Das Herz kennt die Antwort Penny Jordan Julia 1424 24 1/2000
Scanned by suzi_kay
1. KAPITEL Als Ward seinen zweiundzw...
11 downloads
531 Views
405KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Herz kennt die Antwort Penny Jordan Julia 1424 24 1/2000
Scanned by suzi_kay
1. KAPITEL Als Ward seinen zweiundzwanzigjährigen Halbbruder Ritchie ansah, empfand Ward Schmerz, Wut und Schuldgefühle. "Warum, in aller Welt, bist du nicht zu mir gekommen, wenn du Geld gebraucht hast?" fragte er angespannt. Ritchies blondes Haar glänzte golden im Sonnenlicht, das durch das Fenster von Wards Arbeitszimmer fiel. Ward wusste, dass ein reumütiger Ausdruck in seinen Augen liegen würde, wenn Ritchie aufblicken würde. "Du hast schon so viel für mich getan und mir so viel gegeben", erwiderte Ritchie mit der wohlklingenden Stimme, die der seines Vaters, Wards Stiefvaters, so ähnelte. "Ich wollte dich nicht um noch mehr bitten, aber dieses zusätzliche Studienjahr in Amerika wäre eine große Bereicherung für mich", fügte er ernst hinzu und erzählte dann begeistert von seinem Studium. Ward betrachtete ihn ruhig. Seine Augen waren nicht blau wie Ritchies und die seines Stiefvaters, sondern dunkelgrau genau wie die seines Vaters, den er bereits als Baby verloren hatte. Er war bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen, weil sein Arbeitgeber zu geizig gewesen war, um für die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen zu sorgen. Damals hatte man solche Unfälle noch nicht untersucht, und demzufolge hatte es auch im Ermessen des jeweiligen Arbeitgebers gelegen, ob die Verwandten eine Entschädigung erhielten oder nicht.
Seine, Wards, Mutter hatte überhaupt nichts bekommen. Nach dem Tod ihres Mannes musste sie das firmeneigene Reihenhaus räumen und wieder zu ihren Eltern ziehen, die im Norden Englands lebten. Seine Großmutter passte auf ihn auf, während seine Mutter ihren Lebensunterhalt mit Putzen verdiente. Im Rahmen ihres Putzjobs an seiner Schule, lernte sie Jahre später schließlich ihren zweiten Mann, Ritchies Vater, kennen. Sie sprach sehr oft mit ihm, Ward, über ihre Hoffnungen und Pläne und die Veränderungen, die auf sie beide zukommen würden, bevor sie den Heiratsantrag des liebenswürdigen Englischlehrers annahm. Keiner der beiden hatte damit gerechnet, noch ein gemeinsames Kind zu bekommen, und daher konnte er, Ward, nachvollziehen, warum sie so vernarrt in Ritchie waren. Ritchie war genauso wie sein Vater - nett und sanftmütig, ein weltfremder Wissenschaftler, der leicht auf andere hereinfiel, weil Eigenschaften wie Habgier und Egoismus ihm fremd waren. Er, Ward, hatte es der Liebe und Fürsorge seines Stiefvaters zu verdanken, dass er die höhere Schule besucht und anschließend seine eigene Firma gegründet hatte. Er war, wie man so sagte, ein Selfmademan. Er hatte es bis zum Millionär gebracht und konnte sich jeden Luxus leisten, da die Telekommunikationsfirma, die er aufgebaut hatte, von einem großen amerikanischen Unternehmen aufgekauft worden war. Doch er bevorzugte einen schlichten, fast klösterlichen Lebensstil. Er war zweiundvierzig, groß und sehr kräftig gebaut, denn er kam aus einer Familie, deren Mitglieder seit Generationen Arbeiter gewesen waren. Sein imposantes Erscheinungsbild wirkte ausgesprochen furchteinflößend auf andere Männer - und deren Frauen...
Wütend runzelte Ward die Stirn, so dass sein Halbbruder erschrocken zusammenzuckte. Erst in der vergangenen Woche hatte er der Frau eines Kollegen unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er an ihrem eindeutigen Angebot nicht interessiert wäre, Seine Mutter war genauso, wie eine Frau sein sollte - zärtlich, liebevoll, sanft, loyal und vertrauenswürdig. Zu seinem Leidwesen hatte er allerdings feststellen müssen, dass solche Frauen selten waren. Das hatte seine Frau, die er mit zweiundzwanzig geheiratet hatte, bewiesen. Sie hatte ihn noch vor dem ersten Hochzeitstag verlassen, weil sie sich, wie sie erklärte, einen Mann wünschte, der das Leben genoss, Zeit für sie hatte und ihr Geschenke machte. Zu dem Zeitpunkt war er genauso frustriert gewesen wie sie, denn er war es leid, nach der Arbeit in ein leeres Haus zu kommen und in den Küchenschränken nach etwas Essbarem suchen zu müssen. Am meisten war er jedoch ihrer überdrüssig gewesen, weil sie immer nur nahm und nie gab. Dennoch verschaffte es ihm keine Genugtuung, als ihr zweiter Ehemann fünf Jahre später zu ihm kam und ihn um einen Job bat. Vor allem aus Empörung hatte er ihm nicht nur einen Job gegeben, sondern den beiden auch ein "Darlehen" gewährt, das sie nicht zurückzahlen mussten. Er erinnerte sich noch genau an den habgierigen Ausdruck in ihren Augen, als seine Exfrau sich damals in seinem neuen Haus umgesehen hatte. Daher war es wohl auch nicht weiter verwunderlich, dass sie eines Tages hinter dem Rücken ihres Mannes zu ihm gekommen war und behauptet hatte, sie hätte ihn die ganze Zeit geliebt und es wäre ein großer Fehler gewesen, sich von ihm scheiden zu lassen. Doch selbst wenn er sie noch geliebt hätte, was zum Glück nicht der Fall gewesen war, hätte er sie nicht zurückhaben
wollen, denn Loyalität und Ehrlichkeit waren ihm wichtiger als alles andere. Er hatte daher erklärt, dass es aus wäre und er auch nichts mehr für sie empfinden würde. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen und ein Leben ohne Frauen bevorzugt. Das bedeutete allerdings nicht, dass er keine Probleme hatte. In diesem Moment wurde er mit einem seiner Probleme konfrontiert. Als Ritchie einen Studienplatz in Oxford bekommen hatte, hatte er, Ward, sich gern bereit erklärt, ihm das Studium zu finanzieren. Schließlich war Ritchie sein Halbbruder, und er, Ward, konnte nicht vergessen, wie sein Stiefvater ihn damals unterstützt hatte. Seine - ihre - Eltern waren mittlerweile im Ruhestand, und sein Stiefvater, der fünfzehn Jahre älter war als seine Mutter, hatte ein schwaches Herz und durfte sich deshalb nicht aufregen. Und das bedeutete ... "Warum, zum Teufel, hast du mir nicht gesagt, dass du mehr Geld brauchst?" brauste Ward auf. "Weil du mir schon so viel gegeben hattest", wiederholte Ritchie. "Ich konnte einfach nicht..." "Aber dein gesunder Menschenverstand muss dir doch gesagt haben, dass das Ganze ein ausgemachter Schwindel ist. Niemand zahlt so hohe Zinsen oder macht so einen Gewinn. Warum, glaubst du, haben sie Kleinanzeigen aufgegeben?" "Für mich war es die Lösung meiner Probleme", erwiderte Ritchie. "Ich hatte die Fünftausend, die du mir überwiesen hattest, und dachte, wenn ich in einigen Monaten das Doppelte herausbekomme und außerdem einen Ferienjob finde ..." Er verstummte unbehaglich, als Ward den Kopf schüttelte und die Augen verdrehte, "Es klang so vielversprechend", beharrte Ritchie. "Ich hatte ja keine Ahnung..."
"Das kann man wohl sagen", bestätigte Ward grimmig. "Du hättest gleich zu mir kommen sollen ... Erzähl mir alles noch mal." Ritchie atmete tief durch. "In einem dieser kostenlosen Nachrichtenblätter, die überall ausliegen, war eine Kleinanzeige. Ich habe das Blatt mitgenommen. Wo, weiß ich nicht mehr. In der Anzeige stand, wer eine hohe Rendite haben möchte, soll an das angegebene Postfach schreiben und nähere Informationen anfordern." "Ein Postfach." Wieder verdrehte Ward die Augen. "Also hast du, der du den gesunden Menschenverstand eines Lemmings hast, dorthin geschrieben." "Es hörte sich so gut an", verteidigte Ritchie sich wieder und sah ihn verletzt an. "Und ich dachte ... Na ja, Dad redet ständig davon, wie glücklich ich mich schätzen kann, dass du mir hilfst und mich finanziell unterstützt, weil sie mir das Studium nie hätten finanzieren können, und dass ich nicht zu arbeiten brauche und mich so ganz aufs Lernen konzentrieren kann. Manchmal vermittelt es mir das Gefühl, dass A. Na ja, ich mag gar nicht daran denken, dass Dad mich vielleicht mit dir vergleicht und ich dabei schlecht wegkomme und dass meine Kommilitonen mich für verwöhnt halten, weil ich auf deine Kosten lebe." Ritchie hatte das Gefühl, dass er bei einem Vergleich schlecht wegkam? Wieder runzelte Ward die Stirn. Er bewunderte und respektierte seinen Stiefvater, und er liebte ihn auch, aber er war sich immer bewusst gewesen, dass er seinen Idealen nicht entsprach, weil sein Stiefvater so liebenswürdig und alles andere als materialistisch war. "Jedenfalls", fuhr Ritchie fort, "hat mich dieser Typ dann angerufen und mir gesagt, was ich tun muss. Ich sollte ihm einen Scheck über fünftausend Pfund schicken und darüber eine Quittung und eine monatliche Abrechnung über mein aktuelles
Guthaben bekommen. Außerdem wollte er mir eine Aufstellung darüber schicken, wie er mein Geld investiert hatte." "Und hat er dir zufällig auch gesagt, warum er dir eine so unrealistische Rendite in Aussicht stellen konnte?" erkundigte Ward sich trügerisch ruhig. "Er sagte, es läge daran, dass er das Geld direkt investieren würde und man auf Grund der Entwicklung einiger Märkte in Übersee ein Vermögen machen könnte, wenn man etwas davon versteht..." "Soso. Und aus reiner Großzügigkeit wollte er jeden daran teilhaben lassen, der auf seine Anzeige antwortete. War's das?" "Ich... ich habe seine Beweggründe nicht hinterfragt", erklärte Ritchie so würdevoll wie möglich. Eine verräterische Röte überzog seine Wangen. "Ich weiß, ich hätte es tun sollen, aber Professor Cummins hatte mir gerade gesagt, dass ich viel bessere Aussichten auf ein Forschungsstipendium habe, wenn ich ein Jahr in den USA studiere und eine Zusatzqualifikation erwerbe. Er hatte mich gefragt, ob ich für eine Vorlesungsreihe recherchieren könnte, die er in den USA halten wollte. Ich habe keine Ahnung, wie er auf mich gekommen ist. Meine Noten ..." "Er hat dich aus demselben Grund ausgesucht, aus dem unser einfallsreicher Unternehmer und Betrüger dich ausgesucht hat, Ritchie", bemerkte Ward sarkastisch. "Du hast also die fünftausend Pfund überwiesen. Und was dann?" "In den ersten beiden Monaten ging alles gut. Aus den Abrechnungen ging hervor, dass die Rendite sehr hoch war. Im dritten Monat habe ich dann keine Abrechnung bekommen, und als ich die Nummer angerufen habe, die angegeben war, hieß es ,Kein Anschluss unter dieser Nummer'." Unter anderen Umständen hätte Ward, der viel Sinn für Humor hatte, über Ritchies Naivität gelacht, aber das hier war alles andere als komisch. Ritchie hatte fünftausend Pfund an einen der raffiniertesten Betrüger verloren, von denen er, Ward,
je gehört hatte, und er war im Lauf seines Lebens vielen Betrügern begegnet. Allerdings war er noch nie auf einen hereingefallen. "Was für eine Überraschung", bemerkte er nur. Ritchie sah ihn gequält an. "Ich weiß. Ich weiß, was du denkst, aber ... Na ja, zuerst dachte ich, dass es sich um ein Versehen handelt. Ich habe an die Adresse auf den Abrechnungen geschrieben, aber der Brief kam mit dem Vermerk ,Empfänger unbekannt' zurück, und seitdem..." "Seitdem hat dein freundlicher Vermögensverwalter bewiesen, dass er nicht nur Geld wegzaubern kann, stimmt's?" meinte Ward trocken. "Es tut mir wirklich Leid, Ward, aber ich ... ich musste es dir sagen ... Ich habe nicht einmal mehr genug Geld, um meinen Lebensunterhalt in diesem Trimester zu bestreiten, ganz zu schweigen von dem nächsten, und ..." "Wie viel brauchst du, um deinen Lebensunterhalt und die Studiengebühren für den Rest des Jahres bestreiten zu können?" fragte Ward rundheraus. Widerstrebend sagte Ritchie es ihm. "Und wie viel brauchst du für das Jahr in den USA? Und nenn mir bitte alle kosten und nicht irgendeine aus der Luft gegriffene, viel zu niedrige Summe, weil du zu stolz bist." Wieder nannte Ritchie die Summe, die er benötigte, diesmal noch widerstrebender. "Also gut." Ward öffnete eine Schreibtischschublade, nahm sein Scheckbuch heraus und stellte einen Scheck über einen Betrag aus, der Ritchie zusätzlichen Spielraum ließ. Als er ihm den Scheck überreichte, lief Ritchie rot an. "Nein, Ward, das kann ich nicht annehmen", protestierte er. "Das ist viel zu viel. Ich ..." "Nimm das Geld", fiel Ward ihm ins Wort. Dann warf er einen Blick auf seine Armbanduhr und fügte lässig hinzu: "Übrigens habe ich beschlossen, dir einen neuen Wagen zu
kaufen. Du kannst die Schlüssel jetzt haben und deinen alten hier lassen. Ich lasse ihn wegbringen." "Einen neuen Wagen? Ich brauche keinen. Der Mini reicht mir völlig", entgegnete Ritchie. "Dir vielleicht, aber dein Vater wird nicht jünger. Ich weiß, wie sehr er sich auf deine Besuche freut und welche Sorgen er sich deinetwegen macht, und das ist nicht gut für ihn. Es Wird ihm gleich besser gehen, wenn er weiß, dass du einen sicheren Wagen fährst..." Kopfschüttelnd nahm Ritchie die Wagenschlüssel entgegen, die Ward ihm reichte. Es hatte keinen Sinn, mit Ward zu diskutieren. Überhaupt keinen. Als er sich lächelnd bei ihm bedankte, wünschte er nicht zum ersten Mal, er wäre so wie Ward. Als Ward ihn im letzten Trimester in Oxford besucht hatte, hatte eine seiner Kommilitoninnen - das hübscheste und begehrteste Mädchen auf dem ganzen Campus - ihm anvertraut, wie sexy sie Ward fände. Er, Ritchie, hatte gewusst, was sie meinte. Ward war sehr männlich und strählte eine Energie und eine Macht aus, die ihn von anderen Männern abhoben. Er besaß Führungsqualitäten und hatte von seinen Vorfahren das Charisma geerbt, das er, Ritchie, niemals besitzen würde, egal, welche akademischen Grade er auch erlangte. Nachdem Ritchie gegangen war, nahm Ward den Ordner in die Hand, den er ihm gegeben hatte und der die Unterlagen enthielt. Stirnrunzelnd las Ward sie. Er würde die Angaben natürlich überprüfen» doch ihm war bereits jetzt klar, dass die Aktien entweder frei erfunden oder niemals gekauft worden waren. So liefen Betrügereien dieser Art ab. Eigentlich hätte man annehmen sollen, dass ein intelligenter junger Mann wie Ritchie den Schwindel sofort durchschaut hätte. Schließlich hatte man in den letzten Jahren in der Fachpresse oft genug vor Anlagebetrug gewarnt. Andererseits
studierte Ritchie Altphilologie und hatte vermutlich noch nie in seinem Leben den Wirtschaftsteil der Zeitung gelesen. Sein Vater war ähnlich weltfremd und war in der großen Schule, an der er unterrichtet hatte, hoffnungslos fehl am Platz gewesen. Er, Ward, war auch auf diese Schule gegangen, und er hatte verstanden, was seine Mutter meinte, als sie ihm erzählte, dass sie Alfreds Heiratsantrag unter anderem deswegen annehmen wolle, weil sie das Gefühl habe, dass sie sich um Alfred kümmern müsse. Er erinnerte sich noch gut daran, wie einige seiner Mitschüler ihn geärgert hatten, weil ihr "Weichei" von Englischlehrer sein Stiefvater geworden war. Doch er war bereits damals sehr groß und kräftig gewesen und hatte sich entweder verbal oder körperlich zur Wehr gesetzt. Er war in einer Umgebung aufgewachsen, in der man stark sein musste, um zu überleben, und davon hatte er gerade als Geschäftsmann profitiert. Doch diese schwere Zeit war längst vorbei. Jetzt brauchte er nicht mehr zu arbeiten. Ward stand auf und ging zum Fenster, um nach draußen zu blicken. Unter ihm erstreckte sich das Moor von Yorkshire bis zur Stadt. Viele Leute fanden das Herrenhaus, das er sich gekauft hatte, viel zu düster und trostlos, doch er tat diese Kritik stets mit einem Schulterzucken ab. Es passte zu ihm. Vielleicht war er ja ein trostloser Mensch. Jedenfalls war er ein Mensch, den man besser nicht hinterging. Ward setzte sich wieder an seinen Schreibtisch, um die Abrechnung zu betrachten. Er vermutete, dass J. Cox und A. Trewayne, wer immer sie auch sein mochten, längst auf und davon waren. Doch sein Dickkopf und sein Gerechtigkeitssinn ließen es nicht zu, dass er nicht zumindest versuchte, die beiden zur Rechenschaft zu ziehen. Nun, da er seine Firma verkauft hatte, konnte er frei über seine Zeit verfügen. Allerdings hatte er natürlich gewisse Verpflichtungen. So besuchte er zum Beispiel regelmäßig seine
Eltern, die mittlerweile in dem Kurort Turnbridge Wells lebten. Außerdem engagierte er sich für das Projekt für Arbeitslose im Ort, das er gegründet und finanziert hatte. Es bot Schulabgängern die Möglichkeit, die Grundlagen der verschiedensten Handwerksberufe zu erlernen, und gab ehemaligen Arbeitslosen eine neue Aufgabe. Diesem Projekt widmete er einen großen Teil seiner Zeit, und Drückeberger hatten bei ihm keine Chance. Alle, die in das Projekt aufgenommen wurden, ob als Lehrer oder als Schüler, mussten hart arbeiten. Dabei hatte er im Hinterkopf die Idee, eines Tages vielleicht ein Team aus den besten seiner Auszubildenden zusammenzustellen, das sowohl die anderen unterstützte als auch eigenständig arbeitete. "Sie können nicht allen Schulabgängern in Yorkshire die Ausbildung finanzieren", hatte sein Steuerberater eingewandt, als er, Ward, ihm damals seine Pläne unterbreitet hatte. Doch er hatte den Kopf geschüttelt und erwidert: "Das vielleicht nicht, aber wenigstens kann ich einigen von ihnen eine Chance geben." "Und was ist mit denen, die Ihre Großzügigkeit nur ausnutzen?" hatte sein Steuerberater gefragt. Er, Ward, hatte lediglich mit den Schultern gezuckt und ihm dadurch zu verstehen gegeben, dass er es schon verkraften würde. Doch falls irgend jemand es gewagt hätte, zu behaupten, er wäre in seinem tiefsten Inneren ein Idealist, ein Romantiker, der in jedem nur das Beste sehen und jedem helfen wollte, hätte er, Ward, das weit von sich gewiesen. Ward runzelte die Stirn, als er die Unterlagen durchging. Dann suchte er aus seinem Adressbuch die Nummer der überaus diskreten und professionellen Firma heraus, deren Dienste er in Anspruch nahm, wenn er Erkundigungen über jemanden einziehen wollte. Als Millionär und Menschenfreund wurde er oft um finanzielle Unterstützung gebeten, und so großzügig er
war, vergewisserte er sich doch immer, dass die betreffenden Personen diese Hilfe auch tatsächlich verdienten. Während Ward darauf wartete, dass jemand abnahm, fiel sein Blick auf einige Unterlagen auf seinem Schreibtisch. Darauf stand sein voller Name, der ihm früher so viele Schwierigkeiten bereitet hatte. Während seiner Kindheit und Teenagerzeit hatte es oft nur eine Möglichkeit gegeben, die Spötter davon zu überzeugen, dass der Name Hereward ihn nicht automatisch zum Opfer oder Prügelknaben der Schläger machte. Hereward. "Warum?" hatte er seine Mutter einmal aufgewühlt gefragt. "Weil ich den Namen mag", hatte sie erwidert und ihn liebevoll angelächelt. "Ich dachte, er passt zu dir und hebt dich von der Masse ab ..." "Das tut er auch", hatte er bestätigt. Hereward Hunter. Vielleicht hatte seine Mutter dieselben Beweggründe gehabt wie der Vater in Johnny Cashs bekanntem Song "A Boy Named Sue", der seine Familie verlassen hatte. Sie hatte gewusst, dass es ihn stark machen würde. Und das war er, jedenfalls stark genug, um dafür zu sorgen, dass J. Cox und A. Trewayne jeden Penny zurückzahlen würden, den sie seinem naiven Halbbruder aus der Tasche gezogen hatten. Das Sonnenlicht, das durch das Fenster seines Arbeitszimmers fiel, ließ sein dichtes dunkelbraunes Haar schimmern und erhellte seine markanten Züge. Seine Augen waren so kalt und dunkel wie die Nordsee an einem trüben Wintertag, als Ward der jungen Frau, die sich meldete, sagte, wen er sprechen wolle. O ja, J. Cox und A. Trewayne würden es ganz sicher bereuen, dass sie seinen Halbbruder betrogen hatten. Er hätte sie natürlich vor Gericht bringen können, doch ihm schwebte eine viel wirksamere Strafe vor.
Wie die Schläger, die ihn damals in der Schule tyrannisiert hatten, rechneten sie mit der Verletzlichkeit und der Angst ihrer Opfer, sich in aller Öffentlichkeit zu blamieren. Daher wurden ihre Machenschaften auch nicht aufgedeckt. Doch sie würden bald feststellen, dass sie den größten Fehler ihres Lebens begangen hatten, als sie Ritchie um sein Geld erleichtert hatten.
2. KAPITEL "Anna! Hallo! Wie geht's dir?" Als Anna Trewayne Dees fröhliche Stimme am Telefon hörte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Wenn sie ihr die Neuigkeit mitgeteilt hatte, die sie ihr mitteilen musste, würde Dee nicht mehr so fröhlich klingen. Unglücklich fragte sich Anna, ob sie drei - Dee, Kelly und sie - auch dann noch beschlossen hätten, den Mann zur Rechenschaft zu ziehen, der beinah das Leben ihrer Patentochter Beth zerstört hätte, wenn sie geahnt hätten, wie die Dinge sich entwickeln würden. Kelly hatte als Erste den Kampf mit Julian Cox aufgenommen, um ihn als den Lügner und Betrüger zu entlarven, der er war. Doch obwohl Dee sie dabei tatkräftig unterstützt hatte, war es Kelly nicht gelungen, ihren Plan zu Ende zu führen. Sie hatte Julian den Eindruck vermittelt, dass sie eine große Summe geerbt hatte, und er hatte sich auch tatsächlich an sie herangemacht, obwohl er eine Freundin hatte. Dann hatte Kelly sich allerdings in Brough verliebt und war nicht mehr in der Lage gewesen, ihre Rolle weiterzuspielen. Daraufhin verkündete Dee, dass nun Stufe zwei des Planes in Kraft treten würde. Sie, Anna, sollte Julian um Rat fragen, wie sie ihr Geld am Besten anlegen könnte. Also traf sie sich mit ihm und erzählte ihm, sie habe eine größere Summe, die sie möglichst gewinnbringend investieren wolle.
Dee hatte ihr fünfzigtausend Pfund zur Verfügung gestellt und ihr genaue Anweisungen erteilt. So spielte sie, Anna, die Naive, während Julian ihr erzählte, er habe genau das Richtige für sie und sie müsse ihm nur einen Scheck über die fünfzigtausend Pfund ausstellen. Dann könne sie sich beruhigt zurücklehnen. "Fünfzigtausend Pfund, Dee", sagte sie, als sie Dee von dem Gespräch berichtete. "Das ist eine Menge Geld ..." "Eigentlich nicht", hatte Dee erklärt und sie damit zum Schweigen gebracht. Sie war zwar erst dreißig und damit sieben Jahre jünger als sie, doch mit ihrem gewandten Auftreten vermittelte sie ihr oft das Gefühl, sie, Anna, wäre die jüngere von ihnen. Wir vier sind eigentlich sehr verschieden, überlegte Anna. Beth, mit vierundzwanzig genauso alt wie Kelly, war verträumt, liebenswürdig und gelassen, und genau diese Eigenschaften hatten sie vermutlich zu einer so leichten Beute für Julian Cox gemacht. Kelly, ihre Freundin, die zusammen mit Beth das nette kleine Porzellangeschäft hier in Rye-on-Averton führte, war viel lebhafter und impulsiver als sie. Brough und sie passten sehr gut zusammen. Dee war die Vermieterin der beiden, denn ihr gehörte das Gebäude, in dem der Laden und die Wohnung sich befanden. Kelly und Beth hatten dort zusammen gewohnt, bis Kelly Brough kennen gelernt hatte. Dees Vater war ein sehr angesehener Unternehmer gewesen und hatte sich in verschiedenen karitativen Organisationen im Ort engagiert und sein plötzlicher Tod hatte Dee veranlasst, das Studium abzubrechen und seine Firma weiterzuleiten. Sie war auch die treibende Kraft hinter ihrem gemeinsamen Racheplan gewesen, von dem Beth allerdings immer noch nichts wusste. "Wir werden es Beth nicht erzählen", hatte Dee sie informiert. "Es ist nicht nötig und könnte ihr sogar schaden,
zumal sie offenbar schon halbwegs über die Geschichte mit Julian hinweg ist." "Ja, das stimmt. Sie ist furchtbar aufgeregt, weil sie dieses Glas in Tschechien auf getrieben hat", hatte Kelly bestätigt, und sie, Anna, hatte sich sehr über die Neuigkeit gefreut und daher keine Einwände erhoben. Dee hatte Beth dazu überredet, eine Einkaufsreise nach Prag zu machen, nachdem Julian sich von ihr getrennt hatte. Nach ihrer Rückkehr hatte Beth sich mit einem Feuereifer und einer Zielstrebigkeit in die Arbeit gestürzt, die in krassem Gegensatz zu ihrer sonstigen verträumten Art standen. Vielleicht denkt sie, dass sie Geschäftsführerin werden muss, weil Kelly bald heiratet, überlegte Anna. Sie war die älteste im Quartett. Beth' Mutter war ihre Cousine und hatte sie damals gebeten, die Patenschaft für Beth zu übernehmen. Beide Familien lebten schon seit Generationen in Cornwall. Mit zweiundzwanzig hatte sie, Anna, ihre Jugendliebe Ralph Trewayne geheiratet. Sie waren sehr glücklich miteinander gewesen. Ralph war ein stiller, liebenswürdiger junger Mann gewesen, und sie hatten sehr zärtliche Gefühle füreinander gehegt. Leider hatten sie nie erfahren, was sich aus dieser Jugendliebe entwickelt hätte, denn Ralph war bei einem Segelunfall ums Leben gekommen. Sie waren nur kurze Zeit miteinander verheiratet gewesen, und nach Ralphs Tod war sie, Anna, hierher nach Rye-on-Averton gezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Es lag nicht am Meer, und der Fluss, der hindurchfloss, war nicht tief. Trotzdem hatte sie sich ein Haus außerhalb der Stadt gekauft, von dem aus man ihn nicht sehen konnte. Dee hatte sich einmal erstaunt darüber geäußert, als sie über das Thema sprachen. "Es ist wirklich sehr hübsch hier, Anna, aber die meisten Leute, die nach Rye-on-Averton ziehen, wollen unbedingt am Fluss wohnen, weil es die beste Lage ist."
Damals hatte sie, Anna, Dee noch nicht gut genug gekannt, um sich ihr anzuvertrauen. "Ich wohne gern hier", hatte sie daher lediglich erwidert. "Jedenfalls ist das Haus sehr gemütlich", hatte Dee erklärt. Da Ralph mehrere hohe Lebensversicherungen abgeschlossen hatte, ging es ihr, Anna, finanziell gut. Sie hatte nie das Bedürfnis verspürt, wieder zu heiraten. Auf eine gewisse Weise wäre es ihr wie ein Verrat erschienen - nicht an ihrer Liebe zu Ralph, die mittlerweile nur noch eine schwache Erinnerung war und ihr daher unwirklich erschien, sondern an Ralph selbst, weil er so jung hatte sterben müssen. Ja, in gewisser Weise fühlte sie sich schuldig, weil sie noch lebte und er nicht mehr. Sie war traurig darüber, dass sie keine Kinder hatte, doch sie lebte gern in Rye, denn das Leben in einer Kleinstadt war beschaulich und die Umgebung wunderschön. Sie wanderte gern und war Mitglied in einem Verein. Außerdem handarbeitete sie gern und arbeitete momentan an einem Gemeindeprojekt, einem Wandteppich, der die Geschichte der Stadt darstellte. Seit fünf Jahren war sie ehrenamtlich in der Altenpflege tätig, und durch ihre Freundschaft mit Dee war sie in verschiedene Komitees karitativer Organisationen gewählt worden. "Ich glaube nicht, dass ich von großem Nutzen sein werde", hatte sie protestiert, als Dee ihr vorgeschlagen hatte, einem der Komitees beizutreten. Da sie, Anna, in der Hinsicht eigentlich eher zurückhaltend war, hatte es sie selbst überrascht, wie schnell sich eine Freundschaft aus der Bekanntschaft mit Dee entwickelt hatte. Hinter Dees burschikoser Art verbarg sich jedoch eine Verletzlichkeit, die sie, Anna, anrührte. Sie mochte und respektierte Dee, zumal sie ihr dabei geholfen hatte, sich in die Gemeinde zu integrieren. "Unsinn", hatte Dee erwidert, als sie es ihr gesagt hatte. "Du unterschätzt dich." Und dann hatte sie sie ermuntert, sich für eine ehrenamtliche seelsorgerische Tätigkeit in der Gemeinde
ausbilden zu lassen. Sie, Anna, war selbst erstaunt darüber gewesen, wie sehr diese Arbeit ihr lag. Sie hatte ihre Katze und ihren Hund, ihren kleinen Freundeskreis, und alles in allem war sie mit ihrem Leben zufrieden. Es war zwar nicht besonders aufregend, aber Ralphs Tod hatte sie in so tiefe Verzweiflung gestürzt, dass sie Angst davor gehabt hatte, sich wieder zu verlieben. Bevor Julian Cox in ihr Leben und das ihrer Freundinnen getreten war, hatte sie geglaubt, sie wäre zufrieden. Doch nun war sie alles andere als zufrieden» denn sie hatte Angst davor, Dee die schlechten Neuigkeiten mitzuteilen. Schließlich wusste sie, wie empfindsam Dee in ihrem tiefsten Innern war. Anna atmete tief durch, bevor sie verkündete: "Dee, ich habe leider schlechte Neuigkeiten für dich. Es geht um Julian Cox und ... das Geld ... dein Geld ..." "Er hat doch keinen Rückzieher gemacht, oder?" erkundigte Dee sich scharf. "Ich dachte, er hätte angebissen." "Nein, er hat keinen Rückzieher gemacht, aber ..." Anna verstummte und räusperte sieh. Wie sollte sie es Dee bloß beibringen? "Er ist verschwunden, und er hat dein Geld mitgenommen, Dee", fügte sie schließlich hinzu. "Er ist was?" "Es tut mir Leid. Es ist meine Schuld..." begann Anna schuldbewusst, doch Dee ließ sie nicht ausreden. "Natürlich ist es nicht deine Schuld. Es war meine Idee ... Erzähl mir, was passiert ist, Anna." Anna atmete noch einmal tief durch. "Na ja, ich habe Julian erzählt, dass ich fünfzigtausend Pfund habe, die ich möglichst gewinnbringend investieren möchte. Er meinte, er hätte genau das Richtige für mich, und hat vorgeschlagen, das Ganze möglichst unbürokratisch zu regeln, weil es sich um eine Investition in Hongkong handelte. Je weniger Papierkram es gäbe, desto höher wäre der Profit, sagte er. Ich habe versucht, dich anzurufen, um dich um Rat zu fragen, aber ..."
"Ich war geschäftlich in London. Ich habe deine Nachricht bekommen, aber selbst wenn ich hier gewesen wäre, hätte es keinen Unterschied gemacht, weil ich dir sicherlich geraten hätte weiterzumachen." "Na ja, jedenfalls habe ich seinem Vorschlag zugestimmt und den Scheck ausgestellt. Ich dachte, der Scheck wäre Beweis genug, dass Julian das Geld bekommen hat. Er sagte, er würde sich wieder melden. Eigentlich wollte ich ihn nicht anrufen schließlich habe ich ihm den Scheck erst letzte Woche gegeben , aber dann habe ich Broughs Schwester Eve mit deinem Cousin Harry getroffen, und sie erzählte mir, sie hätte Julian am Flughafen gesehen. Offenbar ist er gerade aus einem Taxi gestiegen, als sie in eins eingestiegen sind. Eve meint, er hätte sie nicht gesehen und... Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, und deswegen habe ich Julian angerufen. Doch sein Telefon war abgemeldet, und als ich zu ihm gefahren bin, stand dort, seine Wohnung wäre zu vermieten. Dann habe ich es bei einer Bank versucht und die Auskunft bekommen, man wüsste nichts über seinen Verbleib. Brough hat allerdings Nachforschungen angestellt und herausgefunden; dass Julian sein Konto aufgelöst hat. Niemand scheint zu wissen, wo er sich aufhält und wann er zurückkommt, und ich habe große Angst, Dee ..." "Dass er überhaupt nicht mehr zurückkommt", beendete Dee grimmig den Satz für sie. "Wenn man bedenkt, wie prekär seine finanzielle Situation ist, hast du wahrscheinlich Recht. Vielleicht hat er beschlossen, sein schmutziges Spiel woanders weiterzutreiben." Anna biss sich auf die Lippe. "Es tut mir so Leid, Dee ..." "Es ist nicht deine Schuld", versicherte Dee ihr wieder. "Höchstens meine." "Was sollen wir jetzt machen?" fragte Anna besorgt.
"Du wirst aufhören, dir den Kopf zu zerbrechen", sagte Dee sanft. "Und ich ... ich bin mir noch nicht sicher, Anna. Die Vorstellung, dass er womöglich ungeschoren davonkommt, bringt mich auf die Palme. Der Kerl ist kriminell, aber es geht nicht nur ums Geld..." Sie verstummte und fuhr dann mit bebender Stimme fort: "Es ist der Schaden, den er anderen Menschen zugefügt hat, der Kummer, den er ihnen bereitet hat..." "Beth scheint jedenfalls fast darüber hinweg zu sein", tröstete Beth sie. "Ja, aber es ist nicht nur..." Dee verstummte unvermittelt, und nicht zum ersten Mal hatte Anna den Eindruck, dass sehr viel mehr hinter Dees Plan, Julian Cox zu entlarven, steckte als der Kummer, den er Beth gemacht hatte. Allerdings wollte sie nicht nachhaken, denn falls Dee sich ihr anvertrauen wollte, würde sie es auch irgendwann tun. "Vielleicht war Dee mal mit Julian liiert", hatte Kelly gesagt, als sie einmal mit ihr über das Thema sprach. "Vielleicht hat er sie genauso fallen lassen wie Beth." "Nein, niemals. Dee würde sich niemals zu einem Mann wie Julian hingezogen fühlen", hatte sie, Anna, entgegnet. "Nein, du hast Recht", hatte Kelly eingeräumt. "Aber irgendetwas muss zwischen den beiden gewesen sein." "Dee, ich habe so ein schlechtes Gewissen wegen deines Geldes", sagte Anna unglücklich. "Ich hätte merken müssen ..." "Du sollst dich nicht schuldig fühlen, Anna. Eigentlich..." Dee machte eine Pause und fuhr dann leise fort: "Eigentlich hatte ich damit gerechnet - allerdings nicht damit, dass er es so schnell tun würde. Seine Lage muss noch verzweifelter gewesen sein, als ich dachte. In Rye kann er sich jetzt jedenfalls nicht mehr blicken lassen. Was hast du am Wochenende vor?" wechselte sie dann das Thema. "Nichts Besonderes. Beth fährt nach Cornwall zu ihren Eltern, und Kelly und Brough fahren auch weg. Und du?"
"Meiner Tante in Northumberland geht es wieder schlechter. Deswegen will ich sie besuchen. Ihr Arzt möchte, dass sie sich operieren lässt, aber sie hat Angst davor, dass sie dann nicht wieder auf die Beine kommt. Also werde ich versuchen, sie zur Vernunft zu bringen." "Glaubst du, wir werden Julian finden, Dee?" "Ich weiß nicht", erwiderte Dee ernst. "So wie ich ihn kenne, wird er ins nichteuropäische Ausland geflüchtet sein, und wahrscheinlich hat er nicht nur unser Geld mitgenommen." Noch eine ganze Weile nachdem sie sich von Dee verabschiedet und aufgelegt hatte, stand Anna schweigend in ihrem Wintergarten, ohne auf das entrüstete Miauen ihres getigerten Katers Whittaker zu achten, der ihr um die Beine strich. Ihre Cousine, Beth' Mutter, hatte ihr vorgeschlagen, doch mal wieder nach Cornwall zu kommen. Vielleicht sollte ich hinfahren, überlegte Anna. Inzwischen würde sie es sicher verkraften, an den Ort zurückzukehren, den sie einmal so geliebt hatte und an dem Ralph ums Leben gekommen war. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es gewesen war, ihn zu lieben und nachts in seinen Armen zu liegen. Jene Nächte schienen einem anderen Leben anzugehören, einer anderen Anna. Nein, es sprach nichts dagegen, wieder einmal nach Cornwall zu fahren. Sie hatte es dem Meer schon vor langer Zeit verziehen, dass es ihr die große Liebe genommen hatte. Aber hatte sie es sich selbst auch verziehen, dass sie ohne Ralph weitergelebt hatte? Auch wenn sie sein Bild nicht mehr vor ihrem geistigen Auge heraufbeschwören konnte, erinnerte sie sich noch genau an den gequälten und trotzigen Ausdruck in den Augen seiner Mutter am Tag seiner Beerdigung. Er hatte ihr bewiesen, wie zornig seine Mutter darüber war, dass sie, Anna, noch lebte, während ihr geliebter Sohn tot war, und es hatte sie sehr traurig gemacht
und starke Schuldgefühle bei ihr hervorgerufen. Nun allerdings resultierten ihre Schuldgefühle aus der Tatsache, dass sie sich kaum noch an Ralph und ihre Liebe zueinander erinnern konnte. Sie hatte ihn geliebt, ja, aber es war die Liebe eines jungen Mädchens zu einem Jungen gewesen. Jetzt war sie eine Frau, und offenbar verleugnete sie ihre natürlichen Bedürfnisse, denn sie wachte nachts oft auf und verspürte eine verzehrende Sehnsucht. Anna atmete scharf ein. Sie wusste, dass es mit ihrer Ausbildung zur Seelsorgerin zusammenhing, dass all diese ungewohnten und unangenehmen Gefühle an die Oberfläche kamen, doch das machte es nicht leichter. Als sie beobachtet hatte, wie Brough seine Verlobte Kelly küsste, hatte sie vor Neid einen Stich verspürt. Nicht weil Brough Kelly liebte, denn sosehr sie ihn auch mochte, war er gar nicht ihr Typ. Nein, ihr war klar geworden, dass sie ihre Weiblichkeit, ihre Sexualität nicht ausleben konnte. Aber was hatte das zu bedeuten? Dass sie zu der sprichwörtlichen alten Jungfer wurde? Bei der Vorstellung daran verspannte Anna sich und hob trotzig das Kinn. Das war sie auf gar keinen Fall! Da sie noch immer nicht auf die Annäherungsversuche ihres Katers reagierte, stolzierte dieser nun entrüstet von dannen. Sie blickte weiter aus dem Fenster, und ihre blaugrauen Augen füllten sich mit Tränen. Mit siebenunddreißig war sie noch genauso rank und schlank wie damals mit achtzehn, und ihr dunkelblondes Haar war noch genauso seidig. Allerdings trug sie es jetzt nicht mehr lang, sondern schulterlang. Ralph hatte immer die Finger hindurchgleiten lassen, bevor er sie geküsst hatte. Anna erschauerte. Was war bloß mit ihr los? Seit sie Witwe war, hatte sie viele Männer kennen gelernt - nette Männer, gute Männer -, sich jedoch von keinem von ihnen körperlich angezogen gefühlt.
Daher war es umso seltsamer, dass sie plötzlich dieses körperliche Verlangen verspürte, obwohl ihr Verstand sich dagegen wehrte, diese jugendliche Sinnlichkeit wieder aufleben zu lassen. "Ich komme ja schon", sagte sie, als Whittakers vorwurfsvolles Miauen sie aus ihren Gedanken riss.
3. KAPITEL Fröhlich vor sich hin summend, warf Ward einen Blick auf das letzte Schild vor seinem Ziel Rye-on-Averton, Es schien ein typisches mittelenglisches Städtchen mit respektablen Bürgern zu sein, doch zumindest einer der Bürger war alles andere als respektabel. Von seinen Informanten hatte Ward die Auskunft erhalten, dass Julian Cox das Land verlassen hatte und spurlos verschwunden war, seine Partnerin Anna Trewayne jedoch in der Kleinstadt Rye lebte. Er hatte sein Glück kaum fassen können, zumal man ihm nicht nur die Adresse und Telefonnummer von Mrs. Trewayne gegeben, sondern viele zusätzliche Informationen geliefert hatte. Sie war verwitwet, kinderlos und allem Anschein nach eine achtbare Frau. Er, Ward, wusste es natürlich besser. Er konnte sie sich lebhaft vorstellen. Sie war Ende dreißig und versuchte sicher krampfhaft, ihre Jugendlichkeit zu bewahren. Vermutlich gab sie sich charmant, um leichtgläubige Männer um ihr Geld zu bringen. Ihr Make-up war zu aufdringlich, und ihre Röcke waren zu kurz. Sie hatte scharfe Augen, ein lebhaftes Interesse am Konto eines Mannes und natürlich Geschäftssinn - allerdings offenbar nicht genug Geschäftssinn, um wie ihr ehemaliger Partner das Weite zu suchen, solange es noch ging. Vielleicht plante sie sogar, allein weiterzumachen. Vielleicht war er ein Chauvi, aber aus irgendeinem Grund verabscheute er sie noch mehr als ihren Partner. Sie war eine
habgierige, herzlose Frau, und für Frauen wie sie hatte er noch nie etwas übrig gehabt. Seine Exfrau war schließlich genauso gewesen. Ward verringerte die Geschwindigkeit und lenkte seinen PSstarken Mercedes von der Umgehungsstraße in Richtung Stadt. Rye-on-Averton lag in einem schönen grünen Tal und wirkte richtig idyllisch. Im Geiste verglich er es mit dem heruntergekommenen Viertel, in dem er aufgewachsen war, und verzog das Gesicht. Hier standen keine vorzeitig gealterten arbeitslosen Männer an den Ecken, streunten keine Jugendgangs, die keine Perspektive hatten, durch die Straßen. Als Ward einen Parkstreifen am Flussufer entdeckte, fuhr er darauf, um einen Blick auf den Stadtplan zu werfen. Als er den Motor ausschaltete, merkte er, dass er Spannungskopfschmerzen bekam. Er nahm den Stadtplan vom Beifahrersitz, und wenige Sekunden später zeigte er mit dem Finger auf die Straße, die er gesucht hatte. Anna Trewayne wohnte etwas außerhalb der Stadt. Ihr Haus war offenbar etwas einsam gelegen, aber eine Frau wie sie konnte natürlich keine neugierigen Nachbarn gebrauchen. Als er sich wieder in den Verkehr einfädelte, war seine Miene finster. Anna war im Garten, als sie einen Wagen auf dem Kiesweg vorfahren hörte. Sie stellte den Korb ab, den sie gerade mit Blumen füllte, und runzelte die Stirn. Sie erwartete niemanden und kannte weder den Wagen noch dessen Fahrer. Da sie vermutete, dass der Mann klingeln würde, wandte sie sich ab, um durch die offen stehende Tür des Wintergartens ins Haus zu gehen. Doch der Mann hatte sie offenbar aus den Augenwinkeln gesehen, denn er kam auf sie zugeeilt und rief: "Einen Moment bitte, Mrs. Trewayne. Ich möchte mit Ihnen reden."
Sofort geriet Anna in Panik, denn sie fühlte sich von ihm bedroht. Sie begann zu laufen, aber der Mann holte sie genau in dem Augenblick ein, als sie die Tür zum Wintergarten erreichte. Mit eisernem Griff umfasste er ihr Handgelenk, so dass sie beinah zusammengezuckt wäre. "Lassen Sie mich los ... Ich ... ich habe einen Hund ..." sagte sie, weil es das Erste war, was ihr einfiel. Doch gerade als er seinen Griff lockerte, kam Missie um die Ecke getrottet. Schwanzwedelnd lief sie auf ihn zu. "Das sehe ich", meinte der Fremde spöttisch und hob die andere Hand. Anna reagierte sofort; denn die Angst um ihren kleinen Hund überwog die Angst um sich selbst. "Wagen Sie es ja nicht, Missie wehzutun", fuhr sie ihn an und streckte die freie Hand nach Missie aus. Die kleine Hündin, ein weißes Fellbündel, hatte ursprünglich einer Familie gehört, die sie als Welpen gekauft, aber bald darauf wieder weggegeben hatte, weil sie mit ihren scharfen Zähnen zu viel Schaden im Haus angerichtet hatte. Anna hatte sich ihrer angenommen und sie erzogen. Sie hatte Missie ins Herz geschlossen, und diese liebte sie über alles. Ward runzelte erstaunt die Stirn. Seltsam, dass eine Frau wie sie nicht an sich dachte, sondern ihren Hund beschützte. Nicht, dass er vorgehabt hatte, Missie wehzutun, was diese auch zu spüren schien. Ohne auf die Bemühungen ihres Frauchens, sie wegzuscheuchen, zu achten, schnüffelte sie an seinen Schuhen. Als Ward die Hand ausstreckte, sprang sie schwanzwedelnd an ihm hoch und leckte daran. "Ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie von mir wollen", begann Anna nervös, "aber ..." "Aber Sie kennen Julian Cox, stimmt's?" warf Ward leise ein.
"Julian." Sie wurde aschfahl. Hatte Julian diesen Mann geschickt, um noch mehr Geld von ihr zu verlangen? War er ihnen vielleicht auf die Schliche gekommen? Als er sah, wie Anna Trewayne blass wurde, verspürte Ward ein beunruhigend unbekanntes - und unerwünschtes - Gefühl. Sicher, sie sah vielleicht nicht so aus, wie er erwartet hatte. Sie trug einen wadenlangen Rock, und was ihr Make-up betraf... Sie war doch geschminkt, oder? Keine Frau ihres Alters konnte einen Mund haben, der von Natur aus so verlockend aussah, oder? Und ihr Haar ist bestimmt gefärbt, dachte er triumphierend. Auch ihre . gespielte Angst konnte ihn nicht täuschen. "Lügen Sie mich nicht an", sagte er streng. "Ich weiß, dass Sie ihn kennen und was Sie beide getan haben ..." "Wir ... b... beide?" wiederholte Anna stockend. "Ich ..." "Ich kann es beweisen." Er ließ ihr Handgelenk los und griff in die Innentasche seiner Anzugjacke. Während sie sich das schmerzende Handgelenk rieb, überlegte Anna, ob sie doch in den Wintergarten eilen und dem Fremden die Tür vor der Nase zuknallen sollte. Doch ein flüchtiger Blick in seine Richtung sagte ihr, dass es zu riskant gewesen wäre. Er war ... sehr groß, mindestens einsfünfundachtzig und so... kräftig gebaut. Sie spürte, wie sie errötete, als sie ihn betrachtete und dabei sah, wie muskulös er sein musste. Sein Haar war dicht und dunkelbraun, und die Spitzen schimmerten golden im Sonnenlicht. "Das sind Sie doch, oder?" Er hielt ihr ein Blatt Papier unter die Nase und deutete mit dem Finger auf einen Namen, der darauf stand. Verblüfft stellte sie fest, dass es sich um ihren Namen handelte. "Ja. Ja, das ist er ..." räumte sie ein und errötete noch tiefer, denn er hatte offenbar gemerkt, dass sie ihn eingehend
betrachtet hatte. Sie versuchte jedoch, ihn zu ignorieren und sich auf das Dokument zu konzentrieren. Anna blinzelte einige Male, und ihr Herz begann schneller zu klopfen. Auf dem Papier stand ihr Name und darunter das Wort Partner. Was, in aller Welt, hatte das zu bedeuten? Warum, in aller Welt, hatte Julian sie als seine Partnerin ausgegeben? Sie hatte keine Ahnung. Sie konnte nur vermuten, dass er es getan hatte, um glaubhafter zu wirken. Oder hatte er womöglich damit gerechnet, dass so etwas passieren würde, und sie ganz bewusst zum Sündenbock gemacht? Auf jeden Fall traute sie es ihm zu. Anna wollte protestieren, verkniff es sich allerdings. Hatten sie ihr Ziel etwa erreicht und Julian als Betrüger entlarvt? Ich brauche Zeit, um nachzudenken und mit Dee darüber zu sprechen, entschied Anna. Vor allem aber brauchte sie dieses Dokument. Als sie jedoch die Hand danach ausstreckte, wich der Fremde zurück, faltete es zusammen und steckte es wieder in die Tasche. "Ihr Partner war clever genug, um unterzutauchen, aber Sie anscheinend nicht. Vielleicht waren Sie auch einfach zu arrogant", erklärte er herausfordernd. Arrogant! Sie konnte es nicht fassen. "Was ist es für ein Gefühl, zu wissen, dass Sie andere Leute um ihr Geld erleichtert haben? Dass Sie dieses Haus, Ihre Sachen und Ihr Essen mit dem Geld anderer Leute finanzieren?" fuhr er spöttisch und wütend zugleich fort. "Haben Sie nichts dazu zu sagen? Wollen Sie nicht Ihre Unschuld beteuern? Das überrascht mich." Er wäre noch mehr überrascht, wenn er die Wahrheit wüsste, dachte Anna. Aber würde er ihr glauben, wenn sie sie ihm sagte? Sein Gesichtsausdruck ließ sie daran zweifeln. Doch wenn dieser Mann glaubte, sie würde einfach dastehen und zulassen, dass er sie verunglimpfte ...
Sie hob das Kinn und erklärte entschlossen: "Hören Sie, es tut mir Leid, wenn Sie das Gefühl haben, man hätte Sie betrogen ..." Sie machte eine Pause, denn irgendetwas an seinem Verhalten machte sie so wütend, dass sie weiche Knie bekam. Zumindest, nahm sie an, dass es Wut war. Was hätte es sonst sein sollen? Anna lächelte und fuhr zuckersüß fort: "Dass man Ihnen eine so hohe Rendite versprochen hat, muss Sie doch zu der Annahme veranlagst haben, dass irgendetwas nicht stimmt..." Ward traute seinen Ohren nicht. Besaß sie tatsächlich die Frechheit, ihm zu unterstellen, es sei seine Schuld, dass man ihn betrogen hatte? Dass er entweder nicht intelligent genug oder zu raffgierig gewesen wäre? Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. Sie war so zart gebaut, dass er vermutlich mit beiden Händen ihre Taille umspannen und sie mühelos hochheben konnte. Und trotzdem besaß sie die Frechheit, ihn derart zu provozieren! Widerstrebend musste er eingestehen, dass sie Mumm hatte jedenfalls mehr als ihr Partner. Und sie war sehr ruhig - eine Eigenschaft, die er bewunderte. Ward riss sich zusammen, da er merkte, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, und rief sich ins Gedächtnis, was diese Frau getan hatte. "Das hätte es ganz bestimmt", bestätigte er grimmig. "Ich darf wohl behaupten, dass ich einen Betrüger schon von weitem erkenne. Zufällig bin aber nicht ich derjenige, den Sie und Ihr Partner übers Ohr gehauen haben. Aber das wissen Sie natürlich. Sagt Ihnen der Name Ritchie Lewis etwas?" "Nein ... den habe ich noch nie gehört", erwiderte Anna und runzelte dann die Stirn. »Aber wenn Sie keine Geschäfte mit Julian gemacht haben, warum sind Sie dann hier?" "Ritchie ist mein Halbbruder", erklärte Ward ungeduldig und fügte scharf hinzu: "Haben Sie eine Ahnung, was Sie da angerichtet haben? Ritchie sollte sich auf sein Studium
konzentrieren, statt sich den Kopf über den Verlust von fünftausend Pfund zu zerbrechen. Nein, natürlich haben Sie das nicht", fuhr er spöttisch fort. "Ich wette, Sie haben Ihre heile kleine Welt noch nie verlassen. Natürlich wissen Sie nicht, was Schmerz und Enttäuschung bedeuten..." "Sie ziehen voreilige Schlüsse", fiel sie ihm ins Wort, und ihre Miene verriet nun Stolz und Wut. "Das Wichtigste weiß ich aber über Sie, nämlich dass Sie eine Lügnerin und Betrügerin sind", sagte er leise. Anna atmete scharf ein. "Und, haben Sie dazu nichts zu sagen?" hakte er nach. "Ich ... ich werde mich nicht dazu äußern, bis ... bis ich mit meinem Rechtsbeistand gesprochen habe", schwindelte sie, inspiriert durch eine Fernsehserie, die sie vor kurzem gesehen hatte. "Ihren Rechtsbeistand? Der ist genauso der unsauberen Geschäfte schuldig wie Sie und Ihr toller Partner. Lassen Sie sich eins gesagt sein. Ich werde auf keinen Fall zulassen, dass er oder Sie ungeschoren davonkommen. Sie schulden meinem Halbbruder fünftausend Pfund, und ich werde dafür sorgen, dass Sie ihm das Geld zurückzahlen." "Tatsächlich?" Sie war beeindruckt. Dee hätte diesen Mann sicher gern kennen gelernt, denn er war bereit, Julian die Stirn zu bieten und ihn bis in den letzten Winkel der Erde zu verfolgen. Und trotzdem brachte er sie, Anna, auf die Palme, wie noch kein Mann es vermocht hatte. "Was Sie da sagen, ist wirklich sehr interessant, Mr. ..." "Hunter", erwiderte der Fremde. "Her... Ward Hunter." Wart! Hunter. Zumindest wusste sie jetzt seinen Namen. Sie konnte ihn Dee zusammen mit den Informationen nennen, die sie bekommen hatte, und es dann Dee und ihm überlassen, Julian Cox zusammen zu verfolgen. Plötzlich hatte sie eine Idee.
"Sie haben gesagt, ich soll Ihrem Halbbruder das Geld zurückzahlen. Leider habe ich keine fünftausend Pfund im Haus. Könnten Sie zum Beispiel morgen wieder kommen?" Starr blickte Ward sie an. Was führte sie jetzt im Schilde? Im einen Moment behauptete sie, von dem Geld nichts zu wissen, im nächsten warf sie ihm vor, er hätte es nicht besser verdient, und nun verkündete sie seelenruhig, sie würde ihm das Geld zurückzahlen. Offenbar war sie noch gefährlicher, als er angenommen hatte. "Warum sollte ich Ihnen vertrauen? Sie könnten genauso verschwinden wie Ihr Partner." "Das Land verlassen, meinen Sie." Anna ließ den Blick zu Missie schweifen, die im Wintergarten auf dem Boden lag. "Nein, das könnte ich nicht." Er glaubte ihr. Sie mochte dazu fähig sein, andere Leute zu betrügen, aber er hatte den liebevollen Ausdruck in ihren Augen gesehen, mit dem sie ihren Hund betrachtete. Sie würde Missie nicht im Stich lassen. "Ich könnte Ihnen jetzt natürlich einen Scheck geben", schlug sie zuckersüß vor. Der Blick, den Ward Hunter ihr daraufhin zuwarf, hätte sie beinah zum Lachen gebracht. "Den Ihre Bank zweifellos nicht einlösen würde." Er schüttelte den Kopf. "Nein, ich glaube nicht. Ich möchte das Geld in bar..." "Dann werden Sie bis morgen warten müssen", erklärte Anna ziemlich entschlossen. "Also gut", erwiderte er. "Ich bin um Punkt neun hier." "Um neun? Aber die Bank macht erst um zehn auf", protestierte sie. "Genau", meinte er sanft. "Ich kann nicht zulassen, dass Sie das Risiko eingehen, mit so viel Geld in der Tasche durch die Gegend zu fahren. Daher werde ich Sie begleiten." "Mich begleiten?" wiederholte sie aufgebracht. "Vielleicht möchten Sie hier übernachten und sich an mich ketten", fügte sie
scharf hinzu, errötete jedoch, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Ward war genauso erschrocken darüber, dass sie errötete, wie Anna. Seiner Meinung nach hätte es viel eher zu ihr gepasst, wenn sie unverhohlen mit ihm geflirtet hätte. Natürlich war es nur einer ihrer Tricks, den sie in der Vergangenheit sicher sehr erfolgreich bei anderen Männern angewandt hatte, die dafür empfänglicher waren. Bestimmt verspürten viele Männer das Bedürfnis, sie zu beschützen. Sie war so klein, so zerbrechlich ... und dennoch so entschlossen und so lebhaft. Wütend wandte Ward sich ab und sagte dabei: "Und kommen Sie nicht auf die Idee abzuhauen, denn ich verspreche Ihnen, dass ich Sie überall finden werde." Er war bereits auf dem Weg zum Wagen, als Missie plötzlich hinter ihm hergelaufen kam und dabei jämmerlich winselte. Sofort blieb er stehen, wandte sich um und hockte sich hin, um sie zu trösten. Er blickte zu Anna auf und sagte schroff: "Das arme kleine Ding. Sie hat etwas Besseres verdient - jemanden, der ihrer Liebe und ihres Vertrauens würdig ist und der die Bedeutung dieser Worte kennt." Bevor Anna etwas erwidern konnte, stand er wieder auf und ging zu seinem Wagen. So eine Unverschämtheit! Dieser arrogante, unsensible Dummkopf! dachte Anna wütend, als er weg war. Sie streichelte Missie, die Verräterin, die auf ihrem Schoß lag, und sagte streng zu ihr: "Seine Frau tut mir jedenfalls Leid." Seine Frau. Es musste wirklich sehr lange dauern, jeden Zentimeter seiner muskulösen Brust zu streicheln und seinen harten Mund dazu zu bringen, sich küssen zu lassen. Und dann seine ach so hehren Moralvorstellungen... Wie es wohl sein mochte, zu ihm durchzudringen und ihn zu einer Gefühlsäußerung zu bewegen, dazu, die Kontrolle über sich zu verlieren? Ob das Haar auf seiner Brust und seinen Beinen
genauso weich sein mochte wie das ihres Teddys? Ob er auch brummte, wenn man seinen Bauch drückte? Bei der Vorstellung musste Anna lachen, und ihre Augen funkelten amüsiert. Eine Frau musste entweder sehr tapfer oder sehr dumm sein, um sich in ihn zu verlieben. Er war ihr gegenüber so feindselig gewesen und hatte das Schlimmste von ihr angenommen ... und dennoch ... Energisch riss sie sich zusammen. "Runter mit dir, Ich muss Dee anrufen", sagte Anna und beförderte Missie sanft auf den Boden. Als Anna die Ansage auf Dees Anrufbeantworter hörte, dass Dee nach Norden gefahren sei, um ihre Tante zu besuchen, war sie frustriert. Sie versuchte, Dee über Handy zu erreichen, doch das war abgestellt. Dann musste sie es eben später noch einmal versuchen. Ward Hunter war so unhöflich, so aggressiv gewesen. Sie hoffte nur, dass sie Recht hatte und man das Dokument tatsächlich gegen Julian Cox verwenden konnte. Natürlich hatte sie Julian nie die Erlaubnis erteilt, sie als seine Partnerin zu nennen, und so etwas konnte man nur als Betrug bezeichnen. Anna ging in die Küche, während sie über die jüngsten Ereignisse nachdachte. Sie war eine begeisterte Köchin, aber sie kochte lieber für andere als für sich allein. Aus dem Grund engagierte sie sich auch so gern in der Altenpflege. Sie beschloss, sich etwas zu essen zu machen und anschließend wieder nach draußen zu gehen und im Garten weiterzuarbeiten, bevor es dunkel wurde. Eine halbe Stunde nachdem er von Anna weggefahren war, nahm Ward sich ein Zimmer in dem erstbesten Hotel im Ort. Da es warm war, brauchte er jetzt eine Dusche und etwas zu essen. Ein wenig geringschätzig blickte er sich in seinem Zimmer um. Er hatte ein Faible für schöne Dinge und ein Auge für Qualität, doch der Luxus eines Fünf-Sterne-Hotels mit einem
erstklassigen Restaurant war das Letzte, wonach ihm, Ward, in diesem Moment der Sinn stand. Anna Trewayne war die beunruhigendste, falscheste und gefährlichste Frau, der er je begegnet war. Als er ihre langen, schlanken Beine gesehen hatte, die sich im Sonnenlicht unter ihrem langen Rock abzeichneten, hatte er den Blick nur mit Mühe abwenden können. Sicher hatte sie sich nicht bewusst so zur Schau gestellt, genauso wenig wie sie es vermutlich beabsichtigt hatte, ihre Brüste zur Schau zu stellen, die sich unter dem eng anliegenden Stretch-T-Shirt abgezeichnet hatten, als sie sich nach ihrem Hund bückte. Ihre Arme waren hell und die Haut sehr zart gewesen, und er hatte dem Drang widerstehen müssen, mit der Fingerspitze darüber zu streichen. Sie hatte nach Rosen und Geißblatt geduftet, und in ihrem Haar hatte sich ein Blütenblatt von einer Klematis verfangen, das er am liebsten herausgenommen hätte. Er hatte sich danach gesehnt, sie in den Armen zu halten und zu streicheln, und gleichzeitig hätte er sie am liebsten geschüttelt - so widersprüchlich waren die Gefühle gewesen, die sie in ihm weckte. Eine Reaktion war allerdings ganz unmissverständlich gewesen. Beim Gedanken daran presste Ward ärgerlich die Lippen zusammen. Er war zweiundvierzig und konnte sich nicht entsinnen, je körperlich so unmittelbar auf eine Frau angesprochen zu haben. Zum Glück hatte er sich unter Kontrolle gehabt, bevor sie gemerkt hatte, was los war. Er schluckte mühsam. An der Wand hing ein Druck, der ein Kornfeld mit leuchtend roten Mohnblumen zeigte, und einen Moment lang glaubte Ward fast, den Duft von Sommer zu riechen und die warme Sonne auf der Haut zu spüren, während er Anna in den Armen hielt. Sie waren beide nackt. Er berührte ihre sanft gerundeten Brüste mit den dunkelrosa Knospen, und
Anna atmete scharf ein, blickte ihn mit einem verlangenden Ausdruck in den Augen an und sagte: "Küss sie, Ward. Ich möchte deine Lippen dort spüren." Ward schloss die Augen. Das Dreieck zwischen ihren Beinen war so unglaublich weich. "Ward, ich will dich so sehr ..." hörte er sie flüstern. Er öffnete die Augen wieder. Zur Hölle mit ihr! Was war sie, eine Hexe? Ihn würde sie jedenfalls nicht verhexen. Auf keinen Fall. Ihm war heiß, und sein Körper schmerzte vor Verlangen. Ganz bewusst drehte Ward das kalte Wasser in der Dusche auf. Damit sollte es ihm gelingen, diese unliebsamen Gedanken - unter anderem - zu vertreiben. Endlich hatte sie alle verwelkten Blüten abgezupft. Jetzt musste sie nur noch die Sachen wegräumen, und dann konnte sie ein heißes Bad nehmen. Sie war furchtbar müde, und alles tat ihr weh. Ein wenig schuldbewusst errötete Anna. Dass ihr alles wehtat, lag nicht nur an der Gartenarbeit. Wo war nur die Hacke, die sie benutzt hatte? Erschöpft wich Anna einen Schritt zurück und schrie dann vor Schmerz auf, als sie auf die Hacke trat und der Stiel daraufhin hochschnellte und ihr gegen den Hinterkopf schlug. Missie winselte. Warum lag ihr Frauchen auf dem Rasen und rührte sie nicht, obwohl sie bellte und sie leckte? Ward schob den Teller mit dem Essen weg, das er sich aufs Zimmer bestellt und kaum angerührt hatte. Es hatte keinen Sinn. Er vertraute der Frau einfach nicht. Am nächsten Morgen konnte sie längst über alle Berge sein. Er stand auf, schnappte sich seinen Mantel und seine Schlüssel und eilte zum Wagen. Missie kam ihm aufgeregt bellend entgegengelaufen. Ward runzelte die Stirn. Im Haus brannte kein Licht, obwohl es bereits dunkel wurde, und die Tür zum Wintergarten stand offen. Wo, zum Teufel, war Anna?
Missie zeigte es ihm. Bellend stand sie neben ihrem bewusstlosen Frauchen und schlug mit dem Schwanz auf den Boden, während sie vertrauensvoll zu ihm aufblickte. Anna stöhnte leise und öffnete langsam die Augen. "Mein Kopf tut so weh", sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Schon gut. Sie haben ihn sich gestoßen. Bewegen Sie sich nicht. Ich rufe einen Krankenwagen", sagte Ward grimmig. Er hatte das getrocknete Blut in ihrem Haar gesehen, als sie den Kopf bewegt hatte. Offenbar war ihr der Stiel der Harke dagegen geschlagen. "Wer sind Sie?" fragte sie besorgt. Ward nahm das Handy aus seiner Tasche und blickte sie starr an. "Wissen Sie das nicht?" Noch immer hatte sie Tränen in den Augen. "Nein." Sie fröstelte. "Ich weiß überhaupt nichts." Ohne etwas zu erwidern, wählte er 999. "Sie scheint das Gedächtnis verloren zu haben", sagte Ward eine Viertelstunde später zu dem Rettungssanitäter, nachdem man Anna in den Krankenwagen verfrachtet hatte. "So etwas kommt schon mal vor", meinte dieser. "Vielleicht hat sie eine Gehirnerschütterung. Wenn wir sie untersucht haben, wissen wir mehr. Sie waren offenbar nicht dabei, als es passiert ist, stimmt's?" "Nein ... nein, war ich nicht", bestätigte Ward. "Sie sagten, ihr Name sei Anna Trewayne. Und Sie sind ...?" "Ward Hunter." "Dann sind Sie also nicht verheiratet." Der Mann zuckte die Schultern. "Sicher möchte der Arzt Sie sprechen. Sie können uns hinterherfahren." "Aber ich bin nicht ..." begann Ward, doch der Mann hatte sich bereits abgewandt und stieg in den Krankenwagen.
Nachdem er die Tür zum Wintergarten geschlossen und Missie in seinen Wagen gesetzt hatte, stieg er ein und folgte dem Krankenwagen. Was hätte er auch tun sollen, wo Missie ihn so flehentlich ansah? "Wenn Sie bitte hier warten würden, Mr. Hunter. Der Arzt kommt gleich." Kaum hatten sie die Unfallstation betreten, hatte man Anna auf einer Tragbahre weggebracht. Inzwischen hatte der Arzt sie untersucht, und sie lag in einem Krankenzimmer. "Mr. Hunter?" Ward nickte und streckte dem Arzt die Hand entgegen. "Wie geht es ihr?" fragte er, als der Arzt ihn in eine Kabine am Rand des Foyers führte. "Soweit wir es beurteilen können, sind die Verletzungen nicht ernst. Sie hat einen Bluterguss und eine Platzwunde, aber zum Glück gibt es keine Anzeichen für innere Blutungen. Wir wollen sie einige Wochen beobachten, aber das kann durch ihren Hausarzt geschehen." Der Arzt warf einen Blick auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Er hätte schon vor drei Stunden Feierabend gehabt, hatte jedoch wegen eines Notfalls länger bleiben müssen und daher auch Anna Trewayne untersucht. "Sie ist jetzt wieder bei vollem Bewusstsein, und da es keine Probleme zu geben scheint, können wir sie entlassen." "Allein?" fragte Ward. Er nahm an, dass alle Betten belegt waren. Allerdings war er der Meinung, dass Anna in diesem Zustand nicht allein zurechtkommen würde, obwohl der Arzt sie niemals entlassen hätte, wenn er es nicht hätte verantworten können. Der Arzt zog die Augenbrauen hoch. "Ich gehe davon aus, dass Sie bei ihr bleiben", erwiderte er merklich kühler. Er? Ward wollte es gerade verneinen, als der Arzt fortfuhr: "Natürlich wäre da das Problem, dass sie vorübergehend das
Gedächtnis verloren hat - so etwas kommt bei Kopfverletzungen manchmal vor. Allerdings erlangen die Patienten das Gedächtnis in fast hundert Prozent aller Fälle wieder. Bei Anna scheint vor allem das Kurzzeitgedächtnis betroffen zu sein. Sie erinnert sich beispielsweise an ihren Namen und ihre Familie, konnte uns aber nicht sagen, was sie heute gemacht hat. Sie erinnert sich lediglich an Dinge, die einige Monate zurückliegen." "Sie hat das Gedächtnis verloren?" Ward runzelte die Stirn, enthielt sich jedoch des Kommentars, warum man sie dann nach Hause schicke. Wäre Anna mit ihm verwandt gewesen, hätte er darauf bestanden, eine zweite Meinung zu hören und Anna in eine Privatklinik zu überweisen. Allerdings war Anna nicht mit ihm verwandt. Sie hatte überhaupt nichts mit ihm zu tun - abgesehen davon, dass sie ihm fünftausend Pfund schuldete. "Sollte sie über irgendwelche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Sehstörungen oder Übelkeit klagen, müssen Sie sie natürlich sofort wieder herbringen", fügte der Arzt hinzu. "Muss man denn damit rechnen?" erkundigte sich Ward angespannt. "Eher nicht", versicherte der Arzt. "Und Sie sagen, dass sie das Gedächtnis wiedererlangen wird..." "Das nehme ich an. Allerdings kann ich nicht sagen, wann. Bei manchen setzt das Erinnerungsvermögen nach einem Schlüsselerlebnis sofort wieder ein, bei anderen kehrt es erst allmählich zurück." Sein Pieper ertönte, und der Arzt wandte sich ab. Seine Körpersprache deutete darauf hin, dass er ein viel beschäftigter Mann war. Ward fluchte leise, während er ihm hinterherblickte. Was sollte er jetzt tun? Er schuldete Anna nichts - im Gegenteil. Und
es war sein gutes Recht, das Krankenhaus zu verlassen und sie sich selbst zu überlassen. Aber war es moralisch richtig? Was war denn mit ihren moralischen Verpflichtungen gegenüber seinem Halbbruder und den anderen Leuten, die sie betrogen hatte? Sie war also eine Lügnerin und Betrügerin. Bedeutete das automatisch, dass er sich auf ihr Niveau hinabbegeben musste? Es widersprach seinem Naturell, einfach wegzugehen und sie sich selbst zu überlassen. "Mr. Hunter?" Eine Krankenschwester kam auf ihn zu. "Der Arzt hat Anna Bescheid gesagt, dass sie wieder nach Hause fahren kann. Sie zieht sich gerade an. Wenn Sie mir also bitte folgen würden..." Als Ward der Krankenschwester auf die Station folgte, fiel ihm ein, wie er sich der Verantwortung für Anna entziehen konnte, bis sie entweder das Gedächtnis wiedererlangte oder sich jemand anders um sie kümmerte, der ihr näher stand. Er blieb unvermittelt stehen. "Diese Amnesie ... Sie ist vermutlich nicht... eingebildet, oder?" "Eingebildet?" Die Schwester warf ihm einen scharfen Blick zu. "Manchmal haben wir Patienten, die aus dem einen oder anderen Grund eine Amnesie vortäuschen, aber so etwas würde der Arzt schnell merken. Warum fragen Sie?" fügte sie neugierig hinzu. "Haben Sie Grund zu der Annahme, dass Anna nur simuliert? Manche Patienten haben etwas so Traumatisches erlebt, dass sie es nur verarbeiten können, indem sie es verdrängen. Aber in Annas Fall..." "Nein. Nein ..." versicherte Ward schnell. Als Nächstes würde sie ihm vermutlich vorwerfen, er hätte dieses traumatische Erlebnis verschuldet. "Wenn Dr. Bannerman eine vorübergehende Amnesie diagnostiziert hat, dann leidet Anna auch an vorübergehender Amnesie", erklärte die Krankenschwester scharf, "das versichere ich Ihnen, Mr. Hunter."
Sie hatten inzwischen den Eingang zur Station erreicht, und Ward sah Anna etwas verloren neben ihrem Bett stehen. Ihre Miene war gequält. Ungeachtet der Tatsache, was sie getan hatte, verspürte er einen Anflug von Mitleid. Es musste schrecklich sein, sich nicht einmal mehr an die banalsten Dinge erinnern zu können. Ihre Miene hellte sich auf, als Anna die Schwester bemerkte. Offenbar hat sie sie wieder erkannt, dachte er, doch dann wurde ihm klar, dass sie ihn ansah und nicht die Schwester. "Ward?" fragte sie unsicher. Ihre Augen wirkten jetzt eher grau als blau, und es lag ein gequälter Ausdruck darin. "Du erkennst mich wieder?" erkundigte er sich und ignorierte das missbilligende Kopfschütteln der Schwester. "Nein." Anna schüttelte den Kopf. "Aber Schwester James hat mir deinen Namen gesagt. Sie meinte, ich könne nach Hause." Die Schwester hatte sich diskret zurückgezogen. "Es ... es tut mir Leid, dass ich mich nicht mehr an dich erinnern kann", sagte Anna leise und biss sich auf die Lippe. Dann fügte sie schnell hinzu: "Aber ich spüre, dass uns ... etwas ganz Besonderes miteinander verbindet." Sie errötete und wandte verlegen den Blick ab. "Das spürst du?" fragte Ward schroff. Er wusste selbst nicht, warum er Anna duzte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihn mit seinem Vornamen angesprochen hatte. "Ja", bestätigte sie. Dann streckte sie die Hand aus und berührte zärtlich sein Gesicht. "Mir ist klar, wie schwer es für dich sein muss, dass ich mich momentan nicht an dich erinnere. Ich weiß, dass du dir Sorgen um mich machst." Sie lächelte, und zwei Grübchen erschienen in ihren Wangen. "Der Arzt hat mir davon erzählt, wie du ihn über mich ausgefragt hast..." Sie sah so verletzlich aus! Das Vertrauen, das aus ihrem Blick und aus ihrer Berührung sprach, schnürte ihm die Kehle
zu. Er mochte gar nicht daran denken, wie gefährlich es für sie hätte werden können, wenn ein weniger ehrenwerter Mann sie gefunden hätte. "Ich bin so froh, dass du bei mir bist, Ward", gestand Anna. "Es ist komisch, wenn man sich an nichts erinnern kann ... so beängstigend. Mr. Bannerman hat mir erzählt, dass Wir nicht verheiratet sind ..." "Nein", bestätigte Ward kurz angebunden. "Aber wir sind ein Paar. Er sagte, das hättest du den Sanitätern erzählt.'' Das hatte er nicht getan. Die Männer hatten es einfach angenommen und ihm überhaupt nicht die Gelegenheit gegeben, das Missverständnis aufzuklären, weil sie es so verdammt eilig gehabt hatten. "Woran genau erinnerst du dich?" fragte er schroff. Anna ließ die Hand sinken und wich einen Schritt zurück. Seltsamerweise war er darüber enttäuscht. "An alles und dann von einem bestimmten Zeitpunkt am Anfang dieses Jahres an nichts mehr." Sie lächelte gequält. "Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wann und wo wir uns kennen gelernt haben und wie lange wir schon zusammen sind." Wieder füllten ihre Augen sich mit Tränen, und sie versuchte, sie wegzublinzeln. Nervös spielte sie mit ihrem Ehering. "Mach dir deswegen keine Sorgen", tröstete er sie. "Der Arzt hat gesagt, dass du das Gedächtnis irgendwann wiedererlangen wirst. Komm, ich bringe dich nach Hause." Er führte sie zur Tür, sorgsam auf Abstand bedacht, doch zu seinem Verdruss hakte sie sich bei ihm unter und schmiegte sich an ihn. "Nach Hause. Na ja, wenigstens weiß ich, wo das ist ..." Sie verstummte, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht. "Wo wohnen wir, Ward? Ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich weiß, wo mein Haus ist, aber ..." "Dahin fahren wir auch", erklärte Ward.
Was, zum Teufel, mache ich bloß? fragte er sich auf dem Weg zum Wagen. Warum hatte er dem Arzt nicht einfach die Wahrheit gesagt? Das hatte er nun davon. Anna glaubte, sie wären ein Paar, was in Anbetracht der Situation ausgesprochen ironisch war. Er hatte keine Ahnung, wie er die Fragen beantworten sollte, die sie ihm zwangsläufig stellen würde. Als er seinem Beschützerinstinkt und seinen Moralvorstellungen nachgegeben hatte, war ihm nicht klar gewesen, welche Komplikationen es mit sich bringen würde. Was ihm allerdings noch mehr zu schaffen machte, war die Tatsache, dass Anna sich anscheinend völlig verändert hatte. War es möglich, dass sie sich durch einen Schlag auf den Hinterkopf von einer raffgierigen, selbstsüchtigen und egoistischen Femme fatale in dieses liebenswürdige, verletzliche und anlehnungsbedürftige Wesen verwandelt hatte? Er hatte gehört, dass Schläge auf den Kopf mitunter bizarre Verhaltensweisen hervorriefen, aber doch nicht so, oder? Es war jetzt ein Uhr morgens. Er hatte einen langen, anstrengenden Tag hinter sich und daher keine Lust, sich jetzt damit auseinander zu setzen. Wenn Anna ihr Gedächtnis bis dahin nicht wiedererlangte, würde er ihr spätestens in einigen Tagen die Wahrheit sagen müssen - sobald er jemanden gefunden hatte, der sich um sie kümmern konnte. In ihrem derzeitigen Zustand konnte er sie auf keinen Fall allein lassen. Und solange er in ihrer Nähe blieb, konnte sie nicht verschwinden, ohne Ritchies fünftausend Pfund zurückgezahlt zu haben. "Oh, das ist dein Wagen!" rief Anna überrascht, als sie den Mercedes erreichten und er die Tür öffnete. Ward runzelte die Stirn. Warum war sie so überrascht? Es war ein teurer Wagen, aber sie hatte sicher einen hohen Lebensstandard, und daher waren Luxusschlitten bestimmt nichts Besonderes für sie. Als sie den Hund sah, der auf dem Rücksitz lag, lächelte sie entzückt.
"O Missie", flüsterte sie. "Du hast sie wieder erkannt", bemerkte Ward. "O ja", bestätigte sie. "Ich habe sie letztes Jahr bekommen. Ihre Besitzer wollten sie nicht mehr haben und..." Sie verstummte. "Ich weiß, dass sie mir gehört, Ward, aber wann war letztes Jahr? Ich..." Bestürzt stellte er fest, dass ihre Augen sich wieder mit Tränen füllten. "Schon gut, du wirst dich wieder daran erinnern", versuchte er sie zu beschwichtigen. Er öffnete die Beifahrertür, doch statt einzusteigen, barg Anna das Gesicht an seiner Schulter. "Halt mich fest, Ward ... Bitte halt mich fest,.. Ich habe solche Angst." Ward zögerte unbehaglich. Damit hatte er überhaupt nicht gerechnet. Bisher hatte er von sich behaupten können, dass er in Krisensituationen einen kühlen Kopf behielt, aber nun, da Anna sich so vertrauensvoll an ihn schmiegte, funktionierte sein Verstand nicht mehr. "Schon gut, ich bin ja bei dir ..." Bereits als er diese Worte aussprach, war ihm klar, dass er eine Grenze überschritten hatte. Er sagte sich jedoch, dass er viel zu pragmatisch war, um auf die innere Stimme zu hören, die ihn warnte. Warum hätte er sich in Gefahr befinden sollen? Er wusste schließlich genau, was für eine Frau Anna war. Und wenn sie das Gedächtnis wiedererlangte, würde sie ihn hinausschmeißen, statt sich ihm in die Arme zu werfen. Ihr Haar duftete nach Rosen, und er spürte, dass sie leicht zitterte. Instinktiv hob er die Hand, um ihr übers Haar zu streichen, und ließ sie dann wieder sinken. "Vielleicht sind wir noch gar nicht so lange zusammen", bemerkte Anna und lächelte verlegen, als sie sich einige
Sekunden später von ihm löste. Da der Parkplatz beleuchtet war, konnte Ward sehen, dass sie errötet war. "Jedenfalls sagt mir das mein Körper", fuhr sie fort. "Ich glaube nicht, dass ich noch so ... so stark in deinen Armen zittern würde, wenn wir uns schon lange kennen würden." In seinen Armen zittern. Ward schloss die Augen und schluckte mühsam. "Wir haben uns erst vor kurzem kennen gelernt", gestand er ein wenig rau, als er ihr in den Wagen half. Das entsprach ja auch den Tatsachen. Er hoffte nur, dass Anna nicht wissen wollte, was genau "vor kurzem" bedeutete. Doch zum Glück war sie zu sehr damit beschäftigt, Missie zu begrüßen, um weitere Fragen zu stellen. Während der Fahrt überschlugen sich seine Gedanken. Am nächsten Tag musste er im Hotel vorbeischauen und seine Rechnung begleichen. Aber was war mit seinen Sachen? Da er nicht gewusst hatte, wie lange er in Rye bleiben würde, hatte er einen Koffer mitgenommen. Trotzdem würde er mehr brauchen, wenn er eine Zeit lang bei Anna wohnte. Außerdem hatte er gewisse Verpflichtungen. Zum Glück hatte er seinen Laptop mitgenommen, und es gab auch niemanden, der ihn vermissen würde. Allerdings musste er Mrs. Jarvis, die zweimal in der Woche bei ihm sauber machte, anrufen und ihr Bescheid sagen, dass er eine Weile wegbleiben würde. Anna schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Kopfstütze. Es war so komisch, sich an nichts richtig erinnern zu können. Sie wusste, wer sie war und woher sie stammte. Sie erinnerte sich gut an ihre Familie, ihre Freunde, ihr Leben in Rye und die Tragödie, die sie veranlasst hatte, hierher zu ziehen. Doch sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie Ward kennen gelernt hatte und wie das Zusammenleben mit ihm gewesen war. Selbst er war ihr fremd.
Der Arzt hatte ihr erklärt, sie wäre auf eine Hacke getreten und der Griff wäre hochgeschnellt und ihr gegen den Hinterkopf geschlagen. "Sie haben eine Gehirnerschütterung und eine Platzwunde. Aber zum Glück haben Sie sich nicht ernsthaft verletzt." "Abgesehen davon, dass ich das Gedächtnis verloren habe", hatte sie ihn erinnert. "Stimmt. Aber zerbrechen Sie sich nicht zu sehr den Kopf darüber. Dir Erinnerungsvermögen wird wieder einsetzen." "Aber wann?" hatte sie besorgt gefragt. "Das kann ich leider nicht sagen." "Muss ich ... muss ich im Krankenhaus bleiben?" "Nein", hatte er versichert. "Allerdings wäre es etwas anderes, wenn Sie niemanden hätten, der sich zu Hause um Sie kümmern kann." Jemand, der sich zu Hause um sie kümmern konnte. Ward. Der Mann, der sie ins Krankenhaus gebracht hatte. Allein beim Gedanken an ihn wurde ihr schwindelig, und ihr Herz klopfte schneller. Er war so groß und kräftig, so männlich. Ihr wurde heiß, als ihr klar wurde, welchen Fantasien sie sich hingab. Eine Frau in ihrem Alter konnte doch nicht so aus der Fassung geraten, wenn sie an ihren Partner ... ihren Liebhaber dachte ... Ward ... Einerseits war er ihr so vertraut, denn in seinen Armen hatte sie sich sehr geborgen gefühlt, andererseits so fremd. Sie musste ihn wieder ganz neu kennen lernen. Wo und wann war sie ihm begegnet? Hatte er Familie? War er je verheiratet gewesen? Hatte er Kinder? Morgen werde ich ihn fragen, beschloss Anna, als Ward den Wagen in ihre Einfahrt lenkte. Wenigstens erinnerte sie sich an ihr Haus! Sie hatte keine Ahnung, warum Ward mit ihr zusammenlebte. Warum war er zu ihr gezogen? Es musste einen Grund dafür gegeben haben. Allerdings musste sie zugeben, dass sie froh darüber war.
4. KAPITEL "Setz du dich hin. Ich setze Wasser auf und mache uns einen Tee." "Nein, Ward, lass mich das machen", beharrte Anna. Sie waren beide in der Küche. Missie lag zufrieden in ihrem Körbchen, Whittaker in seinem. Ward wollte Anna daran erinnern, dass sie sich schonen musste, doch dann fiel ihm ein, dass er sich in ihrer Küche überhaupt nicht auskannte, geschweige denn in ihrem Haus. "Wenn du meinst", lenkte er daher ein. "Ich hole deine Sachen aus dem Wagen und bringe sie nach oben." Anna hatte die blutbefleckte Jacke nicht anziehen wollen, und außerdem hatte man ihr eine Salbe für die Platzwunde mitgegeben. Die Sachen nach oben zu bringen war ein guter Vorwand, um sich einmal umzuschauen, wie Ward fand. Am nächsten Morgen wurde er zum Hotel fahren müssen, bevor sie aufwachte, aber darüber konnte er sich später den Kopf zerbrechen. Er hatte die Sachen aus dem Wagen geholt und war bereits auf der Treppe, als Anna nach ihm rief. Sofort ließ er die Jacke und die Salbe fallen und eilte zurück in die Küche. "Was ist los?" fragte er. "Ist dir nicht gut?" "O Ward, es tut mir so Leid ... Das ist es nicht", versicherte sie zerknirscht. "Ich wollte nur wissen, wie du deinen Kaffee trinkst ... Ich erinnere mich leider nicht mehr daran ..."
"Stark, schwarz, ohne Zucker", informierte er sie kurz angebunden. Verdammt, einen Moment lang hatte er befürchtet ... Er schloss die Augen und zuckte erschrocken zusammen, als sie ihn auf die Wange küsste. "Danke", flüsterte sie zärtlich. Sie bedankte sich bei ihm? "Wofür?" erkundigte er sich beinah schroff. Dann öffnete er die Augen wieder und wich einige Schritte zurück. "Dafür, dass du hier bist ... und dich um mich kümmerst ... dafür, dass es dich gibt", erwiderte sie leise. Der Ausdruck in ihren Augen war so vertrauensvoll... so großherzig, dass Ward schlucken musste. Es war unmöglich, dass ein Schlag auf den Kopf einen Menschen so verändern konnte. Oder nicht? "Oh, tut mir Leid", sagte Anna und unterdrückte wieder ein Gähnen. Sie hatten den Kaffee getrunken, und Ward hatte darauf bestanden, dass sie sitzen blieb, während er die Sachen wegräumte. Obwohl sie allein lebte, war ihr Haus sehr geräumig. Sie kam aus einer Großfamilie, und als Beth und Kelly nach Rye gezogen waren, hatte sie sie zuerst bei sich aufgenommen. Das Haus hatte vier große Schlafzimmer, und ihr Schlafzimmer hatte ein eigenes Bad. Im Erdgeschoss gab es außer der Küche und dem hübschen Wintergarten, den sie nachträglich hatte anbauen lassen und als Esszimmer nutzte, ein zweites, etwas eleganteres Esszimmer, ein Wohnzimmer und einen Salon. Für eine Person war das Haus vielleicht zu groß. Auf jeden Fall war es wesentlich größer als das, in das Ralph und sie nach der Hochzeit gezogen waren. Sie hatte es mit einem Teil der Summe aus seinen Lebensversicherungen bezahlt und das restliche Geld angelegt. Zuerst hatte sie das Geld nicht anrühren wollen und sogar vorgeschlagen, es seinen Eltern zu geben. Doch sowohl seine als
auch ihre Familie waren gut situiert, und alle hatten gesagt, Ralph hätte sicher gewollt, dass sie es behielte. Vermutlich würden weder seine Mutter noch sein Vater ihr je wieder unbefangen gegenübertreten können, weil sie traurige Erinnerungen bei ihnen weckte. Beide waren damals aber dafür gewesen, dass Ralph sie in den Verträgen als Begünstigte einsetzte. Seine Mutter hatte ihn über alles geliebt und vermisste ihn schmerzlich. Und da sie, Anna, sehr sensibel war, konnte sie gut nachvollziehen, wie ihr zu Mute sein musste. Ihr Vater war Architekt, und bis zu Ralphs Tod hatte sie als seine Assistentin für ihn gearbeitet. Er hatte Verständnis dafür gehabt, dass sie aus Cornwall weggezogen war, obwohl er es bedauert hatte, sie als Mitarbeiterin zu verlieren. Ward kämpfte noch immer gegen das heftige Verlangen, das bei Annas Berührung in ihm aufgeflammt war, und unwillkürlich verglich er ihre Art mit der seiner Exfrau. Soweit er sich entsinnen konnte, hatte seine Exfrau sich niemals zu liebevollen Gesten hinreißen lassen, und als er versucht hatte, etwas Zärtlichkeit in ihre Beziehung zu bringen, hatte sie ihn weggeschoben und gesagt, es wäre unmännlich. Unmännlich. Er. Vielleicht war er es tatsächlich gewesen, doch mittlerweile war er es nicht mehr. Jedenfalls war er nicht so rührselig, dass er vergaß, was für eine Frau Anna Trewayne wirklich war. "Du bist müde", erklärte er kurz angebunden, als Anna wieder ein Gähnen unterdrückte. "Warum gehst du nicht ins Bett?" "Und was ist mit dir?" fragte sie unsicher. "Ich bleibe noch auf." Er wandte sich bewusst von ihr ab, damit sie sein Gesicht nicht sah. Offensichtlich nahm Anna an, dass sie in einem Bett schliefen, doch das würde er auf keinen Fall tun. Zum einen ... Na ja, er lebte allein und schlief normalerweise nackt und war es
gewohnt, sein großes Bett für sich allein zu haben. Wenn er sich im Schlaf umdrehte, erdrückte er Anna womöglich. Und außerdem ... Schnell verdrängte er die gefährlichen Gedanken, die ihm kamen. Ward hörte, wie Anna ihren Stuhl zurückschob und aufstand. Obwohl er ihr den Rücken zugewandt hatte, wusste er, dass sie auf ihn zukam. "Dann gute Nacht", hörte er sie ein wenig atemlos sagen. Automatisch drehte er sich um. Sie lächelte unsicher und bot ihm die Lippen zum KUSS. Du machst dir etwas vor, sagte er sich wütend. Genau aus diesem Grund wollte er nicht mit Anna in einem Bett schlafen ... Aufstöhnend zog er sie an sich und presste die Lippen auf ihre. "Mh ... O ja ..." sagte Anna entzückt. "O Ward!" Überglücklich schmiegte sie sich an ihn. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie spürte die Reaktion auf seinen KUSS bis in die Zehenspitzen. Spielerisch liebkoste sie seine Lippen mit der Zungenspitze und bebte vor Erregung, als er erschauerte. Plötzlich fühlte sie sich wie jemand, der unverhofft einen Schatz gefunden hatte. Ralph hatte nie derartige Empfindungen in ihr geweckt, obwohl sie ihn über alles geliebt hatte, doch sie verspürte keine Schuldgefühle. Ihre Beziehung zu Ward war über das Stadium offenbar längst hinaus. Sie, Anna, wusste zwar nicht mehr, wann und unter welchen Umständen sie ihn kennen gelernt hatte, aber sie kannte sich, und sie wusste, wie stark ihre Gefühle, ihre Liebe, zu ihm sein mussten, wenn ihr Verhältnis zueinander so intim war. Sie musste diese Verzückung, diesen Drang, sich ihm seelisch und körperlich bedingungslos hinzugeben, schon viele Male verspürt haben. Doch momentan konnte sie sich nicht daran erinnern, und genau deswegen war es sicher auch so erregend. Sie sehnte sich verzweifelt danach, ihn zu berühren.
Ihn zu berühren? Am liebsten hätte sie ihm die Sachen vom Leib gerissen, wie sie sich zerknirscht eingestand, aber Ward löste sich bereits von ihr und sagte rau: "Der Arzt hat gesagt, du sollst dich schonen..." "Tatsächlich? Ich erinnere mich nicht daran", neckte Anna ihn, ließ ihn jedoch los und verließ die Küche. Auf dem Weg nach draußen blieb sie nur noch einmal kurz stehen, um Missie und Whittaker zu Streichern. Erst als Anna weg war, entspannte Ward sich ein wenig. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er sich das letzte Mal so gefühlt hatte. So hatte er sich vermutlich noch nie gefühlt. Sie hatte ihn überrumpelt, wie er sich einredete, und er hätte aus Stein sein müssen, um nicht darauf zu reagieren. Schließlich war sie eine sehr attraktive Frau, eine sehr sinnliche Frau - eine sexuell sehr erfahrene Frau? Anna hatte sofort auf seinen KUSS reagiert und ihm unmissverständlich zu Verstehen gegeben, wie sehr sie ihn begehrte. Am Nachmittag hatte er allerdings den Eindruck gehabt, dass sie keine Frau war, die ständig den Partner wechselte. Aber eben in seinen Armen ... Es war ihm sehr schwer gefallen, ihr nicht zu zeigen, wie erregt er war. Und wenn er sie nicht losgelassen hätte, dann hätte sein Verlangen ihn übermannt, und er hätte ihr die Sachen vom Leib gerissen. Das war ihm noch nie zuvor passiert... bei keiner Frau... Als er seine Exfrau kennen gelernt hatte, war er ein Idealist und ein Romantiker gewesen. Er hatte sie idealisiert, und bei der Vorstellung, mit ihr zu schlafen, war ihm vor Erregung ganz schwindelig geworden. Doch wenn es dann dazu gekommen war, hatte ihm etwas gefehlt, auch wenn es ihn körperlich befriedigt hatte.
Er hatte sich eingeredet, dass es an ihm lag, weil er zu idealistisch war. Aber als er Anna eben in den Armen gehalten hatte, war ihm klar geworden, dass er sich geirrt hatte. Oben zog Anna sich in ihrem Schlafzimmer aus. Sie wollte schnell duschen und dann fertig sein, wenn Ward nachkam. Es würde vielleicht nicht das erste Mal sein, aber das erste Mal, an das neue Erinnerungen folgen würden, und daher sollte es etwas ganz Besonderes sein - nicht nur für sie, sondern auch für Ward. Sie musste ihm einen großen Schrecken eingejagt haben. Im Bad hatte sie einen zweckmäßigen Bademantel gefunden, und unter ihrem Kopfkissen lag ein ebenso zweckmäßiges Baumwollnachthemd. Stirnrunzelnd betrachtete sie die beiden Kleidungsstücke. Hatte sie sie etwa in Wards Gegenwart getragen? Schnell sah sie in den Schubladen nach. Seltsamerweise wusste sie genau, in welchen sich ihre Unterwäsche befand. Sie war genauso schlicht wie ihre Nachtwäsche. Verwirrt sah Anna noch einmal nach. Sie spürte instinktiv, dass sie für Ward die femininste Wäsche getragen hätte, die sie finden konnte schöne Dessous aus schmeichelnden Stoffen und mit Spitzen besetzt, nichts Billiges oder Aufreizendes, denn dafür war sie nicht der Typ. Aber sie hatte doch sicher etwas Verführerisches gekauft, um ihn in Versuchung zu führen, oder? Es war jedenfalls nichts da. Enttäuscht legte sie sich ins Bett. Wenn sie die Wahl zwischen diesem langweiligen Nachthemd und dem Evaskostüm hatte, dann entschied sie sich eben für das Evaskostüm! Hoffentlich musste sie nicht zu lange auf Ward warten. Ein erwartungsvoller Schauer durchrieselte sie. Fast fühlte sie sich wie eine altmodische jungfräuliche Braut, die ihren Ehemann zwar über alles liebte, aber ein bisschen Angst vor der ersten Nacht mit ihm hatte.
Ward wartete erst eine halbe und dann noch eine halbe Stunde. Im Haus war es still. Mittlerweile war Anna sicher eingeschlafen. Leise ging er die Treppe hinauf. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer stand halb offen, so dass er Anna im Bett liegen sah. Zum Glück schlief sie tatsächlich. Sie wirkte einsam und verloren. Sein Mund war plötzlich ganz trocken. Schnell ging Ward weiter und öffnete die Tür zu dem Schlafzimmer, das am weitesten von ihrem entfernt war. Er duschte schnell, konnte sich jedoch nicht rasieren, da seine Sachen ja noch im Hotel waren. Falls Anna ihn am nächsten Morgen fragte, warum er in einem anderen Zimmer geschlafen hatte, würde er sagen, der Arzt hätte ihm geraten, so lange getrennt zu schlafen, bis sie das Gedächtnis wiedererlangt hatte. Müde legte er sich ins Bett. Mitten in der Nacht schreckte Anna aus dem Schlaf. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und sie zitterte. Sie hatte schlecht geträumt, aber was, wusste sie nicht mehr. Sie hatte leichte Kopfschmerzen, und obwohl die Angst von ihr abgefallen war, wurde sie von Panik übermannt. Was war, wenn sie das Gedächtnis überhaupt nicht mehr wiedererlangte? Was war, wenn ...? "Ward? Ward?" Als sie sich umdrehte, stellte sie fest, dass Ward nicht neben ihr im Bett lag. Aufgeregt schlug sie die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Wo war er? Sie eilte in den Flur. Dort sah sie Whittaker, ihren Kater, der gerade in das hintere Schlafzimmer gehen wollte. Die Tür stand offen. "Wirst du das wohl lassen?" Anna eilte zu ihm und hob ihn hoch, denn er wusste ganz genau, dass er in keinem der Betten schlafen durfte. Allerdings vergaß sie sein schlechtes Benehmen sofort, als sie einen Blick in das Zimmer warf und feststellte, dass Ward darin schlief.
Was, in aller Welt, machte er dort? Verwirrt, aber gleichzeitig erleichtert darüber, dass sie ihn gefunden hatte, setzte sie Whittaker auf den Boden und eilte zum Bett. Ward musste sehr erschöpft sein, der Arme! Sie würde ihn nicht wecken. Stattdessen legte sie sich zu ihm ins Bett und schmiegte sich an ihn. Er fühlte sich so gut an... Sie fühlte sich so gut, so geborgen, so geliebt... so glücklich ... "Mh ..." Ward drehte sich im Schlaf um und schmiegte sich dabei instinktiv an Anna. Dabei legte er den Arm um ihre Taille und ein Bein auf ihre. Glücklich kuschelte sie sich noch dichter an ihn. Sie war im Halbschlaf und die Versuchung, seine Brust zu küssen und die Finger durch das Haar gleiten zu lassen, übermächtig. "Wie ein Teddybär", sagte sie leise und runzelte dann die Stirn. Es erinnerte sie an etwas, doch je angestrengter sie nachdachte, desto mehr entzog es sich ihr. Allerdings hatte sie Ward aufgeweckt. Sie spürte, dass er ihren Arm umfasste. "O Ward, du fühlst dich so gut an", flüsterte sie glücklich. "Küss mich." Sofort war Ward hellwach. Was, in aller Welt, machte Anna in seinem Bett? "Anna ..." begann er, doch im nächsten Moment presste sie bereits die Lippen auf seine und zog die Konturen mit der Zungenspitze nach. "Ich kann nicht glauben, dass es tatsächlich passiert", sagte sie. "Ich bin so glücklich." Er spürte ihre Brüste an seiner nackten Brust, die Knospen waren aufreizend fest. Zu seinem Entsetzen umfasste er dann eine Brust und streichelte sie. Anna seufzte leise auf und drängte sich ihm entgegen. Schockiert stellte er fest, dass sie auch ganz nackt war, denn er spürte das seidige Dreieck. Sie küsste ihn immer noch und hielt sein Gesicht umfasst, damit er sich nicht bewegte.
Viel länger würde er das nicht aushalten. Sein Körper ... Ward stöhnte gequält auf, als Anna sich ihm in eindeutiger Weise entgegendrängte und die Beine spreizte. Das war es ... Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als würde er sie nicht begehren, oder das Verlangen zu unterdrücken, wenn sie ihn derart provozierte. Fast hätte er aufgeschrien, als sie die Hüften anhob, um sich an ihn zu pressen. "Ward ..." flüsterte sie an seinem Mund. Hilflos gab er nach. Aus Angst, sie mit seinem Gewicht zu erdrücken, drehte er sich auf den Rücken und zog sie mit sich, so dass sie auf ihm lag. Ohne die Lippen von ihren zu lösen, ließ er die Hände über ihren Rücken gleiten und umfasste schließlich ihren festen Po, um sie noch mehr an sich zu pressen. Anna genoss es in vollen Zügen. Es war himmlisch, einfach unglaublich. Vor Erregung und Liebe schmolz sie förmlich dahin. Ward ließ die Hände zu ihren Brüsten gleiten und umfasste sie. Als wüsste er, wonach Anna sich sehnte, hob er den Kopf, um die festen Knospen mit der Zunge zu umspielen, bis sie vor Lust aufstöhnte und am ganzen Körper zitterte. "O ja. Mach weiter, Ward ... Hör nicht auf", drängte sie ihn heiser, als Ward die Knospen abwechselnd mit den Lippen umschloss. Die Gefühle, die sie dabei durchfluteten, waren ganz neu für sie, doch sie musste sie schon vorher verspürt haben. Er wüsste, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Er war zweiundvierzig, und zum ersten Mal in seinem Leben erfuhr er, was bedingungslose Hingabe und überwältigendes Verlangen bedeuteten. Er wollte Anna besitzen, sie verschlingen. Als sie plötzlich aufschrie, merkte er, dass er ihr versehentlich mit den Zähnen wehgetan hatte, und hörte sofort auf. Als er sich jedoch von ihr lösen wollte, hielt sie seinen Kopf fest. "Nein, hör nicht auf", bat sie ihn leidenschaftlich.
Als Ward ihr in die Augen sah, stellte er fest, dass diese jetzt vielmehr blau als grau wirkten. Es war das tiefste Blau, das er je gesehen hatte. Aufstöhnend streckte er die Hände aus und zog ihren Kopf zu sich herunter, um sie zu küssen. Anna drängte sich ihm sehnsüchtig entgegen und tat das, wonach sie sich die ganze Zeit gesehnt hatte, seit sie ihn im Krankenhaus auf sich hatte zukommen sehen. Als er spürte, wie sie ihn sanft umfasste, schloss Ward die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Eigentlich hätte er sich jetzt zurückziehen müssen, doch das konnte er nicht. Es war so unglaublich erotisch, wie sie ihn in sich hineinführte, und ihr Gesichtsausdruck so süß, dass er einfach nicht dagegen ankam. Sie fühlte sich so gut an - heiß und feucht. Anna stöhnte lustvoll auf. Es war so herrlich, Ward in sich zu spüren. Vorsichtig bog sie sich ihm entgegen, und als sie merkte, wie er darauf reagierte, stockte ihr der Atem. Fasziniert beobachtete sie, wie Ward ihre Hüften umfasste. Jetzt musste er die Führung übernehmen und das Tempo bestimmen, so dass sie sich seinem Rhythmus anpasste. Es war herrlich, denn heiße Wellen der Lust durchfluteten sie mit jedem Stoß. Zuerst bewegte er sich ganz langsam hin und her, dann drang er immer tiefer in sie ein, bis ... "Ward, Ward ..." brachte sie hervor und schluchzte auf, als sie gemeinsam mit ihm den Höhepunkt erreichte. Dann barg sie erschöpft das Gesicht an seiner Brust und schloss die Augen, als er die Arme um sie legte. Was, zum Teufel, habe ich bloß getan? fragte Ward sich wütend, als er Anna in die Arme nahm. Was war mit seiner Willenskraft, seiner Selbstbeherrschung geschehen? Bisher war es ihm nicht schwer gefallen, seine körperlichen Bedürfnisse zu unterdrücken. Er wusste gar nicht mehr, wie oft er die Gelegenheit, eine flüchtige Affäre oder sogar eine ernsthafte Beziehung einzugehen, ungenutzt hatte verstreichen lassen. Die Narben, die seine Ehe hinterlassen hatte, hatten ihn bisher davor
bewahrt, noch einmal so ein Risiko einzugehen. Sein Stolz und seine idealistischen Moralvorstellungen hatten ihn davon abgehalten, nur körperliche Befriedigung zu suchen. Und hier lag er nun, völlig entspannt und noch immer unter dem Eindruck der Lust, die die Frau neben ihm ihm bereitet hatte. Viel schlimmer noch war die Tatsache, dass diese Lust Gefühle in ihm geweckt hatte, die er eigentlich nicht hätte empfinden dürfen. Er hatte das Bedürfnis, sie zu beschützen, sie in den Armen zu halten und ihre Körperwärme zu spüren. Wie war das möglich, wo er sie doch verachtete? Nach allem, was er über sie wusste, war sie die letzte Frau, die er hätte lieben dürfen. Die Krankenschwester hatte gesagt, es wäre sehr unwahrscheinlich, dass Anna die Amnesie nur vortäuschen würde. Doch er hatte keine Amnesie, und er wusste genau, dass es trotz der gegenseitigen Feindseligkeit gleich bei ihrer ersten Begegnung zwischen ihnen geknistert hatte. Vermutlich hatte das Anna zu der Annahme veranlasst, sie wären ein Paar, hätten eine gemeinsame Vergangenheit und würden zusammen in einem Bett schlafen ... Allerdings erklärte es nicht, wie die Frau, die eine Lügnerin und Betrügerin war, sich plötzlich in ein so zärtliches, großherziges und liebevolles Wesen verwandelt haben konnte. Keine Frau hatte je zu ihm gesagt, was Anna zu ihm gesagt hatte, und ihm so offen gezeigt, dass sie ihn begehrte und liebte. Liebte! Sein Herz setzte einen Schlag aus, um dann umso schneller zu klopfen. Ward verspannte sich. Was sollte er bloß tun?
5. KAPITEL "Guten Morgen." Ward setzte sich langsam auf und strich sich durchs Haar. Dann erinnerte er sich daran, was in der Nacht geschehen war. "Ich bin schon eine Ewigkeit wach", sagte Anna und setzte sich ebenfalls auf. Ihr Gesicht strahlte vor Glück, als sie sich zu ihm herüberbeugte und ihn küsste. Er stöhnte auf, als die Decke hinunterrutschte und ihre Brüste entblößte. Am liebsten hätte er sie wieder hochgezogen, doch Anna schien keine Hemmungen zu haben. Sie schmiegte sich an ihn, und es wirkte so natürlich und unschuldig, dass er sofort darauf reagierte. "Du hättest mich wecken sollen", erklärte er angespannt. Nachdem er ihren KUSS flüchtig erwidert hatte, löste er sich von ihr. "Ich gehe nach unten und mache uns Tee. Wie geht es dir eigentlich?" Was hatte der Arzt ihm noch geraten? Dass er darauf achten sollte, ob sie über Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Sehstörungen und Übelkeit klagte ... "Wunderbar", sagte Anna leise und lächelte. "Einfach wunderbar ... Lassen wir das mit dem Tee erst mal", fügte sie bedeutungsvoll hinzu und schmiegte sich wieder an ihn. Plötzlich huschte ein Schatten über ihr Gesicht. "Das hier ist alles so neu für mich, Ward. Ich ... ich kann immer noch nicht ganz fassen, dass es wirklich ist... dass ich das Glück hatte, dir zu begegnen. Ich habe dir das alles bestimmt schon gesagt, aber nach Ralphs Tod hatte ich große Angst, mich wieder ... mit
jemandem einzulassen, weil ..." Sie verstummte und schüttelte den Kopf "Ralph auf diese Weise zu verlieren war so ein Schock, dass ..." Sie krauste die Stirn. "Außerdem fühle ich mich schuldig. Er war so jung ... Plötzlich war er nicht mehr da, und ich dachte, es wäre besser, wenn ich nie wieder einen Mann lieben würde. Er war spontan mit dem Boot rausgefahren. Normalerweise habe ich ihn immer begleitet, obwohl ich nie gern gesegelt bin. Wenn man in Cornwall aufwächst, lernt man es allerdings zwangsläufig, genauso wie man das Meer zu respektieren lernt", fügte sie mit bebender Stimme hinzu. "Die Leute von der Küstenwache sagten, eine große Welle hätte ihn über Bord gespült. Er war ein erfahrener Segler und wäre niemals ein Risiko eingegangen. An dem Abend waren wir bei seinen Eltern zum Essen eingeladen. Ich habe gewartet und gewartet ..." Anna verstummte, und Ward runzelte die Stirn. Seine Nachforschungen hatten ergeben, dass sie ihren Mann schon in jungen Jahren durch einen Segelunfall verloren hatte, doch er hatte angenommen, dass es bei einem feuchtfröhlichen Segeltörn passiert war. Offenbar hatte er sich geirrt. Sie zeichnete ein ganz anderes Bild von ihrem verstorbenen Mann und war sichtlich bewegt. "Ich weiß nicht, wie ich dich kennen gelernt oder warum ich meine Meinung geändert habe. Ich habe meine ... Gefühle immer verleugnet ..." Sie lächelte schwach. "Und ich habe keine Ahnung, wie du mich von meinem Entschluss, allein zu bleiben, abgebracht hast..." Sekundenlang erschienen wieder die Grübchen in ihren Wangen, als sie hinzufügte: "Aber ich verstehe nicht, wie ich dich überhaupt so nah an mich heranlassen konnte ... Ich habe nie ... Wie haben wir uns denn kennen gelernt, Ward?" "Der Arzt sagte, wir sollen deinem Gedächtnis nicht auf die Sprünge helfen", erklärte Ward.
Was sie ihm gerade erzählt hatte, ging ihm näher, als er zugeben wollte. "Du musst ihn - Ralph - sehr geliebt haben", hörte er sich schroff sagen. Na ja, es war besser, sie über ihren geliebten Ralph und die Vergangenheit reden zu lassen, als erneut mit Fragen über ihn, Ward, und ihre Beziehung konfrontiert zu werden. Und wenn er dann aufstand, würde sie sehen ... Es erschütterte ihn, dass ein pragmatischer Mann wie er körperlich so stark reagierte, nur weil eine Frau ihn anlächelte und "wunderbar" sagte. "Ja, das habe ich." Wieder krauste Anna die Stirn. "Aber es ist mittlerweile in weite Ferne gerückt, und wir waren so jung. Unsere Liebe zueinander war ... Wir sind zusammen aufgewachsen und waren schon als Teenager ein Paar. Alle haben damit gerechnet, dass wir irgendwann heiraten. Unsere Eltern waren miteinander befreundet. Sie haben uns zwar zu nichts gedrängt, aber wir hatten beide das Gefühl, das Richtige zu tun. Bitte versteh mich nicht falsch", bat sie ihn. "Wir waren sehr glücklich miteinander, aber ... es war nicht so wie mit dir." Sie sah ihm in die Augen. "Doch das habe ich dir bestimmt schon oft gesagt. Was ist mit dir? Warst du verheiratet?" "Ja, kurz", erwiderte Ward angespannt, "aber meine Ehe war nicht... Wir haben beide einen Fehler gemacht." "Liebst du sie noch?" erkundigte sie sich zögernd. Starr blickte er sie an. "Ob ich sie noch liebe?" Er warf den Kopf zurück und lachte bitter auf. "Nein. Nach der Scheidung dachte ich eine Zeit lang, ich würde sie hassen, aber das hat sich irgendwann gelegt. Wenn sie raffgierig und selbstsüchtig war, dann war es meine Schuld, dass ich es vor der Heirat nicht gemerkt habe. Und genauso war es ihre Schuld, wenn sie vorher nicht gemerkt hat, dass ich ein Workaholic war und keine Zeit hatte, mit ihr auszugehen und das Geld mit vollen Händen auszugeben. Wir haben beide
jemanden geheiratet, den es gar nicht gab. Ich habe mich schon vor langer Zeit damit abgefunden, dass ich mich in ihr getäuscht habe." "Du hast ihr verziehen", meinte Anna, "aber dir selbst anscheinend nicht." Ward war verblüfft. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen, und sie war die Erste, die erriet, wie ihm zu Mute war, wie sehr er mit sich haderte, weil er die falsche Frau geheiratet hatte. "Wenigstens haben wir keine Kinder bekommen." "Wolltest du keine?" fragte Anna. "Sie wollte keine", erwiderte er leise. "Ralph und ich ... Wir waren noch so jung. Nach seinem Tod habe ich mich so nach einem Kind gesehnt, und auch jetzt..." Sie lächelte traurig. "Da ist natürlich meine Patentochter Beth. Sie wohnt hier in Rye." Nach einer Pause fügte sie hinzu: "Oh, tut mir Leid, das weißt du ja." "Hm ..." sagte er ausweichend, doch sein Verstand arbeitete auf Hochtouren. Wenn Anna Verwandte in Rye-on-Averton hatte, würde es sicher nicht lange dauern, bis diese Kontakt mit ihr aufnahmen. Und was sollte er dann tun? "Hoffentlich läuft das Geschäft, das sie mit Kelly zusammen führt, weiterhin so erfolgreich", fuhr sie im Plauderton fort. "Sie sind beide oft geschäftlich unterwegs. Ich habe gelegentlich im Laden ausgeholfen. Ich hätte es gern noch öfter getan, aber es geht nicht, weil ich noch andere Verpflichtungen habe." Andere Verpflichtungen. Sein Puls beschleunigte sich. Meinte sie die Partnerschaft mit Julian Cox? Fieberhaft überlegte Ward, wie er sie weiter ausfragen sollte, ohne sie misstrauisch zu machen. "Ich weiß, dass du viel um die Ohren hast", bestätigte er. "Habe ich das?" Anna verzog das Gesicht. "O Ward, ich erinnere mich nicht mehr daran."
Er hörte die Panik in ihrer Stimme. "Als Dr. Bannerman mich befragt hat, hat er gesagt, das letzte Ereignis, an das ich mich erinnern kann, liege einige Monate zurück. Es war das Wochenende vor Ostern, und ich war mit ,Essen auf Rädern' dran. Beth hatte mich zum Abendessen eingeladen ..." Sie wirkte immer unglücklicher, und instinktiv streckte er die Hand aus. Eigentlich wollte er sie nur trösten, doch genau wie vorher auch umarmte sie ihn. Sie erschauerte leicht. "O Ward, halt mich bitte fest... Ich bin so durcheinander ... Mein Kopf ... Meine Gedanken ..." "Dann denk nicht nach", schalt er sie. "Ich soll nicht nachdenken?" Anna wirkte nicht mehr ganz so angespannt. Sie wandte den Kopf, so dass sie ihm in die Augen sehen konnte, und flüsterte an seinen Lippen: "Was soll ich dann tun?" Die Frage war überflüssig, denn Anna küsste ihn bereits verlangend. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt. Noch nie hatte ihn jemand so behandelt, ihn so berührt - weder körperlich noch seelisch. "Mh ... Du schmeckst gut", sagte Anna. "Du auch", erwiderte Ward schroff. Er spürte, wie ihre Knospen fest wurden, als er sie festhielt. Auch er war sehr erregt. Er schloss die Augen und gab dem heftigen Verlangen nach, das in ihm aufflammte und ihn um die Beherrschung brachte. Diesmal wusste er genau, wie er sie berühren und erregen musste. Sie schloss die Augen und seufzte lustvoll auf, als er ihren Hals küsste, und ermutigte ihn, indem sie immer wieder leise seinen Namen flüsterte. Als es an ihr war, ihn zu berühren, war sie ein wenig verlegen. "Ich weiß nicht mehr, was dir gefällt", sagte sie unsicher und sah ihn ängstlich an.
"Mir gefällt, was dir gefällt und wozu du Lust hast", antwortete er sanft und meinte es auch so. "Vielleicht... musst du es mir zeigen", warnte sie ihn, doch sie fanden bald heraus, dass es nicht nötig war. Anna schien instinktiv zu spüren, wo ihre Berührungen ihn am meisten erregten. Zuerst verteilte sie viele kleine Küsse auf seinem Hals, dann küsste sie seine Brustwarzen und saugte daran. Dabei durchzuckte es ihn heiß. Jetzt wusste er auch, warum sie so gebebt und sich ihm entgegengedrängt hatte, als er sie so liebkost hatte. Als sie jedoch die Fingerspitzen über seinen flachen Bauch gleiten ließ und den Kopf neigte, um mit der Zunge seinen Nabel zu umkreisen, veranlasste er sie, damit aufzuhören. Ängstlich sah sie ihn an. "Komm her", bat er rau und streckte die Arme nach ihr aus. "Du bist eine Hexe, weißt du das? Noch nie hat eine Frau solche Gefühle in mir geweckt... mich so erregt wie du..." Aufstöhnend rollte er sich mit ihr herum, so dass sie unter ihm lag, und erschauerte heftig, als sie die Beine spreizte. Sie war so sinnlich und gleichzeitig so natürlich und ungekünstelt, dass er völlig verwirrt war. "Wenn ich eine Hexe bin, bist du ein Zauberer", sagte Anna wenige Sekunden später atemlos, als sie sich seinem schnellen Rhythmus anpasste. Der Sex mit Ralph war schön gewesen, aber nicht annähernd so wie dies hier. Sie hatte natürlich davon gehört, doch sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass ... Wie hatte sie das hier nur vergessen können? Sie war ganz sicher, dass sie noch im Sterben daran und an Ward denken würde. Erst nachdem sie den Gipfel der Ekstase erklommen hatte, wurde ihr bewusst, dass sie die Worte ausgesprochen hatte. "Du bist die ..." begann Ward, während er die Lippen über ihren Hals gleiten ließ. Dann verharrte er mitten in der Bewegung, und sie sah ihn unter Tränen an.
"Ich kann es immer noch nicht fassen, Ward", sagte sie mit bebender Stimme. "Ich kann immer noch nicht glauben, dass es tatsächlich passiert, dass wir uns haben. Es ist so wundervoll, und ich bin so ..." Mit den Fingerspitzen berührte sie seine Lippen und lächelte, als er daran saugte. "Ich bin so selig", beendete sie schließlich den Satz. Wenn du die Wahrheit erfährst, wirst du denken, du wärst verflucht, überlegte Ward. Mit der anderen Hand berührte Anna sein Kinn. "Du musst dich rasieren", bemerkte sie. Sie hatte Recht. Die Haut an ihren Brüsten war schon gerötet, weil er sie dort gekratzt hatte. "Ja ..." Plötzlich war er hellwach. "Meine Sachen sind im Wagen. Ich hole sie. Bei der Gelegenheit kann ich mir ja gleich eine Zeitung kaufen." "Dann kann ich doch mitkommen und ..." "Nein! Nein ..." Das wollte er auf keinen Fall. Schließlich war das mit der Zeitung nur ein Vorwand gewesen, damit er zum Hotel fahren konnte. "Der Arzt hat gesagt, du sollst dich schonen", fuhr Ward sanft fort. "Ich hole jetzt die Zeitung, und wenn ich wieder da bin, frühstücken wir und..." "Was ist heute für ein Tag?" unterbrach Anna ihn besorgt. "Sonntag", erwiderte er prompt, froh darüber, dass er endlich mal eine Frage ehrlich beantworten konnte. "Dann musst du also nicht arbeiten. Was machst du beruflich, Ward?" "Gar nichts. Das heißt, ich habe meine Firma vor einiger Zeit verkauft. Jetzt bin ich ab und zu als Berater tätig, und dann wären da meine Investitionen ..." "Investitionen." Sie krauste die Stirn. "Das klingt irgendwie vertraut..." Ward hielt den Atem an, doch dann schüttelte sie bedauernd den Kopf.
"Nein, es ist wieder weg ... Haben wir uns so kennen gelernt?" erkundigte sie sich neugierig. "Hast du mich beraten, wie ich mein Geld anlegen soll?" Es gelang ihm gerade noch, sich zusammenzureißen. Er sollte sie beraten haben? "Ich sage gar nichts", erwiderte er. "Vergiss nicht..." "Ich weiß ... Der Arzt hat gesagt, mein Erinnerungsvermögen wird von allein wieder einsetzen", bestätigte Anna seufzend. "Dann hol deine Zeitung. Bringst du mir auch eine mit?" Was für eine Zeitung sollte er ihr mitbringen? Eigentlich hätte er wissen müssen, was sie las. Die ganze Situation ist wirklich vertrackt, dachte er grimmig, als er auf stand.
6. KAPITEL Ward klemmte sich die Zeitung, die er gerade gekauft hatte, unter den Arm und eilte zu seinem Wagen zurück. Er hatte länger als erwartet gebraucht, um im Hotel auszuchecken. Hoffentlich hatte er die richtige Zeitung für Anna gekauft. Seine Mutter las sie jedenfalls auch. Ward war schon fast bei seinem Wagen angelangt, als er einen Stand mit frischen Blumen sah. Er zögerte und wandte sich ab, um weiterzugehen, änderte dann jedoch seine Meinung und ging zu dem Stand. Die nette junge Frau, die ihn bedient hatte, war ein Verkaufstalent, wie er sich zehn Minuten später zerknirscht eingestehen musste, als er den Kofferraum öffnete, um die Blumen hineinzulegen. Er hatte keine Ahnung, welche Blumen Anna mochte, aber der kunstvoll arrangierte Strauß aus creme- und lilafarbenen Blumen sah nicht nur wunderschön aus, sondern duftete auch betörend. Erst als Ward im Wagen saß und unterwegs zu Anna war, überlegte er, warum er einen Blumenstrauß für eine Frau gekauft hatte, die er angeblich verachtete. Ich habe die Blumen gekauft, weil Anna es wahrscheinlich erwartet, verteidigte er sich. Das war alles. Es war keine persönliche Geste. Schließlich hatte er keine roten Rosen gekauft, oder? Jedenfalls hatte er die Blumen nicht gekauft, weil
er etwas für Anna empfand. Bei der Vorstellung, dass er sich so untypisch verhalten könnte, machte er ein finsteres Gesicht. Auch als er fünf Minuten später mit dem Strauß in der Hand zur Haustür ging und auf die Klingel drückte, machte er noch ein finsteres Gesicht. Anna hatte inzwischen geduscht und sich umgezogen. Anschließend war sie nach unten gegangen, um Frühstück zu machen. Sie trug eine weiße Bluse und eine bequeme Chambrayhose. Als Anna ihm die Tür öffnete, nahm Ward sofort den aromatischen Duft frischen Kaffees wahr und dann, als er sich vorbeugte, um ihr die Blumen zu überreichen, den Duft ihres Parfüms. Dabei wurde ihm schwindelig. Es liegt daran, dass ich Hunger habe, sagte er sich, als er die Haustür hinter sich schloss. "Blumen. O Ward, sind die schön!" sagte Anna begeistert. "Es sind sogar meine Lieblingsblumen ... O Ward ..." In ihren Augen schimmerten Tränen, als sie zu ihm aufblickte. "Als du weg warst, habe ich wieder daran gedacht, wie glücklich ich mich schätzen kann." Ward schloss die Augen und wandte sich ab, damit sie seinen Gesichtsausdruck nicht sah. Eigentlich hätte er sich darüber freuen müssen, dass sie ihm ihre Gefühle zeigte, denn so würde er sie später umso besser demütigen können. Doch aus irgendeinem Grund empfand er Wut und Schmerz - Wut, weil Anna sich ihm so auslieferte, und Schmerz ... Er hatte keine Ahnung, warum er Schmerz empfand, und er wollte es auch gar nicht wissen. "Du hättest deinen Schlüssel benutzen können", meinte Anna im Plauderton, während sie ihm voran in die Küche ging. Seinen Schlüssel! Er wollte ihr sagen, dass er keinen Schlüssel besaß, überlegte es sich dann jedoch anders.
"Du kannst vor dem Frühstück noch nach oben gehen und dich rasieren." Nach einer Pause fügte sie zerknirscht hinzu: "Ich wusste nicht... was du isst, aber viel hatte ich ohnehin nicht im Haus. Offenbar wollte ich gestern noch einkaufen." Bestürzt hatte sie festgestellt, dass ihr Kühlschrank fast leer war und sie einen Mann von Wards Statur kaum satt bekommen würde. Auch ohne sich daran erinnern zu können, war ihr klar, dass er im Gegensatz zu ihr sicher keine Vorliebe für Biojoghurt mit Obst hatte. Sie hatte allerdings noch Vollkornbrot, Eier und zum Glück auch noch Räucherlachs und eine Lammkeule entdeckt. Die Lammkeule würde sie zum Mittag zubereiten und am nächsten Tag einen Großeinkauf machen. Seltsamerweise konnte sie noch kochen und wusste auch, wo sie immer einkaufte, erinnerte sich aber nicht mehr daran, was Ward gern aß. "Ich esse, was auf den Tisch kommt", erklärte Ward beinah schroff. Seine Essgewohnheiten entsprachen seinem Lebensstil. Er konnte kochen, aber da es ihm zu aufwendig war, bereitete er sich meistens entweder Fertiggerichte zu oder aß außer Haus. Während Ward oben war, arrangierte Anna fröhlich vor sich hin stimmend die Blumen. Sie waren wunderschön. Es waren ihre Lieblingsfarben. Als Ward das Schlafzimmer betrat, in dem er mit Anna die Nacht verbracht hatte, stellte er fest, dass sie das Bett gemacht hatte. Allerdings vermied er es, in die Richtung zu blicken. Noch immer begriff er nicht, wie er sich so hatte verhalten können. Mit der Ausrede, dass er der Versuchung nicht hatte widerstehen können, hätte er es sich zu einfach gemacht. Er war immer so beherrscht gewesen und hatte seine Gefühle unterdrückt. Von seiner Mutter und seinem Stiefvater hatte er gelernt, sich selbst und andere zu respektieren. Nachdem er die Experimentierfreudigkeit seiner Jugend abgelegt hatte, war flüchtiger Sex nichts mehr für ihn gewesen.
Ward schluckte mühsam, als er, seinen Rasierapparat in der Hand, das Bad betrat. Selbst jetzt verspürte er allein beim Gedanken an die vergangene Nacht... Er presste die Lippen zusammen. Es war ein Fehler, und den werde ich nicht noch einmal machen, sagte er sich. Anna dachte aber, dass sie ein Paar waren, und würde wieder mit ihm in einem Bett schlafen wollen, wie er sich ins Gedächtnis rief. Vielleicht, doch das bedeutete nicht, dass er sie berühren musste, oder? Es bedeutete nicht, dass er ihre seidige Haut streicheln oder ihre weichen Lippen küssen musste, dass er ... Verdammt! Warum hatte er angefangen, darüber nachzudenken? Es hätte niemals passieren dürfen und würde auch nie wieder passieren. "Hoffentlich magst du Räucherlachs und Rührei", sagte Anna, als Ward die Küche betrat. Er sah toll aus und roch gut nach einem herben Duft mit Zitrusnote. Sie errötete prompt, als sie daran dachte, wie er in der Nacht geduftet - Und geschmeckt - hatte. Es war etwas ganz Besonderes gewesen - und sehr erotisch. Wenn Ward jetzt vorschlug, nicht zu frühstücken und sich stattdessen aneinander gütlich zu tun, würde sie sich nur zu gern bereit erklären, Ihr Verhalten in der vergangenen Nacht war völlig untypisch für sie gewesen. Und nachdem sie den Schock über ihr heftiges Verlangen verwunden hatte, hatte sie es genossen, ihre Sinnlichkeit zu entdecken. Räucherlachs und Rührei. Seine Augen funkelten, und das Wasser lief ihm spontan im Mund zusammen. Es war eines seiner Lieblingsgerichte. "Wundervoll", sagte er und betrachtete Anna dabei wie gebannt. Dass sie daraufhin errötete, passte nicht so recht zu einer Frau wie ihr. Dass Anna errötete, hatte jedoch einen anderen Grund. Sie war überglücklich und entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten
versucht, die Initiative zu ergreifen und Ward vorzuschlagen, im Bett zu frühstücken. Stattdessen sagte sie ein wenig atemlos: "Ich ... habe eine Flasche Champagner gefunden. Sie ist im Kühlschrank. Wenn du sie aufmachst, können wir uns einen Buck's Fizz machen ..." Champagner! Ward zog die Augenbrauen hoch. "Es...Ich..." Unwillkürlich fragte sich Anna, was sein Tonfall zu bedeuten hatte. Dass sie übertrieb? Es war so frustrierend, dass sie nichts über ihn und ihr Verhältnis zueinander wusste und sein Verhalten daher auch nicht einschätzen konnte. "Es macht nichts, wenn du nicht willst", begann sie zögernd, überlegte es sich dann jedoch anders. Ihrer Meinung nach war Ehrlichkeit die Grundlage jeder Partnerschaft, selbst wenn man sie manchmal taktvoll verpacken musste. Hoch erhobenen Hauptes fuhr Anna fort: "Ich wollte, dass es etwas ganz Besonderes wird. Etwas Unvergessliches." Wieder errötete sie. "Du hast die letzte Nacht für mich zu etwas ganz Besonderem gemacht. Ich erinnere mich zwar nicht mehr an die gemeinsamen Momente mit dir, Ward, aber wenigstens kann ich dafür sorgen, dass die neuen auch schön sind. Deswegen möchte ich heute Morgen auf unsere Liebe und unsere Beziehung anstoßen. Vielleicht ist Champagner ein bisschen übertrieben ..." Sie verstummte und lächelte ironisch. "Wenn du lieber nicht..." Ward hatte es die Sprache verschlagen. Die Gefühle, die sie gerade in Worte gefasst hatte, hatten ihm vor Augen geführt, was er angerichtet hatte. Aber sie spielt nur eine Rolle, sagte er sich. Ihre Worte hatten nichts zu bedeuten, und sie empfand nichts für ihn, konnte nichts für ihn empfinden. Doch wie konnte sie sich so verstellen? Er musste zugeben, dass er es nicht wusste. Vielleicht hätte er den Arzt etwas eingehender befragen sollen.
Er hatte niemals mit Buck's Fizz auf eine Beziehung, eine Liebe anstoßen dürfen, die überhaupt nicht existierte, doch als er ihr glückliches Gesicht sah, war ihm klar, dass er Anna auf keinen Fall enttäuschen durfte. Sie frühstückten in Annas schönem Wintergarten. Missie lag zusammengerollt in ihrem Körbchen, und Whittaker sonnte sich auf dem Boden. "Ich helfe dir", erklärte Ward, als sie fertig waren. Lächelnd stand Anna auf. Sie hatte den Strauß von ihm auf einen kleinen Beistelltisch gestellt, und als ihr Blick darauf fiel, lächelte sie noch strahlender. Statt den Tisch abzuräumen, ging sie zu Ward. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter, und mit der anderen berührte sie zögernd sein Gesicht, während sie sich hinabbeugte, um ihn zu küssen. "Noch mal vielen Dank für die schönen Blumen", sagte sie. Es war kein leidenschaftlicher KUSS, sondern vielmehr eine sanfte Berührung - jedenfalls kein Grund, um sie auf seinen Schoß zu ziehen, die Lippen verlangend auf ihre zu pressen und sie festzuhalten, während er mit der anderen Hand ihren Kopf umfasste. Anna schien es, als würde sie vor Entzücken ohnmächtig werden. Als sie spontan beschlossen hatte, Ward zu küssen, hatte sie natürlich gehofft, dass er ihre Zärtlichkeiten erwidern würde, doch seine heftige Reaktion übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Sie vergaß ganz, dass sie siebenunddreißig war, dass sie eine Frau war, die vielmehr geistige als körperliche Bedürfnisse hatte. Sie öffnete die Lippen und erwiderte leidenschaftlich das erotische Spiel seiner Zunge. Zuvor hatte sie die Hand auf seine Brust gelegt, um sich abzustützen, und nun spürte sie, dass sein Herz schneller klopfte. Zwischendurch flüsterte sie immer wieder Koseworte an seinen Lippen.
Ihr Körper schmerzte bereits vor Sehnsucht nach Ward, und die süßen, schamlosen Gefühle, die sie in der letzten Nacht in seinen Armen verspürt hatte, überkamen sie erneut. Der intime Körperkontakt mit Anna und die Koseworte, die sie ihm zwischen seinen Küssen zuflüsterte, waren zu viel für Ward. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, auch wenn sein Verstand sich dagegen wehrte. Seine Hand zitterte, als Ward ihre Bluse aufknöpfte und sie Anna dann von den Schultern streifte, um ihre duftende warme Haut zu küssen. Vor Erregung bekam sie eine leichte Gänsehaut, und durch ihren durchsichtigen elfenbeinfarbenen BH sah er, wie ihre Knospen sich aufrichteten. Anna erschauerte lustvoll, als Ward ihren Namen flüsterte und sie seinen warmen Atem an ihren Brüsten spürte. Er hatte den Kopf geneigt, und ein Sonnenstrahl fiel auf seinen Nacken und ließ sein dichtes dunkles Haar glänzen. Es unterstrich nicht nur seine Männlichkeit, sondern verlieh ihm auch etwas Verletzliches. Es berührte sie so tief, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. Zärtlich streichelte sie seinen Nacken, fast wie eine Mutter ihr Kind streichelte. Mutter und Kind - die Bilder, die dabei vor ihrem geistigen Auge auftauchten, ließen sie erschauern. Wie mochte Ward wohl als Kind gewesen sein? Wie würde es wohl sein, ein Kind von ihm zu bekommen? Mit dem Mund schob er ihren BH beiseite und reizte dann eine feste Spitze mit der Zunge. Anna erschauerte heftig ein ums andere Mal und konnte an nichts anderes mehr denken. Schließlich umschloss er die Knospe mit den Lippen und saugte daran. Es war unglaublich erregend, heiß und feucht. Inzwischen hatte sie ungeduldig sein Hemd aus dem Hosenbund gezogen. Sie sehnte sich nach viel intimerem Kontakt mit ihm, als ihre momentane Position es zuließ. "Ward... Ward..." flüsterte Anna ihm ins Ohr. "Lass uns nach oben gehen ... ins Bett..."
Der Klang ihrer Stimme brachte Ward auf den Boden der Tatsachen zurück. Was, in aller Welt, machte er nur? Was macht sie? protestierte sein Körper, als Ward langsam die feste Knospe losließ und anschließend den seidenen BH wieder über ihre feuchte Brust zog. Als Anna aufstand, wusste er, dass er etwas tun - etwas sagen - musste, und zwar schnell, denn wenn sie erst einmal oben waren ... Sein Körper meldete bereits nachdrücklich Protest an. Er wollte Anna wieder dort haben, wo sie letzte Nacht gewesen war - in seinem Bett, in seinen Armen. Doch er, Ward, konnte es sich nicht leisten, auf seinen Körper zu hören. Daher umfasste er ihr Handgelenk, entschlossen, auf Abstand zu bleiben. "Anna ..." Wenn sie ihn so ansah, konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er schüttelte den Kopf. "Ich kann nicht..." Er konnte nicht? Verblüfft sah Anna ihn an. Was, in aller Welt ...? Dann errötete sie, als ihr klar wurde, was er meinte. Schließlich waren sie beide nicht mehr die Jüngsten, und letzte Nacht und heute Morgen hatten sie ... Bei einer Frau war es anders. Doch Ward hatte ... Als er sah, wie Anna unsicher den Blick über ihn schweifen ließ, wurde Ward klar, was in ihr vorging. Ein wenig ironisch fragte er sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er ihr sagte, dass er nicht nur in der Lage war, mit ihr zu schlafen, sondern bezweifelte, dass ein einziges Mal reichen würde, um sein schmerzliches Verlangen zu stillen. Es war keine körperliche Barriere, die ihn davon abhielt, mit Anna zu schlafen, sondern eine moralische. Doch das konnte er ihr wohl kaum sagen! Und vielleicht sollte er dafür sorgen, dass er nicht mehr in Versuchung geriet. Nachdem sie den Tisch abgeräumt hatten, erklärte er daher: "Heute ist so ein schöner Tag. Hast du Lust rauszugehen? Wir könnten einen Spaziergang machen oder irgendwohin fahren ..."
"Wir können auch beides tun", erwiderte Anna. "Wir könnten zum Beispiel zum Gartencenter fahren. Als du vorhin weg warst, habe ich gesehen, dass ich gestern dabei war, einige Kübel zu bepflanzen, und noch mehr Pflanzen brauche. Es gibt ein gutes Gartencenter auf der anderen Seite der Stadt. Und da es nicht weit vom Fluss entfernt ist, könnten wir den Wagen dort abstellen und am Fluss entlanggehen, wenn du Lust hast." Beim Klang des Wortes "gehen" sprang Missie aus ihrem Körbchen und begann aufgeregt zu bellen. "Die Entscheidung hat uns bereits jemand abgenommen", meinte Ward. "Was hast du für Hobbys?" fragte Anna eine halbe Stunde später zögernd, als sie neben ihm im Wagen saß. "Arbeiten, arbeiten und nochmals arbeiten", erwiderte Ward trocken. "Ich gehe gern spazieren", fügte er wahrheitsgemäß hinzu, "aber leider nehme ich mir selten die Zeit, obwohl ich ein altes Bauernhaus auf dem Land habe." "Du bist ein Workaholic, aber du hast gesagt, du arbeitest nicht mehr", erinnerte sie ihn verwirrt. "Ja, das stimmt auch ... Ich habe meine Firma verkauft, aber ich bin noch als Berater tätig." "Du hattest etwas von Investitionen gesagt." Sie krauste die Stirn und fröstelte leicht. Aus irgendeinem Grund rief das Wort unangenehme Assoziationen bei ihr hervor, als würde ein großer Schatten die Sonne draußen verdunkeln. Ward warf Anna einen flüchtigen Blick zu. Ob sie sich jetzt wieder erinnert? Und was wird sie machen, falls sie das Gedächtnis wiedererlangt, nein, wenn sie es wiedererlangt? fragte er sich. Wenn sie sich wieder erinnerte, würde er sehr erleichtert sein, denn dann konnte er darauf bestehen, dass sie Ritchies Geld zurückzahlte. Danach konnte er sie wieder verlassen und sein gewohntes Leben wieder aufnehmen.
"Haben wir uns so kennen gelernt? Warst du ... mein Anlageberater?" erkundigte Anna sich unsicher. Sie wusste nicht, warum sie sich bei diesem Thema so unwohl fühlte. "Wohl kaum", erwiderte Ward kurz angebunden. "Ein Anlageberater ist das Letzte, was du brauchst." Sie wollte ihn gerade bitten, ihr zu erklären, was er damit meinte, als sie zu einem Kreisverkehr kamen und sie ihm wieder die Richtung sagen musste. Manche Dinge bleiben besser ungesagt, dachte Anna dann. Vielleicht hatten Ward und sie sich deswegen gestritten. Vielleicht hatte er ihr Hilfe angeboten, und sie war zu stolz gewesen, sie anzunehmen. Am besten spreche ich das Thema erst wieder an, wenn ich das Gedächtnis wiedererlangt habe, entschied sie. Misstrauisch fragte sich Ward, warum Anna es dabei beließ. Ob sie sich wieder daran erinnerte? Er hielt es für sehr unwahrscheinlich, doch wer konnte schon sagen, wann sie mit ihren betrügerischen Geschäften angefangen hatte? "Wir sind gleich da. Es ist dahinten links", meinte Anna und deutete auf den Eingang zum Gartencenter. Auf ihren Vorschlag hin blieb Ward mit Missie im Wagen, während Anna die Pflanzen kaufte. Sie hätte es ihm zwar nie gesagt, doch seine Bemerkung hatte sie offenbar verwirrt und verletzt, denn sie war merklich kühler als sonst gewesen. Sie war eine Frau, die sich niemals zu einer heftigen Auseinandersetzung herabließ oder schmollte, sich jedoch zurückzog, wenn sie das Bedürfnis verspürte. Unwillkürlich bewunderte er Anna, als sie leise die Wagentür schloss und wegging. Sie wirkte wie eine Frau, die die Bedürfnisse anderer über ihre eigenen stellte, die nach altmodischen Moralvorstellungen lebte, Moralvorstellungen, die Seinen sehr ähnlich waren. Und dennoch hatte sie sich mit Julian Cox zusammengetan und sich an seinen Betrügereien beteiligt. Ward war nicht überrascht, als Anna auf dem Weg ins Gartencenter stehen blieb und einem
älteren Paar dabei half, einen großen Topf in den Kofferraum zu stellen.
7. KAPITEL Ward blickte stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr. Anna war schon seit über einer halben Stunde fort, obwohl sie gesagt hatte, es würde nur zehn Minuten dauern. Er ließ den Blick zu Missie schweifen. Sie lag zusammengerollt auf der Decke auf dem Rücksitz seines Wagens und schlief. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass ein Fenster weit genug geöffnet war, dass frische Luft hereinkam, stieg er aus, schloss die Tür ab und ging zum Gartencenter. Fünf Minuten später hatte er Anna gefunden. Sie stand neben einem Wagen, der mit Pflanzen voll geladen war, und hatte ihm den Rücken zugewandt. Sie unterhielt sich mit einem Mann, der sie förmlich anhimmelte. Als sie leise lachte, verspürte Ward eine so starke Abneigung gegenüber diesem Fremden, dass ihm der Atem stockte. Wütend sagte er sich, dass er lediglich fürchtete, der Mann könnte unbeabsichtigt etwas zu ihr gesagt haben, das ihr Misstrauen ihm, Ward, gegenüber weckte und seine Pläne durchkreuzte. Besorgt eilte er auf Anna zu und sah, wie der Fremde ihren Arm umfasste und sie näher zu sich zog, um jemanden vorbeizulassen. Wenige Sekunden später stand er neben ihr und funkelte den Mann herausfordernd an. "O Ward!" rief Anna. Sein plötzliches Auftauchen hatte sie erschreckt und Schuldgefühle in ihr geweckt. "Tut mir Leid,
dass es so lange gedauert hat", fügte sie hinzu, als sie seinen grimmigen Blick bemerkte. "An der Kasse war eine lange Schlange, und dann habe ich auf dem Weg nach draußen noch Tim getroffen." Als sie ihn mit Tim bekannt machte, zwang Ward sich, dessen unsicheres Lächeln zu erwidern. Der Ausdruck in ihren Augen bewies ihm, dass sie ihm gegenüber nicht das geringste Misstrauen hegte. Doch aus irgendeinem Grund legten sich seine Wut und seine Abneigung Tim gegenüber nicht. Was ist bloß mit mir los? fragte Ward sich gereizt. Man sollte meinen, er wäre eifersüchtig. Eifersüchtig. Das war wirklich lächerlich. Er war nie eifersüchtig. "Es tut mir Leid, dass du so lange warten musstest", entschuldigte Anna sich wieder, sobald sie allein waren. Als sie zum Wagen zurückkehrten, schwieg Anna, doch Ward merkte, dass sie ihn ansah. "Ich habe dich nur gesucht, weil Missie unruhig geworden ist", schwindelte er. Sie sagte nichts, aber er bemerkte den Blick, mit dem sie den friedlich schlafenden Hund betrachtete, als er die Pflanzen in den Kofferraum stellte. Als sie zehn Minuten später mit Missie, die ungeduldig an der Leine zog, zum Fluss gingen, musste Ward sich eingestehen, dass er wohl überreagiert hatte. Wären Anna und er tatsächlich ein Paar gewesen, hätte er sich vielleicht zu seiner Eifersucht bekannt, doch wie sollte er sich zu seiner Eifersucht bekennen, wenn er die Frau, um die es ging, nicht einmal mochte, geschweige denn liebte? Das lag nur an meinem natürlichen männlichen Instinkt, versuchte er sich einzureden, als er Anna durch die Sperre half, die zu dem Weg am Fluss führte. Während sie schweigend nebeneinander hergingen, musste Anna sich eingestehen, wie sehr es sie entmutigte, dass sie so wenig über Ward wusste. Sein Zorn hatte sie verwirrt, denn er hatte in krassem Widerspruch zu seinem vorherigen Verhalten
gestanden. War Ward womöglich ein leicht aufbrausender Mann? Sie beobachtete, wie er wartete, während eine junge Frau mit drei Kindern und drei Hunden durch die Sperre vor ihnen ging. Eines der Kinder und einer der Hunde standen noch davor. Ward wartete geduldig und bot ihr sogar an, solange die Leine zu halten, woraufhin ihm die junge Mutter ein dankbares Lächeln schenkte. So verhielt sich kein leicht aufbrausender Mann. Instinktiv trat Anna näher zu ihm und legte ihm besitzergreifend eine Hand auf den Arm. Die junge Frau stellte keine Bedrohung dar, aber trotzdem ... Ihre Gefühle überraschten und verwirrten Anna. Ihre Augen blitzten, als sie sah, wie Ward die junge Mutter anlächelte. Wie konnte er es wagen, sie so anzusehen, so anzulächeln ... so mit ihr zu flirten? Sie bekam Kopfschmerzen und fühlte sich erschöpft. "Ich finde, wir sollten zum Wagen zurückkehren", sagte sie steif. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich ab und ging zurück. Sie schämte sich ihrer Gefühle. Auf der Rückfahrt dachte Ward, dass es Annas gutes Recht war, wütend auf ihn zu sein. Er hatte übertrieben reagiert, doch wenn er es eingestand, musste er auch Gefühle eingestehen, die er auf keinen Fall zulassen durfte. Er durfte nicht vergessen, warum er in ihr Leben getreten war und sich mit Anna eingelassen hatte ... Die leidenschaftliche Reaktion seines Körpers auf sie verwirrte ihn. Als sie zu Hause ankamen, hatte Anna starke Kopfschmerzen, doch das war keine Entschuldigung für ihr Verhalten, wie sie sich sagte. Wie hatte sie auf die junge Mutter nur so eifersüchtig sein können? Sie spürte, dass solche Gefühle ihr normalerweise fremd waren, und dennoch hatte sie sie empfunden, und das brachte sie durcheinander und machte ihr Angst.
Das Telefon klingelte, als sie das Haus betraten. Anna ging hin und nahm ab. Mit einer Hand massierte sie sich die schmerzende Schläfe, als sie die Stimme ihrer Patentochter erkannte. "Beth! Wie geht es dir?" "Gut ...Und dir?" Anna zögerte einen Moment. Wenn sie Beth die Wahrheit sagte, wurde diese ihr Fragen stellen, und dem fühlte sie sich einfach nicht gewachsen. "Gut", schwindelte sie daher. "Ich wollte dich schon früher anrufen, aber ich bin erst heute Morgen zurückgekommen", sagte Beth. "Alle lassen dich herzlich grüßen. Ich soll dich von Mum daran erinnern, dass sie bald silberne Hochzeit haben. Sie wollen groß feiern, und du sollst natürlich dabei sein." Anna atmete langsam aus. Offenbar hatte Beth ihre Eltern in Cornwall besucht. Und zweifellos hatte sie, Anna, davon gewusst, obwohl sie sich jetzt nicht mehr daran erinnern konnte. "Ich muss Schluss machen. Ich melde mich bald wieder", erklärte Beth dann und verabschiedete sich von ihr, bevor Anna etwas erwidern konnte. Beth, die in ihrem Wohnzimmer saß, schloss die Augen und seufzte leise. Sie wusste, dass sie ihrer Patentante gegenüber etwas kurz angebunden gewesen war, doch diese war so feinfühlig und hätte bestimmt gemerkt... Schnell sah Beth die Post durch, die sie auf dem Weg nach oben aus dem Briefkasten genommen hatte, und verspannte sich, als sie den Luftpostumschlag aus Prag entdeckte. Ihr Mund war ganz trocken, als sie den Umschlag aufriss. Er enthielt die Kopie einer Versandanzeige über einige der Töpferwaren, die sie auf ihrer Einkaufsreise nach Prag bestellt hatte. Auf das wunderschöne Kristall, das nach altem Vorbild gefertigt wurde, wartete sie immer noch. Erst letzte Woche hatte
Kelly gesagt, sie wäre enttäuscht, dass es noch nicht eingetroffen wäre. "Wann kommt es denn nun genau?" hatte sie neugierig gefragt. "Bald", hatte sie, Beth, erwidert und die Finger hinter dem Rücken gekreuzt. "Sehr bald." Der forschende Blick, den Kelly ihr zugeworfen hatte, war ihr nicht entgangen. Sie kannte Kelly von der Universität und war froh darüber, dass diese nun mit ihrem Verlobten beschäftigt war und sich daher nicht allzu eingehend nach dem Verbleib des Kristalls aus Tschechien erkundigte. Für sie, Beth, war es schlimm genug, dass alle erfahren hatten, dass sie auf Julian Cox hereingefallen war ... Wütend schloss sie die Augen. Noch immer war sie ziemlich aufgewühlt. Daher war sie froh darüber, dass Kelly das Wochenende mit Brough bei seiner Familie verbrachte. Annas Stimme hatte am Telefon ein wenig gequält geklungen. Falls sie ihre Patentante dadurch verletzt hatte, dass sie sich in letzter Zeit ein wenig zurückgezogen hatte, würde sie es wieder gutmachen ... später, wenn sie sich eher dazu in der Lage fühlte. Vorerst wollte sie ihr, soweit es möglich war, aus dem Weg gehen, denn Anna sollte auf keinen Fall erfahren ... Was? Dass sie zum zweiten Mal auf einen Mann hereingefallen war? "Was ist los?" erkundigte Ward sich scharf, als er sah, wie Anna sich die Schläfen massierte. Sie war sehr blass, und ihre Augen waren ganz klein. "Ich habe Kopfschmerzen", erwiderte sie misstrauisch. "Kopfschmerzen!" Sofort kam er zu ihr. "Seit wann? Warum hast du nichts gesagt? Ist dir übel? Kannst du ...?" "Ward, es sind nur Kopfschmerzen", fiel sie ihm ungeduldig ins Wort, bedauerte es jedoch, als sie seinen Gesichtsausdruck sah.
Ward betrachtete sie grimmig und dachte daran, was der Arzt zu ihm gesagt hatte. Er wollte sie nicht in Panik versetzen, aber ... "Komm", sagte er leise und umfasste ihren Arm. "Wohin gehen wir? Ich wollte gerade das Mittagessen aufsetzen ..." "Wir fahren ins Krankenhaus", verkündete er. "Ins Krankenhaus? Warum? Ich ..." "Der Arzt hat mir geraten, auf Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindelgefühle, Übelkeit oder Sehstörungen zu achten", erklärte er sanft. "Ich habe bloß Kopfschmerzen, das ist alles ... Ich habe keine Sehstörungen." Obwohl sie in Panik geriet, ließ sie sich von Ward zum Wagen führen. Zum Glück war in der Notaufnahme im Krankenhaus nicht viel los und der Arzt, der sie am vergangenen Abend behandelt hatte, im Dienst. Anna bestand darauf, dass Ward bei ihr blieb, während der Arzt sie befragte und anschließend untersuchte. "Hm", meinte er, als er fertig war. "Haben Sie oft Kopfschmerzen?" "Manchmal habe ich Spannungskopfschmerzen", erwiderte sie. "Ich glaube, dass es sich hier auch um Spannungskopfschmerzen handelt", erklärte er. "Soweit ich es beurteilen kann, ist alles in Ordnung. Sie sagten, bisher hätten Sie sich an nichts erinnern können?" "Nein, an nichts", bestätigte sie deprimiert. "Ich habe dir doch gesagt, dass es nur Kopfschmerzen sind", sagte Anna, als Ward und sie wieder im Wagen saßen. "Ich weiß, aber wir mussten trotzdem sichergehen." Sie hatte so verloren gewirkt, so ... so traurig, als der Arzt sie gefragt hatte, ob sie sich bisher an nichts hätte erinnern können. Er, Ward, hätte sie in dem Moment am liebsten in die Arme genommen und ihr gesagt, dass sie sich keine Sorgen zu machen
brauchte und es ihm völlig egal war, ob sie je das Gedächtnis wiedererlangen würde. Dass er ... Anna zuckte erschrocken zusammen, als er auf die Bremse trat und wütend herunterschaltete. "Tut mir Leid", sagte er leise und mied ihren Blick, als er den Wagen in ihre Auffahrt lenkte. Nachdem sie das Haus betreten hatten, ging Ward sofort nach oben. Im Schrank im Bad hatte er Kopfschmerztabletten gesehen. Er nahm zwei heraus, ging wieder nach unten und füllte in der Küche ein Glas mit Wasser. Anna legte gerade die Lammkeulen in den Bräter. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Er tippte ihr auf die Schulter und reichte ihr das Glas und die Tabletten. ,,Hier, nimm die. Vielleicht helfen sie ja." Ihre Augen füllten sich mit Tränen, denn sie war es nicht gewohnt, dass jemand sich um sie kümmerte ... sie liebte. Ihre Gefühle überwältigten sie, und zu ihrer Bestürzung begann sie zu zittern. Sie stürmte an Ward vorbei und lief nach oben. Es war lächerlich. Sie benahm sich wie eine Idiotin. Er holte sie ein, als sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete. "Was ist los, Anna? Was habe ich getan?" fragte er besorgt. Anna schüttelte den Kopf. "Es liegt nicht an dir, sondern an mir", erwiderte sie unter Tränen. "Heute Morgen, auf dem Weg am Fluss ... die junge Mutter ... Ich war so eifersüchtig, aber normalerweise werde ich nicht eifersüchtig. Du hast ihr nur geholfen, aber ich dachte ... Einen Moment lang wollte ich ..." Sie verstummte beschämt. "Ich habe sie gehasst, Ward", fügte sie schließlich heiser hinzu. "Ich konnte es nicht ertragen, wie sie dich angelächelt hat... und wie du sie angesehen hast... Ich wollte ..." Starr blickte Ward sie an.
"Hast du deswegen Kopfschmerzen bekommen?" erkundigte er sich. Anna lächelte schwach. "Nein, die Kopfschmerzen hatte ich schon, aber es hat mir tatsächlich Kopfschmerzen bereitet", gestand sie zerknirscht. "Ward, ich war so eifersüchtig ..." Er atmete tief durch. Da sie so offen war, musste er ihr gegenüber auch ehrlich sein. "Ich war auch eifersüchtig ... vorher, im Gartencenter. Dieser Mann ... Tim ... Er hat deinen Arm berührt, und ich wollte ... Ich hätte ihn..." "Du warst eifersüchtig auf Tim und nicht wütend, weil ich so lange weg war? O Ward, Tim ist nur ein guter Freund von mir, und er ist glücklich verheiratet ..." Sie lachte. "Du kannst unmöglich eifersüchtig auf ihn gewesen sein ..." "Und du kannst unmöglich eifersüchtig auf die junge Frau gewesen sein." Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er Anna in die Arme genommen hatte. Glücklich schmiegte sie sich an ihn und blickte zu ihm auf. "Das Problem ist wahrscheinlich, dass wir uns noch nicht so lange kennen und einander noch nicht sicher sind. Unsere Gefühle sind noch sehr ... sehr intensiv ... sehr ... leidenschaftlich ..." Sie verstummte, denn er hatte begonnen, ihre Wange zu streicheln, und zog nun die Konturen ihrer Lippen nach. Als sie leise seufzte und er ihren Atem spürte, flammte heftiges Verlangen in ihm auf. Dann umschloss sie seine Fingerspitze mit den Lippen und begann daran zu saugen. Ward schmolz förmlich dahin. Ehrlichkeit ist ein gefährliches Aphrodisiakum, dachte er benommen, als Anna leise aufstöhnte und dann den nächsten Finger mit den Lippen umschloss. "Hast du eine Ahnung, was du mir damit antust?" fragte er verzweifelt.
"Hm ... Nein ... Warum sagst du es mir nicht?" meinte sie herausfordernd. "Es könnte sich ungefähr so anfühlen." Sanft liebkoste er ihren Nacken mit dem Mund. "Hm ..." Seufzend schloss sie die Augen. "Du hast wirklich viel zu viel an", sagte er wenige Sekunden später rau und knöpfte ihre Bluse auf. "Dasselbe könnte ich von dir behaupten", bestätigte Anna heiser. Wenn er bereits auf diese erotische Geste so ansprach, wie würde er dann erst reagieren, wenn sie ihn an noch empfindsameren Stellen mit den Lippen liebkoste? Ralph und sie hatten im Bett niemals herumexperimentiert, denn sie waren beide etwas schüchtern und unerfahren gewesen. Nun entdeckte sie, Anna, jedoch eine Experimentierfreudigkeit an sich, die sie zugleich verwirrte und erregte. Ungeduldig zerrte sie an Wards Hemdknöpfen und küsste dabei seinen Hals. Seine Haut schmeckte genauso wie in der letzten Nacht - würzig und sehr männlich. "Hm ... Du schmeckst gut", sagte Ward, als er die Lippen über ihre Brüste gleiten ließ. Im Handumdrehen hatten sie sich gegenseitig ausgezogen. Fasziniert betrachtete Anna Wards nackten Körper und begann dann, ihn überall zu streicheln und zu küssen. Zuerst wollte Ward sie davon abhalten, denn er war es nicht gewohnt, passiv zu sein. Doch sie blieb hartnäckig. "So habe ich mich noch nie verhalten", erklärte sie leise. "Woher weißt du das, wenn du dich nicht daran erinnern kannst?" , "Ich weiß es einfach", sagte sie schlicht, und als er ihr in die Augen sah, glaubte er ihr. Ihre Berührungen waren alles andere als routiniert und gekünstelt, und er zügelte sein Verlangen, um sie zu betrachten, während sie seinen nackten Körper erforschte.
"Alles an dir ist perfekt", flüsterte sie und warf ihm einen entrüsteten Blick zu, als er lachte. "Vor zwanzig Jahren hätte ich dir vielleicht geglaubt", meinte er. "Aber jetzt..." Er verstummte und lachte schallend. "Es stimmt aber", protestierte sie. "Für mich bist du perfekt..." "Aha ..." begann er, doch sie ließ ihn nicht ausreden. "Warst du wirklich eifersüchtig auf Tim?" fragte sie. "Ja", bestätigte er ruhig und hielt ihren Blick fest. "Sehr sogar." Anna seufzte glücklich. "Dazu hast du keinen Grund, Ich hätte nie gedacht, dass ich je so empfinden würde." Nach einer Pause fügte sie hinzu: "Hast du ...Gibt es...?" "Nein ... momentan nicht", erwiderte Ward prompt. "Meine Mutter ..." Er verstummte unvermittelt. "Erzähl mir von deiner Familie, Ward", ermunterte sie ihn, während sie die Finger durch sein Brusthaar gleiten ließ. "Da gibt es nicht viel zu erzählen, und du kennst meine Familie nicht." Er wollte nicht über das Thema sprechen, doch Anna ließ nicht locker. "Erzähl mir von deinem Haus. Kenne ich es?" "Nein!" Ward umfasste ihr Gesicht und zog sie zu sich herunter, um sie zu küssen. Es ist eine gute Möglichkeit, sie zum Schweigen zu bringen, aber auch nicht ganz ungefährlich, sagte er sich wenige Sekunden später. Er hatte sich geschworen, der Versuchung nicht zu erliegen oder dieselben Fehler zu machen wie in der vergangenen Nacht, doch Anna ließ die Fingerspitzen immer tiefer gleiten, und allein die Vorstellung, wie sie seine intimste Stelle streichelte, ließ ihn aufstöhnen. "Du bist so groß", sagte sie erstaunt, als sie ihn dort berührte. Ward sah sie ein wenig misstrauisch an, stellte aber fest, dass sie ganz unschuldig wirkte. Wenn er eitel gewesen wäre, hätte er
dem verlangenden Ausdruck in ihren Augen leicht erliegen können. "Und du bist so ... du selbst", erwiderte er rau, als er erneut die Arme nach ihr ausstreckte. Von da an dauerte es eine ganze Weile, bis einer von ihnen wieder etwas Zusammenhängendes sagte. Allerdings hatten sie keine Probleme, die Koseworte und Zärtlichkeiten, die sie einander zuflüsterten, zu verstehen. "O Ward", flüsterte Anna und wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte, als sie anschließend in Wards Armen lag. Noch immer zitterte sie unter dem Eindruck ihrer leidenschaftlichen Begegnung. "O Ward was?" fragte Ward trocken. "O Ward, ich bin so froh, dass du ein Teil meines Lebens bist, dass ich dich kennen gelernt habe, dass du hier bei mir bist", sagte sie leise. Er schwieg einen Moment. "Ich auch", meinte er schließlich schroff. Zuerst konnte er kaum glauben, was er da gesagt hatte. Es kam einer Liebeserklärung gleich. Was, zum Teufel, machte er bloß? Was ging in ihm vor? "Ward?" Ward verspannte sich, als Anna sich unvermittelt im Bett aufsetzte. Was war los? Hatte sie plötzlich das Gedächtnis wiedererlangt? "Was ist?" fragte er. "Ich habe Missie und Whittaker heute noch gar nicht gefüttert. Und die Lammkeulen habe ich auch noch nicht in den Backofen getan..." "Bleib hier. Ich gehe nach unten und kümmere mich darum." Er blieb nur wenige Minuten weg, und als er zurückkam, lächelte er breit. "Was ist?" erkundigte Anna sich misstrauisch, als er sich wieder zu ihr ins Bett legte. "Warum lächelst du so?"
"Die Lammkeulen kannst du wohl vergessen. Ach, und Missie und Whittaker brauchst du auch nicht mehr zu füttern." "O nein! Sie haben die Lammkeulen gefressen!" "Das fürchte ich auch", meinte er lachend. "Anscheinend hatten sie keine Lust mehr, auf uns zu warten, und haben beschlossen, sich selbst zu bedienen." "Jetzt haben wir aber nichts zu essen mehr", beschwerte sie sich. "Wer denkt schon ans Essen?" "Stimmt. Wer denkt schon ans Essen, wenn wir einander haben?" bestätigte sie verträumt.
8. KAPITEL "Und wenn du mit mir tauschen und nächste Woche meine ,Essen auf Rädern'-Touren übernehmen könntest, würde ich ..." Annas Besucherin verstummte und errötete verlegen, als Ward in die Küche schlenderte. "Ich habe den Reifen an deinem Wagen gewechselt. Zum Glück habe ich gemerkt, dass ein Nagel darin war", verkündete er. "Mary, das ist ... Ward, mein ... mein Freund", sagte Anna schnell, als sie Marys neugierigen Gesichtsausdruck sah. "O ja, verstehe ... Dein ... Freund ... Ich hatte ja keine Ahnung ... Ich muss jetzt wirklich los. Es war nett, Sie kennen zu lernen ...Ward..." "Was hatte das denn zu bedeuten?" fragte Ward, nachdem Mary gegangen war. "Sie wollte, dass ich mit ihr den Dienst für ,Essen auf Rädern' tausche", erklärte Anna. Er runzelte die Stirn. Es war jetzt drei Tage her, dass er bei ihr eingezogen war, und bisher hatte nichts darauf hingedeutet, dass ihr Erinnerungsvermögen wieder einsetzte - und genauso wenig hatte er an seinem Vorsatz festgehalten, auf Abstand zu ihr zu bleiben. Ward verzog das Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie Anna ihn letzte Nacht in Versuchung geführt hatte. "Es ist
albern, dass du in dem Zimmer schläfst und ich ..." hatte sie geflüstert. "Der Arzt hat gesagt, du sollst dich schonen", hatte er erklärt. "Ja, aber vielleicht bekomme ich starke Kopfschmerzen, wenn wir nicht in einem Bett schlafen", hatte sie ihn geneckt. Als er an diesem Morgen aufgewacht war, hatte Anna dicht an ihn geschmiegt neben ihm gelegen, und dann ... Das war es allerdings nicht, was ihm Sorgen machte. Früher oder später würde irgend jemand wissen wollen, was er bei Anna machte, und das konnte er sich nicht leisten - jedenfalls nicht jetzt. Wenn sie das Gedächtnis wiedererlangte und ihm Vorwürfe machte, würde er sich damit auseinander setzen. Schließlich würde er ihr vor Augen führen, was sie getan hatte. Doch bis dahin ... Der Anblick eines Ölflecks auf seinem letzten sauberen Hemd erinnerte Ward an etwas anderes. Spontan fasste er einen Entschluss. "Ich muss für... für einige Tage nach Hause fahren", sagte er leise, "um meine Post durchzusehen, einige Telefonate zu erledigen ..." "O ja, natürlich." Anna versuchte, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen, aber ihr war klar, dass es ihr nicht gelang. Sie wollte nicht, dass Ward wegfuhr, und sie würde ihn schrecklich vermissen. "Ich möchte, dass du mitkommst", fügte Ward schnell hinzu. "Mitkommen?" Verblüfft sah sie ihn an. "Aber was ist mit Missie und Whittaker?" "Die können auch mitkommen." Bei der Vorstellung, ihn zu begleiten, sein Haus zu sehen und vielleicht sogar seine Freunde kennen zu lernen, schlug ihr Herz höher. "Sehr gern, Ward", erwiderte sie strahlend. "Was ist das eigentlich mit Anna und dem Mann, der bei ihr wohnt?" fragte Kelly neugierig. "Was für ein Mann? Ich weiß nicht, wovon du redest." Ungläubig blickte Beth ihre Freundin und Partnerin an. "Das
kann nicht sein. Anna hätte es uns erzählt. Außerdem ist sie nicht... würde sie nicht..." Sie verstummte und fügte schließlich hinzu: "Sie ist nicht so." Kelly wusste genau, was Beth meinte. Anna war zwar eine attraktive, begehrenswerte Frau, doch sie wirkte sehr schüchtern, ja, rein. Daher konnte sie, Kelly, sich schlecht vorstellen, dass Anna mit einem Mann flirtete, geschweige denn einen bei sich einziehen ließ. "Bestimmt handelt es sich um ein Missverständnis", erklärte Beth unbehaglich. "Mary Charles zufolge nicht. Offenbar hat sie ihn im Haus gesehen, als sie Anna besucht hat. Anna hat ihn als ihren ,Freund' vorgestellt." "Vielleicht weiß Dee es." "Schon möglich", bestätigte Kelly, "aber sie ist bei ihrer Tante in Northumberland." "Ach ja, natürlich, das hatte ich ganz vergessen." Kelly betrachtete Beth nachdenklich. In letzter Zeit wirkte Beth oft geistesabwesend und distanziert, und wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie angenommen, dass Beth etwas vor ihr verbarg. Doch das war einfach nicht ihre Art, genauso wenig wie es Annas Art war, mit einem "Freund" zusammenzuwohnen. "Meinst du, eine von uns sollte zu Anna fahren?" fragte Beth schließlich. "Hm, Annas Privatleben geht uns im Grunde nichts an. Allerdings ... Ich werde mit Brough sprechen. Mal sehen, was er dazu sagt", erbot sich Kelly. "Brough weiß bestimmt, was zu tun ist", erwiderte Beth. Ihre Patentante war gut gestellt, und es gab einige Männer im Ort, die nur darauf warteten, das Vertrauen einer verletzlichen Frau zu missbrauchen. Sie, Beth, war beispielsweise auf Julian Cox hereingefallen. Sie hatte sich der Illusion hingegeben, dass er sie liebte, dabei war er nur auf ihr Erbe aus gewesen.
Jedenfalls hatte sie ihre Lektion gelernt, und sie würde diesen Fehler nicht noch einmal machen. Am Besten behandelte man die Männer genauso gleichgültig, wie sie die Frauen behandelten. Schließlich war es nicht verwerflich, Sex um seiner selbst willen zu genießen und die Männer genauso zu benutzen, wie sie die Frauen benutzten ... Energisch hob Beth das Kinn. Nein, es war überhaupt nichts dabei, auch wenn eine gewisse Person der Meinung zu sein schien. "Träum nicht, Beth", bemerkte Kelly trocken. Beth errötete schuldbewusst und riss sich zusammen. "Sicher hat Mary da etwas in den falschen Hals bekommen. Der Mann, den sie gesehen hat, war vermutlich nur ein guter Freund von Anna." "Hm, ich glaube, du hast Recht", meinte Kelly. "Brough, ich mache mir Sorgen um Anna." Brough blickte von den Unterlagen auf, die er gerade studierte, und sah Kelly an. "Was ist los mit ihr?" erkundigte er sich ruhig. "Wenn es ihr nicht gut geht..." "Nein, das ist es nicht", entgegnete Kelly schnell und schüttelte den Kopf. "Es ist... Na ja, sie ist verschwunden, und niemand scheint zu wissen, wo sie steckt. Ich bin gestern zu ihr gefahren. Es war alles verschlossen, und niemand war da, auch Missie und Whittaker nicht." "Vielleicht hat sie beschlossen, endlich einmal Urlaub zu machen", sagte Brough. "Nein, dann hätte sie Bescheid gesagt. Ach, ich wünschte, Dee wäre hier." "Hast du Beth gefragt, ob sie irgendetwas weiß?" "Sie weiß nichts. Allerdings hat es in letzter Zeit auch keinen Sinn, mit Beth zu reden. Sie scheint in ihrer eigenen Welt zu leben. Irgendetwas ist in Prag vorgefallen." Für einen Moment dachte sie nicht mehr an Anna, sondern an Beth. "Aber immer
wenn ich versuche, mit ihr darüber zu sprechen, zieht sie sich zurück. Irgendetwas bedrückt sie. O Brough, ich mache mir solche Sorgen um Anna. Es ist nicht ihre Art, einfach zu verschwinden, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen." Brough stand auf und kam zu ihr. Er betrachtete sie stirnrunzelnd. "Seit sie verwitwet ist, lebt sie ihr eigenes Leben", erklärte er sanft. "Ja, ich weiß, und ich weiß auch, was du denkst", sagte Kelly vorwurfsvoll. "Du glaubst, ich übertreibe. Na ja, vielleicht tue ich das auch, aber ich mache mir nun mal Sorgen." Sie machte eine Pause und sah ihn an, bevor sie verkündete: "Julian Cox ist auch verschwunden." Als sie den wütenden Gesichtsausdruck ihres Verlobten sah, wünschte Kelly, sie hätte das Thema nicht anschneiden müssen, denn Julian Cox hätte beinah ihre Liebe zerstört. Doch ihre Sorge um ihre Freundin war stärker. "Ich habe es in der Stadt gehört, und Harry hat es bestätigt. Anscheinend hat Julian Cox die Stadt verlassen, als wir weg waren. Er ist einfach so verschwunden und hat einen großen Schuldenberg hinterlassen. Niemand weiß, wo er sich aufhält." "Was mich betrifft, ist er hoffentlich weit weg", bemerkte Brough grimmig. Harry war mit Broughs Schwester Eve verlobt und Dees Cousin. Dass sie, Kelly, und Brough zusammengekommen waren, hatten sie Dee zu verdanken. Daher hatte er auch großzügig darüber hinweggesehen, dass Dee bei ihrem Rachefeldzug gegen Julian Cox auch andere Leute und Ereignisse manipuliert hatte. "Du glaubst doch nicht, dass Annas Verschwinden etwas mit Julian zu tun hat, oder?" erkundigte sich Kelly unsicher.
Brough zog die Augenbrauen hoch. "Du willst doch nicht etwa andeuten, dass Anna sich in ihn verliebt hat...?" "Natürlich nicht", unterbrach sie ihn ungeduldig. "Ich meinte, was ist, wenn ...?" Sie verstummte, unfähig, den schrecklichen Verdacht in Worte zu fassen. "Brough", fuhr sie schließlich leise fort, "was ist, wenn er sie gezwungen hat, ihn zu begleiten? Du weißt ja, wie dringend er Geld brauchte." "So viel Geld hat Anna nicht, oder? Ich weiß, dass sie gut gestellt ist, aber ... Was ist, Kelly?" fragte er streng. "Du verschweigst mir doch etwas." Kelly war hin und hergerissen zwischen ihrer Loyalität Anna gegenüber und der Sorge um sie. Schließlich gewann die Sorge um sie die Oberhand. "Dee und Anna wollten Julian dazu bringen, sich zu verraten. Er hatte Anna gegenüber angedeutet, dass er ein Darlehen brauchte ... Um es kurz zu machen, Anna hat ihm zu verstehen gegeben, dass sie eine größere Summe hat, die sie anlegen möchte..." Einen Moment lang herrschte spannungsgeladenes Schweigen. "Ach so", meinte Brough dann leise. "Das lässt die Sache in einem anderen Licht erscheinen. Hast du mit Dee über Annas Verschwinden gesprochen?" Kelly schüttelte den Kopf. "Nein, sie ist in Northumberland." "Hm... Weißt du, ich habe den Eindruck, dass viel mehr hinter ihrem Wunsch, Julian Cox zu bestrafen, steckt, als sie euch gesagt hat." "Ja, ich glaube, du hast Hecht", bestätigte sie. "Ich habe auch schon oft darüber nachgedacht, aber ..." "Hat sie denn gar nichts angedeutet?" "Nein, nichts. Dee gehört nicht gerade zu den Menschen, die einen ermuntern, persönliche Fragen zu stellen. Zuerst dachte ich, Dee wäre auch einmal in ihn verliebt gewesen, aber das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen."
"Ich auch nicht", erwiderte er. "Vielleicht weiß Harry etwas." "Schon möglich, aber erst einmal müssen wir herausfinden, was mit Anna ist. Wer außer Beth könnte noch wissen, wo sie steckt?" "Entweder Dee oder du - aber da ist noch etwas, Brough. Als Mary Charles Anna vor kurzem besucht hat, war ein Mann bei ihr." "Ein Mann?" Brough sah sie verblüfft an. "Ja. Mary dachte ... Also, anscheinend hat Anna ihn ihr als ,Freund' vorgestellt." "Als Freund?" Er wirkte leicht irritiert. "Was soll das heißen?" "Ich meine, als ..." Kelly verstummte. Was hatte es für einen Zweck, es ihm zu erklären? Schließlich war er ein Mann. Außerdem hörte er sowieso nicht zu, denn er ergriff wieder das Wort. "Hat diese ... diese Mary Charles auch gesagt, wie der Mann hieß? Wenn ja, könnten wir uns mit ihm in Verbindung setzen und ihn fragen, ob er etwas über Annas Verschwinden weiß." "Ja und nein. Sie sagte, Anna hätte ihn ihr als ,Ward' vorgestellt, aber nicht seinen Nachnamen genannt." "Das ist wirklich sehr hilfreich." Brough wirkte entnervt. "Dir ist doch klar, dass Anna ihre Gründe dafür haben könnte, nicht über diesen Ward zu sprechen, wenn sie eine ... Beziehung mit ihm hat, oder?" "Wenn das der Fall wäre, hätte sie ihn Mary nicht vorgestellt", konterte sie. "Außerdem passt es einfach nicht zu Anna. Sie ist schüchtern und ... vorsichtig. Ich mache mir wirklich Sorgen um sie", fügte sie leise hinzu. "Wir wissen beide, wie ... gewalttätig Julian sein kann. Wenn etwas schief gegangen ist und er herausgefunden hat, dass Dee und Anna ihm eine Falle stellen wollten.
"Hm ... Als Erstes sollten wir uns mit Dee in Verbindung setzen und herausfinden, ob sie etwas über Annas Pläne und ihren unbekannten Freund weiß." "Du hast doch gesagt, du würdest in einem alten Bauernhaus wohnen", sagte Anna verblüfft, als Ward den Wagen im Hof stoppte. Das Haus war wesentlich größer und imposanter, als sie erwartet hatte. "Das ist es auch, oder besser gesagt, das war es", erwiderte er. Es sah teils wie ein Gutshaus, teils wie eine kleine Festung aus, wie Anna befand, als Ward ihr die Wagentür öffnete. Selbst in dem Innenhof war es merklich kühler als in Rye. Als sie es ihm sagte, meinte er trocken: "Das liegt daran, dass es ein paar Hundert Meter höher liegt. Das Haus wurde von einer reichen Wollhändlerfamilie aus York erbaut. Es hatte einige Jahre leer gestanden, bevor ich es gekauft habe." "Es liegt ziemlich einsam", bemerkte sie. Sie waren meilenweit durch die Einsamkeit gefahren, und es war stetig bergauf gegangen, doch Anna musste zugeben, dass die scheinbar endlose Landschaft der Dales und der weite Himmel etwas Inspirierendes hatten. "Es kommt jedenfalls kein unangemeldeter Besuch", bestätigte Ward, und es war offensichtlich, dass er das als Vorteil betrachtete. Wenn es mein Haus wäre, hätte ich dem Hof mit Topf- und Hängepflanzen den strengen Charakter genommen, überlegte Anna, während Ward ihre Tasche aus dem Kofferraum nahm. "Hier entlang", sagte er und führte sie zu einer schweren alten Eichentür. Sie führte in einen schmalen, dunklen Flur mit Steinfußboden, in dem es eiskalt war. Anna fröstelte, als sie darauf wartete, dass Ward das Licht einschaltete. Dann sah sie, dass zwar alles blitzsauber war, jedoch sehr ungemütlich wirkte. Die einzige Tür, die von dem Flur abging, führte in eine große,
gut ausgestattete Küche. Erleichtert blickte Anna sich darin um. Die Einbauschränke waren aus Holz, außerdem gab es einen altmodischen Kohleherd und einen großen Eichentisch. Auch der Steinfußboden wirkte nicht so kalt, weil mehrere Flickenteppiche darauf lagen. "Schön", sagte Anna anerkennend. "Meine Mutter hat die Küche ausgesucht", informierte Ward sie. "Sie meinte, ich würde nie jemanden finden, der für mich kocht oder putzt, wenn ich keine anständige Küche habe. Ich zeige dir jetzt das Haus, und dann sollten wir erst mal etwas essen." Sie hatten, unterwegs angehalten, um eine Kleinigkeit zu essen, doch sie, Anna, hatte keinen Appetit gehabt, weil sie so aufgeregt war. Eine halbe Stunde später war ihre Aufregung anderen Empfindungen gewichen. Keines der Zimmer, die Ward ihr gezeigt hatte, nicht einmal sein Schlafzimmer, hatte eine persönliche Note. Selbst sein Arbeitszimmer war genauso karg wie die übrigen Räume. Das Haus an sich war nicht schlecht. Die Räume waren gut geschnitten und boten alle einen herrlichen Ausblick, die Möbel waren zwar schlicht, aber solide. Es wirkte nur furchtbar steril, denn es strahlte kein Leben, keine Wärme aus. Als sie Ward ansah, verspürte Anna Mitleid mit ihm. Das Haus war so ... ohne Liebe. Wäre es ihres gewesen ... Sie gestattete es sich, für einige Minuten zu träumen. Dem großen Schlafzimmer, das er ihr gezeigt hatte, musste man mit Stoffen, die zu dem Alter und dem Charakter des Hauses passten, den strengen Charakter nehmen - mit Damast in Königsblau und warmen Goldtönen, rubinrotem Samt und, passend zur Landschaft, kühler Leinenwäsche in Blau- und Grüntönen. Die Deckenlampe hätte sie durch mehrere Wandleuchten ersetzt und dem großen, kahlen weißen Bad durch dicke,
flauschige Handtücher eine behagliche Note verliehen. Der langweilige braune Teppich musste gegen einen helleren getauscht werden. Das breite Doppelbett brauchte eine ausgefallene Tagesdecke, auf den Sofas in den Wohnräumen mussten Kissen drapiert werden. An die kahlen Wände gehörten Bilder, auf die Beistelltische und Kommoden Vasen mit Blumen und Familienfotos. ' Familienfotos! Das war es, was dieses Haus brauchte, was ihm fehlte. Ihm fehlte eine Familie. Ihm fehlte Liebe, genauso wie sie Ward vielleicht gefehlt hatte, bevor sie sich kennen gelernt hatten. Die Kehle war Anna plötzlich wie zugeschnürt. Sie liebte ihn so sehr, sehnte sich so sehr nach ihm. Sie brauchte sich nur dieses Haus anzusehen, um zu wissen, dass er einmal sehr einsam gewesen sein musste. Als Ward Annas Mienenspiel beobachtete, dachte er unwillkürlich an seine Mutter. In ihren Augen hatte derselbe liebevolle, mitfühlende Ausdruck gelegen, als sie ihn zu überreden versucht hatte, doch in ihre Nähe und die seines Stiefvaters zu ziehen. "Es gefällt mir hier", hatte er beharrt. "Aber es ist so ... trostlos, Schatz", hatte sie erwidert und geseufzt. Er hatte lediglich mit den Schultern gezuckt. Ihr mochte das Haus trostlos erscheinen, er fühlte sich hier geborgen ... sicher. "Ich bringe deine Sachen nach oben ins Gästezimmer", sagte er zu Anna. "Es hat ein eigenes Bad, und wenn du Missie und Whittaker bei dir haben möchtest..." Das Gästezimmer. Anna sah Ward überrascht an. Sie hatte angenommen, sie würde in seinem Zimmer, in seinem Bett schlafen. Ward wusste, was Anna dachte, doch diesmal war er darauf vorbereitet. Er hatte während der Fahrt darüber nachgedacht und sich entschieden, was er tun - und sagen - musste.
"Die Einwohner von Ecclestone sind ein bisschen altmodisch", erklärte er, "und ich möchte nicht, dass Mrs. Jarvis auf falsche Gedanken kommt, was unsere Beziehung betrifft." Das stimmte auch. Er wollte nicht, dass seine Putzhilfe im Ort herumerzählte, Anna und er wären ein Paar. Seine Mutter hatte noch Bekannte in dieser Gegend, und früher oder später würde sie es auch erfahren. Und dann ... Seine Mutter wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er wieder heiratete und eine Familie gründete, nicht ihr zuliebe, wie sie ihm immer versicherte, wenn sie das Thema ansprach und das tat sie fast jedes Mal -, sondern um seinetwillen. Falls sie auch nur annahm, dass es eine Frau in seinem Leben gab, würde sie Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit diese Frau auch bei ihm blieb. Allerdings gefiel ihm die Vorstellung, dass man im Ort über ihn klatschte, überhaupt nicht. In dieser Hinsicht hatte er nach dem Scheitern seiner Ehe schon genug ertragen müssen. Aber das war natürlich nicht der einzige Grund, warum er nicht mit Anna in einem Zimmer schlafen wollte! Es ist süß von Ward, dass er so ritterlich ist, dachte Anna, aber ich würde lieber... "Wir sind beide erwachsen", erinnerte sie ihn sanft. "Und wir können beide ... unser Leben leben, wie wir wollen." Ernst blickte sie ihn an, doch ihr war klar, dass er seine Meinung nicht ändern würde. Es wäre nicht schwer gewesen, ihn dazu zu bringen. Wenn sie sich jetzt an ihn schmiegte, ihn berührte, verführte ... Allerdings passte es nicht zu ihr. Sie wollte, dass Ward sie begehrte und sie so liebte, dass es ihm egal war, was die Leute dachten. Und wenn ihm die Meinung der anderen so wichtig war, konnte er auch dafür sorgen, dass niemand Anlass hatte, über sie zu klatschen. Nichts hätte sie davon abhalten können, sich auch in aller Öffentlichkeit das zu schwören, was sie einander bereits geschworen hatten.
Vielleicht kannten sie sich noch nicht so lange. Sie, Anna, kannte Ward jedenfalls lange genug, um sich ihrer Gefühle für ihn sicher zu sein und zu wissen, dass sie Ja sagen würde, wenn er um ihre Hand anhielt. "Was möchtest du morgen machen? Wir sind noch nicht in Lindisfarne gewesen, und außerdem ..." "Können wir nicht einfach hier bleiben?" fragte Anna. Sie war jetzt seit drei Tagen in Yorkshire, und jeden Tag hatte Ward darauf bestanden, etwas mit ihr zu unternehmen. Sie hatten einen Tag in York verbracht, das ihr sehr gut gefallen hatte, und einen in Harrogate. Ward war meilenweit durch die Dales gefahren und hatte ihr die Sehenswürdigkeiten seiner Heimat gezeigt. Sie hatten in traditionellen Pubs in kleinen Dörfern zu Mittag gegessen, in York und in Harrogates berühmter Teestube Tee getrunken und in Restaurants, die für ihre ausgezeichnete Küche bekannt waren, zu Abend gegessen. Doch sie, Anna, sehnte sich nur danach, mit Ward allein zu sein und zu wissen, dass er sie liebte und begehrte. Daher hätten ihr auch Brot und Käse und eine Flasche Wein genügt. Am Vortag waren sie durchs Moor gewandert und hatten sich schließlich an einem geschützten Fleckchen ausgeruht. Sie, Anna, sehnte sich danach, dass Ward sie in die Arme nahm, sie küsste und mit ihr schlief, so wie er es in Rye getan hatte, und einen Moment lang dachte sie auch, er würde es tun. Sie war über einen Stein gestolpert, und er hatte sie aufgefangen und fragte: "Alles in Ordnung?" Als sie nickte, ließ er den Blick zu ihrem Mund schweifen. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, und sie bebte vor Verlangen. Er kam noch näher, so dass sie seine Körperwärme spürte, und ihr Mund wurde ganz trocken. Automatisch befeuchtete sie sich die Lippen mit der Zunge. Daraufhin ließ Ward sie unvermittelt los und wandte sich ab. Es hatte sich allerdings so angehört, als hätte er aufgestöhnt.
Jetzt wünschte Anna, sie wäre etwas mutiger und könnte ihrer Sehnsucht Ausdruck verleihen, aber es war einfach nicht ihre Art. Dass sie das Gedächtnis verloren hatte, frustrierte sie immer mehr. Sie wusste nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte, wenn sie ihre Beziehung zu Ward nicht einschätzen konnte. Natürlich freute es sie, dass er sich um ihren Ruf sorgte, aber allmählich hatte sie das Gefühl, als würde ihre Beziehung in einer Art Vakuum existieren. Sie hatte keine Vergangenheit, zumindest keine, an die sie, Anna, sich erinnern konnte, und schien auch keine Zukunft zu haben, zumindest keine, über die Ward mit ihr sprechen wollte. Anna schüttelte den Kopf und versuchte, diese unerfreulichen Gedanken zu verdrängen. Vielleicht fühlte sie sich so unwohl, weil sie in den vergangenen beiden Nächten schlecht geträumt hatte. Beide Träume waren eine verwirrende Mischung aus Bildern, Gesichtern und Gesprächsfetzen gewesen, und sie hatte Verzweiflung, Angst und Wut verspürt. Sie hatte Wards Stimme gehört, aber was er im Zorn zu ihr gesagt hatte, hatte keinen Sinn ergeben, genauso wenig wie ihre verzweifelte Suche nach Geld. Mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher, ob es richtig gewesen war, Ward zu begleiten. Ward wandte Anna den Rücken zu und ging zur Spüle, um aus dem Fenster zu blicken. Es fiel ihm schwerer, Anna auf Distanz zu halten, als er gedacht hatte. Gestern im Moor hatte er sich so danach gesehnt, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Der verletzte Ausdruck in ihren Augen hatte ihm bewiesen, dass sie nicht verstand, warum er es nicht getan hatte. Allmählich wurde er es leid, sich ständig ins Gedächtnis zu rufen, warum er Anna hierher gebracht hatte. Was bedeuteten ihm schon fünftausend Pfund? Er hätte sogar den Verlust der zehnfachen Summe verschmerzen können. Es lag einzig und
allein an seinem verdammten Stolz. Wenn er nicht so entschlossen gewesen wäre, sie dazu zu bringen, das Geld an Ritchie zurückzuzahlen, wäre er jetzt nicht in dieser Lage. Wenn er noch einen Funken Verstand hatte, würde er sie gleich nach Hause bringen. Schließlich hatte sie Freunde, eine Patentochter, die sich um sie kümmern konnte, bis sie das Gedächtnis wiedererlangte. Er war nicht für sie verantwortlich. Was schuldete er ihr denn? Nichts. Sie schuldete ihm etwas, und zwar fünftausend Pfund. Dennoch war ihm klar, dass er ihr in gewisser Weise verpflichtet war. Er hätte sie niemals in dem Glauben lassen dürfen, dass sie ein Paar waren, und er hätte es auch nicht getan, wenn er nicht so wütend auf sie gewesen wäre. Dass er sie hinterging, würde ihn weitaus mehr als lediglich fünftausend Pfund kosten. Er würde es bis an sein Lebensende bedauern und ihr nachtrauern, wie er sich eingestehen musste. "Ward?" Ward verspannte sich, als er Annas Stimme direkt hinter sich hörte. Anna atmete tief durch, während sie darauf wartete, dass er sich zu ihr umdrehte. Sie wusste, was sie ihm zu sagen hatte, doch das machte es nicht gerade leichter. "Ich sollte jetzt nach Hause fahren", verkündete sie leise. Er wollte protestieren, tat es jedoch nicht. "Also gut", hörte er sich schroff sagen. "Wenn du unbedingt willst." "Ja", log sie. Durch das Küchenfenster sah sie den Hof. Es regnete in Strömen, und vom Fenster ihres Zimmers aus hatte sie gesehen, dass die Landschaft im Dunst dalag. "Ich gehe nach oben und packe meine Sachen", fügte Anna hinzu und wandte sich ab. "Der Tank ist fast leer. Ich fahre in den Ort und tanke, solange du packst", erklärte Ward kurz angebunden.
Ihm war alles recht, solange er nur auf Abstand bleiben konnte. Wenn er nicht wegfuhr, würde er sie bitten, ihre Meinung zu ändern. Wir verhalten uns wie Fremde, dachte Anna verzweifelt, als Ward seine Schlüssel nahm und zur Tür ging. Aber war er in gewisser Weise nicht auch ein Fremder für sie? Ein Fremder und ihr Liebhaber. In den vergangenen Nächten hatte er allerdings nicht mit ihr geschlafen. Sie hatte ihre Sachen gepackt, aber Ward war noch nicht zurück. Anna schnalzte mit der Zunge, als Whittaker ihr vom Arm sprang und durch die offene Tür ins Arbeitszimmer entwischte. Gereizt folgte sie ihm hinein und rief ihn zurück. Auf dem Schreibtisch lagen einige Papiere. Am Vorabend hatte Ward nach ihrer Rückkehr noch gearbeitet. Er war den ganzen Abend sehr still und distanziert gewesen, und irgendwann war sie ins Bett gegangen, ohne ihm gute Nacht zu sagen. Whittaker gehorchte nicht und sprang auf den Schreibtisch. Resigniert schimpfte sie mit ihm, als er sich auf die Papiere setzte. "Du dummer Kater", schalt sie ihn, als sie sich über den Schreibtisch beugte, um ihn hochzuheben. Geistesabwesend blickte sie auf die Unterlagen, um sich zu vergewissern, ob er Abdrücke darauf hinterlassen hatte. Dann erstarrte sie, als ihr ein Name ins Auge sprang. Julian Cox. Sie sah ihn vor sich, hörte seine Stimme. Vor Angst begann sie zu zittern. Sie hatte Dees Geld an ihn verloren, fünfzigtausend Pfund. Er hatte ihr mit seinen ständigen Anrufen Angst gemacht und sie gefragt, wann er das Geld bekommen würde, das sie ihm angeblich hatte anvertrauen wollen. Sie hatte sich von ihm bedroht gefühlt. Sie hatte Dee erzählen wollen, wie ihr zu Mute war, doch sie hatte sie nicht im Stich lassen wollen. Daher hatte sie ihre Angst
unterdrückt - mit katastrophalen Folgen. Wenn sie nicht den Mund gehalten hätte, hätte Dee das Geld vielleicht noch. Whittakers Miauen brachte Anna auf den Boden der Tatsachen zurück. Sie hatte sich plötzlich wieder erinnert. Sie zitterte immer noch, und Angstschweiß trat ihr auf die Stirn. Ihr war übel, und der Kopf tat ihr weh. Julian Cox. Jetzt erinnerte sie sich an ihn, aber was hatte er mit Ward zu tun? Es war, als würde man die Tür zu einem dunklen Keller öffnen und wissen, dass einen etwas Bedrohliches erwartete. Anna zwang sich, wieder auf die Papiere zu blicken und sie zu lesen. Als sie fertig war, war sie aschfahl. Es war ein Bericht über Julian Cox und sie als Partner einer Investmentgesellschaft. Wie in Trance ging sie in die Küche, gefolgt von Whittaker. Missie lag neben dem Herd in ihrem Körbchen. Sie sprang auf, als ihr Frauchen hereinkam, und lief zur Hintertür. Anna folgte ihr automatisch und öffnete die Tür. Dann folgte sie Missie in den Hof und in den Garten. Es regnete immer noch, doch sie nahm es überhaupt nicht wahr, als sie Missie den Hügel hinauf folgte. Sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ihre Gedanken überschlugen sich plötzlich. Ward und sie waren gar kein Paar. Er hatte sie aufgesucht und behauptet, sie hätte seinen Bruder betrogen. Jetzt erinnerte sie sich an alles. Der Weg wurde immer steiler. Sie war bis auf die Haut durchnässt, und das Haar klebte ihr am Kopf, aber sie bemerkte es kaum. Es war inzwischen nebelig, doch sie ging mechanisch weiter. Ward liebte sie nicht - er mochte sie nicht einmal. Aber er hatte mit ihr geschlafen und sie in dem Glauben gelassen ... Anna unterdrückte ein Schluchzen.
Warum? Warum hatte er das getan? Um sie zu bestrafen, ihr wehzutun. Ihr war übel, so sehr stand sie unter Schock. Missie, die vor ihr herlief, bellte plötzlich, und im nächsten Moment lief ein Kaninchen buchstäblich vor ihren Füßen über den Weg, so dass Anna beinah gestolpert wäre. Sie rief Missie zurück, doch die ignorierte es und jagte querfeldein dem Kaninchen hinterher. Ihre Zähne schlugen aufeinander. Ihr war so kalt, sie konnte kaum glauben, dass es Sommer war. Wieder rief sie nach Missie und blieb dann stehen und lauschte. Es war allerdings nichts zu hören. Schließlich ging sie auf eine Stelle zu, an der der Nebel noch dichter war, und stieß einen enttäuschten Laut aus, als sie feststellte, dass Missie nicht dort war. "Missie", rief Anna immer wieder, und prompt ertönte aufgeregtes Bellen. Erleichtert wandte sie sich in die Richtung, aus der es gekommen war. Sie war ein ganzes Stück vom Weg abgekommen, und der Abhang war mit Gras bewachsen und mit großen Steinen übersät. Fast wäre sie über einen Stein gestolpert, doch sie schaffte es noch gerade rechtzeitig, sich abzustützen. Dann stellte sie allerdings bestürzt fest, dass sie sich die Hand aufgeschürft hatte. "Missie", rief sie erneut ängstlich. Es war verrückt. Sie konnte nur wenige Minuten vom Haus entfernt sein, und trotzdem konnte sie nicht einmal einen halben Meter weit sehen, geschweige denn irgendetwas erkennen. Wenn sie bergauf ging, entfernte sie sich vermutlich noch weiter vom Haus. Also beschloss sie, bergab zu gehen. Eine halbe Stunde später musste Anna sich eingestehen, dass sie keine Ahnung hatte, wo sie war. Inzwischen war sie einige Male gestolpert, und ihre Hände und ihre Kleidung waren schmutzig. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und die Beine taten ihr weh. Eigentlich hätte sie das Haus längst erreichen
müssen, aber sie sah weit und breit nur Nebel, sosehr sie sich auch anstrengte. Als sie plötzlich einen dunklen Schatten vor sich sah, schrie sie entsetzt auf, bis sie merkte, dass es sich nur um ein Schaf handelte - ein Schaf, das von Missie gejagt wurde. "O Missie", rief sie erleichtert. "Wo bist du gewesen, du dummer Hund?" Sie war ganz benommen, weil sie schreckliche Kopfschmerzen hatte. Als sie Missie packte, wand diese sich in ihren Armen und befreite sich wieder. Anna rief sie zurück. Sie musste sich hinsetzen, weil die Beine ihr den Dienst versagten. Das Gras war zwar nass, aber auch nicht nasser als ihre Sachen. Sie fror, doch die innere Kälte war noch schlimmer. Wie hatte Ward ihr das nur antun können? Anna schloss die Augen und versuchte, ihre Gedanken ein bisschen zu ordnen. Sie konnte sich noch ziemlich gut an die erste Begegnung mit ihm erinnern. Er war schrecklich wütend gewesen. Sie erinnerte sich auch daran, dass sie ihn im Krankenhaus wieder gesehen hatte. Als ihr einfiel, was sie alles zu ihm gesagt hatte, stöhnte sie auf. Was, in aller Welt, war nur in sie gefahren? Doch er hatte sie nicht aufgeklärt. Er hatte sie in dem Glauben gelassen ... Wie sehr musste er die Situation ausgekostet haben, denn er hatte genau gewusst, dass sie sich erniedrigen würde, wenn sie das Gedächtnis wiedererlangte. Starr blickte Anna in den Nebel. Sie war einsam und allein, aber es kümmerte sie nicht. Und es war ihr auch egal, ob sie jemals jemand finden würde. Eigentlich war es besser, wenn man sie nicht fand. Wie sollte sie ihren Mitmenschen je wieder unter die Augen treten können? Wie sollte sie Ward je wieder unter die Augen treten können? Sie hatte sich erniedrigt - und er hatte es zugelassen. Und sie hatte ihn für wundervoll, für liebevoll und ehrlich gehalten. Anna lachte hysterisch auf.
9. KAPITEL Ward war länger weggeblieben als geplant. An der Tankstelle, zu der auch eine Werkstatt gehörte, hatte er eine alte Freundin seiner Mutter, eine ältere Witwe, getroffen, die gerade mit dem Mechaniker ein Streitgespräch über ihren Kleinwagen führte. Er ging sofort zu ihr, um sie zu fragen, ob sie Hilfe brauche. Dabei erfuhr er, dass der Mechaniker ihr gerade zu erklären versuchte, warum er ihren Wagen für fahruntüchtig hielt. Sie erzählte ihm, Ward, unter Tränen, dass sie nicht auf den Wagen verzichten, sich aber auch keinen neuen leisten könne. Nachdem er sie in einem nahe gelegenen Cafe bei einem Tee getröstet hatte, brachte er sie nach Hause. Dann fuhr er zur Werkstatt zurück, wo er sich noch einmal mit dem Mechaniker unterhielt und ihn anwies, den Mini der Kundin gegen den, der gerade zum Verkauf stand, auszutauschen und ihn umzuspritzen. Als der Mechaniker ihn darauf hingewiesen hatte, dass es ziemlich kostspielig wäre, hatte er erklärt, Geld spielte keine Rolle. Als Ward auf den Hof fuhr, hatte er schon eine Entschuldigung und eine Erklärung für Anna parat, doch sie wartete nicht in der Küche auf ihn, wie er angenommen hatte. Ihr Kater war allerdings da. Ward streichelte ihn geistesabwesend, bevor er in die Eingangshalle ging. Die Tür zu seinem Arbeitszimmer stand offen, der Bericht, den er am Vorabend gelesen hatte, lag auf seinem Schreibtisch.
Ward betrat das Zimmer und nahm die Unterlagen in die Hand. Er hatte sie ganz bewusst noch einmal gelesen, um sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Anna in Wirklichkeit war, aber es hatte nicht funktioniert. Als er ins Bett gegangen war, hatte er sich trotzdem nach ihr gesehnt und sie schmerzlich vermisst. Wie war es möglich, dass er bereits nach kurzer Zeit derart tiefe Gefühle für sie hegte? Schließlich kannte er sie kaum länger als eine Woche. Eine Woche war gar nichts, aber genug, um sein ganzes Leben zu verändern. Ohne zu überlegen, zerriss er die Unterlagen, denn er brauchte ein Ventil für seine Wut. Im Haus war es ruhig ... und es war leer, genauso wie er es mochte - gemocht hatte! Er lief die Treppe hoch und rief dabei Annas Namen, doch schon bevor er die Tür zu ihrem Zimmer aufriss, wusste er, dass sie nicht da war. In weniger als zehn Minuten hatte er das ganze Haus durchsucht. Wo mochte Anna bloß stecken? In der Küche lag der Kater im Hundekorb und sah ihn triumphierend an. Ward runzelte die Stirn. Wo war Missie? Er blickte aus dem Fenster, und sein Herz begann schneller zu klopfen. Anna war doch nicht etwa bei diesem Wetter mit Missie Gassi gegangen? Ward schnappte sich eine Regenjacke und lief in den Hof. Dabei rief er laut Annas und Missies Namen. Anna musste doch klar gewesen sein, wie gefährlich es war, im Nebel herumzulaufen. Selbst er, der die Gegend wie seine Westentasche kannte, hätte es nicht ohne weiteres getan. Man konnte sich leicht verlaufen... Er fand Missie zuerst. Sie kam aufgeregt bellend aus dem Nebel auf ihn zugelaufen und sprang an ihm hoch. Ihr Fell war nass und schlammverschmiert.
Ward hob sie hoch und drückte sie. "Wo ist sie, Missie?" brachte er hervor. "Wo ist Anna? Wo ist sie?" Als er sie absetzte, blickte Missie ihn an und wedelte mit dem Schwanz. "Wo ist sie, Missie?" wiederholte er. "Such Anna. Such." Der Hund lief los, und Ward eilte ihm nach. Anna konnte wer weiß wo sein. "Anna ... Anna ..." Immer wieder hob er die Hände an den Mund und rief ihren Namen. Und dann hörte er es, ein Lachen, das richtig unheimlich, beinah nicht menschlich klang. Zuerst war es so schwach, dass er schon glaubte, er hätte es sich bloß eingebildet. Er lauschte angestrengt und hörte es wieder. So schnell es ging, lief er in die Richtung, aus der das Geräusch kam. "Anna! Anna!" Stille. Ward fluchte. Missie, die dicht vor ihm lief, winselte und begann schließlich aufgeregt zu bellen. Er schöpfte schon Hoffnung, stellte jedoch fest, dass es sich nur um ein verirrtes Schaf handelte. "Nein", rief er streng, als sie das Schaf jagte, aber sie hörte überhaupt nicht auf ihn. "Missie." Fluchend rannte er hinter ihr her, als sie erneut im dichten Nebel verschwand. Sie bellte wieder. Offenbar hatte sie das Schaf jetzt eingeholt. Ward konnte ihre Gestalt in einiger Entfernung ausmachen. Nach wenigen Metern blieb er unvermittelt stehen. Anna saß im nassen Gras und wirkte so gelassen, als würde sie zu Hause in ihrer Küche sitzen. "Anna!" "Hallo, Ward", sagte sie leise. "Anna!" Erleichtert eilte er auf sie zu.
"Was machst du hier? Was ist passiert? Geht es dir gut?" Ward war so besorgt um sie, dass er gar nicht merkte, wie sie die Hände rang. Sie hatte ihn rufen hören und gewusst, dass er sie früher oder später finden würde. Und dann ... Aber sie hatte so schreckliche Kopfschmerzen, dass sie nicht einmal wusste, was sie zu ihm sagen sollte. Es war viel einfacher, nichts zu sagen und ihm die Initiative zu überlassen. Er zog sie hoch und fragte sie, warum, in aller. Welt, sie bei dem Wetter nach draußen gegangen sei. "Ich habe es gar nicht gemerkt", erwiderte Anna ausdruckslos. "Ich bin Missie gefolgt..." Ihre Lider waren schwer, und sie hätte am liebsten die Augen geschlossen. Sie begann zu zittern. Sie war eiskalt, aber ihre Wangen waren gerötet, fast als hätte sie Fieber, wie Ward besorgt feststellte, als er Anna den Weg entlang zurückführte. "Ist wirklich alles in Ordnung?" erkundigte er sich, sobald sie in seiner Küche waren. "Du siehst nicht gut aus. Vielleicht sollte ich einen Arzt rufen ..." "Nein", entgegnete sie scharf. "Nein, es geht mir gut... Außerdem fahren wir ja sowieso, oder?" "Fahren?" Grimmig sah er sie an. "Nicht bevor du ein heißes Bad genommen und etwas gegessen hast", verkündete er entschlössen. "Ich habe meine Sachen schon gepackt." "Dann packe ich einige wieder aus." Streng fügte er hinzu: "Du bist klitschnass, Anna. So kannst du nirgendwohin fahren." Er machte sich zunehmend Sorgen um sie. Sie wirkte so kalt und distanziert, ganz anders als sonst. Er hätte sie nicht so lange allein lassen dürfen. Dort draußen im Moor hätte ihr wer weiß was passieren können. Wenn sie Glück hatte, bekam sie eine Erkältung, und das war allein seine Schuld. Anna begann zu zittern. Ward fluchte leise und hob sie hoch.
"Was tust du da? Lass mich runter", protestierte sie, doch er achtete nicht darauf. Das Bad, das zu seinem Schlafzimmer gehörte, hatte einen großen Whirlpool, den er auf Drängen seiner Mutter hin hatte einbauen lassen. "Die sind prima bei Rheuma", hatte sie erklärt. "Ich habe aber kein Rheuma", hatte er eingewandt. "Noch nicht. Aber du wirst auch nicht jünger, Ward." Es war eine Anspielung auf die Tatsache gewesen, dass er nicht verheiratet war und ihr noch keine Enkelkinder geschenkt hatte. Trotzdem hatte er den Whirlpool einbauen lassen. Allerdings benutzte er ihn nur selten, weil er lieber duschte. Als er nun die Badezimmertür hinter sich schloss und Anna absetzte, war er seiner Mutter jedoch dankbar. "Ward ..." protestierte Anna, als er heißes Wasser einlaufen ließ. Dann verstummte sie, weil sie erneut zu zittern begann und ihre Zähne aufeinander schlugen. Ward hatte seine Hemdsärmel aufgekrempelt, und sie bemerkte geistesabwesend die feinen Härchen auf seinen Armen. Er war so männlich, und sie hatte sich in seinen Armen so geborgen gefühlt Sie schluchzte leise auf und schloss die Augen, öffnete sie jedoch wieder, als sie seine Hände spürte. Er wollte sie ausziehen. "Was soll das, Anna?" fragte er, als sie ihn wegstieß. "Ich kann mich allein ausziehen", erwiderte sie heftig. "Und ich werde mich auch ausziehen - wenn du weg bist." Ward beschloss, nicht mit ihr zu streiten. Sie benahm sich äußerst seltsam, aber je länger sie in den nassen Sachen herumstand, desto eher würde sie krank werden. Er zuckte die Schultern und verließ das Bad. Anna wartete, mit den Ward die Tür hinter sich geschlossen hatte, und betrachtete sie dann eingehend. Es gab kein Schloss. Sie presste die Lippen zusammen. Eigentlich hatte sie keine Angst davor, dass er zurückkommen und sich ihr aufdrängen
würde. Schließlich hatte er in den letzten Tagen ausreichend Gelegenheit gehabt, mit ihr zu schlafen, doch er hatte sie ignoriert. Sie lächelte bitter. Nahmen diese Demütigungen denn kein Ende? Erst ermutigte er sie, sich ihm auf die intimste Weise zu öffnen, und dann wies er sie zurück. Wütend zog sie sich aus und stieg dann in die Wanne. Das Wasser war so heiß, dass sie zusammenzuckte. Die Wanne bot genug Platz für zwei Personen, selbst wenn eine davon so groß war wie Ward. Ward! Anna schloss die Augen, als ihr zwei Tränen über die Wangen liefen. Wütend drückte sie auf den Knopf, um die Düsen einzuschalten. Warum weinte sie denn? Sie hasste ihn ... hasste ihn ... "Anna?" Ward blieb vor der geschlossenen Badezimmertür stehen, als er Annas Namen rief. Keine Antwort. Besorgt öffnete er die Tür und erstarrte dann. Anna lag, in ein Badelaken eingewickelt, zusammengerollt auf dem Boden und schlief. Da sie ungeschminkt und ihr Haar nass war, sah sie sehr jung und sehr verletzlich aus ... sehr liebenswert. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, als Ward sich bückte, um Anna hochzuheben. Schläfrig öffnete sie die Augen und flüsterte: "Ward..." "Sch, ist ja gut. Schlaf weiter", sagte er sanft, als er sie zum Bett brachte und darauf legte. Während er sie sorgfältig zudeckte, wurde ihm klar, dass er sie liebte und sie niemals gehen lassen könnte, egal, was sie getan hatte. Es war seltsam, aber nun, da er nicht mehr gegen seine Gefühle ankämpfen musste, war er fast euphorisch vor Erleichterung, als hätte man ihm eine große Last von den Schultern genommen.
Was er dachte und empfand, stand in krassem Gegensatz zu allem, woran er bisher geglaubt hatte. Und trotzdem war er überglücklich, weil er seine Liebe zu Anna endlich eingestehen konnte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass Anna es bequem hatte, ging er nach unten, um Missie und Whittaker zu füttern. Außerdem wollte er ein wenig arbeiten, bis Anna aufwachte. Den Rest des Tages verschlief Anna, wobei sie zwischendurch immer wieder aufwachte. Ward ging einige Male nach oben, um nach ihr zu sehen, und fühlte ihre Temperatur und ihren Puls. Das Abendessen nahm er allein ein. Der Nebel draußen hatte sich gelichtet. Das Haus war still, aber nicht leer. Jetzt nicht mehr. Leise vor sich hin summend, ging Ward wieder nach oben. Als er sich zu Anna aufs Bett setzte, wachte sie auf. "Ward." "Hm", erwiderte er und zog sie an sich. Ward war ganz nackt, wie Anna schockiert feststellte. Sie wollte ihm sagen, dass er sie nicht anfassen und sich nicht zu ihr legen sollte, doch er hatte bereits begonnen, sie zu küssen - so gespielt zärtlich, dass ihre Augen sich mit Tränen füllten. "Wein nicht, wein nicht", hörte sie ihn flüstern. "Du bist hier sicher, Anna. Alles ist gut..." Nichts war gut, das wusste sie. Doch ihr Körper verriet sie, und Wards Küsse wurden immer leidenschaftlicher. Sie versuchte, Ward zu widerstehen, und vielleicht wäre es ihr auch gelungen, aber sie konnte sich nicht widerstehen. Sie begehrte ihn so ... liebte ihn so ... Ihr Herz setzte einen Schlag aus. "Du zitterst ja", sagte er rau. "Ist dir kalt? Wie geht es dir?" Anna wusste, dass sie nicht zitterte, sondern bebte, und es lag nicht daran, dass sie immer noch fror. Der Grund dafür lag neben ihr, hielt sie fest, streichelte sie gespielt zärtlich, als
wollte er sie mit seiner Körperwärme trösten. Warum waren Männer ganz anders als Frauen? Ward liebte sie nicht, er mochte sie nicht einmal, und er hatte auch nicht das Gedächtnis verloren. Und doch lag er neben ihr und berührte sie, als ob ... als ob ... Nur ihr Stolz hielt sie davon ab, Ward zu sagen, dass sie das Gedächtnis wiedererlangt hatte und alles wusste. Ihr Stolz und das Wissen, dass sie dabei in Tränen ausbrechen würde, weil Ward sie so grausam behandelt hatte. Egal, was sie angeblich verbrochen hatte, was Ward ihr angetan hatte, hatte nichts mehr mit Gerechtigkeit zu tun. "Anna ..." Wenn sie einfach die Augen schloss und regungslos dalag, würde er sich vielleicht zurückziehen und sie allein lassen. Sie war nicht dazu in der Lage, ihm zu sagen, dass sie ihn nicht begehrte, oder die Fragen zu beantworten, die er ihr womöglich stellen würde. Hinter ihren geschlossenen Lidern brannten Tränen. Sie konnte sich nicht belügen. Natürlich begehrte sie ihn. Sie sehnte sich nach seinen Zärtlichkeiten, seinen Berührungen, seiner Liebe. Wie konnte sie nur, wo Ward ihr doch die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass ihre Gefühle für ihn gegen alle Logik verstießen. Ihr Körper reagierte bereits auf seine Zärtlichkeiten, und sie kam nicht dagegen an. Was hätte es auch für einen Sinn? fragte Anna sich resigniert, als Ward sie auf den Mund küsste und die Hand von ihrem Arm zu ihren Brüsten gleiten ließ. Warum sollte sie sich nicht richtig für ihre Dummheit bestrafen, indem sie der Sehnsucht nachgab, die sie wie ein süßes Gift durchflutete? Anna seufzte gequält auf und wandte sich Ward zu. "Hm..."
Benommen spürte sie, wie seine Körperwärme sie umfing, als er ihren Hals küsste. Als sie die Hand ausstreckte und seine seidigen Härchen spürte, klopfte ihr Herz schneller. In gewisser Weise war es so, wie sie sich das Ertrinken vorgestellt hatte - es war einfacher, nachzugeben, als gegen Gefühle anzukämpfen, die mit jedem Atemzug stärker wurden. "Ich habe dich so vermisst", sagte Ward heiser. "Die ganzen letzten Nächte, als du nicht bei mir warst." Sie verzichtete darauf, ihn daran zu erinnern, dass es seine Entscheidung gewesen war, in getrennten Zimmern zu schlafen. Anna erschauerte unwillkürlich, als Ward mit der Daumenspitze eine Knospe streichelte ... Dann neigte er den Kopf und küsste sie, erst zärtlich, dann immer fordernder, bis Anna sich ihm entgegendrängte, unfähig, das heftig aufflackernde Verlangen zu unterdrücken. Sie hatte ihren Körper überhaupt nicht mehr unter Kontrolle. Instinktiv streckte sie wieder die Hand aus, um Ward zu berühren, und schmolz förmlich dahin, als er daraufhin lustvoll erschauerte. Er mochte sie verachten, ja, hassen, aber er begehrte sie immer noch. Der Triumph, den sie bei dieser Vorstellung verspürte, bewies ihr, wie destruktiv ihre Gefühle waren. Und als wollte sie sich in ihre Wut hineinsteigern, ließ sie aufreizend die Fingerspitzen über seinen Körper gleiten und berührte Ward noch intimer, als sie es zuvor getan hatte. Falls sie erwartet hatte, dass er ihr Einhalt gebot oder sich zurückzog, hatte sie sich geirrt. Stattdessen schien er es zu genießen, dass sie die Initiative ergriffen hatte. Er stöhnte auf und öffnete die Augen. "Das ist schön", sagte er rau. Er atmete schwer, und sein Körper war von einem feinen Schweißfilm bedeckt, der sehr erotisch roch. Dass sie am liebsten das Gesicht an seine nackte Haut geschmiegt hätte, um diesen erotischen Duft einzuatmen, schockierte sie noch mehr als die Erkenntnis, wie sehr sie Ward
begehrte und wie sehr sie sich danach sehnte, sich mit ihm zu vereinigen. Er war sehr hart und muskulös. Selbst jetzt, da sie den Blick abgewandt hatte, wusste sie, wie er aussah, und erinnerte sich daran, wie ehrfürchtig sie ihn beim ersten Mal betrachtet hatte. Ralphs Körper war der eines jungen Mannes gewesen. Ward hingegen war sehr viel maskuliner, ein Mann in der Blüte seines Lebens, wie sie feststellte, als sie ihn streichelte. Falls sie bisher in ihrer "Beziehung" eine Lust erfahren hatte, auf die sie kein Anrecht hatte, so beabsichtigte sie, es in dieser Nacht wieder gutzumachen. Das verlangten ihr Stolz und ihr Ehrgefühl. Ward stöhnte leise. "Eigentlich sollte ich derjenige sein ..." begann er leise. "Ich möchte es aber", erwiderte Anna wahrheitsgemäß. So behielt sie wenigstens die Kontrolle über sich - und ihn. Sie wollte sich nicht eingestehen, dass es sie genauso erregte, als wenn er sie gestreichelt hätte. "Nein, Anna, hör auf." Er umfasste ihr Handgelenk und zog sie an sich, um sie leidenschaftlich zu küssen. Unfähig, ihm zu widerstehen, umarmte sie ihn. Sie wusste nicht, wer von ihnen jetzt stärker bebte, Ward oder sie. Sie wusste nur, dass sie bereit für ihn war. Ihr Körper war noch empfänglicher für ihn als beim ersten Mal, als Ward in sie eindrang. Im Grunde war ihr klar, dass sie sich in großer Gefahr befand und sich eigentlich nicht so vollständig hätte fühlen dürfen, so eins mit einem Mann, mit dem es für sie keine Zukunft gab. Was sie gemeinsam erlebten, war nichts als eine Farce, die Erregung in seiner Stimme eine Lüge, genauso wie die zärtlichen Worte, die Ward ihr zuflüsterte, als sie gemeinsam den Höhepunkt erreichten. "Ich liebe dich, Anna", sagte er rau, als er ihr Gesicht umfasste und sie küsste. "Ich liebe dich."
Anna wartete, bis Ward eingeschlafen war, und stand dann auf. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Unten in der Küche schliefen Whittaker und Missie in ihren Körbchen, und Wards Wagen-Schlüssel lagen auf dem Tisch. Es war fast, als hätte das Schicksal endlich beschlossen, ihr zu helfen. Nachdem Anna die Tiere und ihre Reisetasche im Wagen verstaut hatte, zückte sie ihr Scheckbuch. Fünf tausend Pfund waren eine Menge Geld, um Schulden zu. bezahlen, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, aber das würde es wert sein. Zusammen mit dem Scheck hinterließ sie eine kurze Mitteilung: Ich habe mich an alles erinnert. Ich werde Deinen Wagen in York am Bahnhof abstellen und Dir die Schlüssel mit der Post zuschicken. Anbei ein Scheck Über die Summe, die ich Deinem Stiefbruder angeblich schulde. In dieser Nacht habe ich Dir das zurückgegeben, was ich Dir vielleicht geschuldet habe. Als Anna in Wards Wagen stieg und ihn anließ, war sie dem Hersteller dankbar dafür, dass der Motor so leise lief. Natürlich würde Ward nicht versuchen, ihr zu folgen oder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Jetzt musste sie sich nur noch mit ihren Freundinnen auseinander setzen. Was für ein dummer Zufall, dass Mary Charles neulich vorbeigekommen war! Doch die Scham und der Schmerz würden viel schwerer zu ertragen sein als die Neugier ihrer Freundinnen. Ward wachte am frühen Morgen auf und tastete im Bett nach Anna. Als er merkte, dass sie nicht neben ihm lag, wartete er einige Minuten, weil er dachte, sie wäre im Bad. Da sie jedoch nicht erschien, schlug er die Decke zurück, sprang aus dem Bett und eilte nach unten. Er entdeckte den Zettel im selben Moment, als er feststellte, dass die Tiere nicht mehr da waren. Als er den Zettel in die Hand nahm und las, wurde er aschfahl. Seine Hand zitterte, als er nach dem Scheck griff, aber was ihn am meisten beschäftigte, war der Satz, sie hätte ihm in
dieser Nacht das zurückgegeben, was sie ihm vielleicht geschuldet hätte. Ward warf einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Wenn sie den Wagen in York abgestellt hatte, musste sie mit dem Zug nach Hause gefahren sein. Mit einem schnellen Wagen hätte er vor ihr in Rye sein können. Er hatte allerdings keinen schnellen Wagen. Er hatte überhaupt keinen Wagen. Ward fluchte leise und erstarrte, als plötzlich das Telefon klingelte. Als er den Hörer abnahm, klopfte ihm das Herz bis zum Hals, denn es konnte nur Anna sein, die um diese Zeit anrief. Offenbar hatte sie es sich anders überlegt. Doch die Frau, die sich unter Tränen meldete, war nicht Anna, sondern seine Mutter. "Ward, es geht um Alfred. Er liegt im Krankenhaus. Die Ärzte glauben, er hätte einen Herzinfarkt gehabt. Ich habe solche Angst um ihn!" "Mach dir keine Sorgen, Ma, ich komme, so schnell ich kann", versicherte Ward. Er würde sich ein Taxi zum Bahnhof in York nehmen. Wo, zum Teufel, waren seine Ersatzschlüssel? In der Schreibtischschublade! Bevor er das Haus verließ, zerriss er Annas Nachricht - und ihren Scheck.
10. KAPITEL "Anna hat sich immer noch nicht gemeldet, oder?" fragte Dee. Beth, Kelly und sie saßen oben in der Wohnung über dem Laden. Auf Kellys Anruf hin, dass Anna verschwunden wäre, war sie am Vorabend zurückgekehrt. "Nein", erwiderte Beth. Kelly warf Beth einen flüchtigen Blick zu. "Dee, glaubst du, dieser Mann, mit dem Mary sie zusammen gesehen hat, könnte etwas mit Julian Cox zu tun haben?" "Warum sollte er etwas mit Julian zu tun haben?" erkundigte Beth sich scharf. Dee sah Kelly an und schüttelte warnend den Kopf. Sie waren übereingekommen, Beth nichts von ihrem Plan zu erzählen, da sie schon genug unter Julian Cox gelitten hatte. "Julian hat versucht, sich Geld von Anna zu leihen", erwiderte Dee ruhig. Das entsprach ja auch den Tatsachen. Beth wirkte schockiert. "Aber das muss doch nicht heißen..." Sie verstummte und fügte schließlich mit bebender Stimme hinzu: "Du glaubst doch nicht, Julian hätte Anna wehgetan, oder?" "Dir gegenüber hatte er ja auch keine Skrupel", erinnerte Dee sie scharf. "Weiß denn irgend jemand, wohin er verschwunden ist?" fragte Beth besorgt. Seit ihrer Rückkehr aus Prag hatte sie kaum einen Gedanken an Julian Cox verschwendet. Dass sie einmal in
ihn verliebt gewesen war und er ihr das Herz gebrochen hatte, war für sie in weite Ferne gerückt. Wann würde sie endlich von der Fabrik hören? Sie hatte wesentlich mehr, als sie sich leisten konnte, in das Kristall investiert und die Stückzahl ihrer ursprünglichen Bestellung um fast das Vierfache erhöht. Und sie hatte Kellys und ihre letzten Kapitalreserven dafür ausgeschöpft, obwohl er ihr geraten hatte, den Auftrag der Firma zu erteilen, die er ihr empfohlen hatte. Hielt er sie wirklich für so naiv? Ihr war durchaus klar gewesen, dass dieser Mann, der als ihr Dolmetscher und Führer fungierte, von den Fabrikbesitzern, die zudem mit ihm verwandt waren, bezahlt wurde, um ihnen Aufträge zuzuschanzen. Beth verspannte sich, als sie sich daran erinnerte, wie sehr er sie auf die Fahne gebracht hatte. Er war so arrogant und so von sich überzeugt gewesen! Sie war entschlossen gewesen, ihm zu beweisen, dass sie auf seine Ratschläge verzichten konnte, dass sie eine moderne, unabhängige Frau war. Da sie sehr sanftmütig war, nahmen die Leute oft irrtümlich an, sie würde sich herumkommandieren lassen, doch sie besaß einen starken Willen. Alex hatte sie herausgefordert, und sie hatte die Herausforderung angenommen - mehr als das sogar. Aber welchen Preis hatte sie dafür bezahlt? "Beth!" Kellys Stimme riss sie aus ihren Gedanken, und schuldbewusst sagte sich Beth, dass sie an Anna denken musste und nicht an ihre eigenen Probleme. "Sicher, Julian hat sich unmöglich benommen, aber wenn Anna verschwunden ist ..." Sie schüttelte den Kopf. "Nein, ich glaube nicht, dass er etwas damit zu tun hat." Dee hörte ihr schweigend zu. Es war ein glücklicher Zufall gewesen, dass ihre Tante sich fast vollständig erholt hatte, als Beth angerufen hatte. Sie, Dee, hatte ohnehin im Lauf der Woche nach Rye-on-Averton zurückkehren wollen und ihren Besuch bei ihrer Tante daher um einige Tage abgekürzt.
Beth mochte ja glauben, dass Julian nichts mit Annas Verschwinden zu tun hatte, doch obwohl sie mit ihm so gut wie verlobt gewesen war, kannte sie ihn nicht so gut wie sie, Dee. Die Gefühle oder das Wohlergehen seiner Mitmenschen kümmerten Julian nicht. Er war so raffgierig, dass es ihm egal war, ob er jemanden verletzte oder ihm Schaden zufügte. Die Erkundigungen, die sie während ihres Aufenthalts bei ihrer Tante eingezogen hatte, hatten allerdings nichts ergeben, was seinen Verbleib betraf. Einmal hatte sie geglaubt, ihn in Hongkong aufgespürt zu haben, was durchaus plausibel gewesen wäre, da er dort Geschäfte gemacht hatte. Doch es gab keine konkrete Spur. Ob Anna mit jenem geheimnisvollen Fremden, den Mary Charles gesehen hatte, weggegangen war? "Schon möglich", erwiderte Beth, und Dee merkte, dass sie ihre Frage ausgesprochen hatte. "Aber warum hat sie uns nicht von ihm erzählt? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einen Freund hat - außerdem wissen wir es ja auch nur von Mary Charles." "Wenn er nicht ihr Freund ist, wer dann?" meinte Kelly. "Vielleicht der Mann einer ihrer Freundinnen?" Beth krauste die Stirn. "Oder jemand, der für sie arbeitet - ein Gärtner oder Handwerker vielleicht." "Hm ... Mary hat steif und fest behauptet, Anna hätte ,ihr Freund' gemeint, als sie ihn ihr als Freund vorgestellt hat." "Vielleicht hat sie nur beschlossen, für einige Tage wegzufahren, ohne es uns zu erzählen." Beth wusste, dass es nicht besonders überzeugend klang, und sie glaubte es selbst nicht so recht. Schuldbewusst erinnerte sie sich daran, dass sie das Gespräch sehr schnell wieder beendet hatte, als sie das letzte Mal mit ihrer Patentante telefoniert hatte. Wenn sie nicht so ungeduldig gewesen wäre, hätte Anna vielleicht irgendeine Andeutung gemacht. "Ihr Wagen steht noch vor dem Haus", betonte Kelly.
"Aber Missie und Whittaker sind nicht da, hast du gesagt?" fragte Dee. "Na ja, ich konnte sie jedenfalls weder sehen noch hören." "Hm ... Das ist alles sehr seltsam. Meinst du, sie könnte nach Cornwall gefahren sein, um ihre Familie zu besuchen?" wandte Dee sich an Beth. Beth schüttelte den Kopf. "Nein, ich habe gestern zu Hause angerufen, und meine Mutter hätte es mir erzählt, wenn Anna da gewesen wäre. Allerdings habe ich sie nicht direkt gefragt, weil sie sich sonst Sorgen gemacht hätte. Anna und sie haben sich immer sehr nahe gestanden." "Was sollen wir tun?" Kelly sah Dee an. "Wenn wir bis heute Abend nichts von ihr gehört haben, müssen wir zur Polizei gehen." "Dann glaubst du also, es ist ernst?" erkundigte Beth sich stockend. Dee blickte finster drein. "Schon möglich." Als sie zehn Minuten später nach Hause fuhr, war sie froh, dass Beth und Kelly nicht wussten, was in ihr vorging. Ihr war klar, dass Kelly sich fragte, warum sie, Dee, Julian Cox so abgrundtief hasste, und vermutete, dass viel mehr dahinter steckte als sein Verhalten Beth gegenüber. Und Kelly hatte Recht. Doch nicht sie, sondern Anna war diejenige, der sie, Dee, sich beinah anvertraut hätte. Anna war vielleicht nicht so spontan wie Kelly, aber sie besaß auch innere Stärke. Sie, Dee, wusste, dass die Leute sie beherrscht und manchmal auch ein wenig provokant fanden, doch sie hatten keine Ahnung, warum sie so geworden war und warum sie so sein musste. Wenn sie sich jemandem anvertraute, lief sie Gefahr, jemandem, den sie über alles geliebt hatte, Schaden zuzufügen, und das konnte sie auf keinen Fall tun. Daher würde sie die Last, die sie nun schon so lange trug, weiterhin tragen müssen, und
falls einige Leute sie für gefühllos und unweiblich hielten, konnte sie es auch nicht ändern. Und jetzt musste sie noch eine Last auf sich nehmen. Falls Anna tatsächlich etwas passiert war, trug sie dann eine Mitschuld daran? Hatte Annas Verschwinden damit zu tun, dass sie Julian Cox eine Falle gestellt hatten? Waren ihm die fünfzigtausend Pfund, um die er sie erleichtert hatte, nicht genug gewesen? War er zurückgekommen, um sich noch mehr zu holen, oder hatte er womöglich jemanden geschickt? Sie, Dee, hatte Kelly und Anna versichert, dass es ungefährlich wäre, und daher wurden ihre Schuldgefühle immer stärker. Obwohl sie die Polizei aus verschiedenen Gründen lieber aus dem Spiel gelassen hätte, war ihr klar, dass sie kaum eine andere Wahl hatte. Sicher hatte Annas Verschwinden nichts mit Julian Cox zu tun, doch das war umso beängstigender. Wie oft hatte sie in der Presse von Frauen - und es waren fast immer Frauen - gelesen, die unter mysteriösen Umständen verschwunden waren? Manchmal hatte man die Leiche später gefunden ... manchmal auch nicht. Dee umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. "O nein", flüsterte sie. "Bitte nicht." Ich kann nicht nach Hause fahren, dachte Anna resigniert, als sie aus dem Zug stieg und sich bei dem Bahnmitarbeiter bedankte, der ihr mit ihren Tieren und ihrem Gepäck half. Sie fühlte sich wie ausgelaugt. Während der langen Zugfahrt hatte sie viel Zeit zum Nachdenken gehabt, und sie hatte sich an vieles erinnert - an zu viel. Wenn sie nach Hause fuhr, würde sie ihren Freundinnen gegenübertreten und deren Fragen beantworten müssen, und dem fühlte sie sich einfach nicht gewachsen. Vielleicht würde Ward sich sogar mit ihr in Verbindung setzen, und sei es nur deswegen, weil sie seinen Wagen genommen hatte und er Geld dafür haben wollte.
Vor dem Bahnhof standen einige Taxis, und sie winkte eins heran. Sobald sie mit Missie auf dem Schoß und Whittaker in seiner Transportbox im Taxi saß, drehte der Fahrer sich zu ihr um. "Wohin soll's gehen?" Wohin? Gute Frage... Anna schloss die Augen und nannte ihm dann mechanisch Dees Adresse. Dee lag in der Badewanne und zermarterte sich den Kopf. Ihr Badezimmer war für sie schon immer ein Ort der Ruhe gewesen, an dem sie Energie tanken und Kräfte sammeln konnte. Als Teenager hatte sie mit vielen unterschiedlichen Gefühlen und körperlichen Veränderungen fertig werden müssen, und es war der einzige Raum gewesen, in den sie sich zurückziehen konnte, ohne ihrem Vater gegenüber ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Sie hatten sich immer sehr nahe gestanden, zumal sie nach dem Tod ihrer Mutter nur einander gehabt hatten, doch als Teenager war ihr bewusst geworden, dass sie zur Frau wurde und sich daher in mancher Hinsicht langsam von ihm abnabelte. Sie hatte immer das Gefühl, ihren Vater beschützen zu müssen, denn sie spürte, wie einsam er war und wie rege er an ihrem Leben teilnahm. Vorher hatte ihr seine Gesellschaft genügt, aber jetzt verspürte sie zunehmend das Bedürfnis, mit Gleichaltrigen zusammen zu sein, Freundinnen zu haben, mit denen sie sich austauschen konnte. Gleichzeitig war ihr allerdings klar, dass sie ihren Vater dadurch verletzen würde. Doch mit seiner Hilfe schaffte sie es, den Wunsch, ihn zu beschützen, mit dem, selbstständig zu werden, zu vereinbaren. Sie verbrachte viele Stunden in der Badewanne und zerbrach sich den Kopf darüber, ob sie nach der Schule studieren oder zu Hause bei ihrem Vater bleiben sollte. Schließlich war es ihr Vater gewesen, der für sie einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden hatte. Er hatte ihr gesagt, dass er enttäuscht wäre, wenn sie ihre Ausbildung nicht fortsetzen und studieren würde.
Das Geräusch der Türklingel riss sie aus ihren Gedanken, und zuerst war Dee versucht, es zu ignorieren. Dann stieg sie doch aus der Wanne, schlüpfte in ihren Bademantel und eilte nach unten. "Dee." Stirnrunzelnd blickte Dee durch die mattierte Scheibe an der Haustür. Als sie sah, wer draußen stand, schloss sie schnell auf und öffnete die Tür. "Anna!" rief sie erleichtert. "Komm rein!" Noch immer benommen, folgte Anna ihr in den Flur. Obwohl es ein warmer Tag war, fröstelte sie. Bereitwillig ließ sie sich von Dee, die ihren Arm umfasste, in die Küche führen. "Setz dich." Dee nahm ihr die Transportbox und Missies Leine ab. Offenbar stand Anna unter Schock. Dees anfängliche Erleichterung wich einer wachsenden Besorgnis. "Wir hatten uns schon gewundert, wo du steckst", meinte Dee im Plauderton, während sie Wasser in den Kessel laufen ließ. Dir Instinkt riet ihr, nicht zu viel Aufhebens um ihr plötzliches Auftauchen zu machen und Anna nicht mit Fragen zu bedrängen. Während sie den Tee zubereitete, erzählte sie Anna daher im Plauderton, dass sie Beth und Kelly kürzlich gesehen habe. Dabei betrachtete sie Anna eingehend, doch diese verzog keine Miene. Anscheinend hatte sie ein traumatisches Erlebnis gehabt. Sie, Dee, kannte die Anzeichen für ein seelisches Trauma. Es gab Dinge, die man niemals vergaß. Als sie eine Tasse Tee vor Anna auf den Tisch stellte, sah Dee, dass sie starr ins Leere blickte. "Anna", sagte sie sanft und berührte sie am Arm. "Was ist los?" Was los war? Verzweifelt sah Anna Dee an. "Ich ... ich ..." Sie verzog das Gesicht und begann zu zittern. Spontan nahm Dee sie in den Arm.
"Falls es um Julian und das Geld geht..." begann sie, denn sie wusste, wie unglücklich Anna gewesen war, weil Julian sie beide ausgetrickst hatte. "Nein. Nein ..." Anna schüttelte den Kopf und verstummte dann. "Was ist es dann? Was ist los?" Anna hob die Hand an den Mund. Sie wusste immer noch nicht genau, was sie hier machte und warum sie überhaupt zu Dee gefahren war. Sie wusste nur, dass sie jetzt nicht nach Hause fahren konnte. "Ich bin so dumm gewesen, Dee", sagte sie benommen, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. "Ich hätte es wissen müssen, aber stattdessen ..." Wütend ballte sie die Hände zu Fäusten und schauderte. "Ich weiß nicht, was in mich gefahren war ..." Geduldig lauschte Dee ihren zusammenhanglosen Äußerungen und fragte schließlich sanft: "Warum erzählst du mir nicht alles von Anfang an, Anna?" "Alles?" Anna errötete und wurde dann aschfahl. "Ich kann dir nicht alles erzählen", erwiderte sie ausdruckslos. Wieder schüttelte sie den Kopf. "O Dee, ich weiß nicht, was ich tun soll, wie ich..." Wie ich über die Geschichte mit Ward hinwegkommen soll, hatte sie sagen wollen. Wie oft musste sie sich noch ins Gedächtnis rufen, dass der Ward, den sie zu lieben geglaubt hatte, schlichtweg nicht existierte? "Erzähl es mir", forderte Dee sie noch einmal auf. Langsam begann Anna zu erzählen, was passiert war. "Er hat was?" fragte Dee ungläubig, nachdem Anna ihr berichtet hatte, dass sie im Krankenhaus irrtümlich angenommen hatte, Ward wäre ihr Freund. "Er ... Dieser Mann, dieser Fremde, der dich kurz vorher noch bedroht hatte, hat dich tatsächlich in dem Glauben gelassen, ihr wärt ein Paar?" Anna biss sich auf die Lippe.
"Ich habe immer wieder darüber nachgedacht", erwiderte sie leise. "Ich war diejenige, die angenommen hat, wir wären ein Paar. Es ist meine Schuld und ..." "Du hattest Amnesie", erinnerte Dee sie. "Er wusste ganz genau, was für ein Verhältnis ihr zueinander habt. Er hätte niemals ..." Sie verstummte, und ihre Augen funkelten vor Zorn. "Dieser hinterhältige ..." "Ich dachte, er liebt mich", sagte Anna mit bebender Stimme, "dabei hat er mich die ganze Zeit gehasst und verachtet..." Sie schloss die Augen und legte die Hand auf den Mund, um einen Schluchzer zu unterdrücken. "Ich hatte ja keine Ahnung. Ich habe wirklich geglaubt..." Dee betrachtete sie schweigend. Sie wollte Anna nicht noch mehr aufregen, indem sie sie fragte, was noch alles vorgefallen war. Sie fand es furchtbar, dass man Anna so hintergangen hatte, und konnte gut verstehen, dass Anna jetzt nicht allein zu Hause sein wollte. "Mir ist schleierhaft, warum sich jemand so verhält", erklärte sie wütend, nachdem Anna ihr schließlich alles erzählt hatte. "Was für einen Grund könnte er gehabt haben?" "Er wollte das Geld seines Halbbruders zurückhaben", antwortete Anna leise. Allmählich fühlte sie sich etwas besser. So schmerzlich es auch gewesen war, Dee alles zu erzählen, hatte ihr doch geholfen. "Er hat dir das nur wegen des Geldes angetan?" meinte Dee aufgebracht. "Nein, nicht nur wegen des Geldes. Ich glaube, er wollte mich bestrafen und sich an mir rächen ..." "Was? Wie kann jemand...?" begann Dee, doch Anna schüttelte den Kopf und lächelte gequält. "Wir haben es auch getan", erinnerte sie sie trocken. "Zumindest haben wir es bei Julian versucht..."
"Sicher, aber das war etwas ganz anderes", entgegnete Dee schnell. "Du hast mit Julians Betrügereien nichts zu tun ..." "Wir beide wissen das, aber Ward ..." Anna verstummte und schluckte mühsam. "Ward dachte, ich hätte etwas damit zu tun." "Trotzdem ... Wie konnte er dich so hintergehen? Und ...?" "Und so tun, als würde er mich lieben? Mit mir schlafen?" Anna lachte humorlos. "Er hat darauf bestanden, in getrennten Zimmern zu schlafen. Ich war diejenige, die ..." Wieder verstummte sie. "O Dee", fuhr sie schließlich fort und schluchzte. "Ich fühle mich so ... so erniedrigt, so ..." Ihr versagte die Stimme. Es gab Dinge, die so schmerzlich waren, dass man nicht darüber sprechen konnte. "Wenigstens bist du wieder da, und dir ist nichts passiert, das ist die Hauptsache", verkündete Dee forsch. Als sie Annas Gesichtsausdruck sah, berührte sie ein wenig befangen ihren Arm und fügte heiser hinzu: "Ich weiß, dass du es dir momentan nicht vorstellen kannst, aber mit der Zeit ... Irgendwann wirst du es nicht mehr so schlimm finden. Schließlich hast du das Schlimmste hinter dir, es kann also nur noch besser werden." Anna lächelte schwach. "Was hat er gesagt, als du ihm erzählt hast, dass du dich an alles erinnerst?" fragte Dee. "Hat er versucht, es dir zu erklären oder sich bei dir zu entschuldigen?" "Nein ..." Als sie Dees wütenden Gesichtsausdruck sah, fuhr Anna mit bebender Stimme fort: "Ich habe ihn nicht zur Rede gestellt. Ich ... ich habe ihm nur eine Nachricht hinterlassen, in der stand, dass ich mich an alles erinnert hätte. Ich konnte es nicht ertragen ... Ich wollte einfach nur weg, Dee. Weißt du ..." Sie machte eine Pause, und eine Träne lief ihr über die Wange. Verzweifelt zerknüllte sie das nasse Taschentuch in den Händen. "Ich dachte, ich würde ihn lieben. Ich habe wirklich geglaubt... Er schien der Richtige zu sein", fügte sie hilflos hinzu. "Mit ihm zusammen zu sein erschien mir so ... richtig. Es war, als ... als
würde er mein Leben erst vollständig machen, so wie ich es mir niemals erträumt hätte. Es war, als würde er ... Ich kann es immer noch nicht fassen. Es kommt mir vor wie ein Traum ..." "Wohl eher wie ein Albtraum", bemerkte Dee wütend und nahm sie wieder in die Arme. Anna lächelte traurig. Es war verrückt, erniedrigend und gefährlich, doch in ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass sie sich immer nach Ward sehnen würde, dass der Teil von ihr, den er zum Leben erweckt hatte, ihn immer vermissen würde. Die Wut, die Bitterkeit und die Verachtung, die sie über sein Verhalten empfand, würden niemals die Erinnerungen an das, was sie gemeinsam erlebt hatten, auslöschen. Aber das war ihr Geheimnis, und sie musste damit fertig werden. "Ich wünschte, er wäre hier, damit ich ihm die Meinung sagen könnte", meinte Dee verächtlich. "Dass er das ausgerechnet dir antun musste ..." Sie sah, dass Annas Augen sich erneut mit Tränen füllten. "Komm", sagte sie sanft, "du gehst jetzt nach oben und legst dich ins Bett. Du siehst völlig erschöpft aus." "Nein, es geht mir gut", protestierte Anna, folgte ihr jedoch gehorsam zur Treppe. "Und wie geht es Anna jetzt?" erkundigte Kelly sich besorgt. "Was hat der Arzt gesagt? Ist sie ...?" "Es geht ihr gut." Dee klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, um Missie streicheln zu können, die sich genauso wie sie alle Sorgen um Anna machte. "Der Arzt hat Entwarnung gegeben. Allerdings soll sie sich noch schonen, weil sie noch unter Schock steht." Auf Annas Bitte hin hatte sie nur das Nötigste über Ward erzählt. Daher nahmen Kelly und Beth an, Ward hätte Anna lediglich nach dem Unfall geholfen - sozusagen als guter Samariter. Allerdings war es ihr sehr schwer gefallen, ihn als solchen zu beschreiben.
"Hat sie gesagt, warum sie weggefahren war - oder wohin?" fragte Kelly neugierig. "Oh, sie wollte einfach nur mal raus", erwiderte Dee lässig und hoffte, Kellys Neugier damit nicht erst recht zu wecken. Innerlich kochte sie vor Wut, weil Ward Hunter sich Anna gegenüber so schäbig verhalten hatte. Wie hatte er nur glauben können, dass Anna in betrügerische Machenschaften verwickelt war? Sie geriet schon in Panik, wenn mal kein Parkschein aus dem Automat kam, und hinterließ dann eine Nachricht für den Parkplatzwächter. Und selbst die Annahme, dass Anna mit Julian Cox unter einer Decke steckte, hätte ein solches Verhalten nicht gerechtfertigt... Dee schloss die Augen, als sie kurz darauf den Hörer auflegte. Warum waren die Männer nur so? Auf jeden Mann wie ihren Vater oder Brough kamen zehn, nein, hundert, die offenbar alles daransetzten, die Frau, die sie angeblich liebten, zu verletzen. Auch sie hatte im Kampf der Geschlechter einige Narben davongetragen, doch das war eine andere Geschichte. Ein wenig zerknirscht gestand Dee sich ein, dass es vielleicht nicht besonders geschickt gewesen war, Anna einen doppelten Brandy aufzunötigen, doch dieser hatte die gewünschte Wirkung gehabt, und nun schlief Anna. Das Trauma ihrer vorübergehenden Amnesie war etwas, mit dem jeder nur schwer fertig geworden wäre, ganz zu schweigen von dem Kummer, den man ihr zugefügt hatte. Nachdem Dee sich vergewissert hatte, dass die Tiere gut versorgt waren, beschloss sie, noch einige Finanzberichte zu lesen, bevor sie ebenfalls ins Bett ging. Sie nahm die Verantwortung, die die Leitung der Finanzgesellschaft ihres Vaters mit sich brachte, sehr ernst. Sein Tod war ganz unerwartet gekommen, und sie hatte ins kalte Wasser springen und sich erst mit der Materie vertraut machen müssen. Doch sie hatte geglaubt, es ihrem Vater schuldig zu sein und die Firma so
weiterzuführen, dass sie damit auch seine karitativen Tätigkeiten fortsetzen konnte. Allerdings hatte sie sein soziales Engagement publik gemacht, damit auch die anderen erfuhren, dass er ein ganz besonderer Mensch gewesen war. Es gab Zeiten, in denen sie ihn noch immer schmerzlich vermisste. Ob er enttäuscht wäre, wenn er mich jetzt sehen könnte? fragte sich Dee. Er war in mancher Hinsicht ein wenig altmodisch gewesen und hatte sich gewünscht, dass sie einmal heiratete und Kinder bekam. Aber wie sollte sie das tun? Sie war ihm sehr ähnlich und wusste daher, dass sie eine solche Bindung nur mit jemandem eingehen konnte, den sie liebte und der sie auch liebte. Und wie sollte das möglich sein, wenn sie nicht mehr an die große Liebe glaubte, von der sie als junges Mädchen geträumt hatte? Liebe war nur ein beschönigendes Wort für ganz prosaische Gefühle. Liebe, oder besser gesagt, das Versprechen war nur eine Waffe, die die Männer gegen die Frauen einsetzten. "Ich liebe dich", sagten sie, doch was sie in Wirklichkeit meinten, war: "Ich liebe mich selbst." "Pass bloß auf", sagte Dee scherzend zu Whittaker und hob ihren Zeigefinger. "Es gibt nicht viele Männer, die tapfer genug sind, dieses Haus zu betreten!"
11. KAPITEL "Wie geht es ihm?" Ward legte die Zeitschrift, in der er gelesen hatte, weg, als seine Mutter aus dem Krankenzimmer seines Stiefvaters kam und die Tür hinter sich schloss. Daraufhin lächelte sie gelöst. "Schon viel besser. Der Facharzt möchte nur kurz mit ihm reden, und dann ... Er hat ihn heute Morgen untersucht und gesagt, es wäre doch kein Herzinfarkt gewesen. Die Ergebnisse liegen jetzt vor, und er meinte, die Herzschmerzen wären stressbedingt gewesen. Du kennst deinen Stiefvater ja. Er macht sich Sorgen um Ritchie, weil er in die USA gehen will..." Ward schnalzte mit der Zunge, bevor er aufstand, um seine Mutter zu beruhigen. "Er hat überhaupt keinen Grund, sieh um irgendetwas Sorgen zu machen..." "Das weiß ich, Schatz, aber du kennst ihn ja. Er findet es ungerecht, dass du Ritchie das Studium finanzieren musst, obwohl du..." Sie verstummte, und er warf ihr einen ironischen Blick zu. "Obwohl ich was? Obwohl ich mir meinen Lebensunterhalt immer selbst verdienen musste? Du meine Güte, Ma, er glaubt doch nicht etwa, ich würde es Ritchie nicht gönnen, dass ...?" "Nein, natürlich nicht", versicherte seine Mutter schnell. "Er weiß, wie sehr du Ritchie magst." Sie legte ihm die Hand auf den Arm. "Du hast so viel für uns getan. Ich wünschte ... Du
solltest wieder heiraten, Ward. Eine Familie gründen ... Ich weiß, dass ..." Eindringlich blickte sie ihn an. "Du hast jemanden kennen gelernt, stimmt's? Streite es nicht ab, Ward. Ich sehe es dir an ..." Ward war zu verblüfft, um es zu leugnen. "Ich möchte nicht darüber reden. Außerdem..." Er verstummte und presste die Lippen zusammen. Vielleicht war es gar nicht so verwunderlich, dass seine Mutter ihn durchschaut hatte. Schließlich ging Anna ihm nicht mehr aus dem Kopf. Selbst als er um das Leben seines Stiefvaters gefürchtet hatte, hatte er an sie gedacht. Er hatte sich einzureden versucht, dass er sich richtig verhalten hatte, dass er es Ritchie und ihren anderen Opfern schuldig gewesen war. Doch statt an ihre Vergehen zu denken, hatte er sich daran erinnert, wie es gewesen war, sie in den Armen zu halten, wie sie geduftet und geschmeckt hatte und wie sehr er sie vermisste. "Erzähl mir von ihr", beharrte seine Mutter. Ward blickte zur Tür vom Krankenzimmer, aber es war offensichtlich, dass er von dort keine Hilfe erwarten konnte. "Es gibt nichts zu erzählen", erwiderte er schroff. "Nun sieh mich nicht so an." Er lachte bitter auf. "Es ist nicht so, wie du denkst. Es ist keine Verbindung, die im Himmel geschlossen wurde - vielmehr in der Hölle." Als er den verzweifelten, mitfühlenden Ausdruck in den Augen seiner Mutter sah, wurde er rot. "Sie ist eine Lügnerin und nicht besser als eine Diebin", fuhr er fort. "Ich dürfte nicht so für sie empfinden, aber ..." Er verstummte und schüttelte den Kopf. "Und selbst wenn sie meine Gefühle erwidern würde, nun, da sie weiß ..." "Erzähl es mir", sagte seine Mutter wieder. "Es wird dir nicht gefallen", erklärte er grimmig. Als er zwanzig Minuten später alles erzählt hatte, war seine Mutter blass.
"Du hast Recht", meinte sie gequält. "Es gefällt mir ganz und gar nicht. O Ward, wie konntest du so etwas nur tun? Das arme Mädchen. Wie muss ihr zu Mute gewesen sein?" "Das arme Mädchen?" wiederholte Ward aufbrausend. "Ma, sie ist diejenige ..." Entnervt strich er sich durchs Haar. "Wenn jemand dein Mitgefühl braucht, dann ..." "Sicher ist sie zutiefst verletzt und schockiert, Ward. Wenn sie geglaubt hat, dass du sie genauso liebst, wie sie dich offenbar liebt..." "Moment mal. Wie kommst du darauf, dass sie mich liebt?" erkundigte er sich scharf. "Das ist doch offensichtlich", erwiderte seine Mutter sanft. "Wenn sie dich nicht lieben würde, hätte sie nie ... Natürlich liebt sie dich, Ward", bekräftigte sie ernst. "Ma, du benimmst dich, als ob ..." Er zögerte und schüttelte frustriert den Kopf. "Wie ich bereits sagte, bin ich ursprünglich zu ihr gefahren, weil..." "Weil sie Ritchie um fünftausend Pfund betrogen hatte", ergänzte sie. "Ja, ich weiß.. Aber hast du schon mal daran gedacht, dass es einen Grund dafür geben könnte? Vielleicht kann man ihr mildernde Umstände zubilligen..." "Für Betrug?" warf er spöttisch ein. "Ma ..." "Ist es wirklich so wichtig, was sie getan hat, Ward?" fragte seine Mutter leise. "Du hast doch praktisch zugegeben, dass du sie liebst. Ich weiß, dass sie dich auch liebt." "Natürlich ist es wichtig", erklärte Ward schroff. "Wenn jemand von Natur aus unaufrichtig ist, wie soll man ihm dann vertrauen? Wie könnte ich jemals ...?" "Ward, ich habe es dir noch nie erzählt, aber als ich deinen Stiefvater kennen gelernt habe, gab es gerade eine Diebstahlserie in der Schule. Es wurden zwar nur kleine Beträge gestohlen, aber immerhin. Alles deutete darauf hin, dass ich die Diebin war, und das wusste Alfred genauso gut wie ich. Er hatte also allen Grund, anzunehmen, ich wäre eine Diebin, aber
trotzdem hat er seine Liebe zu mir über alle Indizien, die gegen mich sprachen, gestellt." "Aber du warst es nicht", bemerkte er grimmig. "Anna dagegen..." "Du hörst mir gar nicht richtig zu, Ward", schalt seine Mutter ihn sanft, "genauso wenig wie du auf dein Herz hörst. Das solltest du aber. Fahr zu ihr", fügte sie hinzu. "Fahr zu Anna, und sag ihr, was du mir gesagt hast, Ward. Sag ihr, dass du sie liebst." Das würde er natürlich nicht tun. Was hatte es für einen Sinn? Er hatte sich ihr gegenüber schließlich schon einmal zum Narren gemacht, indem er ihr gesagt hatte, dass er sie liebte. Doch das Schicksal hatte ihm eine zweite Chance gegeben, sein Leben wieder in die Hand zu nehmen und auf seinen Verstand zu hören statt auf sein Herz. Nein, er würde weder auf seine Mutter noch auf seine Gefühle hören ... Also warum fand er sich dann kurz darauf auf der Autobahn wieder und fuhr viel zu schnell in Richtung Rye-on-Averton statt nach York? Weil seine Mutter Recht hatte, deshalb. Weil er Anna liebte und sie nicht gehen lassen konnte, ohne sie wenigstens noch einmal gesehen zu haben. Nur noch einmal. Wem mache ich eigentlich etwas vor? fragte Ward sich grimmig. Er liebte Anna. Er liebte sie so sehr, dass ... Was? Dass er bereit war, ihretwegen seine Prinzipien über Bord zu werfen? Dass er die Augen vor der Realität verschließen und so tun konnte, als hätte sie nicht gegen das Gesetz verstoßen? Und was war mit Anna? Was war, wenn sie sich überhaupt nicht verändern wollte? Was war, wenn es ihr Spaß machte, andere zu belügen und zu betrügen? Was war, wenn sie gar nicht noch einmal von vorn anfangen wollte?
Allerdings konnte er sich beim besten Willen vorstellen, dass die Anna, die er kennen und lieben gelernt hatte, so reagieren würde. Sie hatte so viel Zärtlichkeit und Mitgefühl gezeigt, so viel Rücksicht auf die Gefühle anderer, dass ein solches Verhalten überhaupt nicht zu ihr gepasst hätte. Aber hatte er die wahre Anna wirklich gekannt? Vielleicht hatte der Schlag auf den Kopf mehr als nur ihr Erinnerungsvermögen in Mitleidenschaft gezogen. Was versuche ich mir eigentlich einzureden? fragte Ward sich spöttisch. Dass Anna sich völlig verändert hatte? Jetzt ging seine Fantasie mit ihm durch. Doch als sich ihm eine halbe Stunde später die Gelegenheit bot, auf die andere Autobahn zu fahren, die direkt nach York führte, ergriff er sie nicht. "Fühlst du dich wirklich gut genug, um allein klarzukommen?" fragte Dee streng, als sie in Annas Küche standen. "Es geht mir gut, Dee", erwiderte Anna sanft. Sie, Dee, hatte mit Engelszungen auf sie eingeredet, damit Anna ihre Meinung änderte und noch bei ihr blieb, doch Anna war hartnäckig geblieben, und schließlich hatte sie sie nach Hause gebracht. "Irgendwann muss ich mein gewohntes Leben wieder aufnehmen", hatte Anna nüchtern verkündet, als sie, Dee, gesagt hatte, sie brauchte vielleicht noch etwas Zeit, um mit den Geschehnissen fertig zu werden. "Ich glaube, je früher ich in den Alltag zurückkehre, desto besser", erklärte Anna jetzt. "Natürlich bin ich dir für alles sehr dankbar. Ohne dich ..." Sie verstummte und schüttelte den Kopf. "Es hat mir gut getan, mit jemandem über alles reden zu können, und ich bin dir auch sehr dankbar dafür, dass du es für dich behalten hast, Dee. Es ist schon schlimm genug, dass ich mich so blamiert habe ..."
"Kelly und Beth hätten sicher Verständnis dafür gehabt", warf Dee ein und meinte es auch so. "Ja, ich weiß, aber ... Beth scheint über die Geschichte mit Julian hinweg zu sein, aber sie hat sich verändert. Irgendetwas beschäftigt sie, doch sie möchte offenbar nicht darüber reden." "Hm ... Mir ist auch aufgefallen, dass sie in letzter Zeit mit ihren Gedanken woanders zu sein scheint", bestätigte Dee. "Es liegt bestimmt daran, dass sie Probleme mit dem Kristall hat, das sie in Prag bestellt hat." "Du meine Güte, ist die Lieferung immer noch nicht gekommen?" fragte Anna. "Die Arme. Hoffentlich kommen die Sachen bald. Sie wollte damit den Verkauf ankurbeln." "Sie hat ja noch Zeit", erinnerte Dee sie. "Du bist uns allen eine wundervolle Freundin, Dee", lobte Anna. "Du hast uns allen geholfen und ..." "Euch geholfen?" unterbrach Dee sie trocken. "So, habe ich das? Ich hätte Kelly und Brough beinah auseinander gebracht, und Ward Hunter hat sich dir gegenüber nur so benommen, weil ich dich beauftragt hatte, Julian Geld zu leihen ..." Anna warf Dee einen flüchtigen Blick zu. Manchmal vergaß sie fast, dass Dee jünger als sie war, und oft verließen sie alle sich auf sie. Doch auch Dee war gelegentlich unsicher und verletzlich. "Du bist eine gute Freundin", bekräftigte Anna. "Eine sehr gute Freundin, Dee. Ich wünschte ..." Sie verstummte und betrachtete sie forschend. "Ich möchte nicht neugierig sein, aber ... diese Sache zwischen dir und Julian Cox ... Es steckt mehr dahinter, als du uns erzählt hast. Ich glaube ..." Anna hielt den Atem für einen Augenblick an und fragte sich, ob Dee den Ball auffangen würde, den sie ihr zuspielte, und sich ihr anvertrauen würde. Einen Moment lang dachte sie schon, ihre Geduld würde belohnt werden, denn Dee begann zögernd: "Ja, das stimmt, und ..." "Und?" hakte Anna nach.
"Ich kann nicht ... Es ist eigentlich nichts", wehrte Dee ab, und Anna wusste, dass es keinen Sinn hatte, weiter in sie zu dringen. Sie wusste noch etwas, wie sie sich traurig eingestand, als Dee verkündete, sie würde jetzt ihre restlichen Sachen aus dem Wagen holen. Dee war ihr gegenüber nicht ehrlich. Sie konnte Dee zwar nicht dazu bringen, sich ihr anzuvertrauen, doch sie würde für sie da sein, wenn Dee sie einmal brauchte. "Du solltest dich eine Weile hinlegen", erklärte Dee. "Ich muss jetzt los und einkaufen. Wenn du etwas brauchst, kann ich es dir mitbringen, und wir können zusammen zu Mittag essen." Anna zögerte einen Moment, bevor sie Dees Angebot annahm. Nun, da sie wieder zu Hause war, hätte sie ohne weiteres selbst einkaufen können, aber sie fühlte sich noch nicht in der Lage, wieder unter Menschen zu gehen. "Ich bin bald wieder da", fügte Dee auf dem Weg zur Tür hinzu. Nachdem Dee gegangen war, musste Anna sich eingestehen, dass sie keine Lust hatte zu schlafen. Trotzdem legte sie sich aufs Bett und schloss die Augen, öffnete sie allerdings wenige Minuten später wieder, als das Telefon neben dem Bett klingelte. Sie nahm den Hörer ab. "Hallo?" "Hallo", meldete sich eine freundliche Frauenstimme. "Spreche ich mit Anna Trewayne?" "Ja", bestätigte Anna. "Wer ...?" "Mein Name ist Ruth. Ich bin Wards Mutter ..." Wards Mutter! Beinah hätte Anna den Hörer fallen lassen. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie hätte am liebsten aufgelegt. Doch als hätte sie ihre Gedanken erraten, bat Ruth: "Bitte hören Sie mir zu, Anna. Bitte ..." Benommen hörte Anna ihr zu und stellte bald fest, dass Ruth ihren Sohn sehr gut kannte.
"Ich will sein Verhalten nicht rechtfertigen und mich auch nicht für ihn entschuldigen", erklärte sie schließlich. "Aber was ich Ihnen sagen möchte, ist, dass er Sie sehr liebt, Anna." "Als er mich im Krankenhaus in dem Glauben gelassen hat, wir wären ein Paar, hat er mich nicht geliebt", entgegnete Anna leise. "Nein", bestätigte Wards Mutter prompt, "das hat er nicht, aber da kannte er Sie ja auch noch nicht." "Er hat meine Lage schamlos ausgenutzt." "Stimmt", räumte Ruth ein. "Und dass er gedacht hat, Sie hätten dasselbe mit Ritchie getan, rechtfertigt sein Verhalten in keinster Weise." Anna lächelte zerknirscht. "Warum erzählen Sie mir all das?" erkundigte sie sich schließlich. "Weil ich nicht nur Mutter bin, sondern auch eine Frau", erwiderte Ruth prompt. "Und als Frau sollten Sie wissen, dass Ihr Instinkt und Ihre Gefühle Sie nicht getrogen haben. Dass das, was Ward und Sie gemeinsam erlebt haben, keine Lüge war und Ward Sie wirklich liebt." "Ich liebe dich", hatte Ward zu ihr, Anna, gesagt, nachdem er mit ihr geschlafen hatte, und später hatte sie angenommen, er hätte gelogen. Aber was war, wenn, es nicht der Fall gewesen war? Was war, wenn er es tatsächlich ehrlich gemeint hatte? "Hat er Sie gebeten, mich anzurufen?" fragte sie herausfordernd. "Nein. Ward ist ein sehr stolzer und unabhängiger Mann. Dass ich Sie angerufen habe, wird ihm überhaupt nicht gefallen." "Und warum haben Sie es dann getan?" Ruth schwieg einen Moment, bevor sie antwortete. "Weil ich selbst wissen wollte, wie die Frau ist, in die mein stolzer und wählerischer älterer Sohn sich verliebt hat."
"Und das können Sie anhand eines Telefonats beurteilen?" erkundigte Anna sich sanft. "Sie wussten trotz Ihrer Amnesie, dass Sie ihn lieben", konterte Ruth. "Wir Frauen haben ein ausgeprägtes Feingefühl." "Und weil ich ihn liebe, soll ich über sein Verhalten hinwegsehen..." "Natürlich nicht", entgegnete Ruth mit einem scharfen Unterton. "Ich wollte Ihnen lediglich sagen, dass Ward Sie liebt. Ich bin seine Mutter, und deshalb möchte ich ihm helfen und ihn beschützen - obwohl er zweiundvierzig ist und damit erwachsen genug, um sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und seine eigenen Entscheidungen zu treffen." "Und wenn ich Ihnen nicht erzählt hätte, dass Ward sich geirrt hat und ich absolut nichts mit Julian Cox' kriminellen Machenschaften zu tun habe und genauso auf ihn hereingefallen bin wie Ritchie, wie wäre Ihnen dann zu Mute gewesen?" "Es hätte keinen Unterschied gemacht", erwiderte Wards Mutter prompt, und es war offensichtlich, dass sie es auch so meinte. "Und ehrlich gesagt, freut es mich sehr, dass Ward seine Liebe zu Ihnen eingestehen musste, obwohl er dachte, Sie würden mit Julian Cox unter einer Decke stecken. Ich war schon ganz verzweifelt, weil er niemanden an sich herangelassen und nie auf seine Gefühle gehört hat. Wäre er mit einer perfekten Frau angekommen, mit der er sich eingelassen hatte, weil sie seiner Meinung nach eine gute Ehefrau abgeben würde, wäre ich entsetzt gewesen. Er musste die Erfahrung machen, dass er auch nur ein Mensch ist und seine Gefühle nicht unterdrücken kann. Dass er eine so schlechte Meinung von Ihnen hat und Sie trotzdem so liebt ..." Sie lachte, bevor sie trocken hinzufügte: "Natürlich freue ich mich, dass mein über alles geliebter Sohn sich so in Ihnen geirrt hat... Ich kann es gar nicht abwarten, Sie kennen zu lernen, Anna ..." Nun musste Anna lachen.
"Freuen Sie sich nicht zu früh", warnte sie Ruth mit bebender Stimme. "Ward hat Ihnen vielleicht gesagt, dass er mich liebt, aber das bedeutet nicht, dass er daraus die Konsequenzen zieht oder dass ich es möchte." "Das wird er aber tun", verkündete Ruth und machte wieder eine Pause, bevor sie eingestand: "Normalerweise mische ich mich nicht in die Angelegenheiten meiner Söhne ein, aber während unseres ... Streitgesprächs ist mir der Gedanke gekommen, dass Ward im Eifer des Gefechts nicht an die ... Folgen seines Verhaltens gedacht hat..." Anna brauchte einen Moment, um die Bedeutung ihrer Worte zu erfassen, und errötete, als ihr klar wurde, dass Ward nicht der Einzige gewesen war, der sich verantwortungslos verhalten hatte. "Oh, das ist..." "Unmöglich", hatte sie sagen wollen, doch das war es natürlich nicht, und außerdem ... Sie atmete tief durch. Plötzlich fühlte sie sich überglücklich. Plötzlich sah die Welt ganz anders aus. Ein Baby ... Warum hatte sie nicht...? "Ward würde sich niemals von seinem Kind oder dessen Mutter abwenden", erklärte Ruth leise. "Aber auf eines sollte ich Sie hinweisen, Anna. Wenn Sie Ward die Wahrheit über Ihre Beziehung zu Julian Cox sagen, wundern Sie sich nicht, wenn er nicht so erfreut und erleichtert ist, wie Sie erwartet hatten. Selbstverständlich wird er sich freuen, aber er wird sich Ihnen deswegen auch unterlegen fühlen und sich schämen, weil er Sie ganz falsch eingeschätzt hat. Es wird ihm nicht schwer fallen, seinen Irrtum einzugestehen, doch er wird es sich nicht so leicht verzeihen können." "Ja", bestätigte Anna, denn sie musste Ruth Recht geben. Als sie auflegte, hätte sie die ganze Welt umarmen mögen. Ward liebte sie ... Es war nie seine Absicht gewesen, sie zu betrügen oder zu demütigen. Er hatte lediglich die Gunst der Stunde genutzt, genauso wie sie es getan hatte!
Ein Baby ... Sie seufzte glücklich. Dee wollte gerade in die Einfahrt zu Annas Haus einbiegen, als sie den großen Mercedes hinter sich sah, der ebenfalls blinkte. Stirnrunzelnd hielt sie an und stieg aus. Sie wusste, dass Anna keinen Besuch erwartete. Misstrauisch ging sie auf den Mercedes zu. Der Fahrer war ebenfalls ausgestiegen. Sie erkannte ihn sofort, denn Anna hatte ihn ihr genau beschrieben. "Was wollen Sie hier?" fragte Dee wütend. Starr blickte Ward sie an. Wer, zum Teufel, war diese Ziege? "Ich wollte Anna besuchen - nicht, dass es Sie etwas angeht", erwiderte er kühl. Die junge Frau, die vor ihm stand, war offenbar auf dem Kriegspfad, doch er hatte keine Ahnung, warum - und er wollte es auch gar nicht herausfinden. Er wollte nur Anna sehen, sie in den Armen halten und ihr sagen, wie sehr er sie liebte ... Starr blickte Dee ihn an. Sie fasste es einfach nicht, wie er so unverschämt sein konnte. "Finden Sie nicht, dass Sie ihr bereits genug angetan haben?" fragte sie aufgebracht. Ich weiß genau, wer Sie sind und was Sie getan haben, und falls Sie auch nur einen Moment glauben, dass Anna Sie sehen möchte ..." Ward runzelte die Stirn. "Sie hat mit Ihnen über mich gesprochen?" "Sie hat mir alles erzählt", informierte sie ihn scharf. Seine Miene wurde noch finsterer. "Wo ist Anna?" Er blickte an ihr vorbei zum Haus. "Sie ist nicht da", schwindelte Dee. "Sie ist weggefahren. Und selbst wenn sie hier wäre, würde sie Sie auf keinen Fall sehen wollen. Sie haben sie belogen und betrogen ..." "Moment mal", fiel er ihr ins Wort. "Ich hatte meine Gründe dafür."
"Falls Sie damit Ihre Annahme meinen, Anna wäre in Julian Cox' betrügerische Machenschaften verwickelt gewesen, dann lassen Sie sich gesagt sein, dass Sie sich geirrt haben", erklärte sie spöttisch. "Anna ist genauso auf ihn hereingefallen wie Ihr Bruder." Fassungslos sah Ward sie an. "Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, aber Tatsache ist, dass Anna und Julian Cox Geschäftspartner waren." "Wollen Sie damit sagen, dass Sie ein Blatt Papier gesehen haben, auf dem steht, dass sie Partner sind?" erkundigte Dee sich aufgebracht. "Schade, dass Sie nicht etwas sorgfältiger recherchiert haben. Dann hätten Sie vielleicht die Wahrheit erfahren." "Welche Wahrheit?" "Dass Julian Cox ohne Annas Wissen oder Einverständnis ihren Namen benutzt hat." "Wenn das stimmt, warum hat Anna es mir dann nicht selbst gesagt?" fragte Ward. "Vielleicht hätte sie es getan, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt und nicht an Amnesie gelitten hätte", verkündete sie eisig. Er betrachtete sie. Es bestand kein Zweifel daran, dass sie die Wahrheit sagte. "Wenn Sie Anna gegenüber ehrlich gewesen wären und ihr im Krankenhaus gesagt hätten, wer Sie sind und warum Sie bei ihr sind, hätte sie Sie über Ihren Irrtum aufklären können, nachdem sie das Gedächtnis wiedererlangt hatte." Ward schwieg einen Moment. "Wenn das stimmt, warum hat sie es mir dann nicht gleich bei unserer ersten Begegnung gesagt?" erkundigte er sich schließlich wütend. "Sie hat es nicht getan, weil sie erst mit mir darüber sprechen wollte", erwiderte Dee widerstrebend. "Mit Ihnen?" "Ja", bestätigte sie.
Ward wartete offenbar auf eine Erklärung, doch ihrer Meinung nach verdiente er keine Erklärung - er verdiente überhaupt nichts. "Haben Sie eine Ahnung, was Sie Anna angetan haben, wie sehr Sie sie verletzt haben? Sie haben sie in dem Glauben gelassen ..." Sie verstummte und presste die Lippen zusammen. "Denken Sie wirklich, dass sie Sie je wieder sehen oder mit Ihnen sprechen möchte? Sie haben Ihr Pfund Fleisch und Ihr Geld bekommen." "Ist das Annas Entscheidung oder Ihre?" erkundigte Ward sich bitter, doch Dee ließ sich nicht einschüchtern. "Anna ist meine Freundin, und als ihre Freundin ist es mein gutes Recht, sie zu beschützen. Ich trage eine gewisse Mitschuld an all dem. Sie hat sich nur mit Julian Cox eingelassen, um mir zu helfen." "Um Ihnen zu helfen? Warum? Ist Cox Ihr Exfreund?" "Nein", entgegnete Dee scharf. "Sie werfen mir vor, ich wäre Anna gegenüber unfair gewesen, aber mir scheint es, als hätten Sie sie auch nicht gerade fair behandelt", warf er ihr aufgebracht vor. "Sie haben sie Cox ans Messer geliefert und ..." "Ich habe ihr nicht gesagt, dass ich sie liebe. Ich habe nicht so getan, als wären wir ein Paar. Ich habe nicht mit ihr geschlafen und ..." Sie verstummte unvermittelt, weil ihr klar wurde, dass sie bereits zu viel gesagt hatte. Ward kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn hatte, mit dieser aggressiven und zornigen jungen Frau zu sprechen, wenn er nicht die Beherrschung verlieren wollte. Er musste erst einmal die Neuigkeit verarbeiten, was Annas tatsächliches Verhältnis zu Julian Cox betraf. Obwohl er sich über die junge Frau ärgerte, wusste er instinktiv, dass sie die Wahrheit sagte. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Kein Wunder, dass Annas Verhalten ihm so widersprüchlich erschienen war. Sein Herz krampfte sich
zusammen, als ihm klar wurde, wie sehr er sich in Anna geirrt und wie schlecht er sie behandelt hatte. Er konnte es ihr nicht verdenken, dass sie ihn nicht wieder sehen wollte. Und selbst wenn Anna ihm zuhörte und er ihr sagen konnte, dass er sich seiner Liebe zu ihr bewusst geworden war, bevor er die Wahrheit über sie erfahren hatte, würde er sie vielleicht nicht überzeugen können. Schließlich hätte er sich an ihrer Stelle auch nicht so leicht überzeugen lassen. Er war ihr gegenüber sehr grausam gewesen, und es geschah ihm recht, dass sie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Schweigend wandte er sich ab und stieg wieder in seinen Wagen. Dee blickte ihm nach, als er davonfuhr. Dann stieg sie auch wieder in ihren Wagen und fuhr in die Auffahrt. "Was machst du hier? Ich dachte, du schläfst", sagte Dee, als sie die Küchentür öffnete und feststellte, dass Anna fröhlich vor sich hin summend an der Spüle stand und Wasser in den Kessel laufen ließ. "Mir geht es so gut, dass ich nicht mehr im Bett liegen wollte. Schließlich bin ich keine Invalidin", erwiderte Anna trocken. "Du siehst nicht besonders glücklich aus", fügte sie hinzu. "Was ist los?" Dee hatte nicht die Absicht, ihr von ihrer Begegnung mit Ward zu erzählen. Zu ihrer Bestürzung stellte sie fest, dass sie errötete, als sie nach einer Lüge sann. "Ach, es hat keinen Sinn", gab sie schließlich zu. "Ich muss es dir sagen. Ich wollte gerade in die Einfahrt fahren, als Ward Hunter hinter mir mit seinem Wagen aufgetaucht ist." "Ward ist hier? Wo?" Anna lief zum Küchenfenster und blickte . hinaus. "Nein, er ist nicht hier", erklärte Dee. "Ich ... ich habe ihm gesagt, dass du ihn nicht sehen willst und ... dass du nicht da bist."
"Er ist weggefahren? Wann? Gerade eben? Du meine Güte, das bedeutet ... Ich muss ihm hinterherfahren, Dee. Bestimmt ist er nach Hause gefahren. Ich kenne den Weg." "Du willst ihm nachfahren? Nach allem, was er dir angetan hat?" Dee sah sie entgeistert an. "Nein, es ist nicht so, wie du denkst", versicherte Anna und erzählte ihr dann von dem Telefonat mit Wards Mutter. "Und du glaubst ihr, stimmt's?" fragte Dee dann. "Ja, ich glaube ihr", bestätigte Anna leise. Annas ungewohnte Entschlossenheit erschreckte Dee und nötigte ihr gleichzeitig Respekt ab. "Dann war es wohl nicht richtig von mir, ihn wegzuschicken", meinte sie zerknirscht. "Es tut mir Leid, Anna, aber ich ..." "Es ist nicht deine Schuld. Schließlich wusstest du nicht, dass seine Mutter mich angerufen hat. Ich weiß, dass du mich nur beschützen wolltest, und dafür bin ich dir wirklich dankbar, Dee." Spontan umarmte Anna sie. "Kannst du mir einen Gefallen tun?" Als Dee nickte, fragte Anna: "Kannst du dich um Missie und Whittaker kümmern? Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme - vielleicht erst am späten Abend." "Ja, ich kümmere mich um sie", erklärte Dee sich bereit. "Es ist das Mindeste, was ich tun kann."
12. KAPITEL Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, doch als Ward sich zwang, sich etwas zu kochen, wurde ihm klar, dass er eigentlich keinen Appetit hatte. Was mochte Anna jetzt machen? Wo war sie? Er hoffte nur, dass man ihr die Zärtlichkeit und die Liebe zuteil werden ließ, die sie verdiente, die Zärtlichkeit und die Liebe, die er ihr eigentlich hätte geben müssen, die er ihr so gern gegeben hätte. Während der Fahrt hatte er sie ständig im Krankenhaus vor sich gesehen, wie sie zu ihm aufgeblickt hatte und ihre Augen vor Erleichterung und Liebe geschimmert hatten, in ihrem Haus, wie sie den Kopf gewandt und ihn angelächelt hatte, in seinem Bett, als sie ihm gesagt und gezeigt hatte ... Es tat so weh, und ihm brannten die Augen. Er öffnete die Kühlschranktür und schloss sie wieder, wobei er heftig blinzelte. Als er hereingekommen war, hatte er das Radio eingeschaltet, in der Hoffnung, die Musik würde ihn etwas aufheitern, doch die Stimme der Frau, die gerade sprach, klang schrill in seinen Ohren. Die einzige Stimme, die er hören wollte, war Annas. Nachdem sie miteinander geschlafen hatten, hatte sie so zärtlich geklungen ... "O Anna!" "Ja, Ward?" Ungläubig drehte Ward sich um. "Anna ... Was machst du hier?" Unsicher lächelte Anna ihn an.
Sie war so erleichtert gewesen, als sie auf den Hof gefahren war und seinen Wagen dort hatte stehen sehen. Doch nun verließ sie der Mut, denn sie dachte daran, was für ein Risiko sie einging, weil sie Gefahr lief, wieder zurückgewiesen und verletzt zu werden. Allerdings blickte Ward sie nicht so an, als würde er sie zurückweisen. Er blickte sie an, als ob ... Zögernd machte sie einen Schritt auf ihn zu und blieb dann stehen, als er ihr unvermittelt den Rücken zuwandte und die Kühlschranktür öffnete. Es gab so viel zu sagen, dass sie befürchtete, sie würden einander verlieren, wenn sie sich in umständlichen Erklärungen und Entschuldigungen ergingen. Es musste doch eine Möglichkeit geben, zu Ward durchzudringen, ihm zu sagen und zu zeigen, dass ... Und während Anna seinen Rücken betrachtete und sich schmerzlich daran erinnerte, wie es gewesen war, ihn zu streicheln und seine Muskeln zu spüren, fiel es ihr ein. Sie atmete tief durch und fragte sanft: "Du willst mir vielleicht den Rücken zukehren, Ward, aber willst du ihn auch deinem Sohn oder deiner Tochter zukehren?" Ehe sie sich's versah, wirbelte er zu ihr herum und zog sie an sich. "Was sagst du da, Anna? Du meine Güte, bist du wirklich ...? Haben wir...?" Hinter dem Rücken kreuzte sie die Finger und hoffte, dass Mutter Natur sie nicht als Lügnerin entlarven würde. "Es ist noch ziemlich früh, aber ich glaube ... wir haben ..." begann Anna mit bebender Stimme. "Ein Kind - du erwartest ein Kind von mir..." Ward schüttelte den Kopf und stöhnte auf. "Meine Mutter hatte es auch schon in Betracht gezogen, aber ich dachte, sie würde übertreiben ... Du erwartest ein Kind von mir ..." Er streichelte sie zärtlich, und seine Augen waren dunkel vor Liebe. Sie spürte, wie seine Hände zitterten, als er ihr Gesicht umfasste.
"O Anna, ich habe dich so vermisst", sagte er rau. "Kannst du mir je verzeihen?" Er war ein sehr stolzer Mann, und sie wusste, wie viel Überwindung es ihn kosten musste, sie um Verständnis und um Verzeihung zu bitten. Andere Frauen wären vielleicht versucht gewesen, ihn noch ein bisschen mehr zu bestrafen und ihn daran zu erinnern, wie sehr er sie verletzt hatte, doch sie verspürte nicht das Bedürfnis. "Wir haben beide Fehler gemacht und falsche Schlüsse gezogen", lenkte sie ein. "Wir können uns glücklich schätzen, Ward, denn wir haben die Chance bekommen, noch einmal von vorn anzufangen." "Ich habe dich schon geliebt, bevor deine Freundin mir die Wahrheit über Cox erzählt hat", erklärte Ward rau. "Ich weiß. Du hast es mir gesagt - nachdem wir miteinander geschlafen hatten..." "Das hast du gehört? Ich ..." Er lächelte gequält. "Ja, ich habe es gehört", bestätigte Anna. "Und selbst wenn ich es nicht gehört hätte, hätte ich geglaubt, dass du mich liebst, denn deine Mutter hat es mir gesagt." "Meine Mutter? Sie hat mit dir gesprochen? Aber ..." "Aber was?" fragte sie herausfordernd und bot ihm die Lippen zum KUSS. "Nichts", brachte er hervor und presste verlangend die Lippen auf ihre. "Verdammt, Anna, das dürftest du nicht zulassen", sagte er und stöhnte wieder auf. "Wir müssen miteinander reden. Ich schulde dir einige Erklärungen und ... Was ist?" fügte er hinzu, als sie ihm die Fingerspitzen auf die Lippen legte, um ihn zum Schweigen zu bringen. "Später", erwiderte sie schlicht. "Geh mit mir ins Bett, Ward. Ich sehne mich so danach. Ich sehne mich so nach dir", flüsterte sie glücklich, als er ihre Fingerspitzen küsste und schließlich daran saugte.
"Wenn wir jetzt miteinander ins Bett gehen, kann ich für nichts garantieren", gestand er, während er erneut ihr Gesicht umfasste und ihr tief in die Augen sah. "Ich vertraue dir", sagte Anna ruhig. "O Anna..." "Wir haben beide falsche Schlüsse gezogen", bekräftigte sie. "Aber wenn du nicht geglaubt hättest, dass ich Julians Geschäftspartnerin bin, und ich nicht angenommen hätte, dass wir ein Paar sind, dann hätten wir nie ..." "Wie konnte ich mich nur so in dir irren?" fragte er aufstöhnend, als er sie an sich zog. "Ward? Ich habe nachgedacht", sagte Anna eine Stunde später glücklich, als sie sich im Bett an Ward kuschelte. "Hm ..." erwiderte er. "Ich möchte nicht nachdenken. Ich möchte dich nur in den Armen halten und berühren, dich küssen und..." "Ward", protestierte sie halbherzig und seufzte dann lustvoll auf, weil er ihren Hals zu küssen begann. Als er jedoch ihre Brust umfasste, hielt sie seine Hand fest und sagte streng: "Was das Baby betrifft..." Sofort widmete er ihr seine Aufmerksamkeit. "Ich möchte, dass Dee seine oder ihre Patentante wird." "Dee?" erkundigte Ward sich misstrauisch. "Ist sie zufällig diese männerhassende Furie, die mich heute Nachmittag nicht zu dir gelassen hat?" Er kannte die Antwort auf die Frage bereits. Tadelnd schüttelte Anna den Kopf. "Dee ist keine Männerhasserin, Ward, und was die ,Furie' angeht... Sie ist eigentlich sehr nett - und in ihrer rauen Schale steckt ein weicher Kern. Wenn du sie besser kennen lernst, wirst du sie mögen, das verspreche ich dir." "Wenn du meinst", sagte er zerknirscht. "Aber vorerst", fügte er in verführerischem Tonfall hinzu, "habe ich viel wichtigere Dinge im Sinn..."
"Ach ja? Was für Dinge denn?" fragte sie neckend. "Komm her, dann zeige ich es dir", erwiderte er zärtlich.
EPILOG Das Telefon klingelte, als Beth ins Geschäft zurückeilte. Sie war kurz nach draußen gegangen, um für Kelly und sich Sandwiches zum Mittagessen zu kaufen, und Kelly nahm gerade den Hörer ab. "Es ist für dich", sagte sie und hielt ihr den Hörer entgegen. "Jemand von der Zollbehörde wegen des Zeugs, das du in Tschechien bestellt hast." Beth gab ihr die Sandwiches herüber und nahm erleichtert den Hörer entgegen. Sie hatte schon befürchtet, die Sachen würden überhaupt nicht mehr kommen und Alex hätte doch Recht gehabt, als er sie davor gewarnt hatte, das alten Vorbildern nachempfundene Kristall zu kaufen, in das sie sich so ganz spontan verliebt hatte. "Ich bezahle Sie als Dolmetscher, das ist alles", hatte sie geschimpft. "Wenn ich Ihren Hat wollte, hätte ich Sie danach gefragt." Sie hatte sich in dem Moment in die farbenfrohen Gläser verliebt, als sie sie an dem Marktstand sah, und beschlossen, einige für das Geschäft zu bestellen. Alex hatte jedoch alles darangesetzt, um sie davon abzubringen. Natürlich wusste sie, warum. Er hatte gewollt, dass sie den Auftrag seinen Cousins erteilte. Wenn das keine Vetternwirtschaft war! Jedenfalls hatte sie ihm gezeigt, dass sie ihren eigenen Kopf hatte.
Beth spürte, wie sie vor Wut und Schuldgefühlen errötete. Sie war so entschlossen gewesen, die Gläser zu bestellen, dass sie vielleicht ein wenig aus der Rolle gefallen war. Vielleicht? fragte eine zynische innere Stimme. Ganz bestimmt sogar! Beth versuchte, sich auf das zu konzentrieren, was der Mitarbeiter der Zollbehörde ihr mitteilte - nämlich dass ihre lang ersehnten Gläser endlich eingetroffen seien und dass man ihr das Dokument zuschicken würde, mit dem sie es abholen könne. "Sie müssen die Sendung aber bitte persönlich abholen, weil Sie eine Bearbeitungsgebühr zahlen müssen", sagte der Mann am Telefon. "Das ist kein Problem", versicherte sie glücklich. Vor lauter Dankbarkeit, dass es endlich geklappt hatte, dachte sie gar nicht daran, dass es ungefähr einen halben Tag dauern würde, die Sachen abzuholen. "Gute Neuigkeiten?" erkundigte sich Kelly, sobald Beth aufgelegt hatte. "Sehr gute sogar", bestätigte Beth. "Die Gläser, die ich bestellt habe, sind endlich eingetroffen - zum Glück." "Ich freue mich schon darauf, sie zu sehen", erklärte Kelly lächelnd. "Wir können einige davon sehr gut gebrauchen, um mit Anna zu feiern. Es ist schön, sie so glücklich zu sehen", fügte sie herzlich hinzu. "Ja, das ist es. Allerdings sind Dee und Ward einander gegenüber immer noch ein bisschen misstrauisch, nicht?" "Nur ein bisschen", antwortete Kelly. Sie hatte Dee am Vortag gesehen und mit ihr über Julian Cox gesprochen. "Hat Anna keine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?" hatte sie sie gefragt. "Anscheinend nicht", hatte Dee gesagt. "Man hat ihn in Hongkong und später in Singapur gesehen. Er hatte gleichzeitig in beiden Städten Investitionen getätigt, aber offenbar hat er seine Zeit zumindest in Singapur mit Glücksspiel verbracht."
"Na, ich bin jedenfalls froh, dass er aus unserem Leben verschwunden ist." Darauf hatte Dee nichts erwidert. "Ich muss nach Manchester zum Flughafen fahren", sagte Beth und riss Kelly damit aus ihren Gedanken. "Kannst du hier solange allein die Stellung halten?" "Kein Problem", versicherte Kelly. Alles in allem war ihr ganzes erstes Geschäftsjahr in Rye unerwartet turbulent gewesen, doch nun hatte sich die Lage etwas beruhigt, und zwar sowohl ihr Berufs- als auch ihr Privatleben betreffend. "Hm, deine Bestellung ist genau zum richtigen Zeitpunkt eingetroffen", lobte Kelly, während sie ihr Sandwich auspackte. "Wir haben nämlich nicht mehr viel auf Lager, und ich hatte schon überlegt, ob wir unseren Bestand nicht bald wieder aufstocken sollten." "Ja, das stimmt", bestätigte Beth. Sie hatte das Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben. Noch immer hatte sie Kelly nicht erzählt, wie viel von ihren Reserven sie in die Bestellung investiert hatte. Als sie aus Prag zurückgekehrt war, hatte sie ihr Glück mit Brough nicht trüben wollen und Kelly daher keine Einzelheiten erzählt. Doch nun brauchte sie sich zum Glück keine Sorgen mehr zu machen, denn die Sachen waren eingetroffen und würden sich sehr gut verkaufen. Zum Glück hatte sie nicht auf Alex' Warnungen gehört. Jetzt würde alles gut werden.
-ENDE-