Buch: Etwas Ungeheuerliches passiert – das Tierreich wird gestohlen! Ein Riese aus den Bergen schrumpft die Vierbeiner ...
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Buch: Etwas Ungeheuerliches passiert – das Tierreich wird gestohlen! Ein Riese aus den Bergen schrumpft die Vierbeiner und die Vögel, die Wälder und Wiesen durch ein Zaubermittel so stark, dass er alles unter dem Arm wegschleppen kann. Als Spielzeug für seine Kinder! Entsetzt und ver zweifelt setzen sich der Löwe, der Elefant und die anderen zur Wehr, rufen auch ihre Freunde zu Hilfe. Wieder einmal müssen Jessica, der Scheuch und der Holzfäller die gefährlichen Abenteuer bestehen, um den Tieren die Heimat und ihre normale Größe zurückzugeben.
Nikolai Bachnow
Das gestohlene
Tierreich
Aus dem Russischen von Aljonna und Klaus Möckel Einbandgestaltung und Illustrationen: Hans-Eberhard Ernst
© leiv Leipziger Kinderbuchverlag Die Verwertung der Texte und Bilder, auch auszugsweise, ist ohne Zu stimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. 1. Auflage 2003 Leipzig Drucken und Binden: Offizin Andersen Nexö Leipzig Printed in Germany ISBN 3-89603-162-7
Erster Teil Das unheilvolle Pulver
DER RIESE Ein dumpfes Geräusch ertönte in der Ferne, ein Stampfen, das sich wie derholte und immer lauter wurde. Der Tapfere Löwe, Herrscher des mitten im großen Zauberland gelegenen Tierreichs, hob den Kopf. Er hatte nach einem ausgezeichneten Mahl am Fuße seiner Felsenburg in der warmen Mittagssonne gedöst, doch nun wurde er wach. Die Laute waren ungewöhnlich, wenn nicht sogar beunruhigend. Der Hase hoppelte herbei, einer seiner Minister. »Hörst du das Trampeln, Herr?«, rief er aufgeregt. »Es scheint näher zu kommen. Was mag das sein?« Der Löwe erhob sich. »Das möchte ich auch gern wissen. Ganz schön unverschämt, so unse re Mittagsruhe zu stören.« Er gähnte. Das Geräusch verstummte, erscholl aber nach einigen Minuten erneut und noch stärker. Ein Trapsen wie von Riesenstiefeln, die Gehölz nie derwalzten, Baumstämme zerbrachen. Dem Hasen zitterten vor Angst die Pfoten, der Puschelschwanz und die langen Löffel.
»Das klingt wie ein Schritt. Als stapfte ein Riese heran!« »Ein Riese bei uns? Bist du noch bei Verstand? Wo soll der herkom men?« Inzwischen flatterten erschrocken Vögel durch die Luft, verkrochen sich in ihren Nestern und Baumhöhlen. Wildschweine, Füchse, Rehe flüchteten ins Unterholz. Nun waren die Schritte schon ganz nahe. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, jagte der Hase davon und verschwand in seinem Bau. Der Lö we dagegen stieß ein wütendes Gebrüll aus. Er würde es dem Eindring ling zeigen. Doch er kam nicht dazu, den Feind ins Auge zu fassen. Ein Schatten verdunkelte die Sonne, eine Schuhsohle, fast so groß wie der Vierbeiner selbst, senkte sich auf ihn herab, so dass er mit einem jähen Satz zur Sei te springen musste, wenn er nicht zertreten werden wollte. An der Stelle, wo er gerade noch gestanden hatte, wurden ein Strauch zermalmt, ein paar mächtige Steine in den Boden gedrückt, als sei der aus Wachs. Eine Stimme, die das Löwengebrüll um ein Vielfaches übertönte, sagte dröh nend: »Das ist lustig. Das wird den Kleinen gefallen.« »Wer bist du? Wer ist das, die Kleinen? Was soll ihnen gefallen?«, woll te der König des Tierreichs fragen, verstummte aber bereits nach den ersten Worten. Der Kerl, der wie ein Turm vor ihm stand, griff nämlich in einen Sack und streute mit weitem Schwung, so als säe er Korn aus, ein graues Pulver in die Gegend. Über die Wälder, die Wiesen, die Tiere und Vögel. Der Löwe duckte sich, versuchte auszuweichen – vergebens. Das schrecklich stinkende Zeug rieselte in dichten Schwaden auf ihn, die Pflanzen und Steine ringsum herab. Der hat Schlimmes mit uns vor, will uns vielleicht sogar ersticken, schoss es dem Löwen durch den Kopf. Doch weiter kam er mit seinen Gedanken nicht. Die Beine knickten ihm weg, der Kopf wurde schwer, die Augen fielen ihm zu, und ohne etwas dagegen tun zu können, sank er betäubt zu Boden. Genau wie die anderen Wald-, Sumpf- und Steppen bewohner, die Vierbeiner und Vögel, die Schlangen, Echsen und Lurche. Selbst wenn sie sich gerade in ihren Höhlen aufhielten oder in letzter Minute dorthin geflohen waren, konnten sie nicht entrinnen. Das Pulver
und sein beißender Geruch verbreiteten sich überall, drangen in jedes Loch, jede Ritze. Höchstens trat die Wirkung manchmal später ein, war ein bisschen schwächer. Auf jeden Fall aber reichte sie aus, den Tieren das Bewusstsein zu nehmen, so dass sie stumm dalagen, sich nicht mehr regen und keinen Laut mehr von sich geben konnten. Aber noch etwas anderes, ganz Eigenartiges geschah! Es betraf neben Tieren und Vögeln auch die Bäume, Büsche, Pflanzen und sogar die Steine. Niemand außer dem Kerl, der das Pulver verstreut hatte, bemerk te anfangs die Veränderung, dämmerten doch alle in tiefer Benommen heit dahin. Und selbst als der Löwe wieder zu sich kam, begriff er die neue Lage nicht. Um ihn herum war es stockfinster, er fühlte sich einge quetscht, der Boden unter ihm schwankte und es kam ihm vor, als trüge man ihn davon. Ich bin in einen großen Teppich eingerollt, dachte er, der Riese hat mich betäubt und ein Tuch um mich geschlagen, er will mich in seine Höhle schleppen, vielleicht um mich am Spieß zu rösten. Ich muss mich unbedingt befreien. Nach und nach gelang es dem Vierbeiner, sich etwas Raum zu ver schaffen. Er streckte die Pfoten aus und kroch langsam ins tiefe Dunkel hinein – er sah nirgends Licht. Nein, da war nicht bloß eine Decke um ihn und allein war er hier auch keineswegs: Er stieß auf Steine, Ge sträuch, Bäume, genau wie bei sich zu Hause. Vögel flatterten vor ihm auf und ein Reh sprang über moderndes Holz. Denn in Wirklichkeit hatte der Riese nicht nur ihn, sondern den gan zen Wald eingepackt. Als Spielzeug für seine Zwillinge. Er beherrschte einige Zaubertricks und hatte das Pulver so zusammengemixt, dass alle Lebewesen und Gegenstände auf eine ihm genehme Größe schrumpften. Zufrieden hatte er zugeschaut, wie das gesamte Tierreich unter ihm klei ner und kleiner wurde, bis es sich nur noch als großer grüner Teppich darbot. Mit groben Händen hatte er diesen Teppich vom steinigen Un tergrund gelöst und ihn mit allem, was darauf wuchs, fleuchte oder kreuchte, zu einer riesigen Rolle geformt. Ähnlich wie man den Kunstra sen in einem Fußballstadion zusammenwickelt. Dann hatte er den Pak ken unter den Arm genommen und war davongestapft, auf sein weit entferntes heimatliches Tal zu.
Das alles aber war so ungeheuerlich, dass niemand in der »Teppichrol le«, weder der Löwe noch die anderen Tiere, die nun allmählich wieder zu sich kamen, auch nur das Geringste von den wirklichen Vorgängen ahnte. Jeder suchte verzweifelt nach einem Ausweg oder duckte sich, je nach Temperament, im Finstern ängstlich ins Gras. Erst viel später wur de erkennbar, was sich genau zugetragen hatte, und manches Kaninchen, manches Äffchen begriff es selbst dann noch nicht.
EINE KAHLE EBENE Etwa um die gleiche Zeit waren der Weise Scheuch, seine Frau Betty Strubbelhaar und das Mädchen Jessica aus der Menschenwelt im großen Zauberland unterwegs. Sie kamen aus der berühmten Smaragdenstadt, die einst von Goodwin dem Schrecklichen erbaut worden war, und woll ten ihren Freund besuchen, den Tapferen Löwen. Von ihm hatten sie eine Einladung zum Grünen Urwaldfest erhalten, auf das sie sich sehr freuten. Jessica hatte extra deswegen den Fliegenden Trog benutzt, der noch von der Hexe Gingema stammte und sie stets sicher über die Welt umspannenden Berge hierher ins Land der Märchenwunder brachte. Und noch eine im Zauberland bekannte Persönlichkeit hatte sich ins Tierreich aufgemacht: der ganz und gar aus Blech bestehende Eiserne Holzfäller. Auch er wollte zum Fest und die Freunde treffen. Begleitet wurde er aber nicht etwa von seiner Katze Mia, einem höchst eigenwilli gen Tier, das jedoch lange Wege scheute, sondern von einem Hündchen namens Knacks. Der Eisenmann hatte bei dessen Herrn, einem ihm be kannten Bauern, übernachtet und von der Einladung erzählt, woraufhin der Hund ganz aufgeregt wurde. Nicht ohne Grund, war er doch nicht irgendwer! Schließlich hatte er mit Jessica, dem Scheuch und dem Löwen schon einige Abenteuer erlebt. Im Reich der Unsichtbaren Fürsten zum Beispiel oder beim Kampf gegen den gefährlichen Drachenkönig. Nun bettelte er und bettelte, bis der Holzfäller bereit war, ihn mitzunehmen. Für den Bauern war das eine Ehre und so ließ er ihn, wenn auch ungern, ziehen.
Der Scheuch und seine Freunde trafen als Erste an der Grenze zum Tierreich ein, das an dieser Stelle hinter einer Hügelkette begann. Sie kletterten auf eine der Anhöhen und schauten ins Land hinab. Aber statt grüner Wälder und saftiger Wiesen erblickten sie nur eine kahle Ebene. Die drei waren derart verblüfft, dass sie mit offenen Mündern dastanden und eine ganze Weile kein Wort herausbrachten. Schließlich sagte die Puppe Betty, oft auch einfach Prinzessin genannt, leise: »Was ist denn das? Bin ich wach oder mit euch gemeinsam in einem schrecklichen Traum? Seht ihr auch, was ich sehe?« Jessica schloss die Augen und öffnete sie wieder. »Sind wir einen falschen Weg gegangen?«, fragte sie. »Das da kann doch nicht das Reich meines geliebten Löwen sein.« »Das Land Dickhauts, des Hasen Mümmel und all der anderen«, er gänzte Betty. Der Scheuch fand endlich die Sprache wieder.
»Nein, das kann es wirklich nicht sein«, murmelte er. »Für einen Mo ment dachte ich, man gaukelt nur mir etwas vor. Aber da wir anschei nend alle das gleiche Bild vor Augen haben…« »Haben wir uns im Weg geirrt?«, wiederholte Jessica. Das schien ihr noch die einleuchtendste Erklärung. »Wir haben den Gelben Backsteinweg genommen«, antwortete der Scheuch, »den Großen Fluss überquert, uns links vom Kupferwald gehalten und die Abkürzung durch die Trompetenschlucht genutzt, wie immer. Dort drüben, jenseits der Felsen, liegt das Tal der Fragen. Es gibt keinen Zweifel, dass wir hier am richtigen Ort sind.« »Aber wo sind die Bäume hin, die Büsche, die Tiere?« Betty hob ver zweifelt die Arme. »Das sieht nach Hexerei aus«, murmelte der Scheuch düster. »Der arme Löwe! Mein freundlicher Elefant Dickhaut!« Jessica begann zu weinen. »Vielleicht ist alles nur ein Trugbild.« Betty setzte sich entschlossen in Bewegung. »Schauen wir uns das Ganze mal aus der Nähe an.« Sie liefen den Hügel hinab, hoffend, dass sie gleich auf Bäume und Bü sche stoßen würden, zwischen denen ein Reh graste, einige Vögel schwirrten. Doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil, unten, auf sandigem und steinigem Grund, aus dem nur manchmal eine abgebro chene Wurzel ragte, sah alles noch trostloser aus. »Wie still es hier ist«, flüsterte Jessica. »Wie auf einem Friedhof.« »Ein Friedhof ist nichts dagegen«, erwiderte die Puppe. »Da wispert der Wind in den Bäumen und die Vögel zwitschern.« Der Scheuch untersuchte den Boden, doch das brachte sie nicht viel weiter. »Einen Brand hat es nicht gegeben«, erklärte er, »sonst würden wir auf Asche stoßen und auf verkohlte Baumstämme.« »Kaum zu glauben, dass sogar der schöne Waldboden weg ist.« Betty konnte es einfach nicht fassen. »Als hätte jemand den weichen Grund von den Steinen gelöst«, sagte Jessica. »Nur ein paar Wurzeln sind stecken geblieben.«
Sie wurden unterbrochen. Blech schepperte und aufgeregtes Kläffen war zu hören. Der Holzfäller und Knacks bogen um einen der Hügel. Als der Hund die Freunde aus der Smaragdenstadt entdeckte, gab es für ihn kein Halten mehr. Er stürmte heran und sprang so begeistert an Jes sica hoch, dass sie fast hingefallen wäre. »Knacks? Wie hast du hierher gefunden?« Das Mädchen war nicht we niger erfreut. Wie stets, wenn sie sich begegneten, gab es eine herzliche Begrüßung. Der Holzfäller erklärte die Sache mit dem Hündchen, der Scheuch rich tete beste Grüße von Minister Din Gior aus, der in seiner Abwesenheit die Regierung übernommen hatte. Doch sofort wandten sie sich wieder dem verschwundenen Tierreich zu. Knacks und der Eisenmann waren genauso bestürzt wie die anderen. »Das Ganze grenzt an Hexerei«, sagte der Scheuch. »Wenn Kaligmo noch im Kupferwald herumgeisterte, würde ich ihn verdächtigen.« Die Strohpuppe spielte damit auf einen sehr gefährlichen Zauberer an, mit dem sie sich einige Zeit zuvor herumgeschlagen hatten. »Der Silberwolf hat ihn verspeist und das ist recht so«, erwiderte der Holzfäller. »Er war ein böser, gewalttätiger Mann. Doch bei allem Re
spekt vor seinen schwarzen Künsten: Das Reich unseres Tapferen Lö wen wegzuzaubern, hätte selbst er nicht vermocht.« Die Freunde nickten. Bis auf Knacks hatten sie es alle mit dem Hexer Kaligmo zu tun gehabt, aber so heimtückisch er auch gewesen war – für eine solche Tat hätten seine Fähigkeiten bestimmt nicht gereicht. »Kaligmo kann es ebenso wenig gewesen sein wie die grausamen Zau berinnen Gingema und Bastinda«, sagte Prinzessin Betty nachdenklich. »Die leben ja gleichfalls nicht mehr.« »Zum Glück ist Gingema damals von Elli, der Fee des Tötenden Häu schens, erledigt worden«, bestätigte der Scheuch, »und an Bastindas En de haben wir selbst mitgewirkt. Sogar ihren bösen Schatten mussten wir später noch besiegen.« Man merkte, dass er stolz auf diese Erfolge war. Inzwischen hatte sich Knacks auf der Ebene umgeschaut, war hierhin und dorthin gerannt. Mit der Nase am Boden schnüffelnd, kläffte er: »Kommt mal her zu mir! Hier ist so ein komischer Geruch.« »Was denn für ein Geruch?« Die anderen rannten hin. »Und hier ist eine Vertiefung im Gestein«, fügte der Hund hinzu. »Mit Resten von Erde und zerdrücktem Gras. Man könnte meinen, es handle sich um einen gewaltigen Fußabdruck.« Jessica war als Erste an der Stelle. »Knacks hat Recht«, rief sie. »Es stinkt und sieht aus wie eine Kuhle von einer Riesensohle.« Alle begutachteten die Vertiefung und der Scheuch kratzte sich den Kopf. »Sonderbar. Ob das vielleicht etwas mit dem verschwundenen Wald zu tun hat?« »Knacks könnte die Spur weiterverfolgen«, schlug das Mädchen vor. »Welche Spur denn?«, fragte der Holzfäller. »Ich sehe nur den einen Abdruck. Ob der wirklich von einem Schuh stammt, ist zu bezweifeln.« »Immerhin gibt es diesen Geruch«, beharrte Jessica. Betty stimmte ihrer Freundin zu. »Knacks soll ruhig seine Nase gebrauchen. Wir haben doch sonst kei nen Anhaltspunkt.«
Doch der Hund hatte seine Schwierigkeiten. »Na ja, das ist nicht so einfach. Der Geruch ist überall, mal etwas stär ker, mal schwächer.« Der Scheuch strengte sein Hirn an, dass ihm die Nadelköpfe aus dem Kopf drangen – das Zeichen seiner Intelligenz. »Moment mal«, sagte er. »Wenn der Abdruck doch von einem Schuh stammt, muss es sich um einen Riesen handeln und der war bestimmt nicht einbeinig.« »Ja, das könnte uns weiterbringen.« Betty ließ sich von dem Argument ihres Mannes überzeugen. »Wir müssen nach einer zweiten Vertiefung suchen.« »Und falls es einen zweiten Abdruck gibt, existieren noch weitere«, er gänzte die Strohpuppe. »Irgendwo wird der Hüne ja hergekommen sein.«
»Genau. Das ist die Fährte, der wir folgen können«, meldete sich wie der Jessica. Der Holzfäller wiegte den Kopf. »Noch sind das alles Vermutungen. Aber einverstanden, machen wir uns auf die Suche. Mein Herz sagt mir, dass unsere Freunde in Gefahr sind und wir etwas unternehmen müssen.« Wie der Weise Scheuch sein Hirn und der Tapfere Löwe seinen Mut, hatte der Eiserne Holzfäller sein gütiges Herz einst vom Großen Good win bekommen. Obwohl es nur aus Seide und mit Sand gefüllt war, sah er es als seinen wertvollsten Besitz an. Sie verteilten sich und erneut war es Knacks, der den zweiten Sohlen abdruck fand. Er bellte die anderen herbei. »Dann scheint es in der Tat ein Riese gewesen zu sein.« Betty sah sich ängstlich um. »Was für gewaltige Füße! Ob er noch in der Nähe ist?« »Nein, nein, du brauchst keine Angst zu haben«, beruhigte sie der Scheuch, »man würde ihn hören und sehen. Er muss so groß sein, dass
er sich höchstens hinter den Hügeln verstecken könnte. Und von dort sind wir ja gekommen.« »Trotzdem, das Tierreich kann er nicht weggenommen haben.« Der Holzfäller kam auf das eigentliche Problem zurück. »Wie hätte er das schaffen sollen?« »Und wenn doch? Vielleicht ist er nicht nur gewaltig groß, sondern auch ein Zauberer«, wandte Jessica ein. »Das wäre sehr schlimm«, murmelte der Scheuch, »aber wie es sich auch immer verhält, wir dürfen nicht klein beigeben. Wären Dickhaut und der Löwe an unserer Stelle, würden sie uns auch nicht im Stich las sen.«
DER KLEINE BÄR Inzwischen war Knacks weitergerannt. Stolz auf seine bisherigen Ent deckungen, beschnüffelte er Steine und Erdreste, um neue Spuren zu finden. Der Gestank verlor sich langsam, aber plötzlich stieg ihm ein anderer fremder Geruch in die Nase. Er kam aus einer Senke, die durch eine herausgerissene Wurzel entstanden war. Etwas bewegte sich dort. Mit lautem Gebell stürmte der Hund auf die Stelle zu. Doch genauso jäh stoppte er wieder, legte in letzter Sekunde eine Notbremsung hin. Ein kleiner Bär richtete sich in der Kuhle auf, hob wütend und mit wil dem Gebrumm die Tatzen. Mit einem Bärenjungen, selbst wenn es kaum größer war als Knacks selbst, wollte sich der Hund nicht anlegen. Zumal man von dem da viel leicht einige Auskünfte erhalten konnte. »Schon gut, entschuldige, ich will keinen Streit.« Er beeilte sich, den kleinen Bären zu besänftigen. »Im Gegenteil, ich bin froh, dass wir dich treffen.« »Und warum stürzt du dann so auf mich los?« »Tu ich doch gar nicht. Ich dachte bloß…« Was er genau gedacht hat te, konnte Knacks nicht mehr sagen. Der Bär beruhigte sich.
»Du hast mir gerade noch gefehlt«, murrte er. »Einen Riesenhund wie dich habe ich hier noch nie gesehen. Aber ich finde mich sowieso nicht mehr in der Welt zurecht.« »Ich, ein Riesenhund?« Knacks wusste nicht, ob er lachen oder sich är gern sollte. »Auch wenn du noch sehr jung bist, solltest du nicht solche Witze machen.« »Ich bin nicht jung. Man sieht doch, dass ich meine Jahre auf dem Bu ckel habe.« Die anderen hatten den Bären gleichfalls entdeckt und kamen heran. »Endlich jemand, mit dem man sprechen kann«, stellte der Scheuch er freut fest. »Was um Himmels willen ist bei euch geschehen, mein Klei ner?« Beim Erscheinen der Freunde wich der Bär zurück. »Wer seid ihr und was tut ihr hier? Gehört ihr zu dem Riesen, der uns betäubt hat?« »Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Betty. »Wir kommen aus der Sma ragdenstadt und wollten deinen Herrscher besuchen, den Tapferen Lö wen. Doch plötzlich ist hier nichts als eine kahle Fläche. Was ist pas siert?« Der Bär blieb misstrauisch. »Ihr kommt aus der Smaragdenstadt? Stimmt, der Beschreibung nach könntest du der Weise Scheuch sein und du der Eiserne Holzfäller. Der Löwe hat oft von euch erzählt. Ich dachte allerdings immer, ihr beiden wärt kleiner als ich.« Knacks zupfte Betty am Rock. »Dieses Bärenkind hat bestimmt einiges durchgemacht«, flüsterte er, »es scheint ziemlich verwirrt. Es behauptet, schon einige Jahre auf dem Buckel zu haben, und hat mich als Riesenhund bezeichnet.« »Ich weiß nicht, weshalb wir kleiner sein sollten als du«, entgegnete der Scheuch, »aber lassen wir das mal beiseite. Sag uns lieber, wohin der Wald verschwunden ist. Wo sind all die Tiere? Wo ist deine Mama?« »Meine Mama? Ich hab sie seit Jahren nicht gesehen, zum Donnerwet ter! Ich bin doch kein Kind!«
»Schon gut, sei nicht gleich eingeschnappt.« Betty blinzelte dem Scheuch zu. »Wir wollen nur erfahren, was geschehen ist.« »Das wüsste ich selber gern«, brummte der Bär. »Erst kam dieser Riese und streute sein Pulver. Das stank so, dass ich ohnmächtig wurde. Dann wachte ich im Dunkeln auf und es war, als sei der Wald um mich herum gewickelt, mit all seinen Bäumen und Tieren. Ihr glaubt mir nicht, was?« »Deine Geschichte klingt wirklich unglaublich«, gab Jessica zu. »Trotz dem, was passierte danach?« »Der Riese, oder was es sonst war, schleppte uns fort, unterm Arm, nehme ich an. Zusammen mit diesem Packen Wald. Aber ich sah Licht, ich war zufällig am Ende der Rolle. Ich kroch zum Rand und guckte nach unten. Ich kann euch sagen, eine schauderhafte Höhe. Ihr stellt euch nicht vor, wie erschrocken ich war.« »Doch, doch.« Betty ging auf ihn ein. »Es muss furchtbar für dich ge wesen sein.« »Dazu kam, dass die Welt um einen her schwankte«, fuhr der Bär fort. »Der grobe Kerl marschierte nämlich ziemlich schnell. Mir wurde schlecht, bevor ich abstürzte.« »Du bist heruntergefallen?«, fragte der Scheuch. »Wäre ich sonst hier? Ein Wunder, dass ich mir nicht alle Knochen ge brochen habe. Mein Glück war, dass sich das Ende der Rolle in diesem Moment zum Boden neigte. Halb bin ich wohl auch gesprungen. Jeden falls kam ich auf meinen Tatzen an.« »Und der Riese?«, mischte sich zum ersten Mal der Holzfäller ein. »Hat nichts gemerkt und ist weitergestapft. Er kam mir noch viel grö ßer vor als vorher.« Sie schwiegen, waren jeder für sich damit beschäftigt, diese ungeheuer liche Geschichte zu verdauen. Schließlich sagte der Scheuch: »Nimm’s mir nicht übel, Bär. Du meinst also, dass du nicht mehr jung, sondern schon erwachsen bist?« »Natürlich meine ich das. Von mir laufen mindestens zwölf Kinder im Wald herum.«
»Und du behauptest, der garstige Kerl hätte das gesamte Tierreich un term Arm weggetragen?« »Das weiß ich nicht. Es war ein großer Packen mit Büschen, Bäumen und Tieren.« »Du hast auch erzählt, dass er dir beim zweiten Mal viel größer er schien als zuerst.« »Er war größer!«, stellte der Bär entschieden fest. »Dann ist alles klar«, schlussfolgerte der Scheuch, »nur so kann es ge wesen sein.« »Nur so? Wie denn?«, wollte Jessica aufgeregt wissen. Auch die ande ren schauten die Strohpuppe erwartungsvoll an. »Denkt mal an das Pulver, von dem unser Freund, der Bär, gesprochen hat.« »Was soll damit sein?«, fragte Jessica. »Es stank und er ist davon ohn mächtig geworden.« »Richtig, der Hüne hat damit wohl alle betäubt, so dass sie nicht weg laufen konnten. Aber es muss noch eine andere Wirkung gehabt haben.«
»Du willst sagen…«, begann Betty Strubbelhaar, die bereits begriffen hatte. »… dass alles durch dieses Pulver geschrumpft ist«, führte der Eiserne Holzfäller den Satz zu Ende. »Der Wald, die Wiesen, die Tiere und Vö gel.« »Genau«, bestätigte der Scheuch. »Leider auch unser Bär.« »Geschrumpft? Das ist ein Ding.« Knacks schaute den Petz mitleidig an. Der Bär brummte wütend auf. Er wollte es nicht wahrhaben. »Wie groß warst du früher?«, fragte ihn der Scheuch. »Etwa so groß wie der Tapfere Löwe?« »Das bin ich auch jetzt noch. Kein bisschen kleiner«, erklärte der Petz stolz. »Vielleicht bist du es«, erwiderte der Scheuch, »falls der Löwe gleich falls geschrumpft ist.« »Aber ich spreche von der Zeit vor dem Riesen. Da waren wir anderen nämlich etwas kleiner als unser Freund und wir haben uns nicht verän dert.« »Na und?«, fragte der Bär trotzig. Er war nicht der Klügste und hatte Mühe, diesen komplizierten Gedankengängen zu folgen. »Wenn du so groß wie der Tapfere Löwe warst, warum reichst du uns jetzt nur bis zum Gürtel?«, half ihm Betty auf die Sprünge. Man sah, dass der Bär seinen Kopf anstrengte. Er wurde ganz still. Schließlich stieß er einen tiefen Seufzer aus. »Ihr nehmt wirklich an, dass ich kleiner geworden bin, viel kleiner?« »Es hat euch alle getroffen. Wie hätte dieser Riese, so stark und gewal tig er immer gewesen sein mag, sonst ein ganzes Reich fortschleppen können?« Der Scheuch deutete auf die kahle Ebene. »Nur deshalb hast du mich auch als Riesenhund bezeichnet«, wuffte Knacks. Der Bär hatte endlich verstanden. »Aber das ist gemein, ganz gemein«, beklagte er sich. Große Tränen kullerten aus seinen Augen.
Jessica bückte sich und strich ihm über den Kopf. »Sei nicht traurig, Hauptsache, du bist gerettet. Wer weiß, was der Räu ber mit den anderen Tieren vorhat.« »Gerettet? Und wovon soll ich mich ernähren? Hier wächst nichts mehr, nichts! Außerdem rennt mich jetzt jeder Ziegenbock über den Haufen.« »Du solltest nicht nur an dich denken. Die anderen hat es ja gleichfalls getroffen«, tadelte milde der Holzfäller. Prinzessin Betty jedoch, die mit dem Petz mitfühlte, versuchte ihn zu trösten: »Auf einen Ziegenbock wirst du so schnell nicht treffen«, sagte sie. »Such dir am besten eine Höhle zwischen den Hügeln, dort findest du bestimmt auch etwas zu fressen. Glaub mir, wir bringen das wieder in Ordnung.«
Der Bär schien nicht überzeugt, brummte und jammerte noch ein Weilchen, trollte sich dann aber. Der Scheuch wandte ein: »In Ordnung bringen, das ist leicht gesagt.« »Machen wir uns auf den Weg zu dem Räuber«, erwiderte die Prinzes sin. »Damals, als Pet Riva dich und Din Gior in Riesen verwandelt hatte, dachte ich auch, es wäre für immer. Wir dürfen nicht den Mut verlieren.«
DER STEINBOCK An die Zeit, da er selbst ein Riese gewesen war, erinnerte sich der Weise Scheuch nicht so gern. Pet, ein Freund und eifriger Hobby-Zauberer, hatte ihn und seinen Minister versehentlich dazu gemacht, als sie gegen den gefährlichen Drachenkönig kämpften. Gewiss, mit langen Beinen kam man schnell voran und es war auch gut, viel Kraft zu haben, doch die Nachteile überwogen. Zum Beispiel passte man in kein Haus, in kein Bett mehr, ging durch keine Tür. Ihren schönen Palast konnten sie nicht
mehr betreten, sondern nur noch von außen durch die Fenster gucken. Nein, danach sehnte sich der Herrscher der Smaragdenstadt nicht zu rück. Freilich, lange Beine wären ihnen jetzt zugute gekommen. Zwar war es nicht schwer, die Spur des Räubers zu verfolgen; sie stießen immer wie der auf Erde und Äste, die herabgefallen waren, und die Fußabdrücke konnte keiner übersehen. Doch der Weg zog sich hin und bald wurde klar, dass es direkt in die Berge ging. »Ich hoffe nicht, dass wir die Felswände hinauf müssen«, stöhnte der Holzfäller, »wir haben keinerlei Ausrüstung dabei.« Die anderen mussten insgeheim lächeln. Alle wussten: Auch wenn sie eine Ausrüstung besessen hätten – Klettern war nicht die starke Seite des Eisenmannes. Dessen ungeachtet wurde es hüglig. Sie mussten einen steilen Pfad be nutzen, um über die ersten Anhöhen zu kommen. Hier war das Tierreich zu Ende und die Büsche, das Gras wuchsen wieder. Ihnen kam es wie ein Zeichen der Hoffnung vor. »Machen wir eine Pause«, schlug Betty vor, »wir sind schon Stunden unterwegs und haben noch ein gutes Stück Wegs vor uns.« Die Freunde waren einverstanden. Sie suchten sich eine günstige Stelle, warfen sich ins Gras oder nahmen auf Steinen Platz, um auszuruhen. Jessica und Knacks allerdings hielt es nicht lange. Der Hund war als Er ster wieder auf, begann die Umgebung zu durchstreifen und das Mäd chen folgte ihm. Wenn es auch nicht viel zu entdecken gab, so schauten sie doch hinter jeden Strauch und jeden größeren Stein, in der Hoffnung, ein weiteres, vielleicht geschrumpftes Tier zu entdecken. Schließlich gelangten sie zu einer Felswand und beschlossen umzukeh ren. »Hier scheint der Riese nicht entlanggegangen zu sein«, sagte Knacks, »ich finde keinerlei Spuren mehr.« Jessica nickte. »Wahrscheinlich ist er weiter drüben gelaufen.« Knacks schnupperte noch ein bisschen herum und wollte sich gerade abwenden, als über ihnen ein Meckern ertönte:
»Was treibt ihr denn da unten?« Die beiden schauten hoch und erblickten einen Steinbock. Soweit sie es beurteilen konnten, war er von normaler Größe. »Wir halten Ausschau nach einem Riesen«, erwiderte Jessica. »Wir fra gen uns, ob er hier vorbeigekommen ist.« »Und wenn es so wäre?«, erkundigte sich der Steinbock, ein schönes Tier, das auf einem schmalen Felsvorsprung so sicher wie auf dem Erd boden stand. »Warum sucht ihr ihn?« »Wir wollen uns an seine Fersen heften«, knurrte Knacks. »Es sieht aus, als sei er ein unverschämter Räuber.« Der Steinbock hielt den Kopf schief. »Was soll er gestohlen haben?« »Hast du ihn gesehen oder nicht?«, fragte Jessica zurück. »Ich bin gerade erst hier angekommen. Riesen tauchen in dieser Ge gend selten auf, im Grunde gar nicht. Es könnte aber sein, dass trotzdem einer unterwegs war. Vor einiger Zeit habe ich mich über ein lautes Trapsen in der Ferne gewundert.« »Woher kam das Trapsen?«, erkundigte sich der Hund. »Ungefähr von dort.« Der Steinbock zeigte es mit dem Huf. »Das könnte hinkommen«, bestätigte Jessica, »dort vermuten wir ihn auch.« Dann wollte sie noch wissen: »Gehörst du zum Tierreich?« »Nicht direkt. Ich halte mich meist außerhalb seiner Grenzen in den Bergen auf.« »Dann weißt du also nicht, was passiert ist?« »Was soll denn passiert sein? Hat sich dieser Riese einen Ochsen ge holt?« Den Steinbock schien die Geschichte wenig zu interessieren. »Wenn es bloß das wäre.« Jessica schilderte, was geschehen war. Nun zeigte sich der Bock doch bestürzt. »Das ist ja ungeheuerlich.« »Wenn du’s nicht glaubst, schau es dir selber an«, sagte Jessica, »aber besser wäre, du würdest uns helfen.« »Wie denn?«
»Du kennst dich doch in den Bergen aus. Wohin könnte der Riese ge gangen sein?« »Dort, wo ich mich im Allgemeinen aufhalte, ist er sicher nicht. Es ist Jahre her, dass bei uns mal einer gesichtet wurde. Vielleicht weiter west lich, in der Schwarzen Schlucht.« »Schwarze Schlucht klingt nicht gut«, stellte Knacks fest. »Mag sein, aber das sollte uns nicht aufhalten«, entgegnete das Mäd chen tapfer. »Und wenn es mehrere Riesen sind?«, wandte der Hund ein. »Was denkst du, Steinbock, ob dort mehrere von seiner Sorte hausen?« »Keine Ahnung. Hab zum Glück noch nie mit ihnen zu tun gehabt.«
»Du bist schneller als wir«, sagte Jessica. »Könntest du dich nicht ein wenig in der Schlucht umschauen?« »Das dürfte ziemlich gefährlich sein. Außerdem muss ich zurück zu meinem Rudel.« Der Steinbock war nicht erfreut. »Wir haben dir doch erklärt, dass es um sehr viel geht, um das gesamte Tierreich«, beharrte Jessica. »Ich will es mir überlegen«, gab der Bock zur Antwort und setzte ohne weitere Worte mit elegantem Sprung zum nächsten Felsvorsprung hin über. Mit Sätzen von mehreren Metern jagte er davon, dorthin, wo noch vor kurzem das Tierreich gewesen war. »Jetzt überzeugt er sich, ob unsere Geschichte stimmt«, knurrte Knacks. »Das ist sein gutes Recht. Ich würde die Sache auch erst glauben, wenn ich die leere Ebene mit eigenen Augen gesehen hätte.« »Er hilft uns bestimmt nicht. Ich kenne die Ziegen von unserem Bau ernhof. Sie sind einerseits stur und reißen andererseits vor jeder Maus aus.« Jessica lächelte. »Mir kam es vor, als hättest du selber nicht viel Lust, diese Schwarze Schlucht aufzusuchen. Warten wir einfach ab, was er tut.« Sie liefen zu den Freunden zurück, die bereits unruhig geworden wa ren. »Wo bleibt ihr denn so lange?«, rief Betty. »Wir wollten euch schon su chen.« Die beiden berichteten und der Scheuch fragte: »Habt ihr denn erfahren, wo diese Schlucht liegt?« »Westlich der Hänge, an denen er sich meist aufhält, hat der Steinbock gesagt«, erwiderte Jessica. »Und wo befinden sich die Hänge?«, wollte der Holzfäller wissen. »Äh… hm.« Verlegen mussten die beiden zugeben, dass sie sich da nach nicht erkundigt hatten. »Egal, wir finden sie schon, ich nehme einfach die Spur wieder auf«, verkündete Knacks etwas schuldbewusst.
»Wird uns wohl gar nichts anderes übrig bleiben«, brummte unzufrie den der Weise Scheuch.
OCKI UND BOMM Der Löwe konnte nur abwarten. Um ihn her war es nach wie vor stock dunkel, der Boden schwankte und er fühlte sich noch immer von dem Pulver gelähmt. Nachdem er eine Weile zwischen schief stehenden Bäumen und Gebüsch herumgekrochen war, legte er sich wieder hin, dämmerte erneut ein. Plötzlich jedoch gab es einen Ruck, er sauste mit samt dem Packen Wald, in dem er sich befand, in die Tiefe und schlug hart auf. Vor Schmerz und Wut brüllte er laut los, hörte aber sofort auch das Geheul anderer Tiere. Doch das war nicht alles. Riesenfinger grapschten in den Wald und rollten ihn auseinander, so dass die Raub katze eine ganze Weile herumgewirbelt und um die eigene Achse gedreht wurde. Unvermutet wurde es hell und der Löwe schloss geblendet die Augen. Erst nach einigen Sekunden öffnete er sie wieder, nahm die Sonnen strahlen wahr, die durchs Gezweig blinkten. Die Bäume standen jetzt gerade und der Boden unter ihm fühlte sich fest an. Allerdings war er von Bruchholz übersät. Außerdem lagen große Steinbrocken zwischen den Bäumen, von denen einige zu seiner Felsenburg gehörten, wie er später erkannte. Der Riese schien weggegangen zu sein, er war nicht mehr zu sehen. Der Löwe rappelte sich auf. Wenngleich ihm alle Knochen wehtaten, hatte er sich zum Glück im Unglück nichts gebrochen. Er brüllte: »Dickhaut, Mümmel, wo seid ihr? Habt ihr euch verletzt? Kommt bitte her zu mir, wir müssen uns beraten.« Ein Trompetenstoß ertönte und der Elefant brach durchs Gebüsch. Zugleich näherten sich von allen Seiten Tiere, die gar nicht gerufen wor den waren. Sie erhofften von ihrem Herrscher eine Erklärung. Dickhaut ging es ebenfalls relativ gut, er hatte, genau wie der Löwe, die Ereignisse einigermaßen heil überstanden. Doch nicht jeder war so glimpflich davongekommen. Man sah Rehe, die sich den Huf verknackst
hatten, Affen mit gebrochenem Arm, Giraffen mit verrenktem Hals. Ein junger Fuchs hatte sich den Kopf blutig geschlagen und musste von sei ner Mama getröstet werden. Ein Jaguar war in einen Dornenbusch gefal len und mit langen Stacheln gespickt – ein Marabu zog einen nach dem anderen heraus. Doch auch die verwundeten Tiere hinkten oder krochen heran, wollten wissen, was sich zugetragen hatte. Als letzter hoppelte ein Langohr herbei, eindeutig ein Hase, der freilich ungewöhnlich groß war, fast so groß wie der Tapfere Löwe. Als er die anderen erblickte, blieb er verblüfft stehen. »Was ist denn mit euch passiert?«, fragte Mümmel. »Seid ihr’s über haupt? Noch nie hab ich so kleine Elefanten und Löwen gesehen.« »Ich dagegen frage mich, ob du unser Mümmel bist«, erwiderte der Herrscher des Tierreichs. »Wieso bist du so gewaltig groß geworden? Schau dir doch all die anderen hier an und die Bäume. Alles ganz nor mal.« »Normal? Das meinst du nicht im Ernst. Und was ist mit der Antilope dort?« Tatsächlich stand zwischen einigen viel kleineren und schwächeren Artgenossen eine Antilope, fast so mächtig wie der Elefant. Jedermann schaute auf das nach seiner Meinung riesenhafte Tier. Dickhaut sagte: »Was ist bloß geschehen? Man hat uns betäubt und einige sind inner halb kurzer Zeit unmäßig gewachsen.« Der Marabu, der dem Jaguar inzwischen den letzten Stachel herausge zogen hatte, trat vor. »Ich glaube nicht, dass einige gewachsen sind, sondern gebe Mümmel Recht. Die Antilope ist geblieben, wie sie war. Während wir…« Er seufz te. »Du giltst als weise, Marabu.« Der Löwe blickte ihn erstaunt an. »Du willst doch nicht behaupten, dass wir alle hier Unrecht haben.« »Der Waldrand ist nicht weit entfernt und ich bin dort zu mir gekom men«, erklärte der Marabu. »Ihr werdet es nicht für möglich halten, aber rings um uns her befinden sich jetzt hohe Berge.«
»Berge?«, fragte zweifelnd Dickhaut. »Du meinst die Hügel beim Tal der Fragen!« »Nein, ich spreche von einem mächtigen Gebirge. Wir sind mit all un seren Wäldern in ein Tal verschleppt worden, das zwischen gewaltigen Felshängen liegt.« Die Tiere schwiegen. Die meisten hatten durchaus gespürt, dass sie mitsamt dem Boden unter ihnen fortgetragen worden waren, sie hatten es nur nicht wahrhaben wollen. »Es stimmt«, trompetete Dickhaut, »ich hatte auch das Gefühl, ent führt zu werden.« Der Vogel nickte. »Wenn wir aber entführt worden sind«, fuhr er fort, »und zwar mit sämtlichen Büschen, Bäumen, Steinen und sogar dem Erdreich, dann konnte das nur geschehen, indem alles vorher geschrumpft wurde. Kein Riese, mag er noch so groß sein, hätte das sonst geschafft.«
»Du meinst, er hat auch uns verkleinert?« Der Tapfere Löwe schüttelte ungläubig den Kopf. »Leider. Das kann gar nicht anders sein.« »Und weshalb sind dann die Antilope und Mümmel noch so groß?«, beharrte Dickhaut. »Das Pulver«, erklärte der Marabu, »bestimmt erinnert ihr euch daran. Es hat uns verändert, aber offenbar nicht alle mit der gleichen Kraft er reicht.« Löwe und Elefant sagten keinen Ton mehr. Die Nachricht war zu nie derschmetternd. Mümmel legte seinem Herrscher die Pfote auf den Rücken. »Sei nicht traurig. Du bist immer noch tapferer und stärker als ich.« »Darum geht es nicht«, sagte der Löwe geknickt. »Ich war ja schon mal klein, damals, als wir gegen das Seemonster kämpften und unser Freund Pet Riva mich versehentlich geschrumpft hatte. Man lebt trotzdem wei ter. Aber wenn wir jetzt fast alle so winzig sind, wie sollen wir uns gegen den Riesen behaupten? Und vielleicht gibt es ja noch mehr von seiner Sorte.« Als hätten die Genannten nur auf diese Worte gewartet, wurde ein ge waltiges Trapsen laut. Zwei Riesenkinder, mit Armen und Beinen wie mächtige Säulen, kamen angerannt und beugten sich über die Lichtung. Die Tiere stoben auseinander, um nicht zerstampft zu werden. »Pass doch auf, Ocki«, hallte eine Mädchenstimme, »um ein Haar wärst du auf das niedliche Kätzchen getreten.« Mit dem Kätzchen war der Lö we gemeint, der sich als einziger nicht versteckt hatte. Er fand das unter seiner Würde. »Ich hab schon hingeguckt, Bomm«, erwiderte, nicht weniger dröh nend, der Riesenjunge, den das Mädchen Ocki genannt hatte. »Die Katze hätte ja ein Stück zur Seite springen können.« Das Mädchen streckte die Hand aus und packte den Löwen, der wü tend zu zappeln begann, im Genick. Sie hob ihn hoch und erklärte: »Du brauchst keine Angst zu haben, Kätzchen. Wir wollen dir nichts tun.«
»Lass mich runter«, brüllte der Löwe. »Ich bin keine Katze!«
»Hörst du, sie redet mit uns«, sagte Bomm, »wie lustig.«
»Gib sie mal her. Ich will sehn, was sie macht, wenn ich sie am
Schwanz ziehe.« »Nein. Papa hat gesagt, wir sollen die Tiere nicht quälen.« »Dann fang ich mir eben selber was.« Unerwartet trat Dickhaut unter den Bäumen hervor und stieß einen schrillen Trompetenstoß aus. Überrascht hielten Ocki und Bomm in ihrem Tun inne. »Hört zu, ihr beiden«, rief der Elefant, »da ihr euren Papa erwähnt – gehört ihr zu dem Riesen, der uns hierher geschleppt hat?« »Ja«, gab verblüfft Bomm zur Antwort, »und wer bist du?« »Man nennt mich Dickhaut; ich bin ein Elefant. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Weshalb hat uns euer Vater in dieses Tal gebracht?« »Na, weil wir nebenan in der Schlucht wohnen«, entgegnete diesmal Ocki, »und weil wir uns was Feines zum Spielen gewünscht haben.« Der Löwe, den diese Worte erneut wütend machten, brüllte:
»Zum Spielen wollt ihr uns haben? Seid ihr verrückt? Ich werd euch zeigen, was für Spielzeug wir sind.« Er fuhr herum und versuchte Bomm in die Hand zu beißen. Das gelang nicht, doch er erwischte sie mit der Tatze und fügte ihr einen schmerzhaften Kratzer zu. Bomm schrie »Au!« und ließ den Vierbeiner los, der in die Tiefe stürz te. Die Sache ging nur deshalb glimpflich für ihn ab, weil er in dichtes Gebüsch fiel. Während sich das Riesenmädchen mit Tränen in den Augen die schmerzende Hand hielt, begann ihr Bruder laut zu lachen. »Das hast du davon. Hättest du die Katze mal mir gegeben.« »Du bist ja doof.« »Jammerliese, Jammerliese.« Bomm, aufgebracht, hob eine Handvoll Erde auf und warf sie nach ih rem Bruder. Ocki wich aus und packte die Schwester beim Ärmel. Sie zerrten hin und her, bis das Mädchen davonrannte. Der Junge hetzte hinter ihr her. Das alles geschah unter gewaltigem Getöse. Die Tiere, die jeden Augenblick befürchten mussten, von den Füßen der Riesenkinder getreten und verletzt zu werden, suchten schleunigst nach einem Ver steck. Auch Dickhaut und der Löwe brachten sich in Sicherheit. Sie wurden von den Kindern über dem Streit zunächst vergessen und rannten tiefer in den Wald. Dort, wo der Dschungel begann, hohe Farne und Schling pflanzen wuchsen, blieben sie atemlos stehen. »Was für ein Pack«, keuchte die Raubkatze, »wir sitzen total in der Pat sche.« – »Patsche ist ein viel zu freundliches Wort«, erwiderte der Elefant geschockt. »Wie sollen wir uns bloß zur Wehr setzen?« »Wenn wir noch unsere frühere Größe hätten, könnten wir den Kampf wenigstens versuchen«, seufzte Dickhaut, »aber so ist es aussichtslos.« »Spielzeug«, fauchte der Löwe, der diesen Ausdruck noch immer nicht verdaut hatte, »ich ein Spielzeug! Schade, dass ich ihre Hand nicht mit meinen Zähnen erwischt habe.« Der Marabu von vorhin flatterte herbei. Er hatte die letzten Worte ge hört und quarrte:
»Entschuldige, wenn ich mich einmische, Herrscher. Ich kann deinen Unmut verstehen, aber es wäre besser gewesen, du hättest das Mädchen nicht angegriffen. Wir dürfen die Riesen nicht gegen uns aufbringen.« »Bin ich ein Haustier? Soll ich mich von denen am Schwanz ziehen las sen?«, schrie der Löwe erbost. »Besser am Schwanz gezogen als umgebracht. Solange sie uns als ihre Kätzchen und Vögelchen betrachten, tun sie uns nichts Böses und wir gewinnen Zeit.« »Zeit, wozu?«, murrte der Löwe. Er begriff, dass der kluge Vogel Recht hatte. »Um irgendetwas zu erfinden«, erklärte der Gefiederte. »Einen Plan zur Verteidigung beispielsweise. Wir Vögel sind etwas besser dran als ihr, uns fangen die Kinder nicht so leicht ein. Wenn wir über das Tierreich wachen und euch bei Gefahr warnen, dürfte das zu unser aller Nutzen sein.« Mümmel hetzte herbei. »Du bist heil und gesund, Löwe«, rief er, »welch ein Glück. Ich habe dich fallen sehen und dachte schon, es wäre um dich geschehen.« »So schnell kriegt man mich nicht unter die Erde«, knurrte der Herr scher zugleich mürrisch und gerührt, »aber es ist gut, dass du kommst. Wir wollten gerade unsere missliche Lage besprechen.« Der Hase seufzte. »Wenn ihr mich fragt, ist sie entsetzlich. Es gibt nur einen Ausweg. Wir müssen allesamt fliehen.« »Fliehen?«, fragte der Elefant. »Wohin denn? Unser Reich ist jetzt lei der hier.« »Hier sind wir den Riesen ausgeliefert«, erwiderte Mümmel. »Ich weiß, ihr sagt euch, dass ein Hase immer zuerst ans Ausreißen denkt, aber wenn wir uns noch heute Nacht heimlich davonmachen, können wir es schaffen. Der Weise Scheuch wird uns bestimmt Asyl gewähren.« »Der Scheuch, das ist schon richtig«, stimmte Dickhaut zögernd zu. »Trotzdem widerstrebt es mir, unsere schöne Heimat einfach auf zugeben.«
»Außerdem würden sich die Riesen vielleicht rächen, die Smaragden stadt überfallen und das Land der Käuer mit Krieg überziehen«, wandte der Marabu ein. »Dann fällt mir auch nichts mehr ein.« Der Hase schwieg bekümmert. »Dennoch ist es gut, dass du den Scheuch erwähnt hast«, sagte der Lö we. »Bestimmt war er bereits auf dem Weg zu uns. Mit Betty Strubbelhaar und Jessica. Auch der Eiserne Holzfäller wollte zu unserem großen Waldfest kommen. Bei all der Aufregung hatte ich das völlig vergessen.« »Die werden sich wundern.« Der Elefant wiegte traurig den Rüssel. »Trotzdem, wenn Hilfe kommen kann, dann von ihnen.« Der Löwe sah einen Hoffnungsschimmer. »Viele schwierige Situationen haben wir schon gemeinsam gemeistert.«
»Genauso ist es und vielleicht kann uns ja auch Pet Riva mit seiner Zauberkunst nützen«, rief Mümmel, der sich gleich an diesen Strohhalm klammerte. »Aber wie sollen wir den Scheuch benachrichtigen?«, fragte Dickhaut. »Er weiß doch nicht, wo wir stecken.« Das stimmte natürlich und alle begannen heftig zu überlegen. Schließ lich sagte der Marabu: »Ich wüsste schon eine Möglichkeit. Wenn ihr einverstanden seid, wer de ich mich selbst auf den Weg machen. Zwar bin ich jetzt kaum größer als eine Elster, aber die Kraft, über die Berge zu kommen, habe ich noch.« »Und ob wir einverstanden sind«, rief der Löwe. »Bitte flieg bald los, denn jede Stunde zählt.« Wenig später hob sich der schöne Vogel mit dem dunkelgrünen, metal lisch glänzenden Gefieder in die Luft und strebte den Bergen zu. Er wusste allerdings, dass er viel länger für den Flug brauchen würde als früher, war er doch einst zehnmal so groß und schnell gewesen.
TIMBAL UND SOHN
War es nun ein Zufall oder Gedankenübertragung – etwa um die gleiche Zeit sagte Betty Strubbelhaar zu den Freunden: »Wir müssen die Augen nicht nur der Riesen wegen offen halten, son dern auch, weil uns der Löwe eventuell einen Boten schickt. An wen sollten sie sich um Hilfe wenden, wenn nicht an uns?« »Vielleicht findet er sogar selber den Weg zu uns«, ergänzte Jessica hoffnungsvoll. Sie liebte den Herrscher des Tierreichs sehr. »Das glaube ich kaum. Er wird in dieser schwierigen Lage sein Volk nicht verlassen«, erwiderte ernst der Holzfäller. »Außerdem könnte der Weg sehr weit sein«, fügte der Scheuch hinzu. »Wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass die Tiere wahrscheinlich alle geschrumpft sind.« Sie erklommen einen steilen Hang, drangen dann in eine Schlucht ein. Knacks rannte schnüffelnd voran, der Holzfäller ging staksig am Ende der Gruppe. Plötzlich, an der engsten Stelle der Schlucht, gab es einen ungeheuren Knall. Qualm stieg auf, Geröll flog vor ihnen durch die Luft, mächtige Felsbrocken sausten die Hänge herab und häuften sich zu einer hohen Barriere auf. Die Freunde blieben erschrocken stehen, Jessica warf sich sogar auf den Boden. Da die Rauchwolke in ihre Richtung trieb, begann sie zu husten und sich die Augen zu reiben. »Was war das«, fragte der Scheuch, der als Erster die Fassung zurück gewann, »ein Bergrutsch?« »Vielleicht ein Erdbeben«, vermutete Knacks. Er hatte hinter dem Holzfäller Schutz gesucht. »Das ist Pulverqualm«, stellte der Eisenmann fest. »Es dürfte sich um eine Sprengung handeln.« Er kannte sich mit solchen Dingen aus. »Jedenfalls hat man uns einen ganzen Steinwall vor die Nase gesetzt«, sagte Betty. »Der Weg nach vorn ist versperrt.«
Das hatten die anderen inzwischen auch begriffen. Jessica sprang auf und rief empört: »Aber wer tut so was? Haben die uns nicht gesehen? Sie hätten uns er schlagen können!« Alle starrten nach vorn und dann nach oben, wo sich der Qualm in zwischen verzogen hatte. Tatsächlich zeigten sich an den Hängen über ihnen zwei Männer. Der auf der linken Seite war groß und dick, der rechts klein und mager.
Knacks sprang hinter dem Holzfäller hervor und begann laut zu kläf fen. Jessica brüllte: »Wart ihr beiden das? Habt ihr uns nicht bemerkt? Um ein Haar hätten uns die Steine erwischt.« Der dicke Kerl gab keine Antwort, sondern grinste nur übers ganze Gesicht. Der Magere kam näher und erwiderte: »Wie ich sehe, ist euch nicht das Geringste passiert. Glaubt ihr denn, dass ich, der höchst angesehene Sprengmeister Timbal, das Risiko nicht richtig einschätzen kann?« »Wenn Knacks ein Stück weitergerannt wäre, hätte es ihn voll getrof fen«, wandte der Scheuch ärgerlich ein. »Und überhaupt, was soll das bedeuten? Wollt ihr die Schlucht abriegeln?« »Du hast’s erfasst.« Der Dicke kam nun ebenfalls nach unten. »Wir las sen nicht zu, dass jeder über unser Land trampelt.« »Über euer Land? Wie meinst du das?«, sagte der Holzfäller. »Na, wie schon. Wir zwei wohnen schon seit einer Ewigkeit im Tal hinter der Schlucht. Neuerdings treiben sich aber allerlei Riesen hier her um, schmeißen Dreck und Gehölz auf unsere Felder und nun kommt auch noch ihr.« Der Scheuch horchte auf. »Hier in der Nähe sind Riesen?« »Nicht in der Nähe«, erklärte wieder Timbal, der Magere. »Mein Sohn übertreibt. Einer aber kam schon zweimal vorbei und zuletzt schleppte er eine Rolle mit Holz und Steinen unterm Arm. Er hat eine Menge Ge röll verloren. Ein Felsbrocken schlug dicht neben unserem Haus ein.« Der Scheuch konnte seinen Unmut verstehen. »Das ist natürlich ärgerlich«, gab er zu. »Aber damit haben doch wir nichts zu tun. Im Gegenteil, gerade mit diesem Riesen haben wir ein Hühnchen zu rupfen.« Der Dicke, der erstaunlicherweise der Sohn Timbals sein sollte, lachte laut auf. »Ihr seid ja richtige Spaßvögel. Ein paar Puppen, eine Blechfigur und ein kleines Mädchen mit Hund wollen sich mit einem Riesen anlegen!«
»Jedenfalls müssen wir hier durch, um ihn zu finden«, beharrte nun Betty. »Die Rolle unter seinem Arm war nämlich kein Packen Holz, son dern das gestohlene Tierreich.« Vater und Sohn schauten sich an, als wollten sie sagen: Jetzt reicht’s aber. Was für eine Spinnerei! »Ihr haltet uns für verrückt«, fuhr Betty fort, »auch gut. Es wäre zu schwierig, die Sache zu erklären, außerdem wissen wir selber noch nicht genug. Nur so viel: Es muss ein Schrumpfpulver im Spiel gewesen sein.« Die Männer schauten nach wie vor ungläubig drein und Timbal, offen bar klüger als sein Sohn, sagte: »In Ordnung. Wenn ihr dem Riesen unbedingt folgen wollt, tut es. Zwar ist die Schlucht jetzt versperrt, aber wir können euch einen Weg zeigen, der sogar kürzer ist. Das wäre freilich nicht umsonst.« So lief also der Hase. Die Freunde glaubten zu verstehen. Der Scheuch erkundigte sich: »Was wollt ihr denn haben? Wir waren zu einem Fest geladen und schleppen keine Wertsachen mit uns herum.« »Ich kann euch meine Sonnenbrille geben«, bot Jessica an, »wenn ich mich auch nicht gern von ihr trenne.« »Darum geht’s nicht«, erwiderte der Magere. »Ihr sollt uns vielmehr ei nen Gefallen tun. Auf dem Weg, den ich euch zeige, kommt ihr an ei nem Geiernest vorbei. Meist ist nur das Weibchen da, es sind aber keine gewöhnlichen Vögel, sondern welche mit zwei Schnäbeln und vier Flü geln. Dieses Viehzeug hat uns eine Büchse mit Sprengkreide gestohlen,
obwohl es nichts damit anfangen kann. Wir aber brauchen die Kreide dringend, weil sie ständig nachwächst. Unsere Vorräte gehen sonst zu Ende.« »Wozu braucht ihr denn so viel Sprengstoff?«, fragte Jessica erstaunt. »Um Kristallwurzeln aus der Erde zu holen«, erklärte Timbal. »Wir ma chen Schmuck daraus und verkaufen ihn an die Bäuerinnen. Das ist un ser Broterwerb.« »Das finde ich toll, aber was hat das mit uns zu tun?« »Du bist vielleicht schwer von Begriff«, rief der Dicke. »Ihr sollt dem dummen Geier die Kreide wegnehmen. Wenn ihr zurückkommt, gebt ihr sie uns.« »Und warum holt ihr sie euch nicht selber?« »Haben wir doch versucht, aber aus irgendeinem Grund sind die Vögel sauer auf uns. Sie gehen mit Schnäbeln und Krallen auf uns los, sobald wir in ihre Nähe kommen.« Etwas war an der Sache faul. Der Holzfäller wollte es genau wissen. »Weshalb sind die Geier sauer auf euch?« »Das geht euch gar nichts an«, erwiderte barsch Timbal. Die Freunde berieten sich und stimmten letztlich zu. Wenn ihnen die Sache auch nicht geheuer schien – wie sollten sie sonst vorankommen? »Einverstanden, zeigt uns den Weg«, sagte der Scheuch. »Schwört, dass ihr uns die Kreide bringt«, verlangte Timbal. »Wir werden unser Möglichstes tun.« »Was ist, wenn dieser Riese sie umbringt und sie nicht zurückkehren?«, fragte der Dicke. »Dann ist die Kreide verloren.« »Das Risiko müssen wir eingehen«, erwiderte sein Vater, »einer wird schon durchkommen.« »Danke für euer Mitgefühl«, sagte Betty spitz. Timbal zuckte die Achseln und forderte sie auf, ihm zu folgen. Sie stie gen bergan bis zu einem Gesträuch. Der Magere bog die Zweige zur Seite und eine Öffnung wurde sichtbar. »Hier durch«, erklärte er.
»Eng und dunkel«, stellte der Holzfäller fest. »Bequemer können wir’s leider nicht bieten, aber wenn ihr die Fels wand hinter euch gebracht habt, wird es heller. Der Weg durch unser Tal wäre doppelt so lang.« »Hoffentlich kann ich später die Spur wieder aufnehmen.« Knacks war unzufrieden. »Und wo finden wir das Geiernest?«, wollte die Prinzessin noch wissen. »Da macht euch mal keine Sorgen, das ist kaum zu übersehen.« Der Dicke grinste hinterhältig. Nach diesem Gespräch entfernten sich die Männer hastig, ohne ihnen Glück zu wünschen oder auch nur auf Wiedersehen zu sagen. Sie wink ten nicht, sondern verschwanden hinter ein paar Felsen, ohne sich ein einziges Mal umzuschauen.
DIE ROLLTREPPE »Sonderbare Leute«, murmelte Betty, als die zwei weg waren, »wer weiß, was sie mit den Geiern gemacht haben, dass die so böse auf sie sind.« »Richtig vertrauen können wir ihnen jedenfalls nicht«, stimmte der Holzfäller zu. »Wir hätten sie wenigstens um eine Lampe bitten sollen«, murrte Jessi ca. »In dem dunklen Gang stoßen wir uns noch die Köpfe.« Aber zumindest diese Furcht war unbegründet. Leuchtsteine, wie es sie nur im Zauberland gab, lagen am Eingang, so dass jeder einen in die Hand nehmen und sich in seinem Glimmerschein einigermaßen orientie ren konnte. Sogar Knacks schnappte sich einen Stein und trug ihn im Maul. Im Berg war es trocken und staubig. Der Holzfäller hustete, der Scheuch musste ein ums andere Mal niesen, doch man kam gut voran. Nach einer Weile teilte sich der Gang und es war unklar, welche Rich tung sie einschlagen sollten. Eine Gabelung hatten die beiden Männer nicht erwähnt.
»Ruht euch einen Augenblick aus, ich schau zunächst mal auf dieser Seite nach«, schlug Knacks vor. »Ich bin schneller als ihr und gleich wie der zurück.« »In Ordnung, aber sei vorsichtig«, willigte der Scheuch ein. Der Hund nahm seinen Leuchtstein, den er beim Sprechen abgelegt hatte, wieder auf und rannte los. Doch schon nach wenigen Metern en dete der Stollen in einer Höhle. Knacks wollte sie erkunden, war jedoch noch nicht einmal bis zur Mitte vorgedrungen, als sich ein Wirbelwind erhob, ihn erfasste und nicht mehr losließ. Er wurde herumgeschleudert, verlor den Leuchtstein und brach in ein klägliches Jaulen aus, das zu sei nem Glück die Freunde herbeirief.
»Zu Hilfe, der Wirbel hält mich gefangen«, jammerte er. Beinahe wäre der Scheuch, der ja hauptsächlich aus Stroh bestand und folglich sehr leicht war, gleichfalls in den Sog geraten, aber ihm kam die Besonnenheit des Holzfällers zugute. Nur er war so schwer, dass er dem starken Wind widerstehen konnte. Er hielt den Scheuch mit einer Hand fest, erwischte den Hund mit der anderen an den Hinterbeinen und zog ihn in den Gang zurück. »Wir haben dir doch geraten, vorsichtig zu sein«, tadelte er. »Danke, wuff-wuff, die Höhle sah gar nicht so gefährlich aus«, japste der Hund. Wie zur Bestätigung seiner Worte legte sich der Kreiselwind wieder. Alles war still und friedlich wie vorher. »Das war wohl der falsche Abzweig«, stellte Betty fest, »gehn wir besser in die andere Richtung.« »Der Berg scheint verzaubert zu sein. Wir müssen schnell hier raus«, ergänzte der Scheuch. Sie kehrten um und gelangten erneut zur Gabelung. »Dann also hier entlang.« Jessica war schon unterwegs. Plötzlich wurde es heller und eine Treppe lag vor ihnen. Sie führte steil nach oben und von dort kam auch das Licht. »Von einer Treppe war ebenfalls keine Rede«, murrte der Scheuch, »trotzdem, hier scheint es ins Freie zu gehen.« Die Stufen reichten weit hinauf, doch es gab nur diesen Weg. Jessica und Knacks liefen voran, aber kaum hatten sie die Treppe betreten, setz te die sich in Bewegung. Quietschend und rasselnd wurden alle bergauf getragen. Jessica freute sich. »Das ist mal eine schöne Zauberei! Eine Rolltreppe wie bei uns im Kaufhaus. Bloß dass sie lange nicht geölt wurde.« »Eine Roll… was? Wie soll die hierher kommen?« Der Eisenmann schaute sehr skeptisch drein. Betty hatte Jessica vor einiger Zeit in der Menschenwelt besucht und wusste Bescheid. Beide erklärten es den anderen, so gut sie vermochten.
Was die Rolltreppe hier machte, mitten im Gebirge, konnten sie natürlich auch nicht sagen. Immerhin war es höchst angenehm, so gefahren zu werden. Mit einem Mal jedoch, sie waren fast oben angekommen, kehrte die Treppe um und beförderte sie wieder nach unten. »Was geht denn nun los«, rief der Scheuch, »warum läuft sie rück wärts?« »Ist das bei euch im Menschenland auch so?«, kläffte Knacks. Jessica verneinte. Sie hatte keine Ahnung, was passiert war. Sie probierten es erneut, doch der Vorgang wiederholte sich. Der dritte und vierte Versuch schlugen gleichfalls fehl. »Eine echte Narrenschaukel«, sagte Betty, »die Treppe will uns nicht nach oben lassen.« »Wer mag sie hier eingebaut haben? Die Männer aus dem Tal?«, fragte Jessica. »Das glaube ich nicht«, erwiderte der Scheuch. »Eher ist es ein Über bleibsel aus der Zeit der bösen Hexe Gingema. Ich wusste doch, dass der Berg verzaubert ist.« »Hoffentlich geschieht nicht noch Schlimmeres«, seufzte die Prinzes sin. Jessica hatte eine Idee. »Wir müssen die Treppe überlisten«, schlug sie vor. »Im Moment, wenn sie umkehrt, rennen wir einfach weiter. Es sind ja nur noch ein paar Stufen.« »Aber die Treppe rollt sehr schnell zurück«, wandte der Scheuch ein. »Dennoch, es muss klappen. Wie sollen wir sonst da hoch?« Alle sahen ein, dass sie Recht hatte, und bereiteten sich auf einen Spurt vor. Sie warteten nur ab, bis der Holzfäller, der am langsamsten war, seine Scharniere geölt hatte. Den ersten Anlauf nahmen Jessica und Knacks. Als die Treppe um kehrte, sausten sie entgegen der Fahrtrichtung los und erreichten tatsäch lich eine Felsenplattform, die im Freien lag. »Wir haben es geschafft!«, brüllte Jessica und Knacks bellte anerken nend.
Betty und der Scheuch versuchten es als Nächste, hatten aber große Mühe, schneller als die Treppe zu sein. Mit letzter Kraft retteten sie sich nach oben. Nun war der Eiserne Holzfäller an der Reihe. Er kam, wie erwartet, zu langsam voran. Als die Treppe zurückfuhr, schaffte er nur noch drei bis vier Stufen, dann trat er verzweifelt auf der Stelle. »Geht allein weiter, ich packe es nicht, meine Beine sind nicht schnell genug«, rief er. Der Scheuch zog blitzschnell seine Jacke aus, hielt sie an einem Ärmel fest und warf dem Eisenmann den anderen zu. »Streck die Hand aus, los!« Der Holzfäller hatte begriffen, er schnappte sich den Ärmel. Doch die Strohpuppe war allein zu schwach, ihn nach oben zu ziehen. Erst als Betty und vor allem Jessica Zugriffen, gelang es ihnen, den stolpernden Mann auf die Plattform zu zerren. »Danke«, stöhnte er, »das war ein hartes Stück Arbeit.« »Halb so schlimm.« Der Scheuch klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. »Gemeinsam haben wir noch immer alles hingekriegt«, erklärte Betty. Jessica aber war in Gedanken schon wieder bei Dickhaut und dem Tapferen Löwen. Sie trat zum Rand der Plattform vor: »Irgendwo da drüben muss die Schlucht der Riesen liegen«, sagte sie. »Wie mag es bloß unseren Freunden ergehen?«
BOMMS PERLENKETTE
Tage waren vergangen, seit sich der Marabu auf die Suche nach den Freunden gemacht hatte. Löwe, Elefant und Hase warteten auf seine Rückkehr, doch nichts geschah. In der Zwischenzeit taten sie alles, um die neue Lage zu bewältigen, sie richteten auch einen Wachdienst ein, damit sie sich beim Auftauchen der Kinder rechtzeitig verstecken konn ten. Das gelang meist, aber nicht immer. Bomm und Ocki wunderten sich, dass die Tiere kaum zu sehen waren, bogen die Bäume auseinander und erwischten manchmal eine Giraffe, ein Nashorn oder einen im Schatten dösenden Tiger. Triumphierend schleppten sie ihre Opfer auf eine Lich tung, um sie zu betrachten, durch die Gegend zu hetzen oder hochzuhe ben. Antilopen mussten dann um die Wette rennen, Affen Kletterkunst stücke vollführen, und nur weil der Löwe die Parole ausgegeben hatte, vorläufig nicht aufzubegehren, verlief bisher alles glimpflich. Gerade er hatte übrigens Mühe, die eigene Anweisung zu befolgen. Zum Glück war Bomm gutmütig und ein bisschen ängstlich. Seit der Löwe sie gekratzt hatte, fasste sie höchstens noch Rehe oder Pferde an und auch das mit Respekt. Bei Ocki dagegen wusste man nie, woran man war. Mal saß er ruhig auf einem Felsen und betrachtete vergnügt das Geschehen im Wald, mal warf er Steine zwischen die Bäume oder hob eine Grube aus, in die er zum Beispiel ein Wildschwein setzte. Er ergötzte sich daran, es die schrägen Wände hochzujagen, stieß es vom oberen Rand aber immer wieder zurück. Wenn das Tier dann völlig erschöpft am Boden lag, rann te er lachend davon. »Man müsste ihm eins auf die Finger geben«, trompetete Dickhaut, »doch wie macht man das?« »Wenn wir ihn alle gemeinsam angreifen«, schlug hitzig der Keiler vor, dessen Bache das letzte Opfer gewesen war, »ihr Elefanten, die Nashör ner, Tiger, Löwen, wir Wildschweine und die Vögel aus der Luft, können wir ihm eine Lektion erteilen.« Mümmel widersprach:
»Das sollten wir auf keinen Fall versuchen. Es würde zu viele Opfer kosten.« »Lieber ein paar Opfer als ständige Knechtschaft!« Der Löwe dachte ähnlich, mahnte jedoch zur Besonnenheit. Schließ lich hatte er an das Wohl des gesamten Tierreichs zu denken. »Es muss einen anderen Weg geben.« »Könnten wir doch nur einmal vernünftig mit dem Vater der Kinder sprechen«, seufzte Dickhaut. »Oder mit ihrer Mutter«, ergänzte ein Reh. Die alten Riesen hatten sie noch kaum zu Gesicht bekommen. Anfangs waren sie ein paar Mal aufgetaucht, hatten sich über den Wald gebeugt und den Zwillingen einiges erklärt, aber da hatten sich die Tiere, so tief es ging, im Busch und in der Erde verkrochen. Inzwischen schienen die Eltern mit anderen Dingen beschäftigt. Die Vögel, die immerhin frei genug waren, über die Grenzen des Reichs hinauszufliegen, bestätigten, dass die Familie ein Stück entfernt in einer Schlucht hauste. Die Alten kümmerten sich offenbar wenig um ihre Sprösslinge.
Mümmel schlug vor, die Vögel sollten eine Botschaft an die Riesen ü berbringen. »Wir könnten schreiben, dass der Rat der Tiere mit ihnen zu sprechen wünscht.« Dickhaut und der Löwe stimmten zu und so wurde ein Brief aufge setzt. Ein Adler brachte ihn zur Höhle der Riesen. Doch ob die Eltern nun die auf Birkenrinde geschriebene Botschaft nicht ernst nahmen oder vielleicht gar nicht lesen konnten – es kam kei ne Antwort. Vergeblich fanden sich Elefant und Raubkatze an einem Treffpunkt ein, den sie für ein Gespräch vorgeschlagen hatten. Wäre ihnen nicht der Zufall zu Hilfe gekommen, sie hätten nie etwas erreicht. Dieser Zufall aber war eine Perlenkette, die Bomm um den Hals trug und an der sie sehr hing. Eines Tages, sie spielte mit Ocki Fangen, platz te diese Kette und die bunten Perlen ergossen sich über Wald und Flur. Ocki lachte sich wie üblich halb tot, aber das Mädchen war sehr unglück lich. Obwohl sie dann beide suchten, fanden sie nur wenige Perlen wie der, denn die waren ins Dickicht gerollt, in Gräben, Löcher und zum Teil sogar ins Moor.
Die Tiere hatten sich beim Herannahen der beiden hastig versteckt und ein Wolfsjunges wäre von einer der Glaskugeln, die immerhin Fußball größe hatten, fast erschlagen worden. Die Nachricht von der zerrissenen Kette verbreitete sich im Wald wie ein Lauffeuer. Nachdem Bomm und Ocki enttäuscht weggerannt waren, bestaunten Vierbeiner und Vögel die Perlen, rollten sie hin und her und erfreuten sich an ihrem Glanz. Eines Morgens tauchte Mümmel in der Höhle des Löwen auf. Dass sie jetzt gleich groß waren, kam den beiden sonderbar vor, gefiel dem Hasen allerdings mehr als seinem Freund. Doch er war nicht deswegen erschie nen. Er hatte wieder mal einen Vorschlag zu machen. »Hör zu, Herrscher. Ich sehe da eine Chance, mit den Riesen ins Ge spräch zu kommen.« »Wie meinst du das?« »Die Perlen«, erwiderte Mümmel, »wir sollten sie suchen und zusam mentragen.« Der Löwe war erstaunt.
»Bist du verrückt? Dann haben wir diese Plagegeister gleich wieder hier.« »Sie werden sowieso zurückkommen. Wir bieten Bomm unsere Hilfe an. Unter der Bedingung, dass sie uns ein Treffen mit ihrem Vater oder ihrer Mutter vermittelt.« Der Löwe überlegte. »Das ist keine schlechte Idee«, gab er zu. Dickhaut, der etwas später in den Plan eingeweiht wurde, fand das gleichfalls. Die Frage war nur, wer die heikle Aufgabe übernehmen sollte, mit dem Mädchen zu sprechen. »Ich kann das auf keinen Fall tun«, erklärte der Hase. »Wenn sie mich bloß ansieht, rutscht mir das Herz in die Hose.« »Ich würde es schon machen«, sagte der Löwe. »Sollte sie mich freilich wieder wie ein Kätzchen behandeln, raste ich aus.« »Schade, dass der Marabu unterwegs ist«, trompetete der Elefant, »er hätte bestimmt das nötige diplomatische Geschick. Da wird die Sache wohl an mir hängen bleiben.« »Ich halte mich auf jeden Fall bereit«, versprach der Löwe. »Wenn es Schwierigkeiten gibt, steh ich dir zur Seite.« Als Bomm wieder zum Wald kam, um weiter nach ihren Perlen zu su chen, war nun schon gar nichts mehr zu finden, denn die Tiere hatten alle Glitzerkugeln im tiefsten Dschungel versteckt. Das Mädchen setzte sich traurig auf einen Felsblock, aber plötzlich trat der Elefant unter den Bäumen hervor und rief: »Hallo, Bomm, ich muss mit dir reden.« Verwundert beugte sich das Riesenmädchen hinab. »Was willst du denn, kleines Rüsseltier?« »Du bist traurig, weil du deine schöne Kette verloren hast, stimmt’s?« Das Mädchen seufzte. »Sie war so wunderbar. Nie wieder krieg ich so eine.« »Was würdest du sagen…«, Dickhaut musste sich anstrengen, um mög lichst laut zu sprechen, »wenn wir dir helfen, die Perlen wiederzufinden?«
»Das würdet ihr… wirklich tun?«, stammelte Bomm. »Na ja, wir sehen doch, dass du ein vernünftiges Mädchen bist, mit dem sich verhandeln lässt. Wir hätten allerdings ein paar Bedingungen.« »Wenn ihr mir helft, mache ich alles, was ihr wollt«, erwiderte Bomm schnell. »Wir verlangen ja nicht viel«, erklärte der Elefant. »Nur, dass ihr Riesen aufhört, uns als euer Spielzeug zu betrachten.« »Aber mein Papa hat euch deshalb mitgebracht«, entgegnete Bomm. »Er musste ganz schön schleppen, bis er alles hier im Tal hatte.« »Das ist es ja gerade!«, rief Dickhaut. »Dein Vater hat uns mitsamt un seren Wäldern und Wiesen einfach hierher entführt. Und geschrumpft hat er uns auch noch.« »Das war notwendig, damit er euch tragen konnte«, sagte das Mädchen entschieden. »Was ist denn nun mit meinen Perlen?« »Du bist schon groß. Begreifst du nicht, dass wir frei geborene Tiere sind, die so nicht auf Dauer leben können?« »Euch fehlt es doch hier an nichts«, beharrte Bomm. Versteckt im Gebüsch, hatte der Löwe diesem Gespräch mit wachsen der Ungeduld gelauscht. Nach seiner Meinung begriff das dumme Kind überhaupt nichts. Deshalb sprang er wütend auf die Lichtung und brüll te: »Verstehst du denn nicht? Ihr habt uns die Heimat gestohlen und uns in Winzlinge verwandelt! Dein Vater muss das rückgängig machen! Du wirst ihm das sagen und uns ein Treffen mit ihm vermitteln. Sonst siehst du deine Perlen nie wieder.« So groß Bomm war – sie fuhr erschrocken zurück. »Bist du nicht die Katze, die mich gekratzt hat?«, stotterte sie. »Ich bin keine Katze, sondern ein Löwe.« Der Vierbeiner zwang sich zur Ruhe. »Dass ich dich gekratzt habe, tut mir leid, aber ich kann es nun einmal nicht ausstehen, wenn man mich anfasst, hochhebt und als Ei gentum betrachtet.« »Er ist der Herrscher unseres Landes«, schaltete sich der Elefant wieder ein. »Die Tiere haben ihn gewählt.«
»Und Dickhaut ist einer unserer wichtigsten Minister«, ergänzte der Löwe. Es war nicht klar, was Bomm von den für ihre Verhältnisse leisen und schnell gesprochenen Worten verstanden hatte – sie saß mit offenem Mund da, die Augen auf die Tiere gerichtet, die sich als Herrscher und Minister bezeichnet hatten. Schließlich murmelte sie aber: »Ich trau mich nicht.« »Was traust du dich nicht?«, fragte der Löwe. »Mit meinem Vater zu sprechen. Er braucht das mit der Kette nicht zu wissen.« »Und mit deiner Mutter?«, erkundigte sich Dickhaut. »Das ginge vielleicht. Ich glaube, sie hat’s schon gemerkt.« »Dann bring ihr bei, dass wir uns mit ihr treffen müssen«, entschied der Löwe. »Als Zeichen, dass wir es ernst meinen, geben wir dir jetzt einen Teil der Perlen zurück. Den Rest kriegst du, wenn es mit der Be gegnung geklappt hat.« »Na gut«, willigte Bomm ein, »meinetwegen.« »Da wäre noch etwas.« Dickhaut wollte herausholen, was nur immer möglich war. »Dein Bruder macht uns ziemlich zu schaffen. Er trampelt sinnlos im Wald herum, wirft mit Steinen, quält uns auf unerträgliche Weise. Du musst ihn zur Vernunft bringen.« »Ocki lässt sich nichts von mir sagen«, wandte das Mädchen ein. »Versuch wenigstens, mit ihm zu reden.« »In Ordnung, ich versuch’s. Bekomme ich jetzt die Perlen?« Dickhaut stieß einen Ruf aus und zwei weitere Elefanten, seine Söhne, rollten einige im Sonnenschein glitzernde große Kugeln herbei. Mit ei nem Freudenschrei stürzte sich Bomm darauf. Die Elefanten wichen schnell zurück, um nicht umgestoßen zu werden. »Pass doch auf, Mädchen«, tadelte der Löwe. »Oh, entschuldigt… meine schönen Perlen!« »Also sprich mit deiner Mutter und lass uns nicht zu lange warten«, er innerte Dickhaut, »wir zählen auf dich.« Bomm gab keine Antwort mehr, sie war viel zu sehr mit ihren wieder gewonnenen Schätzen beschäftigt.
Zweiter Teil Gefährliche Begegnungen
DER GEIER MIT DEN ZWEI SCHNÄBELN Ein gewaltiges Rauschen erfüllte die Luft, ein dunkler Schatten senkte sich auf die Plattform, und ehe die Freunde begriffen, was geschah, wur den Jessica, Betty, der Scheuch und Knacks von riesigen Krallen gepackt. Lediglich der Holzfäller entging dem Griff. Ein Flügelschlag warf ihn zu Boden und er beobachtete voller Entsetzen, wie seine Freunde von ei nem großen Vogel davongetragen wurden. Einem Raubvogel mit zwei Schnäbeln, vier Flügeln und vier Krallenfüßen. Der Geier, von dem der Sprengmeister Timbal gesprochen hat, schoss es dem Holzfäller durch den Kopf. Doch diese Erkenntnis half ihm we nig. Der Vogel war mit seiner Beute bereits wieder unterwegs, steuerte einen nahe gelegenen Berg an.
»O nein, nicht noch eine Entführung«, stöhnte der Eisenmann. »Was die Riesen an Schaden verursacht haben, reicht doch aus. Hat sich denn die ganze Bergwelt gegen uns verschworen? Weshalb hat der Geier nicht wenigstens mich gepackt, ich hätte mich mit meiner Axt verteidigen können.« Der Vogel flog eilig dahin, offenbar wollte er die Freunde in sein Nest schleppen. Plötzlich ging dem Holzfäller die Hinterlist in den Worten von Timbals Sohn auf, dieses Nest sei nicht zu übersehen. Die beiden haben uns den Geiern absichtlich ausgeliefert, dachte er, aber warum? Wie auch immer, er musste den Gefährten zu Hilfe eilen. Da er ja lei der nicht fliegen konnte, blieb ihm nur der Weg durchs Tal. Ächzend, doch entschlossen machte sich der Eisenmann an den Abstieg. Er konn te nur hoffen, dass den anderen nichts zustieß, bevor er am Ziel war. Ein Pfad führte in Serpentinen nach unten. Mit großen Schritten eilte der Holzfäller bergab, was jedoch nicht gut ging. Bald nämlich rutschte er auf einem glatten Felsstück aus und bretterte auf seinem Blechhintern wie mit einem Schlitten zu Tal. Als er endlich durch ein Gebüsch ge stoppt wurde, war er fast ohnmächtig. Das Gebirge schwankte vor sei nen Augen und er wusste nicht mehr, ob er noch alle Gliedmaßen bei sammen hatte. Ein Kopf mit großen spitzen Hörnern beugte sich über ihn und der Holzfäller griff zur Axt, befürchtete er doch den Angriff eines weiteren Ungeheuers. Aber eine raue Stimme beruhigte ihn: »Nur keine Aufregung, ich bin’s bloß, euer Bekannter, der Steinbock.« »Der Steinbock? Ach so. Entschuldige, ich habe einiges an bösen Ü berraschungen hinter mir und nahm an, du wolltest mich endgültig erle digen.« »Hab ich schon gemerkt, du warst mächtig erschrocken. Vorher bist du aber ganz schön die Felsen herabgescheppert. Hast du dir was gebro chen?« »Ich glaube nicht.« Der Eisenmann tastete vorsichtig seinen Körper ab. Es stellte sich heraus, dass der Steinbock die Riesenfamilie aufgespürt hat te. Zunächst war er in der kahlen Ebene gewesen, die einst das Tierreich
beherbergte, und hatte die Angaben der Freunde auf ihre Wahrheit über prüft. Dann war er zur Schwarzen Schlucht gerannt. »Sie haben die Tiere mitsamt dem Wald ins Tal neben ihrer Schlucht geschleppt. Alles, was ihr erzählt habt, stimmt«, sagte er erschüttert. »Du begreifst, dass wir etwas tun müssen«, brummte der Holzfäller, »doch die Lage hat sich eher verschlimmert. Jetzt sind auch noch meine Freunde gefangen.« Er berichtete von den letzten Ereignissen. »Ich kenne die Geier«, stellte der Steinbock fest. »Mit ihnen ist nicht gut Kirschen essen. Allerdings habe ich ihnen im vorigen Jahr einen Ge fallen getan.« »Du meinst, das würde uns helfen?« »Das weiß ich nicht. Hab seit jener Sache nicht mit ihnen gesprochen.« »Dann sollten wir sie jetzt daran erinnern!« »Jedenfalls dürfen wir keine Zeit verlieren«, sagte der Bock und zeigte damit, dass er einverstanden war. »Steig auf meinen Rücken, dann kom men wir schneller voran.«
RETTE SICH, WER KANN! Der Geier brachte seine Beute geraden Flugs zum Nest, wo auf drei gro ßen Eiern seine Frau brütete. Dieses Nest befand sich auf der abgeplatte ten Kuppe eines Berges, der nach allen Seiten hin steil abfiel. Der Vogel packte seine Opfer mit den beiden Schnäbeln am Kragen und legte sie nebeneinander auf den Steinen ab, denn bei den Eiern war kein Platz mehr. Halb tot nach dem schrecklichen Transport, verharrten die vier zunächst reglos. »Was sind denn das für komische Tiere?«, fragte seine Frau, »konntest du nichts Besseres finden?« »Sie werden dir schon schmecken. Lämmer sind im Augenblick knapp. Übrigens muss ich noch mal weg, konnte nicht die ganze Beute packen.« Offenbar meinte der grässliche Vogel damit den Holzfäller. Er hatte nicht begriffen, dass der aus Eisen und ungenießbar war.
Der Geier startete wieder und seine Frau schaute ihm missmutig hin terher. Sie rührte die vier aber nicht an, schien keinen Appetit zu haben. Einige Fleischreste rings um das Nest verbreiteten einen unangenehmen Geruch und wiesen darauf hin, dass sie gerade gespeist hatte. »Wir sind keine komischen Tiere und schon gar keine Nahrung für dich«, sagte der Scheuch, der sich als Erster aufrappelte. »Ich zum Bei spiel bestehe größtenteils aus Stroh.« »Und ich aus Werg«, fügte Betty schnell hinzu. »Ich bin eine Puppe.« »Mit Stroh und Werg kann ich mein Nest auspolstern«, sagte das Gei erweib, »allerdings bin ich im Moment zu müde dazu. Ich warte damit, bis mein Mann zurück ist. Jetzt will ich erst mal ein Stündchen ruhen.« Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, drang schon ein Pfeifen aus ihren zwei Schnäbeln und die vier merkten, dass sie eingeschlafen war. Knacks, dem vor Angst fast die Stimme versagte, wisperte: »Was machen wir denn nun, um Himmels willen? Euch wird sie zer rupfen, Jessica und mich auffressen. Wir sind verloren.« »Verloren ist man erst, wenn man sich selbst aufgibt«, flüsterte Betty. »Wir müssen mit den Geiern reden.« Sehr überzeugend klang das nicht. Sogar der Scheuch, der seiner Frau sonst immer zustimmte, seufzte: »Reden ist gut. Falls sie uns überhaupt zu Wort kommen lassen!« Bei dem Gedanken, dass der mächtige Hakenschnabel ihr in Schulter oder Bauch hacken könnte, wurde es Jessica ganz übel. »Vielleicht kommen wir hier irgendwo runter«, murmelte sie und kroch zum Rand der Kuppe. Doch es ging so steil hinab, dass sie schaudernd zurückwich. Knacks schaute flehend von einem zum andern. Sonst fanden seine Freunde immer einen Ausweg. Als er merkte, dass sie genauso hilflos waren wie er, wandte er sich dem Nest zu. Mit den Hinterpfoten schob und scharrte er die Zweige auseinander, aus denen es geflochten war. »Was machst du da?«, fragte leise die Prinzessin. »Ich verstecke mich unterm Nest. Das ist besser als nichts.« »Das wird dir nicht viel nützen«, brummte der Scheuch.
»Wenn sie mich vorziehen will, geht das Nest kaputt. Das wird sie sich überlegen.« Das Scharren weckte die Geierfrau. Da sich Knacks jedoch sofort mucksmäuschenstill verhielt, schob sie nur ihre Eier unterm Bauch zu recht und schlief weiter. Plötzlich gab es einen Plumps und der Hund war verschwunden. Ein kurzes Winseln ertönte. »Was ist los, Knacks?«, wollte Jessica erschrocken wissen. »Da war ein Loch. Ich bin in eine Grube gefallen«, kam leise die Ant wort. »Eine Grube? Hast du dir weh getan?« »N…nein. Aber es ist so finster.« Der Scheuch schob den Kopf durch die Lücke, die am unteren Nest rand entstanden war, und fragte: »Ist es tief? Kannst du wieder raus?« »Ich weiß nicht. Ich bleib lieber hier.« »Knacks hat Recht«, sagte Betty, »er soll da drin bleiben. Wir alle soll ten dort rein, wenn genug Platz ist. Es ist der beste Schutz gegen die Geier.« »Mit ihren Schnäbeln können sie uns leicht herausholen«, wandte der Scheuch ein. »Das werden sie nicht tun. Sie müssten ihr Nest zerstören!«
Das leuchtete den Freunden ein. Tatsächlich hatten die Vögel ihr Nest auf einer Steinplatte gebaut, die ein Loch besaß. Es war gerade so groß, dass die vier nacheinander in die Grube schlüpfen konnten. Obwohl sie wenig Platz hatten, fühlten sie sich nun sicherer. Jessica hatte für einen Moment sogar die Hoffnung, einen Gang nach unten zu finden, gab es neben ihr doch eine zweite Vertiefung. Aber es handelte sich nur um eine Kuhle, in der eine verrostete und verbeulte Blechbüchse lag. Das Mädchen hob die Büchse, in der etwas klapperte, mit einiger Mü he auf und öffnete sie. Heraus fiel ein im Dunkeln schimmernder Stein. »Komisch«, sagte Jessica, »aber damit können wir den Geiern auf die Krallen klopfen, falls sie nach uns greifen sollten.« Sie schlug den Stein zur Probe gegen die Wand. Der Brocken war ziemlich mürbe, er zerbrach in zwei Stücke. »Mach doch nicht solchen Krach«, tadelte Knacks leise, »du weckst das Geierweibchen.« »Irgendwann wacht sie sowieso auf. Auch ihr Mann kommt bald zu rück.«
Der Scheuch unterbrach sie. Er nahm eins der Stücke in die Hand. Sonderbarerweise schien es vor ihren Augen zu wachsen. »Du sagst komisch«, begann er, »begreifst du denn nicht, was du da ge funden hast?« »Nein… Was denn?« Das Stück hatte, genau wie das andere, die Größe des vorher ganzen Steins erreicht und wuchs nun nicht mehr. Betty flüsterte: »Eine verrostete Blechbüchse und ein heller wachsender Stein. Es ist die Sprengkreide, die Timbal haben wollte.« »Richtig«, erwiderte der Scheuch. »Es gibt sie also wirklich. Die Vögel haben sie hierher gebracht.« »Und so etwas Gefährliches heben die Geier in einer Grube unter ih rem Nest auf?«, rief Jessica. »Der Stein hätte sie mitsamt ihren Eiern längst in die Luft jagen können.« »Auch wir können in die Luft fliegen«, jaulte Knacks entsetzt. »Leg das bloß weg! Oder schmeiß es am besten raus.« »Immer langsam«, beruhigte ihn der Scheuch, »die Geier mögen nicht die Schlauesten sein, aber sie wussten bestimmt, was sie taten, als sie das Zeug hier aufbewahrten. Ich nehme an, dass die Kreide nicht von allein explodiert. Schließlich hat Jessica den Stein gegen die Wand geschlagen, ohne dass etwas passiert ist. Wahrscheinlich muss man ihn mit einer anderen Substanz mischen, damit es knallt.« Oben tat sich etwas; die Geierfrau war aufgewacht. Sie schob erneut ihre Eier zurecht, horchte wohl, ob sich darin schon Leben regte. Dann schienen ihr aber die vier »komischen Tiere« einzufallen, die ihr Mann als Beute angeschleppt hatte. »Nanu«, krächzte sie, »wo sind denn die Puppen und der Hund hin? Jetzt könnte ich einen Happen vertragen.« Knacks verkroch sich zitternd im äußersten Winkel der Höhle, doch der Scheuch sagte laut: »Wir haben uns hierher zurückgezogen, unter dein Nest.« »In die Grube? Was sucht ihr dort? Kommt sofort heraus!«
»Das werden wir nicht tun«, erwidert diesmal Betty. »Wir haben keine Lust, uns zerrupfen zu lassen.« »Wenn ihr nicht selber kommt, hole ich euch, das macht eure Lage nur schlimmer.« »Red keinen Unsinn, denk lieber mal nach«, brummte der Scheuch. »Wenn du uns holen willst, musst du dein Nest beiseite räumen. Ich fra ge mich, ob das deinen Eiern bekommt.« »Meinen Eiern? Das habt ihr euch ja fein ausgedacht! Oh, ihr Banditen! Meine Kinderchen sind das Wertvollste, was ich besitze.« »Deshalb erklären wir dir die Sache doch«, entgegnete mit unerschüt terlicher Ruhe der Scheuch. »Banditen sind wir bestimmt nicht. Die hät ten dir das Nest längst unterm Bauch angezündet.« Die Geierfrau geriet in Zorn. Sie begann wild mit den Flügeln zu schlagen und stieß raue Schreie aus. Für einen Augenblick verließ sie sogar das Nest und versuchte ihre Köpfe durch die Lücke zwischen den Zweigen zu schieben. Dadurch rollte aber eins der Eier zur Seite, was sie sofort zur Besinnung brachte. »Ach, ihr meine Süßen, meine Kleinen, was tut man euch an!« Sie flat terte schnell an ihren Platz zurück. »Es hat keinen Zweck, sich aufzuregen«, sagte Betty, »das schadet dir und deinen Eiern nur. Du solltest uns besser in Ruhe zuhören.« »Wartet nur ab, bis mein Mann zurückkehrt. Er wird’s euch zeigen.« »Sei doch vernünftig. Dein Mann will euer Nest sicherlich genauso we nig zerstören wie du«, entgegnete der Scheuch. »Der Hunger wird euch aus eurem Versteck treiben. Ihr könnt nicht ewig dort drin bleiben.« Das stimmte. Das Geierweibchen hatte den wunden Punkt getroffen! Der Scheuch wollte schon die Sprengkreide erwähnen – vielleicht konnte man die Vögel damit einschüchtern –, da kam der Geier zurück. Er ließ sich auf dem Nestrand nieder und rief: »Wo ist denn die Beute hin? Hast sie wohl doch verschlungen? Und sogar ohne mir einen Bissen übrig zu lassen.«
Danach erklärte er noch missmutig, dass er das fünfte Opfer nicht mehr drüben auf dem anderen Berg angetroffen hätte. Anscheinend ha be es sich im Tal unter den Büschen versteckt. Die Freunde atmeten auf, zumindest der Holzfäller war noch in Frei heit. Die Geierfrau aber berichtete, was inzwischen vorgefallen war. »Die vier sind hinterhältig«, behauptete sie. »Sie wollen sich weder zer rupfen noch fressen lassen.«
Es war eine schwierige Situation. Vergeblich beschworen die Gefange nen die beiden Geier, sie freizulassen, indem sie den Raub des Tierreichs schilderten und ihre Absicht, den Riesen zu Leibe zu rücken. Als der Scheuch Timbal und seinen Sohn erwähnte, die ihnen den Weg versperrt hätten, rasteten die Vögel ganz aus. »Aha, von denen seid ihr geschickt. Die beiden sollen uns bloß nicht vor die Schnäbel kommen. Sie haben im vorigen Jahr unser Nest in die Luft gesprengt.« Das also war es, was ihnen die Männer verschwiegen hatten! Nun wunderten sich die Freunde nicht mehr. »Wir sind nicht von ihnen geschickt«, beteuerte Betty. »Versteht doch, sie haben uns hereingelegt.« »Aber ihr habt versprochen, die Sprengkreide zurückzuholen, die wir ihnen weggenommen haben«, rief der Geier. »Wir haben nichts versprochen. Wir wollten ihnen helfen, weil es um ihre Arbeit ging, ihren Broterwerb. Das mit eurem Nest wussten wir nicht.« »Ganz egal«, erwiderte der Geier, »ihr seid mit ihnen im Bunde. Ihr könnt erzählen, was ihr wollt, ihr bleibt unsere Gefangenen.«
DER FALLWIND Der Marabu flog und flog. Durch das Tal mit dem geschrumpften Wald, an der Schlucht der Riesen vorbei und weiter von Berg zu Berg. Überall hielt er Ausschau nach dem Scheuch und seinen Freunden, konnte aber niemanden entdecken. Als er endlich die Ebene erreichte, wo noch vor kurzem das Tierreich gewesen war, die nun jedoch trostlos und kahl da lag, ließ er sich erschöpft auf einem Stein nieder. Wo mögen sie bloß stecken, fragte er sich. Ob sie etwa nach Hause zurückgekehrt sind? Von den Hügeln trabte ein Vierbeiner heran. Er war dick, hatte ein Zottelfell und lief eigenartig tapsig. Als er näher kam, sah der Vogel, dass es ein Bär war. Wenn ihn nicht alles täuschte, war es sogar ein alter Be kannter.
Der Bär hatte ihn gleichfalls entdeckt und stieß ein erfreutes Gebrumm aus. »Mein Freund, der kluge Marabu«, rief er, »wie wunderbar, jemanden aus der alten Heimat zu treffen! Erzähle, wie du ihnen entkommen bist. Du hast die Größe eines Raben, also haben sie auch dich geschrumpft. Trotzdem, wir beide leben noch. Weißt du etwas von den anderen?« »Entkommen kann man es nicht unbedingt nennen«, erwiderte der Vogel, »ich bin im Auftrag des Tapferen Löwen unterwegs.« Er berichte te, was in der Zwischenzeit passiert war. Der Bär fiel von einem Schrecken in den nächsten. »Als Spielzeug hat der Riese das ganze Tierreich eingesackt, das ist die Höhe! Seine Kinder trampeln im Wald herum und quälen die Tiere, was für eine Unverschämtheit! Man müsste ihnen ein paar Tatzenhiebe ge ben, dass ihnen Hören und Sehen vergeht.« Er setzte sich auf die Hin terbacken und boxte mit den Vorderpfoten wütend in die Luft. »Das ist bei so großen Bälgern leider nicht möglich.« Der Marabu seufzte. »Überhaupt bedarf es in dieser ungewöhnlichen Situation unge wöhnlicher Mittel. Deshalb suche ich ja unsere Verbündeten, den Herr scher der Smaragdenstadt, und den Eisernen Holzfäller. Ich hatte ge hofft, sie wären hier.«
»Die Strohpuppe, der Blechmann und die anderen waren tatsächlich hier«, erwiderte der Bär. »Ich bezweifle aber, dass sie etwas ausrichten können. Sie sind kaum größer als ich und schienen mir ziemlich durch einander. Sie glaubten, ich sei ein Kind und fragten ständig nach meiner Mama.« »Bestimmt hielten sie dich für ein Bärenjunges, weil du jetzt so klein bist«, vermutete der Marabu. »Weißt du, wohin sie gegangen sind?« »Ins Gebirge. Sie wollten die Sache mit dem Tierreich in Ordnung bringen.« »Das haben sie gesagt?«, fragte der Vogel. »Genau das. Deshalb denke ich ja, dass sie verwirrt waren.« »Ich glaube eher, sie wollen uns helfen«, erklärte der Marabu. »Wahr scheinlich bin ich zu hoch geflogen und habe sie übersehen. Mach’s gut, ich muss sofort zurück.« Er erhob sich jäh wieder in die Luft und schwebte davon, in die Richtung, aus der er gekommen war. Der Bär schaute ihm überrascht hinterher. Er hätte gern noch ge schwatzt und war betrübt, schon wieder allein zu sein. Der Marabu jedoch nahm sich nicht die Zeit, ihm Gesellschaft zu lei sten. Ich werde ganz langsam fliegen und in jede Schlucht, jedes noch so versteckte Tal schauen, sagte er sich, diesmal muss ich unsere Freunde finden. So bog er immer wieder von seiner Route ab, versuchte Plätze auszuspähen, wo sie vielleicht rasteten.
Aber es sollte anders kommen, als er gehofft hatte. Er war noch nicht weit gelangt, da wurde er von einem heftigen Fallwind erfasst. Fast konnte man meinen, die Riesen selbst würden mit aller Kraft blasen, so stark war er. Der kleine Vogel kam nicht gegen ihn an, er wurde herum gewirbelt und mitgerissen. Zwar stürzte er nicht ab, doch er war gefan gen. In rasender Geschwindigkeit trug es ihn zurück über die kahle Ebe ne mit dem Bären, am Tal der Fragen und den Grünen Hügeln vorbei, zum Kupferwald hinüber und von dort zum Großen Fluss. Na so was, dort drüben liegt schon die Smaragdenstadt, dachte der Vogel und genau in diesem Augenblick entließ ihn die Luftströmung. Besser gesagt, sie kam zur Ruhe, der Wind legte sich. Noch ganz durch einander, setzte der Marabu zur Landung an. Er ging auf der erstbesten Piste nieder, die sich ihm bot, auf den Planken eines alten Kahns am Flussufer. Der Aufprall auf den frisch gescheuerten Brettern war mehr als heftig, denn die Anstrengungen der letzten Stunden hatten dem Marabu die sonstige Eleganz und Geschicklichkeit genommen. Entsetzen aber er fasste ihn, als sich jäh ein fein gesponnenes Netz auf ihn herabsenkte und ihn eng umschloss. Die Fäden waren fest wie Stahldrähte, so dass er sie nicht zerreißen konnte.
»Hoho, was für ein komischer Vogel ist mir denn da in die Falle gegan gen«, krächzte ein kaninchengroßes Ungeheuer mit acht Beinen, haari gem Fell, Giftklauen und Stielaugen. »Also weißt du, Minni«, fiepte eine dünne und zugleich energische Stimme, »wir sind zu Pet aufs Schiff gekommen, um mit ihm eine Partie Fischerskat zu spielen. Du aber bist schon wieder auf Beute aus.« »Wenn sie mir so direkt vor die Nase fällt… Das hättest du wohl nicht erwartet, Täubchen.« Die Spinne grinste ihr Opfer hinterhältig an. »Ich bin kein Täubchen, sondern ein Marabu.« Der Vogel gab vor Angst nur ein Wispern von sich. »Ich komme von weither, aus dem Tier reich.« »Ach so, ein Marabu«, lachte Minni. »Natürlich, man sieht ja, wie groß und stattlich du bist. Aus dem Tierreich bist du hierher geflogen, ja? Eins muss man dir lassen, schwindeln kannst du wie gedruckt.« »Für einen Marabu bist du wirklich ein bisschen kümmerlich geraten«, stellte die dünne Stimme fest. Wie der Vogel nun sah, gehörte sie zu ei ner Maus. »Das liegt daran, dass man mich verkleinert hat. Mich und das gesamte Tierreich.« »Sieh an, du wurdest verkleinert? Und die Wälder und Felder sind gleich mitgeschrumpft?« Nun kicherte auch die Maus. »Ich sage doch, ein komischer Vogel. Aber er hält uns von unserem ge liebten Kartenspiel ab. Am besten, ich verpass ihm erst mal eine Spritze, damit er eine Weile Ruhe hält.« Die Giftklauen vorgereckt, kam die Spinne auf den Marabu zu, der nicht ausweichen konnte. Doch die Gefahr stachelte seinen Widerstand an. »Nein!«, schrie er, mit den Flügeln schlagend und so laut er konnte. »Im Namen des Tapferen Löwen und des Weisen Scheuch beschwör ich euch – das dürft ihr nicht tun!« Aus einer Bodenluke tauchte ein Mann mit Joppe und Filzhut auf. Es war Pet Riva, der alte Fischer und gute Bekannte der Strohpuppe. »Was ist das für ein Geschrei?«, wollte er wissen. »Wer spricht da vom Scheuch und dem Tapferen Löwen?«
Auch die beiden anderen hatten aufgehorcht.
»So wahr man mich Larry Katzenschreck nennt«, fiepte die Maus, »die ses sonderbare Federvieh beruft sich auf unsere guten Freunde.« Dem Marabu dämmerte etwas. »Larry Katzenschreck und Minni, die Spinne?«, rief er. »Das also seid ihr? Ich hab schon viel von euch gehört und nun so ein schreckliches Missverständnis. Gerade ihr werdet gleich begreifen, dass es ein schlim mer Fehler wäre, mich zu töten.«
»Dass er unsere Namen kennt und den Scheuch erwähnt, hat gar nichts zu besagen«, krächzte Minni. Sie fürchtete um eine gute Mahlzeit. »Vielleicht nicht, vielleicht doch«, widersprach Pet. »Es könnte ja sein, dass dieser Vogel, der immerhin wie ein Ministorch aussieht, etwas In teressantes zu erzählen hat.« »Und ob das interessant ist«, stimmte der Gefangene schnell zu. »Ob wohl auch sehr traurig. Aber erst befreit mich bitte von diesem scheußli chen Netz. Es nimmt mir die Luft.« »Scheußliches Netz? Es ist das beste, das ich in letzter Zeit gesponnen habe«, begehrte Minni auf. »Nimm’s ihm schon ab«, drängte Larry, dessen Neugier geweckt war, »sonst macht er noch schlapp, bevor wir seine Geschichte erfahren.« Widerwillig öffnete Minni das Netz und zog es an sich. Der Marabu flatterte hastig ein Stück weg, um aus der Gefahrenzone zu gelangen. Dann freilich berichtete er lange und so bildhaft vom Schicksal des Tier reichs, dass seinen Zuhörern ganz flau wurde. Nur die Spinne murrte noch: »Und wer beweist uns, dass all das kein Märchen ist?« »Schaut doch einfach mich an«, sagte der Vogel. »Ich selber bin der le bende Beweis dafür, denn ihr habt ja vorhin ganz richtig festgestellt, dass ich einem Storch ähnle, und ich kann euch versichern: Noch vor zwei Wochen war ich größer als der größte auf euren Fluren herumstakende Storch.«
DAS GESPRÄCH MIT DER RIESIN Im Tierreich ging inzwischen alles seinen traurigen Gang. Wenn die Rie sen nicht ins Tal kamen, war das Leben einigermaßen zu ertragen – tauchten sie jedoch auf, regierte die Angst. Dabei war es nicht nur ihr Anblick, der selbst die tapfersten Vögel und Vierbeiner erschreckte, son dern auch der Lärm, den sie machten. Sie trampelten umher, zerbrachen Baumstämme, redeten mit Donnerstimmen. Manchmal hörte man ihr Getöse sogar aus der Ferne, von der Schlucht her, und selbst wenn sie
still waren, gab es noch unheimliche Geräusche. Ein Stöhnen und Heu len, das man sich nicht erklären konnte. Minuten-, ja stundenlang lag es schauerlich über den Köpfen der Waldbewohner. »Was ist das«, hatte Mümmel zitternd gefragt, als sie es zum ersten Mal hörten, »stürzt jetzt gar noch der Himmel ein?« »Bestimmt nicht«, beruhigte ihn der Löwe, der selbst sehr erschrocken war, »mir scheint eher, es kommt Sturm auf.« Doch ein Sturm war es nicht und obwohl sich die Tiere recht und schlecht an das Geheul gewöhnten, das in unregelmäßigen Abständen wiederkehrte, duckten sie sich jedes Mal aufs Neue furchtsam ins Gras. Trotzdem warteten Dickhaut und die Raubkatze ungeduldig auf das Gespräch mit Bomms Mutter. Als es dann endlich zu Stande kam und sie sich über die Lichtung beugte, hätte man denken können, ein Berg neigt seine Kuppe herab. Der Elefant musste all seinen Mut zusammen nehmen, um nicht davonzulaufen. Und das, obwohl er den Löwen zur Unterstützung hinter sich im Versteck wusste. »Meine Tochter sagt, ihr hättet mir etwas mitzuteilen«, begann die Rie sin, »und ich müsste unbedingt hierher kommen. Da bin ich nun und höre. Aber ich habe wenig Zeit. Meine Höhle ist noch nicht aufgeräumt.« »Es tut mir Leid, wenn wir dir Umstände machen«, erwiderte Dickhaut höflich, »doch die Sache ist wichtig. Zunächst aber eine Bitte. Wir sind von sehr unterschiedlicher Größe und deine Stimme betäubt mich fast. Könntest du etwas leiser sprechen? Es wäre auch gut, wenn du dich set zen oder auf den Bauch legen würdest, damit du mich besser verstehst.« »Auf den Bauch legen? Ich?« Die Riesin lachte, dass sich die Bäume bogen. »Bomm behauptet zwar, du wärst so etwas wie der Anführer der Tiere in diesem Wald, aber du scheinst nicht ganz bei Verstand. Na gut, ich will meine Stimme dämpfen. Und setzen kann ich mich ja für einen Moment.« Sie ließ sich ächzend auf dem Waldboden nieder, wobei sie das Gehölz wie Schilf zur Seite drückte. »König in unserem Reich ist mein Freund, der Löwe«, stellte Dickhaut richtig. »Ich vertrete ihn nur, denn er hat mich gebeten, diese Verhand lungen zu führen.« »Verhandlungen? Ich verstehe kein Wort.«
»Ja also…« Der Dickhäuter begriff, wie schwierig es sein würde, dieser Riesin klarzumachen, worum es ihm ging. In ihrem groben Wollkleid thronte sie wie ein Fels vor ihm und glotzte auf ihn herunter. Er kam sich noch kleiner vor, als er durch das Pulver schon geworden war. »Dein Mann hat uns geschrumpft und hierher verschleppt«, rief er. »Das hätte er nicht tun dürfen!« »Warum denn nicht?« Bomms Mutter sprach noch immer sehr laut. »Er ist der Stärkste weit und breit. Er kann tun und lassen, was er will.« »Nein«, entgegnete Dickhaut entschieden. »Im Zauberland hat alles seine angemessene Größe und den ihm bestimmten Platz. Niemand hat das Recht, das willkürlich zu ändern.« Die Riesin sah ihn verblüfft an. Eine solche Überlegung hatte sie noch nie angestellt. »Du musst auch bedenken, was das für uns bedeutet«, fuhr Dickhaut fort. »Bis vor kurzem waren wir unser eigener Herr, jetzt sind wir das Spielzeug eurer Kinder.« »Ach was, hab dich nicht so. Ihr könnt in dem Wald tun und lassen, was ihr wollt, und solltet stolz darauf sein, dass meine Kleinen mit euch spielen. Zu diesem Zweck hat mein Mann euch hergeholt. Es war eine großartige Idee von ihm.« Dickhaut seufzte. Dieses mächtige Weib konnte oder wollte ihn nicht verstehen. »Das Spiel deiner Kinder ist für uns sehr gefährlich. Einige kleine Tiere sind schon niedergetrampelt und verletzt worden. Vor allem Ocki ist ungezogen. Er quält und tyrannisiert uns.« Die Riesin schien gelangweilt. »Alles Unsinn, Ocki ist nun mal ein Jun ge. Ihr solltet nicht so zimperlich sein.« Mit einem Mal sprang der Löwe auf die Lichtung. Zwar war verabre det, dass er nur im äußersten Notfall eingreifen sollte, aber er konnte sich nicht länger zurückhalten. »Zimperlich, wenn es um unser Leben und unsere Freiheit geht?«, brüllte er. »Was ist das für ein Geschwätz. Wollt ihr Riesen denn nicht begreifen, was ihr uns antut!« Bomms Mutter war verblüfft.
»Bist du das Kätzchen, von dem Bomm so oft erzählt?«
»Kein Kätzchen, sondern ein ausgewachsener Löwe, den ihr in eurer
Anmaßung auf Karnickelgröße geschrumpft habt!« »Du hast mein Töchterchen gekratzt, richtig? Du bist recht hitzköpfig.« »Hitzköpfig oder nicht«, schrie der Löwe, »wer mich als Kätzchen be handelt, braucht sich nicht zu wundern! Und ich sag’s dir großen Trine zum letzten Mal: Wir verlangen, dass ihr alles rückgängig macht. Sonst sollt ihr uns kennen lernen! Dann werden wir nicht nur kratzen, sondern auch beißen.« Mit einer jähen Bewegung griff Bomms Mutter zu, versuchte den Herrscher der Tiere zu packen. Der aber reagierte blitzschnell, sprang zur Seite und ins Gesträuch zurück. Auch der Elefant erfasste die Gefahr und rannte davon. »Kommt sofort zurück, wir müssen noch über die Perlen aus Bomms Kette sprechen«, rief die Riesin. Sie erhob sich auf die Knie und bog die Bäume auseinander, um die beiden aufzustöbern. Doch erfolglos. In kluger Voraussicht hatte Dickhaut den Platz so gewählt, dass sie sich gut verstecken konnten. Die Riesin stand ärgerlich auf, aber von ihrer Höhe aus war erst recht nichts zu machen. Sie schimpfte noch eine Weile, tappte hierhin und dorthin, murrte schließlich: »Ihr Pack, ihr Ungeziefer, ich werd’s euch zeigen!«, und trollte sich. Dickhaut und der Löwe hatten sich in eine Senke mit dichtem Ge büsch geflüchtet. »Das haben wir ja fein hingekriegt«, keuchte der Elefant. »Nun ist sie zu alldem noch wütend auf uns.« Der Vorwurf war nicht zu überhören. Verlegen erwiderte der Löwe: »Du meinst, ich hätte mich nicht einmischen sollen? Mag sein, dass ich etwas heftig war, aber ich konnte mich einfach nicht beherrschen. Du hättest sowieso nichts bei ihr erreicht. Sie ist dumm wie Stroh und ein gebildet.«
»Wie’s aussieht, müssen wir trotzdem mit ihr und ihrer Sippe auskom men. Was tun wir jetzt?« Das wusste der Löwe auch nicht. Er kratzte sich hinterm Ohr. »Wir warten ab«, erwiderte er schließlich trotzig. »Der Marabu müsste schon längst zurück sein. Vielleicht bringt er uns ja bald eine gute Nach richt.«
DIE ELFEN Tatsächlich war der Vogel, auf den der Löwe seine Hoffnungen setzte, endlich auf dem Heimflug. Pet Riva, Larry und Minni hatten ihm zu gu ter Letzt geglaubt. Vor allem auch, weil es dem alten Fischer nicht gelun gen war, ihm seine einstige Größe wiederzugeben. Vergeblich hatte er die Zauberangel geschwungen und seinen Spruch gerufen: »Racki, nacki, Donnerkraut,
kehr zurück in deine Haut!«
Es klappte nicht und als er im Zauberbuch nachlas, erfuhr er auch den Grund. »Offenbar bist du wirklich mit einem Mittel in Berührung gekommen, gegen das meine Angel nichts ausrichtet«, sagte er enttäuscht. »Nur ein Gegengift könnte helfen. Dafür müsste ich aber wissen, woraus das Schrumpfpulver bestand.« »Das ist leider ein Geheimnis der Riesen«, erwiderte der Vogel. Pet kratzte sich den Kopf. »Eine schlimme Sache. Erwiesen scheint mir aber jetzt, dass du uns nicht belogen hast.« »Endlich nehmt ihr mich ernst«, sagte der Marabu. »Mir fällt ein Stein vom Herzen.« Natürlich waren die Nachrichten für die drei, die sich hier ja nur zur Erholung beim Kartenspielen getroffen hatten, sehr niederschmetternd. Während sich der Vogel an einer Schüssel fettem Fisch gütlich tat, um wieder zu Kräften zu kommen, berieten sie, ob man ihm helfen könnte. Und nicht nur ihm, sondern dem ganzen Tierreich. Minni war, wie meist, skeptisch. »Der Scheuch und die andern sind doch schon unterwegs zu ihnen«, erklärte sie. »Er ist der Klügste im Land und ihm fällt bestimmt mehr ein als uns. Wir sollten erst mal abwarten.« »Abwarten?« Der Mäuserich, der stolz auf seine Energie und Schläue war, protestierte. »Du bist bloß bequem, willst in Ruhe gelassen werden. Aber bei allem Respekt vor dem Weisen Scheuch – wir haben unseren eigenen Kopf zum Denken und dort werden gewiss nicht nur unser Herrscher, Jessica und der Holzfäller gebraucht.« Pet schlug sich auf seine Seite. »Stell dir vor, wie verzweifelt die Tiere sein müssen. Ich glaube genau wie Larry, dass wir etwas unternehmen sollten. Die Frage ist nur, was.« »Ich jedenfalls bin jetzt satt und fliege zurück«, mischte sich der Mara bu ein. »Ich danke euch für das gute Essen und eure Hilfsbereitschaft. Aber ich werde zu Hause gebraucht. Hier sind wir zu weit ab vom Schuss.« »So ist es«, krächzte die Spinne. »Wir können nichts tun.«
»Wäre ich noch so groß wie früher, würde ich wenigstens Larry auf dem Rücken mitnehmen«, erklärte der Vogel. »Im Moment ist er mir zu schwer.« »Flieg du nur los und grüß die Tiere von uns«, brummte Pet. »Ebenso den Scheuch und die anderen Freunde, falls du sie triffst. Minni meint es nicht so. Wir werden auf schnellstem Wege zu euch stoßen.« Der Marabu hob sich in die Lüfte und alle winkten ihm hinterher. »Wie hast du das mit dem schnellsten Weg gemeint?«, fragte Larry, als er weg war. »Lasst mich mal die Landkarte studieren. Mit dem Schiff kommen wir ziemlich nahe an die Berge heran.« »Und dann?«, fragte Minni, noch ein bisschen gekränkt. »Dann sehn wir weiter. Dort weiß bestimmt jemand, wo die Riesen hausen, und wir erfahren etwas über das Schrumpfpulver.« »Das dürfte aber ganz schön gefährlich werden«, maulte Minni. Pet zuckte nur die Achseln und Larry fiepte: »Gefährlicher als Katzen sind Riesen auch nicht. Bloß ein bisschen größer, aber letztlich genauso dumm. Wäre doch gelacht, wenn wir’s nicht mit denen aufnehmen.« Zwei Stunden später waren die drei unterwegs. Sie tuckerten den Gro ßen Fluss hinunter, der breit und ruhig dahinströmte, bogen aber bald in einen Nebenarm ein. Anfangs fanden sie noch die Zeit zum Kartenspiel, bei dem, sehr zum Ärger von Minni, meist der Mäuserich gewann. Ihre Gedanken jedoch weilten schon bei den unglücklichen Tieren und vor allem bei den Riesen, mit denen sie es bald zu tun haben würden. Minni war es schließlich, die ihre Karten beiseite schob. »Wenn ich’s richtig sehe, wird das Flüsschen immer schmaler und fla cher. Weit kommen wir nicht mehr.« »Stimmt«, bestätigte Pet, »die Berge sind auch schon nahe herange rückt. Ich denke, wir werden hier ankern und zu Fuß weitergehen. Dort hinten sehe ich ein Haus. Vielleicht können uns die Bewohner eine Aus kunft geben.«
Sie vertäuten das kleine Schiff und sprangen an Land. Ein Weg führte zu einigen Eichen, hinter denen ein schwarzes Dach hervorlugte. Aber als sie die Bäume erreicht hatten, war das Haus verschwunden. »Was ist denn das?«, fragte Pet verblüfft. »Wir alle haben doch die schwarzen Schindeln gesehen. Wo sind sie hin?« Sie hielten nach allen Seiten hin Ausschau und Minni erklomm sogar den Wipfel der höchsten Eiche, um etwas zu erspähen. Doch das Einzi ge, was sie diesmal ausmachen konnte, war, in einiger Entfernung hinter Birken verborgen, ein rotes Dach. »Das schwarze Dach muss eine Luftspiegelung gewesen sein«, rief sie, »da drüben steht aber ein Haus mit roten Schindeln. Erkundigen wir uns dort.« Sie brauchten nur auf dem Weg weiterzugehen. Als sie zu den Birken gelangten, gab es auch von diesem Haus keine Spur mehr. Stattdessen schimmerte aus der Ferne ein blaues Dach herüber und beim Blick zu rück entdeckten sie wieder, an der alten Stelle, die schwarzen Schindeln. »Fata Morgana oder Zauberei«, brummte Pet, »mir scheint, man hält uns zum Narren.« »Wer denn?« Minni war verstimmt. »Ich kann niemanden sehen.« »Moment.« Larry, der seit dem Verschwinden des ersten Dachs ge schwiegen und offenbar heftig überlegt hatte, lief zu der Stelle, wo das Haus hätte stehen müssen. Er schnüffelte eine Weile herum und rief dann: »Setzt euch einen Augenblick ins Gras, ich bin gleich wieder da.« Dann schlüpfte er in ein Mauseloch. »Wo will er denn hin?«, fragte Pet. »Nimmt er an, die Häuser wären in den Boden gerutscht?« »Wie ich ihn kenne, erkundigt er sich bei seiner Sippe, was hier los ist. Vielleicht kein schlechter Gedanke«, gab Minni zur Antwort. Sie kletterte auf einen Birkenast und begann ein Netz zu spinnen. »Spaßeshalber«, wie sie sich ausdrückte. Nach einiger Zeit tauchte das spitze Schnäuzchen der Maus wieder an der Erdoberfläche auf. »Na, hast du was herausgekriegt?«, fragte der alte Fischer.
»Habt ihr daran gezweifelt? Es wäre das erste Mal, dass meine Ver wandtschaft nicht wüsste, was um sie herum vorgeht.« »Bah, Verwandtschaft«, spottete Minni. »Vettern und Nichten dritten Grades. Du Eigenbrötlerin verstehst da von bloß nichts.« »Streitet nicht immer«, ermahnte Pet. »Was hat es mit den Häusern auf sich?« »Es gibt gar keine Häuser, sondern nur Segel«, fiepte Larry. »Segel… Was soll das heißen?« Pet und die Spinne waren überrascht. »Soviel ich gehört habe, wohnen Elfen darunter, Frauen von feiner, durchscheinender Gestalt, die sich vor der Sonne schützen müssen. Deshalb spannen sie große Bahnen eines bunten Gewebes über sich auf, mit denen sie auch wegfliegen können.« »Und die haben wir für Dächer gehalten?«, fragte Minni. »Ja. Du brauchst nur hinüber zu dem blauen Segel zu schauen. Es sieht immer noch wie ein schindelgedecktes Dach aus.«
»Richtig. Aber warum nehmen sie Reißaus? Wenn sie Elfen sind, brau chen sie doch keine Angst vor uns zu haben.« »Sie sind einfach scheu«, erklärte Katzenschreck. »Meine Verwandten meinen, sie ließen sich selten mit Unbekannten ein. Nur, wenn man sie mit etwas Besonderem lockt. Zum Beispiel mit süßen Früchten.« »Süße Früchte hätte ich selber gern«, murrte Minni. Pet wechselte das Thema. »Hast du deine Sippe nach den Riesen gefragt?«, wollte er von Larry wissen. »Glaubst du, ich würde das Wichtigste vergessen? In der Nähe gibt es jedenfalls keine. Und keinerlei entführtes Tierreich.« »Okay«, sagte Pet, »dann wollen wir uns mal an diese Elfen heranpir schen. Ich hab zwar keine Früchte in der Tasche, aber eine Tafel Scho kolade. Diese Wesen haben bestimmt eine gute Nase.« Er holte die Sü ßigkeit hervor, riss die Verpackung auf und brach ein größeres Stück ab. Mit Bedacht legte er es auf einen Stein genau dort, wo vorher das Segel geleuchtet hatte.
»Schokolade gehört zu meinen Lieblingsspeisen«, krächzte Minni und machte Anstalten, von ihrem Ast herunterzusteigen. »Untersteh dich!« Pet drohte ihr mit dem Finger. »Dann mach ich eben ein Nickerchen«, brummte Minni. »Wie’s aus sieht, dauert das hier seine Zeit.« Sie schloss die Augen. Der Fischer machte es sich im Gras bequem und Larry kroch in seine Jackentasche, wo es schön heimelig war. Ab und zu lugte er hervor. Plötzlich, Minni schnarchte schon leise, senkte sich ein Schatten auf die Bäume und Pet sah unter einem rötlichen Flügeldach eine schimmernde Frauengestalt zu Boden schweben. Sie hatte langes silbernes Haar und war in ein dünnes Gewand gehüllt, das ihre weichen Formen betonte. Ohne den Fischer zu beachten, steuerte sie die Schokolade an. Das ge schah so lautlos, dass die Spinne nicht erwachte. Larry indes hatte die Frau bemerkt und hob die Nase aus dem Ver steck. »Du hattest Recht, sie ist gekommen«, flüsterte er. Die Elfe bückte sich und biss mit offensichtlichem Behagen von der Schokolade ab. Das »Dach« blieb über ihr, ohne dass sie es stützte oder festhielt. Als sie alles gegessen hatte, sagte Pet Riva: »Schmeckt es dir? Ich hab noch mehr davon.« »Und was willst du dafür?« Die Elfe schien nicht verwundert. Sie hatte die drei immer im Auge gehabt.
»Wir sind unterwegs, um Freunden zu helfen«, erwiderte Pet. »Ihnen ist Unrecht durch einen Riesen geschehen, der mit seiner Familie in den Bergen haust. Kannst du uns sagen, wo wir diese Riesen finden?« »Nichts leichter als das, aber es ist beschwerlich, dorthin zu gelangen.« »Erklär es uns trotzdem«, bat der Fischer. Er reichte ihr die restliche Schokolade. Minni war aufgewacht. Sie murrte: »Möchte bloß wissen, wieso Elfen Schokolade essen. Ich dachte im mer, sie leben von Tau und Luft.« »Wir sind keine reinen Fabelwesen, sondern zur Hälfte Menschen«, entgegnete die Frau. »Um welches Unrecht handelt es sich denn?« Pet erzählte und Larry ergänzte seine Ausführungen, indem er seiner Empörung freien Lauf ließ. »Ihr gefallt mir«, sagte die Elfe, »wenn ihr wollt, bringe ich euch zur Schlucht der Riesen.« »Mich auch?«, fragte Minni mit einem Anflug von schlechtem Gewis sen. »Ihr drei gehört doch zusammen, oder?« »Seit langer Zeit«, bekräftigte die Maus. »Zumindest Minni und ich.« »Dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Setzt euch auf mei ne Schultern, ihr zwei, und du, alter Mann, schwing dich aufs Flugdach.« Das rote Dach schwebte herab, so dass Pet aufsteigen konnte. Er
brauchte sich nirgendwo anzuklammern, denn ein sanfter Zauber gab ihm Halt, und schon einige Sekunden später steuerte die Elfe mit ihnen das hohe Gebirge an.
ENDLICH WIEDER IN FREIHEIT Einen halben Tag lang hockten die Gefangenen nun schon in der Grube unter dem Geiernest und es wurde langsam ungemütlich. Zwar flog einer der großen Vögel manchmal fort, um Nahrung zu beschaffen, der andere aber blieb auf den Eiern hocken und passte auf. »Hier kommen wir nie weg«, knurrte Knacks. »Es sei denn, wir zünden die Sprengkreide und jagen das ganze Nest in die Luft.« »Und uns dazu«, erwiderte Betty. »Du bist nicht bei Trost.« »Vielleicht lässt sich nachts etwas machen, wenn die Geier schlafen«, murmelte Jessica, glaubte aber selbst nicht daran. Sie schwiegen, hingen jeder den eigenen trüben Gedanken nach. Bis der Hund plötzlich aufmerkte. »Hört ihr das Trappeln? Es klingt, als stiege jemand die Felsen hoch.« »Wie denn das?«, sagte der Scheuch, der nicht das geringste Geräusch vernahm. »Der Berg ist viel zu steil.« »Er hat aber Kanten und Vorsprünge. Wenn einer gut klettern kann…« Der Scheuch wollte erneut widersprechen, doch nun hörte er es tat sächlich auch. Vorsichtig spähte er durch die Lücke unter dem Nest nach draußen. Gerade kam der Geier von einem Flug zurück. Er hatte nichts erbeutet und ließ sich mürrisch auf dem Nestrand nieder. Seine Frau begann mit ihm zu schimpfen. Plötzlich aber brach sie mitten im Wort ab. Ein Kopf mit langen geschwungenen Hörnern tauchte am Rand des Plateaus auf. »Das gibt es nicht, wir bekommen Besuch«, krächzte die Geierfrau, »und das Nest ist kein bisschen aufgeräumt.«
Es war der Steinbock, der den Holzfäller trotz seiner Proteste am Fuß des Berges zurückgelassen hatte. Mit ihm auf dem Rücken hätte er den schwierigen Aufstieg nicht geschafft. »Was willst du denn bei uns?« Der Geier zeigte sich wenig erfreut. »Gute Bekannte begrüßen«, sagte der Steinbock zweideutig und sprang auf die Plattform. Er schien etwas erschrocken, weil nichts von den vier Gefangenen zu sehen war. Immerhin lag aber weder Stroh noch Werg herum. »Gute Bekannte? Meinst du uns? Ich verstehe nicht ganz«, murrte der Geier. »Ihr erinnert euch hoffentlich, wie dankbar ihr mir voriges Jahr wart, als ich eurem Ältesten helfen konnte.« »Ach Gott, ja, das werden wir dir nie vergessen«, rief die Geierfrau. »Er war zu früh losgeflogen und abgestürzt, hatte zwei seiner Flügel gebro chen. Du hast ihn in einer Felsspalte entdeckt und bewacht, bis wir ihn retten konnten.« »Geht es ihm gut?«, fragte der Steinbock. »Danke der Nachfrage, ja. Er ist dabei, eine eigene Familie zu grün den.«
»Grüßt ihn von mir«, sagte der Bock. »Allerdings komme ich aus einem anderen Grund. Ich suche nach vier Freunden. Es heißt, ihr könntet wissen, wo sie sich aufhalten.« Die Geier warfen sich einen Blick zu. »Wieso denn wir?«, krächzte die Frau. »Freunde von dir? Wer soll das sein?« »Nicht nur von mir, sondern von vielen Vierbeinern. Ihr habt gewiss schon gehört, dass etwas Furchtbares passiert ist. Ein Riese hat das Tier reich gestohlen.« »Man hat es uns erzählt«, gab die Geierfrau zu. »Schlimm, was sich die se Unholde herausnehmen.« »Die vier wollten den Tieren und Vögeln helfen. Sie sind anscheinend weggefangen worden.« Die Geier schwiegen. Es gab keinen Zweifel mehr, wen der Steinbock im Auge hatte. »Du meinst doch nicht etwa die Strohpuppe, den kleinen Hund und die anderen?«, entschloss sich endlich der Geier. Seine Frau wollte etwas hinzufügen, aber Knacks, der es nicht mehr aushielt, kläffte von unten: »Natürlich meint er uns. Wir sind hier, Steinbock, unter dem Nest.« Der Steinbock tat erstaunt. »Nanu, wie kommt ihr denn dorthin?« »Also ich…«, begann die Geierfrau verlegen. Doch der Scheuch, aus der Grube kletternd, schnitt ihr das Wort ab. »Diese freundlichen Vögel haben uns vorübergehend bei sich aufge nommen. Damit wir nach unserem anstrengenden Marsch ein bisschen ausruhen konnten.« »So ist es keinesfalls«, widersprach der Geier. Er wollte sich wie ein Mann zu seiner Tat bekennen. Doch sein Weib unterbrach ihn. »Papperlapapp, natürlich ist es so. Sie wankten schon, so erschöpft wa ren sie, da hat sie mein Gatte hierher gebracht. Schließlich besitzen wir dieses Gästezimmer.«
Betty kam aus der Grube gekrochen, danach kletterte Jessica aus dem Loch. Sie reckten und streckten sich. Knacks, der sich als Letzter her vorwagte, wollte so schnell wie möglich weg. Er sagte leise: »Jetzt haben wir uns aber gut erholt und würden uns gern verabschie den. Wenn du uns mitnehmen könntest, Steinbock, wäre das nicht schlecht. Allein schaffen wir den Abstieg nicht.« »Wo wollt ihr denn so eilig hin?«, fragte die Geierfrau. Auf einmal tat sie sehr freundlich. »Zur Schlucht der Riesen«, erwiderte der Scheuch. »Wir haben uns lan ge genug bei euch ausgeruht.« »Kein Problem, mein Mann kann euch hintragen.« Der Geier schien wenig begeistert und Knacks stotterte: »Mi…mir wird beim Fliegen schwindlig. Ich gehe lieber mit dem Steinbock.« »Ich mach das schon«, erklärte der Bock, der die Freunde gut verstand. »Der Scheuch, die Puppe und Knacks sind nicht schwer. Notfalls lege ich den Weg zweimal zurück.« Jessica nahm all ihren Mut zusammen. Sie blickte dem Geier fest ins Auge. »Es wäre echt zu viel verlangt, den Steinbock zweimal hier hochzuja gen. Ich würde es vorziehen, wenn mich einer von euch Vögeln ins Tal trägt.« Man sah, dass der Geier beeindruckt war. »Du scheinst tapfer zu sein, das gefällt mir.« Dann äugte er jedoch misstrauisch nach der Grube. »Ich hoffe aber, dass ihr die Büchse mit dem weißen Stein in der Kammer zurückgelassen habt. Sie könnte in falsche Hände gelangen.« »Keine Sorge«, entgegnete Betty, »alles, was uns nicht gehört, ist an seinem Platz geblieben. Auch wenn ich bezweifle, dass die Sprengkreide unter eurem Nest gut aufgehoben ist.« »Ach was, da liegt sie schon seit einem Jahr.« »Die Steine werden mitunter sehr heiß,« behauptete die Puppe, »wisst ihr nicht, dass sich die Kreide entzünden kann?«
Die Geierfrau flatterte erschrocken auf.
»Entzünden?«, sagst du. »Löst das etwa eine Explosion aus?«
»Ausgeschlossen ist es nicht.«
Die Geierfrau funkelte ihren Mann zornig an.
»Hast du das gewusst? Warum bringst du mir so gefährliches Zeug ins
Haus? Meine armen Eierchen!« Sie begann an ihnen zu ruckein und her umzuschieben, als würde das die Gefahr beheben. »Das ist Unsinn. Von allein geht die Kreide nicht los«, wehrte der Gei er ab. »Wie auch immer, schaff das Zeug sofort weg! Wirf es in den tiefsten Bergsee. Das hättest du gleich tun sollen.« »Ich komme jetzt nicht ran, ohne unser Nest zu beschädigen«, krächzte ihr Mann. »Falls euch das hilft, kann ich die Kreide aus dem… äh… Zimmer ho len«, bot Jessica an. Die Geierfrau stimmte sofort zu. »Mach das! Wenn er dich ins Tal bringt, soll er sie gleich mitnehmen.«
Inzwischen rüstete der Steinbock, der nicht recht wusste, worum es ging, zum Aufbruch. Als Erster kletterte der Scheuch auf seinen Rücken und hielt sich an den starken Hörnern fest. Betty dahinter umklammerte ihn, Knacks klemmte sich zwischen die beiden. Seine Lage war unbe quem, doch das störte ihn nicht. Hauptsache weg von den gefährlichen Schnäbeln und Krallen. »Übrigens liegt in einer Höhle am Kahlen Berg ein verendetes Muf flon«, sagte der Steinbock, »die Wölfe kommen da nur schwer heran.« Mit diesen Worten machte er sich entschlossen an den Abstieg. »Das erzählst du uns erst jetzt?«, rief die Geierfrau aufgeregt. »Trotz dem, du bist ein echter Freund. Worauf wartest du noch, Mann, bring die Kleine weg. Gleich neben dem Kahlen Berg liegt der Tiefe See, dort versenkst du die Sprengkreide. Und dann nichts wie hin zu dem schönen Mahl.« Der Geier hütete sich, länger zu zögern. Mit zwei seiner Krallenfüße packte er Jessica, mit den beiden anderen die Kreide, die sie aus der Grube geholt hatte, und ab ging’s im Sturzflug. Sie waren so schnell im Tal, dass das Mädchen dort noch eine ganze Weile ausharren musste, bevor der Bock mit seiner wertvollen Last eintraf.
EIN UNHEIMLICHES GEHEUL Die Elfe schwebte im Gleitflug dahin und Pet Riva, der sich auf dem roten Flügeldach lang ausgestreckt hatte, durfte die Welt von oben be wundern. Wäre der Anlass für diese Reise nicht so traurig gewesen, hätte sie ihn noch mehr begeistert. Doch auch so staunte er über die immer höher ansteigenden Gipfel der Berge, die schroffen Felswände und die zu Tal stürzenden Bäche. Minni und Larry dagegen sehnten das Ende des Fluges herbei. Zwar saßen sie auf den Schultern der Elfe sicher und fest, doch der Spinne reichte die Höhe ihrer Bäume und die Maus zog den Erdboden mit sei nen verwinkelten Gängen vor. Endlich zeigte die Elfe auf eine Schlucht, die tief in ein Felsmassiv hin einragte.
»Dort drüben hausen die Riesen, die ihr sucht.« »Ich kann aber das gestohlene Tierreich nicht entdecken«, sagte Pet. »Der Marabu hat uns erklärt, dass es im Tal nebenan liegt.« »Ein Tal befindet sich hinter der Schlucht. Ich muss euch freilich schon hier absetzen, denn mir ist es nicht erlaubt, weiterzufliegen.« Sie landete auf einer Anhöhe. »Schade, aber den Rest des Wegs können wir gut zu Fuß zurücklegen«, erwiderte Pet. Die drei bedankten sich herzlich bei der Elfe, dann schwebte sie da von. Pet wies mit seiner Zauberangel, die er während des Fluges gut fest gehalten hatte, auf die Schlucht. »Dort müssen wir hin, aber wir gehen besser oben am Rand entlang, denn bevor wir den Riesen begegnen, möchte ich mit dem Löwen spre chen.« »Hoffentlich gibt es oben einen Weg«, wandte die Spinne ein. »Das werden wir gleich sehen.« Es war tatsächlich nicht so einfach, wie Pet gedacht hatte: Ein mühevol les Auf und Ab über Geröll und Gestein, das auch Kletterkünste verlang te. Einmal, als sich vor ihnen unvermutet ein grausiges Geheul erhob,
wäre der alte Fischer sogar vor Schreck fast einen Abhang hinabgestürzt. Zum Glück hielt er sich an einer Krüppelkiefer fest. »Wa…waren das die Ri…riesen?«, stammelte Minni. »Ich weiß nicht. Meines Erachtens handelte es sich aber um keine menschlichen Laute. Ich meine, Riesen sind doch auch… irgendwie… Menschenwesen.« »Es kam von dem Berg dort drüben«, stellte Larry fest. »Bist du sicher?«, fragte Pet. »Von dem mit der Nase, der selber ein Gesicht zu haben scheint?« »Ja. Ich hab’s genau gehört.« Als wollte der Berg Larrys Aussage bestätigen, begann er erneut zu stöhnen und zu brüllen. Plötzlich geriet unten in der Schlucht etwas in Bewegung. Ein Riese – obwohl er von hier aus nicht ganz so groß erschien, musste es einer sein – kam mit langen Schritten angerannt und warf sich am Fuß des Berges nieder. Den Kopf gesenkt, brabbelte er unverständliche Worte vor sich hin. Er erhob sich erst wieder, als der Berg verstummte. »Begreift ihr das?«, wollte Minni wissen.
»Hm. Sah aus, als hätte er gebetet«, erwiderte Pet.
»Wahrscheinlich hält er den Berg für einen Gott«, stimmte Larry zu.
»Na so was«, sagte die Spinne, »ein Riese, der an Götter glaubt. Nie
hätte ich gedacht, dass es so etwas gibt.« Schließlich hatten sie das Tal erreicht. Nicht weit entfernt streckte sich ein Wald hin, Bäume, kaum höher als Sonnenblumen, mit einer Art zwit schernder Bienen in den Zweigen. »Wir sind richtig.« Pet seufzte. »Das Tierreich! Die mächtigen Eichen sind dünn wie Bambusstauden und die Singvögel haben nur noch Insek tengröße.« »Für unsereinen kein schlechtes Jagdrevier«, murmelte Minni, fügte a ber, als sie die bestürzten Gesichter der Freunde sah, hastig hinzu: »Ent schuldigt, war nicht ernst gemeint. Ist mir nur so rausgerutscht.« Larry fiepte:
»Meine Güte, wie klein mögen dort jetzt meine Artgenossen sein! Wie Ameisen?« »Vielleicht«, erwiderte Pet, »und die echten Ameisen sind mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen.« Um so überraschter waren die drei, als sie am Waldrand einem Hasen von ganz normaler Größe begegneten. Er hoppelte auf sie zu und rief: »Pet Riva, Larry Katzenschreck und Minni, die Spinne! Da seid ihr also tatsächlich. Ich habe schon auf euch gewartet.« »Mümmel, der Hase, Minister im Tierreich?«, fragte Pet vorsichtig. Er hatte das Langohr Jahre nicht gesehen. »Wer denn sonst? Der Marabu hat uns Bescheid gegeben.« »Wieso bist du kein bisschen geschrumpft?«, wollte Larry wissen. Es klang fast unhöflich. Mümmel erklärte es. Er sagte, er habe so gut wie kein Pulver abbe kommen, also großes Glück gehabt. Plötzlich näherten sich dröhnende Schritte.
»Schnell, unter die Bäume!«, rief der Hase. »Ocki und Bomm kommen. Vor allem Ocki treibt gern seine Späße mit uns.« Sie brachten sich in Sicherheit und die drei Neuankömmlinge bekamen einen ersten Eindruck von den Riesenkindern. »Mit denen willst du es aufnehmen, Pet?«, krächzte Minni, als die bei den wieder weg waren. »Wie gewaltig mögen erst ihre Eltern sein.« »Nicht nur Pet, wir drei werden sie uns zur Brust nehmen«, berichtigte Larry unerschrocken. Dann fragte er: »Wo wollen die beiden denn hin?« »Soviel ich gesehen habe, hatten sie einen Ball dabei«, erklärte der Ha se. »Da laufen sie wohl zur Wiese hinter dem Wald und wir haben erst mal Ruhe vor ihnen. Aber man weiß nie, wann sie sich etwas Neues für uns einfallen lassen.« »Führ uns zum Löwen und zu Dickhaut«, sagte Pet. »Wir wollen eure Erfahrungen kennen lernen und uns mit euch beraten. Das Wichtigste ist die Zusammensetzung des Pulvers herauszufinden, das euch so gescha det hat.«
Dritter Teil Der Gott der Riesen
DER LEOPARD
Obwohl Pet den Löwen einmal selbst geschrumpft hatte – vor Jahren mit seiner Zauberangel, eine Tat, die ihm der König der Tiere lange Zeit verübelte –, war es sonderbar, ihn erneut als kleine Katze vor sich zu sehen. Dazu einen Elefanten, der dem Alten gerade mal bis zur Schulter reichte. Auch die anderen Tiere: Giraffen, Auerochsen, Nashörner waren von sehr bescheidener Größe und boten einen ungewohnten Anblick. Dessen ungeachtet begrüßten ihn die Tiere begeistert. Trotz des oft unerwarteten Ausgangs seiner Experimente war er für sie alle ein Zaube rer, und nur von so einem konnte man Besserung erhoffen. Natürlich waren auch Larry und Minni willkommen, die bereits zum Sieg über so manchen Bösewicht beigetragen hatten. Wenn nun noch der Weise Scheuch mit seiner Frau, der Holzfäller und das berühmte Mädchen Jessica eintrafen, würde sich das Schicksal ihres Reichs viel leicht wieder zum Guten wenden. Doch die Strohpuppe und ihre Freunde ließen weiter auf sich warten. Vergeblich hatte der Marabu auch bei seinem Rückflug Ausschau nach ihnen gehalten, nicht einen Zipfel ihrer Kleider hatte er entdecken kön nen. »Entweder sie sind aufgehalten worden oder sie haben sich verlaufen«, sagte der Vogel, »sonst müssten sie längst hier sein.« Er wollte nicht aus sprechen, was viele befürchteten: dass die Freunde nämlich selber Scha den erlitten hatten. Larry allerdings blieb optimistisch. »Sie werden hier auftauchen, ver lasst euch drauf. Deshalb sollten wir die Hände nicht in den Schoß legen. Was wisst ihr über die Riesen?« »Nur, dass sie grob und uneinsichtig sind.« Der Elefant erzählte die Geschichte mit Bomms und Ockis Mutter. »Gibt es noch Reste von dem Schrumpfpulver?«, fragte Pet. »Nicht die geringsten. Das hat sich nach dem Gebrauch in Luft aufge löst.«
»Dann müssen wir welches aus der Höhle der Riesen besorgen«, erklär te unerschrocken Larry. »Dort finden wir bestimmt was und vielleicht auch ein Gegengift.« Die meisten Tiere wehrten ängstlich ab. Wer sollte sich da hineinwa gen? Bestimmt brachten die Riesen jeden um, der bei ihnen eindrang. Der Löwe allerdings erklärte: »Larry hat trotzdem Recht. Wenn wir es an Mut fehlen lassen, können wir gleich aufgeben. Notfalls gehe ich selber da rein.« Doch das kam nicht in Frage – der Herrscher wurde im Reich ge braucht. Besonders auch wegen eines zweiten Problems, das mit einem aufmüpfigen Leoparden zusammenhing. Der hatte nämlich seine alte Größe behalten und stellte sich, anstatt dem Löwen zu helfen, nun gegen ihn. Er pochte auf seine Stärke, hielt sich nicht mehr an die Gesetze und hatte sich kürzlich sogar selbst zum König des Waldes ausgerufen. Mümmel erklärte den Freunden die Sache gerade, da tauchte der Leo pard plötzlich aus dem Unterholz auf, als hätte er geahnt, dass man über ihn redete. Die scharfen Zähne gebleckt, stand er geifernd vor ihnen. »Aha, ihr versammelt euch«, fauchte er. »Darf man erfahren, worum es geht?« Mümmel hatte sich hinter den Elefanten geflüchtet, die anderen waren einen Schritt zurückgewichen. Der Löwe wollte zornig antworten, aber Larry kam ihm zuvor.
»Warum nicht, wenn man so höflich fragt. Es ging gerade um einen eit len Leoparden.« »Eitler Leopard? Du lächerlicher Wicht, dir werd ich’s zeigen!« Der Räuber stürzte sich mit vorgestreckten Krallen auf den Mäuserich. Doch Katzenschreck, der den Angriff vorausgesehen hatte, war längst in einem Mauseloch verschwunden. Vergeblich riss der Leopard wie rasend das Erdreich auf. Larry kam an einer anderen Stelle nach oben und rief: »Hier bin ich, Dummkopf. Komm her, damit ich dir eins auf die Nase geben kann.« Der Leopard fuhr herum, machte einen gewaltigen Satz in Richtung des Gegners, kam aber wieder zu spät. Dickhaut brummte: »Gib schon auf. Larry ist mit ganz anderen fertig geworden.« Der Leopard hätte ihm am liebsten die Augen ausgekratzt, das sah man. Er platzte fast vor Wut. Aber die entschlossene Front seiner Geg ner hielt ihn von einem Angriff ab. »Macht euch nur lustig über mich. Wir treffen uns wieder, dann rechne ich mit euch ab. Mit jedem einzelnen!« Der Elefant ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Red keinen Unsinn, wir haben größere Sorgen. Du solltest uns besser dabei helfen, unser Reich aus dieser üblen Lage zu befreien.«
»Ich denke nicht daran. Für mich ist alles in Ordnung. Ich hab nichts dagegen, wenn ihr so klein bleibt, wie ihr seid.« Der Leopard grinste hä misch. »Du solltest dich schämen«, wagte sich nun sogar Mümmel hervor. »Dich, Hase, fresse ich als Ersten, wenn ich dich erwische«, drohte der Leopard. Im nächsten Augenblick war er im Dickicht verschwunden. »Wirklich kein angenehmer Zeitgenosse«, stellte Pet fest. »Wir müssen ihn im Auge behalten. Doch zurück zu dem Pulver. Ich glaube auch, dass der Löwe hier im Wald gebraucht wird, aber der Gedanke mit der Höhle ist nicht von der Hand zu weisen.« »Minni und ich werden uns dort umschauen«, erklärte Larry. »Wir bei de fallen am wenigsten auf. Einverstanden, Spinne?« »Überhaupt nicht«, erwiderte Minni, »ich kann es nicht leiden, wenn man über meinen Kopf hinweg entscheidet.« »Das war nur ein Vorschlag. Dann geh ich eben allein.« »Und frisst dich an den Vorräten der Riesen satt, was? Da komme ich lieber doch mit. Hab seit Tagen keine richtige Mahlzeit mehr genossen.«
DIE SCHLUCHT DER RIESEN Es wurde schon Abend, als der Scheuch und seine Freunde endlich eine tiefe und finstere Schlucht erreichten. Sie wussten aber nicht, ob es die Schlucht der Riesen war. Der Steinbock hatte sie noch ein Stück beglei tet, dann jedoch wieder die heimischen Gefilde aufgesucht. »Ich muss jetzt nach Hause«, sagte er, »lauft nur geradeaus weiter, auf die untergehende Sonne zu. Ihr könnt das Ziel nicht verfehlen.« »Leb wohl und tausend Dank«, erwiderte der Scheuch. »Was du für uns getan hast, werden wir dir nie vergessen.« Die anderen schlossen sich seinen Worten an. Betty strich dem Bock übers Fell und Knacks ließ es sich nicht nehmen, ihn noch ein Stück zu begleiten. Dann bellte er ihm einen langen Abschiedsgruß hinterher.
Am Eingang der Schlucht befand sich eine kleine Höhle, die Schutz vor unangenehmen Überraschungen bot. Sie beschlossen, hier zu über nachten. Im Morgengrauen wollten sie dann die Lage sondieren und das Tal mit den geschrumpften Tieren suchen. Sie richteten ein Lager aus Laub her und stellten eine Wache auf. Den ersten Wachdienst übernahm der Holzfäller, der ohnehin wenig schlief. Die Freunde dagegen legten sich bald hin. Nur Jessica kam noch einmal aus der Höhle, einen faustgroßen Stein in der Hand. »Was hast du da?«, fragte der Eisenmann. »Ein Stück Sprengkreide. Ich hatte vergessen, dass ich einen Splitter davon eingesteckt habe. Er ist gewachsen. Ich leg den Stein am besten in die Kuhle dort.« »Mach das«, stimmte der Holzfäller zu. »Vielleicht können wir ihn noch gebrauchen.« »Timbal und sein Sohn kriegen die Kreide jedenfalls nicht«, erklärte Jessica. »Wenn es nach denen ginge, wären wir jetzt alle tot.« »Sie müssen trotzdem gedacht haben, dass wir mit den Geiern klar kommen«, entgegnete versöhnlicher der Holzfäller. »Wie sie sagten, brauchen sie das weiße Zeug ja.« »Ach was, sie haben bestimmt noch genug davon. Sie wollten uns bloß eins auswischen und den Vögeln dazu. Vielleicht dachten sie, dass wir denen die Eier kaputt machen.«
»In einem hast du Recht. Sie haben offenbar kein gutes Herz. Falls wir ihnen noch einmal begegnen, werde ich ihnen das sagen.« »Du mit deiner Nachsicht«, lachte Jessica. »Das wird sie auch nicht bessern.« Sie wollte sich gerade hinlegen, da erscholl von der Schlucht her ein schauerliches Getöse. Es war ein Stöhnen, Gurgeln und Brausen, als hielten die Felsen Zwiesprache mit dem Himmel. Der Scheuch, Betty und Knacks kamen aus der Höhle gerannt. »Wer brüllt da?«, flüsterte die Prinzessin erschrocken. »Die Riesen?« »Ich weiß nicht. Es ist nichts zu sehen.« Der Holzfäller hielt für alle Fälle die Axt bereit. »Es kommt von den Höhen. Vielleicht ein weiteres Ungeheuer«, ver mutete Jessica. Sie standen da und lauschten, wagten es aber nicht, den unheimlichen Geräuschen nachzugehen. Inzwischen war es auch ziemlich dunkel. Nach einer Weile verstummten die Laute und sie suchten endlich ihr Lager auf. Doch Jessica war die Einzige, die vor Erschöpfung schnell einschlief. Die anderen lagen noch lange mit offenen Augen da, ehe sie schließlich in einen unruhigen Schlummer verfielen. Entgegen ihren Erwartungen verlief die Nacht ohne neue Überra schungen und der Morgen empfing sie mit strahlendem Sonnenschein. Knacks, der die letzte Wache übernommen hatte, weckte die Freunde. »Na los, aufstehn! Wir wollen Dickhaut und den Löwen besuchen!« Wenig später waren sie marschbereit und überlegten, wie sie am schnellsten ans Ziel gelangen konnten. Auf jeden Fall mussten sie durch die Schlucht, um festzustellen, ob dort wirklich die Riesen hausten. Sie brauchten nicht lange zu warten. Nachdem sie sich durch allerlei Gestrüpp gezwängt hatten, erblickten sie in einiger Entfernung einen gigantischen Kerl, hoch wie der Palast in der Smaragdenstadt. Er stand vor einer großen Höhle, einen Haufen Bäume neben sich, die er an scheinend mitsamt den Wurzeln ausgerissen hatte. Einen schnappte er sich gerade und zerbrach ihn mit lautem Knacken überm Knie.
Die Freunde wichen ins Unterholz zurück. Obwohl sie einen ähnlichen Anblick erwartet hatten, waren sie doch erschrocken. Nur der Holzfäller brummte verächtlich: »Er scheint nicht einmal eine ordentliche Axt zu besitzen.« »Was will er denn mit dem vielen Holz?«, fragte Knacks. »Wahrscheinlich Feuer machen«, erwiderte Betty Strubbelhaar. »Sieh doch.« In der Tat hatte der Riese aufgehört Stämme zu zerkleinern. Er schich tete nun harzige Scheite auf, legte trockene Zweige dazu und schlug mit Getöse zwei Steinblöcke gegeneinander, dass die Funken stoben. Eine Flamme züngelte zwischen Laub und Ästen auf. Der Riese rief ein paar Worte in die Höhle und seine Frau kam heraus. Sie war einen Kopf klei ner, trug einen Morgenrock und schleppte einen Topf herbei, in dem man einen Ochsen kochen konnte. Gleich darauf traten ein Mädchen und ein Junge ins Freie. Das Mädchen sah ganz munter drein; es trug ein riesiges Brot unterm Arm. Der Junge dagegen gähnte zum Steinerwei chen.
»Er sollte die Hand vor den Mund nehmen«, flüsterte Jessica, »zumal er schiefe Zähne hat.« »Na ja, gute Manieren sind nicht jedermanns Sache«, gab der Scheuch zur Antwort. Es war klar, dass die Familie frühstücken wollte und für eine ganze Weile beschäftigt war. Der Scheuch schlug vor, die Gelegenheit zu nut zen und an ihnen vorbeizuschleichen. Am Ende der Schlucht würden sie dann gewiss das Tal mit dem Tierreich finden. Gesagt, getan – die Freunde wichen so weit wie möglich zur anderen Seite der Schlucht hin aus, wobei sie sich bemühten, leise wie die Mäu schen zu sein. Das wäre allerdings kaum nötig gewesen, denn die Familie achtete nicht auf ihre Umgebung. Die Riesen schmatzten und grunzten beim Essen wie eine Herde Flusspferde. Ohne Zwischenfälle erreichten die fünf eine Stelle, wo sie sich im Notfall gut verstecken konnten. »Seht mal den Berg über uns«, sagte Jessica, »der sieht richtig ulkig aus, als ob er ein Gesicht hätte.« »Ich würde ihn mit seiner krummen Nase und den toten Augenhöhlen eher bedrohlich finden«, erwiderte Betty. »Es klingt, als plapperte er ständig vor sich hin«, ergänzte Jessica. »Das ist nur der Wind, der in seinen Spalten und Löchern rumort«, stellte der Holzfäller fest. »Vielleicht kamen die unheimlichen Töne, die wir gestern Abend gehört haben, gleichfalls von ihm.« »Natürlich«, stimmte der Scheuch zu, »das ist die Erklärung. Gestern war es stürmisch.« Sie liefen weiter und gelangten zum Ende der Schlucht. Nachdem sie einen Hügel erklommen hatten, breitete sich ein Tal zu ihren Füßen aus. Ein ungewöhnlich niedriger, aber dichter Wald war in der Ferne zu er kennen. »Wenn mich nicht alles täuscht«, seufzte Betty, »sind wir endlich am Ziel.« Doch sie sollte sich irren.
ERNEUT GEFANGEN
Gern wären die Freunde auf schnellstem Weg zu den Tieren geeilt, doch der Abstieg auf der anderen Seite des Hügels war schwierig. Es gab steile Abschnitte, glatte Felsen und Geröll, so dass sie nicht nur sehr aufpas sen, sondern auch Umwege machen mussten. Möglicherweise ließen sie, unten angelangt, aus diesem Grund für Augenblicke die Vorsicht außer Acht. Knacks rannte kläffend voraus, Jessica folgte ihm eilig und auch Betty beschleunigte den Schritt. So kam es, dass die drei einigen Vor sprung gewannen und das Riesenmädchen hinter sich erst bemerkten, als es zu spät war. Holzfäller und Scheuch dagegen hatten sich in letzter Sekunde hinter einem Busch versteckt und einen Warnruf ausgestoßen, der freilich ungehört verhallte. Bomm, die ihr Frühstück schneller beendet hatte als Ocki und die El tern, war zu ihrem »Spielzeugwald« unterwegs. Sie sah die fremden Wichte rein zufällig übers Feld laufen. Solche hatte sie noch nie erblickt. Sie grapschte zu, erwischte Jessica und die Puppe an den Kleidern und hob sie hoch. Knacks konnte sich in eine Erdhöhle retten, die früher einem Fuchs gehört hatte. »Was seid denn ihr für welche?«, fragte Bomm erstaunt. »Lass uns gehen, du tust uns weh«, brüllte Jessica.
»Wo kommt ihr her? Was macht ihr hier bei uns?« »Wir sind… wir suchen Pilze.« Die Prinzessin hütete sich, den eigentli chen Grund ihrer Anwesenheit zu verraten. Das Riesenmädchen setzte die beiden auf einem Felsblock ab, so dass sie ihnen in Augenhöhe gegenüberstand. »Jetzt weiß ich’s. Ihr gehört zu den Knallnasen, von denen Vater er zählt hat.« »Knallnasen? Was für ein Blödsinn.« Jessica war empört. »Doch. Ihr knallt die Steine in die Luft. Ihr braucht es gar nicht abzu streiten.« Jessica wollte erneut widersprechen, doch Betty stieß sie an. »Lass doch«, flüsterte sie. »Wahrscheinlich glaubt sie, dass wir zu die sem Timbal gehören. Das ist besser, als wenn sie eine Ahnung hätte, wer wir wirklich sind.« »Sprecht lauter, ich kann euch nicht verstehen«, sagte Bomm. »Wenn du mit ›Knallnasen‹ die Leute weiter drüben aus den Tälern meinst, hast du Recht«, lenkte die Puppe ein. »Aber es ist kein schönes Wort.« »Wie soll ich euch denn sonst nennen?« »Ich heiße Betty, meine Freundin Jessica. Jetzt aber lass uns endlich runter. Hier oben wird einem ja schwindlig.« Ein lautes Stampfen und Keuchen ertönte. Ocki kam angehetzt. Mit einem hastigen Griff packte Bomm die beiden und steckte sie in eine Umhängetasche. »Verhaltet euch ruhig, sonst hört es mein Bruder und will mit euch spielen.« In der Tasche befanden sich einige Brotscheiben, groß wie Wagenrä der, doch nicht so hart, dass sich die zwei daran stoßen konnten. Betty vermutete sofort, dass Bomm damit die Tiere füttern wollte. Jessica machte sich weniger Gedanken, begann aber zu naschen. Bei ihr hatte es zum Frühstück nur Salat und Beeren gegeben. »Was stehst du hier und guckst die Steine an?«, fragte Ocki. »Ich hab auf dich gewartet.«
»Dann komm jetzt, wir wollen sehn, wer zuerst am Wäldchen ist.« Er sauste wieder los. Betty steckte den Kopf aus der Tasche. »Er ist weg, du kannst uns rauslassen.« »Nein, ich will mich noch mit euch unterhalten. Ich nehme euch mit zum kleinen Wald.« Jessica zog Betty am Ärmel. »Lass sie doch. Auf diese Weise sind wir schneller bei den Tieren als der Scheuch, Knacks und der Holzfäller. Alles in allem scheint sie ganz verträglich zu sein. Wir werden schon wieder freikommen.« »Du willst dir bloß den Bauch voll schlagen«, erwiderte die Puppe, die nichts zu essen brauchte und deshalb auch nicht wusste, was Hunger war. Jessica gab keine Antwort. Das Brot der Riesen schmeckte besser als gedacht und sie kaute mit vollen Backen.
DIE SCHWARZEN PILZE Die Höhle der Riesen zu finden, war für Minni und Larry nicht schwer. Ein schwacher Wind wehte Asche durch die Schlucht und der Mäuserich vermutete nicht zu Unrecht, dass sie von einer Feuerstelle stammte. We nig später waren sie am Ziel angelangt. Eine Öffnung, groß wie sieben Scheunentore, führte zu einer unendlich weiten und hohen Grotte.
»Wie sollen wir hier etwas entdecken?«, klagte die Spinne. »Allein um die Höhle abzulaufen, brauchten wir drei Tage.« »Ach was, mach dich nicht kleiner, als du bist. Wir haben unseren Verstand und meine Spürnase«, sagte Larry. Von den Riesen war keiner zu sehen, sie hätten den beiden wohl auch kaum Beachtung geschenkt. Jedenfalls nicht, solange sie sich unauffällig bewegten. »Geh du rechts lang, ich bleibe links«, schlug die Maus vor, »wir ver ständigen uns durch Pfiffe. Wenn wir das Schrumpfpulver gefunden haben, brechen wir die Aktion ab.« »Und woran erkennen wir es? Wir wissen rein gar nichts darüber.« »Doch, doch. Es soll mächtig stinken und wird deshalb gut verschlos sen lagern. Vielleicht in einer besonderen Kammer. Dort dürfte auch das Gegenmittel sein, falls es eins gibt.«
»Falls«, hakte Minni sofort ein. »Außerdem: Wenn das Pulver stinkt, befindet es sich in Trögen oder Fässern und wie kriegen wir dann die Deckel ab? Womöglich schrumpfen wir noch selber. Ich glaube, das Ganze ist eine Schnapsidee.« Das mit dem Schrumpfen war nicht von der Hand zu weisen und dem Mäuserich kamen nun gleichfalls Bedenken. Doch er setzte sich darüber hinweg. »Wir müssen eben Vorsicht walten lassen. Ein Risiko ist immer dabei.« »Mit dir hat man was auszuhalten«, murrte die Spinne. »Aber wenn’s schon sein muss, geh ich lieber an der Decke entlang. Da habe ich den besseren Überblick.« Sie liefen los. An grob gezimmerten Riesenmöbeln vorbei, die wie fremdartige Ungetüme auf sie herabschauten, an Wänden hin, die von Leuchtsteinen erhellt waren. Noch bevor Minni die Decke erreicht hatte, verloren sie sich aus den Augen. Die Entfernung war einfach zu groß. Langsam begriff Larry, was er sich da aufgehalst hatte. Es dauerte eine Stunde, bis er beispielsweise die Vorratskammer erreichte, aber zwischen Getreide, Zucker und Mehl war das Pulver bestimmt nicht versteckt. Ein Trog war voller Butter, in einem anderen schwamm ein Brei aus dicker Milch mit Kräutern. Der Duft stieg Katzenschreck in die Nase und er brachte es nicht fertig vorüberzugehen, ohne davon zu naschen. Doch er rutschte vom Rand des Trogs ab und fiel in den Käsebrei, der ihn sofort umschloss. Larry zappelte und schrie um Hilfe, aber Minni draußen in der großen Höhle hörte ihn nicht, hätte auch kaum so schnell herbeieilen können. Ein qualvoller Tod durch Ertrinken drohte, der Mäuserich glaubte schon sein letztes Stündlein sei gekommen, da entdeckte er einen Gemüsestrunk, der zum Würzen in die Milch gemengt war. Mit einem Ende klebte das Grünzeug fest an der Seitenwand. Larry paddelte darauf zu und es gelang ihm, die »Brücke« zu erklimmen. Über den Strunk konnte er schließlich wieder nach oben klettern. Schwer atmend, blieb er eine Weile auf einem Schemel neben dem Trog hocken. Er schwor sich, nie mehr einer solchen Verführung nachzugeben. Inzwischen war Minni zu einer anderen Kammer gelangt, von deren Decke Würste hingen, dick wie Baumstämme. Außerdem geräucherte Rind- und Schweinehälften – es roch so wunderbar, dass die Spinne
nicht wusste, in welche Richtung sie den Kopf zuerst wenden sollte. Das dumme Pulver hat Zeit, dachte sie, überlassen wir Larry die Suche, ich werd mich erst einmal an den Köstlichkeiten hier gütlich tun. Sie setzte sich auf einen großen Haken und riss mit ihren scharfen Klauen die Haut einer Leberwurst auf. Ein Schatten huschte vorbei, hängte sich über ihr an die Decke. »Wer bist du denn?«, wollte eine feine Stimme wissen. »Minni, gegenwärtig im Land der Käuer ansässig. Und du?« Die Spinne ließ sich nicht im Schmatzen stören. »Ich heiße Dara und bin eine Fledermaus. Ich wohne hier.« »In der Höhle der Riesen? Donnerwetter! Verjagen sie dich nicht?« Minni war beeindruckt. »Nein. Ich bin viel zu unbedeutend für sie.« Die beiden kamen ins Gespräch. Mit vollen Backen kauend, erkundigte sich Minni nach den Gewohnheiten der Riesen. Dann brachte sie die Rede auf das geheimnisvolle Schrumpfpulver. »Darüber weiß ich nichts«, erklärte Dara. »Nur einmal hat es in der Höhle gestunken. Zuerst, als alle die Hände mit gelbem Fett einrieben, nach Pferdemist, dann, als der Riese die Pilze zerstampfte, nach faulen Eiern. Ich dachte schon, ich müsste das Quartier wechseln.« »Nach faulen Eiern? So etwas hat auch der Löwe erwähnt«, murmelte die Spinne. »Welcher Löwe?« »Ist im Moment nicht wichtig. Was waren das für Pilze?« »Schwarz sahen sie aus und hatten lange helle Stiele. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ist das von Bedeutung?« Minni erwiderte, dass es durchaus von Bedeutung sein könnte, und gab nun doch einiges von den Ereignissen der letzten Tage preis. Die Fle dermaus war verwundert und fassungslos. »Was für eine Geschichte!«, rief sie ein ums andere Mal aus. Plötzlich bekam die Spinne Bauchschmerzen, sie hatte zu viel Leber wurst verputzt.
»Entschuldige, mir ist nicht besonders gut, ich muss mich jetzt absei len.« Sie ließ sich schnell auf ein Regal hinab, kroch von dort in eine Felsspalte. Erleichtert kehrte sie danach in die große Höhle zurück, wo auch Larry wieder eingetroffen war. »Ich hab nichts von dem Pulver entdecken können«, sagte er, »wahr scheinlich müssen wir weiter hinten suchen.« Die Spinne berichtete, was sie von der Fledermaus erfahren hatte. Sie vermutete, dass es kein Pulver mehr gab. »Dann brauchen wir solche Pilze«, schlussfolgerte die Maus, »und auch das gelbe Fett, denn es sieht so aus, als hätten sich die Riesen damit ge gen das Schrumpfen geschützt.« »Aber wo kriegen wir das alles her?« Larry blieb eine Antwort erspart. Ein lautes Schnaufen und Trapsen draußen kündigte an, dass zumindest ein Bewohner der Grotte nach Hause kam. Die beiden kleinen Tiere verzogen sich in einen dunklen Winkel und beobachteten fast ehrfürchtig ein Riesenweib, wie sie es noch nie gesehen hatten. Die Frau packte aus einem Sack Kürbisse auf den Tisch, holte eine Schüssel von der Größe einer Badewanne und legte die Früchte hinein. Als sie dann jedoch zum Besen griff, wurde es den Eindringlingen flau und sie zogen sich in ein Loch zurück. Ein Gang, gerade hoch genug, um die Spinne durchzulassen, führte aufwärts. »Was sollen wir uns hier länger herumdrücken«, krächzte Minni, »ver suchen wir lieber, auf diesem Weg ins Freie zu gelangen.« Larry war einverstanden. Es würde das Beste sein, die neuen Erkennt nisse mit Pet, dem Löwen, Dickhaut und dem Hasen Mümmel zu bera ten. Vielleicht konnte man ja die Vögel losschicken, um diese schwarzen Pilze aufzuspüren.
WO IST BOMM?
Der Scheuch, der Eiserne Holzfäller und Knacks waren in heller Aufre gung. Mit Entsetzen hatten sie beobachtet, wie das riesige Mädchen die Prinzessin und Jessica in ihre Tasche gesteckt und weggeschleppt hatte. Nun rannten sie hinter Bomm her auf das verkleinerte Tierreich zu, aber nicht einmal der Hund konnte mit ihren mächtigen Schritten mithalten. »Hoffentlich tut sie ihnen nichts«, keuchte der Scheuch, »sie hat so große Hände und Füße.« »Und dann noch der Junge«, stöhnte der Eisenmann. »Er scheint ziem lich wild zu sein.«
»Wenn sie ihnen nur ein Haar krümmt, beiß ich sie in ihren dicken Hintern«, kläffte Knacks, der im Moment all seine Furcht vergessen hat te. Sie kamen atemlos im Wald an, wo sich freilich weder Vögel noch Vierbeiner blicken ließen. Beim Nahen der Riesen hatten sich alle wie üblich versteckt. Die Bäume, wenngleich sehr niedrig, standen dicht an dicht und von Bomm oder Ocki war nichts zu sehen. Nur trapsen hörte man die Rie senkinder noch in einiger Entfernung. Die Freunde versuchten sich an diesen Schritten zu orientieren. Bis es unvermittelt neben ihnen im Ge büsch raschelte und jemand verblüfft ausrief: »Der Weise Scheuch, der Holzfäller! Endlich, wir haben schon so auf euch gewartet!« Es war der Marabu, der sich den beiden und Knacks gleich vorstellte. Trotzdem fiel die Begrüßung kurz aus. Die drei sorgten sich viel zu sehr um ihre Gefährtinnen. Der Marabu begriff das, beruhigte sie aber. »Bomm ist freundlich, sie lässt bestimmt mit sich reden. Kommt erst einmal in die Burg zum Löwen, das andere wird sich finden.« Da sahen sie sich nun wieder, in einer bescheidenen neuen Felsenburg, die durch Buschwerk und Kletterpflanzen gut getarnt war. Die Freude war einerseits groß, andererseits aber getrübt; ernst umarmten sie sich, nur der geschrumpfte Elefant raffte sich zu einem Scherz auf. Er bedau erte, nicht in der Smaragdenstadt zu sein. In seiner jetzigen Gestalt wür de sich bestimmt eine Tür in den Palast für ihn finden und er könnte endlich das schöne Gebäude von innen besichtigen. Sie hatten allesamt viel zu berichten, dringender aber war es, sich den Hauptproblemen zu widmen. Das hieß, sie mussten zunächst die Gefan genen und dann das Tierreich befreien. Pet Riva, der inzwischen gleich falls zu ihnen gestoßen war, schlug vor, im Austausch für Jessica und Betty die restlichen Perlen herauszugeben. »Nachdem das Gespräch mit Bomms Mutter fehlgeschlagen ist, nutzen sie euch sowieso nichts mehr«, sagte er. »Wesentlich ist für uns das Pul ver, um ein Gegenmittel zu entwickeln. Larry und Minni werden es hof fentlich bald bringen.«
Doch diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Als die beiden eintrafen, konnten sie nur etwas von schwarzen Pilzen und nach Pferdemist stin kendem Fett berichten, mit dem sich die Riesen gegen das Schrumpfen eingerieben hätten. Die Versammelten waren ratlos. Lediglich ein Spatz, der zugehört hatte, winzig wie eine Fliege, aber Experte von Rossäpfeln, glaubte eine Pflanze mit diesem köstlichen Geruch zu kennen. Die Früchte seien gelb und sonderten das bewusste Fett ab. Diese Pflanze sei freilich sehr selten. »Vielleicht wachsen hier, im Gebirge ja größere Mengen davon«, erwi derte Larry zuversichtlich. »Genau wie von den Pilzen.« Er trug seinen Plan vor, die Vögel danach suchen zu lassen. Inzwischen sollte Dickhaut, der im Gespräch mit Bomm am erfahrensten war, erneut einen Kontakt zu ihr herstellen. »In Ordnung, aber lasst mich an den Gesprächen teilnehmen«, bat der Scheuch. »Schließlich geht es um meine Frau und um Jessica, unsere beste Freundin.« Die anderen hatten nichts dagegen einzuwenden. Dickhaut freute sich sogar, jemanden zur Seite zu haben, den man für seine Klugheit im gan zen Zauberland rühmte.
»Sobald wir wissen, wo sich Bomm aufhält, sprechen wir mit ihr«, er klärte er. Der Marabu, inzwischen als Späher ausgeschickt, kam zurück. »Ocki fängt am See Fische. Bomm habe ich nirgends gesehen.« »Vielleicht ist sie schon wieder in der Schlucht«, vermutete der Holzfäl ler. »Bestimmt nicht. Sie hätte erneut hier vorbeikommen müssen«, wehrte der Löwe ab. Dann fügte er hinzu: »Du musst noch einmal losfliegen, Marabu, und die Umgebung absuchen. Dickhaut und ich folgen dir bis zum Waldrand, dort hält sich Bomm oft auf. Sie ist so ungeheuer groß – es wäre doch gelacht, wenn wir sie nicht aufspüren würden.« Während Mümmel die Vögel zusammenrief, damit sie sich auf die Su che nach schwarzen Pilzen und Rossäpfelpflanzen machten, brachen der Löwe und Dickhaut zum Waldrand auf. Der Scheuch, der Holzfäller und Knacks schlossen sich an, nur Pet, über seinen Zauberformeln brütend, sowie Larry und Minni blieben bei dem Hasen. Der Marabu dagegen startete wieder, er hatte keinen Zweifel daran, dass er Bomm schnell entdecken würde.
DAS PUPPENHAUS Wo aber steckte das Riesenmädchen wirklich? Sie hatte sich diesmal nicht beim Tierreich aufgehalten, war auch nicht Ocki zum weiter ent fernt liegenden See gefolgt. Vergeblich schrie Betty, den Kopf aus der Umhängetasche steckend, sie solle stehen bleiben und sie beide herunter lassen. Auch Jessica, die inzwischen gesättigt war und gehofft hatte, am Wald abgesetzt zu werden, schaltete sich in das Protestgebrüll ein. Es nützte nichts. Bomm hörte gar nicht hin. Endlich hielt sie an. Ein Sumpf lag vor ihr und sie zog die Sandalen aus, nahm sie in die Hand. Dann begann sie durch den Schlamm zu wa ten, der ihr bis zu den Knien reichte. Ihre Gefangenen bekamen es mit der Angst zu tun. »Was hast du vor, wo willst du mit uns hin?«, rief Betty.
»Eigentlich wollte ich im Wald die niedlichen Rehe füttern, aber jetzt habe ich euch und bringe euch in mein Puppenhaus. Das kennt nicht mal mein Bruder.« »Das geht nicht. Wir müssen zu unseren Leuten zurück.« Betty war sehr erregt. Bomm kümmerte sich nicht darum. Sie erreichte das andere Ufer des Sumpfes, wo sich hohe Felsen auftürmten, und hängte die Tasche mit den beiden Gefangenen an einen Baum. Dann wälzte sie einen Felsbrok ken von der Größe einer Köhlerhütte beiseite und verschwand gebückt in dem dahinter gähnenden Loch. Gleich darauf kam sie wieder zurück. »Wir können rein, es ist alles vorbereitet«, sagte sie zufrieden. Betty und Jessica protestierten nicht mehr, sie ergaben sich in ihr Schicksal. Um freizukommen, mussten sie auf eine günstigere Gelegen heit warten.
Das Puppenhaus erwies sich als eine schummrige Höhle. Licht fiel durch einige schmale Öffnungen in der Decke, und nachdem Bomm die beiden aus der Umhängetasche genommen hatte, standen sie vor einem riesigen, mit allerhand Decken gepolsterten Lager. Eine grob gefertigte Stoffpuppe in ihrer Größe saß am hinteren Ende des Betts, eine zweite lag auf dem Bauch daneben. Bomm nahm die Puppen, setzte sich auf die Lagerstatt und sagte: »Das sind Bakalo und Rumrich, meine Lieblinge. Manchmal nehme ich sie mit nach Hause, aber Ocki bekommt sie nicht mehr. Er hat Rumrich kürz lich in den See geschmissen.« Tatsächlich sah Rumrich mitgenommen aus. Aber auch Bakalo, mit schmutziger Bluse und zerrissenem Rock, machte keinen gepflegten Eindruck. »Leider können die beiden nicht laufen wie ihr und auch nicht spre chen. Ich glaube, ich mach besser euch zu meinen Lieblingspuppen.« Betty kletterte auf einen Stein, der dem Mädchen als Stuhl oder Tisch dienen mochte. »Das geht nicht, hörst du. Eben weil wir laufen, sprechen und noch vieles andere mehr können, darfst du uns nicht als Spielzeug benutzen. Stell dir mal vor, das würde jemand mit dir tun.« »Du redest genau wie das Kätzchen, das mich gekratzt hat«, erwiderte Bomm. »Und wie dieses Rüsseltier.« »Du hast mit einem Elefanten gesprochen?«, fragte Jessica und er klomm gleichfalls den Stein. »Da siehst du, dass sogar die Tiere wie wir denken.« »Die sollen mir erst mal meine schönen Perlen wiedergeben«, be schwerte sich Bomm. Damit konnten die beiden nichts anfangen. Betty ging nicht darauf ein. »Dein Puppenhaus gefällt uns, aber wir gehören trotzdem nicht hier her«, begann sie wieder. »Doch, ihr bleibt hier bei mir.« Bomm packte Jessica mit beiden Hän den und setzte sie neben sich an die Seite von Bakalo. »So«, fügte sie hinzu, »wenn du schön artig bist, bekommst du feinen Kuchen.«
»Erstens hast du bloß Brot in deiner Tasche und zweitens bin ich satt«, schrie Jessica. »Ich will keinen Kuchen.« Sie wurden jäh durch das unheimliche Geräusch unterbrochen, das sie bereits kannten. Es erklang grässlich laut von der Schlucht her. Bomm erstarrte. Sie schloss die Augen, legte die Hände an die Schläfen und begann den Oberkörper hin und her zu wiegen. Jessica nutzte die Gelegenheit und sprang vom Bett. Die Prinzessin fragte das Riesenmädchen, ob das Geheul und Gestöhne von dem Fel sen mit der Nase stammten. »Ja, es ist unser Gott, der sprechende Berg«, antwortete Bomm. »Er wacht über uns und er schimpft, wenn er böse ist.« »Warum ist er böse?«, wollte Jessica wissen. Sie bekam keine Antwort. Da der Krach andauerte, ja, sich noch ver stärkte, wurden Bomms Pendelbewegungen heftiger. »Los, sie ist ganz mit sich beschäftigt, wir machen uns aus dem Staub«, flüsterte Jessica ihrer Freundin zu, die inzwischen wieder von dem Stein herabgeklettert war. Doch Betty winkte ab. »Wir kommen nicht weit. Wir müssen was anderes versuchen.« Sie stemmte die Arme in die Hüften und rief: »Er ist böse, weil ihr Unrecht getan habt, stimmt’s? Er meint, ihr sollt uns und die Tiere freilassen.« »Woher wisst ihr das von unseren Tieren?«, Bomm öffnete misstrau isch die Augen. »Du hast doch selber von der Katze und dem Elefanten erzählt«, erwi derte die Prinzessin. »Aber nicht, dass sie ständig jammern, sie wären gefangen.« »Ich hab’s mir einfach gedacht.« Der Berg grollte nun nur noch leise und das Mädchen fand ihre Si cherheit wieder. »Papa sagt, dass wir die Stärksten sind und alles tun können, was wir wollen.« »Das ist falsch. Wir sind lebendige Wesen wie ihr, nur kleiner! Der Berg wird nicht zulassen, dass ihr uns als Eigentum behandelt«, rief Jes sica.
Dass Bomm ein bisschen nachdenklich geworden war, sah man. Doch sie schob die Bedenken beiseite. »Papa hat Recht und ihr seid dumm. Ihr bleibt jetzt hier, in meinem Haus. Erst wenn ihr brav seid, dürft ihr wieder raus.« Sie sprang auf, wobei sie sich fast den Kopf an der Decke stieß, packte Rumrich und kroch mit ihm aus der Höhle. Draußen wälzte sie den Felsen vor die Tür. Jessica setzte sich resigniert auf die Bettkante. »Das ist schief gegangen, die lässt uns nie weg.« »Vielleicht doch«, gab Betty zur Antwort. »Immerhin scheinen die Rie sen vor diesem Berg Angst zu haben!« »Aber das nützt nichts, sie sind trotzdem zu mächtig.« Sie schauten sehnsüchtig nach oben zu den Lichtspalten. Die waren groß genug, sie durchzulassen, doch wie sollten sie dort hinaufkommen?
HILFE ODER NICHT?
Die Vögel, die auf Mümmels Geheiß nach schwarzen Pilzen und gelben Fettbeeren suchten, wurden nicht so schnell fündig. Sie flogen über Hänge und Täler, schauten sich auf Bergkämmen und Geröllhalden um, grasten die See- und Bachufer ab – vergeblich. Auch in der finsteren Schlucht der Riesen, auf die sie die meiste Hoffnung gesetzt hatten, schien ihnen kein Erfolg beschieden. Bis das kluge Spätzchen Tschilp, jenes, das sich besonders gut mit Pferdeäpfeln auskannte, seiner Nase folgend, in einen Felsspalt kroch. Er erweiterte sich zu einem Stollen und mündete in eine Höhle. Dort, unter einer steinernen, aber löchrigen De cke, durch die ein dämmriges Licht sickerte, fand sich eine ganze Kolo nie von Rossäpfelpflanzen. So nannte sie jedenfalls Tschilp, denn es war der schönste Name, den er sich denken konnte. Nun fehlen nur noch die Pilze, sagte sich der Spatz, der es nicht lassen konnte, an den gelben Beeren zu naschen. Er ließ seine Blicke durch die Grotte schweifen, brauchte auch nicht lange zu suchen: Schnell entdeck te er die schwarzen Hüte. Sie standen in Mengen direkt am Fuß der mannshohen Pflanzen. Die Natur hatte es offenbar so gefügt. Doch mit den gefährlichen Pilzen wollte sich Tschilp nicht befassen. Er war ja so winzig klein, dass er nicht einmal eine einzelne Beere hätte forttragen können. Schon der Flug zur Schlucht und zurück zum Wald strengte ihn über alle Maßen an. Vielmehr würde er den größeren Vögeln den Weg beschreiben: Adlern, Geiern, Kranichen, Reihern und Störchen, die jetzt freilich eher mit Tauben, Krähen oder Elstern vergleichbar wa ren. Er würde ihnen raten, vorsichtshalber Schnäbel und Krallen mit Beerenfett zu bestreichen, bevor sie die Pilze einsammelten. Die Vögel konnten ungestört arbeiten, denn der Riese, der den Haupt eingang der Grotte mit einem Felsen verschlossen hatte, brauchte im Moment kein Schrumpfpulver. Er hätte es auch keineswegs vergnüglich gefunden, sich ohne dringlichen Grund mit einem Fett einzureihen, das nach Pferdeäpfeln stank. Pet Riva, als nach und nach die erhofften Schätze eintrafen, hatte dazu genauso wenig Lust. Ihm blieb allerdings nichts anderes übrig, als den
Geruch auf sich zu nehmen – er musste ja mit den Pilzen experimentie ren. In einem abgeschiedenen Winkel der Felsenburg, nur mit Mümmel als Helfer, breitete er alles aus. Die Beeren, die ersten getrockneten Pilze, Harz von Zirbelkiefern, geraspelte Weidenrinde, Nussbaumblätter und Kokosmilch. Er hatte in seinen Erinnerungen gekramt und war zu der Meinung gelangt, dass diese Bestandteile das Schrumpfen befördern könnten, oder, anders gemischt, auch das Wachstum. Und darauf kam es ja an. Zunächst jedoch zerstampfte er nur die Pilze zu einem Pulver, erprob te ihre Wirkung an Steinen und Pflanzen. Ohne jeden Erfolg. Selbst das zusätzliche Aufsagen der Formel: »Racki, nacki, Wunderbaum,
Racki, nacki, Zaubertraum,
Eichenwurz und Eisenkeil,
Wandle dich ins Gegenteil.«
und das Schwingen der Zauberangel bewirkten nichts. Pet Riva versuch te es mit den erwähnten Zutaten und probierte der Reihe nach alle Mi schungen durch, die man sich denken konnte. Sie brachten keinerlei Ver änderungen hervor.
»Dieser Riese muss einen besonderen Trick kennen«, stöhnte der Alte, nachdem sie sich stundenlang abgeplagt hatten. »Ich weiß nicht mehr weiter.« Mümmel kratzte sich den Kopf. »Wir dürfen nicht aufgeben. Legen wir eine Pause ein.« Pet nickte. Sie nahmen eine Stärkung zu sich: der Hase einen Löwen zahnsalat, der Alte eine Frucht vom Affenbrotbaum. In Gedanken zer bröselte er dabei einen der schwarzen Pilze. »Also los, noch mal von vorn«, sagte er. Mümmel schob den Rest Salat weg, um sich wieder der Arbeit zuzu wenden. Plötzlich rief er: »Was ist denn das?« »Was soll sein? Was meinst du?« »Dort vor dir, das Gras. Es ist nur noch halb so hoch.« Das war richtig. Unmittelbar vor Pet waren die Grashalme deutlich kürzer. Der Alte stutzte und bückte sich. Die Krümel des schwarzen Pilzes, den er unabsichtlich zerrieben hatte, lagen noch herum. Er hob sie auf, bestreute einen Stein damit und wartete. Sehr schnell schrumpfte der Stein auf Kieselgröße. »Es klappt«, rief Pet, »plötzlich klappt es!« Er überlegte, nahm einen zweiten Pilz und zerrieb ihn über einem anderen Stein. Doch diesmal geschah nichts. »Offenbar haben nicht alle schwarzen Pilze die gleiche Wirkung«, ver mutete der Hase. »Stimmt. Muss wohl so sein. Aber wie kriegt man heraus, welches die richtigen sind?« »Durch Probieren.« »Eine umständliche Methode«, erwiderte Pet. »Für das Tierreich war eine große Menge Pulver nötig. Der Riese hätte Monate gebraucht, hätte er jeden Pilz einzeln geprüft.« »Vielleicht gibt es ein bestimmtes Merkmal«, sagte Mümmel. Sie begannen mit einzelnen Pilzen zu experimentieren und wirklich – nach einer Weile hatten sie es heraus. Die Hüte waren alle gleich, die
Stiele aber unterschiedlich gezeichnet. Es gab solche mit glatten gelben Stielen und andere, bei denen eine rötliche Schattierung auffiel. Nur die rötlichen Pilze ließen die Dinge schrumpfen, wobei man sie aber auf keinen Fall mit den anderen vermischen durfte. »Gut«, freute sich Mümmel, »das hätten wir geschafft. Doch wie errei chen wir unser Hauptziel, die Tiere wieder wachsen zu lassen?« »Dazu brauchen wir Weidenrinde und Kokosmilch«, erklärte Pet sie gesgewiss. »Nach altem Zauberrezept bewirken sie eine Verwandlung ins Gegenteil.« »Bist du sicher?«, fragte Mümmel, der von den Pannen des Alten ge hört hatte. »Ganz sicher. Du wirst es gleich merken.« Pet nahm einen Löffel ge raspelte Weidenrinde, warf sie in eine Kokosnussschale mit Milch und wartete ab. Später gab er Schrumpfpulver dazu. Mit großer Geste und den Worten »Abrakadaxe, gedeihe und wachse« bespritzte er Gras und Steine mit dem Gemenge. Der Hase war zurückgesprungen, er traute der Sache trotz allem nicht. Er wartete das Ergebnis hinter einem Baum ab. Zunächst geschah gar nichts. Erst als Mümmel die Nase schon wieder hervorsteckte, passierte es: Die besprühten Pflanzen und Steine began nen jäh anzuschwellen – es war, als würden sie mit Luft aufgeblasen. Bis sie nacheinander mit lautem Knall zerplatzten. Vor Schreck machte Mümmel Männchen. Pet war zurückgeprallt und hatte sich auf den Hintern gesetzt. »W…was tust du da?«, stammelte der Hase. »D…das geht nicht, das ist mo…mordsgefährlich.«
»Wahrscheinlich zu viel Rinde«, murmelte der Alte.
»Wenn mich oder dich ein Spritzer getroffen hätte!«
»Wir sind doch durch das gelbe Fett geschützt«, brummte Pet verlegen.
Mümmel war nur halb beruhigt.
»Wir dürfen das auf keinen Fall an irgendeinem Lebewesen ausprobie ren!« Doch das war Pet inzwischen selbst klar geworden. So kam es, dass die beiden sich nun zwar gut aufs Schrumpfen ver standen, in der Kunst, den Tieren ihre ursprüngliche Gestalt wieder zugeben, aber keinen Schritt weiterkamen. Und gerade das war es ja, was jedermann von ihnen erwartete.
EINE PFIFFIGE IDEE Sie hatten geschlafen oder wenigstens gedämmert, deshalb schien ihnen der Ruf von oben zunächst ganz unwirklich. Betty merkte als Erste, dass es kein Traum war. Sie stieß die Freundin an. »Hörst du das?« »Hallo, ihr beiden, seid ihr da drin?« »Ja«, sagte Betty, »wir sind hier gefangen. Wer bist du?« »Ein Vogel aus dem Tierreich, ein Marabu. Ich habe Bomm durch den Sumpf waten sehn. Hat sie euch etwas angetan?« »Nein«, meldete sich nun Jessica, die inzwischen gleichfalls wach war. »Aber wir wollen hier raus. Kannst du uns helfen?« »Es bringt nichts, wenn ich zu euch runterkomme. Doch verzagt nicht, ich kenne jemanden, der euch beisteht.« Ein Flattern zeigte, dass der Marabu schon wieder gestartet war. »Wie sollen uns die Tiere befreien?«, murmelte Jessica. »Den Felsen vor der Tür können sie nicht wegschieben und ein Seil, das von dieser hohen Decke bis zu uns herunterreicht, gibt es im Wald auch nicht.« »Warten wir’s ab.« Betty war weniger skeptisch.
Die Zeit verging, ohne dass etwas geschah. Endlich hörten sie ein krat zendes Geräusch und eine krächzende Stimme: »Achtung, ich werfe euch jetzt mein Netz runter.« »Ein Netz? Wer ist da oben?« Jessica war überrascht. »Was denn, erkennt ihr eine gute alte Freundin nicht an der Stimme wieder? Euch zuliebe hab ich mich von einem Kranich über den Sumpf tragen lassen.« In einer Öffnung direkt über ihnen zeigte sich ein haariger Kopf mit Stielaugen und Giftklauen an den Fühlern. »Minni«, rief Jessica, »das gibt es nicht! Wie kommst du ins Land der Riesen?« »Auf meinen Beinen, wie sonst. Na ja, wir haben auch ein dir gut be kanntes Boot benutzt und dann war da noch eine Elfe mit einem Flug dach. Aber darüber können wir ja später reden.« »Das musst du uns nachher ganz genau erzählen«, sagten Jessica und die Prinzessin, als hätten sie sich abgestimmt. Die Spinne warf das Netz herab, hatte sich freilich in der Höhe ver schätzt – der Strick reichte nicht ganz. Erst als die zwei auf den Stein in der Mitte der Höhle kletterten, bekamen sie das feine aber einmalig feste Gewebe zu fassen. Sie krallten sich beide daran fest und Minni, die ja für ihre Kräfte bekannt war, zog sie nach oben. Durch den Lichtschacht gelangten alle drei ins Freie. »Jetzt schnell weg, bevor diese Riesengöre zurückkehrt«, drängte Betty. »Und wie kommen wir durch den Sumpf?«, fragte die Freundin. »Schaut mal dort.« Der Marabu war ebenfalls wieder da und hatte nicht nur den Kranich mitgebracht, mit dem Minni geflogen war. Gleich vier dieser noch immer stattlichen Vögel standen auf dem Felsendach der Höhle. »Einer wird mich tragen«, erklärte die Spinne, »einer Betty und zwei dich, Jessica, denn du bist am schwersten.« Auf diese Art wurde das Mädchen zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit per Flug transportiert. Der eine Kranich fasste sie bei den Hand-, der andere bei den Fußgelenken, und so gelangten sie heil über den Fluss. Bequem war das nicht, beinahe wäre ihr schlecht geworden.
Trotzdem waren ihr diese Vögel lieber als vor kurzem der Geier mit den zwei Schnäbeln. Bei der Landung wurden die drei von Dickhaut und dem Löwen in Empfang genommen, die schon um sie gebangt hatten und nun über glücklich waren. Gemeinsam rannten sie dann zum Wald, wo die übrigen Freunde sie mit größter Ungeduld erwarteten. Am nächsten Morgen trafen sich alle zur Beratung in der Felsenburg, denn Pet und Mümmel wollten von ihren Experimenten berichten. Mit Freude hatten Betty und Jessica zur Kenntnis genommen, dass auch der alte Fischer im Tierreich eingetroffen war. Pet schilderte, was sie inzwischen erreicht hatten, und dass die rötli chen Pilze das Schrumpfen bewirkten. Dagegen wollte das Vergrößern einfach nicht klappen. »Ist das eine geglückt, schaffen wir das andere auch«, erklärte zuver sichtlich der Holzfäller. »Du musst es eben weiterhin probieren.« »Schön und gut. Aber wie lange müssen wir noch ausharren, bis es funktioniert?« Der Löwe konnte es nicht mehr erwarten, seine alte Gestalt wiederzu bekommen. »Ich tu mein Möglichstes«, erwiderte Pet. »Ocki wird immer frecher«, sagte der Löwe. »Gestern hat er einem Hirsch das Geweih abgebrochen. Bomm wird auch keine Ruhe geben. Sie wird nach ihren Gefangenen suchen und dabei alles Mögliche zer trampeln. Außerdem wiegelt der Leopard die groß gebliebenen Tiere gegen uns auf.« Die Freunde schwiegen. Etwas anderes als abzuwarten, bis Pet Erfolg hatte, gab es nicht. »Da ist noch ein weiteres Problem«, meldete sich schließlich Dickhaut zu Wort. »Angenommen, es gelingt uns, wieder die alte Größe zu errei chen – was wird aus unserem Wald? Habt ihr das schon mal überlegt?« »Den müssen wir natürlich genauso rückverwandeln«, erwiderte Mümmel. »In Ordnung. Aber er bleibt hier bei den Riesen. Wollt ihr ewig in ihrer Nähe leben?«
Betreten schauten sich die Tiere an. So weit hatten sie noch gar nicht gedacht. »Erst mal wieder groß sein. Dann sehen wir weiter«, murrte trotzig der Löwe. Der Scheuch schaltete sich ein. »Notfalls wandert ihr aus. Bei uns wird sich schon ein neuer Wald fin den.« Betty und der Holzfäller nickten, aber Dickhaut sagte: »Danke, ihr seid echte Freunde. Doch unser Reich geben wir nicht auf.« Der Einzige, der bei dieser Besprechung fehlte, war Larry Katzenschreck. Er hatte behauptet, etwas Wichtiges erledigen zu müssen, aber was konnte es Wichtigeres geben, als eine solche Beratung? Selbst Minni war verwundert. Erst am Nachmittag tauchte der Mäuserich überra schend bei Betty, Jessica und dem Scheuch auf, die gemeinsam eine klei ne, gut getarnte Höhle bewohnten. »Wo warst du?«, fragte die Prinzessin. »Wir haben deine guten Ideen vermisst.« »Ich habe mir einen Berg angeschaut. Einen mit Nase, vor dem die Riesen ziemlichen Respekt haben.« »Den sprechenden Berg«, sagte der Scheuch, »ich verstehe.« »Ich war ziemlich weit oben, dort, wo er sein Gesicht hat. Lauter Spal ten und Höhlen, durch die der Wind pfeift. Einer wie ich kann sich da kaum halten.«
»Warum warst du dort?«, wollte der Scheuch wissen.
»Nun ja, mir ist da so ein Gedanke gekommen.«
»Rück schon raus damit, lass dich nicht endlos bitten«, rief Jessica, die
fast vor Neugier platzte. »Ich hab mich an deinen Großvater Goodwin erinnert«, gab Larry zur Antwort. »Wie man erzählt, hat er in der alten Zeit ja alle mit seiner Zauberkunst in Angst und Schrecken versetzt. Sogar die Hexe Bastinda!« »Das ist wahr, er ist noch jetzt stolz darauf«, stimmte Jessica zu. »Aller dings konnte er nicht richtig zaubern. Er hat mehr geblufft.« »Er war ein großartiger Schwindler«, ergänzte der Scheuch, der die Tricks des Alten noch aus eigener Erfahrung kannte. »Moment mal.« Der Prinzessin begann etwas zu dämmern. »Goodwin hat Angst und Schrecken verbreitet, indem er sich furchteinflößende Masken bastelte und mit Donnerstimme Befehle erteilte. Du glaubst doch nicht etwa…« »Dass man die Riesen auf ähnliche Weise durch diesen Berg erschrek ken kann«, vollendete der Scheuch ihren Satz. »Und weshalb nicht?«, fragte Larry pfiffig. »Das gruslige Aussehen hat der Berg schon. Die Riesen halten ihn für ihren Gott. Wir brauchten nur noch die Donnerstimme.« »Die hat der Tapfere Löwe«, rief Jessica begeistert. »Und wenn gleich zeitig Dickhaut da oben zu trompeten anfängt, fallen diese Dummköpfe vor Schreck in Ohnmacht.« Betty dämpfte ihren Enthusiasmus. »Mag sein, aber inwiefern ist dem Tierreich damit gedient?« »Vielleicht kriegen die Riesen solche Angst, dass sie weit weglaufen und nie wieder hierher kommen«, rief Jessica. »Das wäre immerhin etwas«, stimmte Larry zu. »Gehn wir zum Löwen«, schlug der Scheuch vor. »Die Sache ist es wert, dass wir sie ihm vortragen.«
DIE STIMME DES BERGES
Bomm war am nächsten Tag mächtig erzürnt. Sie hatte mit den neuen Puppen spielen wollen, aber die waren einfach weg. Wie die beiden die Höhle verlassen hatten, konnte sie sich beim besten Willen nicht erklä ren. »Ich will die zwei wiederhaben«, sagte das Mädchen laut und schleuder te die Puppe Bakalo, die darüber zu lachen schien, wütend in die Ecke. Sie verließ die Grotte, stapfte durch den Sumpf. Scharen von Fröschen spritzten bei ihrem Nahen eilig zur Seite. Sie haben von den Tieren gesprochen, bestimmt sind sie zum kleinen Wald geflohen, dachte das Mädchen. Es wusste aber auch, dass es nicht leicht war, sie dort aufzustöbern. Deshalb kam ihr Ocki, der zum See wollte, gerade recht. Bomm tat, als wäre sie Jessica und Betty eben erst begegnet. »Du musst mir suchen helfen, Ocki. Zwei Puppen sind über die Wiese gerannt und haben sich im kleinen Wald versteckt. Wir wollen sie gefan gen nehmen.« Für ein solches Abenteuer war Ocki sofort zu haben. »Puppen, wie Papa sie in den Tälern gesehen hat?« »Genau. Sie können laufen und sprechen.« »Klasse«, rief Ocki, »die schnappen wir uns.« Sie stürmten zum Wald, begannen das Gebüsch und die Bäume aus einander zu biegen. Die Tiere stoben aufgeschreckt in alle Richtungen davon oder verbargen sich in ihren Erdhöhlen. Ihre Furcht bereitete besonders dem Jungen großes Vergnügen, er lachte laut, stampfte mit den Füßen auf, dass rings der Boden erzitterte, und grapschte mit dicken Fingern ins Gestrüpp. Dabei ging eine Menge Holz zu Bruch und beina he hätte Ocki einen alten, schon etwas langsamen Wolf erwischt, der über eine Lichtung pirschte. Der Vierbeiner konnte aber noch flüchten. »Hör auf, die Tiere zu jagen«, rief Bomm. »Wir müssen die Puppen kriegen.« »Hier sind gar keine Puppen. Wer weiß, was du gesehen hast.«
»Wenn ich’s dir sage. Als ich auftauchte, haben sie laut geschrien.« Bomm fantasierte das zusammen, weil sie nicht erzählen wollte, dass die zwei bereits in ihrem Puppenhaus gewesen und entkommen waren. »Vielleicht sind sie im Sumpf ertrunken«, erwiderte Ocki. Er nahm ei nen Stein und warf damit nach einer Gazelle. Zum Glück war sie flink genug, um dem Geschoss auszuweichen. Mit einem Mal ertönte von der Schlucht her das bekannte Dröhnen und Rumoren. Die Geschwister hielten in der Bewegung inne und schau ten zu dem Berg hinüber, dessen Kuppe von hier aus deutlich zu sehen war. Sie beugten den Kopf, wie sie es in solchen Augenblicken von ihren Eltern kannten, und murmelten ein paar Worte, die ihre Ergebenheit zeigen sollten. Doch der Berg gab diesmal keine Ruhe, verhielt sich ganz anders als sonst. Das Rumoren verstärkte sich mehr und mehr, wurde zum gewalti gen Getöse. Ein Donnergebrüll erhob sich, erfüllte die Ebenen und Tä ler, hallte von den Felswänden wider, erschütterte das Gestein, als sollte es im nächsten Moment auseinanderbrechen. Der Riese und seine Frau, die einen solchen Lärm noch nie gehört hatten, glaubten, ihre Höhle stürze ein, und rannten erschrocken ins Freie. Tatsächlich sausten einige Felsblöcke den Berg herab und brachen Schneisen ins Gehölz. Zum Zeichen ihrer Demut warfen sich die Riesen auf den Boden und schlossen die Augen. »Was ist passiert?«, flüsterte die Frau. »So wütend war er noch nie.« Auch Ocki und Bomm waren zutiefst erschrocken. Sie legten sich gleichfalls hin, wagten keine Bewegung mehr. Zumal der Berg mit der krummen Nase, den tiefen Augenhöhlen und einem Maul, groß wie fünf Walfischrachen, nun gar noch zu sprechen begann. Mit einer grollenden Stimme, die tief aus seinem Innern zu kommen schien. »Hört mir zu, Riesen«, dröhnte er, »ihr seid gewohnt, dass ich von Zeit zu Zeit seufze oder grolle, aber nicht, dass ich mich mit menschlicher Stimme an euch wende. Doch ich möchte, dass ihr mich versteht, denn Ungeheuerliches ist geschehen. Ihr habt ein großes Unrecht begangen. Durch euch wurde das ewig gültige, wunderbare Gesetz des Zauberlan des verletzt, das da heißt:
JEGLICHE KREATUR HAT EIN RECHT AUF EIGENES UND FREIES LEBEN.« Die Stimme brach ab und die Riesin fragte leise:
»Was sollen wir verletzt haben? Was meint er damit?«
»Das weiß ich nicht«, murmelte ihr Mann, »aber dass der Berg auf ein mal redet, kommt mir sonderbar vor.« »Sprich nicht so, das bringt Unglück. Er hat ja erklärt, weshalb.« »Trotzdem, es ist noch nie passiert.« »Doch. Meine Großmutter hat oft erzählt, dass der Berg, der sich ja seit ewigen Zeiten über uns erhebt, einst ihrem Urahn Weisungen erteilt hat. Dabei soll er sich sogar tief zu ihm herabgebeugt haben.« Als verdienten diese Worte eine Bestätigung, erscholl erneut das Don nergebrüll, diesmal mit Trompetenstößen gemischt, die das Felsgestein noch stärker zum Beben brachten. Wieder sausten einige Granitblöcke herab. »Geh in dich und bitte den Berg um Vergebung«, flüsterte die Riesin. »Es ist unser Gott und der unserer Väter. Er hat sie beschützt, aber sie haben sich auch stets seinem Willen beugen müssen. Sonst tut er uns womöglich etwas Schlimmes an.« »Ich bin sehr ungehalten darüber, wie ihr die Lebewesen um euch her um behandelt«, dröhnte diesmal die Stimme. »Jene, die um so vieles klei ner und schwächer sind als ihr. Ocki und Bomm, eure Kinder« – beim Erwähnen dieser Namen zuckten nicht nur die Eltern zusammen, son dern wie unter einem Hammerschlag auch am Spielzeugwald die Ge schwister –, »betrachten die Vierbeiner und Vögel als ihr Eigentum, mit dem man machen kann, was man will. Das aber werde ich nicht dulden.« Die Riesenfrau wagte es den Kopf zu heben. Sie rief, so laut sie es in ihrer Angst vermochte: »Wir haben dich gehört, großer Berg, und bitten dich, uns nicht länger zu zürnen. Vor allem nicht unseren Kindern, die noch klein sind und wenig Verstand haben. Wir werden dafür sorgen, dass sie den Tieren künftig mit Respekt begegnen.«
Der Berg schwieg einen Moment, offenbar war er verblüfft über die Antwort, die gut verständlich bis zu seiner Spitze hinaufschallte. Dann erwiderte er: »Gut, Riesin, das ist ein Anfang. Aber ihr müsst das Unrecht ganz be seitigen. Ich werde meinen Zorn zunächst mäßigen und abwarten, was ihr unternehmt. Doch fühlt euch nicht zu sicher. Ich melde mich wie der.« Ein letztes Grollen und der Berg verstummte. Nur das Echo hallte noch einige Zeit von den Felswänden wider. Die Riesen freilich wagten es eine ganze Weile nicht aufzustehen, sie waren wie betäubt. Bomm und Ocki blieben gleichfalls noch lange auf dem Bauch liegen. Die Jagd auf die Puppen und Tiere war ihnen erst einmal vergangen. Mit gesenkten Köpfen und nur gelegentlich zu dem schrecklichen Berg hoch schielend, kehrten sie schließlich in die Schlucht zurück. Natürlich steckten der Scheuch und seine Freunde hinter dem furcht baren Donnergetöse. Der Löwe, aus voller Kehle brüllend, war stolz darauf, wie gewaltig seine Stimme nach wie vor tönte, zumal sie durch das »Maul« des Berges, einer trichterförmigen Grotte, hundertfach ver stärkt wurde. Der Elefant hatte ihn nach Kräften unterstützt, Jessica, Betty und der Holzfäller hatten mit einem Baumstamm lockere Felsbrocken ausgehebelt und ins Rollen gebracht, so dass sie in die Tiefe sausten. Der Scheuch aber hatte die richtigen Worte für das Riesenvolk gefunden und den Hut des Eisenmannes als Megafon benutzt. Er hatte so laut gebrüllt, dass er ganz heiser war. Nun stand er, schwer atmend, da und krächzte: »Ich glaube, es hat gewirkt, meint ihr nicht? Die Riesin hat sogar ge antwortet.« Betty erwiderte: »Ja. Sie haben genauso reagiert, wie wir es erhofften. Aber warum hast du ihnen nicht befohlen, das Tierreich wieder an den alten Ort zu bringen und jedem seine ursprüngliche Größe zurückzuge ben?« »Wir sollten nicht alles auf einmal von ihnen verlangen«, entgegnete die Strohpuppe. »Der Schreck reicht fürs erste. Sie sollen in sich gehen, dann hören sie das nächste Mal umso besser zu.«
»Außerdem können wir die Effekte noch verstärken«, fügte Pet Riva hinzu, der ebenfalls mit auf den Berg geklettert war. »Ich lasse mir etwas einfallen.« »Ich glaube, Ocki und Bomm haben einen ganz schönen Schock ge kriegt«, freute sich Jessica. »Die werden uns jetzt in Ruhe lassen.« »Die Riesin wird die beiden beim Schlafittchen nehmen und ihnen die Ohren lang ziehen«, sagte der Holzfäller, »doch im Grunde sind die El tern schuld. Sie müsste man bestrafen.« Bestimmt hätten sie, beglückt über ihren Erfolg, noch weiter so gere det, hätte nicht unvermutet Dickhaut ihre Begeisterung gedämpft. »Strafe oder nicht, ich wäre schon froh, wenn der Riese die Sache rückgängig machen würde«, erklärte er. »Wer garantiert uns aber, dass er das überhaupt kann? Habt ihr darüber schon mal nachgedacht?« Die Freunde schwiegen. Manchmal hatten sie diese Überlegung zwar angestellt, doch auch schnell wieder verdrängt. Es durfte einfach nicht sein!
»Er kennt das nötige Mittel ganz bestimmt«, versuchte allen endlich der Löwe Mut zu machen. »Wer die Leute schrumpfen kann, vermag das auch umzukehren.« »Ich bin der gleichen Meinung«, stimmte Betty Strubbelhaar zu und klopfte dem Elefanten beruhigend auf den Rücken. Aber die Stimmung war nach Dickhauts Äußerung viel weniger enthu siastisch als vorher.
DAS FEUERWERK In den folgenden Tagen kehrte Ruhe im Tierreich ein – Ocki und Bomm ließen sich nicht mehr im Wald sehen. Sie wagten es nicht, obwohl ihr Gott eine Woche lang darauf verzichtete, mit seiner menschlichen Stim me zu sprechen. Löwe und Elefant allerdings bereiteten inzwischen den Boden für die entscheidende Rede. Sie nahmen die Mühe auf sich, jeden Morgen hinauf zu den Höhen zu steigen und ihre mächtigen Stimmen aus der Grotte erschallen zu lassen. So gelang es ihnen, die Riesen völlig einzuschüchtern. Noch hatten sie nur halb verstanden, was der Berg von ihnen wollte, aber das würde sich bald ändern. Einer, dem diese Entwicklung gar nicht passte, war der groß gebliebe ne Leopard. Seit die Freunde ihren Rettungsplan in die Tat umsetzten, verlor er seine ohnehin geringe Gefolgschaft. Verzweifelt überlegte er, wie er die Rückkehr zum alten Ort verhindern und seine Macht behaup ten konnte. Ich muss den Riesen erklären, dass alles nur ein Bluff des Löwen und seiner Verbündeten ist, sagte er sich. Eines Morgens, die Freunde waren diesmal alle gemeinsam zum Berg unterwegs, machte er sich in die Schwarze Schlucht auf. Er war sich sei ner Sache nicht ganz sicher, galten die Riesen doch als unberechenbar. Und trotzdem – er musste handeln! Vorsichtig drang er deshalb in die Schlucht ein und hielt Ausschau nach den Hünen. Gerade begann der Berg wieder zu rumoren – der Löwe ließ sein lautes Gebrüll ertönen. Die Riesen hatten das schon erwartet, sie traten unter würfig aus ihrer Höhle und legten sich auf den Boden. Sie waren aber
nicht mehr ganz so ängstlich, glaubten sie doch, das Schlimmste abge wendet zu haben, indem sie Ocki und Bomm im Zaum hielten. Der Leopard näherte sich den beiden. Da er ein Meister im Anschlei chen war, bemerkten sie ihn nicht. Sie hofften, dass der schauerliche Lärm, bei dem erneut einige Felsbrocken zu Tal stürzten, vorüberging. Nach einer Weile ebbten das Gebrüll und das Trompeten auch ab, doch an ihre Stelle trat die schon bekannte grollende und hallende Stimme. »Hört ihr mich, ihr Riesen dort unten in der Schwarzen Schlucht? Heu te spreche ich ein weiteres Mal zu euch, denn es scheint, dass ihr mir gehorchen wollt. Eine Woche lang habe ich euch beobachtet. Ihr habt eure Kinder davon abgehalten, die Tiere zu jagen, das will ich anerken nen. Dennoch, das große Unrecht ist noch nicht aufgehoben. Deshalb vernehmt meinen Entschluss. Hiermit befehle ich euch, rückgängig zu machen, was ihr verschuldet habt! Geht innerhalb der nächsten drei Tage zum gestohlenen Tierreich und bringt es an seinen alten Platz zurück. Dies muss mit aller Vorsicht geschehen, damit nicht noch mehr Schaden angerichtet wird. Wenn diese Aufgabe erledigt ist, gebt ihr allem, den Vierbeinern und Vögeln, den Pflanzen, Bäumen und dem Gestein die alte Größe wieder. Habt ihr das verstanden?« Der Scheuch, erneut den Hut des Holzfällers als Megafon und die Grotte als zusätzlichen Schallverstärker nutzend, hielt inne und gab Pet Riva ein Zeichen. Um die Botschaft mit Rauch und Tamtam zu unter stützen, sollte der alte Fischer ein kleines Zauberfeuerwerk entfachen. Doch Pet hatte wieder einmal auf die falsche Formel gesetzt. Statt Blitz und Donner löste sein: »Massalorum, Flammenross,
lass die roten Geister los.«
nur einen hellen Schein am Horizont aus, den die Riesen gar nicht be achteten. Trotzdem rief das Weib unten: »Mein Mann wird tun, was du befiehlst, großer Berg. Wir schwören es!« Und der Mann schrie:
»Dein Wille soll geschehen, Berg und Gott unserer Väter. Wir machen das rückgängig. Aber drei Tage sind zu wenig. Um den Tieren die alte Gestalt zurückzugeben, brauche ich besondere Pilze.« Und die Stimme aus der Höhe erwiderte: »Red keinen Unsinn. Die Schlucht ist voller Pilze.« »Schon. Doch die mit grünen Stielen wachsen nur vereinzelt.« Bei diesen Worten horchten die Freunde auf. »Grüne Stiele, das ist es also«, murmelte Pet. »Also meinetwegen, vier Tage«, dröhnte der Scheuch. »Ich werde die Vögel bitten, euch zu helfen, damit es schneller geht.« Er verstummte und nur der Tapfere Löwe ließ noch einmal sein grimmiges Fauchen hören. Die Riesen richteten sich auf, sie waren froh, dass alles so glimpflich abgehen sollte. In diesem Moment trat der Leopard aus dem Gebüsch und säuselte: »Verzeiht, liebe Riesen, wenn ich euch anspreche.« Die Hünen fuhren herum und starrten ihn an. Der Mann war schon drauf und dran, den frechen Eindringling beim Fell zu packen, doch der Respekt vor den Tieren, den der Berg befohlen hatte, hinderte ihn daran. Er zwang sich zu einem Lächeln: »Was willst du, mein Lieber?« »Nichts, was euch stören soll. Ich möchte euch nur warnen. Ihr seid im Begriff, das Opfer von Scharlatanen und Lügnern zu werden.« Die Riesin, die noch ganz unter dem Eindruck der Botschaft stand, fragte erstaunt: »Scharlatane? Lügner? Wovon redest du?« »Ihr glaubt, dass es der Berg eurer Väter ist, der zu euch spricht«, fuhr der Leopard fort, »aber das stimmt nicht.« »Was behauptest du da? Bist du verrückt?« Die Riesin warf einen scheuen Blick nach oben. »Ich weiß, dass euch das überrascht«, schnurrte der Leopard, »die Sa che scheint ja in der Tat unglaublich. Doch ich schwöre bei meinen Barthaaren: Es ist die reine Wahrheit. Der Löwe, der Elefant und ein
paar Puppen, die erst kürzlich hier angekommen sind, stecken hinter dem Schwindel.« »Moment mal«, fuhr nun der Riese auf, »du behauptest, ein winziger Löwe und ein Rüsseltier, das kaum größer ist, könnten an Stelle des Ber ges mit uns sprechen und die Donnerstimme unseres Gottes nachah men? Mir scheint, dass du der Betrüger bist. Was willst du uns da weis machen?« »Ich bin kein Betrüger«, beteuerte der Leopard, zog es jedoch vor, ein paar Schritte zurückzutreten. »Ich möchte lediglich verhindern, dass ihr hinters Licht geführt werdet. Wie sie es mit der Stimme machen, weiß ich noch nicht, doch wenn ihr mir etwas Zeit lasst…« In diesem Augenblick prasselte, mehr zufällig, ein ganzer Steinhagel vom Berg herab. Die Riesin warf sich gleich wieder zu Boden und rief:
»Da habt ihr’s, der Berg zürnt uns! Wie kannst du armselige Kreatur es wagen, ihn in unserm Beisein herauszufordern?« »Aber wenn ich doch schwöre…« Der Leopard merkte, dass es nicht nach seinem Wunsch lief. Der Mann der Riesin, der nicht ganz so abergläubisch war und sich an fangs gleichfalls über die menschliche Stimme gewundert hatte, brumm te: »Vielleicht ist trotz allem was dran an seiner Behauptung.« Der Satz war kaum verklungen, da ertönte ein so gewaltiger Donner schlag, dass man glauben konnte, der Himmel spalte sich. Rote, gelbe, blaue und grüne Blitze zuckten zu Tal, Rauchwolken umhüllten die Bergkuppe und ein Granitblock polterte auf sie herab. Die Riesen und auch der Leopard sprangen zur Seite. »Da habt ihr’s«, brüllte die Frau wütend, »wollt ihr uns alle umbrin gen?!« Sie schnappte nach dem Leoparden, der aber war noch schneller und verschwand im Gebüsch. Er verstand nicht, wie es zu diesem Feu erwerk hatte kommen können, sehr wohl aber, dass die dummen Riesen nun auf keinen Fall mehr zu überzeugen waren. Während weiterhin Donnerschläge krachten, floh er zornig aus der Schlucht. Die Freunde freilich, noch immer oben auf dem Berg, ahnten nichts von dem Verrat. Sie waren selber schockiert, denn auf ein solches Schau spiel waren auch sie keineswegs vorbereitet gewesen. Ausgelöst aber hatte das Ganze Pet Riva. Verärgert, weil sein Spruch: »Massalorum, Flammenross…« beim ersten Mal nicht wirkte, hatte er nach stärkeren Mitteln gesucht. Dabei war ihm das Stück Sprengkreide eingefallen, das Jessica immer bei sich trug. Die Kreide auf den Felsrand legend, hatte er die Zauberangel geschwungen, indes die Freunde vor sichtshalber in eine der Höhlen hier oben zurückwichen. Die Explosionen, die dann begannen, die Blitze, Funkenflüge, Flam mengarben und Qualmwolken hatte er genauso wenig erwartet wie alle anderen. Er wurde mehrere Meter weit weggeschleudert, bekam einen Stein an den Kopf, landete – zu seinem Glück – hinter einem Felsen, der Schutz bot. Rußverschmiert, mit Beulen und Brandwunden, aber insge samt noch wohlauf, kroch er aus der Deckung, als die Gefahr vorbei war, und suchte seine Angel. Sie war nirgends zu entdecken. Erst als die Freunde ihre Verstecke verließen und mitsuchten, gelang es, sie zu fin
den. Jessica, in die Höhe schauend, sah sie zuerst. Die Zauberangel hatte sich um die krumme Nase des Berges gewickelt. Gut, dass man den Elefanten dabei hatte; er packte sie einfach mit dem Rüssel und zog sie herunter. Pet bedankte sich und brummte entschuldi gend: »Die Detonationen waren vielleicht ein bisschen stark.« »Das kann man wohl sagen«, bestätigte Jessica. »Hauptsache, die Riesen waren beeindruckt«, sagte Betty. »Hoffen wir, dass nun alles so läuft, wie wir es wünschen«, schloss der Scheuch.
EINE GERECHTE STRAFE Drei Tage lang suchten der Riese und seine Frau, vor allem aber die Vö gel des Tierreichs, nach Pilzen mit schwarzem Kopf und grünen Stielen. Auch Ocki und Bomm beteiligten sich. Wenngleich die beiden kaum etwas fanden, machte es ihnen wider Erwarten Spaß. Endlich reichte der Vorrat, die Pilze konnten getrocknet und zu Pulver zerrieben werden. Zum Glück stank das Mittel, das dem Tierreich zu neuem Wachstum verhelfen sollte, nicht so abscheulich wie das Zeug, durch das alles ge schrumpft war. Der Berg meldete sich in dieser Zeit noch einige Male: Löwe und Ele fant hielten es für nötig, den Eifer der Riesen weiter anzustacheln. Der Scheuch aber fand, er habe genug Anweisungen erteilt. Dagegen bat er den Marabu, ein paar grüne Stiele für Pet abzuzweigen. Man konnte nie wissen, wozu das gut war. Am vierten Tag war alles für den Rücktransport vorbereitet. Der Riese kam ins Tal und begann zum zweiten Mal, das Tierreich zusammenzurol len. Viele Vierbeiner und Vögel zogen es freilich vor, den Rückweg aus eigener Kraft zu bestreiten. Sie brachen zeitig genug auf, um zum Zeit punkt der neuerlichen Verwandlung wieder in der Heimat zu sein. Nur Löwe, Elefant und einige der tapfersten Tiere nahmen die Beförderung
in der »Teppichrolle« auf sich. Sie brauchten Gewissheit, dass alles in Ordnung ging. Auch der Scheuch und seine Freunde ließen sich »einwickeln«. Tief im Dschungel versteckt, gingen sie das Risiko ein, denn sie wollten jeden Schritt der Prozedur genau verfolgen. Bomm und vor allem Ocki maulten ein bisschen, weil ihnen der Vater ihr Spielzeug wieder wegnahm. Doch sie hatten zu viel Angst vor dem Berg, um sich ernsthaft zu beschweren. Außerdem sorgte der Holzfäller mit seinem gütigen Herzen dafür, dass Bomm die fehlenden Perlen zu rückbekam. Jessica und Betty, zufrieden, weil alles so gut lief, halfen ihm, obwohl das Mädchen sie ja noch vor kurzem gefangen und eingesperrt hatte. Einzig der groß gebliebene Leopard war nach wie vor wütend. Er be schloss, das Tierreich zu verlassen und sich eine Höhle in den Bergen zu suchen. Bei Nacht und Nebel schlich er davon, gelangte nach längerem Umherirren zu einer zwischen Hügeln versteckten Hütte. Sie schien leer zu sein, und da er einen Unterschlupf brauchte, kroch er durch die offe ne Dachluke ins Innere. Er fand ein Lager aus Stroh mit einer Decke darüber, wo es sich gut ruhen ließ. Ringsum herrschte Stille und er war gerade eingeschlafen, als sich dem Häuschen Schritte näherten. Die Tür wurde aufgestoßen und zwei Män
ner, einer groß und dick, der andere schmächtig, polterten herein. Der Magere warf sein Bündel auf das Lager. Mit einem wilden Fauchen fuhr der Leopard hoch. Er war nicht auf Kampf aus, sondern nur erschrocken, wollte zur Tür. Doch die Männer, ebenfalls entsetzt, hatten den gleichen Gedanken. So stießen alle drei zusammen, wälzten sich als Knäuel am Boden. Man hörte Flüche, Schmerzensgeschrei und dann einen lauten Knall. Eine Stichflamme schoss hoch, die Hütte brach zusammen, begann zu brennen. Wie durch ein Wunder kam der Leopard lebend davon. Mit verkohltem Schwanz, blutiger Nase und Brandwunden am ganzen Körper kroch er ins nächste Gebüsch. Im Tierreich wurde er nie mehr gesehen. Auch die beiden Männer kamen mit dem Schrecken davon. Sie wurden ins Freie geschleudert, lagen – rußig wie die Köhler – eine Weile be wusstlos da. Bis der Magere wieder zu sich kam und stammelte:
»Fettbacke, mein Sohn, bist du wohlauf?« »Mir ist, als hätte man mich in einer Pfanne geschmort«, gab der Dicke zur Antwort. »Alles tut mir weh, aber sonst scheine ich in Ordnung zu sein.« »Ich auch«, sagte Timbal, denn kein anderer war es, »wir hatten unge heures Glück. Warum aber hast du Verrückter die Sprengkreide gezün det?« »Ich wollte gerade ein Talglicht zum Brennen bringen, ich war so er schrocken.« »Begreifst du, was du angestellt hast? Es war unser letztes Stück. Keine gute Sorte, aber wir hätten warten sollen, bis es vielleicht doch nach wächst. Nun werden wir die Kristallwurzeln mit der Spitzhacke heraus brechen müssen.« »Um Himmels willen, nein! Das macht zu viel Mühe!« »Wenn du nicht verhungern willst, bleibt dir nichts anderes übrig.« Timbals Sohn schwieg. Erst nach einer Weile murmelte er: »Möglicherweise bringen uns ja diese Strohpuppe und ihre Freunde die gestohlene Kreide zurück.« »Nachdem wir die Geier auf sie gehetzt haben? Das glaubst du selber nicht. Wer weiß, ob sie noch am Leben sind.« »Du hast aber immer behauptet, wenigstens einer käme durch«, jam merte Fettbacke. »Ich hoffe es weiter, trotz allem. Weiß nicht, weshalb wir damals so niederträchtig waren. Du hast mich dazu gebracht«, sagte Timbal. »Ich? Du wolltest doch nicht, dass sie unser Land betreten. Sich wo möglich bei uns einnisten. Selber nach Kristallwurzeln graben!« »Jedenfalls war es eine Gemeinheit«, gab Timbal zu, »und deshalb wer den wir die Kreide auch nicht wiederkriegen. Selbst wenn die fünf inzwi schen alle Geier und Riesen des Zauberlandes besiegt haben sollten.« Der Sohn seufzte. Beide wussten sie, dass genau das die Wahrheit war und sie sich mit ihrer Bosheit selber hereingelegt hatten.
EIN WUNDERBARER TAG
Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als der Riese seinen »Teppich« behutsam auf der kahlen Ebene jenseits des Tals der Fragen ausrollte. Er richtete sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn der Transport war anstrengend gewesen, und griff in den Sack mit dem Ver größerungspulver. »So, Berg meiner Väter«, sagte er, »ich führe jetzt den letzten deiner Befehle aus. Zwar kann ich dich von hier aus nicht mehr sehen, aber ich weiß, dass du mich überall im Auge hast. Wenn das hier vollbracht ist, bist du mir und meiner Familie hoffentlich wieder freundlich gesonnen.« »Durchaus, wenn du deine Aufgabe zu unserer Zufriedenheit erfüllst«, murmelte unhörbar für den Hünen der Weise Scheuch. Er und seine Freunde hatten sich in einer Erdhöhle versteckt und zum Schutz mit dem Fett der Rossäpfelpflanze eingerieben. Sie wollten ja, im Gegensatz zu den Tieren, nicht wachsen, verfolgten aber die Vorgänge mit äußer ster Gespanntheit. Löwe, Elefant, der Marabu sowie alle geschrumpften Wesen dagegen hatten sich auf Lichtungen und Wiesen versammelt. Auch wenn die mei sten den Riesen nach wie vor fürchteten, wollten sie doch auf keinen Fall das Wachstumspulver verpassen. Selbst der kleine Bär, dem Betty einst geraten hatte, Unterschlupf in den Hügeln zu suchen, kam angerannt. Niemand hatte ihn benachrichtigt, aber er sah, dass sich ein besonderes Ereignis ankündigte, und begriff sehr schnell, was geschehen sollte. Das neue Mittel roch – im Gegensatz zum Schrumpfpulver – herrlich nach Marzipan und süßen Waldbeeren. Der Riese nahm eine Handvoll aus dem Sack und streute es weithin über Wald, Moor und Wiesen. Alle warteten gespannt, ohne dass etwas passierte. Plötzlich aber ging ein Zucken und Strecken durch Pflanzen, Bäume, Büsche. Der Löwe ver spürte ein Kribbeln und Kratzen am ganzen Leib, der Elefant sah mit eigenen Augen, wie sein Rüssel länger wurde, der Marabu reckte sich auf seinen Beinen immer höher. Als das Werk dann getan war, warf der Riese noch einen Blick auf das Tierreich, das sich jetzt wieder über die ganze Ebene hin dehnte,
brummte so etwas wie: »Das hätte ich einfacher haben können« und stapfte davon. Die Tiere aber brachen, kaum dass er verschwunden war, in nicht en den wollenden Jubel aus. Fuchs und Hase, Tiger und Antilope fielen sich in die Arme, die Bären tanzten, die Kängurus hüpften, die Schlangen und sogar die Krokodile stellten sich vor Begeisterung auf den Schwanz. »Wir haben es dank eurer Hilfe wirklich geschafft«, rief der Löwe, »das vergessen wir euch nie!« Er drückte dem Scheuch, Pet Riva, Betty, dem Holzfäller, Jessica, Knacks und selbst dem ungleichen Paar Minni und Larry Katzenschreck feierlich die Hand. Jedermann war glücklich, plötzlich aber kam weinend ein Zebra, klein wie der Hase Mümmel, aus dem Gebüsch gekrochen. »Ihr habt alle eure alte Gestalt wieder«, jammerte es, »nur ich bin win zig geblieben.« »Aber warum denn?«, fragte mitleidig Jessica. »Hast du nichts von dem Pulver abgekriegt?« »Nein. Ich hatte solche Angst vor dem Riesen und bin zu tief ins Dik kicht gekrochen.« Die Tiere scharten sich mitfühlend um das traurige Zebra, sie konnten sich gut vorstellen, wie ihm zu Mute war. Pet Riva aber griff in die Jak kentasche und holte einen kleinen Beutel heraus. »Zum Glück haben der Scheuch und ich vorgesorgt. Tretet mal zur Seite, ihr anderen.« Er entnahm dem Säckchen etwas von dem kürzlich abgezweigten Wachstumspulver und bestreute damit das Zebra. Zugleich murmelte er einige Zauberworte, deren es aber in diesem Fall gar nicht bedurft hätte. »Danke, ihr Lieben, vielen, vielen Dank«, stammelte das Zebra, das zu sehends zur Größe seiner Artgenossen heranwuchs. »Und jetzt, Freunde«, trompetete Dickhaut, »holen wir unser Waldfest nach, das wir durch die bekannten misslichen Umstände verschieben mussten. Einverstanden?« »Und ob wir einverstanden sind«, brüllten die Tiere. »Das haben wir uns wirklich verdient.«
Jessica zupfte Betty Strubbelhaar am Ärmel. »Ich kann leider nicht mitfeiern, ich halte mich schon viel zu lange bei euch auf.« »Du hast doch die wundersame Stimmgabel der Fee Stella«, flüsterte Betty, »die es dir erlaubt, zwei Monate von zu Hause wegzubleiben, wäh rend dort nur eine Stunde vergeht.« »Das ist schon richtig. Trotzdem hab ich ein schlechtes Gewissen.« »Dann mache ich dir einen Vorschlag. Bleib wenigstens noch einen Tag hier, danach bringen dich die schnellen Antilopen zum Fliegenden Trog, mit dem du über die Weltumspannenden Berge nach Hause sausen kannst.« »Das ist eine gute Lösung.« Jessica ließ sich nur zu gern umstimmen. »Wunderbar. Gehn wir jetzt zum Tapferen Löwen, damit er alles ver anlasst. Und spätestens zu meinem Geburtstag sehen wir uns in der Smaragdenstadt wieder.« »Ich werde bestimmt kommen, ganz bestimmt«, rief Jessica.
Inhalt Buch: .......................................................................................................... 2
Erster Teil Das unheilvolle Pulver 6
DER RIESE .................................................................................................. 7
EINE KAHLE EBENE ........................................................................... 11
DER KLEINE BÄR.................................................................................. 18
DER STEINBOCK ................................................................................... 26
OCKI UND BOMM.................................................................................. 32
TIMBAL UND SOHN.............................................................................. 43
DIE ROLLTREPPE.................................................................................. 48
BOMMS PERLENKETTE...................................................................... 53
Zweiter Teil Gefährliche Begegnungen 61
DER GEIER MIT DEN ZWEI SCHNÄBELN .................................. 62
RETTE SICH, WER KANN! .................................................................. 65
DER FALLWIND ..................................................................................... 73
DAS GESPRÄCH MIT DER RIESIN................................................... 79
DIE ELFEN ............................................................................................... 84
ENDLICH WIEDER IN FREIHEIT .................................................... 92
EIN UNHEIMLICHES GEHEUL ........................................................ 97
Dritter Teil Der Gott der Riesen 103
DER LEOPARD...................................................................................... 105
DIE SCHLUCHT DER RIESEN ......................................................... 108
ERNEUT GEFANGEN ........................................................................ 114
DIE SCHWARZEN PILZE................................................................... 117
WO IST BOMM? ..................................................................................... 123
DAS PUPPENHAUS .............................................................................. 126
HILFE ODER NICHT? ......................................................................... 131
EINE PFIFFIGE IDEE ......................................................................... 136
DIE STIMME DES BERGES............................................................... 141
DAS FEUERWERK................................................................................ 147
EINE GERECHTE STRAFE ............................................................... 152
EIN WUNDERBARER TAG ............................................................... 157
Inhalt ...................................................................................................... 160