Susan Hastings
Das Geheimnis der Schloßkatze Irrlicht Band 407
Sie sah sich inmitten des heiligen Hains stehen. Die ...
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Susan Hastings
Das Geheimnis der Schloßkatze Irrlicht Band 407
Sie sah sich inmitten des heiligen Hains stehen. Die alten, knorrigen Bäume standen kahl und drohend um sie herum. Ein Feuer brannte auf dem vergilbten Gras und Nebel waberte durch die kalte Luft. Von irgendwoher erklangen schaurige Gesänge und das dumpfe Dröhnen einer Trommel. Aus dem Nebel trat ein riesiges Pferd mit wehender Mähne und geblähten Nüstern hervor. Es rollte mit den Augen, daß man das Weiße darin sah und Ria fuhr erschrocken zurück. Von einem der alten Bäume hing ein alter Strick mit einer langen Schlinge. Daneben erkannte sie eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in einem langen weißen Gewand. Die Person wandte ihr den Rücken zu, doch Ria wußte, daß es ein Druide sein mußte. Wollte er das Pferd opfern? Das Pferd schien ängstlich, wieherte und trommelte mit den Hufen. »Nein!« schrie Ria. »Es ist kein heiliges Pferd, es ist doch schwarz!« Langsam, ganz langsam wandte sich der Druide zu ihr um – und starrte entsetzt in das Gesicht des Lords.
Das Telefon klingelte fordernd und schrill, während Ria noch mit einer riesigen Papierfahne kämpfte, die sich aus dem Fax schlängelte. »Meine Güte, man müßte acht Arme haben wie die Göttin Shiva«, seufzte Ria. »Du bist doch selbst dran schuld«, erwiderte Rias Kollegin Sylvia. »Warum schreibst du auch solche erfolgreichen Artikel? Nun jammerst du über den Ruhm!« Aber Sylvia lächelte verschmitzt. Sie gönnte Ria ihren Erfolg. »Kinder, schaut mal her, ich habe hier die französische Ausgabe der ›Art Geo‹, darin ist dein Artikel über die Kathedralen Frankreichs.« Der Redakteur Hans Willing schwenkte ein buntes Magazin in der Luft. »Und der Kommentar dazu ist mehr als schmeichelhaft, Ria, du bist als Expertin anerkannt. Was ist das für ein Fax?« »Aus Italien. Auch denen scheint mein Artikel gefallen zu haben.« Ria knisterte verlegen mit dem Faxpapier. Die plötzliche Euphorie war ihr fast unheimlich. »Ich verstehe gar nicht, daß sich so viele Leser für Kathedralen interessieren.« »Weil du es ihnen so interessant vermittelst, daß man davon einfach gefangen genommen wird.« Hans lächelte stolz. »Und denk dir nur, eben hat ein Verlag angerufen, ob du die Reihe nicht als Bildband herausbringen willst. Schließlich hast du wunderbares Fotomaterial, und deine Texte sind nicht nur für die Fachleute interessant. Du sollst sie unbedingt gleich zurückrufen!« »Ein Buch?« Ria spürte, wie eine heftige Röte über ihr Gesicht glitt. »Mein Gott, so weit hatte ich nicht geplant. Ich weiß nicht…«
»Aber Ria, was gibt es da zu überlegen?« Sylvia klopfte Ria euphorisch auf die Schulter. »Du wirst sehen, eines Tages wirst du noch ganz berühmt.« »Wenn Berühmtsein mit solchem Trubel verbunden ist, dann verzichte ich lieber darauf.« Ria hob abwehrend die Hände, während das Telefon schon wieder schrillte. »Ria, für dich!« rief Hans. »Ich bin nicht da«, wiegelte Ria ab. Hans legte seine Hand auf die Muschel und rollte mit den Augen. »Der Chefredakteur!« Er hielt Ria den Hörer hin. »Ja, bitte?« Ria lauschte eine Weile wortlos, während ihre Miene ernst wurde. »Wann?« fragte sie kurz. Dann legte sie auf. Hans und Sylvia blickten sie an. »Ist etwas passiert?« Ria schüttelte den Kopf. »Ich soll eine neue Serie schreiben. Über alte Schlösser in England und Schottland.« Sylvia lachte. »Huhhh! Solche mit Gespenstern und Folterkellern und Lords, die nachts zu Vampiren werden?« Ria verzog tadelnd das Gesicht. »Laß doch den Unsinn! Natürlich nicht, sondern solche, die restauriert werden oder eine interessante Geschichte haben. Mich interessiert vor allem die Architektur und das Inventar. Mit Spukgeschichten kann ich doch unseren Lesern nicht kommen!« Jetzt mußte auch sie lächeln. »Außerdem bin ich die letzte, die an solchen Unsinn glaubt.« »Wann soll es denn losgehen?« fragte Hans. »Am Dienstag ist mein Flug nach London gebucht. Der Chefredakteur hat mich schriftlich angemeldet und von einigen Schlössern sind Einladungen gekommen. Zuerst fahre ich zu einem Lord Gwendal Holbrooke nach Schloß Billingsmore. Der Chef hat mir sogar einen Leihwagen von London aus zugestanden. Von dort aus geht es weiter nach Norden. Vier Monate habe ich Zeit für die Recherchen.«
»Vier Monate? Und was wird aus deinem Buch?« Hans hob entsetzt die Hände. Ria blies die Wangen auf. »Hat das nicht Zeit? Hans, tu mir den Gefallen und vertröste den Verlag etwas. Ich bin gar nicht böse, wenn es in nächster Zeit etwas ruhiger zugeht. Ich bin reif für die Insel!« »O je, ob du bei all den Schloßgeistern Ruhe bekommst?« neckte Sylvia. »Liebe Sylvia!« Ria baute sich vor ihrer Kollegin auf und stemmte entschlossen die Fäuste in die Hüften. »Während meines fünfjährigen Studiums der Kunstgeschichte und Architektur habe ich hunderte von Schlössern und Burgen besichtigt, bin vom Folterkeller bis zum Fledermausdach herumgekrochen und habe niemals auch nur ein einziges, armseliges Gespenst zu Gesicht bekommen. Vielleicht fürchten sie sich vor mir. Jedenfalls habe ich keine Angst vor ihnen, auch wenn du es mir immer wieder einreden willst. Und sollte mir wirklich eines über den Weg schweben, das verspreche ich dir, bringe ich dir ein Stückchen von seinem weißen Gewand mit!«
*
Die Straße führte aus dem Wald heraus um einen Hügel herum. Auf dem Hügel lag das Schloß, es war bereits vom Waldrand aus zu sehen. Von der Straße führte ein schmaler, gepflasterter Weg zum Schloß hinauf. Das Schloß besaß eine merkwürdige Architektur. Ursprünglich muß es aus zwei mächtigen Türmen bestanden haben, die das eigentliche Schloßgebäude begrenzten. Einer
dieser Türme war nur noch als fragmentarische Ruine zu erkennen, der zweite schien intakt zu sein. Er war bis zum Schindeldach mit Kletterpflanzen umrankt. Auch das zweistöckige Mittelgebäude wurde von wilden Wein- und Rosenstöcken fast überwuchert. Das Schloß wirkte geheimnisvoll und märchenhaft, umgeben von einem Park mit hohen, alten Bäumen. Der gesamte Komplex einschließlich des Parks wurde von einer hohen Steinmauer umschlossen. Auch die Mauer war an vielen Stellen von wildem Efeu überwuchert. So mußte Dornröschen hundert Jahre geschlafen haben, fuhr es Rita durch den Sinn. Sie hielt den Wagen am Waldrand an, um sich den Anblick einzuprägen. Dann zog sie ihre Kamera heraus und fotografierte das zauberhafte Panorama. Das zweiflügelige schmiedeeiserne Tor stand offen und schaukelte quietschend in den Angeln. Langsam fuhr Ria in den Schloßhof. Aus der Nähe wirkte das Gebäude alt und düster. Kein Mensch war zu sehen, nichts rührte sich. Nur eine schwarz-weiße Katze hockte auf dem steinernen Geländer, das die Terrasse begrenzte, die sich links und rechts vom Eingang über die gesamte Front des Gebäudes erstreckte. Zögernd stieg Ria aus dem Wagen. Sie hatte sich schriftlich angemeldet, ihr Empfang war bestätigt worden. Ein wenig hilflos blickte sie sich um. Der Schloßhof bildete ein Rondell mit einem alten steinernen Springbrunnen in der Mitte. Doch selbst das Wasser schien in einen Dornröschenschlaf gefallen zu sein. Ria schritt die ausgetretenen Steinstufen zum Eingang empor. Neben der dunklen, schweren Holztür entdeckte sie einen Löwenkopf aus Messing. In seinem Maul steckte ein Klingelknopf. Ria drückte ihn und fuhr erschrocken zurück, als ein ohrenbetäubender Gong durch das Schloß hallte. Es dauerte jedoch noch eine geraume Weile, bis die Tür geöffnet
wurde. Ein gebeugter alter Mann stand vor Ria. Er trug einen abgewetzten schwarzen Anzug mit einer gestreiften Weste darunter und blickte sie aus wäßrigen Augen an. »Guten Tag! Mein Name ist Ria Wagner. Ich bin die Historikerin, die über dieses Schloß eine Artikelserie schreiben möchte. Ich hatte mich bereits schriftlich…« Wortlos trat der Mann beiseite und öffnete die Tür ganz. Zögernd trat Ria in die Vorhalle. Etwas ängstlich schaute sie sich um. Von der Decke hing ein riesiger, eiserner Kronleuchter, die Wände schmückten dunkle Bilder von mittelalterlich gekleideten Menschen und ausgestopften Jagdtrophäen. Reh-, Wildschwein- und Luchsköpfe starrten sie aus toten Glasaugen an. Sie schauderte. Einsam stand ein hölzerner Mantelständer hinter der Tür. Durch zwei schmale Butzenfenster beidseits des Eingangs fiel diffuses Licht in die Halle. Eine der Türen, die von der Halle abgingen, öffnete sich und eine kleine weißhaarige Frau in einem dunklen Kleid kam herausgelaufen. Sie lachte und strahlte übers ganze Gesicht und schien ein Bündel an Energie und Beweglichkeit zu sein, obwohl sie rundliche Körperformen aufwies. »Herzlich willkommen, Miss Wagner, wir haben Sie schon erwartet«, flötete sie und ergriff Rias Hände. Die Frau war wesentlich kleiner als Ria und mindestens siebzig Jahre alt. Durch die geöffnete Tür konnte Ria eine große, helle Küche erkennen. »Guten Tag, Lady Holbrooke«, sagte Ria. »O nein, nein! Ich bin nicht Lady Holbrooke. Es gibt gar keine Lady Holbrooke. Ich bin Mrs. Smith, die Haushälterin. Mildred Smith. Und das ist mein Mann James. Wir kümmern uns um das Schloß, wenn der Lord nicht da ist.« »Ach, Lord Holbrooke ist nicht da?« Rias Stimme klang enttäuscht.
»Nein, tut mir leid, er hat in London zu tun und kommt erst am Freitag wieder. Aber für Ihre Ankunft ist alles vorbereitet. Kommen Sie, kommen Sie herein, Sie sind bestimmt hungrig.« Sie zog Ria in die Küche. Ria war erstaunt. Im Gegensatz zu der unheimlichen Vorhalle wirkte die Küche direkt gemütlich. Dunkle Holzbalken zogen sich an Decke und Wand entlang, die Möbel bestanden aus hellem Holz und ein großer Herd bildete den Blickfang. Vor dem Fenster standen eine gepolsterte Bank und ein Holztisch mit Stühlen. Hurtig legte Mildred ein drittes Gedeck auf. James räusperte sich. »Madam ist unser Gast. Wir sollten ihre Mahlzeit im Speisezimmer eindecken.« Mildred winkte ärgerlich ab. »Ach was! Hier ist es doch gemütlicher, oder?« Sie blickte Ria fragend an. »Oh, machen Sie sich wegen mir bitte keine Umstände. Selbstverständlich esse ich hier in der Küche mit.« »Siehst du, Miss Wagner möchte auch lieber hier essen.« Mildred nickte zustimmend, während James schwieg und ein verdrießliches Gesicht zog. »Setzen Sie sich doch bitte«, forderte Mildred sie auf. Ria nahm auf der Fensterbank Platz. »Es gibt zwar nur Bohneneintopf, dafür aber ordentlich mit Hammelfleisch und Knoblauch.« Sie kicherte. »Mögen Sie Knoblauch? Hilft gegen Verkalkung und Schloßvampire.« »Schloßvampire? Wollen Sie damit sagen, daß es hier spukt?« Ria lächelte ungläubig. »Ach wo, war nur ein Scherz. Aber bei solchen alten Gemäuern weiß man ja nie.« »Mildred, du plapperst zuviel«, rügte James. »Das sagt er immer zu mir. Ich bin aber so froh, daß mal jemand im Schloß ist, mit dem ich mich unterhalten kann. James schweigt meist wie ein Stockfisch.« Sie blinzelte Ria zu. »Wohnt denn niemand weiter im Schloß?« wollte Ria wissen. Mildred schüttelte heftig den Kopf. »Nein, alles steht leer.«
»Und der Lord?« »Seine Lordschaft taucht mal auf und verschwindet wieder, keiner weiß, was in seinem Kopf vor sich geht. Gäste hatten wir in den letzten fünf Jahren keine mehr, obwohl er nun nach und nach dieses alte Gemäuer modernisieren läßt.« Ria blickte sich wieder um. »Die Küche macht jedenfalls einen modernen Eindruck«, bestätigte sie. »Nicht wahr? Ich habe mich auch darüber gefreut. Ich könnte für ein ganzes Hotel kochen, so gut ausgestattet ist die Küche.« Stolz wies sie auf den großen Herd und die Galerie glänzender Töpfe aller Größen auf einem langen Bord an der Wand. »Das mit dem Hotel wäre keine schlechte Idee. Das Schloß liegt wirklich idyllisch und Platz gibt es sicher genug.« Mildred nickte wieder. »Das dachten wir auch, nachdem er mit den Umbauarbeiten begonnen hatte. Ich hätte gern als Köchin gearbeitet. Doch er vergräbt sich allein hier und meidet die Menschen.« »So? Hat er denn einen Grund? Ist er alt und krank? Oder hat er einen großen Kummer?« »Oh, er ist noch ziemlich jung und sieht wirklich gut aus. Eigentlich wäre er eine gute Partie, nur…« Mildred warf schnell einen Blick auf ihren Mann, der sie böse anstarrte. »… nur er zeigt keine Absichten. Vielleicht lebt er lieber allein, oder die Richtige ist ihm noch nicht über den Weg gelaufen.« Während sie sprach, räumte sie geschäftig den Tisch ab. Ria spürte, daß sie ein Thema angesprochen hatte, über das sie lieber hätte schweigen sollen. Irgend etwas stimmte mit diesem Lord nicht. »Ihr Bohneneintopf war einfach köstlich«, wechselte Ria schnell das Thema. Mildred strahlte über ihr rundes Gesicht. »Danke! So ein Lob tut gut.« »Kochen Sie jeden Tag?« wollte Ria wissen.
»Für uns schon. Kost und Logie sind in unserem Lohn inbegriffen. Aber da wir meist nur zu zweit sind, bescheiden wir uns. Aber wenn jetzt ein Gast da ist…«, sie stemmte die Hände in die füllige Taille, »… werde ich Ihnen natürlich jeden Tag etwas Gutes kochen. Sie können das Menü auch bestimmen. Mein Mann kauft die Lebensmittel im Dorf ein.« »Wegen mir brauchen Sie sich überhaupt keine Umstände zu machen«, wehrte Ria ab. »Ich kann mich auch selbst versorgen, wenn ich die Küche nutzen darf.« »Wenn Sie wollen, selbstverständlich. Aber mir macht es wirklich nichts aus, im Gegenteil. Endlich wieder eine richtige Aufgabe.« »Sie wohnen auch hier im Schloß?« wollte Ria wissen. »Nicht ganz. Wir bewohnen das kleine Gartenhäuschen hinter dem Schloß. Seine Lordschaft hat es uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Aber Ihre Räume befinden sich hier im Schloß, im Turm. Mein Mann hilft Ihnen dann, Ihr Gepäck hinaufzutragen.« Ria nickte dankbar. Im gleichen Moment wurde ihr bewußt, daß sie ganz allein in diesem unheimlichen Schloß wohnen würde! Sie stapfte hinter James her, der ihr Gepäck in ihre Gemächer trug. »Seine Lordschaft haben bestimmt, daß Sie die Turmzimmer bewohnen«, sagte James, ohne seinen Treppenaufstieg zu unterbrechen. Ria schnaufte mehr als der Mann, als sie mit einem Teil ihres Gepäcks, in dem sich ihr Laptop, eine MiniStereoanlage und die Fotoausrüstung befanden. Sie hatte sich auf ein Leben außerhalb der Zivilisation eingerichtet. James bog im Obergeschoß, wohin die breite Treppe aus der Vorhalle führte, nach rechts in einen Gang ein. Der Gang war düster, nur spärlich durch eiserne Lampen erhellen, aber zumindest gab es elektrisches Licht, stellte Ria aufatmend fest.
Zu beiden Seiten des Ganges gingen dunkle Holztüren ab. Dazwischen standen eiserne Ritterrüstungen und ab und zu ein altes Möbelstück, das bestimmt sehr wertvoll war. Im Vorbeigehen warf Ria einen Blick auf eine geschnitzte Truhe, eine flache Kommode und einen hohen Schrank mit aufwendigen Intarsienarbeiten. Die alten Rüstungen flößten ihr ein leichtes Unbehagen ein. Am Ende des Ganges führte ein offener Torbogen in das gewundene Treppenhaus des Turmes. Verblüfft wandte Ria sich um. Am anderen Ende des Ganges entdeckte sie den gleichen Torbogen, der jedoch zugemauert war. »Der andere Turm ist baufällig und zum Teil zusammengebrochen«, erklärte James, ohne sich umzudrehen. Ria schwieg und folgte dem Butler die enge Wendeltreppe hinauf. Auch hier gab es an der Wand kleine, eiserne Lampen. Neben dem Durchgang hatte Ria den Lichtschalter entdeckt. Nach jeder halben Umrundung wurde die Treppe durch einen kleinen, halbrunden Absatz unterbrochen. Auf dem zweiten Absatz befand sich eine Tür. »Hier ist das Bad«, sagte James. »Ein Bad?« wunderte sich Ria. »Im Turm?« »Sie haben es ganz für sich allein«, erwiderte James, ohne weitere Erklärung. Nach weiteren zwei Absätzen blieb er stehen und setzte das Gepäck ab. Er öffnete die Tür und Ria folgte ihm zögernd. Im nächsten Augenblick entrang sich ihr ein Ausruf des Erstaunens. »Oh, ist das hübsch!« Begeistert blickte sie sich um. Das Turmzimmer war nicht sehr groß, die Wände entsprechend gebogen. Zwei Bogenfenster mit bleigefaßtem Glas ließen einen herrlichen Blick auf die weite Umgebung zu. Das Zimmer war mit zierlichen Rokokomöbeln eingerichtet, eine Glasvitrine zwischen beiden Fenstern, ein Sofa und ein
zierlicher Sessel, ein Tisch und ein hübscher Schreibsekretär. Auf dem Tisch stand eine Vase mit frischen Blumen. Der Dielenfußboden war mit einem wertvollen Orientteppich belegt, an den Wänden hingen kleine, aber offensichtlich kostbare Ölgemälde. Drei Stufen führten zum Schlafzimmer, das entsprechend der Wandkrümmung auf einem etwas höheren Niveau lag. James öffnete die Tür und Ria schaute entzückt auf ein Himmelbett mit cyclamfarbenem Bezug, das den größten Teil des Raumes einnahm. Ein Schrank, eine kleine Kommode und eine fein gearbeitete Frisiertoilette vervollständigten die geschmackvolle Einrichtung. »Vielen Dank, James«, sagte Ria und öffnete den Koffer. »Leider gibt es hier oben keine Klingel, damit Sie uns in der Küche rufen können«, sagte James. »Haben Sie einen Wunsch? Ich bringe Ihnen gern Getränke oder etwas zu essen herauf.« »Das ist nicht notwendig«, erwiderte Ria mit dem Gedanken an den etwas beschwerlichen Aufstieg. »Ich komme zum Essen in die Küche hinunter. Außerdem kann ich mir selbst holen, was ich brauche. Ich danke Ihnen nochmals.« James verbeugte sich steif und verließ den Raum. Ria hörte ihn die Steinstufen hinunter tappen. Zunächst lief sie zum Fenster, um den herrlichen Ausblick zu genießen. Dieser allein war schon den Aufstieg wert. Dann packte sie ihre Koffer und Taschen aus und richtete sich häuslich ein. Es gab genügend Steckdosen für ihre Geräte, sogar eine Leselampe auf dem Schreibsekretär. Doch Ria hielt es nicht lange in ihren hübschen Gemächern. Sie wollte sich nach der langen Fahrt erfrischen und lief wieder hinunter zu der Tür, wo sich das Bad befand. Neugierig öffnete sie – und wieder staunte sie. Dieses Bad war moderner eingerichtet als ihres daheim. Auch hier gab es zwei Ebenen,
nur mit dem Unterschied, daß sie diesmal die höhere Ebene betrat, wo sich das Waschbecken mit einem großen Spiegel, eine Duschecke, Badschränke mit Handtüchern, duftenden Badesalzen und Lotionen befand. Auf der unteren Ebene jedoch stand eine wunderschöne geschwungene Badewanne von verschwenderischer Größe. Alles mußte neu, ja unbenutzt sein, wie Ria nach genauerer Prüfung feststellte. Die Wände waren weiß getüncht und mit zartem Rosenmuster verziert, eine gemalte Rosenkarte rankte sich um die beiden Bogenfenster. Sie war überzeugt von dieser hübschen und so ganz auf eine Frau abgezielte Einrichtung des Turmes. Das Märchen von Dornröschen fiel ihr wieder ein und sie mußte lächeln. Im Gegensatz zu dem dunklen Gang im Hauptgebäude waren diese Turmzimmer anheimelnd, hell und äußerst geschmackvoll. Sie dankte im Stillen dem unbekannten Lord, der ihren Geschmack auf eine seltsame Weise zu erraten schien. Nachdem sich Ria geduscht und umgekleidet hatte, wollte sie den Rest des Nachmittags zu einer kleinen Entdeckungstour nutzen. Als sie aus ihrem Wohnraum trat, bemerkte sie, daß die Treppe weiter hinaufführte. Neugierig folgte sie der Windung nach oben, bis sie wieder vor einer Tür stand. Sie hatte richtig vermutet, daß diese Tür auf die Plattform des Turmes führte. Zwar war die Tür abgeschlossen, doch der Schlüssel steckte von innen. Ria öffnete die Tür und betrat vorsichtig die Plattform. Zinnen begrenzten sie und sie entdeckte frische Mörtelspuren. Alles war liebevoll restauriert worden. Sogar eine Fahnenstange gab es und zu ihrer Beruhigung auch einen Blitzableiter. Anerkennend nickte sie. Der Lord schien allerhand in dieses Schloß investiert zu haben. Sie blickte auf die hügelige Landschaft hinunter, die sich in sattem Grün
erstreckte, so weit das Auge reichte. Sie entdeckte den Wald, den sie durchquert hatte, bevor sie das Schloß erreichte. In entgegengesetzter Blickrichtung lag ein kleines Dorf, dazwischen Wiesen und Felder, kleine Wäldchen und ein See. Ria beschloß, am nächsten Tag einige Panoramafotos der Umgebung von dem Turm zu schießen, aber auch ihre so geschmackvoll eingerichteten Zimmer wollte sie fotografieren, allein der Erinnerung wegen. Sie blickte über das Schloß hinweg zum anderen Turm. Der war tatsächlich in sich zusammengefallen, besaß nur noch die Höhe des Mittelgebäudes. Ria bedauerte fast, daß hier wohl jede Hilfe zu spät kam. Das Mittelgebäude wies ein neues Dach auf, zum Eingang zu lag ein mit Zinnen begrenzter Wehrgang. Das Schloß mußte in seinen Ursprüngen sehr alt sein, im Laufe der Jahrhunderte war es offensichtlich mehrfach um- und ausgebaut worden. Trotzdem hatten die Baumeister versucht, einen einheitlichen Stil beizubehalten. Und der Lord ließ es in eben diesem Stil liebevoll restaurieren. Es berührte Ria angenehm. Dieser Mann war gewiß ein kunstverständiger Mensch und sie stellte sich einen mittelgroßen Herrn mit weißem Haar, aufrechter Haltung, einer Strickjacke mit Lederflicken an den Ellenbogen und derben Breecheshosen vor. Am Freitag würde sie ihn ja kennenlernen und sie freute sich darauf.
*
Ria verließ die Plattform, schloß sorgfältig die Tür wieder ab und lief die Wendeltreppe hinunter, bis sie den Durchgang zum Mitteltrakt des Schlosses erreichte. Seltsamerweise machte dieser düstere Gang mit seinen dunklen Möbeln und den
Rüstungen einen unheimlichen Eindruck auf sie. Schnell durcheilte sie ihn bis zur Treppe, die in die Halle führte. Sie hörte es in der Küche klappern. Leise atmete sie auf. Irgendwie war es tröstlich, menschliche Aktivitäten in diesem stillen Schloß zu spüren. »Möchten Sie einen Kaffee trinken, oder sich lieber an unsere englischen Sitten halten?« fragte Mildred, als sie die Küche betrat. Ria stutzte. »Englische Sitten?« »Nun, bei uns gibt es den Fünf-Uhr-Tee. Wir nehmen ihn in der Küche ein, nur seine Lordschaft pflegt ihn in der Bibliothek zu nehmen. Wenn er anwesend ist«, fügte Mildred hinzu. »Ja, natürlich!« Ria schlug sich an die Stirn. »Ich vergaß völlig, daß ich nicht daheim bin.« Mildred lächelte nachsichtig. »Ich sehe, Sie fühlen sich schon fast wie daheim.« Sie zwinkerte listig mit den Augen. »Und deshalb habe ich Ihnen auch einen Kaffee gekocht. Sie können ihn sich auch selbst zubereiten, hier steht die Kaffeemaschine, da der Kaffee…« Sie wies auf ein Kaffeegedeck auf dem Küchentisch und einen Teller mir gebackenen Plätzchen. »Sie verwöhnen mich, Mildred«, lachte Ria und nahm Platz. »Das mache ich gern«, erwiderte Mildred. »Und hier kommt noch jemand, der verwöhnt werden möchte.« Durch die rückwärtige Küchentür, die auf die hintere Terrasse des Schlosses führte, und die an diesem strahlenden Sommertag offenstand, schwänzelte der schwarz-weiße Kater, den Ria bereits bei ihrer Ankunft auf der Balustrade der vorderen Terrasse gesehen hatte. Er blieb kurz stehen, warf einen prüfenden Blick auf Ria, um dann um Mildreds Beine zu schleichen und mit kurzen, gurrenden Lauten zu betteln.
»Ja, Merlin, du bekommst dein Schälchen Sahne«, sagte Mildred und streichelte dem Kater liebevoll über das glänzende Fell. Sie bückte sich und füllte eine flache Schale auf dem Fußboden mit Kaffeesahne. Bedächtig leckte der Kater die Sahne auf. Erst als das Schälchen leer war, wandte er sich ab, streckte sich und sprang mit einem Satz auf das Fensterbrett, wo er zwischen den Blumentöpfen eine ausgiebige Katzenwäsche begann. Ria beobachtete das schöne Tier, während sie ihren Kaffee trank und von Mildreds Plätzchen probierte. »Ein seltsamer Name – Merlin«, sagte sie. »War das nicht ein berühmter Zauberer?« Mildred nickte. »Seine Lordschaft hat ihn so genannt. Eines Tages war der Kater da, wie aus dem Nichts. Seitdem lebt er hier. Seine Lordschaft hat ein sehr inniges Verhältnis zu diesem Her.« »Der Lord scheint überhaupt ein wunderbarer Mensch zu sein. Er läßt das Schloß sehr professionell restaurieren, liebt Tiere…« »Oh, er ist ein wunderbarer Mensch, wenn nicht dieses schreckliche…« »Mildred, du langweilst unseren Gast!« hörte Ria plötzlich die schnarrende Stimme von James, der von der Terrasse her die Küche betrat. Mildred zuckte zusammen und schwieg. Etwas verlegen hantierte sie an der Spüle. Ria hatte sich umgewandt und blickte erschrocken in James’ finsteres Gesicht. »Keinesfalls langweilt sie mich«, widersprach Ria etwas verärgert. »Ich möchte so viel wie möglich über dieses Schloß und seine Bewohner erfahren. Deshalb bin ich ja hier.« »Wenn Seine Lordschaft kommen, können Sie mit ihm über alles sprechen«, gab James unwirsch zurück. »Es gibt eine große Bibliothek, die sie dann sicher benutzen können, aber
das sprechen Sie am besten auch alles mit Seiner Lordschaft ab.« Ria erhob sich und brachte ihre Kaffeetasse zur Spüle, wo Mildred immer noch mit gesenktem Kopf hantierte. »Vielen Dank, Mildred, der Kaffee war vorzüglich. Ich werde inzwischen einen Spaziergang in die nähere Umgebung unternehmen. Heute ist erst Mittwoch und ich muß mir ja irgendwie die Zeit vertreiben, bis Seine Lordschaft geruht zu erscheinen.« Mildred nickte heftig. »Wenn Sie hier hinausgehen, gelangen Sie in den Park. Er hat einen wertvollen alten Baumbestand, einen kleinen See und eine Orangerie, die zwar nicht mehr genutzt wird, aber…« »Das kann Miss Wagner alles selbst entdecken, auch ohne deine weisen Ratschläge«, fiel James ihr ins Wort. Ria verließ schnell die Küche. Sie verstand nicht, warum der alte Butler so unhöflich war. Vor allem verbot er seiner Frau das Wort, wann immer die Sprache auf den Lord kam. Irgend etwas Seltsames gab es hier und Ria mußte es herausfinden.
*
Der lange Spaziergang hatte Ria gutgetan. Sie hatte den herrlichen Park durchquert, den verwunschenen See gefunden mit einem alten, verwitterten Steinpavillon, wo sich wahrscheinlich schon vor über zweihundert Jahren die Verliebten zu einem heimlichen Stelldichein gefunden hatten. Sie hatte die stark duftenden Rosen bewundert und schöne alte Steinstatuen auf bemoosten Sockeln. Und sie war zur alten Mauer gelangt, die das ganze große Anwesen umschloß. Die Mauer war alt, an manchen Stellen verfallen und mit wildem
Efeu überwuchert. Eine kleine Eisentür führte aus dem Grundstück heraus, und Ria befand sich zwischen weiten Feldern und Wiesen. Ein Feldweg führte zu dem etwa zwei Meilen entfernt liegenden Dorf. Sie blickte sich um. Das Schloß wirkte in der untergehenden Sonne malerisch und sehr romantisch. Ria ärgerte sich, daß sie ihren Fotoapparat nicht mitgenommen hatte. Aber sie hatte ja noch genügend Zeit in den folgenden Tagen, diese traumhaften Motive auf den Film zu bannen. Und so kehrte sie in das Schloß zurück, um von ihrem Turmzimmer aus den Sonnenuntergang zu genießen. Vor der hinteren Küchentür verhielt sie ihren Schritt. Es lag ihr fern, das Gespräch der beiden Dienstleute zu belauschen, aber irgendein Gefühl riet ihr, sich still zu verhalten. »Ich halte es nicht für richtig, daß Seine Lordschaft diese junge Dame eingeladen hat«, sagte James. Sie saßen beim Tee und Mildred klapperte nervös mit ihrer Tasse. »Es ist nicht unsere Sache, den Lord zu kritisieren«, erwiderte sie fast trotzig. »Außerdem hat er sie nicht eingeladen. Sie hat gebeten, etwas über das Schloß schreiben zu dürfen.« »Eben! Jetzt schnüffelt sie hier herum. Wieso hat er das nicht bedacht?« »Vielleicht ist er froh, wieder mal einen Menschen um sich zu haben.« »Keinesfalls! Er hat sich derart zurückgezogen, daß ich befürchte, daß er noch gänzlich wahnsinnig wird.« »Das befürchte ich allerdings auch.« »Willst du, daß es dann in allen Zeitungen steht? Auch wenn diese deutsche Miss freundlich ist, Journalisten sind Journalisten. Und die Deutschen lachen dann über einen schrulligen Lord, der…«
»Nenn ihn nicht so, den bedauernswerten Mann!« regte sich Mildred auf, und ihre Stimme hob sich. »Schließlich ist es ein schreckliches Unglück, daß er…« »Unglück nennst du das? Es ist mehr, viel mehr! Und es ist nicht gut, wenn fremde Augen es sehen.« »Vielleicht ist sie es, die ihm…« »Nein, nein und nochmals nein! Es ist alles schon schlimm genug, sollen jetzt noch Fremde darin herumwühlen?« Schweigen. Ria lauschte, doch sie konnte nichts mehr hören. Dafür hatte sie das untrügliche Gefühl, daß sie jemand anstarrte. Kleine Schweißtröpfchen bildeten sich auf ihrer Stirn. Sie holte tief Luft und wandte sich langsam um. Auf der flachen Steinbalustrade der Terrasse saß Merlin, der Kater. Er hatte sich hingehockt, die Vorderbeine untergeschlagen und starrte unbeweglich auf Ria. Erst jetzt bemerkte sie die seltsam grüngelben Augen des Katers, die etwas schräg standen. War es das Licht der tiefstehenden Sonne oder die Wirkung des seltsamen Gesprächs, das sie unfreiwillig belauscht hatte, daß sie den Eindruck hatte, daß die Augen des Katers funkelten? Und er schien ihre Gedanken auf unheimliche Weise lesen zu können, ja, er schien zu wissen, was sie dachte. Ria fuhr sich mit der Hand über die Augen und schüttelte unmerklich den Kopf. Wenn sie schon am ersten Tag anfing zu spinnen, konnte das nicht gutgehen. Sie lächelte über ihre albernen Gedanken. »Hallo, Merlin! Nicht wahr, es ist angenehm in der Sonne!« sagte sie zu dem Kater. Seine Augen ruhten weiter regungslos auf ihr und Ria betrat schnell die Küche. »Die frische Luft war herrlich«, sagte sie übertrieben laut. »Und die Umgebung ist es auch.« Mildred sprang lächelnd auf. »Und Sie haben bestimmt schon Hunger auf Abendbrot. Ich werde Ihnen gleich etwas zubereiten. Unser Dienst ist um neunzehn Uhr beendet. Sie
können hier in der Küche essen, den Abwasch besorge ich dann morgen.« »Sie verlassen das Schloß?« fragte Ria unbehaglich. Mildred nickte. »Wir bewohnen das Gartenhäuschen da drüben.« Sie zeigte zum Fenster. Ria hatte das Gartenhäuschen bei ihrem Spaziergang entdeckt, es stand in der Nähe der alten Orangerie, vom Schloß aus nicht zu sehen. »Aber keine Angst, wir schließen vorher alles ab. Allerdings, wenn Sie abends fortgehen wollen, dann können, Sie den Schlüssel mitnehmen, er hängt gleich neben der Eingangstür. Wir gehen immer durch die Hintertür, die wir dann abschließen.« Mildred zog einen Schlüssel aus der Schürzentasche. Ria hob abwehrend die Hände. »Nein, ich habe keine Veranlassung, das Schloß zu verlassen, ich werde mich dann auf mein Zimmer begeben und den Sonnenuntergang beobachten. Das ist sicher sehr romantisch.« »O ja!« Mildred nickte eifrig. Sie hantierte am Herd und bereitete das Abendbrot zu. Ria befürchtete, daß sie, wenn sie noch zwei Wochen unter Mildreds Fürsorge blieb, wohl einige Pfund zulegen würde.
*
Fasziniert schaute Ria vom Fenster ihres Turmzimmers zu, wie die Sonne in einer Orgie aus rotem Licht hinter dem Wald versank. Nach einem letzten Auflodern senkte sich ein violetter Schleier über den Himmel. Wie schwarze Tintenflecke breitete sich die Dunkelheit zuerst in den Tälern und Niederungen aus, bis sie schnell über die Hügel kroch und die Farben verschwimmen ließ. Das dunkle Violett wandelte sich zu einem unheimlichen Grau, einem amorphen Geist
gleich, der seine Krakenarme über das Land ausstreckte und auch nach dem Turm des Schlosses griff. Wie die Flut des Meeres stieg die Dunkelheit von der Erde herauf zum Himmel, versank das Schloß in den gespenstischen Armen der Dunkelheit. Zuletzt schwappte die Finsternis über die Zinnen des Turmes. Fröstelnd schloß Ria das Fenster und knipste das Licht an. Jetzt erhellte der warme Schein der gelben Glühbirnen den Raum. Sie legte eine CD in die kleine Stereoanlage, die sie mitgebracht hatte. Als die Musik erklang, wich der seltsame Druck, der sich plötzlich auf ihre Brust gelegt hatte. Sie klappte den Laptop auf, um ihre ersten Eindrücke niederzuschreiben. Ab und zu schweiften ihre Gedanken ab zu dem Gespräch, das sie belauscht hatte. Richtig wohl war ihr nicht in der Haut, andererseits spürte sie jedoch, daß das Schloß trotz seiner modernen Restaurierung irgendein Geheimnis barg. Es war schon tiefe Nacht, als sie ihre Notizen beendete und bemerkte, daß sie Durst bekam. Jetzt ärgerte sie sich, daß sie nichts zu trinken mit auf ihr Zimmer genommen hatte. Der Gedanke, noch einmal das stille und nun menschenleere Schloß zu durchqueren, flößte ihr Unbehagen ein. Jetzt, in der Nacht, atmete das Schloß anders als bei Tageslicht. Ria überlegte lange, ob sie den Weg zur Küche gehen und sich etwas zu trinken holen sollte. Dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Tür zur Turmtreppe. Sie tastete nach dem Lichtschalter. Die schmiedeeisernen Wandlampen erhellten die gewundene Treppe. Doch allein der Gedanke, daß sie nicht sehen konnte, was sich hinter der Biegung befand, verursachte in Ria einen seltsamen Schauder. Laut pfeifend, wie ein ängstliches Kind, das in den Keller gehen mußte, um ein Glas Kompott heraufzuholen, hüpfte sie die Treppe hinunter. Keineswegs glaubte sie an irgendwelche
Schloßgespenster, aber das laute Pfeifen beruhigte sie trotzdem. Über sich selbst lächelnd bog sie aus dem Turm in den langen Gang des oberen Stockwerkes. Der dicke Teppichbelag schluckte ihre Schritte und sie fühlte sich, als wenn sie durch den Gang schwebte. Auch hier herrschte das diffuse Licht, das die schmiedeeisernen Wandlampen warfen. Sie warf einen verstohlenen Blick auf die Ritterrüstungen, die wie stumme Wächter in Abständen auf dem Gang standen. Endlich öffnete sich der Gang zur breiten Treppe, die ins Erdgeschoß in den großen Vorsaal führte. Erleichtert faßte sie das steinerne Geländer und blickte hinab. Doch als sie einige Stufen herabgeschritten war, stockte sie. Die Tür zur Bibliothek stand einen Spalt offen und ein unruhiger Lichtschein fiel auf den steinernen Boden der Vorhalle. Sie gewahrte einen Schatten, der sich in der Bibliothek bewegte. Ria preßte die Hand auf ihr wild klopfendes Herz und redete sich ein, daß sie eine modern denkende Frau des zwanzigsten Jahrhunderts sei und keineswegs an irgendwelche Gespenster oder andere unheimliche Erscheinungen glaubte. Die Umgebung machte es ihr zwar nicht leichter, trotzdem schritt sie entschlossen weiter die Treppe hinab. Langsam * näherte sie sich der Tür der Bibliothek. Doch außer dem flackernden Kaminfeuer konnte sie nichts erkennen. Vorsichtig drückte sie mit der Handfläche gegen den Türflügel, der sich mit einem kaum hörbaren knarrenden Laut bewegte. Im gleichen Moment erblickte sie die hohe, schlanke Gestalt, die vor dem großen Schreibtisch stand. »Treten Sie näher, wenn Sie sich schon einmal angeschlichen haben«, sagte eine tiefe, seltsam vibrierende Stimme. Erschrocken zuckte Ria zusammen. Die Stimme jagte ihr eine Gänsehaut ein. Ihre Augen starrten auf den geraden Rücken des in einen dunkelgrauen Anzug gekleideten Mannes. Er
stand unbeweglich, ohne sich umzudrehen, doch schien er genau zu spüren, wo Ria sich befand und was sie im Augenblick tat. Sie schluckte schwer. »Guten Abend, Mylord«, brachte sie gepreßt hervor. Langsam, sehr langsam drehte der Angesprochene sich um. Für einen Augenblick sah sie sein Profil, eine gerade, scharf geschnittene Nase, dunkles, lockiges Haar, das bis auf die Schultern fiel, wohlgeformte Ohren, die von den Locken umspielt wurden. Dann wandte er sich Ria ganz zu und für einen Augenblick glaubte Ria, den Halt zu verlieren. Ein Paar grüne Augen blitzten sie unter geraden, schwarzen Brauen an. Sie fühlte sich von diesen Augen gleichsam hypnotisiert und spürte, wie es ihr den Atem verschlug. Mühsam rang sie nach Luft. Das lodernde Kaminfeuer warf einen rötlichen Schein auf sein Gesicht und diese faszinierenden Augen schienen grüngoldene Funken zu sprühen. So standen sie sich gegenüber in tiefem Schweigen, nur unterbrochen durch das Knacken der brennenden Scheite im Kamin. Entsetzt bemerkte Ria, daß ihre Zähne aufeinanderschlugen und sie preßte krampfhaft die Lippen zusammen, doch sie konnte das Zittern ihres Unterkiefers nicht gänzlich unterdrücken. Keineswegs wagte sie, sich dem Mann zu nähern und ihm die Hand zu reichen. »Ich… ich wollte mir nur etwas zu trinken holen«, stammelte sie und ärgerte sich im gleichen Moment über den Unsinn, den sie da von sich gab. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie gestört habe«, flüsterte sie tonlos. Sie tastete sich rückwärts aus der Tür heraus. Der Lord stand immer noch da, ohne eine Regung, ohne ein Wort, nur diese seltsam leuchtenden Augen schienen sie wie mit Laserstrahlen zu durchbohren. In der Vorhalle pustete Ria laut die Luft aus, um sich zu erleichtern. Mit der Hand zerrte sie am Ausschnitt ihres Shirts.
Noch immer fröstelte sie. Sie verzichtete auf ein Glas Milch aus der Küche, sondern hastete die Treppe hinauf, durch den Gang, über die gewundene Turmtreppe und warf die Tür hinter sich zu. Dann drehte sie den Schlüssel zweimal im Schloß herum, verriegelte die Fenster und lief ins Schlafzimmer. Die Tür zum Wohnraum ließ sie offen. Sie setzte sich auf die Bettkante und atmete tief durch. Etwas irritiert blickte sie auf ihre Hände, die sie zusammengepreßt auf dem Schoß hielt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Hysterische Ziege, schalt sie sich im Stillen. Entschlossen stand sie auf, entkleidete sich und zog sich ein bequemes Nachthemd über. Dann legte sie sich ins Bett. Doch sie wagte nicht, die Augen zu schließen, weil sie befürchtete, daß sie dann wieder das Bild des unheimlichen Lords vor Augen haben würde. Auch ließ sie das Licht der kleinen Nachttischlampe brennen. Sie brannte noch, als Ria am Morgen erwachte.
*
»Haben Sie die erste Nacht gut geschlafen?« fragte Mildred, als Ria am Morgen den Kopf zur Küchentür hereinsteckte. »Ja, danke, gut«, antwortete sie, doch ihr blasses Gesicht strafte ihre Worten Lüge. Sie blickte auf den leeren Küchentisch. »Seine Lordschaft wünscht, daß Sie im Rittersaal frühstücken«, sagte Mildred, die Rias Blick bemerkte. »Ich habe schon eingedeckt. Speck und Eier kommen sofort. Und hier steht auch eine Kanne starken Kaffees. Ich nehme an, den haben Sie nötig.«
»Ich wußte nicht, daß der Lord gestern abend schon kommen würde«, sagte Ria und versuchte, ihre Stimme belanglos klingen zu lassen. »Wir waren auch überrascht«, erwiderte Mildred. »So, Ihr Schinken ist glasig geröstet und die Eier – bitte schön.« Sie nahm das Tablett auf und ging voran durch die Halle zu einer zweiflügeligen Tür, die offenstand. Ria folgte ihr. An der Tür zum Rittersaal blieb sie stehen. Es war ein riesiger, langgestreckter Raum, der sich über den ganzen linken Flügel des Mittelgebäudes erstreckte. Er war hoch, mit dunklem Holz getäfelt, an dem überdimensionale Gemälde hingen. Und auch hier standen Rüstungen, hingen Lanzen, Speere, Schwerter und Hellebarden an den Wänden. In der Mitte des Raumes jedoch erstreckte sich eine lange Tafel mit mindestens vierzig Stühlen. Ein einziges Gedeck war aufgelegt, das auf der Länge der Tafel völlig verloren schien. Irritiert blickte Ria auf das Gedeck. »Ich hätte auch in der Küche gefrühstückt«, sagte sie mit belegter Stimme. Die Atmosphäre in diesem düsteren Saal war ihr unheimlich. »Und wieso ist nur ein Gedeck aufgelegt?« »Seine Lordschaft hat bereits gefrühstückt. Er ist ausgeritten. Aber er hat angeordnet, daß Sie hier frühstücken und nicht in der Küche.« Folgsam setzte sich Ria auf ihren Platz. Das Wort des Lords schien Gesetz zu sein. Sie war sein Gast und es lag ihr fern, sich seinen Wünschen zu widersetzen, auch wenn ihr dieser überdimensionale Raum nicht behagte. So beeilte sie sich mit dem Frühstück, trank zwei Tassen des wirklich hervorragend gebrühten Kaffees und fühlte sich bereit, die Aufgaben des Tages in Angriff zu nehmen. Sie hatte ihre Fotoausrüstung gleich mit heruntergebracht und wollte einige der reizvollen Motive, die sie am Vortag entdeckt hatte, fotografieren. Irgendwann würde der Lord ja wieder auftauchen, und sie
könnte mit ihm vielleicht einige Worte wechseln. Unter den Strahlen der Sonne, die hoffentlich den unheimlichen Lord in einem anderen Licht erscheinen lassen würden. Sie verließ das Schloß, diesmal durch den Vordereingang. Sie wollte versuchen, das gesamte Gebäude vom Eingang her zu fotografieren. Am Rosenrondell entdeckte sie den Kater Merlin auf einer Steinfigur. Doch als sie den Apparat ans Auge hob, um ihn zu fotografieren, sprang er mit einem Satz hinter die Figur, und Ria konnte nur das Rosenrondell mit dem alten Brunnen aufs Bild bannen. Sie ärgerte sich, doch sie würde den Kater sicher noch oft zu sehen bekommen und ihn dann auch fotografieren können. Sie wanderte weiter um das Schloß herum, durch den Park und verließ ihn dann durch die hintere Pforte. Sie schlenderte ein Stück den Feldweg entlang, bog dann ab zum Rand des Wäldchens, von wo aus sie einen bezaubernden Blick zum Dorf hinunter hatte. Sie war so vertieft, das Panorama auf den Film zu bannen, daß sie erschrocken zusammenzuckte, als etwas Weiches sie an den Rücken stupste. Gleichzeitig spürte sie den schnaufenden, warmen Atem eines Pferdes. »Ein schöner Ausblick«, sagte eine samtwarme, vibrierende Stimme hinter ihr und Ria fuhr erschrocken herum. Kaum beherrschte Angst zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, als sie den Lord auf einem schönen schwarzen Pferd sitzen sah. »Guten Morgen, Mylord«, stammelte sie, und wieder fühlte sie eine seltsame Trockenheit in ihrer Kehle. Sie bemerkte, wie der Lord mit den Mundwinkeln zuckte, als könne er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Doch seine Augen blickten sie starr und durchdringend an. Gleich darauf senkte er jedoch den Kopf und sprang geschmeidig vom Pferderücken herunter. Er griff in die Zügel und trat zu Ria heran.
Ihr Herz raste, als sich der Lord ihr näherte. Er trat aus dem Schatten des Waldes heraus und das warme Licht der Morgensonne legte sich auf sein Gesicht. Jetzt konnte Ria ihn genauer betrachten. Das Tageslicht nahm seinem Gesicht die Strenge und Ria fand, daß er ein ausgesprochen schönes Gesicht hatte mit einer geraden, schmalen Nase, hohen Wangenknochen und einem für einen Mann wunderschönen pfirsichfarbenen Teint. Seine Wangen hatten sich durch den Ritt sanft gerötet. Er hatte schwarzes, volles Haar, das er bis auf die Schultern trug. Das faszinierendste jedoch waren seine Augen. Sie waren von einer bernsteingelben Farbe mit grünlichen Punkten. So eine Augenfarbe hatte Ria noch niemals gesehen. Schwarze Wimpern umkränzten diese ungewöhnlichen, fast unmerklich schräg stehenden Augen. Seine schwarzen Augenbrauen verliefen gerade, was seinem Blick eine gewisse Strenge verlieh. Ria konnte sich von dem Anblick dieser Augen nicht lösen, bis sie ein ironisches Lächeln um seinen Mund bemerkte. Errötend senkte sie den Kopf. »Willkommen auf Schloß Billingsmore«, sagte der Lord. »Ich danke Ihnen, Mylord, daß Sie mir gestattet haben, Ihr Schloß besuchen zu dürfen.« Insgeheim mußte Ria über ihre geschraubte Wortwahl lächeln, doch der Lord blickte sie ernst an. »Sind Sie zufrieden mit Ihrer Unterbringung?« fragte er wie beiläufig. »Oh, danke, es ist wunderbar. Ich hätte so etwas nie erwartet. Ich… ich… bin überwältigt. Allein dieses herrliche Panorama war die weite Reise wert.« Sie biß sich auf die Lippen. Was stotterte sie denn da für Unsinn zusammen? Sie sah ironische Funken in seinen Augen aufblitzen. »Aber allein wegen der Aussicht haben Sie doch nicht die Reise
hierher unternommen? Sie suchen Geschichte, Geschichten, Schloßgespenster und Geheimnisse.« Ria spürte wieder, daß sie errötete und fühlte sich ertappt. Ihr Lachen klang gekünstelt. »Ich bin keiner dieser Touristen, die mit wonnigem Schauder in die Folterkammer klettern und glauben, sie wissen nun alles über Englands Historie. Mir geht es mehr um Architektur und Geschichte, nicht um Gruselmärchen. Ich hatte Ihnen ja meine Referenzen geschickt. Daraus konnten Sie entnehmen, daß ich für ein seriöses Magazin arbeite. Meine letzte Serie befaßte sich mit den Kathedralen Europas.« Mit unbewegtem Gesicht wandte der Lord sich ab und bestieg wieder sein Pferd. »Kommen Sie heute abend in die Bibliothek. Dann können wir uns darüber unterhalten«, sagte er nur. Er trieb sein Pferd an, und Ria blickte ihm nach, wie er über die Wiese hinunter zum Dorf galoppierte. Sein Pferd ist genauso schwarz wie sein Haar, fuhr es Ria durch den Kopf. Und diese Augen! Woran erinnern sie mich bloß?
*
Nach ihrem ausgiebigen Spaziergang kehrte Ria zurück ins Schloß. Mildred servierte ihr das Mittagsmahl im großen Rittersaal, und wieder saß sie allein an der riesigen Tafel und fühlte sich verloren und unbehaglich. Vom Lord bekam sie nichts zu sehen, und sie wagte auch nicht, Mildred danach zu fragen. Nach dem Essen begab sie sich in ihre Gemächer. An der Tür des Bades verhielt sie ihren Schritt. Dann öffnete sie und
blickte hinein. Helle Sonnenstrahlen fielen einladend auf die Fliesen und Ria beschloß, ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Frohgelaunt stieg sie die letzten Stufen hinauf. Doch als sie die Tür zum Wohnzimmer öffnete, zuckte sie zusammen. Sie blickte sie geradewegs in zwei grüne Augen. »Merlin, was machst du denn hier?« fragte Ria und atmete tief durch. »Du hast mich aber erschreckt.« Der Kater saß auf dem dicken Teppich, den Schwanz um seine Vorderbeine geringelt, und blickte sie aufmerksam an. Er wirkte wie eine Statue, kein Muskel zuckte, nur seine Ohren bewegten sich in die Richtung, in die Ria ging. Sie legte die Fotoausrüstung auf den Schreibtisch, dann begab sie sich ins Schlafzimmer, um sich auszukleiden. Der Kater drehte den Kopf und folgte ihr mit dem Blick. Ria zog sich einen leichten Morgenmantel über. Im Vorbeigehen strich sie Merlin über den Kopf. »Bist wohl neugierig, wer sich in deinem Schloß einquartiert hat«, sagte sie lächelnd. »Habe ich in deinen Augen Gnade gefunden?« Merlin blickte sie an, direkt und aufmerksam, als könne er ihre Worte verstehen. Ria hatte einmal gelesen, daß es Katzen vermeiden würden, jemandem direkt in die Augen zu sehen. Einen Augenblick blieb sie unschlüssig stehen, und ihre Blicke begegneten sich. Dann wandte sie sich achselzuckend ab und verließ das Zimmer. Im Bad ließ sie die Wanne voll warmes Wasser laufen, gab eine der duftenden Badeessenzen dazu und senkte sich dann mit einem wohligen Laut bis an die Ohren in den Schaum. Die Sonne spiegelte in den blitzenden Armaturen und warf bunte Kringel auf die Fliesen. Entspannt lehnte Ria sich in der Wanne zurück und schloß die Augen. Sie war zufrieden mit dem Verlauf des Vormittags, sie hatte einen ganzen Film voll herrlicher Landschaftsaufnahmen geknipst, und sie wollte am nächsten Tag ins Dorf, um den Film entwickeln zu lassen.
Ein Geräusch an der Tür ließ sie zusammenfahren. Alarmiert hob sie den Kopf. »Besetzt!« rief sie mit belegter Stimme und starrte zur Tür. Sie war sich sicher, daß sich die Klinke bewegt hatte. Siedendheiß fiel ihr ein, daß sie die Tür nicht von innen abgeschlossen hatte! Für einen Augenblick herrschte Stille, während Ria ihren Blick nicht von der Tür wandte. Mit Entsetzen sah sie, wie die Türklinke langsam heruntergedrückt wurde. Trotz des warmen Badewassers verspürte sie eine Gänsehaut, und sie erstarrte zur Salzsäule, als sich die Tür langsam öffnete. Und ihre Augen weiteten sich vor Verblüffung, als sie bemerkte, daß an der Türklinke, lang auf seine Hinterbeine aufgerichtet, der schwarzweiße Kater Merlin hing! Erleichtert aufatmend sank Ria wieder ins Wasser zurück. »Merlin!« Mit tadelndem Blick strafte sie den Kater, der sich wieder auf alle vier Beine fallen ließ und ins Bad hereinschwänzelte. Merlin schien sich nichts aus Rias Schreck zu machen. Prüfend hob er seine Nase in die Luft und atmete den süßen Freesienduft der Badeessenz ein. Gemächlich trottete er durchs Bad, schnupperte an Rias Bademantel, dem Handtuch, ihren Pantoletten. Dann hockte er sich auf die Stufen, die zur oberen Ebene des Bades führten, schlug die Vorderbeine unter und betrachtete Ria unter halbgeschlossenen Lidern. Es sah aus, als würde Merlin meditieren, doch Ria bemerkte, daß der Kater sie, wenn auch mit gleichgültigem Desinteresse im Gesicht, aufmerksam beobachtete. Sie schüttelte ein wenig den Kopf über ihre seltsamen Ängste und verwünschte die dummen Sprüche der Kollegen über Schloßgeister, verwunschene Lords und unheimliche Mauern. Schließlich lebten sie im aufgeklärten zwanzigsten Jahrhundert, und Schloßgespenster waren höchstens als
touristische Attraktion zu gebrauchen. Sie lächelte über sich selbst, dann stieg sie aus der Wanne. Während sie sich abtrocknete, verfolgte Merlin sie mit halbgeschlossenen grünen Augen, ohne sich zu bewegen. Doch als Ria den Mantel überwarf und, nachdem sie ihr Haar gründlich gebürstet und die nassen Handtücher aufgehängt hatte, das Bad verließ, folgte ihr der Kater. Er begleitete sie zurück in das Wohnzimmer. Ria setzte sich an den Schreibtisch, legte einen Block zurecht und spulte den Film in der Kamera zurück. Merlin schien das surrende Geräusch der Kamera zu interessieren, vorsichtig näherte er sich. »Schau es dir nur an, du neugieriger Kater«, schmunzelte Ria und hielt ihm den Apparat vor die Nase. Doch Merlin warf nur einen kurzen Blick darauf, sprang auf die Platte des Schreibsekretärs und ließ sich auf dem weißen Papier nieder. »He, was soll das? Ich will arbeiten!« Ria zog die Augenbrauen zusammen. Doch der Blick des Katers sagte ihr, daß er nicht gewillt war, aufzustehen. Er hockte sich zusammen und schlug wieder seine weißgestiefelten Vorderbeine unter. Sie betrachtete das Tier genauer. Es hatte wunderschönes schwarzes Fell, das in der Sonne glänzte. Über seine Nase zog sich ein weißes, spitzes Dreieck, das sich zum Hals hin verbreiterte und auf der Brust einen runden Latz bildete. Seine Beine waren weiß gestiefelt, was ihm einen Hauch von Vornehmheit gab, als trüge er weiße Handschuhe. Merlin war sauber und gut gepflegt, etwas Hoheitsvolles ging von ihm aus, wie er in völliger Entrückung dahockte und in sich hinein zu lauschen schien. Doch zwischen den fast geschlossenen Augenlidern bemerkte Ria ein grünes Funkeln. Und wieder überkam sie das eigenartige Gefühl, der Kater könne ihre Gedanken lesen.
»Weißt du, Merlin, es ist schon seltsam«, begann Ria einen Monolog. »Seit ich auf diesem Schloß bin, habe ich das Gefühl, daß es hier etwas Geheimnisvolles gibt. Dabei glaube ich nicht an irgendwelchen Hokuspokus und ich habe früher auch selten diese Filme gesehen, wo ab und zu mal jemand in einer Falltür verschwindet. Ich lebe allein in meiner Wohnung und habe mich noch nie gefürchtet, allein im Dunkeln durchs Treppenhaus zu gehen. Kannst du mir verraten, warum es hier anders ist? Warum ich zu Tode erschrecke, wenn die Türklinke sich bewegt, warum ich Angst habe, die Wendeltreppe zu betreten, weil ich nicht sehen kann, was sich hinter der Biegung befindet, und warum ich fast glaube, daß du meine Worte verstehen kannst?« Der Kater antwortete nicht, nur in den Schlitzen seiner Augenlider funkelte es. »Ich kann es dir sagen«, sprach Ria weiter, während sie sich erhob und im Zimmer auf und ab lief. »Wir Stadtmenschen sind es nur nicht gewöhnt, einsam zu sein, in Stille zu leben. Deshalb scheint das Schloß so einen bedrückenden Eindruck auf mich zu haben. Deshalb vermute ich hinter allem einen Spuk. Aber das ist Unsinn, für alles gibt es eine logische Erklärung!« Sie blieb vor Merlin stehen. »Und es ist genauso albern, daß ich vor einem Kater wie dir erschrecke. Wer hat dir beigebracht, Türen zu öffnen? Etwa dein seltsamer Herr? Überhaupt, verrate mir doch etwas über diesen eigenartigen Lord, der kommt und verschwindet, der nachts in seinem Schloß herumgeistert und tagsüber arme Fotografinnen erschreckt. Ach ja, du bist ja nur ein dummer Kater, der nicht sprechen kann!« Merlin stieß einen unwilligen Knurrlaut aus, während er kurz die Augen öffnete und Ria anfunkelte. »Oh, habe ich ihn beleidigt, deinen Herrn?« Ria blickte Merlin belustigt an. »Nur damit du es weißt, es imponiert mir gar nicht, seine seltsame Geheimniskrämerei. Außerdem sieht
er gar nicht so toll aus, daß ich auf der Stelle meinen Kopf verlieren könnte!« Merlin öffnete plötzlich die Augen. Sein Blick wurde Ria unangenehm. »Ist ja gut, ich werde mich nachher bei Mylord entschuldigen, wenn er mich tatsächlich empfangen sollte.« Sie wollte dem Kater übers Fell streicheln, doch Merlin wich ihrer Hand aus. »Nun komm, sei nicht beleidigt, weil ich etwas über deinen Herrn gesagt habe. Er scheint mir eben etwas kauzig zu sein. Das kommt davon, wenn man ganz einsam auf so einem großen Schloß lebt. Siehst du, ich bin erst den zweiten Tag hier und unterhalte mich schon mit einem Kater wie mit einem Menschen. Findest du das normal?« Sie lachte und ging hinüber ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Sie öffnete die Schranktür, um ein geeignetes Kleid herauszusuchen, in dem sie dem Lord unter die Augen treten konnte. Sie wählte ein schlichtes dunkelblaues Baumwollkleid mit einem schmalen silbernen Gürtel. Als sie den Morgenmantel abstreifte, erblickte sie Merlin, der hinter ihr saß und sie betrachtete. »Merlin, scher dich raus! Warum schaust du mir zu, wenn ich mich ausziehe? Das gehört sich nicht für einen – Mann!« Gleichzeitig mußte sie lachen. Es war regelrecht albern, wie sie sich benahm und sich vor dem Kater fürchtete. Es war doch nur natürlich, daß der Kater Neugier zeigte, wenn sich schon mal ein Gast im Schloß befand. Wie Mildred erzählte, gab es sonst keine Gäste in diesem Gemäuer. Ria drehte sich vor dem Spiegel. »Nun, Merlin, ob dein Herr zufrieden mit meiner Erscheinung sein wird?« Der Kater stieß einen gurrenden Laut aus und sprang aufs Bett. Er setzte sich und betrachtete Ria aufmerksam. Seine Augen waren jetzt groß und rund und durch die weit geöffnete Pupille ganz schwarz.
Ria neigte den Kopf. »Ich sehe, du bist zufrieden«, meinte sie. Sie setzte sich zu ihm aufs Bett. Vorsichtig streckte sie die Hand nach ihm aus. »Laß uns Freunde sein, Merlin. Du gefällst mir. Ich habe nichts gegen Katzen. Weißt du, wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich auch eine Katze halten. Aber sie wäre den ganzen Tag allein, und in der Stadt gibt es so vielfältige Gefahren. Die Autos, böse Nachbarn. Du hast es gut hier, Wald, Wiesen, ein riesiges Schloß und bestimmt viele Mäuse.« Merlins Augen verengten sich wieder. Ria fuhr sanft über sein seidiges Fell. Ohne eine Regung ließ er diese Liebkosung über sich ergehen. »Ich ahne, du suchst dir deine Freunde selbst aus, nicht wahr? An deiner Stelle täte ich das auch.« Plötzlich fuhr Merlins Kopf herum und er starrte zur Tür. Rias Hand zuckte zurück. »Was hast du?« fragte sie erschrocken. Im gleichen Augenblick sprang der Kater vom Bett und huschte blitzschnell zur Tür hinaus. Ria folgte ihm bis zur Treppe, doch Merlin war verschwunden. Sie lauschte ins Treppenhaus, aber es war alles still. Schulterzuckend ging sie wieder zurück in ihr Zimmer und schloß die Tür. Sie öffnete das kleine Fenster mit der Bleiverglasung, beugte sich etwas hinaus. Ganz unten im Hof sah sie neben ihrem Wagen ein großes schwarzes Auto stehen. Das mußte der Wagen des Lords sein. Er war also gekommen! Ihr Herz schlug heftiger bei dem Gedanken, daß er im Schloß weilte und sie zog fröstelnd die Schultern hoch. Warum jagte dieser Mann ihr solche Schauer ein? Als es an der Tür klopfte, stieß sie einen spitzen Schrei aus. »Ja, bitte?« hauchte sie und blickte mit starren Augen zur Tür. »Miss Wagner?« Es war die Stimme von James. »Seine Lordschaft erwarten Sie zum Tee in der Bibliothek!«
*
Ria atmete tief durch, als sie vor der Tür der Bibliothek stand. James ging vor ihr her, klopfte kurz und öffnete. Er trat beiseite, um Ria einzulassen. Der Lord saß im Sessel am Kamin. Der Raum lag im Dämmerlicht, nur das Feuer warf einen unruhigen gelben Schein. »Guten Abend, Mylord«, sagte Ria leise. Der Lord nickte ihr kurz zu und wies mit der Hand auf den gegenüber stehenden Sessel. Ria fand es zwar etwas unhöflich, daß der Lord sich nicht erhob, als sie die Bibliothek betrat, aber sie sah auch gleich den Grund dafür. Merlin lag auf dem Schoß seines Herrn und funkelte sie mit halb geschlossenen Augen an. Er schien ihr Erscheinen als Störung zu betrachten. Ria nahm dem Lord gegenüber Platz, und James rollte einen kleinen Teewagen heran. Er servierte den Tee, und sowohl der Lord wie auch Ria mußten die dünnen Porzellantassen in der Hand halten. Der Kater ließ sich davon nicht stören, und der Lord trank behutsam, um Merlin nicht versehentlich zu stoßen. Er schwieg, bis er die Tasse wieder auf den Teewagen zurückstellte. Er schien es nicht eilig damit zu haben, mit Ria ein Gespräch zu beginnen. Ria trank den Tee und vermied es, den Lord anzustarren. Statt dessen blickte sie ins Feuer des Kamins. »Was wollen Sie hier?« fragte der Lord so unvermittelt, daß Ria beinahe die Tasse fallengelassen hätte. »Äh… ich… äh… ich recherchiere für eine Artikelserie«, stammelte sie und ärgerte sich maßlos über ihre Hilflosigkeit. »Das weiß ich«, erwiderte der Lord etwas ungehalten. Seine Stimme vibrierte leicht wie das Schnurren einer Katze, und Ria verspürte eine leise Gänsehaut. »Was interessiert Sie besonders?«
Sie atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln, ehe sie antwortete. »Es geht mir in erster Linie um die Architektur und die Kunst der Innenausstattung. Und da Sie Ihr Schloß restaurieren, interessiert mich natürlich auch, wie Sie es machen. Behalten Sie den Stil trotz Modernisierung bei, welche Möbel gibt es, Gemälde, Rüstungen, Waffen? Na ja, und wenn es natürlich eine interessante Geschichte gibt, bin ich auch nicht abgeneigt.« »Welche Art Geschichte meinen Sie denn?« »Geschichte im Sinne von Historie. Wenn sich berühmte Persönlichkeiten in den ehrwürdigen Mauern aufgehalten haben, eine berühmte Persönlichkeit hier geboren wurde oder starb…« »… oder hingerichtet wurde«, ergänzte der Lord. »Nun ja, das auch«, entgegnete Ria mit Unbehagen. »Ich meine aber keine Gruselgeschichten oder Gespenster oder solchen Unsinn.« »Natürlich, Sie glauben nicht an solche Dinge?« »Nein, natürlich nicht!« Ria hob den Kopf und sah, daß der Lord eine Hand vor den Mund hielt. Vielleicht verbarg er dahinter ein spöttisches Lächeln, seine Augen blickten jedoch ernst. »Sie sind Journalistin?« fragte er, aber es klang eher wie eine Feststellung. »Nein, ich bin Kunsthistorikerin, und als solche stelle ich auch die Recherchen an. Mylord, wenn es Ihnen nicht recht ist, werde ich selbstverständlich Ihr Schloß wieder verlassen. Ich verstehe, daß Sie Ihre Privatsphäre nicht verletzt wissen möchten.« »Nein, nein, so habe ich das nicht gemeint.« Er betrachtete Ria unter halb gesenkten Lidern, und Ria wurde es wieder so unbehaglich, wie unter dem Blick des Katers. Seine rechte
Hand streichelte sanft das Fell des Katers auf seinem Schoß. Merlin hielt die Augen geschlossen und schnurrte leise. »Ihnen steht meine Bibliothek zur Verfügung, wo Sie allerhand nachlesen können. Nehmen Sie auch die Bücher, die hier offen herumstehen. Ich werde selten da sein, um Ihnen etwas erzählen zu können.« »Schade«, sagte Ria leise. »So? Warum bedauern Sie das?« »Sie haben eine angenehme Stimme«, erwiderte Ria und erschrak gleichzeitig über ihre eigene Kühnheit. »Finden Sie?« Der Lord schien belustigt. Schnell senkte Ria den Blick. »Nun ja, wenn Sie die Geschichten erzählen, wirken sie vielleicht etwas lebendiger als in den Büchern.« »Sie ahnen nicht, wieviel Schicksal in den Büchern steckt«, flüsterte der Lord, und sein Gesicht wurde wieder ernst. »Darf ich das Schloß besichtigen?« fragte Ria. »Natürlich. Und ich werde Sie gern führen. Wenn Sie wollen, können wir unseren Rundgang gleich nach dem Tee beginnen.« »Gern. Aber ob Merlin es gestattet?« Ria wies auf den Kater, der immer noch auf dem Schoß des Lords lag. »Mögen Sie keine Katzen?« fragte der Lord etwas scharf. »Doch, sehr sogar. Leider habe ich keine Zeit für so ein Tier. Doch Merlin hat mich – wie soll ich sagen – beeindruckt.« Der Kater zuckte kaum merklich mit den Ohrenspitzen. »Inwiefern?« »Er ist sehr klug. Und hübsch. Und manchmal habe ich den Eindruck, er versteht, wenn man mit ihm spricht.« Der Lord nickte. »Natürlich versteht er, wenn man mit ihm spricht. Auch wenn er selbst nicht sprechen kann wie ein Mensch, heißt das doch nicht, daß er nicht intelligent wäre.« »Er scheint sogar sehr klug zu sein.«
»Verstehen Sie, was er will?« Ria überlegte. »Ich glaube schon, daß er sich verständlich machen kann, wenn er Hunger hat oder Durst.« »Und sonst?« »Ich weiß nicht, wie Sie das meinen«, entgegnete Ria verwundert. »Es war nur eine Frage«, sagte der Lord leise und blickte wieder ins Feuer. Ria betrachtete sein Profil. Er sah wirklich gut aus, dieser Lord, mit seinem schön geschnittenen Gesicht, der geraden Nase und dem sinnlichen Mund. Doch über allem lag ein melancholischer Ausdruck, sogar etwas Gequältes und in seine Mundwinkel gruben sich zwei scharfe Falten ein. Er mußte Rias Blick spüren, doch er rührte sich nicht. »Seit wie vielen Generationen bewohnt Ihre Familie dieses Schloß?« fragte Ria, um das Schweigen zu unterbrechen. »Meine Familie geht auf die normannischen Eroberer der Insel zurück.« »Oh, das ist ein beachtlicher Stammbaum«, staunte Ria. Der Lord setzte seine leere Tasse ab. »Ja«, seufzte er leise. »Ich bin ein Nachfahre dieser verfluchten und ungewollten Eindringlinge. Haben Sie bei Ihrem Spaziergang diese alten, knorrigen Bäume hinter dem Wäldchen gesehen?« »Ja, ich finde sie sehr – unheimlich.« »Da hat Sie Ihr Gefühl nicht getäuscht, denn es ist ein heiliger Hain, wo früher die keltischen Druiden ihre Riten abgehalten haben sollen.« »Das ist alles schon sehr lange her«, meinte Ria. Der Lord nickte. »Aber manchmal holt einen die Vergangenheit ein. Und Sie glauben wirklich nicht an übersinnliche Dinge?« Ria lächelte. »Nein, das sagte ich Ihnen doch, ich bin ein aufgeklärter, moderner…« Das Lächeln erstarb auf ihren
Lippen, als sie den Lord anblickte. Er erwiderte ihren Blick, und auch Merlin hatte die Augen geöffnet und starrte Ria an. Ria schaute entgeistert vom Lord zu seinem Kater und wieder zurück. Es waren die gleichen Augen, der gleiche Blick. Sie verspürte den kalten Schweiß auf ihrer Stirn und der seltsame Druck an ihrer Kehle, als würde sich eine unsichtbare Hand um ihren Hals legen. »Vielleicht sollten wir unseren Rundgang auf morgen verschieben. Ich danke Ihnen für den Tee, Mylord.« Ria erhob sich. Sie sah die gefährlich funkelnden Augen des Lords. »Wenn Sie es wünschen«, sagte er nur. Er blieb sitzen, als sie die Bibliothek verließ, doch sie spürte seinen Blick wie Nadeln in ihrem Rücken. Eilig hastete sie in ihre Gemächer in den Turm hinauf und warf sich aufs Bett. Langsam zählte sie bis zehn. »Ich werde verrückt in diesem Schloß«, sagte sie laut und preßte die Hände gegen ihre Schläfen. Am liebsten würde sie abreisen. Doch damit würde sie sich lächerlich machen vor ihren Kollegen, vor allem aber vor dem Lord. Sie verspürte ein seltsames Ziehen im Bauch, als sie an ihn dachte. Schnell kroch sie unter die Bettdecke und verzichtete auf die Notizen, die sie noch schreiben wollte.
*
Ein wirrer Traum bedrückte Ria in der Nacht. Sie sah sich inmitten des heiligen Hains stehen. Die alten knorrigen Bäume standen kahl und drohend um sie herum. Ein Feuer brannte auf dem vergilbten Gras und Nebel waberte durch die kalte Luft. Von irgendwoher erklangen schaurige Gesänge und das dumpfe Dröhnen einer Trommel. Aus dem Nebel trat ein
riesiges schwarzes Pferd mit wehender Mähne und geblähten Nüstern hervor. Es rollte mit den Augen, daß man das Weiße darin sah, und Ria fuhr erschrocken zurück. Von einem der alten Bäume hing ein langer Strick mit einer Schlinge. Daneben erkannte sie eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in einem langen weißen Gewand. Die Person wandte ihr den Rücken zu, doch Ria wußte, daß es ein Druide sein mußte. Wollte er das Pferd opfern? Das Pferd schien ängstlich, wieherte und trommelte mit den Hufen. »Nein!« schrie Ria. »Es ist kein heiliges Pferd, es ist doch schwarz!« Langsam, ganz langsam wandte der Druide sich zu ihr um – und Ria starrte entsetzt in das Gesicht des Lords. Ein dumpfer Druck lag auf ihrer Brust, und sie konnte kaum atmen. Der Druide schob seine Kapuze zurück, seine grünen Augen funkelten gefährlich wie die einer Raubkatze. »Ich sehe ein weißes Pferd«, hörte Ria seine vibrierende Stimme, doch diesmal klang sie grollend wie entfernter Donner. »Es wird den Göttern gefallen.« »Nein, nein!« schrie Ria in höchster Not. »Ich bin ein moderner Mensch! Ich glaube nicht an diesen Zauber!« Doch der Druide mit dem Gesicht des Lords blickte sie nur kalt an. Sie spürte die Schlinge um ihren Hals. »Manchmal holt einen die Vergangenheit wieder ein«, höhnte er. Ria wand sich qualvoll, doch der Druck auf ihre Lunge nahm zu, sie glaubte ersticken zu müssen. Das Gesicht des Druiden näherte sich ihr. Entsetzt starrte sie in die grün funkelnden Augen. Und plötzlich veränderte sich sein Gesicht, verdunkelte sich, eine weiße Spitze zog sich über die Nase und auf dem Kopf wuchsen Hörner. Nein, es war ein Katzengesicht! Ria kämpfte gegen den übermächtigen Alpdruck an und riß unter Aufbietung aller Kräfte ihre Augen auf. Sie spürte, daß sie schweißgebadet in ihrem Bett lag, doch der Druck auf ihrer
Brust ließ nicht nach. Noch immer fühlte sie einen starren Blick auf sich. Und plötzlich erkannte sie, keine zehn Zentimeter von ihren Augen entfernt, das Gesicht von Merlin. Sie schrie und bäumte sich auf. Merlin sprang von ihrer Brust und blieb etwas verstört neben ihrem Bett stehen. Er peitschte unwillig mit dem Schwanz und schüttelte sich. »Was machst du hier?« keuchte sie. Merlin verließ fluchtartig ihr Schlafzimmer. Am ganzen Körper schlotternd ließ sich Ria wieder in die Kissen fallen. Entnervt wischte sie mit der Hand über ihre feuchte Stirn und die Augen. Doch noch immer hatte sie das Gefühl, daß sie jemand anstarrte. Dieser verdammte Kater! Sie nahm die Hand vom Gesicht – und schrie erneut auf. Neben ihrem Bett stand der Lord! Ria sprang aus dem Bett und preßte sich gegen die Wand. »Was… was tun Sie hier?« stammelte sie. »Sorry, Lady, aber ich hörte einen Schrei. Ist etwas nicht in Ordnung?« Seine weiche Stimme, die sie eben im Traum vernommen hatte, war so unwirklich nahe. Sie stand zitternd an die Wand gepreßt, die Augen angstvoll aufgerissen. Sie redete sich ein, daß der Traum noch nicht zu Ende war, aber die Nachtkühle, die sie unter ihrem verschwitzten Hemd fühlte, belehrte sie eines besseren. »Sie werden sich erkälten«, vernahm sie die besorgte Stimme des Lords, und er legte ihr fürsorglich eine Decke um die Schultern. Er bemerkte Rias Zittern, das nicht allein von der Kälte kommen konnte. »Ich… hatte… einen Traum. Einen Alptraum«, stotterte sie und begann sich wegen ihres Aufzugs zu schämen. »Kommen Sie mit«, sagte Lord Holbrooke und legte seinen Arm um ihre Schulter. Willenlos ließ sie sich von ihm aus dem Zimmer führen. Er geleitete sie durch das dunkle Schloß hinunter in die Bibliothek. Im Kamin brannte noch das Feuer.
Er drückte Ria sanft in den Sessel, dann legte er neue Holzscheite auf. Von einem Servierwagen nahm er ein Glas und eine Flasche. »Trinken Sie einen Sherry, das wärmt sie innerlich auf.« Er reichte ihr das Glas und Ria nahm es ihm dankbar ab. »Entschuldigen Sie, Mylord, das ist mir noch nie passiert. Merlin lag auf meiner Brust und da hatte ich wohl einen Alptraum.« »Aha, Merlin weiß, wo es angenehm ist«, sagte der Lord und unterdrückte ein verschmitztes Lächeln. Peinlich berührt senkte Ria den Blick. Doch der Lord beugte sich zu ihr herunter und griff unter ihr Kinn. »Schauen Sie mich an«, flüsterte er, und sie spürte seinen Atem. Sein Gesicht lag im Schatten und sie konnte seine Augen nicht erkennen. »Sie sind sehr sensibel.« »Das wußte ich selbst noch nicht«, erwiderte Ria unbehaglich. »Sie wissen vieles nicht«, murmelte er, ohne seine Hand von ihrem Gesicht zu nehmen. Und täuschte sich Ria, oder strich er tatsächlich sanft mit dem Daumen über ihre Wange? Sie verspürte ein Kribbeln in der Magengrube, als sause sie mit einem Fahrstuhl in die Tiefe. Wieder schüttelte sie ein Schauder. »Trinken Sie noch einen Sherry«, sagte der Lord und füllte ihr Glas. Ihre Finger zitterten und das Glas schlug gegen ihre Zähne. »Ich mache mich vor dem Lord völlig unmöglich«, stöhnte sie in Gedanken. Doch ihre Gedanken wurden schwerfälliger und träger. Sie sah das Feuer und die dunkelrot glühenden Scheite. Und sie sah einen Schatten, der sich über sie beugte. Irgend etwas Warmes, Weiches berührte ihre Lippen, aber da glitt sie schon in einen tiefen, dunklen Schlaf hinüber.
*
Verwirrt blickte Ria sich um, als sie am Morgen erwachte. Sie lag mit angezogenen Knien im Sessel der Bibliothek. Jemand hatte ihr eine Decke umgelegt. Das Feuer im Kamin war erloschen. Sie war allein. Leise erhob sie sich und lauschte in die Vorhalle. Aus der Küche drang das Klappern von Geschirr. Barfuß, weil sie keine Schuhe entdecken konnte, huschte sie die Treppe hinauf und lief den Gang entlang, bis sie atemlos das Bad erreichte. Sie riß das Nachthemd vom Leib und stellte sich unter die Dusche. Das kalte Wasser verschlug ihr den Atem, doch sie blieb darunter stehen, bis sie glaubte, ihr Blut wäre zu Eis erstarrt. James servierte mehr als wortkarg das Frühstück im Rittersaal, das sie wieder allein einnehmen mußte. Doch diesmal war es Ria recht. Sie hing ihren Gedanken nach. Mildred und James schienen nichts von der nächtlichen Unruhe bemerkt zu haben, und der Lord befand sich wieder auf seinem morgendlichen Ausritt. Während sie an ihrem Honigtoast knabberte, blickte sie sich um. Vielleicht würde der Lord heute mit ihr einen Schloßrundgang unternehmen. Das helle Sonnenlicht nahm dem düsteren Rittersaal die Strenge. Sie würde sich von Lord Holbrooke die Gemälde an den Wänden erklären lassen und die Rolle, die die abgebildeten Personen einmal in der Familie spielten. Die Tür zum Vorsaal stand offen, doch im Schloß herrschte tiefe Stille. Sie blickte auf die dicken Mauern. Zumindest Mildreds laute Geschäftigkeit in der Küche hätte sie doch vernehmen müssen, auch wenn die Tür zur Küche geschlossen war.
Ria stutzte. Wie hatte Lord Holbrooke dann ihren Schrei in der Nacht bis in die Bibliothek hören können? Sie beschlich wieder ein leises Unbehagen. Schnell beendete sie das Frühstück. Sie wartete nicht, bis James erschien, um das Geschirr wegzuräumen. Meist fragte er, ob sie noch einen Wunsch hätte, aber diesmal hatte es Ria eilig. Sie lief hinauf in ihr Turmzimmer, packte die kleine Stereoanlage und zerrte den Stecker aus der Dose. Dann plazierte sie die Anlage auf ihrem Bett und schloß sie wieder an. Sie wählte eine Lautstärke, die in etwa ihrem Schrei entsprach, den sie in der Nacht ausgestoßen hatte. Dann hastete sie wieder die Treppe hinunter, während sie immer wieder stehenblieb und lauschte. Bereits im Treppenaufgang des Turmes konnte sie die Musik nicht mehr hören, die dicken Mauern schluckten den Schall. Trotzdem lief sie hinunter in die Bibliothek. Sie stellte sich mitten in den Raum und spitzte erneut die Ohren. Sie war nicht überrascht darüber, daß sie die Musik nicht hören konnte. Und niemals hätte der Lord ihren Schrei hier unten hören können. Fröstelnd fuhr sie sich über die Arme. War er ein Vampir, der nachts im Schloß herumflatterte? »Ich sehe Mißbilligung in Ihrem Blick«, vernahm sie die klangvolle Stimme des Lords von der Tür her. Ria fuhr erschrocken herum. »Wie konnten Sie das sehen?« entfuhr es ihr. Der Lord lächelte belustigt. »Ich sehe mehr als andere«, sagte er. »Und ich sehe, daß Sie an sich selbst zweifeln. Das bringt schlechte Träume.« Verärgert runzelte Ria die Brauen. Daß er sie an diese unselige Nacht erinnerte, war ihr schlichtweg unangenehm. Offensichtlich hörte er auch mehr als andere.
»Ich würde jetzt gern das Schloß besichtigen«, sagte Ria entschlossen und trat auf ihn zu. Er trug noch seine Reitkleidung und seine Wangen waren von der frischen Morgenluft gerötet. Er machte einen heiteren und gelösten Eindruck, im Gegensatz zum Abend zuvor, und Ria zweifelte, ob sie dem Lord mit ihren Horrorgedanken nicht Unrecht tat. »Mit Vergnügen«, erwiderte der Lord und trat zurück, um Ria aus der Bibliothek treten zu lassen. Den gesamten Vormittag führte der Lord Ria durch das Schloß. Er begann mit dem Rittersaal, wo sich Ria die Ahnenreihe auf den Gemälden erklären ließ. Sie plauderten über antike Möbel und deren Möglichkeiten der Konservierung, über feuchtes Mauerwerk und Heizungsprobleme, über Stiltreue und Geldmangel. Der Lord erwies sich als amüsanter und kurzweiliger Erzähler, er besaß Humor und bewundernswerte Fachkenntnisse, und Ria konnte nicht aufhören, seinem angenehm, weichen Bariton zu lauschen. »So, jetzt haben Sie alles Sehenswerte gesehen«, sagte er und klopfte spielerisch mit der Reitpeitsche gegen seine Stiefel, nachdem er ihr die vielen leerstehenden Gästezimmer im Obergeschoß gezeigt hatte. Die beiden Räume, die er privat nutzte, blieben ihr verschlossen, doch so weit wollte Ria mit ihrer Neugier nicht gehen. »Nicht ganz«, erwiderte sie und ein erwartungsvolles Lächeln lag um ihren Mund. Sie deutete mit dem Daumen nach unten. »Und was ist mit dem Folterkeller?« Lord Holbrooke lachte und Ria bemerkte erstaunt, wie hübsch dieses Lachen ihm stand. »Meine Kinderfrau hat mir früher den Hintern versohlt, wenn ich mich immer heimlich in den Keller stahl«, sagte er. »Ist es so gefährlich da unten?« wollte Ria wissen.
»Nein, aber schmutzig. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen die Verliese gern.« »Verliese?« »Grundmauern und Verliese stammen aus dem zwölften Jahrhundert, der Oberbau jedoch aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Soviel ich weiß, haben die damaligen Schloßherren die Verliese aber weiter genutzt. Kommen Sie, wenn es Sie interessiert.« * Lord Holbrooke öffnete eine verborgene Tür hinter der breiten Freitreppe ins Obergeschoß. Er nahm eine Taschenlampe vom Haken hinter der Tür. »Es gibt kein elektrisches Licht in den Verliesen«, sagte er. »Wollen Sie immer noch da hinunter?« Trotzig warf Ria den Kopf zurück. Noch einmal würde sie ihm nicht ihre Augen zeigen. Außerdem stieg sie nicht das erste Mal in ein Burgverlies herab. »Natürlich will ich da hinunter«, antwortete sie. Sie zeigte auf die Taschenlampe. »Wie unromantisch!« Lord Holbrooke blieb stehen und blickte Ria verwundert an. Dann verzog ein spöttisches Lächeln seine Lippen. »Auch das können Sie gern haben.« Er beugte sich herab und ertastete hinter der Treppe einen alten Leuchter mit einer halb abgebrannten Kerze. Mit einem Feuerzeug zündete er sie an. »Folgen Sie mir!« Ria tastete hinter dem Lord die steilen Steinstufen hinab. Feuchte, modrige Luft schlug ihnen entgegen. Die Kerze warf einen unruhigen Schein an die gewölbte Decke. Ria drehte sie um und sah ihre grotesk verzerrten Schatten an den feuchten Steinquadern. Was für eine verrückte Idee, mit dem unheimlichen Lord hier unten herumzukriechen. Was erhoffte sie hier zu sehen? Der Lord schritt durch Gänge, Gewölbe, Kammern und nach kurzer Zeit hatte Ria die Orientierung verloren.
»Wo sind wir jetzt?« fragte sie etwas außer Atem. Lord Holbrooke blieb stehen. »Irgendwo unterm Schloß«, antwortete er ausweichend, und wieder bemerkte Ria dieses seltsame Funkeln in seinen Augen. Ihr Herz klopfte heftig und sie verspürte den beunruhigenden Druck in ihrer Lunge. Wenn er sie hier einsperrte, keine Menschenseele würde sie jemals finden. Doch er sollte nicht merken, daß sie ihr Mut verlassen hatte. »Und ich wollte so gern den Folterkeller sehen«, rief sie mit etwas schriller Stimme in die Dunkelheit hinein. Der Teufel mußte sie geritten haben, auf diese Idee zu kommen. Er lachte leise. »Sie sind mittendrin!« Er hob die Kerze höher und Ria sah verrostete Ketten an den Wänden, spitze Eisenstangen, eine Feuerstelle, einen eisernen Käfig. »Und wo bleibt die Schauergeschichte dazu?« Sie gab sich den Anschein, daß der Anblick sie keineswegs beeindruckte. »Ich habe schon viele derartige Verliese besichtigt, und immer hatte der Reiseführer eine bestimmte Geschichte dazu parat.« »Stimmt«, sagte er. »Hier gibt es auch eine.« Er stellte die Kerze auf der Feuerstelle ab und trat in den Schatten. Sie konnte ihn nur noch schemenhaft erkennen. Eine Kette klirrte und der Eisenkäfig schaukelte quietschend. »Sie war jung und schön. Ein Ritter verlor ihr Herz an sie.« »Und? Hat sie ihn erhört?« wollte Ria wissen. »Nicht gleich. Der damaligen Sitte entsprechend warb er mit leidenschaftlichen Gesängen und selbst erdachten Gedichten um sie. Fast glaubte er, sie hätte ein Herz aus Stein. Doch eines Tages ließ sie ihr Tüchlein fallen als Zeichen, daß sie ihn erhört hatte.« »Na bitte! Wieso gab es dann kein happy end?« Ruhelos lief Lord Holbrooke in dem düsteren Gewölbe umher. Ria hatte sich in die Nähe der Kerze gestellt und
verfolgte seinem verschwommenen Schatten gespannt mit den Augen. »Weil die Schöne ihn zwar bis an die Tür ihrer Kemenate lies, dann jedoch eine heldenhafte Tat von ihm verlangte.« »Oh, wie umständlich!« »Er zog aus nach Jerusalem, um die heilige Stadt zu erobern. Und um mit kostbarer Beute beladen heimzukehren.« »Und sie? Hat sie auf ihn gewartet?« »Was glauben Sie?« Ria fuhr herum, weil der Lord unerwartet hinter ihr stand. Sie sah seine funkelnden Augen. Das ist nur durch das Kerzenlicht, redete Ria sich ein. Sie spürte, wie ihre Handflächen feucht wurden. »Sie hat natürlich nicht auf ihn gewartet«, antwortete sie. »Sie haben eine schlechte Meinung von den Frauen«, sagte der Lord und trat näher an Ria heran. Sie wollte ausweichen und stieß mit dem Rücken an die Eisenkante der Feuerstelle. Verärgert unterdrückte sie einen Schmerzenslaut. Der Lord ignorierte es und trat noch näher. »Aber Sie haben recht«, flüsterte er. »Als er auf die Burg zurückkehrte, lag ein anderer Ritter in ihrer Kammer.« »So sind sie, die holden Schönen«, versuchte Ria zu scherzen, um ihre Nervosität zu bekämpfen. »Ja, so sind sie, die Frauen. Er hat sie hier in diesem Keller an die Wand ketten lassen, bis sie ihr Leben aushauchte. Man sagt, sie irrt ruhelos durch die Gemäuer auf der Suche nach ihrem Geliebten. Doch auch er ist bald zu Staub zerfallen.« Ria spürte einen feuchten Luftzug. Die Kerze flackerte unruhig und erlosch. »Verdammt, ich finde das gar nicht komisch«, sagte sie gepreßt. »Hatten Sie nicht ein Feuerzeug eingesteckt?« Sie spürte, daß er unmittelbar vor ihr stehen mußte. Die Dunkelheit umgab sie mit einer schmerzlichen Schwärze.
»Ich brauche kein Licht, um mich hier unten zurechtzufinden«, sagte seine Stimme, und Ria zuckte zusammen, weil sie so nah war. Vorsichtig tastete sie mit der Hand nach vorn und berührte seine Jacke. »Aber ich«, stammelte sie. »Führen Sie mich hier heraus!« Der Lord schwieg und Panik ergriff sie. Sie krallte sich an seiner Jacke fest. »So muß sie sich auch gefühlt haben«, flüsterte er an ihrem Ohr. Er hatte seine Hände um ihre Taille gelegt und zog sie zu sich heran. Obwohl Ria vor Angst zu zittern begann, gab ihr dieser lebende, warme Körper vor ihr eine gewisse Sicherheit. Nicht auszudenken, wenn er sie hier allein stehengelassen hätte! »Ich bin aber nicht diese Frau!« »Aber eine Frau! Eine schöne Frau!« Seine Stimme war warm und einschmeichelnd, und sie war ganz nah an ihrem Ohr. Ria spürte seinen Atem. »Ich möchte hier raus«, sagte sie leise. »Bitte!« Etwas berührte ihre Lippen und sie zuckte zusammen. »Bitte!« wiederholte sie. »Fassen Sie meine Hand!« Sie spürte seine warme Hand, die sich um ihre schloß und stolperte hinter ihm her. Sicher bewegte er sich in dieser Dunkelheit durch die verwinkelten Gänge, während Ria ihm mit kaltem Angstschweiß auf der Stirn folgte. »Achtung, hier beginnt die Treppe!« Vorsichtig stützte er sie, bis sie endlich die Tür erreichten. Er stieß sie auf und helles Tageslicht empfing sie. Entnervt atmete Ria auf. »Wir hätten doch die Taschenlampe mitnehmen sollen«, sagte sie. Lord Holbrooke lächelte wieder auf seltsame Weise. »Sie war in meiner Jackentasche!«
»Was?« Ria wäre ihm am liebsten an die Kehle gesprungen. »Warum tun Sie das mit mir?« »Was, bitte? Sie sagten, ich soll Sie aus dem Verlies führen, und das habe ich getan.« »Allerdings!« Sie warf ihm einen unerfreulichen Blick zu. Er streckte die Hand nach ihr aus und Ria wich zurück. Doch ebenso schnell hatte er ihr Handgelenk umfaßt und sie zu sich herangezogen. »Nein, bitte nicht!« wehrte sie ab. Er legte den Kopf etwas zurück und betrachtete sie unter halb gesenkten Lidern, während sich seine Lippen leicht öffneten. Während er sie mit einer Hand fast schmerzhaft festhielt, strich er mit der anderen über ihr Haar. Er bemerkte die Panik in ihren Augen und seine Lippen verzogen sich wieder zu einem spöttischen Lächeln. »Sie haben Spinnweben im Haar«, sagte er leise. »Was soll denn Mildred von uns denken?« Ria riß sich los und hastete die Treppe hinauf. »Ich erwarte Sie in einer halben Stunde zum Mittagessen!« rief der Lord ihr hinterher. Ria antwortete nicht. Ohne zu verschnaufen, rannte sie die Wendeltreppe hinauf. Dabei nahm sie immer zwei Stufen mit einem Schritt. Oben riß sie die Tür zu ihren Gemächern auf und fuhr zusammen. Auf dem Bett stand ihre Stereoanlage und dröhnte in voller Lautstärke. * »Niemand kann den gespickten Hasenbraten so köstlich wie Mildred zubereiten«, sagte Lord Holbrooke und schnitt vorsichtig wie ein Chirurg in das saftige Fleisch. Er saß am Kopf der langen Tafel, Ria zu seiner Rechten. Ihr schien, daß der Tisch diesmal besonders sorgfältig gedeckt war. In einem großen silbernen Armleuchter steckten fünf Kerzen und verbreiteten warmes gelbes Licht. Der Wein in den geschliffenen Kristallgläsern funkelte. »Trinken Sie einen Schluck auf den Schreck«, sagte der Lord, ohne sein Mahl zu unterbrechen. Er konzentrierte sich ganz
darauf, den Braten zu zerlegen. Ria hatte immer noch ein flaues Gefühl im Magen und ergriff das Glas. Über den Rand des Kristalls beobachtete sie ihn. Widersprüchliche Gedanken geisterten in ihrem Kopf herum. Dieser Mann war gleichzeitig aufregend wie angsteinflößend. Auf dem Schloßrundgang wirkte er so heiter und liebenswürdig, und allein sein gutes Aussehen reichte, um Ria weiche Knie zu bereiten. Doch dieses seltsame Funkeln in seinen Augen, die Stimme, die ihr unter die Haut ging, sein unheimliches Verhalten verwirrten sie. Oder war es nur die archaische Umgebung, die sie ihn in diesem Licht sehen ließ? Sie beschloß sich nichts von ihren Gedankengängen anmerken zu lassen. »Sie halten mich für einen Verrückten, nicht wahr?« Ria fiel beinahe das Glas aus der Hand. Sie lachte trocken auf. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Weil Sie das denken. Ich gebe zu, ich führe nicht alle Tage Besucher ins Verlies.« »Dafür war es um so wirkungsvoller«, erwiderte sie. Er sollte nicht denken, daß sie ihn nun fürchtete oder mied. »Wahrscheinlich war ich schon öfters in solchen Verliesen als Sie. Es gehört nun mal auch zu meiner Arbeit. Burgen und Schlösser bestehen nicht nur aus Prunksälen. Selbst in den Kathedralen, die ich besucht habe, gab es unheimliche Grüften.« Er lächelte sie an und diesmal war das Lächeln offen und gelöst. »Ich beneide Sie. Sie haben so viele architektonische Schätze gesehen.« »Ich werde vielleicht ein Buch über die Kathedralen schreiben.« Er nickte. »Eine gute Idee. Und über die Schlösser?«
Sie blickte ihn an und plötzlich spürte sie ein Kribbeln in ihrem Bauch. Was war nur mit ihr los? »Wenn ich die Recherchen überlebe«, sagte sie und lächelte. Er blickte sie einen Augenblick versonnen an. »Ich glaube, ich habe etwas gutzumachen.« »So?« »Reiten Sie?« »Nicht besonders gut.« »Dann lade ich Sie zu einem kleinen Spaziergang in den Park ein. Draußen ist herrliches Wetter.« Ria atmete auf. Im Licht der Sonne fühlte sie sich entschieden wohler. »Angenommen!«
*
Die Sonnenstrahlen schienen warm auf Rias Rücken, als sie an der Seite des Lords den breiten Parkweg entlang zum See schlenderte. Die Tageshelle vertrieb den letzten Schreck aus ihren Gliedern, der darin noch von ihrem Ausflug in die unterirdischen Verliese des Schlosses saß. In Gedanken schalt sie sich ihrer dummen Angst. Vielleicht wollte der Lord sie ein wenig foppen, indem er die Kerze ausblies. Der schwarze Humor der Engländer war ja hinlänglich bekannt. Wenn sie ihn jetzt so von der Seite betrachtete, wie er neben ihr ging, die Hände lässig in den Hosentaschen vergraben, ein vergnügtes Schmunzeln auf dem Gesicht, konnte sie nichts Unheimliches oder Seltsames entdecken. Im Gegenteil! In ihrem Bauch flatterten tausend Schmetterlinge und ein wonniges Kribbeln überzog ihre Haut. Er gefiel ihr ausnehmend gut. Sein Benehmen war kultiviert und feinsinnig,
seine Kunstkenntnisse verblüffend und seine angenehme, warme Stimme konnte höchst interessant erzählen. An mehr wagte sie nicht zu denken. Es war nur seltsam, daß so ein Mann nicht schon längst verheiratet war. Welche Frau wurde nicht in seiner Nähe schwach? Sie erreichten den Teich, der still und glitzernd in der Sonne lag. Die Trauerweiden an seinem Ufer neigten sich zur Wasserfläche hinab, einige Zweige berührten das grünliche Naß. Alles atmete friedliche Stille. »Oh, da sind ja schwarze Schwäne!« flüsterte Ria erregt. Majestätisch zog ein Schwanenpaar eine sanfte Spur in den Wasserspiegel. Sie ließen sich von den beiden Besuchern am Ufer nicht stören. »Ich habe sie dem Zoo in London abgekauft«, sagte Lord Holbrooke. »Ich mag Schwäne. Früher galten sie als heilige Tiere.« »Aber warum gerade schwarz?« wollte Ria wissen. »Wegen meiner schwarzen Seele.« Er lächelte sie entwaffnend an, als sich Ria zu ihm wandte. »Sie haben immer noch eine schlechte Meinung von mir.« »Nein, nein, keineswegs«, erwiderte Ria viel zu schnell. Sie hatten den kleinen Pavillon erreicht, und der Lord reichte ihr seine Hand, um sie die wenigen Stufen hinauf zu geleiten. »Die Stufen sind etwas baufällig. Ich müßte sie auch erneuern lassen. Aber bis hierher bin ich noch nicht vorgedrungen mit meinen Renovierungsversuchen.« Ria stützte sich auf die steinerne Umfassung und blickte sinnend auf den See. »Es ist wunderschön hier. So still und friedlich. Man kann direkt den Atem der Vergangenheit spüren.« Doch sie spürte nicht nur den Atem der Vergangenheit, sondern auch die Hand des Lords auf ihrer Schulter. Weich
und einschmeichelnd vernahm sie seine Stimme nah an ihrem Ohr. »Es ist mein Lieblingsplatz. Hierher ziehe ich mich gern zurück, um nachzudenken und mich zu entspannen.« »Das kann ich verstehen.« Wie ein seidener Schleier legte sich die stille Erhabenheit um Ria. Sie fühlte sich gefangen vom Zauber dieses kleinen Fleckchens Erde – und von seiner Nähe. Und sie wehrte sich nicht, als er sie sanft an sich zog. »Ich habe bisher mit niemandem diese Einsamkeit geteilt«, flüsterte er. Seine Hände lagen um ihre Taille und er blickte ihr tief in die Augen. Nichts war mehr von dem grünen Funkeln zu sehen, das Ria so beängstigend fand. Sie sah ein warmes Bernsteinbraun, das so gut zu seiner weichen Stimme paßte. »Und warum gerade mit mir?« fragte sie leise. Sie wagte nicht laut zu sprechen, um die Magie des Augenblicks nicht zu zerstören. Der Lord lächelte sanft. »Weil es mir mein Gefühl sagt. – Ria, wovon ist das die Abkürzung?« »Ricarda. Den meisten ist der Name zu lang, mir auch.« »Aber es ist ein schöner Name. Er klingt stolz und selbstbewußt.« »So? Finden Sie? Ich habe mir darüber noch gar keine Gedanken gemacht. Man kann sich ja seinen Namen nicht aussuchen. So wie seinen Körper bekommt man seinen Namen verpaßt, wenn man auf die Welt kommt.« Sie redete, um ihrer Nervosität Herr zu werden. Seine Arme hielten sie immer noch umfaßt. Ria stockte. Jedes Wort erschien ihr jetzt überflüssig und banal. Sie spürte ihren heftigen Herzschlag im Hals und das Zittern ihrer Hände, als sich der Lord zu ihr herabbeugte. Seine Lippen waren wunderbar weich und warm, zärtlich tastend, sinnlich und
verführerisch. Einer inneren Eingebung folgend legte sie ihre Hände auf seine Schultern und kam seinem Kuß entgegen. Erstaunt und erfreut löste er sich kurz von ihr, um sie dann fester und fordernder zu küssen. Ein warmes Gefühl rieselte durch Rias Körper und konzentrierte sich in der Mitte ihres Bauches. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und gab sich der Sinnlichkeit des Moments hin. Sein Körper war so nah, die Berührung erregte sie und sie sog scharf seinen Duft durch die Nase ein. Wenn sie nicht mit dem Rücken am steinernen Geländer des Pavillons lehnen würde, hätten ihre Beine nachgegeben. In seinen Armen zu liegen war wie ein Rausch, und er betörte und erschreckte Ria gleichermaßen. Vorsichtig löste sie ihre Lippen von seinen, doch er ließ seine Hände nicht von ihrer Taille. »Ria«, flüsterte er rauh. »Ich hätte niemals zu träumen gewagt, daß ich jemals wieder eine Frau in den Armen halten würde. Daß es überhaupt eine Frau geben könnte, die mich aufwühlt, die meine Sinne fesselt, die mein Herz erobert.« »Habe ich das denn?« fragte sie. Er nickte stumm und ein Hauch von Melancholie zog sich über sein Gesicht. Sie wollte nicht, daß er wieder ernsten Gedanken nachhing. Dieser fröhliche, unbeschwerte, lächelnde Mann war ihr tausendmal lieber als der unheimliche, düstere, verschlossene Lord. Sie fuhr zärtlich mit den Fingern durch sein dunkles, erstaunlich dichtes Haar. Er ließ es geschehen. »Gwendal ist ein recht seltener Name«, sagte Ria. »Ich konnte mir den Namen auch nicht aussuchen«, erwiderte er lächelnd. »Meine Eltern nannten mich nach dem ersten normannischen Eroberer unserer Familie, der unter Wilhelm dem Eroberer in Britannien einfiel. Nicht unbedingt ein ruhmreiches Kreuz, das ich zu tragen habe.«
»Wer fragt heute, nach fast tausend Jahren, noch danach? Ich finde den Namen hübsch. Und auf so eine lange Familientradition kann auch nicht jeder zurückblicken.« Er seufzte und blickte nachdenklich zu den herabhängenden Zweigen der Weiden. »Manchmal wünschte ich, ich wäre irgendein Buchhalter oder Bankangestellter in der anonymen Großstadt, Mieter eines kleinen Zweizimmer-Appartements, mit geregelter Arbeitszeit, der in seiner Freizeit Schiffsmodelle bastelt und! Kreuzworträtsel löst.« Ria zog lachend die Nase kraus. »Das wäre ein aufregendes Leben! So ein Leben, wie ich es führe. Ich bin Mieterin eines Zweizimmer-Appartements, habe meist eine geregelte Arbeitszeit, wenn ich nicht gerade durch Kirchen und Schlösser Europas krieche und anderen Leuten auf die Nerven gehe. Außerdem – dann wären wir uns wahrscheinlich nie begegnet.« »Nein, wahrscheinlich nicht. Und das wäre schade gewesen.« »Wirklich?« »Oh, Ria!« Er zog sie wieder heftig an sich und küßte sie so leidenschaftlich, daß es Ria schwindelte. Sie hielt ihre Arme um seinen Hals geschlungen und spürte die heiße Röte auf ihren Wangen. Ebenso plötzlich ließ er sie los. Ein Schatten fiel auf sein Gesicht und er zog seine Augenbrauen zusammen. Er atmete tief durch und unterdrückte seine Erregung. Verwirrt ließ Ria ihre Hände von seinen Schultern gleiten. »Vielleicht ist es nicht gut, was wir hier tun. Ich weiß nicht, ob es ein Leben für dich wäre – hier an meiner Seite. Du bist die Glitzerwelt der Großstadt gewöhnt, das pulsierende Leben. Hier dagegen ist es still, langweilig, einsam. Nur ein Kater und alte Bäume.«
Er blickte sie an, und sein Gesicht war ernst. Ria bedauerte seinen Stimmungswechsel. Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Das stimmt nicht. Hier ist es wunderschön. Hier gibt es noch Zeit für Gefühle.« Er senkte den Blick. »Wir müssen gehen«, murmelte er. »Heute Abend muß ich nach London fahren!«
*
Pia versuchte, ihm ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Der romantische Spaziergang zum kleinen See mit den schwarzen Schwänen hatte einen unbeschreiblichen Eindruck in ihr hinterlassen. Noch jetzt fühlte sie ein aufregendes Kribbeln, wenn sie an den Kuß dachte. Dieser Mann war wirklich umwerfend. Um so mehr bedauerte sie seine plötzliche Abreise. Das Abendbrot mußte Ria wieder allein einnehmen und diesmal bestand sie darauf, in der Küche zu essen. James war schweigsam wie immer, während Mildred ununterbrochen nach Rias Eindrücken fragte. Es interessierte sie, wie ihr der Park gefiel, die Umgebung, das Schloß. Ria war froh, sich zwanglos unterhalten zu können und sie schwärmte von ihren kleinen Ausflügen, den Fotos, die sie geschossen hatte, erzählte auch von ihrem Spaziergang zum See. Über die Küsse des Lords, die ihr so unter die Haut gingen, schwieg sie jedoch. Dafür fragte Ria nach den Verliesen. »Oh, da hinunter ist seit Jahrzehnten kein Mensch gekommen«, hob Mildred entsetzt die Hände. »Was gibt es da
unten auch zu schauen. Das alte Gemäuer ist feucht und unheimlich.« »Unheimlich? Lord Holbrooke erzählte etwas von einem Ritterfräulein, das im Verlies ihr Leben ausgehaucht hat und nun durchs Schloß geistert.« Mildred lachte herzlich auf und schlug die Hände zusammen. »Da hat er Ihnen aber einen Unfug erzählt. Haben Sie das etwa geglaubt?« Ria hob die Schultern. »Warum nicht? So etwas soll damals vorgekommen sein. Natürlich glaube ich nicht daran, daß sie heute noch hier herumspukt.« Mildred schüttelte den Kopf. »Vielleicht wollte Mylord Ihnen nur etwas Angst einjagen, aber er hat es bestimmt nicht in böser Absicht getan.« Ria überlegte. Natürlich hätte er da unten in der Dunkelheit die Situation ausnutzen können, aber für eine kleine Romanze war ein modriger Folterkeller nicht gerade angetan. Aber nach dem überstandenen Schreck war Ria nur zu gern bereit, in dem romantischen kleinen Pavillon am See in seine Arme zu sinken. War es doch alles Absicht? »Hatte der Lord eigentlich nie eine Frau?« fragte Ria, nachdem sich James aus der Küche entfernt hatte. Mildred blickte sie einen Augenblick prüfend an. »Wie kommen Sie darauf?« Ria versuchte, gleichgültig zu schauen und hob die Schultern. »Nun ja, er ist noch jung, sieht gar nicht so übel aus, und Platz hat er auch genug.« »Ah, gefällt Ihnen Lord Holbrooke?« »Er ist ein netter, sympathischer Mann. Leider hatte ich ja kaum Gelegenheit, ihn richtig kennenzulernen«, erwiderte Ria. Es sollte belanglos klingen. »Zumindest versteht er allerhand von Architektur und Kunstgeschichte.«
»Ja, klug und gebildet ist er. Doch das allein reicht nicht aus, eine Frau zu fesseln. Außerdem, es ist nicht jedermanns Geschmack, in diesen alten Gemäuern zu leben.« »Oder hat er eine Frau in London?« »Sie meinen, weil er so oft hinfährt? Nicht, daß ich wüßte. Es ist beruflich und hängt mit den Umbauarbeiten im Schloß zusammen. Also, der Lord gefällt Ihnen doch!« Mildreds Logik war umwerfend. Ria lachte. »Um ehrlich zu sein, hat es mich gewundert, wie er den Turm ausgebaut hat. Die hübschen Zimmer, das Bad, alles ist wie geschaffen für eine Frau.« Mildred blickte sie schweigend an, dann senkte sie den Blick. »Ja, ich denke schon, daß sich darin eine Frau wohl fühlen könnte. Doch welche Frau läßt sich auf die Dauer in einen Turm sperren?« »Da haben Sie recht. Es war ja nur so eine Vermutung.« Ria erhob sich und bedankte sich fürs Abendbrot. »Lord Holbrooke hat mir erlaubt, seine Bibliothek zu benutzen und Bücher zu studieren. Ich werde mir einige Bücher heraussuchen und mit hinauf in mein Zimmer nehmen«, sagte sie. »Tun Sie das«, erwiderte Mildred, während sie das Geschirr spülte. James begann seinen abendlichen Rundgang und verschloß die Türen. Ria begab sich in die Bibliothek. Jetzt hatte sie Muse, sich alles genauer anzuschauen, und sie bewunderte die hohen Bücherregale aus dunklem, poliertem Holz, die bis an die Decke reichten. Viele wertvolle Bücher befanden sich im Besitz des Lords, und Ria staunte über eine umfangreiche Sammlung von Fachliteratur der Architektur, Bildhauerei und Kunstgeschichte. Der Raum der Bibliothek hatte die Form eines langgestreckten Rechtecks. An der Schmalseite befand sich der
Eingang von der Vorhalle aus. Die gesamte linke Seite nahmen die hohen Bücherregale ein, nur unterbrochen durch den Kamin. Rechts zeigten vier Fenster auf die Terrasse vor dem Schloß. Davor stand ein langer Tisch, auf dem man im Schein des Tageslichtes Bücher und Zeichnungen betrachten konnte. Die Fenster wiesen nach Osten, so daß es zu dieser frühen Abendstunde bereits dämmrig in dem Raum war. Die andere schmale Stirnwand gegenüber dem Eingang wurde ebenfalls von Bücherregalen und einem kleinen, in die Regale eingebauten Schränkchen eingenommen. Davor stand ein überdimensionaler Schreibtisch mit einem hohen Lehnstuhl, vor dem Kamin zwei Sessel. Ria betrachtete sich eingehend die Bücher und nahm zwei dicke, in dunkelgrünes Leder gebundene Bände heraus, die eine Art Schloßchronik zu sein schienen. Sie klemmte die Bücher unter den Arm, warf noch einen Blick in die Bibliothek – und ging noch einmal zurück. Die Bücher legte sie auf den Tisch am Fenster, dann führten sie ihre Schritte zum Schreibtisch. Es war ein wertvolles Möbelstück mit kunstvollen Schnitzereien. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen über das polierte Holz. Eine altertümliche, marmorne Schreibgarnitur stand auf der Schreibtischplatte, ein Briefbeschwerer aus Bleikristall, ein Aschenbecher. Sie hatte den Lord allerdings nie rauchen sehen! Sie hoffte, ein Bild zu finden, ein Bild einer Frau, irgend etwas Persönliches, das mehr über den Lord und sein Privatleben verraten würde. Obwohl sie sich dabei etwas schäbig vorkam, nach intimen Details zu suchen, konnte sie ihrem inneren Drang nicht widerstehen. Sie setzte sich in den hohen Lehnstuhl und zog nach und nach jede der Schubladen auf. Sie fand leeres Briefpapier mit seinem Namen auf dem Kopf, Stifte, einige Zeitschriften über Kunst, aber nichts, was den Lord persönlich
betraf. Kein Brief, kein Notizzettel, kein Telefonverzeichnis, keine Fotos. Seltsam! Doch vielleicht befanden sich seine persönlichen Dinge in seinen Zimmern im oberen Geschoß und nicht hier in der Bibliothek, wo sie jeder einsehen konnte, der sich im Schloß befand. Und seine privaten Zimmer würde Ria keinesfalls betreten. Sie schreckte hoch, als sie einen Blick bemerkte. Merlin stand an der Tür und beobachtete sie. »Merlin, schleich dich nicht immer so an!« schimpfte Ria. Merlin kam herbei und strich um ihre Beine. Zart streichelte sie dem Kater über den Rücken. »Du fühlst dich auch einsam, nicht wahr?« Sie nahm die beiden Bücher und verließ die Bibliothek endgültig.
*
In ihrem kleinen Wohnzimmer breitete Ria die Bücher aus und knipste die Lampen an. Sie stellte leise Musik ein und machte es sich auf dem Sofa bequem. Merlin war ihr die Treppe hinauf in den Turm gefolgt und hockte sich auf einen Sessel. Obwohl es so aussah, als würde Merlin schlafen, blinzelte er doch ab und zu unter seinen Augenlidern hervor und registrierte genau, was Ria tat. Doch Ria war bald darauf in die Lektüre der Schloßchronik versunken und vergaß alles um sich herum. Das Schloß besaß eine sehr wechselvolle Geschichte. Im Laufe seines Bestehens gab es zahlreiche Umbauten, Brände, Kriege, Zerstörungen, Wiederaufbau, Änderungen. Doch am meisten faszinierten Ria zwei, eher kurze Einträge über seltsame Vorkommnisse. Zweimal im Laufe der Schloßgeschichte gab es Schloßherren, die man für verrückt
erklärt hatte. Einer soll sich nachts in einen Werwolf verwandelt haben, etwa zweihundert Jahre später gab es einen Lord mit übersinnlichen Kräften. Ria schüttelte den Kopf. Natürlich waren dafür andere Ursachen schuld, die Menschen damals wußten es eben nicht anders und schoben es irgendwelchem unheimlichen Zauber zu. Seltsam war jedoch, daß bei beiden Schloßherren die Veränderungen auftraten, nachdem sie einige Tage spurlos verschwunden waren. »Das ist wirklich ungewöhnlich«, murmelte Ria. »Gibt es doch etwas Unheimliches in diesem Schloß?« Merlin erhob sich und stupste Ria an. Er wollte gestreichelt werden. Geistesabwesend strich sie über den Rücken des Katers, während sie mit der anderen Hand in der Chronik blätterte. »Merlin, stör mich bitte nicht, vielleicht finde ich noch mehr zu diesen seltsamen Geschichten geschrieben.« Doch Merlin begann, an ihrer Hand zu kratzen. Als Ria unwillig ihre Hand zurückzog, legte er sich quer über die Seiten der Chronik. »Kater, was soll das?« fragte Ria ungehalten. »Geh runter!« Merlin blieb eigensinnig liegen und ließ sich nicht von dem Buch schieben. Unwillig peitschte er mit dem Schwanz. »Du bist ein ungewöhnliches Tier. Willst du nicht, daß ich weiterlese?« Kurzerhand packte sie den Kater und hob ihn herunter. Mit einem kurzen Fauchen protestierte er, und ehe Ria ihn loslassen konnte, haute er seine Krallen unsanft in ihre Hand. »Au!« Ria zog erschrocken die Hand zurück. Zwei rote Tropfen quollen aus ihrem Handrücken, wo die Krallen des Katers durch die Haut gedrungen waren. Ria tupfte das Blut mit ihrem Taschentuch ab. »Du bist ein böser Kater!« Merlin peitschte immer noch mit dem Schwanz
und hockte sich auf den Sessel. Er ließ Ria nicht einen Augenblick aus den Augen. Sie blätterte weiter in der Chronik. Dabei entdeckte sie einige Skizzen von den jeweiligen Umbauten des Schlosses. Aufmerksam betrachtete sie die Zeichnungen. Irgend etwas störte sie daran, doch sie fand nicht heraus, was es war. Weit nach Mitternacht klappte sie die Bücher zu und begab sich zu Bett. An der Tür zum Schlafzimmer drehte sie sich nach Merlin um. »Und du darfst heute nicht in mein Bett!« sagte sie entschieden. »Das ist die Strafe, weil du mich gebissen hast!«
*
Am nächsten Tag fuhr Ria ins Dorf, um die belichteten Filme entwickeln zu lassen. Gleichzeitig wollte sie einen kleinen Spaziergang durch den Ort unternehmen. Während sie durch die Straßen bummelte und die Auslagen der kleinen Geschäfte betrachtete, hing sie ihren Gedanken nach. Arlingsdale war nur ein kleines Dorf, das in der Senke zwischen den Hügeln lag. Die Straßen waren sauber, viele Häuser mit Blumen geschmückt, die kleinen Gärten gepflegt. Vor einer Telefonzelle blieb Ria stehen. Sie hatte sich noch nicht wieder in ihrer Redaktion gemeldet. Zwar hatten sie ihr völlig freie Hand gegeben, für das nächste Schloß in Schottland hatte sie sich erst in knapp zwei Wochen angemeldet. Sie konnte also noch einige Zeit auf Schloß Billingsmore verbringen. Doch den Gedanken, in der Redaktion anzurufen, verwarf sie gleich wieder. Was sollte sie Sylvia und Hans erzählen? Daß sie sich auf Gespensterjagd
befand? Besser, sie schrieb eine hübsche, bunte Ansichtskarte mit einem belanglosen Text. So ging sie unangenehmen Fragen aus dem Weg. Sie fand ein Geschäft, das Zeitungen und Zeitschriften führte und Filme entwickelte. Entschlossen betrat sie den kleinen Laden und legte ihre Filme auf die Ladentheke. »Soll ich Ihnen die Fotos zuschicken?« fragte die ältere Frau hinter dem Tresen. »Wie ist Ihre Adresse?« »Meine Adresse? Ich wohne im Schloß. Ach bitte, ich hole die Bilder selbst ab.« »Sie wohnen im Schloß? Meinen Sie Billingsmore?« fragte die Frau und blickte Ria befremdlich an. »Für einige Zeit, ja«, bestätigte Ria. »Warum fragen Sie?« Die Frau trat zwei Schritte zurück, als befürchte sie bei Ria eine ansteckende Krankheit. »Sind Sie verwandt mit ihm? Ich meine den Lord«, fügte sie hinzu. »Lord Holbrooke?« Ria lachte. »O nein, ich untersuche das Schloß.« Die Frau schüttelte den Kopf und senkte die Stimme. »Es ist kein guter Ort«, orakelte sie. »Wie darf ich das verstehen?« Rias Neugier war geweckt. »Stimmt etwas nicht mit dem Schloß?« »Das Schloß war mir schon immer nicht geheuer. Und wer darin lebt, muß ja verrückt werden.« Ria erinnerte sich an die Eintragungen in der Chronik. Es gab bereits zwei Schloßherren in der Vergangenheit, die offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf waren. »Verrückt?« fragte Ria und hoffte, die Frau würde noch mehr erzählen. Doch sie wandte sich schnell ab und hantierte geschäftig in den Zeitschriftenstapeln. »Er ist es auch«, murmelte sie. »Wen meinen Sie damit? Lord Holbrooke?«
»Ich habe gar nichts gemeint«, fuhr die Frau auf. »Hier ist Ihr Abschnitt. Morgen können Sie die Bilder abholen.« Das Gespräch war beendet. Ria verließ den Laden und atmete auf der Straße tief durch. Wenn sie hier mehr Leute befragen könnte, würde sie der Sache wahrscheinlich besser auf den Grund gehen können. Doch wen sollte sie befragen? Wer würde einer Fremden bereitwillig und aufrichtig Auskunft geben? Daß irgend etwas mit dem Schloß und dem Lord nicht stimmte, davon war Ria allerdings nun auch überzeugt.
*
Wieder und wieder betrachtete Ria die Skizzen und Zeichnungen des Schlosses, die sie in der Chronik gefunden hatte, obwohl sie nicht wußte, was sie daran störte. Um die alten Bücher zu schonen, hatte sie sich die Zeichnungen mit dünnem Papier abgepaust. Es waren zwar alte Zeitungen aus dem siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert, doch sie waren detailliert und recht gut erhalten. Baupläne! Der Lord mußte doch Baupläne besitzen, wenn er das Schloß umbauen ließ. Selbst für die Rekonstruktion der einzelnen Teilbereiche mußten irgendwelche Planungsunterlagen existieren. Danach hatte sie nie gesucht, immer nur nach Büchern, Chroniken, Aufzeichnungen. Pläne brauchte sie, vielleicht würde sie dann auch dahinterkommen, was sie an diesen Zeichnungen eigenartig fand. Doch sie wußte nicht, wann Lord Holbrooke wiederkommen würde. Er hatte es ihr nicht gesagt. Ein wenig wehmütig dachte sie an ihn und hoffte, noch einmal mit ihm einen Spaziergang im Sonnenschein unternehmen zu können. Andererseits ging
ihr das seltsame Gebaren der Frau aus dem Zeitungsladen nicht aus dem Sinn. Und auch James verhielt sich stets sonderbar, wenn das Gespräch auf den Lord kam. Ria hätte gern Mildred ausgefragt, doch stets schaffte es James, ihr Gespräch im entscheidenden Augenblick zu stören. Ria beschloß, sich noch einmal in der Bibliothek gründlich umzusehen, vielleicht fand sie die Pläne hinter den Buchreihen oder in den oberen Etagen der Regale, die sie noch nicht durchsucht hatte. Die Dienstleute hatten längst Feierabend, sie war im Schloß allein. Als Ria den Gang durcheilte und auf die große Treppe einbog, sah sie plötzlich den Lord, der gerade hinter der Tür der Bibliothek verschwand. Er hatte sie nicht bemerkt und schien außerdem in Eile zu sein. Merlin folgte ihm auf dem Fuß. Erfreut wollte sie ihm nacheilen und um die Baupläne bitten, doch aus einem ihr selbst unerfindlichen Grund stutzte sie einen Augenblick und blieb stehen. Sollte sie wirklich zu ihm gehen oder lieber bis zum nächsten Tag warten? Sie gab sich einen Ruck, obwohl sie wieder Herzklopfen bekam. Ihre zwiespältigen Gefühle für Lord Holbrooke bekam sie nicht völlig unter Kontrolle. Sie klopfte an die Tür zur Bibliothek, die einen Spalt offenstand. »Mylord, darf ich stören?« fragte sie, als sie auf ihr Klopfen keine Antwort bekam. Sie steckte den Kopf zur Tür hinein und blickte sich um. Doch die Bibliothek war leer! Ria zweifelte für einen Augenblick an ihrem Verstand. Ganz deutlich, wenn auch vom oberen Treppenabsatz, hatte sie gesehen, wie der Lord die Bibliothek betrat. »Mylord? Gwendal! Merlin!« Mit Unbehagen verspürte sie, wie sich die kleinen Härchen auf ihren Armen sträubten. Sie öffnete die Tür bis zum Anschlag und betrat zögernd den Raum. Sie blickte unter den Schreibtisch, hinter die Sessel, ja
selbst in den Kamin. Weder der Lord noch Merlin waren zu entdecken. Es blieb dabei, der Raum war leer! Ria kämpfte gegen die aufkommende Panik und spürte den kalten Schweiß auf der Stirn. Ihr Atem ging heftig und ihre Muskeln spannten sich an, als erwarte sie jeden Augenblick, daß sich jemand auf sie stürzen würde. Doch nichts geschah. Die unheimliche Stille wurde ihr unerträglich. Hastig verließ sie die Bibliothek und lief die Treppe hinauf. Auf der obersten Stufe hielt sie an. Sie preßte ihre Hand auf ihr wild klopfendes Herz. Was geschah hier? Sie setzte sich auf die letzte Stufe der Treppe und behielt die Tür der Bibliothek im Blick. Durch die breiten Steinsäulen des Geländers war sie genügend gedeckt, sie konnte jedoch den Vorsaal beobachten. Zusammengekauert blieb sie sitzen und blickte ab und zu auf ihre Armbanduhr. Es war über eine Stunde vergangen, als sie ein Geräusch aus der Bibliothek vernahm. Der Lord öffnete die Tür, die Ria wieder in die vorherige Stellung zugezogen hatte und eilte durch die Halle zum Eingang. Ohne sich umzuschauen, verließ er das Schloß. Merlin folgte ihm, blieb jedoch mitten in der Vorhalle unschlüssig stehen und blickte seinem Herrn nach. Zögernd erhob sich Ria aus ihrem Versteck. Der Kopf des Katers fuhr herum und seine grünen Augen starrten sie an. Dann stieß er einen grauenhaften Schrei aus, der Ria bis ins Mark drang. Entsetzt machte sie kehrt und rannte, so schnell ihre Beine konnten, in ihre Gemächer. Sie schlug die Tür mit einem lauten Knall zu und drehte den Schlüssel zweimal im Schloß herum. Erst dann ließ sie sich auf das Sofa sinken und preßte die Hände vors Gesicht. Diese Frau hatte recht! Wer einige Zeit in diesem Schloß wohnte, wurde verrückt. Ria war auf dem besten Weg dazu!
*
Es dauerte einige Zeit, bis sich Ria wieder beruhigte. Immer wieder redete sie sich ein, daß es nichts Übernatürliches gab, keinen Spuk, keine Gespenster – aber einen unsichtbaren Lord! Oder narrten sie ihre Augen tatsächlich? Nein, für alles mußte es eine Erklärung geben. Und auch dafür gab es eine plausible Erklärung. Es mußte mit der Räumlichkeit der Bibliothek zusammenhängen. Ria nahm die Fotos, die sie am Vormittag aus dem Dorf abgeholt hatte, und schaute sie aufmerksam an. Neben der lieblichen Landschaft, die Ria auch noch auf den Fotos begeisterte, hatte sie auch etliche Aufnahmen des Schlosses von außen geschossen. Da war der Mittelbau, die Fenster der Bibliothek, daran anschließend der Turm, deren obere Zimmer sie bewohnte. Auf dem Dach des Mitteltraktes sah sie den Schornstein, der zum Kamin der Bibliothek gehörte. Der Abstand des Schornsteins zur Mauer des Turmes entsprach in etwa dem Abstand des Kamins in der Bibliothek von der schmalen Stirnseite des Raumes. Die Bibliothek mußte also an den Turm angrenzen. Sie nahm ein Blatt Papier und skizzierte die Raumaufteilung des Schlosses, wie sie sie von ihrem Rundgang mit dem Lord noch in Erinnerung hatte. Zwar hatte sie nicht alle Räume im Obergeschoß gesehen, aber das schien ihr nicht von Bedeutung. Lediglich die Raumaufteilung in den Verliesen konnte sie nicht mehr nachvollziehen. Wieder blickte sie auf die Fotos, und plötzlich wurde ihr klar, was sie die ganze Zeit daran gestört hatte. Sie mußte sich unbedingt selbst davon überzeugen.
Sie lief die gewundene Treppe des Turmes hinunter. Die Fotos und ihre Skizze hielt sie dabei in der Hand. Das Treppenhaus des Turmes endete in der Höhe des Ganges im Obergeschoß. Ein offener Durchgang in Form eines Spitzbogens verband das Treppenhaus des Turmes mit dem Mitteltrakt. Ria blickte sich um. Die Treppe endete auf diesem Niveau in einer Plattform. Nirgendwo gab es ein Anzeichen dafür, daß die Treppe jemals weiter in die Tiefe geführt hatte. Allerdings war der Turm in letzter Zeit restauriert worden und das Treppenhaus neu verputzt. Mit den Fingern tastete Ria die Wände ab, konnte jedoch keine Kante, keine Unebenheit entdecken. Doch die Fundamente des Turmes mußten die gleiche Höhe haben wie die Fundamente des Erdgeschosses. Vielleicht reichten sie sogar bis unter die Verliese. Noch einmal betrachtete sie die Außenaufnahmen. Die unteren Mauersteine des Turmes waren groß und klobig, ab dem oberen Stockwerk wurden sie jedoch kleiner, schienen sorgfältiger gemauert zu sein. Durch den starken Bewuchs war es nicht leicht zu erkennen. Der obere Teil des Turmes mußte aus einer späteren Epoche stammen. Möglicherweise war er auf den Ruinen eines alten, zerfallenen Turmes aufgebaut worden. Was befand sich zwischen dem Treppenende und dem Niveau des Erdbodens? Und genau an diesen nicht vorhandenen Raum stieß die Bibliothek. Ria nahm ihren Mut zusammen und lief in die Vorhalle. Sie erleuchtete alle Räume und öffnete die Tür zur Bibliothek. Noch einmal betrachtete sie die Wände. Doch die Regale waren fest und solide eingebaut, keines ließ sich bewegen. Es gab nur noch die Möglichkeit eines Zutrittes vom Verlies aus. Sie pustete laut die Luft aus, um sich Mut zu machen, dann öffnete sie die Kellertür und nahm die Taschenlampe vom
Haken. Sorgfältig prüfte sie, ob die Batterien noch funktionierten. Seltsam, sagte Mildred nicht, daß seit Jahrzehnten niemand mehr in den Verliesen gewesen war? Wieso hatte die Taschenlampe dann neue Batterien? Rias Neugier war nun endgültig geweckt und unterdrückte zumindest teilweise die Angst, die in ihr aufkam. Leise pfeifend und zwischendurch laut mit sich selbst sprechend tappte sie durch die Gänge und leuchtete die Räume aus. Sie versuchte sich zu orientieren, wo sie sich befand. Sie bedauerte, keinen Kompaß dabei zu haben, und auch keine Kreide, um ihren Weg zu markieren, damit sie den Rückweg wieder fand. Aber auch nach ihrer Skizze fand sie den Weg in den Trakt unter der Bibliothek. Sie tastete sich langsam vor und fand sich nach einiger Zeit in der vermeintlichen Folterkammer wieder. Ob es tatsächlich mal eine war, konnte Ria nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch jetzt, wo sie das Gewölbe mit dem starken Schein der Lampe ausleuchtete, erkannte sie die Rundung der Stirnwand, die sie bei ihrem ersten Besuch mit dem Lord nicht sehen konnte. Der Turm! Also reichte er doch bis unter den Schloßhof hinab. Und als Ria die Steine betastete, fühlte sie eine Kante. Deutlich war eine Tür zu erkennen, ein Durchgang vielleicht. Doch er war zugemauert. Mit großen Steinblöcken. Sie kratzte am Putz und er bröckelte, durchsetzt mit Salpeter und Spinnweben. Dieser Durchgang war bereits vor längerer Zeit geschlossen worden. Ratlos stand sie davor. Einen Zugang vom Verlies her gab es also nicht. Aber es hat vormals ein Zugang existiert, demzufolge gibt es einen Raum hinter dieser Mauer. Vom Treppenhaus des Turmes konnte man nicht mehr hinunter gelangen. Die einzige Möglichkeit blieb – die Bibliothek! Eine geheime Tür oder wenigstens ein Durchschlupf wären eine
Erklärung für das mysteriöse Verschwinden des Lords und des Katers.
*
In dieser Nacht war Ria nicht mehr in der Lage, die Bibliothek zu untersuchen. Mit wankenden Knien stieg sie hinauf in den Turm, duschte sich und ging zu Bett. Ihre Gedanken jedoch überschlugen sich und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Ihr Mißtrauen war erwacht und hatte durch ihre Entdeckungen neue Nahrung bekommen. Ein Mensch konnte nicht einfach verschwinden, unsichtbar werden. Die Lösung des Geheimnisses lag in der Bibliothek und Ria würde es finden! Die erwachte, als etwas sanft ihre Nase berührte. Erschrocken riß sie die Augen auf – und blickte in Merlins Gesicht. Der Kater schnurrte leise und tastete vorsichtig mit dem Pfötchen nach ihr. Es war eine liebevolle, zärtliche Geste. Er schien sich zu freuen, daß sie die Augen aufschlug. »Merlin!« murmelte Ria schlaftrunken. »Du hast mich aber nett geweckt. Liebst du mich noch?« Statt einer Antwort schob Merlin sein Köpfchen gegen ihre Wange und schnurrte wieder leise. Dann hockte er sich wieder hin und begann das Spiel mit dem Pfötchen erneut. Ria nahm ihre Hand unter der Decke hervor und streichelte mit dem Finger sanft über Merlins weiße Pfote. Der Kater erwiderte die Berührung, und so streichelten sie sich gegenseitig abwechselnd. Ria mußte lachen. »Du bist wirklich ein seltsames Tier. Gestern dachte ich, du wolltest mich fressen. Heute überschüttest du mich mit Zärtlichkeiten. Aus dir werde ich genauso wenig klug wie aus deinem Herrn.«
Während Ria mit ihm sprach, blickte er sie aufmerksam an und neigte den hübschen Kopf. Seine Augen verfolgten jede ihrer Bewegungen, während sie sich aus dem Bett erhob und ankleidete. Er lief ihr hinterher, als sie ins Bad ging und ihre Morgentoilette begann. Und er folgte ihr hinunter in die Küche, wo schon ein leckeres Frühstück auf sie wartete, das Mildred zubereitet hatte. »Mein Mann James und ich werden nachher ins Dorf fahren, um einzukaufen«, sagte Mildred. »Heute Abend kehrt Lord Holbrooke zurück. Haben Sie einen Wunsch, Miss Wagner? Sollen wir Ihnen etwas mitbringen?« »Danke, Mildred, für Ihr freundliches Angebot. Aber ich benötige nichts. Ich möchte noch etwas arbeiten. Vielleicht kann mir Lord Holbrooke heute Abend einige Fragen beantworten, die sich in der Zwischenzeit ergeben haben.« »Sie kommen gut voran mit Ihrer Arbeit?« »Ja, danke. Ich werde in der nächsten Woche sicher damit fertig werden.« »Und werden Sie uns dann verlassen?« fragte Mildred mit Bedauern in der Stimme. Ria nickte. »Ich werde weiter nach Schottland fahren. Noch mindestens fünf Schlösser will ich besichtigen, bevor ich die Artikelserie darüber beginne.« Mildred seufzte. »Schade! Sie haben frisches Leben in diese alten Gemäuer gebracht. Und ich hatte gehofft, daß Sie…« Sie stockte. »Ja?« »Ah, James kommt, wir müssen losfahren.« Eilig packte Mildred zwei Einkaufskörbe und lief hinaus auf die hintere Terrasse, wo James auf sie wartete. Ria blickte ihr nachdenklich hinterher. Was meinte Mildred mit ihrer Äußerung? Natürlich bedauerte sie es, wenn Ria das Schloß verließ, beide hatten sich oft unterhalten und Ria war
für Mildred eine willkommene Abwechslung in der Abgeschiedenheit des Schlosses. Oder hoffte Mildred etwa, daß sie das Herz des Lords erobern könne? Ria mußte lächeln. So ganz abwegig war der Gedanke nicht. Sie fühlte, daß ihr dieser Mann nicht gleichgültig war. Mehr noch, er entfachte in ihr dieses seltsame Flattern im Bauch, das sich Ria selbst nicht gern eingestand. Aber sie war nahe dran, ihr Herz an ihn zu verlieren, wenn da nicht diese ständig nagenden Zweifel wären. Sein seltsames Verhalten, dieser unheimliche Blick, der dem seines Katers so erschreckend ähnlich war. Und nicht zuletzt fand Ria auch das Verhalten des Katers merkwürdig, der sie nicht aus den Augen zu lassen schien, der mit ihr schmuste und im nächsten Augenblick aggressiv wurde, als wolle er sie mit Macht davon abhalten, etwas zu erfahren, was sie nicht erfahren sollte. Sie schaute sich nach Merlin um. Er hatte sein Schüsselchen Milch ausgeleckt, das Mildred ihm jeden Morgen hinstellte, und putzte sich ausgiebig und selbstvergessen. Er sah aus wie jede andere Katze auch und Ria schalt sich in Gedanken, daß sie ihren eigenartigen Argwohn nun auch gegen den harmlosen Kater lenkte. Schließlich verstand sie nicht so viel von Katzen, um jede seiner Regungen erklären zu können. Katzen waren nun mal eigenwillige und einzelgängerische Tiere. Und Merlin mußte auch erst begreifen, daß eine Fremde, ein Gast, sein Revier mit ihm teilte. Ria erhob sich. Sie wollte unbedingt noch einmal gründlich die Bibliothek in Augenschein nehmen, bevor der Lord zurückkehrte. Und sie war froh, daß Mildred und James das Schloß für einige Stunden verlassen hatten. So war sie allein und ungestört. Im hellen Tageslicht wirkte die Bibliothek nicht so düster und unheimlich. Ria konnte mehr Details erkennen. Und nicht
zuletzt hatte sie bei Tageslicht wesentlich mehr Mut, ihre Untersuchungen vorzunehmen als nachts. Sie schob die lange Leiter an die Regale heran und kletterte hinauf, um die oberen Fächer zu kontrollieren. Zunächst suchte sie nach Plänen neueren Datums, um sie mit den alten Zeichnungen zu vergleichen. Doch außer ziemlich viel Staub, der sie mehrfach zum Niesen brachte, konnte sie nichts entdecken. Ratlos blickte sie sich um. Einzig das kleine, eingebaute Schränkchen an der Stirnwand hatte sie noch nicht durchsucht. Zu ihrem Leidwesen fand sie es abgeschlossen. Die Worte des Lords fielen ihr wieder ein, als er sagte, sie könne sich die Bücher nehmen, die offen herumstehen. Offen! Rias Blick heftete sich auf das Schränkchen. Es gab also etwas, das sie nicht sehen sollte. Und das befand sich in diesem Schrank. Ihr Herz klopfte heftig, weil sie glaubte, unmittelbar vor der Lösung des Rätsels zu stehen. In diesem Schränkchen war es verborgen. Hastig durchsuchte sie die Schubladen des Schreibtisches nach dem Schlüssel. Doch weder hier noch sonstwo im Raum fand sie etwas, womit sie das Schränkchen öffnen konnte. Sie besah sich das Schloß genauer. Es schien schon alt zu sein. Erfahrungsgemäß waren diese Schlösser nicht sehr kompliziert und somit auch mit anderen Mitteln zu öffnen. Ria wollte ihre kostbare Zeit nicht mit der Suche nach einem Schlüssel vergeuden, deshalb lief sie in ihr Turmzimmer hinauf. Sie wühlte in ihrer Kosmetiktasche nach einer Nagelfeile, auf ihrem Schreibsekretär fand sie einige Büroklammern aus Kupferdraht. Damit müßte es gehen! In der Bibliothek machte sie sich ans Werk, mit den aufgebogenen Büroklammern das Schloß zu öffnen. Sie ging vorsichtig zu Werke, weil sie das Schränkchen nicht beschädigen wollte, andererseits ihren Einbruch auch vor dem Lord verbergen mußte. Wenn sie sein Vertrauen mißbrauchte,
zerstörte sie auch die zarten Bande, die sich auf so wundersame Weise zwischen ihnen entwickelten. Während sie an dem Schloß hantierte, bemerkte sie nicht, wie sich Merlin lautlos in die Bibliothek schlich. Einen kurzen Augenblick beobachtete er Ria, dann stieß er einen schauerlichen Schrei aus. Im gleichen Moment sprang er geschmeidig und kraftvoll zugleich auf Ria zu. Seine Krallen bohrten sich schmerzhaft in ihren Rücken. Mit einem Aufschrei ließ Ria ihre Werkzeuge fallen und fuhr herum. Sie ruderte mit den Armen in der Luft, um die wildgewordene Bestie abzuschütteln, doch Merlin ließ nicht von ihr ab. Verzweifelt wand sich Ria unter den messerscharfen Krallen. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß eine kleine Schmusekatze derartige animalische Kräfte entwickeln konnte. Sie taumelte und stürzte gegen die Wandverkleidung, wobei sie heftig mit dem Hinterkopf gegen eine hervorstehende Leiste stieß. Sie stieß einen dumpfen Laut aus. Dann umfing sie Dunkelheit. Es mochte nicht viel Zeit vergangen sein, als Ria aus ihrer Ohnmacht erwachte und sich benommen umschaute. Mit zusammengebissenen Zähnen faßte sie an ihren Hinterkopf – und erstarrte! Eines der Regale stand wie eine Tür einen Spalt offen. Dahinter erkannte sie im Dämmerlicht eine Treppe, die in die Tiefe führte. Die Geheimtür!
*
Ria fühlte ihr Shirt warm am Rücken kleben und in ihrem Kopf hämmerte es heftig. Doch sie ignorierte die Schmerzen. Sie hatte den Eingang zu den unterirdischen Räumen im Turm
entdeckt. Jetzt konnte sie nichts mehr davon abhalten, das Geheimnis zu lüften. Schnell holte sie die Taschenlampe hinter der Tür zu den Verliesen und leuchtete in den Spalt, den das Regal freigab. Sie sah eine Treppe, die nach unten führte. Und es bestätigte ihre Vermutung, daß diese Treppe einst durchgängig war, denn sie führte an die Decke, wo sie blind endete. Diese Decke war erst später eingezogen worden. Deshalb hatte sie vom Treppenhaus des Turmes nichts erkennen können. Doch wo führte die Treppe hin? Unten, in Höhe der Verliese, mußte es noch einen Raum geben. Diesmal überwog Rias Neugier und der Drang, das Geheimnis zu lüften, so daß sie alle Vorsicht vergaß. Sie tasteten sich im Schein der Taschenlampe die Stufen hinunter. Kein Staub lag auf der Treppe, keine Spinnweben hingen herunter wie in den Verliesen. Und es roch auch nicht feucht und modrig. Eine der Stufen wackelte. Ria faßte erschrocken nach der Wand. Mit einem schnappenden Laut schlug die Tür zu. Sie war gefangen! Einen Augenblick zögerte sie und blickte zurück. Doch sie war überzeugt, daß es auch von innen einen Öffnungsmechanismus für die Geheimtür geben mußte. Erst wollte sie wissen, was sie am Ende der gewundenen Treppe erwartete. Entschlossen stieg sie die Treppe weiter hinab. Verblüfft stand sie in einem großen, runden Raum, der in tiefem Dunkel lag. Es gab kein Fenster, keine Lichtquelle. Dieser Raum lag unter der Erde, neben der Folterkammer. Ria leuchtete ihn aus und staunte. Tische und Regale standen hier, seltsame Geräte und Truhen. Und sie entdeckte Kerzen, eine Petroleumlampe, und mehrere moderne Feuerzeuge. Es waren solche Feuerzeuge, wie sie auch der Lord benutzte. Hierhin verschwand er also, wenn er unsichtbar wurde. Doch was tat er hier?
Ria entzündete alle Kerzen und die Petroleumlampe und blickte sich um. War das eine mittelalterliche Studierstube? Ein Alchimistenlabor? Eine Hexenküche? Das Reich eines Zauberers, eines Druiden, eines Folterknechtes, eines Perversen oder eines Irren? Erregt betrachtete sie die seltsamen Geräte, Kolben, Flaschen, Töpfe, eiserne Werkzeuge, alles alt und geschwärzt. Doch sie schienen seit ewigen Zeiten unbenutzt dazustehen. Dagegen waren die Bücher gesäubert worden, einige lagen aufgeschlagen da. Ria beugte sich darüber. In altertümlicher Schrift mit seltsam verschnörkelten Zeichen standen Sprüche, deren Sinn sie nicht erfassen konnte, weil ihr die alte Sprache nicht geläufig war. Waren es Zaubersprüche, Formeln für irgendwelche Mixturen oder Arzneien? Mühsam entzifferte sie die einzelnen Wörter und murmelte sie leise vor sich hin. »Was tust du da?« hörte sie eine entsetzte Stimme hinter sich. Sie sah Lord Holbrooke auf sich zustürzen. Sein Gesicht war kreidebleich, seine Augen glühten wie die eines Raubtieres. Ria schrie erschrocken und angstvoll auf und hob abwehrend die Hände. Doch der Lord packte sie brutal an den Armen und zerrte sie zur Treppe. »Raus hier!« brüllte er und seine sonst so wohltönende Stimme überschlug sich fast. »Um Gottes Willen, sprich nicht! Halt den Mund!« Er riß sie an sich und schleifte sie die Treppe hinauf. Oben stieß er sie in die Bibliothek hinein und warf sich rücklings gegen das Regal, das sich wieder schloß. Ria taumelte und stürzte. Schluchzend blieb sie auf dem Teppich liegen. Langsam drehte sie den Kopf zurück und blickte über die Schulter nach Lord Holbrooke. Er stand bleich wie ein Gespenst an das Regal gelehnt, sein dunkles Haar hing wirr in der Stirn und
sein Blick – mein Gott war das noch ein Mensch? Ria schauderte. »Du blutest ja«, flüsterte er, als käme er aus einer anderen Welt zurück. Er starrte auf Rias Rücken. Ria rang nach Luft, ihre Hände krallten sich in den weichen Flor des Teppichs. »Was geht hier vor? Wer bist du?« fragte sie mit stockender Stimme. Plötzlich warf er sich auf sie, riß sie an sich und preßte ihren Kopf an seine Brust. »Ria, meine Ria, Liebes, niemals solltest du es erfahren. Ich hatte so gehofft, daß ich… daß ich es allein schaffe. Oh, mein Gott!« Ria wollte sich aus seinen Armen winden, doch es gelang ihr nicht. Er hielt sie mit aller Kraft fest, die er aufbringen konnte. »Dir darf es nicht auch geschehen«, stammelte er. Entsetzt starrte er auf das Blut an seinen Händen. »Du bist verletzt!« »Es war Merlin«, flüsterte Ria und verspürte den immer heftiger werdenden Schmerz auf ihrem Rücken und in ihrem Kopf. Sie tastete nach der Beule an ihrem Hinterkopf. »Ich hole Wasser und Essig und Tücher«, sagte er. »Setz dich auf den Sessel. Oh, Darling, ich wollte nicht, daß dir etwas geschieht.« Er ließ Ria los und eilte in die Küche. Ria schleppte sich zum Sessel und hockte sich auf die Kante. Alles an ihr zitterte, doch es kam nicht nur von dem Schmerz. Was war mit diesem Mann geschehen? War er tatsächlich verrückt? Was stand in den Büchern, die sie nicht lesen sollte? Lord Holbrooke kam mit einer Schüssel zurück und sofort roch es in der Bibliothek nach Essig. Er hockte sich neben Ria und stellte die Schüssel auf den Boden. Besorgt blickte er Ria an. Sie wagte es, seinen Blick zu erwidern, und jetzt war nichts mehr von dieser Wildheit, von diesem irren Raubtierblick zu erkennen. Sie sah nur Sorge in seinem Gesicht – und tiefe Qual. Seine Wangen wirkten eingefallen, sein Mund mit den
verführerischen Lippen hielt er zu einem Strich zusammengepreßt. »Zieh dein Shirt hoch«, bat er leise. »Ich muß deine Wunden versorgen. Katzenkratzer sind gefährlich, sie zerreißen die Haut und infizieren schnell.« Ria zögerte einen Augenblick. Doch dann zog sie das Shirt aus und beugte sich vor, damit er die Wunden auswaschen konnte. »Es wird weh tun«, sagte er. »Schlimmer kann es schon nicht mehr werden«, erwiderte sie, doch dann schrie sie auf und biß in das zusammengeknüllte Shirt. Es konnte doch noch schlimmer werden. Keuchend kämpfte sie gegen das gräßliche Brennen auf ihrem Rücken an. »Es läßt gleich nach«, hauchte er und streichelte über Rias Haar. Sie versuchte, seinen Zärtlichkeiten auszuweichen. »Bitte, Ria, bitte, ich möchte dich berühren. Ich habe so eine Angst um dich!« Er schaute sie flehend an. »Willst du mich etwa auch verhexen?« fragte sie mit einem anklagenden Blick. »Was treibst du da unten? Meinst du nicht, ich hätte ein Recht auf eine Erklärung?« Er senkte den Blick. »Verdämmt! Wärst du doch niemals hierher gekommen.« »Ich bin aber da. Und jetzt verlange ich Aufklärung, was hier vor sich geht. Es ist nicht mehr allein deine private Angelegenheit. Und, verdammt noch mal, Gwendal, ich liebe dich! Ich will dir helfen! Aber du mußt mir sagen, wie ich dir helfen kann.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er kniete vor ihr und strich mit seinen Händen über ihre Wangen. Sie spürte seine Lippen und seinen Atem. »Du weinst«, stammelte er. »Du darfst nicht weinen, Liebes. Ich liebe dich, aber für uns beide gibt es keine gemeinsame Zukunft.«
»Was steht dagegen? Weil ich keine Adlige bin?« Er erhob sich. »Nein, das wäre für mich kein Grund.« Er deutete auf den Fußboden. »Der Grund liegt da unten.«
*
Die Sonne schien warm auf Rias Rücken und die Pflaster, mit denen der Lord ihre Wunden verklebt hatte, ziepten unangenehm auf der Haut. In eine frische Bluse gekleidet, lief sie langsam neben ihm her durch den Park, den die untergehende Sonne in roten und goldenen Farben aufglühen ließ. Lord Holbrooke hielt die Hände auf dem Rücken verschränkt und starrte in die Ferne, während er neben Ria schritt. Sie spürte, daß es ihm schwer fiel, über dieses dunkle Geheimnis seiner Seele zu sprechen. Sie erreichten den kleinen Pavillon am See, und Ria setzte sich auf die steinerne Bank. Gwendal blieb stehen und stützte sich auf die Brüstung. Sie betrachtete seinen Rücken, seine schlanke Gestalt und sein volles, lockiges Haar und eine tiefe Wärme durchströmte sie. Sie liebte diesen Mann, sie liebte ihn mit allen Fasern ihres Körpers. Aber etwas stand zwischen ihnen, ein dunkles Geheimnis, das ihn quälte. Sie erhob sich und trat zu ihn. Sanft legte sie die Hand auf seinen Arm und riß ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf sie herab und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. »Liebst du mich wirklich?« fragte er unsicher. Sie nickte. »Du darfst mich nicht zurückweisen«, bat sie. Er senkte den Blick, dann legte er den Arm um ihre Schultern. »Ich habe Angst, daß du mich auch verläßt.« »Auch? Gab es jemand, der dich verlassen hat?«
»Ja! Sie sollte meine Frau werden. Für sie habe ich das Schloß restaurieren und modernisieren lassen.« Ria biß sich auf die Unterlippe. Ihre Vermutung war richtig, daß diese Puppenstube im Turm für eine Frau eingerichtet worden war. »Warum hat sie dich verlassen?« »Sie konnte es nicht ertragen, mit mir zu leben. So zu leben.« »Auf diesem Schloß? War es ihr zu einsam?« »Nein, sie konnte mich nicht mehr ertragen, seit… dieses Unglück… mit mir geschehen war.« »Was ist geschehen?« Er blickte ihr eindringlich in die Augen. »Du hast einmal gesagt, du glaubst nicht an übersinnliche Dinge, an Gespenster oder ähnliches.« »Stimmt! Ich glaube auch jetzt nicht daran. Für alles gibt es eine Erklärung.« Er senkte resigniert den Blick. »Wenn ich dir sage, was mir passiert ist, wirst du es nicht glauben. Ich kann es selbst nicht glauben, weil ich nicht erklären kann, wie es geschah.« »Aber du kannst mir sagen, was geschah?« »Ja.« »Dann sag es mir!« forderte sie ihn auf. Er zog sie zur Bank und beide setzten sich. Nachdenklich blickte er in die untergehende Sonne. »Seit vielen Generationen ist dieses Schloß im Besitz meiner Familie, ich bin hier aufgewachsen und habe eine unbeschwerte Kindheit genossen. Dann bin ich fortgegangen, habe Kunstgeschichte studiert und Architektur. Ich lebte in London, bis meine Eltern starben. Zusammen mit Cynthia kehrte ich hierher zurück.« »Cynthia?« »Ich habe sie geliebt, und wir wollten heiraten. Doch das Schloß war heruntergekommen, baufällig, unmodern. Cynthia wollte hier nicht leben. Da beschloß ich, diese alten Mauern zu
restaurieren, das Schloß zu modernisieren, damit wir uns hier wohl fühlen können.« »Das hast du ja auch getan.« »Zumindest zum Teil. Cynthia ist wieder nach London gezogen, während ich immer zwischen Billingsmore und London gependelt bin. Ich habe den Umbau selbst geplant, Entwürfe gezeichnet, mit den Banken wegen der Finanzierung gesprochen.« Er schwieg einen Moment, als müsse er sich sammeln. »Ich habe das ganze Schloß vermessen. Dabei fiel mir auf, daß es zu den unteren Räumen im Turm keinen Zugang gab. Ursprünglich wollte ich nur die Fundamente des Turmes überprüfen, deshalb suchte ich nach einer Tür. Mehr durch Zufall entdeckte ich sie.« »Warum ist der Zugang so geheim gehalten worden? Ursprünglich gab es eine Verbindung zu den Verliesen.« »Das stimmt. Nirgendwo in den beiden Chroniken habe ich einen Hinweis auf diese Räume gefunden. Es hängt wohl mit der damaligen Nutzung zusammen. Als ich den geheimen Zugang entdeckte, bin ich natürlich auch neugierig hinunter gestiegen und habe alles untersucht. Offensichtlich war es eine Studierstube oder ein Forschungslabor, würden wir heute sagen. Irgend jemand hatte da unten experimentiert, vielleicht sogar mit Gefangenen. Ich habe anatomische Zeichnungen gefunden.« Ria schauderte. »Das ist ja entsetzlich. Wann war das?« »Keine Ahnung, es muß mehrere hundert Jahre zurückliegen. Und die Geräte stammen aus noch älterer Zeit. Man sagt, die alten keltischen Priester waren der Zauberei mächtig. Vielleicht hat sich nach der Christianisierung des Landes ein alter Druide hier unten eingeschlossen und ist seinem alten Kult nachgegangen.«
»Haben die Druiden ihre Zeremonien nicht draußen in dem verwunschenen Wald durchgeführt?« »Das stimmt. Aber mit dem aufkommenden Christentum galt dieser heidnische Zauber als Ketzerei und die alten Priester mußten um ihr Leben fürchten. Vielleicht war es auch gar kein Priester sondern ein Nachkomme, der die Weisheiten der Kelten nicht verlieren wollte. Die Druiden selbst haben ihre Kenntnisse immer nur mündlich weitergegeben, niemals aufgeschrieben. Deswegen weiß man heute fast nichts über sie oder es kursieren nur Märchen und haarsträubende Geschichten. Es waren aber sehr weise Männer, die sich in der Natur sehr gut auskannten.« »Steht darüber etwas in diesen alten Büchern?« »Ja. Und das wurde mir zum Verhängnis.« Seine Stimme stockte und er blickte Ria unsicher an. »Ich bin ziemlich sicher, daß du mir jetzt nicht glaubst. Ich stieg hinunter in den Keller, nahm Kerzen und eine Petroleumlampe mit und versuchte, die seltsamen Verse zu enträtseln. Irgendwie klappte die Tür zu. Ich wußte nicht, daß es von innen einen Öffnungsmechanismus gibt. Ich hatte gar nicht danach gesucht, sondern nur ein Buch in den Spalt des Regals geklemmt. Es muß herausgefallen sein und die Tür schloß sich.« »Du warst da unten gefangen?« fragte Ria mit starrem Blick. Gwendal lachte trocken auf. »Drei Tage! Zunächst machte ich mir keine Gedanken darüber. Ich war sicher, daß ich von innen einen Öffnungsmechanismus finden würde. Ich saß fasziniert über den Büchern und habe darüber die Zeit vergessen. Und ich habe nicht bemerkt, daß ich nicht allein war.« »Nicht? Wer war denn da unten?« Rias Augen weiteten sich. »Merlin! Er muß mir gefolgt sein, als ich in den Turm hinabstieg. Vielleicht hat er auch das Buch aus dem Spalt
gestoßen, als er sich durchschlängelte. Drei Tage hockte ich mit ihm in dem Turmverlies. Und dabei muß es irgendwie geschehen sein. Ich habe es nicht gleich bemerkt, erst später, als ich den Mechanismus fand und mich – uns – befreien konnte. Ich verspürte danach eine seltsame Veränderung, die mit mir geschehen war. Ich konnte plötzlich im Dunkeln hervorragend sehen, ich vernahm leiseste Geräusche, die ich vorher nie hören konnte.« »Das ist ja wie – wie eine Katze!« Ria hob abwehrend die Hände und schaute ihn ziemlich ungläubig an. Gwendal senkte wieder den Blick, als könne er Rias Zweifel nicht ertragen. »Und Merlin benahm sich ebenso seltsam. Er nahm fast menschliche Züge an, öffnete Türen, schien die menschliche Sprache zu verstehen, handelte wie ein Mensch.« »Das ist ja unglaublich!« flüsterte Ria fassungslos. »Ja, das ist es, und du zweifelst an meinen Worten.« »Nein«, erwiderte Ria mit fester Stimme. »Ich glaube es dir. Ich habe selbst beobachtet, wie sonderbar Merlin sich verhält. Allerdings«, sie lachte spöttisch, »mehrmals habe ich tatsächlich an meinem Verstand gezweifelt.« Gwendal ergriff Rias Hand und seufzte. »Es wurde noch schlimmer. Selbst wenn ich nicht im Schloß weilte, ja selbst von London aus lebte ich mit Merlins Körper, seinen Augen, seinen Ohren. Ich sah, was er sah, ich hörte, was er hörte, ich spürte, was er spürte.« »Was??« Ria wich zurück und eine heftige Röte stieg in ihr Gesicht. »Um Gottes Willen!« Sie dachte an das Bad, das Bett – meine Güte, er war immer bei ihr. Der Kater war stets in ihrer Nähe, und damit Gwendal selbst! Er sah die Röte auf ihren Wangen und wie Schweiß auf ihrer Stirn glitzerte. »Du bist so schön«, flüsterte er und schaute sie hilflos an. »Und ich konnte mich dagegen nicht wehren.«
Ria brauchte einige Augenblicke, um sich wieder zu sammeln. »Aber wie ist so etwas möglich?« fragte sie schließlich. »Ich habe seitdem immer wieder versucht, das herauszufinden. Ich habe das Geheimnis aber nicht völlig lüften können. Ich vermute, daß es mit diesen Zaubersprüchen zusammenhängt. Da stand: Mein Geist wird zu deinem Geist, dein Geist wird zu meinem Geist, dein Wille wird zur Hand der Ferne, die Gedanken des Äthers fallen in den Kelch des Wissens! Und noch vieles mehr. Ich weiß nur, daß ich diese Verse laut gesprochen habe.« »Es ist wie die Verschmelzung zweier Seelen. Der Seelen von dir – und Merlin!« Ria preßte ihre Hände vor den Mund. »Oh, mein Gott!« »Nun weißt du es. Und du wirst genauso reagieren wie Cynthia.« Niedergeschlagen ließ er seine Hände in den Schoß sinken. »Was hat sie denn gesagt?« »Nichts. Sie hat mich nur angeschaut und dann telefoniert. Ich war zwei Jahre in einer Nervenheilanstalt.«
*
Ria schwieg. Nur das leise Klappern des feinen Porzellans der Teetassen unterbrach die Stille. Sie saßen sich in der Bibliothek am Kamin gegenüber. Sie hing ihren Gedanken nach. Es war zu unglaublich, was Gwendal ihr erzählt hatte. Er saß bleich und zerknirscht in seinem Sessel und wagte kaum, sie anzublicken. Doch dann hob er den Blick und sah sie fast flehend an.
»Wirst du mich verlassen?« fragte er leise. Ria schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe hier.« »Du mußt dich nicht verpflichtet fühlen, mit einem Irren unter einem Dach zu leben«, sagte er bitter. »Das darfst du nicht sagen. Ich halte dich nicht für verrückt. Im Gegenteil!« Sie schwieg wieder. Glaubte sie das wirklich? Wenn es der Wahrheit entsprach, was Gwendal ihr erzählt hatte, dann war es ein Zauber, eine Magie, etwas Übernatürliches. Oder war er tatsächlich verrückt, verrückt geworden in der Einsamkeit eines alten Schlosses mit einer wechselvollen Geschichte? Ria fuhr hoch. »Ich las in der Chronik von zwei seltsamen Ereignissen, wo ein Mann sich nachts in einen Werwolf verwandelte. Zuvor war er einige Tage verschwunden. Und einen zweiten Fall gab es auch in der Vergangenheit dieses Schlosses.« »Und ich bin der dritte Fall«, erwiderte Gwendal sarkastisch. »Was ist aus den beiden geworden?« wollte Ria wissen. »Beide sind umgebracht worden.« »Sehr ermutigend!« Ria verfiel wieder in tiefes Brüten. »Doch es muß irgend etwas geben, um diesen Zauber, oder was es ist, rückgängig zu machen.« »Darüber zerbreche ich mir seit fünf Jahren den Kopf«, erwiderte er heftig. »Ich habe es nicht gefunden.« Er stützte den Kopf in die Hand und starrte entmutigt in die Flammen im Kamin. »Warum hast du die Bücher dort unten gelassen?« fragte Ria nach einer Weile. »Niemand sollte sie lesen. Ich weiß nicht, was sie bei anderen Menschen angerichtet hätten. Es reicht, wenn einer hier verrückt ist.« »Gab es früher noch mehr Angestellte auf dem Schloß?«
»Natürlich. Aber vor fünf Jahren haben… sie alle gekündigt. Mit mir wollte keiner unter einem Dach leben.« »Außer Mildred und James.« »Findest du es nicht eigenartig, daß sie geblieben sind, wo alle anderen vor dir geflüchtet sind?« »Na ja, sie waren bereits meinen Eltern treu ergeben. Und mir sind sie es offensichtlich auch.« Er zuckte hilflos mit den Schultern. »Wissen sie von dem geheimen Verlies da unten?« »Ich glaube nicht. Zumindest habe ich es ihnen nicht erzählt.« »Aber sie wissen, was mit dir los ist. Zumindest hat Mildred dementsprechende Andeutungen gemacht. Leider hat James sie immer im unpassendsten Augenblick unterbrochen, als wolle er nicht, daß sie mir etwas darüber erzählt.« Gwendal blickte überrascht auf. »Meinst du, sie wissen mehr, als sie zugeben?« »Möglich. Vielleicht sollte ich Mildred noch einmal auf den Zahn fühlen, wenn sie allein ist.« »Bitte nicht«, flehte Gwendal. »Es ist so schon alles schlimm genug.« »Wir müssen einen Weg finden, diesen Zauber rückgängig zu machen und wir werden einen Weg finden!« Ria erhob sich und trat an seinen Sessel. Sie ergriff seine Hand, die kraftlos auf der Lehne lag. Sie fühlte sich warm an. Ein sanftes Lächeln glitt über ihr Gesicht. Sie beugte sich herab und suchte seine Lippen. »Wir werden es gemeinsam schaffen«, flüsterte sie.
*
»Nun, Mildred, was haben Sie uns denn Schönes zum Abendbrot gezaubert?« fragte Ria, als sie die Küche betrat. Mildred stand am Herd und rührte in einem Topf. Sie wandte sich erstaunt um. »Gezaubert? Das ist nur ein altes Rezept meiner Mutter.« »Seine Lordschaft ist voll des Lobes über Ihre Kochkünste. Und für mich, die ich keine Ahnung vom Kochen habe, grenzt es schon fast an Zauberei.« »Es sind nur Rezepte, die man getreulich befolgen muß, um nichts falsch zu machen. An Zauberei aber muß man glauben.« Ria schwieg und lauschte ihren Worten nach. Sie setzte sich an den Tisch. »Sie stehen schon lange in Diensten der Familie des Lords?« fragte sie. »Ja, ja, fast vierzig Jahre. Ich habe sogar miterlebt, als Mylord auf die Welt kam. War das eine Aufregung!« Ria lächelte. »Sie hängen sehr an Ihrem Herrn, nicht wahr?« Mildred wandte sich um und blickte Ria aufmerksam an. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie geradeheraus. »Ich würde gern wissen, was Sie wissen«, erwiderte Ria. Mildred drehte sich wieder um und rührte geschäftig im Topf. »Dieser Hasenpfeffer ist sehr kompliziert zu kochen. Man muß ständig rühren, weil die Soße sehr dick ist.« »Mildred, Sie weichen mir aus!« »Ich kann Ihnen nichts dazu sagen, Miss Wagner. Es ist schlimm, was passiert ist.« »Was wissen Sie darüber?« Mildred fuhr herum. »Es soll nicht in den Zeitungen stehen, Miss. Das will ich nicht. Und deshalb kann ich es Ihnen nicht sagen.« »Ich will keine Story daraus machen, ich will Gwendal helfen.« »Gwendal?«
»Mildred, Sie wissen ganz genau, daß ich ihn liebe. Sie haben es offenbar sogar eher gewußt als ich selbst.« Mildred schwieg wieder. »Ich habe daran geglaubt, daß es so kommen wird. Wissen ist das eine, Glauben das andere. So, das Abendbrot ist fertig. Darf ich Sie hinüber in den Rittersaal bitten? Ich glaube, Seine Lordschaft hat schon Platz genommen.«
*
Morgennebel stieg aus den Wiesen. Ria war zeitig erwacht und blickte aus dem Fenster über die weite Landschaft. Es drängte sie geradezu, ins Freie zu gehen und die kalte Morgenluft zu spüren. Vor der Tür traf sie mit Lord Holbrooke zusammen. »Guten Morgen«, sagte er mit belegter Stimme. »Wie hast du geschlafen?« »Mindestens genauso schlecht wie du. Es bringt nichts, wenn wir grübeln und uns zurückziehen. Im Augenblick würde ich lieber frische Luft schnappen. Sag mal, gilt dein Angebot noch?« »Egal, was es ist, es gilt!« Er lächelte. »Welches meinst du?« »Ich würde gern mit dir ausreiten. Natürlich nur, wenn du es möchtest.« »Wirst du nicht vom Pferd fallen?« Ria lachte. »Fängst du mich auf?« »Jederzeit. Die Pferde stehen allerdings zwei Meilen von hier auf einem Gehöft. Dort werden sie von einem Bauern versorgt. Wir müssen mit dem Wagen hinfahren.« »Na, dann los! Ich freue mich schon auf den Muskelkater, den ich morgen haben werde.«
Ria beugte sich über den Hals des braunen Pferdes und paßte sich den Bewegungen des Pferderückens an. »Das macht Spaß!« jubelte sie. Gwendal war ein wesentlich besserer Reiter als sie, doch er achtete darauf, daß sie den Anschluß behielt und nicht bei einem Sprung stürzte. »Nicht so schnell! Paß auf!« rief er ihr zu. Sie galoppierten über eine Wiese; den Hang hinauf. Die Pferde verfielen erst in Trab, dann blieben sie stehen. Außer Atem glitt Ria vom Pferderücken und ließ sich ins Gras fallen. »Ich fühle mich frei wie ein Vogel.« Lord Holbrooke stieg von seinem. Pferd und setzte sich neben sie. Zärtlichkeit lag in seinem Blick, als er sie betrachtete. Er lächelte. Sie setzte sich ebenfalls auf. »So gefällst du mir besser«, sagte sie. »Ich sehe dich gern lächeln.« Sie griff nach seiner Hand. »Ich könnte hier glücklich sein, zusammen mit dir.« »Wirklich? Und dein Beruf, deine Zeitung?« »Würde ich aufgeben. Sollen andere die Artikel schreiben. Meine Kollegin Sylvia beneidet mich um meine Reisen, sie kann meine Nachfolge antreten. Ich möchte mit dir leben.« »Es ist lieb, daß du mir das sagst. Aber ich glaube nicht, daß alles so einfach sein wird.« »Warum nicht? Wenn du das mit deiner Seelenverschmelzung meinst, können wir nichts anderes tun als abwarten.« »Abwarten? Worauf? Daß uns der passende Zauberspruch einfällt?« »Ja. Ich glaube, die Lösung liegt genau vor unserer Nase, wir sehen sie bloß nicht. Vielleicht, weil sie ganz einfach ist. Apropos Nase, kannst du riechen, was Mildred zum Frühstück gebraten hat?« »Verspottest du mich etwa?« fragte der Lord entgeistert.
Ria lachte. »Nein, aber manchmal finde ich deine Fähigkeiten ganz brauchbar.« »Du glaubst es mir ja doch nicht. Das sehe ich an deiner Nasenspitze. Da sitzt der Zweifel wie ein grüner Frosch.« Ria faßte sich an die Nase. »Nein, ich glaube nicht daran. Glaube und Wissen sind…« Sie stockte. »Was ist?« »Mildred sagte gestern etwas sehr Merkwürdiges. Eigentlich ging es um Kochrezepte. Sie meinte, ein Rezept müsse man genau befolgen, an Zauberei aber muß man glauben. Und dann sagte sie noch, daß Wissen und Glauben nicht das gleiche sei.« »Hm, das klingt wie eines der Rätsel der alten Druiden.« »Was meinst du damit?« »Weißt du, ich habe dir doch von den keltischen Priestern erzählt. Wenn sie ihr Wissen an ihre Schüler weitergaben, dann nannten sie nie die Dinge beim Namen, sondern verkleideten ihre Weisheiten in Rätseln.« »In ähnliche Rätsel, wie die in diesen Büchern?« »Ja. Auch der Spruch ist ein Rätsel.« »Wir sollten uns den Spruch noch einmal genau ansehen«, schlug Ria vor. Sie küßte ihn übermütig auf die Stirn. »Laß uns zurückreiten, ich habe Hunger.«
*
Ria und Gwendal beugten sich über das dicke Buch, das aufgeschlagen vor ihnen lag. Sie hatten es in die Bibliothek hinaufgeholt, um es im Tageslicht besser lesen zu können. Sie vermieden jedoch, die Zeilen laut nachzusprechen. Ria tippte mit den Fingern auf die Zeile: Die Gedanken fallen in den Kelch des Wissens.
»Was ist damit gemeint?« fragte sie. »Ich weiß es nicht. Kelch des Wissens, das könnte etwas sein, wo das Wissen gesammelt ist.« »Natürlich!« Ria sprang auf. »Wo sammelt jeder Mensch sein Wissen?« Sie tippte sich an den Kopf. »Hier drinnen! Damit ist das Gehirn gemeint, der Kopf.« »Und die Gedanken des Äthers wären demzufolge…« »… der Zauber. Der Zauber dringt in den Kopf. Es bedeutet, man muß an den Zauber glauben. Der Spruch ist nur das Rezept, das man getreu befolgen muß. Gütiger Himmel, was weiß Mildred davon?« »Vielleicht ist es eine alte Weisheit, die wir nur längst vergessen haben?« Gwendal packte ihre Hand. »Eines ist klar, diesem ganzen Spuk kann man nur ein Ende bereiten, wenn man auch tatsächlich an den Zauber glaubt. Doch warum hat es dann nicht funktioniert? Ich habe es doch mehrfach versucht!« »Vielleicht, weil du auch nicht so richtig daran glauben kannst. Vergiß nicht, wir sind Menschen einer anderen Zeit. Nicht umsonst haben alle dich für verrückt erklärt, weil es niemand glauben würde.« Gwendal senkte den Kopf. »Es ist alles so kompliziert. Im Märchen kommt ein schöner Prinz geritten und küßt Dornröschen wach, und schon ist der Zauber vorbei.« Ria blickte ihn an. »Wiederhole das noch einmal!« »Was? Das mit dem Märchen? Ich bin aber nicht Dornröschen!« lachte er. »Nein, aber immer kommt ein Außenstehender und erlöst den Verzauberten. Verstehst du nicht, jemand muß dir dabei helfen! Du kommst nicht allein da wieder heraus!« »Bist du dir sicher?« Er blickte Ria zweifelnd an. Aufgeregt lief Ria in der Bibliothek hin und her. »Felsenfest bin ich davon überzeugt. In jedem Märchen ist es so, und es wird auch in diesem Fall so sein. Jemand erlöst den
Verzauberten, weil er ganz fest daran glaubt, ihn erlösen zu können. Ich kann dir helfen!« »Entschuldige, Ria, aber du hast mir wiederholt bestätigt, daß du weder an Zauber, an Spuk, an Übersinnliches glaubst. Wie kannst du dann davon überzeugt sein, daß du mir in diesem Fall helfen kannst?« »Oh, Gwendal, begreifst du denn nicht? Woran glauben wir beide? Was verbindet uns beide mit gleicher Kraft?« Er blickte sie verblüfft an. »Das ist unsere Liebe!« »Jawohl, die Liebe! Sie ist die Kraft, die Macht, die uns helfen wird, diesen Fluch wieder loszuwerden. Die Lösung des Zaubers ist nicht die Entschlüsselung des Spruches, sondern daß eine größere Kraft entgegenwirkt. Die Kraft unserer Liebe!« Ria stand mitten auf dem dicken Teppich und breitete die Arme aus. Eine freudige Röte überflog ihr Gesicht. Gwendal zog sie zu sich heran. »Ich fasse es nicht«, flüsterte er. »Wir standen so dicht davor und haben es nicht bemerkt.« Sie standen mitten in der Bibliothek, hielten sich eng umschlungen und schwiegen. Es gab nichts mehr zu sagen. »Oh, Verzeihung, Mylord«, hörten sie eine erschrockene Stimme von der Tür her. Mildred hatte sich diskret wieder abgewandt. »Mildred, bleiben Sie hier!« riefen beide wie aus einem Mund. Befangen blieb Mildred stehen. Ria eilte auf die alte Dame zu. »Wir beide müssen Ihnen danken. Sie haben uns bei der Lösung des Rätsels ein großes Stück geholfen.« »Ich?« fragte sie erstaunt. »Aber gewiß. Sie haben mich darauf gebracht, daß die Lösung direkt vor unserer Nase liegt. Ach, Mildred, ich bin ja so glücklich!« Überschwenglich umarmte Ria die kleine weißhaarige Frau.
»Heißt das, daß Sie uns nun nicht mehr verlassen werden?« fragte sie erfreut. Der Lord legte seinen Arm um Rias Schulter. »Ich wäre ein Narr, wenn ich mein Glück nicht festhalten würde«, sagte er lachend. »Und ich hätte aus den alten Weisheiten nichts gelernt, wenn ich die Kraft nicht respektieren würde, die uns beide für immer verbindet.« Mildred wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln. »Verzeihung, Mylord, ich muß das unbedingt James erzählen.« »Natürlich. Und wir drei, Ria, Merlin und ich, haben noch einen letzten Gang vor uns. Und dann werden wir den geheimen Eingang zumauern.« Ria blickte ihn erstaunt an. »Warum?« »Wir können mit diesen alten keltischen Weisheiten nicht umgehen. Uns ist das Wissen dazu verloren gegangen. Deshalb sollen die Bücher für immer da unten begraben bleiben. Niemand soll in diesem Schloß mehr verzaubert werden.« »Darling, hier irrst du. Mindestens ein Mensch in diesen ehrwürdigen Hallen ist verzaubert und möchte es auch bleiben.« »So? Und wer ist das?« »Ich bin es. Du hast mich verzaubert. Doch ich empfinde es als so wunderbar, daß ich es mir gar nicht mehr anders wünsche. Es soll ein Leben lang so bleiben!«
*
Ria hielt ein Telegramm in den Händen. Sie winkte Gwendal zu, der mit dem Fahrer eines Lieferwagens sprach. Trotz des
Trubels, der in den letzten Tagen im Schloß herrschte, lachte sie ausgelassen. »Es ist von Sylvia«, sagte Ria. »Sie befindet sich in Edinburgh, der letzten Station ihrer Reise. Danach kommt sie her, damit sie unsere Hochzeit nicht verpaßt. Meine Güte, bis dahin ist ja noch so viel zu organisieren und…« »Laß das meine Sorge sein, Darling, und es gibt ja so viele Helfer dafür, die sich ebenfalls auf das Ereignis freuen. Mildred ist Feuer und Flamme und scheucht den armen James durchs ganze Schloß. So richtig traut sie dem neuen Personal wohl nicht!« »Die gute Seele! Aber sie wäre tödlich beleidigt, wenn sie nicht alle Fäden in der Hand halten dürfte!« »Laß sie auch weiter in diesem Glauben«, lachte der Lord. »Und jetzt möchte ich dir mein Hochzeitsgeschenk für dich zeigen. Es wurde gerade geliefert.« »Ist es in dieser Kiste?« fragte Ria verwundert. Gwendal nickte und blickte sie geheimnisvoll an. »Was ist es? Darf ich es auspacken?« fragte Ria und hüpfte ungeduldig wie ein Kind zur Weihnachtsbescherung. »Natürlich darfst du das. Aber nicht hier. Ich habe es in den Park bringen lassen.« »In den Park?« Der Lord faßte Rias Hand und beide liefen ausgelassen den breiten Parkweg entlang zum See. Die Kiste stand neben dem Pavillon. Gespannt hockte sich Ria daneben. Sie hörte ein seltsam zischendes Geräusch, das aus der Kiste kam. »Mach sie auf!« forderte Gwendal sie auf. Vorsichtig zog sie eine Klappe hoch. Zuerst kam ein weißer Kopf an einem langen Hals zum Vorschein und schwarze Augen blickten sie mißtrauisch an. Dann folgte ein imposanter Körper.
»Ein weißer Schwan!« rief Ria überrascht. »Zwei weiße Schwäne«, korrigierte sie der Lord. »Die Dame ist noch etwas schüchtern. Schau, jetzt wagt sie sich auch heraus. Es ist ein Pärchen und sie gehören dir.« Ria schlang ihre Arme um seinen Hals. »Es ist ein wunderschönes Geschenk«, flüsterte sie bewegt. Das Schwanenpaar strebte dem Wasser zu und ließ sich mit einem Platsch in die Fluten gleiten. »Ob sie wohl auch Nachwuchs bekommen werden?« überlegte Ria und lehnte den Kopf an Gwendals Schulter. »Warum nicht? Wenn sie sich so lieben wie wir beide, wird der Nachwuchs nicht lange auf sich warten lassen.« Rias Wangen röteten sich. »Mir scheint, du würdest dich über Nachwuchs freuen«, sagte sie schmunzelnd. »Natürlich! Und nicht nur bei den Schwänen!«