wird?« fragte der Arkonide. »Möglicherweise nimmt sie dich an Bord und startet mit dir, vorausgesetzt, daß du niemanden von uns umbringst. Aber woher weißt du, ob sie dich nicht kurzerhand hinauswirft, wenn ihr im Weltall seid? Sie hat es hier getan, und sie kann es zwischen den Sternen wiederholen. Das wäre zweifellos das Ende für dich.« Cuzz schrie wütend auf – und wurde wieder unsichtbar. Atlan hatte offensichtlich die richtigen Worte gefunden. »Patt nennt man so was im Schach«, kommentierte Buster McMooshel. Er strich sich behutsam über den Schädel, als hoffe er, endlich die goldenen Haare zu finden, von denen er so gern sprach. »Unentschieden kann man auch dazu sagen.« Atlan blickte zu den beeinflußten Männern und Frauen hinüber. Sie hatten alle die gleiche Haltung angenommen und boten somit ein Spiegelbild der Psyche des Herrn der Erwartung. Sie ließen die Schultern nach vorn sinken und neigten den Kopf. Die Arme baumelten kraftlos an ihren Seiten. Spooner Richardson pfiff leise durch die Zähne. »Teufel auch«, fluchte er. »Ich dachte wirklich, jetzt bringen sie Sarah um.« Atlan zog die junge Frau an sich. »Wir müssen uns schnell etwas überlegen«, drängte er. »Wir müssen zu einer Lösung kommen.« »ANIMA muß starten«, schlug Volkert Richardson vor. »Können wir sie nicht dazu bringen, daß sie vorübergehend verschwindet?« »Das dürfen wir auf keinen Fall«, lehnte Atlan ab. »Wenn ANIMA startet und Cuzz hier zurückläßt, dreht es durch. Es könnte uns in einem Wutanfall alle umbringen.« »Du hast recht«, stimmte Buster McMooshel zu. »Das ist viel zu gefährlich. ANIMA muß bleiben.« »Sie ist unser Trumpf«, stellte Arien Richardson fest. »Aber wir können uns nicht auf sie verlassen«, warnte der
Unsterbliche. »Vergeßt nicht, daß sie nur zum Teil frei ist. Cuzz weiß glücklicherweise nicht, daß ANIMA möglicherweise mit der Hälfe ihres Körpers noch beeinflußbar ist. Wir sehen die äußere Schale. Aber wie es drinnen aussieht, kann niemand sagen.« Sarah und die Celester blickten ihn betroffen an. Daran hatte keiner von ihnen gedacht. Sie alle hatten sich bereits als Sieger bei dieser Auseinandersetzung gesehen. Per Arens hob den Kopf. Sein Körper straffte sich. Er blickte Atlan an, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte spöttisch. Unmittelbar darauf veränderte sich auch die Haltung der anderen Beeinflußten. Sie boten nun nicht mehr das Bild der Niedergeschlagenheit und Resignation. Ihnen war anzusehen, daß Cuzz neue Hoffnung geschöpft hatte. »Achtung. Es tut sich etwas«, flüsterte Arien Richardson. Er trat einige Schritte vor und stellte sich vor Sarah und Atlan, um sie abzuschirmen. »Einer von uns sollte mit Sarah weglaufen«, schlug Buster McMooshel vor. »Mir scheint, keiner ist so gefährdet wie sie.« »Unser Medizinmann hat recht«, stimmte Spooner zu. »Cuzz scheint zu glauben, daß er uns am meisten unter Druck setzen kann, wenn er sie bedroht.« »Kommt nicht in Frage«, sträubte die junge Frau sich. Mit trotziger Kopfbewegung warf sie ihr Haar in den Nacken zurück. »Glaubt nur nicht, daß ihr mich abschieben könnt.« Atlan erwartete, daß Per Arens als Bote von Cuzz zu ihnen kommen würde. Doch er irrte sich. Der untersetzte Mann mit den nervös zuckenden Lidern ging zu ANIMA, deren äußeres Erscheinungsbild nach wie vor unverändert war. Er winkte den anderen Beeinflußten auffordernd zu, ihm zu folgen. Sie gehorchten. Einer nach dem anderen gesellte sich zu ihm. »Das Glockendihg hat irgend etwas vor«, murmelte McMooshel. »Jetzt heißt es aufpassen, oder wir sind die Dummen.« Flora Almuth schloß sich den anderen nicht an. Sie kam zu Sarah.
Fordernd streckte sie die Rechte aus. »Komm, Kind«, sagte sie. »Wir müssen in das Schiff.« »Nein, Flora«, erwiderte Sarah entschlossen. »Du mußt gehorsam sein.« Die Augen Flora Almuths waren dunkel vor Trauer und Melancholie. »Es geht dem Ende zu. Jetzt wird sich alles entscheiden. Wir werden diesen Planeten zusammen mit dem Herrn der Erwartung verlassen – oder sterben.« Sarah wandte sich ab und drückte die Stirn gegen Atlans Schulter. »Ich ertrage das nicht«, flüsterte sie. »Flora ist nicht schwachsinnig. Ich fühle es. Sie wird benutzt. Und jetzt wird sie auch noch von Cuzz mißbraucht. Können wir ihr denn nicht helfen?« »Warum läßt du mich warten, Kind?« rief Flora Almuth. »Willst du, daß sie dich mit Gewalt holen?« Die hypnotisierten Celester faßten sich an den Händen und bildeten einen Ring um ANIMA. Zwischen ihnen und dem Raumschiff wurde Cuzz sichtbar. Er streckte den Rüssel mit den Wahrnehmungsorganen weit in die Höhe. »Der Herr der Erwartung wird ungeduldig«, drängte Flora. »Willst du seinen Zorn erregen? Du mußt dich entscheiden. Er wird siegen. Er hat einen Weg zur Macht gefunden, und du wirst ihn darauf begleiten.« Sarah schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will nicht«, stammelte sie. Per Arens trat aus dem Ring der anderen Celester hervor und kam heran. Er hielt einen Energiestrahler in der Hand. Vor Atlan blieb er stehen, hob die Waffe und drückte sie ihm gegen die Brust. »Ich zähle bis drei«, erklärte er. »Wenn Sarah dann nicht bei den anderen ist, stirbst du.« Er brauchte nicht zu zählen. Die junge Frau fuhr herum, zögerte kurz und gehorchte. »Der Herr der Erwartung hat sich daran erinnert, daß er den Psi‐ Spalter hat«, erläuterte Per Arens. »Das ist das Band, das er um den
Kopf trägt. Er wird jetzt alle Kräfte der Celester auf sich und den Psi‐Spalter vereinigen und ANIMA dadurch zum Gehorsam zwingen.« »Das ist doch lachhaft«, fuhr Spooner auf. »Das schafft er nie.« Flora Almuth folgte Sarah. Sie griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. Cuzz stimmte einen fremdartigen Gesang an. Mit weit geöffnetem Mund gab er Laute von sich, die Atlan seltsam berührten, und die ihm einen gewissen Einblick in die Seele des glockenförmigen Wesens gaben. Sie vermittelten ihm vor allem das Gefühl der Einsamkeit und der Verlorenheit. ANIMA reagierte. Sie veränderte ihr äußeres Bild. Sie nahm allmählich die Form einer Glocke an, und ihre Außenhaut wurde glatt. Dann verfärbte sie sich und wurde ebenso blau wie der Kopf von Cuzz. Es war unübersehbar, daß es dem Fremdwesen gelungen war, entscheidenden Einfluß auf das lebende Raumschiff zu gewinnen. »Ich glaube es nicht«, stöhnte Arien Richardson. »Es kann nicht sein.« »Dieses Ding schafft es«, seufzte sein Sohn Spooner. »Es wirft uns aus dem Rennen.« »Der Herr der Erwartung hat seine Stärke bewiesen«, erklärte Per Arens. »Ihr habt den Kampf verloren. Jetzt geht es gegen Zulgea von Mesanthor, gegen die Hexe. Es geht um die Macht. Ihr müßt euch entscheiden. Entweder bleibt ihr auf diesem Planeten zurück, oder ihr schließt euch dem Herrn der Erwartung an, um an seiner Seite zu kämpfen.« »Was geschieht mit Sarah?« fragte Atlan. »Sie wird auf jeden Fall an Bord sein, wenn ANIMA startet«, erwiderte Per Arens. »Der Herr der Erwartung wird sich eng mit ihr verbinden.« »Was willst du damit sagen?« fragte Arien Richardson. »ANIMA wird nicht in der Lage sein, die beiden voneinander zu
trennen. Auf diese Weise sorgt der Herr der Erwartung dafür, daß sie ihn nicht hinauswerfen kann, wenn sie im Weltraum sind. ANIMA kann entweder nur beide töten oder keinen von ihnen.« Dem »Feuerwehrmann« verschlug es die Sprache. Mit einer derartigen Entwicklung hatte er nicht gerechnet. »Verteufelt schlau«, sagte Volkert wütend. »Wir können nichts tun.« Atlan überlegte fieberhaft, doch er fand keinen Weg, Cuzz aufzuhalten und Sarah zu helfen. Das ist das Aus! signalisierte der Logiksektor. Du selbst hast ihm gesagt, welche Gefahren ihm drohen, sobald ANIMA gestartet ist. Sarah hat es dir zu verdanken, daß sie sich in dieser Lage befindet. »Wir dürfen ihm ANIMA nicht überlassen«, sagte McMooshel. »Auf keinen Fall.« »Auf Morrbatt bleiben können wir auch nicht«, fügte Spooner ratlos hinzu. »Man würde uns nie finden.« Er lächelte gequält. »Oder habt ihr Lust, eine neue Kolonie zu gründen?« fügte er fatalistisch hinzu. »Wir können doch nicht mit Cuzz zusammenarbeiten«, protestierte Arien Richardson. »Ihr habt den Herrn der Erwartung unterschätzt«, stellte Per Arens voller Genugtuung fest. »Hattet ihr wirklich geglaubt, jemanden überwinden zu können, der um die Macht als Facette kämpft?« Atlan blickte zu ANIMA hinüber. An der Flanke des Raumschiffs tat sich eine Öffnung auf. Gleichzeitig verfärbte sich die Außenhaut der Schlummernden. Es schien, als werde diese von einem Schauer überlaufen. Die Anzeichen des vergeblichen Widerstands waren unübersehbar. Ferner Donner hallte von See herüber. Donner? Der Arkonide blickte aufs Meer hinaus. Weit hinten am Horizont war ein dunkler Punkt zu erkennen, der sich rasch vergrößerte.
Ein Raumschiff! Drei‐B ist uns gefolgt. ANIMA muß es gelungen sein, ihm ein Signal zu geben. Sie muß das Hyperfunkgerät der KORALLE bedient haben. Die Schleuse verkleinerte sich und schloß sich dann ganz. Per Arens blickte Atlan mit ängstlich flackerndem Blick an. Seine Lider zuckten heftiger als zuvor. »Was ist los?« fragte er. »ANIMA wehrt sich. Sie kämpft. Sie verweigert sich dem Herrn der Erwartung.« »Vermutlich hat der Herr ein bißchen zuviel erwartet«, spottete Volkert. Per Arens ließ die Arme sinken, die er wie zum Protest erhoben hatte. Das Raumschiff raste von See heran. Das Donnern der Triebwerke war unüberhörbar geworden. Atlan erkannte, daß es die PENNSYLVANIA war. »So schnell wendet sich das Blatt«, sagte er zu Per Arens. Dieser war ein Bild des Jammers. Seine Schultern zuckten, als ob sein Körper von einem Weinkrampf geschüttelt würde. Er blickte Atlan an, als ob er aus tiefem Schlaf erwache, und sah sich dann staunend um. »Wo bin ich?« fragte er. »Wie komme ich hierher? Dies ist doch nicht New Marion. Was ist geschehen?« »Du befreist dich gerade von einem hypnotischen Einfluß«, erwiderte der Arkonide, während die PENNSYLVANIA lärmend über sie hinweg zog und zur Landung ansetzte. Die Celester, die einen Ring um ANIMA gebildet hatten, rannten von dieser fort zu Atlan und den anderen Immunen hin. Cuzz war wieder sichtbar geworden. Es kauerte schlaff und in sich zusammengesunken vor ANIMA. Es wußte, daß es keine Chance mehr hatte. Es hat bereits versucht, die Besatzung der PENNSYLVANIA zu hypnotisieren. Aber das hat nicht geklappt. Wahrscheinlich hat es den Weiterflug befohlen. Doch die PENNSYLVANIA ist gelandet. Damit ist alles klar. Es weiß, daß es das Spiel endgültig verloren hat.
Atlan ging langsam zu Cuzz hinüber. Sarah schloß sich ihm an. »Was hast du mit ihm vor?« fragte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Am besten wäre es wohl, es auf Morrbatt zurückzulassen.« Cuzz hob den Kopf, als der Arkonide vor ihm stehenblieb. Seine übergroßen Augen waren tränenfeucht. »Du hattest einen Trumpf mehr als ich«, sagte es mit gebrochener Stimme. »Ich werde euch keine Schwierigkeiten mehr machen. Ich muß zugeben, daß du zusammen mit den Celestern ein stärkeres Instrument bist, als ich es in meiner Unvollkommenheit je sein werde. Für mich ist es zu spät.« »Wir starten gleich. Aber du wirst uns nicht begleiten.« »Das spielt keine Rolle. Mir ist nur wichtig, daß ihr den Kampf gegen die Facette fortführt. Ihr sollt mich an Zulgea von Mesanthor rächen. Versprich mir, daß du das Schwert meiner Rache sein wirst.« »Ich werde mich mit Zulgea auseinandersetzen.« »Das ist gut«, seufzte Cuzz. »Bitte – nimm den Psi‐Spalter an dich. Er ist eine wirksame Waffe gegen Zulgea. Er neutralisiert zumindest zum Teil ihre parapsychischen Kräfte. Ohne den Psi‐Spalter wirst du nichts gegen sie ausrichten, aber mit ihm hast du zumindest eine Chance. Ja, ich glaube, daß du die Hexe besiegen wirst.« Atlan nahm Cuzz den Psi‐Spalter vom Kopf. Er hatte dem Fragmentwesen kein Racheversprechen gegeben, aber er war entschlossen, bis zu Zulgea von Mesanthor vorzudringen. Er war an der Facette interessiert, denn er hatte den Auftrag der Kosmokraten. »Ich vertraue dir«, sagte Cuzz leise. Dann handelte es hart und konsequent. Es tötete sich selbst. Sein Kopf fuhr plötzlich herum, und es krachte vernehmlich in seinem Genick. Dann kippte der Kopf zur Seite, und die Augen brachen. Erst nachdem das Cuzz begraben worden war, fiel Atlan auf, daß sich Flora Almuths Verhalten geändert hatte. Mit hellwachen Augen
beobachtete sie das Geschehen um sich herum. »Sarah, sieh dir Flora an«, sagte er leise. »Sie scheint sich erholt zu haben.« Flora Almuth merkte, daß ihr die Aufmerksamkeit galt. Sie lächelte und kam zu ihnen. »Was für ein hübsches Band«, sagte sie und streckte die Hand nach dem Psi‐Spalter aus. »Darf ich es mal umlegen?« »Gern«, erwiderte der Arkonide. Flora schob sich das Band über den Kopf, und abermals ging eine Veränderung mit ihr vor. Die letzten Anzeichen geistiger Abwesenheit verschwanden. Sie strich sich mit den Fingern über die Stirn. »Ich bin frei, Sarah«, sagte sie mit weicher Stimme. »Endlich verspüre ich keinen Druck mehr im Kopf.« Ihr Gesicht belebte sich und gewann zusehends an Ausdruckskraft. Buster McMooshel, der unbemerkt verfolgt hatte, was geschehen war, kam jetzt heran. »Ich begreife«, sagte er erschüttert. »Flora, bitte, verzeih mir.« »Warum sollte ich dir verzeihen, Medizinmann?« fragte sie. »Ich erinnere mich nicht daran, daß du mir etwas getan hast.« »Doch, doch«, widersprach er. »All die Jahre war ich fest davon überzeugt, daß du … hm … na ja, geistig nicht ganz gesund bist. Jetzt ist mir endlich aufgegangen, daß du im Bann einer schweren Dauerhypnose gestanden hast.« »Ich erinnere mich dunkel an das, was weiter zurückliegt«, erwiderte sie. »Und ich mache dir keinen Vorwurf, Buster.« »Kannst du mir etwas über meine Mutter sagen?« fragte Sarah. »Du mußt doch etwas über sie wissen. Jedenfalls glaube ich nicht, daß sie tot ist.« »Tot?« Flora lächelte mitfühlend. »Aber nein, Sarah. Sie ist ganz sicher nicht tot.« »Aber wo ist sie?« »Wenn ich das nur wüßte«, seufzte Flora. »Ich habe so ein Gefühl,
eine Ahnung, als wenn sie eine Gefangene von Zulgea von Mesanthor wäre. Ja – ich glaube schon, daß sie das ist. Und ich bin eigentlich auch ganz sicher, daß Atlan sie befreien kann.« Sarah blickte Atlan beschwörend an. »Du hast es gehört«, rief sie. »Meine Mutter ist eine Gefangene der Hexe! Du mußt sie befreien. Du mußt.« »Das werde ich auch tun, Sarah«, versprach er. »Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.« Nach diesen Worten verabschiedete er sich von Drei‐B und den Männern der PENNSYLVANIA. Zusammen mit Sarah, Flora, McMooshel und den drei Richardsons ging er an Bord der ANI‐MA, um mit ihr in Richtung Crynn zu starten. Er war entschlossen, der Hexe auf den Zahn zu fühlen und so bei der Verwirklichung des Auftrags der Kosmokraten ein Stück weiterzukommen. * Unbemerkt von Atlan und allen anderen saß Colemayn, der Weltraumtramp, auf einem Hügel am Fjord. Er hatte beobachtet, was geschehen war. In aller Seelenruhe briet er sich ein Stück Fleisch und trank Quellwasser dazu. ENDE Was dem Cuzz mißlang, nämlich ins Zentrum der Macht der Facette Zulgea vorzudringen, das versucht nun Atlan mit einigen wenigen Helfern. Sie starten mit ANIMA, dem lebenden Raumschiff, zum Durchbruch nach Crynn … DURCHBRUCH NACH CRYNN – das ist auch der Titel des nächsten Atlan‐
Bandes. Der Roman stammt ebenfalls von H. G. Francis.