Privatdetektiv Wyatt Hunt wuchs als Waisenkind auf und hat seine Herkunft nie vergessen. Als Inspektor des Kinderschutz...
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Privatdetektiv Wyatt Hunt wuchs als Waisenkind auf und hat seine Herkunft nie vergessen. Als Inspektor des Kinderschutzprogramms hat er vielen Kindern das Leben gerettet, ehe er von seinem Chef aus dem Job gemobbt wurde. Da trifft es sich gut, dass er gleich bei seinem ersten Fall seinen ehemaligen Chef als Versicherungsbetrüger entlarven darf. Seine »Jagdclub«Detektei ist ein Bündnis aus bestens vernetzten Freunden, Spezialisten für alle Fälle. Lässige aber unbarmherzige Bluthunde. So glaubt sich Wyatt in seinem Hauptquartier, einer Mischung aus Sporthalle und Musikstudio, bestens gerüstet gegen San Franciscos Unterwelt. Doch dann werden ein bekannter Richter und seine Geliebte Opfer eines spektakulären Doppelmords, und ausgerechnet Wyatts Freundin verschwindet als Hauptverdächtige spurlos. Der Jagdclub schwärmt aus. John Lescroart (sein Name geht zurück auf eine Bande französischer Banditen »Les Croquart« aus dem 14. Jahrhundert) begann schon während seines Studiums in Berkeley mit dem Schreiben, wurde stattdessen aber Rockmusiker und tourte mit seiner Band durch die Welt. Nach einer schweren Krankheit und elf Tagen im Koma entschied er, es noch ein letztes Mal mit Schreiben zu versuchen, und eroberte mit Hard Evidence {Das Indiz, Heyne 1995) auf Anhieb die US-Bestsellerlisten. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Davis, Kalifornien. Seine Justizthriller sind internationale Erfolge. Im Heyne Verlag erschienen zuletzt Die Anhörung und Der Schwur.
John Lescroart
DAS GESETZ DER JAGD Roman
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel The Hunt Club
Meiner geliebten Tochter Justine Rose Lescroart Man glaubt immer, sich zu kennen, bis einem Dinge widerfahren, durch die man die Isolierung der Normalität verliert. Robert Wilson, Tod in Lissabon [München 2002, S. 466]
Das war damals 1 (19 92 )
Von außen schien das große, vierstöckige Wohnhaus an der 22. Avenue, Nähe Balboa im Richmond District von San Francisco, ganz gut in Schuss zu sein, aber ich hatte dergleichen schon einige Male gesehen, wenn ich in Beschwerdefällen unterwegs war, und wusste, dass das allein noch nichts zu bedeuten hatte. Dieses Gebäude hatte vermutlich vierzig Wohneinheiten, jede davon ein selbstgenügsames, nach außen abgeschlossenes Universum, bewohnt von Singles, Studenten, alten Leuten, glücklichen und unglücklichen, verheirateten und unverheirateten, schwulen und Heteropaaren, mit und ohne Kinder. An diesem kalten und trüben Morgen war der Ruf von der CabrilloGrundschule gekommen, wo die betreffenden Kinder die sechste beziehungsweise vierte Klasse besuchten. Beide waren die ganze letzte Woche nicht zum Unterricht erschienen, und kein Elternteil hatte sich mit einer Entschuldigung ans Schulbüro gewandt. Als die für Fälle von Schulpflichtverletzung zuständige Beamtin am vergangenen Mittwoch zum ersten Mal bei den Dades angerufen hatte, hatte sie eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, auf die niemand reagierte. Freitag hatte sie erneut angerufen und diesmal Tammy am Apparat, die Sechstklässlerin, die ihr mitteilte, sie hätten alle die Grippe, das sei alles. Nein, ihre 3 Mutter sei zu krank und schliefe, sie könne nicht ans Telefon kommen. Tammy meinte, am Montag würde es ihr und ihrem Bruder wahrscheinlich besser gehen und sie würde dann eine Bescheinigung von ihrer Mutter mitbringen oder vom Arzt. Irgendwas jedenfalls. Allerdings erschienen sie am Montag wieder nicht, und die Beamtin hatte dann beim Kinderfürsorgedienst, den Child Protective Services, angerufen, um nachprüfen zu lassen, was da vorgehen mochte. In ihrer Beschwerde notierte sie, dass beide Kinder unterernährt und unzulänglich gekleidet wirkten. Jetzt war es Dienstagmorgen, kurz vor zehn. Meine Partnerin bei diesem Einsatz - Bettina Keck, meine Lieblingspartnerin bei CPS - und ich, Wyatt Hunt, standen unten vor dem Hauseingang, nachdem wir einige Male vergeblich geklingelt hatten. »Warum kann ich nicht glauben, dass niemand zu Hause ist?«, fragte Bettina. Es war eiskalt, und ich hatte absolut keine Lust, dort herumzustehen und zu warten. Ich nahm mir die Reihe der Namensschilder vor, drückte nacheinander jeden einzelnen Klingelknopf. »Ich kann's nicht ab, wenn sie uns zu so was zwingen. Falls sich jemand meldet, übernimmst du dann das Reden?« »Warum ich?« »Weil du klüger bist? Nee, warte mal, das kann's nicht sein.«
»Witziger bin ich auch«, sagte sie. Und wie aufs Stichwort schnarrte es jetzt aus dem Lautsprecher heraus, es war die Stimme einer älteren Frau. »Wer ist da?« Bettina rückte an die Anlage heran. »Botendienst.« »Siehste?«, sagte ich. »Einfach brillant.« Bettina gab mir zu verstehen, ich solle die Klappe halten, und wir hörten: »Ich habe nichts bestellt.« »Welches Appartement sind Sie?« 4 »Nummer acht.« Mein Finger lenkte Bettinas Blick auf das zugehörige Namensschild. Sie kam nicht eine Sekunde ins Stocken. »Sind Sie Mrs Craft?« »Jawohl.« »Tja, Sie müssten die Lieferung abzeichnen.« »Was ist es denn?« »Also, im Moment, Ma'am, ist es ein braunes Paket. Wenn Sie es nicht haben wollen, lass ich's einfach zurückschicken.« »Wohin?« »Warten Sie mal. Sieht aus wie ein Juweliergeschäft. Vielleicht haben Sie irgendwas gewonnen.« Pause. Dann: »Ach, na gut.« Das Summen ertönte, und wir konnten eintreten. »Vielleicht bist du bei solchen Sachen tatsächlich besser«, sagte ich, indem ich meiner Partnerin die Tür aufhielt. »Was heißt hier vielleicht?« Sie lächelte mir zu. »Das ist der beste Teil des Jobs.« Wir traten durch eine Tür gleich hinter dem Eingang und stiegen über die Treppe bis in den zweiten Stock. Die Wohnung der Dades war die Nummer 22, nach links den Korridor hinunter. Wir standen eine Weile vor der Tür und lauschten dem Fernseher, der von drinnen zu hören war. Als Bettina nickte, klopfte ich. Sofort wurde das Fernsehergeräusch leiser. Ich klopfte noch mal. Und noch einmal. »Derjenige, der eben den Fernseher runtergedreht hat«, sagte ich mit lauter und gebieterischer Stimme, »möchte bitte die Tür aufmachen.« Schließlich erklang die Stimme eines Mädchens, dünn und ängstlich. »Wer ist da?« 4 »Kinderfürsorge«, sagte Bettina sanft. »Mach bitte auf.« »Das darf ich nicht.« »Was du nicht darfst, ist nicht aufmachen, mein Schatz. Bist du Tammy ?« Nach einigem Zögern fragte die Stimme: »Woher wissen Sie das?« »Deine Schule hat uns angerufen, damit wir nach dir sehen. Die machen sich Sorgen um dich und deinen Bruder. Ihr habt schon viele Tage gefehlt.« »Wir waren krank.«
»Das haben sie uns erzählt.« »Wir wollen uns nur überzeugen, dass es euch gut geht«, warf ich ein. »Wir stecken vielleicht immer noch an.« »Das Risiko nehmen wir in Kauf, Tammy«, sagte Bettina. »Wir dürfen nicht weggehen, bevor wir euch gesehen haben.« »Wenn ihr uns nicht reinlasst«, fügte ich hinzu, »müssen wir die Polizei holen. Das wollt ihr doch nicht, oder?« »Sie brauchen die Polizei nicht zu rufen«, sagte Tammy. »Wir haben nichts getan.« »Das hat auch niemand behauptet, Kleines«, sagte Bettina, die das Gespräch mühelos wieder übernahm. »Wir wollen nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist bei euch. Ist dein Bruder auch da?« »Dem geht's gut. Nur dass er noch krank ist.« »Was ist mit deiner Mama? Ist sie zu Hause? Oder dein Papa?« »Wir haben keinen Papa.« »Okay, also deine Mutter.« »Die schläft. Sie fühlt sich auch nicht so gut. Sie hat Grippe, genau wie wir.« 5 »Tammy.« Ich versuchte, mir die wachsende Besorgnis nicht anmerken zu lassen. »Wir müssen jetzt unbedingt reinkommen. Mach bitte die Tür auf.« Einige Sekunden vergingen, dann hörten wir, wie das Schloss sich öffnete, und sie stand vor uns. Erstaunlich gefasst und durchaus anständig gekleidet, dachte ich sofort, für ein Mädchen, das offensichtlich dabei war, zu verhungern. Bettina ließ sich auf ein Knie nieder. Ich hörte sie fragen: »Tammy, Kleines, hast du irgendwas zu essen gehabt in letzter Zeit?«, während ich die Tür öffnete, hinter ihnen vorbeiging und gerade noch die Antwort des Mädchens aufschnappte: »Etwas Brot.« Im Wohnzimmer saß ein ausgezehrter kleiner Junge unter einem Haufen von Decken vor dem Fernseher und starrte mit leerem Blick auf den stummen Bildschirm. »He, Kumpel«, sagte ich sanft. »Bist du Mickey ?« Der Junge sah zu mir hin und nickte. »Wie geht's dir?« »Ganz gut«, sagte er mit Lamettastimme. »Ich hab nur ein bisschen Hunger.« »Na, dann besorgen wir dir doch gleich mal was zu essen. Was hältst du davon?« »Ist gut. Wenn Sie wollen.« »Ja. Das will ich ganz bestimmt. Wo ist deine Mutter, Mickey?« Bettina, die gerade mit Tammy an der Hand ins Zimmer kam, hörte die Frage. »Sie ist in ihrem Schlafzimmer«, sagte Bettina. »Vielleicht sollte ich hier ein bisschen bei den Kindern bleiben, und du siehst nach, wie es ihr geht?« »Bin schon dabei«, sagte ich.
6 Mrs Dade lag tatsächlich in ihrem Bett und schlief. Allerdings handelte es sich nicht um die Art von Schlaf, aus der man wieder aufwacht. Die Autopsie ergab später, dass sie an einer Überdosis Heroin, wahrscheinlich von der schwarzen Sorte, gestorben war, wahrscheinlich am dritten oder vierten Tag, an dem die Kinder in der Schule gefehlt hatten. Während wir auf den überflüssigen Krankenwagen warteten, berichtete uns Tammy, dass ihre Mutter ihren Job beim Safeway vor ein paar Wochen verloren hätte, wegen ihres Drogenproblems, das aber eigentlich eine Krankheit sei, für die sie nichts könne. Tammy und Mickey hatte sie erzählt, sie wisse, dass sie keine Drogen nehmen sollte, die seien schädlich, und sie wolle auch versuchen, damit aufzuhören, aber es sei schwer, sehr, sehr schwer. Die Hauptsache sei aber, dass sie niemals jemandem davon erzählen dürften, denn wenn die Polizei es herausfände, dann würden sie kommen und entweder die Mama mitnehmen oder ihr sie, die Kinder, wegnehmen. Tammy hatte in der Schule an Veranstaltungen der Behörde für JugendDrogenberatung teilgenommen, und daher wusste sie, dass ihre Mutter die Wahrheit sagte. Alle waren sich darüber einig, dass man nicht mit Leuten zusammenleben sollte, die Drogen nahmen. Deswegen hatte Tammy niemandem etwas davon erzählt. Und dies war auch nicht das erste Mal gewesen mit ihrer Mama. Es kam öfter vor, dass diese für mehrere Tage in ihrem Schlafzimmer verschwand. Diesmal dauerte es nur länger als sonst. Tammy mochte nicht nachsehen, weil ihre Mama manchmal ordentlich wütend wurde, wenn man in ihr Zimmer kam. Sie wollte nicht, dass ihre Kinder es sahen, wenn sie Drogen nahm. Sie schämte sich. Ein oder zwei Tage noch, dachte Tammy, dann würde ihre Mama 6 wahrscheinlich wieder aus ihrem Zimmer herauskommen, oder sie, Tammy, würde, wenn das Essen wirklich völlig alle war, doch mal nachgucken, und dann würden sie wieder zur Schule gehen, und Mama würde einkaufen gehen und ihnen etwas zu essen holen. In der Zwischenzeit ernährte Tammy sich und ihren Bruder halt von dem, was die Küche noch hergab. Sie teilte es so ein, dass es nicht ausging. Sie musste auch ihren Bruder beschützen, ebenso wie ihre Mutter. Ich ging in die Küche und sah mich um. Sie hatten noch drei Scheiben schimmeliges Weißbrot, ein paar Reiscracker und ungefähr einen Löffel voll Erdnussbutter übrig.
2 (19 96 )
Ich machte den Job bei Child Protective Services seit fünf Jahren und hatte immer noch kein eigenes Büro. Eigentlich wollte und brauchte ich auch keins.
Schließlich bestand meine Arbeit zu fünfundsiebzig bis achtzig Prozent aus Außendienst. Den Rest der Zeit verbrachte ich damit, Berichte über meine Aktivitäten zu schreiben. Es waren die leitenden Verwaltungsbeamten, die die Büros besetzten, und von mir aus konnten sie die auch gern haben. Den Verwaltungsbeamten ging es darum, Fälle abzuschließen, es ging ihnen um Zahlen und darum, festen Verfahrensweisen zu folgen. Mir ging es darum, Kindern das Leben zu retten. Es waren zwei tendenziell unterschiedliche Ansätze. Ich traf jeden Morgen, nachdem ich mich durch die Obdachlosen gekämpft hatte, die die umliegenden Straßen bevölkerten, gegen acht Uhr im Gebäude an der Otis Ave 7 nue ein, erkundigte mich zunächst, ob irgendwelche echten Notrufe vorlagen, und machte mich dann meist an die mir zugewiesenen »normalen« Fälle. Jeder einzelne von diesen war in gewisser Weise ein Notfall, wenn auch von den Schreibtischhengsten allzu oft nicht als solcher eingestuft. Um zum Notfall erklärt zu werden und damit sofort die Aufmerksamkeit eines oder mehrerer Betreuer zu verdienen, musste die häusliche Situation eines Kindes als unmittelbar lebensbedrohend definiert werden. Wenn also zum Beispiel eine Frau ihr Dreijähriges an den Füßen aus einem Fenster im sechsten Stock baumeln ließ, dann war das ein Notfall. Die alltäglichen Probleme galten als weniger schwerwiegend; zu ihnen zählten chronische Unterernährung, der Verdacht körperlicher Misshandlung oder ein durch Drogen oder aus sonstigen Gründe psychisch gestörter Elternteil. Oder auch ein Onkel, der im Verdacht stand, intime Beziehungen zu seiner achtjährigen Nichte zu unterhalten. Mein so genannter Routineauftrag an diesem Morgen kam aus Holly Park, einem Sozialwohnblock ganz im Süden der Stadt. Es gab dort mehrere miteinander in Konflikt liegende Straßengangs, was zusammen mit der zermürbenden Armut, der drückenden Atmosphäre der Hoffnungslosigkeit und dem astronomischen Anteil der Bevölkerung, der Drogen entweder konsumierte oder damit handelte, dazu führte, dass diese Gegend die höchste Mordrate nach Hunter's Point aufwies. Und außerdem ziemlich konkurrenzlos bei den meisten anderen Verbrechen - gewalttätiger oder anderer Natur - dastand. Nebel, Regen, Hitze oder Kälte machen mir nicht viel aus, aber den Wind kann ich nicht ausstehen, und heute, an einem Dienstag Anfang April, wehte er heftig. Darauf 7 bedacht, meinen eh schon ramponierten Lumina vor dem in Holly Park wütenden Wandalismus möglichst zu bewahren, parkte ich ihn drei Blocks östlich der Wohnsiedlung. Als ich die Autotür öffnete, schlug mir eine eisige
Bö entgegen, gegen die mein Parka ungefähr so viel ausrichten konnte wie ein Kettenhemd. Es war ein heller, sonniger Tag, aber der Wind war unnachgiebig und bitter-, bitterkalt. Die Hände tief in meine Jackentaschen gestopft, steuerte ich die Adresse an, die ich mir gemerkt hatte, und starrte von der anderen Straßenseite aus auf das schwer gezeichnete Ödland, das ich nunmehr betreten sollte. Ich wusste, dass dies vor fünfzig Jahren noch eine Art Bilderbuchsiedlung gewesen war die im Kasernenstil angelegten Wohneinheiten frisch gestrichen, umgeben von Rasenflächen, gepflegten Gärten, sogar Bäumen. Die Bewohner wurden damals mit Geldbußen belegt, wenn sie ihren Rasen nicht mähten und ihre Veranden und Balkone mit Müll oder aufgehängter Wäsche verschandelten. Jetzt gab es keinen einzigen Baum mehr, keine Andeutung eines Gartens, kaum noch einen Fetzen Grün. Von meinem Standort aus konnte ich ein hundertfaches Glitzern in dem festgetretenen braunen Boden um das Gebäude herum ausmachen - ich war schon oft hier gewesen und wusste, dass es sich um die Überreste unzähliger weggeworfener Flaschen handelte; Bier, Wein, Schnaps: alles an Alkohol, was in Glasbehälter gefüllt wurde. Diese Arena war kein Kampfplatz für Pepsi und Coca-Cola. Am beunruhigendsten war vielleicht, dass ich keine Menschen sah. Sicher, bei dem kalten Wind würde niemand herauskommen, um sich in der Sonne zu aalen, aber irgendwie hatte ich doch damit gerechnet, dass mal jemand zwischen den Gebäuden auftauchen würde, irgendeine Frau, die Wä 8 sehe aufhängte, irgendjemand, der egal was machte. Aber die ganze Gegend schien vollkommen verlassen. Ich fragte mich, ob ich nicht noch ein paar Minuten im Büro hätte warten und mich für diesen Auftrag mit einem Partner hätte zusammentun sollen. Vielleicht mit einem von den relativ neu Angeworbenen, einem, der noch ein bisschen Feuer im Hintern hatte. Doch bei uns im Büro jemanden zu finden, auf den ich mich verlassen konnte, mit dem ich längere Zeit zusammen sein mochte, das war fast unmöglich geworden. Das Büro nämlich war in den vergangenen Jahren gleichermaßen von einem Krebsgeschwür befallen worden. Diese Entwicklung fiel zusammen mit der Ernennung und dem Dienstantritt des Stellvertretenden Direktors Wilson Mayhew. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die meisten Mitarbeiter der Abteilung sich an Mayhew ein Beispiel nahmen, seien es die Führungskräfte mit ihren Haarspaltereien und Machtspielchen, seien es meine Bereitschaftskollegen, die ihre ganze Erfahrung dazu nutzten, Notrufen auszuweichen, sofern sie sich überhaupt die Mühe machten, zum Dienst zu erscheinen. Immerhin waren wir alle Angestellte der Bezirksregierung, von der Gewerkschaft geschützt und vor Disziplinarmaßnahmen weitgehend sicher. Ohne einen Abteilungsleiter, der sie motivierte, waren diejenigen
Betreuer, die sich für ihre Arbeit und für die Kinder engagierten, nach ein paar Jahren oft ausgebrannt. Inzwischen war es so, dass die meisten nur noch dablieben, weil ihnen eh alles egal war - und sie sich mit angesammeltem Urlaub, Krankheitstagen und den hundert kreativen Möglichkeiten des Schummelns mit den Stechkarten einigermaßen durchhangeln konnten. Ein volles Drittel der Sozialarbeiter leistete keine wirkliche Arbeit 9 mehr. Einige erschienen nicht einmal im Büro, aber das schien weder Mayhew etwas auszumachen noch den niederen Dienstgraden, denen so immerhin die Unannehmlichkeit erspart blieb, sich mit diesen Leuten auseinander setzen zu müssen. Zwar gehörte Bettina noch zur Truppe, aber im Gefolge ihrer Scheidung hatte sie eigene gewichtige Angelegenheiten im Kopf, und daher zog ich es nunmehr vor, allein zu arbeiten. Nun denn, es sprach nichts dagegen, loszulegen. Ich war jetzt hier. Und Keeshiana Jefferson brauchte jetzt Hilfe. Ich musste hineingehen und abschätzen, wie ernst die Lage war. Ich setzte einen Fuß auf die Straße. »He.« Ich drehte mich um und wich, ungläubig angesichts eines anderen Weißen in dieser Gegend, einen Schritt zurück. Und dann, als die Gesichtszüge sich zu etwas erst vage, bald aber entschieden Vertrautem verfestigten, sagte ich: »Dev? Devin Juhle?« Juhle und ich hatten an der Highschool zusammen Baseball gespielt, er als Shortstop, ich als Mann an der Second Base. Bevor das College uns auseinander brachte, war er mein wohl bester Freund gewesen. Der andere Mann legte ein ungezwungenes, wenn auch etwas verblüfftes Lächeln auf, doch dann hatte es auch bei ihm Klick gemacht. »Wyatt? Was machst du denn hier?« »Arbeiten«, sagte ich und griff mehr oder weniger automatisch nach meiner Brieftasche, meinem Ausweis. »Ich bin bei CPS. Kinderfürsorge.« »Ich weiß, was CPS ist. Ich bin ein Cop.« »Erzähl keinen Scheiß.« »Tu ich nicht.« »Du bist gar nicht wie ein Cop gekleidet.« 9 »Ich bin Inspektor. Wir tragen keine Uniform. Ich arbeite bei der Mordkommission.« Ich warf einen raschen Blick über die Straße. »Das heißt also, ich bin zu spät gekommen?« »Wofür?« »Keeshiana Jefferson.« »Kenn ich nicht.« Eine Woge der Erleichterung überspülte mich. Wenigstens war Keeshiana nicht das Opfer in dem Mordfall, den Dev untersuchte. Vielleicht kam ich
doch noch rechtzeitig. »Tja, Mensch«, sagte ich, »schön, dich mal wiederzusehen, aber ich hab da drinnen zu tun.« Juhle legte eine Hand auf meinen Arm. »Du willst doch nicht alleine da reingehen?« »Sicher.« Da ich Juhles Besorgnis registrierte, fügte ich hinzu: »Keine Angst, Dev. So was mach ich jeden Tag.« »Hier?« »Hier, dort - überall.« »Und tust dann was?« »Hauptsächlich reden mit den Leuten. Manchmal hol ich das eine oder andere Kind da raus.« Juhle ließ einen beunruhigten Blick über die Siedlung schweifen, landete wieder bei mir. »Bist du ausgerüstet?« »Du meinst, ob ich 'ne Kanone dabei hab?« Ich gluckste und hielt meinen Parka weit auf. »Nur Kekse und Chips, falls jemand Hunger hat. Ich muss jetzt echt los.« »Wie ist die genaue Adresse?«, fragte Juhle. »Ich treib mich hier sowieso noch mit meinem Partner herum, wir suchen nach Zeugen. Ich werd in der Nähe bleiben.« »Ist nicht nötig«, sagte ich, »trotzdem danke fürs Angebot. Aber ganz im Ernst, wir sehen uns später. Ich muss jetzt los und nach dem Rechten sehen.« 10 Die Holztür des Wohngebäudes schloss sich hinter mir, und es wurde dunkel, stockfinster geradezu. Jemand hatte die langen Glasfenster zu beiden Seiten der Tür übermalt. Ich gab meinen Augen ein paar Sekunden Zeit, sich an die Verhältnisse zu gewöhnen, dann probierte ich den Lichtschalter, den ich entdeckt hatte. Er funktionierte nicht. Es stank im Flur, das vertraute Geruchstrio aus Schimmel, Urin und Tier. Daneben bemerkte ich eine Beimischung von Gras und Tabak, die sich aber gegen die durchdringenderen Duftnoten nicht durchsetzen konnte. Ich hörte den draußen zwischen den Gebäuden umherfegenden Wind und beschloss, noch mal umzukehren und die Tür ein wenig zu öffnen, um etwas Licht einfallen zu lassen. Gleich neben der Tür, in einem Schutthaufen an der Hauswand, entdeckte ich einen Stein, der meinen Zwecken dienen würde. Ich schnappte ihn mir und klemmte ihn in der Tür ein, wodurch ein offener Spalt von gut zehn Zentimetern entstand. Die Jeffersons wohnten in Nummer 3, der hinteren Wohnung auf der linken Seite. Ich lauschte an der Tür und hörte nur das vertraute Dröhnen eines Fernsehapparats, aber es war schwer zu bestimmen, ob es aus dieser Wohnung oder einer anderen kam. Ich klopfte, erhielt keine Antwort, klopfte noch einmal. »Mrs Jefferson?« Schließlich schlurfende Schritte, dann eine Frauenstimme von drinnen. »Wer ist da?«
Ich hatte selbst auch ein paar Tricks drauf. Wenn man manchen Leuten gegenüber das Wort Kinderfürsorge ausspricht, kann man ewig drauf warten, dass die Tür aufgeht. Wenn man aber Amt für Soziales sagt, wovon CPS ja eine Unterabteilung ist, denken sie oft, es hätte etwas mit ihrer 11 Sozialhilfe zu tun, und dann heißt es »Sesam öffne dich«. Mrs Jefferson machte die Tür einen Spaltbreit auf, ließ aber die Kette vor. »Was wollen Sie?« »Ich würde gern kurz mit Ihnen sprechen, wenn es geht.« »Das tun Sie ja schon.« »Wir haben einen Anruf wegen Keeshiana bekommen. Geht es ihr gut?« »Wer hat angerufen?« »Ihre Mutter.« Gott sei Dank, dachte ich. Eigentlich hätte es die Schule des Mädchens tun sollen, aber die waren noch nicht dazu gekommen, als ich mich meinerseits bei ihnen gemeldet hatte, um mir die Fehlzeiten bestätigen zu lassen. Zum Glück war die Großmutter gestern auf Besuch da gewesen und hatte hinterher CPS angerufen. »Sie macht sich Sorgen um Sie beide.« Ich verlagerte mein Gewicht auf den anderen Fuß, bemühte mich um eine entspannte Körpersprache. »Gibt keinen Grund zur Sorge. Ich pass schon auf mein Kleines auf.« »Das glaube ich ohne weiteres, Mrs Jefferson, aber wenn die Mutter von jemandem anruft und sagt, sie mache sich Sorgen, dann ist es mein Job, hinzufahren und zu gucken, ob alles in Ordnung ist.« Ich zog den Parka fester um mich. »Wenn ich nur mal eben reinkommen und ein oder zwei Minuten mit Ihnen beiden sprechen könnte, danach verschwinde ich dann auch gleich wieder.« Zu meiner Rechten sprang die Tür am entgegengesetzten Ende des Flurs mit lautem Knall weit auf, und eine Gruppe von drei Männern kam herein, mit einem wüsten Wortschwall und den üblichen Posen. Alle drei waren in mehrere Schichten von Jacken gehüllt, alle drei zogen beim Gehen eine große Schau ab. Meine Hoden zogen sich in meinen 11 Körper zurück, während Mrs Jefferson mir die Tür vor der Nase zuschlug. Die Hintertür blieb offen. Der Anführer der Gang verharrte, als er mich sah, blickte sich nach hinten um und dann an mir vorbei den Flur hinunter. »Ey, Scheiß rein.« Ich nickte. »He, alles klar?«, lieferte ich eine brillante Erwiderung ab. Aber ich wandte mich ihnen zu, hielt die Stellung. »Was geht hier fürn Scheiß ab?« Sie waren herangekommen, umstellten mich, machten mächtig einen auf Einschüchterung, das Übliche. Die Augen des Mannes sahen ungesund gelb aus. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Hatte sich wahrscheinlich noch nie im Leben die Zähne geputzt. \
Ich blickte ihm in die gelben Augen. »Ist kein Scheiß«, sagte ich. Ich hielt meinen Ausweis hoch. »CPS, Leute. Kümmre mich nur um Keeshiana hier. Guck, ob alles in Ordnung ist mit ihr.« Der Anführer zögerte, warf nochmals einen Blick in die Runde. Er stieß einen neuerlichen Fluch aus, legte den Kopf schräg, und dann setzte seine Truppe sich wieder in Bewegung. Als der letzte Mann mich passierte, zog er, von seinen bisherigen Verhaltensmustern Abstand nehmend, Schleim hoch und rotzte mir vor die Füße. Ich war in Versuchung, ihnen noch einen schönen Tag zu wünschen, sagte mir aber, dass daraus vermutlich auch kein Heil erwachsen würde, und biss mir stattdessen auf die Zunge. Dann drehte ich mich um und klopfte wieder an die Tür. »Ich noch mal«, sagte ich. Die Tür öffnete sich, diesmal ohne Kette. »Sind Se irgend-so 'n Verrückter, oder was?« 12 Ich folgte ihr nach drinnen, die Tür wurde verschlossen und verriegelt. Es war eine Wohnung, wie ich sie schon dutzende Male bei ähnlichen Gelegenheiten gesehen hatte. Küche, Wohnzimmer, zwei kleine Schlafzimmer. Weder ordentlich noch sauber, schmutzige Wäsche auf den Möbeln verstreut, Papiertüten auf dem Fußboden, Pappbehälter von KFC oder McDonald's in Stapeln auf Beistelltischen und Bücherregalen, die seit einem halben Jahrhundert kein Buch mehr gesehen hatten. Sie hatte die Jalousien heruntergelassen und die meisten Fenster zusätzlich mit Vorhängen und anscheinend sogar Laken oder Bettbezügen verdeckt, sodass es fast so dunkel war wie im Flur, aber oben am Küchenfenster hatte sich eine Ecke eines Lakens gelöst, und durch diese Öffnung fiel wenigstens ein bisschen Tageslicht. »Das ist meine Kleine, Keeshiana«, sagte Mrs Jefferson. Das Kind saß am Küchentisch. Eine niedliche, sehr kleine Sechsjährige in rotem T-Shirt, die Arme auf der Tischplatte, die Hände gefaltet. Ich streckte nicht die Hand aus, wahrte Zurückhaltung, nickte nur. »Ich heiße Wyatt.« Ich zeigte ihr mein Berufslächeln, und sie nickte vorsichtig zurück. Ich wandte mich an die Mutter. »Vielleicht könnten wir alle kurz Platz nehmen?« Ich zog mir einen Stuhl heran. »Also, Letizia«, sprach ich die Mutter an. »Nennt man Sie so?« »Lettie.« »Okay, also Lettie.« Aber sie fiel mir, plötzlich wütend, ins Wort. »Meine Mutter hat kein Recht, Sie zu uns zu schicken. Ich hab nichts Schlimmes gemacht, ich beschütz nur mich und meine Kleine vor dem Bösen.« »Vor dem Bösen?« »Satan«, sagte sie.
13 »Dem Teufel?« »Genau.« »Ist er auf irgendeine bestimmte Art hinter euch her?« »Er hat's mir gesagt. Er sagt, wenn sie nach draußen geht, holt er sie sich. Er will sie unbedingt haben.« »Wann hat er Ihnen das gesagt?« »Vor ein paar Wochen. Hab ihn gesehen, wissen Se.« »Wo?« Sie warf den Kopf zurück. »Na, da draußen.« »Im Flur?« Nicken. »Und auch ganz draußen. Deshalb hab ich die Fenster abgedeckt. So kann er nicht reingucken, nicht sehen, dass sie hier ist.« Ich begriff plötzlich, wie es kam, dass die Glasscheiben neben den Hauseingängen angemalt waren. Ich langte in meinen Parka, holte eine Tüte Kartoffelchips und einen Snickers-Riegel hervor und legte sie ohne Kommentar auf den Tisch, schob sie in Keeshianas Reichweite. »Ist in Ordnung, Schätzchen«, sagte ihre Mutter, worauf das Mädchen behutsam die Chipstüte nahm, sie aufriss und eilig zu essen begann, einen Chip nach dem anderen. Ich machte mir die Ablenkung zunutze, um das Eis bei ihr zu brechen. »Na, Keeshiana, du warst also eine ganze Weile nicht mehr draußen, wie?« Sie sah ihre Mutter fragend an, erhielt ein Kopfnicken, blickte wieder zu mir. »Nein.« »Hattest gar keine Lust dazu?« Sie aß noch einen Chip, blickte diesmal auf die Tischplatte vor ihr. »Es kommt, weil ich böse bin, sagt Mama. Deswegen will er mich haben.« »Ich bete jeden Tag«, sagte Lettie. »Jede Nacht. Es wird langsam besser mit ihr.« 13 Ich war mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstand, aber ich fand, es hörte sich nicht gut an. »Wie bist du böse, Keeshiana? Du machst überhaupt keinen bösen Eindruck auf mich.« »Mama sagt es.« »Nein«, sagte Lettie. »Ich nicht. Aber Satan, der ruft sie.« »Wie macht er das? Lettie? Keeshiana?« Ich sah von einer zur anderen. Blieb schließlich an der Mutter hängen. »Lettie. Wie lange ist es jetzt her, seit Sie sie zuletzt rausgelassen haben?« Ihre Augen richteten sich auf ihr Kind. Sie schüttelte den Kopf. »Seit er hier angekommen ist.« »Der Teufel? Wann war das?« »Ich weiß es nicht genau.« »Paar Wochen? Ein Monat?« Lettie blinzelte gegen Tränen an. »Wenn sie rausgeht, kann man nichts mehr gegen ihn machen. Er nimmt sie einfach.« »Das wird er nicht«, sagte ich. »Ich war eben draußen, und da war keine Spur von ihm.«
In diesem Moment kam mit tiefem Heulen eine Windbö ums Haus gefegt, dass das Küchenfenster über uns wackelte. »Da ham Se Ihre Spur«, sagte die Mutter. »Er lacht Sie aus, wartet auf seine Chance.« »Das war der Wind, Lettie. Nichts anderes als der Wind.« »Nein! Er hält Sie zum Narren.« »Mama«, sagte Keeshiana. Jetzt hatte sie den Snickers-Riegel in der Hand. »Bitte.« Wieder nickte Lettie. Im Bestreben, der schreienden Absurdität zu entkommen, brachte ich die raue Realität ins Spiel. »Lettie«, sagte ich sanft. »Mrs Jefferson, hören Sie mir zu. Ich muss mich davon 14 überzeugen, dass Sie Keeshiana aus der Wohnung lassen, damit sie wieder zur Schule gehen kann. Verstehen Sie?« »Aber das kann ich nicht. Wirklich nicht. Das müssen Sie einsehen.« Ich wollte nicht damit drohen, dass ich ihr das Kind wegnehmen würde. Falls wir hier keine Fortschritte machten, würde es dazu noch früh genug kommen. Der Versuch, ein Kind aus der Obhut der Mutter zu entfernen, konnte stets nur der letzte Ausweg sein, und es war wirklich das Letzte, was ich anstrebte. »Ich mach Ihnen einen Vorschlag«, sagte ich. »Sie und Keeshiana ziehen sich was Warmes an, und dann gehen wir alle zusammen ein bisschen nach draußen. Lettie, wir können Keeshiana beide an die Hand nehmen. Wenn wir irgendwas sehen, was uns nicht gefällt, gehen wir sofort wieder rein. Versprochen.« Lettie runzelte die Stirn, schüttelte langsam, aber bestimmt den Kopf. Keeshiana dagegen unterbrach ihr Kauen, und ihre Augen leuchteten auf. »Du könntest mich doch so lange losmachen, Mama«, sagte sie. Eine böse Vorahnung sorgte dafür, dass sich bei diesen Worten meine Nackenhaare aufrichteten. »Wie meinst du das, Keeshiana, losmachen?« »Na ja.« Sie wand sich auf ihrem Stuhl hin und her. »So, dass ich aufstehen kann.« Frustration verdrängte jeden anderen Ausdruck auf Letties Gesicht. »Ist schon gut«, sagte sie zu ihrem Kind, dann wandte sie sich an mich, in ruhigem, ja sogar sachlichem, vernünftigem Ton. »Sie brauch nicht aufzustehen. Wenn sie aufsteht, will sie nur rausgehen.« Mein entgeisterter Blick wanderte von Lettie zu ihrer Tochter. »Keeshiana, ich möchte dich mal bitte aufstehen sehen.« Ihre Augen flogen in Panik zu ihrer Mutter. 14 Das war mein Signal. Mit übertriebener Langsamkeit schob ich meinen Stuhl zurück, stand auf und machte einen Ausfallschritt an Keeshianas Tischende. Als ich ihren Stuhl unter dem Tisch herauszog, verschlug es mir nahezu den
Atem. Eine Wäscheleine, wohl ein dutzend Mal um ihre Hüften und Beine geschlungen, hielt sie an ihrem Platz fest. Devin Juhle, Jugendfreund und jetzt Kriminalbeamter, tauchte an meiner Seite auf, als ich aus dem verdunkelten Hausflur auf den hellen und windgepeitschten Pfad aus festgetretener Erde und Glas trat, der zur Straße führte. Ich trug Keeshiana in meinen Armen, eine Decke um ihre Beine gewickelt, ihre Arme um meinen Hals geschlungen. »Was machst du da?«, fragte Juhle. »Hol sie hier weg. Ihre Mutter hatte sie festgebunden.« »Und dann hat sie zugelassen, dass du sie einfach mitnimmst?« »Ich hab ihr die Situation erklärt, hab ihr die entsprechenden Formulare gegeben.« »Trotzdem. Wenn dich jemand sieht oder wenn sie hinterherkommt und anfängt zu schreien, dann werden die Leute hier...« »Die Mutter wird lernen, damit zu leben. Was ich hier mache, das ist mein Beruf, okay? Es gibt da so Techniken.« Ich ging schnell, atmete schwer. »Hast du ein Auto in der Nähe?«, fragte ich. »Meins ist drei Häuserblocks entfernt. War 'n Fehler.« »Yeah, aber wenn irgendjemand rauskommt...« »Deswegen beeil ich mich ja so, Dev«, schnitt ich ihm scharf das Wort ab. Ich deutete auf Keeshiana. »Ich mach mir Sorgen um sie.« 15 »Mein Wagen ist gleich hier um die Ecke«, sagte Juhle und ging uns im Laufschritt voran.
3 (20 00 )
Vizedirektor Wilson Mayhew hinterließ eine Nachricht an meinem Arbeitsplatz, in der er mich höflich bat, ihn baldmöglichst in seinem Büro aufzusuchen. Es war nichts Bedenkliches an dieser Einbestellung, abgesehen davon, dass sie den ersten persönlichen Kontakt mit Mayhew bedeutete, seit wir einander bei der Weihnachtsfeier vor zwei Jahren herzlich begrüßt hatten. Damals hatte er mich gefragt, den Finger immer am Puls derer, denen er vorstand, welches denn meine Beziehung zu CPS sei. Da ich seinerzeit erst seit acht Jahren bei der Abteilung arbeitete und Mayhew vor etwa fünf Jahren dazu gestoßen war, teilte ich ihm mit, es möge bitte unter uns bleiben, aber ich sei in Wirklichkeit vom FBI und ermittele verdeckt, um den Zuhälter zu enttarnen, der aus CPS heraus einen Prostitutionsring mit illegalen ausländischen Kindern betreibe. Er habe sicherlich schon davon gehört. Danach wusste er immerhin, wer ich war. So stand ich also an diesem Oktobernachmittag unversehens vor dem Schreibtisch des Vizedirektors im dritten Stock des Bürogebäudes in der Otis Avenue. Während Möblierung und Ausstattung der übrigen CPS-Büros mit
ihrem Schwergewicht auf Grau- und Grüntönen sowie metallischen Oberflächen als Musterbeispiele für triste Bürokratieästhetik hätten dienen können, ließ Mayhews Arbeitsplatz, genau wie der Mann selbst, so etwas wie Stil, 16 wenn nicht gar Geschmack erkennen. Der Schreibtisch war ein mächtiges Rotholzmonstrum, poliert und asymmetrisch, ohne sichtbare Schubladen und mit einer Arbeitsfläche, die gerade mal groß genug war für ein Telefon und einen fast leeren Kasten für Ein- und Ausgänge. Keine Spur von einem Computer oder irgendeiner Art von Workstation. Er hatte drei KeaneGemälde - großäugige, den Tränen nahe Kinder (Sie verstehen ?) - rahmen und, auf die freien Wandflächen verteilt, aufhängen lassen. Ein Teakholzschrank schmiegte sich an die Wand zu meiner Rechten, gegenüber dem Fenster. Er war von einer großen Häkeldecke bedeckt, auf der ein anscheinend originaler silberner russischer Samowar stand. Die Bücherregale hinter Mayhew beherbergten nur wenige Bücher, dafür aber silbern gerahmte Fotografien von ihm zusammen mit den letzten drei Bürgermeistern, dem Polizeichef, Gouverneur Gray Davis, Boz Scaggs, Danielle Steele und ein paar anderen Prominenten, die ich nicht identifizieren konnte. Das oberste Regal war ausschließlich Lladro-Keramik gewidmet. Sehr anrührend. Mayhew erhob sich. Sein Armani-Anzug konnte die etwa vierzig überschüssigen Pfunde, die er mit sich herumschleppte, nicht verbergen. Sein rundes, ein wenig engelhaftes Gesicht glänzte leicht über dem Doppelkinn, fast als hätte er sich etwas allzu gründlich gewaschen. Die hohe Stirn wurde nicht unauffälliger durch seine Entscheidung, das, was er an Haaren besaß, streng nach hinten zu kämmen. Wahrscheinlich hätte ihn nicht mal seine eigene Mutter als attraktiv bezeichnet, dennoch verströmte er ein gesundes Selbstbewusstsein, das sich von der Ausübung von Macht nährte. Er war der fette ältere Weiße, der es geschafft hatte, und wenn dir sein Aussehen nicht gefiel, dann konntest du ihn mal. 16 Er stemmte seine Körpermasse aus dem Stuhl und langte über den Schreibtisch, um mir die Hand zu schütteln und mir zu danken, dass ich so umgehend gekommen war. Er saß schon wieder, als ich meine Antwort formulierte. »Ist doch selbstverständlich. Was liegt denn an? Gibt's ein Problem?« »Nein, nein. Überhaupt kein Problem. Eigentlich eher das Gegenteil.« »Großartig.« Ich wartete. »Also, wie lange sind Sie schon auf der Straße tätig, Fälle betreuen?« »Acht Jahre, Sir.« Er stieß einen tiefen Pfiff aus. »Genau, wie ich gehört habe. Ist Ihnen klar, dass Sie damit der dienstälteste Sozialbetreuer da unten sind?«
»Hatte ich noch gar nicht drüber nachgedacht.« »Und die ganze Zeit hatten Sie nichts als glänzende Beurteilungen.« Ich zuckte die Achseln. »Die Arbeit liegt mir am Herzen, Sir.« »Offensichtlich. Offensichtlich.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände vor seinem Bauch. »Der springende Punkt ist der, dass Sie jede Menge Erfahrung aus erster Hand haben, die Sie weitergeben könnten an junge Sozialarbeiter, die neu in die Abteilung kommen.« »Ich helfe gern, wenn ich kann.« »Ja, nun... ich dachte mir, dass wir diese Arbeitsbeziehung vielleicht ein bisschen formeller gestalten möchten.« Er lehnte sich vor, seine kleinen Augen bohrten sich in meine, eine Art Lächeln brach sich Bahn. »Klipp und klar gefragt, Wyatt: Haben Sie je erwogen, in die administrative Ebene aufzusteigen?« »Ich habe mich nie beworben, nein, Sir.« 17 »Warum nicht?« Ich überlegte einen Moment. »Ich denke, ich fühl mich einfach wohl im Außendienst.« »Sehr lobenswert. Immer da, wo die Action ist, wie?« »So ungefähr.« »Wie denken Sie über eine Beförderung?« Wieder nahm ich mir etwas Zeit für die Antwort. Anscheinend erweckte es den Eindruck, als würde ich mich im Zimmer umsehen und seine Bilder und Trophäen studieren. Er interpretierte es umstandslos als Neid. »Bei Ihrer Traumbilanz bisher«, sagte er, »ist es nicht ausgeschlossen, dass Sie in ein paar Jahren hier an meiner Stelle sitzen.« Oh, sei stille, mein Herz. Außerdem war das eine unverfrorene Lüge. Mayhew selbst hatte keinerlei praktische Erfahrungen. Ich war mir nicht mal sicher, ob er überhaupt seinen Magister in Sozialarbeit gemacht hatte, was für uns Straßenleute Voraussetzung war. Praktische Betreuungsarbeit war aber nicht Voraussetzung, um Vizedirektor zu werden. Sondern politische Verbindungen. Mayhew war der Bruder von Chrissa Mayhew, einer Stadträtin. Ich hatte mit dergleichen nichts zu tun und wollte es auch nicht. Aber wir waren freundlich miteinander, und ich sah keinen Grund, etwas daran zu ändern. »Nun, das ist sehr schmeichelhaft, dass Sie mich im Auge haben ...« Er fuhr dazwischen, bevor ich glattweg ablehnen konnte. »Es ist ein bedeutender Unterschied im Gehalt, wissen Sie.« Ich schüttelte den Kopf. »Darum geht's nicht.« »Worum denn dann?«
»Wie ich schon sagte. Ich schätze, ich bin nicht unbedingt der Bürotyp. Ich geh gern raus zu den Leuten.« 18 Mayhew lehnte sich wieder zurück, hing nachlässig in seinem Sessel, und sein Gesicht wirkte plötzlich verschlossen. »Und Sie gehen oft allein.« Es war keine Frage. Trotzdem sagte ich: »Ja, Sir, das stimmt.« »Wie kommt's?« Weil viele meiner Kollegen, die Sie eingestellt haben, völlig unmotiviert sind, Sie Idiot. Aber ich sagte: »Manchmal ist es schwierig, die Termine zu koordinieren.« »Und halten Sie das für besonders effizient?« »Ein unerfahrener Partner ist vor Ort manchmal eher hinderlich als hilfreich.« »Aber wie sollen sie die unerlässliche praktische Erfahrung denn sammeln, wenn die erfahrenen Sozialarbeiter nicht mit ihnen rausgehen wollen?« »Nun ... das ist keine Frage des Wollens. Einige von den Leuten im ersten Stock legen Wert darauf, ihre Berichte gründlich zu schreiben, und sehen das als Priorität an. Und manchmal fesselt sie das an ihre Schreibtische.« Wir ließen die Sphäre der falschen Freundlichkeit jetzt rasch hinter uns. »Was die Effizienz betrifft, so sagten Sie, dass meine Leistungsbilanz recht gut ausfalle.« »Bei den Einsätzen selbst, ja. Aber wir haben hier ein Schiff zu steuern, und damit wir es auf Kurs halten, sind wir darauf angewiesen, dass alle Matrosen kooperieren.« Der alte Seebär in mir versäumte es, auf die Analogie anzuspringen. Dann stellen Sie Leute ein, die willig sind, die Arbeit zu tun. Aber ich rang mir ein hoffnungsvolles Lächeln ab. »Ich würde doch meinen, dass ich kooperativ bin, Sir.« Mayhew kaute ausgiebig auf seiner dünnen Unterlippe herum. Schwer seufzend, mit offenbar tiefem Bedauern, 18 sagte er: »Wir haben da eine Reihe von viel versprechenden jungen Leuten, die wir gern hier beschäftigen würden, Wyatt, und unter uns gesagt, die könnten mit einem sehr viel niedrigeren Gehalt einsteigen, als Sie im Moment bekommen. Selbst wenn Sie in die Verwaltung aufrücken würden, würde die Auswirkung auf unser Budget positiv sein, wenn wir einige von diesen Leuten einstellen könnten.« Jetzt war es also auf einmal eine Haushaltsfrage. Mayhew zog alle Register, aber ich begriff plötzlich, was eigentlich dahinter stand: Er hatte dem Sohn oder der Tochter eines seiner Kumpanen einen Job versprochen - meinen Job. »Wen würde ich denn ersetzen?«, fragte ich. »In der Administration ?« »Darlene ist schon seit fünf Monaten im Mutterschaftsurlaub«, sagte er. »Zwei Monate mehr, als sie beantragt hatte. Ich glaube nicht, dass sie wiederkommt.«
»Bekomme ich ein bisschen Bedenkzeit?« »Klar.« Das Glanzgesicht strahlte. »Nehmen Sie sich ein paar Tage Zeit, Wyatt, so viel Zeit, wie Sie brauchen.« Ich sagte nein. Zwei Monate nach meiner Ablehnung verkündete Mayhew eine Umstrukturierung der Abteilung. Fortan wurden die drei Sozialarbeiter mit der größten Erfahrung -das betraf mich, Bettina Keck und einen alten Hasen namens Lionel Whitman, der in den zehn Jahren seiner Tätigkeit vor allem durch chronische Abwesenheit geglänzt hatte - dazu abgestellt, die Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit von Missbrauchsmeldungen zu überprüfen und gegebenenfalls Betreuer für die einzelnen Fälle einzuteilen. Das war im Wesentlichen die Aufgabe, die unsere Verwaltungsleute der ersten Ebene bisher erfüllt hatten, und es bedeutete einen 19 Fulltimejob am Schreibtisch, diesmal allerdings nicht mit einer Gehaltserhöhung verbunden. Natürlich war jeder tatsächliche Fall von Kindsmissbrauch ernst zu nehmen, aber es war nicht jede Meldung eines Missbrauchs berechtigt. In meiner Anfangszeit war ich überrascht über die Zahl der bei CPS eingehenden Beschwerden, die sich als unzutreffend erwiesen - erhoben von Vätern, die der Mutter ihres Kindes Schwierigkeiten machen wollten, oder von Nachbarn, aus Rache an anderen Nachbarn, die nachts zu viel Lärm machten, oder von einer geschiedenen Frau, die ihren Ex schikanieren wollte, der die Kinder übers Wochenende haben durfte. Solche und Dutzende von vergleichbaren Fällen waren nichts als die üblichen hässlichen, dummen und nichtsnutzigen Manipulationen, in denen die Kinder als Marionetten im Spiel der Erwachsenen herhalten mussten. Indem er sich auf die nicht zu leugnende Tatsache berief, dass wir chronisch unterbesetzt waren, von Haushaltskürzungen bedrängt und von der schieren Masse der Klagen und Beschwerden überrollt wurden, bestimmte Mayhew, dass die erfahrenen Fallbetreuer am besten dafür geeignet waren, in dieser Masse die Spreu vom Weizen zu trennen und dadurch die Leistungsfähigkeit der CPS im Ganzen zu verbessern. Mayhews Plan war so offenkundig wie simpel. Aus seiner Sicht war ich nicht teamfähig, Bettina eine Kandidatin für die Rehabilitation und Lionel schlicht nicht zu gebrauchen. Wenn er mich aus dem Außendienst fern halten konnte, würde ich wahrscheinlich bald kündigen. Und wenn ich nicht mehr da war, die Stellung zu halten, würden Bettina und Lionel irgendwann, wenn nicht schon sehr bald, von der Flut der unberechtigten Klagen hinweggeschwemmt werden, und dann wäre nicht nur eine, sondern gleich drei Sozi 19
alarbeiterstellen frei geworden. Mayhew könnte somit drei seiner reichen Freunde glücklich machen und sich vielleicht ein neues Auto leisten, mindestens aber einen weiteren silbernen Samowar oder einen Fototermin mit einer berühmten Persönlichkeit. Wirklich aufgebracht jetzt, wollte ich mich aber auf gar keinen Fall so ohne weiteres aus einem Tätigkeitsfeld entfernen lassen, an dem mir viel lag. Ich rechnete mir aus, dass ich Mayhew würde aussitzen können. Er brauchte gute, solide Sozialarbeiter, anderenfalls würde er einen schlechten Eindruck nach außen machen. Ich rechnete mir aus, dass es ein Geduldsspiel werden würde und ich nur durchzuhalten brauchte. Irgendwann würden sie mich wieder in die Praxis loslassen müssen. Und ich hätte gewonnen. Irrtum. An einem späten Freitagnachmittag im Februar - ich saß allein an meinem Arbeitsplatz, nachdem sowohl Bettina als auch Lionel sich unauffällig verzogen hatten - fischte ich aus dem Haufen von Beschwerden, die noch vor dem Wochenende zu beurteilen waren, eine offizielle Meldung aus der Notaufnahme des Allgemeinen Krankenhauses von San Francisco. Miguel Nunoz, ein fünfjähriger hispanischer Junge, war kurz vor zwei Uhr an diesem Nachmittag mit einem Armbruch eingeliefert worden, den das Krankenhauspersonal als ungewöhnlich einstufte. Ich rief in der Aufnahme an und sprach mit einem Dr. Turner, der festgestellt hatte, dass dies bereits die dritte Einlieferung des Jungen - und zwar jedes Mal in ein anderes Krankenhaus war, seit dessen Mutter mit einem neuen Freund zusammenlebte. Sie hatten den Arm eingegipst, und die Mutter wartete in diesem Moment schon draußen, um Miguel wieder 20 mit nach Hause zu nehmen, aber Turner war der Ansicht, jemand von CPS solle mal hinkommen, um sowohl mit der Mutter als auch mit dem Sohn zu sprechen und die Situation zu beurteilen, bevor er den Jungen guten Gewissens in die Obhut der Mutter entlassen könne. Ich war sehr geneigt, ihm Recht zu geben. Willa Cardoza und Jim Freed fanden sich gerade zur Spätschicht ein. Innerhalb der letzten zwei Jahre zur Abteilung gestoßen, mit anderen Worten: Leute von Mayhew, waren sie praktisch unzertrennlich. Außer in rein beruflichen Angelegenheiten hatte ich bislang mit keinem von ihnen zu tun gehabt, und auch wenn sie nicht gerade einen Übereifer an den Tag legten, erschienen sie doch jeden Tag zur Arbeit und machten einen ganz annehmbaren Eindruck. Jedenfalls zogen sie offenbar los, wenn ein Einsatz kam, lieferten anständige Berichte ab, taten das Nötigste. Zu dem Zeitpunkt wusste ich auch noch nicht - ich war kein offizieller Verwaltungsbeamter und hatte keinen Zugang zu den Personalakten -, dass keiner von beiden bis dato
auf den Abzug hatte drücken müssen, soll heißen, ein Kind aus der Obhut der Eltern entfernt hatte. Aber wie auch immer, sie waren das Beste, um nicht zu sagen: das Einzige, was momentan zur Verfügung stand. Meine Aufgabe war es, die Stichhaltigkeit von Beschwerden zu beurteilen, und diese hier war zweifellos so real wie ein Herzinfarkt. Also gab ich ihnen einen schnellen Überblick über den Fall und sagte ihnen, sie sollten sich sputen, die Mutter sitze bereits im Warteraum, um ihren Jungen mit nach Hause zu nehmen, und Dr. Turner würde sie nicht ewig hinhalten können. Als ich, nachdem sie gegangen waren, meinen Beschwerdestapel durchgearbeitet hatte, war es fast sieben Uhr. Noch 21 immer beunruhigt über die ernste Natur des Falls, schluckte ich meinen Ärger hinunter und ging nach oben, um zu sehen, ob Mayhew noch in seinem Büro war. Seine Sekretärin war schon nach Hause gegangen, aber er war da, einen gut gefüllten Cognacschwenker in der Hand, und telefonierte. Als er mich in der Tür sah, brachte er eine hastige Entschuldigung vor und legte auf. Es war meine erste Audienz bei ihm, seit ich die Beförderung abgelehnt hatte. »Ja, Hunt, was gibt's?« Seit jenem Tag hieß ich nur noch Hunt, nicht mehr Wyatt. Ich stellte ihm Miguels Fall vor, teilte ihm mit, wen ich darauf angesetzt hatte, und sagte, dass dies ein Fall sei, den er vielleicht übers Wochenende im Auge behalten wolle, um die weitere Entwicklung zu verfolgen. Er lobte mein Verantwortungsbewusstsein, dankte mir, dass ich ihn auf diesen schwerwiegenden Fall aufmerksam gemacht hätte, und erklärte, dass er meiner Empfehlung ganz sicher folgen werde. Ms Nunoz nahm Miguel am Freitagabend mit nach Hause. Am Sonntag wurde er erneut ins Krankenhaus gebracht, diesmal jedoch mit einer schweren Gehirnerschütterung, von der er sich nicht mehr erholte. Bei der gerichtlichen Untersuchung sagte Dr. Turner aus, dass er mit mir gesprochen und ich ihm versichert hätte, CPS würde binnen einer Stunde, höchstens zwei, jemanden zum Krankenhaus schicken. Dass aber niemand aus dem Amt aufgetaucht sei. Jeweils einzeln befragt, sagten Cardoza und Freed übereinstimmend aus, dass ich ihnen den Fall zwar übergeben, aber kein besonderes Gewicht darauf gelegt hätte. In jedem Fall hätten sie nichts Schriftliches von mir bekommen (angesichts der Eile, mit der ich sie losgeschickt hatte, war 21 dies immerhin zutreffend). Sie hätten zuerst einen anderen Hausbesuch gemacht - sie konnten Adresse und Fallnummer als Beleg vorlegen - und seien im Krankenhaus erst eingetroffen, als Ms Nunoz schon längst mit ihrem Sohn nach Hause gegangen war. In der festen Annahme, dass Dr. Turner den
Jungen niemals entlassen hätte, wenn er ihn in Gefahr geglaubt hätte, seien sie zu ihrem nächsten Einsatz aufgebrochen und hätten einen vorläufigen Vermerk zum Fall Nunoz für den Montagmorgen hinterlassen. Während ich genau vor ihm saß in dem kleinen Zimmer, wo die Disziplinaranhörung stattfand, bestritt Wilson Mayhew ruhig und nachdrücklich, dass ich, in welchem Zusammenhang auch immer, den fraglichen Fall ihm gegenüber je erwähnt hätte.
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Als alle behördlichen Anhörungen und Berufungsverhandlungen abgeschlossen waren, blieb als Ergebnis unterm Strich, dass ich bei CPS bleiben durfte, sofern ich einen formellen Verweis akzeptierte, der obendrein meiner Personalakte hinzugefügt werden sollte. In dieser Akte fand sich ansonsten nichts auch nur annähernd Negatives, und ich hatte mir im Fall Nunoz keinerlei Vorwürfe zu machen. Keine Macht auf Erden sollte mich dazu bringen, auch nur einen Teil der Verantwortung für Mayhews Verrat und die Inkompetenz und Unehrlichkeit seiner Proteges zu übernehmen. Ich begriff, dass der Preis für meine Weigerung, den Verweis zu akzeptieren, meine Stelle bei CPS war. Dann sollte es eben so sein. 22 Seit zehn Jahren wohnte ich in einem mietpreisgebundenen scheunengroßen Lagerhaus südlich der Market Street, praktisch im Schatten des Freeway 101. Bei meinem Einzug war es ein leerer Raum mit einer siebeneinhalb Meter hohen Decke gewesen. Ich zog Trockenmauern ein, um so ein gutes Drittel der zweihundertachtzig Quadratmeter abzugrenzen. Auf dieser Fläche verlegte ich Industrieteppichboden und teilte sie anschließend noch einmal in drei getrennte Bereiche auf - eine Wohnküche, mein Schlafzimmer und das Bad. Fünf Monate nach meinem Abgang lag ich auf meinem Futon und las die letzten Seiten von The Last Lion, dem großen zweiten Band von Manchesters Winston-Churchill-Biografie. Als ich fertig war, legte ich das Buch beiseite und sann noch ein wenig über das Leben dieses Mannes nach. Ein brillanter militärischer Führer war er gewesen, ein faszinierender Redner, ein großartiger Aquarellmaler, ein nobelpreisgekrönter Autor, Premierminister von England und - o ja - Retter der westlichen Welt. Seine persönlichen Prüfungen zwischen den Weltkriegen, als er von Feinden wie Freunden diskreditiert und diffamiert wurde, ließen mich meine verlorene Auseinandersetzung mit Mayhew und CPS etwas nüchterner betrachten. Womit nicht gesagt sein soll, dass ich etwa keinen Groll hegte. Im Allgemeinen reagierte ich meine Wut ab, indem ich fast jeden Tag für ein paar Stunden zum Windsurfen nach Coyote Point fuhr. Außerdem spielte ich in zwei Basketballmannschaften mit, wo sehr viel mit den Ellbogen gearbeitet wurde. Ich joggte auf dem Embarcadero. Drehte meine Anlage auf, bis fast die
Fenster aus dem Lagerhaus fielen. Mehrmals im Monat traf ich mich mit Devin Juhle bei Jackson's Arms in South City und schoss ein paar hun 23 dert Schuss mit der 9-mm-Waffe - als Ziel stellte ich mir Wilson Mayhews Kopf vor. Amy Wu, eine in der Stadt tätige sympathische Anwältin, die ich durch die Arbeit für CPS kennen gelernt hatte, war eine gute platonische Trinkfreundin mit einem sicheren Händchen dafür, mein Temperament im Zaum zu halten, das sich, von jeher etwas hitzig, weiß Gott nicht abgekühlt hatte, seit ich nicht mehr tätig war. Aber wie gesagt, ich arbeitete daran. Ich stand auf und überprüfte den Inhalt meines Kühlschranks. Wie ich so barfuß in meiner Küche stand, spürte ich Schmutz unter den Füßen, und mir wurde klar, dass ich meine Räumlichkeiten lange keiner umfassenden Reinigung mehr unterzogen hatte. Ohne viel darüber nachzudenken, schnappte ich mir einen Mop. Nachdem ich den Boden gewischt hatte, leerte ich meinen Wäschekorb in die hinter dem Schlafzimmer stehende Waschmaschine und ließ den Vollwaschgang laufen. Ich wischte die Oberflächen in Küche und Bad ab, dann forstete ich in allen Ecken nach Spinnweben und Staub. Als Nächstes setzte ich den Geschirrspüler in Betrieb, in dem sich das nur kurz abgespülte Geschirr von etwa einer Woche drängte - in der Hauptsache Kaffeebecher, ein paar Küchengeräte, kleine Teller. Inzwischen war ich ausgezogen, bettfertig. Meine Klamotten polterten noch im Trockner herum. Arbeitsflächen und Fußböden waren so sauber, dass man von ihnen essen konnte. Der Geschirrspüler gab Ruhe. Mein Schlafzimmer hatte, ebenso wie das Wohnzimmer, ganz oben in der Wand Fenster zur Brannan Street hinaus, sodass meine Wohnung fast nie völlig dunkel war. Wenn ich, wie jetzt, alle meine eigenen Lichter ausgemacht hatte, blieb es in den Räumen 23 und im ganzen Lagerhaus noch so hell, als würde der Mond hereinscheinen. Das Telefon klingelte, und ich ging ran. »French Laundry«, sagte ich. »Falls da wirklich das French Laundry ist«, sagte eine weibliche Stimme, »würde ich gern einen Tisch reservieren.« »Tut mir Leid. Wir nehmen keine Reservierungen an.« »Ich dachte, wenn man genau zwei Monate vor dem Tag anruft, an dem man essen möchte, genau um neun Uhr morgens, dann könnte man eine bekommen.« »Das würde nur für den Fall gelten, dass noch ein Tisch frei und die Leitung nicht besetzt wäre, was sie aber immer ist.« »Im Moment aber nicht.« »Nein, aber es ist nicht neun Uhr morgens. Also, bedaure.« »Gibt es irgendeine Möglichkeit, jetzt eine Reservierung zu bekommen?«
»Lauten die ersten drei Buchstaben Ihres Nachnamens MRL?« »Es gibt niemanden, dessen Nachname mit den Buchstaben MRL anfängt. Außerdem hat mein Nachname insgesamt nur zwei Buchstaben.« »Bedaure, dann können wir Sie leider nicht mehr einschieben.« »Sie nehmen keine Leute, deren Nachname nur zwei Buchstaben hat?« »Nur ganz selten.« Aber allmählich war das Spiel ausgereizt. Ich fragte Wu, ob sie jemanden suche, der mit ihr noch einen trinken gehen wollte. »Fürchte nicht. Bin bei der Arbeit.« »Jetzt noch?« Ich blickte auf die Uhr. »Um halb elf?« 24 »Bezahlte Arbeitsstunden in Ehren kann niemand verwehren, Wyatt. Was muss, das muss.« Sie machte eine kleine Pause. »Willst du mal raten, wessen Name gerade auf meinem Schreibtisch gelandet ist?« »Winston Churchill.« »Guter Tipp, aber knapp daneben. Wilson Mayhew. Kommt dir bekannt vor?« »Vage.« »Irgendwas gehört von ihm in letzter Zeit?« Ich schaffte es nicht ganz, meine Erregung zu verbergen. »Was weißt du, Wu? Sag mir, dass es schlechte Nachrichten sind. Er ist nicht tot, oder? Das wäre zu viel Gerechtigkeit auf einmal.« »Nein, er ist nicht tot. Aber offenbar ist er krank. Jedenfalls sagt er, dass er krank sei.« »Was für eine Krankheit?« »Fürchterliche, umfassend schwächende, arbeitsbedingte, durch Stress verursachte Rückenschmerzen.« »Wow. Das sind 'ne ganze Menge Adjektive.« »Stimmt.« »Aber was haben sie alle zu bedeuten? Dass es irgendwie nichts Körperliches ist?« »Nein. Der Schmerz ist echter Schmerz, wenn er ihn denn tatsächlich spürt. Aber die genaue körperliche Diagnose kann sich schwierig gestalten.« »Wie hast du das mit Mayhew denn herausgefunden? Ist er euer Mandant oder was?« »Nein. Aber einer unserer größten Einzelkunden ist die Kalifornische Krankenversicherungsagentur, die für Entschädigungsleistungen an Staatsbedienstete zuständig ist. Und wir haben auch eine Abteilung, die allgemein darauf spezialisiert ist, medizinischen Betrug aufzudecken.« 24 »Okay.« »Hast du schon mal von der Chefkrankheit gehört?« »Nein. Leidet Mayhew daran?« Die Frage ließ sie innehalten. »Das ist vielleicht gar kein schlechter Tipp. Weißt du, worum es sich handelt?«
Ich hatte keine Ahnung, also klärte sie mich auf. Offenbar hatte jeder der letzten sechs Direktoren der Highwaypolizei in den letzten Monaten seiner jeweiligen Amtszeit einen Antrag auf Berufsunfähigkeit gestellt, und jetzt bezog jeder Einzelne von ihnen eine entsprechende Rente von über einhunderttausend Dollar pro Jahr, und zwar zusätzlich zu seiner regulären Pension. Einer der Exchefs, fuhr sie fort, der nicht mehr bei der Polizei arbeiten konnte, weil man bei ihm eine stressbedingte Hypertonie diagnostiziert hatte, war später als Leiter der Sicherheitsabteilung beim San Francisco International Airport eingestiegen, ein Posten, der ihm gut einhundertfünfzigtausend Dollar pro Jahr eintrug. Wenn man seine volle Pension von der Polizei, die Erwerbsunfähigkeitsrente und das neue Gehalt zusammenrechnete, dann verdiente dieser schwer arbeitende Beamte annähernd vierhunderttausend Dollar, das meiste davon steuerfrei, alles von Steuergeldern bezahlt. »Sauber hingedeichselt«, sagte ich. »Ja, hervorragend«, erwiderte sie. »Und wir sind jetzt engagiert worden, dafür zu sorgen, dass er die Möglichkeit bekommt, das alles wieder abzugeben oder zumindest den Erwerbsunfähigkeitsteil.« »Und wie stellt ihr das an?« »Juristische Winkelzüge, hauptsächlich. Wir lassen Zeugen aussagen, die mit dem Mann arbeiten oder gearbeitet haben, lassen uns Krankenakten vorlegen, verlangen Zweituntersuchungen durch unsere eigenen Ärzte, überprüfen 25 seine medikamentöse Behandlung und so weiter. Aber wir setzen auch private Ermittler ein, die diesen Leuten durch die Gegend folgen und gucken, ob sie zum Beispiel vergessen, ihre Halskrause beim Wasserski zu tragen, weil sie glauben, es kriegt keiner mit. Oder, wie im Falle unseres Flugsicherheitschefs, ob er immer noch zusammen mit seinem Sohn dem besonders stressarmen Sport des Bungee-jumpings nachgeht.« »Du beliebst zu scherzen.« »Auf frischer Tat haben wir ihn noch nicht ertappt, aber wir haben Hörensagenzeugen. Auf die eine oder andere Weise werden wir Gewissheit bekommen. Aber der springende Punkt - weswegen ich dich angerufen habe ist nicht Mr Flughafensicherheit. Sondern Wilson Mayhew.« »Ihr überprüft seine Anspruchsberechtigung.« »Schlaues Kerlchen«, sagte sie. »Wir haben heute Nachmittag den neuesten Stapel Papierkram von CalMed reinbekommen, und ich war gerade dabei, die Ansprüche mit der Signalflagge mal pro forma durchzugehen, da bin ich auf Mayhews Namen gestoßen, an den ich mich von unseren vielen faszinierenden Gesprächen her erinnerte.« »Nur recht und billig, Arnes. Was ist also passiert? Wilson wurde rot markiert?«
»In der Tat. Aber mach dir noch keine verfrühten Hoffnungen, Wyatt. Das wird ganz automatisch bei allen Anträgen auf dauerhafte Vollerwerbsuntauglichkeit gemacht. Und außerdem bei allen Ansprüchen auf mehr als hundert Riesen pro Jahr. Hinzu kommt, dass Mayhew eine stressbedingte, unspezifische Krankheit angibt - Rückenschmerzen sind der Klassiker -, für die es keine unmittelbaren und augenscheinlichen körperlichen Ursachen gibt. Er ist ja zum Beispiel nicht in einen Fahrstuhlschacht gefallen und hat 26 sich den Rücken gebrochen. Er hat auch keinen Bandscheibenvorfall oder irgendwas, was man durch Röntgen oder Magnetresonanzspektroskopie nachweisen könnte. Anscheinend hat er bei der Arbeit einem seiner Untergebenen geholfen, irgendwas hochzuheben, und da ist es ihm ganz schwer in den Rücken geschossen. Am nächsten Morgen kam er nicht mal mehr aus dem Bett, allerdings wird er inzwischen wohl halb ambulant behandelt.« Sie holte Luft. »Er wird also aus all diesen Gründen rot markiert.« »Er lügt.« »Kann schon sein. Obwohl ich schon Anträge dieser Art gesehen habe, die sich als berechtigt erwiesen.« »Ich kenn den Mann«, sagte ich, »und es ist ausgeschlossen, dass er jemandem geholfen hat, etwas zu heben, das schwerer war als eine Büroklammer.« Sie sagte: »Möchtest du versuchen, das zu beweisen?« »Wie meinst du?« »Ich meine, willst du uns helfen zu prüfen, ob sein Anspruch berechtigt ist?« »Wie würde ich das tun?« »Wie immer es dir möglich ist.« Ein Loch tat sich in der Unterhaltung auf. Schließlich fand ich meine Stimme wieder. »Habt ihr nicht einen Haufen von Privatdetektiven, die ihr für solche Arbeiten einsetzt?« »Nicht gerade einen Haufen, aber einige schon, ja.« »Dann versteh ich nicht. Warum ich?« »Na ja, Privatdetektive mit Zulassung und Waffenschein sind teuer, jedenfalls, wenn sie was taugen. In der Regel stellt die Firma schon mal Voruntersuchungen an, bevor wir uns entschließen, einen unserer Detektive auf den Fall anzusetzen. Normalerweise möchten wir schon gewisse An 26 haltspunkte für einen Betrugsverdacht haben, bevor wir jemanden mit dem Nachweis betrauen. Anderenfalls würden wir in unseren sämtlichen Anträgen herumwühlen und müssten voll in das Untersuchungsgeschäft einsteigen, und das wollen wir nicht. Wir sind eine Anwaltskanzlei.« Ich ließ mir das durch den Kopf gehen. »Das beantwortet die allgemeine Frage nach dem Warum, Amy. Aber nicht den >Warum - ich?<-Teil.«
»Nun, nimm's mir nicht übel, falls ich dir zu nahe trete, aber du hast selbst gesagt, dass du dich langsam wieder nach einer Arbeit umsehen wolltest. Ich dachte, du wärst in diesem Fall wahrscheinlich besonders motiviert, und außerdem tut es dir vielleicht sogar gut. Wie auch immer, wenn die Sache seinen normalen Gang geht, wird die Firma in den nächsten paar Wochen eine hübsche Stange Geld dafür ausgeben, mehr über Mayhews Zustand zu erfahren. Am Ende beschließen wir vielleicht, ihn beschatten zu lassen, was die Firma noch mehr Geld kosten wird, egal, was dabei herauskommt. Aber vielleicht tun wir's auch nicht. Das hängt von den ersten Ergebnissen ab.« »Du willst, dass ich der Sache nachgehe.« Sie machte eine Pause. »Ich muss klarstellen, dass ich nicht offiziell für die Firma spreche, Wyatt. Ich engagiere dich nicht oder stelle dir auch nur einen Job in Aussicht. Ich sage nur, dass ich in diesem Fall bereit bin, mal einen etwas anderen Weg als sonst zu gehen, weil es der Firma beträchtliche Geldmittel und Arbeitsstunden ersparen könnte. Falls du mir sagst, dass du versuchen willst, handfeste Belege dafür zu finden, dass Mayhew Betrugsabsichten verfolgt, könnte ich mich dazu verstehen, die einleitenden rechtlichen Schritte vorläufig zurückzustellen.« »Und falls ich etwas Eindeutiges finde?« 27 »In diesem Fall könnten wir uns über die Möglichkeit einer Honorierung unterhalten.« »Ich fang morgen an.« »Wow. Großartig. Einfach so? Bist du sicher?« »Ja.« »Du wirst es dir nicht anders überlegen?« »Nein.« »Na gut.« Sie machte eine Pause. »Du solltest versuchen, ein bisschen entschiedener zu formulieren, weißt du. Niemand mag Leute, die immer drum rumreden.« »Ich arbeite dran«, sagte ich. »Inzwischen kannst du mir schon mal sagen, was ich wissen muss.« Im Jahr 1989 machte ich meinen Abschluss an der University of San Francisco und ging dann, weil ich erstens nach Lebenserfahrung dürstete und mir zweitens nichts Bessres einfiel, was ich mit meinem Leben anstellen sollte, zur Armee, um etwas von der Welt zu sehen. Kurz danach wurde ich vom Desert Storm erfasst und in den Irak geschickt, welcher nicht in dem Teil der Welt lag, den ich im Auge gehabt hatte. Als Absolvent eines Englischstudiums, ohne irgendwelche beruflichen Fähigkeiten außer der, vollständige Sätze mit Subjekt, Prädikat und sonstigen Satzgliedern in mehr oder weniger der richtigen Reihenfolge zu schreiben, wurde ich der CID, der Abteilung für die Untersuchung von Straftaten, zugeteilt und musste für die Verwaltung Berichte über Disziplinarverfahren schreiben.
So langweilig diese Berichte waren, wurde ich doch durch diese Arbeit zum ersten Mal mit der dunklen Seite der Menschen bekannt. Nicht, dass die Armee es gern an die große Glocke hängen würde, aber aufgrund von Anspannung, Brutalität, Erschöpfung, emotionaler Belastung, Beengtheit 28 und traumatischer Erfahrungen sind Kriegsschauplätze ein fruchtbarer Nährboden für schwer kriminelles Verhalten -vor allem Vergewaltigung in allen Formen, aber auch Mord und Verstümmelung, Diebstahl und allgemeine Verwahrlosung. Das sind natürlich bekannte Tatsachen, aber für mich waren sie damals neu. Nach einiger Zeit wurde ich befördert und begann, Verdächtige zu befragen und Ermittlungen anzustellen. Zum ersten Mal in meinem Leben war meine Tätigkeit wichtig und aufregend - ein veritabler Kitzel, manchmal sogar mit einem Moment von Gefahr. In meinen Jahren bei CPS bewirkten viele der Besuche in den Wohnungen missbrauchter Kinder einen ähnlichen Kick, und ich musste mir eingestehen, dass dieses Gefühl in gewissem Sinne meine Droge war. In den fünf Monaten, seit ich meine Arbeit hatte aufgeben müssen, hatte ich, zwischen Rachefantasien und Wutanfällen, viel darüber nachgedacht, was für einen beruflichen Weg ich einschlagen wollte, falls ich je aus meinem Stimmungstief herausfinden würde. Und ein Entscheidungskriterium drängte sich auf: Egal, welcher Art die neue Tätigkeit werden würde, ich wollte dabei nicht allzu viel Zeit in einem Büro verbringen. Nach Amys Anruf dachte ich über meine Möglichkeiten nach und holte schließlich meine 35-mm-Canon plus Teleobjektiv hervor. Ich besaß außerdem eine Videokamera von Sony, die ich aus den Tiefen meines Schlafzimmerschranks barg. Wundersamerweise schienen beide Kameras mit funktionsfähigen Batterien und Film ausgestattet zu sein, obwohl ich mich nicht mal mehr erinnern konnte, wann ich sie zuletzt benutzt hatte, und so verstaute ich sie zusammen mit allem Zubehörkram in einem Rucksack, der im Durchgang hinter der Küche hing. Dann schaltete ich mein Gehirn ab und ging zu Bett. 28 Als ich zum fünften Mal die Augen öffnete und immer noch Dunkelheit herrschte, gab ich den Versuch zu schlafen auf. Regen prasselte aufs Dach, während ich Trainingssachen und eine Windjacke anzog. Kurz vor sechs Uhr, von der nahen Dämmerung war noch immer nicht viel zu sehen, stand ich gründlich durchgeschwitzt bei Cost Plus, Fisher-man's Wharf, und hatte die Strecke von zweieinhalb Kilometern in elf Minuten zurückgelegt. Das war langsamer, als ich mit dreißig gewesen war, aber ich tröstete mich mit der Erkenntnis, dass es zweifellos schneller war, als ich mit fünfundvierzig sein würde.
Wieder zu Hause, duschte ich, zog mich um und beschloss, Churchill nachzueifern, solange noch Zeit dafür war, indem ich eine kleine Flasche Veuve Cliquot aus dem Kühlschrank holte, um ihn zu meinen Rühreiern zu trinken. In der Regel ist Kaffee das Frühstücksgetränk meiner Wahl, aber wozu hat man Regeln, wenn man sie nicht ab und zu einmal brechen kann? Als erste Maßnahme dachte ich mir aus, Mayhew mal nur so zum Spaß aufzuwecken. Da seine Privatnummer im CPS-Verzeichnis stand, konnte ich ihn direkt zu Hause anrufen, hörte seine Stimme nach dem zweiten Klingeln und legte lächelnd wieder auf. Ich fuhr zu der Adresse, die Amy mir gegeben hatte: Cherry Street, eine kurze Sackgasse nördlich der Lake Street, an den südlichen Rand des Presidio geschmiegt. Es war kurz nach acht. Nachdem ich, ein paar Häuser entfernt, auf der anderen Straßenseite geparkt hatte, bemerkte ich den schwarzen Mercedes mit dem Kfz-Kennzeichen »KIDSTUF«, seinem neckischen kleinen Hinweis auf die Arbeit, die er bei CPS machte. Ich war hier also richtig. Ein letztes Mal überprüfte ich meine Kameras, immer noch unschlüssig darüber, was genau ich eigentlich 29 vorhatte. Amy hatte Mayhew als teilmobil beschrieben, aber sie hatte auch gesagt, dass er eine Vollerwerbsunfähigkeitspension bezog. Mehr oder weniger rechnete ich also damit, dass in seinem Fall »mobil« bedeutete, dass er aus seinem Rollstuhl aufstehen konnte, um zum Beispiel aufs Klo zu gehen. Nachdem fünfzehn Minuten meiner ersten Observation verstrichen waren, nahm der Regen wieder zu und wurde schließlich so dicht, dass ich die Eingangstür von Mayhews großem, zweistöckigem Haus, das zwölf Stufen über Straßenhöhe lag, kaum noch sehen konnte. Die Fenster meines Luminas, wegen des Wetters fast geschlossen, begannen zu beschlagen. Falls das Objekt meiner Überwachung, ob ans Bett gefesselt oder nicht, im Haus bleiben würde, dann, so schwante mir, standen mir ein paar zähe Wochen bevor. Nicht meine Vorstellung von einer angenehmen Beschäftigung! Zwei Möglichkeiten boten sich an: noch mal anrufen oder an seine Tür klopfen. Bei CPS war es meistens der direkte Weg, der die besten Ergebnisse brachte. Also wartete ich, bis der Wolkenbruch ein wenig nachließ, dann stieg ich aus dem Auto und joggte über die Straße und die Treppe hinauf. Es war nach zivilisierten Maßstäben reichlich früh für einen unangekündigten Besuch, aber Mayhew war immerhin vor einer Stunde schon wach genug gewesen, um ans Telefon zu gehen, oder? Gemessen an meinem noch vor wenigen Wochen angedachten Plan, den Mann umbringen zu lassen, musste diese kleine Störung als nahezu wohltätig erscheinen. Ich drückte auf die Klingel, wartete, klingelte noch einmal. Nach einer Weile hörte ich Schritte, die Tür ging auf. 29
Seine Frau vermutlich. Eine gut erhaltene Fünfzigerin, in einem grünen Hausmantel. Zu dieser Tageszeit lief sie nicht gerade über vor Liebenswürdigkeit. »Ja, bitte?«, sagte sie in nüchternem, ja schroffem Ton. »Es ist recht früh für Hausbesuche, finden Sie nicht?« »Ja, Ma'am, tut mir Leid, aber ich hatte gehofft, Mr Mayhew sprechen zu können.« »Der ist im Moment leider nicht abkömmlich. Seine Gesundheit ist nicht die beste.« »Ja, das hab ich gehört, aber es ist sehr wichtig. Ich werde ihn nicht lange belästigen. Ich bin einer seiner ehemaligen Untergebenen bei CPS, Wyatt Hunt. Er wird mich sehen wollen, ganz sicher.« Sie presste die Lippen zusammen. »Ich wäre mir da nicht so sicher, aber wenn Sie eine Minute warten wollen.« Sie machte mir die Tür vor der Nase zu, und ich tat, wie geheißen. Wartete. Wiederum Schritte, schwerere diesmal, und dann sah ich Mayhew vor mir. Er war wie zur Arbeit gekleidet, nur ohne Krawatte und Jackett. Ich bezweifelte, dass seine Frau ihn in diesem Aufzug aus dem Bett geholt hatte, insbesondere die Schuhe an den Füßen sprachen eher dagegen. »Wilson.« Es war das erste Mal, dass ich ihn beim Vornamen nannte. Er zögerte, von der unerwarteten Vertraulichkeit offenbar aus dem Rhythmus gebracht. »Was machen Sie hier? Was wollen Sie?« Ich legte ein frostiges Lächeln auf. »Ich möchte meinen Job wiederhaben, aber dafür ist es wohl ein bisschen zu spät, wie?« »Das liegt nicht an mir, Mr Hunt. Sie haben diese Entscheidung selbst getroffen.« 30 »Welche Entscheidung meinen Sie, Wilson?« Irgendwie machte es mir Spaß, auf dem Vornamen herumzureiten. Es verschob die Dynamik zu meinen Gunsten. »Den Verweis nicht zu akzeptieren. Das war Ihre Entscheidung.« »Ja, stimmt. Und wollen Sie wissen, warum ich mich so entschieden habe?« »Nein. Aber es war auf jeden Fall dumm, so zu handeln. Es war die einzige Chance, Ihre Stellung zu retten, und Sie haben sie einfach in den Wind geschlagen.« »Beinahe richtig, aber doch knapp daneben. Ich konnte den Verweis nicht akzeptieren, weil ich nichts falsch gemacht hatte. Und Sie wussten das und haben darüber die Unwahrheit gesagt.« »Sie leiden unter Wahnvorstellungen«, sagte er. Er trat einen Schritt zurück und schickte sich an, die Tür zu schließen. Wut war in mir aufgestiegen wie eine Flutwelle, sobald ich ihn zu Gesicht bekommen hatte, und jetzt surfte ich bereits auf ihr. Die Gewalt meiner Emotionen überraschte mich selbst ein bisschen. Ohne weiter zu überlegen,
stellte ich meinen Fuß in die Tür und stemmte mich dagegen. »Sie sagen mir ins Gesicht, dass Sie sich nicht erinnern, wie ich in Ihr Büro gekommen bin, um Ihnen über den Fall Nunoz zu berichten?« Er lehnte sich seinerseits kräftig gegen die Tür, konnte aber nichts ausrichten und gab es auf. »Ich hab's Ihnen schon mal ins Gesicht gesagt, wie ich mich erinnere, bei der Anhörung. Damals hat es mir genauso wenig ausgemacht wie jetzt, weil es die Wahrheit war.« Er lächelte. »Nur für den Fall, dass Sie ein verstecktes Mikro tragen.« Sein Gesicht wurde finster. »Und jetzt nehmen Sie den Fuß aus 31 meiner Tür, Mr Hunt, sonst bin ich gezwungen, die Polizei zu rufen.« Dann fügte er noch hinzu: »Beim letzten Mal, als wir eine Meinungsverschiedenheit hatten, die von dritter Seite geklärt werden musste, haben Sie ganz klar den Kürzeren gezogen, nicht wahr? Wollen Sie so etwas wirklich noch mal erleben?« »Nein«, sagte ich, »Sie haben Recht.« Ich trat zurück, gab die Tür frei. »Diesmal muss die Sache anders angegangen werden.« Gelassen, den Kopf in demonstrativer Neugier zur Seite gelegt, sagte er: »Das klingt ja wie eine Drohung.« »Wirklich?« »Tja, falls es eine sein sollte, will ich nur sagen, dass ich heute Vormittag noch einen Bericht für die Polizei verfassen werde, und wenn sich unsere Wege dann noch einmal kreuzen sollten, dann beantrage ich eine einstweilige Verfügung gegen Sie, und die werde ich bekommen, darauf können Sie sich verlassen.« »Danke für die Warnung.« »An Ihrer Stelle würde ich sie mir zu Herzen nehmen und was anderes anfangen mit meinem Leben. Wir spielen nicht in derselben Liga, Mr Hunt. Das müssten Sie doch inzwischen begriffen haben.« Er nickte mir zu und sagte tatsächlich: »Einen schönen Tag noch«, bevor er die Tür schloss. Ich erwischte Devin Juhle auf seinem Pager, und er rief mich eine halbe Stunde später zurück. Den ganzen Morgen über hatte es immer mal wieder geregnet, doch inzwischen blickten erste blaue Abschnitte zwischen den Wolken hervor, was ich als Anzeichen für eine bessere Zukunft zu interpretieren beschloss. In dem großen Haus über der Straße rührte sich 31 nichts. Hätte ich mich nicht mit meinen eigenen Augen davon überzeugen können, dass Mayhew ungefähr genauso stark unter Rückenschmerzen litt wie ich, würde sein augenscheinlicher Mangel an Aktivität mich wohl entmutigt haben. Angespornt durch die Gewissheit, dass sein Entschädigungsanspruch tatsächlich getürkt war, nutzte ich die Zeit stattdessen, um eine Strategie auszuarbeiten, wie ich ihn am besten entlarven konnte. Ich glaubte, eine ganz gute Idee zu haben.
Devin kannte mein Verhältnis zu Mayhew mittlerweile in allen Einzelheiten. Als ich ihm in groben Zügen erläuterte, was ich vorhatte, wurde er gleich munter und hatte nichts gegen eine kleine außerdienstliche Unternehmung zu meinen Gunsten aufzuwenden, zumal wenn sie mit einer gewissen Aussicht auf Belohnung verbunden war. Ich sicherte ihm zu, dass ich ihn nicht lange beanspruchen würde, und mein Plan sei so schön, dass er ihm womöglich Tränen in die Augen treiben werde. Ein weiteres gutes Omen für die Heimmannschaft war, dass Devin und sein Partner Shane Manning momentan nicht gerade erdrückt wurden von der Last akuter Ermittlungen. Der Februar war ein tendenziell lauer Mordmonat, und sie waren daher mit nur zwei Fällen beschäftigt. Hinzu kam, dass beide an diesem Morgen als Zeugen vor Gericht aussagen sollten. Aus diesem Grunde hatten sie sich den Tag freigeräumt, aber die Verhandlung war dann weitergeführt worden, und so stand ihnen ein langer Nachmittag ohne angesetzte Zeugenbefragungen oder sonstige drängende Arbeit bevor. Sie hatten die Wahl, entweder zu mir rauszukommen und ein bisschen Spaß zu haben oder den ganzen Tag im Büro herumzusitzen und endlich mal ein paar Berichte zu schreiben. 32 Schwere Entscheidung. Ich gab Juhle die Telefonnummer und schärfte ihm ein, dass der Anruf wegen Mayhews platten Reifens auf jeden Fall von einem öffentlichen Fernsprecher kommen musste, damit er nicht zurückverfolgt werden konnte. »Booah, klasse Idee, Wyatt«, sagte er mit der ihm eigenen dick aufgetragenen Ironie. »Da war ich nie drauf gekommen.« Trotz des Sarkasmus aber waren er und sein Partner bereit mitzumachen. So hatte ich also eine behelfsmäßige Truppe von drei Mann, mich eingeschlossen, beisammen, und zwei Drittel davon waren ausgebildete Polizeiinspektoren. Ich gab uns den Namen »Hunt Club«. Zwar wurde mir nicht geradezu schwindlig vor Zuversicht, aber ich fand, unsere Chancen standen gut. Was für ein platter Reifen?, mögen Sie fragen. Der, den ich ihm verschaffte, indem ich mich hinter seinen Wagen kauerte, vom Haus aus nicht zu sehen, die Ventilkappe seines rechten Hinterreifens abschraubte und dann unter befriedigendem Zischen die Luft abließ, bis das Rad ganz bis auf die Felge herab gesackt war. Ich gebe zu, man könnte dies als kindischen, unreifen Wandalismus, eines erwachsenen Menschen ansehen, der ich doch war, ganz und gar unwürdig. Aber ich tröstete mich mit dem Wissen, dass es sich hier tatsächlich ja, wie von Mayhew selbst angezeigt, um »kid stuff«, also Kinderkram, handelte, und mir schien, dies verlieh meinem Vorgehen eine Art von eleganter Symmetrie. Dennoch lagen meine Nerven blank, als ich zu meinem eigenen Auto zurückgejoggt war und der kommenden Dinge harrte. Juhle würde den Anruf
machen, sobald er sich in ausreichender Nähe befand, und angesichts all der Ungewissheiten seines Arbeitsablaufs und des Verkehrs konnte 33 das noch eine Stunde oder länger dauern. Zum Glück aber hatten Manning und er es offenbar höllisch eilig gehabt, in Gang zu kommen, denn es waren noch keine zwanzig Minuten vergangen, als Dev mich auf meinem Handy anrief, um mir zu sagen, dass er den Anruf getätigt hatte. Ich solle mich bereithalten. Nachdem ich die Videokamera ein letztes Mal überprüft hatte, stieg ich aus meinem Auto und stellte mich auf die Beifahrerseite, wo Mayhew mich nicht sehen konnte, selbst wenn er hergucken würde. Ich legte die Kamera auf die Motorhaube, wo ich sie ruhiger halten konnte, und kauerte mich nieder, so unsichtbar hinter dem Auto, wie ich mich nur machen konnte. Natürlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Mayhew einfach den AAA verständigen oder dass die charmante Mrs Mayhew kommen, den Schaden begutachten und den Reifen womöglich eigenhändig wechseln würde. Aber ich wusste ja, dass Mayhew bereits aufgestanden und angezogen war und wahrscheinlich fuchsteufelswild durchs Haus tigerte. Er würde mich sicher auch stellen wollen, falls er rechtzeitig käme und die Möglichkeit dazu hätte. Konnte aber auch sein, dass es nicht klappen würde. Ich machte mir klar, dass Mayhew seinen Betrug vielleicht doch umsichtig genug in Szene setzte, um jederzeit wenigstens als Halbinvalide durchzugehen. Aber ich wusste auch von seiner Arroganz und konnte mir vorstellen, dass er glaubte, seine Beziehungen und sein gesellschaftlicher Status würden ihn vor allzu genauer Überprüfung schützen. Falls es überhaupt irgendwelche Nachforschungen wegen seines Entschädigungsantrags geben sollte, dann würde er davon erfahren, bevor man ihm zu Leibe rücken konnte, und sich halt wieder mehr in Acht nehmen. 33 Außerdem hatte ich, falls diese Sache ihn nicht herauslocken konnte, noch einen gewieften Reserveplan in der Hinterhand, in dem mein eigener Selbstmord eine Rolle spielte. Aber es erwies sich, dass ich ihn heute nicht benötigen würde. Manchmal lacht das Glück auch den Guten. Während ich mit Teleobjektiv filmte, trat Wilson auf seine Veranda heraus und spähte mit zornesrotem Gesicht in beide Richtungen der Straße, allerdings eher flüchtig. Zweifellos dachte er nach Juhles anonymem Anruf sofort, dass ich es gewesen sei, der seinen Reifen in einem Anfall von Ärger zerstochen und sich dann davongemacht hatte. Mit Sicherheit aber würde ich nicht so dumm sein, in der Nähe des Tatorts zu warten und für den Übergriff verantwortlich gemacht zu werden. In dieser Annahme offenbar bestätigt, ging er, wütend den Kopf schüttelnd, festen Schrittes seine Vordertreppe
hinunter. Er fasste sich dabei nicht an den schlimmen Rücken. Er griff nicht nach dem metallenen Treppengeländer, das entlang der Stufen verlief. Auf der Straße angelangt, ging er um den Wagen herum. Als er den Platten erblickte, fluchte er heftig - gut hörbar bis zu meinem Standort - und drehte sich noch einmal schnell und, wie ich fand, recht athletisch im Kreis herum, um nach dem Übeltäter zu fahnden. Weiterhin fluchend, stand er dann eine Weile da, die Hände in die Hüften gestemmt. Ich dachte, dass ich vielleicht schon genügend Material auf Film gebannt hatte - allein schon sein beschwingtes Schreiten über die Treppenstufen -, dass aber ein bisschen mehr auch nicht schaden könnte. Ich wartete. Er enttäuschte mich nicht. Er öffnete den Kofferraum, beugte sich vor (ohne dabei in die Knie zu gehen, wie mir 34 auffiel) und wühlte ein bisschen herum, dann hob er eine offensichtlich schwere Golftasche heraus und setzte sie auf dem Gehsteig ab. Mit einer weiteren rückenfeindlichen Bewegung brachte er den Wagenheber zum Vorschein, und in weniger als einer Minute hatte er das Ding angesetzt und mit kräftigem Hebeln den Wagen angehoben. Ich blickte mich um und sah Juhle und Manning an der Straßenecke stehen, wie zwei Männer, die gerade einen Spaziergang machen. Wir winkten uns zu, hielten aber alle noch die Stellung, um zuzusehen, wie Mayhew die Radmuttern abschraubte. Als er damit fast fertig war, erhob ich mich mit der Kamera und ging, die ganze Zeit weiter filmend, auf ihn zu. Ich hatte mich ihm auf drei Meter genähert, als er das Rad von der Radaufhängung zog und sich erhob. Ich hielt die Kamera voll drauf. Nicht ausgeschlossen, dass ich dabei lächelte. Er drehte sich halb um, das Rad im Arm, machte einen Schritt zum hinteren Ende des Wagens. Als er mich sah, blieb er wie angewurzelt stehen. »He, Wilson«, sagte ich. »Was macht der Rücken?« Seine Augen weiteten sich vor Schrecken, als ich die Kamera sinken ließ, meine Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger wie eine Pistole auf ihn richtete und abdrückte. »Erwischt«, sagte ich. Das erbrachte die Bonusleistung. Mayhew wirbelte in einer halben Drehung herum, ließ das Rad fallen und griff nach dem Montierhebel, mit dessen Hilfe er den Wagenheber betätigt hatte. Mit einem animalischen Schrei stürzte er sich auf mich. Ich wich tänzelnd aus und fing laufend die besonderen KodakMomente des Lebens ein, während er, seine Keule schwingend, mir nachsetzte. Falls sein Rücken ihm dabei zu schaffen machte, gab er es nicht zu erkennen. Aber er rückte mir jetzt doch recht arg zu Leibe, und ich 34 musste blitzschnell abtauchen, um dem nächsten Schlag zu entgehen.
Und dann, hoch willkommen, Juhles Stimme von hinten. »Halt, keine Bewegung! Polizei! Lassen Sie die Waffe fallen!« Die Kavallerie war heute zu Fuß unterwegs und kam immer näher. Inzwischen praktisch mit Schaum vor dem Mund, ging Mayhew auf Juhle und Manning los, als diese ihn an den Armen packten und zu bändigen versuchten. Er widersetzte sich hartnäckig. Das Montiereisen polterte zu Boden. Ich hatte alles auf Film gebannt. Die federnden Schritte, die Golfschläger, das Wagenheberpumpen, die Schlagbewegungen mit dem Montiereisen und mein absoluter Lieblingsteil - das Sich-der-Verhaftung-Widersetzen. Letzteres war die Garantie dafür, dass der betrügerische Rückenantrag jetzt gleich an den Staatsanwalt weitergeleitet wurde. Ohne den Widerstand gegen die Staatsgewalt hätte dieser sonst versucht, gezwungen oder glattweg dafür bezahlt sein können, den Betrugsversuch einfach zu vergessen. Angesichts des Angriffs auf die ihrem Dienst nachgehenden Polizeiinspektoren musste er aber alles zur Anklage bringen. Selbst Mayhews Beziehungen würden nicht reichen, die Geschichte unter den Teppich zu kehren, wenn erst einmal bekannt wurde, dass er zwei Cops attackiert hatte, die, als zufällige Augenzeugen eines Angriffs mit einer gefährlichen Waffe, eingeschritten waren, um die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. »Dismas Hardy«, sagte Amy, »und das ist Wyatt Hunt.« Wir schüttelten uns die Hände. Hardy war schätzungsweise Mitte fünfzig. Auf jeden Fall machte er sich gut in der Rolle des geschäftsführenden Gesellschafters einer der angesehensten Anwaltskanzleien dieser Stadt. Er trug einen 35 grauen Anzug mit extrem dünnen rötlich braunen Nadelstreifen. Rötlich braune Seidenkrawatte, Seidenhemd mit Monogramm. Alles nur vom Feinsten, aber trotzdem machte er den Eindruck eines anständigen Menschen. Außerdem war er so klug gewesen, Amy einzustellen. »Ms Wu hat mir berichtet, dass Sie der Firma heute Morgen viel Geld eingebracht haben. Wir wissen das zu schätzen.« »Es war mir ein Vergnügen. Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wann ich zuletzt so viel Spaß gehabt habe.« Amy schaltete sich ein. »Ich erwähnte ja schon, als ich das Thema zuerst zur Sprache brachte, Diz, dass Wyatt so seine Erfahrungen gemacht hat mit Mr Mayhew. Ich dachte mir, dass er eine hohe Motivation mitbringen würde.« »Trotzdem«, sagte Hardy, »ein einziger Tag. Das ist eindrucksvoll. Niemand erledigt so etwas an einem Tag.« Er nickte anerkennend. »Ich bin froh, dass Amy an Sie gedacht hat.« »Ich auch.«
Hardy ließ sich mit dem halben Hintern auf der Ecke seines großen Kirschholzschreibtisches nieder. »Dann stellt sich jetzt die Frage, Wyatt«, sagte er, »was wir für Sie tun können.« Natürlich hatte ich über die Frage der Bezahlung nachgedacht, aber beherrscht hatte sie meine Gedanken nicht. Und jetzt hörte ich mich sagen: »Vielleicht ist dies einer der Fälle, bei dem die Arbeit selbst der Lohn ist.« Hardy grinste Amy zu. »Dieser Mensch ist einfach unglaublich«, sagte er. Dann, wieder zu mir: »Sind Sie wirklich echt?« Ich zuckte die Achseln. »Manchmal geht es halt nicht ums Geld.« 36 »Meiner Erfahrung nach kommt das weniger oft vor, als man denken würde. Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen? Wie lange sind Sie schon ohne Arbeit?« Ich warf Amy einen raschen Blick zu.- Sie hatte offensichtlich eine mehr oder weniger substanzielle Unterredung mit Hardy geführt, bevor sie mir die Gelegenheit gab, mich mit Mayhews Fall zu befassen. »Ein paar Monate, aber ich habe einiges gespart, als ich noch tätig war, und daher ist Geld für mich momentan kein großes Thema. Ich hab mich zuletzt damit beschäftigt, herauszufinden, was ich als Nächstes tun möchte.« »Nun ja, wenn ich gerade so etwas geleistet hätte wie Sie heute Morgen, dann wäre ich versucht, darin so etwas wie ein Zeichen zu sehen. Haben Sie je daran gedacht, Privatdetektiv zu werden?« Ich lachte. »Noch nie.« »Na gut, aber wenn Sie Ergebnisse abliefern wie heute, dann werden Sie innerhalb von sechs Monaten mit der Arbeit allein für diese Firma kaum noch nachkommen. Das verspreche ich Ihnen.« Ich schüttelte den Kopf, fand die Vorstellung noch immer in erster Linie komisch. »Ich habe keine Ahnung, wie ich das überhaupt anstellen müsste.« »Was gibt's da zu wissen? Sie besorgen sich eine Lizenz, hängen ein Schild auf, und los geht's.« Er schnippte mit den Fingern. »Einfach so.« 36
Dies ist jetzt.. 5
Der US-Bundesrichter George Palmer lernte Staci Rosalier kennen, als sie seine Getränkebestellung im MoMo's entgegennahm, einem Restaurant gegenüber vom SBC Park, wo die San Francisco Giants ihre Baseballspiele austragen. Es war ein warmer Septembermittag, und Richter Palmer, vielen Gästen und dem größten Teil der Belegschaft vom Sehen her bekannt, saß allein an einem Tisch draußen und wartete auf jemanden, mit dem er verabredet war.
Staci bestritt ihre erste Woche hier als Kellnerin. Als sie die Bestellung des großen Mannes - Hendricks-Gin auf Eis -aufnahm, machten sie die üblichen unbeschwerten, auf leichtem Flirtniveau gehaltenen Scherze. Trotz des Altersunterschieds konnte keiner von beiden darin etwas Unpassendes erkennen. Staci war eine erfahrene Kellnerin, sicher und selbstbewusst im Umgang mit den Begüterten und Erfolgreichen. Und für einen Mann seines Alters, oder überhaupt jeden Alters, verfügte Palmer über eine bewundernswerte Figur, sein Gesicht war einnehmend, sein Lächeln aufrichtig. Er war außerdem sympathisch, witzig, in sich ruhend und immer gut angezogen. Er strahlte die Macht aus, die sein Amt mit sich brachte. Der Beruf, den Gott sich wünscht, so die Redensart, ist der eines USBundesrichters. 37 Als das Restaurant sich füllte, überließ sich Staci dem Rhythmus ihrer Arbeit, und Palmer verschwand weitgehend wieder aus ihrem Bewusstsein. Immerhin hatte sie die Hälfte der sechzehn Tische auf einer Seite der Außenterrasse zu bedienen, wobei sie unter anderem einen Berufungsrichter, die rechte Hand des Bürgermeisters, eine Schar einflussreicher Anwälte, einen Vierertisch mit Spielern der 49ers und ein Mitglied des Stadtrats betreute. Das MoMo's war schwer angesagt und hatte einen erheblichen Juhu-Faktor, wie man es nannte. Im Verlauf des folgenden Monats erschien Richter Palmer an fast jedem Arbeitstag, wählte stets einen Tisch in Stacis Bedienzone und traf oft genug so früh ein, dass sie Gelegenheit hatten, ihr schlagfertiges Geplänkel weiterzuführen. Sein Trinkgeld setzte bei recht großzügigen zwanzig Prozent ein und wuchs dann parallel zu seinem Vergnügen an ihrer Gesellschaft. Er erfuhr, dass sie allein, ohne festen Freund, in einem Mietappartement unmittelbar nördlich der Market Street lebte, oberhalb von Castro. Sie besuchte nebenbei das San Francisco City College, hoffte, das Vorstudium in den nächsten zwei Jahren abzuschließen und dann nach Berkeley gehen zu können, doch zunächst bestand die Aufgabe noch schlicht darin, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, was bei dem Verdienst hier gar nicht so einfach war - nicht jeder war beim Trinkgeld so freigebig wie der Richter. Sie vertraute ihm an, dass sie erwäge, sich für die Tage, an denen sie hier frei hatte, noch eine weitere Kellnerinnenstelle in einem anderen Laden zu suchen. Aber vielleicht würde sie dann ihr Studium ganz aufgeben müssen, und das wolle sie nicht. Man habe keine Zukunftsaussichten ohne abgeschlossene Ausbildung. Sie ihrerseits erfuhr, und zwar nicht nur von ihm, dass der Richter seit nunmehr fast vierzig Jahren mit seiner Jeanette 37
verheiratet war. Er wohnte in einem großen Haus in Pacific Heights, in der Clay Street. Er hatte drei erwachsene Kinder. Er arbeitete im Gebäude des Bundesgerichts und war als Berufungsrichter am Ninth Circuit Court of Appeal tätig. »Macht Spaß«, erzählte er ihr. Außerdem hatte er eine Leidenschaft fürs Fliegenfischen und für gute Weine. Letzteres hatte sie schon vermutet angesichts dessen, was er nach dem Martini immer als Begleitung zu seinem Mittagessen bestellte. Nach einer Weile gingen sie dazu über, sich auch außerhalb des MoMo's zu sehen, an ruhigen Orten entlang der Küste, wo der Richter nicht so bekannt war. Eines Tages war er erheblich später als üblich gekommen, kurz vor halb zwei erst, hatte es so eingerichtet, dass er gegen drei Uhr fertig war, genau als ihre Schicht zu Ende ging. Sie spazierten gemeinsam den Embarcadero entlang, etwa hundert Meter weit, in ungezwungener Unterhaltung, wie sonst im Restaurant. Er fragte sie, ob sie Lust habe, noch ein Stück am Wasser entlangzugehen, wo man mehr für sich sei. Er sagte ihr, dass er ein Geschenk für sie habe, und er wünsche sich sehr, dass sie es annehme. Es war ein einkarätiger Diamantsolitär an einer mit Gold und Platin durchflochtenen Halskette.
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Obwohl er jetzt offiziell ein Held war, hatte Inspektor Devin Juhle von der Mordkommission in San Francisco eine üble Zeit hinter sich. Vor sechs Monaten, um zwei Uhr nachmittags, hatten er und sein Partner Shane 38 Manning, im Streifenwagen unterwegs zu einer Zeugenbefragung im Rahmen einer ihrer Ermittlungsfälle, über Funk einen Notruf empfangen - eine Meldung, dass irgendjemand in einem Obdachlosenlager unter der Überführung des Cesar-Chavez-Freeway wild um sich schieße. Zufällig waren sie nur sechs Blocks entfernt und daher die ersten Cops, die den Ort des Geschehens erreichten. Manning saß am Steuer, und kaum hatte er den nicht gekennzeichneten, von der Stadt bereitgestellten Plymouth auf das Niemandsland unter der Überführung gesetzt, als ein Mann hinter einem Betonpfeiler in etwa zwanzig Metern Entfernung hervortrat und eine Schrotflinte auf sie richtete. »Runter! Runter!«, hatte Juhle geschrien, während Manning noch auf die Bremse stieg und das Auto zum Stehen brachte. Seine eine Hand riss sein Halfter auf, die andere war schon am Türhebel. Juhle tauchte ab und warf seinen Körper in Richtung aufspringende Tür und war bereits unter dem Armaturenbrett, als er den Knall der Schrotflinte hörte und die gleichzeitige Explosion der Windschutzscheibe über ihm, die ihn mit zahllosen Bröckchen Sicherheitsglas übersprühte. Noch eine Gewehrdetonation, dann war Juhle
aus dem Auto heraus, rollte über den Asphalt, suchte Schutz hinter einem Reifen. »Shane!«, schrie er seinem Partner zu. »Shane!« Nichts. Unter dem Fahrgestell des Wagens hindurchspähend - in seiner Erinnerung war alles ein einziges Bild, da aber die einzelnen Elemente sich in verschiedenen Richtungen befunden hatten, konnte das nicht sein -, sah er zwei leblose Körper neben einer Pappkonstruktion liegen und dahinter etwa ein halbes Dutzend Menschen, die im Windschatten eines Betonsockels kauerten, eingezwängt und von jeder 39 Fluchtmöglichkeit abgeschnitten. Gleichzeitig hatte der Mann mit dem Gewehr sich wieder hinter seinen Pfeiler zurückgezogen. Soweit Juhle überhaupt zu denken in der Lage war und nicht bloß reagierte, war seine Überlegung jetzt, dass der Mann wahrscheinlich nachlud. Und das wäre seine einzige Chance, an ihn ranzukommen und nicht nur sich, sondern auch diese anderen Leute zu retten. Er fasste den kurzen Baumstumpf ins Auge, der mitten im Asphalt steckte. Er hätte eigentlich nicht da sein dürfen; die von der Verkehrsbehörde hätten das Teil ausreißen lassen müssen, bevor sie den Asphalt gössen - hatten sie aber nicht. Jetzt war er halt da, und Juhle würde ihn sich, wenn möglich, zunutze machen. Gebückt rannte er los, warf sich dann hin und rollte weiter, war in zwei oder drei Sekunden da, Zeit genug für den Schützen, der wieder ins Freie getreten war, um seine nächste Ladung abzufeuern, die in den Baumstumpf prasselte und Juhle mit Holzsplittern und Rindenmatsch eindeckte. Juhle, der auf dem Bauch lag, das Gesicht und den ganzen Körper flach auf den Boden gepresst, wusste, dass der Stumpf zu niedrig war, um ihm Bewegungsspielraum nach oben zu gewähren, und dass der Mann, der seinen Vorteil spürte, auf ihn zukam. Er war vermutlich noch gut zwanzig Meter entfernt und bewegte sich zügig. Sobald er auf zwölf Meter oder so heran war, hätte er durch seine Körpergröße den Schusswinkel, den er brauchte. Ein Schuss dann noch, und es wäre vorbei mit Juhle. Es war keine Zeit mehr zum Nachdenken. Juhle rollte einmal ganz herum, stieß die mit beiden Händen gehaltene Pistole nach vorn, zielte kurz und gab zwei Schüsse ab. Der Mann strauchelte, sackte in sich zusammen, stürzte wie ein Zementsack zu Boden und rührte sich nicht mehr. 39 Juhle rief wieder nach seinem Partner und erhielt erneut keine Antwort. Wie im Taumel - das Adrenalin wogte durch seinen Körper - erhob er sich schließlich, die Pistole immer auf den Mann am Boden gerichtet. In kurzen Seitwärtsschritten schob er sich auf ihn zu, die Pistole in beiden Händen, die
Arme steif ausgestreckt. Als er bei seinem Ziel angekommen war, sah er, dass er den größten Glücksschuss seines Lebens abgegeben hatte. Eine der Kugeln hatte den Mann zwischen die Augen getroffen. Womit diese Sache hätte abgeschlossen sein sollen. Schließlich hatte Juhle sechs Zeugen, die alles mit angesehen hatten. Manning war tot, von der ersten Salve erwischt. Der Wagen war ein zusammengeschossener Blechhaufen. Es war also mindestens Notwehr, recht betrachtet sogar eine Heldentat. Aber nicht notwendigerweise. Nicht in San Francisco, wo jeder polizeiliche Waffeneinsatz unter Verdacht steht. Einer der Obdachlosen aus dem Lager, ein schwer alkoholisierter aktenkundiger Schizophrener, behauptete, der Polizist sei auf den Mann zugelaufen und habe ihn ohne Anlass exekutiert. Die Tatsache, dass es nach seiner Behauptung fünf Beamte gewesen seien und dass er darauf beharrte, der Mann habe keine Schrotflinte gehabt, konnte, obwohl Manning eindeutig durch Schrotflintenbeschuss gestorben war, die rechtschaffene Erregung der polizeikritischen Öffentlichkeit nicht im Geringsten beirren. Außerdem war Juhles Schuss so perfekt, dass sich Stadtrat Byron Diehl zu der Stellungnahme bemüßigt fühlte, es möge hier in der Tat eine Überreaktion eines übereifrigen und erregten Cops vorgelegen haben. Vielleicht sei es wahrhaftig eine Hinrichtung gewesen. Niemand könne einen Mann, der sich bewegte, aus fast zwanzig Metern Entfer 40 nung genau zwischen die Augen treffen. Ein solcher Schuss sei unmöglich. Der Mann mit dem Gewehr habe sich womöglich ergeben, sein Gewehr fallen lassen, und Juhle - der infolge der Ermordung seines Partners die Beherrschung verloren habe - sei auf ihn zugegangen und habe ihn aus nächster Nähe erschossen. Die anderen Zeugen? Ich muss doch bitten. Die meisten waren doch mit dem Tod des Schützen einverstanden. Außerdem hatten sie natürlich Angst vor der Polizei. Wenn Juhle sie unter Druck gesetzt hatte, seine Schilderung zu bestätigen, würden sie alles sagen, was er wollte. Sie waren unzuverlässige Zeugen, ihre Aussage daher wertlos. Abgesehen von dem Schizophrenen natürlich, der mit seinen Drogenproblemen zu kämpfen hatte. Die Idiotie des Ganzen war so offensichtlich, dass man als Beobachter vielleicht seinen Spaß daran gehabt hätte - nicht jedoch als Betroffener. Juhle war also die nächsten drei Monate vorübergehend beurlaubt, während über seinem Haupt die Möglichkeit einer Mordanklage schwebte. Er sagte viermal vor diversen Stadt- und Polizeikommissionen aus, nicht eingeschlossen eine formelle Zusammenkunft im Sitzungssaal des Stadtrats, wo er Diehl gegenübertreten und seine Vorgehensweise rechtfertigen musste. Er wurde gebeten, seine Fertigkeiten an der Handfeuerwaffe auf verschiedenen Schießständen der Polizei in San Francisco, Alameda und San Mateo zu
demonstrieren, wo es bewegliche Ziele gab, die dem Schützen Schnelligkeit und Präzision abverlangten. Schließlich war er vor zwei Monaten von allen Vorwürfen freigesprochen worden. Bei seiner Rückkehr auf seinen Posten bei der Mordkommission musste er jedoch feststel 41 len, dass man ihm - Manning würde natürlich nie wieder zurückkehren einen neuen Partner zugeteilt hatte, den aus augenscheinlich politischen Gründen eingestellten Gumqui Shiu, dessen zehnjährige Laufbahn bisher nicht viel tatsächliche Polizeiarbeit beinhaltet zu haben schien. Er war Lehrer an der Akademie gewesen, hatte im Fotolabor gearbeitet und war mit diversen anderen Sondereinsätzen betraut worden. Er war rasch aufgestiegen, ohne dass dies mit irgendwelchen nachweisbaren Leistungen verbunden gewesen zu sein schien. Offenkundig musste er gewisse Talente besitzen, vielleicht auch einflussreiche Förderer, aber niemand schien Genaueres zu wissen. An diesem Morgen saß Juhle an seinem Schreibtisch. Um der ganzen Misere die Krone aufzusetzen, trug er seinen rechten Arm in der Schlinge, nach einer arthroskopisch durchgeführten - drei kleine Löcher! - Operation der Rotatorenmanschette. Sein Arzt hatte ihm versichert, dass es ein winziger Eingriff sei, an einem Tag erledigt, kaum mehr als ein normaler Praxisbesuch. In null Komma nichts würde er beim Little-League-Training wieder loslegen können. Von wegen. Als ob er das überhaupt noch mal wieder hätte machen wollen. Die Little League war ja mehr oder weniger der Grund gewesen, warum er sich den Scheißarm ruiniert hatte. Eine blöde Machoanwandlung hatte ihn dazu verleitet, sich auf ein kleines Duell mit Doug Malinoff - perfekter Baseballname einzulassen, dem Trainer der Hornets, des Teams von Devins Sohn Eric. Doug war schon eigentlich ganz okay, wenn auch vielleicht eine Spur leistungsorientierter als der typische Major-League-Profi während der 41 Playoffs, und so hatte er seinen Assistenztrainer Devin zu einem »Burnout«, einem »Spiel bis zur Erschöpfung« überredet, damit die Kids auch mal ihren Spaß hätten. Um ihnen eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie es ist, wenn man wirklich unbedingt gewinnen will. Burnout ist ein simples Spiel für simple Erwachsene und pubertätsgeplagte Jungen. Dabei wirft man den Baseball so hart, wie man kann, angefangen bei einer Entfernung von sagen wir zwanzig Metern. Man benutzt normale Baseballhandschuhe, also keine extragepolsterten Fanghandschuhe, und man rückt nach jeder Runde einen Schritt näher zusammen. Wer zuerst aufgibt, hat verloren. Devin war keineswegs eine sportliche Niete, immerhin hatte er die ganze Collegezeit hindurch Baseball gespielt. Er hatte noch immer einen ganz
anständigen Zug im Arm. Trotzdem gab er sich nach sieben Runden geschlagen, nachdem sein Gegner ihn mit dem letzten Wurf aus etwa elf Metern fast von den Füßen geholt hatte. Malinoff hatte als Shortstop in der Minor League gespielt und es dort immerhin bis zur AA-Ebene gebracht. Er konnte den Baseball durch einen Sperrholzzaun feuern. Juhle erwischte den sechsten Wurf nicht zwischen Daumen und Zeigefinger des Handschuhs, sondern voll mit dem Handteller. Keiner Menschenseele hatte er je gesagt - und wollte es ums Verrecken auch nicht tun -, dass er sich nicht nur durch eigene Blödheit die Schulter ruiniert hatte an jenem kalten, nebligen Märztag, sondern dass es Malinoffs Profiwurfkünsten obendrein gelungen war, ihm zwei Knochen in seiner Fanghand zu brechen. Seither hatte Juhle Probleme mit dem Selbstbewusstsein. Er konnte sich nur schwer davon überzeugen, dass er zu den brillantesten Kriminalpolizisten des Planeten gehörte, so 42 lange er sich gleichzeitig wegen des Scharmützels mit Malinoff als einen staatlich geprüften Vollidioten bezeichnen musste. Es war ein Dienstagmorgen, 31. Mai, 9.15 Uhr. Der Juni, nur noch einen Tag entfernt, ist in San Francisco praktisch ein Synonym für Nebel, und bereits heute konnte Juhle aus sechzig Metern nicht mehr den erhöhten Freeway erkennen, wenn er nach links aus seinem Fenster sah. Während er auf die Ankunft seines Partners wartete, saß er an seinem Schreibtisch in dem beengten, übervollen und doch weit offenen Raum ohne Zwischenwände, Heimstatt der Mordkommission im vierten Stock des Justizgebäudes von San Francisco. Er schlürfte bereits seinen dritten Kaffee an diesem Morgen, und sowohl sein rechter Arm als auch seine noch unbehandelte linke Hand - er würde verflucht noch mal niemanden davon wissen lassen - taten höllisch weh, trotz der sechshundert Milligramm Motrin, die er seit zehn Tagen alle vier Stunden einnahm. Er schlug die zweite Seite der Niederschrift einer Zeugenaussage auf, die er gerade mit dem Tonband abglich, und nahm plötzlich die Kopfhörer ab, erhob sich, schob sich an den schulterhohen ramponierten grünen und grauen Aktenschränken vorbei, die als Raumteiler dienten, und blieb an der Tür seines Vorgesetzten Lieutenant Marcel Lanier stehen, der daraufhin von seinem eigenen Papierkram aufblickte. »Was gibt's, Dev?« »Wir müssen mal irgendwas wegen der Qualität der Leute tun, die hier angestellt werden, Marcel.« Lanier, erst einundfünfzig und trotzdem schon mindestens hundert Jahre in der Abteilung tätig, kratzte sich in der Mundgegend. »Das ist ein Lied, das ich schon seit Jahren singe. Was für Leute meinen Sie diesmal?« 42
Statt einer Antwort gab Juhle ihm den Ausdruck, den er gerade studiert hatte. »Sie erkennen es gleich selbst«, sagte er. Nach fünf Sekunden Lektüre bellte Lanier ein kurzes tonloses Lachen heraus, dann las er laut vor: »Und was für ein Verhältnis haben Sie zu Ms Dorset?« Juhle nickte. »Das isses. So ein Verhältnis erlebt man nicht alle Tage.« »Er war ihr Gallenhahn?« »Muss ja wohl, steht schließlich schwarz auf weiß da.« »Ihr Gallenhahn?« »Ja, außer dass er wahrscheinlich nicht Gallenhahn gesagt hat, sondern dass er ihr Galan sei.« Juhle lehnte sich an den Türpfosten. »Und das ist ungefähr Fehler Nummer zehn auf einer einzigen Seite, Marcel, nicht mitgerechnet die großen Brocken, die sie in der Niederschrift als >unverständlich< markiert hat, die ich aber auf dem Band einwandfrei hören kann. Müssen diese Leute eigentlich keinen Intelligenztest ablegen, bevor wir anfangen, sie zu bezahlen? Natürlich muss ich die Niederschrift sowieso korrigieren, aber so kostet es mich zwei Tage Zeit anstatt eine Stunde. Es würde schneller gehen, das ganze verdammte Ding mit der Hand zu schreiben.« Shiu tauchte hinter Juhle auf und nahm den restlichen Platz in der Tür ein. »Was wird zwei Tage kosten?« Lanier ignorierte sowohl den Ankömmling als auch seine Frage. Sein Telefon klingelte, und er ging ran. »Morddezernat, Lanier.« Stirnrunzelnd, plötzlich ganz ernst, zog er seinen gelben Schreibblock heran und machte sich Notizen. »Okay, hab ich. Wir sind unterwegs.« Zu seinen zwei Inspektoren aufsehend, sagte er ins Telefon: »Juhle und Shiu.« Als er auflegte, deutete nichts darauf hin, dass er im Leben je gelacht hätte oder es für möglich hielt, dass auf dieser 43 Welt je etwas Lustiges geschehen könnte. »Hat einer von euch sich heute schon für ein Auto eintragen lassen?« Die Beamten wechselten einen kurzen Blick. »Nein, Sir. Bürotag«, sagte Juhle. »Jetzt nicht mehr. Geht nach unten und lasst euch von einem Schwarzweißen mitnehmen«, sagte er. »Auf schnellstem Wege raus zur Clay, Ecke«, er warf einen schnellen Blick auf seine Notizen, »Lyon. Haltet euch nicht auf, Jungs. Ich verständige die Spurensicherung. Bis spätestens gestern will ich uns da auf der Matte stehen sehen. Gerade hat jemand einen Bundesrichter ermordet.« Jeanette Palmer hatte die neun eins eins exakt um viertel vor neun gewählt. Mit schriller, von Panik erfüllter Stimme berichtete sie, dass ihr Mann tot sei, jemand habe ihn erschossen. Da Pacific Heights eine wohlhabende Gegend ist, erfolgt die Reaktion auf Notrufe tendenziell sehr zügig. In diesem Fall gondelte ein Streifenwagen gerade durch Cow Hollow, nur ein paar Straßen entfernt, und erschien binnen zwei Minuten auf der Bildfläche. Ein Krankenwagen traf eine Minute später ein. Jeanette stand in der Tür, angekleidet, die Hände ringend, weinend, um die Cops in Empfang zu neh-
men und sie zum Büro des Richters zu führen - ein großes Zimmer mit Erkerfenstern und tausenden von Büchern, im linken vorderen Teil des Hauses gelegen. Hier hatte Jeanette ihren Mann und eine junge Frau gefunden, die sie noch nie gesehen hatte, beide auf dem Fußboden hinter dem Schreibtisch. Die medizinisch-technische Besatzung des Krankenwagens warf nur einen kurzen Blick auf die leblosen Körper und rührte sie nicht weiter an. Beide waren bereits kalt. Juhle und Shiu erreichten den Tatort, wie angeordnet, innerhalb von fünfzehn Minuten in einem Streifenwagen 44 unter Einsatz von Blaulicht und Sirenen. Dennoch hatte offenbar ein Nachrichtenwagen von Channel 4 die Meldung aufgefangen und parkte bereits auf der Straße vor dem Haus, ein Vorbote des gnadenlosen Medienrummels, der mit Sicherheit bald einsetzen würde. Ein Grüppchen von Menschen - Nachbarn wahrscheinlich - stand bei den Fernsehleuten und gab bereitwillig Hintergrundmaterial zum Besten. Die gute Nachricht war, dass bereits drei andere Streifenwagen vor Ort waren und die uniformierten Beamten begonnen hatten, das Gelände zu sichern und den Zugang zu verwehren. Juhle war nicht aus San Francisco gebürtig, sondern von der Halbinsel heraufgekommen, um das College an der San Francisco State zu besuchen, und war hinterher dageblieben. Die Clay Street hatte ihm schon immer außerordentlich gut gefallen, vor allem dieser Abschnitt. Die altertümlichen Straßenlaternen im Gaslampenstil. Die eleganten Lebkuchenhäuser standen alle in zivilisierter Entfernung von der Straße, die Grundstücksgrenze war zumeist mit einer niedrigen Mauer oder einem diskreten Zaun markiert. Und dann die Gartengestaltung: Es war, als würde jedes Haus auf seinen eigenen Privatpark hinausblicken - gar nicht mal unbedingt größer als der durchschnittliche vorstädtische Vorgarten, aber mit völlig anderen Statements über Geschmack, urbanes Leben, bürgerliche Kultur. Richter Palmers Haus fügte sich in dieses Muster ein. Es war dreistöckig, im viktorianischen Stil gehalten, tadellos in Schuss. Eine niedrige braune Stuckmauer mit einem schmiedeeisernen Zaun verlief entlang des Bürgersteigs. Hinter der Mauer schwang sich eine halbkreisförmige gepflasterte Auffahrt bis zur Verandatreppe hinauf. In dem von der Auffahrt umgrenzten Garten ergoss sich ein drei 44 stufiger Brunnen in einen kleinen Lilienteich, rundherum standen gepflegte Zierbüsche, die es sich offenbar allesamt angelegen sein ließen, in Blüte zu stehen. So schnell waren die beiden Inspektoren am Tatort erschienen, dass sie dem Sergeanten der nächstgelegenen Wache, dem es oblag, an derartigen Schauplätzen die Aufsicht zu führen, zuvorgekommen waren; dafür aber
wurden sie von Officer Sanchez, einem Praxisausbilder, an der Haustür begrüßt und erfuhren von ihm, dass sie Mrs Palmer, die offensichtlich unter Schock stehe, zusammen mit seinem jungen Partner im Wohnzimmer finden würden, gleich rechter Hand. Das Büro mit den Leichen sei auf der linken Seite. »Niemand hat da drin irgendwas angerührt«, sagte er, »und die Ehefrau sagt, sie hätte auch nichts angefasst, außer dem Telefon auf dem Schreibtisch, um die neun eins eins anzurufen.« Juhle und Shiu, Partner in der Mordkommission seit nunmehr zwei Monaten, wussten, dass sich ihnen in wenigen Minuten der Stellvertretende Coroner und die Spurensicherungstruppe zugesellen würden, um zu quantifizieren und zu memorieren, zu filmen, zu fotografieren, zu untersuchen, Fingerabdrücke zu nehmen und/oder alles, was sich im Zimmer befand, in die Liste der Beweisstücke aufzunehmen. Je nachdem, wie schnell die Nachricht sich verbreitete, konnten sie damit rechnen, dass ein Team von FBIAgenten sich einfinden würde, denn die Ermordung eines Bundesrichters konnte als bundesrechtlich zu verfolgendes Verbrechen eingestuft werden. Vielleicht würde sogar das Heimatschutzministerium untersuchen wollen, ob der Mord an dem Richter terroristische Hintergründe aufweisen könnte, und Juhle musste zugeben, dass diese Möglichkeit nicht völlig von der Hand zu weisen war. 45 Unterdessen war dies jetzt die Gelegenheit, ungestört ein paar Eindrücke zu sammeln, und Juhle war entschlossen, sie zu nutzen. Die Leichen lagen wie angekündigt so, dass sie, von der Tür aus gesehen, weitgehend hinter dem Schreibtisch verborgen waren. Der Richter trug blassbraune Hosen, ein weißes Oberhemd und einen eher dunkelbraunen Pullover. Der Stuhl, ein großer, bequem aussehender Lederdrehsessel, lag auf der Seite neben der Leiche. In der rechten Wange des Richters war ein kleines Loch, und auf der durchsichtigen Plastikauflage, die den Teppich vor den Stuhlrädern schützte, hatte sich rund um den Kopf des Richters eine Lache geronnenen schwarzen Blutes gebildet. Die Zimmerlichter an der Decke waren an, ebenso die Leselampe auf dem Schreibtisch, der einen ziemlich unangetasteten Eindruck machte. Die Frau war sehr viel jünger als der Richter - höchstens Anfang zwanzig. Sie hatte stonewashed Jeans an, eine Art Unterhemd und einen schwarzen Pullover, der die Körpermitte unbedeckt ließ - ein Diamantstecker glitzerte in ihrem Nabel. Sie lag fläch auf dem Rücken - den Hals etwas verdreht, da sie beim Fallen mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen war. Es war keine Eintrittswunde zu sehen und kein Blut unter ihr, nur ein dünner schwarzer Faden kam aus dem Mund und lief in einer dunklen Lache neben ihrem Kopf aus. Ein großer Diamant funkelte an einer Halskette über dem Pullover. »Tja, ein Raubüberfall war es nicht«, sagte Juhle.
»Nein, und es ging schnell«, sagte Shiu. »Sie stand neben ihm, der Schütze zieht die Knarre, und peng, peng! ist alles vorbei.« 46 »Möglich.« Juhle ging zu der Seite des Schreibtisches, wo er die beiden Leichen sehen konnte. Aber er blickte nicht auf die Leichen. Er blickte auf das Bücherregal hinter dem Schreibtisch. »Vielleicht aber auch peng, peng, peng. Drei Schüsse.« Er stieg über die Frau hinüber, beugte sich vor und zeigte auf einen Punkt im Regal ungefähr auf Bauchhöhe - es sah aus wie eine Lücke zwischen zwei Büchern. »Da ist ein Buch nach hinten gestoßen. Mein Tipp ist, dass wir da 'ne Kugel haben.« Er studierte weiter. »Auch einiges an Spritzern rundherum, ungefähr gleiche Höhe.« »Wo siehst du das?« Juhle ignorierte die Frage. Er war nicht hier, um Unterricht zu geben. »Aber nur bei einem von ihnen.« Er trat zurück, betrachtete das Regal über der Frauenleiche. »Kleines Kaliber«, sagte er. »Kein Austritt.« Er ging nach rechts hinüber, wo eine Unterarmtasche halb in das Kissen eines Lesesessels gedrückt war. Er zog ein Paar Plastikhandschuhe an. »Dies hier sollte uns verraten, wer sie ist«, sagte er. Tat es aber nicht. Die Tasche enthielt einige Kosmetika, eine Packung Kleenex, fünfundachtzig Dollar plus ein paar Münzen Bargeld, einen Halter für ein Diaphragma und eine Packung Trident-Kaugummi, aber keinen Führerschein. Und auch sonst kein Ausweispapier. Shiu warf einen Blick zur Tür. »Wo bleiben die Typen?« Juhle zuckte die Achseln. Die Spurensicherung kam, wann sie kam. »Ich frage mich, ob irgendwer was gehört hat.« Juhle fragte sich, ob sein Partner diese belanglosen Bemerkungen machte, um die Stille zu füllen, so wie Dandy Don Meredith an langweiligen Footballabenden. Oder hielt Shiu sie im Ernst für hilfreich? Die Kopfhaut juckte ihm bei diesem Gedanken. Was ihn betraf, so hatte er keine Ahnung, ob 46 irgendein Nachbar etwas gehört hatte, und er machte sich auch keine großen Gedanken darum. Er wusste ja, dass die Befragung der Bewohner der umliegenden Häuser einer der nächsten Schritte war. Sie würden es erfahren, falls jemand irgendetwas, ob ungewöhnlich oder nicht, gehört oder gesehen hatte. Sie würden auch das Neun-eins-eins-Protokoll daraufhin prüfen, ob weitere Anrufe mit einem möglichen Bezug eingegangen waren. Aber er sagte: »Solange nicht jemand genau vor dem Haus stand, wird keiner was gehört haben. Mich wundert sogar, dass bei einer so kleinen Kugel genug Feuerkraft dahinter war, um ihn aus dem Sessel zu hauen.« »Er könnte im Begriff gewesen sein, aufzustehen. Nach dem ersten Schuss auf sie.«
Noch so ein geistloser Kommentar. Könnte, sollte, wäre -konnte man sich alles sparen, bis man irgendwelche handfesten Hinweise hatte. Schlimmer noch, die ohne solche Hinweise angestellten Vermutungen konnten die Fähigkeit beeinträchtigen, Hinweise, wenn sie sich dann darboten, auch zu erkennen. Ein gewichtiger Teil des Jobs bestand darin, einen Fall nach den Fakten zu bearbeiten, nicht nach der Fantasie. Juhle sah sich weiter um, untersuchte den Fußboden, guckte hinter die Vorhänge, nur für alle Fälle. Als er sich vorbeugte, um hinter einen lederbezogenen Ohrensessel zu blicken, machte er den Fehler, sich beim Wiederaufrichten auf seine Hand zu stützen, und fluchte laut, als der Schmerz von den gebrochenen Knochen aus durch den ganzen Arm schoss. »Macht dir das immer noch zu schaffen?« »Ständig. Ich versuch die ganze Zeit, mir ein Spiel auszudenken, zu dem ich Malinoff herausfordern und wo ich ihm auch mal wehtun kann. Dumm nur, dass er in allen Sachen schneller und stärker ist als ich. Und zwar auch, wenn ich 47 nicht behindert und lädiert bin. Ich werde schummeln müssen. Vielleicht jemanden engagieren, der ihn fertig macht.« »Das kannst du nicht tun, Dev. Du bist Polizist«, sagte Shiu. »Die Kids schauen zu dir auf.« »Ach ja, die Vorbildfunktion. Hatte ich gerade kurz vergessen. Aber ich könnte sowieso nicht schummeln, Shiu. Würde gegen meine religiösen Überzeugungen verstoßen.« »Du hast gar keine religiösen Überzeugungen.« »Klar hab ich die. Nur nicht so formelle wie du. Und eine der Hauptregeln lautet: Du sollst nicht schummeln.« Nach Juhles Wissen war Shiu wahrscheinlich der einzige asiatische Mormone im Staat Kalifornien. Und zwar einer, der sich keine Gelegenheit zu missionieren entgehen lassen konnte. »Das ist auch eine der wesentlichen LDS-Regeln, Dev. Du bist schon auf halbem Wege, einer von uns zu werden. Mit ein bisschen Unterweisung und Gebeten könntest du ...« »Shiu.« Juhle schickte sich an, die Hand zu heben, der Schmerz aber ließ ihn innehalten, und er verzog erneut das Gesicht. »Haben wir das nicht alles schon durch? Wir befinden uns in der Hauptstadt der Toleranz, nicht wahr? Meine Güte, wir zelebrieren unsere Verschiedenheit geradezu. Ich toleriere deine Religion. Du tolerierst, dass ich keine habe.« »Aber es gefällt mir nicht, Dev. Unser Job, weißt du, wir könnten jederzeit dabei zu Tode kommen, ohne Vorwarnung. Ich möchte nicht zusehen, wie du stirbst und in die große Dunkelheit geschleudert wirst.« »Ich weiß. Und ich weiß es zu schätzen. Wirklich wahr. Und halbwegs stimme ich dir auch zu, was, äh - die Sache mit dem Sterben angeht. Aber im Moment
versuche ich nichts weiter, als herauszufinden, was hier passiert ist und wie ich Malinoff ordentlich wehtun kann, ohne dafür verhaftet zu werden. Das ist alles. Nur diese beiden Sachen.« 48 »Ich bete trotzdem für dich.« »Ich weiß, Shiu, das ist mir völlig klar.« Er ließ einen letzten Blick durchs Zimmer schweifen. Er war vier Jahre älter als Shiu und seiner langjährigen Erfahrung wegen anerkanntermaßen der bestimmende der beiden Partner. Wenn sie genug gesehen hatten an einem Tatort, dann oblag es ihm, die entsprechende Ansage zu machen, und genau das tat er jetzt. »Tja, während wir auf das Eintreffen unserer Spurensicherungsasse warten, sollten wir vielleicht mal sehen, was die trauernde Witwe uns mitzuteilen hat.«
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Die Wohnzimmereinrichtung war in weichen Tönen gehalten: rosa, elfenbeinund lavendelfarben. Ebenso wie das Büro, in dem Richter Palmer und die noch Unbekannte tot auf dem Fußboden lagen, machte der Raum auf Juhle einen ungewöhnlich sterilen Eindruck - auf seine Art den oft kaum benutzten Wohnzimmern in den Sozialsiedlungen ähnelnd, wo die Möbel mit Plastik abgedeckt waren, damit sie möglichst lange hielten. Obwohl alles andere als ein Kenner auf diesem Gebiet, war Juhle beeindruckt von dem Reichtum und dem guten Geschmack, der sich hier darbot. Der breite Mahagonicouchtisch mit Goldätzung, die Anrichte mit der venezianischen Glassammlung, der eine oder andere Beistelltisch mit umwerfenden und offenbar frisch hergerichteten Blumenarrangements, die beiden Zweiersofas, die zwei zueinander passenden Kronleuchter, der fünf mal sechseinhalb Meter große orientalische Teppich, die reichlich gepolsterte Couch - jedes einzelne Möbelstück war vom Feinsten. Und dennoch schien das Ganze irgendwie leblos, es hatte nichts Spielerisches, vermittelte keine Geborgenheit. Als habe Mrs Palmer sich hier ein Puppenhaus 48 gebaut, nicht um darin zu wohnen, sondern um es einfach nur zu haben, es hier und da neu zu arrangieren und andere damit zu beeindrucken. Im Laufe seiner beruflichen Tätigkeit hatte Juhle genügend Verwandte von Opfern unter Schock gesehen und wusste daher, womit er es hier zu tun hatte. Die Frau selbst war stattlich, aber nicht dick. Sie saß ganz am Rand des üppigen Sofas mit dem pastellfarbenen Blumenmuster und trug ein cremefarbenes maßgeschneidertes Kostüm, das bis zu den Knien reichte und im Moment, da ihre kräftigen Schultern herabgesunken waren, wie ein Wäschesack an ihr zu hängen schien. Mrs Palmers kunstvoll getöntes honigfarbenes Haar ließ erkennen, dass es früher am Tage sorgfältig frisiert worden war, doch jetzt strich sie immer wieder mit einer Hand ganz hindurch, von vorn nach hinten,
oder zog an Strähnen an der Seite, als sei sie ein verwirrtes Schulmädchen. Ihr Gesicht, vermutlich ein bisschen mehr als nur konventionell attraktiv, wenn es sein Make-up bekommen hatte, war jetzt fleckig und abgezehrt, die Augen waren ganz klein unter den geschwollenen Lidern. Ihr gegenüber hatte Sanchez' Nachwuchsofficer Garelia auf einem Zweiersofa gesessen und stumm die Stellung gehalten. Bei Juhles und Shius Erscheinen stand er sofort auf und stellte sich, still und stocksteif, an die Tür, durch die sie gekommen waren. Er sah kaum älter als dreiundzwanzig aus, und Juhle vermutete, dass es seine erste Mordangelegenheit sein mochte, vielleicht das erste Mal, dass er einen beziehungsweise zwei Tote aus der Nähe gesehen hatte. Aber Juhle war nicht hier, um das Mobiliar zu rezensieren oder die Reaktionen von Nachwuchspolizisten zu beobachten. Unter Schonung seines verletzten Armes schob er mit 49 dem Fuß den Schemel des Zweiersofas näher an die Couch heran und setzte sich. »Mrs Palmer«, begann er, »ich bin Sergeant Inspector Devin Juhle von der Mordkommission, und das hier ist mein Partner Inspector Shiu. Fühlen Sie sich in der Lage, mit uns zu sprechen?« Sie korrigierte ihre Haltung, setzte sich weiter auf dem Sofa zurück. Abwechselnd auf Juhle und Shiu gerichtet, nahmen ihre Augen einen überraschten Ausdruck an, ganz als habe sie ihr Kommen gar nicht bemerkt. »Ja, ich glaube schon.« Mit einem Anflug von Verzweiflung stieß sie die Luft aus und fragte: »Wer ist die Frau da bei ihm?« »Das wissen wir nicht, Ma'am. Wir hatten gehofft, dass Sie uns das vielleicht würden sagen können.« Mrs Palmers Kopf bewegte sich von einer Seite zur anderen, als habe sie ihn nicht richtig unter Kontrolle. »Ich habe sie nie zuvor gesehen. Und jetzt ist sie hier, tot, in meinem Haus. Was hat das bloß zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht, Ma'am.« »Und was wollte sie hier? Mit meinem Mann? Dies ist unser Haus. Er kann sie nicht mit hierher gebracht haben.« Sie blickte sie nacheinander an, als suche sie ihre Zustimmung. »Bestimmt nicht«, fasste sie nach. Juhle und Shiu wechselten einen Blick. Shiu sprach in die Stille hinein. »Sie haben die Toten heute Morgen entdeckt, Ma'am?« »Ja, als ich nach Hause kam.« Sie holte tief Luft, zog an einer herabhängenden Strähne ihres Haars. »Ich war letzte Nacht bei meiner Schwester. Vanessa Waverly. Das ist mein Mädchenname - sie ist geschieden und hat ihn wieder angenommen -, Waverly.« Juhle bemerkte den etwas unzusammenhängenden Fluss ihrer Worte. Er musste daran denken, einfache Fragen zu 49
formulieren, und dann zu sehen, ob sie sich irgendwann etwas beruhigte. »Und wo war das?« »Novato.« Ein Ort in Marin County, mit dem Auto etwa eine halbe Stunde nördlich der Stadt. »Es ist weit genug draußen, dass ich meistens bei ihr übernachte, wenn ich dort hinfahre.« »Tun Sie das oft?« »Alle paar Wochen, würde ich sagen. Sie ist meine Geschäftspartnerin - wir betreiben ein Heilbad mit angeschlossenem Schönheitssalon in Mill Valley. JVs.« »Dann war es also ein geschäftliches Treffen?« »Ja, aber ich meine ... sie ist eben auch meine Schwester, vor allem. Wir haben zusammen gegessen. Das ist es im Grunde meistens. Wir reden halt.« »Und Sie sind hier wann losgefahren?« »Ziemlich früh eigentlich. Gegen vier. Ich wollte den Feierabendverkehr auf der Brücke vermeiden.« »Gut.« Juhle senkte seine Stimme. »Und danach waren Sie die ganze Nacht bei Ihrer Schwester?« »Ja.« »Können Sie mir erzählen, wie es war, als Sie heute Morgen hierher zurückkamen?« Sie seufzte schwer, schloss beim Ausatmen die Augen. Als sie sie wieder öffnete, holte sie wie überdrüssig noch einmal Luft. »Ich bin vor acht gekommen, aber ich wollte ihn nicht wecken, für den Fall, dass es ihm gelungen war, noch zu schlafen. Er hat immer unter schrecklicher Schlaflosigkeit gelitten, also hab ich meine Reisetasche einfach neben die Treppe gestellt und bin in die Küche gegangen, um mir einen Kaffee zu kochen. Aber dann hatte ich das Gefühl, es würde irgendwie angebrannt riechen, also hab ich nachgesehen und festgestellt, dass es aus seinem Büro kam. Als ich in 50 der Tür stand, merkte ich, dass ich seinen Stuhl nicht sehen konnte, also ging ich hin ...« Juhle musste nicht die Augen schließen, um sich das blutige Bild, das er vorhin gesehen hatte, noch einmal zu vergegenwärtigen. Obwohl sie tatsächlich hinter dem Schreibtisch lag, war doch noch so viel von der Leiche der jungen Frau zu sehen gewesen, dass selbst ein flüchtiger Blick von der Tür aus sie erfassen musste. Mrs Palmer hatte die Augen geschlossen und öffnete sie jetzt wieder. »Tut mir Leid«, sagte sie. »Ich möchte Ihnen wirklich helfen, herauszubekommen, wer das getan hat, wenn ich kann.« »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer es gewesen sein könnte? Hatte Ihr Mann irgendwelche Feinde?«
»Glauben Sie nicht, dass wir erst wissen müssen, wer die Frau ist? Warum sie hier ist? Darum wird es sich doch letzten Endes drehen, auf welche Weise auch immer. Nicht wahr?« Juhle war sich nicht sicher, ob das zutraf. Er konnte sich auf Anhieb diverse Szenarien vorstellen, die die Anwesenheit der jungen Frau erklären würden. Aber Jeanette Palmer hatte Recht. Es sprach verdammt viel dafür, dass es nicht nur um den Richter allein ging. Die Unbekannte war Teil des Rätsels. »Aber na gut. Georges Feinde.« Ihre kräftigen Schultern zuckten in einem freudlosen Lachen. »Es klingt furchtbar bei einem so charmanten Mann, aber es könnte im Grunde jeder gewesen sein. Sie müssten vielleicht mal seine Akten durchsehen. Jedes Mal, wenn er ein Urteil fällte, hat er sich einen oder mehrere Feinde gemacht, und das ist nun mal jahrzehntelang seine Beschäftigung gewesen. Dann ist da noch die CCPOA...« Juhle warf Shiu einen weiteren raschen Blick zu. Die CCPOA, die California Correctional Peace Officers Associa 51 tion, war die Gewerkschaft der Gefängniswärter, die mächtigste und reichste Arbeiterorganisation im ganzen Staat. Es war kein Geheimnis, dass sie arge Probleme hatte, sich selbst zu kontrollieren. Und plötzlich, mit einem leichten Schock, fiel Juhle wieder ein, dass der Richter, von dem es in den Nachrichten geheißen hatte, er würde die Möglichkeit prüfen, die CCPOA unter Zwangsverwaltung zu stellen, George Palmer hieß. Jeanette Palmer, die den stummen Blickwechsel nicht bemerkt hatte, fuhr fort: »Das sind keine sehr netten Leute, und sie hatten Angst, dass George sie aus dem Verkehr ziehen würde.« »Haben sie ihm gedroht?«, fragte Shiu. Er hatte sein kleines Notizbuch gezückt. »Nicht, dass ich wüsste. Jedenfalls nicht offen. Das hätte George mir gesagt.« Juhle wartete einen Moment, dann fragte er, ob sie wisse, was der Richter am Abend zuvor gemacht habe. Sie öffnete die Augen, sah ihn an. »Er war zu Hause, als ich wegfuhr, sagte aber, dass er essen gehen wolle.« »Hat er gesagt, mit wem oder wo?« »Nein. Es war beiläufig. Er hat nur gesagt, dass er irgendwelche Leute wegen eines Pferdes treffen müsse, was unser Codewort war für Fälle, über die er nicht sprechen durfte. Nicht einmal mit mir. Vielleicht weiß seine Sekretärin etwas darüber. Entschuldigen Sie, aber das Abendessen kann es nicht sein. Wir wissen ja, dass er danach wieder hergekommen ist, nicht wahr? Mit ihr.« Im Moment wusste Juhle nicht einmal, ob er überhaupt das Haus verlassen hatte, aber er sagte nur: »Vielleicht nicht mit ihr. Vielleicht ist sie später gekommen.« 51
Der Gedanke schien irgendwas Tröstliches für sie zu haben. Sie nickte, beinahe dankbar, wie es schien. »Ja, vielleicht«, sagte sie. »Vielleicht ist sie mit dem Mörder gekommen.« Das, dachte Juhle, war ein hübscher Gedanke. Aber nicht sehr wahrscheinlich. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. »O Gott«, flüsterte sie. »O Gott.« Juhle gab ihr einen Moment Zeit, dann sprach er ihren Namen aus, und sie öffnete auch die Augen, aber der sich in der Ferne verlierende Blick, den sie vor der Begrüßung gehabt hatte, war wieder da. Er versuchte es noch einmal. »Mrs Palmer?« Aber sie sah ihn nur an und schüttelte den Kopf.
7
Mit den Fingern schnippend, hatte Amy Wus Chef Dismas Hardy zu Wyatt Hunt gesagt, er könne sich »einfach so« als Privatdetektiv niederlassen. Aber ganz so einfach war es dann doch nicht gewesen. Als Erstes musste Hunt das Amt für Sicherheit und Ermittlungsdienste im kalifornischen Ministerium für Verbraucherangelegenheiten überzeugen, dass seine Zeit in der Armee als Mitglied der CID als die geforderte Ausbildung in Polizeiwissenschaft, Strafrecht oder Rechtspflege angerechnet werden sollte und dass seine jahrelange Arbeit für CPS das Äquivalent für mindestens sechstausend Stunden Ermittlungstätigkeit darstellte und er also die entsprechende Erfahrung vorweisen konnte. Dann war da noch seine Beurteilung durch das Bundesjustizministerium und die Einholung des 52 polizeilichen Führungszeugnisses. Gar nicht zu reden von der zweistündigen schriftlichen Prüfung über Gesetze, Regeln und Bestimmungen. Und schließlich die zusätzlichen Anforderungen für die Erteilung eines Waffenscheins. Das alles nahm annähernd zwei Monate in Anspruch. Dann, heute Abend vor vier Jahren, hatte er sein Schild aufgehängt. Nun saß er mit dem Rücken zur Wand an einem großen runden Tisch in der Powerecke des Sam's, dem klassischen Restaurant und Wasserloch in der Bush Street, Ecke Beiden Alley. Nach einem erfolgreichen Arbeitstag, an dem er die neunzehnjährige Tochter eines Zahnarztes aus Piedmont aufgespürt hatte, die aus ihrem Studentenheim ausgerückt und bei ihrem Freund im Mission District eingezogen war, war Hunt der Erste, der zur Jubiläumsfeier antrat. Allein am Tisch, nahm er einen ersten Schluck von seinem Martini, einem Sapphire Gibson, und seufzte vor Zufriedenheit. Er wusste, dass er in ein paar Minuten sozusagen Hof halten würde für eine energiegeladene, sogar ein bisschen berühmte Gruppe von Leuten, darunter einige der erfolgreichsten Anwälte der Stadt. Er trug Anzug und Krawatte. Er könnte mit Brocken seines Schullateins oder seines Collegefranzösisch um sich
werfen, und jeder wüsste, was er gesagt hatte - mehr noch, sie würden sogar wissen wollen, was er noch zu sagen hatte. Sie würden exzellenten Wein trinken, und ihr Kellner Stephano würde sie alle mit dem Vornamen anreden. Irgendwie war es nicht zu fassen. Die Entwicklung, die er genommen hatte. Hunt war als Pflegekind von Familie zu Familie gewandert, bis die damals noch kinderlosen Richard und Ann Hunt wundersamerweise beschlossen hatten, den Acht 53 jährigen zu adoptieren (und anschließend noch kurz hintereinander vier eigene Kinder bekamen). Bis weit in seine Teenagerjahre hinein hatte Hunt sich - vielleicht immer auch ein bisschen aus dem Gefühl heraus, nicht hundertprozentig dazuzugehören - mit einem imaginären Freundeskreis von Superhelden umgeben, nämlich dem Hunt Club, in dem er, versteht sich, der Anführer war. Als in der Schule sein sportliches Talent zutage trat und sein Ansehen wuchs, nahm das Fantasiegebilde körperliche Gestalt an - mit ihm und Devin Juhle und noch vier anderen von den schlaueren Kids, die zufällig auch noch Sportskanonen waren. Seine Highschoolclique, die besten Freunde, alle stolz darauf, Teil von etwas zu sein, das größer und toller schien als jeder für sich allein. Als er seine Detektei eröffnete, stand es außer Frage, welchen Namen sie tragen würde. Er hatte den Ton ja schon vorgegeben und das Markenzeichen wiederbelebt, als er mit Juhle und Shane Manning zusammen Mayhew überführte. Zumal, praktisch betrachtet, The Hunt Club als Geschäftsname ziemlich überzeugend klang, nämlich so, als würde dort ein Haufen von gleichgesinnten Profis wirken und gute Arbeit leisten. Eine Einrichtung mit einem solchen Namen konnte gut und gern fünfzig Angestellte haben. Tatsächlich war es zunächst nur er allein. Als Nächstes kam Tamara Dade. Sie und ihr Bruder Mickey gehörten zu den wenigen Kindern, die Hunt im Zuge seiner Notfalleinsätze bei CPS kennen gelernt und mit denen er Kontakt gehalten hatte. Tamara hatte Hunt ausfindig gemacht, als sie vierzehn war, um ihm dafür zu danken, dass er ihr das Leben gerettet hatte, als sie noch Tammy war und nur noch einen Löffel voll Erdnussbutter zu essen hatte. 53 Nach diesem unerwarteten Anruf waren sie, wenn auch eher unregelmäßig, in Verbindung geblieben. Vor ein paar Jahren hatte Hunt ihre Abschlussfeier an der San Francisco State University besucht. Anschließend half Tamara sich mit Büroarbeit über die Runden, während sie nach einem »richtigen« Job suchte, aber irgendwie wollte sich nichts Aufregendes bieten. Dann eröffnete Hunt seine Detektei und stellte fest, dass die Geschäfte gut liefen und er mindestens eine Assistentin und einen Außendienstmitarbeiter in Teilzeit benötigte. Jetzt kam Tamara jeden Tag ins Büro und diente als
Empfangsdame, Büroleiterin, Buchhalterin, Sekretärin und, da sie ein neues Studium, nämlich Kriminologie, aufgenommen und praktische Ermittlungen zu absolvieren hatte, als gelegentliche Partnerin. Schon bei der Büroarbeit die reine Effizienzmaschine, war sie sogar noch besser, wenn es darum ging, sich in der Praxis die Hände schmutzig zu machen - vollkommen furchtlos und im Befragen von Leuten unschlagbar, weil diese sich ihr wie selbstverständlich anvertrauten. Sie waren noch nicht lange im Geschäft, da sah Hunt sich veranlasst, Devin Juhle um einige unter Verschluss stehende Fahrzeuginformationen zu bitten, an die er über die normalen Kanäle nicht herankam. Er lernte einige der kleinen Gauner kennen, die den Beamten der Mordkommission als Informanten dienten und oft sagen konnten, wo gesuchte Zeugen sich versteckt hielten. Danach bezeichneten auch Juhle und Manning sich als Clubmitglieder. Eines Abends dann, als Hunt bei Familie Juhle zum Essen eingeladen war - was recht häufig vorkam -, weigerte sich Devins Frau Connie, ihm auch nur einen einzigen Bissen zu servieren, solange er nicht auch sie als Mitglied aufgenommen hatte. 54 Von da an gewann die Angelegenheit eine Art Insiderprestige. Eines Abends tauchte Amy Wu zusammen mit Wes Farrell, einem der Partner in ihrer Firma, auf einen Drink im Lou the Greek's auf, wo Hunt, Juhle und Manning, schon ein paar Gläser im Vorsprung, damit beschäftigt waren, an der Vereinssatzung zu feilen, was in diesem Falle hieß, die offizielle Clubhymne feierlich einzuführen, wobei sie sich bei Will Ferrells populärer Nummer aus der Saturday-Night-Live-Show bedienten, die ihrerseits auf einen Vers von Fishbone zurückging - »U.G.L.Y., you ain't got no alibi. You Ul-ly, you Ul-ly.« Natürlich bewarben Amy und Wes sich umgehend um Aufnahme. Hunt und die beiden anderen Jungs gaben sich spröde. Denn was für einen Sinn hätte so ein Club, wenn man nicht gewisse Qualitätsmaßstäbe anlegte? Was konnten Amy und Wes denn in diesem Sinne anbieten? Wes zögerte keinen Augenblick. Er knöpfte sein Oberhemd auf und brachte darunter ein T-Shirt zum Vorschein, auf dem gedruckt die Worte standen: »Alles geht besser mit anabolen Steroiden.« »Ich trage jeden Tag ein anderes«, sagte Wes. »Es ist unter Umständen die kompletteste Sammlung der Welt.« In stummer Bewunderung nickend - Farrell hatte den Gesinnungstest bestanden und sich damit qualifiziert -wandten Hunt und die Cops sich Amy zu. Sie wischte sich die Träne ab, die sich irgendwie auf ihre Wange gestohlen hatte. »Ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht in einem Club gewesen«, flüsterte sie. »Nie wollte mich jemand aufnehmen. Ach, na ja, spielt ja keine Rolle.« Offenbar tief verletzt, drehte sie sich um, entfernte sich stockenden
Schritts. Hunt, der ein schlechtes Gewissen hatte, verdrehte die Augen und ging ihr nach, um den seeli 55 schen Schaden, wenn möglich, ein wenig zu lindern -immerhin war sie eine gute Freundin und nicht zuletzt auch eine gewichtige Quelle seines Einkommens. Sanft legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Amy, wir wollten nicht...« Und sie wirbelte herum, strahlte ihn an. »Spinnst du?«, sagte sie. »Ist dir nicht klar, dass viele Leute Mord und Totschlag begehen würden, um mich in ihren Club aufnehmen zu dürfen?« Sie zog ihn zu sich herunter und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »An erstklassigen Lügnern besteht immer Bedarf, Wyatt. Du weißt nie, wann du mal einen gebrauchen kannst.« Eines Tages tat sich Amy mit Jason Brandt zusammen, einem Anwaltskollegen, der vorwiegend im Jugendstrafrecht tätig war, aber die Mitgliedschaft im Club erlangte, nachdem er mit Hunt gewettet hatte, dass er sie alle drei jederzeit in jedes Spiel der Giants hineinbekommen könnte, ohne Tickets, ohne Reservierung. Oder in jedes beliebige Konzert, jede Veranstaltung, jedes Happening. Brandt schien nicht zu begreifen, warum Leute bezahlten oder Eintrittskarten kauften, um irgendwas tun zu können. Er erzählte Hunt, und der war mittlerweile geneigt, ihm zu glauben, dass er im Sommer seines letzten Collegejahres - zugegeben, das war vor dem elften September gewesen - die Vereinigten Staaten per Verkehrsflugzeug bereist habe, mit Zwischenaufenthalten in Chicago, Boston, New York, Miami und Los Angeles, ohne ein einziges Ticket zu erwerben. Schließlich engagierte Hunt einen weiteren jungen Freiberufler, Craig Chiurco, um bei Überwachungen auszuhelfen, und bald schon wurden Chiurco und Tamara ein Paar. Inzwischen waren sie also, nachdem Shane Manning zu Tode gekommen war, zu neunt - vier davon, Hunt eingeschlossen, auf der Gehaltsliste und fünf freie Mitarbeiter, 55 die gelegentlich eine kleine Pause in ihrem Brotberuf als Anwalt, Cop und sogar Mutter einlegten, um ein bisschen Spaß am Rande zu haben, die tägliche Routine zu durchbrechen. Heute Morgen im Büro hatte er seinen Angestellten eine Prämie von je fünfhundert Dollar ausbezahlt. Für die Freien war der Jahrestag ein ausreichend adäquater Anlass, ins Sam's einzufallen, um etwas Feines zu essen und sich dabei zu amüsieren. Wes Farrell hatte sich die Haare wieder wachsen lassen, wenn auch nicht so extrem wie vor ein paar Jahren, als sie bis weit über die Schultern gefallen waren. Dennoch war das Haar, zu einem Pferdeschwanz gebunden, ein Statement, genau wie das T-Shirt unter seinem Oberhemd, das er soeben vorgezeigt hatte und das sich wie folgt las: »Man hat mir gesagt, Mathe würde
ausfallen.« Sein Kommentar dazu war, dass er im Allgemeinen nonverbale Statements vorziehe, wie zum Beispiel seine Haare. »Und was hat es mit den Haaren jetzt auf sich?«, fragte ihn Wyatt Hunt. »Wie, gefällt es dir nicht?« Betroffen legte Farrell eine Hand aufs Herz. »Ich habe Wochen daran gearbeitet.« »Ich weiß. Ich stehe auf die Haare. Ehrlich. Aber es ist nicht gerade der typische Anwaltslook.« »Tony Serra hat's auch«, sagte Amy Wu und meinte damit den legendären Strafverteidiger, dessen Wirken sogar verfilmt worden war. »Langes Haar, meine ich.« »Tony Serra kann man schwerlich als gewöhnlichen Anwalt bezeichnen«, sagte Hunt. Farrell nahm Anstoß. »Ebenso wenig, wenn ich das hinzufügen darf, wie mich.« 56 »Nein«, sagte seine Freundin, »ganz gewiss nicht.« Samantha Duncan - Sam, nicht verwandt mit dem Restaurant -streichelte seine Hand und wandte sich an Hunt. »Und was das Statement betrifft, so wird er sich so lange nicht mehr die Haare schneiden, bis irgendetwas Sinnvolles passiert. Ich hab ihm gesagt, dass damit nicht zu rechnen ist, bevor wir nicht eine neue Regierung in Washington bekommen.« Sam war eine ziemlich hemmungslose Anhängerin der Grünen Partei, womit sie in San Francisco schon beinahe dem Mainstream angehörte, wenn auch nicht unbedingt in diesem Kreis von Gesetzesvertretertypen. »Fang nicht damit an, Liebste.« Farrell legte seine Hand auf ihre. »Es muss nicht auf nationaler Ebene sein. Irgendein Hauch von Sinn, egal wo er auftaucht, könnte reichen, um mich zum Friseur zu treiben. Aber ich sehe keine Anzeichen dafür.« Farrell blickte in die Runde. Das Abendessen verlief sehr angenehm, hatte sich aber nicht unbedingt zu der Hunt-Club-Jahresfeier-Ausschweifung entwickelt, als die Hunt es ursprünglich angekündigt hatte. Devin Juhle hatte ausgerechnet heute Morgen einen gewaltigen Fall serviert bekommen - ein Bundesrichter war ermordet worden -, und er und Connie hatten absagen müssen. Hunt hatte einen Tisch für acht Personen reserviert - der leere Stuhl zum Gedenken an Shane Manning, ausdrücklich nicht für Juhles neuen Partner. Als Amy das Team vom Gerichts-TV, zu dem ihre Freundin Andrea Parisi gehörte, entdeckt hatte, das über den Mordprozess gegen Randy Donolan berichtete, seit sechs Wochen Thema Nummer eins in der Boulevardpresse, hatte sie sie eingeladen, die drei freien Plätze am Tisch einzunehmen. Die Party war nunmehr erweitert um Spencer Fairchild, den Produktionsleiter, Parisi und Richard Tombo, 56
einen schwarzen Anwalt, der als Gerichtsexperte mit Parisi zusammen vor der Kamera stand. »Wenn zum Beispiel«, sagte Farrell und deutete auf Tombo, »Sie, Rieh, oder Andrea oder ihr beide mit euerm Gerichts-TV tatsächlich groß rauskommen solltet, das würde für mich Sinn ergeben.« »Dann sollten Sie schon mal einen Termin bei Ihrem Friseur machen«, sagte Tombo. »Dass Andrea auf nationaler Ebene moderieren wird, das ist so gut wie sicher.« Er sah seinen Aufnahmeleiter an. »Stimmt's, Spence?« Fairchild versuchte, nicht zusammenzuzucken. »Wie ich, glaube ich, schon erwähnt habe, liebe Freunde, arbeite ich nur im lokalen Rahmen. Wenn dieser Donolan-Zirkus in ein paar Wochen zu Ende ist, zisch ich ab nach Colorado oder Arkansas, zum nächsten Sensationsprozess. Die großen Entscheidungen werden in New York getroffen, nicht vor Ort.« Brandt, immer scharf darauf, Rechtsfälle zu debattieren, befreite Fairchild aus der Klemme. »Sie glauben, dass die Donolan-Sache sich noch zwei Wochen hinzieht? Also, ich meine, nach dem, was er heute abgezogen hat...« Als Andrea Parisi ihren Lippenstift fertig aufgetragen hatte, betrachtete sie sich prüfend im Spiegel der Frauentoilette. Im ständigen Bemühen, nicht an gestern zu denken, hatte sie beim Mittagessen das Gefühl gehabt, ein paar Gläser Wein könnten sie in die rechte Stimmung versetzen, um später mit der üblichen Tageszusammenfassung auf Sendung zu gehen. Sie, ihr Produktionschef und ihr männliches Pendant hatten sich dann auf dem Weg hierher in der Limousine noch ein Gläschen Sekt genehmigt. In den neunzig Minuten seit ihrem Eintreffen hatte sie einen Wodka Martini (»Belvedere, darf gern ein bisschen kräftiger sein«) 57 an der Bar getrunken, bevor sie sich alle an den Tisch setzten, dann ein Glas Pinot Grigio zu ihren Venusmuscheln und ein paar Gläser (zwei? drei?) Jordan Cabernet mit dem Bries. Sie wog fünfundfünfzig Kilo und wusste, dass sie wahrscheinlich von Rechts wegen betrunken war, auch wenn sie sich noch ausgezeichnet fühlte. Sie überzeugte sich davon, dass die Tür verschlossen war. Mit geschlossenen Augen hob sie dann den rechten Fuß ein wenig an, berührte ihre Nasenspitze und zählte bis fünf. Dann öffnete sie die Augen, stellte den Fuß wieder ab und fixierte mit einem gezwungenen Lächeln ihr Spiegelbild. »Fischers Fritz fischt frische Fische«, flüsterte sie. Sie wiederholte es dreimal, ohne Fehler. Sie hätte eine Wette darauf eingehen können, dass sie noch voll fit war, aber so ein kleiner Belastungstest konnte auf keinen Fall schaden. So hatte sie jedenfalls für sich zweifelsfrei geklärt, dass sie ohne Weiteres noch einen Amaretto bewältigen konnte oder vielleicht, je nachdem, wohin ihre Tischgenossen tendierten, ein bisschen Grand Marnier oder auch ein Gläschen Cognac zum Dessert. Danach würden wenigstens einige von ihnen zur
Zigarrenbar um die Ecke gehen und noch ein, zwei Runden zur Begleitung trinken, und sie hatte, wenn es sich denn so ergab, die feste Absicht, sich ihnen anzuschließen. Sie warf noch einen letzten Blick auf ihr Spiegelbild, und da war etwas in ihren Augen, das sie innehalten ließ. Oh doch, glamourös genug war sie auf jeden Fall, vermutete sie. Ihre dunklen Haare, etwas mehr als schulterlang, hatten einen kräftigen roten Schimmer - ein natürlicher Farbton, wohlgemerkt, schließlich war sie erst einunddreißig. Eine Brücke aus blassen Sommersprossen schwang sich, von den glatten Wangen ausgehend, über eine Nase, wie sie ein Modigliani gemalt 58 haben könnte. Ihr Kinn war streng genommen vielleicht ein bisschen zu klein, ihre Lippen waren vielleicht ein bisschen zu voll, aber fürs Fernsehen war das sogar eher ein Vorteil. Dennoch, im Spiegel blitzte Zweifel auf, eine Spur von Unsicherheit vielleicht. An den Rändern ihrer verblüffend grünen Augen sah sie ein winziges Netz von Sorgenfalten entstehen und sich dann wieder auflösen wie eine Erscheinung. Sie beugte sich vor und versuchte zu ergründen, was in jenen Augen lag, die zu ihr zurückstarrten. Aber eine prompte Antwort war nicht zu bekommen, und sie konnte hier nicht länger bleiben, wenn sie nicht die Aufmerksamkeit und womöglich den Spott der Männer erregen wollte, und das durfte nicht sein. Niemals würde sie sich das durchgehen lassen. Sie richtete sich auf, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, über die knallrote Lippenstiftfarbe, und lächelte sich zu. Ein kleiner Seufzer verschaffte sich Luft, aber sie bemerkte es gar nicht. »Alles ist gut«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild. »Bleib cool. Übertreib's nicht.« Sie holte jetzt tiefer Luft, straffte die Schultern, griff nach dem Türknopf und ging zurück in den Hauptspeisesaal. Hunt griff nach seinem Cabernet und führte das Glas zum Mund, aber dann ließ eine Vision ihn innehalten, bevor er noch einen Schluck genommen hatte. Während die Diskussion über Barry Donolans Schicksal sich im Hintergrund fortspann, beobachtete er, wie die außergewöhnliche Andrea Parisi sich überaus graziös durch das voll besetzte Restaurant zurück zu ihrem Tisch schlängelte. Dank seines günstigen Sitzplatzes mit dem Rücken zur Wand hatte er sie die ganze Zeit voll im Blickfeld. Die Geräusche um ihn herum verebbten. 58 Nachtisch und jetzt auch wieder Gerichts-TV. »Spence wird sowieso nicht weggehen«, sagte Hunt. »Nicht, wenn die Palmer-Sache von heute Morgen erst mal eingeschlagen hat. Wenn ein Bundesrichter erschossen wird, ist das landesweit Thema.«
»Aber nicht sofort«, sagte Farrell. »Selbst wenn sie jemanden finden und zur Anklage bringen, dauert es noch Jahre bis zum Prozess.« »Ich wette eine Million, dass es die Gewerkschaft der Gefängniswärter war«, sagte Brandt. »Er wollte den Laden zumachen, da haben sie ihn beseitigt.« Farrell schüttelte den Kopf. »Zu offensichtlich.« Wu war der gleichen Ansicht. »Und das Mädchen war ganz zufällig da? Das glaub ich nicht, Jason.« Tombo trank sein Weinglas leer. »Amy hat Recht. Wir müssen in diesem Falle nicht cherchez lafemme spielen. Sie ist schon da, nämlich die Ehefrau. Die hat was damit zu tun, garantiert.« »Definitiv die Frau«, sagte Sam. »Sie hat sie erwischt, zur Rede gestellt und adios.« »Hab allerdings gehört, dass sie gar nicht zu Hause war«, sagte Tombo. Sam unterstrich seine Worte mit dem Zeigefinger. »Wartet nur. Es wird sich herausstellen, dass sie es war.« , »Ich stimme Sam zu«, sagte Fairchild. »Die Frau war es entweder selbst, oder sie hat jemanden dafür bezahlt.« »Gibt's schon irgendeine Info darüber, wer die andere Person ist?«, fragte Wu. Hunt wurde klar, dass er wahrscheinlich über die neuesten Neuigkeiten verfügte. »Devin sagt Nein. Und selbst wenn er's wüsste, würde er es mir nicht sagen.« »Nicht mal dir, seinem guten Freund?«, fragte Brandt. 59 Hunt nickte. »Ich hab ihm zwar gesagt, dass ich das nicht richtig finde, und hab dazu auch ein bisschen geweint, aber es hat alles nichts genützt.« »Hunt bricht in Tränen aus«, sagte Wu. »Das hätte ich gern sehen wollen.« »Also wirklich! Das ist ja so gemein.« Hunt legte eine Hand aufs Herz. »Ich weine. Ich habe Gefühle. Ich weine bei Hochzeiten, ich weine bei Hallmarkwerbung. Manchmal weine ich nur so aus Spaß. Weinen ist das neue Lachen.« »Ich werd's irgendwann mal ausprobieren«, sagte Wu. »Also, wie alt war sie eigentlich? Das Mädchen?« »Das jedenfalls wusste Devin«, sagte Hunt. »Anfang zwanzig.« Er machte eine Pause. »Palmer war dreiundsechzig.« »Okay«, sagte Fairchild, »jetzt kommen wir der Sache doch schon näher. Wenn dieser Prozess eröffnet wird, kommt jede Kamera in Amerika zurück nach San Francisco. Vor allem, wenn es die Ehefrau war.« »Es wird die Ehefrau sein«, sagte Sam noch einmal. »Es ist immer die Ehefrau. Außer wenn es der Ehemann ist.« Sie tätschelte Farrells Hand, die neben ihr lag. »Das ist der Hauptgrund, warum Wes und ich nicht verheiratet sind. Damit wir uns nicht gegenseitig umbringen.«
Wu, mit Brandt verlobt, sah ihren Verlobungsring an, dann ihren Verlobten. »Ich möchte trotzdem noch heiraten«, sagte sie. »Ich verspreche, dich nicht umzubringen.« Brandt gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich auch.« Tombo sagte: »Ihr solltet das mit ins Ehegelöbnis aufnehmen.« Allgemeines Gelächter folgte, und mittendrin sah Hunt zu Andrea Parisi hin, die mit den Gedanken ganz woanders zu sein schien, bis sie seinen Blick bemerkte und ein Lä 60 cheln zeigte, das nichts an Liebreiz einbüßte dadurch, dass es so offensichtlich aufgesetzt war. Sam und Wes gingen nach dem Essen nach Hause, während der Rest der Truppe in den Occidental Cigar Club überwechselte, von Sam's aus gleich um die Ecke an der Pine Street. Das Occidental hatte ein Schild an der Eingangstür: »Dies ist kein Fitnessclub.« Nur zur Sicherheit für all diejenigen, die sonst womöglich, ohne die Zigarrenrauchwolken zu bemerken, mit ihren Lycraanzügen und Schweißbändern in froher Erwartung eingetreten wären. Die Occidental-Betreiber hatten eine Möglichkeit ersonnen, die rigiden städtischen Rauchverbotsverordnungen zu umgehen. Niemand, der Alkohol ausschenke, so die Stadtväter, dürfe das Rauchen in geschlossenen Räumen gestatten, da das Passivrauchen schädlich sei für die Leute, die in diesen Räumen arbeiteten. Eine Ausnahme war dort gegeben, wo der Besitzer einer kleinen Bar auch der einzige Angestellte dieser Bar war. Im Occidental waren daher sämtliche Angestellte zugleich Anteilseigner. Hunt, der mit Jason und Amy am Frontfenster saß und genau wie sie am nächsten Tag arbeiten musste, hatte sich schon während des Essens mit dem Alkohol zurückgehalten und trank jetzt koffeinfreien Kaffee. Wu rauchte eine kleine Sancho Panza, Hunt und Brandt jeweils eine Monte Cristo. Hunts Augen suchten immer wieder die Bar. Er sah, dass Fairchild, Tombo und Parisi an neuen Getränken arbeiteten, die in Cognacschwenkern serviert wurden. Gehaltvolle Getränke also. »Denen wird es morgen nicht so gut gehen«, sagte er. Wu blickte hinüber. »Andrea hat sich schon den ganzen Abend die Kante gegeben, Wyatt, als ob du's nicht bemerkt 60 hättest. Sie wird morgen sterben wollen, aber guck sie dir jetzt an ...« »Du brauchst Wyatt nicht zu sagen, dass er sie angucken soll«, sagte Brandt. »Das erledigt er ganz von selbst.« Hunt sah ihn ausdruckslos an. »Ich sitz mit dem Gesicht in ihre Richtung, Jason. Soll ich mich wegdrehen? Außerdem gibt es üblere Sachen zum Angucken.«
»Boah, das nenn ich ein Kompliment«, sagte Wu. »Das werde ich Andrea weitersagen.« Hunt nippte an seinem Kaffee. »Ich glaube kaum, dass meine Meinung ihre Weltsicht erschüttern wird.« »Mach dir nichts vor«, sagte Brandt. »Sie spricht von dir mitunter in den höchsten Tönen.« »Sicher doch«, sagte Hunt und dann, in möglichst beiläufigem Ton: »Was sagt sie denn?« Brandt blies Rauch aus. »Sie mag es, wenn ihr euch beim morgendlichen Joggen zufällig trefft. Sie meint, das sei oft praktisch der Höhepunkt ihres Tages, nur ihr beiden, keuchend am Embarcadero entlang.« Hunt hatte fast ein Jahr lang beruflich mit Parisi - sie als Vertreterin ihrer Firma Piersall-Morton - zu tun gehabt. Er fand sie durchaus attraktiv, aber die Verbindung war rein sachlicher Natur gewesen. Dann waren sie sich vor einigen Monaten versehentlich beim Joggen über den Weg gelaufen. Sechs Uhr morgens, dichter Nebel, und Parisis Kommentar war, sie habe gar nicht gewusst, dass er genauso ein Idiot sei wie sie. Er lief neben ihr her, bis sie an der Bay abbog, geredet wurde dabei kaum. Seither war es kein Versehen mehr. Jetzt verließ Hunt seine Wohnung fast jeden Morgen um die gleiche Zeit und lief immer dieselbe Route, und ohne dass es je Thema geworden wäre, hatten sie sich über ein dutzend Mal getrof 61 fen. Er war nie auf die Idee gekommen, dass sie vielleicht ihrerseits die Zeit abgepasst hätte. »Was gefällt ihr denn daran?« »Du quatschst sie nicht voll«, sagte Wu. »Das ist wahr. Ich hab, glaube ich, noch keine hundert Worte zu ihr gesagt.« »Eben das gefällt ihr«, sagte Brandt. Offensichtlich hatten er und Wu sich bereits darüber unterhalten. »Du behandelst sie wie einen normalen Menschen.« »Sie ist ein normaler Mensch.« Hunts Augen wanderten wieder in Richtung Bar. »Im Trainingsanzug und mit hochgesteckten Haaren.« Er hob das Kinn, deutete auf das Medientrio. »Aber die Person dort drüben, das ist kein normaler Mensch. Das ist ein Star.« »Na ja«, sagte Brandt, »das ist sie auch. Obwohl ich glaube, dass sie darüber nicht so glücklich ist. Sie ist nicht scharf darauf, diese Person zu sein.« »Dann verstellt sie sich hervorragend«, sagte Hunt. »Sie ist einfach noch unschlüssig.« Wu atmete Rauch aus. »Ich meine, siehst du den Reiz der Sache nicht? New York. Ruhm und Glanz. Jeden Tag in der Glotze. Das große Geld. Hast du 'ne Ahnung, was sie jetzt die ganze Zeit bekommt, während sie die Donolan-Sache macht?« »Minimal, dachte ich«, sagte Hunt. »Macht sie's nicht hauptsächlich als Werbung für ihre Firma?«
Brandt schüttelte den Kopf. »Von wegen.« »Sie hat mit fünf Riesen in der Woche angefangen«, sagte Wu, »und Topeinschaltquoten erzielt. Jetzt liegt sie bei zwanzig.« Hunt erstickte fast an seinem Kaffee. »Zwanzigtausend Dollar die Woche? Für drei Soundbytes pro Tag, wenn's hoch kommt?« 62 Brandt sagte: »Wenn sie nach New York geht, sind es fünfhundert Riesen im Jahr, mit rapider Steigerungsrate.« »Was«, fügte Wu hinzu, »irgendwie vorteilhafter klingt als eine Siebzigstundenwoche bei Piersall.« »Klingt vorteilhafter als alles, was ich je gehört habe«, sagte Hunt. »Kein Wunder, dass sie sich so reinhängt.« »Nun ja.« Fast wehmütig wandte Wu den Kopf zur Bar. »Aber wie du schon sagtest, im Grunde ist sie ein ganz normaler Mensch.« An der Bar unterdessen stieß Parisi gerade mit Fairchild an, und ihr wunderbares Lachen wurde zu ihnen herübergetragen. Wu schlürfte ihren Espresso. »Ich fürchte nur, sie liegt mit sich selbst im Widerstreit.« Hunt beugte sich näher heran. »Wie meinst du das?« »Sie müsste sich nicht derart voll laufen lassen, wenn es ihr leicht fiele. Das mit der prominenten Persönlichkeit, meine ich. Die Starkiste. Man braucht nicht so viel zu trinken, wenn man glücklich ist, Wyatt. Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche.« Hunts Blick klebte auf Andrea. »Vielleicht macht sie nur mal einen drauf.« »Könnte sein«, gab Wu zu, »aber als ich vor noch nicht allzu langer Zeit in diesem Stil einen draufgemacht hab, da war ich nicht glücklich. Da habe ich mich versteckt.« »Und ich hab dich gefunden«, sagte Brandt. Sie hob seine Hand hoch und küsste sie. »Gott sei Dank.« »Ihr beiden solltet euch ein Zimmer nehmen«, sagte Hunt. Brandts Hand strich über Wus Rücken. »Ja, vielleicht«, sagte er. Wieder drang Parisis Lachen zu ihnen herüber. An der Bar hatte man anscheinend noch eine weitere Runde bestellt und prostete sich jetzt zu. 62 Eine halbe Stunde später verschwanden Wu und Brandt. Da er seine Zigarre aufgeraucht hatte, erhob sich auch Hunt, um nach Hause zu gehen, aber nach einem Abstecher zur Toilette fiel sein Blick, schon auf dem Weg nach draußen, noch einmal auf die Bar und Parisi. Ohne bewusste Absicht erklomm er einen leeren Hocker an der Wand in der hinteren Ecke, wo er so gut wie nicht gesehen werden konnte. Tombo war ebenfalls gegangen. Nur Fairchild und Parisi saßen noch da, die Köpfe eng zusammengesteckt. Angesichts Parisis plötzlich abgespanntem und leerem Gesichtsausdruck fand Hunt es kaum vorstellbar, dass sie noch vor
kurzem herzlich gelacht hatte. Als sie sich von Fairchild abwandte, reflektierte das schummrig gelbe Barlicht auf ihrer Wange, und Hunt sah erschrocken, dass sich dort eine Tränenspur abzeichnete. Ja tatsächlich, sie weinte. Fairchild beugte sich gerade zu ihr hinüber, als sie sich ihm mit einem Ruck wieder zuwandte. Es folgte eine unkontrollierte Bewegung ihrer Hand. Im selben Moment hörte er ein bitterböses »Leck mich doch!«, das gemeinsam mit dem Knall der Ohrfeige zur Folge hatte, dass sich eine jähe Stille über die Bar legte. Und wieder: »Du kannst mich mal, Spencer!« Und dann war sie von ihrem Barhocker herunter und bewegte sich unsicher am Ende des Tresens entlang zur Eingangstür. In der angespannten Stille hörte Hunt ein kehliges Schluchzen, während sie die Tür so heftig aufstieß, dass diese gegen die Hauswand knallte. Draußen blieb sie, in beide Richtungen blickend, eine halbe Sekunde lang stehen, dann wandte sie sich nach rechts und begann zu rennen. Hunt war auf den Füßen, bevor die Tür wieder zuging, stürmte raus auf die Straße und setzte ihr nach. Sie hatte 63 keine dreißig Meter Vorsprung. Die Geräusche, die sie machte, hallten zwischen den Innenstadtgebäuden wider. Es war beinahe ein Heulen, das sie von sich gab - ein fortwährendes, gleichzeitig stakkatohaftes Stöhnen, von ihren Schritten interpunktiert. Hunt rief ihren Namen und verfiel seinerseits in Laufschritt. Vor der nächsten Ecke bekam die Straße ein stärkeres Gefälle, und Parisi kreischte erschrocken auf, als sie nach vorn fiel, zu Boden ging und wimmernd im Rinnstein der Montgomery Street landete. In Sekundenschnelle war Hunt bei ihr, versuchte sie umzudrehen, festzustellen, was mit ihr war. Doch ihre Augen füllten sich sofort mit Tränen, als sie seine Männerstimme hörte, und auch der Alkohol trübte ihre Sicht, sodass sie wild um sich schlug und schrie: »Nein! Nein! Nein! Lass mich in Ruhe!« Er ließ sie nicht los, hielt sie gegen ihren Widerstand fest. »Andrea, alles in Ordnung. Ich bin's, Wyatt.« Parisi wehrte sich weiter. »Nein, nein, nein, nein.« »Ich bin Wyatt, Andrea. Kommen Sie, stellen wir Sie wieder auf die Füße.« »Kann nicht.« Sie schloss die Augen. »Mir ist so schlecht.« Ihr Körper begann in Zuckungen zu verfallen. Hunt drehte ihren Kopf zur Seite und hielt sie fest, während sie ihre letzten paar Drinks und den Großteil ihrer Mahlzeit von sich gab. »Okay«, sagte er, »so ist 's gut. Einfach alles rauslassen. Dann geht's Ihnen besser.« Als sie fertig zu sein schien, zog er sich den Schlips vom Hals und wischte ihr damit das Gesicht ab; anschließend ließ er ihn einfach im Rinnstein liegen. Er
hievte sie hoch, schob sie auf den Bürgersteig zurück. Ihre Handtasche war beim 64 Sturz weggeflogen, lag nun mitten auf der Straße. Er lehnte Andrea mit dem Rücken gegen das nächste Gebäude, während er die Tasche holte. Als er zurückkam, waren ihre Augen geschlossen, ihr Atem ging stoßweise. Er ging in die Hocke und berührte ihre Wange. »Andrea, können Sie mich hören?« Sie rührte sich kaum. »Glauben Sie, dass wir Sie nach Hause kriegen?« Keine Antwort. Er öffnete ihre Handtasche, fand darin eine Brieftasche, die er aufschlug, um nach ihrer Adresse zu suchen. Sie wohnte irgendwo in der Larkin Street, die sich bis ganz in den Norden der Stadt erstreckte. Hunt sah auf seine Uhr -fast Mitternacht. So voll, ja geradezu verstopft, die Montgomery Street tagsüber war, zu dieser Nachtstunde lag sie vollkommen verlassen da. Die ganze Zeit war noch kein einziges Auto vorbeigekommen. Jetzt aber sah er ein Taxi auf sie zukommen. Er ging an den Straßenrand, hob die Hand. Das Taxi hielt an, und Hunt ging zum Fahrerfenster. »Meine Freundin hat ein bisschen viel getrunken«, sagte er und zeigte dabei auf Parisi. »Wenn Sie vielleicht einen kleinen Moment warten könnten.« Der Taxifahrer war ein Schwarzer mittleren Alters mit Giants-Mütze und jacke. »Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er. Nach einer Minute hatten sie sie auf dem Rücksitz verstaut, völlig weggetreten. »Wollen Sie sie in die Notaufnahme bringen?« Hunt hätte fast Ja gesagt, überlegte dann aber, dass sie dadurch noch mehr Ärger bekommen könnte. Sie atmete. Sie hatte viel zu viel getrunken, aber sie würde nicht sterben. Und die Notaufnahme würde Komplikationen im Hinblick auf ihren Job und ihre Fernseharbeit schaffen. Er 64 wollte ihr nicht noch zusätzliche Probleme bereiten. Er wollte ihr einfach helfen, durch diesen Schlamassel zu kommen. »Ich glaube nicht. Nur nach Hause.« Er nannte seine Adresse. Der Taxifahrer bog um die Ecke und gab Gas.
8
Die morgendliche Befragung von Jeanette Palmer und die anschließenden Besprechungen sowohl mit dem FBI als auch mit dem Heimatschutzministerium beanspruchten Juhle und Shiu bis über die Mittagszeit hinaus. Nachdem sie sich von Janey Parks, ihres Zeichens Stellvertretender Coroner, zurück in die Innenstadt hatten mitnehmen lassen, stiegen sie in ihr reguläres Auto und fuhren wieder in die Clay Street, um mit den
Nachbarn zu sprechen und sich mit dem zu befassen, was die Spurensicherung zutage gefördert hatte. Was nicht viel war. Eine Patrone in dem Buch, das Juhle entdeckt hatte, wies die Mordwaffe, wie vermutet, als eine vom Kaliber .22 aus. Aufgrund der Präzision der Schüsse und der auf dem Schreibtisch gefundenen Rückstände hatten die Forensiker festgestellt, dass der Schütze wahrscheinlich sehr dicht am Schreibtisch, wenn nicht direkt davor gestanden hatte. Obwohl weitere Untersuchungen vorgesehen waren, um die ersten Befunde, die man bestenfalls als skizzenhaft bezeichnen konnte, zu vertiefen, fühlte Shiu sich zu der Mutmaßung veranlasst - unter Berufung auf die Blutsprit 65 zer und die Flugbahn der Kugel durch das Buch - dass der Schütze entweder ein Mann von geringer Körpergröße oder eine Frau gewesen sei. Juhle zuckte zusammen. Er wusste, dass es zu viele Variablen in der räumlichen Zuordnung von Tatwaffe und Opfern gab, als dass man derartige Schlüsse ziehen konnte. Wie sollte man zum Beispiel unterscheiden zwischen einem groß gewachsenen Mann, der aus der Hüfte schoss, und einem kleinen Mann, der die Waffe in Schulterhöhe hielt? Er konnte sich nicht beherrschen: »Also, ein Mann oder eine Frau. Wer hätte das gedacht? Und nicht etwa ein, sagen wir, Schimpanse, worauf ich zuerst getippt hätte.« Die Nachbarschaft war ebenso eine Pleite, mit einer wichtigen Ausnahme vielleicht. Shari Levin, die direkt gegenüber von den Palmers wohnte und um etwa halb acht das Haus verlassen hatte, um zu ihrer Bridgerunde zu fahren, glaubte gesehen zu haben, dass Mrs Palmers Auto an der Straße geparkt war. Aufgefallen war ihr das, weil sie es merkwürdig fand, dass sie nicht wie sonst üblich auf ihrer eigenen Auffahrt parkte. Auf jeden Fall sei es die gleiche Art von Auto gewesen - »eins von diesen Sportcabrios, die man jetzt überall sieht«. Sie wusste, dass Mrs Palmer den BMW Z4 fuhr, der jetzt in der Auffahrt stand, und sie glaubte, dass es dieses Auto gewesen sei, obwohl es schon gedämmert habe und das Auto ja auch dunkel sei. Juhle und Shiu speicherten die Information ab, im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass das fragliche Auto, wenn es nicht Mrs Palmer gehört hatte, ebenso gut ein Audi, ein Porsche oder ein Mercedes gewesen sein konnte. Oder sogar ein Honda. Auf schärfere Befragung hin hatte Ms Levin ihnen nicht mehr sagen können, als dass sie nur flüchtig hingesehen und nichts Ge 65 naues erkannt habe, aber mit Sicherheit habe ein Auto an der Straße, gleich bei der Auffahrt, geparkt, und sie habe geglaubt, dass es das von Mrs Palmer sei. Wem hätte es sonst gehören sollen? Man konnte also nicht sagen, dass die Ermittlung in den ersten paar Stunden erheblich vorangekommen wäre. Nicht, dass sie damit vorher gerechnet
hätten, aber die Nachsicht der Öffentlichkeit mit zögerlichen Ermittlungsfortschritten würde nicht lange währen. Polizeichef Batiste ließ dies bei der Pressekonferenz am Nachmittag mit aller Deutlichkeit durchblicken, als er sagte, dass der Mord an einem Bundesrichter unsere freie Gesellschaft mitten ins Herz treffe und dass die Ergreifung des oder der Verantwortlichen für diese ruchlose Tat die dringlichste Aufgabe seiner Polizeibehörde bis zur restlosen Aufklärung dieses Falles sei. Die Formulierung »meine Polizeibehörde« war Unheil verkündend. Er würde die Lorbeeren für einen Erfolg einstecken und die Verantwortung für ein Scheitern übernehmen. Er versprach Ergebnisse, und zwar schnell. Juhle schätzte es gar nicht, wenn die Oberen so etwas taten. Batiste wusste überhaupt nicht, was sie in der Hand hatten, womit sie arbeiten mussten; er hatte nicht die geringste Vorstellung von der Komplexität des Falles. Niemand hatte das bis jetzt. Dennoch versprach Batiste rasche Ergebnisse. Dumm und kontraproduktiv, und Juhle und Shiu mussten es jetzt ausbaden. Danke, Herr Polizeichef. Und Sie wundern sich, dass die Moral der Truppe im Arsch ist ? Auf derselben Pressekonferenz hatte Batiste, womit er die Sache noch ein Stück höher hängte, ferner verkündet, dass er und Bürgermeister West dem Fall eine Ereignisnummer zugeteilt hätten, was bedeutete, dass fast unbegrenzte Mit 66 tel aus dem allgemeinen Stadthaushalt, also außerhalb des polizeilichen Budgets, für die Ermittlungen freigemacht würden. Ja, wahrhaftig, sofern der Druck bisher noch nicht bei Juhle und Shiu angekommen war (aber das war er), lastete er jetzt umso schwerer auf ihnen. Und sie hatten noch nicht einmal das weibliche Opfer identifiziert. Keine der üblichen Nachfragen hatte zu einem Ergebnis geführt. Keine Vorstrafen, keine Militärakten, keine Bewerbungen, bei denen sie bei irgendeiner Agentur Fingerabdrücke hinterlassen hatte. Auch die ans Verkehrsamt geschickten Fingerabdrücke kamen mit negativem Bescheid zurück. Sie hatte nicht einmal einen Führerschein? Jetzt - es war fast ein Uhr morgens - fuhr Shiu den Wagen auf den Polizeiparkplatz hinter dem Justizgebäude. Groggy und schweigend gingen sie durch den schwach beleuchteten Gang, der sie zum Leichenhaus führte, gleich gegenüber vom Gefängnis. Es war eine klare Nacht, kalt und still. Shiu betätigte die Coronernachtklingel - Juhle hatte seit dem Morgen keine Schmerzmittel mehr genommen, und nun tat ihm die Hand weh -, und nach kurzer Zeit erschien die Silhouette von Janey Parks hinten in der dunklen Tiefe des Büros. Sie war die tüchtige und im Allgemeinen freundliche
Bürokratin, in deren Wagen sie vor zwölf Stunden zurück in die Stadt gefahren waren. Nachdem sie ihnen geöffnet hatte, führte sie sie auf dem gleichen Weg zwischen den Schreibtischen hindurch zurück und kam gleich zur Sache. »Die Zeugin heißt Mary Mahoney. Sie arbeitet als Kellnerin im MoMo's. Siebenundzwanzig. Ist aus eigenem Antrieb gekommen. Keine Unklarheit bei der Identifikation. Ist sich völlig sicher.« 67 Letzteres war keine große Überraschung, da das Gesicht der jungen Frau unbeschadet geblieben war, ein Rätsel, das Ms Parks früher am Tag in Palmers Haus gelöst hatte, indem sie den Mund des Opfers mit ihren gummibehandschuhten Fingern öffnete und mit der Taschenlampe hineinsah, wobei sie hinten im Rachen die Eintrittswunde entdeckte. Die junge Frau hatte den Mund offen gehabt, als der Schuss abgegeben wurde. Alle Zähne waren intakt. Die Kugel hatte nicht genug Wucht, um den Schädel zu durchdringen, daher gab es auch keine Austrittswunde. »Aber, meine Herren, innen drin hat sie einiges angerichtet«, teilte Janey ihnen jetzt mit. »Ist nach oben abgeprallt und dann wie 'ne Flipperkugel hin und her geschossen. Das Gehirn war nur noch Rührei.« »He, toll. Klasse Detailinformationen. Danke, Janey.« Es war diese Art von Bildlichkeit, die Juhle oft nicht wieder loswurde und die ihn nachts gern schweißgebadet aufwachen ließ. Jetzt schüttelte er die Vorstellung erst einmal ab -garantiert würde sie wiederkehren und ihm noch zu schaffen machen, auf seinen Nerven flippern sozusagen. Sie kamen zum Büro von John Strout, einem Leichenbeschauer, der mittlerweile Mitte siebzig war und sich schon lange nicht mehr darum kümmerte, so etwas wie einen formalen Anschein von Professionalität zu vermitteln. Der Raum war ein Museum des Bizarren, des geradewegs Makabren und des Gefährlichen. Drei Handgranaten, dem Vernehmen nach noch scharf, dienten als Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch. Neben dem Eingang zum Kühlraum machte ein Skelett es sich mit einer Pfeife zwischen den Zähnen und einem seidenen Strick um den Hals auf einer authentischen altspanischen Garotte bequem. Auf dem Bücherregal hatte Strout seine Sammlung von Mes 67 sern, Schlagringen und tödlichem Ninjabrimborium ausgebreitet. Diverse Flinten und Gewehre lehnten an den Wänden. In einem gewaltigen Terrarium in der Mitte des Raums bewahrte er seine Lieblingsmordwaffen aus den von ihm bearbeiteten Fällen auf, viele davon noch mit Originalblutflecken - ein Eispickel, ein Becher mit lauter leeren Spritzen, ein Baseballschläger, verschiedene Schürhaken und stumpfe Gegenstände sowie ein paar weitere Messer von besonders kreativer Machart.
Selbst wenn man nicht soeben eine verstorbene Bekannte identifiziert hatte, konnte dieser Ort verstörend wirken. Obendrein hatte Parks kaum Licht eingeschaltet, was den Schreckensfaktor noch verstärkte. Juhle betätigte den Lichtschalter, und es wurde hell. So war's schon etwas besser. Und da saß Mary Mahoney, die Arme fest über der Brust verschränkt, die Augen von kürzlich vergossenen Tränen gerötet. Juhle rückte einen Holzstuhl an ihre Seite und setzte sich. Parks hatte sich, wie er bemerkte, auf Strouts Stuhl niedergelassen. Nachdem er auch für sich einen Schemel gefunden hatte, brach Shiu das Eis. »Ich möchte Ihnen danken, dass Sie heute Abend noch hergekommen sind. Das hätte nicht jeder getan.« »Ich wusste nicht, was ich sonst machen sollte.« »Nun, Sie haben richtig gehandelt«, sagte Shiu. »Mit jeder Minute, die wir am Anfang der Untersuchung gewinnen, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass wir herausfinden, wer das hier getan hat.« »So was in der Art habe ich mir auch gedacht.« »Also, wie sind Sie denn darauf gekommen, dass es sich um ... äh, Ihre Freundin handeln könnte?« »Staci. Staci Rosalier.« 68 Ms Mahoney hatte kurze schwarze Stachelhaare, recht weit auseinander stehende wässrig braune Augen - ihre beste Waffe -, Lippen, die mit Kollagen aufgespritzt waren, und eine Nase, mit der sie nicht geboren worden war. Die Wirkung war nicht unbedingt negativ. Mit ihrer leisen Stimme sagte sie: »Na ja, als ich um ungefähr vier Uhr ins Restaurant kam, redeten alle über den Richter, darüber, was passiert war. Er hat da gegessen, wissen Sie, fast jeden Tag. Niemand konnte es fassen. Und dann, wann genau, weiß ich nicht mehr, jedenfalls nachdem es voll geworden war, hörte ich, dass eine Frau bei ihm gewesen sein soll. Eine junge Frau. Nicht seine Ehefrau.« Sie blickte von Shiu zu Juhle, der ihr aufmunternd zunickte. »Deswegen also - es war den ganzen Abend brechend voll -, aber es machte mich unruhig. Sobald ich also mal eine Minute Zeit hatte - da war's aber schon, na ja, halb elf? -, bin ich zu einer der Geschäftsführerinnen gegangen und hab sie gebeten, mal zu checken, ob Staci heute bei der Arbeit war. Sie machte die Mittagsschicht, genau wie ich, als wir uns kennen lernten. So haben wir uns auch angefreundet, wissen Sie?« »Sie haben also«, sagte Juhle, »die Geschäftsführerin gefragt, ob Staci zur Arbeit erschienen war?« »Ja, genau. War sie nicht. Sie hatte sich nicht mal gemeldet. Und Staci war total zuverlässig. Der Fels in der Brandung mittags.« Mahoney schloss die Augen, holte tief Luft. »Na jedenfalls, als ich das hörte, da war ich echt besorgt.«
Shiu mischte sich ein. »Was für eine Verbindung bestand denn zwischen Staci und Richter Palmer? Weswegen waren Sie so beunruhigt?« 69 Aber plötzlich schüttelte Mahoney heftig den Kopf. Tränen schössen ihr in die Augen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass das da drinnen alles ist, was von ihr übrig ist. Ich meine, sie war so ein lieber Mensch. Wer kann ihr so etwas antun?« »Das versuchen wir herauszufinden«, sagte Shiu. Mahoney schwieg. Shiu gab ihr ein Taschentuch, und sie tupfte sich die Augen ab. »Ich bin vielleicht die Einzige, die etwas davon weiß, aber Staci und der Richter hatten was miteinander.« »Eine Affäre, meinen Sie?«, fragte Juhle. »Na ja, nicht direkt. Vielleicht war's mehr als das. Er hat ihr eine Wohnung besorgt, wissen Sie. Die Miete bezahlt.« Juhle fragte: »Wissen Sie, wie lange das schon ging?« »Mit ihm und ihr? Ich weiß es nicht genau, aber mindestens seit letztem Herbst. Allerdings die neue Wohnung, da ist sie erst vor ein paar Monaten oder so eingezogen.« Die beiden Inspektoren wechselten einen Blick. Juhle war's, der nachhakte: »Die neue Wohnung?« »Gleich gegenüber von dem Laden. MoMo's. In diesen Lofts, den neuen.« Juhle wusste Bescheid. Die Preise für die Einzimmerstudios dort setzten bei vierhunderttausend Dollar ein und landeten bei locker über einer Million für ein Penthaus. Wenn Richter Palmer Staci Rosalier in einer dieser Wohnungen untergebracht hatte, dann zeugte das von ernsthaften Absichten. »Sind Sie mal dort gewesen?«, fragte Shiu. »Ein paar Mal, aber eigentlich war sie da eher zurückhaltend. Es sollte niemand erfahren, was mit ihnen beiden war, das werden Sie wohl verstehen.« »Aber Sie durften es«, sagte Shiu. 69 »Wir waren wirklich gut befreundet. Außerdem war das Teil so cool, irgendjemandem musste sie es einfach zeigen.« Die Tränen flössen. »Ich ...«, begann sie, dann senkte sie den Kopf und verstummte. Juhle ließ ihr einen Augenblick Zeit. Dann fragte er sanft: »Sie sprechen von den neuen Eigentumswohnungen an der Zweiten, gleich gegenüber vom MoMo's?« Sie sah ihn an und nickte. »Warum musste das passieren?«, fragte sie. Juhle wusste keine Antwort. Jim Franks, der Hausmeister des Wohnblocks, war nicht übermäßig erfreut darüber, um ein Uhr fünfzig wachgeklingelt zu werden. Fast zehn Minuten brauchte der bleiche, bierbäuchige Mann mittleren Alters, um es zur Tür zu
schaffen, und dann noch einmal eine Ewigkeit, um den richtigen Schlüssel an seinem Bund zu finden. Juhle und Shiu standen die ganze Zeit in der mittlerweile klirrenden Kälte herum - ungeduldig, ungehalten, ohne Worte. Franks hatte sich in eine zerknitterte braune Hose und ein fleckiges CoronaBier-T-Shirt geworfen. Als er die Tür aufgeschlossen hatte, trat er ein paar Schritte zurück. »Das konnte wohl nicht bis morgen früh warten?« Juhle hielt den Durchsuchungsbefehl so, dass Franks ihn sehen konnte, und brachte tatsächlich noch einen verständnisvollen Gesichtsausdruck zustande. »Mr Franks«, sagte er beinahe leutselig, »ich gebe Ihnen meine Wort darauf, dass auch wir damit lieber bis zum Morgen gewartet hätten. Aber letzte Nacht wurde eine Frau erschossen, die in diesem Gebäude wohnte, und wir glauben, dass wir uns keine Ruhe verdient haben, bevor wir nicht irgendeinen Hinweis finden, wer sie getötet hat, und das haben wir bis jetzt noch nicht. 70 Wir dachten, wir würden vielleicht etwas in ihrer Wohnung finden, was uns weiterhelfen könnte. Verstehen Sie das?« Die kleine Rede hatte den gewünschten Effekt. Franks war plötzlich nicht mehr ganz so feindselig. »Sie meinen Staci Rosalier? Die ist tot?« Juhle nickte. »Sie wurde vor einer Stunde von einer Freundin identifiziert, die uns sagte, dass sie hier gewohnt habe. Das ist der Grund, warum wir Sie belästigen.« »Sie wollen ihre Wohnung sehen?« Aber dann kam ihm ein Gedanke. »Brauchen Sie dafür nicht einen Durchsuchungsbefehl oder so was?« Seufzend zeigte Juhle ihm diesen noch einmal. »Okay«, sagte Franks schließlich. Sie gingen durch einen dunklen Flur im Erdgeschoss zum Hausmeisterbüro, wo Franks an einen Aktenschrank trat, ihn beim dritten Versuch öffnete und dann einen der darin befindlichen Schlüssel vom Haken nahm. »Hier, bitte«, übergab er ihn an Juhle, »wenn das dann alles wäre ...« Shiu, nicht imstande, Gelassenheit vorzutäuschen, lehnte am Türrahmen, die Arme über der Brust verschränkt. Juhle sah seinen Partner an und wandte sich dann wieder an Franks. »Nur noch ein, zwei Fragen.« Mit einem übertriebenen Seufzen ließ Franks sich auf einer Schreibtischecke nieder. Mühsam hob er eine Hand und rieb sich die Augen. »Okay, was?« »Haben Sie es mitgekriegt, wenn sie Besucher hatte?« »Nein, hab ich nie, glaube ich. Da konnte jeder kommen, wann immer er wollte.« »Sie haben aber niemand Bestimmtes gesehen?« »Leute kommen und gehen die ganze Zeit. Ich achte nicht besonders darauf.« Franks sah zur Wanduhr. »Sie sagten, ein oder zwei Fragen nur ...« 70
»Ja, richtig.« Juhles Stimmung schien sich augenblicklich zu bessern, trotz der späten Stunde, trotz seiner gebrochenen Knochen. »Hier ist noch eine. Erinnern Sie sich, ob jemand in den letzten Tagen da war? Irgendein ungewöhnlicher Besucher?« »Tut mir Leid«, sagte Franks, »ich achte einfach nicht drauf. Wir haben hier fast tausend Leute wohnen, und alle haben sie Freunde und Familie, die meisten davon ungewöhnlich auf die eine oder andere Weise. Das ist ein ständiges Kommen und Gehen.« Er stieß sich von der Schreibtischkante ab. »Also, wenn Sie mich nicht mehr brauchen, dann geh ich jetzt wieder ins Bett. Sie können den Schlüssel in den Kasten werfen, wenn Sie fertig sind.« »Danke, Sir«, sagte Juhle, »wir wissen Ihre Hilfsbereitschaft zu schätzen.« Franks zuckte die Achseln. »Kein Problem.« Im Fahrstuhl warf Juhle Shiu einen Blick zu. »Umgänglicher Typ.« »Wenn das kein Problem für ihn war«, sagte Shiu, »möchte ich ihn mal erleben, wenn er glaubt, dass er eins hätte.« Juhle zuckte die Achseln. »Er ist müde.« »Wer wäre das nicht?« »Bring es den armen Seelen im Purgatorium dar.« »Was ist das denn?« »Das Purgatorium? Na, das Fegefeuer, der Wartesaal, bevor man in den Himmel darf. Obwohl, ich meine, mich vage zu erinnern, dass es das gar nicht mehr gibt. Wäre das nicht echt fies? Was ist mit all den Seelen passiert, die da noch gewartet haben, als man beschlossen hat, dass das Ding gar nicht existiert?« »Ist das jetzt eine ernst gemeinte Frage? Ich finde, wir sollten das hier schnell hinter uns bringen.« 71 Staci Rosalier hatte im dritten Stock gewohnt, drei Schritte vom Fahrstuhl entfernt, sodass der Richter kaum Gefahr gelaufen war, entdeckt und erkannt zu werden, wenn er sie besuchte. Sie schlossen die Tür auf und machten das Licht an. Die Eigentumswohnung war nobel und modern in Stil und Ausstattung, aber kleiner, als Juhle sich vorgestellt hatte. Sieben bis acht Meter tief, vielleicht viereinhalb Meter breit. Vier Hocker standen vor einem Tresen, der sich zur Linken in den Raum erstreckte. Dahinter war die Küchenecke mit einer Spüle und einem Zweiflammenherd. Der Tresen endete vor einer Tür, die zu einem winzigen Bad mit Dusche führte. Genau gegenüber befanden sich deckenhohe Schranktüren und Einbauregale voll mit Taschenbüchern. Gegenüber der Eingangstür war eine Fensterfront, die Vorhänge zu beiden Seiten offen, und man konnte hinaus auf einen Hof mit Basketballkorb sehen. Man durfte vermuten, dass das Sofa eine Schlafcouch war. Es gab noch einen Couchtisch auf einem künstlerisch wertvollen Teppichläufer und in der Ecke einen recht bequem aussehenden braunen Ledersessel unter einer Leselampe. »Das süße Leben«, sagte Shiu.
»Gefällt's dir nicht?« »Das ist ein Hotelzimmer. Hier lebt niemand.« »Doch, sieh mal«, sagte Juhle. »Narzissen auf dem Tresen da. Bücher im Regal.« Nachdem er sich seine OP-Hand-schuhe übergestreift hatte, schaltete er eine Dreierleselampe ein, die auf dem kleinen Tisch neben dem Sofa stand, und nahm zwei gerahmte Fotos in die Hand, eins - völlig unscharf - von einem lächelnden kleinen Jungen und eins von Richter Palmer. »Private Fotos. Sie hat hier durchaus gelebt, Shiu. Sie hatte halt einfach nicht viel Platz.« 72 Shiu war bereits hinter dem Tresen, stöberte in den Schränken, den Schubladen, dem Kühlschrank. Er wollte gerade in einen der Schränke greifen, da fiel Juhle ihm in den Arm. »Handschuhe«, sagte er. Juhle öffnete einen weiteren Schrank, in dem sich Kleidung und gut ein Dutzend Paar Schuhe befanden. Staci hatte die Bügel mit Farbkennzeichnungen versehen. Er drehte sich um. »Hier ist die Brieftasche.« Sie lag auf einer eingebauten Kommode. Er ging zurück zum Sofa, setzte sich und machte sich daran, den Inhalt der Brieftasche auf dem Couchtisch auszubreiten. Bargeld-vier Fünfziger und vier Einer. Kreditkarten. Bibliothekskarte. Sozialversicherung, Costco-Kundenkarte. Eine kleinere Version des verschwommenen Schnappschusses von dem Jungen. Einer vom Richter - sehr viel legerer als das feierliche Bürofoto, das sie sich gerahmt hatte, und aufgenommen hier in diesem Zimmer, wie Juhle erkannte: im Lesesessel, grinsend. Juhle machte ein unwillkürliches Geräusch, worauf Shiu in seiner Tätigkeit innehielt. »Was ist?« »Das ist ja seltsam.« »Was?« Juhle zuckte die Achseln, hielt eine Visitenkarte hoch. »Andrea Parisi.« Als Shiu ihn verständnislos ansah, überlegte er schnell und sagte: »Die Fernsehexpertin beim Donolan-Prozess?« »Ah.« Shiu hatte den Namen eingeordnet, aber weder dieser noch die Karte schien ihm sonderlich bedeutsam. »Was ist daran seltsam? Wenn sie mit dem Richter zusammen ist, lernt sie eben einige Juristen kennen. Außerdem«, fügte er hinzu, »und das weißt du genauso gut wie ich, ist das MoMo's berühmtes Juristenterrain.« 72 »Ja, du hast Recht.« Juhle hielt es nicht für nötig, seinem Partner zu erzählen, dass sein Freund Wyatt Hunt mitunter der Jogginggenosse der Frau war. Und dass er ihn seit etwa sechs Wochen unentwegt mit irgendwelchen AndreaParisi-Fantasien traktierte. Also legte er die Visitenkarte zu den anderen Fundstücken aus der Brieftasche. »Ist aber komisch, dass das die einzige Karte ist, die sie aufbewahrt hat.« Shiu fand das nicht. »Vielleicht wollte sie, wie fast alle Kellnerinnen auf der Welt, zum Fernsehen.«
»Das ist in L. A. so, aber nicht hier.« »Das ist überall so«, sagte Shiu. »Eine allgemein gültige Aussage. Übrigens möchte ich wetten, dass wir noch einen ganzen Stapel Visitenkarten in irgendeiner Schublade hier finden. Oder aber Staci hatte diese Karte erst seit kurzem und war noch nicht dazu gekommen, sie wegzuschmeißen. Und überhaupt, wir wissen beide, dass diese Sache nichts mit Andrea Parisi zu tun hat.« »Wir könnten ja so tun als ob. Uns ein bisschen an ihrer reizenden Persönlichkeit laben.« Juhle grinste, bekam keine Reaktion von seinem Partner, versuchte es noch mal. »Können uns ein bisschen an ihrer reizenden ...« »Ich hab's gehört.« »Das sollte ein Scherz sein.« »Über Ehebruch macht man keine Witze.« »Da liegst du so dermaßen daneben, Shiu. Ehebruch liegt nämlich mindestens auf Platz drei der Tabelle der beliebtesten Witzthemen aller Zeiten. Es gibt da zum Beispiel diesen Iren, Paddy, der seit ungefähr zwanzig Jahren nicht mehr in der Kirche war, und eines Tages also ...« »Dev.« Shiu hob die Hand. »Ich möchte jedenfalls keine Witze darüber machen, okay?« 73 »Okay, du machst also keine Witze über Religion, über ethnische Zugehörigkeit, über Schwule, über Frauen und jetzt auch nicht über Ehebruch. Herrgott, was bleibt denn da noch übrig?« »Warum muss es denn überhaupt etwas geben?« Shiu ließ sich auf einem der Hocker nieder. »Devin«, sagte er. »Es ist mitten in der Nacht. Wir untersuchen einen Doppelmord, bei dem Ehebruch eine Rolle spielt, okay ? Wir wissen, dass wir Jeanette Palmer nächste Woche verhaften werden, vielleicht noch früher. Ihr Leben wird zerstört sein, ist jetzt schon zerstört. Diese junge Frau ist tot. Dazu noch ein Bundesrichter. Nichts davon ist irgendwie komisch. Und Connie würde es auch nicht komisch finden, dass du dich an Andrea Parisi ranmachen willst.« »Ja, du hast Recht, und es tut mir Leid.« Juhle ließ den Kopf hängen. »Sich an Parisi ranzumachen, das wäre nicht recht«, sagte er mit großer Aufrichtigkeit. Dann aber hellte sich sein Gesicht auf. »Aber hey, vielleicht könnte ich Connie mitnehmen? Wir könnten einen flotten Dreier wagen.« Im Bett angekommen, zog Juhle die Decke mit Vorsicht über seine Armschlinge. Neben ihm erwachte Connie aus dem Schlaf. »Wie spät ist es?« »Unerhört spät. Fast drei, glaub ich. Bist du wach?« »Nein«, sagte sie und dann: »Wie ist es gelaufen?« »Ich glaube, wir haben den Fall aufgeklärt. Große Überraschung, es ist die Ehefrau. Aber ich brauche unbedingt einen neuen Partner.«
»Das sagst du andauernd. Was hat er jetzt wieder angestellt?« »Nichts. Er ist perfekt. Ich kann ihn nicht ausstehen. Ich hab ihn sogar eingeladen, beim Gruppensex mit dir und mir 74 und Andrea Parisi mitzumachen - dieser scharfen Fernsehtante beim Donolan-Prozess, weißt du. Er hat mir glatt einen Korb gegeben.« »Ich wusste nicht, dass du die kennst.« »Tu ich auch nicht, aber ich könnte sie im Zusammenhang mit diesem Fall garantiert noch kennen lernen.« »Ist sie darin verwickelt?« »Ich wüsste nicht, wie. Aber das Opfer hatte eine Visitenkarte von ihr, und da könnte ich mit Sicherheit was draus machen.« »Vielleicht liegt es an mir. Vielleicht findet Shiu mich nicht attraktiv.« »Unmöglich.« »Seltsam wäre es schon«, stimmte sie zu. »Bist du müde?« »Im Krisenfall könnte ich wahrscheinlich noch ein paar Minuten wach bleiben.« »Weißt du, wie lange es schon her ist? Seit der Operation.« »Das war das letzte Mal? Vor neun Tagen?« »Eigentlich war's der Tag davor, wenn du schon zählst, also vor zehn Tagen. Da kann man durchaus von einer Krise sprechen«, sagte sie und rollte sich auf ihn.
9
Im Lagerhaus hörte Hunt plötzlich einen erstickten Schrei, während er auf seiner nicht eingestöpselten Strat leise Tonleitern übte - Andrea Parisi hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Er trat in die Tür, wo sie ihn sehen konnte. 74 Sie saß aufrecht auf seinem Bett, die Decken abgeworfen, in denselben Sachen, die sie gestern Abend getragen hatte. »Oh, mein Gott! Wyatt? Was bin ich ...?« Sie schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte erneut. Hunt schnallte seine Gitarre ab und legte sie auf dem Teppichläufer ab. An der Spüle füllte er ein Glas mit Wasser, schnappte sich ein bereitstehendes Fläschchen Aspirin und ging damit zu ihr. Er gab ihr das Glas und schüttelte ein paar Tabletten aus dem Fläschchen. »Danke.« Sie nahm sie alle auf einmal, schluckte das Wasser hinterher. »Wie spät ist es?« »Kurz nach acht.« Ihre Augen weiteten sich, aber die Anstrengung war schon zu viel. Sie ließ das Glas in den Schoß sinken. »Das gibt's doch nicht. Ich muss ...« Sie setzte die Füße schwungvoll auf den Boden, versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht. Sie stellte das Glas auf dem Boden ab und fiel aufs Bett zurück.
Hunt füllte das Glas neu auf und brachte es ihr wieder. »Trinken Sie noch mehr Wasser. Sie müssen Ihren Speicher wieder auffüllen.« Sie hob den Kopf. »Ich glaube nicht...« Er wollte nichts davon hören. »Wasser. Wasser wird Ihr Leben retten.« Sie stemmte sich hoch und trank. »Alles austrinken«, sagte Hunt. »Hinterher werden Sie froh darüber sein.« Sie zwang den Rest hinunter, versuchte sich wieder aufzurichten. »Ich muss nach Hause. Ich muss ...« »Warten Sie erst mal ein bisschen ab.« »Das kann ich nicht, ich muss ... Welcher Tag ist heute?« »Mittwoch.« 75 »Wie bin ich hierher gekommen?« »Ich wusste nicht, wo ich Sie sonst hinbringen sollte. Sie waren ohnmächtig.« Sie kramte in ihrer Erinnerung. »Wir waren ... Spencer, dieser Mistkerl.« Teile des Geschehens stellten sich wieder ein. »Die ganze Zeit wusste er ... er konnte nichts ...« »New York?« Sie legte sich aufs Kissen zurück, warf einen Arm über ihre Augen. »Ich muss bei der Arbeit anrufen.« »Das kann ich für Sie tun.« »Nein.« Aber sie rührte sich nicht. Lag auf dem Bett, atmete durch den Mund. Hunt ging zum Telefon. Er hatte so häufig für ihre Firma gearbeitet, dass er die Nummer auswendig kannte. Er kannte auch ihre Sekretärin, Carla Shapiro, aber mit der wollte er nicht reden, weil sie ihm sicherlich Fragen stellen würde. Also sprach er mit dem Empfang. Er sei Andreas Arzt, und sie habe sich eine schwere Lebensmittelvergiftung zugezogen. Sie hänge derzeit am Tropf und müsse sich ausruhen, könne daher nicht vor morgen wieder zur Arbeit erscheinen. Andrea versuchte zu protestieren. »Warten Sie«, sagte sie. »Das ist zu ...« »Vielleicht heute Nachmittag«, sprach Hunt ins Telefon, »aber ich würde ihr eher abraten.« Als er aufgelegt hatte, sank sie ins Bett zurück. »Ich muss wirklich nach Hause.« »Sie müssen aufstehen, Sie müssen im Büro anrufen, Sie müssen nach Hause. Ich sag Ihnen, was Sie tun müssen, Andrea, Sie müssen dem Alkohol Zeit geben, sich abzubauen. Noch mehr Wasser zu sich nehmen. Hier sind Sie vorerst richtig. Legen Sie sich wieder hin, schließen Sie die 75 Augen, decken Sie sich zu. Ich werde das Telefon aus der Steckdose ziehen. Sie schlafen einfach noch ein bisschen.« »Sollte ich vielleicht.« »Nichts mit vielleicht.«
»Aber ich muss mal zur Toilette.« »Können Sie aufstehen?« »Ich weiß nicht.« Sie setzte sich auf, versuchte zu stehen, sank zurück. »Vielleicht nicht.« Hunt beugte sich über sie. »Legen Sie die Arme um meinen Hals.« »Das kann ich Ihnen nicht... ich stinke«, sagte sie. »Meine Klamotten...« »Still jetzt. Arme.« Sie gehorchte. Er hievte sie in die Senkrechte, führte sie bis ins Badezimmer, ging dann wieder raus und machte die Tür hinter sich zu. Nach der Spülung hörte er das Wasser laufen. »Wyatt.« Die Stimme war schwach. Er öffnete die Tür. Sie saß auf dem Toilettendeckel, Tränen in den Augen. Wieder trat er vor sie hin, ließ sich auf ein Knie nieder. »Arme«, sagte er. Nach einer ganzen Weile rührte sie sich, und er führte sie zurück, half ihr ins Bett. »Sie können Ihre Sachen ausziehen, wenn Sie möchten. Das ist sicher angenehmer. Ich guck auch nicht hin.« »Okay«, sagte sie. Aber anstatt irgendwelche entsprechenden Anstalten zu machen, legte sie sich auf die Seite und zog sich die Decke über. Hunt nahm das Kissen und schob es ihr unter den Kopf. Bevor er sich wieder aufgerichtet hatte, war sie schon eingeschlafen. 76 Als sie das nächste Mal aufwachte, nahm sie vier weitere Aspirin mit zwei weiteren Gläsern Wasser, die zu trinken Hunt sie veranlasste. Sie ging ins Bad und benutzte die neue Zahnbürste, die er ihr gegeben hatte. Eben jetzt drehte sie das Wasser ab und trat aus der Dusche. Mit dem frischen weißen Handtuch, von Hunt zur Verfügung gestellt, wischte sie in kreisförmigen Bewegungen den Badezimmerspiegel ab. Ihre Sachen lagen in einem Haufen auf dem Wäschekorb, unter ihrer Handtasche, die sie jetzt zum Waschbecken trug. Die Handtasche enthielt auch ihre Haarbürste und ihr Schminkset. Sie würde hier nicht rausgehen, ohne diese zu benutzen. Als sie mit sich zufrieden war - die Haare nass und glänzend, die Augen subtil dunkel geschminkt, ein Hauch von Lipgloss aufgetragen -, wickelte sie sich bis unter die Arme in das Handtuch ein. Den Geboten der Sittsamkeit mit knapper Not noch genügend, verbarg der untere Saum kaum einen Zentimeter ihrer makellosen Beine. Wyatt Hunt war in keinem der Zimmer, die sie bisher gesehen hatte, daher ging sie, barfuß und nur mit dem Handtuch bewaffnet, durch das Schlafzimmer und öffnete die Tür. Es erwartete sie eine Überraschung. Hunt stand zur Rechten, von ihr abgewandt, neben einer alten rissigen Ledercouch und vor einem Eins-achtzig-Fernsehbildschirm, der ausgeschaltet war. Von diversen Verstärkern und vier Gitarren auf Ständern umgeben, hatte er eine fünfte umgeschnallt und spielte darauf leise seine Tonleitern.
Parisis Blick ging hinauf zur Decke, weit über ihr. Vorsichtig machte sie einen Schritt in den riesigen Raum, der weitgehend nach dem aussah, was er war Teil eines umgewandelten Lagerhauses. Zur Linken befand sich ein silberner Mini Cooper in einer der Ecken. Vor der Wand gegenüber standen ein Schreibtisch und einige Aktenschränke. In der 77 rechten Ecke gab es eine Art Fangnetz, in dem ein paar Baseballschläger steckten. Dann, ein Stück weiter um die Ecke, ein Satz Hanteln. Und schließlich, als Pièce de resistance, als Schmuckstück des Ganzen, die Hälfte eines Basketballfeldes, mit Parkettfußboden, Backboard und allem, im Zentrum der Wurfzone das Logo der Golden State Warriors. »Wyatt.« Er drehte sich um. Sein Blick fiel sofort auf ihre Beine, löste sich aber fast genauso schnell wieder. »Hey«, sagte er. »Besser?« »Wenigstens besteht Hoffnung, dass ich überlebe.« Sie deutete in die Runde. »Das hier ist ziemlich cool.« Hunt schnallte die Gitarre ab und stellte sie auf ihren Ständer zurück. Nutzte diese Tätigkeit als guten Vorwand, um sie nicht die ganze Zeit anstarren zu müssen. Er ließ den Blick durch seine Räumlichkeiten schweifen. »Yeah, mir gefällt's. Möchten Sie die große Führung? Ist Ihnen mein Original-ProfiBasketballfeld aufgefallen, gebraucht gekauft von den Warriors für schlappe vier Riesen?« »Nee, wo issen das ?« Sie erlaubte sich einen Scherz. Dann aber sah sie an sich herunter. »Sie haben nicht zufällig irgendwas, was ich anziehen könnte? Ich bring es nicht über mich, noch mal meine alten Sachen zu nehmen.« Hunt riskierte schnell noch einen Blick und verzichtete dann nach kurzem Kampf auf die Bemerkung, dass sie seiner Ansicht nach, so wie sie gerade sei, verdammt gut aussehe. »Ich werde bestimmt was finden«, sagte er stattdessen. Jetzt trug sie einen seiner schwarzen Pullover über einem T-Shirt und eine seiner Jeans mit einem Stück Seil als Gürtel. Sie tranken Kaffee an Hunts Küchentisch. »Wie kann ich Ihnen am besten danken?«, fragte sie. 77 »Das ist nicht nötig. Sie waren in Schwierigkeiten. Hätte ich Sie ohnmächtig auf der Straße liegen lassen sollen?« »Hätte vielleicht manch einer getan.« »Kein menschliches Wesen.« »Na jedenfalls ... danke.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ich muss immerzu dran denken. So eine Szene in aller Öffentlichkeit, ich hasse das.« »Ich hab schon schlimmere gesehen«, sagte Hunt. »Hab ich ihn geschlagen?« »Ja, doch. Mehr so eine gewischt, eigentlich.« »Das ist unverzeihlich.« Hunt zuckte die Achseln. »Er hatte Sie angelogen.«
»Trotzdem. Das ist keine Entschuldigung. Wenn man erst mal mit dem Schlagen anfängt, findet man auch immer irgendeine Ausrede dafür.« »Das ist mir auch aufgefallen.« Irgendetwas an seinem Ton ließ sie aufmerken. Die Tasse schon halb am Mund, fragte sie: »Klingt da persönliche Erfahrung durch?« »Ein bisschen vielleicht.« »Sie möchten nicht darüber reden ...« »Doch, kein Problem. Ich habe als Kind bei verschiedenen Pflegefamilien gelebt, das ist alles. Und dort habe ich festgestellt, dass wenn erst mal die Grenze zur körperlichen Züchtigung überschritten war ... na ja, wie Sie sagten, dann war auch die lahmste Entschuldigung noch gut genug.« Sie stellte die Tasse ab. »Sie waren ein Pflegekind?« Er nickte. »Eine Weile. Bis ich acht war. Ich hatte dann Glück. Ich wurde adoptiert.« »Mit acht Jahren?« »Ich weiß, das ist ungewöhnlich.« Er verzog das Gesicht. »Ich muss damals noch niedlicher gewesen sein.« 78 »Na ja«, sagte sie, »vielleicht auf andere Art. Aber dann wissen Sie also auch, wie es ist, geschlagen zu werden.« »Auch? Wer hat Sie geschlagen?« Sie holte tief Luft und stieß sie wieder aus. »Der zweite Mann meiner Mutter. Richie. Er war ein großer Disziplinfan, und an mir hat er es mit Vorliebe ausgelassen.« »Warum?« »Wollen Sie das wirklich wissen?« »Sonst hätte ich doch nicht gefragt.« Sie seufzte. »Ich glaube, weil ich versucht habe, ihn mir vom Leib zu halten. Man beachte das Schlüsselwort: /versuchte Zum Glück dauerte das nur ein Jahr.« »Was ist dann passiert?« »Mama hat es herausgefunden. Das mit mir. Sie hat ihn dazu gebracht, auf sie loszugehen, und dann hat sie ihn getötet. Man hat es als Notwehr bezeichnet.« »Klingt so, als wär's das auch gewesen.« Ein kleines Lächeln entstand und verflog wieder. »War nah genug dran, schätze ich.« Sie drehte ihre Tasse immer auf dem Tisch herum. »Ich möchte mich für diese ganze Melodramatik entschuldigen.« »Ist schon gut. Das kann ich aushalten.« »Jedenfalls ist das der Grund, warum ich so entsetzt darüber bin, dass ich Spencer geschlagen habe, auch wenn er ein Arschloch ist. Ich dachte, ich hätte mich so weit konditioniert, dass ich so etwas nicht tun würde.« »Könnte es nicht sein, dass Sie halt einfach betrunken waren und in Spencer ein bisschen was von Richie gesehen haben?«
»Das möchte ich nicht glauben. Ich will in niemandem etwas von Richie sehen.« »Aber er ist immer da?« 79 »Die Erinnerung. Irgendwo, ja. Und ich weiß, was Sie als Nächstes sagen werden.« »Dann sind Sie mir einen Schritt voraus.« »Das bezweifle ich.« »Na gut, was wollte ich denn sagen?« »Dass Sie wüssten, warum ich mich nach öffentlicher Anhimmelung sehne, nach dem Moderatorenposten.« »Stimmt das? Ich meine, sehnen Sie sich danach?« »Ich muss. Tief im Innern glaube ich wohl nicht so recht, dass ich irgendeiner Zuneigung würdig bin. Ich bin beschädigte Ware. Also ist vielleicht die Liebe der Masse ein Ersatz für die fehlende Liebe einer einzelnen konkreten Person. Na, wie hört sich das als Theorie an?« »Schmerzhaft.« Hunt setzte eine seiner Hände in Bewegung, damit sie sich auf ihre lege, den Trost einer mitfühlenden Berührung spende. Aber er ließ sie dann doch nicht am Ziel ankommen. Sie fuhr fort: »Ich weiß einfach nicht, wie sonst... warum sonst... ach, wie auch immer, es tut mir Leid.« »Ja«, sagte Hunt. »Liebe. Nicht gut, wenn man sich danach sehnen muss.« Er trank seinen Kaffee aus, stellte die Tasse ab. »So, und jetzt keine Entschuldigungen mehr, okay? Was macht der Kopf?« »Der Kopf tut weh. Der Kopf will einen neuen Rekord aufstellen.« »Naja, solange Sie irgendetwas Positives daraus ziehen.« Ein dünnes Lächeln folgte, dann schienen ihre Gesichtszüge irgendwie zu entgleisen. Es drohten wieder Tränen. »Wirklich lustig ist, dass Spencer im Grunde nur der letzte Tropfen war. Wissen Sie, warum ich mich überhaupt mit ihm eingelassen habe?« »Sie wollten ein Star sein.« 79 »Na gut, das auch. Aber hauptsächlich, um aus San Francisco rauszukommen. Nach New York oder sonstwo. Und es als jemand zu tun, der prominent ist. Nur so als Beweis ...« Sie wirbelte ihre Kaffeetasse herum. »Beweis wofür?« »Nicht wofür. Für wen.« Sie holte Luft und stieß sie mit dem nächsten Satz wieder aus. »Einen anderen Mann. Wir haben uns vor sechs Monaten getrennt, gerade als es mit Donolan anfing. Ich nehme die Beziehung zu ernst, sagte er. Das gefiel ihm nicht. Außerdem hatte er eine neue Freundin. Zwei Jahre waren wir zusammen, und er wollte nichts Ernsthaftes. Wir waren erwachsen, Kollegen. Beruflich sollte sich nichts ändern zwischen uns.« »Und war es so?«
»Das war das Verrückte. Es war wirklich so.« Sie sah Hunt an. »Dann tauchte Spencer auf. Und die neue Arbeit. Und plötzlich wurde das alles eine Möglichkeit wegzukommen.« »Von diesem anderen Mann wegzukommen?« Sie nickte. »Ich konnte es nicht ertragen, ihn die ganze Zeit zu sehen. Aber wir hatten ständig miteinander zu tun. Bei der Arbeit. Gefängniswärtersachen, CCPOA. Piersalls Haupteinnahmequelle, wie Sie wissen.« Aber so genau hatte Hunt das keineswegs gewusst. »Ich dachte, das sei nur ein Kunde unter vielen.« »Kann man nicht sagen. Tatsächlich sind sie bei uns die Nummer eins. Sechs oder acht Millionen Umsatz.« »Pro Jahr? Sind die eventuell an einem eigenen Privatdetektiv interessiert?« »Ich glaub nicht, dass es Ihnen gefallen würde, für die zu arbeiten.« »Für einen ganzzahligen Prozentsatz von acht Millionen würde ich einen Versuch wagen. Da würde ich mich ganz 80 schwer ins Zeug legen.« Hunt kehrte zum Ausgangspunkt zurück. »Sie mussten diesen Mann also immerzu beruflich sehen? Konnten Sie die Vorgänge mit ihm nicht einfach abgeben?« »In diesem Geschäft kann man keine Vorgänge abgeben, wenn man seinen Job behalten will. Schon gar nicht bei Piersall.« »Die Lösung hieß also New York?« »Na ja, es war eine mögliche Lösung.« Sie drehte ihre Tasse, rang sich ein schwaches Lächeln ab. »Ich glaube, es ist Zeit, dass ich mir ein Taxi rufe.« »Sie brauchen kein Taxi. Ich bringe Sie nach Hause.« »Nein. Sie haben schon viel zu viel für mich getan. Ich kann mir ein Taxi nehmen.« »Keine Diskussionen«, sagte Hunt. »Sammeln Sie Ihre Sachen ein. Wird sowieso Zeit für mich heute, dass ich mal in die Welt hinauskomme. Ich kann Sie absetzen.«
10
Juhle traf erst kurz nach zehn Uhr im Morddezernat ein. Da er bis spät in die Nacht im Fall Palmer - jetzt der Fall Palmer/Rosalier - unterwegs gewesen war, nahm er an, dass Lieutenant Lanier geneigt sein würde, ihm ein wenig Spielraum bei der Einteilung seiner Arbeitszeit einzuräumen. Dies erwies sich aus mehreren Gründen als unzutreffend. Zum einen hatte sein Partner schon vor acht rasiert und gewaschen an seinem Schreibtisch gesessen und mit Eifer einen Bericht über Staci Rosaliers Identifizierung durch 80
Mary Mahoney verfertigt, unter Einschluss der Tatsache, dass das junge weibliche Opfer Palmers Mätresse gewesen war. Die Spurensicherung untersuchte die Eigentumswohnung nun noch einmal ein bisschen gründlicher und hoffte, den Mordermittlern, die auch noch auf Angehörigeninformationen warteten, bis zum Abend sehr viel mehr in die Hand geben zu können. Der andere Grund, aus dem Lanier nicht sehr großzügig aufgelegt war, war der, dass er mit den beiden FBI-Agenten, die ebenfalls an dem Fall saßen, für neun Uhr dreißig eine informelle Einsatzgruppenbesprechung in seinem Büro anberaumt hatte, an der neben Juhle und Shiu auch die beiden Beamten vom Heimatschutzministerium teilnehmen sollten. Damit man sich nicht gegenseitig auf die Füße treten würde. Als Juhle sich einfand, war schon deutlich, dass Shiu ihre Sache recht gut vertreten hatte. Er hatte die Information über das Verhältnis zwischen Rosalier und dem Richter ebenso weitergegeben wie die Aussage der Nachbarin, Ms Levin, derzufolge Mrs Palmers Auto zur Tatzeit vor dem Haus gestanden haben soll, während diese angeblich in Novato war. Ungeachtet aller Zuständigkeitsfragen, die sich noch ergeben mochten, konnte Shiu alle fünf Ermittlungsbeamten, die mit ihm in Laniers Büro saßen, von dem überzeugen, was er als plausibelstes Szenario für diesen Doppelmord vorstellte: dass nämlich die Ehefrau die Untreue ihres Mannes entdeckt und irgendwoher gewusst hatte, dass er und das Mädchen im Haus sein würden, während sie vermeintlich weggefahren war. Oder aber sie hatte sie unter irgendeinem Vorwand ins Haus gelockt. Jetzt komme es nur noch darauf an, so Shiu, Mrs Palmers Alibi - den Aufenthalt bei ihrer Schwester - zu erschüttern 81 und, mit ein bisschen Glück, die Mordwaffe zu finden, wenngleich sie die auf dem Weg nach Novato wahrscheinlich beseitigt habe, irgendwo entlang der Straße oder auch im Meer. Unterm Strich könne man sagen, dass es sich wohl um ein Verbrechen aus Leidenschaft handele, mit rein privatem und lokalem Bezug und daher in der Zuständigkeit der Polizei von San Francisco. Deren einer Inspektor es versäumt hatte, zu diesem Treffen zu erscheinen. »Es war ein reines Wunder, dass du da warst«, sagte Juhle. »Was wolltest du überhaupt um die Zeit schon im Büro?« Shiu fuhr gerade durch den Tunnel hinter Sausalito auf dem Weg nach Mill Valley. »Ich wollte nicht, dass sie alles in die falsche Richtung laufen lassen, Dev. Außerdem weißt du ja, dass ich immer versuche, pünktlich zu kommen. Und die Sitzung hat auch nicht vor halb zehn angefangen, sodass eigentlich jeder die Möglichkeit hatte, rechtzeitig da zu sein.« »Ich wusste nicht mal von dieser gottverdammten Sitzung. Und sag mir nicht, dass ich nicht den gottverdammten Namen des Herrn missbrauchen
soll, wie du es gerade tun wolltest. Denn Tatsache ist, dass ich fluchen muss, weil ich gottverdammt noch mal stinksauer bin. Weißt du, wie sich das anfühlt?« »Ich empfinde auch Wut, sicher. Jeder ist mal wütend.« Shiu warf einen Blick zur Seite. »Also, um das mal festzuhalten, ich fand auch, dass Lanier ein bisschen streng war.« »Ein bisschen streng!« Juhle legte eine treffende Lanier-Imitation hin. »Ist es Ihnen je in den Sinn gekommen, dass der Mord an einem Bundesrichter wichtiger sein könnte als Ihr Schönheitsschlaf? Wäre es zu viel verlangt, zu erwarten, dass Sie diesem Fall Vorrang geben vor allem anderen? Denn falls Sie das nicht täten, dann würden diese Bundes 82 bediensteten uns sicherlich mit Freuden aushelfen. Was meint er denn, wer die Identität von Rosalier und ihre Verbindung zum Richter in weniger als vierundzwanzig Stunden ermittelt hat, hm? Das war arschklar nicht das gottverdammte FBI.« Shiu bog vom Freeway ab. »Er war einfach nur verlegen.« »Es gab nichts, weswegen er verlegen sein musste. Wir haben hier einen Richter mit einer Million von anhängigen Fällen; jeder einzelne davon könnte potenzielle Attentäter auf den Plan rufen und uns auf falsche Fährten locken, die uns bis halb nach Timbuktu und zurück führen, und trotzdem haben wir diese ganze Sache so gut wie abgewickelt, in weniger als einem Tag. So was hat's noch nie gegeben. Mann, ey, das ist fast wie Hilfe von ganz oben. Man sollte uns mit Lobpreisungen überhäufen, aber stattdessen macht er mir die Hölle heiß. Das ist nicht in Ordnung.« »Vielleicht möchte er die Sache erst vollständig geklärt wissen. Er steht selbst unter ziemlichem Druck. Wenn er das FBI wegschickt, und hinterher stellt sich heraus, er lag falsch ...« »Er liegt nicht falsch. Wir liegen nicht falsch.« »Hab ich nicht behauptet. Ich sagte >wenn<.« »Trag dich nicht mit negativen Gedanken«, sagte Juhle. »Wir sind die Guten, und wir haben Recht.« JVs Salon in Mill Valley war viel größer, als Juhle sich vorgestellt hatte. Auf mehreren Ladenflächen in einer gehobenen Einkaufspassage stellte er einen Rundumpflegeservice für seine Kundinnen bereit. Im von Glas umschlossenen antiseptischen Eingangsbereich warteten Juhle und Shiu darauf, dass Vanessa Waverly erscheinen und ihnen ein wenig von ihrer Zeit gewähren würde. Da sie einen Termin 82 verabredet hatten, hätte Waverly sie theoretisch erwarten müssen, aber sie hatte auf den Ruf der Empfangsdame nicht reagiert, und so war die hübsche junge Rothaarige jetzt im rückwärtigen Labyrinth verschwunden, um nach der Chefin zu suchen.
Shiu wanderte durch den Raum und sichtete das Angebot. »Was ist eigentlich Peeling?«, fragte er. »Irgendwas mit Haaren, glaub ich. Entfernung. Kann aber auch Haut sein. Ich weiß nicht genau.« »Entfernung der Haut?« »Nur die äußere Schicht.« »Es muss irgendwas mit Haut sein, denn Waxing ist extra aufgeführt. Waxing muss doch wohl Haarentfernung sein, was meinst du?« Juhle warf ihm einen Blick zu, aus dem die pure Erschöpfung sprach. »Müssen wir das diskutieren?« »Hör dir an, was die hier alles machen - Maniküre, Haare färben und stylen, Badekur, Massage, Gesichtsbehandlung, Bräunung, Typveränderung, Peeling, Waxing. Hast du schon mal irgendwas von diesen Sachen gemacht?« »Klar. Ich lass mir jeden Monat oder so die Haare schneiden und kau mir die Nägel ab, wenn sie mich stören.« »Das heißt also nein.« »Shiu.« Juhle hielt eine Hand hoch. »Die Schönheit der Frauen, das ist wie bei einer Wurst, okay? Man möchte nicht so genau wissen, wie sie hergestellt wird. Wenn du mich fragst, dann sind solche Läden wie der hier Gottes Art, einigen Frauen mitzuteilen, dass sie zu viel Zeit haben und zu viel Geld und dass sie sich vielleicht, aber nur vielleicht, ein klein bisschen zu viel mit sich selbst beschäftigen.« »Nun«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm, »das nenn ich eine Erleuchtung.« Sie hatte ein einladendes Lächeln auf 83 gelegt - ihre Zähne waren auch bearbeitet worden, dachte Juhle - und streckte ihm die Hand entgegen. Die Schlinge hielt seinen rechten Arm eng am Körper, aber er stieß schnell seine Linke nach vorn und durfte sich seine bereits gebrochenen Knochen ein weiteres Mal zerquetschen lassen. Vanessa Waverly war eine athletisch gebaute Venus in den besten Jahren mit kastanienbraunem Haar. Sie trug einen schwarzen Badeanzug und hatte sich ein buntes Tuch um die Hüften gewickelt. Juhle fand, dass sie eine wandelnde Reklame für Schönheitsoperationen darstellte. Soweit man sehen konnte, schien alles, was man nur machen kann, bei ihr gemacht worden zu sein. »Tut mir Leid, dass ich nicht gleich da war, um Sie zu begrüßen«, sagte sie. »Wir hatten ein Problem mit einem der Trockner, und dann hat noch Jeanette gerade wieder angerufen.« Shiu zückte Dienstausweis und Marke, die Waverly mit einiger Sorgfalt begutachtete, bevor sie anmerkte, dass man in ihrem Büro sicher besser reden könne. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und führte sie durch einen mit Teppich ausgelegten Flur, an dessen Wänden gerahmte Coverfotos von Schönheitsmagazinen hingen sowie eine ganze Serie farbiger
Hochglanzvergrößerungen von geschmackvoll fotografierten unbekleideten Frauen jeden Alters, vom Baby bis zur Großmutter. Waverlys Büro, mit getönten Fensterscheiben und einer Aussicht auf eichenbestandene Hügel, nahm die gleichen Themen in einer allerdings etwas nüchterneren Manier auf. In allen vier Zimmerecken erhob sich je eine Bronzeplastik eines idealisierten nackten Frauenkörpers auf einem Sockel. Eine Glasplatte auf einer großen vornübergebeugten Nackten aus schwarzem Marmor diente als Couchtisch, der von weißen Ledersofas und -sesseln umgeben war. Auf dem Schreibtisch aus 84 Glas und Metall standen ein Telefon und ein Computer, aber es gab kein Papier oder Schreibutensilien sonstiger Art und kein Fach für Eingänge. Es war ein Schreibtisch, der Macht ausstrahlte, schlicht und einfach. Allerdings setzte Waverly sich nicht dahinter. Stattdessen wandte sie sich den Beamten zu. »Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten, Tee, Mineralwasser? Nein. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mir selbst etwas hole? Inzwischen nehmen Sie doch bitte Platz, wo immer Sie möchten.« Wiederum ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und ging zum Kühlschrank, der sich im Regal hinter ihrem Schreibtisch verbarg. Sie kehrte mit ihrem Evian-Wasser zurück und setzte sich auf das Sofa. Die Kriminalbeamten hatten sich jeweils für einen Sessel entschieden. »Das ist ein schrecklicher Tag heute«, kam sie ohne Umschweife zur Sache. »Was kann ich für die Herren tun?« Juhle räusperte sich. »Zunächst einmal, was meine Bemerkung von eben betrifft...« »O bitte, Herr Inspektor, das habe ich alles schon mal gehört, glauben Sie mir. Ich hab in diesem Punkt eine sehr dicke Haut entwickelt. Sie sind gekommen, um über George und Jeanette zu sprechen.« »Ja, Ma'am«, antwortete Juhle. Er holte sein Diktiergerät hervor. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen bekannt ist, aber bei Mordermittlungen nehmen wir unsere Befragungen für gewöhnlich auf Band auf. Das ist Standardverfahren. Sind Sie damit einverstanden?« »Ja, natürlich. Was sollte ich dagegen haben?« Juhle zuckte die Achseln. »Manche Leute haben etwas dagegen. Ich frage lieber.« Er lächelte, schaltete das Gerät ein, sprach die Einführung - Fall- und Dienstausweisnum 84 mer, Zeit, Ort, Name der Zeugin. Dann wandte er sich an selbige: »Sie sagten, Sie hätten gerade mit Ihrer Schwester gesprochen, als wir hier ankamen?« Sie nickte. »Ja. Sie wohnt für einige Zeit bei mir. Bis sie ... na ja, bis sie sich in der Lage fühlt, nach Hause zurückzukehren. Was vielleicht nie mehr der Fall sein wird.«
Juhle ergriff die Führungsrolle in der Befragung. »Was wollte sie? Bei diesem Anruf eben?« Vanessa Waverly, vielleicht ein bisschen überrascht von der abrupten Frage, legte den Kopf auf die Seite. »Sie wollte wissen, ob Sie schon angekommen seien. Sie konnte nicht begreifen, warum Sie mit mir sprechen wollten. Offen gesagt, bin ich mir da auch nicht so sicher.« »Sie wusste also, dass wir kommen?«, fragte Juhle. »Ja. Ich hab's ihr gesagt, nachdem Sie angerufen hatten. Das schien mir ganz selbstverständlich. Warum? Ist das ein Problem?« »Nein, Ma'am, war nur eine Frage.« »Wie hält sie sich?«, fragte Shiu. Waverly stieß die Luft aus. »Sie ist natürlich am Boden zerstört. Was sollte sie sonst sein unter diesen Umständen? Und ich meine nicht nur Georges Tod, der schlimm genug ist, sondern auch das andere Opfer, die junge Frau. Haben Sie schon herausgefunden, wer sie war?« Shiu nickte. Bis zu den Abendnachrichten würde es öffentlich bekannt gegeben werden, daher war es sinnlos, die Information zurückhalten zu wollen. »Ihr Name war Staci Rosalier. Haben Sie je von ihr gehört?« »Nein.« »Sie war Kellnerin im MoMo's, wo Richter Palmer oft zu Mittag gegessen hat. In ihrer Wohnung haben wir Fotos von ihm gefunden.« 85 Die Frau ließ den Kopf hängen. »Verdammt, George!«, sagte sie. »Du verdammter Mistkerl.« »Sie hatten keine Ahnung?«, fragte Juhle. »Nein, ich hatte keine Ahnung. Ich dachte ganz im Ernst, dass George und Jeanette das eine Paar wären von denen, die ich kenne ...« Heftig den Kopf schüttelnd, fluchte sie noch einmal. »Man versucht sich den Glauben an die Menschheit ein bisschen zu bewahren, wissen Sie? Aber sie lässt einen immer wieder im Stich.« Shiu sagte: »Sie hatten also auch keinen Hinweis darauf, dass Ihre Schwester Bescheid wusste?« »Überhaupt nicht. Sie wusste es nicht. Weiß es vielleicht immer noch nicht. Jedenfalls nicht mit Bestimmtheit. Natürlich muss sie es vermuten. Aber warum waren sie dann dort, bei ihnen zu Hause? Zumal sie eine Wohnung in der Nähe hatte? Wollte er Jeanette vor den Kopf stoßen, indem er sein kleines Flittchen mit nach Hause bringt?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Ich meine, das wäre überhaupt nicht seine Art. Ich weiß genau, dass George Jeanette nicht gehasst hat, und das wäre wohl die Voraussetzung dafür, etwas so Gemeines zu tun. Selbst wenn er dieses ... Verhältnis hatte. Okay, er ist ein Mann, und Männer tun so was. Aber er hat sie respektiert. Er hätte einfach
keine anderen Frauen mit nach Hause gebracht. So etwas hätte er Jeanette nicht angetan.« »Wir wissen bisher noch nicht, warum er sie mitgebracht hat, Ma'am«, sagte Shiu, »oder ob er sie überhaupt mitbrachte. Es ist durchaus möglich, dass sie von sich aus kam. Jemand kann sie abgesetzt haben. Vielleicht hatte sie noch einen anderen Freund, und das ist der Mörder. Vielleicht hat sie ein Taxi genommen. Vielleicht wollte sie Ihre Schwester konfrontieren, oder den Richter. Wir wissen es einfach nicht.« 86 Ein wenig überrascht stellte Juhle fest, dass Shiu sich einigermaßen geschickt anstellte - er hielt die Frau bei der Stange, streute Informationen ein, die sie interessierten, gab ihr Anreiz, ihnen möglichst viel zu erzählen. Fast noch erstaunlicher fand er, dass Shiu die diversen Szenarien, wie es zu dem Doppelmord hatte kommen können, derart scharfsinnig entwickelte. Offenbar hatte er sich tatsächlich Gedanken darüber gemacht. Wollten die Wunder denn kein Ende nehmen? Darüber hinaus teilte Shiu die Informationen auch nicht wahllos aus, wie es sonst oft seine Art war. Es gab zum Beispiel keinen Grund, Vanessa Waverly zu erzählen, dass Staci Rosaliers Diaphragma, so die Mitteilung aus dem Büro des Leichenbeschauers heute Morgen, in ihr gesteckt und dass sie kürzlich Sex gehabt hatte, wahrscheinlich mit dem Richter, vielleicht sogar in dem Bett im ersten Stock, wenngleich die Bestätigung dafür noch ausstand, solange das Ergebnis der DNA-Untersuchungen an dem Diaphragma und den Laken nicht eingegangen war. Nach kurzem Schweigen nahm Juhle den Faden wieder auf. »Ihre Schwester hat uns gesagt, dass sie den ganzen Abend und die Nacht bei Ihnen gewesen sei.« Juhle und Shiu hatten bei ihrem Gespräch mit Jeanette wohlweislich jede Andeutung vermieden, dass sie eine Verdachtsperson -ja, sogar die Hauptverdächtige - in diesem Fall sei. Vielleicht würden sich in den Erzählungen der Schwestern Widersprüche auftun. »Hätten Sie wohl etwas dagegen, wenn wir den Ablauf des Abends noch einmal durchgehen würden?« »Wozu, um Himmels willen?« Dass sie so erschrocken und sogar ungläubig reagierte, als ihr aufging, dass ihre Schwester unter Verdacht stehen könne, war eine gewisse Genugtuung. Über welche Themen auch immer die beiden 86 Schwestern seit dem Zeitpunkt des Mordes gesprochen haben mochten, Juhle war sich plötzlich sicher, dass Jeanettes Alibi nicht dazugehört hatte. Damit tat sich offenes Feld auf, und er betrat es. »Jeanette hat uns gesagt, dass sie die Stadt gegen vier verlassen habe, um die Hauptverkehrszeit zu meiden. Erinnern Sie sich, um wie viel Uhr Sie sich getroffen haben?«
»Das ist doch lächerlich«, sagte Waverly mit zornesblitzenden Augen. »Jeanette hat George nicht umgebracht. Sie wusste nichts von diesem Mädchen.« Sie ließ ihre Haare schwingen, fuhr mit der Hand hindurch. »Aber na gut. Es war ... Ich kam zur üblichen Zeit nach Hause, also gegen sieben.« »Und haben sie dort getroffen? Bei Ihnen zu Hause?«, fragte Juhle. »Ja.« »Sie war also da, als Sie nach Hause kamen?« Shiu war um vollständige Klärung bemüht. »Nein.« Sie warf beiden einen herausfordernden Blick zu. »Ich arbeite den ganzen Tag. Normalerweise habe ich nicht viele Lebensmittel im Haus, und wenn Jeanette kommt, geht sie oft einkaufen, damit wir uns zusammen was kochen können.« Juhle ließ nicht locker. »Und das hat sie auch an dem Abend gemacht?« »Ja.« Shiu hakte nach: »Und um wie viel Uhr ist sie dann nach Hause gekommen? Vom Einkaufen?« »Das weiß ich nicht genau.« Juhle fragte: »Aber als Sie ankamen, war sie nicht da?« »Das habe ich schon gesagt.« Shiu übernahm. »Sie kamen von der Arbeit. Haben Sie sich etwas zu trinken eingegossen, als Sie zu Hause waren? 87 Oder geduscht? Ihre Mails gelesen? Können Sie sich noch erinnern?« Noch immer sichtlich angegriffen von dieser Art der Befragung, lehnte Waverly sich dennoch zurück und überlegte. Schließlich öffnete sie ihre Wasserflasche und nahm einen ausgiebigen Schluck. »Ich habe das Auto abgestellt, meine Post geholt, bin reingekommen und hab mir einen eisgekühlten Kaffee aus dem Rest gemacht, der morgens übrig geblieben war. Jeanette rief mich von ihrem Handy aus an.« Juhle und Shiu wechselten einen Blick. »Was wollte sie?« »Sie wusste nicht, ob ich Wein kalt gestellt hatte, und hatte vergessen, im Lebensmittelladen welchen zu kaufen. Sie rief also an, damit ich mal nachgucke, was ich auch getan habe, und wir hatten keinen Wein, also sagte sie, sie würde noch kurz bei Adriano's vorbeifahren und eine Flasche mitbringen. Adriano's liegt beim Highway 101, gleich die nächste Ausfahrt.« »Also zehn Minuten entfernt?«, stellte Juhle klar. »So ungefähr, ja.« Shiu sagte: »Und zehn zurück. Sie ist also wann bei Ihrem Haus angekommen?« Die Frage ließ sie hochfahren. »Also, wenn sie die Stadt, wie sie gesagt hat, gegen vier verließ, dann ist sie sicherlich gegen Viertel vor fünf dort angekommen. Irgendein Nachbar hat sie vielleicht gesehen. Sie könnten ja mal nachfragen.«
»Das werden wir tun.« Juhle schlug einen sanften Ton an. »Selbstverständlich tun wir das.« »Dann ist sie, wie ich eben bereits erklärte, noch zum Einkaufen gefahren.« Juhle blieb am Drücker. »Aber bis Sie sie dann tatsächlich gesehen haben bei sich zu Hause, da war es eher so acht, 88 vielleicht acht Uhr dreißig. Kommt das ungefähr hin? War es schon dunkel draußen, erinnern Sie sich?« Waverly ließ sich wieder zurücksinken und schloss die Augen. Schließlich sagte sie: »Es war gerade dunkel geworden. Das weiß ich noch, weil ich, als sie draußen vorfuhr, die Tür aufgemacht habe, um sie zu begrüßen, und da hab ich gesehen, dass sie vergessen hatte, die Scheinwerfer auszuschalten.« Auf dem Weg Richtung Novato sagte Shiu: »Sie hat also vergessen nachzusehen, ob Wein da war, hat dann vergessen, welchen zu kaufen, und hat schließlich vergessen, die Scheinwerfer auszuschalten ...« »Muss in Gedanken woanders gewesen sein.« Es war ein klarer Nachmittag, die Wolken standen hoch. Juhle blickte über die Bay und wollte beinahe die Vorhersage wagen, dass sie schönes Wetter bekommen könnten. Aber er sagte: »Diese Frau - das ist eine echte Naturgewalt.« »Du sollst dich nicht gelüsten lassen nach deines Nächsten Weib«, sagte Shiu. »Jetzt hab ich auch mal einen Spruch für dich«, sagte Juhle. »Wie wär's mit: Du sollst nicht >du sollst nicht< sagen? Außerdem ist sie nicht verheiratet. Also ist sie nicht das Weib von irgendeinem Nächsten.« »Du bist aber verheiratet.« »Oha, danke, Shiu, das war mir gerade kurz entfallen. Ich habe mich aber keineswegs gelüsten lassen oder wie das heißt. Ich habe lediglich festgestellt, dass sie eine Naturgewalt ist. Das da ist unsere Ausfahrt.« »Ich weiß.« Adriano's war ein kleiner, feiner Spirituosenhandel in einer der in Marin County nicht gerade rar gesäten Einkaufs 88 passagen, auf deren Parkplätzen ein unmäßig hoher Anteil von Luxuskarossen versammelt war. Shiu parkte direkt vor der Tür, sie gingen hinein und strebten dem offenbar leeren Laden zu. Klassische Musik spielte im Hintergrund, und eine Klingel schlug an, als sie die Türschwelle überschritten. Ein gut gekleideter, kleiner, weißhaariger Mann mit gepflegtem Schnäuzer trat daraufhin aus dem Hinterzimmer. Nach Begrüßung und Vorstellung hatte es auf einmal den Anschein, als könnten die Dinge ganz einfach liegen. Mr Adriano erzählte ihnen, dass er den Laden ganz allein betreibe. Von mittags bis abends um neun, sechs Tage in der Woche. Das sei ganz und gar nicht schwierig, und er mache das hier
schon seit siebenundzwanzig Jahren. Niemand außer ihm habe Zugang zur Registrierkasse. Natürlich kenne er Mrs Palmer. Sie sei schon viele, viele Male hier gewesen, mit Vanessa Waverly. »Ihre Schwester, richtig?« Aber er würde lieber über Vanessa sprechen. Ganz im Vertrauen - seien sie der schon begegnet? Mamma mia »Für nur eine Nacht würde ich mit Freuden mein linkes Ei hergeben, wenn Sie wissen, was ich meine. Obwohl ich, fürchte ich, wohl in einer sehr langen Schlange anstehen müsste. Aber was ist es denn, was Sie über ihre Schwester wissen wollen, Mrs Palmer? Jeanne, nicht wahr?« »Jeanette«, sagte Shiu. »Ah ja, richtig. Jeanette. Muss ich mir merken.« Plötzlich verflog sein gewohnheitsmäßiges Lächeln. Vom Aufblitzen der Erinnerung getroffen, tippte er sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Gerade fällt es mir wieder ein. Die Herren von der Polizei. Der Richter. Ihr Ehemann, stimmt's?« »Leider ja, Sir. Können Sie sich erinnern, wann sie zuletzt hier war? Mrs Palmer«, fragte Juhle. 89 Adriano kratzte sich ein bisschen die Wange. »In letzter Zeit nicht, glaube ich. Vielleicht vor einem Monat.« »Nicht vor zwei Tagen?«, fragte Shiu. »O nein. Garantiert nicht.« »Sind Sie sicher? Späte Abendessenszeit? Sagen wir gegen acht.« Er starrte in die Ferne. »Nein. Sie könnte vorbeigekommen sein und nichts gekauft haben, falls ich gerade nicht vorne war. Vielleicht hab ich es nicht mitbekommen, und sie ist einfach wieder gegangen. Ich versuche immer auf das Klingeln zu achten, wenn ich hinten zu tun habe, und komme dann nach vorn in den Laden. Wie eben, als Sie eingetreten sind. Aber sie hat nichts gekauft, wofür ich die Registrierkasse hätte benutzen müssen. Daran würde ich mich erinnern. Und acht Uhr, da ist nicht viel los. Falls sie sich natürlich«, das verschmitzte Lächeln kehrte zurück, »unter der Lichtschranke hindurchgeduckt und eine Flasche gestohlen hat...« »Nein«, sagte Juhle. »Das hätte sie nicht getan.« »Dann tut es mir Leid«, sagte Adriano. »Ich habe sie nicht gesehen.«
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»Home sweet home«, sagte Parisi. »Wenn Sie mit reinkommen und zehn Minuten warten mögen, kann ich Ihnen Ihre Sachen gleich zurückgeben.« »Die kann ich mir auch später abholen. Oder Sie können sie bei mir vorbeibringen.« »Jetzt sind wir aber beide gerade hier.« 89 »Okay, geschenkt.«
Parisi wohnte in einem frei stehenden einstöckigen Haus, das an einen Park mit viel Rasen grenzte und ganz am nördlichen Ende der Larkin Street lag, nämlich, wie sich herausstellte, nur einen Block vom Ghirardelli Square entfernt. Das Haus war eine winzige Stuckschönheit im spanischen Stil, mit einem winzigen Rasenstreifen nach vorn und einer überdachten Freitreppe, die zur Eingangstür führte. Zwischen Parisis Auffahrt und der ihrer Nachbarn gab es eine Parkgelegenheit, die nicht viel mehr Platz bot als ein Schuhkarton, aber dafür hatte Hunt sich schließlich den Cooper gekauft. »Sie haben ein ganzes Haus?«, fragte er beim Aussteigen. »Wie kann man heutzutage in San Francisco ein Haus besitzen?« Sie zuckte die Achseln. »Sagte der Mann, der in einem Lagerhaus wohnt.« »Ja, aber ich wohne zur Miete. Und außerdem zur mietpreisgebundenen Miete.« »Sie werden sehen«, sagte sie, »dass es ein sehr kleines Haus ist. Eine Freundin meiner Mutter hat es mir günstig verkauft, als sie in den Ruhestand ging.« Sie wühlte ein bisschen in ihrer Handtasche, und dann ging die kleine Garagentür auf. »Fragen Sie mich nicht, warum, aber die Eingangstür benutze ich nie.« »Ich frage mich, warum Sie die Eingangstür nicht benutzen«, sagte Hunt mit nachdenklicher Miene. Sie lachte und sagte: »Fragen Sie mich nicht.« Und dann: »Kommen Sie. Mir nach.« Sie nahm ihn bei der Hand. Sie gingen in die Garage, vorbei an dem schwarzen Miata-Cabrio, das dort parkte. Neben einer Tür, die, wie sich herausstellte, in die Küche führte, drückte sie auf 90 einen Knopf in der Wand, worauf die Garagentür sich wieder schloss. Hunt war dicht hinter ihr, dicht genug, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Noch immer hielt sie seine Hand in der Dunkelheit, ließ sie erst los, um die Tür zu öffnen. »Warten Sie einen Moment«, sagte sie. »Muss nur mal kurz was kontrollieren. Gut. Sie können jetzt reinkommen.« Es war eine kleine Küche, modern und zweckmäßig, und sie schien ganz anständig in Gebrauch zu sein. Diverse Töpfe und Pfannen hingen an einem an der Wand befestigten Metallbaldachin, und ein ganzer Block voll Messer von offenbar sehr guter Qualität stand neben einem Behälter mit Kochutensilien auf der Arbeitsfläche neben dem Herd. »Was mussten Sie denn kontrollieren?«, fragte Hunt. »Ob ich das Geschirr gespült hatte. Ich war mir nicht sicher. Ich wollte nicht, dass Sie mich für unordentlich halten.« »Würde ich nie tun. Aber wenn es Geschirr abzuwaschen gibt, heißt das ja, dass Sie hier essen.« »Selbstverständlich esse ich hier. Was dachten Sie denn?«
»Ich dachte, dass Sie wahrscheinlich jeden Abend zum Essen ausgehen. Nach der Sendung in ein gutes Restaurant. Es sich gut gehen lassen. So wie gestern.« Sie zuckte die Achseln. »Manchmal. Aber, nein, meistens bin ich hier, ganz allein, und arbeite bis spät. Fragen Sie Amy. Die hat den gleichen Tagesablauf. Aber nur um das mal festzuhalten, sollten Sie wissen, dass ich keine schlechte Köchin bin. Kann sogar sein, dass ich eine großartige Köchin bin. Italiener können gar keine schlechten Köche sein. Das wäre illegal.« »Was ist Ihre Spezialität?« 91 »Nun, natürlich ist meine Tomatensoße ganz unglaublich. Und meine überbackenen Auberginen. Und was ich heute ... ah, nein.« »Was?«, fragte Hunt. »Nichts.« »Unfair. Man kann nicht erst anfangen und dann nicht weiterreden.« »Sie haben Recht. Das gehört sich nicht.« Sie fasste ihn sanft am Arm, nahm dann die Hand wieder weg. »Ich wollte sagen, dass ich mir, sobald Sie gegangen wären, meine speziellen Spaghetti Carbonara kochen würde, übrigens eine der besten Katerkuren der Welt, und dann dachte ich, ich könnte Sie fragen, ob Sie eine Schüssel mitessen wollten. Aber ich habe Ihnen schon viel zu viel von Ihrer Zeit gestohlen.« »Ich weiß«, sagte Hunt. »Es war ganz furchtbar.« »Müssen Sie nicht arbeiten?« »Zufällig habe ich gestern einen Fall abgeschlossen, für den ich mindestens zwei Tage veranschlagt hatte, der dann aber an einem erledigt war. Sie hatten also das große Glück, dass bei mir heute weiter nichts anliegt.« »Unglaubliches Glück.« Parisi warf einen Blick auf die Wanduhr. »Tja, entgegen den Anweisungen meines Arztes muss ich nachher noch mal los. Ich habe einen Termin um drei. Bis dahin hätten wir aber noch reichlich Zeit. Mögen Sie?« »Hier bleiben?« »Zum Mittagessen.« »Da werden Sie mir den Arm verdrehen müssen.« Hunt streckte die Hand aus. Und es klappte, sie ergriff sie wieder. »Das reicht«, sagte er, bevor sie auch nur anfing, so zu tun als ob. 91 Während der Speck brutzelte und das Wasser kochte, gab sie ihm eine Führung. Der Rest des Hauses hielt, was es versprach - alles ziemlich klein. Aber wie die Küche modern, zweckmäßig, behaglich. Parisi hielt es in einem Zustand, den man eher als ordentlich denn als aseptisch sauber bezeichnen würde. Keine herumliegenden Klamotten, kein schmutziges Geschirr in der Spüle. Hunt blieb plötzlich wie gebannt stehen, völlig überrascht von dem Inhalt einer abschließbaren Vitrine im Esszimmer; sie besaß eine Sammlung
von Handfeuerwaffen - Pistolen und Revolver, einige winzige Waffen im Derringer-Stil, altmodische Revolvergürtel mit Lederhalftern, ein paar Dosen, offenbar für Schnupftabak. »Sie stehen auf Waffen?«, fragte er. »Inzwischen nicht mehr so.« »Das sieht nach 'ner ganz anständigen Sammlung aus.« »Ich weiß. In meiner Jugend hatte ich eine Wildwestphase. Aber heute rühre ich die Dinger nicht mehr an.« »Sie funktionieren aber? Man kann damit noch schießen?« »O ja. Die gehen alle noch. Es wäre sinnlos, eine Pistole zu haben, die nicht schießt, oder? Aber keine Sorge, die sind alle registriert.« »Ich hatte gar keine Sorge.« »Ich sollte sie mir wahrscheinlich vom Hals schaffen, aber...« Hunt sah sie an. »Richie?« Sie nickte seufzend und sagte: »Vielleicht ein bisschen. Kommen Sie.« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins angrenzende Wohnzimmer. »Wenn man aus Ihrer Wohnung kommt, wirkt das hier alles ein wenig beengt, nicht wahr?« 92 »Gemütlich, würde ich eher sagen. Funktioniert der Kamin?« »Hervorragend. Ist das Beste am ganzen Haus.« »Ein bisschen dunkel ist es aber vielleicht.« Sie drückte seine Hand und zog dann die Rollläden vor dem breiten Wohnzimmerfenster hoch. Das einfallende Licht erzeugte einen Eindruck von Lebendigkeit, der vorher gefehlt hatte. Der hellbraune Holzfußboden glänzte. Die gerahmten Drucke erstrahlten in fröhlichen Farben - gelben, roten und grünen. Während sie sich zu ihm umdrehte, sagte sie: »Ich mach die Jalousien nicht allzu oft hoch, aber vielleicht sollte ich das. Es macht wirklich einen Unterschied, oder?« »Es ist toll«, sagte Hunt. »Wirklich wahr. Und Sie hatten tatsächlich die Absicht, hier rauszugehen?« Sie blickte sich um. »Irgendwie habe ich es gar nicht mehr richtig wahrgenommen, Wyatt.« Ein trauriges Lächeln folgte. Dann rief sie plötzlich: »Der Speck!« Angesichts des kochenden Wassers in der Küche machte sie eine Bemerkung darüber, wie warm es sei, zog Hunts Pullover aus und legte ihn über eine Stuhllehne. »Vergessen Sie den bloß nicht«, sagte sie. Sie trug keinen BH unter dem ärmellosen, fest in seine Jeans gestopften T-Shirt. Er saß am Tisch und beobachtete, wie sie sich von der Geräteschublade zum Tisch bewegte, vom Tisch zum Herd, zum Kühlschrank, zum Tisch. Auf den sie eine Flasche Pellegrino und zwei Gläser stellte. Den gebratenen Speck legte sie zum Abtropfen auf Küchenpapier. Ein paar üppige Prisen Salz flogen in den
Kochtopf. Sie legte Sets auf den Tisch, dazu rot-weiß karierte Servietten. Für jeden eine Gabel und einen großen Löffel. In die Tischmitte kamen ein Stück Parmesan, eine Metallreibe und ein Pfefferstreuer. 93 Er sah zu, wie sie die Spaghetti umrührte, die Stirn voller Konzentration in bezaubernde Falten gelegt, die Ellbogen angehoben, und das T-Shirt flatterte dabei. Sie zog ein paar Nudeln aus dem Wasser. »Kennen Sie das?«, fragte sie und warf sie gegen die Wand, wo sie hängen blieben. »Das ist die Probe, wissen Sie. Wenn sie an der Wand kleben bleiben, sind sie al dente.« Sie drehte die Flamme unter dem ausgelassenen Fett hoch. Er beobachtete, wie sie den großen Topf mit kochendem Wasser und Pasta hochnahm und etwas von dem Wasser in eine große Glasschüssel goss, dann alles Übrige in das Sieb in der Spüle kippte. Und dann schüttete sie - so schnell, dass er nicht fassen konnte, wieso sie sich nicht die Hände dabei verbrannte - die abgetropften Spaghetti in die angewärmte Schüssel zurück. All dies ging fließend und behände, ohne überflüssige Bewegungen. Und schnell. Sie verteilte den Speck über den Spaghetti. Er saß fasziniert da, und bevor sie sich zum Herd zurückwandte, blieb sie eine Sekunde lang mit der Pfanne in der Hand stehen und lächelte ihm zu. »Noch zwanzig Sekunden«, sagte sie. »Sie werden begeistert sein.« Er sah zu, wie sie als Nächstes zwei rohe Eier über den Spaghetti in der großen Schüssel aufschlug, anschließend das ganze heiße Fett darübergoss. Jetzt endlich mit Topflappen nahm sie die Schüssel und trug sie zum Tisch, wo Hunt auf seinem Sitz in der ersten Reihe wartete. Sie hielt eine Holzgabel in einer, einen Holzlöffel in der anderen Hand und begann, die Eier, den Speck und das Fett zwischen die Pasta zu rühren, bis alles gut durchmischt war. Schließlich nahm sie sich den Parmesan und rieb beharrlich, wiederum mit dem Ausdruck höchster Konzentration im Gesicht, bis der Käse wie eine frische Schneedecke über den Spaghetti lag. 93 Jetzt beobachtete er noch, wie sie die Pfeffermühle ein dutzend Mal über der Schüssel drehte. Eine vorwitzige Haarsträhne wurde aus dem Gesicht gestrichen. Dann hatte sie wieder Holzgabel und -löffel in den Händen und mischte alles ein letztes Mal durch, bevor sie eine perfekt portionierte Pastamenge aus der Schüssel hob und mitten auf Hunts weißem Teller platzierte. Dann füllte sie auf gleiche Weise auch sich auf und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. »Mehr Parmesan und Pfeffer ist erlaubt. Man kann gar nicht zu viel davon nehmen«, sagte sie. »Wie ist es?« Hunt war nahezu benebelt, von den aus der Pasta aufsteigenden Gerüchen ebenso wie von der schlichten Schönheit des hinreißenden Balletts, das er soeben erlebt hatte. Mit Hilfe des darunter geschobenen Löffels drehte er
einige Nudeln auf seine Gabel und führte sie zum Mund. »Es ist das Beste, was ich je gegessen habe«, sagte er. Sie aßen fleißig. »Okay, was gibt's denn jetzt über Sie zu erzählen?«, fragte Parisi. »Nicht viel«, sagte Hunt. »Was wissen Sie noch nicht?« »Tja, ich weiß, dass Sie kein Cop waren, bevor Sie Privatdetektiv wurden, was wohl eher ungewöhnlich ist. Sie haben mit Kindern gearbeitet, stimmt's?« »Richtig. CPS. Aber eigentlich war ich doch vorher ein Cop.« »Wie kann das angehen, wenn Amy davon nichts weiß?« »Ich weiß es. Es kann ja unser Geheimnis bleiben. Ich rede wahrscheinlich nicht oft darüber. Es war nicht in der Stadt.« »Sie wollen mich rätseln lassen, nicht wahr?« Er lachte, fühlte sich gut dabei. »Nein. Hier kommt die aufregende Geschichte. Ich war während des ersten Golf 94 kriegs bei der CID, also praktisch der Armykripo. Und als sie mich zurück nach Hause schickten, hatte ich noch ein Jahr oder so abzuleisten und bekam es in der Zeit viel mit Fällen von Misshandlung in den Familien von Armeeangehörigen zu tun. Als ich den Dienst beendet hatte und hier in die Stadt kam, hatte ich die Nase ziemlich voll, sowohl von der Armee als auch von der Polizei. Aber die Sache mit den Kindern ... Ich weiß nicht. Das kam mir wirklich wichtig vor.« Er lächelte ihr zu. »Es bleibt nur noch Zeit für ein paar wenige Fragen.« »Na schön. Wo sind Sie aufgewachsen?« »Ich komm von der Halbinsel. San Mateo.« »Tatsächlich? Ich hätte Sie total als Stadtjungen eingeschätzt. Ich meine, so wie Sie sich hier auskennen. Ich bin jetzt seit sechs Jahren hier, aber wenn ich aus der Innenstadt raus muss oder westlich von der Von Ness bin, weiß ich nicht mehr weiter. Ich dachte einfach, dass jemand, der die Stadt so gut kennt wie Sie, hier geboren sein muss.« »Nee, nee. Bin mit fünfundzwanzig hergezogen.« »Genau wie ich.« »Nur dass das bei mir«, sagte Hunt, »nicht erst sechs Jahre her ist. Sondern fünfzehn.« Sie furchte die Stirn. »Die Rechnung kann nicht stimmen.« Er nahm das Kompliment mit einem Neigen des Kopfes entgegen. »Zu freundlich von Ihnen, aber, doch, sie stimmt.« »Na gut, ich will Ihnen mal glauben. Aber eine Frage noch?« »Eine.« »Wie kam es, dass Sie sich mit einem Cop vom Morddezernat angefreundet haben?« 94
»Eigentlich«, sagte Hunt, »war es ziemlich cool, wie wir wieder zusammengekommen sind. Dev und ich waren schon in der Jugend dick befreundet. Wir haben zusammen Baseball an der Highschool gespielt. Danach kam dann das College, nicht wahr, und bei mir die Armee. Na, jedenfalls hatte ich ihn seit ungefähr zehn Jahren nicht mehr gesehen, und dann ...« Er lieferte ihr eine gekürzte Fassung seines Wiedersehens mit Juhle die Wohnsiedlung Holly Parks, die an ihren Küchenstuhl gefesselte Keeshiana. Als er zum Ende kam, saß Parisi vorgebeugt, ihm zugewandt, einen Fuß auf dem Fußboden, den anderen untergeschlagen. »Aber das ist ja eine unglaubliche Geschichte, Wyatt«, sagte sie. »Solche Sachen haben Sie die ganze Zeit gemacht?« »Nein. Manchmal. Nicht immerzu. Gott sei Dank. Danach jedenfalls«, fuhr Hunt fort, »haben Dev und ich mehr oder weniger da weitergemacht, wo wir in der Highschool aufgehört hatten, von kleinen Details natürlich abgesehen, wie zum Beispiel der Tatsache, dass er inzwischen verheiratet ist und drei Kinder hat.« »Und was ist mit Ihnen?« »Was soll mit mir sein?« »Waren Sie je verheiratet?« »Nein.« »Kinder?« »Nicht verheiratet, keine Kinder.« Er wollte Andrea nicht belügen, und dies war, streng genommen, die Wahrheit. Nicht verheiratet, keine Kinder. Verlobt, ja, und nur noch sechs Wochen von der Hochzeit entfernt. Sophie war sechsundzwanzig gewesen, im zweiten Monat schwanger und bei ansonsten bester Gesundheit, als das Aneurysma sie dahingerafft hatte. 95 Er hatte anscheinend den richtigen, unbekümmerten Ton getroffen. Andrea war schon bei der nächsten Frage. »Bereuen Sie das im Nachhinein? Ich meine, Sie haben so lange mit Kindern gearbeitet...« Er hob die Schultern, lieferte jene Antwort, die er mit den Jahren zur Vollkommenheit gebracht hatte: »Naja, ich habe vielleicht ein bisschen reichlich davon mitgekriegt, wohin viele Familien sich entwickeln.« »Aber nicht alle.« »Nein, nicht alle. Das ist wahr.« Parisis Blick schien sich nach innen zu verlieren. »Was ist?«, fragte Hunt. »Ich hab nur grad an all das gedacht, was ich die ganze Zeit gemacht habe, mit Spencer und ... anderen Männern vor ihm, und dann das verbissene Streben nach der Karriere und ...« Sie stieß reichlich Atemluft aus. »Plötzlich fühle ich mich ein bisschen leer.«
»Nach allem, was Sie eben gegessen haben, können Sie eigentlich nicht leer sein.« Er spürte, dass sie verstand, was er bezwecken wollte, nämlich mitzuhelfen, dass all ihre Dämonen mal ein bisschen zur Ruhe kamen. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren schmerzlich, erniedrigend, anstrengend genug für sie gewesen. Sie sollte sich nicht noch zusätzlich fertig machen. Nicht heute. Sie sah ihn an, dann erhob sie sich, kam heran und stellte sich vor ihn. Sie legte die Hände um seinen Kopf, zog ihn an ihren Bauch und hielt ihn dort fest. Nach einer ganzen Weile gab sie ihn wieder frei, und er stand auf, umschloss ihr Gesicht mit beiden Händen und senkte seine Lippen auf ihre. 96 Nach einiger Zeit machte sie sich so weit los, dass sie sagen konnte: »Ich muss diese Sachen sowieso ausziehen, damit ich sie dir zurückgeben kann.« Hunt wäre ohne weiteres den ganzen Nachmittag, wenn nicht die ganze Woche, in ihrem Bett geblieben, aber sie machte ihm klar, dass sie ganz im Ernst langsam mal aufbrechen und ein paar Stunden arbeiten müsse. Aber sie würde ihn gern heute Abend noch wiedersehen. »Irgendein nettes Restaurant deiner Wahl, und ich lade dich ein?« »Was könnte besser sein als das, was wir gerade hatten?« »Nichts«, sagte sie. »Obwohl es Leute gibt, die öfter als einmal pro Tag essen, weißt du.« »Ich werde darüber nachdenken«, sagte Hunt. »Aber auf die Gefahr hin, ein unangenehmes Thema zu berühren, was ist mit der Donolan-Veranstaltung?« Sie schüttelte den Kopf. »Der Gerichtssaal bleibt heute dunkel. Ich werde erfahren, wie es morgen aussieht, und mach wahrscheinlich weiter, bis der verdammte Prozess zu Ende ist.« »Na gut.« Hunt hielt die Sachen in der Hand, die sie getragen hatte. Er stand an der offenen selten benutzten Tür. »Falls dir immer noch danach ist, wenn du mit deiner Arbeit durch bist. Aber falls du dann doch lieber wieder schlafen gehen möchtest, hätte ich dafür Verständnis.« »Du bist so gut«, sagte sie. »Im Ernst jetzt.« Wieder las er Dankbarkeit in ihren Augen. »Wie wär's, wenn wir es offen ließen«, meinte sie, »und ich ruf dich an, so oder so. Sagen wir, bis spätestens sieben?« »Das klingt vernünftig. So oder so.« Sie nickte. »Ich ruf an.« 96
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Im Rückblick vorhersehbar, zur fraglichen Zeit aber nicht einkalkuliert, hatte die Befragung in JVs Salon zur Folge, dass Vanessa ihre Schwester anrief, sobald Juhle und Shiu weg waren, und sie fragte, ob ihr klar sei, dass sie eine
Tatverdächtige im Mordfall ihres Mannes sei. Dies hätten die Kriminalbeamten ganz unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Als sie auf dem Rückweg von Adriano's waren, begann Shiu - der jetzt nahezu durchgehend zu erkennen gab, dass der Druck, Tatverdächtige vorweisen zu können, sein Urteil trübte - sich tatsächlich darüber auszulassen, dass er immer mehr zu der Ansicht komme, sie sollten ein Gespräch mit einem der Stellvertretenden Bezirksstaatsanwälte führen. Und zwar sofort. Sie sollten ihm darlegen, was sie gegen Jeanette in der Hand hätten, und anfangen, über die Modalitäten der Anklageerhebung zu diskutieren - ob man sie verhaften solle, bevor sie die Flucht ergreifen oder etwas ähnlich Überstürztes tun könne, zum Beispiel Selbstmord begehen, oder ob man warten und die Beweise einer Anklagejury vorlegen sollte, um eine formelle Anklage zu erwirken. Juhle war nicht per se gegen irgendeine dieser Vorgehensweisen. Tatsächlich glaubte er noch immer weitgehend an die Richtigkeit dessen, was er Shiu auf der Hinfahrt vorgejammert hatte - dass sie den Fall praktisch an einem Tag gelöst hätten. Aber so groß der Druck sein mochte, Anzeige gegen Jeanette zu erheben, bisher hatten sie schlicht und einfach noch nicht das nötige Material. Sicher, sie hatten ein offenes Zeitfenster der Witwe, in welchem sie die Morde hätte begehen können, für die sie zudem ein starkes und sogar zwingendes Motiv besaß - ange 97 nommen, dass sie von der Existenz Staci Rosaliers überhaupt gewusst hatte. Aber die Tatsache, dass sie wahrscheinlich nicht bei Adriano's gewesen war, um Wein zu kaufen, verriet ihnen auch nicht annähernd, was sie während dieser kritischen vier Stunden stattdessen getan hatte. Außerdem hatten sie noch nicht einmal die Schrauben bei Jeanette selbst angesetzt. Es wäre äußerst unglücklich, wenn sie sie dem Staatsanwalt oder Lieutenant Lanier oder, am aller-schlimmsten, Polizeichef Batiste als Tatverdächtige präsentieren würden, nur um dann zu erleben, dass sie ein oder zwei Zeugen beibringen konnte, die sie vor dem Haus ihrer Schwester gesehen oder sich im Lebensmittelladen mit ihr unterhalten hatten. Oder was auch immer. Nachdem er Shiu überzeugt hatte, dass sie noch einmal mit ihr reden müssten, und zwar bald, rief Juhle sie von seinem Handy aus an, um zu erkunden, ob sie vielleicht eine Stunde oder auch ein bisschen mehr von ihrer Zeit für sie erübrigen könnte. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er, dass Vanessa sie angerufen hatte. Jeanette war selbstverständlich gern bereit, sie zu treffen, wann immer es ihnen beliebte, aber die Zusammenkunft würde im San Franciscoer Büro ihres Anwalts Everett Washburn stattfinden müssen. Sie gab ihm die Adresse in der Union Street und sagte, sie würde sie dort in fünfundvierzig Minuten erwarten, also gegen vier Uhr dreißig.
Ihre Fahrt zurück in die Stadt wurde jedoch schwer beeinträchtigt, als ein Hirsch den Entschluss fasste, seinem ländlichen Lebensraum für eine Weile den Rücken zu kehren und der Urbanen Kultur, womöglich dem Nachtleben von San Francisco, ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Um dies tun zu können, musste er die Golden Gate Bridge überque 98 ren. Der Viereinhalb-Kilometer-Marsch aber, mit Hilfe einer aus sechs Streifenwagen der California Highway Patrol bestehenden Eskorte letztlich erfolgreich bewältigt, brachte den übrigen Verkehr auf der Brücke in beide Richtungen annähernd vier Stunden lang zum Erliegen. Everett Washburn ging auf die siebzig zu und pflegte einen bodenständigen Stil - ausgebeulte braune Anzughose, rote Hosenträger, eine überbreite Krawatte unter einem zerknitterten Sportsakko von der Stange. Der Walrossschnäuzer und das rote, fleischige Gesicht verliehen ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit der alten Comicfigur des Captain Kangaroo, wenn auch Juhle fand, dass die blauen Augen unter dem schneeweißen Haar ungefähr so warm und einladend anmuteten wie ein Eisgletscher. Falls Mr Greenjeans diesem Mann mit einem seiner tölpeligen Tricks käme, würde der ihm den Arsch aufreißen. Dann aber sagte sich Juhle, dass der Anwalt vermutlich sein Rollengesicht aufgesetzt hatte, bevor er ihnen die Eingangstür aufriss, gut zwei Meter unterhalb der Straße, unter dem Cafe de Paris. Demonstrativ sah er auf seine Uhr. »Acht Uhr sechs«, sagte Washburn zur Begrüßung. »Ich sollte meine Rechnung wirklich an die Stadt schicken statt an meine Mandantin, für die Zeit, die ich warten musste, nachdem ich extra den ganzen Weg von Redwood City gefahren bin, um pünktlich zu einer Besprechung zu kommen, die Sie angesetzt haben.« So wie er das sagte, konnte man denken, dass Redwood City mindestens einhundertfünfzig Kilometer entfernt war, während es in Wirklichkeit eher vierzig Kilometer waren, die meisten davon auf der Autobahn und kein einziger, jedenfalls heute, von Hirschen frequentiert. »Wäre meine 98 Mandantin Mrs Palmer nicht gleichzeitig eine so hoch geschätzte Freundin und wäre es nicht ihr dringender Wunsch, Ihrer Untersuchung in jeder nur möglichen Weise nützlich zu sein, würden Sie mich zu einer so unchristlichen Zeit überhaupt nicht mehr angetroffen haben. Ich hatte vor zwei Jahren einen Herzinfarkt, und mein Arzt hat mir entschieden davon abgeraten, außerhalb der Geschäftszeiten noch zu arbeiten. Sie aber möchte, dass der Mörder ihres Mannes ergriffen wird. Das vor allem anderen. Ich nehme an, dass Sie sich irgendwie ausweisen können. Wenn ich darum bitten dürfte.« Tatsächlich hatte Juhle angeboten, die Besprechung abzusagen, als sich abzeichnete, dass sie den Termin nicht würden einhalten können, aber
Washburn hatte sich ereifert, dass er die ganze Fahrt in die Stadt nur für diesen einen Termin auf sich genommen habe. Er sei ein viel beschäftigter Mann und wisse nicht, wann er sich kurzfristig wieder freimachen könne. Wenn sie mit seiner Mandantin sprechen wollten, dann seien sie heute den ganzen Tag zu uneingeschränkter Zusammenarbeit bereit. Danach würde er sich zwar bemühen, flexibel zu sein, aber es könne eine Weile dauern, und natürlich werde er seiner Mandantin nicht erlauben, in seiner Abwesenheit noch einmal mit der Polizei zu sprechen. Er hatte sie, kurz gesagt, vorgeführt. Und jetzt tat er es wieder. Obwohl er versucht war, die ganze Sache abzublasen und den alten Rabauken aufzufordern, seine Mandantin vor eine Anklagejury treten zu lassen, wenn sie nicht mit ihnen reden wollte, biss Juhle sich auf die Zunge. Das würde nichts bringen. Er und Shiu mussten mit dieser Untersuchung irgendwie vorankommen, und bevor sie Mrs Palmer nicht 99 entweder belasten oder von der Verdächtigenliste streichen konnten, steckten sie in einer Sackgasse. Washburn hatte sie im Sack, und er wusste es. Er betrieb seine Anwaltspraxis im Untergeschoss eines alten viktorianischen Gebäudes und führte sie nunmehr ohne ein weiteres Wort durch einen schmalen und dunklen Flur, von dem nur zur linken Seite hin Büroräume abgingen. An seinem Ende öffnete sich der Flur zu einem etwas breiteren, aber immer noch kleinen Empfangsbereich. Dahinter befand sich Washburns Büro, ein vergleichsweise geräumiger achteckiger Raum mit Fenstern in sechs Richtungen und Büchern auf jedem freien Quadratzentimeter Wandfläche. Es gab keinen Schreibtisch, keinen Hinweis darauf, dass hier eine Kanzlei betrieben wurde. Dem Augenschein nach hatte man es mit einem Wohnzimmer zu tun - viel blühendes Grünzeug, orientalische Teppiche, niedrige Tische und ein paar Sitzecken. Draußen, jenseits der Fenster, hatte es schon zu dämmern begonnen, aber das Zimmer wurde von beschirmten Lampen gut beleuchtet. Jeanette Palmer erhob sich nicht von ihrem Zweiersofa, als sie eintraten. Ganz in Schwarz gekleidet, wirkte sie zerbrechlich und erschöpft. Washburn nahm sich einen Holzstuhl mit grader Rückenlehne und forderte die Beamten auf, auf dem Sofa auf der anderen Seite des Couchtisches Platz zu nehmen. Juhle packte sein Diktiergerät aus und stellte es auf den Tisch in der Mitte, nachdem er Washburns per Kopfnicken erteilte Erlaubnis eingeholt hatte. Er sagte seine Standardeinleitung auf und begegnete dann dem wütenden und gleichzeitig unsicheren Blick seiner Tatverdächtigen. »Mrs Palmer, wie geht es Ihnen?«, begann Juhle. 99
Offensichtlich war sie instruiert worden, ohne Zustimmung ihres Rechtsbeistands gar nichts zu sagen. Sie wandte den Kopf und sah Washburn an, eine stumme Frage. Die er beantwortete. »Offen gestanden, Inspektor«, sagte er, »würde es ihr besser gehen, wenn sie sich nicht mit der absurden Tatsache befassen müsste, dass sie offenbar als Tatverdächtige angesehen wird. Und das ist absurd.« »Werden Sie ihr gestatten zu reden?«, fragte Shiu. »Selbstverständlich. Ich habe Ihnen ja gesagt, dass sie alles Erdenkliche tun wird, um Ihnen bei Ihren Ermittlungen behilflich zu sein. Ist es nicht so, Jeanette?« » Selbstverständlich.« »Schön«, sagte Juhle. »Dann brauchen wir es uns ja nicht gegenseitig schwer zu machen.« »Es ist schon viel zu schwer gemacht geworden«, sagte Washburn. »Unnötig schwer.« Erneut widerstand Juhle der Versuchung, dem Anwalt Kontra zu geben. Es hatte einfach keinen Sinn, mit ihm, worauf er es anscheinend angelegt hatte, in den Clinch zu gehen. Stattdessen sah Juhle noch einmal Mrs Palmer ins Gesicht. »Gestern«, begann er, »in Ihrem Haus haben wir Sie darüber befragt, was Sie am Montagnachmittag getan haben, und Sie sagten uns, dass Sie zu Ihrer Schwester gefahren seien, um dort die Nacht zu verbringen, und zwar gegen vier Uhr, um dem Feierabendverkehr zu entgehen. Ist das so weit richtig?« »Ja.« Juhle senkte die Stimme. »Mrs Palmer. Es wäre sehr hilfreich für unsere Ermittlung«, sagte er, »wenn Sie uns im Einzelnen, so weit Sie sich erinnern, Auskunft geben könnten über die Zeit zwischen dem Verlassen Ihres Hauses und der Ankunft bei Ihrer Schwester.« 100 Wiederum blickte Mrs Palmer ihren Anwalt an, und diesmal nickte dieser und ließ sie antworten. »Na gut. Wie ich bereits sagte, bin ich um vier losgefahren. Ich kann mich nicht erinnern, dass es Verkehrsprobleme gegeben hätte, und ich weiß nicht mit Bestimmtheit, wann ich bei Vanessa angekommen bin, aber es würde mich wundern, wenn es nicht noch vor fünf war.« »Wo haben Sie dort geparkt?«, fragte Shiu. Und Juhle, der sie einfach reden lassen wollte, warf ihm einen warnenden Blick zu. Aber sie antwortete ihm: »Ganz normal in der Auffahrt. Aber ich weiß nicht, ob mich jemand gesehen hat. Gesprochen habe ich jedenfalls mit niemandem.« Shiu konnte anscheinend nicht von ihr ablassen. »Irgendwelche Telefongespräche vielleicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es gab eigentlich niemanden, den ich anrufen musste. Vanessa hatte ich schon Bescheid gesagt, dass ich da sei, und George war...« Die Erwähnung ihres Ehemanns forderte einen jähen und für Juhle einigermaßen schockierenden Tribut, von dem sie sich unübersehbar nur mit einiger Mühe erholte. »Er wollte ja zum Abendessen ausgehen, wie ich schon sagte.« Von Shiu zu Juhle blickend, seufzte sie erneut und fuhr fort: »Wie auch immer, ich fürchte, ich habe nicht besonders viel gemacht. Vom Fahren war ich müde geworden, daher bin ich wohl zwischendurch ein bisschen eingedöst, aber irgendwann hab ich mir Vanessas Exemplar des Sunset vorgenommen, und da hatten sie so ein Rezept für gefüllte Hähnchenbrust, das recht lecker aussah. Ich beschloss, Vanessa zu überraschen und es zum Abendessen zu kochen, also bin ich einkaufen gefahren.« »Lassen Sie uns noch mal kurz zurückgehen«, sagte Juhle. »Sie sagten, Sie hätten Ihre Schwester bereits angerufen?« 101 »Ja.« »Von zu Hause aus?« »Nein. Vom Auto. Ich ruf sie meistens an, wenn ich ungefähr auf Höhe von JVs bin. Einfach um zu bestätigen, dass es bei der Verabredung geblieben ist.« Juhle sah Shiu an und fragte sich, ob sein Partner sich über die Bedeutung dieser Mitteilung im Klaren war. Wenn Mrs Palmer ihr Handy auf dem Freeway im Mill Valley zwischen vier und fünf Uhr benutzt hatte, konnten sie ihren Aufenthaltsort auf zwei oder drei Kilometer genau bestimmen, indem sie das Funknetz ausfindig machten, das ihren Anruf aufgenommen und weitergeleitet hatte. Falls sie wirklich im Mill Valley gewesen war, sprach eine ganze Menge gegen die Annahme, dass sie nach San Francisco zurückgekehrt sei, um ihren Mann und seine Geliebte zu erschießen. Wenn andererseits der Anruf aus der Stadt - oder, noch besser, aus der Nähe ihres Hauses gekommen war, dann waren sie voll im Geschäft. So schnell wollte er sie einfach nicht aufgeben. Das Motiv war zu gut, das Erklärungsmodell zu perfekt. Sie hatten zu viel investiert. Sie hatten immer noch die Lebensmitteleinkäufe, den Wein, die Ungereimtheiten in dieser Geschichte. Noch war alles möglich. »Okay, kommen wir noch mal zu Ihren Einkäufen«, sagte er. »Wo haben Sie die gemacht?« »Bei Safeway da in Novato. Ich weiß die genaue Adresse nicht, aber es ist eine Freewayausfahrt vor der von Vanessa.« Shiu meldete sich wieder. »Um wie viel Uhr war das, würden Sie sagen?« »Ich weiß nicht genau. Sechs? Nein. Ich glaube, bis sechs habe ich gedöst. Eher schon sieben, würde ich sagen.« 101
Shiu blieb am Ball. »Haben Sie sich dort mit irgendwem unterhalten?«, fragte er. »Jemand, der sich an Sie erinnern könnte?« Offenbar hatte Washburn jetzt lange genug geschwiegen. »Meine Herren, entschuldigen Sie«, sagte er. »Darf ich vorschlagen, dass Sie meine Mandantin fragen, ob sie eine Safewaykarte für ihre Einkäufe benutzt hat?« Wiederum war offensichtlich, dass sie darüber schon gesprochen hatten. Er sah Mrs Palmer erwartungsvoll an. »Ja«, sagte sie. »Das habe ich.« »Das wäre dann also registriert worden?«, sagte Juhle. »Und zwar mit Namen und dem genauen Zeitpunkt.« Washburn lehnte sich zurück, schlug die Beine nach alter Männerart, Knöchel auf Knie, übereinander. Shiu, dessen Frust bedenklich köchelte, sagte: »Was ist mit Adriano's?« Mrs Palmer wandte sich ihm zu. »Was soll damit sein?« »Sie haben Ihre Schwester angerufen und ihr gesagt, Sie hätten vergessen, Wein zu kaufen, und würden bei Adriano's vorbeifahren, um welchen zu holen.« Für einen Moment umwölkte sich Mrs Palmers müde Stirn wieder. Sie sank in die Kissen des Zweiersofas zurück, hob dann eine Hand an die Schläfen und drückte diese. »Adriano's«, sagte sie. Shiu gab Hilfestellung: »Die Wein- und Spirituosenhandlung.« »Jeanette.« Washburn beugte sich hinüber und berührte die Armlehne des Zweiersofas. »Nein, ist schon gut, Everett«, sagte sie. Sie rückte nach vorn und brachte beinahe so etwas wie ein Lächeln zustande. »Gar nicht so leicht, sich an etwas zu erinnern, was man nicht gemacht hat«, sagte sie und dann, zu Shiu gewandt: 102 »Ich war nicht bei Adriano's. Ich bin noch mal zurück zu Safeway. Mir war eingefallen, dass ich noch Bargeld hatte ziehen wollen, als ich für die anderen Lebensmittel bezahlte; die haben da nämlich einen Geldautomaten bei den Kassen, also bin ich dorthin zurückgefahren.« Diesmal schaltete Juhle blitzschnell. »Und haben Ihre Karte noch mal benutzt?« »Na ja, meine Safewaykarte, und bezahlt hab ich dann mit dem Geld aus dem Automaten.«
13
Hunt erreichte Juhle auf seinem Handy, als die beiden Beamten gerade ihre Unterredung mit Everett Washburn und Jeanette Palmer beendet hatten. Zuerst hatte er es bei ihm zu Hause versucht, worauf Connie ihm erklärte, dass Devin nicht zu Hause sei und, nein, wahrscheinlich ebenfalls noch nicht
zu Abend gegessen habe. Sie habe ihn gesprochen, als er im Stau auf der Brücke festsaß, und er werde heute lange arbeiten müssen. Wenn er dann fertig sei, würde es an der Zeit sein, die Kinder ins Bett zu bringen - nicht gerade Juhles Lieblingszeit. Falls Hunt sich irgendwo mit ihm treffen wolle, würde Juhle das Connies Ansicht nach wahrscheinlich sehr begrüßen. Nachdem Hunt schließlich den ihm von Andrea Parisi »so oder so« versprochenen Anruf abgeschrieben hatte, erzählte er Juhle, dass er heute Abend versetzt worden sei und sich eine gähnende Leere vor ihm auftue. Falls Juhle Lust habe, sich von Shiu beim Tong Palace in der Clement Street abset 103 zen zu lassen, könnten sie vielleicht ein paar intakte Überreste eines ansonsten ruinierten Abends bergen. Im Moment kam gerade die steinalte Kellnerin des Dim-Sum-Restaurants wieder einmal an ihrem Tisch vorbei, so wie sie es, seit sie sich niedergelassen hatten, alle fünf Minuten tat, jedes Mal mit einem neuen Teller voller Köstlichkeiten. Hunt und Juhle zeigten auf das, was sie haben wollten Zeichensprache war hier die Lingua franca -, und schon bald bog sich ihr Tisch unter all den Schüsseln mit in durchsichtige Won Tons gewickelten Shrimps, frittierten Austern oder kleinen gedämpften, mit Meeresfrüchten, Fleisch oder Gemüse gefüllten Teigbündeln, und auch ein Teller Su Mei war dabei, Reisnudeln mit scharf gewürztem Schweinefleisch. Das war jetzt ihre dritte Runde, und noch hatte sich die Begeisterung über das Essen kaum abgekühlt. Juhle hielt die Hände auseinander, um eine große Flasche anzudeuten, und sprach dann sogar ein Wort aus, nämlich »Asahi«, während Hunt die Teekanne hochhob und pantomimisch um Nachfüllung ersuchte. »Jeanette hat es also nicht getan?«, sagte Hunt. Nach nur fünf Stunden Schlaf in der vergangenen Nacht hing Juhle recht kraftlos in seinem Stuhl. Er kippte seinen Tee hinunter und verzog das Gesicht. »Nicht, wenn sie ihre Schwester um halb fünf von Mill Valley aus angerufen und sowohl um halb acht als auch um viertel vor acht bei Safeway bezahlt hat. Sie ist nicht den ganzen Weg nach Marin reingefahren, hat sich dann erinnert, ach ja, ich wollte ja heute Abend George und seine Freundin erschießen, und ist deshalb umgekehrt und nach Hause gefahren, hat die Tat begangen, ist wieder umgekehrt und zurück nach Novato gefahren.« »Das klingt unwahrscheinlich.« 103 »Zurückhaltend ausgedrückt. Und außerdem, die Nachbarin aus der Clay Street, die das Auto vor der Auffahrt hat parken sehen? Das war um halb acht, als sie so gut wie sicher bei Safeway war. Kennst du Everett Washburn, den Anwalt? Nicht? Na ja, der hat jedenfalls den Zweigstellenleiter dort veranlasst, ihre Quittungen rauszusuchen und ihm ins Büro zu faxen. Wir
werden natürlich hinfahren und selbst alles nachprüfen, aber ich bin nicht sehr optimistisch. Sie war da.« »Wer bleibt denn dann übrig?« »Als Tatverdächtiger? So ungefähr die ganze Welt.« »Ich nicht.« Hunt hob die rechte Hand. »Am Montagabend war ich in Palo Alto mit meinem Vater. Er wird sich für mich verbürgen.« »Na schön, die ganze Welt außer dir. Und wahrscheinlich Connie, die mir um diese Zeit das Essen serviert hat; damit ist sie wohl auch aus dem Schneider. Alle anderen aber ...« Juhle knackte eine Auster, kaute und dachte nach. »Das Problem ist, ich begreife nicht, warum Staci Rosalier da war, wenn es keine persönliche Sache war. Ich meine, es muss was mit ihr zu tun gehabt haben.« Hunt zuckte die Achseln. »Vielleicht war sie einfach nur so da.« »Aber warum?« »Ich weiß nicht. Sie wollte es im Bett der Ehefrau machen. Er wollte sie im Ehebett flachlegen. Irgendeine Kombination dessen. Wie auch immer, er wusste, dass seine Frau weg sein würde, und war bereit, das gewisse Risiko einzugehen, um den Extrareiz auszukosten. Vielleicht war es einfach schlechtes Timing.« »Und jemand anders ist aufgekreuzt, während sie gerade da waren? Mit anderen Worten: einer der berühmten Zu 104 fälle?« Juhle schüttelte den Kopf. »An die glaube ich nicht. Jedenfalls nicht, wenn es um Mord geht.« »Vielleicht ist dies die Ausnahme von der Regel.« »Nein. Jemand anders war da, weil er wusste, dass Palmer und das Mädchen dort sein würden. Verlass dich drauf. Oder, ich denk einfach mal laut, Palmer hat vielleicht noch was mit einer anderen laufen gehabt. Er hat diese andere Frau zu sich nach Hause eingeladen, aber das tote Mädchen - Staci - hat das mit der Neuen rausgekriegt und ist hingekommen, um beide zur Rede zu stellen.« Juhle labte sich an einer Teigtasche mit Schweinefleischfüllung. »Staci bringt also die Pistole mit, erschießt Palmer ...« »Von vor dem Schreibtisch aus?« »Klar. Warum nicht? Es gibt einen Kampf. Die Pistole geht los - die Extrapatrone im Buch. Bei dem Gerangel entreißt die andere Frau Staci die Pistole und erschießt sie, sieht dann, was sie getan hat, verschwindet und nimmt die Pistole mit.« Hunt wartete, bis Juhle sein Bier von der Kellnerin entgegengenommen und in das gekühlte Glas eingegossen hatte. »Und was hast du an Beweisen?« Juhle trank das Glas halb aus. »Verdammt wenig. Shiu meint, der Schütze könnte klein gewesen sein, mit anderen Worten: nicht groß; daraus kannst du ersehen, dass wir die Möglichkeiten hier schon ziemlich eingekreist haben. Ich
persönlich hänge der Zwerg-auf-einer-Kiste-Theorie an. Niemand in der ganzen Nachbarschaft hat irgendwas gehört oder gesehen, abgesehen von einem Sportwagen, der ein BMW Z4 gewesen sein könnte oder einer, der so ähnlich aussieht. Aber es gibt keine Verbindung zwischen diesem Auto und irgendwas anderem, im Haus oder außerhalb. Es war kein aus dem Ruder gelaufener Einbruch oder Raub, 105 und ein Einbrecher würde auch nicht sein Auto vor der Auffahrt parken.« Hunt nahm sich eine Garnele. »Ich habe gerüchteweise gehört, dass der Richter erwogen hat, sich mit der Gewerkschaft der Gefängniswärter anzulegen.« »Wo hast du das gehört?« »Von einer Quelle, die leider ungenannt bleiben muss. Aber im Wesentlichen ist es offenbar so ...« Hunt bot ihm eine knappe Zusammenfassung dessen, was er am Tage über die CCPOA und Palmers Verfahrensweise ihr gegenüber erfahren hatte. Natürlich wusste Juhle von Palmers durch alle Medien gegangenen Schlacht gegen die Gewerkschaft, aber die vertraulichen Details der Vorwürfe gegen diese überraschten selbst einen altgedienten Cop wie ihn. Als Hunt fertig war, lehnte Juhle sich zurück, Bier und Essen waren vergessen. »Die Ehefrau, Jeanette, die hat sie auch erwähnt, die Gewerkschaft«, sagte Juhle. »Das war aber natürlich gestern, als wir noch dachten, dass sie die Täterin ist, und deshalb haben wir nicht viel drauf gegeben. Nach dem aber, was du mir erzählt hast, komm ich doch ins Grübeln. Wenn Palmer sie wirklich drankriegen wollte, dann könnte man da mal näher hingucken. Wer hat dir das alles erzählt?« »Eine befreundete Anwältin. Ihre Firma - Piersall-Morton - vertritt die Gewerkschaft.« »Großartig. Du kannst mir einen Anruf ersparen. Du hast Beziehungen dahin?« Hunt sagte: »Natürlich. Beziehungen sind mein Leben. Aber sie ist schwer beschäftigt, Dev. Du bist Polizist. Wenn du das Büro anrufst, leiten sie dich weiter.« Juhle musste das akzeptieren. »Na schön«, sagte er. »Piersall. Warum kommt mir der Name bekannt vor?« »Weil's eine große Anwaltssozietät ist?« 105 »Nein, das ist es nicht ... Moment.« Juhle versuchte mit den verletzten Fingern zu schnippen und zuckte vor Schmerz zusammen. »Ah, das Gehirn erwacht zu neuem Leben, die Erinnerung kehrt zurück. Das wollte ich dich nämlich fragen: Andrea Parisi.« Hunt bekam steile Falten auf der Stirn. »Was ist mit ihr?«
Juhle beugte sich vor, stützte sich auf den Tisch. »Mit ihr ist, dass es, wie ich wohl kürzlich erwähnte, keine Zufälle gibt, und wir haben ihre Visitenkarte gestern Nacht in Staci Rosaliers Wohnung gefunden.« »In der Wohnung des Mordopferst« »In ihrer Brieftasche. Also wenn sie da irgendwie mit drin-steckt, Parisi, meine ich, dann muss ich das wissen.« »Wie sollte sie da drinstecken?« »Ich hab keine Ahnung, aber du vielleicht.« »Nö.« »Aber du bist mit ihr joggen gewesen.« »Hin und wieder mal, Dev. Nicht andauernd. Und außerdem: na und?« »Naja, hat sie mal über Staci gesprochen?« »Nein. Überhaupt nicht.« »Aber Staci hatte ihre Karte.« »Wow. Das kreist die Möglichkeiten wirklich dramatisch ein.« »Na schön. Was ist mit dem Richter?« »Ja, den Richter hat sie erwähnt.« »In welchem Zusammenhang?« »In dem Zusammenhang, dass Andrea und ich uns gestern unterhalten haben und der Richter vor zwei Tagen ermordet wurde. Alle Leute, die mir in den letzten Tagen begegnet sind, haben darüber gesprochen, Dev. Du jetzt eingeschlossen. Was genau hast du im Sinn?« 106 »Nur so viel, dass Parisi, wenn sie bei Piersall arbeitet, etwas mit der Wärtergewerkschaft zu tun hat, nicht wahr ? Das ist ein Hinweis. Das ist jedenfalls irgendwas.« Er schnippte wieder mit den Fingern. »Sie ist deine Verbindungsperson. Bei Piersall.« Hunt rang sich ein Lächeln ab. »Kein Kommentar. Ansonsten darf ich auf die allgemein bekannte Tatsache verweisen, dass ich der Firma Piersall eine erkleckliche Anzahl von Arbeitsstunden in Rechnung stelle. Na und? Ich glaube, ich habe dir bereits gesagt, dass ich Palmer nicht umgebracht habe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Andrea es auch nicht war. Aber du könntest sie natürlich jederzeit fragen.« »Ich hab nicht behauptet, dass sie es war. Aber ich würde gern wissen, warum Staci ihre Visitenkarte hatte.« »Zufall?« »Da steh ich nicht drauf.« Hunt zuckte die Achseln. »So was kommt vor. Vielleicht hat sie sie im MoMo's gesehen und wollte versuchen, über sie ins Fernsehen zu kommen.« Juhle schüttelte den Kopf. »Das hat Shiu auch gesagt, also kann es nicht stimmen.« »Okay, dann schlage ich vor, dass ich Andrea, wenn ich sie das nächste Mal sehe, frage, wie Staci an ihre Karte gekommen sein könnte. Falls sie sich überhaupt daran erinnert.«
Die Kellnerin näherte sich wieder einmal mit einer neuen Ladung von ausgewählten Leckereien, aber nach einer dreiviertel Stunde ununterbrochenen Essens waren beide Männer geschafft. Juhle bat um die Rechnung, dann wandte er sich wieder Hunt zu. »Noch eine letzte Frage: Wer hat dich versetzt?« Hunt beschloss, einen Stepptanz zu wagen. »Ich bin mir noch nicht ganz schlüssig, ob es streng genommen wirklich 107 ein Versetzen war. Sie hat sich einfach nur dafür entschieden, nicht essen gehen zu wollen. Sie ist gestern Nacht ziemlich versumpft, und ich glaube, es ging ihr immer noch nicht besonders gut. Körperlich, meine ich.« »Du nimmst sie in Schutz ? Ist dir klar, was für einen jämmerlichen Eindruck das macht? Bist du etwa verliebt?« »Ein bisschen. Vielleicht auch ein bisschen mehr.« »Na, Connie wird erleichtert sein. Allerdings nicht, wenn du in eine verliebt bist, die den einen Abend versumpft und dich den nächsten Abend versetzt. Das sind doch äußerst zweifelhafte Qualifikationen für eine Beziehung.« »Sie hatte eine schwere Woche.« »Vielleicht sollten wir einen Schwere-Woche-Club gründen. Also, über wen sprechen wir hier eigentlich?« Hunt lehnte sich zurück, trank seinen Tee aus, schüttelte den Kopf, setzte ein Lächeln auf. »Du solltest mich besser kennen, Dev. Ich bin keiner, der sich über sein Liebesleben auslässt.« »Worüber solltest du dich da groß auslassen? Schließlich hat sie dich versetzt.« »Wie ich schon sagte, dieser Punkt ist im Prinzip noch ungeklärt. Es könnte ja aber sein, dass vor heute Abend etwas geschehen ist, worüber man sich auslassen könnte, aber das würde ich natürlich auch nicht tun.« »Wie, du hast sie letzte Nacht hergenommen, als sie hackevoll war?« »Das wäre ausgesprochen ungalant gewesen, also können wir es ausschließen.« »Du willst es mir einfach nicht sagen, was?« »Siehst du. Das ist der Grund, warum du so gut bist in deinem Beruf. Der versierte Kriminalbeamte erkennt Dinge, die ein Normalsterblicher glatt übersehen würde.« 107 Hunt fuhr auf dem Weg nach Hause bei Andreas Haus vorbei. Es lag nicht direkt am Weg, und er tat es, ohne es eigentlich geplant zu haben. Er hielt gegenüber von der Stelle, wo er am Nachmittag geparkt hatte. Das Haus lag vollkommen dunkel. Es war noch früh, erst kurz vor zehn. Er wollte sie wiedersehen. So einfach war das.
Hunt steuerte auf ihre Auffahrt, schaltete Motor und Scheinwerfer ab und stieg aus dem Auto. Ihre Garagentür hatte kleine Fenster auf Augenhöhe, und er warf einen Blick hinein. Ihr Wagen war nicht da. Dennoch ging er hinüber zur Veranda und spähte durch die Glasscheibe im oberen Teil der Eingangstür in die totale Dunkelheit hinein. Im Auto zurück, blieb er fast eine halbe Stunde bei ausgeschaltetem Motor hinter dem Lenkrad sitzen, bis die Kälte sich durch ihn hindurchgefressen hatte. Falls sie nach Hause kam und ihn hier sitzen sah, was für eine klägliche Ausrede würde er dann vorbringen? Er würde wirken wie jemand, der klammert, der es nötig hat, ein Liebeskranker, vielleicht sogar ein potenzieller Stalker. Er ließ den Motor an. Er würde sie am nächsten Tag erreichen. Er setzte rückwärts aus der Auffahrt, fuhr den halben Block hinunter zur Bay Street und bog dann nach Süden ab, heimwärts. Allein im vorderen Teil seines Lagerhauses, machte Hunt Wurfübungen auf den Basketballkorb. Basketball würde nie den Platz in seinem Herzen einnehmen, der auf ewig dem Baseball vorbehalten blieb, aber an der Highschool war er nicht nur Shortstop beim Baseball, sondern auch als Point Guard, also Aufbauspieler, im Basketballteam gewesen, und noch jetzt bestritt er m jedem Herbst mindestens zweiundzwanzig Spiele im 108 Rahmen einer Freizeitliga, obwohl er ironischerweise gar kein großer Fan des Profibasketballs war. Er und Juhle bezeichneten die NBA gern als TMA - den Verband der Tätowierten Millionäre -, und er stand auch nicht so richtig auf die Musik, die bei den Matches immer gespielt wurde. Aber auf den Korb werfen, einfach so, das war die beste Therapie, die man sich denken konnte. Und heute Abend hatte er eine Therapie nötig, eine selbst verordnete. Also begann er am Rand seines halben Feldes, machte einen Wurf von ganz weit weg, bewegte sich dann ein paar Schritte nach vorn, blieb aber außerhalb der Dreipunktelinie, warf von dort, rückte anschließend zum Halbkreis der Zone vor, schließlich zur Freiwurflinie. Wenn er nicht traf, setzte er natürlich nach und versenkte den Abpraller per Korbleger, jedenfalls blieb er ständig in Bewegung und spielte immer neue Runden durch, bis er nicht mehr konnte. Er war einsneunzig groß, und in seiner Teenagerzeit hatte er die Fähigkeit zum Dunking als eine der größten sportlichen Errungenschaften seines Lebens betrachtet, aber irgendwann in den Zwanzigern war sie ihm abhanden gekommen. Trotzdem versuchte er es immer noch jedes Mal, wenn er die Trainingsklamotten anhatte -die Sprungkraft könnte ja vielleicht für einen vergänglichen Tag zurückkehren, und dieses Ereignis wollte er auf keinen Fall verpassen.
Schließlich aber teilte ihm die Industrieuhr über dem Brett mit, dass es 23:42 Uhr war. Er war schweißnass und fix und fertig. In der Regel legte er es darauf an, zum Abschluss noch mal drei Treffer in Folge zu erzielen. Die ersten beiden hatte er schon geschafft, und jetzt stand er an der Freiwurflinie, ließ den Ball ein paar Mal aufprallen. 109 Dann noch zweimal. Und noch einmal. Er hielt den Ball vielleicht dreißig Sekunden lang. Sein Atem ging langsamer. Er ließ den Basketball fallen, fing ihn mit dem Fuß ab und setzte sich drauf. Ohne den letzten Wurf zu machen, verließ er das Feld und löschte die Lichter auf der Sportanlagenseite seiner Halle, schaltete die Deckenlichter auf der Wohnseite an und sprang unter die Dusche. Als er fertig war, ging er ins Schlafzimmer, öffnete seine Kommode, holte einen frischen grauen Trainingsanzug hervor und zog ihn an. Dann machte er eine andere Schublade auf und griff unter die T-Shirts, wo er das Bild aufbewahrte. Er hatte es schon mehrere Jahre nicht mehr hervorgeholt, konnte sich nicht einmal mehr an das letzte Mal erinnern. Es war das einzige Foto von Sophie, das er behalten hatte. In der Nacht, als er den ganzen Rest verbrannte, hatte er auch dieses aus seinem Rahmen genommen, aber dann hatte er irgendetwas darin gesehen, was es ihm unmöglich machte, auch diesen letzten Hinweis auf ihre Existenz auszulöschen. Es ging einfach nicht. Es war kein Glamourfoto, und vielleicht war es das, was ihm am meisten daran gefiel - obwohl sie weiß Gott hatte glamourös sein können, wenn sie dazu aufgelegt war. Jedenfalls war sie darauf sehr genau getroffen: das Lachen, die Haut, die Magie, die ihr eigen war. Es mochte an dem Abend aufgenommen worden sein, als sie schwanger wurde. Oder dem inneren Strahlen nach zu urteilen, wusste sie es vielleicht schon. Aber auf diesem Foto steckte sie noch in ihrem Arztkittel, gerade vom Dienst im Med Center gekommen, an einem Samstagabend in der Shamrock Bar, wo sie sich kennen gelernt hatten. 109 Sie hatte ihm zum Geburtstag ein neues Teleobjektiv geschenkt, und Hunt war den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, extreme Nahaufnahmen von Vögeln im Golden Gate Park zu schießen. Als sie dann kam und sich an der Bar niederließ, war er - Timing war seine Spezialität - gerade auf dem Klo, hatte die Kamera mitsamt dem neuen Wahnsinnsobjektiv um den Hals baumeln. Sie bemerkte ihn nicht, als er zurückkehrte, unterhielt sich mit dem Barkeeper, lachte über irgendwas, was der sagte. Und Hunt riss die Kamera hoch, holte Sophie ganz, ganz dicht heran und fing sie in genau diesem Augenblick ein. Als er sah, was er da eingefangen hatte, vergrößerte er das Bild auf zwanzig mal fünfundzwanzig, rahmte es und stellte es neben das
Bett, zusammen mit ihrem Lieblingsfoto von ihm - auf einem Windboard über der Bay schwebend. Jetzt schob er das Hochglanzfoto unter das Licht und legte es flach auf die Kommode. Sein Gesicht wurde allmählich weicher, während er seine Hände beidseits neben das Bild legte und sich aufstützte. Damals, als er mit ihr zusammen war, hatte er ernsthaft daran gedacht, ja, war er entschlossen gewesen, sein Leben mit jemandem zu teilen. Doch seither hatte ihn dieses Bedürfnis ganz verlassen. Es hatte schon noch einige Frauen gegeben - durchaus nette, durchaus attraktive Frauen, das Kennenlernen zumeist von Connie arrangiert, aber wenn die emotionale Hingabe, wie er sie mit Sophie erlebt hatte, sein Inneres so dermaßen leer räumte, dann musste er dem im Interesse der Selbsterhaltung aus dem Weg gehen. Er wollte diese Tür nicht noch einmal öffnen. Es war den Schmerz nicht wert. Er kannte Parisi nicht mal. Nicht richtig. Und das, was er wusste und kennen gelernt hatte, war bei weitem nicht 110 durchgehend positiv. Dennoch hatte sie etwas in ihm berührt. »Wie bescheuert ist das, was ich da mache?«, fragte er laut das Bild. Aber natürlich konnte Sophie nicht antworten.
14
Am nächsten Morgen - es war Donnerstag, der zweite Juni, - wurde Hunt von zwei Erwägungen veranlasst, die etwa fünfzehn Blocks von seinem Zuhause bis zum Zweiraumbüro seiner Detektei über dem Half Moon Cafe an der Grant Avenue in Chinatown zu Fuß zu gehen. Zum einen hatte ein unerwartetes Aufreißen des Nebels für einen prachtvollen Morgen gesorgt. Zum anderen war dies der Tag, an dem die Wartezeit endete - er hatte das Datum auf seinem Kalender rot eingekreist -, und also konnte er seine neue Waffe abholen, eine 380er ACP Sig Sauer P232, die ihm einen guten Zentimeter weniger Höhe und Lauflänge bot als die Waffe, die er in den vergangenen paar Jahren getragen hatte, die Sig P229 nämlich. Er hatte sich in die neue Waffe verliebt, als er zuletzt auf dem Schießstand war mit Devin Juhle, der eine ausprobiert und sich letzten Endes dagegen entschieden hatte. Devin fand sie für sich zu klein, er hatte nicht das Gefühl, damit richtig präzise schießen zu können. Für Hunt galt genau das Gegenteil. Leichter im Gewicht und in der Handhabung, ermöglichte sie ihm bessere Ergebnisse, als er je zuvor erzielt hatte. Hinzu kam, dass sie sich, obwohl der tatsächliche Größenunterschied gar nicht so bedeutend war, viel 110 weniger klobig in seiner hinten am Gürtel getragenen Pistolentasche anfühlte.
Mit seinem neuen Spielzeug bewaffnet und ganz benommen von der Schönheit des Tages, überraschte Hunt sich damit, dass er an einem Imbiss Halt machte und eine Tüte ganz frischer, noch heißer Cha shui bao kaufte klebrige, mit Schweinefleisch in süßer Soße gefüllte Teigtaschen. Das chinesische Essen gestern Abend mit Juhle war so gut gewesen, dass er der Gier nach mehr heute Morgen einfach nicht widerstehen konnte. Zurück auf der Straße, wurde Hunt vom schieren Wohlgefühl derart überwältigt, dass er seine Taschen leerte und sein ganzes Kleingeld in den Hut eines Obdachlosen warf, der in einem der Hauseingänge schlief. Als er im Büro ankam, war Tamara gerade hinter ihrem Schreibtisch hervorgekommen, um die Zimmerpflanzen zu gießen. Sie trug einen roten Minirock, rote Schuhe mit flachen Absätzen und eine züchtige weiße Bluse, die aber immerhin kurz genug war, um Aussicht auf ein paar Zentimeter eines festen flachen Bauches und einen Pseudodia-mantnabelstecker zu gewähren. »Falls du jemals in einem echten Büro Arbeit finden solltest«, sagte Hunt, »werden sie dir wahrscheinlich nicht erlauben, deinen Bauch zu zeigen, weißt du.« Sie bedachte ihn mit einem toleranten Lächeln. »Deshalb würde ich auch nie in so einem Laden arbeiten. Craig mag meinen Bauch.« »Es ist ein ausgezeichneter Bauch«, sagte Hunt, »aber alte Männer wie ich soll nicht heißen, ich persönlich, aber eben Männer wie ich - könnten in geschäftlicher Umgebung darin eine störende Ablenkung sehen.« »Na, das ist euer Problem. Soll nicht heißen, deins persönlich, aber eben von euch älteren Männern. Das hier wird 111 doch aber nie ein echtes Büro werden, nicht wahr? Mit Kleidervorschriften und so Zeug?« »Das ist unwahrscheinlich«, sagte Hunt. »Außer vielleicht, wenn Craig irgendwas pierct, was ich sehen kann.« »Zählt seine Zunge dazu?« Hunt hielt eine Hand hoch. »Tarn. Bitte. Nicht vor dem Frühstück. Er hat's nicht im Ernst an der Zunge gemacht, oder?« »Nein, aber wir haben darüber gesprochen, dass wir beide vielleicht ... Du würdest uns nicht deshalb feuern, oder?« »Nein. Niemals, hoffe ich. Aber ich würde es auch etwas schwierig finden, ein lockeres kleines Schwätzchen wie dieses zu halten, weil ich echt das Grausen kriegen würde.« Sie lächelte ihm zu. »Vielleicht sollte ich dir dann gar nichts erst sagen über Craigs ...« Hunt gebot ihr Einhalt. »Sprich's lieber nicht aus«, sagte er. »Aber wo wir gerade bei Craig sind ...« »Er stellt gerichtliche Verfügungen zu. Sechs Vorladungen.«
»Sechs an einem Tag? Erzähl mir nicht, dass jemand tatsächlich vor Gericht antreten muss.« Sie nickte. »Ob du's glaubst oder nicht. Einer von Aaron Rands Mandanten. Craig hat sein Handy eingeschaltet, falls du ihn brauchst.« Sie zeigte auf die weiße Tüte in seiner Hand. »Sag mir, dass das frische Bao sind.« »Ich werde dein albernes Spielchen mitspielen«, sagte er. »Also, dies sind frische Bao, aber bedauerlicherweise habe ich nur ein Dutzend davon gekauft.« Sie sah ihn an, hielt ihm eine stark beringte, von rotem Nagellack akzentuierte Hand entgegen. »Ein Dutzend reicht für eine hungrige Familie von vier Personen. Gib.« 112 »Außerdem kommen sie gerade aus dem Ofen. Viel zu heiß zum Essen.« »Ich puste vorher.« Hunt seufzte theatralisch. »Ich find's irgendwie nicht in Ordnung.« Er öffnete die Tüte und gab ihr eine der Teigtaschen. Dann drehte er sich um und ging in sein Büro, wobei er die Milchglastür hinter sich zuzog. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen und an den Kleiderständer neben der Tür gehängt hatte, griff er nach hinten und nahm seine neue Pistole in die Hand, einfach nur, um sie sich noch einmal anzusehen. Dabei aber fiel ihm plötzlich ein, dass er dringend in die Stadt musste, um seinen CCW-Waffenschein, die Erlaubnis, verdeckt eine Schusswaffe zu führen, umschreiben zu lassen. Streng genommen durfte er gar nicht mit der neuen Waffe im Halfter durch die Gegend spazieren, bevor nicht der entsprechende Papierkram erledigt war. Er machte einen geistigen Vermerk, sich erinnern zu wollen, dies in der Mittagspause zu erledigen, steckte dann die Waffe dahin, wo sie hingehörte, und setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Büro war geräumig, quadratisch, praktisch. Als er es zuerst besichtigt hatte, war es im Grunde genommen ein großes fensterloses Kabuff gewesen ein entscheidender Faktor für die erschwingliche Miete. Die erste Verbesserungsmaßnahme hatte darin bestanden, einen Abschnitt von etwa einem Quadratmeter aus der Wand rauszuhauen und Glas zwischen seinem und Tamaras Büro einzuziehen, um ein bisschen natürliches Licht hereinzulassen. Als Nächstes hatte Hunt überall Teppichboden verlegt. Als Schreibtisch hatte er das helle Standardmodell von Ikea, mit Computer, Telefon und passendem Drehstuhl, dazu zwei hellbraune Metallaktenschränke. Von zu Hause hatte 112 er zwei akustische Gitarren hergeschafft - eine mit Stahl-, die andere mit Darmsaiten - und sie links von seinem Platz an die Wand gehängt, wo er sie jederzeit gut erreichen konnte. Zu seiner Rechten befand sich eine Vielzweckküchenzeile mit Spüle und Kochplatte, darüber ein Drucker und ein Faxgerät, darunter ein kleiner Kühlschrank mit zusätzlichen Schubladen für
Überwachungszubehör - Nachtbrillen, Ferngläser, Pilotenbeutel für den Fall, dass Pinkelpausen nicht machbar waren - und Fotoausrüstung. Er war der Ansicht, dass die an der Wand darüber aufgehängte Sammlung von gerahmten Schwarzweißfotos mit Baseballmotiven, die er günstig am Stadion erstanden hatte, keinen schlechten Eindruck machte. Beim Aufstehen heute Morgen hatte er dem Drang widerstanden, Andrea anzurufen. Sicher, er hätte so tun können, als wolle er sich einfach nur mal erkundigen, ob es ihr besser gehe, ob ihr Kater verflogen sei, aber er musste nicht erst Juhle fragen, um sich darüber klar zu sein, wie lahm das rüberkommen würde. Er würde später mit ihr Kontakt aufnehmen, mehr so beiläufig. Den Anruf, den sie ihm versprochen hatte, gar nicht erwähnen. Jetzt, da er es bis an seinen Arbeitsplatz geschafft hatte, ohne der Versuchung zu telefonieren nachzugeben, beschloss er, das Ganze noch ein bisschen aufzuschieben und sie dann einfach zu fragen, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Sie würde entweder ja oder nein sagen. Er glaubte es zwar eigentlich nicht, aber es konnte immerhin sein, dass ihr Zusammensein gestern von ihrer Erschöpfung und Verletzlichkeit begünstigt gewesen war, und darauf wollte er gewiss nicht aufbauen. Falls etwas Echtes im Spiel gewesen war, dann würde es auch heute noch da sein, und sogar noch morgen. Er zwang sich, nicht an sie zu denken. 113 Nach dem freien Tag gestern hatte sich schon wieder ein recht beachtlicher Haufen Arbeit angesammelt. Für zwölf Uhr hatte er einen Termin, der einen Gutteil des Nachmittags in Anspruch zu nehmen versprach. Es ging darum, bei der Aufnahme von beeideten Zeugenaussagen in einem Betrugsfall im Büro eines seiner Klienten zu assistieren. Er hatte drei Überwachungen laufen, die sich in einem mehr oder weniger akuten Stadium befanden. Ferner hatte ein Arzt ihn jüngst beauftragt, etwas über die Vergangenheit des neuen und sehr viel jüngeren Freundes seiner sehr reichen Mutter herauszufinden. Und wenn es mal sehr gemächlich lief, konnte er sich immer noch daran machen, Zeugen aufzuspüren - da gab es immer welche, die dringend ausfindig zu machen waren. Aber zuerst musste er sich einiges an Computerarbeit vom Hals schaffen. Er nahm gegenwärtig an einem Online-Kurs über Informationstechnologie und Computerforensik teil, um seine Fertigkeiten zu erweitern für den Fall, dass sich seine Spezialisierung als Rechtsermittler in der Konkurrenz mit den großen Privatdetekteien als hinderlich erweisen sollte. Sobald er mit der Tageslektion fertig war, wollte er noch ein wenig Netzrecherche betreiben zum Zwecke der Überprüfung eines Jobbewerbers bei einer ManagerHeadhunting-Firma, die er sich gerade als Klientin geangelt hatte. Vertieft in die Feinheiten der Computerforensik, nahm er es überhaupt nicht wahr, wenn draußen auf Tamaras Schreibtisch das Telefon klingelte. Er hatte
ihr gesagt, dass er eine Stunde lang mit seiner Onlinelektion beschäftigt sein würde und in dieser Zeit nicht gestört werden wolle. Daher schreckte er einigermaßen zusammen, als plötzlich das Telefon neben seinem Ellbogen losging. 114 »Das war aber eine kurze Stunde«, sagte er. »Tut mir Leid, aber Amy Wu ist dran. Ich dachte, du würdest mit ihr sprechen wollen. Sie klingt ziemlich aufgeregt.« Wenn Wu anrief, war er in der Tat zu sprechen. Er drückte auf die Taste. »Amy, was ist los?« Mit ungewöhnlich ernster Stimme sagte Wu: »Vielleicht nichts. Vielleicht bin ich nur paranoid. Mich würde interessieren, ob du kürzlich mit Andrea gesprochen hast.« »Nicht seit gestern Nachmittag.« »Okay, vielleicht ist das eine gute Nachricht. Wann genau war das?« »Zwei. Halb drei. Inwiefern könnte es eine schlechte Nachricht sein?« Wu machte eine Pause. »Ich hab überall herumtelefoniert. Niemand hat sie gesehen. Also, jedenfalls niemand, mit dem ich gesprochen habe. Ich habe auch mit Spencer telefoniert, und der hat seit Dienstagabend nichts mehr von ihr gehört. Er hat mir geraten, es bei dir zu versuchen.« Hunt wusste nur zu gut, warum der Gerichts-TV-Produzent nichts von ihr gehört hatte. Auch vermutete er, dass Fairchild gesehen hatte, wie er Parisi aus dem Occidental hinterhergerannt war. Aber Wu redete schon weiter. »Gestern Abend hab ich sie angepiepst und außerdem bei ihr zu Hause eine Nachricht hinterlassen, dass sie mich unbedingt anrufen soll, egal wann sie zurückkommt, aber sie hat es nicht getan.« »Sie ist nicht zurückgekommen, oder sie hat nicht angerufen?« »Ich weiß nicht genau. Beides.« »Was war denn so dringend?« Wu zögerte. »Weißt du, dass man die Frau, die zusammen mit Richter Palmer ermordet wurde, identifiziert hat?« 114 »Ja. Staci Soundso, nicht wahr? Kellnerin im MoMo's. Ich kannte sie nicht.« »Wir ja. Andrea und Jason und ich. Wir wussten jedenfalls, wer sie war.« »Und deshalb wolltest du Andrea erreichen? Um ihr das mit Staci zu erzählen?« »Ursprünglich ja. Ein bisschen drüber reden, weißt du. Aber als sie dann nicht zurückgerufen hat...« »Hast du's in ihrer Firma probiert? Sie wollte noch ins Büro, als ich bei ihr weggefahren bin.« Eine erneute Pause. »Als du bei ihr weggefahren bist? Soll das heißen, dass du nicht nur mit ihr gesprochen hast gestern Nachmittag, sondern bei ihr warst?«
»Sie ist umgekippt, und ich hab sie mit zu mir genommen.« Er ließ Amy an einer gereinigten Kurzversion der Ereignisse teilhaben. »Jedenfalls, als sie wieder einigermaßen beieinander war, hab ich sie nach Hause gebracht. Sie meinte, dass sie noch zu tun hätte und ins Büro wolle.« »Aber sie ist nicht dort gewesen. Gestern nicht, und sie ist auch jetzt nicht da und hat sich heute Morgen auch noch nicht gemeldet.« Stirnrunzelnd sah Hunt auf seine Uhr. Sicher, es war noch nicht mal zehn Uhr. Und okay, Parisi konnte irgendwann letzte Nacht, nachdem er ihre Auffahrt geräumt hatte, nach Hause gekommen sein und heute Morgen schon eine ganz frühe Verabredung mit einem Mandanten gehabt haben; sie konnte auch joggen gegangen sein, sie konnte draußen auf der Bay sein und windsurfen. Sie konnte schlicht und einfach beschlossen haben, richtig auszuschlafen und nicht ans Telefon zu gehen. Sie konnte ihn sogar versetzt haben und mit einem anderen Mann ausgegangen sein und war jetzt noch nicht wieder zu Hause. Aber Wu, die keinerlei 115 Neigung fürs Theatralische hatte, war aufgewühlt. Auch Hunt spürte einen Keim echter Besorgnis tief in der Magengrube. »Hat ihre Sekretärin sich irgendwie Sorgen gemacht?«, fragte er. »Nicht besonders. Sie meinte, sie würde öfter mal später zur Arbeit kommen.« »So ist es wahrscheinlich heut auch.« »Vielleicht. Aber du kennst Andrea, Wyatt. Wenn du sie anpiepst, ruft sie zurück. Ihr Handy ist anatomisch mit ihrem Ohr verbunden.« »Vielleicht hat sie's abgestellt.« »Das würde uns in die Randbezirke der Realität führen.« Hunt glaubte Wu, aber na und? Angesichts von Parisis Erlebnissen in den letzten Tagen hielt er es durchaus für denkbar, dass sie ihr Handy ausgeschaltet und sich für ein paar Stunden einfach ausgeklinkt hatte. Sie hatte deutlich zu erkennen gegeben, dass sie mal gründlich nachdenken wollte. Andererseits war Wu ihre gemeinsame Freundin, und ihre Besorgnis war nicht nur echt, sondern auch irgendwie ansteckend. »Wo hast du's noch versucht?«, fragte er sie. »Hat sie Familie in der Nähe? Vielleicht ist sie bei denen.« »Ich weiß, dass ihre Mutter an der Cal unterrichtet und, glaub ich, in Berkeley wohnt, aber ich habe ihre Nummer nicht und bin mir auch nicht sicher, ob ich sie auch noch in Unruhe versetzen soll.« »Ich könnte sie ausfindig machen, anrufen und mich ganz unverfänglich erkundigen. Versprochen.« »Würdest du es für dumm halten, bei irgendwelchen offiziellen Stellen nachzufragen?« »Wo denn zum Beispiel?« »Ich weiß nicht. Polizei? Krankenhäuser?« 115
»Noch nicht, denke ich. Wie lange ist es jetzt her? Bin ich der Letzte, der mit ihr gesprochen hat?« »Bisher ja.« »Und wann war das? Vor achtzehn, zwanzig Stunden?« Obwohl diese Zahlen ihn in gewisser Weise erschreckten, hielt Hunt die optimistische Fassade aufrecht. »Sie ist ein großes Mädchen, Amy. Sie könnte wer weiß wo sein. Sie könnte sich versteckt halten.« »Wovor?« »Dem Ruhm. Ich weiß nicht. Vielleicht überlegt sie, was sie mit Spencer machen soll. Oder mit ihrer juristischen Laufbahn. Es könnte wirklich alles Mögliche sein.« »Glaubst du wirklich?« »Ich weiß es einfach nicht. Aber lass mich erst mal die Nummer ihrer Mutter ausfindig machen, und falls sie da nicht ist, werde ich herumtelefonieren mit den offiziellen Stellen. Inzwischen warte du einfach ab, ob sie dich zurückruft. Und falls sie das tut, sagst du mir Bescheid, okay?« »Okay.« »Na gut. Dann bis später.« Sie legten auf, und weniger als fünfzehn Minuten später hatte Hunt Deanne am Apparat, eine von Andreas Schwestern in Berkeley, der er einige allgemeine und in aller Zurückhaltung formulierte Fragen stellte. Er hatte sich als Privatermittler vorgestellt und sagte, er betreibe Nachforschungen über eine Person, die als Referenz ihre Schwester angegeben habe, und zwar unter dieser Nummer. Deanne klang mit Sicherheit nicht wie jemand, der in jüngster Zeit traumatische Erfahrungen gemacht hatte. Lachend sagte sie, ihre Schwester wohne schon seit Jahren nicht mehr hier, die Person, die Hunt überprüfe, sei daher nicht gerade auf dem Laufenden. Deanne hatte Andrea seit 190 etwa einem Monat nicht mehr gesehen, war sich aber einigermaßen sicher, dass ihre Mutter am Wochenende mit ihr gesprochen habe. Hunt bedankte sich und legte auf. Andrea war also nicht bei ihrer Mutter. Die Füße auf den Schreibtisch gelegt, dachte Hunt eine Weile nach, dann griff er wieder zum Telefon und gab ein paar Nummern ein, die er auswendig kannte.
15
»Juhle, Morddezernat.« »Hunt, Chinatown.« »Ganz falsch.« »Was? Wie kann ich ganz falsch liegen? Ich hab doch noch gar nichts gesagt.« »Warum muss ich eigentlich alles erklären, Wyatt ? Wenn ich sage >Juhle, Morddezernat<, dann kannst du nicht sagen >Hunt, Chinatown<. Du musst so etwas sagen wie >Hunt, Ermittlungen Es geht um die Arbeit, nicht darum, wo du sie machst. Versuch's später noch mal.« Und er legte auf.
Hunt dachte manchmal, dass es nur eins gab, was schlimmer war, als es mit jemandem zu tun zu haben, der eine ausgeprägte Persönlichkeit hatte, nämlich es mit jemandem zu tun zu haben, der gar keine Persönlichkeit hatte. Er wählte noch einmal Juhles Nummer, hörte ein ausdrucksloses »Juhle, Morddezernat« und sagte diesmal: »Hunt, Ermittlungen.« »Wyatt«, dröhnte Juhle, »schön, von dir zu hören! Wie geht's denn so?« 117 »Ganz gut, Devin, aber eben in diesem Moment bin ich dabei, zu ermitteln. Du musst mal bitte etwas für mich herausfinden.« »Das hieße ja, dass ich ermittle, nicht du. Und ich glaube, ich erwähnte bereits, dass ich im Morddezernat bin. Rufst du wegen eines Mordes an?« »Das will ich nicht hoffen.« »Dann bin ich nicht der richtige Ansprechpartner für dich. Shiu und ich, wir verlassen in ungefähr zwei Minuten das Haus, um einen Mordfall zu untersuchen. Das ist nämlich das, was wir tun. Und das ist auch alles, was wir tun. Also, viel Glück.« »Leg nicht auf!« Hunt war selbst ein wenig überrascht, eine gewisse Schärfe in seiner Stimme herauszuhören. Trotz seiner Versicherungen gegenüber Amy Wu, dass wahrscheinlich alles in Ordnung sei mit Andrea Parisi, musste Hunt zur Kenntnis nehmen, dass der Knoten in seinem Magen, genau an der Stelle, wo das letzte Schweinefleischbao sich häuslich eingerichtet hatte, nicht verschwinden wollte. »Du wirst dich erinnern, wir haben uns gestern Abend ein bisschen über Andrea Parisi unterhalten.« Juhles Stimme sank um eine halbe Oktave ab. »Yeah.« »Ich hab gerade einen Anruf von Amy Wu erhalten.« »Worum ging's?« »Darum, dass Andrea seit gestern nicht auf ihre Anrufe reagiert und heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist.« »Hey, ich wäre beinahe selbst zu Hause geblieben. So was kommt vor. Mein Arm hat mich halb umgebracht. Ich musste eine Vicodin einwerfen.« »Nicht ganz das Gleiche.« Hunt bemühte sich, weder Ungeduld noch Sorge durchklingen zu lassen. »Ich hab mich ge 117 fragt, ob du nicht ein wenig rumtelefonieren könntest, um festzustellen, ob irgendwo eine Frau X, Anfang dreißig, gefunden wurde.« »Wenn es Parisi ist, wäre sie keine Frau X. Irgendjemand würde sie erkennen.« »Das würde davon abhängen, wie sie aussieht, nicht wahr ? Wenn sie zum Beispiel zusammengeschlagen worden wäre ...« »Dir ist es ernst, wie?« »Jawoll.« »Warum kannst du nicht telefonieren und nach ihr suchen?«
»Ich bin die nächsten paar Stunden mit Klienten belegt. Bei dir geht es schneller, weil du diese magischen Netzwerke zur Verfügung hast, über die ihr Cops immer alles herausfindet. Außerdem bist du selbst ans Telefon gegangen, was darauf hindeutet, dass du entweder mit Papierkram beschäftigt bist oder dir irgendwie die Zeit vertreibst, bis etwas Wichtigeres anliegt. Und genau das ist jetzt passiert.« Juhle blickte auf den ersten Stapel von Richter Palmers Bankauszügen, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Wie lange ist sie jetzt verschwunden?« »Seit gestern, später Nachmittag.« »Und wo soll ich mich erkundigen?« »Überall, wo du dich erkundigen würdest, wenn du nach jemandem suchst. Das Leichenschauhaus wäre meine letzte Wahl, aber Krankenhäuser vielleicht. Vielleicht hat sie sich letzte Nacht betrunken, wurde verhaftet und guckt nicht nach, ob sie Mitteilungen bekommen hat.« »Du solltest dich an die Vermisstenabteilung wenden«, sagte Juhle. 118 »Die fangen nicht an zu suchen, bevor nicht jemand drei Tage verschwunden ist, Dev. Das weißt du, und das ist zu spät.« »Eigentlich nicht, denn dadurch hat die vermisste Person Zeit, wieder aufzutauchen, falls sie ihre Meinung geändert hat und doch lieber wieder zu ihrem Ehepartner, Freund, Mutter oder Vater zurückkehren möchte.« »Das hier ist kein solcher Fall.« »Ihr habt bei ihr zu Hause nachgeforscht, bei ihr im Büro, bei ihr...?« »Die Antwort lautet ja, in allen Fällen. Ein paar von uns -Wu, Tamara und ich - werden weiter herumtelefonieren, aber du weißt, dass du viel mehr Bereiche abdecken kannst und viel leichter als wir.« Juhle zögerte ein paar Sekunden. Er sagte: »Jetzt, da du es erwähnst ... Ich wollte mich eigentlich selbst noch mit ihr unterhalten über das, was du gestern Abend gesagt hast.« »Und was war das?« »Palmer hauptsächlich. Die Gefängniswärter. Lanier meint, dass da doch etwas dran sein könnte.« »Dann gibst du also zu, dass du mir was schuldest?« Juhle seufzte ins Telefon. »Na schön. Ich werd sehen, was ich machen kann«, sagte er. Tamara öffnete die Tür, bevor Hunt aufgelegt hatte. »Glaubst du wirklich, dass sie in Schwierigkeiten steckt?« »Du hast meine Anrufe mitgehört.« »Nur die letzten beiden und auch nur, damit du die Zeit sparst, die du brauchen würdest, um mich ins Bild zu setzen. Machst du dir echt Sorgen?« »Sagen wir, mir wäre wohler, wenn wir von ihr hören würden.« 118
»Was willst du als Nächstes tun?« Er sah auf seine Uhr. »Ich wollte eigentlich diese Lektion im Netz abschließen und dann ein bisschen Arbeit vom Tisch räumen, aber ich werde bei McClelland erwartet, und das wird den Großteil des Nachmittags in Anspruch nehmen.« »Soll ich irgendjemanden sonst in der Zwischenzeit anrufen?« Hunt war aufgestanden, sammelte Papiere zusammen, schnappte sich seinen Aktenkoffer. »Versuch/s noch mal in Andreas Firma und freunde dich mit ihrer Sekretärin an, sieh aber zu, dass sie sich nicht aufregt. Finde heraus, welche Mandantin sie zuletzt getroffen hat, worüber sie gesprochen haben, wo sie gestern Abend war ...« »Immer langsam!« Tamara hob die Hand, stoppte seinen Redefluss. »Ich soll zusehen, dass sie sich nicht aufregt, oder? Ich rede einfach mal mit ihr und sehe dann, was ich von ihr erfahre.« »Okay, du hast Recht. Bleib ansonsten in der Nähe der Telefone, für den Fall, dass Devin zurückruft. Du kannst mich anpiepen. Oder wenn du von ihr hörst, natürlich.« Marcel Lanier schloss die Tür zu seinem Büro im Morddezernat. Er ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich, während seine beiden Inspektoren sich fragten, ob sie stehen bleiben oder sich ebenfalls setzen sollten. Shiu war vor Juhle gekommen und hatte offenbar nicht die Absicht, sich vom Fleck zu rühren. Er versperrte den Zugang zu den beiden Stühlen in dem kleinen Bereich gegenüber von Laniers Schreibtisch. Also standen sie, unnatürlich eng beieinander, neben der Tür. »Wenn es nicht die Ehefrau ist, wisst ihr«, begann der Lieutenant in düsterem, grübelndem Ton, »dann bekom 119 men wir wieder Probleme mit der Zuständigkeit.« Er meinte das FBI und das Heimatschutzministerium. »Was schlagt ihr vor, was wir unternehmen sollten?« Juhle, der ein bisschen geschlafen und rechtzeitig eine Vicodin gegen Handund Schulterschmerzen genommen hatte, brachte ein lockeres Grinsen zustande. »FBI? Wie wär's, wenn wir denen gar nichts sagen? Gestern haben sie sich zurückgezogen, weil sie dachten, dass es eine lokale Sache ist. Vielleicht ist es das immer noch, und es gibt nur ein paar Komplikationen. Und heute lassen wir's einfach, wie es ist. Wenn sie nicht fragen, sagen wir auch nichts.« Laniers Mundwinkel hoben sich kurzzeitig zu einer Parodie eines Lächelns. »Das ist eine tolle Idee, Devin, wenn bloß nicht die Pressekonferenz war, die ich in ungefähr zwei Stunden halten muss.« Juhle zuckte die Achseln. »Die Ermittlungen gehen weiter. Sagen Sie denen, wir machen Fortschritte. Machen wir ja auch. Reporter lieben Fortschritte.«
»Tun wir alle. Aber worin würde der Fortschritt in diesem Fall bestehen?« »Verdächtige von der Liste zu streichen. Wir müssen ihnen ja nicht sagen, dass Jeanette aus dem Spiel ist, denn tatsächlich ist sie es vielleicht gar nicht. Wir sind uns nur ziemlich sicher, dass sie nicht geschossen hat.« Lanier gefiel das nicht. »Ziemlich sicher?« Shiu nahm Haltung an. »Jede Wette, sie steckt mit drin.« Lanier wandte den Kopf. »Was sagen Sie, Dev?« Nicht gerade übersprühend vor Begeisterung, senkte Juhle sein Kinn um ein paar Zentimeter, was so viel wie ein Nicken bedeuten sollte. »Sofern keine sehr seltsamen Umstände vorgelegen haben, ist es wohl so, dass sie bei den Morden nicht anwesend gewesen sein konnte, Sir. Sie war in Marin.« 120 Shiu sprach hastig. »Aber das heißt nicht, dass sie sie nicht hätte planen und jemanden dafür anheuern können.« »Ist das die Richtung, die ihr jetzt einschlagen wollt?« »Ich meine, dass ist noch immer am aussichtsreichsten, Sir. Eins ist sicher - falls Mrs Palmer über die Rosalier Bescheid wusste, hatte sie das allerbeste Motiv. Wir versuchen herauszufinden, ob, und wenn ja, woher sie es wusste.« »Sie bleibt also im Brennpunkt?«, fragte Lanier. »Nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass irgendein FBI-Schlauberger ankommt und nachfragt.« »Wir sind einfach nicht bereit, das Motiv abzuschreiben, Marcel«, schaltete Juhle sich wieder ein. »Oh, und dass sie sich einen Anwalt genommen hat, hab ich schon erwähnt, nicht wahr? Everett Washburn.« Obwohl die Hinzuziehung eines Anwalts in den Augen der Cops praktisch einem Schuldeingeständnis gleichkam, zeigte Lanier sich in diesem Fall eher unbewegt. »Das musste man erwarten, oder? Frau eines Richters. Sie weiß, wie es läuft. Aber Washburn, Scheiße.« »Ja, Sir«, sagte Juhle. »Nur vom Feinsten. Ein positiver Aspekt dabei ist vielleicht, dass es ein paar Jahre dauern wird, bis es zum Prozess kommt, und er wohl vorher wegstirbt.« Lanier schüttelte den Kopf. »Darauf würde ich keine Hoffnungen setzen. Die Staatsanwälte sagen das seit zehn Jahren. Der alte Scheißer wird ewig leben. Er ist zu schlau, um zu sterben.« Offensichtlich aber war Mrs Palmers Wahl ihres Rechtsbeistands nicht seine Hauptsorge. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, fixierte für eine Weile die Zimmerdecke. Als er sich wieder seinen Inspektoren zuwandte, wirkte er entchlossen. »Sie sollen wissen, Shiu, dass ich mit Ihnen der 120 Meinung bin, dass sie ein gutes Motiv hat. Herrje, das klassische Motiv, keine Frage. Also spiele ich hier nur mal für eine Weile den Advocatus diaboli.«
Juhle bekam langsam Gefallen an der Sache. Früher, als er noch mit Shane Manning ein Team bildete, pflegten sie beide sich den ganzen Tag lang Theorien und Thesen zuzuwerfen, sie um und um zu wenden, nach Feinheiten, Widersprüchen, Zusammenhängen abzuklopfen. Lanier mochte wohl der Chef sein, aber er war von unten aufgestiegen und selbst fünfzehn Jahre lang Inspektor gewesen. Das hier, das war die Art, wie Cops redeten, wie sie dachten, das war es, was sie zu Cops machte. Juhle fragte sich wohl zum hundertsten Mal, was er getan hatte, um mit einem Partner wie Shiu bestraft zu werden, dem, bei allen Qualitäten, die er ansonsten haben mochte, einfach die Fantasie fehlte, die einen guten Bullen ausmacht. Wie er da zum Beispiel neben dem Schreibtisch stand, am Fußboden festgewurzelt. »Ach, Entschuldigung, bevor Sie anfangen«, sagte Juhle, »meinem geschätzten Kollegen hier gefällt es zwar, den ganzen Tag zu stehen, aber ich würde mich lieber hinsetzen.« Zu seiner Verblüffung rührte sich sein Partner jetzt sogar und setzte sich auf den hinteren Stuhl, seitlich vom Schreibtisch, sodass Juhle auf dem vorderen Platz nehmen konnte. »Okay«, sagte Juhle, als er sich solchermaßen Erleichterung verschafft hatte. »Teufeln Sie los.« Lanier vergeudete keine Zeit, hob einen Finger. »Erstens. Ihr geht von einem professionellen Auftragsmord aus, stimmt's?« »Richtig«, sagte Shiu. »Wahrscheinlichster Fall.« »Okay, ein paar Fragen dazu. Nämlich: Wie erklärt ihr euch die Patrone im Buch? Der Schütze ist einen Meter, höchstens eins fuffzig, von seinen Opfern weg, die sich, wenn über 121 haupt, nicht groß bewegen. Palmer sitzt in seinem Sessel. Wie kann er da so voll daneben schießen? Sicher, Waffen gehen auch mal von allein los, aber stellt euch das vor. Und dann, was soll dieser Unsinn, dass man erkennen kann, dass der Schütze wahrscheinlich klein ist? Größe von einem Kind, 'ner kleinen Frau.« Juhle schnippte mit den Fingern. »Dieser Zwerge-zu-ver-mieten-Laden«, sagte er. Shiu machte ein ausgesucht frustriertes Gesicht, aber Lanier achtete nicht darauf und fuhr fort: »Die andere Frage ist: Wo findet eine Frau wie Jeanette Palmer einen Profikiller, der ihr erstens traut und mit dem sie zweitens kommunizieren kann, wenn sie denn so weit gekommen ist, ihn zu finden? Ich meine, wie tastet sie sich an das Thema ran? Indem sie erzählt, dass sie für ein Buch recherchiert oder so was?« Shiu meldete sich zu Wort. »Schlagen Sie vor, dass wir die Sache fallen lassen sollen?« »Nein. Aber ich glaub schon, dass es ein bisschen weit hergeholt ist.« »Warum?«, fragte Shiu.
Lanier nahm sich noch einen Augenblick Zeit zum Überlegen. »Okay, zunächst mal das, was ich eben gesagt habe. Nicht unbedeutend, vor allem das Problem, wie sie den Deal überhaupt angeleiert hat. Als Nächstes, keine Schrammen auf irgendeiner Patrone, mit anderen Worten: kein Schalldämpfer. Wiederum keine große Sache, zugegeben, aber wenn ich jemanden erschieße - sprich, zwei Leute erschieße - am helllichten Tage, in einem Zimmer, das zur Straße rausgeht, in einer ruhigen, erstklassigen Wohngegend, dann versuch ich, selbst wenn ich eine .22er-Pistole benutze, möglichst wenig Lärm zu machen, nicht wahr? Schlichte Vorsichtsmaßnahme. « 122 Lanier machte eine Pause, bearbeitete eine Stelle an seinem rechten Ohr. Schweigen machte sich in dem kleinen Raum breit, aber der Lieutenant hatte offensichtlich noch mehr zu sagen, und offenbar sah selbst Shiu ein, dass es klüger war, ihm bis dahin nicht in die Quere zu kommen. »Aber wisst ihr, was die Hauptsache ist?«, fragte Lanier. »Ich male mir die Szene aus, okay? Palmer sitzt in seinem großen Ledersessel, das Mädchen steht neben ihm, der Täter auf der anderen Seite des Schreibtisches.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann's mir einfach nicht vorstellen.« »Warum nicht?«, fragte Shiu. »Darf ich?«, fragte Juhle. Lanier nickte. »Es ist zu unwahrscheinlich«, sagte Juhle. »Der Richter hat ihn reingelassen wir haben keinen Hinweis auf ein gewaltsames Eindringen. Okay, sagen wir, er hat die Kanone an der Tür vorgezeigt und sich so Einlass verschafft. Aber auf keinen Fall landen sie auf diese Weise im Büro, und der Richter sitzt in seinem Sessel. Nein, sobald er drinnen ist, jagt der Täter ihm eine Kugel in den Kopf, und zwar - Sie haben Recht, Marcel - mit Schalldämpfer, dann kümmert er sich um das Mädchen. Sie sind nicht alle im Büro zusammen und machen Konversation.« »Mit all dem habe ich überhaupt keine Probleme.« Shiu hatte sich zurückgelehnt, die Beine übereinander geschlagen, und sprach zu Juhle, wobei er Lanier mit einbezog. Ein defensiver Ton machte sich allerdings bemerkbar. Sein Rücken lehnte gerade und steif an der hölzernen Stuhllehne. »Vielleicht erschien diese Person zunächst nicht als Bedrohung. Vielleicht kannte der Richter ihn. Oder sie. Und die Opfer dachten, sie könnten die Sache durch Reden klären.« 122 Der Typ sitzt sogar in Habachtstellung, dachte Juhle. Er sagte: »Es bringt zwar nicht die These vom Mordauftrag zum Einstürzen, aber eine Sache hätte ich noch.« Er wandte sich Lanier zu. »Er hätte noch mal auf das Mädchen schießen müssen, hab ich Recht, Marcel?«
»Ich glaube schon«, sagte Lanier. Er senkte die Stimme, drehte sich ein bisschen mehr in Shius Richtung. »Sie ist nach dem Schuss zu Boden gegangen, aber es gab keine sichtbare Wunde. Was machst du, wenn du den Auftrag hast, sie umzulegen? Er hat schon mindestens einmal danebengeschossen. Sie könnte ohnmächtig geworden sein, sich vielleicht sogar geduckt haben. Ein Profi lässt sie da nicht liegen, ohne sich zu vergewissern. Er kommt um den Schreibtisch herum und schießt ihr noch eine Kugel ins Gehirn. Und dem Richter wahrscheinlich auch gleich noch eine.« »Auf die Entfernung wüsste er, dass sie tot sind, wenn er sie in den Kopf getroffen hat.« Shiu kaute eine ganze Weile auf all ihren Einwänden herum. Schließlich sagte er: »Ich denke immer noch, dass Mrs Palmer irgendetwas damit zu tun hat.« »Und ich stimme zu, dass diese Ansicht einiges für sich hat«, sagte Juhle. Er hatte in der Tat genügend Mordfälle erlebt, um zu wissen, dass die Tötung von Menschen fast immer mit einer unfassbaren Schlampigkeit einherging. Bei Vergeltungsanschlägen von Straßengangs blieben nicht selten vier Unbeteiligte auf der Strecke, während dem vorgesehenen Opfer kein Haar gekrümmt wurde. Oder eine Frau wollte zum Beispiel ihren Freund umbringen, der fremdging, mischte aber nicht genug Rattengift unter die Erbsen - oder er schmeckte es vorzeitig heraus -, und es kam zu einer Messerstecherei, der beide zum Opfer fielen. Dro 123 gensüchtige Teilzeitkiller erwischten mitunter die falsche Person. Hoppla. Doch ungeachtet aller Zufallsfaktoren, die bei gewaltsamen Toden oft eine Rolle spielten, wusste Juhle, dass die übliche Bezahlung für derlei Aufträge in San Francisco, je nachdem, wen man dazu befragte, zwischen eintausend Dollar und irgendwas in der Nähe von fünfzigteusend Dollar lag. Wenn man jemanden vom unteren Ende dieses Spektrums engagierte, dann musste man offensichtlich damit rechnen, dass dem betreffenden Junkie, der nur daran dachte, Geld für seinen Stoff zu bekommen, bei der Planung und Ausführung der Tat jede Menge Fehler unterliefen. Juhle ging natürlich davon aus, dass Mrs Palmer, sofern sie denn den Mord in Auftrag gegeben hatte, in der oberen Preisklasse fündig geworden war, aber wissen konnte man das nicht. Ihm war es nur darum zu tun, Shius Perspektive ein bisschen zu korrigieren. Andererseits mussten er und Shiu immer fast den ganzen Tag miteinander verbringen, und es hatte daher keinen Sinn, ihn vor den Kopf zu stoßen oder schlecht aussehen zu lassen. »Es gibt aber eine Möglichkeit, wie es funktioniert haben könnte«, sagte er. »Nämlich wie?«, fragte Lanier. »Haben Sie diese Sache zwischen Palmer und den Gefängniswärtern in der Presse verfolgt?«
In einen seiner tipptopp geschnittenen Nordstrom-Anzüge gewandet, befand sich Hunt in einem Raum voller ernsthafter Erwachsener, wo man finanzielle Details einer millionenschweren Personengesellschaft erörterte, die den Bach hinuntergegangen war, weil einer der Partner einen allzu lockeren Umgang mit den Büchern gepflegt hatte. Es war eine wichtige Sache für alle anderen Anwesenden - Hunt 124 wusste, dass die Teilhaber bei McClelland, durch die Bank jünger als er, ein Minimum von hundertfünfzig Dollar pro Stunde verdienten, und derlei Angelegenheiten waren praktisch die Luft, die sie atmeten. Und er war jetzt da, um für schlappe achtzig Dollar die Stunde dafür zu sorgen, dass sein Zeuge, ein sechzigjähriger Gentleman namens Neil Haines, in seiner eidlichen Aussage im Wesentlichen das wiederholen würde, was er Hunt während ihrer Gespräche, vor ungefähr vier Monaten gesagt hatte - Gespräche, an die Hunt sich nur noch vage erinnerte, die er aber glücklicherweise mitgeschnitten hatte. Außerdem hatte er sich reichlich Notizen gemacht. Aus den Fenstern der im fünfunddreißigsten Stock gelegenen Konferenzräume der Firma McClelland, Tisch & Douglas auf die sonnenüberflutete Stadt hinausblickend, verbrachte Hunt den restlichen Vormittag in einem Nebel von Details und Langeweile. Als es in die Mittagspause ging, rief er Tamara an. Andrea war nach wie vor abgängig. Offenbar hatte sie sich gestern kurz im Büro gemeldet, auf dem Weg zu einem Treffen mit einer Mandantin in deren Haus. »Wer war die Mandantin?« »Carol Manion. Und ja, falls du dich fragen solltest, das sind genau die Manions.« Hunt stieß einen Pfiff aus. Sofern sie nicht schon vorher persönliche Bekanntschaft mit den Manions gemacht hatte, war es Andrea offenbar gelungen, ihre neu erworbene Prominenz auch geschäftlich zu nutzen, denn dies war nun wirklich ausgesprochen hochkarätige Kundschaft. Ward und Carol waren ein sehr bekanntes Paar, das sein Geld ursprünglich im Lebensmittelhandel verdient, seine Aktivitäten dann aber auf Weinkellereien, Restaurants und 124 Sportteams ausgedehnt hatte. Sie besaßen einen beachtlichen Anteil an den 49ers. Auch auf den Gesellschaftsseiten der Zeitungen waren sie regelmäßig vertreten gewesen, aber Hunt meinte sich zu erinnern, dass vor einiger Zeit ihr Sohn bei einem Bootsunfall oder Ähnlichem ums Leben gekommen war und sie ihre öffentlichen Auftritte seither stark eingeschränkt hatten. »Und, hast du mit ihr gesprochen, dieser Mrs Manion?« »Nein. Machst du Witze? Wie soll ich denn an die rankommen?« »Über Andreas Sekretärin?«
»Wyatt, also wirklich. Nie im Leben würde Carla Shapiro die private Nummer einer Manion herausrücken.« »Hast du gefragt?« »Ob ich gefragt habe? Empfinde ich diese Frage als eine gelinde Beleidigung?« Hunt konnte Tamaras Schmollmund praktisch durch die Leitung sehen. »Sie hat vorgegeben, sie nicht zu haben. Sehr glaubwürdig.« »Dann wissen wir also nicht, ob Andrea überhaupt dort war?« »Richtig. Ich habe natürlich auch im Firmenbüro angerufen - der Firma der Manions - und nachgefragt, aber offenbar war es eine eher persönliche Sache. In der Hauptverwaltung wusste man nichts über eine Verbindung zwischen Carol und Andrea.« »Okay. Was ist mit Dev? Irgendeine Rückmeldung von ihm?« Sie erklärte ihm, dass Juhle angerufen und berichtet habe, dass es keine unidentifizierten Verkehrsopfer in den Krankenhäusern gebe, keine kürzlich eingelieferte Frau X im Leichenschauhaus und keine in der Nacht verhaftete junge attraktive Anwältin im Gefängnis. Das alles war so weit erst 125 einmal eine gute Nachricht - keine Bestätigung dafür, dass Parisi tot oder verletzt war -, wenn auch nicht annähernd so gut, wie ihr Wiederauftauchen es gewesen wäre. »Hast du irgendwas von Amy gehört?« »Kein Wort.« »Ich werde sie anrufen.« Doch sobald er aufgelegt hatte, klopfte der übereifrige McClelland-Mitarbeiter, der bei der Aussageprozedur Regie führte, an das Konferenzraumfenster und zeigte Hunt an, dass es jetzt weitergehen sollte. Zeit war Geld, und die Mittagspause bei McClelland dauerte exakt dreißig Minuten. Anscheinend wurde er da drinnen gebraucht, und der Anruf bei Wu würde warten müssen.
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Spencer Fairchild war bei über fünfundzwanzig von Gerichts-TV landesweit übertragenen Gerichtsprozessen der Produzent vor Ort gewesen, und seiner Ansicht nach war der Prozess gegen Randy Donolan wegen des mutmaßlichen Doppelmords an seiner Frau Chrissa und ihrem Liebhaber Josh Eberly der mit Abstand beste, an dem er je hatte mitwirken dürfen. Es war einfach alles drin. Randy Donolan war einunddreißig, Chrissa sechsundzwanzig und Josh siebzehn. Beide Erwachsenen waren recht attraktiv, doch keiner von ihnen konnte Eberly, was den reinen, herzzerreißenden Sexappeal anging, das Wasser reichen. Chrissa hatte Josh kennen gelernt, als sie vertretungshalber Sport und Geschichte an der Lincoln Highschool 125
unterrichtete, und ihre Affäre hatte nach weniger als zwei Wochen begonnen. Bis zum Tag seiner Verhaftung vor über anderthalb Jahren hatte Randy von seinem Haus im Sunset-Bezirk aus eine kleine, aber begeisterungsfähige christlichfundamentalistische Gemeinde (sowie ein Internet-Start-upUnternehmen) geleitet. Zwar waren Joshs und Chrissas Leichen bis dato unauffindbar, aber man hatte auf der Pritsche des Lastwagens, den Randy für seine Aufgaben als Pastor und Webmaster benutzte, Blutspuren gefunden, die ihrer jeweiligen Blutgruppe entsprachen, sowie auch Haare, die ihnen aufgrund der DNA-Analyse eindeutig zugeordnet werden konnten. Es stellte sich heraus, dass der Besitzer des Lastwagens ein Gemeindemitglied namens Gerry Coombs war. Als die Polizei das Blut und die Haare in seinem Auto fanden, entdeckte Gerry eine völlig andere Religion und konvertierte zum Hauptbelastungszeugen gegen Randy, mit dem er zuvor ein homosexuelles Verhältnis unterhalten hatte. Dutzende von Anschuldigungen und Spekulationen kursierten vor und während des Prozesses, etwa dass Gerry, Randy und Chrissa schon seit einiger Zeit eine Dreierbeziehung geführt hätten, dass Josh versucht habe, Randy aus diesem Trio herauszulösen, dass Chrissa Josh geliebt und eine seriöse Beziehung gewollt habe, dass Gerry derjenige gewesen sei, der die Morde auf Randys Wunsch begangen habe, und was es an Variationen des gleichen Themas sonst noch geben mochte. In der Szene von San Francisco gingen diese tendenziell ins Endlose. Von Anfang an war dieser Fall eine wahre Goldgrube für Gerichts-TV gewesen. Und jetzt, als habe es immer noch nicht genug Komplikationen gegeben, war diese außerordentlich kenntnisreiche, 126 kühl und logisch denkende Klassebraut, die den Zuschauern alle Manöver und Anträge der Verteidigung bis ins kleinste Detail erläutert hatte, ganz plötzlich verschwunden. Wus frühmorgendlicher Anruf hatte Spencer Fairchild auf diese Möglichkeit schon vorbereitet, bevor er seine Wohnung verließ. Sicher, sie war neulich Abend ziemlich sauer gewesen - er konnte es ihr eigentlich auch nicht verübeln -, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, dass sie, selbst wenn sie nicht nach New York gehen konnte, irgendetwas täte, was die Position gefährden würde, die sie sich hier in San Francisco aufgebaut hatte. Sie war definitiv eine ganz heiße Kandidatin für alle zukünftigen Prozesse, die hier stattfinden würden. Sie hatte es einfach voll gebracht vor der Kamera. Und das Geld, das sie ihr bezahlten, war selbst vor dem Hintergrund, dass sie im Alltag eine gut verdienende Juristin war, nicht gerade ein Pappenstiel. Gar nicht zu reden von dem Ruhm und dem Renommee für sie selbst wie für ihre Firma.
Selbst wenn der Sprung nach New York im ersten Anlauf nicht geklappt hatte, würde sie sich, da hatte Fairchild keinen Zweifel, mit etwas Abstand darauf besinnen, dass sie ja noch jung war. Ein bisschen reifen noch, hier und da eine sich bietende Chance ergreifen, dann wäre sie so weit. Und selbst wenn es dazu nicht kam, war das, was sie hier hatte, mehr als gut - das Fernsehen war ein karriereförderndes Medium, und sie war bereits ein Star. Den Affront gegen ihre Selbstachtung würde sie schon verwinden. Das gehörte einfach zum Geschäft. Seine anfängliche Einschätzung nach dem Gespräch mit Wu ging also dahin, dass Andrea sich irgendwohin zum Schmollen verkrochen hatte, aber sicher rechtzeitig zurück sein würde, spätestens zur Nachmittagsverhandlung oder 127
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aber definitiv dann, wenn sie wirklich gebraucht wurde, nämlich zu der Tageszusammenfassung. Die setzte immer ein, sobald das Gericht sich vertagt hatte, in der Regel nicht vor vier Uhr, und dann resümierten sie und Tombo nicht nur die wichtigsten Ereignisse des Tages, sondern interpretierten auch die aktuelle Entwicklung sowohl aus der Sicht der Staatsanwaltschaft als auch aus der der Verteidigung. Das war großes Fernsehen, vor allem wenn sie sich dabei ein bisschen in die Haare kriegten, so wie es hin und wieder vorkam. Aber er wollte das »Talent« nicht aus den Augen verlieren, und daher hatte er selbst ein bisschen telefoniert - hatte zuerst Andreas ganz private, für niemand sonst zugängliche, von Gerichts-TV nur für äußerste Notfälle ausgegebene Handynummer angerufen, dann bei Richard Tombo zu Hause. Da er mitbekommen hatte, dass Wyatt Hunt ihr an dem besagten Abend nachgelaufen war, hatte er auch beim Hunt Club angerufen und kurz mit Tamara gesprochen, die sich ihrerseits gerade bemühte, Andrea aufzuspüren. Bei Piersall wandte er sich an Carla, die er kannte und die ihn, das glaubte er zu spüren, über die Maßen bewunderte, aber auch sie hatte wirklich und ganz ehrlich nichts von ihrer Chefin gehört. Sie machte sich Sorgen. Jetzt saß Fairchild mit Richard Tombo an einem Tisch im Lou the Greek's, einer halb unterirdischen, dunklen und hygienisch anspruchslosen Restaurantbar, gleich auf der anderen Straßenseite vom Gerichtsgebäude, und war im Begriff, das zu bestellen, was hierorts als Lunch bezeichnet wurde. Heute hatte Richter Villars die Donolan-Vormittagssitzung schon um elf Uhr dreißig unterbrochen, daher waren noch einige Tische frei unter den kleinen und schmierigen Fenstern zur Straße hin. Das Lou's war, trotz 208 aller Unzulänglichkeiten, die Fairchild ihm attestieren musste - das Essen, die Atmosphäre, die Beleuchtung, das Essen, der Geruch, das Essen und vor allem das Tagesgericht, welches gleichzeitig das einzige Angebot auf der Spei-
sekarte war -, ein beliebter Treffpunkt in Juristen- und Gesetzesvollzugskreisen, und das seit mehr als fünfundzwanzig Jahren. Von mittags bis etwa halb zwei war es gerammelt voll, an der Bar herrschte noch bis nach drei gut Betrieb. Tombo war schätzungsweise Ende dreißig, Anfang vierzig. Breitschultrig, um die Taille kräftig, aber nicht fett, etwas über Durchschnittsgröße. Seine Haut war sehr dunkel, die Haare waren kurz geschoren, die dunklen Anzüge stets makellos. Ein Hauch von Graufärbung akzentuierte hier und da seinen sorgfältig gestutzten Spitzbart. Eine breite, etwas platte Nase teilte das Gesicht in zwei fast vollkommen symmetrische Hälften, was ihm ein angenehmes Äußeres verlieh - ganz normal, aber gleichzeitig auch irgendwie ungewöhnlich. Seine tiefbraunen Augen, die garantiert sehr gefühlvoll blicken konnten, zwinkerten oft und gern zwischen den sie umgebenden Lachfältchen. Auf seine Art war Tombo ebenso attraktiv wie Parisi, und das war natürlich ein gewichtiger Grund dafür, dass Fairchild die beiden engagiert hatte. Fairchild kam jetzt endlich dazu, Tombo von Parisis Reaktion zwei Abende zuvor zu erzählen. »Diese Verstecknummer hat damit etwas zu tun, da bin ich sicher. Aber darf ich dich mal fragen, Rieh, habe ich je so getan, als ob ich einen derartigen Einfluss hätte? Habe ich euch beiden nicht immer gesagt, ihr sollt diesen Ausflug genießen, solange er dauert, weil man nie wissen kann, wann sich so eine Gelegenheit wieder bietet?« 128 Tombo nahm eine grüne Edamamehülse aus einer auf dem Tisch stehenden Schüssel, knackte sie auf und schüttete sich die Bohnen auf den Handteller. »Offensichtlich hat sie das nicht richtig verstanden.« »Ich hab sie nie angelogen.« »Hab ich auch nicht behauptet.« Er nahm eine Bohne und steckte sie sich in den Mund. »Ich sag nur, dass bei ihr vielleicht ein anderer Eindruck entstanden ist. Wo ihr euch doch so nahe gestanden habt und so.« »Nicht näher, also beruflich gesehen, als du und ich. Wir waren ein Team, wir drei, die ganze Zeit.« Die Lachfältchen zeigten sich. »Ja, na gut, ich meinte jetzt nicht die berufliche Seite.« »Okay, schon klar. Aber das erste Mal, dass ich realisiert habe, dass sie glaubt, New York würde auf dem Programm stehen, das war am Dienstagabend. Ohne Scheiß jetzt. Das war das erste Mal. Dass das für sie der nächste Schritt sein sollte und vor allem, dass es bald passiert. Als sie das gesagt hat ... na ja, da musste ich ihr sagen, was Sache ist. Und da wurde es dann ein bisschen heftig. Sag mal, was sind das überhaupt für Dinger da?«
Tombo, gerade im Begriff, eine weitere Hülse zu knacken, blickte nach unten. »Edamame. Sojabohnen. Tolles Zeug.« Er sah sich in dem überfüllten Raum um. »Lou geht in die Vollen. Macht jetzt Gourmetküche.« Fairchild sagte: »Hast du mal auf das Tagesgericht geachtet? Tempura Dolmas? Was soll das sein?« »Wie du gesagt hast, es ist das Tagesgericht. Sui generis.« Tombo machte eine Pause und übersetzte dann grob: »Ein Ding für sich.« »Mag sein, aber bis zur Gourmetküche ist es noch ein ganzes Stück.« 129 Tombo zuckte die Achseln. »Kommt auf deine Definition an. Im Sudan würde man sich um dieses Zeug reißen.« Er warf sich ein paar Sojabohnen in den Mund. »Also was glaubst du, wo sie ist?« »Hält sich irgendwo bedeckt. Soll natürlich eine Message für mich sein.« Tombo gluckste mitfühlend. »Weil sie glaubt, es sei was Persönliches.« Fairchild legte den Kopf schief, fragte sich, ob Tombo sich über ihn lustig machte. »Genau«, sagte er. »Zur Zusammenfassung ist sie mit Sicherheit wieder da.« »Wollen's hoffen.« »Na, falls nicht, schaukelst du die Sache allein.« Die Kellnerin kam mit einem Tablett voller Wassergläser vorbei, stellte zwei davon auf den Tisch und nahm überflüssigerweise ihre Bestellung auf-zweimal das Dolmas-Spezial. Als sie wieder verschwunden war, griff Fairchild nach seinem Glas. »Mal ganz ehrlich, Rieh, was hast du gedacht, was du nach diesem Prozess machen würdest?« Tombo zuckte die Achseln. »Wieder an meine normale Arbeit gehen. Gott, das klingt furchtbar, wenn ich's mir recht überlege.« Seine Augen leuchteten wieder auf. »He, vielleicht könnten wir ein paar Strippen ziehen und dafür sorgen, dass George Palmers Mörder in zehn Tagen oder so vor Gericht kommt. Das wär's doch, oder?« »War großartig. Aber müssten sie ihn dafür nicht erst fassen?« »Wenn es denn ein Er ist. Apropos, guck mal.« Tombos Blick war auf die Menschenansammlung bei der Tür gefallen, durch die sich gerade zwei ihm vertraute Gestalten gewühlt hatten. »Juhle und Shiu«, sagte er. »Und es sieht so aus, als wollten sie zu uns.« 129 Tombo hatte neun Jahre lang das Amt eines Assistenzstaatsanwalts bekleidet, bevor er seine eigene Anwaltskanzlei eröffnete. Er kannte sowohl Juhle als auch Shiu und wusste, dass sie auf den Fall Palmer angesetzt waren. Als sie an den Tisch herantraten - wie er ganz richtig vermutet hatte, steuerten sie geradewegs auf ihn und Fairchild zu -, machte er miteinander bekannt. Er und Fairchild rückten ein wenig, um Platz für die Kriminalbeamten zu schaffen, und es wurde recht eng auf den Sitzbänken. Shiu kam ohne
Umschweife zur Sache. »Wir waren gerade auf dem Weg zu Andrea Parisis Firma, aber Devin meinte, wir sollten zuerst mal hier reinschauen, weil Sie wahrscheinlich hier anzutreffen wären. Eigentlich hatten wir sogar gehofft, dass Parisi bei Ihnen sein würde.« »Nein«, sagte Fairchild. »Bisher sind wir hier nur zu zweit. Wie man sieht.« »Haben Sie heute schon mit ihr gesprochen?«, fragte Shiu. »Noch nicht. Bevor der Richterhammer am Nachmittag fällt, ist sie nicht dran, und manchmal hat sie so viel anderes zu tun, dass sie das verpasst.« Fairchild zuckte die Achseln, als sei das überhaupt kein Thema. »Ich erwarte sie allerdings zur Tageszusammenfassung; wenn Sie dann noch mal vorbeischauen wollen.« »Was liegt denn an, Jungs?«, fragte Tombo. »Na ja, da wir schon mal hier sind«, sagte Shiu, »also, zuerst mal fragen wir uns, ob einer von Ihnen uns etwas darüber erzählen kann, wie weit ihre Beziehungen zur Gewerkschaft der Gefängniswärter genau gehen.« »Sie meinen, abgesehen davon, dass das Mandanten von ihr sind?« »Mandanten von Piersall, meinen Sie«, sagte Shiu. 130 Der Produzent zuckte die Achseln. »Ja, sicher, aber sie war mit dem Zeug die ganze Zeit befasst.« »Vielleicht habe ich hier irgendwas nicht mitgekriegt«, sagte Tombo. »Ihr untersucht doch den Mord an Palmer, oder? Was hat Andrea damit zu tun? Beziehungsweise die Gewerkschaft der Gefängniswärter?« Juhle schritt ein. Sein Partner hatte den Mund schon wieder zu weit aufgemacht. »Das wissen wir nicht«, sagte er. »Wir haben da nur ein paar Punkte, die Parisi, so hoffen wir, vielleicht miteinander verbinden kann.« »In Bezug auf Palmer?«, fragte Tombo, und Fairchild setzte nach: »Was denn für welche?« Juhle gab ungern Informationen an Fernsehleute weiter. Er entbot beiden Männern ein nichts sagendes Lächeln und stellte, anstatt zu antworten, seine eigene Frage: »Hat sie euch gegenüber jemals eine junge Frau namens Staci Rosalier erwähnt?« Tombo schüttelte den Kopf. Fairchild runzelte die Stirn. »Schon mal gehört?« Juhle glaubte Entsprechendes in Fairchilds Gesichtsausdruck gesehen zu haben. »Also, nicht von Andrea. Aber irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.« »Sie war das andere Mordopfer«, sagte Shiu. »Die Frau, die bei Palmer war.« »Ach ja«, sagte Fairchild. »Daher kommt's. Was für eine Verbindung hatte sie zu Andrea?« Juhle griff nach einer Edamame. »Eben das möchten wir auch wissen.« Tombo und Fairchild wechselten einen verständnislosen Blick.
Shiu sagte: »Okay, kommen wir noch mal kurz auf die Gefängniswärter zurück.« Er wandte sich an Fairchild. 131 »Sie sagten, sie hätte ständig mit ihnen zu tun gehabt. Dann muss sie von Palmers, äh, Problemen mit denen gewusst haben.« »Klar«, sagte Fairchild. »Aber wer tut das nicht? Alle nasenlang steht was in der Zeitung darüber, stimmt's? Insassen in Folsom versehentlich von ihren Wärtern getötet. Die mexikanische Mafia verdient ein Vermögen mit Drogenhandel von Pelican Bay aus. In Corcoran werden Gladiatorenkämpfe auf Leben und Tod mit den Gefangenen veranstaltet. Die Hälfte der Gefängnisärzte hat ihr eigenes Strafregister, besitzt keine gültige Zulassung, schreibt falsche Rezepte aus. Und jedes Mal droht Palmer damit, dass er den Gewerkschaftsladen zumacht. Die Wärter sind außer Kontrolle. Wenn die Gewerkschaft sich nicht selbst disziplinieren kann, unterstellt er sie der Gerichtsbarkeit des Bundes. Na ja, und raten Sie mal, über wen er in dieser Sache mit der Gewerkschaft kommuniziert?« »Moment mal.« Tombo lehnte sich vor, in seinen Augen war jetzt keine Spur von Belustigung mehr. »Ihr glaubt, dass die CCPOA etwas mit Palmers Tod zu tun hat?« »Wir wissen es nicht«, sagte Shiu. »Wir wissen aber, dass die Gewerkschaft viel Macht hat und keine Bedenken, sie auch einzusetzen. Wir wissen außerdem, dass einigen Leuten, die bei Wahlen gegen Kandidaten angetreten sind, die von der Gewerkschaft unterstützt wurden, vor allem in den ländlichen Bezirken, böse Dinge passiert sind, ihnen oder ihren Wahlkampfbüros und so weiter.« Juhle hatte sich genug von Shius unverantwortlicher Quasselei angehört. Als Nächstes würde er wahrscheinlich erzählen, dass sie nachprüften, ob Jeanette eventuell jemanden angeheuert hatte, womöglich einen von Palmers Gewerkschaftsfeinden, um ihn umzubringen. An diesem Punkt wa 131 ren sie am Morgen in Laniers Büro angelangt. Aber seither, und das könnte Shiu auch noch ausplaudern, waren sie zu dem Schluss gekommen, dass sie Jeanette als Anstifterin gar nicht benötigten. Es konnte auch ein auf eigene Rechnung handelnder Gewerkschaftsmann gewesen sein. Wenn Shiu so weitermachte, würden sie bald all ihre Hypothesen im Fernsehen ausgebreitet sehen. »Jedenfalls würden wir von Parisi gern hören«, sagte er, »ob sie uns vielleicht irgendwelche Hintergrundinformationen liefern kann, das ist alles.« »Aber ihr seid doch irgendwie wegen des anderen Opfers an ihr dran«, sagte Tombo. »Stimmt das nicht?« Juhle wich aus. »Auch da geht's um Aufhellung von Hintergründen.« Er bewegte sich aus der Sitzbank heraus, und seine Körpersprache veranlasste Shiu, es ihm gleichzutun. »Wenn ihr sie zu sehen kriegt«, sagte er so
freundlich, wie es ihm möglich war, »könntet ihr ihr dann wohl sagen, dass wir sie gern sprechen würden? Falls wir sie nicht vorher erwischt haben, bittet sie, dass sie auf uns wartet, und wir kommen dann nach der Tageszusammenfassung auf sie zu.« »Diese unglaubliche Geschichte, die sie aufdecken wollte.« Fairchild schien keinerlei Probleme mit dem gefüllten Gemüse zu haben. Gerade verputzte er sein viertes Stück. »Deswegen sollte New York vor allem scharf auf sie sein. Sie hatte vor, eine ganz sensationelle Enthüllungsjournalistin zu werden. Na, jedenfalls fing es damit an.« »Du hast ihr gesagt, dass es darauf nicht ankäme.« »Musste ich doch.« Fairchild zuckte die Achseln. »Es kam nicht darauf an. Kommt es nicht.« »Hat sie gesagt, was es war?«, fragte Tombo. »Diese Story?« »Wenig. Aber ich kann's mir besser vorstellen jetzt, wo wir mit den Polizisten gesprochen haben.« 132 »Was?« Fairchild beugte sich über den Tisch, sprach mit gedämpfter Stimme. »Es ist eine Sache, irgendwelche Gewerkschaftsschläger auf jemanden anzusetzen, richtig? Aber stell dir vor, man lässt bestimmte Gefangene für ein oder zwei Nächte ausrücken, um Verbrechen zu begehen! Das war's, was sie recherchiert hat.« Tombo hatte bereits seinen Teller weggeschoben, nahezu unberührt. Er schenkte sich Wasser nach. »Um was zu tun?« »Was immer gerade anliegt. Ein Wahlkampfbüro zerstören. Irgendeinen Abgeordneten einschüchtern, der eine falsche Haltung zum Thema Mittelzuweisung an Gefängnisse einnimmt. Ich weiß nicht, vielleicht jemanden umlegen. Und unterdessen haben sie das perfekte Alibi, falls die Sache überhaupt untersucht wird - sie waren ja im Gefängnis eingesperrt.« Tombo hob die Augenbrauen, schüttelte den Kopf. »Nein.« »Was, nein?« »Alles. Das kann es nicht geben.« »Warum nicht?« »Weil Folgendes passiert, Spencer, wenn du einen Gefangenen rauslässt. Er geht nicht los und erledigt das, worum du ihn freundlich gebeten hast. Er verlässt wahrscheinlich den Staat. Auf keinen Fall kehrt er wieder in sein freundliches kleines Gefängnis zurück, nachdem er für dich gerade jemanden umgelegt oder ein Wahlkampfbüro verwüstet hat, um friedlich seine restliche Haftstrafe abzusitzen.« Fairchild dachte eine Weile kauend nach. »Er würde es tun, wenn zum Beispiel auch sein Bruder mit ihm im Knast sitzt und er damit rechnen muss, dass der einen tödlichen Unfall erleidet, falls er nicht zurückkehrt.« 132
»O ja, der altbewährte Zwei-Brüder-im-selben-Gefängnis-Trick.« »Muss ja kein leiblicher Bruder sein. Kann auch ein anderes Verhältnis sein. Oder«, steigerte Fairchild sich in die Sache hinein, »vielleicht erwirbst du dir sexuelle Anrechte jede Nacht plus Dope plus Alkohol, Zigaretten, was weiß ich. Sie schaffen dir alles heran.« »Wer?« »Die Wärter.« »Die Wärter, die dich bewachen?« »Genau die.« »Und wo ist der Direktor die ganze Zeit?« »Der steckt mit drin. Er besorgt einfach die Angelegenheiten der Gewerkschaft. Und die ist dankbar. Er kriegt jede Woche eine Sonderzulage unter dem Tisch. Zahlungen, die, wenig überraschend, in keiner Bilanz auftauchen.« Tombo zeigte jetzt ein freimütiges Lächeln, hatte Spaß an der Idiotie. »Wie wär's, wenn sie dem jeweiligen Täter auch eine Harley besorgen, mit der er im Hof herumfahren kann? Wenn ich rausgehen und jemanden umlegen soll, dann verlange ich eine Harley.« »Vielleicht nicht unbedingt eine Harley«, sagte Fairchild. »Zu auffällig. Da werden die anderen Insassen sauer.« »Ach, und sexuelle Vorrechte wären das nicht?« »Naja, vielleicht doch.« »So läuft das nicht, mein Freund. Ich kann nicht glauben, dass Andrea solche Sachen recherchiert hat.« »Ich glaube, doch. Tut sie vielleicht immer noch. Und ich meine jetzt, in diesem Augenblick.« »Selbst nachdem du ihr gesagt hast, dass sie das nicht nach New York bringt?« 133 »Vielleicht war es der Fall Palmer. Vielleicht dachte sie, dass es ihm so ergangen ist. Ich meine, mit einem Killer aus dem Gefängnis. Und sie würde die Sache aufdecken, aus eigener Kraft berühmt werden und ohne meine Hilfe den Sprung nach New York schaffen.« Plötzlich wurde Tombo ernst, schwieg und drehte sein leeres Wasserglas zwischen den Händen. »Du denkst so angestrengt nach, dass ich das Knirschen der Zahnräder hören kann«, sagte Fairchild. »Die holen keine Gefangenen aus der Zelle«, flüsterte Tombo fast atemlos. »Die benutzen Hafturlauber.« »Was redest du?« »Spencer, worüber reden wir hier? Macht und Einfluss der Gewerkschaft. Andrea war an irgendwas dran, aber das waren nicht die Insassen. Sondern die Hafturlauber. Wenn sie nicht tun, was von ihnen verlangt wird, haben sie
gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen und wandern zurück in den Knast. Wenn sie es aber tun, was immer es ist, bis hin zum Mord, dann liefert ihr Bewährungsbeamter ihnen ein Alibi.« »Also, das ist ziemlich weit hergeholt, Rieh. Ich kann nicht glauben, dass du so viele Cops zusammenkriegst, die da mitmachen.« »Nein, nicht viele, das glaube ich auch. Aber Bewährungshelfer sind keine Cops.« »Aber sicher.« »Nein, keineswegs.« »Was sind sie denn sonst?« »Formal gesehen sind sie Gefängniswärter. CCPOA.« Devin Juhle war der Ansicht, dass Gary Piersall zu viele Haare für einen Mann in den Fünfzigern hatte, alle miteinander im selben vollkommenen Grauton, und kein einziges 134 tanzte aus der Reihe. Gut und gern eins fünfundneunzig groß, wog er wahrscheinlich keine neunzig Kilo, und sein maßgeschneiderter hellgrauer Anzug war von fast, aber doch nicht ganz unsichtbaren neonblauen Fäden durchschossen. Die kräftige Adlernase unter einer breiten Stirn verlieh ihm einen patrizischen Anstrich, der durch die stechenden blauen Augen noch zusätzlich betont wurde. Sie waren in seinem Büro, siebzehn Stockwerke über San Francisco. Die Firma nutzte vier Etagen in dem Gebäude in der Montgomery Street, und Piersalls Büro befand sich ungefähr auf einem Drittel des Weges nach ganz oben, in der Nordwestecke, mit Ausblick auf die Bay, Alcatraz und die Golden Gate Bridge. Piersall hatte Juhle und Shiu an der Tür begrüßt und sie auf die vor seinem Schreibtisch stehenden Ohrensessel komplimentiert, während er selbst es vorzog, sich hinter diesem prunkvollen Kirschholzmöbel zu verschanzen. »Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht ganz, warum Sie mich zu sprechen wünschen«, sagte er. »Welche Verbindung zwischen dem Mord an George Palmer und der CCPOA haben Sie in der Hand?« Unbeeindruckt machte Juhle es sich, indem er die Beine übereinander schlug, in dem übergroßen Sessel bequem. »Nun, Sir, es war ja kein Geheimnis, dass der Richter damit drohte, die Finanzmittel der Gewerkschaft einzufrieren und sie unter Zwangsverwaltung zu stellen.« Piersall versuchte sich an einem dünnen Lächeln. »Das Schlüsselwort, Herr Inspektor, ist drohte. Sie müssen verstehen, dass dies ein Spiel war, das ihm anscheinend Spaß machte, wenn er auch, offen gesagt, diese Art von Wolfsgeheul schon so oft ausgestoßen hatte, dass die ganze Übung inzwischen etwas eher Ermüdendes als Bedrohliches hatte.« 134 Im Gegensatz zu Juhle saß Shiu auf den vorderen fünfzehn Zentimetern seines Sessels, die Füße fest auf den Teppichboden gepflanzt. »Sie wollen also sagen, dass er keine Feinde in der Gewerkschaft hatte?«
»Nein. Mit Sicherheit hatte er einige. Er war voreingenommen gegen die Wärter, und er liebte das Rampenlicht. Er hat den Knackis jeden Blödsinn abgekauft und war obendrein ein lauter, scheinheiliger Mistkerl. Also, ja doch, er hatte sicherlich den einen oder anderen Feind, und Jim Pine war vielleicht der offensichtlichste.« Pine war Vorsitzender der Gewerkschaft und aufgrund der Geldsummen, die er kontrollierte, eine der mächtigsten politischen Figuren im Staat. Er hatte höchstpersönlich den Feldzug für das kalifornische »Three Strikes«-Gesetz angeführt, das die Zahl der Häftlinge im Staat gewaltig erhöhte, wodurch ein Bedarf an zusätzlichen Wärtern entstand, was wiederum einen wachsenden Zufluss an Mitgliedsbeiträgen zur Folge hatte. Pine war auch die treibende Kraft hinter dem Opferschutzbund, der hartnäckige Lobbyarbeit zugunsten einer Verschärfung von Strafgesetzen betrieb, damit Verurteilte länger hinter Gittern blieben. Wer immer in Kalifornien ein schärferes Vorgehen gegen das Verbrechen befürwortete, hatte in Pine und der CCPOA einen tatkräftigen Verbündeten. »Aber ich muss Ihnen sagen, meine Herren Inspektoren«, fuhr Piersall fort, »dass Mr Pine nicht auf Gewaltmethoden angewiesen ist, und das ist es ja wohl, worauf Sie hinauswollen, wenn ich Sie recht verstehe. George Palmer hatte keine Möglichkeit, ihn zu stürzen, und das war selbst George Palmer klar. Er wollte einfach nur Druck auf die Gewerkschaft ausüben, ihre Bemühungen um Selbstdisziplin zu verstärken, die nun in der Tat - das muss ich ehrlich 135 sagen - in der Vergangenheit gelegentlich etwas zu wünschen übrig ließen. Die ganze Interaktion von George und Jim fand weitgehend im Geiste eines Gleichgewichts der Kräfte zwischen Judikative und Exekutive statt, und das war alles.« Juhle experimentierte mit seiner eigenen Version eines Lächelns. »Das ist gut zu hören und sehr erfreulich. Allerdings waren wir gerade in Richter Palmers Büro, bevor wir hierher gekommen sind. Wir haben sowohl mit seiner Sekretärin als auch mit seinem Büroleiter gesprochen, die bereits eine vorläufige Verfügung entworfen hatten, um die Gewerkschaft unter Zwangsverwaltung zu stellen. Schwer zu glauben, dass Sie davon nichts wussten.« Piersall verdrehte ansatzweise die Augen. »So weit ist er schon einige Male gegangen. Das ist einfach nur eine weitere Stufe im Spiel der Drohungen.« Mit allen Anzeichen plötzlicher Ungeduld rieb er die Hände gegeneinander und legte sie dann flach auf die Schreibtischplatte. »Aber lassen Sie mich diese Frage stellen, meine Herren: Stellt nicht die Anwesenheit der jungen Frau, des anderen Opfers, eine zwingendere Erklärung für Georges Tod bereit als so eine obskure und, offen gesagt, ziemlich gequälte Interpretation
irgendwelcher Gewerkschaftssachen? Ich nehme an, Sie haben eine intime Beziehung zwischen ihr und dem Richter festgestellt? Und in diesem Fall würde ich doch erwarten, dass Sie erst einmal das Naheliegende ins Auge fassen.« Juhle misstraute instinktiv jedem, der die Wendung offen gesagt allzu oft gebrauchte; seiner Erfahrung nach war das ein nahezu untrügliches Zeichen für Verlogenheit. »Mrs Palmer hat ein sehr solides Alibi. Und Sie haben Recht. Damit stehen wir so ziemlich wieder am Punkt null. Also, 136 offen gestanden«, sagte er mit Bedacht, »sind wir gekommen, um Ihre Hilfe und Zusammenarbeit zu erbitten. Wir eruieren nicht nur Alternativen zu Mrs Palmer als Tatverdächtiger, sondern auch Mittel und Wege, wie jemand in ihrer gesellschaftlichen Position jemanden von der, sagen wir, >Vollzugsabteilung< einer Organisation wie der CCPOA als solchen hätte ermitteln und vielleicht sogar engagieren können.« Dies rief einen Ausdruck offenbar echter Schockiertheit und anschließend ein mitfühlendes Lächeln hervor. »Wenn es das ist, was Sie haben«, sagte Piersall, »dann haben Sie wirklich nichts, meine Herren. Sie fassen allen Ernstes die Möglichkeit ins Auge, dass Mrs Palmer mit jemandem von der Gewerkschaft Kontakt aufgenommen haben könnte, um ihren Mann ermorden zu lassen?« Shiu nickte. »Sagen wir, wir würden diese Möglichkeit gern ausschließen können.« »Wobei noch zu erwähnen wäre, dass die CCPOA keine >Vollzugsabteilung< besitzt.« »Nicht?« Juhle beugte sich vor. »Und diese kleinen Probleme bei den Wahlen letztes Jahr für die Mitbewerber ihrer Kandidaten in ... wie viele waren es? Sieben Bezirken? Was war das? Höhere Gewalt?« Piersall zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Viel davon basiert auf Gerüchten, und ich habe auch die These gehört, dass es in einigen Fällen die Kandidaten selbst waren, um den Eindruck zu erwecken, die Gewerkschaft stecke hinter den Zwischenfällen. Aber wenn Ihnen das nicht gefällt, dann kann es auch ein zufälliger Funken gewesen sein, vielleicht schlichte Achtlosigkeit, was weiß ich. Halbstarke aus der jeweiligen Gegend, Kinderstreiche. Und darf ich, in aller Offenheit, darauf hinweisen, dass, falls mein Gedächtnis 136 mich nicht trügt, kein Gewerkschaftler jemals verhaftet worden ist im Zusammenhang mit diesen Unglücksfällen?« »Der Zufallsfaktor gibt Ihnen nicht zu denken?« »Der Zufalls...?« »Sieben verschiedene Wahlkämpfe, und nur ihre Widersacher hat es erwischt?«
»Erwischt? Jemand hat einen platten Reifen und gleich ist es eine Verschwörung? Übrigens wurden auch einige Pro-Gewerkschaftskandidaten schikaniert, nur dass diese Fälle kein besonderes Medienecho fanden. Also daher, nein, gibt mir dieser Zufall nicht besonders zu denken. Und von dieser Sachlage abzuleiten, dass Mrs Palmer irgendwie ...« Er brach ab, schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, aber das ist einfach absurd.« Juhle sagte: »Um die Wahrheit zu sagen, Sir, es wäre in der Tat absurd, wenn nicht diese andere Sache wäre.« »Welche?« »Andrea Parisi.« Piersalls eisblaue Augen verengten sich. »Was ist mit Andrea?« »Nun, wenn ich recht sehe, hat sie Ihre Kanzlei gegenüber dem Richter vertreten.« »Sie war eine von mehreren und tat es zuletzt immer seltener, da sie mit der Fernsehproduktion über Donolan beschäftigt war. Fünfzig Prozent unserer Partner sind regelmäßig für Gewerkschaftsbelange tätig. Aber richtig ist, dass sie ein entspanntes Verhältnis zu Richter Palmer hatte. Das Gericht hat sie respektiert und sie ihn.« Er legte den Kopf zur Seite und fuhr fort: »Aber ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.« »Staci Rosalier, das andere Opfer, hatte Parisis Karte in ihrer Brieftasche«, sagte Shiu. Juhles Juniorpartner schien 137 nicht imstande zu sein, den Mund aufzumachen, ohne jeden letzten Fetzen Information preiszugeben, den ihre Ermittlungen zutage gefördert hatten. »Damit ist sie die einzige uns bekannte Person, die eine nachgewiesene Verbindung zu beiden Opfern hatte. Und der Schnittpunkt mit Palmer ist die CCPOA.« »Magere Ausbeute«, sagte Piersall. »Ja«, stimmte Shiu zu, »aber da sie jetzt offenbar verschwunden ist, gibt es ...« Juhle, mit seiner Geduld am Ende, stellte die Beine wieder nebeneinander und streckte die Hand aus, in der Hoffnung, den Redefluss seines Partners aufhalten zu können. Piersall reagierte, als hätte es bei ihm eingeschlagen. »Was soll das heißen, offenbar verschwunden? Sie ist nicht ... Sie entschuldigen mich kurz, ja?« Er griff zum Telefon. »Carla? Gary Piersall«, sagte er. »Ich würde gern Andrea sprechen, bitte. Verstehe. Seit wann? Ist gut, danke sehr. Sie soll mich sofort anrufen, wenn sie kommt, ja? Danke.« Als er auflegte, war die Selbstsicherheit aus seinem Gesicht gewichen. Juhle hatte sich erhoben. Er wollte Shiu aus dem Zimmer haben, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte. Es gelang ihm, seine Visitenkarte auf Piersalls Schreibtisch zu platzieren. »Wir wollen Ihnen wirklich nicht die Zeit stehlen, Sir. Falls Sie von ihr hören, wäre es sehr freundlich, wenn Sie ihr ausrichten, dass sie uns anrufen möchte. So bald wie möglich.«
Drei Stockwerke weiter unten im selben Gebäude befanden Juhle, Shiu und Carla Shapiro sich in einer Belegschaftslounge, die größer war als das gesamte Morddezernat -sechs Tische mit jeweils vier Stühlen, Automaten für Kaffee, 138 Tee, kalte Getränke, Süßigkeiten, Snacks. Ein Geruch von Popcorn und abgestandenem Kaffee hing in der Luft. Andreas Sekretärin hatte eine Brille und gekräuselte Haare, war dünn, voller Ernsthaftigkeit und krank vor Sorge um ihre Chefin, wie sie sagte. Ganz krank. Sie redete aufgeregt drauflos, während sie sich an einen der Tische setzten. »Sie hat ungefähr um Viertel vor drei angerufen und gesagt, sie fühle sich etwas besser und wolle kommen, um ein bisschen Arbeit nachzuholen, aber zuerst müsse sie noch zu einer Mandantin nach Hause fahren und würde wahrscheinlich erst im Büro sein, wenn ich Feierabend gemacht hätte, und sicherlich würde sie bis spät arbeiten. Ich brauchte nicht auf sie zu warten - sie wollte mir für den nächsten Morgen Unterlagen auf den Schreibtisch legen.« »Das hat sie aber nicht getan?«, fragte Shiu. »Nein. Sie ist überhaupt nicht ins Büro gekommen. Jedenfalls hat sie sich unten nicht eingetragen. Außerhalb der regulären Arbeitszeiten muss man sich hier im Gebäude registrieren lassen, wissen Sie.« Dann, als werde sie sich eben erst darüber klar, ergänzte sie: »Sie hat auch gestern den größten Teil des Tages gefehlt, wissen Sie? Und sie fehlt eigentlich nie. Ich mein, echt nie.« »Was hat sie denn gestern gemacht?«, fragte Juhle. »Was sie von der Arbeit abgehalten hat.« »Lebensmittelvergiftung, hieß es.« »Von wem?« »Ihrem Arzt, glaube ich. Er hat angerufen und unten mit der Rezeption gesprochen, nicht mit mir.« Shiu hatte sein kleines Notizbuch in der Hand, las darin und sah dann auf. »Aber dann ging es ihr um etwa Viertel vor drei wieder besser?« 138 »Ja, ich glaube.« »Sie haben persönlich mit ihr gesprochen«, fragte Shiu, »und sie wollte zunächst zu einer Mandantin nach Hause fahren? Kam das häufig vor? Dass sie Mandanten zu Hause besucht hat?« »Ich glaube, ja. Manchmal. Es kam drauf an.« Plötzlich schaltete Juhle sich ein. »Kennen Sie den Namen Staci Rosalier? War sie eine von Andreas Mandanten?« Carla schüttelte den Kopf. »Nein. Der Name ist mir nicht bekannt. Tut mir Leid.« »Braucht Ihnen nicht Leid zu tun, Ma'am«, sagte Shiu. »Hat Andrea Ihnen gesagt, wen sie aufsuchen wollte?«
»Ja. Carol Manion. Kennen Sie die Manions? Aber sie ist dort gar nicht angekommen.« »Woher wissen Sie das?«, fragte Shiu. »Haben Sie angerufen?« In ihrem nervösen Zustand schien Carla die Frage zu erschrecken. »Wen?« »Mrs Manion.« Ein gequälter, schuldbewusster Ausdruck erschien in Carlas dunklen Augen. »Ah, nein. Ich mein, es gab keinen Grund gestern Abend, als ich nach Hause ging, und dann ... Sie hat nämlich selbst hier angerufen. Ich meine, das Büro. Später am Abend. Da war eine Nachricht auf Andreas AB, als ich heute Morgen ankam.« »Von Mrs Manion?« Mit hängendem Kopf nickte sie. »Fragte sich, ob Andrea den Termin vergessen oder den Tag verwechselt habe. Was Andrea natürlich nie tun würde.« »Nein.« Juhles Zeigefinger beschrieb kleine Kreise auf der Tischplatte. »Sie ist also nicht bei den Manions angekommen. Wenn sie sich überhaupt auf den Weg gemacht hat.« 139 »Ich glaube schon. Sie hat mir gesagt, dass sie dort hinwolle. Und danach hierher zurück.« »Und das«, fragte Juhle, »ist das Letzte, was Sie von ihr gehört haben?« Sie fasste unter ihre Brille und wischte eine Träne weg. »Soweit ich weiß«, sagte sie, »ist das das Letzte, was überhaupt jemand von ihr gehört hat.«
17
Wes Farrells Arbeitsumfeld hatte nicht viel Ähnlichkeit mit den anderen Anwaltsbüros, die Hunt im Zuge seiner Tätigkeit bisher kennen gelernt hatte. Es nahm fast den gesamten dritten Stock eines edel restaurierten Gebäudes mitten in der Innenstadt ein. Ein zufälliger Besucher, der mit dem Fahrstuhl aus der Tiefgarage kam - und so den vornehmen Empfang und die geschäftigen Büros in den unteren Etagen verpasste -, konnte ohne Weiteres zu dem Eindruck kommen, es handele sich hier um den Privatwohnsitz einer ziemlich exzentrischen und spektakulär schlampigen Person. Farrells weitgehend unbenutzter Schreibtisch stand in der Ecke unter einem der Fenster, wodurch der übrige Raum von Arbeitsbelangen frei blieb und den Anschein eines Wohnzimmers entfalten konnte, mithilfe einer Couch und dazu passenden Sesseln, einigen Stehlampen und einem Heilsarmeecouchtisch. Ein Basketballset schmückte die Wand neben der Tür. Ohne erkennbares System hatte Farrell einige alte, ungerahmte Reklamedrucke aus der Fillmore-Ära aufgehängt sowie ein Poster von Cheryl Tiegs, 139
wie sie gerade irgendwo aus dem Wasser steigt, mit nichts weiter am Leib als einem durchsichtigen Badeanzug und mit einem Killerlächeln. Die Schränke und Borde an der Wand zur Linken hätten gut und gern die Küche eines Collegestudenten darstellen können, mit der Spüle, der Kaffeemaschine und den gebrauchten Bechern, den Heftern, Papierblöcken und Büchern, die überall herumlagen. Im Moment aber fühlte keiner der Anwesenden sich hier so recht wohl. Farrell, auf der Couch lümmelnd, die Füße auf den Couchtisch gelegt, brachte es für alle auf den Punkt: »Ich krieg langsam ein schlechtes Gefühl.« Wu hing in einem der Sessel, die Hände auf dem Schoß gefaltet. Hunt, der nach Ende seiner Zeugenaussagen die paar Blocks von McClelland hierher gerast war, hielt sich neben dem - auf einem niedrigen Sockel unterhalb der Fenster zur Straße stehenden - Fernseher auf. Jetzt schaltete er den Apparat aus. Sie hatten sich die heutige Donolan-Tageszusammenfassung auf Gerichts-TV angesehen, bestritten von Richard Tombo allein, ohne dass Andrea Parisi auch nur erwähnt worden wäre. »Amy und ich, wir sind da schon ein Stück weiter, Wes«, sagte er. Er wandte sich zu Amy. »Du hast kürzlich mit Spencer gesprochen?« »Vor fünfundvierzig Minuten«, sagte sie. »Sie hat sich nicht gemeldet. Er glaubt, dass es was Ernstes ist.« »Da hat er Recht«, sagte Hunt. »Also, soweit wir wissen, hat niemand mit ihr gesprochen, seit sie sich zu den Manions aufgemacht hat?« »Wissen wir, ob sie das überhaupt getan hat?«, fragte Farrell. Hunt nickte. »Sie hat ihr Auto benutzt. Das wissen wir. Es stand in der Garage, als ich sie zu Hause absetzte, und gestern Abend war es nicht mehr da.« 140 »Also, wo ist das Auto?«, fragte Wu. »No lo se.« Frustriert stieß Hunt die Luft aus. »Und offenbar hat sie es nicht zu ihrer Verabredung geschafft. Mrs Manion hat bei ihr im Büro angerufen und wollte wissen, wo sie bleibt - ob sie den Termin vergessen habe.« »Sie steigt also einfach in ihr Auto und verschwindet?«, fragte Farrell. »Bisher«, sagte Hunt, »ist das alles, was wir haben. Gut ist es nicht.« Er ging hinüber zur Sitzgruppe, setzte sich rittlings auf die Lehne des anderen Sessels. »Und da wir schon mal dabei sind, hier ist die andere Sache, über die ich schon den ganzen Tag nachgedacht habe. Sie hatte gerade erfahren, dass sie den Moderatorenjob in New York nicht kriegen würde, stimmt's ? Sie hatte einen bösen Kater. Sie dachte sogar, dass die Ohrfeige für Spencer sie ihren Job bei Gerichts-TV kosten könnte, mit unabsehbaren Folgen, wenn die Sache bei Piersall bekannt werden würde.« »Du willst sagen, sie könnte sich umgebracht haben?«, fragte Wu.
Hunt wollte das nicht glauben, wusste aber, dass es nicht auszuschließen war. Die Menschen sind kompliziert, man kann einfach nicht in sie hineinsehen. Was er als hoffnungsvollen Beginn interpretiert hatte, das mochte für sie nur eine weitere, womöglich schäbige Episode in einem Leben gewesen sein, das vielleicht viele solcher Verbindungen gesehen hatte. Er sagte: »Ich hab Tamara auf Unfallstationen im ganzen Staat angesetzt, weil es das Einzige ist, was mir einfällt. Aber du kennst sie besser als ich, Amy. Was glaubst du ?« »Ob ich glaube, dass sie sich umgebracht hat? Ich möchte Nein sagen, aber...« Hunts Handy klingelte, und er ging ran, hob einen Finger in Richtung Wu, während er sich wegen des besseren Emp 141 fangs zum Fenster bewegte. »Ja, wir haben's auch grad gesehen«, sagte er. Und dann: »Ich weiß. Uh-hm. Sutter Street, bei Wes Farrell oben. Ja, wir sind jetzt alle hier. Weswegen? Okay, einen Moment.« Er wandte sich zum Zimmer hin um, sprach mit plötzlich rauer Stimme zu Wu und Farrell. »Devin möchte vorbeikommen und uns alle sehen. Es geht um diese Sache. Bleiben wir alle noch zehn Minuten hier?« Er erntete beiderseits Kopfnicken und sprach wieder ins Telefon. »Okay, Dev, wir sind hier. Sicher, ganz, wie du willst.« Als er das Telefon zuklappte, blieb er noch am Fenster stehen, sah nach draußen. Seine Schultern hoben sich, sackten nach unten, hoben sich erneut. »Wyatt«, sagte Wu besorgt. »Was ist los?« Schließlich drehte er sich zu ihnen um. »Nur, dass Devin und Shiu beim Morddezernat sind und herkommen wollen, um über Andrea zu sprechen.« Er seufzte schwer. »Morddezernat heißt, dass jemand tot ist.« Die nächsten Minuten vergingen in quälendem Schweigen. Irgendwann sagte Wu: »Wenn sie irgendwas Definitives hätten, wäre es in den Nachrichten gewesen. Vor allem hätten sie's eben, als wir geguckt haben, gesagt. Sie können nichts haben.« »Es sei denn, die Polizei hat ihnen nichts gesagt oder sie gebeten, damit hinterm Berg zu halten. Aber lasst uns hoffen«, sagte Farrell. Hunt rief noch einmal Tamara an und erfuhr, dass Andrea von keiner der Unfallstationen, die sie bisher angerufen hatte, aufgenommen worden war, allerdings habe sie noch zehn bis fünfzehn weitere allein in der aus neun Bezirken bestehenden Bay Area abzuhaken, vom Staat im Ganzen gar nicht zu reden. Es werde noch eine Weile dauern. 141 Das Konferenztelefon summte, Farrell nahm ab und sagte: »Gut. Schicken Sie ihn rauf.« Der erste Blick auf Juhles Gesicht war beruhigend. Er sah fertig aus nach einem langen Arbeitstag, aber er machte nicht den Eindruck, als sei er gekommen, um eine schlechte Nachricht von der Art zu überbringen, wie sie sie befürchteten - tatsächlich schienen seine Augen sogar irgendwie
erwartungsvoll zu leuchten. Aber das Gefühl der Erleichterung hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich breit zu machen, als Wu auch schon fragte, ob er etwas von Andrea gehört hätte. »Sag uns einfach, dass sie nicht tot ist«, fügte Farrell hinzu. Juhle schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste. Habt ihr Grund anzunehmen, dass sie tot ist?« »Du bist beim Morddezernat, Dev«, sagte Hunt. »Du wolltest uns sprechen.« »Wollte ich. Will ich. Und es geht in der Tat um Mord, aber nicht an ihr.« Er blickte in die drei besorgten Gesichter vor sich. »Ich komm gerade von einem Gespräch mit Rieh Tombo draußen vorm Gerichtsgebäude nach seinem Auftritt. Er hatte angerufen und eine Nachricht hinterlassen, dass er glaube, mir etwas mitteilen zu müssen. Hat einer von euch schon mal von dem Gerücht gehört, dass Andrea Parisi ein Verhältnis mit Richter Palmer gehabt hätte?« Hunt spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Denn der Gegenstand dieses Gerüchts leuchtete ihm sofort ein. Wie konnte ihm das entgangen sein? Palmer, natürlich - der »andere Mann« vor Fairchild, mit dem Andrea zwei Jahre lang zusammen gewesen war; der Mann, der keine ernsthafte Beziehung gewollt hatte, der sie verlassen hatte, der 142 aber auch danach mit ihr in Sachen CCPOA zusammengearbeitet hatte. Und der jetzt ermordet worden war. Wes Farrell räusperte sich. »Das ist Hörensagen, Dev.« »Sicher ist es das.« Juhle war nicht zum Streiten aufgelegt. »Aber wir sind hier nicht vor Gericht, und dies ist die Art von Hörensagen, bei der man das Gefühl hat, man sollte es auf seine Stichhaltigkeit hin befragen, sofern das möglich ist.« »Was momentan nicht der Fall ist«, sagte Hunt. »Sieht so aus«, sagte Juhle. »Moment mal«, sagte Amy. »Du meinst, du willst Andrea über Richter Palmers Tod befragen?« »Richtig.« »Als Tatverdächtige? Das ist doch lächerlich.« Juhle zuckte die Achseln. Farrell war nicht überzeugt. »Es ist nur ein Gerücht.« »Zugegeben«, sagte Juhle. »Aber wir wissen ungefähr, wann Palmer die Sache mit Staci Rosalier angefangen hat. Dem anderen Opfer. Nämlich vor etwa sechs Monaten. Ziemlich genau die Zeit, als Donolan anfing. Und laut Tombo auch der Zeitpunkt, wo der Richter mit Andrea Schluss gemacht hat.« Shiu schickte erläuternd nach: »Tombos Ansicht war, dass sie nicht drüber weggekommen ist.« »Ja, aber, Dev«, sagte Hunt, »vor sechs Monaten macht er Schluss. Und dann bringt sie die beiden letzten Montag um?« »Tut mir Leid«, sagte Farrell. »Das kann einfach nicht sein.« »Nicht? Warst du mit ihr zusammen, Wes, am Montagabend?«
»Nein, aber...« Juhle sah Wu an, dann Hunt. »Einer von euch? Okay, also. Folgendes wissen wir. Sie hat eine Sendung mit ihren Fern 143 sehleuten um halb fünf gemacht und dann noch eine um fünf, danach wurde sie von ihrer Limousine um halb sechs oder so bei ihrer Firma abgesetzt. Sie hat anderthalb Stunden lang gearbeitet und sich dann um sieben Uhr acht aus dem Gebäude abgemeldet.« »Und danach?«, fragte Farrell. Juhle zuckte die Achseln. »Wissen wir nicht. Deshalb wollte ich ja mit euch reden. Tombo hat mir erzählt, dass ihr alle am nächsten Abend mit ihr zusammen gewesen seid, bei Wyatts kleiner Jubiläumssoiree. Im Nachhinein wünschte ich, ich war auch dabei gewesen. Vielleicht hat sie irgendjemandem gegenüber erwähnt, was sie am Abend vorher gemacht hat.« »Das ist doch verrückt«, sagte Wu. »Ich weiß, dass sie sich jede Woche oder alle zwei mit dem Richter getroffen hat wegen des Gewerkschaftskrams, mit dem sie zu tun hatten. Ja genau, erst...« Plötzlich brach Wu ab. Juhle war der Ausrutscher nicht entgangen. »Ich höre, Amy.« Wu sah Hunt und Farrell Hilfe suchend an, aber keiner von beiden hatte etwas anzubieten. »Nun ja, an genau dem Montag haben sie sich zum Mittagessen getroffen.« »Und woher«, fragte Shiu, »wissen Sie das, Ma'am?« »Sie hat es mir im Sam's erzählt. Sie konnte es nicht fassen, dass er erschossen worden war. Sie hatte ihn erst einen Tag vorher im MoMo's gesehen.« Juhles Augenbrauen hoben sich. »MoMo's ist der Laden, wo Staci Rosalier mittags kellnerte.« »Warte mal, Dev!«, warf Hunt ein. »Deine Theorie ist also, dass sechs Monate, nachdem Andrea und Palmer Schluss gemacht haben, sie ihn und seine neue Freundin im MoMo's sieht, aus heiterem Himmel von einem wahnsinnigen Eifer 143 suchtsanfall ergriffen wird und beschließt, sie müsse die beiden noch am selben Abend umbringen? In seinem Haus? Erscheint das nicht ein bisschen abgedreht?« »Sicher. Ich behaupte nicht, die Lösung zu wissen, ich habe nur ein paar Fragen. Und die erste lautet: Wo ist sie ? Aber wenn man dann das offensichtliche Motiv dazunimmt ...« Er zuckte die Achseln. »Dann frage ich mich, ob es wirklich so abgedreht ist.« Hunt war unten auf der Sutter Street allein mit Juhle, der sich ein bisschen hatte zurückfallen lassen, während Shiu das Auto holte. »Du willst also wissen, was sie am Montagabend getan hat?« »Ja. Zuerst aber will ich sie mal finden, genau wie du.« Mit finsterem Gesicht fuhr er fort: »Und komischerweise haben wir von Tombo gehört, dass du
höchstpersönlich am Dienstag spätabends hinter ihr hergerannt bist, aus diesem Zigarrenladen raus. Hast du sie noch erwischt?« »Sie war betrunken, Dev«, sagte Hunt. »Ich hab sie mit zu mir genommen, damit sie ausnüchtern konnte. Dann hab ich sie gegen Mittag wieder nach Hause gebracht.« »Das wäre also gestern gewesen, das letzte Mal, dass sie gesehen wurde.« Juhle machte eine Pause. »Hast du sie gevögelt?« Die Frage, die völlig unerwartet kam, verschlug Hunt gerade lang genug die Sprache, sodass Juhle sagte: »Scheiße, hast du.« »Das hab ich nicht gesagt.« Juhle hatte keine Geduld für Spielchen. »Ja, es stimmt. Also ehrlich! Und nun bist du auch der Letzte, von dem wir wissen, dass er sie gesehen hat.« »Und jetzt bin ich auch tatverdächtig?« 144 »Das ist nicht so lustig, wie du zu glauben scheinst. Ich mach hier keine Scherze. Shiu wird auch noch drauf kommen, das garantier ich dir.« »Und was dann? Wird er mich verhaften?« »Lass ab, Wyatt. Gib ihm keinen Grund. Vielleicht würd er's tun.« Nach kurzem Nachdenken sagte Juhle: »Also Parisi ist diejenige, die dich gestern Abend versetzt hat.« Es war keine Frage. Er hatte es sich zusammengereimt und trat nun dicht an Hunt heran. Er dämpfte seine Stimme zu einem Flüstern, in dem Zorn vibrierte. »Vielleicht erinnerst du dich, wie du mir gestern Abend erzählt hast, dass sie persönlich nicht viel mit den Angelegenheiten der Gefängniswärtergewerkschaft befasst war? Abgesehen davon, dass sie sich praktisch jede Woche mit meinem Mordopfer getroffen hat? Wusstest du, dass sie auch mit ihm ins Bett gegangen ist?« »Das wusste ich nicht. Auf die Idee bin ich nie gekommen.« »Schön für dich. Aber bei dem ganzen Rest, da dachtest du halt, es sei nicht so wichtig?« Hunt bekam Magensausen, und er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Das hier hatte er sich selbst zuzuschreiben. »Ich weiß, dass es wichtig ist, Dev. Was kann ich sagen? Ich hätte es dir sagen sollen. Ich hab Scheiße gebaut. Es tut mir Leid.« »Und ob du Scheiße gebaut hast.« »Ja. Ich weiß. Ihr ging's schlecht. Sie war völlig durch den Wind. Ich hab wohl versucht, sie zu schützen.« »Vor mir?« »Vor allem. Aber auch vor dir, ja.« »Weißt du, was? Das kotzt mich echt an. Wenn sie unschuldig ist, dann braucht sie keinen Schutz vor mir oder sonst wem. Hast du das kapiert?« 144 »Ja, aber wenn irgendwas von alldem bekannt wird, dann spielt es keine Rolle mehr, ob sie die beiden umgebracht hat oder nicht. Wenn sie im
Zusammenhang mit ihrem größten Fall eine Affäre mit dem Richter hatte, dann ist sie erledigt.« »Nicht mein Problem. Und deins auch nicht. Ich muss sie finden.« »Ich auch.« »Wenn du sie findest, muss ich sie sprechen.« »Dev, ich werde sie nicht vor dir verstecken.« »Nein? Wollen hoffen, dass das stimmt. Aber da wir schon mal dabei sind, was gibt es noch, was du mir nicht gesagt hast?« Hunt schwieg. »Keine Eile, Wyatt. Ich hab den ganzen Tag Zeit.« »Du wirst es sowieso herausfinden, wenn du dich in ihrem Haus umsiehst«, sagte Hunt schließlich. »Sie hat eine Sammlung von Schusswaffen in ihrem Esszimmer.« »Prima. Fantastisch. Ganz, ganz wunderbar.« »Sie ...« Er brach ab. Es hatte keinen Sinn, darüber mit Juhle zu streiten oder es wegerklären zu wollen. Es war, was es war. Punkt. »Sonst noch was«, fragte Juhle, »was du von ihr weißt und was wichtig sein könnte?« Nach einer Weile sagte Hunt: »Nichts.« Und dann: »Nein. Warte.« Er überlegte noch einmal, ob es wirklich etwas Stichhaltiges war, was er sagen wollte, und sprach es dann aus. »Ich glaube nicht, dass sie mich versetzt hat.« Juhle bewegte sich einen halben Schritt von ihm fort, die noch immer zornigen Augen blinzelten. »Da freue ich mich aber für dich. Was zum Teufel soll das heißen?« »Sie war diejenige, die die Idee hatte, dass wir zusammen essen gehen. Sie sagte, sie würde mich anrufen, so oder so. 145 Das würde sie aber nicht tun, wenn sie die Absicht hätte, aus der Stadt zu verschwinden. Sie hätte angerufen. Also, was immer momentan mit ihr los ist - es war nicht ihre Entscheidung. Es ist ihr zugestoßen.« »Dann ist sie also ein Opfer? So wie alle Sträflinge in allen Gefängnissen der Welt.« »Ich sage nicht, dass sie sich selbst als Opfer sieht, Dev. Ich sage, dass sie vielleicht eins ist. Das ist die ehrlichste Aussage, die ich machen kann.« Der Polizist trat einen weiteren Schritt zurück. »Die ehrlichste? Okay, ich werde sie überdenken.« Shiu fuhr den Wagen an den Straßenrand und ließ ein höfliches kurzes Hupen hören. Juhle drehte sich um, ging zur Tür, öffnete sie und wandte sich dann noch einmal zurück. »Aber eins will ich dir sagen, Wyatt. Deine ehrlichste Aussage hat mir gestern noch verdammt viel mehr bedeutet als heute.« Nachdem er von Juhle zur Schnecke gemacht worden war, stand Hunt buchstäblich am ganzen Leibe zitternd da. Oder war diese körperliche
Reaktion auf die Information über Andrea und Palmer zurückzuführen eigentlich immer noch nur ein Gerücht, versuchte er sich in Erinnerung zu rufen, wenn er auch intuitiv daran glaubte? Er verharrte regungslos auf dem Bürgersteig vor dem Freeman-Gebäude und starrte Shius und Juhles Wagen nach, noch als dieser längst um die Ecke gebogen und verschwunden war. Als er sich wieder einigermaßen gefangen hatte, kehrte er zur Eingangstür der Firma Freeman, Farrell, Hardy & Roake zurück, drückte auf die Nachtklingel und wartete auf das Klicken, das die Tür entriegelte. Kurz darauf hatte er die Treppe erklommen, klopfte an Farrells Tür und trat ein. Wu saß auf der Couch und sprach ins Telefon. Farrell hatte seine 146 Krawatte abgenommen und das Oberhemd ausgezogen, auf seinem heutigen T-Shirt prangte der Spruch SEEN ONE SHOPPING CENTER, SEEN A MALL. Er stand hinter den Sesseln und hatte gerade einen Nerf-Ball auf den Korb geworfen. Keiner der beiden Anwälte hatte den Fernseher im Blick, der jetzt wieder an war, wenn auch ohne Ton. Auf dem Bildschirm war ein Foto von Andrea Parisi zu sehen. Hunt rannte hin und drehte den Ton auf. »... wurde seit gestern Nachmittag nicht mehr gesehen. Einen weiteren Anlass zur Besorgnis sehen die Behörden in der Tatsache, dass Ms Parisis juristische Tätigkeit sie in regelmäßigen Kontakt mit Richter George Palmer brachte, der am vergangenen Montagabend in seinem Haus erschossen wurde. Wer Hinweise zu Ms Parisis gegenwärtigem Aufenthalt liefern kann, wird dringend gebeten, sich mit der Polizei oder mit diesem Sender in Verbindung ...« Hunt schaltete wieder auf »stumm«. Wu hielt noch immer das Telefon in der Hand, war aber aufgestanden und starrte auf den Bildschirm. Auch Farrell hatte sich umgedreht, sein Gesicht war düster geworden. »Na, jetzt ist es wenigstens offiziell«, sagte er. »Vielleicht wird die Vermisstenabteilung jetzt doch aktiv.« »Verlass dich nicht drauf«, sagte Hunt. »Wenn das Fernsehen jemanden als vermisst meldet, heißt das noch längst nicht, dass derjenige wirklich verschwunden ist.« »Aber sie ist verschwunden«, beharrte Wu. »Ich weiß, dass irgendwas passiert ist. Wir alle wissen das. Sie würde nie so lange wegbleiben, ohne jemanden zu verständigen.« Hunt deutete auf das Telefon in ihrer Hand. »Mit wem sprichst du gerade?« »Oh.« Mit einem Was-bin-ich-blöd-Ausdruck im Gesicht sprach sie in den Hörer. »Jason. Hast du das gehört?« 146 Farrell saß auf der Armlehne des Sessels, die Gesichtsmuskeln angespannt. »Devin betrachtet sie doch nicht ernsthaft als tatverdächtig im Fall Palmer, Wyatt, oder?«
Hunt ließ sich auf dem Sockel neben dem Fernseher nieder. »Ich würde sagen, fast so verdächtig wie die Ehefrau.« »Und was denkst du ?« »Willst du's wirklich wissen? Nein, willst du nicht.« »Du glaubst, dass sie tot ist, nicht wahr?« Wu hatte aufgelegt und saß jetzt da, die Hände wie zwei aufgeregte kleine Vögel auf ihrem Schoß. »Das fürchte ich auch.« Farrell Gesicht ließ erkennen, dass der Gedanke ihm selbst nicht sehr fern lag, aber er sagte: »Wie ist es mit Entführung?« Hunt schüttelte den Kopf. »Warum? Und keine Lösegeldforderung. Es ergibt keinen Sinn.« »Das tut ihr Verschwinden auch nicht«, sagte Farrell, »es sei denn, sie ist irgendwie an die Küste gefahren oder sonstwohin, um den Kopf klarzukriegen. Nach dieser Sache mit Palmer und ihrem Streit mit Spencer würde es mich nicht wundern, wenn sie sich einfach mal für ein paar Tage zurückgezogen hätte.« Aber Wu schüttelte schon den Kopf. »Sie würde es Carla gesagt haben, mindestens. Wahrscheinlich auch Gary Piersall.« »Vielleicht hat sie das, Amy«, sagte Hunt. »Nein, jedenfalls nicht Carla. Ich hab heute oft genug mit ihr gesprochen. Eine so gute Schauspielerin kann sie nicht sein.« Farrell sagte: »Vielleicht war sie einfach so sehr neben der Spur, dass sie vergessen hat, Bescheid zu sagen.« »So Leid es mir tut, Wes«, sagte Hunt, »aber es ging ihr gut, als ich bei ihr weggefahren bin. Sie war nicht im Begriff 147 auszuflippen. Sie wollte zur Arbeit. Außerdem, wenn sie sich einen oder zwei Tage Auszeit zur Besinnung genommen hat, dann würde sie sofort wieder auf der Bildfläche erscheinen, sobald sie die Nachrichten im Fernsehen sieht. Falls das nicht in den nächsten paar Stunden passiert oder eine Lösegeldforderung eingeht, und daran glaube ich nicht ...« Er ließ den Satz unbeendet im Raum stehen. »Und was machen wir jetzt?«, fragte Wu. »Einfach dasitzen und warten?« »Ich wüsste nicht, was wir sonst tun sollten«, sagte Farrell. »Sie taucht entweder auf oder nicht.« »Na ja, vielleicht so nicht.« Hunt erhob sich von seinem Sitzplatz. Die bislang eher nebulöse Idee, die ihn veranlasst hatte, noch einmal wieder hier heraufzukommen, nahm allmählich Gestalt an. »Falls sie tot ist, ist alles, was wir tun, nutzlos. Aber falls nicht... falls sie verletzt ist oder gefangen oder falls sie einen Unfall hatte und irgendwo von der Straße geflogen, aber jedenfalls nicht tot ist, dann besteht immer noch die Möglichkeit, dass wir etwas tun können.«
»Na gut«, sagte Farrell, »wenn wir vielleicht die Polizei ...« Aber Hunt schüttelte schon den Kopf. »Denk doch mal nach, Wes. Die Polizei haben wir schon dabei. Juhle ist hinter ihr her. Er wird alle Register ziehen.« Er sah sie beide an. »Ich spreche von uns.« »Von uns? Du meinst dich und mich und Amy?« Hunt nickte. »Und Jason. Und meine Truppe, Tamara und Craig und Mickey.« Wes zeigte ein dünnes Lächeln. »Und was sollen wir tun?« Aber Wu sagte: »Ich bin dabei. Egal, was es bedeutet.« »Ich sag mal, wie ich die Sache sehe«, sagte Hunt. »Wes, hör mich erst mal an. Es gibt vier Möglichkeiten. Die erste: 148 Andrea ist bereits tot. Die zweite: Sie ist, warum auch immer, aus eigenem Antrieb verschwunden. In diesem Fall kehrt sie entweder auch aus eigenem Antrieb zurück, oder sie hat die Absicht, ganz wegzubleiben, das heißt, sie hat das Land verlassen, und wir sehen sie nie wieder.« »An diesen Fall glaube ich nicht«, sagte Wu. Hunt nickte. »Ich auch nicht. Sie kann aber, drittens, auch auf ihrem Weg, wohin auch immer, schlicht und einfach einen Unfall gehabt haben, und dann werden die Cops wahrscheinlich sie oder ihr Auto finden. Vergesst also die Fälle eins bis drei. Die liegen außerhalb unserer Kontrolle.« »Okay«, sagte Farrell. »Was ist Nummer vier?« »Fall vier: Jemand hat sie verschleppt.« Hunt hob, als er die Reaktion in ihren Gesichtern sah, beschwichtigend die Hände. »Ich sage nicht, dass das passiert ist, aber es ist das Einzige, was wir untersuchen und wogegen wir vielleicht etwas tun können, anstatt nur rumzusitzen. Falls jemand sie entführt hat, dann aus einem bestimmten Grund - wegen irgendwas, was sie getan hat, was sie wusste, worin sie verwickelt war. Das ist das, was uns bleibt.« »Was tun wir also?«, fragte Farrell. »Wie wär's, wenn du dich mit Fairchild und Tombo unterhältst. Beide zusammen wissen sie wahrscheinlich mehr als wir alle, aber es kann gut sein, dass ihnen nicht klar ist, was sie wissen.« »Und was soll ich tun?«, fragte Wu. »Du und Jason, ihr könntet euch mit Carla Shapiro in Verbindung setzen. Findet heraus, mit wem Andrea in der Firma zu tun hatte, an welchen Fällen sie gesessen hat, wie ihr Privatleben jenseits von Gerichts-TV aussah. Inzwischen setze ich Tamara und meine freien Mitarbeiter an die Telefone und geh jedem Hinweis nach, den ich finde.« 148 »Wo fängst du an?«, fragte Wu. »Ich weiß nicht genau. Irgendwo. Vielleicht folge ich Wes' Vorschlag und rede noch mal mit Dev.«
»Er ist ein guter Typ, Wyatt, aber er ist auch ein Polizist, der an einem großen Fall arbeitet. Wahrscheinlich hat er wenig Lust, seine Informationen mit dir zu teilen.« Farrell rückte nach vorn, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Hände gefaltet. »Versteht mich nicht falsch, ich bin auf jeden Fall dabei. Aber die ganze Sache bewegt sich doch auf verdammt wackligen Füßen.« »Das ist mir klar«, sagte Hunt. »Aber was ist die Alternative?«
18
Bei Mickey Dade hatte Hunt Glück. Neben den gelegentlichen Aufträgen, die er für Hunt erledigte, fuhr Tamaras dreiundzwanzigjähriger kleiner Bruder abends Taxi, während er tagsüber zuweilen die Kochschule an der California Culinary Academy besuchte, nämlich immer dann, wenn er sich einen Kurs leisten konnte. Hunt war der Ansicht, dass das Interesse an Nahrungsmitteln und ihrer Zubereitung damit zusammenhing, dass Mickey mit zehn Jahren einmal nichts mehr zu essen gehabt hatte als einen Löffel Erdnussbutter, aber sie waren dem noch nie näher auf den Grund gegangen. An diesem Abend kreiste Mickey gerade um den Union Square, keine vier Blocks von Farrells Büro entfernt, als Hunt ihn auf dem Handy erreichte. Nachdem er ihn vor der Tür abgeholt hatte, schaltete Mickey das Taxameter aus und 149 fuhr los. Hunt, der vorn neben ihm saß, verlor keine Zeit. »Wie sieht es arbeitsmäßig die nächsten ein, zwei Tage aus, Mick?« »Ganz gut. Ich könnte sicherlich ein paar Stunden freimachen. Was soll ich tun?« »Ich weiß noch nicht. Hast du von Andrea Parisi gehört?« »Wem?« »Anscheinend nicht. Sie ist fast jeden Tag im Fernsehen, im Zusammenhang mit dem Donolan-Prozess.« »Ich guck kein Fernsehen. Zeitverschwendung.« »Ich weiß. Eins von den Dingen, die mir schon immer an dir gefallen haben.« »Außer The Iron Chef, das Kochduell. Das ist 'ne Klassesendung.« »Mick.« »Ja?« »Andrea Parisi.« »Okay.« »Sie wird vermisst. Wir werden versuchen, sie zu finden.« »Wer ist wir?« »Du, ich, Tamara, Craig, paar von meinen Spezis aus der Anwaltswelt.« »Wo ist sie hin?« »War das eine kluge oder eine dumme Frage?« Mickey zögerte kurz. »Dumm. Verstehe. Wenn sie allerdings vermisst wird, suchen die Cops dann nicht automatisch nach ihr?«
Hunt erläuterte ihm die Vorgehensweise der Vermisstenabteilung und anschließend den generellen Stand der Dinge in Bezug auf Parisi, während Mickey es schaffte, auf dem Weg zur Brannan Street drei rote Ampeln zu überfahren und die Tachonadel zwischen den Kreuzungen jedes Mal auf 150 achtzig hochzujagen. Er brachte Hunt in knapp zehn Minuten nach Hause, aber bevor er unter mächtigem Kiesgestöber zum Lulu's losbrauste, um eine Kurierfahrt zu übernehmen, versprach er Hunt, sein Handy eingeschaltet zu lassen und auf weitere Instruktionen zu warten. »Du hast deine Kamera dabei, oder?«, fragte Hunt. »Nur für alle Fälle.« Mickey tätschelte die kleine Ledertasche auf dem Wagensitz neben ihm. »Immer und jederzeit, Alter.« Zu Hause zog Hunt seinen Anzug aus und schlüpfte in Jeans, Wanderstiefel und ein altes Pendleton-Flanellhemd. Als er mit Umziehen fertig war, war auch sein Computer hochgefahren, er setzte sich an den Schreibtisch und gab die Namen Ward und Carol Manion in die Internetsuchmaschine ein. Andrea Parisi hatte es zwar nicht zu ihrer letzten Verabredung geschafft, aber falls die beiden Damen miteinander gesprochen hatten, nachdem Hunt bei Parisi weggefahren war, dann war dies vielleicht der letzte Kontakt gewesen, den Andrea vor ihrem Verschwinden gehabt hatte. Vielleicht hatte sie irgendwas zu Mrs Manion gesagt, irgendeinen Hinweis hinterlassen. Er verbrachte fast eine halbe Stunde damit, die erzielten Treffer - es waren über siebzigtausend - zu sichten. Mehr als eine flüchtige Bestandsaufnahme war natürlich nicht möglich bei diesem Angebot, das auch nicht wesentlich übersichtlicher wurde, wenn er zusätzliche Suchbegriffe eingab. Der Name Manion hatte es zwar noch nicht ganz bis zum Gipfel des von den Swigs und Gettys und Ellisons bewohnten Pantheon von San Francisco gebracht, aber der Weg dorthin schien nicht mehr weit. Ihre Kette von Discountspezialitätengeschäften mit Filialen im ganzen Staat - gerüchteweise bald im ganzen Land - kannte Hunt bereits. 150 In den letzten Jahren hatte sich außerdem ihre neu gegründete Weinkellerei, die Manion Cellars, ein beträchtliches Markenrenommee erworben, indem sie einige extrem billige, aber bemerkenswert hochwertige Napa-Cabernets und Merlots produzierte. Hunt selbst hatte einige Flaschen davon als Teil einer minimalen Vorrats Sammlung auf dem Boden neben dem Kühlschrank liegen. Auf der alljährlich abgehaltenen Napa-Valley-Weinauktion hatte die Familie in den vergangenen Jahren stets zu den Höchstbietern gehört und im letzten Frühling zum Beispiel mehr als hunderttausend Dollar für eine Riesenflasche des 96er Screaming Eagle gezahlt, aus dem Geburtsjahr ihres jüngeren Sohnes Todd also. Auf dem Sportsektor waren sie, über ihr Engagement für den NFLFootball und die 49ers hinaus, Besitzer eines Minor-League-Baseballteams in
Solano County und Hauptsponsoren des olympischen Skisportkaders der USA. Die persönliche Tragödie, an die Hunt sich vage erinnert hatte, betraf ihren älteren Sohn Cameron, der im letzten Sommer bei einem Wasserskiunfall tödlich verunglückt war. Der vierundzwanzigjährige Goldjunge war Rennläufer gewesen und hatte auf dem Lake Berryessa für die Emerald Bay Classics auf dem Lake Tahoe trainiert, als er mit über hundert Stundenkliometern gegen einen im Wasser verborgenen Baumstamm prallte. Hunt arbeitete viel am Computer und wusste genau, was er suchte, und plötzlich hatte er es gefunden. Der private Wohnsitz der Manions war im Jahr 2000 Schauplatz eines Dinners zugunsten der Nierenstiftung gewesen, und der Zeitungsbericht darüber enthielt die Information, dass das Haus am Seaview Drive im Bezirk Seacliff »einen atemberaubenden Panoramablick von der Golden Gate bis zu den Farallones « bot. 151 Hunt tippte Mickey Dades Handynummer ein und hatte jetzt einen Marschbefehl für ihn: Ob er es wohl noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Seacliff schaffen würde, sich dort notfalls erkundigen und die genaue Adresse der Manions in Erfahrung bringen könnte? Damit würde Hunt sich ihre private Telefonnummer beschaffen, unter dieser Mrs Manion erreichen und vielleicht ein paar Worte mit ihr wechseln können. Von plötzlichem Heißhunger befallen, fiel Hunt ein, dass er seit dem morgendlichen Bao nichts mehr gegessen hatte, also ging er in die Küche und schnitt sich ein zehn Zentimeter langes Stück von der Salami ab, die er an einem Haken im Kühlschrank hängen hatte. Das würde reichen müssen. Er hatte zu tun. Hunt ging nicht mehr oft ins Little Shamrock. Direkt gegenüber vom Golden Gate Park an der Ecke Lincoln Street und North Avenue gelegen, war die Bar früher seine und Sophies Stammkneipe gewesen, aber jetzt wohnte er nicht mehr in der Gegend, und so toll war der Laden nicht, dass man extra seinetwegen hinfuhr. Doch selbst wenn, wäre Hunt normalerweise nicht hingegangen. Er hatte mit diesem Teil seines Lebens gründlich abgeschlossen. Heute Abend war aber bei Juhles keiner zu Hause gewesen, als er vorbeikam. Er ärgerte sich, dass er nicht vorher angerufen hatte, aber er hatte nicht noch mehr Verachtung und womöglich Zurückweisung am Telefon erdulden wollen. Wenn er dagegen mit einer weiteren Entschuldigung an der Tür des Freundes stand, hatte er sich gedacht, würde der ihn vielleicht hineinlassen, und wenn er erst mal so weit war, könnte er versuchen, ein paar Informationen zu be 151 kommen. Allerdings wusste er bisher noch nicht so recht, was er eigentlich sagen wollte.
Aber das Shamrock lag in diesem Teil der Stadt, und da war jetzt auch noch etwas anderes - nämlich die kürzlich wachgerufene, sonst meist unterdrückte Erinnerung an das Leben damals, das Foto von Sophie an der Bar -, was ihn drängte, den alten Treffpunkt mal wieder aufzusuchen. Da es ein Donnerstagabend war, halb acht etwa, rechnete Hunt damit, dass der Laden brechend voll sein würde, was andererseits nicht allzu viel besagen wollte, da selbst bei Hochbetrieb kaum mehr als hundert Leute hineinpassten. Sophie und Hunt waren manchmal noch vor der Cocktailstunde eingekehrt, wenn nur eine Hand voll Gäste einsam vor ihren Gläsern saßen, und dann war ihnen die Räumlichkeit unfassbar klein erschienen für so ein blühendes Unternehmen, das es ja offensichtlich war - das Etablissement hatte erstmals im Jahre 1893 seine Pforten geöffnet und war seither ununterbrochen in Betrieb gewesen. Der alte Holztresen verlief bis halb in Richtung Rückwand. Unmittelbar davor war der Raum nur gut zwei Meter breit. Drei winzige Tische mit je vier Stühlen boten ein paar magere Sitzgelegenheiten. Die gegenüberliegende Wand war zusätzlich mit alten Fahrrädern und anderen Jahrhundertwendememorabilien verstellt, darunter eine Standuhr, die während des Erdbebens von 1906 für immer stehen geblieben war. Im hinteren Teil, bei den Dartbrettern und der Jukebox, weitete sich der Raum ein wenig, aber die dort befindlichen Sitzgruppen mit durchhängenden Sofas und dick gepolsterten Sesseln nahmen mehr Platz in Anspruch, als zierliche Cocktailtische es getan hätten, sorgten allerdings für eine gemütliche Atmosphäre. 152 Gegenwärtig warf die Sonne vor dem breiten Frontfenster ihre letzten langen Schatten auf die Lincoln Street. Ein Pärchen in schwarzem Leder saß auf Hockern am hinteren Ende des Bartresens bei je einem Pint Dunkelbier. Ein einsamer Spieler betätigte sich mit den Dartpfeilen. Cyndi Laupers Time After Time rieselte leise aus den Lautsprechern. Der Fernsehbildschirm war dunkel, und hinter dem Tresen war kein Barkeeper zu sehen. Hunt setzte sich auf einen der Hocker nahe der Tür und fragte sich schon, ob er nicht gleich wieder gehen sollte, zumal er schon nicht mehr recht wusste, warum er überhaupt gekommen war. Bald eine Minute saß er wartend da und hatte sich praktisch schon zum Gehen entschlossen, als der Dartspieler sich unter dem hinteren Tresenende hindurchduckte: »Bin sofort bei Ihnen.« Nachdem er die Pfeile auf dem Tresen abgelegt hatte, kam er auf ihn zu, und Hunt sagte: »Mr Hardy?« Der Mann blieb stehen, legte den Kopf zur Seite. »Doktor Hunt«, sagte er und senkte dann seine Stimme. »Das mit dem Mr Hardy können Sie weglassen, wenn ich hier hinter dem Tresen stehe. Sagen Sie Diz. Und was führt Sie an diesem schönen Abend so weit hier raus?«
»Ich habe 'ne bessere Frage«, sagte Hunt. »Was hat ein Spitzenanwalt wie Sie in einem Laden wie diesem hier hinter der Bar zu suchen?« Dismas Hardy - Amy Wus Chef und Wes Farrells Partner - warf ihm ein Grinsen zu. »Mir gehört ein Teil des Ladens«, sagte er. »Ein Viertel, um genau zu sein.« »Und Sie arbeiten als Barkeeper in Teilzeit?« »In sehr kleiner Teilzeit. Soll heißen, so gut wie nie. Mein Schwager macht das hier normalerweise, aber er ist... na ja, 153 ein bisschen auf Reha und hat mich gebeten, ihn ein paar Tage zu vertreten. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier verkehren.« »Tu ich eigentlich auch nicht. Seit Jahren nicht mehr.« »Nun ja« - Hardy warf eine Serviette auf den Tresen -»aber jetzt sind Sie anscheinend da. Was trinken Sie?« »Ich nehm ein Bier. Vom Fass. Bass.« »Kommt sofort.« Hardy ging zu den Hähnen, zapfte zwei Gläser und kehrte mit ihnen zurück. Eins stellte er auf die Serviette vor Hunt, von dem anderen nahm er einen Schluck und stellte es dann in der Rinne ab. »Na dann. Arbeiten Sie heute Abend?« »Nicht für Geld«, erwiderte Hunt, und dann fragte er: »Haben Sie das mit Andrea Parisi gehört?« Hardy nickte. »Amy und Wes haben es mir erzählt. Wird sie immer noch vermisst?« »Jau.« »Sie suchen nach ihr?« »Fang grad damit an, ja. Übrigens war ich eben mit Amy und Wes bei euch im Büro.« »Was habt ihr da gemacht?« »Ich hab sie an die Arbeit gesetzt.« »Ich dachte, es läuft umgekehrt. Die Anwaltskanzleien heuern die Ermittler an.« »Für gewöhnlich ist es so.« Er zögerte, fragte sich, ob er unter Umständen im Begriff war, sich ins eigene Bein zu schießen. Er hatte sich immer gut mit Hardy verstanden, aber nach Hunts Erfahrung hatte der durchschnittliche geschäftsführende Gesellschafter es nicht übermäßig gern, wenn verfügbare Arbeitszeit nicht diesem oder jenem Mandanten in Rechnung gestellt wurde. »Aber wir sind alle ziemlich besorgt.« Er gab einen kurzen Abriss seiner Ein153 Schätzung, was Parisis Chancen anging. »Wir schätzen, dass uns ein Tag bleibt, vielleicht zwei.« »Wie lange ist sie schon weg?« Hunt blickte auf seine Uhr. »Dreißig Stunden ungefähr. Es sieht nicht gut aus, aber wenigstens ist ihre Leiche noch nicht aufgetaucht. Auf die geringe Chance hin ...« »Was unternimmt die Polizei?«
»Bis die Vermisstenabteilung aktiv wird, vergehen noch ein, zwei Tage. Aber kennen Sie Devin Juhle?« »Klar. Vom Morddezernat.« »Richtig. Und ein Freund von mir, meistens.« Hunt sprach es ohne Umschweife aus. »Er sieht sie im Mordfall Palmer als tatverdächtig an.« Hardy kniff die Augen zusammen. »Sprechen wir hier von ein und derselben Andrea Parisi? Gerichts-TV?« »Jawohl. Juhle will sie also genauso dringend haben wie wir, vielleicht noch dringender. Ich hoffe, ich kann ihn dazu bringen, das zu tun, was die Vermisstenabteilung nicht tun würde.« »Einen Kriminalbeamten? Was wollen Sie denn von ihm?« »Seine Informationen.« Hardy fand das offenbar amüsant. »Und die soll er Ihnen so einfach rausgeben? Wie wollen Sie das anstellen?« Genau das war natürlich Hunts Problem. Vor allem, wenn er sich Juhles letzte Worte in Erinnerung rief. »Wir kennen uns schon lange«, sagte er. Hardy schien sich wirklich prächtig zu unterhalten. »Weil Sie Freunde sind, fragen Sie ihn einfach?« »Das war der ursprüngliche Plan, aber dann hab ich ihm das eine oder andere nicht gleich gesagt, was ich wusste. Und jetzt denkt er, dass ich ihm Sachen verheimlichen wollte.« 154 »Klingt ganz, als wär's so gewesen.« »Tja, sehen Sie. Jedenfalls stellt das jetzt ein Problem dar.« »Naja, das Problem ist doch«, sagte Hardy, »dass er Ihnen sowieso nichts sagen würde, wenn Sie ihn fragten. Da ist genau das Gen wirksam, das diese Jungs überhaupt erst fürs Morddezernat geeignet macht. Er würde es wahrscheinlich nicht mal seiner Frau verraten. Aber zum Glück für Sie habe ich zufällig ein bisschen Erfahrung mit eben dieser Problemsorte.« Er machte eine Pause. »Abe Glitzky ist einer meiner besten Freunde.« Glitzky war stellvertretender Chief of Inspectors der Polizei von San Francisco. Vorher war er gut ein Dutzend Jahre lang Leiter des Morddezernats gewesen. »Das ist unmöglich«, sagte Hunt. »Sie sind Strafverteidiger. « »Es ist wirklich unmöglich«, stimmte Hardy jovial zu. »Wenn Sie Glitzky so gut kennen würden wie ich - und danken Sie Ihrem Glücksstern, dass das nicht der Fall ist -, wüssten Sie erst, wie unmöglich. Aber ich müsste lügen, wenn ich nicht zugeben wollte, dass er mir mehr als einmal eine große Hilfe gewesen ist.« »Eine Hilfe für die Verteidigung?« »Manchmal unter großem Gezeter und Wehklagen, sollte ich vielleicht hinzufügen. Aber immerhin.« »Wie kam es denn dazu?« Hardy hob sein Bier aus der Rinne, nahm einen Schluck. »Wenn Sie nicht einfach fragen können«, sagte er, »machen Sie ein Tauschgeschäft.«
155 Hunt konnte sich nicht entscheiden, ob das, was ihm an seinem Cooper am allerbesten gefiel, der Turboantrieb war, das coole, vage an Art deco gemahnende Hightecharmaturenbrett oder die Tatsache, dass er in Parklücken hineinkam, die kaum größer waren als ein Toaster. Er hielt direkt vor dem vertrauten kleinen Haus an der Zwölften Avenue zwischen Ortega und Noriega Street und parkte zwischen dessen Auffahrt und dem Nachbarhaus auf einer freien Fläche von vielleicht drei Metern Länge. Obwohl es schon dunkel war, wusste er, dass die Garagen zu beiden Seiten und entlang der gesamten Straße Schilder trugen mit der Aufschrift: KOMM GAR NICHT ERST AUF DIE IDEE, HIER ZU PARKEN! Und aus eigener Erfahrung wusste er, dass es den Hausbesitzern damit ernst war. Ein paar Mal hatte sein Auto vielleicht mal gerade zehn Zentimeter in irgendeine Auffahrt hineingeragt, und als er wiederkam, war es abgeschleppt worden hundertfünfundzwanzig Dollar plus Strafzettel, na, herzlichen Dank. Juhles Zuhause sah genauso aus wie alle anderen Häuser des Blocks zweistöckig, mit Putzverkleidung und vier Stufen hinauf zur offenen Veranda. Die eingebaute Garage für nur ein Auto nahm ein Drittel des Grundrisses ein. Bei Tageslicht ließ das strahlend grün gestrichene Holz das Haus ein wenig von seinen Nachbarn abstechen, und jetzt in der Frühlingszeit blühten Osterglocken, Springkraut und Engelshaar in den Blumenkästen vor den Fenstern. Inzwischen aber war es neun Uhr geworden und von all den Attraktionen nichts mehr zu sehen, und so war auch dieses nur eines unter vielen der im Nebelgürtel des Sunsets wabernden Häuser. Nach dem klaren und wolkenlosen Tag war wieder Nebel aufgezogen und verhüllte fast die ganze Straße. Aber Hunt 155 sah Lichter bei den Juhles brennen. Sie waren schon zu Hause. Während er die Stufen zur Veranda erklomm, hatte Hunt mit seinen Nerven zu kämpfen. Die permanente Umtriebigkeit, seit er mit seinen Zeugenaussagen bei McClelland fertig geworden war, hatte ihn in gewisser Weise von der wachsenden, sich tief im Bauch ausbreitenden, mittlerweile an Übelkeitszustände grenzenden Angst vor dem, was Parisi passiert war, abgeschirmt. Mit jeder Minute sank die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch am Leben war. Und dennoch konnte er ihren möglichen Tod nicht akzeptieren, und sei es auch nur, weil er nicht glauben wollte, dass das Leben ihm dies schon wieder antun konnte - Hoffnung aufkeimen zu lassen, selbst wenn es eine falsche, vielleicht sogar närrische Hoffnung war, und sie dann gleich wieder zu zerstören. Alles, was er wusste, war, dass er sie finden musste. Und sei es nur, um festzustellen, wohin es mit ihnen beiden führen mochte. Und ohne Juhles Hilfe oder sogar aktive Mitarbeit war es, das glaubte er fest, nicht zu schaffen.
Er drückte auf den Klingelknopf, hörte das Läuten im Haus und wartete im Nebel. Connie machte ihm die Tür auf und begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange. »Du hast Mut, Wyatt, das muss ich dir lassen.« Dann führte sie ihn hinein zum Rest der Familie. Juhle, der den Arm in der Schlinge hatte und die andere Hand in einen Eimer mit Eis hielt, sah durch ihn hindurch. Die Kinder - Eric, Brendan und Alexa - sprangen vom Küchentisch auf und ließen ihre Pizza stehen. Onkel Wyatt gehörte zu ihren Lieblingen. Oft kam er schwer beladen 156 mit Münzen, Süßigkeiten oder anderen Geschenken, und heute Abend war es nicht anders. Aus irgendeinem Grund zeigten die Eltern, die sonst immer einschritten, wenn die Kinder verwöhnt werden sollten, sich bei Hunt tolerant, und das verbesserte natürlich seine Stellung bei ihnen. Das und die Tatsache, dass ihr Vater meistens lockerer drauf schien, wenn Hunt da war. Dann ließ Juhle sich auf Spiele ein, für die er sonst kaum einmal Zeit erübrigte -Tischfußball und Tischtennis in der Garage, Foot-ball oder Baseballfangen auf der Straße, Basketball auf der Auffahrt. Manchmal spielten die beiden Männer zusammen Gitarre oder hörten sich neue CDs an. Wyatt war cool. Nachdem sie seine Taschen nach Necco-Waffeln abgesucht hatten, kehrten die Kids an ihre Plätze zurück. Hunt ging hinter ihnen auf und ab und zog nacheinander jedem Kind einen Quarter aus dem Ohr. Eric hatte noch sein Hornets-Trikot an. »Wie habt ihr heute gespielt?«, fragte er ihn. »Wir haben sie fertig gemacht, neun zu zwei«, erwiderte der Junge. »Dad war Coach. Er hat mich werfen lassen.« »Wie kam er dazu, Coach zu sein? Er sieht aus, als wäre er ziemlich kaputt.« »Das geht schon«, sagte Alexa. Die Siebenjährige war Papas kleine Prinzessin. »Kein Vergleich mit Coach Doug.« »Sprechen wir von Mr Malinoff ?« »Jau«, sagte Brendan. »Was ist mit ihm passiert?« Endlich entspannte sich das Stirnrunzeln etwas, das Juhle aufgelegt hatte. »Pickle«, sagte er. »Malinoff hat Pickle gespielt?« »Mit Spikes«, sagte Eric. »Auf dem Rasen.« 156 »Du kennst doch Pickle, Onkel Wyatt, oder?« »Klar, Brendan. Ich hab das sogar erfunden. Zwischen den Bases hin und her laufen, unter den Gegenspielern durchrutschen, stimmt's?« Alexa warf ihm einen misstrauischen Blick zu und wandte sich dann ihrem Vater zu. »Hat Onkel Wyatt wirklich Pickle erfunden?« »Wenn er das sagt«, erwiderte Juhle und fügte dann nicht ohne Schärfe hinzu: »Lügen wird er ja wohl nicht.«
Hunt wandte sich an Connie. »Was ist denn jetzt mit Malinoff passiert?« »Er hat die Kids herausgefordert. Wollte jedem fünf Dollar geben, der ihn schlägt.« »Daddy hat ihm gesagt, er soll's lassen«, sagte Alexa, »aber Doug hat nur >Du Weichei< zu ihm gesagt. Ich hab's genau gehört.« »Das war nur Spaß, mein Schatz«, sagte Connie. »Er weiß, dass dein Vater kein Weichei ist. Das war eine Art Erwachsenenwitz darüber, wie er sich den Arm verletzt hat, weiter nichts.« »Es war aber nicht lustig«, sagte Alexa mit klassischem Schmollmund. »Ich fand es doof.« »Der liebe Gott fand es auch doof«, sagte Juhle. »Deswegen hat er ihn ja bestraft.« »Was hat der liebe Gott gemacht?«, fragte Hunt. Connie hatte Mühe, ernst zu bleiben. »Er hat ihm das Bein gebrochen«, sagte sie. »Auweia!« »Das hat Doug auch gesagt.« »Na, eigentlich nicht ganz, Dad«, sagte Eric. »Nein, ich weiß. Und ich wette, Onkel Wyatt kann sich ganz gut vorstellen, was er in Wirklichkeit gesagt hat. Aber 157 diese Sorte Sprache benutzen wir hier nicht, oder? Das wäre schlechter Sportsgeist, stimmt's?« Zu dem im Chor vorgebrachten »Stimmt« erhob sich Juhle, nahm das Geschirrtuch, das Connie ihm hinhielt, und wickelte seine Fanghand darin ein. »Okay, Leute, esst eure Pizza auf, und wie ich höre, sind auch noch Hausaufgaben für die Schule zu erledigen. Und keine Neccos mehr heute Abend. Con?« »Keine Neccos«, wiederholte sie. »Bis morgen nach der Schule.« »Wo gehst du mit Onkel Wyatt hin, Dad?«, fragte Brendan. »Ins Wohnzimmer«, sagte Juhle. »Zu einer ungestörten Erwachsenenunterhaltung.« »Dev, hör zu«, sagte Hunt. »Als du mir gestern Abend davon erzählt hast, vielleicht weißt du es nicht mehr, aber da ging es dir eigentlich nur um die Ehefrau. Parisi hattest du noch gar nicht auf deiner Liste, und selbst wenn ich daran gedacht hätte, es dir zu sagen, hättest du gesagt: auf keinen Fall, das ist ewig lange her. Wenn etwas war zwischen Parisi und Palmer, dann haben sie jedenfalls vor sechs Monaten Schluss gemacht. Sie war jetzt nicht ganz plötzlich eifersüchtig auf Staci Rosalier. Die Ehefrau hatte das bessere, unmittelbare Motiv. Wozu die beiden sonst ins eigene Haus locken ? Außerdem musst du zugeben, dass das nicht gerade üblich ist zwischen uns beiden, einander Informationen vorzuenthalten. Ich wusste nicht, dass es eine Information war. Nächstes Mal erzähl ich dir alles, ohne nachzudenken. Versprochen. Bevor ich
den Mund richtig aufgemacht habe, wirst du mir sagen, ich solle die Klappe halten.« 158 Juhle gefiel es immer noch nicht. Sein Gesicht war keine Spur weicher geworden, außer in dem Moment, als die Küchentür sich hinter seiner Familie geschlossen und er im Bezug auf Malinoff gesagt hatte: »Es war einfach wunderbar, das kann ich dir sagen. Du hättest es sehen sollen. Der Krankenwagen und alles.« Aber danach war der Spaß vorbei. Jetzt lehnte er sich - die Füße hochgelegt, die Augen geschlossen - in seinem großen braunen Ledersessel zurück. In seinem Gesicht zeichneten sich Müdigkeit, Schmerzen und Verärgerung ab. Connies Schritte waren von hinten zu hören, und kurz darauf erschien sie mit einem Glas Wasser und einigen Tabletten. Sie sah ihren Mann an, dann Hunt, der vornübergebeugt auf einem der anderen Sessel saß, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht angespannt, die Augen hell lodernd, der ganze Mann wie auf Kohlen. »Entschuldigt«, sagte sie, »Zeit für die Medizin.« Sie ließ die Pillen in Juhles Hand fallen, wartete, während er sie sich in den Mund stopfte, und reichte ihm dann das Wasser. Schließlich sagte sie, an Hunt gerichtet: »Die machen ihn meistens müde«, und ging hinaus. Als die beiden Männer wieder allein waren, sagte Hunt: »Ich würde nicht wollen, dass sie sauer auf mich ist.« Juhle machte die Augen auf. »Verarsch deine Freunde nicht, dann sind deren Frauen auch nicht sauer auf dich.« »Wie oft soll ich mich denn noch entschuldigen?« Keine Antwort. »Dev, ich brauche deine Hilfe.« »Was? Um Parisi zu finden? Du träumst wohl, Wyatt.« Da er sich plötzlich an Hardys Rat erinnerte, sagte Hunt: »Pass auf. Ich kann dir auch helfen.« Juhle ließ ein kurzes, unterdrücktes Glucksen hören. »Sicher kannst du das. Und du bist hoch motiviert, nicht 158 wahr? Du findest Parisi und übergibst sie mir. Nein, wenn du sie findest, versteckst du sie vor mir. Oder sie versteckt sich selbst, beziehungsweise hält sich weiter versteckt.« »Das wird nicht passieren. Ich geb dir mein Wort darauf. Wenn sie überhaupt auffindbar ist, kann ich dir dabei helfen«, wiederholte er. Seufzend brachte Juhle seinen Liegesessel in die Sitzposition zurück. Noch immer strahlte er hauptsächlich Überdruss aus, aber da war jetzt auch ein Hauch von Interesse. »Warum solltest du das tun, Wyatt? Und zuerst einmal muss ich auch glauben können, dass du es tust.« »Ich hab dir gerade mein Wort gegeben, Dev.« Schließlich und endlich nickte Juhle. »Na schön, dann bleibt noch das Wie.«
Hunt atmete tief aus. »Du weißt, womit ich zu großen Teilen mein Brot verdiene: damit, dass ich Leute finde. Und im Augenblick habe ich einige Helfer darauf angesetzt, mit allen zu reden, die sie kannte, soweit wir sie aufspüren können, ob privat, Firma, Familie, was immer. Wenn sie tot ist, ist sie tot und wird wahrscheinlich irgendwann gefunden werden. Aber als ich sie das letzte Mal gesehen hab, da hatte sie nicht vor, das garantier ich dir, wegen dieser Mordgeschichte zu verschwinden. Jemand hat sie sich geschnappt, und ich bete nur, dass er sie nicht gleich umgebracht hat. Das ist mein Ausgangspunkt. Hast du irgendwas von einer Lösegeldforderung gehört? Habt ihr schon nachgeforscht, ob ihre Kreditkarte belastet wurde? Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass sie auf der Flucht ist?« »Das steht alles unter Verschluss.« »Okay, aber haben wir nun eine Abmachung oder nicht? Ich sag dir alles, ich geb dir alles weiter, sobald ich es erfahre. Aber ich muss wissen, was du für Infos über Parisi hast, jede 159 Kleinigkeit. Falls mir was entgangen ist. Irgendwas, wo ich suchen kann.« »Was sollte das sein?« »Wenn ich das wüsste, müsste ich nicht fragen, oder? Aber verrat es mir, und ich kann dir Parisi voll und ganz abnehmen, dann hast du Zeit für alles andere. Mrs Palmer, wen auch immer. Aber das ist das andere, was ich dir anbieten kann und was du meines Erachtens wirklich gebrauchen kannst.« »Nämlich?« »Einen Partner.« Juhle kniff die Augen zusammen, presste die Lippen aufeinander. »Ich habe einen Partner.« »Richtig. Ich hab ihn kennen gelernt. Ist er dir eine große Hilfe?« »Er ist Polizist.« »Ja, stimmt.« »Ich handle nicht hinter seinem Rücken.« »Natürlich nicht. Handle vor seinen Augen. Stell fest, ob er's bemerkt. Unterdessen können du und ich das tun, was du früher mit Shane getan hast versuchen, hinter diese Sache zu kommen.« Juhle sah auf seine geschwollene Hand hinunter, schloss und öffnete sie ein paar Mal. Schließlich gab er seufzend nach. »Nein. Keine Forderung. Kein Kreditkarteneinsatz. Keine Handybenutzung. Gar nichts. Und warum, glaubst du«, fragte er, »haben wir nicht die geringste Spur von Staci Rosaliers Familie?« »Ich hab also Wes losgeschickt, dass er mit Fairchild und Tombo darüber redet, was sie am Montagabend gemacht haben könnte. Vielleicht wird sie schon dadurch aus deiner 159
Gleichung eliminiert. Inzwischen ist Amy Wu bei Carla«, sagte Hunt. »Parisis Sekretärin Carla? Mit der haben wir heute gesprochen«, sagte Juhle. »Irgendwas dabei rausgekommen?« »So ziemlich das gleiche Tagesprogramm, das du auch schon kennst. Sonst nicht viel.« »Okay, aber apropos Programm, Mickey Dade soll für mich rausfinden, wo die Manions wohnen, damit ich mit Carol, der Frau, Verbindung aufnehmen kann.« »Da brauchst du dich nicht zu bemühen«, sagte Juhle. »Shiu und ich haben heute mit ihr gesprochen. Sie wohnt draußen in Seacliff. Unglaubliche Hütte. Wir sind reinmarschiert, als würde uns der Laden gehören.« »Wie habt ihr das angestellt?« »Es wird nicht viel drüber gesprochen in der Welt draußen, aber ihre sämtlichen Wachleute sind dienstfreie Beamte des Morddezernats von San Francisco.« »Sogar Shiu?« »Nur das Beste für die Manions, Wyatt. Ich bin wahrscheinlich der einzige Cop im ganzen Dezernat, den sie nicht mit Vornamen anredet. Shiu hat ihre Geheimnummer angewählt, und wir bekamen den roten Teppich ausgelegt.« »Siehst du.« Seit zehn Minuten sprachen sie über den Fall, und inzwischen hatte sich alle Reiberei verflüchtigt. Hunt war ganz in seinen Sessel zurückgerutscht, hatte die Beine übereinander geschlagen. »Das sind die Sachen, weswegen wir kommunizieren müssen. Was wusste Mrs Manion denn zu berichten?« »Im Grunde nichts. Sie hat sie gar nicht gesehen. Parisi ist nie bei ihr aufgetaucht. Das ist eine Sackgasse.« 160 »Hat sie euch gesagt, worum es bei ihrem Treffen gehen sollte?« Juhle starrte an die Decke, rief es sich in Erinnerung. »Sie ist ein hohes Tier in einem Komitee - Freunde der Öffentlichen Bibliothek? Irgend so was, Shiu hat's bestimmt aufgeschrieben. Jedenfalls wollen die im Sommer eine Spendenaktion veranstalten, bei der Parisi sozusagen als lokale Berühmtheit den Conferencier machen sollte, und da wollte sie bei ihr mal vorfühlen. Wahrscheinlich hat ihnen ihre Arbeit im Fernsehen gefallen, das neue Gesicht und so.« Hunt atmete heftig aus, schüttelte schließlich den Kopf. »Und dann verlässt sie also ihr Haus, steigt ins Auto und verschwindet?« »Genau. Was anderes wissen wir nicht.« »Habt ihr ihre Telefonprotokolle?« »Wir arbeiten dran, Wyatt. Sie ist erst heute zur Verdächtigen geworden. Bis morgen sollten wir was haben. Spätestens Montag.«
Das war nicht annähernd schnell genug für Hunt, aber er hatte keinen Einfluss darauf. »Und du hast auch mit Palmers Büro gesprochen?« Inzwischen machten die Tabletten und die allgemeine Müdigkeit Juhle zu schaffen. Er brauchte einige Sekunden, bevor er antwortete. »Jau. Wahrscheinlich hat er daran gedacht, Schritte gegen die Gewerkschaft einzuleiten, wenn auch Gary Piersall meint, das sei nur Bluff gewesen.« »Welche Rolle würde Andrea dabei spielen?« »Ich versuch schon den ganzen Tag, hinter diese Verbindung zu kommen. Aber ohne Erfolg.« »Und wenn sie vielleicht glaubte, sie wüsste oder sie hätte herausgefunden, wer Palmer hat beseitigen lassen? Sie geht zu ... Wie heißt er gleich, der Gewerkschaftsboss?« 161 »Jim Pine.« »Richtig. Sie geht zu Pine - oder nicht direkt zu Pine. Vielleicht sogar zu einem ihrer Kollegen bei Piersall, jedenfalls spricht sie ihren Verdacht aus. Sagt, sie würde alles auffliegen lassen, und jemand kommt zu der Ansicht, dass man sie aufhalten muss ...« Juhle unterbrach ihn. »Das sind jetzt ziemlich wilde Spekulationen, Wyatt. Aber mal eine andere Frage: Die Verbindung zwischen der Gewerkschaft und Jeanette Palmer?« »Die wie beschaffen ist?« »Unsichtbar im Moment, außer in Shius Kopf. Ich will dich nach deiner Meinung dazu fragen: Sie findet heraus, dass ihr Mann eine Affäre hat und beschließt, ihn umbringen zu lassen? Sie hat all die Geschichten über Macht und Einfluss der Gewerkschaft gehört, und sie weiß, wo die Leute wohnen, vielleicht auch, wie sie an sie herankommen kann.« Hunt schüttelte den Kopf. »Ich will nichts gegen deinen Partner sagen, Dev, aber trotzdem: nein.« »Einfach nur: nein?« Hunt nickte. »Denk mal nach. Falls sie es überhaupt schafft, den ersten Schritt zu tun, ist sie für den Rest ihres Lebens erpressbar. Wenn die Gewerkschaft den Richter beseitigen will, aus welchem Grund auch immer, dann tut sie das einfach. Dazu braucht sie die Ehefrau nicht. Und wenn die bei ihnen anfragt, dann stellen sie sich dumm und glauben ihr kein Wort. Es ist einfach bescheuert.« »Mein Partner glaubt nicht, dass es bescheuert ist. Er hält es für das, was wahrscheinlich passiert ist. Ich hab versucht, dahinterzukommen, aber ich krieg davon nur wahnsinnige Kopfschmerzen.« Juhle fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, presste sie auf die Stirn. 161 »Ich glaube, in einem hast du Recht, Dev. Andrea hat irgendwas mit der Sache zu tun. Aber sie ist das dritte Opfer, nicht die Täterin.«
»Tja.« Juhle überwand sich und kam aus seinem Sessel hoch. »Das ist deine Theorie. Aber egal, wie es ist - sehen wir zu, dass wir sie finden.«
19
Farrell erreichte Fairchild auf dessen Handy und verabredete sich mit ihm im Terrific Tennis, der großen Sporthalle am Rande des Moscone Centers. Fairchild lieferte sich dort Ballwechsel mit jemandem, der für Farrells ungeübtes Auge wie ein Profi aussah - gekleidet wie ein Profi, Schläge wie ein Profi. Farrell stand hinter dem Plexiglas, das die Plätze von dem daran entlang verlaufenden Flur abgrenzte, nahm Augenkontakt mit dem Produzenten auf, und fünf Minuten später war der Satz - oder die Trainingsstunde - beendet. Schweißgebadet in seinem Tennisdress, ein Handtuch um die Schultern geschlungen, machte Fairchild kurz am Tresen Halt, um sich eine Flasche Mineralwasser zu holen, und setzte sich dann mit Wes an einen hüfthohen Tisch von der Größe einer Waffel. »Sehen Sie den Typen da? Andy Bresson?«, begann er ohne Vorrede. »Vergessen Sie den Gouverneur. Der wahre Terminator, das ist der da. Sechsnull, sechs-null. Beziehungsweise null-sechs, null-sechs.« »Was ist der Unterschied?«, fragte Farrell. »Kommt drauf an, wer aufschlägt.« »Aber Sie haben doch beide aufgeschlagen.« 162 »Ja, das wechselt immer. Ich entnehme daraus, dass Sie selbst nicht spielen.« Fairchild wischte sich die Stirn ab, nahm einen langen Schluck. »So«, sagte er. »Andrea. Immer noch verschwunden, nehme ich an?« Farrell musterte ihn sorgfältig. Fairchild machte sich nicht einmal die Mühe, Interesse zu heucheln. »Sie machen keinen sehr besorgten Eindruck, muss ich schon sagen.« »Das liegt daran, dass ich mir um sie keine Sorgen mache. Bin vielleicht ein bisschen sauer, weil sie die Show heute Abend geschmissen hat. Aber besorgt? Nein.« »Warum nicht?« »Weil sie das alles meinetwegen macht. Sie haben gehört, dass wir letztens ein etwas hitziges Gespräch hatten?« »Ich hab gehört, dass es noch ein bisschen mehr war.« Fairchild schüttelte den Kopf. »Sie hat mir 'ne Ohrfeige gegeben, das war alles. Sie war betrunken und hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ich sie ausnützen würde, weil sich nämlich herausstellte, dass ich ihr nicht groß helfen kann bei dem Versuch, in New York zu landen. Jetzt will sie mir das irgendwie heimzahlen.« »Nur darum geht es?«
»Das ist jedenfalls meine Ansicht. Außerdem springt die Presse drauf an, sie kriegt jede Menge Aufmerksamkeit. Kann sogar eine landesweit verbreitete Nachricht werden, wenn sie sich lange genug versteckt. Dann braucht sie mich nicht mehr. Ätsch bätsch. Verwöhntes, blödes Gör, das ist sie.« »Sie haben sie also nicht mehr gesehen, seit sie Ihnen eine verpasst hat?« »Nein.« »Mit ihr gesprochen?« »Mit mir spricht sie bestimmt nicht. Ich glaube, sie hat sich bei Wyatt Hunt ausgeweint.« 163 »Nun, er hat sie mit zu sich nach Hause genommen, falls Sie das meinen. Jetzt versucht er, sie zu finden. Er macht sich Sorgen. Wir machen uns alle Sorgen, ehrlich gesagt.« Fairchild wollte seine verschwitzte Hand auf Farrells Arm legen, ließ aber dann davon ab. »Wes, spart euch den Kummer. Meine Vermutung ist, sie hat schon bei ihrer Mutter angerufen, vielleicht in der Firma, um Bescheid zu sagen, dass es ihr gut geht. Aber guckt euch inzwischen den ganzen Wirbel an.« Er trocknete sich die Hand ab, wischte sich mit dem Handtuch über das Gesicht. »Glaubt mir, die nimmt sich nur ein paar Tage frei.« »Also waren Sie beide am Montagabend nicht zusammen unterwegs?« »Montag. Sekunde mal. Was haben wir heute?« »Donnerstag.« »Dann hatten wir den Streit am Dienstag, genau. Und jetzt also Montag. Nein. Wir waren zwar verabredet, aber sie ist noch ins Büro gefahren und hat dann von dort angerufen, um abzusagen.« »Hat sie gesagt, warum?« Er zuckte die Achseln. »Ihr muss irgendwas dazwischen gekommen sein.« Farrell kannte Richard Tombo noch aus der Zeit, als dieser ein frisch ernannter Staatsanwalt war. Sie hatten sich wahrscheinlich ein dutzend Mal vor Gericht gegenübergestanden. Seit der Jüngere sich selbstständig gemacht hatte, waren sie sich regelmäßig im Umkreis des Gerichtsgebäudes, etwa bei Lou the Greek's, über den Weg gelaufen. Sie schienen im Wesentlichen das gleiche Restaurant- und Juristereiuniversum zu bevölkern. Tombo praktizierte in einem 163 altertümlichen, messingumzäunten, wunderschön restaurierten Kutschenhaus im Schatten der Transamericapyramide. Er saß in seinem Büro, die Krawatte gelockert, das Jackett auf einen Stummen Diener neben dem Schreibtisch gehängt. Sein Notizblock war voll gekritzelt. Drei leere Kaffeebecher beschwerten seine Schreibtischauflage. Eine Mappe voller Schrifsätze lag aufgeschlagen vor ihm.
»Was soll das heißen, warum ich »immer noch hier< bin ?«, fragte Tombo im modulierenden Ton eines Fernsehsprechers. »Wesley mein Freund, dies ist die Zeit, wo ich mein Geld verdiene.« »Ich dachte, man zahlt Ihnen fürstliche Summen, damit Sie sich im Gerichtsgebäude vor die Kamera stellen.« »Fürstlich genug. Aber das ist in einer, vielleicht zwei Wochen vorbei. Wenn ich währenddessen«, er zeigte auf die vor ihm ausgebreitete Arbeit, »meine Mandanten vernachlässige, bin ich bald ohne feste Einkünfte. Also, kürzer treten ist nicht drin. Ich rechne immer noch sechzig, siebzig Stunden in der Woche ab.« Farrell erinnerte sich an diese Zeit in seinem eigenen Leben, als er gerade bei einer der großen Firmen angefangen hatte. Es hatte ihn fasziniert, dass er das große Geld dafür verdiente, dass er die ganze Zeit arbeitete. Und die ganze Zeit, das hieß wirklich jede wache Minute des Tages, eingeschlossen Wochenenden und Feiertage. Zweitausendzweihundert Stunden im Jahr abzurechnen, das bedeutete einen Zwölfstundentag, Minimum. Während er den relativ jungen, noch immer dynamischen, energiegeladenen, charismatischen Tombo unter die Lupe nahm, fragte er sich, wie lange der das noch würde durchhalten können. Wie lange er das noch würde machen wollen. Wie lange seine Familie es würde ertragen können. »Wenn das jetzt 164 Arbeitszeit ist«, sagte er, »will ich Sie nicht in Anspruch nehmen.« »Keine Sorge«, sagte Tombo. »Wenn's um Andrea geht, tu ich, was ich kann ...« Er griff nach einem der Becher, sah, dass er leer war, stellte ihn wieder ab und seufzte. »Es gibt also immer noch keine Nachricht.« Farrell schüttelte den Kopf. »Ich muss Ihnen sagen, Rieh, es ist einigermaßen erfrischend, Ihre Besorgnis herauszuhören. Ich habe eben mit Fairchild gesprochen, und er glaubt, dass es nur um ihn gehe.« Tombo winkte ab. »Das ist typisch Spencer. Er ist im Fernsehgeschäft. Er glaubt immer, dass es nur um ihn geht.« »Aber Sie sind nicht der Ansicht?« »Nein. Überhaupt nicht. Sie verpasst nicht von sich aus einen angesetzten Drehtermin. Das ist ihr sozusagen körperlich unmöglich.« »Das hatte ich auch immer gedacht. Wir alle - Wyatt Hunt, Amy und ich. Hunt sucht nach einer Möglichkeit, die Polizei zur Zusammenarbeit zu bewegen, aber wie wir zuletzt hörten, denken die, dass sie womöglich auf der Flucht ist.« »Wovor?« »Vor ihnen. Der Polizei.« Er machte eine Pause. »Sie glauben offenbar, dass sie den Richter und seine Freundin getötet haben könnte.« »Nein, im Ernst?«
»Im Ernst. Es wäre daher hilfreich, wenn Sie zum Beispiel noch irgendeine Erinnerung hätten, was den Montagabend betrifft, denn Sie waren ja bis ungefähr fünf Uhr mit ihr zusammen wegen der Tageszusammenfassung, nicht wahr? Erzählen Sie mir doch einfach, dass Sie hinterher noch essen gegangen sind und die Stadt unsicher gemacht haben.« 165 Tombo dachte ein wenig nach, griff noch einmal nach seinem Becher, behielt ihn diesmal in der Hand und erhob sich. »Nein«, sagte er, während er sich an der Anrichte noch einen Kaffee eingoss, »das war am Dienstag, richtig? Sie und ich und all die anderen bei Sam's? Ihr Streit mit Spencer?« »Stimmt. Aber ich spreche vom Montag.« Tombo streckte seinen verspannten Rücken und lehnte sich dann etwas gelöster gegen die Anrichte. »Okay.« Er schloss die Augen, sog mit lautem Schlürfen den Kaffee ein. »Nein«, sagte er schließlich. »Abendessen mit einem Mandanten. Ich weiß es noch, weil Spencer ursprünglich andere Pläne für sie beide gemacht hatte.« »Das hat er mir auch erzählt. Erinnern Sie sich, wer der Mandant war?« »Das wusste ich nie, daher ist es keine Frage des Sich-Erinnerns. Aber ich glaube auch nicht, dass sie es erwähnt hat. Und, äh, Wes? Ich vermute mal, ich muss Sie nicht erst mit dem alten Essen-mit-einem-Mandanten-Trick vertraut machen, oder?« »Hatten Sie das Gefühl, dass es am Montag um so was ging?« »Ich kann nicht sagen, dass es geradezu ein Gefühl war. Die Entschuldigung kam nur halt früh genug, dass es eine Vorbeugemaßnahme gewesen sein könnte, das ist alles. Die New-York-Sache spitzte sich zu. Vielleicht hat sie die Zeichen an der Wand lesen können und wollte die Konfrontation mit Spencer noch aufschieben.« Farrell sagte: »Kennen Sie irgendjemanden, der ihr Böses gewollt haben könnte? Irgendjemanden, vor dem sie Angst hatte?« »Andrea? Angst? Nein. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr irgendjemand Böses wollte.« 165 Aber seine Stirn umwölkte sich kurzzeitig, und Farrell hatte es gesehen. »Was ist?« Tombo zögerte wieder, atmete dann tief durch. »Ach, nur etwas, was Spencer heute Morgen erwähnt hat, nämlich, dass sie vielleicht über irgendeine große Story gestolpert sei, einen Riesenknüller.« »Story worüber?« »Schmutzige Operationen - bis hin zum Mord sogar - aus den Gefängnissen heraus. Allerdings habe ich Spencer erklärt, dass das nicht sein kann, aus zehn Millionen Gründen.« »Aber Andrea glaubte, dass es möglich sei? Oder sogar tatsächlich passiert?«
»Alles, was ich sagen kann, Wes, ist: Mit mir hat sie darüber nie gesprochen.« Wu befand sich mit Jason Brandt und einer verzweifelten Carla Shapiro in deren Wohnung an der Grove Street, Nähe Masonic, als sie Farrells Anruf aus Tombos Büro empfing und er ihr von Andreas möglichem Mandantentreffen am Montagabend erzählte. Sie saßen am Küchentisch im vierten Stock eines etwas betagteren Wohnhauses. Der Fußboden war schwarz-weiß kariertes Linoleum, die Arbeitsflächen waren weiß gefliest. Das beschlagene Fenster über der Spüle ging auf einen offenen Schacht hinaus, und man blickte in fünf Metern Entfernung auf das Küchenfenster einer identischen, spiegelbildlich angeordneten Wohnung. Offenbar gehörte es weder für Carla noch für ihre Mitbewohnerin, die heute Abend ausgegangen war, zu den Prioritäten des Lebens, den Abwasch zu machen und das Geschirr aus der Spüle zu bekommen. Wu klappte ihr Handy zu. »Das war jemand, mit dem wir zusammenarbeiten, Carla. Er sagt, dass Andrea vielleicht auch am Montagabend einen Termin mit einem Mandanten hatte. Wissen Sie irgendetwas darüber?« Die arme junge Frau war ganz ausgelaugt von Sorge und Schlafmangel. Sie hatte ihre adrette Bürokleidung ausgezogen und war stattdessen in einen viel zu großen, unförmigen grauen Trainingsanzug geschlüpft, in dem ihr untergewichtiger Körper völlig zu verschwinden drohte. Ihre geröteten Augen schienen flehend zu sagen, dass sie keine weitere Befragung mehr würde ertragen können, aber dann riss sie sich doch noch einmal zusammen. »Gott, Montag«, sagte sie. »An den Montag kann ich mich gar nicht mehr erinnern.« Weil Andrea sie oft auch außerhalb der normalen Bürozeiten anrief, hatte Carla sich angewöhnt, den auf dem Schreibtischkalender eingetragenen Terminplan stets auch auf ihrem elektronischen Taschenkalender auf dem neuesten Stand zu halten. Sie waren bereits Andreas Verabredungen der letzten zwei Wochen durchgegangen, aber jetzt gab sie pflichtschuldig noch einmal den Montag ein, wanderte hinunter zu den Abendstunden und seufzte: »Da habe ich hier nichts stehen.« »Vielleicht können wir dann über den Dienstag sprechen.« Brandt sprach in verständnisvollem, einfühlsamem Ton. »Das letzte Mal, als Sie Andrea gesehen haben, fangen wir damit an, okay? Und das war am Dienstag, nicht wahr?« »Stimmt. Es war, mal sehen, ungefähr um halb elf oder elf. Wir hatten alle die Nachricht über Richter Palmer gehört, und ich bin in ihr Büro gegangen, um nachzusehen, wie es ihr ging.« Carla sah sie beide an. »Schlecht ging's ihr. Sie saß wie betäubt da.« »Weinte sie?« 166 »Nein. Es war eher ein Schockzustand. Sie meinte, sie hätte ihn noch am Tag vorher gesehen.«
»Na, sehen Sie«, sagte Brandt. »Montag.« Carla nickte. »Okay, okay, jetzt erinnere ich mich. Sie hat an dem Montag mit dem Richter zu Mittag gegessen.« »War das ihre halboffizielle monatliche Statuskonferenz?«, fragte Wu. »Ja. Die haben sie meistens montags abgehalten.« Brandt setzte nach. »Wissen Sie noch, ob sie nach diesem Mittagessen zurückgekommen ist?« Carla schloss kurz die Augen, um die Erinnerung herbeizurufen. Dann sprach sie mit einer gewissen Erleichterung. »Ja, richtig. Sie ist zurückgekommen. Sie hatte eine Besprechung mit Mr Piersall in dessen Büro, was normal war, wenn sie sich mit dem Richter getroffen hatte. Es dauerte eine ganze Weile, länger als üblich.« »Wissen Sie, warum?«, fragte Wu. »Ich glaube, ja. Offensichtlich gab es letzte Woche ein Problem in Pelican Bay dem Gefängnis, nicht wahr -, und der Richter war darüber richtig wütend geworden. Aber zu mir hat sie davon kaum etwas gesagt, eben nur, dass sie sich darüber mit Mr Piersall unterhalten müsste. Und als sie damit fertig war, war es fast Viertel nach drei, und die Limousine von Gerichts-TV kam immer um halb vier, um sie abzuholen.« Plötzlich zuckte sie erschrocken zusammen, und ihr Blick verlor sich in irgendwelchen Fernen. »Oh.« Wu beugte sich vor. »Was ist?« »Ach, wahrscheinlich ist es nichts, es fiel mir nur gerade ein: Betsy Sobo.« »Und wer ist das?« »Eine von den Partnern. Hat ihr Büro in den oberen Etagen.« 167 Wu fragte: »Was ist mit ihr?« »Sie hat zweimal angerufen, während Andrea bei Mr Piersall war. Andrea hatte sie gefragt, ob sie mal mit ihr reden könne. Also hatte sie sich eine halbe Stunde freigehalten und war ein bisschen verärgert, als Andrea immer noch nicht von Mr Piersall zurück war.« Brandt fragte: »Wissen Sie, worüber Andrea sich mit ihr unterhalten wollte?« »Waren sie Freundinnen oder Ähnliches?«, schickte Wu hinterher. Carla schüttelte den Kopf. »Beides nicht. Wissen Sie, wir haben hier hundert Anwälte. Es ist nicht so, dass jeder jeden kennen würde. Ich kann mich nicht erinnern, sie überhaupt schon mal gesehen zu haben. Sie gehört nicht zur Gewerkschaftsgruppe und arbeitet in einem anderen Stockwerk. Ich wusste nicht mal, dass Andrea sie kennt, aber das muss sie wohl.« Wu ließ nicht locker. »Und sie hat sich richtig mit ihr verabredet?« Brandt sekundierte. »Und zwar, nachdem sie von ihrem Treffen mit dem Richter zurückgekommen war?« »Da bin ich mir nicht sicher. Das kann wer weiß wann gewesen sein. Aber es war eine Verabredung für den betreffenden Nachmittag.«
»Aber sie sind an dem Tag nicht mehr zusammengekommen?«, fragte Brandt. »Nein. Das weiß ich genau. Andrea hatte keine Zeit mehr.« »Vielleicht haben sie sich dann abends miteinander in Verbindung gesetzt.« Wu witterte Morgenluft. Wenn Andrea auch nur einen Teil des Montagabends mit dieser Sobo verbracht hatte, wäre sie, was den Mordfall Palmer betraf, 168 entlastet. »Können Sie sie irgendwie erreichen?«, fragte sie. »Jetzt?« Carla sah auf die Wanduhr: zwanzig vor zehn. »Naja, irgendwie sicherlich.« Carla hatte offensichtlich Erfahrung damit, andere Partner ausfindig zu machen. Sie rief die Nachtnummer der Firma an, verschaffte sich Zugang zum Telefonverzeichnis und wählte Sobo an, die als noch junge Teilhaberin natürlich jederzeit erreichbar und niemals außer Dienst war. Wu gab ihre Pagernummer ein, und anschließend warteten sie - wie in einer Art Auszeit - etwa drei Minuten lang. Dann klingelte Wus Handy. »Hier ist Betsy Sobo«, sagte die Stimme. »Was kann ich für Sie tun?« »Hallo, Betsy Hier spricht Amy Wu. Sie kennen mich nicht, und es tut mir Leid, dass ich Sie um diese Zeit belästigen muss, aber ich bin Anwältin bei Freeman Farrell und befinde mich gerade in der Wohnung von Carla Shapiro. Andrea Parisis Sekretärin?« Falls Sobo am Montag sauer auf Parisi gewesen sein sollte, war davon jetzt nichts mehr zu spüren. »O Gott. Hat man sie gefunden?« »Nein. Noch nicht. Das ist es, woran ich gerade arbeite. Sie hatten einen Termin mit Andrea am Montagnachmittag, ist das richtig?« »Ja, ich sagte, ich könne ihr eine halbe Stunde gewähren, aber sie ... hatte plötzlich etwas anderes zu tun und hat's nicht geschafft.« »Meine Frage ist jetzt: Haben Sie einen neuen Termin verabredet? Zum Beispiel für Montagabend?« »Nein.« 168 In der kalten, feuchten Küche sackten Wus Schultern zusammen. »Sie haben sie also nicht am Montagabend getroffen?« »Nein. Weswegen hätte ich sie treffen sollen?« »Das wäre meine andere Frage, warum sie sich mit Ihnen unterhalten wollte.« »Das weiß ich auch nicht so genau. Sie hat mich nur gefragt, ob ich ein bisschen Zeit übrig hätte, damit sie mir ein paar Löcher in den Bauch fragen könne, und ich sagte, klar, wo sie doch so ein großer Star sei und alles.« »Hat sie gesagt, mit was für Fragen sie Sie löchern wollte?« »Wie gesagt, nicht genau. Sie war auf dem Sprung zu einer Sitzung mit Mr Piersall.« »Sie hat Sie also nach ihrem Treffen mit Richter Palmer angerufen?«
»Darüber weiß ich nichts.« Plötzlich ging ihr ein Licht auf. »Moment. Sie meinen den Richter Palmer? Der erschossen wurde? Sie sagen, Andrea hätte ihn am Montag getroffen?« »Ja.« »Oh, mein Gott.« Verzweiflung mischte sich in die Stimme. »Sie wollen sagen, dass sie dann wahrscheinlich auch tot ist, nicht wahr?« »Wir wissen es nicht. Wir hoffen, nicht. Wir versuchen sie zu finden.« Wu zögerte. »Ich nehme an, sie hat seit Montag auch keinen Kontakt mehr zu Ihnen aufgenommen, richtig?« »Ja. Ich meine, ja, das ist richtig. Nein, ich hab nichts von ihr gehört.« »Und Sie haben keine Vorstellung, worüber sie mit Ihnen sprechen wollte?« 169 »Na ja, eine gewisse Vorstellung natürlich schon. Ich dachte mir, dass es irgendwie mit Kindergeldfragen im Zusammenhang mit der Gewerkschaft zu tun hätte. Das war ja ihr Arbeitsbereich.« »Aber von Carla haben wir gehört, dass Sie nicht Teil der Gewerkschaftsmannschaft sind?« »Klar, weiß ich. Wir sind die armen Stiefkinder der Firma. Trotzdem, ich glaube, ich bin so eine Art Wunderkind des Hauses in Sachen Familienrecht.« »Familienrecht?« »Na, Sie wissen schon, Scheidung, Adoption, Sorgerecht, Näherungsverbote ein Spaß ohne Ende.«
20
Als er auf der Rückfahrt von Familie Juhle die bei ihm eingegangenen Telefonate abrief, bekam Hunt eine Nachricht von dem Anrufbeantworter in seinem Büro. »Wyatt Hunt, hier ist Gary Piersall. Ich würde Sie gern sprechen, sobald es Ihnen möglich ist. Es geht um Andrea Parisi, und es könnte sehr wichtig sein.« Er hatte drei Telefonnummern hinterlassen. Hunt erreichte ihn gleich unter der ersten. Piersall war noch in seinem Büro und bat ihn, so schnell dorthin zu kommen, wie es ihm möglich sei. Parken solle er einfach auf einem der für die Partner reservierten Plätze in der Tiefgarage. Sie seien gekennzeichnet. Hunt sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor halb elf. »Wollen Sie mir nicht einfach am Telefon sagen, worum es geht?«, fragte er. 169 »Rufen Sie von einem Handy aus an?«, fragte Piersall. »Ja. Aus meinem Auto.« Es entstand eine Pause. »Nein. Ich glaube, lieber nicht.« Neugierig geworden, legte Hunt auf. Piersall war ein gewiefter, erfahrener Anwalt, daran gewöhnt, es auch mit hohen Tieren aufzunehmen. Wenn so ein Mann plötzlich paranoide Anwandlungen bekam, dann war das als solches
schon mal aufschlussreich. Wenn aber Hunt sich jetzt mit Piersall traf und dabei womöglich etwas erfuhr, was er gleich weiterverfolgen musste, dann konnte es gut sein, dass er von seinem ursprünglichen Plan würde abrücken müssen. Der bestand nämlich darin, mit Mary Mahoney, der Zeugin, die Staci Rosalier identifiziert hatte, während ihrer Nachtschicht im MoMo's zu sprechen. Nach kurzem Überlegen griff er wieder zum Telefon und sprach mit Tamara, um sie und Craig auf die Sache anzusetzen. Sein Gefühl der Dringlichkeit verstärkte sich mit jeder Stunde. Nur falls Andrea bereits tot wäre, würde die Zeit keine Rolle mehr spielen. Sein Aktivismus war vielleicht nur ein Versuch, die Einsicht in die Aussichtslosigkeit noch für eine Weile aufzuschieben, aber er hatte nicht die geringste Neigung, diesen Versuch abzubrechen. Er wollte so viel in Erfahrung bringen, wie er konnte, so schnell, wie er konnte, und dafür jede Quelle anzapfen, die ihm zugänglich war. Es war - für den Fall, dass tatsächlich noch Hoffnung bestand -das Einzige, was vielleicht, möglicherweise, eine gewisse Aussicht auf Erfolg bot. Mehr noch, es war das Einzige, was er tun konnte. Der Garagenfahrstuhl in Piersalls Gebäude hielt automatisch im Erdgeschoss, Hunt stieg aus und joggte zur Anmeldung in der riesigen verglasten Eingangshalle. Piersall hatte bereits nach unten telefoniert und sein Kommen angekün 170 digt, und während Hunt sich eintrug, telefonierte der Wachmann nach oben und meldete, dass er eingetroffen sei. Während er zu einer anderen der vier Fahrstuhlgruppen - Stockwerke 11-22 - zurückjoggte, wollte Hunt fast so etwas wie einen Hoffnungsschimmer erkennen. Piersall hatte ihm offensichtlich etwas mitzuteilen. Der Fahrstuhl entließ ihn in einen Empfangsbereich, der es darauf anlegte, Eindruck zu machen. Der Nebel war noch nicht ganz landeinwärts gezogen, und so glitzerte die Stadt rundum von unten durch die Fensterwände. Eine gewaltige, bis in Bauchhöhe reichende Bar aus ebenmäßigem Rotholz schimmerte sogar in der matten Feierabendbeleuchtung. Mehrere Bäume wuchsen aus riesigen Urnen und warfen feine Schattenmuster über das rötliche Holz und den weichen Teppichboden. Überdreht, wie er war, fuhr Hunt vor Schreck fast zusammen, als Piersall von dem schlichten Schreibtisch glitt, auf dem er im Halbdunkel gesessen hatte. »Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten. Bin Ihnen dafür sehr verbunden. Und wenn ich das gleich klarstellen darf: Sie arbeiten in diversen CCPOA-Angelegenheiten für diese Firma, und was ich Ihnen jetzt zu sagen habe, das sage ich Ihnen als unserem Ermittler - es fällt also unter das Anwaltsgeheimnis.«
Der Mann verströmte pure Anspannung. Hunt hatte ihn zuvor noch nie anders als superkorrekt gekleidet gesehen. Jetzt hatte er nicht nur das maßgeschneiderte Anzugsakko, sondern auch die Krawatte abgelegt und trat Hunt mit offenem Hemdkragen und aufgerollten Ärmeln entgegen. »Möchten Sie sich setzen?« Piersall ging auf eins der einladenden Sofas zu und ließ seinen langen, schlanken Körper darauf niedersinken. Ohne zu warten, bis Hunt es sich be 171 quem gemacht hatte, begann er zu reden. »Ich weiß nicht recht, wie ich dies in einem einigermaßen günstigen Licht erscheinen lassen soll, aber Sie sind inzwischen genug für uns tätig gewesen, um zu wissen, wie es halt manchmal ist.« Er holte Luft, stieß sie dann wieder aus. »Ich musste die Polizei heute Nachmittag belügen.« »In welcher Hinsicht? Andrea?« »Nicht direkt, nein.« Er zögerte. »Im Hinblick auf unseren wichtigsten Mandanten, welcher, wie Sie wissen, die Gewerkschaft der Gefängniswärter ist. Ich habe den Beamten, die den Mordfall Palmer untersuchen, gesagt, die Gewerkschaft habe keinen Vollzugsarm. Aber natürlich haben sie so etwas.« »Davon geht die Polizei sowieso aus, Sir. Ob Sie dieses oder jenes dazu sagen, spielt für die keine Rolle.« »Nein, aber Sie verstehen, in welcher Lage ich mich befinde. Ich vertrete diese Leute. Ich kann ihnen nicht die Polizei auf den Hals schicken. Dafür, dass das nicht geschieht, bezahlen sie uns alle - und zwar recht anständig, wie Sie wissen. Schauen Sie sich um, alles, was Sie hier sehen, stammt aus CCPOAGeldern, alles.« Schweigen. Hunt brauchte nicht hinzusehen, um das bestätigt zu finden, was er bereits wusste. Er sagte: »Sie glauben, dass sie irgendwas mit Andrea angestellt haben.« Wieder ein längeres Schweigen. Piersall presste die Lippen zusammen. »Haben Sie schon mal von Porter Anderton gehört?« »Nein.« Piersall seufzte frustriert. »Hat anscheinend niemand. Porter Anderton war der Staatsanwalt in Kings County, der letztes Jahr zur Wiederwahl anstand. Aber er hat den Fehler gemacht, Vorwürfen nachzugehen, nach denen Wärter in 171 Corcoran Gefangene misshandelt hätten, und diese Fälle zur Anklage zu bringen. Sechsundzwanzig Leute.« »Sechsundzwanzig Wärter? Was haben sie getan?« Ein dünnes Lächeln. »Sie meinen, was haben sie angeblich getan, nicht wahr? Das sind unsere Jungs. Wir verteidigen sie. Diese betreffenden Leute hatten offenbar einen harten Tag draußen mit ihrem Arbeitstrupp gehabt, und als dieser im Gefängnishof wieder aus dem Bus stieg, mussten sie ein bisschen
Dampf ablassen und haben ihre Gefangenen, die übrigens, wie's scheint, immer noch Ketten trugen, gewürgt und zusammengeschlagen.« »Nette Geschichte«, kommentierte Hunt. »Ja.« »Nur so aus Neugier«, sagte Hunt, »wie viele solcher Fälle bekommen Sie pro Jahr?« »Diese Firma? Gegen Gefängnisangestellte aller Art? Ungefähr eintausend.« Hunt stieß einen Pfiff aus. »Jedes Jahr?« »In dieser Größenordnung. Natürlich kommen die meisten Fälle gar nicht über das Ermittlungsstadium hinaus. Aus nahe liegenden Gründen«, fügte Piersall hinzu. »Wenn zum Beispiel Gefangene sich als Zeugen plötzlich doch nicht mehr genau erinnern können, was sie eigentlich gesehen haben.« »Und was ist jetzt mit diesem Anderton?« »Ah ja, Anderton hat sich mit Feuereifer auf diese Leute, die Wärter, gestürzt. Er kam zu dem Schluss, dass sie in Corcoran ein grundsätzliches Problem mit dem Strafvollzug hätten, und da es in seiner Zuständigkeit lag, war er entschlossen, damit aufzuräumen. Er hat auch Kontakt mit George Palmer aufgenommen.« »Und dann ist Anderton irgendwas Schlimmes zugestoßen.« Es war keine Frage. 172 Piersall nickte. »Was für ein Zufall, nicht wahr? Er hatte einen Jagdunfall. Der Schütze konnte nie ermittelt werden. So was kommt vor.« »Was Sie nicht sagen. Und was geschah mit der Anklage?« »Nun, wir sind die Anwälte der Beklagten. Wir haben unsere Arbeit gemacht. Die Verfahren mussten niedergeschlagen werden.« »Ja, aber ein Bus voller Opfer? Hat denn keiner von den anderen Wärtern etwas gesehen?« Piersall zuckte die Achseln. »Die anderen Wärter bestimmt nicht. Wenn Sie irgendeinen Wärter fragen, ob er je einen seiner Kollegen die Grenze zur Brutalität habe überschreiten sehen, werden Sie in jedem Fall ein kategorisches Nein hören. So was kommt nie vor. Und zu ihrer Verteidigung muss ich auch sagen: Wenn es zum Beispiel Ihr Job wäre, einen Hundertzwanzigkilogorilla gegen seinen Willen in die Zelle zu bugsieren, dann würden Sie vielleicht auch in der Wahl der Mittel hin und wieder ein bisschen kreativ werden. Und die Insassen? Die haben letzten Endes alle entschieden, dass es in ihrem eigenen Interesse sei, die Sache einfach auf sich beruhen zu lassen.« »Alle?« Als Antwort brachte Piersall lediglich ein dünnes, verkrampftes Lächeln zustande. »Sie denken also«, sagte Hunt, »dass Palmer und vielleicht auch Andrea ...?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß es nicht. Ich mag eigentlich nicht einmal darüber nachdenken, ehrlich gesagt.« Piersalls Kopf hing tief herab. »Ich arbeite seit fünfzehn Jahren mit diesen Leuten und habe meine ganze Karriere darauf gegründet. Meine Familie hat mit der Familie von Jim Pine 173 zusammen Urlaub gemacht. Ich mag einfach nicht glauben, dass er den Befehl zu etwas gegeben hat, was doch andererseits, wenn ich meine Augen nicht dagegen verschließe, auf der Hand zu liegen scheint.« »Aber warum jetzt?« »Das ist es eben. Es ist der Zeitpunkt, der es plötzlich denkbar erscheinen lässt. Ich weiß nicht, inwiefern Sie es verfolgt haben, aber das Gefängnissystem hat eine schlechte Zeit gehabt in den letzten Wochen. Gerade wurden acht Wärter in Avenal blutiger Machenschaften beschuldigt...« »Was meinen Sie damit?« »Menschliche Hahnenkämpfe. Gladiatorenduelle auf Leben und Tod.« Während Hunt noch versuchte, dieses Ausmaß an organisierter Brutalität in sein Weltbild zu integrieren, fuhr Piersall fort: »Obendrein hatten wir vier Todesfälle von Insassen in Folsom...« »In einer Woche? Wie kam das?« Piersall zeigte wiederum das verkrampfte Lächeln. »Ein böser Sturz. Einmal gab es Komplikationen - das ist jetzt kein Witz - nach einem gezogenen Zahn. Und zwei Lungenentzündungen, die nicht rechtzeitig diagnostiziert wurden, was keine große Überraschung ist, wenn man bedenkt, dass der Oberarzt dort keine Zulassung mehr besitzt, in Krankenhäusern zu praktizieren. Aber, hey«, fügte er mit bitterem Lachen hinzu, »wenigstens gab's keine Schießereien, also hatte es nichts mit den Wärtern zu tun.« »Geschieht das denn oft? Ich dachte, so was kommt hauptsächlich im Film vor, dass Wärter Gefangene erschießen.« »Kommt drauf an, wo man zufällig gerade einsitzt. Hier in Kalifornien passiert es ungefähr alle zwei Monate. Im übrigen Land vielleicht einmal im Jahr, und in der Regel 173 auch nur dann, wenn das Opfer effektiv im Begriff war, jemand anders zu töten. In jedem Fall ist die Situation so schlimm, dass Palmer bereits einen Untersuchungsbeamten und einen Sonderbevollmächtigten ernannt hat, um einen Plan für den Umgang mit Verfassungsfragen bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser Dinge zu entwickeln. Möchten Sie noch mehr hören?« »Ich glaube, ich kann mir ein Bild machen.« »Naja, Sie benötigen aber noch das letzte Stück Information, das gerade am letzten Wochenende akut wurde. Palmer hatte eine Buchprüfung angeordnet...« »Er ist hier also überall beteiligt, ja?«
»O ja. Er ist die entscheidende Figur - oder war es -, kein Zweifel. Jedenfalls bekam er vor einiger Zeit Wind davon, dass in den Gefängnissen Geldwäsche betrieben wird, also hat er eine Prüfung der Gefangenenbücher in Pelican Bay angeordnet.« »Ich weiß nicht, was das ist, Gefangenenbücher.« »Treuhandkonten der Insassen. Alle Gefangenen bekommen eins, damit Freunde oder Familie ihnen Geld zukommen lassen können, um im Gefängnis Sachen zu kaufen -etwas zu essen, Hygieneartikel. Das gibt's ganz legal im hauseigenen Laden. Unter dem Tisch gibt's natürlich auch Zigaretten, Dope, Schnaps, Frauen, Jungen, was immer sie kriegen können.« »Das ist innerhalb der Gefängnisse?« »Richtig.« »In Pelican Bay? Dem härtesten Knast im ganzen Land?« »Genau dem.« »Mit den dortigen Wärtern?« »Ja. Wahrscheinlich leiern sie die Hälfte der Geschäfte an, und bei den anderen kriegen sie Prozente.« 174 Hunt musste einfach etwas gegen die gespannte Atmosphäre tun. »Sie haben sich das nicht etwa alles nur ausgedacht?« Damit brachte er das gequälte Lächeln zurück. »Was hat die Prüfung also ergeben? Die Hälfte der Typen im SHU -dem Hochsicherheitstrakt, ein richtig fieser Schuppen, das können Sie mir glauben -, die Hälfte dieser Typen hatten zwanzigtausend Dollar auf ihrem Konto. Zwei hatten über vierzig.« »Tausend?« »Tausend.« »Davon kann man 'ne Menge Snickers kaufen«, sagte Hunt. »Wie kommen sie an solche Summen?« »Das wird Ihnen gefallen. Über Eme.« »Also, langsam brauch ich eine Spielstandskarte. Wer ist jetzt Emma?« »Nein, nein. EME. Mexikanische Mafia. Böse, ganz, ganz böse Jungs. Die haben ihre Leute überall im Staat, aber hauptsächlich im Süden - ich spreche hier von Straßendealern -, und die zahlen Schutzgeld an die großen Tiere, die im Knast sitzen. Es ist also nur wieder eine Form von Erpressung, scheint aber richtig Geld einzubringen, das dann zurück nach draußen fließt, um weitere Drogen zu finanzieren oder die Familie des Gefangenen zu unterstützen. Ich weiß nicht, vielleicht schicken sie ihre Kinder damit aufs College. Der springende Punkt aber ist, dass es viel Geld ist, und wenn es wieder nach draußen geht, ist es sauber. Über das Gefängnis gewaschen.« »Jesses.« »Tja, nun, nehmen Sie das alles zusammen. Die Buchprüfung war sozusagen der letzte Tropfen, der Palmers Fass zum Überlaufen brachte. Sein Büro hat einen Eilantrag entwor
175 fen, das ganze kalifornische Gefängnissystem unter bundesstaatliche Kontrolle zu stellen, was bedeutet hätte, dass die Gewerkschaft aus dem Spiel gewesen wäre. Es gab einige Zuständigkeitsprobleme zu klären, aber es ist nicht undenkbar, dass er das verdammte Ding inzwischen abgesegnet bekommen hätte.« »Nur, dass er halt umgebracht wurde.« »Ja, davon mal abgesehen.« Die Darlegung des Sachverhalts schien Piersalls Nerven ein bisschen beruhigt zu haben, doch jetzt kam ihm seine persönliche Lage wieder schmerzlich zu Bewusstsein. Er beugte sich auf dem Sofa vor, die Füße flach auf den Boden gestellt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, die Schultern unter der emotionalen Last eingesunken. »Seit heute früh sitze ich in meinem Büro.« Er flüsterte fast, vielleicht aus Angst, selbst hier belauscht zu werden. »Seit ich gehört habe, dass Andrea verschwunden ist, weiß ich einfach nicht mehr, was ich tun soll. Nur dass ich nicht zur Polizei gehen kann, das weiß ich.« Er blickte auf, überbrückte den Raum zwischen ihnen. »Ich will ganz ehrlich sein. Ich hab eine Scheißangst.« Hunt schien das eine sehr berechtigte Reaktion zu sein. Er hätte auch Angst gehabt an Piersalls Stelle. Vielleicht hätte er tatsächlich selbst Angst haben sollen, aber er hatte keine. Seinem Gefühl nach hatten diese ganzen Gefängnisgeschichten nichts mit ihm zu tun. Obwohl ihm klar war, dass das, falls Andrea darin verwickelt war, keineswegs zutraf. Dann steckte er selbst bis zum Hals drin. »Ich nehme an«, sagte er, »dass Pine von dem Antrag des Richters wusste.« Piersall nickte. »Wir haben ihn von meinem Büro aus angerufen, gleich als Andrea mir davon berichtet hatte. Das war Montag am frühen Nachmittag. Und jetzt gucken Sie 175 sich mal das an.« Aus seiner Hemdtasche zog er einen kleinen Zeitungsausschnitt. »Der Chronicle von vorgestern.« Hunt nahm ihn entgegen. Er musste aufstehen und sich unter eine der Lampen stellen, um ihn lesen zu können. GEFANGENER ZULETZT GESEHEN, ALS ER EINE RAUCHEN GING Ein 35-jähriger Exstrafgefangener, der kürzlich gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen hatte, konnte gestern aus San Quentin, von wo aus er ins Vacaville State Prison überstellt werden sollte, entkommen, nachdem er am Nachmittag seine Zelle verlassen hatte, offenbar mit der Erlaubnis, eine Zigarette zu rauchen. Zwar wurde sofort eine Spürhundeeinheit zum Ort des Geschehens geschickt, doch war es den Tieren offenbar nicht möglich, Arthur Mowerys Witterung aufzunehmen, woraufhin das Strafvollzugsamt die Suche auf umliegende Bezirke ausgedehnt hat.
Mowery wurde ursprünglich im Juli 1998 wegen Einbruchs und unerlaubten Waffenbesitzes verhaftet. Seit seiner Verurteilung wurde ihm zweimal eine bedingte Haftentlassung gewährt. Beide Male wurde er wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen erneut verhaftet. Hunt blickte auf. »Der Chronicle von vorgestern. Das heißt, der Ausbruch war am Montagnachmittag.« Piersall hob den Kopf, ließ ihn dann wieder sinken. »Ja, das ist mir auch aufgefallen.« Hunt kehrte zu seinem Sitzplatz zurück. »Was soll ich jetzt tun? Glauben Sie, dieser Mowery ist...?« 176 Piersall hob abwehrend die Hand. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Das ist mein Mantra für diese gesamte Situation. Ich weiß überhaupt nichts über ihn, nur das, was Sie gerade gelesen haben. Aber ich weiß, dass die meisten Aufträge, die Sie für uns erledigt haben, über Andrea liefen. Ihre Sekretärin hat mir erzählt, dass Ihr Büro mehrmals angerufen und sich nach ihr erkundigt hat.« Er holte tief Luft, stellte schließlich Blickkontakt her. »Sehen Sie, Wyatt, ich kann kein zurückverfolgbarer Ausgangspunkt von Vorgängen sein, die dazu führen, dass die Gewerkschaft Schwierigkeiten bekommt. Darüber müssen Sie sich vollkommen im Klaren sein. Aber irgendjemand muss von alldem wissen, wenn es Andrea schadet. Jemand muss die Sache näher untersuchen. Sie schienen mir die nahe liegende Wahl zu sein.« »Okay, das akzeptiere ich. Aber wie interpretieren Sie diese Sache aus der Zeitung?«, fragte Hunt. »Ich glaube nicht ... Ich weiß, dass Jim Pine Mowery einige Monate lang auf der Lohnliste hatte, und zwar vor ein paar Jahren, als er das erste Mal Hafturlaub hatte.« »Auf der Lohnliste für welche Tätigkeit?« Es war offenkundig, dass sich Piersall sehr schwer tat mit dieser Auskunft. Er wischte sich einen Schweißfilm von der Stirn. »Sicherheitsdienst. Das zweite Mal ist er eingerückt, weil er seinen Job mit ein bisschen zu viel Begeisterung angegangen ist. Damals hab ich den Namen das erste Mal gehört. Ich konnte nicht glauben, dass Pine so einen Mann offiziell einstellt, mit allen Unterlagen, und wir haben uns darüber ernsthaft unterhalten. So etwas sollte nicht wieder vorkommen. Sie verstehen, was ich sage?« »Glaub schon.« »Aber er bekam wieder Hafturlaub.« 176 »Während des Wahlkampfes«, sagte Hunt, »als es diese ganzen Probleme gab.« »Richtig. Und seitdem war er draußen, bis letzten Sonnabend, da wurde ihm wieder ein Verstoß zur Last gelegt - ich hab's nachgeprüft, als ich diesen
Artikel gesehen hatte. Ich glaube, um das eben festzuhalten, dass der Ausbruch gute Gründe hatte.« »Was, glauben Sie, ist passiert?« »Ich glaube, sein Aufseher hat ihm den Auftrag gegeben, Palmer zu töten, und der Job war ihm zu heiß. Ich meine, einen Bundesrichter umzubringen, das ist nicht dasselbe, wie ein Wahlkampfbüro aufzumischen. Mowery hat Nein gesagt, und sie haben ihm einen Verstoß in die Schuhe geschoben, als Strafe für die Befehlsverweigerung.« »Und was hat es mit dem Ausbruch auf sich?« »Entweder hat er seine Meinung geändert, weil ihm klar wurde, dass sie es ernst meinen und dass es ihm im Knast sehr dreckig gehen würde, oder er ist auf eigene Rechnung geflohen.« »Dann gibt es diese Vorgänge also wirklich? Und das war es, was Andrea recherchiert hat?« »Vielleicht. Am Montag hat sie mir von dieser Möglichkeit berichtet. Von Mowery wusste sie da aber nichts. Kannte jedenfalls nicht den Namen.« »Haben Sie Ihren Verdacht Pine gegenüber erwähnt?« Piersall zupfte unglücklich an seinem Gesicht herum. »Vielleicht hab ich genug durchblicken lassen, dass er sich einen Reim drauf machen konnte.« Craig Chiurco und Tamara Dade vermittelten den Eindruck eines frisch verliebten Pärchens, und genau das waren sie auch. Zwar kannten sie sich bereits seit zwei Jahren - beide 177 arbeiteten für Hunt - aber dass es zwischen ihnen gefunkt hatte, das war noch keine sechs Monate her. Jetzt hatte Wyatt ihnen zum ersten Mal eine gemeinsame Aufgabe zugewiesen, und es hatte ein bisschen was von einem Date, vor allem hier im MoMo's, wo sie im normalen Leben kaum verkehrt hätten, weil es ihnen zu teuer erschienen wäre. Aber jetzt waren sie hier, auf Spesen, nachdem die Dinnerklientel schon längst wieder verschwunden war. Was nicht heißen sollte, dass der Laden irgendwie leer und öde gewesen wäre - im Gegenteil, das allgemeine Hallo und Bussibussi schien gerade einem Höhepunkt zuzustreben. Was wiederum bedeutete, dass Mary Mahoney ihnen vorerst nicht zur Verfügung stehen konnte. Nachdem sie mit Hunt gesprochen und seine Anweisungen entgegengenommen hatte, hatte Tamara telefoniert und sich davon überzeugt, dass Mary heute arbeiten würde. Und dann hatten sie sich ein bisschen schick gemacht und waren in die Stadt gegondelt. Jetzt saßen sie in der Nähe der Eingangstür, damit sie Mary nicht verpassten, falls diese ihre Verabredung vergaß. Tamara schlürfte einen Cosmo und Chiurco einen Gin Tonic. Es war ein guter Abend zum Prominentengucken weiter hinten hatten sie bereits Robin Williams und Sean Penn in jeweils unterschiedlicher Gesellschaft erspäht. Die Bürgermeisterin Kathy West hielt
an einem großen Tisch bei den Frontfenstern Hof. Sie versuchten gerade die Leute zu identifizieren, die mit ihr am Tisch saßen, als ein überaus gut gebauter Schwarzer auf dem Weg zur Toilette an ihnen vorbeikam. Chiurco zeigte auf ihn und sagte: »Jerry Rice.« »Das ist nicht Jerry.« »Die Nummer achtzig in Person. Wetten?« 178 Sie streckte die Hand aus, Innenfläche nach oben. »Um einen Fünfer«, sagte sie. Er hob seine Hand und schlug sie sanft auf ihre. »Fünf, abgemacht.« Sie wandten sich wieder ihren Drinks zu und lächelten, jeder für sich, ein bisschen vor sich hin, da löste sich Mary Mahoney aus dem Gedränge an der Bar und kam auf sie zu. »Ich weiß nicht, ob es hier in den nächsten paar Stunden noch ruhiger wird, deshalb hab ich Martin - meinen Chef - gefragt, ob ich mal kurz Pause machen könnte, weil es um Staci geht. Er hatte nichts dagegen, aber es darf nicht lange dauern, okay?« Es war kein anderer Hocker mehr frei, daher stand Chiurco auf und bot ihr seinen an, während er sie gleichzeitig fragte, ob er gerade eben Jerry Rice habe vorbeikommen sehen. »Oh ja, das ist er. Er ist andauernd hier.« Chiurco warf seiner Freundin ein selbstgefälliges kleines Grinsen zu, und die Kellnerin sagte: »Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir ihn verkauft haben, wissen Sie. Das war so bescheuert.« »Ich weiß nicht«, sagte Chiurco. »Ich würde doch denken, dass verkaufen besser ist, als all diese Jungs zu kaufen, die am Ende ihrer Karriere stehen, so wie es die Giants machen.« »Ja, aber Jerry. Das ist ja, als hätten sie Montana verkauft.« »Ich hätte keinen von beiden je verkauft«, sagte Tamara. »Und jetzt würde ich Jerry spielen lassen, bis er keine Lust mehr hat, und dann würde ich ihn zum Trainer machen und ihn für immer dabehalten.« »Und dann das Stadion nach ihm umbenennen.« Chiurco hatte Spaß, nutzte die Gelegenheit, das Eis auf natürliche Weise zum Schmelzen zu bringen. »Das gefällt mir.« Mahoney nickte. »Rice Park? Rice Field?« 178 »Wie wär's mit The Rice Field?«, fragte Tamara. »The Rice Field.« »Genial«, sagte Mahoney. »Wir erzählen's ihm gleich, wenn er zurückkommt.« »Aber er ist halt kein Niner mehr«, sagte Chiurco. Mahoney machte ein trauriges Gesicht. »Ach ja. Das.« Fast ohne Unterbrechung wechselte sie das Fahrwasser. »Also, ihr sagtet, ihr arbeitet für einen Privatdetektiv, nicht für die Polizei?«
»Richtig«, sagte Tamara. »The Hunt Club.« Sie hatte eine Visitenkarte mit ihrem Namen und zeigte sie vor. »Im Augenblick sind wir auf der Jagd nach Andrea Parisi.« Man konnte Mahoneys Gedanken und Gefühle jederzeit in ihrem Gesicht ablesen. Im Moment war dort ein Fragezeichen zu sehen. »Die Prozessfrau? Ich hab das im Fernsehen gesehen, aber eigentlich hab ich nicht... Ist sie wirklich verschwunden ?« »Warum würden Sie's nicht glauben wollen?«, warf Chiurco ein. Mahoney antwortete mit einem Achselzucken. »Kein bestimmter Grund. Ich mein, sie hat nur eine Sendung verpasst, oder? Und es ist nur auf einem Sender gelaufen. Ich dachte, es wäre eher so eine Quotengeschichte.« »Nein«, sagte Tamara. »Sie wird wirklich vermisst. Seit gestern Nachmittag.« »Und hat sie irgendwas mit Staci zu tun?« Tamara blieb zurückhaltend. »Wir wissen es nicht. Deshalb versuchen wir es ja herauszufinden.« »Offenbar«, sagte Chiurco, »hatte Staci eine Visitenkarte von Andrea in ihrer Brieftasche.« »Das ist alles? Das ist die ganze Verbindung?« Mahoney griff in ihre Schürze, zog einen dicken Stapel Visitenkarten 179 hervor und legte ihn auf den Tisch. »Das ist von heute Abend«, sagte sie. »So geht es jeden Abend.« Sie nahm Tamaras Karte und legte sie oben auf den Stapel. »Jetzt sind Sie auch dabei.« Sie wandte sich zu Chiurco. »Haben Sie auch eine? Dann können Sie sich auch noch einkaufen. Ich hoffe, das ist nicht alles, was Sie in der Hand haben.« Cool und elegant nahm Tamara einen Schluck aus ihrem Glas. »Kann man so nicht sagen.« Chiurco beugte sich vor, die Ellbogen auf dem hohen Tisch abgestützt. »Also, wir versuchen herauszufinden, ob es eine Verbindung zwischen allen dreien gab. Falls Staci Andrea kannte, zum Beispiel.« »Darüber hat sie mir nie was gesagt.« Mahoney spürte jetzt sicheren Boden unter den Füßen. »Und das hätte sie. Ganz bestimmt, glaube ich. Sie war ein großer Fan von Gerichts-TV.« »Sie waren also eng befreundet?«, fragte Chiurco. Unvermittelt drohten die wässrigen Augen überzulaufen, und sie wischte unter ihnen entlang. Sie warteten. Mahoney seufzte, seufzte noch einmal, zuckte dann die Achseln. »Ich war nett zu ihr, als sie hier anfing, und das war vielleicht nicht die Regel gewesen in ihrem Leben bis dahin. Das war jedenfalls mein Eindruck.« »Sie kannten sie also nicht, bevor sie hier zu arbeiten begann?«, fragte Tamara. »Nein.«
»Wissen Sie, ob sie hier in der Stadt aufgewachsen ist?« »Die letzten paar Jahre hat sie jedenfalls hier gelebt. Davor weiß ich nicht.« »Weil sich nämlich«, fuhr Tamara fort, »noch niemand aus ihrer Familie gemeldet hat. Der Polizei ist es bisher nicht gelungen, Näheres über sie in Erfahrung zu bringen.« 180 Die Kellnerin runzelte die Stirn. »Nichts?« »Nicht das Geringste.« »Das kann doch nicht wahr sein.« Ihr Gesicht hellte sich für einen Augenblick auf. »Aber Moment mal. Ich weiß, sie hat... hatte, meine ich, einen jüngeren Bruder. Sie hatte ein Bild von ihm in ihrem Zimmer.« »Sind Sie ihm je begegnet?« »Nein.« »Was ist mit seinem Namen?« Tamara führte die Befragung fort, während Chiurco mit verschränkten Armen dastand und sie machen ließ. »Den kenne ich nicht«, sagte Mahoney. »Sie hat ihn einfach nur als ihren Bruder bezeichnet.« Sie blickte zur Bar hinüber. Ihre Pause hatte allmählich lang genug gedauert, und diese Sache mit dem Bruder würde Staci nichts nützen und auch nicht dazu beitragen, Andrea zu finden. »Wir haben eigentlich nie über ihn gesprochen. Ich sah halt nur das Bild und fragte, wer das sei, und sie sagte: >Oh, das ist mein Bruder.< Wir haben das nicht weiter vertieft. Er war einfach ihr Bruder.« »Das hier wird wohl nicht ihr erster Job als Kellnerin gewesen sein.« Chiurco schlug einen anderen Weg ein, versuchte Mary noch einmal ein Stückchen mitzunehmen. »Nein. Sie hat vorher, glaube ich, in einem Thai-Restaurant an der Ocean Avenue gearbeitet. Sie hat das City College besucht und wohnte in dem Teil der Stadt, bevor sie die Wohnung hier bekam.« »Was heißt hier?«, fragte Tamara. Mahoney zeigte rückwärts aus dem Fenster. »Gleich da drüben. Eine der Eigentumswohnungen auf der anderen Straßenseite. Der Richter hat sie ihr besorgt.« »Wir sind fast fertig, Mary«, sagte Chiurco. »Können Sie noch einmal versuchen sich zu erinnern? Hat Staci in Ihrer 180 Gegenwart jemals Andrea Parisi erwähnt, in welchem Zusammenhang auch immer?« Sie presste ihre kollagenverstärkten Lippen zusammen, während sie konzentriert nachdachte. »Tut mir Leid, aber ich kann mich wirklich an nichts dergleichen erinnern.« »Okay, letzte Frage«, sagte Tamara. »Gibt es, was Staci betrifft, noch irgendetwas, was uns vielleicht weiterhelfen könnte? Können Sie sich irgendeinen Grund denken, warum jemand sie würde umbringen wollen?«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass irgendjemand sie umbringen wollte. Ich denke, es muss um den Richter gegangen sein, und sie war halt zufällig auch anwesend.« »Aber war sie, soweit Sie wissen«, hakte Chiurco noch einmal nach, »vorher je da gewesen, in seinem Haus?« »Nein, da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Das hätte sie erwähnt.« Tamara schien die Frage ebenso an sich wie an Mahoney zu richten: »Warum also plötzlich?« »Ich weiß es nicht.« Mahoney lächelte müde. »Das alles, wissen Sie ... Ich versteh es nicht.«
21
Hunt und Piersall fuhren schweigend hinunter zur großen Empfangshalle, marschierten dann um die Ecke zu dem Garagenfahrstuhl und stiegen ein. Hunt drückte auf die »4«, wo er, seiner Erinnerung nach, geparkt hatte. Immer noch ohne ein Wort zu sagen, streckte Piersall hinter ihm den Arm aus und drückte auf die »5«. 181 Als die Tür aufging, trat Hunt heraus und blickte rasch in beide Richtungen. Der einzige Wagen auf dieser Parkebene war ein schwarzer Miata. Da er sein eigenes, leicht zu erkennendes Auto nirgends sehen konnte, schlüpfte er in den Fahrstuhl zurück. Bei der »5« stiegen sie zusammen aus. Um diese Zeit waren ihre Autos die beiden einzigen auf dieser Ebene. Piersall hatte sein Sakko wieder angezogen und trug einen großen Aktenkoffer. Er ließ den Kofferraum seines Lexus aufspringen, stellte den Aktenkoffer hinein und ging dann zur Fahrertür. Dort blieb er kurz stehen und schien noch etwas sagen zu wollen, dann aber bedachte er Hunt lediglich mit einem kaum merklichen Kopfnicken, öffnete die Tür und stieg ein. Hunt kletterte in sein eigenes Auto, saß hinter dem Steuer und versuchte eine Entscheidung darüber zu treffen, was als Nächstes zu tun war. Nur verschwommen registrierte er, wie neben ihm Piersalls Wagen zurücksetzte und davonfuhr. Während Piersalls Mitteilungen über die CCPOA zwar äußerst relevant in Bezug auf den Mord an Richter Palmer sein mochten, konnte Hunt doch nicht recht erkennen, inwieweit sie ihm bei der Suche nach Andrea hilfreich sein konnten. Er zog den Zeitungsausschnitt aus der Tasche, las ihn zum vierten oder fünften Mal und überlegte angestrengt, was das zu bedeuten hatte. Falls es überhaupt irgendetwas bedeutete. Falls dieser entflohene Häftling Mowery, wie Piersall zu glauben schien, etwas mit dem Mord an Palmer zu tun hatte und falls ferner Mowery aus irgendeinem Grunde sein Augenmerk auf Andrea gerichtet hatte, dann gab es
für Hunt kaum einen Zweifel daran, dass sie in der Tat inzwischen ebenfalls tot war. 182 Aber davor stand ein doppeltes Falls. Keins davon berücksichtigte die Realität, in der Hunt sich zu bewegen entschieden hatte - dass sie noch am Leben war. Obwohl es mit jeder verstreichenden Stunde schwieriger wurde, diese Haltung aufrechtzuerhalten. Er wusste, dass er gleich morgen früh Juhle anrufen und die von Piersall erhaltenen Informationen an ihn weiterreichen musste, aber auch das würde ihn seines Erachtens bei der Verfolgung seines vordringlichen Zieles nicht weiterbringen. In welchem er nun langsam selbst eher eine irrationale Hoffnung als eine realistische Möglichkeit sah. Aber bevor sie nicht gefunden war, solange sie theoretisch noch am Leben sein konnte, durfte er die Suche nicht abbrechen. Es war nach elf Uhr. Und wie er da so allein in seinem Auto tief im Innern des Gebäudes saß, klärte sich plötzlich, wie in einem Erkenntnisschock, ein Unbehagen, das seit einiger Zeit an ihm genagt hatte. Er warf den Motor an und knallte den Rückwärtsgang rein, schoss mit quietschenden Reifen aus der Parktasche, jagte bis zum Ende seiner Reihe, folgte dem Ausfahrtspfeil nach oben. An der Einfahrt zur vierten Parkebene scherte er wieder aus, fuhr zur Fahrstuhlgruppe und hielt neben dem Miata, den er kurz wahrgenommen hatte, als auf der Fahrstuhlfahrt nach unten die Türen aufgegangen waren und er einen Schritt heraus gemacht hatte, um nach seinem Auto zu suchen. Er stieg aus seinem Cooper, ging zum Fahrerfenster des Miatas und spähte hinein. Nichts zu sehen, anhand dessen man den Besitzer hätte identifizieren können - keine Handtasche, kein Kleidungsstück, kein Plunder irgendwelcher 182 Art. Nichts als schwarze Ledersitze. Er ging zum Heck und studierte das Nummernschild und versuchte sich dabei zu erinnern, ob er überhaupt einen Blick auf Andreas Nummernschild geworfen hatte, als der Wagen bei ihr in der Garage stand. Aber er konnte beim besten Willen nichts erkennen, was er schon einmal gesehen hatte. Aber sein Adrenalin brodelte, und obwohl es irrational war, wusste er mit Bestimmtheit: Dies war ihr Auto. Das Szenario flackerte durch seinen Kopf, Einstellungen eines Stummfilms. Sie war doch noch am Mittwoch ins Büro gekommen, war nicht direkt zu den Manions gefahren. Der Täter hatte sie daher mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht sofort getötet - schon gar nicht mit einer Schusswaffe, mitten am Nachmittag in einem zu diesem Zeitpunkt fraglos ziemlich belebten Parkhaus. Aber er hatte sie irgendwohin mitgenommen, wo sie möglicherweise immer noch am Leben war.
Hunt musste mit dem Fahrstuhl in die Eingangshalle fahren und nach draußen gehen, bevor er ein Netz auf seinem Handy bekam. Auf dem dunklen, menschenleeren Bürgersteig stehend, lauschte er dem Klingeln am anderen Ende der Leitung. »Komm schon, komm schon, komm schon. Nimm ab! Connie ? Ich weiß, tut mir Leid, aber es ist wichtig. Ich muss mit Dev sprechen.« Juhle schäumte nicht gerade über vor Begeisterung darüber, dass er zu dieser unchristlichen Zeit mithilfe der Zulassungsnummer herausfinden sollte, wem das Auto gehörte, aber als er Hunt dann zurückrief, nachdem er in der Zentrale einen Nachtdienstler erreicht hatte, der die zweiminütige Computersuche für ihn durchführte, klang er doch ziemlich wach. Es war in der Tat Andreas Auto. 183 Während er darauf wartete, dass der erste Polizeiwagen eintraf, nutzte Hunt die Gelegenheit, per Telefon seine Hilfstruppe zu inspizieren. Farrell, sehr clever, war nicht erreichbar, hatte seine Telefone abgeschaltet oder ausgestöpselt, und Hunt hinterließ eine Nachricht des Inhalts, dass am nächsten Morgen Punkt acht Uhr eine Einsatzbesprechung in der Sutter Street stattfinde. Amy und Jason waren noch wach und sahen fern; sie hatten kein rechtes Glück bei Carla Shapiro gehabt. Amy erwähnte das ausgefallene Treffen mit Betsy Sobo, möglicherweise familienrechtliche Gewerkschaftsangelegenheiten betreffend, das Parisi für Montagnachmittag anberaumt und dann aber verpasst hatte. Brandt und Wu berichteten ferner, dass inzwischen alle lokalen Fernsehsender auf die Story von Andreas Verschwinden eingestiegen seien und ihr viel Aufmerksamkeit widmeten - sie sähen gerade die Spätausgabe von News 4, und die Sache mit Andrea sei dort die Spitzenmeldung. Amy hatte auch mit Parisis Mutter telefoniert, die bereits von diversen Medienleuten behelligt worden war. Sie sei ziemlich außer sich und habe keine Ahnung, wo ihre Tochter sei oder was mit ihr passiert sein könne. Tamara und Chiurco konnten auch nicht allzu viel vorweisen, was eine mögliche Verbindung zwischen Staci Rosalier und Andrea Parisi betraf. Erst jetzt fiel Hunt ein, dass er noch gar nichts von Mickey Dade gehört hatte, der momentan ebenfalls nicht auf Handyempfang zu sein schien. Aber Mickey war auch sonst der unzuverlässigste seiner Mitarbeiter, und wahrscheinlich hatte er es an diesem Abend einfach nicht mehr rechtzeitig bis raus zu den Manions geschafft. 183 Hunt hinterließ eine Nachricht, in der er Mickey bat, auf der Ocean Avenue nach thailändischen Restaurants zu suchen, wo eventuell mal eine Kellnerin namens Staci Rosalier gearbeitet hatte. Er wusste allerdings, dass, falls diese Spur je heiß werden sollte, Juhle Mittel und Wege finden würde, ein
Geschwader von Leuten darauf anzusetzen, sodass Mickeys Bemühungen weitgehend überflüssig wären. Aber Hunt fiel keine andere Aufgabe für den Taxifahrer ein, bevor dann endlich der erste Streifenwagen eintraf. So viel Zeit war eigentlich gar nicht vergangen, seit er Juhle aufgeweckt hatte - vielleicht zwanzig Minuten. Er empfing das Polizeiauto an der Einfahrt zur Garage und lotste es nach unten. Die uniformierten Beamten ließen ihn sein eigenes Auto beiseite fahren, während sie das gelbe Klebeband einmal rund um den Miata auslegten. Sie behandelten den Wagen wie einen potenziellen Tatort, was er ja vielleicht auch war. Juhle fuhr acht oder zehn Minuten später vor - ohne Shiu, ohne Kommentar. Ein CSI-Team war unterwegs, um schon mal eine Kurzuntersuchung durchzuführen, bevor Andreas Cabrio dann in die Stadt transportiert wurde. Falls sich irgendwelche Spuren am oder im Auto befanden, würden sie sie finden, da war Juhle sich sicher. Zu dieser frühen Morgenstunde musste noch kein neugieriges Publikum in Schach gehalten werden, daher schickte er die uniformierten Beamten wieder fort. Als sie davongefahren waren, hievte er sich auf die Motorhaube des Familienautos, mit dem er gekommen war, und sagte: »Also, wie schätzt du die Sache ein?« Hunt stellte sein Szenario kurz vor. »Du meinst, jemand hat sie hier gekidnappt?« 184 »Das ist meine Vermutung. Die haben hier Videokameras an den Fahrstühlen, die von der Eingangshalle aus gesteuert werden; wir können es also nachprüfen, sobald wir da jemanden zu fassen kriegen. Aber es ist ausgeschlossen, dass sie es überhaupt bis in ihr Büro geschafft hat. Jemand hätte sie gesehen.« »Und wenn sie hier einfach nur geparkt hat, dann durch die Garage hier zurück- und raus auf die Straße gegangen ist? Und dann wer weiß wohin?« »Wäre nicht völlig auszuschließen, nehme ich an«, sagte Hunt. »Aber warum sollte sie das tun?« »Vielleicht hat sie, nachdem sie von zu Hause weg ist, irgendwas gehört oder mit irgendjemand geredet und ist zu dem Schluss gekommen, dass sie besser verschwindet.« »Dann will sie also verschwinden und lässt als Erstes gleich mal ihre beste Möglichkeit stehen, um aus der Stadt zu kommen? Und außerdem geht sie nicht an den Geldautomaten und benutzt ihre Kreditkarten nicht?« Hunt schüttelte den Kopf. »Es gibt nur zwei Möglichkeiten, Dev. Entweder hat sie jemand abgeholt, oder sie wurde entführt.« »Ich will nicht sagen, dass ich anderer Meinung bin, aber wir kommen immer wieder auf das Warum zurück. Wenn jemand sie umbringen wollte, dann hätte er sie halt eben umgebracht. Wenn es eine Entführung war, wo ist dann
die Lösegeldforderung? Willst du behaupten, jemand habe sie entführt, weil er sie sich mal in Ruhe angucken wollte oder was ? Die logischste Möglichkeit ist, gib's zu, dass sie auf der Flucht ist oder sich umgebracht hat. Und wenn du einen besseren Grund weißt, warum sie das getan haben soll, als den, dass sie Palmer und Staci ermordet hat, dann lass hören.« Hunt zögerte, aber jetzt war Juhle ihm immerhin schon bis zu diesem Punkt gefolgt. Er musste ihm von Piersall und 185 der CCPOA erzählen. Scheiß auf die anwaltliche Schweigepflicht. Aber bevor er richtig anfangen konnte, wurde er vom Eintreffen der Spurensicherung unterbrochen. Als die Experten sich an die Arbeit machten, begann Hunt von Neuem, und als er fertig war, hatten sie die Außenseite des Wagens zwecks Auffindung von Fingerabdrücken eingestäubt und machten nun Anstalten, den Miata Richtung Polizeiwerkstatt abzuschleppen, um dort eine sorgfältige Untersuchung des Wageninnern durchzuführen, insbesondere im Hinblick auf Blutspuren und Rückstände eines Schusswaffengebrauchs. Juhle lief auf und ab, die Mitteilungen über die Gefängniswärtergewerkschaft hatten Wirkung gezeigt. »Du sagst, dass Palmer diesen Antrag, das ganze Gefängniswesen unter Bundesaufsicht zu stellen, schon am Montag entworfen hat? Ich hab mit seiner Sekretärin gesprochen, und die hat kein Wort davon gesagt.« »Hast du sie gefragt?« »Ich hab gefragt, ob sie von irgendjemandem wüsste, der einen Grund hatte, den Richter umzubringen.« »Vielleicht hat sie den Antrag nicht in diesem Licht gesehen. Vielleicht dachte sie, es sei nur ein Bogen Papier wie all die tausend anderen, die sie schon voll getippt hat. Die langsamen Mühlen der Justiz.« »Wie hast du denn das alles erfahren?« »Wichtiger als das ist doch, ob es wahr ist. Ich weiß natürlich, dass du das alles überprüfen wirst, aber du kannst dir auch die Zeit sparen: Es ist wahr.« »Und Jim Pine hat Wind davon bekommen und jemanden geschickt, einen Hafturlauber, um dafür zu sorgen, dass der Antrag nicht durchgeht? Das ist die Theorie?« Hunt nickte. 185 »Was ist mit dem Mädchen? Staci. Das war einfach Pech, dass sie zur selben Zeit gerade da war? Damit hab ich so meine Probleme.« »Ich auch. Mir fallen aber auch auf Anhieb zehn Erklärungsmöglichkeiten dazu ein.« »Alle zehn aber, da wette ich, eine Variation des Grundthemas Glück, Pech oder Zufall.« In seiner Unzufriedenheit drückte Juhle geistesabwesend gegen die Schmerzquelle in seiner Schulter. »Aber lassen wir das mal für einen
Moment beiseite und kommen wieder auf Parisi. Als der Richter ermordet worden war, hatte sie, sagen wir, das Gefühl, dass Pine dahinter stecken muss. Und was dann? Meinst du, sie ist zu Pine gegangen und hat ihn danach gefragt? So was macht nur ein Vollidiot, und das war sie nicht.« »Wie ist es damit: Sie spricht mit Piersall, stellt die Idee gewissermaßen zur Diskussion, und der lässt dann gegenüber Pine so viel durchblicken, dass der Bescheid weiß.« »Das ist wieder ziemlich weit hergeholt«, sagte Juhle. »Du neigst in diesem Fall zum Spekulieren.« »Ich finde nicht, dass es reine Spekulation ist, eine Verbindung zwischen der Gewerkschaft und Parisi zu sehen, Dev. Sie hat für sie gearbeitet. Der Richter hat ihnen schwer zugesetzt. Das Timing ist perfekt. Es passt alles.« »Staci Rosalier passt nicht hinein.« »Ich sage noch einmal: Pech gehabt. Oder - auch wenn du dich damit nicht anfreunden kannst - Zufall.« »Nein, ich weiß was Bessres Wie war's damit?« Juhle hielt einen Finger hoch. »Erstens, Rosalier hatte Parisis Karte.« Juhle zeigte auf den Miata, hob einen zweiten Finger. »Zweitens, ein Auto, das diesem hier ziemlich ähnlich sah, stand an der Straße vor dem Haus des Richters, als er erschossen wurde. Drittens, egal, was du denkst, der Mord 186 an dem Richter und Staci hatte nichts Professionelles an sich. Wir haben einen glatten Fehlschuss und keinen einzigen zusätzlichen Hinrichtungsschuss sicherheitshalber. Das war kein Profi. Viertens, Parisi könnte, wie du selbst zugibst, eine eifersüchtige Frau sein mit jedenfalls einer gewissen Neigung zur Gewalt - die Ohrfeige! - und einer Waffensammlung. Ferner hat sie vielleicht gerade an diesem Tag erkennen müssen, dass sie doch nicht, anders als sie die letzten sechs Monate über geglaubt hatte, viereinhalbtausend Kilometer zwischen sich und den Mann legen kann, den sie immer noch liebt und den sie aus beruflichen Gründen andauernd treffen muss. Und schließlich, ebenfalls an diesem Tag, dem Montag, geht sie Mittagessen und trifft den Richter und reimt sich zusammen, dass das süße kleine Ding, das ihn bedient, die Frau ist, die er jetzt an ihrer Stelle vögelt! Glaubst du nicht, dass sie das ein klein bisschen wütend macht?« Juhle, der jetzt wieder auf und ab lief, hatte sich in Fahrt geredet. »Herrgott, Wyatt, je mehr ich darüber nachdenke, desto sympathischer wird mir die Frau. Und dann macht sie die Fliege.« Hunt lehnte an Juhles Auto und schwieg. Das war eine eindrucksvolle Litanei, das musste er zugeben. Piersalls Theorien und Besorgnisse über die Gewerkschaft, die scheinbare Geradlinigkeit der Krisenentwicklung, die den Richter veranlasst hatte, seinen Antrag zu stellen, all dem fehlte die Direktheit und Leidenschaftlichkeit von Juhles Argumentation. Der einzige Grund, aus
dem Hunt sich nicht entschließen konnte, ihr zu folgen, war der, dass er es nicht wollte oder - da war er sich nicht ganz sicher - es nicht ertragen konnte. »Und weißt du, was ich danach getan hätte?« Juhle blieb vor ihm stehen. »Ich hätte versucht, hart zu bleiben, die 187 Sache durchzustehen, weiterzumachen mit der Arbeit, mit meinem Leben. Aber gleich am ersten Abend betrinke ich mich dermaßen, dass ich aus den Latschen kippe. Und am nächsten Tag bin ich so durcheinander und geistesabwesend, dass ich losfahre zu einem Termin und plötzlich auf meinem Parkplatz bei der Arbeit lande, weil ich unterwegs vergessen habe, wohin ich eigentlich wollte und was ich vorhatte. Und da wird mir klar, dass es aussichtslos ist. Ich bringe es einfach nicht. Man wird mich erwischen, verhaften und vor Gericht stellen, und dann werde ich den Großteil, wenn nicht mein ganzes restliches Leben hinter Gittern verbringen - und wie das ist, das weiß kaum jemand besser als ich, weil ich für diejenigen arbeite, die einen dann bewachen.« »Du meinst, sie hat sich umgebracht.« Juhle nickte energisch. »Ich meine, sie ist hier auf ihren eigenen zwei Beinen rausmarschiert und durch die Gegend gelaufen, und als es dunkel wurde, da ist sie irgendwann draußen bei der Golden Gate Bridge gelandet und bis ungefähr zur Mitte weitergegangen. Das oder etwas sehr Ähnliches ist meines Erachtens passiert, Wyatt, und falls es so war, tut es mir ehrlich Leid für dich. Okay, also, werde ich gleich am Morgen die Sicherheitskameras hier im Gebäude überprüfen? Werde ich mich mit Mr Pine unterhalten und dann noch mal mit Jeanette Palmer und mich vielleicht sogar dafür interessieren, wie unser Mr Mowery es geschafft hat, sich unbemerkt aus einem Hochsicherheitsgefängnis zu verabschieden, und was er seither mit seiner kostbaren Freiheit angefangen hat beziehungsweise immer noch anfängt? Darauf kannst du wetten. Alles das werde ich tun. Aber bevor ich nicht das kleinste Stückchen eines handfesten Beweises finde, das irgendwen aus dem Umfeld 187 der Gewerkschaft oder sonst woher mit diesen Morden in Verbindung bringt, werde ich mich an das halten, was am meisten Sinn ergibt, ohne dass Zufall oder Pech mit reinspielen. Und das ist Andrea Parisi. Und ich will verdammt noch mal hoffen, dass ich Beweise finde, für diese oder jene Theorie. Welche, ist mir egal. Ich will nur Beweise.« Schließlich versuchte Juhle es mit einem Lächeln. »Aber zuerst mal, glaube ich, fahr ich wieder nach Hause und versuch, ein bisschen Schlaf einzuschieben, solange noch Zeit dafür ist. Und du solltest vielleicht das Gleiche machen.« »Ich werde es in Erwägung ziehen«, sagte Hunt.
Sie sagten sich Gute Nacht, stiegen in ihre Autos und fuhren aus der Tiefgarage heraus. Oben an der Ausfahrt blendete Hunt seine Scheinwerfer auf und hupte, dann sprang er aus dem Cooper und lief zu Juhles Fenster. »Kann ich dir noch eine letzte Frage stellen?« »Nur zu, du tust es ja sowieso.« »Ich weiß, du hast einen Antrag laufen, um Parisis Anruflisten zu überprüfen, und wirst sie sicher bald vorliegen haben. Aber ich weiß auch, dass du jemanden kennst, der Sicherheit für SBC und Cingular und jede Mobilfunkfirma der Welt macht und den du jetzt sofort anrufen könntest. Es war nicht das erste Mal, ich hab's selbst erlebt. Was ich haben will, dürfte keine fünf Minuten in Anspruch nehmen.« »Du willst mich verarschen.« Juhles Schultern erbebten in einem geräuschlosen Lachen. Er blickte auf seine Uhr. »Nachts um Viertel nach eins ?« Aber tatsächlich war es kein ganz abwegiges Ansinnen, und so seufzte er resigniert, zog die Handbremse an und holte sein Telefon hervor. »Was willst du wissen?« 188 Hunt hatte die Nummern sowohl von Andreas Handy als auch von ihrem Anschluss zu Hause, und er wollte für beide Telefone eine Liste aller ein- und ausgegangenen Anrufe seit Mittwochmittag. Das war alles. Wie sich herausstellte, machte Juhle derlei Sachen oft genug, um die Nummer, die er zu wählen hatte, auswendig zu kennen. Als er die Verbindung hatte, erläuterte er, dass die einschlägigen Dokumente - die Verfügung zur Überprüfung der Verbindungsnachweise - vom Richter bereits unterzeichnet und unterwegs seien, gerade in diesem Moment aber hätten sie eine ganz heiße Spur in einem Mordfall, eine Sache praktisch auf Leben und Tod, und sie brauchten dringend und ganz schnell ein paar Informationen. Es dauerte ein bisschen länger als die fünf Minuten, die Hunt vorhergesagt hatte. Andrea Parisi hatte nach Mittwochmittag keine Anrufe auf ihrem Haustelefon empfangen oder getätigt. Auf ihrem Handy hatte sie um 14.48 Uhr an diesem Tag einen Anruf empfangen. Dieser war von einem Kartentelefon in der Eingangshalle des Saint-Francis-Hotels, sechs Blocks von ihrem jetzigen Standpunkt entfernt, getätigt worden und hatte zweiundvierzig Sekunden gedauert. Als er aufgelegt hatte, schien Juhle nicht übermäßig beeindruckt von der neuen Erkenntnis. »Das kann wer weiß wer gewesen sein, Wyat# Meine Güte, zweiundvierzig Sekunden, da hat sich vielleicht sogar nur jemand verwählt.« Hunt musste ihm weitgehend Recht geben. Es konnte wirklich wer weiß wer gewesen sein. Hunt glaubte aber nicht, dass es bloß irgendwer gewesen war. Hunt zog es vor, zu glauben, dass es die Person war, die Andrea schließlich in der Tiefgarage abpasste, nachdem sie sich mit ihr in ihrem 188
Büro verabredet hatte. Mehr noch, und für Hunt von weit größerer Bedeutung: Dieser Anruf konnte einen erheblichen Beitrag dazu leisten, Juhles farbig ausgemalte Vorstellung von Andreas angeblich letzten Stunden ins Reich der Fantasie zu verweisen. Sie war nicht dermaßen neben der Spur gewesen, dass sie gedankenlos und sozusagen automatisch in die Firma gefahren war und dann plötzlich begriffen hatte, wie aussichtslos ihre Existenz geworden war. Nein, sie hatte einen geschäftlichen Anruf erhalten, der sie veranlasste, ihre Pläne kurzfristig zu ändern. Es war keine große Sache, aber es bedeutete, dass Juhle jedenfalls nicht in jeder Hinsicht Recht hatte. Logik hin oder her, Juhle konnte möglicherweise sogar völlig daneben liegen. Und das hieß wiederum, Logik hin oder her, dass Hunt vielleicht richtig lag.
22
Nach all seinen Erfahrungen in der Armee, dann bei CPS, schließlich als Privatdetektiv, war Hunt zu dem Schluss gekommen, das sich in allen Dingen irgendwo auch ein Witz verbarg. Wie grotesk und deprimierend eine Situation auch war, wie grauenhaft, schlicht und einfach schrecklich, bescheuert, korrupt oder geschmacklos sie sich auch darstellen mochte, wenn irgendetwas an ihr war, was auch nur im Entferntesten einen komischen Aspekt hatte -Herrgott, dann raus damit! Irgendjemand lacht immer. Tote Babys, misshandelte Tiere, Aids und alle Arten von Geschlechtskrankheiten, medizinische Unfälle, sexuelle Ge 189 störtheit, Selbstverstümmelung, abgetrennte Gliedmaßen -Alter, hör auf, ich kann nicht mehr! Und tatsächlich war es Wes Farrell, der an diesem Morgen den Spitzenwitz über die altehrwürdige Zielscheibe des amerikanischen Humors parat hatte: den US-Bundesrichter. Sie waren alle eben erst eingetrudelt, saßen oben in seinem Büro, noch bevor der Geschäftsalltag in den unteren Stockwerken begonnen hatte, und Farrell fragte im Plauderton, ob jemand den Unterschied zwischen einem Bundesrichter und dem Ku-Klux-Klan kenne. Ein ganzes Zimmer voller leerer, müder Blicke vor sich, sagte er schließlich: »Keiner? Okay. Der KKK trägt weiße Roben und jagt Schwarzen Angst ein, der Bundesrichter trägt schwarze Roben und jagt Weißen Angst ein.« Es waren fünf weitere Personen anwesend - Hunt, Tamara, Chiurco, Amy Wu, Jason Brandt -, und keiner von ihnen ließ sich auch nur ein müdes Lächeln entlocken. Es war kein sonderlich glücklicher Moment, schließlich war Andrea immer noch verschwunden und wurde, wie Hunt mitgeteilt hatte, von Juhle nach wie vor als Hauptverdächtige im Mordfall Palmer/Rosalier betrachtet. Und als vermutliche Selbstmörderin obendrein.
Aber das hielt Brandt nicht davon ab, seinerseits einen Beitrag zu leisten. »Konqjnt ein Psychiater zum Himmelstor, und er ist stinksauer, weil er noch jung war, kerngesund, er hätte nicht so früh sterben dürfen. Einfach unfair. Und Petrus meint, es täte ihm Leid, aber es gäbe eigentlich keinen bestimmten Grund, warum sie ihn ein bisschen eher abberufen hätten als ursprünglich geplant. Und der Psychiater ganz empört: >Was, ihr habt mein wunderbares Leben auf der Erde einfach so beendet, ohne Grund? Warum macht ihr so was? Nur, weil ihr dazu in der Lage seid?< Und 190 Petrus schaut sich um, beugt sich zu ihm und flüstert: >Das liegt an Gott. Er glaubt, er sei Bundesrichter.<« Hunt war hellwach, obwohl er nur fünf Stunden geschlafen hatte. Er gewährte dem Augenblick, was diesem gebührte, und das war wahrlich nicht viel, dann warf er einen Blick in die Runde und sagte: »Vielleicht können wir darüber sprechen, was wir alle gestern Abend gemacht haben, und sehen, ob uns das weiterbringt.« Als sie begannen, ihre jeweiligen Gespräche und Erkundigungen zu rekapitulieren, wurde schnell klar, dass das halbherzige Scherzen vorher nur einen tiefer greifenden Umschwung der allgemeinen Stimmung verdeckt hatte. Es war jetzt Freitagmorgen, und Andrea war seit Mittwochnachmittag verschwunden - anderthalb Tage. Zweiundvierzig Stunden. Sie hatten alle am Morgen den Chronicle gelesen, die Titelgeschichte. Inzwischen suchte die ganze Welt nach Andrea, der fotogenen Fernsehpersönlichkeit. Bei den drei Anwälten wartete die tägliche Brotarbeit ungeduldig auf Erledigung. Tamara und Chiurco waren offensichtlich noch immer bereit, Anweisungen entgegenzunehmen und auszuführen - was immer Hunt verlangte -, aber Mary Mahoney hatte sie nicht einen Schritt näher an Andrea Parisi herangebracht. Und schließlich war es Tamara, die es laut aussprach: »Ich glaube langsam, dass sie tot ist, Wyatt.« Rundum gab es düsteres Kopfnicken. »Es mag nicht viel nützen zu diesem Zeitpunkt«, sagte Brandt, »aber vielleicht ist das Beste, was wir tun können, die Vermisstenabteilung zu kontaktieren. Alles berichten, was wir wissen, und dann sehen, was sie damit anfangen können.« 190 »Wenn Juhle sie nicht findet, finden die sie auch nicht«, sagte Hunt. »Sie ist für ihn die Hauptverdächtige in seinem Mordfall. Er hat etliche Leute in Bewegung gesetzt, glaubt mir.« Farrell, der vornübergebeugt auf der Couch gesessen hatte, hob jetzt den Kopf. »Dieser Anruf auf ihrem Handy«, sagte er. »Das ist das letzte Mal, dass jemand mit ihr gesprochen hat, soweit wir wissen?« Hunt bestätigte das.
»Dann ist es also eine gesicherte Tatsache - das hast du letzte Nacht herausgefunden? -, dass sie seitdem ihr Handy nicht mehr benutzt hat?« »Richtig.« Farrell seufzte schwer. »Tja, dann ... ob sie nun tot ist oder auf der Flucht, in jedem Fall haben wir, so scheint mir, keine Spur mehr, der wir folgen können. Niemand von uns hat irgendwas herausgefunden, was irgendwie weiterführt, oder?« Wiederum gab es schweigende, düstere Zustimmung. Die Hunt aber noch immer nicht akzeptieren wollte. »Okay, ich bin selbst ziemlich entmutigt. Aber lasst uns mal kurz über Juhles Vorstellung sprechen, dass Andrea entweder auf der Flucht ist oder sich umgebracht hat. Gibt es außer mir noch jemanden, der den tragischen Irrtum in dieser These erkennt?« Wu meldete sich. »Sie geht davon aus, dass Andrea eine zweifache Mörderin ist.« Hunt wandte sich zu ihr, seine Miene schien sich fast aufhellen zu wollen. »Genau«, sagte er. »Gut, ich weiß, dass du, Wes, und Tamara und Craig sie nicht sehr gut gekannt habt. Aber Amy und Jason kannten sie, und ich war gerade dabei, sie kennen zu lernen, und ich kann auf keinen Fall glauben, dass sie jemanden umgebracht hat.« 191 »Ich auch nicht«, sagte Brandt. »Amy und ich, wir kennen sie beide seit dem Studium, und ich stimme dir zu. Ich kann es mir nicht vorstellen.« »Na schön«, sagte Hunt. »Wenn wir das glauben, dann können wir die Möglichkeit ausschließen, dass sie die Parkgarage aus eigenem Antrieb verlassen hat. Sondern stattdessen hat sie jemanden getroffen, wahrscheinlich dieselbe Person, die sie vom Saint Francis aus angerufen hatte und die sie entweder überredet hat, mit ihr zu kommen, oder sie geradewegs entführt hat.« ' »Jemand, den sie kannte«, fügte Wu hinzu. »Wahrscheinlich. Okay«, sagte Hunt. »So weit sind wir also gekommen. Und ich glaube immer noch, dass wir damit weiter sind als die Polizei.« »Ja, aber, Wyatt?« Brandt schien irgendein Signal von der Gruppe empfangen zu haben, das ihn zu ihrem Sprecher machte. Er räusperte sich. »Wie auch immer es passiert ist, sie ist jetzt seit zwei Nächten weg. Ich versuche mir irgendein Szenario vorzustellen, mit all den Vorgängen, wie wir sie eben beschrieben haben, in dem sie nicht bereits tot ist. Und so ungern ich es sage, aber mir fällt keins ein.« Hunt sah seine versammelte Mannschaft an, blickte von einem Augenpaar zum nächsten. In Wus Augen standen Tränen. Tamara und Craig hielten sich an den Händen. Er sah keine Spur von Hoffnung mehr und begriff, dass all diese klugen Leute zu dem gleichen, praktisch unvermeidlichen Schluss gekommen waren.
Hunt, Tamara und Craig verabschiedeten sich vor dem Free-man-Gebäude von Wu, Brandt und Farrell. Meistenteils schweigend legten sie die wenigen Häuserblocks bis zum Büro des Hunt Clubs zu Fuß zurück und stiegen die Treppe 192 hinauf. Sobald sie durch die Tür getreten waren, ging Tamara zu ihrem Schreibtisch und setzte sich, während Hunt sich zum Fenster begab, um auf die Grant Avenue hinauszustarren, und Chiurco die Kaffeemaschine in Gang setzte. Tamara stellte die Lautsprecherfunktion des Telefons ein und drückte auf den Wiedergabeknopf. Sie stellten fest, dass sieben Nachrichten eingegangen waren. »Sieben? Ein neuer Rekord«, sagte Chiurco. »Tolles Tinning, wie?« Mit finsterem Gesicht wandte Hunt sich vom Fenster ab und beugte sich, die Arme verschränkt, über den Anrufbeantworter. Piep. Gestern, 18.18 Uhr. »Wyatt, Bill Frazier hier.« Das war der Arzt, der etwas über den neuen Freund seiner Mutter erfahren wollte. »Wollte mich nur mal erkundigen, wie es vorangeht. Sie sagten, Sie würden vielleicht bis morgen etwas haben, und bei den beiden Turteltauben spitzt sich die Situation jetzt doch ziemlich zu. Ich möchte nicht, dass Mama eine große Dummheit begeht und vielleicht durchbrennt, bevor ich die Chance habe einzugreifen. Ich will Sie ja nicht drängen, aber falls Sie etwas herausgefunden haben, würde ^h es gern so schnell wie möglich hören. Danke.« Piep. Gestern, 19.04 Uhr. »He, Wyatt, sind Sie da? Nehmen Sie ab, wenn Sie können. Wo sind Sie denn, Mann? Haben Sie Ihr Handy ausgeschaltet? Hier ist Peter Buckner.« Der Hauptanwalt bei der Aufnahme der eidlichen Aussagen, die Hunt am Mittwoch in den McClelland-Büros begleitet hatte. »Na schön. Wir haben ein Problem mit Jeremy Harter. Er ist heute Nachmittag nicht zu seiner Aussage erschienen und meldet sich nicht...« 192 Hunt drückte auf den Knopf und stellte den Ton ab. Er wandte sich an Chiurco. »Hast du gestern alle deine Vorladungen an den Mann gebracht?« »Vier davon.« »Mann.« Hunt schüttelte den Kopf. »Wann ist der Gerichtstermin?« »Dienstag.« Mit anderen Worten, Craig hatte wirklich etwas anderes zu tun, als sich um Andrea zu kümmern. Fluchend machte Hunt den Ton wieder an, hörte das Ende von Peter Buckners Nachricht, danach eine zwitschernde Stimme, die sich als Melanie vorstellte und ihm mitteilte, dass er auserwählt worden sei, eine Platin-Kredit... Tamara drückte auf den Überspringenknopf. »Mir hat noch nie jemand so was angeboten«, sagte sie.
Piep. 21.19 Uhr. »Mr Hunt. Mein Name ist Ephraim Goldman, ich bin Seniorpartner bei Mannheim Shelby. Sie sind mir empfohlen worden von Geoff Chilcott von ...« Hunt übersprang den Rest dieser Nachricht. »Später«, sagte er. Gemeinsam lauschten sie den nächsten dreien, und Tamara machte sich Notizen. Jede Nachricht betraf neue oder laufende Aufträge, und keine hatte auch nur das Geringste mit Andrea Parisi zu tun. Hunt setzte sich auf den Stuhl neben der Tür und versuchte, sich zu konzentrieren. Er hatte sich hier um seine Detektei zu kümmern, das war ihm klar, aber es fiel ihm schwer, diesen neuen Anfragen und Forderungen an ihn irgendein Interesse entgegenzubringen. Ihm schwante, dass er, da die Geschäfte sich so rasant ausweiteten, schon bald neue freiberufliche Hilfskräfte würde einsetzen müssen, von denen es zum Glück jede Menge gab - Polizisten außer Dienst und sogar einige andere Privatdetektive waren stets willens, sich ein kleines Zubrot zu verdienen. 193 Aber er hatte im Moment einfach keine Zeit, auch nur Vorstellungsgespräche zu führen, geschweige denn, jemanden zu engagieren. »Weißt du, wo Mickey heute ist?«, fragte er Tamara. »Ich glaube, er wollte Taxi fahren. Er hat allerdings das Telefon abgeschaltet. Ich hab's heute Morgen bei ihm versucht.« »Ich weiß. Ich wollte ihn gestern Abend erreichen. Glaubst du, dass es irgendeine Möglichkeit gibt, ihn dazu zu bewegen, das Ding grundsätzlich an zu lassen, damit man ihn erreichen kann?« Tamara lächelte. »Möchte ich bezweifeln.« »Na ja, falls er sich meldet, sag ihm, er soll mich anrufen. Wisst ihr, was?«, sagte Hunt. »Es ist wahr. Gute Hilfskräfte sind wirklich schwer zu bekommen.« »Zum Glück«, sagte Chiurco, »hast du ja uns.« Hunt nickte. »Das ist in der Tat ein Glück. Dumm nur, dass es euch nicht in mehrfacher Ausfertigung gibt.« »Okay, was sollen wir tun?«, fragte Tamara. Mit einem Handlungsplan ausgerüstet, der alles andere als strategisch ausgereift war, sah Hunt sich unversehens wieder auf das Piersall-Gebäude zumarschieren, das er erst acht Stunden zuvor verlassen hatte. Was er mit Sicherheit wusste, war lediglich, dass die Sache mit Andrea Parisi für ihn -zur Hölle mit den Geschäften - höchste Priorität besaß. Er hatte Tamara und Craig gesagt, sie sollten die Angelegenheiten der Anrufer erledigen, so weit es ihnen möglich sei, ansonsten sollten sie sie halt vertrösten. Ein bisschen kreativ sein. Sich brillante Entschuldigungen ausdenken. Selbstständig Entscheidungen treffen. Dafür bezahlte er ihnen schließlich die dicke Kohle. Falls dabei der eine oder andere
194 Mandant verloren ging, war das eben nicht zu ändern. Er würde die Verantwortung übernehmen. Und sie sollten außerdem bereit sein, binnen zehn Sekunden alles fallen zu lassen, sofern er sie in Sachen Andrea benötigte. Seine Angestellten mochten ernsthaft glauben, dass sie bereits tot sei - und es war offensichtlich, dass sie ihn für seine Unfähigkeit, diese Wahrheit anzuerkennen, bedauerten -, aber er würde nicht eher mutmaßen, dass alles zu spät sei, als bis er dazu gezwungen war. Dazu bedurfte es erheblich mehr als der Tatsache, dass alle anderen daran glaubten. Im Gegensatz zu letzter Nacht war die Montgomery Street heute Morgen reichlich verstopft. Die üblichen Lieferwagen und der normale dichte Straßenverkehr mussten sich um mehrere Polizeiautos und die Aufnahmewagen sämtlicher lokaler sowie einiger nationaler Fernsehsender herumwinden. Trauben von Schaulustigen wogten im Umkreis der Fernsehteams, schwollen mal an, mal wieder ab. Hunt war nur mäßig überrascht - es war noch nicht mal neun Uhr -, neben dem Wagen von Gerichts-TV auch Spencer Fairchild und Richard Tombo zu entdecken, die aus dampfenden Styroporbechern tranken, und bahnte sich einen Weg durch die Menge in ihre Richtung. Als Tombo ihn sah, winkte er und zog ihn in den Bannkreis ihrer Kameras, Scheinwerfer und Kabel. »Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Hunt. »Gibt's was Neues über Andrea?« »Sie ist nicht aufgetaucht, falls Sie das meinen«, sagte Tombo. »Aber plötzlich scheint sie im Zentrum von allem zu stehen. Haben Sie gehört, dass man ihr Auto hier in der Tiefgarage gefunden hat?« »Das war nicht >man<, Rieh. Das war ich.« 194 »Ohne Scherz?« »Ich hab keinen Sinn mehr für Scherze. Ich hab den Wagen letzte Nacht gefunden.« Spencer Fairchild, der dicht neben ihnen stand, ließ sich nichts entgehen. »Möchten Sie ins Fernsehen, Wyatt?« Hunt mochte keinen Sinn für Scherze mehr haben, aber ein abgehacktes Lachen brachte er noch zustande. »So dringend wie eine Wurzelkanalbehandlung. Aber was ist so wichtig an dem Auto, dass es euch alle wie die Fliegen anlockt? Hat die Spurensicherung irgendwas Entscheidendes entdeckt?« »Nicht, dass wir wüssten«, sagte Fairchild. »Was all die Kameras betrifft, so ist es halt auch eine neue Entwicklung im Fall Donolan. Wir kriegen hier andere Bilder als beim Gerichtsgebäude. Bringt ein bisschen Abwechslung rein.«
Hunt schaute sich um, nahm all die Aktivität um sie herum wahr. »Helfen Sie mir auf die Sprünge, Spencer. Was hat Donolan zu diesem Zeitpunkt mit Andrea zu tun?« Fairchild fragte sich offensichtlich, ob Hunt ihn zum Besten halten wollte. »Andrea ist Donolan. Die schöne Kommentatorin, die mitten im Prozess verschwindet? Hätte sich kein Drehbuchautor besser ausdenken können. Und weil sie verschwunden ist, ist Richter Palmer jetzt plötzlich auch Donolan. Hier entsteht in diesem Moment die heißeste Story in ganz Amerika, Wyatt. Also, das muss ich Andrea lassen. Selbst wenn das Ganze nicht geplant war ...« »Was reden Sie da?« Hunt war überrascht über den Zorn in seiner Stimme. »Sie hat doch nicht ... Niemand hat hier irgendetwas geplant.« Aus Fairchilds sämtlichen Poren tropfte Herablassung. »Ich weiß, dass das Ihre Story ist. Farrell hat mir gestern 195 Abend das Gleiche erzählt. Aber ich finde es interessant, zu hören, dass Sie erst die letzte Person waren, die Andrea am Mittwoch gesehen hat, und dann zufällig auch derjenige, der ihr Auto findet. Was hat Sie veranlasst, wo Sie doch die ganze Stadt zur Auswahl hatten, ausgerechnet hier zu suchen? Ich frage mich, ob das daran gelegen hat, dass Sie erst hinter ihr hergefahren sind und sie dann von hier aus dahin gebracht haben, wo sie sich jetzt versteckt hält.« Plötzlich mischte Tombo sich ein. »He, Spencer, jetzt mal langsam ...« Aber der Produzent ließ sich nicht aufhalten. »Selber he, Rieh. Es wäre nicht das erste Mal, dass Andrea sich einen Typen angelt, der ihr hilft, ihre Karriere ein Stück weiter voranzutreiben. Zuerst ich, jetzt vielleicht Wyatt hier ... führen alle an der Nase herum, die beiden, macht ihnen wahrscheinlich einen Heidenspaß.« Er drehte sich um. »Was sagen Sie dazu, Hunt? Wahr? Falsch? Irgendein Kommentar von Ihnen?« »Ja«, sagte Hunt, »hier ist ein Kommentar. Sie sind eine erbärmliche Type.« Jede Faser seines Körpers verlangte danach, Fairchild ordentlich eine zu verpassen, aber er zwang sich, ihm einfach nur den Rücken zu kehren. Fairchild kam ihm noch ein paar Schritte nach. »Sie können ihr ausrichten, dass sie es diesmal zu weit getrieben hat. Von da, wo sie jetzt ist, gibt es keinen Weg mehr zurück! Sie wird nie wieder im Fernsehen arbeiten!« Fast blind vor Wut, zwängte Hunt sich durch die Eingangstür und dann weiter zu den Fahrstühlen. Nur wenige Sekunden noch, dann würde sich die Fahrstuhltür im vierzehnten Stock wieder öffnen, und er besaß immer noch keine sehr bewusste Vorstellung davon, was ihn eigentlich herge 195 führt hatte. Es war mehr als die Notwendigkeit, Fairchilds kranken Anschuldigungen zu entkommen - er war ja schon auf dem Weg hierher
gewesen, bevor er draußen die Fernsehkameras gesehen hatte. Er hatte mit der Logik dessen gerungen, was er über Andrea zu wissen glaubte, und was er akzeptieren konnte, was seine Gefühle ihm sagten. Denn für den Fall, dass sie tot war, was inzwischen alle befürchteten, empfand Hunt, nicht ganz leicht nachvollziehbar, eine gewisse Verantwortung. Nicht für ihren Tod selbst natürlich, aber für die letzten Stunden ihres Lebens, in denen er aus freien Stücken die Rolle ihres Beschützers übernommen hatte. Und ihres Liebhabers. Mit einem Anflug von Schuldbewusstsein machte er sich zum ersten Mal klar, dass er, wenn auch unbewusst, vielleicht Vorteil aus ihrer Schwäche, ihrem verletzlichen Zustand gezogen hatte. Zum fraglichen Zeitpunkt war ihm das nicht in den Sinn gekommen. Aber er wollte sich nichts vormachen - letzten Endes konnte darin tatsächlich die wahre Dynamik der Ereignisse gelegen haben. Der Gedanke drehte ihm den Magen um. Und dann, nachdem er von ihr weggefahren war, hatte jemand sie entführt und ihr etwas Böses angetan. Anders als Juhle glaubte er nicht, dass sie Palmer und Rosalier getötet und sich dann selbst das Leben genommen hatte. Anders als Fairchild glaubte er nicht, dass sie ihr eigenes Verschwinden als eine Art Publicitycoup geplant hatte. Die Sicherheit, mit der Hunt zu wissen glaubte, was geschehen war, verblüffte ihn selbst. Und diese Gewissheit -gerade erst erblüht, nachdem bei jedem außer ihm alle Hoffnung verflogen war - gestaltete sein Inneres zu einer Landschaft um, die er längst hinter sich gelassen zu haben 196 glaubte und die ihm sowohl Furcht erregend als auch vertraut vorkam. Die Wut, die ihn unten fast buchstäblich hatte durchdrehen lassen, war nicht vom haltlosen Gerede eines tänzelnden Esels wie Spencer Fairchild verursacht. Aber dessen irrationale Dummheiten hatten in ihm die letzten Widerstände gegen jene tiefe und beständige Wut gesprengt, die er in den letzten vier, fünf Jahren für endgültig gezähmt gehalten hatte. Eine Wut, die ihn regiert hatte, seit er denken konnte: vom ersten Bewusstsein des Verlassen seins angefangen, durch die Zeit der ständig wechselnden Pflegefamilien hindurch, bis er endlich bei den Hunts bleiben durfte. Eine Wut, die seine CID-Arbeit im Irak befeuert, ihn dann der Aufgabe, Kinder zu befreien, zugeführt hatte, um schließlich zu einer allgemeinen Wut auf die Welt anzuschwellen, als ihm Sophie und ihrer beider ungeborenes Kind genommen worden waren. Eine umfassende Wut auf die Bürokratie, auf Korruption, auf die Inkompetenz und die offensichtliche Niederträchtigkeit von Leuten wie Wilson Mayhew. Eine Wut schließlich, die ihn ob ihrer Stärke und Intensität fast zugrunde gerichtet hätte. Denn die Welt schien so viel zu versprechen. Und allzu oft war dieses Versprechen eine Lüge.
Und dann, als er seinen Betrieb gegründet und eine Weile als Privatdetektiv gearbeitet hatte, begann die Wut langsam nachzulassen. Seine Arbeit war jetzt nur mehr Beruf, nicht Berufung. Wyatt Hunt las, er trieb Sport, spielte seine Musik, stellte seine Kunden zufrieden. Er nährte seine Wut nicht mehr mit dem überwältigenden Bedürfnis, alles besonders gut zu machen, alles geradezubiegen, sich um alles zu kümmern. Die unvermeidlichen Fehlschläge hatten allzu 197 hohen Tribut von ihm gefordert. Er hatte beschlossen, nicht mehr auf diesem Niveau zu leben, und war's zufrieden. Ein bisschen an den Rand gedrängt, vielleicht, nirgendwo richtig beteiligt. Aber zufrieden. Und jetzt plötzlich, als wäre ein Schalter umgelegt worden, war diese innere Zufriedenheit verflogen. Und das war der Grund, warum er sich bei Farrell im Büro so orientierungslos, auf dem Weg hierher so zerstreut gefühlt hatte, so völlig außerstande, die Trauer anzunehmen, die er bei dem Gedanken an Andreas Tod hätte empfinden müssen. Er war nicht eigentlich traurig, nicht richtungslos, nicht verwirrt. Mit gruseliger Genugtuung registrierte er, dass das, was er jetzt fühlte, rein und unverfälscht war - es war das rasende Verlangen nach Gerechtigkeit, das ihn früher beinahe verzehrt, das seinem Leben aber auch Festigkeit gegeben, ihm wenigstens momentweise ein Gefühl von Sinn und Zugehörigkeit gewährt hatte. Falls jemand Andrea Parisi getötet und damit das Gewebe seines Lebens so gründlich zerrissen hatte, dann würde er denjenigen vor Gericht bringen. Das war das Einzige, was zählte. Er wollte sich dabei jeder Hilfe bedienen, die er bekommen konnte, aber ej- würde es auch, falls nötig, ganz allein tun. Die Fahrstuhltür öffnete sich, und er schritt auf den ersten Schreibtisch zur Linken zu, wo eine junge Frau saß, die jetzt von ihrer Computertastatur aufblickte. »Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie. »Ja«, sagte er. »Ich muss mit Carla Shapiro sprechen.« Juhle sagte: »Nein, keine Beweise.« Er saß, seiner Armschlinge wegen etwas unbequem vorgebeugt, in Laniers Büro. Shiu stand einen Schritt vor der 197 geschlossenen Tür, in steifer Haltung, wie immer. Es war ein kleines Zimmer mit einem riesigen Schreibtisch. Es gab drei Fenster, zwei in der Wand hinter Juhle und eins in der Wand hinter Shiu. Keins davon eröffnete einen Blick auf den Sonnenschein, der an diesem Morgen in der wirklichen Welt herrschte. Keines der Fenster ließ sich überhaupt öffnen. Durch Shius Fenster, in ungefähr zwei Millionen Kilometern Entfernung, sah Juhle vier seiner Morddezernatskollegen ein kleines Schwätzchen halten und sich über irgendwas köstlich amüsieren.
Als Juhle freilich seinen Blick ins Zimmer zurückschweifen ließ, zeigte Lanier sich mitnichten amüsiert. »Überhaupt keine Beweise?« Juhle sah zu Shiu hinüber - keine Hilfe. »Vielleicht, wenn wir Mrs Levin - die Nachbarin der Palmers herholen, dass sie sich Parisis Auto ansieht; könnte sein, dass sie es identifiziert.« Lanier grunzte, lehnte sich in seinem Sessel zurück und stieß sich vom Schreibtisch ab, bis er an der Wand in seinem Rücken angelangt war. »Könnte sein, unter Umständen, hm?« Juhle zuckte die Achseln. »Was wir haben, Marcel, sind Verbindungen. Sechs oder sieben, die zusammengenommen verdammt eindeutig sind, falls Sie mich und Shiu fragen, und das haben Sie immerhin getan.« »Wir haben keine anderen Tatverdächtigen, Sir«, sagte Shiu. »Wenn ich hier mal einen kleinen Tipp geben dürfte, mein Junge«, sagte Lanier. »Das ist etwas, was Sie zum Beispiel lieber nicht laut aussprechen sollten gegenüber demjenigen, der Ihre Leistungsbeurteilung verfertigt.« Er wandte sich Juhle zu. »Aber Parisi?« 198 Juhle zuckte erneut mit den Achseln. »Ich hab mir das nicht einfach ausgedacht, Marcel. Ich glaube, sie hat's getan, hat versucht, sich irgendwie durchzumogeln, es aber nur einen oder zwei Tage lang geschafft, bevor Schuld oder Reue - oder was immer Sie in so einem Fall fühlen - sie dazu veranlasst haben, sich umzubringen.« »Ich fühle gar nichts«, sagte Lanier. »Ich weiß, ich auch nicht. Gefühle meine ich. Ich merk nichts von Gefühlen. Ich merke nur meine Schulter.« »Er will kein Ibuprofen nehmen«, sagte Shiu. »Ich hab's die ersten zehn Tage genommen. Erstens hat es nicht gewirkt, zweitens ist es mir auf den Magen geschlagen.« »Ich will Ihnen sagen, was mir auf den Magen schlägt«, sagte Lanier. »Mir schlägt es auf den Magen, wenn ich nur daran denke, dass ich vor unsere hungrige Pressemeute treten muss mit der Erklärung, dass der Fall des Bundesrichters George Palmer - sagte ich Bundesrichter? -, erst der vierte Bundesrichter in der gesamten Geschichte der Vereinigten Staaten, der ermordet...« »Ist das wahr?«, fragte Shiu. »Erst der vierte? Wow.« Lanier riskierte einen raschen, verschwörerischen Blick in Richtung Juhle, einen Blick, der sagte: Ich weiß, warum du diesen Kerl nicht ausstehen kannst. »Genau. Ich erzähle den Schakalen also, dass wir diesen Fall gelöst hätten, abgeschlossen und in trockenen Tüchern in nur drei Tagen. Die Mörderin ist Andrea Parisi. Das müssen Sie uns aber bitte einfach erst mal glauben, denn wir haben leider keinerlei Beweise dafür. - Was meinen Sie, Dev? Ob sie darauf anspringen?«
Juhle blies Trübsal. Lanier hatte ja Recht, und Juhle selbst war fix und fertig nach zwei mehr oder weniger schlaflosen 199 Nächten. »Was sollen wir Ihrer Ansicht nach tun, Marcel? Ich könnte natürlich zu Andreas Haus rüberfahren, ein Haar von ihr in der Spüle finden oder so und das dann beim Richter irgendwo im Haus platzieren ...« »Wir können auf keinen Fall...«, setzte Shiu an. Juhle hob die Hand und verzog das Gesicht vor Schmerz. »War nur Spaß, Shiu. Reg dich ab.« »Aber allen Spaß beiseite«, sagte Lanier, »wir haben wirklich Probleme genug - na, vor allem Sie, Dev, Sie stehen ziemlich unter Druck. Was immer Sie vorlegen, es muss hieb- und stichfest sein.« Juhles Augen verdüsterten sich. »Was soll das denn heißen, Scheiße noch mal?« Er warf seinem Partner einen provozierenden Blick zu. Lanier stieß sich von der Wand ab und ließ seinen Sessel vorwärts rollen, bis zum Schreibtisch, wo er seine Arme auf die Schreibunterlage legte. »Das heißt, dass es einige Leute in einflussreichen Positionen gibt, die nicht davon überzeugt sind, dass Sie in der f.-R.-Geschichte zu Recht entlastet wurden.« Die Sache mit dem finalen Rettungsschuss, die Juhle eine dreimonatige Beurlaubung eingetragen, schließlich aber doch zu einer ehrenvollen Erwähnung geführt hatte. »Tja, wie soll ich mich ausdrücken? Die können mich am Arsch lecken.« Shiu nahm eine noch straffere Haltung an und den Kopf zurück. Selbst Lanier schien zusammenzuzucken. Ordinäre Sprache im Einsatz wurde toleriert, aber Abe Glitzky, der oberste Kriminalbeamte der Stadt, missbilligte ihren Gebrauch in den diversen Einheiten, die ihm unterstanden. Unbeeindruckt von derlei Empfindlichkeiten, war Juhle bereit, noch eins draufzusetzen. »Ist mein Ernst, Marcel. Ich 199 mein, wer sind diese Leute? Nein, ich weiß, wer sie sind. Vielleicht sollte ich ...« »Vielleicht auch lieber nicht, Dev, okay? Wir beide wissen, wer diese Leute sind, sie haben Unrecht, und Sie sind ein Kandidat für den Cop des Jahres, alles klar. Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Ich hoffe, Sie werden es. Und Sie haben gute Chancen, solange Sie in Glitzkys Gegenwart nicht zu oft >Scheiße< oder Ähnliches sagen. Was ich aber sagen will, ist, dass diese Ratsmitglieder das Vertrauen der Bürgermeisterin und des Polizeichefs genießen. Und was wir hier haben, das ist nicht nur der größte Fall der Welt, sondern wir haben es auch so hingetrickst, dass das FBI sich sauber raushält, weil es kein politischer Fall ist. Er gehört also euch, euch beiden, und er sei euch herzlich gegönnt. Aber kommt mir hier nicht ohne Beweise an, bitte.
Wenn Parisi die Täterin war, zeigt mir irgendwas, was es beweist. Oder findet wenigstens irgendwas, was alle anderen als Täter ausschließt.« »Wir sollen einen Negativbeweis führen?«, fragte Juhle. »Das kann kompliziert werden.« »Kommen Sie mir nicht neunmalklug, Dev. Sie wissen, was ich will. Ich will mehr. Wenn es Parisi betrifft, bitte sehr. Aber wir haben bisher noch nicht einmal die nächsten Angehörigen des einen Opfers gefunden, wenn ich mich nicht sehr täusche. Für den kritischen Beobachter könnte das einen gewissen Mangel an Entschlossenheit in der Ermittlungstätigkeit bezeugen. Habe ich mich hinreichend deutlich ausgedrückt?« Sein Blick richtete sich auf Shiu. »Sie haben wirklich keine weiteren Verdächtigen?« »Ich wüsste momentan nicht, wer das sein sollte, Sir.« 200 »Wüssten Sie nicht. Trotz dieses ganzen Ärgers mit der Gewerkschaft? Niemand, zu dessen Ungunsten der Richter mal entschieden hat? Vielleicht hatte die Freundin noch einen anderen Freund? War es nicht so, dass die Ehefrau eine Schwester hatte? Was hat die am Montagabend gemacht? Ich habe keinen Schimmer von diesem Fall, und trotzdem fallen mir ein halbes Dutzend Fragen ein, die Sie noch nicht mal gestellt haben.« »Ich habe sie gestellt, Marcel«, sagte Juhle. »Ich habe mir jede gottverdammte Frage gestellt, die Sie eben vorgelegt haben, und das andere halbe Dutzend, das Sie nicht erwähnt haben, noch dazu. Und, um das auch noch festzuhalten, wir sind gleich als Erstes im Amtszimmer des Richters vorstellig geworden, haben dort ein paar faszinierende Stunden im Gespräch mit seinen Mitarbeitern verbracht und erfahren, dass er eine Menge Fälle entschieden hat, wo die Leute jetzt sauer auf ihn sind. Nicht nur die CCPOA. Und seien Sie versichert, die rattern mir in jeder Sekunde im Gehirn herum. Und sicher, ich kann mich irren, aber es entspricht altbewährter polizeilicher Praxis, der deutlichsten Spur zu folgen.« Shiu sprang in die Bresche. »Und das scheint, bei allem Respekt, Sir«, sagte er, »Parisi zu sein.« Lanier hob die Hand. »Ist schon gut. Ich hab's verstanden. Aber traditionellerweise ist uns sehr an diesen kleinen Verbindungsgliedern in der so genannten Beweiskette gelegen, die vielleicht...« Juhle hatte genug gehört. Er war bereits auf den Füßen und unterbrach Lanier. »Sie wollen, dass wir noch ein paar mehr Bäume schütteln, Marcel. Klar, machen wir. Aber in der Richtung sind auch nicht mehr Beweise zu holen als bei Parisi. Es wird so aussehen, als wollten wir uns in Wirklichkeit nur aus der Schusslinie bringen.« 200
Lanier blies ihnen seine Frustration entgegen. »Es gibt schlechtere Ideen«, sagte er. Er deutete auf seine geschlossene Bürotür. »Halten Sie mich über weitere Entwicklungen auf dem Laufenden. Meine Tür steht immer offen.«
23
Von Betsy Sobos überdimensionaler Schildpattbrille ließ Hunt sich nicht täuschen. Mit dem merkwürdigen Gestell auf der Nase, den zerzausten schmutzig blonden Haaren, dem extrem sparsamen Augenmake-up und dem überhaupt nicht vorhandenen Lippenstift versuchte die junge Partnerin in der Familienrechtabteilung von Piersall ganz offensichtlich, sich in ihrem Berufsleben als eine Art streberhaftes Mauerblümchen zu präsentieren. Heute trug sie sogar die katholische Schuluniform, nämlich einen karierten Rock zu weißer Bluse, schwarze Strumpfhose und schlichte schwarze Schuhe. Sie machte das alles wirklich sehr gut, aber Hunt war der Ansicht, dass sie selbst in Sack und Asche gekleidet noch bewundernde Blicke auf sich gezogen hätte. Sie war aufgestanden und ihm entgegengekommen, um ihn zu begrüßen, hatte sich dann wieder hinter ihren Schreibtisch zurückgezogen. Hunt saß ihr gegenüber auf einem Klappstuhl, was so ziemlich alles war, was noch in ihr Büro passte, nachdem sie ihr Bücherregal und ihre Akten hineingezwängt hatte. Sie hatte eine zwei Meter breite Fensterfront im Rücken, einen netten Blick über die Stadt in Richtung Osten. Hunt bat um Erlaubnis, ihre Unterhaltung aufzuzeichnen, und sie hatte nichts dagegen. 201 »Ich habe schon gestern Abend mit jemandem über diese Sache gesprochen«, sagte sie. »Mit einer Frau. Auch einer Anwältin.« »Amy Wu?« »Ja, so hieß sie wohl. Ich glaube nicht, dass ich ihr viel weiterhelfen konnte. Ich hab ihr gesagt, dass ich nicht wüsste, worüber Andrea mit mir sprechen wollte.« »Aber Andrea hat Sie persönlich angerufen, um den Termin auszumachen? Ich habe gerade mit ihrer Sekretärin gesprochen, und die sagt, dass sie es nicht war.« »Ja, sie hat selbst angerufen.« »Um Sie zu fragen, ob Sie für sie ungefähr eine halbe Stunde Zeit erübrigen könnten?« »Richtig. Das war's aber praktisch schon. Ich sagte, klar.« Hunt beugte sich vor. »Carla zufolge rief sie gleich an, nachdem sie sich mit Richter Palmer zum Lunch getroffen hatte, nicht wahr? Meine Erwägung ist daher, dass sie vielleicht eine Andeutung gemacht hat über irgendetwas, wovon wir bisher nichts wissen.« »Ich weiß nicht, was das sein könnte. Und hätte sie das, was immer es war, nicht auch gegenüber Gary - Mr Piersall - während ihrer Sitzung erwähnt?«
»Vielleicht«, sagte Hunt, »aber ich glaube es eigentlich nicht. Ich glaube, das, worüber sie mit Ihnen sprechen wollte, war etwas anderes. Ich habe gestern Abend mit Mr Piersall gesprochen, und das große Thema zwischen ihm und Andrea war offenbar diese Verfügung, die der Richter zu unterzeichnen angekündigt hatte. Über Beihilfefragen haben sie gar nicht gesprochen.« »Aber ich bin mir nicht mal sicher, ob es das war, was sie von mir wollte. Ich hab's lediglich angenommen.« 202 »Hat sie vielleicht irgendetwas Bestimmtes gesagt, was Sie zu dieser Vermutung veranlasste?« »Ich weiß nicht, was das gewesen sein könnte.« Sie holte Luft, setzte einen Ellbogen auf die Schreibtischplatte und stützte ihre Stirn auf die Finger der linken Hand. Sie schloss für einen Moment die Augen, öffnete sie dann wieder. »Okay. Sie sagte, dass Mike Eubanks - er ist der für unsere Abteilung zuständige Partner - ihr empfohlen hätte, mich anzurufen. Und wenn es von Mike kommt, dann ist es normalerweise Beihilfe.« »Na, sehen Sie«, sagte Hunt. »Sie sprach von einer Person, mit der sie sich zum Lunch getroffen hatte, aber dann unterbrach sie sich und sagte, dass ein paar ziemlich einflussreiche Leute ihre Finger im Spiel hätten und sie wolle nichts unternehmen, bevor sie sich gut genug mit der Rechtslage auskenne.« Einen ausgedehnten Moment lang saß Hunt ganz still. »Und dabei ging's um Familienrecht, nicht wahr? Sie sprach davon, dass sie sich mit jemandem zum Lunch getroffen habe. War das die Formulierung?« »Ich glaube. Ja. So ungefähr.« »Zum ersten Mal getroffen? Im Gegensatz zu >mal wieder zusammen essen gegangene« »Vielleicht. Ja, würde ich so sagen.« »Also nicht der Richter«, stellte Hunt fest, ehe er fortfuhr: »Darf ich das mal eben fragen: Angesichts der Tatsache, dass diese Firma sehr viel für die Gewerkschaft arbeitet - waren Sie da schon mal mit Versicherungen, Kindergeld oder dergleichen befasst?« »Ich persönlich? Nein, eher nicht. Ich habe mehr mit den Streitereien um Sorgerecht, mit Annäherungsverboten und so weiter zu tun. Es gibt einfach unheimlich viele Schei 202 dungsfälle bei diesen bedauernswerten Wärterfamilien, das können Sie sich gar nicht vorstellen.« »Was glauben Sie denn, was es war? Was Andrea wollte?« Sobo überlegte eine Weile. »Vielleicht irgendeine Art von Scheidungskostenschutz im Versicherungspaket für Mitglieder, Übernahme von Anwaltskosten, Eheberatung et cetera, damit es diese Leute finanziell
nicht so hart trifft. Wir argumentieren, dass es der arbeitsmäßige Stress ist, der eine unmittelbare Ursache für das eheliche Zerwürfnis darstellt.« Sie zuckte die Achseln. »Wir haben uns damit schon einige Male vor Gericht durchgesetzt - der Stress in diesem Job ist wirklich mörderisch. Ich meine, beinahe buchstäblich.« »Das glaube ich«, sagte Hunt. »Und die einflussreichen Personen, von denen Andrea gesprochen hat?« »Irgendwelche Versicherungsgesellschaften, dachte ich. Aber es könnte auch ein maßgeblicher Politiker sein, vielleicht sogar der Gouverneur, falls wir die Angelegenheit vors Parlament bringen.« »Dann erschien Ihnen das also durchaus plausibel? Dass Andrea Sie sprechen wollte?« »Ja, sicher. Solche Sachen machen wir. Ganz bestimmt.« Haftrichter Oscar Thomasino hatte heute Dienst und war also für die Erteilung von gerichtlichen Haft- und Hausdurchsuchungsbefehlen und dergleichen zuständig, und er ließ sich sehr viel leichter überzeugen als zuvor Lanier. Juhle brauchte ungefähr fünfundvierzig Sekunden, um ihm zu erklären, was er und Shiu in Parisis Haus zu finden hofften und warum eine Durchsuchung unerlässlich sei, und der Richter gab seine Unterschrift, noch bevor Shiu das Affidavit fertig ausgefüllt hatte. 203 Zwanzig Minuten später standen sie im Haus, begutachteten die Waffensammlung. Die Vitrine war nicht verschlossen, und Juhle nahm die Exemplare einzeln heraus, roch daran und legte sie dann auf dem Tisch neben ihnen ab. Sämtliche Schusswaffen waren funktionsfähig, die Schlagbolzen intakt. Die meisten schienen erst vor kurzem gereinigt worden zu sein, allerdings war es auch denkbar, dass sie in ihrer Vitrine einfach recht gut vor Staub geschützt waren, über Monate oder sogar Jahre hinweg. Aber sie rochen noch nach Öl. Es waren insgesamt neun Stück. Sieben Revolver im Stil des alten Westens. Als Juhle jedoch in die Läufe der beiden Derringer spähte, konnte er erkennen, dass sie seit dem letzten Gebrauch nicht gereinigt worden waren. Und es waren .22er-Kaliber. Er ließ die kleinen Waffen von Shiu in einen Beutel packen, damit das Polizeilabor einen ballistischen Vergleich mit den in Palmers Arbeitszimmer sichergestellten Patronen anstellen konnte. Ziemlich überzeugt davon, dass er seine Beweisstücke gefunden hatte, riskierte Juhle eine große Lippe. »He, wir können uns freuen, Shiu, dass wir hergekommen sind, oder? Ich hätte wirklich Lust, diese finger sofort ins Labor zu fahren und bis spätestens Mittag mit den Ergebnissen wieder in Marcels Büro zu sitzen.« »Vielleicht stimmen sie nicht überein.« »Tja, wir werden sehen. Aber ich muss sagen, ich hab ein gutes Gefühl.«
Juhle machte die Vitrine wieder zu, ging langsam durch die Küche, durchs Wohnzimmer, dann in den Flur, von dem die Schlafzimmer und ein Bad abgingen, das Juhle, nachdem er Licht gemacht hatte, jetzt betrat. »Was suchen wir hier drin?« 204 Vom Wäschekorb aus sagte Juhle: »Weißt du noch, die Videobänder, die du dir letztens nicht angucken wolltest? Gerichts-TV vom Montag?« Er stöberte ein wenig herum und zog dann eine sofort wiederzuerkennende purpurrote Bluse hervor. »Kommt dir die bekannt vor? Ich glaube nicht, dass sie sich umgezogen hat, nachdem sie die Show abgedreht hatten. Zuerst ist sie wieder zurück ins Büro, nicht wahr. Danach, glaube ich, ist sie direkt zum Richter rausgefahren und hat ihn erschossen, und zwar in dieser Bluse. Also, packen wir das Ding ein und lassen es auf Rauchspuren und Blut untersuchen. Und ich wette, dass wir das Kostüm, das sie getragen hat, noch im Schrank finden. Und wenn wir Glück haben, auch die Schuhe.« Jim Pine arbeitete in West Sacramento. Er blieb gern in der Nähe der Hauptstadt, wo er sich um die Lobbyisten und Parlamentarier kümmern und die Arbeit der ihm hörigen politischen Aktionskomitees dirigieren konnte. Er kontrollierte jährliche Einnahmen von über zwanzig Millionen Dollar in Form von Mitgliedsbeiträgen und war damit einer der bedeutendsten Akteure in der politischen Szene Kaliforniens wichtiger noch als die Nummern zwei und drei, die Lehrervereinigung Kaliforniens und Philip Morris. Bei jeder Wahl war die CCPOA Hauptunterstützerin von zwanzig bis vierzig Gesetzesmachern des Bundesstaates und Dutzenden von Kandidaten für kommunale Wahlämter, nicht zu reden vom Gouverneur, Vizegouverneur, Staatssekretär und Generalstaatsanwalt, unabhängig von der Parteizugehörigkeit. Pine hatte außerdem die politische Schlagkraft der Gefängniswärtergewerkschaft in ein Bündnis mit drei der in Kalifornien ansässigen mächtigen indianischen Glücksspielorganisatio 204 nen eingebracht und mit diesen das Native Americans & Peace Officers Independent Expenditure Committee gegründet, ein weiteres überaus einflussreiches poltisches Aktionskomitee, dessen Geschäftsstelle sich ebenfalls in Sacramento befand. Seit Beginn seiner Amtszeit und unter seiner Federführung hatte sich die CCPOA für strengere und immer strengere Gesetze stark gemacht sowie für immer mehr neue und größere Gefängnisse, um all diejenigen einsperren zu können, die gegen diese Gesetze verstießen. In der Folge hatte die CDC, die kalifornische Gefängnisbehörde, ein Wachstum von dreizehn auf einunddreißig Gefängnisse zu verzeichnen, mit einer Gesamtzahl von hundertsechzigtau-send Insassen und einem jährlichen Betriebsbudget von
fast fünf Milliarden Dollar. Und während die fünfundzwanzigtausend Gefängniswärter offiziell ein Jahresgehalt von vier-undfünfzigtausend Dollar bezogen, war es für den einzelnen Wärter alles andere als ungewöhnlich, inklusive Überstunden und Krankengeld mehr als hunderttausend Dollar ausgezahlt zu bekommen. Momentan allerdings befand sich Pine nicht in Sacramento, sondern im Büro des geschäftsführenden Partners seiner Anwaltsfirma, bei Piersall in San Francisco. Nach der Ermordung von Richter Palmer am Montag hatte er es für nötig befunden, sich bereitzuhalten für den Fall, dass man ihn im Zuge der Ermittlungen zu befragen wünschte. Pine wusste, dass die Animositäten zwischen dem Richter und der Gewerkschaft an die Öffentlichkeit gedrungen waren, und so war er hier, um Flagge zu zeigen und keine Gerüchte aufkommen zu lassen. In den letzten Tagen hatte er über ein Dutzend Interviews mit ausgewählten Medienvertretern bestritten, ein jedes mit der gleichen Botschaft: George 205 Palmer und Jim Pine waren in ihrem Berufsleben von Zeit zu Zeit Widersacher gewesen, aber auf persönlicher Ebene hatten sie sich gut verstanden. Sie hatten dieselben Benefizveranstaltungen und Feste besucht und oftmals dieselben politischen Kandidaten unterstützt. Und heute würde Pine seine Trauer bei Palmers Begräbnis deutlich sichtbar bekunden. In erster Linie, um sich davon zu überzeugen, dass der Mistkerl auch wirklich tot war. Auch Gary Piersall trug Schwarz. Er hatte letzte Nacht nicht mehr als vier Stunden und dazu noch unruhig geschlafen und saß jetzt seinem Mandanten gegenüber auf der Ledercouch, das dritte Tässchen Espresso in der Hand. In ein paar Minuten würden sie gemeinsam zur Saint Mary's Cathedral aufbrechen. Pine war dreiundsechzig und sah in seinem Anzug wie immer zehn Jahre jünger aus. Bei einer Körpergröße von einsfünfundachtzig trug er ein Übergewicht von gut und gern fünfzehn Kilo mit sich herum, hatte kurz geschorene Haare und die rosigen Wangen entweder eines Chorknaben oder eines starken Trinkers. Doch trotz seiner kraftstrotzenden, optimistischen Persönlichkeit war Pine gar nicht glücklich. Als er das Gebäude hatte betreten wollen, war er von Reportern, die sich auf der Straße und sogar in der Eingangshalle versammelt hatten, fast über den Haufen gerannt worden - alle angelockt von dieser neuen Entwicklung mit Andrea Parisi. Und schon machten wieder Gerüchte die Runde - dass ihr Verschwinden irgendwas mit dem Palmer-Mord zu tun hätte und, auf rätselhafte Weise, auch mit der Gewerkschaft. Wo kamen die alle her?, wollte Pine wissen. Wie konnte er ihnen Einhalt gebieten? »Ich meine, was denken die sich 205
denn, Gary? Dass ich Mordaufträge verteile, oder was? Herrgott! Ich mochte diesen alten Hurensohn. Und Andrea noch viel mehr, ehrlich wahr.« Sein Blick blieb auf seinem Gegenüber ruhen. »Du siehst echt scheiße aus, Gary. Fühlst du dich nicht wohl?« »Mir geht's gut, Jim. Das hat mich nur alles ein bisschen mitgenommen.« »Na, lass die da unten das nicht merken, das sag ich dir. Du musst dir ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzen, na los. Wenn du Schwäche zeigst, fallen sie über dich her.« »Mach dir keine Sorgen um mich.« »Tu ich aber.« Sein ausdrucksloser Blick blieb auf den Anwalt gerichtet. »Und ich mach mir auch Sorgen um Andrea. Hast du irgendeine Ahnung, was mit ihr passiert sein könnte?« »Nicht die geringste.« »Bist du sicher? Keine Idee? Keine Vermutungen?« Piersall zwang sich zur Ruhe. Was machte Pine da ? Wollte er auf den Busch klopfen, wie viel er, Piersall, wusste? Seine Loyalität testen? »Ich glaube, sie könnte Selbstmord begangen haben, Jim. Sie wollte über diese Gerichts-TVSache nach New York kommen und als das nicht geklappt hat...« »Dann glaubst du also auch nicht, dass sich ein Faden durch uns hindurchzieht?« »Durch uns?« »Durch mich, dich, die Gewerkschaft.« »Nein«, sagte Piersall. »Wie denn? Was für ein Faden überhaupt?« Pine lehnte sich zurück, ein Inbild der Entspanntheit, wenn auch seine Augen eine fast katzenhafte Intensität ausstrahlten. »Ich habe da so meine Leute, Gary, und die schnappen das eine oder andere auf der Straße auf.« 206 Und in diesem Moment beschloss Piersall, den Empfangsbereich nach Wanzen durchsuchen zu lassen, wie er es regelmäßig auch in seinem Büro tat. Falls Pine mitgehört hatte, was er Hunt letzte Nacht anvertraut hatte ... »Und heute Morgen stand es im Netz, auf der Gerichts-TV-Website. Wo haben sie diesen Scheiß her? Aber egal, entscheidend ist, dass es bis heute Abend überall ist. Verstehst du, was ich meine?« Piersall räusperte sich, versuchte einen Schluck von seinem Kaffee herunterzubekommen. »Ich hab versucht, mich von all dem fern zu halten, Jim. Das sind doch nur Journalisten ohne Verantwortungsgefühl, die sich gegenseitig überbieten wollen. Wenn es sich im Netz verbreitet, weiß man, dass es einfach Schwachsinn ist.« »Ja, aber die seriösen Sender greifen es dann auf. Worauf ich hinauswill, ist, wir müssen deutlich machen, dass diese Geschichte unter aller Kritik ist.« »Und von welcher Geschichte sprechen wir jetzt?«
»Dass Andrea etwas wusste und wir sie zum Schweigen bringen mussten. Das ist die reine Hysterie, die sich da ausdrückt, und wir wollen sie nicht noch schüren. Wir sollten uns auf keinerlei Stellungnahmen einlassen.« »Ich habe nicht die Absicht, das zu tun, Jim. Es ist in der Tat unter aller Kritik.« »Hat sie jemals etwas in der Richtung zu dir gesagt?« »Nein. Nicht die Spur. Sie war mit Leib und Seele bei dieser Firma, Jim.« »Und du bist es auch?« Piersall stellte die Kaffeetasse ab, sprach im ruhigsten Tonfall, der ihm zu Gebote stand. »Ich bin das seit fünfzehn Jahren, Jim. Es ist ein bisschen schmerzlich, sich vorzustellen, dass du daran Zweifel haben könntest.« 207 Pine musterte ihn einen Augenblick lang. »Okay. Nur dass wir uns einig sind.« Carla hatte sofort Gary Piersall angerufen, nachdem Hunt unangekündigt an ihrem Schreibtisch aufgetaucht war. Sie mochte Wyatt, und der Chef hatte sie angewiesen, mit ihm auf jede ihr mögliche Weise zu kooperieren. Darüber hinaus wusste sie, dass er auf Andreas Seite stand, und das war auch die Seite der Firma. Sie glaubten, dass sie Opfer einer Entführung geworden sei, und Piersall hatte Hunt grünes Licht gegeben, überall zu suchen, wo er es für nötig hielt. Wirklich überall. Von seinem Gespräch mit Betsy Sobo zurückgekehrt, hatte er zunächst gezögert und eine Entscheidung über seine nächsten Schritte zu treffen versucht, bevor er ihr mitteilte, dass er sich gern in Parisis Büro umsehen würde. Vielleicht sei irgendetwas in ihren Akten, ihren Notizen, auf ihren Kassetten oder dem Anrufbeantworter - ja, nahezu überall konnte etwas sein , was vielleicht einen Hinweis darauf lieferte, was mit ihr geschehen war. Aber Hunt Einlass in dje Intimität von Andreas Büro zu gewähren - Carla hatte das Gefühl, das sei einfach unmöglich. Sie rief Mr Piersall an, um sein Einverständnis auch für diesen speziellen Fall einzuholen, erfuhr aber, dass er zusammen mit Mr Pine in seinem Büro sei und auf keinen Fall gestört werden könne. Also spielte sie auf Zeit, hatte erst einmal Probleme, den Schlüssel zu finden, und musste dann dringend zur Toilette, nur um schließlich zu hören, dass Piersall, in Klausur mit Pine, immer noch nicht zu sprechen war und ihr somit keine Wahl mehr blieb. 207 »Dev. Wyatt hier.« »Na, sag mal, wo bist du?« »Wieder bei Piersall. In Parisis Büro.« »Willst du mich verarschen? Ich bin grade auf dem Weg dahin, mit Shiu zusammen, wir stecken im Verkehr fest. Wie kommt es, dass du drin bist und ich nicht, obwohl ich der Cop in diesem Fall bin?«
»Vielleicht die Sache mit dem persönlichen Charme?« »Kann nicht sein. Rühr nichts an.« »Zu spät. Und das hier musst du sehen.« »Ich dachte, du hältst Parisi nicht für tatverdächtig?« »Nee. Ist sie auch nicht.« »Das find ich lustig, weil das nämlich inzwischen so gut wie geklärt ist aufgrund dessen, was wir eben in ihrem Haus gefunden haben.« »Schön für euch, aber ich würde es an deiner Stelle nicht publik machen, bevor du nicht gesehen hast, was ich mir gerade angucke.« »An einem kontaminierten Schauplatz.« »Was soll das denn heißen?« »Das heißt, dass du dich dort befindest. Was immer du also vorzuweisen hast, es taugt nicht als Beweismittel. Wer garantiert denn, dass du es nicht dort hingelegt hast?« »Ich. Und selbst wenn ich das getan hätte, würdest du es trotzdem noch sehen wollen.« Hunt war seit fünfzehn Minuten in dem Büro - einem winzigen Raum -, die Tür war geschlossen, und hier vor Carlas Schreibtisch stand jetzt plötzlich ein Mann, der sich als Devin Juhle, Inspektor der Mordkommission, auswies, vom Sicherheitsbeauftragten der Firma begleitet wurde und nach Wyatt Hunt fragte. 208 Carla Shapiro dachte, ihr bliebe das Herz stehen. Das durfte doch nicht wahr sein. Sie hatte die Entscheidung, Wyatt Zugang zu Andreas persönlicher Sphäre zu gewähren, letztendlich auf eigene Verantwortung getroffen, und jetzt war die Polizei da und kam ihr auf die Schliche. Sie rang einen Moment nach Atem, bevor es ihr gelang, ein paar Worte aneinander zu reihen. »Unser Ermittler ist in Ms Parisis Büro.« Das Gesicht des Inspektors trug wenig dazu bei, ihr Angstgefühl einzudämmen. »Das weiß ich«, sagte er. »Wo ist denn das Büro?« Carla war bereits auf den Füßen, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, aufgestanden zu sein. Sie ging die paar Schritte, drehte den Knopf und stieß die Tür auf. Der Inspektor war dicht hinter ihr. Hinter Andreas Schreibtisch, auf ihrem Sessel sitzend, machte Hunt gerade eine Schublade auf der linken Seite zu und blickte auf. »Wo ist Shiu?« »Auf dem Weg zum Labor. Wir klären diese Sache jetzt ein für alle Mal. Was muss ich unbedingt sehen?« Hunt hatte den Pappordner bereitgehalten und reichte ihn herüber. Der Inspektor legte ihn auf den Schreibtisch und öffnete ihn. Es befand sich ein zentimeterdicker Stapel von Zeitungsausschnitten in diversen Größen darin sowie mehrere Ausdrucke, offenbar von Webseiten. Carla riskierte einen weiteren Schritt ins Büro hinein, damit sie die Überschriften sehen konnte. Die
zuoberst liegende lautete: »Staatsanwalt bei Jagdunfall ums Leben gekommen«. Während der Inspektor die nächsten Seiten aufblätterte, kommentierte Hunt: »Du wirst bemerken, dass der Ordner keinen Titel auf dem Reiter hat. Er hing zwischen den regulären Ordnern hier hinten in der Schreibtischschublade. 209 Der erste Ausschnitt betrifft Porter Anderton, den Staatsanwalt, der einige Gefängniswärter aus Avenal strafrechtlich verfolgt hat. Dann sind sieben Storys über Wandalismus gegen Kandidatenbüros im ganzen Staat dabei. Sechzehn Fälle insgesamt. Vier Todesfälle - Andertons Jagdunfall, zwei Unfälle mit Fahrerflucht, ein Selbstmord. Alle Opfer hatten auf irgendeine Weise etwas mit Gefängnissen zu tun. Ein Staatsanwalt, zwei Leute, die gesungen haben, ein Arzt.« Hunt streckte die Hand aus und klopfte auf die Ausdrucke. »Wenn du immer noch nicht an Zufälle glaubst, dann war sie an irgendetwas dran.« »Sie hat gerichtsverwertbare Fakten gesammelt.« Hunt nickte. Seine Augen blickten so eisig, dass eine Kältewelle von ihm auszugehen schien. »Vielleicht war es mehr als das, Dev. Vielleicht hat sie an einer großen Story gearbeitet. Beziehungsweise, die Arbeit war schon abgeschlossen. Und sie hat der falschen Person davon erzählt.«
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Zu guter Letzt meldete sich auch Mickey Dade; er erreichte Hunt, während dieser noch bei Piersall war, und parkte, als Hunt und Juhle aus dem Gebäude traten, bereits in zweiter Reihe, um sie abzuholen und zu chauffieren. Hunt nannte ihm Staci Rosaliers Adresse und gab zu verstehen, dass sie es eilig hätten. Auf der Fahrt zu ihrer Eigentumswohnung hing Juhle die meiste Zeit an seinem Handy und sprach mit Shiu, der noch im Labor war. Es gab dort einen Arbeitsstau, und die diversen Tests würden ihn vielleicht noch den ganzen Nachmittag festhalten. Nein, sie 209 hatten noch nicht einmal den ballistischen Test gemacht. Das solle dann gleich der erste sein, hatten sie versprochen. Ja, Shiu würde sofort anrufen, sobald er die Ergebnisse bekäme. Juhles Reaktion geriet stakkatohaft: »Shiu, hör zu. Wir brauchen die Ergebnisse jetzt Üb ein bisschen Autorität aus, verdammt noch mal! Meine Fresse, wir sind das Morddezernat! Oberes Ende der Nahrungskette! Tritt den Leuten in den Arsch! Sag ihnen, du lässt sie feuern! Egal was!« Er ließ das Telefon zuschnappen. »Schwachkopf.« Mickey Dade und Juhle waren sich zuvor noch nie begegnet, und jetzt warf der junge Taxifahrer einen besorgten Blick zuerst auf seinen Chef und dann in Richtung Rücksitz, wo Juhle vor Wut kochte. Hunt, der neben Mickey auf
dem Beifahrersitz saß, drehte sich halb nach hinten: »Du machst meinem Fahrer Angst.« »Das ist auch so eine Sache«, sagte Juhle. »Wie kommt es, dass du ein Taxi auf Abruf hast, das uns hinkutschiert, wohin du willst, ohne dass das Taxameter läuft, während ich ein gottverdammter Kriminalbeamter bin, der immerzu darauf angewiesen ist, dass ihn jemand mitnimmt?« »Das muss irgendwas mit Karma zu tun haben«, sagte Hunt. Inzwischen hatten sie sich wieder den Schlüssel von dem begrenzt kooperationswilligen Mr Franks geholt und waren im Fahrstuhl auf dem Weg nach oben. Dieser Zwischenstopp, erläuterte Juhle, sei notwendig, weil Laniers Kritikpunkt, sie hätten noch nicht einmal die Angehörigen eines der Opfer identifiziert, nicht ganz von der Hand zu weisen sei. Sie hätten sich schon längst dahinterklemmen sollen, und sei es nur aus Gründen der Glaubwürdigkeit. 210 Also müsse er herkommen und sich das größere, gerahmte, wenn auch sehr unscharfe Bild des Jungen schnappen und eine der Zeitungen dazu bewegen, es unter der Überschrift KENNEN SIE DIESE PERSON? zu veröffentlichen. Das andere Foto, das Staci in der Brieftasche gehabt hatte, sei vergrößert und aufs Revier geschafft worden, aber leider nicht zu gebrauchen. Ob Hunt nicht auch meine, dass der Junge irgendwie mit Staci verwandt sein müsse? Hunt wusste Genaueres. »Das ist ihr Bruder.« »Woher weißt du das ?« »Mary Mahoney. Die Kellnerin im MoMo's ...« »Ich weiß, wer das ist, Wyatt. Schließlich hab ich sie dir serviert.« Hunt hatte nicht die Absicht, sich zu streiten. Er verübelte Juhle dessen Frustration nicht. Immerhin sah sich der Polizist, der eben noch geglaubt hatte, dass sein Fall so gut wie abgeschlossen sei, gezwungen, eine ganz neue und zusehends plausibler werdende Theorie darüber ins Auge zu fassen. Zumal dann, wenn die ballistische Untersuchung der Derringer-Pistolen keine Übereinstimmung erbrachte und er damit wieder am Punkt null angelangt wäre. Und es machte die Sache nicht besser, dass die neue Theorie eine war, die Hunt ihm von Anfang an hatte nahe bringen wollen und die Juhle glattweg verworfen hatte. Hunt beschloss, sich konziliant zu zeigen. »Das stimmt, Mary war diejenige, die Staci für dich identifiziert hat, nicht wahr? Jedenfalls hat sie Tamara erzählt, dass er ihr Bruder sei.« »Hat sie einen Namen genannt?« »Nein, ich glaube nicht.« »Natürlich nicht. Das wäre ja auch zu einfach.« »Genau.« 210
Sie erreichten den vierten Stock, gingen über den Flur zur Suite A, und Juhle schloss die Tür auf. Die Vorhänge waren noch aufgezogen, so wie Juhle und Shiu sie unlängst hinterlassen hatten, daher war es im Zimmer recht hell. Juhle ging geradewegs zum Tisch neben dem Sofa und nahm das gerahmte Foto des Jungen in die Hand, dann aber stutzte er wie in Zeitlupe, er starrte es an, und seine Stirn legte sich in immer tiefere Falten. »Was ist?«, fragte Hunt und trat zu ihm. »Das soll ihr Bruder sein?« »Mahoney zufolge ja.« »Wie alt schätzt du ihn?« Hunt sah genauer hin. »Nach diesem Foto? Na, viel Glück. Du bist doch derjenige, der Kinder hat. Sechs?« »Das würde hinkommen, schätz ich. Und sie war zweiundzwanzig?« »Ja, und?« »Also vierzehn Jahre dazwischen. Das ist eine ziemliche Spanne beim Kinderkriegen, findest du nicht?« Hunt zuckte die Achseln. »Kommt häufig vor. Außerdem, das Foto könnte sechs, zehn, fünfzehn Jahre alt sein. Sie könnten altersmäßig ebenso dicht zusammenliegen wie Mickey und Tamara.« Juhles Gesichtszüge erschlafften ein wenig. Er ließ seine verletzte Schulter kreisen, seufzte schwer, und plötzlich, ganz überraschend, drehte er sich um und setzte sich auf die Schlafcouch. »Ich bring's nicht mehr, Wyatt, ich schwör's«, sagte er. »Weißt du das? Ich pack es einfach nicht mehr.« »Was redest du?« Juhle ließ den Kopf hängen, schüttelte ihn, als wiege er eine Tonne. »Diese verdammte Schießerei. Das Dreckstück, das ich letztes Jahr erschossen hab.« 211 »Ja, und? Du hattest keine andere Wahl, Dev. Außerdem hast du dadurch einen Haufen Leben gerettet.« »Ja, aber plötzlich bin ich die lange Mohnblume.« »Was heißt das denn jetzt?« »Na ja, stell dir ein Mohnblumenfeld vor, eine von den Blumen ragt zu weit raus, das ist die, die du abmähst. Seit diesem ... Vorfall wird alles, was ich tue, besonders gründlich und schief angesehen. Lanier hat es heute Morgen wieder zur Sprache gebracht, hat mehr oder weniger gesagt, dass es für ihn viel leichter wäre, wenn nicht ich den Fall Palmer untersuchen würde. Für alle wär's leichter. Was tu ich also? Ich weiß, ich stecke unter einem Vergrößerungsglas, nicht wahr. Und daran denke ich dann die ganze Zeit. Wie das, was ich tue, wahrgenommen wird - wenn du diesen Quatsch fassen kannst.« »Mach dir deswegen keinen Kopf. Mach einfach deine Arbeit.« »Du hast leicht reden. Ich hab Lanier heute Morgen davon zu überzeugen versucht, dass ich tatsächlich auch andere Tatverdächtige ins Auge gefasst
hätte. Hab ich auch, aber ich konnte keinen davon Gestalt annehmen lassen, außer Parisi. Anscheinend krieg ich mein Gehirn nicht mehr dazu, so zu arbeiten wie früher.« »Du bist einer Spur gefolgt, bis sie sich verlaufen hat, Dev. So geht das nun mal.« »Nein. Es ist mehr als das. Wie mit dem Bild eben.« Juhle verstellte die Stimme. »Oh, ach ja? Es muss nicht unbedingt in jüngerer Vergangenheit aufgenommen worden sein. Tatsächlich könnte es sogar zehn verschissene Jahre alt sein.« Er sah Hunt an, schüttelte wieder den Kopf, fuhr mit seiner normalen Stimme fort: »Herrgottnochmal! Wo ist mein Verstand?« 212 »Dein Verstand ist vollkommen in Ordnung, Dev.« »Nett, dass du das sagst, aber du steckst nicht hier mit drin in meinem Kopf, Wyatt. Inzwischen guck ich selber schief auf das, was ich mache. Unsere Arbeit beruht zur Hälfte auf Instinkt, und ich hab fast überhaupt kein Vertrauen mehr in meinen. Und zum Ausgleich tue ich natürlich immer so, als sei ich mir total sicher, auch wenn ich es nicht bin oder sein sollte. Es macht mich echt fertig.« Hunt ging zum Fenster und schaute für einen Moment nach draußen, dann kam er zurück und setzte sich neben seinen Freund. »Falls es irgendeine Hilfe ist«, sagte er, »ich persönlich glaube, dass du immer noch das gleiche Arschgesicht bist wie eh und je. Und die einzige Methode, andere davon zu überzeugen, dass du ein guter Cop bist, ist die, auf lange Sicht einer zu sein. Lass dich nicht drängen, etwas zu vertreten, was möglicherweise falsch ist. Die Ermittlung geht weiter. Du weißt noch nichts Genaues und sagst nichts, bevor du nicht mehr weißt. Dann verstopfst du dir nicht den Kopf mit diesen ganzen Selbstzweifeln. Du tust einfach, was du tust.« »Er ist auf mich losgegangen, Wyatt. Er hatte schon Shane getötet, und dann hat er eine Ladung auf mich abgefeuert. Ich hatte überhaupt keine Wahl.« »Ich glaube dir. Genau wie jeder einzelne Cop in dieser Stadt. Einschließlich Lanier.« »Paarmal in der Woche wach ich immer noch auf. Seh, wie sich der Doppellauf senkt. Connie will sogar, dass ich mal zum Seelenklempner gehe.« »Umbringen würde es dich vielleicht nicht.« »Vielleicht sollt ich's tun.« »Könnte nicht schaden.« 212 Nach kurzem Schweigen sah Juhle auf seine Uhr, sagte: »Beerdigung«, und erhob sich. Sie fuhren die Second Street entlang, waren unterwegs zur Redaktion des Chronicle, und diesmal saß Juhle auf dem Beifahrersitz. Hunt sprach von hinten: »He, Mick, alles in Ordnung bei dir?«
»Einwandfrei. Wieso?« »Weil das jetzt ungefähr das vierhundertste Mal ist, dass ich bei dir im Auto sitze, und noch nie hast du dich so dicht an der zulässigen Höchstgeschwindigkeit bewegt.« »Ich fahr nie schneller, als erlaubt ist«, sagte Mickey. »Ich weiß gar nicht, was du willst.« »Inspector Juhle hier ist kein Verkehrspolizist«, sagte Hunt. »Der interessiert sich nur für Mordfälle.« Aber Mickey Dade wusste, dass Hunt sehr wohl imstande war, ihn aufs Glatteis zu führen - ihn dazu zu verleiten, auf neunzig hochzugehen -, und Juhle würde ihm dann einen Strafzettel verpassen, während Hunt sich ins Fäustchen lachte. Also wandte er sich an den neben ihm sitzenden Juhle. »Ist das wahr? Sie schreiben keine Strafzettel? Ich dachte, alle Cops sind irgendwie für alles zuständig.« »Soll das ein Witz sein?«, fragte Juhle. »Verkehrspolizei macht Verkehr. Ich mach Mord. Um ehrlich zu sein, ich werde selbst alle ein, zwei Monate angehalten, wegen Überschreitung der Geschwindigkeit, Überfahren einer roten Ampel oder irgend so 'nem Scheiß.« »Und dann kriegen Sie 'n Zettel?« »Nein, natürlich nicht. Die sehen dann ja mein Abzeichen, und entweder ziehen sie sich dann zurück, oder ich knall sie ab. Aber theoretisch muss ich mich, wenn ich ohne Blaulicht fahre, an die Verkehrsregeln halten, sonst gibt's 213 einen Strafzettel. Genau wie bei Ihnen oder jedem anderen Verkehrsteilnehmer.« »Irre«, sagte Mickey. »Ist das wirklich wahr?« »Pfadfinderehrenwort.« »Cool.« Und Mickey jagte sein Taxi vor der nächsten Kreuzung kurz auf siebzig hoch. Als Mickey vor dem Gebäude des Chronicle hielt, öffnete Juhle seine Tür. »Es macht Ihnen nichts aus, zu warten?« »Kein Thema.« Juhle verschwand im Gebäude, und Mickey blickte über die Schulter nach hinten. »Wie fandst du denn die Bilder? Das ist ein irres Haus. Das von den Manions.« »Oh, ja, ich bezahl dir natürlich die Stunden, aber wie sich herausgestellt hat, war Juhle schon draußen und hat mit ihr gesprochen. Tut mir Leid.« »Ist nicht weiter schlimm. Ich hab das Haus jedenfalls fotografiert und dir die JPEG-Dateien gemailt, nach Hause und ins Büro. Solltest du dir echt angucken.« »Mach ich.« »Eines Tages, wenn ich ein berühmter Koch bin, dann hab ich auch so ein Haus.«
»Ich hoff es für dich, Mick. Ehrlich und wahrhaftig.« »Verdammte Scheiße! Gott-verdammte Scheiße!« Juhle stand auf der GearyStreet-Seite des weit gestreckten Betonareals vor Saint Mary's Cathedral und ließ sein Handy zuschnappen. »Shiu noch mal wieder?«, fragte Hunt sanft. »Weißt du, wie lange es dauert, einen Ballistiktest durchzuführen, mit allem Drum und Dran? An schlechten Tagen 214 vielleicht eine Stunde. Weißt du, wie lange Shiu schon wartet, dass sie überhaupt damit anfangen?« Juhle blickte auf seine Armbanduhr. »Zweieinhalb Stunden.« »Und du meinst jetzt, du hättest mit ihm gehen sollen, ein bisschen Autorität ausüben, wie du dich ausgedrückt hast? Aber ich glaube, es ist ganz gut so, wie es ist. Da Andrea keine dieser Pistolen auf den Richter oder sonst wen abgefeuert hat, werden diese Tests sowieso nicht das erbringen, was du dir erhoffst, und dann wärst du erst richtig sauer. Außerdem, wenn du ins Labor gefahren wärst, wärst du nicht in Andreas Büro gekommen, und was dann? Dann würdest du noch immer glauben, dass sie deine Tatverdächtige ist. Stattdessen bist du jetzt hier und hast die Möglichkeit, jemanden zu sehen, wenn nicht gar zu sprechen, der tatsächlich etwas mit dem Fall zu tun haben könnte, den du aufzuklären versuchst.« In den letzten Tagen war es so weit gekommen, dass Hunt, ganz gleich, wo er hinkam, fast schon damit rechnete, auf das eine oder andere Fernsehteam zu stoßen. Auch hier waren jedenfalls alle drei Lokalsender und einige Kabelkanäle vertreten, wenn es auch so aussah, als habe Gerichts-TV es unerklärlicherweise nicht für nötig befunden, Palmers Beerdigung live und direkt zu übertragen. Vereinzelte Sonnenstrahlen fielen auf die Trauergäste, die sich in Scharen einfanden. Juhle hielt zunächst Abstand am Rand des Geländes, um sich einen Überblick zu verschaffen, dann aber stieß er Hunt an, der sich zum Schutz gegen den hartnäckigen Wind das Jackett zuknöpfte, und die beiden Männer schritten die Reihe der Minicams ab. Hunt schätzte das Gästeaufkommen bereits jetzt auf zwei-bis dreihundert Personen. Er erkannte eine ganze Reihe von Angehörigen der städtischen Machtelite, die in der Gegend 214 herumstanden und möglicherweise darauf warteten, dass sie selbst interviewt würden - das Leben als immer währender Fototermin. Sie blieben kurz stehen und lauschten Bürgermeisterin Kathy West, wie sie gegenüber der Blonden von Channel 4 die Verdienste und Tugenden des Richters Palmer pries. Polizeichef Frank Batiste führte eine Phalanx seiner Spitzenbeamten, allesamt in blauer Ausgehuniform, durch den Eingang der Kathedrale. Eine Frau, in
der Hunt eine weitere Bundesrichterin erkannte, erzählte dem Vorzeigemann von Channel 7 eine Anekdote. Natürlich strömten auch ununterbrochen Zivilisten herbei. Juhle machte auf Jeanette, die Witwe des Richters, aufmerksam sowie auf deren Schwester Vanessa, die selbst in Trauerschwarz noch extravagant aussah. Palmers Sekretärin und sein Bürovorsteher waren auch da. Ein älteres Paar erregte Juhles Aufmerksamkeit. Woher kannte er die noch mal? Gleich aber schnipste er mit den Fingern und sagte: »Carol Manion ... und Ehemann, vermute ich.« Hunt entdeckte Dismas Hardy, der sich in Begleitung einer sehr hübschen Rothaarigen und seiner beiden Partner Wes Farrell und Gina Roake befand und in schwarzen Nadelstreifen nichts mehr von seiner Barkeeperpersönlichkeit erkennen ließ. Farrell nickte düster zum Gruß herüber. Dann sah Hunt Gary Piersall vorn neben einem der Wagen stehen, die Hände in die Taschen gestopft; er vermittelte den Eindruck eines wandelnden Leichnams. Nachdem er sich stumm mit Juhle verständigt hatte, berührte Hunt, beim Anwalt angelangt, diesen leicht am Arm. »Mr Piersall. Guten Morgen.« »Mr Hunt. Inspector ... Juhle, nicht wahr?« Piersall streckte die Hand aus. Die Männer schüttelten sie. »Es 215 ist ein trauriger Tag«, sagte Piersall. »Machen Sie Fortschritte?« »Nicht genug.« Juhle deutete kopfnickend auf ein Interview, das unweit von ihnen geführt wurde. »Wer ist das?«, fragte er. »Jim Pine«, sagte Piersall. »Ein Mandant von mir. Er und der Richter waren miteinander bekannt.« Hunt warf Piersall einen Blick von der Seite zu, um zu sehen, ob das ein Witz sein sollte. Aber nein, das war einfach die Marschroute des Tages. Hunt begriff, dass Piersall ihn nicht zu seinen Funden in Andreas Büro befragen würde. »Er steht der Gewerkschaft der Gefängniswärter vor, nicht wahr?«, fragte Hunt mit Blick auf Juhle. Piersalls Augen schössen zwischen beiden hin und her. »Ja, das ist richtig.« »Worüber redet er?«, fragte Juhle. »Offenbar ist in verantwortungsloser Weise versucht worden, eine Verbindung zwischen dem Tod des Richters und gewissen Maßnahmen zu ziehen, die er unlängst in Bezug auf Gewerkschaftsangelegenheiten in Betracht gezogen hat. Mr Pine weist derartige Spekulationen als lächerlich zurück, was sie selbstverständlich auch sind.« »Tatsächlich?«, sagte Juhle. »Ist das Ihre Position? Ich muss Ihnen nämlich sagen, ich habe selbst ein bisschen darüber gehört, und für mich klingt es keineswegs so abwegig. Vor allem jetzt, angesichts der Situation mit Andrea Parisi.«
»Nun, Inspector, wenn das die Richtung ist, in die Ihre Ermittlungen Sie führen, dann ist es kein Wunder, dass Sie keine Fortschritte machen. Wenn Sie mich aber jetzt bitte entschuldigen wollen, es sieht so aus, als sei Mr Pine so weit fertig, und wir müssen sehen, dass wir nach drinnen kom 216 men.« Piersall warf Hunt einen letzten wütenden Blick zu und wand sich dann um ihn herum, um zu seinem Mandanten zu kommen. »Lass ihn gehen«, flüsterte Hunt und zog Juhle mit sich. »Das macht er nur in Pines Interesse. In der Öffentlichkeit muss er den guten Anwalt geben. Aber gestern Nacht hat er mir erzählt, dass er sich zu Tode fürchtet.« »Vor Pine?« »Geh weiter. Ja, vor Pine.« Juhle ging ein Licht auf, und er blieb abrupt stehen. »Du hast ihn letzte Nacht gesprochen. So hast du Parisis Wagen gefunden. Du warst wegen was anderem dort.« »Ich war dort auf der Suche nach dem, was ich heute Morgen gefunden hab, Dev. Ich wusste es zu dem Zeitpunkt nur noch nicht, weil ich es noch nicht gefunden hatte.« »Na, ich muss mich jedenfalls mal ein paar Takte mit Mr Pine unterhalten.« »Meinst du, er redet mit dir?« »Ich bin Polizist, Wyatt. Es ist nicht so, dass er sich das aussuchen könnte.« »Er wird seinen Anwalt dabeihaben. Er hat jetzt schon seinen Anwalt dabei. Du vergeudest nur deine Zeit. Das weißt du so gut wie ich.« »Hast du eine bessere Idee?« »Weißt du was?«, sagte Hunt. »Ich glaube, ja.« Sie beschlossen, sich um den Häftling zu kümmern, der aus dem Gefängnis geflohen war. Auf der Habenseite kann San Quentin verbuchen, dass es auf einem großen Gelände direkt am Wasser mit Ausblick auf den Hafen liegt. Juhle erzählte Hunt, seiner Ansicht nach könnte man als Bauunternehmer ein Vermögen ma 216 chen, wenn man hier einen kleinen Stadtteil aus gehobenen Wohnanlagen mitsamt einem exklusiven Einkaufszentrum errichten würde, einen Jachthafen und Restaurants mit Blick auf die Bay. Was sich derzeit auf dem Grundstück befinde - klobige Betongebäude im Industrielook, die im Rechteck um einen Innenhof angeordnet waren -, müsse natürlich abgerissen werden und auch müsse man sich etwas einfallen lassen, um die gewaltige Masse an schlechtem Karma auszutreiben, angesammelt in Jahrzehnten, in denen der hier ansässige Betrieb die ihm Anvertrauten beherbergt, ernährt, bewacht und exekutiert habe. Aber wenn das erst mal erledigt sei: »Dann braucht das Ganze nur noch einen schicken Namen. Die Yuppies würden kilometerweit
Schlange stehen, um sich einzukaufen. Apropos >Schlange<, wie wär's mit >Q by the C<, Q wie >queue< und C wie >sea<, verstehst du?« »Ja, das hab ich verstanden. Du hast deine wahre Berufung verfehlt, Dev, ehrlich wahr.« Hunt saß am Steuer, sie hatten die Hauptstraße vor zwei Kilometern verlassen und reihten sich nun in eine zwar kurze, aber doch unerwartete Schlange von Fahrzeugen ein, die sich langsam auf den Kontrollposten am Tor zubewegte. Dreihundert Meter weiter, jenseits der Verwaltungsgebäude, sahen sie den Eingang zum eigentlichen Gefängnis. Wächterhaus, Doppelzaun, Stachel- und Panzerdraht. »Wie kann man aus diesem Schuppen ausbrechen?« »Gute Frage. Um das herauszufinden, sind wir ja hier.« Juhle hatte von unterwegs im Büro des Gefängnisdirektors angerufen, um ihren Besuch anzukündigen - als Kriminalbeamter, der in einem aktuellen Mordfall ermittelte, zumal in einem so bedeutsamen Fall, hatte er theoretisch Zutritt, wo immer er es für nötig befand -, und sie brauch 217 ten nur eine Minute an dem Kontrollposten, um sich auszuweisen und anzumelden. Inzwischen war es früher Nachmittag - an einem Freitag -, und der Parkplatz zur Linken war zur Hälfte gefüllt mit den Autos von anderen Besuchern: Ehefrauen, Freundinnen, Kindern, Anwälten. Aber Hunt war nach rechts gewiesen worden, zu einem der Verwaltungsgebäude, und er lenkte seinen Wagen auf einen vor diesem gelegenen Besucherparkplatz. Der Wind, der ihnen kalt und schneidend ins Gesicht schlug, als sie aus dem Auto stiegen, wehte von der Bay her. Gus Harron, der Gefängnisdirektor, strahlte eine resolute Kompetenz aus, die einem Bürokraten wie ihm, der über einen Jahresetat von über hundertzwanzig Millionen Dollar gebot, auch gut anstehen mochte. In San Quentin saßen über fünftausend Gefangene ein, doppelt so viele, wie es der baulichen Kapazität entsprach, und es bot Arbeitsplätze für insgesamt eintausendfünfhundert Wärter und sonstige Angestellte. Harron trug einen grauen Geschäftsanzug, weißes Hemd, dunkelgraue Krawatte. Er besaß einen lang gestreckten Körper, an dem kein Gramm Fett zu sehen war. Eine randlose Brille schien de^ herrischen Gesichtszügen noch zusätzliche Schärfe zu verleihen, aber jetzt kam er hinter seinem Schreibtisch hervor und schüttelte recht freundlich die Hände, nahm dann auf einem Sofa unter einem seiner Fenster Platz und bat Juhle und Hunt, es sich auf den Sesseln gegenüber bequem zu machen. »Hab ich das recht verstanden, Inspector?«, begann er. »Sie bearbeiten den Mordfall Palmer?«
»Das ist richtig. Und Mr Hunt ist Privatdetektiv und hat für einen seiner Kunden - eine Anwaltskanzlei namens Piersall-Morton - Ermittlungen durchgeführt, die sich an 218 einigen Punkten mit meinen eigenen zu überschneiden scheinen.« Er machte eine Pause. »Andrea Parisi arbeitet für Piersall.« Harron lehnte sich, die Beine übereinander geschlagen, zurück, gab zu verstehen, dass ihm die Verbindung intuitiv klar war. »Und Ihre Ermittlungen stehen alle beide in irgendeinem Zusammenhang mit San Quentin?« Juhle rutschte ein bisschen auf seinem Platz herum. »Das können wir nicht mit Sicherheit sagen, Sir. Unser Interesse ist, so viel wie möglich über den Insassen zu erfahren, der letzten Montag von hier entkommen ist.« Alle Liebenswürdigkeit wich aus dem Gebaren des Direktors. »Arthur Mowery. Er ist der erste Flüchtling, den ich in sechs Jahren hatte. Sie sollten Kontakt mit den Beamten von der Strafvollzugsbehörde aufnehmen, die den Vorgang untersuchen. Ich darf Ihnen versichern, dass es eine umfassende Untersuchung dieses Vorgangs und einen entsprechenden Bericht geben wird.« »In den Zeitungen stand, dass er zum Rauchen nach draußen gegangen und dann einfach verschwunden ist.« Juhle formulierte möglichst vorsichtig. »Wir haben uns gefragt, ob Sie uns nicht nähere Einzelheiten mitteilen könnten.« Harron schlug die Beine auseinander und beugte sich vor. »Hören Sie. Ich möchte eigentlich überhaupt nicht darüber sprechen. Eine Flucht ist das Schlimmste, was einem Gefängnisdirektor überhaupt passieren kann, und jetzt soll ich Ihnen auch noch dabei helfen, es noch schlimmer zu machen, indem Sie eine Verbindung zur Ermordung eines Bundesrichters herstellen.« »Wir wissen nicht, ob es eine derartige Verbindung gibt«, sagte Juhle. »Wenn Sie diese Möglichkeit ausschließen können, wären wir Ihnen dankbar.« 218 Eine lange Pause entstand, während Harron darüber nachdachte. »Na schön«, sagte er schließlich. »Aber wie könnte Mowery auch nur theoretisch mit dem Mord an Palmer in Verbindung stehen?« »Wir haben einige Zeitungsartikel gesehen, in denen über die Möglichkeit spekuliert wird, dass die Gewerkschaft auf Bewährung Entlassene benutzt, um draußen gewisse Jobs zu erledigen.« »Was für Jobs?« »Einschüchterung. Erpressung. Wandalismus.« »Mowery hat wegen Verstoßes gegen seine Bewährungsauflagen eingesessen«, fügte Hunt hinzu. »Nach seiner ersten Entlassung stand er tatsächlich auf der Lohnliste der Gewerkschaft.« Harrons Augen waren schmale Schlitze. »Ja, und?«
»Und Inspector Juhle und ich dachten uns, dass es sich lohnen könnte, Sie zu fragen, ob Sie irgendwas darüber gehört haben, dass Mowery wegen seiner Weigerung, Befehle auszuführen, wieder hier gelandet ist.« »Was für Befehle?« Juhle zuckte die Achseln. »Palmer zu beseitigen, zum Beispiel.« ^ Harrons Gesichtszüge waren mittlerweile versteinert. »Blödsinn.« Jäh erhob er sich, ging zur Tür seines Büros, öffnete sie und sah nach draußen. Dann machte er sie wieder zu, kam zu Juhle und Hunt zurück und setzte sich wieder hin. Als er weitersprach, war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »So etwas kann gar nicht passieren. Und selbst wenn doch, dann wäre Mowery nach Ihrer Theorie nicht als verschwunden gemeldet worden.« »Nur ist er halt ausgebrochen«, sagte Hunt. »Und ist nun wirklich verschwunden.« 219 Juhle war ganz Zurückhaltung. »Wir möchten einfach nur etwas mehr über die Flucht erfahren. Vielleicht gab es einen unerwarteten Schichtwechsel bei den Wärtern ...« »Alle Insassen müssen zum Einschluss in ihren Zellen sein, Inspector. Es gibt keine Ausnahmen. Wenn jemand nicht da ist, wird das sofort gemeldet. Wie es auch hier der Fall war.« Er sah Juhle streng an, schüttelte abschätzig den Kopf. »Hören Sie. Diese Leute, die Insassen, die kommen nicht raus, um Jobs zu erledigen.« »Das ist uns klar, Sir«, sagte Hunt. »Aber bis zum letzten Wochenende war Mowery auf Bewährung frei.« »Okay. Und?« Juhle nahm den Faden auf. »Und womöglich bekam er einen Verstoß angelastet und musste wieder einrücken, weil er sich geweigert hatte, einen bestimmten Job zu erledigen.« Harron kaufte es ihnen nicht ab. »Ob drinnen oder draußen, diese Leute sind keine Auftragsarbeiter, meine Herren. Das sind Psychopathen. Sie halten sich an keine Vereinbarungen und an keine Regeln. Wenn sie rausgelangen, sind sie verschwunden, bis wir sie wiederfinden. Von selbst kommen sie niemals zurück.« Hunt wusste, dass dies die nahe liegende und durchaus korrekte Antwort war. Sie behielt obendrein das eigene Interesse im Auge. Aber jeder im Raum wusste, was ungesagt blieb - nämlich dass jedes Gefängnis einen blühenden Schwarzmarkt für Tabak, Alkohol und Drogen besaß; dass sexuelle Kontakte nicht nur zwischen den Häftlingen, sondern auch zwischen Häftlingen und Wärtern nichts Unbekanntes waren; dass »Zweckehen« oder Beschützerverhältnisse oder sogar Liebe Bindungen schaffen konnten, die ebenso stark waren wie die Entsprechungen in der Außenwelt, Bindungen, die das Leben im Gefängnis angenehmer
220 machen konnten als ein Leben außerhalb; dass Wärter Gefangene totprügeln konnten, ohne dafür je zur Rechenschaft gezogen zu werden; dass die Omertà - das Gesetz des Schweigens - unter den Wärtern in allen Gefängnissen des Staates galt. Ganz gleich, welche Art von kriminellen Handlungen von einigen wenigen korrupten Wärtern begangen oder begünstigt werden mochten - Geldwäsche, Prostitution, Drogenhandel, Mord -, die Gefährlichkeit und die Langeweile der täglichen Arbeit sowie die gegenseitige Abhängigkeit der Männer untereinander garantierten, dass kein Wärter jemals als Zeuge gegen seinesgleichen aussagte. Ein schlechter Wärter war ein schlechter Wärter, gewiss, aber zuerst war er ein Bruder. Und seinen eigenen Bruder verriet man nicht. Das war die Gefängniskultur. Hunt, Juhle und Harron wussten, dass Arthur Mowerys Flucht sehr wohl in geheimer Absprache mit Gefängniswärtern geplant und ins Werk gesetzt worden sein konnte. Juhle sagte: »Wie dem auch sei, es bleibt uns momentan nichts anderes übrig, als Mr Mowery als eine für unsere Ermittlungen relevante Person zu betrachten.« »Tun Sie, was Sie für richtig halten«, sagte Harron. »Aber lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Wurde in irgendeinem der Artikel, die Sie gelesen haben, in irgendeiner Form Bezug auf San Quentin genommen?« »Nein, Sir. Corcoran, Avenal, Pelican Bay, Folsom und noch einige andere, aber nicht San Quentin.« »Ich möchte davon ausgehen, dass nichts von dem, was Sie angedeutet haben, unter meiner Aufsicht möglich wäre.« »Ja, Sir.« »Wir haben natürlich selbst ein paar Voruntersuchungen angestellt.« Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm eine 220 Mappe zur Hand. Seine Schultern entspannten sich. Er strich sich mit der ganzen Hand über den Scheitel. »Ich kann Ihnen das nicht alles geben, aber wofür interessieren Sie sich im Einzelnen?« »Geben Sie uns einen Tipp«, sagte Juhle. Inzwischen auf seinem Stuhl sitzend, hielt Harron die Mappe aufgeschlagen in den Händen. Er rückte seine Brille zurecht, doch bevor er zu lesen begann, hob er noch einmal den Kopf und ließ seinen Blick ins Leere schweifen. »Mowerys zwei vorherige Verstöße gegen Bewährungsauflagen sind in diesem Zusammenhang ganz aufschlussreich, nicht wahr?« Dann wandte er sich wieder der Mappe zu, blätterte einige Seiten um, reichte einen Computerausdruck über den Schreibtisch. Juhle und Hunt hatten sich erhoben, standen nun vor dem Tisch des Gefängnisdirektors.
»Dreimal wegen Körperverletzung notiert«, sagte Harron. »Aktiv in der AB der Arischen Bruderschaft - als Mann fürs Grobe, wird vermutet. Im Gefängnis in eine tödliche Messerstecherei verwickelt. Keine aussagewilligen Zeugen, daher keine Strafverfolgung. Fünftausend Dollar auf dem Konto. Wahrscheinlich Bestechung oder Erpressung oder beides.« »Er hat also Geld«, sagte Hunt, »mit anderen Worten, eine Verbindung nach draußen.« Juhle las in dem Ausdruck. »Offenbar hat er sich ... acht Jahre lang nichts zuschulden kommen lassen.« »Entweder das«, sagte Hunt, »oder sein Bewährungshelfer hatte einen Grund, ihm keinen Verstoß mehr anzulasten.« Juhle sah den Direktor an. »Sie haben nicht zufällig Mowerys Anwalt da drin?« 221 Harron blätterte ein wenig, fand eine Visitenkarte, die an einer der Seiten befestigt war. »Vor sieben Monaten war es jedenfalls ein gewisser Jared E. Wilkins. Sage und schreibe schon der dritte.« Er reichte die Karte herüber. Juhle nahm sie entgegen, warf einen Blick drauf, hielt sie Hunt zum Lesen hin. »Sacramento«, sagte er. »Hat das irgendeine Bedeutung?«, fragte Harron. »Wie kommt ein Krimineller aus San Francisco dazu, sich einen Anwalt aus Sacramento zu nehmen?«, fragte Hunt. Er holte sein Handy hervor und gab kurz entschlossen die Nummer auf der Karte ein. »Mr Wilkins, bitte«, sagte er. »Sicher, Jim Pine. Ja, ich weiß, ich kämpf gerade gegen eine Erkältung an.« Hunt klappte das Handy wieder zu und sah Juhle an. »Mowerys Anwalt kennt Pine.« Harrons Mund stand offen. Es dauerte ein bisschen, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. »Falls sich daraus irgendetwas ergibt, Inspector«, sagte er, »wäre ich dankbar, wenn Sie mich unterrichten könnten, ganz unter uns.« »Falls sich aus dieser Sache etwas ergibt, Herr Direktor, wird die ganze Welt davon erfahren. Wer ist Mowerys Bewährungshelfer, der ihn zweimal wieder eingebuchtet hat?« ^ Als Harron die Seite fand, die er suchte, stieß er ein halb unterdrücktes »Heilige Scheiße« hervor. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Phil Lamott.« »Der Name sagt Ihnen etwas«, sagte Juhle. Der Gefängnisdirektor nickte. »Ich erkenne den Namen wieder. Er hat seine Laufbahn hier begonnen, Anfang der Neunziger. Als Wärter.« 221
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Als sie zu ihrem Auto zurückkamen, ging Juhles Telefon. Noch bevor der erste Klingelton zu Ende war, hatte er es schon in der Hand, prüfte die Nummer des Anrufers und sagte: »Schieß los, Shiu. Erzähl mir was Schönes.« Aber der Anruf schien ihn nicht glücklich zu machen. Nachdem er nicht mal eine Minute lang zugehört und dabei unablässig den Kopf geschüttelt hatte, sagte er: »Ich verlasse gerade San Quentin, zusammen mit Wyatt Hunt. Nein, nicht das Gefängnis, Shiu. San Quentin, den Schnellimbiss. Kennst du nicht? Hier draußen beim Cliff House. Sagenhafte Fritten. Egal, wir haben aber vielleicht was anderes. Hunt kann mich beim Gerichtsgebäude absetzen, ich erzähl's dir dann.« »Lass mich raten«, sagte Hunt, als Juhle das Handy zuklappte. »Die ballistischen Ergebnisse passen nicht.« »Ich hasse diesen Kerl«, sagte Juhle. Auf der Fahrt zurück in die Stadt führte Juhle noch ein paar Telefongespräche, um sich bestätigen zu lassen, dass weder Andrea noch Arthur Mowery inzwischen aufgetaucht waren. In beiden Fällen erhielt er die erwartete Auskunft. Nach einem weiteren längeren Telefonat, bei dem Juhle einige Fragen stellte, die meiste Zeit aber schwieg, packte er das Handy weg. »Das war Jeff Eliot. Vom >Stadtgespräch<.« Das war eine beliebte C/zronz'c/e-Kolumne, die sich häufig mit den Gesetzen und ihren Anwendern befasste. »Ich kenn ihn gut. Was hatte er zu sagen?« »Im Prinzip alles. Aber ich hab ihn nur gefragt - du hast es ja gehört -, ob er weiß, wessen es bedarf, damit jemand wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen wieder einge 222 buchtet wird. Na, was meinst du? Ah, du gibst auf? Sein Bewährungshelfer erklärt, es liege ein Verstoß vor, Punkt. Hat 'nen Joint geraucht. Sich mit den falschen Leuten rumgetrieben. Kein richterlicher Befehl, kein Beweis notwendig. Gibt es irgendeine Form von Anhörung dazu? Irgendein Gespräch mit einem Richter, einer Jury oder einem Anwalt?« »Ich vermute, nein.« »Und du hast Recht. Wenn also dein unter Auflagen freigelassener Häftling schließlich wieder ins Gefängnis einrückt, was passiert dann?« »Es gibt eine große Wiedersehensparty?« »Genau. Mit Luftballons und allem. Aber danach bekommt er innerhalb von fünfunddreißig Tagen eine Anhörung vor einer Bewährungskommission, die ausschließlich aus Strafvollzugsbeamten zusammengesetzt ist, und rate mal, in wie viel Prozent der Fälle diese Kommission die ergangene Maßnahme bestätigt?« »Hundertzehn?« »Nahe dran. Neunundneunzigeinhalb. Und unser Mann kriegt dann noch bis zu einem Jahr zusätzlich wegen des Verstoßes aufgebrummt. Und das kann
sich so fortsetzen bis hin zu drei Jahren, selbst wenn du ursprünglich nur eine Einjahresstrafe abzusitzen hattest. Kannst du Berufung einlegen ? Klar. Das dauert acht Monate und ist in null komma fünf Prozent der Fälle von Erfolg gekrönt. In einem von zweihundert.« »Will Eliot darüber ein Buch schreiben oder was?«, fragte Hunt. »Ich hab ihn in einem glücklichen Moment erwischt. Er hat mir halb das Ohr abgekaut. Wie gesagt, er weiß alles. Willst du noch mehr Fakten hören?« 223 »Muss es dabei um die Gewerkschaft gehen? Ich würde gern wissen, wie tief der Lake Tahoe ist.« »Zu tief, um bis zum Grund zu tauchen. Das ist alles, was du wissen musst. Hier ist aber die letzte echte Frage: Wie viele Häftlinge in den kalifornischen Gefängnissen sitzen wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen ein? Ich spreche jetzt von Prozentzahlen.« »Neunzehn?« »Fünfzig.« »Das wäre ja die Hälfte.« »Richtig.« »Also mehr als neunzehn Prozent?« »Ja, Wyatt. Viel mehr.« Juhle musste auf Shiu warten, aber Hunt hatte seinen eigenen fahrbaren Untersatz und sein eigenes Programm und keine Lust mehr, auf irgendjemanden zu warten, nicht jetzt, da er das Gefühl hatte, so nahe dran zu sein. Er setzte Juhle schließlich vor dem Gerichtsgebäude an der Bryant ab, bog dann um die Ecke und fuhr Richtung Mission Street, wo er, Mickey Dades Fahrstil nach Kräften imitierend, nach links abbog. Das Strafaussetzungsbüro war sechs Straßen entfernt, und falls er Phil Lamott dort nicht erwischte, war die Nebenstelle auch nicht viel weiter weg. Es war Nachmittag geworden, zwischen halb drei und drei; inzwischen waren fast genau achtundvierzig Stunden vergangen, seit er Andrea in ihrem Haus zurückgelassen hatte. Da er lange Zeit seines Lebens in der städtischen Bürokratie tätig gewesen war, wusste Hunt, dass die Chancen recht gut standen, einen Bewährungshelfer, ähnlich wie seine ehemaligen CPS-Kollegen, an einem Freitagnachmittag in seinem Büro anzutreffen, wo noch schnell 223 der Papierkram zu erledigen war, bevor es ins Wochenende gingVon Nahem ordnete er Lamott in seine eigene Altersklasse ein. Die schmutzig-blonden Haare waren nach Polizeimaßstäben ein bisschen lang. Er hatte mal schwer unter Akne gelitten und versuchte nun weitgehend erfolglos, die Narben unter einem kurzen Zottelbart und einem sehr dünnen Schnäuzer zu verbergen. Er saß, seitlich von seinem überquellenden Schreibtisch, über einen Dinosaurier von einer Schreibmaschine gebeugt und tippte vor sich hin, füllte offenbar irgendein amtliches Formular aus. »Officer Lamott?«
Seine Finger blieben in der Luft stehen, sein Kopf drehte sich. Hunt erkannte sofort den typischen Gesichtsausdruck aus seiner CPS-Zeit - o bitte, jetzt bloß keine Arbeit mehr so kurz vor dem Wochenende. »Ja, was kann ich für Sie tun?«, fragte er, ohne sich dem Besucher zuzuwenden, ohne ihm die Hand entgegenzustrecken. Hunt stellte sich vor, zeigte seinen Ausweis. Juhle hatte dem Gefängnisdirektor Hunts Mitwirken an dieser Ermittlung auf eine Weise verkauft, die Fragen nach der Legitimität nicht so leicht aufkommen ließ. Hunt griff darauf jetzt wieder zurück. »Ich arbeite für eine hiesige Anwaltskanzlei, Piersall-Morton, und versuche eine ihrer Anwältinnen ausfindig zu machen, die verschwunden ist.« »Andrea Parisi«, sagte Lamott. Es war immer noch das Nachrichtenthema Nummer eins. »Ganz recht.« »Was hat sie mit mir zu tun?« »Nichts. Aber sie könnte etwas mit Arthur Mowery zu tun haben.« 224 Jetzt wurde er aufmerksam. Er ließ seine Schreibmaschine im Stich und drehte sich herum. »Was soll das heißen?« Hunt war klar, dass er Lamott, damit diesem das Szenario, in dem sie sich bewegten, halbwegs plausibel erschien, die gleichen ins Detail gehenden Erklärungen anbieten musste, die er zuvor auch Harron gegeben hatte. Dies zu tun war er aber nicht gewillt, unter anderem schon deshalb, weil jede Verschwörungstheorie, die CCPOA-Mitglieder einschloss, mehr oder weniger deutlich auch eine Beteiligung entweder von Lamott selbst oder einem seiner Kollegen in ähnlicher Position nahe legte. Also machte er es möglichst unkompliziert und vermied jeden Hinweis auf den Mord an Palmer und Rosalier. »Das heißt, dass die Polizei sich im Zusammenhang mit ihrem Verschwinden für ihn interessiert.« »Arthur? Kannte er sie denn?« »Ich hatte gehofft, das von Ihnen zu erfahren. Ich nehme an, dass Sie derjenige sind, der ihn die beiden Male, als er unter Auflagen auf freiem Fuß war, ins Gefängnis zurückgeschickt hat.« »Ja, das war ich. Beide Male.« »Was hat er getan?« »Das Übliche. Er war auf Droge. Was soll er... Sie meinen, er hätte Parisi entführt oder so was?« »Die Polizei ist offenbar der Ansicht. Von denen hab ich es.« »Reden die heutzutage mit Privatdetektiven?« »Ich versuche sie ausfindig zu machen. Die versuchen ihn aufzuspüren. Wir kooperieren.« »Haben sie Gründe genannt? Haben sie Beweise?« »Mir gegenüber nicht, und nein, nicht dass ich wüsste.«
225 Lamott zog an einem Ende seines Schnäuzers, dann an dem anderen. Er knetete seine Unterlippe. »Aber worauf gründet sich ihr Interesse? Gibt es eine Lösegeldforderung? Hat er von irgendwo angerufen?« Hunt täuschte Unwissenheit vor. Und stellte seinerseits Fragen. »Mir ist aufgefallen, dass acht Jahre zwischen seinen Verhaftungen liegen.« »Er hat geheiratet und sich für eine Weile zusammengerissen. Ist rauf nach El Dorado Hills gezogen, irgendwo da in die Gegend, hat offenbar ein ganz normales bürgerliches Leben geführt, bis seine Frau ihn vor ein paar Jahren verlassen hat.« »Ist das nicht ein bisschen merkwürdig? Bei so einer kriminellen Vorgeschichte ? Vor allem, was die Gewalttätigkeit angeht? Man würde eine Anzeige wegen häuslicher Gewalt erwarten. Irgendwas in der Richtung.« »Nicht unbedingt. Menschen können sich bessern.« Lamott zuckte die Achseln. »Kommt durchaus vor. Von den Drogen wegzukommen, das ist schon die halbe Miete. Aber ansonsten haben Sie schon Recht, Arthur ist ein gewalttätiger Typ.« »Er hat einen Mordversuch mit Schusswaffe auf dem Kerbholz. Als Sie ihn das letzte Mal geschnappt haben -Samstag, nicht wahr? -, hatte er eine Pistole bei sich. Wie ich hörte, war er auch im Gefängnis in irgendeinen Mist verwickelt. Glauben Sie wirklich, dass er acht Jahre lang sauber geblieben ist?« »Ja, doch. Mehr oder weniger.« »Haben Sie ihn in der Zeit gesehen?« »Ein paar Mal. Wie gesagt, er ist in die Gegend um Sacramento gezogen, also hat er sich dort gemeldet.« »Und nie einen Verstoß begangen?« 225 »Offenbar nicht.« »Bis er wieder hierher zurückkam und Sie ihn eingebuchtet haben?« »Richtig.« »Nach acht Jahren?« »Worauf wollen Sie hinaus?« Hunt war der Ansicht, dass das einigermaßen auf der Hand lag - Mowery hatte in Sacramento irgendeine Form von Protektion genossen und war erst dann den Wölfen zum Fraß vorgeworfen worden, als er sich nicht mehr kooperationswillig zeigte -, aber er wollte Lamott nicht verärgern, nicht riskieren, dass er nicht mehr mit ihm redete. »Ich finde es nur merkwürdig«, sagte er. Dann schlug er einen anderen Kurs ein. »Was hat er denn gemacht? Berufsmäßig?« »Mechaniker. Hauptsächlich Privatflugzeuge.« »Das ist ein bisschen ungewöhnlich, oder?«
»Weiß ich nicht. Er hat einen Pilotenschein und kennt sich ziemlich gut mit Flugzeugen aus. Er ist eigentlich ein ganz intelligenter Typ, wenn er nicht grad zugedröhnt ist. Aber wenn ich ihn samstags besuche und er ist auf Droge, dann hab ich keine Wahl. Dann muss ich einen Verstoß feststellen.« »Er hat einen Pilotenschein?« Hunt malte sich aus, wie Mowery Andrea kilometerweit draußen ins Meer fallen ließ. »Ist im Moment eingezogen. Und natürlich hat er kein Flugzeug. Obwohl, das ist die Frage.« »Wie, was?« Plötzlich zeigte sich Misstrauen in dem bleichen Gesicht. »Haben die Cops das nicht erzählt? Die müssten das wissen.« 226 »Ich such nach ihr«, wiederholte Hunt. »Die suchen nach ihm.« Anscheinend war das ausreichend. »Ein kleines Flugzeug, eine Cessna, glaube ich, wurde Montagnacht vom Smith Ranch Airport gestohlen. Es ist noch nicht wieder aufgetaucht.« »Smith Ranch Airport ? Den kenn ich nicht.« »Das ist ein privater Flugplatz. Für kleine Flugzeuge. Die Dinger werden häufig nur festgebunden, keine nennenswerten Sicherheitsmaßnahmen. Es ist in der Nähe von San Rafael, und da er selbst Flieger war, hat Arthur garantiert davon gewusst. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen: Diese Flugzeugverbindung ist es auch, worauf die Strafvollzugsbehörde sich bei ihrer Suche nach ihm konzentriert hat.« »Und wo ist das? Smith Ranch?« »Ich weiß nicht genau - vielleicht fünf, sechs Kilometer von San Quentin entfernt.« Plötzlich, mit fast sichtbarer Erschütterung, kam Lamott ein weiterer Gedanke. »Vielleicht erinnere ich mich falsch, aber Parisi ist nicht seit Montag verschwunden, oder? Schon so lange?« »Nein. Mittwochnachmittag.« »Hmm. Na ja, ohne behaupten zu wollen, dass es Arthur war, der das Flugzeug kurzgeschlossen und geklaut hat, aber falls er es war, und er war mit Sicherheit dazu in der Lage, dann war er zu dem Zeitpunkt schon über alle Berge.« Am Straßenrand vor dem Bewährungsbüro saß Hunt in seinem Auto und versuchte herauszufinden, was ihm entgangen war. Natürlich war es, wie Lamott gesagt hatte, immer noch möglich, dass gar nicht Mowery die Cessna gestohlen hatte. Konnte es aber andererseits nicht sein, dass Mowery, immerhin ein Flugzeugmechaniker, die Maschine 226 vom Smith Ranch Airport entführt hatte, unter allen Radaren hindurch zu irgendeinem kleinen Privatflugplatz nahe der Stadt geflogen war und dann in San Francisco sein Unwesen getrieben hatte? Und doch war das, was noch vor
einer Stunde fast allzu klar auf der Hand zu liegen schien, plötzlich unplausibel, wenn nicht gar unmöglich geworden. Lamotts Reaktion auf Hunts Fragen, genauer: das Fehlen jeder Reaktion, war ebenfalls aufschlussreich. Die Erwähnung seines Schützlings hatte nicht die Spur von Unsicherheit oder Alarmbereitschaft hervorgerufen, wie man es hätte erwarten müssen, wäre Lamott Teil einer Verschwörung gewesen, deren Zweck es war, Mowery aus San Quentin entfliehen zu lassen, damit er einen Bundesrichter ermorden konnte. Lamott schien genau das zu sein, was er vorstellte -ein Funktionsträger des öffentlichen Dienstes in einem Job, der keine großen Ansprüche an seine Zeit oder sein eigenes Leben stellte. Hunt fiel es schwer, sich den emotionslosen Lamott als einen Mitwirkenden bei den hochdramatischen und geheimen politischen Winkelzügen der Gewerkschaft vorzustellen. Für diesen Bewährungshelfer war Arthur Mowery ganz offenkundig nur einer von vielen meist kläglichen Nichtsnutzen, die er wieder und immer wieder durch das System schleuste. Mowery mochte einen Aufpasser unter den Bewährungshelfern in der Gegend von Sacramento gehabt haben, der ihm in Sachen CCPOA-Wandalismus Befehle gab, aber von Lamott konnte Hunt sich so etwas beim besten Willen nicht vorstellen. Juhle hatte ihm erzählt, dass die Hälfte der Insassen kalifornischer Gefängnisse wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen einsaß, aber darüber hinaus erinnerte er sich gehört zu haben, dass etwa siebzig Prozent von denen, die in Kalifornien eine bedingte Haftentlassung bekamen, irgend 227 wann wieder einrücken mussten, was etwa doppelt so viel wie der nationale Durchschnitt war. Bewährungshelfern wie Lamott war nichts daran gelegen, Gefangenen beim Ausbruch aus dem Gefängnis zu helfen, das stand fest. Egal, aus welchen Gründen. Das ganze Trachten der CCPOA-Bürokratie war darauf gerichtet, sie drinzubehalten, für eine hohe Auslastung zu sorgen, damit noch mehr Gefängnisse gebaut und noch mehr Wärter eingestellt wurden. All diese Überlegungen hinterließen in Hunt eine große Leere. Es war etwas angenehm Stichhaltiges und sogar Elegantes an der Idee gewesen, dass die Gewerkschaft hinter Andreas Verschwinden stand. Andrea und Palmer hatten auf vielen Ebenen mit ihr zu tun gehabt. Die letzte Verfügung des Richters stellte eine große und unmittelbare Bedrohung für die Gewerkschaft dar, die sogar deren Überleben infrage stellte. Andreas geheime Recherchen über die kriminellen Praktiken, die die Arbeitnehmervertretung offensichtlich zur Verfolgung ihrer politischen Ziele einsetzte, waren möglicherweise aufgedeckt worden und hatten sie zum Ziel von Vergeltungsmaßnahmen gemacht. Aber all das zusammengenommen fußte auf der Annahme, dass die Gewerkschaft nicht nur systematische Einschüchterung und Schikane betrieb, sondern auch vor geplantem und vorsätzlichem Mord nicht zurückschreckte.
Und falls das denn so war und Jim Pine über einen Kriegsetat von vielen Millionen Dollar verfügte, und das tat er, warum in aller Welt sollte er dann Hafturlauber einsetzen, deren Verlässlichkeit bestenfalls zweifelhaft war, wenn er doch ohne weiteres Profikiller bezahlen konnte, die den Job viel effektiver und gewissermaßen ohne Nebenwirkungen erledigen würden? Andererseits: Wenn es denn etwas gab, woran Juhle im Verlauf der Ermittlungen eisern festgehal 228 ten hatte, dann war es die Tatsache, dass die Morde an Palmer und Rosalier nicht den Eindruck machten, als seien sie von einem Profi ausgeführt worden. Eben dies hatte sie veranlasst, die Hafturlauberoption überhaupt ins Auge zu fassen. Und nun schien auch diese Theorie an fatalen Fehlern zu leiden. Was blieb da noch übrig? Hunt holte sein Handy hervor. Er hatte es den ganzen Tag abgestellt gehabt, und wenn das verdammte Ding jetzt klingeln würde, während er damit hantierte, dann würde er, das war klar, nicht rangehen, es sei denn, es wäre jemand von seiner Gang; Gott sei Dank gab es die Anruferanzeige. Er hatte allerdings im Laufe des Tages fünf weitere Anrufe verpasst, und als er die Liste durchging, stellte er fest, dass sie allesamt von Mandanten kamen. Wahrscheinlich alle - im günstigsten Fall - schwer enttäuscht von ihm, im ungünstigen Fall stinksauer. Tja, daran konnte er auch nichts ändern. Nicht jetzt. Nicht, bevor diese Sache vorbei war. Er würde sich daran gewöhnen müssen. Hunt klappte das Telefon zu, stellte es wieder ab, entspannte seine Kiefermuskulatur, legte den ersten Gang ein und steuerte seinen Cooper auf die Straße. Windgepeitschte Nebelfetzen kondensierten auf seiner Windschutzscheibe und zwangen ihn, die Scheibenwischer auf Intervallbetrieb zu stellen. Er fuhr weiter nach Süden und hielt schließlich einen halben Häuserblock vor der BART-Filiale in der Mission Street, wo er einen Parkplatz entdeckt hatte. Fünf Minuten später kaute er an dem seiner Ansicht nach größten und besten Burrito der Stadt. Er kam immer wieder auf Juhles Unlust zurück, die Zufälligkeit von Rosaliers Anwesenheit in Palmers Haus zu 228 akzeptieren, genau zu dem Zeitpunkt, wo jemand hereinschneite, um ihn zu erschießen. Staci war immer irgendwie Teil des Gesamtbilds gewesen, immerhin stellte sie eine wenn auch dürftige Verbindung zwischen Palmer und Andrea her, nur bisher hatte die CCPOA stets eine viel größere Aufmerksamkeit beansprucht. Aber jetzt? Alle anderen Möglichkeiten waren entweder diskreditiert oder widerlegt - die Ehefrau war es nicht gewesen, Arthur Mowery wahrscheinlich auch nicht. Ein Profi im Auftrag der
Gewerkschaft würde die Morde sauberer, effizienter ausgeführt haben. Nach wie vor konnte Hunt Juhles anfänglicher Vorstellung, wonach Andrea selbst den Doppelmord begangen und anschließend entweder das Weite gesucht oder sich umgebracht hatte, keinen Glauben schenken, und außerdem hatte man ihre Kleidung und die Waffen in ihrem Haus untersucht, ohne Hinweise auf ihre Täterschaft zu finden. Es brannte ihm unter den Nägeln, weiterzumachen, etwas zu unternehmen aber was? Hunt nippte an seiner Cola, schmeckte den Burrito kaum noch. Ließ sich alles noch einmal durch den Kopf gehen, betrachtete es aus allen Blickwinkeln. Es gab drei Opfer. Das war sein Ausgangspunkt. Wenn Hunt Juhle folgen und Zufälle ausschließen wollte, dann musste irgendeine Verbindung zwischen diesen Opfern bestehen. Er saß drinnen an einem roten Plastiktisch. Die Mittagszeit war schon vorbei, fürs Abendessen war's noch zu früh, daher gab es außer ihm nur einen anderen Gast, eine Frau von Ende sechzig, Anfang siebzig, die ein paar Tische weiter mit einer Schüssel Fischklöße beschäftigt war. Während er sie beobachtete, musste er an - ausgerechnet - Carol Manion denken, die er noch am Morgen bei Palmers Beerdigung 229 gesehen hatte. Plötzlich ging ihm auf, dass ihre - bestenfalls flüchtige Beziehung zu dem Fall ja die ganze Zeit darin bestanden hatte, dass Andrea Parisi sich mit ihr treffen wollte. Parisi war ihre Verbindung gewesen, nicht Palmer. Aber wenn sie jetzt bei seiner Beerdigung gewesen war, hatte sie Palmer vielleicht auch gekannt. Der Versuch, irgendeine Beziehung zwischen Manion und Staci Rosalier heraufzubeschwören, um die Sache rund zu machen, erbrachte keine Ergebnisse außer dem, dass er sich über sich selbst ärgerte, weil er nach solch dünnen Strohhalmen griff. Dennoch erschien ihm die Übung nicht vollkommen sinnlos, da sie ihn immerhin dazu veranlasste, selbst die unscheinbarsten Tänzer in diesem Fandango unter die Lupe zu nehmen. Fairchild? Parisis Exliebhaber, aber von einer Verbindung zu Palmer oder Rosalier war nichts bekannt. Tombo? Nein. Nichts. Außerdem lieferten die beiden Männer sich für Montagabend gegenseitig ein Alibi. Piersall ? Hunt hörte auf zu kauen, ließ sein schon erhobenes Glas wieder auf den Tisch sinken. Piersall kannte sowohl Palmer als auch Parisi. Zweifellos hatte er mindestens einmal im MoMo's zu Mittag gegessen. Vielleicht war er sogar Stammgast. Dann war es auch möglich, dass er Staci Rosalier kennen gelernt hatte, womit er die einzige Person wäre, die mit allen drei Opfern in Beziehung stand. Auch hatte Andrea ihm von der Gefahr erzählt, die der
Gewerkschaft durch Palmers geplante Verfügung drohte, und ebenso von ihrer Beschäftigung mit den offensichtlich kriminellen Aktivitäten der CCPOA. Zudem war das Saint-Francis-Hotel nur einen kurzen Fußweg von den Büroräumen der Firma in der 230 Montgomery Street entfernt. Hatte er vielleicht Parisi am Mittwochnachmittag von dort aus angerufen und sie gebeten, im Büro vorbeizuschauen...? Und was war dann passiert? Pines Leute hatten schon auf sie gewartet, als sie ihr Auto in der Tiefgarage abstellte, hatten sie sich geschnappt und waren mit ihr weggefahren ? Hunt schloss die Augen, versuchte seine Gedanken zu zügeln, sie auf festen Boden zu stellen. Denn das hatte er, wie übrigens auch Juhle, seit mehr als zwei Tagen ja bereits zur Genüge betrieben: aus Möglichkeiten und Eventualitäten, die fast schon aus der Luft gegriffen waren, Theorien und Szenarien zu zimmern. Klar, er konnte sich jetzt die nächste Stunde damit beschäftigen, zu prüfen, wo Piersall am Montagabend gewesen war, ob er das Büro am Mittwochnachmittag zwischen zwei und halb vier verlassen hatte. Und auch wenn Piersall die Sache nicht in Auftrag gegeben, auch wenn er es selbst getan hatte, auch wenn er über keinen der betreffenden Zeitpunkte Rechenschaft geben konnte, auch dann stünde er, Hunt, immer noch da, wo er jetzt stand: nämlich ohne auch nur die Spur eines Beweises. Aber der Gedanke ließ sich nicht abschütteln, war allzu verführerisch. Es blieb %ine Tatsache, dass Piersall der einzige Mensch war, der eine nachweisbare Beziehung zu Palmer und Parisi und möglicherweise auch Rosalier hatte. Da er ohnehin ohne Alternativen dastand, fragte Hunt sich, ob es nicht der Mühe wert war, auch dem nachzugehen. Was hatte er schon zu verlieren ? Er trank seine Cola aus, wickelte die Reste seines Burritos ein und erhob sich. Die alte Frau lächelte ihm zu, er strich sich über den Bauch und erwiderte das Lächeln, ging dann an ihr vorbei und warf seine Abfälle in den Behälter neben der Tür. 230 Diese Gegend war für gewöhnlich die letzte in der Stadt, die vom Nebel erfasst wurde, und jetzt hing dieser dicht und feucht in den Straßen, sodass Hunt sich ausmalen konnte, wie furchtbar es überall sonst sein würde. Er lief die kurze Strecke zu seinem Auto, in dem es noch relativ warm und trocken war, zog sein Telefon hervor und rief sein Büro an. Als Hunt nach Hause kam, stand er endgültig mit leeren Händen da. Auf seine Anweisung hin hatte Tamara mit Gary Piersalls persönlicher Sekretärin gesprochen und erfahren, dass ihr Chef am Montagabend eine Aktionärsversammlung geleitet hatte, die sich über die Essenszeit hinaus bis fast elf Uhr hingezogen hatte. Und den gesamten Mitwochnachmittag hatte
Piersall zusammen mit Pine und weiteren Gewerkschaftsvertretern und Anwälten im Konferenzraum der Firma verbracht. Tamara berichtete ihm auch, dass es Craig gelungen sei, seine letzten beiden Vorladungen zügig zuzustellen, woraufhin er zur Ocean Avenue gefahren sei und das Restaurant gefunden habe, in dem Staci Rosalier vor ihrem Mo-Mo'sEngagement gearbeitet hatte. Es hieß Royal Thai, und sie war dort zwei Jahre lang beschäftigt gewesen. Es war ihr erster Job gewesen, nachdem sie die Highschool in Pasadena, im Süden von Kalifornien, abgeschlossen hatte. Juhle war es, der den letzten Nagel in den Sarg schlug. Hunt hatte ihn gleich nach seiner Unterhaltung mit Lamott angerufen, um ihm die Fahrt zum Bewährungsbüro zu ersparen und ihm seine revidierte Einschätzung mitzuteilen hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass Arthur Mowery 231 irgendeine Rolle im Mordfall Palmer/Rosalier oder bei Andreas Entführung gespielt hatte. Er war gerade in sein Lagerhaus getreten, die Tür war noch nicht ganz zugefallen, da rief Juhle an und berichtete, dass es ein langer und unergiebiger Tag gewesen sei und er jetzt nach Hause ins Wochenende fahre, dass Hunt aber vielleicht noch wissen wolle, dass sie eben eine Meldung erhalten hätten, wonach die Cessna, die vom Smith Ranch Airport als vermisst gemeldet worden war, aufgefunden worden sei, und zwar abgestürzt in felsigem Gelände auf zweitausendeinhundert Metern Höhe in den Tehachapi Mountains bei Bakersfield. Bei dem Piloten, im Gegensatz zum Flugzeug noch nicht zweifelsfrei identifiziert, handele es sich vermutlich um Arthur Mowery, der offenbar versucht habe, nach Mexiko zu gelangen. »Ich glaube doch, dass sie Selbstmord begangen hat«, sagte Juhle. »Was anderes bietet sich einfach nicht an. Willst du vorbeikommen und mit uns essen? Vorher kannst du sogar noch zugucken, wie ich ein Little-League-Spiel coache. Ich kann Connie eben anrufen. Wir müssen auch nicht Pizza essen.« Aber Hunt hatte gerade gegessen, und ihm war nicht nach Gesellschaft, und schon gar nicht war er dazu aufgelegt, mit Juhle zu streiten, der seinetwegen glauben durfte, was er wollte. Er selbst war nämlich weiterhin überzeugt davon, dass Andrea sich nicht umgebracht hatte, und zwar schon deshalb nicht, weil sie auch Staci und Palmer nicht umgebracht hatte. Er betrachtete dies als eine unumstößliche Tatsache, als unveränderliche Wahrheit. 231
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Hunt saß am Computer, ging seine E-Mails durch. Zwar hatte er Spamblockersoftware installiert, doch die Mehrzahl seiner Mails kam trotzdem von Organisationen oder Firmen, von denen er noch nie gehört hatte. Es gab einige Anfragen über seine Website von Leuten, die an seinen Diensten interessiert waren, und ein paar weitere von Anwaltskanzleien, für
die er bereits tätig gewesen war. Er leitete alles weiter an Tamara ins Büro, nur für den Fall, dass es dort nicht ohnehin schon angekommen war - dies war Bestandteil seines unfehlbaren Sicherungssystems. Mickeys E-Mail von gestern enthielt die Adresse des Hauses der Manions, und sein junger Mitarbeiter hatte nicht einmal die Mühe gescheut, die private und nicht verzeichnete Telefonnummer ausfindig zu machen, die Hunt allerdings nicht mehr benötigte. Als er die JPEG-Dateien, die Mickey noch angehängt hatte, flüchtig sichtete, stellte Hunt ohne große Überraschung fest, dass das Haus groß und elegant war. Bei dem ganzen Terrakotta, das da zu sehen war, konnte man es sich ohne weiteres als eine italienische Villa an der Küste von Amalfi vorstellen. Es musste gut und gern zwanzig Zimmer haben, aber sein hervorstechendstes architektonisches Merkmal war ein von Bougainvilleen überwucherter rechteckiger Turm. Mickey besaß teure Objektive und einen guten Blick, und er hatte die Anlage von drei oder vier verschiedenen Seiten fotografiert, vielleicht mit der Absicht, sie als Modell zu verwenden für das Haus, das er sich bauen würde, wenn er ein berühmter Koch geworden war. Das letzte, mit Teleobjektiv aufgenommene Foto - es zeigte Mrs Manion und ihren Sohn, wie sie auf dem Fußweg vom Vordereingang auf eine offenbar wartende Limousine 232 zuspazierten - gab Hunts fortwährendem Frust noch Zunder. Schwere Zeiten für die Reichen, dachte er. Aber dann, als er an den tödlichen Wasserskiunfall des ältesten Sohnes dachte, bedauerte er diese Reaktion augenblicklich. Er wollte nicht schäbig sein. So kam er nicht weiter. Nichts hatte ihn bisher weitergebracht. Irgendjemand hatte Parisi praktisch vor seiner Nase umgebracht und war damit durchgekommen. Auf die Tastatur einhämmernd, dass sie fast entzweibrach, loggte er sich aus. Wenige Minuten später, nachdem er seine Arbeitskleidung abgelegt und dafür Trainingsklamotten und Tennisschuhe angezogen hatte, stand er drüben im Sporthallenteil an der Freiwurflinie. Er hatte die Absicht, von dort auf den Korb zu werfen, bis er zehnmal hintereinander getroffen hatte oder nicht mehr konnte, je nachdem. Er dribbelte ein bisschen, blieb stehen, dribbelte weiter, konzentrierte sich auf sein Ziel, suchte nach dem Tunnelblick. Als er die Wurfposition eingenommen hatte, feuerte er, anstatt den Korb anzuvisieren, einen geraden, harten Pass auf das Brett ab - so fest, wie er nur werfen konnte. Der Ball knallte gegen den oberen Teil des verstärkten Glases. Es hallte laut und tief, ein dumpfer Gewehrschuss, ein Hammerschlag auf ein leeres Ölfass, der von den Wänden ringsum abprallte. Er fing den Rebound aus der Luft.
Noch einmal packte er den Ball, mit aller Kraft jetzt. Stand stocksteif, bewegungslos. Dann warf er wieder. Gleiche Flugbahn, gleiche Kraft dahinter. Die gleiche Geräuschexplosion, das gleiche Verhallen. Langsam groovte er sich ein, und der Abstand zwischen den Explosionen wurde kürzer. Schrumpfte nach dem ersten 233 Zwanzigsekundenintervall zuerst auf alle zehn Sekunden, dann alle fünf, dann alle zwei. Er warf so kraftvoll, dass er vor Anstrengung keuchte. Bald zählte er nicht mehr mit, und schließlich, Minuten später, warf und fing er den Ball ein letztes Mal. Er atmete schwer, seine Kiefermuskeln waren total verspannt. Sein Körper beruhigte sich. Er atmete langsamer. Noch einmal begann er zu dribbeln, setzte an und warf den Ball in einem hohen Bogen. Er zischte durchs Netz, und Hunt ließ ihn springen und austrudeln, vom Spielfeld weg in irgendeine Ecke. Laut der Industrieuhr an der Wand über der Tür zu seinen Wohnräumen war es 4.22 Uhr nachmittags. Er ging zu seinem Computer zurück, machte ihn wieder an und wartete in einer Art Schwebezustand, während der Rechner hochfuhr. Sobald alle Symbole an ihrem Platz waren, ging er zurück ins EMail-Programm, rief Mickeys Fotos des Manion-Hauses auf und saß dann lange vor dem Bildschirm, versuchte zu verarbeiten, was seine Augen ihm mitteilten, verweigerte sich aber diesmal dem Impuls, dabei einfach draufloszutheoretisieren. Nur mäßig zufrieden, stand er auf und wanderte, während der Computer eingeschaltet blieb, wie in Trance zu seinem Wohnbereich. Im Schlafzimmer ging er zum Schrank, wo er seinen Anzug aufgehängt hatte. Er fand das Diktiergerät in der Sakkotasche und spulte es zurück, um das Gespräch, das er am Morgen mit Betsy Sobo geführt hatte, noch einmal abzuhören. Nach zwei Durchgängen trat er ans Bett und blieb lange davor stehen. Schließlich setzte er sich und griff zum Telefon. Wu arbeitete offenbar an ihrem Schreibtisch. Sie nahm beim ersten Klingeln ab. »Hier ist Amy.« 233 Ohne jede Vorrede sagte Hunt: »Um wie viel Uhr hat Carol Manion in Andreas Büro angerufen, um zu fragen, ob sie noch zu ihrer Verabredung käme oder nicht? Nachdem sie diese verpasst hatte.« »Noch mal langsam bitte, Wyatt.« »Carla sagte, sie hätte die Nachricht von Carol Manion am nächsten Morgen auf dem Anrufbeantworter gehabt. Stimmt doch, oder?« »Ich glaube schon.« »Okay, das heißt, sie muss angerufen haben, als Carla schon Feierabend gemacht hatte. Richtig?«
»Es sei denn, Andrea hätte eine Durchwahlnummer, unter der sie sie direkt angerufen hat. Hast du irgendetwas erreicht, Wyatt ? Tamara meinte, du seist nach San Quentin gefahren ...« »Nein. Das war eine Sackgasse. Jetzt versuch ich gerade, nicht in die nächste zu laufen. Carla wird noch im Büro sein, was meinst du?« »Wahrscheinlich.« »Dann muss ich jetzt Schluss machen.« Er legte auf. Wus absolut logischer Einwand hallte in seinem Kopf wider: »Es sei denn, Andrea hätte eine Durchwahlnummer, unter der sie sie direkt angerufen hat.« Ähnlich wie Juhle vorhin begann Hunt sich zu fragen, ob er wohl noch imstande war, logisch zu denken. Falls Andrea im Büro eine Durchwahlnummer besaß und Carol Manion ihre Nachricht darunter zwischen, na, drei und fünf Uhr am Mittwoch hinterlassen hatte, dann hätte sich damit auch diese letzte vage Spur in nichts aufgelöst. Aber er hatte keine andere Wahl. Es war, als würde er von weit oben zusehen, wie seine Finger die Nummer von Piersall-Morton eingaben. 234 Dann sprach er mit Carla. »Nein«, sagte sie, und einmal mehr wurde ihm das Herz schwer. »Mrs Manion hatte Andreas Nummer, und sie hat auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, nicht auf meinen.« »Wissen Sie, woher sie Andreas persönliche Nummer hatte?« »Nein, das weiß ich nicht. Und eine persönliche Nummer war es ja nicht. Nur halt ihre Durchwahl im Büro. Da gibt's unzählige Möglichkeiten. Sie stand auf ihrer Karte. Vielleicht ist sie ihr irgendwo begegnet und hat ihr ihre Karte gegeben. Wer weiß?« »Dann haben Sie also keine Möglichkeit festzustellen, wann sie angerufen hat?« »Na ja, doch, natürlich. Die Nachricht ist ja sicherlich noch drauf, denn ich habe diese ganze Woche nichts gelöscht, und Datum und Uhrzeit werden registriert.« Hunt gab sich alle Mühe, halbwegs sachlich und gelassen zu klingen. »Dürfte ich Sie bitten, Carla, dass Sie mal eben rübergehen und das für mich nachprüfen?« Sie blieb eine Ewigkeit lang verschwunden. Nachdem er seine Fingerabdrücke auf dem ganzen Hörer verteilt hatte, hielt Hunt es nicht mehr aus und stellte auf Lautsprecher um, damit er ein bisschen hin und her laufen konnte. Endlich, endlich tönte es: »Wyatt?« »Ich bin da.« »Neunzehn Uhr siebzehn, am Mittwoch, dem ersten Juni, aber das Datum kannten wir ja schon, nicht wahr?«
Aber Hunt hatte das gehört, was zu hören er gehofft hatte. »Siebzehn nach sieben?« »Genau. Ich hab's zweimal abgehört, um sicherzugehen.« »Und für welche Zeit waren sie verabredet?« »Halb vier. Sie erwähnt es noch mal in der Nachricht.« 235 »Was hat sie sonst noch gesagt? Würde es Ihnen etwas ausmachen, mich eben aus Andreas Büro anzurufen und es mir vorzuspielen?« »Jetzt?« »Jetzt gleich. Ich geb Ihnen meine Nummer.« Eine Minute später hatte Carla sich zurückgemeldet, und Hunt lauschte Carol Manions Stimme auf Andreas Anrufbeantworter. »Ms Parisi, guten Tag. Hier ist Carol Manion. Ich wollte mich nur erkundigen, ob Sie unsere Verabredung heute Nachmittag um halb vier vergessen haben oder ob ich womöglich den falschen Tag in meinen Kalender eingetragen habe. Würden Sie mich bitte zurückrufen und mir Bescheid sagen ? Und vielleicht können wir einen neuen Termin machen ? Danke.« »Das war's«, sagte Carla. »Klingt wie ein ganz normaler Anruf.« »Da haben Sie Recht.« Hunt dachte freilich nicht darüber nach, wie der Anruf klang. Ihn beschäftigte der Zeitpunkt, zu dem er getätigt worden war. »Aber hören Sie, Carla. Würde es Ihnen etwas ausmachen, vorerst niemandem von diesem Gespräch zu erzählen? Wirklich niemandem.« »Nein, natürlich. Wenn Sie meinen ...« »Ja. Bitte. Okay, also, gibt es irgendeine Möglichkeit, dass Sie mich mit Mike Eubanks verbinden? Ich glaube, er ist einer von den Partnern. In Betsy Sobos Gruppe.« »Ja, das stimmt. Klar, kann ich machen. Bleiben Sie einen Moment dran?« »Mach ich. Und Carla?« »Ja?« »Es bleibt unter uns, ja? Niemand sonst.« »Niemand sonst«, sagte sie. »Okay, es geht los. Bleiben Sie dran.« 235 Mike Eubanks war nicht mehr am Platz. Mr Eubanks machte freitags gern einmal früher Feierabend. Nein, seine Sekretärin konnte Hunt nicht die Handy- oder die private Telefonnummer geben, aber sie konnte versuchen, ihn zu erreichen und ihm zu sagen, er möge Mr Hunt zurückrufen, falls es wirklich wichtig war. Hunt versicherte, das sei der Fall, und nahm anschließend das Telefon mit zum Computer, wo er erneut auf Mickeys JPEG-Bild starrte, das Carol Manion und ihren Sohn Todd auf dem Weg zur Limousine zeigte, die vor ihrem Haus parkte. Er konzentrierte sich ganz auf das Bild, auf die leichte Absonderlichkeit, die ihm zu guter Letzt aufgefallen war.
Er hatte Carol Manion an diesem Morgen in natura gesehen, vor der Saint Mary's Cathedral, als sie mit ihrem Ehemann auf dem Weg zu Richter Palmers Beerdigung war. Diese kurze Beinahebegegnung war nicht geeignet gewesen, mehr als einen flüchtigen Eindruck von ihr zu gewinnen, und dieser Eindruck betraf das Alter. Sie war ihm nämlich zwar nicht gerade alt und gebrechlich, aber auch keineswegs mehr jung erschienen. Das gestochen scharfe Foto, das er momentan betrachtete, bestätigte ihm, dass sie mindestens schon über sechzig sein musste. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Jungen zu. Konnte er das Verbindungsglied zu Staci Rosalier sein, das bisher stets gefehlt hatte, wenn es um Carol Manions Beziehung zu den anderen beiden Opfern ging? Er starrte auf Todds Gesicht, das halb im Profil getroffen und von einem verdrossenen Stirnrunzeln beherrscht war. Das hervorstechendste Merkmal bei dem unscharfen Porträtfoto aus Stacis Wohnung war das strahlende Lächeln des dort abgebilde 236 ten Jungen, und daher blieb die Ähnlichkeit, die Hunt zu sehen glaubte, schwer nachzuprüfen. Von den Farben ganz abgesehen, konnte er, so angestrengt er auch hinsah, nicht sagen, ob es sich um dasselbe Kind handelte, oder auch nur, ob Todd Manion tatsächlich Ähnlichkeit mit Stacis Bruder hatte. Aber die Frage, die sich Hunt als Erstes aufgedrängt hatte, betraf nicht die Identität des Jungen per se. Sondern das offensichtlich fortgeschrittene Alter der Mutter. Selbst wenn Hunt in seiner Schätzung zehn Jahre daneben lag und Carol Manion vielleicht erst Mitte fünfzig war (was er bezweifelte), war es höchst unwahrscheinlich, dass sie vor acht Jahren ein Kind ausgetragen hatte. Und das hieß, dass Todd adoptiert worden war. Nun war dies ein Gebiet, auf dem Hunt einige Erfahrung und sogar Fachkenntnisse vorweisen konnte, und daher wusste er, dass dieser Adoptionsfall, so es sich denn um einen handelte, ein ausgesprochen ungewöhnlicher war. Relativ normal war es, wenn zuvor kinderlose Paare eine Adoption vornahmen und anschließend noch leibliche Kinder bekamen. Das war in Hunts eigener Familie der Fall gewesen - die Mutter war allem Anschein nach unfruchtbar gewesen, bevor sie ihn adoptiert hatten, hatte dann aber in den folgenden acht Jahren nacheinander seine vier Geschwister geboren. Er wusste aber, dass es sehr viel seltener war, dass Paare mit ein oder zwei leiblichen Kindern noch einen Bruder oder eine Schwester adoptieren wollten. Vor allem, wenn der Altersunterschied größer als zehn Jahre war. Was nicht heißen sollte, dass so etwas nicht vorkam. Aber wenn doch, dann lag es durchaus nahe, sich die näheren Umstände einmal genauer anzusehen. 236
Ganz zu schweigen davon, dass an diesem Punkt der Entwicklung alles, was irgendwie ungewöhnlich war und auch nur den geringsten Bezug zu Andrea hatte, zwangsläufig Hunts Aufmerksamkeit auf sich zog und nicht wieder freigab, bevor er sich nicht eine plausible Erklärung dafür abgerungen hatte. Er saß bewegungslos vor dem Computerbildschirm, den er längst nicht mehr wahrnahm. Nach all den Anstrengungen, die er unternommen, nach all den Spekulationen, die er angestellt hatte, blieb ihm eine einzige Tatsache, die vielleicht weiterhelfen konnte: Carol Manion hatte Andreas Büro um 19.17 Uhr angerufen. Warum zu diesem Zeitpunkt? Warum nicht um Viertel vor vier oder um vier, während sie zu Hause auf Parisis Ankunft wartete? Um sich zu erkundigen, ob Parisi vielleicht Weghinweise benötigte oder ob ihr irgendetwas dazwischengekommen war? Oder ob sie gar im Verkehrsstau steckte ? Ein solcher Anruf wäre allerdings an Andreas Handy gerichtet gewesen. Oder nicht? Müsste sie nicht auch Andreas Handynummer gehabt haben? Das Klingeln des Telefons schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Wyatt Hunt.« »Mr Hunt. Mike Eubanks. Mein Büro meldet mir, es sei wichtig. Was kann ich für Sie tun?« »Ich beschäftige mich auf Gary Piersalls Veranlassung mit dem Verschwinden von Andrea Parisi.« Streng genommen nicht ganz die Wahrheit, aber das war Hunt egal. Solange es nur Eubanks veranlasste zu kooperieren. Und das tat es. »Tja, dann natürlich, fragen Sie, was Sie wollen.« »Wir gehen im Augenblick der Möglichkeit nach, dass der Gegenstand, den sie mit Betsy Sobo diskutieren wollte, ir 237 gendwie von Bedeutung sein könnte. Nun ist es aber zu der geplanten Unterredung gar nicht gekommen. Ich habe heute Morgen mit Betsy gesprochen, aber sie wusste nicht recht oder hatte allenfalls eine sehr vage Vorstellung davon, was Andrea von ihr wollte. Sie sagte aber auch, dass Andrea sich zuerst an Sie gewandt habe, worauf Sie sie an Betsy weiterverwiesen hätten.« »Das ist richtig. Sie wollte über irgendwelche Sorgerechtssachen reden, die aber mehr in Betsys Zuständigkeit fallen, daher sagte ich Andrea, sie solle lieber sie anrufen.« »Sorgerecht? Hat sie sich näher darüber ausgelassen?« Eubanks ließ sich recht viel Zeit mit seiner Antwort. »Sie sagte, sie hätte einen potenziellen Mandanten mit Sorgerechtsproblemen, die sich einigermaßen kompliziert darstellten, also habe ich ihr gesagt, dass Betsy unser absolutes Ass auf diesem Gebiet sei.« »Sie sprach von einem potenziellen Mandanten?« »Ja, da bin ich mir ziemlich sicher.« »Dann wäre es also nicht die Gewerkschaft gewesen?«
»Der Mandant? Nein, den Eindruck hatte ich nicht. Ich habe einige Male in Gewerkschaftsangelegenheiten mit ihr zusammengearbeitet, über allgemeine Fragen im Zusammenhang mit Arbeitsverträgen und Sozialleistungen, aber hier ging es eindeutig um etwas anderes. Außerdem ...«Er stockte. »Ja?« Ein verlegenes Glucksen. »Naja, das war so ein Witz zwischen Andrea und mir. Immer wenn sie in Angelegenheiten der Gewerkschaft anrief, sagte sie als Erstes: >Schmeißen Sie den Motor an, Mike.<« »Den Motor anschmeißen?« »Das bedeutete, dass ab sofort alles, was wir sagten und taten, eine abrechenbare Leistung darstellte. Bei diesem An 238 ruf aber, als meine Sekretärin mir sagte, Andrea sei am Apparat, nahm ich den Hörer ab und sagte: >Ich bring die Kiste auf Touren<, und da meinte sie: »Diesmal nicht, fürchte ich<. Also war's nicht die Gewerkschaft. Ist es das, was Sie wissen wollten?« »Ich bin mir nicht sicher. Schaden kann es jedenfalls nicht.« »Gut.« Pause. »Mr Hunt?« »Ja?« Eubanks zögerte. »Glauben Sie, es besteht die Möglichkeit, dass sie noch am Leben ist?« »Bisher hat noch niemand ihre Leiche gefunden.« Hunts nächste Worte kamen ohne vorherige Überlegung. »Und solange die nicht auftaucht, habe ich die Absicht, weiter zu hoffen.« »Das ist gut zu hören, vor allem, da der verdammte Rest der Welt sie praktisch schon begraben hat. Ich hoffe, ich konnte Ihnen helfen.« Hunt wollte umgehend einige Telefongespräche führen, aber es war jetzt inzwischen kurz vor fünf, und im Fernsehen würde vielleicht gleich etwas laufen, was er vorher noch sehen wollte. Hunt hatte sich seinen Fernseher gekauft, damit er Sportsendungen und ganz gelegentlich mal einen Film aus der Videothek gucken konnte. Seit Jahren verfolgte er keine einzige Sendung regelmäßig, nicht auf den großen Networksendern und nicht einmal im Kabel. Bekannte von ihm sprachen manchmal über Seinfeld oder Friends oder in letzter Zeit über Deadwood oder über diesen Reality-Show-Schwachsinn. Er konnte das nicht nachvollziehen vielleicht war dazu ein Verhaltensmuster nötig, das er ein 238 fach nie ausgebildet hatte. Selbst wenn er mal ein bisschen Ausfallzeit hatte, was selten genug vorkam, zog er es immer vor, aktiv zu sein, den Körper oder den Geist zu beschäftigen. Aber jetzt hatte er den Apparat eingeschaltet, um die Nachrichten zu sehen. Gleich der erste Sender, den er erwischte, erwies sich als Kandidat für einen neuen Rekord in Geschmacklosigkeit, indem er das Foto einer lächelnden
Andrea Parisi in einer Ecke des Bildschirms zeigte, die Titelzeile »Andrea Watch« und darunter ein digitales Laufband, auf dem ununterbrochen die Stunden, Minuten und sogar die Sekunden seit dem Zeitpunkt ihres Verschwindens abgezählt wurden. 50:06:47. Als Ausgangspunkt galt der Anruf auf ihrem Handy, am Mittwoch um drei Uhr nachmittags. Als er umschaltete, stieß er auf einen Fall von höchst seriöser Berichterstattung: »... die ungenannt bleiben wollte, bestätigte vor wenigen Minuten, dass eine Selbsttötung von Frau Parisi für durchaus möglich gehalten wird und diese im Fall des erschossenen Bundesrichters George Palmer und seiner angeblichen Geliebten Staci Rosalier vom letzten Montag als Zita\: »vorn Tatverdacht nicht auszuschließen gilt. Polizeistellen in San Francisco wollten diese Einschätzung weder bestätigen noch dementieren, aber ...« Das reichte schon. Hunt sprang zum Gerichts-TV. Rieh Tombo lieferte gerade seine DonolanTageszusammenfassung vor dem Gerichtsgebäude ab, gleich um die Ecke. Es schien eine Ewigkeit her zu sein, seit Spencer Fairchild Hunt am Morgen auf der Straße vor dem Piersall-Bürogebäude beschuldigt hatte, mit Andrea unter einer Decke zu stecken und dass das 239 Ganze nur eine ausgefeilte Publicitynummer sei. Als Tombo seine Analyse des Verhandlungstages aus der Sicht der Anklage abgeschlossen hatte, verblüffte er selbst den mit allen Wassern gewaschenen Hunt damit, dass er sich anschickte, die neue Frau vorzustellen, die die nicht zur Verfügung stehende Andrea Parisi ablösen und von nun an die Strategie der Verteidigung unter die Lupe ... Hunt konnte nicht einmal lange genug hingucken, um festzustellen, wer es war. Der nächste Sender, den er anwählte, kam auf die Unfähigkeit der Behörden zu sprechen, irgendwelche Angehörigen von Rosalier ausfindig zu machen. Man hatte ihnen eine Kopie des unscharfen Fotos von Stacis Bruder zur Verfügung gestellt, und nun lächelte der Junge Hunt entgegen, während die Stimme der Moderatorin eindringlich dazu aufforderte, sich umgehend bei der Polizei oder der am unteren Bildschirmrand angezeigten Nummer zu melden, falls man Angaben zur Identität dieses Jungen machen könne. Aber plötzlich sah Hunt nicht mehr das Gesicht des Jungen. Er sah die Umrisse und Farben dessen, was sich hinter ihm befand. Zwar war auch dieser Hintergrund verschwommen und unscharf, aber doch unverkennbar, wenn man ihn schon einmal gesehen hatte. Blitzartig saß er wieder vor dem Computer. Mickeys Bilder von der Manion-Villa. Der Terrakotta-Turm, die Bougainvilleen. Er prüfte die anderen Aufnahmen des Hauses
aus verschiedenen Blickwinkeln, fand sogar die Stelle, wo Todd Manion seiner Ansicht nach gestanden haben musste, als das Foto aus Stacis Wohnung aufgenommen worden war. Zurück zur Aufnahme von Carol Manion und ihrem Sohn auf dem Weg zur Limousine. Und noch von etwas anderem, ganz am Bildrand. 240 Er ging noch mal die Fotos durch. Eine Frontalaufnahme vom Aufgang zur Vordertür, dann eine vom Turm zur Rechten, eine von der Dreiergarage und eine von der breiten Auffahrt links vom Eingangsportikus. Bei diesem Bild verharrte Hunt, kroch fast in den Monitor hinein, obwohl es deutlich genug zu sehen war: In der Auffahrt, im hellen Sonnenschein des gestrigen Tages glänzend, stand ein schwarzes BMW Z4 Cabrio.
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Hunt wusste, dass Juhle mit der Betreuung seines Little-League-Baseballteams beschäftigt war, daher rief er auf dessen Handy an und sprach auf die Mailbox: »Dev. Das Foto von Staci Rosaliers Bruder wurde vor Carol Manions Haus draußen in Seacliff aufgenommen. Ich weiß noch nicht genau, was das bedeutet, aber ich finde es verdammt aufregend. Du solltest vielleicht auch mal nachprüfen, ob irgendwelche Telefongespräche zwischen Palmer und Manion verzeichnen sind, von Büro zu Büro, Haus zu Haus, was auch immer. Auf jeden Fall ruf mich an, sobald du das hier abgehört hast. Vorwärts, Hornets!« Als Nächstes erwog er, bei Manions zu Hause anzurufen, hatte sogar schon den Hörer abgenommen, besann sich dann aber. Was wollte er sagen? Immerhin handelte es sich hier um eine Familie mit einem extrem großen Vermögen und Bekanntheitsgrad sowie einem ausgeprägten Sinn für die eigene Privatsphäre. Sie hielten sich eigens einen Öffentlichkeitsbeauftragten, der nichts anderes zu tun hatte, als ihren Namen aus den Zeitungen herauszuhalten, 240 sofern es sich nicht um vorher abgesegnete Beiträge im Gesellschafts- oder Wirtschaftsteil handelte. Man rief sie nicht einfach so aus heiterem Himmel an einem Freitagabend an, erklärte, man sei Privatdetektiv, und stellte ihnen dann Fragen über ihren Sohn und über ihre Beziehung - falls vorhanden - zu einem ermordeten Bundesrichter, seiner Geliebten und einer vermissten Anwältin. Juhle als Kriminalbeamter konnte so einen Anruf vielleicht machen, aber auch er würde sogleich das Defizit zu spüren bekommen, das sie bei dieser ganzen Angelegenheit immer wieder lahm legte: der Mangel an handfesten Beweisen irgendwelcher Art. Woran sollte er seine Fragen aufhängen?
Und was hatte Hunt überhaupt in der Hand? Einen vollkommen legitimen Anruf wegen eines verabredeten Termins, von einer reichen Frau bei ihrer potenziellen Anwältin. Das Bild eines Jungen, wahrscheinlich vor Carol Manions Haus aufgenommen. Ein schwarzes Cabrio. Juhu! Noch vor sechs Stunden hatte Hunt geglaubt, wesentlich Stichhaltigeres in Bezug auf Arthur Mowery und Jim Pine und sogar Gary Piersall in der Hand zu haben, und die Jagd nach diesen Schimären hatte ihn viel Zeit gekostet, aber nicht ein Stückchen weitergebracht. Er brauchte jetzt etwas Reelles, etwas Fassbares und Einleuchtendes, das zumindest Juhle einen Hebel in die Hand gab, den er nutzen konnte, um irgendeine sinnvolle Befragung zu eröffnen. Da er schon mal am Computer saß, ging er ins Netz und suchte noch einmal ein bisschen nach dem Namen Manion herum, probierte verschiedene Kombinationen, um das Trefferfeld ein wenig einzugrenzen. Als er Bundesrichter 241 George Palmer mit Ward und Carol Manion kombinierte, fand er heraus, dass die Familien sich zumindest auf gesellschaftlicher Ebene gekannt haben mussten, da sie eine ganze Reihe derselben Wohltätigkeitsveranstaltungen in der Stadt besucht hatten. Er probierte Staci Rosalier mit Todd Manion - null -, dann nur mit Manion und erzielte auch dort keine Treffer, obwohl Todd nur für sich ungefähr tausend hatte, alle außer vieren mit Erwähnung mindestens eines seiner Elternteile. Die Fundstellen der vier Einzelnennungen waren offensichtlich Bildunterschriften von Zeitungsfotos aus dem Gesellschaftsteil, auf denen er ohne Eltern zu sehen war. Nach fünfzehn Minuten, die keinerlei neue Fährten eröffnet hatten, gab Hunt die Computerrecherche auf. Irgendetwas Bedeutsames mochte sich unter all den Informationen über die Manions befinden, aber solange er keine genauere Vorstellung davon hatte, wonach er eigentlich suchte - und die hatte er nun mal nicht -, würde es ewig dauern, es zu finden. Vielleicht sollte er es, so wie Mickey mit seinen Fotos vom Haus der Manions, auch einmal aus einem anderen Blickwinkel versuchen. Bevor er seine Wohnung verließ, zog Hunt sich wieder um, raus aus den Trainingsklamotten, rein in eine ordentliche Hose, Straßenschuhe und einen dicken schwarzen Pullover. Ein halbes Dutzend Autos verstopfte die kleine halbkreisförmige Auffahrt und den Straßenrand direkt vor Richter Palmers Haus in der Clay Street. Hunt parkte sieben oder acht Häuser weiter, stieg aus dem Cooper und ging den nebelverhangenen Bürgersteig entlang, ohne sich so recht darüber im Klaren zu sein, was genau er eigentlich vorhatte. 241
Nur so viel wusste er, dass er handeln musste, irgendetwas tun, mit jemandem reden, aus seiner Wohnung herauskommen und der Versuchung entgehen, die Ermittlung am Computer zu führen. Jetzt hatte er, wenn schon sonst nichts, wenigstens einen Fokus, eine allgemeine Stoßrichtung für das, was er aufdecken wollte. Wenn die Manions durch ihre gemeinsam bestrittenen Wohltätigkeitsveranstaltungen so gut mit Richter Palmer bekannt waren, dass sie sich verpflichtet fühlten, zu seiner Beerdigung zu gehen, dann konnte die Witwe des Richters durchaus eine Quelle von Informationen, von Tatsachen, vielleicht gar von Beweisen sein. Jeanette hatte ihren Ehemann an diesem Nachmittag beerdigt. Und genau wie Hunt gehofft und sich ausgerechnet hatte, waren einige Leute hinterher vom Friedhof aus noch mit zu ihr nach Hause gekommen. Eine bessere Gelegenheit würde sich nicht mehr ergeben. Hunt umkurvte den Garten hinter der niedrigen Mauer, warf einen anerkennenden Blick auf den sanft plätschernden Springbrunnen, erklomm die Stufen und betätigte die Klingel. Im Haus steppte verständlicherweise nicht gerade der Bär, aber der Lebhaftigkeit und Lautstärke der Unterhaltung nach zu urteilen, die nach draußen drang, blies man wenigstens nicht Trübsal. Eine Frau etwa in Hunts Alter öffnete die Tür, zeigte eine vorsichtige Andeutung eines Lächelns, als könne er ihr möglicherweise bekannt sein. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Ja, ich hoffe. Könnte ich vielleicht kurz mit Frau Jeanette Palmer sprechen?« Sofort verschwand jede Spur eines Lächelns. »Sind Sie Reporter?« 242 »Nein.« Hunt griff nach seinem Ausweis. »Ich bin Privatdetektiv ...« »Tut mir Leid«, sagte die Frau, »aber das ist jetzt wirklich ungünstig, wie Sie eigentlich wissen müssten. Heute Morgen war die Beerdigung meines Vaters, und meine Mutter ist zurzeit wirklich nicht in der Verfassung, mit Leuten zu reden. Wenn Sie also anrufen und einen Termin verabreden wollen ...« Sie machte einen Schritt zurück und schickte sich an, die Tür zu schließen. Hunt reagierte ohne Überlegung, streckte die Hand aus, stellte seinen Fuß auf die Schwelle. Die Frau blickte auf den Boden, auf seinen Arm, der die Tür festhielt. »Ich mache jetzt die Tür zu. Ich gebe Ihnen den Rat, zurückzutreten.« »Bitte.« Hunt blieb, wo er war. »Ich bin nicht hier, um Ärger zu machen, Ehrenwort. Aber es handelt sich um eine äußerst dringende Angelegenheit, es geht vielleicht buchstäblich um Leben und Tod.« Sie schüttelte den Kopf. »Sehen Sie nicht, dass Sie bereits Ärger machen? Das, was Sie da machen, das ist Ärger.« In ihrem Rücken hört Hunt eine tiefe Männerstimme. »Alles in Ordnung hier, Kathy?«
Sie drehte sich zu der Stimme um, wodurch die Tür sich um einige Zentimeter weiter öffnete. »Der Herr hier sagt, er sei Privatdetektiv und müsse mit Mama sprechen.« »Worüber?« »Ich weiß nicht. Ich hab ihm gesagt, dass es jetzt nicht passt, aber er will nicht gehen. Im Moment blockiert er die Tür. Er sagt, es ginge um Leben und Tod.« »Ach ja? Wollen doch mal sehen.« Plötzlich wurde die Tür von innen aufgerissen. Hunt sah sich einem mürrisch 243 dreinblickenden Schwergewichtler im dunklen Anzug gegenüber, der einen goldgelben Drink in der Hand hielt. »Nehmen Sie den Fuß aus der Tür, mein Freund. Und zwar sofort. Danach haben Sie zehn Sekunden Zeit, mir zu erzählen, was denn so wichtig ist.« »Ich versuche Andrea Parisi aufzuspüren.« »Das will die Polizei auch.« »Unterschiedliche Gründe.« »Ach so? Na, zuletzt hab ich gehört, dass es heißt, sie hätte meinen Dad umgebracht. Also schließ ich mich deren Gründen an.« »Die haben Unrecht. Sie war es nicht. Vielleicht ist sie sogar selbst umgebracht worden.« »Von wem?« »Von derselben Person, die Ihren Vater umgebracht hat.« Hunt dämpfte seine Stimme, verminderte aber nicht seine Eindringlichkeit. »Ich habe eine Spur in diesem Fall. Ich muss ihr nachgehen. Wollen Sie dem Mörder Ihres Vaters auf die Schliche kommen oder nicht?« Hunt konnte sehen, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Der mächtige Oberkörper des Mannes schwankte. Er stieß einen tiefen Seufzer aus. Er stellte sein Glas neben der Tür ab, sagte zu seiner Schwester, er sei gleich wieder da, dann trat er vors Haus auf die Veranda und zog die Tür hinter sich zu. »Ich bin Dave Palmer. Was wissen Sie?« »Ich versuche Informationen über die Manions zu bekommen. Sie waren bei der Beerdigung Ihres Vaters heute Morgen. Ich glaube, dass Ihr Vater oder Ihre Mutter sie gekannt haben muss.« »Die Manions?« Hunt konnte sehen, dass sein Gegenüber diesen Namen überhaupt nicht auf dem Zettel hatte. »Meinen Sie die Manions von der Manion-Kellerei?« 243 »Richtig.« Wenn Hunt wollte, dass Dave weiter zuhörte, dann musste er jetzt schnell sprechen. Und notfalls auch hier und da ein klein wenig übertreiben. »Staci Rosalier hatte ein gerahmtes Foto des achtjährigen Sohns der Manions in ihrer Wohnung. Todd. Es wurde heute Abend im Fernsehen gezeigt und morgen wird es in die Zeitung kommen. Staci hat ihren Freunden erzählt, er sei ihr Bruder.«
Staci Rosalier war, versteht sich, in diesem Haus ein überaus heikles Thema. »Dann hat sie gelogen.« »Das ist natürlich möglich. Andererseits: Warum sollte sie so etwas tun?« »Ich weiß nicht. Vielleicht war sie nicht nur eine Hure, sondern auch eine Lügnerin. Wollte sie den Eindruck erwecken, sogar bei meinem Vater, dass sie aus guter Familie kam? Dass sie einflussreiche Freunde hatte? Keine Ahnung.« »Also, bei meiner Zeugin hat sie jedenfalls nicht versucht, einen solchen Eindruck zu erwecken.« Doch Dave wehrte die bloße Vorstellung weiterhin ab. »Und wenn sie Todds Schwester ist, dann war sie also auch eine Manion? Das glaube ich nicht.« »Ich bin mir selbst nicht so sicher, ehrlich gesagt, über die genaue Art der Beziehung. Vielleicht war er ihr Stiefbruder oder Halbbruder. Deswegen möchte ich ja unbedingt mit jemandem sprechen, der sie vielleicht schon eine Weile kennt, die Manions. Waren sie mit Ihren Eltern befreundet?« »Wie Sie ganz richtig sagten, sie kannten sich. Ich weiß nicht, wie weit das ging.« »Es wäre sehr hilfreich, wenn ich das erfahren könnte.« Dave rang weiter mit der Zumutung. »Meine Mutter möchte sich bestimmt nicht über Staci Rosalier unterhalten. 244 Das kann ich Ihnen garantieren. Sie wird von all diesen Sachen nichts wissen wollen.« »Ich lass Staci außen vor, wenn ich kann. Was mich in erster Linie interessiert, das ist Todd.« »Warum war er im Fernsehen?« »Die Polizei versucht Angehörige von Staci ausfindig zu machen.« »Dann ist das ja jetzt alles in der Öffentlichkeit oder wird es bald sein. Das mit den Manions.« »Vielleicht auch nicht«, sagte Hunt. »Es ist kein so tolles Foto. Und es könnte auch schon ein paar Jahre alt sein.« Dave suchte nach einem neuen Ablehnungsgrund, sein Ärger köchelte an der Oberfläche, konnte jederzeit überschäumen. »Das heißt also, der Junge auf dem Bild ist vielleicht gar nicht Todd?« »Doch, doch. Ich bin mir sicher, dass er es ist.« »Dann wird die Polizei also spätestens bis morgen seine Identität festgestellt haben, oder?« »Möglich.« »Und dann können sie sich an die Manions wenden, von denen alles Wesentliche erfahren und meine Mutter aus dem Spiel lassen.« »Ja, könnten sie. Falls die Identitätsfeststellung überzeugend genug ausfällt. Aber bis dahin wären die Manions, falls sie etwas zu verbergen haben,
gewarnt. Sie könnten einfach abstreiten, dass es ein Bild von Todd ist. Und falls sie eine bessere Erklärung brauchen, hätten sie viel mehr Zeit, sich eine auszudenken. Wer weiß, vielleicht ist es dazu bereits gekommen.« »Aber wir sprechen hier von den berühmten Manions. Was um alles in der Welt sollten die zu verbergen haben?« 245 »Falls es irgendeine Beziehung zwischen ihnen und Staci Rosalier gibt, dann würde diese Bestandteil der Ermittlungen im Zusammenhang mit dem Tod Ihres Vaters sein. Können Sie das nicht erkennen? Und momentan ist das eben nicht der Fall. Sie sind in keiner Weise involviert. Alles, was wir bisher haben, ist Carol Manions Verabredung mit Andrea Parisi...« »Moment mal. Was?« Hunt begriff, dass er in der Eile ein entscheidendes Verbindungsglied weggelassen hatte. Jetzt zwängte er es an seinen Platz. »Also, wenn es eine Beziehung - ganz gleich, welcher Art - zwischen ihnen und Staci gibt, dann haben sie diese bislang bewusst verborgen gehalten. Glauben Sie nicht, dass sie längst begriffen haben, wie wichtig das ist? Und erscheint Ihnen das nicht ziemlich aufschlussreich?« Hunt wusste, dass es das war, wusste, dass er alles aufgeboten hatte, was möglich war. Er wusste halt nur nicht, ob es reichen würde. »Bitte«, sagte er. »Es ist von entscheidender Bedeutung. Ich lasse Staci gänzlich außen vor. Ich werde Ihre Mutter nicht länger als fünf Minuten beanspruchen.« Der Türhüter rang mit sich. Es war noch nicht dunkel, aber ein Auto mit eingeschalteten Scheinwerfern kroch die Straße entlang. Der Springbrunnen plätscherte in den Teich. Im Haus, hinter der geschlossenen Tür, ließ eine Welle aus Frauengelächter die ruhige See der Konversation aufschäumen. »Vielleicht. Ich frag mal«, sagte der Sohn des Richters. Man hatte nicht die Absicht, Hunt mit Jeanette Palmer allein zu lassen. Sie saß auf dem Sofa des Wohnzimmers, flankiert von ihrer Schwester Vanessa und der Tochter Kathy, die zuerst 245 an die Tür gekommen war. Der Rest der Gesellschaft, etwa zwanzig Verwandte und offenbar ein Kreis von engen Freunden, befand sich teils hier, teils in der Küche und an den Esstischen, aber Hunts erste Frage an Mrs Palmer ließ das allgemeine Gemurmel ersterben, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und eine Art Tonausfall würde sich durchs ganze Haus ziehen. »Carol Manion? Natürlich«, sagte Jeanette. »Wir kennen Ward und Carol seit mindestens fünfzehn Jahren. Sie waren heute Morgen bei der Beerdigung.« »Ja, ich weiß.« Hunt hatte sich auf eine vor dem Couchtisch stehende Ottomane gesetzt. »Ich war auch dort, Mrs Palmer. Aber ich habe nicht bemerkt, dass sie ihren Sohn bei sich gehabt hätten.«
»Todd, meinen Sie. Nein, das stimmt. Ich vermute, er war in der Schule. Begräbnisse sind auch sowieso nichts für Kinder.« »Er ist ungefähr acht, nicht wahr?« Sie überlegte ein bisschen. »Ja, ich glaube.« »Er ist also adoptiert?« Die Frage brachte sie nicht im Geringsten ins Stocken. »Ja. Anders kann es auch kaum sein, nicht wahr? Ich glaube, Carol ist ein oder zwei Jahre älter als ich, und ich bin zweiundsechzig.« »Mrs Palmer«, sagte Hunt, »als die Manions Todd adoptierten, ganz zuerst, als sie ihn zu sich genommen haben, können Sie sich an irgendwelche Bemerkungen darüber erinnern, über das Ungewöhnliche an dem Vorgang? Ich meine, Carol war sechsundfünfzig oder siebenundfünfzig, sie hatte bereits einen sechzehnjährigen Sohn. Cameron, nicht wahr?« »Ja. Cameron.« 246 »Was um alles in der Welt wollte sie also mit einem neuen Baby? Sie hat Todd als Neugeborenen zu sich geholt, ist das richtig?« »O ja, vollkommen.« Hunt beugte sich erwartungsvoll vor. »Mrs Palmer, dachten Sie damals oder haben Sie heute Kenntnis davon, dass Todd vielleicht in Wirklichkeit Camerons Kind ist?« Jeanette Palmer schürzte die Lippen, entspannte dann schließlich ihren Mund und nickte. »Cameron ist im Sommer davor in einem Wasserskicamp gewesen. Ende April des folgenden Jahres haben sie Todd zu sich genommen. Ohne missgünstig sein zu wollen, aber es fiel schwer, nicht genau diesen Schluss zu ziehen. Obwohl natürlich nie jemand sie darauf direkt angesprochen hat, Ward und Carol. Und sie haben Todd nie anders behandelt oder von ihm anders gesprochen als von ihrem eigenen Sohn.«
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Hunt war nicht weit entfernt vom Spielfeld der Little League am Presidio, also fuhr er dort eben vorbei, musste aber feststellen, dass die frühen Spiele des heutigen Abends schon vor einer Stunde zu Ende gegangen waren. Juhle und Familie waren nirgends zu sehen, saßen wahrscheinlich, wie nach Spielen üblich, in einem der fünftausend Restaurants der Stadt beim Essen. Er rief trotzdem erst einmal bei Juhle zu Hause an - man konnte nie wissen, vielleicht waren sie nach dem Spiel, zum allerersten Mal in der Geschichte, gleich nach Hause gefahren. Aber nein, die Weltordnung war noch intakt. 246 Er versuchte es dann noch mal mit Juhles Handy, wurde aber wieder an die Mailbox verwiesen. Er hinterließ diesmal eine sehr viel deutlichere Nachricht:
»Todd Manion ist nicht Stacis Bruder. Er ist ihr Sohn. Du musst sofort mit den Manions sprechen, Dev. Und nimm deine Handschellen mit. Ruf mich an.« Aber aufgedreht, wie er war, hatte Hunt keine Lust, zu Juhles Haus zu fahren und dort zu warten, bis sein Freund und dessen Familie aus dem Lokal ihres Vertrauens zurückkehrten. Immerhin hatte er jetzt genug an Informationen zusammengetragen, um Juhle für eine tiefer gehende Unterhaltung mit Carol Manion zu munitionieren. Nur das Problem mit den Beweisen plagte ihn weiter. Denn selbst wenn Todd adoptiert war und selbst wenn Staci seine leibliche Mutter war und Cameron der Vater - ja, na und? Solange es keinen Nachweis für Telefongespräche oder sonstige Kontakte zwischen den Hauptakteuren Carol Manion, Palmer, Andrea und Staci - gab, konnten die Manions einfach bestreiten, seit Stacis Ankunft in San Francisco irgendetwas mit ihr zu tun gehabt zu haben, und Juhle seelenruhig gegen die Wand laufen lassen. Und mithilfe der Spitzenanwälte, die sie sich leisten konnten, würden sie genau das tun. Um überhaupt das Geringste ausrichten zu können, würde Juhle einen Beweis dafür brauchen, dass Staci tatsächlich Todds Mutter war. Cameron war letzten Sommer im Alter von vierundzwanzig gestorben. Staci war zweiundzwanzig gewesen. Sie mussten also damals sechzehn beziehungsweise vierzehn gewesen sein. Und sie mussten sich kennen gelernt haben, als er im Wasserskicamp war. Und der diesem Camp am nächsten gelegene Ort, den Hunt mit Staci in Verbindung bringen konnte, war Pasadena, vor vier Jahren. 247 Immerhin etwas. Im Gewerbe des Aufspürens von Leuten hatte Hunt gelernt, dass es sehr oft nützlich war, mit der einfachsten, der offensichtlichsten Lösung anzufangen. Während er noch auf dem Parkplatz neben dem Baseballfeld stand, wählte er die Auskunft für die Stadt der Rose Bowl, und ohne sich im Grunde irgendwelche Hoffnungen zu machen, fragte er nach Rosalier, Vorname nicht bekannt. Schon ein bisschen was anderes als Smith, dachte er. Aber dann sagte die Vermittlung: »Ich habe einen Eintrag«, und er drückte seine Sterntaste, um die Nummer zu bekommen, die er sich dann auf seinen Notizblock kritzelte, während er dem Telefonklingeln ungefähr sechshundert Kilometer weiter südlich lauschte. »Hallo.« Eine kultivierte Frauenstimme. »Guten Tag. Spreche ich mit einer Ms oder Mrs Rosalier?« »Ja, hier ist Mrs Rosalier, aber falls dies ein Verkaufsanruf ist, dann muss ich sagen, der Freitagabend zur Abendessenszeit ist nun wirklich nicht...« »Nein, ich will Ihnen nichts verkaufen! Versprochen. Mein Name ist Wyatt HuVit, und ich bin Privatdetektiv mit Büro in San Francisco. Ich versuche die
Angehörigen einer gewissen Staci Rosalier ausfindig zu machen. Es ist wirklich sehr dringend.« »Staci Rosalier?« Die Frau machte eine Pause, und als sie weitersprach, hatte sie eine ziemlich raue Stimme. »Soll das hier eine Art Telefonstreich sein? Irgendein perverser Scherz? Ich lege jetzt auf.« »Nein! Bitte!« Aber es war zu spät. Sie war schon weg. Sofort betätigte Hunt die Wahlwiederholung, hörte das Besetztzeichen, 248 drückte auf Beenden und versuchte es noch einmal, mit demselben Ergebnis. Als er sich nach ein paar Minuten einigermaßen beruhigt hatte, ließ er seinen Wagen an und sah auf die Uhr am Armaturenbrett, die kurz vor acht anzeigte. Der Himmel wurde langsam dunkel. Vielleicht sollte er zum Royal Thai fahren, um zu fragen, ob Staci irgendwelche Zeugnisse hinterlassen hatte. Auf dem Weg konnte er bei Juhle vorbeifahren und gucken, ob er schon zu Hause war. Oder würde es sich vielleicht trotz allem lohnen, mal bei den Manions vorbeizuschauen? Schon halb unterwegs, betätigte er noch einmal die Wahlwiederholung. Mit Genugtuung stellte er fest, dass die Leitung diesmal frei war. Er fuhr rasch wieder an den Straßenrand, schaltete den Motor aus und wartete. Als sich eine Männerstimme meldete, antwortete Hunt mit: »Dies ist kein Telefonstreich. Legen Sie bitte nicht auf.« Er stellte sich erneut vor und bot dem Mann an, ihm seine Telefonnummer zu geben, damit dieser ihn zurückrufen könne, falls es ihm so lieber sei. Mit dem neuerlichen Hinweis, dass es überaus dringlich sei. Der Mann hörte ihn an und sagte dann: »Wir wissen, wer Staci Rosalier ist. Die junge Frau, die zusammen mit dem Richter oben in San Francisco umgebracht wurde.« »Das ist richtig«, sagte Hunt. »Ich habe der Frau, die eben am Telefon war, gesagt, dass wir die Verwandten der Ermordeten ausfindig zu machen versuchen. Ich wollte sie nicht aus der Fassung bringen.« »Wenn man denselben Namen hat wie jemand, der umgebracht wurde, dann erzählen die Leute einem das gern. Das hat meine Frau ein bisschen nervös gemacht. Sie dachte, Sie wären irgend so ein Verrückter. Persönlich kennen wir keine Staci Rosalier.« 248 Theoretisch wäre das Gespräch damit beendet gewesen, aber irgendetwas an der Antwort ließ Hunt aufmerken. »Ich möchte nicht schwierig erscheinen, Sir, aber sind Sie sicher?« »Natürlich bin ich mir sicher. Was für eine Frage!« »Sie wäre zweiundzwanzig Jahre alt.« Es folgte ein markantes Zögern. »Das haben wir gelesen.«
Jetzt war es an Hunt, eine Pause zu machen - nicht zu lange natürlich, er wollte ja nicht, dass er ihm von der Schippe sprang. »Sie sagten, eine Staci Rosalier würden Sie persönlich nicht kennen. Aber es klang, als würde der Name Ihnen etwas sagen.« Hunt hörte, wie der Mann vom Telefon abgewandt sagte: »Nein, ist schon gut. Er scheint in Ordnung zu sein.« Und dann wieder zu ihm: »Es ist nur, na ja, weil wir halt auch Rosalier heißen. Und wir haben eine Tochter, Caitlin, die gerade dreiundzwanzig geworden ist.« Hunt hatte keine Ahnung, wo dies hinführen würde, aber er wollte unbedingt, dass Mr Rosalier weiterredete. »Und?« »Und ihre beste Freundin in der Highschool hieß Staci. Staci Keilly. Während des letzten Schuljahres hat sie praktisch hier bei uns gewohnt. Wir haben damals immer gewitzelt, dass sie eigentlich zur Familie gehören würde.« Die Stimme wurde etwas rauer. »Und als wir dann hörten, dass die Frau, die mit dem Richter erschossen wurde, Staci Rosalier hieß ...« »Haben Sie sich bei der Polizei gemeldet?« »Nein. Wir haben natürlich darüber gesprochen, aber Staci Keilly ist letzten Endes nicht Staci Rosalier. Wir sind dann zu dem Schluss gekommen, dass es Zufall sein muss.« Nur, dachte Hunt, dass Juhle eben doch Recht hatte. Es gab keine Zufälle in Mordfällen. Und die Rosaliers wollten natürlich nicht in Unannehmlichkeiten im Zusammenhang 249 mit einem ermordeten Bundesrichter verwickelt werden. »Falls Sie mir noch eine Minute gewähren wollen, Sir, haben Sie irgendeine Ahnung, wo Staci Keilly jetzt ist? Haben Sie in letzter Zeit von ihr gehört?« »Nein, seit ein paar Jahren nicht mehr. Caitlin ist zurück in den Osten, um das College zu besuchen. Middlebury. Sie war schon immer ein bisschen ein Stubenhocker, eine sehr gute Schülerin, und Staci war mehr ... Na, sie hatte irgendwie ein anderes Leben. Sie war sehr hübsch und beliebt, wie es bei Highschoolmädchen halt so ist, nicht wahr. Jedenfalls, nachdem Caitlin ausgezogen war, haben wir Staci nicht mehr gesehen.« »Was ist mit ihren Eltern? Leben die in Pasadena?« »Würde ich denken, ja. Aber wir kannten sie nicht. Bei ihnen zu Hause war es wohl nicht sehr ... na ja, nicht so wie bei uns. Es schien sie nicht zu kümmern, wie oft Staci hier übernachtet hat oder wie spät sie nach Hause gekommen ist. Sie waren nicht gerade eine wandelnde Reklame für seriöse Pflegeelternschaft.« Hunt spürte einen elektrischen Kitzel, der ihm eine Gänsehaut über die Arme jagte. »Sie meinen, Staci war ein Pflegekind?« »Genau. Ich meine, wir haben all diese Informationen aus zweiter Hand, über Caitlin, aber die Situation war offenkundig nicht die beste. Wahrscheinlich der
Grund dafür, warum sie sich so oft hier aufgehalten hat.« Er verstummte für einen Augenblick. »Sie glauben doch nicht, dass die junge Frau dort bei Ihnen ...?« »Ihre Staci Keilly war? Ich habe keine Ahnung. Das würde davon abhängen, ob Sie es für möglich halten, dass Stacis Abneigung gegen ihre Pflegeeltern stark genug war, um deren Namen abzulegen und Ihren anzunehmen.« 250 »Das klingt ziemlich extrem. Aber ich weiß es einfach nicht. So etwas hab ich noch nie gehört. Aber es könnte sein.« Er räusperte sich. »Und in dem Fall wäre sie jetzt tot, nicht wahr?« Caitlin Rosalier war ein Stubenhocker, ganz wie ihr Vater gesagt hatte. Es war ein Freitagabend im Spätfrühling, und sie war allein in ihrer Wohnung in Boston und las. »Meine Eltern haben Ihnen diese Nummer gegeben? Wirklich?« »Sie könnten zu Hause anrufen und sie fragen, Caitlin. Ich würde Sie dann in drei Minuten noch einmal anrufen.« »Ja, wenn's Ihnen nichts ausmacht, würde ich das, glaube ich, gern so machen. Und wenn ich dann entscheide, dass ich mit Ihnen sprechen will, rufe ich Sie zurück.« Das Mädchen kam offensichtlich nach der Mutter. Sie legte auf. Drei oder mehr lange Minuten später meldete sie sich wieder, und sie klang, als hätte Vater oder Mutter nicht nur für Hunt gebürgt, sondern ihr auch die schlechte Nachricht übermittelt. Die Stimme war zittrig, gedämpft. »Meine Eltern sagten, Sie wollten etwas mehr über Staci erfahren? Ich kann nicht glauben, dass jemand sie umgebracht hat. Wer würde so etwas tun?« ^ »Das versuche ich ja gerade herauszufinden, Caitlin. Ihr Vater sagte, die Keillys seien ... na, vielleicht könnten Sie mir einfach erzählen, was Sie wissen?« »Als Erstes muss ich sagen, dass ich sie nicht gut kannte. Eigentlich nur von dem, was Staci mir erzählt hat.« »Und was war das?« »Sie mochte sie nicht besonders, aber das störte sie andererseits auch nicht allzu sehr. Sie war daran gewöhnt, nehme ich an. Es war nicht unbedingt das, was man als ein richtiges Zuhause bezeichnen würde.« 250 Hunt hatte so seine eigenen, recht gut begründeten Vorstellungen davon, wie es in so manchen Pflegefamilien zuging, aber jede war wieder anders, und er musste Genaueres über Stacis Erfahrungen wissen. »Inwiefern war es anders?« »In fast jeder Hinsicht. Außer, dass sie sie zuerst, glaube ich, adoptiert haben.« Das war ungewöhnlich, wie Hunt wusste. Im Regelfall war die Kindspflegschaft auf kurze Zeiträume angelegt, mit dem Ziel, das Kind schließlich wieder bei den leiblichen oder aber bei Adoptiveltern unter-
zubringen. Sehr selten jedoch adoptierten Pflegeeltern einen ihrer Schützlinge. »Ich glaube, sie war eine der ersten, die sie zu sich genommen haben; als sie so drei oder vier war.« »Wissen Sie, warum sie überhaupt in eine Pflegefamilie gekommen ist?« »Ich glaube - das klingt melodramatisch, ich weiß, aber ich glaube, es ist wahr -, sie wurde nach ihrer Geburt ausgesetzt. Dann, als Baby, wurde sie von einer Familie zur nächsten weitergereicht. Anscheinend war sie ein unruhiges Kind, hatte Koliken und weinte viel. Das Stresskind, so hat sie sich tatsächlich selbst bezeichnet. Was sie aber eigentlich gar nicht war, ich meine, solange ich sie kannte, hat sie keinen Stress gemacht. Jedenfalls ist sie dann irgendwann zu den Keillys gekommen, und die haben sie behalten.« »Aber es gab noch andere Kinder im Haus?« »Tja, das war's eben. Als Staci und ich anfingen, befreundet zu sein, war das mit den Pflegekindern für die Eltern schon mehr so eine Art Gewerbe geworden. Keiner von beiden hatte einen anderen Job, und, na ja, sie werden pro Tag und pro Kind bezahlt. Also haben sie sich einfach Kinder ins Haus liefern lassen von dieser oder jener Agentur, haben sie einen Tag 251 oder ein paar Wochen behalten, vielleicht auch mal einen Monat...« »Ja, ich weiß, wie das läuft«, sagte Hunt. »Okay, aber was Staci zu schaffen machte, war die Veränderung. Bei dem ständigen Kommen und Gehen hatte sie plötzlich nicht mehr das Gefühl, dass sie geliebt wurde oder dass ihre Familie sie überhaupt noch haben wollte. Sie hatte ihnen nichts als Probleme bereitet, und es hatte sich am Ende nicht mal gelohnt. Sie brachte kein Geld ein. Im Gegenteil, sie kostete Geld.« »Auf welche Weise hatte sie ihnen so viele Probleme bereitet?« »Das weiß ich nicht. Darüber wollte sie nicht reden. Nur, dass sie halt so ein Stresskind sei. Aber so wie ich's verstanden habe, war das wohl, bevor sie nach Pasadena gezogen sind. Irgendwas muss aber passiert sein, was das ganze Verhältnis veränderte, wo sie dann hinterher nicht mehr viel von ihr gehalten haben. Als wenn sie sie abgeschrieben hätten, weil sie einfach zu viel Ärger machte.« »Wann war das?« »Ich glaube, am Ende des ersten Jahres an der Highschool.« ^ »Und wo haben sie vorher gewohnt?« »Fairfield, glaube ich. Das ist in Nordkalifornien.« »Ich weiß. Ich rufe aus San Francisco an.« Er machte eine kleine Pause. »Caitlin«, sagte er dann, »das, was da passiert ist, wissen Sie, ob das vielleicht eine Schwangerschaft war?« Sie zögerte. »Einmal haben wir angefangen darüber zu reden, ob wir eines Tages heiraten und Kinder haben würden. Wie man es unter
Schulfreundinnen eben so macht, nicht wahr. Und da fing sie plötzlich an zu weinen, ich meine, 252 aber richtig. Und als sie endlich aufhörte damit, hab ich sie gefragt, was denn los sei, und sie meinte, sie wolle nicht über Babys sprechen. Nie, nie wieder. Das Thema Babys sei einfach zu schmerzhaft für sie.« »Und warum?« »Sie hatte mal ein Baby gehabt, einen kleinen Jungen. Er wurde ihr einfach weggenommen.« Hunt befand sich noch immer auf dem Gelände des Presidio, saß am Straßenrand in seinem Cooper. Einmal musste er noch Halt machen auf dieser düsteren Reise, um sich felsenfeste Gewissheit zu verschaffen, und die brauchte er. Er tröstete sich damit, dass er damit letzten Endes auch Juhle einen Dienst erwies - indem er Staci Rosaliers nächste Angehörige ausfindig machte. Auch die Keillys waren in Pasadena verzeichnet, und zwei Minuten nachdem er sein Gespräch mit Caitlin Rosalier beendet hatte, sprach er bei ohrenbetäubendem Hintergrundlärm - Fernseher, Musik, schreiende Kinder mit Kitty Keilly. »Tut mir Leid. Wer ist da noch mal, bitte?« Hunt sagte es ihr, hörte dann, wie sie ihm mitteilte, sie müsse mal eben irgendwo hingehen, wo es weniger laut sei. Während er ihr auf ihrem Weg durch die Wohnung nachlauschte - »Stell den Kasten leiser!« »Jason, leg das weg!« »Es gibt nichts mehr zu essen, das ist mein Ernst!« »Meine Güte, verdammt noch mal!« -, bekam er einen recht guten Eindruck von der Umgebung, der Staci entflohen war, ohne je einen Blick zurückzuwerfen. Eine Tür schlug zu, und dann war sie wieder da. »So«, sagte sie, »da drinnen konnte man ja sein eigenes Wort nicht verstehen. Also, Mr Hunt, richtig? Sie sagten, Sie sind Privatdetektiv und rufen wegen Staci an?« 252 »Vermutlich. Allerdings glaube ich, dass sie ihren Nachnamen geändert hat.« »Steckt sie wieder in Schwierigkeiten? Dieses Mädchen steckt immerzu in Schwierigkeiten. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihnen da weiterhelfen kann. Wir haben seit Jahren nichts mehr von ihr gehört, das letzte Mal war ein paar Wochen nach ihrem Schulabschluss, ein reines Wunder, dass sie den geschafft hat. Nicht, dass man was anderes erwarten würde, ist klar, wenn man schon so lange dabei ist wie wir. Ich meine, sie haben ihr eigenes Leben, und so was wie Dankbarkeit für die Leute, die sie großgezogen haben, gibt's natürlich nicht. Das kennen wir zur Genüge, weiß Gott. Falls sie Geld braucht, sagen Sie ihr ruhig, dass sie an der falschen Adresse ist. Aber na gut, was hat sie diesmal angestellt?« »Bevor wir dazu kommen, Ma'am« - und zu dem Schmerz, den Hunt ihr viel lieber erspart hätte - »möchte ich Sie fragen, ob Sie mir nicht ein bisschen was über ihr Baby erzählen können.«
Das Zögern verriet die Lüge. »Sie hat kein Baby gehabt. Für wen arbeiten Sie?« »Im Moment arbeite ich für Staci, Ma'am.« »Warum hat sie Ihnen dann nicht von dem Baby erzählt, wenn sie darüber reden will?« »Sie haben doch gerade gesagt, dass sie gar keins hatte.« Stille. »Sie hat vor acht Jahren einen kleinen Jungen bekommen, nicht wahr? Der Vater war Cameron Manion.« »Ich darf darüber nicht sprechen.« »Haben die Manions Sie bezahlt, damit Sie nicht darüber sprechen?« Keine Antwort. 253 »Mrs Keilly?« »Sie hatte kein Baby, hab ich Ihnen doch gesagt.« »Meines Erachtens haben Sie eben das Gegenteil gesagt.« »Ich will davon nichts mehr hören.« Aber sie legte nicht auf. Hunt wartete. Schließlich sprach sie weiter, mit veränderter, leiserer Stimme. »O Gott, was ist passiert?« »Nichts Gutes, Ma'am. Ich glaube, Sie sollten sich lieber hinsetzen.« Er setzte sie so schonend wie möglich ins Bild. Obwohl sie sich ihm als eine übel launige, selbstmitleidige, selbstsüchtige und ignorante Person darstellte, empfand er doch tiefes Mitleid, als er die Stimme hörte, mit der sie ein leeres, gottverlassenes »Oh« hauchte. Er war fertig mit seinem Bericht, und es herrschte Stille in der Leitung. Als Mrs Keilly schließlich wieder sprach, war es kaum mehr als ein Flüstern. »Diese Frau dachte, ihr Junge wäre so wunderbar, so perfekt. Sie standen so weit über uns. Und mein Mädchen war für sie nur Abschaum. Wir alle waren Abschaum. Sie dachte, Staci wäre mit Absicht schwanger geworden, um sich in die Familie einzuschleichen und an ihr Geld zu kommen.« »Was haben sie dann gemacht?« »Na ja, zuerst haben sie natürlich geleugnet, dass Cameron der Vater war. Sie meinten, alle wüssten, dass Staci eine Schlampe wäre und mit jedem Jungen im Camp geschlafen hätte.« »Staci war auch in Camerons Wasserskicamp?« Sie lachte schrill. »Soll das ein Witz sein? So was konnten wir uns im Traum nicht leisten. Sie war Rettungsschwimmerin am Lake Beryessa, weiter nichts. Das war ihr Ferienjob. Vielleicht hätten wir sie nicht allein dort hinlassen sollen, aber es hieß, das wäre ein ausgezeichnetes Camp für Kinder 253 aus reichen Familien, und wir haben ihr vertraut. Wir hätten nicht gedacht... Naja, ist ja egal, was wir gedacht haben.« »Und was dann?«
»Tja, also eins muss man dem Jungen lassen. Er hat die Wahrheit gesagt. Wollte nichts davon hören, dass Staci es mit anderen getrieben hätte. Das war sein Baby, ein Kind der Liebe, und er wollte ein Mann sein und für den Kleinen sorgen, und er wollte sie auch heiraten. Er liebte sie. Sechzehn Jahre alt. Was für ein Narr.« »Sie haben also ...« »Moment. Wir haben gar nichts gemacht. Nichts Schlechtes jedenfalls. Wenn es das Kind von ihrem heiß geliebten Jungen war, dann war das Baby ihr Enkelkind ...« »Sie meinen Carol Manion?« »Das ist sie doch, von der wir hier sprechen, oder? Die reiche Ziege Carol Manion. Kam natürlich gar nicht infrage, dass ihr toller Sohn irgendwelches Gesindel heiratet. Und sie ließ es auch nicht zu, dass ein Enkelkind von ihr in einem Wohnwagenpark aufgezogen wurde. Oh, und der Skandal. Vergessen Sie nicht den Skandal. Wissen Sie, dass sie nicht ein einziges Mal hergekommen sind, nicht ein einziges Mal mit uns gesprochen haben? Haben nur ihre Ärzte und Anwälte geschickt. Um den Handel für sie klar zu machen.« »Mit wem? Mit Staci?« Jetzt klang ihre Stimme weinerlich und gereizt. »Staci hatte gar nichts dazu zu sagen. Um Himmels willen, sie war vierzehn Jahre alt. Als sie die Papiere nicht unterschreiben wollte, haben wir es eben gemacht. Es war unsere Entscheidung und für das Kind das Beste, für alle. Da war nichts falsch an dem, was wir gemacht haben.« »Wie viel haben sie Ihnen gezahlt?«, fragte Hunt. Dafür, ihnen das Kind eurer Tochter zu überlassen, damit sie es als 254 ihr eigenes großziehen konnten. Und dann eure vierzehnjährige Staci zweifellos ohne Vorwarnung und womöglich unter falschen Versprechungen, sodass das Ganze einer Verschleppung gleichkam - in einen anderen, weit entfernten Teil des Staates zu schaffen. »Es ging nicht um das Geld«, sagte sie. Aber er wusste, dass es selbstverständlich darum und nur darum gegangen war.
29
Ob er an einem Fall arbeitete oder nicht, einschlägige Erfahrung hatte Juhle gelehrt, dass man sein Handy nicht zum Baseballspiel seiner Kinder mitnahm, wenn man nicht gestört werden wollte. Und heute, da er sogar als Betreuer und Coach der Hornets fungierte, galt diese Regel in noch verschärftem Maße. Und so war er wahrhaftig unerreichbar, Pager und Handy steckten im Handschuhfach.
Später dann, nach dem Sieg der Mannschaft und nach der Pizza mit der Familie, rührte sich sein Gewissen, und er fuhr sie alle nach Saint Francis Wood, wo sie Doug Malinoff besuchten. Der hütete noch immer das Bett, das Bein bis zum Oberschenkel eingegipst. Alle setzten ihre Unterschrift auf den Gips - Juhle schrieb »Rutschen, verdammt, du musst rutschen!«, und Connie hatte gleich darunter hinzugefügt: »Aber nicht auf Gras, wo man mit den Spikes hängen bleibt.« Und alle hatten ihren Spaß. Dann tranken Juhle und Connie noch ein paar Bier mit dem Invaliden und seiner Frau Liz, bis das Spiel der Giants auf dem großen Fernseher im Schlafzimmer zu Ende war. Die Kinder hatten unterdes 255 sen im Spielzimmer wie gebannt auf einen Zeichentrickfilm gestarrt. Jetzt war es kurz nach zehn, die Kinder lagen in ihren eigenen Betten zu Hause, und Juhle nahm seine Armschlinge ab, legte sie über den Bettpfosten und ließ die Schulter kleine Kreise beschreiben. »Irgendwelche Fortschritte?«, fragte Connie, die gerade aus dem Flur kam. »Wenigstens ist sie noch nicht völlig steif. Ich glaube, ich lass das mit der Schlinge. Und allmählich kann ich auch kleine Gegenstände mit der anderen Hand aufheben. Es geht langsam, aber jedes Mal, wenn es mich runterzieht, denk ich an den armen Doug, der mit seiner Spiralfraktur noch wochenlang ans Bett gefesselt ist, und halt mich für grausam, aber dann fühle ich mich besser.« »Du bist grausam.« »Das stimmt. Aber auf eine freundliche, mitfühlende Art. Lag es nur an mir, oder hattest du auch den Eindruck, dass Doug überrascht war, weil wir mit mir als Coach heute gewonnen haben?« »Überrascht? Sein ganzes Weltbild ist zusammengekracht. Hast du sein Gericht gesehen, als du ihm erzählt hast, du hättest die Kids selbst bestimmen lassen, in welcher Reihenfolge sie an den Schlag gehen? Und jeder dann auf einer Position, die er noch nie gespielt hat? Ich dachte, er kriegt gleich einen Herzinfarkt.« »Mein Coaching hat das Team wahrscheinlich um zwei Jahre zurückgeworfen.« »Ohne Zweifel.« Ohne Übergang kam Connie auf ihn zu und legte ihm einen Finger auf die Brust. »Ich sehe, wie du zu deinem Telefon guckst, Inspector, und ich rate dir: Stell es nicht an. Nimm es nicht mal in die Hand. Ich werde mich für 255 einen Moment auf die Damentoilette begeben und in einem Zustand natürlicher Pracht zurückkehren, auf den du vorbereitet sein solltest. Du wirst deine ganze Energie benötigen, ich warne dich.«
Connie atmete tief und regelmäßig, als er fast eine Stunde später das Bett verließ, sich sein Handy und einen Bademantel schnappte und hinaus ins Wohnzimmer ging. Er spielte seine Nachrichten ab. Rief dann Hunt an. »Bist du noch wach?« »Vollzeit«, sagte Hunt. »Wo bist du? Hast du meine Nachrichten bekommen?« »Zu Hause und ich hab sie gerade abgehört. Du warst schwer beschäftigt.« Hunt fasste noch einmal alles kurz zusammen, während Juhle sich Namen, ungefähre Daten, Telefonnummern notierte. »Dann dreht sich also alles um diesen Jungen?«, fragte Juhle, als er fertig war. »Genau. Carol Manion hat Todd von Geburt an als ihren eigenen Sohn aufgezogen, als Camerons kleinen Bruder, obwohl er eigentlich sein leiblicher Sohn ist. Es sieht so aus, als sei die Adoption noch nicht mal legal gewesen. Sie haben einfach Stacis Eltern ausbezahlt, damit sie von der Bildfläche verschwinden, gleich nach der Geburt.« »Haben die das zugegeben?« »So gut wie, Dev. Aber Staci konnte sich damit offenbar nicht abfinden. Sobald sie achtzehn ist, nach der Highschool, zieht sie hier in diese Gegend, zweifellos, um ihrem Kind nahe zu sein, und irgendwann findet sie Todd und nimmt aus der Ferne das Bild auf, das inzwischen alle gesehen haben. Wie es dann weitergeht, weiß ich nicht genau. Vielleicht 256 sieht sie das gute Leben, das ihr Kind hat, ein viel besseres Leben, als sie ihm bieten könnte. Außerdem ist sie immer noch sehr jung, ein Teenager. Klar, dass sie von den Manions eingeschüchtert ist. Aber wenigstens ist sie ihrem Jungen jetzt geografisch nahe. Und Todd hat eine Mutter, die ihn liebt, von der er glaubt, dass sie seine Mutter ist. Hinzu kommt, dass Todd Staci gar nicht kennt, sie nie kennen gelernt hat. Und er lebt ja immerhin bei seinem leiblichen Vater. Vielleicht hat sie sich mit diesem Zustand dann doch einigermaßen arrangiert.« »Bis Cameron gestorben ist?« »Genau. Ich glaube, das war der Knackpunkt. Cameron stirbt, Todds wirklicher Vater. Danach ist alles anders. Jedenfalls aus Stacis Sicht. Dass Todd allein von seiner Großmutter aufgezogen wird, das empfindet sie als nicht richtig, als ungerecht. Und inzwischen - mittlerweile sind wir im Sommer letzten Jahres - hat sich Stacis Leben ziemlich dramatisch verändert. Nicht nur ist sie vier Jahre älter und also erwachsen geworden, sie hat auch einen einträglichen Job. Und dann hat sie ein Verhältnis mit Palmer, der nicht nur sehr einflussreich ist, sondern auch die Manions kennt, wie sich herausstellt. Erstmals tut sich ihr die Möglichkeit auf, ihren Standpunkt vielleicht sogar rechtlich durchzusetzen. Die Möglichkeit, sich ihr Kind zurückzuholen.« Juhle schloss sich dem Gedankengang an. »Also bringt der Richter sie mit Andrea Parisi zusammen.«
»Noch nicht, glaube ich«, sagte Hunt. »Gut, er gibt Staci wahrscheinlich Andreas Karte, aber bevor sie mit einem Haufen von Anwälten anrücken und sich ein hässlicher Kampf entspinnt, wollen sie's auf andere Art versuchen, denn Palmer ist ja der große, erfahrene Unterhändler mit 257 dem entsprechenden Ego, nicht wahr. Er kann doch Carol Manion anrufen, und dann unterhalten sie sich alle ganz in Ruhe, wie zivilisierte Leute. Und für Staci wird er dadurch nur noch mehr zum Helden.« »Also lädt er sie am Montagabend zu sich ins Haus ein?« »So seh ich das. Es beginnt mit einem freundlichen Anruf von Palmer bei Carol Manion, seiner alten Freundin. Komm doch vorbei, wir bereden die Situation, und dann finden wir schon eine einvernehmliche Lösung. Der Richter erwähnt, dass er große Achtung vor Carols Privatsphäre hat, und er kann versichern, dass weder er noch Staci bislang auch nur ein Sterbenswörtchen über die Sache hätten nach außen dringen lassen. Staci wolle nichts weiter, als ein bisschen mit ihrem Kind zusammen sein, das Recht, ihn regelmäßig zu besuchen.« »Aber...« »Genau. Aber Carol will keine einvernehmliche Regelung, von Besuchszeiten will sie nichts wissen. Sie hat im letzten Jahr schon Cameron verloren. Es kommt überhaupt nicht infrage, dass diese Schlampe aus dem Wohnwagenpark irgendwas mit Todd, ihrem einzigen Sohn jetzt, zu tun hat und Einfluss nimmt auf das Leben, das sie ihm bietet und für ihn vorgesehen hat. Als sie also am Montag zum Richter kommt, ist sie bewaffnet. Sie ist gewillt, das ganze Thema an Ort und Stelle zu erledigen und den Richter und Staci gleich mit.« »Wie kommt denn dann Parisi ins Spiel?« »Darüber habe ich lange nachgedacht, und ich glaube, es könnte folgendermaßen sein, pass auf: Wir wissen, dass Carol nicht gleich an der Tür losgeballert hat. Der Richter saß an seinem Schreibtisch, nicht wahr. Und Staci stand neben ihm. Das heißt, sie haben auf jeden Fall geredet, ein 257 paar Minuten, vielleicht sogar länger. Ich vermute, Palmer hat Carol erzählt, dass er oder Staci sich bereits an Andrea gewandt hätten und dass diese die Details des Besuchsrechts klären würde, die vertragliche Vereinbarung aufsetzen, irgendwas in der Art. Also hat sie Andrea noch am selben Abend oder am nächsten Tag angerufen und den Termin am Mittwoch vereinbart.« »Oh-oh.« »Was ist?« »Bis hierher lagst du ganz gut. Aber warum hätte sie bis Mittwoch warten sollen?« »Vielleicht war das der erste freie Termin, den Andrea anbieten konnte.«
»Aber wenn wir Rosalier vorher identifiziert hätten, hätte Parisi den Zusammenhang gesehen und wäre zur Polizei gegangen.« »Vielleicht, aber nicht unbedingt wahrscheinlich. Es ist nicht ausgemacht, dass sie damit rausgerückt wäre. Sie ist Anwältin. Manion könnte sie angerufen und einen Honorarvorschuss versprochen haben, um die anwaltliche Schweigepflicht wirksam werden zu lassen, und dann hat sie ihr noch am Montagabend alles anvertraut, ohne dass Andrea es hätte weitergeben dürfen. Und das hätte sie auch nicht getan. Gut möglich, dass Andrea sie in dem Glauben getroffen hat, sie würde als ihre Verteidigerin fungieren.« Und nach einer Pause des Schweigens sagte Hunt: »Dev?« »Ja, ich bin hier.« »Mir gefällt das ganz gut.« »Mir auch.« »Aber wir haben immer noch keine Beweise.« »Stimmt.« »Und auch kein Zeichen von Andrea.« 258 »He, Wyatt«, sagte Juhle sanft. »Das wird vielleicht nie kommen. Verstehst du?« »Ich weiß. Ich verlass mich auch nicht drauf. Die Manions sind übrigens nicht zu Hause.« »Bist du heute Abend da gewesen?« »Jau.« »Wozu?« »Um mich vielleicht mit ihnen zu unterhalten.« Juhle atmete tief durch. »Ich denke, wir bewegen uns hier langsam in die Zuständigkeit der Polizei hinein, Wyatt. Vielleicht hast du uns jetzt so dicht herangeführt, dass ich anfangen kann, meine Arbeit zu machen. Du solltest dann nicht mehr dazwischenfunken.« »Oh, okay.« »Wo bist du gerade?« Hunt antwortete nicht gleich. »Ich parke draußen vor ihrem Grundstück.« »Wyatt.« »Alles klar, Dev. Keine Sorge, ich werd schon keine Dummheiten machen.« »Du bist ja schon dabei. Wenn Carol Andrea umgebracht hat, dann ist das Sache der Polizei.« »Natürlich. Was sollte es sonst sein?« »Vielleicht etwas, was du selbst aus Carol Manion herauskriegen wolltest. Vielleicht ein Hinweis, dass du in der Lage bist, Andrea zu finden?« »Nein.« »Was denn dann? Andrea ist tot, Wyatt. Wirklich. Es tut mir Leid, aber es ist so. Und es wäre mir lieber, wenn du mit keinem von den Manions reden würdest, selbst wenn du Gelegenheit dazu hättest. Das ist mein Ernst.«
»Tja, wie ich schon sagte, sie sind gar nicht zu Hause.« 259 »Du auch nicht, und das solltest du ändern.« »Mach ich auch bald.« »Die Frage ist nur: Wann?« »Wenn ich hier fertig bin.« Nachdem er sein Gespräch mit Juhle beendet hatte, rief Hunt Mickey Dade an und versuchte ihn dazu zu motivieren, nach Napa rauszufahren, wo er die Manion-Kellerei suchen und herausfinden könnte, ob die Betreiber sich in ihrem Haus im Weingebiet aufhielten. Mickey zeigte wenig Interesse an einem solchen Ausflug. Durch seine Dienste für Hunt in der letzten Nacht und heute im Verlauf des Tages waren ihm schon einige Taxieinnahmen entgangen. Der heutige Freitag war der beste Tag zum Taxifahren, und er brauchte alles Geld, das er verdienen konnte, wenn er in der nächsten Woche wie geplant seinen Kochkurs machen wollte. Außerdem, so teilte er Hunt mit, sei er schon oftmals in der Gegend gewesen und wisse, wo die ManionKellerei sich befinde. Es sei keineswegs so, als würden sie den Laden verstecken, meinte er, zumal sie sich extra die Mühe gemacht hätten, einen schicken Verkostungsraum für Besucher zu bauen und mit reichlich Personal zu besetzen. »Falls du sie wirklich nicht findest, Wyatt, würde ich an deiner Stelle eine Umschulung ins Auge fassen«, sagte er. »Als Klempner, hab ich gehört, soll man ganz gut Geld verdienen können.« Hunt war nach seiner Ankunft zuerst zu dem riesigen Haus der Manions hinaufgegangen und hatte an der Tür geklingelt, hatte zugehört, wie das Läuten in den uneinsehbaren Weiten des Innern verhallte. Hinterher hatte er einfach nur im Auto gesessen, von der Zwiespältigkeit seiner Gefühle gelähmt. Er wusste nicht, wo die 259 Manions waren und ob sie demnächst nach Hause kommen würden. Und er war sich wirklich nicht hundertprozentig sicher, was er eigentlich tun wollte, falls sie aufkreuzen würden und er Gelegenheit hätte, mit ihnen zu sprechen. Aber es war sein Instinkt gewesen, der Hunt hergeführt hatte, und dieser Instinkt trieb ihn auch jetzt an. Er stieg aus dem Auto und stand für eine Weile da, starrte durch den Nebel auf die dunkle Fassade des Hauses der Manions. Er überquerte die Straße und nahm den Weg zur Eingangstür, hatte diesen aber erst zu einem Drittel zurückgelegt, als er hörte, wie hinter ihm Wagentüren geöffnet und zugeschlagen wurden. Er drehte sich um, blickte in das grelle Licht plötzlich auftauchender Taschenlampen. Zwei Männer kamen auf ihn zu. »Stehen bleiben! Polizei! Hände über den Kopf!« Im Glauben, es handle sich um Juhle oder irgendwelche Freunde, die dieser angestiftet hatte, ihm einen Streich zu spielen, breitete Hunt stattdessen die Arme aus und schickte sich an, auf sie zuzugehen. »Was macht ihr denn ...?« »Über den Kopf, hab ich gesagt!«
»Pass auf, er zieht...!« Plötzlich stürzten sie sich auf ihn, einer der Männer erwischte ihn mit voller Wucht, drängte ihn rückwärts und nahm ihm die Luft, bevor er überhaupt reagieren konnte. »Jesses! He! Was zum ...!« Dann waren sie beide über ihm, absolute Profis, die sich darauf verstanden, einen Mann blitzschnell außer Gefecht zu setzen, und es offensichtlich schon oft getan hatten. Einer riss Hunts Hände nach hinten, als sie ihn auf dem nassen Gras herumrollten, der andere, ein Knie auf eine seiner Nieren gesetzt, eine Hand in seinem Nacken, während die 260 andere ihn abtastete, fand die Pistole an seinem Gürtel und zog sie aus dem Halfter heraus. »Na, guck mal einer an«, hörte er. Er blickte nach oben in das leicht verblüffte Gesicht von Inspector Shiu. Nochmals zogen sie seine Arme nach hinten, schienen sie ihm fast ausreißen zu wollen, dann schnappten die Handschellen erst um das eine, dann um das andere Handgelenk zu, und er war, auf dem Bauch liegend, gefesselt. Noch immer hatte er ein Knie im Rücken, eine Hand im Nacken. Während er sich noch wand, bekam er ein paar Worte heraus. »Shiu, ich bin es, Wyatt Hunt. Hört auf damit. Ihr macht einen Fehler!« »Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte die andere Stimme, »als Sie die Hände nicht hochgenommen haben.« Gegen den Druck in seinem Nacken ankeuchend, stieß Hunt die Worte hervor. »Ich hab einen Waffenschein«, sagte er. »Sehen Sie in meiner Brieftasche nach, hinten rechts.« »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Shiu. »Beruhigen Sie sich, dann klären wir das.« Aber der Druck auf Rücken und Nacken ließ nicht nach. Hände zogen die Brieftasche aus seiner Hosentasche, der Strahl der Taschenlampe tanzte über den gepflegten Rasen. Einige Sekunden lang hörte man sie schwer atmen, aber niemand sagte etwas. Shiu ergriff schließlich das Wort: »Was machen Sie hier, Hunt?« Das Knie löste sich von seinem Rücken, die Hand aus seinem Nacken. Der Angreifer richtete sich rasch auf und trat einen Schritt zurück. Der Strahl der Taschenlampe schien Hunt ins Gesicht. Er rollte sich auf die Seite, blinzelte ins Licht. »Wollen Sie nicht diese Handschellen wieder abmachen?« 260 »Noch nicht«, sagte die Stimme. »Ich hab Ihnen eine Frage gestellt. Was machen Sie hier?« Hunt gab eine Antwort, von der er glaubte, sie würde ihnen gefallen: »Ich bin Dev behilflich«, sagte er.
Es lief nicht so, wie Hunt sich das vorgestellt hatte. Aus welchem Grund auch immer, höchstwahrscheinlich aber, weil er sich eine Mütze voll ungestörten Schlafs verschaffen wollte, bevor er am Samstagmorgen im Büro aufkreuzte, hatte Juhle sein Telefon abgeschaltet, als Shiu anrief, um ihm das Allerneueste mitzuteilen. Shiu und Al Poggio, der andere Cop, der Hunt mit aufgegriffen hatte, gehörten zu einer Gruppe von etwa einem Dutzend Kriminalbeamten, die einen erheblichen Teil ihrer dienstfreien Zeit dazu nutzten, für die Manions zu arbeiten. In einer Stadt, in der Polizisten ihr Gehalt aufbesserten, indem sie sich als Mietcops für alle Gelegenheiten verdingten, seien es Sportveranstaltungen, Geschäftstagungen, Modeschauen oder Premierenfeiern, war ein privater Sicherheitsservice dieser Art der beste Job, den man bekommen konnte. Und war daher einer Elite vorbehalten, nämlich höheren Beamten, vorzugsweise aus dem Morddezernat. Mit fünfzig Dollar die Stunde bezahlt, war die Aufgabe lächerlich leicht und bestand normalerweise schlicht darin, dass man stundenlang vor den diversen Fernsehbildschirmen saß - interne Überwachung, Kabel, Networkprogramm. Nachdem Juhle nicht ans Telefon gegangen war, verspürten weder Shiu noch Poggio große Lust, Hunt von seinen Handschellen zu befreien. Es konnte für sie nur vorteilhaft sein, wenn sie hin und wieder entschlossen und wirkungsvoll auf eine tatsächliche Bedrohung für die Sicherheit ihres 261 Kunden reagierten, und wenn dabei eine Schusswaffe im Spiel war, die diese Bedrohung erst richtig deutlich machte, umso besser. Die Manions zahlten Spitzensätze für ihre Sicherheit, aber falls diese Sicherheit niemals ernsthaft bedroht wurde, mochten sie irgendwann versucht sein, die einschlägigen Vorkehrungen zu lockern - und Wachpersonal abzubauen. Auf gar keinen Fall waren Shiu und Poggio bereit, diesen Vorfall ohne einen offiziellen Bericht abzuschließen. Hunts neue Sig Sauer P232 war nicht die Pistole, auf die sein Waffenschein ausgestellt war, und das war alles, was sie benötigten. Also riefen sie einen Streifenwagen herbei, der ihren Verdächtigen zum Verhör auf das nächstgelegene Polizeirevier bringen sollte. Shiu wusste natürlich über Hunts Verbindung mit Juhle Bescheid, aber er war schon den ganzen Tag lang - die ganzen letzten Tage, genauer gesagt ziemlich sauer gewesen über Juhles nicht sehr subtile Spaße auf seine Kosten. Die Aufforderung, ein bisschen Autorität auszuüben im Labor. Der Witz mit dem Schnellimbiss und San Quentin. Nicht komisch. Na, Shiu wollte mal sehen, wie komisch Devin diese Sache finden würde - Wyatt Hunt die Nacht über hinter Gittern. Wegen unbefugten Betretens. Im Besitz einer nicht registrierten Waffe. Shiu klappte sein Telefon zu und ging zu Poggio und Hunt zurück. »Wenn wir irgendwas suchen«, sagte Poggio gerade, »dann holen wir uns vom
Richter einen Haftbefehl, gegründet auf hinreichenden Tatverdacht. Davon haben Sie ja vielleicht schon mal was gehört? Also, vielleicht können Sie mir jetzt sagen, was Sie hier wollten?« »Ich arbeite an dem Fall Palmer/Rosalier, und ich hatte einige Fragen, die ich den Manions stellen wollte«, sagte 262 Hunt. »Ich war sowieso hier in der Gegend und dachte, ich könnte ja mal nachsehen, ob sie zu Hause sind.« Er wandte sich an Shiu. »Sie wissen, dass ich hiermit zu tun habe. Sagen Sie's ihm.« Shiu schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass Sie mit Dev zusammengearbeitet haben, sicher, aber ich weiß nicht, was Sie hier wollen, und Dev geht nicht ans Telefon, also sieht es nicht so aus, als sei das hier heute Ihr Glückstag. Da wir schon mal dabei sind: Was wollen Sie denn hier?« »Ich wollte mich mit den Manions unterhalten.« Poggio gluckste. »Das ist gut. Schade nur, dass sie anscheinend nicht da sind, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Sie sind also ganz zufällig vorbeigekommen und wollten mal eben an die Tür klopfen? Um diese Zeit?« Hunt hob die Schultern. »Ich wollte gucken, ob noch Lichter brennen, vielleicht in den Garagen nachsehen.« Shiu sagte: »Das ist ja komisch. Wir haben Sie auf Video, wie Sie schon vor einer Stunde an der Tür klingeln. Und seitdem parkt die ganze Zeit Ihr Auto unten an der Straße. Dachten Sie, die Manions wären vielleicht nach Hause gekommen, während Sie im Auto saßen, und Sie hätten sie verpasst?« Worauf Hunt nichts erwidern konnte, was ihn nicht in noch größere Schwierigkeiten gebracht hätte. Kurz darauf fuhr der Streifenwagen vor. Während sie ihm endlich die Handschellen abnahmen, packte jeder der beiden Männer ihn an einem Arm, dann schoben sie ihn gemeinsam auf den Rücksitz und schlugen die Tür hinter ihm zu. Shiu nahm den Fahrer beiseite. »Ihr könnt ihn als eine zwölfnull-fünfundzwanzig aufschreiben« - unerlaubtes Führen einer Schusswaffe -, »aber schickt ihn nicht in die Stadt, da kommt er sofort auf Kaution frei. Behaltet 262 ihn auf dem Revier, bis hier die nächste Schicht antritt, in einer Stunde. Dann kommen wir zu euch und unterhalten uns mit ihm.«
30
Mickey Dade war ernsthaft an gutem Wein und gutem Essen interessiert. Wenn er sich, als Hunt ihn früher am Abend gebeten hatte, ins Weingebiet zu fahren, daran erinnert hätte, dass dies das Wochenende der Napa Wine Auction war, beziehungsweise, wie es in diesem Jahr hieß, der Auction Napa Valley - dem heiligen Gral der amerikanischen Haute Couture, Haute Cuisine
und Hautevolee -, dann hätte er seinem Chef gesagt, dass er diese um keinen Preis der Welt würde verpassen wollen. Zur Feier des Tages würden alle Spitzenrestaurants vor Ort spezielle Probiermenüs anbieten, einige davon sogar für das gemeine Volk erschwinglich. Man würde Grillroste auf Parkplätzen aufbauen, Weltklasseköche würden Frühlingslamm und Wachteln und Spargel, Austern und Würste und Auberginen grillen, die Luft würde erfüllt sein von Kräutern, Senf und dem Rauch von verbranntem Rebenschnitt. Mickey hatte also während seiner regulären Schicht, die um zwei Uhr morgens endete, dreihundertvierzehn Dollar plus einundfünfzig Dollar Trinkgeld eingenommen. Nachdem er sein Taxi an der Zentrale abgestellt hatte, stieg er in seinen eigenen gebrauchten Camaro und wandte sich, des Nebels überdrüssig und nicht im Geringsten an Schlaf interessiert, auf dem Highway 101 nach Norden, überquerte die Golden Gate Bridge, kam an JVs Salon in Mill 263 Valley vorbei, später auch an Vanessa Waverleys Haus in Novato. Er bog auf die 37 nach Osten und fuhr mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von hundertdreißig Stundenkilometern bis zur Abfahrt auf die 121, gab noch einmal Gas, als es über die Carneros-Anhöhe ging, und war in etwas über zwanzig Minuten auf dem Highway 29. Gesamtzeit achtundvierzig Minuten, ein neuer persönlicher Rekord. Sobald er im Tal war, unter einem klaren, kühlen Nachthimmel, nahm er die Oakville Crossroads hinüber zum Sil-verado Trail - der anderen Nord-SüdHauptverkehrsader im Napa Valley - und fuhr nach Norden. Nach einigen Kilometern bog er von der Straße ab auf die Zufahrt zur Manion-Kellerei, gut sichtbar selbst im Mondschein. Vor ihm blickte das Chateau von einem kleinen Vorgebirge herab. Zu beiden Seiten zeichneten die Weinberge gewundene Linien über eine wellenförmige Landschaft. Etwas nach rechts hin senkte das Vorgebirge sich zu weiteren Weinbergen hinab, aber über ihnen konnte er die Umrisse von vier neu in den Kalkstein gegrabenen Höhlen erkennen, deren Tore die Manion-Kellerei als Logo verwendete. Das Tor zum Grundstück war verschlossen, daher kehrte Mickey um und fuhr auf dem Silverado Trail weiter in nördlicher Richtung bis Saint Helena und Howell Mountain Road, wo er ein paar gute Verstecke kannte. Hier parkte er am Rande einer Seitenstraße unter dem niedrigen Blätterdach einer Eiche. Im Kofferraum hatte er stets einen Schlafsack für derartige Notfälle liegen, und fünf Minuten nachdem er die Handbremse angezogen hatte, lag er in tiefem Schlaf auf dem weichen Boden neben seinem Auto. 263 Um Viertel vor sechs holte Juhle die Zeitung herein und trug sie zum Küchentisch, wo er sie neben seiner Kaffeetasse ausbreitete. Die Schulter hatte
sich über Nacht wieder versteift, aber seine Entscheidung, die Armschlinge zu Hause zu lassen, war gefallen, und er blieb dabei. Als die ihm dienstrechtlich zugebilligte Leidenszeit zu Ende gegangen war und er wieder an seinen Arbeitsplatz zurückkehren durfte, hatte ihm Connie ein Gerät geschenkt, ein so genanntes cafe filtre, meinte er sich zu erinnern - mit seinem Französisch war es nicht weit her -, mit dem der Kaffee bereitet wurde, indem man einen Zylinder mit sehr fein gemahlenem Kaffeepulver und heißem Wasser füllte und anschließend ein Sieb nach unten drückte. Seit dem Burnoutspiel mit Malinoff war die Benutzung dieser Kaffeemaschine für ihn zu schmerzhaft gewesen, aber heute Morgen, als er, von einem neuen Geist der Heilung beseelt, das Sieb durch die schwarze Flüssigkeit presste, stellte er fest, dass sich sogar die gebrochenen Knochen in seiner Fanghand auf dem Wege der Besserung befanden. Der Kaffee war sehr viel stärker als alles, was er sich früher zu Hause gekocht hatte, aber er hatte einen Geschmack für das Bittere entwickelt, allerdings gemildert durch zwei Teelöffel Zucker. Jetzt schlürfte er genießerisch, schlug die Zeitung auf und suchte nach dem Bild von Stacis Bruder. Oder war es, wie Hunt jetzt glaubte, Stacis Sohn? Oder war es einfach ein Bild von Todd Manion, der Juhle vor ein paar Tagen kurz vorgestellt worden war, als er und Shiu Carol Manion erstmals befragt hatten? Da er gestern den ganzen Abend unterwegs gewesen war, erst auf dem Baseballfeld am Presidio, später dann bei den Malinoffs, um sich das Spiel der Giants anzusehen, hatte er alle Gelegenheiten verpasst, das im Fernsehen gezeigte Bild 264 zu studieren. Dies wollte er jetzt im Lichte der von Hunt erhaltenen Informationen nachholen. Zwar fand er das Foto, prominent platziert auf der Seite fünf, ohne großen Aufwand, aber beim näheren Hinsehen war er enttäuscht und hatte einige Mühe, das Gesicht vor seinen Augen mit dem des Jungen in Einklang zu bringen, dem er vor einigen Tagen die Hand geschüttelt hatte. Zum einen war die Unscharfe des Originalfotos durch den Halbtonnachdruck verstärkt worden. Zum anderen war der Todd Manion, dem er einige Sekunden lang gegenübergestanden hatte, eindeutig älter als der lächelnde Junge auf diesem Schnappschuss - und tatsächlich hatten ja weder er noch Shiu irgendeine Ähnlichkeit bemerkt, als sie in Rosaliers Wohnung auf das Foto gestoßen waren. Und dann war das Foto in der Zeitung heute natürlich schwarz-weiß, sodass selbst der vermeintlich unverkennbare Hintergrund - der Terrakottaturm des Manion'schen Hauses - ihn nicht überzeugen konnte. Während er das vor ihm liegende Gesicht intensiv studierte, konnte Juhle wenig Zuversicht
entwickeln, dass diese Aktion zu einer klaren Identifizierung Todd Manions durch eine heutigentags mit ihm bekannte Person führen würde. Und doch hatte Hunt, von eben dieser Voraussetzung ausgehend, offenbar neue Beute gemacht, Entdeckungen nämlich, die es ihm ermöglichten, ein glaubwürdiges Szenario für die Morde an Palmer und Rosalier - und vielleicht sogar für das Verschwinden und den vermutlichen Tod von Andrea Parisi zu entwickeln. Wie Juhle und Shiu es anfangs mit Jeanette Palmer und wie Juhle und Hunt es gestern mit Arthur Mowery, Jim Pine und der CCPOA versucht hatten. Juhle stellte seinen Kaffeebecher auf dem Tisch ab und starrte ins Leere. Keinesfalls unterschätzte er die Bedeu 265 tung, die dieser Fall, im Guten oder Bösen, für seine Karriere haben konnte. Falls er ihn durch eine falsche Festnahme, eine schlechte Festnahme oder gar keine Festnahme vermasselte - all dies mögliche, aber deutlich unterschiedliche Arten des Versagens -, dann konnte er die Auszeichnung zum Polizeibeamten des Jahres in den Wind schreiben. Und ohne diese, so glaubte er, würde seine lobende Erwähnung für heldenhaften Einsatz stets mit einem Makel behaftet sein, würde für immer ein Schatten auf seinem Ruf liegen. Auf der anderen Seite wäre ein Erfolg ein recht schlagkräftiges Argument dafür, dass Laniers in ihn gesetztes Vertrauen nicht fehlinvestiert, dass seine Wiedereinsetzung als aktiver Kriminalbeamter gerechtfertigt war. Er wünschte es sich so sehr, dass ihm die Zähne wehtaten. Allerdings sah es jetzt so aus, als würde der von Hunt gewiesene neueste Weg zum Heil es unumgänglich machen, einer der wohlhabendsten, politisch einflussreichsten und obendrein als wohltätig bekannten Familien von San Francisco auf die Pelle zu rücken. Und warum? Weil sie vor acht Jahren ein Kind adoptiert hatten, möglicherweise ihr eigenes Enkelkind. ^ Er erinnerte sich an Laniers Worte, als sie das letzte Mal in seinem Büro zusammengekommen waren. Lanier wollte nichts über Verdächtigungen hören, schon gar nicht in diesem Fall, schon gar nicht von Juhle, sofern kein Beweismaterial vorlag, das die Anschuldigungen stützte. Juhle kam noch jetzt die Galle hoch, wenn er sich an die Diskussion über die von ihm vertretene These erinnerte, wonach Andrea Parisi den Richter, dessen Freundin und schließlich sich selbst umgebracht habe - ein Szenario, das ihm noch jetzt, im Angesicht der vorliegenden Fakten, durchaus schlüssig erschien. 265 In der ersten Begeisterung und auch Erschöpfung, die die von Hunt präsentierte Faktensammlung gestern Nacht in ihm auslöste, hatte diese neue Theorie eine ausgesprochen strahlende Qualität angenommen. Böse Machenschaften in hohen Kreisen, Vertuschungsaktionen, Komplotte, Klassenkampf. Es hatte alles so sexy geklungen, so plausibel.
Aber jetzt, heute Morgen, während das erste Licht des Tages die dicke graue Decke zeigte, die sich des Nachts um die schlafende Stadt gewickelt hatte, da warf Juhle einen letzten Blick auf das Bild von Stacis Bruder oder Sohn. Oder aber gar nichts von beidem? Sondern die Vision eines Kindes, das sie verloren hatte oder auch nicht? Juhle machte sich klar, dass er und Shiu alle Telefonate, die Hunt gestern Abend geführt hatte, noch einmal würden führen müssen. Und selbst wenn alle Leute ihre Geschichten getreulich wiederholten - was alles andere als sicher war -, würde er Mrs Keilly einfliegen lassen müssen, damit sie Staci als ihre Tochter identifizierte. Erst dann würde er vielleicht anfangen können, einen Tatverdacht gegen Carol Manion zu begründen, falls er dann noch Neigung dazu verspürte. Sofern sie legal die Adoptivmutter und Erziehungsberechtigte des Kindes war, hätte sie diese Rechte nicht verteidigen müssen. Falls sie und ihr Mann das Kind aber Stacis Eltern einfach abgekauft und die einschlägigen Dokumente gefälscht hatten oder aber überhaupt keine Dokumente besaßen, dann wäre Staci in einer rechtlich sehr günstigen Position gewesen, um sich ihr Kind zurückzuholen. Carol Manion wäre dann nichts anderes als eine Kidnapperin. Juhle konnte sich keine Konstellation ausmalen, die besser erklären würde, warum eine Frau mit Macht und Einfluss sich dazu veranlasst sah, etwas Übereiltes, um nicht zu sagen: Tödliches, zu tun. 266 Konnte alles so simpel sein, so grundlegend? Einfach eine Sache von Klassenzugehörigkeit und Habgier? Ja, befand er. Das konnte es. Aber in einer Situation wie dieser musste jeder Schritt absolut vorschriftsmäßig erfolgen. Der kleinste Verfahrensfehler - und alle Mühe wäre umsonst. Anwälte würden aufmarschieren und Wege finden, Beweise anzufechten, Klagen abzuweisen, die für die Festnahme verantwortlichen Polizeibeamten zu diskreditieren. Er würde es langsam angehen lassen müssen. Sein Wunsch nach einer schnellen und plausiblen Verhaftung in diesem Fall war dringender gewesen, als er sich hatte eingestehen mögen. Und dieser Wunsch hatte sein Urteil auf Schritt und Tritt getrübt. Fast eine Woche lang war er von einer Theorie zur nächsten gesprungen, und jede davon schien Einiges für sich gehabt zu haben, bis der Punkt gekommen war, an dem man mit Beweisen hätte aufwarten müssen. So sah es also aus, an einem Samstag um sechs Uhr morgens. Er hatte sich bereits eine gehörige Dosis Koffein zugeführt, an Schlaf war also glicht mehr zu denken. Er schlürfte noch mehr Kaffee und blätterte geistesabwesend in der Zeitung. Er machte kurz Halt im Sportteil, nahm die wenig überraschende Wettervorhersage zur Kenntnis - morgens und abends Nebel, am Nachmittag teilweise bewölkt, mäßige Winde, höchste Temperaturen in der Stadt um drei-
zehn Grad Celsius - und hielt dann abrupt inne, als er zur ersten Seite des Wochenendteils gelangte. Plötzlich wusste er, warum die Manions gestern spätabends, während Hunt im Auto auf sie wartete, nicht zu Hause gewesen waren. Sie waren auf der Weinauktion in Napa Valley. In einem Artikel auf einer der folgenden Seiten 267 wurde sogar die Erwartung ausgesprochen, dass sie, ebenso wie in den vergangenen Jahren, zu den Hauptbietern gehören würden. Es gab auch ein nettes, offenbar jüngeres Foto dazu, aber, leider, leider, ohne Todd. Juhle braute sich noch einen Kaffee. Er schlich sich ins Schlafzimmer, um sein Telefon zu holen, ging dann zurück zum Wohnzimmerfenster und starrte hinaus ins Graue. Die Zeitung wusste zu berichten, dass Napa heute herrliches Wetter - nein, perfektes Auktionswetter - erwarte. Sonnig, heiter, Höchsttemperaturen über zwanzig Grad. Kalifornien war das Land der Mikroklimazonen, und obwohl Napa nicht einmal hundert Kilometer von San Francisco entfernt lag, war das Wetter dort völlig anders und fast immer besser. Als er seine Mailbox abhörte, musste er doch recht herzlich über Shius Mitternachtsanruf lachen. Hunt war also doch, gegen seinen ausdrücklichen Rat, draußen in Seacliff geblieben und war dafür gehörig belohnt worden. Es wäre zu komisch, dachte Juhle, wenn sie ihn tatsächlich für eine Weile in Gewahrsam genommen hätten. Einstweilen gab es nichts, was Juhle für seinen Freund tun konnte. Falls Hunt immer noch im Gefängnis saß, na ja, Schwamm drüber. Nicht Juhles Problem. Vielleicht würden sie sich wieder unterhalten, sobald Hunt sein Schlafdefizit ausgeglichen hatte. Jedenfalls bot der ganze Vorgang auf Monate hinaus Futter für herbe Frotzeleien, und Juhle war glatt versucht, sofort anzurufen, ihn zu wecken, falls er zu Hause war, und gleich mal den ersten Spruch an den Mann zu bringen. Aber bevor er diesem Impuls nachgab, beschloss er, bei der Information im Revier nachzufragen, ob die personelle Rumpfbesetzung, die rund um die Uhr die Stellung hielt, 267 entgegen seiner Erwartung irgendwelche Anrufe entgegengenommen hatte, Stacis Bild betreffend. Eine erstaunlich fröhliche, hellwache Frauenstimme begrüßte ihn und hörte sich dabei - Juhle wusste aber, dass das unmöglich war - geradezu begeistert an. »Es sind seit Mitternacht sieben Anrufe eingegangen, Sir. Und bis jetzt einer auf den Zeitungsbericht von heute Morgen hin. Vier der Anrufer identifizieren ihn als ein und dieselbe Person. Einen gewissen Todd Manion.« Juhle merkte gar nicht, wie er flüsterte: »Mein Gott.« Dann fragte er mit normaler Stimme: »Haben Sie die Namen und Adressen dieser Zeugen?« »Selbstverständlich.«
»Es sind nicht zufällig Carol oder Ward Manion dabei?« »Einen Moment. Nein. Wer ist das, die Eltern? Die berühmten Manions hier aus der Stadt?« »Könnte sein.« »Warum haben sie wohl nicht selbst angerufen?« »Das hab ich mich auch gefragt. Vielleicht haben sie das Bild einfach nicht zu sehen gekriegt.« Was, wie Juhle annahm, durchaus möglich war, sofern sie gestern den ganzen Abend Party gemacht hatten in Napa. Es wäre interessant, zu sehen, dachte er, ob sie heute anrufen würden, wenn sie endlich dazu gekommen waren, die Zeitung aufzuschlagen. Oder wenn jemand, der sie kannte, ihnen davon erzählte. Richtig interessant wäre es, wenn sie nicht anriefen. Jegliche Skrupel, ob man so früh schon telefonieren durfte, waren jetzt verflogen, und so gab er, kaum hatte er aufgelegt, sofort die Kurzwahl für Shius Anschluss zu Hause ein und lauschte der Stimme seines Partners auf dem Anrufbeantworter. Dass der noch schlief, hätte er sich denken können. Shiu war bis weit nach Mitternacht damit beschäftigt 268 gewesen, seinen Kumpel Wyatt zu schikanieren und seinen Extraverdienst bei den Manions einzusacken. Juhle hinterließ eine Nachricht. Nachdem er zehn Minuten lang mit sich gerungen hatte, rief er dann Shius Handy an und wurde erneut aufgefordert, eine Nachricht zu hinterlassen. Als Nächstes piepste er ihn an und gab zum Zurückrufen seine eigene Handynummer ein. Er weckte Connie auf, als er sich anzog. »Hey«, sagte er leise. »Selber hey. Ist heute nicht Samstag?« »Jau. Tschuldige, dass ich dich störe. Ich möchte dich etwas fragen.« Sie reckte sich, zog sich hinauf auf ihre Kissen. »Willst du zur Arbeit?« »Darüber wollte ich mit dir sprechen.« Er kam zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. »Wyatts neueste Theorie über Palmer und Parisi macht einen ziemlich soliden Eindruck. Wir haben vier Anrufe bekommen, die Rosaliers Kind oder Bruder - oder was immer er ist - identifizieren. Aufgrund des Bildes, weißt du? An einem normalen Tag würde ich mit einigen der Anrufer sprechen, feststellen, wie sicher sie sich sind, wie verlässlich sie erscheinen. Und dann geh ich zu einem Richter und hole mir, was ich brauche, wenn ich eine vernünftige Geschichte zusammenhabe, die ich ihm erzählen kann.« »Und die hast du immer.« Er ging achselzuckend über das Kompliment hinweg, ließ seine Hand auf ihrem Schenkel ruhen. »Jetzt aber Folgendes: Letzte Nacht noch war das nur so eine Theorie von Wyatt. Heute aber, wenn diese Zeugen sich als glaubwürdig erweisen, könnten sich die Dinge sehr schnell entwickeln.« »Und du musst ganz vorn dabei sein.« 268
Er nickte. »Zumindest muss ich versuchen, noch mal mit meiner Tatverdächtigen zu reden, bevor sie von Anwälten umgeben ist.« »Ah, wieder eine Sie?« »O ja. Definitiv eine Sie.« Er nickte. »Carol Manion.« Connie musste fast lachen. »Nein. Ehrlich.« »Ich mach keine Witze.« Er rieb über ihr Bein. »Aber ich muss mir einschärfen, es langsam angehen zu lassen, alles ganz sorgfältig nach Vorschrift. Wenn ich diese Sache vermassele ...« »Wie würdest du das machen wollen ? Hast du denn schon irgendwas vermasselt?« »Nein. Aber ich hab auch noch nicht viel vorzuzeigen.« »Jetzt aber könntest du etwas haben?« »Ich glaube, ja.« »Wo ist dann das Problem? Geh und schnapp sie dir.« »Einfach so?« »Das ist dein Job, Dev. Du hältst dich an die Regeln, okay. Du schummelst nicht. Aber du bringst die Sache zum Abschluss, nicht wahr? Du bringst immer alles zum Abschluss.« »Bisher. Ich hab Glück gehabt.« »Nicht nur Glück. Du Bist gut. Sorgfältig. Korrekt. Aber korrekt heißt nicht langsam. Das war nie dein Stil. Mit langsam wärst du letztes Jahr erschossen worden, anstatt ein Held zu sein.« Sie sah die Veränderung in seinem Gesicht. »He, du, sieh mich an. Untersteh dich, dich von diesen kleinmütigen und hässlichen Leuten unter Druck setzen zu lassen, hörst du? Du weißt, dass du getan hast, was du tun musstest. Du hast dich nicht diskreditiert. Du hast mutig und besonnen gehandelt und hast dadurch einer ganzen Menge Menschen das Leben gerettet.« »Einem aber nicht.« 269 »Das hatte nichts mit dir zu tun. Shane war schon tot, bevor ihr irgendwas tun konntet. Das haben wir alles schon x-mal durch, mein Schatz.« »Ich weiß.« Er schwieg einen Moment. »Wir sprechen hier von den Manions, weißt du. Wenn sie es war und wenn die Sache wieder politisch wird und ich zwischen die Fronten gerate ...« »Wenn, wenn, wenn ... Wenn gibt's bei uns nicht. Wenn sie jemanden getötet hat, dann nimm sie hopp.« »Drei Leute vielleicht.« »Und willst du meine Meinung hören, falls du jetzt in die Stadt fährst?« »Ich glaub, ich hab sie schon gehört.« »Fahre nicht«, sagte sie. »Fliege.« Mickey schlief ruhig und ungestört die ganze Nacht hindurch, sodass er etwas später aufwachte, als er sich vorgestellt hatte, nämlich als der letzte Rest Bodennebel sich auflöste. Er warf seinen Schlafsack in den Kofferraum und durchquerte noch einmal das halbe Tal bis nach Saint Helena, wo einige kleinere Restaurants im Snackbarstil schon zum Frühstück geöffnet waren. Nachdem er sich auf der Toilette ein bisschen frisch gemacht hatte, setzte er
sich an einen der sechs Tische, die alle mit einer gestärkten weißen Decke und einer wunderbaren Orchidee geschmückt waren. Er bestellte sich seinen Leibund Magenkaffee, »Peet's French Roast«, ein Robochon-Schnittlauch-Omelett aus Bioeiern von der Kelly Ranch, dazu Yukon-Gold-Bratkartoffeln, hausgemachten Ancho-Chili-Ketschup und ein Brioche von der Acme Bakery. Julia, seine Kellnerin, war ungefähr achtundzwanzig, und als Mickey sie sah, versuchte er sich zu erinnern, wann die Rede davon gewesen war, dass Julia 270 Roberts ins Gastronomiegewerbe einsteigen würde, aber irgendwie kam er nicht drauf. Nett war sie auch noch. Nachdem sie ihm dreimal Kaffee nachgeschenkt hatte, schlug er beim vierten Mal das Angebot aus, lehnte sich zufrieden zurück und bat um die Rechnung. »Ganz sicher? Sie wollen nichts mehr?« »Na, eins vielleicht noch, falls es Ihnen nichts ausmacht.« »Klar. Lassen Sie hören.« »Vielleicht können Sie mir sagen, warum ich in San Francisco wohne und nicht hier.« »Oh, ich finde es toll da in der Stadt.« »Ich auch, aber hier ist es besser.« »Ich weiß.« Sie schien in irgendeiner ätherischen Sphäre zu schweben, vollkommen unberührt vom Verstreichen der Zeit. Plötzlich, aber ohne Hast, blickte sie sich um, nahm die elegante Umgebung in sich auf. »Es ist wirklich einzigartig hier.« »Besonders heute.« Sie warf ihm ein verführerisches Lächeln zu. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie zur Auktion wollen.« »Okay, dann erzähl ichs Ihnen nicht.« »Sie wollen aber?« »Um ehrlich zu sein, traurigerweise nicht.« »Na ja, das ist tatsächlich traurig, aber anderenfalls hätte ich Sie dafür auch ein bisschen hassen müssen.« »Das brauchen Sie jetzt ja nicht. Arbeiten Sie hier den ganzen Tag?« »Ist das 'ne Anmache?« »Könnte sein. Könnte auch nicht sein. Wenn es eine Anmache wäre, würden Sie es übel nehmen?« »Nein.« »Na gut, dann betrachten wir es als Anmache.« 270 »Das ist lieb, aber ich habe einen festen Freund.« Das Lächeln, mit dem sie ihm sagte, dass sie ihm gleich die Rechnung bringen würde, rührte sein Herz. Er beobachtete mit einer schrecklichen Sehnsucht, wie sie an den anderen Tischen bediente, ebenso freundlich und aufmerksam wie bei ihm. Vielleicht war sie ja ein Roboter, eine neu entwickelte Stepfordfrau. Aber verdammt... Als sie zu ihm zurückkehrte, beugte sie sich näher und raunte ihm zu, als seien sie alte Freunde: »Nicht hingucken jetzt«, sagte sie mit leiser Erregung.
»Aber die Großeltern und der Junge am Tisch vorne? Die wollen zu der Auktion.« »Wer ist denn das?« »Die Manions. Die leben auf megagroßem Fuß. Manion-Kellerei.« Mickey warf einen raschen Blick in die angegebene Richtung. »Und gehen auswärts frühstücken wie ganz normale Leute?« »Die kommen sogar ziemlich oft hierher.« »Ob sie den Jungen auch mit zur Auktion nehmen?« »Vielleicht eher nicht. Aber falls doch, lassen sie ihn bestimmt nicht mitbieten.« Die Manions hatten ihre Rechnung bereits bezahlt und rüsteten jetzt zum Aufbruch. Mickey, der einen kleinen Schock angesichts der Frühstücksrechnung über achtundzwanzig Dollar erlitt, beschloss, dass er sich wenigstens einen Teil davon zurückholen konnte, indem er für Hunt tätig wurde. Er hinterließ zwei Zwanziger für Julia unter seinem Teller - sollte sie ihn ruhig in guter Erinnerung behalten. Jedenfalls war er nicht knauserig. Er ging auf die Straße hinaus, die jetzt, kurz nach neun, allmählich zum Leben erwachte, wenn auch von den Manions nichts mehr zu sehen war. 271 Was seiner Ansicht nach überhaupt nicht angehen konnte. Sie hatten das Restaurant nur dreißig oder vierzig Sekunden vor ihm verlassen und waren, wie er genau gesehen hatte, nach rechts gegangen. Normalerweise hätten sie es in der Zeit nicht einmal bis zur nächsten Ecke schaffen können. Sie mussten einen der anliegenden Läden betreten haben, also schlenderte er los, machte auf einen kleinen Schaufensterbummel. Vier Türen weiter ließ eine altmodische rot-weiße Stange, das Ladenzeichen eines Friseurs, ihn innehalten und zog ihn dann ins Geschäft hinein. »Ich dachte mir nur, das würde dich interessieren.« Mickey saß mit neuem Haarschnitt in seinem Auto in Saint Helena. »Klar interessiert mich das«, sagte Hunt. Er war erst um halb vier morgens aus der Arrestzelle entlassen worden. Shiu und Poggio hatten ihm das Leben möglichst schwer gemacht, einfach weil es so verdammt viel Spaß machte. Sie hatten Leib und Leben der braven Bürger von San Francisco geschützt, indem sie Hunts Genehmigung zum Tragen einer verdeckten Waffe überprüften und indem sie sich vergewisserten, dass seine Privatdetektivlizenz gültig war. Anschließend teilten sie ihm gnädig mit, dass sie ihn laufen lassen würden, mit einer Verwarnung wegen Tragens einer nicht auf seinem Waffenschein vermerkten Waffe. Er hatte das Gefühl, dass Shiu ernsthaft erwartete, er würde sich bedanken. Wenigstens verstand er jetzt, warum Juhle den Mann nicht ausstehen konnte.
Bis er seinen Wagen geholt hatte und zu Hause ankam, war es fast fünf Uhr. Er war, noch vollständig angezogen, aufs Bett gesunken und hatte ungefähr vier Stunden ge 272 schlafen, bis Mickeys Anruf ihn aufweckte. »Aber«, sagte Hunt, »ich dachte, du wolltest da gar nicht hin.« »Ja. Hab mir's anders überlegt.« Mickey geriet kurzzeitig ein bisschen ins Schwärmen über die zu erwartenden Freuden des Tages und auch über die bereits genossenen, einschließlich des soeben eingenommenen Frühstücks, das seinen exorbitanten Preis auch dann wert gewesen wäre, wenn nicht Julia Roberts ihn bedient hätte. »Hast du sie gefragt, ob sie mit dir ausgeht?« »Nein. Sie hat einen Freund.« »Und außerdem Zwillinge, wie ich gehört habe.« »Was? Meine Kellnerin?« »Nein. Die echte Julia, du Dussel. Erzählst du mir was über die Manions?« »Tja, also erst mal: Der Junge wollte diese Frisur gar nicht, und ich muss sagen, ich kann es ihm nicht verdenken. Aber die Mutter hatte es halt so beschlossen. Übrigens, ist sie wirklich die Mutter? Julia hat sie für die Großmutter gehalten, und das scheint mir vom Aussehen her auch eher hinzukommen.« »Tja, kann sein, dass sie die Großmutter ist, aber sie ist auch die Mutter.« »Wenn du es sagst.« »Tu ich. Es ist kompliziert. Und jetzt noch mal zu der Frisur, die Todd nicht wollte. Erzähl.« »Sie haben ihn voll kurz geschoren. Er war stinksauer, ey. War ich auch gewesen an seiner Stelle. Aber sie war, ich weiß nicht, richtig verbissen. Es musste unbedingt sein.« »Sie musste sein Aussehen verändern. Heute noch.« »Warum?« »Damit er nicht aussieht wie das Foto, das du gestern gesehen hast, mit mir und Juhle zusammen. Das Foto von dem Jungen.« 272 »Das war er?« »Das war er. Und wo sind sie jetzt?« »Ich weiß nicht. Wieder zu Hause, nehme ich an, oder zur Auktion.« Hunts Stimme ließ seine Enttäuschung erkennen. »Du bist nicht mehr bei ihnen?« »Das wäre ein bisschen sehr auffällig gewesen, meinst du nicht? Nein. Da ich schon mal da war, bin ich noch geblieben und hab mir selbst die Haare schneiden lassen. Aber nur die Spitzen, kein Grund zur Aufregung.« »Mick.«
»Du möchtest, dass ich sie wieder aufspüre.« Das war keine Frage. »Wenn es dir möglich ist.« »Kommst du auch hierher?« »Was glaubst du denn?«
31
Von Hunts Schilderungen ausgehend, sagte sich Juhle, dass er bei Caitlin Rosalier vermutlich mehr Glück haben würde als bei allen anderen Kandidaten. Außerdem lebte sie in Boston, wo es schon nicht mehr so früh am Morgen war. Und siehe, die Götter waren ihm gewogen, denn sie war zu Hause und schien richtig begierig, mit ihm zu sprechen. Das Telefongespräch von gestern Abend hatte ihr sehr zu schaffen gemacht, und sie hatte praktisch die ganze Nacht nicht schlafen können. Ja, das sei ihr recht, wenn Juhle ihr ein Autopsiefoto zuschickte. »Es ist doch nicht zu ab 273 stoßend, oder?« Staci hatte ihr einst wirklich nahe gestanden, und jetzt schien sie das Bedürfnis zu haben, zu einer Art endgültigem Abschluss oder auch Abschied zu gelangen, wenn denn ihre Freundin tatsächlich das Opfer war. Es gab einen Copyshop gleich bei ihr um die Ecke, dort könne sie hingehen und Juhle dann zurückrufen, um ihm die Faxnummer durchzugeben, und er hatte ihr versichert, dass er auf ihren Anruf warten würde. Bevor allerdings dieser Anruf kam, meldete Juhles Partner sich bei ihm mit der Neuigkeit, dass er an diesem Morgen nicht zur Arbeit erscheinen werde. Juhle mochte sich darüber nicht im Klaren sein, aber der Samstag sei der Sabbat der Mormonen, und Shiu müsse Gottesdienste besuchen und noch eine Schicht bei den Manions einlegen. Aber Juhle würde ja mit ihm in Verbindung bleiben und ihn auf dem Laufenden halten. Nicht wahr? Recht herzlichen Dank. Wahrscheinlich würde er es einrichten können, ab dem frühen Nachmittag zu kommen, falls etwas wirklich Dringendes anliege, aber eigentlich wolle er sich nicht einmal darauf festlegen, solange Juhle nicht etwas wirklich Stichhaltiges in der Hand habe und, in Shius Worten: »Denk dran, Dev, es muss beweiskräftig sein.« Juhle legte auf, sagte: »Arschloch«, und starrte, an seinem Schreibtisch im ansonsten menschenleeren Morddezernat sitzend, durch den Nebel hinüber zum Freeway. Die nächsten zwanzig Minuten verbrachte er größtenteils mit der eingehenden Lektüre der Verfahrensrichtlinien, um das Affidavit richtig hinzubekommen, das er im Zusammenhang mit dem zu beantragenden Durchsuchungsbefehl für die zwei Häuser und die Autos der Manions brauchte. In den Häusern hoffte er insbesondere die Mordwaffe zu finden, beziehungsweise Kleidung, die noch Blut- oder Schmauchspu 273
ren aufwies. In den Autos wollte er vielleicht ein Haar oder sogar Blutrückstände bergen, die zu Andrea Parisi passten. Fingerabdrücke waren für die Beweisführung dagegen weniger zwingend, weil sie naturgemäß lange nachweisbar waren und Mrs Manion durchaus häufiger bei den Palmers zu Gast gewesen sein konnte, aber wenn es möglich war, wollte er gern Abdrücke finden, die darauf hindeuteten, dass Mrs Manion sich im Arbeitszimmer des Richters aufgehalten hatte. Auch hatte der Teppich in diesem Arbeitszimmer diverse Haarproben verschiedener Personen zutage gefördert, und obwohl DNA-Proben oder andere anspruchsvolle Tests eher langwierig waren, würden sie im Falle eines positiven Befundes hilfreich sein. Das Telefon klingelte, und er griff zum Hörer. Caitlin meldete sich endlich mit der Faxnummer ihres Copyshops zurück. Er schrieb sie sich auf, dankte ihr und bat sie, wenn möglich, am Apparat zu bleiben. Dann fischte er das beste Autopsiefoto von Staci Rosaliers Gesicht aus dem Ordner und fütterte das dezernateigene Faxgerät damit. Als er zu seinem Schreibtisch zurückkam, weinte Caitlin am Telefon, und er hatte seine Identifizierung. Juhle, der noch immer an der Erklärung für seinen Durchsuchungsbefehl bastelte, sah auf und musste lächeln. »Was kommt denn da für eine fertige Gestalt? Was letzte Nacht passiert ist, wirst du dir selbst zuschreiben müssen. Ich hab dir gesagt, du sollst nach Hause gehen.« Hunt seinerseits war nicht übermäßig zum Lächeln aufgelegt. »Hast du mir die Typen auf den Hals geschickt?« »Jetzt hör aber auf, Wyatt. Das war deine eigene Schuld. Ich hab dich doch sogar gewarnt. Hast du wenigstens was rausgekriegt, wofür sich die ganze Chose gelohnt hat?« 274 »Ja. Du arbeitest mit Soziopathen zusammen.« »Na ja, hey, das gehört zum Anforderungsprofil. Steck es weg.« Hunt war im Grunde nicht gekommen, um mit Juhle zu schimpfen, und so ließ er die Sache auf sich beruhen. Er zeigte auf den Aktenordner. »Sie sind zurzeit in Napa«, sagte er. »Ich weiß.« »Woher?« »Stand in der Zeitung. Außerdem wird es dich freuen, zu hören, dass wir vier ausreichend solide Identifizierungen zu Stacis Foto bekommen haben. Es ist Todd Manion.« »Und eben der hat heute Morgen die Haare geschnitten gekriegt. Ganz kurz.« »Interessant. Ein bisschen zu spät, wie sich herausstellt, aber interessant.« Juhles Kopf fuhr hoch. »Aber Moment mal. Wie hast du das jetzt wieder rausgekriegt?« »Mickey ist im Moment da oben.«
Juhle lehnte sich zurück, massierte seine Schulter, hatte offenbar richtig Schmerzen. Als er weitersprach, schlug er einen amtlichen Ton an. »Du musst dich da jetzt raushalten, Wyatt. Das ist mein voller Ernst. Und zwar ganz raus. Und halt auch deine Leute raus.« »Warte. Lass mich eine angemessene Antwort darauf überlegen.« Er brauchte ungefähr eine Sekunde dafür. »Nein, ich glaube, lieber nicht.« »Wenn du die Ermittlung in diesem Stadium behinderst -« »He!« Hunt streckte Juhle den Zeigefinger entgegen. »Du hast es einzig und allein mir zu verdanken, dass du zu diesem Zeitpunkt überhaupt eine Ermittlung laufen hast.« Juhle blieb ruhig. »Wyatt, die Sache ist über dich hinausgewachsen. Caitlin Rosalier hat Staci vor etwa einer halben Stunde identifiziert.« 275 »Das wusste ich schon vor zwölf Stunden.« Juhle schüttelte den Kopf. »Gewusst hast du's nicht. Du hast es geglaubt. Ich habe den Beweis erbracht.« »Und dabei einen halben Tag verloren. Und obendrein habt ihr mich noch sauber ausgebremst.« »Sauber, ja. Die Sache muss nämlich sauber ablaufen; sauber, ordentlich und rechtmäßig, schon mal drüber nachgedacht? Manchmal muss man sich die Zeit nehmen, es richtig zu machen.« »Manchmal kann man sich den Luxus des Sichzeitnehmens aber nicht erlauben. Darüber schon mal nachgedacht?« »Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.« »Vielleicht aber doch, Dev. Vielleicht aber sehr wohl.« Hunts Worte ließen Juhle innehalten. Das Feuer wich aus seiner Stimme. »Du glaubst immer noch, dass du Parisi lebend finden kannst, nicht wahr?« »Sagen wir mal so: Ich suche nach Andrea. Du suchst nach einem Mörder oder einer Mörderin. Wir können so tun, als bestünde da kein Zielkonflikt.« »Vielleicht nicht zwangsläufig. Aber es stimmt schon: Wir werden auf so engem Raum herumtanzen, dass wir leicht übereinander stolpern können. Und für mich ist es ganz wichtig, dass du mir aus dem Weg bleibst, Wyatt. Ich strebe hier eine verfahrenstechnisch einwandfreie Festnahme an, und dieser Vorgang - bis man das hingekriegt hat - ist so etwas wie ein Ballett mit Orchester. Man muss es richtig machen, sonst klatscht keiner Beifall.« »Ich nehme für mich in Anspruch, dass ich dafür Verständnis habe, Dev. Aber deine Festnahme ist wirklich nicht mein Bier.« »Du gestehst mir aber zu, dass es meins ist, ja?« Doch Juhle war sich der Verdienste Hunts um diese Ermittlung 275 durchaus bewusst. Hunt hatte ihm die Lösung des Falles praktisch auf einem Tablett serviert, und Juhle musste sie jetzt nur noch verifizieren. Und da
brauchbare Beiträge seines eigentlichen Partners beim Morddezernat ausblieben, war Juhle geneigt, dabei jede Hilfe anzunehmen, die er bekommen konnte, solange sein eigenes Endspiel dadurch nicht gefährdet wurde. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah zu seinem Freund hoch. »Also, weswegen bist du hier?« »Ich wollte dir das mit Napa und der neuen Frisur erzählen, wollte sicherstellen, dass du auf dem neuesten Stand bist. Ich nehme an, du bringst hier dein ordnungsgemäßes Verfahren auf den Weg, richtig? Holst dir Durchsuchungsbefehle, Verfügungen, was immer du brauchst. Rückst mit einem Team bei den Manions an und schaust dich in ihrem Haus um.« »So ungefähr, ja, das hoffe ich. Und du, was machst du inzwischen?« »Ich denke, ich werde inzwischen in Napa sein.« »Um was zu tun?« »Den Zuckerahorn ein bisschen zu schütteln, zu gucken, ob was runterfällt.« Juhle senkte für eine Weile den Kopf, blickte dann wieder hoch und sprach ruhig und sachlich. »Wenn ich dich bitten würde, nicht mit Carol Manion zu sprechen, könntest du dich dann zurückhalten? Denn falls du sie aufschreckst und sie dann von Anwälten umgeben ist, wenn ich mit ihr spreche, was recht bald der Fall sein wird, dann lass ich dich foltern und anschließend hinrichten, das ist mein Ernst.« »Ich hab nicht vor, mit ihr zu sprechen, Dev. Selbst wenn sie mir die Wahrheit sagen würde, was sie aber nicht tut, 276 selbst dann könnte sie mir nichts verraten, was ich nicht schon weiß.« »Außer vielleicht, wo sie Parisi hin verfrachtet hat.« »Das würde nicht bei einem Gespräch ans Licht kommen, Dev. Freiwillig wird sie nichts preisgeben, nach allem, was geschehen ist.« »Wie also soll es ans Licht kommen?« »Daran arbeite ich gerade«, sagte Hunt. »Wenn ich mehr weiß, lasse ich es dich wissen.« Es war noch immer längst nicht Mittag, aber Juhle hatte seinen Papierkram beisammen und stand jetzt vor Haftrichter Oscar Thomasino, der schon die ganze Woche lang den Dienst versah und wenig erbaut darüber schien, an einem Samstagmorgen in seinem Haus belästigt zu werden. Der Richter saß in Zivilkleidung am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer, der Roman, in dem er gelesen hatte, lag aufgeschlagen und mit dem Buchrücken nach oben auf der Schreibunterlage. »Helfen Sie meiner Erinnerung auf die Sprünge, Inspector«, sagte er, »aber es ist doch noch gar nicht lange her, dass Sie und Ihr Partner wegen eines ganz ähnlichen Durchsuchungsbefehls bei mir waren?« »Ja, Euer Ehren. Vor ein paar Tagen.« »Aber es ging nicht um denselben Fall, oder?« »Doch, Euer Ehren.«
Thomasinos freundliches Gesicht unter den dünnen weißen Haaren verdüsterte sich ein wenig. Er nahm seine Ben-Franklin-Brille ab und putzte sie geistesabwesend mit einem Tuch, das er einer Schreibtischschublade entnommen hatte. »Was war das Ergebnis dieser früheren Durchsuchung, wenn ich fragen darf?« 277 »Wir haben einige Pistolen des Kalibers .22 im Haus der Frau gefunden, Euer Ehren, und die wurden ballistisch überprüft. Und einige Kleidungsstücke, die wir auf Schmauchspuren untersucht haben.« »Und das Ergebnis dieser Untersuchungen?« »Negativ.« »Verstehe.« Thomasino spähte durch seine Brillengläser, hauchte sie an und fuhr mit dem Putzen fort. »Und ich nehme an, Sie streben diesmal positive Testergebnisse für dieselbe Art von Gegenständen an - Waffen, Kleidungsstücke -, falls ich diesen Durchsuchungsbefehl unterzeichne?« »Ja, Euer Ehren.« Thomasino setzte seine Brille wieder auf und überraschte Juhle mit der nächsten Frage. »Wo ist Ihr Partner heute, Inspector?« »In der Kirche. Gottesdienst. Er ist Mormone.« »Ah.« Die Information gab dem Richter zu denken. »Aber Sie haben diesen Fall bis zum jetzigen Zeitpunkt zusammen bearbeitet? Sie und Inspector ...« »Shiu.« »Ja, Shiu.« Er beugte sich ein wenig vor, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch. »Worauf ich hinauswill, Inspector Juhle, ist, ob - es ist nur eine Frage, also fühlen Sie sich bitte nicht auf den Schlips getreten - ob Ihr Erscheinen hier bei mir, ohne Ihren Partner, vielleicht Anzeichen für eine Meinungsverschiedenheit zwischen Ihnen und Shiu darüber ist, ob dieses Ersuchen um einen Hausdurchsuchungbefehl sich auf hieb- und stichfeste Hinweise gründet?« »Nein, Euer Ehren. Ich glaube nicht, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt. Inspector Shiu hat sehr starke religiöse Überzeugungen und...« 277 Thomasino hob eine Hand. »Das haben viele von uns, Inspector, viele von uns. Und dennoch bin ich mir einigermaßen sicher, dass die meisten Ihrer Kollegen beim Morddezernat, wenn sie an einem derart spektakulären Fall um einen ermordeten Bundesrichter arbeiteten, es als, sagen wir, eine lässliche Sünde empfinden würden, die Messe vielleicht ein wenig abzukürzen oder gar ausnahmsweise ganz ausfallen zu lassen, falls plötzlich entscheidende Hinweise an einem Sonntagmorgen ans Licht kämen. Glauben Sie nicht, dass das die Norm wäre?« »O ja, Euer Ehren.«
»Lassen Sie mich das noch etwas weiterführen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Glauben Sie, dass Ihr eigener Partner, Inspector Shiu, wenn er der Ansicht wäre, ein Durchbruch in diesem Fall stünde unmittelbar bevor, sich freiwillig die Gelegenheit entgehen lassen würde, eine aktive Rolle bei einem Vorgang zu spielen, der zu der zweifellos wichtigsten, der bedeutendsten Festnahme seiner ganzen Karriere führen könnte?« »Normalerweise vielleicht nicht, Euer Ehren. Oder ganz bestimmt würde er sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. In diesem Fall allerdings ...« »Ja, sprechen Sie weiter.« »Nun ja, Inspector Shiu ist nebenberuflich für die Manions tätig. Soviel ich weiß, arbeitet er schon mehrere Jahre bei ihnen. Ich hab schon oft gedacht, dass es auf, sagen wir, politische Einflussnahme zurückzuführen sein könnte, dass er so dermaßen schnell aufgestiegen ist und seinen Posten im Morddezernat erlangt hat.« »Freunde der Manions?« »Nur so eine Theorie«, sagte Juhle. »Keine sehr freundliche.« 278 »Nein, Euer Ehren. Aber wir wollten offen sprechen.« »Sie glauben also, dass er mit diesem Durchsuchungsbefehl in eine Art Interessenkonflikt geraten würde?« »So weit würde ich nicht gehen. Sagen wir einfach, es könnte ihm unangenehm sein, den Manions erklären zu müssen, warum er daran beteiligt ist, ihnen den Durchsuchungsbefehl vorzulegen.« »Nun, aus demselben Grund könnten Sie auch annehmen, dass er es vorzieht, sich von einem Unternehmen fern zu halten, das er für schlecht durchdacht hält und von dem er befürchtet, dass es einflussreiche und mächtige Personen erzürnen könnte, ohne eine Garantie für eine erfolgreiche Klärung dieses Falles zu bieten. In Ihrer Berufsgruppe, Inspector, wird dergleichen gern als aussagekräftiger Hinweis bezeichnet, wenn ich mich nicht irre.« Juhle schwieg. Thomasino nickte seufzend, ein schmerzlicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Inspector«, sagte er. »Da wir offen und inoffiziell sprechen, möchte ich Sie noch etwas fragen, ganz unter uns. Haben Sie das Gefühl, dass es Personen im Rathaus und in der Stadt überhaupt gibt, die diesen Fall, über seine offensichtliche Bedeutung hinaus, als eine Probe für Sie persönlich ansehen?« Von der Gewichtigkeit der Frage ziemlich erschüttert, hielt Juhle dennoch die Stellung. »Ja, Euer Ehren, das trifft wohl zu. Aber ich versuche, mich bei der Bearbeitung des Falles davon nicht beeinflussen zu lassen.« Dem skeptischen Blick Thomasinos begegnend, setzte er nach: »In den vergangenen Stunden, Euer Ehren, habe ich zweifelsfrei erfahren, dass Carol Manions Adoptivkind
der leibliche Sohn von Staci Rosalier war, der Frau, die mit Richter Palmer zusammen ermordet wurde. Mrs Manion hat sich in den letz 279 ten acht Jahren alle Mühe gegeben, diese Tatsache verborgen zu halten. Das ging so weit, dass sie letzte Woche, als ich mit ihr über den Fall sprach, darüber nicht ein Wort verloren hat.« »Haben Sie sie danach gefragt?« »Nein, Euer Ehren, aber ...« »Aber Sie sind der Ansicht, sie hätte freiwillig mit der Information herausrücken müssen?« »Für mich ist es unfassbar, dass sie es nicht getan hat, Euer Ehren. Unfassbar. Und wenn sie nur gesagt hätte: >Ich weiß, es ist ein unglaublicher Zufall, aber ich denke, Sie sollten es wissen.< Sie muss sich dessen bewusst gewesen sein.« Thomasino überlegte, die Finger fächerförmig an die Lippen gelegt. Er blickte auf seine Notizen, mitgeschrieben, als Juhle das ganze, recht komplexe Szenario vor ihm ausgebreitet hatte. »Ich habe vielleicht einige Einzelheiten nicht ganz richtig aufgefasst, und Sie können mich gegebenenfalls korrigieren. Aber wenn ich die Schilderung in Ihrem Antrag recht verstanden habe, dann hat Mrs Manion das Baby von einer gewissen Staci Keilly adoptiert, nicht wahr? Und warum sollte in diesem Fall der Name Staci Rosalier sie veranlassen, Ihnen von ihrem Kind zu erzählen? Falls Ihnen dieser Name am Dienstagnachmittag, als Sie mit ihr gesprochen haben, überhaupt schon bekannt war.« Juhles Gesichtszüge erschlafften. Er spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Nicht, dass Todds Herkunft plötzlich wieder in Zweifel gestanden hätte - wenigstens glaubte er das nicht -, aber tatsächlich konnte Carol Manion am Dienstag, als er und Shiu sie über ihre Verabredung mit Parisi befragt hatten, von Staci möglicherweise noch gar nichts gewusst haben. 279 Und das wahre Verhältnis Stacis zu ihrem Sohn konnte Carol sogar nur dann kennen, wenn sie damit konfrontiert worden war und sie Staci daraufhin getötet hatte. Aber das hieß, das Pferd vom Schwänze her aufzuzäumen. Denn falls sie es nicht getan hatte, und entsprechende Beweise gab es bisher nicht, dann war ihre ganze Handlungsweise seither - ihm und Shiu nichts von Todd zu sagen, Todds Haare kurz zu scheren, immerhin stand der Sommer bevor nicht im Geringsten zu beanstanden. Auch fiel ihm plötzlich siedendheiß ein, dass Shiu und er ja bis zum späten Dienstagabend, als sie sich mit Mary Mahoney im Leichenschauhaus getroffen hatten, nicht einmal in der Lage gewesen waren, Staci überhaupt zu identifizieren, sei es als eine Rosalier oder eine Keilly. Und was bedeutete das wiederum in Bezug auf die vier Identifizierungen Todd Manions von heute Morgen?
Der Richter blickte noch immer über seinen Fingerfächer hinweg. »Alles in Ordnung mit Ihnen, Inspector? Sie sehen nicht besonders wohl aus.« »Nein. Es geht schon, Euer Ehren. Ich musste in letzter Zeit regelmäßig Schmerzmittel einnehmen. Mir ist da gerade kurz ein bisschen schwindlig geworden.« Thomasino war offensichtlich nicht davon überzeugt, dass darin das Problem lag, aber er ging darüber hinweg. »Also, der springende Punkt ist, Inspector, dass ich ein bisschen zögerlich bin, etwas abzusegnen, was auf eine Schnüffeltour mit ungewissem Ausgang gegen eine der prominentesten Familien der Stadt hinauslaufen könnte. Zumal vor dem Hintergrund, dass dies der zweite nahezu identische Durchsuchungsbefehl gegen zwei verschiedene Tatverdächtige wäre, dem ich in kürzester Zeit stattgegeben hätte. Sie können sich vorstellen, wo in der Stadt das für ein gewisses 280 Stirnrunzeln sorgen würde, hm? Inwiefern Sie und ich dem Vorwurf ausgesetzt sein könnten, übers Ziel hinausgeschossen zu sein? Unbegründete Verletzung der Privatsphäre? In Ihrem Fall vielleicht sogar die Unterstellung, dass Sie eine verzweifelte Vendetta anzettelten, um von einer festgefahrenen Ermittlung abzulenken?« »Ja, Euer Ehren, obwohl dies nicht...« »Versteht sich von selbst, Inspector, keine Frage. Erklärungen sind nicht nötig.« Der Richter rückte seine Brille zurecht und wandte sich wieder den Unterlagen zu, die Juhle ihm vorgelegt hatte. »Wenn ich mir denn einen Hinweis erlauben darf, dann scheint mir doch, dass Sie, was den Tatort betrifft, keine Probleme mit Fragen der Privatsphäre und des hinreichenden Tatverdachts haben. Sie schreiben hier, dass Sie unidentifizierte Fingerabdrücke gefunden und außerdem Haare und Gewebefasern sichergestellt hätten. Sofern sie das eine oder andere davon Mrs Manion zuordnen können, dann okay, dann haben Sie wenigstens einen plausiblen Grund, sie aufzusuchen und ihr eine Erklärung dafür abzufordern. Wenn die Hinweise sich so weit verdichten, dass wir von^ einem hinreichenden Tatverdacht sprechen können, dann werde ich einen erneuten Antrag auf einen Durchsuchungsbefehl entsprechend beurteilen. Unterdessen« - er blickte auf, entbot ein onkelhaftes Lächeln - »sollten Sie vielleicht nach Hause gehen und ein bisschen gegen Ihre Medikamente anschlafen. Es ist Samstag, Inspector. Niemand wird Ihnen einen freien Tag missgönnen.« Aber Juhle, erregt wie er war, hatte nicht die Absicht, sich freizunehmen. Es gab andere Wege unter dem großen Dach der Rechtmäßigkeit, die er ungestraft einschlagen konnte 280 und die näher zu erkunden er jetzt eben gezwungen war. Richter Thomasino mochte insoweit Recht gehabt haben, als dass sein, Juhles, Antrag auf einen
Durchsuchungsbefehl für Carol Manions Haus etwas übereilt gewesen war. Aber als Kriminalbeamter war Juhle ohne weiteres befugt, Leute zu befragen, wann und wie er es für nötig hielt, vorausgesetzt, er konnte sie dazu bringen, überhaupt mit ihm zu reden. Mrs Manion mochte am vergangenen Dienstag noch nicht gewusst haben, dass Staci Rosalier Staci Keilly war, aber es blieb die Tatsache, dass es aufschlussreich, wenn nicht gar entlarvend sein würde, zu sehen, wie sie reagierte, wenn man sie mit dieser grundlegenden Wahrheit konfrontierte. Juhle hatte ein Gespür für Zeugen - wenn sie logen, gab es tausend verräterische Anzeichen, und er konnte die meisten erkennen. Dann wüsste er wenigstens selbst mit Sicherheit, was los war. An diesem Punkt würde er dann mit seiner Ermittlung ansetzen und mit aller Sorgfalt - wenn nötig, über Monate hinweg - Beweismaterial zusammentragen, mit dem der Staatsanwalt Anklage erheben und den Prozess auch gegen eine Armee von hochbezahlten Verteidigern gewinnen konnte. Wenn Carol Manion es aus der Überheblichkeit des Reichtums heraus gewagt hatte, einen Bundesrichter zu ermorden, würde Juhle sie zu Fall bringen. Und um das zu bewerkstelligen - und zwar jetzt, da die Fragen, die er ihr stellen würde, so klar auf der Hand lagen! -, musste er zuallererst einmal ein Gespräch mit ihr führen. 281
32
In dem breiten, sonnendurchfluteten Flur im ersten Stock ihres Chateaus in Napa Valley stand Carol Manion vor dem Zimmer ihres Sohnes und klopfte gegen die Tür. »Todd.« Keine Antwort. Sie klopfte noch einmal. »Todd, bitte. Deine Mutter möchte mit dir reden.« »Ich möchte aber nicht mit ihr reden. Ich bin wütend auf sie.« »Bitte nicht. Ich kann es nicht ertragen, wenn du wütend mit mir bist. Deine Haare wachsen wieder, ich versprech's dir.« »Und bis dahin seh ich aus wie der letzte Arsch.« »Das ist nicht wahr. Du siehst aus wie der hübsche junge Mann, der du bist. Machst du jetzt bitte die Tür auf?« »Ich will nicht.« »Ich muss aber dringend mit dir sprechen.« »Worüber?« »Todd. Nicht durch die Tür, okay? Bitte. Ich sage bitte, hörst du?« »Ich hab auch bitte gesagt, als du ihm gesagt hast, er soll meine Haare abschneiden. Bitte nicht, bitte, bitte nicht, hab ich gesagt.« Er unterstrich die Worte, indem er gegen die Tür trat. »Das war nicht fair.« »Ich weiß. Und es tut mir Leid. Aber dein Vater und ich hielten es einfach für eine gute Idee.«
»Warum?«, fragte er gedehnt. »Die Haare haben doch niemandem geschadet.« Aber der Türknopf drehte sich, und die Tür klinkte sich auf, nur dass Todd sie nicht weiter öffnete. Carol stieß sanft dagegen. 282 Todd war zum Sessel am Fenster gegangen, von wo aus man die Weinberge sehen konnte. Dort hatte er einige Decken von seinem Bett aufgetürmt, in denen er sich nun vergrub. Carol ging zu ihm und setzte sich so, dass sie die Konturen seines kleinen Körpers fühlen konnte. »Danke, dass du mich reingelassen hast«, sagte sie. »Du bist ein lieber Junge.« »Nützt mir aber gar nichts.« Carol Manion seufzte. »Wird dir nicht ein bisschen heiß da drunter?« Die Decken bewegten sich, als er den Kopf schüttelte. »Worüber musst du mit mir sprechen?« Das war jetzt der Moment. Erneut seufzte sie. »Da ist ein Bild in der Zeitung von heute, von einem Jungen, der aussieht wie du. Es könnte sogar tatsächlich ein Bild von dir sein, das jemand vor ein paar Jahren aus großer Entfernung aufgenommen hat.« Der Kopf, mit verheulten, aber jetzt doch auch neugierigen Augen, guckte hervor. »Warum sollte jemand das tun?« »Das weiß ich nicht genau, aber in der Zeitung stand, dass man das Bild im Zimmer von jemandem gefunden hat, der letzte Woche getötet worden ist.« »Getötet? Du meinst, richtig echt getötet? Nicht wie im Fernsehen?« »Nein. Im richtigen Leben getötet.« »Cool«, sagte Todd. »Na, eigentlich nicht, Todd. In Wirklichkeit ist es eher unheimlich. Aber jedenfalls denkt die Polizei, falls jemand das Foto wiedererkennt von dem Jungen, der so aussieht wie du, dann könnten sie vielleicht die Angehörigen von der jungen Frau finden, die getötet wurde. Falls du mit ihr verwandt wärst. Verstehst du?« »Bin ich doch aber nicht.« 282 »Nein, bist du nicht. Aber dein Vater und ich, wir wissen nicht, wer das Foto gemacht hat und warum. Oder ob es überhaupt etwas mit dir zu tun hat. Wir wollen nur, dass dir nichts passieren kann.« »Und darum habt ihr mir die Haare abschneiden lassen ? Warum habt ihr mir das nicht vorher gesagt?« »Weil wir dir keine Angst machen wollten.« »Das hätte mir keine Angst gemacht.« »Nein. Wahrscheinlich nicht, ich weiß. Aber deiner Mutter und deinem Vater macht es Angst, sich vorzustellen, dass jemand, der ermordet wurde, ein Foto von dir gemacht und bei sich in der Wohnung hingestellt hat, und jetzt weiß
der Mörder vielleicht, wie du aussiehst. Deshalb dachten wir, es wäre schlau, daran ein bisschen was zu ändern, jedenfalls für eine Weile. Verstehst du? Ich möchte wirklich gern, dass du das verstehst.« »Ich glaube schon.« »Gut. Denn vielleicht werden Leute vorbeikommen und Fragen stellen. Vielleicht sogar die Polizei. Und ich möchte nicht, dass du dir Sorgen machst.« »Warum sollte ich m^r Sorgen machen?« »Sollst du nicht. Das sag ich ja, dass es keinen Grund gibt, sich Sorgen zu machen. Wir werden einfach allen sagen, dass du das nicht bist. Sieht vielleicht ein bisschen aus wie du, aber wir glauben nicht, dass du es bist.« »Auf dem Bild, meinst du?« »Ja. Und so halten wir uns aus der ganzen Sache völlig raus. Wir werden nicht hineingezogen, und das ist auch nicht nötig. Diese Sache hat nichts mit uns zu tun. Ich möchte, dass du das begreifst.« »Aber falls ich es doch bin? Kann ich's mal sehen? Ich wette, ich könnte es erkennen.« 283 »Das wette ich auch. Aber das Bild ist nicht das Wichtigste, Todd. Das Wichtigste ist, dass wir dich beschützen. Dass du immer weißt, dass du sicher bist, egal was passiert.« »Das weiß ich doch, Mama.« »Weil du nämlich mein einziger Sohn bist und ich es nicht zulassen werde, dass dir etwas passiert. Nie, nie, nie. Okay? So, wie war's, wenn du jetzt mal unter diesen ganzen Decken hervorkommst und deine alte Mutter ordentlich knuddelst?« Ward Manion hatte das Gesicht eines ins Wirtschaftsleben übergewechselten Marlboromannes, und es wirkte ziemlich ernst, als er seine Frau auf dem Beifahrersitz ansah. »Ich bin ganz und gar nicht sicher, ob das eine gute Idee war. Ich wünschte, du hättest nicht mit dem Jungen geredet, ohne dich vorher mit mir abzusprechen.« Obwohl Jay Leno nicht vor sechs Uhr die Bühne erklimmen und die Auktion offiziell eröffnen würde, waren die Manions bereits in ihrem BMW mit offenem Verdeck unterwegs auf dem Silverado Trail, da sie eine Einladung besaßen zu einer exklusiven Vorabbesichtigung einiger der Weinlagen, die zur Versteigerung anstanden. Er blickte hinüber zu seiner Gemahlin, die seiner Ansicht nach noch immer eine sehr ansehnliche Frau war, wenn auch auf unkonventionelle Art, mit ihrem starken Kinn sowie den tief liegenden und recht weit auseinander stehenden grauen Augen. Sie hatte ihr Gesicht zweimal liften lassen, um Falten und Krähenfüße zu beseitigen, aber die Wangenknochen benötigten keine Korrektur und würden auch nie eine brauchen. »Ich war mit dem Haareschneiden einverstanden«, sagte Ward, »weil ich mir sagte: Was kann es schaden? Aber ich verstehe nicht, warum du nicht von dir
284 aus mit der Polizei Kontakt aufnehmen willst. Du brauchst doch nur zu sagen, es sähe zwar aus wie Todd, aber sonst wüsstest du rein gar nichts über die Angelegenheit, und das stimmt ja auch.« »Nein. Das stimmt nicht, Ward. Aus ihrer Perspektive nicht, und das weißt du auch. Wie kann ich zu ihnen sagen, ja, es sieht aus wie Todd, und dabei nicht erwähnen, dass seine leibliche Mutter Staci hieß?« »Sie hieß nicht Staci Rosalier.« Carol winkte ab. »Hat sie eben ihren Namen geändert. Vielleicht hat die Schlampe auch geheiratet. Zwei- oder dreimal sogar, wer weiß.« Ward schürzte die Lippen. Für Carol war das Mädchen, das das Kind ihres Sohnes, inzwischen ihr eigenes, geboren hatte, von jeher »die Schlampe« gewesen und würde es immer bleiben. Es war ihm nicht recht, aber es stand nicht zu vermuten, dass sich daran noch etwas würde ändern lassen. »Und wenn sie es ist, was dann?«, fragte sie. »Staci. Todds leibliche Mutter.« Er sah sie wieder an. »Ja? Wir sind beide der Ansicht, dass es sein könnte. Na und?« »Nichts na und, dann stecken wir mit drin, Ward. Du und ich und Todd. Du weißt, dass wir niemanden ermordet haben, aber die werden die ganze Vergangenheit wieder aufwühlen, werden sich Todds Adoption genauer ansehen, alles. Du weißt doch auch noch, wie schrecklich Stacis Familie war. Ich will ihnen keinen Vorwand bieten, wieder in unser Leben zu treten.« Er schien die Vorstellung irgendwie belustigend zu finden, schüttelte den Kopf über die darin liegende Absurdität. 284 »Das ist nicht lustig, Ward. Ich hab dir doch erzählt, dass George Palmer mich an jenem letzten Tag zu Hause angerufen hat...« »Um uns zu einer Party einzuladen?« »Ja, aber alles, was die wissen werden ...« »Wer sind jetzt diel« »Die Polizei. Die werden nur wissen, dass er angerufen hat. Was ist, wenn sie eine Verbindung zwischen uns und dieser Schlampe sehen?« »Was, wenn? Was, wenn? Aber wo wir schon mal dabei sind, wenn du ständig den Ausdruck >Schlampe< benutzt, wirst du nicht den Eindruck erwecken, dass du dich nicht weiter für sie interessierst. Die Frau ist immerhin ein Mordopfer. Sie hat ein bisschen Mitgefühl verdient.« »Na schön. Aber es bleibt die Tatsache, dass ich mit George telefoniert habe und dass ich dann bei dieser Parisi angerufen habe. Das ist ein ganzer Haufen von Zufällen, ein Haufen von Kontakten mit Leuten, die mit diesem Fall zu tun haben.« »Jetzt, da du es erwähnst.« Ward lächelte noch immer. »Wenn ich's nicht besser wüsste ...«
»Untersteh dich, so was auch nur im Scherz zu sagen!« »Ruhig, Mädchen«, sagte er. »Kein Grund, sich aufzuregen.« Sie brauchte ein bisschen, um sich zu sammeln. »Es ist viel besser, dass wir uns da völlig raushalten. Wenn wir sagen, dass das Bild eigentlich nicht so aussieht wie Todd in dem Alter, dann war's das.« »Carol.« Er blieb die Ruhe selbst. »Du bist schließlich keine durch die Gegend ziehende Mörderin. Ich meine, wir stehen beide einigermaßen über dieser ganzen Sache, nicht 285 wahr? Du führst dich ein bisschen paranoid auf, und das sieht dir gar nicht ähnlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, du unterschätzt, wie sehr sie darauf aus sind, uns alle zu Fall zu bringen. Wir sind reich und also böse. Guck dir nur mal an, was wir heute wieder machen.« »Wieso, was machen wir denn?« »Die Auktion.« »Sechsstellige Summen für wohltätige Zwecke ausgeben? Ich seh nicht, was daran böse sein soll.« »Kriminelle Preise für Wein zu bezahlen, Ward. Zu protzen gegenüber denen, die das Geld nicht haben. Siebentausendfünfhundert Dollar zu bezahlen nur für das Recht, bei der Auktion mitzubieten. Du scheinst dir nicht bewusst zu sein, wie sehr unser Geld einige Leute beschäftigt, wie sehr wir ihren Neid schüren.« »Natürlich bin ich mir darüber im Klaren. Das schlimmste Verbrechen, das man für manche Kreise begehen kann, ist, Erfolg zu haben. Aber Leute, die so denken, mit denen haben wir es immer zu tun, und wir sollten uns um sie keine Gedanken machen. Sie stehen tief unter uns, sind nicht einmal unserer Verachtung wert.« »Bis sie riechen, dass wir etwas gemacht haben, was sie uns anhängen können, womit sie uns zu Fall bringen können. Guck dir Martha Stewart an, sitzt im Gefängnis wegen irgendeiner Kleinigkeit. Michael Milken. All die Spitzenmanager.« »Aber wir haben nichts getan, was damit vergleichbar wäre, Carol. Ich meine, wenn wir bestätigen, dass der Junge auf dem Bild vielleicht Todd ist und dass Staci durchaus seine leibliche Mutter gewesen sein könnte, dann ersticken wir jede nähere Untersuchung im Keim. Man muss sowieso da 285 mit rechnen, dass irgendwelche Bekannten von uns die Polizei angerufen haben oder einer von Todds Lehrern, wer auch immer. Wenn wir uns nicht selbst melden, vermitteln wir nur den Eindruck, dass wir etwas zu verbergen hätten.« Er legte seine große, knotige Hand auf ihren Schenkel. »Wir wollen nicht den Anschein erwecken, wir hätten etwas zu verbergen, Carol. Wir
haben auch nichts zu verbergen.« Er tätschelte ihr Bein. »Ich würde sagen, wir bringen das Thema bei nächster Gelegenheit gegenüber einem unserer Sicherheitsleute in der Stadt zur Sprache. Die sind schließlich bei der Polizei. Wir erzählen ihnen, was wir wissen. Beantworten ihre Fragen, falls sie welche haben, und bitten sie, sich so diskret zu verhalten wie immer. Und wenn irgendwelche Unannehmlichkeiten daraus folgen, dann leben wir halt damit.« Carol wandte sich von ihm ab, blickte stur nach vorn. Ihr Mund war zusammengepresst, die Kiefer mahlten, der Blick war starr und finster. Sie klappte eine Sonnenbrille auseinander und setzte sie auf, sah dann Ward an, als wolle sie etwas sagen, besann sich aber eines Besseren und versank in brütendes Schweigen. Es war ein makelloser Nachmittag, Weinliebhaber mischten sich untereinander, plauderten, naschten und tranken auf dem eleganten Gelände des Meadowood Resort. Der Bereich des Krocket- beziehungsweise Golfrasens war ein einziges kultiviertes Menschenmeer. Holzrauch hing in einer duftenden Wolke zwischen den Eichen und Pinien. Prominente Köche boten ihre Erzeugnisse auf gewaltigen offenen Grills an, während ebenso berühmte Weinbauern ihre besten Tropfen freigebig in die RiedelKristallgläser ihrer Kollegen und der anderen versammelten Gäste ausschenkten - der Sport 286 helden, Filmstars, Industriekapitäne und sonstiger Berühmtheiten aus aller Welt, denen sowohl die Liebe zur besonderen Traube als auch ein verschwenderischer Reichtum gemeinsam war. Das junge Paar, das mit den Manions plauderte, war sehr gut gekleidet, redegewandt, charmant und offenbar äußerst vertraut mit der exklusiven Napa-Kultur. Nachdem man an einem der Weißweintische unter dem riesigen Zelt, das dem ersten Fairway von Meadowood Schatten spendete, aufeinander gestoßen war, hatte Ward Manion den männlichen Teil der neuen Bekanntschaft unter seine Fittiche genommen, und nun unterhielten die beiden sich sehr angeregt über die verblüffende Popularität, die bestimmte typische Rhonegewächse - Syrah, Mourvedre, Carignane - zuletzt in Kalifornien erlangt hatten, und darüber, was das alles für die hiesige Weinindustrie bedeutete, die so schwer in Cabernet, Chardonnay, Pinot Noir und Merlot investiert hatte. »Offen gestanden, hätten Sie mich vor zehn Jahren nach der angesagtesten neuen Traube gefragt«, sagte der junge Mann namens Jason, »wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen, in Richtung Rhone zu scheuen. Ich hätte viel eher auf Sangiovese gesetzt.« Ward ließ ein zufriedenes Lächeln sehen. »Sprechen Sie nicht abschätzig von dieser Erwartung«, sagte er. »Ich habe sie nämlich damals geteilt.« Ward hatte eine ausgesprochene Vorliebe dafür, über Wein zu fachsimpeln, zumal in
einer Umgebung wie dieser. »Jetzt hab ich fast sieben Morgen Sangiovese, den ich mit meinem Cabernet verschneiden kann.« »California Super Tuscan«, sagte Jason. »Das ist doch ein guter Ausweg. « »Man kann ihn schwerlich als originell bezeichnen«, sagte Ward, »aber es ist auf jeden Fall besser, als wenn ich meine 287 guten Reben, die jetzt endlich richtig tragen, rausreißen und mich mit Grenache oder irgend so einem verdammten Zeug verspekulieren würde.« Die Herren waren offensichtlich imstande, noch eine ganze Weile im gleichen faszinierenden Stil fortzufahren, aber selbst hier, mit dem zweiten Glas Chardonnay in der Hand, schien Carol Manion richtig kämpfen zu müssen, um ihre Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, vage lächelnd zwar, aber mit den Gedanken doch eindeutig woanders, in ihrem eigenen, für andere unzugänglichen Universum. Jasons junge Frau, die mit einem, wenn auch unberührten, Sektglas in der Hand neben Carol stand, rückte einen Schritt näher heran und flüsterte ihr vertraulich zu: »Es ist wirklich wunderbar, hier zu sein. Es ist das erste Mal für uns, und ich muss sagen, wir fühlen uns fast ein bisschen wie Eindringlinge. Im Grunde genommen dürften wir gar nicht reingekommen sein, aber wir sind gute Bekannte von Thomas, und der hat uns Zutritt verschafft.« Mit Thomas, das verstand sich von selbst, konnte in diesem Zusammenhang nur Thomas Keller vom French Laundry gemeint sein, der beste Starkoch von Napa Valley, wenn nicht gar, wie viele fanden, der ganzen zivilisierten Welt. »Aber wenn man zufällig das Glück hat, dass einem ein paar Karten an einem so fabelhaften Tag angeboten werden, dann greift man zu, würde ich sagen, n'est-ce pasl« »Oui. Sans doute.« Carol rang sich ein Lächeln ab, das bei aller Gequältheit doch einigermaßen aufrichtig schien. »Entschuldigen Sie, ich bin ein bisschen zerstreut. Wie war doch gleich Ihr Name?« »Amy.« Allmählich gelang es ihr jetzt, auf ihre geschmeidigen Umgangsformen zurückzugreifen, ganz wie Amy gehofft 287 und Hunt erwartet hatte. Carol Manion, das wussten sie beide, verbrachte einen beachtlichen Anteil ihrer Zeit auf Wohltätigkeitsbällen und Benefizveranstaltungen. Geselliges Plaudern durfte ihr da kaum schwerer fallen als das Atmen, und gerade die Banalität der Gespräche, so glaubten sie, würde ihr eine willkommene Erholung bieten von dem, was augenblicklich ihre Hauptsorge sein musste. »Nun, Amy«, sagte sie, »freut mich, Sie kennen zu lernen, umso mehr, als Sie nicht mit uns in Konkurrenz treten werden, wenn die Versteigerung beginnt.«
Amy lachte anerkennend. »Darum werden Sie sich nicht sorgen müssen. Wir sind ganz harmlose Normalverbraucher.« »Sind Sie näher mit der Welt des Weines befasst? Ihr Mann scheint ja recht bewandert zu sein.« »Jason? Oh, wir sind noch gar nicht verheiratet, erst im September. Und es betrifft nicht nur den Wein, er ist in allem bewandert. Es ist eine Art Fluch.« »Ich weiß, wovon Sie sprechen. Mein Ward ist auch so einer. Er braucht etwas nur einmal zu sehen, davon zu hören oder darüber in einem Buch zu lesen, und schon ist es für immer in sein Gedächtnis eingebrannt.« »Das hört sich ganz wie Jason an. Aber wir haben mit dem Weingeschäft eigentlich überhaupt nichts zu tun, abgesehen davon, dass wir ihn gern trinken.« Wu verlagerte ihr Gewicht, bewegte sich nach hinten, rückte sie beide ein bisschen von den Männern weg. »Im wirklichen Leben sind wir beide Anwälte.« Carol Manions Mund zuckte nur unwesentlich, und das so schnell, dass Wu es nicht mitbekommen hätte, hätte sie nicht genau darauf geachtet. Augenblicklich war das geübte Lächeln wieder da, aber in diesem Bruchteil einer Sekunde 288 schien die ältere Frau auch ein wenig aus dem Tritt geraten zu sein, und es entstand ein Schweigen zwischen ihnen, bis Carol schließlich stammelte: »Äh, wie bitte?« Amy fand nichts dabei, ihr noch einmal nachzuschenken. »Ich sagte, wir sind beide Anwälte.« Sie plapperte munter weiter. »Wir schätzen uns beide glücklich, dass wir in San Francisco arbeiten können. Jason ist bei der Staatsanwaltschaft, und ich bin seit fünf Jahren in einer wirklich guten Kanzlei beschäftigt. Ich liebe die Arbeit, obwohl die Leute manchmal schreckliche Dinge über uns sagen. Diese ganzen Juristenwitze, wissen Sie. Aber ich finde, meine Kollegen sind im Großen und Ganzen viel netter, als die meisten Leute glauben. Ach, apropos« - als würde es ihr eben jetzt einfallen - »es ist ja lustig, dass Jason und ich hier ausgerechnet Ihnen über den Weg laufen, denn ich glaube, wir haben eine gemeinsame Freundin.« Wus Gesicht entgleiste plötzlich, und es war nicht einmal geschauspielert. »Oder hatten, sollte ich sagen, bis letzte Woche. Andrea Parisi.« Die Oberfläche von Carol Manions Wein geriet in Bewegung, als würde ein winziges Erdbeben den Boden unter ihren Füßen erschüttern. »Andrea ...ja, die Moderatorin aus dem Fernsehen?« »Und auch eine Ihrer Anwältinnen, nicht wahr? Oder täusche ich mich da?« »Nein, nein. Obwohl wir uns tatsächlich nie begegnet sind. Ich habe nur ... Ach, es ist so eine Tragödie, was da passiert ist. Ich meine, man hat sie immer noch nicht gefunden, nicht wahr?«
»Nein. Und ich glaube auch nicht, dass noch große Hoffnungen in dieser Richtung bestehen. Es ist furchtbar. Sie war so eine großartige Person. Wir waren sehr gut befreundet.« Amy vermerkte mit einiger Überraschung, dass ihr 289 echte Tränen in die Augen traten. »Oh, tut mir Leid. Ich wollte keinen Schatten über diesen wundervollen Tag werfen. Aber Sie beide ... Ich stand tatsächlich unter dem Eindruck, dass Sie sie auch gut kannten. Wenn sie zu Ihnen ins Haus kam ...« »Nein! Sie war nie bei uns.« »Ach ja, stimmt. Das weiß ich. Ich hab mit ihr gesprochen, gleich nachdem Sie sie aus dem Saint Francis angerufen und vorgeschlagen hatten, sich in ihrem Büro zu treffen. Sie sagte noch, sie befürchte, Sie hätten kalte Füße bekommen.« »In welcher Hinsicht?« »Dass sie Sie als Anwältin vertritt.« »Aber sie hat mich nicht vertreten. Sie hat ...« Sie brach abrupt ab, weil ihr ein anderer Gedanke kam. »Sagten Sie, sie hätte Sie angerufen?« »Ja. Nachdem sie mit Ihnen gesprochen hatte. Wir waren an dem Abend zum Abendessen draußen in den Avenues verabredet, und wir haben dann beschlossen, die Sache in die Innenstadt zu verlegen, weil wir halt beide noch arbeiten mussten. Gott, war das erst letzten Mittwoch? Es kommt mir vor, als sei es ewig her.« Als ob ihr das gerade erst aufgefallen wäre, sagte Wu: »Aber wenn Sie ihr nie begegnet sind, dann muss sie die Verabredung mit Ihnen ja auch verpasst haben.« Carol Manions Blick bekam etwas Verstohlenes. Rasch überflog er die ganze Länge und Breite des von Partyzelten überdachten Bereiches, bevor er zu Wu zurückkehrte. »Ja. Ich meine, nein. Wir sind tatsächlich nie zusammengekommen. Ich ...« Sie geriet ein bisschen ins Stocken. »Ich musste im letzten Moment absagen.« »Das ist schade«, sagte Wu. »Sie hätte Ihnen bestimmt gefallen, da bin ich sicher. Ich kann nicht glauben, dass sie 289 von uns gegangen ist. Sie war fantastisch... eine fantastische Person.« »Ja, nun ...« Carol Manion machte ein paar etwas wacklige Schritte auf ihren Mann zu. »Das glaube ich ganz bestimmt. Aber wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, ich glaube, es wird Zeit für uns, dass wir uns diese Versteigerungslisten ansehen. Ward?« Brandt und Wu zogen sich hinter eine Zeltwand zurück, von wo aus sie ungesehen beobachten konnten, wie die Manions weggingen, Carol schwer auf den Arm ihres Mannes gestützt.
»Netter Typ«, sagte Brandt. »Dieser Ward.« »Sie nicht. Sie ist eine Killerin.« »Glaubst du?« »Ich würde mein Leben darauf verwetten, Jason. Ich dachte echt, sie fällt mir gleich in Ohnmacht, als ich Andrea erwähnte. Sie hat den Anruf aus dem Saint Francis nicht abgestritten, was ich ziemlich ungeheuerlich finde. Sie sah wirklich aus, als wäre sie kurz davor, umzukippen. Ich weiß, dass es ihr einen Schock versetzt hat.« »Das war ja auch das Ziel.« »Nein, das Ziel war, sie so sehr aufzuregen, dass sie vorzeitig aufbricht.« »Aber nicht zu früh. Devin muss genug Zeit haben, hier hochzukommen.« Wu sah auf ihre Armbanduhr. »Zwei Stunden hat er jetzt gehabt. Er wird es schaffen.« »Besser wär's«, sagte Brandt. »He, guck mal.« Auf dem Weg zu ihrem Platz an den Auktionstischen waren die Manions plötzlich stehen geblieben, und jetzt hatte Carol eine Hand auf die Brust ihres Mannes gelegt, während 290 sie die andere gegen die eigene linke Brust gepresst hielt. Es war eine flehentliche Haltung. Mit einem unverkennbaren Ausdruck von Unwillen und Wut blickte Ward für einen Moment an die Zeltdecke. Er nahm seiner Frau das Weinglas aus der Hand und stellte es mit übertriebener, demonstrativer Ruhe zusammen mit seinem eigenen auf dem erstbesten Tisch ab. Dann wandten beide sich dem nächstgelegenen Ausgang zu. »Hat geklappt«, sagte Brandt. Wu nickte mit grimmiger Befriedigung. »Sieht so aus.«
33
Tamara und Craig hielten ihre Weingläser etwas über Augenhöhe und spähten aufmerksam in die gut einen Zentimeter hohe rote Flüssigkeit. »Wonach gucken wir?«, flüsterte Craig. »Ich weiß nicht genau«, sagte Tamara. »Röte?« »Ich kann sie sehen. Es gab drei Ausschenker - zwei Männer, eine Frau - im Verkostungsraum der Manion-Kellerei. Alle waren sie jung, kenntnisreich, voller Enthusiasmus. Warren, die Person, die ihnen eingeschenkt hatte, eine Art Vierziger-JahreLeinwandidol, aber erst gut zwanzigjährig und von irgendwelchen Umständen in die Gegenwart verschlagen, wartete gespannt die Reaktionen der etwa ein Dutzend Gäste an der Bar vor ihm ab, bevor er wieder tief in die Weinjargonkiste griff. »Zunächst einmal werden Sie sicherlich die verblüffende Klarheit bemerken, ein tiefes Rubinrot mit einer Andeutung von Bernstein oder sogar Ziegel an den Rändern. Das
291 ist ganz natürlich bei älteren Jahrgangsweinen wie diesem, vor allem, wenn es ein Sangiovese ist. Bei alten Chiantis, die, wie Sie selbstverständlich wissen, aus derselben Traube sind, können Sie das oft erleben. Wenn Sie ihn ein wenig schwenken, glaube ich, werden Sie die Glanzlichter des tieferen Rubinrots erkennen, das diesen sortenreinen Wein in seinem jüngeren Stadium charakterisiert. Und dann, wenn der Wein wieder zur Ruhe kommt, achten Sie bitte auf den prächtigen Körper.« Craig trat einen Schritt zurück, warf einen verstohlenen Blick auf Tamara. »Was deinen Körper angeht, hat er ja Recht«, flüsterte er ihr zu, »aber das kann er von da aus, wo er steht, doch gar nicht so genau sehen.« Sie stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, nahm einen Mund voll, spuckte ihn in den bereitstehenden Eimer und stellte das Glas ab. Warren schwadronierte weiter über Flüchtigkeit, Alkohol und Struktur und erklärte, worauf man achten solle, welche sinnlichen Informationen zu registrieren seien, wenn der Wein die Lippen passiere und das eigentliche Schmecken beginne. Tamara beugte sich zu Craig, ließ ihr eigenes Bühnen-flüstern hören: »Nichts für ungut, aber eine gepflegte Margarita würde ich jederzeit vorziehen.« »Wem sagst du das.« Craig machte sich nicht einmal die Mühe, den betreffenden Wein zu probieren. Er hatte bereits an Proben aus drei oder vier anderen Flaschen genippt, und die Erläuterungen dazu hatten seine spontane Reaktion nicht wesentlich korrigieren können. Er und Tamara machten sich einfach nicht viel aus dem Zeug. Oder aber sie kapierten nicht, worum es ging. Wen kümmerte es, ob die Farbe Rubinrot war oder doch eher Granatrot? Was für einen Unterschied machte das? War Farbe denn eine Geschmacks 291 komponente ? Er fand sowieso, dass all diese Weine ziemlich gleich schmeckten, entgegen dem ganzen Gerede über frühreife Fruchtigkeit mit einem soliden Rückgrat von Tanninen, Cassis (was immer das nun wieder war) und Johannisbeere, vielleicht mit einer leichten Note von Schokolade, Tabak und Sattelleder. Tabak? Sattelleder? Im Unterschied zum Beispiel zu Baseballhandschuhleder? War Warren der Ansicht, die Leute wollten Pferd und Zigarre in dem schmecken, was sie tranken ? Also, Craig nicht. Tamara auch nicht. Wenn sie tranken, sollte es was Kaltes sein, gern mit einem Kick. Wenn ein Hauch von Zitrus drin mitschwingen sollte, konnte Craig auch an einer Limone saugen, kein Thema. Aber heute Morgen hatten sie Wyatt Hunts dringenden Anruf erhalten und waren mit ihm hierher gefahren, um die letzte Chance zu ergreifen, eine heikle und vielleicht sogar gefährliche Angelegenheit; und mit der Anweisung versehen, keine Aufmerksamkeit zu erregen, gaben sie sich jetzt halt auf eine Weise interessiert, die sie sich ringsherum bei ihren Mitverkostern abguckten.
Warren ließ nicht locker: »Wenn Sie dann jetzt Ihre Gläser hier stehen lassen wollen; der nächste Abschnitt unserer Führung ist mit ein bisschen Kletterei verbunden, wenn es zu den neuen Höhlen hinaufgeht, aber ich glaube, Sie werden feststellen, dass es sich lohnt. Wir sind völlig begeistert von der Lagerkapazität, die wir dadurch gewonnen haben; sie beträgt fast fünfzehntausend Fässer, jeweils zur Hälfte etwa aus neuer und alter Eiche, wobei der Kalkstein für eine konstante Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgt, die bei etwa ...« - blablabla, blablabla - »wenn Sie mir dann bitte folgen wollen.« Er führte sie seitlich aus dem Verkostungsraum heraus auf einen ansteigenden Weg, der bald 292 auf eine grob gepflasterte Straße traf, welche um den Rand des Vorgebirges herum verlief und sich bald den Blicken entzog. Ihr eigener Weg ging noch ein wenig weiter aufwärts und führte sie, wie versprochen, zu den neuen Höhlen, die schon recht eindrucksvoll waren, wie Craig zugeben musste. Die Höhlen erstreckten sich offenbar bald hundert Meter weit in den weißen Felsen hinein, waren auf beiden Seiten bis zur hohen Decke hinauf von Stapeln von Weinfässern gesäumt und bildeten ein ins Herz des Kalksteinberges gehauenes komplexes Labyrinth. Und anscheinend handelte es sich um ein noch unvollendetes Werk. In regelmäßigen Abständen zweigten unfertige Gänge ins Dunkle ab. Die vier Hauptwege - von den vier Eingängen ausgehend - mündeten in einen großen, breiten, schwach beleuchteten Saal, der in ein paar Jahren ein umfassendes Weinmuseum beherbergen sollte, das Fine Art of the Grape, von dem die Manions hofften, es werde sich zu einem Reiseziel ganz eigener Art entwickeln. Hier befanden sich auch ein privater Speisebereich und sogar eine Bühne für Theater- und Musikaufführungen - die Akustik, so versicherte ihnen ihr Führer, sei perfekt. Warren und vierzehn der sechzehn Teilnehmer der Führung versammelten sich um eine Modelldarstellung in der Mitte des Saales, die einen Eindruck davon vermittelte, wie das ganze Ensemble aussehen sollte, wenn alle Arbeiten abgeschlossen waren. Zwei der Besucher verschwanden in der Dunkelheit. »Manion-Kellerei. Was kann ich für Sie tun?« »Hi. Hier ist Andy von der Oakville Grocery. Spreche ich mit der Küche?« 292 »Nein. Tut mir Leid. Das ist hier der Verkostungsraum, und es ist ausgesprochen voll.« »Okay, tut mir Leid, Sie zu stören. Würd's Ihnen was ausmachen, mich mal kurz mit der Küche zu verbinden, bitte?« »Das kann ich nicht. Dies ist der öffentliche Anschluss. Wir verbinden nicht mit dem Haus.«
»Schade. Würden Sie mir dann bitte die Nummer geben?« »Auch das geht nicht, tut mir Leid. Wir dürfen die Nummer nicht herausgeben.« »Herrjemine. Mit wem spreche ich eigentlich?« »Natasha.« »Okay, hören Sie, Natasha, ich hab hier ein Problem. Carol Manion hat bei uns angerufen, weil ihr nach der Auktion so ungefähr sechzig Leute ins Haus schneien werden, und wir haben ihre sehr teure und ziemlich spezielle Bestellung jetzt auch so weit fertig, aber ich müsste noch mal dringend mit der Küche sprechen, um festzustellen, was hier bei uns fertig zubereitet sein muss und was ihr bei euch da oben selber machen könnt. Aber die Nummer hier, die ich angerufen hab, das ist die Nummer, die Carol uns gegeben hat.« »Das glaub ich. Sie ist in letzter Zeit ziemlich zerstreut.« »Wer ist das nicht? Wir haben hier auch den reinsten Affenzirkus diese Woche. Aber egal, wenn wir da nicht pünktlich antanzen und nicht alles astrein auf den Punkt gegart ist, dann gibt es eine Explosion, die unser schönes Tal für die nächsten zweihundert Jahre unbewohnbar machen wird, und was wird dann aus Ihnen und mir? Könnten Sie mir also bitte, nur dieses eine Mal, die Privatnummer geben? Ich verspreche, dass ich sie hinterher verbrennen und die Asche zweimal runterschlucken werde.« 293 Natasha ließ ein kleines Glucksen hören. »Einmal müsste reichen, Andy. Eine Sekunde mal. Okay, sind Sie bereit?« Sie gab ihm die Nummer. »Das war viel zu leicht«, sagte Mickey. »Es kann doch nicht s o leicht sein.« »Manchmal ist es das.« Hunt war nicht zum Scherzen aufgelegt. Er besaß die Telefonnummer der Manions, also das, was er gebraucht hatte, und jetzt hielt er wieder sein Handy ans Ohr, im Gespräch mit Juhle. »Wo bin ich hier eigentlich?«, fragte ihn Devin. »Disneyland? Epcot Center? Ich wusste nicht, dass in den letzten hundert Jahren so viele Autos produziert worden sind, aber jetzt sind sie alle hier. Ich bin in fünfzehn Minuten keine zwei Kilometer vorangekommen.« »Wo bist du jetzt?« »Im Stau.« »So weit hatte ich schon mitgedacht. Auf jeden Fall musst du da raus. Ich hab gerade Nachricht von Amy und Jason gekriegt. Carol Manion hat praktisch zugegeben, dass sie den Anruf vom Saint Francis getätigt hat.« »Was heißt das? Praktisch zugegeben?« »Sie hat's nicht bestritten. Amy hatte es gezielt zur Sprache gebracht.« »Wenn das wahr ist«, sagte Juhle, »könnte das der erste echte Durchbruch sein.« »Vielleicht«, gab Hunt zu. »Aber du musst dich sputen. Carol und Ward sind auf dem Weg nach Hause.«
»Die werden genau wie ich hier auf diesem Parkplatz stehen.« »Ja, aber aus der anderen Richtung kommend und vielleicht viel schneller als du. Wo bist du jetzt?« 294 »Irgendwo auf irgendeinem Freeway. Neunundzwanzig.« »Bist du schon durch den Ort Napa durch?« »Glaub schon.« »Okay. Du schaffst es. Bieg die nächste rechts ab.« »Egal welche? Du weißt doch nicht mal, wo ich bin.« »Du bist nördlich von Napa, alles andere spielt keine Rolle. Nimm die nächste rechts, und halt dich weiter rechts, immer auf die Hügel zu, die du durch dein Beifahrerfenster siehst. Alles klar? Die nächste große Straße, auf die du triffst, das ist der Silverado Trail, da biegst du links ab. Auf dem bin ich gerade, und der Verkehr fließt in beide Richtungen. Wenn du auf der linken Seite die Quintessa Vineyards siehst - das ist riesig, kannst du gar nicht verpassen -, dann musst du langsamer fahren. Die Manion-Kellerei ist die nächste links, aber Mick hat seinen grünen Camaro hundert Meter weiter auf der rechten Seite geparkt, und genau dort findest du uns. Du solltest nicht länger als zehn, fünfzehn Minuten brauchen, und das dürfte reichen.« »Wofür?« »Um anzukommen, bevor sie zu Hause sind.« »Und warum ist das gichtig?« »Vielleicht ist es gar nicht wichtig. Aber da du sowieso mit ihr sprechen wolltest, tu mir den Gefallen, okay? Ich liefer sie dir frei Haus. Ziemlich fertig mit den Nerven möglicherweise und vielleicht drauf und dran, zusammenzuklappen.« »Trotz deines Versprechens, dass du nicht mit ihr reden wolltest.« »Hab ich auch nicht.« »Aber sie ist fertig mit den Nerven? Wie kommt's?« »Zauberei. Ich werd dir das Geheimnis später verraten, aber im Moment ist es deine Aufgabe, Auto zu fahren, okay? Ich 294 weiß, du bist Polizist und es verstößt gegen deine sämtlichen Grundsätze, aber fahr notfalls auch schneller, als erlaubt ist.« »Als wenn das ginge«, sagte Juhle. Juhle fuhr die gewundene Auffahrt hinauf, vorbei an dem »Geöffnet«-Schild des Verkostungsraums mitsamt Parkplatz und dann weiter hügelaufwärts, bis er anhielt und den Klingelknopf an dem Kasten neben dem schmiedeeisernen Tor drückte, das die Privatstraße versperrte. Nachdem er sich als Polizeiinspektor vom Morddezernat in San Francisco zu erkennen gegeben hatte, wartete er noch einmal ungefähr fünf Minuten, bis ein junger Mann im dunklen Anzug aufkreuzte, das abgesperrte Privatgelände durch eine Tür im Zaun verließ und zu Juhle ans Fahrerfenster kam, um dessen Beglaubigung zu prüfen.
»Aber ich fürchte, Sie sind umsonst hergefahren. Mr und Mrs Manion sind momentan nicht zu Hause.« »Das macht nichts. Ich werde auf sie warten, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Das könnte dauern. Sie sind bei der Auktion.« »Was für eine Auktion?« »Die Auction Napa Valley.« »Tut mir Leid, das sagt mir nichts.« Der Mann wusste nicht, ob er Juhle das abnehmen konnte, aber er sagte: »Na, das ist ein großes Ereignis hier, und erfahrungsgemäß kann es dabei spät werden, mit Partys hinterher und so weiter.« »Heißt das, Sie wollen mich nicht reinlassen?« Es folgte eine lange Pause. »Sir, Sie können die Auffahrt hochfahren, aber ohne ausdrückliche Anweisung der Manions kann ich Sie nicht ins Haus lassen.« 295 Juhle schenkte ihm ein Lächeln und nickte. »Ja, danke. Ich werde mein Glück versuchen.« Der Wachmann gab einen Code in den Kasten ein, das Tor öffnete sich, und Juhle fuhr hindurch. Die Straße stieg knapp zwanzig Meter weit steil an und gabelte sich, sobald es etwas ebener wurde. Ein Weg führte nach rechts ab und wand sich durch Weinstöcke hindurch, bevor er um das Vorgebirge herum verschwand. Juhle wartete an der Gabelung, bis der Wächter ihn zu Fuß eingeholt hatte. »Soll ich Sie nach oben mitnehmen?« »Klar, gern. Es ist weiter, als es von der Straße aussieht.« »Links oder rechts?« »Links.« Schweigend bewältigten sie eine weitere Steigung und tauchten dann vor den neuen Höhlen mit ihren eindrucksvoll geschnitzten schweren Eichenholztüren kurz nach rechts ab, bevor es an die letzte Steigung ging, die zu einem großen, runden, mit Kies bestreuten Parkplatz führte, mit einem Springbrunnen in der Mitte, der sogar in Betrieb war, und einer Reihe von Olivenbäumen als Begrenzung zum prunkvollen Bau des Chateaus hin. Juhle kam an zwei geparkten dunklen Geländewagen und einem alten Honda Civic vorbei und fuhr weiter im Kreis, bis er eine schattige Stelle erreichte. Er hielt an und teilte seinem Passagier mit, dass er im Auto warten werde. »Es kann aber wirklich dauern.« »Wenn ich einen Koller kriege, laufe ich ein bisschen hin und her. Okay?« »Ganz, wie Sie wollen, Sir, aber verlassen Sie bitte nicht diesen Bereich hier vor dem Haus.« Er ging um das Auto herum und hielt an Juhles Fenster kurz inne. »Entschuldigen Sie, aber ich bin gerade erst drauf gekommen: Sie sind 295
vom Morddezernat? Bedeutet das schlechte Nachrichten? Für die Familie, meine ich? Ich hätte sonst eine Nummer, unter der ich sie erreichen kann, aber nur in absoluten Notfällen. « »Reine Routinesache.« Mehr ließ Juhle sich nicht entlocken. Nach ein paar Augenblicken zuckte der junge Mann die Achseln und entfernte sich. Juhle saß eine Weile bei heruntergelassenem Fenster in seinem Auto und genoss die Wärme, das sonnige Wetter. Von seinem Aussichtspunkt hier oben konnte er meilenweit in beide Richtungen des Tals blicken. Das Grün der knospenden Weinreben vor dem rötlich gefärbten Boden, die gezackten Granitgipfel im Osten, der blaue, wolkenlose Himmel, an dem ein einsamer Truthahngeier sich von der Thermik tragen ließ. Es war ein fantastisches Panorama. Er bemerkte, dass in etwas geringerer Ferne der Verkehr auf dem Silverado Trail unter ihm zwar nicht gerade dünn, aber immerhin in Bewegung war. Wenn Hunt mit seinen Annahmen richtig lag - und bislang war das der Fall gewesen -, würden Carol und Ward nicht mehr lange auf sich warten lassen. Schließlich wurde es ihm doch zu warm auf seinem Auto-sitz, also öffnete er die Tür, glitt nach draußen und schlenderte zum vorderen Rand des Parkplatzes, wo das Vorgebirge unter ihm steil abfiel. Hier war der Blick, wegen des Vordergrunds, nicht ganz so zauberhaft. Mit einiger Mühe, die der Erhabenheit der übrigen Umgebung geschuldet war, rief er sich in Erinnerung, dass Weinberge eben letzten Endes nichts anderes waren als landwirtschaftliche Betriebe, die Trauben anbauten und ernteten. 296 Und tatsächlich, in einer kleinen Senke seitlich der neuen Höhlen erblickte Juhle einen ausgesprochenen Misston in Gestalt einer wahrhaft heruntergekommenen alten Rotholzscheune, umgeben von einer verblüffenden Menge von verrosteten alten Landwirtschaftsutensilien, aber auch von neuer, schwerer Gerätschaft, die offensichtlich bei den noch nicht lange zurückliegenden Grabungs-, Planierungs- und Pflanzarbeiten zum Einsatz gekommen war -ein paar Traktoren, Löffelbagger und Bodenfräsen, riesige Bohrersätze, Schaufeln und Spaten, Hacken und Harken. Einige glitzerten in der Sonne, die meisten waren nur noch unbrauchbarer Schrott. Das Land selbst war rund um die Höhleneingänge noch immer aufgewühlt und quasi nackt, der Kalkstein leuchtete wie Tierknochen im hellen Sonnenlicht. Aber Juhle war nicht hergekommen, um die Landschaft zu bewundern, und jetzt sah er, sehr zu seiner Zufriedenheit, dass ihm gar keine Zeit mehr bleiben würde, die Umgebung des Chateaus weiter zu erkunden. Genau unterhalb von ihm nahm in diesem Augenblick ein schwarzes BMW-Z4-Cabriolet die Steigung vor dem Tor in Angriff.
Juhle trat ein paar Schritte zurück, damit er von den Insassen des Fahrzeugs nicht gesehen werden konnte. Als diese oben ankamen und auf das von Olivenbäumen beschattete Areal zusteuerten, wo auch sein Wagen stand, hatte er bereits seine Sonnenbrille aufgesetzt und ging auf sie zu, die Dienstmarke in der ausgestreckten Hand, das Gesicht vollkommen ausdruckslos. Seine Schritte knirschten laut auf dem Kies des Parkplatzes, als Juhle direkt auf Carols Seite des Wagens zuging und sie ansprach, noch bevor dieser ganz zum Stehen gekom 297 men war. »Mrs Manion? Inspector Juhle vom Morddezernat San Francisco. Sie erinnern sich vielleicht an mich. Falls Sie ein bisschen Zeit übrig hätten, würde ich mich gern noch einmal mit Ihnen unterhalten.«
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»Ich muss darauf bestehen«, sagte Ward. »Wie Sie sehen können, ist das jetzt wirklich ein ungünstiger Moment, Inspector. Meine Frau fühlt sich wirklich recht unwohl. Wir mussten deshalb gerade die Auktionsvorbesichtigung verlassen, und ich kann Ihnen versichern, dass wir das ohne schwer wiegenden Grund nicht getan hätten.« Die beiden Männer standen sich unter dem Gewölbe der kreisrunden Marmorvorhalle gegenüber. Dass die Manions es dazu hatten kommen lassen, dass sie mit anderen Worten Juhle faktisch eingeladen hatten, ihr Chateau zu betreten, erwies sich als ein kolossaler Fehler - hätten sie ihm den Zutritt verweigert, hätte er einen Durchsuchungsbefehl benötigt, um ohne ausdrückliche Erlaubnis ins Haus zu kommen, aber wenn er erst einmal drin war, wurde es psychologisch sehr viel schwieriger, ihn wieder hinauszubefördern. Als sie eingetreten waren, hatte Carol sich sogleich in einen der Sessel an der Wand fallen lassen, wie jemand, der furchtbar unter der Hitze zu leiden hat. Jetzt stützte sie einen Ellbogen auf die Sessellehne und die Stirn auf zwei Finger der rechten Hand, während sie die Augen geschlossen hielt. Juhles unerwartetes Erscheinen, aus der blendenden Helligkeit des Nachmittags heraus, hatte ihr den zwei 297 ten seelischen Schlag des Tages versetzt und sie zutiefst erschüttert. Genau das war Hunts Absicht gewesen, der springende Punkt seines Plans, und offensichtlich hatte es funktioniert. Juhle erhielt den Druck aufrecht. »Mr Manion, ich bin den ganzen Weg von San Francisco hierher gefahren, um Ihrer Frau nur ein paar Fragen zu stellen, danach verschwinde ich gleich wieder. Ich stecke mitten in den Ermittlungen über den Mord an einem Bundesrichter, und dafür ist es unbedingt
erforderlich, dass ich einige Aussagen von Ihrer Frau einhole. Falls Sie sich ein paar Minuten Zeit nehmen wollen, damit Sie ihr ein Glas Wasser holen können oder sie sich ein bisschen erfrischen kann, ist dagegen natürlich nichts einzuwenden, aber ansonsten ist die Sache wirklich sehr dringend.« Ward Manion sah seine Frau an, dann Juhle. »Das ist unerträglich. Ich werde meinen Anwalt anrufen.« »O ja, selbstverständlich«, sagte Juhle. »Das ist Ihr gutes Recht. Aber sofern Sie nichts zu verbergen haben, ist es vielleicht am einfachsten^ wenn Sie einfach ein paar Fragen beantworten.« Manion erhob die Stimme. »Nichts zu verbergen? Das ist ja wohl die Höhe! Verlassen Sie sofort mein Haus. So können Sie nicht mit uns reden ...« Plötzlich aber erhob sich Carol, stand hinter ihrem Mann und berührte ihn am Arm. »Ward.« Er fuhr herum, brachte sie dabei fast aus dem Gleichgewicht. »Carol, setz dich wieder hin. Ich hab das hier ...« »Nein. Nein, ist schon gut. Ich rede mit ihm. Ich brauche keinen Anwalt. Wie du weißt, haben wir nichts Unrechtes getan.« 298 »Nein, natürlich nicht. Aber das ist doch alles so ... so verkehrt. Sie behandeln dich wie eine gewöhnliche Kriminelle, platzen hier einfach rein...« Ward schüttelte angewidert den Kopf. Er wandte sich wieder an Juhle. »Es ist wirklich absurd. Aber was wollen Sie wissen?« »Was wollen Sie mich fragen?«, sagte Mrs Manion. Juhle packte sein Diktiergerät aus, schaltete es ein und stellte es auf den Schirmständer neben der Eingangstür. »Wann haben Sie das letzte Mal mit George Palmer gesprochen?« Sie seufzte schwer, warf ihrem Mann einen erschöpften Blick zu und sank in den Sessel zurück. Schließlich hob sie den Kopf und sah Juhle an. »Letzten Montagnachmittag. Er rief mich zu Hause an, um mich zu einer Party einzuladen.« Es dauerte fast ein halbe Stunde. Es kam alles heraus - das lange zurückliegende Verhältnis zwischen Staci Keilly und ihrem leiblichen Sohn Cameron, die Verbindung zwischen Staci Rosalier und Palmer, das Foto, die wahre Identität ihres Sohnes Todd. Ihre Antworten waren stets freimütig und unmissverständlich. Sie gab zu, dass es ein unglaublicher Zufall sei, aber sie habe wirklich nicht gewusst, wer Staci Rosalier war. Den Namen habe sie nie gehört, bevor er letzten Mittwoch in der Presse aufgetaucht sei. Hätte der Name des Opfers Staci Keilly gelautet, hätte sie sich selbstverständlich sofort mit den zuständigen Stellen in Verbindung gesetzt. Was das Foto betraf, so habe sie natürlich eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem abgebildeten Jungen und ihrem Sohn Todd bemerkt, aber da sie sich sicher sein durfte,
dieser Person Staci nie begegnet zu sein - und warum hätte diese völlig fremde Frau ein Bild von 299 Todd besitzen sollen? -, habe sie darin nur einen weiteren in einer, wie sich nun herausstelle, bizarren Kette von Zufällen gesehen. Allerdings, um das noch festzuhalten, finde sie auch tatsächlich nicht, dass der andere Junge genau wie Todd aussehe. Schließlich brachte Juhle die Rede auf Andrea Parisi, und auch hier sagte Carol, dass sie ihm bereits von ihrem seinerzeitigen Anruf bei Andrea berichtet habe, von der Einladung an sie, bei der Benefizveranstaltung der Büchereistiftung als prominente Conferenciere zu fungieren, und davon, dass Parisi die Verabredung nicht eingehalten habe. Wo sei das Problem? Juhle klopfte die offensichtlichen Ungereimtheiten ab: Warum habe sie drei Stunden gewartet, um in Parisis Büro anzurufen, nachdem diese nicht erschienen war? Warum nicht früher, während sie noch ungeduldig wartete ? Warum habe Parisi Kollegen in ihrer Anwaltskanzlei erzählt, dass es in ihrer Besprechung um Fragen des Sorgerechts gehen sollte? Erwarte Carol unter diesen Umständen, dass er, Juhle, glaube, Mrs Manion und Staci, Palmer und Parisi wären nicht schon längst in Verhandlungen eingetreten über das Kind, auf das beide Parteien einen Anspruch erhoben? Und doch stritt sie alles ab. Mit zunehmender Ruhe und wachsendem Hochmut. Während das Sparring sich fortsetzte, spürte Juhle, wie die Luft zwischen ihnen dick und faulig wurde. Obwohl seine Einsicht in die Vorgänge und ihren Hintergrund sie zu schockieren schien, wurde sie immer gelassener, je weiter die Befragung voranschritt. Schließlich kam Juhle auf den Telefonanruf zu sprechen. »Mrs Manion. Sie haben vor nicht einmal zwei Stunden mit einem unserer Zeugen gesprochen und dabei nicht bestrit 299 ten, Ms Parisi am Mittwochnachmittag vom Saint-Francis-Hotel aus angerufen zu haben, um die Verabredung in ihr Büro in der Stadt zu verlegen.« Die Vorhaltung - und mit ihr die Erkenntnis, dass Juhle offensichtlich mit der jungen Frau gesprochen hatte, die ihr im Zelt in Meadowood über den Weg gelaufen war - zeigte tatsächlich Wirkung. Die Fassade bekam Risse, bröckelte, doch sie hielt. »Das ist einfach nicht wahr, Inspector. Ich bin überhaupt nicht dort gewesen.« »Unserem Zeugen haben Sie etwas anderes erzählt.« »Das ist nicht wahr. Entweder täuscht sie sich, oder sie lügt.« Juhle hatte aufgepasst. »Woher wissen Sie, dass es sich um eine Frau handelt?«
»Das weiß ich im Grunde nicht, Inspector. Es muss ja wohl entweder ein Mann oder eine Frau sein, oder? Ich habe einfach auf eine Frau getippt. Haben Sie weitere Zeugen, die mich effektiv im Saint Francis gesehen haben?« »Die werden wir finden.« »Das möchte ich bezweifeln, Inspector. Weil ich nämlich gar nicht da war. Ich war zu Hause und habe auf Ms Parisi gewartet.« Schließlich konnte Ward nicht länger an sich halten. »Sind wir jetzt nicht langsam mal am Ende? Wenn Sie bis jetzt nicht das bekommen haben, weswegen Sie hergekommen sind, dann werden Sie es vermutlich heute auch nicht mehr zutage fördern, meinen Sie nicht? Offenbar hat meine Frau eine zufällige Verbindung zu diesem ganzen tragischen Geschehen, aber anzunehmen, wie Sie es anscheinend tun, dass sie darin auch nur die geringste aktive Rolle gespielt haben könnte, ist vollkommen unsinnig.« Ein Teil von Hunts Plan war es gewesen, Carol Manion durch Juhle zu verstehen zu geben, dass ihr Spiel aufgeflo 300 gen war. Die Wahrheit war bekannt. Man wusste, was sie getan hatte. So viel hatte Juhle jedenfalls erreicht. Aber er wollte nicht darauf verzichten, zumindest den Versuch unternommen zu haben, sie zu einem Geständnis zu bewegen. Er ging in die Hocke, um auf Augenhöhe mit ihr zu sprechen, stützte die Ellbogen auf seine Schenkel und verschränkte die Finger. Was er sagte, kam von Herzen. »Mrs Manion«, begann er. »Sie sind eine intelligente Frau. Ich glaube, Sie müssten intuitiv begreifen, dass diese Sache Sie über kurz oder lang zerstören wird. Sie sind doch kein schlechter Mensch. Sie sind durchgedreht, als Sie mit einer unerwarteten Bedrohung für die Zukunft Ihres Sohnes und für Ihr Zusammenleben konfrontiert wurden, und haben dann versucht, das, was Sie getan haben, zu vertuschen. Aber Sie sind nicht die Person, die damit leben kann, mit dem Wissen darum, unschuldige Menschen getötet zu haben. Sie möchten auch nicht, dass Ihr Sohn darunter leiden muss, wie diese Tat Sie verändern wird. Und Sie wissen, dass es so kommen wird. Es hat bereits angefangen.« Sie schien tatsächlich über das nachzudenken, was er gesagt hatte. Scharf einatmend, schürzte sie die Lippen und blinzelte einige Male kurz hintereinander. Schließlich neigte sie den Kopf zur Seite und legte die offene Hand über ihren Mund. Sie drückte den Rücken durch. »Todd ist mein Sohn, und er ist unschuldig. Er liebt mich.« Und Juhle wusste, dass er verloren hatte. »Ich bin seine Mutter«, fuhr sie fort. »Nie werde ich zulassen, dass ihm ein Leid geschieht. Ich werde ihn beschützen. Ich bin seine Mutter«, wiederholte sie.
Juhle, angewidert und ausgelaugt, hievte sich zurück in den Stand. »Tatsächlich«, sagte er, »ist nicht mal das wahr.« 301
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Hunts Basislager befand sich in einer Nebenstraße, die etwas nördlich der Manion'schen Auffahrt vom Silverado Trail abzweigte und sich den Westhang gegenüber vom Chateau emporwand. Der Ort - Mickey hatte ihn ausfindig gemacht und war einige Male in weiblicher Begleitung hergekommen, um mit dieser ungestört zu sein, - eignete sich für seine Zwecke deshalb, weil hier eine Ausweichstelle mit einem Bruch in der Topografie zusammenfiel und einen unverstellten Blick und, wichtiger noch, Walkie-Talkie-Kontakt hinüber zum Tal, dem Vorgebirge und den kalifornischen Eichen gewährte, die zwischen den Felsblöcken genau auf der Hügelkuppe hinter dem Manion'schen Hausdach wuchsen. Nach Luftlinie gemessen, betrug die Entfernung zum Haupthaus gerade mal einen dreiviertel Kilometer. Hunts Cooper und Mickeys Camaro, beide strahlend grün und extrem auffällig auf der Straße, parkten am Rand des Weges. Jason, von Meadowood zurückgekehrt, hatte seinen lila PT Cruiser ein ganzes Stück weiter oben auf der Straße abgestellt, damit die Napa-County-Polizei, so sie denn zufällig aufkreuzen sollte, nicht misstrauisch werden würde. Amy und Jason, Hunt und Mickey standen dicht beieinander im Schatten. Juhle hielt sich seit etwa einer halben Stunde im Haus auf der anderen Seite auf, und währenddessen war der Smalltalk immer schaler geworden, bis er schließlich ganz versiegte. Plötzlich aber sagte Mickey, der das Chateau die ganze Zeit über im Auge behalten hatte: »Achtung.« Hunt hatte sein Fernglas bereit und beobachtete, wie Juhle aus der Eingangstür heraustrat. Schon seine Körpersprache 301 verriet, was gelaufen war, und die Tatsache, dass ihn niemand nach draußen begleitete, tat ein Übriges. Juhle ging zu seinem Auto und stieg ein, Hunt setzte das Fernglas ab, löste sein Telefon vom Gürtel und reichte es an Wu weiter. »Bist du bereit?« Sie stand schon die ganze Zeit in den Startlöchern. Obwohl ihre Aufgabe recht simpel und unkompliziert war, hatte sie alles eingehend mit Hunt besprochen, und nun nahm sie das Telefon ohne Zögern entgegen. Eine Frage aber hatte sie noch. »Bist du sicher, dass du nicht warten willst, bis Devin hier ist?« »Bin ich«, sagte Hunt. »Egal, wie es im Einzelnen abgelaufen ist, du kannst dich darauf verlassen, dass Dev ihr die Botschaft verklickert hat, also setzen
wir jetzt gleich nach, solange es ihr noch in den Knochen steckt, bevor sie es verdauen kann. Und ich bin mir verdammt sicher, dass Devin das, was jetzt kommt, nicht miterleben will. Er wird nicht mal davon hören wollen.« Mickey sagte: »Der Typ ist so voll mit dabei, Wyatt, er folgt deinen Vorgaben, ^a sollte er es verkraften können.« Hunt zuckte die Achseln. »Tja, es hat halt mit seinem Job zu tun. Alles, was er bisher getan hat, war streng nach Handbuch, wo steht, was er darf und was nicht. Wie wir alle wissen, ist er an bestimmte rechtliche Verfahrensweisen gebunden, um die ich mir glücklicherweise keinen Kopf zu machen brauche.« »Ja, aber nur so der Ordnung halber möchte ich daran erinnern, dass Amy und ich auch Beamte des Gerichtshofes sind. Als ich zuletzt nachgeguckt hab, war ich sogar Staatsanwalt.« Jason war inzwischen hochgradig nervös. »Also, Wyatts Vorschlag, dass wir über die Sache nicht reden wol 302 len, daran sollten dann wirklich alle immer denken, wenn alles vorbei ist.« Amy legte ihm zur Beruhigung eine Hand auf den Arm. »Versteht sich. Ich glaube, das haben alle kapiert, Jason. Bringen wir das hier hinter uns. Wyatt, wie lautet die Nummer?« Hunt sagte sie ihr vor, und sie gab sie ein, während die drei Männer in unterschiedlichen Versionen von angespannter Haltung um sie herumstanden. Hunt mit verschränkten Armen, die Kaumuskeln in Hochbetrieb. Mickey von einem Fuß auf den anderen tretend. Jason mit den Händen in den Hosentaschen, das Gesicht gerötet, die dunklen Augen aber verschleiert, fast trübselig; er kaute an der Innenseite seiner Unterlippe. Keiner sagte ein Wort. Amy tat ganz cool, aber ihre Augen schössen, während sie auf das erste Klingeln wartete, zwischen den Bäumen, dem Himmel und den Männern hin und her und verrieten einiges über ihren Gemütszustand. Ein Windstoß blies ihr einige Haare ins Gesicht, und fast wütend strich sie sie wieder weg. Plötzlich, mit einem hörbaren Seufzer der Erleichterung, nickte sie. »Es klingelt«, flüsterte sie. Dann nickte sie noch einmal. Jemand hatte abgenommen. »Kann ich bitte mit Carol Manion sprechen?« Wus Augen waren voller Konzentration geschlossen. »Ja, das verstehe ich«, sagte sie, »aber es handelt sich um einen Notfall. Ich muss persönlich mit ihr sprechen.« Eine Pause. »Das wird nicht gehen. Würden Sie bitte fragen? Es ist wirklich sehr dringend. Ja.« Und dann schließlich der Coup: »Sagen Sie ihr, Staci Rosalier möchte sie sprechen.« Wus ums Handy geschlungene Fingerknöchel waren weiß. Sie öffnete die Augen, begegnete Hunts stählernem 302 Blick und nickte erneut, kaum wahrnehmbar. Carol kam ans Telefon.
Als sie sich meldete, war nichts von der kultivierten Altstimme zu hören, die Wu bei der Auktionsveranstaltung aufgefallen war. Alles, was Carol Manion heute erlebt hatte, zuerst mit Amy und dann offenbar mit Juhle, hatte im Verein dafür gesorgt, dass die Fassade der Beherrschtheit und Souveränität ins Bröckeln geriet. Ihre Stimme ritt auf einer Woge der Furcht, die jetzt brach und in ihrer Kehle toste. »Wer ist da?« Hunt hatte Amy geraten, gleich zur Sache zu kommen, ihr gar nicht erst die Gelegenheit zu geben, aufzulegen. Wu sprach gemessen, gleichmäßig. »Hier ist Staci Rosalier, Carol. Staci Keilly. Todds Mutter.« »Wer ist da? Ist da wieder die Polizei? Das ist die reine Schikane!« »Nicht die Polizei, Carol. Sie wissen, dass es nicht die Polizei ist.« »Wer dann? Was wollen Sie?« »Ich will meinen S^hn zurück. Aber dafür ist es jetzt zu spät. Ich werde mich mit Andrea Parisi begnügen.« »Ich leg jetzt auf.« »Ich lasse Sie in Ruhe, wenn Sie mich zu Andrea führen.« »Ich weiß nicht, was Sie da reden.« »Doch, Carol. Mus*s ich Ihnen erst drohen? Ich bin nicht unbedingt scharf darauf, mir Todd zu schnappen und Sie zum Austausch zu zwingen, aber ich werde es tun, wenn ich muss.« Wu konnte jetzt die reine Panik durch die Leitung hören. Carol schrie durchs ganze Haus: »Todd! Todd! Wo bist du? Komm hierher. Ich will dich sehen. Sofortl« Ihre Stimme klang schrill, fast kreischend. 303 Andere Laute ertönten im Hintergrund. Männliche. Besorgte. Jetzt, als sie wieder ins Telefon sprach, zog Carols Furcht sich zurück, vibrierte aber unverkennbar in ihrer Stimme. »Er ist hier. Es geht ihm gut.« »Das weiß ich. Ich würde doch meinem eigenen Sohn nichts zuleide tun. Aber ich würde ihn Ihnen wegnehmen.« »Sagen Sie mir, wer Sie sind!« »Das hab ich Ihnen schon gesagt. Wo ist Andrea?« »Ich sagte, ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht.« »Na schön«, sagte Wu. »Ich habe Sie gewarnt. Blicken Sie aus dem Fenster nach hinten raus. In genau fünf Minuten werde ich noch mal anrufen.« Im an die Chateauküche angrenzenden Esszimmer stand Carol mit dem Telefon in der Hand, schwer atmend, das Gesicht kreidebleich. Ward war bei den ersten Schreien herbeigeeilt, gefolgt von Todd, dem Wachmann, der Juhle empfangen hatte, und Todds Kindermädchen. Alle vier drückten sich jetzt an der Tür herum. Carol starrte das Telefon an, als frage sie sich, wo es hergekommen sei, legte dann den Hörer auf die Gabel und wandte sich den anderen zu. »Oh, Todd«, sagte sie und ging mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. »Mein Kind. Geht's dir gut? Sag mir, dass es dir gut geht.«
»Es geht mir gut, Mama. Ganz normal. Und dir?« Sie beugte sich zu ihm hinunter, umarmte ihn fest. »Mir geht's auch gut«, sagte sie, aber ihre Stimme brach. Ihre Schultern bebten, und sie versuchte, ein verzweifeltes Schluchzen zu unterdrücken. »Carol.« Ward hockte sich neben sie. »Was ist hier los? Komm, sag es mir.« 304 Doch anstatt das zu tun, sammelte sie sich, stand auf und wandte sich an den Wachmann. »Ist heute noch jemand außer Inspector Juhle zum Haus gekommen?« »Nein, Ma'am.« »Sind Sie sicher?« Sie fauchte ihn an. »Sehen Sie nicht Todd an! Antworten Sie mir! War jemand hier?« Geschockt von der Heftigkeit des Ausbruchs, wich der Wachmann einen Schritt zurück. »Nein, Ma'am. Ganz sicher. Niemand.« Ward streckte die Hand aus. »Carol...« Sie hielt ihrem Mann warnend einen Finger entgegen, fasste weiter den Wachmann ins Auge. »Als wir kamen, stand er draußen. Juhle, meine ich. War er dort schon lange ganz allein?« »Nein, Ma'am. Vielleicht eine, höchstens zwei Minuten, bevor Sie kamen. Und ich hab ihn die ganze Zeit im Auge behalten.« »Was hat er gemacht?« »Er hat erst in seinem Auto gesessen, eine Minute, länger nicht, dann ist er ausgestiegen und rumgewandert, dorthin, wo die Auffahrt abfällig« »Und was hat er da gemacht?« »Es sah aus, als würde er einfach die Aussicht bewundern.« »Und das ist alles? Er ist nicht ums Haus rumgegangen?« »Nein, Ma'am. Dazu hätte er gar keine Zeit gehabt. Sie und Mr Manion sind eine Minute später eingetroffen. Fast sofort im Grunde.« Sie wirbelte herum, sprach das Kindermädchen an. »Und Sie sind den ganzen Tag bei Todd gewesen?« »Si, señora. Todo el dia.« Sie wandte sich an ihren Sohn. »Todd? Ist das wahr? Den ganzen Tag?« 304 Der Junge, vom Auftreten seiner Mutter verängstigt, rückte einen Schritt näher zu dem Kindermädchen. »Ma-ma-a.« Ward kam herbei und legte einen Arm um seine Frau, gab den anderen einen ungeduldigen Wink, wollte mit ihr allein sein. Er führte sie einige Schritte ins Wohnzimmer, dessen riesige, nach Westen gehende Fenster weiße, bis zum Boden reichende Vorhänge hatten, die zum Schutz gegen die Nachmittagssonne zugezogen waren. »Wer war das am Telefon, dass du so erregt bist? War das schon wieder diese Polizeisache?« Er streckte die Hand nach ihr aus, als sie weiterging. »Carol? Bitte ...«
Sie hatte nach den Vorhängen gegriffen, dort, wo sie sich in der Mitte der Fensterfront trafen, und riss sie jetzt so heftig auf, dass einer von ihnen ein Stück weit aus der Laufschiene gerissen wurde. Dann wich sie zurück, als sei sie gestochen worden, schlug die Hände vor den Mund und wimmerte. Jemand hatte mit silberner Farbe etwas auf das Fensterglas gesprüht, in Großbuchstaben und spiegelverkehrt, damit man es von innen lesen konnte: T-O-D-D. »Hallo.« Mrs Manions Stimme war kaum zu hören durchs Handy. Sie war offensichtlich in Panik, beherrschte sich aber notdürftig. »Unterbrechen Sie mich nicht. Sie können die anderen wegschicken«, sagte Wu, exakt die sorgsam eingeübten Worte gebrauchend, die sie abgesprochen hatten. »Es braucht sonst niemand etwas damit zu tun zu haben. Es geht jetzt um Andrea, nicht um Sie. Wir werden Sie beobachten.« 305 Amy war blass geworden, ihre Hand zitterte, als sie Hunt das Handy zurückgab. »Gott!«, sagte sie, heftig atmend. »O mein Gott.« Jason legte seinen Arm um sie. »Alles in Ordnung?« Sie schüttelte den Kopf. Atmete weiter. »Scheiße. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Das war schrecklich.« »Es war spitzenmäßig«, sagte Mick. »Ich glaube, mir wird schlecht.« »Hier, komm.« Jason ließ sie hinknien, kauerte, die Arme um sie gelegt, neben ihr. Hunt ließ sich auf ein Knie nieder, hob mit einem Finger ihr Kinn. »Das war perfekt, Arnes«, sagte er. »Gut gemacht.« Sie nickte, immer noch schwer atmend, und Jason sah Hunt an. »Was machen wir jetzt?«, fragte er. »Jetzt werdet ihr - Amy und Jason - verschwinden. Ihr habt beide genug getan. Wenn ihr hier bei irgendeiner Aktion erwischt werdet, seid ihr beruflich kompromittiert, wenn nicht ruiniert. Ihr habt zu viel zu verlieren.« »Als würde das für euch nicht gelten«, sagte Jason. Hunt tat den Einwand mit einer Handbewegung ab. »Ich hab schon öfter den Beruf gewechselt. Es hat mich nicht umgebracht. Ich kann jederzeit was anderes machen. Und Devin ist ein großer Junge, der hier ist, weil er es so will. Alle anderen - Mick, Tammy, Craig - stehen auf der Lohnliste. Ich bin sicher, dass eine ordentliche Prämie für sie abfallen wird.« Mick merkte auf. »Wie ordentlich?«, fragte er. »Riesig«, sagte Hunt. »Beispiellos.« Er wandte sich wieder an Amy und Jason. »Aber ihr beide seid Freiwillige, die großartige Arbeit geleistet haben, und jetzt müsst ihr von hier verschwinden und nach Hause fahren. Das ist mein Ernst.« 305 »Und was werdet ihr jetzt machen?«, fragte Amy. Hunt sagte: »Der Rest von uns, wir treiben das Spiel hier noch ein bisschen weiter.«
Juhle und Hunt hatten seit Amys Anruf bei Carol drei Stunden gemeinsam im Basislager verbracht. Mickey saß wieder in seinem Auto, an der Stelle parkend, wo der Weg in den Silverado Trail mündete, bereit, den Manions zu folgen, falls sie alle, Carol eingeschlossen, mit dem Auto von ihrem Berg herunterkamen und irgendeine Art Fluchtversuch starteten. Juhle beendete das »Es wird heute spät werden«-Telefonat mit seiner Frau und ging zu Hunt, der halb auf der Motorhaube seines Cooper saß, während er das Fernglas auf einem Stativ vor sich stehen hatte. »Wie lange willst du ihnen geben?«, fragte er. Hunt blickte auf seine Uhr, auf die untergehende Sonne, in Richtung des Chateaus und schließlich zu seinem Freund. »So lange wie nötig«, sagte er. »Wenn du willst, fahr nach Hause. Ich ruf dich an, wenn wir Andrea gefunden haben. Du kannst dann rauskommen und berühmt werden.« »Du glaubst immer noch, dass es funktionieren wird?« »Ich weiß es nicht.« »Dauert jedenfalls ganz schön lange.« »Damit hab ich gerechnet. Sie hat einige Entscheidungen zu treffen. Sie könnte sich Ward anvertrauen - jedenfalls so weit, dass er sich einbinden lässt. Oder sie überzeugt ihn und alle anderen im Haus, dass sie allein mit allem klarkommt, dass sie keinen Zusammenbruch hat. Falls sie sich für Letzteres entscheidet, muss sie die anderen loswerden, muss sie zum Essen ins Restaurant schicken und sagen, sie hätte Kopfschmerzen oder was. Egal, was sie macht, es braucht Zeit.« 306 »Wenn bei mir jemand den Namen von einem meiner Kinder ans Fenster schreibt, dann rufe ich die Bullen.« »Ich weiß, aber sie wird das nicht tun.« »Was ist, wenn sie zwanzig von ihren privaten Wachleuten ruft, oder sogar Shiu? Wäre das nicht eine tolle Bescherung?« »Wenn, wenn, wenn ...« Hunt blickte zum Haus hinüber. Es hatte dort, drinnen und draußen, keinerlei Aktivitäten gegeben seit Wus Anrufen. »Sie wendet sich nicht an Polizeiangehörige, Dev, egal, was für welche. Wenn, dann wären die längst da. Ihr seid jetzt alle ihre Feinde. Sogar Shiu. Er mag nebenbei für sie arbeiten, aber ich würde doch davon ausgehen, dass er in erster Linie dein Partner ist, ein Kriminalbeamter, der gerade einige Morde untersucht, die, nebenbei gesagt, höchstwahrscheinlich sie begangen hat.« »Er könnte zufällig vorbeikommen, um noch eine Extraschicht einzulegen.« » Unwahrscheinlich.« »Und du glaubst auch nicht, dass Ward die Polizei ruft?« Hunt schüttelte den Kopf. »Er würde es vielleicht gern tun, aber sie wird es ihm ausreden. Es ist ihr Problem, und sie hat alle Motivation der Welt. Ich
hoffe, ich hab ihr klar machen können, dass der einzige Ausweg der ist, uns Andrea auszuliefern. Das ist alles, was wir wollen.« »Nicht ganz«, sagte Juhle. »Ich zum Beispiel, ich möchte ihr Handschellen anlegen.« »Den Teil habe ich weggelassen. Und wenn du nicht hier wärst, würde es mir darum auch nicht gehen, wie ich schon mehrfach gesagt habe.« »Du würdest sie mit den Morden davonkommen lassen?«, fragte Juhle. 307 Hunt zuckte die Achseln. »Ich will Andrea.« Er sah seinen Freund ausdruckslos an. Die Diskussion war vorbei. Er nahm sein Walkie-Talkie zur Hand, drückte auf den Knopf. »Bei euch noch alles in Ordnung?« Chiurcos Stimme rauschte ihm entgegen. »Affirmativo, mon capitaine, aber nichts mehr los seit den Vorhängen. Außer, dass wir eine Klapperschlange gesehen haben. Ein Riesenteil.« »Wie wär's, wenn ihr sie einfangt und sie im Haus aussetzt? Das müsste sie eigentlich rausscheuchen.« Tamaras Stimme wehte aus dem Lautsprecher. »Auf keinen Fall, Wyatt.« »Das sollte mehr oder weniger ein Witz sein, Tarn.« »Wirklich komisch«, sagte sie. »Gut. Meldet euch, wenn ihr euch einsam fühlt.« Hunt schaltete das Gerät ab, wandte sich Juhle zu. »Im Ernst, du musst nicht hier bleiben. Wir kriegen das schon hin. Außerdem ... es kann auch sein, dass nichts passiert.« Jetzt war es an Juhle, zum Chateau zu blicken, auf die Uhr zu gucken und ein bisschen unentschlossen herumzudrucksen. »Wirklich«, sagte Hunt. »Vielleicht bleibe ich einfach noch ein paar Minuten. Lass es drauf ankommen.« Bis zum längsten Tag des Jahres waren es keine drei Wochen mehr, aber die Sonne kam bereits ab sechs Uhr nicht mehr bis in die tieferen Lagen des Tals. Um Viertel vor sieben war der Schatten der Coast Range bis zum Basislager gewandert, und Juhle zog sich das Jackett über, das er in San Francisco den ganzen Tag trug. 307 »Na, bitte«, sagte Hunt. Gleich stand Juhle neben ihm und spähte in die Schatten hinein, während Hunt von seiner Motorhaube glitt, zum Walkie-Talkie griff und seine Truppe verständigte. Mickey bekam die Mitteilung, dass Leute aus dem Haus gekommen seien und sich auf dem Parkplatz bewegten. Er solle schon mal den Motor anlassen und sich bereithalten. »Wie viele sind es?« »Moment.« Hunt fasste ein Bein des Stativs, um es zu stabilisieren, und brachte sich hinter dem Fernglas in Stellung. Er hatte die
Nachtsichtausrüstung im Kofferraum des Cooper, aber ganz war die Dämmerung noch nicht hereingebrochen, daher hatte er sie noch nicht zum Einsatz bringen wollen. »Ein Typ im dunklen Anzug mit einem Kind und einer Frau. Ich weiß nicht, ob es Carol ist. Kannst du sie sehen, Craig? Over.« »Nein. Das Haus versperrt uns die Sicht.« Hunt verfolgte die kleine Prozession auf ihrem Weg zu einem der Geländewagen. »Wissen wir, wie viele Personen im Haus waren? Die Manions, der Junge, der Wachmann. Sonst noch jemand?«^ »Der Junge hat ein Kindermädchen«, sagte Craig. »Wir haben sie oben durchs Fenster gesehen.« »Also fünf. Fünf Personen.« »Kann hinkommen«, sagte Mickey. Der Mann im Anzug stieg ins Auto, während der Junge und die Frau von der anderen Seite, wo Hunt sie nicht sehen konnte, auf die Rückbank kletterten. In der Abendstille hörte Hunt selbst über die Entfernung, wie der Motor ansprang. Der Wagen rollte ein Stück voran und hielt genau vor der Eingangstür, die er damit großenteils verdeckte. Hunt konnte immerhin sehen, dass die Tür sich öffnete und wieder schloss. 308 Er hatte das Gefühl, dass sich dort etwas bewegte, aber Genaueres war nicht auszumachen. »Mick«, sagte er, »sie kommen runter. Ich weiß nicht, ob alle mit eingestiegen sind, aber du fährst am besten hinterher und findest es heraus.« »Roger. Ich bin dran.« Drei Minuten später meldete Mick sich wieder. »Getönte Scheiben, Wyatt. Ich kann nicht reinsehen.« Hunt widerstand dem Impuls zu fluchen. »Na schön. In welche Richtung fahren sie?« »Nach Norden.« »Also nicht in die Stadt zurück?« »Wahrscheinlich nicht. Vielleicht zum Essen ins Tal.« »Hoffen wir's. Okay, bleib dran. Melde dich, sobald du weißt, wer alles dabei ist.« »Verstanden.« Zwanzig Minuten später schnarrte Chiurcos Stimme leise durch den Lautsprecher. »Wyatt, hörst du mich? Die Hintertür ist gerade aufgegangen.« »Bist du auf Nachtsicht?« »Klar.« Der Himmel direkt über ihnen war noch immer blau, aber inzwischen hatten die Schatten der Coast Range sich über die gesamte Landschaft gelegt, bis zu den Gipfeln hinter Hunts Aussichtspunkt. Der eigentliche Sonnenuntergang mochte keine zehn Minuten mehr auf sich warten lassen. Hunt war jetzt zu seinem »Night-Scout«-Nachtsichtfernglas übergewechselt, das ihm aber gar nichts nutzte, weil er die Rückseite des Hauses nicht einsehen konnte.
Er benötigte allerdings keinerlei optische Gerätschaft, um den Lichtstrahl sehen zu können, der über den Hügelkamm hinter dem Chateau strich, sich dann aufschwang zu den 309 Eichen und Felsblöcken, zwischen denen Tamara und Craig sich den ganzen Nachmittag über versteckt hatten. Hunt konnte keine Spuren von ihnen im Licht erkennen, ein gutes Zeichen, das hoffen ließ, dass auch sonst niemand sie sehen konnte. Er jedenfalls hoffte. »Haltet euch bedeckt«, flüsterte er. Der Lichtstrahl verschwand, allerdings nur, um nach zwanzig Sekunden vom gleichen Punkt aus wieder aufzublitzen und die gleiche Kurve wie vorher zu beschreiben. Chiurcos Stimme erklang, kaum zu hören jetzt: »Versucht, uns rauszutreiben.« »Ich höre dich. Bleibt, wo ihr seid. Könnt ihr erkennen, wer das war?« »Eine ältere Frau, würde ich sagen. Muss wohl Carol sein, hm? Jetzt ist sie wieder drinnen.« An seinem Fernglas klebend, begriff Hunt, dass er einen taktischen Fehler begangen hatte. Jetzt, da Mickey mitsamt seinem Walkie-Talkie unterwegs war, konnte er nicht mehr seinen Aussichtspunkt im Basislager verlassen und gleichzeitig die Eingangstür unter Beobachtung behalten. Irgendwo ergab sich zwangsläufig eine Lücke. Wenn sie sich ins Auto setzten, um zum Haus zu fahren, würden sie nicht wissen, ob Carol inzwischen zu irgendeinem Ort auf ihrem Grundstück ging oder fuhr. Alles hing davon ab, dass sie ihr jederzeit folgen konnten, wohin sie sie auch führen mochte, und wenn sie zwischendurch außer Sicht geriet, würden sie sie vielleicht verlieren. Er wies Juhle auf diesen Umstand hin. »Also was machen wir jetzt? Soll ich zuerst runterfahren?« »Dasselbe Problem. Keine Kommunikation«, sagte Hunt. Aber dann wurde dieses Problem plötzlich zu einem rein theoretischen. »Verdammt. Da ist sie.« Er sprach in sein 309 Walkie-Talkie. »Sie ist aus der Vordertür raus, Craig. Kannst du sie in Sicht kriegen?« »Nicht so schnell. Wir steigen jetzt runter. Kommen rechts rum, von euch aus gesehen.« »Verstanden. Macht schnell, wenn ihr könnt. Aber sie hat ihr Suchlicht und anscheinend auch irgendwas in der anderen Hand. Könnte eine Pistole sein, Craig. Passt auf.« »Ja, wir passen auf.« Neben Hunt stehend, flüsterte Juhle: »Wo will sie hin? Wenn sie zu ihrem Auto geht, müssen wir uns sputen.«
»Abwarten, Dev. Wir müssen abwarten. Wenn sie nicht ins Auto steigt, haben wir sie.« Sie konnten das Licht hinter dem Brunnen blitzen sehen. »Komm, Carol«, sagte Hunt. »Steig nicht ins Auto. Steig nicht ins Auto!« »Wir müssen da runter.« Juhle, von Dringlichkeit gepackt, riss die Beifahrertür des Cooper auf. »Wir müssen in die Puschen kommen, Wyatt. Sofort! Wir verlieren sie sonst!« Als der Lichtstrahl jetzt an dem anderen Geländewagen auf dem ChateauParkplatz vorbeihuschte, wurde Hunt klar, dass Carol nicht die Absicht hatte, Auto zu fahren. Er schnappte sich sein Stativ, warf es auf den Rücksitz und griff nach seiner Nachtsichtbrille. Er rannte zur Fahrertür, ließ Juhle die Brille halten, während er hinters Steuer schlüpfte. »Lass sie nicht fallen«, sagte er. Er ließ den Motor an, haute den Gang rein, legte eine rasante Hundertacht-zigGrad-Kehrtwendung hin und rauschte unter Staub-und Kiesgestöber davon. 310
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Von dem Augenblick an, als Hunt, nachdem er gewendet hatte, aufs Gaspedal stieg, brauchte der Cooper genau achtundsiebzig Sekunden, um zur Einfahrt Richtung Manion-Kellerei zu gelangen. Nachdem er dort abgebogen war, schaltete Hunt die Scheinwerfer aus, nahm seine Nachtsichtbrille von Juhle entgegen und setzte sie auf. Während er sich ganz allmählich an die Nachtsicht gewöhnte, fuhr er langsam und hoffentlich leise genug auf das Tor zu, das die Auffahrt versperrte. Er flüsterte in sein Walkie-Talkie: »Craig? Habt ihr sie?« »Nein. Aber da ist eine alte Scheune rechts von mir, wo es möglichweise ein Licht gegeben hat, als ich gekommen bin. Aber das ist jetzt weg.« »Wo bist du?« »Immer noch ziemlich weit oben. Ich wollte nicht, dass sie unser Geplauder hört. Ich bin an der Straße, die hinten um den Hügel führt, wo die Höhlen sind.« Hunt drehte sich zu Juhle. »Wo ist diese Scheune?«, fragte er. »Kennst du sie?« ^ »Ja. Wenn du vor den neuen Höhlen stehst, dann ist sie rechts in einer kleinen Senke. Da liegt lauter Krempel herum, überall verstreut.« Hunt sprach wieder ins Walkie-Talkie. »Craig. Wo ist Tarn?« »Noch oben mit dem Fernglas. Und ihr?« »Dev und ich sind jetzt gerade beim Tor.« »Ihr solltet euch aufteilen.« »Das haben wir vor. Ich werde Dev den Weg entlang schicken, auf dem du bist.« Hunt hatte diesen vom Basislager aus deutlich sehen können. Die unbefestigte Straße 310
wand sich um den Sockel des Vorgebirges herum und führte weiter nach oben, bis sie hinter dem Chateau verschwand. »Du kommst langsam runter. Er kommt rauf, dir entgegen. Trefft euch hinter der Scheune, und wartet dort. Wenn sie rauskommt, lasst euch nicht sehen, und haltet sie nicht auf. Lasst sie tun, was sie halt gerade tut.« »Was ist mit dir?« »Ich gehe vorne an den Höhlen vorbei.« »Dann ist sie also in der Scheune?« »Ich schätze, das ist im Moment die Arbeitshypothese. Und jetzt müssen wir das Plaudern einstellen.« »Okay«, flüsterte Craig. »Ich bin weg.« Hunt schaltete sein Walkie-Talkie ab und legte es auf den Boden zwischen seinen Füßen. Er knipste prüfend seine kleine, aber sehr leistungsstarke Taschenlampe an und aus, wobei er das Licht mit einer Hand abschirmte, und steckte sie anschließend in seine Jackentasche. Beide Männer langten nach ihrem jeweiligen Türgriff, aber dann packte Hunt Juhle am Ärmel und hielt ihn noch zurück. »Absolut leise, Dev. Langsam aufmachen, nicht zumachen. Gehen wir's an. Und wenn es schief läuft, hau sofort ab. Du bist nie hier gewesen.« Hunt ging um sein Auto herum und folgte Juhle in gebückter Haltung die ersten zwanzig Meter, bis er zu dem Pfad kam, der unten vom Verkostungsraum nach links hinauf zu den neuen Höhlen führte. Sobald er die gepflasterte Straße verließ, musste er zur Kenntnis nehmen, dass der Kies unter seinen Füßen laut knirschte und jeder Schritt in die Stille der Nacht hinausdröhnte. Er musste langsam gehen, fast kriechen, jeder Schritt dauerte eine Ewigkeit. Nachdem er den ersten Anstieg hin 311 ter sich hatte, kam er auf das relativ offene Gelände vor dem Eingang zu den Höhlen. Das Personal hatte die großen Türen über Nacht zugeschlossen, aber Hunt machte sicherheitshalber bei jeder einzelnen die Probe und stellte fest, dass sie allesamt äußerst stabil waren und sich keinen Millimeter rührten. Als er am Eingang zur vierten Höhle vorbei war, schlug er sich auf die andere Seite des Weges, um einen günstigeren Blickwinkel auf die die Scheune umschließende Senke zu bekommen. Juhle hatte Recht gehabt. Das ganze Umfeld war von Werkzeug und Geräten übersät. Ohne die Nachtsichtgläser wäre es schlichtweg unmöglich gewesen, zur Scheune zu kommen, geschweige denn hinein, ohne einen Höllenspektakel zu veranstalten. Doch selbst mit der Sehhilfe würde Hunt sich seinen Weg zentimeterweise bahnen müssen. In dem unheimlichen grünen Licht machte er einen Schritt vorwärts und dann noch einen, wobei er versuchte, ein Auge auf die Hindernisse auf dem Weg zu richten und mit dem anderen die Scheune im Blick zu behalten, auf
irgendwelche Anzeichen einer Lichtquelle im Innern zu achten. Nach jedem Schritt hielt er inne und lauschte. Kein Laut war zu hören. Es war ein großes, zweigeschossiges Bauwerk mit drei Außenwänden, in die Westwand des Vorgebirges hineingebaut. Er hatte es jetzt durch das Niemandsland auf der Vorderseite hindurchgeschafft und befand sich direkt vor der Scheunentür, die halb offen stand. Falls sie dahinter lauerte ... Darüber durfte er gar nicht erst nachdenken. Er lauschte und lauschte. Er zog seine Pistole. 312 Er duckte sich, trat durch die Türöffnung und wirbelte herum. Etwas bewegte sich am Rand seines Blickfeldes, und als er zurückfuhr, sah er eine große, grün schimmernde Ratte in einen Haufen Stroh huschen und verschwinden. Tief durchatmend, drehte er sich weiter, einmal ganz herum. Sechs Verschlage säumten die Seitenwand, eine teilweise offene Sattelkammer befand sich in der Ecke neben der Hintertür. Und dann sah er es. In der Vorgebirgswand war eine Tür, die offenbar zu einer weiteren Höhle führte. Natürlich, dachte er. Wieso war er darauf nicht gekommen ? Wenn es neue Höhlen gab, dann musste es logischerweise auch alte Höhlen gegeben haben. Oder zumindest eine alte Höhle, aufgegeben, verlassen, geschlossen. Er ging hinüber zu der Tür, die aber nicht verschlossen war wie all die anderen, sondern einen Spalt offen stand. Ein kalter Lufthauch drang von innen heraus, und Hunt zog die massive Tür - sie war mindestens zehn Zentimter dick - ein bisschen weiter zu sich heran. Er trat hinein. Selbst mit der Nachtsichtbrille war es schwer, irgendetwas auszumachen - die Gläser gaben kein eigenes Licht ab, sondern verstärkten lediglich das Licht, das in der Umgebung vorhanden war, und hier in der Höhle gab es kaum etwas zu verstärken. Er legte eine Hand an die Wand und machte einen vorsichtigen, leisen Schritt, dann noch einen. Nach ungefähr dreißig Schritten machte die Höhle eine leichte Biegung nach links, dann sogleich wieder scharf nach rechts. Er musste einige alte Weinfässer passieren, die längs an der Höhlenwand lagen. Hunt schob sich immer weiter vorwärts, bis es nicht mehr weiterging. 312 Die Nachtsichtbrille war jetzt vollkommen nutzlos geworden. Hier gab es überhaupt kein Licht mehr, das zu verstärken gewesen wäre. Hunt schob sich die Brille in die Stirn, schaltete die Taschenlampe an und stellte überrascht fest, dass es eine weitere, offenbar in die Steinwände der Höhle eingelassene Tür war, die ihm den Weg versperrte. Hinter ihm, in der weiten, hallenden Dunkelheit, ertönte plötzlich, an die Wände der Höhle geworfen, ein
unverkennbares Quietschen. Er hatte kaum Gelegenheit, sich umzudrehen, als auf das Quietschen ein gedämpfter und Furcht erregender Knall folgte. Es konnte keinen Zweifel geben, worum es sich handelte - die Tür zur Höhle war zugeworfen worden. Zwar war es nicht laut, aber es war doch das erste Geräusch, das Andrea Parisi gehört hatte, seit die schwere Tür vor wer weiß wie viel Tagen hinter ihr zugefallen war. Sie lag mit dem Rücken auf dem Steinboden, gleich hinter der Tür -ihre Seite drückte unmittelbar dagegen. Sie war nahezu gelähmt von Hunger und Durst, und zuerst hielt sie es für möglich, dass sie sich das Geräusch in dem Zustand, in dem sie sich befand, nur eingebildet hätte. Soweit sie überhaupt noch denken konnte, war sie zu der Auffassung gelangt, dass sie in Wirklichkeit gar nicht mehr da sei. Nichts von alldem war wirklich, und selbst wenn es das doch war, konnte es nicht mehr lange weitergehen. Vielleicht war sie ja schon tot. Aber da war eindeutig ein Geräusch gewesen. Nah genug, dass sie es hören konnte. Sie versuchte sich auf die Seite zu drehen, zur Tür hin, um zu rufen, aber ihre Muskeln gehorchten ihr nicht, verweigerten jede Bewegung, und ihre Kehle war so trocken, dass sie ihr nicht den geringsten Laut abringen konnte. 313 Aber wenn es ein Geräusch gegeben hatte, dann hieß das, dass da draußen vielleicht jemand war. Sie könnte doch noch gerettet werden, könnte doch noch ein Leben vor sich haben. Sie musste es noch einmal probieren. Sie versuchte sich zu konzentrieren, mühte sich, Luft in ihre trockene und leere Brust einzusaugen. Der Laut, der sich ihr diesmal entrang, hatte keine Konturen. Keine Worte. Ein rudimentäres Stöhnen, das fast zugleich mit seinem Ertönen wieder verflog in dem kalten Grab und sie erschöpft, mit brennender Kehle, zurückließ. Und dennoch sammelte sie noch einmal die allerletzten Reserven, die sie aufbieten konnte, und schleuderte es erneut hinaus in die Dunkelheit, die zu ihrer Welt und zu ihrer Hölle geworden war. Und da war es wieder! Ohne Frage, ein Geräusch drang durch die Tür, und jemand klopfte dagegen. Und ihr Name! Andrea. Vom Grund eines tiefen Brunnens herauf rief jemand ihren Namen. Hunt hatte keine Zeit, sich dem Schrecken hinzugeben, der ihn zu überwältigen drohte. Schließlich, so sagte er sich, waren Craig, Juhle und Tamara in der Nähe, gleich draußen auf dem Grundstück. Allerdings warteten sie alle auf weitere Anweisungen von ihm und würden sich vermutlich vorerst nicht rühren, nachdem er ihnen ausdrücklich gesagt hatte,
sie sollten Carol unbehelligt lassen und darauf warten, dass sie sie zu Andrea führe. Was sie ja auch getan hatte. Selbst Juhle, machte er sich klar, würde zu diesem Zeitpunkt nicht geneigt sein, etwas zu unternehmen. Er wusste 314 ja nicht, dass Andrea hinter der zweiten Tür in dieser Höhle eingesperrt war nur Hunt wusste das -, und ohne dieses Wissen hatte Juhle genauso wenig Grund, Carol Manion zu verhaften, wie bisher. Gar nicht zu reden von der Tatsache, dass Juhle dadurch, dass er ihren Grund und Boden heimlich, und also unrechtmäßig, betreten hatte, einigermaßen die Hände gebunden waren. Was er da machte, war schlicht und einfach Hausfriedensbruch. Falls irgendjemand ihn mit den vergleichsweise unorthodoxen, um nicht zu sagen: illegalen Elementen von Hunts Plan in Verbindung brachte, würde ihn das nicht nur diesen Fall, sondern auch seinen kostbaren Job kosten. Hunt hatte sich bis zu der Tür am innerhalb der Scheune liegenden Höhleneingang zurückbegeben, um sich davon zu überzeugen, dass er das gehörte Geräusch richtig interpretiert hatte. Jawohl, die Tür nach draußen war inzwischen zu. Fest verschlossen, nicht zu bewegen. Aber dann war er wieder zurückgekehrt und hatte durch jene zweite Tür Andreas erstickten Schrei gehört. Auf die unnachgiebige Tür einhämmernd, rief er laut, um ihr zu antworten, aber seine Stimme schien von ihrem eigenen Echo verschluckt zu werden. Und nach dem einen Schrei: nichts mehr. Noch einmal ließ er den Lichtkegel der Taschenlampe über das Holz der Tür streichen. Die Mattheit des Geräusches von der anderen Seite konnte nur bedeuten, dass die Tür extrem dick war. Sie war außerdem umrahmt von schweren Balken, die ihrerseits in fugenlosen, mit der Höhlenwand verbundenen Beton gesetzt waren. Hunt sank zu Boden und hämmerte immer wieder gegen die Tür, aber das dabei erzeugte Geräusch trug überhaupt nicht. Es war, als würde auch die Tür selbst aus reinem Fels 314 bestehen. »Andrea!«, rief er wieder. »Andrea, kannst du mich hören?« Ohrenbetäubende Stille. »Wir holen dich da raus«, flüsterte er. Die bloßen Worte schienen wie Strom durch ihn hindurchzufahren. Er sprang auf und hielt eine Hand über den Kopf, um zu prüfen, ob sich die Luft bewegte. Als er in der Scheune vor dem Höhleneingang gestanden hatte, war ein deutlicher Luftzug von innen zu spüren gewesen. Das konnte nur heißen, dass Luft von außen in die Höhle eindrang, durch einen anderen Einlass. Wieder versuchte er sich an der Tür zum hinteren Teil der Höhle, wo Andrea eingesperrt war, doch erneut konnte er sie nicht von der Stelle bewegen. Als
er die Ränder ableuchtete, stellte er fest, dass sie fast, wenn nicht völlig, hermetisch schloss. Keine Luft kam hindurch, oder allenfalls sehr wenig - in keinem Fall genug, um irgendeine Art Zug zu verursachen. Das war keine üble Erkenntnis. Es folgte daraus, dass der Luftstrom, dessen Bewegung er am Zugang zur Höhle gespürt hatte, von irgendwo in dem Raum, in dem er sich befand, ausgehen musste. Hunt bewegte sich zum vorderen Ende der Höhle hin, leuchtete die Wände und die Decke ab, bemühte sich, keinen Quadratzentimeter Fläche zu übergehen. Da die Verbindungstür zur Scheune geschlossen war, gab es jetzt auch keinen Zug mehr. Er versuchte sich zu erinnern, ob er auf dem Weg hinein, als die Vordertür noch offen gewesen war, die Quelle des Luftzugs gefühlt hatte, aber zu dem Zeitpunkt hatte er sich auschließlich darauf konzentriert, was vor ihm lag, wo er seine Füße hinsetzen konnte, und auf die Frage, wer ihm hinter der Tür auflauern mochte. 315 Dagegen war die Frage, woher der Windzug kommen mochte, nie bis in sein Bewusstsein vorgedrungen. Dort, wo die Höhle, zum Eingang hin, eine scharfe Kurve nach links machte, bemerkte er eine Spalte oben im Fels, wo dieser in die Deckenwölbung überging. An der breitesten Stelle allenfalls einen knappen halben Meter hoch und von einem schmalen Ende zum anderen vielleicht anderthalb Meter lang, führte sie in die Dunkelheit. Hunt streckte die Hand hinauf, um zu prüfen, ob frische Luft hindurchkam. Aber er fühlte nichts. Von unten aus, selbst wenn er sich an die gegenüberliegende Höhlenwand stellte, konnte er nicht ausmachen, wie weit das Loch nach hinten reichte. Es mochte bis nach draußen führen, es mochte sich stetig verjüngen und irgendwo aufhören, es mochte schon nach einem Meter enden. Es war einfach nicht zu erkennen. Und zunächst war auch ungewiss, ob das überhaupt eine Rolle spielte. Selbst wenn es sich hier um eine mögliche Öffnung nach draußen handelte, dann befand sie sich seiner Schätzung nach gut einen Meter außerhalb seiner Reichweite. Es war unmöglich. Er suchte weiter entlang der Höhlenwände, an den Fässern vorbei, bis ganz zurück zur Vordertür. Auch diese Tür war lückenlos in den Kalkstein gefügt worden. Der schmale Spalt, gut drei Meter hoch in der Linkskurve der Höhle, war die einzige Möglichkeit. Es gab keinen Hinweis auf irgendeinen anderen Auslass. Er ließ sich zur Erde sinken, den Rücken gegen die Tür zur Scheune gelehnt. Er schaltete die Taschenlampe ab, sammelte sich in der Dunkelheit und versuchte sich zu konzentrieren. Und da fielen ihm die Fässer ein. 315
Er ging zurück, legte die Taschenlampe auf den Boden, löste eins der schweren Fässer aus seinem Holzgestell und rollte es unter den Spalt. Es würde nicht reichen. Auch wenn er auf das Fass kletterte, erreichte er noch nicht einmal den unteren Rand der Öffnung im Kalkstein. Es fehlten mindestens dreißig Zentimeter. Er sprang wieder vom Fass herunter, nahm seine Lampe auf und richtete ihren Strahl erneut in die Öffnung, um sich vielleicht doch ein besseres Bild davon machen zu können, wie tief sie war. Immer noch konnte er nicht weiter als ein, zwei Meter hineinsehen. Also wandte er seine Aufmerksamkeit dem unteren Rand des Loches zu. Es war zerklüftet und scharfkantig, zeichnete sich deutlich ab, schien auf natürliche Weise entstanden zu sein. Aber Hunt wusste, dass er, wenn er hochsprang und sich mit den Händen festzuklammern versuchte, mit einem bösen Sturz rechnen musste, falls das Gestein unter seinem Gewicht nachgab oder einfach zerbröckelte. Dabei konnte man sich leicht den einen oder anderen Knochen brechen, wenn nicht Schlimmeres. Aber eine andere Möglichkeit gab es nicht. Seine Nachtsichtbrille als Stütze nutzend, platzierte er die Taschenlampe so auf dem Höhlenboden, dass ihr Strahl sich auf den Spalt richtete. Dann stieg er erneut auf das Fass, nahm die Stelle in Augenschein, wo er würde hingreifen müssen, und stellte sich schon mal im Geiste die darauf folgenden Bewegungsabläufe vor - an der Wand zu hangeln, sich so weit hochzuziehen, dass er die Schultern hineinbekam, sich auf Ellbogen vorwärts zu hieven, die Füße hochzuschwingen. Immer in der Hoffnung, dass genug Platz für ihn war. Und dass der Spalt nicht an einer 316 anderen Felswand, irgendwo im Herzen des Vorgebirges, endete. Darüber nachzudenken war keine große Hilfe. Er sprang einfach. Vollkommene Finsternis. Hunt bedauerte, die Nachtsichtbrille nicht dabei zu haben. Oder die Taschenlampe. Aber er hatte ja beides benötigt, um die Spaltöffnung zu beleuchten. Er hätte, statt der kostbaren Brille, seine Pistole benützen sollen, um die Lampe zu stützen, seine ganz und gar nutzlose Pistole, die ihm jetzt, in ihr Halfter geschmiegt, ins Kreuz drückte. Er konnte nichts anderes tun, als auf dem Bauch liegend vorwärts zu kriechen, Stück für Stück, mit den Fingern voraus nach Felsnasen tastend, nachdem er sich schon zweimal den Kopf gestoßen hatte: Die Flüssigkeit, die an seiner Stirn hinunter und in die blinden Augen tropfte, schmeckte nach Blut. Auch seine Hände, das wusste er, waren aufgerissen und bluteten. Vor ihm verengte sich der Spalt und verengte sich gleich noch ein bisschen mehr. Anfangs hatte er noch genug Platz gehabt, um sich auf den Ellbogen
vorwärts zu ziehen und mit den Knien zu schieben, wie im Ausbildungslager gelernt. Nun jedoch, nach endloser Robberei, fühlte er die Wände von oben und unten näher kommen - sie drückten in den Rücken und stießen die Pistole bei fast jeder Bewegung an. Er durfte nicht einmal daran denken, sich umzudrehen, war sich auch nicht sicher, ob er, wenn er es wollte, jetzt noch würde rückwärts kriechen können. Sich voranschiebend, die Arme ausgestreckt, mit den Füßen scharrend, sah er sich in dem unnachgiebigen Felsen schließlich nahezu festgeklemmt. 317 Falls es noch enger werden würde, käme er nicht mehr vorwärts noch rückwärts. Er war schon viele, viele Minuten gekrochen, hatte sicherlich bald hundert Meter hinter sich gebracht. Falls er stecken bliebe, würde er hier sterben, würde tief im Berg begraben liegen. Den Arm nun so weit ausgestreckt, wie es ging, tastete er, immer nach oben und unten fühlend, weiter voran. Die übelste Beengung kam jetzt aber von den Seiten, schon scheuerten seine Schultern an dem Fels entlang. Sofern er sich aber hier hindurchzwängen konnte, schien es sich dahinter wieder zu weiten. Von oben nach unten ebenso wie von Seite zu Seite. Seine blutigen Finger klammerten sich an den Stein. Er versuchte, sich vorwärts zu ziehen, aber der Fels zerbröckelte unter seinen Händen. Auf der Suche nach festem Halt, um sich von hinten abstoßen zu können, grub er die Füße ein. Er zwängte seine Schultern nach vorn, gewann vielleicht zwei Zentimeter, nicht mehr. Schließlich, mit einem unmenschlichen Schrei, dergleichen er noch nie gehört hatte, schob er mit aller Kraft und zwängte sich durch den Engpass. Von irgendwo weiter vorn spürte er einen Hauch von frischer Luft. Er kroch darauf zu. Die Qualität der Dunkelheit schien sich zu wandeln. Er konzentrierte sich ganz darauf, zog und schob weiter und fühlte, wie rings um ihn der erodierte Kalkstein etwas nachgab. Er sah einen winzigen Lichtpunkt, und sofort erkannte er, was es war. Ein Stern. 317
37
Hunt wälzte sich hinaus auf ein sehr steiles, mit niedrigen Büschen und grobem Frühlingsgras übersätes Hügelstück. Der übrige Hang schien aus zerbröseltem Kalk und getrocknetem Matsch zusammengesetzt. Ein heller Halbmond war am Horizont aufgezogen. Im Licht dieses Mondes sah Hunt, etwa dreißig Meter unter ihm, eine unbefestigte Straße, die längs der Schnittstelle verlief, wo der Steilhang des Vorgebirges auf den bewirtschafteten Weinberg darunter traf. Für ihn stand außer Frage, dass dies der Weg war, den Juhle gegangen war, nachdem sie sich getrennt hatten, und
dass sich ein-, zweihundert Meter weiter Richtung Scheune der Punkt befand, wo er mit Chiurco hatte zusammentreffen sollen. Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht, wischte anschließend die Hände an den Hosen und Hemdsärmeln ab. Dann begann er mit dem Abstieg, in gebückter Haltung, wann immer möglich den Schutz der Büsche nutzend, für alle Fälle. Nach allem, was er wusste und annehmen musste, war Mrs Manion bewaffnet und als Strategin offensichtlich so kompetent, dass es ihr beinahe gelungen wäre, ihn, Hunt, aus der Gleichung des heutigen Abends herauszukürzen. Nach Amys Anrufen war ihr sicherlich klar geworden, dass sie es mit mehr als einem Gegner zu tun hatte, und womöglich hatte sie bereits den einen oder anderen seiner Mitstreiter ausgeschaltet. Es war überaus ratsam, Vorsicht walten zu lassen. Also zwang er sich, langsame und achtsame Bewegungen zu machen. Trotzdem verursachte jeder fünfte oder sechste Schritt einen kleinen Erdrutsch in dem losen Geröll, aus dem die Oberflächenschicht des Hanges bestand. Zweimal 318 kam Hunt beim Aufsetzen des Fußes ins Rutschen, und jedes Mal hörte und fühlte es sich an, als hätte er eine Lawine losgetreten. Fortan bewegte er sich möglichst von einem Busch zum nächsten, um weitere Rutschpartien zu vermeiden, und gelangte so schließlich zu dem anvisierten Weg, auf dem er nach links abbog. Er zog seine Pistole aus dem Halfter, machte sie schussfertig, und dann, immer geduckt bleibend, verfiel er in einen, wie er hoffte, einigermaßen geräuscharmen Laufschritt. Es war nicht weit - vielleicht hundert Meter den Hügel hinauf - bis zu der Kreuzung, wo Juhle und Chiurco sich treffen sollten, und er stand jetzt mitten auf dem Weg, an einem Punkt, wo eine Zufahrt abzweigte und nach links zur Scheune führte. Wie gelähmt verharrte Hunt aufrecht, sodass Juhle und Chiurco ihn hätten sehen müssen, hielt den Atem an und versuchte, über sein Herzklopfen hinweg, den Geräuschen der Nacht zu lauschen. Wo waren seine Männer? Und, auf der anderen Seite der Scheune: Wo war Tamara? Reflexhaft blickte er auf seine Uhr, obwohl sie ihm keine Auskunft geben konnte. Ihm ging auf, dass er so gut wie keine Vorstellung davon hatte, wie viel Zeit vergangen war, seit er sich von Juhle getrennt hatte - vielleicht bis zu einer Stunde. Auf keinen Fall weniger als fünfundvierzig Minuten. Wie auch immer, seine Leute waren nicht dort, wo er sie vermutet hatte oder wo sie auf ihn warten sollten. Das hieß, dass auch noch irgendetwas anderes schief gelaufen war. Oder Devin und Craig hatten nicht mehr mit ihm gerechnet und die Sache auf eigene Faust vorangetrieben. Und in diesem Fall war, der Stille nach zu urteilen, schon alles vorbei.
319 Er wandte sich zurück zur Scheune und starrte auf ihre unheilschwangeren Umrisse. Indem er sich erst zur einen, dann zur anderen Seite bewegte, versuchte er einen Blick durch die alten Rotholzbretter zu erhaschen. Gab es Stellen, wo man vielleicht durch die Wand sehen konnte? War es Einbildung, oder drang von dem Schrottplatz auf der anderen Seite ein trübes Licht herüber? Ohne die Nachtsichtbrille und ohne Taschenlampe musste er sich auf den Mond verlassen, aber als er sich der Scheune näherte, fiel der Schatten des Vorgebirges auf seinen Weg, und er befand sich wiederum im Dunkeln. Aber von hier aus konnte er aufgrund des Kontrasts erkennen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Irgendein Licht war entzündet worden, vielleicht über dem Scheunentor auf der anderen Seite. Er bewegte sich weiter vorwärts. Langsam. Leise. Dann in die Scheune hinein, an den Verschlagen vorbei, ließ die Augen sich an die Verhältnisse gewöhnen. Die Vordertür war nicht ganz geschlossen, ein dünner Streifen schwach gelben Lichts schwebte durch den Spalt. Und dann hörte er eine Männerstimme, so leise, dass er zunächst nicht bestimmen konnte, woher sie kam. Er wartete, geduldig jetzt, nicht gewillt, sich zu zeigen, bevor er nicht völlig sicher war, was dort hinten vor sich ging. Schließlich ließ er die niedrige Wand des letzten Verschlags hinter sich und überquerte das offene Niemandsland in der Mitte der Scheune, um drüben in den Schatten zu gelangen, immer noch ein ganzes Stück von der Tür entfernt. Jetzt hörte er eine Frauenstimme. Scharf und herrisch, die Worte allerdings nach wie vor undeutlich. Es war definitiv nicht Tamara, doch Hunt konnte sich auch nicht vorstellen, dass Carol Manion einen solchen Ton gegenüber Juhle anschlagen würde. Aber wer blieb dann noch übrig? 319 Er bewegte sich schräg nach links, auf die Tür zu. Leise, ganz leise. Die Pistole flach an die Seite gedrückt. Noch einen Schritt vor, und dann konnte er endlich Juhle sehen, augenscheinlich noch am Leben und sogar bei guter Gesundheit; er saß, die Arme hinter dem Rücken, auf dem Rand eines leeren Trogs mitten auf dem voll gemüllten Vorhof, neben ihm Chiurco. Große Erleichterung durchströmte Hunt, und er ließ alle Vorsicht fallen und machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu - wodurch sich ihm die ganze Szenerie auf dem Hof entfaltete. Shiu war auch da! Juhle musste denn wohl vorhin, als sie im Basislager die Zeit totgeschlagen hatten, eingeknickt sein, ihn angerufen und ihm mitgeteilt haben, dass er wohl doch mal vorbeikommen sollte. Wollte Juhle ihm also offenbar trotz allem die Chance geben, bei der Festnahme dabei zu sein? Deckte mithin seinen armseligen Partner, der anderenfalls ziemlich alt ausgesehen hätte, da
es den Anschein gehabt hätte, er habe nicht gegen die Leute vorgehen wollen, für die er ständig gut bezahlten Sicherheitsdienst leistete? Shius Anwesenheit war in Hunts Plan nicht vorgesehen gewesen, aber in dieser Nacht schien ja Einiges nicht so ganz nach Lehrbuch zu verlaufen. Außerdem war Dev nun mal unverbesserlich in seiner Anständigkeit, und falls die Tatsache, dass er Shiu gerufen hatte, ohne ihn, Hunt, zu verständigen, zum Funktionieren des Plans beitrug, dann wollte er sich nicht beschweren. Shiu stand vor einem total verrosteten alten Traktor, direkt neben Carol Manion, und er hatte seine Pistole in der Hand. Einen Augenblick, bevor Hunt durch die Tür hinaus ins Freie treten wollte, ließ ihn irgendetwas an der Anordnung 320 der Figuren zueinander abrupt innehalten. Sein Blick schoss zurück zu Juhle die Arme hinter dem Rücken. Er sah genauer hin, machte ein Glitzern von Metall aus. Himmel! Juhle trug Handschellen. Was nur heißen konnte, dass Shiu ... Shiu? »Wie heißt deine Freundin noch mal gleich?« Shiu hielt Craig Chiurco seine Pistole ins Gesicht. »Tamara.« »Ruf sie.« »Sie ist nicht hier«, sagte Chiurco. »Juhle hat was anderes gesagt.« »Ich habe mich geirrt«, sagte Juhle. »Halt den Mund, Devin. Ich rede mit deinem Freund hier.« »Juhle sagt die Wahrheit, Sir. Er hatte Unrecht. Sie ist hintenrum zurückgegangen, als er nach oben kam.« »Dann sieht es aber sehr schlecht für dich aus, fürchte ich.« Carol Manion schaltete sich ein. »Mr Shiu, bitte keine ...« »Nicht jetzt, Mrs Manion.« Shiu wandte den Blick nicht eine Sekunde von Juhle ab, aber er sprach zu Carol. »Wären Sie nicht in Panik geraten und hätten sich Parisi geschnappt, würden wir hier jetzt gar nicht stehen. Aber nein, Sie mussten mit ihr reden und rausfinden, was sie wusste, nicht wahr? Und genau dadurch ist der ganze Schlamassel entstanden. Begreifen Sie das nicht? Hätten Sie alles mir überlassen, wäre nichts von dem passiert. Erzählen Sie mir also nicht, was wir jetzt zu tun haben. Das Ganze befindet sich in der Entwicklung, und ich mach die Ansagen.« 320 »Was hat sie denn mit Parisi gemacht?«, fragte Juhle. »Ist sie tot?« »Inzwischen wahrscheinlich«, sagte Shiu. Er wandte sich wieder an Chiurco. »Ruf deine Freundin.«
Craig atmete flach und schluckte mühsam. »Ich hab doch schon gesagt, dass sie nicht hier ist.« Shiu machte einen schnellen Schritt nach vorn, visierte entlang seines Pistolenlaufes und drückte ab - ein mörderischer Knall hallte durchs Tal. Craig stieß einen erstickten Schrei aus und sank zu Boden. »Tamara!«, rief Shiu. »Das war ein Warnschuss. Den nächsten kriegt dein Freund in den Kopf. Ich will dich jetzt sofort sehen.« Mit einem Aufschrei stürzte Tamara hinter dem Chateau hervor und lief ins Licht hinein, auf die Gruppe zu. »Craig!« Shiu richtete seine Pistole rasch auf Juhle, um sicherzustellen, dass er weiterhin dessen ganze Aufmerksamkeit besaß, und wandte sich dann wieder Chiurco zu. Er trat ein Stück zurück und machte Platz, damit Tamara zu Craig gelangen konnte. Dieser rappelte sich gerade wieder auf, mit fassungslosem Gesicht, hielt eine Hand über das rechte Ohr. »Das war nicht nötig, Mr Shiu.« Carol Manion, gewohnt, Befehle zu geben, sprach in dem ihr eigenen Ton. »Sie wäre irgendwann sowieso herausgekommen.« »Für irgendwann haben wir keine Zeit, Mrs Manion. Wir brauchen sie jetzt, und sie ist jetzt da, also wollen wir meine Methode ruhig als eine erfolgreiche bezeichnen.« »Freu dich dran, solange du kannst«, sagte Juhle. »Wäre das der erste? Erfolg, meine ich?« »Aber nein, Devin. Wo du es schon erwähnst: Dass ich dich mit deinen eigenen Handschellen gefesselt habe, das würde ich glatt mit dazuzählen. Oder auch den Gedanken, dich mit deiner eigenen Pistole hier zu erschießen.« Shiu 321 schüttelte enttäuscht den Kopf. »Was denn? Keine clevere Erwiderung ? Ich weiß nicht, wieso, aber ich erwarte immer, von dir etwas Originelles zu hören, das die Situation auf den Punkt bringt. Aber langsam glaube ich, dass dir die Fantasie dafür fehlt.« »Angesichts der Quelle kann ich das nur als Kompliment auffassen. Und apropos Fantasie, was planst du denn jetzt als Nächstes ? Hast du darüber schon mal nachgedacht, du Vollidiot? Glaubst du, du würdest damit durchkommen, wenn du uns alle umlegst?« Juhle versuchte sich die aufgetretene Spannung zwischen Shiu und Carol Manion zunutze zu machen. Er wandte sich an sie. »Was hat er damit gemeint, Sie hätten sich Parisi geschnappt und sie sei wahrscheinlich inzwischen tot? Sie haben nicht ihn das erledigen lassen, so wie im Fall des Richters und Staci? Ich nehme an, Sie haben ihn dafür bezahlt, dass er die beiden umlegt.« Shiu hob wieder die Pistole. »Halt den Mund, Devin.«
Aber es war dies nicht das erste Mal, dass Juhle eine Waffe auf sich gerichtet sah. Die aktuelle Bedrohung ließ ihn so kalt, dass er sogar ein kleines Glucksen von sich gab. »Oder was ist sonst, Shiu? Sonst knallst du mich hier ab, wo ich sitze? Glaub ich kaum. Ich würde alles voll bluten, und sogar du müsstest wissen, dass das Spuren hinterlässt. Und in manchen Bezirken verfügen die meisten Kriminalbeamten sogar über die Kompetenz, solche Spuren zu erkennen.« Carol Manion verschränkte die Arme über der Brust, ihr ganzes Gesicht drückte Besorgnis aus. »Mr Shiu, er hat Recht. Wir können nicht...« »Das reicht! Ich denke nach.« Juhle nahm die Matriarchin weiter aufs Korn. »Hören Sie nur, wie die kleinen Rädchen verzweifelt versuchen, sich zu drehen«, sagte er. »Es tut weh, dabei zuzugucken, nicht 322 wahr?« Plötzlich dämmerte ihm die Wahrheit. »Parisi steckt in der Höhle, wo Sie auch Hunt eingesperrt haben.« »Ich wollte sie nicht töten«, sagte Mrs Manion. »Ich könnte niemanden erschießen.« »Nein, das glaub ich«, sagte Juhle. »Als George und diese Schlampe ... Sie wollten mir meinen Todd wegnehmen, und plötzlich gab es keine andere Lösung mehr als Mr Shiu... Aber ich - das mit Ms Parisi war nicht geplant. Und Mr Shiu konnte nicht... Er war zur Arbeit. Es war ja mitten am Tag.« »Sie haben sie also in der Tiefgarage ihrer Firma getroffen und sind mit ihr hierher gefahren?« Carol nickte. »Sie wollte kommen. Ich hab ihr gesagt, ich hätte sie im Fernsehen gesehen und wäre beeindruckt und ob sie nicht als Anwältin für uns tätig werden wollte, für die Weinkellerei, die müsste sie sich unbedingt mal ansehen. Ich wollte ihr nicht wehtun. Ich hab ihr auch nicht wehgetan. Aber sie musste einfach weg.« Sie blickte hinüber zu dem alten, wackligen Gebäude. »Wir reißen diese Woche die Scheune ab, wissen Sie? Bringen das alles hier auf Vordermann. Ward möchte einen biodynamischen Kräutergarten anlegen. Und einen Stuckbogen über den alten Höhleneingang. Die Scheune sieht einfach scheußlich aus.« »Das reicht jetzt!«, sagte Shiu. »Alle Mann aufstehen!« »Ich glaub, lieber nicht«, sagte Juhle. »Entweder hier oder gar nicht.« »Na gut, wenn's denn so sein soll, machen wir's hier.« Er hob die Waffe. Neben Shiu stehend, schlug Carol Manion eine Hand vors Gesicht. »Nein! Das können Sie nicht tun.« 322 In der Scheune erkannte Hunt, dass keine Zeit mehr zu verlieren war. Er hob seinerseits die Pistole, streckte den Arm aus, zielte auf Shiu.
Aber in diesem Moment machte draußen im Hof Carol Manion in ihrer Panik einen Schritt auf Shiu zu und blockierte dadurch Hunts Schussfeld. Er konnte keine Ladung auf Shiu abfeuern, ohne Gefahr zu laufen, sie zu treffen. Aber irgendwas unternahm Shiu nun außerhalb von Hunts Blickfeld, und Mrs Manion machte noch einen Schritt auf ihn zu, streckte die Hand aus und schrie: »Das können Sie nicht tun!« Hunt hörte Shius Stimme. »Ich hab jetzt genug von Ihnen.« Eine fürchterliche Explosion zerriss die Luft. Hunt sah Carol Manions Arme zur Seite fliegen, während sie rückwärts taumelte, zusammenbrach und in den Staub sank. Tamara schrie. Aber in der Zeit, eigentlich nur ein winziger Augenblick, in der Hunt diesen Vorgang verfolgte, hatte Shiu sich schon wieder bewegt, stand jetzt hinter Juhle, richtete die Waffe auf ihn und bot erneut kein Ziel. Hunt musste jetzt sofort handeln, sonst hatte er keine Chance. In seinem Eifer, einen günstigen Winkel zu bekommen - hastig und ohne Zeit zum Überlegen -, dabei aber Shiu im Auge zu behalten und möglichst schon auf ihn zu zielen - an die landwirtschaftlichen Geräte und den Abfall, die er bislang so sorgfältig gemieden hatte, dachte er dabei gar nicht mehr -, stieß sein Fuß gegen etwas Metallisches, und in der Totenstille, die ansonsten draußen herrschte, hätte er genauso gut einen Feuerwerkskörper zünden können. Shiu zögerte nicht eine Sekunde, drehte sich um und feuerte zweimal auf die schmale Öffnung im Scheunentor. Die 323 Kugeln zerfetzten das Holz zu beiden Seiten des Spalts. Sofort schickte er noch eine Ladung hinterher. Es kam kein Gegenfeuer von der Scheune her. Juhles Hände waren im Rücken zusammengeschlossen, aber in dem Augenblick, als alle durch die Schüsse abgelenkt waren, gelang es ihm, aufzuspringen und einen tückischen Karatetritt gegen Shius Arm zu führen, worauf diesem die Waffe aus der Hand flog und über den Boden schlitterte. »Craig! Tarn!«, schrie Juhle. »Schnappt sie euch!« Aber Shiu stieß Juhle einen Ellbogen ins Gesicht, sodass dieser rückwärts über den Trog stürzte, dann wirbelte er herum und trat gleichzeitig aus, erwischte Chiurco, als dieser sich gerade von seinem Sitz erhoben hatte, und streckte ihn zu Boden. Er fiel Tamara genau vor die Füße, die über ihn stolperte und ebenfalls stürzte. Shiu sah sich für Sekundenbruchteile um, gewann die Orientierung zurück und stürzte sich auf die Pistole. Jetzt hatte Hunt endlich freie Schussbahn, wenn auch auf ein bewegliches Ziel. Er trat in die Tür und feuerte. Zwei Schüsse, vier Schüsse. Alle gingen daneben. Er sah die steinige Erde rund um sein Ziel aufspritzen. Shiu, der sich hingeworfen hatte und über den Boden rollte, erreichte Juhles Waffe und gab,
voll ausgestreckt auf dem Bauch liegend, zwei weitere Schüsse auf das Scheunentor ab. Beim ersten Schuss schrie Hunt auf. Shiu drehte sich um und schoss in die Richtung seiner Gefangenen, um etwaige Attacken im Keim zu ersticken. Seine Pistole klickte, war leer geschossen. Noch ein Klicken, und Shiu fluchte. Er ließ die Waffe fallen, während er weiterrollte, um Deckung zu suchen hinter dem großen Hinterrad eines Traktors. 324 »Wyatt!«, rief Juhle. »Er hat keine Munition mehr! Wyatt!« »Ich kann nicht, Dev. Ich bin getroffen!« Hinter dem Trog zusammen mit Juhle und Chiurco kauernd, war Tamara die Erste, die ihre Fassung zurückgewann und handelte. »Bleib unten, Baby«, sagte sie, bevor sie hinter dem Trog hervorstürzte und rannte, so schnell sie konnte. Juhles Pistole lag auf dem Boden, zwei Meter vor dem Traktor, und sie warf sich nach vorn, schlug einen Purzelbaum und hatte sie in der Hand, als sie wieder hochkam, warf sie ihrem Freund zu. »Craig! Devin hat Munition. Benutz sie!« Aber sie hatte die Worte kaum ausgesprochen, da warf Shiu sich von hinten gegen ihre Knie, und sie stürzte schwer zu Boden. In der Atempause, die er sich hinter dem Traktor verschafft hatte, war es Shiu gelungen, seine eigene Pistole aus dem Halfter zu zerren. Jetzt packte er Tamara mit der Pistolenhand an den Haaren und zog sie hoch, während er den anderen Arm um ihren Hals schlang und dann den Lauf der Waffe gegen ihre Schläfe drückte. »Das war's! Es ist vorbei! Gebt auf!« Da er keine Antwort erhielt, schoss er in schneller Folge zweimal in die Luft, dann schrie er: »Mit dem nächsten Schuss ist sie tot! Der nächste Schuss! Ich bluffe nicht! Werft die Pistolen auf die Erde und kommt raus! Alle Mann! Na los, sonst stirbt sie jetzt!« Chiurco zögerte nur einen Augenblick, bevor er Juhles Pistole über den Trog warf. Er wechselte einen Blick mit Juhle. Es blieb ihnen nichts anderes übrig. Sie erhoben sich. Geschmeidig und unerwartet beugte Shiu sich hinunter und hob Juhles Pistole auf. Während er die eigene Waffe immerfort fest gegen Tamaras Kopf drückte, stieß er mit der anderen Hand das Magazin der Automatik aus, und fast 324 noch bevor dieses auf dem Boden gelandet war, hatte er eins von seinen eigenen Magazinen in den Griff von Juhles Pistole eingeschoben. Tamara konnte nicht sehen, was vor sich ging, und reagierte nicht schnell genug - und schon hatte Shiu seine eigene Pistole zurück ins Halfter gesteckt und hielt Juhles Waffe an ihren Kopf.
»Okay, ihr beiden«, sagte er. »Rüber zum Scheunentor.« Und dann, mit erhobener Stimme: »Sie da, in der Scheune! Hunt! Werfen Sie die Pistole raus!« Stille. »Hunt! Ich zähle bis drei, dann stirbt sie. Eins ...« »Ich hab sie nicht. Sie haben sie weggeschossen. Sie liegt dort irgendwo im Dunkeln.« Das brachte Shiu etwas aus dem Konzept, aber er fing sich schnell wieder. »Ich will Sie sehen. Kommen Sie hier raus.« »Ich kann nicht laufen.« »Dann kriechen Sie eben. Die Hände nach vorn. Wenn ich irgendwas bemerke, was nach 'ner Waffe aussieht, dann sind alle tot, verstanden? Die junge Frau hier zuerst. Ihr andern beiden, rückt zur Seite. Lasst ihn raus.« Das einzige Geräusch war das Schleifen von Hunts Körper, der sich über den letzten Meter Fußboden in der Scheune schob. Als er in Sicht kam, schien es, als sei er zweimal auf der linken Seite getroffen worden. Sein linker Arm hing, offenkundig unbrauchbar, hinter dem blutenden linken Bein, während er sich, die heil gebliebene rechte Seite voran, ins Licht zog. Sein Gesicht war eine einzige Schmiererei aus getrocknetem und frischem Blut. Sein rechte Hand, mit der er sich in den Boden krallte, um sich fortzubewegen, hinterließ eine Blutspur. Als sein Körper zu etwas mehr als der Hälfte aus der Scheune heraus war, keuchte Hunt vor Schmerz und An 325 strengung. Er hielt inne und blickte auf. »Das können Sie nicht tun, Shiu.« »Nicht? Wonach sieht es denn aus, was ich hier tue?« »Nie im Leben können Sie das der Polizei verkaufen.« »Nein? Komisch, ich glaube, doch«, sagte Shiu. »Schließlich war es Devins Pistole, mit der die arme Mrs Manion erschossen wurde. Ich fürchte, es wird so aussehen, als sei Inspector Juhle mal wieder in ein Feuergefecht geraten dafür ist er ja bekannt, nicht wahr. Und dann hat er auch einen Grund gefunden, Sie und Ihre Leute zu erschießen. Vielleicht haben Sie irgendein doppeltes Spiel mit ihm getrieben. Vielleicht standen Sie zu kurz davor, herauszufinden, dass er Palmer erschossen hatte. Als ich hier ankam, nachdem die Manions mich gerufen hatten, nach all euren Drohungen gegen ihre Familie heute, hab ich gesehen, was ablief, und hab versucht, dem Einhalt zu gebieten. Schließlich musste ich meinen Partner in Notwehr erschießen, leider aber nicht mehr rechtzeitig, um das Leben der anderen Opfer zu retten. Ich glaube, das wird sehr schön funktionieren.« »Wenn nur die einfache nicht wäre.« »Und welche soll das sein?« Hunt machte eine Pause, vergewisserte sich, dass sein Körper einsatzbereit war. »Sie haben beim letzten Nachladen keine Kugel in den Lauf geschoben.«
Während er die Worte aussprach, zog Hunt seine linke Hand hinter dem Bein hervor, wo er seine eigene Pistole verborgen hatte. Shius Reaktion verzögerte sich nur um Sekundenbruchteile, dann drückte er den Abzug von Juhles Glock hinter Tamaras Kopf. Das trockene Klicken hing noch in der Luft, als Hunt seine eigene Waffe so schnell nach oben brachte, wie er konnte. In 326 einer einzigen Bewegung stützte er seinen linken Arm mit der rechten Hand und gab einen Schuss ab. Er traf Shiu oben in der Stirn. Juhles Pistole flog durch die Luft, während die Kugel Shiu rückwärts taumeln ließ, bis er gegen den Traktor prallte und zu Boden sank. Auch Tamara war zusammengesackt und Chiurco gleich zu ihr gestürzt, aber Juhle sprang schon an ihnen vorbei auf Shiu zu und trat so heftig gegen seine Schulter, dass er zur Seite kippte. Hunt war gleich hinter ihm, hinkend, zog Shius Pistole aus dem Halfter. Er holte tief Luft, legte Shiu einen Finger an den Hals und ließ ihn dort eine ganze Weile. Schließlich erhob er sich und sah seinen Freund an. »Ich glaub nicht, dass er durchkommt«, sagte er. »Ja, aber genug über ihn geredet«, sagte Juhle. »Jetzt nimm mir mal diese verdammten Handschellen ab.«
38
Die Krücken, die man ihm in der Notaufnahme gegeben hatte, benutzte Hunt kein einziges Mal. Die Kugel hatte ihn in den Oberschenkel getroffen. Sie bescherte ihm eine Narbe, mit der er in bestimmter Gesellschaft für den Rest seines Lebens würde angeben können, aber die Verletzung, zwar schmerzhaft und, was den Blutverlust betraf, sogar spektakulär, war zu keiner Zeit lebensbedrohend gewesen, wenn er auch noch eine ganze Weile hinken würde. Seine Unbekümmertheit im Hinblick auf die von Juhle angemahnte ordnungsgemäße Vorgehensweise bei der Durch 326 führung seines Plans bereitete ihm in den folgenden Wochen jedoch genügend bürokratische Kopfschmerzen, um alles, was ihm an Wundschmerz abgehen mochte, mehr als wettzumachen. Der Staatsanwalt von Napa County würdigte Hunts Rolle bei der Aufklärung des Falles Palmer und der Errettung von Andrea Parisi durchaus. Dennoch war er anfangs wenig geneigt, das gegen geltendes Recht verstoßende Vorgehen - Wandalismus, Hausfriedensbruch - gegen einen der prominentesten Bürger des Bezirks zu übersehen, dessen Hunt sich befleißigt hatte, um zu den erlangten Ergebnissen zu kommen. Der Staatsanwalt war auch wenig erbaut über Hunts nach wie vor nachlässige Führung seines
Waffenscheins, zumal die als solche nicht registrierte Pistole eben jene war, die den letztendlich tödlichen Schuss auf Shiu abgefeuert hatte. Schließlich aber ließ sich der Staatsanwalt von Juhles Aussage über den Ablauf der nächtlichen Ereignisse ebenso wie von Ward Manions Unwilligkeit, auf strafrechtliche Verfolgung zu drängen - er wollte einfach nur, dass der Albtraum vorbei sei , davon überzeugen, dass es nicht nötig war, Anklage zu erheben in einer Sache, die immerhin, genau betrachtet, zu einem durchaus befriedigenden Abschluss einer extrem ungewöhnlichen, schwierigen und sogar tragischen Situation geführt hatte. Freilich gab er Hunt unmissverständlich zu verstehen, dass dieser, falls ihn seine Tätigkeit einmal wieder ins Weinland führen sollte, gut beraten sei, auf Methoden wie die gegen die Manions angewandten zu verzichten. Und sofern sein Waffenschein dann nicht ordnungsgemäß aktualisiert sei, werde er, der Staatsanwalt, ihn ohne weitere Umstände verhaften lassen. 327 Aber neben den Rehamaßnahmen an seinem Bein, den Besuchen bei Parisi zuerst im Krankenhaus, dann während der weiteren Genesung bei ihr zu Hause - und der Klärung aller Rechtsfragen, die in Napa noch anhängig waren, kam sein Gewerbe in den ersten Sommerwochen ernsthaft ins Schlingern. Der Bekanntheitsgrad, den er wegen Palmer und Parisi erlangt hatte, konnte nicht den Verlust an Zeit kompensieren, die ihm für seine eigentliche berufliche Betätigung zur Verfügung stand, und so waren er, Craig, Tamara und Mickey die ersten Juliwochen über praktisch Tag und Nacht im Einsatz, sei es im Büro oder unterwegs, um Liegengebliebenes aufzuarbeiten. Erst als sein Leben zu einem gewissen Grad von Normalität zurückgefunden hatte, nahm er sich die Zeit, zum ersten Mal seit einem Monat mit Juhle zusammenzutreffen, zum Mittagessen im Ploof, einem französischen Restaurant, das auf Muscheln spezialisiert war. Es war der vierzehnte Juli, ein Donnerstag, und in ganz Beiden Alley wehte die Trikolore. Die helle Sommersonne lachte dazu am Himmel, die Temperaturen lagen locker über zwanzig Grad. Juhle saß allein an einem Tisch draußen unter einem Campari-Schirm, vor sich ein durchsichtiges Getränk mit Kohlensäure und Eis. Er ließ nicht erkennen, dass er Hunts Kommen bemerkte, bis er sagte: »Biste immer noch nicht von diesem Mitgefühlshumpeln weg?« Hunt setzte sich zu ihm. »Wenn du willst, schieß ich dir ins Bein, dann kannst du mitmachen. Könnte aber sein, dass ich daneben schieße und aus Versehen deine Kniescheibe treffe.« »Würde keiner glauben, dass es ein Versehen war. Nicht nach dem Schuss, der Shiu aus dem Verkehr gezogen hat. Das muss genau so ein Glücksschuss gewesen sein wie der,
328 für den ich den ganzen Ärger gekriegt habe. Ich kann es immer noch nicht fassen.« »Das war kein Glück. Wie du besser als jeder andere wissen solltest, ist HandAugen-Koordination voll mein Ding. Da konnte gar nichts schief gehen. Was trinkst du da?« »Sodawasser.« »Schlägst mächtig über die Stränge, wie?« Juhle zuckte die Achseln. »Ich bin im Dienst. Und im Dienst trinke ich nicht. Einer der Vorteile meines Jobs. Aber lass du dich nicht abhalten.« »Ja, ich glaube, ich werde mir einen genehmigen. Hab zur Abwechslung mal ein paar Stunden frei. Vielleicht geh ich nach dem Essen nach Hause und mach ein kleines Mittagsschläfchen.« »Du bist immer noch überall zu Fuß unterwegs?« »Meistens. Oder ich nehme Mickeys Taxi. Ich kann die verdammte Kupplung im Cooper immer noch nicht durchtreten.« Der Kellner trat an den Tisch, und Hunt bestellte sich ein Glas Beaujolais. Zum Essen entschieden sich beide Männer für unterschiedliche Variationen des Muschelthemas. Hunt sah dem Kellner zu, wie er sich entfernte. »Also«, wandte er sich dann an seinen Freund. »Du sagtest, es gebe Neuigkeiten.« »Ein paar.« Juhle nippte an seinem Sodawasser. »Ich dachte mir, du würdest es gern erfahren. Wir haben den Fall Palmer heute Morgen abgeschlossen. Offiziell.« »Darüber hab ich mir eigentlich auch keine Sorgen gemacht. Irgendwann musste es ja so weit sein.« »Kann sein, ist aber trotzdem angenehm, wenn alles fertig ist. Ich meine, hiebund stichfest, wonach es ganz und gar nicht ausgesehen hatte, bevor wir ein paar Sachen herausfanden, die wir nicht wussten.« 328 »Zum Beispiel?« »Zum Beispiel die Pistole, die Mordwaffe. Der Idiot hat sie hinterher nicht mal beseitigt.« »Wo habt ihr sie gefunden?« »In einem Lagerraum in der Nähe seiner Wohnung, den er gemietet hatte. Da hat er auch sein BMW-Cabrio untergestellt.« Der Kellner servierte Hunts Wein, und Juhle schwieg, bis er sich wieder entfernt hatte. Er beugte sich über den Tisch und dämpfte seine Stimme. »Zusammen mit der Kohle.« »Kohle?« »Ganze Schachtel voll. Im selben Lagerraum. Siebenundneunzigtausendachthundert Dollar.« »Hat sie ihm also hundert Riesen bezahlt. Ich hatte mich schon gefragt, wie die aktuellen Tarife sind.«
»Ja, aber denk dran, es war ein zweifacher. Außerdem könnte man es wahrscheinlich auch ein bisschen billiger kriegen, wenn nicht eins der Opfer zufällig ein Bundesrichter ist.« Hunt kostete seinen Wein, nahm die sonnenbeschienene Umgebung in sich auf. »Kannst du mir mal was sagen?« »Was denn? Dass du auch schon mal besser ausgesehen hast?« »Du warst auch schon mal geistreicher. Nein, sag mir was anderes.« »Na schön. Was?« »Von Andrea hab ich gehört, Mrs Manion hätte gesagt, es habe sich alles an dem Montagnachmittag entschieden, nachdem der Richter sie angerufen hatte, um das Treffen in seinem Haus anzuberaumen. Meine Frage ist jetzt: Wie engagiert man mal eben auf die Schnelle jemanden, der einem zwei Menschen tötet? >Ach, übrigens, Mr Shiu, wenn Sie die 329 Wäsche abgeholt haben, könnten Sie dann vielleicht noch schnell bei Richter Palmer vorbeifahren und ihn und seine Freundin erschießen ?< Ich kann mir nicht vorstellen, wie das geht.« Juhle hob einen Finger. »Ah! Das ist cool. Hatte ich dir noch gar nichts davon erzählt?« »Anscheinend nicht.« »Sie hatte ihn schon erprobt. Wir haben das von Ward. Offenbar hatten sie letztes Jahr ein Problem mit irgendeinem Penner, der meinte, sie schuldeten ihm Geld oder müssten ihm jedenfalls einen Haufen geben, weil sie ja so viel davon hätten. Jedenfalls kam er ein paar Mal auf das Grundstück hier in der Stadt, und du hast ja selbst erlebt, wie nachdrücklich ihre Sicherheitsleute auftreten können.« »Zurückhaltend ausgedrückt.« Juhle nickte. »Also haben sie ihn sich geschnappt und ihn seiner Wege geschickt, aber er tauchte wieder auf, also haben sie ihn wieder kassiert und dann noch mal wieder. Der Typ schien im Grunde harmlos zu sein, aber er wurde langsam echt lästig. Und einmal, als Ward nicht da war, wieder mal auf Reisen, da kommt der Typ an, als Carol die Einfahrt verlässt, um Todd zur Schule zu bringen. Und er fängt dann wohl an, auf den Jungen einzuteufeln. Mit welchem Recht hätte er all das, was er besitze, und so weiter. Offensichtlich wurde ihr die Sache jetzt doch zu brenzlig, und also beschloss Carol, dass etwas gegen ihn unternommen werden sollte.« »Sag mir, dass Shiu ihn umgebracht hat.« »Kann ich nicht, denn so war es nicht. Aber was er getan hat, er hat ihm die Scheiße aus dem Leib geprügelt und ihn auf einer Müllkippe in der Stadt abgeladen. In Zivil, ein Fall von wahlloser Gewalt gegen einen Obdachlosen, klar? Gibt's 329
natürlich keine Akten drüber und gar nichts, aber Ward ist aufgefallen, als er wieder zu Hause war, dass der Typ nicht mehr da ist, und er hat sich bei Carol danach erkundigt. Da hat sie's ihm erzählt. Tja, und als Ward den ärgsten Schock überwunden hatte letzten Monat, ist es ihm wieder eingefallen, und er hat es uns erzählt.« »Hat sie Shiu dafür bezahlt?« »Zehn Riesen. Ward hat's selber ausgezahlt, als Weihnachtsprämie. Aber das Entscheidende ist, es hat funktioniert. Der Typ hat sich nie wieder blicken lassen.« »Kann man ihm nicht verübeln. Wenn man mit so wenig Feingefühl behandelt wird.« Ihr Kellner erschien mit dem Essen, und sie taten sich schweigend an den saftigen Schaltieren gütlich - angerichtet mit Knoblauch, Sahne, Wein, Petersilie. Zum Reinsetzen. Nach einigen Minuten reinster Seligkeit machte Hunt eine kleine Pause. »Wie geht's denn Todd?« »Beißt die Zähne zusammen, nehme ich an. Er wird von Ward und seinem Kindermädchen betreut.« »Und wie alt ist Ward?« »Ich weiß nicht. Siebzig? Einundsiebzig?« »Oje. Das arme Kind.« »Das arme reiche Kind, Wyatt. Ich würde mir seinetwegen keine schlaflosen Nächte machen. Es wird gut für ihn gesorgt, darauf kannst du wetten.« Hunt legte seine Gabel nieder. »Ohne übermäßig empfindsam klingen zu wollen, Dev, aber er wird nicht geliebt werden, und das ist es letztlich, worauf es ankommt, weißt du.« Juhle pulte weiter Fleisch aus den Muscheln, benutzte dazu eine der bereits geleerten Schalen. Nachdem er sich wieder ein Stückchen in den Mund gesteckt hatte, kaute er ein 330 wenig darauf herum. »Ja, aber das gilt für so viele von uns«, sagte er. »Anwesende natürlich ausgenommen.« Schließlich zuckte er die Achseln. »Er wird darüber hinwegkommen, Wyatt. Das ist bei den meisten Leuten so.« »Außer bei denen, wo es nicht so ist.« Juhle überlegte, schluckte, trank etwas Sodawasser. »Richtig«, sagte er. »Außer bei denen.« Wes Farrells T-Shirt hatte die Aufschrift SO SEHEN FEMINISTEN AUS. Seine Freundin Sam Duncan trug eins, das verkündete: AGGRESSIONSTHERAPIE MACHT MICH VOLL SAUER. Keiner von beiden versteckte diese Botschaften unter seiner Arbeitskleidung, sondern sie trugen sie offen und stolz vor sich her. Es war ein Tag dafür - einer der seltenen warmen, ein Samstag Ende Juli. Und es war die Party dafür - in Hunts Lagerhaus.
Anlass der Feier war die Bekanntmachung, dass Devin Juhle zum San Franciscoer Polizeibeamten des Jahres ernannt worden war. Das formelle Festessen mit den polizeilichen Würdenträgern, der Familie und seinen Kollegen hatte am letzten Wochenende stattgefunden, im Gino & Carlo's in North Beach. Aber diese Party hier war anders. Hunt hatte draußen, in der Gasse vor seiner Hintertür, einen Grill angeworfen, und in der Küchenspüle stand ein mit Eis gekühltes Fässchen Bier. Die Garagentür nach vorn war ganz geöffnet. Das Lagerhaus selbst erbebte seit gut einer Stunde unter den Klängen von Beatles und Rolling Stones, aber auch von Tom Petty, Toby Keith, Jimmy Buffett und Ray Charles. Juhle und seine beiden Jungs, Eric und Brendan, spielten Basketball auf dem Hallenplatz mit Mickey, Jason und Craig. Die Leute, mit denen Hunt jeden Tag zusammenarbeitete, waren ebenso anwesend wie die anderen 331 amtlichen Hunt-Club-Mitglieder - Sam, Wes, Jason und Amy sowie natürlich auch Juhles Frau Connie und ihrer beider Tochter Alexa. Hunt war gerade dabei, Würste und Burger zu wenden, als Connie - sehr adrett in einem gelben Sommerkleid - sich an ihn heranpirschte. »Wo ist denn die berühmte Andrea Parisi?«, fragte sie. »Ich dachte, ich würde sie endlich persönlich kennen lernen dürfen.« »Ich weiß nicht. Ehrlich gesagt, hatte ich damit gerechnet, dass sie inzwischen hier wäre. Wahrscheinlich hat die Arbeit sie noch aufgehalten.« »An einem Sonnabend?« Hunt schüttelte lächelnd den Kopf. »Dir scheint nicht klar zu sein, Con, dass Anwälte keinen Unterschied zwischen den einzelnen Wochentagen machen. Sie arbeiten einfach immer. Am Samstag, am Dienstagabend, um vier Uhr morgens, egal wann, sie arbeiten.« Er deutete ins Haus. »Selbst Wes, Amy, Jason da drinnen. Ich garantiere dir, dass sie gerade beim Arbeiten sind.« »Ich bin froh, dass ich mich nicht für diesen Beruf entschieden habe.« »Ich auch. Aber Andrea hat es getan.« Connie zögerte. »Und du magst sie? Sie mag dich?« »Na ja, immerhin hab ich ihr das Leben gerettet, also hat sie eine gewisse Verpflichtung, wenigstens nett zu mir zu sein. Aber he, da ist sie ja. Du kannst sie selber fragen.« Andrea Parisi, in Begleitung von Richard Tombo, war am vorderen Ende der Gasse aufgetaucht. In Espadrilles, Hosenrock und einem ärmellosen orangeroten T-Shirt sah sie selbst auf die Entfernung unfassbar begehrenswert aus. Als die beiden auf sie zukamen, registrierte Hunt, dass auch von Nahem praktisch nichts mehr von den Spuren des achtzig 331 stündigen Nahrungs- und Flüssigkeitsentzugs zu sehen war. Ihre Haare leuchteten in der Sonne, ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen.
Connie drehte sich zu Hunt um, nickte ihm anerkennend zu. »Also dann«, sagte sie. Nachdem er miteinander bekannt gemacht hatte, ging Hunt ins Haus und holte ein Bier im Plastikbecher für Tombo sowie ein Glas Weißwein für Andrea. Sie machten Smalltalk, während Hunt sich um das Grillgut kümmerte. Die erste Runde war so gut wie fertig, und Connie ging nach drinnen, um den übrigen Gästen davon Mitteilung zu machen. Hunt hantierte mit einigen Fleischstücken und lächelte den Neuankömmlingen zu. »Burger, Wurst, mariniertes Steak; Kartoffelsalat und Soßen gibt's drinnen. Wir haben alles da. Was wollt ihr beiden haben?« Wie aufs Stichwort sagte Tombo: »Ich will erst mal kurz aufs Klo. Bin gleich wieder da«, und ließ ihn mit Andrea allein, die ein Gesicht machte, aus dem er nicht schlau wurde. »Kannst es auch noch englisch haben, wenn du dich schnell entscheidest«, sagte er. Aber dann, da er ihren gequälten Blick bemerkte, hörte er aussieh am Grill zu schaffen zu machen. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Ja«, sagte sie. Sie trank einen Schluck Wein. »Wenn du hier mit dem Austeilen fertig bist, können wir dann mal ein bisschen reden?« »Klar.« »Das ist jetzt ein bisschen schwierig«, sagte sie. Er hatte seine Fleischplatte drinnen abgeliefert und stand jetzt wieder draußen in der Gasse bei ihr, ein Stück die Straße runter, in sicherer Entfernung von seiner Hintertür und den Freunden. 332 »Ich komm mit schwierigen Sachen klar. Was gibt's?« »Tja.« Sie holte Luft. »Die Wahrheit ist, Wyatt, ich habe ein Angebot.« »Angebote sind was Gutes.« »Manchmal ja. Und diesmal ist es so.« Sie sprach jetzt hastiger, wollte, was sie zu sagen hatte, offenbar schnell loswerden. »Du weißt doch, wie alles war, ich meine, mit den Leuten von Gerichts-TV, bevor ich ... bevor ich verschwunden bin? Ich meine, Spencer war nicht in der Lage, mir zu helfen. Ich hatte da nichts zu erwarten.« »Ja.« »Na ja, dies ist... Ich meine, so etwas hätte man nicht planen können, aber als ich weg war, vermisst wurde ... du weißt ja, da wurde ich so eine Art Sensation.« »Nicht nur so eine Art. Du warst eine ganz heiße Nummer.« »Eine heiße Nummer, ja«, räumte sie mit reuigem Blick ein. »Und als sich herausstellte, dass ich entführt worden war, und dann die Art, wie ich befreit wurde ... wie du mich befreit hast ... das alles, weißt du. Dann die ganzen Interviews und Reportagen.«
Hunt konnte sich noch vage erinnern. Time, Newsweek, CNN. Praktisch überall - er war selbst ein kleiner Teil des Medienwirbels geworden. Er beschloss, es ihr leichter zu machen. »Und jetzt wollen sie dich haben.« Sie konnte nicht ganz den Stolz in ihrem zurückhaltenden Lächeln verbergen, als sie bestätigend nickte. »Ja. Ja, das wollen sie. Ohne dass ich selbst etwas dafür getan hätte, ist mein Name jetzt anscheinend ein Begriff.« Hunt rang sich nun selbst ein tapferes Lächeln ab. Er strich mit einem Finger leicht über ihre Wange. »Und das hübsche Gesicht sowieso.« 333 »Vielleicht sogar das«, sagte sie. »Auch wenn man es kaum glauben mag.« »Oh, ich habe keine Schwierigkeiten, es zu glauben. Hast du es denn deinem Chef hier schon mitgeteilt?« »Gary? Tja, das ist die andere Sache. Die Entwicklung im Büro, bei Piersall, war nicht so ... Na ja, ich hab dir ein bisschen was davon erzählt. Gary scheint irgendwie zu glauben, dass meine Beziehung zu Richter Palmer über das Berufliche hinausgegangen sein könnte ...« »Schon gut, Andrea. Du brauchst nicht...« »Nein.« Ihre Augen bohrten sich in seine, signalisierten vollkommene Aufrichtigkeit, flehten ihn an, ihr zu glauben, wo sie doch so offenherzig war. »Aber ich muss dir einfach sagen, dass ich so etwas nie tun würde. Das wäre ethisch überhaupt nicht zu vertreten gewesen. Wir haben zusammen an richtig großen Fällen gearbeitet, Richter Palmer und ich, da ging es um Millionen von Dollar, und wenn was zwischen uns gewesen wäre, hätte das jeden Fall platzen lassen können, mit dem wir in Berührung gekommen sind.« »Okay«, sagte Hunt, und sein Herz krampfte sich zusammen. Einen Momentvilang erwog er, ihr zu sagen, dass es nicht so schlimm sei. Die Menschen seien nun mal nicht vollkommen, jeder mache Fehler. Es stehe ihm nicht zu, über sie zu urteilen. Was ihn jetzt schmerzte, war die Tatsache, dass sie glaubte, ihn belügen zu müssen, dass es vielleicht gerechtfertigt, gar nobel sei, ihm etwas vorzumachen, damit sein Bild von ihr intakt bliebe. Als ob er je an dem Bild interessiert gewesen wäre! Sein Interesse hatte der Person gegolten. Und jetzt war diese Person unwiderruflich jemand, der ihm in die Augen blicken und dabei etwas Unwahres sagen konnte. Denn obwohl er vielleicht nie würde beweisen kön 333 nen, dass sie das angebliche Verhältnis mit Richter Palmer tatsächlich gehabt hatte, war er sich doch sicher, dass ihr Dementi mit eingeübten Worten eine Lüge war. Und plötzlich war das, was hätte sein können, zu etwas geworden, was nicht und niemals sein konnte. Sie war noch nicht fertig. »Gary meinte, dass selbst das geringste Anzeichen, der leiseste Verdacht in dieser Richtung Jim Pine veranlassen würde, die
ganze Firma zu feuern. Unsere gesamte Arbeit für sie würde ins Zwielicht geraten, könnte gerichtlich angefochten werden, wäre wertlos.« Sie holte Luft. »Außerdem weiß ich gar nicht, ob es überhaupt noch Arbeit als Anwältin in dieser Stadt für mich gibt. Gary schien das übrigens auch so zu sehen. Die Abfindungsregelung ist ziemlich großzügig ausgefallen.« Hunt zwang sich zu einem weiteren Lächeln. »Dann hat sich also alles zum Guten gewendet?« »Ja, außer ...« Sie machte eine Pause. »Na ja, du und ich, wir haben eigentlich gar keine Möglichkeit gehabt, um ...« Sanft hob er die Hand und drückte ihr zwei Finger auf die Lippen. »Mach dir keine Gedanken um dich und mich«, sagte er. »Du bist ein Star, Andrea. Nun geh hin und sei ein Star.« Sie nickte, seufzte, lächelte zu ihm hoch. »Ich wusste, dass du es verstehen würdest, Wyatt.« »Vollkommen.« Hunt versuchte ein letztes Lächeln. »Wann soll's denn losgehen?« »Ja, ist das zu fassen? Die wollen mich schon am Montag da haben. Ich fliege morgen.« Hunt saß auf der Kühlbox, die Hände um einen Plastikbecher voll Bier gelegt, als Connie aus der Hintertür trat. »Kann ich Mr Hunt mal eine Minute in Anspruch nehmen?« 334 »Du kannst ihn auch eine Stunde in Anspruch nehmen, allerdings wird Devin dann vielleicht sauer.« »Nein, er findet es gut, wenn ich mit anderen Männern zusammen bin. Er meint, er würde dann im Vergleich immer so viel besser wegkommen.« Hunt musste grinsen. »Ja, er ist schon einzigartig.« »Er hat nicht ganz Unrecht, jedenfalls meistens nicht.« Hunt legte einen Arm um sie. »Wenn du mit mir flirten möchtest, hast du jetzt noch neunundfünfzig Minuten Zeit dazu.« »Ich werde mitstoppen«, sagte sie. Nach einem Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie ungestört waren, begann sie: »Ich wollte dir nur sagen, und zwar ganz im Ernst, wie dankbar ich dir bin - wir alle. Und wie stolz.« Er sah sie an. »Weswegen?« »Nun, es mag dir entfallen sein im Trubel der Ereignisse, Wyatt, aber während du all den Ruhm und Lorbeer dafür geerntet hast, dass du Andrea Parisi aufspüren und retten konntest, war das Entscheidende für mich, dass du nebenbei auch noch meinem Mann das Leben gerettet hast. Und das weiß er auch.« »Nein, das kann man so nicht...«
»Kehr jetzt nicht den Bescheidenen raus, Wyatt. Das ist unschicklich. Du hast sein Leben gerettet. Du hast ihnen allen das Leben gerettet. Ich werde dir nie genug dafür danken können, genauso wie die Kinder, und die haben das alles noch nicht mal so richtig begriffen.« »Das hat nichts mit Bescheidenheit zu tun, Con, sondern es lag einfach an den Umständen. Es hätte auch ganz anders laufen können, und er hätte mir das Leben gerettet. Ich meine, er ist nicht umsonst der Cop des Jahres.« 335 »Nein. Das weiß ich. Aber er wäre auch nicht zum Cop des Jahres geworden, wenn nicht etwas gewesen wäre, was ihn wieder zu dem gemacht hat, der er ist.« »Ich glaube, dazu hast auch du ein bisschen beigetragen.« Sie nickte. »Einverstanden, aber du hast das Feuer entzündet. Du hast die Dinge ins Rollen gebracht. Ich glaube, du hast mehr als nur sein Leben gerettet, Wyatt. Du hast ihm gezeigt, wer und was er ist.« »Nun, er ist ein großartiger Bursche.« »Ja, und das war er immer, obwohl er es manchmal vergisst. Aber wenn er das tut, dann bin ich da, um ihn daran zu erinnern. Und du, ich glaube nicht, dass du oft genug daran erinnert wirst, dass du selber etwas ganz schön Besonderes bist. Also, dachte ich, nehme ich mir mal die Zeit und sag es dir.« Sie legte ihm eine Hand auf den Arm. »Hörst du?« Hunt seufzte zufrieden. »Ja, ich höre. Danke.« »Keine Ursache.« Connie lehnte sich kurz gegen ihn, dann erhob sie sich und blickte sich um. »Okay«, sagte sie. »Wo ist sie hin? Ich konnte noch keine zehn Worte mit ihr wechseln.« »Wer?« »>Wer?<, fragt er. Die berühmte Andrea Parisi. Womöglich deine Freundin, aber ich frag natürlich nicht.« Hunt versuchte es undramatisch rüberzubringen. »Sie musste gehen. Sie hat einen neuen Job in New York und fängt am Montag damit an.« »In New York. Aber was ist mit dir?« »Was soll mit mir sein? Mir geht's gut.« »Gar nicht wahr. Du mochtest sie. Du mochtest sie sehr.« Aber er schüttelte den Kopf. »Ich hab sie doch gar nicht richtig gekannt, Con, ich wusste nur, dass sie schön und klug und nett war und wir miteinander Spaß hatten.« 335 »Nun, mein Freund, das klingt gar nicht mal so schlecht. Es gibt Leute, denen ist genau das wichtig, wenn sie nach einem geeigneten Partner suchen.« »Das sind gute Eigenschaften, zugegeben, in einem bestimmten Rahmen auf jeden Fall.« »Aber der Rahmen ist nicht groß genug?«
Hunt überlegte kurz. »Das ist schön ausgedrückt«, sagte er. Als er diesmal Connie ins Gesicht sah, war sein Lächeln echt. »Es ist gut so, Con. Ich glaube wirklich, dass es das Beste so ist.« 336
Danksagung
Der erste und wichtigste Dank gilt meiner Gefährtin, Freundin, Partnerin und Muse Lisa Sawyer. Ohne ein verlässliches und glückliches Zuhause kann ich keine Kreativität entfalten, und Lisas Kraft, ihr gesunder Menschenverstand und ihre fundamentale Lebensfreude machen sie zu der besten Lebensgefährtin, die man sich vorstellen kann. Einen erheblichen Beitrag sowohl zum häuslichen Frieden als auch zum Ton dieses Buches leistete unser Sohn Jack Sawyer Lescroart, der obendrein mit unbeirrbarer Konstanz seine Rolle als bester Freund, Scherzkeks, kritischer Leser und allgemeiner Trostspender ausfüllt. Fast auch noch zum häuslichen Bereich gehört mein langjähriger Mitarbeiter Al Giannini, der sich einmal mehr auf die lange Wanderung mit mir machte, vom Anfang bis zum Ende. Seine Einsicht in die verschlungensten inneren Mechanismen der Juristenschaft, seine enzyklopädischen Kenntnisse sowohl des Rechts als auch der menschlichen Natur und sein schöpferischer Instinkt sind untrennbar verbunden mit dem thematischen Unterbau aller meiner SanFrancisco-Bücher, und ich werde kaum eindringlich genug betonen können, wie tief ich in seiner Schuld stehe. Ungefähr dreißig Jahre lang hat Andy Jalakas für Kinderschutz -dienste in New York gearbeitet, und viele seiner Erfahrun 336 gen sind in den persönlichen und beruflichen Hintergrund der Hauptfigur dieses Romans eingegangen. Auf Andys Vorschlag hin habe ich mich außerdem von einem eindrucksvollen Buch zu diesem Thema anregen lassen, nämlich Marc Parent: Turning Stones: My Days and Nights with Children at Risk. Dankbar ziehe ich auch den Hut vor David Corbett, einem ganz ausgezeichneten Schriftsteller und ehemaligen Privatdetektiv, der sehr freigebig mit seiner Zeit, seinem Sachverstand und seinen Einsichten war. Meine Assistentin Anita Boone bekleidet weiterhin die Rolle als Empfangschefin, Effektivitätsexpertin, Faktenüberprüferin und rechte Hand. Sie ist mir eine außerordentliche Hilfe und zudem wahrscheinlich der geduldigste Mensch der Welt, zumal im Umgang mit hin und wieder von Angst geschüttelten Schriftstellern. In den letzten Jahren ist mir meine Internet-Korrespondenz immer wichtiger geworden als ein Mittel, direkt mit meinen Lesern zu kommunizieren, von denen einige mir hin und wieder Themen empfehlen, deren nähere Erkundung reizvoll sein könnte. Bevor ich an den Hunt Club zu denken begann,
schlug Joe Phelan, einer meiner aktiven Leser, vor, dass ich die California Correctional Peace Officers Association (CCPOA), also die Gewerkschaft der Gefängniswärter, einmal unter die Lupe nehmen sollte. Dieses Thema sollte denn auch eine recht zentrale Rolle in diesem Buch spielen, und ich bin Joe dankbar für all seine Hinweise. Dessen ungeachtet, erkläre ich nachdrücklich, dass es sich hier um eine fiktive Geschichte handelt, und wenngleich das ausgebreitete CCPOA-Material auf Tatsachen beruht, so habe ich mir doch einige - erhebliche - Freiheiten genommen, was die Organisationsstruktur ebenso wie die Führung der Gewerkschaft angeht. (Ich freue mich immer, von meinen Le 337 sern zu hören, die mit mir Kontakt aufnehmen können über meine Website: www.johnlescroart.com.) Für fachlichen Rat zu diversen Themen möchte ich Shawn Ryan, Beamter bei der Polizei von San Francisco, danken, zumal für die frösteln machenden Details seines selbst durchlebten Feuergefechts, meinem Freund, Herrn Peter J. Diedrich, für das eine oder andere abseitige juristische Schman-kerl, das dieser Erzählung Würze gibt, und Frank Seidl für seine umfassenden Kenntnisse über Napa County und die Weinindustrie, die ein wenig anzuzapfen ich zu meiner großen Freude endlich Gelegenheit hatte. Dieses Buch hat sich, um es vorsichtig auszudrücken, nicht von selbst geschrieben. Im Frühstadium hatte ich sogar manchmal das Gefühl, dass es überhaupt nicht richtig in Gang kommen wollte. Über die Blockaden hinweg halfen mir zwei großartige Freunde, die zufällig ebenfalls auf dem Acker des Wortes schuften - John Poswall und Max Byrd. Auch wenn sie nicht mehr bei Dutton am Ruder ist, war mir Carole Baron von Beginn an lenkende Kraft und Cheerleader für meine Bemühungen, und sie hat erheblich zum Originalkonzept der vorliegenden Arbeit beigetragen. Im Alltag hielt mich mein Lektor Mitch Hoffman durch mehrere Zwischenlektüren (und scharfsinnige Kommentare) auf Kurs. Don Matheson, Brautführer auf Ewigkeit, versorgt mich regelmäßig mit der Art von Inspiration, ohne die die Seiten sich viel zu langsam stapeln würden und es viel weniger Spaß machen würde, sie voll zu schreiben. Einige Figuren in diesem Buch verdanken ihren Namen (aber weder äußere noch Persönlichkeitsmerkmale, die sämtlich fiktiv sind) Personen, deren Spenden für diverse wohltätige Zwecke besonders großzügig ausfielen. Dazu gehören Doug Malinoff, Yolo County Court Appointed Special 337 Advocates (CASA), Sue Kutschkau, Cal State Fullerton Foundation, und Betsy Sobo, American Repertory Ballet. Äußerst dankbar bin ich schließlich, wie immer, meinem Agenten Barney Karpfinger, der die Idee für dieses unter
Umständen riskante Buch von Anfang an positiv aufnahm und half, die Saat am Leben zu erhalten, bis sie dann endlich aufging.