Das Gelächter dunkler Götter Herausgegeben von DAVID PRINGLE ZEITTAFEL DER ALTEN WELT Ein kurzer Führer durch die Gesch...
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Das Gelächter dunkler Götter Herausgegeben von DAVID PRINGLE ZEITTAFEL DER ALTEN WELT Ein kurzer Führer durch die Geschichte der Warhammer-Welt Jahr/Ereignis 0001 Die Zeit Sigmars, der das Reich gründete und auch erster Kaiser war. Die Kriege gegen die Kobolde enden, als ihre Horden über das Weltrandgebirge in die Dunklen Länder zurückgetrieben werden. 0050 Sigmar bringt seinen magischen Streithammer, den gefürchteten WARHAMMER, zurück zu den Zwergen, die ihn schmiedeten, und wird nie wieder gesehen. 1111 Eine verheerende Pestepidemie dezimiert ganze Völkerschaften in allen Teilen des Reiches. 1500 Religionskrieg zwischen Tilea/Estalia und Arabien. 1547 Der Großherzog von Middenland erklärt sich ohne Wahl zum rechtmäßigen Herrscher und leitet damit das Zeitalter der drei Kaiser ein. 1750 Kislev trennt sich vom Reich. 1839 Geburt der Genevieve Dieudonne (der zukünftigen Heldin von ›Drachenfels‹) in Parravon. 1851 Graf Drachenfels plündert Parravon. 1855 Genevieve wird von Chandagnac dem Alten zu einem unsterblichen Vampir gemacht. 1937 Graf Drachenfels veranstaltet ein Festmahl, bei dem er seine Gäste vergiftet; Tod des Kaisers Carolus. 1979 Kaiserin Magrita wird für vierhundert Jahre die letzte gewählte Herrscherin. 2150 Meerelfen kehren in die Alte Welt zurück.
2177 Tod Chandagnacs des Alten, des vampirischen ›Vaters‹ der Genevieve Dieudonne. 2262 Geburt Jewgenij Jefimowitschs, des künftigen Hohenpriesters von Tzeentch, dem Gott des Chaos, der als ›Der Veränderer der Wege‹ bekannt ist. 2302 Mit wiederholten Einfällen des Chaos beginnt ein neuer Ansturm auf die Alte Welt. Magnus der Heilige erscheint in Nuln, um seinen legendären Ruf zu den Waffen zu verkünden. Unter Magnus' Führung werden die Kräfte des Chaos zurückgeschlagen. Magnus wird zum Kaiser gekrönt und stellt die frühere Größe und den Ruhm des Reiches wieder her. 2369 Tod Magnus' des Heiligen. Die Kaiserkrone geht über auf Graf Leopold von Stirland. 2370 Geburt Gotreks des Zwerges, des künftigen Bezwingers der Trolle. 2401 Verschwinden des Kaisers Matthias IV. 2429 Der Bürgermeister von Marienburg erklärt die Unabhängigkeit der Ödnis und die Lostrennung vom Reich. Kaiser Dieter IV. wird abgesetzt. 2446 Geburt des Söldners Vukotic, der später Gefolgsmann der Mecklenbergs von Sudenland wird. 2456 Geburt des Söldners Wolf, dem späteren Gefährten Konrads. 2459 Geburt Oswalds von Mecklenberg, Kurfürst, Baron von Sudenland und Vater von Johann und Wolf (vgl. Unwissende Armeen). 2460 Geburt des ›Schmutzigen‹ Harald Kleindienst (Held von Bestien in Samt). 2465 Geburt Orfeos (des Erzählers von Zaragoz, Seuchendämon und Sturmkrieger). Im Alter von acht Monaten wird er von den Waldelfen des Waldes von Loren als Findelkind adoptiert. 2470 Harmis Detz, Kriegsveteran der Grenzwache von Khypris in den Grenzfürstentümern, erlebt den ersten einer neuen Serie
von Angriffen von den Kräften des Chaos. Gegen sein besseres Urteil nimmt Harmis an der Jagd auf den Seuchendämon Ystareth teil (vgl. Seuchendämon). Vukotic in den Nördlichen Wäldern und Ödländern des Nördlichen Chaos, wo er in den Dienst des Zaren Radii Boka tritt. 2471 Geburt Detlef Siercks, des größten Dramatikers und Intendanten der Warhammerwelt. 2475 Geburt Johanns von Mecklenberg, Oswalds Sohn. 2477 Fürst Oswald von Königswald wirbt eine Bande von Abenteurern an, darunter die Vampirin Genevieve Dieudonne, und führt sie in die Grauberge, um den bösen Zauberer Drachenfels aufzuspüren und zu vernichten. 2478 Geburt Konrads; Geburt Wolfs von Mecklenberg, Johanns jüngerem Bruder. 2483 Vukotic tritt als Johanns Privatlehrer in den Dienst derer von Mecklenberg. 2490 In einem Dorf am Rand des Schattenwaldes rettet der junge Konrad Elyssa vor einem Tiermenschen, und ihre Freundschaft beginnt (vgl. Konrad). 2491 Cicatrice, der Meister des Chaos, verübt einen Überfall auf den Sommersitz der Familie von Mecklenberg in den Südländern. Während Johann und Vukotic dem Gemetzel entkommen, gerät Wolf in Gefangenschaft (vgl. Unwissende Armeen). Kaiser Luitpold stirbt, und sein Sohn Karl-Franz besteigt den Thron. Geburt des Prinzen Luitpold. 2492 Auf der Insel Morien stoßen Herla, König von Plenydd und sein Barde Trystan auf den unheilvollen Einfluß einer Gruppe fremder Elfen. Trystan reist später nach Albion, dann weiter nach Bretonnia (vgl. Sturmkrieger). 2495 Gotrek, der Bezwinger der Trolle, erforscht in Begleitung seines menschlichen Gefährten Felix seltsame Vorgänge im Großen Wald (vgl. Unwissende Armeen). 2496 Auf ihrer Schatzsuche im Carag der Acht Gipfel schließen
Felix und Gotrek sich den Gefolgsleuten des Barons Gottfried von Diehl an und reisen durch die Schwarzen Berge ins Exil der Grenzfürstentümer (vgl. Wolfreiter). Unter dem Carag der Acht Gipfel findet Felix das verlorene Schwert Karaghul (vgl. Roter Durst). Sommersonnenwende. Konrads Dorf wird von Tiermenschen angegriffen und niedergebrannt. Konrad trifft den Söldner Wolf und erklärt sich bereit, für fünf Jahre sein Knappe zu sein (vgl. Konrad). Um diese Zeit hält sich der Zauberer Listenreich in Middenheim auf, wo er mit Verwerfungsgestein experimentiert. Trystan Harper begegnet Orfeo in Bretonnia und erzählt ihm die Geschichte der Sturmkrieger. 2499 Orfeo trifft Harmis Detz in den Grenzfürstentümern und hört die Geschichte vom Seuchendämon. Konrad und Wolf arbeiten in einem Goldbergwerk in Kislev. Der Zauberer Listenreich tritt in den Dienst Gustavs des Wahnsinnigen von Talabecland. 2500 Belagerung Praags. Diese Stadt der Kisleviten im Norden des Reiches wird von massierten Streitkräften angegriffen, zu denen Gefolgsleute aller vier Großen Mächte des Chaos gehören. 2501 Johann und Vukotic erreichen in den Ödländern des Nördlichen Chaos endlich Cicatrice und Johanns Bruder Wolf (vgl. Unwissende Armeen). Sommersonnenwende. Konrad und Wolf ziehen auf der Suche nach Schätzen, die in einem verlassenen Zwergentempel vergraben sein sollen, nach Norden. Im Anschluß an seine Flucht vor einem Kriegerhaufen, der sich Khorne gewidmet hat, dem Blutgott der Kräfte des Chaos, tut sich Konrad mit dem Zauberer Listenreich zusammen. Wegen verbotener Experimente mit Verwerfungsgestein aus Middenheim vertrieben, reisen sie nach Altdorf (vgl. Schattenbrut). 2502 Unter der Gönnerschaft des Prinzen Oswald von Königswald vom Ostland versucht Detlef Sierck sein Schauspiel Drachenfels im Schloß Drachenfels selbst zu inszenieren. Die Auffüh-
rung gerät beinahe zur Katastrophe, als der Große Zauberer zurückkehrt, um Vergeltung zu üben (vgl. Drachenfels). Konrad entdeckt die wahre Ungeheuerlichkeit des SkavenPlanes in Middenheim und Altdorf (vgl. Schlachtklinge). In Estalia gerät der Minnesänger Orfeo in die internen Auseinandersetzungen von Zaragoz und kommt gerade noch mit dem Leben davon (vgl. Zaragoz). 2503 Orfeo wird vom Piraten Alkadi Nasreen gefangen und erzählt ihm die Geschichten Zaragoz und Seuchendämon und Sturmkrieger. Nach dem Zusammenbruch des Großen Theogonisten Yorri wird Lektor Mikael Hassenstein, der Beichtvater des Kaisers, zur mächtigsten Einzelperson im Kult Sigmars (vgl. Bestien in Samt). 2506 Ein skrupelloser Mörder durchstreift die Straßen Altdorfs. Der Schmutzige Harald und Rosanne suchen angesichts wachsender Unruhe und der Machenschaften des Chaos verzweifelt nach dem Täter (vgl. Bestien in Samt). Johann von Mecklenberg kehrt als Kurfürst auf seine Familienbesitzungen in Sudenland zurück. Genevieve verläßt Altdorf.
INHALT WILLIAM KING Geheimnisnacht CHARLES DAVIDSON Die Räuber und die Toten NICOLA GRIFFITH Die Andere SEAN FLYNN Lehrlingsglück
BRIAN CRAIG Ein Gartenfreund in Parravon STEVE BAXTER Das Himmelsboot JACK YEOVIL Unwissende Armeen WILLIAM KING Das Gelächter dunkler Götter
WILLIAM KING Geheimnisnacht »An den Galgen mit allen Kutschern und sogenannten Edelfrauen«, murrte Gotrek Gurnisson und fügte eine Verwünschung in der Zwergensprache hinzu. »Warum mußtest du unbedingt die Dame beleidigen?« entgegnete Felix Jäger mißmutig. »Wir können von Glück sagen, daß sie uns nicht einfach erschossen haben. Wenn man es Glück nennen kann, am Vorabend der Geheimnisnacht im Reikwald abgeladen zu werden.« »Wir haben für die Fahrt bezahlt. Wir hatten genauso wie sie das Recht, in der Kutsche zu sitzen. Die Lakaien waren erbärmliche Feiglinge«, erwiderte Gotrek. »Sie weigerten sich, Mann gegen Mann mit mir zu kämpfen. Es würde mir nichts ausmachen, auf eine stählerne Lanze gespießt zu werden, aber mit einer Ladung Schrot erledigt zu werden, ist kein Tod für den Bezwinger der Trolle.« Felix schüttelte den Kopf. Es war offensichtlich, daß der Gefährte wieder einmal in übler Stimmung war. Es war nutzlos, mit
ihm zu streiten; es gab genug andere Sorgen, die ihn beschäftigten. Die Sonne näherte sich dem Horizont und verlieh dem von aufsteigenden Nebelschwaden verhangenen Wald eine rötliche Tönung. Lange Schatten breiteten sich unter den Bäumen aus und brachten allzu viele beängstigende Geschichten von den Schrecken zu Bewußtsein, die in den Tiefen der Wälder lauerten. Felix wischte sich die Nase mit dem Saum seines Umhangs, dann zog er das warme Tuch aus Sudenland fester um sich. Er schnupfte und blickte zum Himmel, wo Morrslieb und Mannslieb, die beiden ungleichen Monde, bereits aufgegangen waren. Morrslieb leuchtete in einem schwachen grünlichen Schimmer. Es war kein gutes Zeichen. »Ich fürchte, ich bekomme ein Fieber«, sagte Felix. Der Trollbezwinger blickte zu ihm auf und schmunzelte geringschätzig. Seine goldene Nasenkette, die vom rechten Nasenflügel zum Ohrläppchen verlief, glänzte in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne wie ein blutiger Bogen. »Ihr Menschen seid eine schwache Rasse«, schnaubte Gotrek. »Das einzige Fieber, das ich fühle, ist das Schlachtenfieber. Es singt in meinem Kopf.« Er wandte sich um und spähte in die Dunkelheit des Waldes. »Kommt heraus, verfluchte Bestien!« rief er. »Ich habe ein Geschenk für euch, ihr Wanzenbäuche!« Er lachte laut und befühlte die Schneide seiner schweren beidhändigen Streitaxt. Felix sah, daß er sich schnitt und den Daumen in den Mund steckte. »Sigmar beschütze uns, sei still! Wer weiß, was in einer Nacht wie dieser dort draußen herumschleicht?« Gotrek bedachte ihn mit einem wilden Blick. Felix sah den Glanz wahnsinniger Gewalttätigkeit in seinen Augen; instinktiv tastete seine Hand nach dem Schwertgriff. »Gib mir keine Befehle, Menschling. Ich bin von der älteren
Rasse und nur den Königen unter dem Berg verpflichtet, auch wenn ich im Exil lebe.« Felix deutete eine förmliche Verbeugung an. Er war im Gebrauch des Schwertes gut geschult. Die Narben in seinem Gesicht zeigten, daß er in seinen Studentenjahren mehrere Duelle ausgefochten hatte. Einst hatte er einen Mann getötet und dadurch eine vielversprechende akademische Laufbahn beendet. Gleichwohl vermochte er dem Gedanken an einen Zweikampf mit Gotrek wenig abzugewinnen. Zwar reichte ihm der struppige Haarschopf des Trollbezwingers nur bis an die Brust, aber der stämmige Zwerg war schwerer als er, und sein breit-gedrungener Körper bestand ganz aus Muskeln. Felix hatte ihn mit der langstieligen Streitaxt kämpfen sehen. Der Zwerg nahm die Verbeugung als Entschuldigung und wandte sich wieder der Dunkelheit zu. »Heraus mit euch!« rief er. »Mich kümmert's nicht, wenn alle bösen Mächte in dieser Nacht ihr Unwesen treiben. Kommt nur her, ihr Mißgeburten, ihr Ungeziefer. Ich nehme es mit euch allen auf.« Der Zwerg steigerte sich in einen unsinnigen Wutausbruch hinein. Während der Zeit ihrer Bekanntschaft hatte Felix bemerkt, daß Gotreks lange Phasen düsteren Brütens oft von jähzornigen Aufwallungen abgelöst wurden. Diese Stimmungsumschwünge gehörten zu den Eigenheiten seines Gefährten, die Felix faszinierten. Er wußte, daß Gotrek den Kriegsdienst als Söldner angestrebt hatte und zum Trollbezwinger geworden war, um für irgendein Verbrechen zu büßen. Er hatte geschworen, im ungleichen Zweikampf mit fürchterlichen Ungeheuern den Tod zu suchen. Mit einer erbitterten Hartnäckigkeit, die an zwanghaften Wahn grenzte, hielt er an seinem Eid fest. Vielleicht, dachte Felix, würde ich auch den Verstand verlieren, wenn ich ins Exil verbannt und unter Fremden wäre, die nicht einmal meiner eigenen Rasse angehören. Er empfand Mitgefühl für den rasenden Zwerg, wußte er doch, wie es war, infolge eines
grausamen Schicksals aus der Heimat vertrieben zu sein. Das Duell mit Wolfgang Krassner hatte einen handfesten Skandal hervorgerufen. Gegenwärtig aber schien der Zwerg darauf aus, sie beide in den Untergang zu reißen, und damit wollte er nichts zu schaffen haben. Felix stapfte die ausgefahrene Landstraße weiter. Mit dem Schwinden des Tageslichts wurde der Schein der beiden Monde heller, und Felix sandte besorgte Blicke hinauf. Hinter ihm nahmen die Tiraden des Zwergs ihren Fortgang. »Gibt es keine Krieger unter euch, ihr Strauchdiebe? Kommt und fühlt meine Axt, feiges Gelichter. Sie dürstet nach eurem Blut!« Nur ein Verrückter konnte in der Geheimnisnacht die dunklen Mächte so herausfordern. Felix glaubte fernen Gesang in der harten, kehligen Sprache der Bergzwerge zu vernehmen, doch dann brüllte Gotrek wieder los: »Schickt mir euren Anführer, ihr Halunken, daß ich ihn wie einen Kürbis spalte!« Alles blieb still. Über der Landstraße verdichtete sich der feuchtkalte Bodennebel. Dann ertönte weit entfernt das Geräusch galoppierender Pferde in der stillen Nacht. Was hatte dieser Verrückte angerichtet, dachte Felix; hatte er eine der Alten Mächte beleidigt? Hatten sie ihre Dämonenreiter ausgesandt, um Gotrek und ihn selbst zu vernichten? Vorsichtshalber verließ Felix die Landstraße und zog sich in den Wald zurück. Nasse Blätter streiften sein Gesicht wie die Finger von Toten. Rasch verstärkte sich das Hufgetrappel; die Reiter mußten mit höllischer Geschwindigkeit die Straße dahergesprengt kommen. Nur übernatürliche Wesen konnten auf der von Wagenrädern tief zerfurchten Straße solch ein halsbrecherisches Tempo reiten. Mit zitternder Hand zog Felix sein Schwert aus der Scheide. Es war eine Dummheit gewesen, sich mit Gotrek zusammenzutun. Nun würde er sich nie mehr mit der Dichtkunst beschäftigen
können. Schon hörte er das laute Wiehern von Pferden, Peitschenknallen und das Rattern und Rumpeln schwerer Wagenräder. »Gut!« brüllte Gotrek. Seine Stimme verlor sich in dem rasch näher kommenden Geräusch des Gespanns. »Gut!« Darauf folgte lautes Wutgeheul, und vier riesige Rappen jagten mit einer schwarzen Kutsche vorüber. Felix sah die hohen, eisenbeschlagenen Räder über Unebenheiten der Straße springen. Auf dem Bock saß die schwarzgekleidete Gestalt des Kutschers mit flatterndem Umhang. Felix wich ins Unterholz zurück. Er bog die Zweige der Sträucher auseinander und trat wieder auf die Straße hinaus. Er brauchte nicht lange zu warten, bis Gotrek fluchend hinterhergestampft kam, wütender und zerzauster denn je. Er war von Kopf bis Fuß mit Schlamm bespritzt, sein struppiges Haar war verklebt, sein mit Messingknöpfen verziertes Lederwams aufgerissen. »Die Saulümmel hätten mich beinahe überfahren!« schrie er. »Los, ihnen nach!« In einem schnellen Trab stampfte er die schlammige Straße weiter. Felix blieb nichts übrig, als ihm zu folgen. Er bemerkte, daß Gotrek in seinem heimatlichen Khazalid einen Schlachtgesang anstimmte.
* Ein gutes Stück weiter auf der Straße nach Bogenhafen stießen sie auf das Gasthaus Zu den stehenden Steinen. Die Fensterläden waren geschlossen, und kein Licht zeigte sich. Aus den Stallungen drang Pferdegewieher, doch als sie um das Haus auf den Wirtschaftshof gingen, stand dort keine Kutsche, nur der Karren eines Straßenhändlers, und im offenen Pferdestall fanden sich nur ein paar unruhige kleine Steppenpferde. »Die Kutsche holen wir nicht mehr ein«, sagte Felix. »Besser,
wir sehen uns nach einem Bett für die Nacht um.« Er blickte mißtrauisch zu Morrslieb auf, dem kleineren Mond, dessen ungesundes grünliches Licht stärker geworden war. »In diesem üblen Licht bin ich nicht gern unterwegs.« »Du bist schwach, Menschling, und feige.« »Sie werden Bier haben.« »Andererseits sind einige deiner Vorschläge nicht völlig abwegig. Obwohl euer Bier natürlich sehr wäßrig ist.« »Natürlich«, sagte Felix. Aber die Ironie war an Gotrek verloren. Das Gasthaus war nicht befestigt, aber die Wände waren dick, und als sie zur Tür hinein wollten, fanden sie diese verschlossen. Gotrek schlug mit dem Stiel seiner Streitaxt gegen das Holz. Alles blieb still. »Ich rieche, daß Leute im Haus sind«, bemerkte Gotrek. Felix wunderte sich, daß der Zwerg außer seinem eigenen Gestank noch etwas anderes riechen konnte. Gotrek wusch sich nie und bändigte sein borstiges Haar mit Tierfett. »Sie werden sich eingeschlossen haben. In der Geheimnisnacht ist außer Hexen und Dämonen und ihren Verehrern niemand unterwegs.« »Die schwarze Kutsche war unterwegs«, erwiderte Gotrek. »Die Insassen führten nichts Gutes im Schilde. Die Fenster waren verhangen, und die Kutsche trug keine Wappenzeichnung.« »Meine Kehle ist zu trocken, um solche Einzelheiten zu erörtern. Los, macht auf da drinnen, oder ich schlage die Tür ein!« Felix glaubte Bewegung im Inneren des Hauses zu hören. Er legte ein Ohr an die Tür. Stimmen murmelten, und jemand schien zu schluchzen. »Wenn du nicht willst, daß ich deinen Kopf treffe, Menschling, solltest du beiseite treten«, sagte Gotrek. »Augenblick. He! Machen Sie auf! Mein Freund hat eine sehr
große Streitaxt und einen sehr kurzen Geduldsfaden. Ich schlage vor, Sie tun, was er sagt, sonst verlieren Sie Ihre Tür.« »Was war das eben mit kurz?« fragte Gotrek gereizt. Hinter der Tür ertönte eine dünne, zittrige Stimme. »Im Namen Sigmars, hinweg mit euch, ihr Dämonen des Abgrunds!« »So, das reicht«, sagte Gotrek. »Ich habe genug.« Er holte mit der Streitaxt aus. Felix sah die eingeätzten Runen der Klinge im Licht Morrsliebs schimmern und sprang beiseite. »Im Namen Sigmars«, rief er. »Sie können uns nicht exorzieren. Wir sind einfache, müde Reisende.« Die Axt fuhr mit einem dumpfen Schlag in die Tür. Holzsplitter flogen heraus. Gotrek wandte den Kopf zu Felix und grinste bösartig zu ihm auf. Seine breiten Zahnlücken waren nicht zu übersehen. »Schlechte Arbeit, diese Tür«, bemerkte Gotrek. »Ich schlage vor, Sie machen auf, solange Sie noch eine Tür haben«, rief Felix. »Warten Sie«, sagte die bebende Stimme. »Diese Tür kostete mich fünf Goldkronen.« Die Tür wurde entriegelt und geöffnet. Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit einem traurigen, von weißem Haar umrahmten Gesicht stand vor ihnen. In einer Hand hielt er einen Knüppel. Hinter ihm stand eine alte Frau mit einer Untertasse, auf der eine Kerze flackerte. »Sie werden Ihren Knüppel nicht benötigen, denn wir brauchen nur ein Nachtlager«, sagte Felix. »Und Bier«, grunzte der Zwerg. »Richtig, und Bier«, bekräftigte Felix. »Viel Bier«, ergänzte Gotrek. Felix sah dem alten Mann in die Augen und zuckte die Achseln. Die Gaststube war ein niedriger, dunkler Raum, und die Theke bestand aus Brettern, die über zwei Fässer gelegt waren. In einer Ecke saßen drei Männer, die wie fahrende Händler aussahen, und beobachteten die Neuankömm-
linge mit mißtrauischer Wachsamkeit. Sie waren mit Dolchen bewaffnet. Der schwache Kerzenschimmer ließ ihre Züge nicht klar erkennen, aber sie schienen besorgt. Nachdem der Wirt sie hastig eingelassen hatte, schob er die Riegel wieder vor. »Können Sie bezahlen, Herr Doktor?« fragte er nervös. Sein Adamsapfel hüpfte auf und nieder. »Ich bin kein Doktor, ich bin Dichter.« Felix zog seinen dünnen Geldbeutel hervor und zählte seine paar verbliebenen Goldmünzen. »Aber ich kann bezahlen.« »Essen«, sagte Gotrek. »Und Bier.« Darauf brach die alte Frau in Tränen aus. Felix starrte sie an. »Was hat sie nur?« »Du siehst doch, daß sie ganz durcheinander ist, die alte Hexe«, meinte Gotrek. Der hagere Wirt nickte. »Unser Günter ist nicht heimgekommen, ausgerechnet in dieser Nacht.« »Bringen Sie Bier«, sagte Gotrek, und der Wirt ging fort. Gotrek stampfte hinüber zu den fahrenden Händlern, die ihn wachsam beobachteten. »Hat einer von Ihnen eine schwarze Kutsche gesehen, gezogen von vier Rappen?« »Sie haben die schwarze Kutsche gesehen?« fragte einer der Händler. Seine Furcht war unverkennbar. »Ob ich sie gesehen habe? Das verdammte Ding fuhr mich beinahe über den Haufen.« Einer der Händler zog hörbar die Luft ein. Felix vernahm ein metallisches Klappern und wandte den Kopf. Der Wirt bückte sich und hob eine Schöpfkelle auf, die ihm aus der Hand gefallen war. »Dann haben Sie Glück gehabt«, sagte der beleibteste und am wohlhabendsten aussehende Händler. »Die Leute sagen, es sei eine Kutsche der Dämonen. Ich habe gehört, daß sie jedes Jahr in der Geheimnisnacht hier vorbeikommt. Manche behaupten, sie befördere kleine Kinder aus Altdorf, die am Ring der Dunklen
Steine geopfert werden.« Gotrek nickte interessiert. Die Richtung, die das Gespräch nahm, war nicht nach Felix' Geschmack. »Sicherlich ist das nur eine Legende«, wandte er ein. »Nein, Herr«, rief der Wirt hinter der Theke, wo er Bierkrüge füllte. »Jedes Jahr hören wir den rollenden Donner, wenn sie vorbeifährt. Vor zwei Jahren schaute Günter hinaus und sah eine schwarze Kutsche mit vier Rappen, genau wie von Ihnen beschrieben.« Bei der Erwähnung ihres Sohnes begann die alte Frau wieder zu weinen und zu jammern. Der Wirt brachte das Bier in zwei großen Krügen, und seine Frau servierte ein aufgewärmtes Schmorgericht. Gotrek nahm beide Bierkrüge entgegen. »Bringen Sie Bier auch für meinen Gefährten«, sagte er. Der Wirt ging, um einen weiteren Krug füllen. »Wer ist Günter?« fragte Felix, als der Mann wieder an den Tisch kam. Die Frage entlockte der alten Frau ein neuerliches Winseln. »Mehr Bier«, verlangte Gotrek. Der Wirt starrte verblüfft auf die leeren Krüge. »Nimm einstweilen meines«, sagte Felix. »Nun, Herr Wirt, wer ist Günter?« »Und warum heult die Alte jedesmal, wenn sein Name erwähnt wird?« fragte Gotrek. Er trank und wischte sich den Mund an seinem schlammüberkrusteten Ärmel ab. »Günter ist unser Sohn. Er ging heute Nachmittag in den Wald, um Holz zu fällen. Er ist nicht zurückgekommen.« »Günter ist ein guter Junge«, jammerte die alte Frau. »Wie sollen wir ohne ihn zurechtkommen?« »Vielleicht hat er sich nur verlaufen?« »Ausgeschlossen«, erwiderte der Wirt. »Günter kennt den Wald wie seine Hosentasche. Er hätte vor Stunden schon zurück
sein sollen. Ich fürchte, die Hexenversammlung hat ihn überwältigt, um ihn zu opfern.« »Es ist genau wie mit Lotte Hauptmanns Tochter, der Ingrid«, sagte der fette Händler. Der Wirt warf ihm einen unfreundlichen Blick zu. »Ich möchte nicht, daß über die Verlobte unseres Sohnes Geschichten verbreitet werden.« »Laßt den Mann reden«, erklärte Gotrek. Er nickte dem Händler zu. »Das gleiche geschah letztes Jahr in Blutroch, ein Stück weiter von hier. Kurz nach Sonnenuntergang schaute die gute Frau Hauptmann bei ihrer Tochter hinein. Sie dachte, sie hätte im Zimmer ihrer Tochter laute Geräusche gehört. Das Mädchen war fort, sie war von Gott weiß welcher zauberischen Macht aus dem verschlossenen Haus entführt worden. Am nächsten Tag wurde ein großes Geschrei angestimmt. Wir fanden Ingrid. Sie war von blauen Flecken bedeckt und in einem schrecklichen Zustand.« »Und Sie fragten das Mädchen, was geschehen war?« erkundigte sich Felix. »Gewiß, Herr. Es scheint, daß sie von Dämonen, wilden Geschöpfen des Waldes, zum Ring der Dunklen Steine gebracht wurde. Dort wartete die Hexenversammlung mit üblen Geschöpfen des Waldes. Sie trafen Vorbereitungen, das Mädchen am Altarstein zu opfern, aber sie konnte sich losreißen und den guten Namen Sigmars anrufen. Dies traf die versammelten Hexen und Unholde wie ein Schlag, und während sie taumelten, konnte Ingrid fliehen. Sie nahmen die Verfolgung auf, vermochten sie aber nicht mehr einzuholen.«
* »Das nenne ich Glück«, sagte Felix trocken.
»Spotten Sie nicht, Herr. Wir gingen hinaus zu den Steinen und fanden dort alle möglichen Spuren im Waldboden: von Menschen und Tieren und Dämonen mit gespaltenen Hufen. Und ein Säugling von kaum einem Jahr lag ausgeweidet wie ein Schwein auf dem Altarstein.« »Dämonen mit gespaltenen Hufen?« fragte Gotrek. Der interessierte Ausdruck in seinen Augen war nicht nach Felix' Geschmack. Der fahrende Händler nickte. »Ich würde heute Nacht nicht zum Ring der Dunklen Steine gehen«, erklärte er. »Nicht für alles Gold von Altdorf.« »Das würde eine Aufgabe sein, die sich einem Helden ziemt«, sagte Gotrek mit einem bedeutungsvollen Blick zu seinem Gefährten. Felix war schockiert. »Sicherlich meinst du nicht im Ernst …« »Gäbe es eine größere Herausforderung für einen Trollbezwinger, als diesen Dämonen in ihrer Heiligen Nacht entgegenzutreten? Es würde ein ehrenvoller Tod sein.« »Es würde ein unnötiger und nutzloser Tod sein«, murmelte Felix. »Was sagtest du?« »Nichts.« »Du kommst mit, nicht wahr?« sagte Gotrek drohend. Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge seiner Streitaxt. Felix bemerkte, daß der Daumen wieder blutete. Er nickte. »Ein Eid ist ein Eid.« Der Zwerg schlug ihm mit solcher Gewalt auf den Rücken, daß Felix um seine Rippen fürchtete. »Manchmal, Menschling, denke ich, daß du Zwergenblut in den Adern haben mußt. Nicht, daß jemand von der Älteren Rasse solch eine Mischehe billigen würde, versteht sich.« »Natürlich.« Felix öffnete seinen Ranzen und zog das Kettenhemd hervor. Der Wirt, seine Frau und die fahrenden Kaufleute
beobachteten ihn. In ihren Blicken war ein Ausdruck, der an Ehrfurcht grenzte. Gotrek hatte sich dem Feuer zugewandt, trank Bier und murmelte in der Zwergensprache. »Sie wollen wirklich mit ihm gehen?« flüsterte der fette Hausierer. Felix nickte. »Warum?« »Ich bin es ihm schuldig, weil er mir das Leben rettete.« Felix hielt es für richtiger, die Umstände unerwähnt zu lassen, unter denen Gotrek ihn gerettet hatte. »Ich bewahrte den Menschling vor den Hufen der kaiserlichen Kavallerie«, bemerkte Gotrek. Felix fluchte. Der Trollbezwinger hatte nicht nur das Gehirn eines wilden Tieres, sondern auch das Gehör. Felix schwieg und zog sich das Kettenhemd an. »So verhielt es sich. Der Menschling hielt es für klug, seinen Fall mit Petitionen und Protestmärschen dem Kaiser nahezubringen. Darauf antwortete der alte Karl-Franz ganz vernünftig mit einer Abteilung Kavallerie.« Die fahrenden Händler gingen sichtbar auf Distanz. »Ein Aufrührer«, hörte er einen von ihnen murmeln. Felix errötete. »Es ging um eine weitere grausame und ungerechte Steuer. Ein Silberstück für jedes Fenster! Um es noch schlimmer zu machen, vermauerten die fetten Kaufleute ihre Fenster, und die Altdorfer Miliz ging herum und schlug Löcher in die bescheidenen Häuser und Hütten der Armen, um dort die Steuer einzutreiben. Wir hatten ein Recht, uns dagegen zu wehren.« »Auf die Gefangennahme von Aufrührern steht eine Belohnung«, sagte der dicke Händler. »Eine ansehnliche Belohnung.« Felix starrte ihn stirnrunzelnd an. »Natürlich konnte die kaiserliche Kavallerie nichts gegen die Streitaxt meines Gefährten ausrichten«, erklärte er. »Welch ein Gemetzel! Köpfe, Beine, Arme überall. Er stand auf einem Leichenhaufen.«
»Sie riefen nach Bogenschützen«, sagte Gotrek. »Daraufhin entkamen wir durch eine Seitengasse. Aus der Ferne aufgespießt zu werden, wäre ein ungebührlicher Tod gewesen.« Der fette Händler blickte zu seinen Gefährten, dann zu Gotrek und zu Felix, schließlich wieder zu seinen Gefährten. »Ein vernünftiger Mann hält sich aus der Politik heraus«, sagte er zu seinem Kollegen, der von einer Belohnung gesprochen hatte. Er nickte Felix zu. »Nichts für ungut, Herr.« »Keine Ursache«, erwiderte Felix. »Sie haben völlig recht.« »Aufrührer oder nicht«, sagte die alte Frau mit zittriger Stimme. »Möge Sigmar Sie segnen, wenn Sie mir meinen kleinen Günter zurückbringen.« »Er ist nicht klein, Lise«, sagte der Wirt. »Er ist ein strammer junger Mann. Trotzdem hoffe natürlich auch ich, daß Sie meinen Sohn zurückbringen werden. Ich bin alt und brauche ihn für die Holzarbeit und zum Beschlagen der Pferde, zum Heben der Fässer und …« »Ihre väterliche Sorge rührt mich, Herr.« Felix setzte seine lederne Kappe auf. Gotrek stand auf und musterte ihn, dann schlug er mit einer fleischigen Hand auf das Kettenhemd. »Panzerung ist für Frauen und Elfen«, erklärte er. »Vielleicht sollte ich das Kettenhemd tragen, Gotrek, wenn ich lebendig zurückkehren und die Geschichte von deinen Taten erzählen soll, wie ich es versprochen habe.« »Da ist was dran, Menschling. Vergiß aber nicht, daß es nicht alles ist, was du zu tun geschworen hast.« Er wandte sich zum Wirt. »Wie finden wir den Ring der Dunklen Steine?« Felix bekam einen trockenen Mund. Der verwünschte Zwerg hielt tatsächlich an seinem selbstmörderischen Vorhaben fest. »Es gibt einen Pfad, der von der Straße abzweigt. Ich werde Sie zu der Abzweigung bringen.« »Gut«, meinte Gotrek. »Diese Gelegenheit ist zu günstig, um
sie zu versäumen. Heute Nacht werde ich meine Sünden abbüßen und in die eiserne Ruhmeshalle meiner Vorväter eintreten, wenn es dem Großen Grungni gefällt.« Er machte mit der geballten rechten Hand ein eigentümliches Zeichen vor der Brust. »Komm, Menschling, laß uns gehen.« Felix schulterte sein Bündel. An der Tür hielt ihn die alte Frau auf und drückte ihm etwas in die Hand. »Bitte, Herr«, sagte sie. »Nehmen Sie dieses Sigmar geweihte Amulett. Es wird Sie beschützen. Mein kleiner Günter trägt das Gegenstück dazu.« Und es scheint ihm nicht viel geholfen zu haben, wollte Felix antworten, aber ihr Gesichtsausdruck hinderte ihn daran. Er sah Furcht darin, Sorge und etwas Hoffnung, und er war gerührt. »Ich werde mein Bestes tun, gute Frau.« Draußen war der Himmel hell vom grünlich weißen Hexenlicht der Monde. Felix öffnete die Hand. In ihr lag ein kleiner eiserner Hammer an einer feingliedrigen Kette. Achselzuckend legte er sie um den Hals. Gotrek und der alte Mann wanderten bereits die Straße entlang. Felix mußte laufen, um sie einzuholen. »Was hältst du davon, Menschling?« meinte Gotrek, nachdem er tief gebeugt den Boden abgesucht hatte. Vor ihnen führte die Straße weiter nach Blutroch und Bogenhafen. Felix stützte sich auf den Meilenstein und untersuchte den Boden. Dies war erwähnte Abzweigung. Der Wirt war bereits umgekehrt und unterwegs nach Hause. »Hufspuren«, sagte er, »die nach Norden führen.« »Sehr gut, Menschling. Aber zu beiden Seiten siehst du Spuren von Wagenrädern, die das Gras und Gestrüpp niedergedrückt haben. Sie müssen zum King der Dunklen Steine gefahren sein.« »Die schwarze Kutsche, meinst du?« »Ich hoffe es. Was für eine glorreiche Nacht! All meine Gebete wurden erhört. Eine Gelegenheit, Buße zu tun und mich an dem Schwein zu rächen, das mich beinahe überfuhr!« Er lachte fröhlich, aber Felix spürte eine Veränderung in ihm. Gotrek schien
angespannt, als fürchtete er, daß seine Schicksalsstunde nahte und er sich ihr nicht gewachsen zeigen würde. Er war ungewöhnlich gesprächig. »Eine Kutsche! Besteht diese Hexenversammlung womöglich aus Adligen, Menschling? Ist euer Reich schon so korrupt?« Felix schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Vielleicht gibt es hier einen adligen Anführer, aber die übrigen Mitglieder sind wahrscheinlich gewöhnliche Leute. Es heißt, daß die Befleckung durch das Chaos in diesen abgelegenen Gegenden weit verbreitet sei.« Gotrek schüttelte den Kopf und sah zum ersten Mal bestürzt aus. »Ich könnte weinen über die Torheit deines Volkes, Menschling. dass eure Führer sich den Mächten der Finsternis verkaufen, ist eine furchtbare Sache.« »Nicht alle sind so«, entgegnete Felix zornig. »Gewiß, manche sind nur auf Macht oder fleischliche Genüsse aus, aber sie sind nicht viele. Die meisten Leute halten den Glauben hoch. Übrigens ist auch die Ältere Rasse nicht so rein. Ich habe Geschichten von Zwergenarmeen gehört, die sich den Mächten der Finsternis verschrieben haben sollen.« Gotrek knurrte verdrießlich und spuckte aus. Felix schloß die Finger um den Sehwertgriff; er fragte sich, ob er zu weit gegangen war. »Du hast recht«, sagte Gotrek nachdenklich, und seine Stimme war leise und kalt. »Wir sprechen nicht leichtfertig über solche Dinge. Wir haben immerwährenden Krieg gegen die Abscheulichkeiten gelobt, die du erwähnst − und gegen ihre finsteren Anführer.« »Das hat auch mein Volk getan. Wir haben unsere Gesetze und unsere Hexenjäger.« Gotrek schüttelte den Kopf. »Ihr versteht nicht. Dein Volk ist verweichlicht und lebt fern vom Krieg. Es versteht nichts von der schrecklichen Fäulnis, die an den Wurzeln der Welt nagt und uns
alle zu untergraben droht, oder es will nichts davon wissen. Hexenjagden, daß ich nicht lache!« Wieder spuckte er aus. »Gesetze! Es gibt nur einen Weg, der Bedrohung durch das Chaos zu begegnen.« Gotrek schwang seine Streitaxt.
* Sie stapften müde durch den Wald. Über ihnen schimmerten fiebrig die Monde. Morrslieb war noch heller geworden, und es schien, als hätte sein grünes Licht den Himmel verfärbt. Bodennebel sammelte sich auf Lichtungen und in Senken, und das Gelände, durch das sie wanderten, wirkte düster und wild. Manchmal glaubte Felix Flügelschlag über ihnen zu hören, doch wenn er aufblickte, sah er nur den leuchtenden Himmel. Der Nebel floß über die Wegschneise, sodass es aussah, als wateten sie knietief durch das tote weiße Wasser eines unterweltlichen Stroms. Felix hatte das Gefühl, daß etwas wie ein schädlicher Dunst über der Gegend lag. Die Luft roch nach Moder und Zerfall, und ständig prickelten seine Nackenhaare. In seiner Jugend in Altdorf hatte er einmal in seinem Elternhaus gesessen und beobachtet, wie am Himmel bedrohliche schwarze Wolken aufgezogen waren. Dann war der fürchterlichste Gewittersturm losgebrochen, den die Einwohner seit Menschengedenken erlebt hatten. Jetzt hatte er die gleiche Vorahnung. Nicht weit von ihm sammelten sich gewaltige und finstere Mächte. Er kam sich wie ein Insekt vor, das über den Körper eines Riesen kroch, der jeden Augenblick erwachen und es zerquetschen konnte. Sogar Gotrek schien bedrückt. Er war schweigsam geworden und murmelte nicht einmal vor sich hin, was eine seiner auffälligsten Angewohnheiten war. Dann und wann machte er halt und bedeutete Felix stillzustehen, während er lauschte und die Luft
schnupperte. Dabei war sein ganzer Körper angespannt, als bemühte er sich mit jedem Nerv, auch noch die leiseste Spur einzufangen. Dann gingen sie weiter. Auch Felix war aufs Äußerste angespannt. Er wünschte, er wäre nicht mitgegangen. Sicherlich, sagte er sich, konnte seine Verpflichtung nicht bedeuten, daß er dem Zwerg zuliebe in den sicheren Tod ging. Vielleicht konnte er sich im Nebel davonstehlen. Felix biß die Zähne zusammen; er hielt sich etwas darauf zugute, ein ehrenhafter Mann zu sein, und er stand in Gotreks Schuld. Der Zwerg hatte sein Leben riskiert, um ihn zu retten. Zugegeben, damals hatte er nicht gewußt, daß Gotrek den Tod suchte und diesen umwarb, wie ein Mann eine begehrenswerte Frau umwirbt. Aber das änderte nichts an seiner Verpflichtung. Er erinnerte sich des lärmend betrunkenen Abends in den Tavernen, als sie einander nach dem sonderbaren Ritual der Zwerge Blutsbrüderschaft geschworen hatten. Damals hatte er sich bereit erklärt, Gotrek in seinem Bestreben zu helfen. Gotrek wünschte, daß die Nachwelt sich an seinen Namen und seine Taten erinnern würde. Als er erfahren hatte, daß Felix ein Dichter war, hatte er ihn gebeten, sein Gefährte und Begleiter zu sein. Damals, im warmen Glücksgefühl bierseliger Kameraderie, hatte er dies für eine großartige Idee gehalten. Die Suche des Trollbezwingers nach einem ehrenvollen Tod war Felix als ein ausgezeichneter Stoff für ein episches Gedicht erschienen, das ihm zu Berühmtheit verhelfen würde. Wie hätte er ahnen können, daß es zu so etwas kommen würde? In der Geheimnisnacht Jagd auf Ungeheuer machen! Er lächelte ironisch. Es war leicht, in den Gaststuben von Wirtshäusern, wo Schrecken allenfalls durch die Worte geschickter Balladensänger oder Geschichtenerzähler geschildert wurde, von mutigen Taten zu singen, aber hier draußen war es eine andere Sache. Die Angst rumorte in seinen Eingeweiden, und die bedrückende Atmosphäre lastete so auf seinen Nerven, daß er am
liebsten schreiend davongerannt wäre. Trotzdem, sagte er sich zum Trost, war dies ein geeignetes Thema für ein episches Gedicht. Wenn er nur überlebte, um es zu schreiben.
* Der Wald wurde dichter und finsterer, und die Bäume nahmen das Aussehen verkrümmter unheimlicher Wesen an. Felix fühlte sich beobachtet. Er versuchte den unguten Gedanken als Ausgeburt seiner Phantasie abzutun, aber die Nebelschwaden und das geisterhafte Mondlicht regten seine Vorstellungskraft nur an. Ihm war, als verberge sich in jedem tiefen Schatten ein Ungeheuer. Er betrachtete den Zwerg von der Seite. Gotreks derbe Züge spiegelten eine Mischung von Erwartung und Furcht wider. Bisher hatte Felix geglaubt, der Zwerg sei unempfindlich gegen jede Form von Schrecken, doch nun merkte er, daß dem nicht so war. Eine wilde Entschlossenheit trieb ihn vorwärts, seinem Verhängnis entgegen. In dem Bewußtsein, daß sein eigener Tod auch nicht mehr fern sein mochte, stellte er Gotrek eine Frage, die er lange nicht auszusprechen gewagt hatte. »Verrate mir, wofür du büßen mußt, du großer Trollbezwinger. Welches Verbrechen verfolgt dich so sehr, daß du dich selbst bestrafen mußt?« Gotrek blickte zu ihm auf, dann wandte er den Kopf und blickte in die Nacht hinaus. Seine Halsmuskeln traten wie Taue hervor. »Stellte mir ein anderer diese Frage, so würde ich ihn erschlagen. Ich halte dir deine Jugend und Unwissenheit zugute, und die Blutsbrüderschaft, die wir geschlossen haben. Es würde mich zu einem Brudermörder machen. Das aber ist ein furchtbares Verbrechen. Über solche Verbrechen sprechen wir nicht.« Felix hatte nicht geahnt, daß der Zwerg sich ihm so verbunden
fühlte. Gotrek blickte zu ihm auf, als erwarte er eine Antwort. »Ich verstehe«, sagte Felix. »Wirklich, Menschling? Verstehst du wirklich?« Gotreks Stimme war hart wie das Poltern eines Steinbrechers. Felix lächelte kläglich. In diesem Augenblick sah er die Kluft, die Menschen vom Zwerge trennte. Nie würde er ihre seltsamen Ehrbegriffe verstehen, ihre Besessenheit von Eiden und Ordnung und Stolz. Er konnte nicht sehen, was den Trollbezwinger zur Ausführung seines selbst auferlegten Todesurteils treiben konnte. »Ihr Zwerge seid zu hart mit euch selbst«, sagte Felix. »Und ihr Menschen seid zu weichlich«, erwiderte Gotrek. Sie versanken in nachdenkliches Schweigen, bis sie von einem leisen, irren Lachen aufschreckten. Felix fuhr herum und riß die Klinge aus der Scheide. Gotrek hob seine Streitaxt. Durch die dichte weiße Decke des Bodennebels watete eine schwankende Gestalt. Sie war einmal ein Mensch gewesen, denn die Umrisse waren noch zu erkennen. Sie sah aus, als hätte ein verrückter Gott die Kreatur über ein dämonisches Feuer gehalten, bis Fleisch und Fett sich verflüssigten, um sie dann in ihrer neuen, abscheulichen Gestalt sich selbst zu überlassen. »Heute Nacht tanzen wir«, näselte die Gestalt in hoher Tonlage, begleitet von einem schrillen Kichern. Sie kam langsam näher, streckte die Hand zu Felix aus und strich ihm sanft über den Arm. Er wich entsetzt zurück, als Finger wie knochenlose dicke Maden sich seinem Gesicht näherten. »Heute Nacht am schwarzen Stein tanzen wir, und du wirst mein.« Die Gestalt hob beide Arme, als wollte sie ihn an sich ziehen. Sie lächelte, und Felix sah kurze zugespitzte Zähne. Er hatte das Gefühl, ein Beobachter zu sein, entrückt von dem Geschehen, aber sein Instinkt sorgte dafür, daß er zurücktrat und dem Ungeheuer die Schwertspitze an die Brust setzte. »Komm nicht näher«, sagte er. Das Monster lächelte. Der Mund schien sich zu weiten, zeigte noch mehr kleine scharfe Zäh-
ne. Die Lippen zogen sich zurück, bis die untere Gesichtshälfte ganz glänzende nasse Mundhöhle war und der Unterkiefer wie der einer Schlange aufklappte, die ein viel größeres Beutetier verschlingt. Gleichzeitig drängte es gegen das Schwert vorwärts, bis Blutstropfen auf der Brust glänzten. Es ließ ein gurgelndes, idiotisches Lachen hören. »Tanzen und anfassen und essen«, fistelte das Ungeheuer, dann wich es mit unglaublicher Schnelligkeit und Gewandtheit dem Schwert aus und sprang auf Felix zu. So schnell es war, der Trollbezwinger war schneller. Mitten im Sprung durchschlug die Streitaxt seinen Hals. Der Kopf rollte in die Nacht davon, und eine rote Fontäne sprudelte aus dem Hals. Felix stand wie erstarrt. Es war unwirklich. »Was war das, ein Dämon?« Gotrek schien ganz ruhig, aber Felix hörte die Erregung in der Stimme des Zwerges. »Ich denke, es war einst ein Mensch«, sagte Felix. »Einer von denen, die das Chaos gezeichnet hat. Sie werden ausgestoßen und oft kurz nach der Geburt ausgesetzt.« »Dieser sprach deine Sprache.« »Manchmal zeigen sich die Merkmale des Chaos erst in späteren Jahren. Angehörige glauben, die Befallenen seien krank und beschützen sie, bis sie eines Tages in die Wälder verschwinden.« »Ihre Angehörigen beschützen solche Ungeheuer?« »Es kommt vor. Man spricht nicht darüber. Es ist nicht leicht, Menschen den Rücken zu kehren, die man liebt, selbst wenn sie sich verändern.« Der Zwerg starrte ihn ungläubig an, dann schüttelte er den Kopf. »Zu weich«, sagte er. »Verweichlicht und entartet.« Die Luft war still. Manchmal dachte Felix, er spüre oder sehe Bewegungen in den Bäumen zur Rechten oder zur Linken, und mehr als einmal erstarrte er nervös, das blanke Schwert in der Hand, spähte in den allmählich steigenden Nebel und hielt Aus-
schau nach bewegten Schatten. Die Begegnung mit dem Geschöpf des Chaos hatte ihm die drohende Gefahr bewußt gemacht. Furcht und Zorn rangen in ihm um die Vorherrschaft. Ein Teil seines Zornes richtete sich gegen ihn selbst, weil er sich fürchtete. Er schämte sich und beschloß, daß er seinen Fehler nicht wiederholen würde, ganz gleich, was geschehen mochte. Wie war es möglich gewesen, daß er wie ein Schaf dagestanden und stillgehalten hatte, bis dieser mörderische Unhold über ihm gewesen war? »Was ist das?« fragte Gotrek. Felix hob den Kopf, dann sah er ihn an. »Kannst du es nicht hören, Menschling? Es klingt wie Gesang.« Felix strengte sein Gehör an, doch so sehr er lauschte, er konnte nichts hören. »Wir sind jetzt nahe. Sehr nahe.« Schweigend gingen sie weiter. Als sie sich durch den Nebel voranschritten, der inzwischen Brusthöhe erreicht hatte, wurde Gotrek vorsichtiger und verließ den Pfad, um im hohen Gras und Gestrüpp Deckung zu finden. Felix blieb ihm auf den Fersen. Nun konnte auch er den Gesang hören. Es klang, als wären Dutzende von Sängern versammelt. Manche Stimmen klangen menschlich, andere waren tief und grollend oder bestialisch fauchend. Männliche und weibliche Stimmen vermischten sich mit langsamen Trommelschlägen, dem metallischen Dröhnen eines Beckens und mißtönenden Pfeifen. Felix konnte nur ein Wort verstehen, das ständig wiederholt wurde, bis es sich in sein Bewußtsein bohrte. Das Wort war Slaanesh. Ihn schauderte. Slaanesh, der dunkle Gott der Ausschweifung und des Lasters. Es war ein Name, der die schlimmsten Tiefen der Verworfenheit beschwor. Er wurde in den verbotenen Lasterhöhlen von Altdorf geflüstert, wo jene heimlich zusammenkamen, die vom heimlichen Rauschgiftgenuß und anderen Lastern so abgestumpft war-
en, daß sie Perversionen suchten, die jenseits des menschlichen Verstehens lagen. Es war ein Name, der mit Verderbtheit und Exzeß und mit den schändlichsten Praktiken bis zu Verstümmelung und Mord in Verbindung gebracht wurde. Für die Anhänger Slaaneshs war keine Ausschweifung zu grotesk, kein Genuß verboten. »Der Nebel bedeckt uns«, flüsterte Felix. »Still! Wir müssen näher heran.« Langsam krochen sie vorwärts. Das hohe nasse Gras und die Stauden behinderten das Vorankommen, und bald durchdrang die Nässe ihre Kleider. Weiter voraus sah Felix Feuerschein in der Dunkelheit. Holzrauch und der stickig-süßliche Dunst von Räucherwerk durchzogen die neblige Luft. Felix hob den Kopf und blickte umher. Sie konnten nur hoffen, daß keine Nachzügler über sie stolpern würden. Er fühlte sich lächerlich und bloßgestellt. Langsam krochen sie näher. Gotrek zog seine langstielige Streitaxt nach, und einmal berührte Felix die scharfe Klinge mit den Fingern. Er schnitt sich und unterdrückte einen Schmerzenslaut. Sie erreichten den Rand des Gestrüpps und sahen vor sich einen Ring von sechs obszön geformten dunklen Steinen, in deren Mitte ein monolithischer Block lag. Die Feuer hatten den Nebel im Umkreis des Steinrings aufgelöst. Die Steine schimmerten im Licht des Mondes grünlich und schienen von feuchtem, phosphoreszierendem Bewuchs überzogen. Auf jedem der Steine stand ein Kohlenbecken, in dem Holzscheite brannten und rauchten. Das blaßgrüne Mondlicht illuminierte eine höllische Szene. Innerhalb der Steinsetzung tanzten sechs maskierte Menschen in langen Umhängen, die über eine Schulter geworfen waren und nackte männliche und weibliche Körper enthüllten. In einer Hand trugen die Tänzer metallene Fingerzimbeln, die sie zusammenschlugen, in der anderen hielten sie Birkenruten, mit denen sie die jeweils vor ihnen tanzende Gestalt schlugen.
»Ygrak tu amat Slaanesh!« riefen sie im Chor. Felix sah, daß einige der Körper von roten Striemen gezeichnet waren, doch schienen sie keinen Schmerz zu fühlen. Vielleicht war es auf die narkotische Wirkung des Räucherwerks zurückzuführen, das mit dem Holz verbrannt wurde. Um den Ring der Steinsetzung lümmelten und wälzten sich Schreckensgestalten. Die Trommel wurde von einem riesigen Mann mit einem hirschähnlichen Kopf und gespaltenen Hufen geschlagen. Neben ihm saß eine Gestalt mit dem Kopf eines Hundes und Händen mit Saugnäpfen an den Fingern, die eine Querflöte hielten. Eine große Menge von deformierten Frauen und Männern zuckte und wälzte sich im Umkreis am Boden. Manche waren zu Tiermenschen geworden, andere hatte das Chaos subtiler verändert. Felix sah Männer mit langen, dünnen Gliedmaßen und spitzen, hohen Köpfen sowie gedrungene fette Frauen mit drei Augen und drei Brüsten. Andere waren kaum als frühere Menschen kenntlich. Es gab schuppenbedeckte Schlangenleiber und wolfsköpfige, pelzbedeckte Kreaturen, die sich mit Wesen vergnügten, die nur Zähne und Münder und andere Öffnungen zu sein schienen. Felix war wie gelähmt. In wachsender Furcht beobachtete er die Vorgänge. Die Trommel wurde schneller geschlagen, der rhythmische Gesang paßte sich an, und die Querpfeife wurde noch lauter und mißtönender, als die Tänzer mehr und mehr in Raserei gerieten und sich selbst und ihre Mittänzer mit den Birkenruten peitschten, bis blutige Striemen erschienen. Dann hallte ein klirrender metallischer Beckenschlag über die Lichtung, und alle verstummten und blieben stehen. Felix befürchtete, man hätte ihn und Gotrek entdeckt, und er wagte keine Bewegung. Der süßliche Dunst des Räucherwerks drang ihm in die Nase, schien seine Sinneswahrnehmungen zu verstärken. Er fühlte sich losgelöst von der Wirklichkeit. Als er einen Schmerz in den Rippen fühlte, schrak er zusammen und
merkte, daß Gotrek ihn mit dem Ellbogen gestoßen hatte. Er zeigte zu etwas jenseits des Ringes der Steine. Felix blinzelte, um besser erkennen zu können, was durch Rauch und Nebelschwaden nur undeutlich auszumachen war. Dann sah er, daß es die schwarze Kutsche war. In der Stille hörte er das Öffnen des Schlags. Mit angehaltenem Atem spähte er hinüber, um zu beobachten, was herauskommen würde. Eine Gestalt schien dort Form anzunehmen. Sie war groß und maskiert und in mehrere Umhänge aus verschiedenen pastellfarbenen Stoffen gekleidet. Sie bewegte sich mit ruhiger Autorität und trug etwas in den Armen, was in Brokatstoff gewickelt schien. Felix blickte zu Gotrek, aber der verfolgte gebannt das Geschehen. Felix fragte sich, ob der Zwerg vor dieser unmenschlichen Versammlung den Mut verloren habe. Der Neuankömmling trat in den Kreis der Steine. »Amak tu amat Slaanesh!« rief er und reckte das Bündel in die Höhe. Felix sah, daß es ein Kind war, doch ob es lebte oder tot war, konnte er nicht sagen. »Ygrak tu amat Slaanesh! Tzarkol taen amat Slaanesh!« antwortete die Menge ekstatisch. Der Mann in den Umhängen blickte über die ihn umgebenden Gesichter hinweg, und es schien Felix, daß der Fremde ihn mit ruhigen braunen Augen direkt ansah. Konnte es sein, daß der Hexenmeister von ihrer Anwesenheit wußte und mit ihnen spielte? »Amak tu Slaanesh!« rief er mit klarer, fester Stimme. »Amak klessa! Amat Slaanesh!« antwortete die Menge. Es war offensichtlich, daß irgendein übles Ritual begonnen hatte. Mit langsamen, zeremoniellen Schritten bewegte sich der Hexenmeister zu dem mächtigen Steinblock in der Mitte der Steinsetzung, der offensichtlich als Altar diente. Felix fühlte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte; schluckte und befeuchtete sich die Lippen. Gotrek beobachtete die Ereignisse wie hypnotisiert.
Begleitet von einem dumpfen Trommelwirbel wurde das Kind auf den Altar gelegt. Die sechs Tänzer und Tänzerinnen standen jetzt hinter den Dunklen Steinen im Kreis, hatten die Beine gespreizt und die Hände an beide Seiten des jeweiligen Steines gelegt. Als das Ritual seinen Fortgang nahm, rieben sie sich mit langsamen, sinnlichen Bewegungen an den Steinen. Der Hexenmeister zog ein langes Messer mit wellenförmig geschliffener Klinge aus seinen Gewändern. Felix konnte kaum hinsehen; er fragte sich, ob der Zwerg etwas unternehmen würde. Langsam hob der Hexenmeister das Messer hoch über den Kopf. Felix starrte hinauf. Eine unheilvolle Gegenwart schien über der Szenerie zu schweben. Rauch und Nebel schienen sich zu vereinen und zu gerinnen, und in der Wolke glaubte Felix eine groteske Gestalt auszumachen, die in wogender, sich windender Bewegung war und sich zu materialisieren begann. Er konnte die Spannung nicht mehr ertragen. »Nein!« rief er. Felix und der Trollbezwinger sprangen auf und marschierten Schulter an Schulter auf den Ring der Dunklen Steine zu. Anfangs schienen die Anhänger des Kultes die Störung nicht zu bemerken, aber dann hörte die Trommel auf, der Singsang verstummte, und der Hexenmeister wandte sich zu ihnen um, starrte sie in finsterem Erstaunen an. Augenblicklich herrschte vollkommene Stille. Niemand schien zu verstehen, was geschah. Dann zeigte der Hexenmeister mit dem ausgestreckten Messerarm auf sie und schrie: »Tötet die Eindringlinge!« Die Feiernden brandeten vorwärts. Felix fühlte einen Zug an seinem Bein, dann einen scharfen Schmerz. Als er hinabsah, fiel sein Blick auf ein Wesen, das halb Frau und halb Schlange war und sich in seinen Knöchel verbiß. Er riß sein Bein los und erstach das Wesen mit seinem Schwert. Ein Stoß ging durch seinen Arm, als die Klinge auf Knochen
traf. Er lief vorwärts, Gotrek hinterher, der sich bereits mit ausholenden Hieben seiner Streitaxt zum Altar vorarbeitete. Die mächtige Doppelklinge fuhr rhythmisch wie die Sense eines Schnitters durch die andrängenden Gestalten und hinterließ eine Schneise von Blut und Tod. Die Teilnehmer am Kult schienen unter Drogeneinfluß zu stehen und reagierten langsam, zeigten aber keine Furcht. Männer und Frauen und Tiermenschen, mehr oder weniger stark vom Chaos gezeichnet, warfen sich ohne einen Gedanken an ihr eigenes Leben den Eindringlingen entgegen. Felix hieb und stieß auf jeden, der ihm nahe kam. Er durchbohrte einen hundeköpfigen Mann, der ihn ansprang. Als er die Klinge aus dem Brustkorb des Getöteten zu ziehen suchte, warfen sich eine Frau mit Krallen und ein Mann mit schleimbedeckter Haut auf ihn. Ihr Gewicht warf ihn zu Boden und preßte ihm die Luft aus den Lungen. Die Krallen der Frau kratzten über sein Gesicht, bevor er das Knie unter ihr anziehen und sie mit einem Stoß in den Magen abwerfen konnte. Blut von den Schnitten rann ihm in die Augen. Der Mann war mit ihm gefallen, fuhr ihm nun aber an die Gurgel. Felix versuchte mit der Linken seinen Dolch zu fassen, während er mit der Rechten die Kehle des Mannes packte. Der Angreifer wand sich seitwärts, und Felix hatte Schwierigkeiten, seinen Griff zu verstärken, weil der schleimige Überzug keinen Halt bot. Unterdessen festigte der andere seinen Würgegriff und wälzte sich keuchend vor Lust oder Anstrengung auf Felix. Schwärze begann sein Gesichtsfeld einzuengen, und kleine silberne Punkte glommen vor seinen Augen. Er verspürte den überwältigenden Drang, sich zu entspannen und in die Dunkelheit zu fallen. Irgendwo in der Ferne hörte er Gotreks bellenden Kriegsschrei. Das brachte ihn wieder zu sich. Mit einer Willensanstrengung riß Felix seinen Dolch aus der Scheide und stieß ihn seinem Angreifer zwischen die Rippen. Der versteifte sich und bleckte grinsend zwei Reihen spitzer Zähne. Er stieß ein ekstatisches
Stöhnen aus. »Slaanesh, nimm mich«, stieß er hervor. »Ah, der Schmerz, der köstliche Schmerz!« Felix rappelte sich auf, aber auch die Frau mit den Krallenhänden war auf die Beine gekommen. Er traf ihren Kiefer mit einem Fußstoß, ehe sie sich auf ihn stürzen konnte. Ihre Kinnlade brach mit einem knirschenden Geräusch, und sie fiel rücklings zu Boden. Felix schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. Die Masse der Kultanhänger hatte sich auf Gotrek gestürzt. Diesem Umstand verdankte Felix sein Leben. Der Zwerg war noch immer dabei, sich mit der Streitaxt zum Zentrum des Steinkreises vorzuarbeiten. Die andrängenden Körper behinderten ihn; er konnte nur unvollkommen mit seiner Waffe ausholen, und Felix sah, daß er aus Dutzenden kleiner Schnittwunden blutete. Dennoch war die wilde Energie des Zwerges schrecklich anzusehen. Fluchend und mit Schaum vor dem Mund, bahnte er sich mit kurzen, diagonalen Axthieben den Weg durch die Menge, daß Gliedmaßen und Köpfe in alle Richtungen flogen. Er war über und über mit Blut besudelt, aber trotz seiner berserkerhaften Wildheit war abzusehen, daß das Blatt sich wendete und die schiere Übermacht Gotrek zu erdrücken drohte. Ehe Felix ihn erreichte, wurde der Zwerg von einem Keulenschlag getroffen und ging unter einer Woge von Körpern zu Boden. Also hat er sein Verhängnis gefunden, dachte Felix, wie er es gewünscht hatte. Jenseits des Getümmels hatte der Hexenmeister seine Haltung zurückgewonnen. Wieder begann er zu singen und hob das Messer mit der gewellten Klinge in die Höhe. Die schreckliche Gestalt, die sich über dem Schauplatz des Geschehens aus Rauch und Nebel geformt hatte, schien abermals Umrisse anzunehmen. Felix hatte eine Vorahnung, daß er zum Untergang verurteilt wäre, sobald diese Wesenheit Substanz gewinnen würde. Er konnte sich nicht durch das Gewühl der Körper kämpfen, die den
Trollbezwinger umgaben. Einen Augenblick stand er unschlüssig da und sah die gewellte Klinge in Morrsliebs Licht blinken. Dann holte Felix mit seinem Dolch aus. »Sigmar, führe meine Hand«, stieß er zwischen den Zähnen hervor und schleuderte die Klinge. Sie flog gerade und zielsicher zur Kehle des Hohenpriesters und traf sie unter der Maske, wo die Haut entblößt war. Gurgelnd brach der Hexenmeister in die Knie. Ein langgezogenes Winseln erfüllte die Luft, und der Rauch über der Kultstätte schien sich aufzulösen. Die halb ausgebildete Gestalt löste sich mit dem Dunst auf und verschwand. Die Teilnehmer an der Versammlung blickten erschrocken auf. Die Tiermenschen und die vom Chaos gezeichneten Mißgeburten wandten die Köpfe und starrten ihn an. Felix sah sich den stieren Blicken aus Dutzenden von Augenpaaren ausgesetzt. Er stand unbeweglich und sehr ängstlich. Die Stille war tödlich. Plötzlich ertönte ein wildes Brüllen, und Gotrek erhob sich inmitten der auf ihn gehäuften Körper. Mit seinen dicken Fäusten schlug er um sich, dann bückte er sich und hob von irgendwo seine Streitaxt auf. Er packte sie mit beiden Händen kurz am Griff und schlug um sich. Felix hob das Schwert und sprang ihm bei. Sie fochten, bis sie Rücken an Rücken standen. Die Kultanhänger, nach dem Verlust ihres Anführers verwirrt und von Furcht erfüllt, begannen in Nacht und Nebel zu fliehen. Bald standen Felix und Gotrek allein im Kreis der Dunklen Steine. Gotrek blickte wild umher. Geronnenes Blut hatte sein struppiges Haar verklebt. Im grünlichen Hexenlicht sah er dämonisch aus. »Ich bin eines ehrenhaften Todes beraubt, Menschling.« Er hob bedrohlich die Streitaxt. Felix fragte sich, ob er noch im Bann seiner berserkerhaften Raserei stehe und im Begriff sei, ihn trotz ihrer Blutsbrüderschaft niederzuhauen. Der Zwerg begann sich langsam in seine Richtung zu bewegen. Dann grinste er unerwartet. »Es scheint, daß die Götter mich für ein noch größeres Verhängnis ausersehen haben.«
Er stieß die Axt mit dem Stiel auf den Boden und begann zu lachen, bis ihm die Tränen über das Gesicht rannen. Nachdem er seine Heiterkeit erschöpft hatte, wandte er sich zum Altarstein und hob das Kleinkind auf. »Es lebt.« Felix begann die Leichen der Kultanhänger zu untersuchen und nahm ihnen die Masken ab. Die erste Tote war ein blondes Mädchen, dessen Haut von Schwielen und blutigen Striemen bedeckt war. Die zweite Leiche war die eines jungen Mannes. Von seinem Hals hing ein Amulett in der Form eines kleinen Hammers. »Ich glaube nicht, daß wir zum Gasthaus zurückkehren sollten«, sagte er traurig.
* Eine örtliche Legende berichtet von einem Säugling, der auf den Stufen des Tempels der Shallya in Blutroch gefunden wurde. Er war in einen blutigen Umhang aus Wolle gewickelt, neben ihm lag ein Beutel mit Goldstücken, und um den Hals hing ein Eisenamulett in der Form eines Hammers. Die Priesterin schwor, daß sie im ersten Licht der Morgendämmerung eine vierspännige schwarze Kutsche gesehen habe, die rasch davongefahren sei. Die Bewohner Blutrochs erzählen einander noch heute eine unheimliche Geschichte, wie Ingrid Hauptmann und Günter, der Sohn des Gastwirtes, in einem gräßlichen, den Mächten der Finsternis geweihten Ritual abgeschlachtet wurden. Die Straßenwärter, welche die Leichen der beiden unter vielen anderen beim Ring der Dunklen Steine fanden, sagten übereinstimmend aus, daß es ein fürchterliches Opferritual gewesen sein müsse, wie man es in der ganzen Gegend noch nie erlebt habe. Die Toten hätten ausgesehen, als wären sie mit einer Axt zerstückelt worden.
CHARLES DAVIDSON Die Räuber und die Toten Helmut Kerzer begriff, daß er sterben mußte, als er das Schiff erblickte. Er hatte das Segel lange vor dem Schiff selbst gesehen, aber irgendwie war ihm die Unmittelbarkeit der Gefahr nicht bewußt geworden; es war eine abstrakte Warnung gewesen, nicht die Wirklichkeit selbst. Aber nun war das Schiff in Sicht, ein dunkler Rumpf, der weniger als eine Meile vor der Küste die Wellen durchschnitt. Der Tagesfang war noch in den Netzen der Fischerboote, und das Dorf lag knappe fünf Minuten landein, doch Helmut fühlte, wie ihm die Knie weich wurden, als er sah, was geschehen würde. Seeräuber! Das Schlimmste an der Situation war das offensichtlichste. Er konnte die kurze Strecke zum Dorf nicht zurücklaufen, um die Bewohner zu warnen, konnte nicht Alarm schlagen und Zeit gewinnen, damit die Jungen und die Alten in den Wald flohen. Denn − er biß die Zähne zusammen − wenn er sie warnte, würden sie nur fragen, was er oben am Strandräuberkap getan habe. Und wenn sie es herausbrächten, würden sie ihn töten. Nekromantie war beinahe so unbeliebt wie Seeräuberei. Nicht, daß Helmut ein richtiger Totenbeschwörer wäre, o nein. Er mußte über den Gedanken grinsen, als er das schwarze Segel der Piraten auf die Küste zuhalten sah. Tote Mäuse und Fledermäuse! Nekromantie war das ungesunde Steckenpferd eines heranwachsenden Jungen, der seine Zeit besser mit Netzeflicken verbringen würde, nicht die belesene, kenntnisreiche Bosheit eines Gefolgsmannes der okkulten Wissenschaften. Er blickte zu Boden und sah zwischen seinen Füßen die kleine Vorrichtung aus Haut und elfenbeinweißen Knochen. Das Tier war vor Tagen gestorben; es schien so ungerecht, daß es Helmut sein Heim oder
gar sein Leben kosten würde. Seine Gesichtsmuskeln zuckten schmerzlich und zornig, und die Wühlmaus fiel um, schlaff und leblos wie jeder andere Leichnam. Tot. Hier an den Ufern der Krallensee war man mit dem Tod auf du und du. Er starrte seinem Vater jedesmal ins Gesicht, wenn er hinausruderte, um der See je nach Laune des wankelmütigen Manann einen Fang abzugewinnen und der Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Die See hatte seinen Großvater und die Onkel verschlungen, um sie drei Tage später aufgedunsen und verwesend wieder an den Strand zu speien. Er war damals noch ein Kind gewesen, zu jung für die Netze und Taue; er hatte sich hinter dem Rücken der Mutter versteckt, als sie und sein Vater mit versteinerten Mienen auf dem Friedhof gestanden hatten, wo sie drei Viertel der männlichen Familienmitglieder beerdigt hatten. Damals hatte er sich zum ersten Mal die Frage gestellt, ob der Tod wie der Schlaf sei. Ob es möglich sei, aus ihm zu erwachen, wie man im Morgengrauen eines neuen Tages zum Rauschen der Brandung erwachte. Aber er hatte schon damals gewußt, daß sie ein Wort für solche Gedanken hatten, und war still geblieben. Das Strandräuberkap war dicht bewaldet. Unter dem Laubdach der knorrigen, windzerzausten Bäume wuchs das Unterholz in dunklem Dickicht. Der Wald war ein Ausläufer des südlich anschließenden, ausgedehnten Laurelonwaldes. Es war ein verrufener Ort, denn in vergangenen Zeiten hatten hier die Strandräuber ihr Unwesen getrieben und Leuchtfeuer errichtet, um Handelsschiffe zu täuschen und auf die Klippen des Vorgebirges zu locken. Es gab sie schon lange nicht mehr. Im Auftrag des Kaisers hatte der Baron sie mit seinen Reisigen aus ihren Schlupfwinkeln gejagt und alle aufgehängt, deren er habhaft werden konnte. Aber der Geist war geblieben, ein ungewisses, dumpfes Unbehagen, das den Tag in verwaschenes Grau hüllte und auf die Nacht und das Entzünden tödlicher Feuer zu warten schien. Heutzutage
ging das Gerücht um, daß das Vorgebirge des Kaps ein spukhafter, verwunschener Ort sei, Wohnsitz böser Geister, wo die ruhelosen Seelen der einst hier erschlagenen schiffbrüchigen Seeleute umgingen. Jedes Kind, das sich dort hinauf wagte, lief Gefahr, von Dämonen verschleppt oder zu einem der Ihren gemacht zu werden. Helmut biß verzweifelt die Zähne zusammen, als er darüber nachdachte. Sein Dilemma. Dass Pater Wolfgang sich fragen mochte, was er tat, und den Hexenjäger rufen würde. Dass irgendein Junge ihm folgen könnte, um zu sehen, was er heimlich im Dickicht tat. Dass er es nicht erfahren würde, wenn so etwas geschah, bevor es zu spät wäre … Er bohrte die Fingernägel in seine Handballen. Das Schiff war jetzt deutlich sichtbar. Es umfuhr das Kap und hielt auf die Strandbucht zu, wo die Boote lagen. Jede Chance, seine Leute zu warnen, war durch sein herzklopfendes Zögern vertan. Ihn überkam ein namenloser Schrecken; Schweiß trat ihm auf die Stirn, klebte ihm das Hemd an den Rücken, als er verstand, was es bedeutete. Räuber! Wenn einer von ihnen aufblickte … Ob man ihn sehen konnte? Helmut zog sich unter die Bäume des Waldrands zurück. Wo war es …? Ah, ja. Der Pfad. Mehr ein Wildwechsel, vielleicht vor einiger Zeit von Wildschweinen benutzt, denn es gab keine frischen Spuren. Vielleicht hatte Helmuts häufige Anwesenheit die Tiere verscheucht. Der Pfad führte schräg über die Flanke der Anhöhe hinab und umging die Dorflichtung und die Landstraße in mehr als Bogenschußweite. Helmut rannte ihn hinunter und wich geschickt herabhängenden Zweigen aus, um unnötige Geräusche zu vermeiden. In Furcht vor Verrat. Wenn jemand mich sieht … ermahnte er sich. Ein Warnungsritual, ein Gebet an den namenlosen Gott, wer immer er war, der über ihn wachte. Für immer leben. Was bedeutete, nicht erwischt zu werden. Mit der beklemmenden Erwartung des Unvermeidlichen stellte sich ein anderer Gedanke ein, den er bisher verdrängt hatte: daß es besser sei, die Dorfbe-
wohner nicht zu warnen, daß die Piraten alle miteinander überraschen und umbringen sollten. Er würde seine Eltern und die jüngeren Schwestern erschlagen sehen, mit glasigen Augen, und Fliegen würden über ihr schwärzlich geronnenes Blut kriechen. Seine Familie hätte er gern verschont, aber einige der anderen … Sofort mußte er an Heinrich denken. Heinrich war ein Jahr älter als er und vor zwei Sommern fortgezogen, um sich bei dem Baron als Kriegsknecht zu verdingen. In früheren Jahren hatten Heinrich und ein paar andere ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit gepeinigt. Er erinnerte sich eines sonnigen Frühlingstages auf der Wiese hinter dem Wirtshaus. Sie hatten ihm die Hände auf den Rücken gehalten und mit dem Gesicht zum Misthaufen gestellt. Dann ihr kindischer Singsang: »Helmut, Helmut, Hosenscheißer, Lügner, Schwächling, Fliegenbeißer, zu Nurgle läuft er, die Seele verkauft er.« War es ihr Ernst gewesen? Nicht mehr und nicht weniger als unter Kindern üblich. Aber sie hatten ihm das Leben zur Hölle gemacht. Die anderen waren weniger gemein gewesen; aber Heinrich hatte nicht lockergelassen, hatte sich selbst zum dunklen Boten der Götter ernannt, ausgesandt, Helmut für nicht erinnerte Sünden zu quälen. Am anderen Ende der Dorflichtung bog er vom Wildwechsel ab und arbeitete sich vorsichtig und vor Anstrengung leicht schnaufend zum Waldrand vor, um sorgfältig nach Eindringlingen Ausschau zu halten. Niemand sonst würde normalerweise diesen Ort aufsuchen, aber es schadete nicht, sich zu vergewissern. Er lauschte und beobachtete. Nein, der Friedhof lag verlassen. Man konnte den Begräbnisplatz kaum einen Friedhof nennen. Schiefe Grabsteine aus grob behauenen Schieferplatten und verwitterte, morsche Holzpfosten zeugten vom Preis des Lebens an der Küste. Moosbewachsene, gesprungene Steine, altersgrau und verwittert, deren Inschriften längst unleserlich geworden waren, standen neben frisch aus dem Kliff gehauenen Platten. Zum Ge-
denken an Ras Bormann und seine Besatzung, seit zehn Wochen auf See vermißt. Durch Setzung des Bodens und die Verwitterung von Jahrzehnten von seinem Nachbarn weggeneigt. An einem Ende gab es einen kleinen, verfallenen Schrein, und eine niedrige Mauer aus Bruchsteinen umgab den Begräbnisplatz, aber außer zu einer Beerdigung kam niemand hierher. Niemand wollte an den Tod erinnert werden. Im Gegensatz zu Helmut. Er sah sich schnell und verstohlen um, dann rannte er zum Schrein. Dieser war kaum mehr als eine primitive Hütte aus dem gleichen Bruchsteinmauerwerk wie die Einfriedung, strohgedeckt und mit einem roh gezimmerten Tisch, auf den der Sarg gelegt wurde, und einem Altar. Die Ausstattungsgegenstände des Schreins wurden von Pater Wolfgang verwahrt. Aber unter dem Altar, den er nun schnaufend beiseite schob, hatte Helmut heimliche Veränderungen vorgenommen. Als Zwölfjähriger hatte er das Loch der alten Priester entdeckt und nach seinem Geschmack gefunden. Seit damals …
* Ragnar Einauges finsterer Blick war wirkungsvoller als der manch anderen Mannes mit zwei Augen, selbst wenn er die Augenklappe an Ort und Stelle hatte. Nahm er sie ab, so konnte der Gegensatz zwischen blutiger Öffnung und finster brennendem Blick bewirken, daß selbst starke Krieger wie angewurzelt in ihren Stiefeln standen. Nicht umsonst war er unter seinen Gefolgsleuten als Zehnschläger bekannt. Er stützte sich auf den Stiel seiner Streitaxt und wartete. Er wußte, wohin der Berserkerzorn ihn führen würde, schnell und wild und wie in einem Tunnel aus rotem Nebel vom Schiff zum Dorf der Fischer, mit abgeschlagenen Köpfen und aufgeschlitzten Leibern und Blut als Wegmarken. Wo Ragnar ging, zitterten seine Gefolgsleute, und unter den
Schatten ihrer Helme sah man das Weiße in ihren Augen. Ein Umhang aus Wolfsfellen und eine Streitaxt, die Ströme von Blut vergossen hatte, und ein Gang, der manchem Feind das Blut in den Adern hatte erstarren lassen. Er stand am Bug, als das schnelle Piratenschiff in die Bucht einlief. Dann hob er seine Axt und wandte sich seinen Männern zu. »Hört!« Die Strahlen der Abendsonne glänzten auf seiner Klinge und erzeugten tanzende Reflexe in ihren Augen. »Wir ziehen in den Krieg, wie immer. Wir werden kämpfen, wir werden plündern, wir werden Ehre und Beute nach Hause tragen, wenn wir gehen, und das Jammern ihrer Frauen wird in unseren Ohren wie nichts sein. Aber dieses Mal ist es nicht das gleiche.« Er hielt inne. Vor ihm machte der Priester seinen Trank bereit, ohne die Anspannung in den Kriegern ringsum zu beachten. Der Kessel blubberte, als er eine Handvoll gemahlenen Zimt in den rituellen Wein verrührte. Als Ragnar die aufsteigenden Dämpfe des Gebräus aus saurem Wein und Gewürzen wie Bilsenkraut und Fliegenpilz inhalierte, fühlte er eine Hohlheit in der Brust und eine Leichtigkeit im Kopf. »Hört!« rief er heiser. »Die Fischer-Ratten sind zu weit gegangen. Ihre Entweihung beleidigt die Götter. Ihre finstere Magie hat Hungersnot an unsere Küsten gebracht; die Fische faulen in unseren Netzen, und die Feinde Ulrics verwüsten die Länder der Menschen. Diesmal ist es anders! Unsere Arme sollen stark und unsere Schwerter rot sein, wenn wir sie für ihre Schlechtigkeit bestrafen!« Beifallsgebrüll antwortete ihm. Wenn es unter seinen Gefolgsmännern Vorbehalte gab, behielten sie sie für sich. Und bald nachdem der Priester seinen rituellen Trank verteilte, würden sie keine mehr haben. Ragnar blickte mit seinem einen Auge auf den Priester hinab, und dieser blickte auf. Schwarze Augen glitzerten im schmalen,
verkniffenen Gesicht des Mannes. Er öffnete den Mund und sagte in neutralem Ton: »Der Trank des Heils ist bereit, Herr und Meister. Wollen Sie das Zeremoniell abhalten?« Ragnar grunzte ungeduldig. »Ja, bei Ulrics Blut. Jetzt!« Wortlos hielt der Priester ihm den Kessel und einen langen, schmalen Löffel hin. Ragnar nahm beides entgegen und intonierte: »Gesegnet seien die, welche vom Wein Ulrics trinken, denn sie sollen das Schlachtfeld behaupten, und die Gefallenen sollen die Freuden des Himmels erleben. Verbannt Furcht und Zweifel aus unseren Herzen, stärkt unsere Arme, den Feind zu zerschmettern. Beginnen wir. Wulf!« Der breitschultrige Riese, der als sein Leutnant diente, trat vor. Ragnar hob den Löffel zu seinem Gesicht, Wulf schluckte wortlos den Inhalt und wandte sich ab. Eine Warteschlange bildete sich in strenger Rangordnung. Bald hatten alle getrunken, und das Schiff lief durch die Brecher der Brandung. Ragnar hob den Kessel an den Mund, und während er finster zum Strand starrte, leerte er den letzten noch verbliebenen Rest von Ulrics Wein. Das Gemetzel konnte beginnen.
* Maria Kerzer war keine glückliche Frau. Sie war noch nicht alt, aber die Zeit hatte ihr übel mitgespielt. Als junges Mädchen vermählt, hatte sie ihrem Mann nur einen Sohn geschenkt, bevor die See ihm seine Familie geraubt hatte; und dieser eine Sohn war kränklich und in sich gekehrt aufgewachsen. Das Glück hatte ihren Mann verlassen, denn als das Fischerboot mit seinem Vater und den Brüdern verlorengegangen war, war auch der größte Teil des Familienvermögens dahin, und er begann zu trinken und brütend herumzusitzen. Maria zog Hühner und Gänse auf, baute Gemüse an und betete um einen weiteren Sohn; und mit den
Jahren hinterließen der Kummer, das karge Leben und die harte Arbeit mit den rauhen, schneidenden Winden der Küste ihre Spuren in ihrem Gesicht. An diesem Abend kehrte ihr Mann frühzeitig vom Strand zurück, streng blickend und zornig. »Wo ist dieser Nichtstuer von deinem Sohn?« fragte er, als er sich auf den Hocker beim Feuer fallen ließ, wo Maria beim Spinnen saß. Sie hob eine Schulter. »Der Junge tut, was er will. Was hat er angestellt?« Klaus Kerzer warf einen mißmutigen Blick zur Tür. »Er sollte die Netze flicken, aber seit dem Mittag habe ich nicht Haut noch Haar von ihm gesehen. Sicherlich hat der Faulpelz sich irgendwo verkrochen. Wenn die Netze nicht geflickt sind, bekommt er nichts zu essen, das verspreche ich dir.« Maria warf einen Blick zur Feuerstelle und stocherte mit dem Schüreisen in der Glut. »Das Feuer braucht mehr Holz«, bemerkte sie. »Dann hol es selbst. Ich lass' mir von dem Jungen nicht auf der Nase herumtanzen!« Entrüstet verlagerte er sein Gewicht von einer Seite zur anderen, bis der Hocker gefährlich knarrte. Maria öffnete wortlos die Tür und ging hinaus. Ein paar Augenblicke später kam sie mit einem Armvoll Treibholz wieder herein. »Ich rieche Rauch«, sagte sie. »Kannst du dir vorstellen, daß jemand zu dieser Jahreszeit im Freien Holz verbrennt?« Sie beugte sich neben der Feuerstelle nieder, legte das Holz ab und tat ein paar Scheite in die Glut. Klaus Kerzer seufzte. »Frau«, sagte er in verändertem, beinahe freundlichem Ton, »wie lang sind wir schon verheiratet?« Sie antwortete, ohne sich umzuwenden. »Nächsten Sommer werden es zwanzig Jahre.« Noch immer gebeugt, rührte sie im Kessel mit Fischsuppe, der an Ketten über der Feuerstelle hing. »Lange genug, daß ich den Eid vergaß, der mich an dich band. Der Junge wirft einen langen Schatten.« Maria wandte den Kopf
und sah einen verstörten Ausdruck über das Gesicht ihres Mannes huschen. Das gab ihr zu denken. Trübsinn sah sie oft darin − aber Kummer, Ratlosigkeit? Er stand auf und ergriff ihre Hände. »Vergib mir«, sagte er mit rauher Stimme. »Ich sollte nicht dir die Schuld geben. Aber der Junge …« »Der Junge«, sagte sie, »macht mir ebenfalls Sorgen. Nicht das Schreiben, das Pater Wolfgang ihm beigebracht hat, sondern das andere.« Sie zog fröstelnd die Schultern ein. »Nachts herumwandern und nie da sein, wenn man ihn ruft. Dieses Fieber im vorigen Jahr. Und dann, als wir den Grabstein für deinen Vater aufstellten.« Sie machte eine Pause, verloren in der Erinnerung. »Sein Gesicht hätte aus Stein sein können.« Sie sah auf und begegnete dem Blick ihres Mannes. »Manchmal wünschte ich mir, er wäre anderer Leute Kind und nicht meines.« Klaus zog sie sanft in seine Arme. »Sei dem, wie es sei, es könnte noch andere geben … Was ist das?« Sie horchten auf. Der Wind trug deutlich das Läuten einer Glocke herüber. Es gab nur eine Glocke im Dorf, und sie wurde nur aus einem Grund geläutet: bei Gefahr.
* Helmut ließ den Feuerstein fallen, fing ihn aber auf, bevor er auf den feuchten Boden fiel. Ein Kratzen, ein Funke, und Licht flammte von dem Zunder auf, das in dem dünnen gelben Schein einer Kerzenflamme zur Ruhe kam. Sie qualmte in der feuchten Luft der Krypta. Der Lichtschein lag auf Helmuts Gesicht und ließ schwarze Schatten über die Wände tanzen. Er reckte sich und zog den Altar wieder an seinen Platz; nun gab es nichts, was seine Anwesenheit verriet. Vorsichtig zog er den Kopf ein und stieg die abgetretenen Stufen hinab, die unter die Erde führten.
Früher einmal war diese Krypta ein Ort des Bösen gewesen und hatte Angst und Schrecken verbreitet, doch war davon nur das bedrückende Gewicht der Zeit geblieben, die Last von Jahrhunderten. Helmut wußte von der Leiche. Vor langer Zeit, Jahrhunderte bevor irgendein Bettelmönch diesen Altar Morr geweiht hatte, war er Opferstein einer anderen, dunkleren Gottheit gewesen. Vielleicht war die Leiche in den Jahrhunderten zu trockenen, spröden Knochen und raschelndem Staub verwittert, aber in jenen längst vergangenen Tagen hatte sie Schrecken in die Herzen all jener gesenkt, die dieses abgelegene Küstengebiet bereist hatten. Seltsame Früchte faulten an den Ästen der Eichen, und als das Fleisch der Lebewesen zerfallen war, waren die nackten Gebeine wieder auf der mondbeschienenen Erde gegangen. Die Opfergaben bestanden nicht aus Blut, sondern aus etwas weniger Unschuldigem. Und dies war die Begräbnisgruft dieser Quelle alten Übels. Angetrieben von einem Gefühl besonderer Dringlichkeit, das er nur halb verstand, stieß Helmut in die niederen Bereiche des dunklen Ganges vor. Dieser führte abwärts, eine Stufe auf einen oder zwei Schritte, so eng, daß man nur im Gänsemarsch voranschreiten konnte, und so niedrig, daß ein ausgewachsener Mensch den Kopf beugen mußte. Helmut passierte zwei Nischen, eine auf jeder Seite. In ihnen lagen, von der Zeit mitleiderregend zermürbt und eingestaubt, zwei Skelette, eingehüllt in wachsgetränkte Leichentücher, die längst die Beschaffenheit mumifizierter Haut angenommen hatten. Der unterirdische Gang war jetzt weit vom Friedhof entfernt. Helmut hielt die Kerze vor sich. Die Decke hatte dem Druck der Wurzeln und der eindringenden Feuchtigkeit widerstanden; die Luft war hier unten trocken und muffig, der Boden von fingerdickem Staub bedeckt. Wie in Trance schritt er die Stufen abwärts zu einem Eingang, der unvermittelt vor ihm sichtbar wurde, dunkel und drückend. Den Eingang flankierten zwei in Stein gemei-
ßelte Karyatiden in Gestalt sich windender Mumien, deren Münder in ewigem Schrei offenstanden. Mit einem Schaudern begriff Helmut, daß sie durchaus echt sein mochten, im Schrecken ihres Sterbens von dem alten Ungeheuer versteinert. Dies war es, dachte er. Schon einmal hatte er vor dieser Tür gestanden, war aber nicht weitergegangen. Die geschlossene Tür mit dem vom Alter vergilbten menschlichen Unterkiefer als Klinke lud ihn zum Nähertreten ein. Ob es der Mühe wert war? Heiße Erregung wallte in ihm auf. Ja! Er umfaßte den Knochen, während vor seinem inneren Auge das Gemetzel wie eine Woge den Strand heraufrollte und bereits Menschenleben und Gliedmaßen abwarf, wie eine seltsame und blutige Schlange ihre Haut abstreift. Es war nicht für ihn; nichts dergleichen. Er hatte eine Bestimmung, und sie war bei weitem größer. Die Eichentür öffnete sich mit einem Kreischen trockener Angeln, und Helmut trat hindurch. Der Anblick, der ihn begrüßte, lähmte ihn wie eine Ratte angesichts der Schlange, oder wie einen Priester, der sich seinem Gott gegenübersieht. Die Leiche fesselte seine Aufmerksamkeit mit einer brennenden Vision, grinste aus leeren Augenhöhlen von einem Thron, der formlos wie schwarzes Feuer war. Willkommen, schien sie in seinem Kopf zu sagen; ich habe lange auf dich gewartet. Hilflos fühlte er sich von dem knöchernen Blick angezogen. Die Tür schloß sich hinter ihm.
* Klaus Kerzers erster Gedanke war, Haus und Herd zu schützen. Als Maria bewegungslos verharrte und dem hellen Klang der Glocke lauschte, griff er bereits zum Familienerbstück, das in Öltuch eingewickelt über dem Türsturz hing. Er nahm es herunter und wickelte es aus den öligen Lappen, die seine Klinge vor Feuchtigkeit schützten. Grimmig sah er seine Frau an.
»Du sagtest, du hättest Rauch gerochen«, bemerkte er. »Es ist Flut, und die Glocke läutet.« Er holte schnaufend Luft und zog die Tür auf. »Schnell, Frau, ruf die Nachbarn zusammen! Frau Schagen, die Bisseis. Alle. Lauf mit ihnen zum Tempel und sucht dort Zuflucht, oder bringt euch mit den anderen in Sicherheit. Aber versteck dich − ich fürchte, die Seeräuber kommen.« Ihre Erstarrung löste sich. Sie umarmte ihn schnell, mit Tränen in den Augen. »Komm zurück zu mir«, flüsterte sie. »Geh«, grunzte er, das Gesicht abgewandt. Das Schwert lag auf dem rohen Tisch, die Klinge glänzend und scharf. Seine Kehle war trocken. Trotz seiner kräftigen Gestalt und seines aufbrausenden Temperaments war Klaus Kerzer keine Kriegernatur. Das Schwert zeigte nur, wie es über die Jahre mit dem Glück und Vermögen der Familie abwärts gegangen war. Er grunzte wieder, tief in der Kehle, dann umfaßte er den Handgriff der Waffe unbeholfen mit beiden Händen. Das Schwert war lang und schwer, und er hoffte, daß er sich rasch erinnern würde, was sein Vater ihn über den Gebrauch gelehrt hatte. Hinter ihm schlüpfte Maria in die anbrechende Dunkelheit hinaus. Noch immer schlug die Glocke Alarm, aber nun waren auch andere Geräusche zu hören, die von der kalten Nachtbrise landeinwärts getragen wurden. Er trat aus dem niedrigen, strohgedeckten Haus, als die ersten von Ragnar Einauges Gefolgsleuten das Dorf erreichten.
* Helmut trieb in der süßen, krankhaften See der Selbstvergessenheit. Es war dunkel in der Krypta, und er wußte, daß er schlief − niemand konnte sehenden Auges den Anblick der Leiche ertragen, ohne schreiend die Flucht zu ergreifen −, denn er saß auf einem Hocker, der unter seinem Gewicht knarrte, und lauschte dem uralten Ungeheuer.
Vor langer Zeit, schien es zu sagen, waren die Verhältnisse nicht so, wie sie jetzt sind. Die Bewohner dieses Landes waren nicht arme Fischer oder Bauern, bedrückt vom Adel des Reiches und den Verwüstungen von Krieg und Piraterie. Die Verhältnisse waren besser − weitaus besser. Die Menschen hatten mich. Ob die Leiche wirklich tot war oder nur zur Hälfte, blieb ein Geheimnis. Aber er konnte keine Spur von Bosheit oder Geringschätzung heraushören; das Ungeheuer sprach ruhig und verständig zu ihm, wie ein freundlicher Onkel oder ein Gelehrter. Als ob es eine Verwandtschaft mit ihm fühlte und darauf zu bauen wünschte. Als Helmut den vom Kerzenschein beleuchteten Schädel der in Prunkgewänder gehüllten und mit Juwelen geschmückten Leiche betrachtete, die ihm gegenüber an der Wand auf ihrem Thron saß, schien er Visionen jener längst vergangenen Zeit zu sehen. Es war ein leuchtendes Zeitalter von goldener Farbe gewesen. Der Namenlose hatte jahrhundertelang gnädig von seiner Feste auf dem Vorgebirge regiert und außer einer Leichensteuer wenig von den Untertanen seines Landes erhoben. Diese fanden sich klaglos mit ihrem Geschick ab und überließen ihre sterblichen Überreste dem Herrscher; nur Ausländer stellten seine Vorherrschaft in Frage. In seiner Feste hatte es endlose Tage und Nächte in glanzvoller Pracht gegeben. Das Lebenselixier, serviert in einer goldenen Schüssel unter einem Kronleuchter aus Fingerknochen; der Kammerdiener ein schwarz-gewandetes Skelett. Die Studien des Oberherrn, der sein Wissen in alle zeitlichen und geistigen Nischen von Pol zu Pol zu erweitern suchte. Das schmerzhafte Licht des Sonnenaufgangs, gesehen von Augen, die gegen Tageslicht zu empfindlich geworden waren, aber noch eine Milliarde Sonnenaufgänge zu sehen erwarteten. Sein namenloser Glanz hatte fünfhundert Jahre geherrscht, während alle Menschen um ihn her wenig mehr als Barbaren gewesen waren. Es kam eine Zeit, schien die Mumie zu sagen, als die Bürde be-
schwerlich wurde. Als die Nacht allein ausreichend für mich wurde und ich zu schlafen und zu meditieren wünschte, denn ich hatte viel nachzudenken. Ich hatte hundert Lehensspannen durchlebt, und wie es sich ergab, hatte ich den Rückgang meiner Kräfte kaum bemerkt. Augenhöhlen grinsten ihn aus den Schatten an. Helmut grinste zurück, in einem starren Zähneblecken von Angst und Sehnsucht. Umrisse erschienen aus der Dunkelheit zu beiden Seiten des Throns; Umrisse von Kästen, einem Lesepult, großen, ledergebundenen Büchern, die mit Schlössern und Schnallen aus Knochen verschlossen waren. Ich habe lange auf meinen Erben und Nachfolger gewartet, stellte das Skelett in einer lautlosen Stimme fest, die so trocken schien wie die Wüsten Arabiens. »Ja.« Helmut war überrascht, seine eigene Stimme zu hören, dumpf wie die steinernen Mauern der Gruft um ihn. »Ja«, wiederholte er. Woher wußtest du? fragte er. Wie wußtest du, was ich wollte? Wovor ich mich fürchtete? Es schien ihm völlig richtig, daß er erwählt werden sollte. Erbe des … Die Ländereien. Die Ländereien Helmut Kerzers, des Nekromanten. Ja, das war es. »Ich nehme das Erbe an«, sagte er feierlich, und obwohl die Leiche in toter Pracht auf ihrem Thron sitzen blieb, schien ein Wind durch den Höhlenraum zu wehen. Seine Kerze flackerte und erlosch, aber er brauchte sie nicht mehr; Helmut sah mit einer Klarheit, die er bis dahin nie gekannt hatte. Hinter dem Thron führte eine Treppe hinab zu den Räumen und Werkstätten des Namenlosen, hinab zu seinem neuen Heim. Seit vielen Jahrhunderten hatte er geduldig auf ihn oder jemanden wie ihn gewartet. Fieberhafte Erregung durchströmte Helmut; es gab viel zu tun, vieles, was noch vorbereitet werden mußte. Wissen mußte angeeignet, Bücher gelesen, nicht näher bezeichnete Arbeiten ausgeführt werden. Als er am Thron vorbeiging, fiel das Skelett des alten Herrschers mit einem spröden Rascheln in sich zusammen:
Staub erhob sich in endgültiger Befreiung. Es sollte Jahre dauern, bis Helmut zu einem Verständnis der Natur des Zauberbannes gelangte, dem er erlegen war, und dann würde es viel zu spät sein, ihm zu entkommen. Denn nun war er von der Verheißung dunkler Macht geblendet.
* Nachdem sie an Land gegangen waren, verbrannten sie die Boote der Fischer, wie sie sie fanden. Der haarlose Horst war noch dort, bündelte seine Netze für den nächsten Morgen, und er blieb auch noch dort, wenn auch mit der Hälfte seines Gehirns im Schoß und von Fliegen umschwärmt. Ragnar Einauge stieß einen wortlosen, heulenden Schlachtruf aus; mit geschwungener Streitaxt führte er die Keilformation seiner Krieger den Weg hinauf zum Dorf. »Vorwärts! Macht sie nieder!« brüllte er. »Nehmt euch, was ihr wollt, und zündet den Rest an. Laßt niemanden zurück!« Das war unmißverständlich und genau das, was die Männer hören wollten. Der heilige Berserkerzorn von Ulrics Zeremonienwein war in ihnen, und sie waren nicht in der Stimmung, Zurückhaltung zu üben. Im Sturmlauf griffen sie das Dorf an. Klaus Kerzer hörte Horsts Todesschrei, sah die Feuerbrände bei den Booten und vernahm Ragnars Stiergebrüll. Mit schleppenden Schritten lief er zum Versammlungshaus des Dorfes. »Feind! Feuer! Mord!« schrie er mit rauher Stimme, so laut er konnte. Aber schon waren die Seeräuber im Dorf, und einer von ihnen traf ihn mit einem Wurfmesser. Schock und Schmerz fuhren sengend durch seinen Körper, und er fiel schwer zu Boden. Als er ächzend im Staub lag, bückte sich der Räuber, um sein Wurfmesser aufzuheben und ihm den Todesstoß zu versetzen; aber Klaus
traf den Banditen unerwartet mit einem verzweifelten Hieb des geerbten Schwerts in die Kniesehnen, und der Mann fiel fluchend zu Boden. Keuchend holte Klaus von neuem mit dem betagten Schwert aus, aber diesmal war der jüngere und erfahrenere Krieger viel zu schnell für ihn: Der Räuber stieß dem älteren Mann das Messer in die Kehle, und Klaus Kerzers Leben sprudelte aus ihm in den Staub. Das Schwert entfiel seinen kraftlosen Fingern. Das Glockenläuten und Klaus Kerzers Schreie hatten die verängstigten Fischer aus ihren Hütten geholt. Einige von ihnen hatten sich mit Sicheln, Heugabeln und anderem Feldgerät zweifelhaften Jahrgangs bewaffnet; einer oder zwei der wohlhabenderen Bauern besaßen echte Waffen, aber keiner von ihnen hatte Rüstungsteile oder war im Kampf ausgebildet, und alle zusammen konnten sich nicht im entferntesten mit den Angreifern messen. Die Dorfbewohner liefen vor dem Versammlungshaus durcheinander, unfähig, irgendeine Art von Schlachtordnung zu bilden. Pater Wolfgang war aus dem Tempel gekommen, aber nirgends gab es wirkliche Autorität; kein Ritter oder Kriegsherr war zugegen, entschlossene Verteidiger um sich zu sammeln. Die Berserker hieben die entsetzten Fischer und Bauern mühelos nieder. Ragnar stieß wortlos grunzende und knurrende Laute aus, während er die bluttriefende Streitaxt schwang; er war jetzt wahrhaft in seinem Element. Der rötliche Feuerschein fügte der Szenerie ein unwirkliches Element hinzu, denn schon ging eine der strohgedeckten Katen nach der anderen in Flammen auf. Ob der Brand vorsätzlich oder durch Zufall entstanden war, blieb ohne Bedeutung; er breitete sich rasch aus, sprang wie eine raubgierige Bestie von einem Dach zum anderen über. Das Knistern, Knacken und Brausen des Feuers summte in Ragnars Blut und erhitzte seine Berserkerwut zum Siedepunkt. Fliehende Frauen und Kinder fielen den Seeräubern zum Opfer. Ein von Snorri Rothaar geführter Trupp stieß überraschend auf eine Gruppe von ihnen. Schreie zerrissen die Luft, und Blut floß in
Strömen, so schrecklich wie in einem Schlachthaus. Klaus Kerzer war eines der ersten Opfer unter den Dorfbewohnern gewesen, und er war mit seinem kostbaren alten Schwert in der Hand gefallen. Dank dieser Waffe kroch wenigstens einer der Berserker mit bleichem, schmerzverzerrtem Gesicht und durchschnittenen Kniesehnen davon. Aber Klaus hörte nicht mehr die Schreie seiner Frau, sah nicht mehr den Axthieb, der sie halb enthauptete. Er starb, wo er gefallen war, und seine letzten Gedanken beschäftigten sich mit der Frage, warum ihm dies jetzt passieren mußte, und wo der Junge sich herumgetrieben hatte, statt die Netze zu flicken. Bald hörte das Gemetzel mangels überlebender Dorfbewohner auf. Ragnar Einauge überblickte das Schlachtfeld aus der Perspektive eines Riesen, denn seine Seele schwebte hoch über seinem Körper. Leichen lagen verstreut wie Bäume nach einem Wirbelsturm, und das Prasseln und Knistern der brennenden Fischerkaten war das einzige gleichbleibende Geräusch neben der Brandung. Einige wenige seiner Gefolgsleute waren durch eigene Nachlässigkeit im Kampf mit den Fischern und Bauern verwundet worden, aber keiner von ihnen tödlich. Ein paar Schritte von ihm stöhnte ein Verwundeter und öffnete die Augen. Ragnar blickte gleichgültig hin und sah, daß es ein Priester war. In der Dunkelheit war sein Gewand schwärzer als die Nacht und klebrig von Blut, das aus einer tiefen Bauchwunde sickerte. Der Geruch verriet, daß der Mann nicht mehr lange zu leben hatte. »Der Fluch …«, ächzte Pater Wolfgang. Seine Eingeweide fühlten sich jetzt kalt an, und er wußte, was das bedeutete. »Der Fluch des Bösen. Ihr werdet ihn freisetzen, ihr Dummköpfe!« Der hünenhafte Barbar zeigte kein Interesse, gab nicht zu erkennen, ob er ihn verstanden hatte. Wolfgang gab es auf. Es war sehr kalt, und er war sich auch nicht sicher, daß er die Räuber warnen sollte. Vielleicht hatten sie ein Geschick verdient, das schlimmer
war als der Tod. Einstweilen konnte er sich ein wenig entspannen. Die Augen schließen. Gerechtigkeit würde geschehen, wenn nicht hier, so doch in jener anderen Welt … Ragnar blickte auf den sterbenden Priester. Ein Runzeln furchte die Stirn des Nordmannes. Hatte der Ketzerpriester versucht, ihn im Sterben mit einem Fluch zu belegen? Der Gedanke machte ihn zornig, und er stampfte davon zum brennenden Versammlungshaus der Dorfbewohner. Häretiker! Dämonenbrut! Anbeter des Bösen! Dieses schädliche Gesindel gehörte ausgerottet! Das war eine Notwendigkeit. Seit dem Winter, als die Fische verfaulend aus der See gezogen worden waren, ganze Netze voll stinkender, mit Geschwüren behafteter, sich lebendig zersetzender Fische, war es offenkundig gewesen, daß sie von Schwarzer Magie verdorben waren. Die Deutungen der Schamanen, der Oneiromanten und Chiromanten, der Kundigen des Vogelflugs und der Leberbeschau hatten gezeigt, daß diese Küste der Quell der Verseuchung sein mußte. Viele Bewohner seiner Heimatstadt waren im Winter verhungert, überwiegend alte und kranke, und die anderen hatten Ratten gegessen und Baumrinde gekocht, um zu überleben. Praktiker des Bösen lebten in diesen Gegenden und mußten ausgelöscht werden. Darauf allein kam es an. Ragnar erleichterte sich an den rauchgeschwärzten Mauerresten dessen, was einst das Haus der Bisseis gewesen war, einer denkbar harmlosen Familie. Dann sah er sich um. Ja, es reichte. Am Strand konnten sie ihr Nachtlager aufschlagen, die Verwundeten versorgen und die Heimreise vorbereiten. Er nickte düster. Nach Hause …
* Helmut Kerzer war in seinem neuen Heim. Ein Arbeitszimmer und ein Laboratorium sowie die Bibliothek eines Nekromanten,
der groß in seiner Macht und seiner schrecklichen Majestät gewesen war. Ein Schlafraum − oder eine Krypta −, die einem toten Fürsten angemessen war. Ein Ankleideraum, wo die schweren Gewänder des Magiers in staubigen Reihen hingen. Euphorie bemächtigte sich Helmuts. Es war, als sei er zu sich selbst zurückgekehrt, nach einer Kindheit in finsterer Unwissenheit. Irgendwie wußte er, wo alles war; er wußte, wozu die Räume dienten, als hätte er in einer früheren Inkarnation hier gelebt. Niemand hatte ihm jemals von dem gefürchteten Leben im Tode der großen nekromantischen Zauberer erzählt, geschweige denn von der Fähigkeit, die einigen nachgesagt wurde, noch von jenseits des Grabes Macht auszuüben und von Lebenden Besitz zu ergreifen. Indem er die Domäne eines Nekromanten angenommen hatte, hatte er weit mehr übernommen als die Besitztümer des alten Ungeheuers. Schon fühlte er eine Macht in sich, die ganz neu war; eine Zuversicht und ein Wissen, das dunkel in seiner Intensität und fremd in seinen Ursprüngen war. Zuerst entzündete Helmut die Laternen, die ein trübes Licht in der staubigen Wohnung verbreiteten. Im Ankleideraum blieb er nachdenklich stehen. Sicherlich …? Er schüttelte den Kopf. Nie hatte er ein Kleidungsstück besessen, das nicht oft geflickt war und von einem anderen Vorbesitzer stammte. Lumpen! Ein schwarzes Gewand wie das eines Priesters hing bereit. Es knisterte vor Alter und Sprödigkeit, als er es über den Kopf zog, aber es paßte gut. Er zog sich die Kapuze über den Kopf und lachte grimmig, zufrieden. Das getreue Ebenbild eines Zauberers. Als nächstes suchte er die Bibliothek auf. Regale, die sich unter dem Gewicht mächtiger Folianten und Codices bogen, erstreckten sich auf zwei Seiten bis zur Decke. Es gab keinen Schreibtisch, aber ein Lesepult in der Gestalt eines buckligen, schreienden Skeletts. Auf ihm lag ein aufgeschlagener Band mit großen Pergamentseiten. Helmut ging herum und bewunderte den Einband, der aus einem eigentümlich leichten, feinen Leder war. Es konnte,
sagte er sich, nur aus einer Quelle stammen. Dann betrachtete er die aufgeschlagenen Seiten. Schrift und Sprache waren ihm unvertraut, aber er konnte sie lesen, oder etwas in ihm konnte es; alles war verständlich. Er lachte wieder. Wühlmäuse und tote Vögel im Wald! Solche Dinge kamen ihm jetzt lächerlich vor. Dann runzelte er die Brauen, als ihm das Piratenschiff einfiel. Es hatte auf die Bucht zugehalten, um in der Abenddämmerung bei steigender Flut zu landen, und er hatte die Abendsonne auf den Waffen der Krieger blitzen gesehen. Nüchtern erkannte er, daß es dort reichlich Material für sein neu entdecktes Talent geben würde; viele vertraute Gesichter in einem seltsamen, verbogenen Zusammenhang … Er wendete die Seite und hörte das elektrisierende Knistern verborgener Macht. Runen glommen auf dem Pergament, goldene Zeichen, die von zauberischem Potential kündeten. Illustrationen von Tod und dem untoten Leben jenseits davon, von hermetischen Ungeheuern und Wiedergängern. Von der Wiederbelebung von Leichen und der grausigen Vollkommenheit belebter Skelette. Von der Berührung, die Schmerz und Tod bringt, und der Berührung, die einen Anschein von Leben wiedererweckt. Von der Natur und Behandlung von Vampiren, Dämonen und dergleichen. Vom Lebenselixier und vom Tod im Leben. Seine Fingerspitzen glitten über die Zeilen, von Seite zu Seite, und er nahm alles in sich auf, was ihm nützlich schien. Dann kam ihm ein Gedanke − ein Gedanke oder eine Vision. Kalt lief es ihm über den Rücken, und Schweiß trat ihm auf die Stirn. Vor seinem inneren Auge sah er ein Bild brennender Häuser und niedergemetzelter Bewohner, den Leichnam des Priesters am Wegrand. Barbarische Piraten kehrten zum Strand zurück, um ihren Sieg zu feiern, zu schmausen und zu trinken. Seine Eltern lagen unbemerkt und unerkannt unter den Toten, bis die Würmer und Käfer und Aasfresser kamen, um ihre Gebeine abzunagen. Das Buch schlug mit einem lauten Knall zu, so daß an beiden
Enden Staub aus dem Rücken flog. Helmut stand mit gebeugtem Kopf da. Eine furchtbare Spannung war in seinen Schultern. Sie wollten mich auf die Probe stellen, dachte er, und er empfand Empörung. Ihn, den Erben! Noch fehlte ihm die tatsächliche Macht, aber schon öffneten sich seiner dunklen Phantasie alptraumhafte Panoramen. Mit dem, was er hatte, konnte er das Land im Umkreis von Meilen beherrschen; die Fische in Schwärmen vergiften, so daß jene, die ihn nicht fürchten wollten, verhungern würden. Dann, wenn ihre Bäuche sich aufblähten und das Fleisch von ihren Knochen verschwand, würden sie ihre Lektion lernen. Hast du dies getan, Meister? fragte er stumm. Hast du sie für meine Ankunft vorbereitet? Er erhielt keine Antwort, aber irgendwie glaubte er ein erheitertes Glucksen von jenseits des Grabes zu hören. Helmut nahm den Band und stellte ihn in eines der Regale; instinktiv stellte er ihn in die richtige Lücke. Nachdem er überlegt hatte, wählte er einen anderen Band aus. Das Lesepult knarrte mit einem Geräusch wie ein Mensch auf der Folterbank, als der Codex sein Gewicht geltend machte. Die Kerzen, die den Raum beleuchteten, rauchten unheimlich mit einem Geruch wie von Speck; das Fett, aus dem sie gemacht waren, war jedem Nekromanten angemessen und leicht erhältlich. Kaum bemerkte er während des Studiums, wie die Zeit verging, so stark war die fieberhafte Intensität, mit der er das Verständnis und Können in seinen unerfahrenen Schädel zu pressen suchte. Zaubersprüche und Anrufungen, die normalerweise jenseits eines Anfängers wie ihm lagen, schienen ihm jetzt zugänglich, fügten sich mit einer eigentümlichen, ihnen innewohnenden Logik zu einem Gerüst. Als ob er sie bereits gekannt und früher einmal Gebrauch von ihnen gemacht hätte. Stunden vergingen. Helmut stillte seinen Durst nach verbotenem Wissen an einem von subtiler Fäulnis verseuchten Quell. Die Macht wuchs in ihm, bis er glaubte, sein Schädel müsse bersten,
wenn er sich noch eine weitere Anrufung einprägte. Es war ein ungeheures Gefühl. Endlich schloß er das Buch, diesmal vorsichtig und mit einem beinahe sinnlichen Gefühl für die feingegerbte Menschenhaut des Einbands. Er blickte umher, dann zwinkerte er und rieb sich die Augen. Ja, es war Zeit. Es gab einen weiteren Ausgang von der verborgenen Wohnung des Namenlosen, und Helmut fand ihn ohne Schwierigkeiten. Er selbst war sozusagen durch die Hintertür gekommen; seit wann hatte ein Nekromant nicht leichten Zugang zum nächsten Friedhof gewünscht? Tief im Wald stieg er eine kurze Treppe zu einer Falltür hinauf. Sie war seit Jahren unter einer Erdschicht begraben gewesen, aber die Lager waren so gut balanciert, daß sie sich bis auf ein kleines Herabrieseln von Erde mühelos in die Dunkelheit öffnen ließ. Helmut klatschte leise in die Hände und murmelte einen Zauber, den er schon vor seinem Aufstieg zur Macht gekannt hatte. Von einem Amulett, das er an einer Kette vor sich hielt, begann ein weiches, ruhiges Licht zu glimmen. Es werde Licht, dachte er ironisch. Immerhin genügte es, um zu sehen, wo er ging. Wurzelgeflechte zogen sich wie geisterhafte Fangarme über den Boden, und die Bäume ragten wie die Beine von Riesen in die Dunkelheit des nächtlichen Waldes: Riesen, die darauf warteten, alle Sterblichen zu zertreten, die sich in ihre Domäne wagten. Instinktiv schlug Helmut die Richtung zum Friedhof ein, um von dort ins Dorf zu kommen. Er dachte nicht darüber nach, wie er die Richtung wußte, aber er fand den Pfad und bewegte sich leise zum Dorf. Von Zeit zu Zeit blieb er stehen und schnupperte die Luft. Der Geruch von Holzrauch und verbranntem Fleisch erzählte seinem sensitiven Geruchssinn seine eigene Geschichte, eine Geschichte von Verzweiflung und Leiden und sinnloser Grausamkeit. Die Piraten wußten nicht − konnten nicht gewußt haben −, daß ihr Ziel nicht im Dorf war, als sie es überfielen. Dass ihr Ziel nichts mit dem Dorf zu tun hatte. Dass ihre Asche Staub im
Wind sein würde, bevor die Nacht zu Ende ging. Ein kalter Zorn wuchs in Helmuts Brust, als er sich dem Schauplatz des Massakers näherte und der schrecklichen Gewißheit seiner Erwartung. Das erste Opfer, auf das er stieß, war ein Kind. Julia Schmidt, die Tochter des Bäckers. Ihr Kleidchen war blutig, dunkel im Mondlicht. Nicht weit von ihr lag ihre Mutter. Er ging weiter. Die Zahl der Leichen nahm zu; die Räuber waren über eine Gruppe flüchtender Frauen und Kinder hergefallen und hatten sie wie Schafe abgeschlachtet. Im düsteren Mondlicht sahen sie aus wie Schlafende in grausamen, unbequemen Haltungen, die ihnen durch Brüche ihrer Gliedmaßen aufgezwungen waren. Helmut beherrschte seinen Zorn. Dies waren seine Leute; zuerst die Menschen, unter denen er gelebt hatte, und neuerdings die Leute, denen es beschieden gewesen war, seine Untertanen zu sein. Dann kam er zwischen die rauchenden Ruinen des Dorfes. Es war Schauplatz eines erbarmungslosen Massakers gewesen. Überall lagen Tote. Niedergemachte Bauern, die noch ihre Sicheln und Heugabeln in den Händen hielten, mitleiderregende Hügel abgetragener Kleider, die sterbliche Überreste enthielten. Die Ruinen schwelten unter dem Mond, Dachbalken glommen rot aus der erkaltenden Asche. Dunkle Blutlachen trockneten auf der Dorfstraße. Langsam drehte er sich im Kreis, bis er die Gesamtheit der grausigen Szenerie in sich aufgenommen hatte. Niemand war am Leben gelassen worden; wenn es Überlebende gegeben hatte, waren sie rechtzeitig geflohen. Er empfand jedoch kein Schuldgefühl. Schuld gegen solche wie diese war seiner unwürdig. Aber es war nicht immer so gewesen, das war ihm schmerzlich bewußt. Er bemühte sich, diese Tatsache zu verdrängen, und stählte sich für den letzten Akt. Spannung und Zorn verkrampften seine Muskeln. Er richtete sich auf und überblickte das Leichenfeld. Nicht ein einziger der
Seeräuber hatte hier den Tod gefunden. Der Anblick bestärkte ihn in seinem Entschluß. Langsam hob er eine Hand, streckte sie im Ärmel seines schwarzen Gewandes aus und begann einen seelenlosen, üblen Reim zu singen. Zwischen den Bäumen war ein seltsames Rascheln zu vernehmen. Ein Schleifen zerlumpter Kleidung, ein Geräusch wie das Seufzen einer Brise, die den Übeltäter am Galgen schwingen läßt. Steife Gestalten begannen zu zucken und sich zu regen. Helmut fuhr unerbittlich fort. Vielleicht eine Minute verging, dann richtete sich eine der Leichen, die ausgestreckt am Boden gelegen hatte, langsam auf. Mit ruckenden Bewegungen richtete sich HansMartin Schmidt − der Bäcker − auf und kam auf die Beine. Er starrte mit einem Gesicht wie aus einem Alptraum leer umher. Seine Nase war eingeschlagen, der Unterkiefer hing an Fleischfetzen unter dem Gesicht. Er sah eine Sichel zu seinen Füßen liegen, bückte sich und hob sie mühsam auf. Helmut setzte seinen trauervollen, einförmigen Singsang fort. Julius Fleischer wälzte sich zweimal herum, bevor auch er aufrecht saß. Ein Bein war abgetrennt, und er umfaßte den Stumpf, konnte aber nicht aufstehen. Langsam zuckte das abgeschlagene Bein auf ihn zu, gezwungen zu unnatürlicher Wiedervereinigung mit seinem Herrn. Die Energie, die Helmut aus dem Willen des toten Namenlosen zuströmte, erfüllte ihn mit einer furchtbaren bösen Macht; er war eins mit der Nacht und der Magie, als seine Diener kriechend und humpelnd auf die Beine kamen und mit leeren Blicken zu ihm wankten. Endlich war die Anrufung vollständig; der Vorladungszauber übte seine zwanghafte Wirkung aus. Untote wankten herbei, und schon hatte sich ein harter Kern um ihn versammelt. Er blickte in die Runde. Die Augen, die seinem Blick begegneten, waren leblos: @manche waren bloß leere Höhlen, während andere trüb und gebrochen waren, von Fliegen überkrochen. Zum größten Teil waren dies die Männer des Dorfes, im Tode so bewaffnet, wie sie
es im Leben gewesen waren. Er suchte, bis er seinen Vater sah. Es mochte sein Vater gewesen sein; Hals und Kopf waren so zerschmettert und entstellt, daß im trüben Mondlicht eine genauere Bestimmung nicht möglich war. »Folgt mir«, befahl er in einer alten Sprache, die er in einer Nacht nicht erlernen konnte − nicht ohne Verzauberung. »Der Feind schläft. Im Tode sollt ihr Vergeltung für die Leiden des Lebens üben; danach sollt ihr durch meine Fürsorge euren Frieden finden. Vorwärts!« Er zeigte den Weg zum Strand hinunter, und die Horde der Untoten bewegte sich auf das Lager der Seeräuber zu, schwerfällig und langsam zuerst, aber allmählich schneller. Ragnar Einauge und seine Männer waren keine Anfänger. Sie hatten nicht vergessen, eine Wache aufzustellen und mehrere Feuer am Strand zu entzünden. Aber ein einzelner Wachposten vermochte nichts gegen die Schreckensgestalten auszurichten, die aus der Dunkelheit geschwärmt kamen, begleitet nur vom Rascheln zerlumpter Kleidung, dem leisen Tappen unbeholfener Gangart und dem gedämpften Klirren metallischen Todes. Der Wachposten stand zwei verhängnisvolle Sekunden lang starr vor Schreck, den Mund aufgerissen; dann schrie er: »Angreifer!« Die Warnung kam zu spät. Die Horde des Todes krabbelte und kroch bereits über die Schläfer; Messerklingen und Sicheln blinkten in tödlichem Stoß. Helmut stand abseits, beobachtete und steuerte den Angriff allein durch Willenskraft. Etwas in ihm sträubte sich und rief: @Wenn du nicht dilettiert und mit Verwesung experimentiert hättest, wenn du nicht die Leiche in der Gruft geweckt hättest … Mühelos brachte er die innere Stimme zum Schweigen, verdrängte den Gedanken. Einige der Seeräuber flohen zu ihrem Drachenschiff, versuchten es in die See zu schieben und zu fliehen. Ein paar seiner Untoten verfolgten sie, aber er rief sie mit gebieterischer Willenskraft zurück. Sollten die Überlebenden denen Nach-
richt und Warnung bringen, die sie ausgesandt hatten! Ein kaltes Lächeln, das nicht Helmuts eigenes war, spielte um seine Lippen, als die letzten der aufgeschreckten Schläfer unter den bleichen Händen und blutleeren Körpern der Untoten ihr Leben aushauchten. Das erste Licht des neuen Tages ließ die Konturen des Horizonts schärfer hervortreten. Er wandte sich um und ging zurück zur Krypta, ohne die Zerstörung ringsum zu beachten. Alles war, wie er es zurückgelassen hatte. Der Kampf hatte den Friedhof nicht erreicht. Ein paar Mohnblumen bewegten sich unruhig in der Morgenbrise, als er den Altarstein beiseite schob und wieder in die muffige Dunkelheit hinabstieg. Aber als er diesmal die innere Kammer erreichte, blieb er vor dem Thron stehen und beugte das Knie. »Danke, Vater. Ich bin sehr dankbar für deine Hilfe«, murmelte er vor dem Haufen staubiger Knochen, der dort lag. Der Schädel grinste ihn an. Es konnte auch seine Einbildung gewesen sein, daß, als er die unterirdische Wohnung betrat, eine knochentrockene, wispernde Stimme hinter ihm sagte: »Denk dir nichts dabei, mein Sohn.« Vielleicht aber auch nicht.
NICOLA GRIFFITH Die Andere Die Stadt Middenheim erhob sich auf dem vorgeschobenen Felsplateau, verdeckte den Glanz des schwachen herbstlichen Sonnenlichts und warf einen breiten Schatten auf die Kolonne, die sich geduldig die Steigung vom Viadukt zum Osttor hinaufbewegte. Ledernes Zuggeschirr knarrte, und eisenbereifte Wagenräder rumpelten über das Pflaster. Stefan richtete sich in den Steigbügeln auf, um einen besseren Blick über den Stau von Fuhrwerken, Ochsenkarren und Fußgängern zu gewinnen.
»Noch mehr als zwei Wochen bis zum Karneval«, murmelte er und zog ärgerlich an den Zügeln; das Pferd schnaubte und warf den Kopf zurück. »Stefan«, sagte sein Vater in milder Zurechtweisung. Stefan entspannte sich ein wenig, zügelte seine Ungeduld und tätschelte den Hals seines Pferdes. Sein Vater nickte zustimmend. Stefan suchte sich die Zeit zu vertreiben, indem er die Leute in der Umgebung beobachtete. Er starrte auf den Nacken eines Handwerkers vor ihm. In den Hautfalten saß schwärzlicher Schmutz, und das rohlederne Wams hatte eine wunde Stelle gerieben. Sie sollte mit guter Seifenlauge gereinigt werden, bevor sie sich entzündete. Er stellte sich vor, wie die Ränder der wundgeriebenen Stelle anschwollen, rot glänzend von den angesammelten Giften; er glaubte sogar den süßlichen Geruch von Eiter wahrzunehmen. Sein Pferd tänzelte ungeduldig. Stefan schluckte. »Um vom Viadukt zum Tor hinaufzukriechen, brauchen wir länger als für den Ritt von Hunxe hierher.« Er versuchte, nicht mehr an den Nacken des Mannes zu denken, der immer stärker anschwoll. »Wir hätten gestern abend durchreiten und nicht im Gasthaus übernachten sollen.« »Zu so später Stunde hätten wir vor verschlossenem Tor gestanden.« »Sie hätten dich erkannt.« »Vielleicht. Aber um diese Jahreszeit sind die Wachen in ihrer Pflichterfüllung ein wenig übereifrig.« Stefan betrachtete die glänzenden weichen Schaftstiefel seines Vaters und die braune Reithose und fragte sich, warum ein Arzt, der wichtig genug war, um von Grubentreich herbeigerufen zu werden, um den Sohn des Großherzogs Leopold zu behandeln, nicht bereit war, die Wache zum Öffnen des Tors zu veranlassen, zu welch nachtschlafender Zeit auch immer. Insgeheim vermutete er, daß es einen ganz einfachen Grund
hatte: Weil sein Vater zu alt wurde, um längere Zeit bequem auf dem Pferd zu sitzen. »Vielleicht hätten wir von dem Gasthaus in Hunxe eine Kutsche nehmen sollen.« Sein Vater straffte sich ärgerlich, sprach aber ruhig wie zuvor und ohne von seinen Zügeln aufzublicken. »Du magst achtzehn sein, Stefan, und alt genug, deine eigene Lizenz für den Arztberuf zu beantragen, aber es scheint, du hast noch nicht die Manieren, die dazu erforderlich sind. Ich beginne mich zu fragen, ob ich die Unterstützung deines Antrags verantworten kann.« Stefan wußte, daß eine Entschuldigung die Sache nur schlimmer machen würde. Wahrscheinlich würde sein Vater den Antrag noch eine Woche hinausschieben. Er schwieg und konzentrierte sich darauf, die Schmerzen von zwei Tagesreisen zu Pferde genau zu lokalisieren. Weiter voraus entstand Unruhe. Stefan glaubte, aufgeregt rufende Stimmen zu hören. »Hört sich an, als ob es eine Rauferei gäbe.« Wieder richtete er sich in den Steigbügeln auf, konnte aber nicht sehen, was vorging. Die Rufe wurden lauter; die Unruhe breitete sich aus und erreichte sie in Form von Füßescharren und raschelnden Kleidern, als die Leute vor ihnen sehen wollten, was sich weiter vorn ereignete. Mehrere kletterten auf ihre Karren, um etwas erkennen zu können. »He!« rief Stefan. »Könnt ihr sehen, was geschehen ist?« »Ein Wagen ist umgestürzt.« »Frag ihn, ob jemand verletzt wurde«, sagte sein Vater. »Schwer zu sagen«, rief der Mann zurück. »Aber die Wache kommt heraus.« Er reckte den Hals. »Das Fuhrwerk muß aufgerichtet werden, bevor es weitergehen kann.« »Stefan, sag ihnen, daß wir Ärzte sind.«
* Unter der Anleitung von zwei Soldaten der Wache war das Fuhrwerk bereits von unwilligen Zuschauern aufgerichtet worden. Der Geruch von Wein, der sich noch immer aus einem zerbrochenen Faß ergoß, hing in der Luft. Ein Mann in der derben Kleidung und mit den ledernen Stulpenhandschuhen eines Frachtführers lag im Schatten auf dem Rücken. Neben ihm kniete eine Frau und tastete vorsichtig seine Schulter ab. Dr. Hochen gab seine Tasche Stefan und blickte umher. Er trat zu einem Fuhrwerk mit freier Ladefläche. »Hebt ihn hier herauf«, sagte er. Die neben dem Mann kniende Frau stand auf. Die Schattenlinie ging diagonal über ihren Körper, vom Schlüsselbein zur Hüfte. Ein Knie ihrer blaßgrünen Hose war vom Wein befleckt. Um ihren linken Oberarm war ein Baumwolltuch von der gleichen Farbe wie der Weinfleck gebunden. Sie trug einen leichten Umhang gegen die herbstliche Kühle, aber er war über die Schultern zurückgeworfen und nur von einer hölzernen Brosche unter der Kehle zusammengehalten. Sie war noch jung, vielleicht unter zwanzig, aber die Müdigkeit oder etwas anderes ließ sie älter erscheinen. Ihr hellbraunes Haar, gerade lang genug, um zurückgebunden zu werden, war stumpf vom Straßenstaub. »Er sollte nicht bewegt werden, bis sein Bein geschient ist«, sagte sie. »Ich muß ihn mir genauer ansehen.« »Auch sein Schlüsselbein könnte gebrochen sein.« »Keine Sorge, er wird gut versorgt werden. Sind Sie seine Tochter?« »Nein.« »Ich verstehe.« Er wandte sich zu den Wachen. »Bitte heben
Sie ihn hoch.« Stefan wandte sich von dem verletzten Mann ab, als zwei Wächter ihn auf das Fuhrwerk hoben. Die Frau bückte sich, um eine lederne Tasche aufzuheben, die sie sich umhängte. Stefan sah, daß es eine Tasche war, wie sie von wandernden Musikanten getragen wurde, und fragte sich, woher sie etwas über das Schienen gebrochener Knochen wußte. Sie bemerkte, daß Stefan sie beobachtete. Er errötete, ging aber zu ihr hinüber. »Sie sind mit den Methoden meines Vaters nicht einverstanden?« »Nein.« »Wissen Sie nicht, wer mein Vater ist?« »Nein.« »Doktor Franz Hochen.« »Nun weiß ich also seinen Namen ebenso wie die Tatsache, daß er nichts von seinem Beruf versteht.« »Er ist der angesehenste Arzt in Middenheim. Mein Vater ist sogar Sprecher der Gilde aller Ärzte und Mitglied der Kommission für Gesundheit, Erziehung und Wohlfahrt.« »Wenn er so gut ist, warum hat er diesen Fuhrmann absichtlich leiden lassen?« »Der Mann ist arm, das konnte man sehen. Wenn wir ihn hier behandelten, würden wir kein Honorar bekommen. Also wird dieses Fuhrwerk ihn zum Tempel Shallyas bringen, wo die Eingeweihten Wohlfahrtsfälle annehmen. Später, wenn sich herausstellt, daß er über Mittel verfügt, würde mein Vater ihn gern behandeln. Wahrscheinlich bezahlt er die Benutzung des Fuhrwerks aus eigener Tasche. Er ist sehr großzügig.« »Ich verstehe.« Es war genau der Tonfall, den sein Vater vorher gebraucht hatte. »Wir könnten Sie wegen Ausübung der Heilkunde ohne Lizenz vor Gericht bringen«, sagte er. »Sie würden es nicht tun.« Es war eine Feststellung. »Wer er-
teilt diese Lizenzen?« »Die Kommission. Mein Vater empfiehlt den übrigen Mitgliedern der Kommission die der Gilde vorgelegten Anträge. Warum? Möchten Sie sich bewerben?« Sie musterte ihn kurz. »Vielleicht.« Damit wandte sie sich um und bahnte sich den Weg durch die Menge der Wartenden. Stefan stand da und starrte die Leute an, an denen sie sich vorbeigezwängt hatte. Er kam sich albern vor. Er wußte nicht einmal ihren Namen.
* Die Nacht war mild und feucht. Stefan ging langsam den Gartenweg entlang und atmete den Duft der Gräser und des nassen Laubs. Er blieb stehen und lauschte in die ungewohnte Stille. Wenn er seine Praxis eröffnete, würde er ein Haus irgendwo im sauberen, ordentlichen Nordgarten erwerben, mit Blick auf den Morrspark, wo es immer friedlich war. Er lächelte bei dem Gedanken. Heute hatte sein Vater ihm ein Pergament übergeben, das mit einem blauen Stempel und dem Siegel der Kommission versehen war; er konnte seine Praxis eröffnen, wann immer es ihm gefiel. Er ging nach Norden und bog dann nach Osten in die belebteren Viertel ab. Die Stille blieb hinter ihm zurück. Die Burgenallee wimmelte von Menschen. Es ging auf Mitternacht an, aber eine Woche vor dem Beginn der Karnevalszeit hatten fliegende Händler bereits ihre Stände aufgebaut, Laternen angezündet und machten ihr Geschäft mit den Vergnügungssüchtigen. Stefan betrat den Roten Mond, ein Gasthaus, das an Wochenenden und Feiertagen ein Unterhaltungsprogramm bot. An einem Ende des Saals brannte ein Kaminfeuer, am anderen zischten Fackeln um eine Bühne; es herrschte beträchtliches Stimmenge-
wirr der zahlreichen Gäste. Sein Umhang dampfte in der Wärme. »Stefan!« Er winkte und ging hinüber zum Tisch seiner Freunde. Sie schenkten ihm Wein ein, während er seinen Umhang abnahm. »Willkommen, Doktor Stefan«, sagte einer von ihnen. Stefan lächelte. »Danke, Josef.« Er nahm einen Schluck von seinem Wein und machte es sich auf dem hölzernen Wirtshausstuhl so bequem wie möglich. Von seinem Platz aus hatte er einen guten Blick zur Bühne. Heute war sein Abend, und er war entschlossen, jeden Augenblick zu genießen. Auf einer Seite der Bühne stimmte ein untersetzter Mann seine dreisaitige Stockfiedel, während ein anderer mit untergeschlagenen Beinen dasaß und auf einer Querpfeife übte. Stefan verpaßte den Einsatz der Stockfiedel, als sie die Melodie der Querpfeife zu untermalen begann; sie war plötzlich da und begleitete das Thema der Querpfeife. Zwei Frauen betraten die Bühne und begannen zu tanzen. Sie bewegten sich anmutig, vollkommen aufeinander abgestimmt, ohne dem Publikum einen Blick zu schenken. Stefan hatte das Gefühl, daß sie füreinander tanzten. Sie bewegten sich aufeinander zu, aneinander vorbei, entfernten sich und kamen wieder näher, ohne sich jedoch zu berühren. Wenn die Tänzerinnen eine Wendung vollführten oder sich um ihre Achsen drehten, hoben sich die Säume der langen Seidenkleider und zeigten die glatten Muskeln ihrer Waden. Am Ende der Darbietung kamen sie einander nahe genug, daß jede die Körperwärme der anderen fühlen mußte, und verharrten mehrere Herzschläge lang in dieser Position. Als die Musik aufhörte, applaudierte Stefan mit den anderen. Einige seiner Freunde warfen Münzen auf die Bühne. Eva, die Wirtin, verpflichtete immer die besten Unterhaltungskünstler der Stadt. »Und das war nur der erste Akt.« Er füllte sein Glas und trank, dann winkte er dem Kellner, er sollte eine neue Flasche bringen.
»Da schau her«, sagte Josef und nickte zu einer großen, hageren Frau in einem Umhang hinüber, die gerade eingetreten war. »Eberhauer ist hier.« Janna Eberhauer, die Stellvertreterin des Großmagiers, setzte sich zu der Wirtin des Roten Mondes, die lächelte und ihr den Arm streichelte, dann aber aufstand und zur Bühne zeigte. »Anscheinend will Eva die nächste Vorführung selbst ansagen.« »… für unsere nächste Künstlerin. Sie ist noch jung, aber außerordentlich talentiert. Katja Raine.« Eine junge Frau trug ein paar kleine Handtrommeln auf die Bühne. Stefan beugte sich vor. Es war das Mädchen, das er beim Osttor angesprochen hatte. Ihre weiten Hosen und die ärmellose Bluse waren mattschwarz, und um ihren Arm war ein schwarzer Schal geknotet. Ihre Füße waren bloß. Sie setzte sich und brachte die Trommeln zwischen ihren gekreuzten Beinen in Position. »Heute abend sitzen wir gut genährt und zufrieden beisammen, der Wein liegt warm in unseren Mägen, und die Karnevalszeit steht einladend vor der Tür. Ich aber werde heute abend von einem anderen Ort singen, von einem Dorf, wo hungrige Menschen in ihren strohgedeckten Häusern sitzen, während der Herbst sich zum Winter verhärtet.« Das Publikum lauschte schweigend, während Katjas Hände über die Trommeln gingen, klopften und strichen, die Geräusche veränderten und zum Leben erweckten. Sie sprachen von frostiger Erde, von dampfendem Atem in glasklarer Luft, von einer tiefen und wartenden Kälte. In ihren Augen glitzerte der Widerschein der brennenden Fackeln, und sie schwankte im Sitzen leicht vor und zurück und begleitete die Trommeln mit Kopfbewegungen. Schatten und Licht wechselten auf ihrem Gesicht, und ihre Finger bewegten sich scheinbar unabhängig von ihr, leicht und huschend wie Motten. Sie sang … … von einer jungen Frau, die vor der Herdstelle einer ärmli-
chen Kate am Boden kniete, hinter sich den kleinen offenen Stall, und das Feuer mit getrocknetem Ziegendung nährte. Sie war aufgeregt und ungeduldig. Als das Feuer hell genug brannte, öffnete sie einen kleinen Lederbeutel und nahm einen Stein heraus. Er war stumpfrot. Mit der Feuerzange hielt sie den Stein über die Flamme. Jetzt würde sie sehen, ob sie recht hatte: Wenn es ein Herzblutstein war, würde er in der Hitze glühen und dann, in Wein gekühlt, ein Schatz von unvorstellbarem Wert sein. Der Wein konnte Tropfen für Tropfen in vielen heilsamen Tinkturen verwendet werden. Das wußte sie von ihrer Urgroßmutter. Mit einem hellen Knall zersprang der Stein; sie hustete in den Rauch. Ihr linker Arm schmerzte, und als sie sich die Augen rieb und wieder sehen konnte, bemerkte sie, daß er blutete. Ein Splitter des Steins mußte sie verletzt haben. Sie untersuchte den verrußten Staub am Ende der Zange. Was immer der Stein gewesen war, ein Herzblutstein war er nicht. In der Nacht weckten sie die Schmerzen. Ihr Arm war angeschwollen und heiß. Bemüht, nicht ihre Schwester zu wecken, die ihr Lager mit ihr teilte, schlüpfte sie unter den Fellen heraus und ging vor die Kate, um den Arm im Mondlicht zu untersuchen. Um die Verletzung war der Arm geschwollen. Anscheinend war der Splitter noch in der Wunde. Er würde entfernt werden müssen. Am nächsten Tag war die Wunde noch offen, aber der Arm fühlte sich nicht mehr unnatürlich schwer und heiß an. Die Frau fragte sich, was für ein Stein es gewesen sein mochte. In der folgenden Nacht erwachte sie wieder. Sie wickelte den Lappen von der Verletzung und sah, daß die Wunde gut verheilte. Aber sie fühlte sich seltsam, leicht benommen. Die Kälte draußen machte ihr nichts aus; es schien ihr, als wisperten Stimmen zu ihr, und heißer Atem strich über ihre Haut. Sie geriet in unerklärliche Erregung, lief lachend und wie verrückt in der frostigen Nacht umher. Erst bei Tagesanbruch kehrte sie erschöpft und verwirrt zur Kate ihrer Familie zurück, Blut an den Händen und auf den Lip-
pen. So ängstlich sie war, besaß sie doch genug Verstand, sich zu waschen, bevor sie sich niederlegte, um noch etwas Ruhe zu finden. Die junge Frau versuchte alles, was sie wußte und von anderen erfahren hatte, um den in ihr wachsenden Wahnsinn zu bekämpfen. Aber ihre Anstrengungen waren vergebens; was in der Hitze der Flammen zersprungen war und sie mit einem Splitter verletzt hatte, war Verwerfungsgestein gewesen, und ein Stäubchen davon genügte, um einen Menschen um den Verstand zu bringen und seinen Körper in etwas nicht mehr Menschliches zu verwandeln. Tag für Tag bekämpfte sie die in ihr aufkommenden Regungen. Bei Nacht, wenn der dunkle Einfluß übermächtig wurde, wußte sie nicht mehr, was sie tat. Wenn sie schlief, waren ihre Träume voll von Mord und wütender Raserei. Unter dem Lappen, den sie um den linken Arm gebunden hatte, heilte die Haut in einem Schuppenmuster wie bei einer Schlangenhaut. Und dann kam der Morgen, als sie aus ihrem Wahnsinn erwachte und ihren ganzen Arm mit grünen Schuppen und die Nägel zu Krallen gekrümmt sah. In der Kate lag ihre ganze Familie mit aufgerissenen Kehlen steif im eigenen Blut. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie dies getan hatte. Sie war nicht mehr menschlich. Bis zum Mittag hatte sie den gesamten Brennholzvorrat ins Haus getragen und in der Mitte der Kate zu einem Stoß aufgeschichtet. Sie schloß die Fensterläden und verriegelte sie von außen, dann ging sie hinein und sperrte die Tür zu. Mit einem Zweig schob sie den Schlüssel unter der Tür hinaus. Nun gab es keinen Ausweg mehr. Sie legte Feuer und verbrannte sich selbst mit dem Haus.
* Katja Raine legte die Trommeln neben sich und saß still auf der
Bühne. Der Glanz war aus ihren Augen gewichen. Janna Eberhauer, die Stellvertreterin des Großmagiers, beobachtete sie aufmerksam. Das Publikum verharrte schweigend. Katja Raine hatte die Zuhörer gezwungen, einer Furcht ins Auge zu sehen, mit der sie alle Tag für Tag lebten, dem Schrecken des Verwerfungsgesteins und seiner Macht, gesunde Töchter und Söhne zu mutierten Ungeheuern zu verformen, die, von gesetzestreuen Menschen gemieden, ihre Vernunft und Menschlichkeit verloren und sich der perversen Verehrung unsäglicher Götter zuwandten. Während die Stille noch andauerte, hob Katja Raine ihre Trommeln auf und verließ die Bühne. Allmählich begann das Publikum zu murmeln, vereinzelte Gäste applaudierten und warfen Münzen auf die Bühne. Ein Junge sammelte sie auf und verschwand damit hinter der Bühne. Stefan leerte sein Glas, füllte es auf und trank wieder. Er ließ sich vom Kellner Papier und eine Feder bringen, und als er etwas darauf geschrieben hatte, faltete er es zusammen, schrieb Katjas Namen darauf und gab es dem Kellner mit einem Trinkgeld. Der Mann schmunzelte, aber er nahm das Billett und ging hinaus. Einige Minuten später stand Katja Raine an Stefans Tisch, das Papier in der Hand. »Haben Sie das geschrieben?« Sie warf den Zettel auf den Tisch. »Ich kann nicht lesen.« »Darin steht … äh … die Frage, ob Sie ein Glas Wein mit mir trinken würden?« Sie setzte sich. »Ihr Vortrag hat mir gefallen.« »Danke.« »Ja. Obwohl ich noch nie von einem Herzblutstein gehört habe.« »Vor ihrem Tod war meine Großmutter verwirrt. Sie sprach von seltenen roten Steinen und daß gute Feen harte Arbeit mit Töpfen voll Gold belohnen würden, alles durcheinander. Wenn
man jung ist, glaubt man alles. Besonders, wenn man es glauben möchte.« »Ich könnte beinahe glauben, daß Ihre Geschichte auf Wissen beruht.« »Nur beinahe?« fragte sie. Stefans Freund Josef nickte zu dem Tuch, das Katja um den linken Arm gebunden hatte. »Eine schlaue Idee. Bringt die Leute auf Gedanken. Aber vielleicht ist es keine Täuschung«, sagte er. »Vielleicht sind Sie wirklich eine Mutantin.« Sie sah ihn erheitert an, nicht schockiert. »Habe ich meine Ballade so überzeugend vorgetragen, daß ich das Tuch losbinden muß, um zu beweisen, daß ich kein Geschöpf der Finsternis bin?« Sie blickte fragend zu Stefan. »Fragten Sie nicht, ob ich ein Glas Wein möchte?« Er errötete, dann winkte er einem Kellner. »Bringen Sie noch eine Flasche Wein, und ein Glas für die Dame. Vom Besten, den sie haben.« Seine Großzügigkeit brachte ihn in Verlegenheit, und erläuternd fügte er hinzu: »Ich habe heute meine Lizenz erhalten. Das wird gefeiert.« Der Wein wurde gebracht, bevor sie antworten mußte. Er schenkte für alle ein. »Wo werden Sie praktizieren?« »Ich weiß es noch nicht«, erwiderte er. »Sie haben keine wirkliche Berufung zum Heilen, nicht wahr?« Aus der Nähe sah er, daß ihre Augen müde waren und tiefe Schatten zeigten. Sie schien magerer als bei ihrer ersten Begegnung. Er zuckte die Achseln. »Ich würde das Mischen von Arzneien zur Behebung von Verdauungsstörungen reicher Leute nicht für eine heilige Pflicht halten, wenn es das ist, was Sie meinen.« »Die reichen Leute sind nicht die einzigen, die der Fürsorge bedürfen.« Sie sah ihn prüfend an.
Er glaubte den Gestank von Kranken zu riechen, die in ihrem Schmutz lagen, entstellt von Pestbeulen oder Blattern, glaubte die schwachen Stimmen von Menschen zu hören, deren Krankheit sie von innen heraus zerfraß; ihr mattes Flehen um Hilfe und Heilung dröhnte ihm in den Ohren. Sein Magen zog sich zusammen, und er sah den Kellner nicht an den Tisch kommen. »Fräulein Katja? Die Stellvertreterin des Großmagiers wünscht Sie zu sprechen.« Wortlos stand sie auf und folgte ihm. Stefans Hand zitterte ein wenig, als er zum Weinglas griff. Ein paar Tische weiter beugte Katja sich zu Janna Eberhauer, die mit leiser Stimme zu ihr sprach. Josef folgte seinem Blick. »Nimm es nicht zu schwer, Stefan. Wahrscheinlich fühlt sie sich unter Ihresgleichen wohler.«
* Während der nächsten Tage spukten Bilder von Katja durch Stefans Träume und Phantasien; er sah sie, wie er sie das erstemal vor dem Tor gesehen hatte, befleckt vom verschütteten Wein des umgestürzten Fuhrwerks; er hörte sie ihre Ballade singen, erinnerte sich des Glitzern in ihren Augen. Aber er träumte von einer anderen Katja, die ihre Arme von hinten um ihn legte und ihn küßte, bis ihm die Luft wegblieb. Aber als er sich umwandte, um sie an sich zu ziehen, waren ihre Arme schuppig, ihre Finger Krallen.
* »Was findet hier dein Interesse, Stefan?« Sein Vater schien erfreut, ihn in dem Raum zu finden, das als
Bibliothek und Archiv diente. Stefan wandte sich um. Ein zusammengerolltes Pergament steckte in seinem Gürtel. »Ich sah nur ein paar Unterlagen durch, um etwas über die Symptomatik und Früherkennung von Mutationen zu finden«, improvisierte er. Sein Vater sah neugierig auf. »Symptomatik? Früherkennung? Das ist von Fall zu Fall sehr verschieden, und das Problem der Früherkennung besteht darin, daß die Befallenen die ersten Anzeichen zu verbergen suchen. Aber ich denke, es gibt einiges darüber.« Er ging an ein Regal und suchte darin. »Hier könnte etwas sein … Ja, das ist es.« Er zog einen Band aus der geordneten Reihe und legte ihn auf den Tisch. »Nun, sehen wir einmal nach.« »Vielleicht sollte ich nachsehen. Bisher hast du immer die Verweise für mich herausgesucht. Nun, da ich meine Lizenz habe, sollte ich das auch selbst machen.« Sein Vater schien so erfreut, daß Stefan sich seiner Täuschung schämte. »Nun, wie du willst. Ich werde mitnehmen, was ich benötige, und dich in Ruhe lassen.« Er nahm ein Bündel Papiere vom Arbeitstisch und wandte sich zum Gehen; Stefan hielt ihm die Tür auf. »Hin und wieder habe ich gezweifelt, ob du jemals einen ordentlichen Arzt abgeben würdest, Stefan, aber vielleicht habe ich mich geirrt. Womöglich wirst du eines Tages an meiner Stelle den Stapel der Lizenzanträge durchsehen. Ich bin stolz auf dich.« Als er gegangen war, zog Stefan die Rolle aus dem Gürtel und setzte sich. Antrag auf Erteilung einer Lizenz zur Ausübung des ärztlichen Berufes, las er. Und unter den Erläuterungen zur Person Katja Raine. Das war ein starkes Stück, sich um eine Lizenz zu bewerben, wenn sie des Lesens und Schreibens unkundig war. Sie mußte einen Schreiber bezahlt haben. Er überflog den Inhalt. Sie kam aus Schoninghagen, beinahe
hundert Meilen im Südwesten von Middenheim. Was hatte sie bewogen, die weite Reise zu unternehmen? Er rollte den Antrag wieder zusammen, steckte ihn in den Gürtel und ging.
* Es war einer jener seltenen Spätherbsttage, an denen die Sonne noch einmal ihre alte Macht zurückgewinnt und bei Windstille und klarem Himmel warm auf Stadt und Land scheint. Stefan hatte auf seinen Umhang verzichtet und ließ sich vom Strom der Menge durch die Burgenallee treiben, dankbar, daß der Rote Mond nicht auf dem Altmarkt war, wo an einem Tag wie diesem ein noch größeres Gewimmel herrschte. Je näher er dem Roten Mond kam, desto langsamer wurde sein Schritt. Katjas Antrag kratzte an seiner Haut unter dem Hemd. Er wußte nicht einmal genau, was er von ihr wollte. Vielleicht mit ihr reden. Oder vielleicht auch nicht. Sie zog ihn an, bereitete ihm aber Unbehagen. Als er die spitzgiebelige rote Ziegelfassade zwischen dem grauen Stein der angrenzenden Gebäude sah, dachte er daran, die ganze Idee fallenzulassen und einfach vorbeizugehen. Die Tür des Roten Mondes wurde geöffnet, und Katja schlüpfte heraus. Sie hatte ihre Tasche umgehängt und bog nach wenigen Schritten in die Zauberstraße. Stefan spähte ihr um die Ecke nach. Sie hatte ihn nicht gesehen. Er folgte ihr. Nach zwei Dritteln der Straßenlänge bog sie in eine Seitengasse. Sie hatte es eilig und ging schnell zwischen den engstehenden Fachwerkhäusern weiter, ohne sich umzusehen; sie mußte diesen Weg schon mehrmals gegangen sein. Wieder bog sie ab, nach links und dann nach rechts, und Stefan verlor sie beinahe aus den Augen. Er fing eben noch das kurze Aufleuchten ihres blauen Kleides in der Sonne auf, bevor sie im Hintereingang eines größe-
ren Hauses verschwand. Er prägte sich die Umrisse des Gebäudes, die Farbe des Anstrichs und die Art der Dachziegel ein. So sollte es ihm möglich sein, das richtige Haus wiederzuerkennen, wenn er durch die Seitengassen den Weg zur Vorderseite suchte. Es war das Haus, in dem Janna Eberhauer wohnte. Er hätte es sich denken können. Die rechte Hand des Großmagiers und Katja. Was hatten die beiden miteinander zu schaffen? Ihm war auf einmal, als hätte er Atemnot. Nach ein paar Augenblicken wurde ihm klar, daß er vor Zorn bebte. In seinem Kopf ging wie ein Tempelgesang der Gedanke im Kreis herum, daß er es hätte wissen sollen. Er machte wieder den Umweg zur Rückseite des Hauses und stellte sich an eine Wand, wo er die Tür sehen, selbst aber unbemerkt bleiben würde. Ganz gleich, wie lang es dauern würde, er wollte warten. Er mußte herausbekommen, was da vorging. Nach zwei Stunden ging die Sonne unter, und in den engen Gassen wurde es rasch dunkel. Er stampfte mit den Füßen, um sie warm zu halten, und wünschte, er hätte seinen Umhang mitgenommen. Seine Beine begannen vom Herumstehen zu schmerzen, und er wurde hungrig. Die Wand, an der er lehnte, war feucht. Zweifel kamen auf: Angenommen, sie hatte das Haus durch den Vordereingang verlassen? Er verdrängte die Überlegung. Wenn sie verstohlen zum Hintereingang hineingeschlichen war, würde sie auf dem gleichen Weg herauskommen. Die Sterne erschienen am Himmel, und in seinem Magen lagen die Überreste seines Zorns wie eine unverdaute Mahlzeit. Er würde nicht aufgeben, aber hier erreichte er nichts.
* Kurz vor Mittag gelangte Stefan zum Roten Mond. Seine Mus-
keln waren steif und schmerzten, und er trug einen warmen Umhang gegen den eisigen Nebel. Er hoffte, er würde nicht lange warten müssen. Diesmal hatte sie nicht die Tasche mit den Trommeln bei sich, sondern eine andere, wie ein Arzt sie für seine Instrumente benutzen mochte. An diesem Tag ging sie die Burgenallee in südlicher Richtung weiter, statt in die Zauberstraße abzubiegen. Viele Leute waren unterwegs, und es fiel ihm nicht schwer, ihr zu folgen, ohne gesehen zu werden. In der Nähe des Altmarktes waren die Straßen noch belebter, und auf dem weiten Platz des Marktes selbst ging er drei Schritte hinter ihr und vertraute darauf, daß sie nicht zurückblicken würde. Das Glück ließ ihn beinahe im Stich, als sie eine Apotheke betrat. Bei dem Versuch, schnell in Deckung zu gelangen, stieß er einen Schubkarren mit Früchten neben einem Verkaufsstand um. Der Eigentümer begann fluchend über ihn herzuziehen, und das brachte ihn in Panik, bis er begriff, daß Katja den Lärm in dem allgemeinen Stimmengewirr des Marktes nicht heraushören würde. Überall priesen Marktverkäufer ihre Waren an, eine Frau zog ihrem kleinen Jungen die Hose herunter und hielt das schreiende Kind über den Rinnstein. Eine an Mutter und Kind vorbeigehende Frau wurde bespritzt und begann zu zetern. Stefan half dem zornigen Obstverkäufer die Früchte aufheben. Als Katja die Apotheke verließ, schlug sie die Richtung zur Altstadt ein. Stefan bekam Herzklopfen. Die Altstadt war ein Viertel enger Gassen und Gänge, das lichtscheuem Gesindel reichlich Schlupfwinkel bot. Es war nicht immer ratsam, dort umherzugehen. Außerdem gab es keine Menschenmengen, die ihm Deckung bieten würden. Er wünschte, er hätte ein Messer bei sich, obwohl er nie zuvor eins gebraucht hatte, es sei denn zum Fleischzerteilen. Er bog um eine Ecke. Die Gassen verzweigten sich, und überall gab es Durchgänge. Er stand ratlos; Katja war nirgends zu sehen.
Plötzlich traf ihn ein wohlgezielter Tritt in die Kniekehlen, und er knickte zusammen. Dann wurde ihm ein Arm auf den Rücken gedreht, und ein Knie hielt ihn nieder. Sein Angreifer beugte sich seitwärts, um sein Gesicht zu sehen. »Sie sind es!« Katja machte ein geringschätziges, beinahe angewidertes Geräusch und gab ihn frei. Stefan stand langsam auf. Der Schreck saß ihm noch in den Gliedern. »Sind Sie verletzt?« »Nein«, brachte er hervor. »Gut. Erklären Sie, warum Sie mich verfolgen.« Er wollte sie anschreien, ihr vorhalten, daß sie ihn erschreckt hatte, aber es wäre lächerlich gewesen. Er fühlte sich bis auf die Knochen blamiert. Um ihr nicht auch noch Rede und Antwort stehen zu müssen, ging er zum Gegenangriff über. »Warum praktizieren Sie ohne Lizenz?« platzte er heraus. »Ich habe einen Antrag gestellt. Es ist nur eine Sache von Tagen, bis ich die Lizenz erhalte. Dann kann Ihr ordnungsliebendes Gewissen sich von seinen Sorgen wegen fehlender Papiere beruhigen.« Er sagte nichts, denn er fühlte das steife Papier unter dem Hemd. »Kommen Sie mit und sehen Sie die Leute, die ich behandle. Dann können Sie mir sagen, ob ich eine Lizenz brauche, bevor ich ihnen helfe.« Er konnte die feuchte Wolle ihres Mantels und ihr Sandelholzparfüm riechen. Sein Umhang war beschmutzt; er hätte sich bei ihrem heimtückischen Angriff leicht ernstlich verletzen können. Unbehagen verursachte ihm Magendrücken. Sie gingen durch die Gassen der Altstadt. »Die Leute, die ich behandle, sind arm, krank und alt. Es sind keine höflichen, gebildeten Leute. Bereiten Sie sich darauf vor.« Aus Hauseingängen roch es nach Feuchtigkeit und saurem
Kohl. Unrat lag auf dem feuchten Kopfsteinpflaster, und der Rauch aus den Schornsteinen der aneinandergedrängten Häuser vermischte sich mit dem Nebel und lag schwer in der Luft. »Hier hinein.« Sie stiegen über festgetretenen Schutt und betraten einen düsteren, engen Hauseingang. Ihr Sandelholz war nicht stark genug, um den Geruch von Schmutz und Vernachlässigung zu überdecken. Im Inneren des Hauses war es fast dunkel. Stefan schrak zusammen, als sich in der Tiefe des Ganges ein dunkler Schatten bewegte. »Sie fragen sich, wer Sie sind.« Sie stellte die Tasche neben einem Treppenaufgang ab, zog den Mantel aus und hielt ihn ihm hin. »Warten Sie hier.« Sie hob die Tasche auf, erstieg die wacklige Holztreppe und verschwand in der Dunkelheit. Stefan versuchte sich auf den Mantel in seinen Händen zu konzentrieren. Der Stoff fühlte sich rauh und steif an. Wenn er erst reich wäre, sagte er sich, würde er ihr einen Mantel aus feinem, dichten Tuch kaufen, mit Seide gefüttert. Einen grünen Mantel von der gleichen Farbe wie die Hose, die sie beim Osttor getragen hatte. Dann fiel ihm die Eberhauer ein. Etwas bewegte sich in seiner Nähe. »Ist da wer?« Ihm wurde heiß und kalt. »Wer ist da?« Seine Stimme wurde von der Dunkelheit des übelriechenden Hausganges verschluckt. Niemand antwortete, aber etwas beobachtete ihn. Ein dunkler Umriß bewegte sich über den Boden zum trüben Licht des Hauseinganges. Es war eine merkwürdig verwachsene Gestalt. Sie setzte sich auf die Keulen und versuchte zu sprechen. Panik überwältigte Stefan. Er rannte hinaus. Er sah nicht, wohin er lief, er rannte einfach, um wenigstens ein paar Dutzend Schritte zwischen sich und den Mutanten mit den klumpigen und mißgestalteten Gliedmaßen zu bringen, dessen elefantenhaft faltige Haut von schwärenden offenen Stellen
bedeckt war und zu weit über die Augen und den Mund wuchs, so daß Sprechen fast unmöglich war. Als Katja ihn fand, hatte er aufgehört zu würgen. Er lehnte gekrümmt und schwach an einer Hauswand. »Lassen Sie mich allein.« Sie nahm ihren Mantel aus seiner Hand und wollte ihm den Puls fühlen. Er stieß ihre Hand weg. »Bleiben Sie mir vom Leib!« Nach einer Weile fragte er: »Warum tun Sie das?« »Weil sie mich brauchen.« »Mutanten brauchen niemanden, und Sie können ihnen nicht helfen.« Sie blieb so lange still, daß er dachte, sie ignoriere ihn. »Derjenige, der Sie erschreckte, heißt Sigi. Mit zwei Jahren stieß er eine Öllampe vom Tisch. Die Verbrennungen waren so schlimm, daß seine Arme und Beine deformiert verheilten und seine Haut sich verdickte. Er kann nicht richtig stehen, und das Herumkriechen schmerzt ihn. Ohne Pflege trocknet seine Haut aus und bekommt offene Stellen. Dagegen kann ich etwas tun.« Stefan versuchte sich an Sigis Gesichtszüge zu erinnern, aber die Erinnerung war nicht präzise. Er wußte nicht, was er denken sollte. Verbrennungen konnten die Entstellungen erklären, nicht aber die groteske Deformation. »Das war ein Mutant«, sagte er mit heiserer Stimme. »Erzählen Sie mir keine Geschichten.« »Sigi ist kein Mutant.« Er ließ es auf sich beruhen. »Ich könnte trotzdem melden, daß Sie ohne Lizenz behandeln.« Es war wie eine rettende Zuflucht vor der Verwirrung. »Ich kann einigen von ihnen helfen, Stefan. Sie könnten es, auch.« Beim Anziehen des Mantels glitt der Ärmel ihrer Jacke zurück, und er sah den um ihren Arm gebundenen Schal. Wieder überkamen ihn Furcht und Zweifel.
Er befeuchtete sich die Lippen. »Zeigen Sie mir, was unter diesem Schal ist. Dann werde ich Ihnen vielleicht helfen.« Sie erstarrte. »Ich mache keinen Handel mit Ihnen.« »Warum nicht? Es wird Dinge geben, die Sie brauchen, bestimmte Arzneien und Substanzen, die Sie nicht kaufen können, ohne sich als Arzt auszuweisen. Ich könnte Ihnen diese Dinge beschaffen.« Er stieß sich von der Wand ab. »Zeigen Sie mir, was unter dem Schal ist.« »Sie wissen nicht, was Sie da verlangen.« »Zeigen Sie es mir.« »Wenn ich singe, Stefan, dann sind es nicht nur ein paar einstudierte Worte zu einer Melodie. Dem Publikum gebe ich das Mysterium, das Geheimnisvolle, und mir selbst das Bewußtsein, anders zu sein.« Sie berührte den Schal um ihren Arm. »Dies ist mein Geheimnis.« »Zeigen Sie es mir. Das ist der Preis für meine Hilfe.« Sie blieb eine Weile still. »Es mag nicht das sein, was Sie sehen wollen.« Sie wickelte den Schal vom Arm. »Da, sehen Sie.« Der Arm war gesund und makellos. Wo der Schal gewesen war, hatte die Haut eine etwas blassere Färbung. Stefan berührte sie mit den Fingerspitzen. Sie war warm und glatt. Es war keine Erleichterung; die Anspannung und das Unbehagen blieben. Er konnte nicht verstehen, warum sie das tat. Am liebsten wäre er fortgegangen und hätte Kajta Raine nie wiedergesehen, aber das konnte er nicht: @er hatte einen Handel abgeschlossen. »Machen Sie mir eine Liste der Dinge, die Sie benötigen. Ich werde sie Ihnen einen Tag später liefern.« Bei Tageslicht sah der Rote Mond kleiner und schäbiger aus. Es roch nach schalem Wein und der Asche des Kaminfeuers, die noch nicht ausgeräumt war. Eine ältere Frau war gegangen, um Katja von seiner Anwesenheit zu verständigen.
Stefan fühlte sich noch immer angespannt, und sein Kopf schmerzte ein wenig; er hatte nicht gut geschlafen. Als Katja hereinkam, sah er, daß sie hinkte. »Gestern nacht stolperte ich im Dunkeln über meine Trommeln«, erklärte sie. »Eine Prellung, nichts weiter. Mit einem Schwarzwurzumschlag wird sie bald geheilt sein.« Stefan konnte sich nicht vorstellen, daß sie ungeschickt war. »Ich habe alles gebracht, was Sie brauchen.« Er legte einen kleinen Sack auf den Tisch zwischen sie. »Danke. Was bin ich schuldig?« »Ich will Ihr Geld nicht.« Er geriet in Verwirrung. Er wollte nichts anrühren, was in ihrer Nähe gewesen war. Aber sie war schön. »Noch einmal danke.« Sie schwieg einen Moment. »Möchten Sie etwas trinken?« »Nein. Ich muß hinaus. Das heißt, ich muß gehen.« Er zog sich unelegant zurück. Langsam schlenderte er dahin. Er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Am Rand des Parks errichteten Zwerge eine große hölzerne Plattform. Dort würden morgen Graf Boris, seine Familie und die Honoratioren der Stadt sitzen und das Karnevalsfeuerwerk betrachten. Das Gehämmere und die heiseren Rufe, wenn Balken in Position gebracht und zusammengenagelt wurden, klangen gedämpft und unwirklich. Er nahm den Gartenweg nach links und kam auf die Grünallee, die den Südrand des Altmarktes begrenzte. Hier fand er, was er wollte: Marktstände, bunte Farben, Geschäftigkeit und Lärm, um die unverständliche Furcht zu bannen, die ihn bedrückte. Lange vertrieb er sich dort die Zeit; Gegen Abend sah er den Taschenspielertricks eines Zauberkünstlers zu, der seinen Stand zwischen einem Blumenhändler und einem Bierverkäufer aufgestellt hatte. Der Mann zog Eier und bunte Tücher aus seinem Mund und warf sie ins Publikum. Es gab verstreuten Applaus. Der Zauberkünstler verbeugte sich, dann
zog er unter seinem Stand einen Käfig hervor, in dem eine zusammengerollte Schlange lag. Sie hob den Kopf, züngelte und zischte. Stefan regte sich unbehaglich. Eine alte Frau neben ihm stieß ihn mit dem Ellbogen an. »Alles wird mit Ablenkung gemacht«, sagte sie und nickte zum Zauberkünstler, der mit einer Hand die Schlange in die Höhe hielt, während er mit der anderen den leeren Käfig zur Schau stellte und dem Publikum versicherte, daß es keine verborgene Klapptür oder einen doppelten Boden gebe. »Was?« fragte Stefan zerstreut. Er fühlte sich am Rande einer Erkenntnis. »Ich sagte, es wird alles mit Ablenkung gemacht. Mit Irreführung. Während wir den leeren Käfig anschauen, macht er …« Irreführung. Nun war ihm klar, warum er beim Anblick dieses makellosen Arms keine Erleichterung verspürt hatte. Ja, bei den Göttern, Irreführung. »Fehlt Ihnen etwas, junger Mann?« Die Stimme der alten Frau schien weit entfernt. »Sie sind weiß wie ein Laken.« Er war hinters Licht geführt worden. Sie hatte alle getäuscht. Er mußte etwas unternehmen, mit jemandem sprechen.
* Janna Eberhauer stand schweigend an ihrem Kaminfeuer und blickte in die Flammen. Sie trug einen Morgenmantel und hatte ihr Haar offen. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte sie. »Dass sie vielleicht nicht ist, was sie zu sein scheint«, erwiderte Stefan vorsichtig. »Und warum kommen Sie zu mir?« »Ich möchte nicht, daß ihr etwas geschieht. Aber wenn sie …« Er schluckte. »Mutanten unterliegen Restriktionen. Sie sind die
Stellvertreterin des Großmagiers.« Der Vorhang, der den Raum vom rückwärtigen Schlafabteil trennte, wurde zurückgezogen, und Katja hinkte herein. Sie bürstete sich das Haar und machte einen kranken Eindruck. Stefan starrte sie an wie vom Donner gerührt. Sie war die ganze Zeit dagewesen. Sie hinkte auf ihn zu. »Kommen Sie mir nicht zu nahe.« »Stefan, ich bin nicht schlecht.« »Warum riskieren Sie so viel?« fragte er Janna Eberhauer. »Sie können ihr nicht helfen. Niemand kann es.« »Aber Sie kamen zu mir, um Hilfe zu erbitten.« Angesichts der Ruhe, die von der Magierin ausging, kam er sich töricht vor. Katja ließ sich in einen Sessel sinken. Er sah, wie vorsichtig ihre Bewegungen waren. »Was fehlt ihr?« fragte er Eberhauer. »Ich kann noch für mich sprechen.« Katja ergriff ein Glas Wasser und nahm einen Schluck. »Die Geschichte, die ich erzählte, die Ballade, ist in einer Hinsicht wahr.« Sie stellte das Glas weg und begann ihr Hosenbein aufzukrempeln. Es kostete sie offensichtlich große Anstrengung. Eberhauer ging zu ihr und half. Furcht und Abscheu hielten Stefan zurück. »Nein danke«, sagte er mit gepreßter Stimme. »Ich möchte es nicht sehen.« Eberhauer blickte von dem Verband auf, den sie abrollte. »Sie beschuldigen sie und mischen sich ein, ohne etwas zu wissen«, erwiderte sie in ruhigem Ton. »Jetzt haben Sie Gelegenheit, etwas zu lernen.« »Wem sollte es nützen? Ich weiß, daß ich hier nicht helfen kann.« »Sie können.« Eberhauer stand auf und ergriff seine Hand. Er konnte nicht widerstehen, als er ihren bittenden Blick sah, und ging mit ihr zu Katja, die im Sessel zurückgelehnt saß und die Augen erschöpft geschlossen hielt. Das rechte Hosenbein war über das Knie aufgekrempelt. Ein blutiger Verband lag auf dem
Teppich. Stefan kniete nieder und untersuchte das Bein. Ein Schnitt ging quer über die Wade. Es sah aus, als hätte ein unerfahrener Schwertfechter versucht, einem Gegner die Kniesehnen durchzubrennen. Die Verletzung war noch nicht alt, begann aber zu verschorfen. Er runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.« »Untersuchen Sie die Verletzung genau.« An den Enden des Schnittes, wo die Verschorfung abzuheilen begann, war ein feines Muster wie von winzigen Rissen zu erkennen, beinahe zu schwach, um sichtbar zu sein. Es war ein Schuppenmuster. »Wir versuchten den Splitter Verwerfungsgestein herauszuschneiden, der noch dort drinnen sein muß«, sagte Eberhauer mit ihrer gleichmäßigen, ruhigen Stimme. Er seufzte. »Es ist böse«, sagte er halblaut. »Schlecht.« »Hören Sie, Katja ist nicht böse. Das Verwerfungsgestein wirkt auf ihren Körper, bis sie schließlich verrückt wird. Aber das ist nicht böse oder schlecht. Was den Wahnsinn betrifft, so ist sie stark. Sie widersteht.« »Ich bin nicht schlecht«, sagte Katja, ohne den Kopf zu heben. »Ich bin nicht verrückt.« Stefan wandte sich kopfschüttelnd zu Eberhauer. »Aber sie wird es schließlich sein.« »Ohne fachkundige Hilfe − gewiß.« Nun sahen sie ihn beide an. Auf einmal kam ihm die Luft stickig und überheizt vor, und es fiel ihm schwer zu atmen. »Sie möchten, daß ich es tue? Dass ich den Muskel wieder aufschneide … und weiterschneide, bis ich den Splitter finde?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn ich genau wüßte, wo er ist, würde ich es versuchen, aber auf gut Glück … es würde nicht helfen. Kleine Splitter wandern im Körper. Ich könnte das ganze Bein aufschneiden, ohne ihn zu finden.«
Eberhauer blickte in die Flammen. »Verwerfungsgestein ist die Konkretisierung von Chaosmaterie zu fester Form. Magie ist die Manipulation von Energien, die dem Chaos inhärent sind.« Sie sah ihn fest an. »Ich bin Magierin. Diese Operation ist möglich.«
* Sie halfen Katja aufs Bett. Eberhauer strich ihr über das Haar und begann zu summen, während Stefan zusammensuchte, was sie benötigen würden. Er rollte den Teppich ein und legte die Handschuhe, die Schüssel, das Verbandmaterial und andere Dinge auf den Boden. Die Magierin stand auf und verstärkte ihr Summen, während sie die Arme über den Kopf hob und in einem langsamen Kreis abwärts senkte. Sie nickte Stefan zu: Katja schlief. Er wischte das Bein mit reinem Alkohol ab und tauchte sein Seziermesser hinein. Obwohl er bis dahin nie in lebendes Gewebe geschnitten hatte, gebrauchte er das Seziermesser geschickt wie eine Feder; er markierte die Ränder der Exzision und schob die Klinge dann seitwärts ein, um Haut vom Muskelgewebe zu trennen. Er tupfte das Blut auf. Der Muskel war rot und fest unter seinen Fingern. Nachdem er ihn genau untersucht hatte, schnitt er hinein. Das Summen um ihn wurde durchdringender und beharrlicher; es schien durch seine Hände zu gehen. An einem festen Gewebeknoten hielt er inne. Die Vibration in seinen Händen wurde ein zorniges Beben. Dies war es, wonach er gesucht hatte. Er schnitt vorsichtig hinein und löste etwas heraus, das wie eine Verschmutzung durch Erde aussah. Er nahm es auf die Messerklinge und sah, daß es der Splitter war: der Brennpunkt seiner Alpträume. Er war so klein, doch schien er zu leuchten. Stefan hob ihn näher ans Licht. Eberhauers Summen schwoll an zu einem Geräusch, das den
Raum erfüllte und so dicht zu sein schien, daß man darauf stehen konnte. Stefan fühlte, wie die Kraft daraus durch seinen Arm strömte und vor der Bösartigkeit auf der Spitze seines Seziermessers zurückschreckte. Seine Furcht wurde Zorn, eine Ablehnung des Chaos und seiner Qualen, um Katjas und um seiner selbst willen. Er vereinte seine Ablehnung mit Eberhauers. Der Splitter Verwerfungsgestein verblaßte und begann zu rauchen, schrumpfte immer mehr zusammen, bis nichts mehr davon übrigblieb.
* Stefan saß am Bett und beobachtete Katjas Atmung. Unter ihren Backenknochen waren noch Höhlungen, aber die dunklen Schatten unter den Augen lösten sich auf. Draußen färbte das Eröffnungsfeuerwerk des Karnevals den Himmel. Janna Eberhauer kam herein und blieb bei ihm stehen. »Sie wird uns verlassen, nicht wahr?« fragte er. »Ja.« »Wohin? Zurück nach Schoninghagen?« »Sie sagte mir, sie habe schon immer den Norden sehen wollen. Dorthin wird sie gehen, denke ich, zu Schnee und Eis.« »Und Sie möchten, daß sie bleibt.« Er wußte, wieviel die Magierin riskiert hatte, vielleicht sogar, warum. »Ich möchte, was gut für sie ist«, sagte sie seufzend. »Und sie hat alles gefunden, was sie hier zu finden gehofft hatte.« »Nicht ganz.« Er zog die Rolle aus dem Hemd. Das Pergament war Katjas Lizenz, gestempelt und gesiegelt von der Kommission. Er legte es neben Katjas Hand auf die Decke und stand auf. »Sagen Sie ihr, es könnte nützlich sein, wenn sie einmal zurückkommt. Und sagen Sie ihr …« er blickte nachdenklich auf die schlafende junge Frau, »… sagen Sie ihr, ich hätte mich entschlossen, eine Weile am Tempel Shallyas zu arbeiten, bis ich
weiß, welcher Weg der richtige für mich ist.« Leise schloß er die Tür hinter sich und ging hinaus, wo der Abendhimmel in der kurzlebigen farbigen Pracht des Feuerwerks erstrahlte und funkelte.
SEAN FLYNN Lehrlingsglück Karl Spielbrunner ging jetzt seit sechs Monaten bei Otto von Stumpf in die Lehre, lange genug für ihn, um zu begreifen, wie sehr er das antiquarische Buchgeschäft haßte. Karl war eine fatale Verbindung von Eitelkeit, Ehrgeiz und Intelligenz eigen, und er wußte genau, daß er, wenn sein Glück ihm nicht zu einer entscheidenden Wende verhalf, nicht mehr vom Leben erwarten konnte als seinen eigenen kleinen Laden, in dem er schließlich gebeugt und zurückgezogen wie Otto von Stumpf zwischen muffig riechenden, staubigen alten Büchern herumkriechen würde, mehr Einsiedlerkrebs als Mensch. Natürlich gab es in Middenheim, der großen und schrecklichen Stadt des Weißen Wolfes, bei weitem traurigere Schicksale. Wenn Karls verstorbener Vater − alles, was Karl an Familie außer ein paar Vettern auf dem Lande gehabt hatte − nicht ein Stammtischfreund Otto von Stumpfs gewesen wäre, würde Karl jetzt bloß ein weiterer Waisenjunge sein, der versuchte, sich auf den Straßen irgendwie durchzuschlagen, ein leichtes Opfer für Gauner, Zuhälter oder Kultanhänger. Weitaus schlimmere Schicksale, ja, aber das war nur ein schwacher Trost, dachte Karl, als er am staubigen Fenster stand und die schäbige, schmale Straße und die gelegentlichen Passanten beobachtete. Es war Sommer und im Antiquariat erstickend heiß. Eine fette Schmeißfliege summte in einem Winkel des Fensters; die sterblichen Überreste anderer lagen verstreut auf den
ledergebundenen Bänden, die auf dem Fensterbrett aneinanderlehnten. In der Welt ereignete sich so vieles, doch Karl saß hier mit einem Haufen staubiger, zerfledderter alter Bücher fest. Zum Beispiel war ein Stück weiter die Straße abwärts ein Zauberer eingezogen, ein hochgewachsener, geheimnisvoller Ausländer. Manche sagten, er sei ein Nekromant; alle waren sich darin einig, daß er nichts Gutes im Schilde führe. Und in den ungezählten Gängen und Tunnels, die den felsigen Untergrund der Stadt durchzogen, sollten gefährliche Bewegungen festgestellt worden sein. Die Stadtwache war in höchster Alarmbereitschaft, und erst letzte Nacht war neben dem Einstieg zu einem der Hauptabwasserkanäle der Leichnam eines ziegenköpfigen Mannes gefunden worden. Einen Augenblick lang sah Karl sich an der Spitze einer Elitepatrouille der Stadtwache, ein grimmig blickender Hauptmann mit einem blitzenden Schwert in der Rechten, vielleicht mit einer verwegenen Narbe auf einer Wange. Dann summte die Schmeißfliege laut am staubigen Fenster auf und ab, und Karls Tagtraum fiel in sich zusammen. Muffiger Geruch zerbröckelnden Papiers, im Halbdunkel dämmernde Reihen veralteter Bücher: @dies war sein Schicksal. Sein einziger Trost bestand darin, daß sein Meister wie gewöhnlich im Weißen Wolf war, dem düsteren kleinen Wirtshaus, das den größten Teil des Gewinns verzehrte, den von Stumpf mit seinem Antiquariat machte. Andernfalls würde Karl mit Sicherheit irgendeine nutzlose Arbeit zugewiesen bekommen, wie etwa die Neukatalogisierung der Bestände oder die Entfernung der klebrigen Spinnweben, die den bröckelnden Stuck der Decke mit ihren eigenwilligen Girlanden schmückten. Und zweifellos würde von Stumpf ihm in seinem nörgelnden, winselnden Tonfall einen Vortrag halten und ihm versichern, wie glücklich er sich schätzen könne, Lehrling der ehrwürdigen Firma von Stumpf und Sohn zu sein (Karl wußte nicht, was aus dem Sohn geworden war, vermutete aber, daß er davongelaufen war, sobald er konn-
te). Und wenn von Stumpf dagewesen wäre, hätte Karl nicht seine Chance ergreifen können, als sich plötzlich eine Wendung seines Schicksals bot. Sie kam in der unerwarteten Gestalt der Räudigen Elsa, einer gebeugten, hakennasigen alten Vettel, die sich darauf spezialisiert hatte, Kleidungsstücke zu verkaufen, die sie den von der Seufzerklippe geworfenen Leichen auszog. Gerade als Karl sich niedersetzte, um einen unerlaubten Imbiß von Schwarzbrot und Käse zu genießen, stieß sie die Tür auf und humpelte mühsam über den unebenen Boden. Mit einer Hand drückte sie etwas an ihren formlosen Busen. Die Schmeißfliege gab ihre fruchtlosen Bemühungen am Fenster auf und drehte Spiralen um den fettigen Schal, den die Räudige Elsa um den Kopf gewickelt hatte, angelockt vom sauren, ranzigen Geruch, der von ihren Schichten schmutziger Lumpen ausging. »Ich habe etwas für Sie, junger Herr«, sagte die Räudige Elsa und legte, was sie getragen hatte, auf den zerkratzten, mit allerlei Plunder übersäten Tisch, der als Tresen diente. Es war ein sehr altes Buch, dessen Text in einer steilen, sauberen Handschrift auf Pergamentblätter im Oktavformat geschrieben war. Das Buch war in feingenarbtes Leder mit Goldprägung am Rücken gebunden. Der vordere Buchdeckel war etwas wellig und fleckig. Karl sah gleich, daß es wertvoll sein mußte; so sehr er den Antiquariatsbuchhandel haßte, hatte er sich doch das notwendige Wissen und die Kniffe im Umgang mit Käufern und Verkäufern angeeignet. Nun sah es so aus, als sollte sich diese Mühe tatsächlich auszahlen. »Ich nehme eine Goldkrone für dieses Buch«, sagte die Räudige Elsa. Ihr Lächeln enthüllte zahnlose Kiefer mit geschwärztem Zahnfleisch, und der Gestank ihres Atems schlug Karl beinahe nieder. »Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das ist, was ich brauche, und das muß ich verlangen.« »Zehn Schillinge«, sagte Karl schnell. »Der Deckel ist beschä-
digt. Niemand würde mehr bieten.« »Es ist tief gefallen, genauso wie sein Eigentümer. Zum Glück fiel es auf einen anderen, sonst würde es viel schlimmer aussehen. Also dann fünfzehn.« »Zwölf, und das ist mein letztes Angebot.« »Gemacht«, sagte die Räudige Elsa. Karl verwahrte seine geringen Ersparnisse in einem zusammengeknoteten Zipfel seines Hemdes. Er öffnete den Knoten und zählte das Geld auf den Tisch. Die Räudige Elsa strich die Münzen mit überraschender Geschicklichkeit ein und humpelte aus dem Laden, verfolgt von der Schmeißfliege, die sich in sie verliebt hatte − oder wenigstens in ihren Geruch. Mit Herzklopfen sperrte Karl die Tür hinter ihr zu. Mit etwas Glück würde von Stumpf erst gegen Abend zurückkommen. So blieb ihm reichlich Zeit, seine Beute zu untersuchen. Das Buch war ein Grimorium, ein Handbuch der Magie, und in altmodischer, aber unverschlüsselter Sprache geschrieben. Nach der Art des Einbands und den stark vergilbten Rändern der Pergamentseiten zu urteilen, mußte es wenigstens dreihundert Jahre alt sein, vielleicht aus der Zeit des Magierkrieges oder noch davor. Karl blätterte in den knisternden Seiten. Ein Verwirrungszauber. Ein Bindungszauber. Hm. Er könnte es zu Hieronymus Neuwirt bringen, dem größten Buchantiquariat der Stadt. Dort würde er den besten Preis erzielen … vielleicht genug, um aus seinem Lehrlingsdasein zu entkommen. Karl untersuchte das Buch genauer. Er mußte soviel wie möglich wissen, um den richtigen Preis auszuhandeln. Mit einem Schreck erkannte er, daß der Einband nicht aus gegerbtem Leder war, sondern aus menschlicher Haut. Er konnte die Poren ausmachen, sogar kleine dunkle Stellen, die einmal Muttermale gewesen waren. Es fühlte sich klamm an, als ob ihm irgendwie noch Leben anhaftete. Er schlug das Buch wieder auf, drehte es um und begutachtete den Rücken; oft gab das hinterlegte Material unter
dem Rücken Hinweise auf Ursprung und Alter eines Buches. Und tatsächlich war dort ein Stück Papier eingeschoben. Als Karl es herausangelte, kam ein Insekt mit ihm zum Vorschein, ein kleiner Käfer mit glänzendem Rücken. Er rannte über den Tisch und fiel zu Boden, bevor Karl ihn zermalmen konnte. Auf das Stück Papier war eine Art Karte gezeichnet. Die Tinte wirkte frisch, und für die Datierung des Buches war es unbrauchbar. Dennoch fand Karl es interessant, denn das auseinandergefaltete Papier zeigte eine sorgfältig markierte Route, die sich durch verworrene labyrinthische Gänge schlängelte, allen möglichen Fallen und Gruben auswich und zu einer versiegelten Kammer führte, die mit einem einzigen, rot geschriebenem Wort markiert war. Vielleicht eine Karte, die zu einem Schatz führte, obwohl jeder Hinweis darauf fehlte, was der Schatz war. Karl studierte die Karte lange, bevor ihm klar wurde, daß das dargestellte Labyrinth Teil des Systems unterirdischer Gänge sein mußte, das die Zwerge vor langer Zeit durch den Felsen, auf dem die Stadt stand, getrieben hatten. Als er entschlüsselt hatte, so viel er konnte, steckte er das gefaltete Papier in die Tasche, ging in das kleine Hinterzimmer, wo er schlief, und verbarg das Buch unter seinem Kopfkissen. Er würde es heute nacht eingehender untersuchen und morgen zum besten Preis verkaufen, den er bekommen konnte. Dann würde er von Stumpf eine lange Nase drehen und so leben, wie er wollte, statt von früh bis spät einem alten Trottel zur Verfügung zu stehen. Vielleicht würde es ihm sogar gelingen, die Schatzkarte an einen leichtgläubigen Abenteurer zu verkaufen − von denen es in Middenheim zu jeder Zeit genug gab −, der einfältig genug war, sich in die gefährlichen Gänge unter der Stadt zu wagen. Karl dachte daran, was er mit einem Beutel Goldkronen anfangen könnte, als er zum Fenster hinausschaute. Erschrocken prallte er zurück. Der ausländische Zauberer spähte durch das staubige Glas herein, und sein Gesicht war nur ein paar Handbreit von
Karls eigenem entfernt. Als er Karl sah, richtete er sich auf und ging an die Tür, und obwohl Karl sie nicht aufgesperrt hatte, ging sie sofort auf. »Ich suche ein Buch«, sagte der Zauberer. »Ja, wir haben alle möglichen Bücher.« Karls Mund war trocken. Der Zauberer war sehr groß, und trotz der Sommerhitze trug er einen weiten schwarzen Umhang, dessen rotes Futter mit allen Arten von unheimlichen Machtsymbolen bestickt war. Sein Gesicht war schmal, lang und weiß, umrahmt von unordentlichem schwarzen Haar und einem schwarzen Bart. Kleine runde Brillengläser saßen auf dem Ende seiner langen Nase; sie vergrößerten die bedrohlich aussehenden blauen Augen des Zauberers, als er Karl anvisierte. »Ein ganz besonderes Buch. Ein Buch, das Ihnen vielleicht angeboten worden ist, oder Ihnen schon bald gebracht werden wird. Ein handgeschriebenes Buch mit einem ungewöhnlichen Ledereinband. Ich werde für solch ein Buch sehr gut bezahlen.« »Sie würden mit meinem Herrn sprechen müssen«, brachte Karl hervor. Er überlegte fieberhaft. Wenn der Zauberer das Buch wollte, war es noch wertvoller, als es aussah, und bei Neuwirt würde er sicherlich einen besseren Preis bekommen als von diesem umherziehenden Heckenzauberer. »Mit Ihrem Herrn?« Der Zauberer richtete sich auf. Er war so groß, daß sein Kopf beinahe die Spinnweben streifte, die von der Stuckdecke wehten. »Nun gut. Sie lassen mir keine andere Wahl, als daß ich noch einmal kommen muß. Ich hoffe, Ihr Herr wird entgegenkommender sein. Ich werde morgen wieder kommen. Und denken Sie daran, junger Mann.« Der Umhang flog auf; Karl sprang zurück, aber der Zauberer war zu schnell. Seine kalte Hand umschloß Karls Handgelenk und zog. Dann lag Karl halb über dem Tisch, und sein Gesicht war nur ein paar Zoll von dem des Zauberers entfernt. »Denken Sie daran«, wiederholte der Zauberer leise.
»Ich vergesse nichts«, murmelte Karl. Er begegnete dem Blick der blauen Augen und versuchte, nicht eingeschüchtert zu sein. Aber zwischen seinen Augen war ein eigentümliches Prickeln, als sei er im Begriff zu weinen, und nach einem Moment mußte er wegsehen. »Die Dinge mögen mehr sein als sie scheinen, oder weniger.« Der Zauberer ließ Karls Handgelenk los und zog den Umhang um sich. »Guten Tag, junger Mann, und viel Glück.« Irgendwie gelang es Karl, sich zu benehmen, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen, als Otto von Stumpf am Abend zurückkam, obwohl der alte Mann so viel von dem essigsauren obergärigen Bier getrunken hatte, das im Weißen Wolf ausgeschenkt wurde, daß er es wahrscheinlich nicht bemerkt haben würde, wenn Karl während seiner Abwesenheit ein zweiter Kopf gewachsen wäre. Nach einem mageren Abendessen aus gekochter Gerste mit fettigen Brocken Hammelfleisch ließ der Antiquar sich von Karl die Wendeltreppe zu der schmutzigen Mansarde hinaufhelfen, in der er schlief. Dann zog Karl sich auf seine Matratze in dem als Lagerraum dienenden Hinterzimmer des Ladens zurück und weidete sich im Licht einer Talgkerze an dem Buch und der Karte. Aber es war ein langer Tag gewesen, und bald schlief er ein. Einige Zeit später fuhr er erschrocken hoch. Mondlicht schien zum einzigen Fenster herein. Ihm war, als habe jemand seine Hand berührt. Aber es war nur ein Käfer, der mit aufgeregt tastenden Fühlern über seine Hand krabbelte. Karl stieß das Insekt fort, dann bemerkte er mit einem Schreck, daß das Buch fort war. Es gelang ihm, die Kerze anzuzünden, und dann sah er, daß das Buch im Durchgang zwischen Laden und Hinterzimmer am Boden lag. Schatten schienen davonzuhuschen, als er sich bückte, um es aufzuheben. Nervös und hellwach tappte Karl in den Laden und lauschte die Wendeltreppe hinauf, die zur Mansarde seines Herrn führte. Erleichtert grinste er, als er das rauhe
Schnarchen des alten Mannes hörte. Karl war im Begriff, sich ins Hinterzimmer zurückzuziehen, als sein Blick auf das Fenster und die mondhelle Straße fiel und er eine Gestalt im schwarzen Umhang zur Tür gehen sah. Es war der Zauberer. Im Nu war Karl durch das Hinterzimmer und fummelte an dem Riegel der rückwärtigen Tür zum Hof. Es gelang ihm, sie zu öffnen, als das Schloß der Ladentür mit einem das Blut gerinnen machenden Klicken aufsprang. Und dann war er über die Hofmauer und fiel beinahe auf die Gestalt, die darunter in der Durchfahrt stand. Einen Augenblick dachte Karl, daß der Zauberer, der offensichtlich wußte, wo das Buch war, sich irgendwie von einer Seite des Hauses zur anderen gezaubert habe. Aber dann stieß der Mann seine Kapuze zurück und sagte: »Komm mit − aber beeile dich.« Karl wollte fragen, wer der Fremde sei und warum er ihm folgen solle, als auf der anderen Seite der Hofmauer ein unheimliches blaues Licht aufleuchtete. Ohne einen weiteren Gedanken gab er Fersengeld, das Buch an die Brust gedrückt. Der Fremde lief, als ob seine Füße einen Zoll über dem Kopfsteinpflaster blieben, und sein Umhang flatterte hinter ihm. Nachdem sie durch mehrere Seitengassen und Durchfahrten gelaufen waren, kamen sie auf die belebte Burgenallee hinaus, wo Gruppen von Studenten lärmend zwischen den Spaziergängern dahinzogen. Karl schnaufte angestrengt, aber der Fremde schien kaum zu atmen. Mit glitzernden Augen blickte er wachsam umher, eine Hand am Heft eines Langschwertes; er war ein junger, stattlicher Mann mit glatter Haut, der unter seinem Umhang weite Kniehosen und ein besticktes Lederwams trug − eigenartige, altmodische Kleider. Anscheinend zufrieden, daß sie nicht verfolgt wurden, wandte er den Kopf und blickte auf Karl hinab, der unter diesem glitzernden, unbarmherzigen Blick zu schrumpfen schien. »Du hast etwas, das wir zurückhaben wollen«, sagte der Mann. Er hatte einen komischen, harten und schwirrenden Akzent, wahrscheinlich aus irgendeinem ländlichen Bezirk. Das würde
auch den altmodischen Schnitt seiner Kleider erklären. »Wenn Sie das Buch meinen − ich bin auf ehrliche Weise dazu gekommen. Ich bin Buchhändler und habe es gekauft«, sagte Karl trotziger, als ihm zumute war. Aber schließlich sagte er die Wahrheit. Mehr oder weniger die Wahrheit. »Wir bezahlen«, sagte der Mann, »obwohl es uns gestohlen wurde.« Mühelos pflückte er das Buch aus Karls Griff, dann ließ er einen schweren Beutel mit Zugschnur zu Boden fallen. Karl öffnete den Geldbeutel, während der Mann das Buch durchblätterte, und der Atem stockte ihm, als er sah, daß der Beutel mit Golddukaten vollgestopft war. Dann stieß er ein ängstliches Quieken aus, als der Schwertträger ihn am Kragen packte und vom Boden hob. »Die Karte«, sagte er, das Gesicht nur ein paar Handbreit von Karls entfernt. Sein Atem war bitter, und seine Augen glitzerten verrückt im Licht einer nahen Straßenlaterne. »Wir wollen die Karte.« »Lassen Sie mich los, dann sage ich Ihnen, wo sie ist«, stieß Karl hervor. Der Mann ließ ihn los, und er schlug mit den Absätzen hart auf das Pflaster. Karl stopfte sich das Hemd in den Hosenbund und bekam vor Verlegenheit heiße Ohren, als er sah, daß eine Gruppe Studenten die Köpfe gewandt hatte und über sein Mißgeschick lachte. »Wo?« fragte der Mann. »Im Laden«, log Karl, der das Papier in der Tasche hatte. Er sah eine Gelegenheit, noch mehr Geld herauszuschlagen, vielleicht genug, um für den Rest seines Lebens ausgesorgt zu haben. Ein Beutel voll Goldkronen konnte an einem Abend ausgegeben werden, wenn man töricht genug war. Aber wenn die Karte zu einem Schatz führte − und es gab Legenden von allen möglichen Zwergenschätzen, die in den Katakomben und Gängen der unterirdischen Stadt verborgen waren −, dann war alles möglich. Und wenn Karl auch nicht auf den Kopf gefallen war, so war er doch unerfahren genug, um zu glauben, daß er, egal was ge-
schah, gegen den Tod gefeit sei. Also setzte er eilig hinzu: »Aber wir brauchen nicht dorthin zurückzugehen und uns mit diesem Zauberer auseinanderzusetzen. Er war es, der Ihnen das Buch stahl, nicht wahr?« »Sein Lehrling«, gab der Schwertträger zu. »Wir hatten ihn beinahe erwischt, als er von der Seufzerklippe sprang, und als wir unten zwischen den Bäumen suchten und seinen Leichnam fanden, war das Buch fort.« »Aber nun haben Sie das Buch, und es ist ein Glücksfall für Sie, daß ich zu Ihren Diensten bin. Ich fand die Karte und studierte sie lange genug, um sie mir einzuprägen.« Das entsprach der Wahrheit. Karl hatte ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis für Dinge, die ihm von Nutzen sein mochten. Mit mehr Zuversicht, als er fühlte, sagte er: »Ich könnte Sie zu dem Schatz führen.« »Schatz, hm«, sagte der Mann. »Du willst einen Anteil, stimmt's?« »Nennen wir es einen Finderlohn.« Der Mann mit dem Schwert schloß die Augen und begann halblaut vor sich hin zu murmeln − ein unverständliches schnalzendes Plappern in einem sonderbaren Dialekt. Offensichtlich dachte er angestrengt nach, und offensichtlich fiel ihm angestrengtes Nachdenken schwer. Endlich sagte er: »Dann sind wir uns einig. Du hilfst − gegen eine Gebühr.« »Auf Ihr Wort, daß Sie mir zehn Prozent von dem geben, was wir finden, und mir keinerlei Schaden zufügen«, sagte Karl mit aller Festigkeit, die er aufbieten konnte. »Wir geben unser Wort«, sagte der Mann mit einer Bereitwilligkeit, die Karl bedauern ließ, daß er nicht fünfzehn oder sogar zwanzig Prozent gefordert hatte. Der Fremde fügte hinzu: »Nun wirst du uns zum nächsten Einstieg in die Abzugskanäle führen, wo wir unsere Suche beginnen werden.« Karl lächelte. »Ich sehe, daß Sie fremd in der Stadt sind. Die
wichtigsten Zugänge zur Kanalisation werden von den Soldaten bewacht. Selbst ein Schwertträger wie Sie wird die Wache nicht überwältigen können. Übrigens … äh … wie ist Ihr Name?« »Du magst uns Argo nennen.« »Also, ich bin Karl. Aber keine Sorge, ich kenne einen anderen Weg, obwohl Sie eine Art Eintrittsgebühr bezahlen müssen. Es gibt ein Wirtshaus unten im Ostwaldviertel, Zur ertrunkenen Ratte, in dessen Keller es einen Zugang zu den Abzugskanälen gibt. Sie werden dem Wirt lediglich etwas bezahlen müssen, das ist alles.« »Du hast jetzt das ganze Geld.« »Ich? Oh, ich verstehe. Nun, es ist eine Investition, denke ich. Kommen Sie mit, Argo. Das Wirtshaus ist auf der anderen Seite der Stadt.«
* Karl war weit weniger zuversichtlich, als er sich gegeben hatte. Er wußte von der Ertrunkenen Ratte und dem geheimen Eingang in das Kanalnetz nur durch Gerüchte, und die Geschichte mit der Gebühr hatte er rasch improvisiert. Als er und sein Begleiter in die engen Gassen des Ostwaldviertels kamen, verflüchtigte sich seine ohnedies geringe Zuversicht bald vollends. Im Ostwaldviertel gab es keine Straßenbeleuchtung, und die engen, belebten Gassen empfingen Licht nur durch die Fenster der angrenzenden Häuser und die Laternen und Fackeln, die einige Leute mit sich trugen. Karl hielt sich so nahe an den Schwertträger, wie er konnte, was keine leichte Aufgabe war, weil der Mann rasch und energisch ausschritt. Die Dunkelheit und die zahlreichen Passanten und Gruppen schäbig gekleideter Eckensteher konnten ihn nicht behindern. Es gab hier wahrscheinlich nicht mehr Betrunkene als in der
Burgenallee, aber während Trunkenheit dort lediglich das Endergebnis von zuviel Geselligkeit und guter Laune war, so war sie hier eine Folge schwieriger Lebensumstände, Verzweiflung und Verkommenheit. Betrunkene wankten durch die Gassen und stießen lallende Flüche aus gegen die Welt im allgemeinen und gewisse Personen im besonderen. Aus Eckkneipen drangen laut streitende Stimmen erhitzter Zecher. Bettler mit allen Arten von Entstellungen und Krankheiten heulten und plärrten um Almosen, unbeachtet von den schlechtgekleideten Arbeitern und den besser gekleideten Dieben und beinahe übertönt von den schrillen Stimmen der Huren, die aus den Obergeschoßfenstern der engstehenden Fachwerkhäuser zu potentiellen Kunden herabriefen. Karl hielt in wachsender Verzweiflung Ausschau nach dem Wirtshausschild der Ertrunkenen Ratte. Bei all seiner vorgeblichen Ortskenntnis war er nur selten in diesem Stadtviertel gewesen, das er nach Möglichkeit mied. Er wollte nichts als das Wirtshaus finden und in die Abzugskanäle unter diesen gefährlichen Straßen gelangen, ohne daran zu denken, wieviel gefährlicher die dunklen Abzugskanäle sein konnten. Aber als er endlich das Wirtshausschild erspähte, schien auch der letzte Rest seiner Zuversicht dahinzuschwinden. Es war ein baufälliges, schmales, spitzgiebeliges Haus, das auf einer Seite an einen finsteren Durchgang grenzte und dessen schmutzige Fenster trübes Licht durchschimmern ließen. Der Eingang lag in tiefen Schatten. Als Karl und Argo näher kamen, wankte ein Mann heraus, der sich mit beiden Händen den Kopf hielt. Blut rann ihm übers Gesicht und leuchtete plötzlich hell auf, als er durch den Lichtschein einer Lampe tappte, die im Fenster eines Hurenhauses stand. Er wandte sich um und brüllte: »Halsabschneider! Zuchthäusler! Sauhunde, verfluchte!« Dann ächzte er und hielt sich wieder den Kopf und wankte weiter. Argo, der den Mann kaum zu bemerken schien, schritt durch die dunkle Eingangstür und ließ Karl nichts anderes übrig, als ihm
nachzuschlüpfen, kurz bevor ein paar stämmige Kerle die Tür zustießen. Die Gaststube war beinahe so dunkel wie die Straße draußen. Unter den durchgebogenen Deckenbalken schwebten dichte Schwaden gelblichgrauen Rauchs. Wölfisch aussehende Männer saßen an den fünf oder sechs Tischen entlang den Wänden, und alle starrten den Mann mit dem Schwert in feindseligem Schweigen an. Argo ging zur Theke und sagte mit gedämpfter Stimme zu dem großen, bärtigen Mann dahinter: »Wir möchten in das Kanalisationssystem. Wir werden bezahlen, was dafür notwendig ist.« Einer der Raufbolde hinter Karl schmunzelte und ließ eine breite, narbige Hand auf Karls Schulter fallen. »Dein Freund ist ein mutiger Bursche, mein Junge. Ich mag mutige Leute.« Der Wirt spuckte in ein Glas und verwischte den Speichel mit einem grauen Lappen. »Wir mögen hier keine Fremden. Machen Sie, daß Sie weiterkommen. Ich kann Ihnen nicht helfen.« »Wir werden ein Wörtlein mit ihnen reden«, sagte der Mann, der seine Hand auf Karls Schulter hatte. »Sie aufklären, sozusagen.« »Was ihr wollt, Jungs«, meinte der Wirt gleichgültig und wandte sich ab, als der zweite Raufbold, der mit dem Kopf die Deckenbalken streifte, mit wiegenden Schritten auf Argo zuging. Von einer Pranke baumelte ein eisenbeschlagener Knüppel. Karl stieß einen Warnruf aus, aber eine übelriechende Hand verschloß ihm Mund und Nase. Argo fuhr herum, daß sein Umhang wirbelte, als der Knüppel auf seinen Kopf niedersauste … und dann war er plötzlich neben dem Mann, und sein Schwert blitzte durch die verräucherte Luft. Etwas schlug dumpf auf den Boden, Blut spritzte. Es war die Hand des Raufbolds, deren Finger den Knüppel noch immer umschlossen. Der verwundete Strolch brüllte. Argos Schwert blitzte wieder auf, und der andere fiel zu Boden. Blut sprühte aus seiner Kehle.
Der Schläger, der Karl festhielt, zog sich zur Tür zurück, ohne auf das Zappeln des Lehrlings zu achten. Zwischen Karls Augen war ein prickelnder Druck auf dem Nasenrücken. Aus irgendeinem Grund mußte er an den demütigenden Blick des Zauberers denken, und als der Strolch Karls Mund losließ, um die Klinke niederzudrücken, gelang es Karl, den Verwirrungszauber zu rufen, den er im Buch gesehen hatte. Es war das einzige, was ihm einfiel, aber zu seiner Verblüffung wirkte es. Der Mann ließ ihn los und kratzte sich am Kopf. Seine schweinsartigen Züge verformten sich in Verwirrung. Er schien seinen Kumpanen, der in der Mitte einer sich vergrößernden Blutlache am Boden lag, so wenig zu bemerken wie Karl oder Argo, der Karl beiseite stieß und dem Grobian seine bereits blutige Klinge in den Leib rammte. Der Stahl kratzte an den Rippen, als er ihn herauszog. Zuerst schien der Mann nicht einmal seine tödliche Wunde zu bemerken, aber dann ließ er ein blubberndes Stöhnen hören und schlug der Länge nach hin, daß alle Flaschen und Gläser in der Gaststube klirrten. Nun hatte das Schweigen im Raum eine andere Art von Schärfe. Karl entdeckte, daß seine Nase blutete, und er betupfte sie mit dem Ärmel. Er zog dem Toten das Messer aus dem Gürtel, während alle Argo anstarrten. Dieser stieg über den Körper seines ersten Angreifers, stieß die abgetrennte Hand beiseite und trat an die Theke. Er zog den massigen Wirt am Bart halb über die Theke und wiederholte sein Anliegen, als wäre nichts geschehen. Der Wirt schielte in ungläubigem Schrecken. Einen Augenblick war das Geräusch seines an den Wurzeln aus der Haut reißenden Bartes das einzige Geräusch im Raum. »Der Keller«, stieß er endlich hervor. »Natürlich. Folgen Sie mir.« Eine steile steinerne Wendeltreppe führte in den Keller, und die Stufen waren schlüpfrig von Wasser, das aus den Wänden rann. Außerhalb des Lichtscheins der vom Wirt hochgehobenen Laterne huschten Lebewesen. Ratten, sagte der Wirt, aber das Tier, das
Karl flüchtig erblickte, war doppelt so groß wie jede Ratte, die er je gesehen hatte, und schien auf mehr als vier Beinen davonzuhuschen. Argo, wie gewöhnlich unempfindlich gegen jede Gefahr, folgte dem Wirt ohne zu zögern in den dunkelsten Winkel des gewölbten Kellers, vorbei an verrottenden Fässern und Haufen von Unrat und zerbrochenem Mobiliar. In die nassen Steine der Wand war eine niedrige Tür eingelassen, mit Eisen beschlagen und durch massive Riegel verschlossen, die der Wirt mit einiger Mühe zurückstieß. Warme, übelriechende Luft strömte in den Keller, als der Wirt die Tür öffnete. Argo bückte sich, um durch die Öffnung zu steigen, und Karl sagte laut: »Wir werden Licht brauchen.« Er wollte nicht dort hinunter, konnte aber kaum erwarten, daß man ihn auf einem anderen Weg lebendig aus dem Wirtshaus lassen würde. Wenn er schon in diese Unterwelt mußte, wollte er wenigstens etwas sehen. Argo wandte sich um und nahm dem Wirt die Laterne aus der Hand, dann duckte er sich unter den Türsturz. Als Karl ihm folgte, fluchte der Wirt und warf die Tür hinter ihnen zu, dann schrie er, daß sie niemals wieder herauskommen würden, dafür wollte er sorgen. Rasselnd stieß er die Riegel zu. Jetzt gab es nur noch das gleichmäßige Tropfen des Wassers von oben und das leise Rauschen von Wasser irgendwo unten. Eine Treppe führte hinab zu einem der Seitenkanäle, einem stinkenden, teils aus dem anstehenden Fels gehauenen, teils ausgemauerten Tunnel, der kaum hoch genug war, daß Karl darin stehen konnte. Durch diesen Tunnel gurgelte ein stinkender Strom grauer Flüssigkeit. Bald mündete dieser Kanal in einen der Hauptkanäle, wo steinerne Wege zu beiden Seiten eines rasch fließenden trüben Stromes angelegt waren. Argo hob die Laterne und sah sich zu Karl um. Er wischte mit einem kalten Finger über das trocknende Blut auf der Oberlippe des Lehrlings und steckte ihn in den Mund. »Der Preis der Magie«, sagte er nach einem Moment.
»Es war nur ein kleiner Zauber, etwas, was ich in diesem Buch las. Ich dachte nicht einmal, daß es wirken würde, aber ich konnte sonst nichts tun.« »Du bist bescheiden. Aber versuche nicht, deine Kunst gegen uns zu gebrauchen. Wir sind nicht durch sie gebunden.« Karl blickte zu ihm auf, einer schattenhaften Gestalt hinter dem Laternenlicht mit glitzernden Augen. »Ich wußte nicht einmal, daß der Zauber wirken würde«, sagte er wieder. »Wirklich. Nun, wohin gehen wir?« »Wir werden dich zum Beginn des Labyrinths bringen«, erklärte Argo. »Dann mußt du vorangehen.« Karl dachte angestrengt nach. »Die Karte zeigte, daß es einen großen runden Raum gibt, von dem der Zugang zum Labyrinth ausgeht. An den Wänden waren Zeichnungen von Statuen.« »Ich kenne ihn. Dort müssen wir beginnen.« Schwarze Ratten huschten aus dem Lichtkreis der Laterne, die Argo trug. Als er sich umsah, konnte Karl ungezählte Paare kleiner roter Augen aus der Sicherheit des Dunkels spähen sehen. Manchmal konnte er die Geräusche der Straßen über ihnen hören, die Rufe von Bettlern oder Verkäufern, das Rattern eisenbeschlagener Wagenräder über Kopfsteinpflaster. Aber bald führte Argo ihn vom Hauptkanal fort, einen aus dem gewachsenen Fels gehauenen Gang hinab, dessen Boden von Gesteinsschutt bedeckt war und der steil abwärts in die Nekropole unter der Stadt der Lebenden führte. Karl verlor bald jegliches Zeitgefühl. Er wußte nur, daß er müde und hungrig und ängstlich war … und auch durstig, denn die Gänge, die hier immer tiefer in den felsigen Untergrund führten, waren überraschend trocken und der Boden von feinem Gesteinsstaub wie Mehl bedeckt. Mit jedem Augenblick nahm seine Furcht zu, und er begann zu wünschen, daß er das Zauberbuch nie gesehen und nie versucht hätte, von Stumpf um seinen Gewinn zu betrügen.
Das schlimmste war, daß er immer wieder das Gefühl hatte, Schritte in der Dunkelheit hinter sich zu hören, gleichmäßige Schritte, die jedesmal, wenn er lauschend stehenblieb, nach einem Moment aufhörten. Obwohl in gewissen Teilen der unterirdischen Gänge noch immer Zwerge lebten, waren die meisten den Gerüchten zufolge von Mutanten und Schlimmerem bevölkert. Alles konnte hier unten in der Dunkelheit lauern, und das Messer, das er dem toten Raufbold im Wirtshaus abgenommen hatte, schien wenig Schutz zu bieten. Aber Argo ignorierte Karls Ängste, und statt müde zu werden, schienen Kraft und Energie des Schwertträgers zuzunehmen, als sie durch die Gänge schritten. Als ob er in ihnen zu Hause wäre, als ob ihm die Dunkelheit und das lastende Gewicht des Felsgesteins über ihnen − das Gewicht der ganzen Stadt − angenehm vertraut wären. Gewiß, er kannte den Weg, obwohl auch das seltsam war, wenn Karl es sich recht überlegte. Hatte Argo nicht gesagt, daß er in der Stadt fremd sei? Es mußte mit diesem stattlichen Mann viel mehr auf sich haben, als ihm anzusehen war. Die meisten Gänge waren eng und niedrig, und zweimal mußten sie haltmachen und umkehren, als sie auf eingestürzte Abschnitte stießen, die den Weg versperrten. Einmal störten sie eine Fledermauskolonie auf, die in einem Ungewitter lederiger Flügel um sie explodierte. Argo stand unerschrocken und ließ sie vorbei, aber Karl kauerte am Boden, bis die verängstigten Geschöpfe fort waren. Ein anderes Mal passierten sie einen hohen, in Ruinen liegenden Höhlenraum, wo Pilze jeder Art aus den feuchten Trümmern eines hölzernen Bodens wuchsen. Einige dieser Pilze waren noch größer als Argo, und Konsolenpilze wucherten aus den Steinwänden, grünlich phosphoreszierend und groß wie Waschbottiche. Auf dem Weg durch den Raum streifte Karl ein rundes Gewächs, das sofort eine Wolke von Sporen ausstieß, welche wie heißer Pfeffer in seiner Nase brannten und ihn heftig niesen machten. Argo, der gegen die Sporen nicht empfindlich
schien, mußte warten, bis Karl weitergehen konnte. Bevor sie die schmale Öffnung erreichten, die aus dem Raum führte, vernahm Karl viele verstohlen tappende Schritte überall in der Dunkelheit, die sich zu nähern schienen. Argo hob die Laterne, und Karl sah wohl an die hundert kleine Schattengestalten auf hohen Felssimsen entlangkriechen und über gangbare Abstufungen und Gesimse absteigen. Keine der Gestalten war mehr als drei Schuh hoch, und alle waren nackt bis auf Lendenschurze. Ihre warzigen grünen Häute waren mit Erde beschmiert, ihre breiten, mit Fangzähnen bestückten Mäuler grinsten, ihre zugespitzten Ohren überragten die haarlosen Schädel. Sie waren mit Stäben und primitiven Hämmern und Äxten bewaffnet. Ein Stamm von Kobolden. Bis Karl erkannt hatte, womit sie es zu tun hatten, und das erbeutete Messer aus dem Gürtel zog, huschten die ersten Kobolde auf Argo zu, der sein Schwert zog, während er die Laterne in die Höhe hielt. Die Kreaturen zischten ängstlich und wichen zurück, aber schon sprang Argo vor und schnitt ihnen mit einem waagrechten Schwertstreich die Köpfe ab. Andere begannen ihn aus der Höhe mit Wurfgeschossen zu bombardieren, die mit Pilzsporen vollgestopft waren. Der giftige Staub umgab ihn in dichten Wolken, doch schien er auch diesmal völlig unempfindlich. Er spaltete einen Kobold beinahe entzwei und schlug einem weiteren den Arm ab. Zwei sprangen ihm auf den Rücken, doch er warf sich rückwärts und zerquetschte sie an der Felswand. Unterdessen gingen andere gegen Karl vor. Es gelang ihm, einen mit dem Messer niederzustechen, aber der Kobold fiel rückwärts und zog dabei den Messergriff aus Karls Hand. Seine Gefährten bleckten die spitzen Zähne und hoben ihre primitiven Waffen; ihre gelben Schlitzaugen glommen bösartig. Karl wich zurück, bis er gegen den Fels prallte, und sah mit Bestürzung, wie der Anführer des Trupps, nicht größer als ein Kind, aber mit dem Gesicht einer wahnwitzigen Kröte, seine schartige Axt zum Aus-
holen hob. Wieder fühlte Karl den kitzelnden Druck zwischen den Augen, und bevor er wußte, was er tat, hatte er die Hände hochgeworfen und stieß den Bindungszauber aus, den er im Buch gelesen hatte. Augenblicklich erstarrten alle Kobolde im Raum. Ein paar verloren das Gleichgewicht und fielen steif zu Boden. Der Druck zwischen Karls Augen wurde zu einer Messerklinge, die sich in sein Gehirn bohrte. Er fiel auf die Knie und fühlte Blut aus seiner Nase strömen, heiß und mit dem Geruch von Eisen. Argo stieß seelenruhig sein Schwert in die Scheide und half dem Lehrling auf die Beine. Er befahl Karl, ihm zu folgen, und ging durch die erstarrten Kobolde hindurch, als ob nichts geschehen wäre. Karl wankte ihm nach, so schwach, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte, aber voll Angst, mit den Kobolden in der Dunkelheit zurückzubleiben, denn sicherlich würde der Zauber sie nicht lange binden. Sein Wams und das Hemd waren auf der Brust blutgetränkt, und es wollte ihm nicht gelingen, das Nasenbluten ganz zu stillen, obwohl er sich die Nasenlöcher mit Daumen und Zeigefinger zuhielt und sie später mit Spinnweben verstopfte. Der Preis der Magie. Es war ein Glück, daß nicht mehr Kobolde angegriffen hatten und daß sie klein waren. Andernfalls könnte die zur Bindung benötigte Magie seinen Körper wie eine überreife Tomate zum Aufplatzen gebracht haben. Endlich erreichten sie einen großen runden Höhlenraum, dessen Wände mit hohen Statuen geschmückt waren. In der Mitte befand sich eine Art Altar, ein breiter Steintisch, der von Schädeln umringt war und dessen Oberfläche von eingemeißelten Ablaufrinnen durchzogen war. Dort lagen die zerrissenen Überreste irgendeines obszönen Opfers. Ein Tier, hoffte Karl und sah nicht zu genau hin, falls seine schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheiten sollten. Gegenüber war eine Statue, die alle anderen überragte, aus der Felswand gehauen. Sie stellte ein Wesen dar, das halb Mensch und halb Tier war, so hoch, daß sein Haupt die Dunkelheit
verbarg. Die rechte Hand hielt ein Dutzend Schlangen umfaßt, die linke hielt einen starr blickenden menschlichen Kopf beim Haarschopf. Zwischen seinen Füßen, die in Hufen endeten, war der schmale Eingang zum Labyrinth. »Nun wirst du uns führen«, sagte Argo und reichte Karl die Laterne. Durch die roten Schleier seiner Erschöpfung rief Karl die Erinnerung an die Karte wach. Sie war noch in seiner Tasche, aber er wagte nicht, sie herauszuziehen. Argo könnte sie ihm abnehmen und ihn allein in der Dunkelheit zurücklassen, sichere Beute für die Bewohner der Finsternis. Die Gänge des Labyrinths waren hoch und eng, roh aus einem dunklen Granit gehauen. Der Fels schluckte das Licht der Laterne mit seinen Unebenheiten, statt es zu reflektieren, so daß Karl den Weg in einem trüben Lichtschimmer finden mußte. Dennoch glaubte er seine Sache in Anbetracht der Umstände gut zu machen; er bog nach rechts, dann nach links und wieder nach rechts, mied Gänge, die zu steilen, schlüpfrigen Gefällstrecken wurden, die in wassergefüllte Schächte führten, in den Boden eingesetzte Steinplatten, die unter dem Gewicht des Unachtsamen kippten und ihn in tiefe Gruben stürzten, sowie ein Dutzend mechanische Fallen, die durch Magie allein nicht festgestellt werden konnten. Vielleicht war er übertrieben zuversichtlich; oder vielleicht war er einfach übermüdet. Jedenfalls bemerkte er seinen Fehler erst, als eine der Platten des Pflasters mit einem fatalen Klicken unter seinem Fuß nachgab. Es folgte ein unheilverkündendes Rumpeln und Poltern über ihnen, dann riß ihn ein stählerner Griff zurück, als das massive Gewicht einer Steinlast niederkrachte und den Durchgang versperrte. Der Luftdruck blies Karl das Haar zurück, der Staub blendete ihn, und der krachende dumpfe Lärm des Aufpralls hatte ihn halb betäubt. Als Argo seine Schulter losließ, fiel er auf die Knie. »Du bist ein Dummkopf«, zischte Argo in sein Ohr.
»Ich werde versuchen, es besser zu machen«, murmelte Karl. Der glatte Fels des genau in die Breite des Ganges eingepaßten Gewichtes war nur ein paar Handbreit von seiner blutigen Nase entfernt. Er war so erschüttert, daß er beinahe die Karte hervorgezogen hätte, um sich des Weges zu vergewissern, doch fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß Argo ihm in diesem Fall die Karte abnehmen und ihn in der Dunkelheit zurücklassen würde − womöglich mit abgeschnittenem Kopf. Rechts und links, tiefer in die Eingeweide des Untergrundes. Das lastende Gewicht der Felsendecke schien alles Leben aus der dumpfen schwarzen Luft zu pressen. Karl hatte in seinem Kopf keinen Raum für seine Ängste oder was er tun würde, wenn sie den Schatz erreichten, keinen Raum für irgend etwas als die Erinnerung an den richtigen Weg. Rechts und links, tiefer und tiefer, bis sie das Herz des Labyrinths erreichten. Es war eine viereckige Kammer, aus der kein Weg hinausführte. Aber undeutlich zeigte sich im Schein der Laterne, die Argo in die Höhe hielt, in verblaßter Farbe der mit Malereien geschmückte Türrahmen, der Weg zum Schatz. Argo legte den Kopf in den Nacken, öffnete den Mund erstaunlich weit und stieß einen schnatternden, unmenschlichen Schrei aus. Karls Herzschlag setzte aus. Aus dem dunklen Gang hinter ihnen schritten drei Skelette, deren gelbliche Knochen im Schein der Laterne schimmerten, deren Füße auf dem Steinboden klapperten, deren Augenhöhlen roten Widerschein enthielten. Jedes trug ein schartiges, rostiges Schwert, und einer hatte einen goldenen Helm auf dem Schädel, der in ferner Vergangenheit von einem fürchterlichen Hieb gespalten worden war. »Unsere Brüder«, sagte Argo zu Karl. Sein glattes, jugendliches Gesicht blieb ausdruckslos. »Nun wirst du uns das Losungswort sagen.« »Lo-Losungswort?« »Du weißt es. Entweder sprichst du es jetzt aus, oder wir wer-
den dich töten und deinen Leichnam das Losungswort aussprechen lassen, wenn er hinlänglich verrottet ist, daß der Zauber eine Angriffsfläche findet.« Argos Atem roch wie zerdrückte Ameisen; seine Augen glitzerten wilder denn je. »Nun, Junge …« Blaues Licht flammte auf. Argo brach zusammen, und die drei Skelette platzten auseinander, daß ihre Gebeine zu Staub wurden, noch ehe sie zu Boden fielen. Karl sah den Zauberer aus der Dunkelheit des Ganges treten. Sein weißes Gesicht blickte grimmig. »Ein seltsamer Ort, um einen Buchhändlerlehrling anzutreffen, und mit so seltsamen Gefährten«, sagte der Zauberer. »Hast du eine Ahnung, wie tief du dich ins Unheil verstrickt hast, mein Junge?« Karl konnte nur den Kopf schütteln. Noch immer schwammen blaue Punkte vor seinen Augen. »Mein Lehrling wurde von dieser Kreatur des Chaos getötet«, sagte der Zauberer und stieß Argos Körper mit der stahlverstärkten Spitze seines Stiefels an. »Er brachte mir eine Karte, die zu einem gewissen uralten Schatz führte, der in den falschen Händen ungeahnten Schaden anrichten könnte. Er hatte die Karte in einem Buch einfacher Zaubersprüche versteckt, wie es ein Zauberlehrling bei sich tragen würde. Trotzdem wurde er irgendwie entdeckt. Es gelang ihm, in die Stadt zu kommen, aber bevor ich ihm zu Hilfe eilen konnte, wurde er auf den Seufzerklippen in die Enge getrieben. Er war ein tapferer Junge und wußte, was geschehen würde, wenn man ihm die Karte raubte. Also warf er sich von der Klippe und wurde tief unten von den Ästen der Bäume zerrissen. Ehe ich das Buch in Sicherheit bringen oder diese Kreatur es in die Finger bekommen konnte, wurde es von einer Lumpensammlerin gefunden und zu dir gebracht.« »Sie wußten, daß ich das Buch hatte?« fragte Karl. »O ja. Einen Zauberer darfst du nie belügen, Junge. Laß das deine erste Lektion in deinem neuen Leben sein. Ich lieh dir ein
wenig von meiner Macht und wartete, bis die Kreatur dich fand. Als du die Zaubersprüche aus dem Buch gebrauchtest, konnte ich dir durch die Spuren der Magie folgen, die du hinterlassen hattest. Es war ein Glück für dich, daß ich gerade noch rechtzeitig hier eintraf, um die Magie, welche diese Skelette zusammenhielt, durch einen einfachen nekromantischen Zauber zu lösen.« »Und Argo? Warum wurde er …« Plötzlich verstand Karl. »Er war auch ein Untoter! Deshalb blieb er von dem Bindungszauber, den ich gegen die Kobolde gebrauchte, unbeeinflußt. Und deshalb blieben auch ihre giftigen Sporen unwirksam.« »In der Tat. Irgendein armer Mann, dessen Leichnam durch Nekromantie belebt wurde.« Der Zauberer zog an seinem langen schwarzen Bart. »Und nun wirst du zweifellos diesen Schatz sehen wollen. Du darfst das Losungswort sprechen.« »Ich habe genug Nasenbluten gehabt, danke.« »Der Zauber wurde durch die Anstrengungen eines anderen vor langer Zeit festgelegt. Das Losungswort setzt ihn lediglich frei.« Der Zauberer hielt das Stück Papier hoch, das er Karl irgendwie aus der Tasche genommen hatte. »Wenn du das Wort nicht sagen willst, werde ich es tun.« Also sagte Karl das Losungswort, und unversehens erschien eine hölzerne Tür in dem gemalten Türrahmen und flog mit einem dumpfen Schlag auf, der eine Staubwolke von der Decke löste. »Das erste, was du richtig gemacht hast«, sagte der Zauberer und trat vorwärts. Karl folgte − und wurde plötzlich von hinten niedergeschlagen und durch den Raum geschleudert. Als er sich auf alle viere erheben konnte, sah er, daß Argo seinen Umhang dem Zauberer über den Kopf geworfen hatte, seine Arme festhielt und ihm gleichzeitig die Kehle zudrückte. Ohne zu überlegen, sprang Karl auf, nahm eines der rostigen Schwerter an sich und hieb damit in Argos Beine. So stumpf die Klinge war, sie schnitt bis auf den Knochen
durch. Aber statt Blut ergossen sich Hunderte kleiner Insekten aus der Wunde. Argo schrie auf, ließ den Zauberer los und suchte den Fluß zu stillen. Käfer waren überall; einige waren aufgeflogen und umsummten die Laterne, stießen immer wieder blindlings gegen das Glas, angelockt vom Lichtschein. Ihre Flügel glitzerten genau wie Argos Augen. Dieser brach in die Knie und schien in seiner Haut zu schrumpfen. Und dann gelang es dem Zauberer, einen Bann zu keuchen, und die Kleider und die Haut des Schwertträgers flogen auseinander und enthüllten eine wimmelnde Masse von Käfern, die noch immer am Skelett festhielt. Der Magier sprach einen weiteren Zauber, und auf einmal erfüllte ein bitterer Geruch den Raum, und alle Käfer stellten jegliche Bewegung ein. Tausend spröde kleine Käferleichen regneten aus der Luft herab. »Mein Ausräucherungszauber.« Der Magier nahm seine Brille von der Nase und betrachtete sie. »Wer hätte gedacht, daß ich ihn gegen einen der Untoten gebrauchen würde? Diese Insekten mußten als ein Organismus gewirkt, das Skelett benutzt und eine falsche Haut erzeugt haben, um ihrer Gesamtheit menschliche Gestalt zu verleihen.« »Er sagte immer wir«, sagte Karl, »niemals ich.« »In der Tat. Mein Lösungszauber mußte sie nur zeitweilig außer Gefecht gesetzt haben, und bald hatten sie die Gebeine wieder zusammengefügt. Das Chaos bringt mehr Übel hervor, als wir uns vorstellen können.« Er setzte die Brille auf das Ende seiner langen Nase. »Nun zum Schatz. Bring die Laterne.« Zusammen betraten sie den Raum hinter der Tür. Karl hob eifrig die Laterne in die Höhe − und dann keuchte er laut. Ringsum standen auf Regalen, die in den Fels geschlagen waren, von Staub bedeckt, doch noch immer jenen vertrauten muffigen Geruch ausströmend, Hunderte, Tausende von ledergebundenen Büchern. »Nicht alle Schätze glitzern«, bemerkte der Zauberer. »Dies ist
die Bibliothek von Fistoria Spratz, dem größten Zwergenzauberer in den letzten tausend Jahren, durch eine letzte Anstrengung seiner Magie bewahrt und hier versteckt. Du verstehst, warum die Kräfte des Bösen nicht in ihren Besitz gelangen sollten. Und nun, mein Junge, muß ich einen psychokinetischen Zauber vorbereiten, der uns und diese wunderbaren Bücher zu meinen Räumen oben in der Stadt bringen wird. Es wird eine Weile dauern, und während dieser Zeit kannst du überlegen, ob du mein Lehrling werden willst.« Er hielt eine beringte Hand in die Höhe. »Denke sorgsam nach. Ich meine, daß du das Zeug dazu hast. Die Tür hätte sich nicht geöffnet, wenn dir nicht eine Spur der Kraft innewohnte, noch wärst du in der Lage gewesen, die Kraft zu bündeln, die ich dir lieh. Du bist ein wenig eitel und arrogant, das ist wahr, aber du bist auch mutig und mehr als ein wenig vom Glück begünstigt. Sei still und denke.« Aber Karl brauchte nicht nachzudenken. Er hatte seine Antwort bereit, lange bevor das dunkle Felsgestein um ihn her verblaßte und er sich mit dem Zauberer und Stapeln staubiger Bücher in einem geräumigen Schlafzimmer mit Blick auf die vertraute schäbige Straße wiederfand, wo Otto von Stumpf sein Buchantiquariat hatte. Karl holte tief Luft und sagte das eine Wort, das ihm ein langes Leben voller Abenteuer eröffnen würde.
BRIAN CRAIG Ein Gartenfreund in Parravon Dieses Vorkommnis, fuhr der Geschichtenerzähler fort, wurde mir von einem Mann aus Parravon im fernen Bretonnia berichtet. Er sagte, er habe kein Verlangen, dem schlechten Ruf, den die Stadt seiner Geburt bereits hatte, noch etwas hinzuzufügen, aber er wolle nicht allein die Bürde der Spekulation tragen, ob sein
verstorbener Freund Armand Carriere so völlig und unrettbar verrückt war, wie jedermann zu glauben beliebte. Sie haben von Parravon gehört und wissen davon, was jedermann weiß. Ihnen ist bekannt, daß die Stadt an den Ufern des großen Flusses Grismarie in den Ausläufern der Grauberge liegt. Sie wissen, daß es eine reiche Stadt ist, deren wohlhabende Bürger zahlreich und den Künsten zugetan sind, wie es bei allen Menschen der Fall ist, wenn sie nicht für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen und einen Teil ihrer Zeit in Muße verbringen können. Sie wissen auch, daß das hübsche Gesicht, das sie bei Tageslicht zeigt, eine häßliche Maske trägt, wenn die Dunkelheit hereinbricht, und daß es heißt, bei Nacht mache seltsames und übles Gelichter die Straßen unsicher. Der Mann, der diese Geschichte erzählte, dessen Name Philippe Lebel war, schickte ihr voraus, daß all jene, die Gelegenheit haben könnten, sie zu hören, sich auch andere Eigentümlichkeiten der Stadt vergegenwärtigen sollten, die in ihrem Ruf keine so große Rolle spielen, aber für das, was ihm widerfahren war, von einiger Bedeutung seien. Erstens bat er die Hörer seiner Geschichte, sie sollten sich vergegenwärtigen, daß die hinter der Stadt aufragenden zerklüfteten Kalkfelsen für sehr viele Vögel Nistplätze bieten, darunter einigen Arten, die nirgendwo sonst in der Alten Welt anzutreffen sind. Oft sieht man Adler über den höheren Gipfeln kreisen, und es heißt, daß sowohl Feuervögel als auch Phönixe dort nisteten. Es wird auch gemunkelt, daß einige der Lebewesen, die bei Nacht um diese Felsen fliegen, weder Vögel noch Fledermäuse seien, sondern andere geflügelte Kreaturen. Zweitens bat er die Hörer der Geschichte, sie sollten daran denken, daß die Anlage schöner und exotischer Gärten einen besonderen Rang unter den Künsten einnimmt, für welche die wohlhabenden Kreise Parravons eine Vorliebe haben, und daß es keineswegs außergewöhnlich sei, daß Männer ihr Leben der Zucht seltener und besonderer Blumen widmeten.
Drittens bat er die Hörer, sie sollten sich vor Augen halten, daß die Bewohner der Stadt zwar anscheinend orthodox in ihrer Religion seien und zu den vertrauten Göttern beteten, daß dort aber insgeheim auch andere Arten von Gottesdienst abgehalten würden. Es gebe Druiden in den benachbarten Hügeln, deren geheimnisvolle Zeremonien vom einfachen Volk Parravons besucht würden, und überdies gebe es andere Götter, vielleicht noch älter, deren Verehrung in der gesamten Alten Welt verboten sei, deren wahre Natur niemand kenne und wenige zu ergründen suchten, deren Einfluß auf die Belange der Menschen sich aber bisweilen in besonders schrecklichen Vorfällen bemerkbar mache, denen die Unvorsichtigen und die Glücklosen in gleicher Weise zum Opfer fielen.
* Philippe Lebel hatte Armand Carriere von Jugend auf gekannt, und doch hatte er ihn niemals wirklich verstanden. Obwohl ihre Väter beide angesehene Getreidehändler waren, in ihren Gewohnheiten und Ansichten so ähnlich, daß man sie für Brüder hätte halten können, waren Philippe und Armand sehr verschieden. War der erstere stets bestrebt, den Konventionen zu folgen und sich in die Gesellschaft einzufügen, blieb der letztere ein Außenseiter, der alles Alltägliche langweilig fand. Mit der Zeit sah er sich als eine Art Künstler, obwohl er als Maler so untalentiert war wie als Dichter oder Gärtner, und Philippe dachte oft, daß die ›Kunst‹ seines Freundes einfach eine Fähigkeit sei, die Welt aus einem seltsamen Blickwinkel zu betrachten, aus dem sie sich mystischer, magischer und schlechter ausnahm. Es mochte damit zusammenhängen, daß ihn alles Ungewöhnliche und Geheimnisvolle anzog. Mit Hilfe dieser verschobenen Wahrnehmung hätte Armand
Lehrling eines Zauberers werden können, aber davon wollten seine Eltern nichts wissen, und er entschuldigte sich dafür, daß er nicht gegen ihren Willen verstieß − und sich damit aus dem väterlichen Testament ausschloß −, mit der Erklärung, daß die Zauberer von Parravon ohnehin ein armseliger und schäbiger Haufen seien, weit weniger mächtig, als sie behaupteten. Jene unter Ihnen, die viel gereist sind, werden wissen, daß dies eine verbreitete Meinung ist; bekannte Zauberer aus der eigenen Umgebung, mißt man sie an ihren Leistungen, scheinen immer weniger tüchtig zu sein, als sie vorgeben, und weniger faszinierend als entferntere Zauberer, deren Fähigkeiten nur anhand von Gerüchten und Ansehen gemessen werden können. Die ungesunden Vorlieben des jungen Carriere erregten Anstoß bei seiner Familie, doch rettete er sich vor völliger Ungnade, indem er hart arbeitete, um die Kunst des Lesens und Schreibens zu meistern, die sein analphabetischer Vater mit der Begründung empfahl, sie könne sich für einen Handelsmann als sehr nützlich erweisen. Leider hatte Armand nicht die Absicht, diese Kunst auf solch vulgäre Weise anzuwenden; sein Ziel war es, sich mit Büchern fragwürdigen Charakters die Zeit zu vertreiben und in ihnen die Geheimnisse arkanen Wissens aufzuspüren. Das Haus der Carriers war groß und stand auf dem Rücken eines kleinen Höhenzuges. Armands Zimmer galt als ungemütlich, weil es knapp unter dem Dachüberhang an der Seite des Hauses lag, die niemals Sonne empfing. Ihm aber gefiel es, weil es das einzige Fenster war, das auf diese Seite hinausging und Ausblick auf den wilderen Teil des Hügels gewährte, der dicht von Weißdorn und Schlehen überwachsen war. Das einzige andere Gebäude, das diesen Teil des Höhenzuges überblickte, war ein Turmhaus, das zwischen dunklen Bäumen ein Stück weiter auf der Anhöhe stand, umgeben von einem großen, heckengesäumten Garten. Dieses einsame Haus und sein Garten waren für Armand seit seiner Kindheit von Geheimnissen umwit-
tert gewesen, zumal die um das Grundstück verlaufende Hecke so ungewöhnlich hoch war, daß sie direkte Sonnenbestrahlung bis auf wenige Stunden um die Mittagszeit vom Garten fernhielt. Während Armand seine Bücher studierte und Schreibübungen machte, blickte er oft aus dem Fenster seines Zimmers hinüber zu der Hecke. Er dachte sich, daß die im Garten gedeihenden Pflanzen von besonderer Art sein müßten, weil sie jeden Tag nur wenig Sonne empfingen − und vermutlich nur Blumen und Pflanzen dort wuchsen, die sich solchen Bedingungen anpassen konnten −, und auch weil die Hecke so offensichtlich den Zweck hatte, vor neugierigen Blicken zu schützen. Ein- oder zweimal hatten er und Philippe in ihrer Kindheit den Spießrutenlauf durch die Dornenhecken unternommen, um die Eingrenzung des Gartens zu erreichen (denn es gab keinen Weg zwischen den beiden Häusern), aber sie hatten niemals sehen können, was innerhalb der Umfriedung war. Was Armand hingegen sehen konnte, war ein gewisser seltsamer Verkehr zwischen dem Garten und den zerklüfteten Wänden der Kalkfelsen, wo die Vögel von Parravon nisteten. Die meisten Gärtner Parravons betrachteten die Vögel als ihre Feinde, denn sie pickten die neu gesäten Samenkörner auf, verdarben die hübschen Blumen mit ihrem Kot und fraßen die Früchte der Sträucher und Obstbäume. Der Gartenfreund des Turmhauses schien eine Ausnahme zu sein, denn niemals gab es einen Hinweis darauf, daß Vögel verscheucht wurden, obwohl sie in beträchtlicher Zahl zu kommen schienen, besonders in den Stunden, wenn der Garten im Schatten lag. Abends, wenn sich die Schwalben und Mauersegler kreischend über die Dächer der Stadt erhoben und die Stare in Schwärmen in die Obstbäume einfielen, bevor sie ihre Schlafplätze aufsuchten, flogen die Vögel, die diesen besonderen Garten besuchten, gemächlicher auf, gewöhnlich einzeln oder zu zweit, und segelten in die Dämmerung davon. Je öfter Armand beobachtete, desto stärker wurde seine Überzeu-
gung, daß bei weitem mehr Vögel zum Garten hinabflogen, als jemals wieder aufflogen. Mehr als einmal lenkte Armand die Aufmerksamkeit seines Freundes Philippe Lebel auf dieses Phänomen, aber Philippe glaubte, sein Freund mache aus nichts ein Geheimnis, und schenkte der Sache keine Beachtung. Sein Desinteresse aber bestärkte Armand nur in seiner Entschlossenheit, ein Geheimnis aufzudecken, und er begann seine Bücher nach Hinweisen auf fleischfressende Pflanzen zu durchsuchen, die Vögel fangen konnten. Er fand Berichte verschiedener Reisender, die glaubhaft von Pflanzen schrieben, die Insekten fingen, sowie ziemlich haarsträubende Geschichten von Pflanzen, die Menschen verschlangen, aber keine Spur von irgendeinem Gerücht über Pflanzen, die sich von Vögeln ernährten.
* Die Erforschung der Anhöhe jenseits des Turmhauses ergab, daß keine richtige Straße zum Eingang führte, sondern nur ein Pfad. Armand begann am Ende dieses Zugangspfades zu warten, um den Eigentümer des Hauses zu sehen, dessen Name, wie sein Vater ihm ziemlich barsch mitteilte, Gaspard Gruiller war. Auf Armands weitere Fragen hatte sein Vater einfach jede weitere Kenntnis geleugnet und festgestellt, daß anständige Menschen ihre Nasen nicht in die Angelegenheiten ihrer Nachbarn steckten. Bald vergewisserte sich Armand, daß Gruiller nur zwei- oder dreimal in der Woche sein einsames Refugium verließ, um mit zwei großen Taschen zum Markt zu gehen und Lebensmittel einzukaufen. Er begann den Mann aus der Ferne zu studieren, und zweimal folgte er ihm in die Stadt und beobachtete, wie er seinen Geschäften nachging. Gruiller war hochgewachsen und kahlköpfig, mit sehr dunklen Augen, die jedoch unnatürlich scharf und
lebhaft schienen − doch wenn er bemerkte, daß er beobachtet wurde, ließ er es sich nicht anmerken. Armand fragte mehrere der Händler, bei denen Gruiller einkaufte, was sie von ihm wüßten, aber keiner von ihnen konnte sagen, was für ein Mann er war, wie er sein Geld verdiente oder an welche Götter er seine Gebete richtete. Keiner der Händler hatte etwas gegen diesen Kunden zu sagen, aber einmal sah Armand eine Ziegeunerfrau ein Zeichen zur Abwehr des bösen Blickes machen, als er vorbeiging. Dies mochte nichts zu bedeuten haben, denn Zigeunerinnen sind stets so eifrig bemüht, schädlichen Zauber abzuwehren, daß sie solche Zeichen häufig machen, ohne daß eine Veranlassung vorliegt, aber nichtsdestoweniger fühlte Armand sich in seiner Vermutung bestärkt, daß sie einen Grund gehabt haben mochte. Er wußte, daß Zigeuner gewöhnlich dem Alten Glauben anhingen, und er fragte sich, ob dieser Gaspard Gruiller den Druiden als ein schlechter Mensch bekannt sein mochte − und vielleicht ein klügerer als all jene, die in der Stadt umhergingen und sich ihrer Fähigkeiten als Zauberer rühmten. Bei zwei oder drei Gelegenheiten, wenn er wußte, daß Gruiller nicht zu Hause war, näherte Armand sich dem einsamen Gebäude und spähte zu den Fenstern hinein. Er versuchte auch durch die Hecke zu spähen, wie er es als Junge getan hatte, aber sie war nicht nur sehr hoch, sondern auch sehr dicht, und er konnte jetzt so wenig sehen wie damals. Immerhin hörte er etwas von der anderen Seite, und zwar ein leises raschelndes Geräusch, das von Vögeln herrühren konnte, wenn sie zwischen den Zweigen der Bäume und Sträucher flatterten, oder auch ihre Stimmen, wenn sie miteinander gackerten und schwatzten. Diese Geräusche nährten seine Neugierde so verlockend, daß er wie unter einem Zwang stand, mehr in Erfahrung zu bringen, bis er den Entschluß faßte, daß er eines Tages eine Gelegenheit finden müsse, in diesen Garten zu sehen, um festzustellen, was dort in den schattigen
Stunden des Vormittags und des Nachmittags vorging. Unglücklicherweise war es typisch für seine Natur, daß er niemals daran dachte, einen geraden Kurs zu nehmen und die Bekanntschaft Gaspard Gruillers zu suchen, so daß er ganz legitim fragen könnte, welche Pflanzen der Garten enthielt.
* Armand gelangte zu der Einsicht, daß er höher hinauf mußte, wenn er über die Hecke des rätselhaften Gartens sehen wollte, und es gab nur einen Weg, das zu tun, der ihm unmittelbar einleuchtete. Über seinem Zimmer gab es keine Räume, aber das Haus hatte ein ziemlich steiles Ziegeldach und einen Schornstein, mit deren Hilfe sich weitere zwölf oder dreizehn Schuh an Höhe gewinnen ließen, wenn er nur hinaufklettern könnte. Weil dies ein gefährliches Unterfangen schien, versicherte er sich der Unterstützung seines Freundes Philippe und bat ihn, in seinem Zimmer ein Seil zu befestigen und Stück für Stück freizugeben, während er kletterte, so daß das Seil, sollte er fallen, ihn vor ernster Verletzung bewahren würde. Philippe erklärte sich widerwillig bereit und wartete ungeduldig, als Armand hinausgeklettert war. Ihn beschäftigte die Frage, welche Erklärung er der Familie Carriere geben könnte, sollte die Eskapade schiefgehen. Aber seine Sorgen erwiesen sich als unbegründet, denn bald kam Armand unversehrt und ziemlich aufgeregt durch das Fenster zurückgeklettert. »Was hast du gesehen?« fragte Philippe. »Ich konnte nicht allzu viel erkennen«, antwortete Armand, »aber mehr als bisher. Es gibt dort eine Art Spalier − vielleicht eine Pergola, obwohl ich nur den oberen Teil sehen konnte −, das länger als breit ist und an einem Ende an das Haus stößt und am anderen eine offene Fläche hat. Das Spalier sieht so aus, wie man
es manchmal an Hauswänden sieht, um Kletterrosen und Geißblatt daran hochzuziehen, aber ich konnte nicht erkennen, ob dahinter eine Wand ist. Das Dach des Spaliers ist von Blumen verschiedenster Farbtöne umrandet − riesigen Blumen, deren Blüten wie Trompeten geformt sind. Dort sieht man Vögel umherhüpfen.« »Und du sahst, wie diese Blumen die unglücklichen Vögel packten und verschlangen?« fragte Philippe lächelnd. »Nein, das nicht«, gab Armand zu. »Aber ich habe dergleichen Blumen nie zuvor gesehen und bin sicher, daß etwas Sonderbares an ihnen ist.« »Ach du liebe Zeit«, sagte sein Freund, »bist du noch nicht zufrieden? Mußt du noch immer darauf bestehen, daß etwas, was dir verborgen geblieben ist, in seiner Fremdartigkeit beispiellos sein muß, obwohl das, was du gesehen hast, nach deinem eigenen Bericht ganz alltäglich ist?« »Die Vögel sind gewöhnliche Vögel«, erwiderte Armand unbeeindruckt, »aber der Garten ist es nicht. Ich habe solche Blumen nie gesehen, auch kein derartiges Spalier, das sie trägt. Welche Freude könnte ein Gartenfreund daran haben, seine besten und schönsten Blütenpflanzen auf dem Dach eines Gerüsts zu haben, wo er sie nur von unten betrachten kann?« »Ach was«, sagte Philippe. »Schließlich kann er sie aus den oberen Fenstern seines eigenen Hauses sehen, nicht wahr? Und du hast selbst gesagt, daß der Garten zu wenig Sonne erhält. Ist es nicht wahrscheinlich, daß der einzige Zweck dieses Spaliers dahin geht, die Blumen in die Höhe zu heben, damit sie mehr Sonnenlicht empfangen?« Wenn diese Rede bezweckte, Armand zu besänftigen, war sie vergeblich, denn Armand hörte schon nicht mehr zu. Statt dessen war er ans Fenster getreten und spähte in die Richtung von Gaspard Gruillers Haus. Philippe trat neben ihn und sah, daß die Läden des einzigen
Fensters, das in ihre Richtung zeigte und die eben noch geschlossen gewesen waren, nun zurückgestoßen wurden. Ein Mann stand im offenen Fenster, gerade so, wie Armand an seinem stand, und blickte herüber. Philippe zog sich hastig zurück, konnte aber nicht widerstehen, aus dem Hintergrund zu beobachten, was geschehen würde. Nachdem er etwas länger als eine Minute am offenen Fenster ausgeharrt hatte, ging Gruiller fort und ließ die Läden offen. »Er muß dich auf dem Dach gesehen haben!« meinte Philippe. »Schon möglich«, antwortete Armand, »aber was ist schon dabei? Jeder kann auf das Dach seines Hauses klettern, wenn er will! Vielleicht denkt er, wir hätten einen Schaden festgestellt.« Trotz seiner mutigen Worte war Armands Gesicht bleich und ängstlich. Es war, als hätte dieser kühle Blick von fern seine Erregung in Angst verwandelt. »Und doch«, murmelte Armand so leise, daß sein Freund die Worte kaum hören konnte, »gibt es ein Geheimnis an diesem Garten, und ich würde zu gern wissen, was es ist. Ich fühle eine Anziehungskraft, als hätte er mich mit einem Zauberbann belegt.« »Es ist nur ein Garten«, sagte Philippe besänftigend. »Und keineswegs der einzige in Parravon mit besonderen Blumen, dessen Eigentümer sich bemüht, sie vor möglichen Dieben zu verbergen.«
* An diesem Abend schloß Armand die Fensterläden seines Zimmers, wie er es immer tat und wie alle Bewohner Parravons es tun, wenn sie einen Funken Verstand haben. Aber in seinem Schlaf hatte er einen sehr merkwürdigen Traum, in welchem an die Fensterläden geklopft wurde, gefolgt von einem flatternden
Geräusch von heftig bewegten Flügeln und einem scharfen Kratzen, als würden Krallen über die Außenseite der Fensterläden gezogen. Wäre er wach gewesen, hätte Armand sich die Ohren zugehalten und gebetet, daß der Morgen kommen möge, denn er wußte recht gut, daß es in der Stadt hieß, Ungeheuer trieben nachts ihr Unwesen. Aber er war nicht wach, und in seinem Traum stand er vom Bett auf, ging zum Fenster und stieß die Läden zurück, um kühn in die sternenklare Nacht hinauszublicken, wie er es in wachem Zustand niemals gewagt hatte. Die unheimliche Helligkeit des Sternenlichts erschreckte ihn, und als er in diese unvollkommene Dunkelheit hinausblickte, sah er darin bewegte Schatten − unheilverkündende Nachtflieger, weitaus größer als die Vögel, die bei Tag am Himmel zu sehen waren. Zwar konnte er diese Schatten nicht verfolgen, als sie am Sternenhimmel kreisten, emporstiegen und herabstießen, doch war er bald davon überzeugt, daß sie sich um das Dach des Turmhauses versammelten. Und als er zum Turmhaus blickte, sah er, daß das Fenster, in dem er Gaspard Gruiller bei Tag gesehen hatte, offenstand. Ein rotes Licht brannte darin, und wieder stand dort jemand und blickte heraus, genauso wie Armand aus seinem Fenster blickte − vielleicht Gruiller, vielleicht ein anderer. Und es war ein seltsamer Duft in der Nacht, wie exotisches Parfüm, der ihn berauschte, als er ihn einatmete, und ihn beinahe glauben machte, er könne fliegen.
* Als er sich am nächsten Tag dieses Traumes zu entsinnen suchte, konnte er sich bis zu diesem Punkt erinnern, aber nicht weiter; er wußte nicht, was als nächstes geschehen war, wenn
der Traum überhaupt eine Fortsetzung gehabt hatte. Er erzählte Philippe Lebel, woran er sich erinnern konnte, und ließ sich während der Erzählung zu der leidenschaftlichen Behauptung hinreißen, die Nachtflieger, die er gesehen habe, seien bei weitem zu groß gewesen, um gewöhnliche Vögel zu sein. Sie könnten, versicherte er Philippe mit aufgerissenen Augen, alles gewesen sein. »Nun ja«, erwiderte Philippe, »was ist schon dabei? In unseren Träumen sehen wir, was immer unsere Phantasie uns eingibt. Dort begegnen uns mehr Dämonen, als wir im täglichen Leben jemals zu Gesicht bekommen.« Armand nahm ihm diese Bemerkung nicht übel, führte seinen Freund aber zum Fenster, wo die Läden zurückgeklappt waren, um das Tageslicht einzulassen. Er zog einen Laden zu und forderte Philippe auf, den Hals zu recken und sich die äußere Oberfläche anzusehen. Dann öffnete er den Laden wieder und zog den anderen zu, um eine ähnliche Begutachtung zu ermöglichen. Philippe sah drei lange Kratzer im Holz, die sich über beide Läden zogen, und als er ihre Spanne mit der Hand maß, schauderte ihn bei dem Gedanken, von welcher Art die Kralle gewesen sein mochte, die diese Spuren hinterlassen hatte. »Selbst wenn das kratzende Geräusch Wirklichkeit war«, meinte er, »war der Rest schließlich nur ein Traum, denn du bist nicht wirklich vom Bett aufgestanden und hast die Läden geöffnet, nicht wahr?« »Das frage ich mich«, sagte Armand. Aber dann, nach kurzem Zögern, stieß er die Läden wieder auf und nickte. »Du hast recht«, sagte er. »Ich öffnete sie nicht − und werde es nie tun.« Armand versuchte Gaspard Gruiller den Rest des Tages aus seinen Gedanken zu verbannen und kehrte mit neuer Entschlossenheit zum Studium eines Buches zurück, das viel über die Grundsätze des Alten Glaubens zu sagen wußte. Er war entschlossen, sich nicht mit dem Garten zu beschäftigen, konnte aber nicht umhin innezuhalten, wenn er einen Hinweis auf Blu-
men fand, mochte es doch einen Zusammenhang zwischen den unbekannten Blüten, die er auf dem Spalier im verborgenen Garten gesehen hatte, und dem Alten Glauben geben. Aber es wurden allzu viele Blumen erwähnt, die allesamt nicht näher beschrieben waren. Die nächste und die übernächste Nacht verbrachte er sehr unruhig. Ein- oder zweimal war er überzeugt, in der Nähe das Flattern von Flügeln zu hören, aber nichts kratzte an seinen Fensterläden. Er träumte nicht; es schien sogar, daß er jedesmal, wenn er im Begriff war, in einen Traum zu versinken, von seinen überreizten Nerven zurückgerissen wurde, so daß er erwachte und sich weiter auf seinem Lager wälzte und unruhig auf den Morgen wartete. Bei Tag versuchte er sich einzureden, er habe alles Menschenmögliche getan, um das Geheimnis zu ergründen, und müsse sich nun damit zufriedengeben und die Sache auf sich beruhen lassen. Er war nahe daran, sich sogar zu überzeugen, daß er genug von Gruillers Garten habe und nichts mehr davon wissen wolle. Aber das war eine bloße Ausflucht, die der Versuchung nicht widerstehen konnte. Drei Tage nach seiner Expedition auf das Dach gingen Armand und Philippe auf der Straße und waren in ein Gespräch vertieft, als sie plötzlich ihren Weg versperrt fanden. Als sie aufblickten, um zu sehen, wer sich ihnen in den Weg stellte, entdeckten sie zu ihrer großen Überraschung, daß es Gruiller war. »Sie sind Carrieres Sohn, nicht wahr?« wandte er sich nach einem kurzen, aber höflichen Lächeln zu Philippe an Armand. »Sie sind mein nächster Nachbar und interessieren sich für meinen Garten.« Alle Farbe war aus Armands Gesicht gewichen, und er war zu überrascht, um eine Antwort zu finden. »Ich würde Ihnen den Garten gern zeigen, nun, da die geeignete Jahreszeit gekommen ist«, fuhr Gruiller liebenswürdig fort. »Die Vögel suchen ihn gern auf, wie Sie beobachtet haben müs-
sen.« Armand schien noch immer nicht der Sprache mächtig, also sprang Philippe für ihn ein und sagte etwas unsicher: »Sie sind sehr freundlich, mein Herr. Armand und ich würden sehr gern Ihre Blumen sehen.« Gruiller antwortete mit einer leichten Verbeugung: »Der Zeitpunkt ist noch nicht der richtige«, sagte er. »Ich denke, Sie werden in drei Tagen die Blüten in ihrer vollen Pracht sehen. Und natürlich möchte ich, daß Sie den Garten von seiner schönsten Seite sehen.« »Sollen wir zur Mittagszeit kommen?« fragte Philippe. »Das würde sehr gut passen«, erwiderte der andere, verbeugte sich abermals und ging weiter. »Nun«, bemerkte Philippe stolz zu seinem stummen Freund, »hier ist eine Gelegenheit, deine Neugier ein für allemal zu befriedigen. Wir werden seinen Garten besichtigen, und das Geheimnis wird aufgedeckt. Aber ich denke, du hättest selbst mit ihm reden sollen; schließlich scheint er ein höflicher und angenehmer Mensch zu sein.« Armand schien im Begriff, ihm zu widersprechen, schließlich aber nickte er einfach und sagte: »Vielleicht ist es so am besten. Wir werden zusammen hingehen und uns anschauen, was es zu sehen gibt.«
* Zur verabredeten Stunde gingen Philippe und Armand den Pfad hinauf zu Gaspard Gruillers Anwesen. Armand hatte seinem Vater von der Einladung erzählt und ihn abermals gefragt, was er über seinen Nachbarn wisse, aber der alte Carriere hatte bloß mit den Schultern gezuckt und erklärt, ein Handelsmann habe nicht das Recht, sich um die Angelegenheiten anderer Leute zu kümmern,
es sei denn, ihre Kreditwürdigkeit stehe in frage, und seines Wissens habe Gaspard Gruiller keine nennenswerten Schulden. Als Armand an die Tür klopfte, wurde prompt geöffnet, und Gruiller führte sie durch sein Haus zur Seitentür, die der Eingang zum Garten war. Die Räume, durch die sie geführt wurden, waren üppig möbliert, und die Qualität der Teppiche und Wandbehänge ließ erkennen, daß Gruiller kein armer Mann war, doch gab es keinen Hinweis auf seinen Beruf. Sie verweilten nicht im Haus, sondern gingen rasch hindurch und in den Garten. Dort erwartete sie ein Anblick, der Philippe scharf die Luft einziehen und Armand in sprachlosem Staunen verharren ließ. Wie sie bereits entdeckt hatten, war das Herzstück des Gartens eine rechteckige Pergola, die zusammen mit dem Bewuchs eine Art Tunnel bildete, unter dem ein breiter Weg von der Tür des Hauses zu der offenen Fläche am anderen Ende des Gartens führte. Dieser grüne Tunnel erstreckte sich jetzt vor ihnen, so daß sie ihn von innen sahen. Er wies zahlreiche offene Stellen wie kleine Fenster oben und an den Seiten auf, und weil die Sonne hoch am Himmel stand, schienen Balken von Sonnenlicht da und dort durch das grüne Dach und bildeten ein Muster auf den Pflastersteinen unter der Laube. Im Inneren des Tunnels gab es keine grünen Blätter oder farbigen Blüten, da sie alle zum Licht strebten. Die Wände waren bedeckt von herabhängenden Luftwurzeln oder Fühlern, die weißlich oder blaßrosa waren. Die große Mehrzahl dieser Fühler hing schlaff und regungslos herab, während manche leise zitterten. Eine Minderheit hatte jedoch eine höchst sonderbare Beschäftigung, denn diese Fühler hatten sich fest um tote Vögel gewickelt, wanden sich und zuckten unaufhörlich, während sie mit ihrer Beute spielten und die schrumpfenden, austrocknenden Körper langsam die Wand entlang weiterreichten. Während sie dies alles beobachteten, sahen Philippe und Armand einen kleinen Vogel von draußen heranfliegen, um durch eine der Öffnungen neugie-
rig in den laubenartigen Tunnel zu spähen, als dächte er, er sei irgendwie auf ein Paradies eßbarer Würmer gestoßen. Aber dann begann er panisch zu flattern und versuchte aufzufliegen, als er merkte, daß seine winzigen Füße festgehalten wurden. Innerhalb weniger Augenblicke hatten die Fühler ihr Opfer hineingezogen, fort von der Öffnung, und zerrten es über die Innenwand des Tunnels. Seine zappelnde Gegenwehr war nicht von langer Dauer, obwohl Philippe nicht genau feststellen konnte, wie er getötet worden war. Gruiller sagte zunächst nichts und begnügte sich damit, seine Gäste zu beobachten. Lächelnd registrierte er ihre Verwirrung. Schließlich meinte er: »Ich weiß, daß Sie so etwas noch nicht gesehen haben, meine Freunde. In keinem anderen Garten in Parravon gibt es dergleichen. Aber dies ist kein hübscher Anblick, und ich bin sicher, daß Sie es vorziehen würden, die schönen Blüten zu betrachten.« Er führte die beiden jungen Männer aus der tunnelförmigen Laube, wo sie die verholzten Stämme der Kletterpflanzen sehen konnten, und die riesigen, von blaßgrünen Blättern umgebenen Blüten. Die nächsten dieser Blüten wuchsen ungefähr in Kopfhöhe, und weiter unten gab es nur Laub, weil dieser Teil des Spaliers kaum Sonnenlicht erhielt. Der Bewuchs war üppig, aber von draußen konnte man noch das Muster der tragenden Stützen und Latten des Spaliers erkennen, während es von innen durch die Masse der herabhängenden Fühler und Luftwurzeln verdeckt gewesen war. Viele Vögel flatterten umher. Sie gehörten alle den bekannten Arten an. Viele hüpften scheinbar ziellos durch den Garten, als wären auch sie Besucher, die zu einer Besichtigung eingeladen und gekommen waren, sich der Schönheit der Blüten zu erfreuen. Sie blieben unbehelligt, solange sie auf den äußeren Zweigen und Blattstielen saßen; nur wenn sie in die Öffnungen flogen und in Reichweite der bleichen Tentakel kamen, wurden sie festgehalten
und hineingezogen. Die Blumen waren, wie Armand berichtet hatte, von vielen verschiedenen Farben, aber alle von gleicher Form. Jede Blume hatte die Größe eines Männerkopfes, war glockenförmig und zeigte einen hellgelben, wächsern aussehenden Griffel, doch ohne umgebende Staubgefäße, es sei denn, diese saßen tiefer in den glockenförmigen Blüten. »Diese Blumen sind sehr selten«, erklärte Gaspard Gruiller. »Sie werden ihresgleichen nirgendwo in Bretonnia finden, außer vielleicht in den unzugänglichsten Teilen der unberührten Wälder. Nirgendwo in der Welt, glaube ich, befinden sich so viele an einem Ort, denn diese Pflanzen leben gewöhnlich einzeln. Die Laube ist mein eigener Entwurf, und ich bin stolz darauf. Ich wußte, daß ungewöhnliche Vorkehrungen getroffen werden mußten, um diese schönen Pflanzen dahin zu bringen, daß sie in solcher Fülle wachsen. Vielleicht ist Parravon der einzige Ort in der Welt, wo es zu machen war − wo sonst könnte man so viele einfältige Vögel finden?« Keiner seiner beiden Gäste wußte darauf eine Antwort, aber diesmal war es Armand und nicht Philippe, der zuerst die Sprache wiederfand. »Sie sind sehr schön«, räumte er ein. Armand streckte die Hand aus, um eine Blüte zu berühren, und führte den Finger um den Saum der Glocke. Dann berührte er die Spitze des Griffels, zog aber erschrocken die Hand zurück. Er sah auf seine Fingerspitze, wo ein winziger Tropfen Flüssigkeit zu sehen war, rot wie Blut. »Seien Sie unbesorgt«, meinte Gaspard Gruiller. »Wenn die Blüten sich geöffnet haben, erzeugen sie wundervollen Nektar.« Er streckte die Hand hoch zu einer anderen Blüte, so daß der Ärmel von seinem ungewöhnlich dünnen Arm zurückfiel, und Philippe sah überrascht, daß seine Hand leicht mißgebildet war und die Finger den Krallen eines Vogels ähnelten. Gruiller tat, wie Armand es vor ihm gemacht hatte, und nahm seine Fingerspitze mit ei-
nem Tropfen roter Flüssigkeit vom Griffel. Er steckte den Finger in den Mund und leckte den Tropfen ab. »Er ist süß«, sagte er. »Bitte kosten Sie von dem Nektar. Er wird Ihnen nicht schaden.« Armand zögerte, aber dann berührte er die Flüssigkeit an seiner Fingerspitze mit der Zunge. »O ja«, sagte er überrascht. »Sehr süß.« Beide blickten zu Philippe, als erwarteten sie, daß er das Experiment wiederhole, aber er schaute weg und gab vor, die auffordernden Blicke nicht zu bemerken. Unterdessen waren sie langsam entlang der von Blüten bedeckten Wand des Spaliers weitergegangen und kamen jetzt zum anderen Ende der Laube, zu der offenen Fläche, die das Spalier von der Hecke trennte. Hier wuchsen in einem ungleichmäßigen Kreis fünf bemerkenswerte Organismen, die gigantischen Pilzen glichen, jeder mit einem dicken, chitinariten Stamm und einer breiten, ausladenden Kappe von schwärzlich-silbriger Färbung. Sie waren so eigenartig, daß Philippe zuerst glaubte, sie seien aus Stein gehauen, doch als er näher kam, sah er, daß sie die Beschaffenheit von Pilzgewebe hatten. Er mochte keinen berühren, um sich zu vergewissern, aber Armand war nicht so ängstlich und legte seine Hand auf den nächstbesten Pilzhut. »Er ist warm!« rief er erstaunt. »Ein häßliches Ding«, bemerkte Gruiller entschuldigend. »Aber nicht alles Seltene und Kostbare ist schön, und diese sind nicht verbreiteter als meine schönen Blüten. Für Vögel sind sie nicht so attraktiv, aber wie alle Lebensformen haben auch sie ihren Platz im Plan der Natur.« Diese kleine Ansprache erinnerte Philippe an Armands frühere Vermutung, daß Gruiller den Anhängern des Alten Glaubens bekannt oder selbst einer der Ihren sei, und er fragte sich, ob der Mann womöglich ein Druidenzauberer sei, der diese seltsamen Pflanzen wegen irgendwelcher Vorzüge kultivierte, aber es war
kein Thema, das in höflicher Konversation angeschnitten werden konnte, und so hielt er den Mund. Als Gruiller sie zum Haus zurückführte, sagte er: »Sicherlich werden Sie meinen Garten eigenartig finden, und das ist er auch. Vielleicht halten Sie es für grausam, Blumen zu züchten, die sich von Vögeln ernähren, aber es sind sehr schöne Blumen, nicht wahr? Und in Parravon herrscht kein Mangel an Vögeln, wie Sie zugeben werden. In der großen weiten Welt gibt es Raum genug für allerlei Gärten und viele verschiedene Arten von Schönheit.« Gruiller blickte ihnen nach, wie sie den Pfad zur Stadt hinuntergingen, aber er war ins Haus gegangen, bevor sie nach rechts abbogen, um am Fuß des Höhenzuges entlang zu Armands Haus zurückzukehren.
* Philippe hätte gern über ihre Beobachtungen in Gaspard Gruillers Garten diskutiert, aber Armand war abgeneigt, ihm gefällig zu sein. Es hatte Philippe überrascht, daß Armands abenteuerliche Vermutung über das Schicksal der Vögel, die den Garten besuchten, tatsächlich richtig war, und es schien ihm ein Thema zu sein, über das man sprechen sollte, zumal Gruiller sie nicht gebeten hatte, über das Gesehene Stillschweigen zu bewahren. Armand hingegen schien nur Einsamkeit und die Gesellschaft seiner Bücher zu wünschen, und so ließ Philippe ihn bald allein. Als es Nacht wurde, schloß Armand wie gewöhnlich die Läden an seinem Fenster und ging frühzeitig zu Bett. Nachdem er die letzten Nächte schlecht geschlafen hatte, fühlte er sich etwas erschöpft. Diesmal aber schlief er bald ein und verbrachte den größten Teil der Nacht in ruhigem Schlaf. Später sollte er Philippe erzählen, daß er lange und traumlos geschlafen habe, bevor ihn ein furchtbarer Alptraum heimsuchte.
Der Alptraum begann wie sein eigenartiger Traum einige Nächte zuvor mit seltsamen Geräuschen: Etwas versuchte, zu seinem Fenster hereinzukommen − zuerst durch Geklapper am Laden, als wollte es, daß er aufmachte, und dann durch kratzende Geräusche mit krallenartigen Fingern am Holz der Läden. Schließlich, erklärte Armand, sei sein Traum selbst aufgestanden und zum Fenster gegangen, habe die Läden entriegelt und aufgestoßen. Dort draußen hing kopfüber wie eine Riesenfledermaus ein monströses Geschöpf mit buntgefiederten Flügeln und einem menschenähnlichen Gesicht mit dicken, gummiartigen Lippen vom Dachüberhang. Sein Körper habe einem gerupften Vogel geähnelt, mit weißlicher, runzliger Haut, und die Gliedmaßen (von denen es zusätzlich zu den Flügeln vier gehabt hatte) hätten den Füßen von Adlern geähnelt, schuppig und krallenbewehrt. Dieses Wesen ergriff nach Armands Worten sein Traumselbst und zog es aus dem Fenster, als wöge es beinahe nichts, aber dieses Verhalten war nicht feindselig und schien beinahe fürsorglich, denn als der Dämon sich zum Flug abstieß, drückte er Armand an seinen Körper wie eine Mutter ihr Kind. Aus Angst vor dem Absturz schlang Armand die Arme um den Körper des Dämonenwesens, als ob er seine Umarmung erwidere. Er erzählte, daß er im Flug das Arbeiten der mächtigen Muskeln in der Brust des Dämonen gefühlt habe, wo sein Gesicht an der runzligen Haut lag. Der Flug war kurz, denn er führte ihn nur den Höhenzug entlang zu Gaspard Gruillers Haus, dessen Fenster weit offen stand und hell erleuchtet war, als wäre das Turmhaus ein Leuchtturm für die heimtückischen Kreaturen, die Parravon bei Nacht heimsuchten. Armand wurde in den Garten neben dem Haus getragen und auf den Platz zwischen dem Ende der Laube und den fünf großen Pilzen abgesetzt, die − wie Armand sie jetzt wahrnahm − keinen Kreis, sondern ein Pentagramm bildeten.
In diesem Pentagramm stand eine Kreatur wie diejenige, die ihn gebracht hatte, doch weitaus größer und beinahe so hoch wie die Hecke. Seine mächtigen Schwingen waren gefiedert wie der legendäre Feuervogel, und sie leuchteten von innen in roten und goldenen Tönen. Seine Arme waren emporgereckt, die Krallen weit gespreizt, als wollten sie das silbrige Licht der ungezählten Sterne einfangen. Die schlanken Beine dieses seltsamen Wesens hatten abgeflachte Füße wie ein Laufvogel, der am Boden statt im Geäst der Bäume lebt, wie seine kleineren Artgenossen es taten. Der Ausdruck, mit dem es Armand ansah, war widersprüchlich, denn das Gesicht, so Armand, war häßlicher, als er es sich in seiner Phantasie hätte vorstellen können, mit gräßlichen blutunterlaufenen Augen und einer Nase wie einem großen gezähnten Schnabel über einem Mund, in dem sich scharfe Zähne aneinanderreihten. Und doch war der Blick dieser furchtbaren Augen nicht raublustig, sondern freundlich; und die schwarze Zunge, die sich zwischen den Zähnen schlängelte, leckte nicht die äußeren Lippen wie in Erwartung einer Mahlzeit, sondern neckte ihn mit ihren kleinen Bewegungen, wie eine Mutter ihr Kind mit freundlichen Grimassen necken mag. Als sein Traumselbst dieses Wesen eingehend betrachtet hatte, fühlte Armand sich wieder emporgehoben und auf das Dach des Laubenganges gesetzt, wo die leuchtendsten und schönsten Blumen wuchsen. Dort sah er sich inmitten einer Menge kauernder Dämonen. Er wußte bereits, was er zu tun hatte, er neigte den Kopf zu einer üppigen Blüte, nahm den zentralen Griffel in den Mund, wie die anderen es taten, und saugte gierig den Nektar, der darin war, von den wundersamen Blumen aus dem zarten Fleisch gefangener Vögel erzeugt. Der Geschmack, sagte Armand, sei süßer gewesen, als er es sich hätte vorstellen können, obwohl es auf seines Vaters Tisch
nie an süßen Köstlichkeiten gemangelt habe.
* Als Armand seinem Freund Philippe den Traum erzählte, sagte er ihm, dies könne nicht alles gewesen sein, und sein Abenteuer müsse mehrere Stunden gedauert haben, doch sei ihm der Rest entfallen, zumindest könne er ihn sich nicht mehr ins wache Gedächtnis zurückrufen. Philippe war von diesem Traum stärker beeindruckt als von dem ersten, den Armand ihm erzählt hatte. Er war beinahe bereit zu glauben, daß an dem Garten, den sie besichtigt hatten, wirklich etwas Übles und Schädliches sei und daß Gaspard Gruiller tatsächlich einen unheilvollen Pakt mit den Dämonen von Parravon geschlossen haben könnte. Und doch, sagte er sich, als er Armands in fieberhafter Erregung vorgetragenem Bericht lauschte, ist ein Traum bloß ein Traum, und die Fensterläden waren in Wirklichkeit nie geöffnet worden. Auch gab es an ihrer Außenseite keine zusätzlichen Kratzspuren. Angesichts dieser Zweifel meinte Philippe, daß Armands Alptraum, so beängstigend er gewesen sein mochte, als Offenbarung nicht ernst genommen werden könne. Vielleicht, fuhr er fort, sei der Traum eine Art Freisetzung all der Ängste gewesen, die Armand in sich getragen hatte. Von dieser Erklärung wollte Armand nichts wissen. »Es steckt mehr dahinter«, sagte er erregt, »denn als ich heute früh erwachte und zu meinem Buch griff, entdeckte ich endlich die Passage, nach der ich gesucht hatte − die Passage, die zu erklären hilft, welche Art von Wesen diese monströsen Blumen sind und welch schrecklichen Schaden sie anrichten können.« Armand holte das Buch herbei und legte es aufgeschlagen vor seinen Freund. Aber Philippe konnte nicht lesen, und Armand war
gezwungen, laut vorzulesen, was dort geschrieben stand. »Die Anhänger des Alten Glaubens«, zitierte er, »sind der Überzeugung, daß es jedem Lebewesen der natürlichen Welt bestimmt sei, anderen zur Nahrung zu dienen. Wie die Blume die Biene ernährt, die Nektar für den Bären sammelt, so nährt das Blatt die Raupe, die später als ein bunter Schmetterling oder Falter umherfliegen und den Vogel ernähren wird, der wiederum dem Sperber Nahrung ist. Wenn ihre Zeit gekommen ist, werden der Sperber wie der Bär zu Boden fallen und die kleinen Lebewesen ernähren, die im fruchtbaren Boden leben, wo die Wurzeln der Pflanzen Nahrung aus dem Zerfall ziehen, um Blüte und Blatt wachsen zu lassen. So kommt es, daß alles Leben, das aus der Erde und dem Wasser und der Luft kommt, wieder in die Erde, das Wasser und die Luft eingehen wird, so daß alles erneuert werden kann, immer wieder und wieder, ohne Pause oder Ende. Aber die Anhänger des Alten Glaubens sagen auch, daß es ein Böses in der Welt gebe, welches das Gewebe des Schicksals zu pervertieren suche. Es gebe ein Böses, das die Blüte oder das Blatt verändere, um Dämonen zur Nahrung zu dienen und so die Saat des Chaos in der Welt zu verbreiten. Daher warnen die Anhänger des Alten Glaubens die Unwissenden oder Unachtsamen: Hütet euch vor der verräterischen Schönheit dessen, was Nahrung für Dämonen ist, denn obgleich es den Nektar der Ekstase birgt, verheißt es Zerstörung.« Als er dies hörte, überkam Philippe Lebel ein Frösteln, und für einen Augenblick sah er die Welt, wie Armand Carriere sie sah: als einen eigentümlichen und magischen Ort voller Bedrohungen und Verwirrungen, wo kein Mensch in Behaglichkeit und Sicherheit leben konnte. Es war nicht die Art von Welt, in der er den Rest seiner Tage zu verbringen wünschte. »Kannst du nicht sehen«, fragte Armand, »daß Gruiller seinen Garten für die Ernährung von Dämonen unterhält, die bei Nacht
dorthin fliegen? Ich kann nicht sagen, ob er ihr Diener oder ihr Herr ist, oder was er mit den anderen schrecklichen Vorkommnissen zu tun haben mag, die bei Nacht in Parravon geschehen, aber eines weiß ich: Die Seele dieses Mannes ist nicht sein eigen, und sein Garten ist eine so üble und verwerfliche Schöpfung, daß sie jeden ehrlichen Menschen mit Entsetzen erfüllen muß!« Aber davon wollte Philippe nichts wissen. »Armand«, sagte er in dem aufrichtigen Glauben, daß er seinem Freund eine hilfreiche Hand hinstreckte, um ihn vor unwürdigen Ängsten zu bewahren, »dies ist Unsinn. Der Alte Glaube ist für Zigeuner und die zerlumpten und abergläubischen Bewohner des Waldes. Wir leben in der Stadt und haben bessere Götter, die uns leiten. Die ausgezeichneten Gärtner von Parravon haben uns gezeigt, daß die Blumen der Wildnis dazu dienen, daß wir sie zu unserer Freude zähmen, veredeln und ordnen. Gaspard Gruiller ist bloß ein Gartenfreund. Er versucht nicht, ein Geheimnis aus seinem Garten zu machen, sondern ließ uns bereitwillig ein, um uns stolz seine Leistung zu zeigen. Leg dieses Buch weg, ich bitte dich, und nimm dir ein anderes vor, das über die Tätigkeiten des Kaufmannes und die Künste kultivierter Menschen belehrt.« Philippe sagte, sein Freund habe ihn darauf lange schweigend angesehen und das Buch zuletzt beiseite gelegt. Sie traten beide zum Fenster, um den Höhenzug entlang zum Turmhaus und der hohen dunklen Hecke zu blicken, die seinen Garten umgab. »Spielten wir als Kinder wirklich in dieser Wildnis?« fragte Philippe mit einem kleinen Lachen. »Die dornigen Sträucher müssen damals viel kleiner und spärlicher gewesen sein, denn ich bin überzeugt, daß wir heute keinen Weg durch ihr Dickicht finden würden.« »Es ist lange her«, erwiderte Armand, »und wie du sagst, wir waren damals Kinder, sehr verschieden von dem, was wir geworden sind.«
* Früh am nächsten Tag kam Armands Mutter in sein Zimmer, um ihn zu wecken, weil er nicht zum Frühstück erschienen war. Sie fand das Zimmer leer, das Bett in Unordnung und die Fensterläden weit offen. Sie ging zum Fenster und blickte hinaus und sah sofort den Leichnam ihres Sohnes in geringer Entfernung von der Hauswand tief im Geäst eines alten Weißdorns. Es war nicht leicht, an den Körper heranzukommen, und der alte Carriere mußte die Hilfe seiner Nachbarn in Anspruch nehmen, um sich mit Axt und Säge einen Weg zu bahnen. Philippe war einer derjenigen, die bei dieser traurigen Arbeit halfen, und war so imstande, den Leichnam seines Freundes zu sehen, bevor er unter großen Schwierigkeiten aus dem Geäst genommen werden konnte. Es war offensichtlich, daß Armand aus einiger Höhe in den Weißdorn gefallen war, und die einzige vernünftige Erklärung war die, daß er in der Nacht die Läden geöffnet hatte, auf den Fenstersims geklettert war und sich mit einem gewaltigen Sprung von dort abgestoßen hatte, der ihn unausweichlich seinem Schicksal zugeführt hatte. Die Dornen und die knorrigen Zweige hatten ihn an vielen Stellen verletzt, und als die Helfer ihn endlich aus dem Weißdorn geborgen hatten, sahen sie, daß an seinem Körper kaum eine handtellergroße Fläche unverletzt geblieben war. Es schien so, als wäre er von vielen bösartigen Krallen aufgerissen und durchbohrt worden. Als die Männer zum Haus der Carrieres zurückkehrten, erzählte Philippe ihnen von den Alpträumen, die Armand heimgesucht hatten, und von ihrem Besuch in Gaspard Gruillers seltsamem Garten. Weil er die Geschichte zum ersten Mal erzählte, war sie in sei-
ner Wiedergabe viel verwirrter als die Version, die Sie eben gehört haben, aber es hätte wahrscheinlich keinen Unterschied gemacht, wenn jede Einzelheit in der richtigen Reihenfolge und an ihrer passenden Stelle erwähnt worden wäre, denn dies waren Städter und Kaufleute, und wenn sie auch ihre Haustüren abends sorgfältig verriegelten, neigten sie doch zu der Ansicht, daß sie nichts angehe, was die Dunkelheit verbarg. Alpträume, meinten sie übereinstimmend, seien ein Zeichen von Torheit und Wahnsinn, und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß der bedauernswerte Armand völlig verwirrt gewesen war, dann brauchte man sich nur die seltsamen Bücher anzusehen, die er gelesen hatte. Was Gaspard Gruiller betraf, so waren der alte Carriere und seine Freunde einhellig der Meinung, daß er ein guter Nachbar sei. Wenn die Pflanzen in seinem Garten Vögel fingen und verschlangen, dann war das gewiß eigenartig, aber in Parravon gab es genug Vögel, und die meisten von ihnen waren den Gartenfreunden lästig, so daß Gruillers Aktivitäten letzten Endes dem öffentlichen Wohl dienten. Und wenn es eines weiteren Beweises bedurft hätte, daß der zurückgezogen lebende Gartenfreund würdig sei, unter ehrlichen Kaufleuten zu leben, dann war es die allgemein anerkannte Tatsache, daß er ein Mann ohne nennenswerte Schulden war.
STEVE BAXTER Das Himmelsboot »Sie trinken allein?« Des Fremdlings Stimme schnarrte durch das gedämpfte Gemurmel des Wirtshauses. Erik ließ seinen Bierkrug sinken und überlegte. Zwischen den Feldzügen war Erik, den sie Erik den Werwolf nannten, ein Einzelgänger, der immer allein trank. Jeder wußte das.
Wer also war dieser Mann? Auf seinen vielen Feldzügen hatte er sich genug Feinde gemacht. Hatte einer von ihnen ihn jetzt gefunden? Das Gewicht seiner kampferprobten Streitaxt drückte gegen seinen Oberschenkel. Er wandte sich bedächtig zur Seite und wischte Schaum vom Schnurrbart. Ein teurer purpurner Umhang hüllte den Fremdling ein. Im Schatten der Kapuze war das Gesicht nicht zu erkennen. Der Mann stand völlig unbeweglich, wie eine Eidechse. »Ja, ich trinke allein«, grollte Erik. »Dann lassen Sie mich einen ausgeben.« Der Fremde streckte einen behandschuhten Arm aus. Erik umfaßte das dünne Handgelenk mit einer Hand. Der Fremdling zischte wie eine Schlange und zog seinen Arm zurück. Unter dem Stoff war das Fleisch kalt gewesen. »Nichts für ungut.« Der Fremde ließ sich auf einen Hocker Erik gegenüber nieder. Er hatte kein Getränk und ließ die Kapuze auf dem Kopf. »Ich habe von Ihnen gehört«, sagte er mit seiner zischenden Stimme. Dabei schnaufte er angestrengt, als mache ihm das Sprechen Mühe. »Sie sind Erik − ein Söldner und Kämpfer, dessen Ruf weit über Ihr einsames Norsca hinausgedrungen ist.« Erik glaubte gelbe Augen tief im Inneren der Kapuze auszumachen. »Sie sind gerade aus Arabien zurückgekehrt?« »Ja. Und?« Der Fremdling zuckte die Achseln. Er zeigte in die Runde, wo Nordmänner in teils abgelegten Rüstungen den Serviermädchen zuwinkten und mit Münzen klimperten. »Ich sehe, daß es ein lohnendes Unternehmen war«, sagte der Fremde trocken. »Aber Sie sind nicht der Mann, der mit Geld um sich wirft, nicht wahr?« Erik erinnerte sich an Arabien … Die Sonne schien unbarmherzig auf den ofenheißen Sand und versengte die blonden Nordmänner. Er stand in Bereitschaft mit den Ulfwerenar, den Wolfsverwandten. Die Werwolfkrieger murr-
ten; in den Rüstungen war es kaum auszuhalten. Das Metall seines Schwertgriffs brannte in seiner Hand. Dann wurden sie handgemein mit Arabern, deren Atem nach Gewürzen stank und die mit Messern kämpften, die sie zwischen langen Zähnen hielten. Ein Knurren drang in seiner Kehle aufwärts, und er fühlte, wie seine Lippen sich um den vorgeschobenen Unterkiefer spannten. Roter Nebel verhüllte die Sonne, und sein Schwert bohrte sich in dunkelhäutiges Fleisch … Erik der Werwolf. Der Atem rasselte in seiner Kehle. Der Fremdling beobachtete ihn. Er unterdückte seine Anspannung und lockerte seinen Griff um den Bierkrug. »Ich riskiere mein Leben für den Sold. Warum sollte ich ihn einem fetten Wirt in den Rachen werfen?« »Sehr bewundernswert.« Die Zecher an den Tischen stimmten einen rauhen Gesang an. Der Fremde legte den Kopf auf die Seite. »Äh … Ich bin kein Fachmann für Ihre einheimische Musik, aber ich kann die Empfindungen heraushören. Kameradschaft, Gefahr und Tod, das einigende Band gemeinschaftlich bestandener Widrigkeiten.« Das beschattete Gesicht wandte sich wieder zu Erik. »Und wo sind Ihre Gefährten, Erik?« Erik nickte zu den anderen. »Das sind meine Leute. Aber ich wähle meine eigene Gesellschaft«, grollte er. »Wirklich?« Der Fremde beugte sich näher; seine zischelnde Stimme wurde zu einem Wispern. »Sehen Sie, Erik, ich weiß, warum Sie der Werwolf genannt werden. Sie haben etwas von den Ulfwerenar in Ihren Adern, aber Ihr Blut ist nicht rein. Sie sind sowohl Wolf als auch Mensch … Aber Sie sind weder Wolf noch Mensch, richtig?« »Und?« »Ich kenne Ihren Typus. Der Wolf in Ihnen machte Sie zu einem gefürchteten Krieger. Aber Sie sind ein Krieger, der sich
selbst gegenüber wachsam ist, nicht wahr? Und Ihre Kameraden sehen Sie nicht als ihresgleichen. Habe ich recht? Wie viele von ihnen würden sich aus eigenem Antrieb zu Ihnen setzen und mit Ihnen trinken? Ist Ihr Wolfsblut ein Geschenk oder ein Fluch, Erik?« Erik schlug mit der Faust auf die Tischplatte. Köpfe wandten sich zu ihm um. Als die Männer seinen finster dräuenden Blick sahen, wandten sie sich ab. »Was wollen Sie?« »Mein Name ist Cotza.« Der Fremde stand auf. »Ich bin hierhergereist, um Sie zu finden. Ich habe einen Auftrag für Sie: eine Herausforderung für den großen und tapferen Erik den Werwolf; eine Reise in die nördlichen Chaos-Ödländer; eine Suche nach einem alten Schatz … Ich habe ein Zimmer im Gasthaus Zum Drachenzahn. Kommen Sie morgen früh.« Cotza griff in eine tiefe Tasche und warf eine Handvoll Münzen auf den Tisch. »Hier«, sagte er. »Trinken Sie und vergessen Sie Ihre Einsamkeit, Wolfsmann.« Der Fremde verließ die Gaststube in einem eigenartig unbeholfen wirkenden, wiegenden Gang. Mit einem zornigen Knurren fegte Erik die Münzen auf den Boden. Kurz vor Tagesanbruch beglich Erik seine Rechnung und verließ das Gasthaus. Sein Atem gefror in der Kälte, als er durch Ragnars verlassene Straßen ging. Am Rand der kleinen Stadt erstieg er eine niedrige Anhöhe. Bewaldete Hänge zogen sich von den Bergen des Hinterlandes herab und steckten felsige Finger in die See. Die Sterne begannen zu verblassen; Frost schimmerte. Die Lichter von Ragnar und einem Dutzend anderen kleinen Siedlungen spiegelten sich im Fjord. Draußen auf See lag leichter Dunst, und von dort drang der traurige Klang eines Drachenhorns herüber. Ein Langboot war im Begriff, in den engen Fjord einzulaufen. Vom Haus des Husthings, des Stadtrates, das die übrigen Häuser um ein Geschoß überrag-
te, läutete die Glocke die volle Stunde. Es war alles ganz gewöhnlich, menschlich, tröstlich. Erik fröstelte, wandte sich um und blickte nach Norden. Dunkelheit hing wie Rauch über den Bergwäldern und widersetzte sich noch dem anbrechenden Tag. Weit im Norden lagen die großen Ödländer. Dort herrschte ewige Nacht. Und diese Dunkelheit, die nicht weichen wollte, war das Banner der Chaosmächte. Etwas in ihm regte sich. Er kratzte sich das dichte Haar, wo der Bart ins Haupthaar überging. Der Fremdling hatte die Wahrheit gesagt. Erik war ein Einzelgänger. Andere konnten die Saat des Chaos in ihm fühlen, die Spuren des Werwolf-Blutes, selbst wenn die körperlichen Anzeichen unbemerkt blieben. Er entsann sich eines Kindes, das Tag für Tag von den anderen gehänselt worden war, eines Kindes, das nicht wie sie war, sondern stämmig, untersetzt, behaart … Dieses Kind hatte nie zu tun gewagt, was es am liebsten getan hätte, nämlich zu heulen und seinen Peinigern die Kehlen durchzubeißen. Denn was würde geschehen, wenn der Wolf in ihm sich weigerte zurückzutreten, wenn er den kleinen Jungen überwältigte und irgendwo in seinem Inneren einsperrte? Erik der Werwolf. Ein Kind, das sich vor sich selbst fürchtete. Der Fremdling hatte in sein geheimstes Inneres gesehen. Erik fühlte sich entblößt und geschwächt; Zorn übermannte ihn. Er zog den Umhang fester um sich und schritt zurück in die Stadt. Er klopfte an die Tür des Drachenzahns. Der Wirt war fett und kahlköpfig. Murrend führte er Erik hinauf zu Cotzas Zimmer. Erik stieß die Tür auf. Es gab kein Bett in dem Zimmer. Ein großer eiserner Bottich war mit Wasser gefüllt, das in der Zugluft von der Tür dampfte. In einer Ecke war eine geöffnete Truhe, auf dem Tisch stand ein mit feuchtem Grünzeug beladener Teller. Es sah wie Seetang aus. Das Gericht war garniert mit den zerdrückten Resten von Insekten. Cotza stand bewegungslos in der Mitte des Zimmers Erik ge-
genüber. Er trug noch immer seinen purpurnen Umhang. »Was sind Sie, Cotza?« Cotza nickte. Der Schatten seiner Kapuze fiel über seine Brust. »Ich erwartete Sie …« »Kein Versteckspiel.« Erik schritt auf ihn zu. Cotza hob dünne Arme. Erik stieß sie beiseite und packte den Saum des Umhangs. Das Material war dick und warm, aber es riß leicht. Cotza schrie auf. Es hörte sich wie ein weinendes Kind an. Der aufgerissene Umhang fiel zu Boden, und Erik trat zurück und starrte. Cotza ähnelte einer gestreckten Kröte, die wie ein Mensch stand. Sein Gesicht war gefleckt, der Mund breit. Eine weißliche Kehle wölbte sich. Augenlider schoben sich träge über gelbe Augen. Er trug eine Art Gummianzug; feine Schlauchleitungen waren in den Anzug eingebettet und umgaben Cotzas Rumpf und Gliedmaßen. Aus einem der dünnen Schläuche tropfte Wasser. Blaue, borstige Federn ragten aus der Halsöffnung des Anzuges, und blaue Tätowierungen bedeckten Hände mit Schwimmhäuten zwischen den Fingern. Der breite Mund öffnete sich, und eine dünne lange Zunge zuckte heraus. »Sind Sie nun zufrieden, starker Mann?« »Sie sind ein Slann …« Erik fühlte sich wie betäubt, unfähig zu reagieren. Der andere bückte sich, um seinen zerrissenen Umhang aufzuheben; Erik sah, daß seine Hüftgelenke auswärts wie die eines Frosches ineinandergepaßt waren. »Offensichtlich bin ich ein Slann. Aber nicht bloß ein Slann.« Er strich über die Federn um seinen Hals. »Ich war einst ein Adlerkrieger von hohem Rang.« Er winkte Erik zu einem Stuhl und ging unbeholfen zur Tür, um sie zu schließen. Als er sich bewegte, sah Erik, wie der Gummianzug ihm Gesicht und Hals mit Wasser besprühte. Erik setzte sich. »Aber Slann verlassen niemals Lustria.«
»Natürlich nicht! Wie aufmerksam Sie heute morgen sind.« Der Slann bewegte sich in seinem wiegenden Gang zum Tisch und nahm den Teller an sich. Er hielt ihn Erik hin. »Frühstück?« Erik beäugte die Insekten. »Nein danke.« Die lange Zunge des Slann umfaßte den Seetang wie eine Faust und führte ihn zum Mund. Cotza sprach weiter, während er aß; die Worte kamen aus dem rückwärtigen Teil seiner Mundhöhle. »Ein Wort wie ›niemals‹ gibt es nicht, mein Freund. Aber es trifft zu, daß die Slann sehr selten reisen. Es ist so umständlich.« Er machte eine Handbewegung zum Bottich, dann zum Gummianzug. »Sie wissen vielleicht, daß wir Amphibien sind.« Das Wort sagte Erik nichts. »Ich brauche Wärme und Feuchtigkeit«, erläuterte Cotza. »Ihr verdammtes Land ist kalt und trocken. Also muß ich meine Wärme und Nässe mit mir tragen.« Die Zunge schnellte nach den Insekten. »Zudem können Sie sich nicht vorstellen, wie schwierig es für mich ist, in diesen Gasthäusern ordentliches Essen zu bekommen.« »Was wollen Sie von mir, Cotza?« »Ah, der Mann der Tat. Immer gleich zur Sache, wie? Was wissen Sie von den Slann?« Erik zuckte mit den Schultern. »Was ich wissen muß.« »Und das ist, wie man sie mit der geringsten Anstrengung tötet, denke ich mir.« Der Slann schob seinen Teller weg und betupfte seine Lippen. »Erik, ich möchte Ihnen etwas über die Slann erklären. Wir sind die älteste intelligente Art auf Erden. Legenden berichten, wir hätten die Welt erbaut, und andere Welten dazu, und wir wären in großen Schiffen wie den Langbooten zwischen unseren Welten gereist. Verstehen Sie?« »Ich verstehe, daß Sie mir Kindermärchen erzählen.« Cotza rollte die großen gelben Augen. »Erlauben Sie mir, daß ich Ihre Unwissenheit durchdringe, Nordmann. Unsere Himmelsboote reisten, indem sie Tore durch den Verwerfungsraum be-
nutzten. Auf dieser Welt gab es ein solches Tor, weit im Norden von Norsca. Aber auf der anderen Seite der Verwerfungstore war ein fremder Ozean, der vom Chaos verseucht war. Die Boote segelten auf dieser See zu den Sternen, verstehen Sie, und das Chaos füllte ihre Segel. Eines Tages geriet die See außer Kontrolle. Die Verbindung mit den anderen Welten ging verloren. Die Tore wurden Ausgangspunkte von Instabilität und Schrecken. Die Slann zogen sich nach Lustria zurück und degenerierten zu der Barbarei, die wir heute ertragen.« Erik nahm die gehörnte Kappe ab und öffnete seinen Pelzmantel in der dampfgeschwängerten Luft. »Woher wissen Sie das?« »Legenden. Die Slann haben Überlieferungen aus ferner Vergangenheit, natürlich verstümmelt und entstellt, ebenso wie die Elfen.« Cotzas Froschgesicht verzog sich in einem breiten Grinsen. Mit angezogenen Beinen und pulsierender Kehle sah er mehr denn je krötenhaft aus. »Es gibt viele Legenden, und sie fügen sich zusammen wie die Stücke eines zerbrochenen Tellers. Weit im Norden von hier liegt das verlorene Tor zum Verwerfungsraum. Es befindet sich im Mittelpunkt einer Region, die so geschädigt ist, daß dort nichts überleben kann, und um diese Region erstrecken sich die Chaos-Ödländer. Nun, wir werden die Randbereiche der Chaos-Ödländer durchdringen und zu Orten reisen, die kein Sterblicher seit Jahrhunderten gesehen hat …« Erik streckte die Hand aus und umfaßte eine magere Schulter. »Langsam, langsam. Wovon reden Sie?« Der Slann nickte. »Ich bitte um Entschuldigung. Ich werde es erklären. Bitte.« Erik nahm die Hand von Cotzas Schulter, und dieser rieb sich die Stelle. »Warum sich in solch eine Gegend hinauswagen? Ich werde es Ihnen sagen. Die Elfen haben eine Geschichte …«
*
Es waren die großen Tage der Slann. Das Tor war ein Bogen von zehn Meilen Höhe, errichtet aus feinstem Obsidian. Es ragte hoch über den gefrorenen Pol der Welt und drehte sich mit ihr um die Achse. Es war das Herz einer glitzernden Stadt. Händler der Slann reisten in ihren Himmelsbooten durch das Tor und gelangten zu anderen Welten. Lebewesen der verschiedensten Arten waren in der Stadt anzutreffen. Eines Tages blies Feuer aus dem Tor. Tod und Zerstörung regneten über die Stadt. In weitem Umkreis verwandelte sich die dicke Eisdecke in Schneematsch. Dann kam ein Himmelsboot durch das feuerspeiende Tor. Schwer beschädigt zog es einen Flammenschweif hinter sich her. Es flog Hunderte von Meilen, bevor es sich in das Eis bohrte. Es gab keine Überlebenden. Die Slann sperrten das Gebiet ab. Das beschädigte Himmelsboot sank zischend in das schmelzende Eis. Bald war das Eis wieder gefroren. Allmählich, im Laufe der Jahrhunderte, geriet der Vorfall in Vergessenheit …
* Erik dachte darüber nach. Er war oft genug im Langboot zusammen mit anderen zur Neuen Welt gefahren, um etwas von Navigation zu verstehen. Ja, die Welt war rund. Und sie drehte sich wie ein Kreisel um eine Spindel irgendwo im Norden. Aber andere Welten? Himmelsboote? Er stand auf und nahm seine eisenbeschlagene, gehörnte Lederkappe vom Tisch. »Ich habe Ihnen gesagt, Cotza, daß ich keinen Bedarf an Ihren Kindermärchen habe.« »Natürlich nicht«, zischelte Cotza. »Da keine Frau Ihnen je-
mals Kinder schenken wird. Ist das richtig, Wolfsmann?« Erik kehrte ihm den Rücken zu und schritt zur Tür. »Sehen Sie«, meinte Cotza, »das beschädigte Boot flog weit genug nach Süden, daß es in Reichweite ist -nur ein paar hundert Meilen nördlich von hier. Ich habe mir vorgenommen, dieses havarierte Himmelsboot der Slann zu finden, und möchte Sie als Begleiter.« Erik zögerte, dann wandte er sich um. »Kein Sterblicher ist jemals so weit nach Norden vorgedrungen und hat überlebt.« Cotza lächelte. »Keine Sterblichen haben die Vorkehrungen getroffen, die wir treffen werden.« Er sah den Nordmann forschend an. »Nun, Erik? Sind Sie dabei?« Erik schüttelte den Kopf. »Ich werde mein Leben nicht für die Träume eines Slann wegwerfen.« Cotza öffnete den breiten Mund. »Gut, ja, aber was für Träume haben Sie, Erik? Sind es die Träume eines Menschen oder eines Werwolfs? Hören Sie zu: Es gibt hier nichts für Sie. Und es wird ein großartiges Abenteuer sein. Vielleicht werden wir zu Begründern einer neuen Legende …« Erik lächelte. »Natürlich gibt es noch ein kleines Problem.« »Welches?« »Wie werden Sie dieses Himmelsboot finden? Die ChaosÖdländer sind groß.« Der Slann nickte eilig. »Es gibt einen Weg. Die alten Slann skizzierten eine Karte, die die Absturzstelle zeigt. Sie wurde auf unzerstörbares Pergament gezeichnet. Diese Karte überlebte den Niedergang der Slann; sie ist zu einem unschätzbaren Dokument vergangener Größe geworden.« In Erik regte sich Interesse. »Jetzt kommen Sie vom Fabulieren zu Tatsachen, Slann. Zeigen Sie mir die Karte.« Cotzas Kehle pulsierte wie eine Pumpe. »Ich habe sie nicht. Ich habe sie nicht einmal gesehen.« »Wie …«
»Aber ich weiß, wo sie ist.« »Und?« »Ich möchte, daß Sie die Karte für mich stehlen.« Der Slann bewegte sich zu seiner Truhe und durchwühlte einen unordentlichen Haufen von Umhängen, Ersatzanzügen mit Bewässerungsschläuchen und Lebensmittelpäckchen. Schließlich zog er einen kleinen Lederbeutel hervor und schüttelte den Inhalt vor dem Nordmann auf den Boden. Erik sah Goldmünzen, Dutzende von ihnen. Sie zeigten ein mißmutig blickendes Froschgesicht. »Das Gesicht Mazdamundis, des Herrn über alle Wasser des Weltenteiches«, sagte Cotza. »Betrachten Sie dies als einen Vorschuß. Auf unvorstellbaren späteren Reichtum.« Erik blickte auf und musterte den grinsenden Slann. »Wo?« »Waren Sie schon einmal in Kislev?«
* Erik kannte Kislev. Kislev liegt im kühlen Nordosten der Alten Welt. Seine großen Städte − Urskoj, Praag und der Seehafen Erengrad − liegen an Flüssen, die einen Kontinent durchziehen. Kislevs Reichtum ist sein Handel, der auf den reichen Bodenschätzen beruht. Sein Fluch ist seine Lage. Denn Kislev liegt wie eine Pufferzone zwischen der Alten Welt und den Dienern des Chaos, welche die Ödländer des Nordens durchstreifen. Vor zweihundert Jahren, erklärte Cotza, gab es einen Einfall der Chaoskrieger, der Tausende von Menschenleben kostete. Praag wurde verwüstet. Aber endlich konnten die Chaoskrieger zurückgeschlagen werden. In einem legendären Sieg bezwang der Gouverneur des Hafens Erengrad einen Chaosfürsten und nahm ihm seine Besitztümer ab.
Unter den abscheulichen Trophäen − den abgeschnittenen Gliedmaßen, den Schädeln von Erschlagenen − fanden die Krieger des Gouverneurs einen Schatz. Es war eine Karte, gemalt auf widerstandsfähiges Pergament … Was Erik brauchte, war eine Möglichkeit, nach Erengrad zu gelangen. Im Hafen von Ragnar fand er ein kleines Walfängerboot. Seine Spannten waren blutbefleckt, und ein Halsband aus Haifischzähnen war um den grob geschnitzten Drachenkopf am Bug drapiert. Der Leichnam eines kleinen Wals lag vertäut neben dem Rumpf im Wasser. Erik fand den Bootseigner in einem Wirtshaus. Er war ein dicker, fröhlicher Nordmann namens Björn. Bei ein paar Krügen Bier, die er mit dem Geld des Slann bezahlte, erfuhr Erik Näheres über den gefährlichen Walfang im stürmischen Westlichen Ozean vor den Küsten Norscas. Nun sollte das Boot nach Erengrad gehen, um den letzten Fang zu verkaufen. Während des Zechgelages überredete Erik den Mann, daß er ihn bis Erengrad an Bord nahm. Dort zeigte Björn sich weniger umgänglich. Kaum verschwanden die spärlichen Lichter Ragnars im eiskalten Nebel, gab der Kapitän Erik ein Flensmesser mit beinernem Handgriff. »Dies ist ein Walfänger«, knurrte er, »kein verdammtes Vergnügungsschiff.« Seufzend legte Erik seine Pelze ab. Die Besatzung bestand aus zwanzig Nordmännern, alle groß gewachsen, breitschultrig und muskulös. Sie beschmierten sich Gesichter und Hände mit Tran, um sich gegen den kalten Wind zu schützen, und zeigten Erik, wie man dem Kadaver des Wals mit den langen Flensmessern den Speck abschnitt. Am Abend des zehnten Tages packte Björn seinen Passagier bei der Schulter. Erik schnitt gerade ein mannsgroßes Stück Fleisch von den Rippen des Wals. Abgelöste Walhaut lag wie ein Haufen abgelegter nasser Kleider zu seinen Füßen. Er richtete sich auf; die Muskeln seiner Schultern schmerzten wie nie zuvor.
Blut und Walfett bedeckten ihn vom Kopf bis zu den Füßen. Björn zeigte über die See hinaus. »Erengrad«, sagte er. »Bald werden wir anlegen.« Erik grinste ihn an. Er fühlte, wie das angetrocknete Blut an seinem Gesicht Risse bekam. »Danke.« Björn schnaufte und schlug Erik mit einer Hand wie ein Schinken auf den Rücken. »Hör zu, du hast dir die Überfahrt verdient. Solltest du Arbeit brauchen, komm zu mir.« »Ich muß mich saubermachen, bevor ich an Land gehe.« Björn zuckte die Achseln. »Dann laß einen Eimer über die Bordwand. Das Wasser hier ist Süßwasser; wir sind bereits in der Mündung des Lynsk …« Erengrad breitete sich zu beiden Seiten der Flußmündung aus. Bewaldete Hügel begrenzten die Stadt im Norden. In der Abenddämmerung konnte Erik die vergoldeten Kuppeln schimmern sehen. Eine Insel saß wie eine breite Kröte in der Flußmündung. Von ihr gingen nach allen Seiten Anlegebrücken und Kais aus. Eine breite Brücke führte mit weit gespanntem Bogen von der Insel zum Festland; eingerammte Pfähle schützten anlegende Boote vor Zusammenstößen mit den steinernen Brückenfundamenten. Das Walboot stieß gegen einen der Pfähle. Erik sah abgescheuertes Holz, das im Wasser von wehenden Algen und Muscheln besetzt war. Eine rostige Eisenleiter führte den massigen Brückenpfeiler hinauf. Nachdem das Boot vertäut war, stiegen Erik und der Rest der Mannschaft die Leiter hinauf zur Brücke. Dann machten sie sich auf den Weg in die Stadt. Karren und Kutschen aller Art verkehrten auf der Brücke. Es roch nach Pferden, Teer, Fisch und frisch gesägtem Bauholz. Ein schwer beladenes vierspänniges Fuhrwerk rollte vorbei. Auf der Ladung aus Fässern mit Wein und Öl saßen braunhäutige Gestalten mit blitzenden weißen Zähnen, die ihre Oberkörper zur Begleitung eines eintönigen Singsangs vor und zurück bewegten.
»Estalier«, meinte Björn mit einer Kopfbewegung. »Vielleicht aus Magritta.« »Wann fährst du zurück, Björn?« »Übermorgen früh, denke ich. Bis dahin kann ich ausladen und mit dem Aufkäufer handelseinig werden. Fährst du mit zurück?« Erik zog die Schultern hoch. »Kommt darauf an. Warte nicht auf mich.« Björn nickte, ohne Neugier zu zeigen, dann verlor er sich im Strom der Fußgänger. Erik verbrachte den Abend ohne Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er nahm ein Zimmer in einem Gasthof, aß und schlief und beschwerte seinen Geist nicht mit unnötigen Grübeleien. Am folgenden Nachmittag unternahm er einen Spaziergang durch die geschäftige Altstadt von Erengrad. Die Türme von Tempeln und Kirchen überragten niedrige Verwaltungsgebäude. Blasse Advokaten, Kleriker und Beamte beäugten ihn neugierig. Der Palast des Gouverneurs war ein Durcheinander von Kuppeln und Minaretten. Dekadent und verweichlicht, entschied Erik. Eine Mauer von doppelter Mannshöhe, aus Granitblöcken gefügt, umgab die Anlage. Er wanderte daran entlang und betrachtete sie eingehend. Dann kehrte er zu seinem Zimmer zurück. Das Morgengrauen berührte bereits den Ostlümmel, als er aufstand. Der Walfänger mußte bald die Leinen loswerfen. Er stellte sich vor, daß die Besatzung aus ihren Schlafquartieren kam, sich übernächtigt und verkatert die Augen rieb und ihre Felle zusammensuchte … Er knüpfte sich einen Lederriemen um die Mitte, steckte seine schwere Streitaxt und sein Kurzschwert hinein, dann schlüpfte er hinaus. Ein Dutzend Feldzüge hatte Erik gelehrt, wie er sich trotz seiner Körpergröße leise und unauffällig bewegen konnte. Wie ein Schatten geisterte er durch die schlafenden Straßen von Erengrad und näherte sich dem Gouverneurspalast von der dunkleren
Westseite. Außerhalb der Umfassungsmauer wartete er ein Dutzend Atemzüge. Keine Bewegung; nur eine Glocke läutete. Dann kletterte er über die Mauer, indem er Finger und Zehen in die Ritzen zwischen den Granitquadern bohrte. Auf der anderen Seite landete er weich und eilte in den nächsten Schatten. Er war in einem prächtigen Park. Kieswege durchzogen Grünflächen und Baumgruppen, gepflegte Blumenbeete umgaben offene Pavillons und Marmorstatuen auf hohen Sockeln. Der Palast selbst erhob sich in der Mitte des Parks. Er sah aus wie Zuckerkonfekt in aufwendiger Verpackung, dachte Erik angewidert. Der Himmel wurde zusehends heller; weitere Glocken ertönten irgendwo draußen. Es waren keine Wachen zu sehen. Nichts regte sich. Erik ging über die Rasenflächen und Blumenbeete auf den Palast zu. Die Türen waren schwer und massiv, aber in Kopfhöhe gab es ein nur durch ein Eisengitter gesichertes Fenster. Er setzte die Klinge der Streitaxt als Hebel ein, und schon brach das Gitter aus der Verankerung. Er hebelte es ganz heraus, legte es in ein Blumenbeet und stützte sich mit beiden Händen auf den Fenstersims − schwere Schritte, ein Knurren wie ein Ruf in einer Höhle. Feuchter, übelriechender Atem in seinem Genick. Welche Unachtsamkeit … Er flog herum und zog sein Kurzschwert. Es war ein Riese, wenigstens dreimal so hoch wie Erik. Er schlug sich mit einer Faust gegen die Brust, deren Breite und Umfang einem ausgewachsenen Stier Ehre gemacht hätte. Sein umfangreicher Bauch war in die Häute von drei Ochsen gehüllt. Die entbeinten Ochsenköpfe baumelten von seiner Hüfte. Der Riese beugte sein Mondgesicht über Erik. Dieser spähte in schmutzige Nasenlöcher, in der zwei Kinderfäuste Platz gefunden hätten. Der breite Mund öffnete sich erfreut und enthüllte Zähne wie Dominosteine. Der Riese klappte seine mächtigen Hände zusammen und hielt Eriks Arme an seinen Seiten fest. Erik fühlte, wie ihm der Brust-
korb zusammengedrückt wurde, und bekam Atemnot. In seinen Fingern pochte das gestaute Blut. Denke nach, sagte er sich. Gebrauche seine Stärke gegen ihn … Der Riese grunzte und drückte fester zu. In stummer Anrufung beschwor Erik sein Werwolfblut. Seine Kiefer schmerzten, als wüchsen sie; seine Rückenmuskeln wurden elastisch und stark. Er konzentrierte sich auf die kariös aussehenden Schneidezähne des Riesen. Dann bog er den Rücken durch, hob beide Füße und rammte dem Riesen die Absätze in den Oberkiefer. Der Riese glotzte ihn verwundert an. Erik stieß wieder zu und hörte es knirschen. Endlich fand der Schmerz seinen Weg zum Gehirn des Riesen. Er brüllte, daß Eriks Schädel dröhnte. Die mächtigen Finger ließen in ihrem Druck ein wenig nach; der Riese begann sich aufzurichten. Erik stemmte beide Füße gegen das dicke, stoppelige Kinn und stieß so hart zu, wie er konnte. Er flog rückwärts aus dem Griff des Riesen und schützte seinen Kopf mit den Händen, bevor er gegen die Palastmauer prallen konnte − aber wie er beabsichtigt hatte, flog er durch das Fenster und überschlug sich rückwärts ins Innere. Er landete auf dem Rücken in einem dunklen Raum. Eine Riesenhand fuhr durch das Fenster, Finger wie Gurken griffen ins Leere; der Riese brüllte vor Wut. Erik rappelte sich auf und brachte sich mit schmerzenden Rippen in Sicherheit. Dann stand er still, die Augen geschlossen, und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Allmählich kam der Werwolf in ihm zur Ruhe. Als er wieder klar denken konnte, eilte er in einen Korridor. In weiten Abständen hingen Laternen und verbreiteten kreisförmige Lichtinseln. Er hörte aufgeregte Stimmen, das Trappeln eiliger Schritte. Die Streitaxt in der erhobenen Hand, grinste er in die Dunkel-
heit. Er hatte vielleicht nur Sekunden. Seinem Instinkt folgend, rannte er durch die weitläufigen Korridore. Er kam zu einer reich geschnitzten, zweiflügeligen Tür. Die Klinke war vergoldet. Ein Wachposten starrte ihn mit großen, erschrockenen Augen an. Ein Schlag gegen die Luftröhre, und der Mann brach bewußtlos zusammen. Das Schloß war reich verziert, aber nicht zugesperrt. Erik warf sich mit der Schulter gegen die Tür und flog in den Raum. Der Gouverneur saß angekleidet auf der Bettkante, ein kleiner, dicklicher Mann mittleren Alters. »Ich hörte die Unruhe und erwartete Sie, Nordmann.« Erik starrte wild umher. War die Karte hier? »Ich habe ein zuverlässiges Netz von Ohren«, fuhr der kleine Mann mit ruhiger Stimme fort. Strähnen blonden Haares lagen quer über seinem kahlen Scheitel. »Ich muß Bescheid wissen, das werden Sie verstehen. In der Stadt ist die Besatzung eines Walfängers, die von einem mysteriösen Nordmann prahlt, der Bier mit Goldmünzen der Slann bezahlt …« Da … In einem goldenen Rahmen, ein Pergament mit blauer Zeichnung. Eine dicke rote Linie sah wie die Küste Norscas aus. Ein Trommelwirbel rennender Schritte. Es war keine Zeit mehr. Mit einem Axthieb zerschlug Erik den Rahmen, zog das Pergament heraus und steckte es in seinen Kittel. »Nordmann!« sagte der Gouverneur unwillig. »Wissen Sie, was Sie da stehlen? Diese Karte ist eine Trophäe unseres Sieges über die Eindringlinge aus dem Chaos. Eine Erinnerung an Tausende von Menschenleben, die sich aufopferten.« Erik zögerte trotz seiner Eile. »Und?« »Wenn Sie die Karte Ihrem Slann-Meister geben, verraten Sie die Menschheit.« Erik starrte den ernsten, mutigen kleinen Mann an. Er entsann sich Cotzas verführerischer Worte: Ein Ausgestoßener, weder
Mensch noch Werwolf … »Was ist Ihre Loyalität, Erik?« Er spuckte auf den dicken Teppich des Gouverneurs, dann wandte er sich um und rannte aus dem Zimmer. Zu seiner Linken erschien ein Trupp Soldaten der Wache. Erik rannte nach rechts und erreichte eine Kreuzung von Korridoren, wo er innehielt. Die Verfolger kamen rasch näher, fuchtelten mit blitzenden Schwertern, und voraus kam ein weiterer Trupp in Sicht. Die Wachsoldaten sahen ihn und begannen zu laufen. Erik wartete, ließ sie so nahe herankommen, daß er ihren Luftzug fühlte … … dann sprang er geduckt nach rechts. Die beiden Trupps prallten in einem Wirrwarr von Schwertern und verzierten Helmen aufeinander. Er kam zu einem Fenster, stieß das Gitter hinaus und sprang in den Garten hinunter. Er landete in einem Blumenbeet. Inzwischen war es hell genug, daß am Himmel Spuren von Blau erschienen. Und schon näherte sich mit schwerfälligen Schritten der Riese, einen Finger im blutenden Mund. Erik salutierte ihm, dann rannte er zur Umfassungsmauer, sprang hoch und erreichte mit beiden Händen die Mauerkrone. Im nächsten Augenblick hatte er die Beine hinaufgeschwungen und sprang auf der anderen Seite hinunter.
* Er rannte über die Brücke, vorbei an frühen Fuhrwerken und Fußgängern. Der Atem rasselte in seiner Kehle. Er riskierte einen Blick über die Schulter. Trupps von Wachsoldaten strömten wie eine Springflut auf die Brücke, stießen Passanten beiseite und riefen den Kutschern Drohungen zu. Das Walfängerboot hatte die Leinen schon losgeworfen und war ungefähr zwanzig Schritte von der Brücke entfernt. Die Be-
satzung war gerade dabei, das Segel zu setzen. Björn sah ihn und winkte. Erik verlangsamte nicht. Er sprang vom Brückengeländer und klatschte drei Körperlängen hinter dem Boot ins Wasser; ein paar schnelle Schwimmzüge, und die grinsenden Nordmänner zogen ihn an Bord. Die Verfolger versammelten sich auf der Brücke. Speere segelten über das Boot und fielen ins Wasser, Pfeile zischten vorbei oder schlugen mit hartem Geräusch in Ruderbänke und Spannten. Die Nordmänner fischten die Speere aus dem Wasser und riefen den Kisleviten Beleidigungen zu. Erik lag keuchend und triefend auf den Bodenplanken des offenen Bootes. Der Geruch von Walblut und Fett war wie ein heimatlicher Gruß. Björn stand über ihm und betrachtete ihn erheitert. Erik wollte erklären, aber Björn winkte ab. »Das kannst du mir später erzählen. Faß mit an. Wir haben eine Menge Arbeit.« Mit diesen Worten reichte er Erik ein Tauende. Erik seufzte und mühte sich auf die Füße.
* Nach seiner Rückkehr suchte Erik die Unterkunft des Slann in Ragnar auf. »Nun können wir beginnen«, zischelte Cotza. Er beugte sich über die Karte und ließ seine schwarze Zunge immer wieder über die breiten Lippen gehen. Erik graute vor der reptilienhaften Fremdartigkeit des Slann, und er mußte an die Anschuldigung des Gouverneurs in Erengrad denken, der ihn des Verrats an der Menschheit bezichtigt hatte. Plötzlich verabscheute er sich selbst. Er wandte sich zum Gehen. »Warten Sie, Nordmann! Wohin gehen Sie?« »Sie haben Ihre Karte. Ich bin bezahlt worden. Das ist alles.« Der Slann kam zu ihm. »Aber ich möchte, daß Sie mit mir rei-
sen und dieser Karte folgen. Gemeinsam werden wir den alten Schatz finden.« »Warum sollte ich einem müßigen Froschtraum zuliebe in die Chaos-Ödländer gehen?« Cotza zeigte keine Reaktion auf die Beleidigung. »Ich biete Ihnen Reichtümer, mein Lieber.« »Sie bieten mir den Tod.« Der Slann starrte ihm in die Augen. Seine weiße Kehle pulsierte. »Ich biete Ihnen Erlösung, Erik. Ein Mittel, gegen das Chaos zu bestehen … Eine Gelegenheit, mit sich selbst ins reine zu kommen. Fürchten Sie sich davor?« Zorn und Abscheu wallten in ihm auf. Erik ballte die Fäuste. Der Slann wich eilig zurück. Erik holte tief Luft und suchte die Fassung zu bewahren. »Cotza«, sagte er, »ich habe mit Slann gekämpft. Sie sind den Slann, die ich kenne und von denen ich gehört habe, ganz unähnlich. Slann lieben Rituale. Sie werden von arkanen Praktiken beherrscht. Für einen Slann gibt es weder Raub noch Plünderung; keinen individuellen Ruhm. Aber Sie − Sie sind gierig. Ehrgeizig. Egoistisch. Verschlagen.« Erik stieß ein verächtliches Lachen aus. »Beinahe menschlich … Was sind Sie, Cotza?« Der andere schüttelte ungeduldig den breiten Kopf. »Müssen alle Slann gleich sein? Sind alle Menschen gleich? Wie wenig haben Sie von der Welt gesehen, Nordmann. Wie wenig verstehen Sie.« Erik musterte den Slann weitere Sekunden lang, dann wandte er sich wieder ab. »Leben Sie wohl, Cotza.« »Nordmann! Ich verlasse Ragnar in sechs Tagen. Denken Sie an mein Angebot …«
*
Über Ragnar brach ein weiterer trüber Tag an. Erik verließ sein Quartier, gegen die Kälte in seine Pelze eingehüllt. Durch froststarre Straßen ging er zum Hafen hinunter. Im Hafenviertel ging es ungewöhnlich geschäftig zu. Im Husthing brannte bereits Licht. Karren klapperten die kopfsteingepflasterten Straßen hinunter, Talglichter schwankten in der Dunkelheit. Aus den Nüstern der Pferde dampfte der Atem. Erik erreichte den Hafen. Überall entlang dem Kai klirrte Metall, fluchten Männer, schlug Holz mit dumpfem Klang auf Holz. Eine Reihe von zehn Langbooten war am Kai vertäut. Heute wollte Cotza nach Norden aufbrechen, und er sorgte für ein unerwartetes Spektakel. Erik wanderte den Kai entlang und blieb über einem Langboot und seiner Besatzung stehen. Der vertraute Anblick ihrer Vorbereitungen zum Auslaufen erfreute sein Herz. Das Boot war mindestens fünfzig Schritte lang und lag hoch in den kurzen, vom Wind aufgepeitschten Wellen; wenn es sich im Seegang wiegte, sah man das Wasser von den Planken strömen. An den faustgroßen kupfernen Bolzen hingen lange Bärte von Seetang. Zwischen den entlang der beiden Bordwände angebrachten Rundschilden ragten zwei Reihen Ruder aus den Schiffsflanken. Unter rhythmischen Rufen tauchten die Krieger ihre Ruder im Gleichtakt in das graue Wasser. Der hochgezogene Drachenbug des Bootes schimmerte im Morgenlicht. Das hölzerne Untier richtete den Blick auf die See hinaus. Ein Gespann schwerer Kriegspferde, die ihre Pferdeknechte überragten, wurde an Bord eines Bootes geführt. Der Aufseher der Knechte war ein breiter, massiger Nordmann, der mit Flüchen nicht sparte. Als Erik näher kam, wandte er sich um. »Björn …!« Der große Nordmann grinste und schlug Erik auf die Schulter. »Aha, mein geheimnisvoller Freund! Du willst an unserer verrück-
ten Reise mit dem Froschmann teilnehmen?« »Ich … ich weiß noch nicht«, wich Erik aus. »Aber wenn ich es tue, freue ich mich, daß du mit dabei bist.« Björn schüttelte ihm die Hand, dann ging er wieder an seine Arbeit. Der Himmel hellte sich mehr und mehr auf, und die quadratischen Segel der Drachenboote wurden losgemacht. Alle Segel zeigten ein Sonnensymbol. »Das Zeichen Mazdamundis«, zischte eine Stimme hinter Erik. »Der Herrscher der Sonne. Er läßt sie über diesen rauhen Barbaren scheinen.« Erik wandte sich um. Cotza stand in einem neuen purpurnen Umhang vor ihm und stieß die Kapuze zurück, um sein breites Lächeln zu zeigen. Aus den feinen Schläuchen um seinen Hals sprühte Feuchtigkeit in sein Gesicht. »Wozu die Pferde?« »Das werden Sie sehen, wenn wir an der Küste der Ödländer landen.« Der Slann zog die Kapuze wieder über den Kopf und ging am Kai entlang. Dann blieb er stehen und blickte erwartungsvoll in Eriks Augen. Erik sah sich verlegen zur Stadt um, von widerstreitenden Empfindungen hin- und hergerissen. Keine Menschenseele an dieser ganzen Küste, sagte er sich, würde sich fragen, wo er an diesem Vormittag war. Niemand würde morgen nach ihm fragen, niemand ihn vermissen … »Chaos«, wisperte Cotza. »Es ist in Ihrem Blut, Erik. Finden Sie sich damit ab, Mann. Sie haben keine Wahl.« Langsam und zögernd, beinahe widerwillig, ging Erik ihm nach.
* Der Konvoi der Langboote schob sich vorsichtig durch das
Treibeis. Die in Pelze gehüllten Nordmänner misteten respektvoll bei den Kriegspferden aus und zurrten die tonnenschweren Lasten fest. Sie lachten und scherzten und rempelten einander an; während der ersten Tage herrschte eine beinahe ausgelassene Stimmung. Doch als sie weiter nordwärts vordrangen, wurde die Stimmung gedämpfter. Eine Dunkelheit wie eine dichte Wolkendecke lag drückend über dem Nordhimmel, sogar zur Mittagszeit. Sie war eine ständige Erinnerung an ihr Reiseziel, und manch einer beobachtete mit Beklemmung, wie sie sich immer bedrohlicher ausbreitete, je weiter sie vorankamen. Sie landeten an einer eisüberkrusteten Küste. Erik stieg mit den anderen ins flache Wasser, um das Langboot auf den Geröllstrand zu ziehen. Im Nu durchdrang das eiskalte Wasser die Fellstiefel und wollenen Hosen, die sie warmgehalten hatten, solange sie trocken geblieben waren, und fluchend schoben und zogen die Nordmänner ihre Langboote auf den Strand. Die Kriegspferde stampften schnaubend durch die auslaufende Brandung, völlig furchtlos. Über dem Strand erstreckte sich eine öde Küste aus niedrigen, abgeschliffenen Felsbänken. Die Dunkelheit ragte wie eine Gewitterfront über ihnen und ließ das Lager der Nordmänner klein und verloren erscheinen. Mit ihren Streitäxten zerlegten die Nordmänner eines der Langboote und entzündeten ein Feuer. Sein Lichtschein drängte die feindselige Dunkelheit ein wenig zurück. An diesem ersten Abend ließ Cotza die Männer ein Faß Met öffnen, und die düstere Küste, die nur das eintönige Rauschen der Brandung und die Schreie der Möwen kannte, hallte von Liedern wider, die den nordischen Kriegsgöttern gewidmet waren. Doch trotz des reichlichen Metgenusses schliefen nur wenige tief und ruhig. Am nächsten Morgen erläuterte Cotza seinen Plan. Unter seiner Leitung wurden Ziegel von den Langbooten getragen und zu
einem primitiven Schmelzofen aufgemauert. Dann wurde ein weiteres Langboot auseinandergenommen und die schweren Kielbalken in einem Rechteck von zwanzig Schritten Länge ausgelegt. Erik arbeitete mit den anderen an der Errichtung eines doppelt mannshohen Rahmenwerks über dem Rechteck. Cotza stapfte auf dem Bauplatz umher und überwachte die Arbeiten. Sein flaches Gesicht schaute unter einer Wollmütze hervor, sein Unterkiefer war in Dampf gehüllt. Er zeigte hierhin und dorthin und zischte den fluchenden Nordmännern Anweisungen zu. Nach einigen Stunden ließ er die Männer eine Pause machen und untersuchte die Festigkeit der Konstruktion, indem er an Verbindungen zog und drückte. Endlich schien er zufrieden und trat zurück. Erik ging zu ihm. »Sie bauen ein hübsches kleines Haus, Cotza. Was haben Sie vor? Wollen Sie hier wohnen? Blumen auf dem Eis ziehen?« Der Slann dehnte den breiten Mund in seiner Parodie eines Lächelns. »Das Beste kommt noch, mein Freund. Sie sind ein Krieger. Es gibt eine Kampfformation, die ›Schildkröte‹ genannt wird. Wissen Sie davon?« Erik erinnerte sich nur zu gut. Ein Dutzend Männer, zusammengedrängt unter einem Panzer von emporgehobenen Schilden, die mit ihren Schwertern in eine feindliche Horde einhieben, unempfindlich gegen Pfeilschüsse aus der Entfernung. »Ja, ich kenne die Schildkröte.« »Sehr gut. Nun, diese Hütte wird unsere Schildkröte sein. Wir werden in ihrer Schale in den Rachen der Finsternis vordringen, bis zum Schatz. Nun zur Panzerung!« Er klatschte in die behandschuhten Hände. Murrend standen die Nordmänner auf und begannen Metallplatten von den Langbooten herbeizutragen. Cotza zeigte Erik eine Probe des Materials. Es war ein Helm.
Der Nordmann drehte ihn in den Händen. Er schimmerte wie Altsilber. »Mithrilpanzerung«, zischte Cotza. »Ich weiß, was es ist. Ich habe es schon öfter gesehen, aber nie ein Stück in Händen gehalten. Zu teuer.« Cotza zog seinen Umhang höher um den Hals. »Es wird von den Zwergen der Schmiedestadt Zhufbar abgebaut. Zu hart, um es zu bearbeiten, außer durch Mittel der Magie.« Erik gab den Helm zurück. »So sagt man.« »Und durchwirkt mit Zauber gegen die Mächte der Finsternis.« »Auf der Grundlage dieser Legende wollen Sie unser Leben aufs Spiel setzen?« Cotza antwortete nicht. Seine geschlitzten Nasenlöcher bliesen Dampf ab. Erik wandte sich um. Der Stapel der Metallplatten hatte Mannshöhe überschritten. »Eines muß ich Ihnen lassen, Cotza. Es fehlt Ihnen nicht an Mitteln.« »Wie Sie bereits sagten, Erik, ich setzte mein Leben aufs Spiel. Ich habe kein Interesse an Reichtümern.« Nun gewann Cotzas Plan Konturen. Unter seiner Anleitung begannen die Nordmänner das Holzgerüst mit den Platten zu panzern. Mithril war zu hart, um es zu bearbeiten oder zu durchbohren, also verwendeten sie starke Eisenklammern, um es an das Holz zu heften. Die Schmiede trugen Schöpflöffel mit flüssigem Eisen aus dem Schmelzofen herbei. Sie gossen das Eisen in die Ritzen zwischen den Panzerplatten. Glutflüssiges Eisen tropfte auf den Boden; der zerstampfte Schnee ging in Dampf auf. Über die abkühlenden Verbindungen wurde Schnee gepackt, dann bearbeiteten die Schmiede das aushärtende Eisen mit massiven Hämmern. Metallwände entstanden, weich schimmernd im Licht der tiefstehenden Polarsonne. Sogar der Boden der Schildkröte wurde mit Panzerplatten verstärkt. Die Arbeit dauerte einen Tag und eine Nacht.
Erik befühlte eine fertige Wand. Die Panzerplatten hatten die Formen ihrer früheren Bestimmung weitgehend beibehalten − hier erkannte er einen Brustharnisch, dort einen breiten Helm, der sich aus der Oberfläche erhob. Diese Formen verliehen der Panzerung einen krustenartigen Anschein, der merkwürdig an eine wirkliche Schildkrötenschale erinnerte. Er stand da und zog an seinem Schnurrbart. Dann stieg er ins Innere der Schildkröte und bearbeitete die Mithrilplatten mit Fußtritten. Eisenverbindungen brachen, und Platten fielen in den Schnee. Die Nordmänner sahen verdutzt zu. Cotza kam in die Schildkröte gestampft. »Erik! Was, im Namen des Unterlichts, soll das bedeuten?« Erik wandte sich schnaufend zu ihm um. »Ich rette Ihnen das Leben, Cotza.« »Indem Sie meine Schildkröte zerstören?« Erik bückte sich und hob die Rückenplatte eines Harnischs auf. Ein gezackter Rand von gebrochenem Gußeisen haftete noch daran. »Mithrilpanzerung könnte die Angriffe der Chaosmächte abwehren, aber sicherlich nicht dieses Roheisen.« Cotza starrte ihn an. »Was schlagen Sie vor?« »Klinkerbauweise.« »Was?« »Die Mithrilplatten müssen überlappend befestigt werden, so wie wir die Planken der Langboote an die Spannten nageln. Dann können sie mit Eisen abgedichtet werden, wie wir die Planken unserer Boote mit Tierhaar kalfatern. Auf diese Weise werden Sie von einer ungebrochenen Mithrilschale umgeben sein.« Lange Sekunden pfiff Cotzas Atem durch seine schlitzförmigen Nasenlöcher, dann machte er kehrt und stampfte hinaus. Er rief Björn zu sich. »Tun Sie, was er sagt.« Als nur noch eine Wand der Schildkröte fehlte, wurden die Kriegspferde hineingeführt. Sie wurden in zwei Gruppen hintereinander aufgestellt und festgemacht, so daß sie auf zwei parallel
verlaufenden Bändern aus dickem Leder standen. Die Bänder waren mit Querstreifen aus Mithril beschlagen und führten über schwere hölzerne Rollen. Erik untersuchte die Pferdegeschirre und ihre Befestigungen und kratzte sich am Kopf. »Ich gebe zu, daß ich ratlos bin, Cotza. Wie können die Pferde die Schildkröte ziehen, wenn sie selbst in ihr mitgeführt werden?« Cotza lachte und tätschelte die Nüstern eines der mächtigen Tiere. »Sie werden sehen, mein Freund.« Das Kriegspferd beäugte ihn mißtrauisch und warf den Kopf hoch, und der Slann wich zurück. Nun wurde Proviant in die Schildkröte geschafft: Lampentalg, Felle, Heuballen, Cotzas Truhe, Lebensmittel, Hafersäcke und Wasserschläuche. Erik sah, wie der schwere Badebottich des Slanns von den Langbooten herbeigeschafft wurde. Die abergläubischen Nordmänner befestigten den Drachenkopf eines Langbootes an der kastenförmigen Schildkröte. Seine hölzernen Augen blickten starr in die nebelverhangenen Ödländer. Endlich nahm Erik seinen Platz mit dem Slann im Inneren der Schildkröte ein. Die letzten Platten wurden festgeklammert. Das geschmolzene Eisen der Abdichtungen füllte die Schildkröte mit Rauch. Erik hustete, bis Cotza einen goldenen Ring von etwa einem Schuh Durchmesser zum Vorschein brachte, den er an einem der Deckenbalken befestigte. Eine kühle Brise kam aus dem Ring und verschaffte Linderung. Er sah Rauch im Ring verschwinden. »Nur eine kleine Vorrichtung«, murmelte Cotza. Das arktische Tageslicht war nun ausgesperrt. Cotza und Erik entzündeten Talglichter, taten sie in Laternen und hängten sie auf. In ihrem gelben Schein wirkte das Innere der Schildkröte sonderbar gemütlich, und die mächtigen Pferde schienen zu lieben, friedfertigen Haustieren geworden zu sein. Drei Hammerschläge auf die Panzerung signalisierten, daß Björn und seine Leute mit der Arbeit fertig waren. Cotza sperrte sein Froschmaul auf. »Es geht los! Nun, Erik, zu
den Pferden!« Er drückte dem verdutzten Erik einen Treiberstock in die Hand, und gemeinsam begannen sie die Pferde zu bearbeiten. Die Tiere wieherten und warfen die Köpfe hoch, aber bald fingen ihre mächtigen Hufe zu stampfen an, und sie zogen an den Lederbändern. Mit einem plötzlichen Ruck setzte sich die Schildkröte in Bewegung. »Jetzt sehen Sie es!« rief Cotza. »Die Pferde ziehen die Bänder, und die Bänder ziehen die Schildkröte Zoll für Zoll zu unserem Ziel.« Erik hörte Hochrufe der Nordmänner, die das Spektakel von draußen beobachteten. Er hörte Björns gedämpfte Stimme rufen: »Ich werde hier auf dich warten, mein geheimnisvoller Freund. Bring mir einen Liebesdämon Slaaneshs mit!« Rauhes Gelächter folgte seinen Worten. Erik trieb die Pferde energischer an. Eine untergründige Erregung brach sich in ihm Bahn. Die Schildkröte begann nordwärts zu kriechen. Das Licht der Polarsonne glitzerte auf ihrer verzauberten Schale. Die Kriegspferde arbeiteten unermüdlich, schienen keinen Schlaf zu brauchen. Als er sie mit Hafer fütterte, tätschelte Erik ihre weichen Nüstern und sprach mit ihnen. Cotza nahm eine Scheibe aus seiner Truhe und zeigte sie Erik. Sie war poliert und schwarz und ungefähr von der Größe eines Tellers. Sie bestand aus Obsidian, und wenn man sie ins Licht hielt, sah man die undeutliche Wiedergabe einer Landschaft, von grauem, abgeschliffenem Fels und schmutzigem Eis. Das Bild kam Erik wie eine eingeätzte Zeichnung aus Linien und Schattierungen vor. Dann wischte Cotza das Bild mit dem Ärmel weg und gab die Scheibe Erik zurück. Das Bild formte sich langsam von neuem. Es erinnerte Erik an das Wachsen von Eisblumen auf Glas. Aber die Ansicht, die sich bildete, war etwas verändert, als wäre die Zeichnung an einem
anderen Ort entstanden. »Ein Obsidianspiegel«, erläuterte der Slann, »wie er vom großen Herrscher Mazdamundi verwendet wird, um sein Reich wie durch die Augen eines fliegenden Vogels zu überblicken. Er wird uns als Fenster in der Wand unserer Schildkröte dienen.« Erik beobachtete die undeutliche Zeichnung, die auf dem Obsidian Gestalt annahm, und gelobte, daß er ein Loch in die verdammte Wand treten und sich mit eigenen Augen vergewissern würde, sollten sie jemals Gefahr laufen, in eine Schlucht oder Gletscherspalte zu stürzen. Cotza breitete seine Karte am Boden der Schildkröte aus und kauerte mit eingefalteten Beinen darüber, verglich Einzelheiten mit dem, was er in seiner Scheibe sah. Mit Hilfe seines Spiegels und der Karte versuchte er einen Weg durch die eintönige, aber unebene Landschaft zu finden. Wenn er die Schildkröte steuern wollte, trieb er die Pferde einer Seite zu schnellerem Gang an, und die Schildkröte drehte sich schwerfällig mit scharrenden Geräuschen. Die polare Kälte durchdrang das dünne Metall der äußeren Schale. Erik behängte die innere Oberfläche mit Fellen; sie hielten die Körperwärme der Pferde zurück, und die Temperatur wurde erträglich. Cotza ließ Erik ein kleines Feuer aus mitgeführten Holzscheiten unter seinem metallenen Badebottich entzünden, und bald füllte sich das Innere der Schildkröte mit Rauch und Dampf. Cotzas Vorrichtung konnte beides nicht rasch genug absorbieren, und die Pferde schnaubten unruhig und warfen die Köpfe hoch. Zu Eriks Mißvergnügen legte Cotza seinen Schutzanzug mit den Schläuchen ab, dann stieg er in seiner gelbgrauen Haut ins Wasser und kauerte im Bottich nieder, bis nur die Nasenlöcher die Oberfläche durchbrachen. Erik verbrachte lange Stunden mit gymnastischen Übungen, um seine Muskeln zu trainieren, oder er ruhte im Sitzen mit dem
Rücken an der pelzverhängten Wand. Auch im Schlaf trennte er sich nicht von seinen Waffen. Als sie weiter nach Norden vorrückten, verschwand die Sonne vom Himmel. Wenn der Obsidianspiegel auf die Chaos-Ödländer ausgerichtet war, zeigte der Himmel Wirbel und gezackte Linien.
* Erik fuhr aus einem unruhigen Schlaf auf. Die Schildkröte schwankte wie ein Betrunkener, als sie dahinkroch. Der Slann saß in seinem Bad und hielt sich mit weit gespreizten Fingern am Rand fest. Sein Blick ging zu Erik. »Was ist los?« Erik drückte das Ohr an die Metallwand. Er hörte Stimmen, wie das Gelächter von Mädchen. Es schien sich bald von der Schildkröte zu entfernen und dann wieder näher zu kommen. Ein Geruch wie von feinem Parfüm drang herein. »Ich vermute, es ist eine Begrüßungsabordnung von Slaanesh«, sagte er trocken. Er stand auf und tastete mechanisch nach dem Stiel seiner Streitaxt. Das übermütige Gelächter wirbelte um die Schildkröte. Eriks Phantasie zeigte ihm Slaaneshs Dämoninnen, mit den grünen Augen und ihrer unerträglichen Schönheit. Beständig drangen von irgendwo die subtilen Düfte ins Innere der Schildkröte, wahrscheinlich durch die Öffnungen der ledernen Bänder und ihrer Rollen, und verwirrten seine Gedanken. Bald darauf ertönten dröhnende Schläge wie von einer Riesenfaust auf dem Metall der Schale. Cotza schrie auf. Die Schildkröte erbebte, und die Kriegspferde gerieten aus dem Tritt. Das Leittier auf der rechten Seite hob den Kopf und stieß ein heftiges Schnauben aus. Bald darauf drang ein anderes Geräusch herein, ein Surren und Schwirren und Kratzen am Metall, als wäre draußen ein Schleif-
stein am Werk. Cotza geriet in Erregung. »Das ist ein Kettenschwert! Sie versuchen eine Öffnung in die Schale zu schneiden!« Erik nahm eine Talglampe und prüfte die Wände und das Dach. »Die Panzerung hält«, murmelte er. »Aber wie lange noch!« rief der Slann. Er schlug die Hände vor sein Froschgesicht und wimmerte. »Ihre Tapferkeit ist eines Adlerkriegers würdig und sehr tröstlich«, bemerkte Erik. Cotza nahm die Hände vom Gesicht und starrte zum Dach auf, das sichtbar erzitterte. »Bei den Zähnen des Kaisers, was geht vor?« »Wahrscheinlich Dämoninnen«, sagte Erik, der sich alter Kämpfe erinnerte. »Sie springen gern wie die Verrückten herum. Aber vielleicht sind es Chaoskrieger, Menschen, die ihre Seelen dem Herrn des Lasters und der Verworfenheit verkauft haben …« Cotzas große Augen blickten weg. Sein Mund arbeitete, seine Hände umfaßten wieder den Rand seines Bottichs. Erik bemerkte die plötzliche Zurückhaltung. Was konnte sie bedeuten? Was verbarg sein zweifelhafter Verbündeter? Die Schläge auf die Panzerung, das Schleifen und Kratzen dauerten an. Aber sie vermochten das Mithril nicht zu durchbrechen. Als er sich dessen vergewissert hatte, nahm Erik wieder seinen Platz ein und schloß die Augen. Er hatte manche Schlacht überlebt. Er ließ sich vom Gehämmer der Slaanesh-Dämonen und dem Gewimmer eines mysteriösen Slann nicht den Schlaf rauben. Aber er hielt seine Waffen griffbereit. Die Tage in der schwankenden, vorwärts kriechenden Schildkröte nahmen eine eigentümliche Gleichförmigkeit an, die von schabenden, klirrenden, schlagenden und kratzenden Geräuschen geprägt war, gelegentlich untermalt von unverständlichem Kreischen und hysterischem Gelächter. Erik kaute Mahlzeiten aus
Dörrfleisch und getrocknetem Fisch. Seine Träume waren belebt von lächelnden Frauen mit grünen Augen, deren Wangen weiche Daunen trugen … Cotza verließ kaum noch sein Bad. Wenn er schlief, ächzte und zuckte er in Alpträumen. Dann hörte es auf. Die Schildkröte schwankte nicht mehr, die Geräusche von draußen verstummten. Die Pferde verhielten angesichts der plötzlichen Stille und Ruhe, dann fanden sie wieder ihren Tritt. Die Bänder rollten erneut über ihre Walzen. Cotza saß aufrecht in seinem Bad. Seine Haut war grau und glänzte schleimig. Durch schlaffes Fleisch zeichneten sich Knochen ab. »Es ist überstanden«, wisperte er. »Wir sind außer Slaaneshs Reichweite.« »Wer weiß, was als nächstes kommt«, meinte Erik zweifelnd. »Aber wir sind in Sicherheit. Das Mithril hat seinen Zweck erfüllt!« Der Slann streckte die langen Beine von sich, dann suchte er in seinen Vorräten und zog eine Handvoll getrockneter Kakerlaken hervor. Gierig schob er die Insekten in seinen breiten Mund. Erik beobachtete ihn angewidert. Die Düfte der Verführerinnen Slaaneshs waren verweht, aber seine Erinnerung bevölkerte die Stille draußen mit anderen Dienern des Chaos, mit einem unendlichen Arsenal leisen Todes. Cotza schmauste. Erik ließ die Hände nicht von seinen Waffen. Die Schildkröte glitt auf einer ebenen Fläche dahin. Das Ausbleiben von Erschütterungen und schwankenden Gewichtsverlagerungen beim Überwinden natürlicher Bodenunebenheiten beunruhigte Erik. Er stellte sich vor, daß sie über die Eisfläche eines gefrorenen Sees glitten, wo offene Stellen oder zu dünnes Eis ihnen jederzeit einen unerwarteten und raschen Tod bringen konnten. Aber die Tage vergingen, und es wurde heiß. Die Felle der Pferde bekamen dunkle Flecken vom Schweiß und dampften. Erik legte seine Pelze ab. Er stand unter dem Luft atmenden Ring des
Slann; noch immer raschelte eine Brise heraus, aber aus irgendeinem Grund erfrischte sie ihn nicht. Er setzte sich wieder und versuchte sich auszuruhen. Sogar Cotza beklagte sich. »Warum mag es so heiß sein?« fragte er. »Es sollte kälter werden, je weiter wir nach Norden kommen, nicht wärmer.« Erik lächelte düster. »Ich sagte Ihnen, erwarten Sie nicht, daß Ihnen die Erfahrung weiterhelfen kann. Nicht hier. Man muß es nehmen, wie es kommt, und dagegen ankämpfen.« Der Obsidianspiegel zeigte ein Land der Finsternis. Cotza hielt ihn waagrecht zum Dach und suchte ihren Kurs nach den Sternen zu berechnen … Plötzlich schrie er auf. Erik schrak zusammen und griff nach seinen Waffen … … und wurde von einem Stoß gegen die Brust zurückgeworfen. Es hätte die Faust dieses kislevitischen Riesen sein können. Der hölzerne Boden unter ihm splitterte. Er rappelte sich auf. Die Schlaftrunkenheit des ersten Augenblicks war wie weggefegt. Im flackernden Licht der Talglampen war nichts zu erkennen. Aber etwas wie ein unsichtbarer Vogel schlug in der Schildkröte herum, riß Hafersäcke auf und verschüttete den Inhalt, warf Lebensmittelbehälter durcheinander. Die Pferde bäumten sich auf; Zuggeschirr riß. Cotza wurde aufgehoben und mit dem Gesicht gegen die Decke geworfen. Dann fiel er platschend in sein Bad zurück. »Nordmann! Hilf mir!« Die Lampen verlöschten. Nun kam das einzige Licht von dem kleinen Feuer unter Cotzas Bad. »Erik, was ist das?« Erik hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. »Es ist ein Elemental. Ein Luftdämon.« »Unsere Panzerung ist durchbrochen …« »Nein.« Der Elemental strich an ihm vorbei; Erik fühlte einen
Schlag ins Gesicht; aber es konnte nur ein Stoß komprimierter Luft sein. »Es ist Ihr Atemring, Cotza. Er muß dort durchgeschlüpft sein, Stück für Stück.« »Dann sind wir verloren!« »Was?« Erik tappte zum Bad und packte den Slann bei den Schultern. »Was ist das für ein Unsinn, Cotza? Ihr Slann wollt doch große Zauberer sein. Gebrauchen Sie Magie! Wehren Sie ihn mit einem Zauberbann ab!« Der Slann machte sich von Eriks Griff frei und krümmte sich mit angezogenen Beinen zusammen. »Ich kann nicht«, ächzte er. »Ich habe keine Magie. Rette uns, Nordmann!« Erik starrte ihn ungläubig an. Dann traf der Elemental ihn in den Rücken und warf ihn flach aufs Gesicht. Die Kreatur schlug auf seinen Rücken ein und heulte wie ein Sturmwind. Erik biß die Zähne zusammen. Er fauchte, krümmte den Rücken und stieß die harten Pfotenhände auf den Boden. Sein Nackenfell sträubte sich. Ein paar Sekunden lang kämpfte der Werwolf gegen den Elemental, dann glitt der Dämon von seinem Rücken. Erik mühte sich auf die Beine und unterdrückte den Impuls, zu schnappen und zu heulen. Er mußte den Werwolf unter Kontrolle halten, klar denken, ein Mittel finden, um den Elemental auszutreiben … Cotzas Feuer. Erik umfaßte den Rand des Badebottichs, zog ihn vom Feuer und kippte den jammernden Slann hinaus. Dann wühlte er in ihren Vorräten, bis er den Lampentalg fand. Er zog das klebrige Zeug auseinander und warf es ins Feuer. Flammen schossen in die Höhe; Hitze schlug ihm ins Gesicht. Der Werwolf zuckte zurück, doch der Mann blieb, wo er stand. Der Slann verkroch sich in eine Ecke. Rauch erfüllte das Innere der Schildkröte, brannte in Eriks Augen. Die Pferde stampften in Panik. Erik warf mehr Talg in die Flammen. Hitze schlug ihm ins Gesicht. Die Luft wurde eine Masse von Rauch und Turbulenz. Es war, als wäre ein zweiter Elemental im
Inneren der Schildkröte freigesetzt worden. Aber dieser wurde von Erik beherrscht. Der Elemental schlug auf seinen Rücken und die Beine. Erik hörte ihn gegen die Wände prallen, aber er wurde schwächer. Erik grinste, wischte sich Ruß und Schweiß vom Gesicht. Wie er gehofft hatte, begann der Elemental in der erhitzten, aufgewühlten Luft seinen Zusammenhalt zu verlieren. Ein Winseln erfüllte den Raum. Dann strömte Luft durch den Atemring aus. Nach ein paar Sekunden war es vorbei. Das Feuer brannte jetzt gleichmäßig. Hustend zündete Erik die Lampen wieder an. Cotza hatte sich in einem Haufen von Pelzen verkrochen. Erik stieß ihn mit dem Fuß an. »Kommen Sie heraus«, sagte er. »Es ist vorbei.« Der Slann öffnete ein Auge. »Nehmen Sie Ihren Atemring herunter«, knurrte Erik ihn an. »Er war die einzige Bresche in unserer Abwehr. Und er hätte uns beinahe das Leben gekostet.« »Aber wir werden ersticken.« »Wir werden den Ring herunternehmen, bis wir und die Pferde keine Luft mehr bekommen. Verstanden? Jetzt helfen Sie mir aufräumen.« Er ging zu den Pferden, um sie mit gutem Zureden zu beruhigen.
* Cotza zischte wie eine Schlange. Erik schrak aus seinem leichten Schlaf. Mühsam zog er sich auf die Beine. Ein dumpfer Schmerz rumorte in seinem Kopf. In den Tagen, seit sie die Luftzufuhr in der Schildkröte abgesperrt hatten und nur wenig Frischluft durch die schmalen Schlitze der Laufbänder eindringen konnte, war die Luft in der Schildkröte dick und übelriechend ge-
worden. Als erstes ging sein Blick zu den Pferden. Sie mühten sich auf ihren Laufbändern, schnauften angestrengt, und ihre Felle waren dunkel vom Schweiß. Der Slann kauerte über seiner Obsidianscheibe. Seine Lippen formten Worte, die Erik unverständlich blieben. Zuletzt sagte er mit ruhiger Stimme: »Erik, wir sind am Ziel.« Erik tappte durch den schwankenden Raum und spähte in die Scheibe. Sie zeigte das übliche dunkle, formlose Land unter einem Himmel von Wirbeln und Schleifen. Aber es gab auch etwas Neues, ein scharfes Bild ungefähr von Daumengröße. »Es muß das Himmelsboot sein«, schnaufte Cotza. »Sehen Sie, wie klar es ist? Es war dazu bestimmt, andere Welten zu besuchen. Und so hat es die Jahrhunderte der Verwitterung und Korrosion überstanden. Es leuchtet auf dieser Scheibe wie eine Perle im Schlamm.« Das Himmelsboot war wie eine Spindel, Bug und Heck liefen in feinen Spitzen zu. Erik schätzte die Länge auf das Fünffache der Schildkröte − vielleicht hundert Schritte. Aber die Wiedergabe konnte täuschen. Er sah keine Segel, keine Ruder. »Ich sehe keine Planken«, sagte er. »Und es scheint rundherum geschlossen zu sein. Mehr wie ein Haus. Kein Segel, keine Ruder. Wie kann das sein?« »Woher soll ich das wissen?« »Warum sollte man ein Dach über ein Boot machen? Angenommen, es sollte sich nicht nur auf dem Wasser, sondern auch unter Wasser bewegen …« Erik schüttelte den Kopf. »Womöglich sollte der geschlossene Rumpf etwas am Entweichen hindern.« »Was?« fragte Erik. »Luft? Angenommen, der Ozean, durch den dieses Boot segelte, ist ohne Luft, wie die Luft ohne Wasser ist.« »Das ist verrückt.«
Cotza lachte. »Das Leben und die Methoden der alten Slann werden uns noch für lange Zeit unverständlich bleiben. Vielleicht für immer.« Er wischte über seine Obsidianscheibe. Das Bild des Himmelsbootes begann unter sie zu gleiten; Cotza mußte die Scheibe kippen, um es im Bild zu behalten. »Wir gelangen über das Boot hinaus«, sagte er. »Es ist im Eis begraben …« »Wir sind beinahe darüber hinweg.« Erik eilte zu den Pferden und zog an ihrem Zaumzeug. Die Schildkröte kam zum Stillstand. Erik nahm mehrere Armvoll Heu und warf sie den schnaufenden Tieren vor. Cotza kroch am Boden der Schildkröte herum, beobachtete das vergrabene Boot in seiner Obsidianscheibe und machte grobe Skizzen auf ein Pergament. Er zeigte Erik Einzelheiten: Platten von verbogenem Metall und obskure rechteckige Zeichen. »Welch ein Schatz!« begeisterte er sich. »Nur keine Aufregung, Cotza. Wir wissen noch nicht, wie wir es erreichen sollen.« Cotza setzte seine Untersuchung fort. Endlich breitete er das Ergebnis seiner Bemühungen vor Erik aus. Es war ein skizzierter Plan des Himmelsbootes. »Hier«, sagte er und berührte den Punkt mit einem Daumen. »Sehen Sie, wie die Platten auseinandergerissen sind? Das Loch ist groß genug, um uns einzulassen. Sogar einen Mann von Ihrer Breite und Größe«, fügte er hinzu. Erik studierte die Zeichnung, dann ging er in der Schildkröte auf und ab. Schließlich wählte er eine Stelle aus und räumte sie frei. »Das Loch muß hier sein«, sagte er. Der Slann nickte aufgeregt. »Ja.« Er stand auf und schlüpfte in seinen purpurnen Umhang. »Nun, Erik? Sehen wir uns dieses Boot mit eigenen Augen an.« Erik verspürte einen Widerwillen, die schützende Mithrilpanzerung aufzubrechen … Aber er hatte für dieses Ziel einen weiten, mühsamen Weg auf sich genommen. Und, sagte er sich, man kann nur einmal sterben. Er grinste, hob die Streitaxt und hieb
sie in den Boden. Die hölzernen Planken splitterten und brachen. Nach wenigen Schlägen hatte er die Planken geöffnet und die einander überlagernden Panzerplatten erreicht. Die Roheisenversiegelung brach unter seinen Stiefeltritten. Bald waren zwei Platten so weit gelockert, daß er sie herausziehen konnte. »Das ist genug«, knurrte er. »Wir müssen die Öffnung so klein wie möglich halten.« Unter dem Loch war schmutziges Eis zu sehen. Erik befühlte es mit einem Finger − und fuhr mit einem Schrei zurück, als das Eis in Dampf aufging. Der Slann lachte. »Die üblichen Naturgesetze gelten hier nicht, erinnern Sie sich?« Erik warf ihm einen finsteren Blick zu, dann stieß er mit dem Stiel seiner Streitaxt in das aufplatzende Eis, bis es ganz verdampft war. Der Dampf füllte die Kabine und schlug sich an den Wänden nieder. Cotza schnüffelte befriedigt. Unter dem Eis war die Erde grau und tot, wie feiner Sand. Erik schaufelte sie mit der Axtklinge heraus. Dann stieß der Stahl mit hellem Klang auf etwas Hartes, Metallisches. Erik beugte sich in die Öffnung und schob mit der Hand die restliche Erdschicht beiseite. Das Metall des Himmelsbootes schimmerte wie polierte Bronze. Der Slann kauerte neben Erik und berührte es ehrfürchtig. »Es ist wie neu, nach so vielen tausend Jahren«, flüsterte er. »Aber sehen Sie, wie zerdrückt es ist.« Erik grub die Erde auf, bis er die Bresche im Rumpf erreichte. Die letzten Erdbrocken fielen in ein rundes, dunkles Loch, das ungefähr den Durchmesser einer Armeslänge hatte. Erik spähte hinein, sah aber nichts. »Geben Sie mir eine Laterne.« Cotza brachte ihm ein Talglicht in einer Tonschale. Erik senkte sie vorsichtig in das Boot. Die Flamme flackerte, brannte aber weiter. »Also ist die Luft nicht schlecht«, zischelte Cotza. Erik machte einen Boden aus Metall aus, der ungefähr neun
Schuh unter ihm lag. Er blickte über die Schulter zu Cotza. »Von hier aus können wir nichts erfahren. Ich gehe hinein.« »Lassen Sie mich die Lampe halten.« Erik steckte die Streitaxt in den Gürtel und schwang die Füße in das Loch. Sein Körper ging mit Leichtigkeit hindurch, und er ließ sich hinunter, bis er an den Fingerspitzen baumelte. Er ließ los, und seine Stiefel prallten mit einem hellen Klang auf das Metall. Er duckte sich und spähte umher, die Waffe wieder in der Hand. Stille und Dunkelheit, bis auf sein eigenes Atmen und den gelben Lichtschein über seinem Kopf. Der Slann spähte durch die Öffnung. »Erik?« »Alles in Ordnung. Hier ist nichts. Geben Sie mir die Lampe.« Cotza streckte seinen Arm abwärts, Erik den seinen aufwärts, erreichte die Lampe und wandte sich mit dem Licht in der Hand um … Ein weißes Gesicht ragte vor ihm, die Kiefer weit geöffnet. Erik schrie auf, riß die Streitaxt hoch und schlug wie wild zu. »Nordmann! Was ist geschehen?« Erik trat schwer atmend zurück. Vor ihm war ein Stuhl, groß und fein genug gearbeitet, um ein Thron zu sein. Nun war er bedeckt von Knochensplittern. Staub trieb in der leblosen Luft. »Nichts«, sagte Erik. »Es besteht keine Gefahr. Es war ein Skelett auf diesem Sitz.« Erik stellte seine Lampe auf den Boden und nahm ein größeres Bruchstück des Schädels vom Sitz. Der Kopf war groß gewesen und flach. Er hielt das Bruchstück unter die Öffnung ins Licht. »Was war es Ihrer Meinung nach?« »Ein Slann«, sagte Cotza. »Genau wie ein moderner Schädel − vielleicht ein wenig größer, ein wenig feiner. Zweifellos hat der Niedergang uns vergröbert. Wahrscheinlich war es ein Seemann, Erik. Ein Slann, der das Himmelsboot steuerte und umkam, als es sich ins Eis bohrte.« Cotza ließ seine Füße in das Loch baumeln
und sich herunterfallen. Erik hob das Licht auf und begann das Himmelsschiff zu erforschen. Sie waren in einem Raum, der ungefähr die Größe der Schildkröte hatte. Erik untersuchte die Wände, konnte aber keine Fugen zwischen Platten sehen. Ein weiteres Skelett saß vor einem Tisch. Es schien vollständig intakt. Der Tisch war übersät mit Knöpfen und Glassplittern. Auf dem Sitz lag eine Menge Staub − vielleicht die Reste der Kleidung und des verwesten Fleisches. Vom Brustkorb baumelten noch Fetzen eines unbestimmbaren Materials. In der Luft über dem Tisch hing eine Spindel von der Größe seiner Faust. Erik hielt Ausschau nach Drähten oder Schnüren, an denen sie hängen mußte, konnte aber keine erkennen. »Sehen Sie sich dies an«, sagte er. »Es ist wie ein Spielzeug des Bootes … ein Modell.« Cotza trat näher und stieß mit einem Finger gegen das Ding. Bei der Berührung gab es einen Funken und einen Knall wie von einem Zündhütchen für Schießpulver. Der Slann sprang zurück. Das kleine Modell schaukelte in der Luft − und das Himmelsboot knarrte und bewegte sich in seinem eisigen Bett wie ein Bär, der sich im Winterschlaf regt. Cotza blickte angstvoll umher. Erik hörte sich knurren. Das Modell kam zur Ruhe. Gleichzeitig hörte das Knarren auf. Cotza sah Erik an. »Wissen Sie, was dies ist?« »Was?« »Es dient zur Steuerung des Bootes. Es ist wie … ein Ruder. Ja, ein Ruder. Bewegt man das Modell, so bewegt man das Boot. Verstehen Sie? Manche Zauber wirken nach dem gleichen Prinzip.« Erik betrachtete zweifelnd das Modell. »Jedenfalls sieht es nicht gerade so wie die Ruder aus, die ich kenne.« Cotza näherte sich einer Wand. Sie war mit Flächen dunklen Glases verkleidet. Unter jeder Tafel dieser Verkleidung war ein
Schild mit einer engstehenden, unbekannten Schrift. »Dieser Raum ist offensichtlich nur ein Teil des Bootes«, murmelte der Slann. »Und was ist im Rest?« »Vielleicht die Segel − oder was immer sie brauchten, um dieses Boot durch die Lüfte zu bewegen.« Er ging nahe an das schwarze Glas heran. »Dieses Zeug ist Obsidian. Kommen Sie und sehen Sie …« In der Obsidiantafel war ein Bild zu erkennen. Erik sah Sterne und etwas Rundes und Glänzendes. Die Welt? »Ich denke«, sagte der Slann, »wir sehen hier, was die Seeleute auf der letzten Reise dieses Bootes sahen. Es ist wahr, Erik. Dieses Himmelsboot reiste zwischen den Welten.« »Dann ist diese Kajüte vielleicht eine Art Beobachtungsposten«, überlegte Erik. »Wie ein Ausguck auf dem Mast eines Langbootes.« Der Slann nickte zerstreut. Seine schwarze Zunge fuhr heraus und leckte die breiten Lippen. »Ich glaube, in diesem einen Raum ist mehr Obsidian als in ganz Lustria.« Er hob die rechte Hand. »Rühren Sie nichts an, Cotza. Denken Sie an das Steuergerät. Vielleicht gibt es einen Schutzzauber.« »Ich bin ein Slann, Erik«, sagte Cotza hochmütig. »Dies ist mein Erbe. Wenn wir diese Obsidiantafeln lösen können, werden sie mich reicher machen, als ich in meinen kühnsten Träumen erwartete. Und wer weiß, was wir sonst noch finden werden …« Cotza zupfte den rechten Handschuh von den Fingern und spreizte sie. »Cotza! Nicht …« Cotza berührte den Obsidian. Feuer und Donner erfüllten die Kajüte.
* Erik wurde gegen eine Wand geschleudert. Jähe Hitze verbrannte sein Gesicht. Es roch versengt von seinen Haaren, dem Bart, den Kleidern. Die rote Glut verblich, das betäubende Krachen verhallte in Stille. Hustend und mit tränenden Augen erhob sich Erik. Die Waffen waren noch in seinen Händen. Gut. Rasch hielt er Umschau. Die Talglampe war ausgeblasen, aber blutrote Glut kam von der Platte, die Cotza berührt hatte. Über seinem Kopf konnte Erik das Loch sehen, das in die Schildkröte führte. Und jenseits davon konnte er Sterne sehen. Also hatte die Explosion das Mithril aufgebrochen. Sie waren schutzlos dem Chaos preisgegeben. Verzweiflung griff ihm ans Herz. Aber dann faßte er sich. Eins nach dem anderen. Er sah sich nach Cotza um. Der Slann lag wie ein Bündel Lumpen in einer Ecke. Ungläubig starrte er auf seinen rechten Arm, der ein paar Zoll unter dem Ellbogen in einem Stumpf endete. Dickes Blut quoll aus der Wunde. Erik kannte solche Verletzungen und wußte, daß ihm bestenfalls Minuten blieben, den Slann zu retten. Er ergriff den Saum des Umhangs und riß einen Streifen herunter. Dann wickelte er ihn um den Armstumpf und drehte ihn wie eine Aderpresse zusammen, bis der Blutfluß langsamer wurde und versiegte. Dann stand Erik auf, hob den Slann hoch und stieß ihn mit einem Schwung durch das Dach und zurück in die Schildkröte. Cotza war leicht wie ein Kind. Erik sprang auf, bekam den Rand der Öffnung mit den Fingerspitzen zu fassen und zog sich hinauf. Der Slann lag schlaff und leise stöhnend am Boden. Erik blickte rasch im Innenraum der Schildkröte umher, das Schwert in der Hand. Die Pferde wieherten und stampften. Die Luft in der Schildkrö-
te war kalt und feucht. Ein eisiger Wind blies durch das aufgebrochene Dach. Erik reckte sich und fühlte mit einer Hand umher, bis seine Finger eine losgerissene Mithrilplatte fühlten. Weiche Finger streiften sein Handgelenk. Er biß die Zähne zusammen und zog die Platte über das Loch. Der Wind erstarb zu einem Flüstern. Es war nicht vollkommen, aber es mußte genügen. Sein Fuß stieß gegen etwas. Es war die Spindel, das Ruderspielzeug vom Himmelsboot; die Explosion mußte es durch die Öffnung geschleudert haben. Er stieß es noch einige Male mit dem Stiefel an, doch gab es keine Reaktion. Einer Regung folgend, steckte er das kleine Modell ein. Nun der Slann. Cotza konnte noch immer sterben, wenn die Wunde nicht behandelt wurde, doch Erik war entschlossen, ihn am Leben zu erhalten, bis er einige Fragen beantworten würde. Er entzündete zwei Talglichter, dann kniete er nieder und zog den verstümmelten rechten Arm unter dem Körper des Froschmannes hervor. Cotza stöhnte und starrte mit leerem Blick zu Erik auf. Dieser hielt den Armstumpf in die Flammen der Talglichter. Der Slann schrie erbärmlich und leistete schwächlichen Widerstand, aber Erik hielt den Arm fest, bis er sehen konnte, daß alle Adern in den Flammen geschrumpft waren und sich geschlossen hatten. Dann hob er den ohnmächtig gewordenen Slann in seinen Bottich und entzündete das kleine Feuer darunter. Cotza schlief stundenlang. Erik wartete, bis jener die wäßrigen Augen wieder öffnete. Seine Lider waren von Schleim verklebt. Er hob den Kopf und blickte trübe umher. Dann begegnete sein Blick Erik. »Sie sind kein Slann«, sagte dieser in ruhigem Ton. »Ich dachte es mir, als Sie keine Magie hatten, um den Luftelemental abzuwehren. Und dann Ihr Charakter. Ihre Gier, Ihr Ehrgeiz. Das ist nicht die Art der Slann. Zudem sind Sie ein Feigling; Sie können niemals ein Adlerkrieger gewesen sein. Jetzt habe ich den Beweis.
Diese Obsidianplatte hätte einen echten Slann nicht verletzt. Es ist Zeit für die Wahrheit. Wer sind Sie, Cotza?« Cotza tauchte den Kopf in das trübe Wasser und rieb sich den Schleim aus Augen und Nase. Dann sagte er: »Ich bin Mensch.«
* Cotza erzählte, daß er einer armen Bauernfamilie im Norden Bretonnias entstammte. Er wuchs in Armut und Schmutz auf. Adlige Grundbesitzer herrschten über die Dörfer ihrer Leibeigenen und Pächter, denen sie nur das Nötigste zum Leben ließen. Cotza war ein wieselartiger Junge, schwächlich und nachtragend, unbeliebt bei seinen Altersgenossen. Sein einziger Trost waren die Geschichten der alten Männer seines Dorfes. Sie erzählten phantastische Legenden von weit entfernten Ländern und Zeiten, und Cotza saß mit offenem Mund am Rand ihrer beschaulichen Zirkel. Am besten gefielen ihm die Geschichten von den alten Slann mit ihren fliegenden Drachen, die Feuer speien und sich in die Lüfte erheben konnten. In seinen Träumen war Cotza ein Gottkaiser, der durch Obsidianspiegel seine grenzenlosen Reiche überblickte … Cotza war zum Mann herangewachsen, als eines bedeckten Tages die Werber für die Armee des Königs auf den Marktplatz geritten kamen. Die bunten Federbüsche auf ihren Helmen leuchteten vor den armseligen Lehmhütten. Die Werber erzählten den jungen Männern, die sie zusammengerufen hatten, daß der König einen Feldzug nach Estalia plane und Freiwillige für sein Heer benötige. Bei den Soldaten gebe es regelmäßig Sold, und die Freiwilligen würden außerdem ein Handgeld von einem halben Dukaten bekommen. So wurde Cotza für den Fyrd angeworben, die aus Fußvolk be-
stehende Unterstützungstruppe des königlichen Ritterheeres. Er erhielt ein heraldisches Wappen, das er auf Brust und Rücken seines braunen Kittels nähen mußte, und wurde mit einem Kurzschwert und einem Spieß ausgerüstet. Er fand das Leben im Heer des Königs hart und wenig einträglich, und er sah, wie die Offiziere herumstolzierten, gegeneinander Ränke schmiedeten und sich bereicherten, wo sie konnten. Unterdessen wurde das Fußvolk in großen, schlecht ausgerüsteten Abteilungen in den Kampf geworfen. Viele starben, weil sie ungenügend für den Kampf gegen Berittene ausgebildet waren, doch Cotza war ein Feigling. Er versteckte sich, rannte davon und wurde von seinen Kameraden verachtet. Aber er überlebte. Cotza lernte, daß auf dem Schlachtfeld auch Magie eine Rolle spielte. Während das Fußvolk in wildem Getümmel aufeinander einhieb, sah er Ritter in verzauberten Rüstungen unter magischen Standarten in den Kampf reiten. Er beobachtete seltsame Dinge. Ein Mann erlitt schwere Kopfverletzungen und kämpfte dennoch weiter. Ein Ritter spaltete sich sekundenlang geheimnisvoll in zwei gleiche Gestalten und verwirrte seinen Gegner. Und es kam vor, daß starke, gewaltige Krieger ohne ersichtlichen Grund ihre Waffen wegwarfen und heulend vom Schlachtfeld flohen. Im Mittelpunkt des Geschehens war eine sonderbare Gestalt, ein gebrechlich aussehender alter Mann, der nichtsdestoweniger durch eine Menge von Kriegern gehen konnte, die ihm alle ehrerbietig Platz machten. Dies war Rufus, ein mächtiger Zauberer im Sold des Königs. Sein knochiges Gesicht war von einem Vollbart bedeckt, und er trug einen Umhang, der steif war von eingenähten Runen, Knochensplittern und Bruchstücken zerbrochener Klingen. Gewöhnlich trug er verblaßte Pergamentrollen mit seinen Zaubersprüchen unter dem Arm. Einmal ließ er solch eine Rolle fallen. Sie begann zu dampfen, als sie auf der feuchten Erde lag. Niemand wagte sie für ihn aufzuheben. Rufus schien zu schimmern, wenn er ging. Die Aura der
Macht um ihn war beinahe spürbar. Cotzas Augen schmerzten, wenn er ihn zu lange ansah. Der Feldzug des Königs blieb schließlich im Schlamm stecken. Das Fußvolk zog sich in ungeordneten, zerlumpten Haufen über die bretonnische Grenze zurück. Cotza dachte an die Rückkehr ins Dorf, wo ihn ein Leben in Armut und Schmutz erwartete … Sie marschierten über ein altes Schlachtfeld. Die verwesenden Leichen von Freund und Feind verbreiteten einen fürchterlichen Gestank. Wenig später wurde das Signal zum Aufschlagen des Lagers gegeben. Der erschöpfte Cotza legte sich auf die Erde und wickelte sich in seine fadenscheinige Decke. Er schloß die Augen, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er wälzte sich auf dem harten Boden, hörte die Flüche, das Schnaufen und Schnarchen seiner Kameraden. Etwas stimmte nicht. Der Boden unter ihm war warm. Warm? Er wartete, bis es Nacht geworden war und alle schliefen, dann hob er die Decke und kratzte die Erde beiseite. Schließlich setzte er sich auf und starrte angestrengt und mit Herzklopfen auf seinen Fund. Er hatte eine Zauberrolle gefunden, die während der Kämpfe des Vormarsches zu Boden gefallen und in den Dreck getrampelt worden war. Ein mattes Glimmen ging von ihr aus, wie die erlöschende Glut in einem Stück Kohle. Cotza bedeckte die Rolle hastig mit Erde und legte sich nieder. Das Herz schlug ihm im Halse. Dies war seine Chance. Früh am nächsten Morgen suchte er das mit arkanen Symbolen geschmückte Zelt des Zauberers Rufus auf und wartete am Eingang, bis der Zauberer herauskam. Rufus musterte ihn mit finsterem Blick. Die Stücke der zerbrochenen Waffen, die in seinen Umhang genäht waren, glitzerten wie harte Augen. Cotza zitterte vor Angst, aber er lief nicht davon. Er berichtete Rufus von der Pergamentrolle. Der Zauberer forderte ihn auf, sie zu beschreiben, und als Cotza es getan hatte, so gut er konnte, ver-
engten sich die Augen des Zauberers nachdenklich, und er fragte, wo die Rolle sei. Cotza faßte sich ein Herz und schlug einen Handel vor. Der Zauberer verspottete ihn, ging aber auf den Handel ein. Cotza führte ihn zu der Rolle. Der Zauberer hob sie ehrfürchtig auf, befreite sie von anhaftender Erde und nickte Cotza bedächtig zu, bevor er in sein Zelt zurückkehrte. Der Zauberer benötigte einige Tage, um seine Vorbereitungen zu treffen. Dann schickte er einen Boten, der Cotza zu seinem Zelt führte. Nun, da der Augenblick gekommen war, fühlte Cotza sich von Furcht beinahe überwältigt. Mit Zittern und Zagen folgte er dem Boten, neugierig beobachtet von seinen Kameraden. Kurze Zeit später betrat er das Halbdunkel des Zelts, in dem der Zauberer ihn erwartete. Rufus war eine undeutliche Gestalt in den Schatten. Auf einem hölzernen Tisch lag der stinkende Leichnam eines Slann. Cotza war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen; eine beschämende Wärme breitete sich naß über seine Beine aus. Aber unter der Anleitung des Zauberers stieg er auf den Tisch und legte sich neben den Leichnam. Es dauerte drei Tage. Die Schmerzen waren mehr, als Cotza ertragen konnte − beinahe. Dann, am vierten Tag, öffnete er neue Augen. Die Welt war eitergelb gefärbt. Der Zauberer hielt ihm einen Spiegel hin. Ein Slanngesicht starrte Cotza an.
* »Sie sehen, sogar gewöhnliche Soldaten kennen viele Legenden aus allen Teilen der Welt«, sagte Cotza. »Ich lauschte den Geschichten von Elfen und Zwergen, siebte den Unsinn aus, such-
te nach den Körnchen Wahrheit, hielt Ausschau nach Gelegenheiten … Ich erinnerte mich wieder an diese Geschichten, die ich als Junge im Dorf gehört hatte. Ich lernte, daß die Slann die älteste Art auf Erden sind. Ihre Macht, obschon vergangen und verloren, war einst die größte. Dann hörte ich die Legende vom Himmelsschiff und entschied, daß dies meine Chance sei. Als Gegenleistung für die Rolle gab der Zauberer mir Gold … Und ich bat ihn, mich zu einem Slann zu machen. Ich würde das Himmelsboot suchen, seinen Schatz bergen und Macht gewinnen.« Erik betrachtete den verstümmelten amphibischen Körper ohne Mitleid. »Sie waren so dumm, sich dies zu wünschen? Ein Slann zu sein?« »Es war mein Kindheitstraum«, wisperte Cotza. »Eine Gelegenheit, das Himmelsschiff der alten Slann zu finden. Es war ein Glücksspiel um den höchsten Einsatz − für die Chance, Macht zu gewinnen, wie kein Sterblicher sie seit fünftausend Jahren besessen hat. Vielleicht die Macht, unsterblich zu sein.« »Aber Sie haben verloren«, versetzte Erik. »Sie konnten mich täuschen, nicht aber die Maschinerie der alten Slann. Nicht wahr?« Cotza ließ den Kopf hängen und beugte sich über seinen verstümmelten Arm. Erik wandte sich von ihm ab. Mehr gab es nicht zu sagen.
* Die Schildkröte kroch über das Eis wie eine verwundete Schnecke. Erik hatte die Pferdegeschirre angezogen und sie wieder dazu gebracht, ihr metallbeschlagenes Band in Bewegung zu setzen. Sie waren störrisch und unwillig, und so kam die Schildkröte nur langsam voran.
Hinzu kam, daß die Bänder sich knirschend bewegten. Wenigstens eine der hölzernen Rollen mußte gebrochen sein, dachte Erik. Er versuchte die lockeren Mithrilplatten in Dach und Boden zu befestigen, aber sie klapperten und verrutschten, und Erik spürte voll Ingrimm, wie unsichtbare Gliedmaßen tastend in die gebrochene Panzerung fühlten. Die ersten paar Tage bestimmte Cotza mit seiner Mappe und dem Obsidianspiegel den Kurs, aber er wurde zusehends apathischer. Endlich kroch er unter ein paar Pelze, ließ seinen Armstumpf heraushängen und nichts mehr von sich hören. Die Luft wurde kälter. Reif begann sich auf den Fellen zu bilden, mit denen die metallenen Wände verhängt waren. Erik saß mit dem Rücken an der Wand, und hinter dem dünnen Metall konnte er hämisches Lachen hören. Sein eigener Körper war ein Kampfplatz. In seinen Träumen wurden ihm die Hände zu Wolfspfoten, die in sein menschliches Gesicht fuhren und es zerkratzten. Trotz der Kälte erwachte er schwitzend, das Haar auf seinen Wangen und Handrücken gesträubt und juckend. Die Talglichter verbreiteten trüben Schein. Die Schildkröte wurde zu einem Ort der Schatten, düster und unheimlich, nicht länger ein Ort der Zuflucht. Einmal, als er die Pferde zur festgesetzten Zeit füttern und tränken wollte, bäumten sie sich in ihren Geschirren auf, rollten die Augen und bleckten die Zähne. Er hatte Mühe, ihren Vorderhufen auszuweichen. Etwas regte sich unter dem Haufen schmutziger Pelze. Erik schob sie mit dem Stiefel beiseite. Cotza blinzelte zu ihm auf. Er stank nach Blut und Urin. Ein paar blaue Federn hafteten noch an seiner Haut. Der falsche Slann hielt seinen verstümmelten Arm hoch. Etwas wuchs aus dem Stumpf. Es hatte ein winziges Gesicht mit einem Mund, der sich öffnete und schloß. Cotza starrte es mit leerem Blick an. Erik schob die Felle wieder über das vom Chaos gezeichnete
Geschöpf und kehrte an seinen Platz zurück. Lange saß er so, die Hände unter die Achseln gesteckt, und versuchte sein Zittern zu unterdrücken.
* Wieder gerieten sie unter die Herrschaft Slaaneshs. Und wieder schlugen die Fäuste gegen die Panzerung der Schildkröte. Diesmal gab das Dach nach. Erik klammerte sich an eine Wand, die unter Erschütterungen bebte. Die Pferde schnaubten und warfen die Köpfe hoch. Cotza wand sich winselnd unter seinen Fellen. Die Schildkröte wurde geschaukelt, aufgehoben und fallen gelassen; Rollen brachen, und Erik hörte die mithrilbeschlagenen dicken Lederbänder das zerbrochene Holz zu Splittern mahlen. Es roch nach Sägemehl. Gleichwohl kroch die Schildkröte weiter. Aber nun hörte Erik ein Geräusch, das zuerst leise wie ein Herzschlag war, ein fernes Hufgetrappel, das sich rasch näherte, bis … … eine Wand der Schildkröte mit einem Krachen wie von einem Donnerschlag eingedrückt wurde. Mithrilplatten barsten und fielen durcheinander. Die letzten Lampen gingen aus, und die Schildkröte schwankte einmal, zweimal, kippte seitwärts. Erik kollerte durch die zerbrochene Schildkröte, beide Arme schützend um den Kopf gelegt. Pelze und Holzsplitter, Fett und Vorräte regneten auf ihn herab. Flüchtig sah er ein riesiges, mit zottiger Wolle bedecktes Gesicht, gekrümmte Hörner wie Schwerter. Die Schildkröte blieb auf der Seite liegen. Mit einem dröhnenden Siegeslachen stampfte der Minotaurus durch die dunkle Mondlandschaft davon. Erik befreite sich von den Gegenständen, unter denen er lag, und setzte sich auf. Durch die eingedrückte Seitenwand fiel düs-
teres Licht ein. Reste von gerissenem Lederzeug lagen umher. Die Kriegspferde waren ein dunkles Gewühl von Leibern, die gegen die Fesseln ihrer Geschirre ankämpften. Erik hörte die zähen Lederriemen wie Zwirnfäden reißen. Die Tiere schlugen mit den Hufen gegen die nächste Wand, bis Panzerplatten wie Herbstlaub durcheinanderfielen. Dann gaben auch die letzten Gurte nach, und die Pferde brachen durch das Holzgerüst der Wand und galoppierten davon. Erik zog sich in die Höhe, tappte vorsichtig durch die Trümmer und spähte aus der zerbrochenen Panzerung. Die Schildkröte lag in einer felsigen Landschaft, wo vereinzelt gekrümmte Bäume wuchsen. Der Himmel war ein trübes Grau. Ein Duft war um ihn, als wäre eine schöne Frau vorübergegangen … Nichts regte sich. Und doch fühlte Erik sich von nichtmenschlichen Augen beobachtet, die auf ihn warteten. Ungeschützt würde er dort draußen nicht länger als Minuten überleben. Er brauchte das Mithril. Zwischen den Trümmern einer Wand fand er einen Brustharnisch und einen Helm; er band den Harnisch mit einem Lederriemen fest und drückte sich den Helm auf den Kopf, dann suchte er nach Teilen der zerrissenen Antriebsbänder. An dem zerfaserten Leder hafteten noch die Mithrilstreifen; Erik wickelte sich die Fetzen um die Gliedmaßen und befestigte sie mit Lederriemen. Er verhüllte sein Gesicht mit dem gleichen Material und ließ nur Schlitze für die Augen frei. So gut es ging in Mithril gehüllt, Axt und Schwert in den Händen und mit dem Ruderspielzeug in seinem Hemd, verließ er die Schildkröte. Schleim überzog das zerbrochene Gehäuse, und das Zeug tropfte auf ihn. Der Drachenkopf war verschwunden; der Balken, aus dem Hals und Kopf gehauen waren, zeigte Spuren scharfer Zähne. Eine Stimme rief ihm nach: »Erik … Helfen Sie mir.« Und eine
zweite, winzige Stimme echote spöttisch: »Erik … Erik …« Cotza war verloren. Erik konnte ihm nicht helfen. Er sah sich nicht um. Das Land schien bar jedes Lichts. Es war weder Tag noch Nacht. Zuweilen schien der Horizont unglaublich fern, dann wieder unmöglich nahe, als ob die Welt wie die Brust eines atmenden Giganten anschwoll und zurücksank. Erik schüttelte den Kopf. Er war im Grenzgebiet der Ödländer. »Die Regeln gelten nicht«, sagte er sich und stolperte weiter. Gelegentlich riß die Wolkendecke auf, und Erik konnte Sterne ausmachen. Sie flackerten verschwommen, wie durch Tränen gesehen, aber sie waren da. Erik blinzelte zu ihnen auf, suchte den Polarstern. Als er ihn fand, kehrte er ihm den Rücken und hinkte weiter. Südwärts. Immer südwärts. Von Zeit zu Zeit hörte er dumpfes Rumpeln und Grollen hinter dem Horizont, sah Wetterleuchten. Die Horden Slaaneshs? Er beschleunigte seinen Schritt und lief, bis ihm der Atem in der Brust rasselte, nur fort von dem Schrecken. Aber es gab keine Zuflucht. Selbst in der ruhigsten Stunde, selbst im leblosen Ödland langten geisterhafte Finger nach ihm, neugierig und forschend. Dann warf er sich herum, das Schwert in der Hand; aber nichts war zu sehen. Sie beobachteten ihn, ließen sich Zeit. Vielleicht stritten sie über die zu erwartende Beute. Er schüttelte den Kopf und stapfte weiter. Er wagte nicht zu schlafen. Er wußte, daß ihm, wenn er das Bewußtsein verlöre, nicht erlaubt würde, wieder zu sich zu kommen. Die Tage vergingen, und mit ihnen schwanden seine Kräfte. Schließlich knickten ihm die Knie ein. Er sackte zu Boden, von dem Gewicht seiner Rüstung mit dem Gesicht auf die Erde gepreßt. Staub wehte über seine Beine und begrub sie. Nein … Von irgendwo fand er die Kraft, sich aufzurichten, seine Füße aus dem verschlingenden Staub zu ziehen. Mit einem trotzi-
gen Geheul zog er einen Fuß nach dem anderen aus der Anwehung, die ihn bald zugedeckt hätte, und arbeitete sich weiter. Sein Geheul war das eines Wolfes gewesen. Er bohrte die Fingernägel in Handteller, die dicker und schwieliger schienen als zuvor. Sein ganzes Leben hatte er um die Bewahrung seiner Menschlichkeit gerungen. Nur auf dem Schlachtfeld hatte er seine Werwolfskraft eingesetzt. Aber nun war seine menschliche Kraft erschöpft, und der Wolf kam zum Vorschein. Würde er als Tier sterben, die Gedanken erfüllt von Jagd und Blut und Tod? Die Augen halb geschlossen, den Körper überkrustet von Stücken und Fetzen schützenden Mithrils, stolperte Erik der Werwolf durch die tödliche Landschaft. Undeutlich bemerkte er, daß sie sich veränderte. Die Bäume verschwanden, und der Staub machte einer Oberfläche Platz, die eben und nachgiebig war. Derbes schwärzliches Gras sproß aus der Erde. Ein Grasbüschel wickelte sich um seinen Fuß, und Erik fiel scheppernd zu Boden. Die Erde war warm. Körperwarm. Ein Ohr an die Oberfläche gelegt, konnte er ein dumpfes Geräusch hören. Wie der Herzschlag eines Titanen. Benommen, aber voll Abscheu, versuchte er aufzustehen und sich von diesem trügerischen Boden zu entfernen. Aber Stränge des schwarzen Haargrases wickelten sich um seine Knöchel und Handgelenke und hielten ihn nieder. Aus dem Boden unter ihm drängte sich ein Gesicht. Ein menschliches Gesicht, das Gesicht eines Jungen. Fell wuchs über die hohen Backenknochen. Der Junge starrte in Eriks Augen und weinte. »Erik«, sagte er leise schluchzend. »Erik …« Er kämpfte gegen die Fesseln der Haare. Das gequälte Gesicht war sein eigenes als Kind. Nun war ein leises Knurren zu hören. Das Gesicht verlängerte sich. Schnurrhaare wuchsen aus der sich nach vorn streckenden Kieferpartie, und ein Maul mit scharfen Zähnen grinste. Es war das Gesicht eines Wolfes. Einer Wölfin. Sie leckte sich mit der
rosa Zunge die Lefzen. Ihr Körper drängte sich gegen ihn. Der Körper war der einer menschlichen Frau. Erik bellte leise, geriet in Erregung. Seine Panzerung war im Weg; er begann sich von ihr zu befreien. Der geschmeidige Körper der Frau bewegte sich unter ihm … »Nein!« seine Stimme war ein Knurren. Er befreite seine Rechte und befühlte sich das Gesicht. Die Andeutung einer Schnauze war da; seine Kieferknochen schmerzten unerträglich, als würden sie gestreckt. »Nein, nein, nein …« Die menschlichen Worte schnitten durch seine heißen, verwirrten Gedanken. Er machte sich los. Das Gras riß mit den Wurzeln heraus. Das Land blutete. Schwer atmend stand er aufrecht. Es war eine Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten und sich nicht auf alle viere fallen zu lassen. Das Wolfsgesicht lachte ihn an; der Körper wand sich. Aber nun sah Erik, daß die Augen grün waren und der Körper der einer Frau. Sie war unglaublich schön und wohlgeformt, trug aber einen langen Schwanz, der in einem Stachel endete. Das Stigma Slaaneshs. Lachend versank die Dämonin wieder unter der Oberfläche. Hinter ihm wurde ein Schnauben laut und Hufgetrappel. Erik flog herum. Die Kriegspferde. Sie galoppierten in einer Wolke aus dampfendem Atem, schaumigem Speichel und Schweiß auf ihn zu. Ihre Hufe hinterließen kleine blutige Verletzungen in der lebendigen Erde. Hoffnung keimte auf. Wenn er eines von ihnen einfangen könnte … Die Pferde kamen näher, noch immer eng zusammengedrängt. Nun konnte er sehen, daß die Köpfe aufs Geratewohl aus der kompakten Gruppe ragten. Die Nüstern waren gebläht, die Augen rollten, und die Köpfe schnappten und bissen nacheinander. Die Beine bewegten sich unkoordiniert durcheinander, einige schienen gebrochen und baumelten kraftlos. Eriks Hoffnung schwand. Dies waren nicht mehr die Pferde, die
er kannte. Die Gruppe war zu einer einzigen Kreatur verschmolzen, einem Sack aus dunklem Fell, dem die Reste der Kriegspferde entragten. Das vielbeinige Monstrum war eine Schimäre, ein Geschöpf der Finsternis. Sie kam vor Erik zum Stillstand; die ihm nächsten Pferde bäumten sich auf, und ein halbes Dutzend Hufe schlugen nach dem Nordmann. Erik blieb breitbeinig stehen, Schwert und Streitaxt in Bereitschaft. In dem Sack von Fell und Fleisch entstand eine Ausbeulung, und ein Reptiliengesicht reckte sich ihm entgegen. Ein breiter Mund öffnete sich. Zwei Arme bildeten sich aus, streckten sich wie bittend ihm entgegen. »Erik!« flehte eine undeutlich gedämpfte Stimme. »Erbarmen! Ich lebe noch und bin in diesem Ding. Helfen Sie mir!« »Cotza …« Die Pferde-Schimäre bäumte sich wieder auf und kam näher, und nun zeigte sich ein Gesicht am rechten Armstumpf dessen, was Cotza gewesen war, eine winzige Karikatur von ihm. »Erik«, zischte es. »Erik.« Dann verlängerte es sich und sprang ihm wie eine Schlange an die Kehle. Erik schlug mit seiner Streitaxt zu, und Cotza winselte in Todesqual. Ein Huf traf Erik vor die Brust, weitere Hufschläge trafen ihn, warfen ihn nieder. Unter den stampfenden Hufen wurde der lebendige Untergrund zu blutigem Brei. Es roch nach Urin und Schweiß. Er verlor seine Streitaxt, wurde zu Boden geworfen und suchte sich zu schützen, indem er die Arme um den Kopf legte. Unter Aufbietung aller Kräfte und mit einem Geheul, das zugleich menschlichen und wölfischen Ursprungs war, kämpfte er sich auf die Beine und stieß das Schwert wieder und wieder in das Monstrum über ihm. Es war eine entfesselte Raserei, ein Durcheinander von Blut und Schmutz und Schmerz. Erik kroch davon, sackte am Boden zusammen, blickte zurück. Die Schöpfung des Chaos tobte nach
wie vor, aber sie wurde von ihm ferngehalten, zurückgedrängt von einer dunklen Gestalt, die heulte und sprang, mit scharfen weißen Zähnen Kehlen aufriß und Sehnen durchtrennte. Es war ein Wolf. Einmal hielt er inne und blickte mit einem Ausdruck von Verstehen zu Erik, dann warf er sich wieder in den Kampf mit dem Geschöpf des Chaos. Erik mühte sich auf die Beine, zog seine ramponierte Rüstung um sich und schleppte sich davon. Das Land wurde wieder zu Staub. Dann knirschte Eis unter seinen Füßen. Erik fröstelte in der Kälte, aber er frohlockte, denn es war eine natürliche Kälte, ein Zeichen, daß er die Schatten der Chaos-Ödländer verließ. Tag und Nacht erneuerten ihren Zyklus. Die Sterne verschwammen nicht mehr am Himmel. Erik wagte zu schlafen, gegen die Kälte zusammengekauert. Er erreichte eine öde Küste. Der gefrorene Sand knisterte. Ein einziges Langboot lag noch auf dem steinigen Strand. Björn sah ihn kommen, rief ihn an, eilte ihm aus dem kleinen Lager entgegen … Ein paar Schritte vor ihm zögerte er. »Erik?« fragte er zweifelnd. Erik öffnete den Mund, befeuchtete die Lippen, bewegte die steife Zunge und versuchte es wieder. »Björn! Was gibt es?« »Also bist du es«, sagte der Nordmann verwundert. »Aber du hast dich verändert.« Er nahm Erik beim Arm und führte ihn zum Wasser, forderte ihn auf, sein Spiegelbild in einem Gezeitentümpel zu betrachten. Erik sah ein glattes Gesicht, einen dünnen, ungepflegten Bart, Backenknochen, die frei von Fell waren. Die Kennzeichen des Wolfes waren verschwunden. Erik blickte zurück zu den Schatten des Nordens, die wie eine dunkle Wolkendecke über dem Land lagen, wo sein verabscheutes Wolfselbst zurückgeblieben war, um ihn vor dem Geschöpf
des Chaos zu retten. Vielleicht kämpfte es noch immer. »Komm mit«, sagte Björn und legte einen Arm um seine Schultern. »Gehen wir ins Lager. Wir haben Fleisch und Met … und morgen früh werden wir nach Norsca in See stechen. Ich wette, du wirst eine ziemlich abenteuerliche Geschichte zu erzählen haben.« Norsca … Er würde als ein Held zurückkehren, und ganz und gar menschlich sein. Nicht mehr Erik der Werwolf. In seinem Hemd fühlte er die schlanke Form des Himmelsschiff-Modells warm an seiner Haut. Ein Spielzeug für seinen Sohn … Vor ihm erstreckte sich das Leben wie ein durchsonnter Raum. »Ja«, sagte er zu Björn, »ziemlich abenteuerlich.«
JACK YEOVIL Unwissende Armeen Da stehen wir auf dunkelndem Gefilde, Durchtost von wirrer Flucht und klirrendem Gewühl der Schlacht Wo unwissende Armeen zusammenprallen in der Nacht. MATTHEW ARNOLD, Dover Beach Er ließ Zarin langsamer gehen und sah das gefrorene Blut um ihre Hufe. Die Nägel des letzten Hufschmieds waren zu tief gegangen. Die Fesseln des Pferdes waren nicht sehr kräftig, und die Ritte der letzten drei Wochen waren hart für die Stute gewesen. Sie war kaum den Preis wert gewesen, den sie für sie bezahlt hatten, als sie ausgeruht gewesen war. Jetzt war sie schonungsbedürftig, doch sie konnten keine Schonungsbedürftigen brauchen.
»So ist es brav, Zarin, nur ruhig«, sagte er und tätschelte den Hals des Pferdes unter der Mähne, fühlte die Wärme durch das glatte Fell. Ihr Körper würde nicht mehr lange warm sein. Einen weiteren Schneesturm, ein weiteres Gefecht oder einen weiteren scharfen Tagesritt würde sie nicht überstehen. Vukotic hatte wie immer recht gehabt. Als sie vor Monaten mit dem Pferdehändler handelseinig geworden waren, hatte Johann vorgeschlagen, die beiden Pferde zu Ehren des Herrscherhauses von Kislev Zar und Zarin zu nennen. Der Eiserne Mann, dessen Gesichtsausdruck unter seinen Narben kaum zu deuten war, hatte geschnaubt und gesagt: »Johann, einem Tier, das man vielleicht wird essen müssen, gibt man keinen Namen.« Vukotic war schon früher in den nördlichen Wäldern Kislevs gewesen, als Söldner im Dienst des Zaren Radii Bokha; dort hatte er einen aufsässigen Bojaren unterwerfen und kleinere Angriffe aus den Chaos-Ödländern abwehren müssen. Er hatte gewußt, wovon er redete. Dies war nicht die Alte Welt, dies war ein grausames Land. Man konnte es in den Gesichtern der Menschen sehen, im eisenharten Boden und dem schiefergrauen Himmel. In den Wäldern konnte man es an den Galgenbäumen und den geplünderten Gräbern erkennen. Alles war bis zum Elend abgehackt und umgehauen, verwüstet und vernachlässigt. In den Gasthäusern waren die Lieder derb oder schwermütig, das Essen wie gewürztes Leder, und alle Witze bezogen sich auf schmutzige Praktiken mit dem Vieh. Im Dämmerlicht sah Johann, wie Vukotic, eine struppige, stachlige Schattengestalt in seinem Bärenfell, mit einem Armvoll Brennholz aus dem Wald kam. Von der vereisten Rinde befreit, brannte das Holz unter starker Rauchentwicklung, aber es brannte die Nacht durch. Vukotic warf seine Ladung in die Mitte des dunkelbraunen Kreises, wo er den Schnee entfernt hatte. Was vom Tageslicht noch übrig war, mußte sich durch die hohen Nadelbäume zum Waldboden durchkämpfen. Sie hätten vor einer
Stunde ihr Lager aufschlagen sollen, um bei Anbruch der Dunkelheit einigermaßen sicher zu sein, aber sie hatten sich keine Ruhe gegönnt und waren durchgeritten. Zarin hatte gelahmt, und sie hatten vielleicht unbewußt, jedenfalls ohne es auszusprechen, Cicatrices Späher in Versuchung führen wollen. Sigmar wußte es, dachte Johann, es würde eine Erleichterung sein, diese Angelegenheit hinter sich zu bringen. Das Pferd wieherte, und Johann fühlte den warmen Atem der Stute an seinem Handgelenk. Er zog seinen Handschuh aus, streichelte das Pferd und griff in die Mähne. Ihm entging nicht, daß das Tier Bescheid wußte. Er konnte die Angst in seinem Auge sehen, aber Zarin war zu müde, zu erschöpft, um sich zu wehren. Sie würde den Tod willkommen heißen. Vukotic stand neben ihnen, die Hand am Messergriff. »Willst du, daß ich es tue?« »Nein.« Johann zog eines seiner eigenen Messer, ein Jagdmesser, dessen Klinge scharf wie ein Rasiermesser war, während der Rücken mit Sägezähnen versehen war. »Ich gab ihr den Namen, ich werde ihr ein Ende bereiten …« Er atmete in Zarins Nüstern und beruhigte das Pferd mit der bloßen linken Hand, während die behandschuhte rechte das Jagdmesser hob. Er blickte ihr ins Auge und spürte − oder bildete er es sich nur ein? −, daß das Tier ihn bat, es schnell und schmerzlos zu machen. Er festigte seinen Griff und stieß das Messer Zarin in den Hals, durchschnitt die Schlagader und wich zurück, um den Blutspritzern auszuweichen. Trotzdem würde seine Hose von Zarins Blut gesprenkelt sein. Das Pferd brach in die Knie und fiel auf die Seite, und mit dem rasch ausströmenden Blut entwich der Geist für immer. Johann sandte ein stummes Gebet zu Taal, dem Gott der Natur und der Tiere, einem der wenigen Götter, an die er sich heutzutage noch im Gebet wandte. Er kniete am Kopf der sterbenden Stute nieder und streichelte das Tier, fühlte die gefrorene Erde durch seine gepolsterten Knieschützer, dann stand er auf und klopfte blutigen Schnee von sei-
nen Kleidern. Vukotic hatte seine Hand in den Blutstrahl gehalten, als wollte er sie darin waschen. Johann hatte ihn das früher schon tun sehen. Es war ein Aberglaube aus seiner Heimat. Er wußte, was der Mann jetzt sagen würde: »Unschuldiges Blut.« Es war wie ein kleines Gebet. Einer von Vukotics Aussprüchen war: »Unterschätze nie die Macht unschuldigen Blutes.« In der Not würde der alte Soldat den geheiligten Namen Sigmars anrufen und das Zeichen des Hammers in den Staub ritzen. Johann scheute Magie − er konnte auf schlechte Erfahrungen zurückblicken −, aber alle wußten von Sigmars strengem Wohlwollen. Wenn es Wunder gab, konnte man nur auf ihn zählen. Aber Sigmars Barmherzigkeit, sein Hammer und die an ihn gerichtete Bitte hatten nichts für das Pferd getan. Jetzt regte es sich nicht mehr. Zarin war tot, und sie hatten Fleisch für zwei Wochen in diesem Wald. Vukotic wischte sich die Hand ab, streckte und krümmte die Finger, als wären sie neu belebt, und holte seinen Feuerstein hervor. Johann wandte sich um und sah, daß sein Gefährte das Brennholz zu einer kleinen Pyramide über einem Nest von Zweigen zusammengestellt hatte. Trockenes Gras war hier kaum zu finden, aber Vukotic konnte trockene Fichtennadeln und Moos und brennbare Pilze unter dichten Nadelbäumen zusammenscharren, um ein Feuer in Gang zu bringen. Vukotic schlug den Feuerstein an, der Funke sprang, das trockene Material fing Feuer, und bald roch Johann den frischen Duft von Holzrauch. Seine Augen tränten, als der Luftzug ihm den Rauch ins Gesicht wehte, aber er blieb an seinem Platz. Es war eine gute Übung, die Unbequemlichkeiten zu ignorieren. Der Rauch wurde weitergetrieben und hüllte Vukotic ein. Es war eine unfehlbare Regel, daß der Rauch jemandem ins Gesicht wehen mußte. »Also gibt es heute abend Pferdefleisch?« fragte Vukotic. »Ja, wir werden das Fleisch morgen räuchern müssen, wenn wir es mitnehmen wollen.«
»Ist das irgendwie fraglich?« »Nein«, sagte Johann. »Du würdest deine Ehre nicht verlieren, wenn du zu deinen Besitzungen zurückkehren würdest. Seit wir fort sind, müssen sie heruntergekommen sein. Ich werde weitermachen, bin zu alt, um mich zu ändern. Aber du brauchst nicht daran festzuhalten. Du könntest dir dein eigenes Leben einrichten. Du bist jetzt der Baron.« Er hatte diese Rede schon öfter in manchen Variationen gehört, beinahe von Anfang an. Niemals hatte er ernstlich daran gedacht, in seine Heimat zurückzukehren, und niemals − dachte Johann − hatte Vukotic es von ihm erwartet. Es war Teil des Spiels, das sie spielten, Meister und Diener, Schüler und Lehrer, Mann aus Eisen und Mann aus Fleisch und Blut. Unter gewissen Umständen brach Eisen leichter als Fleisch, das war Johann bewußt. »Sehr gut.« Johann machte sich daran, das Pferd abzuhäuten, auszuweiden und zu zerlegen. Es war eine der vielen praktischen Fertigkeiten, die er sich nicht angeeignet haben würde, wenn er mit sechzehn ein besserer Schütze gewesen wäre. Wenn sein Pfeil nicht den Hirsch verfehlt und Wolfs Schulter durchbohrt hätte … Wenn Cicatrices Bande nicht den Besitz derer von Mecklenberg verwüstet hätte … Wenn sein Vater, den alle Welt noch immer den Baron nannte, obwohl er längst zum Kurfürsten aufgestiegen war, mehr Männer wie Vukotic in seinen Diensten gehabt hätte, und weniger Männer wie Schunzel, seinen damaligen Haushofmeister … Wenn … Aber der junge Johann war im Umgang mit einem Langbogen ungeschickt gewesen, Cicatrice hatte nur zu deutlich die Schwäche der äußeren Lehensfürstentümer des Reiches erkannt, und Schunzel hatte sich mehr mit Gobelins und Köchen aus Bretonnia beschäftigt als mit dem Ausbau von Befestigungen und der An-
werbung tüchtigen Kriegsvolkes. Und nun, während er sich am Hof zu Altdorf um die Gunst des Kaisers Karl-Franz bemühen sollte, weidete der Kurfürst Johann von Mecklenburg auf einer Lichtung, die der gefrorenen Kappe der Welt gefährlich nahe war, ein Pferd aus. Die Künste eines Adligen. Wenn er jemals ein Buch schreiben würde, sollte das der Titel sein. Gemeinsam schnitten sie das Fleisch in Streifen vom Kadaver und hängten sie an ein Langschwert, das von zwei gegabelten Ästen über dem Feuer gehalten wurde. Es war von vielen früheren Diensten als Bratspieß geschwärzt und fleckig von angetrocknetem Fett und konnte niemals in einem ritterlichen Kampf verwendet werden. Seine Erziehung hatte Johann gelehrt, daß Waffen die Juwelen eines Adligen seien und behandelt werden sollten, wie ein meisterlicher Musiker sein Instrument behandelte, ein Zauberer seine Künste und eine Kurtisane ihr Gesicht und ihre Figur. Inzwischen wußte er, daß ein Schwert ein Werkzeug war, das einen am Leben erhielt, und daß es in dieser Eigenschaft weit öfter den eigenen Magen zu füllen hatte als fremde Mägen zu durchbohren. »Hast du heute die Fährten gesehen?« fragte Vukotic. »Vier, mehr oder weniger menschlich, die langsam gingen und für uns zurückgelassen wurden.« Vukotic nickte. Johann spürte den rauhen Stolz seines Lehrmeisters, wußte aber, daß der alte Mann es nie zugeben würde. Die Lehrzeit war um, dies war das Leben … »Sie werden bald umkehren. Wenn nicht heute nacht, dann morgen. Zwei von ihnen sind schwach. Sie sind seit drei Tagen zu Fuß im Wald unterwegs. Der Skaven lahmt; Eiter findet sich in seinen Stiefelabdrücken. Wenn er überlebt, wird er durch den Wundbrand einen Fuß verlieren. Sie werden alle erschöpft und müde sein und die Sache hinter sich bringen wollen, solange sie noch einen Vorteil haben.« »Wir sind jetzt auch zu Fuß.«
»Ja, aber das wissen sie nicht.« Vukotics Gesicht war im Feuerschein eine tanzende Projektionsfläche roter und schwarzer Schatten. »Zwei von ihnen werden diesen Auftrag bekommen haben, weil Cicatrice sie loswerden will. Aber seit den Mittelbergen wird er uns nicht mehr unterschätzen. Auf der Paßhöhe hat er so viele von seinen Leuten verloren, daß er mehr als eine lästige Plage in uns sieht. Also werden die beiden anderen besser sein. Einer von ihnen wird ein As sein, oder etwas sehr ähnliches. Wahrscheinlich verändert, aber nicht verkrüppelt. Etwas Großes, Verstärktes, was uns nach ihrer Meinung den Garaus machen wird.« Seine Augen glänzten im Widerschein des Feuers. »Ich übernehme die erste Wache.« Johann fühlte Schmerzen im Rücken, in den Beinen, denn die Kälte hatte sich in seinen Knochen und Gelenken festgesetzt, seit sie die Schneegrenze überschritten hatten, und er fürchtete, daß sie nie wieder weichen würden. Um wieviel mehr mußte Vukotic mit seinen zahlreichen früheren Verwundungen und der zunehmenden Last seiner Jahre die Schmerzen und die Kälte empfinden? Der Eiserne Mann klagte niemals, er lahmte niemals, aber das bedeutete nicht, daß er kein Gefühl hatte, keine Schmerzen spürte. Johann hatte ihn gesehen, wenn er sich unbeobachtet fühlte, wie er im Sattel zusammengesunken war oder seinen oft gebrochenen linken Arm massiert hatte. Schließlich konnte der Mann nicht ewig weitermachen. Was dann? Was war mit Cicatrice? Mit Wolf? Sie aßen, kauten langsam das zähe Fleisch, und Vukotic trank etwas gewürzten Wein. Endlich von innen heraus erwärmt, stieg Johann mit seinen Kleidern in den Schlafsack und zog die Pelze um sich. Er schlief mit dem Jagdmesser in der Hand und träumte …
*
Der Kurfürst von Sudenland hatte zwei Söhne, Johann und Wolf. Sie waren aufgeweckte Jungen und würden stattliche junge Männer sein. Johann, drei Jahre älter als der andere, würde nach seinem Vater die Würde eines Kurfürsten tragen und Elektor des Reiches sein. Er würde sich als Krieger, Diplomat und Gelehrter hervortun. Wolf, der sein Regent sein sollte, wenn die Geschäfte des Reiches ihn nach Altdorf führten, war als Johanns starke rechte Hand vorgesehen. Er würde ein Jurist sein, ein großer Jäger und ein Ingenieur. Joachim, der alte Kurfürst, war stolz, zwei solche Söhne zu haben, die nach seinem Tode die Ländereien der Familie beschützen und seine Verantwortung übernehmen würden. Und die Bewohner des Kurfürstentums waren erfreut, daß sie nicht unter den Launen und Unberechenbarkeiten kleinlicher Tyrannen würden leben müssen, wie so viele andere im ganzen Reich. Der alte Kurfürst wurde vom Volk geliebt, und seine Söhne würden ihm Ehre machen. Neue Worte wurden für alte Lieder erfunden, die jede Leistung der heranwachsenden Jungen feierten. Der alte Kurfürst beschäftigte viele Lehrer für seine Söhne; Hauslehrer in Geschichte und Geographie, in den Wissenschaften, in der Verehrung der Götter, in Etikette und Kunst, in Musik und Literatur, in der Kriegskunst und den Anforderungen des Friedens, sogar in den elementaren Grundlagen der Magie. Unter diesen Lehrern war ein Krieger, der in der gesamten Alten Welt und jenseits davon gedient hatte. Als Überlebender ungezählter Feldzüge sprach er nie von seiner Herkunft, seiner Jugend, nicht einmal von seiner Heimat, und er hatte nur einen Namen: Vukotic. Der Kurfürst war ihm auf dem Schlachtfeld begegnet, während eines Grenzstreites mit einem ungebärdigen Nachbarn, und hatte persönlich den Söldner gefangengenommen. Keiner der beiden sprach davon, aber nach der Schlacht gab Vukotic seinen Beruf auf und leistete dem Haus von Mecklenberg den Treueid.
Der Kurfürst hatte zahlreiche Besitzungen, viele Burgen und Gutshöfe. Eines Sommers beschlossen er und sein Gefolge, einen abgelegenen Stützpunkt nahe der Grenze des Kurfürstentums aufzusuchen. Dort sollten seine Söhne in der waldreichen Umgebung das Jagdhandwerk lernen und ihre ersten Trophäen gewinnen. Dies hatte auch Joachim in seiner Jugend getan, und seine Söhne sollten auch darin in seine Fußstapfen treten. Stolz beobachtete der alte Kurfürst von den Türmen seiner Burg, wie Vukotic mit seinen Söhnen ausritt, begleitet von Corin, seinem Waffenmeister. Was Johann und Wolf an diesem Tag erlegten, würde am selben Abend die kurfürstliche Tafel schmücken. Wolf war ein geborener Jäger und erlegte an seinem ersten Tag mit einem einzigen Pfeilschuß eine Waldschnepfe. Bald beherrschte er den Langbogen, die Armbrust, den Wurfspieß und alle Arten von Fallen und Schlingen. Man sagte, teils im Scherz, Wolf trage seinen Namen zu Recht, denn er könne jedes Tier des Waldes erlegen. Von Vögeln schritt er fort zu Wildschwein und Elch. Er war ihnen allen gewachsen, und es hieß, Wolf könnte der erste von Mecklenberg in Generationen sein, der ein Einhorn als Trophäe seiner Geschicklichkeit in den Wäldern heimbringen würde. Corin hatte entdeckt, daß Andreas, einer der Stallburschen, einst bei einem Tierausstopfer in die Lehre gegangen war, und hatte den Jungen beauftragt, Wolfs Trophäen zu präparieren und herzurichten. Innerhalb weniger Monate gab es mehr als genug Trophäen, um seine Ecke in der Großen Halle im Stadtschloß derer von Mecklenberg auszufüllen. Johann hingegen fand die Jagd nicht nach seinem Geschmack. Schon frühzeitig hatte er ein Interesse an den Tieren des Waldes entwickelt, konnte sie jedoch nicht mit den Augen eines Jägers sehen. Wenn sie auf Strohpuppen oder Zielscheiben schossen, konnte er es seinem Bruder mit jeder Waffe gleichtun; aber wenn er ein lebendes, atmendes Geschöpf vor sich hatte, versagte seine Hand, und sein Auge war abgelenkt. Die natürliche Anmut in
den Bewegungen eines Tieres beeindruckte ihn zu sehr, als daß er den Gedanken hätte ertragen können, es tot, enthauptet und ausgestopft zu sehen, mit starren Glasaugen und staubigem Geweih oder Fell. Jeder verstand es, was die Sache für Johann verschlimmerte, denn er war töricht genug, Mitleid für eine weibliche Schwäche zu halten. Der alte Kurfürst, der in Wolf sein jüngeres Selbst wiederfand, anerkannte in Johann nichtsdestoweniger die Anlagen eines besseren Mannes, als der Jäger sein konnte. Vukotic vertraute er einmal an: »Wolfs Jagdbegeisterung wird ihn zu einem guten Regenten machen, aber Johanns instinktive Abwendung vom Töten wird ihn zu einem wahrhaft großen Kurfürsten und Elektor machen.« Aber Johann versuchte, sein Feingefühl zu überwinden. Er aß weiterhin Fleisch und glaubte, er könne nicht ehrenhaft am Tisch sitzen, wenn er nicht guten Gewissens jagen könne, also bemühte er sich. Aber eines Tages, als er mit Wolf, Corin und Vukotic auf der Jagd war, verfehlte Johann einen Hirsch, den er klar vor sich hatte, und sein Pfeil flog zwischen den Bäumen durch das Laub und traf seinen Bruder in die Schulter. Es war eine saubere, oberflächliche Wunde, und Corin verband sie rasch und sachkundig, aber Vukotic war hinreichend besorgt, den Jungen in die Burg zurückzuschicken. Johann nahm sich den Vorfall zu Herzen, und noch viel später verfolgte er ihn bis in seine Träume. Wenn es in seinem Leben einen Wendepunkt gab, dann hatte dieser unvorsichtig verschossene Pfeil es bewirkt. Danach war nichts mehr, wie es sein sollte. Natürlich hatte es immer Gesetzlose gegeben, Geächtete, Veränderte, insbesondere in den Wäldern. Es war zu Überfällen und Kämpfen und Blutvergießen gekommen. Im Reich gab es nicht wenige Gebiete, in welche die Hüter des Gesetzes sich nicht wagten. Und es hatte viele Feldzüge gegen die Mächte der Finsternis gegeben. Aber nie hatte es eine überragende Gestalt des Bösen wie Cicatrice gegeben. Er hatte den Namen von einer langen ro-
ten und entstellenden Narbe, welche die Kralle eines im Dienste Khornes stehenden Dämons in seinem Gesicht hinterlassen hatte, und war aus den Chaos-Ödländern gekommen, ein kaum noch als Mensch kenntlicher Veränderter. Mit seinen sogenannten Chaosrittern hatte Cicatrice die Länder im Süden heimgesucht, seine Blutgier im Sieg ungezügelt ausgelebt und war sogar in der Niederlage der Gefangennahme entgangen. Kaiser Karl-Franz selbst hatte 50 000 Goldkronen auf seinen Kopf ausgesetzt, doch obwohl viele versuchten, die Prämie zu gewinnen − und ihr Scheitern nicht überlebt hatten −, war es noch keinem gelungen, die Belohnung zu beanspruchen. Die Geschichten seiner Verbrechen waren finster und haarsträubend, voll von Blut und Feuer und eher schreckenerregend als faszinierend. Für die Bewohner des Reiches, das jetzt an die Annehmlichkeiten der Zivilisation gewöhnt waren, blieb Cicatrice eine wichtige Figur. Er war der Ausgestoßene, das Ungeheuer, die Verkörperung des Bösen schlechthin, die jeden daran erinnerte, was jenseits des Lichtkreises wartete. Cicatrice hatte eine Schwäche im Sommersitz der Mecklenbergs erkannt und einen Überfall durchgeführt, der das ganze Reich erschreckt hatte. Ein Kurfürst und Elektor ermordet, sein Hof niedergemetzelt, seine Burg angezündet und dem Erdboden gleichgemacht, sein Kind und die Kinder seines Gefolges entführt. Noch nie hatte es solch eine Greueltat gegeben, und seither reisten die anderen Elektoren kaum noch in entlegene Gegenden, ohne sich mit einer Streitmacht zu umgeben, die es mit einer kleinen Armee aufnehmen konnte. Bis dahin waren Gift, Verrat und Verstohlenheit die bevorzugten Waffen der Finsternis gewesen. Das hatte Cicatrice geändert. Er war wahrhaftig ein As des Chaos, und selbst die Kriegsherren des Reiches mußten ihm zugestehen, daß er ein brillanter Stratege war. Schon der Umstand, daß er zwanzig Jahre nach seinen ersten Überfällen noch am Leben und an der Spitze seiner Chaosritter war, machte Cicatrice zu
einer einzigartigen Erscheinung unter den Dienern des Bösen. In seinen Träumen wurde Johann immer wieder zur brennenden Burg zurückgezogen. Wieder und wieder sah er seinen Vater, der in Stücken von Bäumen hing, die sieben Meter auseinanderstanden. Er sah den armen fetten Schunzel, der noch immer brannte, nachdem sie ihm den Bauch aufgeschnitten, Öl hineingegossen und angezündet hatten. Er sah Vukotic in einer rasenden Wut, wie er sie vorher und nachher nie wieder bei ihm gekannt hatte, auf einen verwundeten Tiermenschen einschlagen und Fragen brüllen, auf die es keine Antworten geben konnte. Er träumte von abgeschlachteten Pferden, vergewaltigten und ermordeten Dienstmädchen, den nicht zu identifizierenden Leichen. Er entsann sich des Ballspielplatzes, wo die Chaoskrieger augenlose Köpfe zu einer Pyramide gestapelt hatten. Ein Skaven war zurückgelassen worden, ein rattengesichtiger Mutant, den er zwischen den Leichen seiner Lehrer angetroffen hatte, denen er die Finger abgesägt hatte, um die Ringe an sich zu bringen. Zum ersten Mal hatte Johann ohne Bedenken und ohne Anstrengung getötet. Seit damals hatte er nie mehr gezögert zu töten, wenn es notwendig gewesen war. Er hatte seine Lektion gelernt. Es gab jetzt einen anderen Elektor, einen Vetter, der den Titel des Kurfürsten beanspruchte und behauptete, Johann habe seine Rechte als Thronfolger verwirkt, indem er die Besitzungen derer von Mecklenberg im Zustand der Verwüstung, als sie einer umsichtigen und energischen Führung am dringendsten bedurften, verlassen und sich auf seine Reisen begeben habe. Johann dachte nicht daran, mit ihm zu streiten. Die Angelegenheiten des Reiches und des Kurfürstentums durften nicht vernachlässigt werden, und er hatte anderes zu tun. Selbst mit seiner Schulterverletzung hätte Wolf gegen die Mordbrenner gekämpft. Aber er war nicht unter den Toten gewesen, sondern unter den Vermißten. Als Dreizehnjähriger mochte er Cicatrice interessiert haben.
Das lag zehn Jahre und viele Meilen zurück. Sie hatten Cicatrices Bande durch das ganze Reich verfolgt, hinauf durch die Grauberge zu der Grenze Bretonnias, hatten Überfälle an der Küste bei Marienburg überlebt und den verschlagenen Feind durch die Ödnis in den Drachenwald verfolgt, wo Johann und Vukotic eine zeitlang von einem verrückten Zwerg mit einer magischen Mine versklavt worden waren, dann weiter durch die Mittelberge, wo sie einen neuen Angriff abgewehrt und Corin im Kampf gegen ein ziegenköpfiges Ungetüm verloren hatten, in den Schattenwald. Daraufhin waren sie südwärts in den Großen Wald gezogen und durch Stirland nach Osten zum Weltrandgebirge, wo die Mächte der Finsternis vorherrschten und wo sie gegen Phantome zu kämpfen hatten, die von mächtigen Zauberern gegen sie gesandt worden waren, um ihren Verstand zu verwirren. Die Jahreszeiten kamen und gingen, und sie ließen nicht locker. Johann wußte, daß sie Cicatrice und seiner Bande ungezählte Male dicht auf den Fersen gewesen waren, aber immer war etwas dazwischengekommen. Er hatte vergessen, wie viele niedergebrannte und verwüstete Siedlungen sie gesehen, wie viele von Schmerz, Trauer und ohnmächtigem Zorn betäubte Überlebende sie gesprochen hatten. Cicatrices Bande war undiszipliniert, und wiederholt waren sie auf Deserteure gestoßen, auf besiegte Rivalen, die Cicatrice hatte blenden lassen, und Bandenmitglieder, die durch Verletzung oder Krankheit kampfuntauglich geworden waren. Vukotic hatte jetzt mehr Narben, und Johann war nicht mehr der Jüngling, als der er ausgezogen war. Kreuz und quer hatten sie das Reich durchstreift, oft an den Grenzen der Alten Welt, ständig extremen Erfahrungen ausgesetzt. Johann hatte Schrecken gesehen, von denen seine Hauslehrer sich nicht hätten träumen lassen, hatte gelernt, sich nicht mit den Launen der Götter zu beschäftigen, und hatte soweit überlebt. Er hatte es aufgegeben, sein Leben über den Tag hinaus als gesichert anzusehen, und er hatte beinahe die Hoffnung aufgegeben, am Ende seiner Suche Wolf wieder-
zusehen. Trotz allem blieben sie Cicatrice und seinen Mordbrennern unerbittlich auf den Fersen. Bei Tag versuchte Johann, nicht an die Vergangenheit oder die Zukunft zu denken, bei Nacht konnte er an nichts anderes denken. Er hatte sich längst daran gewöhnt, schlecht zu schlafen.
* Eine Hand an seiner Schulter rüttelte ihn wach. Er öffnete die Augen, blieb aber still. »Sie haben kehrtgemacht«, sagte Vukotic mit gedämpfter Stimme. »Ihr Gestank ist in der Luft.« Johann schlüpfte aus seinen Fellen und stand auf. Bis auf das Tropfen tauenden Schnees und das tiefe Atmen von Vukotics Pferd war es still im Wald. Das Feuer war zu Asche niedergebrannt, verbreitete aber noch den Schein matter Glut. Die Kälte saß noch in seinen Knochen. Tropfende Eiszapfen hingen von den unteren Ästen der Bäume. Sie rollten ihre Pelze und Felle nahe am Feuer zusammen, daß sie schlafenden Gestalten ähnelten. In der Dunkelheit würde es glaubwürdig wirken. Vukotic nahm seine Armbrust vom Sattel und wählte ein paar Bolzen aus. Er trat zum schlafenden Pferd und vergewisserte sich, daß es angebunden war und seine Decke trug. Dann zogen sie sich in den Wald zurück. Sie brauchten nicht lange zu warten. Johanns Geruchssinn war nicht so ausgeprägt wie Vukotics, aber schließlich hörte er sie. Sein Mentor hatte recht gehabt; sie waren zu viert, und einer hinkte. Die Geräusche hörten auf. Johann lehnte sich an einen Baumstamm und hüllte sich in seinen Schatten. Es gab ein Geräusch wie das Reißen von Seide, und die zusammengerollten Felle zuckten. Beide Rollen waren von Arm-
brustbolzen durchschlagen. Sie glühten grünlich und stießen kleine Verpuffungen von Feuer und Rauch aus. Johann hielt den Atem an. Obwohl der Rauch nicht in seine Richtung zog, mußte er vermeiden, auch nur eine Spur von dem Gift einzuatmen. Lichtschein und Rauchentwicklung hörten auf, doch nichts regte sich auf der Lichtung. Johann umfaßte den Schwertgriff, während Vukotic seine gespannte Armbrust hob. Er hielt nichts von Gift, und als sicherer Schütze hatte er seine Verwendung nicht nötig. Unnatürlich laut hörte Johann das dumpfe Pochen des Pulsschlags in seinen Schläfen, während er wartete und lauschte. Andere, eingebildete Geräusche in seinem Kopf verstärkten seine Nervosität. Endlich kamen die wirklichen Geräusche. Eine menschliche Gestalt löste sich aus der Dunkelheit und wagte sich auf die Lichtung. Sie hinkte stark, und ihr Kopf war verlängert, mit glänzenden Augen und scharfen kleinen Zähnen. Es war der Skaven. Scheckig, mit zerlumpten Kleidungsstücken über rostigen Rüstungsteilen, stand der Rattenmensch über den zusammengerollten Fellen und kehrte ihnen den Rücken zu. Auf dem Rücken des zerrissenen Wamses aus schwärzlichem, speckigem Leder trug er das Symbol des Auges in der kopfstehenden Pyramide, das die Zugehörigkeit zur Sippe Eshin verriet, dazu das von allen Anhängern Cicatrices getragene stilisierte Narbengesicht. Vukotic schoß ihm den Armbrustbolzen in den Rücken. Der Skaven fuhr zusammen und beschrieb eine halbe Wendung. Die Spitze des blutigen Bolzens ragte eine Handbreit aus seiner Brust. Dann brach der Rattenmensch zusammen. Johann und Vukotic verließen ihre Plätze und umgingen die Lichtung, bis sie vorsichtig in den gegenüberliegenden Teil des Waldes eindrangen, aus dem der Skaven gekommen war. Die Dunkelheit hatte Augen. Vukotic hielt drei Finger hoch, dann zwei. Drei gegen zwei. Oft war das Zahlenverhältnis ungünstiger gewesen.
Feuer flammte über ihnen auf, als Brandpfeile Knäuel ölgetränkter brennender Lappen an Baumstämme hefteten. Drei Gestalten kamen in Sicht, groß, aber schwerfällig in den Bewegungen. Johann konnte sie jetzt riechen. Eine von ihnen war nicht lebendig. Vukotic schoß der Kreatur in der Mitte einen Bolzen durch die Kehle, aber sie ging schwerfällig tappend weiter. Als hätte sie nicht bemerkt, woher der Schuß kam, tappte sie zum Feuer auf der Lichtung. Das Gesicht war bereits verwest. Aus dem gespaltenen Nacken rieselte Staub. Es war einmal eine Frau gewesen, jetzt aber war es keine Person, sondern eine Marionette. Einer der anderen mußte die Untote auferweckt haben, oder von dem Zauberer, der dies bewerkstelligt hatte, die Kontrolle erhalten haben. Wie die meisten von Cicatrices Mordbrennern hatte die Kreatur eine fingerdicke rote Linie als Kriegsbemalung diagonal im Gesicht, eine Nachbildung der Narbe ihres Anführers. Ihre schwerfälligen Bewegungen hinderten sie allerdings nicht daran, tödlich zu sein. »Wir sollten etwas dagegen tun«, sagte Vukotic, »bevor sie die Grabesfäule auf uns überträgt.« Zusammen sprangen sie auf die Untote zu und hieben sie mit den Schwertern nieder, bemüht, die verseuchte Kreatur nicht mit den Händen zu berühren. Johann fühlte die spröden Knochen in der Gestalt zerbrechen. Die Untote taumelte unter den Schlägen und trat in die Glut des Feuers. Ihr zerfetzter Umhang geriet in Brand, und im Nu erfaßten die Flammen ihren ausgetrockneten Körper. Wo sie Reste fauligen Gewebes verbrannten, zischte es. Die Kreatur fiel in sich zusammen und löste sich allmählich in stinkenden Rauch auf. Johann und Vukotic stießen die brennenden Überreste in die auflebende Glut der Feuerstelle und traten schnell zurück, denn nun griffen ihre Gefährten an. Johann parierte einen Schlag, dessen Wucht durch seinen ganzen Körper ging. Sein Gegner war einen Kopf größer als er und
schwer gepanzert, aber seine Bewegungen waren langsamer und sein Helm verformt durch einen Kopf, der sich in ihm ausgebreitet zu haben schien. Es war ein Veränderter irgendeiner Art, ein menschliches Wesen unter dem Einfluß von Verwerfungsgestein, jener verhängnisvollen Substanz, der die Diener der Finsternis verfallen waren und deren Mutationen die Niedertracht und Verworfenheit ihrer Charaktere widerspiegelten. Johann wußte, daß diese imitativen Veränderungen Teil des Handels waren, den sie mit den Mächten schlossen, welchen sie ergeben waren. Er war auf Cicatrices Spuren allzu vielen Wesen begegnet, die kaum noch menschlich zu nennen waren. Dieses Monstrum war offensichtlich in den Geburtswehen einer neuen Veränderung. Unter seinem Helm konnte sich nur eine neue Ungeheuerlichkeit verbergen. Johanns Schwert hieb eine Kerbe in den Brustharnisch seines Gegners, den das eingeätzte Symbol des Narbengesichts zierte. Als er dem Gegenstoß des anderen auswich, umfaßten plötzlich knochige Arme seine Schienbeine und brachten ihn am Feuer zu Fall. Die brennende Untote hatte ihn festgehalten. Er stieß die Arme weg, roch seine versengte Kleidung und sprang geduckt zur Seite, als sein hünenhafter Gegner einen Schwertstreich führte, der ihm den Kopf von den Schultern hätte schlagen können. Wieder geriet die Untote dazwischen, und der Ritter der Finsternis packte den flammenden Kopf mit der bloßen Hand und zermalmte ihn mit einem Grunzen zu Staub. Dann wandte er sich wieder Johann zu. Vukotic kämpfte mit einem krötengesichtigen Veränderten mit zahlreichen Gliedmaßen. Grünlicher Eiter quoll in den Schnee, als sein Messer in den geschwollenen Bauch des Krötenmenschen stieß und wieder herausgezogen wurde. Der Krötenmensch schien von seinen vielen Wunden kaum beeinträchtigt. Um seinen spitzen Zähnen zu entgehen, hatte Vukotic ihm mit einer Hand an der Halskrause gepackt und suchte ihm die Kehle zuzudrücken.
Johann machte ein paar Finten und stieß nach den Beinen seines Gegners. Dieser war schwerfällig, was Johann bisher vor der überlegenen Kraft und Größe des Unholds gerettet hatte, und ein paar tiefe Schnitte in die Beinmuskeln würden ihn noch langsamer machen. Er merkte, daß der andere brüllte. Johann war nicht sicher, aber es klang unangenehm wie das Lachen eines Verrückten. Der eingekerbte Brustharnisch sprang nach vorn, von innen durch die Wucherungen des mutierenden Körpers abgesprengt. Wer dieser Chaosritter einst gewesen sein mochte, er war jetzt in einem Umwandlungsprozeß, der ihn weit von der Menschlichkeit entfernte. Er brüllte in wilder Befriedigung und riß an seiner Rüstung. Der Brustharnisch löste sich ganz, und Johann sah wachsende Schuppen und Stacheln auf seiner Haut. Cicatrices Gesicht war auf seine Brust tätowiert. Der Helm dehnte sich aus, Risse erschienen im getriebenen Stahl, Hörner drängten sich durch die Augenlöcher wie die Schößlinge von Zwiebelgewächsen, die aus fruchtbarer Erde sprießen. Johann stieß das Schwert in die Brust des Veränderten, aber es wurde von der gepanzerten Haut abgelenkt. Der Chaosritter machte sich nicht einmal die Mühe, ihn abzuwehren. Johann hieb nach dem Hals, und diesmal schnitt sein Schwert tief hinein. Der Unhold lachte noch immer, denn das Schwert ließ sich nicht herausziehen. Johann riß zwei Messer aus dem Gürtel und stieß sie in den Körper des Veränderten, zielte nach den Nieren. Das brüllende Gelächter dauerte an, und der Riese begann die zerbrochenen Teile seines Helmes loszulösen. Augen spähten Johann aus Höhlen unter Knochenwülsten an. Es waren sieben, die über die Stirn des Chaosritters verteilt waren. Zwei waren echt, fünf waren poliertes Glas, das in die Stirn eingesetzt war. Johann betete zu den Göttern, die er seit Jahren vernachlässigt hatte. Der Chaosritter zog Johanns Schwert aus seinem Hals und warf es fort. »Seid gegrüßt, Meister Johann«, sagte er, und auf einmal klang seine Stimme dünn und kindlich, beinahe bezaubernd. »Wie
Ihr gewachsen seid.« Es war Andreas − oder war es gewesen −, der Stalljunge des kurfürstlichen Marstalls, der es zum Tierausstopfer und Präparator von Jagdtrophäen gebracht hatte. Seit Johann ihn zuletzt gesehen hatte, mußte er andere und schändliche Lehrmeister gefunden haben. Die großen Hände streckten sich nach ihm aus, und Johann fühlte ihr Gewicht auf den Schultern. Die Finger packten ihn wie die Zangen eines Grobschmieds, hoben ihn vom Boden. Johann roch Andreas' stinkenden Atem und blickte in die Maske expandierten Fleisches, die sein früherer Diener gewesen war. Er riß die Messer aus den Seiten des Veränderten und stieß sie ihm in Bauch und Unterleib. Aber Johann schnitt bloß durch verändertes Fleisch, das so rasch zusammenwuchs, wie er es zerschnitt. Andreas stieß ihn ab, und er flog sieben oder acht Schritte durch die Luft, prallte gegen einen Baumstamm und fiel mit dem Gedanken, daß sein Rückgrat gebrochen sei. Die Erde war hart, und er fiel schwer und schmerzhaft. Vukotics Gegner war endlich niedergestreckt, und er schritt auf den Chaosritter zu, beide Hände um den Griff des erhobenen Schwertes geschlossen. Andreas hob abwehrend einen Arm und stieß den Schlag beiseite. Er packte Vukotics Handgelenke mit einer Pranke und zwang den Eisernen Mann in die Knie. Er lachte noch immer. Dämonen kreischten in den Obertönen, und ermordete Kinder winselten. Andreas stieß Vukotic rücklings nieder, daß sein Kopf zu den noch schwelenden Überresten der Untoten gezwungen wurde. Vukotic wehrte sich aus Leibeskräften, aber Andreas' mächtige Schultern übten einen übermenschlichen Druck aus. Durch die Anstrengung platzte der Chaosritter buchstäblich aus seiner Rüstung; der sich verändernde, anschwellende Körper warf den Rückenteil des Harnischs ab, und durch das weit aufgeplatzte Untergewand sah Johann einen Streifen weißer Haut, der den gefleckten und schuppig verhornten Rücken in ganzer Länge
durchzog. Ohne seiner Schmerzen zu achten, sprang Johann hinzu und warf sich auf Andreas' Rücken. Dort waren die Veränderungen noch nicht vollständig. Er trieb seine Messer zwischen die hornigen Schulterblätter und sägte neben dem Rückgrat abwärts, so tief er konnte und die Rippen durchstoßend. Blut sprudelte ihm ins Gesicht, und endlich fühlte er, daß seine Stöße in den wirklichen, noch unveränderten Körper drangen. Das brüllende Gelächter brach ab, und der Veränderte stand auf, um Johann abzuschütteln. Dieser umklammerte Andreas' Mitte mit den Knien und sägte weiter. Seine Hände waren jetzt zwischen den Rippen, und er stieß wahllos zu in der Hoffnung, das Herz zu treffen. Schon barst etwas Großes in Andreas' Rumpf, und er fiel zuckend zu Boden. Johann blieb auf seinem Rücken, hatte beide Hände frei und stieß mit den Messern zu, wo er konnte. Andreas wälzte sich mit letzer Kraft herum, und Johann machte sich von dem sterbenden Chaosritter los. Er stand auf und wischte sich Blut aus den Augen. Andreas lag auf dem Rücken, roten Schaum auf den Lippen, und das Licht verschwand rasch aus seinen Augen. Johann kniete nieder und nahm den Kopf in die Hände. »Andreas«, sagte er mit der Hoffnung, durch den Ritter der Finsternis den Stalljungen zu erreichen, »was ist mit Wolf?« Der andere sammelte Speichel im Mund, ließ ihn aber blutig herausrinnen. In den zwei lebendigen Augen sah Johann etwas noch Menschliches. Er nahm die Glasaugen aus dem Gesicht und warf sie fort. »Andreas, wir waren einst Freunde. Dies war nicht deine Schuld. Wo ist Wolf? Lebt er noch? Wohin hat Cicatrice ihn gebracht?« Der Sterbende verzog die Lippen. »Norden«, röchelte er. »Ödländer, zur Schlacht. Nicht mehr weit … die Schlacht.« »Welche Schlacht? Andreas, es ist wichtig. Welche Schlacht?«
Die blutigen Lippen verzogen sich in einem Lächeln. »Baron«, flüsterte Andreas, »wir waren niemals Freunde.« Der Stalljunge war tot.
* Vukotic war verletzt. Der Krötenmensch hatte frühzeitig in ihrem Kampf seinen Dolch verloren, und seine krallenbewehrten Hände hatten dem Krieger nicht viel anhaben können. Aber wenn er verletzt wurde, blutete er Gift. Die grünlich-eitrige Flüssigkeit fraß sich durch Kleider, verätzte die Haut und sickerte gefährlich in den Körper ein. Vukotic war im Kampf reichlich damit bespritzt und beschmiert worden. Als das Morgenlicht ihren Lagerplatz erreichte, sah Johann die unregelmäßigen Löcher in Vukotics Hose und bemerkte, daß sein Lehrer sich kaum auf den Beinen halten konnte. Als er ein paar Schritte tun wollte, wankte er und fiel. »Laß mich zurück«, sagte er durch zusammengebissene Zähne. »Ich würde dich nur aufhalten.« Das war es, was Johann gelehrt worden war, aber er war niemals ein Musterschüler gewesen. Mit Schnee rieb er Vukotics Wunden aus, bis das meiste Gift abgewaschen oder aus den Wunden gespült war. Er hatte keine Ahnung, wie tief das schädliche Gift eingedrungen war, auch wußte er nichts über seine Eigenschaften. Aber wenn es tödlich wäre, hätte Vukotic es ihm gesagt, um Johann dazu zu bewegen, allein weiterzuziehen und ihn zurückzulassen. Er riß ein Ersatzhemd in Streifen und verband die Wunden, so gut er konnte. Vukotic verhielt sich still, verzog aber immer wieder das Gesicht. Johann fragte ihn nicht, ob er Schmerzen zu leiden hatte. Aus Ästen, Stangenholz und Lederstreifen aus dem Zaumzeug von Zarin machte Johann eine Bahre, die er zu beiden Seiten an Zars Sattel festmachte. Die Bahre war nur ein Notbehelf, schleifte
an zwei Stangen hinter dem Pferd über dem Boden, war aber mit den Fellen und Pelzen so gut ausgepolstert, wie es ging. Er half dem geschwächten Vukotic auf die Bahre und wickelte ihn warm ein. Der alte Soldat lag still, umfaßte sein Schwert wie ein Kind sein Lieblingsspielzeug und schloß die Augen. Sein Gesicht sah eingefallen und stellenweise grünlich aus. »Wir gehen nach Norden«, sagte Johann. »Bis zum Abend werden wir diesen Wald hinter uns haben. Bevor die Steppe beginnt, wird es irgendwo eine Siedlung geben.« Das war richtig, bedeutete aber nicht unbedingt ein Willkommen, einen Heiler und ein warmes Bett. Ein Sprichwort lautete: »In den Wäldern gibt es kein Gesetz; in der Steppe gibt es keine Götter.« Dies war noch immer Kislev, aber kein Zar regierte hier. Jenseits des Steppengürtels lagen die Chaos-Ödländer, wo das Verwerfungsgestein alleiniges Gesetz war, Geist und Körper der Menschen veränderte, Seelen entstellte und alles mit Niedertracht und Verworfenheit infizierte. Es war Cicatrices geistiges Heimatland, und die einzige Überraschung war, daß seine Fährte sie nicht früher dorthin gebracht hatte. Sie kamen nur langsam voran, und Johann wurde eines Schlechteren belehrt, denn als die Nacht hereinbrach, waren sie noch immer im Wald. Vukotic schlief unruhig, während er auf seiner Bahre über die Unebenheiten des weglosen Waldbodens geschleift wurde, und im Schlaf gab er ächzend und stöhnend den Schmerzen Ausdruck, die er im wachen Zustand niemals zugegeben hätte. Zar stapfte dahin wie eine Maschine, aber Johann befürchtete, daß das Pferd den Monat nicht überleben würde. In der Steppe würden sie frische Pferde benötigen, wenn sie Cicatrice einholen wollten, und Vukotic würde noch einige Zeit ruhebedürftig bleiben, bis er sich hinreichend erholt hätte. Nach störungsfreier Nacht nahmen sie den Marsch am nächsten Tag wieder auf; Wald begann sich zu lichten und die düstere Wolkendecke lockerte auf. Es war sogar eine Spur von Sonnen-
licht im blaßgrauen Himmel. Johann hatte Fährten gesehen, hatte Cicatrices Lagerplatz gefunden − der ausgeweidete Leichnam, der an den Füßen von einem Baum hing, war ein unübersehbarer Hinweis −, und er wußte, daß sie auf der richtigen Fährte waren. Unter dem Toten hatte jemand mit frischem Blut KEHRT UM in den Schnee geschrieben. Johann spuckte auf die Botschaft. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, wie seltsam dieses Land war. Keine Vogelstimme war zu hören, und er hatte schon lange keinerlei Tiere bemerkt. Zuerst war er erleichtert gewesen, daß er nicht ständig vor Wolf und Bär auf der Hut sein mußte − am Rücken hatte er drei lange Krallennarben, die ihn an eine alte Begegnung erinnerten −, daß ihm erst viel später auffiel, wie unheilvoll das Fehlen allen Lebens war. Schließlich lichtete sich der Wald. Johann passierte einen Streifen Buschland, wo vereinzelte Baumleichen aneinanderlehnten oder am Boden verrotteten, dann ging der Blick ungehindert über die weite, öde Steppe. Es war wie der Übergang von der Nacht zum Tage. Als er zurückblickte, sah er den Waldrand sich wie eine dunkle Wand zu beiden Seiten bis zum Horizont erstrecken. Wenn der Wald ohne Leben war, so galt dies noch mehr für die Steppe. Es gab hartes gelbes Gras, vom Schnee und den Herbstregen niedergedrückt, und dazwischen Flächen nackter, gefrorener Erde. Der Schneefall war spärlich gewesen, doch hielt sich hier und dort eine dünne Schneedecke. Alles deutete auf Trockenheit und die allmähliche Umwandlung zur Wüstensteppe hin. In hundert Jahren würde dies Wüste sein. In der Ferne stieg grauer Rauch in den leeren Himmel, und etwas Großes und Ungelenkes zog mit schwerfälligen Flügelschlägeln langsam durch die Luft. »Weiter voraus ist ein Dorf, Vukotic.« Sie rasteten eine Weile, und Johann flößte seinem Lehrer Wasser in den Mund − mittlerweile mußten sie Schnee schmelzen, um Wasser zu bekommen −, dann fütterte er das Pferd. Mehr als ein
Monat war vergangen, seit sie ein anderes Lebewesen gesehen hatten, das nicht versucht hatte, sie zu töten. Vielleicht ließ sich in dem Dorf durch irgendein Wunder Gastfreundschaft erkaufen. Johann war nicht allzu hoffnungsvoll, hatte aber noch nicht Vukotics grundsätzliches Mißtrauen entwickelt. Die Menschen mußten sich seine Feindschaft noch immer verdienen. Vukotic war schweigsam und ging sparsam mit seinen Kräften um, aber Johann sah ihm an, daß es aufwärts ging. In ihm war das Leben wie ein Samenkorn, das den arktischen Winter überlebt, um zu sprießen, sobald der Frühling eine Spur von Wärme bringt. Zweimal hatte Johann ihn tot geglaubt und war eines Besseren belehrt worden. Cicatrices Banditen hatten ihm den Namen Eiserner Mann gegeben. Johann kaute an einem langen Streifen geräucherten Pferdefleisches, als er auf den dünnen Rauchfaden zuhielt, und versuchte nicht an Andreas und an Wolf zu denken. Er hatte den Stallburschen als einen munteren, immer freundlichen Jungen in Erinnerung und konnte in ihm nicht die Anfänge des Chaosritters erkennen. Aber sie mußten dagewesen sein. Vielleicht hatte es Andreas immer gewurmt, daß es ihm bestimmt war zu dienen, während Johann und Wolf zu Herren geboren waren. Die Wege des Verwerfungsgesteins waren subtil, und die Empfänglichkeit für eine Infektion sehr unterschiedlich. Es konnte in den Körper eines Menschen eindringen und Jahrzehnte lang unbemerkt bleiben, unterdrückt und unwirksam. Oder es konnte eindringen und sich an einem Groll nähren, an kleinen Empfindlichkeiten, Charakterfehlern und körperlichen Mängeln, die Unzufriedenheit erzeugten, und dann daran arbeiten und sich hineinfressen, bis der Wesenskern faul wie ein wurmstichiger Apfel war. Darauf begannen die äußeren Veränderungen: in Andreas, in dem Krötenmenschen, in den vielen anderen, die sie im Laufe der Jahre gesehen hatten. Der ziegenköpfige Veränderte, der Corin getötet hatte, war einst ein einfacher Kleriker Verenas gewesen, der Göttin der Gelehr-
samkeit und Gerechtigkeit, von einem Verlangen, die verbotenen Bücher zu lesen, ins Verderben gelockt. Cicatrice selbst war ein entfernter Verwandter des Fürsten und Elektors von Ostland gewesen. Während einer Familienfehde wurde er von einem eifersüchtigen Rivalen an der Grenze zu den Chaos-Ödländern stationiert und hatte sich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert. Was konnte Verwerfungsgestein aus Wolf gemacht haben? Würde sein Bruder sich an den unglücklichen Pfeilschuß in die Schulter erinnern und seine Retter mit einem mörderischen Angriff begrüßen? Würde er Johann überhaupt wiedererkennen? Mit jedem Jahr verringerte sich die Wahrscheinlichkeit, daß er dem Verderben Widerstand leisten konnte. Nun würde er sehr wahrscheinlich gegen seinen Willen gerettet werden müssen. Und selbst dann mochte er unrettbar den Mächten der Finsternis verfallen sein. Johann und Vukotic hatten nie über das Ende ihrer Suche gesprochen. Sie hatten immer in stillschweigendem Einvernehmen angenommen, daß sie Wolf retten würden. Aber in letzter Zeit begann Johann sich seine Gedanken zu machen. Er wußte, daß er es niemals über sich bringen konnte, die Hand gegen seinen Bruder zu erheben, aber wie verhielt es sich mit Vukotic? Fühlte der Eiserne Mann, daß es seine Pflicht sein würde, Wolfs Leben durch das Schwert zu beenden, wenn er nicht gerettet werden konnte? In seinen Kriegen hatte Vukotic so manchem den Gnadenstoß versetzt, sogar während ihrer Verfolgungsjagd. Würde es jetzt anders sein? Und sollte Johann versuchen, ihn daran zu hindern? Er vermutete, daß selbst ein verwundeter Vukotic der bessere Duellant sein würde. Etwas knirschte und brach unter Zars Hufen, und Johann wurde aus seinen traurigen Überlegungen gerissen. Er blickte zu Boden. Das Tier stand auf einem sauberen Skelett und hatte das rechte Vorderbein in einem Brustkorb, der die Fessel wie eine Falle gefangenhielt. Johann stieg ab und zog die alten Knochen
auseinander. Das Skelett war bis auf die Hornzapfen auf dem Schädel und die doppelten Zahnreihen annähernd menschlich. Nun sah er, daß sie inmitten eines Knochenfeldes waren, dessen bleiche Gebeine über die Steppe verstreut lagen, so weit das Auge reichte. Dies mußte der Schauplatz einer Seuche sein, die vor langer Zeit Tausende dahingerafft hatte, oder eines verhängnisvollen Konflikts … Andreas hatte von einer Schlacht gesprochen. Johann saß wieder auf und ließ das Pferd langsam weitergehen. Die Bahre schleifte durch die losen, seit langem unberührten Knochen. Einige der Skelette waren kaum kenntlich. Johann schauderte, und er richtete den Blick auf den Rauchfaden. Er konnte jetzt sehen, daß er aus einer Gruppe niedriger Gebäude aufstieg, die mehr einem Vorposten als einem Dorf glichen. Aber es würden Menschen dort sein. Die Frage war nur, welche Art von Menschen nahe den Überresten eines Massakers leben würde? Sobald Vukotic erwachte, wollte Johann ihn über die Schlacht ausfragen. Er mußte wissen, wer hier gekämpft hatte und warum. Cicatrice und andere schienen dem Schauplatz noch heute eine Bedeutung beizumessen. Als ob es wichtig wäre, sagte er sich dann. Manche Skelette mußten Hunderte von Jahren alt sein. Ihre Rüstungen und Waffen waren längst gestohlen und fortgeschleppt, nur ihre nutzlosen Gebeine blieben. Dann kam ihm der Geruch in die Nase. Der Geruch, an den er sich gewöhnt hatte. Der Geruch der Untoten, der Andreas angehaftet hatte, der Geruch aller Lebewesen, die noch nicht lange tot waren. Der Gestank von Verwesung. Die Erscheinungsform der Toten hatte sich geändert. Jetzt waren die Skelette noch mit Fleischfetzen versehen. Entweder waren sie noch nicht lange tot − oder die Kälte hatte sie konserviert. Sie zerbröckelten nicht unter den Pferdehufen oder den Stangen von Vukotics Bahre. Es war auf einmal eine holprige Fahrt, und als Johann sich im Sattel umwandte, sah er Vukotic
aufwachen. Die Stangen der Bahre hoben sich über einen Leichnam und zogen ihn ein kleines Stück mit, bevor sie ihn zurückließen. Leere Augenhöhlen starrten auf, und in seiner Kehle gähnte eine zweite Mundöffnung. Anstelle eines Armes gab es ein Bündel mehr als klafterlanger Tentakel, die nun wie trockener Seetang verwelkt waren. Der Leichnam war aller Kleider beraubt. »Das Schlachtfeld«, sagte Vukotic. »Was für ein Ort ist das?« »Ein übler Ort. Wir sind Cicatrice nahe. Deshalb ist er gekommen.« Vukotic hatte wieder Schmerzen. Johann wußte, daß ihm das Sprechen noch immer schwerfiel. Nun ließ er sich mühsam atmend auf die Bahre zurückfallen und verzog das Gesicht. Ringsum lagen die Toten zuhauf. Einige lagen offensichtlich noch nicht lange hier. Und nun waren auch Vögel zu sehen, unreine Aasfresser, die Augen aushackten, an bloßliegendem Fleisch zerrten und sich um Brocken stritten. Johann waren die Aasvögel verhaßt, obwohl er ihre Nützlichkeit nicht verkannte; für ihn gab es nichts Schlimmeres, als von den Abgeschlachteten zu leben. Armeen waren diesen Weg gezogen, und nach dem Aussehen dessen zu urteilen, was sie zurückgelassen hatten, vor weniger als einem Tag. Aber sie hatten eine Bande von Mordbrennern verfolgt, keine Armee. Cicatrice konnte bestenfalls über hundert Anhänger verfügen, und seit ihrem Einfall in das Land der Trolle war seine Bande stark zusammengeschrumpft. »Die Versammlung ist hier«, brachte Vukotic hervor. »Cicatrice wird einer unter vielen sein.« Ein Rudel Ratten schwärmte über ein halb skelettiertes Pferd und auf die Bahre zu. Während sie standen, erkletterten einige der Ratten die Stangen der Bahre und machten sich ohne Umschweife über Vukotics Beine her. Er fuchtelte mit dem Schwert und verscheuchte sie. Als Johann verspätet hinzusprang und die Beine seines Lehrers
untersuchte, sah er Bisse. »Verdammt«, schnaufte Vukotic. »Die Seuche wird mich noch erledigen.« »Sei unbesorgt. Bis zum Dorf ist es nicht mehr weit.« Vukotic hustete und spie rosa Speichel aus. »Bis zum Abend müssen wir dort sein«, keuchte er.
* Der Himmel rötete sich, als sie endlich das Dorf erreichten. Es bestand aus verstreuten Hütten um ein zentrales, niedriges Langhaus. Alle Gebäude waren wie eingesunken, nicht viel mehr als überdachte Keller mit schießschartenähnlichen Fenstern und Befestigungen. Johann fühlte sich an die Gebäude erinnert, die er in Ländern gesehen hatte, welche von Wirbelstürmen heimgesucht wurden. Zwischen den Gebäuden lagen keine Toten; man schien die Leichen im Umkreis des Dorfes fortgeschafft zu haben. Vor dem Langhaus war ein Haltegeländer. Johann stieg ab und machte Zars Zügel daran fest. »Hallo!« rief er. »Ist jemand da?« Vukotic war wieder wach und fröstelte in den Fellen. Auf den zweiten Ruf wurde eine Tür geöffnet. An der Seite des Langhauses führten Stufen unter die Traufe zum tiefer gelegten Eingang, der von Sandsäcken flankiert war. Zwei Männer kamen heraus. Johann nahm die Hand erst vom Schwertgriff, als er sie ganz sehen konnte. Keiner der beiden war erkennbar verändert. Einer, der beim Eingang stehenblieb, war ein fleischiger Mann mittleren Alters mit Lederschürze und schimmernder Glatze. Der andere, der auf Johann zukam, war hager wie eine Vogelscheuche, ein zottiges Individuum mit einer schäbigen Mitra auf dem wirr zerzausten langen Haar. Er war mit Amuletten, Plaketten,
Medaillen und Andenken behängt. Johann erkannte die Ikonen von Ulric, Manann, Myrmidia, Taal, Verena und Ranald; ferner von den Mächten des Chaos einschließlich des gefürchteten Khorne, die Götter Alluminas, Solkan und Grungni, der Zwergengott und Schutzherr der Bergleute; sodann Liadriel, der Elfengott des Gesangs und des Weins. Der Hammer Sigmars, der Gottheit und dem Patron des Reiches, fehlte nicht. Kein Priester konnte Talismane so vieler verschiedener und untereinander verfeindeter Gottheiten tragen. Dies war ein Verrückter, kein Kleriker. Dennoch ist es am besten, die Verrückten mit Höflichkeit zu behandeln. »Johann«, sagte er und streckte die leere Hand aus. »Kurfürst von Mecklenberg.« Der Mann schob sich seitwärts näher. Seine Amulette und Götterbilder klimperten. Er lächelte das Lächeln eines Schwachsinnigen. »Ich bin Mischa, der Priester.« Sie tauschten einen Händedruck. Sofort wich Mischa wieder zurück, vorsichtig und auf der Hut. Johann bemerkte, daß er sowohl den Dolch Khaines, des Gottes der Heimtücke und des Mordes, als auch die Taube Shallyas trug, der Göttin der Barmherzigkeit und des Heils. »Wir kommen in friedlicher Absicht. Mein Freund ist verwundet worden.« »Bring sie herein«, rief der Kahlköpfige, »bevor es dunkel wird.« Vukotic hatte erwähnt, daß sie vor Einbruch der Dunkelheit das Dorf erreichen müßten. Nach unangenehmen Erfahrungen, die er mit einer gewissen Vampirfamilie in den Schwarzen Bergen gemacht hatte, war Johann darüber nicht sehr glücklich gewesen. »Kommt, kommt«, sagte Mischa und winkte Johann. Er tanzte ein wenig auf einem Fuß und wedelte mit einer Hand locker aus dem Gelenk. Johann sah das Blut in seinen Augen und zögerte,
wandte sich dann zu Vukotic und half seinem Freund und Lehrer von der Bahre. Der Eiserne Mann stand unsicher auf den Beinen, konnte aber mit Johanns Hilfe langsam zur Tür gehen. Der Kahlköpfige kam aus seinem Loch und stützte Vukotics andere Seite. Johann fühlte Stärke in ihm. Während Mischa nutzlos herumsprang, schafften sie Vukotic durch die Tür ins Innere. Der Kahlköpfige warf die Tür hinter ihnen zu und schob als erstes eine Reihe schwerer Riegel vor. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Johanns Augen dem Halbdunkel im Langhaus angepaßt waren, doch spürte er sofort, daß noch andere darin waren. »Darvi«, fragte jemand, »wer sind diese Leute?« Der Kahlköpfige ließ Vukotic gegen Johann sinken und wandte sich ab. Der Fragesteller war ein Zwerg, der verwachsen schien. »Dieser da nennt sich Kurfürst Johann von Mecklenberg. Der andere hat nichts gesagt.« »Vukotic«, sagte der Eiserne Mann. »Vukotic«, wiederholte der Zwerg. »Ein bekannter Name, und ein guter. Und von Mecklenberg. Ein Elektor, wenn ich mich nicht täusche, und ich täusche mich selten.« »Ich habe diesem Amt entsagt, mein Herr«, sagte Johann. »Mit wem habe ich es zu tun?« Der Zwerg kam aus dem Halbdunkel, und Johann sah, warum seine Bewegungen seltsam wirkten. »Mit wem Sie es zu tun haben?« Der Zwerg gluckste belustigt und verbeugte sich sehr vorsichtig. Der Griff des Schwertes, das aus seiner Brust ragte, berührte den Boden aus gestampfter Erde. »Nun, mit dem Bürgermeister dieser namenlosen Ortschaft. Ich bin Kleinzack … der Riese.« Kleinzacks Schwert wurde von einer komplizierten Anordnung aus Lederriemen und Schnallen in Position gehalten. Es ragte fast eine Elle aus seinem Rücken und schien scharf wie ein Rasiermesser. Johann erinnerte sich der Vorrichtungen, die von Schauspielern verwendet wurden, um Tote zu simulieren: Zwei Teile eines
Speeres oder einer anderen Waffe wurden so am Körper befestigt, daß er wie durchbohrt aussah. »Ich weiß genau, was Sie denken, Exzellenz. Nein, dies ist kein Trick. Es geht ganz durch. Ein Wunder, daß ich nicht getötet wurde, natürlich. Die Klinge ging durch meine Brust, ohne ein lebenswichtiges Organ zu treffen, und nun wage ich nicht, sie entfernen zu lassen, weil ich fürchte, das Wunder wird sich nicht wiederholen. Man kann lernen, mit allem zu leben, wissen Sie.« »Das glaube ich Ihnen gern, Herr Bürgermeister.« »Sie haben Mischa kennengelernt, unseren geistlichen Ratgeber. Und Darvi, den Wirt dieses Gasthauses. Kommen Sie und teilen Sie unsere bescheidene Kost mit uns, und lassen Sie sich mit den anderen bekannt machen. Dirk, nimm seinen Umhang.« Ein buckliger junger Mann mit Gliedmaßen, deren Gelenke verkehrt eingebaut schienen, schlurfte auf Kleinzacks Befehl aus den Schatten und nahm Johann den Umhang von den Schultern. Während er sich entfernte, legte er ihn sorgsam zusammen. Ein Verrückter, ein Krüppel, ein Zwerg … Dies war wirklich eine eigenartige Gemeinde. Kleinzack nahm eine Laterne vom Wandhaken und drehte die Flamme hoch, dann stellte er sie auf einen Tisch. Das Innere der Gaststube wurde jetzt sichtbar. Die Einrichtung bestand hauptsächlich aus einem langen Tisch mit Bänken zu beiden Seiten. Eine junge Frau in den Resten eines Kleides, das bei einem der berühmten Bälle des Zaren vielleicht nicht fehl am Platz gewesen wäre, schöpfte mit einer Suppenkelle ein Schmorgericht in die Schalen der Gäste am Tisch. Diese waren wohl die abgerissenste Versammlung von Ausgestoßenen, mit der Johann jemals das Brot gebrochen hatte. Kleinzack erstieg einen thronähnlichen Lehnstuhl am Kopfende des Tisches und steckte sein Schwert in eine abgenutzte Kerbe in der Rückenlehne. »Setzen Sie sich zu mir, Exzellenz. Speisen Sie mit uns.«
Johann nahm seinen Platz ein und sah sich am Tisch einer unglaublich alten Kreatur gegenüber − vielleicht einer Frau −, die mit einem großen Messer an einem Stück rohen Fleisches sägte. »Katinka hält nicht viel von zivilisierter Küche«, bemerkte Kleinzack. »Sie stammt aus dieser Gegend und ißt ihr Fleisch nur roh. Wenigstens hat sie so ihre Zähne behalten.« Die alte Vettel grinste, und Johann sah spitz zugefeilte Zähne. Sie führte ein Stück Fleisch zum Munde und zerriß es mit den scharfen Zähnen. Ihre Wangen waren tätowiert, die Muster aber von zahllosen Runzeln übersät. »Sie ist eine Heilerin«, erklärte der Zwerg. »Später wird sie sich um Ihren Freund kümmern. Mit Kräutern und den Innereien kleiner Tiere kann sie allerlei bewirken.« Die junge Frau klatschte eine Portion vom Schmorgericht in Johanns Schale. Er roch Gewürze und sah Gemüse und Kartoffeln in der Fleischbrühe. »Dies ist Anna.« Die junge Frau reagierte mit einem überraschend anmutigen Knicks, wobei sie den Kessel mit dem Schmorgericht auf ihrer ansehnlichen Hüfte balancierte. »Sie reiste mit einem feinen Herrn aus Praag, als er ihrer überdrüssig wurde und sie unserem Dorf als Bezahlung für unsere Gastfreundschaft überließ.« Annas Augen hatten einen stumpfen Glanz. Sie war rothaarig und wäre sauber gewaschen und gepflegt recht hübsch gewesen. Freilich war es mit Johann in dieser Hinsicht nicht besser bestellt; Bäder, Düfte, saubere Kleider und feine Umgangsformen gehörten nicht zu den Realitäten seines Lebens. Dieser Teil seines Werdegangs lag weit zurück. »Natürlich«, lachte Kleinzack, »erwarten wir solche Dankbarkeiten nicht von allen unseren Gästen.« Einige Teilnehmer der Tischgesellschaft stimmten mit brüllendem Gelächter ein und schlugen mit den Fäusten auf den Tisch. Johann fand die Heiterkeit nicht angenehm, obwohl das Schmor-
gericht ausgezeichnet war. Es war das beste Essen, das er in den letzten Monaten bekommen hatte, ganz gewiß unvergleichlich besser als geräuchertes Pferdefleisch. Die Mahlzeit verlief ohne Zwischenfälle. Niemand fragte Johann nach seinen Angelegenheiten, und er enthielt sich jeder Frage, wie es kam, daß dieses Dorf inmitten eines Schlachtfeldes lag. Die Dorfbewohner waren vollauf mit essen beschäftigt, und Mischa der Priester sorgte für die meiste Unterhaltung, indem er den Segen eines Sammelsuriums von Göttern für die Nacht erbat. Auch das bereitete Johann Unbehagen. Katinka nahm Vukotic in Augenschein und schaffte einen Kräuterbalsam herbei, dessen Anwendung seine Schmerzen ein wenig linderte. Dann schlief der Eiserne Mann wieder ein, und Johann hatte den Eindruck, daß er nicht viel zu leiden hatte. Der rückwärtige Teil des Langhauses enthielt Schlafkammern. Mehrere der Dorfbewohner zogen sich nach der Mahlzeit dorthin zurück, und Johann hörte, wie Riegel zugestoßen wurden. Kleinzack brachte einen Beutel mit getrockneten Wurzeln zum Vorschein, die er in eine Pfeife stopfte und rauchte. Der Geruch war so übel, daß Johann die freundlich angebotene Pfeife ablehnte. Anna, die während der ganzen Zeit kein Wort gesprochen hatte, räumte Teller und Bestecke ab und trug sie zum Spülbecken, während Darvi aus einem aufgebockten Faß Bier zapfte. Dirk schlurfte herum und achtete darauf, daß er niemandem im Weg war. »Sie sind weit von Ihrer Heimat, Exzellenz«, bemerkte Kleinzack und stieß eine Wolke stinkenden Rauches aus. »Ja. Ich bin auf der Suche nach meinem Bruder.« »A-ha«, machte der Zwerg und sog an der Pfeife. »Ist er von zu Hause weggelaufen?« »Er wurde von Banditen entführt.« »Ich verstehe. Schlimme Sache, diese Banditen.« Er fand etwas daran lustig und lachte darüber. Dirk stimmte ein, wurde
aber mit einem Schlag auf den Hinterkopf zum Schweigen gebracht. »Wie lange sind Sie schon hinter diesen Banditen her?« »Eine lange Zeit.« »Lange, wie? Das ist schlimm. Sie haben mein Mitgefühl. Alle von Sorgen geplagten Menschen der Welt haben mein Mitgefühl.« Er strich Dirk über das wirre Haar, und der verwachsene Junge schmiegte sich an ihn wie ein Hund an seinen Herrn. Etwas fiel aus Dirks zerlumpten Kleidern und glänzte am Boden. Kleinzacks Miene umwölkte sich, und Johann bemerkte, wie still alle anderen geworden waren. Kleinzack legte seine Pfeife mit betonter Ungezwungenheit weg und nahm sein Glas. Er trank. »Dirk«, sagte er, »dir ist etwas aus der Tasche gefallen. Heb es auf und bring es mir.« Der Junge reagierte mit Verspätung, aber dann beeilte er sich, den Gegenstand aufzuheben. Seine Finger arbeiteten nicht richtig, doch zuletzt gelang es ihm, den Gegenstand zwischen Daumen und Zeigefinger zu fassen. Er legte ihn vor Kleinzack auf den Tisch. Es war ein Ring mit einem roten Stein. »Hm. Ein hübsches Stück. Silber, glaube ich, und ein Rubin, in Form eines Schädels geschliffen. Sehr hübsch.« Er warf ihn Johann zu. »Was halten Sie davon?« Johann konnte es kaum ertragen, den Ring zu berühren. Es war ein irgendwie unangenehmes Gefühl. Vielleicht hatte er in letzter Zeit zu viele Schädel gesehen. Dieser trug eine diagonale Kerbe. Es war eine vertraute Zeichnung. Cicatrice war nicht weit. »Grobe Arbeit, aber er hat eine gewisse Vitalität, nicht wahr? Zweifellos haben Sie wesentlich feinere Juwelen als diesen Ring, Exzellenz.« Johann legte den Ring auf den Tisch. Kleinzack schnippte mit den Fingern, und Anna brachte ihm den Ring. Er betrachtete den Stein. »Dirk.« Der Junge blickte auf. »Ich sehe, daß du dieses Stück
selbst behalten möchtest.« Der Junge blickte ungläubig zu ihm auf. Speichel hing von seinen Lippen. »Gut, du sollst es haben. Komm her.« Dirk kroch auf den Knien und Ellbogen näher wie ein Insekt. Er hielt ihm die Hand hin, und Kleinzack nahm sie. »Ich frage mich, auf welchen Finger er paßt …« Der Zwerg stieß ihm den Ring auf den kleinen Finger, dann bog er ihn grausam zurück. Johann hörte das Knacken, als der Fingerknochen aus dem Gelenk sprang. Dirk blickte auf seine Hand, deren Finger in einem ungewohnten Winkel abstand. Der Rubin war blutig. Dirk lächelte. Dann begann draußen der Lärm. Johann hatte an genug Schlachten teilgenommen, um das Geräusch zu erkennen. Das Schlagen von Stahl auf Stahl, die Zurufe und Schreie von Kriegern in der Hitze des Gefechts, das Stampfen und Keuchen der Kämpfenden. Draußen war eine regelrechte Schlacht entbrannt. Es war, als ob Armeen aus der Luft erschienen wären und mit größter Wildheit gegeneinander anrannten. Johann hörte Pferde wiehern und schreien, Pfeile in Holz oder Fleisch schlagen, gebrüllte Befehle, Flüche. Der Erdboden erzitterte, als schwere Körper hinschlugen. Von den Deckenbalken rieselte feiner Staub herab. Kleinzack ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und trank und rauchte mit einer vollendeten Zurschaustellung von Beiläufigkeit, als wäre nichts geschehen. Anna füllte sein Glas aufmerksam immer wieder nach, war aber bleich unter ihrem Schmutz, und Johann sah, daß ihre Hände in mühsam unterdrücktem Schrecken zitterten. Dirk versuchte sich unter einen Stuhl zu zwängen, hielt sich die Ohren zu und hatte die Augen fest geschlossen. Darvi stand trübe hinter seiner Theke und starrte in ein Bierglas. Katinka entblößte die Zähne, anscheinend in einem Kichern, aber Johann konnte sie in dem von draußen hereindringenden Lärm nicht hören. Mischa kniete in einem Winkel vor einem Kompositaltar,
der anscheinend seinen sämtlichen Göttern geweiht war, und betete aufs Geratewohl um seine Haut. Draußen folgte ein Ansturm auf den anderen. Hufe donnerten, Kanonen dröhnten, und die metallischen Schläge der Fechtenden nahmen kein Ende. Johanns Ohren schmerzten. Er bemerkte, daß Darvi, Katinka und ein paar andere Fetzen von Lumpen in die Ohren gesteckt hatten. Kleinzack kam jedoch ohne solch ein Hilfsmittel aus; offenbar hatte er genug getrunken, um eine Nacht dieses Kampfgetöses zu ertragen. Johann erkannte, daß sie alle verrückt waren, verrückt gemacht von dieser geisterhaften Schlacht. Konnte es jede Nacht so zugehen? Er ging zu Vukotic und fand seinen Freund wach, aber bewegungslos in die Dunkelheit starrend. Der Eiserne Mann nahm seine Hand und hielt sie fest. Schließlich schlief Johann trotz des Schlachtenlärms ein.
* Als er erwachte, herrschte Stille, oder vielmehr die Abwesenheit von Lärm. Sein Kopf hallte noch von der Erinnerung des Getöses wider, aber außerhalb des Hauses war es still. Er fühlte sich übernächtigt und unausgeruht. Ein schaler Geschmack war in seinem Mund, und seine Muskeln schmerzten vom Schlaf in sitzender Haltung. Er war mit Vukotic allein in der Gaststube. Durch die schlitzartigen Fenster strömte Tageslicht herein. Sein Lehrer schlief noch fest, und Johann brauchte längere Zeit, um seine Hand vorsichtig aus dem Griff des Eisernen Mannes zu befreien. Seine Finger waren weiß und blutleer und prickelten, als die Zirkulation wieder in Gang kam. Verwundert ging er zur Tür und sah sie offenstehen. Er steckte
den Kopf hinaus und sah nichts Bedrohliches. Die Hand am Schwert, trat er hinaus und erstieg die Stufen. Die Luft war windstill und roch nach Tod. Das Dorf stand inmitten eines Feldes der Toten und Sterbenden. Da und dort brannten Feuer und verbreiteten den Gestank von versengtem Fleisch, und schwache Stimmen riefen in unbekannten Sprachen. Ihre Bedeutung war jedoch unmißverständlich. Johann hatte dergleichen nach vielen Kämpfen gehört. Die Verwundeten riefen um Hilfe oder um einen barmherzigen Gnadenstoß. Am Haltegeländer fand er, was von Zar übriggeblieben war. Ein unversehrter Kopf, der noch im Zaumzeug steckte, hing lose herab. Der Rest des Pferdes war eine zerfetzte, geschwärzte und zertrampelte Masse, überzogen vom tauendem Reif. Sie war vermischt mit dem arm- und beinlosen Rumpf eines Zwerges oder Kobolds. Es war schwierig zu unterscheiden, weil der Kopf im überfrorenen Schlamm zu Brei zerquetscht war. Von nun an würde Johann zu Fuß gehen müssen. Geister oder nicht, die Armeen der Finsternis ließen Leichen zurück. Er überblickte die ebene Landschaft und sah nichts als die Hinterlassenschaften der Schlacht. Woher waren die Krieger gekommen? Wohin gingen sie? Alle Toten trugen die Merkmale des Verwerfungsgesteins. Es war nicht möglich, strategische Bewegungen zu rekonstruieren, es schien fast so, als hätte eine unübersehbare Menge von Kriegern einander aus keinem anderen Grund als dem bekämpft, so viele wie möglich zu töten. Das ergab noch weniger Sinn als die vielen Kriege und Spuren von Gefechten, die er auf seinen Reisen gesehen hatte. Dirk kam von der anderen Seite des Langhauses. Sein Körper war in eine Vorrichtung aus Metall und Leder geschnallt, die ihm zu aufrechter Haltung verhalf. Er war noch immer eine Marionette mit zu vielen zerrissenen Fäden, aber er stand aufrecht, selbst wenn sein Kopf wie der eines Gehängten herabhing. Johann be-
merkte, daß sein gebrochener Finger geschient und bandagiert war, und er fragte sich, ob der Junge auf die gleiche Weise zu seinen anderen deformierten Gliedmaßen gekommen war. Er trug einen Armvoll Schwerter, eingewickelt in blutigen Stoff, und lächelte Johann zu. Dabei zeigte er überraschend weiße und gleichmäßige Zähne. Er ließ seine Last neben dem Eingang auf die Erde fallen. Der Stoff riß auseinander, und Johann sah die Schwertklingen, an denen noch Blut klebte. Im Unterricht und durch Erfahrung hatte er vieles über Waffen gelernt und unterschied eine Vielzahl von Blankwaffen: tileanische Stoßdegen, Krummschwerter aus Kathay, nordische BihänderSchlachtschwerter, Krummsäbel aus Arabien. Dirk grinste wieder, stolz auf seine Sammlung, breitete die Schwerter am Boden aus, wischte das Blut ab und brachte sie zum Glänzen. Johann überließ ihn seiner Beschäftigung und ging zu den Toten hinaus. Die Dorfbewohner stiegen schon zwischen den Gefallenen herum, nahmen ihnen Rüstungen und Waffen ab und warfen ihre Beute in große Schubkarren. Sie waren wie Aasgeier. Er betrachtete einen halbgefüllten Schubkarren und fand Ringe, eine silberne Taschenflasche mit einem süßen Likör, ein nicht von Blut besudeltes seidenes Hemd, einen Beutel Goldkronen, eine Streitaxt mit juwelenverziertem Stiel, einen ledernen Brustharnisch aus den Werkstätten der Elfen, ein gutes Paar Stiefel aus Bretonnia. Anna füllte diesen Schubkarren. Sie ging behutsam mit den Toten um und beraubte sie, als wäre sie eine Krankenschwester, die Umschläge auflegte. Während er zusah, zog sie die Ringe von den steifen Fingern eines verweichlicht aussehenden Veränderten, dann öffnete sie seine Rüstung aus feiner Filigranarbeit. Ohne sich lange mit der kunstvollen Verarbeitung des Stahls aufzuhalten, löste sie die Lederriemen seiner Armschienen und zog sie ab. Seine Haut darunter war verrottet und mußte es schon vor dem Kampf gewesen sein. Vorsichtig löste sie den zu einer Drachen-
maske gearbeiteten Helm von seinem Kopf, und mit ihm löste sich ein Zopf seidigen Haars. Die Züge des Mannes waren gepudert und geschminkt, hatten aber Fäulnislöcher. Seine Augen öffneten sich, seine Gliedmaßen zuckten. Mit einer kleinen, damenhaften Bewegung zog Anna ihm ein Messer unter dem Kinn durch, und er sank zurück. Blut rann über seine Brust. Er hauchte sein Leben aus, und Anna begann an seinem Brustharnisch zu arbeiten. Angeekelt wandte Johann sich ab und sah Kleinzack. Der Zwerg war in Pelze gehüllt und trug einen lächerlichen Hut. Bei Tageslicht sah das in ihm steckende Schwert noch grotesker aus. »Guten Morgen, Exzellenz. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.« Er antwortete nicht. »Ach, es ist schön, an solch einem Morgen lebendig zu sein.« Mischa erschien, beladen mit weiteren religiösen Amuletten und Devotionalien, von denen einige noch blutverschmiert waren, und beugte sich, um Kleinzack etwas zuzuflüstern. Der Bürgermeister lachte boshaft und versetzte dem verrückten Priester eine Ohrfeige. Mischa eilte jaulend davon. »Die Götter haben ihn verrückt gemacht«, erklärte Kleinzack. »Deshalb dulden sie seine Sakrilege.« Johann zuckte die Achseln, und der Zwerg lachte erneut. Seine Heiterkeit begann ihm auf die Nerven zu gehen. Er fühlte sich unangenehm an Andreas' tödliches Gelächter erinnert. Er war wirklich unter Verrückte geraten. Darvi und ein anderer Mann trugen Leichen zusammen und stapelten sie zur Verbrennung auf. Es war unmöglich, alle Toten zu verbrennen, doch gelang es ihnen, den Boden im Umkreis des Langhauses freizuräumen. Gefallene, die zu groß waren, um sie zu tragen, wurden zerschnitten und wie Scheite ins Feuer geworfen. Katinka kam zu Kleinzack und zeigte ihm ein Armband, das sie gefunden hatte.
»Hübsch, sehr hübsch«, murmelte er und hob das Armband hoch, daß die Juwelen im Licht funkelten. Er streifte es über sein Handgelenk und bewunderte es. Katinka wartete mit gebeugtem Kopf auf ein Lob oder eine Gefälligkeit. Kleinzack hob die Hand und strich ihr über das strähnig verfilzte Haar. Sie summte in idiotischer Zufriedenheit, und er zwickte sie grausam ins Ohr. Sie schrie auf, und er stieß sie fort. »Zurück an die Arbeit, Hexe. Die Tage sind kurz und die Nächte lang.« Dann meinte er zu Johann: »Unsere Arbeit ist nie getan, wie Sie sehen, Exzellenz. Jede Nacht gibt es mehr. Es nimmt kein Ende.« Eine Hand fiel auf Johanns Schulter und drückte sie. Er wandte sich um. Vukotic war aufgestanden; eine abgebrochene Lanze diente ihm als Stab. Sein Gesicht hatte seinen grünlichen Ton behalten, die Narben hoben sich weiß darin ab, und seine Augen waren von Schmerz getrübt. Aber sein Griff war kräftig. Sogar wenn er humpelte, strahlte er Stärke aus. Er war noch immer der Eiserne Mann, der selbst in Cicatrices schlimmsten Mordbrennern Schrecken hervorrief. »Dies ist ein Schlachtfeld des Chaos, Johann. Dies ist das Ziel, das Cicatrice die ganze Zeit angesteuert hat. Unsere Suche ist bald vorbei. Er wird hier in der Nähe sein und schlafen, umgeben von seinen Kreaturen.« Kleinzack verbeugte sich vor Vukotic. »Dann wissen Sie über die Schlacht Bescheid?« »Ich habe davon gehört«, sagte der Eiserne Mann. »In meinen jüngeren Jahren war ich einmal hier in der Nähe. Ich sah die Ritter auf dem Marsch in die Schlacht.« »Seit mehr als tausend Jahren kämpfen sie gegeneinander, um sich zu beweisen. Früher oder später kommen alle Favoriten hierher, um zu sehen, ob sie haben, was sie von sich behaupten. Und die meisten von ihnen haben es nicht. Sie enden wie diese armen toten Dummköpfe.«
»Und damit verdienen Sie sich den Lebensunterhalt, wie?« fragte Johann. »Indem Sie die Toten berauben, die Leichen fleddern und Ihre Beute verkaufen?« Kleinzack schien nicht gekränkt. »Natürlich. Jemand muß es tun. Leichen verwesen, andere Dinge nicht. Wenn wir und unsere Vorfahren nicht wären, würde diese Ebene ein Berg rostender Waffen und Rüstungen sein.« »Sie schlafen in großen unterirdischen Sälen in der Nähe«, sagte Vukotic. »Sie schlafen wie die Toten. Es ist ein wichtiges Stadium in ihrer Entwicklung, ihrer Veränderung. Tagsüber liegen sie wie im Koma auf Platten von Verwerfungsgestein, verändern ihre Gestalten, entledigen sich der letzten Spuren von Menschlichkeit. Und bei Nacht kämpfen sie. Eine ganze Mondphase dauert die Schlacht. Und wenn sie überleben, kehren sie in die Welt zurück, um ihr Übel weiter zu verbreiten.« »Und Cicatrice?« »Er wird ebenfalls hier sein. Jetzt schläft er, wie es sich für einen General geziemt. Wir werden ihn finden, und Wolf mit ihm.« Vukotic sah erschöpft und müde aus. Seinen Augen konnte Johann entnehmen, daß es bald vorbei sein würde, so oder so. »He«, wandte Vukotic sich an Kleinzack, »Sie Aasgeier. Haben Sie etwas gefunden, das dieses Symbol trägt?« Er zog eine Umhangschließe mit dem Emblem von Cicatrices Bande hervor. Das stilisierte menschliche Gesicht war von einem roten Blitzsymbol durchkreuzt, das die Narbe ihres Anführers symbolisierte. Der Zwerg hob die Hand und rieb den Daumen am Zeigefinger. Vukotic warf ihm die Schließe zu, und Kleinzack machte ein Aufhebens aus der Untersuchung, als ginge es um die Beurteilung der künstlerischen Verarbeitung: »Vielleicht kann ich mich an einen ähnlichen Gegenstand erinnern …« Vukotic nahm eine Münze aus der Tasche und warf sie Kleinzack vor die Füße. Der Zwerg machte ein übertrieben gekränktes
Gesicht und zuckte die Achseln. Johann ließ einen Beutel Münzen neben die einzelne Krone fallen, und Kleinzack lächelte. »Jetzt fällt mir alles wieder ein … die Narbe.« Er zog den Finger diagonal über sein Gesicht. »Sehr auffällig und höchst ungewöhnlich.« »Wir sind hinter einem ungewöhnlichen Mann her.« »Dem Mann, dessen Anhänger dieses Zeichen tragen?« »Ja. Cicatrice.« Kleinzack lachte wieder. »Ich kann Ihnen mehr zeigen als einen Mann, der das Bild dieser Narbe trägt …«
* Der Zwerg warf die Schließe in die Luft und fing sie auf. »Ich kann Ihnen den Mann zeigen, der die Narbe selbst trägt.« Eine Kralle schien Johanns Herz zu umfassen, drückte es zusammen. »Cicatrice?« Der Zwerg nickte lächelnd und hielt die offene Hand hin. Johann gab ihm noch mehr Geld. Kleinzack machte eine Schau aus der Untersuchung der Münzen, biß in eine Goldkrone und hinterließ flache Eindrücke auf dem Gesicht des Kaisers. Er blickte von Johann zu Vukotic und zurück und genoß seine Macht über die beiden. »Kommen Sie«, sagte er schließlich, »folgen Sie mir.« Seine Verletzungen erschwerten Vukotic das Gehen, aber gestützt auf die zersplitterte Lanze gelang es ihm, humpelnd mit dem Zwerg Schritt zu halten. Johann unterdrückte seine Ungeduld angesichts ihres gemessenen Schritts, als sie sich durch das Leichenfeld den Weg hinaus in die Steppe bahnten. Seit zehn Jahren hatte er darauf gewartet, Cicatrice gegenüberzutreten. Dieses Narbengesicht, das er nie gesehen hatte, das aber immer wieder
auf den Ausrüstungen seiner Männer erschien, hatte ihn bis in seine Träume verfolgt. Niemals hatte er einen Schlag oder auch nur ein Wort mit dem Banditen gewechselt, aber Johann kannte seine Geschichte so gut, wie er seine eigene kannte, und indem er Cicatrice auf der Fährte geblieben war, war er ihm nahegekommen wie einem Bruder. Einem verhaßten Bruder. Nun erinnerte er sich ihrer getrennten Kämpfe. Er verglich seine überwundenen Feinde mit denen, die Cicatrice besiegt hatte, und überlegte, ob er dem As des Chaos im Zweikampf wirklich gleichkommen konnte. Er würde es früh genug erfahren. Eine siedende Ungeduld hatte von ihm Besitz ergriffen. Zehn Jahre waren zu lange. Es war höchste Zeit, dies hinter sich zu bringen. Nein. Er zügelte seine Ungeduld. Er durfte jetzt nichts übereilen. Für diesen Tag hatte er gelebt und übermenschliche Anstrengungen auf sich genommen. Es wäre verhängnisvoll, jetzt aus Ungeduld Fehler zu machen und Wolfs Leben zu gefährden. Dieser Gedanke half ihm, zur Ruhe des inneren Gleichgewichts zu finden. Die Beengung in seiner Brust löste sich. Er begann mit nüchterner Klarheit zu sehen. Er überprüfte seine Waffen. Die beiden Dolche und das Schwert steckten griffbereit in ihren eingefetteten Scheiden; er konnte sie schneller ziehen, als das menschliche Auge der Bewegung zu folgen vermochte. Nach zehn Jahren unablässiger Kämpfe und Verfolgung konnte er manchmal schneller töten als denken. Es war eine Fähigkeit, auf die er nicht stolz war und von der er sich bald zu reinigen hoffte. Er dachte an den Pfeil, mit dem es angefangen hatte; wie er den Hirsch verfehlt und mit beinahe übernatürlich scheinender Langsamkeit weiter geflogen war, um die Schulter seines Bruders zu treffen. Johann hatte seitdem keinen Langbogen mehr angerührt und es vorgezogen, sich auf Nahkampfwaffen zu beschränken.
»Es ist nicht mehr weit«, schnaufte Kleinzack. Der Zwerg war außer Atem, und jedesmal, wenn er die Luft einsog, zitterte sein Schwert. »Gleich hinter diesem Wall.« Der Wall war keine Bodenerhebung, sondern eine Anhäufung von toten Reitern und ihren Tieren, die hier ins Feuer mehrerer Geschützbatterien geraten waren. Der dritte oder vierte Angriff hatte zum Durchbruch geführt, aber die Verluste waren schrecklich gewesen. Johann versuchte, nicht an die niedergemähten Reihen von Menschen und Tieren zu denken, als er Vukotic über das Hindernis half. Kleinzack stieg mit überraschender Beweglichkeit über die Leichenhaufen und zog sich an Gürteln und Sätteln über Hindernisse, die seine kurzen Beine nicht übersteigen konnten. Darvi und eine Gruppe sehniger Männer waren emsig an der Arbeit und schnitten mit Sägen, Scheren und Messern Wertsachen von den Leichen gefallener Chaoskrieger. Einer zerrte an einem Helm mit Federbusch, dessen Eigentümer trotz der Tiefe und Zahl seiner tödlichen Wunden noch matten Widerstand leistete. Dieser war im fortgeschrittenen Stadium der Veränderung, und seine Gliedmaßen waren kaum noch als menschlich zu erkennen. Lederige Fledermausflügel lagen gebrochen und zerrissen um ihn; der Rumpf und die Beine waren verkümmert, während der Brustkorb muskulös angeschwollen war, mit einem stark vorgewölbten Brustbein, das sich durch die papierne Haut abzeichnete. Er drehte den behelmten Kopf hierhin und dorthin, aber zuletzt bekam der Räuber ihn richtig zu fassen und zog ihm seine Beute mit einem entschlossenen Ruck vom Kopf. Der Veränderte war alt, die Wangen eingesunken und faltig, die Zähne ausgefallen bis auf zwei gelbe Hauer, die im Laufe der Zeit tiefe Rinnen in seine Lippen gekerbt hatten. Sein Haar war weiß und spärlich und in Rattenschwanzzöpfchen auf eine Seite geknotet, wo er früher einmal teilweise skalpiert worden war. Eine rote Narbe verlief diagonal über sein Gesicht.
Ihre Suche war zu Ende. Aber dies war nicht der Cicatrice, den Johann sich ausgemalt hatte. Dies war eine sterbende Monstrosität, verändert jenseits aller Tunlichkeit, verloren sogar für sich selbst. »Ich möchte mit ihm reden«, sagte Johann zu Kleinzack. »Das soll mich nicht kümmern, Exzellenz.« Der Zwerg ging davon und bedeutete Darvi und den anderen, ihm zu folgen. Es gab noch genug zu holen. Etwas schrie ein paar hundert Schritte entfernt. Kleinzacks Mannschaft wanderte in die Richtung, ihr Werkzeug bereit zum Gebrauch. Johann und Vukotic standen über dem Mann, dem sie so lange gefolgt waren. Er schien ihre Gegenwart kaum wahrzunehmen, denn schon hatte der Tod seine dunklen Schwingen über ihn gebreitet. Zerschmetterte und zu Schenkeldicke angeschwollene Knöchel machten jeden Versuch aufzustehen zunichte. Verständnislose Augen öffneten sich und starrten zu ihnen hoch. Aus einer Wunde über dem Herzen, die zwei Rippen nahezu freigelegt hatte, sickerte Blut in seine aufgerissene Kleidung. »Cicatrice«, sagte Johann, »hören Sie mich an.« Der greise Veränderte blickte aus trüben Augen zu ihm auf und verzog den Mund zu einem Lächeln. Roter Schleim tropfte aus dem Mundwinkel. »Cicatrice, ich bin Johann von Mecklenberg.« Cicatrice hustete, ein Geräusch zwischen einem Schluchzen und einem Lachen, und wandte Johann den Kopf zu. Zum ersten Mal sahen Jäger und Gejagter einander im Bewußtsein gegenseitigen Erkennens an. Das sterbende Ungeheuer wußte, wer er war − und würde wissen, weshalb er gekommen war. »Wo ist Wolf?« Cicatrice hob mit matter Gebärde eine sechskrallige Hand und zeigte zur Erde, dann machte er eine allgemeine, den ganzen Bereich umfassende Geste. »Hier?«
Cicatrice nickte. »Was haben Sie mit ihm gemacht?« »Was … ich … mit ihm … gemacht habe?« Cicatrice bewegte die Lippen und zwang die Worte krächzend hervor. »Was ich mit ihm gemacht habe? Nun, mein lieber Kurfürst, sicherlich sollten Sie fragen … was er mit mir gemacht hat.« Er hob eine Krallenhand zu seinem geöffneten Brustkorb. »Wolf bekämpfte Sie? Er hat Sie verwundet?« Das Lachen kam wieder − das Lachen, das Johann aus allzu vielen Kehlen gehört hatte, seit er die Suche aufgenommen hatte −, und Cicatrices Lächeln wurde grausam und zornig. Johann sah in ihm den Schatten des furchteinflößenden Kriegerhäuptlings trotz der geschrumpften und verwüsteten Züge dieser armen Kreatur. »Wolf hat mich getötet.« Mit einem gewissen Stolz wandte Johann sich zu Vukotic. Der stand wie eine Statue, mit ausdrucksloser Miene. »Da haben wir es, Vukotic«, sagte er. »Wolf widerstand all diese Jahre. Hier im Herzen der Finsternis. Wolf hat sich gegen seine Sklavenhalter gewandt und ist entkommen.« »Nein«, sagte Cicatrice nach einem neuerlichen Hustenanfall. Dies waren seine letzten Minuten, vielleicht die letzten Sekunden … »Nein, er ist nicht entkommen. Wolf führt jetzt meine Truppe. Seit zwei Jahren ist er an der Spitze unserer Kolonnen geritten, er hat unsere Überfälle geplant. Ich bin ein alter Mann. Ich bin geduldet worden. Bis jetzt. Nun ist das Narbengesicht tot, und die Zeit des jungen Wolfs bricht heran.« Cicatrice griff mit der Krallenhand in seine klaffende Brustwunde und zog an seinem klopfenden Herzen, hielt es an. »Wenigstens tötete Ihr Bruder mich von Angesicht zu Angesicht. Seine Klinge kam nicht von hinten.« Blut rann durch seine Krallen. Sein Herz blies sich auf wie eine Kröte, dann fiel es zusammen. Mit letzer Kraft hatte der Bandit
sein eigenes Leben ausgelöscht.
* Auf dem Weg zurück zur Siedlung war es Vukotic, der Johann stützte und führte wie ein Zauberer einen frisch erweckten Untoten. Plötzlich lasteten die vielen tausend Meilen, die er in den vergangenen zehn Jahren zu Fuß und zu Pferde zurückgelegt hatte, schwer auf ihm, als ob jede ein Zeitmaß wäre, nicht ein Entfernungsmaß. Er hatte sich so stark auf seine Suche konzentriert, daß er nicht mit der Möglichkeit veränderter Umstände gerechnet hatte, die das ganze Unternehmen nun vergeblich und bedeutungslos machte. Wolf bedurfte keiner Rettung. Noch vor wenigen Tagen hatte er vier seiner Kreaturen ausgesandt, die seinen Bruder töten sollten. Wie viele Fallen und hinterlistige Pläne hatte er sich in den letzten beiden Jahren ausgedacht? Wie sehr mußte er ihm nach dem Leben trachten! »Es ist nicht Wolf«, sagte Vukotic. »Was immer er geworden ist, es ist nicht Wolf. Dein Bruder starb vor langer Zeit in den Wäldern in Sudenland. Er vergoß sein unschuldiges Blut. Was wir finden und vernichten müssen, ist wie das Ungeheuer, das wir im Wald verbrannten, eine Monstrosität, die gebraucht, was von seinem Körper übrig ist.« Darauf wußte Johann nichts zu sagen. Als sie die Siedlung erreichten, dunkelte bereits der Himmel. So hoch im Norden waren die Tage kurz. Johann hörte fernen Donner, der aus der Erde zu kommen schien, und stellte sich vor, daß die Horden sich in ihrem Schlaf regten, erwachten und sich nach neuen Veränderungen, neuen Verbesserungen untersuchten. Würde er Wolf überhaupt wiedererkennen?
Kleinzack stand vor dem Langhaus, umgeben von seinen Leuten. Mischa sang und tanzte epileptisch, rief längst vergessene Gottheiten an und erflehte ihren Schutz vor allen Gefahren. Die Dorfbewohner hatten die Ausbeute des Tages verstaut und bereiteten sich auf eine weitere Nacht ängstlichen Kauerns in verriegelten Kellerräumen vor. Heute nacht würde Johann draußen bleiben und in der Schlacht seinen Bruder suchen, um ihn zum Zweikampf herauszufordern. Er zweifelte nicht daran, daß er im dichtesten Kampfgetümmel überleben konnte, fragte sich aber, ob er den Geschöpfen des Verwerfungsgesteins mit ihrer Ausstrahlung des Bösen nahe genug kommen könnte, ohne selbst die langwierige Metamorphose zur Monstrosität zu beginnen. Er glaubte, sich darauf verlassen zu können, daß Vukotic ihm einen Speer durch die Brust stoßen würde, wenn er anfinge, sich zu verändern. Etwas schloß sich um seinen linken Knöchel, schnitt ins Stiefelleder und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Er sah den Draht aus der Erde kommen, als er eingezogen wurde. Kleinzack sprang beiseite, als die schnurrende Maschine hinter ihm den Stahldraht Elle um Elle einzog. Darvi drehte eine Kurbel. Johann fiel hart auf den Rücken und wurde zu schnell am Boden dahingezogen, um sich aufzusetzen und zu befreien. Seine Kleider wurden durchgescheuert, sein Schwertgriff grub sich wie ein Pflug in die Erde. Ein Netz wurde ihm übergeworfen, und er fühlte die Metallspitze eines Stiefels in seine Rippen treten. Seine Arme waren in das Netz verstrickt, und er spürte schwere Gewichte auf ihnen. Anna und Katinka knieten darauf und hielten ihn nieder, während sie das Netz mit eingeschlagenen Haken am Boden verankerten und seine Bewegungsmöglichkeiten begrenzten. Als er den Kopf wandte, sah er Vukotic seine zerbrochene Lanze schwingen, umringt von sechs oder sieben muskulösen Leichenfledderern aus Darvis Gruppe. Er durchbohrte einen von ihnen, aber dann wurde ihm die Waffe entrissen, und der Kreis
schloß sich um ihn. Er ging zu Boden. Später, als sie ihren Freund mit einer schweren Tracht Prügel gerächt hatten, schleiften sie ihn ins Langhaus. Kleinzack und Darvi näherten sich Johann vorsichtig und nahmen ihm die Waffen ab. Er versuchte Widerstand zu leisten und wurde mit einem weiteren Fußtritt für seine Mühe belohnt. Der Zwerg machte ein großes Aufheben von dem Schwert, untersuchte es und lobte die Verarbeitung und nahm es dann mit. Die ganze Zeit tanzte Mischa um ihn herum und besprenkelte Johann mit einer übelriechenden Flüssigkeit, zeichnete geheimnisvolle Symbole auf die Erde und rezitierte aus verschiedenen Schriftrollen, die er bei sich trug. Johann entnahm alledem, daß er und Vukotic festgebunden werden sollten, um die Götter zu besänftigen. Das war wenigstens das, was Mischa den Dorfbewohnern erzählte. Endlich beendete der verrückte Priester sein Zeremoniell und ging mit den übrigen Dorfbewohnern ins Langhaus. Über dem Netz war der Himmel nahezu schwarz. Die unterirdischen Geräusche waren jetzt lauter, und Johann fühlte, wie der Boden unter ihm vibrierte. Er spannte seine Muskeln an und zog aus Leibeskräften. Einer der Pflöcke sprang aus dem Boden, und seine rechte Hand war frei. Er wiederholte die Anstrengung. Die Pflöcke lockerten sich, aber es würde eine Weile dauern, bis er sich aus dem Netz befreien konnte. Dann fiel ein Schatten über ihn, und er hörte das schon vertraute Lachen. Es war Kleinzack. »Zufrieden, Exzellenz? Bald werden Sie Ihren Bruder sehen. Ich bedaure nur, daß ich nicht hier sein werde, um Zeuge Ihrer ergreifenden Wiederbegegnung zu sein, Ihre erste Umarmung nach so vielen Jahren zu sehen …« Während er so redete, klopfte der Zwerg ihm die Taschen nach Münzen ab. »Ihr Bruder hat mich natürlich bereits gut für die Vorbereitung
dieser kleinen Zusammenkunft bezahlt, aber ich sehe nicht ein, warum ich nicht auch von Ihnen ein Honorar einstreichen sollte. Es ist nicht mehr als recht und billig.« Kleinzack nahm den Geldbeutel von Johanns Gürtel und das Amulett mit dem Familienwappen von seinem Hals. Dann versuchte er, ihm den Siegelring von der rechten Hand zu ziehen. Johann griff zu und hielt den Zwerg am Handgelenk fest. Kleinzack schlug und trat auf ihn ein, konnte sich aber nicht befreien. Johann spuckte dem Zwerg ins Gesicht und richtete sich unter Aufbietung aller Kräfte auf. Pflöcke rissen aus der Erde − diejenigen, die Anna eingeschlagen hatte, schienen etwas weniger fest verankert als jene, die Katinka zu verantworten hatte −, und das Netz sammelte sich in Johanns Schoß, als er sich herauskämpfte. Kleinzacks Häme verflog, und sein Gesicht war angstverzerrt. Er begann zu jammern und um Gnade zu betteln. Der Boden zitterte jetzt ständig, und er konnte Hufschlag hören, das Klirren von Rüstungen, Rufe und andere, weniger menschliche Geräusche. Eine große Zahl von Kriegern schickte sich an, das Schlachtfeld zu bevölkern. Er hielt Kleinzack auf Armeslänge von sich. Die kurzen Beine stießen und zappelten, aber der Bürgermeister konnte Johanns Rumpf nicht erreichen. Johann veränderte blitzschnell seinen Griff und packte den Zwerg beim Wams, knapp unter dem aus der Brust ragenden Schwertgriff. »Du hast mich hier waffenlos dem Tod preisgegeben, Zwerg.« Kiemzack sagte nichts. Sein Jammern ging in ein klägliches Winseln über. Speichel rann ihm aus dem Mund, und sein Darm hatte sich entleert. »Du nahmst mir mein Schwert. In dieser Gegend ist das genauso Mord, als wenn du mir das Leben genommen hättest.« Draußen in der Dunkelheit waren Bewegungen auszumachen, menschliche und andere.
»Du schuldest mir ein Schwert, Kleinzack. Ich werde deines nehmen.« Er stieß Kleinzack hoch von sich. Der Zwerg schien einen Augenblick mit ungläubig aufgerissenen Augen in der Luft zu hängen, aber Johann hatte den Schwertgriff umfaßt, und das Gewicht des Zwerges zog die Klinge gegen Johanns Druck abwärts. Kleinzack schrie auf, als der scharfe Stahl in seiner Brust aufwärts schnitt. Johann setzte einen Fuß an den Bauch des Zwerges und stieß dessen Körper die Klinge entlang zurück. Das Geschirr und die Haltegurte lösten sich, und Kleinzack fiel mit um sich schlagenden Armen auf den Rücken. Der in früherer Zeit geführte Todesstoß hatte endlich seinen Zweck erfüllt. Johann stand auf und stieß den toten Zwerg fort. Die Kämpfe hatten begonnen, und Feuerwaffen durchbohrten die Dunkelheit mit grellen Blitzen. Da und dort loderten Flammen auf, und Gestalten warfen sich gegeneinander. Ein veränderter Kopf rollte an Johanns Füßen vorbei, als er zum Langhaus stürzte, die noch unverriegelte Tür aufstieß und Vukotic von seinen Fesseln befreite. Wer sich noch in der Gaststube aufgehalten hatte, war vor seiner hereinstürmenden Gestalt Hals über Kopf in den dunklen rückwärtigen Teil des Langhauses geflohen. Als Johann und Vukotic ins Freie kamen, explodierte unweit von ihnen eine Kartätschensalve, und Vukotics linkes Bein wurde mit grobem Schrot gepfeffert. Johann merkte, daß ihm Blut übers Gesicht rann, und er fühlte einen Splitter in seiner Stirn. Er versuchte ihn durch Wischen zu entfernen, doch mehr Blut quoll hervor. Niemand schien sie zu beachten, obwohl Johann jeden tötete, der ihnen in die Quere kam, nur um sicherzugehen. Vukotic nahm einem gefallenen Troll eine Hellebarde mit doppelter Klinge und scharfer Lanzenspitze ab und spaltete den Kopf eines bärengesichtigen Kriegers, der mit einem Schwert auf ihn eindrang. Als der Bärenmann fiel, sah Johann das Symbol des Narbengesichts
auf seiner Gürtelschnalle. Er war einer von Cicatrices Kriegern gewesen. Nein, einer von Wolfs Kriegern. Johann und Vukotic zogen sich zum Langhaus zurück und lehnten sich an das tief herabgezogene Dach. Es war eine Verteidigungsstellung, die zwar zu wünschen übrigließ, ihnen aber wenigstens den Rücken freihielt. Vor ihnen stießen und hieben die Chaoskrieger aufeinander ein, und es schien sie nicht zu kümmern, wen sie verwundeten. Ketten von Blutstropfen flogen durch die Luft. Das Gemetzel dauerte an. Sie brauchten nicht lange zu warten. Durch das Gewühl der Schlacht, das von erschreckender Willkür und Wahllosigkeit gekennzeichnet schien, kämpfte sich eine nicht weniger mörderische, aber diszipliniertere und zielbewußtere Gruppe von Kriegern. Sie focht sich durch das Gewoge zum Langhaus, zu Johann und Vukotic. Sie war weniger zahlreich, als Johann erwartet hatte − Wolf mußte im Laufe der letzten Woche nächtlicher Kämpfe schwere Verluste erlitten haben −, aber die Krieger waren gehärtet von Kampf und Tod. Jeder trug irgendwo das Symbol des Narbengesichts an sich. Und ein rotäugiger Riese mit struppiger Mähne und Fangzähnen im Schnauzengesicht trug das Zeichen als blutrote Tätowierung diagonal auf den entmenschlichten Zügen. Wolf.
* Wolf ließ ein tiefes, wildes Grollen hören, das zu einem tierischen Knurren anstieg. Speichel flog ihm von den Lefzen. Dann endete das Knurren in einem rasselnden Luftholen, und Wolfs Brust schwoll an. Er heulte wie das Tier, das er geworden war, die Schnauze zum Himmel erhoben. Seine mächtigen, pelzigen Fäuste öffneten und schlossen sich wie im Krampf. Er trug keine Waf-
fen bis auf die Reißzähne im Maul und die drei Zoll langen scharfen Krallen, in denen Finger und Zehen endeten. Johann vermutete, daß er mit dieser natürlichen Ausstattung keiner Waffen bedurfte. Wieder hatte Vukotic recht behalten. Von seinem jüngeren Bruder war nichts Erkennbares geblieben. Dann lächelte Wolf ihm zu und machte eine einladende Armbewegung. Wolfs Gefolge hielt sich zurück und den Rest der Kämpfenden von der Fläche fern, die nun für den tödlichen Zweikampf ausersehen war. »Vergib mir«, sagte Johann, als er mit Kleinzacks Schwert zuschlug. Wolf riß einen Arm hoch, und der Hieb wurde abgelenkt. Der veränderte Wolf mußte Eisen in Muskeln und Knochen haben. Johanns Hieb hatte eine oberflächliche Wunde hinterlassen, aus der Blut tröpfelte, aber nicht mehr. Er hätte den Arm durchtrennen sollen. Wolf ging sofort zum Gegenangriff über, und Johann mußte zurückweichen, um Abstand zu halten und den tödlichen Krallen zu entgehen. Wolf stieß mit einem krallenbewehrten Fuß zu, und ein Zeh riß über Johanns Bauch, durchschnitt die oberste Schicht seiner harten Lederrüstung. Es gelang ihm, Wolfs Knöchel mit beiden Händen zu packen und ihn umzudrehen, so daß der Unhold, der sein Bruder gewesen war, aus dem Gleichgewicht geriet. Aber schon im nächsten Augenblick verlor er seinen Griff, und Wolf richtete sich auf. Er stand wie ein Mann, bereit, mit der Technik und den Kniffen zu ringen, die sie als Jungen gelernt hatten, aber er focht wie ein Tier, das Zähne und Krallen gebrauchen oder hungrig bleiben mußte. Vukotic lehnte noch an der überhängenden Dachschräge des Langhauses und atmete angestrengt. Er beobachtete seine Schüler, aber auch Wolfs Begleiter, bereit, mit der Hellebarde einzugreifen, wenn die seltsam veränderten Regeln fairen Zweikampfes
verletzt wurden. Johann sah, daß Wolf mit seinen Veränderungen gewachsen war und eine Gestalt gefunden hatte, die zu seinem Namen paßte, doch seine Intelligenz bewahrt hatte. In seinen Augen war Grausamkeit, aber sie verrieten Scharfsinn und Geistesgegenwart. Die Tätowierung in seinem Gesicht kennzeichnete ihn als Anführer. Er wäre niemals Kurfürst geworden, aber er hatte bewiesen, daß er aus eigener Kraft zu Macht aufsteigen konnte. Hätte Johann den Hirsch nicht verfehlt, was würde Wolf aus sich gemacht haben? Wie hätte sich seine Stärke, jetzt zur Monstrosität pervertiert, gezeigt? Wahrhaftig, dachte Johann, die Trennlinie zwischen Mensch und Tier ist fein, nicht dicker als ein schlanker Pfeil … Ein zweiter Krallenhieb zielte wieder auf seinen Leib, und dieser war tiefer gegangen, als er zuerst angenommen hatte. Nun fühlte er sein warmes Blut klebrig an der Innenseite seiner Kleider. Brennender Schmerz begleitete die Entdeckung, doch er verdrängte den Gedanken an eine tiefere Wunde. Er hatte gesehen, wie Männer mit aufgeschlitzten Bäuchen vergebens versucht hatten, ihre Eingeweide wieder in der Bauchhöhle unterzubringen, und wußte, wie tödlich Verletzungen der inneren Organe waren. Wolf gab keine Anzeichen von Schmerz zu erkennen, obwohl Johann ihm mehrere Hiebe mit Kleinzacks Schwert beigebracht hatte. Die fellbedeckte Haut seines Bruders schien dicker als jede Rüstung. Sie umkreisten einander wie Ringer, die nach einem guten Griff Ausschau halten. In ihrer Jugend hatte er seinen Bruder stets bezwungen. Der Abstand von drei Jahren zwischen ihnen hatte ihm einen unüberwindlichen Vorteil verschafft, und Wolf war nur zum Erfolg gekommen, wenn Johann mit der Absicht, seinem Bruder ein Triumphgefühl zu ermöglichen, Zurückhaltung geübt und sich hatte schlagen lassen. Hatte diese Erfahrung im Bewußtsein des gefangenen Jungen sich wie eine schwärende Wunde
weitergefressen, während die Mächte des Verwerfungsgesteins auf ihn angesetzt worden waren? War das der heimliche Zorn, der seine Veränderung vorangetrieben hatte? Johann blutete an der Schulter, beinahe an der gleichen Stelle, wo er vor so vielen Jahren Wolf verwundet hatte, und er fragte sich, ob dieser Krallenhieb ein absichtliches Zeichen der Erinnerung gewesen war. Unter mehreren eher als Schmuck denn als Schutz dienenden Rüstungsteilen, die Wolf am Körper trug, war auch ein Schulterschutz, der in Juwelen das Zeichen Cicatrices zeigte und die Stelle seiner alten Verletzung bedeckte. Wolf schlug wieder zu, und wieder traf er Johanns Schulter. Jetzt war er sicher, daß es Absicht war. Wolf zog den Zweikampf hinaus und erinnerte ihn an den folgenschweren Fehler seiner Jugend, der sie zu dieser Konfrontation geführt hatte … Er hörte Waffengeklirr und einen Schrei und blickte an Wolf vorbei. Einer der Banditen war mit einem Spieß auf Vukotic losgegangen und lag nun drei Schritte vor dem Eisernen Mann auf den Knien, den Schädel von der Hellebarde gespalten. Vukotic riß sie hoch, um einen weiteren Angreifer abzuwehren. Die Auseinandersetzung näherte sich ihrer Entscheidung, und Wolfs Männer räumten mit den Randproblemen auf. Plötzlich ließ Wolf sich auf alle viere fallen und griff wie ein Tier an. Sein langes, noch blondes Haar flog ihm um die Schultern. Er krümmte den Rücken, und Johann sah die Spitzen seiner Wirbelsäule durch das Fell. Mit einem beidhändigen Griff holte er aus und schlug mit aller Kraft in Wolfs gekrümmten Rücken, um die Wirbelsäule zu durchtrennen. Haut platzte auf, und der Anprall ging durch den Schwertgriff in seine Arme, als hätte er auf Stein geschlagen. Wolf brüllte auf; anscheinend fühlte er zum ersten Mal in diesem Kampf Schmerzen. Er wandte sich seitwärts, krümmte sich und stand wieder wie ein Mann da. Johanns Schwertspitze berührte seine Brust, und er erstarrte. Wolf blickte
ihm ins Auge. Johann hatte einen guten Griff, aber Wolf drängte gegen die Schwertspitze an. Das scharfe Ende der Klinge drückte die haarige Haut ein, und Johann fühlte, wie der Schwertgriff gegen seinen Magen gedrückt wurde. Er hätte die Waffe loslassen können, und sie wäre zwischen ihnen geblieben, gehalten von ihren Körpern. Wieder sahen sie einander in die Augen, und Johann wußte, daß er verloren war. Wolf knurrte, Speichelfäden hingen ihm von den Lefzen, und seine blutunterlaufenen Augen funkelten. Wolf streckte die Arme aus und zog seinen Bruder in mörderischer Umarmung an sich. Das Schwert hätte seine Haut durchbohren und sein Herz durchstoßen müssen … … statt dessen verbog es sich. Zuerst widerstand es, und Johann fühlte den schmerzhaften Druck des Handgriffs in seinem verwundeten Bauch. Dann bog die Klinge sich mit einem Knarren, als wäre sie ein grüner Zweig. Wolfs Knurren dauerte an, das Schwert wurde aus Johanns Hand gezogen und fiel nutzlos zu Boden. Vukotic erwehrte sich noch immer seiner Haut. Drei von Wolfs Anhängern waren ausgeschaltet, aber die beiden letzten hatten ihn gegen das Dach zurückgedrängt und stießen mit Dolchen auf ihn ein. Der Eiserne Mann konnte die Hellebarde im Nahkampf nicht wirkungsvoll einsetzen und blutete stark. Sein Blut hatte, soweit Johann im Widerschein der Feuer sehen konnte, eine ungesunde, grünliche Färbung. Wolf und Johann wurden wieder handgemein und rangen miteinander. Johann fühlte die Krallen in seiner verwundeten Schulter, die tief hineinschnitten. Er antwortete mit einem Kniestoß in Wolfs eisenharten Bauch. Er hatte keine Wirkung. Johann packte eine Handvoll von Wolfs Haar und riß daran. Ein Stück Haut löste sich blutig, aber Wolf zuckte nicht einmal. Dieser ballte die Krallenhand zur Faust und schlug nach Johanns Gesicht. Der konnte dem Schlag nur soweit ausweichen, daß er ihn mit dem Kinn
nahm, und taumelte rückwärts. Sein Schädel dröhnte, und vor seinen Augen erschienen kaleidoskopische Farben. Seine Schulter war eine Masse brennenden Schmerzes, und sein linkes Knie gehorchte nicht richtig. Außer seinen Händen und seinem Verstand hatte er keine Waffen. Wolf knurrte mit triumphierenden Obertönen und ging abermals zum Angriff über. Johann war versucht, die Flucht zu ergreifen, aber in dem Schlachtgetümmel würde er keine zehn Schritte weit kommen. Er konnte geradesogut von Wolfs Hand wie von der eines unbekannten Geschöpfes der Finsternis sterben. Er streckte die Hand, wie man es von den Mönchen Nippons kannte, und versuchte es mit einem Handkantenschlag an Wolfs Hals. Wolf wich aus, bevor der Schlag landen konnte, und er riß sich die Haut des Handballens an dem juwelenbesetzten Schulterschutz auf. Wolf schrie auf und schlug ungeschickt zurück, traf aber mehrere Handbreit links von Johanns Gesicht die leere Luft. Das war die Erinnerung, die er brauchte, die Botschaft, die das, was von seinem Bruder übrig war, ihm gegeben hatte. Er mißachtete den Schmerz in seiner eigenen Schulter und ergriff den gepanzerten, mit dem Zeichen des Narbengesichts geschmückten Schulterschutz. Er riß ihn los und sah darunter eine unbehandelte, faulige Wunde. Maden wanden sich darin, weißer Knochen war im sich zersetzenden Fleisch zu sehen. Das Fell um die Wunde war grau. Wolf blickte Johann mit den Augen des Jungen an, der er gewesen war, und bat ihn stumm, ein Ende zu machen. Johann fand ein Schwert am Boden, blutig, aber ganz. Wolf hatte sich auf ein Knie niedergelassen, als erwarte er den Ritterschlag. Johann überlegte, ob er die Klinge durch die alte Wunde an den Schulterblättern vorbei seinem Bruder ins Herz stoßen könne. Das Blut von seiner Stirnwunde war geronnen und behinderte
nicht mehr seine Sicht, aber salzige Tränen brannten in einem Schnitt an seiner Wange. Johann umfaßte das Schwert mit beiden Händen und hielt es mit der Spitze abwärts über Wolf, bereit, zuzustoßen und ein Ende zu machen … Aber auf einmal war Vukotic zwischen den Brüdern, tödlich verwundet, aber noch bewegungsfähig. Johann hatte bereits zugestoßen, und die lange Klinge glitt unter der Kehle in den Eisernen Mann und durchschnitt Fleisch und Knochen. Vukotic stand auf, so unglaublich es scheinen mochte. Johann wich zurück. Wolf kauerte hinter Vukotic, um seinen Tod betrogen. Vukotic wandte sich um und zog das Schwert aus der Höhlung unter seinem Kehlkopf, dann zog er es durch seinen Hals. Er öffnete sich, und sein Blut ergoß sich über Wolf. Unschuldiges Blut. Es hatte einen kupferigen Geruch, und Vukotic schien wie von einer violetten Aura umgeben. Er murmelte einen Zauberspruch oder eine Beschwörung aus seiner Heimat, während sein Blut über das Wesen strömte, das er einst wie einen Sohn geliebt hatte. Dann brach er tot zusammen. Johann trat zu Wolf, griff nach dem Schwert in Vukotics Händen und fand die Quelle der violetten Aura. Wolf war umgeben von einer wie ein Mensch geformten Wolke substanzlosen Dunstes. Der Lichtschein pulsierte, und der Dunst verdichtete sich. Johann konnte seinen Bruder nicht mehr darin sehen. Unschuldiges Blut, hatte Vukotic gesagt. Man dürfe niemals die Macht unschuldigen Blutes unterschätzen. Er wollte seinen Bruder berühren, aber seine behandschuhten Finger konnten den Dunst nicht durchdringen. Er gab nach, ließ sich aber nicht zerteilen. Ein riesiger Tiermensch mit einem weit ausladendem Geweih griff sie an, und Johann zog ausholend das Schwert hoch und
spaltete ihm den Schädel zwischen den Geweihstangen. Der Hirschmann heulte, und sein Gesicht färbte sich rot. Johann stieß ihn nieder und griff die zwei Kobolde an, die ihm folgten, um auch ihnen den Garaus zu machen. Dann kam eine krakenartige Monstrosität mit den Augen einer schönen Frau, und ein Riese mit winzigem Kopf und vier Armen. Und andere. Wie ein besessener Berserker kämpfte Johann sie alle nieder. Er stand über seinem wie in einem Kokon kauernden Bruder und wehrte die Horden bis zum Morgen ab. Mit dem ersten Tageslicht hörte die Schlacht auf. Es war wie bei einem Kampfsport. Ein unsichtbarer Schiedsrichter hatte den Kampf beendet, und alle konnten nach Hause gehen. Johann hatte mit einem androgynen Gecken gefochten, der einen dünnen, tödlichen Stoßdegen schwang. Als die Sonne den Osthimmel aufhellte, stieß er den Degen in die Scheide und verbeugte sich mit einer ausholenden Armbewegung, die seine Spitzenmanschette zur Geltung brachte, formvollendet vor Johann. Überall im Umkreis hatten die Kämpfenden voneinander abgelassen und atmeten schwer. Die plötzliche Stille war entnervend. Johann betrachtete seinen letzten Gegner. Es war ein beunruhigender, einladender Zug, ein schreckliches Versprechen in seinem weibischen Lächeln. Seine Schönheit war beinahe elfenhaft, obwohl seine geschlechtslose, aber kräftige Gestalt menschlich war. »Bis heute abend?« fragte er mit einer Geste zum Himmel. Johann war zu erschöpft, um zu antworten. Er schüttelte nur den Kopf. Blut und Schweiß tropften von seinem Gesicht. »Schade«, sagte der andere. Er küßte zwei Finger und drückte sie an Johanns Lippen, dann machte er kehrt und ging davon. Sein prachtvoll bestickter Umhang schwang hin und her, die noch kurzen und stumpfen Hörner lugten durch sein lockiges Haar. Johann wischte sich den Blutgeschmack vom Mund. Sein Gegner gesellte sich zu den anderen, und sie stapften müde davon. Die
Verlierer des nächtlichen Kampfes blieben zurück. Diejenigen, die jetzt fortgingen, waren die Verlierer der nächsten oder einer von hundert Nächten hier oder anderswo. Wer für das Chaos kämpfte, rang auch mit dem Chaos. Und man kann nicht mit dem Chaos kämpfen und gewinnen. Johann sank neben Wolf auf die Knie. Vukotics Leichnam war jetzt steif wie eine Statue und hatte im Laufe der Nacht viele unbeabsichtigte Tritte und Stöße erleiden müssen. Aber sein sonst so hartes Gesicht war im Tode weich und entspannt. Johann erkannte, wie wenig er wirklich über den Mann wußte, mit dem er zehn Jahre gelebt, gemeinsam gefochten, gegessen und das Reich kreuz und quer durchwandert hatte. Am Ende aber war Sigmar mit ihm. Und er hatte Magie im Blut gehabt. Johann ritzte einen Hammer in die Erde. Wolfs Aura hatte aufgehört zu leuchten und einen trockenen, papierartigen Kokon hinterlassen, der von Adern durchzogen war. Johann berührte ihn, und er zerbrach. Wolf regte sich. Das unbestimmbare Material des Kokons zerfiel in staubige Schuppen. Johann entfernte es vom Kopf seines Bruders. Das Gesicht eines Dreizehnjährigen erschien. Aus dem Langhaus kamen Leute. Anna, Darvi, Dirk, Mischa. Der verrückte Priester sagte den Göttern Dank für einen neuen Morgen. Mit einem einzigen Blick überzeugte Johann den Wirt Darvi, daß es gesünder war, sich ihm nicht zu widersetzen. Dirk kam zu den Brüdern, beugte sich über Wolf und grinste. »Du bist jetzt der Bürgermeister«, sagte Johann zu ihm. »Hol Katinka. Mein Bruder ist verletzt und braucht einen Breiumschlag.« In Wolfs Schulter war eine Pfeilwunde, frisch und sauber und blutend.
WILLIAM KING
Das Gelächter dunkler Götter Aus dem Sattel seines Rappen starrte Kurt von Diehl über die Chaos-Ödländer hinaus. Ein seltsam rötlicher Dunst hing über der Erde, gefärbt vom Widerschein eines Regenbogens, und die Konturen des weithin ebenen Landes schienen sich wie Sanddünen im Wind zu verändern. Er wandte den Blick zu Oleg Zaharoff, dem letzten Überlebenden seiner ursprünglichen Truppe. Der drahtige kleine Mann war ihm aus dem Reich durch die Steppen von Kislev bis in diese vergifteten Länder am Rand der Welt gefolgt. Nun führte ihr Pfad hinaus in die Wüste. »Es war eine lange Reise«, sagte Zaharoff, »aber jetzt sind wir hier.« Kurt von Diehl hob den Arm und beschattete die Augen mit der schwarz behandschuhten Rechten. Visionen dieser Gegend hatten ihn in seinen Träumen verfolgt, seit er den Chaoskrieger erschlagen und seine barocke schwarze Rüstung und sein Runenschwert an sich genommen hatte. Nachdenklich rieb er den in Relief gearbeiteten Totenschädel auf seinem Brustharnisch. »Ja; hier hat die Hölle die Erde berührt, und Menschen vermögen nach Göttlichkeit zu streben. Hier können wir Herren unseres eigenen Geschicks werden. Ich habe davon geträumt, in den hohen Norden bis zum schwarzen Tor vorzudringen. Ich werde vor den großen Khorne treten, und er wird mir Macht übertragen. Dann können wir zurückkehren und mein Erbe von den Brüdern beanspruchen, die mich verdrängten.« Er sprach wie ein Mann, der eine Vision hat, an die er nicht fest glaubt, ebensosehr um sich selbst wie um seine Zuhörer zu überzeugen. Er hatte seine Zweifel, aber er schob sie beiseite. Hatte die Rüstung ihm nicht bereits etwas von der Stärke des Chaos verliehen?
In Gedanken genoß er seine bevorstehende Vergeltung. Bald würde er die Ländereien seiner Vorfahren von seinen verräterischen Angehörigen zurückfordern, die ihn vertrieben und ihm das Leben eines Gesetzlosen aufgezwungen hatten. Angeleitet von dem Ruf, der ihn über Hunderte von Meilen angelockt hatte, stieß von Diehl seinem Rappen die Absätze in die Weichen und lenkte ihn weiter den Pfad hinab. Nach einem letzten Blick zurück zu den Ländern der Menschen folgte ihm Oleg Zaharoff.
* Die Nacht brach herein, ein allmähliches Dunkeln des Dunstes, der sie umgab, später ein Flimmern matter Sterne am Himmel. Weit im Norden tanzte ein Nordlicht und verstärkte den Kontrast zum Schwarz des Himmels, das dort tiefer und leerer schien. Sie schlugen ihr Nachtlager in einer Ruine auf, die inmitten eines Gehölzes absterbender, vom Schwamm befallener Bäume stand. »Vor dem letzten Einfall des Chaos muß dies ein Gehöft gewesen sein«, bemerkte Zaharoff. Von Diehl setzte sich an eine geschwärzte Mauer und hörte interessiert zu. Zaharoff war ein Kislevit und kannte viele Geschichten über die Ödländer, die an seine Heimat grenzten − Geschichten, von denen keine ermutigend war. »Vor zweihundert Jahren, als der Himmel dunkelte und die Horden des Chaos kamen, wurde der Norden Kislevs größtenteils überrannt. Magnus der Heilige kam meinem Volk zu Hilfe, und die feindlichen Horden wurden zurückgetrieben. Aber das Chaos gab nicht alle Gebiete auf, die es unterworfen hatte. Dies muß ein Teil des damals eroberten Landes sein.« Er hob etwas auf, eine verblichene und zerbrochene kleine Puppe, die zwischen den Trümmern gelegen hatte. Der Zufall
mußte sie davor bewahrt haben, von angewehter Erde und wucherndem Unkraut bedeckt zu werden. Was mochte damals aus ihrer kleinen Besitzerin geworden sein? Schockiert von seiner Schwäche, schob von Diehl den Gedanken von sich. »Bald werden die Horden wieder marschieren«, sagte er. »Wir werden die Welt in Blut ertränken.« Kurt von Diehl erschrak. Er hatte die Worte gesagt, aber sie waren nicht seine eigenen. Sie schienen aus einem verborgenen Winkel seines Geistes gekommen zu sein. Etwas lauerte dort, hatte sich dort verborgen, seit er die Rüstung angelegt hatte. Er fragte sich, ob er im Begriff sei, den Verstand zu verlieren. Zaharoff sah ihn seltsam an. »Wie können Sie so sicher sein, Chef? Wir wissen wirklich nicht viel über diese Gegenden. Nur was Sie geträumt haben und daß Ihre Rüstung von hier stammt. Woher nehmen Sie die Gewißheit, daß wir finden werden, was wir suchen, und nicht den Tod?« Die Worte sprachen allzu deutlich von Diehls eigene Befürchtungen aus. »Ich weiß, daß ich recht habe. Zweifeln Sie daran?« Zaharoff warf die zerbrochene Puppe beiseite. »Natürlich nicht. Wenn Sie sich irren, haben wir alles verloren.« »Legen Sie sich schlafen, Oleg. Morgen werden Sie Ihre Kräfte brauchen. Zweifel werden sie nur lähmen.« Er legte Schwert und Streitaxt griffbereit neben sich und schloß die Augen. Beinahe sofort fiel er in unruhige, blutige Träume. Es schien, daß er über einen Hügel zerrissener und sich windender Körper kletterte, um zu einer großen Belohnung zu kommen. Aber ganz gleich, wie schnell er kletterte, er konnte den Gipfel des Hügels nicht erreichen. Weit über ihm beobachtete etwas Riesenhaftes, Unheilvolles seine Mühen mit Belustigung. Huschende Geräusche weckten von Diehl. Augenblicklich war er hellwach und griff zu den Waffen. Als er zu Oleg blickte, sah er seinen Gefährten ängstlich umherblicken. »Sie kommen«, sagte von Diehl, stand auf und ging zum Ein-
gang. Bevor er ihn erreichte, sah er ihn von kleinen bärtigen Gestalten blockiert, die in dunkel gestrichene Rüstungen gehüllt waren und Streitäxte und Hämmer umklammert hielten. Ihre Häute waren grünlich oder weiß wie die Bäuche von Fischen aus einem unterirdischen See. Sie hatten die Größe von Kindern, waren aber breit wie ein kräftiger Mann. Kurt von Diehl wußte, daß sie Chaoszwerge waren − Abkömmlinge der echten Zwerge, aber durch Verführung oder Unglück unter den Einfluß des Chaos geraten. »Khorne hat uns ein Opfer beschert«, sagte der Anführer mit einer Stimme, die tief wie ein Bergwerk war. Von Diehl enthauptete ihn mit einem Schwertstreich, dann sprang er unerschrocken zwischen sie und hieb mit Schwert und Axt links und rechts auf sie ein. »Blut für den Blutgott!« rief er den Kriegsruf, der durch seine Träume echote. »Schädel für den Schädelthron!« Er pflügte durch die Zwerge wie ein Schiff durch die Wellen. Zwergengestalten fielen übereinander, umklammerten Armstümpfe oder versuchten Unterkiefer festzuhalten, die von ihren Gesichtern abgetrennt worden waren. Eine unheilige Freude brandete in von Diehl auf und durchströmte seine Adern wie süßes Gift. Sie drang aus seiner Rüstung in ihn ein. Mit jedem Tod fühlte er sich ein wenig kräftiger, ein wenig glücklicher. Verrückte Heiterkeit durchwogte ihn, wahnsinniges Lachen schäumte von seinen Lippen. Er hatte in früheren Kämpfen schon einen schalen Vorgeschmack dieses Wahnsinns gefühlt, aber hier in den Chaos-Ödländern war es wie Nektar. Er war trunken vom Kampf. »Vorsicht, Chef!« hörte er Oleg rufen. Er wich seitwärts aus und nahm den Schlag eines Streithammers mit dem gepanzerten Unterarm. Das Schwert entfiel seiner betäubten Hand. Er sah, wovor Zaharoff ihn gewarnt hatte. Zwei maskierte Zwerge mit Brillen brachten ein langes Rohr in Position, das auf ihn gerichtet
war. Er schlug dem Hammerträger ins Gesicht, fühlte ein Nasenbein unter den stachelbesetzten Knöcheln seines Panzerhandschuhs brechen, dann holte er mit der Streitaxt aus und schleuderte sie zielsicher. Sie flog kreisend durch die Luft und grub sich mit der Doppelklinge in den Kopf des ersten der beiden Zwerge. Der Zwerg fiel rücklings zu Boden; das Rohr schwenkte himmelwärts, und Flammen schossen aus seiner Öffnung. Von Diehl spürte die Strahlungshitze der weißglühenden Entladung im Gesicht. Etwas traf mit Wucht die Ruinenmauer hinter ihm. Sie brach in sich zusammen, und die Pferde wieherten ängstlich. Er wandte sich zu der zertrümmerten Mauer um. Alle anderen taten es ihm für einen kurzen Augenblick gleich. Er bückte sich und hob sein Schwert auf. Die überlebenden Zwerge wichen zurück. »Erwählter von Khorne«, sagte einer, »es ist ein Fehler geschehen. Wir erkannten nicht, daß Sie einer der Favoriten des Blutgottes sind. Führen Sie uns, und wir werden folgen.« Er verbeugte sich bis zum Boden. Kurt von Diehl war versucht, ihn zu enthaupten und das Gemetzel fortzusetzen, hielt sich aber zurück. Solche Gefolgsleute mochten nützlich sein. »Sehr gut«, sagte er. »Aber beim ersten Versuch eines Verrats werdet ihr alle sterben.« Die Zwerge nickten feierlich. Er nahm seinen Helm ab, um ihn auf Beschädigungen zu untersuchen, und sah Zaharoff erschrecken. Der Kislevit starrte ihn an wie eine Erscheinung. »Was gibt es, Oleg?« fragte er. »Was sehen Sie?« »Ihr Gesicht, Chef. Es beginnt sich zu verändern.«
* Kurt von Diehls kleine Bande stieß weiter in die Ödländer vor, auf der Suche nach Feinden, die zu erschlagen, und Beute, die zu
plündern war. Mit jedem Tag veränderte sich sein Gesicht und ähnelte mehr und mehr dem eines Tieres. Zuerst war es nur unbequem, dann schmerzhaft und schließlich qualvoll, aber er ertrug alles mit stoischer Ruhe. Die Schwarzen Zwerge schienen erfreut, denn sie nahmen es als ein Zeichen, daß ihr neuer Herr vom Blutgott gesegnet sei. Von Diehl aber bemerkte, daß Oleg ihm nicht mehr ins Gesicht sehen konnte. »Was haben Sie, Oleg?« fragte er. Sie standen auf einem vom Wind ausgehöhlten und rundgeschliffenen Felsen und überblickten eine Landschaft, wo weißer Quarz an vielen Stellen an die Oberfläche trat und an kristalline Blumen denken ließ. In der Ferne, weit im Norden, zogen sich dunkle Wolken zusammen. »Nichts, Chef, das heißt, die Gegend ist mir nicht geheuer. Seit Tagen haben wir niemanden gesehen, und von Norden her zieht ein Sturm auf. So wie diese Wolken aussehen, wird es kein natürliches Unwetter sein.« »Kommen Sie, Oleg, Sie können aufrichtig zu mir sein. Wir kennen einander lange genug. Das ist es nicht, was Ihnen Sorge bereitet.« Zaharoff sah ihn von der Seite an. Hinter ihnen verstauten die Zwerge ihre Ausrüstung und schlugen kleine schwarze Zelte auf, deren Rahmen aus geschnitzten Knochen bestanden. Zaharoff befeuchtete sich die Lippen. »Es ist, wie ich sagte, Chef. Die Gegend hier gefällt mir nicht. Ich mache mir Sorgen. Sie ist so ungeheuer weit und fremdartig und leer. Man könnte sich darin verlieren, und niemand würde etwas bemerken.« Von Diehl lachte. »Sie haben es sich anders überlegt? Sie möchten umkehren? Wenn das Ihr Wunsch ist, will ich Sie nicht aufhalten. Gehen Sie, wenn Sie wollen.« Zaharoff blickte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Von Diehl konnte sich denken, was er überlegte. Er wog die Länge des Weges gegen die Chancen ab, auf sich allein gestellt zu überleben. Im Süden zog etwas Großes und Schwarzes
mit trägen Flügelschlägen über den rotgefärbten Himmel. Zaharoff ließ die Schultern hängen und schüttelte den Kopf. »Ich bin festgelegt. Auf Gedeih oder Verderb, ich werde Ihnen folgen.« Seine Stimme klang resigniert. Yorri, der Anführer der Zwerge, kam zu ihnen. »Schlimmer Sturm kommt, Chef. Bereiten Sie sich vor.« »Ich werde bleiben und Ausschau halten«, entgegnete von Diehl. Der Zwerg wandte sich achselzuckend um.
* Über ihnen brodelten schwarze Wolken. Der Wind heulte vorbei, zerrte am Fell seines Gesichts. Blitze peitschten vom Himmel herab. Er sah die Pferde vor Angst bocken und an ihren Halteleinen zerren, aber sie konnten sich nicht von den Eisenklammern losreißen, woran die Zwerge sie gebunden hatten. Donner polterte wie das Gelächter dunkler Götter. Ein weiterer Blitzschlag erhellte den Himmel. Die Quarzkristalle leuchteten im Widerschein unheimlich auf. Einen Augenblick blendete ihn das Nachglühen des Blitzes auf seiner Netzhaut. Als er sich umsah, war der Bereich der zutage tretenden Schichten aus Quarz wie verwandelt. Bleiches Elmsfeuer umgab die im Widerschein der Entladungen schimmernden Quarzkristalle, so daß es zwei Arten von Blumen zu geben schien, aus massiven Quarzkristallen und schimmerndem Licht. Es war ein Bild unheimlicher, fremdartiger Schönheit. Über die niedrigen Tafelberge des Ödlandes schoben sich dunkle Wolkenbänke wie gigantische Ungeheuer. Der Sturm fegte Staubwolken über die kristallinen Blumen und verdunkelte ihren Schimmer. Aufgewirbelte Staubwolken zogen über den Rand der felsigen Anhöhe, auf der er stand. Er beobachtete regenbogenartige Erscheinungen von Staub-
teilchen, die in der Luft vorbeigetragen wurden. Sie schienen die Energie der Blitzentladungen aufzunehmen und schimmerten wie feenhafte Lichter. Wo der Staub sein Gesicht berührte, prickelte es leicht, und es roch nach Ozon. Wieder schmetterte ein Blitz herab und schlug wenige hundert Schritte von ihm ein. Jubel erfüllte ihn. Er stand unberührt und unerschrocken in der elementaren Landschaft. Es schien ihm, daß ein Teil von ihm endlich heimgekommen sei. Er reckte das Schwert gen Himmel. Die Runen der Klinge leuchteten rot wie Blut im Widerschein der unaufhörlichen Entladungen. Er lachte laut, und seine Stimme verschmolz mit dem Donner.
* »Der verdammte Staub dringt überall ein«, beklagte sich Oleg Zaharoff. »Er ist in meinem Haar, meinen Kleidern, ich glaube sogar, ich habe welchen geschluckt.« »Der Staub ist pulverisiertes Verwerfungsgestein«, sagte Yorri. »Asche von den Feuern, die noch immer am nördlichen Pol brennen, wo die Höllenfeuer sich in die Welt ergießen. Bald werden Veränderungen anfangen.« »Du meinst hier?« fragte Oleg. »Im Land. In unseren Körpern. Was macht es schon?« Der Zwerg lachte. Oleg lächelte schief. »Ich fühle mich wirklich anders als sonst.« »Das Chaos wird uns stark machen«, sagte von Diehl in einem Versuch, sich selbst Mut zu machen. Ein Zwerg lief heran. »Meister, wir haben Beute gesichtet«, sagte er zu von Diehl. »Ein Kriegshaufen kommt über die Ebene, wo die kristallenen Blumen sind. Nach der Farbe ihrer Rüstungen und der Unzüchtigkeit ihres Banners zu urteilen, würde ich sagen, daß sie Anhänger des dreimal verfluchten Slaanesh sind.«
Bei der Erwähnung des Namens überkam von Diehl unerwarteter Zorn. Visionen eines Gemetzels stellten sich ungebeten ein. Haß erfüllte ihn. Uralte Feindschaft lag zwischen Khorne und Slaanesh. »Nehmt eure Waffen! Wir werden sie angreifen, wenn sie an uns vorbeiziehen.« Der Befehl war ausgesprochen, bevor er überhaupt Zeit zum Nachdenken hatte. Der Zwerg grinste bösartig und nickte. Von Diehl fragte sich, ob es bloß seine Einbildung sei oder ob die Zähne der Zwerge schärfer und spitzer wurden. Sie warteten am Fuß der felsigen Höhe, wo der Pfad durch eine unübersichtliche Enge führte. Die Zwerge murmelten glücklich und erwartungsvoll in ihrer Sprache. Zaharoff schärfte nervös seine Waffe, bis von Diehl ihm sagte, er solle aufhören. Sie kauerten hinter der Deckung einiger Felsblöcke. Yorri und einer seiner Leute hatten ihr Feuerrohr in der Nähe aufgestellt, um auf den Kriegshaufen zu schießen, sobald er in Sicht käme. Sie brauchten nicht lange zu warten. Der feindliche Haufen wurde angeführt von einer Frau in hellgrüner Rüstung. Ihr blondes Haar wehte im Wind, und sie lächelte vor sich hin, als ob sie sich die Zeit mit angenehmen Tagträumen vertrieb. Ihr Reittier war ein vogelartiger Zweifüßler mit einer langen Schnauze und tiefliegenden, menschlich aussehenden Augen. Die Frau trug ein großes Kriegsbanner. Auf der Spitze der Fahnenstange steckte ein Kinderkopf. Eine lange Kette verband einen unförmigen, bullenköpfigen Riesen mit dem Sattel der Frau. Der Minotaurus war eineinhalbmal so groß wie von Diehl und muskulös wie ein Grobschmied. Sein Blick hing mit verehrungsvoll schmachtendem Ausdruck an der Frau. Hinter den beiden marschierte ein halbes Dutzend Tiermenschen, und den Schluß bildeten zwei verwachsene Elfen in schwarzem Leder, die mit Armbrüsten bewaffnet waren. Als die
Zwerge sie sahen, schnatterten sie aufgeregt untereinander. Von Diehl befahl ihnen zu schweigen. Die Slaaneshi kamen näher, anscheinend sorglos und ohne von der Gefahr, in der sie schwebten, zu ahnen. »Azella Seidenhaut«, murmelte Yorri. Von Diehl sah ihn forschend an. »Sie erfreut sich Slaaneshs besonderer Gunst. Hüten Sie sich vor ihrer Peitsche.« Von Diehl nickte und fuhr mit dem Finger über die Kehle. Beide schwiegen, und von Diehl richtete seine Aufmerksamkeit auf Azella. Hinter ihrem Trupp war zu erkennen, daß der Sturm die Quarzkristalle beeinflußt haben mußte. Entweder hatte der Sturm den Staub zwischen ihnen abgetragen, so daß sie höher herausragten, oder sie waren gewachsen. Sie hatten Mannshöhe überschritten und schienen dünner und durchscheinender, wie aus glasiertem Zucker. Dicke schwarze Insekten flogen zwischen ihnen und ließen sich auf ihnen nieder. Der Feind war kaum noch ein Dutzend Schritt von ihnen entfernt, als sich die Augen des aufgespießten Kinderkopfes über dem Banner öffneten. Er befeuchtete sich die Lippen und rief mit dünner hoher Stimme: »Vorsicht, Herrin! Feinde lauern im Hinterhalt.« Kurt von Diehl sprang auf. »Blut für den Blutgott!« rief er und winkte seinen Anhängern mit der Streitaxt. Mit ohrenbetäubendem Brüllen spie die Röhre der Zwerge ein Projektil aus. Das Geschoß schlug in die Brust des Minotaurus und warf ihn zu Boden. Seine Eingeweide ergossen sich aus dem aufgerissenen Leib. Alles stürzte sich auf den überraschten Feind. Von Diehl griff die Frau auf ihrem Reittier an. Das vogelähnliche Wesen ließ eine klebrig glänzende Zunge gegen ihn vorschnellen. Sie war lang wie ein Seil und erinnerte ihn an die Zunge einer Kröte. Er hieb sie mit dem Runenschwert entzwei. Das Tier zog den blutenden Rest seiner Zunge zurück und wimmerte vor Schmerzen. Er hieb mit der Streitaxt zu, doch konnte die Klinge die zähe Haut der Krea-
tur nicht durchdringen. Der Kinderkopf auf dem Fahnenmast stieß einen Strom von Beschimpfungen und Obszönitäten aus. Azella riß die Standarte hoch und stieß ihm das untere Ende gegen die Brust. Dieser Stoß traf ihn mit überraschender Wucht und warf ihn zu Boden. Über ihm tanzte aufgeschreckt das zweibeinige Reittier. Obwohl ihm schwarze Flecken vor den Augen schwebten, gelang es von Diehl, sich aus dem Gefahrenbereich der Krallenfüße zu wälzen. Noch im Liegen schlug er mit dem Schwert zu und durchtrennte dem Reittier die Fesseln. Es fiel auf die Seite, während er aufsprang. Die Frau ließ die Standarte fallen und sprang aus dem Sattel. Mit verblüffender Gewandtheit landete sie auf beiden Beinen und zog eine lange metallische Peitsche aus dem Gürtel. Sie öffnete die roten Lippen in einem Lächeln und zeigte lange spitze Schneidezähne. »Du suchst einen angenehmen Tod, Krieger. Ich werde zusehen, wie du dich in Ekstase windest, bevor du stirbst.« »Stirb selbst, Slaaneshs Brut!« rief von Diehl und stürzte sich auf sie. »Im Namen Khornes!« Als er den Namen seines gefürchteten Herrn anrief, durchströmte ihn wieder die Stärke mörderischer Blutgier. Er holte zu einem Schwerthieb aus, der sie von oben bis unten gespalten hätte, aber sie wich ihm aus wie eine Gazelle vor dem Sprung eines Löwen, dann schnellte ihr Fuß vor und brachte ihn zu Fall. »Ungeschickter Mann«, spottete sie. »Du wirst dir größere Mühe geben müssen.« Er knurrte wie ein wildes Tier und sprang auf. Diesmal griff er vorsichtiger an, machte einen Scheinangriff mit dem Schwert und hielt seine Streitaxt bereit. Irgendwo hörte er die Stimme des Kinderkopfes. Er schlug mit der Streitaxt zu, und wieder wich sie aus. Diesmal schlug sie mit der Peitsche nach ihm. Sie wickelte sich um seinen Hals und nahm ihm den Atem. Als sie die letzte Umwick-
lung beendete, sah er grünliche Augen vor sich. An der Spitze der Peitsche war der Kopf einer Schlange. Sie zischte und biß ihn in die Wange. Das Wissen, daß er vergiftet war, trieb ihn zu erhöhter Anstrengung. Entschlossen, sie wenigstens im Namen seines Gottes zu opfern, ließ er die Waffen fallen und ergriff mit beiden Händen die metallische Leine der Peitsche. Er zog sie mit einem Ruck zu sich. Die Frau war so überrascht, daß sie, statt die Peitsche loszulassen, zu ihm gerissen wurde. Er ließ die Peitsche los, packte sie mit den Panzerhandschuhen an der Kehle und begann ihr die Luft abzudrücken. Sie fielen zusammen wie Liebende. Von der Bißwunde in seiner Wange gingen pulsierende Wellen reinen Genusses aus, ein Wohlgefühl, das sich mit seinem Berserkerzorn vermischte. Er schloß die Augen und verstärkte den Druck um ihre Kehle, während das Gefühl in ihm stärker wurde. Es erfüllte ihn mit intensivem Schmerz, und dann gab es nur Dunkelheit und Kälte. »Was ist geschehen?« hörte von Diehl eine tiefe, barsche Stimme fragen. Die Worte waren seine eigenen. Er hob dicke Finger zum Gesicht, um das Fell seiner Stirn zu betasten. Seine Arme fühlten sich dick und geschwollen an. Seine Brust war breiter geworden, und seine Stimme schien aus einem Abgrund tief in ihm zu poltern. Irgendwo in der Ferne konnte er einen gequälten Schrei hören, der in verrücktes, kicherndes Lachen und genußvolles Stöhnen überging. »Ich dachte, Sie wären tot, Chef«, sagte Oleg Zaharoff. Sein Gesicht erschien in von Diehls Blickfeld. Es sah fleckig und leprös aus. Zwei kleine Gewächse waren auf seiner Stirn erschienen, und seine linke Schulter schien einen Buckel zu entwickeln. »Sie sehen nicht allzu gut aus, Oleg«, knurrte er. »Sie waren krank, Chef. Nachdem Sie die Frau töteten, fielen Sie in eine fiebrige Ohnmacht. Zwei Tage lang lagen Sie da und
phantasierten.« »Was ist mit ihr geschehen?« »Etwas Unnatürliches. Sie fielen beide miteinander zu Boden, und Ihre Hände waren um ihre Kehle. Ich sprang hinzu, um ihr den Gnadenstoß zu geben, aber die Rüstung der Frau erhob sich vom Boden und ging in die Ödnis davon. Ihre Augen waren geschlossen. Ich hätte schwören können, daß sie tot war.« »Hauptsache, wir sind sie los«, dröhnte von Diehl. »Was wurde aus ihrem Gefolge?« »Yorri und seine Burschen aßen die Tiermenschen. Was Sie dort hören, sind die Schreie der Elfen.« Oleg Zaharoff schauderte. »Wahrhaftig, Chef, wir sind in der Hölle.«
* »Seid gegrüßt, Brüder, wohin geht ihr?« Der Sprecher trug einen von Runen überkrusteten Panzer. Ein Helm mit geschlossenem Visier ließ vom Gesicht nur die rötlich glimmenden Augen sehen. Er war groß und dünn und raubtierhaft wie eine Gottesanbeterin. Hinter ihm war eine Streitmacht räudiger Tiermenschen aufmarschiert. Sie stand drohend vor einer Landschaft rötlich glühender Krater. Kurt von Diehl musterte den anderen Krieger mißtrauisch. Er argwöhnte Verrat. »Ich bin unterwegs zu den tiefen Ländern nahe den Toren.« »Sie sind wahrhaftig Khornes Auserwählter«, versetzte der andere spöttisch. »Vor tausend Jahren habe ich ähnlich gesprochen. Ich bin sicher, daß der Blutgott Sie angemessen belohnen wird.« »Verspotten Sie mich nicht, kleiner Mann«, sagte Kurt von Diehl drohend. »Ich verspotte Sie nicht. Ich beneide Ihre Entschlossenheit. Ich hatte nicht den Willen, im Dienst unseres dunklen Herrn wei-
ter vorzudringen. Ich fürchte, ich war übervorsichtig. Nun durchwandere ich einsam diese Länder. Es ist eine trostlose Existenz.« Zaharoff entgegnete: »Sie können nicht im Ernst von uns erwarten, daß wir diese Geschichte glauben. Tausend Jahre!« Der dünne Krieger lachte. »Zehn Jahre, ein Jahrhundert, ein Jahrtausend, was macht es aus? Die Zeit fließt seltsam hier am Rand der Welt. Alle, die in den Ödländern leben, lernen das früher oder später.« »Wer sind Sie?« fragte von Diehl. »Ich bin Prinz Dieter der Unveränderliche.« »Kurt von Diehl.« Der andere machte eine Verbeugung. »Sehr erfreut. Darf ich mich Ihrem Unternehmen anschließen, lieber Freund? Es mag sich als kurzweilig erweisen.« »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen glauben soll, Prinz oder nicht. Ein geckenhafter, feiger Diener Khornes.« Wieder lachte der andere. »Sie werden erkennen, daß im Chaos alles möglich ist.« Zaharoff trat näher zu von Diehl. »Ich traue diesem Burschen nicht. Vielleicht würde es das Beste sein, ihn zu töten.« Von Diehl warf ihm einen Seitenblick zu. »Später. Einstweilen ist er nützlich für uns.« Die Tiermenschen gliederten sich in die Zwergentruppe ein. Dieter der Unveränderliche ritt neben von Diehl. Zaharoff hielt sich ein wenig abseits und beobachtete mißtrauisch die neuen Gefährten.
* Sie überquerten ein altes Schlachtfeld. Hier lagen die Gebeine von Tausenden Gefallener. Morsche Brustkörbe zerbrachen knirschend unter den Hufen von ihren seltsam mutierenden Pferden.
Die Zwerge stießen einen Schädel mit einem Ziegengehörn vor sich her, lachten und machten derbe Witze. Über dem Leichenfeld ragte ein enormes Skelett. Ein Rückgrat, das gekrümmt die Höhe eines Hügel erreichte, wurde von Rippen getragen, die größer und stärker als alte Eichen waren. Ritt man unter ihm, hatte man das Gefühl, unter dem Gerüst einer riesigen unfertigen Halle zu sein. Die Atmosphäre war so bedrückend, daß nach einer Weile sogar die Zwerge verstummten. »Das Feld des Grax«, bemerkte Prinz Dieter. »Was für ein wildes Kampfgetümmel! Die vereinigten Horden Khornes standen den Armeen Tzeentchs gegenüber, des großen Veränderers. Bedauerlicherweise fochten wir nahe der Höhle des Drachen Grax. Das Getöse unserer Waffen störte seinen Schönheitsschlaf. Er war ein wenig verdrießlich, als er geweckt wurde. Ich glaube, unsere Herren wählten diesen Schauplatz absichtlich. Es war ein kleiner Scherz.« »Mir gefällt nicht, wie Sie von den Dunklen Mächten sprechen, Prinz«, sagte von Diehl. »Es riecht nach Blasphemie.« Der Prinz lachte. »Blasphemie gegen die Herren des Chaos, die selbst die größten Lästerer sind! Sie sind ein Witzbold, Herr von Diehl.« »Ich scherze nicht, Prinz.« Der andere blieb still, und als er nach einer Weile wieder das Wort ergriff, war seine Stimme düster und völlig ernst. »Dann stehen Sie darin allein. Selbst unsere dunklen Meister erfreuen sich eines Scherzes. Alles, was wir hier sehen, sogar die Welten, existieren nur für ihre Kurzweil. Die Vier Mächte suchen sich die Ewigkeit zu vertreiben, bis auch sie in die absolute Leere zurücksinken. Wir sind nur ihr Spielzeug.« Von Diehl starrte ihn an. Er unterdrückte den Drang, sein Schwert zu ziehen und den seltsamen Chaoskrieger zu erschlagen. Als sie unter dem Rücken und Brustkorb des gigantischen Drachen über das Feld der bleichen Gebeine gingen, fühlte er sich
bedeutungslos und sehr allein.
* Die Schreie der Sterbenden hallten in seinen Ohren. Im Licht zweier Monde holte er mit dem Schwert aus und hieb den Schild des Hundemenschen entzwei. Sein Schlag klang hell wie der eines Schmiedehammers auf den Amboß und endete mit einem Knirschen und Schmatzen. Sie fochten gegen andere Anhänger Khornes, schärften ihre Fechtkunst, merzten die Schwachen aus. Er blickte auf und sah die strahlende dunkle Aurora im Himmel. Er stieß seinen Kriegsschrei aus und drang auf die restlichen Gegner ein. In der Nähe sah er Zaharoff an der Kehle eines Gefallenen nagen. Blut färbte das daunenweiche Fell seines Gesichts, seine Augen waren rosarot, und sein langer, haarloser Schwanz zuckte. Von Diehl lenkte sein gehörntes Pferd mit den Knien und griff das feindliche Banner an, haute alles nieder, was ihm in den Weg trat. Ein großes Tier, lang und häßlich hundeartig, schnappte nach den Beinen des Pferdes. Er zog es herum, und es zerschmetterte der Kreatur mit einem Hufschlag den Schädel. In einiger Entfernung sah er Prinz Dieter im Kampf gegen eine Gruppe hundeköpfiger Krieger, eine lange, silbrig glänzende Klinge in den Händen. Er gab eine Vorstellung verfeinerter Fechtkunst, die man von einem Träger der gefürchteten schwarzen Rüstung Khornes nicht erwartet hätte. Als von Diehl den Blick wieder nach vorn richtete, sah er sich einem weiteren Chaoskrieger gegenüber, einem hochgewachsenen helmlosen Mann mit dem langen Haar und Bart eines Nordmannes. Sein Mund schäumte im Rausch seines Berserkerzorns. Seine schwere, wie der Schnabel eines Falken geformte Streitaxt
sauste nieder und schnitt in von Diehls Beinschiene. »Blut für den Blutgott!« brüllte der Nordmann. »Nur die Starken überleben«, brüllte von Diehl zurück und schlug mit seiner Streitaxt zu. Der Berserker merkte oder beachtete es nicht, daß von Diehl ihm die Seite seines Gesichts eingeschlagen hatte. Bevor der andere erneut zuschlagen konnte, lächelte von Diehl in Anerkennung der Todesverachtung seines Gegners, dann schlug er ihm den Kopf ab. Der Nordmann führte noch zwei mechanische Schläge mit seiner Axt, bevor er leblos zusammenbrach. Der Schmerz stachelte seinen Zorn an, als von Diehl den feindlichen Bannerträger angriff. In diesen Augenblicken fühlte er eine ungeheure Gegenwart über sich ragen, die anerkennend auf ihn herablächelte, als er seine Gegner niedermachte. Er blickte auf und glaubte die Silhouette einer gigantischen Gestalt mit gehörntem Helm am Himmel zu sehen. Sie strahlte wie eine dunkle dämonische Sonne Blutgier und rasende Mordlust aus. Das Gefühl höherer Anerkennung verstärkte sich mit jedem Gegner, den von Diehl erschlug. Gekräftigt und in wilder Erregung ritt er die letzten verbliebenen Gegner nieder, die sich ihm in den Weg stellten, spaltete dem Bannerträger den Schädel und entriß dem Fallenden die feindliche Standarte. Er zerbrach sie wie einen Zweig. Der Feind gab den Kampf verloren und floh, und er verfolgte die Flüchtenden und ritt mehrere von ihnen nieder. »Das Schlachtfeld ist unser!« rief er. Hinterher, als die Mordlust vergangen war, betrachtete er das Feld. Das überwältigende Gefühl göttlicher Anerkennung war verflogen, und er fühlte sich innerlich leer. Das Schlachtfeld schien bedeutungslos, der Triumph hohl. Überall lagen hingestreckte Körper wie unverständliche Runen, geschrieben von einem idiotischen Gott. Die ganze Szene war wie ein Gemälde, zweidimensional und kalt. Er fühlte sich von ihr losgelöst.
Mit leerem Blick schaute er über das öde Land hin, und zum ersten Mal seit Monaten dachte er an die Heimat. So sehr er sich bemühte, er konnte sich zu seinem Schrecken nicht erinnern, wie sie aussah. Die Namen der Familienangehörigen, die ihn enterbt hatten, wollten ihm nicht einfallen. Es war, als suchte er sich trübe eines anderen, früheren Lebens zu entsinnen. Er mußte den Verdacht unterdrücken, daß er gestorben und in einer Hölle niemals endender Kriegführung wiedergeboren sei. Sein Blick fiel auf Zaharoffs veränderte Gestalt, die den Toten mit den Zähnen Fleisch von den Leibern riß, und Ekel überwältigte ihn. Er fühlte sich elend. Langsame Hufschläge näherten sich, aber er beachtete sie nicht. Prinz Dieter zügelte sein Pferd, streifte ihn mit einem Blick und betrachtete das angerichtete Gemetzel. »Wahrhaftig, Herr von Diehl, Sie sind Khornes Auserwählter.« In seinem Tonfall war ein Gemisch von Spott, Ehrfurcht und Mitleid. »Werden wir niemals zu den Toren kommen?« fragte von Diehl. Er richtete sich im Sattel auf und blickte über seine Truppe zurück. Yorri kratzte sich den Kopf mit der Kralle seines dritten Armes. Zaharoff blickte zu ihm auf und wedelte mit dem Schwanz. Von Diehl bemerkte, wie er sich mit langer Zunge das Blut von den Lefzen leckte. »Mag sein, daß wir sie niemals erreichen«, entgegnete Prinz Dieter. »Manche sagen, die Tore erstreckten sich in die Unendlichkeit und man könne von jetzt bis zu Khornes letztem Hornsignal reiten, ohne sie zu erreichen.« »Sie sind ein wenig spät daran, uns dies zu erzählen, Prinz.« »Es mag unzutreffend sein. Es gibt viele Geschichten über die Chaos-Ödländer, und oft sind sie widersprüchlich. Vielleicht sind beide Versionen wahr.« »Sie sprechen in Rätseln.«
Der Prinz zuckte mit den Schultern. »Was ein Reisender sieht, sucht ein anderer oft vergebens. Entfernungen können sich ausdehnen und schrumpfen. Um die Tore wird das Material der Wirklichkeit selbst veränderlich, verbogen von der rohen Gewalt des Chaos.« Kurt starrte über den Blutsee hinaus. In der Ferne waren Knochenschiffe zu sehen. Vielleicht waren ihre Segel abgezogene Haut, mutmaßte er. »Ich habe gehört, daß man um die Tore in die Träume der Alten Dunklen Gottheiten eingeht und daß es ihre Gedanken sind, die das Land formen. Und was dem Reisenden begegnet, hängt davon ab, welche Macht im Aufsteigen begriffen ist.« »Was sind die Tore?« fragte Zaharoff. Kurt sah ihn überrascht an. Es war lange her, daß der drahtige kleine Mann Interesse an ihrer Suche bekundet hatte. Mit zunehmender Veränderung schien er sich in sich selbst zurückgezogen zu haben. »Sie sind an dem Ort, wo die Herren des Chaos unsere Welt betreten, ein Durchgang von ihrem Bereich zu unserem«, erklärte von Diehl. Der Prinz hüstelte höflich. »Das mag wahr sein, aber es ist nicht die ganze Geschichte.« »Sie kennen natürlich die ganze Geschichte«, erwiderte von Diehl ironisch. »Manche sagen, daß einer der mächtigen Zauberer aus alter Zeit versucht habe, Dämonen hierher zu bringen, doch habe er mehr bekommen als er gewollt habe. Andere sagen, die Tore seien ein Mechanismus der Alten Art, die als die Slann bekannt ist, und sie hätten den Mechanismus für ihre unheiligen Zwecke gebraucht. Der Mechanismus sei dann außer Kontrolle geraten, und so sei ein Loch entstanden, durch welches das Chaos in die Welt eingedrungen sei.« »Es war alles Schuld der Elfen«, bemerkte Yorri. »Das alles hat nichts zu sagen«, erwiderte von Diehl. »Wir
werden unser Ziel nicht finden, indem wir hier stehen und reden.« »Warum wollen Sie die Tore erreichen?« fragte der Prinz. »Deswegen bin ich hierher gekommen«, sagte von Diehl. Die lange Reise war der einzige Grund, der in dieser schrecklichen Ödnis irgendeinen Sinn ergab. Er ahnte, wie leicht es sein würde, wie der bemitleidenswerte Prinz zu werden und ziellos umherzuziehen. Im Land der Verdammten war ein Ziel kostbarer als Juwelen.
* Sie fochten weitere Kämpfe aus, und mit jedem besiegten Gegner wuchs Kurt von Diehls Macht, und in dem Maße, wie seine Macht wuchs, nahm die Zahl seiner Gefolgsleute zu. Für ihn gerann jeder Tag zu einem Traum von Blutgier. Sein Leben wurde ein endloser Kampf. Sein Aufstieg zur Macht führte über die Gebeine gefallener Feinde. In Caer Deral, zwischen den Grabhügeln längst gestorbener und vergessener Könige, focht er gegen die Anhänger des abtrünnigen Gottes Malal. Unter den Augen eines riesigen steinernen Kopfes erschlug er den Anführer der Feinde, einen Mann, dessen Gesicht weiß wie Milch und dessen Augen rot wie Blut waren. Er riß dem Albino mit bloßen Händen das Herz aus dem Leib und reckte das noch zuckende Organ als eine Opfergabe für den Blutgott in die Höhe. Der Beweis für Khornes Zufriedenheit und Anerkennung waren die krummen Ziegenhörner, die seinem Kopf entsprossen. Eine Kompanie Tiermenschen mit roten Fellen kam aus der Ödnis, um sich ihm anzuschließen. An den Ufern eines Flusses, dessen Wasser von Schmutz träge dahinwälzte, vernichtete er die fliegenköpfigen Anhänger Nurgles und hätte auch ihre Anführerin erschlagen, eine magere Frau,
deren Haut von Blutegeln wimmelte, wäre nicht etwas Riesenhaftes, Weiches und Tödliches aus dem Morast emporgestiegen, um ihn und seine Truppe zu vertreiben. Khorne war unzufrieden mit ihm, und von Diehls Gesicht veränderte sich ein weiteres Mal. Seine Züge schmolzen, bis seine Nase zu zwei Schlitzen über einem runden Blutsaugermund wurde. Nach der Belagerung der Burg Malamon, um deren Einnahme die Krieger Khornes seit einem Jahrhundert gekämpft hatten, ritt er auf seinem mächtigen Roß durch den Hof, um den Leichnam des einst mächtigen Zauberers zu betrachten. Zwei ChaosMordbrenner hatten den Leichnam auf Piken gespießt, während die übrige Horde durch die verwüsteten Räume der Burg tobte. In einer Pfütze aus dem Blut des Zauberers sah von Diehl sein Spiegelbild im Licht brennender Fackeln. Er erblickte eine riesige und monströse Kreatur mit einem affenähnlichen Gesicht und müden, trostlosen Augen. Mit seinem Verstand schien er sogar die Gestalt eines Menschen zu verlieren, als der zersetzende Einfluß seiner Umgebung unablässig an seiner Umwandlung arbeitete. Nach dieser Nacht versuchte er sich neuerlich Khorne zu widmen, sich im Rausch des Kampfes zu verlieren und alle Gedanken an seine verblassende Menschlichkeit in Blut zu ertränken. Die Truppe verließ die Ruinen Malamons und zog durch die Ödländer wie Feuer durch trockene Steppe. Alles, was ihr begegnete, wurde niedergemacht, ob es mit Nurgle, Tzeentch, Slaanesh oder Khorne selbst verbündet war. Im Rat ihrer Anführer stieg Kurt von Diehls Ansehen kraft seiner verzweifelten Wildheit. Selbst unter diesen Verwegensten der Gewalttätigen ragte er durch seine Rücksichtslosigkeit und seinen selbstmörderischen Mut heraus. Khorne überschüttete ihn mit Belohnungen, und mit jedem Geschenk schien seine Menschlichkeit weiter zu verblassen, seine Hoffnungslosigkeit sich einzuigeln und einen kleinen festen Kern zu bilden, der tief in seinem innersten Bewußtsein
begraben war. Erinnerungen an sein Heimatland, an Freunde und Familie waren so gut wie verloren, wie alte Gemälde, deren Pigmente bis zur Unsichtbarkeit verblichen sind. Nur undeutlich war er sich der Wesen in seinem Umkreis bewußt, da er sie nur als Opfer oder Sklaven sah. Als Zaharoffs hechelnde Stimme ihn nach einem verzweifelten Ringen ›Meister‹ nannte, gab es ihm keinen Augenblick zu denken; er nahm die Dienstbarkeit seines früheren Gefährten als sein natürliches Recht in Anspruch. Unter einem blutroten Himmel kämpfte er mit geflügelten Dämonen, bis seine Streitaxt zerbrach. Dem Leichnam eines toten Ritters, der für Khorne gefallen war, nahm er eine fremdartige und wirkungsvolle Waffe ab, eine Armbrust, die Bolzen aus Licht verschoß und deren Strahlen die Fledermausflügel der Dämonen wie dürres Laub im Feuer schrumpfen und verkohlen ließ. In einem Wirbelsturm aus Asche kämpfte er gegen Kreaturen, die auf dem Weg zum Chaos noch weiter waren als er, amöbenhafte Gestalten, denen Stielaugen und tastende Öffnungen entragten. Nach diesem Kampf verschmolz seine Rüstung mit dem Körper wie eine zweite Haut. Zaharoff und die Zwerge ähnelten immer mehr den Kreaturen, die er besiegt hatte. Die Verluste seines Kriegerhaufens waren beträchtlich, aber von Diehls Aufstieg nahm seinen Fortgang. Und überall, wohin er ging, war Prinz Dieter der Unveränderliche dicht hinter ihm, sein ständiger Schatten, flüsterte Rat und Ermutigung und Worte uralter schlimmer Weisheit. Mit jedem Tag wurde von Diehl die Anwesenheit des Blutgottes in seinem Herzen mehr bewußt. Jeder Tod schien ihn seiner dunklen Gottheit näher zu bringen, jeder besiegte Feind löschte einen kleinen Funken seiner Menschlichkeit aus und formte ihn weiter nach Khornes Ideal. All seine finsteren Leidenschaften verschmolzen und traten in den Vordergrund. Er wurde zügellos und handelte nach der jewei-
ligen Laune statt nach bewußter Überlegung. Er lebte in einem Zustand permanenter, kaum gebändigter Raserei. Die geringste Übertretung seiner Befehle, die geringste Kleinigkeit, die ihn ärgerte, führte zu jemandes Tod. Ein Krieger brauchte ihn nur falsch anzusehen, um von Diehls todbringenden Stahl zu fühlen. Und doch stand während all dieser Zeit ein kleiner Teil seines Geistes abseits und beobachtete mit wachsendem Entsetzen, was aus ihm wurde. Manchmal befielen ihn Zweifel und Gefühle furchtbarer Einsamkeit, die auch seine Triumphe nicht lindern konnten. Ein Teil von ihm war angewidert von der nicht enden wollenden Gewalt, aus der sein Leben bestand, und empfand Ekel und Schuld über die Freude, die er im Gemetzel fand, als wäre sein Geist zum Wirt einer bösartigen fremden Kreatur geworden. In seinen lichteren Augenblicken ohne die berauschende Droge des Kampfes schien es ihm, daß er ein Gespaltener geworden und seine Seele zu einem Schlachtfeld verkommen sei, auf dem ein ungleicher Kampf zwischen seiner Gier nach Macht und Blut und dem Rest seiner Menschlichkeit ausgefochten wurde. Es gab Zeiten, in denen er daran dachte, sich in sein Schwert zu stürzen und die Qual seines Zwiespalts zu beenden, aber das war nicht die Art von Khornes erwählten Kriegern. Statt dessen war er in jedem Scharmützel vorneweg, nahm jede Herausforderung zum Zweikampf an und wählte die stärksten Gegner. Er ging unweigerlich als Sieger aus den Kämpfen hervor, und die Gunst körperlicher und seelischer Veränderung, die Khorne ihm gewährte, verstärkte die finstere Seite seiner Natur. Das Ende kam rasch. Der Mordbrennerhaufen zog über eine Ebene auf ein Gebirge aus Glas zu. Seine Banner flatterten in einer trockenen, die Kehle beengenden Brise. Unter einer Standarte, welche die Schädelrune des Blutgottes trug, ritten die heftig miteinander streitenden Kommandeure. »Ich sage, wir reiten nach Norden«, sagte Kurt von Diehl, der noch immer dem Befehl einer halbvergessenen Eingebung folgte.
»Dort werden wir Macht finden, und Gegner, die unserer Klingen würdig sind.« »Ich sage, wir reiten nach Süden und bedrängen die Slaaneshi«, erwiderte Hargul Grimaxe, der General der Armee. »Ich halte es mit Kurt von Diehl«, sagte Prinz Dieter. Der Rest der Anführer schwieg. Alle spürten den bevorstehenden Konflikt. Unter den Anhängern Khornes konnte es nur einen unangefochtenen Anführer geben, und es gab nur eine Art und Weise, den Streitfall beizulegen. »Süden«, sagte Kilgore der Oger mit einem drohenden Blick zu von Diehl. Tazelle und Avarone, die anderen großen Krieger, schwiegen. Ihre Gefolgsleute beobachteten das Geschehen, still wie große schwarze Statuen. Der Teil von Kurt von Diehls Verstand, der noch funktionierte, versuchte abzuschätzen, wie viele der Kommandeure ihm folgen und welcher Teil der Armee ihn unterstützen würde. Nicht genug, entschied er. Nun, so sei es. »Nach Norden!« brüllte er, brachte seine fremdartige Armbrust in Anschlag und feuerte auf Hargul. Der Kopf des Generals schmolz und verkochte. »Verrat!« schrie Tazelle. Sämtliche Krieger zogen ihre Waffen, und schon begann die Schlacht unter dem Banner des Blutgottes. Es war wie ein Funke, der in trockenen Zunder fällt. Von Diehl hörte das Gebrüll der Truppen hinter sich. Bald erreichten die Todesschreie sterbender Tiermenschen und mutierter Monstrositäten seine Ohren, als die Armee in einer Orgie der Gewalt sich selbst zerfleischte. Alte Abneigungen, die sich unter dem Druck der Disziplin untergründig zu schwelendem Haß verstärkt hatten, konnten sich plötzlich ausleben. Von Diehl lächelte. Khorne würde heute viele Seelen verschlingen. Er brachte seine Waffe gegen den Rest der Kommandeure in Anschlag und drückte ab. Zwei weitere starben unter ihrem Glutstrahl, bevor sie ihm von einer Streitaxt aus der Hand geschlagen
wurde. »Blut für den Blutgott!« brüllte er, zog sein Schwert und schlug beidhändig wie mit einer Sense um sich. So bahnte er sich den Weg in die Mitte der Gruppe von Chaoskriegern und ergriff die Standarte. Er wußte, daß die Streitmacht sich instinktiv um ihren Träger sammeln würde. Wie nie zuvor fühlte er jetzt die Gegenwart Khornes. Als er die Fahnenstange des Banners berührte, schien das Lachen des Blutgottes in seinen Ohren zu hallen, und der Schatten seines Kommens verdunkelte den Himmel. Er gab seinem Herrn reichliche Opfergaben. Nicht die schwachen, verbogenen Seelen von krüppelhaften Sklaven oder wimmernder und ängstlicher Männer, sondern die Seelen von mächtigen Kriegern, die viel Blut an den Händen hatten. Er spürte, daß Khorne erfreut war. Die ausholenden Schwerthiebe machten alles nieder, was in seine Reichweite kam. Er war unermüdlich. Energie schien durch die Standarte in ihn einzuströmen und seine Stärke hundertfach zu vergrößern. Er wurde zu einer Zerstörungsmaschine, angetrieben von dämonischem Zorn. Leichen türmten sich um ihn zu Haufen, als er allen Widerstand vernichtete. Er lachte, und das Geräusch seiner Heiterkeit drang übersprudelnd auf das Schlachtfeld hinaus. Alle, die es hörten, wurden von seiner Verrücktheit infiziert. In wilder Raserei bekämpften sie jeden in ihrer Nähe, warfen ihre Schilde fort, ignorierten in ihrer Mordlust Schläge, die sie trafen. Kurt sprang über einen Leichenhaufen und sah sich den vier verbliebenen Kriegern gegenüber, den mächtigsten des Haufens. Prinz Dieter, Avarone, Kilgore und Tazelle. Mit einem einzigen Streich enthauptete er den Oger. Er sah den Ausdruck von Verblüffung in dessen ungeschlachten Gesicht gefrieren, als er starb. Tazelle und Avarone kamen von zwei Seiten auf ihn zu. Er schlug Avarone mit der Standarte nieder, als Tazelle, die den Beinamen Teufelin trug, mit ihrem Schwert in die
Panzerung seines Armes schlug. Er fühlte keinen Schmerz; dieser wurde in rohe Energie umgewandelt, ein Feuer, das im Kern seines Wesens brannte. Ihm war, als ob sein Inneres in der Hitze verschmolz, als würde er im Feuer der Schlacht gereinigt. Der Rückhandschlag mit der Standartenstange ließ Tazelle wie eine zerbrochene Puppe durch die Luft fliegen. In seiner Brust formte sich die sengende Kraft zu etwas Greifbarem und Schwerem um. Er fühlte, wie er langsamer wurde. Er stürzte sich auf Prinz Dieter, um ihn mit dem gehörnten Schädel an der Spitze der Standarte aufzuspießen. Der Prinz trat geistesgegenwärtig beiseite und ließ den anderen, vom Angriffsschwung vorwärts getragen, in seine Klinge rennen. Funken flogen, als das lange, schmale Schwert des Prinzen von Diehls Rüstung durchbohrte und in sein Herz stieß. Von Diehl kam zum Stillstand und sah verblüfft auf die Klinge, die aus seiner Brust ragte. Brennender Schmerz durchfuhr ihn, dann streckte er den gepanzerten Arm aus und brach dem Unveränderlichen Prinzen in einem Reflex, der so instinktiv war wie der Stich einer sterbenden Wespe, mit einem Ruck den Hals. »Sie sind wahrhaft Khornes Auserwählter«, hörte er den Prinzen sagen, bevor er zu Boden fiel. Todesqual brannte nun von seiner Brust auswärts. Es schien, als kochte geschmolzenes Blei durch seine Adern. Selbst die Energie, die ihm von der Standarte zufloß, reichte nicht aus, ihn am Leben zu erhalten. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, und er wankte, suchte Halt an der Stange der Standarte. Der Schlachtenlärm wich in die Ferne zurück, und die Worte des Prinzen hallten in seinem Kopf wider, bis es schien, daß sie von einem singenden Chor bestialischer Stimmen aufgenommen wurden. Wenigstens ging es zu Ende, dachte der unterdrückte Teil von ihm, der noch menschlich war. Einen Augenblick schien alles klar, und die rasende Wut, die seinen Verstand benebelt hatte, wich von ihm. Mit nachlassendem
Sehvermögen blickte er über ein Schlachtfeld, wo nichts Menschliches stand. Männer, die sich zu Tieren reduziert hatten, fochten auf blutgetränkter Ebene. Im Himmel ragte eine titanische Gestalt, größer als ein Gebirge, die mit einem Hunger herabschaute, den kein Sterblicher verstehen konnte, und das Spektakel ihrer sich bekriegenden Spielzeuge in sich aufnahm, sich davon nährte, stark wurde. Der Chor der Stimmen in seinem Kopf verschmolz zu einer einzigen. Es war eine Stimme, in der ungeheure Müdigkeit und überwältigendes Lustempfinden vereint waren; eine Stimme älter als die Sterne. »Wahrhaftig, Kurt, du bis Khornes Auserwählter«, sagte sie. Schwärze umhüllte ihn, und eine Welle elementarer Wut löschte seinen Verstand aus. Er fühlte die in seinem Körper beginnende Veränderung. Das schwarze fremde Wesen, das sich in ihm eingenistet hatte wie die Larve einer Schlupfwespe in einer Raupe, drängte ins Freie, verließ die Hülle seines Körpers und ging in die Welt ein. Die schwarze Rüstung knarrte und brach auseinander. Brust und Schädel platzten auf. Flügel schälten sich aus den Überresten seines Körpers wie die eines Schmetterlings, der aus einer Puppe kriecht. Der neugeborene Dämon schüttelte Blut und Schmutz von sich, blickte verehrungsvoll zu seinem Herrn auf und gelobte ihm Gemetzel in alle Ewigkeit. Mit einem mächtigen Sprung schwang er sich in die Luft. Unter ihm kämpften kleine Gruppen von Kriegern noch immer weiter. Er sog den köstlichen Duft ihrer Seelen ein, als er höher stieg. Bald blickte er auf winzige Gestalten hinab, die sich im ungeheuren Panorama einer Landschaft verloren, welche von Krieg und Chaos verödet war. Er wandte sich nordwärts zu den Toren, hinter denen seine neue Heimat lag. Irgendwo in den entlegensten Winkeln seines Geistes schrie etwas, das einmal Kurt von Diehl gewesen war, in dem Wissen,
daß er wahrhaft verdammt war. Er war ebenso Teil des Dämonen, wie dieser Teil von ihm gewesen war. Für immer war er im Gefängnis seines Wesens eingeschlossen. Im Himmel lachte der dunkle Gott.
ENDE