HILMAR WULFF
DAS HAUS IM WALDE Illustrationen: Karl Fischer
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Originaltitel: „I kamp for ...
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HILMAR WULFF
DAS HAUS IM WALDE Illustrationen: Karl Fischer
DER KINDERBUCHVERLAG BERLIN
Originaltitel: „I kamp for frihed“ Übersetzung aus dem Dänischen von Olla Ewert
Alle Rechte vorbehalten Printed in the German Democratic Republic Lizenz-Nr. 304-270/17/60-(20-IV A) Satz und Druck: BBS Otto Grotewohl, Leipzig (III/18/3). 1. Auflage ES 9 D 3 Für Leser von 11 Jahren an
DER SIEBENTE UMZUG
Das Haus lag in einem großen Wald. Der Garten erstreckte sich bis zu einem See hinab, und die Äste der alten Bäume hingen weit über das Wasser. Auf der anderen Seite des Sees verlief die Landstraße. Von dort sah das alte strohgedeckte Fachwerkgebäude aus wie auf einer Weihnachtskarte. Es lag so idyllisch und friedlich da, so einsam in dem großen Wald. Auf einem Ast, der über den See reichte, saß ein Junge und angelte. Es saß sich gut auf der uralten Eiche. Die Sonne stand hoch, und es machte Spaß, Barsche und Plötze zu angeln. Und dann waren auch Ferien. Per war vierzehn Jahre alt. Er war mit seinen Eltern und seinem dreijährigen Schwesterchen vor ungefähr einer Woche in dieses Haus gezogen. Ein paar Tage nach dem Anfang der Sommerferien hatten sie Kopenhagen verlassen. Ganz plötzlich, ohne Möbel, nur mit ihren Koffern. Per war nicht besonders erstaunt darüber. Er dachte, an dem neuen Ort würde es schon Möbel geben, selbst draußen auf dem Land. Er konnte sich schon an sechs Wohnungen in Kopenhagen erinnern, wo sie in den letzten beiden Jahren gelebt hatten. Sie hatten immer ganz plötzlich ausziehen müssen. Einmal sogar mitten in der Nacht.
Sein Vater war spät nach Hause gekommen, hatte sie alle geweckt und schnell ein paar Koffer gepackt. Anne war damals noch so klein. Mutter hatte geweint und sie in eine Decke eingewickelt. Per erinnerte sich deutlich daran, wie seine Mutter gefragt hatte: „Emil, hört das denn niemals auf?“ Vater hatte von dem Koffer aufgesehen, in den er gerade einige Papiere hineinstopfte, und gesagt: „Ingar, du weißt doch, wir arbeiten dafür, daß dieses Leben sich ändert…“ Mehr wurde nicht gesprochen, und sie waren woanders hingezogen. Nun wohnten sie in dem alten Haus im Wald. Hier draußen war es schön. Man konnte Farmer spielen oder Pelzjäger, wie Per sich das so oft gewünscht hatte, wenn er davon las. Aber er wußte, daß sie nicht hergezogen waren, um Farmer zu spielen. Jetzt begriff er, was seine Mutter gemeint hatte, als sie sagte: „Hört das denn niemals auf?“ Das war der Krieg. Die Nazis waren an allem schuld. Heute verstand er, was an dem Tag geschehen war, als seine Schwester zur Welt kam. Anne wurde vor über drei Jahren, am 9. April 1940, geboren. Per schlief in jener Nacht nicht viel. Er lag auf dem Sofa in der Wohnstube. Der Doktor und die Hebamme waren da, und er hatte solche Angst, als er seine Mutter im Schlafzimmer schreien hörte. Es war eine unheimliche Nacht. Als er endlich einschlummerte, träumte er, daß alle Häuser in der Silber- und in der Reichsstraße sich bewegten.
Plötzlich wachte er auf. Die Häuser bebten wirklich. Es donnerte, daß die Fenster klirrten. Dann entfernte sich der Lärm, aber er kam wieder, entfernte sich nochmals und kehrte zurück. Schlaftrunken und verwirrt saß Per auf dem Sofa und lauschte. Es war bald Morgen. Das Tageslicht drang schon durch die Jalousien herein. Im Schlafzimmer war es still. Der Arzt und die Hebamme mußten weggegangen sein. Jetzt hatte er also eine Schwester oder ein Brüderchen, wie sein Vater es vorausgesagt hatte. Dann mußte er auch heute nicht in die Schule gehen, weil in der Nacht so viel Unruhe gewesen war. Die Häuser bebten nicht mehr. Per dachte, er hätte geträumt. Plötzlich horchte er auf. Da war es wieder! Ein ferner Lärm. Er kam näher, die Scheiben klirrten. Es hörte sich an, als flögen tausend Flugzeuge direkt über das Dach. Per war aufgesprungen, er eilte zum Fenster und zog die Jalousie hoch. Verwundert und ein wenig ängstlich starrte er hinaus. Viele, viele Flugzeuge, riesengroße Bomber, wie er sie von Bildern kannte, flogen niedrig über die Häuser hinweg. Schnell zog er sich an. Er wollte gerade hinausgehen, als sein Vater aus dem Schlafzimmer kam, nur in Hosen und barfuß. Er sah müde aus, aber seine Stimme klang lebhaft, als er sagte: „Da kommen sicher die Engländer von ihrem Flug über Nazideutschland zurück, Per. Wart ein wenig, ich komme mit runter.“
Viele Leute gingen von der Reichsstraße zur Silberstraße. Sie wollten wohl auch hinüber nach dem Königsgarten, um besser zu sehen. An der Ecke hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. Mitten auf der Silberstraße, weit von der Haltestelle entfernt, hielt eine Straßenbahn. Vor ihr stand quer auf den Schienen ein graues Automobil. Die Leute redeten und schrien, und dann gab einer dem Vater ein Stück Papier. Viele solcher Zettel lagen auf der Straße. Per hob einen auf. Er war schmutzig und zerknüllt, jemand hatte daraufgetreten. Per konnte nur die Überschrift lesen und einige Worte, die in einer seltsamen Mischung von Dänisch und Norwegisch darauf standen: AUFRUF! An die dänischen Soldaten und das dänische Volk! …daß sie jeden passiven oder aktiven Widerstand unterlassen. …würde mit allen Mitteln gebrochen… Alle militärischen und kommunalen Stellen werden gebeten, sofort mit den deutschen Befehlshabern Verbindung aufzunehmen. Für die Sicherheit des Landes sorgen von jetzt ab das deutsche Heer und die deutsche Flotte. Während Per erstaunt las, was er auf dem schmutzigen Papier entziffern konnte, kamen die Flugzeuge zurück, riesige dröhnende Bomber. Jetzt
wußte er, daß es deutsche waren. Die Menschen schauten in die Höhe. Einige drohten mit geballten Fäusten, andere drängten sich dichter an die Häuserwände. Per ergriff die Hand seines Vaters, die noch den Aufruf hielt. Wie eine dunkle und tödliche Drohung lärmten die Bomber tief über den Dächern. Sie kreisten wie unbarmherzige Raubvögel, die auf Beute lauern. Wo sich die Kronprinzessinstraße und die Silberstraße treffen, stand eine Gruppe deutscher Soldaten. Sie hatten Stahlhelme auf, Gewehre in den Händen und Handgranaten im Gürtel. Mitten auf der Kreuzung war ein Maschinengewehr aufgestellt. Die Leute sahen die Deutschen an, nicht ängstlich, sondern als ob sie nicht verstehen könnten, was geschehen war. Ein deutscher Soldat stand vor dem Eckeingang des Königsgartens. Per hörte seinen Vater zu einem Mann sagen: „Der sieht eigentlich mehr verlegen als drohend aus. Ich würde gern wissen, was er über all das hier denkt.“ Der Vater ging auf den Deutschen zu und sprach ihn an, der lächelte verlegen, zuckte mit den Achseln und sagte ein paar Worte. Mehr Leute kamen hinzu. Einige fragten, was der Soldat erwidert hätte. Per schien es, als wäre seines Vaters Stimme verändert, als er antwortete: „Ich fragte, was das hier bedeuten soll. Übrigens eine dumme Frage. Es ist ja klar, daß
wir jetzt ein besetztes Land sind. Der Bursche konnte nur sagen – weiß nicht.“ Ein junger Mann stand direkt neben Per. Er sah bleich aus und knurrte aufgeregt: „Weiß nicht, ha, das soll er noch zu wissen kriegen, dieses Nazischwein.“ Pers Vater wandte sich um und sah den jungen Mann an, während er antwortete: „Schreien Sie nicht so, Kamerad. Sie werden nur Unannehmlichkeiten bekommen. Der Bursche schien übrigens ganz ordentlich zu sein. Er ist ein deutscher Soldat, aber darum muß er kein Nazi sein. Ich glaube eher, daß er sich hier nicht ganz wohl fühlt.“ Wie rasend schrie der junge Mann: „Was bist du für ein Kerl, nimmst die Nazis in Schutz, bist vielleicht selber ein Faschist? Paß bloß auf!“ Er hob drohend die Faust. Die Leute drängten sich um die Gruppe. Ein paar deutsche Soldaten kamen näher heran. „Komm, Per.“ Der Junge fühlte seines Vaters Hand auf der Schulter. Er sah sich um. Die Leute gingen nach verschiedenen Richtungen auseinander. Per hatte das Gefühl, daß zornige Gesichter dem Vater und ihm nachschauten. Den ganzen Sommer war weiter nichts geschehen. Es schien, als hätten die Leute sich schnell daran gewöhnt, daß das Land von fremden Truppen besetzt war.
Wie andere Kinder war Per bald vertraut damit, deutsche Soldaten auf den Straßen und deutsche Flugzeuge in der Luft über Kopenhagen zu sehen. Er merkte nicht einmal, daß seine Eltern und die meisten
ihrer Freunde sich langsam veränderten, schweigsamer wurden, je mehr die Zeitungen über die großen Siege und die gewaltigen Panzerheere der Deutschen in Frankreich, Belgien, Holland und anderen Ländern schrieben. Nur einmal geschah etwas, was er in seinem Leben nicht vergessen würde. Es war an einem Abend zu Hause im Wohnzimmer, als sie am Tisch saßen und aßen. Der Ansager im Radio gab bekannt, nun käme ein Auszug aus einer Rede, die Hitler auf einer großen Versammlung in Berlin gehalten hätte. Einige Minuten hörten sie den Führer der Nazis wild und hysterisch in die kleine friedliche Stube brüllen. Da erhob sich Pers Vater. Er verstand Deutsch und brauchte nicht zu warten, bis die dänische Übersetzung kam. Er trat zum Radio, stand noch ein wenig und lauschte. Plötzlich schrie er: „Das ist gelogen. Verdammtes Biest, das ist gelogen!“ Und dann schlug er mit seiner kräftigen Faust auf das Radio. Das kratzte noch ein wenig und schwieg. Die kleine Schwester lag im Bett. Per und die Mutter hatten aufgehört zu essen. Noch nie hatte der Junge seinen Vater so gesehen. Er stand bleich da, während Tränen über seine Wangen rollten. Seine Lippen bewegten sich, aber es war kein Laut zu hören. Dann erst schien er seine Frau und die Kinder zu bemerken. Er starrte sie einen Augenblick an und murmelte: „Macht euch nichts draus.“
Er ging ins Schlafzimmer und schloß die Tür. Sie aßen nicht weiter. Sie deckten nur den Tisch ab und legten sich früh ins Bett. Am nächsten Morgen stand der Vater auf und ging zur Arbeit in die große Buchdruckerei, wo er beschäftigt war. Und Pers Mutter sagte: „Hör, mein Junge, sprich nicht über das von gestern abend. Vater ist jetzt ein wenig nervös; er wird ja sonst nicht so heftig.“ Eine Zeitlang konnten sie kein Radio hören, denn es war zur Reparatur. Aber im Herbst, als die Tage kürzer wurden und sie früh die Verdunklungsgardinen vor die Fenster hängen mußten, kamen eines Abends Freunde zu Besuch. Sie hörten die Nachrichten, und einer von ihnen sagte: „Holger Danske∗ scheint endlich aufzuwachen.“ Im Winter, kurz nach Neujahr, mußten sie zum erstenmal ihre Wohnung verlassen; und nun, nach dem siebenten Umzug, wohnten sie in dem Haus im Wald.
∗
Holger Danske – der Sage nach schlafender dänischer Held, der aufwachen wird, wenn dem Land Gefahr droht.
DAS HAUS IM WALDE
Per dachte darüber nach, wie lange sie wohl in dieser schönen Gegend bleiben würden. In den Jahren, die seit dem schicksalsschwangeren Aprilmorgen vergangen waren, hatte er verstehen gelernt, was in der Welt vor sich ging. Das war kein Krieg zwischen Königen und Kaisern, wie man darüber in Schulbüchern las, es war ein Kampf aller Volksschichten, in dem es um Sklaverei oder Freiheit ging – für die ganze Welt. An jenem Aprilmorgen wußte er zwar, daß die Nazis in Deutschland regierten und daß Adolf Hitler ihr Führer war. Er wußte auch, daß Deutschland mit England und Frankreich im Krieg lag. Das stand in den Zeitungen. Aber das störte Per und seine Kameraden nicht sehr; sie hörten nur die Erwachsenen davon reden. Richtig ernst wurde es für Dänemark erst, als das Land besetzt wurde. Und das schien im Anfang auch nicht so schlimm zu sein. Die Nazis hatten ja in ihrem Aufruf versprochen, sich nicht in die Verwaltung des Landes einzumischen. Sie waren nur gekommen, um Dänemark zu schützen, damit es nicht Kriegsschauplatz würde. Selbstverständlich gab es keine anständigen Dänen, die die Fremden bewillkommneten, aber die meisten
glaubten, der Krieg wäre bald vorbei und dann gingen die Deutschen wieder weg. Aber es kam anders. Im Frühjahr dröhnten Panzer und brüllende Bomber über Holland, Belgien und Frankreich. Sie brachen jeden Widerstand, legten Großstädte in Trümmer und trieben die englischen Armeen aus Frankreich hinaus. Das Radio und alle Zeitungen berichteten von dem siegreichen Blitzkrieg der unüberwindlichen Hitlerarmee. Als der Winter kam, begannen viele Menschen zu zweifeln, daß Dänemark jemals wieder ein freies Land würde. Per und seine Kameraden bemerkten den Ernst und die Bitterkeit, die in den Gesprächen der Erwachsenen durchklangen. Sie fingen an zu verstehen, welche Katastrophe es wäre, wenn Hitler diesen Krieg gewänne. Es sah aus, als wären die Naziheere unbesiegbar und jeder Widerstand sinnlos. Aber trotzdem gab es in allen besetzten Ländern Menschen, die sich nicht ergeben wollten. Sie begannen Widerstand zu leisten. Sie wollten die Freiheit zurückerobern. Es waren Arbeiter und Bauern, Seeleute, Fischer, Angestellte, Polizisten, Lehrer, Studenten, Professoren, Müllfahrer und Geschäftsleute, Männer und Frauen aus allen Schichten der Bevölkerung. Sie wollten lieber kämpfen, als den Rest ihres Lebens in Sklaverei zu leben. Pers Eltern befanden sich unter den Tausenden, die sich im Verborgenen zum Widerstand gegen die
übermütige Besatzungsmacht sammelten. Langsam, wie ein Keim im Frühling unter der gefrorenen Erde wächst, organisierten sie sich in kleinen Gruppen. Das geschah in Büros und in Fabriken, in Villen und Hinterhofwohnungen, in kleinen Bauernhäusern und großen Höfen, in Fischerhütten und Landarbeiterkaten. In der Stadt und auf dem Land wurde die Liebe zur Heimat zu einer großen Kraft, die alle andere Uneinigkeit beiseite schob um der gemeinsamen Sache willen, für das Recht des Volkes, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Allmählich hatte Per auch begriffen, warum sein Vater oft nachts an der Schreibmaschine saß und warum so viele fremde Leute zur Mutter kamen, um Pakete zu holen oder abzuliefern. Nicht nur bei ihm zu Hause geschahen geheimnisvolle Dinge. Im ganzen Land wurden heimlich Zeitungen hergestellt, die die Lügen und Prahlereien der Faschisten entschleierten, die sich gegen die Brutalität der Besatzungstruppen wandten und erzählten, wie auch in anderen Ländern der Widerstand wuchs. Diese geheimen Zeitungen sollten den Menschen Mut einflößen und das ganze Volk zum Widerstand gegen Hitler sammeln. Die üblichen Zeitungen und das Radio standen unter der Zensur der Nazis und durften nicht die Wahrheit berichten über das, was geschah. Ständig war die Gestapo, die Geheime Staatspolizei der Deutschen, auf der Jagd nach den Mitarbeitern der illegalen Presse. Deswegen mußte Pers Familie,
ebenso wie viele andere, häufig ihren Aufenthaltsort wechseln. Selbst in den Schulen, unter den großen Jungen, tauchten hie und da verbotene Zeitungen auf. Aber Per hatte verstanden, daß er nicht erzählen durfte, wo sie herkamen. Er war stolz darauf, daß seine Eltern gegen die Nazis kämpften, aber er wußte auch, daß es zu gefährlich war, damit zu prahlen. Wie er nun an diesem Sommernachmittag auf dem dicken Eichenbaum saß, halb verborgen im Laub, und die Angelschnur ins stille Wasser des Sees hängen ließ, schien es ihm, als wäre das Leben so schön, wie es nur sein könnte. Trotzdem fühlte er eine wunderliche Unruhe im Blut, eine Unsicherheit. Er wußte zuviel davon, was in der Welt geschah, als daß er unbekümmert das Leben genießen konnte. Er war vierzehn Jahre alt, aber er konnte nicht mehr unbefangen fröhlich sein. All dem Schönen, das ihn umgab, drohte Gefahr. Der Schatten des Bösen, der Tyrannei, der Gestapo konnte plötzlich über Haus, Wald und See fallen. Per war kein Duckmäuser, sondern ein aufgeweckter Junge, der vor keiner Gefahr die Augen verschloß. Er ahnte jedoch nicht, daß an diesem Nachmittag etwas geschehen sollte, was ihn dazu veranlaßte, einen kühnen Entschluß zu fassen. Per hörte plötzlich ein Rasseln von der steinigen und ausgewaschenen alten Landstraße auf der andern Seite des Sees her. Er blickte hinüber und entdeckte zwei Männer, die auf Fahrrädern näher kamen. Daß
man Fahrräder so weit hörte wie Automobile, hatte der Krieg mit sich gebracht. Die Leute konnten keinen Fahrradgummi bekommen, deshalb steckten einige statt der Reifen um das Rad Pfropfen in die Felgen, andere wickelten Ringe von dickem Bindfaden darum, wieder andere füllten die zerfetzten Reifen mit alten Lappen, und auf dem Land gab es viele Kinder, die auf den bloßen Felgen zur Schule fuhren. Fahrradgummi war ein fast unerschwinglicher Luxus. Das war nur eine der kleinen Beschwerlichkeiten, die der Nazischutz zur Folge hatte. Die beiden Männer stiegen von ihren rasselnden Rädern. Der eine zeigte zum Haus hinüber und sagte etwas. Per konnte die Worte nicht verstehen, aber unwillkürlich drückte er sich näher an den knorrigen Eichenstamm, zog vorsichtig die Angelschnur herauf und verbarg sich im dichten Laub. Vielleicht kamen die beiden Männer herüber, sie hatten doch hergezeigt. Ja, nun stiegen sie wieder auf und fuhren den Waldpfad entlang, der von der Landstraße rund um den See führte und am Gartentor endete. Sie lehnten die Fahrräder gegen einen Baum, flüsterten miteinander, gingen in den Garten und blieben dort, halb verborgen von den großen alten Johannisbeerbüschen, stehen. Per erschrak. Was waren das für Leute, und was wollten sie? Verflucht noch mal! Die Eltern waren gleich nach dem Mittagessen in die Stadt gegangen.
Das waren fast zwei Stunden Weg. Jetzt würden sie wohl dort sein. Sie hatten einiges zu erledigen und dann wieder zwei Stunden Rückweg. Das Schwesterchen lag im Haus und schlief. Es war gut, daß er die Tür verschlossen hatte, bevor er angeln ging. Das hatte man eigentlich auf dem Land nicht nötig, aber in Kopenhagen war man daran gewöhnt zuzuschließen, wenn man für einen Augenblick auf die Straße wollte. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, hatte nur den Schlüssel umgedreht und in die Tasche gesteckt. Was für ein Glück, denn jetzt gingen die beiden Männer hin und klopften. Als niemand antwortete, klopften sie wieder, sprachen miteinander und rüttelten am Drücker. Wenn nur Anne nicht aufwachte und zu weinen anfing! Aber im allgemeinen schlief sie am Nachmittag fest, ohne sich stören zu lassen, und von oben war nichts zu hören. Die Fremden schienen es aufzugeben und gingen zum See hinunter. Per kauerte sich zusammen. Durch die Löcher im Laub konnte er sehen, ohne selbst bemerkt zu werden. Die Männer kamen direkt auf ihn zu. Sie setzten sich am Fuß des Baumes nieder und holten ihre Pfeifen hervor.
Per wagte kaum zu atmen. Die beiden sahen nicht gefährlich aus. Der eine war lang und dünn, mit hellem Haar und sonnenverbranntem Gesicht. Er schien noch ganz jung zu sein, jedenfalls nicht älter
als zwanzig. Der andere war mittelgroß, kräftig gebaut, schwarzhaarig und in seinen Bewegungen etwas langsam. Er mochte so um die Dreißig sein. Per hatte sich daran gewöhnt, so etwas zu bemerken. In den letzten paar Jahren wurden im Radio und in den Zeitungen gewöhnlich Personenbeschreibungen von Freiheitskämpfern gegeben, die die Gestapo suchte. Pers Vater hatte nach einer dieser Meldungen laut gelacht und gesagt: „Ja, das ist gut, trägt eine braune Mappe unter dem linken Arm. Hoffentlich macht er sich nicht unkenntlich, indem er die Mappe unter den rechten Arm nimmt. Hörst du das, Per? Zwanzigtausend Kronen Belohnung für den Verrat an einem Landsmann! Denk immer daran, mein Junge: Wenn Menschen sich dazu verlocken lassen, andere für Geld zu verkaufen, das ist das Gemeinste in der ganzen Welt und sollte niemals verziehen werden. Na, jetzt haben wir ja die Personenbeschreibung und können ihm einen Tip geben, wenn wir ihn sehen…“ Später erfuhr Per, daß es Vaters bester Freund war, der gesucht wurde. Seitdem hatte er sich Personenbeschreibungen eingeprägt. Darum erkannte er gleich, daß die beiden Fremden Arbeiter waren. Ihr verschlissener Anzug und ihre Art sich zu bewegen ließen keinen Zweifel aufkommen. Sicher waren es ordentliche Leute, aber… man konnte nie wissen. Er saß mäuschenstill und betrachtete die Männer. Ängstlich war er nicht, nur mißtrauisch. Er wollte sich ihnen nicht zu erkennen geben. Sie kannten den
Ort und das Haus, das war klar, aber er kannte sie nicht. Da war es das beste, wenn Vater sie sich erst anschaute. Nun begannen sie zu plaudern. Er hörte jedes Wort, das sie sagten. Ihre Stimmen waren ruhig und etwas schleppend. Der Ältere begann: „Willst du eine Pfeife voll haben? Ich hatte eine gute Idee – ich kaufte ein Kilo von dem Tabakstaub, den die Imker brauchen. Du weißt, sie schützen sich vor den Bienen, indem sie Pfeife rauchen. Er ist nicht gut, aber besser als getrocknete Rhabarberblätter, und man kann ihn vertragen.“ „Danke, ich habe sogar versucht, trockenes Moos zu rauchen. Aber das war wie Gift und Galle, mir wurde übel.“ Eine Zeitlang saßen sie und pafften. Dann sagte der Junge mit nervöser Stimme: „Glaubst du… ja, glaubst du wirklich, daß die Leute mich aufnehmen können? Sollte… ob ich nicht doch lieber versuche, wieder nach Kopenhagen zu kommen?“ Der andere ließ sich Zeit mit der Antwort. Er saß ruhig da und sog an seiner Pfeife, bevor er mit langsamer, beruhigender Stimme sagte: „Ich möchte nicht behaupten, daß du ganz sicher sein kannst, denn wer kann das heutzutage. Aber du weißt, daß ich dich nicht zu jemand bringe, dem ich nicht vertraue. Ich glaube nicht, daß es einen besseren Unterschlupf gibt als hier. Ich garantiere für den Mann und für die Frau. Du sollst hier bleiben, bis wir klare Antwort aus Kopenhagen bekommen. Dann werden wir dich schon holen. Die Burschen werden dich wohlbehalten nach
Schweden hinüberbringen, wenn sie glauben, daß es das beste ist.“ „Ich will aber nicht nach Schweden. Ich will in eine der Sabotagegruppen. Was nützt es sonst, daß ich gelernt habe, mit Sprengstoff umzugehen. Ich möchte dabeisein, wenn es richtig losgeht. Ich will so viele wie möglich erschießen. Ich will… Vater rächen. Ich… ich hasse alle Deutschen!“ Die letzten Worte klangen wie von Tränen erstickt. Eine Weile herrschte Stille. Dann sprach wieder der Ältere: „Du hast schon gute Arbeit geleistet, Henning, du darfst sicher weitermachen. Aber du wirst verstehen, daß wir vorsichtig sein müssen und nicht einen Mann arbeiten lassen können, der gesucht wird. Sie wissen, daß du die Ladung fertiger Soldatenbaracken abgebrannt hast, und sie werden die ganze Zeit hinter dir her sein.“ „Das ist mir egal, könnte ich nur erst diesen Schuft kriegen, der Vater verraten hat. Könnte ich nur eine Menge Deutsche umbringen, bevor sie mich fassen, könnte ich nur…“ Der junge Mann schlug die Hände vor das Gesicht und schluchzte, daß seine Schultern bebten. Der Ältere sog ruhig weiter an seiner Pfeife. Per war ergriffen von dem, was er gehört hatte. Er brannte vor Lust herunterzuspringen und den beiden zu sagen, er wollte auch mitmachen, er wollte auch Sabotage treiben, genau wie sein Vater. Aber! Da fiel ihm etwas ein. Sein Vater war ja gar nicht richtig dabei. Er
machte doch nur illegale Flugblätter! Er war kein richtiger Freiheitskämpfer, der Munitionsfabriken in die Luft sprengte und mit Wächtern kämpfte. Es lag natürlich nicht daran, daß Vater sich nicht traute; er war nur gezwungen, die Arbeit auszuführen, die er jetzt machte. Per überlegte. Aber er selbst konnte bei den Richtigen dabeisein. Er konnte ein echter Freiheitskämpfer werden, wenn er sich mit dem Jungen unter dem Baum zusammentat. Der war einer von den ganz Richtigen. Die Deutschen hatten seinen Vater gefangen, und er war Saboteur geworden. Und er sollte hier wohnen, denn er wurde gesucht. Vater und Mutter durften freilich nichts erfahren; denn sie würden es nicht zulassen. Er konnte sich auch nicht zu erkennen geben, denn dann wüßte der andere Mann, daß er alles gehört hatte. Er mußte warten, bis er mit dem jungen Saboteur allein blieb. Dann wollte er sagen, daß er Bescheid wüßte und ob sie beide nicht etwas zusammen unternehmen könnten. Per konnte vor Aufregung nicht mehr stillsitzen. Aber da standen die beiden unter dem Baum auf, sahen zum Haus hinüber und gingen in den Wald. Das letzte, was Per von ihnen hörte, war die ruhige Stimme des Älteren, der sagte: „Ich verstehe dich gut, Henning. Aber die Deutschen sind nicht alle gleich. Es sind die Nazis, die wir…“ Dann verschwanden sie hinter den Stämmen. Per sprang herab. Es war Zeit nachzusehen, ob Anne
aufgewacht war. Wenn doch nur seine Eltern bald kämen, damit die beiden Fremden nicht müde wurden zu warten!
GEHEIMNISVOLLE GÄSTE
Pers Eltern kamen in Begleitung der beiden Fremden nach Hause. Es stellte sich heraus, daß der Ältere ein Arbeiter aus der Stadt war, ein alter Bekannter von Pers Vater. Er hieß Kjeld Nielsen. Schnell wurde verabredet, daß der junge Saboteur im Waldhaus bleiben konnte, bis näherer Bescheid kam. Kjeld lachte leise und nickte Pers Vater zu, der sich seine mehrere Tage alten Bartstoppeln strich: „Es juckt dich also, wieder Künstler zu werden. Hast du etwa bereut, daß du es damals aufgabst und Typograph lerntest?“ „Bereut? Nein, da hattest du recht. Ein gutes Handwerk ist besser als belanglose Kunstmalerei; aber wenn ich das auch damals einsah, so habe ich doch von Zeit zu Zeit gemalt. Es ist ein Glück, daß ich einen Farbenkasten und eine Staffelei dabei habe; hier draußen wird wohl kaum jemand merken, daß meine Kleckserei nicht gerade genial ist. Es gibt so viele außer mir, die keine guten Maler sind, aber die Leute damit täuschen, daß sie ein wenig verrückt aussehen. Wenn ich in unordentlichen Kleidern und mit Vollbart herumlaufe, dazu mit Staffelei und Farbenkasten, wird mich keine Seele einsperren.“
„Nein, natürlich, wer sich verstecken kann, indem er sich lächerlich macht, der ist in Sicherheit. Übrigens werden die Leute auch nur hinter deinem Rücken lachen. Dir ins Gesicht werden sie Ehrerbietung zeigen für die Malerei und für dich, denn du hast einen Vollbart und siehst seltsam aus. Nun muß ich sehen, daß ich nach Hause komme. Ich melde mich wieder, wenn ich näheren Bescheid über Henning habe. Aber ein paar Wochen wird er wohl hier bleiben müssen.“ „Das geht in Ordnung. Sollte jemand fragen, so ist er der Vetter meiner Frau.“ Im Garten nahmen sie Abschied. Bevor der Mann aus der Stadt sein Fahrrad bestieg, sagte er: „Wir wollen noch einmal zum See hinuntergehen. Er ist schön lang, aber ich möchte seine Breite an diesem Ende genau kennen. Er ist ja mit Schilf fast zugewachsen.“ Sie unterhielten sich eine Weile. Schließlich wurden sie sich einig, daß der See über hundert Meter breit freies Wasser hatte und daß es sich machen lassen müßte, und der Mann rasselte über den holprigen Waldweg davon wie eine klappernde Mähmaschine. Das Fahrrad, das zurückblieb, ein Damenrad, war ebenso kümmerlich anzusehen. Aber gerade daß es ein Damenrad war, sollte später in einer ernsten Situation Anlaß zu Lachen und Verwirrung geben. Was das Gespräch über die Breite und Länge des Sees bedeutete, verstand Per nicht. Er hatte gelernt,
daß er über gewisse Dinge nicht viel fragen sollte. Aber er konnte auch seine Augen gut gebrauchen. Nur er hatte eine Gestalt bemerkt, die am Bootssteg des Fischerhauses auf der anderen Seite des Sees stand und forteilte, als die Männer während ihres Gesprächs über das Wasser zeigten. Im Augenblick dachte er nicht darüber nach; er nahm es nur wahr. Später erinnerte er sich daran und erzählte davon. Die Gestalt, die Per gesehen hatte, war eine alte Frau. Als sie die Fremden drüben beim Sommerhaus des Kopenhagener Redakteurs erblickte, verließ sie schnell die Landungsbrücke und begab sich in die Bodenkammer des Fischerhauses, ans Giebelfenster. Sie nahm ein altes Fernrohr und schraubte daran, bis es so scharf eingestellt war, daß sie die Männer auf dem anderen Ufer deutlich unterscheiden konnte. Die Alte war mager und sehnig, sie hatte scharf geschnittene Gesichtszüge. Ihre Augen waren von einem wäßrigen Blau, aber trotz ihrer siebzig Jahre scharf und klar. Sie behielt die Männer und Per im Blickfeld, bis sie im Walde verschwanden, dann legte sie das Fernglas auf eine alte Kommode. Bevor sie die Bodenkammer verließ, sah sie noch einmal zum Sommerhaus des Redakteurs hinüber und sagte halblaut: „Ja, ja, mein Lieber, das soll dir diesmal schiefgehen. Der Bescherung werde ich beizeiten ein Ende machen. Und wenn das auch das letzte Stück ordentliche Arbeit wird, das ich in diesem Leben
leiste, ich werde dafür sorgen, daß diesmal andere Füchse in die Eisen gehen!“
Einige Tage später saßen Henning und Per am See und angelten. Ein Mann kam auf sie zu. Per kicherte, als er ihn erblickte. Der Mann hatte einen halblangen struppigen Bart über das ganze Gesicht, sein Haar war zerzaust und hing bis in den Nacken und über die Ohren. Er trug löchrige Leinenschuhe und eine buntscheckige Malerhose, einen verschossenen Strohhut und ein altes großkariertes Hemd. An einem Riemen über seiner Schulter hingen ein Farbenkasten und eine Staffelei. Er grinste verschmitzt in seinen Bart und sagte: „Na, Jungens, fangt ihr was? Macht mal das Mittagessen fertig, ich werde hungrig heimkommen. Bleibst du auch hier beim Haus, Henning? Sollte jemand kommen, so gehst du in den Wald, aber halte dich von der Landstraße fern.“ „Das geht in Ordnung“, sagte Henning, ein wenig mürrisch. „Leben Sie wohl, Herr Kunstmaler, Sie sehen köstlich aus“, rief Per, als die merkwürdige Erscheinung seines Vaters davontrottete. Per hatte sich mit dem jungen Saboteur gut angefreundet. Henning war keiner von denen, die viel sprechen, und schon gar nicht über sich selbst. Aber Per wußte trotzdem Bescheid.
Sein Vater hatte aus der Stadt eine Zeitung mitgebracht, und da stand die Fahndung, mit Bild und allem: Schmiedelehrling Henning Petersen wurde
wegen Sabotage gegen die deutsche Wehrmacht gesucht. Für Auskünfte, die zu seinem Ergreifen führten, war eine Belohnung von zwanzigtausend Kronen ausgesetzt. Per verstand, was das bedeutete. Wenn Henning der Gestapo in die Klauen geriet, dann wurde er gefoltert, denn man wollte von ihm erfahren, wer noch in der Widerstandsbewegung arbeitete. Das war gefährlich für Henning und seine Freunde. Keiner konnte vorher sicher sein, ob er die bestialischen Quälereien ertragen würde, ohne etwas zu verraten. Viele tapfere Freiheitskämpfer waren schon verurteilt und hingerichtet worden, ohne ein Wort ausgesagt zu haben. Aber die anderen mußten trotzdem ihren Aufenthaltsort wechseln, wenn ein Kamerad, der sie kannte, gefangengenommen wurde; denn es geschah von Zeit zu Zeit, daß gute und ehrliche Kämpfer unter der erbarmungslosen Folter der Gestapo zusammenbrachen. Über all das war Per sich im klaren, als er sich vornüberbeugte und zu Henning sagte: „Henning, du weißt, daß du dich auf mich verlassen kannst. Könntest du nicht… ich meine, könnten wir beide nicht etwas zusammen machen?“ Henning sah seinen jungen Freund an und lächelte ein wenig, wie ein junger Mann, der sich einem Kind gegenüber sehr erwachsen fühlt. Aber dann fiel ihm ein, daß er selber nicht älter als fünfzehn Jahre gewesen war, als die Faschisten seinen Vater
umgebracht hatten. Er dachte an den Schmerz und die Wut, die er seitdem fühlte. In seinem jungenhaften Haß hatte er ganz allein versucht, sich zu rächen. Ihm war eingefallen, wie gut er mit dem Katapult schießen konnte. So hatte er sich eine kräftige Schleuder gebaut, sich in Hausaufgängen und Gäßchen verborgen und manchen scharfen Stein auf den Nacken vorbeispazierender Nazioffiziere geschickt – Jungenstreiche, die zu nichts führten, die aber von einem älteren Kameraden bemerkt wurden, der ihn dann in die organisierte Widerstandsarbeit gebracht hatte. Zuerst verteilte Henning illegale Flugblätter, später übertrug man ihm gefährlichere Aufgaben. Er war in diesen wenigen Jahren erwachsen geworden. Als er daran dachte, wie er selbst angefangen hatte, fand er, er könnte Per verstehen. Deshalb sagte er: „Was meinst du, was wir machen sollten?“ „Ja, also, dir fällt doch sicher etwas ein. Du mußt nicht glauben, daß ich Angst habe. Aber du sollst meinen Eltern nichts sagen. Du weißt schon, Erwachsene lassen sich von jeder Kleinigkeit erschrecken.“ „Nun, diese Arbeit ist keine Spielerei, Per. Ich kann nicht die Verantwortung dafür übernehmen, wenn dir etwas zustößt. Übrigens weiß ich selbst nicht, was ich tun darf, denn im Augenblick muß ich mich bereit halten, bis ich Nachricht bekomme. Wenn es nur bald
soweit wäre! Was soll ich hier herumsitzen und faulenzen!“ Henning war zornig geworden. Er kniff den Mund zusammen, stand auf und ging schnell in den Wald. Per starrte ihm nach. So nervös und unruhig hatte er manchmal seinen Vater gesehen, als sie in Kopenhagen von einer Stelle zur anderen zogen. Es war merkwürdig, daß ein mutiger und echter Saboteur, der gesucht wurde, nicht ruhig und hart war, mit blitzenden Augen und so. Henning war doch ein Held, und Per hatte in vielen spannenden Büchern von Helden gelesen. Ihm schien, Henning glich keinem von ihnen und benahm sich nicht so, wie sich die Helden in den Büchern zu benehmen pflegten. Es war deutlich zu sehen, daß er aufgeregt war, und das schickte sich nicht für einen Helden. Aber ganz egal, er war ein guter Bursche. Und wenn er vorläufig nichts planen konnte, dann, ja dann, dachte Per, dann muß ich es eben allein fertigbringen. Er war entschlossen, seine Sommerferien nicht tatenlos zu verbringen. Er stand auf, blickte auf den See hinaus, kniff die Augen zusammen und setzte eine entschlossene Miene, auf. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er wild um sich und hoffte, daß seine Augen blitzten. Ja, nun hatte er herausgefunden, was er tun würde. Er war Manns genug, es allein und in aller Heimlichkeit durchzuführen. Denn soviel wußte er: Ein
ordentlicher Held mußte auch auf eigene Faust handeln können. Per hatte oft gehört, daß die Radachsen der Eisenbahnwagen beim Transport von deutschem Kriegsmaterial verbrannt waren. Zufällig hatte er erfahren, daß man von den Schmierbuchsen der Achsen die Deckel abnehmen und sie mit Zucker füllen mußte, um das zu erreichen. Das war etwas für ihn. Bei Nacht und Nebel wollte er auf den Güterbahnhof in der Stadt schleichen und einige beladene Waggons suchen. Sicher wäre er zurück und in sein Bett geschlüpft, bevor jemand im Haus entdeckte, daß er fort gewesen war.
Es wurde spät, bevor Pers Vater an diesem Abend nach Hause kam. Das Essen stand schon lange auf dem Tisch, und Per sah seiner Mutter an, daß sie unruhig wurde. Sie sagte nichts, aber sie hatte einen nervösen Ausdruck im Gesicht und ging alle Augenblicke zum Fenster, wie er das manchmal in Kopenhagen erlebt hatte. In der Stadt hatte das jedesmal bedeutet, daß sie kurz danach umzogen. Wenn nur nichts geschehen war, daß sie auch hier Hals über Kopf weg mußten. Henning war auch unruhig. Er fuhr zusammen und sprang auf, als sich die Tür endlich öffnete und Vater hereinkam. Er sah müde, nachdenklich und ernst aus.
Sie setzten sich an den Abendbrottisch. Das Essen war kalt geworden, aber das schien keiner zu bemerken. Niemand fragte, aber alle warteten auf eine Erklärung, warum Pers Vater so viele Stunden später als vorgesehen eintraf. Verzögerungen konnten in diesen Zeiten Unheil bedeuten. Endlich kam es. Pers Vater sprach ruhig und langsam: „Du mußt nicht unruhig sein, Ingar, es ist nichts geschehen. Und du, Henning, wundere dich nicht darüber, daß ich vor meiner Frau und Per geradeheraus spreche. Ingar und ich haben von Anfang an zusammengearbeitet; und die Löcher, in denen wir gewohnt haben, waren nicht so großartig, daß wir vor Per viel hätten verbergen können. Ich weiß, daß er keine Plaudertasche ist, und du hast gesehen, wie vorsichtig er sich euch gegenüber verhalten hat, als ihr ankamt. Außerdem muß Per morgen früh gleich mit dem Fahrrad zur Stadt, um eine Nachricht zu überbringen. Am besten wäre natürlich, wenn das heute abend noch erledigt würde, aber ich kann vor Müdigkeit kaum noch auf den Füßen stehen, und du darfst dich nicht in der Stadt zeigen.“ Per fuhr hoch und rief: „Ja, aber Vater! Ich kann doch heute abend in die Stadt fahren, ich finde den Weg schon, es geht ja nur am See entlang.“ Jetzt griff Pers Mutter ein. Sie sah den Vater fest an und sagte: „Emil! Ich war die ganze Zeit hindurch mit dir einig, daß die Arbeit getan werden muß, obwohl ich mir oft genug Sorgen machte, wie es den Kindern
ergehen würde, wenn… Aber Per weiß schon viel zuviel, ich bin nicht damit einverstanden, daß er direkt an der Arbeit teilnimmt. Er ist doch noch ein Kind. Muß Nachricht in die Stadt, dann kann ich gehen.“ Pers Vater strich sich müde durch das Haar und sagte: „Unterbrecht mich nicht dauernd, damit ich euch alles erklären kann. Ingar, natürlich weiß ich, was ich tue. Das einzige, was Per machen soll, ist, daß er in der Stadt einkauft. Und da ist es sehr natürlich, daß er zu Kjeld hinaufgeht und ihn begrüßt. Wenn Kjeld nicht zu Hause ist, sagt er zu Else, ich bekäme das Bild nicht zur Zeit fertig – es ist ein Gemälde, das sie bei mir bestellt haben. Dich kann ich nicht schicken, weil du morgen hier sein mußt. Wir bekommen nämlich Besuch, Gäste, die wir anständig aufnehmen müssen. Ich selbst muß auch zu Hause sein; ich werde dir erzählen, warum, und Per darf es gern hören, damit er sich vor gewissen Leuten in acht nimmt. Ich bin heute mit meinem Handwerkszeug herumgezogen und habe mit vielen Leuten gesprochen, Landarbeitern und Bauern, und ihnen angeboten, ein hübsches Bild von ihrem Haus zu malen. Ich bekam auch ein paar Bestellungen, so daß ich jetzt einen Grund habe, mir die Gegend gründlich anzusehen. Es war schon recht spät, als ich auf dem Heimweg an dem Fischerhaus drüben auf der anderen Seite vorbeischlich, um mich auch dort ein wenig
umzuschauen. Der Wald reicht gerade wie hier bis an den Garten des Hauses. So kam ich heran, ohne gesehen zu werden. Plötzlich entdeckte ich eine alte Frau; sie stand mit einem Fernrohr am Giebelfenster und beobachtete unser Haus.“ Henning sprang auf. „Was?! Glaubst du, sie hat mich gesehen, könnte mich nach der Zeitung erkennen… ich… ich kann zu Kjeld gehen.“ „Ruhig, Henning. Das fiel mir natürlich auch ein. Darum wartete ich, bis sie vom Fenster verschwunden war, bevor ich hinging und anklopfte. Sie wußte nicht, daß ich sie gesehen hatte. Sie war allein zu Hause, und ich blieb ungefähr zwei Stunden dort. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mette Nissen, so heißt die Frau, weiß, wer du bist, aber du kannst dich auf sie ebenso verlassen wie auf uns. Sie ist über siebzig Jahre alt und sehr abgearbeitet. Ihr ganzes Leben lang ist sie arm wie eine Kirchenmaus gewesen; aber ich garantiere dir, sie hat so viel Verstand, Energie und Charakter wie die Besten hier im Land. Nun hört!“ Dann erzählte Pers Vater eine Geschichte, die war so eigentümlich, daß dieser Abend deutlich vor Pers Augen stand, als er viele Jahre später im Tagebuch seines Vaters las: „28. Juli 1944. …darum hoffe ich, daß dieses Tagebuch nicht von Unbefugten gefunden wird, wenn mir etwas zustoßen
sollte. Es gibt einen guten Grund, es zu führen. Jetzt, wo die meisten sehen können, daß die freien Nationen siegen werden, wird sich die Anzahl der Freiheitskämpfer vervielfachen, und Leuten wie Mette Nissen werden keine großen Ehren zuteil werden. Das ist auch gleichgültig für sie wie für viele andere, die still im Hintergrund bleiben, wenn sie ihre Pflicht getan haben. Trotzdem scheint mir, daß Mette Nissen unter die vielen gehört, die ein Stück der Geschichte Dänemarks mit der Tat geschrieben haben.“ Und hier folgt der Bericht darüber, wie Pers Vater die alte Frau kennenlernte. Sie lud ihn zum Kaffee ein. Von dem Gespräch, das sich zwischen den beiden ergab, einige Bruchstücke aus dem Tagebuch: „… Ja, ich kenne den Herrn Redakteur sehr gut. Er hat ja viele Jahre jeden Sommer drüben in dem Haus gewohnt. Ich kenne auch seine Einstellung. Ich lese von Zeit zu Zeit seine Zeitung. Er schreibt gut zwischen den Zeilen. Finden Sie nicht, Herr Kunstmaler?“ ,Zwischen den Zeilen? Ich glaube, ich verstehe nicht recht, wie Sie das meinen. Ich kenne den Herrn Redakteur nur flüchtig und habe das Haus nur für die Sommerferien gemietet.’ ,Ja, sonst schreibt er ziemlich deutlich. Hier, sehen Sie.’ Sie stand auf und legte eine Zeitung vor mich. Ich sah sofort, daß es nicht die Zeitung war, von der sie
gesprochen hatte, sondern das Lokalblatt. Aufgeschlagen, so daß das Bild und die Fahndung von Henning vor mir lagen. Sie blieb stehen und sah mich an. Die wäßrigblauen Augen in dem lebendigen, runzligen Gesicht waren ruhig, aber mir schien, als läge ein Lächeln in den Mundwinkeln. Als ob sie meine Gedanken lesen könnte, sagte sie plötzlich: ,Seien Sie unbesorgt. Aber zwanzigtausend Kronen sind viel Geld, und es gibt ein paar schwache Seelen hier in der Nähe. Sie bekommen morgen Besuch. Wenn Sie jetzt nicht zufällig gekommen wären, hätte ich heute abend die Jolle genommen und wäre zu Ihnen hinübergerudert. An dem Tag, als der junge Mann zusammen mit dem anderen ankam, stand ich oben am Weg. Ich hatte gerade in die Zeitung geguckt. Ich erkannte ihn sofort.’ Ich war überrumpelt und dachte schnell nach, was zu tun war. Die Alte sah vertrauenerweckend aus. Sie war einer der seltenen Menschen, die Ruhe um sich verbreiten. Ich glaube, ich stotterte ein wenig, als ich sagte: ,Sie… aber Sie irren sich!’ Sie unterbrach mich, und jetzt lächelte sie mit Augen und Mund: ,Ich pflege mich nicht in den Menschen zu irren; ich habe mich auch nicht in Ihnen geirrt. Ich will, daß Sie mich verstehen, weil wir jetzt zusammenarbeiten müssen. Während des ersten Weltkrieges wohnte ich in Südjütland. Ich hatte einen Sohn, meinen einzigen. Er wurde einberufen und fiel für eine Sache, die nicht
seine eigene war. Mein ganzes Geschlecht ist immer dänisch gesinnt gewesen. Vor achtzehn Jahren kam ich hierher, zusammen mit meinem Mann, der die Fischerei im See pachtete. Ich pflegte ihm zu helfen, ich verstehe also etwas davon. Er starb vor zwei Jahren. Nun komme ich allein zurecht. Das Haus ist unser Eigentum, aber die Pacht kann gekündigt werden. Das wäre nicht so schlimm, aber jetzt während des Krieges steckt Geld in der Fischerei, viel Geld, wenn Raubbau getrieben wird. Nur wird dann der See schnell ausgefischt und ist für die kommende Zeit nichts mehr wert. In der Stadt wohnt ein Mann, der sich Großhändler nennt. Womit er handelt, weiß ich nicht, aber er macht Geschäfte mit den Deutschen. Er will die Fischerei pachten und hat versucht, mein Haus zu kaufen. Nun, ich möchte nur anständigen Menschen Platz machen. Im Kontrakt wird aber verlangt, daß der Pächter am See wohnt und das Wehr oben am Fluß versorgt. Deshalb versucht jetzt der Herr Großhändler, das Haus des Redakteurs zu bekommen. Er hat Kenntnis davon, daß Sie hier wohnen. Wieviel er sonst weiß, ahne ich nicht. Aber er liest ja auch Zeitung. Meine Nichte, die bei ihm in Stellung ist, schickte mir Nachricht, daß morgen feiner Besuch kommt und daß die Herrschaften hinübergehen wollen, um sich das Haus des Redakteurs anzusehen, wenn ich nicht verkaufen will. Das will ich nicht. Jedenfalls nicht an ihn. Vielleicht könnte ich ihn
hinhalten, so daß er Sie nicht besucht. Aber mir ist etwas Besseres eingefallen. Sie sollten die Herrschaften sehr freundlich aufnehmen. Hören Sie zu…’ Im Tagebuch wird kurz der Plan geschildert, der dazu führte, daß Per an etwas anderes zu denken hatte, als auf eigene Faust Saboteur zu spielen. Es fing damit an, daß er am nächsten Morgen mit einer Nachricht zur Stadt fuhr. Er machte ein paar Einkäufe für seine Mutter, dann ging er zu Kjeld und Else, um ihnen wegen des Gemäldes Bescheid zu sagen, das sein Vater nicht hatte fertigstellen können. Während des Besuches versprach sich Per und erzählte Kjeld, daß er wußte, worum es ging. Im allgemeinen verstand der Junge, daß er den Mund halten mußte, aber er meinte, das treffe bei Kjeld nicht zu, nach dem, was er von ihm wußte, und es war eine große Erleichterung, sich mit einem zuverlässigen Menschen auszusprechen. Kjeld und Else verstanden das, sie warfen sich von Zeit zu Zeit verstohlene Blicke zu. Wenn Per wirklich mehr wußte, als gut war, meinte Kjeld, dann lag es wohl daran, daß sein Vater des Jungen sicher war. Es konnte also nicht schlimm sein, wenn er ihn auch ein paar Kleinigkeiten in der Stadt erledigen ließ. Niemand war für diese besondere Aufgabe besser geeignet, und es mußte schnell gehandelt werden. Er war sicher, daß keiner den Jungen verdächtigen würde.
Eine Stunde später schlenderte Per bei dem Parkplatz des großen Krankenhauses herum und spielte mit einem Ball. Dort standen nur wenige Wagen, die den Ärzten gehörten. Es war nichts Auffälliges dabei, wenn ein Junge sich für Automarken interessierte. Die zwei Männer, die in der Nähe umherspazierten, kümmerten sich nicht um Per. Aber Per hatte sich eine bestimmte Autonummer gemerkt und beobachtete die beiden. Das mußten sie sein: zwei dänische Handlanger der Gestapo. Ein großer Mann kam aus dem Haupteingang des Krankenhauses und ging hinüber zum Parkplatz. Per beobachtete ihn. Ja, jetzt öffnete er die Tür von dem richtigen Auto, setzte sich hinein und startete. Aber gerade bevor das Auto sich in Gang setzte, rollte ein Ball vor die Räder, ein Junge lief dem Ball nach und fiel vor dem Wagen hin. Der junge Arzt hinter dem Steuer bremste scharf und sprang heraus. Der Junge stöhnte, als er sich über ihn beugte. Per drehte den Kopf und sah sich das Gesicht des Mannes an. Ja, er hatte einen großen roten Fleck auf der linken Wange. Er war es, das stimmte auch mit der Autonummer zusammen. Während Per immer noch stöhnte und sich das Knie rieb, sagte er: „Keine Bilder vor dem nächsten Donnerstag.“ Der Arzt zuckte zusammen. Er murmelte: „Wann ist Donnerstag?“
Per antwortete: „Nach fünf Tagen.“ Während er immer noch sein Knie rieb, fügte er hinzu: „Fahren
Sie nicht zur Pension. Ihr Zimmer ist voll besetzt. Aber Kjelds Frau ist krank. Sie erwartet Sie.“ Die beiden Männer waren näher gekommen. Sie hatten beide Hände in den Taschen. Der junge Arzt erfaßte sie mit einem kurzen Seitenblick. Er wurde blaß, nahm sich aber zusammen und sagte so laut, daß sie es hören mußten: „Komm gleich mit auf die Unfallstation und laß dir ein Pflaster auf die Schrammen kleben.“ Er nahm Per an die Hand. Der Junge folgte ihm willig. Die beiden Männer zogen sich zwischen die Automobile zurück. Der eine murmelte: „Wir knallen ihn ab, bevor er in seinen Wagen steigt. Er hat den Motor in Gang gelassen, da können wir gleich abhauen.“ Das Arztauto hielt mit summendem Motor und wartete. Es wartete lange. Die beiden Mörder warteten auch lange. Der junge Arzt war mit Per durch eine der Hintertüren des Krankenhauses verschwunden. Er hatte nur noch mit ein paar Krankenschwestern gesprochen. Eine der Schwestern flüsterte in einem Winkel mit einem Portier des Krankenhauses. Währenddessen wanderten Per und der junge Arzt, vom Wald versteckt, am See entlang. Als sie das Haus durch die Bäume schimmern sahen, sagte Per: „Warten Sie lieber ein wenig hier. Vor dem Haus hält ein Auto; ich komme zurück, wenn ich die Lage erkundet habe.“
DIE EREIGNISSE ENTWICKELN SICH
Gerade als sich Per dem Haus näherte, trat sein Vater mit einer fremden Dame und einem Herrn aus der Tür. Das Paar war elegant gekleidet, und die Dame lächelte breit, als sie Per sah, und sagte: „Das ist sicher Ihr Sohn. Ja, es muß schön sein für einen gesunden Jungen, in so einer Gegend Ferien zu haben. Du baust dir wohl Höhlen im Wald, mein Freund?“ Per hatte das Gefühl, daß es der Frau gleichgültig war, ob er etwas erwiderte oder nicht. Er brauchte auch nicht zu antworten, denn jetzt sprach der fremde Herr. „Wir wollen also dabei bleiben. Ich komme in der nächsten Woche wieder und sehe mir das Bild an, und wie gesagt, den Preis bestimmen Sie selbst. Übrigens, da ich gerade daran denke: Wenn Sie es möglich machen, daß ich das Haus kaufen kann, werden Sie natürlich eine schöne Provision bekommen. Ich erwähne das nur der Ordnung halber. Zu dumm, daß die Alte drüben auf der anderen Seite nicht verkaufen will. Es bedeutet meiner Frau so viel, hier am See, wo sie ihre Kindheit verbracht hat, ein Sommerhaus zu haben. Also leben Sie wohl, und viel Freude bei der Arbeit!“
Das Automobil fuhr fort, und Per erzählte seinen Eltern, was er erlebt hatte. Eine halbe Stunde später saßen Henning und der junge Arzt mit der Familie im Waldhaus zusammen. Es stellte sich heraus, daß Pers Vater den neuen Gast schon kannte. Da war auch Hennings Mißtrauen bald überwunden. Warum der Arzt so schnell fliehen mußte, erfuhren sie denselben Abend, als Kjeld auf Besuch kam und in seiner langsamen und schleppenden Art erklärte: „Ja, irgendwie müssen sie drauf gekommen sein, daß es Dr. Carlsen war, der uns geholfen hat, als bei dem letzten Attentat zwei Männer verletzt wurden. Ich weiß nicht, ob sie Beweise hatten, um ihn verhaften zu können. Sie hatten ihn wohl einfach auf die Liste derer gesetzt, die abgeknallt werden, um den Leuten Angst zu machen. Jedenfalls bekam ich Bescheid von seiner Wirtin, ein paar Männer wären mit Schießeisen in sein Zimmer gestürmt. Das war deutlich genug. Nun wußte ich, daß er heute mit einem Kollegen getauscht hatte und später nach Hause kam. Ich sauste also zu Else, weil sie hingehen und ihm einen Tip geben sollte. Sie kennt einige der Reinemachefrauen und hätte sich schon etwas ausgedacht. Andererseits war ich mir darüber klar, daß die Hilfspolizisten ihm dort auflauerten. Einer der Burschen stammt aus unserer Gegend. Er ahnt vielleicht; womit Else und ich uns beschäftigen. Da kam Per gerade richtig. Er machte
seine Sache auch sehr ordentlich; aber sich vor das Auto zu werfen, war etwas riskant.“ Per antwortete: „Es war überhaupt nicht gefährlich. Der Wagen fuhr ja nur im ersten Gang, und jeder, der aus einem Parkplatz herauslenkt, paßt doch gut auf. Und übrigens mußte ich das tun; denn ich sah, wie die beiden Burschen auf uns zukamen, und dachte, die hätten vielleicht das Auto angehalten, wenn ich ihnen nicht zuvorgekommen wäre.“ Die Erwachsenen sahen den Jungen anerkennend an, aber sein Vater murmelte: „Ich freue mich, daß es glatt gegangen ist, Per; aber trotzdem bist du zu jung für so etwas.“ Da sagte Pers Mutter: „Emil, es gibt nicht viel, was wir vor Per verbergen konnten. Ich habe ihm oft genug angesehen, daß er Bescheid weiß, und es hat mich bekümmert. Aber heute hat er gezeigt, daß wir uns auf ihn verlassen können. Du meinst vielleicht, es ist nicht richtig von mir, die Sache so anzusehen, aber ich glaube wirklich, das beste wird jetzt sein, wir geben ihm Aufgaben, die er lösen kann. Wenn etwas geschehen sollte, dann… ja, man hat bis jetzt noch nichts davon gehört, daß sie Kinder verhaften. Wenn es doch endlich vorbei wäre!“ Der junge Arzt verstand es, sich in die Menschen und in das, was sie bedrängte, einzufühlen. Er war zwar nicht ganz einverstanden damit, ein Kind als ordentliches Mitglied in die Freiheitsbewegung
aufzunehmen, aber in diesem Fall war es etwas Besonderes. Dr. Carlsen sagte: „Als das halbe Europa in die Hände Hitlers gefallen war, als England ganz allein dastand und dennoch nicht einen Augenblick daran dachte, den Kampf aufzugeben, da glaubten nur ein paar Menschen, Widerstand könnte nützen. Viele verfielen der Hoffnungslosigkeit und meinten, alles wäre vorbei, als die Hitlerheere vor Leningrad und Moskau standen und es aussah, als ob sie dieses riesige Reich in ein paar Monaten besiegen würden. Dann kam Weihnachten 1941. Japan hatte Pearl Harbour überfallen, und Amerika nahm am Kriege teil, nachdem es zuerst eine Niederlage erlitten hatte, die nicht geringer war als die der anderen Länder. Die ganze Welt hatte eine Niederlage erlitten; sie weigerte sich aber trotzdem, sich der Hitler-Sklaverei zu beugen. Woher bekamen die Menschen diese Kraft? Ich habe oft darüber nachgedacht. Ich glaube, Pers Mutter hat gerade eine Erklärung dafür gegeben. Von dem Augenblick an, wo der Widerstand sich in dem Willen zeigte, alles für ein Leben in Freiheit zu opfern, wie es die Seeleute der ganzen Welt vom ersten Tage an auf den Meeren getan haben, wie Zehntausende von guten Deutschen in den Konzentrationslagern ihres eigenen Landes, wie die Sowjetsoldaten bei Stalingrad, von dem Augenblick an begann Hitler sich zu Tode zu siegen.“
Der Arzt wandte den Kopf und sah Pers Mutter in die Augen. Dann sagte er mit einem Lächeln: „Ingar, du hoffst, daß es bald vorbei ist. Das tun wir alle. Heute wissen wir besser als zuvor, daß diese Hoffnung mehr ist als’ eine Sehnsucht, wir wissen, daß die Tage des Faschismus gezählt sind. Ich glaube, Frauen wie du werden viel dazu beitragen, daß er nie wieder aufersteht.“ Niemand sprach. Pers Mutter stand auf und ging in die Küche. Da brach Kjeld das Schweigen und sagte: „Es ist Bescheid über dich gekommen, Henning. Du sollst morgen nach Kopenhagen fahren. Else kommt und wird dich anputzen, sie versteht das.“ Henning war aufgesprungen. Eifrig fragte er: „Was, wie… soll ich mit dem Zug fahren? Hast du mir eine neue Legitimationskarte beschafft? Warum soll Else mich anputzen…?“ „Nun, bleib nur ruhig, so eilig ist es nicht. Ja, du sollst mit dem Zug fahren, als die Verlobte von Dr. Carlsen. Dann sollst du…“ Henning unterbrach ihn: „Als was?!“ „Wie ich sage.“ Kjeld blinzelte vergnügt und lächelte. „Du wirst in ein niedliches kleines Fräulein verwandelt, das kann Else gut. Obwohl ich ja gern wissen möchte, wie sie dich niedlich machen will, dich langes Scheusal. Ja, euer Kurier war heute nachmittag hier, darum kann es auch so schnell gehen mit Carlsen, sonst hättest du mit einem anderen Liebsten fahren müssen. Carlsen kennt man in
Kopenhagen nicht. Der ist nur von den Naziknechten hier, die ja manchmal viel schlimmer sind als die Deutschen, auf die Liste gesetzt worden. Na, wir werden auch einmal mit dieser Sorte ,Landsleute’ abrechnen.“ Kjeld strich sich über die Stirn. Bei dem Gedanken an solche Dänen, die gegen ihre eigenen Landsleute zu Söldnern der Nazis geworden waren, regte sich der sonst so ruhige Mann auf. Vor dem Krieg war Kjeld ein Arbeiter unter zehntausend anderen gewesen. Das war er noch, aber es schien, als ob von ihm eine unsichtbare Kraft ausginge. In seiner Haltung, im Ausdruck seines Gesichts und seiner Augen war nichts Stolzes oder Hochmütiges, aber selbst ein Kind wie Per merkte, aus welchem Material der Arbeiter Kjeld Nielsen gegossen war. Seine Worte waren ruhig und deutlich, und es gab nichts hinzuzusetzen. „Ich gehe jetzt nach Hause. Else kommt morgen vormittag. Sie hat bei sich, was ihr braucht. Tut nur, was sie sagt. Übrigens ist einer von uns Schaffner in dem Zug, mit dem ihr fahrt. Er kennt die Leute, die im Auftrag der Deutschen reisen, und besorgt für euch die richtigen Plätze. Gute Nacht.“ Einen Augenblick später war Kjeld in der Dunkelheit verschwunden. Pers Mutter kam herein. Sie bereitete das Bett für den neuen Gast auf der Schlafbank im Wohnzimmer. Henning und Per stiegen in die Giebelkammer hinauf. Bald wurde es dunkel, und Stille herrschte in dem Haus im Wald.
Per lag noch wach. Er hörte, wie Henning sich im Bett herumdrehte; das machte er fast jede Nacht. Jetzt flammte ein Streichholz auf, und kurz danach füllte der Geruch von schlechtem dänischem Tabak die kleine Kammer. Henning konnte also auch nicht schlafen. Jetzt werde ich es sagen, dachte Per und überlegte, wie er die richtigen Worte finden sollte. Er war froh, daß es dunkel war. Endlich brachte er es heraus. „Henning“, sagte er, „ich weiß wohl, daß du Manns genug bist durchzukommen, aber wenn dich nun die Gestapo erwischt, was dann?“ Hennings Pfeife glühte in der Dunkelheit. In der Kammer herrschte eine gespannte Stille, während Per dalag und auf Antwort wartete. Endlich sprach Henning: „Die meisten kommen durch, ohne gefaßt zu werden. Sollte es mich dennoch erwischen, dann… Ich rechne nicht damit, daß sie mich lebend bekommen.“ „Aber, Henning, wenn sie dich doch fassen und dich foltern, wirst du dann sagen, daß du hier gewohnt hast? Ich weiß wohl, daß du keine Angst hast und nicht weich wirst, aber ich habe gehört, daß mancher selbst nicht weiß, wieviel er aushalten kann.“ Henning biß hart auf das Mundstück seiner Pfeife, als er die Stimme seines jungen Kameraden in der Dunkelheit der Kammer hörte. „Du mußt mir versprechen, daß du niemand etwas verraten wirst, Henning. Es ist nämlich wegen der
Mutter. Neulich stand ich zwischen den Johannisbeersträuchern, um zu sehen, ob es vielleicht schon ein paar reife Beeren gäbe. Da kam Mutter heraus zu meiner kleinen Schwester, die auf dem Rasen spielte. Sie entdeckte mich nicht, und ich sagte auch nichts, denn sie streichelte Schwesterchen und weinte sehr. Kurz danach bemerkte sie mich und… weinte nicht mehr. Aber sie sagte so sonderbar, nun wäre ich ja groß, und wenn sie und Vater eines Tages nicht mehr bei uns sein könnten, dann sollte ich immer bei Anne bleiben und gut auf sie aufpassen. Dann sprach sie noch vieles andere und tat so, als hätten ihre ersten Worte keine Bedeutung. Aber ich habe immer daran gedacht… Und nun sollst du morgen abfahren. Du darf st nicht zornig sein, weil ich dir das sage. Du hast mir doch selbst versprochen, daß wir auch zusammenhalten werden, wenn der Krieg vorbei ist. Sei also bitte nicht böse, Henning!“ Per konnte nicht weitersprechen. Er bohrte seinen Kopf in das Kissen und versuchte die Tränen zurückzuhalten. Henning verstand Pers Besorgnis. Sorgfältig löschte er seine Pfeife, schob die Hände unter den Nacken und sah eine Weile in die Dunkelheit hinein, bevor er ruhig und bestimmt sprach: „Ich danke dir, daß du mir das sagst. Du verstehst viel mehr, als ich dachte. Aber, Per! Wenn jemand in dieser verfluchten Welt etwas versprechen kann, so verspreche ich dir: Sollte ich verhaftet werden, dann werde ich das fertigbringen, was mein
Vater geschafft hat. Die Banditen erschossen ihn. Vielleicht hätte er sein Leben retten können, wenn er andere mit hineingezogen hätte. Aber sie konnten sein Schweigen nicht brechen. Per! Du kannst sicher sein, daß mein Vater sich meiner nicht wird schämen müssen.“
EIN SONDERBARES LIEBESPAAR UNTERNIMMT EINE REISE
Else war eine kleine vergnügte Frau mit energischen Augen und Bewegungen. Sie kam am Vormittag ins Waldhaus, außer Atem und mit einem großen Bündel unter dem Arm. Kaum war sie eingetreten und hatte das Paket auf den Küchentisch geworfen, als sie schon los schwatzte: „Man könnte glauben, ich hätte Champagnerpfropfen auf meinen Rädern. Einer nach dem anderen sprang mit einem Knall heraus, der Draht scheint gebrochen zu sein. Die letzten drei Kilometer waren schlimm.“ Die erwartungsvolle Spannung, die vom Morgen an über dem Haus gelegen hatte, ließ jetzt nach. Else verstand es, andere aufzuheitern. Pers Mutter lächelte und sagte: „Setz dich erst einen Augenblick, Else, ich koche uns einen Kaffee.“ Else suchte sich einen Stuhl und redete weiter. „Das ist fein, ich kann eine Tasse Torfaufguß brauchen nach dieser Fahrt. Na, Henning, oder Gine, wie du ja heute heißen sollst, setz dich mir mal gegenüber, kleines Fräulein, damit ich deine Haut ansehen kann; du brauchst eine Verschönerungskur. Hi hi, altes Mädchen, der Greta Garbo gleichst du nicht sehr,
wenn du auch ein bißchen flach in der Figur bist. Aber das werden wir schon in Ordnung bringen.“
Else plauderte ununterbrochen. Sie spaßte, als wäre sie bei den Vorbereitungen zum Karneval, während
sie ihren Ersatzkaffee trank und anordnete, was die anderen tun sollten. Pers Mutter mußte Watte in einen alten Büstenhalter einnähen und Dr. Carlsen Chemikalien mischen. Per durfte die Brennschere wärmen, und der Vater bekam den strengen Befehl, die Umgebung zu beobachten, damit sie nicht gestört wurden. Etwa drei Stunden später war Hennings Haar gefärbt und umstand in einem Kranz von Locken seine Stirn. Seine Augenbrauen wurden mit der Pinzette ausgezupft und mit einem Stift nachgezogen, das Gesicht wurde geschminkt und gepudert, und er zog einen Rock an und eine Bluse, die da, wo sie sollte, ein wenig ausgebeult war. Kjeld hatte keineswegs übertrieben, als er sagte, Else könnte so etwas. Schwierigkeiten machten nur die Schuhe. Henning hatte nicht gerade Mädchenfüße, er konnte die Zehen nicht in die flachen Spazierschuhe hineinzwängen, die Else mitgebracht hatte. Sie schalt ihn aus und quälte sich mit ihm, bis sie es mit einem Seufzer aufgab und sagte: „Ja, ich ahnte wohl, daß du Plattfüße hast, mein Mädchen. Ich hoffte nur, die Schuhe würden dir passen, dann hätten wir ein Paar Strümpfe gespart. Nun muß ich ja wohl die Sandalen auspacken, die ich in der Tasche habe, da geben die Riemen nach. Aber dann mußt du auch meine Strümpfe anziehen. Wenn die häßlichen Zehen nicht ein wenig versteckt werden, fallen sie zu sehr auf.“
Unter viel Gelächter zog Henning Damenstrümpfe und einen Hüfthalter an und preßte seine langen Zehen in die Sandalen, daß die Riemen knackten. Als er sich endlich im Spiegel ansehen durfte, erschrak er und hätte beinahe das fremde Fräulein gegrüßt, das er erblickte. Noch einmal wurde er genau überprüft. Else fühlte ungeniert nach, ob die künstlichen Körperteile auch saßen, wie sie sollten, und ob die Strümpfe kein Wasser zogen. Sie erklärte, wie man sich mit einem Örestück helfen könnte, wenn die Strumpfhalter platzten, und gab Henning-Gine viele Ratschläge über andere Reserveteile. Schließlich nahm sie ihre eigenen billigen Ohrringe ab, seufzte ein wenig und sagte: „In deinen Riesenohren ist ja Platz für einen ganzen Juwelierladen, aber diese tun es auch. Paß auf, daß du sie während der Fahrt nicht verlierst. Man muß sie fest zukneifen, damit sie halten.“ Else sparte nicht mit ihren Kräften, als sie ihre Kleinodien in Hennings abstehende Ohrläppchen einschraubte. Er quiekte denn auch wie ein Schwein, dem eine Ohrenmarke eingeklemmt wird. Aber Else kannte kein Erbarmen: „Was schreist du so, Mädel, für die Schönheit muß man leiden, und du mußt viel leiden, wenn du einigermaßen anständig aussehen willst. Wer hätte auch geglaubt, daß Dr. Carlsen einen so schlechten Geschmack hat. Na, jedenfalls kann er sicher sein, daß keiner ihm seine Liebste wegschnappt.“
Endlich nahmen Dr. Carlsen und Henning Abschied. Else gab ihnen die Fahrkarten und erklärte, sie sollten sich auf dem Bahnsteig direkt vor den Postwagen stellen. Der Schaffner kannte den jungen Arzt und würde ihnen einen Tip geben. Dr. Carlsen fuhr auf dem Fahrrad von Pers Vater, das Per dann später vom Bahnhof abholen sollte, und Henning auf dem Damenrad, mit dem er gekommen war. Und das war schuld daran, daß sie fast zu spät zum Zug kamen. Henning vergaß die feinen Fräuleinmanieren, und obwohl er ein Damenrad vor sich hatte, schwang er gedankenlos sein Bein nach Männerart in die Luft. Kr-rat-s-ss, sagte es. Einen Augenblick vergaß er ganz, daß er eine Dame war und nicht ein einfacher Schmiedejunge. Ärgerlich rief er: „Zum Teufel noch mal, die Sockenhalter sind geplatzt!“ Obwohl die Situation ernst genug war, schallte ein vielstimmiges Lachen durch den Wald. Elses Augen lachten weiter, als sie ärgerlich sagte: „Du Dummkopf, du unanständiges Mädchen, wie kannst du die Röcke so schwenken! Komm und laß mich ein Örestück einsetzen. Und paß gut auf, daß das Kopftuch richtig sitzt. Es ist ja sehr schön, an der Stirn Locken zu haben, aber mit einem langen roten Hals soll man nicht prahlen. Eine richtige Dame muß ihre Schönheit hervorheben und ihre Fehler verstecken. Na, rauf mit dir und fort, sonst kommt ihr zu spät! Paß auf ihn auf, auf deine Liebste meine ich,
damit sie richtig vom Fahrrad absteigt. Was sollen die Leute denken, wenn sie das Bein hintenüber schwingt? Meine Tante würde sagen, daß die Jugend heutzutage verdorben ist. Los, fahrt ordentlich, und…“ Else rief noch gute Ratschläge hinter ihnen her, bis sie vom Waldweg abbogen; dann ging sie zum See hinab und setzte sich ans Ufer. Als sie die „Verlobten“ auf der anderen Seite vorbeifahren sah, war ihre muntere Maske verschwunden. Sie schaute sich vorsichtig um, und als sie sicher war allein zu sein, nahm sie ihr Taschentuch, trocknete ihre Augen und putzte sich die Nase. Dann murmelte sie: „Armer Junge, er könnte mein eigener sein. Aber Kjeld hat recht, er hält es nicht aus, wenn er nicht weiter mitmachen darf.“
Drei Tage später kam Kjeld ins Waldhaus. Er brachte einen Brief des Redakteurs, dem das Haus gehörte. Pers Vater las: „… hatte ich die Freude, das hübsche verlobte Paar zu begrüßen. Sie bringen ja gute Empfehlungen mit und haben schon Arbeit bekommen. Nun zu Großkaufmann Jansens Angebot auf mein Haus: Der Preis, den er bietet, ist ja sehr hoch, aber wir haben vielleicht nicht beide die gleiche Auffassung vom Wert des Geldes. Ich verstehe auch, daß Sie und Ihre Frau ungern ausziehen möchten,
und da ich die Kunst mit Freuden unterstütze, können Sie ruhig wohnen bleiben, solange Sie Motive finden, die Sie interessieren. Ich glaube aber, der Großkaufmann ist so darauf aus, das Haus zu erwerben, daß er Sie von Zeit zu Zeit besuchen wird. Sagen Sie ihm, ich sei jetzt von meiner Reise nach Hause gekommen. Er kann also an mich schreiben. Ich habe gehört, daß Jansen gute Verbindungen hat, mit denen ich auch gern in näheren Kontakt käme. Es ist deshalb möglich, daß ich im Verlauf von einigen Wochen selbst erscheine, um mit ihm zu verhandeln. Aber, wie gesagt, bitten Sie ihn vorläufig, an mich direkt zu schreiben, damit er annimmt, das Geschäft käme vielleicht zustande. Ich habe kein Interesse daran, ihn sofort durch eine Ablehnung vor den Kopf zu stoßen, da das Haus ihm offenbar, viel bedeutet. Bis Sie Näheres von mir hören, können Sie ruhig weiter arbeiten. Aber halten Sie bitte ein Gastzimmer frei. Es ist möglich, daß ich selbst oder mein Vertreter plötzlich ein paar Tage Ferien nehmen müssen. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Arbeit und verbleibe mit freundlichen Grüßen, auch für Ihre Frau und Ihre Kinder, Ihr ergebener N. N. P. S. Sollten Ihnen Farben oder anderes Arbeitsmaterial fehlen, so, kann ich Ihnen etwas von meinen Vorräten schicken. Für mein Steckenpferd kaufe ich immer reichlich ein.“
Pers Vater reichte Kjeld den Brief. Als der ihn gelesen hatte, sagte er lächelnd: „Das ist fein, die neue Sendung ist also unterwegs. Wir brauchen die Ware auch dringend. Aber es sieht bald so aus, als könnte der Kriegsgewinnler gefährlich werden. Die in Kopenhagen wissen manchmal besser Bescheid über uns als wir selbst. Na, da der Redakteur ihn übernehmen will, können wir ihn uns mit Ausreden vom Leibe halten.“
Nach einer Woche, an einem sonnenklaren Nachmittag, saß Per wie so oft am See und angelte. Zufällig sah er hinüber zum Fischerhaus und entdeckte auf dem Bootssteg die alte Frau, die da stand und winkte. Erst begriff er nicht, daß es ihm gelten sollte. Aber dann fiel ihm ein, was sein Vater mit ihr besprochen hatte. Ja! Es war klar, daß sie die Bewohner des Waldhauses erreichen wollte. Er winkte zurück. Sie winkte eifriger und machte mit der Hand unverständliche Zeichen. Pers Vater war wie gewöhnlich mit der Staffelei unterwegs. Aber seine Mutter war zu Hause. Er lief und holte sie. Die alte Frau stand noch auf dem Steg. Sie gab zu erkennen, daß sie mit ihnen sprechen wollte. Pers Mutter sagte: „Was mag das bedeuten? Ich gehe hinüber, du paßt inzwischen auf Anne auf.“ „Ja, aber Mutter! Frau Nissen kommt sonst niemals auf die Landungsbrücke. Ich habe sie erst ein einziges
Mal dort gesehen, damals, als Vater und Kjeld ausrechneten, wie breit der See ist. Vielleicht eilt es. Soll ich nicht lieber hinüberlaufen, das geht doch viel schneller!?“ Pers Mutter überlegte einen Augenblick. Das war eine Aufgabe, die ihr Junge schon erfüllen konnte, eine Gelegenheit, ihm Vertrauen zu erweisen, ohne ihn einer Gefahr auszusetzen. Was Mette Nissen wollte, konnte man nicht wissen, aber sie schien es wirklich eilig zu haben, und es handelte sich sicher um etwas Wichtiges. „Lauf hinüber, Per! Sage, daß Vater nicht zu Hause ist. Wenn Frau Nissen eine Nachricht für ihn hat, kannst du sie bringen. Sag, daß ich dich geschickt habe, weil du auch mitarbeitest und weil du schneller laufen kannst als ich.“ Per sauste davon über Stock und Stein. Atemlos rannte er durch die Gartentür, gerade als die alte Frau vom Bootssteg heraufgekommen war. Per nahm sich nicht einmal Zeit, sie zu begrüßen, sondern platzte sofort heraus: „Mutter hat mich geschickt. Vater ist nicht zu Hause, aber ich weiß, daß Sie zu uns halten. Mutter sagt, ich soll mit dem Bescheid zu Vater laufen, wenn es eilt.“ Aufgeregt starrte er in das runzlige Gesicht mit den wasserblauen Augen, die ihn forschend anblickten. Die alte Frau sah nicht gerade freundlich aus, aber auch nicht unfreundlich. Per fühlte sofort jenes merkwürdige Vertrauen, das durch den Anblick
mancher Menschen hervorgerufen wird, ohne daß man sagen kann warum. Mette Nissen war eine alte runzlige Frau, und Per hatte wie alle anderen Jungen gewisse Heldenideale, aber er zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß sie zu den Leuten gehörte, für die jeder Junge durchs Feuer gehen würde. Frau Nissen begann plötzlich zu lächeln und sagte: „Komm herein, mein Junge, wir haben noch ein wenig Zeit zum Plaudern. Es ist gut, daß du da bist. Sonst hätte ich die Jolle genommen und versucht, zu euch hinüberzurudern. Aber meine Gehwerkzeuge machen mir Schwierigkeiten, und es ist auch besser, daß man mich nicht in Verbindung mit euch sieht – noch nicht.“ Kurz danach saß Per in der niedrigen Stube und schaute sich um. Da gab es viel zu sehen. Auf der Kommode standen Schachteln, die kunstvoll mit Schneckenhäusern belegt waren, und ein Schiff in einer Flasche. An den Wänden hingen Bilder von Segelschiffen, und auf einem kleinen Regal lag das Schwert eines Schwertfisches. Da gab es Modelle von chinesischen Dschunken und grönländischen Kajaks und viele andere merkwürdige Dinge, die von großen Fahrten erzählten. Über dem Sofa hing ein Bild von einem Vulkanausbruch und daneben zwei Fotografien, die eine von einem jungen, die andere von einem älteren Mann, die sich ähnlich sahen.
Per blickte sich gründlich um. Er fühlte sich zwar als Freiheitskämpfer, aber solche „kleineren“ Dinge konnten auch sehr interessant sein. Und nun kam die
alte Frau auch noch mit Kaffee und einer Schüssel Kuchen, die für eine ganze Gesellschaft gereicht hätte! Aber Per ließ sich gern zureden. Es war so gemütlich, wie wenn ein Junge seine Großmutter besucht. Erst als das letzte Stück Kuchen seinen zahlreichen Vorgängern gefolgt war, fiel ihm wieder ein, warum er eigentlich gekommen war. Mette Nissen hatte mit sanftem Lächeln den Appetit ihres. Gastes beobachtet. Als er nun tapfer an der Kuchenfront gesiegt hatte und sich wieder anderen Aufgaben widmen konnte, sprach sie: „Hör zu, Per. Sag deinem Vater, daß unsere ungeladenen Gäste angefangen haben, am Ende des Sees Sommerhäuser zu beschlagnahmen. Dort sollen gewiß einige von den Flüchtlingen einquartiert werden, die jetzt kommen. Gestern waren ein Offizier und ein paar Soldaten mit einem Auto hier, um mein Haus zu besichtigen. Ich sagte einem der aufgedonnerten Hitlerjungen – in seiner eigenen Sprache übrigens – daß ich hier wohne. Ich sagte es so deutlich, daß er es verstand, ja, er stand sogar stramm vor mir, bevor er sich davontrollte. Aber es wunderte mich, daß er nicht hinüberfuhr zu eurem Haus. Jetzt verstehe ich es besser. Heute bekam ich mit der Post die Kündigung der Fischereipacht. Das bedeutet, daß der Großkaufmann in der Stadt Glück gehabt hat. Er hat wohl auch seine Finger im Spiel, wenn euer Haus nicht beschlagnahmt wurde. Na, das ordnet dein Vater schon selbst. Aber sag ihm, daß die Deutschen
oben bei der Hohen Klippe einen Wachtturm bauen. Sie stellen Scheinwerfer auf und können Tag und Nacht den See beobachten. Sag deinem Vater, er braucht die Maße nicht mehr, die ich ihm gegeben habe, er versteht schon, was ich meine. Wenn du nicht alles behalten hast, kann er zu mir kommen, aber am besten so, daß ihn keiner sieht. Und dann, mein Junge, denk immer daran, daß man sein Land lieben kann, ohne damit zu prahlen. Übe dich darin, es kann sein, daß du es brauchst.“ Am selben Abend, sobald es dunkel war, besuchte Pers Vater Mette Nissen. Nach dem Gespräch mit ihr wußte der Kopenhagener Arbeiter sicherer denn je, daß der Hitlerfaschismus niemals siegen konnte. Hier kämpfte ein unterdrücktes Land gegen fremdes Militär. Es war der Kampf der Menschheit gegen die Tyrannei, ein Kampf, der unter jungen wie auch unter alten Menschen die Überzeugung wachsen ließ: Niemals kann ein Volk untergehen, wenn es nicht selbst will. Am nächsten Abend kam Kjeld ins Waldhaus. Aus dem Gespräch der Erwachsenen entnahm Per, daß die Absicht bestanden hatte, den See als Abwurfplatz für Waffen, Sprengstoff und als Lande; stelle für Fallschirmspringer zu benutzen. Jetzt mußte der Plan aufgegeben werden. Per war verblüfft, daß er dem großen Abenteuer so nahe gewesen war. Jetzt verstand er, warum sein Vater so lange nicht mehr für die illegale Zeitung gearbeitet hatte. Er war mit
anderen Aufgaben hierhergekommen. Und diese Aufgaben würden gelöst werden, selbst wenn man den See aufgeben mußte, das wußte Per, als er seinen Vater zu Kjeld sagen hörte: „Ich glaube, ich habe ein Feld gefunden, das wir nehmen können. Morgen werde ich hingehen und es mir ansehen. Wenn es geeignet ist, schicke ich Per mit Bescheid zu dir. Du sorgst dann dafür, daß Jörn es auf der Karte einzeichnet und weitermeldet. Wir müssen etwas Schwung in die Arbeit bringen. Ich möchte das gern in Ordnung wissen, bevor der Redakteur herauskommt.“ Der Redakteur kam, ein großer grauhaariger Mann mit lebhaften Augen. Er erzählte, daß Dr. Carlsen und Henning sich bereits gut eingearbeitet hätten. In Kopenhagen war die Situation so gespannt wie nie zuvor. Die Gestapo hatte eine Gruppe deutscher Soldaten verhaftet und hingerichtet, die in ihren eigenen Reihen Propaganda getrieben und in den Kasernen und auf Flugplätzen Plakate gegen die Nazis geklebt hatten. Anstatt HEIL HITLER hatten sie gegrüßt:
AUCH MIT DER WAFFE DES WORTES
Als Per erfuhr, daß sein Vater jetzt ein richtiger Freiheitskämpfer geworden war und nicht mehr für die illegale Zeitung arbeitete, empfand er das wie eine große Beförderung. Er war so stolz, daß er sich Luft machen mußte. Eines Nachmittags kam er in das Zimmer des Redakteurs, der gerade eine Generalstabskarte studierte. „Ich soll von Mutter sagen, wenn Sie was auszuwaschen haben, so möchten Sie es ihr jetzt geben.“ „Ja, das ist ausgezeichnet.“ Der Redakteur stand auf, zog seinen Koffer unter dem Bett hervor und begann darin zu wühlen. Jetzt, meinte Per, war eine gute Gelegenheit, das zu sagen, was ihm schon viele Tage im Sinn lag: „Es ist doch gut, daß Vater jetzt richtig mit dabei ist. In Kopenhagen hatte ich einen Schulkameraden, dessen Bruder war ein echter Saboteur und wurde gesucht wie Henning. Er sagte manchmal, Zettel verteilen wäre gar nichts Besonderes.“ Der große grauhaarige Mann richtete sich auf und sah den Jungen an. Ihm war schnell klargeworden, daß Per ein wenig zuviel wußte, und er hatte mit
seinen Eltern darüber gesprochen. Da hatten sie ihm erzählt, wie der Junge Dr. Carlsen vor den Mördern gewarnt und wie man ihn schon mehrmals als Boten geschickt hatte. Der Redakteur hatte darüber nachgedacht. Jedes Kind wußte, was im Lande vorging. Die ersten, die überhaupt wegen Sabotage verhaftet wurden, waren große Schuljungen gewesen. Und viele von den Widerstandskämpfern, die die kühnsten und gefährlichsten Arbeiten ausführten, waren ja, richtig gesehen, nichts anderes als große Jungen, Studenten, Lehrlinge und junge Arbeiter. Mit einer müden Bewegung strich sich der Redakteur durch das Haar. Die Jugend hatte Mut, aber wenn diese Höllenwirtschaft einmal vorbei war, was geschah dann mit den jungen Menschen? Würden sie den Haß vergessen können? Der Junge, der da vor ihm stand, war stolz darauf, daß sein Vater die Schreibmaschine gegen einen Revolver eingetauscht hatte oder wie der Bengel sich das vorstellte. Der Kampf war notwendig, aber er konnte die jungen Gemüter auch vergiften. Der Redakteur setzte sich aufs Bett und sagte: „Nimm Platz, Per, ich werde dir etwas erzählen. Aber sag mir erst, warum bist du froh darüber, daß dein Vater nicht mehr für die Zeitung arbeitet?“ „Weil… Ja, also, ich weiß doch, daß Vater keine Angst hätte, ein paar Deutsche zu erschießen.“ „Haßt du die Deutschen so sehr, Per?“
„Ja, das tut Henning auch, die haben seinen Vater erschossen und Krieg gemacht und unser Land besetzt… sie sind Nazis!“ „Per!“ Der Redakteur stand auf, nahm eine Schachtel aus einer Schublade und sagte: „Ich habe hier etwas, was aus dem Hause muß. Ein paar Erinnerungen, die ich gesammelt habe, um sie bis nach dem Krieg zu verstecken. Du sollst sie sehen. Hier ist ein Zettel. Er wurde durch deutsche Soldaten verteilt, auf die wir uns verlassen konnten und die ihr Leben riskierten, als sie ihn und viele seiner Art anklebten.“ 1. Mai 1944 An den Fronten 3899100 gefallene Soldaten In der Heimat 9 703 200 Bombengeschädigte Schluß! Dieser zweite Zettel kam aus Berlin und anderen deutschen Städten. Wir wissen, daß er unter den deutschen Truppen in den besetzten Ländern von Hand zu Hand ging. Aber wir wissen nicht, wie viele deutsche Männer und Frauen durch ihn in die Klauen der Gestapo fielen. Es sind nur Worte, wie du siehst, gedruckte Worte, aber ich kann dir sagen, daß sie eine ebenso gefährliche Waffe sind wie zum Beispiel ein
Revolver. Die Männer und Frauen, die mit Worten kämpfen, Per, sind nicht weniger mutig als andere Freiheitskämpfer. Dein Vater und deine Mutter sind nicht jetzt erst richtige Widerstandskämpfer, wie du sie nennst, sie waren es die ganze Zeit. Ich werde dir den anderen Zettel übersetzen, damit du verstehst, wie gefährlich er ist: HAUSFRAU! Hilf mit, daß es bald Frieden gibt! Auch mit Kleinigkeiten kannst du den Frieden fördern! Verschwende Wasser, Gas, Elektrizität! Hamstere, was du noch irgend kriegen kannst! Leg dir Sachwerte hin! Kaufe und tausche, was du hintenrum bekommen kannst. Aber laß dich nicht erwischen! Gib keine alten Kleider, Mäntel und Schuhe weg. Gib Sammlern keine Abfälle, Knochen, Lumpen. Drücke dich vor jeder Arbeit in Rüstungsfabriken, im Luftschutz und in Nazi-Organisationen. Beantrage zusätzliche Bezugscheine für Lebensmittel und Kleider! Schreibe möglichst täglich an deinen Mann oder Bruder im Heer. Telegrafiere häufig. Informiere sie über die Not zu Hause. PASSIVER WIDERSTAND VERKÜRZT DEN KRIEG!
Der Redakteur fuhr fort: „Siehst du, Per, am Ersten Mai dieses Jahres sagte der dänische Sprecher im Londoner Rundfunk unter anderem:… Hitlers größter Feind sind die Arbeiter, und selbst in dieser Stunde vergessen wir nicht, daß es deutsche Arbeiter waren, die zuerst gegen die Faschisten kämpften. Heute schmachten Tausende von ihnen schon das elfte Jahr in Hitlers Konzentrationslagern.“ Das waren Worte, Per, die ich mir eingeprägt habe, denn ich fürchte ein wenig, daß sie in der Hitze des Kampfes vergessen werden. Denke immer daran, daß Deutsche und Nazis nicht unbedingt dasselbe sein müssen. Du kannst stolz darauf sein, daß dein Vater den Faschismus bekämpft, aber nicht darauf, daß er Deutsche erschießt. Und dein Schulfreund hatte unrecht, wenn er glaubte, daß Zeitungsarbeit nicht ebenso wichtig wäre wie die, bei der sein Bruder mitmacht. Und nun geh zu deiner Mutter mit diesem Hemd. Ich muß abends in die Stadt und möchte gern ordentlich aussehen. Übrigens habe ich darüber nachgedacht, ob ich dich mitnehmen soll. Aber ich muß erst mit deinen Eltern sprechen. Es ist nichts besonders Wichtiges, du könntest nur vielleicht etwas für mich erledigen. Verschwinde also und bitte deine Mutter, sie möchte mir das Hemd bis um fünf bügeln.“ Per lief hinunter. Ihm schwirrte ein wenig der Kopf, aber er hatte den ehrlichen Willen zu verstehen, was ihm der Redakteur erzählt hatte. Vielleicht war der
Freiheitskampf gar nicht so einfach, wie er vorher geglaubt hatte. Was er wohl für den Redakteur in der Stadt erledigen sollte? Na, jedenfalls wurde mit ihm gerechnet, selbst wenn er nichts Besonderes zu tun hatte. Gegen Abend befanden sich der Redakteur und Per auf dem Weg zur Stadt. Und da geschah es, daß Per doch etwas Außergewöhnliches erlebte, aufregend, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können, so daß ihm noch nachträglich vor Angst übel wurde, als es überstanden war. „Du sollst nur zu Kjeld hinaufgehen und sagen… pst, duck dich!“ Der Redakteur unterbrach seine Erklärung. Er zog Per schnell auf einen der vielen Waldpfade, die auf die Landstraße mündeten, und flüsterte: „Hörst du etwas?“ Per lauschte. Dann sagte er: „Ja, da kommt ein Auto, ein Zweitaktmotor, gewiß ein DKW.“ „Richtig, Per. Ich kenne den Ton gut, ich bin fast sicher, das ist ein deutscher Wagen. Wir verstecken uns hier und passen auf, wenn er vorbeifährt.“ Sie warteten eine Zeitlang. Die knallenden Auspuffgeräusche des Autos klangen näher, aber plötzlich entfernten sie sich wieder; nur ein paar Sekunden, dann verstummten sie ganz. Das Auto war nicht auf der Landstraße vorbeigefahren, aber weit konnte es nicht sein. Die Stille mochte bedeuten, daß der Wagen angehalten hatte.
Der Redakteur hatte sein Sommerhaus schon viele Jahre gemietet und kannte die Gegend in- und auswendig. Er dachte einen Augenblick nach. Wie alle Freiheitskämpfer, hatte er in diesen Jahren gelernt, Autos mit Zweitaktmotoren wachsam und mißtrauisch zu begegnen. Sie fuhren mit Benzin, das konnten sich nur die Deutschen erlauben, alle dänischen Autos fuhren mit Generator. Was konnte ein deutsches Auto hier zu suchen haben? Der Redakteur flüsterte: „Hast du ein Taschenmesser, Per?“ „Ja.“ „Gut, schneide dir eine Haselrute, geh die Landstraße entlang, schneide Muster in die Rinde und tu so, als ob du damit ganz beschäftigt wärst. Aber paß auf und such das Auto. Wenn du es siehst, so bleib stehen und guck es dir an, dann fragen die dich vielleicht etwas; sie haben oft jemand mit, der dänisch spricht. Wenn sie wissen wollen, woher du kommst, dann sage, du wohnst in der Ferienkolonie auf der anderen Seite des Sees, aber hier kennst du dich nicht aus. Falls du etwas herausfindest, komm nicht zu mir zurück. Geh weiter, bis du an der Flußbiegung vorbei bist, dann können sie dich nicht mehr sehen. Von da an läufst du im Wald an dem großen Graben entlang. Dort treffe ich dich. Bringst du das fertig? Sag es, wenn du Angst hast!“ Per hatte sich eine Haselrute geschnitten. Schnell wiederholte er seinen Auftrag, um zu zeigen, daß er
ihn verstanden hatte und sich nicht fürchtete. Kurz danach schlenderte er den Weg entlang, pfiff vor sich hin und schnitzte feine Zickzackmuster in die Rinde seines Stockes. Er war schon einige Minuten gegangen, aber noch war niemand zu sehen. Da kam er an den Pfad, der zum Fischerhaus führte. Unwillkürlich fuhr er zusammen und blieb stehen. An Mette Nissens Briefkasten lehnte ein junger Mann in SS-Uniform. Als er den Jungen erblickte, rief er ihn auf dänisch an. Jetzt hieß es aufpassen! „Hallo, Junge, wo kommst du her?“ „Ich bin von der Ferienkolonie, Sie wissen wohl, die Kolonie von schwachsinnigen Kindern, die da drüben untergebracht ist.“ Per zeigte mit seinem Stock über den See und wunderte sich einen Augenblick über sich selbst. Alle Angst und Nervosität war wie weggeblasen. Er konnte klar und genau denken. Ohne sich dessen bewußt zu werden, erlebte er, daß die Angst am geringsten ist, wenn man mitten in einer Gefahr steht. Man wird vor allem nervös, wenn man sieht, wie die Gefahr sich nähert, oder nachdem sie überstanden ist. „Schwachsinnigen-Kolonie! Ha! Na, die brauchen wir dann nicht mehr, wenn wir in diesem verrotteten Land erst aufgeräumt haben. Kennst du einen Redakteur, der da unten in dem Haus wohnen soll?“ „Einen Redakteur?“ Pers Stimme war ruhig. Er zog seine Worte ein wenig in die Länge, als ob er überlegte. „Neiein, ich kenne hier niemand, ich bin
nur im Wald spazierengegangen. Ich weiß nämlich, wo ein Krähennest mit Jungen ist, die bald fliegen können.“
Wo er diese Ausrede hernahm, wußte Per nicht. Eine unsichtbare Macht schien ihm zu diktieren, was er sagen sollte. Er kannte zwar ein Krähennest, aber viele seiner Worte waren aus der Luft gegriffen. „Zum Teufel mit deinem Krähennest! Hast du hier in den letzten Tagen einen großen Mann herumgehen sehen?“ „Einen großen Mann! Ja, ja, den Futtermeister drüben auf dem Hof, wo wir Milch holen, der ist ziemlich groß, und der Kaufmann am Kreuzweg, der ist auch ziemlich groß. Aber sonst weiß ich keinen. Es gibt doch mehr Leute, die groß sind! Sie sind ja selber auch ziemlich groß“, sagte Per und versuchte den aufgeblasenen SS-Mann bewundernd anzusehen. Das stimmte ihn freundlicher. Er richtete sich auf, protzte mit seiner Uniform und knurrte wohlwollend: „Na, du Quatschkopf, hau bloß ab!“ Per ließ sich das nicht zweimal sagen. Er beherrschte sich aber und bummelte weiter, während er an seinem Stock schnitzte. Aber sobald er den nächsten Nebenpfad erreichte, sprang er über den Graben, der jetzt im Sommer trocken war, und jagte wie ein Hirsch durch den Wald. Der Redakteur sah Per sofort an, daß etwas nicht in Ordnung war. Ohne zu fragen, ließ er den Jungen erzählen. „Da war ein Nazi oben am Weg, ein Däne. Er fragte, ob ich Sie gesehen hätte. Ich habe ihm irgendeinen Quatsch erzählt und durfte weitergehen. Aber unten
an Mette Nissens Haus hält das Auto, es ist ein DKW. Die haben sich im Haus geirrt. Was sollen wir tun, wir müssen…“ Der Redakteur unterbrach ihn und sagte schnell: „Per, hör gut zu. Dein Vater darf nicht nach Hause kommen. Soviel ich weiß, steht er draußen und malt auf dem Feld oben an der alten Klosterruine. Lauf schnell und sag ihm Bescheid. Du mußt ihn finden. Ist er nicht dort, dann versteck dich in der Nähe der Brücke an der Tankstelle, über die er ja gehen muß. Halt ihn an und sag ihm, daß er keinen von unseren Freunden besuchen darf und daß der Kleinbauer wartet, dann weiß er, wo er hingehen muß. Beeil dich, Per! Ich hole deine Mutter und deine Schwester. Mette Nissen wird der Gestapo eine falsche Adresse geben, sie werden nicht gleich zu eurem Haus kommen. Sei ruhig und sieh nur zu, daß du deinen Vater von der Landstraße runterbekommst. Du mußt sagen, daß wir anderen weg sind, damit er nicht versucht, das Haus zu erreichen. Denk daran, Per, dein Vater kann sonst gefaßt werden.“ Per sauste durch den Wald in einer Geschwindigkeit, die für nichts anderes Platz ließ als für das Bemühen, so schnell wie möglich seine Aufgabe zu erledigen. Er sprang über Wurzeln und Steine, setzte über Gräben, zwängte sich durch Gebüsch und dichtes Unterholz. Bald waren Arme und Beine zerkratzt. Risse in Hemd und Hosen, das Gesicht voller Schweiß und Staub, so kämpfte sich der
vierzehnjährige Großstadtjunge durch den Wald wie ein Mensch aus dem Dschungel, der seinem Dorf die Botschaft bringt, daß der menschenfressende Tiger in der Nähe ist.
Der Redakteur kannte jeden Steg, jeden Baum. Er brauchte nicht lange, um bis zu seinem Haus zu kommen, ein paar Dinge zu packen und wieder zu verschwinden, gefolgt von einer Frau mit einem Kind auf dem Arm. Als er ein paar Stunden später Pers Mutter und Anne bei dem Kleinbauern untergebracht hatte, machte er sich wieder auf den Weg. Ohne müde zu werden und ohne sich bei der hereinbrechenden Dunkelheit ein einziges Mal in der Richtung zu irren, glitt er zwischen den Bäumen dahin. Keiner wußte besser als er, was auf dem Spiel stand. Trotzdem blickten seine scharfen Augen unter der grauen Haarmähne munter und entschlossen. Als er, hinter einer Böschung versteckt, das Fischerhaus von fern erblickte, murmelte er mit einem Lächeln: „Ja, das dachte ich mir. Die alte Mette Nissen hat wieder einmal großes Unheil verhütet – mit der Waffe des Wortes.“
METTE NISSEN BEKOMMT BESUCH
Sicherlich war Mette Nissen eine alte Frau und schlecht zu Fuß, aber, ihrem gesunden Menschenverstand fehlte gar nichts. Sie hatte das Auto gehört, als der Motor am Steg zu ihrem Haus auf Leerlauf geschaltet wurde. Kurz danach vernahm sie deutsche Kommandorufe. Als es an der Vordertür klopfte, wußte sie schon, daß an der Hintertür eine Wache stand und auch am Giebelfenster. Sie ging langsam hin und machte auf. Draußen standen ein kräftiger Mann in Zivil und ein junger Bursche in Uniform. Der Jüngere sagte auf dänisch: „Wir wollen mit Redakteur Andersen sprechen. Rufen Sie ihn!“ Die alte Frau hörte wohl schlecht; sie hielt die Hand hinter das Ohr und fragte auf deutsch: „Was sagen Sie, bitte?“ Der Gestapomann in Zivil zuckte zusammen, als diese offenbar halb taube Alte ihn auf deutsch ansprach. Laut sagte er: „Deutsche Sicherheitspolizei!“ Er stieß die Frau beiseite und trat ein. Mette Nissen legte den Kopf auf die Seite, blinzelte mit den Augen und sah fast geistesschwach aus, als sie einladend sprach: „Wollen Sie nicht näher treten?“
Der Deutsche tat, als hörte er ihre Worte nicht, und kommandierte: „Durchsuch das Haus!“ Der junge Mann zog seinen Revolver und trat die Tür zur Küche auf. Rücksichtslos ging er durch alle Zimmer.
Er riß die Schranktüren auf, sah unter die Betten und durchwühlte Koffer, während sein Vorgesetzter etwas zurückhaltender Mette Nissens Wohnstube durchstöberte. Die alte Frau trippelte hin und her und jammerte: „Ja, aber, Herr Standartenführer, was machen Sie denn. Sehen Sie sich doch nur meinen Nähkasten an! Nein, nein, rühren Sie nicht an die Schneckenkästen, da sind meine Lebensmittelkarten drin. Zwei Schneckenhäuser sind abgegangen, ja, das war am Tag, nachdem ich den Kasten von meinem Mann geschenkt bekommen hatte. Er hatte ihn für mich in Lübeck gekauft, aber der Junge mußte ja sofort dran puhlen, und da gingen die beiden Schneckenhäuser ab. Und als der Junge dann 1918 an der Westfront fiel, zwei Tage vor Friedensschluß, da habe ich es doch nicht übers Herz gebracht, die Schneckenhäuser wieder anzukleben. Das ist so eine Art Erinnerung. Sie haben vielleicht auch einen Sohn, wie, Herr Standartenführer, ist er diesmal mit im Krieg? Ach ja, wo soll das bloß hinführen! Aber was suchen Sie denn unter meinem Tischdeckchen? Ich habe doch nicht…“ Mette Nissen wanderte hin und her, rang die Hände und redete ohne Ende. Sie sprach deutsch, und es war ihr vollkommen klar, daß der Gestapomann zuhörte, selbst wenn er so tat, als beachte er sie nicht, während er ihre Stube durchwühlte.
Plötzlich fiel auf dem Boden ein Schuß, dem ein Brüllen und Trampeln folgte. Der Gestapomann sprang zur Treppe und riß seinen Revolver heraus. Mette Nissen blieb in der Stube zurück, lauschte und lächelte. Sie vernahm einen Strom von deutschen Flüchen und dazwischen halb deutsch, halb dänisch gestammelte Worte. Ihre Schwerhörigkeit war wie durch ein Wunder verschwunden, und sie verstand, was geschehen war. Eine der halbwilden Katzen, die sich im Fischerhaus aufhielten, hatte offenbar etwas umgeworfen, bevor sie durch das Bodenfenster hinaussetzte. Der junge Mann in der flotten Naziuniform hatte wohl geglaubt, er wäre in einen Hinterhalt gefallen. Jedenfalls war sein Revolver losgegangen, und nun wurde er von seinem deutschen Vorgesetzten ausgeschimpft. Der Gestapomann schloß mit den Worten: „Idiot! Raus zur Landstraße und aufpassen! Dann können Sie schießen, wenn einer Ihrer verfluchten Landsleute vorbeikommen und unzufrieden aussehen sollte. Es wird Zeit, daß diese Gegend merkt, was die Glocke geschlagen hat!“ Als der Deutsche wieder in die Stube kam, war er scheinbar ruhig. Wie aber Mette Nissen wieder zu jammern begann, brüllte er: „Halten Sie den Mund, wo haben Sie deutsch sprechen gelernt, warum nennen Sie mich Standartenführer, na, antworten, schnell!“
„Ja, aber Herr Standartenführer, ich sah Sie in Flensburg, als ich vor sechs Jahren dort zu Besuch war. Ich bin eine alte Nordschleswigerin. Ja, und da hörte ich doch, daß Sie ein großer Mann geworden wären. Aber ich wollte mich nicht aufdrängen, um guten Tag zu sagen, wenn ich Sie auch schon kenne, seit Sie geboren wurden. Ich habe auch nichts gesagt, als Sie Christian dort auf dem Bild nicht erkannten, obwohl ihr zwei so oft zusammen gespielt habt, bis er einberufen wurde. Und dabei hatte er damals nicht einmal seine Lehrzeit beendet. Können Sie sich nicht an mich erinnern? Ich bin doch Mette Nissen, Ferdinand Nissens Frau. Er hatte einen Frachtdampfer! Aber dann wurden die Zeiten so schwer, daß wir das meiste verkaufen und hierherziehen mußten.“ Mette Nissen erzählte noch viel mehr, eine lange Geschichte, die auf Wahrheit beruhte. Nur hatte sie diesen Mann zeit ihres Lebens nie gesehen. Sie wußte, daß es eine gute Taktik war, einen Nazi mit irgendeinem feinen Titel zu belegen. Da es bei diesem Exemplar nicht so gewirkt hatte, wie sie beabsichtigte, mußte sie sich nun aus der Patsche ziehen. Und das machte sie meisterhaft. Ohne zu brüllen, sagte der Mann: „Sie müssen mich mit jemand verwechseln, aber ich verstehe…“ Mette Nissen hielt die Hand hinter das Ohr: „Was sagen Sie, Herr Sturmbandführer, ich irre mich? Ja, da sehen Sie, was ich für ein altes Gestell bin, ich
erkenne nicht einmal die Leute. Sie müssen entschuldigen, wenn ich einen Fehler gemacht habe, vielleicht sind Sie sogar Obersturmbandführer.“ Ein schiefes Lächeln erschien auf dem Mund des Gestapomannes, dann rief er: „Wir kamen, um Redakteur Andersen zu treffen. Kennen Sie ihn?“ „Den Redakteur, ja, aber warum sagten Sie das denn nicht gleich, hier wohnt er ja gar nicht.“ „Nicht hier, verflucht! Wo wohnt er denn, na schnell!“ „Ja, wo er wohnt, der Redakteur. Ja, der wohnt ja ganz woanders, das heißt, er wohnt in Kopenhagen.“ „Er hat doch ein Haus hier in der Gegend, wo liegt denn das? Es sollte hier am See sein.“ „Das Sommerhaus des Redakteurs, das meinen Sie ja wohl, Herr Obersturmbandführer, ja, das stimmt schon, das ist da. Der Redakteur hat hier ein Sommerhaus am See, das hat er schon viele Jahre. Lassen Sie mich mal überlegen, wann war denn das, als er das Haus kaufte… Ja, und er hat es doch erst instand setzen lassen. So ist das mit diesen Kopenhagenern. Also, lassen Sie mich mal nachdenken…“ Aufgeregt brüllte der Mann: „Keine Ausreden weiter! Sagen Sie mir sofort, wo das Haus liegt!“ Die alte Frau fuhr erschrocken zurück: „Ja aber, Herr Obersturmbandführer, wenn Sie es wirklich so eilig haben, den Redakteur zu finden, so treffen Sie ihn sicher in der Stadt.“
Der Gestapomann sprang zur Tür und rief: „Dreh den Wagen um, ich komme in zwei Minuten!“ Dann lief er zurück in die Stube und sagte: „Sie sind eine vernünftige Frau, geben Sie mir nur schnell die Adresse.“ „Adresse, ja, die Adresse des Redakteurs in der Stadt, also die weiß ich nicht so genau. Er zog zum Großkaufmann Jansen in die Alstraße. Die Hausnummer habe ich niemals behalten können, aber es ist genau gegenüber der Apotheke, ja, der alten Apotheke. Die neue, wissen Sie, die liegt oben am Markt. Ja, das sagte er damals, daß er dort hinwollte, zu Großhändler Jansen.“ Der Gestapomann hatte sich schnell die unvollständige Adresse notiert. Das mußte der Großhändler sein, der Waren in die Kaserne lieferte. Es war keine Zeit zu verlieren, aber eine gründliche Auskunft mußte er beschaffen. Er hatte schon einmal einen Rüffel bekommen, weil er unvollständig Bescheid gebracht hatte. „Woher wissen Sie, daß er dort ist?“ „Also, ich stand mittags da oben am Weg und wartete auf die Post, das tue ich gewöhnlich. Aber es gibt beinahe immer nur die Zeitung. Briefe kommen so selten. Von den alten Freunden hört man nicht mehr viel. Jeder hat wohl auch genug Sorgen in dieser Zeit. Es ist ja…“ Jetzt riß dem Mann der Geduldsfaden. Vielleicht stand er endlich vor dem großen Handstreich, der
seine alten Fehler vergessen ließ und ihm die Beförderung brachte. Er riß den Revolver heraus und richtete ihn auf Mette Nissen, während er brüllte, daß ihm der Schaum in den Mundwinkeln stand: „Kommen Sie zur Sache, und machen Sie es kurz!“ „Aber um Gottes willen, Herr Obersturmbandführer, passen Sie doch auf, wenn da Pulver drin ist, geht er los! Der Redakteur, ja, er kam also vorbei und grüßte, als ich dastand und auf die Post wartete. Er war gerade bei seinem Haus gewesen, das er an Großhändler Jansen verkaufen will. Nun wollte er in die Stadt und den Kaufvertrag schreiben, sagte er. Und zwar beizeiten, denn hinterher wollte er mit dem Zug nach Kopenhagen fahren. Ja, mehr weiß ich nicht, aber…“ Mette Nissen stand vielleicht im Wege, jedenfalls bekam sie einen Stoß, als der Gestapomann durch die Tür schoß. Wenige Sekunden später brummte der DKW der Stadt zu, so schnell der alte Motor ihn vorwärtstreiben konnte. Ein paar Stunden danach schlich sich der Redakteur zum Fischerhaus. Alle Türen waren verschlossen. Sonderbar! Mette Nissen ging doch sonst nicht so früh zu Bett. Aber niemand antwortete, als er klopfte. Da erschrak er. Sollten die Banditen die alte Frau im Auto mitgeschleppt haben? Wurde sie jetzt vielleicht mit den unmenschlichen Methoden verhört, die er selbst so gut kannte?
Der Redakteur wandte sich um und pirschte zum See hinab. Plötzlich fuhr er zusammen und lauschte. Ja, ein schwaches Plätschern war zu hören. Nun konnte er die Jolle sehen. Hinter einem Baum beobachtete er, wie das Boot zur Brücke glitt. Kurz darauf kam Mette Nissen zu ihrem Haus heraufgehumpelt. Als er sich zu erkennen gab, erklärte ihm die alte Frau, daß sie, gleich nachdem das Gestapoauto weggefahren war, über den See gerudert war, um die Freunde zu warnen. Sie hatte ein verschlossenes Haus gefunden. Nun wußte der Redakteur, wie die Sache lag, und er lachte vor sich hin, während er die alte Frau umarmte und an sich drückte. Dann glitt er wieder in die stille Sommernacht hinaus.
FREIHEITSKÄMPFER PER LEISTET EIN GUTES STÜCK ARBEIT
Auf dem Feld war niemand zu sehen. Pers Herz hämmerte nach dem anstrengenden Lauf, aber er nahm sich keine Zeit zu verschnaufen. Jetzt kam es darauf an, daß er die Brücke an der Tankstelle vor seinem Vater erreichte. Es war am besten, quer über das Gebiet der alten Klosterruine zu laufen. Bei der verwitterten Mönchsteinmauer erblickte er zwei Fahrräder, halb hinter einem Busch verborgen. Da lagen auch die Staffelei und der Farbenkasten! Aber das andere Fahrrad gehörte ja Kjeld! Alle Fahrräder sahen ramponiert aus in diesen Zeiten, aber das von Kjeld war etwas ganz Besonderes. Er führte immer eine alte Luftpumpe auf dem Gepäckträger mit, obwohl er nur Pfropfen im Vorderrad hatte und einen Strick im Hinterrad. Kjeld sagte, er brauche sie, weil seine Klingel so einen schneidenden Klang habe. Anstatt zu klingeln, schlug er mit der Luftpumpe auf die Lenkstange. Die Pumpe war ganz verbeult und nicht mehr zu gebrauchen. Aber wo befanden sich die Besitzer der beiden Fahrräder? Per dachte schnell über alle Möglichkeiten nach. Warum waren sie verschwunden und hatten die Räder
versteckt? Gewiß wollten sie nicht auf der Landstraße gesehen werden. Kjeld mußte etwas gewußt haben und war herausgefahren, um Vater zu warnen – aber wenn es sich so verhielt, was würde Vater dann tun? Er würde selbstverständlich sofort nach Hause eilen zu Mutter und Anne, um sie fortzubringen. Kjeld und Vater mußten also jetzt auf dem Weg nach Hause sein. Wahrscheinlich waren sie direkt über das Moor gegangen und durch das Erlengebüsch. Er mußte ihnen nach. Aber der Redakteur hatte gesagt, wenn Per seinen Vater nicht auf dem Feld träfe, sollte er zur Brücke laufen, sich dort verstecken und warten. Es war gegen den Befehl, wenn er ‘jetzt etwas anderes tat. Einen Augenblick zweifelte Per. Dann erinnerte er sich an die Worte, die der Redakteur eines Tages gesprochen hatte, als eine Aktion schiefgegangen war. Ein Befehl war zu spät eingetroffen, und zwei Männer waren verhaftet worden. Der Redakteur hatte damals gesagt: „Es kann Situationen geben, wo jeder auf eigene Verantwortung handeln muß.“ Per übernahm die Verantwortung und lief über das Moor. Ohne an den Lärm zu denken, den er verursachte, sauste er durch das Erlengebüsch, trat auf trockene Zweige und stieß gegen vorstehende Äste, die mit scharfem Knall abbrachen. Die Geräusche drangen bis zum Waldhaus hinüber und veranlaßten einen Mann, der hinter dem Torf
schuppen verborgen war, seine Maschinenpistole zu entsichern und schußklar zu halten.
Während Per durch den Garten sprang, sicherte der Mann seine Waffe wieder und trat vor: „He, Kamerad! Hast du es aber eilig! Wie heißt du?“ „Per.“ „Ja, das dachte ich mir. Du mußt keine Angst haben, dein Vater und Kjeld sind drinnen im Haus. Aber weißt du, wo deine Mutter und deine Schwester geblieben sind?“ „Nein, die sind wohl zu Hause, ich… ich bin nur spazieren gewesen, ich will mit Vater reden.“ „Das ist jetzt nicht möglich, er hat zu tun. Komm mit mir.“ Der Mann zeigte mit dem Kopf zum Torfschuppen. Wie ein Wiesel sprang Per durch die offenstehende Tür des Hauses, schlug sie hinter sich zu und rief: „Vater!“ Einen Augenblick quälende Stille. Dann hörte man einen Sprung über den Boden und die Stimme des Vaters: „Per! Wo bist du, Junge? Warum kommst du hierher?“ „Paß auf, Vater, da steht einer draußen mit einer Maschinenpistole. Er versteckt sich hinter dem Torfschuppen, ich bin ihm entkommen. Wir müssen weg. Mutter und Anne sind beim Kleinbauern. Der Redakteur hat sie geholt, und ich sollte…“ Per wurde schwindlig, das Schluchzen stand ihm im Hals. Plötzlich konnte er nicht mehr beurteilen, ob er richtig oder falsch gehandelt hatte. Aber jetzt… jetzt konnte Vater glücklicherweise bestimmen.
Und der Vater handelte schnell. Er rief Kjeld vom Boden herunter, nahm Per an der Hand, nickte dem Mann am Torfschuppen zu, und sie eilten in den Wald. Zehn Minuten später saßen sie hinter einem Hügel am See, von wo aus sie das Haus und ein Stück der Landstraße auf der anderen Seite sehen konnten. Und zwischen dem Schilf am Fuße des Abhangs war ein Paddelboot verborgen. Hier fühlten sich die Männer verhältnismäßig sicher. Per verschnaufte und kam langsam wieder zu sich, während sein Vater ihm erklärte: „Kjeld hat mich benachrichtigt, Per. Wir stellten fest, daß am Haus kein Auto gewesen war. Mutter und ich haben nämlich eine alte Vereinbarung: Wenn einer von uns in das leere Haus zurückkommt, sieht er an Schwesterchens Teddybär, ob alles in Ordnung ist. Der Teddybär saß, wie er sollte. Ich wußte, die beiden waren in Sicherheit, aber es war das beste für mich, auch zu verschwinden. Jörn, der dich mit der Maschinenpistole erschreckte, kam im Paddelboot, um uns zu schützen, während wir etwas vom Boden des Hauses wegbringen. Nun laß uns hören, was du für Neuigkeiten hast.“ Als Per mit seiner Erzählung fertig war, zog ihn Jörn scherzhaft am Haar und sagte: „Du wolltest mir keine Gesellschaft leisten, aber ich wollte mit dir zusammen sein, Kamerad. Du kannst manchmal mehr nützen als eine Schußwaffe.“
Per wußte nicht, daß Jörn Fallschirmspringer und Instrukteur für Sabotagegruppen in dieser Gegend war. Ihm war nur bekannt, daß man mit diesem Burschen rechnete, und er war sehr stolz über sein Lob. Zusammen mit dem Vater, mit Kjeld und mit dem berühmten Jörn fühlte er sich unüberwindlich. Er platzte fast vor Wichtigkeit, als er sagte: „Ja also, dann wollen wir mal anfangen und sehen, wie wir das wegbringen, was auf dem Boden liegt!“ Einen Augenblick waren die drei Männer sprachlos. Dann lachten sie leise, und Pers Vater sagte: „Habe ich dir jemals von dem Mäuschen erzählt, das mit einem Elefanten über eine Brücke lief und sagte: ,Ih, wie wir beide schaukeln!’ Nun, du hast deine Sache sehr ordentlich gemacht, mein Sohn. Paß auf das Boot auf, während wir zurückgehen und den Rest erledigen. Sollte jemand drüben auf der Landstraße erscheinen, so pfeif dreimal kurz. Übrigens kann Jörn einen Teil des Weges überblicken, falls eine Überraschung vom Walde her kommen sollte. Das glauben wir zwar nicht, aber solltest du Schießerei hören, dann bleib hier. Und Per! Mach dir keine Gedanken über das, was ich sage. Aber wenn, ich sage ausdrücklich wenn etwas geschehen sollte, dann verschwinden wir auf einem anderen Weg, und du wartest hier, bis es dunkel wird. Nimm dann das Boot und laß es mit der Strömung bis zur Brücke treiben. Da kannst du an Land gehen.
Such den Redakteur auf und sage ihm, wie die Dinge stehen. Aber überlasse es ihm, Mutter zu benachrichtigen.“ Per hielt Wache. Einige Zeit später kam Kjeld zurück, er trug eine kleine Kiste. Das Wachstuch, das sie bedeckte, glitt beiseite, als Kjeld sie vorsichtig auf den Boden des Bootes setzte. Per machte große Augen. In der Kiste lagen Revolverpatronenpackungen und einige runde Gegenstände, die in Größe und Farbe Ananas ähnelten. „Was ist das, Kjeld?“ fragte Per neugierig. „Laß die Finger davon, Junge. Das sind keine Windbeutel, das sind Handgranaten.“ „Ja, aber, wozu brauchen wir die?“ „Na, wenn wir mit jemand zusammenrasseln, mit dem wir uneinig sind. Aber rühr sie nicht an! Du siehst den Ring an dem einen Ende, das ist die Auslösung. Zieht man daran, so muß man das Ding sofort wegschmeißen, wenn man nicht selbst zu Heringssalat werden will.“ Es wurde allmählich dunkel. Kjeld wollte gerade zum Haus zurückgehen, als sie den knallenden Zweitaktmotor hörten und das Auto drüben auf der Landstraße auftauchte. Kjeld stand wie erstarrt. Dann sagte er schnell: „Verflucht noch mal, jetzt geht es los. Runter ins Boot, Per, tu, was dein Vater gesagt hat! Keine Widerrede, beeil dich!“ Kjeld gab Per einen Stoß und setzte in langen Sprüngen zum Haus hinüber.
Und wieder ließ das Geschehen Per keine Zeit, Angst zu haben. Während das Auto den Waldweg heraufbrummte, kniete er sich ins Boot und zog es durch das Schilf. Er erreichte das offene Wasser, hielt sich aber längs der Schilfkante. Er mußte sich dem Haus ein gutes Stück nähern, bevor die Strömung stark genug war, um das Paddelboot zur Brücke zu treiben. Plötzlich fuhr er zusammen. Er klammerte sich mit den Händen fest an das Schilf und hielt das Boot an. Laute Rufe ertönten! Dann eine Serie Schüsse aus einer Maschinenpistole und wieder Schreie und Revolverschüsse. Da hörte Per ganz auf zu denken, es war, als handelte sein Körper von selbst. So schnell er konnte, zog er das Boot am Schilf entlang; als die Strömung es erfaßte, ließ er das Schilf trotzdem nicht los. Unter dem alten Eichenbaum, auf dessen Ästen er so oft gesessen hatte, hielt er an. Von hier aus konnte er sehen, ohne selbst bemerkt zu werden. Ein Rascheln war zu hören, als ob jemand über die trockenen Zweige und Blätter des Waldbodens liefe, dann vereinzelte Schüsse. Per starrte den Weg hinunter. Schatten bewegten sich hin und her. Wieder erklangen Schüsse, aber weiter entfernt. Oben am Haus war es still. Per lag lange da und lauschte. Er konnte wieder klar denken. Ob der Redakteur wußte, was bei Mette Nissen geschehen war? Er glaubte, die Gestapo hätte die alte Frau gefoltert, bis sie verraten
hatte, wo das richtige Haus lag. Nun waren sie gekommen, und sein Vater, Kjeld und Jörn flohen vor ihnen. Wenn sie nur flohen! Wenn sie nur durchkamen! Oben beim Haus war niemand. Wieder ertönten einige Schüsse, fern, aber vielleicht auch gar nicht weit weg und nur durch den Wald gedämpft. Was konnte er nur tun, um dem Vater und seinen Kameraden zu helfen? Könnte er nur die Gestapo auf eine falsche Spur führen, damit sie Zeit hatten zu verschwinden! Plötzlich hatte er eine Idee. Die Kiste mit den Revolvern fiel ihm ein. Er konnte einige Schüsse gegen das Haus abgeben und auf diese Weise die Gestapoleute verwirren, so daß sie zurückkamen. Und er konnte das Boot in die Strömung schieben und im Schatten der großen Buchen, die den See bis an die Brücke einrahmten, forttreiben. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse, als er die Wachstuchdecke wegzog. Ja, da lagen sieben bis acht Revolver. Ob sie geladen waren? Da waren auch die Patronen, aber… Wie machte man das? Per hatte noch nie einen Revolver in der Hand gehabt. Jetzt merkte er, daß, was im Film so einfach aussah – man drückte ja nur auf den Abzug, das brachte jeder fertig – trotzdem nicht so leicht war. Vorsichtig nahm er einen Revolver in die Hand. Ihn richtig halten und am Abzug ziehen, das konnte er. Er zielte nach dem Haus, wandte den Kopf und drückte ab. Der Revolver sagte nicht einmal klick. Die Waffe war nicht gespannt oder nicht geladen. Per wußte es
nicht. Alles was er gehört und gelesen und im Film gesehen hatte, das Magazinaustauschen, Entsichern oder was man sonst tat, mußte gelernt sein. Ein neuer Gedanke kam ihm: die Handgranaten! Da brauchte er nur am Ring zu ziehen und sie wegzuwerfen. Aber… aber… Per hatte keine Zeit, lange zu überlegen. Er hörte eine Reihe von Schüssen und dann einen Schrei, ein Mann schrie. Das… das konnte Vater sein! Diese Erkenntnis wirkte wie eine Münze in einem Automaten. Mit einem Sprung war Per aus dem Boot und lief mit einer Handgranate auf das Haus zu. In der Dunkelheit sah er schwache Umrisse von dem Auto der verfluchten Gestapomörder. Per riß an dem Ring der Handgranate, schleuderte sie gegen den Wagen und lief um sein Leben. Später begriff er selbst nicht, wie er bis zum See gekommen und mit der Strömung fortgetrieben war, bevor der Knall ertönte. Er sah eine Feuersäule, als der Benzintank des Autos explodierte, hörte Rufe und unterschied im Schein des brennenden Wagens einige Gestalten, die zum Hause eilten. Dann erinnerte er sich an nichts mehr. Unter der Brücke saßen atemlos Pers Vater und Kjeld und luden ihre Gewehre. Neben ihnen lag Jörn. Er war für die gemeinsame Sache gefallen, als er die Flucht der anderen deckte.
Mit dem toten Kameraden auf den Schultern war Kjeld durch den Wald gerannt, während Pers Vater die Verfolger irreführte, indem er bald von Osten, bald von Westen eine Reihe Schüsse absandte. Dann
hatte es einen großen Knall gegeben, und eine Feuersäule war oben am Haus aufgestiegen. Deutsches Kommandogebrüll erschallte, und sie hörten die Verfolger fortlaufen. Kjeld sah das Boot herantreiben. Es schien leer zu sein, aber ein sonderbares Geräusch erklang daraus. Als sie es unter die Brücke zogen, fanden sie Per. Er war ganz außer sich und lag im Weinkrampf über der Kiste mit den Handgranaten. Der tote Kamerad mußte im Boot liegen, während Pers Vater und Kjeld es schwimmend nach sich zogen. Und nach vier Stunden waren sie in Sicherheit beim Kleinbauern.
DIE FÄDEN WERDEN ABGERISSEN
Spätabends kamen der Redakteur und der Kleinbauer aus dem Pfarrhof. Hinter den Verdunklungsgardinen im Studierzimmer brannte noch Licht. Morgen sollte der Pfarrer seinem Freund, dem Polizeimeister in der Stadt, über den Tod des jungen Mannes berichten, der jetzt unter der alten Blutbuche am südlichen Ende des Sees begraben lag. Sie würden eine Weile darüber sprechen, bevor sie die letzten illegalen Nachrichten austauschten. Es gab so viele Tragödien in diesen Jahren, man konnte fast sagen täglich. Der Schmerz und der Kummer über den einzelnen ging ein in die Summe des Unfaßlichen, das geschah. Von der harten Arbeit mit der Erde war der Kleinbauer ganz krumm geworden, seine Haut war dunkel und sein Gang schwer. Er besaß sehr wenig Land. Knapp ging es bei ihnen zu, aber sie waren doch durchgekommen, einige meinten, weil er in den schlechten Jahren Eda, seine Frau, gehabt hätte. Eda war in ihrer Jugend als polnische Saisonarbeiterin nach Dänemark gekommen. Und das wußte jeder: Die polnischen Mädchen arbeiteten auf dem Felde ebenso tüchtig wie ein Mann. Seit die Kinder erwachsen und von Hause weggezogen waren, ging es dem Kleinbauern und Eda ganz gut. Sie hatten mehr Platz
im Hause, jedenfalls Platz genug, um ab und zu Gäste aufzunehmen. Im Augenblick war in der kleinen Kate am Rande des Moors jeder Winkel bewohnt. In der Kammer hinter der Küche lag Per und schlief schwer und traumlos, nachdem seine Mutter ihm etwas zu trinken gegeben hatte. Sein Schwesterchen war im gleichen Raum untergebracht. Die Mutter hatte eben nach ihr gesehen und stand jetzt an Pers Bett. Seine Stirn fühlte sich warm an, aber Fieber hatte er sicherlich nicht mehr. Morgen würde er wieder auf sein und bald so eifrig herumspringen wie vorher. Sie hatte das bei vielen anderen jungen Menschen erlebt. Manchmal fürchtete sie, die Kinder könnten von der Unmenschlichkeit, gegen die sie kämpften, angesteckt werden. Aber sie hatte auch gesehen, daß die Härte mancher Jungen nur eine Schale war, ein Schutz vor der brutalen Wirklichkeit. Sie hatte nicht geweint, als sie ihren halb bewußtlosen Jungen brachten. Mit erstarrtem Gesicht hatte sie getan, was getan werden mußte, nicht getröstet und nicht gejammert, sondern ihn so schnell wie möglich ins Bett gelegt. Wie sie jetzt dastand und ihn ansah, glänzte es doch feucht in ihren Augen. Dann nahm sie sich zusammen und sagte leise zu ihrem schlafenden Kind: „Wenn ich dich verlöre, Per, ich weiß nicht, was ich täte. Aber wie viele halben schon alles verloren, und du hast doch recht gehandelt, mein lieber Junge.“
Leise zog sie die Tür zu. Sie ging in die Küche und setzte sich an den Tisch zu den anderen, die Tee tranken und selbstgebackene polnische, Kuchen aßen. Eda schenkte ein und drängte ihre Gäste in einer lustigen Mischung von Polnisch und Dänisch zuzugreifen. Pers Vater blickte seine Frau fragend an, als sie sich ihm gegenüber neben den Redakteur setzte. Sie nickte. Da wußte er, daß der Junge ruhig schlief. Der Redakteur sprach das aus, woran alle dachten. „Der Schock, den er bekommen hat, wird sicher nicht lange anhalten, sonst hätte er uns nicht erzählen können, was geschehen ist. Was ihn verzweifeln ließ und ihn veranlaßte, selbständig zu handeln, war der Gedanke, sein Vater wäre erschossen. Er ist nicht er selbst gewesen, als er die gesegnete Handgranate warf. Ja, es sind harte Worte, so etwas gesegnet zu nennen. Er soll nur die ersten paar Tage viel mit seinem Vater zusammen sein, dann wird er schnell wieder ruhig werden.“ Pers Mutter sagte leise: „Keiner wird wieder in Ordnung kommen, bevor das alles sein Ende gefunden hat, und auch dann wird es noch lange dauern. Die Jungen werden sich nicht so schnell einem friedlichen Werktag anpassen können. Sie haben allzuviel gesehen und mitgemacht.“ Pers Vater sprach: „Laß uns hören, Kjeld, was du in der Stadt herausgefunden hast. Du siehst nicht aus, als ob du den ganzen Tag geschlafen hättest.“
Kjelds Gesicht war von Müdigkeit gezeichnet. Er hatte sich weder Rast noch Ruhe gegönnt, um herauszufinden, wie die Gestapo ihnen auf die Spur gekommen war. Am Vormittag hatte er ganz ruhig sein Ungeheuer von Fahrrad bei der Klosterruine abgeholt und war zur Stadt gefahren. Er richtete sich auf, strich sich mit der Hand übers Gesicht, nahm einen Schluck Tee und begann seinen Bericht: „Das mit Jörn… ich war so wütend heute morgen, als ich in die Stadt fuhr. Ich glaubte, der Großhändler hätte uns denunziert und es wäre das beste, ihn gleich abzuknallen, bevor er noch mehr Unglück anrichtete. Unterwegs traf ich Else. Sie ist ausgezogen; sie sind schon bei uns gewesen und haben unsere Wohnung auseinandergenommen. Wir müssen jetzt beide illegal arbeiten. Else hatte schon allerlei herausbekommen. Sie hatte mit Mette Nissens Nichte gesprochen, die bei dem Großhändler in Stellung ist. Er kann es nicht gewesen sein. Er starb fast vor Schreck, als die Gestapo kam und Lärm schlug. Sie glaubten ihm nicht, daß er den Redakteur nicht gesehen hätte. Sie bedrohten ihn und sprachen von Doppelspiel. Na, dazu ist der Bursche zu feige. Er zittert jetzt noch. Er ist nur hinter dem Geld her, ein ganz gewöhnlicher Kriegsgewinnler, aber ein Verräter ist er nicht. Else hat auch mit dem Stationsvorsteher gesprochen. Mette Nissens Nichte war schnell zu ihm gelaufen und hatte ihm mitgeteilt, daß der Redakteur nach
Kopenhagen gefahren sein mußte. So war das in Ordnung, als die hohen Herren kamen. Ja, er kannte den Redakteur vom Sehen. Es stimmte, daß er mit dem Nachmittagszug nach Kopenhagen gefahren war. Er war im letzten Augenblick gekommen und schien es eilig zu haben. Der Stationsvorsteher machte seine Sache gut; jetzt suchen sie dich also in Kopenhagen. Aber ich mußte doch wissen, wie die uns aufgespürt haben. Das erfuhr ich bei Frank. Als der Kurier gestern mittag von Kopenhagen kam, sauste er nur zu mir rauf und sagte, ich sollte sofort abhauen und euch einen Tip geben. Mehr erfuhr ich von ihm nicht. Else forderte er auf, gleichfalls zu verschwinden, und dann ging er zu Frank. Keiner ahnt, daß Frank sich für etwas anderes interessiert als für seinen Schuhmacherkeller. Er hat ein deutsches Reklameplakat in seinem Fenster, ohne daß die Scheiben eingeschlagen wurden – das zeigt deutlich, wie wenig man mit ihm rechnet. Der Kurier reiste mit dem Nachmittagszug wieder ab, mit demselben Zug, mit dem du gefahren bist“, Kjeld grinste zum Redakteur hinüber. „Na, und nun ist alles klar. Der Verräter ist der neue Portier draußen im Krankenhaus, dem Dr. Carlsen ein wenig auf den Zahn gefühlt hatte. Er muß Unrat gerochen haben, denn einen Tag, nachdem Carlsen verschwunden war, ergriff der Portier die Flucht. Ein paar Tage später sah Carlsen den Burschen auf der Straße in Kopenhagen. Da trug er Naziuniform. Am selben Tag erfuhr Carlsen, daß
sie die Wohnung des Redakteurs besucht hatten, daß er aber verreist war. Der Portier, dieser niederträchtige Naziknecht, hat sich ausgerechnet, daß der Redakteur sich hier aufhalten muß. Er hatte Befehle von oben, uns alle auf einmal abzuknallen, aber unser Kurier kam ihm mit der Warnung zuvor. So hängt es zusammen. Ich ärgere mich wütend, daß ich den Gauner nicht erwischen kann. Hoffentlich dauert es nicht lange, bevor die Kameraden in Kopenhagen sich seiner annehmen.“ Kjeld schwieg, und einen Augenblick herrschte Stille in der Küche. Nur ein schwaches Knistern von dem Reisigfeuer im Herd war zu hören. Da sprach Eda, die polnische Frau des Kleinbauern. Ihre Augen sprühten Funken. Sie gestikulierte mit den krummen, verarbeiteten Händen, ihr anklagendes, gefurchtes Gesicht ließ die Zuhörer das Drollige ihrer merkwürdigen vermischten Sprache vergessen: „Ich sage euch, solch eine Knechte wie ihn wir niemals finden zu Haus in Polen, er sein viel schlimmer als Franz Josefs Gendarmen, als ich noch kleines Mädchen war. Ich werde schreiben einen Brief an meinen Sohn Romek, er sein ein guter Junge und wohnen in Kopenhagen. Ich werde schreiben an Romek, er soll hingehen und schlagen den schlechten dänischen jungen Mann, hart soll er ihn schlagen, diesen Verräter! Nicht wahr, Christian! Wieso du nichts sagen?“
Der Kleinbauer sah seine aufgeregte Frau sanft an und sprach: „Ja, Mutter, wir werden an Romek schreiben. Es ist ganz richtig, was du sagst.“ Er tat, was er konnte, um seine Frau zu beruhigen. Alle wußten, daß Eda weder lesen noch schreiben konnte. Aber sie wußten auch, daß sie im gegebenen Falle sich lieber töten ließe, als einen Freund zu verraten. Sie hatte ihr ganzes Leben lang hart gearbeitet, und sie hatte ein warmes Herz. Die Gäste fühlten sich ruhig unter ihrem Dach. Der Redakteur sagte: „Das Auto der Nazis ist in die Luft gegangen, das hat uns eine Ruhepause gegeben. Sie haben nur wenige Leute hier, aber sicher beobachten sie den Bahnhof. Wenn sie jedoch Verstärkung bekommen, und damit müssen wir rechnen, werden sie die ganze Gegend durchkämmen. Kjeld, weißt du einen Ort, wo wir eine Zeitlang unterschlüpfen können? Hier dürfen wir höchstens bis morgen bleiben, vielleicht wäre es am besten, heute nacht schon wegzugehen.“ Kjeld stand schwerfällig auf; oft waren seine Augen nahe daran gewesen zuzufallen. Aber er zwang sein Hirn weiterzuarbeiten: „Ja, niemand außer mir kennt den Weg zum Tierarzt, solange es dunkel ist. Wenn ich mit dem Fahrrad fahre, kann ich drüben sein, bevor es hell wird. Er nimmt sicher sofort seinen Wagen und holt euch.“ So geschah es, daß der Tierarzt mit seinem Auto nach einer Morgenfahrt von etwa hundert Kilometern
in die heimatliche Garage zurückkehrte. Eine Gruppe Passagiere stieg aus, aber erst als das Tor der Garage geschlossen war und der Arzt nachgesehen hatte, ob seine Frau allein zu Hause wäre. Das war sie nicht; denn da lag ein schmutziger, unrasierter fremder Mann und schlief. Nur ein dröhnendes Schnarchen verkündete, daß noch Leben in ihm war. Aber diesen Mann hatte der Tierarzt selbst auf die Wachstuchliege in seinem Sprechzimmer gebettet, bevor er im Morgengrauen die lange Fahrt begann.
Die Gegend wurde durchgekämmt. Mette Nissen hatte auch wieder Besuch, aber bei ihr waren die Gestapoleute beinahe freundlich. Sie hatte sie ja auf die Spur des Redakteurs gesetzt, und sie hatte nicht gelogen, denn der Stationsvorsteher hatte bestätigt, daß der Redakteur mit dem Zug nach Kopenhagen gefahren war. Von den Leuten, die in dem Sommerhaus gegenüber gewohnt hätten, wußte Mette Nissen nichts. Sie war ja eine alte Frau und kam selten unter Menschen. Da sie außerdem schwerhörig war, hatte sie auch nichts von der nächtlichen Schießerei beim Haus des Redakteurs gehört. In gutem Deutsch sagte sie den Besuchern, es wäre gut, daß es die Polizei gäbe, die für Recht und Ordnung sorgte. Denn wenn da jemand in den Wald ging und mit Gewehren schoß, konnte er ja jemand treffen. Da
hatte der Gestapooffizier ihr recht gegeben und überlegen gelächelt.
Auf den Höfen und Kleinbauernstellen und in den wenigen Arbeiterwohnungen war die Gestapo nicht so leutselig. Aber merkwürdigerweise wurde niemand verhaftet. Ungewöhnlich war es nicht, daß die Nazis sich Beute sicherten, selbst wenn sie nicht die Leute fanden, die sie suchten. Nur an einer Stelle wäre es beinahe schiefgegangen. Das war bei dem Kleinbauern. Die ungebetenen Gäste wurden auf dem Hof von Eda empfangen. Sie stand da, sah sie an und begegnete ihren Fragen schweigend und verständnislos. Ihr Mann kam hinzu und sagte: „Tag, Tag, ja, Mutter versteht wohl nicht, was Sie sprechen.“ Ein paar Männer durchsuchten das Haus, während der Kleinbauer auf dem Hof verhört wurde. Er antwortete nicht mehr als die Leute in den anderen Häusern, wo sie gewesen waren. Er redete schleppend und seelenruhig, und sie waren schon dabei wegzugehen. Da kamen die Schnüffler aus dem Haus. Der eine wandte sich zum Kleinbauern und sagte auf dänisch: „Na, Opa, du hast gewiß nichts zu verbergen, kannst froh sein darüber.“ Eda sah von dem Dolmetscher, der auf dem Hof stand, zu dem Burschen, der dänisch gesprochen hatte. Das war zuviel für sie, und sie sagte: „Nein, ich niemals werde verstehen, daß hier zwei sprechen dänisch, wenn Polizei sein Deutsche!“
„Nun, nun, Mutter. Das ist ja nur, damit wir verstehen, was sie sagen“, meinte der Kleinbauer begütigend. Der junge Bursche aber wurde rot vor Wut und schlug Eda ins Gesicht, während er rief: „Halt die Fresse, du Polackenweib!“ Als das Auto fortfuhr, starrte Eda ihm nach und sagte: „Christian, jetzt ich werde niemals mehr singen dänisches Lied, das heißt: Frieden ruhet über Land und Stadt.“ Wenige Tage später war dieses Wort in sieben Kirchspielen bekannt. Aber was Eda am meisten verwunderte, war der nächste Brief von ihrem Sohn Romek, der in Kopenhagen wohnte und so viel arbeiten mußte, daß er nur selten Zeit fand zu schreiben. Als Christian den Brief öffnete, um ihn vorzulesen, stand er da und guckte. Dann fing er auf seine eigene stille und kichernde Art an zu lachen. Eda wurde ungeduldig und zwang ihren Mann, sich zusammenzunehmen und zu lesen. „Liebe Eltern. Ich will Euch nur ein paar Worte schreiben, um Euch zu sagen, daß es mir gut geht. Kopenhagen ist groß, und hier geschieht in dieser Zeit so viel. Alle Leute beginnen zu glauben, daß wir bald singen können: Frieden ruhet über Land und Stadt…“
METTE NISSEN FÄHRT IN DIE STADT
„…Und da es Dein freier Tag ist, kannst Du mich vielleicht vom Omnibus abholen.“ So schloß die Karte, die Mette Nissen ihrer Nichte geschickt hatte. Die alte Frau hatte keine Ruhe gehabt in den letzten Tagen. Jetzt saß sie mit dem jungen Mädchen auf einer Bank im Park, der um die Mittagsstunde wenig besucht wurde. „Weißt du etwas, Birthe? Haben sie den Redakteur und die anderen gefangen?“ „Du kannst ganz ruhig sein, Tante. Ich wäre sowieso bald zu dir gefahren. Ich weiß nicht, wo sie stecken, aber gefaßt hat man sie nicht. Else und Kjeld Nielsen sind hier in der Stadt, aber Kjeld kann nicht mehr auf Arbeit gehen. Sie wissen noch nicht, was sie machen sollen. Else möchte am liebsten aufs Land ziehen.“ „Deswegen frage ich ja gerade, mein Mädchen. Die Leute drinnen im Büro müssen doch ein bißchen was für mich übrig haben; denn sie haben die Kündigung der Pacht unter der Bedingung zurückgezogen, daß ich meine Verpflichtungen einhalte, und wenn ich mir auch Hilfe dazu nehme. Vielleicht liegt es daran, daß deine geehrte Herrschaft nach dem Krach da draußen einen Schreck bekommen hat. Oder ob jemand von dem Büro herausgefunden hat, es hätte keinen Sinn,
dem Großhändler zu helfen? Aber der Brief ist jetzt geschrieben. Sie möchten, daß ich die Pacht behalte, wo auch immer diese plötzliche Güte herkommt.“ „Ich muß dir was sagen, Tante: Der Großhändler hat kalte Füße gekriegt. Nachdem die Nazisoldaten hier abgerückt sind, gibt es in der Kaserne fast nur noch ältere Männer und einige ziemlich alte Offiziere, die er nicht kennt. Seine Frau hat ihm schon lange die Ohren vollgeheult, er hätte auf das falsche Pferd gesetzt. Sie zanken sich jeden zweiten Tag und geben auch kaum noch Gesellschaften. Die Gnädige will, daß er sein Geschäft aufgibt, damit sie nach Kopenhagen ziehen können.“ „Das ist fein, da haben wir also Ruhe vor ihm. Aber ich müßte einen Gehilfen haben, wenn ich die Fischerei behalte. Könntest du nicht Kjeld fragen, ob das etwas für ihn wäre?“ „Ja, aber Tante, Kjeld wird doch gesucht!“ „Nicht so hitzig, mein Mädchen. In meinem Haus wird kein Kjeld wohnen, wenigstens vorläufig nicht. Was bedeutet in dieser Zeit schon ein Name – er steht nur auf dem Ausweis. Kjeld und Else können von mir aus heißen, wie sie wollen. Sie müssen es mir nur sagen und selber nicht vergessen. Außerdem bin ich ja gut Freund mit der Sicherheitspolizei. Rede mal mit Kjeld und Else darüber, Birthe. Essen und Wohnung können sie haben, und was den Lohn betrifft, das kommt auf die Fischerei an. Na, geh schon los. Ich
komme allein zum Auto. Du hast sicher deine eigenen Pläne für deinen freien Tag.“ „Ja, aber, ich kann doch mit dir gehen. Ich soll nur eine Freundin treffen“, sagte die Nichte und wurde rot. „Nein, ich geh allein, aber grüß deine Freundin. Wenn er ein netter Junge ist, dann bring ihn einmal mit zu mir.“ Die alte Frau kicherte, als sie forthumpelte und sah, wie die Nichte sich eilends in der entgegengesetzten Richtung entfernte. Eine Sommerwolke machte die Straße naß. Während Mette Nissen sich der Omnibushaltestelle auf dem Markt näherte, kam ein flotter Nazioffizier mit Monokel und zackigem Gang um die Ecke. Es standen viele Menschen da, aber keiner sah richtig, wie es geschah. Mette Nissens Stock glitt zwischen die Beine des feinen Offiziers. Er machte einige komische Sprünge, bevor er, so lang er war, auf das nasse, schmutzige Pflaster fiel. Die alte Frau wackelte, als ob sie auch die Balance verlöre. Sogleich scharten sich die Leute um sie, stützten sie und hoben ihren Stock auf. Der Offizier war schnell wieder aufgestanden. Wütend griff er nach seinem Revolver. Dann besann er sich. Die alte Frau war von Menschen umgeben, die sie trösteten. Es hat wohl keinen Sinn, Lärm zu schlagen, dachte er, was kann man mit so einem dämlichen ungeschickten alten Weib schon anfangen. Verärgert stelzte er davon.
Mette Nissen sah ihm nach. Straßenjungenpfiffigkeit lauerte in ihren Augen. Einer der Umstehenden sagte mitleidig: „Na, es ist nur gut, daß Sie nicht gefallen sind. Wie geht es denn jetzt?“ Da sah sich die alte Frau in dem Kreis um, blinzelte listig und meinte: „Danke, es geht ausgezeichnet, er war heute Nummer drei.“ Eine Welle von Gelächter umgab Mette Nissen, und vier bis fünf galante Kavaliere begleiteten sie zum Omnibus.
Vierzehn Tage später wurde der Pachtvertrag im Fischerhaus erneuert. Der Beamte, der vom Büro zu Mette Nissen kam, sagte, er hätte herumgehört und sich erkundigt: Die jungen Eheleute, die zu ihr ziehen wollten, wären solide und tüchtig. Mette Nissens neue Gehilfen kamen von Seeland und hießen Mortensen. Im übrigen waren die Menschen in der Gegend nicht neugierig, wer da war. Seit die Gestapo die meisten besucht hatte, hielt es jeder für das beste, sich nicht in die Angelegenheiten der anderen einzumischen. Es stellte sich bald heraus, daß Herr Mortensen mehr zu tun hatte, als nur die Fischerei zu versorgen. Mehrmals in der Woche fuhr er am Abend fort. Aber das Leben im Fischerhaus erregte keine Aufmerksamkeit. Es paßte gut in den Frieden, der bald wieder über der Gegend lag. Die unruhigen Köpfe, die im Haus des Redakteurs gewohnt hatten, waren verschwunden. Es wurde wieder wie vorher,
wo ein deutsches Auto sich nur alle paar Monate einmal auf die abseitige, ausgewaschene Landstraße verirrte.
Der Tierarzt wohnte in einem entfernten Dorf. Die Leute wußten, daß er lange an einigen Versuchen gearbeitet hatte. Er hatte sich oft beklagt, zuwenig Zeit zu haben. Aber jetzt war es ihm endlich gelungen, einen Assistenten zu finden, der in dem kleinen Laboratorium arbeitete. Man sah ihn am Tage selten. Dagegen fuhr er mit dem Tierarzt auf Abendbesuche, wenn auf einem Hof dringend nach einer kranken Kuh gesehen werden mußte. Es geschah ungewöhnlich oft, daß die eine oder andere preisgekrönte Kuh plötzlich erkrankte. Dann rief man auch in der Nacht nach dem Tierarzt. Auf solchen Fahrten begleitete ihn immer der Assistent; er war ein großer grauhaariger Mann. Pers Vater arbeitete nicht mehr als Kunstmaler. Er hatte sich den Bart abgenommen und kleidete sich wie andere Leute. Um ein neuer und besserer Mensch zu werden, hatte er auch seinen Namen verändert. Die ganze Familie hatte Papiere darüber. Sie waren in ein kleines Haus am Rande einer großen Gärtnerei gezogen, wo Pers Vater Arbeit als Gehilfe gefunden hatte. Per wurde Gärtnerlehrling und durfte an Markttagen manchmal mit seinem Meister in die Stadt fahren.
An solchen Tagen schleppte er Körbe mit Gemüse zu den festen Kunden, die ihn bald schätzen lernten, denn er stellte keine Fragen und blieb ruhig an der Küchentür stehen, bis er den leeren Korb zurückbekam – offenbar wunderte er sich nicht darüber, daß ein Korb Gemüse so schwer sein konnte. Er wußte, daß Zeitungen nicht leichter wurden, wenn sie mit ein paar Mohrrüben, mit Kohl und Petersilie zugedeckt waren, und Zeitungsbote zu sein, war in dieser Zeit eine Vertrauensstellung. Nach Jörns Tod mußten sich viele Freiheitskämpfer vor den Nazis verbergen. Die Fäden der Organisation neu zu ziehen, erforderte einige Zeit. Aber nicht überall war es so still wie jetzt in diesem Winkel des Landes. Im übrigen Dänemark näherte sich der Kampf seinem Höhepunkt. Alle Menschen wußten es, denn nun lasen alle die illegale Presse, die richtige Zeitung für das ganze dänische Volk.
DER GROSSE TAG
Die Birken hatten zitternde hellgrüne Blätter, und die alten Buchen reckten ihre Zweige mit dicken Knospen in den Frühjahrshimmel. Der Waldboden war mit weißen und blauen Anemonen bedeckt, und jeden Morgen pfiff der Star vom Schornstein des Fischerhauses. Der Kutscher, der einmal in der Woche die vollen Fischkisten zum Bahnhof fuhr, war gerade zurückgekommen. Er lud die leeren Kästen ab, zusammen mit dem Mann, der seit dem Herbst die Fischerei für Mette Nissen besorgte. Der Mann hieß Kjeld, aber der Kutscher nannte ihn mit seinem Nachnamen: Mortensen. Der Kutscher hieß Romek. Er war ein junger Kleinbauernsohn aus der Gegend. Eine Zeitlang hatte er in Kopenhagen gewohnt und gearbeitet, aber plötzlich war er der Großstadt müde geworden. Was er dort gemacht hatte, lag ein wenig im dunkeln, er hatte auch unter anderem Namen gelebt. Deshalb konnte er seinen eigenen Namen behalten, als er nach Hause kam. Seine polnische Mutter hätte sich doch niemals daran gewöhnt, ihn anders als Romek zu nennen, obwohl sie wußte, daß viele Menschen in dieser verrückten Zeit ihren Namen änderten.
Mit Stolz in der Stimme sagte Romek: „So, Mortensen, das ist die letzte Sendung!“
„Ich weiß. Der Redakteur und der Tierarzt waren gestern abend hier und haben Bescheid gesagt. Sie
nahmen mit, was sie drüben brauchen werden. Else hat sie benachrichtigt, daß wir zum ersten Aufgebot gehören. Du mußt heute abend auch kommen. Wir sollen uns bereit halten. Jetzt kann es jeden Augenblick losgehen. Wieviel hast du diesmal?“ Romek lächelte, warf noch ein paar leere Kisten vom Wagen und zog zwei hervor, die – nicht leer waren: „Ich hatte mit vier Kisten gerechnet, aber zwei sind auch gut, schau her.“ Romek lüftete die Deckel der beiden Fischkästen einen Spalt. Kjeld Mortensen warf einen Blick hinein und sagte: „Ah, Karabiner, die können wir gut gebrauchen!“
Am selben Abend waren in Mette Nissens Stube viele bewaffnete junge Männer versammelt. Einige Stahlhelme lagen im Vorzimmer; aber die meisten trugen keine Uniform. Nur ein Ausrüstungsstück zeigte, daß sie alle der gleichen Armee angehörten, die in dieser Nacht ihre Kampfgruppen zur letzten Entscheidung sammelte: die Armbinde der Freiheitskämpfer. Alle Gesichter waren gespannt und erwartungsvoll, als Mette Nissen das Radio anstellte. Eine ähnliche Gruppe hatte sich im Haus des Tierarztes zusammengefunden. Hier standen feine Möbel, und es gab mehr Platz, aber die Stimmung war die gleiche, und das Radio war auch eingestellt. Es wurde totenstill, als die Stimme im Lautsprecher ertönte:
„Die neueste Meldung: Die deutschen Truppen in Holland, Nordwestdeutschland und Dänemark haben sich ergeben!“ Keiner vermochte zu sagen, ob die Stille nach dieser Mitteilung eine Sekunde oder eine Minute dauerte, bevor der Jubel losbrach – in ganz Dänemark. Der Redakteur war hinausgegangen. Er sah, wie das Licht des Friedens angezündet wurde. In den Häusern und Höfen verschwanden die Verdunklungsgardinen. Die finsteren und bösen Jahre waren vorbei. Aber jetzt galt es darauf zu achten, daß die Stunde des Sieges nicht von Rachegefühlen und unnötigen Gewalttaten getrübt wurde. Er ging ins Zimmer zurück. An der Tür blieb er stehen und sagte: „Vergeßt nicht, wozu der Freiheitsrat uns alle auffordert. Da es nicht zum offenen Kampf kommt, müssen wir ruhig und besonnen bleiben. Selbst bei der Verhaftung von Landesverrätern dürfen wir nicht ihre Methoden anwenden. Auch gegenüber deutschen Soldaten und den deutschen Flüchtlingen, die wir werden bewachen müssen, wollen wir so auftreten, daß wir uns unserer Armbinde würdig erweisen. Wir wollen daran denken, wofür wir gekämpft haben.“ Am nächsten Tag, dem 5. Mai 1945, leuchtete die Sommersonne über einem freien, jubelnden Dänemark. Pers Vater mußte mit einer Gruppe Freiheitskämpfer die dänische Garnison in der Stadt bewachen und eine Schule, die als vorläufiger Sammelplatz für verhaftete
dänische Nazis und Kriegsgewinnler benutzt wurde. Plötzlich fiel ein Schuß. Zwei Stunden später saßen Per und seine Mutter an einem Bett im Krankenhaus. Pers Vater lag darin. Als sie kamen, hatte er die Augen geschlossen, aber jetzt lächelte er ermunternd und sagte: „Macht euch nichts daraus. Eine Kugel in der Schulter, das ist nicht schlimm nach diesen Jahren. Es war nur Pech; in einigen Tagen bin ich wieder auf. Aber was ist mit dir, Per? Du hast dich als würdig erwiesen, die Familie zu vertreten. Geh hinaus und sage den Genossen, daß ich bald wieder in Ordnung bin. Sie sollen dich freundlich aufnehmen. Einige von ihnen wissen schon, wer du bist und was du bist. Sie werden den anderen erzählen, daß du es verdienst, unser Zeichen zu tragen.“ Pers Vater nahm die Armbinde der Freiheitskämpfer aus der Schublade des Nachttischs und bat seine Frau, sie an Pers Arm zu befestigen.