Kate Cameron
Das Geständnis der Rachel Holderly Irrlicht Band 457
Ich blickte mich um und glaubte, im Fluß unter der...
142 downloads
471 Views
407KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Kate Cameron
Das Geständnis der Rachel Holderly Irrlicht Band 457
Ich blickte mich um und glaubte, im Fluß unter der Brücke eine Bewegung wahrzunehmen. Vor meinen Augen formte sich in den Wellen ein Gesicht. Ich konnte es so deutlich sehen, als wenn es aus Fleisch und Blut wäre. Das Gesicht war oval, mit blauen Augen und leicht geöffneten Lippen. Langes schwarzes Haar flatterte wie in einer leichten Sommerbrise. Für einen Augenblick stand ich wie gebahnt und starrte voller Schrecken auf das Gesicht, als die blassen Lippen deutlich das Wort Nein formten. Dann war der Spuk verschwunden.
Meine Schwägerin sprang von ihrem Schaukelstuhl in der Fensternische auf und ließ hastig die Spuren ihrer Arbeit verschwinden, mit der sie am Tag des Herrn beschäftigt gewesen war. Ohne Atem zu holen sagte sie zu mir: »Gib mir deine Arbeit, ich will sie verstecken.« Wortlos reichte ich ihr die Stoffstreifen, aus denen ich einen Teppich webte. Mit Erstaunen sah ich, daß sie sie durch die Tür in den Vorraum warf, die Tür schloß und mit der gleichen schwungvollen Bewegung die Bibel vom Stehpult nahm, sich wieder in den Schaukelstuhl setzte, ihr Haar glättete und ihren Rock in hübschen Falten legte. »Was ist denn los?« stotterte ich, aber sie unterbrach mich. »Mr. Holderly kommt den Weg heraufgeritten. Du kannst Pilgrim’s Progress lesen, wenn du Lust hast, aber ich will nicht, daß er dich erwischt, wie du am Sonntag Teppiche knüpfst!« »Ach so.« Ich nahm den zerlesenen Band. Meine Stimme war sanft, aber mein Herz voller Zorn. Welch kleine Heuchlerin sie doch ist und wie ich es hasse, falsch zu sein! Aber ich war vernünftig genug, meinen Ärger nicht zu zeigen, denn Claras Zorn konnte furchtbar sein. Außerdem hatte sie mir heute schon gesagt, daß sie ärgerlich war, weil ich den tölpelhaften Henry Jenkins nicht ermutigt hatte, als er mich nach dem Kirchgang ansprach. »Du hättest zumindest ein bißchen freundlicher sein können, Jane«, hatte sie gesagt, als wir mit dem Zweispänner heimfuhren. »Es hätte dich keinen Groschen gekostet, zu lächeln, aber du hast deinen Kopf zurückgeworfen und bist an ihm vorbeigerauscht.«
Mein Bruder Ethan versuchte mir zu Hilfe zu kommen, was in letzter Zeit immer öfter geschah. »Aber sie hat mit ihm gesprochen, ich habe es selbst gehört!« »Ich sagte ihm, daß ich bereits andere Pläne gemacht hätte, Clara«, erklärte ich. »Und ich würde lieber den ganzen Tag Stoffstreifen auf Knäuel wickeln, als Henry Jenkins zu unterhalten.« »Henry Jenkins hat eine 200-Morgen-Farm, Pferde und Rinder«, erinnerte mich Clara. »Dir könnte Schlimmeres passieren. Du bist neunzehn Jahre alt, und es wird Zeit, daß du dich nach einem passenden Ehemann umsiehst. Aber nein, nur weil ein Mann schmutzige Stiefel trägt, zeigst du ihm die kalte Schulter.« »Oh, das hast du auch bemerkt?« fragte ich kühl. Ich blätterte in dem Buch, das ich praktisch auswendig kannte, und wartete, daß Ward Holderly das Haus betrat. Clara tat so, als ob sie in der Bibel lese, aber sie schielte aus dem Fenster und machte kupplerische Bemerkungen über einen Mann, der sicherlich zu Ethan kam, und keinesfalls zu mir. »Er sitzt elegant auf seinem Pferd. Für sein Alter sieht er sehr jung aus – und er sieht so gut aus, Jane! Er muß bald vierzig sein, aber das sieht man ihm wirklich nicht an. Geh und mach ihm die Tür auf – und nimm das Buch mit, damit er sieht, daß du darin gelesen hast.« Sie sah mich kritisch an. »Zieh deinen Ausschnitt etwas herunter – zeig dich von deiner besten Seite. Und knickse!« zischte sie. Ich ging hinter ihr zum Tor, sah ihre rotblonden Locken, die mit einem grünen Band zusammengehalten waren, das die gleiche Farbe hatte wie ihre blitzenden Augen, und kontrollierte meinen wilden Wunsch, ihr das dicke Buch, das ich trug, über den Kopf zu schlagen. Ich haßte es, bei meinem Bruder und seiner Frau zu wohnen. Ich verzehrte mich vor
Sehnsucht nach Nordcarolina, wo ich vor dem Tod meiner Eltern gelebt hatte. Clara war ein Ellenbogenmensch, dazu war sie noch faul, scharfzüngig und eitel. Jedoch das schlimmste war, daß ich ihre Abneigung gegen mich von Jahr zu Jahr wachsen spürte. Aber sogar unter diesen Umständen hatte ich keinerlei Lust, den Erstbesten zu heiraten, nur um ein eigenes Heim zu haben. Zum Beispiel diesen Henry Jenkins mit seinen schmutzigen Stiefeln, seinen schmierigen Händen, der ewigen Spucke, die über sein Kinn rann, weil er dauernd Kautabak im Mund hatte. Ich hatte aber auch ebensowenig Lust, mich Ward Holderly an den Hals zu werfen, dem Freund meines Bruders. Ich hatte ihn nur zweimal aus der Nähe gesehen, einmal, als seine Frau vor fünf Jahren starb und dann wieder, als seine Stiefschwester starb. Immerhin tat ich, was Clara mir befohlen hatte, um zu vermeiden, daß sie anfing mit mir zu schreien. Es wäre mir peinlich gewesen, wenn der Besucher es gehört hätte. Ich warf einen Blick in Claras Spiegel, und ich wünschte, ich wäre hübscher. Gewöhnliches braunes Haar und braune Augen waren nicht dazu angetan, Männerhirne zu benebeln,“ das war mir klar. Und doch war ich dankbar, daß ich gute Zähne hatte, daß mein Mund weder zu dünnlippig noch zu voll war, daß ich zarte Hände und kleine Füße hatte. »Guten Tag, Mr. Holderly, kommen Sie doch herein.« Ich war freundlich, aber ich knickste nicht. »Danke, Miß Dorsett.« Er zog schwungvoll den Hut und trat in die Halle. Aber, dachte ich, dieser Mann kann doch unmöglich vierzig sein! Kein einziges weißes Haar, kaum eine Falte im Gesicht, und er bewegt sich mit jugendlichem Schwung! »Clara ist im Wohnzimmer«, sagte ich. »Wunderschöner Nachmittag heute, nicht?«
»Ja, wirklich, Miß Dorsett. Und das Anfang April. Ist Ihr Bruder zu Hause?« »Er ist zu Will Downey gegangen, um einer Kuh beim Kalben zu helfen.« Clara unterbrach mich schnell, und ich sah hinter ihrem aufgesetzten Lächeln den Ärger, daß ich etwas so Undelikates wie Kalben erwähnt hatte. »Kommen Sie herein, Mr. Holderly.« Ihre Stimme war weich wie geschmolzene Butter. »Leider ist mein Gatte nicht zu Hause. Jane, bringst du uns Tee?« Ich war entlassen. Auf dem Weg zur Küche spürte ich die Röte in meine Wangen steigen. Clara würde später mit mir schimpfen, daß ich so geradeheraus gesprochen hatte anstatt zierliche Ausflüchte zu suchen. Ward Holderly saß in einem Großvaterstuhl, und ich konnte seine gemurmelte Antwort nicht verstehen. Aber ich hörte Claras schmelzende Stimme, als sie direkt zum Thema kam. »Wirklich, Mr. Holderly, Sie sollten daran denken, wieder zu heiraten.« Die tiefe Stimme aus dem Großvaterstuhl murmelte höflich. Obwohl ich die einzelnen Worte nicht verstehen konnte, war ich sicher, daß es irgend etwas Unverbindliches war, das er zu Clara sagte. Aber sie fuhr unverschämt fort, und ich hörte ein paar Namen, die sie als mögliche Kandidatinnen für den mutterlosen Haushalt vorschlug. »… Florabell Ross – nun, sie ist vielleicht ein bißchen mollig – aber so eine gute Christin! Und Minnie Provine…« Mit Claras hauchdünnen Porzellanschalen, ihrem silbernen Teeservice und einem Teller dünngeschnittener Butterbrote balancierte ich das Tablett und ging zögernd zurück ins Wohnzimmer. Obwohl ich wußte, daß mein hochrotes Gesicht verriet, daß ich Claras heuchlerisches Lob der passenden
Kandidatinnen gehört haben mußte, tat ich so, als ob ich von nichts wüßte. »Haben Sie gerade die Spottdrossel singen gehört, Mr. Holderly?« fragte ich, während Clara Tee eingoß. »Nein, ich habe nichts gehört. Mrs. Dorsett sprach von einigen ihrer Freundinnen. Aber ich mag Vogelgesang. In einem Apfelbaum auf der Ostseite meines Gartens habe ich ein Amselnest entdeckt.« Da sich das Gespräch jetzt von Claras schlecht verhülltem Verkuppelungsversuch abgewandt hatte, bekam ich Gelegenheit, zu sehen, wie er wirklich aussah. Seine Augen waren tiefblau; sein braunes Haar so dunkel, daß es schon fast schwarz wirkte. Er trug es aus seiner hohen Stirn gebürstet. Sein Gesicht war nicht besonders schön, eher eckig und ein wenig zu streng, aber wenn er lächelte – und wenn er einem zuzwinkerte, verschwand diese Strenge völlig. Und warum hatte er mir zugezwinkert? Ich vermutete, daß er wußte, daß ich Claras geschmackloses Getratsche gehört hatte und auch, daß mir ihre Worte furchtbar peinlich waren. Er wollte, daß ich verstand, daß ihn all das amüsierte. Es war kein Zwinkern wie im Flirt, da war ich sicher. Nein, es war ein verschwörerisches Zwinkern – und ich begann mich zu entspannen. So nahm ich hin und wieder mit ein, zwei Worten an der Unterhaltung teil. Als Clara das erste Mal Atem holte, wandte sich Ward Holderly zu mir: »Es ist zu schön, um im Zimmer zu sitzen. Könnte ich die Damen überreden, mit mir nach New Hope zu reiten? Dort stehen die Sträucher in Blüte; es ist sehenswert.« Clara war begeistert und ihr Geplauder überstürzte sich, aber nur einen Augenblick lang. Ich erkannte, was in ihren Gedanken vorging und hatte das sichere Gefühl, daß Ward Holderly innerlich lachte. »Ja, aber ich… das heißt… ich wollte gerade… Ethan wird bald heimkommen und er ist nicht… also, ich glaube, ich
muß… aber du, Jane, du meine Liebe, kannst ja mit Mr. Holderly ausreiten.« »Mit dem größten Vergnügen, Mr. Holderly«, sagte ich. »Ich will nur mein Kleid wechseln.« Als ich die Tür öffnete, erinnerte ich mich, daß Clara meine Flickknäuel in den Vorraum geworfen hatte, und daß ich vorsichtig sein mußte, damit nicht einer der aufgewickelten Bälle in das Wohnzimmer sprang. Mein kleines Dachstübchen wurde nur durch ein Gitter erwärmt, das in den Boden eingelassen war, und durch das die Wärme aus dem Wohnzimmer eindrang. Während ich mein Sonntagskleid auszog und es vorsichtig auf den Kleiderhaken hängte, konnte ich hören, daß Ward Holderly zu Clara sagte, er würde inzwischen mein Pferd satteln. »Welches Pferd reitet Ihre Schwester denn?« »Jane reitet Betsy.« Die Luft war warm und lind. Die Obstbäume standen in voller Blüte und schmückten die sanften Hügel, hier und da hatte ein Judasbaum seine magenta-roten Blüten geöffnet, die alle der Sonne zugekehrt waren. Die ganze Welt gehörte uns, wir tranken ihre Schönheit aus Blüten und Vogelgesang und klaren rauschenden Bächlein, die zwischen den Weiden dahinplätscherten auf dem Weg zum Timberfluß. Als wir in die Nähe der Holzbrücke über den Timberfluß kamen, stiegen wir ab und gingen zu Fuß zur Brücke. »Wir wollen sehen, ob es hier Elritzen gibt«, schlug Ward vor und wir blickten über das Holzgeländer in das plätschernde Wasser. Er begann, in sich hineinzulachen. »Ich konnte mir gerade noch das Lachen verkneifen«, sagte er, »während Ihre Schwägerin die Mädchen anpries, die sie mir als Heiratskandidatinnen empfahl. Aber in Wahrheit…« Er zögerte, schien etwas Ernstes sagen zu wollen, sah ins Wasser und dann zu mir herüber. Dann räusperte er sich, strich sich
das Haar aus der Stirn, zog seinen Rock hinunter, griff nach seiner Krawatte und stieß es dann endlich hervor: »In Wahrheit kam ich heute in Ihr Haus, um Ihren Bruder um Erlaubnis zu bitten, um Sie zu werben.« Die Überraschung war ihm gelungen. Ich konnte nur stottern: »Sie – Sie wollen das?« »Ja, so war es geplant. Weil Ethan aber nicht zu Hause war, entschied ich mich, Ihnen ganz einfach meine Absichten mitzuteilen. Deshalb war ich froh, als Sie zustimmten, mit mir auszureiten, Miß Jane.« »Aber ich…« Tausend Gründe, war um ich diesen Mann nicht heiraten konnte, jagten mir durch den Kopf. Erst einmal war da der Altersunterschied. Dann hatte er drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Würden diese mich als ihre Stiefmutter akzeptieren? Ward war ein einflußreicher Landbesitzer, befreundet mit Senator Andrew Jackson und anderen politischen Größen aus Kentucky, Tennessee, Indiana und Illinois. Ich hatte keine Übung in der Kunst, große Gesellschaften zu arrangieren und hatte Angst, daß ich mit meinem Mangel an Erfahrung nicht die Gastgeberin sein könnte, die man in ei nem großen Herrenhaus wie Holderly Hall erwartet. Weiter waren Dutzende Bedienstete auf Holderly Hall tätig. Würden Wards viele Bedienstete einer Neunzehnjährigen den Respekt entgegenbringen, der der Herrin von Holderly Hall zustand? Als ob er meine Gedanken lesen könnte, nahm Ward meine Hand. »Miß Jane, ich weiß, ich bin um vieles älter als Sie. Ich bin bald 45 Jahre alt. Aber Sie sind eine ernsthafte junge Dame mit viel mehr Vernunft als die meisten anderen Zwanzigjährigen.« Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, mit diesem Mann verheiratet zu sein, der nur ein flüchtiger Bekannter war – wie es wäre, sein
Bett zu teilen. Ich schluckte und nagte an meiner Unterlippe und versuchte, eine passende Antwort zu finden. »Ich will Sie nicht drängen«, sagte er. »Aber… als Lucy starb, dachte ich, ich könnte nie wieder lieben. Dann, als Sie mich mit Ethan besuchten, als meine Stiefschwester starb, dachte ich, Sie wären die hübscheste Person, die ich je gesehen hatte. Ich sah Sie noch ein paarmal in New Hope, aber ich bin sicher, daß Sie mich nicht bemerkten. Sie sahen nie dorthin, wo die Männer beisammenstanden, beim Schmied oder beim Saloon. Ich mag keine kessen und dreisten Frauen. Sie haben das Benehmen und die Handlungsweise einer echten Dame, Miß Jane! Als Sie neulich an der Kornmühle vorbeigingen und mir klarwurde, daß ich Ihnen nachträumte wie ein verliebter Schuljunge, entschloß ich mich auf der Stelle, sobald wie möglich um Ihre Hand anzuhalten.« Schließlich fand ich doch Worte: »Ich bin… ich weiß nicht… ich habe einfach das Gefühl, Sie nicht gut genug zu kennen, Mr. Holderly.« »Bitte, Jane, sei nicht so förmlich. Mir wäre lieber, du würdest mich Ward nennen. Aber gut – ich will dir alles erzählen, was man über mich wissen muß.« Ethan hatte einmal erwähnt, daß Wards Vater, Benson, als Belohnung für seine Dienste im Unabhängigkeitskrieg 1200 Morgen Land am Westufer des Tennessee-Flusses von der Regierung bekommen hatte. Ward hatte einen großen Teil des anschließenden Landes gekauft. Das Haus stand am Südufer des Jonathanbaches, dort, wo er in den Tennessee mündet. Banson Holderly und seine Frau stammten aus Virginia. Vor fünf Jahren war Wards Frau Lucy bei der Geburt ihrer Tochter gestorben. Als Nachbarn hatten wir einen Kondolenzbesuch gemacht, als Lucy Holderly starb. Ich war erst vierzehn Jahre alt und mehr beeindruckt von der Pracht des Herrensitzes Holderly Hall als von der Trauer des Witwers.
Clara erklärte mir, die ältere Frau, die ihr weißes Haar in einem strengen Knoten trug, sei Mr. Holderlys Stiefschwester. Nun war auch die Stiefschwester gestorben. Seit Januar gab es keine Frau mehr im Haushalt, die die Kinder erziehen konnte, außer Daisy Burnham, der Haushälterin und Sudie Gray, einer Negerin, die sich um die kleine Tochter kümmerte. Ich dachte daran, daß Ward Holderly im Luxus aufgewachsen war, während ich als Teenager ein freudloses Dasein gehabt hatte. Mein Vater war Lehrer gewesen und hatte gerade genug verdient, um uns zu ernähren und zu kleiden. Auf unserem Treck nach Tennessee erkrankten meine Eltern und starben bald darauf. Ich blieb bei meinem Bruder Ethan, der inzwischen Clara Delacroix geheiratet hatte. Ethan hatte kaum Geld, aber er rechnete sich aus, daß es genug wäre, einen kleinen Besitz zu erwerben, wo er Tabak anbauen konnte. Die meisten der Siedler blieben in Kentucky und auch Ethan glaubte, er könnte dort günstig Land kaufen. Die lange Reise über das Gebirge und durch mehrere Staaten hatte uns sehr mitgenommen. Dauernd bestand die Gefahr, von Indianern überfallen zu werden. Es verging kaum ein Tag, an dem wir nicht irgendwo diese Wilden sahen, die auf uns lauerten. Es war ein reines Wunder, daß die meisten von uns die Reise überlebten und wir alle noch unsere Skalps hatten. »Wir sind sehr verschieden voneinander«, antwortete ich Ward, »ich bin… ich bin nicht sicher. Laß mich eine Zeitlang darüber nachdenken.« »Aber sicher, mein Liebes«, antwortete er. »Ich bin schon glücklich, wenn ich weiß, daß du es erwägen willst.« Ich brach einen trockenen Zweig ab, zerbrach ihn und ließ die Stückchen ins Wasser fallen. Dann wandte ich mich zu Ward und sagte, ich würde ihn meine Entscheidung in ein paar Tagen wissen lassen. »Meinst du es wirklich ernst? Du spielst nicht mit mir?«
Er lachte und sah mich zärtlich an. »Natürlich meine ich es ernst. Außerdem würde mir Ethan den Kopf abreißen, wenn ich mich dir gegenüber jemals ungebührlich benehmen würde. Gibst du mir deine Antwort bis zum Sonntag?« Als wir zu den Pferden zurückgingen, sah Ward jemanden in paar hundert Meter weiter unten am Fluß. »Ich glaube, das ist euer Diener Ebenezer – es sieht aus, als ob er etwas gefangen hätte«, sagte Ward. Ich drehte mich um; um zu schauen und glaubte, eine Bewegung unter mir im Fluß zu sehen. Ich blickte hinunter. In den Wellen formte sich ein Gesicht – ich konnte es so deutlich sehen, als ob es aus Fleisch und Blut gewesen wäre! Es war ein ovales Gesicht mit blauen Augen, die Lippen leicht geöffnet. Langes schwarzes Haar flatterte um den Kopf – wie in einer leichten Sommerbrise. Ich stand wie gebannt und starrte hinunter, da formten die Lippen deutlich das Wort »Nein«, und die Erscheinung verschwand. Ein Schauer überlief mich, und Ward kam näher zu mir und fragte: »Ist dir kalt?« Mit erstarrten Lippen versuchte ich zu murmeln, daß der Wind kühler geworden sei. Aber es war nicht der sanfte Aprilwind, der mein Blut gefrieren ließ. Es war das Frauenantlitz! Wer war sie? Warum war sie mir erschienen?
»Na«, sagte Clara forsch, als Ward uns verlassen hatte, »wie benahm er sich? Was hatte er zu sagen? War er nur freundlich zu dir, weil er Ethans Freund ist oder war er an dir interessiert? Wohin seid ihr gegangen? Mein Gott, ihr wart aber lange fort!« »Wir waren unten am Ufer. Ward hat mich gebeten, ihn zu heiraten.«
»Nicht möglich! Hat er das wirklich? Ach, du liebe Zeit, ich kann’s kaum glauben!« rief Clara. »Aber ich bin gar nicht so sicher, daß ich ihn heiraten werde…«, fuhr ich fort. »Du bist nicht sicher? Jane – hol mir ein wenig von dem Madeira – ich glaube, ich werde ohnmächtig. Ach Gott, ich hoffe nur, du hast nichts gesagt, was Mr. Holderly beleidigen könnte! So eine Chance kömmt nie wieder!« Ich hörte Ethan aus dem rückwärtigen Teil des Hauses kommen und hörte Claras verdrießliche Stimme durch das Heizungsgitter: »Kannst du dir das vorstellen, Ethan, Ward Holderly hat Jane einen Antrag gemacht, und die Närrin weiß nicht, ob sie ihn annehmen soll!« »Das muß Jane für sich entscheiden, Clara. Ich kenne ja Ward nicht sehr gut; aber was ich weiß, gefällt mir. Allerdings ist er viel älter als Jane, und ich kann verstehen, daß sie deshalb zögert…« »Ach, Quatsch«, unterbrach ihn Clara. »Mir ist klar, daß das Wichtigste ist, sie reich zu verheiraten und jedermann weiß…« Ich hörte meines Bruders tiefe Stimme Clara antworten, aber ich hielt mir die Ohren zu und lief die Treppe hinunter. Ich wollte nichts mehr hören. Ich riß die Tür des Wohnzimmers auf und sagte: »Als ob ich eine Negersklavin wäre, die du, Clara, dem Höchstbietenden verkaufen möchtest. Ich konnte nichts dafür, daß ich dich hörte – du weißt, wie deine Stimme trägt. Also gut, ich heirate ihn. Ich heirate ihn, hörst du?« Und dann bemerkte ich, daß ich sie anschrie. Clara flog an meine Seite und umarmte mich. »Armes Liebes«, rief sie, »du bist überreizt! Komm, setz dich und sprich mit Ethan, während ich den Tisch fürs Abendsbrot decke.«
Ich wußte, sie erwartete, daß Ethan mich wieder beruhigen würde, bis ich das war, was sie wünschte: vernünftig. Ethan sah mich ruhig und ernst an. »Magst du Ward so sehr, daß du ihn heiraten willst?« fragte er mich. Ich schloß die Augen, um die heißen Tränen der Wut zurückzudrängen. »Ich weiß es wirklich nicht, Ethan. Er ist sehr nett und höflich, wir haben uns lange unterhalten, und ich fand in ihm einen angenehmen Gesprächspartner. Er sieht ganz gut aus, ist ordentlich, was sein Äußeres betrifft, ist wißbegierig und nicht engstirnig oder starrsinnig. Und sicher hat er mir viel zu bieten. Und doch gibt es da etwas… ich weiß nicht.« »Vielleicht hast du das Gefühl, ihn nicht gut genug zu kennen, um seine Frau zu werden?« »Sicher, das ist aber nur die eine Seite.« »Vielleicht glaubst du, daß er nur um deine Hand angehalten hat, weil er dringend eine Frau im Haus braucht und nicht, weil er dich liebt? Und unter diesen Umständen willst du nicht seine Frau werden? Ethan verstand immer, den Nagel auf den Kopf zu treffen.« Meine Kehle war wie zugeschnürt, so sehr bemühte ich mich, das Schluchzen zurückzuhalten. Ich konnte nur mit dem Kopf Zustimmung nicken. »Ward schätzt dich, Jane. Und obwohl er viel älter ist als du, kann ich mir niemand anderen in Marshall oder dem ganzen Bundesstaat denken, der besser für dich geeignet wäre als er.« »Ethan«, fragte ich schnell, ehe Clara wieder zurückkam, »wie sah Lucy Holderly aus?« »Aber Jane, du hast sie doch aufgebahrt gesehen, kannst du dich nicht er innern?« »Nein. Ich erinnere mich an schwarzdrapierte Fenster, schwarzüberdeckte Armstühle, ja, sogar an schwarze Seidenblumen, die in einer hohen Bodenvase neben dem Sarg
standen. Ich war doch erst vierzehn, ich kann mich an ihr Gesicht einfach nicht erinnern.« »Nun, sie hatte dichtes schwarzes Haar und blaue Augen. Letzte Woche traf ich Ward mit seiner kleinen Tochter und jemand machte eine Bemerkung, daß die kleine Mary Zilpah genau das Abbild ihrer Mutter sei.« Eine Gänsehaut kroch an mir hoch, die feinen Härchen an meinen Armen sträubten sich. Das war’s! Das Gesicht, das mir im Wasser erschienen war, konnte niemand anderes sein als Lucy Holderly. Obwohl sie fünf Jahre tot war, war sie nicht bereit, den Mann, der einmal ihr Gatte gewesen war, an eine andere abzutreten! Beinahe wäre es nicht zur Hochzeit gekommen. Ich gab ihm mein Jawort in der folgenden Woche, und als er mich zärtlich küßte, fühlte ich die Erregung in meinem Körper hochsteigen. Zum erstenmal im Leben hatte ich Lust, selbst mit einem Kuß zu antworten, und tief innen spürte ich – spürte die Frau in mir – daß Respekt, Bewunderung und Zuneigung sich leicht in Liebe verwandeln können. Aber Sekunden später waren wir im besten Streit. »Wann, meine Liebste?« fragte Ward. »Nun, ich brauche einige Zeit, mein Brautkleid zu nähen. Wir müssen uns mit dem Pastor besprechen.« Ein Schatten verdunkelte seine Stirn. »Laß uns einfach zum Rathaus fahren. Richter Thompson kann uns trauen.« »O nein!« rief ich aus. »Für mich ist die Ehe ein Sakrament, und ich finde es nicht richtig, wenn wir nicht in der Kirche heiraten!« »Du bist ein dummes kleines Gänschen, meine Liebe. Heirat ist ebenso legal, wenn die Worte von einem Richter statt einem Pastor gesprochen werden.«
Ich antwortete hitzig: »Warum bist du so gegen eine Heirat in der Kirche?« Ich spürte, daß mein Jähzorn, den ich von den Shields geerbt hatte, jeden Moment ausbrechen konnte. Er zuckte die Achseln und sagte nach einer Weile, daß er möglicherweise den Gedanken an einen Pastor mit Gedanken an den Tod verbinde. »Ich kann mich natürlich nicht an den Tod meiner Mutter erinnern, aber ich weiß noch genau, wie es war, als Vater starb. Dann meine Stiefmutter, und Lucy und schließlich Catherine, meine Stiefschwester. Jedesmal eine stundenlange Predigt über die ewige Hölle, die all jene erwartet, die nicht genau an das glauben, ^ was der Pfarrer ihnen vorschreibt. Und er war immer dort – eine trübsinnige Vogelscheuche. Es machte mich schon unglücklich, ihn anzusehen.« Mein Zorn ging vorbei, ich konnte seine Gefühle verstehen. Aber ich wollte nicht ganz nachgeben. Obwohl ich überzeugt war, der Mann sollte Haus und Familie vorstehen, wollte ich doch nicht beherrscht oder gar wie ein Wurm zertreten werden. Ward legte den Arm um meine Schultern und zog mich an sich. »Wir dürfen nicht streiten. Komm, küß mich.« Es machte mir gar nichts aus, diesem Befehl zu gehorchen. Unsere Lippen trafen sich und plötzlich hatte ich meinen Arm um ihn gelegt, um ihn noch näher zu ziehen. Eine Welle der Sehnsucht ergriff mich, ich hatte etwas Ähnliches noch nie erlebt. Als wir einarider wieder losließen, schlug ich einen Kompromiß vor. »Laß uns die Zeremonie in Ethans Haus abhalten statt in der Kirche, und der Pastor Hann dorthinkommen. Ethan könnte ihm vorher sagen, daß wir keine Predigt wünschen.« »Laß uns lieber in Holderly Hall feiern, da könnte nachher getanzt werden. So würde der alte Pastor nicht allzu lange
bleiben. Tanzen ist ihm ein Greuel, sagt er. Und ich sage ihm: Keine Predigt!« Nachdem ich mich durchgesetzt hatte, den Pastor dabei zu haben, akzeptierte ich den Ort der Hochzeit, obwohl ich wußte, daß es eigentlich nicht korrekt war, im Haus des Bräutigams zu feiern. Clara war in freudiger Erregung. Sie trug sich sogar an, mir beim Nähen des Brautkleides zu helfen. Ethan gab mir einen brüderlichen Kuß, umarmte mich und gab der Hoffnung Ausdruck, daß ich sehr glücklich sein werde. Aber ein fast unsichtbarer Zweifel in seinem Gesicht machte mich fragen, ob er fürchtete, ich werde es nicht sein? »Nein, nein«, protestierte er sofort, »das glaube ich keineswegs. Es ist nur – du bist so jung – und die Kinder – sie sind so wild aufgewachsen. Ich habe gehört, sie sind richtige kleine Rangen.« Aber damals war ich ganz sicher, daß ich das bewältigen konnte. Aber ich war nicht auf den Empfang vorbereitet, den ich erlebte, als mich Ward am nächsten Tag nach Holderly Hall mitnahm. Benson, sehr groß für seine zwölf Jahre, war kaum höflich. Er murmelte »Erfreut, Sie kennenzulernen, Madame«, und saß dann unbeweglich in seinem Sessel, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Sein Haar war dunkel wie das seines Vaters und seine Augen halten die gleiche Schattierung von Blau. Aber es war keine Freundlichkeit in diesen Augen. Jim Roy, zwei Jahre jünger als sein Bruder, war fast so groß wie dieser, aber schlanker. Er lächelte, als er mich grüßte, aber dem Lächeln fehlte jede Wärme. In seinen blaß-blauen Augen sah ich Feindseligkeit. Er schien in Verlegenheit, kratzte sich manchmal am Köpf und kaute an seinen Fingernägeln. Mary Zilpah, ein bildhübsches fünfjähriges Mädchen machte einen Knicks. Aber während Ward zum Sessel am Kamin ging,
um in meiner Nähe zu sitzen, formten ihre Lippen hinter seinem Rücken stumm, aber ganz deutlich die Worte: »Ich mag dich nicht.« Dann streckte sie mir die Zunge heraus. Eine peinliche Stille trat ein. Ward räusperte sich nervös und sagte dann: »Nun, Kinder, es ist ein großes Glück für uns alle, daß Miß Dorsett mit uns leben will.« Niemand gab Antwort, weder ja noch nein. Endlich nahm Jim Roy die Finger, an denen er gekaut hatte, aus dem Mund und schoß heraus: »Wie sollen wir sie denn eigentlich nennen?« Wards Züge wurden streng und ernst vor Verlegenheit über die Art, wie Jim Roy seine Frage gestellt hatte. Seine Augen blitzten, und ich fürchtete schon, es würde zu einer häßlichen Szene kommen. Ich legte meine Hand schnell auf seinen Arm und lächelte die Kinder an, die mir teils offen, teils versteckt ihre Mißachtung gezeigt hatten und fragte: »Wie habt ihr eure Mutter genannt?« Jim Roy sagte verdrossen: »Mama.« Benson saß dünnlippig da und gab keine Antwort und Mary Zilpah war so winzig, als ihre Mutter starb, daß sie es nicht wußte. »Da ich niemals den Platz eurer eigenen lieben Mama einnehmen kann, schlage ich vor, ihr nennt mich ›Mutter Jane‹. Das würde mir sehr gefallen.« Niemand sagte ein Wort. In möglichst unbeschwertem Ton angesichts solchen schlechten Benehmens bat ich Ward, mir nun das Vogelnest im Garten zu zeigen. Mary Zilpah, deren Laune sich schnell wechseln konnte, plapperte, sie wüßte, wo das Nest ist und ging mit uns hinaus. Aber Benson und Jim Roy sagten beinahe im Chor: »Bitte mich zu entschuldigen.« Als wir in die große Halle hinauskamen, nahm ich Jim Roys Hand, um ihr meine Zuneigung zu zeigen – da spürte ich etwas Kaltes zwischen uns, das sich nicht fassen ließ – und fast
gleichzeitig ein schwaches Seufzen. Aber offenbar hörte es niemand außer mir.
Als ich noch ein kleines Kind war, hatte ich eine Spielgefährtin, die mich jeden Nachmittag besuchte. Ihr Name, hatte sie mir erzählt, war Melissa, aber alle nannten sie »Missy«. Erst als ich viel älter war, begriff ich, daß Missy kein lebendiges Kind war. Meine Mutter hörte mich oft mit meiner, kleinen Freundin lachen, sprechen und spielen. Sie lächelte immer nachsichtig, wenn ich ihr sagte, Missy möchte noch einen Keks. »Hier ist einer für dich«, sagte sie dann. »Und einer für deine Phantasiefreundin.« Ich wußte nicht, was »Phantasie« bedeutet, aber es klang erfreulich. Bis ich eines Tages Blumen für meine Mutter pflückte. Ich brachte sie ins Haus und sagte: »Sind, das nicht Phantasieblumen?« »Sie sind sehr hübsch, aber keine Phantasieblumen. Phantasie ist etwas, was man sich nur vorstellt, nichts Wirkliches.« Dann erklärte sie mir, daß Missy kein wirkliches kleines Mädchen sei. Als Missy am Nachmittag kam, erzählte ich ihr, was meine Mutter gesagt hatte. »Pah, das ist nur, weil sie mich nicht sehen kann. Erwachsene können eine Menge Dinge nicht sehen, die Kinder sehen können.« So glaubte ich auch weiterhin, daß Missy ein wirkliches Kind war, bis ich Geographie lernte und sah, daß Boston zu weit weg war, als daß ein Kind an einem Tag hin und her reisen konnte. Vom Augenblick an, als ich die Wahrheit über Missy akzeptieren mußte, sah ich sie nie wieder. Trotzdem gab es Zeiten, in denen ich ihre Gegenwart im Raum spürte, und
obwohl ich mich niemals davor fürchtete, gab es mir doch ein merkwürdiges Gefühl. Einmal, noch zu Hause in Charlotte, besuchten wir eine ältere Dame. Als wir das Wohnzimmer betraten, sah ich einen weißhaarigen Herrn am Fenster stehen. Ich konnte nicht verstehen, warum niemand das Wort an ihn richtete, denn er schien sehr nett zu sein. Wenn die anderen miteinander sprachen, lächelte er und nickte zustimmend. Ich fand es äußerst merkwürdig, daß meine Mutter und die alte Dame ihn ignorierten. Da man mich gelehrt hatte, nicht zu sprechen, wenn ich nicht gefragt wurde, und er mich nicht ansprach, sagte ich nichts zu ihm, aber ich lächelte ihn an. Als wir nach Hause gingen, sagte meine Mutter: »Janie, du hast mich wirklich blamiert. Du hast die ganze Zeit zum Fenster hin gelächelt, als ob du nicht normal wärst.« »Aber Mutter, ich wollte nur zu dem Herrn beim Fenster nett sein.« »Welcher Herr?« fragte sie überrascht. »Da war doch niemand!« »Aber ich sah ihn doch ganz deutlich. Er hatte weißes Haar, obwohl ich glaube, daß es ein Toupet war. Sein Gesicht war zu jung für echtes weißes Haar.« »Janie Dorsett!« sagte meine Mutter entsetzt. »Wie kannst du nur solche Geschichten erfinden?« Nach dieser Episode erzählte ich meiner Mutter nie mehr, wenn ich Leute sah, die sie offenbar nicht bemerkte. Einmal erzählte ich Ethan auf dem Schulweg davon, er meinte, es sei möglich, er wollte es nicht bestreiten. Es schien ihm ganz vernünftig, daß manche Leute Dinge sahen, die andere wiederum nicht wahrnahmen. »Aber ich würde an deiner Stelle nicht davon sprechen«, warnte er mich. Ich erinnerte mich auch, daß ich einmal auf meinem Pferd Betsy ins Haus der Frawley ritt, um das jüngste Baby
anzusehen. Betsy scheute auf der Straße, denn sie sah plötzlich ein Kalb, das von der Weide weggewandert war. Sie sah es rechtzeitig und auch ich sah es, trotzdem hatte ich ein merkwürdig unreales Gefühl. Ich blickte zurück, um mich zu überzeugen, daß das Kalb wirklich auf der Straße trottete, aber weit und breit war kein Kalb zu sehen. Das gleiche Gefühl hatte ich, als mich Ward durch das Haus führte. Das Gefühl eines unsichtbaren Gegenwärtigen war so deutlich, daß ich sogar die fast unhörbaren Fußschritte vernahm. Ich bemerkte auch einen feinen Duft von Geranien. Ich erinnerte mich der kleinen Missy und wußte, wenn ich nicht aufgehört hätte, an sie zu glauben, könnte ich auch die Unsichtbaren sehen, die uns durch die Korridore begleiteten. Mary Zilpah lief neben uns her, freundlich und charmant und voll von Komplimenten für mich. »Dein Haar glänzt so schön, schau, Papa, wie es in der Sonne glänzt.« »Wunderbar!« stimmte Ward zu und drückte meine Hand. Als wir aber zu Mary Zilpahs Zimmer kamen, sagte sie, sie wolle dort bleiben und eine Weile mit ihren Puppen spielen. Ich küßte das kleine Mädchen, das nach der häßlichen Begrüßungsszene so reizend gewesen war, so daß ich fast glaubte, ich hätte ihre stumm geformten Worte mißdeutet. Sie lächelte und sagte: »Ich bin so froh, daß du mit uns leben willst, Mutter Jane.« Dann gab sie mir schnell und schwungvoll einen Tritt ins Schienbein. Ward fragte, ob ich den Rest des Hauses auch sehen wollte. Ich stimmte erfreut zu, denn ich war noch nie oben gewesen, eigentlich war der einzige Raum, den ich gesehen hatte, der riesige Salon, in dem Ethan, Clara und ich anläßlich unserer beiden Kondolenzbesuche empfangen worden war. Holderly Hall war ein ungewöhnlich schönes Haus – aus großen Quadern erbaut, mit Bogenfenstern geschmückt, mit einem roten Ziegeldach, in das drei Mansardenfenster eingeschnitten
waren, und zierlichen weißen Säulen, die vom ziegelüberdeckten Windfang bis zum Dach reichten. Ich hätte niemals auch nur davon geträumt, in einem so prachtvollen Herrenhaus zu wohnen. Ethans Haus war ein Blockhaus, wie fast alle Häuser im Gebiet von New Hope. Sein einziger Luxus waren die verglasten Fenster. Ich versuchte in Gedanken, die Fenster in Holderly Hall zu zählen, aber gab es bald auf, als mir klarwurde, daß es mindestens vierzig sein mußten. Als wir die linke Balustrade entlanggingen, zeigte mir Ward Mary Zilpahs Schlafzimmer, das genau über dem Wohnzimmer lag. Die Fenster blickten nach Süden, während das Spielzimmer einen Balkon nach Westen hatte. Ward erzählte mir, daß Sudie mit Mary Zilpah, als sie noch ein Baby war, hier in der Sonne gesessen sei, denn das Kind war schwächlich und Sudie war überzeugt, daß die Sonne ihr guttun würde. Mein Schienbein tat verteufelt weh, als ich mit meinem Liebsten sein Schlafzimmer betrat. Ich schnappte förmlich nach Luft, als ich die herrlichen Mahagonimöbel sah, den schweren Teppich, den Ausblick, den die blitzenden Fenster freigaben. Ein intimes kleines Frühstückszimmer schloß sich an, dessen Fenster in drei Himmelsrichtungen gingen. Man sah den Jonathanfluß über die flachen, glatten Felsen springen, ehe er in die blaugrünen Fluten des Tennessee mündete. »Mein liebster Schatz«, sagte Ward, als wir vor dem Nordfenster standen und den Sonnenstrahlen zusahen, die im Wasser glitzerten. »Die Tage werden kriechen, bis du endlich hier an meiner Seite leben wirst.« Er zog mich an sich, und als unsere Lippen einander fanden, verschwanden alle meine Ängste. Mary Zilpah würde schließlich meine Liebe und Ergebenheit spüren. Benson und Jim Roy würden lernen, sich zivilisiert zu betragen und sie
würden es nicht einmal bemerken, wie ihre Veränderung zustande gekommen war. Ich hatte das Gefühl, daß Wards Stiefschwester entweder nicht imstande gewesen war, die Kinder zu erziehen, oder aber sie hatte sie ohne Liebe aufgezogen und das unhöfliche Benehmen war der Ausdruck ihrer Rebellion. Aber ich würde sehr wohl imstande sein, die rauhen Sitten zu glätten, kindliche Ängste zum Verschwinden zu bringen und den Haushalt mit Wärme und der Liebe einer Frau zu erfüllen. Mit meinen neunzehn Jahren glaubte ich, das sei alles, was Holderly Hall brauche. In der Zärtlichkeit von Wards Armen war ich ganz zuversichtlich, daß sich alles regeln würde. Ward strich das Haar von meinen Schläfen zurück. »Ich mag dich nicht gehen lassen«, flüsterte er. Dann entließ er mich aus seiner Umarmung und schlug vor, in den dritten Stock hinaufzuklettern, wo die Dienerschaft ihre Zimmer hatte. Von den Fenstern oben konnte man meilenweit nach Süden blicken. Welch herrlicher Ausblick über die endlosen Rasenflächen, die stolzen Pferde und die gutgenährten Rinderherden! Es brachte mich ganz durcheinander, an die enormen Kosten zu denken, die ein Bau wie Holderly Hall verschlingen mußte. Allein der Transport all des Glases und der vielen Möbel und Teppiche – den Ohio hinter bis zum Tennessee, dann auf Barken den Tennessee wieder hinauf – viele, viele Meilen bis Jonathan Creek. Man konnte schon daran erkennen, daß Wards Vater furchtbar reich gewesen sein mußte – aber auch, daß Ward diesen Reichtum gut verwaltet hatte. Möbel und Teppiche sahen neu aus und doch lag eine Atmosphäre des Beständigen über dem ganzen Haus. »Die andere Treppe«, erklärte Ward weiter, »führt zu den Zimmern von Jim Roy und Benson. Sie liegen direkt über dem Salon.«
»Es gibt aber noch eine Menge unbenutzter Räume«, sagte ich, als wir wieder hinunterstiegen. »Ja«, sagte Ward sanft, »aber wenn wir erst verheiratet sind, werden sie alle wieder von Gästen bewohnt werden.« Die Welt war wundervoll an jenem Maitag, an dem Ward und ich getraut wurden. Mit Claras Hilfe hatte ich mein Brautkleid genäht, obwohl wir oft hin und her stritten, was mir am besten passen würde. Clara versuchte mich zu überzeugen, daß meine Robe nach der allerneuesten Mode geschneidert werden sollte: weiße Gaze mit ungezählten Streifen aus weißem Satin und weit ausladenden Ärmeln, die von breiten Spitzenvolants verziert sein sollten. Ward trug einen blauen Tuchrock mit weißen Satinrevers und Silberknöpfen und weiße Tuchhosen. Pastor Blake hielt die Feier ab und verzichtete trotz der großen Zahl von benachbarten Farmen und Gästen aus der Stadt auf die Predigt. Ich vermutete, daß Ward ihm eine größere Summe Geldes für die Kirche gegeben hatte, als er ihm mitteilte, daß ihm eine einfache Feier ohne Predigt lieber sei. Der Pastor hatte einen ungewöhnlich glücklichen Gesichtsausdruck, als wir die Eheformel sprachen, ganz anders als das saure Gesicht an Sonntagen, wenn er, die Bibel hochhaltend, mit der anderen Hand auf die Kanzel hämmerte. Bevor der Tanz begann, verließen Herr und Frau Blake das Haus. Ich konnte mit Mühe ein Kichern unterdrücken, als ich die lahme Ausrede hörte. Er hatte einem Gemeindekind einen kurzen Besuch auf dem Heimweg nach der Hochzeit versprochen. Als die letzten Gäste uns verließen, und Ward und ich wieder allein waren, war ich ein bißchen ängstlich, wenn ich daran dachte, daß ich mich nun zu unserem Brautbett begeben sollte. Aber Ward war so liebevoll und rücksichtsvoll, daß ich meine Ängste bald verwarf und freudig seine Frau wurde. In der
Beuge seines Armes ruhend, dachte ich, daß niemand auf der ganzen Welt so glücklich sein konnte wie ich. Ich war gerade im ersten Schlummer, als ein schriller Schrei aus dem vorderen Teil des Hauses mich hochriß. Ich setzte mich gerade auf und hörte ihn noch einmal. »Ward«, flüsterte ich und klammerte mich an ihn, »was um Himmels willen ist das?« Er stand auf. »Mary Zilpah hat einen Alptraum.« Ich wollte aus dem Bett springen und zu ihr laufen, aber er hielt mich fest. »Keine Sorge«, sagte er, »Sudie kümmert sich um sie. Sie macht das immer, sie wohnt ja gleich nebenan. Es ist alles in Ordnung, Liebste.« Es dauerte lange, bis ich wieder so ruhig war wie vor dem furchtbaren Schrei. Ward atmete schwer an meiner Seite, und das regelmäßige Heben und Senken seiner Brust hatte eine beruhigende Wirkung auf mich. Endlich schloß ich meine schweren Lider und hoffte, daß mich der Schlaf bald umfangen würde. Und dann hörte ich die Trommeln. Es war nicht mein Herz, das gegen meine Rippen schlug, obwohl ich auf das beharrliche Trommeln in neue Panik ausbrach. Ich sagte mir, daß es unmöglich Trommeln sein konnten, was ich hörte. Gedankenfetzen schossen durch mein Gehirn. Indianer. Soldaten, die in die Schlacht ziehen. Jemand hämmert gegen das Tor. Das Trommeln von Hufen – aber keine wirklichen Trommeln. Je mehr ich nach Erklärungen suchte, desto deutlicher hörte ich das Trommeln. Manchmal schnell und staccato, manchmal gedämpft und langsam. Ich wollte Ward nicht wieder wecken. Wenn es eine natürlich Erklärung dafür gab, dann würde er mich für eine Närrin halten, und ich wollte das nicht. Ich überlegte alle Möglichkeiten von neuem und kam zu dem Schluß, daß hier eine Unzahl von Dienern lebte, darunter viele
Schwarze. Ich wußte, daß die Wilden im afrikanischen Busch sich mit Hilfe von Trommeln verständigten – ich hatte es in der Schule gelernt. Ich kannte auch ein Mädchen, das in der Kolonie am French Broad River mit uns gelebt hatte und etwas von Voodoo verstand. Oder wenigstens genug, um mich damit in Angst zu versetzen. Sie hatte immer von den »sprechenden Trommeln« erzählt, und ich hatte mit aufgerissenen Augen gelauscht, als sie von Menschenopfern und mystischen Zeichnungen und Beschwörungen sprach.
Meine Tage waren ausgefüllt, ich hatte vieles zu lernen. Über das Leben auf Holderly Hall, über das Bebauen der Felder, das Füttern der Pferde und Rinder, die Aufzucht und den Verkauf und alles was nötig war, um den Haushalt ohne Pannen zu führen. Ich war völlig glücklich, wenn ich mit Ward beisammen war. Aber wenn er fort war, türmten sich alle möglichen Probleme auf. Einmal erwähnte ich beiläufig, daß ich in der Nacht etwas gehört hatte, das ich für Trommeln hielt. Ward lachte. »Wahrscheinlich hast du die Pferde in den Ställen stampfen gehört, Liebling. Manchmal sind sie unruhig und bewegen sich in der Nacht, und wenn der Wind in unsere Richtung bläst, trägt er die Geräusche herüber.« Da ich nicht wollte, daß er mich für ein dummes, ängstliches Kind hielt, sagte ich nichts weiter. Trotz aller meiner Bemühungen, freundlich und liebevoll zu den Kindern zu sein, blieben Benson und Jim Roy verschlossen und mürrisch. Mary Zilpah war wie Aprilwetter: süß und sonnig und in der nächsten Minute stürmisch. Im Nu konnte sich das liebenswerte kleine Mädchen in einen absoluten Schrecken verwandeln. Ihre enzianblauen Augen wurden dann dunkel vor Zorn und sie spie förmlich häßliche
Worte heraus… und das passierte immer nur in Abwesenheit ihres Vaters, oder zumindest, wenn er nicht im Zimmer war. Manchmal war es so arg, daß ich glaubte, ich müßte Holderly Hall verlassen, in das Haus meines Vaters zurückkehren und zugeben, daß ich diese unerzogenen und teuflischen Kinder nicht bändigen konnte. Aber ein paar Tage nach der Hochzeit kam Clara hoch zu Roß und sprudelte heraus, daß sie endlich schwanger war. Sie hatte einer Schulfreundin in Columbia geschrieben und sie gebeten, bei ihr zu wohnen, wenn das Baby kam. Eliza Ashley hätte bereits geantwortet, daß sie mit der nächsten Postkutsche kommen wolle. »Vorigen Monat, vor eurer Hochzeit, war ich schon fast ganz sicher – aber jetzt weiß ich es genau. Ist das nicht wunderbar, Jane, nach so vielen Jahren?« »Herrlich!« rief ich begeistert. »Ethan wird es gar nicht fassen können!« Sie bestätigte es und begann darüber zu sprechen, daß die Mansarde für Eliza hergerichtet werden müsse und daß Ethan das Schlafzimmer umstellen wollte, so daß Platz für die Wiege geschaffen wurde. »Denk dir nur, Jane! Ich habe Eliza so lange nicht gesehen und nun wird sie ein Jahr bei uns bleiben. Sie will im Oktober kommen, ehe die Straßen zu schlecht sind!« Dann begann sie über die notwendigen Anschaffungen für das Baby zu sprechen, und über den Namen, den das Baby bekommen sollte. Während sie so dahinplauderte, dachte ich unablässig, daß es für mich nun unmöglich sei, in das Haus meines Bruders zurückzukehren, egal wie schwer es mir auch fiele, Herrin von Holderly Hall zu sein. In Ethans Haus war kein Platz mehr für mich, solange Eliza da war. Bisher hatte ich im Unterbewußtsein immer den Trost gehabt, daß ich einfach meinen Stolz vergessen und zu Ethan und
Clara zurückkehren könnte – wie peinlich es; mir auch immer gewesen wäre. So redete ich mir ein, ich müßte die Dinge einfach an mich herankommen lassen – Tag für Tag. Aber das Trommeln in der Nacht hörte nicht auf. Jeder hoffnungsvolle Tag endete in einer Nacht der Verzweiflung. Nachdem Ward mir versichert hatte, daß ich etwas ganz Normales hörte, sprach ich nie wieder davon. Aber ich lag wach – fror, horchte, war verunsichert. Mary Zilpah war meiner Ansicht nach das merkwürdigste Kind, das je geboren wurde. Eines Tages war Ward nach Paducah geritten, um an einem Politikertreffen teilzunehmen. Der Bau neuer Straßen und Brücken in Westkentucky sollte besprochen werden. Ich verbrachte den größten Teil des Tages mit dem kleinen Mädchen, denn ich hielt dies für eine gute Gelegenheit, es näher kennenzulernen, ja, vielleicht sogar die unüberwindliche Mauer der Abneigung abzubauen, die es mir immer wieder deutlich zeigte: Nach dem Frühstück schlug ich ihr vor, in mein Zimmer zu kommen. »Ich habe ein Stück Stoff oben, das genügen wird, für dich ein hübsches Kleid zu machen«, sagte ich. Sie schien entzückt, als sie quer durch die Halle sprang und vor mir die Stufen hinaufhüpfte. Ich zog meine große Truhe aus dem Ankleideraum, die mit Kleidern angefüllt war. Mary Zilpah wollte jedes Stück aus meinem Besitz sehen. Ich zeigte ihr auch die Stoffe, die ich mitgebracht hatte, um sie später zu verwenden – Linnen und Calico, getupfter Muslin, chinesische Seide und Samt. Jeder, der die Fahrt über die Berge antrat, wußte, daß man längere Zeit keine Möglichkeit haben würde, Stoffe zu kaufen. Das kleine Mädchen bewunderte ganz besonders ein Stück flaschengrünen Taft. »Daraus möchte ich ein Kleid!« rief sie. »Mach mir eins!«
»Nicht aus diesem Material«, sagte ich, »Taft paßt nicht für ein kleines Mädchen, und auch die Farbe ist besser für jemanden, der älter ist als du.« Sie verzog schmollend ihren Mund. Sie stampfte majestätisch mit dem Fuß auf und sagte: »Und doch will ich es – ich will es.« Meine Hoffnungen versanken. Ich hatte gehofft, eine bessere Beziehung zu dem Kind herzustellen und daraus wurde nichts, weil es darauf bestand, ein Kleid aus einem absolut ungeeigneten Stoff zu bekommen. Ich reichte ihm ein Stück weißen Barchent, der mir für sie vorgeschwebt hatte. Ich versicherte ihr, sie würde darin wie eine kleine Prinzessin aussehen. Sie trotzte weiter. »Schau, mein Liebes«, fuhr ich fort, »hier ist ein Stück rosa Band, genau die gleiche Farbe wie dieses Sträußchen. Es würde in deinem schwarzen Haar wunderschön aussehen.« Als ich mich nach ihr umdrehte, um ihr das Band zu geben, sah ich, daß sie versuchte, das schöne weiße Stück Barchent zu zerreißen! Ich griff schnell nach ihren Patschhändchen und hielt sie fest. »O nein, das wirst du nicht tun. Ich werde nicht dulden, daß du etwas, was mir gehört, kaputtmachst. Sogar dann nicht, wenn ich es dir schenken wollte.« Während ich sie noch festhielt, begann sie zu weinen. »Was ist denn los mit dir, Mary Zilpah? Warum mußt du immer so scheußliche Dinge tun?« Die Frage war rhetorisch. Ich erwartete gar keine Antwort, aber ich mußte irgend etwas sagen. »Weil ich sie tun muß!« kam es jammervoll aus ihrem Mund. »Ich muß! Ich muß! Der Junge zwingt mich!« »Welcher Junge?« fragte ich entgeistert. »Der Indianerjunge!« »Welcher Indianerjunge, um Himmels willen?«
»Der immer nachts kommt und mir sagt, was ich Böses tun soll!« gestand sie unter Tränen. In was bin ich da hineingeraten, fragte ich mich, als ich meinen Arm um das Kind legte und es eng an mich zog. Hatte ein Dämon sie in seinen Klauen? Oder war der Indianerknabe ein Gebilde ihrer Phantasie? Immerhin – auch ich hatte eine Spielgefährtin erfunden – warum konnte Mary Zilpah zum Beispiel statt eines charmanten kleinen Mädchens nicht einen bösen Dämonen sehen? Ich selbst hörte ja die Trommeln in der Nacht. Ich wußte, daß viele Kinder Dinge sehen und hören können, die Erwachsene nicht wahrnehmen. Es war also ganz leicht, die Wechselbeziehung herzustellen zwischen Mary Zilpahs Indianer – ohne Zweifel irgend ein Poltergeist – und den furchtbaren, Trommelrhythmen, die mich nachts wachhielten, wenn andere schliefen. »Weine nicht, Liebling, du mußt mir einfach alles erzählen, und es wird in Ordnung kommen.« Mit dem Gefühl, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angingen, lauschte ich ihrer unheimlichen Geschichte. Fast jede Nacht wurde sie aus dem tiefsten Schlaf geweckt und wußte sofort, der Indianerjunge war wieder da. Er ließ sie versprechen, am nächsten Tag etwas Böses zu tun, oder sie würde umgebracht, dann vergraben und die Stelle mit Schmutz bedeckt werden. »Warum hast du das nie deinem Vater erzählt, Kindchen?« »Hab’ ich doch, aber er glaubt mir nicht. Er sagt, das bilde ich mir nur ein, oder ich habe einen Alptraum und Sudie sagt das auch. Sie gibt mir dann eine Medizin, so daß ich wieder einschlafen kann.« »Aber Mary Zilpah, Sudie könnte doch in deinem Zimmer schlafen?« »Sie hat früher bei mir geschlafen, und einmal, als ich ganz furchtbare Angst hatte, kam sogar Papa und saß die ganze
Nacht im Lehnstuhl. Aber der böse Junge kommt nicht, wenn irgend jemand anderer im Zimmer ist Papa sagte, ich träume das alles und meine nächtlichen Ängste werden vergehen, wenn ich älter werde.« Ich wurde ärgerlich. »Aber sicher könnte Sudie jede Nacht bei dir schlafen.« »Papa sagt, ich soll nicht so ein Baby sein – wo ich doch bald sechs Jahre alt bin!« »Ich werde mit deinem Vater sprechen, Liebes. Dir soll nichts passieren. Sei einfach das nette kleine Mädchen, das du gern sein möchtest und kümmere dich nicht weiter um den bösen Indianerjungen.« Ich umarmte sie und schickte sie in ihr Zimmer. Eines war sicher, ich müßte mit Ward darüber sprechen. Irgend etwas mußte getan werden, um dem Kind die Sicherheit zu geben, daß ihm nichts geschehen könnte. Ward hatte wahrscheinlich nie einen Phantasiefreund gehabt – da war ich mir sicher. Meine Mutter war meiner Phantasie»Missy« gegenüber nachsichtig gewesen, hatte sogar mitgespielt, bis ich alt genug war, zu erfahren, daß das Mädchen ein Produkt meiner Vorstellung gewesen war. Sie sagte mir, daß ich, weil ich eine Spielgefährtin wollte und brauchte, diese einfach erfunden hätte. Mir fiel ein, daß Sudie mir vielleicht mehr erzählen könnte, vor allem, wie Mary Zilpah sich ihrem schrecklichen Nachtbesucher gegenüber verhielt. Es war Sudies Aufgabe, sich um Mary Zilpah zu kümmern, aber seit das Kind aus dem Babyalter herausgewachsen war und sich allein beschäftigen könnte, sollte Sudie Mrs. Burnham im Haushalt helfen. Ich fand sie in der Bibliothek, wo sie abstaubte. Ich schloß die Tür hinter mir und sagte: »Sudie, ich brauche deine Hilfe.« »Ja, Madame«, sagte sie freundlich.
»Mary Zilpah hat mir von ihren Alpträumen berichtet – einem bösen Indianerjungen, der in ihr Schlafzimmer kommt – was weißt du darüber?« »Nichts, Madame.« Ihr schokoladenbraunes Gesicht sah völlig ehrlich aus. »Sie weinen fast jede Nacht, dann Mr. Ward sagen ›Gib Schlafmedizin‹ und ich komme tun, was er mir sagen.« »Welche Art von Schlafmittel, Sudie?« »Viele Kräuter und Weidenrindentee. Manchmal Laudanum.« »Laudanum? Aber damit könntest du das Kind glatt umbringen!« »O nein, Madame, ich wissen, wieviel ihr geben, damit gut schlafen. Ich schon wissen, daß nicht mehr geben als kleines Tropfen.« Das war das Wichtigste, worüber ich mit Ward sprechen mußte, wenn er aus Paducah zurückkam. Das zweite war, daß Benson nicht eine Spur von Höflichkeit zeigte. Ich grüßte ihn in der Frühe »Guten Morgen, Benson« und er antwortete, ohne sich die Mühe zu nehmen, den Mund ordentlich aufzumachen, »Gumorg.« Danach sprach er den ganzen Tag kein weiteres Wort mehr mit mir. Er war mit Jim Roy fast den ganzen Tag draußen im Freien, da die Ferien schon begonnen hatten: Ward hatte eingeführt, daß die Jungen mir sagten, wo ich sie finden könnte, aber es war immer Jim Roy, der es mir sagte, niemals Benson. Jim Roy tat mir sehr leid. Es war klar, daß er nicht der Hellste war. Ich wußte nicht, ob Ward es schon bemerkt hatte, und zerbrach mir den Kopf, wie ich ihm taktvoll beibringen konnte, daß Jim Roy besondere Hilfe brauchte – vielleicht einen Hauslehrer. Ich dachte, daß vielleicht sein rapides Wachstum etwas damit zu tun haben könnte, daß andere Fähigkeiten sich nicht so schnell entwickelten. Er saß oft da und starrte in die
Ferne und sah dabei so verwirrt aus, daß ich dachte, er müsse selbst bemerkt haben, daß etwas mit ihm nicht stimmte. Ich muß ernsthaft mit Ward darüber sprechen, dachte ich, während ich meinen Kontrollgang durchs Haus machte. Der lange Tag ging endlich zur Neige. Nach dem Abendbrot, das die Knaben in totalem Schweigen eingenommen hatten, gingen sie in ihre Zimmer. Mary Zilpah bat mich, ihr eine Geschichte zu erzählen. »Ich erzähle dir eine Geschichte, wenn du im Bett bist. Lauf hinauf und sag Sudie, daß ich dich heute selbst zu Bett bringe. Ich komme sofort nach.« Mein Schatz von Geschichten für kleine Mädchen war ziemlich dürftig – ich wollte ihr etwas erzählen, das frei von Unheimlichem und Gewaltsamem war. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, hätte doch Ward diesen Kindern eine Religion gegeben, die ihnen eine Stütze wäre. Dann fielen mir Pastor Blakes Drohungen des ewigen Höllenfeuers ein, und ich schüttelte den Kopf. Ich entschied mich für Aschenputtel – ich würde die Stiefschwestern als dumm schildern und nicht als bösartige Intrigantinnen. Nachdem Mary Zilpahs blaue Augen zugefallen waren, nahm ich eine Decke aus dem Schrank und setzte mich in den Lehnstuhl zum Schlafen. Es regnete ohne Unterlaß und der Mond sah nur hin und wieder zwischen den schweren Wolkenfetzen, die den Himmel bedeckten, hervor, um gleich wieder zu verschwinden. Es war eine düstere Nacht, so richtig einladend für einen bösen Geist. Aber kein Indianerknabe störte den Schlaf des Kindes. Ich selbst schlief unruhig und schlich gegen Morgen zurück in mein Zimmer. Mein Bett war kalt und sehr einsam ohne Ward. Er fehlte mir furchtbar. Ich merkte, daß ich nicht mehr einschlafen würde und begann an die Dinge zu denken, die ich am nächsten Tag
tun wollte. Als die Sonne aufging, hatte ich den ganzen Tag so geplant, daß die Stunden bis zu Wards Heimkehr voll ausgefüllt waren. Am Nachmittag pflückte ich Rosen im Garten, fand passende Vasen und dachte die ganze Zeit an die rätselhaften Dinge, die ich gestern gehört hatte. Als ich die Blumen in den Vasen arrangiert und diese auf die riesige Tafel im Speisezimmer gestellt hatte, wußte ich, daß ich Ward nicht mit einer Aufzählung all jener Probleme kommen konnte, die ich nicht bewältigte. Ich konnte ihm ja nicht gut anstatt eines Willkommensgrußes sagen: »Lieber Ward, dein Ältester ist unerzogen, dein jüngerer Sohn nicht ganz helle, und deine Tochter ist entweder von einem bösen Geist besessen oder irgendwas stimmt nicht in ihrem Kopf.« Nein, entschied ich mich, das alles mußte warten, bis sich ein passender Moment fand. Ich mußte noch ein paar hohe Bodenvasen holen, denn ich wollte sie, gefüllt mit Rhododendronblättern, vor die Kamine in der Bibliothek, dem Salon und dem Speisezimmer stellen. Als ich aus dem Speisezimmer kam, hörte ich Sudie in der Bibliothek singen. Weil ich wußte, daß Mrs. Burnham mit der Zubereitung des Abendbrotes beschäftigt war, fragte ich Sudie, wo ich die hohen Vasen finden könnte. »Ja, Madame, sind in Sommerküche. Hinten stehen Tisch, auf dem wir Vasen aufheben.« Ich dankte ihr und ging durch die Küche zu dem Raum, den die Diener »Sommerküche« nannten. Sie war vom Rest des Hauses durch einen plattenbelegten Pfad getrennt. Wenn das Wetter sehr heiß wurde, kochte man nicht mehr in der großen Küche, sondern draußen, um die Hitze vom Haus abzuhalten. Bis zu diesem Tag war ich noch nie in der Sommerküche gewesen. Mrs. Burnham hatte mir gesagt, daß die große Küche
um den 1. Juli herum verschlossen und die Sommerküche benutzt werden würde. Ich öffnete die Tür, es ging schwer, wahrscheinlich war sie verzogen von der früheren Feuchtigkeit. Zu beiden Seiten waren Fenster, aber es drang nur wenig Licht ein. Als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, konnte ich den Grund sehen: Tische und Bänke, die wahrscheinlich im Sommer draußen standen, waren an den Wänden aufeinandergestapelt und standen auch vor den Fenstern. An der Rückwand konnte ich das dunkle Loch des Kamins sehen. Vorsichtig ging ich nach hinten zu dem Tisch, den Sudie beschrieben hatte. Ich stolperte über etwas und machte einen erschrockenen Schritt zur Seite, da ich nicht sehen konnte, was da auf dem Boden lag. Und plötzlich fiel ich, rollte, schlug gegen Treppenstufen, landete in einem feuchten Keller, der nach Erde roch. Die Stufen waren glitschig, teils von Feuchtigkeit teils von Schmutz. Mein Kopf schlug hart auf, und meine Hände rutschten bei jedem Versuch, mich anzuklammern, ab. Ich bewegte Beine und Arme, um zu sehen, ob sie gebrochen wären. Das schien nicht der Fall und doch konnte ich mich nicht bewegen. Ich wollte um Hilfe schreien, jedoch etwas Schweres lag auf mir, und ich konnte nicht Luft holen und konnte nicht laut schreien. Ich fühlte einen pochenden Schmerz in meinem Hinterkopf und Blut, das warm und salzig aus einer Wunde an meiner Unterlippe floß. Die gemischten Gerüche von Rüben und Äpfeln verrieten, daß ich im Vorratskeller gelandet war. Ich wollte verzweifelt um Hilfe rufen, aber ich konnte es nicht. Ich konnte mit Mühe und Not atmen. Was immer es war, das da auf mir lastete, es schien das Leben aus mir herauspressen zu wollen. Wahrscheinlich wurde ich bewußtlos, kam wieder zu mir und verfiel wieder in Bewußtlosigkeit. Ich spürte hin und wieder
den heftigen Schmerz, der in meinem Kopf hämmerte, fühlte das entsetzliche Gewicht auf meiner Brust und meinem Magen lasten, irgendwo tropfte ein steter kalter Tropfen herab, ich roch den Gestank fauler Kartoffeln und hörte das Trippeln winziger Füßchen, und immer wieder versank ich in einer Wolke schwarzer Watte. Einmal glaubte ich, Wards Stimme zu hören, aber sie schien vermischt mit Sudies und Mrs. Burnhams Stimmen. Mein Kopf fühlte sich an, als ob er ganz gesondert von meinem Körper wäre. Ich versuchte, mit meiner Hand mein Knie zu erreichen, aber was immer es war, was auf mir lastete – es hinderte mich daran, auch nur die kleinste Bewegung zu machen.
Irgend etwas stimmte nicht. Mir schien, ich hätte viel zu lange unbeweglich in der gleichen Stellung gelegen. Mein ganzer Körper war müde vom Liegen. Und wenn ich versuchte, meine Augen zu öffnen, sah ich die Strahlen der Sonne durchs Westfenster. Ich versuchte aufzustehen, denn ich hatte, wenn auch recht unklar und wie durch einen Nebel behindert, das Gefühl, daß ich den ganzen Tag verschlafen hatte, obwohl ich doch in der Morgendämmerung aufstehen wollte. Aber ein scharfer Schmerz wie ein Messerstich in meinem Rücken – warf mich augenblicklich zurück. »Janie, Liebste, du bist aufgewacht!« Eine Wolke von zartem Grün beugte sich über mich und hatte eine Stimme wie Clara. Das Grün kannte ich, ich erinnerte mich: Clara hat ein Kleid dieser Farbe. Clara? Was tut sie in meinem Schlafzimmer? Was hält mich mitten am Nachmittag noch in meinem Bett?
»Was tue denn ich… was machst denn du… ich muß aber sofort…«, stammelte ich und konnte keinen der Sätze beenden. »Bleib schön still, versuch nicht, dich zu bewegen.« Clara läutete und fast sofort hörte ich Schritte die teppichbelegte Treppe hinaufeilen. Ward lief ins Zimmer und fiel neben meinem Bett auf die Knie. Er schob zart und zärtlich seinen Arm unter meinen Kopf, so daß er mir ganz nahe war, ohne die Verbände zu verschieben, die meinen Körper von den Schultern bis zur Hüfte bedeckten, wie ich jetzt erkannte. »Mein Liebling, ich war fast verrückt vor Angst um dich!« rief er aus. »Was ist denn eigentlich mit mir passiert?« fragte ich sehr langsam, so daß man mich verstehen konnte. Mein Mund war ganz ausgetrocknet, es war, als ob meine Zähne mit einem dichten Pelz bedeckt wären, so daß ich meine Zunge kaum bewegen konnte. »Du bist in der Sommerküche in den Lagerkeller gefallen. Dr. Stanfield sagt, du hast ein paar gebrochene Rippen, aber das wird bald in Ordnung kommen.« Ward hielt mich zärtlich im Arm und murmelte immer und immer wieder: »Oh, Janie, Janie.« Es war gut, in seinen Armen zu liegen, aber alles war höchst verwirrend. »Bin ich schon lange im Bett?« fragte ich. »Heute ist es der dritte Tag. Ich habe Ethan eine Botschaft geschickt, und Clara war heute den ganzen Tag bei dir. Sie bestand darauf, daß ich mich ein wenig niederlege und versprach, mich zu rufen, sobald du erwachst.« Langsam und mühsam kehrte meine Erinnerung zurück – ich hatte versucht, den Tisch zu finden, auf dem die Vasen für den Rhododendron standen. Ich war gestolpert und die Treppe hinuntergefallen. Mein Kopf tat mir weh.
»Ist Clara gegangen? Es war so nett von ihr…« Meine Stimme klang dünn und schwach. »Sie ist noch hier. Sie ist nur zu Sudie hinuntergegangen, um sie über Kräuter auszufragen, die die Geburt erleichtern. Sudie versteht ein bißchen von der sogenannten ›Weißen Zauberei‹, wie sie es hier nennen. Sie hat das von ihrer Mutter gelernt.« Mir gelang ein kleines Lächeln. »Wenn Clara glaubt, daß irgendwelche Kräuter eine Garantie für eine leichte Geburt sind, sollte man sie dabei lassen, nicht wahr, Janie?« »Natürlich«, sagte ich. »Ist mit den Kindern alles in Ordnung?« »Alles bestens. Dr. Stanfield sagt, ich soll dich nicht mit langem Reden ermüden, mein Liebes. Du mußt ruhen, dann wird es dir bald bessergehen.« Als ich das nächste Mal erwachte, war es dunkel. Ward lag neben mir und schnarchte leise. Meine Gedanken waren jetzt ganz klar geworden und ich begann, die Stücke der Ereignisse zusammenzufügen. Ich erinnerte mich, daß ich Wards Stimme wie aus weiter Ferne gehört hatte, als er sagte: »Wer in Gottes Namen hat diese verdammte Tür offengelassen?« Und nun erinnerte ich mich auch, Sudies Antwort gehört zu haben: »Ich nicht, Herr, nie dort hinuntergehen. Annie immer holt Kartoffel und solch Zeug aus Keller.« Und dann die ruhige Stimme der Haushälterin: »Als ich gestern hier war und mit einer Kerze einen Korb suchte, war die Tür verschlossen. Ich bin ganz, ganz sicher, gestern war sie zu.« Wer also hatte sie geöffnet? War es einfach Nachlässigkeit von jemandem gewesen, der etwas aus dem Keller geholt hatte, oder war es Absicht gewesen? Hatte jemand diesen Unfall geplant? Und wenn – wer war es? Ich versuchte in Gedanken, den Schuldigen zu finden. Benson verachtete mich – er machte kein Geheimnis daraus. Er sprach nur das Nötigste
mit mir, kein Wort darüber hinaus. Bei Tisch sprach er mit Ward oder Jim Roy, mit Mary Zilpah und sogar mit Maggie, dem jungen Mädchen, das servierte. Aber wenn ich mich in die Unterhaltung mischte, murmelte er nur »Ja, Madame«, oder »Nein, Madame.« Einmal hatte ich Ward gefragt: »Hat Benson eigentlich nie etwas zu sagen?« und er hatte geantwortet: »Nicht viel. Früher plapperte er den ganzen Tag. Aber einmal züchtigte ihn sein Lehrer, weil er etwas herausgerufen hatte, und seit damals ist er so schweigsam.« Aber ich wußte, daß er sehr wohl mit Jim Roy sprach. Jim Roy. Ob er wohl die Tür zum Keller absichtlich geöffnet hatte? Vielleicht war er unten gewesen, um sich Äpfel zu holen; und dann war ihm der Gedanke gekommen, daß es ein Riesenspaß wäre, wenn… Nein. Wenn es wirklich Jim Roy gewesen war, dann nur, weil er vergessen hatte, die Tür zu schließen. Er war keine große Leuchte, aber ich glaubte nicht, daß er bösartig mir gegenüber war. Um ganz fair zu sein: man konnte nicht behaupten, daß meine Gegenwart ihn ungeheuer beglückte. Daß er sich mit mir nicht unterhalten konnte, lag daran, daß er einerseits wirklich nicht viel zu sagen hatte, andererseits aber fehlten ihm die Worte, alles auszudrücken, was er dachte. Also Jim Roy kam nicht in Frage, außer, wenn er einfach schlampig gewesen war. Dann erwog ich, ob Mary Zilpah es gewesen sein mochte. Man konnte einfach nicht abschätzen, was ihr alles in den Sinn kam. Besonders, wenn sie sich einbildete, jemand hätte sie angewiesen, etwas Böses zu tun – und daß dieser üble Indianerknabe es ihr in der Nacht befohlen hatte. Konnte sie gehört haben, wie ich Sudie nach den großen Vasen fragte? Ich dachte, sie wäre zu dieser Zeit in ihrem Zimmer gewesen, aber mit all den offenen Treppen und Galerien, die überall im Haus waren, hätte sie uns sicherlich leicht hören können. Übrigens auch Benson oder irgend jemand anderer. Das Gespräch
überhören und hinausschlüpfen zur Sommerküche, die Kellertür öffnen, war eine Kleinigkeit. Und jemand konnte sogar unter dem Küchentisch gekauert und mir den letzten Stoß gegeben haben, der mich die Stufen hinunterrollen ließ. Mit der Dienerschaft hatte ich niemals Schwierigkeiten gehabt. Bis auf den Zwischenfall mit Sudie wegen des Laudanums. Aber ich konnte nicht glauben, daß Sudie durch einen gestellten Unfall versucht hatte, mich umzubringen. Erstens hatte sie nicht die Möglichkeit dazu gehabt, denn sie war ja beim Abstauben in der Bibliothek gewesen. Obwohl – auch sie hätte über die Terrasse in den Garten und von dort noch vor mir in die Sommerküche gelangen können. Und sie konnte dort die Tür… Sicherlich war damals ziemlich ärgerlich wegen der starken Droge gewesen, die sie Mary Zilpah verabreichte. Und Sudie hatte verstanden, daß ich böse war. Ich hatte kaum Erfahrung im Umgang mit freien Negern. Die einzigen Farbigen, die ich kannte, waren die Sklaven zu Hause in Charlotte, die gewöhnt waren, ihren weißen Herren aufs Wort zu gehorchen. Ändert sich das, wenn ein Neger frei ist? Ward hatte mit erzählt, daß er kaum jemals Schwierigkeiten mit seinen Leuten gehabt hatte. Aber als ich in den Keller stürzte, war Ward nicht zu Hause, und das mochte die Lage verändert haben… Während der Tage, in denen ich mehr tot als lebendig, unbeweglich in meinem Bett gelegen hatte, sah ich manchmal die Erscheinung der schwarzhaarigen Frau an mein Bett treten. Sie stand einfach dort und sah mich besorgt an. Einmal hatte sie mit ihren Schlanken, kühlen Fingern über meine fieberheiße Stirn gestrichen. Während ich so dalag und Wards gleichmäßigem Atem lauschte, während ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen, um herauszufinden, wer verantwortlich für meinen Sturz über diese gräßlichen Stufen war, fiel mir diese Erscheinung wieder
ein. Ich konnte nicht verstehen, wieso Wards verstorbene Frau so freundlich und besorgt gewesen war. Sie hatte kein Wort gesprochen, und während ich so nachdachte, wußte ich plötzlich, daß ich die Augen niemals geöffnet und sie nie wirklich gesehen hatte. Nur in meinen Gedanken hatte ich gewußt, daß sie da war, wie sie aussah, daß sie ihre Hand auf meine Stirn gelegt hatte. Und das verwirrte mich – diese Sicherheit, daß sie da war, ohne daß ich sie sehen konnte. Aber ich mußte es einfach hinnehmen, denn ich wußte, es war wirklich geschehen. Meine Gedanken kehrten zu Ward zurück, der an meiner Seite lag. O Gott! Auch Ward hatte gewußt, daß ich die großen Vasen für das Laub suchen wollte! Wir hatten vor seiner Abreise nach Paducah darüber gesprochen. Auch er war der Meinung gewesen, daß die Blätter vor den Kaminen hübsch aussehen würden. Mit Sicherheit hatte er gewußt, daß ich in die dunkle Sommerküche gehen mußte. Ich mußte bei dieser Erkenntnis wider Willen erschrocken aufgeschrien haben. Ward war sofort wach und bat mich, ihm zu sagen, was passiert sei. Ich versuchte mich von ihm abzuwenden, aber die Verbände, die Dr. Stanfield mir rund um meine gebrochenen Rippen angelegt hatte, hielten mich eisern fest. Tränen der Enttäuschung, aber auch des Zweifels und der Furcht rannen über meine Wangen. Ich sagte mir, daß ich in Zukunft vorsichtig sein mußte, denn es gab offenbar niemand, dem ich vertrauen konnte. Und nachdem Claras Freundin zu Besuch kam, war in Ethans kleinem Haus kein Platz mehr für mich. Aber Ward war doch immer so liebevoll und zärtlich, ich konnte mir nicht vorstellen, daß er sich einen so heimtückischen Plan ausdenken könnte. Und ich hatte Mrs. Burnham sagen hören, daß die Tür »gestern« mit Sicherheit
verschlossen war. Gestern – das war der Tag, an dem Ward in Paducah war. Und doch… Am nächsten Tag fühlte ich mich kräftig genüg, eine Weile zu sitzen. Ward erzählte mir, wie er mich am Fuß der Kellertreppe gefunden hatte. »Du erinnerst dich, ich fuhr um vier Uhr früh weg. Am späten Nachmittag erreichte ich Paducah. Da ich mit Winston und Thornburgh bis spät in die Nacht zu sprechen hatte, brach ich erst am nächsten. Morgen auf. Als ich in den Hof ritt, warst du nicht am Tor, um mich zu begrüßen. Ich ging hinauf, weil ich dachte, du fühltest dich vielleicht nicht ganz wohl und lägst im Bett. Als ich dich im ganzen Haus nicht finden konnte, ging ich in die Küche und fragte Mr. Burnham, ob du vielleicht deinen Bruder und deine Schwägerin besucht hättest. Sie hatte dich aber nicht wegfahren sehen und sagte, du hättest auch nichts über eine solche Absicht verlauten lassen. Ich wanderte in die Stallungen, um dort zu fragen, aber niemand hatte dich gesehen. Ich war schon halb verrückt vor Sorge. Als ich ins Haus zurückkam, hatte Mrs. Burnham schon Sudie nach dir gefragt. Sie hatte dich zuletzt gesehen, als sie die Regale in der Bibliothek abstaubte, und du sie nach Vasen für die Zweige gefragt hattest. Ich dachte, sie sei nicht ganz normal, über Vasen und Zweige zu reden, wenn es um dich ging, aber dann erinnerte ich mich, daß du davon gesprochen hattest, die Kamine zu dekorieren. Und dann sagte Sudie, sie hätte dich zur Sommerküche verwiesen, und da wußte ich, etwas Furchtbares mußte passiert sein. Es war dort so dunkel, daß wir Kerzen mitnahmen, um dich zu suchen. Ich sah die Kellertür offenstehen. Ich rannte die Stufen hinunter und da lagst du…« Ich mußte ihn unterbrechen. »Was war denn auf mich gefallen, daß ich dort wie festgenagelt lag, ohne mich bewegen zu können?«
»Ein schwerer lisch. Beim Fallen hast du den Tisch mitgerissen, auf dem die Kartoffeln zur Aussaat bereitlagen. Er drehte sich so, daß er flach auf dir zu liegen kam.« »Er muß aus Eisen sein«, sagte ich. »Ich konnte ihn nicht von der Seite bewegen…« »Fast so schwer wie Eisen. Er ist massiv aus Eichenholz.« »Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber das Ding war eine solche Last, daß ich nicht atmen konnte. Ach Ward, es war furchtbar! Es waren Mäuse im Keller, vielleicht sogar Ratten!« »Denk nicht daran, mein Süßes. Es ist vorbei, und du bist auf dem Weg der Besserung.« »Hast du Besuch mitgebracht? Ich hoffe zu Gott, niemand ist gekommen!« »Da bin ich aber froh, ich muß ja schrecklich aussehen!« »Du hast ausgesehen, als ob du durch das große Zahnrad in Aaron Davis’ Mühle gelaufen wärest. Aber trotzdem warst du wunderschön. Du bist immer schön, mein Liebstes.« Er nahm meine Hand und bedeckte sie mit Küssen. »Und jetzt mußt du dich ausruhen. Ich will, daß du schnell wieder gesund und stark wirst.« Als ich die zärtlichen Worte meines Mannes hörte, begann ich meine Verdächtigungen, er hätte mich umbringen wollen, für total absurd zu halten. Und bald schien mir, daß alle meine bösen Ahnungen nur Auswüchse meiner Phantasie waren, gefördert durch meine Fieberträume. Mitte August wurde ich nur mehr durch einen gelegentlichen Schmerz an meinen Unfall erinnert, wenn ich eine unbedachte Bewegung nach rechts machte. Dr. Stanfields Behandlung und Wards Pflege, Mrs. Burnhams und Sudies Aufmerksamkeit, Claras Besuche – sie ritt fast täglich herüber – halfen bei meiner schnellen Wiederherstellung. Die Knaben nutzten diese letzten Sommerwochen aus und waren schon früh aus dem Haus. Mary Zilpah benahm sich
ganz ordentlich. Ich hörte sie fast nie mehr in der Nacht aufschreien. Ich hoffte, ihr beängstigender Indianerjunge ließ sie in Ruhe. Im September fragte Ward, ob ich mich kräftig genug fühle, Gäste für ein Abendessen und anschließenden Tanz zu empfangen. Ich fühlte mich sehr gut und stimmte zu. Es würde nett sein, wieder einmal Freunde zu bewirten. Ward hatte einmal erwähnt, daß er eine Gesellschaft geben wolle, wenn Andrew Jackson wieder in der Nähe sei. Nun hatte er gehört, daß Mr. Jackson und ein Mr. Hill eine Reise durch Westkentucky machen und an verschiedenen Orten sprechen wollten. Ward war sicher, daß Mr. Jackson als Präsidentschaftskandidat aufgestellt wurde. Ich war nun nicht mehr überwältigt von dem Gedanken, wichtige Leute einzuladen, die zu Wards Freunden zählten. Alles im Haus und auch auf der großen Farm verlief ohne Zwischenfälle. Mrs. Burnham kam täglich, um mit mir die Speisenfolge zu besprechen. Es war mir nicht mehr peinlich, dem Personal die Arbeit zuzuweisen. Ich hatte richtig Freude daran, die Herrin des Besitzes zu sein. Nur manchmal war ich verzagt, wenn die Jungens sich schlecht benahmen oder Mary Zilpah sich merkwürdig aufführte, obwohl ihre Perioden von Bosheit seltener und weniger problematisch wurden: Ich freute mich auf die Abendgesellschaft. Alle Nachbarn von den Farmen und Pflanzungen waren eingeladen, ebenso die Leute aus dem kleinen Dorf New Hope. Mr. und Mrs. Downey, Ethans Nachbarn; Mr. Martin, der Schmied mit Frau und Tochter; der alte Müller Mr. Davis mit seinem Sohn und der Schwiegertochter und deren jungem Sohn Tod; Mr. Evans, der den kleinen Kaufladen besaß; Dr. Stanfield und seine Frau mit ihren beiden kleinen Jungen; Mr. und Mrs. Ross und ihre dicke Tochter Florabell. Ward hatte sogar den Pastor und seine
Frau eingeladen, was mich unendlich wunderte. Aber weil Mrs. Blake krank war, konnten sie nicht kommen. Am Tag der Party wurde es sehr kalt. Es hatte schon seit Tagen geregnet, aber nun war der Regen von einem heftigen Sturm abgelöst worden, der zusammen mit tiefhängenden Wolken vom Nordwesten her kam. In Holderly Hall brannten die Kerzen fröhlich, und in den Kaminen waren Feuer entzündet worden. Mrs. Provine, die Dorfschneiderin, hatte mir für diesen Anlaß ein Kleid aus dem dunkelgrünen Taft gemacht, den Mary Zilpah so gern gehabt hätte. Es hatte einen ziemlich tiefen Ausschnitt und viele Meter weißes Seidenband schmückten den weitschwingenden Rock, den Ausschnitt und das Oberteil. Alle Damen hatten ihre schönsten Kleider angezogen, und die lebhaften Farben, zusammen mit dem Schein des Feuers und der Kerzen, vertrieben jeden Gedanken an das düstere Wetter draußen, Besonders hübsch sah Sudie in ihrem cremefarbenen Satinkleid aus, das wunderbar zu ihrem rotgoldenen Haar paßte. Mr. Jackson war charmant. Sein wirres weißes Haar bildete einen interessanten Kontrast zu dem sonnengebräunten Gesicht. Seine Augenbrauen waren ebenfalls weiß und buschig, aber schütteres Haar und glatte Brauen hätten zu seiner Persönlichkeit gar nicht gepaßt. Und obwohl sein Aussehen und sein Wuchs von seiner Bekanntschaft mit Kampf und Krieg und dem rauhen Leben in der Wildnis berichteten, war sein Benehmen untadelig. Mr. Hill war überaus nett, aber im stillen dachte ich, daß er ein eher merkwürdiger Begleiter für unseren Ehrengast war. Im Vergleich zu dem offenen und ausdrucksvollen Andrew Jackson schien er eher farblos. Aber ich wußte auch, daß der Vergleich mit einem so ungewöhnlichen Mann wie Mr. Jackson nicht fair war.
Ich hätte den ganzen Abend dort stehen und Mr. Jackson zuhören mögen, hätte ich keine Pflichten als Gastgeberin gehabt. Ich mußte mich darum kümmern, daß jedermann einen Partner für den Tanz oder zum Plaudern hatte und daß niemand ohne Erfrischungen blieb.
Das Küchenmädchen mußte die riesigen Punschbowlen immerfort nachfüllen. Ich hatte die Köchin angewiesen, die Bowle aus Fruchtsäften und spritzigem Wein zu machen. Ich hatte gehört, daß man in Nordcarolina diese Art von Getränken servierte, und daß es dort sehr beliebt war. Es gab aber auch süßen Apfelmost für jene, die Wein nicht mochten. Maggie und Annie brachten Salznüsse und englische Kekse und Käse, Delikatessen, die Ward liebte. Ich beobachtete, daß Clara dauernd zur Punschbowle ging und war ein bißchen nervös, weil ich wußte, daß sie im geheimen trank. Hoffentlich erwischte sie nicht zuviel! Aber es war spät und bald würde serviert werden, es bestand also kein Grund zur Aufregung. Ich gab der Köchin ein Zeichen und die Bowlen wurden in die Küche gebracht. Statt dessen wurden die Tafeln mit jeder Art jener Delikatessen gedeckt, die es in Holderly Hall so reichlich gab. Dünne Scheiben rosa Schinken, zartes Roastbeef, gebratenes Geflügel, winzige neue Kartoffeln, Tomatenscheiben, knuspriges Brot und frisch geschlagene Butter. Für jene, die im Magen noch etwas unterbringen konnten, wurden große Schüsseln mit Weinpfirsichen und starker Kaffee serviert. Ich war so aufgekratzt, daß ich kaum einen Bissen hinunterbrachte. Während des Abendessens begann Mr. Hill über ein Thema zu sprechen, das mich erschauern ließ.
»Sind Ihnen schon einmal die Geister begegnet, die angeblich Holderly Hall heimsuchen?« wandte er sich an Ward. »Was für Geister sollen das sein, Sir?« fragte mein Mann. »Na, doch die Indianer. Wissen Sie, mein Vater war mit dem Ihren bekannt, und er hat mir diese Geschichte erzählt. Holderly Hall soll auf dem Gebiet eines alten Indianerdorfes erbaut worden sein, und einige der schwarzen Diener behaupten, in den Nächten Trommeln zu hören.« Er lachte, um zu zeigen, daß er nichts davon glaubte. Ich erbleichte und schauderte. Auch ich hatte die Trommeln gehört! Und Ward wußte davon. Ich hielt meine Tasse mit beiden Händen, um nichts zu verschütten. Mr. Abel sagte, auch er hätte davon gehört. »Wahrscheinlich hatten die alten Indianer keine Freude daran, daß über ihrem Dorf das Herrenhaus errichtet wurde! Ha! Unsere Väter haben sie ordentlich verscheucht!« Alle lachten. Mir wurde übel, als ich Wards Blick vom anderen Ende der Tafel sah. Ich konnte die Botschaft darin lesen, die er mir herübersandte: Sag kein Wort davon, daß auch du die Trommeln gehört hast. Sie werden dich für ebenso unwissend und abergläubisch halten wie die Neger! Ich wandte mich schnell zu Mr. Jackson, der zu meiner Rechten saß, um das Thema zu wechseln. »Was halten Sie von den Kanalbauten, Sir?« Bald drehte sich die Unterhaltung um den Ohio-Kanal und den Miami-Kanal, mit deren Bau man begonnen hatte: Das Gespräch wechselte dann zu der aufregenden Erfindung der Lokomotive. Mr. Jackson berichtete, daß sie in England schon in Betrieb wären. Er erwartete, daß man auch in den Staaten bald ein Eisenbahnsystem bauen werde. Im Wohnzimmer, wo viele kleine Tische aufgestellt waren, hatten sich Gruppen zusammengefunden, die lebhaft
diskutierten. Bald starb das Interesse an den rachsüchtigen Geistern, die in Holderly Hall spuken sollten. Die Musiker waren angewiesen worden, nach Beendigung des Festes noch einige Stücke für jene zu spielen, die länger bleiben wollten. Einige Paare gingen zurück in den Salon. Ich drängte mich durch die plaudernden, lachenden Gruppen an Ethans Seite. Schnell flüsterte ich: »Hast du je von diesen Geistern gehört?« »Ja, ich habe davon gehört«, gab er zu, »aber solche Geschichten muß man mit einer Prise Salz nehmen, nicht?« Dann sagte er: »Ich hatte bis jetzt keine Chance, mit meiner hübschen Schwester zu tanzen!« und führte mich in den Salon, wo die Geiger gerade einen Kreistanz zu spielen begannen. Es war – in jeder Hinsicht – ein erfolgreicher Abend. Die Gäste schienen keine Lust zu haben, sich zu verabschieden, und auch mir tat es leid, daß die Party zu Ende ging. Mr. Jackson und Mr. Hill sollten über Nacht bleiben. Ethan war bereit, zu gehen, aber Clara war verschwunden. Ich vermutete, daß sie oben war, um sich frisch zu machen, und die Gäste beim Abschied mit ihrer Schönheit zu beeindrucken. Solche Gedanken kamen mir nicht aus purer Bosheit. Obwohl ich Clara nie sehr gemocht hatte, konnte ich sie verstehen: Ich wußte, daß ihr Schönheit und die Kunst des Flirts mehr wert waren als Wissensdurst oder der Austausch von Gedanken. Eigentlich amüsierte mich ihre Eitelkeit. Aber Clara rauschte nicht die Treppen hinunter, wie ich es erwartet hatte. Statt dessen sah ich sie von der Sonnenterrasse hereinschlüpfen, mit strahlenden Augen und kleinen roten Flecken auf den Wangen. Ich konnte sehen, während ich mit Ethan sprach, wie sich die Spitzen, die ihr Dekollete umrahmten, mit dem Klopfen ihres Herzens hoben und senkten. Ich warf einen Blick in die Runde und sah, daß der
junge Tod Davis fehlte. Ich konnte zwei und zwei zusammenzählen. Clara hatte mit ihm draußen getändelt. Du lieber Himmel, dachte ich, er ist doch erst achtzehn! Clara kam herüber zu Ethan und mir. »Ich brauchte ein bißchen frische Luft«, erklärte sie und fächelte sich mit ihrem zarten Spitzentuch. »Wahrscheinlich habe ich zuviel Punsch getrunken. Sollen wir gehen?« »Ja, meine Liebe, wenn du fertig bist.« Ward schickte Samuel, Ethans Wagen zu holen. Aus dem Augenwinkel sah ich Tod Davis durch die Bibliothekstür den Salon betreten. Samuel hatte den Wagen gebracht und konnte die ungeduldigen Pferde kaum halten. »Mr. Dorsett«, sagte er, als er Ethan die Zügel reichte. »Besser sein vorsichtig, irgendwas macht sie ganz scheu.« Ich hörte Ethan denken. »Sicher hat das erste bißchen Kälte sie an den warmen Stall erinnert, sie wollen einfach heim.« Ethan bestieg den Wagen. Ward stand bereit, Clara hineinzuhelfen. Als sie gerade den Fuß hob, machten die Pferde einen Satz, der Wagen fiel um, und Ethan wurde hinausgeschleudert. Die scheugewordenen Pferde machten ein paar Schritte zurück, sprangen dann erneut nach vorn und schleiften den armen Ethan gut zweihundert Meter unter dem Wagen mit sich. Dann verhedderten sie sich und stürzten zu Boden. Die Männer waren den scheuen Tieren nachgerannt – alle außer Ward. Er sprang auf das erste Pferd, das in seiner Nähe war und ritt hinter Dr. Stanfield her, der zehn Minuten vor der Tragödie das Haus verlassen hatte. Samuel und Mr. Jackson trugen Ethan ins Haus, und ich rannte, Wasser und saubere Tücher zu holen, um seine Wunden zu reinigen und zu verbinden. Aber als ich an das Sofa trat, auf dem er lag, sah ich, daß er vom Tod gezeichnet war.
Clara war nicht verletzt. Ward hatte sie aufgefangen, als die Pferde den ersten Satz gemacht hatten, und sie war in Ohnmacht gefallen. Mrs. Davis und Mrs. Ross bemühten sich um sie. Sie lag auf einer Polsterbank im Salon, und die Damen mühten sich, sie aus der Ohnmacht zurückzubringen, als Ethan kurz die Augen öffnete und sich bemühte, etwas zu mir zu sagen. Ich beugte mich ganz über ihn, um es zu hören. Seine Worte waren fast unhörbar, eigentlich nur Wortfetzen. »Aufpassen. Haus… fragen…« und etwas, was klang wie »Müll«. Dann wurde er bewußtlos, und als Ward mit dem Doktor kam, war er tot.
Der Abend, der das Ereignis der Saison werden sollte, endete in Trauer. Clara war untröstlich. Mrs. Burnham brachte sie in eines der unbenutzten Schlafzimmer. Auch meine Trauer war grenzenlos, aber es war notwendig, daß ich Haltung bewahrte, mich um die anderen kümmerte. Mr. Jackson und Mr. Hill reisten am nächsten Morgen weiter. Sie dankten für unsere Gastfreundschaft und versicherten uns ihres tiefsten Mitgefühls. Ward gab ihnen das Geleit. Dann sah er nach vorn in Ethans Haus. Ethan war mein einziger Verwandter, der in der Nähe wohnte. Die anderen lebten alle Hunderte von Kilometern entfernt. Ich fühlte mich völlig verlassen. Ich wünschte, niemals in diese Wildnis zu Clara und Ethan gekommen zu sein. Vor meiner Heirat hatte ich oft gewünscht, ich wäre bei meinen entfernten Verwandten in Nordcarolina geblieben. Und nun, da Ethan tot war, dachte ich wieder daran, voll von Selbstmitleid. Aber immerhin hatte ich Ward, während Clara niemanden hatte. Die grausame Realität ihres tragischen Verlustes band mich an sie, ich wollte ihr allen Trost geben, den ich finden konnte.
Aber – manchmal bohrte sich wie eine scharfe Nadel Mißtrauen in meine Gedanken. War Clara wirklich mit dem jungen Tod Davis auf der Terrasse gewesen, um verstohlene Küsse und leidenschaftliche Umarmungen auszutauschen – oder hatte sie das »Luftschnappen« als Ausrede gebraucht, um zu den Pferden hinauszuschlüpfen, ihnen irgend etwas zu geben, das sie scheuen ließ? Obwohl sie mir so leid tat, machte ich diese Überlegungen. Dann erinnerte ich mich, daß der junge Tod aus der Bibliothek gekommen war. Vielleicht hatte Clara ihm vorgeschlagen, daß es ein Riesenspaß wäre, wenn er den Pferden Ingwer unter die Schwänze steckte. Zeit dazu war reichlich. Hätte ihn irgend jemand gefragt, wo er gewesen sei – hätte er sicherlich gesagt, er wäre zur Toilette gegangen. Die Tage Vergingen, und wir mußten Ethans Begräbnis vorbereiten. Wieder wurde der Pastor gerufen, die Totenmesse zu halten. Clara konnte das Bett auch für das Begräbnis nicht verlassen. An dem Tag, als wir Ethan begruben, verlor Clara ihr Kind. Die Septemberkühle wurde durch einen blaugoldenen Oktober abgelöst. Nun erst konnte Clara wieder aufstehen. Selbstverständlich schickte Ward täglich Knechte zur DorsettFarm, die sich um Feldarbeit, Pferde und Rinder kümmerten. Mrs. Burnham schlug vor, ihren Bruder und dessen Frau kommen zu lassen, um die Dorsett-Farm zu verwalten, bis Clara in ihr eigenes Heim zurückkehren konnte. Mitte November war Clara noch nicht gesund und das Ehepaar Allan immer noch in ihrem Haus. Sie Heimen zu Ward, um ihm zu sagen, daß sie Weihnachten gern in ihrem eigenen Heim verbringen würden. Ward brachte es Clara vorsichtig bei, aber sie fiel in einen Weinkrampf und schluchzte, sie könne nie wieder nach Hause zurückgehen. Ward sagte ihr höflich, sie könne mit uns leben, so lange sie wolle. Die Bergstraßen seien im Winter unpassierbar und die
Reise mit der Kutsche wäre unzumutbar für jemanden mit so angegriffener Gesundheit. Ich stimmte zu. Clara sollte bis zum Frühling warten, ehe sie eine Reise nach dem Osten auch nur erwog. Ward machte überall bekannt, daß die Dorsett-Farm zu verkaufen sei. Die trüben Dezembertage schlichen dahin, und eine Grippeepidemie brach aus. Mr. Abel erlag ihr, ebenso die Frau des Pastors und eine der Töchter der Familie Ross. Manchmal sah ich den schwarzhaarigen blauäugigen Geist durch die Räume huschen und roch das Geranienparfüm, das seine Gegenwart anzeigte. Die Dame sah nie glücklich aus, aber auch nicht drohend. Sie sah einfach verzweifelt aus. Ich hörte auch immer wieder die Trommeln – einmal so deutlich, daß ich Ward anstieß. »Horch! Hörst du sie?« »Jane, ich kann gar nichts hören«, sagte er, »du bist nicht normal.« Ich erwähnte die Trommeln nie wieder. Tag für Tag mußte ich an Ethans letzte Worte denken. Ich fühlte, daß sie eine Warnung in sich bargen. Meine Erfahrungen mit den Trommeln, die sonst niemand hörte, mit dem Indianerknaben, der Mary Zilpah erschien und der Erscheinung der ersten Mrs. Holderly überzeugten mich, daß es im Haus spukte. Und nicht nur das – ein Fluch mußte auf dem Haus liegen. Es gab so viel Unglück hier, so viele Leute hatten hier einen frühen tragischen Tod gefunden. Aber wen sollte ich fragen, und was sollte ich fragen? Ich war sicher, daß eines der letzten Worte Ethans »fragen« gewesen war. Und von welchem »Müll« hatte er gesprochen? Ich verstand das alles nicht. Weihnachten wäre traurig geworden, wären unsere Freunde im Dorf nicht so freundlich gewesen. Sie kamen zu Besuch, und Mary Zilpah bestand darauf, daß Tannengirlanden um die weißen Säulen vor dem Haus geschlungen wurden. Es sah
richtig festlich aus. Auch das Treppengeländer war mit Girlanden umwunden. Überall standen Schüsseln mit roten polierten Äpfeln. Obwohl das Dorf nur dünn besiedelt war, lebten die Menschen dort wie eine große Familie. Alle waren betroffen über das Unglück, das unsere und andere Familien heimgesucht hatte. Der arme Mr. Abel war ein Witwer ohne Kinder und ohne Verwandte gewesen. Wir besuchten aber die Familie Ross, und obwohl Ward nichts für den Pastor übrig hatte – meine schöne Hoffnung, daß mich Ward zur Kirche begleiten würde, hatte sich nicht erfüllt – besuchte er den Pastor, um ihn seines Mitgefühls zu versichern und lud ihn ein paarmal zum Essen ein. Nach Neujahr wurde es noch kälter. Es war der kälteste Winter, an den ich mich erinnern konnte. Die Feuer in allen Kaminen brannten hell, und draußen in der Eiskälte hörte man das Sagen und Splittern von Holz unter den Äxten. Das eisige Wetter hatte aber auch eine gute Seite: der Geist des Indianers ließ Mary Zilpah in Ruhe. Ich hoffte, daß sie ihrem eigenen persönlichen Geist entwuchs, so wie ich meiner Freundin Missy entwachsen war. Ward kam von der Mühle zurück und erzählte, daß man überall von einer erfreulichen Neuigkeit sprach: zwei Gruppen neuer Siedler waren auf dem Weg nach Westkentucky. »Wie aufregend!« war meine erste Reaktion, denn immer wenn neue Menschen hinzuzogen, gab es auch neue Handwerker. Vielleicht war diesmal ein Kesselflicker dabei, denn seit Mr. Abels Tod konnte niemand in der Nähe Kessel und Pfannen flicken. Vielleicht, dachte ich hoffnungsvoll, würde jemand einen Stoffladen eröffnen. Auch Clara war ganz aufgeregt: möglicherweise fand sich jetzt ein Käufer für ihr Haus! Die ersten Neusiedler wankten Anfang April ins Dorf. Sie waren total erschöpft. Die zweite Gruppe folgte um Ostern.
Das Haus, in dem ich fünf Jahre gelebt hatte, wurde an eine Familie aus Pennsylvanien verkauft, die eine wärmere Gegend gesucht hatte, was mich nach dem gerade vergangenen furchtbaren Winter wunderte. Aber als sie erzählten, daß ihr altes Haus im Winter bis zu den Fenstern verschneit gewesen war, verstand ich, daß es in unserer Gegend besser war. Clara war glücklich über den Verkauf des Hauses. Ich war nicht sehr froh, daß man das Haus nun nicht mehr als die »Dorsett-Farm« bezeichnen würde, aber ich wußte, daß es unseren Haushalt nur unnötig belastet hätte, die Farm zu behalten. Und doch – es war eine Erinnerung an Ethan gewesen. Clara hatte nun das Geld, um die Kutsche nach Columbia zu bezahlen. Langsam aber sicher ging sie mir furchtbar auf die Nerven. Ward und ich waren niemals allein, außer in unserem Schlafzimmer und im Frühstücksraum. Jedesmal, wenn wir bei Freunden eingeladen waren, mußten wir uns über Clara den Kopf zerbrechen. Ich verstand ihre Trauer – sie hatte nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch das freudig erwartete Kind. Oft wünschte ich, es gäbe einen netten Mann, der um ihre Hand anhielt. Plötzlich dämmerte mir, daß Clara nun in der gleichen Lage war wie ich, als ich in ihrem Haus lebte. Sicher hatte sie damals die gleichen Gefühle gehabt, die ich nun hatte. Sie hatte wohl so oft so scharf mit mir gesprochen, weil ich ständig da war und nicht, weil sie mich unbedingt mit dem Nächstbesten verheiraten wollte. Clara und Ethan konnten damals auch kaum allein sein. Ich war einfach zu jung und unwissend, um das zu verstehen. Meine Wangen glühten vor Scham, als mir dies zu Bewußtsein kam. Ich nahm mir fest vor, gerechter und freundlicher zu meiner Schwägerin zu sein. So erinnerte ich sie nicht an ihre geplante Reise zu ihrer Kusine nach Columbia, als es Frühling geworden war. Und natürlich war Ward viel zu
taktvoll, um mir gegenüber auch nur ein Wort darüber zu verlieren, daß Clara endlich beginnen sollte, ihre Zukunft zu planen. So verging die Zeit, und Clara wurde nach und nach Teil unseres Haushaltes. Aber es gab einen entscheidenden Unterschied in unserer Situation. Ich war die Herrin des Hauses und sie eine unabhängige weibliche Verwandte. Als ich bei meinem Bruder lebte, war ich ein heranwachsendes junges Mädchen, und der Herr des Hauses war mein Bruder. Clara hingegen war eine attraktive Frau, eine Witwe – und sie stand in keinerlei verwandtschaftlichem Verhältnis zum Hausherrn. Trotz meines Vorsatzes, mein Herz von allen Bosheiten gegenüber Clara zu säubern, begann ich mich zu fragen, wie lange es dauern würde, bis Clara entschieden hätte, daß Holderly Hall, ebenso wie sein Besitzer, eigentlich ihr Eigen sein sollten. »Alles ist arrangiert«, sagte Ward, »Benson wird im Herbst die Transsylvania-Universität besuchen.« Ward war stolz darüber, denn Benson war der erste junge Mann aus der Gegend um New Hope, der eine Universität besuchte. Und Ward hatte allen Grund, stolz auf seinen Sohn zu sein: Benson hatte in der Schule die besten Noten gehabt. Ich wollte an diesem Stolz teilhaben, aber immer wenn ich versuchte, Benson ein Kompliment über seine Erfolge zu machen, schien er meine Worte einfach zu überhören. Es schien mir unglaublich, daß schon vier Jahre vergangen waren, seit Ward und ich geheiratet hatten. In jeder Saison hatte es so viele Ereignisse gegeben, die Zeit war vergangen wie im Flug. Obwohl die Familien in der Umgebung kaum Nachbarn genannt werden konnten, weil die Pflanzungen um Holderly Hall so groß waren, gab es doch eine Art von Nachbarschaft. Immer wieder gab es Feste und Einladungen,
auf die man sich freuen konnte. Viele der Neusiedler waren unsere guten Freunde geworden. Und nun war Benson schon alt genug, um ins College zu gehen. Benson, der nie ein Wort zuviel sprach. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie er je Jurist oder Politiker werden konnte, wie sein Vater es erhoffte, weil er so wortkarg und schlecht gelaunt war. In den vier Jahren, in denen ich seine Stiefmutter gewesen war, hatte ich niemals ein Zeichen von Zutrauen gesehen. Ein merkwürdiger Bursche. Nach dem ersten Jahr hatte ich es aufgegeben, seine Zuneigung zu erkämpfen. Es war, als ob man mit dem Kopf gegen eine Steinmauer rannte. Ward forderte von den Jungen Respekt mir gegenüber, aber widerwilliger Respekt war alles, was ich von Benson je erwarten konnte. Ich erwog, daß es für den Burschen vorteilhaft sein würde, sein Heim zu verlassen. Die Universität in Lexington hatte einen ausgezeichneten Ruf. Ich stellte mir vor, daß man auf der Universität die nötige Disziplin von ihm verlangen würde. Ich hoffte auch, daß er durch die anderen Studenten mehr gesellschaftlichen Schliff bekommen würde. Er mußte ja selbst bemerken, daß er sich sehr von ihnen unterschied. Manchmal erfüllten mich diese Gedanken mit Optimismus, denn ich war sicher, daß Kinder mehr von ihren Kameraden lernen können als von ihren Eltern. Aber zu anderen Zeiten schien es mir für den Jungen keine Hoffnung zu geben. Er würde für seinen Vater sicherlich eine bittere Enttäuschung werden. Jim Roy hatte die siebente Klasse nur mit Mühe geschafft, aber im letzten Jahr hatte sein Verstand begonnen, seinen rasch wachsenden Körper einzuholen. Er war noch immer langsam in der Auffassung, aber wenn er einmal etwas verstanden hatte, vergaß er es nie wieder. Ich fuhr zusammen, wenn Ward Jim Roy vorwarf, daß er ungeschickt bei der Erfüllung seiner Aufgabe gewesen war. Ich war sicher, Jim Roy brauchte eher
Liebe als Kritik, und ich lobte ihn immer, wenn er etwas geschafft hatte. Aber dafür gab es nur selten Gelegenheit. Jim Roy trottete durch den Tag, zerbrach Vasen, zerriß seine Hosen, verschüttete Wasser, verlor seine Schiefertafel und war immer der letzte bei Buchstabierübungen in der Schule. Auch Mary Zilpah besuchte nun die Schule. Sie zeigte bald ihre Begabung und war eine gute Schülerin. Ihr besseres Benehmen beobachtend, dachte ich, daß sie möglicherweise ein überaktives Kind war, das zu Hause nie genug Beschäftigung fand. Das Lernen war vielleicht für sie eine große Faszination, denn es eröffnete neue Erkenntnisse und war ein Ventil für ihre nervöse Energie. Ward riß mich aus meinen Gedanken… »Janie, findest du nicht, daß Clara jetzt viel besser aussieht?« »Ich glaube es auch«, sagte ich, »aber die dunklen Grau- und Schwarztöne ihrer Kleider passen nicht zu ihrem Haar und ihrem zarten Teint.« »Hm, das habe ich nie bedacht.« Nun, ich hatte daran gedacht. Trotz meiner Vorsätze, freundlich zu ihr zu sein und ihre kleinen Zwischenspiele von der »armen Hilflosen« zu übersehen, mit denen sie uns überraschte. Als sie sich von der Fehlgeburt erholt hatte, gab es unzählige Gelegenheiten, bei denen mich die Eifersucht auf meine Schwägerin übermannte. Ich wollt Ward eigentlich sagen, daß Clara nun schon vier Jahre in Trauer sei und daß sie sich nun endlich körperlich und gefühlsmäßig erholt haben müßte, aber ich schluckte die bösen Worte und machte mir Vorwürfe über meine häßlichen Gedanken. Ich erinnerte mich, wie meine geliebte Mutter mir eine Lektion erteilt hatte, die mich von Grund auf veränderte. Eine junge Frau aus unserer Nachbarschaft in Charlotte hatte ihren Mann und zwei kleine Kinder verlassen. Ich war ungefähr zwölf Jahre alt und schockiert über das Benehmen der jungen Frau. »Ich würde so
etwas nie tun!« sagte ich. Aber meine Mutter ermahnte mich; daß man niemals eine Behauptung aufstellen solle, ehe man nicht selbst in einer solchen Situation gewesen sei. Nun also sagte ich mir, ich würde wegen solch unfreundlicher Gedanken sicher einmal zur Hölle fahren und wandte mich wieder zu Ward. »Clara hat in letzter Zeit viel bessere Laune«, und er nickte zustimmend. So bald wie möglich wechselte ich das Thema. Ich begann davon zu sprechen, was in Washington los war. Andrew Jackson war vor einem Monat Präsident geworden. Da er unser Freund war, waren wir verstört, als wir hörten, daß eine Campagne gegen ihn lief. Seine Feinde behaupteten, er sei ungehobelt, unerzogen und nicht geeignet für die Präsidentschaft. »Glaubst du wirklich, Ward, daß es bei der Amtseinführung so arg war?« »Ich kann’s mir nicht vorstellen. Aber ich weiß, daß Leute, die zuviel getrunken haben, überhaupt nicht wissen, daß sie ausfallend werden. Andrew hat leider einige Freunde, die ich niemals zu meinen Freunden zählen würde. Aber was ich überhaupt nicht glauben kann, sind diese Geschichten über die zerschmetterte Einrichtung im Weißen Haus. Oder daß Leute auf den Lüstern geschaukelt und die Gardinen heruntergerissen haben sollen, um sich Togen daraus zu drapieren. Ich glaube, daß die Zerstörungen passierten, als so viele Menschen in die Säle drängten, um in Andrews Nähe zu gelangen. Schließlich ist er der erste Präsident, der ein Freund des einfachen Volkes ist. Ich finde keine kritischen Worte für Leute, die in ihrer Begeisterung die guten Manieren vergessen.« »Ich finde, Mr. Jacksons Manieren stehen über jeder Kritik!« fügte ich ein. »Richtig, meine Liebe. Und ich bin überzeugt, daß die Geschichten über seine Gattin üble Verleumdungen waren.«
»Die arme Frau. So unter Beschuß zu stehen, muß für sie eine harten Prüfung gewesen sein.« Ich nahm mein Strickzeug wieder auf. »Man sagt, sie starb an Herzversagen. Aber ich glaube, sie starb an gebrochenem Herzen.« »Andrew soll es auch nicht sehr gut gehen«, erzählte mir Ward. »Er liebte Rachel so sehr.« Clara, die mit Sudie oben im Nähzimmer gewesen war, kam herein und hörte, worüber wir sprachen. Sie übersah mich völlig und setzte sich zu Ward. »Du solltest in die Politik gehen, Ward«, sagte sie. »Ich glaube, du bist der bestaussehendste Mann in Kentucky! Und ich wette, wenn du in Washington gewesen wärest, du hättest diese Dinge verhindert.« »Ich? Aber Clara, ich verstehe überhaupt nichts von Politik! Ich habe noch nie im Leben eine Rede gehalten. Alles was ich kann, ist eine gute Ernte schaffen und meine Herden vergrößern.« Clara fuhr sich durch die Locken und sah ihn von der Seite an. »Sudie hat aus den Karten gelesen, daß du erfolgreich in der Politik geworden wärest. Du hättest Erfolg auf jedem Gebiet haben können.« Ward lachte. »Sudie? Liest sie nun die Zukunft aus den Karten, nur so, als Nebenbeschäftigung?« Ich saß ganz still, wie zu Stein erstarrt. Mir wurde klar, daß Clara eine Menge Zeit mit Sudie verbracht hatte, was eigentlich merkwürdig war. Clara war in einem Haus aufgewachsen, in dem die Neger Sklaven waren. Sie hätte niemals mit einem Neger gesprochen, außer um ihm einen Befehl zu geben. Aber in letzter Zeit hatte Sudie Clara geholfen, ihre Kleider zu nähen. Sie hatte sich endlich entschlossen, die Trauerkleidung abzulegen, und ich hatte oft
gehört, wie sie zusammen über der Näherei kicherten und lachten. »Offensichtlich«, sagte ich schnell, ehe Clara antworten konnte, »hat sie auch dir die Karten gelesen?« Clara errötete. Die Röte breitete sich über ihre Wangen aus und stieg hinauf bis zu den Haarwurzeln. »Ja – ich bat sie darum.« »Und was haben die Karten gesagt? Daß du einen großen, dunkelhaarigen gutaussehenden Mann heiraten wirst?« Ich wußte, daß meine Stimme unfreundlich klang und haßte mich selbst wegen meines gehässigen Tons. Aber die Worte waren mir entschlüpft, ehe ich mir sagen konnte, halt den Mund. Und nun war es zu spät. Clara stand auf und warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Wirklich, Jane, manchmal kannst du sehr bösartig sein. Du unterschätzt Sudies Können. Sie kann alles mögliche aus den Karten lesen. Sie hat längst gewußt, daß Benson eine lange Reise antreten wird, und jetzt reden alle davon, daß er nach Lexington und später vielleicht nach Harvard fahren wird.« »Nun, nun, Clara«, beruhigte Ward die hochschlagenden Wellen, »du mußt dich über Janie nicht so aufregen. Sie hat dich nur ein wenig geneckt. Sicher weiß Sudie, daß Benson ein guter Schüler ist und hat erraten, daß er studieren wird. Ich halte wirklich nicht viel von ihrer Wahrsagerei.« Nicht, daß ich nichts von Wahrsagerei hielt. Es mich erzittern ließ, waren meine eigenen Worte, »einen großen dunkelhaarigen, gutaussehenden Mann heiraten.« Warum hatte ich das gesagt? Vielleicht, weil das die Phrase war, die Wahrsager ihren Kundinnen gegenüber benutzten, seit es überhaupt Wahrsager gab. Und obwohl ich diese Redewendung gedankenlos benutzt hatte, fürchtete ich, damit meine geheimsten Ängste verraten zu haben: daß Clara Ward für sich gewinnen wollte.
Kleine Stiche der Erinnerung machten sich in meinem Bewußtsein bemerkbar. Ich dachte daran, wie sie sich gänzlich von Ward abhängig gemacht hatte, als es darum ging, Ethans Farm zu verkaufen. Sie war nicht dumm, auf ihren Schultern saß ein Kopf mit einem klaren,“ methodischen Gehirn unter den neckischen Löckchen. Hätte Ward sich nicht so galant zu ihrer Verfügung gehalten, hätte sie zweifellos die anfallenden Geschäfte selbst abgewickelt. Immerhin, versuchte ich die Sache zu rationalisieren. Als sie das Baby verlor, waren ihre Nerven in einem Zustand, in dem sie wirklich einen Mann von der Entschlossenheit und Kraft Wards an ihrer Seite brauchte. Aber jetzt… Und damals, als wir die Neusiedler Addison und McConnell einluden, trug Clara zwar ein strenggeschnittenes graues Kleid, doch erregte sie unter den Herren mehr Aufmerksamkeit als jede andere der anwesenden Damen. Ich war wirklich froh, als ich sah, daß sie lebhaft an der Konversation teilnahm. Ich dachte, sie brauchte die Anregung von neuen Menschen. Zurückblickend fiel mir nun auf, wie provokativ sie in dem einfachen, keuschen Kleid ausgesehen hatte. Vielleicht war es ein bewußt gewählter Rahmen für die rotgoldenen Locken und die ungewöhnlich grünen Augen. Damals war mir überhaupt nicht aufgefallen, daß Clara das Beste zeigte, das sie hatte – Haare und Augen – indem sie bewußt die Aufmerksamkeit darauf zog. Aber jetzt… Wie Fliegen um eine offene Wunde sammelten sich kleine Fragmente von Eifersucht, Zweifel und Verdacht in meinem Gehirn. Ich erinnerte mich an den Tag, als Clara Blumen auf den Eßtisch stellte und ohne Grund auf meinem Stuhl Platz nahm, den Blick auf der polierten Tafel aus Kirschenholz. »Was gibt’s, Clara?« hatte ich gefragt. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Nein, nein, ich dachte gerade, was für ein Gefühl das sein mag, hier am Tisch als Gastgeberin zu sitzen.« Oder der Tag der Schulabschlußfeier. Jeder versuchte einen Sitz zu ergattern, es waren zu viele Leute da. Ich weiß nicht, wie es geschah, aber als wir endlich saßen, war Clara zwischen mir und Ward auf der Bank. Sie drehte sich zum mir: »Oje, du solltest neben Ward sitzen!« und trug mir an, die Plätze zu tauschen. Aber die Sitzreihen waren so nahe aneinandergerückt, daß es sehr peinlich gewesen wäre, sich aneinander vorbeizudrücken. So dankte ich einfach. Viele der Väter und Mütter hatte ich noch nie gesehen, und ich saß den ganzen Abend da und zerbrach mir den Kopf, wie viele von ihnen Clara für Wards Frau hielten und mich für die verwitwete Schwägerin. Clara ging zu Bett, verärgert über meine unbesonnene Bemerkung. Wirklich unbesonnen, denn was ich im Scherz gesagt hatte, hatte bereits seit vier Jahren an mir genagt, an meiner Sicherheit als Herrin von Holderly Hall. Ich kämpfte hart gegen meine natürliche Neigung an, Clara nicht zu mögen. Ich wußte, daß sie sich jahrelang mit mir abgegeben hatte und mich wahrscheinlich ebensowenig mochte wie ich sie. Ich hatte mich darum bemüht, sie nicht mit Verachtung zu behandeln, obwohl ich zur Zeit vor Ethans Tod immer wieder daran gedacht hatte, daß sie an dem tragischen Unfall Mitschuld trug. Ich hatte mich ehrlich bemüht, diese üblen Gedanken zu vertreiben. Aber während ich so dasaß und in ein Buch starrte, begann ich den unredlichen Plan zu erkennen, den Clara vielleicht ausgeheckt hatte: zuerst Etharc loswerden; nach einer angemessenen Trauerpause mich aus dem Weg schaffen. Dann wäre der »große, dunkelhaarige und gutaussehende Mann«, den Sudie in den Karten gesehen hatte, frei für sie.
Ich sah zu Ward hinüber, der in seinem Stuhl eingeschlummert war. Obwohl es erst Anfang April war, waren seine Arme und sein Gesicht schon sonnengebräunt. Er war wirklich ein gutaussehender Mann – und ich vergötterte ihn. Wie lange mochte es dauern, ehe ich um mein Leben kämpfen mußte, um ihn zu behalten? Ich wünschte, ich könnte in die Zukunft blicken.
Der Sonnabend zog hell und sonnig herauf. Ich war besonders froh, daß der Tag schön zu werden versprach, denn Ward und ich hatten für den Abend Neusiedler geladen. Die Hendersons hatten Land erworben, das im Norden unseres Besitzes lag. Es stellte sich heraus, daß sie auch aus Südcarolina kamen. Nach der Kirche hatten wir sie gefragt, ob sie sich schon eingerichtet hätten. »Ja, fast«, antwortete Mrs. Henderson, »aber wir mußten noch einige Dinge in Cincinnati bestellen, die wir brauchen.« Sie fügte hinzu, daß sie ein bißchen Heimweh nach der Landschaft, den Geräuschen und Gerüchen ihrer alten Heimat hätten. Clara fiel ihr ins Wort. »Ich kam aus Columbia, ich verstehe Sie ganz genau. Mir fehlt Südcarolina ebenfalls. Ich hatte eigentlich geplant, zurückzufahren, als… als mein lieber Mann starb… aber ich möchte Janie nicht verlassen, weil sie doch niemanden von ihrer Familie hier hat.« »Wir haben von Ihrem Unglück gehört, Mrs. Dorsett«, sagte Mrs. Henderson. »Wie tragisch, schon so jung zur Witwe zu werden.« Mir gefielen die Leute, obwohl ich keine Gelegenheit fand, mit ihnen ein Wort zu wechseln, nachdem Clara das Gespräch beherrschte. Immerhin gelang es mir, zu sagen, wie froh wir
wären, daß sie sich bereits eingerichtet hätten. Ich erzählte Ward beim Essen, daß wir die Hendersons nach der Kirche getroffen hätten und fragte ihn, ob ich sie nicht zum Essen einladen sollte. »Aber sicher«, sagte er, »hatten sie eine beschwerliche Reise nach dem Westen?« »Mrs. Henderson erzählte mir, daß sie fast ein Jahr lang von Charlestone unterwegs gewesen sind«, berichtete Clara. »Aber waren auf diesem Weg die Indianer nicht gefährlich?« »Anscheinend nicht. Sie sagte, alle aus der Gruppe kamen durch.« »Wir könnten sie zu einer Mahlzeit einladen, bei der wir ein Menü, wie man es in Charleston ißt, servieren. Das würde ihnen schmecken«, schlug Ward vor. »Ja, sicher!« rief ich aus. »Aber wo sollen wir die Zutaten herbekommen – für Krabbensuppe zum Beispiel.« »Dir wird schon etwas einfallen!« »Übrigens«, warf Clara ein, »Sudie könnte da von großer Hilfe sein. Ihre Leute stammen von den Inseln, und ich wette, sie kennt alle Delikatessen aus Südcarolina.« »Die Downeys wollte ich eigentlich auch einladen – sie sind ungefähr im gleichen Alter wie die Hendersons. Glaubst du, sie würden kommen?« »Will und Ethan? Natürlich! Lade sie doch ein. Und wie wär’s mit Coc und Mrs. Stanfield? Die würden sich auch freuen.« »Wir brauchen noch einen männlichen Gast«, sagte ich gedankenverloren. Ward, der ein feines Gefühl für kleine Spannungen hatte und es so gut verstand, sie zu überspielen, sagte scherzhaft: »Ihr Frauen! Die Blumen müssen genau in der Mitte der Tafel stehen, die Tafel muß ›ausbalanciert‹ sein, wie ihr das nennt. So, gut, nächste Woche kommt Richter Thompson ins
Amt. Ich muß mit ihm am Dienstag wegen der Steuer sprechen. Dann kann ich ihn einladen. In Ordnung?« »Prima!« sagte ich und hatte schon begonnen, in Gedanken meine Pläne zu machen. Am Freitag abend hatten wir alle Zutaten für das Menü zusammen. Das Festmahl wollten wir nächsten Tag zubereiten. Zwei von Wards Feldarbeitern hatten im Jonathan Creek ein paar Langusten gefangen. Statt der Krabbensuppe plante ich eine Vorspeise mit Langustenfleisch. Wir hatten ein paar Enten geschlachtet, und der Laden in New Hope hatte sogar Reis auf Lager. Wir wollten gefüllte Enten servieren. Es gab zwar keine Orangen für die Glasur, aber Apfel-Krabbengelee würde den Zweck auch erfüllen. Eine turmförmige Torte mit viel Zuckerguß, Frucht- und Nußdekorationen vollendete die Mahlzeit. Am Sonnabend stand ich zeitig auf. Ich wußte, daß uns noch viel Arbeit bevorstand. Ich ging in die Küche, um zu sehen, ob alles bereit war. Wollte schon zeitig zur Mühle fahren, um Korn mahlen zu lassen. Er war mit Richter Thompson verabredet, sie wollten zusammen im Gasthaus zu Mittag essen. Dort sollte der Richter dann sein Pferd zurücklassen und in Wards Wagen nach Holderly Hall kommen. Insgeheim war ich froh, daß Ward in der Stadt essen wollte, so würden die Küchenmädchen nicht für ihn zu Mittag kochen müssen. Clara und ich würden uns mit einer Kleinigkeit begnügen und alles für den Abend vorbereiten können, während Ward sein Männergespräch führte – über Politik, Pferde und die Ernte. Ich war im Speisezimmer und wünschte, Clara würde endlich herunterkommen und frühstücken, so daß ich beginnen konnte, die Tafel zu decken. Ward kam herein und trank noch schnell eine Tasse Kaffee.
Plötzlich kam Clara die Treppe heruntergelaufen, fertig angezogen, den Mantel über den Schultern. »Ward! Kann ich mit in die Stadt fahren?« rief sie. »Ich muß unbedingt noch ein paar Dinge einkaufen!« Ich war entsetzt. Nicht nur, daß Clara mich bei der Arbeit im Stich ließ – sie sollte die Blumen im Garten schneiden und für die Tafel arrangieren, das Porzellan und das Silber nachpolieren, nein, auch ihr besitzergreifendes Benehmen schockierte mich. Es war klar, Ward war in der Klemme. Er war zu sehr Gentleman, um Clara zu erklären, daß er sie nicht mit eingeplant hatte, gleichzeitig mußte er aber auch wissen, welche Gedanken sich in meinem Kopf drehten. Der Gentleman in ihm gewann die Oberhand. Er erwähnte zwar, daß er nur den leichten Wagen nahm, der unbequem sei, aber sie winkte ab. »Es wird ein wunderschöner Tag und ein leichter Wind stört mich nicht. Alles bestens – Ebenezer, hilf mir in den Wagen.« Ward warf mir einen hilflosen Blick zu. »Wir werden nicht lange weg sein, Liebes«, sagte er. Ich wußte, was er damit sagen wollte. Seine Plauderei mit den Farmern, die zum Sonnabendeinkauf in die Stadt kamen, würde entfallen müssen. Und er konnte auch seine Schwägerin nicht gut zu einer Mahlzeit im Gasthaus mitnehmen, während seine Frau zu Hause war. Ich lächelte und winkte vom Fenster, aber mein Magen krampfte sich vor Ärger zusammen. Als ich wieder in die Küche kam, bereitete Sudie gerade das Frühstück für Mary Zilpah auf einem Tablett vor. Das Kind lag mit einer Erkältung im Bett. Ich wollte, daß alle Fenster und Türen im Erdgeschoß geöffnet wurden, um das Haus gründlich zu lüften. Deshalb sollte Mary Zilpah in ihrem Zimmer bleiben. Die Jungen hatten schon zeitig gefrühstückt und
waren fischen gegangen. Sie hatten sich Brote einpacken lassen und wollten erst am Nachmittag zurückkommen. Es ging im Haus zu wie in einem Bienenkorb. Ich war Verwirrt. Claras Arbeiten würde nun jemand anderes übernehmen müssen. Aber jede der Frauen hatte bereits reichlich zu tun. Ich würde sie selbst machen müssen. Ich hatte Richter Thompson noch nie getroffen, wußte aber, daß er aus einer prominenten Familie in Virginia stammte. Auch die Hendersons waren noch nie bei uns zu Gast gewesen, deshalb wünschte ich, daß alles perfekt sein sollte. »Mrs. Burnham«, sagte ich, »es tut mir leid, aber wir müssen doch für eine kleine Mittagsmahlzeit sorgen. Mr. Holderly plante, in der Stadt zu essen, aber nun kommt er doch zurück und bringt Richter Thompson mit. Aber, die große Tafel ist schon gedeckt – vielleicht könnten wir auf der Veranda essen?« Es hätte mich nicht überrascht, wenn sie gemurrt hätte, aber sie sagte einfach: »Ja, Madam.« »Nichts Großartiges, Mrs. Burnham. Ein paar Scheiben Schinken und Bratkartoffeln, eingelegte Tomaten und Schwarzbrot. Wir brauchen nicht viel, wenn wir am Abend eine so große Mahlzeit haben.« Sie nickte und ließ den Schinken und die Kartoffeln holen. Ich begann, die Fenster zu schließen, und als ich die Veranda erreichte, hatte der knallblaue Himmel sich in ein schweres Grau verwandelt. Die Blumen! Offensichtlich braute sich ein Aprilschauer zusammen, und wenn ich die Blumen nicht vorher holte, würde der Boden so schlammig sein, daß ich auf manche Blüte verzichten mußte, die Grazie und Farbe ins Haus bringen sollte. Ich nahm schnell einen Korb und die Schere und rannte hinaus, um als erstes die Teerosen zu schneiden, die am weitesten vom Haus wuchsen. In der Hast hatte ich meine
Handschuhe vergessen, und die Dornen des schwerbehangenen Rosenbusches zerkratzten meine Arme und Finger. Ich stöhnte vor Schmerz und mir wurde klar, daß ich am Abend aussehen würde wie eine Katze nach einem Kampf – und ich wollte doch gut aussehen! Ich hörte den ersten Donnerschlag, der Wind wurde zunehmend kälter und ich beeilte mich noch mehr. Ich hatte nicht mehr Zeit, alle Rosen, die ich gewählt hatte, zu schneiden. Die ersten schweren Tropfen fielen. Ich flog zum Haus zurück – es war besser, die Rosen, die ich schon hatte, vor der Nässe zu schützen, als weiter zu pflücken. Als ich zum Haus kam, warf ich einen Blick zur Straße, um zu sehen, ob die Jungen zurückkamen. Da sah ich die winzigen Küken mitten im Regen! »Verdammt!« schrie ich. »Samuel! Ebenezer! Henry! Irgendwer soll kommen!« Aber keine Menschenseele kam. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, die Küken draußen zu lassen, in dem Sturm, der jetzt ausbrach, und planschte durch die Pfützen zu ihnen. »Ihr Dummerlinge«, murmelte ich, »warum lauft ihr nicht in den Hühnerstall?« Dort gackerten zwar die Hennen, aber die Kleinen nahmen keine Notiz davon. Ich sammelte die Küken in meine lange Schürze ein, während die Hennen aufgeregt um mich herumliefen und einen fürchterlichen Lärm machten. »Hier herein, ihr idiotischen Hennen!« rief ich dem aufgeregt flatternden Geflügel zu – es war mir egal, wie dumm das klang, niemand war da, der mich hören konnte. Ich legte die feuchten Küken vorsichtig in ihre Nester und rannte zur Tür. Aber ein plötzlicher Windstoß warf die Tür zu – und das Geräusch, das ich hörte, konnte nur bedeuten, daß der Riegel sich von selbst geschlossen hatte. Ich war im Hühnerstall eingeschlossen! Zuerst hatte ich mir den Kopf zerbrochen, warum die Küken im Regen umherliefen, statt sich unter den Flügeln ihrer Mütter zu wärmen, nun zerbrach ich mir den
Kopf, wie ich jemals aus dem dunklen, stinkenden Hühnerstall herauskommen könnte. Der Stall war mit Sitzstangen ausgestattet, die in schiefer Ebene vom Boden bis unters Dach reichten. Ganz oben war ein langes schmales Fenster, das mit Ölpapier verschlossen war. Während ich so stand und zwischen der verschlossenen Tür und dem unerreichbaren Fenster hin und her sah, hörte ich einen Fetzen wahnsinnigen Gelächters. Trotz des Lärms der aufgescheuchten Hühner hörte ich es ganz deutlich! Ich erkannte plötzlich, daß ich entweder absichtlich von jemanden in den stinkenden Stall eingeschlossen worden war – oder aber, daß dies das Werk eines üblen Geistes war. Die Erinnerung an jenen Abend kam zurück, an dem Mr. Hill gesagt hatte, über dem Haus läge ein Indianerfluch, weil die Weißen ihr Land geraubt und ihr Dorf zerstört hatten. Entsetzt warf ich mich gegen die Tür und hämmerte in sinnloser Wut gegen die Bretter, die sich nicht rührten. Obwohl ich mich mit der Schulter dagegen warf, wußte ich genau, daß das nichts half. Der Stall war aus schwerem Eichenholz für die Ewigkeit gebaut. Hart wie Eisen. Halsstarrig versuchte ich etwas zu finden, das den Riegel aus dem Einschnitt heben könnte. Im Finstern tasteten meine Finger über den Boden, aber ich zog sie angeekelt zurück, als ich den schleimigen Hühnerschmutz fühlte. Zwischen der Tür und dem Rahmen war ein schmaler Spalt. Die Schere! Hoffnungsvoll fuhr ich in die Schürzentasche, nur um mich sofort zu erinnern, daß ich sie mit dem Blumenkorb weggelegt hatte, ehe ich in den Hof hinausgerannt war. Mein Ehering! Ich streifte ihn ab, mußte aber erkennen, daß er den Bolzen nicht einmal erreichte, wenn ich ihn mit den Fingerspitzen durch den Schlitz schob. Selbst wenn die Tür nicht so dick gewesen wäre, die Hebelwirkung
des Ringes wäre keinesfalls groß genug gewesen. Aber in meinem verwirrten Zustand fiel mir nichts anderes mehr ein. Hennen und Hähne machten noch immer einen ohrenbetäubenden Lärm. Die uralte Erkenntnis von Gefahr in Gegenwart des Menschen hatte sie ganz wild gemacht. Ihr nervöses Gackern war rund um mich, einzelne Federn flatterten durch die dicke Luft. Das heiße, feuchte Gefieder stank, und vermischt mit dem Geruch des Hühnerdrecks machte es mich beinahe erbrechen. Eine alte Henne schlug mit dem Schnabel nach mir, eine andere flog hoch und zerkratzte mit ihren Krallen meinen Arm, als sie vorbeiflog. Der Regen hämmerte auf das Dach, und meine Hilfeschreie waren sinnlos Sie machten das Geflügel nur noch erregter. Mein einziger Fluchtweg war das schmale Fenster – aber dazu mußte ich auf den Sitzstangen hochklettern. Mir wurde plötzlich klar, daß es meinen Tod bedeuten würde, in dem grauslichen, stinkenden Gefängnis zu bleiben, bis mich endlich jemand hörte – und das konnte erst sein, wenn der Wind und Regensturm sich legte, oder bis mich jemand im Haus vermißte. Mir war sterbensübel, und ich versuchte, flach zu atmen, gerade genug, um am Leben zu bleiben. Meine Augen hatten sich nun an die Dunkelheit gewöhnt. Ich konnte in dem schwachen Licht des Fensters die Sitzstangen erkennen. Sie waren aus dünnen Ästen gemacht, und ich fürchtete, daß sie sogar unter meinem geringen Gewicht brechen würden. Behutsam begann ich hinaufzuklettern. Die unterste Stange brach sofort, ich fiel zu Boden. Ich hatte das unangenehme Gefühl, eines der Küken erdrückt zu haben. Ich konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen. Der Gestank, die bedrückende Hitze, das ewige Gekreische des nervösen Geflügels lullten meine Gedanken ein. Ich ging zurück zur Tür und preßte meine Nase gegen den Spalt, um Luft zu bekommen. Ich schloß die Augen und versuchte zu denken.
Ich betete. Da kam mir eine Idee. Wenn die Stange unter meinem Gewicht gebrochen war, mußte ich versuchen, mich hinaufzustrecken – dorthin, wo drei oder vier Stangen über Kreuz lagen. Dort würde das Gestänge mein Gewicht eher aushalten. Vorsichtig streckte ich meinen Körper – das Gewicht möglichst verteilend – entlang einem der Äste. Ringsum kreischten die Hühner in neuem Alarm. Die Stange hielt. Zentimeter für Zentimeter zog ich meinen Körper höher, bis mein Kinn die nächste Stange berührte. Ich konnte meine Beine nachziehen. Den glitschigen Hühnerdung unter mir, auf meinem Kleid, an meinen Beinen, bewegte ich mich langsam vorwärts. Und endlich, endlich hatte ich das Fenster erreicht und verlagerte so viel Gewicht wie möglich auf das Fenstersims. Ich zog mich mit letzter Willensanstrengung nach oben, während ich Gott um genug Kraft anflehte, mich oben zu halten. Langsam und vorsichtig hob ich meine Rechte, formte eine Faust und ließ sie gegen das Ölpapier fallen. Ich wagte nicht, zuviel Kraft anzuwenden, um nicht zu stürzen. Ich schlug zu, immer wieder und wieder – eher entschlossen als kraftvoll, immer darauf konzentriert, mein Körpergewicht auf dem Fenstersims zu balancieren und den Druck auf die Sitzstangen zu vermindern. Das festgespannte Papier zerriß endlich, und ich atmete gierig die frische, regenerfüllte Luft. Einen Moment lang lag ich im Fenster und ruhte von den körperlichen und geistigen Strapazen aus. Dann ruckte ich langsam nach vorn, bis mein Kopf und meine Schultern im Freien waren. Unter mir war ein Meer von Schlamm. Mein Magen revoltierte. Das Fenster lag etwa drei Meter über dem Boden, und es gab nichts, woran ich hinunterklettern konnte. Ich konnte mich auch nicht auf die Füße stellen, um zu springen und vielleicht unverletzt zu landen.
Es gab nur eines, was ich tun konnte – tun mußte – und ich tat es. Ich ließ mich einfach hinausfallen. Ich erwartete gebrochene Arme oder Beine – aber zum Glück fing sich mein Kleid mitsamt den Unterröcken an einem Nagel und hielt mich so, hängend, etwa einen Meter über dem Boden. Dann riß der Stoff, und ich fiel in den Schlamm – mit dem Gesicht nach unten. Ich fühlte im Handgelenk einen scharfen Schmerz, fühlt das Blut aus einem Riß in meiner Wade dringen. Aber ich lebte – und hatte mich vor dem unerträglichen Gestank der Hennen gerettet. Der Gestank haftete zwar mit dem Hühnerdreck an meinen Kleidern, aber der heftige Regen wusch einiges davon weg. Verzweifelt schöpfte ich das schmutzige Wasser mit den Händen, um mein Gesicht vom ärgsten stinkenden Schmutz zu reinigen. Dann muß ich ein paar Minuten bewußtlos gewesen sein, denn das nächste, was ich wußte, war, daß der Regen aufgehört hatte, der Donner war nur mehr aus dem fernen Westen zu hören, und die Sonne brach durch die Wolken. Mühsam stand ich auf und hörte das Rattern der Räder eines Wagens. Ich hörte Claras perlendes Lachen, Wards sonore Stimme und jemand anderen sagen: »Wunderschön, wirklich…« Mein Gesicht und Haar von Hühnerschmutz verschmiert, mein Kleid und die Unterwäsche voll Schlamm und am Rücken weit aufgerissen, mein Handgelenk und das Bein heftig schmerzend, schleppte ich mich zum Haus. Ich sah, wie ein elegant angezogener Mann meiner schönen Schwägerin aus dem Wagen half, sah Ward den Wagen in den Stall kutschieren. Ich legte mich flach ins Gras und wartete, bis alle im Haus waren. Dann stolperte ich zum Hintereingang der Küche, Tränen strömten über mein schmutziges Gesicht.
»Gott im Himmel! Mrs. Holderly!« Mrs. Burnham sah mich ungläubig an. »Was ist denn Ihnen passiert?« So kurz wie möglich berichtete ich, daß ich unglücklicherweise im Hühnerstall eingesperrt war, weil der Sturm die Tür zuschlug, daß ich zum Fenster hinausklettern mußte und in den Schlamm gefallen war. »Machen Sie mir heißes Wasser, bitte, und bringen Sie es über die Hintertreppe! Ich muß mich vor dem Essen reinigen. Sagen Sie Mr. Holderly nichts! Wenn er nach mir fragt, sagen Sie, ich komme sofort hinunter!« Sie nickte und begann Kübel mit heißem Wasser zu füllen, während ich mich mühsam die Treppe hinauf schleppte. Ich konnte es kaum erwarten, zu baden und mein Haar von dem Gestank zu reinigen. Mrs. Burnham schickte Maggie herauf, um zu sagen, das Mittagessen wäre sofort fertig und ob ich Hilfe brauchte? »Ja, Maggie, ich kann meine linke Hand kaum gebrauchen, um mein Haar hochzustecken. Frag Mrs. Dorsett, ob sie einen Moment heraufkommen könnte.« Ich hatte bereits gebadet, hatte irgendwie meine Kleider angezogen und mein Haar beinahe trockengerieben. Aber es war so lang und schwer, daß ich es mit einer Hand nicht bändigen konnte. Clara kam herein, grüßte affektiert und bemerkte – was mich sehr verdroß: »Warum bittest du Ward nicht um eine Zofe? Also wirklich, meine Liebe, ich dachte, du wärst längst mit deiner Toilette fertig!« Mürrisch erzählte ich ihr, daß ich gefallen war, und wahrscheinlich mein Handgelenk gebrochen hätte. »Aber wenn es dir zu mühsam ist, mir zu helfen, laß ich die Haare einfach herunterhängen wie ein Kind.«
»Aber nein!« rief sie in plötzlicher Reue. »Das wußte ich doch nicht! Warte, ich werde erst dein Handgelenk verbinden. Ach Gott, ach Gott!« Meine Abneigung gegen Clara, die ich seit Jahren zu unterdrücken versucht hatte, kochte jetzt über. Ich konnte es gerade noch ertragen, daß sie mich verband und mein feuchtes Haar aufsteckte. Ein halbausgegorener Gedanke begann sich bei mir festzusetzen: Daß Clara irgendwie für meine Gefangenschaft im Hühnerstall mitverantwortlich war. Mein Verstand sagte mir zwar, daß so etwas unmöglich sei, aber mein Mißtrauen antwortete sofort: Vielleicht hatte sie jemanden gedungen, die Küken hinauszulassen und mich dann einzusperren. Mein Verstand sagte mir, daß das unsinnig war. Sie konnte ja gar nicht wissen, daß es regnen würde… Ich rief mich selbst zur Ordnung. Ich dankte Clara für ihre Hilfe und ging hinunter. Ward sah meinen Verband und meine Blässe sofort. Ohne mich in Verlegenheit zu bringen und die Sache hochzuspielen, fragte er ruhig, was passiert sei. »Ich bin gefallen. Nichts Böses. Vielleicht eine Prellung, Dr. Stanfield kann es sich ansehen, wenn er kommt.« Mrs. Burnham hatte den Tisch auf der Veranda gedeckt, und ich fragte sie leise, ob die Jungens zurück wären. »Nein, Madam, ich vermute, sie warteten den Regenschauer ab und gingen dann zurück zum Fischen. Und Sudie hat Mary Zilpah Essen auf einem Tablett hinaufgetragen.« »Geht es ihr besser? Ich hatte keine Zeit, mich um sie zu kümmern.« »Sudie meinte, es ginge besser, aber auch, daß sie am besten im Bett aufgehoben sei.« Der Nachmittag schleppte sich hin. Richter Thompson war charmant, und ich freute mich, ihn kennenzulernen, war aber auch froh, als Ward ihn einlud, Ställe und Wirtschaftsgebäude
zu besichtigen mit der Begründung, daß die Damen vielleicht eine Nachmittagsruhe halten wollten. Mrs. Burnham kochte mir Weidenrindentee, um einem Fieber vorzubeugen und meine Schmerzen zu lindern, aber ich konnte nicht einschlafen. Ich lag da und wünschte, Pastor Blake würde kommen und einen Segen über das Haus sprechen, um den Fluch, der auf ihm lag, zu bannen. Aber während mir dies einfiel wußte ich, daß Ward niemals zu stimmen würde. Er glaubte einfach nicht an den Fluch und würde erst recht nicht glauben, daß der Pastor das Übel vertreiben mochte.
Die Party war ein riesiger Erfolg, obwohl die Tischdekoration nur improvisiert werden konnte. Die gelben Rosen, die ich gepflückt hatte, und die mich so böse zerkratzt hatten, waren vom Regen zerstört worden, die Blütenblätter waren abgefallen. Aber ein paar gelbe Iris standen in Blüte und zusammen mit den Maiglöckchen und ein paar Zweigen Asparagus sahen sie wunderschön aus. Als Dr. Stanfield mit seiner Frau ankam, bat ich ihn gleich, meine Hand anzusehen. Er sagte, es sei eine Verstauchung, und ich sollte die Hand nicht benutzen. Aber selbst wenn er gesagt hätte, der Arm müßte amputiert werden, ich hätte der Tafel immer noch präsidiert, um Clara diese Ehre nicht zu überlassen. Eine lebhafte Unterhaltung begann über die Tugend der Mrs. Peggy O’Neill Eaton – oder eher über den Mangel ihrer Tugend. Ich war bestürzt, daß man darüber sprach – so viele Leute waren wütende Gegner der Wirtstochter. Sie war mit dem Kriegsminister Präsident Jacksons verheiratet. Viele andere verteidigten sie leidenschaftlich. Kaum jemand in Washington sprach mit der Dame, aber Mr. Jackson forderte entschieden den Respekt, der der Gattin eines Kabinettmitglieds zukam. Ich war immer bestürzt bei
Gedanken an Unfreundlichkeit, Streit oder Verwirrung, besonders bei Tischgesprächen, und wünschte mir, man hätte ein anderes Thema gewählt. »Ich höre, sie ist eine ungewöhnliche Schönheit«, sagte Clara. »Wenn ich der Gesellschaft von Washington angehörte«, sagte die kleine Mrs. Henderson ruhig, »wäre es mir ganz egal, daß ich aus Südcarolina stamme. Ich bewundere den Kriegsminister und bin stolz darauf, daß er aus meiner Heimat kommt. Ich halte es für läppisch, sich über die fragwürdige Tugend der Dame zu erregen, wenn es doch so viel wichtigere Probleme gibt.« Mr. Henderson, der neben Clara saß, sah hinüber zu seiner kleinen dunkelhaarigen Frau. Mit einem Zwinkern sagte er in seinem breiten Akzent: »Sarah, es ist gut, daß Frauen nicht wählen dürfen, denn unsere Stimmen würden sich gegenseitig aufheben.« Ich hatte gefürchtet, das Gespräch über Mrs. Eaton könnte in Streit ausarten, aber ich hatte die Vernunft unserer Nachbarn nicht bedacht. Es schien, daß die Neusiedler von New Hope sich um die wirklich wichtigen Dinge kümmerten und ihre Zeit nicht mit unerfreulichem Getratsche verschwendeten. Richter Thompson meinte, Mr. Jackson sei allzu sehr bemüht um Mrs. Eaton, aber es sei verständlich, nachdem über seine eigene Frau solche unflätigen Reden in Umlauf waren. »Rachel war eine schöne Frau, Friede sei mit ihr, und ich glaube fest, daß jemand dem jungen Robards Geld dafür gab, daß er sie und Mn Jackson in dem Glauben beließ, daß die Scheidung bereits ausgesprochen wäre. Nur so konnte er schreien ›Ehebruch‹!« Dann wandte er sich zu Ward und fragte, ob er je daran gedacht hätte, in die Politik zu gehen.
»Daran habe ich nie gedacht, Sir. Ich interessiere mich für den Straßenbau in Kentucky, aber mein Interesse ist nur das des Bürgers und Landbesitzers.« Dr. Stanfield brachte danach einen Toast auf den Staat Kentucky aus und lobte den Wein, und die Gespräche begannen sich um die Ernte zu drehen… die Gefahr eines politischen Streits war gebannt. Richter Thompson blieb über Nacht, da es schon sehr spät war, als die Gäste aufbrachen. Erst als auch der Richter am nächsten Tag abgefahren war, berichtete Ward mir, daß er in Harrodsburg an einer Konferenz über Straßen- und Brückenbau teilnehmen müßte. »Es tut mir sehr leid, Liebes, daß ich so lange fort sein muß. Ich würde lieber bei dir zu Hause bleiben, es ist auch eine unpassende Zeit, zu verreisen. Die hätten doch auch warten können, bis die Frühjahrssaat unter der Erde ist.« »Oh, Ward, wie lange wirst du verreist sein?« rief ich bestürzt. »Wahrscheinlich zwei Wochen.« Mein Herz klopfte heftig. »Zwei Wochen?« »Ja, Harrodsburg ist ziemlich weit, aber doch so zentral gelegen, daß alle Teilnehmer es leicht erreichen können. Die Reise wird ein paar Tage dauern und die Versammlung etwa drei oder vier Tage.« Nach allem, was gestern passiert war, schienen mir zwei Wochen eine Ewigkeit zu sein. »Mußt du hinfahren?« »Wenn ich es nicht täte, hielte mich jedermann für einen Narren. Ich war es, der eine solche Konferenz vorgeschlagen hat, der Staat braucht dringend ein gutes Brücken- und Straßensystem. Käme ich nicht hin, würde die Konferenz vielleicht auf später vertagt und das möchte ich vermeiden. Ich hatte mich so darum bemüht – ich muß meine Bürgerpflicht erfüllen.«
»Ich weiß, aber ich hasse es, wenn du nicht da bist. Was soll ich die ganze Zeit tun?« »Es wird dir schon etwas einfallen. Frauen finden immer etwas, ihre Zeit auszufüllen.« Am nächsten Morgen um vier Uhr, es war noch dunkel, fuhr Ward los. Er wollte nicht, daß ich aufstand und nur eine Tasse Kaffee trinken. Ich stand trotzdem auf und ging mit ihm hinunter. Ich bestrich ein paar Kekse mit Butter, denn ich wollte ihn nicht mit leerem Magen auf eine so lange Reise schicken. Er ließ mich versprechen, daß ich wieder zu Bett ginge, und das tat ich auch. Die Tage würden sowieso endlos scheinen, ohne daß ich sie gewaltsam verlängern mußte. So schien es mir ganz vernünftig, unter die Decken zu schlüpfen bis es ganz hell war. Als ich meine Augen wieder öffnete, war es schon acht Uhr. Die Sonne schien durch die Fenster der Frühstücksnische. Als ich angezogen war und mein schweres Haar aufgesteckt hatte, ging ich hinunter und hörte, daß Mary Zilpah schon gefrühstückt hatte und mit ihrem Hündchen draußen spielte. Ich fragte nach den Jungen. »Sie sind wieder draußen mit ihren Angeln«, antwortete Mrs. Burnham. »Solche Burschen hab’ ich noch nie gesehen, die ewig am Wasser oder im Wald sind!« »Wenn sie zurückkommen, möchte ich mit ihnen sprechen. Sie müssen neue Kleider angemessen bekommen, bevor die Schule beginnt. Der Schneider wird schon eine Weile brauchen, ehe er mit ordentlichen Anzügen und Westen und Mänteln fertig ist. Und Schuhe müssen auch bestellt werden.« Mrs. Burnham kicherte. »Sie können dann nur noch hoffen und beten, daß die beiden nicht noch einen Kopf größer sein werden, ehe der Sommer vorbei ist!«
Ich seufzte. Es war richtig. Ich wünschte, ich könnte einfach in einen der großen Stadtläden gehen und fertige Kleider in der richtigen Größe kaufen! Ziellos wanderte ich durch das Haus und sehnte mich nach Ward. Meine Mutter hatte immer gesagt, nichts sei besser, Sorgen zu vertreiben, als eine Arbeit, die getan werden muß. Ich beschloß also, Bensons Kleiderschrank durchzusehen. Was ihm zu klein geworden war, könnte Jim Roy vielleicht noch tragen. Sie waren immer noch fast gleich groß, nur war Jim Roy viel dünner. Ich lächelte vor mich hin. Jim Roy sah noch immer wie ein Kind aus, während Benson ein junger Mann geworden war. Ach, wie sehr ich doch wünschte, daß er im College zu einer Persönlichkeit geformt würde. Im Haus war alles still. Ich konnte die große Uhr in der Bibliothek ticken hören. Ich dachte an die Regentage, an denen ich in Wards Büchern gelesen hatte, während er auf den Feldern war und wie mich das Schlagen der Uhr getröstet hatte. Aber heute war mir der Ton unheimlich. Vielleicht, weil das Haus so deprimierend leer war? Als ich die großen Treppen hinaufging, hielt ich an und sah mir die riesigen Kronleuchter an, die von der Decke des zweiten Stockwerkes herabhingen. Sie waren ganz besonders schön, und ich hatte sie immer bewundert. Als ich sie nun ansah, bemerkte ich, daß die Prismen vom Tabakrauch matter geworden waren, und ich beschloß, das ganze Haus gründlich reinigen zu lassen, während Ward verreist war. Das würde die Zeit ausfüllen und ich wäre an den Abenden so erschöpft, daß ich sofort einschlafen würde, ohne ihn zu sehr zu vermissen. Ich war nun oben angekommen und ging die Galerie entlang. Ein paar der Türen führten in unbenutzte Räume, dann folgte Claras und schließlich Bensons Zimmer. Als ich eintreten wollte, hörte ich ein Geräusch,
erinnerte mich aber, daß die Jungen beim Fischen waren. Wahrscheinlich hatte ich Clara und Sudie gehört. Ich rief mich zurück zu meiner Absicht, Bensons ausgewachsene Kleider zu inspizieren und öffnete die Tür. Ich ging zum Kleiderschrank. Ward hatte einen für jeden Sohn bei einem Handwerker in Massachusetts bestellt. Alles im Schrank war ordentlich eingeräumt. Ich fand zwei Hemden und eine Weste, die aussahen, als seien sie zu eng um die Schultern und beschloß, sie an Jim Roys Hemden zu messen. Ich ging wieder hinaus, um in Jim Roys Zimmer zu gehen. Früher hatte es zwischen den Zimmern der Knaben eine Verbindungstür gegeben, so wie eine Tür aus Mary Zilpahs Schlafzimmer in ihr Spielzimmer führte. Wieder hörte ich Geräusche. Ich stand still, horchte und wendete mich zu Mary Zilpahs Tür. Vielleicht war sie schon heraufgekommen, und ich hatte nicht bemerkt, daß sie in ihr Zimmer gegangen war. Während ich also auf das andere Ende des Ganges zusteuerte, um nach Mary Zilpah, einer jetzt ausnehmend hübschen Neunjährigen zu sehen, spürte ich einen merkwürdigen Drang, der mich geradezu zu Jim Roys Tür zog. Es war, als ob eine Stimme in meinem Inneren sagte: Beeil dich, beeil dich! Mit einem seltsamen Gefühl und mehr als nur ein wenig Angst zögerte ich für eine Sekunde. Sollte ich Mrs. Burnham zu Hilfe rufen? Aber wieder drängte mich die unsichtbare, unhörbare Kraft: Geh schnell! Dann hörte ich ein wirkliches Geräusch. Als ob ein Kind leise schluchzte. Ich war voll Spannung, wenn ich auch nicht wußte, was mich erwartete – vielleicht Mary Zilpah, die versuchte, den Baum vor Jim Roys Fenster hinunterzurutschen oder eine Katze, die sich in Jim Roys Zimmer versteckt hatte, um ihre Jungen zu kriegen. Aber mit dem Mut, der jeden Erwachsenen stärkt, wenn er ein Kind oder ein junges Tier in Gefahr wähnte, drehte ich den Türknopf und stieß die Tür auf. – Irgend etwas
war vor die Tür gerückt, so daß sie sich nicht öffnen ließ. Es gab keine Schlösser an den Türen, seit der kleine Jim Roy sich zum erstenmal selbst eingesperrt hatte und jemand über die Zeder vor seinem Fenster klettern und das Fenster eindrücken mußte. Ich konnte von innen das leise Weinen hören, und mein Herz klopfte bis zum Hals. Ich fürchtete, daß Benson Jim Roy zusammengeschlagen und durchs Fenster über den Baum die Flucht angetreten hatte – nicht ohne vorher das Bett oder einen anderen schweren Gegenstand gegen die Tür zu schieben. Mein zarter Körperbau konnte es mit dem Gesicht auf der anderen Seite nicht aufnehmen. Aber während ich wie verrückt drückte und schob, spürte ich jemand anderen mit aller Kraft mitdrücken. Ich fühlte ein zweites Paar Arme und Schultern und roch das zarte Geranienparfüm. Die Tür gab endlich nach – mit Hilfe der unsichtbaren Kraft – und ich starrte ungläubig. Jim Roy Standlauf einem Stuhl, um seinen Hals hatte er einen Ledergurt gelegt, der am Baldachin der Bettstatt befestigt war. Er wollte gerade den Stuhl wegstoßen, um sich zu erhängen. »Nein, nein, tu’s nicht!« schrie ich und rannte, um den Stuhl festzuhalten. Er brach in Tränen aus. Ich stand einfach dort und kreischte so laut ich konnte. »Geh weg!« schrie er. »Ich will sterben! Du sollst mich nicht davon abhalten!« Obwohl ich zuerst hoffte, jemand würde mein Kreischen hören und Hilfe bringen, wünschte ich nun, niemand hätte es gehört. »Jim Roy«, sagte ich zart, nachdem es mir gelungen war, seine herumschlagenden Arme zur Ruhe zu bringen und die grauenhafte Schlinge von seinem Hals zu lösen. »Es soll niemand erfahren, daß du so verzweifelt warst, daß das Leben dir nicht mehr lebenswert erschien. Aber was ist denn überhaupt, passiert, Sohn?«
Er sprang vom Stuhl und warf sich aufs Bett. Er schlug mit den Fäusten gegen die Bettdecke und schluchzte verzweifelt. Er muß sich ausweinen, dachte ich. Ich kletterte auf den Stuhl und machte den Ledergurt vom Bettpfosten los. Das war gar nicht so leicht, denn er hatte den Gurt drei- oder viermal herumgeschlungen und dann noch einen Knoten gemacht. Ich plagte mich damit ab, aber ich wollte einfach nicht, daß jemand etwas davon erfuhr und mußte daher als erstes das Instrument des geplanten Selbstmordes verschwinden lassen. Ich rollte den Gurt auf und ließ ihn in meine Schürzentasche gleiten. Dann setzte ich mich zu dem Knaben aufs Bett, streichelte seine Schulter und murmelte beruhigende Worte. Meine Augen waren tränennaß. Als sein herzzerreißendes Weinen verebbte, fragte ich: »Möchtest du es mir jetzt erzählen?« Mein Herz stöhnte: Ward, warum bist du nicht hier, wenn dein Sohn dich braucht? Die verdammten Straßen und Brücken! Jim Roy antwortete nicht, sondern begann sein Taschentuch zu suchen. Er wischte die Tränen ab, putzte die Nase und warf seinen schlacksigen Körper in einen Sessel, die langen Beine weit von sich gestreckt. »Sag es mir. Was ist denn los? Hast du Sorgen? Du bist nicht alt genug für wirklich große Sorgen, Jim Roy.« Er sah zu Boden. »Tja«, begann er endlich, »es ist hauptsächlich, weil ich so blöd bin. Ich mach’ immer dummes Zeug, kann meine Hände und Füße nicht richtig kontrollieren, lasse dauernd etwas fallen und Benson lacht mich aus. Und Papa haßt mich, weil ich so dumm bin und in der Schule nicht richtig mitkomme…« »Nicht alle Leute lernen leicht«, sagte ich. »Jeder hat seine eigene Begabung, und die muß nicht gerade auf dem Gebiet des Lernens liegen. Und noch etwas: Dein Vater haßt dich
nicht wegen der Schule. Dein Vater liebt dich. Und ich liebe dich auch.« Seine Stimme war belegt vom Weinen, und er schluchzte auf, als er sagte: »Ich verstehe nicht, wie ihr mich liebhaben könnt, Mutter Jane. Ich weiß doch nie, was ich zu den Leuten sagen soll und dann kommen ganz falsche Worte heraus.« »Du willst ja nicht unhöflich sein«, versuchte ich ihn zu trösten. Aber ich sah, daß meine Bemühungen fruchtlos waren. Er sah immer noch unglücklich drein. Dann fiel mir etwas ein. »Was möchtest du tun, Sohn? Ich meine, wenn du erwachsen bist. Du bist so gern im Freien. Möchtest du einen Beruf lernen, der dich nicht im Haus festhält? Während Benson gern studieren möchte, willst du vielleicht deinem Vater auf der Farm helfen? Aber du mußt nicht, weißt du?« Sein Blick war so voller Zweifel, daß ich am liebsten geweint hätte. »Papa würde mich halbtot prügeln, wenn er wüßte, was ich gern möchte.« »Aber nein, das würde er niemals tun. Dein Vater hat Verständnis, er würde dich nie zwingen, ein Pflanzer zu werden, wenn du andere Wünsche hast. Was interessiert dich denn wirklich?« »Du wirst mich auslachen!« »Niemals. Dein Geheimnis ist bei mir sicher aufgehoben. Ich werde nicht einmal zu deinem Vater darüber sprechen.« Er bewegte sich unruhig in seinem Sessel, verschränkte die Arme im Nacken und murmelte, den Blick auf dem Boden: »Ich möchte Maler werden.« »Gut«, sagte ich, »ausgezeichnet. Ich bin sicher, du schaffst es. Dieses große Land braucht alle möglichen… du meinst ein Künstler?« Ich hatte seinen Blick gesehen, der mir sagte, er wollte nicht Türen und Fenster streichen.
»Ja, siehst du, du hältst mich auch für verrückt.« Ich dachte, ich hätte meine Überraschung gut verborgen, aber ich hatte längst gelernt, daß Kinder einen sechsten Sinn haben. Mit vierzehn war Jim Roy zwischen Kindheit und Jünglingsalter gefangen. Aber gleich nachdem er so tief deprimiert gewesen war, daß er bereit war, sein Leben zu zerstören, war er wieder ein kleiner Junge, der meinen Gesichtsausdruck ganz richtig interpretierte. Ich versuchte, meine Überraschung zu erklären. »Es ist nur, weil niemand eine Ahnung hatte, daß du dich für Kunst interessierst. Unser Haus ist voll von prachtvollen Gemälden, aber du hast sie nie auch nur angesehen!« »Solche Sachen will ich auch gar nicht malen. Keine Bäume und Flüsse – ich sehe solche Sachen lieber in Wirklichkeit. Ich will auch keine Menschen malen. Ich möchte Tiere malen, Pferde… manche Pferde sind so…« »Schön?« versuchte ich es. »Nein, nicht das, obwohl sie natürlich schön sind. Ich meinte, sie sind so stolz und halten ihre Köpfe in die Höhe, so daß jedermann es sehen kann.« »Erzähl das doch Vater, wenn er wieder da ist. Du sprichst nie mit ihm. Du und Benson seid ewig auf Tour, fischen, Hasen jagen oder sonst was. Laß ihn doch wissen, was dich beschäftigt.« »Ich käme mir blöd vor.« Ich konnte verstehen, wie unglücklich er war. Seine Sorgen kamen daher, daß er seine Gedanken nicht in Worte zu kleiden vermochte. Ich verstand nun, daß seine sogenannte »Unhöflichkeit« nur sein Unvermögen war, sich auszudrücken. Er war kein Schweiger wie Benson, der jedes freundliche Entgegenkommen zurückwies. Ich war unglücklich. Warum hatte ich es nicht verstanden, den Mantel seiner scheinbaren Gleichgültigkeit zu durchdringen?
»Wenn dein Vater wieder zurückkommt werde ich es arrangieren, daß du mit ihm allein sein kannst. Ich werde ihm vorher sagen, daß du von Mann zu Mann mit ihm sprechen möchtest und sicher wird er zustimmen, daß du dich nicht noch ein Jahr durch die Schule quälen mußt. Und nun wollen wir vergessen, daß du jemals an… daß du daran gedacht hast, diese Welt zu verlassen. Vielleicht wirst du der beste Tiermaler, der je gelebt hat!« Zum erstenmal seit vier Jahren sah ich den Jungen lächeln. Aber das Lächeln verschwand sofort. Er sah wieder bedrückt und besorgt aus. »Ich habe auch böse Dinge gemacht«, sagte er mühsam. »Deshalb habe ich immer Ärger mit dem Lehrer. Ich habe die Kreiden zerbrochen und ihn mit Wasser bespritzt, als ich den Eimer füllen sollte. Er verachtet mich und deshalb läßt er mich immer wieder durchfallen…« »Scht! Die meisten Buben haben solche Sachen gemacht, als sie klein waren. Falls du noch ein paar Sachen beichten mußt, sag sie deinem Vater. Das wäre mir viel lieber. Aber, wo steckt denn eigentlich Benson? Mrs. Burnham sagte, ihr seid zusammen zum Fluß gegangen.« »Er wollte mich nicht mitnehmen. Zuerst war er wütend, weil ich keine Würmer finden konnte. Dann konnte ich unser Eßpaket nicht zubinden, der Knoten ging immerfort auf. Da wollte ich ihm und allen zeigen, daß ich sehr wohl einen Knoten machen kann, der festhält. Und ich hab’s getan!« »Laß uns nicht daran denken, Jim Roy!« sagte ich. Ich versuchte mir etwas einfallen zu lassen, das ihn von der Tragödie ablenken könnte, aber mir fiel nur ein, ihn zu fragen, ob er etwas für mich erledigen könnte. Er nickte. »Könntest du zu den Jones gehen und fragen, ob Dicie Zeit hat, mir zu helfen? Ich möchte ein paar Schränke reinigen.« Er nickte und trottete davon.
Ich ging hinüber in Mary Zilpahs Zimmer und sah durchs Fenster. Ich sah sie auf dem Rasen mit ihren Puppen und dem Hündchen spielen. Alle saßen in einer Reihe. Sie spielte Schule. Sie drohte mit dem Zeigefinger, offenbar unzufrieden mit einem ihrer »Schüler«. Ich mußte lächeln und ging wieder zurück. Ich fand das Nähzimmer verschlossen. Ich rief Sudie. Sie öffnete die Tür. Auf dem Boden lag zugeschnittener Stoff und sie hatte Stecknadeln zwischen den Lippen. »Kümmerst du dich um Mary Zilpah? Sie sollte nicht zu lange im Gras sitzen, es ist noch feucht.« »Ja, ich schon achtgeben, Madam. Aber Sonne scheinen gut. Haben alles Tau aus Gras getrocknet. Paß auf und schau aus mei’m Fenster.« »Gut, ich wollte nur sicher sein. War Clara nicht hier mit dir? Ich habe sie heute noch gar nicht gesehen.« »Nein, nicht hier heute morgen.« »Wahrscheinlich ist sie in ihrem Zimmer«, sagte ich und ging zu ihrer Tür. Aber sie war nicht da. Unten war sie auch nicht. Niemand hatte sie gesehen. Mir wurde übel, als der Verdacht mich streifte. Hatte sie vielleicht doch eine Affäre mit Ward? O Gott, ich konnte es einfach nicht glauben!
Ich ging in die Küche. »Mrs. Burnham, haben Sie Mrs. Dorsett heute morgen schon gesehen?« »Nein, sie kam nicht zum Frühstück herunter und so dachte ich, Sudie hat es ihr wohl auf einem Tablett hinaufgebracht.« Ich wollte Mrs. Burnham nichts von meiner Vermutung sagen. Ich wollte nicht einmal selbst daran denken. Daß Clara hinausgeschlüpft war, als Ward ging oder sogar nachdem ich schon wieder im Bett lag, um sich ein paar Tage mit ihm davonzustehlen. Mein Magen drehte sich um und um. Meine
Lippen waren trocken und meine Hände zitterten, so daß ich meine Fäuste in den Schürzentaschen versteckte. »Sie fühlte sich nicht sehr wohl gestern abend«, log ich, im Versuch, meine Gefühle zu verbergen. »Wahrscheinlich hat Sudie das Tablett nach oben gebracht.« Um meine Furcht nicht zu verraten, fragte ich auch Samuel nicht, ob Clara ein Pferd oder den Wagen geholt hätte, um ins Dorf zu fahren. Ich mußte eine neue Lüge erfinden, denn ich wollte mich im Stall selbst überzeugen, ob alle Pferde da waren. In der Sommerküche holte ich einen Korb und ging in den Garten – offensichtlich um Blumen zu schneiden. Statt dessen schlenderte ich aber weiter zur Scheune. Ich war sicher, daß niemandem auffallen würde, wenn ich zu den Ställen ging. Von der Pferden fehlte nur Big Bill, auf dem Ward in der Frühe weggeritten war. Daß Clara die sechs Kilometer zu den Hendersons niemals zu Fuß zurücklegen würde, war mir klar, noch würde sie zum Dorf gehen, in der Hoffnung, jemand würde die Straße entlangkommen und sie im Wagen mitnehmen. Noch nie war Clara irgendwohin spaziert, aus reiner Freude am Gehen, an der Sonne und der frischen Luft. Nicht so Clara. Ihre Leute waren reich und wenn sie eine neue Haube kaufen wollte, brachte man sie im Wagen zum Laden – immer in Begleitung. Als wir die Reise in unsere neue Heimat antraten, war unser Wagen so schwer mit Haushaltsgegenständen beladen, daß wir uns abwechseln mußten, zu fahren. Manchmal ritten wir und oft mußten wir zu Fuß gehen. Clara war das Gehen so zuwider, daß ich ihr oft meinen Platz im Wagen überließ, wenn ich dran war zu fahren, nur um ihr Gejammere nicht zu hören. So war ich jetzt ganz sicher, daß Clara nicht zu Fuß unterwegs war. Genauso sicher war ich, daß sie nicht in eine der Dienerhütten gegangen war. Sudie war die einzige Negerin, mit der sie etwas zu tun haben wollte.
Deshalb war es merkwürdig, daß sie nirgends zu finden war. Ich versuchte mir vorzustellen, daß sie, weil der Tag so herrlich war, doch zum Fluß gegangen sein könnte. Schließlich war er nicht weit vom Haus entfernt. Ich wollte einmal hinuntergehen und nachsehen. Der kürzeste Weg zum Fluß führte an der Scheune und am Tabaklager vorbei. Ich wandte mich dorthin. Der Boden war weich unter meinen Füßen und außer dem Rascheln meines langen Rockes im Gras war es völlig still. Manchmal hörte ich das Stampfen aus den Ställen. Aber als ich zur Scheune kam, war die Stille des Maimorgens gebrochen. Eine Stimme, kaum mehr als ein heiseres Flüstern, sprach in einer mir gänzlich unbekannten Sprache. Vorsichtig schlich ich näher, um die Quelle dieser merkwürdigen Laute zu finden. Leise neigte ich mich zum Tor, um zwischen zwei Brettern durchzulügen: Ich erwartete Benson zu sehen, vielleicht rauchte er dort heimlich mit ein paar von den farbigen Jungen. Samuels Söhne sprachen einen Gullah-Dialekt. Aber Benson war es aufs strengste verboten zu rauchen. Ich hoffte, er wäre mit den Buben drinnen, ohne zu rauchen, denn es war sehr gefährlich, in der Scheune zu rauchen, das ganze Gebäude würde in Flammen aufgehen, wenn ein Stückchen Glut ins Getreide fiel. Der Spalt war ganz schmal und drinnen war kaum Licht. Ich konnte überhaupt nichts sehen. Ich ging ein paar Schritte weiter und versuchte es bei einem anderen Spalt. Ich sah noch immer nichts, aber hörte deutlich die merkwürdigen Worte. Nachdem meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah ich eine einzige Person. Es war nicht einer von Samuels Söhnen, es war nicht Benson, es war Clara! Da stand ich, mit meinem Auge geradezu an den Spalt geklebt und sah, daß auf dem gestampften Boden ein Pentagramm gezeichnet war. Es war weiß, vielleicht war es
Mehl. Aber noch merkwürdiger als das heidnische Zeichen war das Aussehen Claras. Ihr Haar war eingebunden, was sie auf dem Kopf trug, sah aus wie die Imitation des Kopfschmuckes eines eingeborenen Zauberers. Ihr Körper war nackt mit Ausnahme eines bunten Stücks Stoff, das sie um sich gewickelt hatte. Sie war barfuß und als ich sie so schamlos beobachtete, begann sie sich in einem sonderbaren Rhythmus zu bewegen. Sie begann ihren Sprechgesang wieder, lauter als zuvor und es klang so: »Erzulie, Erzulie, ecoutez moi. Annabis, Bobbolus, Collobus, Drennibus, Erzulie, Erzulie! Entendrez, Montez, Venitez moi. Sie sang lauter und lauter, und ich verstand nun einige der Worte. Manche klangen französisch, aber so merkwürdig ausgesprochen, daß ich nicht sicher war, ob ich sie richtig verstand. Eines war deutlich genug, daß nämlich Clara mit irgendeiner Art von Beschwörung beschäftigt war. Je länger ich zuhörte, desto mehr schien mir, daß es eine Art Gebet war, das an »Erzulie« gerichtet war, wer immer das auch sein mochte. Gebannt wie ein Vögel von einer Schlange sah ich, wie sie in jede der fünf Zacken des Diagramms spuckte, sich dreimal im Kreis drehte, den Kopf zurückwarf und etwas murmelte, das wie »le bon Dieu« klang, eine Phrase, die ich verstand. Ich hörte aber auch andere Worte wie »Papa Legba« und »Damballah« und »tous les Saints«. Dann hockte sie sich nieder, wobei das bunte Tuch im Staub schleifte, kratzte mit den Fingern Erdreich aus dem Mittelpunkt des fünfzackigen Sterns, berührte damit ihre Stirn, ihr Kinn und beide Ohrläppchen – merkwürdige Gesten, die mich an das Bekreuzigen der Katholiken erinnerten. Sie fiel dann auf die Knie, zog eine schwarze Locke aus ihrer Gewandung, hielt sie vor sich hin und betete ernsthaft – in Englisch:
»Heilige Ann, bring mir den Mann!« Jetzt konnte ich mich nicht länger beherrschen. Die Haarlocke konnte nur von Wards Kopf stammen, und ich würde nicht länger zusehen, wie meine Schwägerin eine teuflische Beschwörung sprach, die offenbar dazu angetan war, mir Ward zu rauben. Voller Wut stieß, ich die Tür auf, um sie auf frischer Tat zu ertappen und rief gleichzeitig, so laut ich konnte: »Und nun aber Schluß! Jetzt weiß ich, warum du mit Sudie Freundschaft geschlossen hast! Sie hat dich diesen scheußlichen Voodoozauber gelehrt, und ich werde ihn nicht dulden!« Clara stand auf und rang die Hände: »Nun hast du alles zerstört!« »Das will ich auch hoffen!« kreischte ich. »Was für eine ekelhafte Art, dich aufzuführen! Wieviel hast du Sudie gezahlt, damit sie dich dieses monströse Zeug lehrt? Ich habe mich ja wirklich bemüht, deine Launenhaftigkeit und dein ewiges Schmollen zu übersehen – ja, sogar deine Flirterei habe ich ertragen, vor der kein Mann im ganzen Land sicher war! Aber das ist einfach zuviel!« »Es geht dich gar nichts an, was ich Sudie für den Voodoozauber zahlte. Sie würde ihn mich auch gratis gelehrt haben. Aber ich bestand darauf, daß sie eines meiner Halsbänder nahm, wenn du es schon unbedingt wissen willst! Aber wenn der Zauber klappt, dann ist es das wohl wert gewesen!« »Hast du überhaupt kein Gewissen?« schrie ich hitzig. »Ich sehe deinen Plan klar vor mir: Erst wolltest du Ethan loswerden, obwohl ich nicht weiß, wie dir das gelang…« Sie unterbrach mich, ihre grünen Augen sprühten Feuer. »Was soll ich getan haben? Wie kannst du solch eine Anschuldigung wagen!«
Ich schrie zurück: »Weil du im Freien warst, als Ethan damals auf dich wartete. Ich konnte die frische Luft an deinen Kleidern riechen! Hast du den jungen Tod beschwatzt, Ingwer unter die Pferdeschwänze zu stecken, damit sie scheuten? Oder gab er ihnen etwas zu fressen, das sich so auswirkte? Du bist ein Weibsteufel! Ich gab dir ein Heim nach seinem Tod, dabei hast du ihn umgebracht!« »Ich habe nichts dergleichen getan!« »Wie willst du dann erklären, daß du in die Kälte hinausgingst und gleich darauf die Pferde scheuten? Ich weiß, daß du draußen warst, und gleich nach dir kam auch Tod Davis herein, wenn auch durch eine andere Tür. Aber mir kannst du nichts einreden! Wie willst du mich überzeugen, daß du nicht schuld warst, daß die Pferde den Wagen umrissen und meinen Bruder zu Tode schleiften?« »Jane, schweig. Mußt du so eine Szene machen, damit alle herrennen, um zu sehen, was es gibt?« Ich antwortete in bitterem Sarkasmus: »Sei ruhig, Jane, wir wollen doch nicht, daß jemand erfährt, daß ich eine Mörderin bin.« »Jetzt höre einmal zu«, antwortete sie. »Ich sagte dir, daß ich mit dem Unfall nichts zu tun hatte. Ja, ich war draußen, aber das war nur ein harmloser Flirt mit Tod Davis. Ich hatte mit ihm getanzt, und er sagte, ich sei bei weitem das schönste Mädchen auf der Party. Ich bedankte mich für so viel Galanterie mit ein, zwei Küssen vor dem Haustor – aber das war alles! Hörst du mich?« Ich konnte ihr nicht glauben. »Was ist dann mit all dem Voodoozeug? Es ist so offensichtlich, daß du Ethan losgeworden bist – wenn du es nicht selbst getan hast, dann hast du jemanden dafür bezahlt. Dann wolltest du mich loswerden. Wen hast du überredet, die
Falltür in der Sommerküche zu öffnen, so daß ich die Treppe hinunterfallen mußte? War es Sudie?« »Ich wußte nichts von dem Unfall, bis Ward uns verständigte!« »Ich glaube dir kein Wort. Du wolltest zuerst mich verschwinden lassen und dann Ethan. Aber dein Plan mit dem ersten sogenannten Unfall klappte nicht. Ich überlebte! So fuhrst du mit deinem Plan einfach fort, Ethan zu töten. Mich konntest du später immer noch bekommen! Ich weiß es genau!« »Aber, aber…« »Halt den Mund, dreckige Schlampe. Du hast alles in deiner Macht versucht, mir Ward wegzunehmen…« »Ward?« keuchte sie. »Bist du verrückt?« »Keineswegs. Jeder Idiot kann sehen, wie du in aller Öffentlichkeit mit ihm flirtest. Denk nur an den Tag, wo wir die Hendersons und Richter Thompson und die anderen zu Gast hatten – da hast du auch eine hübsche kleine Falle für mich vorbereitet!« »Um Himmels willen, wovon sprichst du denn?« »Vom Einsperren in den stinkenden Hühnerstall! Du dachtest, ich würde ersticken oder verrückt werden. Es fiel dir nicht ein, daß ich vernünftig genüg sein könnte, über diese… diese dreckverschmierten Stangen hinaufzuklettern und den Mut aufzubringen, mich durchs Fenster fallen zu lassen. Oder?« »Jane, ich weiß nichts von der Geschichte mit dem Hühnerstall. Sag mir doch, wie du dir vorstellst, daß ich so etwas arrangieren konnte, wenn ich doch mit deinem kostbaren Ward in die Stadt gefahren war, weil ich ganz einfach neue Unterkleider brauchte. Ich höre jetzt zum erstenmal von dem Hühnerstall. Du bist total verrückt!«
Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie den Nerv aufbrachte, einfach dort zu stehen und zu behaupten, sie wisse von nichts. »Ich habe mehr Verstand als du, Frau Zauberin! Du wirst ihn nie bekommen, das sage ich dir!« »Du dumme Gans, ich versuche dir doch klarzumachen, daß ich ihn gar nicht will!« »Dann warum…« »Er ist nicht der einzige Mann in der Welt, weißt du! Es gibt noch andere! Ich versuchte den Zauber an Pastor Blake! Hast du nicht bemerkt, daß ich ihm in der Kirche immer zulächle? Seine Frau ist beinahe so lange tot wie Ethan, und obwohl ich vielleicht nicht sehr zur Pastorenfrau geeignet bin, so bin ich doch besser, als gar keine Frau! Ich gab ihm oft die Chance, zu fragen, ob er mich besuchen durfte, aber er hat es noch nie getan. So bat ich Sudie, mich einen Zauber zu lehren…« »Aber die Locke! Es ist Wards Haar!« »Du hast ein völlig verwirrtes Hirn, Schwesterlein. Sie stammt von Everett Blake. Es war nicht leicht, aber ich bekam sie.« Sie zog das bunte Tuch fester um ihre Taille und steckte das lose Ende über ihrer Brust fest hinein. Dann warf sie mir meine eigenen Worte zurück an den Kopf: »Hast du kein Gewissen? Du hast mich belauscht!« Ich kam mir vor wie ein bißchen Schmutz auf dem Boden. »Ich… ich wollte meine eigenen Rechte wahren, Clara. Zuerst hatte ich Ward geheiratet, weil er eine Frau brauchte, eine Mutter für seine Kinder – und ich sehnte mich nach, einem eigenen Heim. Aber plötzlich verwandelte sich meine Freundschaft und Achtung für ihn in Liebe. Ich liebe ihn innig und würde um nichts in der Welt zulassen, ihn zu verlieren. Ich war überzeugt, du wolltest ihn für dich gewinnen, ihn mir mit allen Mitteln abspenstig machen.«
»Du mußt dir darüber keinen einzigen Gedanken mehr machen. Ich bin hinter Pastor Blake her.« »Aber Everett Blake…« »Er wird sich aus einem vertrockneten Witwer in einen Mann verwandeln, der die Freuden des Lebens auszukosten versteht. Wenn ich ihn nur erst habe. Und nun geh bitte, denn ich muß wieder ganz von vorn beginnen. Und ich will all die absurden Dinge, die du mir an den Kopf geworfen hast, vergessen.« Ich ging, nachdem ich mich für all die gemeinen Vorwürfe entschuldigt hatte. Ich erinnerte sie, daß wir bald essen würden. »Fangt ohne mich an. Sag den anderen, ich bin… ich suche noch ein paar Kräuter und werde bald kommen.« Ich ging – aber mein Herz war schwer wie ein Klumpen Blei. Ich war sicher, keinen Bissen herunterzubringen. Ich wollte mich nur niederlegen, ein feuchtes Tuch auf der Stirn.
Ich verbrachte den Rest des Tages wirklich im Bett. Mrs. Burnham kam, um zu sehen, ob ich Abendbrot wollte, da ich mein Mittagessen nicht bei mir behalten hatte. Ich dankte ihr. »Mein Magen revoltiert noch. Ich werde einfach liegen bleiben. Sind die Jungen schon da?« »Ja, Madam, sie sind zurück. Sie haben auch ein paar ganz schöne Fische gefangen. Soll ich sie morgen mittag zubereiten?« »Sehr gut«, sagte ich, obwohl der Gedanke an gebratenen Fisch mir wieder alles hochkommen ließ. »Aber Mary Zilpah reißt sich nicht um Fisch. Können Sie ihr irgend etwas anderes geben?«
Sie versicherte mir, daß es reichlich Eier gäbe, ich sollte mir darüber nicht den Kopf zerbrechen und einfach liegen bleiben, bis es mir besserging. Arme Mrs. Burnham! Sie dachte, ich hätte einen verdorbenen Magen. Sie konnte schließlich nicht ahnen, daß ich einfach an schlechtem Gewissen litt, weil ich mich mit meinen falschen Beschuldigungen Clara gegenüber so aufgeführt hatte. Meine Wangen brannten vor Scham. Ich war mir noch nie so sehr wie ein kompletter Narr vorgekommen und zerbrach mir den Kopf, wie ich Clara am nächsten Tag gegenübertreten sollte. In der Frühe kam Mrs. Burnham herauf, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen. Ich sagte, daß es schon besser ginge, was auch stimmte, aber jedesmal, wenn mir einfiel, daß ich bald mit Clara sprechen mußte, baute sich neuerlich eine innere Spannung in mir auf, obwohl ich mich ja bereits für meine falschen Anwürfe entschuldigt hatte. Ich ging zum Frühstück hinunter. Jim Roy und Benson saßen noch am Tisch, was ungewöhnlich war. Meistens waren sie im Sommer schon vor sieben Uhr draußen im Freien. Mary Zilpah saß auch bei Tisch. »Du bist aber zeitig dran, Liebes«, sagte ich, »und wieso seid ihr beide noch da?« Mary Zilpah sagte, sie sei früh erwacht und hungrig gewesen. Ich hielt das für ein Zeichen, daß sie sich von ihrer Erkältung ganz erholt hatte. »Mutter Jane«, sagte Jim Roy. »Sie bauen eine neue Scheune bei Quaids. Dürfen wir da zusehen?« »Warum nicht? Ihr seid große kräftige Burschen und die Quaids können eure Hilfe brauchen. Woher wißt ihr, daß sie neu bauen?« »Samuel hat es gesagt«, sagte Benson. Es war äußerst selten, daß er vier ganze Worte hintereinander sagte. »Samuel möchte auch mitgehen«, fügte Jim Roy hinzu.
»In Ordnung«, sagte ich. »Ihr könntet schon die Pferde satteln und vorausreiten. Samuel soll noch einen Sprung hereinkommen. Ich kann mich schon erinnern, von der neuen Scheune gehört zu haben. Ich hatte es ganz vergessen, wahrscheinlich weil euer Vater nicht da ist und ich allein nicht zur Grundsteinlegung gehen wollte. Aber ich möchte für die Arbeiter etwas zu essen hinüberschicken, Sam kann die Körbe mitnehmen.« Während ich zu den Jungen sprach, kam Clara herein. »Du mußt die Körbe nicht Samuel mitgeben, Jane«, sagte sie, »Pastor Blake holt mich um neun Uhr mit dem Wagen ab, wir können sie mitnehmen.« Sie stand vor dem Spiegel und glättete ihr Kleid, drehte sich hin und her und lächelte ihr Spiegelbild an, zufrieden mit ihrem Aussehen. Ich saß mit offenem Mund da, so erstaunt war ich. »Der Pastor?« brachte ich schließlich heraus. »Ja, meine Liebe!« Sie drehte sich herum und machte ein paar Tanzschritte, während sie die Volants an ihrem Kleid zierlich und fröhlich hochraffte. Dann sah sie mich triumphierend an. »Er hat seinen Knecht Abner mit einem Brief herübergeschickt. Ich habe ein Brieflein zurückgeschickt, um zu sagen, daß ich mich freue, ihn zu begleiten. Er wird bei der Scheune helfen, und ich werde den Damen mit den Mahlzeiten behilflich sein. Vor dem Essen wird der Pastor das Gebäude segnen.« »Du machst Witze!« sagte ich ganz erstaunt. »Ich bin ganz ernst. Du kannst Sudie fragen, wenn du mir nicht glaubst.« »Clara«, sagte ich und schluckte, ehe ich die weiteren Worte herausbrachte, »ich bitte dich herzlich um Verzeihung für die
unbedachten Worte, die ich gestern sagte. Ich hatte keine Ahnung…« Mary Zilpah spitzte die Ohren. »Mutter Jane, hast du Sachen gesagt, die man nicht sagen darf?« »Ja, Liebes, jeder sagt einmal im Zorn etwas, das er lieber nicht gesagt hätte. Ich habe das leider auch getan.« Ich hätte die Entschuldigung vor den anderen lieber nicht wiederholt, aber ich empfand es als gerechte Strafe, daß ich vor Zeugen um Verzeihung bat. Ich fühlte mich nun irgendwie von meiner Schuld gereinigt. Clara lachte und zupfte an ihren Löckchen. »In Ordnung, Janie. Nun ist die Atmosphäre gesäubert und das ist besser, als sich über Dinge Sorgen zu machen, die es nicht wert sind.« Mary Zilpah sah zwischen uns hin und her und wußte nicht, worüber wir sprachen. Um von dem unliebsamen Thema wegzukommen und um das Kind davon abzulenken, sagte ich Mary Zilpah, daß wir uns einen schönen Tag machen würden, da wir allein zu Hause blieben. »Was sollen wir machen?« fragte sie sofort. »Hättest du Lust auf ein kleines Picknick?« »Ja, fein! Und wirst du mich schaukeln, Mutter Jane?« »Sicher. Und jetzt gehen wir in die Küche und sehen nach, ob wir etwas für unser Picknick finden und packen die Körbe, die Tante Clara zu den Quaids mitnehmen will. In einer halben Stunde können wir fertig sein.« Das Mädchen sprang fröhlich vor mir her den Gang hinunter. Ich dachte immer noch an Claras Mitteilung. Wie war das alles gekommen? Der dumme Voodoozauber konnte doch nicht wirklich funktioniert haben! Und doch hatte Clara zugegeben, daß sie schon jahrelang hinter dem Pastor her war, und er
niemals Interesse an ihr gezeigt hatte. Aber ich konnte es einfach nicht glauben. Es wurde ein Tag, den ich mein ganzes Leben lang in guter Erinnerung behielt. Einer dieser prachtvollen, goldenen Tage, wo alles glatt verläuft, niemand sich kränkt, jeder Bissen wunderbar schmeckt und die ganze Welt harmonisch ist. Aber bevor die Nacht begann, war alles ganz anders. Clara verbrachte einen wunderschönen Tag mit dem Pastor. Er hatte gefragt, ob er uns am Sonntag besuchen könne, und sie hatte geantwortet, wir würden uns freuen, wenn er nachmittags käme. Er brachte sie am Abend heim. Ich lugte hinter dem Vorhang hinaus und sah, wie er ihr aus dem Wagen half. Von dort oben aus sah es aus, als ob er ihre Hand länger als notwendig hielt, und sie zog die ihre auch nicht zurück. Mein Herz sang, denn es sah ganz so aus, als ob meine frühere Schwägerin nun bald Mrs. Everett Blake sein würde. Aber als Jim Roy heimkam, zeigte sein Gesicht nicht die Spur des vergnügten Tages. Er sah todunglücklich aus. Benson kam ein paar Minuten nach ihm. Er aß sein Abendbrot in aller Stille und ging in sein Zimmer. Jim Roy saß vor dem Haus auf den Stufen und starrte unglücklich in die Ferne. Als ich den Tisch abgeräumt hatte, ging ich zu ihm hinaus. Vielleicht wollte er mir sagen, was ihn bekümmerte. »Nichts!« sagte er. Ich spürte, daß da etwas war, wollte ihn aber nicht drängen. Wenn er reden wollte, würde ich gern zuhören. Aber ich wußte, daß es sinnlos war, etwas aus ihm herauszuziehen. Wir saßen da in der zunehmenden Dämmerung, hörten den Gesang der Spottdrossel, deren flüssige Melodie von einem Baumwipfel zu hören war. Ich wollte die Stille nicht mit Geplapper stören, ich saß ruhig, und endlich brach Jim Roy das Schweigen. »Mutter Jane, manchmal verachte ich meinen Bruder.«
Ich hätte alles darum gegeben, ihn nach dem Grund zu fragen, denn uns schien ja, daß die beiden unzertrennlich waren. Aber ich nahm seine Mitteilung so wie sie war hin und zeigte ihm keine Reaktion – weder positiv noch negativ. »Heute – heute hat er mich herumkommandiert, als ob er der König der Quaids-Farm wäre«, fuhr er fort. »Dauernd gab er mir Befehle. Als ob ich nicht mehr Verstand hätte als ein Schwein. ›Diese Bretter trägst du dort hinüber, sie werden gleich gebraucht‹, ›Gib doch acht, gleich stolperst du und läßt alles fallen‹, ›Vorsicht, Jim Roy, beinahe hättest du Will Downey am Kopf getroffen, dumme Laus!‹ – so ging es die ganze Zeit, ich habe mich so geschämt, daß ich am liebsten nach Haus gelaufen wäre, kaum nachdem wir angekommen waren. Wahrscheinlich hab ich es nur nicht getan, weil ich zu stolz war, kleinbeizugeben.« »Was war dann?« fragte ich, denn ich wußte, da mußte noch etwas gewesen sein. »Ich stolperte wirklich. Fiel genau vor die Füße von Sarah Lou Spoonmore. Wir schleppten gerade einen Trog mit Schlamm, um die Ritzen der Blöcke zu verschmieren. Benson brüllte mir gerade zu, vorsichtig zu sein und nicht zu stolpern, da rutschten mir die Füße einfach nach vorn weg, und alles ergoß sich über mich. Genau vor Sarah Lou! Ich schwöre dir, ich dachte zuerst, Benson hätte mir absichtlich ein Bein gestellt. Der Schlamm spritzte Sarah Lou von oben bis unten an, und sie rannte kreischend zu ihrer Mutter und zeigte ihr, wie furchtbar ihr Kleid aussah. Und Benson stand dort und lachte sich bucklig. Er lacht immer über mich! Na, und dann hatte ich genug von dem Theater, ich stand auf und schlug ihn einfach nieder.« »Wie hast du das geschafft?« fragte ich sehr ruhig. »Er ist doch viel stärker als du?«
»Ich weiß. Und ich hätte nie geglaubt, daß ich die Kraft zu so was aufbringen könnte. Ich überraschte ihn einfach. Es kam ihm so unerwartet, weil ich noch nie den Mut gehabt hatte, ihm auch nur Vorwürfe zu machen. Und als ich ihn niedergeschlagen hatte, sagte ich ihm auch gleich, daß ich es satt hätte, ewig von ihm Befehle zu bekommen.« »Dann ist Benson also jetzt verärgert, daß du ihn besiegt hast.« Ich sagte es sehr ruhig – eher eine Feststellung als eine Frage. Ich hatte ja den finsteren Ausdruck auf Bensons Zügen bemerkt und auch ein paar dunkle Flecke, die sehr nach blutunterlaufenen Stellen aussahen. »Sicher. Ein paar Männer begannen über Benson zu lachen, weil der kleine Bruder den großen verhauen hatte.« »Mach dir keine Gedanken darüber, Sohn. Blut ist dicker als Wasser, sagt man. Benson wird sich morgen wieder beruhigt und vielleicht ein wenig mehr Respekt vor dir haben.« »Vielleicht…«, sagte Jim Roy zweifelnd, »ich weiß nicht. Mit mir hat er immer gesprochen, auch wenn er zu niemand anderem ein Wort sagte. Aber nun spricht er gar nicht mehr mit mir. Außer als er aufstand und sich den Staub von der Hose bürstete. Da sagte er, es würde mir noch sehr leid tun, ihn geschlagen zu haben. Weiß ich, was er tun wird, um mir das zurückzuzahlen?« »Nichts wird er tun, Jim Roy. Das ist doch eine natürliche Reaktion gewesen. Wenn man sich nicht anders verteidigen kann, so sagt der Besiegte wenigstens zum Sieger, daß es ihm noch leid tun wird. Und wenn dein Vater wieder da ist…« Ach Gott, wie sehr wünschte ich doch, Ward wäre hier! Benson war am nächsten Tag noch vor dem Frühstück verschwunden. Er war ohne Jim Roy gegangen. Jim Roy kam herunter und bemerkte es sofort. »Ist er zum Fluß gegangen?« »Wahrscheinlich. Gehst du fischen?« fragte ich.
»Nein. Wenn er mich nicht dabei haben will, bleibe ich eben einfach zu Hause.« »Sehr gut. Ich möchte heute ein paar der Gästezimmer saubermachen, kann sein, daß ich da einen großen, starken Helfer brauche.« »Hm… ah… ich gehe ein wenig in die Bibliothek… vielleicht sind dort ein paar Bücher… du weißt schon, darüber… na, was ich dir erzählt habe.« »Sicher. Es gibt dort ein gutes Buch über Michelangelo. Es wird dich interessieren, wie es ihm gelang, Fleisch, Blut und Knochen naturgetreu zu malen und nicht nur wie ein flaches Bild. Dann gibt es ein anderes Buch über Kunst und Architektur der Renaissance, das für dich sehr wertvoll sein kann. Schau dir die Bilder von Raphael, Tintoretto und Veronese an. Vergleiche die italienischen Künstler mit den deutschen. Sich in etwas vertiefen, das einen interessiert, ist etwas ganz anders als Schullektionen zu lernen, die einem ganz egal sind.« Ich band ein Tuch um die Haare und ging in das leere Gästezimmer, das gerade vis-a-vis von dem Raum war, den Clara und Sudie als Nähzimmer benutzten. Richter Thompson hatte dort geschlafen und auch Andrew Jackson. Der anschließende Raum war nicht mehr benutzt worden seit jener Nacht, als Ethan starb. Damals schlief Mr. Hill dort. Ich dachte, dieses Zimmer müßte ich eigentlich zuerst in Angriff nehmen, denn der riesige Schrank, der dort stand, wurde zur Aufbewahrung aller möglichen Dinge verwendet, die kein Mensch mehr brauchte, die aber niemand wegwerfen wollte. Das alles wollte ich herausnehmen und den Schrank gründlich reinigen. Ich spürte einen leicht muffigen Geruch, als ich die Schranktüren öffnete.
Als erstes sah ich ganz unten einen Stoß Noten. Noten für Violine. Wer hatte diese gespielt? Wards erste Frau? Seine Mutter? Oder sein Vater? Er hatte nie erwähnt, daß jemand in der Familie ein Instrument spielte. Ich blätterte durch die vergilbten Noten. Sogar meine geringe Kenntnis über Komponisten verriet mir, daß der Besitzer dieser Noten Talent gehabt haben mußte. Obenauf waren ein paar von Bachs Violinkonzerten. Auch Paganinis »Variationen« waren da. Ich hatte nie ein Instrument erlernt – meine Familie hatte immer gerade genug Geld gehabt, Leib und Seele zusammenzuhalten. Aber ich hatte über diese berühmten Komponisten gelesen und wußte, nur ein Könner konnte ihre Werke spielen. Dann fand ich Schuhe – sechs Paar und alle klein. Ihrem Alter nach zu schließen, hatten sie weder Benson noch Jim Roy getragen. Vielleicht gehörten sie Ward, als er noch ein Kind war. Eine Welle von Zärtlichkeit überflutete mich, als ich mir vorzustellen versuchte, wie der kleine Ward wohl ausgesehen haben mochte. Auf der anderen Seite des Schrankes war ein zerbrochener Stuhl hineingeschoben worden. Traurig hing die Füllung aus der Polsterung heraus. Er war aus schöngeschnitztem Holz, ein wunderbares Stück. Ob es wohl repariert werden konnte? Daneben war ein ganzer Stoß von Porträts. Ich zog sie heraus ans Licht, und sah die Gesichter weißbärtiger Männer, gedankenverloren in Büchern lesend – Bibeln, nahm ich an, und strenglippiger Frauen mit fest zurückgespanntem Haar, so daß auf ihren Stirnen keine Falte zu sehen war. Zuunterst unter den Ahnenbildern – dafür hielt ich die Porträts – war das Bild eitler Frau, die ich schon einmal gesehen haben mußte: Blaue Augen, von der Farbe des Oktoberhimmels, schwarzes Haar, nicht in einem festen Knoten, wie bei den anderen, sondern locker um ihr Gesicht frisiert. Es war dasselbe perfekte Oval, das sich in den Wellen des Timber Creek widergespiegelt
hatte. Das Gesicht, das mich stumm beschworen hatte, Ward nicht zu heiraten. Ich sah sie an und flüsterte: »Es tut mir so leid, daß du nicht am Leben bleiben konntest, Lucy. Weißt du, Ward hat mich so gebraucht!« Obwohl meine Knie beim Anblick des Porträts der verstorbenen Mrs. Holderly zitterten, fing ich mich wieder, und fuhr fort mit der Reinigung des Schrankes. Ich wagte nicht, irgend etwas wegzuwerfen, da die Dinge ja nicht mir gehörten. Jedes Stückchen Stoff, jedes schäbige Kissen, jedes Bild, die Schuhe, und die Noten mit ihren Eselsohren legte ich vorsichtig zurück. Ich lehnte die Porträts wieder gegen die Schrankwand, aber ich konnte es nicht ertragen, das Porträt der ersten Mrs. Holderly hinter den anderen zu verbergen. Da war etwas um ihre Augen… Den geschnitzten Stuhl ließ ich draußen, vielleicht würde Ward zustimmen, ihn reparieren zu lassen und wieder zu benutzen. Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die Rosen und Schnörkel, die die Lehne verzierten. Ich bewunderte die liebevolle Arbeit und die seidenglatte Oberfläche des Holzes und mein Herz schmerzte, als ich mich an die Wiege erinnerte, die Ethan für das Baby geschnitzt hatte, das sterben mußte. Ganz oben im Schrank war ein durchgehendes Regal. Ich machte mich nun darüber her. Dazu brauchte ich aber einen Stuhl. Ich wollte einen holen und ging hinaus. Aber kaum hatte ich dem Schrank den Rücken gekehrt, hörte ich ein leises Geräusch hinter mir. Schnell drehte ich mich um, aber es war niemand da. Entschlossen lief ich den Gang hinunter ins Wohnzimmer. Vielleicht habe ich die Geister gehört, dachte ich, die Holderly Hall heimsuchten. Ich hatte vielleicht etwas gehört, was anderen Menschen verborgen blieb. So wie die Trommeln. Ich hörte sie noch manches Mal und wußte, daß kein anderer sie hören konnte. Aber falls es ein Mensch
gewesen war, den ich gehört hatte… ich verbarg mich hinter der Tür und lugte durch den Spalt. Jim Roy kam auf Zehenspitzen aus dem Raum, den ich soeben verlassen hatte, und hielt etwas in der Hand. Ich konnte es nicht erkennen, aber es war so groß, daß er es vor sich hertragen mußte. Etwas schien von dem Gegenstand herunterzuhängen, denn er versuchte, es immer wieder festzuhalten, um nicht darüber zu stolpern. Ich ließ ihn um die Ecke des Flurs gehen, und dann eilte ich hinter ihm her so schnell ich konnte, ohne Lärm zu machen. Als ich die Tür zu Jim Roys Zimmer aufstieß, sah ich ihn gerade das große Ding unters Bett stoßen. Er sah mich dort in der Tür stehen und versuchte schnell, selbst unters Bett zu verschwinden. »Jim Roy«, sagte ich mit so viel Strenge, als ich in meine Stimme zu zwingen vermochte, »komm unter dem Bett hervor. Ich möchte mit dir sprechen.« Er Versuchte – erfolglos – eine Lüge. »Mein Buch… ich hab es irrtümlich unter das Bett gestoßen…« »Es ist kein Buch! Gib es mir.« Seine Lippen zitterten. »Ich will nicht!« »Gib es mir sofort!« Mit einem Gesichtsausdruck wie ein Verurteilter rutschte er unter das Bett und zog einen Haufen Federn hervor, die an einem Lederband befestigt waren, und ein Lendentuch. »Gut, und nun möchte ich die ganze Geschichte hören.« »Das ist so eine Verkleidung, die ich einmal trug für ein… für ein… na, für so ein…« Er verstummte, als ihm klarwurde, daß ihm keine passende Ausrede einfiel. »Es ist ein Indianerkostüm? Nicht?« fragte ich. Er ließ den Kopf hängen und flüsterte: »Ja, Madam.«
»Du bist also der böse Indianerjunge, der Mary Zilpah ängstigt und sie nachts aufschreien läßt?« »Ich wollte dir längst davon erzählen. Aber du sagtest immerfort, ich sollte warten, bis Papa zurück sei und ihm alles erzählen! Ich wollte es nicht, Mutter Jane! Ich habe es nie machen wollen, von Anfang an nicht! Ich sagte dir doch, daß ich Böses getan hatte, aber du hast an so etwas nicht gedacht! Du hast gesagt, daß ich nicht alt genug sei, etwas wirklich Böses zu tun! Und doch: ich war alt genug!« Meine Hände zitterten so, daß ich sie ineinander verschlingen mußte, um sie ruhig zu halten. Ich fragte, wie er es gemacht hatte. »Über den Baum vor dem Fenster kletterte ich hinunter. Ich hatte von einem starken Ast aus ein Brett zum Fenster gelegt, auf dieser Planke rutschte ich zum Baum, kletterte hinunter, schlich hinters Haus, und nie hat mich jemand gesehen. Ich kletterte an einer der Säulen hoch und durch Mary Zilpahs Fenster. Ich machte Krawall bis sie aufwachte. Manchmal mußte ich dazu erst ihren Arm rütteln. Und dann befahl ich ihr, böse Dinge zu tun oder ich würde sie umbringen und heimlich begraben. Sie zog sich immer die Decke über den Kopf und begann nach Sudie zu schreien, und da konnte ich schnell wieder aus dem Fenster klettern, die Säule runterrutschen, zurück rund ums Haus den Baum hinauf und über die Planke zurück in mein Zimmer. Sie wußte nie, daß ich es war. Sie war so klein und so im Dunkel, mit dem komischen Lendentuch und den vielen Federn erkannte sie nie, daß ihr eigener Bruder vor ihr stand.« »Aber manchmal schlief doch Sudie bei ihr und sogar ihr Vater?« »Ich hörte euch darüber sprechen und ging nie zu ihr in solchen Nächten.«
Ich dachte schnell nach, zu welchen Zeiten der böse Indianerjunge am öftesten zu Mary Zilpah gekommen war. »Deshalb also kam der Indianer meist bei warmem Wetter.« »Ja, Madam, aber ich wollte es nie tun.« »Warum hast du es dann getan? Kam vielleicht auch in dein Zimmer ein böser Indianer, der dir befahl, Böses zu tun?« »Nein, Benson zwang mich, es zu tun.« »Das ist lächerlich, Jim Roy. Benson hat dich zu solchen Dingen sicherlich nie gezwungen. Er ist zwar kein sehr geselliger Typ, aber wahrscheinlich war das Ganze deine eigene Idee.« »Nein, wirklich nicht. Mary Zilpah ist zwar manchmal ein bißchen lästig, aber ich mag sie. Benson sagte mir, ich müßte es tun oder…« »Oder was?« »Oder er würde… nein, ich mag’s nicht sagen.« »Was hat er gedroht zu tun?« »Er sagte, er würde mich töten oder mir etwas antun, was schlimmer als Tod wäre.« »Jim Roy!« »Ja, wirklich.« »Warst du vielleicht am Tod meines Bruders auch schuld?« Obwohl ich mir vorgenommen hatte, ganz ruhig zu bleiben, während er mir diese schäbigen Elemente der Indianermaskerade auseinandersetzte, packte ich ihn nun doch bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ich wollte es nicht! Ich wollte nicht! Ich wußte auch gar nicht, daß dabei etwas passieren könnte! Benson befahl mir, unter die Halfter der Pferde Kletten zu stecken, er wollte sehen, was sie tun würden. Ich wollte gar nicht, weil ich Pferde lieber hab’ als sonst was, aber er sagte…« Er schluckte und ließ den Kopf hängen. Dann riß er sich zusammen, blickte mich voll an und sagte:
»Er sagte, er würde mich so verletzen, daß ich nie Kinder haben könnte. Er würde mich im Schlaf überfallen… in der Nacht… und es tun. Nachdem der arme Mr. Dorsett zu Tode geschleift dalag, glaubte ich, es nicht länger ertragen zu können. Aber Benson ließ mich keinen Moment in Ruhe. Er zwang mich, mit ihm nach der Schule fischen zu gehen, so daß ich es niemanden erzählen konnte. An dem Tag, als du mich gefunden hast – auf dem Stuhl, bereit es zu vollenden, hatte ich ihm gesagt, daß ich Bauchweh hätte und versprach, es Zuhause niemandem zu erzählen. Ach, Mutter Jane – ich wünschte, du hättest mich an dem Tag einfach sterben lassen.« Der Schmerz um meinen toten Bruder wallte auf, und ich litt mit dem Jungen, der von seinem älteren, stärkeren Bruder zum Bösen gezwungen worden war. »Die Sommerküche – Jim Roy, warst du es, der die Falltür öffnete, so daß ich über die Treppen in den Keller fiel?« »Nein, Madam, ich glaube, das war Dicie. Sie hatte an dem Tag eine Schürze voll Äpfel geholt, wir sahen sie zu ihrer Hütte laufen und ich bin sicher, sie hatte sich in den Keller geschlichen, um sie zu stehlen.« »Und sicher warst du es nicht, der mich im Hühnerstall einsperrte!« Jim Roy kratzte mit den Schuhspitzen auf dem Boden herum, sein Gesicht sah betrübt aus. »Oh, doch.« »Aber Jim Roy, wie konntest du so etwas tun? Wie bist du denn in den Stall gekommen, um die Küken hinauszujagen und dann wieder hinausgelaufen, damit du mich einsperren konntest?« »Hinten gibt’s eine zweite Tür. Wir wußten, daß du die wahrscheinlich gar nicht kennst. Während du draußen die Küken einsammeltest, waren wir drinnen im Stall. Als du dann zur Stalltür kamst, schlüpften wir zur Hintertür hinaus,
schlichen ums Haus, und als du im Stall warst, schlossen wir den Bolzen. Dann gingen wir zum Fluß und blieben dort.« »Ich hätte ersticken können, Jim Roy. Oder mir den Hals brechen, als ich mich aus dem Fenster fallen ließ.« »Ich weiß«, sagte er unglücklich. »Ich flehte Benson immer wieder an, mich zurücklaufen zu lassen, um die Stalltür wieder zu öffnen. Aber er erlaubte es nicht.« Ward! Ward! Ward! schrie mein Herz. Er ist dein Kind, und er braucht dich! »Komm mit«, sagte ich schließlich. Ich führte ihn in das Zimmer, in dem ich das Porträt seiner Mutter gefunden hatte. »Schau«, sagte ich, »dein Vater ist nicht hier, um sich mit dir zu befassen. Aber hier ist das Bild deiner Mutter. Was glaubst du, was deine arme tote Mutter über deine Untaten denken würde?« Er biß sich auf die Lippen, und ich sah Tränen auf seinen blonden Wimpern zittern. »Sie würde sich ebenso kränken, wie ich mich kränke, vermute ich. Aber das ist kein Bild meiner Mutter. Es ist das Porträt meiner Großmutter, Mutter Jane. Es ist Papas Mutter.« Wards Mutter! Dann war es doch nicht seine erste Frau, die eifersüchtig noch aus dem Grabe ihren Mann festhalten wollte, war mein erster Gedanke. »Jim Roy, du kannst jetzt in dein Zimmer gehen. Ich möchte, daß du dort bleibst. Mit Benson werde ich mich befassen, wenn er heimkommt. Wenn du die Wahrheit gesagt hast, wird dir nichts passieren. Und ich schicke jetzt Samuel, er soll Will Downey holen. Er ist älter als Benson und stark wie ein Ochse. Wenn uns Benson Schwierigkeiten macht, wird Will schon mit ihm fertig werden.« »Mutter Jane, ich Wünschte, ich könnte andere Worte finden als nur eine Entschuldigung. Aber es tut mir wirklich leid.«
»Ich weiß, Jim Roy. Geh jetzt in dein Zimmer und bete, daß der Herr dir vergeben möge.« Ich ließ mich in einen Stuhl fallen. Dann begann ich zu weinen. Über Ethans Tod, über meine unbegründeten Anschuldigungen gegen Clara. Ich weinte über Bensons Grausamkeit und Jim Roys Angst vor Benson. Und ich weinte, weil Ward nicht da war. Nach einer Weile erhob ich mich, erschöpft vom Weinen, und ging zum Schrank zurück. Noch einmal sah ich das Porträt jener Frau an, die versucht hatte, mich zu warnen. Zu warnen vor alldem, was mich in Holderly Hall erwartete. Ich wollte sie genau sehen. So trug ich das schwere gerahmte Bild zum Fenster. Ich wollte die Frau, die – wäre sie am Leben geblieben – meine Schwiegermutter geworden wäre, im klaren Tageslicht sehen. Vielleicht stand ich nach all den Aufregungen der Beichte Jim Roys nicht so fest auf den Beinen wie ich glaubte; vielleicht stolperte ich nur über den Teppich. Ich weiß nicht, was geschah. Aber ich fiel, riß das Porträt mit mir zu Boden, und der Rahmen zerbrach. Er fiel einfach auseinander, das Glas brach und das dünne Brettchen, das die Leinwand gehalten hatte, löste sich. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich so unvorsichtig gewesen war, das schwere Bild zu heben, da ich doch körperlich und geistig so gänzlich erschöpft war. Ich begann, die Scherben einzusammeln. Dabei fiel ein Stück Papier zwischen Leinwand und Rückwand zu Boden. Die Schrift erinnerte an Spinnweben, und die Worte klebten aneinander. An den brüchigen Faltstellen war die Schrift schon fast unleserlich. Nachdem ich eine Weile versucht hatte, die Schrift zu entziffern, verstand ich den Inhalt: Handschriftlich durch Rachel B. Holderly, am siebzehnten Juno im Jahr des Herrn 1780. Tod ist nahe und ich muß das
sagen, was mein Gatte scheut. Ich war guter Hoffnung im achten Monat, als zwei Indianer das gerodete Stück Land betraten, das unser ist. Sie hatten vernommen, daß ich ihnen von unserem Herrn Jesus erzählen könnte. Sie wollten nur das Wort hören, aber mein Gatte kam vom Feld, er sah die Wilden und tötete sie. Er schwor, er wollte über ihren Leichen ein Herrenhaus errichten. Er begrub sie, wo er sie ermordet hatte. Als ich in den Wehen daniederlagt erschien der ältere der Ermordeten am Fuß meiner Bettstatt. Er verfluchte das Haus. Er sagte: ›Es wird ein Haus des Unglücks seyn. Der Sohn unter deinem Herzen ist voll entwickelt, aber Rache will ich nehmen für meinen Freund und mich, durch eben diesen Sohn, deinen Erstgeborenen. Seyn Körper wird ein Tempel des Übels sein‹. Andere sahen die grausige Tat meines Gatten. Sie sollen zu Zeugen gerufen seyn. James Peabody, Aaron Daves, Elisha Sprague. Gott helfe all jenen, die nach mir kommen und hier hausen. James Peabody, Nie hatte ich von ihm gehört. Jemand, der lange dahingeschieden war, ehe ich nach Kentucky gekommen war, vermutete ich. Aaron Daves. Der Mann sagte mir auch nichts. Elisha Sprague. Dieser mußte der Vater von John Sprague gewesen sein. John war nicht viel mehr als 50. Ich sah das Schriftstück noch einmal an. Aaron Daves. Als ich diesen Namen zuerst las, schien mir das Ganze nur eine Silbe zu sein. Dann dämmerte mir, daß der Name einfach falsch geschrieben war, wie auch viele andere Worte in der Botschaft. Aaron Davis – der Müller! Ich überlegte und zählte die Jahre. Ja, Aaron Davis konnte um 1780 etwa 20 Jahre alt gewesen sein. Aaron Da… Meine Gedanken machten einen Sprung. Ich hörte Ethans letzte Worte wieder: »Aufpassen… haus… fragen… Müll…« – so hatte es geklungen. Aber was er meinte, war, ich solle den
Müller fragen. Mr. Davis, den Müller. Langsam verstand ich. Der Müller hatte Ethan wahrscheinlich erzählt, daß das Haus von den Geistern der ermordeten Indianer heimgesucht war. Ethan hatte natürlich nicht daran geglaubt. Aber er wollte es mir sagen, bevor er starb. Ich überdachte es immer wieder. Die gute Frau, hochschwanger. Indianer kamen, um die Geschichte des Gottes der Weißen zu hören. Wards Vater, ohne Zweifel ein cholerischer Mann, kommt vom Feld und sieht seine Frau mit zwei Wilden sprechen. Die Indianer. Unbewaffnet. Friedlich. Wards Vater lädt seine Muskete und feuert auf den einen Indianer, der gerade noch erstaunt hochblicken kann. Der zweite ergreift wahrscheinlich die Flucht, während der grimmige Gatte neu lädt und ihn auf der Flucht niederschießt. Die arme gequälte Rachel sieht den Geist des Indianers an ihrem Bettende, hört den furchtbaren Fluch, den ihr Mann verschuldet hat. Ein Fluch über diesem wunderbaren, großartigen Haus! Voller Angst rief ich mir die Namen jener ins Gedächtnis, die seither den Tod gefunden hatten: Rachel Holderly im Kinderbett; Wards Vater, dessen Verstand durch ein Fieber zerstört wurde; Wards erste Frau Lucy, durch Typhus, als ihr Baby Mary Zilpah erst drei Wochen zählte; Wards Stiefmutter an einer Magenkrankheit; Wards Stiefschwester am Fieber; mein Bruder durch die üblen Drohungen Bensons gegen Jim Roy; sein kleines, kaum entwickeltes Baby, zu schwach zum Leben. Würde ich die nächste sein? Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn und sammelte sich in meinem Nacken. Meine Beine fühlten sich an wie aus Gummi und meine Kehle schmerzte. Holderly Hall mit seiner Schönheit und Eleganz war sicherlich verflucht. Ich war einer Ohnmacht nahe und schleppte mich in mein Zimmer. Ich wusch mein Gesicht, kämmte mein Haar und brachte mein Aussehen in Ordnung! Dann ging ich in die Küche zu
Mrs. Burnham und ordnete an, daß Benson bei seiner Heimkehr sofort zu mir kommen sollte. »Er ging sehr früh, schnappte sich gerade einen Kanten Brot und Schinken, ich glaube also, vor Abend wird er nicht zurückkommen.« Ich ging in die Bibliothek und versuchte zu lesen. Aber die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen, und ich sah immer nur Bensons Gesicht. »Sein, Körper ein Tempel des Übels.« Ich schauderte und versuchte, mich auf das Buch zu konzentrieren. Etwas irritierte mich. Ich hatte das komische Gefühl, daß in dem Raum etwas fehlte. Aber alle Möbel waren da, und niemand hatte etwas aus den Regalen genommen, wie ich deutlich sah. Ich blieb nicht mehr dort, ich hatte das Gefühl etwas Böses lauere dort. Meine Hände weit vor mich hingestreckt, um etwas – was denn? – von mir abzuwehren, wenn nötig, floh ich auf die Veranda. Mittags war ich nicht imstande, etwas zu essen. Mary Zilpah, die es gleich bemerkte, ermahnte mich zu essen, dann würde ich groß und stark werden. »Ich habe Kopfschmerzen, Liebes!« sagte ich, und es war beileibe keine Lüge. Dann folgte ich Mrs. Burnham in die Küche. Ich wollte Jim Roys Essen auf einem Tablett zu ihm bringen. »Ist er krank?« fragte Mrs. Burnham. »Nein, er wurde bestraft. Er hat Zimmerarrest.« Sie fragte nicht weiter, und das war ihre beste Eigenschaft. Niemals stellte sie Fragen über Dinge, von denen sie fand, daß sie sie nichts angingen. Clara hatte ihr Essen eigens auf einem Tablett zu Sudie ins Nähzimmer getragen. Ich vermutete, sie waren mit der Ausstattung beschäftigt, die Clara hoffentlich bald brauchen würde. Ich war froh, daß Clara mein Gespräch mit Mrs.
Burnham nicht mit angehört hatte. Sie hätte sicher nach dem Grund der Strafe gefragt. Das war kein hämischer Gedanke, einfach eine Tatsache. Sie wollte immer wissen, was vorging. Ich hoffte, sie würde nie erfahren, was Jim Roy mir erzählt hatte. Den ganzen Nachmittag wanderte ich unruhig durchs Haus mit dem Gefühl, daß irgend etwas nicht stimmte. Ich fühlte mich wie von dicken Wolken umgeben, schweren Wolken, die jeden Moment einen Sturm bringen konnten. Ich bemerkte, daß ich an meiner Unterlippe genagt hatte, sie war rauh und blutete. Ich kratzte an meinen Armen herum, ganz ohne Grand. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, sah aus den Fenstern, immer in Erwartung, etwas Gräßliches zu sehen. Meine Nerven waren angespannt bis zum Äußersten. Vielleicht weil Benson irgendwo dort draußen war und ich mich mit seiner Stärke gar nicht messen konnte, wenn er sie ins Spiel bringen wollte. Und falls er herausfand, daß Jim Roy das Geheimnis verraten hatte, trotz der Drohung, daß er ihn töten oder verstümmeln würde, wie er ihm so oft gesagt hatte… trotzdem wollte ich nicht nach Will Downey senden, wenn es nicht unbedingt nötig war… Aber mir war klar, daß es zu spät wäre, Will holen zu lassen, falls Benson hereinstürmte und seinen Bruder tötete… Ich wünschte, ich wäre katholisch erzogen worden und in ein Kloster gegangen. Es war fast finster. Benson war noch nicht zurückgekehrt. Vielleicht hatten ihn die Ereignisse von gestern, als ihn Jim Roy vor der ganzen Gesellschaft niedergeboxt hatte, auf die Idee gebracht, die Finsternis abzuwarten, dann zurückzukommen und alle im Hause niederzumetzeln? Angst schnürte mir die Kehle zu. Ich mußte losschreien – da fiel mein Blick aus dem Fenster. Ich sah eine ferne Staubwolke auf der Straße, die vom Süden her zum Haus führte. Mein Herz bekam Flügel und schwebte hoch. Sicher war es Ward, der
schon nach drei Tagen zurückkehrte! Wahrscheinlich war die Versammlung abgesagt worden, o Gott, laß es Ward sein! Aber als die Staubwolke näher kam, sah ich, daß es ein funkelnagelneuer Wagen war, nicht ein einzelner Reiter. Mein Herz sank. Wahrscheinlich waren es die Hendersons. Sie hatten genug Geld, sich einen neuen, schönen Wagen zu leisten. Langsam ging ich die vielen Stufen hinunter in den Salon. Auf einem der Beistelltischchen stand eine geschnitzte Kassette und gedankenlos verfolgten meine Finger die Schnitzerei, während ich dachte, was ich nun tun sollte. Der neue Wagen hielt vor dem Haustor, und als ich hinaustrat, sah ich, daß es wirklich Ward war! Meine Füße flogen fast über die drei Stufen, als ich ihm entgegenrannte. Er schwang sich vom Sitz und kam mir entgegen, und ich warf mich in seine Arme. Als er mich immer wieder küßte, fragte ich ihn, warum er zurückgekommen war, wo er doch zwei Wochen fortbleiben wollte. »Mr. Ferris ist an einem Fieber erkrankt, und Mr. Sidebottoms Frau bekam ihr Baby einen Monat zu früh, er wollte bei ihr bleiben. So blieb nur James Woodrow und ich – und zu zweit hatte es ja keinen Sinn, sich zu besprechen. Mr. Woodrow, der schon einen Tag vor der Sitzung nach Harrodsburg gekommen war, um seine Schwester zu besuchen, sandte mir einen Boten auf der Straße entgegen.« »Ich bin so glücklich, daß du da bist, Ward!« rief ich und warf meine Arme völlig außer mir wieder um seinen Hals. »Wie gefällt dir der neue Wagen?« fragte er, als ich ihn endlich freigab. »Prachtvoll! Wem gehört er? Ich dachte, er gehört vielleicht den Hendersons.« »Er gehört dir. Ich war bis Russelville gekommen, als ich den Boten traf. Da kehrte ich um. In Hopkinsville sah ich diesen
hübschen kleinen Wagen und kaufte ihn für dich, damit ich ein Mitbringsel hätte.« Ich freute mich, fügte aber hinzu: »Du bist das einzige, was ich gebracht haben wollte. Trotzdem, der Wagen… so modern!« Er fragte nach den Kindern. Ich erzählte, daß Mary Zilpah nach ihrer Erkältung wieder wohlauf sei. »Benson und Jim Roy…«, setzte ich an, aber ich schwieg und überlegte, wie ich ihm die Geschehnisse der letzten Tage am besten erklärten konnte. »Nun, die beiden ritten zu den Quaids wegen der neuen Scheune. Und dort gerieten sie aneinander. Benson ist fischen, wahrscheinlich will er niemanden sehen. Weißt du, Jim Roy verdrosch Benson vor all den Männern, die am Bau halfen und den Frauen und Kindern, die gekommen waren, die Mahlzeiten zuzubereiten. Wahrscheinlich schmollt Benson. Jim Roy ist in seinem Zimmer, er hat Zimmerarrest bis zum Abend. Ach Ward, wie bin ich froh, daß du da bist!« »Ich auch, mein Mädchen. Ich hoffe, Mrs. Burnham hat genug gekocht, ich bin hungrig wie ein Wolf!« »Ich gehe gleich nachsehen. Du kannst dich inzwischen frisch machen.« Ich eilte zur Küche. Ward sagte, er wolle noch vor dem Essen Mary Zilpah und Jim Roy sehen. Ich meinte, dafür wäre noch reichlich Zeit, und Mary Zilpah wäre wahrscheinlich schon eingeschlafen. Sie hatte den ganzen Vormittag im Freien gespielt, zu Mittag sehr viel gegessen, wahrscheinlich hielt sie ein Mittagsschläfchen. Als Ward wieder herunterkam, berichtete er, daß beide Kinder schliefen. »Ich sah Tränen auf Jim Roys Wangen trocknen, Jane. Er muß sich in den Schlaf geweint haben.«
Ich sagte, daß er nahe dem Weinen war, als ich ihm sein Essen gebracht hatte, und voller Reue. Mehr wollte ich nicht sagen. – Ward sollte glauben, es ginge nur um die gestrige Rauferei. Ich berichtete dann von ‘meinem Großputz und von dem schönen geschnitzten Stuhl, den ich gern repariert haben wollte. »Gefällt dir denn das alte schwere Ding?« fragte er. »Ja, die Schnitzerei ist so schön. Gehörte er deiner Mutter? Ich fand ihn in dem Schrank, den ich reinigte.« »Ja, sie brachten ihn aus dem Westen mit, irgendwann um 1778. Aber gut, wenn dein Herz daran hängt, dann lassen wir ihn eben richten.« Ich hätte ihm gern von dem Porträt seiner Mutter erzählt und der schriftlichen Mitteilung, die ich fand, als der ›Rahmen brach. Aber jetzt konnte ich nicht. Das würde warten müssen, bis der Streit zwischen Benson und Jim Roy geschlichtet war. Außerdem wollte ich vorher auch Mr. Davis besuchen und ihn fragen, ob sich die Dinge so abgespielt hatten, wie sie Wards Mutter beschrieb. Dann konnte ich Ward mit dem schriftlichen Zeugnis konfrontieren, das bewies, daß das Haus von Geistern besessen war. Sicher würde er verstehen, wieso ich die Trommeln in der Nacht gehört hatte! Es war zu himmlisch, Ward wieder zu haben, daß ich nichts hervorzerren wollte, was die Stimmung zerstört hätte. Nach einer Weile fragte Ward nach Clara. Es kam so nebenbei heraus – und ich beobachtete sein Gesicht genau –, daß ich nicht verstand, wie ich je glauben konnte, daß er ein besonderes Interesse an ihr hatte. »Clara ist viel glücklicher«, berichtete ich. »Ich glaube, sie wird bald heiraten und uns verlassen.« »Was? Wer ist denn der Bräutigam?«
»Pastor Blake. Ward, du wirst es einfach nicht glauben, aber während Sudie Clara half, ihre neuen Kleider und Unterröcke zu nähen, überredete sie Sudie, sie einen Liebeszauber zu lehren. Und – obwohl ich an solche Dinge ebensowenig glaube wie du – der Pastor kam gleich am folgenden Tag und begleitete sie zum Scheunenbau!« Ward lachte höhnisch. »Aber Janie, das war reiner Zufall! Himmel, was wird sie für eine Predigerfrau abgeben!« Dann erzählte ich ihm von meiner alten Eifersucht. »Sie ist so hübsch, und ich habe ein Durchschnittsgesicht. Ich habe oft gefürchtet, daß sie dir zuviel Aufmerksamkeit schenkt. Ich hatte Todesängste, daß du sie mir eines Tages vorziehen könntest.« »Wie konntest du nur so etwas denken, Janie? Clara mag doch nur junge Männer!« »Wieso meinst du das, Ward?« »Der junge Tod war nicht der einzige, mit dem sie am Abend unserer großen Party hinausschlüpfte.« »Was? Du hast das auch bemerkt?« »Natürlich! Andrew machte mich aufmerksam, daß meine hübsche Schwägerin mit den jungen Männern eine Menge Spaß hatte. Er sah sie auf dem Balkon in den Armen von Timothy, dem Ältesten von John Sprague. Und ich sah sie mit dem armen Addison Abel, dem Spengler, flirten. Und außerdem sah ich sie mit Tod leidenschaftliche Küsse tauschen.« »O Gott, weiß das sonst noch jemand?« »Sicher, jedermann in der Stadt – wahrscheinlich mit Ausnahme des Pastors.« »Warum also hat sie sich dann Everett Blake in den Kopf gesetzt?« »Vermute, weil er zu haben ist. Addison Abel starb inzwischen, der Sprague-Junge hat ein Auge auf Susan
Downey geworfen, und der junge Tod ist ausgezogen, um die Indianer im Westen zu bekämpfen.« Ich war noch immer ganz schockiert, – als Mary Zilpah ins Zimmer trat, sich den Schlaf aus den Augen reibend. Das kleine Mädchen sah Ward, schrie »Papa« und sprang auf seinen Schoß. Ich sandte Maggie mit einer kleinen Notiz zu Jim Roy, die besagte, daß er zum Essen herunterkommen könne. Er kam sehr schnell, sah Ward, lief auf ihn zu und sagte: »Oh, Papa. Brauche deine Hilfe. Bin so froh, daß du da bist.« Ich sah zu und lächelte zufrieden. Clara schien mir keine Bedrohung mehr, nicht einmal ein Problem. Keine bösen Indianerknaben mehr für Mary Zilpah, und wenn Jim Roy seinem Vater gebeichtet hatte, war auch dies beigelegt. Wenn nur Benson käme und ich mich verlassen könnte, daß er sich nach einem Gespräch mit Ward änderte und besserte – meine Welt wäre wieder in Ordnung. Eine beruhigende Stille schloß uns alle in Wärme und Gelassenheit ein. Aber da hörte ich den Galopp eines Pferdes aus Richtung der Ställe. »Wheee – Hoooo!« schrie der Reiter wild, als ob er noch rasender reiten wollte. »Was zur Hölle…«, sagte Ward, als er Mary Zilpah auf die Füße stellte. Er lief zur Tür. Ich folgte ihm, aber er schob mich zurück. Ward kam gerade heraus, als Benson – denn es war Benson zu Pferd – auch ans Tor kam. Kreischend und schreiend feuerte er einen Schuß ab. Sofort wußte ich, was in der Bibliothek gefehlt hatte: Er hatte die Kentuckyflinte seines Vaters genommen, die über dem Kamin gehangen hatte! Ich glaube nicht, daß Benson den Wagen seines Vaters gesehen hatte. Ich glaube auch nicht, daß er jemanden treffen wollte.
Ich glaube, er hatte sich nur zu der großartigen Szene entschlossen, auf einem Pferd mit rasender Geschwindigkeit, schreiend und feuernd am Haus vorbeizureiten, damit es jeder sehen konnte: Benson Holderly ritt in großem Stil davon. Die Kugel hatte den eisernen Fahnenmast vor dem Haus getroffen, war abgeprallt und traf Ward voll in den Magen. Benson sah sich gar nicht um. »Jim Roy!« schrie ich. »Hol Dr. Stanfield so schnell du kannst!« Mrs. Burnham, Clara und ich trugen Ward ins Wohnzimmer und betteten ihn aufs Sofa. Clara hatte den Lärm gehört und war sofort heruntergekommen. »Clara, kümmere dich um das Kind. Mrs. Burnham, schnell, Wasser!« Ich hatte noch nie im Leben direkte Befehle gegeben, aber nun war keine Zeit, zu zaudern. Ward war bewußtlos. Ich zerriß sein Hemd und versuchte, das strömende Blut zu stillen. Aber ich sah, daß alles sinnlos war. Niemand mußte mir sagen, daß er nicht am Leben bleiben würde. Nach ein paar Minuten, in denen er mit dem Atem rang, hob er den Kopf ein wenig und sagte kaum hörbar: »Janie… ich habe gelogen… war nie in der Kirche… nie hab’ ich mit dem Prediger… zu tun gehabt… weil… Vater erlaubte es nicht. Ich wünschte, ich hätte mich mehr… ich möchte glauben, daß ich dich im Himmel wiedersehe…« »Ruhig, Liebster«, sagte ich und versuchte meine Tränen zurückzuhalten, »dir steht der Himmel zu wie jedem anderen auch. Du hast mehr nach dem Wort Gottes gelebt, als jeder andere, den ich kenne.« Er schluckte mühsam. Seine Worte waren fast unhörbar, aber ich sah, daß er mir Dringendes zu sagen hatte. Ich beugte mich über seinen Mund. »Ich wünschte… ich wäre… getauft…«
»Dazu ist es nicht zu spät, Ward.« Ich schloß die Augen und sagte mir: Ich kann es nicht. Aber ich wußte, ich mußte es tun. Ich betete still um die Kraft, zu tun, was ich tun mußte. Meine Kehle war vor Bewegung wie zugeschnürt, aber ich wollte nicht, daß er verstand, daß sein Tod nahe war. Mich zur Eile zwingend, sagte ich: »Ward, bezeugst du vor den Menschen, daß du an Jesus Christus, Gottes Sohn und deinen Retter glaubst?« Seine Lippen sprachen fast unhörbar: »Ich bezeuge es.« Ich sprach die Taufformel, die ich so oft gehört hatte, tauchte meinen Finger in das Wasser und berührte seine Stirn. »Ward Holderly, Kind des Geistes, hiermit taufe ich dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.« Seine Augen hingen flehentlich an mir, und ich beugte mich wieder über ihn, um seine Worte zu hören: »Wenn das Baby… ein Mädchen… nach Mutter taufen… Rachel…« »Natürlich, mein Einziger. Ward, ich liebe dich so.« Seine Augen waren nun geschlossen und mit einer letzten Anstrengung sagte er: »Liebe… dich…«, und dann verfiel er wieder in Bewußtlosigkeit. Ich klammerte mich an seine Hand, Tränen strömten über meine Wangen. Ich hörte ein leises Geräusch – hart wie eine Brise, die das Gras streift, und ich wußte, seine schöne Mutter war nahe. »Rachel!« flüsterte ich. Das Baby in meinem Leib bewegte sich.