SEEWÖLFE
BAND 515
Burt Frederick
Das
Gespensterschiff
Seeabenteuer-Roman
Wenn man kein Schiff mehr hat, sond...
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SEEWÖLFE
BAND 515
Burt Frederick
Das
Gespensterschiff
Seeabenteuer-Roman
Wenn man kein Schiff mehr hat, sondern nur noch eine kleine Jolle, und wenn man somit schiffbrüchig auf einer kleinen Insel hockt und eine Horde von Galgenvögeln mit einer Galeone die Insel blockiert und spitz darauf ist, die Schiffbrüchigen zu massakrieren, dann muß man sich etwas entfallen lassen, um sich das Leben zu erhalten. Die gute Idee hatte der Kutscher, und in der Nacht wurde seine Idee von Edwin Carberry, Stenmark, Nils Larsen und Sven Nyberg in die Tat umgesetzt. Mit der kleinen Jolle der entschwundenen „Empress of Sea“ pullten sie zu der Galeone und klauten den Galgenvögeln die beiden längsseits liegenden Beiboote. Und zusätzlich säbelten Carberry und Stenmark die Ankertrosse durch und erfreuten sich an dem Anblick der davontreibenden „San Jacinto“...
1.
Old Donegal Daniel O'Flynn ließ nun schon zum wiederholten Male sein meckerndes Lachen hören. Ed Carberry, der - wie die anderen - hinter einem der Uferfelsen in Deckung hockte, warf dem Alten einen grimmigen Blick zu und schüttelte verständnislos den Kopf. „Ich sage euch, ich sage euch“, rief Old Donegal halblaut und rieb sich dabei begeistert die Hände, „bei denen da drüben gibt's jetzt das große Heulen und Zähneklappern!“ „Warte bloß ab“, knurrte Ed Carberry. „Wenn du zu große Sprüche klopfst, heulst und klapperst du bald selber, Donegal. Schadenfreude bringt nämlich Unglück. Wußtest du das nicht?“ Der Profos zwinkerte den anderen kaum merklich mit dem linken Auge zu. Stenmark, der ihm am nächsten kauerte, mußte sich mächtig anstrengen, um sein Grinsen zu unterdrücken. Einfacher hatte es da schon der Rest der derzeitigen „Empress“-Crew, denn sie waren durch die breiten Rücken des Profos und des blonden Schweden vor den Blicken des alten O'Flynn geschützt und konnten sich ein ausgiebiges Feixen erlauben. „Da bist du aber im Irrtum, Mister Carberry“, sagte Old Donegal giftig. „Schadenfreude ist die schönste Freude. Aber Unglück bringt sie bestimmt nicht. Das hast du mal wieder in den falschen Hals gekriegt.“ Der Profos der „Isabella“ schluckte ruckhaft und schob das Rammkinn vor. „Stimmt nicht“, sagte er grollend. „Das habe ich von einer einäugigen Kesselflickerin in Plymouth. Ich traf die Lady um Mitternacht vor dem Friedhofstor. Sie las mir aus der Hand und gab ein paar Lebensweisheiten von sich. Zum Beispiel, daß Schadenfreude Unglück bringe. Jawohl, das hat sie gesagt.“ Old O'Flynn starrte sekundenlang stumm auf die Bucht hinaus. Seine Miene verdüsterte sich dabei, als hätte er auf einmal keine Freude mehr an dem, was sich an diesem Morgen des 8. Juli 1595 soeben abgespielt hatte. Ein paar Trümmer von der kleinen Jolle der „San Jacinto“ trieben noch auf der Wasseroberfläche. Und drüben auf der Galeone wurden dem einzigen Überlebenden von fünf Bootsgasten vermutlich gerade die Leviten gelesen - wenn dieser verrückte Hund von einem sogenannten Kapitän ihn nicht sogar gleich erschoß. Immerhin hatte er zwei seiner Leute einfach über den Haufen geknallt - aus schierer Wut. Der dritte Tote ging auch auf sein Konto, denn die Kanone, die wegen überhöhter Pulverladung auseinandergeflogen war, hatte er sich zuzuschreiben. Und vier Leute waren jetzt im Kugelhagel der „Empress“-Mannen mit dem kleinen Beiboot zu den Fischen gegangen. Damit hatte der Verrückte auf der spanischen Galeone nur noch fünfzehn Mann. Und kein einziges Beiboot mehr. Dagegen verfügten Old Donegal und seine Gefährten immerhin über drei handfeste Jollen - nämlich zwei von der gegnerischen Galeone, die da vor der Westseite der Bucht lag, und ihre eigene von der verschwundenen „Empress of Sea II.“. „Wer ist denn hier schadenfroh?“ erkundigte sich der Alte unvermittelt „Ich doch nicht! Das hast du gesagt, Mister Carberry! Verdammt, du willst mir was unter die Weste jubeln. Behauptest Sachen, die überhaupt keiner nachprüfen kann. Wie willst du denn beweisen, daß ich schadenfroh bin? He, wie denn?“ Ed Carberry sah den alten Zausel noch einen Moment grinsend an. Dann setzte er plötzlich eine überlegene Miene auf und hob das wüste Rammkinn noch ein Stück höher. „Ich verstehe, Mister O'Flynn. Du gibst es also zu!“.
„Was?“ Old Donegal war drauf und dran, hinter seiner Deckung aufzuspringen. Nur mit Mühe bezwang er seinen aufwallenden Zorn. „Was soll ich zugeben?“ „Daß du daran glaubst“, entgegnete Ed Carberry. „An was, zum Teufel, soll ich glauben?“ „Daran, daß Schadenfreude Unglück bringt - so, wie ein Freitag, der dreizehnte, Unglück bringt, oder ein schwarzes Katzenvieh, das einem...“ „Jetzt reicht es!“ schrie der Alte. „Du willst mir das Wort im Mund umdrehen! Das habe ich nicht gesagt! Nie im Leben! Dafür gibt es schließlich Zeugen. Ich habe genau das Gegenteil erklärt.“ „Hast du nicht. Du hast erklärt, daß man dir die Schadenfreude erst nachweisen müßte. Damit hast du mehr oder weniger zugegeben, vor was du Angst hast. Nämlich davor, daß du dich ins Unglück stürzt, weil du in Wirklichkeit doch schadenfroh bist. Meine einäugige Lady vom Friedhofstor hatte nämlich doch recht. Das weißt du ganz genau. Nur wenn dir einer mal überlegen ist, was die Schwarzseherei angeht, dann kannst du's nicht ertragen, was, wie?“ „Das ist keine Schwarzseherei“, entgegnete Old Donegal wütend. „Ich habe das Zweite Gesicht. So etwas nennt man einen Seher. Jawohl, ich habe die Fähigkeiten eines Sehers!“ Carberry holte tief Luft, war so richtig in seinem Element und genoß es offenbar, den Alten langsam, aber sicher auf die Palme zu bringen. Der Kutscher räusperte sich laut und verhinderte, daß der Profos seinen bärbeißigen Kontrahenten erneut aufstachelte. „Wenn ich die Gentlemen höflichst bitten darf, das neue Diskussionsthema über seherische Fähigkeiten auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben! Ich denke, wir haben im Augenblick höchst realistische Probleme zu bewältigen, bei denen uns ein Zweites Gesicht nicht sehr viel helfen kann. Ich bitte zu bedenken, daß wir uns auf den nächsten Angriff vorbereiten sollten, der mit Sicherheit nicht lange auf sich warten lassen wird. Waffenreinigen, Munitionsvorräte ergänzen und dergleichen. Zu tun gibt es wahrhaftig genug.“ Die anderen brummten beifällig. Nils Larsen und Sven Nyberg hatten bereits begonnen, die Läufe ihrer Musketen mit den Putzstöcken zu bearbeiten. Martin Correa nickte und fing damit an, die Pulverflaschen einzusammeln, um den Inhalt zu ergänzen. „Unser Pfannenschwenker trifft mal wieder den Belegnagel auf den Kopf“, sagte Carberry anerkennend. „Und wie schön er das ausdrückt! Wußte gar nicht, daß ich so was kann - an einer Diskussion teilnehmen.“ „Bist ja bloß froh“, sagte Old Donegal zischelnd, „daß du dich elegant aus der Affäre ziehen kannst.“ Er hob die Stimme, als der Profos aufbrausen wollte. „Der Kutscher hat recht. Wir richten uns nach seinem Vorschlag. Hasard und Philip, ihr beiden betätigt euch als Pulveraffen.“ Carberry wandte sich zu den Söhnen des Seewolfs um. „Wenn ihr oben in der Höhle seid, könnt ihr gleich mal nachsehen, wie es dem kleinen Sir John geht. In Ordnung?“ „Kommt nicht in Frage!“ rief Old Donegal bissig. „Die Nebelkrähe ist absolute Nebensache. Laßt euch nicht erwischen, daß ihr mit dem Mistvieh eure Zeit verplempert. Ihr habt Pulver zu holen und sonst nichts!“ Der Kutscher gab den Jungen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, einfach loszumarschieren. Old Donegal zeterte ohnehin noch, als sie längst die Jakobsleiter erreicht hatten, die zum Höhleneingang hinaufführte. *
Spätestens seit dem ersten Licht dieses neuen Tages gab es für die Dons an Bord der „San Jacinto“ ein Rätsel weniger. Die Jakobsleiter, die da aus der vier Yards hohen Höhlenöffnung in der Steilwand baumelte, war die Lösung all dessen, worüber sich die Goldgierigen in den letzten Stunden vermutlich den Kopf zerbrochen hatten. Und trotzdem war ein weiteres Rätsel noch immer ungelöst: Woher, in aller Welt, nahmen die Unbekannten, denen der zweisprachige Papagei gehörte, bloß ihre Energie? Wie hatten sie die unvorstellbare Strapaze bewältigt, eine ganze Schiffsladung von Goldkisten in diese winzige Höhlenöffnung zu wuchten, die noch, dazu so hoch über dem Erdboden lag? „Ein bißchen mulmig ist mir doch“, sagte Hasard junior, als er mit seinem Bruder das untere Ende der Jakobsleiter erreichte. Die Felswand über ihnen war wie ein vorspringendes Dach, denn der Überhang hoch über der Grottenöffnung neigte sich ein beträchtliches Stück nach vorn, der Bucht zu. „Wieso?“ fragte Philip begriffsstutzig. „Meinst du, Sir John ist in seiner Kiste erstickt?“ „Unsinn! Ich rede von den Spaniern.“ Hasard deutete mit dem Daumen über die Schulter. „Die haben doch bestimmt Stielaugen, seit sie sehen, was es mit der Jakobsleiter auf sich hat. Stell dir vor, die versuchen es mit einer weittragenden Muskete, wenn wir auf entern.“ Philip wandte sich um und blickte zu der Galeone, die vor den westlichen Riffs ankerte. „Die Amigos werden sich hüten, sage ich. Die haben noch genug von der Kanone, die ihnen um die Ohren geflogen ist. Ich würde jedenfalls keine Muskete abfeuern, die eine zu starke Ladung im Rohr hat. Außerdem werden sie sich jetzt erst mal zusammenreimen, was sich hier abgespielt hat.“ Hasard nickte. „Hoffen wir, daß du recht hast.“ „Los, beeil dich“, drängte sein Bruder. „Mister O'Flynn bringt es fertig, uns höchstpersönlich Dampf unter dem Hintern zu machen, wenn wir nicht schnell genug sind. Und dann haben wir nicht genug Zeit für Sir John.“ Hasard brummte zustimmend und begann, aufzuentern. Jeden Moment rechnete er mit einer Kugel, die haarscharf neben ihm auf den Felsen prallte, sich abplattete und als handtellergroßer Bleipfannkuchen in den Sand fiel. Doch nichts dergleichen geschah. Gefahrlos bewältigte Hasard junior als erster den Aufstieg zum Felsenloch. Sein Bruder folgte ihm mit zügig-kraftvollen Bewegungen. Die beiden Jungen waren sich voll und ganz der Tatsache bewußt, was sie den Spaniern an Bord der „San Jacinto“ verdeutlichten. Eben jenen Umstand nämlich, der seit Tagesanbruch offenkundig geworden war. In der Nacht hatten die „Räuber“ des Goldschatzes ihre sichere Höhle verlassen und sich bis an die Zähne bewaffnet hinter den Uferfelsen postiert. Philip junior erreichte gleichfalls den Grotteneingang. Einen Moment blickten die Brüder zum Strand hinunter, wo die Männer vom Bund der Korsaren in Deckung lagen und die Galeone aufmerksam beobachteten. Es war die logische Folgerung gewesen, die Höhle zu verlassen und dort unten in Stellung zu gehen. Nachdem man die beiden großen Jollen der „San Jacinto“ gekapert hatte, waren die Voraussetzungen für die Dons ungleich schlechter geworden. Und wenn sie es dennoch mit der kleinen Jolle versuchten, konnte man ihnen nur vom Strand aus einen gebührenden heißen Empfang auf breiter Front bereiten - wie geschehen. Auf die Heimlichtuerei hatte man so oder so verzichten können. Denn die Voraussetzungen für die Verteidigung waren ungleich besser geworden. Dieser
hirnrissige Bursche von einem Kapitän mußte sich schon etwas einfallen lassen, wenn er mit seinen fünfzehn Mann noch etwas ausrichten wollte. „Hurtig, hurtig“, sagte Hasard und ahmte dabei den Tonfall des Profos nach. „Bewegen wir uns, sonst erstickt der arme Sir John womöglich noch.“ Philip nickte nur. Gemeinsam eilten sie los, in den hinteren, sich erweiternden Bereich der Grotte, wo die Goldkisten, die Proviantvorräte und die Ausrüstungsgegenstände. von der „Viento Este“ lagerten. Die beiden Jungen arbeiteten rasch und zielstrebig. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie sechs Pulverfäßchen und ein Dutzend lederne Kugelbeutel zur Felsenöffnung geschleppt. Hasard deutete auf das gestapelte Segeltuch und die Taurollen. „Den Ladebaum haben wir zwar nicht mehr zur Verfügung, aber ich denke, wir kriegen den ganzen Kram trotzdem auf einmal nach unten.“ „Eine Persenning und ein Tau“, entgegnete Philip und nickte. Dann hieb er seinem Bruder begeistert auf die Schulter. „Klar! Damit haben wir noch mehr Zeit gewonnen.“ Gemeinsam schleppten sie in aller Eile einen Tuchballen und eine Taurolle nach vorn. Dann kehrten sie in den hinteren Bereich zurück, wo auf einem Felsvorsprung eine einsam blakende Laterne stand. Behutsam zogen sie die Proviantkiste, in der Ed Carberry den vorlauten Vogel verstaut hatte, zwischen den Goldkisten hervor. Die Jungen runzelten die Stirn, als sie die Kiste auf den Boden stellten und begannen, die seitlichen Verzurrungen zu öffnen. Zwar war es einerseits vorteilhaft, daß Sir John in seinem Verlies kein freudiges Gezeter anstimmte - was letzten Endes verräterisch gewesen wäre. Andererseits war die totale Stille in der Kiste aber auch besorgniserregend. „Vielleicht ist er beleidigt“, sagte Hasard, als er den Kistendeckel öffnete. „Zuzutrauen war's ihm.“ Im nächsten Moment erstarrten die Brüder und rissen den Mund vor Schreck weit auf. Der karmesinrote Papagei lag auf der Seite, regungslos, die Knopfaugen weit geöffnet und stumpf. „Um Himmels willen!“ hauchte Hasard. „Vorhin haben wir gespottet, und jetzt ist es tatsächlich passiert!“ „Der arme Kerl“, flüsterte Philip und strich über die Schwingenfedern Sir Johns. Tränen standen in den Augen des Jungen. „Das hat er nun wirklich nicht verdient.“ „Nein, das nicht“, sagte Hasard mit erstickter Stimme. „Wir hätten an Luftlöcher denken sollen.“ „In der Eile? Wir mußten doch aufpassen, daß Mister O'Flynn nichts mitkriegt.“ „Was im Grunde keine Entschuldigung ist.“ „Nein, du hast recht.“ Philip seufzte. „Und wir können uns auch nicht damit herausreden, daß ihn Mister Carberry in die Kiste gepackt hat. Er hätte ja an die Luftlöcher denken müssen.“ „Es ändert nichts. Am besten nehmen wir den armen Kerl gleich mit nach unten und begraben ihn.“ „Begraben? Meinst du nicht, daß er eine Seebestattung verdient hat? Schließlich war er ebenso Seemann wie wir alle.“ „Sicher“, sagte Hasard und preßte die Lippen zusammen. Auch seine Augen waren jetzt feucht. Die Vorstellung, die Sprüche und das Gezeter des munteren roten Burschen missen zu müssen, war einfach unerträglich. „Mister O'Flynn wird nichts dagegen haben, wenn wir Sir John einen würdigen Abschied von dieser Welt bereiten.“ „Der alte O'Flynn?“ Philip schniefte. „Der wird doch froh sein! Du kennst ihn!“ Hasard nickte bedächtig und mit Leichenbittermiene. Er hob den reglosen Papagei aus der Kiste, legte ihn in eine Felsmulde und half seinem Bruder die Kiste wieder zu
verschließen und zurück in den Hohlraum zwischen den Goldkisten zu schieben. Sie wandten sich um, bereit, sich ihrer traurigen Pflicht zu entledigen. Es war, als wären sie gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen. Die Mulde, in der sie Sir John zur vorübergehenden Ruhe gebettet hatten, war leer. Fassungslos sahen sie sich um und suchten mit Blicken jeden Quadratinch ab. Doch die Laterne erhellte nur einen kleinen Teil der Grotte. Ein Krächzen ließ die Jungen zusammenzucken. Es klang wie ein Räuspern. „Affenärsche!“ tönte es im nächsten Moment schnarrend aus dem dunklen Teil der Grotte. „Haut in Streifen! Rrrrübenschweine! Backbrassen!“ Es folgte ein Meckern, das wie von einem Ziegenbock klang, aber zweifellos von Old Donegal stammte. Sein triumphierendes Meckern nach dem Untergang der kleinen Jolle der „San Jacinto“ mußte bis hier herauf zu hören gewesen sein - durch einen geschlossenen Kistendeckel hindurch. Hasard und Philip wechselten einen entgeisterten Blick. „Dieser schlitzohrige Geier!“ zischte Hasard. „Weißt du, was der mit uns gemacht hat?“ „Klar“, antwortete Philip. „Dieses Suppenhuhn hat sich tot gestellt und uns an der Nase herumgeführt.“ Wie zur Bestätigung endete das Meckern in der Dunkelheit, und ein plötzliches Flügelklatschen war zu hören. Segelnd schwebte Sir John im nächsten Moment aus der Finsternis und landete mit elegantem Schwung hoch oben auf dem Stapel der Goldkisten. Dort trippelte er bis an den Kistenrand, beugte sich vor, legte den Kopf schief und blickte interessiert mit einem Auge auf die Jungen hinunter. Ein tiefes Rollen drang aus dem nun aufgeplusterten Leib des Aras. Er ging in einen energischen Befehlston über. „Klar Deck überall!“ Abermals sahen die Jungen sich an. Sie brauchten es nicht auszusprechen: Wenn Old Donegal mitkriegte, was sich hier abspielte, würde er seine Drohung doch noch in die Tat umsetzen. Und das bedeutete, daß Sir John endgültig schlachtreif war. Hasard blickte zu dem Vogel hoch, der jetzt leise brabbelte und sich von einem Bein auf das andere wiegte. „Fang nur an, dich über uns lustig zu machen!“ warnte der Junge. Philip stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Um Himmels willen, reize ihn nicht noch! Wir müssen jetzt besonders freundlich zu ihm sein. Denke daran, was er hinter sich hat. Stundenlange Dunkelheit. Wir können froh sein, wenn er nicht sofort rausfliegt.“ Hasard preßte die Zähne aufeinander, daß es knirschte. „Er hat Hunger und Durst. Davon können wir ausgehen. Und damit läßt sich bestimmt was anfangen.“ „Sprich es nicht aus“, sagte Philip eindringlich. „Du weißt, was für ein gerissener Kerl er ist.“ Hasard nickte nur. In der Tat durften sie nicht sagen, daß sie Sir John natürlich wieder einfangen mußten. In seinem eigenen Interesse zwar, aber das änderte nichts. Er würde es spitzkriegen, wenn sie es laut aussprachen, und dann war er auf und davon. Vielleicht flog er sogar wieder zu den Spaniern, um sich an Bord der „San Jacinto“ wichtigtuerisch aufzuplustern. Ein geltungsbedürftiger kleiner Geier war er schon immer gewesen. „Der arme Sir John“, sagte Hasard daher voller Mitgefühl, „er hat bestimmt einen fürchterlichen Durst. Bleib du hier, Philip, und gib ihm was zu fressen. Ich gehe mal schnell nach vorn und hole ein bißchen Wasser.“
„Ja, tu das“, sagte Philip eifrig. „Ich gebe ihm inzwischen etwas Hartbrot und ein paar von den roten Bohnen, die er so gern mag. Er muß ja einen wahnsinnigen Hunger haben!“ Eilends schafften die Zwillinge das Notwendige heran, um Sir Johns Appetit zu wecken. Hasard holte Trinkwasser in einer Muck, während Phillip Hartbrot zerbröselte und die Krumen zusammen mit den Bohnen auf eine Proviantkiste streute, die er in den Lichtkreis der Laterne gestellt hatte. Hasard stellte die Muck daneben, und dann wandten sie sich erwartungsvoll zur Seite, um die Reaktion des Papageis zu beobachten. „Rrrrübenschweine“, schnarrte Sir John und fuhr fort, sich am Kistenrand zu wiegen. „Der macht sich wirklich über uns lustig“, flüsterte Hasard ergrimmt. „Glaubst du nicht, daß er genau weiß, was wir wollen?“ „Wir wollten ihm ein bißchen Bewegungsfreiheit verschaffen“, entgegnete Philip erbittert. „Daß er das gleich so schamlos ausnutzt, konnte natürlich kein Mensch ahnen.“ „Keine Vorwürfe“, sagte Hasard leise. „Du weißt, wie empfindlich er auf diesem Ohr ist.“ Philip nickte, atmete tief durch und nahm ein paar Krumen und Bohnen in die Hand. In der offenen Handfläche hielt er sie dem roten Vogel entgegen. „Sieh mal, Sir John, ist das nicht lecker? Dir muß doch der Magen knurren - nach der langen Schutzhaft. Und ist dir nicht die Kehle trocken geworden? Also, Wasser ist auch da, alter Freund. Und nun sieh endlich ein, daß wir dich nur vor Mister O'Flynn gerettet haben.“ „So redet ein Landmann mit seiner kranken Kuh“, sagte Hasard leise kichernd. „Das behauptet jedenfalls der Kutscher immer, und der muß es ja wissen.“ Philip forderte ihn mit einer ärgerlichen Handbewegung auf, zu schweigen. In der Tat vollzog sich mit Sir John eine sichtbare Wandlung. Die freundlichen Worte und der Anblick der schmackhaften Nahrung schienen endlich ihre Wirkung erzielt zu haben. Er hob den Kopf, richtete sich für einen Moment hoch auf und duckte sich dann wieder, wobei er auf und ab wippte. Die unverkennbaren Anzeichen für den bevorstehenden Abflug, wie die Zwillinge wußten. Und er stürzte sich wahrhaftig von oben hinunter, rauschte mit ausgebreiteten Schwingen an Philips lockender Handfläche vorbei und landete auf der Kiste mit dem Hauptangebot an Fressen. „Mißtrauischer Halunke!“ fluchte Philip unterdrückt. Hasard näherte sich mit beiden Händen unterdessen lautlos dem Freßplatz, um blitzschnell zuzupacken. Sir John nahm ein paar rasche Schlucke aus der Muck, schaufelte sich Krumen und Bohnen in den Krummschnabel und entwischte den zuschnappenden Händen des Jungen mit elegantem Anlauf. Im nächsten Augenblick klatschten seine Flügel bereits wieder in der Weite der Grotte, und er drehte eine Runde nach der anderen über den Köpfen der Jungen. Ihnen brach der Schweiß aus. Jeden Moment konnte Old Donegal unten am Strand nach ihnen brüllen. Und was sollte dann aus Sir John werden? Der verrückte Vogel flog entweder hinüber zu den Dons und wurde dort von dem nicht weniger verrückten Anführer massakriert, oder er blieb hier, in einer trügerischen Freiheit, und wurde von Old Donegal geschlachtet und in den Suppentopf gesteckt. Zuzutrauen war es dem alten Griesgram wirklich - und wenn er es nur tat, um die Papageienbrühe hinterher wegzuschütten.
„Himmel noch mal, Sir John“, sagte Philip flehentlich. „Wenn du jetzt nicht zurückkommst, mußt du die Konsequenzen tragen.“ „Dann können wir dir nicht mehr helfen“, fügte Hasard voller Bitterkeit hinzu, „dann ist es aus mit dir.“ Noch minutenlang blieb den Söhnen des Seewolfs nichts anderes übrig, als mit bangen Blicken den Kreisflug des roten Papageis zu beobachten. Aber wie durch ein Wunder schienen ihre Worte schließlich doch zu wirken. Sir John ließ sich auf seinem ursprünglichen Platz nieder, oben auf den Kisten, und dann, plötzlich, sauste er zur Freßstelle. Richtig genußvoll sah er aus, wie er aus der Muck nippelte und Krumen und Bohnen knabbernd verzehrte. Schließlich glaubte Hasard zu träumen, als es sich der Bursche gefallen ließ, gestreichelt zu werden. Und dann, tatsächlich, konnte er ihn von der Kiste wegnehmen und wieder in den Sicherheitsbehälter stecken, den Philip inzwischen geöffnet hatte. Diesmal schoben sie ein paar Holzspäne zwischen Deckel und Kistenrand, bevor sie die Verzurrungen wieder anbrachten. Aufatmend wischten sich die Jungen den Schweiß von der Stirn. „Mann o Mann“, sagte Hasard stöhnend, „das hätte verdammt ins Auge gehen können.“ „Jetzt aber Beeilung“, entgegnete Philip, „sonst wird der Alte doch noch mißtrauisch und riecht den Braten.“ Sie liefen zur Felsenöffnung, schlugen Pulverfässer und Kugelbeutel in der Persenning ein und verknoteten das Tau oben an dem Riesenbeutel. Vorsichtig hoben sie die Last über den Rand der Öffnung und stemmten sich in ausreichendem Abstand gegen das Tau, das sie langsam durch ihre kräftigen Hände gleiten ließen. „Gute Arbeit!“ lobte der alte O'Flynn die beiden, als sie die ersten Pulverfässer in die Deckungen schleppten. „So kann man sich die Schufterei erleichtern, wenn man seinen Kopf gebraucht, nicht wahr?“ Die Zwillinge wechselten einen verstohlenen Blick, als sie zurückliefen, um die nächsten Fässer zu holen. Manchmal wußte man bei dem Alten wirklich nicht, woran man war. Vielleicht hatte er den aus Sicherheitsgründen eingesperrten Vogel ja auch schon vergessen. Und wenn man es genau betrachtete, brauchte Sir John ohnehin nicht mehr unter Verschluß gehalten zu werden. Denn man versteckte sich nicht mehr vor den goldgierigen Spaniern. Folglich war die Heimlichtuerei überflüssig. Old Donegal mußte nur noch davon überzeugt werden.
2.
Sabado, der einzige Überlebende von der kleinen Jolle der „San Jacinto“, hockte schnatternd und zähneklappernd auf einer Taurolle vor der Steuerbordverschanzung. Die Kleidung klebte ihm klitschnaß am Körper, sein Entermesser hatte er verloren. Nichts war ihm geblieben als das erbärmliche bißchen Leben. Und selbst das war ihm nicht sicher, denn Julio Acosta, der stiernackige Mann mit dem pechschwarzen Bart und den hart funkelnden Augen, war unberechenbar. Wie schnell er seine Wut an einem Hilflosen ausließ und ihn kurzerhand ins Jenseits beförderte, hatte er in der jüngsten Vergangenheit mehrfach bewiesen. Deshalb bibberte Sabado nicht nur vor Kälte, sondern auch vor Angst, wie er jämmerlich auf der Taurolle hockte und den wütend-schweigsamen Acosta im Halbkreis der Gefährten vor sich sah. Aber da war etwas anderes, was dem Überlebenden auffiel. Seine Kumpane hatten sich irgendwie verändert. Da war etwas in ihren Gesichtern, das er vorher nicht bemerkt hatte. Auch ihre Blicke, die sie dem Schwarzbärtigen von der Seite her zuwarfen, hatten einen veränderten Ausdruck. Sabado konnte es sich nicht auf Anhieb erklären, aber er sollte innerhalb der nächsten Minuten erfahren, worin diese auffällige Veränderung begründet war. „Ein Bild des Jammers“, sagte Acosta verächtlich und durch die Mundwinkel gepreßt. „Ein Häufchen Elend bist du, Sabado. Andere Worte kann ich für dich nicht finden, du Jammerlappen. Und wenn du auch noch Mitleid erwartest, dann hättest du nicht erst an Bord zurückkehren sollen. Feiglinge wie du sind an Bord meines Schiffes überflüssig.“ Sabado, der zur ursprünglichen Crew der „Viento Este“ gehörte, zitterte heftiger. Seine Augen begannen zu flackern und richteten sich flehentlich auf Acosta, der ein halbes Dutzend geladene Pistolen unter dem Gurt trug. Der Schwarzbärtige wußte sehr wohl, daß er es zunehmend schwerer hatte, sich durchzusetzen. Der zitternde und frierende Decksmann begann sich schuldig zu fühlen - dafür, daß er noch am Leben war. Doch plötzlich erhielt er unerwartete Hilfe. „Sabado ist kein Feigling“, meldete sich eine rauhe Stimme. Es war Prado, der Bootsmann der „Viento Este“, der sich da laut und vernehmlich Gehör verschaffte. „Er kann nämlich nichts dafür, daß die kleine Jolle versenkt wurde.“ Acosta ruckte herum und fixierte den stämmigen Bootsmann aus zusammengekniffenen Augen. „Wie willst du das beurteilen können!“ brüllte er. „Die Kerle hatten den eindeutigen Auftrag, am Strand einen Brückenkopf zu bilden. Den Auftrag haben sie nicht ausgeführt. Das ist ein klarer Fall. Sabado gehörte dazu. Also muß er bestraft werden. Die anderen sind für ihre Dämlichkeit ja schon vom Feind bestraft worden.“ Acosta wollte zu einer seiner Pistolen greifen, doch sein Arm erstarrte mitten in der Bewegung. Prado hatte sich mit einem halben Seitwärtsschritt aus dem Halbkreis gelöst, und seine drohende Haltung war unmißverständlich. „Hier wird niemand mehr abgeknallt“, sagte er eisig. „Ab sofort reden wir ein Wörtchen mit. Wir sehen nämlich beim besten Willen nicht mehr ein, daß einer nach dem anderen wegen irgendwelcher dämlicher Kleinigkeiten krepieren muß. Wir waren mal zweiundzwanzig Leute. Jetzt sind wir nur noch fünfzehn. Die sieben, die tot sind, könnten noch am Leben sein. Deshalb haben wir jetzt endgültig genug, Acosta.“
Der Schwarzbärtige nickte, grinste jovial und legte die Hände auf den Rücken, als hätte er nie eine andere Bewegung als diese vorgehabt. „Natürlich wird Sabado nicht zum Tode verurteilt“, sagte er in gönnerhaftem Ton. „Seine Strafe besteht lediglich in einer ernsten Verwarnung. Durch den Schreck hat er schließlich schon genug gelitten. Wenden wir uns also den vordringlichen Dingen zu.“ Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung zum Strand. „Diese verdammten Bastarde haben uns ganz schön hereingelegt. Wenn sie uns nicht die beiden großen Jollen geklaut hätten, säßen wir jetzt nicht in der Klemme.“ „Wenn, wenn, wenn!“ rief Prado angriffslustig. „Es war eben alles falsch.“ Einen Moment hatte es den Anschein, als brause Acosta erneut auf. Doch er beherrschte sich und blieb ruhig. „Dann machen wir eben ab sofort alles richtig“, sagte er mit einem überlegenen Grinsen. „Ich habe schon alles im Kopf. Es wird folgendermaßen ablaufen...“ Er legte eine bedeutungsschwere Pause ein. Die Kerle starrten ihn an. „Wir haben kein einziges Boot mehr. Davon müssen wir ausgehen, das läßt sich nicht ändern. Wir wollen aber zur Insel, weil wir unser Gold zurückholen wollen. Soweit gut?“ Die Kerle nickten - gereizt, jedoch zustimmend. „Also gut“, sagte Acosta. „Unsere Möglichkeiten sind natürlich begrenzt. Schwimmen scheidet aus, weil wir unser Pulver nicht trockenhalten könnten. Ohne Musketen und Pistolen können wir aber nichts ausrichten, weil die Bastarde da drüben sämtliche Waffen und sämtliche Munitionsvorräte von der ‚Viento Este' haben.“ „Genau das ist es“, sagte Prado wütend. „Die schießen uns zusammen, bevor wir das Ufer erreichen. Wenn es nicht so wäre, hätten sie auch die kleine Jolle nicht auf Grund geschickt.“ „Mein neuer Plan hat so ein Risiko nicht“, sagte Acosta prahlerisch. „Es gibt da nämlich eine hervorragende Möglichkeit, auf die man nur kommen muß: Wir bauen Flöße als Ersatz! Holz genug haben wir an Bord. Außerdem hat so ein Floß noch den Vorteil, daß es mit Musketenfeuer nicht versenkt werden kann.“ Beifallheischend blickte er in die Runde. Prado und die anderen sahen ihn an und kriegten den Mund nicht wieder zu. Selbst Sabado vergaß sein Zittern und Frieren und konnte nur noch ungläubig blinzeln. Prado gewann seine Fassung als erster wieder. „Hast du noch alle. Mucks im Schapp, Acosta?“ rief er höhnisch. „Fein, wenn Flöße mit Musketenkugeln nicht versenkt werden können. Wirklich fein. Aber es gibt ja wohl einen Haken an der Sache, einen winzigen kleinen Haken - für dich wohl nicht der Rede wert.“ „So?“ schnappte Acosta. „Was für einen Haken?“ Die Kerle starrten ihren Anführer jetzt an, als hätten sie einen Irren vor sich. „So eine Floßbesatzung“, sagte Prado mit beißendem Spott, „besteht bekanntlich nicht aus Holz und ist daher höchst verwundbar. Selbst wenn wir unser Pulver trocken hinüberbringen, nutzt uns das herzlich wenig, weil sie uns nämlich vorher von dem Floß putzen wie bei einem Vergnügungsschießen für hochwohlgeborene Seniores.“ „Was willst du damit sagen?“ fragte Acosta scharf. Der Bootsmann der „Viento Este“ grinste verächtlich. „Brauchst du noch eine Extraerklärung? Die Leute auf deinen feinen Flößen hätten keinerlei Deckung und nicht den geringsten Schutz. Ich denke jedenfalls nicht daran, Selbstmord zu begehen. Als Leiche hätte ich nämlich nichts von dem Gold.“ Die Kerle brüllten lauthals Beifall. Selbst Sabado, der vor zwei Minuten noch um sein Leben gefürchtet hatte, stimmte mit ein.
„Das ist Meuterei!“ schrie Acosta. „Nenne es, wie du willst!“ schrie ein dürrer Kerl zurück, dessen Name Morro war. „Wir spielen jedenfalls nicht mit.“ Der Schwarzbärtige sperrte den Mund auf und schnappte nach Luft. Dabei sah er aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. Er brachte keinen Ton mehr hervor. Die Meute bedachte die Worte des Dürren mit grimmig geäußerter Zustimmung. Prado nickte ihm aufmunternd zu. „Im übrigen“, fuhr Morro fort, nachdem die anderen ruhiger geworden waren, „lassen wir unserem sehr verehrten Kapitän beim Landen herzlich gern den Vortritt. Ich habe mal von Kapitänen und Offizieren gehört, die von ihren Leuten nichts verlangen, was sie ihnen nicht selbst vorexerziert haben. Aber wir haben ja so ein Musterexemplar von Kapitän, das es vorzieht, an Bord zu bleiben und die Crew loszuschicken, damit sie für ihn die Kastanien aus dem Feuer holt.“ „Sehr richtig!“ grölte einer aus dem Halbkreis. Sofort setzte erneut gejohlter Beifall ein. Morro brachte die Kerle mit einer Handbewegung zur Ruhe, sah Acostas Fassungslosigkeit und war nun erst richtig in seinem Element. „Und wem diese Prozedur nicht paßt“, schrie er, „dem jagt unser sehr verehrter Kapitän eine Kugel in den Bauch und schickt ihn zu den Fischen! Allerdings schneidet er sich ins eigene Fleisch, dieser blitzgescheite Kapitän. Wenn er nämlich einen nach dem anderen von uns abschießt“, der Dürre hielt inne und kicherte höhnisch, „dann ist schon jetzt der Zeitpunkt absehbar, an dem er überhaupt keine Mannschaft mehr hat. Und was tut er dann, unser schlauer Kapitän? Ja, dann wird er wohl allein zusehen müssen, wie er sich das Gold holt.“ Abermals johlte die Horde lautstark Beifall. Morro sorgte erneut mit einer energischen Handbewegung für Ruhe. Dann wandte er sich wieder dem Schwarzbärtigen zu. „So geht das also beim besten Willen nicht, Acosta“, sagte er gelassen. „Als Kapitän mußt du dir schon was anderes einfallen lassen, als bloß deine Crew zu verheizen. Wohin das führt, mußt du wohl langsam einsehen.“ Julio Acosta schluckte, und sein Adamsapfel ruckte dabei heftig auf und ab. Er mußte begreifen, daß er dieses Mal rein gar nichts tun konnte, obwohl es ihm mächtig in den Fingern juckte. Aber es hatte keinen Sinn. Denn die Strolche waren samt und sonders bewaffnet. Und sie lauerten nur darauf, daß er seine Pistole herausriß. Sicherlich hätte er sich Geltung verschaffen können, indem er beispielsweise Prado über den Haufen knallte. Oder etwa nicht? Er sah die Kerle an, und Zweifel keimten in ihm auf. Verdammt, ja, sie warteten nur darauf, daß er ihnen einen Grund gab, ihre Waffen zu ziehen. Prado und Morro, diese Aufwiegler, hatten ihren einfältigen Hirnen den richtigen Weg gewiesen. Wenn sie ihn töteten, dann war es eben einer weniger, mit dem sie das Gold teilen mußten. Von der Seite konnte man die Sache zweifellos auch betrachten. Acosta sah die grinsenden Gesichter von Prado und Morro und hatte das Gefühl, an seiner Wut ersticken zu müssen. Er wußte jedoch, daß er innerhalb von Sekunden ein toter Mann sein würde, wenn er jetzt falsch reagierte. Deshalb beschloß er, einzulenken, wenngleich es ihm höllisch schwerfiel. „Vielleicht haben die Herren Klugscheißer Prado und Morro ja einen besseren Vorschlag“, sagte er ruhig und in der Gewißheit, daß es praktisch keinen besseren Vorschlag gab als den seinen. Er wußte allerdings, daß insbesondere Morro zu den
wenigen zählte, die sich durch ein wenig Grips von den anderen abhoben. Man durfte ihn und den Bootsmann also auch nicht unterschätzen. „Sicher haben wir einen Vorschlag“, sagte Morro mit kaltem Grinsen. „Das mit dem Floß läßt sich nur dann durchführen, wenn es Feuerschutz erhält. Nur dann kann man einigermaßen sicher landen. Und den Feuerschutz können natürlich nur die Kanonen übernehmen.“ „Verdammter Idiot!“ brüllte Acosta. „Merkst du denn nicht selber, was für einen Unsinn du da verzapfst? Hast du vergessen, was passiert ist?“ „Das haben wir keineswegs vergessen“, sagte Morro mit drohendem Unterton. „Dabei wurde nämlich auf völlig sinnlose Weise ebenfalls einer von uns geopfert. Du hättest wissen müssen, daß die Bronzerohre unserer Kanonen nicht dafür taugen, eine erhöhte Pulvermenge zu verkraften. Zwei Leute wurden außerdem verletzt.“ „Eben drum!“ schrie der Schwarzbärtige. „Ich denke doch nicht daran, so etwas zu wiederholen. Den Vorschlag dieses Idioten kann man doch nicht ernst nehmen!“ Vergeblich suchte er in der Runde Zustimmung. Morro betastete wie zufällig den Griff seiner Pistole und fixierte Acosta voller Hohn. „Der Idiot bist du“, sagte der Dürre mit höhnischer Stimme. „Statt die Pulverladung zu erhöhen, gibt es nämlich auch noch die Möglichkeit, die Schußweite zu verringern. Und zwar dadurch, daß man die ,San Jacinto“ näher ans Ufer legt.“ „Wir liegen schon nahe genug an den Riffs“, entgegnete Acosta lahm und spürte selbst, wie wenig Gewicht sein Argument hatte. Morro zerstreute es mit wenigen Worten. „Selbst in den schlimmsten Riffzonen gibt es für eine Galeone meist noch Möglichkeiten, näher an Land zu verholen. Und zwar dadurch, daß man durch Lotungen feststellt, wo das Wasser tief genug ist.“ Julio Acosta preßte die Lippen aufeinander, daß sie einen blutleeren Strich bildeten. Er wußte nicht mehr, was er entgegnen sollte, und das war ihm bislang höchst selten passiert. Was, zum Teufel, sollte er sich jetzt einfallen lassen, um den Kerlen zu verklaren, daß noch immer er es war, der den Ton angab? * Ihm fiel nichts ein, buchstäblich nichts. Unter dem Strich blieb nichts als das Niederschmetternde an der ganzen Geschichte: Auf die im Grunde praktikable Idee hätte er selbst auch kommen müssen. Er hatte diese Idee aber nicht gehabt und mußte sich demzufolge vor versammelter Mannschaft von einem einfachen Decksmann belehren lassen. Und es brachte das Blut in seinen Adern zum Kochen, das überhebliche Grinsen des Dürren ansehen zu müssen. .Also gut“, sagte Morro schließlich und nickte zufrieden. „Damit wäre dann alles geklärt. Wir verfahren so, wie ich vorgeschlagen habe. Unser Kapitän hat keine Einwände erhoben.“ Beifallsgebrüll setzte ein. Es fehlte nicht viel, so stellte Acosta zähneknirschend fest, und sie hoben den Dürren auch noch begeistert in die Luft. „Wenn die Idee schlecht wäre, hätte ich es schon gesagt!“ schrie Acosta. „Außerdem hatte ich selbst natürlich schon vorher daran gedacht. Wollte nur die Galeone nicht zu sehr gefährden.“ Seine Stimme ging im Gebrüll unter, und es achtete ohnehin niemand auf ihn. „Dann mal los, Freunde!“ rief Morro und reckte die Faust hoch. „An die Arbeit! Habt ihr vergessen, daß da drüben auf der Insel ein Goldschatz auf uns wartet?“
Wieder johlten sie, und voller Begeisterung folgten sie dem Dürren zur vorderen Grätingsluke. Den Schwarzbärtigen, der für sich beanspruchte, ihr Kapitän zu sein, ließen sie einfach stehen. Nur Sabado zögerte, sich von seiner Taurolle zu erheben. Er schnatterte wieder vor Kälte, und seine Furcht, daß Acosta seine Wut an ihm auslassen würde, wenn er vorbeizuschleichen versuchte, rührte schließlich aus schlechten Erfahrungen her. Doch Prado, der Bootsmann, behielt trotz allen Trubels den Überblick. „He, Sabado!“ rief er, indem er sich im Pulk der anderen umdrehte. „Auf was wartest du noch? Schwenk deine müden Knochen! Zieh dir was Trockenes an und dann an die Arbeit! Wir brauchen jede Hand.“ „Jawohl, Senior!“ erwiderte Sabado grinsend, sprang auf und flitzte los wie eine Ratte, der man auf den Schwanz getreten hat. Julio Acosta stand da und ließ die Arme hängen. Er fühlte sich so erschlafft und kraftlos wie einer, der zwölf Stunden in einer Silbermine geschuftet hat. Und er fühlte sich so einsam wie nie zuvor in seinem Leben. Nicht beachtet zu werden, so fand er in diesem Moment heraus, war schlimmer, als Meuterer in den Griff zu kriegen. Er empfand grenzenlose Hilflosigkeit, während er beobachtete, wie sie mit Feuereifer schufteten. Die Aussicht auf den Goldsegen entfesselte ihre Gier, und die Gier spornte sie zu enormer Leistungskraft an. Morro und Prado gaben die Anweisungen. Als erstes wurden jene Rundhölzer aus den Laderäumen geholt, die sich für den Fall eines Mastbruches stets als Reserve an Bord befanden. Insgesamt acht Hölzer von durchschnittlich einem Fuß Durchmesser wurden an Deck geschleppt. Die Kerle richteten sie auf den Planken neben der Steuerbordverschanzung aus, bildeten dann im Handumdrehen eine Kette bis hinunter in den Schiffsbauch und holten auf diese Weise in Windeseile ein Dutzend Spieren als Verstrebungen herauf. Danach wurde das benötigte Werkzeug an Deck geschafft. Sabado erschien in trockener Kleidung. Morro suchte sich die Leute aus, die unter seiner Anleitung mit Hämmern und geschmiedeten Nägeln zu Werke gingen. Prado kümmerte sich mit dem Rest der Leute um Verzurrungen und das Absägen überschüssiger Enden. Julio Acosta stand immer noch am selben Fleck und verglich sich mit den Spierenenden, die über das entstehende Floß hinausragten und von den scharfen Sägezähnen einfach weggewischt wurden. Er war nicht nur einsam und hilflos, er war auch völlig überflüssig. Er ließ sich von einer Welle des Selbstmitleids überrollen und war drauf und dran, sich in seine Kammer zurückzuziehen, um seinen Kummer in einer Flasche Rotwein zu ertränken. Doch dann siegte der Rest von Stolz, den er noch in sich hatte. So durften sie nicht ungestraft mit ihm umgehen - so nicht! Den Lohn für ihre Unverschämtheit würden sie eines Tages noch empfangen. Im Augenblick war es geboten, diplomatisch vorzugehen, um nicht zu riskieren, kurzerhand über den Haufen geknallt zu werden. Er brauchte Minuten, um mit seinem aufwallendem Zorn fertig zu werden. Er hatte ihnen alles ermöglicht, diesen Hurensöhnen! Wenn sie jetzt so kurz vor dem Ziel standen, dann hatten sie es nur einem zu verdanken - ihm. Als sie mit den Booten der „Viento Este“ mit Kurs auf Floridas Ostküste gesegelt waren, hatte er die Dinge in die Hand genommen und die weitere Marschroute festgelegt. Seine Idee war es gewesen, Kapitän Juan de Molina und die restlichen Kerle in den beiden anderen Booten zu beseitigen. Jawohl, dachte Acosta und straffte seine Haltung, ohne mich hättet ihr Bastarde das alles nicht geschafft Ihr wärt nicht einmal auf die Idee verfallen. Und dann, in St. Augustine, hatten sein sicheres Auftreten und sein guter Eindruck letzten Endes bewirkt, daß sie die Heuer auf der „San Jacinto“ erhielten. Dieses Schlitzohr von
einem Kapitän, Andres de Llebre, hatte er, Acosta, außer Gefecht gesetzt. Desgleichen den Bootsmann, Pedro Rovira. Verdammt, ja, diese Mistkerle, die da wie besessen an ihrem Floß herumhämmerten und sägten, hatten ihm eigentlich alles zu verdanken... Rangmäßig hatte es ihm zugestanden, sich beim Vorrücken auf die Insel ein wenig zurückzuhalten. Er konnte seinen wertvollen Körper nicht ständig in vorderster Linie dem Kugelhagel und tödlichen Klingen aussetzen. Nein, sie brauchten seine Führungskraft, diese Narren. Das hatten sie offenbar völlig vergessen. Acosta beschloß, seinen Führungsanspruch wieder zu untermauern. Sicheres Auftreten war dazu eine unabdingbare - und die beste - Voraussetzung. Er gab sich einen Ruck und stelzte auf die Schuftenden zu, die Hände gravitätisch auf den Rücken gelegt. Er umrundete den Schauplatz hektischer Arbeit, enterte über den Niedergang zur Back auf und stützte sich auf die Balustrade. Mit gönnerhafter Miene beobachtete er das Geschehen. Die meisten der Kerle beachteten ihn noch immer nicht. Aber er sah, wie sich Prado und auch Morro ein paarmal verstohlen umwandten, um zu sehen, was er tat. Immerhin trug er sechs Pistolen im Gurt, eine davon eine Doppelläufige, und sie hielten ihn für unberechenbar. Gut so. Noch hatte er die Möglichkeit, die Macht mit Gewalt wieder an sich zu reißen. Aber das wäre unklug gewesen. Mit einer noch mehr dezimierten Crew sank die Chance, die verfluchten Goldräuber auf der Insel zu überwältigen. Nein, er mußte seine geistige Überlegenheit ausspielen. Immerhin hatte er mehr Grips als diese fünfzehn Einfaltspinsel zusammen. „Mal herhören“, sagte er in freundlichem Ton. „Kurze Pause!“ Sechs oder sieben Kerle, denen der Schweiß in Strömen über das Gesicht rann, ließen aus purer Gewohnheit Hämmer und Sägen sinken und richteten sich auf dankbar für die Möglichkeit zum Verschnaufen. Die anderen folgten ihrem Beispiel. Prado und Morro registrierten es mit sichtlichem Unwillen. „Trinkwasser austeilen!“ befahl Acosta energisch. In übertrieben gespieltem Unmut schüttelte er den Kopf. „Himmel noch mal, muß man euch denn alles vorbeten? Seine Arbeitskraft erhält man sich nicht durch unsinnige Schinderei. Seinen Körper darf man bei allem Eifer nicht vernachlässigen. Klar?“ Prado und Morro starrten mit offenem Mund zu ihm hin. „Sabado“, sagte Acosta und brachte sogar ein Lächeln zustande, „nun hol schon Trinkwasser aus der Kombüse!“ Der Überlebende der kleinen Jolle erkannte das Versöhnungsangebot, das aus Acostas Worten klang, und sofort rannte er los. Eine Minute später umringten die Kerle die Pütz, die Sabado geholt hatte, und auch Prado und Morro griffen bereitwillig zu, als die Muck mit dem erfrischenden Naß die Runde machte. „Seht ihr“, sagte der Schwarzbärtige aus seiner erhöhten Position, „gleich geht es schon viel besser. Und dann werden die verdammten Bastarde da drüben am Strand ihr blaues Wunder erleben, das schwöre ich euch. Wir müssen es nur klug genug anstellen.“ Prado richtete den Blick „zu Acosta hinauf. „Was soll das schon wieder heißen? Glaubst du, wir wissen nicht, was wir zu tun haben?“ Der Schwarzbärtige zog die Schultern hoch. „Nun gut, wie stark gedenkt ihr denn euer Floß zu bemannen? Das ist nur eine Frage, aus reinem Interesse.“ „Mit allem, was wir haben“, erwiderte Prado gereizt. „Wie denn sonst?“ Acosta lächelte mild.
„Das habe ich mir gedacht. Ihr würdet wertvolle Zeit verschwenden, weil ihr nämlich erst mal mitsamt Pulver und Waffen absaufen würdet. Dieses sonst gut gebaute Floß“, er deutete auf das fast fertige Wasserfahrzeug, „trägt nicht mehr als vier Mann und ein bißchen Ausrüstung.“ Die Decksleute starrten ihn an. „Woher willst du denn das wissen?“ zischte Morro. „So was kann ich ausrechnen“, behauptete Acosta. „Aus der Länge und dem Durchmesser der Hölzer, malgenommen mit der Gesamtzahl von acht, ergibt sich die Tragfähigkeit. Ihr könnt es ausprobieren, und ihr werdet sehen, daß ich recht habe.“ Ehrfurcht zeichnete sich in den meisten der Gesichter ab. Nur Prado und Morro blieben verächtlich. „Weitermachen“, sagte Prado. „Eins würde ich euch noch empfehlen!“ rief Acosta. „Rundet die Hölzer vorn und achtern ein wenig ab! Dann erreicht ihr bei dem plumpen Ding immerhin etwas mehr Schifftigkeit.“ Wieder hatte Acosta Land gewonnen, denn Prado und Morro konnten diesem Vorschlag nur zustimmen, dagegen gab es beim besten Willen nichts einzuwenden. Die Äxte wirbelten mit blitzenden Klingen, und sehr bald hatte das Floß vorn und achtern sauber gerundete Hölzer. Mittschiffs achtern wurde eine Dolle zum Wriggen mit einem Riemen angebracht. Danach stand dem Fieren mittels der Großrah nichts mehr im Wege. Voller Stolz beobachteten die Kerle, wie ihr Bauwerk längsseits unter der Jakobsleiter dümpelte. „Jetzt die Belastungsprobe!“ rief Prado. „Erst mal zehn Mann!“ „Doch vorsichtig geworden?“ sagte Acosta grinsend, als die Kerle schon zur Pforte im Schanzkleid liefen. „Ich behaupte, das Ding geht trotzdem unter. Vielleicht wäre es besser, deine sogenannte Belastungsprobe an Backbord durchzuführen, wo's die Kerle vom Strand aus nicht sehen. Möglich, daß sie sich sonst totlachen.“ Prado wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung durch die Luft. Morro knurrte nur unwillig, und gemeinsam mit den drei anderen, die noch an Bord geblieben waren, beugten sie sich über die Verschanzung und spähten nach unten, wo einer nach dem anderen das Floß betrat. Auch Acosta verfolgte das Geschehen und sah voller Genugtuung, daß sich die obere Hälfte der Rundhölzer schon beim fünften und sechsten Mann bedrohlich der Wasserlinie näherte. Als sich der siebente auf das Floß wagte, standen sie gleich darauf bereits bis zu den Knöcheln im Wasser. „Ihr müßt euch besser verteilen!“ brüllte Prado. „Dann klappt es auch!“ „Irrtum“, sagte Acosta triumphierend. „Vier Mann, wie ich berechnet habe. Das ist die beste Auslastung für euer feines Floß.“ Prado und Morro mußten zähneknirschend einsehen, daß der Schwarzbärtige recht behielt. Auch die Gewichtsverlagerung nutzte nichts. Mit vier Mann war die Tragfähigkeit gerade so weit ausgenutzt, daß sich das Floß noch gefahrlos manövrieren ließ. Acosta übernahm wieder das Kommando, und der Bootsmann und der Dürre hatten nichts mehr einzuwenden. Wenn Acosta nicht verrückt spielte, war er immer noch ein verdammt brauchbarer Bursche. Den vier Kerlen, die gleich nach der „Belastungsprobe“ das Floß bemannten, erteilte der Schwarzbärtige genau festgelegte Aufgaben. Einer begab sich zum Loten nach vorn, zwei Musketenschützen postierten sich mittschiffs, und der vierte Mann übernahm achtern den Wriggriemen. Er legte den Kopf in den Nacken und blickte fragend zur Verschanzung der Galeone hoch.
„Welchen Kurs?“ Es war nun wieder selbstverständlich, daß Acosta antwortete und damit den Befehl erteilte. „Nach Süden!“ tönte die energische Stimme des Schwarzbärtigen, und die Männer auf dem Floß warteten nicht erst ab, ob Prado und Morro dazu noch etwas zu bemerken hatten. Der Mann am Wriggriemen brachte das Floß in Fahrt, nachdem die drei anderen mitgeholfen hatten, es von der Bordwand der „San Jacinto“ abzustoßen. Der Ankerplatz der Galeone befand sich etwa in der Mitte vor der Westseite der langgestreckten Insel, die in Nordsüdrichtung verlief. Die Ostseite der Insel war wegen der geringen Wassertiefe für Schiffe des Galeonen-Typs nicht erreichbar. Dort erwies sich die Große Bahama Bank als alles beeinflussendes Hindernis. Dagegen lag die Cat Cays mit ihrer Westseite fast unmittelbar an der tiefen Florida-Straße. Nur von Westen her konnte man sich also der Inselgruppe nähern, und dabei galt es, die vorgelagerten Riffs genau zu beachten.
3.
„Schade“, sagte Old Donegal enttäuscht. „Wirklich schade, daß sie sich nicht gegenseitig die Schädel eingeschlagen haben.“ Ed Carberrys Miene spiegelte Entrüstung. „Schade nennst du das? Ein Glück, sage ich! So bleibt uns wenigstens das Vergnügen, ihnen was auf die Nuß zu klopfen.“ Die Männer lachten glucksend. „Langsam reicht's mir!“ fauchte der alte O'Flynn. „Deine ewigen Widerworte gehen mir verdammt auf den Nerv, Mister Carberry. Du treibst es noch so weit, daß ich dir Redeverbot erteilen muß.“ Der Profos spielte den Erschrockenen, schlug sich mit der flachen Hand vor den Mund und sperrte die Augen weit auf. „Ach du liebe Güte“, sagte er in gekünsteltem Respekt „Das würde mir aber gar nicht gefallen, den ganzen Tag das Schott halten zu müssen.“ „Eben drum“, sagte Old Donegal, dem der Spott nicht aufging. „Deshalb war's ja auch die passende Strafe für dich. Dabei solltest du als Profos eigentlich am besten wissen, was Disziplin ist und was nicht.“ „Langsam werde ich ganz klein und häßlich“, sagte Ed Carberry offenbar geknickt. „Da kann man mal sehen, daß man selbst als Profos noch aufpassen muß, wenn man unter einem gestrengen Kapitän fährt.“ Old O'Flynn faßte das als Kompliment auf und grinste in seiner Felsendeckung vor sich hin. Wieder war es der Kutscher, der die Aufmerksamkeit der „Empress“-Mannen in naheliegende Bahnen lenkte. „Darf ich die Gentlemen Kapitän und Profos höflichst darauf hinweisen, daß sich bei der Galeone etwas Entscheidendes tut? Wenn mich meine Augen nicht täuschen, ist das Floß auf südlichen Kurs gegangen. Noch etwas erscheint mir wesentlich: Der Mann, der ganz vorn hockt, hat soeben begonnen, zu loten.“ Old Donegal kniff die Augen zusammen und spähte angespannt auf die Bucht hinaus. „Verdammt“, sagte er, „die haben doch tatsächlich vor, ihren Pott näher ans Ufer zu legen.“ Carberry konnte ausnahmsweise nicht widersprechen. „Was das bedeutet, dürfte ja wohl klar sein“, sagte er. „Die wollen ihre Kanonen einsetzen, damit eine Gruppe im Feuerschutz landen kann.“ „Vier Kanonen an Backbord“, sagte Stenmark wegwerfend, „und nur noch drei an Steuerbord, weil ihnen die eine auseinandergeflogen ist. Das ist ja nun nicht gerade ein überwältigender Feuerschutz.“ „Wenn wir uns entsprechend verteilen und laufend die Deckungen wechseln“, fügte Martin Correa hinzu, „dann werden wir damit fertig.“ Die anderen nickten zustimmend. Unvermittelt ertönte von dem Floß der Spanier wildes, begeistertes Gebrüll. Deutlich war immer wieder ein triumphierendes „Hurra“ herauszuhören. „Sehen wir uns die Sache mal aus der Nähe an“, entschied Old Donegal kurzerhand. „Die Amigos sind ja vor Freude völlig aus dem Häuschen.“ Im Schutz der Uferfelsen und des Gestrüpps drangen sie gut gedeckt in südlicher Richtung vor und verharrten kurz darauf auf gleicher Höhe mit dem Floß. Es zeigte sich, daß die vier Floßfahrer fündig geworden waren. Ungefähr fünfzig Yards südlich des Ankerplatzes der „San Jacinto“ hatten sie eine Stelle gefunden, die dem Ufer fast dreißig Yards näher war als die derzeitige Position der Galeone. Und
eifrig loteten die Strolche des verrückten Kapitäns weiter und stießen von Minute zu Minute näher ans Ufer vor. Ein Krächzen tönte plötzlich durch die sonst stille Bucht. Erstaunt hoben die Mannen von der verschwundenen „Empress of Sea II.“ den Kopf. Was da flügelklatschend über sie hinwegsauste, war knallrot und pfeilförmig mit seinen ausgebreiteten Flügeln. „Der elende Geier!“ flüsterte Old Donegal. „Schon wieder!“ Carberry sandte einen fragenden Blick zu den Zwillingen, ballte hinter dem Rücken des alten O'Flynn die Hände zu Fäusten und schüttelte mißbilligend und fassungslos den Kopf. Die Söhne des Seewolfs konnten nur die Schultern hochziehen. Für alle anderen, die in die Sicherungsverwahrung des roten Vogels nicht eingeweiht gewesen waren, bestand ja ohnehin nur die Tatsache, daß der Papagei unverhofft aus einem selbstgewählten Versteck wieder aufgetaucht war. Philip und Hasard konnten es sich indessen nur so erklären, daß Sir John den Öffnungsspalt des Kistendeckels genutzt haben mußte, um sich zu befreien. Irgendwie mußte es ihm gelungen sein, mit seinem starken Schnabel die Verzurrungen zu erreichen und sie durchzubeißen. Was die Jungen sich bereits ausgemalt hatten, geschah tatsächlich. Sir John flatterte im Direktkurs auf die „San Jacinto“ zu, stieg bis über die Höhe der Masttoppen auf und drehte zwei Ehrenrunden. Da ihm aber niemand Aufmerksamkeit schenkte, weder durch einen Pistolenschuß noch durch einen gebrüllten Fluch, nahm er sich das Floß als Ziel vor, zu dem alle an Bord der Galeone neugierig hinüberstarrten. Die Kerle, die wie gebannt auf das Loten achteten, bemerkten den Papagei nicht sofort. Doch nach der ersten Runde, hoch über ihren Köpfen, ließ er sich mit schriller Stimme vernehmen. „Culos de mono!“ Das bedeutete nicht mehr und nicht weniger als: „Affenärsche!“ Die Kerle auf dem Floß zuckten zusammen, und der Lotgast vergaß für den Moment sogar seine wichtige Tätigkeit. Entgeistert spähten sie hoch und sahen den kreisenden Papagei, der sie schon auf der Insel der „Viento Este“ so sehr verblüfft hatte. Abermals schleuderte der Vogel ein „Affenärsche!“ in spanischer Sprache auf sie nieder. „Jetzt reicht's“, zischte einer der beiden Musketenschützen, ließ seine Langwaffe sinken und riß die Pistole aus dem Gurt. „Hol es vom Himmel, das verdammte Flattervieh!“ rief der Mann am Wriggriemen. Der Pistolenschuß krachte, und Sir John stieß ein schrilles Zetern aus, das nicht enden wollte. Nach einer Tirade von Schimpfwörtern, die allesamt aus dem Sprachschatz Ed Carberrys stammten, ergriff er mit Kurs auf den Strand die Flucht gerade noch rechtzeitig, um auch der zweiten Pistolenkugel zu entgehen. „Die schießen auf unseren Sir John!“ rief der alte O'Flynn grollend. „Das geht zu weit!“ Während der Papagei pfeilschnell in der Höhlenöffnung verschwand, erholte sich Stenmark als erster von der Überraschung über den plötzlichen Sinneswandel Old Donegals. Die Kerle auf dem Floß hatten sich fast bis auf Musketenschußweite genähert. Kurz entschlossen brachte der blonde Schwede seine Muskete in Anschlag und versuchte es mit einem Steilschuß. Krachend entlud sich die Langwaffe, und die Männer in der Felsendeckung hielten den Atem an. Im nächsten Moment war vom Floß wildes Geschrei zu hören.
Old Donegal und seine Gefährten riskierten einen Blick. Der Lotgast preßte beide Hände auf den linken Oberschenkel und jammerte. Die anderen brüllten vor Schreck und vor panischer Angst, ebenfalls getroffen zu werden. Der Wrigger wendete in fliegender Hast und trieb das Floß zurück. Einer der beiden Musketenschützen war noch geistesgegenwärtig genug, eine Markierungsboje als Ansteuerungspunkt für die Galeone außenbords zu werfen. „Alle Achtung“, sagte Old O'Flynn mit einem anerkennenden Seitenblick zu Stenmark, „auch wenn's ein Zufallstreffer war.“ „Stimmt nicht“, widersprach der Schwede. „Ich habe gefeuert, um zu treffen. Und ich habe getroffen. Die Kugel streifte den Mann am linken Oberschenkel und schlug dann in ein Rundholz.“ „Und haargenau so hast du's natürlich vorgehabt“, erwiderte Old Donegal grinsend. „Klar doch“, behauptete Stenmark, ohne mit der Wimper zu zucken. * Das Floß war längsseits gegangen, und die drei Unverletzten hatten dem Mann mit der Beinschußwunde geholfen, über die Jakobsleiter aufzuentern. Julio Acosta hatte seine erhöhte Kapitänsposition auf dem Achterdeck eingenommen und beobachtete das Geschehen auf der Kühl. Er hatte ein Fäßchen Rotwein als Extraration an Deck schaffen lassen. Nach dem dürftigen Mittagsmahl, das aus gesottenen roten Bohnen mit Speck und Pökelfleisch bestand, sollte der Wein die Nerven der Kerle entspannen. Es war den gemeinsamen Zielen absolut nicht förderlich, wenn sie sich in gereizter Stimmung befanden. Prado und Morro hatten es persönlich übernommen, die Beinwunde des Lotgasten zu versorgen. Natürlich, überlegte Acosta, mußten sich die beiden Schlitzohren wieder wichtig machen. Sie ließen einfach nicht locker damit, ihren Einfluß bei der Mannschaft auszubauen. Acosta hatte verfügt, daß nach dem Backen und Banken zunächst eine einstündige Pause eingelegt wurde, bevor man begann, die „San Jacinto“ an die von der Floßbesatzung entdeckte Position zu verholen. Der Schwarzbärtige brauchte diese Ruhefrist auch für sich selbst, um einen klaren Kopf zu kriegen. Es gab nun einmal gewisse Probleme, die er nicht einfach dadurch vom Tisch fegen konnte, daß er seine Vorgesetztenfunktion als unantastbar betrachtete. Damit gaukelte er sich nur selbst etwas vor. Das mußte er zugeben, wenn er ehrlich zu sich selbst war. Seine Autorität war erheblich angeknackst, und der Grund lag in den Fehlern, die er begangen hatte. Es war unklug und unbeherrscht gewesen, voll einsatzfähige Männer einfach über die Klinge springen zu lassen. Die Idee, mittels der kleinen Jolle am Strand einen Brückenkopf bilden zu lassen, war auch nicht gerade eine geistige Glanzleistung gewesen. Das Ergebnis hatte es bewiesen. Alles in allem hatte er sich beträchtliche Sympathien verscherzt - ja, er mußte ehrlicherweise zugeben, daß er sich im Grunde alles selbst eingebrockt hatte, woran er jetzt zu kauen hatte. Angefangen hatte es mit dem verrückten Papagei, der jetzt schon wieder aufgetaucht war - wie, um ihn zu verhöhnen. Das sprachgewandte Vieh mußte mit dem Teufel im Bunde stehen, da es sich nicht mit einer Pistolenkugel aus der Luft holen ließ.
Verdammt, ja, das war es! Der Gehörnte hatte den Papagei geschickt. Zwar war das ein höchst brauchbarer Fingerzeig auf den Verbleib des Goldes gewesen, aber es war auch von dem betreffenden Augenblick an alles schiefgelaufen. Die Erklärung genügte Acosta, um sich damit vor sich selbst zu rechtfertigen. Der Höllenfürst hatte ihm das Hirn umnebelt, denn anderenfalls hätte er sich niemals dazu hinreißen lassen, eigene Leute ins Jenseits zu befördern. Jawohl, so und nicht anders mußte es gewesen sein. Jetzt brauchte er nur eine geeignete Methode, um bei den Kerlen wieder volles Vertrauen und unumstößliche Autorität zu genießen. Minutenlang beobachtete er die Kerle, wie sie auf der Kühl ihren Rotwein schlürften und mit den üblichen unflätigen Lauten kundtaten, daß sie sich hemmungslos vollgefressen hatten. Die Idee entsprang seinen suchenden Gedanken ohne Ankündigung, und er beglückwünschte sich insgeheim dafür. Noch vor wenigen Stunden wäre er nicht einmal im Traum auf eine solche Idee verfallen. Jetzt aber erschien sie ihm als die ideale Methode zur Beseitigung aller Schwierigkeiten. Man mußte den Einfaltspinseln den Kleinen Finger geben und sie in dem Glauben wiegen, daß sie die ganze Hand erhalten hatten. „Prado und Morro zu mir“, sagte Acosta energisch und übertönte das Stimmengemurmel auf der Kühl. „Lagebesprechung!“ Schlagartig wurde es still. Alle Blicke richteten sich zum Achterdeck. Der Bootsmann der „Viento Este“ blinzelte ungläubig, und sein dürrer Gefährte legte die Stirn in ein Wellenmuster von Falten. „Was soll denn das nun wieder heißen?“ entgegnete Prado mit der nach Acostas Meinung plumpen Direktheit des einfachen Mannes, der weder Fingerspitzengefühl noch Anstand kannte. Der Schwarzbärtige bewahrte dennoch seine deutlich zur Schau gestellte Überlegenheit. „Ich will keine eigenen Entscheidungen mehr treffen“, sagte er rundheraus. „Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, daß dabei nichts Gutes herauskommt. Also noch mal: In fünf Minuten Lagebesprechung in der Kapitänskammer.“ Es verfehlte seine Wirkung nicht. Während er über den Backbord-Niedergang abenterte und würdevoll in Richtung Achterdeckskammern schritt, sah er an den Mienen Prados und Morros, daß sie sich geschmeichelt fühlten. Genau das hatte er erreichen wollen. Indem er sie zu seinen Vertrauten ernannte, brachte er sie in eine Distanz von den Decksleuten und näher an sich heran. Die Gefahr einer offenen Meuterei gegen ihn wurde damit geringer. Er betrat die Kapitänskammer, in der ihn sein Vorgänger auf der „San Jacinto“, de Llebre, so hinterhältig hatte aushorchen wollen. Er war froh, daß er seinerzeit richtig reagiert und den Spieß kurzerhand umgedreht hatte. Jene Umsicht und jene zielsichere Tatkraft, die er dabei an den Tag gelegt hatte, mußte nun auch wieder bestimmend für sein Verhalten als Kommandant dieses Schiffes sein. Zum Teufel, mit einer fünfzehnköpfigen Crew war die Galeone bereits hoffnungslos unterbemannt. Auf ein Seegefecht durfte er sich mit so einem winzigen Haufen niemals einlassen, und wenn sie in einen Sturm geraten sollten, dann hing ihr Leben buchstäblich an dem so oft erwähnten dünnen Faden. Nein, er durfte sich auf keinen Fall zu weiteren Wutausbrüchen hinreißen lassen. Und er mußte die Kerle unter Kontrolle halten, indem Prado und Morro seine Vertrauenspersonen wurden. Jedem Vordecksaffen, dem man ein bißchen Kompetenz gab, schwoll erfahrungsgemäß vor Stolz die Brust.
Er entkorkte eine Flasche Rum aus de Llebres Vorräten, karibischer Rum von der besten Sorte. Zusammen mit drei Bechern stellte er sie auf den Tisch. Dann zog er den bequemen Stuhl seines Vorgängers heran und setzte sich ans Kopfende des Tisches. Die Schritte der beiden Männer polterten pünktlich heran. Ihre Bewegungen waren tapsig, als sie eintraten. Acosta beobachtete es und ließ sich nicht anmerken, wie er sich insgeheim darüber amüsierte. Die Kapitänskammer war eine ihnen fremde Umgebung, in der sie sich unbehaglich fühlten. Damit hatte er einen klaren Vorteil: Sie würden es als etwas Besonderes betrachten, wenn er sich mit ihnen auf eine Stufe stellte. „Setzt euch und genießt einen edlen Tropfen mit mir“, sagte er mit einer einladenden Handbewegung. „Was wir als nächstes unternehmen, will genau und in aller Ruhe bedacht werden.“ Prado und Morro setzten sich linkisch. Acosta füllte die Becher jeweils zur Hälfte mit dem hochprozentigen Rum und prostete den beiden Teilnehmern seiner Lagebesprechung zu. Er trank einen Schluck und ließ seinen Becher mit einem wohligen Laut wieder sinken. „Wir wollen die Vergangenheit auf sich beruhen lassen“, sagte er mit jener Betonung, wie er sie bei feierlichen Ansprachen gehört hatte. „In der Vergangenheit hat es Fehler gegeben, die nicht wieder geschehen dürfen. Wir müssen mit aller Kraft bestrebt sein, jetzt ans Ziel zu gelangen.“ „Die Fehler haben nicht wir begangen“, sagte Prado über den Rand seines Bechers hinweg. Er hatte dabei das „Wir“ betont. Acosta verzog unwillig das Gesicht. Da war sie wieder, diese plumpe Direktheit, von der er gern Abstand halten wollte, je mehr er sich mit seinem selbstgewählten Kapitänsrang identifizierte. „Darüber bin ich mir im klaren“, sagte er versöhnlich. „Eben deshalb habe ich euch ja auch zu dieser Lagebesprechung gebeten. Natürlich kann ich nicht jede Einzelheit mit jedem erörtern. Was ich brauche, sind zuverlässige Gewährsleute, die die Crew vertreten. Über Offiziersränge und dergleichen können wir später reden, wenn wir unsere wichtigste Aufgabe bewältigt haben und eine vollständige Mannschaft in Heuer nehmen.“ In den Augen des Bootsmanns und des dürren Decksmanns entstand ein Funkeln. Sie hatten den Köder angenommen. Acosta bemerkte es mit Genugtuung. „Ich sehe da überhaupt keine Schwierigkeiten mehr“, sagte Morro breit und lehnte sich zurück. „Wir haben eine passende Stelle gefunden und brauchen nur noch dort zu ankern. Dann bepflastern wir den Strand mit unseren Neunzehnpfündern, bis die ganze verdammte Insel sturmreif ist.“ „Hört sich sehr einfach an“, sagte Prado, „aber ich würde da doch nicht so verdammt sicher sein. Es gibt ein paar Kleinigkeiten, die mir nicht gefallen.“ „Was für Kleinigkeiten?“ stieß Morro hervor, und es klang wie das Zuschnappen eines Hundes. „Alles in allem haben wir vier Geschütze, die wir auf einmal einsetzen können. Damit erreichen wir keine Feuergeschwindigkeit, die die Kerle in Deckung zwingt. Und richtig bepflastern können wir den Strand schon gar nicht.“ Der Dürre schüttelte den Kopf. „Geschütze sind Geschütze“, entgegnete er halsstarrig. „Und wenn wir sie damit nur einschüchtern, dann reicht das schon. Die verdammten Bastarde haben nur Musketen, wenn ich's richtig mitgekriegt habe.“
„Sehr richtig!“ rief Prado. „Das ist ein weiterer Punkt. Das Floß war nahe genug am Strand, so daß sie mit einer Muskete hinlangen konnten. Immerhin haben wir seitdem einen Verwundeten.“ „Zufallstreffer“, erklärte Morro. „Egal“, entgegnete der Bootsmann mit einer heftigen Handbewegung. Er hatte sich in Eifer geredet. „Wir liegen mit der Galeone an der neuen Position, das heißt, auch in Musketenreichweite. Ob Zufallstreffer oder nicht - wir müssen dann dauernd damit rechnen, daß uns Blei um die Ohren fliegt.“ Morro schüttelte den Kopf. „Dann setzen wir eben auch Musketenschützen ein.“ „Wo willst du denn so viele Leute hernehmen? Wir brauchen eine Geschützbedienung, normalerweise mindestens zwei Mann für jede Kanone. Dann vier Mann für das Floß. Macht zwölf. Bleiben nur noch drei Mann und unser Kapitän.“ Beide warfen einen Seitenblick zu Acosta, der die Kuppen der gespreizten Finger aneinandergelegt hatte und interessiert zuhörte. „Na und?“ sagte der Dürre brummend. „Das reicht doch für die Musketen, oder?“ „Dann haben wir niemanden mehr für das Schiff!“ schrie Prado unbeherrscht. „Und für Unvorhergesehenes erst recht nicht.“ „Ruhig Blut, Seniores, ruhig Blut“, mahnte der Schwarzbärtige mit einer dämpfenden Handbewegung. „Vorläufig sind das alles noch ungefangene Fische. Ich meine, wir sollten zunächst einmal die Position einnehmen, die unsere Floßbesatzung entdeckt hat. Daß wir mit Musketenschüssen rechnen müssen, wissen wir. Wir werden entsprechend vorsichtig sein. Andererseits glaube ich nicht, daß die Bastarde ihre Munition sinnlos verschwenden. Die wissen doch genauso wie wir, daß sie mit Zufallstreffern kaum etwas ausrichten können.“ „Und unsere Kanonen?“ wandte Prado ein. „Wenn sie nun nicht ausreichen, um die Insel sturmreif zu schießen?“ Acosta tat, als überlege er. „Wir werden unsere Floßbesatzung nicht sofort losschicken“, sagte er schließlich. „Erst mal erproben wir die Wirkung der Geschütze. Erst wenn wir wissen, mit welcher Taktik wir die Bastarde am besten in Schach halten, wird unser Landetrupp in Marsch gesetzt.“ Prado zog anerkennend die Augenbrauen hoch. „Sehr gut. Bist du bereit, das Ganze auch abzublasen, wenn sich herausstellt, daß es keinen Zweck hat?“ „Natürlich“, erwiderte der Schwarzbärtige sofort. „Dann müssen wir uns eben etwas anderes einfallen lassen. Wer einen vernünftigen Vorschlag hat, soll sich bei mir melden. Gebt das an die Männer weiter.“ Der Bootsmann und sein dürrer Gefährte nickten beeindruckt. „Ich denke“, sagte Prado, „so kriegen wir es hin.“ „Müßte mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht klappt“, fügte Morro hinzu. „Den Teufel laßt lieber aus dem Spiel“, sagte Acosta und füllte die Becher noch einmal zur Hälfte mit Rum. „Der verflixte Kerl könnte sonst noch auf die Idee verfallen, uns einen Streich zu spielen.“ Die Männer prosteten sich zu und lachten. Es klang eine Spur übertrieben, mit einem deutlichen Hauch von Unbehagen angereichert. Völlig abwegig, den Eindruck hatten sie alle drei, war die Furcht vor dem Teufel nicht. Indessen wußten sie nur zu gut, daß ihr Vorhaben noch eine Menge Unwägbarkeiten in sich barg. Das hing auch mit der Tatsache zusammen, daß die Kerle auf der Insel ziemlich gewiefte Burschen waren, die sich nicht so leicht überrumpeln lassen würden.
Mit Schaudern dachten Acosta und seine beiden neuen Vertrauten daran zurück, wie ihnen nachts die Beiboote gestohlen und die Ankertrosse gekappt worden war. So etwas durfte nicht noch einmal passieren. Nein, wer auch immer zur Ankerwache eingeteilt wurde, er würde es sich nicht erlauben, während seiner Wache sanft zu schlummern. Das abschreckende Beispiel der standrechtlichen Erschießung hatten alle noch in bester Erinnerung. Und schließlich, so sagte sich Acosta, brauchten sie nicht zu wissen, daß er sich hüten würde, ein weiteres Mannschaftsmitglied ohne triftigen Grund zu erschießen. Nachdem sie ihre Rumbecher geleert hatten, begaben sie sich gemeinsam an Deck. Acosta erteilte den Männern Order, sich im Halbkreis zu versammeln. In einer salbungsvollen Ansprache ließ er die Kerle wissen, auf welchen Entschluß sich die „Schiffsführung“ geeinigt habe. Prado und Morro, die sich nicht zuletzt dank des Rums zu durchaus freundschaftlichen Gefühlen für Acosta durchgerungen hatten, nickten zu jedem Satz beipflichtend. Der Schwarzbärtige nahm es mit stiller Freude zur Kenntnis. Seine Taktik hatte sich als richtig erwiesen. Andererseits war er sich darüber klar, daß man bei Burschen wie Prado und Morro jederzeit mit einem Stimmungsumschwung rechnen mußte. Im Augenblick aber bestimmte allein die Goldgier ihr gemeinsames Handeln. Acosta begab sich auf das Achterdeck und beobachtete zufrieden, wie Prado und Morro die Männer einteilten. Dann übernahm der Bootsmann das Ruder, während sich Morro an der vorderen Balustrade der Back postierte, um ihm mit Handzeichen genaue Anweisungen für den richtigen Kurs zu geben. Lediglich mit dem Focksegel tastete sich die „San Jacinto“ der Stelle entgegen, die von der Floßmannschaft mit der Boje markiert worden war. Der Nordostenwind wehte mit mäßiger Kraft, was der Behutsamkeit der Männer an Bord der Galeone sehr entgegenkam. Acosta behielt mit dem Spektiv nahezu ununterbrochen den Strand im Auge. Zwar rührte sich dort nichts, aber er war dennoch überzeugt, daß ihn die Bastarde genauso aufmerksam beäugten wie er sie. Schließlich bargen die Männer das Tuch. Der Steuerbord-Buganker rauschte auf Tiefe und faßte sofort - vermutlich irgendwo in einer bizarren Korallenformation. Acosta dachte an den Backbordanker, der irgendwo in der Nähe des bisherigen Liegeplatzes für immer auf Grund bleiben würde. Die verfluchten Goldräuber waren dafür verantwortlich. Noch einmal sollte ihnen so etwas nicht gelingen. Er ließ das Spektiv sinken, klemmte es unter den Arm und rieb sich voller Vorfreude die Hände. Gleich würde es den Bastarden an den Kragen gehen. Dann sollten sie zum ersten Male die Sprache der Bordgeschütze verstehen lernen. Acosta konnte nicht ahnen, daß ihm erneut ein Strich durch die Rechnung gemacht werden sollte - diesmal allerdings nicht von den Goldräubern, sondern von einer Macht, auf die niemand Einfluß hatte.
4. Die Naturgewalten hatten sich zu einem launischen Spiel entschlossen. Dieser Meinung war jedenfalls Old Donegal Daniel O'Flynn, als er sah, was kurz nach der Mittagsstunde geschah. Carberry und die anderen waren nicht weniger entgeistert, aber der alte O'Flynn verzichtete darauf, ihnen seine Mutmaßungen mitzuteilen. Natürlich würden sie wieder herumalbern, wenn er ihnen seine Theorien über das Eigenleben gewisser Mächte auseinandersetzte, die sich außerhalb menschlicher Kontrolle befanden. Zunächst war es eine kaum merkliche Veränderung. Old Donegal beobachtete Plymmie, die dösend bei den Zwillingen hinter der Felsendeckung lag. Ohne erkennbaren Grund hob die Wolfshündin plötzlich den Kopf und schnupperte. Dabei blähte sie die Nasenflügel, und es sah aus, als hätte sie eine Witterung aufgenommen. Doch weder auf der Wasserfläche der Bucht noch am Strand gab es irgend etwas Erkennbares, was sich dem Versteck der Männer genähert hätte. Dem alten O'Flynn fiel indessen auf, daß sich die Hündin nicht wieder zur Ruhe bettete. Sie richtete sich auf und strich mit sichtlicher Unruhe um die Zwillinge herum. „Platz, Plymmie!“ rief Hasard junior halblaut. „Sonst fängst du noch eine verirrte Kugel ein“, sagte Philip, „zuzutrauen ist den Dons alles.“ Old Donegal grinste. Die Jungen wußten schon verdammt gut, auf was es ankam. Er war überzeugt, daß sie Sir John bei ihrem kurzen Aufenthalt in der Felsengrotte befreit hatten. Aber es spielte keine Rolle mehr. Sein Groll war geschwunden, nachdem sich die Fronten geklärt hatten. Mit dem Versteckspiel war es seit diesem Morgen ohnehin vorbei. Die Jungen mußten Plymmie immer wieder ermahnen, liegenzubleiben. Der alte O'Flynn beobachtete es, und eine seltsame Ahnung stieg in ihm auf. Etwas Unvorhergesehenes würde geschehen. Ja, das spürte er jetzt in allen Knochen. Und ein dumpfes Pochen in seinem Holzbein ließ vermuten, daß dieses Unvorhergesehene etwas mit dem Wetter zu tun hatte. Er warf den Männern in seiner Nähe einen Seitenblick zu. Sie unterhielten sich über belangloses Zeug - wie üblich. Sinnlos, ihnen verklaren zu wollen, daß sich etwas zusammenbraute. Sie würden es eben erst mitkriegen, wenn es soweit war. Old Donegal empfand sich wieder einmal voller Stolz als jemand, der in die Zukunft sehen konnte - und wenn es auch nur ein kleines Stück war. Minuten später wurde es auch den anderen aus dem Bund der Korsaren klar wenngleich sie nach Old O'Flynns fester Überzeugung die Tragweite beileibe noch nicht kannten. Der Wind frischte auf. Old Donegal meinte, gleichzeitig zu spüren, daß sich auch der salzig-frische Geruch der Luft veränderte. Was da von Nordosten herangefächert wurde, roch nach Unrat. Wiederum nach Minuten geschah etwas, was selbst den alten O'Flynn verblüffte. Der Wind begann zu drehen. Während er noch weiter auffrischte, drehte dieser verrückte Wind doch tatsächlich unablässig - langsam und im Uhrzeigersinn. Es hatte fast den Anschein, als wollten die launischen Naturgewalten dies zu einer ständigen Einrichtung werden lassen. Die Gespräche der Männer verstummten. Voller Spannung spähten sie nun zur „San Jacinto“, wo der sich anbahnende Wetterumschwung mit noch größerer Aufmerksamkeit verfolgt wurde.
Grinsend linste Old Donegal durch seinen Kieker und stellte fest, daß der verrückte Schwarzbart und seine Kerle erst einmal das Klarieren der Geschütze einstellten. Nervös klingende Befehlsfetzen wehten zum Strand herüber. Carberry schüttelte verständnislos den Kopf. „Diese Armleuchter haben doch wohl alle eine Planke vorm Gehirn, was, wie? Wenn ich an deren Stelle wäre, würde ich schleunigst aus den Riffs verschwinden.“ Daß der Wind ernsthaften Verdruß bereiten würde, war inzwischen keine bloße Vermutung mehr. Er hatte von Nordosten über Osten bis nach Süden gedreht und stabilisierte sich noch immer nicht. „Du bist aber nicht an ihrer Stelle, Ed“, sagte Stenmark. „Anscheinend kannst du dir nicht vorstellen, zu was die Gier nach Gold einen Menschen treiben kann.“ „Zum größten Blödsinn“, entgegnete der Profos und nickte. „Das haben wir ja oft genug erlebt. Aber begreifen kann ich's trotzdem nicht.“ Old Donegal lachte leise meckernd. - „Da sieht man mal wieder, was dir so alles an Vorstellungsvermögen fehlt, Mister Carberry. Ich habe dir und den anderen oft genug gesagt, daß es zwischen Himmel und Erde...“ „... Dinge gibt, von denen wir armseligen Menschenkinder nicht die leiseste Ahnung haben“, beteten die Männer seinen altbekannten Spruch im Chor zu Ende. Mit einem wütenden Ruck setzte Old Donegal sein Spektiv an und spähte auf die Bucht hinaus. Seinem Gesichtsausdruck sahen die anderen an, daß sie ihn mal wieder gernhaben konnten. * „Das ist nicht zu fassen!“ schrie Acosta und stampfte mit dem linken Fuß auf die Achterdecksplanken, daß es krachte. „Das kann doch einfach nicht wahr sein!“ „Ist es aber“, sagte Prado trocken. „Dieser Wind spielt verrückt.“ Morro lief über die Kühl auf den Steuerbordniedergang zu und meldete Vollzug. Die Männer hatten sämtliches Tuch überprüft und die Geitaue noch einmal sorgfältig festgezurrt. Es fehlte noch, daß ein etwaiger Sturm ihnen die Lappen aus dem Gei fetzte und zerriß. Bei der Nachlässigkeit der Kerle wäre auch so etwas kein Wunder gewesen. Daran zweifelte Acosta nicht. „Und was jetzt?“ fragte der Dürre vom Niedergang her. „Nehmen wir die Halunken am Strand jetzt endlich unter Feuer?“ Acosta benagte seine Unterlippe und suchte nach einer Antwort. Der Wind drehte noch immer und wehte jetzt aus südwestlichen Richtungen. Die „San Jacinto“ schwojte beträchtlich an der langen Ankertrosse. Auf die Dauer war das kein Zustand. Wenn der verdammte Wind so weiterdrehte, konnten sie bald die Backbordgeschütze verwenden, ohne daß sie dafür selbst ein Manöver durchführen mußten. Prado erlöste den Schwarzbärtigen von seiner Antwortsuche. „He, he, seht euch das mal an!“ rief der Bootsmann von der Heckbalustrade her. Acosta folgte der Aufforderung bereitwillig. Morro enterte auf und lief ihm nach wie ein hechelnder Hund. Der Wind hatte mittlerweile bis fast nach Westen gedreht und noch mehr aufgefrischt. Was Prado in Aufregung versetzte, sahen Acosta und der Dürre, ohne zweimal hinschauen zu müssen. Zum Greifen nahe ragten scharfkantige Riff-Formationen aus dem schäumenden Wasser. Das Achterschiff war einer Grundberührung gefährlich nahe. Wie es aussah, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die „San Jacinto“ mit dem Heck aufbrummte.
Damit war das Beschießen des Strandes vorerst in weite Ferne gerückt. Das sah auch Morro ein. Acosta scheuchte die Kerle an das Ankerspill, und das seewärtige Verwarpen ging einigermaßen zügig vonstatten. Das mußte er zugeben, obwohl ihm vor Nervosität die Haarwurzeln kribbelten. Er verfluchte die Goldräuber dafür, daß er jetzt ohne einen zweiten Buganker auskommen mußte. Angesichts der Schaumkronen auf den heranrollenden Wogen und der zunehmend düsteren Färbung der See war jedoch das Schlimmste zu befürchten. Prado und Morro teilten Acostas Meinung, daß sie ohne einen zweiten Anker in zu große Gefahr gerieten. Deshalb gab es nur eine einzige Lösung, die eigene Sicherheit auszubauen. Alle Hände wurden eingesetzt, um den Heckanker an Deck zu hieven. Verglichen mit der anschließenden Plackerei war das noch eine beinahe leichte Übung. Den Kerlen lief der Schweiß in Strömen über die Gesichter, als sie den schweren Stockanker über Poop, Kühl und Back nach vorn schleppten und ihn schließlich an Backbord mittels einer neu angeschlagenen Trosse abfierten. Drei Mann hatten unterdessen das Floß besetzt und nahmen den Anker in Empfang. Der Wrigger hatte höllische Mühe, das plumpe Wasserfahrzeug überhaupt in Bewegung zu bringen. Die beiden anderen unterstützten ihn mit Riemen, die sie etwa mittschiffs in behelfsmäßigen Dollen führten. Dennoch erreichte das Floß mit seiner schweren Last nur behäbige Fahrt, die Wellen spülten immer wieder über die tiefliegenden Rundhölzer hinweg. Acosta und die anderen beobachteten, wie sich die Floßbesatzung Yard um Yard buchstäblich erkämpfen mußte. Der Wind war ihr größter Gegner, und die Zeit verrann rasend schnell. Als es endlich gelungen war, den zweiten Anker in passabler Entfernung auszubringen, brach bereits die Dämmerung herein. Triefend naß und keuchend kehrten die Kerle vom Floß an Bord zurück. Acosta ließ die Laternen anzünden und Extrarationen Rum ausgeben. Der Wind heulte um das Schiff und ließ die Wogen in entnervendem Rhythmus gegen die Außenbeplankung klatschen. Irgendwann, in der Behaglichkeit der Kapitänskammer, dachte Acosta daran, daß die seemännische Vernunft eigentlich geboten hätte, ankerauf zu gehen und sich von dieser gefährlichen Riffküste freizukreuzen. Aber an erster Stelle stand das Gold. Der Schwarzbärtige war überzeugt, daß man in einem solchen Fall nicht nur mit Vernunftmaßstäben handeln konnte. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, dachte er siegesgewiß. Auch nach Einbruch der Dunkelheit ließ der Wind nicht nach, sondern legte eher noch etwas zu. Ungefährdet hatten der Kutscher und die Zwillinge über die Jakobsleiter in die Felsengrotte auf entern und Verpflegung herbeischaffen können. Zum Hinunterspülen von Hartbrot, Pökelfleisch und gedörrten Früchten gab es spanischen Rotwein aus handlichen Fässern. Old Donegal hatte die Männer hinter einem der größeren Uferfelsen zusammengerufen, wo sie riskieren konnten, eine Laterne mit schwacher Flamme brennen zu lassen. Der Lichtschein drang nicht über den Felsen hinaus. Die Zwillinge waren zwanzig Yards entfernt hinter Ufergestrüpp am südlichen Hang in Stellung gegangen. Ihre Aufgabe war es, die „San Jacinto“ unablässig zu beobachten. Seit der Rückkehr der Floßmannschaft hatte sich drüben an Bord nichts mehr getan. Doch die Ruhe konnte trügerisch sein. Nicht einmal der Teufel wußte vermutlich, auf was für hirnrissige Ideen die Dons noch kamen. Immerhin verhinderte der harte Westwind zunächst, daß sie ihre Bordgeschütze auf den Strand abfeuerten.
„Die Frage ist“, sagte Old Donegal nach einem ausgiebigen Schluck Rotwein, „ob wir diese Nacht noch einmal eine Aktion gegen die Galeone starten. Schlechte Vorzeichen kann ich jedenfalls nicht entdecken.“ „Kein Wunder, bei der Dunkelheit“, sagte Carberry, und im rötlichen Lampenschein wirkte sein Grinsen beinahe boshaft. Der alte O'Flynn versuchte es diesmal mit einer anderen Methode. Er tat, als hätte er die Bemerkung des Profos überhaupt nicht gehört. Und es funktionierte. Der Kutscher ergriff das Wort, alle Aufmerksamkeit lenkte sich auf ihn, was dazu führte, daß Carberrys Bemerkung unterging, ohne von einem der Männer wirklich beachtet zu werden. „Die Gelegenheit für eine Aktion wäre günstig“, sagte der Kombüsenmann in jener etwas geschraubt klingenden Sprache, die er sich in seiner Zeit bei Sir Anthony Freemont in Plymouth angewöhnt hatte. „Die Spanier dürften kaum damit rechnen, daß wir ein zweites Mal auf ähnliche Weise zuschlagen wie zuvor. Außerdem deutet alles darauf hin, daß sie den Westwind abflauen lassen wollen, bevor sie selbst etwas unternehmen.“ „Woher willst du das wissen?“ sagte Martin Correa. „Vielleicht haben sie von uns gelernt und schleichen sich heimlich mit ihrem Floß an.“ .Ausgeschlossen“, entgegnete der Kutscher. „Das Floß trägt nur vier Mann. Sie wissen also, daß sie zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen wären. Außerdem können sie zur Zeit ihre Geschütze nicht abfeuern. Für ein Landeunternehmen gäbe es folglich keinen Feuerschutz.“ „Die stoßen sich nicht noch einmal die Nase“, sagte Stenmark im Brustton der Überzeugung. „Was mit ihrer kleinen Jolle passiert ist, werden sie nicht so schnell vergessen.“ „Anzunehmen“, entgegnete Old Donegal und nickte. „Dann sind wir uns also einig, daß wir in dieser Nacht noch einmal losschlagen?“ Er blickte fragend in die Runde. Die Männer brummten zustimmend. Es gab keine Gegenstimme. „In Ordnung“, fuhr der alte O'Flynn fort „Dann fragt sich nur noch, was wir uns diesmal einfallen lassen. Die gleiche Prozedur wie beim letzten Mal? Kappen wir die Ankertrossen, brummen sie diesmal allerdings im Handumdrehen auf.“ „Ich meine, wir sollten ihnen auch zusätzlich ein bißchen das Ruder verkeilen“, sagte Ed Carberry! „Genug Jollen haben wir jetzt ja, und wenn wir schon mal dran sind, warum dann nicht gleich ganze Arbeit leisten?“ Im Laternenlicht grinsten die Männer sich an. „Guter Vorschlag“, sagte Sven Nyberg. „Finde ich auch“, ließ sich Nils Larsen vernehmen. „Ich bin dafür, daß wir das so durchführen, wie Ed gesagt hat.“ Old Donegal murmelte widerstrebend Zustimmung. Er ließ noch einmal abstimmen, und das Ergebnis war einmütig. Besser, etwas zu unternehmen, als die Hände in den Schoß zu legen und darauf zu warten, ob der Gegner etwas tat. Das war die Überzeugung der Männer vom Bund der Korsaren, und der Beschluß wurde entsprechend zügig in die Tat umgesetzt. Als Ausrüstung wurden Hartholzkeile, mit Lappen umwickelte Hämmer und die vom Kutscher geschärften Entermesser zusammengetragen. Außerdem wendeten die Männer erneut das schon bewährte Rezept des Kombüsenmanns an, die Dollen der Boote mit Schmalz einzufetten. Auf diese Weise, das hatte sich gezeigt, gaben die Riemen beim Pullen nicht das leiseste Knarren von sich. Es war zwei Stunden nach Mitternacht, als die Männer ihr Unternehmen begannen. Ein weiterer günstiger Umstand hatte sich dazugesellt: eine dichte Wolkendecke
schottete das Licht von Mond und Sternen ab. Es herrschte völlige Finsternis, und die Männer hatten Mühe, auch nur die Hand vor Augen zu erkennen. „Die wahre Nacht für Diebe und Halunken“, sagte Ed Carberry, während er eine der Jollen gemeinsam mit Stenmark klarierte. Als „gelernte Ankerkapper“ waren sie bereits ein eingespieltes Team, und es hatte deshalb keine Diskussion darüber gegeben, daß sie diese Aufgabe auch jetzt wieder übernehmen würden. Der blonde Schwede lachte leise. „Fehlt bloß noch, daß wir mit irgendwelchen lichtscheuen Elementen den Kurs kreuzen.“ „Wenn, dann kann so was nur auf einem Floß unterwegs sein“, entgegnete Carberry, und jeder der anderen konnte sich vorstellen, welches Grinsen dabei sein Narbengesicht kerbte. Nils Larsen und Sven Nyberg übernahmen eine weitere Jolle. Ihre Aufgabe würde es sein, das Ruder zu verkeilen. Das sollte geschehen, bevor Carberry und Stenmark die Ankertrosse durchsäbelten. Mit dieser Verfahrensweise, so rechneten sich die Arwenacks aus, würde der Erfolg wahrhaft durchschlagend sein. Behutsam verstauten sie Waffen, Munition und Ausrüstung zwischen den Duchten der beiden Jollen, die sie ebenso vorsichtig an den Strand geschoben hatten. Die Jolle der „Empress“ blieb zurück. Das stete Heulen des Windes half den Männern um Old Donegal Daniel O'Flynn. Sie konnten sicher sein, daß die Dons weder hörten, geschweige denn sahen, was sich am Strand abspielte. Martin Correa, der Kutscher und die Zwillinge halfen mit, bis die Jollen genügend Wasser unter dem Kiel hatten. Dann kehrten sie in ihre Deckung zurück, und die Zwillinge begaben sich erneut auf ihren Ausguckposten. Mit lautlosen Riemenschlägen entfernten sich die Jollen und wurden buchstäblich von der Dunkelheit verschluckt. Auf der „San Jacinto“ waren drei Lampen gesetzt - achtern, mittschiffs und auf der Back. Schemenhaft konnten Hasard und Philip die Wachen erkennen. Der schwarzbärtige Kapitän hatte diesmal zwei Mann eingeteilt. Offenkundig war er aus Schaden klug geworden. Ob klug genug, würde sich noch zeigen. Carberry, Stenmark und die beiden Dänen wurden unterdessen hart gefordert. Der Westwind trieb ihnen machtvolle Wogen entgegen, und beträchtlich war auch der Winddruck, den die Bootsrümpfe mit ihrer Angriffsfläche zu schlucken hatten. Entsprechend kraftvoll mußten sich die Männer in die Riemen legen und sich überdies noch anstrengen, den Kurs auf das Heck der Galeone zu halten. Immer wieder drohten sie abzudriften, sobald sie den Bug nicht präzise in den Wind hielten. Dann, nach Minuten, die sich endlos dehnten, ließ der Druck von vorn spürbar nach. Carberry spähte voraus. Der hoch aufragende Schatten des Achterschiffs der „San Jacinto“ war nur dank der Hecklaterne zu erkennen, wobei die unteren Seitenlinien bereits in der Dunkelheit verschwammen. Der matte Lichtkreis der Laterne reichte nur bis zur Heckgalerie. In einer der Achterdeckskammern, vermutlich der Kapitänskammer, blakte ebenfalls noch ein schwaches Licht. Das Ruderblatt lag völlig im Dunkeln. Je höher sich die beiden Boote an das Heck der Galeone schoben, desto mehr verringerte sich der Winddruck. Das Wasser war weniger kabbelig, und den Männern fiel es leichter, geräuschlos zu pullen. Ed Carberry und Stenmark verhielten in zwanzig Yards Entfernung vom Schiffsheck. Mittels sanfter Riemenbewegungen hielt der Schwede das Boot auf Position. Carberry schnappte sich eine der Musketen und spähte aus schmalen Augen zur Heckbalustrade des Spaniers.
Noch rührte sich dort oben nichts. Jede Bewegung wäre im Licht der Hecklaterne jedoch sofort zu erkennen gewesen. Lautlos glitt die Jolle mit Nils Larsen und Sven Nyberg auf das Heck der Galeone zu. Schon in zehn Yards Entfernung von ihren Gefährten waren die beiden Männer und das Boot nicht einmal mehr als Schattenrisse eindeutig zu erkennen. Sven Nyberg übernahm beide Riemen allein und bugsierte die Jolle mit mäßiger Fahrt in die Finsternis zwischen Ruderblatt und Schiffsheck. Nils Larsen hatte sich unterdessen am Bug aufgerichtet Weich und glitschig fühlte sich der Algenbewuchs des Ruderblatts an, den er im nächsten Moment ertastete. Er stieß einen Zischlaut aus, und sofort stellte sein Landsmann das ohnehin schwache Pullen ein. Nils Larsen verhinderte, daß das Dollbord gegen das Ruderblatt stieß und dabei einen verräterischen Laut verursachte. Vorsichtig holte Sven Nyberg die Riemen ein und packte das Ruderblatt an der achteren Kante, damit die Jolle nicht abtrieb. Nils Larsen hatte unterdessen schon den ersten Hartholzkeil bereit, stieß ihn mit der Hand zwischen Ruderblattvorderkante und Achtersteven und sorgte mit dem lappenumwickelten Hammer für festen Sitz. Für den zweiten Keil lavierten die Männer ihre Jolle vorsichtig um das Ruderblatt herum. Nur wenige Minuten waren verstrichen, als Nils Larsen danach auch das zweite Stück Hartholz festgerammt hatte. Nicht einmal Carberry und Stenmark hatten die gedämpften Hammerschläge gehört. Es war also so gut wie ausgeschlossen, daß die Kerle an Bord der „San Jacinto“ etwas bemerkt hatten. Die Dänen stießen die Jolle ab und kehrten zu ihren Gefährten zurück. Gemeinsam verholten sie daraufhin mit beiden Booten nach voraus - was abermals in Knochenarbeit ausartete, denn es gab nun keinen Windschutz mehr. Gischtfahnen wehten ihnen um die Ohren, und die Wogen schmetterten gegen die nicht gerade schnittig geformten Bootsbeplankungen. Die Männer hatten keine Zeit, darüber zu grinsen, daß es die Jollen der „San Jacinto“ waren, die sie benutzten, um eben jene Galeone in einen lahmen Eimer zu verwandeln. Ihre Muskelkraft und ihre Ausdauer wurde diesmal auf das Äußerste gefordert, denn es bestand größte Gefahr, daß sie vom Wind gegen die Backbordwand des Spaniers gedrückt wurden. Immerhin rührte sich aber an Bord der „San Jacinto“ nichts. Die Kerle hatten also nichts von dem mitgekriegt, was sich da soeben am Heck ihres feinen Schiffes abgespielt hatte. Genaugenommen mußten die Ankerwachen Bohnen in den Ohren haben. Carberry und seine Gefährten frohlockten mit solchen Gedanken zu früh. Das mußten sie begreifen, als sie sich etwa in Höhe der Back befanden. Kurz nacheinander klatschten zwei Riemenblätter auf das Wasser. In der Dunkelheit war nicht einmal zu erkennen, wer es verursacht hatte. Fest stand, daß es in dem Kabbelwasser ohnehin höllisch schwierig war, die Riemen stetig und ohne jeden Fehler zu führen. Es waren zwei schmetternde Schläge, die die Riemenblätter verursachten - auch im Tosen des Windes überdeutlich zu hören. „Himmel, Arsch und Wolkenbruch'', fluchte Ed Carberry leise. „Jetzt haben wir gleich das schönste Theater am Hals.“ Er sollte sich nicht täuschen, und vor allem war es weder ein amüsantes noch ein amouröses Theater, wie es Roger Lutz auf der Galeone der Komödianten erlebt hatte. Hier handelte es sich um jene Art von Theater, bei der der Donner hinter den Kulissen echt war.
Carberry war bereits auf eine der vorderen Duchten gewechselt und hatte Stenmark den Riemen übergeben, als oben über der Verschanzung der Kühl die Silhouette eines Mannes auftauchte - wie ein Scherenschnitt vor dem hellen Hintergrund des Laternenlichts. Einen Augenblick verharrte der Kerl regungslos vor Schreck, das war zu erkennen. Ed Carberry brauchte nur diese Sekunde, um eine Muskete hochzubringen und anzuschlagen. „Alarm!“ schrie der Spanier mit sich überschlagender Stimme. „Alarm! Zwei Boote längsseits! Alarm! Zwei Boote an Backbord! O Himmel, das sind unsere Boote.“ Bei den letzten Worten wurde er leiser, fast andächtig. Carberry jagte ihm eine Kugel haarscharf über den Kopf hinweg. Aus der zweiten Jolle feuerte Nils Larsen. Beide hatten genügend geladene Musketen bereit, damit sie wenigstens einen kleinen Vorsprung herausholen konnten. Auf der „San Jacinto“ pflanzte sich das Geschrei fort. Heisere Männerstimmen waren nun auch aus den Unterdecksräumen zu hören, sehr rasch erreichte es die Kühl, und Schritte von harten Stiefeln dröhnten über die Planken der Kühl. Nur noch für Sekunden hielten sich Carberry und Larsen die Spanier auf Abstand. Dann peitschten die ersten Musketenschüsse von der Galeone. In der Dunkelheit hatten sie beträchtliche Mühe, überhaupt ein Ziel zu erkennen. Doch immerhin - auch der Zufall konnte gefährlich werden. Das bekamen die Männer in den Jollen zu spüren, als kurz nacheinander zwei Kugeln ins Wasser klatschten den Booten schon verteufelt nahe. Die Jollen befanden sich jetzt etwa in Höhe der Galion. An Bord der „San Jacinto“ begannen die Kerle, auf die Back zu eilen. Schon krachten die ersten Schüsse aus der für die Dons günstigeren Position. Carberry und Nils Larsen gaben es auf. Alle Musketen waren leergeschossen, und zum Nachladen blieb jetzt ohnehin keine Zeit. Das beste war eindeutig, das Weite zu suchen. Carberry und Nils Larsen begaben sich zu ihren Gefährten auf die mittlere Ducht, und während sich die Mündungsblitze auf dem Vorschiff der „San Jacinto“ verdichteten, erhöhten die beiden Jollen ihre Fahrt Die Dunkelheit war ihr bester Schutz. Einmal schlug eine Kugel in die Achterducht der Carberry-Stenmark-Jolle. Doch alle anderen Geschosse peitschten nur das ohnehin aufgewühlte Wasser. „Fackeln!“ ertönte eine gellende Stimme an Bord der Galeone. „Zündet Fackeln an und schleudert sie außenbords! Dann können wir die Hurensöhne besser aufs Korn nehmen!“ Begeistertes Gebrüll war die Reaktion. Die Männer vom Bund der Korsaren erhöhten ihre Schlagzahl. Über sich erkannten sie die Trosse des Backbordankers - zu hoch jedoch, um sie gewissermaßen im Vorbeigehen doch noch zu kappen. Die Trosse des zweiten Ankers sahen sie schon nicht mehr, denn sie holten in einem weiten Bogen vor dem Bug der Galeone aus, um aus der Reichweite der Musketen zu gelangen. Und dann half ihnen der Westwind, als sie auf Ostkurs gingen. Der Fackelplan der Spanier verfehlte seine Wirkung, denn sie konnten das Pechfeuer nicht weit genug schleudern, um die fliehenden Jollen damit noch aus der Dunkelheit zu holen. So blieben es auch jetzt nur etwaige Zufallstreffer, vor denen Ed Carberry und seine Gefährten sich fürchten mußten. Sie blieben verschont. Nach und nach verebbte das Knattern der Musketen auf der „San Jacinto“, während sie mit rauschender Fahrt in die Bucht stießen. Den Wind von achtern zu haben, erschien ihnen jetzt geradezu als ein Geschenk des Himmels.
Die Freunde am Strand konnten auf Heimlichtuerei verzichten und waren mit Laternen zur Stelle. Mit vereinten Kräften zogen sie die Jollen hoch an Land und bargen Waffen, Munition und Ausrüstung. Dann begaben sie sich hinter den hohen Uferfelsen, wo der Kutscher mit einem wohltuenden Punsch aufwartete. Ed Carberry erstattete Bericht und endete mit einem Fluch, nachdem er erwähnt hatte, daß es ihnen nicht mehr gelungen war, die Ankertrossen zu kappen. „Aber wenigstens habt ihr das Ruder blockiert“, sagte der Kutscher. „Und wenn die Dons nichts davon gemerkt haben, ist das schon eine ganze Menge.“ Old Donegal ordnete an, daß sich die Zwillinge für den weiteren Verlauf der Nacht im Vier-Stunden-Rhythmus ablösen sollten. Wenn nötig, konnte der jeweilige Ausguck die Männer innerhalb von Sekunden wecken. Doch es sah nicht so aus, als ob der Wind nachlassen würde. Die Spanier verfügten nach wie vor nur über ihr jämmerliches Floß. Es war also nicht damit zu rechnen, daß sie in dieser Nacht noch etwas unternehmen würden.
5.
Hinter grauen Dunstschwaden kroch der Morgen des 9. Juli herauf. Die Wetterlage hatte sich nicht nennenswert geändert. Die Windstärke war unvermindert, und noch immer wehte der handige Geselle aus westlicher Richtung. Lediglich die Wolkendecke riß von Zeit zu Zeit auf und schloß sich im nächsten Moment wieder. Der Nebel, der über der See lag, schien zum Schneiden dick. Hasard Killigrew junior hatte sich eine Decke übergeworfen, denn in diesen ersten Stunden eines neuen Tages geriet man doch leicht ins Frösteln, wenn man bewegungslos an einem Fleck ausharren mußte. Er hatte sich bei der letzten Ablösung einen Brotkanten mitgebracht, an dem er jetzt kaute, um sein unvermeidliches Hungergefühl zu dämpfen. An das warme Frühstück, das der Kutscher bereiten würde, durfte er gar nicht denken, denn dann wurde ihm erst richtig flau im Magen. Die Männer staunten nur immer, was Philip und er so alles vertilgen konnten, bis sie endlich einmal richtig satt waren. Die Erklärung, die sie alle sofort bereit hatten, lautete dann immer, daß die Sprößlinge des Seewolfs eben etwas Kräftiges in die Knochen brauchten, weil sie noch im Wachstum begriffen waren. Hasard und Philip hörten solche Sprüche nicht übermäßig gern, da sie sich schon recht ausgewachsen fühlten. Immerhin standen sie mittlerweile in den meisten Bereichen der täglichen Anforderungen ihren Mann, und es gab sowieso keine Aufgabe, vor der sie sich etwa gedrückt hätten. Plymmie hatte sich zu Hasards Füßen zusammengerollt und schlief wie ein Murmeltier. Der Junge wußte aber, daß die Wolfshündin sogar im Schlaf eine Gefahr schon dann witterte, wenn „ihre“ Menschen noch nicht einmal das geringste davon ahnten. Was die „San Jacinto“ betraf, hatten die Männer richtig vermutet. Die Dons hatten keine Neigung verspürt, noch in der Nacht irgend etwas zu unternehmen. Offenbar hatten sie es vorgezogen, sich in ihre Kojen zu packen und die Strohsäcke abzuhorchen. Vielleicht hatten sie vorher auch noch ein Quantum Rum oder Wein genossen, um die richtige „Kojenschwere“ zu erlangen. Hasard blickte nachdenklich zu der Galeone hinüber und dachte darüber nach, durch was Menschen wohl ihre unterschiedlichen Verhaltensweisen erwarben. Gab es sie wirklich, eine typisch englische Art und eine typisch spanische Art? Sein Vater, so wußte Hasard aus vielen Gesprächen, war dagegen, Menschen aufgrund von Vorurteilen innerhalb enger Bereiche einzustufen. In allen Ländern der Welt, so pflegte der Seewolf stets zu sagen, gibt es diese und jene Menschen. Die Engländer sind nicht besser als die Spanier, und wer das nicht begreifen will, formt sich ein ungerechtfertigtes Feindbild. Gewiß, nach dem Willen der Majestäten - Elizabeth I. auf der einen und Philipp II. auf der anderen Seite - befanden sich die Weltmacht Spanien und das als Seemacht noch junge England im Kriegszustand. Doch berechtigte das einen Engländer, jeden Spanier rundweg als bösen Feind abzuqualifizieren? Nein, sagte sich Hasard junior, die Engländer gehören genausowenig einer bestimmten Sorte Mensch an, wie das bei den Spaniern der Fall ist. Nicht alle Dons waren faul und träge wie jene dort auf der „San Jacinto“. Nicht alle Engländer waren aber auch fair und geradeaus wie die Arwenacks. Don Juan de Alcazar, der sich dem Bund der Korsaren angeschlossen hatte, war das eine gute Beispiel. Und Sir John Killigrew, der Galgenstrick aus Cornwall, war das schlechte Beispiel andererseits.
Hasard erinnerte sich an die Schwierigkeiten, die die Seewölfe in England erlebt und die letztlich dazu geführt hatten, der Alten Welt endgültig Lebewohl zu sagen. In keinem Land dieser Welt war fraglos alles nur zum Besten gestellt. Intriganten- und Verbrechertum gab es hüben wie drüben. Das lehrte die Erfahrung, und am besten konnte man es erkennen, wenn man sich die Geschichte des Seewolfs und seiner Gefährten einmal vor Augen hielt. Daß die Kerle an Bord der „San Jacinto“ nicht zur aufrichtigen spanischen Kategorie gehörten, war dem Sohn des Seewolfs längst klargeworden. Einiges erschien höchst merkwürdig an dieser Galeone, wenn man es sich in Ruhe überlegte. Die „Viento Este“, vor der Nachbarinsel aufs Riff gebrummt, hatte als Einzelfahrer eine höchst wertvolle Goldladung in den Laderäumen gehabt. Mit allen verfügbaren Jollen war die Schiffsbesatzung losgesegelt, um Florida zu erreichen. Zweifellos hatten der Kapitän und seine Offiziere aber nicht nur vorgehabt, sich an Land als beklagenswerte Schiffbrüchige umsorgen zu lassen. Wenn man folgerichtig überlegte, konnte der Kapitän unter keinen Umständen vorgehabt haben, die „Viento Este“ einfach im Stich zu lassen. Nein, wenn dieser Kapitän ein Mann von der aufrichtigen Sorte war, dann mußte für ihn die Pflichterfüllung an erster Stelle stehen. Und die Pflicht besagte in seinem Fall, daß er das Gold seinem rechtmäßigen Eigentümer zuführen mußte - nämlich dem König von Spanien. Darüber mochte man denken, wie man wollte, doch in Sachen Pflichtauffassung war der persönliche Spielraum eben nicht besonders groß. Merkwürdig also, daß nur diese „San Jacinto“ aufgekreuzt war, um wegen des Havaristen und seiner Ladung nach dem Rechten zu sehen - noch dazu mit einer relativ kleinen Crew an Bord, die man nicht anders als einen Haufen von Galgenstricken bezeichnen konnte. Wenn sich der Kapitän der „Viento Este“ nach Fort St. Augustine durchgeschlagen hatte - was nach Lage der Dinge wahrscheinlich gewesen wäre -, dann hätte als logische Konsequenz ein kleiner Verband aufmarschieren müssen, der zumindest aus Bergungs- und Bewacherschiffen bestand. Statt dessen war lediglich dieser armselige Handelsfahrer mit mäßiger Armierung und einer zahlenschwachen Besatzung erschienen. Einer Besatzung überdies, die sich weniger von seemännischen Grundsätzen als von menschlichen Schwächen leiten ließ. Die Gier nach Gold war bei diesen Kerlen unverkennbar. Hasard liebte es, als sinnvolle Zeitausfüllung das Aneinanderfügen von Fakten zu betreiben und daraus Schlußfolgerungen zu ziehen, mögliche Konsequenzen in ihrer Tragweite gegeneinander abzuwägen und für sich selbst die Entscheidung zu treffen, die er an der Stelle der Erwachsenen getroffen hätte, die die Verantwortung trugen. Die Folgerungen waren in diesem Fall einfach. Der Kapitän der „Viento Este“ befand sich nicht an Bord der „San Jacinto“. Der Schwarzbärtige, der das Kommando an Bord führte, war auch nicht der Kapitän der „San Jacinto“, denn er und seine Galgenstricke hatten sich dieses Schiff angeeignet, um sich die Goldladung der „Viento Este“ zu holen. Woher aber hatten sie die Position der aufgebrummten Gold-Galeone gekannt? Darauf gab es nach Hasards Erkenntnis nur eine mögliche Antwort: Die Kerle unter dem Schwarzbart hatten zur ursprünglichen Besatzung der „Viento Este“ gehört. Daraus folgerte wiederum, daß sie sich den unglückseligen Kapitän des Einzelfahrers irgendwie vom Hals geschafft hatten. Es war Mordgesindel, was sich an Bord der „San Jacinto“ befand.
Eine andere Erklärung gab es nicht, so sehr Hasard auch sein Hirn anstrengte. Dieses Mordgesindel würde alles daran setzen, um in den Besitz des Goldes zu gelangen. Das hatte der Schwarzbärtige in der jüngsten Vergangenheit bewiesen, als er sinnlos Männer opferte, ohne über die Erfolgsaussichten einer Aktion ausreichend nachzudenken. Deshalb, und das war die nächste Folgerung, mußte man mit dem Schlimmsten rechnen. Dieser Gegner war nicht mit normalen Maßstäben zu messen, Fairneß durfte man gar nicht erst voraussetzen. Und obwohl die Kerle kein Beiboot mehr hatten, würden sie sich noch die bösartigsten Tricks einfallen lassen, um doch noch in der Bucht zu landen. Dieser neue Tag, das spürte Hasard, konnte bereits die Entscheidung bringen. Aber es konnte ebensogut eine Menge Überraschungen geben. Schließlich wußte bestenfalls der Teufel, welche hinterhältige Taktik die Mörderbande an Bord der „San Jacinto“ ausbrütete. Unvermittelt hob Plymmie den Kopf und schnupperte. Hasard strich ihr lächelnd über das Fell. Allein an ihren Augen sah er, daß es keine Gefahr war, die da drohte oder sich näherte. Vielmehr etwas Vertrautes, Altbekanntes. Sekunden später sauste dieses Vertraute in der Gestalt von rotem Gefieder heran. Ein greller Farbtupfer, der sich aus dem Dunst vor der steilen Felswand löste und zielstrebig auf das Ufergestrüpp am südlichen Hang zuhielt. Mit einem kurzen Flügelklatschen landete Sir John auf der Schulter des Jungen. Als wollte er sich einschmeicheln, rieb der Papagei seinen Kopf an Hasards Ohr. Der Junge gab ihm einen Brocken Hartbrot, und der Krummschnabel Sir Johns begann sich mit mahlenden Geräuschen zu bewegen. Dazu ließ er leise, rollende Laute des Wohlbehagens hören. „Untersteh dich, jetzt herumzukrakeelen“, sagte Hasard warnend. „Die Männer schlafen noch, auch Philip. Wenn du sie aufweckst, drehe ich dir den Hals um, und Mister O'Flynn erlebt die größte Freude seines Lebens.“ Sir John schien zu begreifen, was der Sohn des Seewolfs meinte, und wenn es nur der ernste Tonfall war, aus dem er es heraushörte. * Als sich die Morgennebel zu lichten begannen, nahm Hasard das Spektiv und bezog den höher gelegenen Ausguckposten oberhalb der Felsengrotte. Sir John blieb beharrlich auf seiner Schulter, als wollte er nachholen, was ihm während der zurückliegenden Stunden an menschlicher Nähe gefehlt hatte. Plymmie trottete mit lautlos-federnden Bewegungen neben dem Jungen her. Aus der erhöhten Position beobachtete Hasard als erstes die Galeone, die draußen im Riffgürtel an den Ankertrossen schwojte. Obwohl sie die „San Jacinto“ aus der ärgsten Gefahrenzone westwärts verwarpt und den zusätzlichen Anker ausgebracht hatten, war es nach Hasards Überzeugung doch sträflicher Leichtsinn, den die Kerle da an den Tag legten. Alleiniges Ziel dieser völlig unvernünftigen Maßnahme konnte es nur sein, daß sie bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den Strand mit den Bordgeschützen unter Feuer nahmen. Wenn es der Wind nicht wollte, würde daraus so schnell nichts werden. Hasard hob den Kieker und spähte zu den Decks der Galeone. Obwohl das Tageslicht schon vor mindestens einer halben Stunde eingesetzt hatte, waren die Lampen der „San Jacinto“ noch nicht gelöscht worden. Der Sohn des Seewolfs glaubte seinen Augen nicht zu trauen.
Eine der beiden Ankerwachen döste auf einer Taurolle vor dem Steuerbordniedergang zur Back. Der zweite Kerl lag auf der vorderen Grätingsluke, wo die warme Luft aus den Unterdecksräumen heraufstieg. Es war unbegreiflich. Hasard konnte es beim besten Willen nicht fassen. Da war erst vor ein paar Stunden ein Mann getötet worden, weil er als Wachgänger gedöst hatte. Diese Kerle hatten die Exekution mit eigenen Augen ansehen müssen. Und jetzt leisteten sie sich die gleiche Nachlässigkeit! Keine Frage, daß sie zu jener spanischen Art gehörten, deren Denken und Tun von unendlicher Trägheit bestimmt wurden. Und die anderen an Bord der Galeone schliefen offenbar noch immer selig. Hasard widmete dem Spanier keine weitere Aufmerksamkeit und begann mit seinem nun fälligen Rundblick mit Hilfe des Spektivs. Nach Westen hin hatten sich die Nebelfelder bereits weitgehend aufgelöst, doch die Kimm war nach wie vor im Dunst verschwommen. Der Sohn des Seewolfs schwenkte den Kieker nur langsam und suchte jedes einzelne Nebelfeld gründlich ab. Der Wind trug seinen Teil dazu bei, daß die Sicht zusehends klarer wurde. Plötzlich, das Spektiv nach Nordwesten gerichtet, glaubte Hasard, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Was sich da ein wenig dunstverhangen, aber doch deutlich genug im Okular abzeichnete, hätte man in nordafrikanischen Wüstenregionen als Fata Morgana bezeichnet. Es war wie ein Schock. Hasard richtete sich kerzengerade auf. Seine Muskeln spannten sich ungewollt. Er drehte an der Scharfstellung des Kiekers, in der Annahme, das Bild würde dadurch vielleicht verschwinden. Dann spähte er mit bloßem Auge nach Nordosten. Das Bild blieb. Es war Wirklichkeit. Die „Empress of Sea II.“! Da dümpelte die kleine Karavelle im kabbeligen Wasser, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, daß ein im Sturm verschollenes Schiff auf diese Art und Weise wieder bei seinen Eignern „vorbeischaute“. Die Position der sacht dahintreibenden „Empress“ war etwa zwischen der ursprünglichen und der jetzigen Insel der Mannen vom Bund der Korsaren. Hasard wirbelte herum und rannte los, daß Sir John erschrocken hochflatterte und im Steilflug in die Öffnung der Felsengrotte zurückkehrte. Plymmie folgte dem Jungen mit langen Sätzen, wie er zum Strand hinuntereilte. Als erstes rüttelte er Old Donegal wach. „Granddad! Mister O'Flynn, Sir! Das glaubst du nicht, das mußt du sehen! So was gibt es einfach nicht!“ Old Donegal, noch im Halbschlaf, rieb sich knurrend die Augen. „Etwas, was es nicht gibt, brauche ich mir ja wohl nicht anzusehen, oder?“ „Etwas, was es normalerweise nicht geben kann“, verbesserte sich Hasard. „Es handelt sich nämlich um die ‚Empress'.“ Auch die anderen waren inzwischen wach geworden. Noch nie hatten sie den alten O'Flynn so schnell aufspringen sehen. Obwohl er ihnen gegenüber mit seinem Holzbein doch erheblich im Nachteil war, erreichte er als erster den südlichen Hang und stapfte neben dem stolz strahlenden Hasard junior aufwärts. Dann, als sie den Ausguckposten erreichten, stand Old Donegal schlagartig Wie erstarrt. Es war, als hätte ihn ein unsichtbarer Blitz getroffen und zur Bewegungsunfähigkeit verdammt.
Die „Empress of Sea II.“ war auch ohne Spektiv einwandfrei zu erkennen, da sich die letzten Nebelschwaden in der kurzen Zeit fast vollständig gelichtet hatten. „Da ist sie, Mister O'Flynn“, sagte Hasard junior, während nach und nach die anderen eintrafen. „Eine Verwechslung ist ja wohl nicht möglich, denn die ‚Empress' gibt's meines Wissens nur einmal.“ „Teufel, ja, Junge“, flüsterte Old Donegal ergriffen, „da hast du recht. Da hast du verdammt recht. O Mann, o Mann, und da denkt man schon, man müßte eine dritte ‚Empress' bauen lassen! Aber nein, was tut dieser Schlickrutscher von einer Karavelle? Taucht einfach wieder auf, als wäre er nur mal eben vorübergehend in der Versenkung verschwunden!“ Bei den letzten Worten hatte sich die Stimme des Alten vom Flüstern zu begeistertem Gebrüll gesteigert, und gleich darauf war es auch äußerlich mit seiner Ruhe vorbei. „Sie ist wieder da!“ schrie er und warf die Arme in die Luft. „Sie ist wieder da! Meine liebe kleine ,Empress' ist wieder da!“ Er drehte sich auf der Stelle, tanzte im Kreis und schrie es immer wieder in den Morgen hinaus: „Sie ist wieder da, sie ist zurückgekehrt! Sie hat eine Seele, meine ‚Empress'! Ohne mich konnte sie es nicht aushallen, ich wußte es doch!“ Ed Carberry und Stenmark wechselten einen vielsagenden Blick. „Jetzt schnappt er über“, sagte der Profos. „Jetzt hat's ihn endgültig erwischt. Armer Kerl. Was wird bloß Mary Snugglemouse sagen, wenn wir ihr diesen verrückten Spinner zurückbringen?“ Old Donegal hörte es nicht. Er schrie und tanzte. „Sie hatte Heimweh, die kleine Süße! Sehnsucht nach mir! Ist es denn zu fassen?“ Stenmark schüttelte mißbilligend den Kopf und warf einen Blick zur Bucht. „Mit seinem Gezeter weckt er wahrscheinlich sogar die Schnapsleichen auf dem spanischen Eimer auf.“ Der Kutscher nickte schweigend und schritt auf den Tanzenden und Schreienden zu. Ruhig legte er ihm die rechte Hand auf die Schulter und sprach ihn an, als hätte er es wieder einmal mit einer kranken Kuh zu tun. „Nun ist es genug, Old Donegal. Wenn wir noch lange hier herumstehen und uns nur freuen, wird die ‚Empress' sehr bald verschwunden sein. Vielleicht ist dir aufgefallen, daß wir noch immer einen handigen Westwind haben. Wenn wir uns nicht beeilen, verschwindet die ‚Empress' tatsächlich auf Nimmerwiedersehen. Darauf kann ich dir Brief und Siegel geben.“ Old O'Flynn ruckte herum und starrte den Kombüsenmann minutenlang erschrocken an. „Los jetzt!“ sagte er unvermittelt in barschem Befehlston. „Auf was wartet ihr noch? Alle drei Jollen besetzen und dann los! Tempo, Tempo, sonst ziehen uns die verdammten Dons noch einen Strich durch die Rechnung.“ Den Männern blieb keine Zeit, sich über Old Donegals Rückkehr in die Wirklichkeit zu wundern. Denn sie mußten sich höllisch beeilen. Es hatte nicht ausbleiben können, daß die Kerle auf der „San Jacinto“ mitkriegten, was sich oberhalb der Bucht abspielte. Natürlich hatten sie noch nicht bemerkt, was der Anlaß des plötzlichen Geschreis war. Aber es konnte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann sie begriffen, auf welche Weise sich das Blatt gewendet hatte. Keiner der Männer um Old Donegal Daniel O'Flynn verschwendete einen Gedanken an das Gold, das in der Höhle lagerte. Die „Empress“ war ihnen wichtiger als jeder irdische Reichtum. In dem Punkt stimmten sie mit Old Donegal überein, wenn sie es auch nicht hinausbrüllten.
Die drei Jollen wurden zu Wasser gebracht, und nachdem die Männer ein Stück gepullt hatten, setzten sie Segel und gingen auf Kurs Nordwest - weit genug entfernt von der „San Jacinto“, die noch immer vor ihren beiden Bugankern lag. Old Donegal hatte den Platz auf der Achterducht der Empress-Jolle eingenommen. Verstohlen wischte er sich von Zeit zu Zeit über die Augen, doch er konnte den Männern auf den Duchten nicht verheimlichen, daß diese Augen tränenfeucht waren. Auf der spanischen Galeone hatte unterdessen Geschrei eingesetzt. Gestikulierend hasteten die Kerle an Deck hin und her, nachdem sie minutenlang von der Back aus herübergestarrt hatten. Die Männer vom Bund der Korsaren beachteten sie nicht. Ihnen erging es kaum anders als dem alten O'Flynn, der vor Rührung wieder völlig stumm geworden war. Ein seltsames Würgen in der Kehle konnte keiner der Männer leugnen, wenn er darüber nachdachte, auf welch wundersame Weise die „Empress“ in Wind und Wetter ausgerechnet hierher, zu den Cat Cays, getrieben worden war. Man würde es in Zukunft verteufelt schwer haben, dem alten O'Flynn zu widersprechen, wenn der von seinen übersinnlichen Mächten schwafelte. Wie, in aller Welt, sollte man die Rückkehr der „Empress“ mit logischen Begründungen erklären?
6.
Julio Acosta hatte im ersten Moment geglaubt, durchdrehen zu müssen. Was sich diese verfluchten neun Kerle aus der Bucht leisteten, war die unglaublichste Dreistigkeit, die er jemals erlebt hatte. Nicht genug, daß dieses merkwürdige Gespensterschiff wie aus dem Nichts auftauchte. Nein, die Hurensöhne brachten auch noch ihre Jollen zu Wasser und hielten wie die Verrückten auf diesen kleinen Eimer zu, der ohne eine Menschenseele an Bord dahintrieb! Acosta nahm sich nicht die Zeit, über die Zusammenhänge nachzudenken, die hinter diesem ganzen rätselhaften Geschehen standen. Er mußte aufpassen, daß ihm die Fäden nicht aus der Hand glitten. Haargenau das konnte der Fall sein, wenn es den Goldräubern gelang, das Weite zu suchen. Möglich immerhin, daß sie das Gold auf einer anderen Insel versteckt hatten. Oder aber, es befand sich in den Laderäumen dieser kleinen Karavelle. Nein, dazu war der Kahn nicht groß genug. Aber ein Teil des Goldes? Die Gedanken überschlugen sich in Acostas Kopf. Er riß sich zusammen und versuchte, in sich selbst und in das Geschehen an Deck Ordnung zu bringen. Etliche der Kerle waren noch schlaftrunken, wie sie auf der Kühl durcheinanderpolterten, um Musketen und Munition herbeizuschaffen. Acosta trat an die achtere Querbalustrade der Back. „Alte Mann zu mir!“ brüllte er. „Los, los, bewegt euch! Oder wollt ihr, daß die Bastarde uns entwischen?“ Das wirkte ein wenig. Immerhin schafften sie es, ein Dutzend Musketen auf die Back zu bringen und zu laden. Die Waffen waren nach dem nächtlichen Alarm noch nicht einmal gereinigt worden. Aber zur Not mußte eine Kugel eben auch in einen von Pulverschleim verkrusteten Lauf getrieben werden. Prado und Morro griffen sich selbst Langwaffen, nachdem sie drei weitere Musketenschützen eingeteilt hatten. Auch Acosta versorgte sich mit einer Waffe. „Alle anderen laden nach!“ befahl er. Sie ließen es sich nicht zweimal sagen, gingen zwischen den Niedergängen zur Back in Deckung und hantierten eifrig mit Pulver, Bleikugeln und den langen Läufen. Der Schwarzbärtige nahm unterdessen die mittlere der drei Jollen aufs Korn, die bei dem Westwind über Steuerbordbug segelten. Prado und Morro feuerten bereits. Auch die Musketen der drei anderen krachten. Fetter, schwarzgrauer Pulverrauch wölkte auf, legte sich beißend in die Atemwege der Männer und wurde gleich darauf vom Wind auseinandergetrieben. Alle Schüsse lagen zu kurz. Acosta sah es an den kleinen Fontänen, die hinter den Spiegeln der Jollen aus dem rauhen Wasser gerissen wurden. Er hatte den Kerl mit dem Holzbein im Visier, der auf der Achterducht der mittleren Jolle hockte. Dieser alte Schrat, der so höhnisch meckernd lachen konnte, sollte die erste wirklich gutgezielte Kugel von der „San Jacinto“ einfangen! Acosta erhöhte die Visierlinie und versuchte es mit einem Steilschuß, wie er dem Hurensohn am Strand geglückt war, als die Floßbesatzung die Lotungen vorgenommen hatte. Die Muskete des Schwarzbärtigen spie Feuer, Rauch und Blei. Er hielt den Atem an, ließ die Waffe im Anschlag und wartete darauf, daß der Alte außenbords kippte. Nichts.
Stur und unerschütterlich hockte der Kerl auf seiner Ducht und ließ sich nicht einmal vom Krachen der Schüsse beeindrucken. Ebensowenig die anderen. Ein verdammter Haufen von Haderlumpen war das, die die Frechheit für sich gepachtet hatten. Acosta glaubte, ein Loch im Segel der mittleren Jolle zu erkennen. Aber auf die Entfernung konnte er es ohne Spektiv nicht genau feststellen. Er ließ sich eine neue Muskete reichen, während Prado, Morro und die anderen bereits weiterfeuerten. Wieder ohne Ergebnis. Die Kugeln lagen samt und sonders zu kurz, und mit Steilschüssen hatten weder der Schwarzbärtige noch einer der anderen auch nur ein Quentchen Glück. „Feuer einstellen“, sagte Acosta resignierend. „Was wir hier treiben, ist nur Munitionsverschwendung.“ Prado und Morro sahen ihn an. „Und?“ entgegnete der Bootsmann. „Hast du einen besseren Vorschlag?“ „Allerdings“, sagte Acosta grinsend. „Wir setzen Segel und schnappen uns die Bastarde mitsamt ihrem Gespensterkahn.“ „Wozu soll denn das gut sein?“ sagte Morro knurrend und mit gerunzelter Stirn. „Ich denke, das Gold liegt auf der Insel? Mehr wollen wir ja gar nicht. Lassen wir die Kerle doch abhauen.“ „Meine ich auch“, sagte Padro. „Wozu die unnötige Mühe?“ Acosta kniff die Augen zusammen und gab seinem Gesicht einen listigen Ausdruck. „Das sieht man mal wieder, daß es anscheinend nicht ausreicht, wenn nur zwei Mann denken.“ „Beleidigen können wir uns selber!“ schnappte Morro. Acosta wedelte mit der Hand. „Mann, reg dich nicht künstlich auf. Habt ihr schön mal dran gedacht, daß das Gold vielleicht gar nicht auf dieser, sondern auf einer anderen Insel ist?“ Prado und Morro wechselten einen erstaunten Blick. „Aber das ergibt doch keinen Sinn“, erwiderte der ehemalige Bootsmann der „Viento Este“. „Weshalb sollten sie sich dann hier versteckt haben?“ Der Schwarzbärtige zog die Schultern hoch. „Kann ja auch sein, daß sie Angst vor uns hatten, oder? Aber ernsthaft: Muß denn immer alles einen Sinn haben? Vielleicht gibt es da Sachen, die wir uns nur nicht zusammenreimen können. Was würdet ihr davon halten, wenn sie das Gold auf eine der anderen Inseln geschafft haben und dann in einem neuen Sturm abgetrieben wurden und hier in der Bucht Schutz fanden? Ihr Kahn taucht durch einen verrückten Zufall wieder auf, und jetzt sind sie total aus dem Häuschen. Kann auch sein, daß sie einen Teil unseres Goldes in diese kleine Karavelle geladen haben.“ Prado rieb sich nachdenklich das Kinn. Morro zog die Brauen zusammen. In seinen Augen war abzulesen, daß ihm das alles viel zu kompliziert war. „Was du sagst“, entgegnete Prado nach einer Weile, „kann man nicht ganz vom Tisch wischen.“ „Seht ihr“, sagte Acosta und nickte triumphierend. „Es gibt aber noch zwei andere Gesichtspunkte, die für mich genauso wichtig sind. Erstens: Diese Bastarde haben uns jetzt lange genug zum Narren gehalten. Diesmal müssen wir sie packen. Das Maß ist voll. Die sollen sich nicht einfach ungestraft verdrücken.“ „Wäre für mich nicht so wichtig“, erwiderte Prado. „Deine anderen Punkte klangen vernünftiger.“ „Gut“, erwiderte Acosta. „Dann lege ich noch einen besonders vernünftigen Punkt drauf: Wenn wir die Goldkisten finden - hier oder auf einer anderen Insel -, dann werden wir sie wohl in die Laderäume der ‚San Jacinto' schaffen müssen. Schließlich
haben wir die Gewürzladung an die Fische verfüttert, damit wir Platz für unsere feinen Goldkisten haben. Solche Kisten sind aber eine ganze Ecke schwerer als handliche Gewürzballen. Habe ich recht?“ Er sah die beiden anderen lauernd an. Prado fing als erster an zu begreifen. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Richtig, Acosta, das scheint mir der vernünftigste Grund von allen zu sein!“ Morro sperrte den Mund auf und blickte fragend von einem zum anderen. „He, was für ein Grund? Von was redet ihr?“ Acosta klopfte ihm auf die Schulter. „Amigo, du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Was ich sagen will, ist doch ganz einfach: Wir schlagen mehrere Fliegen mit einer Klappe. Und wir schnappen uns die Bastarde, damit sie für uns die Goldkisten von der Insel an Bord unserer Galeone mannen. Jetzt klar?“ Morros Gesicht glättete sich, und er begann zu strahlen. „Ja, verdammt, das ist es! Wir brauchen sie nur ein bißchen zu bewachen und können im übrigen Däumchen drehen.“ Er hieb sich vor Begeisterung auf die Oberschenkel. „Verdammt noch mal, das ist die Idee des Tages! Nach all den Strapazen können wir uns dann endlich erholen und zusehen, wie andere den Reichtum für uns schleppen.“ Acosta nickte wie zu einem gelehrigen Schüler. „Daran wirst du dich gewöhnen müssen, Amigo. In Zukunft werden es immer andere sein, die das Schleppen schwerer Lasten für dich besorgen. Ich sage dir, du wirst dich in der ersten Zeit mächtig beherrschen müssen, nicht mehr die Sachen zu tun, die deine Diener für dich erledigen. Reich sein will auch gelernt sein, glaub mir.“ Prado und Morro grinsten begeistert. So plastisch war ihnen die leuchtende Zukunft überhaupt noch nicht vor Augen geführt worden. Aber die Aussichten, die der Schwarzbärtige da schilderte, waren natürlich faszinierend. „Sag mal“, fragte Prado gedehnt und mit listig-verschlagenem Blick. „Wenn wir die Kerle geschnappt haben und sie die Kisten für uns verladen haben - sollten wir sie dann nicht gleich ganz übernehmen? Als Sklaven meine ich.“ Acosta wiegte den Kopf. „Würde mir nicht so gefallen. Bei solchen Burschen mußt du dauernd damit rechnen, daß sie dir Schwierigkeiten bereiten. Da wäre es schon besser, sie hier auf der Insel auszusetzen.“ „Wozu über ungefangene Fische reden?“ sagte Morro. „Erst müssen wir unsere lieben Freunde aus der Bucht und die Goldkisten mal haben.“ „Dann nichts wie los“, sagte Acosta siegessicher und wandte sich zu den Kerlen um, die das Gespräch mit großen Augen und offenen Mündern verfolgt hatten. „Steht nicht so faul herum, Kerls! Hievt Anker, setzt Segel, und dann klar bei Bordgeschützen! Los, los, bewegt euch, ihr lahmen Säcke! Morro!“ „Senior Kapitän?“ schnarrte der Dürre militärisch. „Du übernimmst das Ruder. Prado, du treibst die Kerle an, damit sie nicht im Gehen und Stehen einschlafen.“ Die beiden Männer salutierten, und Acosta empfand unbändigen Stolz über seine wiedergewonnene Autorität. Während alle anderen an Bord in hektische Bewegung gerieten, begab er sich gemessenen Schrittes an seinen Platz auf dem Achterdeck, wo er als Kapitän ja auch hingehörte. Am Ankerspill asteten sich die Kerle ab, daß die Schweißtropfen auf die Planken fielen. Prado brüllte Kommandos im Takt und sorgte auf diese Weise dafür, daß keiner der Burschen in seinem Eifer nachließ.
Der Rest der Mannschaft war bereits in den Luvwanten des Großmasts aufgeentert. Die gesamte Segelfläche konnten sie nur nach und nach setzen, da die Ankerspillcrew als nächstes an Brassen und Schoten gebraucht wurde. Acosta war sich darüber klar, daß sie sich erst einmal aus der Riffzone freikreuzen mußten, ehe sie die Verfolgung der Bastarde aus der Bucht aufnehmen konnten. Noch hatten die Kerle das Gespensterschiff nicht erreicht Acosta beobachtete sie mit dem Spektiv und ärgerte sich von neuem gewaltig, daß er den alten Holzbeinhalunken nicht von der Ducht geholt hatte. Nun, wenn sie erst einmal zur Gefangennahme geschritten waren, würde er an dem Alten ein Exempel statuieren. Dann war mal wieder eine Hinrichtung fällig. Urteilsbegründung: Verspotten des Feindes durch meckerndes und unflätiges Lachen. Die Exekution würde den anderen Gefangenen erst einmal Respekt beibringen, und schließlich war der Alte mit seiner Beinprothese als Arbeitskraft sowieso nicht viel wert. Bei diesen Gedanken rieb sich Acosta voller Vorfreude die Hände. Beide Anker waren mittlerweile hoch, und die Segel füllten sich mit Wind. „Jetzt zeig, was du kannst!“ rief Acosta dem Dürren zu, der breitbeinig am Ruder stand. „Darauf kannst du Gift nehmen“, erwiderte Morro selbstsicher, ohne sich umzuwenden. Acosta nickte grimmig und voller Zuversicht, nahm sein Spektiv und fuhr fort, die drei Jollen zu beobachten. Sekunden später sträubten sich seine Nackenhaare. Die „San Jacinto“ krängte nach Steuerbord, statt auf Nordkurs zu gehen und Fahrt aufzunehmen. In Sekundenschnelle nahm die Schrägneigung immer mehr zu. Und gleich darauf geschah das Unfaßbare. Die Galeone trieb auf das Land zu. „Was, zum Teufel, ist los?“ brüllte Acosta. Morro stemmte sich verzweifelt gegen das Ruder. „Versager!“ schrie er. „Ein Ruderversager!“ Acosta ließ das Spektiv einfach fallen und war mit wenigen Schritten bei ihm. „Laß mich mal ran, du Schwachlappen“, fauchte er, stieß den Dürren beiseite und packte mit harten Fäusten zu. Nicht einmal um Fingerbreite ließ sich das Ruder bewegen, sosehr er sich auch abmühte. „Hölle und Verdammnis!“ brüllte er mit überkippender Stimme. „Das kann doch nicht sein!“ Erst nach Sekunden wurde ihm bewußt, daß alles Abmühen nichts half. Er erwachte wie aus einem Alptraum, wich vom Ruder und stürzte zur Querbalustrade. Die Kerle standen schreckensstarr auf der Kühl und beobachteten das Geschehen wie ein wehrloses Kaninchen die Schlange. „Werft Anker!“ brüllte er. „Beeilt euch, um Himmels willen, werft Anker!“ Sie lösten sich aus ihrer Erstarrung, Prado inbegriffen, und hasteten zur Back. Zu spät. Ein jäher Ruck lief durch das Schiff. Den Schwarzbärtigen riß es von den Beinen wie die meisten anderen auch. Hart schlug er mit dem Hinterkopf auf die Achterdecksplanken, und sekundenlang drehten sich feurige Kreise vor seinen Augen. Voller Entsetzen hörte er dabei das Knirschen, das durch den Schiffsrumpf ging, bis es schließlich endete. Nur noch das Klatschen der Segel und das Singen des Windes in laufendem und stehendem Gut waren jetzt zu hören.
Benommen rappelte Acosta sich auf. Die nächste Schreckensmeldung vernahm er, bevor er richtig zur Besinnung gelangt war. „Wassereinbruch im Achterschiff!“ schrie Morro von der Heckbalustrade her. „Und damit du weißt, was los ist, Acosta: Da hat uns jemand das Ruderblatt blockiert.“ Der Schwarzbärtige stürzte nach achtern, und er hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren. Mit wenigen Blicken überzeugte er sich von der verheerenden Lage. An die zweihundert Yards vom Uferstrand entfernt waren sie aufgebrummt. Ein verdammtes Riff hatte ihnen das Achterschiff aufgeritzt, und es suppte herein wie verrückt. Und tatsächlich, deutlich sichtbar zwischen Achtersteven und Vorderkante des Ruderblatts steckten zwei Keile! Acosta wirbelte herum und schüttelte die Fäuste zu den weit entfernten Jollen. „Ihr entwischt uns nicht!“ schrie er schrill. „Ich kriege euch, und dann gnade euch Gott! Jeden einzelnen von euch lasse ich vierteilen, das schwöre ich euch!“ Von der Kühl war heiseres Gebrüll zu hören, das aus Wut und Verzweiflung herrührte. Morro war der erste, der wieder einen klaren Kopf hatte. Er versetzte Acosta einen Hieb in die Seite. Der Schwarzbärtige zückte zusammen, wirbelte herum und wollte auf den Dürren losprügeln. „Reiß dich zusammen!“ schrie Morro. „Verdammt noch mal, dein Geschrei nutzt jetzt überhaupt nichts! Wir müssen lenzen, lenzen, lenzen!“ Einen Atemzug lang starrte der Schwarzbärtige ihn an wie eine fremdartige Erscheinung. Dann rannte er los, zur Querbalustrade. Er überbrüllte das Geschrei auf der Kühl. „An die Lenzpumpen, ihr Narren! Wollt ihr euch wohl bewegen, ihr Blödmänner! An die Lenzpumpen, habe ich gesagt!“ Da endlich wurden sie still und befolgten den Befehl.
7.
Old Donegal und seine Mannen hatten beobachtet, was sich achteraus vor der Inselbucht abspielte. Voller Genugtuung hatten sie mitverfolgt, was das blockierte Ruder den Galgenstricken auf der „San Jacinto“ bescherte. Der alte O'Flynn hatte nicht umhin können, wieder jenes meckernde Lachen anzustimmen, von dem er nicht ahnte, daß es dem Schwarzbärtigen bereits als Grund für ein Todesurteil ausreichte. Nun aber näherten sie sich der „Empress of Sea II.“, die da führerlos im Kabbelwasser dümpelte und ein bißchen gerupft aussah. Ernsthafte Schäden, das war schon von weitem zu erkennen gewesen, hatte sie nicht davongetragen. Die Welt hinter Old Donegal und den Männern versank in Bedeutungslosigkeit. „Die gute alte ‚Empress' “, flüsterte Old O'Flynn mit erstickter Stimme und drückte damit haargenau das aus, was alle in diesem Moment empfanden. Die Rührung hatte sie sprachlos werden lassen. Kein Wort fiel, als sie längsseits gingen, die Jollen vertäuten und eine erste rasche Inspektion der kleinen Karavelle vornahmen. Mit eherner Miene stelzte Old Donegal zum Achterdeck, nahm seinen angestammten Platz ein und ließ seinen Blick über das Schiff gleiten, das Hesekiel Ramsgate mit meisterhaftem Geschick nach seinen Wünschen und Vorstellungen gebaut hatte. Es war ein vollendetes Werk daraus geworden. Und man konnte es als gütige Wende des Schicksals betrachten, daß dieses Werk nicht den Naturgewalten zum Opfer gefallen war. Eine höhere, geheimnisvolle Macht mußte die „Empress“ vor schlimmerem Schaden bewahrt haben. Und eben diese Macht mußte sie auch dorthin zurückgeführt haben, wohin sie gehörte. In meine Hände, dachte Old Donegal voller Ehrfurcht vor jenen Dingen zwischen Himmel und Erde, die ihm rätselhaft waren, an deren Vorhandensein er aber fest glaubte. Sämtliche Segel waren noch sauber an den Rahruten aufgetucht - wie es der Fall gewesen war, als die „Empress“ in den Wirren des Sturms verschwunden war. Keine Fremden hatten also ihre Hand an das Schiff gelegt. Die wenigen Schäden - hier eine angeknackste Spiere und da ein zerbrochenes Stück Balustrade - waren ausschließlich durch Einwirkung des Sturmes entstanden. Die Männer waren bereits dabei, die Empress-Jolle an Bord zu hieven und die anderen in Schlepp zu nehmen, nachdem sie die Besegelung unter den Duchten verstaut hatten. Martin Correas Stimme ließ sich dumpf aus den Unterdecksräumen vernehmen. „Wasser bis über die Bilge!“ Er streckte den Kopf aus der achteren Luke des Hauptdecks. „Keine Lecks, Sir!“ Old Donegal nickte und lächelte zufrieden. Von seiner Lady „Empress“ hatte er das nicht anders erwartet. Die ließ sich doch nicht von einem hergelaufenen Sturm kleinkriegen, wenn sie nur mal ein bißchen führerlos war! Nein, so etwas schüttelte die Lady mit ein bißchen Bilgenwasser ab, und dann hatte sich der Fall. „Dann mal an die Lenzpumpen“, sagte Old O'Flynn, und das Faltenmeer seines Gesichts verhärtete sich. „Und anschließend kriegen sie Zunder, die Strolche von der Bucht! Die sollen sich wünschen, nie ihre ungewaschenen Füße auf Schiffsplanken gesetzt zu haben! Denen setzen wir Feuer unter den Hintern, daß sie denken, die Hölle hätte ihren Schlund auf getan!“ Ed Carberry und die anderen sahen sich grinsend an. Jetzt steigerte sich der Alte zur Höchstform.
Hasard und Philip liefen auf ihn zu. Plymmie war bei ihnen. Nur Sir John hatte es offenbar vorgezogen, an Land in der sicheren Höhle zu bleiben. „Sir!“ rief Hasard junior. „Das Lenzen übernehmen wir gern!“ „Dann sind die anderen Hände frei zum Segelsetzen“, sagte Philip. „Und zum Klarieren der Drehbassen“, fügte Hasard hinzu. „Einverstanden“, erwiderte Old O'Flynn. „Die beiden Killigrew-Junioren übernehmen das Lenzen. Für alle anderen“, er erhöhte seine Lautstärke zum schneidenden Befehlston. „Klarschiff zum Gefecht! Segel setzen und Drehbassen klarieren! Angriff auf den spanischen Dreckeimer!“ Die Männer gerieten in Bewegung. Martin Correa übernahm das Ruder, während die anderen die Zurrings und Geitaue lösten und das Tuch von den Rahruten abwärts rauschen ließen. Gleich darauf konnte die „Empress of Sea II.“ ihre hervorragenden Eigenschaften als Am-Wind-Segler unter Beweis stellen, und Martin Correa bewies, daß er dieses Musterbeispiel englischer Schiffsbaukunst perfekt beherrscht. Hart über Backbordbug segelnd, ging die kleine Karavelle auf Kurs Südwest und stieß bereits Minuten später an der Nordspitze der Insel vorbei. Der Kurs der „Empress“ bildete nun einen spitzen Winkel zur Nord-Süd-Linie der Insel. Old Donegal hatte sein Spektiv angesetzt und beobachtete das Geschehen vor der Bucht. Auf dem aufgebrummten Spanier herrschte noch immer Wuhling. Die Kerle schienen kopflos zu sein. Was auch der Sinn des Ruderblockierens war, dachte Old Donegal voller Genugtuung, und gleich werdet ihr endgültig wie die aufgescheuchten Hühner herumrennen. Denn offenbar waren die Dons so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie noch gar nicht bemerkt hatten, welches neue Verhängnis sich ihnen näherte. Martin Correa hielt die „Empress“ auf Anweisung Old O'Flynns zunächst weiter auf Kurs Südwest, und sie entfernten sich auf diese Weise von der Insel. Der Kutscher hatte in der Kombüse Holzkohle entfacht und stellte die Becken mit der Glut für die Lunten bereit. Die Zwillinge waren mit dem Lenzen schon nahezu fertig. Carberry und die anderen hatten die Drehbassen in aller Eile gereinigt und den Rohren die erste Ladung gesetzt. Die Taktik stand bereits fest. Worte waren darüber nicht mehr zu verlieren. Die Männer um Old O'Flynn zeigten wieder einmal, daß sie eine erprobte und verschworene Gemeinschaft waren, die sich in vielen gefahrvollen Situationen perfekt aufeinander eingespielt hatte. Nach einer Halse in dreihundert Yards Entfernung von der Insel jagte die „Empress“ im Direktkurs auf die Bucht zu. „Klar bei vorderen Drehbassen!“ brüllte Old Donegal. Carberry, der an dem Hinterlader vorn an Steuerbord stand, zeigte klar. Auch Stenmark und die anderen gaben ihr Zeichen der Einsatzbereitschaft. Die Einzelheiten wurden von Sekunde zu Sekunde deutlicher. Die „San Jacinto“ war mit dem Bug voraus aufgelaufen. Ihr Achterschiff zeigte seewärts. Und damit bot der Spanier den Angreifern seine verwundbarste Seite. Old Donegal überzeugte sich mittels des Spektivs, daß seine Kalkulation aufging. Die „Empress of Sea“ rauschte aus dem toten Winkel heraus auf die festsitzende Galeone zu. Denn sie blieben außerhalb des Wirkungsbereichs der Bordgeschütze. Achtern hatte die „San Jacinto“ keine Kanonen, und auch Drehbassen waren oberhalb der Heckbalustrade nicht zu sehen. Ohnehin zeigte sich keine Seele auf dem Achterdeck.
Die Ursache erkannte Old O'Flynn, als er mit dem Spektiv die Wasserlinie rings um das Achterschiff absuchte. An der Steuerbordseite, knapp unterhalb der Wasserlinie, gluckerte es munter in den Schiffsleib. Also hatten sie an den Lenzpumpen alle Hände voll zu tun, schufteten vermutlich wie die Berserker und hofften, zu retten, was noch zu retten war. Sie sollten kein Glück damit haben. Das schwor sich der alte O'Flynn in diesen Minuten. Augenblicke später war es soweit. Mühelos fand die „Empress“ ihren Weg durch die Riffs. Wegen ihres geringen Tiefgangs bestand praktisch keine Gefahr, daß sie sich den Bauch aufschlitzte. „Feuer frei!“ brüllte Old Donegal, als sie auf Schußweite an das Heck der Galeone herangesegelt waren. Die Spanier, die noch immer nichts mitgekriegt hatten, traf es wie aus heiterem Himmel. Carberry und Stenmark jagten die Ladungen der beiden vorderen Drehbassen in die Heckgalerie der „San Jacinto“. Dem Wummern der Schüsse folgte das Bersten und Splittern von Holz und Bleiglas. Die Galerie flog auseinander, und kein Fenster der Achterdeckskammern blieb heil. Die Männer an Bord der „Empress of Sea“ brüllten den alten Kampfruf aus Cornwall, der schon unendlich viele Gegner zur See in Furcht und Schrecken versetzt hatte. „Ar - we - nack! Ar - we - nack!“ Es klang wie rollender Donner, und aus den Unterdecksräumen der Galeone drangen jetzt die Entsetzensschreie der Spanier. Ihnen war schockartig klargeworden, in welcher aussichtslosen Lage sie sich befanden. Martin Correa drehte nach Backbord. Lässig und elegant, im Vorbeigehen, hämmerten die Männer des alten O'Flynn die Drehbassenladungen von Steuerbord in das Achterschiff und in die Flanke des Spaniers. Bei diesem Manöver zerschossen sie auch die Vorleine des Floßes, das längsseits vertäut war und gleich darauf abtrieb. Old Donegal gab Befehl, beizudrehen und auf Distanz zu gehen, als auf der Kühl der Galeone die ersten Gestalten sichtbar wurden. Jemand brüllte Befehle. Offenbar glaubten die Kerle, mit ihren Geschützen noch etwas ausrichten zu können. Ein grimmiges Lächeln kerbte sich in die Mundwinkel des Alten, während er zusah, wie die Männer die Drehbassen an Steuerbord nachluden. Dann gab er den Befehl zum erneuten Angriff. Martin Correa legte Ruder, und nach einer eleganten Halse rauschte die „Empress“ zum zweitenmal auf die „San Jacinto“ zu - wieder aus dem toten Winkel. Wütendes Geheul ertönte von der Kühl der Galeone, als die Dons begriffen, daß ihre Geschütze nicht mehr wert waren als Spielzeug. Gestalten stürmten auf das Achterdeck. Die langen Läufe von Musketen blinkten matt im frühen Tageslicht. Nur eine einzige Kugel fetzte durch das Focksegel der „Empress“ und schwirrte davon, ohne weiteren Schaden anzurichten. Der blonde Schwede drückte den Lauf des Hinterladers in der Drehlafette schräg nach oben und zündete. Aus dem Lauf leckte die Feuerzunge mit Gebrüll, und die Ladung von gehacktem Blei hämmerte knapp unterhalb der Heckbalustrade in die beachtenswerten Schnörkelverzierungen, die dort angebracht waren.
Schreiend ergriffen die übrigen drei oder vier Musketenschützen die Flucht, ohne auch nur einen Schuß abgefeuert zu haben. Keine weitere Gestalt ließ sich auf dem Achterdeck blicken. „Breitseite Steuerbord!“ rief Old Donegal mit Donnerstimme. Augenblicklich legte Martin Correa Ruder. Das Heck der Karavelle schwang herum, und die Männer stießen die Lunten in die Zündlöcher. Grellrote Blitze zuckten aus den Laufmündungen. Das Krachen der Drehbassen vereinte sich zu einem urgewaltigen Hall, der über die Wasseroberfläche rollte und sich mit dem schmetternden Klang der Einschläge vereinte. Haargenau in die Wasserlinie rasten sämtliche Treffer. Wirbelnde Splitter wurden aus den Außenplanken gerissen. Lecks klafften reihenweise, und das Wasser zeigte gurgelnde Schaumbildung, wo es seinen Weg in das Innere des Achterschiffs fand - zusätzlich zu dem bereits vorhandenen Leck an der Steuerbordseite. Mit Geheul und Gebrüll hatten sich der Schwarzbärtige und seine Kerle unter Deck verkrochen. Den dritten Angriff fuhr der alte O'Flynn wiederum aus dem toten Winkel heraus. Diesmal ließ er die Backbordbreitseite auf den schon waidwunden Schiffsleib abfeuern. Abermals leckten die Feuerzungen von der „Empress of Sea“ zum Achterschiff der Galeone hinüber. Die Splitter und größeren Plankenstücke, die jetzt knapp über und in der Wasserlinie herausgerissen wurden, vergrößerten die gerade begonnenen Lecks um ein Vielfaches. Doch der alte O'Flynn dachte beileibe noch nicht daran, schon lockerzulassen. Mit dem vierten Angriff nahmen sie sich die Backbordseite der „San Jacinto“ vor, die achtern zusehends tiefer sackte. Die Wasserlinie hatte bereits die Höhe der zerschossenen Heckgalerie erreicht. Es suppte in die Fenster, in denen nur noch Reste vom Bleiglas hingen. Das Donnergebrüll der Drehbassen dröhnte von neuem auf die Galeone ein, und nun rasten die Ladungen zerfetzend und zerschmetternd über die Planken der Kühl. Den Kerlen unter Deck mußte es durch und durch gehen. Wieder drehte die „Empress“, wieder ging sie auf Distanz, und von neuem jagte sie auf das Schiff zu, das schon ein Wrack war. Achtern saß die „San Jacinto“ jetzt auf Grund. Die unteren Räume des Achterkastells standen bereits vollends unter Wasser. Und von neuem krachten die Drehbassen der „Empress of Sea“. Old Donegal Daniel O'Flynn dachte nicht daran, schon aufzuhören. Mit eisenharter Miene gab er immer neue Angriffsbefehle. Er würde erst dann mit dem Beschuß aufhören, wenn er den verdammten Kahn in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte... ENDE