Ren Dhark® Der Bitwar‐Zyklus Band 6
Das Judas‐Komplott Herausgegeben von HAJO F. BREUER Scan: Puckelz K‐Leser: CC Layout: Puckelz
! Ein Universum Release, nur für den internen Gebrauch !
HJB®
Das Judas‐Komplott von UWE HELMUT GRAVE (Kapitel 12, 14, 16, 18, 19) ACHIM MEHNERT (Kapitel 2, 4, 6, 8, 10) CONRAD SHEPHERD (Kapitel 1, 3, 5, 7, 9) JO ZYBELL (Kapitel 11, 13, 15, 17, 20) und HAJO F. BREUER (Expose)
1. Auflage HJB Verlag & Shop KG Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 0 26 31‐35 48 32 Fax: 0 26 31 – 35 61 02 E‐Mail:
[email protected] www.ren‐dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Ueberreuter Buchproduktion © 2005 HJB Verlag REN DHARK und HJB sind eingetragene Warenzeichen Alle Rechte vorbehalten ISBN 3‐937355‐09‐X
Der Bitwar-Zyklus Ren Dhark sitzt in einer goldenen Falle, aus der es kein Ent rinnen zu geben scheint. Dann verrät ihn auch noch einer seiner bisher treusten Weggefährten, und er fällt dem Judas-Komplott zum Opfer. Uwe Helmut Grave, Achim Mehnert, Conrad Shepherd und Jo Zybell schrieben einen packenden SF-Roman nach dem Expose von Hajo F. Breuer. Diese Buchausgabe präsentiert die Saga über das Leben des Sternenabenteurers Ren Dhark: eine Science Fiction-Serie, genau wie sie sein muß! Erstveröffentlichung
Vorwort Es geht einfach unglaublich schnell: Mit Band 6 des Bitwar‐Zyklus läuft das neue REN DHARK‐Abenteuer nun schon ein Jahr lang. Es wird wohl langsam wieder Zeit, eine Autorenkonferenz zu planen… Dabei weiß ich noch gar nicht, ob wir die Zeit dafür überhaupt finden, denn unser Team ist wirklich schwer beschäftigt. Neben den regulären Büchern und REN DHARK‐Sonderbänden erscheint mit der abgeschlossenen Serie DER MYSTERIOUS in diesem Jahr näm‐ lich schon die zweite Paperback‐Reihe aus dem DHARK‐Kosmos. DER MYSTERIOUS widmet sich einer der Personen, die von An‐ fang an zu REN DHARK gehören wie die POINT OF: Arc Doorn. Erst kürzlich hat sich ja herausgestellt, daß er wesentlich mehr ist, als er bisher zu sein vorgab. In der sechsbändigen Reihe über diese Fi‐ gur, die zu den beliebtesten der Serie gehört, werden wir nicht nur eine ganze Menge über Doorns Erlebnisse vor seinem Flug mit dem Kolonistenraumer GALAXIS nach Hope erfahren – wir werden auch so ganz nebenbei feststellen, daß die offiziellen Geschichtsbücher wenigstens in Teilen umgeschrieben werden müssen. DER MYSTERIOUS bietet einen packenden Mix aus SF‐Spannung pur und historischen Abenteuern. Die ersten beiden Bände mit den Titeln »Alexander« und »Nero« sind ab Ende Juni zu haben. Im gleichen Format erscheint die neue SF‐Serie aus dem Hause HJB: TERRA 55oo von Jo Zybell. Die ersten vier Bände sind mittler‐ weile ausgeliefert, und die Reaktionen sind mehr als erfreulich: Zy‐ bell, der fest zum Autorenstamm von REN DHARK gehört und auch bei anderen renommierten Serien (z. B. »Maddrax«) mitschreibt, versteht es wie kaum ein zweiter, eine packende SF‐Saga zu gestal‐ ten. Mit TERRA 55oo bekam er seine Chance, eine Serie genau so zu schreiben, wie ihm das immer schon vorschwebte. Und da ich das Vergnügen hatte, TERRA 55oo herausgeben zu dürfen, kann ich mit voller Überzeugung sagen: Jo hat seine Chance genutzt!
TERRA 55oo ist ein Epos, das in keiner SF‐Sammlung fehlen darf! Aber nun genug des Vorworts. Tauchen Sie jetzt ein in das Uni‐ versum von Ren Dhark, der es mit einer Herausforderung der ganz besonderen Art zu tun bekommt: mit dem Judas‐Komplott… Giesenkirchen, im April 2005 Hajo F. Breuer
Prolog Im Frühsommer des Jahres 2062 gehen drei ruhige Jahre des Aufbaus für die Erde zu Ende. Mit dem aus der Galaxis Orn mitgebrachten Wissen ist es den Menschen erstmals vergönnt, Ovoid‐Ringraumer der neusten Ent‐ wicklungslinie zu bauen. Doch keinem dieser neuen Schiffe und nicht einmal der legendären POINT OF ist es noch möglich, die Galaxis der Worgun anzufliegen. Irgend etwas verhindert jeden weiteren Kontakt… Ren Dhark ist nicht länger Commander der Planeten. Dieses Amt be‐ kleidet nun Henner Trawisheim. Eine seiner ersten Amtshandlungen war es, Ren Dhark als Belohnung für dessen unzählige Verdienste um die Ret‐ tung der Menschheit zum privaten Eigentümer der POINT OF zu ernen‐ nen. Trawisheim glaubte, den unvergleichlichen Ringraumer auch in Zu‐ kunft für die Zwecke der terranischen Regierung einsetzen zu können, denn der Unterhalt eines Schiffes dieser Größe übersteigt Ren Dharks finanzielle Möglichkeiten bei weitem. Doch der Großindustrielle Terence Wallis, der auf der im Halo der Milchstraße gelegenen Welt Eden seinen eigenen Staat gegründet hat, zog Trawisheim mit der Einrichtung der POINT OF‐Stiftung einen dicken Strich durch die Rechnung. Denn die großzügigen Finanzmittel der Stif‐ tung schenken Ren Dhark völlige Unabhängigkeit. Und so bricht er im Frühjahr 2062 zu einem Forschungsflug nach Babylon auf, um endlich das Geheimnis des goldenen Salters ohne Gesicht zu lösen, der dort nun schon mehr als tausend Jahre im Vitrinensaal unter der eben‐ falls goldenen Gigantstatue eines Menschen ohne Gesicht ausgestellt ist. Die Spur führt auf die vom Atomkrieg verseuchte Welt der Kurrgen – als die POINT OF einen Notruf erhält: Unbekannte Raumschiffe greifen die Zentralwelt der heute mit den Terranern verbündeten Grakos an. Die auf Grah stationierten Schiffe älterer Bauart sind für den unheimlichen Gegner keine echte Bedrohung. Als Ren Dhark eine Flotte hochmoderner neuer Ovoid‐Ringraumer ins Gefecht führt, kommt es zu einer erbitterten Schlacht im All: Der unbekannte Gegner ist wesentlich stärker als vermutet!
Doch schließlich flieht er mit unbekanntem Ziel, und Ren Dhark kann seine Suche nach dem Geheimnis der Goldenen fortsetzen. Die führt ihn zu einer unbekannten Welt in den Tiefen des Alls, auf der er den Worgun Dalon trifft – jenen Boten der wohlmeinenden Mutanten, der einst vor über tausend Jahren auch Margun und Sola auf ihre Einzigartigkeit hinwies. Unbeabsichtigt verrät Dalon, daß auch Arc Doorn ein Worgunmutant ist, der seit fast zweieinhalbtausend Jahren auf der Erde wohnt! Dhark hat mittlerweile erfahren müssen, daß die heimatliche Sonne nicht mehr genug Energie abgibt. Wenn die Entwicklung so weitergeht, wird die Erde zum Eisplaneten gefrieren! Auf der Suche nach einer Rettungsmög‐ lichkeit folgt Ren Dhark den Spuren der Balduren, der sagenhaften Götter der Worgun – und gerät mit seinen Gefährten in eine Falle ohne Ausweg: die goldene Hölle!
1. Der Jett, dessen Flanken auf beiden Seiten in wuchtigen Blockver‐ salien den Schriftzug TERRA‐PRESS trugen, kam von Süden und flog mit erheblicher Geschwindigkeit in Richtung New Pittsburgh. Auf Eden war es zehn Uhr vormittags. Keine Wolke stand am Himmel. Im Licht der Sonne ließen sich die Einzelheiten der Land‐ schaft deutlich ausmachen. Der Schnellschweber transportierte drei Personen, zwei waren Männer, die dritte eine junge Frau: ein Reporterteam des größten Medienkonzerns des Sol‐Systems, der mittlerweile seinen Ge‐ schäftssitz von der rund 56.000 Lichtjahre entfernten Erde nach Eden verlegt hatte. Ihr Ziel: New Pittsburgh und Terence Wallis; es sollte ein explosives Interview mit dem Tycoon geben, ganz im Stil von DYNAMITE, der Sendung, für die das Team arbeitete. »Wenn man bedenkt, daß dieser ganze Planet de facto nur drei Leuten gehört, kommt man ins Grübeln«, sagte Cassoni versonnen. »Laß es sein«, riet ihm Fox brummig. Der Kameramann von Ter‐ ra‐Press kratzte sich eingehend die Kopfhaut unter dem schütter werdenden Haar. Peter Fox war ein massiger Mann, der einen übergewichtigen Eindruck machte, aber alles an ihm waren Mus‐ keln. »Mit dem Grübeln hast du’s nicht so«, setzte er jetzt hinzu, und ein schwaches Grinsen spielte um seinen Mund. Obwohl unterschiedlichen Alters und offenbar auch konträrer Meinungen, waren Fox und Cassoni dicke Freunde. Willie Cassoni stieß ein Schnauben aus. Der Toningenieur hatte in etwa die Größe des Kameramannes, war im Gegensatz zu diesem aber dünn. Er hatte lockige schwarze Haare und ein schmales, aris‐ tokratisches Gesicht, das stets ein wenig spöttisch wirkte, so als wäre er etwas skeptisch, was die Welt im einzelnen und ihre Bewohner im besonderen anging. Er rümpfte die Nase, die ihm eindeutig von seinen römischen Ahnen vererbt worden war, und sagte über die
Schulter gewandt zu der Frau hinter ihm: »Oder was meinen Sie, Heather? Finden Sie diese Oligarchie nicht auch merkwürdig?« »Wo, um alles in der Welt, sehen Sie eine Oligarchie, Willie?« fragte Heather, schüttelte die goldblonden Haare und spähte aus der Ka‐ binenverglasung auf die unter dem Jett hinweghuschende Land‐ schaft, als könne sie dort Hinweise auf die von Willie Cassoni er‐ wähnte Gesellschaftsform finden. Sie fand natürlich keinen. Alles was sie entdecken konnte, war die parkähnliche Natur Edens. Glatt und glitzernd wie ein Spiegel erstreckte sich unter dem Jett ein See. An seinen Ufern standen dichte Wälder hochstämmiger Palmen. In der Tat ein idyllischer, jungfräulicher Ort. Viele sprachen von einem Paradies. Es stellte sich nur die Frage, wer den Part der Schlange spielte. Eden war im Juni 2058 von dem Prospektorenehepaar Jane und Art Hooker entdeckt und für Wallis Industries in Besitz genommen worden. Als Belohnung für ihre Entdeckung wurden beide Eigen‐ tümer von 2,5 Prozent der Oberfläche, die sie sich frei auswählen durften. Die restlichen 97,5 Prozent des Planeten beanspruchte Wal‐ lis Industries für sich. Bereits ein Jahr später verlegte Terence Wallis nach Querelen mit der terranischen Regierung sein Hauptwerk von Pittsburgh nach Eden und gründete dort nach langen und zähen Verhandlungen mit Terra seinen eigenen Staat. Über eine Transmit‐ terstraße zwischen Eden und Terra, die von Wallis in einem bei‐ spiellosen Kraftakt und mit großem finanziellen Aufwand gebaut worden war, waren seitdem fast eine Million Menschen nach Eden umgesiedelt. Heather schüttelte erneut den Kopf. »Nein, Willie«, ereiferte sie sich, »von einer Oligarchie kann ich beim besten Willen nichts entdecken.« Cassoni zeigte sich erstaunt. »Was ist es dann, Ihrer Meinung nach?«
»Nichts anderes als eine Diktatur, wenn Sie mich schon fragen«, versetzte die Reporterin knapp und mit jener Bestimmtheit, die ihre Interviews zu ihrem Markenzeichen hatte werden lassen. »Die Dik‐ tatur des…« »Proletariats?« unterbrach sie Fox und hob die Brauen. Heather stieß einen unwilligen Laut aus. »Des Mammons«, vollendete sie ihren Satz. »Unterbrechen Sie mich doch nicht immer, Peter.« Heather Sheridan war 27 Jahre alt und bewegte sich mit federnder Geschmeidigkeit, wie es nur jemand fertigbringt, der seinem Körper das entsprechende Training abverlangt. Ihr schulterlanges Haar schimmerte golden wie Schwertlilien an einem Sommertag. Dunkel‐ blaue Augen blickten aus einem schmalen, aparten Gesicht mit ho‐ hen Wangenknochen. Durch die gebräunte Haut wirkte sie, als triebe sie sich ständig in der freien Natur herum. Nach dem Universitätsabschluß in Medienwissenschaften hatte sie ein zweijähriges Volontariat in den Holovisionsstudios von Ter‐ ra‐Press begonnen, um sich danach mit dem dabei verdienten Geld ihrer Dissertation zu widmen. Bereits während ihrer Studentenzeit hatte sie fotografiert, geschrieben und intensiv in der Presseabtei‐ lung ihrer Universität mitgearbeitet. Was lag näher, als auf diesem Weg weiterzumachen? Sie arbeitete hart, schleppte Kabel in den Studios, versorgte Redakteure und Nachrichtensprecher mit Kaffee, betätigte sich als Kameraassistentin, vertrat erkrankte Mitarbeiter und sprang auch schon mal ein, wenn gerade mal keine Reporterin für den Außendienst greifbar war. Schnell machte sie sich einen Namen, und ehe sie sich versah, bot man ihr einen unbefristeten Job als Redakteurin bei einer Magazinsendung an (von denen Ter‐ ra‐Press eine Vielzahl ausstrahlte), die den reißerischen Titel DYNAMITE trug und in London produziert wurde. Eine einmalige Gelegenheit für eine junge, von Sendungsbewußtsein erfüllte junge Frau, sehr schnell sehr viel Geld zu verdienen. DYNAMITE erschien jede Woche einmal auf sämtlichen Holoka‐
nälen des Terra‐Press‐Konzerns und erreichte zirka zwanzig Millio‐ nen Zuschauer. Das war wenig angesichts der Höhe der Erdbevöl‐ kerung; die Macher von DYNAMITE waren sogar der Meinung, daß diese Zahl verschwindend gering war angesichts des ungeheuren Potentials an neuen Konsumenten, das in den terranischen Kolonien steckte. Was lag näher, als die Produktion nach »draußen« zu verle‐ gen, um näher am »Puls der Zeit« zu sein, wie es die Abteilungsleiter formulierten. »Draußen« hieß in diesem konkreten Fall Eden, denn nach dorthin verlegte die größte Nachrichtenagentur des Sol‐Systems ihren Ge‐ schäftssitz. Lediglich die Redaktionszentrale verblieb in Alamo Gordo – und Bert Stranger, der als Chefredakteur die Geschicke dieses hydraköpfigen Nachrichten‐ und Unterhaltungsmolochs lei‐ tete. Auch DYNAMITE wurde kurzerhand vom Hauptressortleiter nach Eden verlegt, und mit der Verlagerung der Produktion das gesamte Team. Heather Sheridan hatte den abrupten Wechsel noch immer nicht ganz verdaut, und sie dachte mit einem gewissen Zorn an jene Tage und Wochen zurück, als sie der Abteilungsleiter dazu abkomman‐ dierte, ihre Redaktion auf einem Planeten zu etablieren, der in einem Kugelsternhaufen im Haar der Berenike lag. Daran änderten auch die nochmals erhöhten Bezüge nichts, die sie insgeheim nur als »Schmerzensgeld« für das Verlassen der Erde empfand. »Oho«, ließ sich Fox vernehmen, »schweres Geschütz, junge Da‐ me.« Der Kameramann war in einem Alter, das ihm erlaubte, von Hea‐ ther Sheridan als junger Dame zu sprechen, ohne befürchten zu müssen, ihren Zorn herauszufordern. Sie konnte fuchsteufelswild werden, wenn sie merkte, daß ihr jemand gönnerhaft kam. »Sind Sie nicht ein wenig übers Ziel hinausgeschossen?« schloß er. Sie wandte sich ihm zu, sah ihn ruhig an. »Peter, wie lange arbeiten wir schon zusammen?«
Der Kameramann hob die breiten Schultern, schwieg aber auf die Frage. Sie wartete noch ein paar Sekunden, ehe sie fortfuhr: »Offenbar nicht lange genug, sonst wüßten Sie, daß besser niemand in meiner Nähe sein sollte, wenn ich wirklich mal übers Ziel hinausschieße.« Während der Kameramann den Eindruck zu vermitteln suchte, als wäre er soeben der Weißen Frau von Castle Skull begegnet, grinste Cassoni offen. »Ich habe dich gewarnt«, sagte er zu Fox, ohne näher zu erläutern, wovor genau er Peter Fox gewarnt hatte. »Sie ist nicht auf den Mund gefallen, unsere Chefin.« Heather sagte ohne Betonung: »Leute, redet in meiner Anwe‐ senheit nicht immer so, als wäre ich nicht anwesend. Ich kann das nicht leiden.« Ein Außenstehender hätte wohl mit einigem Recht vermuten kön‐ nen, zwischen den drei herrsche eine gespannte Atmosphäre. Die Annahme war so falsch wie sonst was und nichts weiter als eine Art Ritual, das sich während der Arbeit eingebürgert hatte, als sie er‐ kannten, wie nützlich es mitunter gegenüber den anderen Teams sein konnte. Tatsächlich hatte sich Heather Sheridan mit den beiden Männern fast auf Anhieb angefreundet, nachdem sie ihr zugeteilt worden waren. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, Edens Verfas‐ sung als demokratisch anzusehen«, nahm die junge Reporterin den Faden wieder auf. »Offen gesagt finde ich die augenblicklichen Verhältnisse sogar zum Kotzen«, gestand sie unverblümt. »Für mich ist dieser Terence Wallis nichts weiter als ein Diktator, das läßt sich schon daran festmachen, daß er keine politischen Parteien zuläßt, die aber nun einmal die Grundpfeiler einer demokratischen Ordnung darstellen.« Worauf sich Heather Sheridan bezog, war, daß die politische Macht ausschließlich in den Händen der Bürger Edens lag. Bürger von Eden konnte aber laut Verfassung nur der werden, der über
Grundbesitz verfügte. Was darauf hinauslief, daß nur Terence Wallis und die Hookers über Bürgerrechte verfügten und somit de facto die legislative und administrative Gewalt auf Eden ausübten. »Sie sehen das aus einer falschen Perspektive«, warf Cassoni ein. Peter Fox ergänzte: »Eden ist kein Staat im herkömmlichen Sinne, sondern ein Mega‐Konzern, in dem politische Parteien nichts zu suchen haben. Sie wären im Gegenteil sogar schädlich. Dennoch existiert eine freiheitliche Grundordnung nach den Prinzipien alter preußischer Tugenden.« »Friedrich der Große läßt grüßen«, unterbrach ihn Heather Sheri‐ dan. »Danke.« Ungerührt fuhr der Kameramann fort: »Wallis hat dafür gesorgt, daß es allgemeinverbindliche Gesetze und unabhängige Gerichte gibt, denen auch er sich strikt unterwirft, also ist von diktatorischen Ambitionen weit und breit nichts zu sehen.« »Wer mit den Gegebenheiten hier nicht zufrieden ist, hat ja jeder‐ zeit die Möglichkeit, Eden zu verlassen«, ließ Cassoni wissen, »um sein Glück anderswo zu versuchen.« Heather schaute nachdenklich. »So wie ihr beiden mir Eden schmackhaft zu machen versucht, scheint es sich ja wirklich um ein Paradies zu handeln. Nicht doch ein klitzekleiner Kratzer auf dem Hochglanzfoto?« Peter Fox grinste. »Schauen Sie sich um. Auf dem ganzen Planeten gibt es keine oberirdischen Industrieanlagen, die irgendwelche Gifte in die Umwelt ableiten könnten. Es existieren weder Chemieabfälle noch radioaktiver Müll. Die Lebensqualität ist ungleich höher als auf der Erde, keinerlei Abgase verpesten die Luft. Die Urbanisierung erstreckt sich auf eine lockere Bebauung durch Städte, die mehr ausgedehnten Villenvororten gleichen, was durch den schloßähnli‐ chen Baustil noch unterstrichen wird. Jeder Schwerlastverkehr ist bis auf wenige Ausnahmen in den Untergrund verbannt, um den parkähnlichen Charakter von Edens Oberfläche nicht zu zerstören.
Die klimatischen Bedingungen sind einfach perfekt.« »Wir werden sehen«, versetzte Heather Sheridan. »Wo viel Licht ist, existiert erfahrungsgemäß auch tiefer Schatten. Allerdings gebe ich Ihnen in einem recht, Peter. Das Wetter ist auf Eden entschieden besser als in London.« Sie schwieg, während die Männer verständ‐ nisvoll grinsten. »Wie lange noch?« gab sie dem Gespräch eine an‐ dere Wendung. »Wir werden New Pittsburgh jeden Moment zu Gesicht bekom‐ men«, versicherte der Toningenieur nach einem Blick auf das in die Steuerung integrierte Chrono. Stumm nahm Heather seine Worte zur Kenntnis. »Da ist es!« sagte Willie Cassoni etwas später und deutete durch die Kabinenverglasung nach vorn. Heather hob den Blick in Fahrtrichtung und runzelte leicht die Stirn. Fox’ etwas euphorische Behauptung, es existiere auf Eden keine oberirdische Industrie, entsprach nicht ganz der Wahrheit, wie sie nun einschränkend erkennen mußte. Direkt voraus erhoben sich die riesigen Anlagen von New Pittsburgh, des Stammsitzes von Wallis Industries, wie ein Krebsgeschwür aus der idyllischen Natur des Planeten. »Mein Gott«, entfloh es Heathers Lippen, »was für ein häßlicher Moloch! Ich verstehe nicht…« Sie verstummte. »Warum Wallis sein Stammwerk nicht auch unter die Oberfläche verbannt hat?« spann Fox ihren Gedankengang weiter. »Vielleicht aus Sentimentalität oder als Mahnmal für spätere Generationen. Wer kann schon in einen Menschen hineinsehen? Möglich, daß Sie es bei Ihrem Interview herausfinden. Vielleicht ist er Ihnen gegenüber aufgeschlossener. Wie es heißt, hat er eine Schwäche für Frauen. Und wenn sie dann noch so gut aussehen wie Sie, Heather – wer weiß.« »Danke für das Kompliment!« Heather lächelte unverbindlich. »Aber dieser Fragenkomplex steht nicht auf meiner Liste.« Für den Rest der Strecke verfiel sie in Schweigen und ließ New Pittsburgh auf sich wirken.
Auf Terence Wallis’ Firmengelände, das schätzungsweise achtzig Quadratkilometer umfaßte, erstreckten sich unzählige Gebäude‐ und Hallenkomplexe, die in keinem erkennbaren Muster angeordnet waren. New Pittsburgh war zweifelsohne das ausgedehnteste und häßlichste Industriekonglomerat der zweiten Hälfte des 21. Jahr‐ hunderts, das Heather Sheridan je zu Gesicht bekommen hatte. So langsam wurde sie nun doch neugierig auf den Mann, der die Geschicke dieses Wirtschaftsimperiums in seinen Händen hielt und den sie nur vom Hörensagen sowie durch Berichte aus den Archiven von Terra‐Press kannte. * Entgegen Heathers Erwartungen reflektierte das Verwaltungs‐ gebäude auf dem Werksgelände wenig von der unermeßlichen Wirtschaftsmacht, die Wallis Industries in der Galaxis repräsentierte. Es war nicht höher als gerade mal drei Stockwerke und ging zwi‐ schen den ausgedehnten Labortrakts, den Hangars und Werkshal‐ len, den Energieversorgungsanlagen und Fertigungsstraßen regel‐ recht unter. Willie Cassoni brachte den Jett auf dem ihnen zugewiesenen Lan‐ deplatz vor dem Eingang des Firmensitzes auf den Boden herab. »Heather Sheridan«, ließ die Reporterin den Werkschutzmann hinter seinem Empfangspult wissen. »Von Terra‐Press. Mein Büro hat unser Kommen avisiert. Wir werden erwartet.« Der Uniformierte nickte und drückte ein paar Knöpfe. »Gedulden Sie sich einen Augenblick, Sie werden abgeholt«, ver‐ kündete er. »Wie schön«, grummelte Cassoni. »Wir könnten uns ja verirren.« Seine Laune besserte sich, als sie von einer ausnehmend hübschen Assistentin in den dritten Stock gebracht wurden, die seinen Signa‐ len nicht ganz abgeneigt schien. Die Assistentin führte das Team von DYNAMITE durch eine Reihe
heller Glaskastenbüros, in denen die Angestellten der Firmenzent‐ rale ihrem Broterwerb nachgingen, in die Tiefe des Raumes und hielt vor einer Doppeltür. Sie wandte etwas den Kopf und sagte: »Mister Wallis!« Die Stimme hatte einen sonoren Klang und kam aus einem Akus‐ tikfeld links von ihr. »Ja, Cenda?« »Das Team von Terra‐Press.« »Ich lasse bitten.« Cenda führte sie durch eine Tür, sagte: »Mister Wallis – Miß She‐ ridan und Anhang«, und zog sich zurück. Terence Wallis erhob sich aus seinem bequemen Bürosessel, ging um den Schreibtisch herum auf das Team zu. Wallis war groß, von sportlicher Statur und hatte langes, schon etwas schütteres Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, was ihm einen Anstrich von Verwegenheit gab. »Miß Sheridan?« »Die nämliche«, bekannte Heather, während sie mit einem Blick die schlichte Nüchternheit des großen Raumes registrierte. Ein nicht Eingeweihter hätte niemals vermutet, sich in der Zentrale von Wallis Industries zu befinden. Die Einrichtung war streng und ausschließ‐ lich funktionell. Lediglich an der Wand über der Sitzgruppe hing ein gutes Dutzend Holographien mit verschiedenen Planetenlandschaf‐ ten, auf denen Raumschiffe der Wallis Star Mining den Vordergrund dominierten: Prospektorenschiffe, die diese Welten kartiert hatten. Dann konzentrierte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Wallis, der jetzt vor ihr stehenblieb und sie um gut zwanzig Zentimeter über‐ ragte. Sie mußte den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzu‐ schauen. »Ich komme von Terra‐Press«, fügte sie hinzu, »und bin verantwortlich für eine Reihe von Sendungen über herausragende Persönlichkeiten des 21. Jahrhunderts.« »Richtig, das Interview mit DYNAMITE. Ihr Büro hat mich des‐ wegen kontaktiert. Willkommen bei Wallis Industries Eden, Miß Sheridan! Meine Herren!« Er nickte Fox und Willie Cassoni zu, rich‐
tete seine Aufmerksamkeit jedoch sofort wieder auf die Reporterin. »Ich weiß um Ihre Profession, sehe sogar hin und wieder Ihre Sen‐ dung, Miß Sheridan. Doch, doch«, sagte er, als ein spöttischer Zug um ihre Lippen erschien, um dann seine Behauptung zu relativieren: »Wann immer ich Zeit dazu habe, natürlich.« »Natürlich«, versetzte Heather. »Zeit ist ja bekanntlich Geld, oder so.« Der Multimilliardär musterte sie mit einem undefinierbaren Aus‐ druck im Gesicht; er schien unschlüssig darüber zu sein, wie er die Bemerkung der Reporterin auffassen sollte. Er räusperte sich. »Aber setzen wir uns doch.« Heather und ihre Begleiter setzten sich brav auf die Couch, wäh‐ rend es sich Wallis ihnen gegenüber bequem machte. »Wo bleiben nur meine Manieren«, sagte er plötzlich, breitete seine Hände in einer um Verzeihung bittenden Geste aus und blickte in die Runde. »Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?« »Dagegen wäre nichts einzuwenden«, übernahm Peter Fox als der älteste am Tisch die Initiative. Ein Fingerschnippen von Wallis rief einen mechanischen Diener auf den Plan; beflissen hantierte der Roboter mit Raschen und Glä‐ sern und servierte jedem, was der sich bestellte. »Noch einmal willkommen«, sagte Wallis und hob sein Glas. »Auf die Wahrheit! Alter Journalistentrinkspruch«, sagte Heather unverbindlich lächelnd, während sie ihn über den Rand ihres Glases hinweg musterte. Die Hologramme, die Heather von Wallis gesehen hatte – persön‐ lich war sie ihm nie begegnet –, hatten nicht gelogen: Der Mann sah wirklich gut aus, großgewachsen, schlank und sportlich. Während seines Studiums hatte er in der Schulmannschaft Basketball gespielt. Heute, das wußte Heather Sheridan von ihren Recherchen, bevor‐ zugte Wallis Golf. Mit seinen knapp fünfzig Jahren war er nach‐ weislich der reichste Mann des 21. Jahrhunderts, kleidete sich gern mit vornehmer Eleganz, erlaubte sich aber häufig genug als sichtba‐
ren Beweis seiner vorhandenen Nonkonformität den herrschenden gesellschaftlichen Regeln oder Zwängen gegenüber, ausnehmend farbenfrohe Westen zu tragen. Wo immer er sich in der Öffentlich‐ keit zeigte, Wallis war stets von der Aura des Erfolgreichen umgeben – und von schönen Frauen. An diesem Punkt ihrer Überlegungen angekommen, rief sich Heather Sheridan zur Ordnung. Allerdings mit einem winzigen Be‐ dauern, das sie tief in sich fühlte. Wider Willen mußte sie sich ein‐ gestehen, daß sie Wallis charmant und vor allem attraktiv fand, aber sie würde den Teufel tun und ihn das spüren lassen. Wallis stellte das Glas ab. »Wissen Sie«, sagte er, »daß Sie zu den privilegierten Menschen auf diesem Planeten gehören?« Sie zeigte sich verhalten interessiert. »Ach ja? Wie das?« »Normalerweise gebe ich keine Interviews dieser Art mehr«, be‐ kannte Terence Wallis. »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß sie reine Zeitverschwendung sind. Zumal das Ergebnis in den meisten Fällen von den Erwartungen des Interviewten abweicht.« »Und weshalb dann die Ausnahme für DYNAMITE?« »Aus mehreren Gründen. Einmal Ihr Ruf in der Branche. Sie gelten als unbestechlich und stets der Wahrheit verpflichtet. Außerdem haben mich einige Ihrer Beiträge neugierig gemacht.« Seine Augen in dem gebräunten Gesicht musterten sie mit sichtlichem Interesse. Neugierig worauf? dachte sie. Wirklich auf meine Arbeit oder mehr auf mich? Sie nahm sich vor, Vorsicht walten zu lassen. »Ist das so, oder wollen Sie mir nur schmeicheln?« »Seien Sie versichert, Verehrteste, daß ich es nicht nötig habe, je‐ mandem zu schmeicheln.« Für einen Moment kam der über dem gemeinen Volk stehende, unermeßlich reiche Wirtschaftsmagnat durch. Dann lag wieder das verbindliche Lächeln um seinen Mund, das allerdings nicht bis zu den Augen reichte, wie Heather registrierte. Er sagte: »Testen wir doch gleich einmal, ob Sie Ihre Hausaufgaben gemacht haben, Miß
Sheridan, oder darf ich Heather sagen?« Sie nickte. »Also, Heather, was wissen Sie über Terence Wallis?« Heather Sheridan zählte auf: »Er ist Amerikaner, geboren am 6. Dezember 2012. Industrieller, reichster Mann der Erde. Er hat sein Vermögen durch geschickte Investitionen und Firmenkäufe ge‐ macht. Man bezeichnet ihn allgemein als einen Mann großer Visio‐ nen mit einem Hang zu praktischen Lösungen. Großer Bewunderer Ren Dharks. Man sagt ihm nach, daß er ehrlich bis ins Mark sei, obwohl er mitunter auch sehr undurchsichtig erscheint. Geht un‐ konventionelle Wege, weil er von der klassischen Politik und ihrem Beziehungsgeflecht nichts hält. Seine größte Begabung liegt darin, die Begabungen anderer Menschen zu erkennen und jeden de‐ mentsprechend einzusetzen. Habe ich etwas vergessen?« Wallis räusperte sich. »Sie hätten vielleicht noch hinzufügen können, daß dieser Mann ein Gourmet ist und viel übrig hat für gutes Essen und schottischen Whisky. Aber ansonsten ist es genau das Bild, das die Öffentlichkeit von mir hat.« »Und das so nicht stimmt?« Heather beugte sich interessiert vor, während sie aus den Au‐ genwinkeln sah, wie Willie Cassoni seinen Ton überprüfte; Peter Fox hatte längst seine Aufnahmeeinheit mit der Schläfenkamera über‐ gestreift und nahm abwechselnd Wallis und Sheridan in den Fokus des vor dem linken Augen heruntergeklappten winzigen Schirmes. Wallis, dem das nicht entgangen war, fragte: »Ist das jetzt schon Teil des Interviews?« »Wenn Sie so wollen, ja.« Er zuckte die Achseln. »Na gut, habe nichts dagegen. Ich bekomme sowieso den Zu‐ sammenschnitt des Interviews, bevor der Beitrag auf Sendung geht.« Da wäre ich mir nicht so sicher, dachte Heather und sagte laut: »Es ist eigentlich nicht üblich. Aber ich vermute mal, daß mein Chef…«
»Gabriel Tarrant«, unterbrach sie Wallis. »Ich mußte gerade lebhaft an ihn denken. Guter Mann. Ich spiele ab und an mit ihm Golf. Sein Handikap ist besser als das meine. Aber ich habe Sie unterbrochen, fahren Sie doch bitte fort!« »Daß mein Chef bei Ihnen eine Ausnahme macht«, nahm sie den Faden wieder auf. Ihr Tonfall klang eine winzige Spur resigniert. Innerlich verhärtete sie sich. Die Veränderung in Wallis’ Verhalten gefiel ihr nicht. Sie beschloß, noch vorsichtiger zu sein und jedes ihrer Worte einer Prüfung zu unterziehen, ehe sie es ihm gegenüber aussprach. Wallis tat so, als würde er nicht bemerken, was in der jungen Re‐ porterin vorging. Heather stellte das Glas zurück und wandte sich an Wallis. »Sie sprachen vorhin von mehreren Gründen, weshalb Sie diesem Inter‐ view zustimmten. Welche anderen sind das, außer daß Sie Ihr Bild in der Öffentlichkeit zurechtrücken möchten?« »Dazu wollte ich gerade kommen«, bekannte Wallis und lächelte offen. »Schießen Sie los, Mister Wallis. Ich höre.« »In aller Kürze: Ich habe mich dazu entschlossen, Ihnen eine sen‐ sationelle Story zu liefern. Ich habe bisher so gut wie nichts über mein Privatleben in die Medien dringen lassen. Dies möchte ich jetzt ändern und Ihnen Einblicke in meine Privatsphäre gewähren.« Er sagte es so ruhig, als sei es das natürlichste der Welt. Heather schaute Wallis an. Sie wirkte überrascht, dann sagte sie: »Es wäre eine wirkliche Sensation, insofern gebe ich Ihnen recht, Mister Wallis. DYNAMITE bietet seinen Zuschauern exklusiv eine Insiderstory über den größten Industriellen und begehrtesten Jung‐ gesellen der Galaxis, wow! Das schlüge ein wie eine Bombe, aber…« »Aber was?« Verwundert fixierte Wallis die Reporterin. »Sie sehen nicht gerade überwältigt aus.« »Allein mir fehlt der Glaube, daß Sie es ernst meinen«, sagte sie in aller Offenheit und blickte zweifelnd.
Wallis glaubte, sich verhört zu haben. Das mußte er erst einmal verdauen. Er holte tief Luft. »Und weshalb nicht?« »Wäre es an dem, wie Sie sagten, hätten Sie uns in Ihr Privathaus gebeten und nicht hierher.« Wallis blickte zunächst verblüfft, dann begann er zu lachen. »Weibliche Logik, ich vergaß. Na gut. Damit Sie sehen, daß ich es ernst meine, lassen Sie sich von mir entführen.« Ein luxuriöser Bodenschweber, von Wallis persönlich gesteuert, brachte das Team von DYNAMITE zu einem Ziel, dem Heather mit einiger Spannung entgegensah. »Wie ist Ihr Eindruck von Eden?« erkundigte sich Wallis während der Fahrt und deutete mit dem Kopf nach draußen. »Meinen Sie Eden als Planet oder als Institution?« stellte sie die Gegenfrage. Er lachte verhalten. »Gehört nicht beides zusammen?« Sie überlegte einen Moment, während sie an einer Fertigungshalle vorbeizogen, die kein Ende zu nehmen schien. »Hatten Sie eigentlich große Schwierigkeiten, Ihr Imperium hier zu etablieren?« wechselte sie scheinbar das Thema. Wallis runzelte kurz die Stirn. Dann sagte er: »Am Anfang lief’s zäh, das gebe ich zu. Aber als wir wußten, wie wir’s anzupacken hatten, ging es rasch voran. Und jetzt läuft es fast von allein. Aber Sie haben meine Frage nicht beantwortet!« »Ein Jammer«, stellte sie fest, nachdem sie einen Moment lang nachdenklich nach draußen geblickt hatte. Verwundert blickte er sie von der Seite an. »Wie bitte?« »Daß Eden vermutlich in absehbarer Zukunft ebenso übervölkert sein wird und mit den gleichen Problemen zu kämpfen hat wie Ter‐ ra.« »Das glaube ich jetzt weniger«, versetzte Wallis. »Wie wollen Sie das verhindern?« ereiferte sich die junge, von Sendungsbewußtsein erfüllte Reporterin. »Wenn man sich vor Au‐ gen hält, daß Eden seit seiner Entdeckung im Jahre 2058, also vor fast
exakt vier Jahren, bereits jetzt schon eine Bevölkerungszahl von fast einer Million Seelen aufweist, läßt sich an fünf Fingern abzählen, wann die Welt aus allen Nähten platzt.« Wallis blieb unverändert freundlich. »Das wird nicht geschehen«, sagte er und wich ein paar wild hu‐ penden Tiefbett‐Schwebeplattformen aus. »Ich werde nicht mehr als maximal 300 Millionen Menschen auf diesen Planeten lassen, um den paradiesischen Charakter mein… dieser Welt zu erhalten.« »Ein großer Anspruch«, sagte Heather mit einem schmalen Lä‐ cheln; ihr war die Freudsche Fehlleistung des Mega‐Industriellen nicht entgangen. Nachdem sie einen weiten Platz überquert hatten, endete die Fahrt vor einem glasverspiegelten Gebäudekomplex. »Wer arbeitet hier?« fragte Heather und bedeutete Peter Fox, ein paar Schnappschüsse von der Anlage zu machen. »Das Gehirn von Wallis Industries«, kam die Antwort von Terence Wallis. Heathers Brauen wölbten sich fragend. »Ja?« »Was Sie vor sich sehen, sind die Laboratorien der Gruppe Saam.« »Oh, Ihr norwegisches Genie.« Wallis nickte zustimmend. Etwas schien ihn zu amüsieren. »Aber gehen wir doch hinein!« Er übernahm die Führung. Der Gebäudekomplex wirkte verlassen. Stille hing in den Korridoren und schien sich zu langweilen. Ihre Schritte verursachten klappernde Geräusche auf dem glän‐ zenden Fußboden. Heather rief sich ins Gedächtnis, was sie über Robert Saam, den Leiter der Wallis‐Forschungsgruppe, wußte. Saam war Norweger. Jahrgang 2032. Während der Giant‐Invasion hatte er sich als Immu‐ ner ohne jeglichen Kontakt zu anderen Menschen im Keller der Universitätsbibliothek von Uppsala versteckt und die ganzen endlos langen drei Jahre nur mit Lernen verbracht, um in seiner Isoliertheit
nicht wahnsinnig zu werden. Er hatte sich dabei mehr Wissen an‐ geeignet als die meisten Menschen. Nach dem Verschwinden der Giants kehrte er an die Universität zurück – als ein Genie, das allen anderen Kommilitonen weit voraus war. Seine Prüfungen machte er so en passant, während er bereits in die unterschiedlichsten For‐ schungen vertieft war. Wie niemand sonst repräsentierte er die neue, junge Generation von technischen Genies, die direkt aus den Hörsä‐ len der Universitäten in die Industrie vermittelt werden konnten. Terence Wallis’ Talentsucher hatten ihn für das größte Industrie‐ konglomerat der Erde verpflichtet, sobald sie seiner habhaft wurden. Seitdem war Saam der Motor für alle bahnbrechenden Erfindungen und technischen Innovationen sowie Leiter des Entwicklungsstabes von Wallis Industries – und damit einer der wichtigsten Köpfe im Imperium des milliardenschweren Unternehmers. Saam galt als genial mit einem leicht gestörten Verhältnis zur Wirklichkeit – wie alle Genies… Heathers Gedankengänge erfuhren eine Unterbrechung. Sie schüttelte den Kopf und glaubte zu träumen. War da nicht ein Kin‐ derlachen irgendwo in der Tiefe des Gebäudes zu hören gewesen? Quatsch, rief sie sich in Gedanken zur Ordnung. Nichts als Halluzi‐ nationen eines überarbeiteten Gehirns. Ihre Freundin Maeve würde jetzt wahrscheinlich spöttisch darauf hinweisen, daß sie lediglich in ein gewisses Alter gekommen sei, in dem derartige Wünsche schon mal an die Oberfläche kommen konnten. Maeve mit ihrem Psycho‐ quatsch! Doch halt! Da war es wieder! Eindeutig Kinderlachen! »Sagen Sie«, wandte sie sich an Wallis, der sie amüsiert von oben herab ansah, seine Schritte jedoch nicht verlangsamte, »kann es sein, daß…« Sie verstummte; es erschien ihr nun doch zu blöd. »Ja?« »Es ist nichts«, wehrte sie ab. »Ich habe vermutlich nur Probleme mit meinem Gehör.« Jetzt lachte er offen. »Nein, nein. Sie haben schon richtig gehört.«
»Was?« Heather blickte ihn von der Seite an, wartete aber vergeb‐ lich auf eine Erklärung. »Kommen Sie«, sagte Wallis lediglich. Inzwischen hatten sie das Ende des breiten Korridors erreicht, vor ihnen versperrten zwei Schwingtüren den Weg. Wallis stieß sie schwungvoll auf. Die Flügeltüren klappten hinter ihnen zu, nachdem sie eingetreten waren. Und Heather sah mit großen Augen auf das Bild, das sich ihren Blicken darbot.
2. »… kommt aber gar nicht in die Tüte!« Ich blieb stehen, sehr zu Avatars Überraschung, wie mir nicht ent‐ ging. Zwar besaß der menschengroße goldene Roboter, der auf der Basis einer Gedankensteuerung kommunizierte, kein Gesicht, in dem sich eine Regung ablesen ließ, doch sein verwunderter Impuls sprach eine deutliche Sprache. Er hatte erwartet, daß ich aus Sorge um meine eigene Sicherheit das dunkelgoldene Quadrat betreten und verschwinden würde. Warum bringst du dich nicht in Sicherheit? Du weißt, daß es keine andere Rettung für dich gibt. Ob nun mit dir oder ohne dich, deine Begleiter werden verhungern oder verdursten. Ich verstand ihn gut. Anscheinend gab es keinen Ausgang aus dieser sogenannten goldenen Hölle, die der Avatar nur als das »Hier« bezeichnete. »Trotzdem lasse ich meine Kameraden nicht im Stich«, gab ich zurück. »Wir sind zusammen hergekommen, also gehen wir auch zusammen wieder.« Die Angesprochenen verhielten sich abwartend, da sie nichts aus‐ richten konnten. Bei ihnen handelte es sich um den ehemaligen Commander der Planeten Ren Dhark und seine Gefährtin, den weiblichen Cyborg Amy Stewart, seinen ältesten und besten Freund Dan Riker, vormals Chef der Terranischen Flotte, das angebliche sibirische Wissenschaftsgenie Arc Doorn, von dem erst sein kurzem bekannt war, daß er ein 2608 Jahre alter Worgun war, der bereits seit über 2400 Jahren auf der Erde lebte, Dalon, den anderen Worgun in der Gestalt eines 1,80 Meter großen, blauhäutigen Ceraden vom Planeten Warla, den Archäologieprofessor Tschu Hin sowie Chris Shanton mit seinem Roboterhund Jimmy, von dem niemand genau sagen konnte, ob er wie ich einen Turing‐Sprung vom bloßen Com‐ puterdasein zur Künstlichen Intelligenz gemacht hatte.
Du weißt, daß das nicht geht. Ihr werdet nicht zusammen gehen. Nur dir steht der aufgezeigte Rückweg offen, behauptete Avatar. Geh endlich, wenn du deine Existenz retten willst. »Ich sage es noch einmal: Nicht ohne meine Freunde.« Ich verstehe deine Sturheit nicht in Anbetracht der Tatsache, daß es sich um die einzige Chance handelt. »Nein, das tust du wirklich nicht. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache meines Bleibens, wenn mich die anderen nicht ausnahm‐ slos begleiten. Manche Chancen muß man ungenützt verstreichen lassen, weil es unmoralisch wäre, so egoistisch zu handeln.« Der goldene Roboter stand reglos wie eine Statue da. Trotz seines ausdruckslosen Äußeren war seine Verblüffung zu erkennen. Meine Weigerung hatte einen inneren Widerstreit in ihm ausgelöst, so schien es mir. Erging es mir allein so, oder hatten meine Begleiter den gleichen Eindruck? Jedenfalls ließen sie Avatar nicht aus den Augen. »Ich habe über Avatars Vorschlag nachgedacht«, brach Ren Dhark plötzlich sein Schweigen. »Ich stimme ihm zu. Du solltest gehen, Artus.« Ungläubig sah ich den 1,79 Meter großen, weißblonden Mann an. Er schlug sich auf die Seite des goldenen Roboters? Unmöglich. Seine Forderung konnte keinesfalls ernst gemeint sein. »Meine Antwort hast du bereits vernommen«, wehrte ich ab. »Wenn Avatar mich nicht überreden kann, gelingt dir das ebenfalls nicht, Dhark.« »Du bist unsere einzige Chance, Artus. Du mußt an Bord der POINT OF zurückkehren und Hilfe holen.« Ich glaubte Dhark kein Wort. Ihm war so klar wie mir, daß es keine Hilfe von außerhalb gab. Wer immer von Bord des Ringraumers kam, würde ebenfalls in der goldenen Hölle stranden, ohne ihr je‐ mals wieder entkommen zu können. Ganz davon abgesehen, mußte man sie zuerst einmal finden, denn es gab keine Garantie dafür, daß die Metallsäule auf Skythos alle Nachfolgenden ebenfalls an diesen
Ort versetzen würde. Nein, Dhark konnte mir nichts vormachen. Auch wenn seine Worte für die meisten anderen plausibel klingen mochten, erkannte ich seine tatsächliche Intention. Inzwischen kannte ich ihn nämlich viel besser, als er sich das anscheinend vor‐ stellen konnte. Es ging Dhark nur darum, wenigstens mich in Si‐ cherheit zu schaffen, wenn ihm das mit seinen anderen Leuten schon nicht gelang. Avatar schien meiner Meinung zu sein. Als er sich wieder meldete, gab er sich keine Mühe, seine Überraschung vor uns zu verbergen. Du forderst Artus nur zum Gehen auf, weil du die Aussichtslosigkeit eurer Lage erkannt hast, Ren Dhark. Deshalb willst du ihn retten, ohne dich um deinen eigenen drohenden Untergang zu kümmern. »Du verkennst die Menschen«, wandte ich mich an den Goldenen. »Sie denken nicht nur an ihr eigenes Wohlergehen, sondern auch an das ihrer Kameraden. Wenn es sein muß, sind sie bereit, sich selbst zu opfern.« Eine interessante Einstellung, die ich selten kennengelernt habe. Sie er‐ fordert eine neue Bewertung. »Dann nimm sie vor und laß uns gehen«, forderte ich vehement. Wenn Avatar in seiner ursprünglichen Ansicht zu wanken begann, bot sich uns vielleicht doch noch die Gelegenheit zur Flucht. »Uns alle, nicht nur mich.« Vielleicht, wisperte der Roboter gedanklich. Vielleicht… * Sie standen im Kopf einer gesichtslosen goldenen Statue von acht Kilometern Höhe, die wiederum den Mittelpunkt eines etwa fünfzig Kilometer durchmessenden Platzes bildete. Dieser Platz lag inmitten eines gigantischen Konglomerats aus Maschinen und Anlagen, das viel weiter reichte, als das Auge selbst aus dieser Höhe sehen konnte, und noch viel höher als die Statue war. Selbst wenn man mit den goldenen Riesenstatuen in der Galaxis vertraut war, fühlte Dhark
sich in einen aberwitzigen Alptraum versetzt. Er und seine Begleiter waren der Willkür Avatars ausgesetzt, der der Menschheit zwar attestiert hatte, sämtliche Prognosen über den Haufen geworfen zu haben. Etwas ganz Großes könne aus den Terranern werden, hatte er gar behauptet, verweigerte aber trotzdem jede Hilfe dabei, die irdi‐ sche Sonne zu retten oder auch nur einen Hinweis auf die Ursache ihrer Abkühlung zu geben. Schlimmer noch, Dharks Gruppe hatte erfahren müssen, daß Avatar für die Auslöschung der G’Loorn vor 800.000 Jahren verantwortlich war, auf deren degenerierte Nachfah‐ ren man hier im galaktischen Zentrum, nahe der Quiet Zone, auf dem Planeten Skythos getroffen war. Den Grund dafür verschwieg der goldene Roboter. Die Tatsache allein belegte indes, wie wenig ihm biologisches Leben bedeutete. Zu allem Überfluß saßen Ren und seine Begleiter in einer Falle, aus der es kein Entkommen gab. Es gab nicht einmal einen verläßlichen Hinweis darauf, wo die goldene Hölle lag. Im Innern von Skythos? Oder hatte die Säule, die Dalon einer uralten Worgun‐Legende zu‐ folge als die »Pforte zur Hölle« bezeichnet hatte, sie an einen ganz anderen Ort der Galaxis transportiert? Dhark warf Artus einen kurzen Blick zu. Anscheinend hatte der ehemalige Großserienroboter, der durch die Vernetzung von 24 Cyborg‐Programmgehirnen zu einer echten Künstlichen Intelligenz geworden war, den richtigen Ton getroffen, doch von einem Stim‐ mungsumschwung bei Avatar konnte noch keine Rede sein. Dem ehemaligen Commander der Planeten entging die An‐ spannung nicht, die seine Begleiter erfaßt hatte. Besonders Amy Stewart lauerte wie eine Katze vor dem Sprung. Die kleinste Fehl‐ reaktion Avatars konnte dazu führen, daß sie ihn mit bloßen Händen angriff. Dabei bezweifelte Ren, daß sie, selbst mit ihren normalen Menschen haushoch überlegenen Cyborg‐Fähigkeiten, etwas gegen den Goldenen ausrichten konnte, dessen körperliche Fähigkeiten sich nicht abschätzen ließen. Wenn einer dazu in der Lage war, dann vielleicht Artus. Waffen funktionierten hier jedenfalls nicht.
Andererseits verhielt sich Avatar bisher nicht feindselig seinen Besuchern gegenüber, sondern ziemlich gleichgültig. Mehrmals hatte er ihnen emotionslos prophezeit, daß sie verhungern oder verdursten würden, wie es neben vielen anderen auch schon Feson ergangen war, dessen Spuren die POINT OF ins galaktische Zentrum gefolgt war. »Hast du deine Neubewertung abgeschlossen?« fragte Dhark, der allmählich ungeduldig wurde. Avatar antwortete nicht. Nichts an seinem starren Äußeren deutete darauf hin, daß er auf irgendeine Art und Weise beseelt war. Im‐ merhin machte er keine Anstalten, wieder mit dem Boden zu ver‐ schmelzen und kurzerhand zu verschwinden, wie er es bereits getan hatte. Dhark sah das als positives Zeichen an. »Wenn er eingeschlafen ist, gelingt es uns vielleicht, an sein Inneres heranzukommen«, brummte Arc Doorn in seiner typisch mürrischen Art. Der Worgunmutant in Gestalt eines 1,82 Meter großen, kräftig gebauten Mannes fuhr sich durch seine langen roten Haare. »Ich würde den Burschen zu gern in seine Bestandteile zerlegen.« »Die gibt es anscheinend nicht«, zweifelte Shanton. »Wenn er über ein elektronisches Innenleben verfügt, können wir kaum etwas da‐ mit anfangen. Vergiß nicht, daß Avatar offenbar bis zur molekularen Ebene zerfließen kann.« Dhark mußte dem schwergewichtigen Mann mit der Halbglatze und dem Kinnbart recht geben. Auch wenn es sich um einen me‐ chanischen Vorgang handelte, erinnerte er frappierend an die natür‐ lichen Fähigkeiten der Worgun. »So fugenlos glatt wie Avatar ist, kommt man sowieso nicht an sein Inneres heran.« »Auf jeden Fall sollten wir uns von dem Goldenen keine Hilfe versprechen«, plädierte Doorn, wobei er nach draußen deutete. »Wenn wir die Anlagen untersuchen, finden wir einen Ausgang.« Die ausgeprägten Schlitzaugen in Tschu Hins runzeligem Gesicht waren noch eine Spur stärker zusammengekniffen als sonst. »Und
wann? Bei diesen Größenverhältnissen kann das Jahre dauern. Selbst dann bin ich mir nicht sicher.« »Zumal wir womöglich auf einen ganz anderen Planeten geschafft wurden«, äußerte Dhark seine Zweifel. Wenn nicht noch schlimmer. Unwillkürlich dachte er an die goldene Station im Inneren Epoys, die erst da und später nicht mehr zu entdecken gewesen war. Als in der Existenz verschoben hatten Margun und Sola sie bezeichnet, weil sich die Balduren nicht gern in die Karten schauen ließen. ∗ Was genau sich hinter dieser Umschreibung verbarg, stand bis heute nicht fest, aber vielleicht waren er und seine Begleiter im Moment genau das. In der Existenz verschoben. »Auch wenn Avatar schweigt, bekommt er unsere Worte mit«, gab Artus zu bedenken. Dhark winkte ab. »Und wenn schon. Wir schmieden ja keine Pläne gegen ihn, sondern verlangen nur nach unserer Freiheit. Jedes intel‐ ligente Wesen in unserer Lage würde das tun.« »Dann würde Avatar das bei mir also nicht erwarten«, kläffte Jimmy mißmutig. Er war noch immer geknickt, weil der Roboter ihm den Status eines Intelligenzwesens abgesprochen und ihn als bloße Maschine kategorisiert hatte. »Ich bin sicher, daß er seinen Irrtum inzwischen bereut«, tröstete Shanton seine Schöpfung in Gestalt eines anhänglichen Vierbeiners. »Keine Maschine besitzt einen solchen Nervfaktor wie du.« »Das will ich meinen. Trotzdem will ich das von ihm selbst hören, dann glaube ich auch dran«, beschwerte sich das Brikett auf Beinen, wie der mechanische Scotchterrier dank seines pechschwarzen Fells zuweilen tituliert wurde. »Ist es dir nicht lieber, diese Wahrheit von deinen Freunden zu hören statt von einem fremden Roboter?« fragte Artus. »Hm«, machte Jimmy nachdenklich. Riker schüttelte genervt den Kopf. »Ich dachte, diese Diskussion sei ∗
Siehe Drakhon‐Zyklus Band 24: »Die geheimen Herrscher«
beendet.« »Nur verschoben«, schmollte Jimmy. »Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.« »Dann schieb sie auf«, forderte Dhark, als Bewegung in Avatar kam. Der goldene Roboter drehte den gesichtslosen Kopf, als schaute er seine Besucher der Reihe nach an. Bisher hatte sich nicht feststel‐ len lassen, auf welche Art seine Wahrnehmung funktionierte. Es ließ sich nur vermuten, daß der metallische Körper über eine umfassende Sensorik verfügte, wie sie beispielsweise auch die Wächter besaßen. Artus hat den größten vorstellbaren Test bestanden, ließ Avatar die Besucher wissen. Deshalb darf er wirklich gehen. Hätte er die Prüfung nicht bestanden, wäre er vernichtet worden. »Von welcher Prüfung sprichst du?« fragte Jimmy vorwitzig, und diesmal akzeptierte Avatar den Roboterhund sogar als Fragesteller, was Jimmy mit einem zufriedenen Schwanzwedeln quittierte. Der Goldene deutete auf das leuchtende Quadrat. Das Feld ist eine Falle. Wäre Artus selbstsüchtig gegangen, ohne sich um seine Begleiter zu kümmern, hätte das Feld ihn in den Hyperraum abgestrahlt, wo er aufgelöst worden wäre. »Verdammte Tat!« fluchte Doorn. »Hinterhältiger geht es wohl kaum noch.« * Ich konnte dem Mensch gewordenen Worgun nur zustimmen. Avatar sank immer weiter in meiner Achtung. Ob er nun ein Roboter war oder auf eine uns unbekannte Weise den Balduren angehörte – über ein Gewissen schien er nicht zu verfügen. Sehr im Gegensatz zu mir und möglicherweise auch Jimmy. Er handelte ganz anders, als es seine Worte von anderen verlang‐ ten. Das war etwas, was mir im Gegensatz zu seelenlosen Maschinen schon bei einigen Lebewesen begegnet war. Auch mir wäre eine
ähnliche Heuchelei möglich gewesen, allerdings widersprach sie meinen Überzeugungen zutiefst. Meine Überlegungen dauerten nicht einmal eine Millisekunde. Sie waren beendet, kaum daß Arc Doorns Worte verklungen waren. Mir lag eine harsche Zurechtweisung gegen Avatar auf meiner elektronischen Zunge, doch ich behielt sie für mich, da sie in unserer ohnehin wenig aussichtsreichen Lage ziemlich kontraproduktiv ge‐ wesen wäre. Dhark war da pragmatischer. »Du hast erfahren, was du wissen wolltest, Avatar«, wandte er sich an den Goldenen. »Was heißt das nun für uns?« Einmal mehr bewunderte ich den einstigen Commander der Pla‐ neten für seine Geradlinigkeit und sein zielgerichtetes Vorgehen. Der Weg, der hinter diesem Mann lag, war wahrlich kein Zufall. Auf‐ grund seiner Autorität und seiner unbestreitbaren Führungsquali‐ täten war er ihm gewissermaßen vorbestimmt gewesen. In die Wiege gelegt, wie die Menschen sagten. Es hat seine Entscheidung revidiert, verkündete der Roboter stumm. Eine neue Bewertung hat stattgefunden. Artus, du brauchst nicht alleine zu gehen. Auch Ren Dhark hat diesen Test bestanden. Ich fragte mich, wen Avatar mit Es meinte. Wer war diese ge‐ heimnisvolle Macht, als deren Befehlsempfänger er sich hinstellte? Alle gingen davon aus, daß er von den Balduren sprach. Mit seiner Verschleierungstaktik deutete er allerdings auch ein wenig an, selbst Es zu sein. Irgendwie klang das für mich nach Profilneurose, eine Vorstellung, die mich sogar ein wenig amüsierte. Ren Dharks Aufforderung an Avatar ließ mich meinen ge‐ danklichen Exkurs abbrechen. * »Erkläre das.« Dhark war nicht sicher, worauf der Goldene hi‐ nauswollte.
Mit deiner Aufforderung an Artus, sich zu retten und euch andere zu‐ rückzulassen, hast du ebenfalls selbstlos gehandelt. Dies ist eine Fähigkeit, die Es hoch einschätzt. Dir ging es nicht darum, daß Artus Hilfe holt. Die Aussichtslosigkeit auf Hilfe war dir bewußt, trotzdem hast du nicht gezö‐ gert. Dhark kniff die Lippen zusammen. Offenbar vermochte Avatar in den Gedanken aller Anwesenden einschließlich der Roboter zu lesen wie in einem Buch. Nichts blieb ihm verborgen. Leitete er seine Erkenntnisse weiter? Ren vermutete, daß die ge‐ heimnisvolle Macht, als deren Befehlsempfänger sich Avatar ausgab, die Balduren waren, doch auch für diese Annahme gab es keine Be‐ stätigung. Allerdings waren solche Überlegungen momentan zweitrangig. »Du läßt uns gemeinsam gehen?« Positiv. Meine erweiterte Genehmigung gilt für dich und Artus. Es gibt im Universum zu wenige wie euch, dafür zu viele Egoisten. Wenn sich die allumfassende Katastrophe nicht wiederholen soll, müssen Wesen wie ihr gefördert werden. Ein roter Fleck der Erregung zeichnete sich auf Rikers vorste‐ hendem Kinn ab. »Von welcher Katastrophe redest du?« Wieder gab der Roboter keine Antwort. »So kommen wir nicht weiter, und ich habe keine Lust, hier leben‐ dig begraben zu werden«, beschwerte sich Doorn. »Dhark, wir dre‐ hen uns im Kreis.« »Allerdings. Avatar, du hast immer noch nicht begriffen, daß wir keinen von uns opfern werden.« Obwohl ich bezweifle, daß ihr beide gegen den umfassenden Egoismus im Universum noch eine Chance habt, überging Avatar den Einwurf, ist es zumindest einen Versuch wert. Geht jetzt! »Ein Transmitter!« entfuhr es Shanton. Aus dem Nichts entstand ein rötlich leuchtendes Feld. Es war so bemessen, daß es maximal zwei Männer auf einmal betreten konn‐ ten. Eine rasche Flucht der ganzen Gruppe, bevor Avatar etwas da‐
gegen hätte unternehmen können, war somit ausgeschlossen. »Fein eingefädelt«, kommentierte Stewart. »Nur kommt Avatar damit nicht weiter«, konterte Dhark. »Artus und ich werden das Feld nämlich als letzte betreten. Nur so können wir garantieren, daß es hinter uns nicht erlischt.« Mach nicht den gleichen Fehler wie Artus, hielt ihm der Goldene ent‐ gegen. Die Vernunft gebietet euren Aufbruch. »Die Vernunft gebietet dir, unserer Forderung nachzukommen«, versetzte Artus. »Lies meine Gedanken, und du begreifst, was ich meine.« Dhark sah den Roboter überrascht an, denn dessen weitere Ge‐ danken blieben auch ihm verschlossen. Nun sind wir unter uns, ließ ich den goldenen Roboter wissen. Zweifellos hatte er meine weitreichenden Fähigkeiten gut genug erkannt, um nicht das Risiko einzugehen, mich zu seinem Feind zu machen. Und was bezweckst du damit, Artus? Ich will dich vor meinen Freunden nicht bloßstellen. Sie brauchen nicht zu wissen, daß es mir ein Leichtes wäre, dich in Schwierigkeiten zu bringen. Nebenbei beobachtete ich meine Begleiter. Wie Ren Dhark waren sie ausnahmslos klug genug zu erkennen, daß ich einen vielleicht entscheidenden Versuch zu unserer Rettung unternahm, zu dessen Gelingen sie nichts beitragen konnten. Sie schwiegen, und auch Jimmy, auf den Avatar wie ein rotes Tuch auf einen kampfeslüster‐ nen Stier wirkte, verhielt sich abwartend. Ich verstehe nicht, was du meinst, behauptete mein Gesprächspartner auf geistiger Basis. Körperlich kann ich dich nicht überwinden, du mich aber auch nicht. Die Pforte zur Hölle, du kennst die Bezeichnung. Wenn ich hierbleibe, kann ich dir und deiner gesamten Anlage das Leben wirklich zur Hölle machen. Das würdest du nicht tun. Du bist zu rücksichtsvoll, um dich an dieser Station zu vergreifen und sinnlose Zerstörungen anzurichten. Da hatte er natürlich gar nicht so unrecht, doch mir standen andere
Möglichkeiten zur Verfügung, die für Avatar nicht weniger unan‐ genehm waren. Auf die gleiche Art, auf die wir gerade kommunizieren, kann ich mich auch mit der viele tausend Maschinen umfassenden Anlage verständigen. Ich verstehe immer noch nicht… Natürlich tust du das. Wenn mir daran liegt, kann ich ein heilloses Chaos anrichten, das du nie wieder beseitigen kannst. Wenn du uns nicht endlich gehen läßt, werde ich in jedes einzelne System eindringen und es bis zur Sinnlosigkeit umprogrammieren. Danach wirst du im wahrsten Sinne des Wortes gegen Wände reden, denn nichts wird mehr funktionieren. Ich bluffte nicht, das mußte Avatar begreifen. Schließlich hätte er mich bedenkenlos vernichtet, wenn ich die von ihm angebotene Möglichkeit zum Rückzug aus dieser Anlage genutzt hätte. Den geistigen Fähigkeiten einer Künstlichen Intelligenz mit meinem Programmvolumen hatte er nichts entgegenzusetzen. Sein nächster Gedanke bestätigte meine Vermutung, aufs richtige Pferd gesetzt zu haben. Das ist Terrorismus und widerspricht dem Profil, das ich über dich erstellt habe, wehrte er erschrocken ab. So etwas würdest du nicht tun. Sicherlich nicht gerne. Dennoch werde ich es tun, wenn du mich dazu zwingst. In meinen Gedanken kannst du erkennen, daß ich es ernst meine. Ich bin vielleicht nicht so unsterblich wie du, doch meine Lebenserwartung ist ausreichend, dir für Jahrhunderte oder gar Jahrtausende das Leben in dieser Station zur Hölle zu machen. Ich habe mich geirrt. Avatar klang nun beinahe verzweifelt. Du würdest es doch tun, obwohl ich dir das niemals zugetraut hätte. Ja. Ich fand nicht, daß ein weiteres Wort nötig war, da ich erkannte, daß ich ihn schwer beeindruckt hatte. Er konnte es sich nicht leisten, ein solches Risiko einzugehen. Verschwindet! Avatars Aufforderung bestätigte meine Kalkulation. Diesmal richtete er sich wieder an uns alle. Geht und verlaßt diese Anlage, jetzt sofort!
Ich konnte die Überraschung in den Gesichtern meiner Freunde lesen. Da sie das stumme Zwiegespräch nicht mitbekommen hatten, hatten sie natürlich auch keine Erklärung für Avatars plötzlichen Meinungsumschwung. Doch jetzt blieb keine Zeit für Erklärungen. Ich würde sie später unterrichten. »Also los!« kam ich ihren unerwünschten Fragen zuvor. Schließlich gab es keine Sicherheit, daß Avatar es sich nicht noch einmal anders überlegte. Dank seiner charismatischen Führungsqualitäten, die ihn einst an die Spitze der Erdregierung gebracht hatten, reagierte Ren Dhark wieder einmal am schnellsten. Ohne lange Diskussionen zuzulassen, instruierte er seine Leute, den Transmitterdurchgang zu benutzen. Kurz darauf waren er und ich mit Avatar allein. Eigentlich konnte ich zufrieden sein. Lediglich die Tatsache, in Avatars Augen nun als potentieller Cyber‐Terrorist dazustehen, bedrückte mich. * Dhark verschwendete keine Zeit mit Fragen. Erleichtert beob‐ achtete er, wie seine Begleiter nacheinander entstofflicht wurden. Für einen Moment dachte er an eine weitere Falle Avatars, dann verdrängte er den Gedanken. Wie immer Artus das geschafft hatte, eine Bedrohung wäre ihm dabei nicht entgangen. »Wir sind an der Reihe, Dhark. Geh du vor, ich folge dir gleich.« Ren trat vor das rötliche Feld und zögerte. Bevor er hindurchtrat, drehte er sich wieder um und ging zu Avatar zurück. »So einfach wirst du mich nicht los.« In seinem Gesicht arbeitete es. Der goldene Roboter hatte genug Reden über Hilfsbereitschaft ge‐ schwungen, selbst aber noch nicht viel davon gezeigt. Ihr alle seid frei. Das war doch dein Begehren. Was willst du noch? »Dein Name wäre ein Anfang.« Ich bin, der ich bin. Das muß genügen.
Ren hatte keine andere Antwort erwartet. »Dann gewähre uns Hilfe für die Rettung der Erde. Entweder du selbst oder einer von denen, mit denen du in Verbindung stehst. Ich bin sicher, es sind die Balduren.« Ich kann dir keinen Hinweis geben, wehrte der Roboter ab. »Kannst du nicht, oder willst du nicht?« Artus trat neben den Kommandanten der POINT OF. »Du hast davon erzählt, Personen wie Dhark müßten gefördert werden. Wenn das nicht nur leere Worte waren, darfst du ihm deine Hilfe nicht verweigern.« Ich tue das nur zu eurem Wohl. »Du? Oder die Balduren? Willst du nicht endlich die Wahrheit sa‐ gen?« Avatar schwieg einige Sekunden. Er hielt seine Gedanken bei sich, so daß nun nicht einmal Artus sie mehr lesen konnte. Ja, es ist so, gab der Goldene schließlich zu. Balduren ist nur einer von vielen Namen, die Niedere meinem Volk gegeben haben. Doch das ändert nichts. Ich darf euch keinen Hinweis geben, damit die »Hoffnung des Uni‐ versums« nicht genauso träge wird wie die Worgun. Die Hoffnung des Universums? Eine genauso alles‐ wie nichtssa‐ gende Bezeichnung. Dharks Gedanken jagten sich. Zweifellos war sie auf die Menschheit gemünzt. Sahen die Balduren in den Men‐ schen etwa die legitimen Nachfolger der Worgun, die in ihren Augen versagt hatten? Versagt wobei? Etwa dabei, die Entwicklung des Universums auf eine Art voranzubringen, die Ren sich nicht vor‐ stellen konnte? Nach allem, was Avatar bisher von sich gegeben hatte, schien das eine plausible Erklärung. Allerdings auch eine, die an Großmannssucht erinnerte. Niemals wäre Dhark von sich aus auf die Idee gekommen, den Terranern – seinen Terranern – einen sol‐ chen Grad an kosmischem Gewicht beizumessen. Sahen die legen‐ dären Balduren das anders? Immerhin hatte Avatar behauptet, sämtliche Worgun zu kennen, vergangene, gegenwärtige und sogar zukünftige. Bedeutete das, daß ihm der Blick in die Zukunft möglich war?
Wenn ja, was sah er da in Bezug auf die Menschheit? »Wir haben die Worgun gerettet, wie du weißt.« Auch diese Tatsache ändert nichts. Sie bestärkt Es nur in seiner Ent‐ scheidung. Ihr dürft nicht auch so träge werden, wie es die Worgun ge‐ worden sind. »Du machst einen Fehler, wenn du uns unserem Schicksal über‐ läßt«, hielt Dhark dem Roboter vor. »Die Hoffnung des Universums ist keine mehr, wenn sie untergeht. Wenn Terra vernichtet wird, hat das weitreichendere Konsequenzen als bloße Trägheit.« Er versuchte die kleinste Regung bei Avatar festzustellen. War er wirklich nur Roboter oder mehr? Immer stärker erinnerte er Ren an Simon, den menschlichen Diener der terranischen Hoch‐ kommissarin für Agrarfragen, Noreen Welean, dessen Geistessubs‐ tanz die INSTANZ von ARKAN‐12 in einen goldenen Metallkörper gesperrt hatte, um sein Überleben zu gewährleisten, und der damit zu deren Wächter geworden war. Nur beiläufig ging Dhark der Ge‐ danke durch den Kopf, daß es womöglich hilfreich gewesen wäre, Simon in diesem Moment an seiner Seite gehabt zu haben. Das ist nicht zwangsläufig nötig. »Du meinst den Untergang der Menschheit?« mischte sich Artus ein. »Was willst du damit ausdrücken?« Flehend wartete Dhark auf eine Antwort Avatars, doch der Robo‐ ter meldete sich nicht mehr. Statt dessen begann sich seine Farbe zu verändern. Seine Hülle nahm einen dunkleren Goldton an. Die Luft schien sich statisch aufzuladen. »Wir müssen weg, Dhark. Ich spüre es.« Doch Ren war nicht bereit aufzugeben. Dies war vielleicht ihre letzte Chance, Hilfe für die gefährdete Erde zu bekommen. »Avatar!« appellierte er an den Goldenen. »Wenn du dir irgend etwas von der Menschheit versprichst, hilf uns! Sonst trägst du die Schuld daran, wenn wir dich enttäuschen.« Er spürte Artus’ stählerne Hand, die sich wie eine Schraubzwinge um seinen Arm legte. Ren sträubte sich, doch der Kraft des Roboters
konnte er nicht widerstehen. Widerstrebend ließ er sich in das Transmitterfeld ziehen. Als der Transportvorgang einsetzte, löste sich Avatar vor seinen Augen auf. * Das nächste, was Dhark sah, war die vier Meter hohe, rötlich schimmernde Metallsäule auf Skythos mit ihren Verzierungen und Ornamenten. Sie waren zurück am Ausgangspunkt ihres unfreiwil‐ ligen Ausflugs in die goldene Hölle. Er riß sich aus Artus’ Griff los, der ihn nun bereitwillig freigab. »Ren, endlich. Wir befürchteten schon, ihr kämet nicht«, begrüßte ihn Riker. »Was habt ihr noch getrieben?« Dhark gab keine Antwort. Er warf Artus einen vorwurfsvollen Blick zu und vergewisserte sich, daß die Gruppe vollzählig war. Doch das war nur ein geringer Trost angesichts des erlittenen Mi‐ ßerfolgs. Ein zweites Mal würde es ihnen nicht gelingen, zu Avatar vorzudringen, soviel war sicher. Er wurde abgelenkt, als ein Schatten auf ihn fiel. Aus der Höhe senkten sich Flash herab und landeten auf der kleinen Dschungel‐ lichtung zwischen Bäumen und Ruinen. Pjetr Wonzeff kletterte ins Freie. »Wir haben über der Lichtung gekreist, seit Sie verschwunden sind«, erklärte der ukrainische Pilot. Zögernd nickte Dhark. Obwohl er sicher war, damit nichts auszu‐ richten, drängte alles in ihm danach, sich der Säule ein weiteres Mal anzuvertrauen. Was sollte er denn sonst tun? »Ich empfehle, sofort zu starten, wenn wir nicht in weitere Kämpfe verwickelt werden wollen«, drängte Wonzeff, der als schlagkräftiger Draufgänger bekannt war. Er behielt das Unterholz zwischen den Bäumen im Auge, als erwartete er einen Angriff. »Aus der Luft habe ich die Wilden beobachtet. Noch verstecken sie sich am Waldrand,
aber das kann sich jederzeit ändern. Es sind Hunderte.« Die Wilden, dachte Ren verbittert. Die in die Primitivität zu‐ rückgefallenen Nachfahren der von Avatar vernichteten G’Loorn. Er hatte nicht vor, auf sie zu schießen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Das aber ging nur, wenn sie tatsächlich den Rückzug antraten. Ren fühlte sich innerlich zerrissen, zumal seine Begleiter auf seine Initiative warteten. Als Dalon zu seinem Flash lief und ins Innere kletterte, traf er eine Entscheidung. »Pjetr, fliegen Sie bei Mike Doraner mit. Ich brauche Ihren Flash für Artus und mich.« Dem Ukrainer war anzusehen, daß er von dem Befehl überrascht war. Er ersparte sich einen Kommentar, weil ihm nicht entging, daß Dhark stinksauer war. Amy Stewart hingegen hielt mit ihrem Unverständnis nicht hin‐ term Berg. »Was hast du vor, Ren?« »Nichts«, beruhigte er seine Gefährtin. »Mach dir keine Sorgen. Ich möchte mich nur kurz mit Artus unter vier Augen unterhalten. Das geht am besten auf dem Rückflug zur POINT OF.« »Vorsicht!« gellte plötzlich Jimmys Stimme, der sich am Sockel der Metallsäule aufhielt. »Ich registriere eine starke Energiespitze!« Mit einem weiten Satz brachte der Roboterhund sich in Sicherheit, als die Säule von einem goldenen Lichtblitz eingehüllt wurde. Se‐ kundenlang badete sie in dem grellen Schein, bis nur noch ihre Um‐ risse zu sehen waren, dann verschwand sie, ohne Rückstände zu hinterlassen. Weder ein Loch im Boden noch Abdrücke blieben zu‐ rück. Nichts deutete noch darauf hin, daß sie jemals auf der Lichtung gestanden hatte. Im gleichen Moment brandete ringsum Heulen aus dem Dschungel auf, eine Kakophonie klackender Geräusche. Sie erinnerten Dhark an Wehklagen, weil die Insektoiden ihre Gottheit verloren hatten. »Das nehmen uns die Burschen persönlich übel. Sie greifen wieder an!« warnte Shanton. »Sieht so aus, als ob wir sie verärgert hätten.« Wie zur Bestätigung seiner Worte brachen, von blinder Wut ge‐
trieben, die ersten Insektenkrieger zwischen den Bäumen hervor. Sie schwangen Keulen und waren mit Wurfgeschossen ausgerüstet, die trotz ihrer Primitivität lebensbedrohend werden konnten. »Es wird Zeit zu verschwinden. Ab in die Flash und dann nichts wie weg von hier!« ordnete Dhark an. »Artus, du kommst mit mir!« Gemeinsam liefen sie zu Wonzeffs Flash und sprangen hinein. * »Rückkehr zur POINT OF!« gab Dhark über eine offene Phase durch. Schon sausten die ersten Wurfgeschosse durch die Luft und klatschten gegen die Außenhüllen der Flash. Natürlich konnten sie dem Unitall nichts anhaben, was die Angreifer noch wütender machte. Sie stürmten heran, ohne einen Gedanken an ihr eigenes Schicksal zu verschwenden. »Sie halten uns für so etwas wie Gotteslästerer«, meinte Artus. »Für Sie muß es zwangsläufig so aussehen, daß wir ihre Gottheit vertrie‐ ben oder gar vernichtet haben.« Sekunden später waren sämtliche Beiboote in der Luft. Der Angriff der degenerierten G’Loorn stieß ins Leere. Dharks Zorn auf den in‐ telligenten Roboter war deswegen aber noch lange nicht verraucht. Er beobachtete das Toben der Insektoiden, während er den Flash steil in die Höhe zog. »Wieso hast du darauf bestanden, daß ich mit dir fliege?« fragte Artus. Ren steuerte das zylinderförmige Beiboot durch die Atmosphäre und schaltete eine Phase zu Hen Falluta in der POINT OF. »Gegen‐ wärtige Position beibehalten«, ordnete er an. »Ich komme etwas später.« »Gibt es Probleme mit der Technik?« fragte der Erste Offizier be‐ sorgt. »Sollen wir Sie reinholen, Sir?« »Negativ. Es ist alles in Ordnung. Dhark Ende.« Er unterbrach die
Verbindung. »Und nun zu dir, Artus.« Der weißblonde Mann und der Roboter saßen Rücken an Rücken, als er am Rand der Atmosphäre abbremste und den Flash zum Still‐ stand brachte. Er hatte diesen Weg gewählt, weil er Artus’ gelegent‐ liche Macken kannte. Hier konnte er ungestört und allein mit ihm reden, und Artus hatte keine Gelegenheit, ihm auszuweichen. Au‐ ßerdem brauchte an Bord der POINT OF nicht jeder mitzubekom‐ men, was er zu sagen hatte. Sie saßen quasi in einem Boot, dachte Ren mit einem Anflug von Sarkasmus. »Dir gefällt nicht, daß ich uns gerettet habe«, kam Artus ihm zuvor. »Hast du das? Daran zweifle ich. Jedenfalls habe ich keine direkte Gefahr für unser Leben gesehen. Ich behaupte sogar, daß du einen großen Fehler begangen hast.« »Ich kann deinen Worten nicht folgen. Ich habe die einzig logische Vorgehensweise gewählt.« »Unsinn!« schnitt Dharks Stimme scharf durch die Luft. Im Innern des engen Flash klang sie unverhältnismäßig laut. »Ich hätte noch etwas aus Avatar herausbekommen. Nur deswegen sind wir schließlich hergekommen, doch nun kehren wir mit leeren Händen zurück. Hast du denn nicht erkannt, welch große Stücke er auf uns gesetzt hat?« »Natürlich habe ich das. Schließlich ist meine Sensorik wesentlich leistungsfähiger, als es die menschlichen Sinnesorgane sind.« Für einen Moment blieb Ren die Luft weg. Ungläubig über die stoische Gelassenheit des Roboters schüttelte er den Kopf. Er mußte sich Luft machen, indem er seinen aufgestauten Frust auf Artus ab‐ lud. »Dann ist deine Handlungsweise um so schlimmer und unver‐ antwortlicher. Daß wir keine Rettungsmöglichkeit gefunden haben, ist zumindest teilweise deine Schuld«, platzte es aus ihm heraus. »Es geht hier um die Zukunft der Erde. Wenn sie stirbt, ist unser eigenes Leben bedeutungslos. Du hattest kein Recht, mich einfach mit dir zu ziehen. Ich begreife nicht, was du dir dabei gedacht hast. Wahr‐
scheinlich hast du überhaupt nicht gedacht.« Unwillkürlich erwartete er, daß Artus sich gegen die Vorwürfe verteidigte. Doch der Roboter antwortete nur lapidar. »Ich denke unentwegt. Solange ich mich nicht willentlich abschalte, ist die Vernetzung meiner Suprasensorik mit den Programmgehirnen in permanenter Tätigkeit.« »Dann, verdammt noch mal, hat sie ganz schönen Mist ange‐ richtet.« »Indem sie unsere Leben rettete? Indem sie…« »Das scheint das einzige zu sein, woran dir etwas liegt. Ich sage es noch einmal: Gegen die Rettung der Erde ist unser bißchen Leben völlig bedeutungslos.« »Wir können die Erde nur retten, wenn wir leben. Du weißt, daß deine Worte Unsinn sind.« »Unsinn?« Dhark biß sich auf die Unterlippe. Es fiel ihm schwer, seinen Zorn in gelenkte Bahnen zu bringen. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt dermaßen hatte gehen lassen. Artus schien der gleichen Meinung zu sein. »Ich bin verblüfft. So wütend habe ich dich noch nie erlebt.« Er drehte den metallischen Kopf, soweit seine Mechanik das zuließ. »Wenn du jetzt, wie es so schön heißt, Dampf abgelassen hast, darf ich vielleicht auch mal etwas sagen.« Ren schloß die Augen und zählte bis zehn. Irgendwie kannte er sich selbst nicht mehr, aber seine Befürchtung, eine große Chance ungenützt gelassen zu haben, ließ ihn rein emotional reagieren. Nun blieb keine Hoffnung mehr, noch etwas gegen den drohenden Un‐ tergang ausrichten zu können. Er stieß hörbar die Luft aus und nickte. »Also bitte! Was hast du zu sagen?« »Du erinnerst dich daran, daß Avatar sagte, die Erde müsse nicht zwangsläufig untergehen?« »Sicher. Das war ein leerer Satz, der uns nicht weiterhilft. Eine
Floskel.« »Das sehe ich anders. Auf eine Art, die ich selbst nicht begreife, habe ich Avatar besser verstanden als du. Seine Worte hatten einen tieferen Sinn. Er wollte ausdrücken, daß die Menschheit sich aus eigener Kraft retten kann, auch ohne Wissenstransfer von außen.« Dhark zweifelte an dieser Auslegung. »Du interpretierst mehr in Avatars Botschaft hinein, als sie enthielt.« »Unsere Kommunikation fand auf einer höheren Ebene statt. Für mich gibt es keinen Zweifel, was Avatar gemeint hat. Ebenfalls hat er kein falsches Spiel getrieben. Er war von unseren Fähigkeiten, uns auch in dieser Situation selbst helfen zu können, fest überzeugt. Er weiß viel mehr, als wir uns überhaupt vorstellen können.« »Bist du sicher?« »Ja, und dir bleibt nichts anderes übrig, als mir zu vertrauen.« Das klang sehr vage. »Hast du denn wenigstens einen An‐ haltspunkt, auf welche Art unsere eigene Rettung vonstatten gehen soll?« »Da muß ich passen. Deshalb denke ich aber noch lange nicht daran aufzugeben.« Ren spürte, wie seine Wut allmählich verrauchte. Wenn es stimm‐ te, was Artus behauptete, blieb ihnen noch eine Chance, auch wenn er sie noch nicht sah. Doch was war, wenn er sich irrte? Hätte sein Rechnernexus berechtigte Zweifel übersehen, wenn sie existierten? Wohl kaum, zumindest hätte die rein elektronische Komponente darauf hingewiesen. Warum aber hatte Avatar sich nicht deutlicher ausgedrückt? Das sinnlose Grübeln brachte nichts, entschied Ren. Seine Wut ebenfalls nicht. Er mußte das tun, was er stets getan hatte, nämlich zuversichtlich in die Zukunft schauen. Wenn er bereits gedanklich aufgab, bedeutete das wirklich das Ende. »Trotzdem verstehe ich deinen übereilten Aufbruch nicht«, er‐ klärte er. »Er erinnerte mich an eine Flucht.« »Es war auch eine. Bei all seinem Wissen hat Avatar auch ein paar
Macken. Ich habe deutlich erkannt, daß er die Transmitterverbin‐ dung wieder unterbrochen hätte, wenn wir noch länger geblieben wären. Und dann säßen wir wirklich für den Rest unseres Lebens in der goldenen Hölle fest. Für mich würde das einen ungleich unan‐ genehm längeren Zeitraum bedeuten als für dich.« Ren nickte stumm. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf Ar‐ tus’ Einschätzung zu verlassen. In der Vergangenheit war er damit gar nicht so schlecht gefahren. Er startete den Flash und steuerte ihn zurück zur POINT OF, wo er bereits ungeduldig erwartet wurde.
3. Heather Sheridan hatte erwartet, in ein Labor geführt zu werden, in dem ihr Wallis einige neue Errungenschaften vorführen würde. Ein Labor, in dem – wie in allen modernen Hexenküchen – üble Dämpfe in der Luft hingen. Eine Mischung aus Gerüchen von Expe‐ rimenten, die keine noch so effektive Klimaanlage so ganz zum Verschwinden bringen konnte. Statt dessen roch es… roch es nach…? Genau, es roch nach kleinen Kindern! Der Raum war groß – und mit Unmengen von Spielzeug aus‐ gestattet. Was sie hier vor sich hatte, war nichts anderes als eine Krabbelgruppe! Die von jungen, freundlich blickenden Frauen be‐ aufsichtigten Kinder schienen alle etwa ein Jahr alt zu sein. »Was«, begann Heather und blickte Wallis überrascht an, »habe ich mir darunter vorzustellen?« »Das hier«, erwiderte Terence Wallis und schloß mit einer Arm‐ bewegung den ganzen Raum ein, »ist unsere Kindertagesstätte.« »Ja, und ich bin mit Ren Dhark zum Essen verabredet«, grummelte Peter Fox halb hinter Heather, vergaß aber nicht, eifrig zu filmen. »Ich muß Ihnen ein Kompliment machen, Mister Wallis«, gestand Heather Sheridan. »Sie haben es geschafft, mich zu überraschen. Ehrlich, mit einem Kindergarten hier hätte ich nicht gerechnet. Was sind das für Kinder? Wem gehören die Racker? Haben Sie die eigens engagiert?« Wallis begriff zunächst nicht, worauf Heather hinauswollte, doch dann verfinsterte sich seine Miene für einen Moment. »Was immer Sie mir auch gerade unterstellen wollten, vergessen Sie’s. Diese Kinder gehören Werksmitarbeitern. Sie werden hier kostenlos betreut, während ihre Eltern ihrer Arbeit nachgehen.« »Hm«, dehnte die Reporterin. »Terence Wallis, der Wohltäter. Kann es sein, daß Sie auf diesem Weg nur Reklame für Ihre So‐ zialleistungen machen wollen?«
Irgendwie hegte Heather Sheridan das Gefühl, zu etwas mißbraucht zu werden. Konkret plagte sie der Verdacht, daß Wallis DYNAMITE dazu benutzen wollte, noch mehr hochqualifizierte Mitarbeiter von der Erde abzuwerben, um so den permanenten Arbeitskräftemangel seiner brummenden Konjunktur zu beheben. Schließlich fand ihre Sendung auf der Erde jedesmal Millionen von Zuschauern vor allem bei der gebildeten Mittelschicht, wie Umfragen ergeben hatten. Wallis lächelte leicht, er hatte sich wieder gänzlich gefangen. »Ich habe große Neuigkeiten für Sie«, sagte er. »Ihr Verdacht wird jeden Moment zusammenbrechen. Wetten?« »Welcher Verdacht…?« begann sie, aber Wallis hatte sich von ihr abgewandt und ging in die Kindergruppe. Zielsicher nahm er einen hübschen Knaben auf den Arm und kehrte zum Team zurück. »Terence«, sagte er zu dem Kleinen und nibbelte ihm sanft die Nase, »sag Hallo!« »Ahro«, piepste der Junge und strahlte die Reporterin an. »Nein, das glaube ich jetzt nicht!« japste Heather Sheridan perplex. »Glauben Sie es ruhig. Übrigens, das ist Terence junior, mein Sohn. Ist er mir nicht wie aus dem Gesicht geschnitten?« In der stolzen Überschätzung eines jeden Vaters im Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen sich und seinem Sprößling wirkte Terence Wallis ein bißchen überzogen. Aber das merkte Heather nicht, die von der Sensation, die sich ihr da offenbarte, regelrecht überwältigt wurde. Ihr Herz raste, das Blut schoß ihr in die Wangen und brachte sie zum Glühen. Sie, Heather Sheridan, 27 Jahre jung, würde die erste sein, die diese unglaubliche Geschichte in Wort und Bild über Terra‐Press auf der Erde und den angeschlossenen Kolonien bringen würde! Nach dieser Sendung würden die Quoten von DYNAMITE ins Unendliche steigen – und ihren Namen in der ganzen Galaxis bekanntmachen, dessen war sie sich gewiß. Sie bekam nur am Rande mit, daß Peter Fox’ Kamera alles, was sich in diesem Raum abspielte, mit ihrem unbestechlichen Insektenauge verfolgte und auf das Spei‐ chermedium bannte. Und sie war sich sicher, daß Willie Cassonis
Künste als Toningenieur dafür sorgten, daß man jeden Atemzug, jedes gesprochene Wort mitbekam. Vor allem Terence Wallis’ Be‐ kenntnis seiner Vaterschaft und das fröhliche Gebrabbel von Terence junior würde lange, sehr lange in den Zuschauern nachhallen. Dies, so wußte sie in diesem denkwürdigen Augenblick glasklar, war ihre Stunde. Und einen winzigen, verwegenen Augenblick lang sah sie sich sogar schon als Gewinnerin des diesjährigen Sam‐Dhark‐Gedächtnispreises, sah sich im Blitzlichtgewitter und unter gleißendem Scheinwerferlicht bei der öffentlichen Preisver‐ leihung vor Hunderten geladenen Gästen aus Politik und Wissen‐ schaft… In ihrer Euphorie registrierte sie kaum, daß weitere Personen den Raum betraten. Erst als Bewegung in die Kinderschar kam und ei‐ nige der Kleinen mit freudigem Kreischen auf die Erwachsenen zu‐ krabbelten und von ihnen auf den Arm genommen wurden, wurde auch sie aufmerksam. »Ich fasse es nicht«, sagte Heather überrascht und sah sich wie hilfesuchend nach Wallis um. »Da haben wir ja den ganzen inneren Zirkel der Forschungsgruppe Saam, oder irre ich mich, Mister Wal‐ lis?« »Sie irren keineswegs«, erwiderte der Tycoon und bemühte sich, die winzigen Finger von Terence junior aus seinem Zopf zu lösen, den dieser partout nicht loslassen wollte, weshalb der Junge protes‐ tierend krähte. Robert Saam war Heather ein Begriff aus Archivaufzeichnungen, die sie sich bei ihren Recherchen um Wallis Industries angesehen hatte. Es mußte sich um ältere Aufnahmen gehandelt haben, das er‐ kannte sie jetzt. Der Saam, der da auf sie zukam, wirkte wesentlich männlicher, gereifter, einfach erwachsener, obwohl er nicht viel älter als 30 Jahre war. Er trug eine zerknitterte Hose und ein einstmals weißes Oberhemd samt Fliege. Von einem Schal, den er angeblich zu jeder Jahreszeit zu tragen pflegte, war nichts zu sehen. Auch die
früher einmal obligatorische Wollmütze fehlte. Sein Haar jedoch war wie eh und je ungekämmt und stand wirr vom Kopf ab. Auf dem einen Arm trug er den kleinen Jungen, der sich ihm in den Weg geworfen hatte, unter den anderen Arm hatte er einen Pa‐ cken Unterlagen geklemmt. Er lächelte entrückt und schien sich gleichzeitig mit dem Kind, ei‐ ner Menge von Problemen und der Lösung der Weltformel zu be‐ schäftigen. Bei den anderen beiden Männern handelte es sich einmal um den kanadischen Wissenschaftler George Lautrec, der schon über sechzig sein mußte, wie sich die Reporterin vage erinnerte, sowie den indo‐ nesischen Funk‐ und Ortungsspezialisten Saram Ramoya. Die große blonde Frau neben Saam, die ein ebenso blondgelocktes, süßes Mädchen gekonnt im Hüftsitz hielt, war das dritte Mitglied aus Saams permanentem Mitarbeiterstab: die Biologin und gebürtige Schweizerin Regina Lindenberg. Wallis hob die Stimme. »Ich darf bekannt machen. Regina, meine Herren – Miß Heather Sheridan von Terra‐Press. Seid mir ja artig zu ihr, sie dreht gerade einen Bericht für DYNAMITE über uns.« Wallis’ launige Bemerkung wurde mit Heiterkeit aufgenommen. Heather begrüßte die Männer, dann streckte sie die Hand der Frau entgegen. »Freut mich sehr, Sie persönlich kennenlernen zu dürfen. Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Doktor Lindenberg.« Robert Saam räusperte sich verhalten und sagte: »Saam, junge Dame, Saam. Die richtige Anrede lautet Doktor Regina Saam. Ich erwähne es nur der Ordnung halber.« Er räusperte sich wieder und tätschelte dem Jungen den Rücken, der die Ärmchen um seinen Hals geschlungen hatte und ihm die Luft abschnürte, wie es schien. Zu‐ mindest ließ die Röte in seinem Gesicht darauf schließen. »Bitte entschuldigen Sie«, sagte Heather, etwas aus der Fassung gebracht von so viel Neuem, Unverhofftem. »Ich wußte nicht, daß
Sie beide verheiratet sind.« Regina Saam strahlte. »Seit knapp zweieinhalb Jahren«, ließ sie die Reporterin wissen. »Und vor einem Jahr sind unsere beiden Son‐ nenscheine gekommen. Ein Zwillingspärchen, müssen Sie wissen. Regina und Robert junior. Wir sind wahnsinnig glücklich.« »Süß, in der Tat. Und genau das, was unsere Zuschauer an den Bildschirmen sehen wollen.« Heather machte Peter Fox ein Zeichen, die beiden Kinder, die eindeutig Zwillinge waren, wie sie jetzt aus der Nähe sehen konnte, in der Totalen aufzunehmen. Auch die beiden Starwissenschaftler Lautrec und Ramoya hatten geheiratet und waren Väter geworden. Mit wenigen Monaten Un‐ terschied waren alle diese Kinder gleich alt und Mitglieder in der Krabbelgruppe. Heather bekam eine Menge schöner Bilder von Vä‐ tern und einer Mutter mit ihren Kindern auf den Armen. »Und Sie«, wandte sich Heather an Wallis, »sind Sie auch Mitglied in diesem Klub der sich trauenden Männer?« »Tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen – aber ich bin nicht ver‐ heiratet. Ich halte die Institution der Ehe nach wie vor für einen Anachronismus, dem ich mich niemals beugen werde. Nichtsdes‐ totrotz bin ich mit der Mutter meines Sohnes fest liiert.« »Ja, ja, so ist unser Chef eben«, sagte der indonesische Funk‐ und Ortungsspezialist Saram Ramoya. Der Indonesier trug wie immer einen viel zu weiten Anzug, und mit seinem unordentlichen Haar schien er Robert Saam nacheifern zu wollen. »Nicht verheiratet, ungebunden, aber fest verbandelt.« »Wissen Sie, Mister Wallis«, wandte sich Heather Sheridan an den Wirtschaftsmagnaten, »das Bild ist natürlich erst dann komplett, wenn wir die drei dazugehörigen Mütter ebenfalls filmen können. Wäre es sehr vermessen, Sie zu bitten, das zu arrangieren?« »Vermessen? Nein«, erwiderte Wallis und übergab seinen Jungen an eine Betreuerin, »aber unmöglich, fürchte ich. Die Damen sind zur Zeit an Bord meiner Raumjacht HOLE‐IN‐ONE zu einem Erholungs‐ und Bildungsurlaub nach Babylon unterwegs. Ich wollte eigentlich,
daß auch Regina daran teilnimmt, aber…« »Aber ich konnte ihn davon überzeugen«, unterbrach ihn Frau Doktor Saam, »daß ich mich bei meiner Arbeit mehr bilde als auf irgendwelchen Seminaren, mögen sie auch noch so hochkarätig be‐ setzt sein.« Regina Saam war trotz ihrer 34 Jahre eine in der Fachwelt an‐ erkannte Wissenschaftlerin, die von renommierten Universitäten und Forschungsinstituten bereits mit mehr Auszeichnungen über‐ häuft worden war als wesentlich ältere Kolleginnen und Kollegen in ihrer ganzen Schaffensperiode. »Wie schade«, bedauerte Heather und blickte schicksalsergeben. »Ich verspreche Ihnen«, tröstete sie Wallis, »daß Sie die drei vor die Kamera bekommen, sobald sie zurück sind. Sekunde…« Die Flügeltür hatte sich vehement geöffnet, und ein junger Leut‐ nant in der Uniform der Flotte von Eden betrat mit markigen Schritten den Raum. Mit ihm schien ein kalter Hauch in diesen Hort der unbekümmerten Fröhlichkeit einzudringen. »Was gibt es, Leutnant Blaise?« fragte Wallis ungehalten. »Sir! General Jackson wünscht Sie dringend zu sprechen.« »Jetzt und hier?« Wallis machte eine unbestimmte Handbewegung. »Er wartet draußen vor der Tür, Sir«, erwiderte der junge Offizier mit ernster Miene. »Sieht so aus, als müßte ich mich dem Wunsch meines Generals beugen«, sagte Wallis. An Heather Sheridan gewandt bat er: »Ent‐ schuldigen Sie mich für einen Augenblick.« »Aber sicher.« Heather nickte zustimmend. Wallis und der Leutnant verschwanden nach draußen. »Und womit machen wir jetzt weiter?« fragte Peter Fox. »Wir warten«, beschied ihm Heather ruhig. »Es wird bestimmt nicht lange dauern.« »Merkwürdiger Name für ein Schiff«, ließ sich Cassoni halblaut vernehmen. »Wie…?«
»Ich sagte: merkwürdiger Name für eine Raumjacht, HOLE‐IN‐ONE!« »Nicht, wenn man von Terence Wallis’ Faible fürs Golfspielen weiß«, versetzte Peter Fox und grinste andeutungsweise. Cassoni wirkte verdutzt. »Da komme ich jetzt nicht mit.« »Als ›Hole in one‹ bezeichnet man unter Golfern ein As«, klärte die Reporterin ihren Toningenieur auf. »Ein As?« Cassoni verstand noch immer nicht. »Mann«, stöhnte Fox halblaut, »bist du schwer von Begriff! Wie ihr einmal die Welt regieren konntet, ist mir heute noch unbegreiflich. Man spricht immer dann von einem As, wenn man den Ball mit ei‐ nem einzigen Schlag einlocht. Capito, Amigo?« Der Toningenieur rang sich ein verkniffenes Lächeln ab. »Was ihr nicht alles wißt!« Fox zog eine Grimasse. »Lesen bildet, mein Freund«, sagte er tro‐ cken. »Oder DYNAMITE sehen«, warf Heather ein. »Ich…« Sie verstummte, als Wallis wieder erschien. Sein Gesicht war lei‐ chenblaß, und seine Stimme wirkte irgendwie brüchig, als er Lautrec und Ramoya aufforderte, ihm nach draußen zu folgen. »Es scheint doch ernster zu sein«, murmelte Heather, als sie sah, wie die beiden Wissenschaftler ihre Kinder in die Obhut der Be‐ treuerinnen gaben und Wallis wortlos folgten. »Mal sehen, wie lange es diesmal dauert«, sagte Peter Fox und rieb sich das Gesicht. Er hatte kaum ausgesprochen, als die Tür erneut aufflog und eine beeindruckende Erscheinung eintrat. Cassoni spitze die Lippen zu einem lautlosen Pfiff. »General Thomas J. Jackson höchstpersönlich«, murmelte er. Der große, kräftige Mann Anfang Vierzig hatte volles braunes Haar und ein kantiges Gesicht, das von einem Vollbart umrahmt wurde. »Ein untadeliger, äußerst fähiger Offizier«, fuhr Cassoni fort. »Terence Wallis hat ihn von der TF abgeworben und zum General und Be‐
fehlshaber der Streitkräfte von Eden gemacht, trotz oder vielleicht auch gerade wegen seiner Marotten.« Heather warf ihrem Toningenieur einen Blick zu. »Marotten bei einem General?« »Aber klar«, begann Willie. Peter Fox räusperte sich warnend. »Still, er hat uns im Visier.« Und so unterließ es der Toningenieur, sie darüber zu informieren, daß General Jackson ein bibelfester Mann war, der streng nach den Geboten der Heiligen Schrift lebte und sie zudem ständig zitierte. »Ich gehe davon aus, daß Sie Miß Sheridan sind«, sagte General Jackson. »Miß Heather Sheridan von DYNAMITE, richtig?« »In Reinausgabe.« Heather lächelte zurückhaltend. »Betrachten Sie das Interview als beendet«, verkündete General Jackson knapp und mit ernster Miene. Insgeheim hatte Heather bereits damit gerechnet. »Darf man den Grund erfahren, General?« Jackson zog seine rechte Braue hoch, mustere die junge Frau mit ablehnender Miene, doch dann entschloß er sich, ihr zumindest ein Mindestmaß an Information zukommen zu lassen. »Unsere Flotte hat einen Notruf der HOLE‐IN‐ONE aufgefangen«, sagte er, »und sofort ein Kampfschiff in die betreffende Region ent‐ sandt. Leider ist es zu spät gekommen. Von Mister Wallis’ Raum‐ jacht konnten nur noch Trümmer geborgen werden.« »Was ist mit der Besatzung, den Passagieren?« »Keine Überlebenden, Miß Sheridan.« Die Miene des Befehlshabers der Flotte von Eden verfinsterte sich noch mehr. »Um Himmels willen!« Heather schlug die Hand vor den Mund. »Und es besteht kein Irrtum?« »Meine Lippen sprechen, was recht ist, denn mein Mund redet die Wahrheit«, zitierte der General, um dann knapp hinzuzufügen: »Kein Irrtum. Nein.« Daß das Kriegsschiff bei den angegebenen Koordinaten unter Be‐
schuß einer Flotte von fünf unbekannten Schiffen jenes Typs geraten war, die Grah im Frühjahr überfallen hatten, und sich deshalb rasch zurückziehen mußte, unterschlug der General. Derart brisante In‐ formationen unterlagen strikter Geheimhaltung. Ebenso die Tatsa‐ che, daß sich Eden aller Voraussicht nach im Krieg mit einer unbe‐ kannten Macht befand. Genau diese Information wurde aber wenig später vom Me‐ dienbüro der planetaren Verwaltung und gegen den ausdrücklichen Rat des Generals an die Öffentlichkeit weitergegeben. Terence Wallis war der Ansicht, daß jeder Bewohner Edens das Recht habe, über die aktuelle Lage informiert zu sein. Und auf Eden war sein Wunsch so gut wie ein Befehl. Sie hatten es sich in den tiefen Polstern gemütlich gemacht. War‐ mes Licht herrschte im großen Salon von Wallis Manor, dem im Stil eines englischen Cottage gehaltenen Landhaus des Billiardärs. Sie waren unter sich. Außer Terence Wallis, den beiden Saams, Lautrec und Ramoya war niemand sonst zugegen in dem weitläufigen Refugium in den nörd‐ lichen Bergen Edens, in das Wallis sich immer dann zurückzog, wenn er Zeit zum Ausspannen fand oder mit nahen Freunden etwas zu feiern hatte – so wie jetzt. Terence junior, die Saam‐Kinder sowie die von Lautrec und Ramoya hielten sich unter Aufsicht von Robo‐ tern im hinteren Teil des Anwesens auf. Teurer Champagner perlte in Kelchen, und es herrschte eine hei‐ tere, fast ausgelassene Stimmung unter den Freunden, die die Aus‐ strahlung von DYNAMITE auf dem großen Multifunkti‐ ons‐Holoschirm mit launigen Kommentaren verfolgten. Eben lief das Ende des Berichts, als General Thomas J. Jackson mit ernster Stimme den Totalverlust der HOLE‐IN‐ONE und den Tod von Besatzung und Passagieren bekanntgab. Noch während des Abspanns schaltete Wallis die Übertragung aus. »War es überzeugend?« fragte er und sah in die Runde.
Er erntete nur Zustimmung. »Besser konnte es gar nicht laufen«, versetzte George Lautrec. Wallis nickte. Er griff nach seinem Glas. »Laßt uns einen Toast auf unseren guten General Thomas J. ausbringen, der deshalb so glaub‐ haft wirkte, weil er selbst davon überzeugt war.« »Cheers, auf Jackson!« »Auf den General!« stießen die anderen ins gleiche Horn. Regina Saam stellte vorsichtig das Glas zurück. »Ich hoffe nur«, sagte die Wissenschaftlerin, »er kommt nicht zu früh dahinter, daß er nur ein Bauer in einem Schachspiel war.« »Am besten käme er gar nicht dahinter«, bemerkte Robert Saam trocken. »Das wird sich nicht vermeiden lassen, mein verehrter Göttergatte, und ich habe offen gesagt einen gehörigen Bammel davor, wenn das geschieht.« »Sieh gefälligst nicht so schwarz.« Robert ließ ein zuversichtliches Lächeln sehen. Regina blieb hartnäckig. »Es ist eigentlich ein bißchen schäbig, wie wir mit ihm umgegangen sind. Findet ihr nicht?« »Nein«, widersprach Terence Wallis der Biologin. »Der Zweck hei‐ ligt bekanntlich die Mittel, Regina. Ich glaube, ihr wißt, daß ich sehr große Stücke auf den General halte. Doch in unsere Scharade konn‐ ten wir ihn einfach nicht einweihen. Er hätte niemals mitgemacht, glaubt mir. Das, was wir getan haben und weiterhin tun, verstößt gegen alle seine Prinzipien.« »Diese Reporterin«, sagte Regina plötzlich. »Was ist mit ihr?« »Ich habe sie in der Kinderkrippe beobachtet.« »Und?« »Ob sie etwas gemerkt hat? Es schien mir einen Augenblick lang so.« »Du meinst, wir haben überzogen?« Doktor Regina Saam hob die wohlgeformten Schultern. »Ich traue
diesen Medienleuten nicht«, beantwortete sie Wallis’ Frage. »Sie leben mit und von Inszenierungen jeglicher Art. Alles falsche Schlangen.« »Nun mach mal halblang«, beruhigte sie Robert. »Du siehst zu schwarz.« »Und du bist noch immer zu naiv, was das wirkliche Leben angeht, mein Liebster«, fauchte die Biologin. »Glaube einer Frau, die sich täglich mit derartigen Problemen herumzuschlagen hat.« »Ich wußte gar nicht…« begann Robert Saam, aber Wallis unterb‐ rach ihn. »Können wir das Thema Heather Sheridan jetzt beenden?« bat er. »Ich glaube nicht, daß wir noch etwas von ihr hören werden. Aber zu eurer Beruhigung, und weil ich genau diese Problematik vorherge‐ sehen habe, habe ich den Sicherheitsdienst beauftragt, Augen und Ohren offenzuhalten. Beruhigt?« »Na, dann kann ja nichts geschehen«, meinte Lautrec. »Sag ich doch.« Wallis holte eine Zigarre aus der Innentasche sei‐ ner Jacke und zog sie behutsam aus der Metallhülse, in der sie in einem Mikrokosmos die exakt notwendige Menge an Feuchtigkeit bekam, um nicht auszutrocknen. Er kappte die Spitze, hielt eine Streichholzflamme an das andere Ende, erwärmte den Tabak und begann erst zu saugen, als sich die ersten Glutnester zeigten. Schließlich stieß er eine wohlriechende Qualmwolke aus. Robert Saam rümpfte die Nase, als er den Zigarrenduft roch. »Kannst du dich nicht beherrschen?« klagte er theatralisch über‐ zogen. »Wir haben schließlich eine junge Mutter am Tisch.« Seine Bemerkung sorgte für erneute Heiterkeit in der Runde. Lautrec hob das Champagnerglas. »Auf unsere Frauen, wo immer sie sich im Augenblick auch be‐ finden mögen.« Ramoya verschluckte sich fast. »Darauf trinken wir«, japste er und verschüttete beinahe den Inhalt seines Glases. »Bleiben wir sachlich«, meinte Wallis grinsend, in eine Wolke aus
duftendem Zigarrenqualm gehüllt. »Da es sich anbietet, möchte ich nicht versäumen, euch zur erfolgreichen Entwicklung des Sprung‐ peilers zu beglückwünschen, mit dem sich die ›weichen‹ Transition‐ simpulse der unbekannten Schiffe endlich orten lassen.« »Und zur erfolgreichen Premiere«, warf Ramoya ein. »Das sollten wir festhalten. Schließlich wäre es uns ohne das Gerät nicht gelun‐ gen, die HOLE‐IN‐ONE in die Nähe des fremden Verbandes zu bringen.« »Wir hätten uns etwas anderes einfallen lassen müssen, richtig«, bestätigte Lautrec. »Ich bin noch nicht hundertprozentig zufrieden«, bekannte Robert Saam. »Es war ein reiner Glücksfall, daß wir den Verband der Feindschiffe gefunden haben und ihn ansteuern konnten. Die ma‐ ximale Reichweite des Geräts ist mir mit ihren knapp 300 Lichtjahren einfach zu gering. Da muß mehr drin sein.« »Richtig«, bestätigte Terence Wallis. »Dennoch bin ich der Mei‐ nung, daß einer Markteinführung auf Terra nichts mehr im Wege steht. Oder seid ihr gegenteiliger Meinung?« Niemand war anderer Ansicht. »Besser 300 Lichtjahre linear, was immerhin die Überwachung ei‐ ner Raumkugel von zirka 600 Lichtjahren ermöglicht, als gar nichts. So sehe ich das jedenfalls«, bemerkte Lautrec. Draußen vor den Scheiben war es inzwischen dunkel geworden; die fremden Sternbilder machten sich daran, ihren Weg über das Firmament zu nehmen. In den eisigen Höhen der Berge über dem Cottage rumorte es, als sich Lawinen einen Weg in die einsamen Hochtäler suchten. Regina gähnte verstohlen. Ihr aufmerksamer Gatte nickte kurz. Wir werden gleich gehen, sig‐ nalisierte sein Blick. Saam wandte sich an Wallis. »Wäre es sehr vermessen, dich zu bitten, morgen zu einem Treffen in die Ringraumerwerft zu kommen?«
Wallis runzelte kaum merklich die Brauen. »Gibt es einen Grund dafür?« fragte er und betrachtete eingehend den Aschekegel seiner Zigarre. »Ich möchte dir nur etwas zeigen.« Saam bemühte sich, ein nichtssagendes Gesicht zu machen. »Was ist es?« fragte Wallis neugierig. »Wieder eine deiner«, er stach mit der Zigarre in Richtung des jungen, genialen Wis‐ senschaftlers, »Überraschungen? Komm schon, raus mit der Spra‐ che!« Er bat vergebens. Auch die anderen hielten sich bedeckt; niemand aus dem Team machte eine Andeutung. »Irgendwann«, prophezeite Wallis, »bringt ihr mich mit eurer ständigen Geheimniskrämerei noch mal ins Grab.« Lautrec hob die Schultern. »Irgendwann«, so prophezeite er, »tun wir das vielleicht mal. Oder auch nicht. Denn schließlich sind wir zwar genial, aber auch brav.« Er warf den Kopf zurück und lachte laut, während die anderen amüsierte Blicke tauschten. * Als Terence Wallis am nächsten Morgen im Transmitterraum der gigantischen unterirdischen Ringraumerwerft erschien, wartete be‐ reits die erste Überraschung auf ihn. Eine Überraschung, mit der er nicht unbedingt gerechnet hatte. »Hallo, General!« sagte Wallis und ließ nichts von seinem Be‐ fremden nach außen dringen. »Zu so früher Stunde schon un‐ terwegs?« Der Angesprochene drehte sich herum. »Wer… ach Sie, Mister Wallis«, sagte Thomas J. Jackson, nahm Haltung an und salutierte. »Lassen Sie das, General«, bedeutete ihm Wallis. »Wir sind unter uns.« »Ja, Sir.« Jackson wollte schon wieder salutieren, aber ein Räuspern des
Staatsoberhauptes von Eden unterband die Ehrenbezeugung. Thomas J. Jackson hatte einen strengen, mitunter sogar düsteren Zug. Er stammte aus einer Methodistenfamilie, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit Amerikas bis zurück zu den Gründervätern reichten. Er zitierte die heilige Schrift nicht nur ständig, sondern lebte nach ihren Geboten, war verheiratet und hatte eine kleine Tochter. Terence Wallis hatte Jacksons Qualitäten bereits erkannt, als dieser noch als Oberst in den Soldlisten der Terranischen Flotte geführt wurde. Weiter hatte es der äußerst fähige Offizier nicht gebracht, da seine gerade, kompromißlose Art vielen bei der militärischen Füh‐ rung der TF ein Dorn im Auge war. Jackson hatte Wallis’ Angebot, ihm beim Aufbau der Streitkräfte für das neue Staatswesen von Eden zur Seite zu stehen, ohne Zögern akzeptiert, seinen Dienst bei der TF quittiert und war in die Dienste des Wirtschaftsführers getreten, der ihn sofort zum General und Befehlshaber der noch aufzubauenden Flotte von Eden befördert hatte. Wallis hatte diese Entscheidung noch zu keiner Zeit bereut. »Ich nehme an, Sie haben die gleiche Verabredung wie ich?« fragte er jetzt. »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde. Ja, Sir. Mister Saam bat mich zu einer Demonstration. Von einer Teilnahme Ihrerseits hat er aber nichts verlauten lassen.« »Hm.« Wallis trat an die transparente Trennwand, die den Trans‐ mitterraum von der Werfthalle trennte. »So, so. Zu einer Demons‐ tration…« murmelte er und wippte auf den Fersen. »Wo sie nur bleiben?« »Sir?« »Man ließ mich wissen, ich würde hier abgeholt werden.« »Die gleiche Information wurde auch mir übermittelt.« »Sehen Sie jemanden, General?« »Das kann ich nicht behaupten.« Jackson strich sich mit der Hand durch den Vollbart. Dann trat er neben Wallis an die Scheibe und sah
ebenfalls hinaus. Von ihrem Standpunkt aus konnten die beiden Männer viele Vor‐ gänge draußen in der Fertigungshalle beobachten, deren Ende vom Transmitterraum aus nicht erkennbar war – es verlor sich irgendwo in der Ferne zwischen den vielen, in allen Stadien der Fertigung befindlichen Ringraumern, dem Wirrwarr von Energieleitungen, den Lastenaufzügen und Konverterbänken. Hier und da sah man Gruppen graugrün uniformierter Männer, die deutlich machten, daß diese Raumschiffswerft keine zivile, sondern eine militärische Ein‐ richtung war. Jemand schien gestenreich Befehle zu brüllen. »Nicht mehr lange«, bemerkte Wallis, ohne seinen Blick zu wen‐ den, »und die Werft kann mit voller Kapazität in Betrieb gehen. Sie wird dann theoretisch in der Lage sein, 600 Ovoid‐Ringraumer pro Tag zu produzieren.« »Wie ihr irdisches Gegenstück auf Terra«, nickte General Jackson. »Oder das auf Terra Nostra«, bestätigte das Staatsoberhaupt von Eden. »600 Ringschiffe täglich… Sir, wir werden kaum in der Lage sein, alle diese Schiffe ausreichend zu bemannen. Jedenfalls nicht mit dem eingeschränkten Kontingent an derzeit verfügbaren Kräften. Es sei denn«, und jetzt bekam Wallis zum ersten Mal einen Hinweis darauf, daß der gottesfürchtige und bibelfeste Mann auch über so etwas wie Humor zu verfügen schien, »wir würden jeden auf Eden einziehen, angefangen vom Säugling bis hin zum Tattergreis.« Er stieß ein Ge‐ räusch aus, das man durchaus als Lachen interpretieren konnte. Auf Eden gab es im Gegensatz zu Terra eine Wehrpflicht, die sich allerdings darauf beschränkte, eine sechsmonatige Ausbildung zu absolvieren. In dieser Zeit bezog der Wehrpflichtige dasselbe gute Gehalt wie im Zivilberuf, in den er nach der Ausbildung zurück‐ kehrte. »Das tun wir natürlich nicht«, versicherte Wallis, »Kinder und Greise an der Waffe ausbilden. Und wir bauen auch keine 600 Raumschiffe täglich. Ich bin zwar nicht unbegütert, doch der Un‐
terhalt von zigtausenden Schiffen würde selbst meine Möglichkeiten übersteigen und Wallis Industries geradewegs in den finanziellen Ruin treiben. Ich denke daran, vorerst nicht mehr als 50 Schiffe bauen zu lassen. Davon werden zehn Schulschiffe sein zur Ausbil‐ dung der nötigen Kernmannschaften. Was halten Sie davon, Gene‐ ral?« »Ein akzeptabler Vorschlag, Sir. Sollte Eden einmal in einen grö‐ ßeren Krieg verwickelt werden, was Gott verhüten möge, werden wir in der Lage sein, in wenigen Tagen eine kampfkräftige Flotte aus dem Boden zu stampfen und mit gut ausgebildeten Männern und Frauen zu besetzen.« »Dann werden Sie auch meinen Vorschlag akzeptieren, General, auf der anderen Seite von Eden eine zweite Ringraumerwerft zu‐ bauen…« »Aber, Sir! Widerspricht das nicht Ihren eben gemachten Äu‐ ßerungen?« »Nicht unbedingt, General«, bedeutete Wallis. Er schwieg einen Moment. »Diese Werft«, fuhr er dann fort, »wird nach ihrer Fertig‐ stellung eingemottet und nur für Notfälle in Bereitschaft gehalten werden. Sie wird auf Abruf bereitstehen, sollte es sich als notwendig erweisen.« General Jackson wurde einer Antwort enthoben, als sich die Tür öffnete und Lautrec den Transmitterraum betrat. »Hallo, George«, begrüßte Wallis ihn mit gefurchter Stirn. »Ich erwartete eigentlich Robert.« »Der ist leider verhindert«, erwiderte der Kanadier französischer Abstammung und tat so, als habe er die Mißbilligung des Indust‐ riellen weder gesehen noch gespürt. »Auch die anderen können nicht dabei sein, das Experiment, an dem sie gerade dran sind, er‐ laubt es nicht.« »Ach ja? Und was ist mit der angekündigten Überraschung, wegen der wir beide«, er schloß General Jackson mit einer Kopfbewegung mit ein, »wichtige Termine haben sausen lassen? Also, was läuft
hier?« »Folgt mir. Ich muß euch etwas zeigen, das zwar das ganze Team entwickelt hat, was aber ursprünglich auf Roberts Mist gewachsen ist. Du kennst ja seinen nie ruhenden Geist, Terence.« Wallis verzog das Gesicht. »Ich wünschte wirklich, ihr würdet nicht soviel in eure Arbeit geheimnissen und eurem Wohltäter und Gönner mehr Transparenz zuteil werden lassen.« George Lautrec hob die Schultern und breitete abwehrend die Hände aus. »Schlag nicht den Boten. Kommst du? Die Einladung gilt auch für Sie, General!« Die drei Männer bestiegen vor dem Transmitterraum eine Antig‐ ravplattform. Ruckfrei setzte sich das Transportvehikel in Bewe‐ gung, vorbei an der überdimensionalen Montagestraße, auf der die Serienfertigung der Ovoid‐Ringraumer der Rom‐Klasse durchge‐ führt wurde, dem Grundstock der neuen Flotte von Eden. Trotz der gewaltigen Dimensionen war es Fließbandarbeit. Automatisiert, soweit es nur irgendwie ging. Man erblickte nur wenige menschliche Wesen zwischen den Heerscharen der Roboter. Die Lichtorgien endloser Reihen von Laserschweißautomaten ge‐ witterten durch die domartige Halle, die erst vor zwei Jahren von Duststrahlern aus dem Untergrund gefräst worden war. Weißer Dunst waberte und wurde von gefräßigen Exhaustoren verschluckt. Überall schlängelten sich dicke, schwarze Energiezuleitungen. Wie überreife Trauben hingen Arbeitsroboter an ihren selbststeuernden Portalschienen über der Fertigungsstraße und gruppierten sich im‐ mer wieder neu um die Transportbänder, auf denen die Ringraumer langsam dem Hallenende zuglitten, dem riesigen Durchgang zur Endfertigung, wo die Generatoren für den galoanischen, energetisch dicht gestaffelten Kompaktfeldschirm eingebaut wurden, der es in seiner Defensivleistung durchaus mit einem Intervallfeld aufzu‐ nehmen vermochte.
Wallis war so fasziniert von dem Geschehen, daß er gar nicht be‐ merkte, wie sie die Endmontagehalle erreichten. Dann spürte er Lautrecs Hand auf seiner Schulter. »Dort«, bedeutete ihm der Kanadier. Wallis folgte seiner Kopfbewegung – und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Die zweite Überraschung des Tages! Das neueste Schiff, das gerade aus der Endmontage schwebte, war nicht unitallblau, sondern tief schwarz! »Aber das Schiff ist… das ist ja…« »Aus Carborit«, bestätigte George Lautrec. Carborit war ein Verbundwerkstoff aus Kohlefaser und Tofirit, den Robert Saam bereits im April 2059 entwickelt hatte. Das Material wies die Leichtigkeit von Kohlefaser und die Festigkeit des Tofirits auf, wenngleich letzteres nur in Form weniger Atome in den Werk‐ stoff eingebettet war. Die anfänglichen Schwierigkeiten der Bear‐ beitung dieses Produkts hatten beseitigt werden können, als Saam herausfand, daß Carborit durch Hyperoszillation bei einer Tempe‐ ratur von 600 Grad Celsius geformt und bearbeitet werden konnte. Einmal ausgehärtete Platten ließen sich allerdings nicht wieder umformen, waren aber in der Lage, Temperaturen bis zu 200.000 Grad Celsius auszuhalten sowie jeder denkbaren mechanischen Be‐ lastung zu widerstehen. »Was soll das?« versetzte Wallis. »Ist Unitall nicht der viel bessere Werkstoff für den Raumschiffbau?« Das »Nein!« von Lautrec war kategorisch. Und er lieferte auch gleich die Erklärung hinterher. Die Erfahrungen der Terraner im Grah‐System hatten gezeigt, daß Kompri‐Nadel Unitall eindrücken konnte. Der ebenfalls 50 Zenti‐ meter dicke Carborit‐Panzer hingegen würde voraussichtlich nur in Teilen abplatzen. Für den unwahrscheinlichen Fall eines kompletten Durchschusses durch die Hülle war das Schiff durch Schotts in Ab‐ teilungen unterteilt.
»Wir alle wissen«, fuhr Lautrec in seiner Erklärung fort, »daß Unitall den großen Nachteil aufweist, daß es bei 210 Sekunden an‐ dauerndem Nadelstrahlbeschuß explodiert. Bisher stellte das kein großes Problem dar, aber auf einmal sind wir nun mit einem Gegner konfrontiert, der ebenfalls über die Nadelstrahltechnologie verfügt – und darüber hinaus noch eine wesentlich leistungsfähigere als un‐ sere beziehungsweise die der Worgun. Wer weiß, vielleicht läßt der Kompri‐Nadelstrahl der Fremden Unitall noch viel schneller explo‐ dieren als bisher bekannt. Bei Carborit wird das jedenfalls nicht der Fall sein. Außerdem ist es leichter als Unitall, dadurch erhöhen sich theoretisch die Flugleistungen, während der Energieverbrauch dras‐ tisch gesenkt wird. Überdies ist ein solches Ringschiff – und das wird vor allem deinen monetären Präferenzen entgegenkommen, Terence –, in der Produktion um einiges billiger.« »Ein Argument, dem ich mich weiß Gott nicht verschließen kann.« Wallis nickte kurz. »Für den Augenblick bin ich jedoch mehr daran interessiert, ob die vorgenommenen technischen Modifikationen des Carborit schon patentiert sind. Ist das der Fall?« »Natürlich«, erwiderte George Lautrec, »ist längst schon ge‐ schehen. Die Patente sind hieb‐ und stichfest. Carborit‐Ringraumer wird nur Eden bauen dürfen.« »Und sie werden teurer sein als herkömmliche Ringschiffe, habe ich das Gefühl.« Wallis blickte Lautrec mit einem leichten Lächeln an. George Lautrec grinste ebenfalls. »Das wird vor allem Terra freu‐ en.« »Glatte Lippen und ein gieriges Herz, das ist wie Tongeschirr, mit Sil‐ berschaum überzogen«, zitierte Jackson aus seinem Lieblingsbuch. »Ich denke eher, daß es Goldschaum sein wird«, versetzte Lautrec leichthin. »Was ist dabei, wenn wir die Früchte unseres Ackers mehren wollen, auf daß wir im Honigseim waten können?« »Der Blutegel hat zwei Töchter, die heißen ›Gib her, gib her!‹ Drei sind nicht zu sättigen, und vier sagen nie und nimmer: Es ist genug!«
Wallis verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Lautrec breitete die Arme aus. »Genug, General, genug«, gab er sich geschlagen. »Gegen Sie habe ich keine Chance, das weiß ich.« »Nachdem das nun geklärt ist«, Terence Wallis betrachtete nach wie vor den schwarzen Raumer, »wann wird er zur Erprobung bereit sein?« »In vier Tagen. Wer wird an den Kontrollen sitzen?« Lautrec sah den Blick, mit dem Wallis den General bedachte, und zog eine verstehende Grimasse. »Warum frage ich überhaupt?« grummelte er. * Auf General Jacksons hartnäckiges Drängen hin, den neuen Schiffstyp so rasch wie möglich einer Erprobung zu unterziehen, war der Carborit‐Raumer bereits nach 72 Stunden einsatzbereit. Konzernchef Terence Wallis, die Gruppe um Robert Saam und Thomas J. Jackson sowie dessen Stellvertreter, Major Tana Okuda, schwebten auf einer A‐Gravplattform rasch durch die quadratkilo‐ metergroße und 800 Meter hohe unterirdische Raumhafenhalle, die zur Gänze mit Unitall ausgekleidet war. Carborit hätte zwar gegen Angriffe einer feindlichen Macht aus dem All den größeren Schutz geboten, aber aufgrund seiner extremen Steifigkeit hätte es bei der ständigen Eigenbewegung des Untergrundes weit mehr gelitten als das zähe und deshalb nachgiebigere Unitall. Ein unterschwelliges Summen erfüllte die riesige Start‐ und Lan‐ debasis mit ihren in halber Höhe aus den Wänden vorspringenden Befehlszentralen und Hangarkontrollen. Das Ziel der Schwebeplattform war das hintere Ende der Halle, wo Roboter an ihrer Erweiterung arbeiteten. Schließlich sollte die Raumhafenhalle im Endstadium ihres Ausbaus Tausenden von Ringraumern Platz bieten. Jetzt standen dort nur die 18 bisher gebauten Ovoid‐Ringraumer
der Flotte von Eden – und der neue aus pechrabenschwarzem Car‐ borit, der wie ein Fremdkörper unter seinen unitallblauen Pendants wirkte. Robert Saams Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck, als er das neue Schiff sah. »Ein schwarzer Schwan unter lauter häßlichen Enten«, bemerkte er enthusiastisch, »und Sie, General, werden ganz allein den Ruhm und die Belohnung ernten, als erster dieses Kleinod unter Ihrem Hintern zu haben und fliegen zu dürfen. Was sagen Sie dazu?« Jackson ging auf die leicht despektierliche Bemerkung des norwe‐ gischen Genius nicht ein. »Hat man denn schon einen Namen für das Schiff?« erkundigte er sich. »Natürlich«, antwortete ihm Wallis. »Es war von vornherein klar, daß das Schiff nur einen Namen tragen konnte, nämlich den Ihren, General.« »Ich sah an alles menschliche Tun, das unter der Sonne geschieht, und siehe, es war alles eitel und Haschen nach Wind«, murmelte der Befehl‐ shaber der Flotte von Eden, und nur wer genau hinsah, konnte die sehr weltliche Freude in seinen Augen erkennen. Hunderte von Soldaten und Technikern hatten sich vor der Hauptschleuse des schwarzen Ringraumers eingefunden. Sie bra‐ chen in Beifallskundgebungen und Jubelrufe aus, als Wallis den Carborit‐Raumer in einer kurzen Zeremonie auf den Namen THOMAS taufte. Gleich darauf ging General Thomas J. Jackson an Bord seines mit 50 Mann besetzten Schiffes. Wallis hatte sich bereits vor zwei Jahren von Jackson davon überzeugen lassen, daß die sechs Mann an Bord der terranischen Ovoid‐Ringraumer nichts als eine Notbesatzung sein konnten, weshalb die Einheiten der Flotte von Eden von vor‐ nherein mit einer aus 50 Mann bestehenden Besatzung aufwarten konnten. Wenig später schwebte die THOMAS im Intervallflug mit Antigrav durch die Decke der Halle. Sie durchdrang das über der Basis lie‐
gende Gebirge, das zusätzlichen Schutz bot, als wäre es nicht vor‐ handen, und stieg weiter. Edens Oberfläche sank im Fenster der Hauptbildkugel rasch nach unten weg. In einer Höhe von knapp hundert Kilometern befand sich die THOMAS außerhalb der Atmosphäre. »Wir sind im freien Raum, General.« »Brennkreis zünden, Mister Rayes«, befahl Thomas J. Jackson sei‐ nem Ersten Offizier. »Aye, Sir«, bestätigte Manuel Rayes. Der kleingewachsene, bullige Spanier mit dem rabenschwarzen Kurzhaarschnitt hatte unter ihm schon auf der TERENCE als Nummer Eins und Pilot gedient. In ihr Intervallum gehüllt, beschleunigte die THOMAS mit hohen Werten. In den Hecksegmenten der Bildkugeln schrumpfte Eden rasend schnell zusammen. Jackson aktivierte die Rundruf anläge. »An alle Stationen. Bericht!« »Systeme sind aktiviert und empfangsbereit«, meldete sich Alain Sanet aus der Funk‐Z. »… keine Vorkommnisse, General«, verkündete die ruhige Stimme des Chefingenieurs aus dem Triebwerksraum. In schnellem Turnus kamen die Klarmeldungen der übrigen Sta‐ tionen herein. Zusätzlich wurden alle systemrelevanten Daten vom Hyperkalku‐ lator in die kleine Holokugel eingespiegelt, die direkt im Blickfeld des bärtigen Generals über seiner Kommandantenkonsole schwebte. Thomas J. Jacksons Miene zeugte von Zufriedenheit, zumindest der Teil, der nicht vom Bart bedeckt war. Das Schiff funktionierte mit der angestrebten Perfektion. »Nummer Eins!« »Sir?« »Setzen Sie Kurs auf die Milchstraße!« »Zu Befehl, Sir.«
4. Zwei Stunden später waren sämtliche Führungsoffiziere nebst Dalon in der Kommandozentrale der POINT OF versammelt. All‐ gemeine Ratlosigkeit herrschte vor, und entsprechend gedrückt war die Stimmung. »Keine Anzeichen auf technische Hinterlassenschaften«, meldete Mike Doraner eben. »Energetische Emissionen ebenfalls Fehlanzei‐ ge.« Gemeinsam mit seinen Pilotenkollegen suchte er den Planeten mit Flash ab, um einen verbliebenen Hinweis auf Avatar oder die Bal‐ duren zu finden. Zu ihrer Unterstützung war zudem eine kleine Flotte Drohnen ausgeschleust worden, die Skythos absuchten. In regelmäßigen Abständen sandten sie Routinemeldungen an die POINT OF. »Ausnahmslos negativ«, kommentierte Glenn Morris mit eben‐ solcher Regelmäßigkeit. »Wenn da noch etwas wäre, würde es den Drohnen nicht entgehen.« »Es ist sinnlos«, pflichtete Riker bei. »Ich fürchte, wir machen uns etwas vor. Wir können hier noch tagelang kreuzen, ohne etwas zu entdecken. Du weißt, was das heißt, Ren?« Dhark nickte. Er wußte, daß sie soviel Zeit nicht hatten, schon gar nicht, wenn die weitere Suche keine Hoffnung auf Erfolg versprach. Die Balduren ließen sich wirklich nicht in die Karten sehen. Dennoch war er nicht bereit, schon umzukehren. Eine letzte Möglichkeit blieb noch. Mit eingeschaltetem Intervall senkte er den Ringraumer durch die Atmosphäre und auf die Planetenoberfläche hinab. Die Lichtung war verlassen. Die G’Loorn hatten sich zerstreut, da die Säule nicht wie‐ der aufgetaucht war. Sie hatte nicht einmal meßbare Energierück‐ stände hinterlassen. »Was hast du vor?« fragte Riker skeptisch.
»Wir machen einen Abstecher ins Innere des Planeten. Schaden kann es nicht.« »Viel bringen wird es aber auch nicht, das weißt du. Was also versprichst du dir davon?« Dhark gab keine Antwort, sondern drückte die POINT OF tiefer, bis sie im Boden von Skythos versank. Zwar hatte er keine Sicherheit, daß es ihn und seine Begleiter zuvor ins Innere des Planeten ver‐ schlagen hatte, doch er wollte sich mit eigenen Augen davon über‐ zeugen, daß dort ebenfalls kein Hinweis zu entdecken war. Und zwar ein ganz besonderer Hinweis, nämlich eine goldene Sta‐ tion wie die, die man im Innern von Epoy entdeckt hatte und später ebenfalls im Zentrum Kallistos im heimatlichen Sonnensystem. Hier wie dort war die goldene Station kurz darauf verschwunden. So gering die Aussicht auf Erfolg auch war, er durfte sie nicht außer acht lassen. Der Ringraumer sank durch die Gesteinsschichten des Planeten, ohne daß es zu Auffälligkeiten gekommen wäre. »Grappa, was sagt die Ortung? Der geringste Ausschlag würde mich bereits glücklich machen.« »Negativ, Sir, tut mir leid.« Im stillen hatte Dhark nichts anderes erwartet. Als die POINT OF das Zentrum des Planeten erreichte, erwartete ihn die nächste Ent‐ täuschung. Im glutflüssigen Kern gab es keine Station. »Entweder ist sie verschwunden«, brummte Amy Stewart, »oder der von der Säule eingeleitete Transport hat uns ganz woanders hingebracht. Weder für die eine noch für die andere Möglichkeit gibt es einen Anhaltspunkt.« »Mein Gefühl sagt mir, daß sie hier war.« Ren behielt den eingeschlagenen Kurs bei und brachte das Schiff auf der anderen Seite von Skythos wieder ins Freie. Da die Flash und die Drohnen erwartungsgemäß immer noch nichts gefunden hatten, ließ Dhark sie einschleusen und stieg in den Raum über Skythos auf. »Mein Volk ist angeblich zu träge geworden«, murrte Dalon. »Da
mag Avatar sogar recht haben. Seine Erklärung, sich deswegen nicht in die Entwicklung anderer Völker einzumischen und ihnen sogar lebensnotwendige Hilfe zu verweigern, empfinde ich dennoch wie Hohn. Hätten die Balduren irgendwann einmal nach den Worgun gesehen, wäre es nie zu unserer galaxisweiten Versklavung durch die Zyzzkt gekommen.« Die sogenannten goldenen Götter, die Mysterious der Mysterious, waren Dhark aus dem gleichen Grund nicht ganz geheuer. Ein an‐ derer Aspekt wog für ihn aber noch viel schwerer. »Wie wir aus Avatars Schilderung wissen, haben entweder er selbst oder die Balduren die G’Loorn ausgerottet. Von deren Zivili‐ sation ist nichts übrig, lediglich ihre wenigen Nachfahren sind zu einer archaischen Lebensweise zurückgekehrt und haben als primi‐ tive Wilde überlebt.« »Avatar hat die Nennung eines plausiblen Grundes für diesen Massenmord verweigert«, gab Dalon zu bedenken. »Vielleicht hätten wir die Handlungsweise der Balduren dann besser verstanden.« »Einen Völkermord?« Chris Shanton schaute ungläubig in die Runde. »Für eine solche Tat kann es keine einleuchtende Erklärung geben. Das ist der reine Wahnsinn.« Sein Blick blieb hilfesuchend an Arc Doorn hängen. »Ich stimme Chris zu«, nickte der Sibirier. »Auch wenn ich mich mehr als Mensch denn als Worgun sehe, habe ich nicht vergessen, daß den Worgun in Orn das gleiche Schicksal nur durch unser Ein‐ greifen erspart wurde. Für Völkermord gibt es keine Rechtferti‐ gung.« »Deshalb werden wir die Balduren mit Vorsicht genießen, wenn wir auf sie treffen.« Ren war überzeugt davon, daß das früher oder später geschehen würde – hoffentlich allerdings nicht erst dann, wenn es zu spät war. Vergiß die Balduren, schärfte er sich ein. Von ihnen war keine Hilfe zu erwarten, daher war es besser, sie so schnell wie möglich als Hoffnungsträger aus seinen Gedanken zu streichen. Er war über‐
zeugt davon, daß Avatar zumindest mit ihnen in Verbindung stand, also würde er ihrer Einstellung auch nicht zuwiderreden. Was er von sich gegeben hatte, stammte direkt von ihnen. »Es ist durchaus ein Grund für die Tat der Balduren vorstellbar«, riß ihn Artus aus seinen Gedanken. Erstaunte Blicke richteten sich auf den Roboter. Auch Dhark konnte sich nicht vorstellen, was er meinte. »Dann kannst du uns den Grund nennen?« »Ich bedaure, ich kenne ihn nicht.« »Wie kannst du dann so etwas behaupten?« mischte sich Jimmy empört ein. Seit Avatar nicht mehr in seiner Nähe war, schien er nicht mehr ganz so geknickt zu sein wie nach dessen Weigerung, ihn als intelligentes Wesen einzustufen. Statt auf die Frage einzugehen, wandte sich Artus an Dhark. »Du hast es also nicht mitbekommen?« Ren zuckte mit den Achseln. »Worauf immer du anspielst, offenbar habe ich das nicht.« »Und auch sonst niemand?« Keiner der Versammelten antwortete dem Roboter, bis es aus Doorn herausplatzte: »Willst du uns nicht endlich verraten, wovon du sprichst?« Artus sah Jimmy an, verzichtete aber darauf, dem Roboterhund die gleiche Frage zu stellen. »Die Balduren hatten einen guten Grund. Jedenfalls glaubten sie, den zu haben. Mit meinen besonderen Sin‐ nen habe ich etwas aufgefangen, das euch anscheinend entgangen ist. Ich kann nicht beurteilen, ob das ein Zufall war oder ob Avatar es mir willentlich mitgeteilt hat. Es oder die Balduren haben die G’Loorn vernichtet, um sämtliches Leben in der Milchstraße zu ret‐ ten, das von den G’Loorn bedroht wurde.« »Es«, echote Jimmy. »Diese Umschreibung ist doch gekünstelt. Zweifelt irgendwer daran, daß Avatar sich selbst damit gemeint hat?« »Nach allem, was ihr berichtet habt, wohl kaum«, warf Anja Riker
ein. Dans blonde Frau trug mal wieder einen der von ihr bevorzug‐ ten etwas zu engen Pullover, die mehr von ihrer aufregenden Figur zeigten, als es ihrem Ehemann in der Öffentlichkeit recht war. »Für mich klingt die Bezeichnung so, als würde Avatar sich für den Völkermord schämen, weil es überhaupt keinen triftigen Grund dafür gab. Eine unmittelbare Gefahr für sämtliches Leben in der Milchstraße soll von den G’Loorn ausgegangen sein? Wenn das mal nicht eine bloße Entschuldigung ist.« Dan hob ratlos die Schultern. »Wie eine solche Gefahr ausgesehen haben soll, würde ich wirklich gern wissen.« Nachdenklich kniff Dhark die Augen zusammen. Irgendwie klang das tatsächlich eine Nummer zu groß. Es war schwer vorstellbar, daß die G’Loorn jemals eine solche Bedrohung dargestellt hatten. Bisher hatte es niemals einen Hinweis darauf gegeben. Vor rund einer Mil‐ lion Jahren hatten die Insektoiden die Milchstraße sogar verlassen wollen. Die von ihnen geschaffene Chronosphäre hatte zwar eine nicht zu unterschätzende Bedrohung dargestellt, die jedoch räumlich auf das Zentrum der Galaxis beschränkt gewesen war. »Wenn es sie also wirklich gab, wie sah diese Gefahr aus, Artus?« brachte Amy Stewart Rens Gedanken auf den Punkt. »Darüber habe ich leider kein Wissen erlangt«, bedauerte der Ro‐ boter. »Ich bin jedoch sicher, daß die Balduren keinen anderen Ausweg sahen, sonst hätten sie nicht so gehandelt. Sie leiden noch immer unter dem Massenmord, zu dem sie sich gezwungen sahen.« »Lächerlich!« entfuhr es Riker. »Verbessert mich, wenn ich mich irre, aber ich habe bei Avatar kein Anzeichen von Bedauern festges‐ tellt.« »Ich stimme Riker zu.« Doorn blies empört die Backen auf. »Statt dessen wollte dieser Goldbursche uns ebenfalls unter die Erde brin‐ gen. Hattest du einen anderen Eindruck, Dalon?« »Nein.« In Dalons blauem Ceradengesicht zeigte sich keine Re‐ gung. »Du mußt dich irren, Artus.« »Ich irre mich nicht.«
Obwohl auch die anderen Besatzungsmitglieder, die bei dem Auf‐ einandertreffen mit Avatar zugegen gewesen waren, keine Anzei‐ chen von Bedauern festgestellt hatten, blieb Artus bei seiner Be‐ hauptung. Er war sich seiner Sache vollkommen sicher, schaffte es jedoch nicht, die allgemein herrschende Skepsis zu zerstreuen. Schließlich wurde es Dalon zu bunt. »Ich gehe zurück an Bord der ASGOR«, verkündete er. »Mit Grübeleien und Diskussionen kom‐ men wir nämlich keinen Schritt weiter.« »Ich begleite dich«, sagte Doorn und drückte sich kopfschüttelnd an Artus vorbei. Die beiden mutierten Worgun begaben sich zu Dalons Flash und starteten aus dem Depot, in dem er abgestellt war. * Dhark schaute auf, als nur wenige Minuten später der Transmitter in der Kommandozentrale der POINT OF aktiv wurde. Arc Doorn und seine Frau kehrten mit dem wenigen Gepäck, das sie mitge‐ nommen hatten, von der ASGOR zurück. Der Name von Dalons Ringraumer bedeutete soviel wie »Botschafter«. »Bevor sich irgendwer den Kopf zerbricht«, begann Doorn leiden‐ schaftslos. »Ich sagte ja, ich brauche nur ein wenig Zeit, um meine Gedanken zu ordnen. Das ist geschehen, und hier sind wir wieder.« »Dann willkommen zurück an Bord«, begrüßte Ren ihn mit locke‐ rer Stimme. »Das gilt natürlich auch für Sie, Doris.« Shanton klopfte seinem Kollegen freundschaftlich auf die Schulter. »Du hast keinen Zweifel daran gelassen, daß dein Platz bei den Menschen ist. Es bedarf also keiner weiteren Erklärungen.« »Du siehst das so und die meisten anderen zweifellos auch. Ich fühle mich ja nicht mal mehr wie ein Worgun.« Mit keiner Geste ließ Doorn erkennen, was in ihm vorging. »Statt dessen habe ich das Gefühl, niemals etwas anderes als ein Mensch gewesen zu sein. Ich wollte das nur noch einmal klarstellen, bevor hinter meinem Rücken
Getuschel aufkommt.« »Inzwischen dürfte es jeder begriffen haben, auch wenn die Über‐ raschung zunächst ziemlich groß war.« »Und wer es immer noch nicht begriffen hat oder hinter deinem Rücken tuschelt, den beiße ich«, versprach Jimmy, wobei er auf sei‐ nen Rollen eine Kreisbahn um den Sibirier drehte. »Irgendwie kann ich mir nämlich vorstellen, wie du dich fühlst. Ähnlich wie ich mich gefühlt habe, als dieser vertrottelte Avatar meine wahre Natur geleugnet hat.« »Wurmt dich das immer noch?« fragte Shanton. Er strich seiner Schöpfung übers pechschwarze Fell. »Schwamm drüber«, wehrte Jimmy ab, jetzt beinahe schon wieder fröhlich klingend. »Ich wäre jedenfalls nie so gewissenlos, ein ganzes Volk umzubringen.« Dhark verfolgte den Disput mit gemischten Gefühlen. Schließlich hatten Jimmys Worte, die man fälschlicherweise für scherzhaft hal‐ ten konnte, einen mehr als tragischen Hintergrund. Statt die Infor‐ mationen zu finden, auf die er gehofft hatte, war er einmal mehr auf Wissen gestoßen, welches das historische Geschick eines Milchstra‐ ßenvolks in einem negativen Licht dastehen ließ. Wie viele dunkle Geheimnisse in der Geschichte der den Terranern bekannten Völker warteten noch darauf, aufgedeckt zu werden? Mit einem Seufzer schob Ren den Gedanken beiseite. »Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun«, entschied er. »Hen, übernehmen Sie das Schiff. Wir fliegen zurück zur Erde.« Der Erste Offizier bestätigte und traf die Vorbereitungen für den Aufbruch. »Und dann?« fragte Riker. »Hast du schon eine Idee, was wir als nächstes machen?« »Als nächstes werde ich Trawisheim unser Scheitern eingestehen. Vielleicht überrascht er uns ja mit besseren Nachrichten, als wir sie bringen. Wenn nicht, werde ich ihm vorschlagen, die Nogk um Hilfe zu bitten. Dann bleibt uns nämlich keine andere Wahl mehr.«
Als die POINT OF beschleunigte, schloß sich die ASGOR ihr an. * »Du fühlst dich nicht wohl, habe ich recht?« Der kräftig gebaute Mann mit den langen roten Haaren sah seine Frau fragend an. Die Tatsache, nicht mit einem gebürtigen Menschen verheiratet zu sein, hatte sie zunächst schockiert. Nur ganz allmählich hatte sie sich daran gewöhnt. Trotzdem machte ihr die veränderte Situation zu schaffen, was nicht verwunderlich war. »Es ist… nicht einfach.« Doris Doorn, geborene Eyck, saß in einem Schalensitz ihrer Kabine. »Versteh mich bitte nicht falsch. Du hast mir gesagt, daß du mich liebst, und ich glaube dir.« »Was belastet dich dann?« »Du siehst aus wie ich, trotzdem bist du ein ganz anderes Wesen. Ich versuche, dieses Wissen zu verdrängen, aber es gelingt mir nicht.« Arc ergriff ihre Hand und bemerkte, daß sie leicht zitterte. »Tu das nicht«, bat er sie. »Verdränge die Tatsache nicht, sondern akzeptiere sie. Um so schneller wirst du sie als völlig normal hinnehmen.« »Aber du bist… beinahe unsterblich.« Ihre Stimme klang fast ehr‐ furchtsvoll. »Nur beinahe, und körperlich bin ich nicht anders als du. Ich habe den Körper eines Menschen mit größter Sorgfalt nachgebildet. Ich verfüge über die gleichen Drüsen und Hormone wie Chris, Dhark, Riker und all die anderen, fühle also auch genau wie ein normaler Mann. Ich bin einer, Liebes.« »Gleichgültig ob mit einem Menschen oder einem Worgun, ich bin mit einem Unsterblichen verheiratet«, antwortete sie. »Ich habe eine hohe Lebenserwartung, das stimmt. Das ist nur auf die Molekularstruktur meines Gewebes zurückzuführen. Ich bin fähig, Wunden schneller heilen zu lassen und Krankheiten schneller zu überwinden. Meine Zellen unterscheiden sich von menschlichen
Zellen, in meiner Gesamtheit gibt es jedoch keinen Unterschied, und nur darauf kommt es an.« »Rein äußerlich zumindest nicht.« »In meinen Gefühlen und meinem Denken ebenfalls nicht. Ich sehe mich als Mensch. Die Worgun sind mir beinahe so fremd, wie sie es dir sind. Nur zwei Nachteile habe ich anderen Menschen gegenüber. Ein DNS‐Test würde mich auf der Stelle entlarven, und ich kann keine Kinder zeugen.« »Ach, Kinder.« Ein wehmütiger Ausdruck trat in Doris Gesicht. »Daran habe ich gar nicht gedacht. Über dieses Thema haben wir ja auch nie gesprochen. Es ist etwas anderes, das mich traurig macht.« Sie verstummte und wandte sich ab. »Willst du es mir nicht verraten? Wir hatten nie Geheimnisse vor‐ einander.« Arc fühlte sich hilflos. Er hatte keine Ahnung, worum es seiner Frau ging, doch er wollte sie nicht drängen. In ihren gemein‐ samen Jahren hatte sie ihm stets alles anvertraut. Nach einer Weile drehte sie sich tatsächlich wieder zu ihm zurück. »Es ist deine Vergangenheit auf der Erde«, brachte sie flüsternd hervor. »Mir ist klargeworden, daß ich nur eine von unzähligen Frauen in deinem Leben sein kann. 2500 Jahre – ich kann mir das gar nicht richtig vorstellen. Ich will auch nicht wissen, wie viele Frauen es schon vor mir gab. Darüber nachzudenken, wie viele nach mei‐ nem Tod kommen werden, ist ohnehin müßig.« »Ehrlich gesagt, habe ich noch nie über ein späteres Leben nach‐ gedacht.« Doorn hatte dieses Thema nie einer Überlegung für wert befunden. »Es geschieht so viel, jeden Tag beinahe. Wir erleben es doch jetzt gerade wieder.« »Was meinst du?« Arc setzte sich neben Doris und legte ihr einen Arm um die Schul‐ tern. »Ich meine die Gefahren im Weltall. Seit ich mit Ren Dhark unterwegs bin, kann jeder Tag mein letzter sein. Es ist nicht so, daß ich einen Gedanken daran verschwende oder mir deswegen Sorgen mache. Ich will damit nur sagen, daß ich einfach nur unsere, also
deine und meine, gemeinsame Zeit genießen möchte. Du bist etwas Einmaliges für mich.« Doris brachte ein gequältes Lächeln zustande. »Wie kannst du das behaupten?« Doorn verstummte, weil er das Gefühl hatte, daß ein Kloß in sei‐ nem Hals steckte. Als er wieder die Stimme erhob, tat er es kräch‐ zend. »Was ich dir jetzt sage, ist die Wahrheit. Du mußt mir einfach glauben.« Seine Frau nickte. »Das werde ich.« Doorn blickte ihr tief in die Augen. »Es stimmt, ich habe einige Frauen vor dir gekannt. Wenn ich trotzdem behaupte, daß du etwas Einmaliges für mich bist, stimmt das. Du bist die erste Frau, die ich jemals geheiratet habe.« »Das ist dein Ernst?« Doris Augen wurden immer größer. »Un‐ faßbar.« Arc grinste verschämt. »Dieses Geständnis ist mir beinahe pein‐ lich.« »Mir nicht. Ganz im Gegenteil.« Ihre Herzen klopften um die Wette, als Arc und Doris sich küßten. Nicht einmal der Untergang des Kosmos hätte sie in diesem Moment trennen können. * POINT OF und ASGOR rasten mit Sternensog dahin. In der Kommandozentrale von Ren Dharks Ringraumer wurden die übli‐ chen Routinetätigkeiten durchgeführt. Arc und Doris Doorn waren bisher nicht aus ihrer Kabine zurückgekehrt. Ren waren die Zweifel nicht entgangen, die die Frau des wissenschaftlichen Genies plagten. Wenn es darum ging, die Erde oder die Menschheit zu retten, wenn man sich große Ziele setzte, blieb Zwischenmenschliches zu oft auf der Strecke. Manchmal blieb einem nicht mal die Zeit, persönli‐ che Schicksalsschläge vollständig zu verarbeiten. Unwillkürlich
dachte er an den Tod seines Sohns Ion Alexandru vor zweieinhalb Jahren. Ohne seine Freunde und ohne seine Aufgabe, besonders aber ohne Amy Stewart hätte er diesen Schicksalsschlag vielleicht nicht verkraftet. Wenn er auch noch nicht ganz über seinen Verlust hinweg war, war es ihm doch gelungen, sich damit auseinanderzusetzen und ihn zu akzeptieren. »Du bist in Gedanken versunken«, stellte Amy Stewart fest. »Alles in Ordnung?« »Hm«, machte Dhark und betrachtete seine Lebensgefährtin sin‐ nend. Mit ihren 1,76 Metern Körpergröße war sie nur drei Zentime‐ ter kleiner als er selbst. Der erste weibliche Cyborg war schlank und durchtrainiert und hätte ihn bei einer körperlichen Auseinander‐ setzung spielerisch aufs Kreuz gelegt. »Es ist die Ratlosigkeit, die mir zu schaffen macht.« »Du hast dir mehr von den Balduren versprochen.« »Ja, vielleicht. Ich bin überzeugt, daß wir an ihrer Stelle unsere Hilfe nicht verweigern würden.« »Vielleicht messen wir ihnen zuviel Bedeutung bei«, gab Amy zu bedenken. »Ihre Hinterlassenschaften und dieser Avatar sind be‐ eindruckend, doch das heißt noch lange nichts. Erinnere dich, für wie mächtig wir die Worgun hielten, bis wir endlich auf sie trafen. Es gibt keine Garantie, daß die Balduren auch nur einen Deut mehr draufhaben.« Das war eine Überlegung, die sich nicht ausschließen ließ. Ren glaubte aber nicht daran. Er hatte gelernt, daß man sich manchmal auf seine Gefühle verlassen mußte, wenn man rational nicht weiter‐ kam. »Ich glaube, daß wir eher auf die Balduren treffen«, begann er, … als wir erwarten, hatte er sagen wollen. Doch er kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. »Ich empfange etwas«, meldete Walt Brugg von der Funk‐Z. »Schwer verständlich, klingt aber wie ein Hilferuf.«
Unwillkürlich richtete Dhark seine Aufmerksamkeit auf die über dem Instrumentenpult schwebende Bildkugel. In Gestalt winziger Lichtpünktchen huschten die Sterne des Weltalls vorbei. Sonst war nichts zu sehen. »Abbremsen!« entschied der Kommandant spontan. »Details, Walt?« »Keine, die ich klassifizieren kann. Das klingt fast, als hätte man den Ruf durch einen Zerhacker gejagt.« »Lassen Sie mal hören«, forderte Riker. Brugg schaltete den hereinkommenden Ruf auf die Lautsprecher. Die plärrende Stimme war so gut wie nicht zu verstehen, nur Bruchstücke waren überhaupt als von einem Menschen stammend zu erkennen. »Anscheinend ist bei denen der Funk ausgefallen. Aber deswegen auf einen Hilferuf schließen?« zweifelte der Zweite Offizier Leon Bebir. »Das kann auch alles andere bedeuten.« »Ich verstehe zwar ebenfalls kein Wort«, bestätigte Brugg. »Die Aufregung in der Stimme ist aber nicht zu verkennen. Sie klingt sogar beinahe panisch. Ich tippe auf ein ziviles Schiff als Absender.« Dhark überging die Hypothesen. »Checkmaster, kannst du den Ausgangspunkt errechnen?« »Positiv. Er liegt etwa 500 Lichtjahre entfernt.« »Koordinaten einspielen! Hen, Kurs ändern. Wir sehen nach, was da passiert. Vielleicht hat es einen Unfall gegeben, und wir können helfen.« »Als ob wir keine anderen Sorgen hätten«, beschwerte sich Riker. »Gleichgültig an welchem Ort der Galaxis etwas passiert, wir sind immer als erste da.« Während Falluta die POINT OF auf neuen Kurs brachte, ließ sich Dhark eine Phase zur ASGOR schalten. Dalon hatte den bis zur Un‐ verständlichkeit verstümmelten Ruf ebenfalls empfangen und blieb auf Parallelkurs. Mit Sternensog weiter verzögernd, jagten die bei‐ den Raumer den neuen Zielkoordinaten entgegen.
»Unbekanntes Sonnensystem voraus«, meldete Tino Grappa we‐ nige Minuten später. Der Mailänder im Rang eines Leutnants nahm ein paar rasche Einstellungen vor. »Es ist nicht in unseren Dateien verzeichnet.« Sekunden später entstand in der Bildkugel eine Ausschnitt‐ vergrößerung nebst schematischer Darstellung des Systems. Sechs Planeten umkreisten das blauweiße Zentralgestirn, von denen der vierte in der Lebenszone lag. »Von wo kommt der Ruf?« »Vom Rand des Sonnensystems«, antwortete Brugg. »Von einem Raumschiff, zumindest von einer mobilen Einrichtung.« »Ich habe vertraute Energiesignaturen in der Ortung«, bestätigte Grappa lauernd. »Kein Zweifel mehr möglich. Ich messe ein Schiff an.« »Ein bekannter Schiffstyp?« erkundigte sich Dhark. Der Ortungschef gab einen überraschten Laut von sich und fuhr in seinem Sessel vor den Kontrollen herum, als das Schiff optisch sich‐ tbar wurde. »Das gibt es doch nicht. Es ist ein Raumer wie die, die Grah angegriffen haben.« Die bizarre Konstruktion ähnelte einem 350 Meter langen und 100 Meter durchmessenden Baumstamm aus Metall. An einem Ende war sie glatt, am anderen besaß sie zahlreiche ausladende Auswüchse, die an Wurzeln erinnerten. »Das Ding sieht aus wie ein Baum, den man mitsamt seinen Wur‐ zeln aus dem Boden gerissen hat«, kommentierte Shanton. »Auch wenn es mit seinen zahlreichen Details wieder eine völlig andere Form hat, ist es baulich verwandt mit den Grah‐Angreifern.« Und offenbar ging die Besatzung nicht weniger aggressiv zu Werk, als es im Gerrck‐System geschehen war. Ren zögerte keine Sekunde. »Alarm für sämtliche Abteilungen. Ich glaube kaum, daß der Hilfe‐ ruf von diesem Schiff stammt.« Erst vor drei Monaten waren die bizarr aussehenden Raumschiffe, von denen keines dem anderen wirklich glich, ohne Vorwarnung im
Gerrck‐System eingefallen. Nach zwei Tagen heftiger Kämpfe hatten sie sich mit »weichen« Transitionen ebenso plötzlich wieder abge‐ setzt, ohne daß eine Verfolgung möglich gewesen wäre. »Richtig vermutet, Commander. Ich registriere weitere Signa‐ turen.« Dhark ignorierte die längst nicht mehr zutreffende Titulierung. »Ein irdisches Schiff?« »Jedenfalls das, was davon übrig ist.« Grappa stieß eine Ver‐ wünschung aus. »Kein Schiff, nur noch verglühende Trümmer. Wir kommen zu spät. Der fremde Raumer hat es offenbar vernichtet.« Ein Segment der Bildkugel zeigte eine weitere Vergrößerung. Da‐ vontreibende Trümmerstücke waren zu sehen. Sie machten eine optische Identifizierung unmöglich. Der Mailänder konnte sie trotzdem vornehmen. »Die Energiemuster verraten, daß es sich um ein ziviles terrani‐ sches Frachtschiff gehandelt hat.« »Menschliche Lebenszeichen?« »Negativ. Die Biospürer hätten längst angeschlagen. Es gibt keine Überlebenden.« Dhark instruierte die Waffensteuerungen auf Deck 4, sich ge‐ fechtsbereit zu machen, dann wandte er sich wieder an die Funk‐Z. »Phase zur ASGOR schalten. Wir koordinieren unser Vorgehen mit Dalon.« »Kommt, Sir. Ich korrigiere.« Brugg klang verwirrt. »Ein starkes Störfeld legt die Funkkommunikation lahm. Wir erreichen die ASGOR nicht.« Das war die Bestätigung. Bereits auf Grah hatten die Fremden mit starken Störfeldern gearbeitet und verhindert, daß die Grakos einen Notruf nach Terra absetzen konnten. Nun tauchten die Unbekannten ein weiteres Mal wie aus heiterem Himmel auf. Ren blieb keine Zeit, sich über ihre Beweggründe Gedanken zu machen. »Fremdraumer hat uns geortet!« gellte Grappas Stimme. »Er geht auf Angriffskurs!«
Das bizarr geformte Schiff stürzte sich auf die beiden Ringraumer.
5. Heather Sheridan wurde wach, ohne zu wissen, was genau ihren Schlaf unterbrochen hatte. Im ersten Augenblick verwirrte sie die Dunkelheit, und sie verspürte eine kreatürliche Angst, die keiner rationalen Betrachtung standhielt. Sie horchte. Es war still im Raum. Auch draußen war es ruhig; was immer sie geweckt hatte, es war nichts zu hören. Mondlicht fiel in breiten Bahnen durch die hohen Fenster ihres Apartments. Ihrem Zeitgefühl nach mußte es etwa Mitternacht sein. Was hatte sie nur aus dem Schlaf gerissen? Vermutlich ein Problem, das sie während des Tages nicht bewältigt und mit in den Schlaf hinübergenommen hatte! Sie grübelte. Nein, eigentlich gab es keine Veranlassung für diese Vermutung. Das dünne Laken von sich strampelnd, schwang sie die langen Beine aus dem Bett. Sie stellte die Füße auf den weichen Belag und stand gähnend auf. Gedankenverloren kratzte sie sich am Bauch und holte sich aus der Küche etwas zu trinken. Mit untergeschlagenen Beinen hockte sie sich vor das bis zum Bo‐ den reichende Fenster und starrte hinaus in Edens Nacht, die so ganz anders war als auf Terra. Konnte es sein, daß sie Sehnsucht nach der Erde hatte? Unsinn! Sie schimpfte sich eine sentimentale Närrin. War es der Job? Der schon gar nicht. Er bot ihr mehr Freiheiten, als sie es sich je hatte vorstellen können. Es lief gut auf Eden. Sie hatte bis jetzt so ziemlich alles erreicht, was sie sich vorgenommen hatte, führte ein eigenständiges Leben, war niemandem Rechenschaft schuldig. Und
interessante Persönlichkeiten gab es hier mehr als genug… Urplötzlich kam ihr Terence Wallis in den Sinn, das Interview mit ihm in New Pittsburgh, die Babys, die entsetzliche Nachricht über den Verlust der HOLE‐IN‐ONE und aller Insassen. Sie hatte die Szene noch in allen Einzelheiten im Gedächtnis, als die Nachricht von dem schrecklichen Ereignis in die Idylle mit den Kleinkindern platzte. Der Auftritt des jungen Leutnants, dann der Abgang von Wallis, Lautrec und Ramoyas. Schließlich General Jacksons Erscheinen, das den Schlußpunkt setzte. Sie trank, rülpste ganz undamenhaft und spann den Faden ihrer Gedanken weiter. Keiner der bei DYNAMITE beschäftigten Autoren hätte es besser inszenieren können. Und in diesem Moment flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf ihr zu, daß es genau das war: eine Inszenierung. Es verschlug ihr fast den Atem. Doch dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Jetzt spinnst du aber ganz, Heather Sheridan«, sagte sie spöttisch in die Dunkelheit. Und dennoch blieb ein winziger Rest von Unsi‐ cherheit zurück, den sie auch nicht aus ihrem Kopf vertreiben konnte, als sie wieder zu Bett ging. »Wahrscheinlich bis du nur übermüdet, junge Dame«, sagte sie, zog sich die Decke bis unters Kinn und schlief wieder ein. Ihr letzter Gedanke galt der HOLE‐IN‐ONE – und Wallis. Sie hoffte, daß sie nicht von beiden träumte. * Am nächsten Morgen kam sie erst auf den letzten Drücker zur Redaktionssitzung und mußte einige anzügliche Kommentare der anderen Ressortleiter über sich ergehen lassen, die jedoch von ihr abperlten wie Wasser von einer glühenden Metallplatte. Auf dem Weg vom Foyer hoch in die Redaktion hatte ihre Assistentin sie noch
mit den Einschaltquoten versorgt, die die letzte Sendung erzielen konnte – keine DYNAMITE‐Folge hatte bis jetzt diese extrem hohe Zahl an Zuschauern erreicht. Sie konnte es drehen und wenden wie sie wollte, sie war mit ihrer letzten DYNAMITE‐Sendung zum uneingeschränkten Star aufges‐ tiegen – zumindest für eine kleine Weile, relativierte sie ihre Eupho‐ rie. Denn wenn sie eines in dem harten Geschäft der Massenunter‐ haltung gelernt hatte, dann dies: Nichts war kurzlebiger als eine sensationelle Story. Sie verfolgte die Vorschläge zum kommenden Programm der ein‐ zelnen Magazinbeiträge nur mit halbem Ohr, weil sie in Gedanken einen neuen Beitrag konzipierte, der ihr auf dem Weg zur Redaktion in den Sinn gekommen war. »… Ihre Vorschläge, Heather!« Erst als es ruhig wurde in der Runde, blickte Heather auf und sah sich von Gabriel Tarrants gemustert, der sie mit einer gewissen Un‐ geduld ansah. »Chef…?« »Ihre Vorschläge für die nächste Folge von DYNAMITE, Kollegin. Welches Thema?« Die Finger des fünfundfünfzigjährigen Chefre‐ dakteurs schlugen einen ungeduldigen Wirbel auf die Tischplatte. »Oh. Natürlich, Mister Tarrant, Chef. Sofort. Ich habe hier ein Konzept, das Sie sich vielleicht mal ansehen, ja?« Sie reichte ihm die wenigen Blätter. Schweigend und konzentriert überflog Tarrant die Seiten. Dann blickte er hoch, über seiner Nasenwurzel hatte sich eine tiefe Falte gebildet. »Das wär’s für heute«, sagte er plötzlich und für alle über‐ raschend in die Runde und lehnte sich in seinen Sessel zurück. Seine Miene war undurchdringlich. Die Ressortleiter ergriffen ihre Unterlagen und suchten ihre eige‐ nen Büros auf. Als Heather Anstalten machte, sich ebenfalls zu‐ rückzuziehen, bannte sie die scharfe Stimme Tarrants an ihren Platz. »Sie, junge Dame, bleiben!«
Tarrant nahm sich erneut Heathers Memo vor. »Sie wissen schon«, sagte er so plötzlich, daß die Reporterin un‐ willkürlich zusammenschrak, »daß Sie damit«, seine flache Hand klatschte auf die Blätter, »ein sehr, sehr heißes Eisen mit bloßen Händen anfassen, sollte sich bewahrheiten, was Sie so leichtfertig vermuten. Das wäre, ich betone ausdrücklich wäre, ein Thema von ungeheurer Brisanz.« »Eben DYNAMITE«, grinste sie, obwohl ihr nicht danach zumute war. »Wie?« Tarrant runzelte die Brauen, dann nickte er und zeigte ebenfalls ein Lächeln, das jedoch nicht den Weg zu seinen Augen fand. »Sind Sie sich der Tragweite Ihres Vorhabens auch wirklich bewußt?« Sie nickte, lächelte erneut und sagte: »Natürlich, Chef.« Gabriel Tarrant massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. »Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, murmelte er. »Sehen Sie einen Interessenkonflikt, Sir?« erkundigte sich Heather. »Wie meinen Sie das?« »Spielen Sie nicht mit dem Staatsoberhaupt von Eden Golf?« Jetzt lachte Tarrant wirklich. »Junge Dame«, sagte er ein wenig gönnerhaft, »wenn es danach ginge, käme ich vor lauter Interessenkonflikten nicht mehr zu meiner Arbeit. Ich spiele mit vielen hochrangigen Vertretern der Regierung dieses Planeten Golf. Zerbrechen Sie sich also nicht meinen Kopf, obwohl ich Ihre Besorgnis zu schätzen weiß.« »Keine Ursache«, murmelte Heather. »Und Sie wollen das allen Ernstes durchziehen?« fragte er noch einmal. Sie nickte entschieden. »Also gut«, sagte der Redaktionsleiter und machte ein Gesicht, als ginge es zu seiner eigenen Beerdigung. »Was brauchen Sie?« »Meine Ruhe für die Nachforschungen«, erwiderte sie. Tarrant mußte nicht lange überlegen.
»Gut«, sagte er. »Die nächste Folge von DYNAMITE bestreiten wir aus unserem unerschöpflichen Fundus.« Er grinste plötzlich, was ihn um Jahre jünger, wenn auch nicht gerade attraktiver machte. »Sie haben drei Tage.« Heather schüttelte den Kopf. »Fünf. Und dieser Zeitrahmen ist nicht verhandelbar. Außerdem ein unbeschränktes Spesenkonto«, sagte sie und gab ihrem Gesicht einen nichtssagenden Ausdruck, obwohl sie fast vor ihrer eigenen Courage erschrak. »Wollen Sie sich ein Raumschiff kaufen?« »Ich habe einen Schweber, mit dem ich gerade so zurechtkomme. Was soll ich da mit einem Raumschiff? Ihre Antwort, Chef!« »Einverstanden, Sie Quälgeist.« Tarrant beugte sich vor und sah ihr in die Augen; er wirkte wie eine Schlange, die ihr Opfer zu hypnoti‐ sieren suchte. Langsam sagte er: »Ich weiß nicht warum, aber ich denke, Sie sind auf einer vielversprechenden Fährte. Sie scheinen sehr zielbewußt, Heather. Das ist mir eigentlich so noch nicht aufgefallen. Sie werden es noch einmal weit bringen in unserem beinharten Geschäft. Aber egal, solange Sie nicht anfangen, an meinen Stuhl zu sägen, sehen Sie in mir Ihren Gönner und Förderer.« »Ich habe kein Interesse, Ihnen Ihre Position streitig zu machen, Sir«, sagte Heather trocken. Doch in Gedanken fügte sie hinzu: Noch nicht, Verehrtester. Noch nicht. Sie ging. Als sie wenig später wieder in ihrem Büro saß, wußte sie nicht, ob sie sich zu ihrem Verhandlungserfolg beglückwünschen sollte oder nicht. Diese elegische Anwandlung ging rasch vorüber. Sie begann systematisch zu überlegen. Zunächst galt es, Nachforschungen über den letzten Flug der HOLE‐IN‐ONE und ihrer Besatzung anzustellen. Sie ging die Möglichkeiten durch, die sie dazu hatte.
Auch die Privatjacht eines Terence Wallis konnte nicht so ohne weiteres durch das Weltall kutschieren, ohne bestimmten Regeln zu folgen. Regeln, die im allgemeinen Spuren zur Folge hatten. Vor‐ wiegend in den Datenbanken der Raumüberwachung, der Starts und Landungen üblicherweise gemeldet werden mußten, wollte man nicht seine Lizenz zum Führen eines Raumschiffes verlieren. Dazu gehörten Angaben über Ziel und Zweck der Reise, Anzahl der Be‐ satzungsmitglieder, Tonnage und Art der Ladung. Nur wer etwas zu verbergen hatte, entzog sich diesem Procedere mehr oder minder erfolgreich – meist erfolgreich. Heather bezweifelte zu recht, daß Wallis beziehungsweise der Ka‐ pitän seiner Privatjacht zu dieser Gruppe verantwortungsloser Raumschiffer gehörte. Nun entzogen sich die Datenbanken der Raumüberwachung dem allgemeinen Gebrauch durch Zivilpersonen. Und sie war nicht tech‐ nisch begabt genug, sich selbst Zugang zu ihnen zu verschaffen. Jemand mußte das für sie tun. Sie dachte intensiv fünf Minuten nach, wen sie für diese Sache einspannen konnte. Es fielen ihr ein paar Namen ein, deren Träger ihr alle noch etwas schuldeten. Sie würde sie der Reihe nach anrufen und sehen, wer sich bereiterklärte, ihr bei ihren Nachforschungen zu helfen. Sie besorgte sich eine Kanne Kaffee und aktivierte dann ent‐ schlossen das Vipho. Erst der vierte Anruf brachte den gewünschten Erfolg, wenngleich der Teilnehmer am anderen Ende sich zunächst zopfig anstellte, als er hörte, worum es ging. Sie bot ihre ganze Überredungskunst auf, und von der hatte sie eine Menge, bis er schließlich bereit war, sich für sie ins Zeug zu legen. »Ich danke dir, Taggert, daß du das für mich tun willst.« »Schon gut, wenn du mich dafür endlich in Ruhe läßt.« Sie lachte hell. »Nein, mein Freund, das kann ich nicht ver‐ sprechen.«
»Habe ich fast befürchtet. Ich melde mich, sobald ich die In‐ formationen habe.« »Und wann wird das sein?« Das Gesicht auf dem Viphoschirm zeigte ein Stirnrunzeln. »Mal sehen… hm, ich denke, in zwei Stunden habe ich, was du brauchst.« »Ausgezeichnet.« Sie deaktivierte das Vipho und lehnte sich zufrieden in ihren Ses‐ sel. Der Kaffee war mittlerweile kalt geworden, aber kalter Kaffee sollte ja bekanntlich der Schönheit dienen, oder war das der Kaffee‐ satz? Trotzdem, sie ließ ihn stehen. Sie tätigte einen letzten Anruf, um Peter Fox und Willie zu in‐ formieren, daß sie sie für den Rest der Woche nicht mehr benötigte. Dann stand sie auf, nahm ihre Tasche an sich, machte sich etwas frisch, zupfte ein vorwitziges Haar aus ihrer Augenbraue und nahm den A‐Gravlift zur Dachterrasse. Es war Mittagszeit, und sie verspürte einen gesunden Hunger. Sie gönnte sich einen Cocktail zum Lunch, aß ein Steak mit geba‐ ckenen Kartoffeln und Salat, zum Nachtisch Apfelkuchen und ver‐ zichtete auch nicht auf den obligatorischen Kaffee. So gesättigt, fühlte sie sich gewappnet für den Rest des Tages und kehrte in ihre Büro zurück. Der leere Speicher ihres Viphos verriet ihr, daß während ihrer Abwesenheit niemand angerufen hatte. Sie war nicht traurig darüber. Entschlossen machte sie sich daran, liegengebliebene Post aufzu‐ arbeiten und ein paar Gedanken zu einem Konzept für eine neue DYNAMITE‐Sendung zu notieren. Taggerts Anruf kam eine Stunde früher als erwartet. »Ich habe, was du wolltest«, sagte er. »Schon«, sagte sie. »Ich bin beeindruckt. Laß hören.« Er schüttelte den Kopf. »Darüber rede ich nicht am Vipho. Ich habe dir die Informationen als Datei geschickt. Müßten schon bei dir
sein.« Sie sah nach ihrem Tischsuprasensor. Das Symbol blinkte. »Ist angekommen«, bestätigte sie. »Viel Spaß damit«, wünschte er ihr mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. »Danke, Taggert«, sagte sie und wollte noch hinzufügen: »Du hast was gut bei mir!« Aber er hatte die Verbindung schon unterbrochen. Sie runzelte die Stirn, öffnete die Datei und begann zu lesen. Die Besatzung von Wallis’ Privatjacht hatte überwiegend aus Ro‐ botern bestanden, was nichts Ungewöhnliches war. Die Menschen an Bord hatten – bis auf die drei getöteten Frauen – keine Angehö‐ rigen, und auch die Frauen hatten offenbar außer ihren Ehemännern beziehungsweise dem Lebenspartner keinerlei Familie gehabt, we‐ der lebende Eltern noch Großeltern oder Verwandte. Das war das wirklich Befremdliche und ließ Heathers Repor‐ tergeist erwachen. Recherchen dieser Art waren ihr Metier. Sie ver‐ brachte den ganzen Nachmittag dieses und den Vormittag des fol‐ genden Tages damit, in den Datenbanken der Einwande‐ rungsbehörde nach Hinweisen über die Identitäten der toten Frauen zu suchen – und mußte eine herbe Enttäuschung nach der anderen einstecken. Sie konnte nichts finden. Wallis schien abgetaucht zu sein, war unauffindbar. Und die For‐ scher verließen das Werk so gut wie nie. Das einzige, was sie über ihre Kontakte bei Wallis Industries be‐ ziehungsweise der Eden‐Regierung erreichte, war eine Information, wonach Wallis und das Team Saam am kommenden Wochenende nach Aloha gehen wollten, um sich mit den Hookers zu treffen. Wollte sie den einmal eingeschlagenen Weg weitergehen, blieb ihr keine andere Wahl, als sich ebenfalls nach Aloha zu begeben, inkog‐ nito und in Begleitung. Verdeckte Ermittlungen dieser Art waren eine ihrer Leiden‐
schaften (sie hatte noch ein paar andere) und hatten schon zu großen Erfolgen geführt, die ihren Ruf in der Branche begründet hatten. Sie ging die Liste ihrer Freunde durch, um herauszufinden, wer in Frage kommen würde. Und es fiel ihr nur einer ein: Trico Pallas. Die Verbindung kam nach exakt sieben Sekunden zustande. Dann war Tricos Gesicht auf der Bildscheibe zu sehen. »Ja?« Er hatte noch immer dieselbe angenehme, sehr disziplinierte und warmherzige Stimme. Heather konnte nicht verhindern, daß sie einen Schauer in ihr auslöste. Und willkürlich entlockte sie ihr einen winzigen Seufzer. Dann erkannte Trico, wer ihn sprechen wollte, und Wiederse‐ hensfreude spiegelte sich auf seinem Gesicht. »Hallo! Ist es die Möglichkeit! Heather Sheridan persönlich! Was hat dich denn dazu gebracht, mich anzurufen? Brauchst du vielleicht einen jungen, dynamischen Ausstattungsleiter?« Heather winkte und sagte laut: »Hallo, Freund Trico! Nein, ich habe bereits einen Ausstattungsleiter«, begann sie. »Ja, ich weiß«, unterbrach sie Pallas und reckte sein Kinn kamp‐ feslustig der Vipho‐Optik entgegen, was ihn irgendwie bedrohlich erscheinen ließ. Eine absurde Vorstellung. Trico war trotz seines Modellathletentyps der sanfteste Mann, der Heather je über den Weg gelaufen war, und derer hatte es einige gegeben. »Ein selten ein‐ fallsloser Typ, wenn du mich fragst. Fragst du mich?« So etwas wie Hoffnung keimte in seinen Augen auf. Sie lachte hell. »Nein. Auf die Auswahl der Ausstattungsleiter habe ich null Ein‐ fluß, das ist die Domäne Tarrants.« »Ich bringe ihn um, den Wicht!« verkündete Trico mit dem pathe‐ tischen Timbre eines Schmierenkomödianten in der Stimme. Sie lachte erneut, seit Tagen wieder einmal richtig herzlich. Doch dann wurde sie ernst. »Ich biete dir die Chance, durch eine relativ winzige Hilfestellung mit deiner Lieblingsfreundin ein unvergeßliches Wochenende in
einem der teuersten Resorts auf Aloha zu verbringen.« »Auf wessen Kosten?« fragte er blitzschnell. »Auf die von Terra‐Press natürlich.« »Gehst du neuerdings mit diesem Tarrant ins Bett?« Es klang ent‐ täuscht. »Unsinn«, wehrte sie ab. »Ich bin einer Riesensache auf der Spur und habe das Okay des Chefs. Interessiert?« »Immer! Was muß ich tun?« Heather sprach ohne jede Floskel drei Minuten lang. Dann hatte Trico verstanden, worum es ging. »In Ordnung«, sagte er. »Ich kümmere mich um die Details. Sobald ich alles zusammenhabe, rufe ich dich an, und wir treffen uns vor der Transmitterstation.« »Du bist ein Schatz«, sagte sie leichthin. »Ich weiß«, erwiderte er, sah sie für eine Sekunde mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an und unterbrach dann die Verbindung. * In der Transmitterstation Alohas herrschte ständiges Kommen und Gehen. »Mächtig was los«, sagte Trico Pallas. Er schloß seine kräftigen Finger um Heathers Oberarm, bugsierte die Reporterin von der Plattform herunter und mit traumwandlerischer Sicherheit weiter durch die Menge. »Jeder scheint Ferien auf Aloha machen zu wollen«, stellte sie fest. »Genau wie wir beiden Verliebten.« Er grinste verwegen, und sie fühlte einen kleinen Stich des Bedauerns. Trico Pallas war der Typ von Mann, bei dem Frauen und Männer gleichermaßen ins Schwärmen gerieten. Zu dumm nur, daß seine Präferenzen bei letzteren lagen und er daher auf immer und ewig unerreichbar für die holde Weiblichkeit bleiben würde.
Sie ließen die kreisförmig angeordneten Sitzgruppen aus Rohrge‐ flecht und täuschend echt wirkendem weißen Kunstleder links lie‐ gen, schwenkten ab und bewegten sich rund hundert Schritte nach rechts. Dann ließ Trico den Arm seiner Begleiterin los, lehnte sich gegen die niedrige Barriere, stellte herausfordernd die etwas abgenutzt aussehende Ledertasche auf die polierte Palmenholzfläche und schlug mit den Fingern einen dumpfen Wirbel auf die Platte. Heather mußte an sich halten, um nicht über die Vorstellung Tricos zu lachen. »Aus welcher Holoshow hast du denn das übernommen?« mur‐ melte sie. »Aus euren Novela‐Sendungen natürlich«, gab er ebenso halblaut zurück. Beide lachten hell. »Erinnerst du dich noch«, fuhr er im Ver‐ schwörerton fort, »an diesen unmöglichen Heini von Anwalt mit seiner gekünstelten Vorstellung?« »Du meinst Heinrich Stetten von Stetten, Stetten und Partner?« »Genau der. Ich hab diese Szene übernommen. Nur daß ich als ›Partner‹ den Namen Keel eingefügt habe. Keel bist natürlich du.« »Laß mal hören«, kicherte Heather. »Nicht jetzt«, wehrte er ab. »Du wirst es gleich hören.« Eine samthäutige Schöne näherte sich, gekleidet in der alohani‐ schen Nationaltracht, einem sarongähnlichen Stück Stoff, das viel freie Haut zeigte. Trico stieß mit dem Zeigefinger den breitkrempigen weißen Hut aus der Stirn und sagte mit seiner tiefen, vibrierenden Stimme: »Mein Name ist Trico Pallas von Pallas, Pallas und Keel. Unser Büro hat ein Apartment im Maniloa‐Resort gebucht. Gibt es einen Weg, dorthin zu gelangen, ohne transpirieren zu müssen?« »Aber ja, Sir. Maniloa‐Resort hat einen eigenen Zubringerdienst.« »Und der ist wo zu finden?« »Leider im Freien«, bedauerte die junge Dame. »Sie müssen sich
nach draußen begeben. Die Zubringer sind nicht zu verfehlen.« »Besten Dank«, murmelte Trico. Dann sagte er laut: »Würden Sie bitte veranlassen, daß man unser Gepäck ins Resort bringt. Es kommt mit der nächsten Lieferung des Lastentransmitters.« »Selbstverständlich, Sir.« Trico legte den Arm um Heathers Schultern und verließ mit ihr die Station. Sonnenlicht und Hitze trafen sie wie ein Faustschlag. Der weiße Zubringer des Maniloa‐Resort war unübersehbar, ein Schweber mit offenen Seiten, einem übergroßen, in die Länge ge‐ streckten Strandgleiter nachempfunden. Und hier wurde zum ersten Mal deutlich, daß es auch auf Eden Unterschiede zwischen weniger Begüterten und jenen gab, die nicht aufs Geld schauen mußten. Dank Terra‐Press gehörten Heather und Trico Pallas zu letzteren, zumindest für die Dauer ihres Aufenthaltes auf Aloha. Sie waren die einzigen, die Maniloa‐Resort gebucht zu haben schienen. Niemand sonst fuhr mit. Die Straße führte entlang der Bucht durch ein subtropisches Para‐ dies, das dem der Hawaii‐Inseln auf der Erde in nichts nachstand. Die Luft war vom schweren Duft blühender Sträucher erfüllt. Die Hänge, die sich vom Kamm des niedrigen, küstennahen Bergzuges bis hinab zu den Außenbezirken des hypermodernen Ferienortes Palau Palms zogen, trugen unterschiedlich hohe Palmenpflanzun‐ gen. Das Wetter entsprach genau den Versprechungen der Werbe‐ prospekte. Der Himmel war wolkenlos, und eine makellose Sonne stand am Himmel. Vom Meer her wehte eine kühle Brise und drückte die Hitze auf ein erträgliches Maß. Alohas Ferienanlage für gestreßte Edenbürger war geformt wie ein Amphitheater, durchsetzt mit dem Grün herrlicher Palmengärten und der unendlichen Vielfalt blühender Tropenpflanzen. Nirgends
waren Radfahrzeuge zu sehen oder lärmende Aggregate zu ver‐ nehmen. Der Fahrer lenkte den Schweber die breite Piste entlang nach Norden und durch die Anlage. Das Klima sorgte zusammen mit einer aggressiven Werbung dafür, daß durch die Transmitterstation täglich zwei‐ bis dreihundert Gäste kamen oder abreisten. Palau Palms war permanent von zweitausend sonnenhungrigen Touristen besetzt und eine in sich abgeschlossene Welt. Jede zweite Tür schien in ein Restaurant oder Cafe zu führen, in Boutiquen, Bars und Nachtklubs. »Hübsch ist es hier«, bemerkte Heather. »Nicht wahr?« »Doch, ganz netter Anblick«, gab Trico zu. Er betrachtete die Bootsstege des Jachthafens, an dem sie eben vorbeikamen. Am Strand tummelten sich braungebrannte Surfer in der flachen Bran‐ dung. Die kleinen Punkte draußen auf dem bewegten blauen Wasser waren Motorboote mit Wasserskifahrern im Schlepp. Eine zweimas‐ tige Segeljacht kreuzte weit draußen auf der See vor dem Wind. Ein Bild uneingeschränkten Vergnügens. Das Maniloa war das teuerste Resort auf Aloha und lag in ge‐ bührender Entfernung von Palau Palms in unmittelbarer Nähe zum Strand. Es bestand aus einem exklusiven Haupthaus und vielen im Grünen verstreuten Bungalows, die allen nur erdenklichen Luxus aufwiesen. Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit des Schwebers, um‐ kreiste einen Zierbrunnen, aus dessen Mitte Wasserfontänen in die samtige Luft stiegen, und hielt auf die Einfahrt des Haupthauses zu, das hinter den Palmwipfeln leuchtete. »Ma’am, Sir«, sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. »Das Mani‐ loa.« »Danke, mein Bester«, gab sich Trico Pallas nonchalant und ließ generös einen größeren Schein in seine Finger gleiten. Terra‐Press machte es möglich. Der distinguierte Adelige hinter der Rezeption war bloß der Por‐
tier. »Trico Pallas von Pallas, Pallas und Keel«, sagte Trico. »Ich bin Keel«, piepste Heather schüchtern und schlug die Augen nieder. »Unser Gepäck wird gleich kommen. Den Schlüssel bitte«, forderte Trico. Der Mann am Empfang legte den elektronischen Schlüssel auf den Tresen. »Bungalow 21. Seien Sie herzlich willkommen auf Aloha. Wün‐ schen Sie, daß ich Ihnen einen Führer mitgebe?« Trico winkte ab. »Danke. Wir werden das Haus schon finden. Welche Nummer noch mal, sagten Sie?« »Einundzwanzig, Sir.« Nach zwei, drei Schritten drehte sich Trico um. »Ja, Sir?« »Ist unser Geschäftspartner Mister Wallis nicht auch anwesend? Ich bin mir fast sicher, vorhin seinen Rechtsbeistand gesehen zu ha‐ ben.« Heather hätte ihn für diesen geschickten Schachzug küssen können, aber da sie wußte, wie es um ihn bestellt war, verbannte sie diesen Wunsch aus ihrem Kopf. »Mister Fortrose? Das kann nicht sein. Er ist nicht mit…« Der Mann verstummte. »Tut mir leid, Sir«, sagte er nach einem Augenblick des Schweigens, »daß ich Ihnen nicht darauf antworten kann, aber die Privatsphäre unserer Gäste ist uns heilig.« »Natürlich«, sagte Trico. »Verstehe ich vollkommen. Das ist mit der Grund, weshalb ich Ihr Haus ausgewählt habe. Ach, sagen Sie«, er hob seine Tasche in die Höhe und ließ sie wieder sinken. »Bringen Sie sie doch mit dem restlichen Gepäck in unseren Bungalow. Wir gehen noch etwas am Strand spazieren. Es ist doch zu schön hier, nicht wahr, Liebes?« Keel von Pallas, Pallas und Keel kicherte verschämt und nickte heftig.
»Na, dann komm!« Trico und Heather konnten es nicht sehen, als sie nach draußen gingen. Aber sie hätten einen Eid darauf schwören können, daß der Portier gottergeben die Augen zum Himmel aufschlug. »Du warst einfach hinreißend«, gestand Heather, während sie den Weg zum Strand einschlugen. »Erinnere mich daran, daß ich dir eine Rolle in unserer nächsten größeren Produktion verschaffe. Es ist nicht zu fassen, Talente wie du sind brotlos, während sich das Kroppzeug von Schauspielern, das sich bei Terra‐Press tummelt, die Bäuche vollschlägt.« »O ja. Am besten in einer Tanzproduktion«, griente Trico hoff‐ nungsvoll. »Ich mag Männer in Strumpfhosen.« »Ach«, seufzte Heather. »Wenn es dir ein Bedürfnis ist.« Er holte eine dunkle Brille aus der Brusttasche seines Hemdes und setzte sie auf, ehe er sagte: »Und dich mag ich auch. Du bist meine beste Freundin.« Am Strand angekommen zogen sie die Schuhe aus und liefen bar‐ fuß durch den weißen Sand weiter. Auf der einen Seite erstreckte sich die blaugrün schimmernde See, zum Landesinneren hin boten Palmen Schutz vor der Sonne, die deutlich ihren Scheitelpunkt überschritten hatte und sich auf dem absteigenden Schenkel ihrer Bahn befand. Palmen ächzten im Wind, und das Rauschen der Dünung bildete seine eigene Melodie. Musik war zu hören. Fröhliche Stimmen er‐ klangen. Kinder spielten am Wasser. Am Horizont, dort, wo Wasser und Himmel zusammentrafen, war der blaue Schatten einer weiteren Insel des Aloha‐Archipels zu se‐ hen. »Was hoffst du eigentlich zu finden?« fragte Trico, während sie näher zum Wasser liefen, wo der Sand festgebacken und herrlich kühl von den darüberrollenden Wellen war. »Antworten«, erwiderte Heather und preßte die Lippen zu‐ sammen.
Trico ließ nicht locker. »Worauf?« »Darauf, ob Terra‐Press, DYNAMITE und als letzte Konsequenz ich ausgenutzt worden sind. Mißbraucht zu einem schäbigen Spiel.« »Also geht es um Rache.« »Wenn du’s so nennen willst, ja. Ich nenne es Aufklärung.« »Hoffentlich verrennst du dich nicht in etwas, aus dem du nur sehr schwer wieder herausfindest«, warnte Trico. »Das glaube ich nicht«, versetzte sie hart. Noch ehe er darauf eine Erwiderung fand, blieb sie plötzlich stehen und griff nach seinem Arm. »Da sind sie!« Trico folgte der Richtung ihrer Kopfbewegung. In einem kleinen, offenen Pavillon konnte er eine Gruppe Männer und Frauen sehen, die sich köstlich zu amüsieren schienen, ihrer Ausgelassenheit nach. Die lachenden Stimmen schallten mitunter weithin über den Strand. Serviceroboter hielten sich diskret im Hin‐ tergrund. »Bist du sicher, daß sie es sind?« »Sicher bin ich sicher!« fauchte sie leise. »Du vergißt, daß ich sie erst vor fünf Tagen interviewt habe. Sie sind alle da. Wallis, die Saams, Lautrec und Ramoya. Die anderen kenne ich nicht.« »Vermutlich Leibwächter«, sagte Trico. Sie krallte ihre Finger so heftig in seinen Arm, daß er leise auf‐ stöhnte. Sie merkte es nicht. »Ich frage dich, wie paßt das alles zusammen? Ihr Verhalten ent‐ spricht überhaupt nicht dem trauernder Witwer. Findest du nicht auch? Wallis hat seine Lebensgefährtin, Lautrec und Ramoya haben sogar ihre Ehefrauen erst vor wenigen Tagen verloren. Was feiern die da? Deren Ableben? Ich kann auch nirgends die Kinder sehen, die diesen Verbindungen entsprungen sind.« Sie hielt inne, um Luft zu holen. In ihrer Rage hatte sie vergessen, zu atmen. »Komm!« sagte sie und zerrte ihn in Richtung des Pavillons. »Was hast du vor?«
Widerstrebend folgte er ihr. »Wir sind zu weit entfernt.« »Wofür?« »Um scharfe Aufnahmen zu bekommen.« »Aufnahmen? Womit willst du die machen? Du hast nicht mal eine Kamera dabei.« »Und was ist das?« sagte sie und hielt ihre linke Hand hoch, an deren Ringfinger ein schwerer Siegelring glänzte. »In dem Stein verbergen sich Objektiv und Mikrophon einer Mikrokamera, die alles, was sie aufnimmt, auf einen Datenkristall speichert. Aber um wirklich verwertbare Daten und Fotos zu erhalten, müssen wir nahe heran.« »Mein Gott, bist du abgebrüht«, sagte er voller Bewunderung. Sie näherten sich dem Pavillon. »Das genügt«, sagte eine träge Stimme. Der Mann, der diese Worte sprach, wirkte im Gegensatz zu seiner Stimme überhaupt nicht träge. Im Gegenteil, so wie er sich bewegte, schien er eine einzige Kampfmaschine zu sein. Woher er so plötzlich gekommen war, konnte Heather nicht sagen. Er war einfach da und warf in der Sonne einen riesigen Schatten, ebenso der zweite Mann, der in Habitus und Auftreten seinem Partner glich. Er war nur etwas höflicher, als er sagte: »Es tut uns leid, doch Unbefugte haben hier keinen Zutritt, Ma’am. Wenn Sie und Ihr Begleiter bitte gehen wol‐ len!« »Was geht da vor sich?« erklang eine befehlsgewohnte Stimme. Wallis hatte sich erhoben, um nachzusehen, wer seine Party störte. Als er Heather erkannte, verengten sich seine Augen für einen winzigen Moment. Doch ebenso schnell hatte er sich wieder in der Gewalt. Nur die Fröhlichkeit verschwand aus seinem Gesicht, als würde jemand Kreide mit einem feuchten Lappen von einer Tafel wischen. »Laßt sie herein«, befahl er seinen Männern. »Ich kenne die junge Dame.« Die Leibwächter gaben den Weg frei.
Mit widerstreitenden Gefühlen trat Heather Sheridan mit Trico im Schlepptau in den Pavillon. Wallis’ Blick streifte Heathers Begleiter mit einem Ausdruck der Enttäuschung, während aus den Gesichtern der Anwesenden die Fröhlichkeit verschwand, als hätte eine tief‐ schwarze Wolke am Himmel die Sonne verdunkelt. Sie lachte hart auf, als sie die Verwandlung mitbekam, sie spürte fast körperlich, daß man ihr etwas vormachte. Sie warf mit einer wilden Kopfbewegung ihr Haar zurück. »Erklären Sie’s mir«, sagte sie unnatürlich ruhig und hoffte, Wallis würde das Beben in ihrer Stimme nicht bemerken. »Was erklären, Heather?« Die vertrauliche Anrede ließ Zorn in ihr hochschießen. Sie hätte ihn niemals sympathisch finden dürfen, das sah sie jetzt ein. Sie setzte mehrmals zum Sprechen an. »Ich will«, begann sie – nur um mit einem entsetzten Laut zu ver‐ stummen. Einer der Leibwächter hatte Trico Pallas zu Boden geris‐ sen. In der gleichen Sekunde stürzte sich eine kleine Chinesin auf sie, packte sie mit einer unglaublicher Kraft und schleuderte sie aus dem Pavillon. Heather landete glücklicherweise im weichen Sand. Kaum hatte sie die Kontrolle über ihre Reflexe wiedererlangt, kam sie auf die Beine und unternahm Anstalten, zu fliehen. Ein vergeblicher Versuch, wie sich herausstellte. Die Chinesin sprang ihr hinterher, stürzte sich mit einem hellen Kampfschrei auf sie und schlug eine eisenharte Hand‐ kante gegen ihren Hals. Für Heather Sheridan gingen die Lichter so schnell aus, daß nicht einmal mehr der Schmerz Zeit hatte, zu ihrem Bewußtsein vorzud‐ ringen.
6. »Hen, ich übernehme die Steuerung!« Dhark schwenkte sein Schiff herum und zog eine Schleife in der Hoffnung, den Angreifer von zwei Seiten in die Zange nehmen zu können. Der »Baumstamm« zeigte nicht mal ein Anzeichen von Verwirrung, sondern jagte seinem vermeintlichen Opfer entgegen. Der mühelose Erfolg gegen den nur schwach bewaffneten Frachter wiegte die fremde Besatzung wohl in dem Glauben, einen weiteren leichten Sieg erringen zu können. »Die Fremden attackieren die ASGOR.« »Da werden sie sich die Zähne ausbeißen«, verlieh Shanton seiner Hoffnung Ausdruck. »Oder auch nicht. Sie verwenden wieder Kompri‐Nadel«, stellte Arc Doorn fest. »Ich brauche wohl keinen daran zu erinnern, daß damit nicht zu spaßen ist.« Den Begriff hatte er bei den Kämpfen um Grah geprägt. Bei dieser Beschußart war die auftreffende Energie auf unglaublich engem Raum komprimiert und erzielte dadurch eine viel höhere Durch‐ schlagskraft. Die Geschütze der Fremden gaben genausoviel Energie ab wie die Nadelstrahler der Ringraumer, bündelten diese aber auf einen Durchmesser im Nanometerbereich. Die verheerenden Folgen waren bekannt. »Verdammt, ich habe es geahnt.« Im nächsten Moment sah sich Doorn in seinen Befürchtungen bestätigt. Denn schon schlugen die ersten Treffer in das Doppelintervallum von Dalons Ringraumer, der sich verzweifelt wehrte. Sekundenlang hielt es stand, bereits be‐ drohlich flackernd. Mit herkömmlichen Nadelstrahlen war dem starken Schutzschirm nicht so leicht beizukommen, doch in diesem Fall war das anders. »Wenn die Fremden nicht sprechen können, ballern können sie um so besser, und damit zögern sie nicht lange. Die handeln nach der Parole: Erst schießen, dann fragen.«
Bud Clifton und Jean Rochard in WS‐West und WS‐Ost ließen die Antennen der POINT OF sprechen. Überlichtschnell rasten die blaßrosa Strahlen durch die Schwärze des Alls. Sie zeichneten ein feines Koordinatennetz, das sich im Ziel vereinigte. Der metallische Baumstamm wurde in Licht gebadet, befreite sich aber sofort. Mit einem Satz brach er aus dem Feuer aus. »Die scheinen Dalon überrascht zu haben.« Kopfschüttelnd trieb Ren den Ringraumer voran, ohne auch nur ein Grad vom Kurs ab‐ zuweichen. »Warum dreht der Worgun nicht ab?« In der Bildkugel zeichnete sich das Verhängnis ab. Plötzlich brach das untere Intervall der ASGOR zusammen. Nur einen Se‐ kundenbruchteil später wurde sie aus dem Kurs gerissen. Da hatte Dhark die beiden Waffensteuerungen längst instruiert. »Volle Wuchtkanonenbreitseite! Mal sehen, wie ihnen das schmeckt.« Das von Wallis Industries entwickelte Waffensystem durchschlug so gut wie alle bekannten Schutzschirme. Im Innern des sich über‐ lichtschnell aufbauenden röhrenförmigen Feldes, das die Geschütze erzeugten, wurde die Wirkung von Masse aufgehoben. Wo es auf Hindernisse traf, die größer waren als der Rohrdurchmesser selbst, kam es zu einem Verwerfungseffekt im Feld, der dessen Wirkung aufhob. Eine massive Tofiritkugel, die als eigentliches Geschoß diente, raste ihrer Masse beraubt und auf Lichtgeschwindigkeit be‐ schleunigt durch das Feld, bis sie auf das Hindernis traf. Dort war sie zwar immer noch lichtschnell, gewann aber ihre Masse zurück – und damit eine Durchschlagskraft, gegen die kein Kraut gewachsen war. »Die werden gleich ganz schön schlucken«, murmelte Bebir. »Oder auch nicht«, konterte Doorn. »Das gibt es doch nicht. Die gesamte Breitseite liegt daneben.« Dhark preßte die Lippen zusammen. Dumm waren die Fremden nicht. Sie nutzten die Erkenntnisse, die sie im Gerrck‐System ge‐ wonnen hatten, folgerichtig aus. So mächtig die Wuchtkanone auch war, einen Nachteil hatte sie. Die Tofiritgeschosse blieben »nur«
lichtschnell. Das war zwar eine ganze Menge, ließ einem leistungs‐ starken Rechner aber eine gewisse Reaktionszeit für Ausweichma‐ növer. »Die haben die Wuchtkanone und ihren Schwachpunkt nicht ver‐ gessen. Außerdem sind sie verteufelt schnell.« »Trotzdem können sie auf Dauer nicht jedem Schuß ausweichen«, prophezeite Bebir. Dhark war weniger zuversichtlich. Dem fremden Schiff war es gelungen, seinen Vorteil zu nutzen. Mit einem rasanten Manöver hatte es sich in Sicherheit gebracht. Was ihm einmal scheinbar relativ mühelos gelungen war, würde ihm auch erneut gelingen. Der ge‐ gnerische Pilot gab sich keine Blöße. Allerdings hatte sein Bord‐ schütze oder eine mögliche Feuerleitautomatik dabei ihr Ziel eben‐ falls aus dem Trefferbereich verloren. Die ASGOR bekam eine Ver‐ schnaufpause. Schon orientierte der bizarre Raumer sich neu, um einen weiteren Angriff zu starten. Clifton und Rochard gönnten ihm unterdessen keine Ruhe. Ohne Zeit zu verlieren, setzten die Waffensteuerungen wieder auf Nadel‐ strahl. Die Feuerleitoffiziere brachten eine Reihe von Treffern an, die den gegnerischen Schirm aber nicht durchschlugen. Er flackerte ein paar Mal und zeigte sein charakteristisches Karomuster, dann hatte er sich wieder stabilisiert. »Ein harter Brocken, aber der muß sich doch knacken lassen.« Ren Dhark jagte hinter dem Fremdraumer her, der eine Reihe von Haken schlug. Immer wieder gelang es ihm, dem Feuer auszuwei‐ chen, doch dafür schaffte er es nicht, seinen Jäger abzuschütteln. Schließlich gab er die Versuche auf und ging auf Kollisionskurs. »Gegner feuert!« Dhark bekam nicht mit, wer die Warnung ausstieß. Seine Hände verkrampften sich, als die Kompri‐Strahlen nach der POINT OF griffen. Er jagte sein Schiff in eine brutale Kehre. Beim geringsten Aussetzer der Andruckabsorber hätte die Besatzung an den Wänden geklebt, so schlug nicht die kleinste Spitze durch. Der Ringraumer
tänzelte zwischen den Strahlen hindurch… und wurde von ihnen erfaßt. »Direkte Treffer! Die schluckt das Intervallum nicht!« Ren suchte die Anzeigen. Mit einem Feuerschlag war das Feld zu fünfzig Prozent belastet. Entsetzte Rufe drangen an seine Ohren. Abermals wurde die POINT OF getroffen, und er hatte den Ein‐ druck, in seinem Kommandantensessel durchgeschüttelt zu werden. Unmöglich, denn noch waren die Kompri‐Strahlen nicht bis zur Schiffshülle durchgedrungen. Doch es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis es soweit war. »Intervallfeldbelastung bei 98 Prozent!« Der Kommandant bremste die POINT OF brutal ab, und schlagar‐ tig hörte der Beschuß auf. »Was…?« »Intervallum der ASGOR steht wieder«, meldete Grappa. »Dalon lenkt die Kerle ab und verschafft uns die Zeit, die wir brauchen.« Dhark sah es in der Bildkugel. Die beiden jeweils 3000 Meter durchmessenden, kugelförmigen Zwischenkontinua, die sich zu einem Fünftel überlappten, waren wieder vollständig etabliert und schützten Dalons Ringraumer in ihrem Zentrum. Sofort warf der Worgun sein Schiff herum, um wieder in die Schlacht einzugreifen. »Damit haben die Kerle nicht gerechnet«, triumphierte Bebir. »Jetzt sind sie es, die abdrehen.« Schon feuerten die Antennen der ASGOR und belegten den Fremden mit Nadel. Diesmal gelang es ihm nicht gleich wieder, sich zu lösen. Riker hockte angespannt in seinem Sessel. »Dalon hat die Kerle im Fokus. Vergeblich. Die Wirkung ist zu gering. Wir müssen ihn un‐ terstützen.« Doch nicht mit Nadel, sondern mit einem anderen Kaliber. Die Energiestrahlen waren nicht mehr als Insektenstiche. »Noch einmal die Wuchtkanonen«, rief Dhark die Waffensteuerungen. »Erst feuern, wenn weitgehende Treffsicherheit besteht.«
Bange Sekunden verstrichen, dann flammte es in der Schwärze des Raums grell auf. Die von Grah sattsam bekannten kreuzförmigen Muster zeichneten sich auf dem Schirm des Fremden ab. »Karomuster im Schutzschirm«, jubelte Doorn. »Die Wucht‐ kanonen haben unsere Freunde erwischt. Da, sie stellen das Feuer ein und ziehen sich zurück.« Die Unbekannten verhielten sich genau wie beim ersten Zu‐ sammentreffen vor einem Vierteljahr. Ein Treffer aus den Wuchtka‐ nonen belastete ihren Schirm bis an die Grenzen seiner Kapazität, so daß sie Energie aus den Waffensystem umleiten mußten und nicht mehr feuern konnten. Das war die einzig logische Erklärung. Oder handelte es sich um eine Finte, um die Ringraumer zu einem weiteren unvorsichtigen Vorstoß zu provozieren? Die Fremden schossen nicht mehr, das Karomuster war verschwunden. Gemeinsam mit der ASGOR setzte die POINT OF nach. Der Fremde flog eine Reihe waghalsiger Manöver, ohne auf seine Waffen zurückzugreifen. Offenbar ging es ihm nur darum, keinen weiteren Treffer aus den Wuchtkanonen einzustecken. Das gelang ihm her‐ vorragend. »Die Kerle schlüpfen uns durch die Finger, Ren.« Rikers Gesicht verriet seine nagenden Zweifel. »Der Pilot ist alles andere als ein Anfänger. Der ist beinahe zu gut, um wahr sein zu können.« »Vielleicht handelt es sich um eine Automatik«, vermutete Artus. »So ließen sich die Reaktionsschnelligkeit und die Präzision der Ausweichmanöver erklären.« Daran hatte Ren auch schon gedacht. Doch für einen Computer reagierte der fremde Pilot in manchen Situationen zu intuitiv. »Tino, läßt sich der Status des fremden Schutzschirms be‐ stimmen?« »Eben hat seine Flußdichte stark fluktuiert, jetzt besitzt sie wieder einen stabilen Wert. Wenn ich eine Interpretation wagen darf, würde ich behaupten, wir haben ihn angekratzt, doch inzwischen ist er wieder vollständig aufgebaut.«
Knacken ließ er sich also. Das einzige Problem war, daß die Schwächung allenfalls ein paar Sekunden anhielt, wenn sie nicht auf der Stelle ausgenutzt wurde. Dhark nickte nachdenklich. In seinem Kopf begann ein Plan Gestalt anzunehmen. »Wir gehen folgendermaßen vor«, begann er. Bei seinen folgenden Worten wurde Dan Rikers Gesicht immer länger. * Das fremde Schiff verhielt sich abwartend. Weder startete es einen neuen Angriff, noch machte es Anstalten, sich zurückzuziehen. »Entweder studieren die uns, oder sie haben gemerkt, daß mit uns nicht gut Kirschen essen ist«, kommentierte Doorn die Kampfpause jovial. »Mister Brugg, Funk noch immer ausgefallen?« fragte Dhark. Der Funkoffizier bestätigte. Die Unbekannten ließen sich also auch weiterhin nicht ansprechen. Das bewies, daß sie keinen Wert auf einen friedlichen Kontakt legten. Es grenzte an ein Wunder, daß es dem Frachter überhaupt noch gelungen war, einen wenn auch noch so verstümmelten Hilferuf abzusetzen. Wahrscheinlich hatte er ihn genau in dem Moment geschickt, als das Störfeld zu wirken begon‐ nen hatte. Ren gab sich einen Ruck und beschleunigte die POINT OF. In der Bildkugel war der Fremdraumer markant hervorgehoben, dahinter glitzerte das blau weiße Zentralgestirn des Systems. Das Bild wirkte wie eingefroren. »Die ignorieren uns«, wunderte sich Riker. Außer seinen Worten herrschte Stille in der Kommandozentrale. Dhark konnte die angespannte Atmosphäre beinahe mit Händen greifen, als der Ringraumer seinem bewegungslosen Gegner entge‐ genraste. Sekundenweise brachte er 10.000‐Kilometer‐Distanzen hinter sich. Plötzlich wurde Ren von Zweifeln befallen. Hatten die Unbe‐
kannten ihre Taktik geändert? Was, wenn sie nicht mehr angriffen? Sollte er sie trotzdem unter Feuer nehmen wie eine Tontaube auf dem Schießstand? Seine Zweifel vergingen schneller, als sie begon‐ nen hatten. »Er kommt!« Unbewußt nickte der Kommandant, die Entfernungsangabe nicht aus den Augen lassend. Eine Million Kilometer Distanz! Das war viel für einen Ausflugsdampfer, wenig hingegen für hochgezüchtete Waffensysteme, wie sie in einem Kampf wie diesem zum Einsatz kamen. Das bizarr geformte Schiff beschleunigte mit enormen Wer‐ ten. Zäh verrannen die Sekunden, dann flammte es im All auf, als der Gegner seine Waffen einsetzte. »Feuer!« Gleichzeitig mit seinem Befehl riß Dhark den Ringraumer aus dem Kurs und ließ ihn eine brutale Kurve beschreiben, um ihn auf die Längsseite des Fremdraumers zu bringen. »Sie reagieren und machen unser Manöver mit!« Damit hatte Ren gerechnet. Wieder setzten die Fremden Komp‐ ri‐Nadel ein, trafen jedoch nicht. Nach Millionen von Kilometern verloren sich die Strahlen im All. »Was macht die ASGOR?« »Dalon schießt, bleibt aber auf Distanz. Anscheinend versucht er zu erkennen, was wir vorhaben.« Die POINT OF schlug einen weiteren Haken, feuerte und änderte abermals die Richtung. Wie zwei Boxer tanzten die Schiffe umei‐ nander, um dem Gegner keinen Vorteil einzuräumen. »Direkter Treffer! Intervall angeschlagen!« »Nicht schon wieder. Ren, noch zwei solche Treffer, und wir müs‐ sen uns abermals zurückziehen.« Dhark kniff die Augen zu zwei schmalen Schlitzen zusammen. Mit dem Treffer mußten sie leben, wenn er seinen Plan in die Tat um‐ setzen wollte. Wieder jagten die überlichtschnellen Strahlen in das Doppelintervallum und ließen es flackern. Jeden Moment konnte es
zusammenbrechen. »Checkmaster, jetzt!« stieß er aus. Zwei Dinge geschahen annähernd gleichzeitig: Das Intervall er‐ losch, und der Ringraumer wurde aus dem Normalraum gerissen. Für einen irrwitzigen Moment hatte Ren den Eindruck, einen Strahl auf das ungeschützte Unitall zurasen zu sehen, dann zeigte sich der Gegner aus einer anderen Position. Die POINT OF befand sich auf der anderen Seite des stammähnli‐ chen Gebildes, dessen gesamte Breite vor sich. Der Weltraum schien durch die Bildkugel zu wirbeln. So schnell wie der Checkmaster die POINT OF in Position brachte, war es keinem Menschen möglich. Alle acht Wuchtkanonen jagten ihre Tofiritkugeln gleichzeitig hi‐ naus. In der Schwärze des Raums blitzte es auf, als sie den Schirm des Gegners auf seine härteste Bewährungsprobe stellten und ihn bis an die Grenzen seiner Kapazität belasteten. Das Karomuster pul‐ sierte, schien sich aufzublähen. All diese Eindrücke nahm Dhark in einem Sekundenbruchteil in sich auf. Schon bohrten sich einen halben Meter durchmessende Na‐ delstrahlen in den Gegner. Auch die ASGOR setzte nach. »Karoschirm geknackt!« rief Falluta. »Die ziehen sich zurück!« »Weiterfeuern!« Das Fremdschiff durfte keine Gelegenheit erhalten, seinen Schirm abermals aufzubauen. Sonst war alles vergeblich. An seiner Au‐ ßenhülle zeichnete sich die Zerstörungswirkung mehrerer Treffer ab. Es schoß nicht mehr, sondern hatte den Kurs geändert. »Gegner flieht in das Sonnensystem«, meldete Grappa von der Ortung. »Eine Kurshochrechnung weist auf den vierten Planeten als Ziel hin.« Ren dachte nicht daran, sich abschütteln zu lassen. Die bizarren Schiffe tauchten nicht zum ersten und zweifellos auch nicht zum letzten Mal auf. Unbeachtet der Situation auf der Erde durfte er sich nicht die Gelegenheit entgehen lassen, mehr über die Fremden zu erfahren, wollte man zukünftig gegen sie gewappnet sein. Er machte
sich an die Verfolgung. »Immer noch kein Funkkontakt möglich?« »Negativ. Störfeld unverändert stark.« »Wir feuern weiter, bis das Feld erlischt. Ich will endlich wieder Kontakt zu Dalon haben.« »Aye, Sir!« Dhark wartete auf den nächsten Schlag der Waffensteuerungen. Er wartete vergeblich, denn kein Schuß löste sich mehr aus den An‐ tennen der POINT OF. Plötzlich erlosch die Beleuchtung. Die Kommandozentrale versank in totaler Dunkelheit. * »Sämtliche Systeme sind ausgefallen«, stöhnte Falluta von seinen Kontrollen her. »Nicht die geringsten Anzeigen. Auch die künstliche Schwerkraft funktioniert nicht mehr.« Dhark bemerkte es ebenfalls. Die kleinste Bewegung wollte ihn aus seinem Sessel schweben lassen. Er hielt sich fest, um nicht in die Luft befördert zu werden. Im nächsten Moment sprang die batteriebetriebene Notbe‐ leuchtung an. Die Konturen von Menschen und Maschinen schälten sich aus der Dunkelheit, dann waren die Sichtverhältnisse wieder einigermaßen normal. »Wenigstens etwas«, kommentierte Shanton beiläufig. »Ansonsten funktioniert weiterhin nichts.« »Was ist geschehen?« fragte Dhark. »Arc, eine Idee?« »Zunächst brauchte ich eine, wie ich am Boden bleiben kann. Was für ein verdammter Mist!« Doorn stieß sich ab. Unbeholfen schwebte er ans Instrumentenpult, wo er sich festklammerte. »Das erleichtert die Arbeit nicht gerade.« »Wir sollten dankbar sein, noch Atemluft zu haben«, konterte Be‐ bir. »Ich fürchte nur, daß deren Erneuerung ebenfalls ausgefallen
ist.« »Dhark, können Sie diesen Schlaumeier nicht anweisen, solche Bemerkungen für sich zu behalten? Sie sind nicht besonders förder‐ lich für meine Moral.« Doorn versuchte sich einen Überblick zu verschaffen. Seine Finger malträtierten die Bedienungselemente, so schnell das bei der Schwerelosigkeit möglich war. So oder so erzielte er keinen Erfolg. Er schüttelte den Kopf und versuchte erfolglos, seine langen Haare zu bändigen. »Nichts zu machen?« »Sieht nicht gut aus«, folgerte der Sibirier brummig. »Sämtliche Energie ist weg.« »Haben wir einen Treffer erhalten, der dafür verantwortlich sein könnte?« erkundigte sich Riker. »Wenn die Unbekannten nicht über eine Wunderwaffe verfügen, die sie uns bisher vorenthalten haben, hätten wir den Schuß kommen sehen«, wehrte Shanton ab. »Ich tippe eher auf ein anders geartetes Störfeld als das, welches die Kommunikation lahmgelegt hat.« »Ich stimme Chris zu.« Doorn hantierte weiter am Instrumen‐ tenpult. »Wenn wir wenigstens sehen könnten, was draußen pas‐ siert.« Denn auch die Bildkugel war ausgefallen. »Checkmaster, hörst du mich?« fragte Dhark. Es kam keine Antwort. Auch über die Gedankensteuerung war das Bordgehirn nicht mehr zu erreichen. »Der Checkmaster ist ebenso ausgeschaltet wie der Rest der In‐ strumente. Das gefällt mir ganz und gar nicht, Dhark.« »Mir ebenfalls nicht. Wir stellen nämlich ein hervorragendes Ziel dar. Wenn wir Pech haben, bleiben uns nur ein paar Minuten, die Instrumente wieder in Betrieb zu nehmen, bis wir abgeschossen werden«, drängte Ren. »Wenn der Fremdraumer uns angreift, kön‐ nen wir uns weder verteidigen noch seinen Attacken ausweichen. Welche Optionen haben wir?« »Keine, fürchte ich. Ich kann nicht mal feststellen, ob die Intervalle auch ausgefallen sind.«
»Davon sollten wir ausgehen.« Verzweifelt versuchte Arc Doorn, den Checkmaster über die Tas‐ tatureingabe zu erreichen. »Nichts zu machen. Alles tot. Ich fürchte, wir müssen ihn völlig neu hochfahren.« »Also los!« Shanton war neben seinen Freund geschwebt, um ihn bei seinen Bemühungen zu unterstützen. Gemeinsam machten die beiden Männer sich an die Arbeit. Rasch zeigte sich, daß sie keinen Zugriff auf die Systeme bekamen. Bange Minuten verstrichen, in denen Dhark mit einem Angriff rechnete. Gegen die feindlichen Waffensysteme würde auch das hochverdichtete Unitall mit seinem extrem hohen Schmelzpunkt von 143.750 Grad nicht lange bestehen. In einer Horrorvision malte er sich aus, wie die Strahlen das Metall bis zum Erreichen des kritischen Energieniveaus trieben und es dann zu einer nuklearen Detonation brachten, die in ihrer Heftigkeit ohne Vergleich war. »Ich will ja nicht drängen, meine Herren, aber die Uhr tickt.« »Nur die Ruhe, Dhark«, beschwor Doorn den Kommandanten. »Ein zweieinhalbtausend Jahre alter Mann ist ja kein D‐Zug. Au‐ ßerdem ist in der Luft hängend nicht gut arbeiten. Moment, ich glaube, wir haben es gleich.« Er hieb auf ein Sensorfeld, und ein leises Summen erfüllte die Zentrale. Nacheinander leuchteten Kontrollampen am Instru‐ mentenpult auf und erfüllten es mit Leben. Verschiedene Steue‐ rungseinheiten meldeten Bereitschaft. »Der Checkmaster fährt wieder hoch«, kommentierte Doorn un‐ gläubig. Er schien von seinem eigenen Erfolg überrascht zu sein. »Wenn die Kiste jetzt noch die Schwerkraft einschaltet, bin ich zu‐ frieden«, forderte Shanton. »Fall bloß nicht auf dein Steißbein. Checkmaster, Lagebericht. Was ist mit der Bildkugel los?« Ungeduldig wartete Dhark darauf, daß das Bordgehirn sich end‐ lich meldete. Als es das tat, fiel die Antwort anders aus, als er er‐ wartet hatte.
»Laßt… mich…!« kamen müde klingende Worte über die Sprach‐ ausgabe. Erneut brachen sämtliche Systeme zusammen, und diesmal ließen sie sich trotz aller Bemühungen der beiden technischen Genies nicht wieder hochfahren. Die POINT OF war tot, nicht mehr als eine metallene Hülle, die sämtlichen Widrigkeiten des Universums hilflos ausgesetzt war. * Auch die interne Bordkommunikation gab keinen Mucks von sich. Deshalb schickte Ren Dhark einige Offiziere los, die die Mannschaft über den Stand der Dinge unterrichten sollten. Zudem besetzten sie die neuralgischen Stellen im Schiff. Nachdem sie erst einmal unter‐ richtet waren, fungierten die Cyborgs aufgrund ihrer Schnelligkeit als Boten, wobei ihnen Artus tatkräftige Unterstützung zukommen ließ. Ren selbst blieb in der Zentrale, um die eingehenden Informa‐ tionen zu sammeln und eventuell nötige Maßnahmen zu koordinie‐ ren. Dabei erwiesen sich die rundumlaufenden Gänge, die in alle Schiffsbereiche führten, und die Nottreppen, um auf andere Decks zu gelangen, als große Hilfe. Die Antigravschächte waren ebenso inaktiv wie die Schotts, die im schummrigen Schein der Notbe‐ leuchtung von Hand bedient werden mußten. Seine Hoffnung, Unterstützung aus dem Maschinenraum zu be‐ kommen, zerstob, als der Triebwerkstechniker Alec Berow mit einer Meldung vom Leitenden Ingenieur Miles Congollon kam. Der Chief fand keinen Schaden, der für die Ausfälle verantwortlich war. Sämt‐ liche Aggregate waren in einwandfreiem Zustand, sie verweigerten einfach nur die Arbeit. Amy Stewart, die die Flashdepots inspiziert hatte, kam ebenfalls mit schlechten Nachrichten zurück. »Die Flash können wir durch die hyperkalkulatorische Vernetzung mit dem Checkmaster auch ver‐ gessen. Selbst wenn es uns gelänge, die Notschotts der Hangars
manuell zu öffnen, die Beiboote bewegen sich keinen Meter.« Stunden vergingen, in denen die Lage im Schein der Notbe‐ leuchtung erkundet wurde. Dabei kamen keine nennenswerten Er‐ kenntnisse zustande, und am Ende war man so klug wie zuvor. »Immerhin haben die Fremden von einem Angriff abgesehen«, überlegte Stewart. »Bisher schon.« Doorn winkte verächtlich ab. »Aber ganz bestimmt nicht aus Nächstenliebe. Wir scheinen die ganz schön erwischt zu haben. Ich frage mich, ob die auf dem vierten Planeten gelandet sind.« Davon war Dhark überzeugt. »Wenn sie gelandet sind, dann laut Grappas letzter Peilung dort. Warum sollten sie den Kurs zu einem der lebensfeindlichen Planeten geändert haben?« »Wenn es ihnen dort gelingt, ihre Schäden zu reparieren, tauchen sie früher oder später wieder auf«, unkte Riker. »Bis dahin muß uns etwas eingefallen sein, wenn wir nicht blind dastehen wollen. Dummerweise läßt sich nicht abschätzen, wie schnell wir unterwegs sind.« »Ich spüre nichts.« Wie zur Untermalung seiner Überlegung hob Shanton beide Hände. »Wenn wir nicht davon ausgehen, daß die Andruckabsorber als einzige noch ihre Tätigkeit verrichten, fliegen wir nicht besonders schnell.« Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als ein Ruck durch die Schiffszelle ging. Im gleichen Moment setzte die Schwerkraft wieder ein. Vereinzelte Flüche und Schmerzenslaute drangen an Dharks Ohren. »Die Maschinen sind hochgefahren«, stellte Riker fest. »Scheint so, als ob der Spuk vorbei ist.« »Warum setzt die Normalbeleuchtung dann nicht ein?« wunderte sich Dhark. »Irgendwas stimmt da nicht. Checkmaster, melde dich!« Doch darauf konnte er lange warten. Statt dessen fuhren die Ma‐ schinen wieder runter. »Schon wieder Fehlanzeige. Langsam geht mir der Spuk auf die
Nerven«, beschwerte sich Doorn. Er lauschte mit schiefgelegtem Kopf, und sein Gesicht hellte sich auf. »Andererseits gibt es vielleicht keinen Grund mehr zur Klage. Wenn ich mich nicht täusche, ist nämlich eine Veränderung eingetreten, über die wir nicht allzu un‐ glücklich sein dürften. Ich glaube, ich mache mich mal auf die So‐ cken und sehe nach.« Shanton sah ihn verwundert an. »Und wonach?« Doorn wurde einer Antwort enthoben, als der Cyborg Val Brack in die Zentrale gestürmt kam. »Wir sind gelandet, Sir.« Der Sibirier grinste. »Habe ich es mir doch gedacht. Was uns auf dem Teppich hält, ist nicht die künstliche Schwerkraft des Schiffs, sondern die Gravitation einer Welt. Ich vermute mal, daß der vierte Planet zu einem kleinen Ausflug einlädt.« Schlagartig wurde er wieder ernst. »Hoffentlich sind wir nicht in unmittelbarer Nachbar‐ schaft zu diesem Fremdraumschiff runtergekommen.« »Sind wir das überhaupt? Val, haben Sie einen Beweis für Ihre Behauptung?« »Ja, Sir.« Der junge Fähnrich nickte. »Die große Außenschleuse hat sich wie von Geisterhand einen Spalt weit geöffnet. Er reicht eben aus, um einen Blick nach draußen werfen zu können, mehr ist nicht drin. Hindurchgelangen können wir nicht.« »Ich sehe mir das an«, entschied Dhark. »Arc und Chris, bitte ver‐ suchen Sie, dem Checkmaster ein Lebenszeichen zu entlocken. Wenn Ihnen das nicht gelingt, sind wir aufgeschmissen. Ohne ihn sitzen wir hier fest.« Ren folgte dem jungen Cyborg aus der Zentrale. Beim Schott wurde er schon von Amy Stewart und den beiden anderen Cyborgs erwartet. Durch einen schmalen Spalt fiel Sonnenlicht ins Schiff. Die eingedrungene Luft war atembar. Der Spalt maß nicht mehr als Daumenbreite, gestattete aber einen Blick nach draußen. Sattes Grün war zu erkennen. »Das Schott reagiert immer noch nicht«, erklärte Amy. »Inzwischen habe ich nichts anderes mehr erwartet. Siehst du eine
Möglichkeit, es manuell zu öffnen? Jedenfalls so weit, daß wir ins Freie gelangen können?« »Kurbeln!« Seine Gefährtin lächelte ihm zu. »Wenn es nicht anders geht, muß eben Muskelkraft herhalten. Wenn wir Cyborgs uns ab‐ wechseln, kriegen wir das per Hand auf die Reihe.« Brack stöhnte ungläubig auf, wagte jedoch nicht, einen Kommentar abzugeben. Statt dessen machte er sich als erster an die mühsame Arbeit. Bald schon füllte die aromatische Luft des Planeten den Schleu‐ senraum. Gemeinsam benötigten die vier Cyborgs eine Stunde. Jeder nor‐ male Mensch hätte ein Mehrfaches davon gebraucht und wäre da‐ nach reif für eine längere Auszeit gewesen. »Da draußen sieht es richtig nett aus.« Dhark taxierte die Umgebung und schloß sich Amys Meinung an. Allerdings konnte der erste Eindruck täuschen. Der wies auf eine idyllische Welt mit etwa 0,8 g hin. Ren schätzte die Temperatur auf angenehme zwanzig Grad Celsius. Die POINT OF lag auf einer grasbewachsenen Lichtung, die von weit über hundert Meter hohen Bäumen umgeben war. Nichts deutete auf einheimische Lebewesen hin, auch von dem fremden Schiff war nichts zu sehen. »Haltet die Augen offen«, warnte er die Cyborgs. Mit einem bei‐ läufigen Blick überzeugte er sich davon, daß sie mit Kombistrahlern bewaffnet waren. »Sie erwarten einen Angriff, Sir?« »Ich erwarte ihn nicht, will ihn aber auch nicht ausschließen. Beim geringsten Zwischenfall wünsche ich unterrichtet zu werden. Doorn und Shanton arbeiten zwar dran, doch bis auf weiteres müssen Meldungen noch mündlich erfolgen.« Da er einigermaßen sicher war, daß im Augenblick von außerhalb des Schiffs keine Gefahr drohte, kehrte er in die Zentrale zurück. *
»Schöne Schweinerei.« Doorns Gepolter war das erste, was Dhark vernahm. »Dieser alte Kasten rührt sich einfach nicht.« »Ich nehme an, Ihre Meldung verheißt nichts Gutes.« Ren konnte trotz der Lage ein kurzes Lächeln nicht unterdrücken. Die mürri‐ schen Ausbrüche des Sibiriers hatten einen gewissen Charme. Einem Fremden wäre der Rothaarige damit vielleicht abweisend vorge‐ kommen, doch wenn man ihn lange genug kannte, wußte man sie richtig einzuordnen. Doorn winkte ab. »Tot«, antwortete er genervt. »Die Kiste ist tot.« »Also haben Sie ergebnislos versucht, den Checkmaster neu hochzufahren?« »Eben nicht«, mischte sich Jimmy ein, der sich ungeniert in einem der freien Gliedersessel lümmelte. Seine Depressionen schienen endgültig verflogen, allerdings konnte man da bei Shantons Schöp‐ fung nie wirklich sicher sein. »Die beiden reden und reden, ohne etwas zu tun.« »Chris?« wandte Dhark sich an den schwergewichtigen Mann, der seine keulenartigen Arme oberhalb der fülligen Leibesmitte ver‐ schränkt hatte. »Arc und ich haben eine Reihe von Analysen vorgenommen. Der Zustand des Checkmasters ist auf einen Eingriff von außen zurück‐ zuführen, da sind wir sicher. Leider gibt es keinen Hinweis, wie der vorgenommen wurde. Deshalb können wir auch nicht ausschließen, daß wir noch mehr Störprogramme in Gang setzen, wenn wir den Zugriff zu überwinden versuchen. Bis wir konkret wissen, was dem Checkmaster fehlt, halten wir einen Neustart für zu riskant. Es gibt tausend Unwägbarkeiten, die zu einer Katastrophe führen können. Wir sind deshalb der Meinung…« »Schon gut«, unterbrach der Kommandant ihn. »Gehen Sie vor, wie Sie es für richtig halten. Hauptsache Sie liefern mir Ergebnisse. Je früher wir wieder flugfähig sind, desto besser. Bisher herrscht Ruhe, aber ich vermute, daß der fremde Raumer sich ebenfalls auf dieser
Welt aufhält.« Shanton nickte. »Wir tun, was wir können. Was gibt es denn da draußen zu sehen?« »Auf den ersten Blick – ein kleines Paradies. Es dürfte sich um den vierten Planeten des Systems handeln, an dessen Rand wir in den Kampf verwickelt wurden. Wenn der Schein nicht trügt, ist das eine idyllische kleine Waldwelt.« Jimmy hob den Kopf und schielte zwischen den Männern hin und her. »Hoffentlich keine mit Bäumen, auf denen die Früchte der Sünde wachsen. Am Ende noch in Form von Cognacflaschen.« »Der Töle geht es schon wieder viel zu gut«, fluchte Shanton und drehte seiner Schöpfung demonstrativ den Rücken zu. »Ich hätte sie bei Avatar lassen sollen. Übrigens haben wir keine Erklärung, wie wir hierher gelangt sind. Vielleicht hat unser eigener Schwung uns bis in die Atmosphäre getragen, vielleicht war es reiner Zufall. Nur eines ist klar: Der Checkmaster hat offenbar mit einem letzten Auf‐ bäumen unseren Absturz verhindert.« Dhark erinnerte sich an den harten Ruck, der durch das Schiff ge‐ gangen war. Wäre der Checkmaster nicht kurz aus seiner Lethargie erwacht, würde keiner von ihnen mehr leben. Unversehens kam Alec Berow wieder in die Zentrale gelaufen. Sein Gesicht war von der Anstrengung gerötet. »Gute Nachrichten«, verkündete er. »Chief Congollon hat ein paar Sachen ausprobiert. Auf die Aggregate hat er weiterhin keinen Zugriff, dafür ist es ihm gelungen, mit einem Neustart der Betriebssysteme ein paar der nicht vernetzten autarken Systeme zu aktivieren.« »Immerhin ein Anfang, auch wenn der uns momentan nicht wei‐ terbringt.« »Ich glaube doch, Sir. Sechs funktionstüchtige Antigravplattformen stehen zu Ihrer Verfügung.« Shanton stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Der Chief ist ein Teufelskerl«, lobte Dhark. »Damit besitzen wir
wieder eine gewisse Mobilität. Die werden wir nutzen, indem wir uns ein wenig auf dem Planeten umsehen. Mister Berow, lassen Sie Congollon wissen, daß ich in Kürze darauf zurückkomme.« Berow nickte und stürmte aus der Zentrale.
7. Die Milchstraße, eine Spiralgalaxis mit einem Durchmesser von rund 100.000 Lichtjahren in der Hauptebene und einer Stärke von 5000 Lichtjahren senkrecht zur Ebene. Die Milchstraße, eine von hundert Milliarden weiterer Ster‐ neninseln im Universum. Ihr gewaltiger Wirbel barg mehr als zweihundert Milliarden Sterne und eine Vielzahl anderer Him‐ melskörper, Nebel und Wolken. Um ihr linsenförmiges Zentrum, das einen Durchmesser von 20.000 Lichtjahren aufwies, drehte sich die flachere, kreisförmige Scheibe der Galaxis, um die sich wiederum die spiralförmigen Arme wanden, die Heimat heller Sterne und leuchtender Wolken aus Gas und Staub, in denen ständig neue Sterne geboren wurden, während andere starben. Jenseits dieser Arme umgab die Milchstraße ein gewaltiger Halo aus Kugelstern‐ haufen, den sogenannten »Ahnen des Universums«, da in ihnen die ältesten Sterne zu finden waren, die ein Alter von mindesten 10 Mil‐ liarden Jahren besaßen. Manche Altersbestimmungen gaben ihnen sogar Werte von 14 Milliarden und mehr Jahren. M53 war so ein Kugelhaufen im »Haar der Berenike« – und der am weitesten von der Milchstraße entfernte. Bei einem Durchmesser von 200 Lichtjahren enthielt er geschätzte 13 Millionen Sonnenmassen, lag rund 40.000 Lichtjahre über der galaktischen Hauptebene bei einer Distanz zum Milchstraßenzentrum von 60.000 Lichtjahren. Der Abstand zu Sol belief sich auf rund 56.000 Lichtjahre. Durch den Leerraum zwischen M53 und Milchstraße bewegte sich ein Objekt auf die unendlich fern scheinende Spiralgalaxis zu. Ein winziges Sandkorn von der Farbe des Mediums, durch das es trieb. Es schien leblos in seiner rabenschwarzen Glätte, enthielt aber doch Leben. Es war Zuflucht für fünfzig Individuen, durch deren Adern Blut floß, angetrieben von einem nimmermüden Motor genannt Herz. Sie
atmeten, aßen, ruhten und arbeiteten. Sie kamen zwar aus dem Kugelsternhaufen M53 von einem Pla‐ neten namens Eden, stammten aber aus der Milchstraße. Sie nannten sich Menschen. * Unspektakulär trat die THOMAS aus dem Hyperraum in die Be‐ zugswelt des Normalkontinuums über. Und im gleichen Sekundenbruchteil hüllte sich der Ringraumer in sein Doppelintervallum, wurde unangreifbar für jede normale Be‐ drohung. Die Bildkugeln im Hauptleitstand des Carborit‐Ringraumers waren ohne Ausnahme aktiviert. Elektronische Signale wisperten, während sie die Anzeigen der Pulte mit Informationen belieferten. Sämtliche Hauptsysteme des Schiffes arbeiteten im verschärften Bereitschaftsmodus: Antrieb, Navigation, Waffen, Ortung, Lebens‐ erhaltungssysteme. Die Langreichweitentaster der Passivortung suchten unentwegt die Raumkugel um das Schiff nach verräterischen Echos ab. Der Erste Offizier im Pilotensessel kontrollierte routiniert die An‐ zeigen auf seinem Pult, um etwaige Kursabweichungen fest‐ zustellen. Es gab keinen Grund zu Korrekturen. An diesem Sprung, nur einer unter vielen, war nichts Außer‐ gewöhnliches. »Steht der Kurs, Nummer Eins?« »Keinerlei Abweichungen, Sir«, meldete Manuel Rayes. »Alle Tie‐ fenraumtaster arbeiten. Intervallum auf voller Kapazität. Tarnfelder in Betrieb.« »Ausgezeichnet, Mister Rayes«, sagte Thomas J. Jackson me‐ chanisch. Für einen Augenblick schweiften seine Gedanken ab.
Zwei Standardtage waren vergangen, seit der Carbo‐ rit‐Ringraumer die gigantische Raumhafenhalle von Wallis Indust‐ ries verlassen hatte, um sich auf seine Erprobungsreise zu begeben, die einer Expedition mit unbekanntem, aber dennoch vorher‐ sehbarem Ausgang glich. Niemand an Bord des Ringschiffes rech‐ nete damit, daß sich die THOMAS anders verhalten würde als ihre Pendants aus Unitall. Es waren zweimal 24 Stunden gewesen, die für den Carbo‐ rit‐Ringraumer in der Tat ohne Komplikationen vorübergegangen waren. In manchen Abläufen hatte sich schon eine gewisse Routine etabliert. So ungewöhnlich war das nicht, wich der Ringraumer aus Carborit doch nur marginal von den Ovoidraumern der Rom‐Klasse ab, abgesehen natürlich vom Material, aus dem er gefertigt war. In den letzten 50 Stunden hatte die Mannschaft das Schiff einer ausgedehnten und intensiven Erprobung unterzogen, es sozusagen auf Herz und Nieren geprüft und bis an die Grenzen der Leistungs‐ fähigkeit von Maschinen und Besatzung getrieben. Es hatte nichts zu beanstanden gegeben. Im Gegenteil, der Ovoid‐Ringraumer aus Carborit war besser zu beschleunigen und zu verzögern als die bisher gebauten Exemplare aus Unitall. Dank der geringeren Masse lag der nominale Energie‐ verbrauch des Schiffes um acht Prozent niedriger, die Reichweite vergrößerte sich entsprechend. Thomas J. Jackson war rundum begeistert von den Leistungen des Schiffes. Das einzige, was er als Manko empfand, war, daß die Flash noch aus Unitall bestanden. Allerdings hatte er bereits ein entsprechendes Memorandum an Wallis verfaßt, in dem er nachdrücklich darauf drängte, die Beiboote ebenfalls aus Carborit herzustellen. Zufrieden lehnte er sich in seinem Sitz zurück, stemmte die Füße auf den Boden und hob den Blick. In der zentralen Bildkugel mit ihren unvergleichlichen Möglichkeiten der visuellen Wiedergabe zeigten sich die Sterne der Milchstraße.
Millionen von Sternen. Ein Meer von dicht zusammengedrängten Sonnen in allen Spekt‐ ralklassen, dazwischen Dunkelwolken und geheimnisvoll glühende Nebel. »Sieh an die Werke Gottes und bedenke, diese hat er in seiner unendlichen Güte geschaffen, damit der Mensch ihn preise«, zitierte Jackson halblaut einen Spruch aus dem Buch der Prediger. »Status?« fragte er dann in normaler Lautstärke. »Annäherung an die Milchstraße jetzt bei 20.000 Lichtjahren«, er‐ widerte Alain Sanet leidenschaftslos. Das letzte Stadium des Erprobungsprogrammes hatte darin be‐ standen, mehrere Transitionssprünge zu absolvieren. Die hatten die THOMAS schon fast zum Rand der Milchstraße gebracht. Dennoch befand sie sich noch immer in einem sternenlosen Abgrund, gleich einer winzigen Nußschale inmitten eines uferlosen Ozeans ohne Aussicht darauf, den Kiel auf den Strand eines Eilands zu setzen, auf dem man sich von den Strapazen der langen Reise erholen konnte. »Normalsicht!« befahl Jackson. Als der Hyperkalkulator den Vergrößerungsfaktor der Bildkugel wieder auf das normale Maß zurückfuhr, gewann die Besatzung den Eindruck, als stürze die THOMAS rückwärts durch Zeit und Raum. Um sie herum war wieder die Ödnis des Sternenleeren Abgrundes zwischen M53 und der Milchstraße. »Irgend etwas zu sehen dort draußen, Mister Sanet?« fragte Jack‐ son laut in die wispernde Geschäftigkeit des Hauptleitstandes. »Or‐ tungsanzeigen?« »Negativ, General«, antwortete der Funk‐ und Ortungsoffizier und kontrollierte vorsichtshalber noch einmal seine Anzeigen. »Keine Schiffsbewegungen in diesem Sektor.« »Funksignale?« »Sämtliche Phasen sind stumm«, beeilte sich Grissom Lewald mit seiner Antwort; der Funktechniker hatte General Thomas J. Jackson bereits an Bord des Carborit‐Ikosaeders TERENCE in der gleichen
Position gedient. »Da draußen ist nichts, Sir.« Bislang hatte man die Leerräume zwischen den Sterneninseln nur dazu benutzt, um möglichst rasch von Punkt A nach Punkt B zu gelangen. Meist mittels Transitionen, die kaum dazu geeignet waren, einen Blick auf jene unergründlichen Tiefen zu werfen, geschweige denn sie etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Insofern war der Terminus »Nichts«, den Lewald angewendet hatte, berechtigt. Wenngleich »Nichts« auch unendlich viel bedeuten konnte. Unwillkürlich drängten sich Jackson die Anfangszeilen aus der Genesis auf, dem ersten Buch Mose: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Und die Erde war wüst und leer, und es war finster in der Tiefe… So finster wie hier in dieser Sternenlosen Leere zwischen den Le‐ bensinseln. So mußte es gewesen sein, bevor das Licht kam. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht… »Sir! Sagten Sie etwas?« Jackson wandte den Kopf und sah sich von seinem Ersten Offizier gemustert. »Nein, nein, Nummer Eins, ich sagte nichts.« Jackson lächelte an‐ deutungsweise. »Mister Lewald!« »Kommandant?« »Sind die Funksprüche zum Flottenhauptquartier unterwegs?« »Sind per To‐Richtfunk auf dem Weg nach Eden gegangen, Sir«, bestätigte der Funker: »Komprimiert und verschlüsselt, wie von Ihnen angeordnet.« »Ausgezeichnet«, brachte der General seine Zufriedenheit über die erfolgte Aktion zum Ausdruck. Er lehnte sich etwas entspannter im Kommandantensessel zurück und striegelte seinen Vollbart, der ihm das Aussehen eines alttesta‐ mentarischen Propheten gab, während er die vom Hyperkalkulator in die Bildkugel projizierten Datenreihen einer Prüfung unterzog. Es gab keine Abweichungen von den eingegebenen Werten. Der Hyperkalkulator hielt die THOMAS exakt auf dem vorbe‐
rechneten Kurs, an dessen Endpunkt die innere Region des Orion‐ armes mit dem Sol‐System lag. Gemessen an den Dimensionen des umgebenden Sternenlosen Mediums bewegte sich der schwarze Ringraumer scheinbar ohne Fahrt durch den Weltraum. Ein Eindruck, der täuschte. In Wirklichkeit raste die THOMAS mit vielfacher Lichtge‐ schwindigkeit entlang ihres programmierten Kurses durch die Tie‐ fen des Alls. Schwach reflektierte die carbonschwarze Hülle den Schein ent‐ fernter Galaxien und Sterncluster. »General!« Die Stimme York Meriers ertönte in seinem Rücken. Jackson wandte sich seinem kanadischen Waffenleitoffizier zu, der mit zwei Bechern in der Hand hinter ihn getreten war. Mit seinen 51 Jahren war Merier das älteste Besatzungsmitglied an Bord der THOMAS. Ein Mann mit großer Raumerfahrung, der sich in allen Lagen stets abgeklärt und routiniert verhielt. »Kaffee, Sir?« »Danke, Major«, sagte Jackson und streckte die Hand aus. »Sollten Sie nicht an Ihren Waffenleitsystemen sein, Nummer Zwei?« »Leutnant Tepermann hat die Kontrolle übernommen«, erklärte Merier ungerührt und nickte in die Richtung seines Waf‐ fenleitstandes. Der junge Offizier war einen Meter achtzig groß, knapp neunzig Kilo schwer und hatte kühne Züge – ein eckiges Kinn, eine große Nase und tiefblaue Augen mit vielen Lachfältchen. Jackson wußte nicht warum, aber bei Tepermanns Anblick hatte er immer die Vor‐ stellung, ihn am Steuer eines Piratendreimasters zu sehen, mit einem gekrümmten Säbel im breiten Gürtel und einem karierten Tuch auf dem Kopf, unter dem die pechschwarzen Haare vom Wind gezaust wurden. »Man muß den Jungfüchsen auch mal eine Chance geben«, fuhr Merier fort. »Er kann nichts anstellen, wir haben keine Bedrohungs‐ situation, aber es gibt ihm das Gefühl, einen wichtigen Beitrag zur
Schiffssicherheit leisten zu dürfen. Sie verstehen schon, Sir.« Thomas J. Jackson verstand. Was seine Nummer Zwei da prakti‐ zierte, entsprang dem Flottenhandbuch über die Führung von Un‐ tergebenen, ein Standardwerk, das er so gut kannte wie die Bibel. »Dennoch«, versetzte Merier jetzt. »Vertrauen ist eine Sache, Kontrolle eine andere. Sie entschuldigen mich, Sir.« Mit einem Nicken entließ Jackson seinen Führungsoffizier. Er drehte sich wieder in Richtung der Hauptbildkugel und ver‐ tiefte sich weiter in die Betrachtung des extrastellaren Raumes. Er wollte es zumindest. Aber etwas Unvorhergesehenes übernahm die Regie und zwang ihn, seine Kontemplation für eine Weile auf Eis zu legen. »General!« ließ sich Alain Sanet mit erhobener Stimme vernehmen. »Die Taster haben ein Objekt aufgespürt!« »Hier draußen?« »Ja, Sir.« »Entfernung?« »Ein halbes Lichtjahr, acht Uhr Backbord voraus.« »Gibt es schon näheren Aufschluß darüber, womit wir es zu tun haben?« fragte Jackson. »Ist es natürlichen Ursprungs?« »Nein, Sir. Für ein natürliches Objekt enthält es zuviel Iridium und veredelte Metalle.« »Edelmetalle weisen auch Asteroiden und andere Kleinplaneten auf«, bemerkte Rayes schulterzuckend. »Es gibt sicher in dieser Leere eine unvorstellbar hohe Zahl von Brocken planetarischer, stellarer und galaktischer Herkunft. Nichts ist je wirklich leer.« »Ich sprach von veredelten, also bearbeiteten Metallen. Das ist ein Unterschied.« »In der Tat«, bekräftige Deckoffizier Marinelli, dessen Hauptfach an der Akademie in Mailand Metallurgie und Werkstoffkunde ge‐ wesen war. »Also ein künstliches Objekt. Ein Schiff?« »Ist nicht auszuschließen«, beantwortete der Ortungsoffizier die
Frage seines Generals. »Ist sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit zu‐ treffend.« »Anzeichen von Energie?« »Keine, Sir.« Jacksons Entscheidung kam augenblicklich. »Nummer Eins, gehen Sie unter Licht.« »Aye, Sir!« Unter Manuel Rayes’ Schaltungen verringerte die THOMAS ihre Geschwindigkeit. Der Hyperkalkulator koordinierte dabei die nega‐ tive Beschleunigung aller Aggregate und übernahm die Ausführung, so daß sich Rayes’ Handlungen auf wenige Handgriffe beschränkten. Ringraumer konnten zur Not auch mit nur zwei Leuten und sogar vollautomatisch geflogen werden, wenn man sämtliche Systempa‐ rameter komplett dem Bordgehirn überließ. »Schon zu erkennen, worum es sich handeln könnte?« fragte Ge‐ neral Jackson. »Die Daten kommen gerade, Sir.« Alain Sanets Finger glitten über die Sensortasten seiner Konsole, als streichele er die Haut einer Frau. »He, was ist das…?« rief Manuel Rayes, als er sah, was die Bild‐ kugel preisgab. Nach menschlichen Vorstellungen entsprach das Objekt so gar nicht dem, was man unter einem Raumschiff verstand: Es war groß, zugleich hatte es in seiner komplizierten Ausformung ein irritierend ungewöhnliches Aussehen. Als Schema kristallisierte sich eine For‐ mation aus schlanken Spitzkegeln und abgeschrägten, gebrochenen, geschliffenen Flächen und Facetten heraus. Keines der Merkmale zeigte sich, die man bei einem Raumschiff erwartet hätte. Aus der Ferne glich es einem unregelmäßig geformten Kristall; aus der Nähe einer Stadt mit Türmen und Kanzeln, mit Torbögen und Pilastern, Viadukten und Brücken in allen Formen. Eine fliegende Stadt, die sich auf einem riesigen, konvexen Vielflächner, einem nahezu voll‐ kommenen Polyeder erhob. So bizarr es auch aussah, es war dennoch unstrittig Ausdruck
schöpferischer Intelligenz und nie und nimmer eine Laune der Na‐ tur. Ein Antrieb nach menschlichem Verständnis war nicht auszu‐ machen. »Was tun wir, Sir?« »Bringen Sie uns näher ran, Nummer Eins«, befahl Jackson nach kurzem Überlegen. »Wir hecheln keinem Zeitplan hinterher, sind frei in unseren Entscheidungen und könnten theoretisch einmal rund um das Universum fliegen.« »Aye, Sir. Einmal rund um das Universum. Ihr Wunsch sei mir Befehl…« Verhaltenes Lachen wurde laut. »Sollten wir nicht auf Gefechtsalarm gehen, General?« gab Merier sein Bedenken kund. »Wer weiß, was uns erwartet.« »Irgendwelche Biozeichen, Alain?« fragte Jackson. »Keine, General. Absolut nichts.« »Hinweise auf Waffenaktivitäten?« »Keine.« »Da haben Sie Ihre Antwort«, gab Jackson seiner Nummer Drei zu verstehen. »Außerdem vertraue ich auf unser Intervallum.« Inzwischen war die THOMAS nahe genug herangekommen und begann mit einer vorsichtigen Umkreisung. Sanet schaltete Bildkugel und Sichtschirme auf Normalsicht. »Wir brauchen Licht«, klagte Merier. »Viel Licht. In dieser Leere gibt es einfach zu wenig davon. Ich kann kaum etwas erkennen.« »Bitte, meine Herren. Es werde Licht«, verkündete der Chef‐ ingenieur, der seinen Maschinenraum verlassen hatte, um von der Hauptleitzentrale die Energiesysteme zu bedienen. Er schaltete die »vordere« Phalanx der Suchscheinwerfer der THOMAS ein. Von den Scheinwerfern voll erfaßt, ragte die Sternen‐ stadt vor ihnen auf. Und jetzt sah man, daß sie längst nicht mehr so intakt war, wie es aus der Entfernung zunächst den Anschein hatte. An den stumpfen Flächen der Schrägen hafteten Staubpartikel und
winzige Meteoriten. Die Hülle war pockennarbig vom pausenlosen Bombardement winzigster Sternensplitter. Dort, wo größere Meteo‐ riten Wunden in das Metall geschlagen hatten, waren klaffende Wunden entstanden, über die man ins Innere gelangen konnte. Die Sternenstadt – eine bessere Bezeichnung hatte noch niemand gefunden – drehte sich unbeholfen und sehr langsam um eine ima‐ ginäre Längsachse. Keine gewollte Bewegung, sondern vermutlich eher ein zufälliger Drehimpuls, hervorgerufen durch tangential auf‐ treffende Meteoriten. »Das da«, Sanet deutete wie anklagend mit dem Finger auf das Abbild der Sternenstadt, »stammt nicht aus unserer Galaxis.« »Es stammt vermutlich nicht mal aus unserer Zeit«, versetzte Me‐ rier. »Es ist sicher uralt«, bestätigte Sanet. »Was machen wir mit unserem Fund?« wollte Merier wissen. »Versuchen wir doch erst einmal anhand des Bewegungsimpulses festzustellen, woher die Sternenstadt«, jetzt verwendete sogar Tho‐ mas J. Jackson schon wie selbstverständlich diese Bezeichnung, »ursprünglich gekommen ist und welchem Kurs sie folgt.« »Bin schon dabei, Sir.« Alain Sanet nahm in Windeseile verschiedene Schaltungen vor. »Wir könnten aber auch selbst ein paar Geheimnisse lüften, wenn wir schon mal da sind«, schlug York Merier vor. »Wir sollten wirk‐ lich die Gelegenheit beim Schopf packen. Wir sind zwar ein militä‐ risches Schiff, aber was hält uns davon ab, ein wenig Feldforschung zu betreiben, Kommandant?« Alain Sanet studierte das karge Datenmaterial, das ihm sein Rechner offerierte. Dann nahm er sein Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hm, dem Vektor zufolge kam das Schiff, die Sternen‐ stadt, aus der Milchstraße und wollte zu einem Punkt irgendwo am Rande des Universums.« »Das hilft uns nun auch nicht gerade sehr viel«, zeigte sich Jackson ernüchtert.
»Was halten Sie von meinem Vorschlag, General?« brachte sich York Merier wieder in Erinnerung. »Wenig, offengestanden. Wo wollen Sie anfangen zu suchen? Das Gebilde ist riesig. Es ist unbekannt, wie es im Innern aussieht. Es kann so fremd sein, daß Sie schon nach wenigen Metern die Orien‐ tierung verlieren. Für zwei oder drei Leute ist das Risiko einfach zu groß, heil aus diesem Irrgarten wieder herauszukommen. Es kann sein, daß Sie Tage darin zubringen, ohne mehr gesehen zu haben als eine Ebene oder zwei. Nein«, Jackson schüttelte entschieden den Kopf, »das ist eindeutig eine Aufgabe für Spezialisten. Für einen ganzen Stab von Spezialisten. Wir haben an Bord weder die Aus‐ rüstung dafür, die zu einer gezielte Erkundung nötig wäre, noch sind wir entsprechend geschult. Dem vermutlichen Alter dieser Sternenstadt zufolge müssen ganze Gruppen von Kosmohistorikern und Xenobiologen ran. Haben wir jemanden an Bord, der diese Voraussetzungen erfüllt? Nein! Hätten wir jemanden, wäre dies nur ein einzelner. Er könnte sein Leben darin zubringen, ohne mehr zu erreichen, als ein wenig an der Oberfläche gekratzt zu haben. Ver‐ stehen Sie jetzt, weshalb ich keinen Sinn in Ihrem Vorschlag sehe? Ja? Gut. Wir können nur eines machen, wir fertigen einen Bericht an, den wir an das Kosmohistorische Institut auf Eden schicken, veran‐ kern eine Boje, so daß man ihre Position jederzeit wiederfinden kann. Mehr können wir nicht tun. Irgendwer wird sich irgendwann sicher einmal genauer mit ihr auseinandersetzen. Mister Rayes. Bringen Sie uns von hier weg!« »Zu Befehl, Sir.«
8. »Wir starten in sechs Gruppen zu acht Personen. Ich will alle ein‐ satzbereiten Plattformen draußen haben. So können wir einen grö‐ ßeren Bereich absuchen.« Riker verzog das Gesicht. »Gut, daß du wir sagst. Diesmal bin ich nämlich dabei, mein Lieber.« Dhark nickte. »Keine Sorge, ich hatte bereits an dich gedacht, Dan. Du und ich übernehmen jeweils die Führung einer Gruppe.« In aller Eile stellte er sechs schlagkräftige Gruppen zusammen. Neben sich selbst und Riker teilte er Leon Bebir, Manu Tschobe und die Leutnants Hornig und Hill als Gruppenführer ein. Dhark entging nicht Fallutas fragender Blick. »Ich brauche einen Piloten an Bord, Hen«, erklärte er. »Wir wissen weder, was da draußen, noch, was bei der POINT OF passiert. Sollte sie vor unserer Rückkehr flugtauglich werden und aus welchen Gründen auch immer zum Start gezwungen sein, haben Sie den ausdrücklichen Befehl, von hier zu verschwinden.« »Aber, Sir…« »Zumindest so lange, bis keine Gefahr für das Schiff mehr besteht. Danach untersteht es Ihrem Kommando, und Sie haben freie Hand für weitere Entscheidungen. Ich verlasse mich auf Sie, Hen. Ich er‐ warte nur, daß Sie umsichtig handeln und kein Risiko eingehen.« »Aye, Commander. Gibt es Befehle für den Fall, daß Dalon sich meldet?« »Keine außer dem allgemeinen Informationsaustausch.« Ren be‐ kam ein schlechtes Gewissen, weil er zum ersten Mal seit dem Kampf an den Worgun und seine ASGOR dachte. Es war einfach keine Zeit dazu gewesen. Außerdem war Dalon in über zwei Jahr‐ tausenden häufiger auf sich allein gestellt gewesen, als Dhark das Zeit seines Lebens jemals sein würde. Es war nicht davon auszuge‐ hen, daß man sich Sorgen um ihn machen mußte.
»Wir brechen mit einer kleinen Streitmacht auf«, überlegte Riker. »Fürchtest du nicht, daß wir damit zuviel Aufsehen erregen?« »Genau das müssen wir vermeiden. Ich will auch nicht, daß wir uns auf Auseinandersetzungen einlassen. Wir wollen erkunden und herausfinden, wo das fremde Schiff steckt, mehr nicht. Wenn wir seinen Aufenthaltsort kennen, haben wir einen strategischen Vorteil. Außerdem will ich wissen, wie stark beschädigt es ist.« »Wie verständigen wir uns da draußen?« »Wir nehmen Signalraketen mit. Wer das Schiff entdeckt, gibt ein Signal, damit die anderen nicht sinnlos weitersuchen. Danach kehren sämtliche Gruppen sofort zur POINT OF zurück. Es ist unbedingt darauf zu achten, daß es keine Verfolger gibt, die unseren Standort entdecken.« Ren wandte sich an Artus. »Ich würde dich gern in meiner Gruppe dabeihaben, Artus.« Der Roboter zögerte. »Vielen Dank für das Angebot, Dhark. Ich denke allerdings, daß meine Fähigkeiten hier mehr von Nutzen sind. Wenn du nichts dagegen hast, bleibe ich hier, um Doorn und Shan‐ ton zu unterstützen.« Ren verbarg seine Verwunderung. Er hätte darauf gewettet, daß Artus bei dem bevorstehenden Ausflug unbedingt dabeisein wollte. Sonst ließ er keine Gelegenheit aus, an einer Expedition teilzuneh‐ men, sondern riß sich geradezu darum. »Einverstanden. Ich hoffe, ihr findet eine Lösung. Vorrangig vor allem anderen ist die Einsatzbereitschaft der POINT OF.« Es dauerte nicht lange, bis die Mannschaftsmitglieder, die Dhark den einzelnen Gruppen zugeteilt hatte, zusammengetrommelt und mit handlichen Kombistrahlern oder Multikarabinern ausgerüstet waren. Ganz wohl war ihm nicht bei der Vorstellung, einen solch großen Teil der Besatzung ins Freie zu scheuchen, doch ihm blieb keine andere Wahl. Wenn der fremde Raumer auf der Planetenober‐ fläche war, mußten sie unbedingt erfahren, wie weit seine Reparatur fortgeschritten und ob mit einem neuerlichen Angriff zu rechnen war.
»Artus’ Ablehnung hat mich gewundert«, teilte Riker seinem Freund mit. »Ehrlich gesagt, mich auch.« Ren winkte ab. »Wir sollten uns nicht zuviel dabei denken. Du kennst ihn doch. Er tut nur, was er will. Wahrscheinlich hat er seine Gründe.« »Ja, wahrscheinlich.« Die hatte Artus in der Tat. Nur sahen sie ganz anders aus, als die beiden Männer vermuteten. * Die Kommandozentrale war ungewöhnlich verlassen. Nur Doorn, Shanton samt Jimmy, Falluta und Artus hielten sich darin auf. Der Erste Offizier starrte versonnen an die Stelle, wo sonst die Bildkugel zu sehen war. Nun, da weder sie noch der Checkmaster sich in Be‐ trieb nehmen ließen, schien der POINT OF ihre Seele zu fehlen. Der ehemalige Hope‐Kolonist löste sich aus seiner Erstarrung und rich‐ tete seine Aufmerksamkeit den beiden Technikern zu, die sich leise unterhielten. »Sie müssen nicht flüstern, meine Herren. Ich bin noch nicht ein‐ geschlafen. Schon eine Idee?« »Wir könnten damit beginnen, ein paar der peripheren Anlagen einzuschalten«, hob Doorn seine Stimme an. »Wenn sie sich denn einschalten lassen ohne Energiezufuhr.« Shanton grinste. »Das sollte doch wohl nicht heißen, daß aus‐ gerechnet du die Flinte ins Korn wirfst?« »Wohl kaum. Ich habe nämlich eine Idee. Ein Teil der Not‐ stromaggregate läuft, um die Notbeleuchtung in Betrieb zu halten. In einigen Teilen der POINT OF ist das unnötig, weil da eh keiner un‐ terwegs ist.« »Also können wir ein bißchen Saft von diesen Aggregaten ab‐ zweigen. Gar keine so schlechte Idee. Hätte glatt von mir sein kön‐ nen.«
»Klar. Wenn du zwei weitere Wochen Zeit gehabt hättest, darüber nachzudenken«, stichelte Jimmy. Shanton ignorierte den nachgebildeten Scotchterrier. »Was hältst du von der Idee, Artus?« Der Roboter, der bis eben regungslos dagestanden hatte, machte eine ruckartige Bewegung. »Ich weiß nicht… gute Idee… vielleicht.« »Sag mal, hast du überhaupt zugehört?« »Ich höre immer zu, das sollte bekannt sein.« Plötzlich drehte Ar‐ tus sich um und ging zum Ausgang. »Mir ist nur gerade etwas ein‐ gefallen, was ich Ren Dhark vor seinem Aufbruch noch sagen muß. Ich bin gleich wieder zurück.« Verwirrt sah Falluta dem Roboter nach, als der die Zentrale verließ. »Was ist denn mit dem los? Erst lehnt er Dharks Ansinnen ab, und jetzt rennt er hinterher. Ich werde aus dem Blechmann einfach nicht schlau.« »Wer wird das schon?« fragte Shanton. »Wenn es ihm so wichtig ist, soll er gehen. Besonders gesprächig war er sowieso nicht. Ei‐ gentlich hat er noch kein einziges Wort gesagt, seit Dhark und die anderen sich auf den Weg gemacht haben. Wie auch immer, der kommt gleich zurück, weil die Außenteams nämlich bereits aufgeb‐ rochen sind. Da kommt er zu spät.« Jimmy sprang aus dem Sessel und gesellte sich zu dem Mann, den er trotz aller Frotzeleien immer noch als sein Herrchen anerkannte. »Irgendwas stimmt da nicht.« »Wer sagt dir das? Dein Gefühl?« »Meine Fähigkeit, scharf und analytisch zu denken und präzise Schlußfolgerungen zu ziehen. Hast du vielleicht schon mal einen geistesabwesenden Artus erlebt? Na bitte, ich auch nicht. Genau das war aber eben der Fall. Ich habe ihn nämlich beobachtet, während ihr beide die Zeit sinnvoll damit vertan habt, keinen Schritt weiterzu‐ kommen. Ich sage euch, Artus war eben geistesabwesend. Das kann nur bedeuten, daß er mit einem extrem vielschichtigen Problem be‐ schäftigt war.«
»Du mußt es ja wissen.« Shanton hob eine Hand und deutete mit dem Daumen über die Schulter zum Ausgang. »Warum folgst du ihm nicht, wenn du so sicher bist, und siehst nach, was er im Schilde führt? Dann kannst du hier wenigstens keinen Schaden anrichten.« »Gute Idee«, befand Jimmy nach kurzem Überlegen. »Zumal ich mich blind auf dich verlassen kann. Auch ohne Unterstützung bist du fähig, genug irreparablen Schaden für uns beide anzurichten.« Er fuhr die Kugeln aus seinen Pfoten und rollte auf ihnen aus der Zentrale. Falluta hatte nachdenklich den Kopf in die Hände gestützt. »Auch wenn ich mich mit Artus und Jimmy nicht besonders auskenne, kommt es mir irgendwie komisch vor, was ich da eben erlebt habe.« »Liebe Güte, Falluta, fangen Sie nicht auch noch an«, brummte Doorn genervt. »Oder ist das ansteckend? Wir haben wahrlich an‐ dere Probleme, als uns um zwei egozentrische Roboter zu kümmern. Nichts für ungut, Chris.« »Kein Problem, Arc. Im Gegenteil, ich bin ganz deiner Meinung.« Schließlich kannte Shanton die Eskapaden seines Vierbeiners zur Genüge. Nicht im Traum hätte er daran gedacht, daß Jimmy genau auf der richtigen Spur war. * Sie waren bereits gestartet. Ich konnte sehen, wie die sechs A‐Gravplattformen sternförmig in verschiedene Richtungen aus‐ schwärmten. Niemand an Bord registrierte, daß ich in der offenen Schleuse stand. Damit hatte ich gerechnet, basierte doch genau darauf mein Plan. Dhark und die Besatzungen durften nicht erfahren, was ich vorhatte, sonst hätten sie mich von meinem Vorhaben abgehalten. Ebenso Falluta, Doorn und Shanton. Als die Plattformen über den Baumwipfeln verschwanden und ich
sicher war, nicht mehr entdeckt werden zu können, kletterte ich ins Freie. Da die Bordsensoren der POINT OF nicht funktionierten, brauchte ich auch nicht zu befürchten, daß Falluta in der Komman‐ dozentrale meinen Ausstieg mitbekam. Sollte er sich doch wundern, wohin ich verschwunden war! Die Wahrheit würde er nur schwer‐ lich erkennen. Artus hat euch verlassen und ist auf dem Weg zu seinen geistigen Brü‐ dern. Während ich zum Rand der Lichtung lief, kam die Imposanz der über hundert Meter hohen Bäume richtig zur Geltung. Manche von ihnen waren schlank wie Tannen, andere hatten mächtige, weitaus‐ ladende Astgeflechte, die grünblaues Blattwerk trugen und oben so breit waren wie am Grund. Ich verarbeitete die Eindrücke, die meine Sensoren aufnahmen, in einem Sekundenbruchteil. Gleichzeitig verspürte ich einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil ich mich einfach so davonstahl. Ren Dhark und seine Gefährten hatten sich mir gegenüber stets korrekt verhalten, daher war es vielleicht nicht in Ordnung, ohne eine Erklärung meinen eigenen Weg zu gehen. Ich verscheuchte den Gedanken, denn ich hatte mich entschieden. Es gab kein Zurück. * Dan Riker pilotierte die von ihm befehligte Plattform selbst. Er steuerte sie dicht über den Baumwipfeln dahin, die ein ab‐ wechslungsreiches Bild boten. Der Mischwald aus zahlreichen ver‐ schiedenen Baumarten erstreckte sich über viele Kilometer und er‐ schien aus der Höhe wie ein blaugrünes Meer, das sich sanft wiegte. Mehrmals waren Lichtungen ähnlich der zu erkennen, auf der die POINT OF niedergegangen war. Von einheimischen Tieren war weiterhin nichts zu entdecken, allerdings war man weitgehend auf optische Beobachtung angewiesen. Die Plattform besaß lediglich leistungsschwache Meßinstrumente, und der Antrieb ermöglichte
keinen allzu schnellen Flug. »Diese Welt scheint tatsächlich ein Paradies zu sein«, bemerkte Val Brack, der zu Rikers Gruppe gehörte. »Klima und Flora laden gera‐ dezu zu einem Urlaub ein, die Schwerkraft ist angenehm niedrig. Man fühlt sich regelrecht beschwingt.« »Nur die Tatsache, daß die Fremden womöglich in der Nähe sind, vergällt einem den ganzen Spaß.« Bisher gab es keine Spur von dem an einen riesigen Baumstamm gemahnenden Raumschiff. Dennoch war Dan überzeugt davon, daß es ebenfalls auf dieser Welt gelandet war, da sie als einzige in dem System akzeptable Umweltbedingungen aufwies. »Vielleicht verstecken sie sich in den Bergen«, überlegte der Cy‐ borg. »Jedenfalls solange, bis sie ihr Schiff repariert haben.« »Dann sehen wir uns dort mal um.« Etwa zwanzig Kilometer voraus erstreckte sich ein Hochge‐ birgszug. Riker korrigierte den Kurs und hielt auf die nächsten Ge‐ birgsausläufer zu. Die Besatzung hielt unentwegt die Umgebung im Auge. Niemand konnte sagen, wie schwer das fremde Schiff be‐ schädigt war. Wenn man Pech hatte, war es inzwischen repariert und tauchte plötzlich wie aus dem Nichts auf. In dem Fall hatte die Mannschaft der unbewaffneten Plattform schlechte Karten. Doch auf den nächsten Kilometern blieb alles ruhig. Allmählich begann der Untergrund anzusteigen und ging in bewaldete Hügel über, die mehrere hundert Meter in die Höhe reichten, bis sie immer steiler wurden. Die Vegetation war nicht mehr so reichhaltig, die schon anfangs nicht besonders dichtstehenden Bäume wurden bald immer weiter auseinandergerissen. Einzeln oder in Gruppen suchten sie in dem felsigen Boden Halt. »Immerhin gab es bisher keine Steilwände, hinter denen eine böse Überraschung lauern kann. Aber da vorn wird es unübersichtlicher.« Riker drosselte die Geschwindigkeit und steuerte die Plattform über eine Geröllhalde, die in 3000 Metern Höhe lag. Ein Stück voraus ragten mächtige Felsformationen auf und versperrten wie eine gi‐
gantische graue Mauer den Weg. »Ich fürchte, da kommen wir nicht durch«, befürchtete der Tech‐ niker Igor Varnuk, der zu Rikers Gruppe gehörte. »Da hilft wohl nur der Weg nach oben.« »Das wollen wir doch erst mal sehen«, wehrte der Pilot ab. Bisher hatte er es bewußt vermieden, allzu hoch aufzusteigen, um nicht bereits von weitem gesehen zu werden. Er wich einer zerklüfteten Wand aus und umkurvte sie in weitem Bogen. Hier konnte das fremde Schiff ohnehin nicht gelandet sein. »Ich glaube sowieso nicht, daß ausgerechnet wir fündig werden. Wenn überhaupt jemand.« Riker ersparte sich einen Kommentar. Er spürte ein ungewohntes Kribbeln im Nacken, als sich vor der Plattform eine granitene Rampe in den Fels wand. Die kilometerhohen Felswände zu beiden Seiten wirkten erdrückend. Vorsichtig steuerte er das Gefährt in den natür‐ lichen Durchlaß, der sich allmählich zu einem ausladenden Paß er‐ weiterte. An manchen Stellen bohrten sich Kanäle in die Wände. »Perforiert wie ein Schweizer Käse. Wenn sich da drin jemand versteckt, fliegen wir vorbei, ohne ihn zu bemerken«, unkte Brack. »Oder wir stolpern drüber, was auch nicht besser ist.« Riker winkte ab. »Wir suchen nicht nach einem unscheinbaren Flash, sondern nach einem Gebilde von 350 Metern Länge. Darüber stolpert man nicht so einfach.« Dennoch senkte er die Geschwindigkeit noch weiter, um kein ab‐ ruptes Bremsen zu riskieren. Im Notfall konnte er die Plattform im‐ mer noch steil nach oben ziehen, auch wenn er in dieser Einöde, in der es nur noch spärliche Vegetation gab, nicht damit rechnete. Plötzlich lag eine weite, gras‐ und blumenbewachsene Ebene vor ihnen. »Ein Hochtal!« Riker schätzte, daß es einen Kilometer im Durchmesser aufwies. Bizarre Felsformationen schlossen es ein und entzogen es der Sicht, wenn man nicht aus der Luft oder durch den Paß kam. Ein ziemlich
gutes Versteck, und die Fremden hatten es genutzt. Inmitten der von bunten Blumen gesprenkelten Alm lag das fremde Schiff. Ringsum herrschte hektische Betriebsamkeit. * »Roboter!« Es waren Tausende. Sie waren ausgeschwärmt und machten sich an verschiedenen Stellen der Schiffshülle zu schaffen. Offenbar ar‐ beiteten sie an den Schäden, die sich das Schiff bei dem vorange‐ gangenen Raumgefecht zugezogen hatte. Unwillkürlich erinnerten sie Riker an die bizarren Maschinenkonstruktionen, mit denen die Menschen es auf dem Schrottplaneten zu tun bekommen hatten, wo sie auf Dalon getroffen waren. Zahlreiche unterschiedliche Typen waren darunter, die meisten davon um die zwei Meter groß. »Das Schiff ist anscheinend flugunfähig«, stellte Brack fest. »Aber bei dem Tempo, das die Roboter an den Tag legen, brauchen sie nicht lange, um es wieder hinzubekommen.« Das fürchtete Riker auch. Er zwang die Plattform in eine enge Kurve und dirigierte sie bis auf drei Meter an eine Felswand heran. Verzweifelt hielt er nach einer Deckung Ausschau, denn bisher hat‐ ten die emsigen Maschinen sie noch nicht bemerkt. »Wir sollten uns zurückziehen.« »Daran dachte ich auch gerade. Aber wenn es geht, möchte ich weitere Informationen sammeln. Wir müssen versuchen zu erken‐ nen, wie schwer das Schiff beschädigt ist.« »Selbst auf die Entfernung sind ein paar Löcher nicht zu über‐ sehen. Sie sind also verwundbar, mögen ihre Schirme auf den ersten Blick auch noch so stark erscheinen.« Kopfschüttelnd brach Riker die Suche ab und steuerte die Platt‐ form zurück. In Flugrichtung gab es kein geeignetes Versteck. Au‐ ßerdem wollte er sich dem beschädigten Raumer nicht noch weiter nähern. Daß er flugunfähig war, bedeutete noch lange nicht, daß
seine Bordgeschütze nicht einsatzbereit waren. »Was ist denn jetzt los?« entfuhr es Varnuk. Mit einem Blick in die Tiefe begriff Riker seinen Gefühlsausbruch. Die Roboter hatten ihre Tätigkeit eingestellt. Hunderte von ihnen ließen von dem Schiff ab und bewegten sich in Richtung der Platt‐ form. Dabei legten sie eine beachtliche Geschwindigkeit an den Tag. »Sie haben uns entdeckt«, knurrte Brack, der automatisch nach seinem Multikarabiner griff. »Nichts wie weg von hier.« Dan hatte den Rückzug bereits eingeleitet, doch es war zu spät. Erst jetzt wurde ihm bewußt, wie langsam die Plattform wirklich war. Mit einem Flash hätte er die Roboterhorden mühelos abge‐ hängt, doch mit dem trägen Beförderungsmittel, das nicht für solche Zwecke gedacht war, mühte er sich vergeblich. Die Roboter holten auf. »Sie schießen auf uns. Immerhin scheinen sie nicht flugfähig zu sein. Sonst würden sie uns nicht ausschließlich am Boden verfolgen.« Mit einem kurzen Versuch vergewisserte Riker sich, daß der Funk noch immer ausgefallen war. Auf diesem Weg konnte er die anderen Einsatzgruppen also nicht erreichen. Kurzentschlossen jagte er eine rote Signalrakete in den Himmel. Da sie erst in großer Höhe und mit erheblicher Wirkung detonierte, konnte das Signal den anderen Gruppen nicht entgehen. Wenn sie es sahen, würden sie umgehend zur POINT OF zurückkehren. »Die Roboter holen weiter auf. Auf Dauer können wir ihnen nicht entkommen.« Allmählich begannen sich die Maschinen einzuschießen. Mehrere Schüsse kamen der A‐Gravplattform bedrohlich nahe. Brack, dem es zu bunt wurde, legte mit seinem Multikarabiner an und erwiderte das Feuer. Trotz deren Schnelligkeit gelang es ihm, ein paar Roboter auszuschalten. Als eine der bizarren Konstruktionen in einer hefti‐ gen Explosion verging, kam der Vormarsch kurz ins Stocken. »Sie orientieren sich, das bringt uns ein paar Sekunden.« Mehr aber auch nicht, denn schon setzten sich die Roboter wieder
in Bewegung. Riker nutzte die Atempause dazu, den Vorsprung wieder ein wenig auszubauen. Die Plattform flog in den Paß ein, durch den sie gekommen war, doch davon ließen sich die Verfolger nicht irritieren. Obwohl ihnen von Rikers Gruppe keine direkte Ge‐ fahr drohte, dachten sie offenbar nicht daran, sie entkommen zu lassen. Ein paar Schüsse schlugen in die Wandung der nicht mit einem Schutzschirm ausgerüsteten Plattform und zwangen die Menschen dazu, die Köpfe einzuziehen. Der Cyborg ließ sich davon nicht be‐ eindrucken. Seine Feuerstöße trafen präzise und schalteten weitere Roboter aus. »Nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, murmelte er. »Aber besser als nichts.« Zumal ihn seine Kameraden jetzt unterstützten. Endlich fand Riker einen der Kanäle, die er beim Hinflug passiert hatte, und steuerte das Fahrzeug dort hinein. Sofort endete das Feuer in ihrem Rücken. Als er eine weitere Abzweigung entdeckte, hatte er die Verfolger abge‐ schüttelt. »Die sind wir los«, freute sich der Techniker. »Aber nicht für lange. Die werden suchen, bis sie uns wieder‐ finden. Selbst wenn nicht, haben sie uns nun vielleicht in der Ortung. Wir können nicht das Risiko eingehen, sie zur POINT OF zu führen.« Riker sah nur eine Möglichkeit. Als er offenes Gelände erreichte, landete er die Plattform. »Alles absitzen.« Brack ahnte sofort, worauf der Gruppenführer hinauswollte. »Ein kleiner Fußmarsch, Sir?« »Der für uns andere etwas schwieriger zu bewältigen sein wird als für Sie, Fähnrich. Ich schätze, daß wir etwa fünfzig Kilometer laufen müssen. Wir nehmen den hohen Paß und steigen dahinter zum Wald hinunter.« Er programmierte die Plattform mit einem Kurs, der sie in die zur POINT OF entgegengesetzte Richtung starten ließ, und schickte sie los. Vom Boden aus konnten die Roboter nicht sehen, daß sie nicht
mehr bemannt war. Dann machten sich die Männer auf den Fußmarsch. * Amy Stewart entdeckte die Signalrakete als erste. Ren Dhark schaute in den Himmel, wo sich nach einem heftigen Aufblitzen roter Rauch ausbreitete. Eine der Gruppen war also fündig ge‐ worden und hatte das fremde Raumschiff entdeckt. »Damit haben wir die Bestätigung«, sagte er. »Riker ist in diese Richtung aufgebrochen.« Seine Gefährtin nickte. »Hoffentlich haben die anderen das Signal ebenfalls gesehen.« »Und hoffentlich ist Dan nicht entdeckt worden. Da draußen kön‐ nen wir ihm nicht helfen.« Die Vorstellung behagte Dhark ganz und gar nicht, dennoch blieb ihm keine andere Wahl, als gemäß seiner eigenen Anweisung die Rückkehr zum Ringraumer einzuleiten. Er zog die A‐Gravplattform in eine weite Kurve und brachte sie zurück zur POINT OF. Als sie dort eintraf, waren Bebirs und Hills Gruppen bereits zurück und hatten ihre Fahrzeuge eingeschleust. Mike Doraner wartete an der großen Schleuse. Etwa zwanzig Mann der Besatzung hatten sich ihm angeschlossen, um für einen überraschenden Angriff gerüstet zu sein. »Alles in Ordnung«, meldete der Flashpilot. »Keine besonderen Vorkommnisse. Leider hat sich die Lage an Bord auch nicht verbes‐ sert. Doorn und Shanton sind noch keinen Schritt weitergekommen.« Sie saßen also immer noch fest. Ren hatte nichts anderes erwartet. »Dafür wissen wir, daß die Fremden wirklich auf diesem Planeten sind. Riker hat sie entdeckt. Mike, teilen Sie die Männer in Zweier‐ gruppen ein. Sie sollen rings um das Schiff im Wald Wachposten beziehen.« »Eine gefährliche Sache«, warnte der weibliche Cyborg. »Ohne
Funk sind die Männer da draußen auf sich allein gestellt.« »Sie sollen auch nicht gegen mögliche Angreifer kämpfen.« Ren war sich der Gefahr durchaus bewußt, doch er sah keine Alternative. »Sobald die Fremden auftauchen, sollen unsere Leute sich so schnell wie möglich zurückziehen und Alarm schlagen, Mike.« »Wie weit entfernt vom Schiff sollen sie Position beziehen?« Dhark schaute zum Waldrand hinüber. Zwischen den Baumriesen war eine Orientierung auch ohne technische Hilfsmittel nicht be‐ sonders schwierig. Trotzdem hätten die einzelnen Gruppen keinen Blickkontakt zueinander. »Zwei Kilometer, das ist die maximale Obergrenze. In dem lichten Unterholz brauchen unsere Leute dann höchstens zehn Minuten, bis sie wieder hier sind.« Doraner bestätigte und teilte die Zweiergruppen ein, die sich Mi‐ nuten später auf den Weg machten. Ren sah ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Obwohl er und seine Gefährten in den vergangenen Jahren häufig in ähnlichen Situationen gesteckt hatten, fühlte er sich ein wenig an die ersten tastenden Erkundungen auf Hope erinnert, auch wenn es im Gegensatz zur hiesigen Welt dort nur eine spärliche Flora gegeben hatte. »Wir sollten Terence Wallis für Fälle wie diesen um Kampfroboter bitten, mit denen die POINT OF in Zukunft besser dasteht«, über‐ legte Doraner. »Mit ihnen an Bord brauchen wir unsere Leute einer solchen Gefahr nicht mehr auszusetzen.« Das war ein Gedankengang, der etwas für sich hatte, fand Dhark. Das Oberhaupt von Eden, gleichzeitig der Finanzier der POINT OF‐Stiftung, würde ihm ein solches Anliegen sicher nicht abschla‐ gen. »Wenn wir hier jemals wieder wegkommen«, hielt Amy dem Flashpiloten entgegen. Sein Gesichtsausdruck verriet Verwunderung. »Zweifeln Sie etwa daran?« Seine Zuversicht amüsierte Ren. Doraner schien nicht den leisesten Zweifel zu haben, daß der Ringraumer bald wieder startete. Das war
ein Beweis für das unerschütterliche Vertrauen, das die Besatzung in das längst zur Heimat gewordene Schiff setzte, barg andererseits aber auch die Gefahr, daß die Mannschaft sich zu sehr darauf ver‐ ließ, weil noch immer alles gutgegangen war. Er wurde aus seinen Überlegungen gerissen, als Hills Plattform über den Baumwipfeln auftauchte und sich auf die Lichtung herab‐ senkte. Nur wenige Minuten später traf auch Tschobes Außenteam ein. Aber auf Rikers Gruppe wartete man vergeblich. Dhark blieb nichts anderes übrig, als sich in Geduld zu fassen. Er begab sich in die Kommandozentrale, um sich von Doorn und Shanton über ihre Fortschritte berichten zu lassen. Zu seinem Leidwesen gab es keine. Trotz unermüdlichen Einsatzes waren die beiden Männer keinen Schritt weitergekommen. Sie hatten ihre Analysen bereits vor einer Stunde abgeschlossen. »Ergebnislos«, kommentierte Doorn mürrisch. »Danach haben wir entgegen unserem anfänglichen Zögern versucht, direkten Zugriff auf den Checkmaster zu erlangen. Nichts. Diese Kiste ist störrisch wie ein alter Ziegenbock.« »Zumindest hat sich die Lage nicht weiter verschlechtert«, ergänzte Shanton. Auch ihm war seine Unzufriedenheit anzumerken. »Das ändert nichts daran, daß Arc und ich ratlos sind, wie wir das Schiff wieder flottkriegen.« Das war nicht die einzige düstere Aussicht. Als die Dämmerung einsetzte und der Abend kam, blieb Dan Riker weiterhin ver‐ schwunden, und es gab keine Möglichkeit herauszufinden, wo er und seine Gruppe steckten. Seine Frau Anja tigerte von einer Seite der Kommandozentrale zur anderen. Am liebsten hätte sie sich zu Fuß auf die Suche gemacht. »Wir müssen etwas unternehmen, Ren«, forderte sie vehement. »Vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen.« Dhark gesellte sich zur ihr und hielt sie fest. »Dan weiß schon, was er tut. Der läßt sich nicht so einfach erwischen. Es ist nicht das erste
Mal, daß einer von uns überfällig ist. Ich bin sicher, er taucht bald wieder auf.« »Und wenn nicht?« Dhark gab keine Antwort. Was sollte er denn tun? Wenn we‐ nigstens die Flash funktioniert hätten, sähe die Sache anders aus. So aber waren ihm die Hände gebunden. Schließlich konnten sie sich nicht zu Fuß auf eine Rettungsmission begeben. »Ich habe dich etwas gefragt, Ren«, beharrte Anja. »Wir warten bis morgen«, entschied der Kommandant. Falls Dan und seine Leute gezwungen waren, den Rückweg von ihrer Entde‐ ckung aus zu Fuß anzutreten, müßten sie schätzungsweise bis zum Mittag bei der POINT OF eintreffen. »Wenn bis dahin nichts ge‐ schehen ist, mache ich mich mit einer der Plattformen auf die Suche.« »Wobei ich dich begleite.« Anja Rikers Stimme machte deutlich, daß sie sich von diesem Ent‐ schluß nicht abbringen ließ. * Dan Rikers Gruppe kam rasch voran, da durch den westwärts führenden Paß keine Gebirgsformationen umgangen werden muß‐ ten und es zu keinen zermürbenden Kletterpartien kam. Die niedrige Schwerkraft von 0,8 g erleichterte den Männern den Fußmarsch zu‐ sätzlich. »Vor morgen Vormittag werden wir die POINT OF nicht er‐ reichen«, rechnete Val Brack hoch. »In der Zeit kann noch viel pas‐ sieren.« Das sah Riker ähnlich. Es ließ sich nicht abschätzen, wie lange die Roboter brauchten, um ihr Raumschiff zu reparieren. Wenn es in‐ nerhalb der Nacht gelang, würde das Schiff die marschierende Gruppe womöglich sogar überholen. »Ich denke, die Roboter lassen sich von der programmierten Plattform in die Irre führen«, verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck,
die mehr seinem Wunschdenken entsprang. »Wir haben nur diese Roboter gesehen, kein einziges Lebewesen«, überlegte der Cyborg irritiert. »Ob die eigentliche Besatzung an Bord geblieben ist?« »Wenn es überhaupt eine außer den Maschinen gibt.« »Sie meinen, die Roboter befehligen das Schiff selbst?« Riker mußte zugeben, daß ihn diese Vorstellung befallen hatte. Die daraus resultierende Konsequenz gefiel ihm nicht sonderlich. Wie sollte man sich einer robotischen Besatzung gegenüber verhalten, wie mit ihr diskutieren? Es mochte sein, daß sie emotionsloser und analytischer agierte, als Lebewesen das taten, doch was, wenn sie aus einem unbekannten Grund in ihrem Verhalten fehlgeleitet war? Erst der Angriff auf Grah, dann der auf den irdischen Frachter, und es mochte noch weitere unprovozierte Kampfhandlungen gegeben haben, von denen die Menschen nichts wußten. Was trieb diese Ro‐ boter an? »Ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten«, wehrte er ab. »Allerdings können wir die Möglichkeit nicht ausschließen.« »Wenn die Besatzung dieses Schiffs wirklich nur aus Maschinen besteht, stellt sich die Frage, wer sie auf die Reise geschickt hat«, beharrte Brack. »Und zu welchem Zweck.« Riker hob ratlos die Schultern, weil eindeutige Anhaltspunkte fehlten. Selbst bei ihrem Angriff auf Grah hatten sich die Unbe‐ kannten in den bizarr geformten Raumern nicht in die Karten schauen lassen, weil sie, kaum ernsthaft in Bedrängnis gekommen, unversehens wieder verschwunden waren. Als die Männer die Berge hinter sich ließen und den Waldboden erreichten, wurde der Weitermarsch noch leichter. Trotzdem waren fünfzig Kilometer eine nicht zu unterschätzende Strecke. Zudem verrannen die Stunden durch den fehlenden Kontakt zur POINT OF quälend langsam. Die Ungewißheit trieb die Gruppe auch nach Ein‐ tritt der Dämmerung voran, niemand murrte über den unplanmä‐ ßigen Gewaltmarsch. Schließlich befahl Riker eine halbstündige Rast,
damit sich seine Leute ein wenig ausruhen konnten. »Ich habe das Gefühl, nicht allein zu sein.« Varnuk schaute sich mißtrauisch um, doch nichts deutete darauf hin, daß außer den Menschen weitere Lebewesen in dem den Großteil des Planeten bedeckenden Waldes unterwegs waren. »Wir sind allein«, beruhigte Riker ihn mit einem nachdenklichen Blick. Die Techniker der POINT OF gingen selten mit auf Außen‐ missionen und waren deshalb besonders empfänglich für die un‐ gewöhnliche Atmosphäre. »Die Schiffssensoren haben vor dem Ausfall der Systeme keine Biowerte ermittelt. Diese Welt beherbergt kein Leben.« »Und wenn uns die Roboter doch gefunden haben?« »Dann wären sie längst über uns hergefallen«, erklärte Brack. »Wir haben erlebt, daß sie sich nicht lange zurückhalten.« »Sie könnten aber auch im Dunkeln lauern und uns unbemerkt folgen, um herauszufinden, woher wir kommen. In dem Fall würden wir sie unfreiwillig führen.« An ein solches Taktieren der Roboter glaubte Riker nicht, da die Maschinen sich bisher anders verhalten hatten. Ihr kompromißloses Vorgehen machte sie ein wenig berechenbar. Außerdem war er si‐ cher, sie abgehängt zu haben. Nach einer Weile gab er das Zeichen zum Aufbruch, bevor die Männer begannen, sich zu viele sinnlose Gedanken zu machen. Das Weiterkommen bereitete auch in der Nacht keine Schwierigkeiten. Am Himmel standen zwei Monde, die in dem nicht besonders dichten Wald für ausreichend Licht sorgten. In den nächsten Stunden gab es keinen Anlaß, an seiner Meinung zu zweifeln. Unbehindert kam die Gruppe voran, und bald schätzte Riker, die Hälfte des Weges hinter sich gebracht zu haben. Am nächsten Morgen wurde es sehr früh hell. Als die Männer eine von Tau überzogene Lichtung überquerten, versuchte er wieder einmal, Funkkontakt zur POINT OF herzustellen. Er kam immer noch nicht zustande. Als Riker den Kopf hob und von seinem Arm‐ bandvipho aufsah, glaubte er seitlich der Lichtung eine Bewegung
zwischen den Bäumen zu erkennen. »Mitkommen, Brack! Der Rest wartet hier.« Riker lief los, gefolgt von dem Cyborg, der keine überflüssigen Fragen stellte. Wie auf eine stumme Absprache hin zogen beide Männer ihre Waffen. Er rannte zu der Stelle, wo er die Bewegung zu sehen geglaubt hatte, und blieb abrupt stehen. Der Fähnrich schaute sich um. »Hier ist nichts, Sir. Sollen wir aus‐ schwärmen?« Unschlüssig kniff Riker die Lippen zusammen. Hatten ihm seine Sinne einen Streich gespielt? Womöglich hatte der Wind eine Be‐ wegung ins Unterholz gezaubert, die er falsch interpretiert hatte, dennoch blieb die Gestalt, die er zwischen den Bäumen zu sehen geglaubt hatte, vor seinem geistigen Auge. Artus! Doch was sollte der Roboter hier draußen machen? »Ich habe mich wohl geirrt«, spielte er seine Sinnestäuschung he‐ runter. »Wir gehen zurück zu unseren Leuten und setzen unseren Weg fort.« Je früher sie die POINT OF erreichten, desto besser, bevor noch andere anfingen zu halluzinieren. * Ein paar Stunden später dachte Riker nicht mehr an den Zwi‐ schenfall, denn der Rest des Wegs verlief ohne weitere Ereignisse. Nur die Schritte der Männer, die allmählich müde wurden, wurden bis zum Vormittag hin länger. Als er ein plötzliches Geräusch ver‐ nahm, hatte er sofort seine Waffe in der Hand. Daß seine Reaktion überflüssig war, erkannte er, als zwei Männer der POINT OF hinter einem Baum hervortraten. »Wir warten bereits seit gestern auf Ihre Rückkehr, Sir. Alles in Ordnung?« »Sind wir die letzten?« überging Riker die besorgt klingende Frage.
»Die anderen Einsatzgruppen kehrten schon gestern zurück. Man hat das fremde Schiff gefunden.« Riker nickte. »Wir waren es, die das vereinbarte Zeichen gegeben haben. Was machen Sie hier draußen?« »Wir sind als Wachposten abkommandiert. Zweiergruppen sind rund um die POINT OF in Stellung gegangen.« Der Mann deutete hinter sich. »Zwei Kilometer in diese Richtung, dann sind Sie zu Hause. Allerdings sind sämtliche Bordsysteme weiterhin gestört.« Da der Funk nicht funktionierte, hatte Riker nichts anderes erwar‐ tet. »Hier draußen gab es keine besonderen Vorkommnisse bisher? Roboter sind keine aufgetaucht?« »Roboter? Nein, Sir. Darf ich fragen…« »Nicht jetzt. Halten Sir nur die Augen auf. Es kann passieren, daß wir früher oder später unangemeldeten Besuch bekommen.« Riker nickte knapp und verabschiedete sich. Die Gewißheit, daß die anderen Gruppen nach seinem Signal wieder auf der POINT OF waren, beruhigte ihn. Er konnte es nicht mehr erwarten, ebenfalls an Bord zu gelangen. Dort wurden er und seine Leute mit einem großen Hallo willkommen geheißen. »Endlich«, begrüßte ihn Dhark. »Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Was ist denn passiert? Wieso kommt ihr zu Fuß zurück?« Riker berichtete, was sich am Vortag ereignet und wieso er die A‐Gravplattform geopfert hatte. »Bei der derzeitigen Lage können wir uns ihren Verlust zwar eigentlich nicht erlauben, aber ich wollte auf Nummer Sicher gehen.« »Mach dir mal keine Gedanken. Ich an deiner Stelle hätte nicht anders gehandelt.« Eine steile Falte bildete sich auf der Stirn seines engsten Freundes. »Etwas anderes beschäftigt mich wesentlich mehr. Wieder nur Roboter. Das erinnert mich an den Großangriff auf Grah. Woher kommen diese Blechkameraden?« »Wir können nur spekulieren. Vielleicht hält sich die eigentliche Besatzung an Bord des Fremdraumers auf und läßt sich aus gutem
Grund nicht sehen. Ich fürchte, bis es uns gelingt, einem dieser Ro‐ boterschiffe einen Besuch abzustatten, tappen wir weiterhin im Dunkeln.« »Womöglich würde es schon genügen, einen von ihnen in die Hände zu bekommen und auseinanderzunehmen. Ich bin überzeugt, Doorn und Shanton würden etwas in seinen elektronischen Einge‐ weiden finden, das uns weiterhilft.« »Vergiß es. An die kommen wir nicht ran. Ich habe die Roboter beobachtet. Die treten nur im Rudel auf. Außerdem sagt mir ein Gefühl, daß die sich eher selbst zerstören, als sich von uns durch‐ leuchten zu lassen. Was machen eigentlich unsere beiden Genies?« »Die tun, was sie können«, brummte Doorn mißgelaunt. Tiefe Furchen waren in seinem Gesicht zu erkennen. Es war nicht zu übersehen, daß er sich mit seinem Kollegen die Nacht um die Ohren geschlagen und sich keine Minute ausgeruht hatte. »Ergebnislos, vermute ich.« »Wenn Sie es besser können, versuchen Sie es ruhig, Riker.« Der Sibirier sah nicht einmal von seiner Arbeit auf. »War nicht so gemeint, Arc. Wenn Shanton und Sie keine Lösung finden, gibt es auch keine.« »Das will ich meinen. Chris und ich sind doch keine Roboter.« »Womit wir wieder beim Thema wären.« Plötzlich fiel Riker etwas ein. »Was macht eigentlich Artus?« »Der ist seit gestern verschwunden«, mischte sich Falluta ein. »Kurz nach dem Ausschleusen unserer Außentrupps hat er laut Jimmy das Schiff verlassen.« »Verlassen? Wieso das denn?« »Was weiß ich«, rief der Roboterhund unter einem Sessel hervor. »Ich habe gesehen, wie er über die Lichtung zum Wald hinüberlief. Ich wollte ihm folgen, um ihn zu fragen, was er vorhat, aber da war er bereits verschwunden.« Unwillkürlich zuckte Riker zusammen. Also hatte er sich nicht getäuscht. Er hatte Artus tatsächlich im Wald gesehen. Mit knappen
Worten berichtete er Dhark von dem Zwischenfall, denn er schon fast vergessen hatte. Ren stieß eine Verwünschung aus. »Was denkt sich Artus nur? Wir kennen ja seine Extratouren, aber das hier geht eindeutig zu weit. Hen, hat er nichts gesagt, bevor er das Schiff verlassen hat?« »Nur daß er Ihnen unbedingt noch etwas sagen muß, bevor Sie aufbrechen.« »Klingt schwer nach einer Ausrede«, fand Riker. »Für mich hört sich das eher so an, als ob Artus seinen Aufbruch von der POINT OF ganz genau abgepaßt hat. Er hat gewartet, bis wir abrückten und die Luft rein war. Doch wozu?« Niemand hatte eine Antwort auf diese Frage. Es blieb auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn draußen wurden Schüsse laut. Alarmiert liefen die Männer zurück zur großen Schleuse. * Aus dem Wald erklang Kampflärm. Lichtblitze zuckten durchs Unterholz. Sekunden später stürmte ein Mann zwischen den Bäu‐ men hervor. »Doraner schickt mich«, verkündete er. »Wir wurden von einem Roboter‐Spähtrupp angegriffen. Ich soll melden, daß wir sie für eine Weile auf Distanz halten können, aber nicht lange. Dann brechen sie durch.« »Ren, wir müssen unsere Leute da rausholen.« »Worauf du dich verlassen kannst, Dan.« Dhark wandte sich an den Melder. »Laufen Sie zurück. Doraner und die anderen sollen nach eigenem Ermessen handeln. Sobald sie der Meinung sind, daß die Lage zu brenzlig wird, sollen sie sich zurückziehen und an Bord kommen. Wir werden die Roboter dann hier empfangen. Rückzug eher zu früh als zu spät. Ich will nicht, daß wir in diesem Wald auch nur einen Mann verlieren.« Auch wenn die Vorstellung eines Feuergefechts in unmittelbarer
Nähe seines Schiffs dem Kommandanten nicht behagte. Doch mit einfachen Handwaffen war der hochverdichteten Unitallhülle des Ringraumers nicht beizukommen. Da mußten schon stärkere Kaliber her, über die die Roboter zweifellos nicht verfügten. Viel gefährlicher war, daß sie den Standort der POINT OF wahrscheinlich längst an ihr eigenes Mutterschiff durchgegeben hatten. Wenn es hier auf‐ tauchte, wurde die Lage wirklich bedrohlich. Der Melder bestätigte und lief den Weg zurück, den er gekommen war. Sekunden später tauchte er zwischen den Baumriesen unter. »Nun wird es eng.« Dhark fühlte sich hilflos gegen die sich früher oder später abzeichnende Übermacht der Roboter. »Wenn Doorn und Shanton nicht bald etwas einfällt, sehe ich schwarz.« Er konnte sich nicht erinnern, daß ihre beiden Genies schon einmal so lange so hilflos vor einem Problem gestanden hatten. »Ich frage mich, wieviel Zeit uns noch bleibt«, schlug Riker in die‐ selbe Kerbe. »Ich frage mich vielmehr, wie die Roboter uns gefunden haben«, konterte Dhark. »Wenn sie auf gut Glück gesucht hätten, hätten sie uns so schnell nicht entdeckt. Die haben ja nicht viel länger ge‐ braucht als deine Gruppe.« »Ren, ich versichere dir, sie können uns nicht gefolgt sein.« Dhark schüttelte den Kopf. »Davon spreche ich auch gar nicht. Denke an Artus’ Verschwinden.« »Du meinst, er hat uns verraten?« »Undenkbar.« Ren konnte sich das einfach nicht vorstellen, da der intelligent gewordene Roboter sich bisher stets loyal verhalten hatte. Dennoch ließen sich die Fakten nicht wegleugnen. War womöglich ein Ereignis eingetreten, das zu einem Meinungsumschwung bei Artus geführt hatte? Vielleicht war er in den Besitz von Informatio‐ nen gelangt, die seinen Freunden verschlossen blieben. Als einziger hatte er schließlich auch Dinge von Avatar erfahren, die die Men‐ schen in dessen Gedanken nicht erkannt hatten. Hatte Artus wo‐ möglich auch auf eine unbestimmte Art Kontakt zu den Insassen des
Fremdraumschiffs? Dhark beobachtete den Waldrand. Dort wurden die Kämpfe hef‐ tiger. »Wir ziehen die Mannschaft hier draußen zusammen«, entschied er. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Doraner und die anderen zurückziehen mußten.
9. Mit einem Thermosbecher Kaffee in der Hand betrat General Jackson die Schiffszentrale und ließ sich in seinem Komman‐ dantensessel nieder. Unmittelbar nachdem sie die »Sternenstadt« wieder ihrem Schicksal überlassen hatten, war er für eine kurze Pause in die Messe gegangen, um etwas zu essen und sich ein paar Minuten über einer Tasse Kaffee dem Nichtstun hinzugeben. Jetzt fühlte er sich erfrischt genug, um den Rest der Schicht zu überstehen. Mit einem forschenden Blick überflog er die Instrumente und Bildflächen, die vor ihm auf der bogenförmigen, leicht abge‐ schrägten Konsole angeordnet waren. Nach wie vor bewegte sich die THOMAS durch den Leerraum zwischen dem Kugelsternhaufen M53 und der Milchstraße, die eine Distanz von 56.000 Lichtjahren trennte. Der Carborit‐Ringraumer hatte sie schon weit über zwei Drittel in Richtung Milchstraße überwunden. »Sir!« machte sich sein Erster Offizier bemerkbar. »Ja, Mister Rayes?« »Mit Verlaub, Sir. Haben wir eigentlich ein bestimmtes Ziel, oder fliegen wir einfach so drauflos? Das Erprobungsprogramm haben wir doch bereits abgespult.« »Wir haben kein dezidiertes Ziel genannt bekommen. Aber ich denke, niemand wird etwas dagegen haben, wenn wir sozusagen als krönenden Abschluß einen Abstecher zur Erde unternehmen. Oder denken Sie, dies stieße auf Ablehnung durch die Mannschaft?« »Das kann ich mir nun überhaupt nicht vorstellen«, griente der Erste Offizier. »Wir sind zwar inzwischen alle Bürger von Eden, aber ich denke, daß jeder gerne an den Ort zurückkehrt, an dem er gebo‐ ren und aufgewachsen ist, mich eingeschlossen, und ich bin sicher, auch für die anderen zu sprechen. Oder soll ich eine Umfrage star‐
ten, Sir?« »Das wird nicht nötig sein, Mister Rayes«, wehrte Thomas J. Jack‐ son ab. »Haben Sie etwa vergessen, daß dies ein Kriegsschiff ist, auf dem freie Wahlen nicht zugelassen sind?« Der Erste Offizier erlaubte sich ein vorsichtiges Lächeln. »Natürlich nicht, Sir. Verstehe. War dumm von mir, diese Bemer‐ kung.« »Macht ja nichts«, brummte Jackson, »solange Sie es niemandem verraten. Bei mir ist Ihr Geheimnis jedenfalls gut aufgehoben.« Er begann polternd zu lachen, als er Manuel Rayes’ Miene sah, der alles vermutet hätte, nur nicht, daß sein Kommandant eine gewisse Art von schwarzem Humor besaß. Er wollte gerade in das Lachen einstimmen, als Alain Sanet einen verblüfften Laut von sich gab und eine Reihe von Sensorfeldern seiner Konsole betätigte. »Kommandant!« rief er halblaut. »Ich habe Energieausbrüche in einem Bereich etwa 10.000 Lichtjahre außerhalb der Milchstraße geortet.« »Was gibt es da?« »Nichts, Sir«, bekannte Sanet erstaunt. »Die Ferntaster registrieren weder Sonnen noch Planeten.« »Koordinaten?« »Liegen quasi auf unserem augenblicklichen Kurs. Wir müßten nicht einmal einen Umweg machen.« »Wie nahe sind wir dran?« »Fünftausend Lichtjahre, Kommandant«, antwortete Sanet, der wußte, was den General zu dieser Frage bewogen hatte. Schließlich diente er schon eine Weile unter ihm. »Sir, das wäre nur ein Kat‐ zensprung für unser Schiff.« »Mm…« Jackson runzelte die Stirn. »Gut. Nummer Eins, Kurs auf die Koordinaten.« »Springen?« »Sternensog, Mister Rayes«, knurrte der General. »Lassen wir die
Gäule etwas galoppieren. Transitieren kann jeder.« »Aye, Sir.« Der Sublichteffekt war in der Lage, ein Raumschiff bis dicht an die Grenze der Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen. Erzeugt wurde er durch ringförmig auf der inneren Außenhülle angeordnete fuß‐ ballgroße Projektoren, die auf einen gemeinsamen Mittelpunkt aus‐ gerichtet waren und einen Brennkreis schufen, der das Schiff vor‐ antrieb. Erhöhte sich die Antriebsleistung, verjüngte sich der Brennkreis zu einem Brennpunkt. Dabei entstand der Sternensog, der in der Lage war, einen Raumer in ständiger Beschleunigung bis weit über Lichtgeschwindigkeit zu bringen, sehr weit sogar. Daß dabei das Raumschiff nicht das Normaluniversum verließ und in Transition ging, war dem Intervallfeld zu verdanken, das erst abge‐ schaltet werden mußte, ehe ein Ringraumer »springen« konnte. Die unglaublichen Sternensoggeschwindigkeiten konnten nur erreicht werden, weil sich das Schiff innerhalb des Intervallums in einem eigenen Mikrokosmos befand, der frei von den Hindernissen des normalen Kontinuums war und blieb. Unter den Schaltungen des Ersten Offiziers und Piloten be‐ schleunigte die THOMAS mit unglaublicher Geschwindigkeit, die nur in Zahlen auszudrücken war, ohne daß sich die Insassen des Schiffes ihrer bewußt wurden. Als das Carborit‐Ringschiff wieder bremste, orteten die Hypertas‐ ter eine Reihe von Objekten, die einen kahlen, atmosphärelosen Ge‐ steinsbrocken umschwirrten, der laut Daten etwa die Größe des ir‐ dischen Mondes, aber nur eine Schwerkraft von 0,17 g hatte und sich mit einer Eigengeschwindigkeit von rund 1000 Kilometern pro Se‐ kunde von der Milchstraße entfernte. Die Frage, welcher Impuls dies bewerkstelligt hatte, ließ sich nach den Daten nicht feststellen. Jackson fixierte aus schmalen Augen die Bildfläche auf seiner Konsole. »Mister Sanet? Verbessern Sie die visuelle Darstellung.« »Sofort, Sir.«
Der Bordrechner korrigierte die Darstellung in der Bildkugel und stellte die optimale Abbildung her. »Schiffe«, kommentierte Merier völlig überflüssigerweise das, was offensichtlich war. Die fernen, blinkenden Punkte wuchsen zu Raumschiffen an, zu einer Flotte von diskusförmigen Schiffen von ungefähr 100 Meter Durchmesser und 20 Meter maximaler Stärke, die den Himmels‐ körper umkreisten, dabei dessen Oberfläche pausenlos mit Laser‐ strahlen beschossen und ihrerseits von Laserabwehrfeuer bestrichen wurden, das von der Oberfläche des trostlosen Gesteinsbrockens kam. Die Diskusschiffe waren laut Tasteranalyse technisch weit hinter dem aktuellen Stand Terras und Edens zurück. »Gefechtsbereitschaft, Sir?« fragte der Waffenleitoffizier. Jackson winkte ab. »Nicht nötig«, erwiderte er. »Für unser Schiff besteht generell keine Gefahr, oder irre ich da, Mister Sanet?« »Nein, Sir. Die Taster haben nur Laserkanonen registriert. Auch auf Solitude.« »Solitude?« Jacksons Brauen wölbten sich fragend. »Kam mir so in den Sinn, Sir, als ich diesen herrenlosen Ge‐ steinsbrocken sah. Bedeutet Einsamkeit, Sir.« »Ein passender Name, wie es scheint«, brummte Jackson. »Ande‐ rerseits ist dieser Gesteinsklotz auch nicht einsam genug, als daß sich nicht doch noch zwei Parteien finden würden, die einen Krieg um ihn führen.« »Es gibt immer wen, der einem anderen das neidet, was dieser be‐ sitzt, und sei es nur ein Platz zum Verstecken.« »Das haben Sie schön formuliert, Mister Rayes«, gestand Jackson. »Laserkanonen also…?« »Ja, Sir. Ihre Waffentechnik ist der unseren hoffnungslos un‐ terlegen. Ist ungefähr so, als wolle man einen Elefanten mit einer Wasserpistole erschießen.« »Merkwürdiger Vergleich«, brummte der General. »Hat aber was für sich, Nummer Drei.«
»Danke, Sir«, grinste der Waffenleitoffizier. Geschützt durch Intervallum und Tarnfeld, näherte sich die THOMAS dem Mond und umkreiste ihn in gebührendem Abstand. Ihre schwarze Farbe schützte sie dabei auch vor einer optischen Entdeckung durch direkten Sichtkontakt. »Was nimmt man da überhaupt unter Feuer?« wollte der General wissen. »Ein Schiff, das sich auf der Oberfläche des Mondes versteckt hält?« »Für ein einzelnes Schiff erscheint mir der Aufwand, der betrieben wird, um es zu zerstören, ein wenig zu groß«, bekannte Manuel Rayes. »Auch richtig.« »Vielleicht eine Basis, eine Festung… etwas in der Art…« schlug Grissom Lewald vor. »Mister Sanet!« »General?« »Vergrößern Sie diesen Ausschnitt!« Jackson deutete auf die be‐ treffende Stelle. Sanet tat wie befohlen. Jackson starrte auf die Teil Vergrößerung, die auf dem kleineren Schirm seiner Konsole auftauchte und nun auch für alle in der gro‐ ßen Bildkugel zu sehen war. »Was ist das?« fragte Sanet laut in die relative Stille der Schiffs‐ zentrale. »Pendants zu den Diskusraumern der Angreifer«, sagte Manuel Rayes. »In der Größe?« wunderte sich Grissom Lewald. Sein Erstaunen hatte einen berechtigten Grund. Auf der Mond‐ oberfläche lagen in einer Senke, die einem Krater von über hundert Kilometern Durchmesser glich, auf einem relativ kleinen Areal kon‐ zentriert wahrhaft gigantische Diskusraumer. Die durchgeführte Analyse durch Sanets Oberflächenortung gab ihnen einen Durch‐ messer von 1,5 Kilometern bei einer maximalen Dicke von 300 Me‐
tern. »Vielleicht dreht sich der Kampf um diese Diskusraumer«, mut‐ maßte Lewald. »Die eine Partei hat sie entführt oder gekapert, die andere möchte sie wieder zurückhaben.« »Das hat was für sich«, meinte Merier am Waffenleitpult. »Deshalb greifen sie auch nicht in das Kampf geschehen ein, wie man es von einer Flotte der Verteidiger erwarten würde.« »Zu welcher Partei auch immer diese übergroßen Diskusraumer gehören«, ließ Sanet verlauten. »Sie können überhaupt nicht ein‐ greifen, sie sind energetisch tot… kein Fitzelchen Energie ist in ihnen vorhanden.« »Das sieht aber gar nicht danach aus«, bemerkte Leutnant Poul Tepermann. Im nächsten Augenblick erfuhr General Jackson auch schon, wo‐ rauf der Leutnant anspielte, denn von der Oberfläche des Mondes lösten sich glühende Balken, fuhren zwischen die schwirrenden Diskusschiffe, die wie eine Wolke Insekten auseinanderstoben und sich wieder neu zusammenfanden, nachdem die suchenden Ab‐ wehrstrahlen von der Oberfläche wirkungslos im Weltall verpufft waren. »Woher kam das Feuer?« Jacksons Blicke huschten über die An‐ zeigen seiner Konsole. Über der Mondoberfläche leuchtete es erneut auf, gleißende Strahlen zuckten aus den Rändern der fliegenden Untertassen hi‐ nunter zum Mond. Es sah aus, als würde eine gigantische Spinnen‐ armee mit blaßrot glühenden Beinen über die karstige, schwarze Oberfläche des Trabanten staksen. Dort, wo die »Beine« den Boden berührten, kam es zu heftigen Explosionen. In deren zuckendem Licht sah Jackson, was zwischen den übergroßen Diskusraumern verborgen lag: Laserkanonenstellungen von nicht unbeträchtlicher Größe. Halb im felsigen Untergrund vergraben, von buckelförmigen Bunkern umringt, in denen die Energieerzeuger für die Laserbatte‐ rien untergebracht sein mußten.
»Haben Sie bemerkt, General«, ließ sich Manuel Rayes vernehmen, »daß die Angreifer es tunlichst vermeiden, die großen Pötte auf dem Boden zu treffen?« »Das unterstreicht nur Mister Lewalds Theorie vom ›Zurückha‐ benwollen‹ der Raumschiffe. Ich glaube, wir können davon ausge‐ hen, daß der angreifende Verband Korvetten und Jäger der großen Teller sind.« Thomas J. Jackson lehnte sich vor, als könne er dadurch eine grö‐ ßere Nähe zum Geschehen gewinnen. Die Energie‐ und Masseortungen der THOMAS arbeiteten mit hektischer Aktivität; auf ihrer Konsole leuchteten zahlreiche rote Warnfelder auf, die von den im Fokus der Ortung fliegenden Dis‐ kusschiffen erzeugt wurden, deren Besatzungen nicht die leiseste Ahnung hatten, daß in relativer Nähe ein unsichtbarer Beobachter saß, der das Geschehen mit Argusaugen aufmerksam verfolgte. Es schien ein einseitiges Gefecht zu sein; während die Angreifer aus dem All einer Laser‐Feuerstellung nach der anderen den Garaus machten, hatten sie selbst noch keine eigenen Verluste zu verzeich‐ nen, zumindest nicht seit dem Eintreffen der THOMAS am Ort des Geschehens. »Kommandant!« ließ sich Alain Sanet vernehmen. »Die Diskus‐ raumer verfügen über keinerlei Schutzschirme. Ich wundere mich echt, warum noch keine getroffen worden sind. Müssen lausige Schützen sein auf dem Mond…« Er hatte noch nicht ausgesprochen, als das Weltall in der Bildkugel aufflammte, als würde in unmittelbarer Nähe der THOMAS eine Sonne explodieren. Eine der Untertassen hatte sich einen Volltreffer eingehandelt und wurde in glühende Fragmente zerlegt. Nächster erfolgreicher Angriff… Die Kanoniere der Bodenstellungen ließen in ihren Anstrengungen nicht nach und jagten eine Salve nach der anderen ins All. Ein zweiter Diskusraumer verlor nach einem Treffer einen Teil
seiner Hülle und scherte aus dem Verband aus. »Sir! Was machen wir? Sollten wir nicht eingreifen?« »Der Vorstellung ein Ende bereiten, meinen Sie, Mister Merier?« »Richtig, Sir.« »Und für wen wollen wir Partei ergreifen? Haben Sie sich das überlegt?« war Rayes’ Kommentar dazu. »Für keinen der unbekannten Kontrahenten«, traf Jackson nach blitzschnellem Überlegen seine Entscheidung. »Wir heben unsere Tarnung auf, und die Waffensteuerung eröffnet sofort mit Strich‐Punkt das Feuer auf die Diskusraumer.« Der Strich‐Punkt‐Strahl war eine reine Defensivwaffe. Der licht‐ schnelle, blaßblaue Strahl rief lediglich betäubende und/oder läh‐ mende Wirkung bei organischen Lebewesen hervor. Schockstrahler taten das auch, allerdings waren die in der Wirkung mit Strich‐Punkt‐Strahlen nicht zu vergleichen. »Nummer Eins, Tarnung aufheben! Mister Merier, beginnen Sie!« Auf der THOMAS hatte man keine Ahnung, wie die Besatzungen der Diskusschiffe auf das plötzliche Auftauchen des Ovoid‐Ringraumers reagieren würden, als dieser wie aus dem Nichts auf den Schirmen der Ortungseinrichtungen erschien. Aber man konnte sich vorstellen, daß es eine nicht unerhebliche Aufre‐ gung gab, als das geschah. Sicher überlegte man sich bereits fieber‐ haft Gegenmaßnahmen, hatte aber keine Zeit mehr dafür. Die lichtschnell die lächerliche Distanz zwischen der THOMAS und den Untertassen überbrückenden, blaßblauen Strahlenbündel der Strich‐Punkt‐Antennen entfalteten sofort ihre Wirkung. »Mister Lewald, Solitude auf allen Frequenzen anfunken und Feuereinstellung verlangen.« »Aye, Sir.« Grissom Lewalds Finger führten einen schnellen Tanz auf den Sensorfeldern seines Pultes auf, während er deutlich ak‐ zentuiert seinen standardisierten Spruch aufsagte. Die Wiederho‐ lungen ersparte er sich, das tat der Suprasensor der Funk‐Z automa‐ tisch solange, bis Antwort kam.
»Spruch läuft«, bestätigte er wenige Sekunden später. »Gut«, zeigte sich Jackson zufrieden und warf einen Blick auf die Bildkugel. Die Diskusraumer hatten ihr Feuer eingestellt und bewegten sich deutlich erkennbar ungesteuert im Raum. Strich‐Punkt hatte Wir‐ kung gezeigt, das bestätigte auch Sanet an der Ortung. »Die Biowerte sind auf ein niedriges Niveau gefallen. Die schlafen, Sir.« »Mister Lewald?« »Noch keine Antwort«, bedauerte der Funker, um sich im gleichen Atemzug zu berichtigen. »Sir, Antwort kommt eben über UKW he‐ rein.« »Lasse Sie sehen!« »Nur Audio«, erklärte der Funker. »Versprechen Sie sich nicht zu‐ viel, es ist ein unentzifferbarer Datenschwall.« »An Hyperkalkulator weiterleiten«, ordnete der General an. »Soll er sich damit befassen.« * »Was macht der Beschuß der Diskusraumer?« erkundigte sich Jackson. »Hat aufgehört, Kommandant!« kam die überraschte Antwort Alain Sanets. »Entweder haben die Mondverteidiger unseren Funk‐ spruch entschlüsselt oder eingesehen, daß die Untertassen keine Bedrohung mehr darstellen und von sich aus das Feuer auf die steuerlos im All treibenden Schiffe eingestellt.« »Sehen Sie, Sir!« machte Rayes seinen Kommandanten auf‐ merksam. In der Bildkugel war zu erkennen, wie sich ein Drama anbahnte. Ein Diskusraumer schlingerte mit seiner in Morpheus’ Armen schlummernden Besatzung durch das All, trieb näher und näher an den Mond heran und damit in den Feuerbereich der Bodenbatterien. Sein Richtungsvektor machte klar, daß er wohl in unmittelbarer
Nähe einer der großen Laserbatterien aufschlagen würde. »Mister Rayes! In Schlepp nehmen und aus der Gefahrenzone bringen. Schließlich sind wir ursächlich der Grund für das sich an‐ bahnende Desaster.« »Verstanden, Sir.« Manuel Rayes’ Finger glitten über die Bedienfelder seiner Pi‐ lotenkonsole. Die THOMAS veränderte ihre Position im All, glitt näher an den Schwärm der treibenden Schiffe heran. General Jackson verfolgte den Fortschritt der eingeleiteten Ret‐ tungsmaßnahme auf einem Nebenschirm seines Pultes. Das kleine Bildkarree zeigte eine stilisierte Darstellung des Carbo‐ rit‐Ringraumers, umgeben von der leuchtenden Acht des Doppel‐ intervallums. Im Schnittpunkt der beiden Kreise befand sich die THOMAS. Jetzt vergrößerte einer der Kreise sein Volumen und schloß den auf den Mond zutreibenden Diskusraumer mit ein. »Hab’ ihn!« verkündete der Erste Offizier. Rayes manövrierte das eigene Schiff durch die Phalanx der Dis‐ kusschiffe hindurch und gab dem Havaristen einen Richtungsvektor, der ihn aus der Gefahrenzone und auf einen sicheren Kurs brachte. »Ausgezeichnete Arbeit, Nummer Eins«, lobte General Jackson. »Wie weit ist die Entschlüsselung der Antwort auf unseren Funkruf, Mister Sanet?« Jackson hätte sich auch gedanklich direkt an das Bordgehirn wen‐ den können, aber er wollte, daß jeder in der Zentrale das Ergebnis mitbekam. »Der Hyperkalkulator hat die Datenübertragung analysiert.« »Ergebnis?« »Kommt!« Aus den Lautsprechern in der Zentrale drangen unverständliche Laute. »Was soll das?« wandte sich Jackson nun doch direkt an den Hy‐ perkalkulator.
»Die gewünschte Tonverbindung«, war die Antwort des Bord‐ gehirns. »Mein Sohn, merke auf meine Rede und neige dein Ohr zu meinen Wor‐ ten. Ich will die Übersetzung!« Das Kauderwelsch änderte seine Tonlage, dann wurden ver‐ ständliche Worte in Angloter daraus. »… begrüßen euch. Der Generalstabsführer von Rettungswelt dankt seinen unbekannten Helfern… fordern Sie auf, dem Peilsignal zu folgen und auf Rettungswelt zu landen…« Jackson nutzte eine Pause in der Übermittlung und sagte sei‐ nerseits: »Hier spricht Kommandant Jackson. Mein Schiff ist die THOMAS vom Planeten Eden. Mit wem haben wir es zu tun?« »… begrüßen euch. Der Generalstabsführer…« Jackson runzelte die Brauen und sah Lewald an. »Endlosschleife. Ist Bestandteil des Peilsignals, Sir«, bedauerte der Funker. »Meine Herren!« Jackson sah in die Runde seiner Offiziere. »Was machen wir?« Die Entscheidung fiel einhellig aus. Als Ergebnis nahm die THOMAS Fahrt auf und folgte dem Peilsignal. Es führte sie geradewegs zu einem Raumhafen an der Mond‐ oberfläche neben den Riesenschiffen und in unmittelbarer Reich‐ weite vieler schwerer Laserstellungen, die jetzt schwiegen. »Es ist wie auf der Nachtseite des irdischen Trabanten«, ließ York Merier verlauten, als die felsige Struktur der Oberfläche mit ihren Schrunden und Abbrüchen und Einschlagkratern in der Bildkugel erschien, die eine Normalansicht zeigte, ohne computergenerierte Aufhellung oder Verzerrung. Hinter der undurchdringlichen Abschirmung des Doppelinter‐ vallums senkte sich der schwarzfunkelnde Carborit‐Raumer wie der Fingerreif eines Riesen auf das marmorierte Grau der Raumhafen‐ fläche herab. »Landescheinwerfer an«, befahl der General. »Man sieht ja nicht
die Hand vor den Augen.« Die letzten vierhundert Meter legte die THOMAS von einem blauweißen, blendend hellen Strahlenkranz umgeben zurück. Sanft wie eine Feder setzte sie auf dem Boden auf, um auf ihrem Antig‐ ravpolster zur Ruhe zu kommen; die Landestützen ließ der General erst gar nicht ausfahren. Die transparente Sphäre der großen Bildkugel in der Schiffs‐ zentrale erlosch, an ihrer Stelle traten die fünf großen Holoschirme, die der Besatzung einen Rundumblick auf die Umgebung des Ring‐ raumers boten. Sie waren auf Solitude beziehungsweise »Rettungswelt« angelangt. Das Peilsignal erlosch, und mit ihm die Willkommensarie. »Wo ist das Begrüßungskomitee?« wunderte sich Merier. »Genau, die blumenbekränzten Schönen des Planeten, äh, Mon‐ des«, versuchte Leutnant Tepermann die Stimmung in der Zentrale etwas anzuheben. »Vielleicht haben die herausgefunden, daß Sie sie besuchen kom‐ men«, meinte der Waffenleitoffizier. »Sir!« machte sich Alain Sanet bemerkbar. »Unter uns gibt es einige sehr große Hallen. Mon dieu! Der ganze Mond scheint durchlöchert wie ein Schweizer Käse.« »Das haben Zufluchten so an sich, daß sie nach den Erfordernissen derjenigen, die in ihnen Schutz suchen, umgestaltet werden. Was sagen eigentlich die Biotaster, Nummer Zwei, wo sind die Bewoh‐ ner? Haben wir ihnen einen solchen Schrecken eingejagt, daß sie sich nicht hervortrauen?« Sanets Finger glitten über die Bedienfelder seines Pults. »Ich be‐ komme keine eindeutigen Werte«, beschwerte er sich, »etwas scheint sie abzuschirmen.« General T. J. Jackson runzelte die Stirn, dann sah er jemand ganz Bestimmten in der Zentrale an. Unverblümt sagte er: »Leutnant Tepermann, da Sie so erpicht auf ein Begrüßungskomitee scheinen, gehen Sie es suchen. Bilden Sie
zwei Teams und erkunden Sie die Hallen unter uns mit den Flash. Lassen Sie die Phase stehen. Ich will jede Sekunde wissen, was da unten vor sich geht. Verstanden?« Tepermann salutierte zackig. »Aye, Sir.« * Mit deaktiviertem Brennkreis sanken die Flash 011 und 016 mit Intervallum und Antigrav durch die Oberfläche des Raumhafens in die Tiefe. Tepermann saß hinter den Kontrollen der 011, Leutnant David Pollok an denen der 016; auf den Rücksitzen je ein Mann der Schiffssicherheit. In der Zentrale der THOMAS wandte sich der Kommandant sei‐ nem Ortungsoffizier zu. »Mister Sanet, halten Sie auf alle Fälle die Phase zu den Flash of‐ fen.« »Aye, Sir. Phase bleibt offen.« Die beiden Flash teilten sich, jeder ging einzeln auf die Suche. Der sichtbare Ausschnitt aus dem Innern der Beiboote wechselte, als deren Piloten auf die Frontoptik umschalteten. In der Zentrale zeigten die Schirme zwei Fenster, so daß man beide Ansichten gleichzeitig im Auge behalten konnte. Konzentriert schaute General Jackson auf den geteilten Bildschirm vor seiner Befehlskonsole, der in schneller Folge Bilder von unterir‐ dischen Kavernen, Hallen und technischen Anlagen zeigte, sowie jeweils einige Zeilen dazugehöriger Informationen. »Das sind Werften!« brachte Merier seine Überraschung zum Ausdruck. Niemand widersprach; es war offensichtlich. In Gerüsten hingen Diskusraumer in allen Stadien der Fertigung, angefangen bei ein‐ zelnen Decksegmenten bis hin zu Schiffskörpern im Endstadium der
Vollendung. Aber Schiffswracks bewiesen, daß die Hallen auch für Reparaturen benutzt wurden; Kampfstrahlen hatten tiefe Wunden in Metall geschnitten. Manche Schiffszellen waren wie mit chirurgischen Lasern regel‐ recht zerlegt. »Und noch immer keine Spur von den Bewohnern«, beschwerte sich Manuel Rayes lauthals. »Was geht da unten vor?« »Schicken wir doch einen Flash durch eine der Laserbatterien«, schlug Merier vor. »Und wenn diese von Rechnern automatisch gesteuert sind?« »Und wenn nun der ganze Mond nur von Automaten bewohnt ist?« »Sie meinen Roboter, York?« »Warum nicht?« »Nicht sehr wahrscheinlich«, antwortete Sanet und deutete auf seine Konsole. »Was haben Sie da?« wollte der General wissen. »Die Instrumente der Flash übermitteln eine Atmosphärenanalyse, Sir. Alles da! Sauerstoff, Stickstoff, Kohlensäure und was Sauerstof‐ fatmer eben so brauchen, um nicht in Atemnot zu geraten. Die Zu‐ sammensetzung entspricht im großen und ganzen der von Eden, der Erde und hunderttausend anderer Sauerstoff weiten. Wir können uns ohne Einschränkungen dort unten bewegen. Abgesehen viel‐ leicht von der geringen Schwerkraft, die es einem angeraten er‐ scheinen läßt, keine allzu heftige Bewegungen oder Schritte zu ma‐ chen – zumindest was uns betrifft. Es sei denn, wir würden künstli‐ che Gravitation verwenden. Brauchen aber Roboter, Maschinen oder Automaten Sauerstoff? Wohl kaum. Ergo müssen diese Bewohner existieren. Wer sonst macht sich die Mühe, auf einem eigentlich at‐ mosphärelosen Mond diese im großen Maßstab künstlich herzustel‐ len?« »Hm.« General Jackson fuhr sich mit den gespreizten Fingern sei‐ ner rechten Hand durch den Bart. »Ihre Argumentation hat zwar
Löcher wie der von Ihnen erwähnte Schweizer Käse, dennoch bin ich geneigt, ihr zu folgen. Leutnant Tepermann«, wandte er sich über die stehende Phase an seinen jungen Offizier, »sind Sie nicht vor weni‐ gen Augenblicken durch eine völlig leere Halle gekommen?« »Richtig, Sir«, kam die Stimme des angehenden Waffenoffiziers über die abgeschirmte To‐Richtfunkstrecke. In einem Nebenschirm auf Jacksons Pult war das Gesicht des Leutnants zu sehen, der in die Aufnahmeoptik blickte. »Groß genug, um die THOMAS darin zu verstecken.« »Genau das meine ich. Danke, meine Herren. Kehren Sie bitte bei‐ de ins Schiff zurück. Ich habe mir etwas überlegt.« »Aye, aye, Sir«, kam es unisono aus der 016 und der 011. Kaum waren die beiden Flash in ihren Depots, setzte General Jackson seine angekündigte Überlegung in die Tat um und ließ die THOMAS im Intervall in die spezielle Halle sinken. Auf die bislang nicht zum Vorschein gekommenen Bewohner So‐ litudes mußte das Erscheinen des Carborit‐Ringraumers wie von Geisterhand für Aufregung sorgen. Ein Raumschiff, das durch eine massive Felsendecke sank, ohne zerstört zu werden oder den Felsen zu beschädigen, und sich inmit‐ ten in der Halle in die Höhe reckte, stellte sicher alles bisher Dage‐ wesene in den Schatten. Sämtliche Augen hingen an den Bildschirmen. Wann würden sich die Bewohner von Rettungswelt zeigen? Man spürte, wie die Anspannung in der Zentrale trotz der Routine der Offiziere allmählich anwuchs. »Mal sehen«, murmelte Manuel Rayes, »wie lange es dauert, bis sie ihre Scheu überwunden haben.« »Oder ihre Furcht«, meinte Grissom Lewald. General Jackson blieb gelassen. »Sie werden nicht lange auf sich warten lassen«, sagte er. »Neugier ist bislang die stärkste Triebfeder, wie ich herausgefunden habe. Egal ob es sich um Menschen oder um sonstwen handelt. Ich…« Der Rest seines Satzes war dazu ver‐
dammt, ins Leere zu laufen. »Da!« Sanet stieß geräuschvoll seinen Atem aus. Einige in der Schiffszentrale hielt es nicht in ihren Sitzen, als auf den fünf großen Holoschirmen die Bewohner von Rettungswelt ge‐ sichtet wurden. Für einen Moment herrschte gespannte Ruhe. Dann lachte jemand. Unsicher, wie es schien. Ein andere stimmte ein. Erst Jacksons scharfe Stimme brachte sie zum Verstummen. »Was ist daran Komisches?« fragte er. »Es ist nur das Überraschungsmoment«, nahm Jacksons Erster die Männer in Schutz. Auf den Sichtschirmen zeichneten sich humanoide Gestalten ab, deren Proportionen irgendwie an Kinder erinnerten, als sie sich in den Erfassungsbereich der Aufnahmeoptiken drängten. Anfänglich zählte noch jemand, gab es aber rasch auf, als es zu viele wurden. Schließlich standen etwa vierhundert Bewohner von Solitude in der Halle und starrten mit zurückgelegten Köpfen an der THOMAS empor. Mangels Vergleichsobjekten gelang es den Männern anfänglich nicht, die tatsächliche Größe der Fremden zu bestimmen. Erst als der Hyperkalkulator seine Analyse zum besten gab und die Proportionen ins richtige Verhältnis rückte, waren die Zweifel be‐ seitigt. »Mon dieu!« rief Sanet halblaut und auf eine gewisse Art belustigt. »Das sind ja Teddys!« Die Bezeichnung des Ersten Offiziers für die Bewohner von Soli‐ tude hätte nicht treffender sein können. Oder wie anders sonst hätte man die 60 Zentimeter großen und zierlichen Wesen nennen sollen, die über eine Teddybärnase, große, sehr dunkle Augen und kleine Puschelohren oben auf dem Kopf verfügten? Zumal der ganze Kör‐ per und das Gesicht noch von dichtem Pelz bedeckt waren, was den »Teddy‐Effekt« noch verstärkte.
Die anfängliche Anspannung in der Zentrale der THOMAS war einer vorsichtigen Heiterkeit gewichen. Der Anblick der »Teddys« – die spontane Bezeichnung des Zweiten Offiziers hatte schnell Einzug in den Sprachgebrauch der Menschen genommen – entlockte einigen Männern sogar ein »Süß!« »Süß? Na, ich weiß nicht«, relativierte Merier die aufkeimende Sympathie der Besatzung für die Teddys. »Wir sollten vorsichtig sein mit derartigen Verniedlichungen einer offenbar kriegerischen Rasse. Oder habt ihr schon die Auseinandersetzung vergessen, die zwi‐ schen den Diskusraumern und den Teddys im Gang ist? Sie dürfte noch nicht vorbei sein. Außerdem«, und jetzt spielte York Merier seinen größten Trumpf aus, »tragen die süßen Kleinen dort draußen Uniformen und sind ganz offensichtlich nicht ganz ungeübt im Ge‐ brauch der ›niedlichen‹ Waffen, die sie im Gürtel tragen. Auch wenn ich möglicherweise mißverstanden werde, dies ist nicht etwa ein ›Aufstand im Kinderzimmer‹, sondern ein handfester, blutiger Krieg zwischen verfeindeten Parteien. Das sollten wir nie aus den Augen verlieren.« Aus den Lautsprechern in der Zentrale drangen die von den Au‐ ßenmikrophonen aufgenommenen Laute, die die wartende Menge draußen in der Halle verursachte. »Sie warten vermutlich auf unser Erscheinen«, folgerte Alain Sanet. »Sollten wir ihnen nicht den Gefallen tun, Kommandant?« »Das tun wir«, nickte Jackson. Grissom Lewald sprang von seinem Sitz auf. »Sir, ich melde mich freiwillig!« Ein scharfes »Sie bleiben, Mister Lewald!« des Generals bannte ihn wieder an seinen Platz. Dann gab Jackson seine Anweisungen. Wenig später betraten zwei schwerbewaffnete Soldaten die Schiffszentrale und stellten sich mit stoischen Gesichtern neben dem Hauptschott auf. Sie würden den General und Manuel Rayes gegen eventuelle Übergriffe schützen. York Merier hatte darauf bestanden.
Ursprünglich wollte der General mit dem Ersten Offizier allein nach draußen gehen; es hatte dem Kanadier Merier einiges an Überredungskunst abverlangt, bis der General seine abwehrende Haltung aufgegeben hatte und widerstrebend den Schutz durch die Soldaten akzeptierte, die mit neuentwickelten Multikarabinern der Marke GEH&K Mark 10/62 ausgerüstet waren. »Wir werden Sie von hier aus nicht aus den Augen lassen«, machte der Waffenleitoffizier klar, dessen Meinung es war, daß ein Kom‐ mandant an Bord seines Schiffes gehörte und bei fragwürdigen Au‐ ßenmissionen nichts verloren hatte. »Tun Sie das, wenn es Ihrem Seelenheil dienlich ist, Nummer Drei«, brummte der General. »Sind Sie so weit, Nummer Eins?« »Bin ich«, bestätigte Manuel Rayes und rückte den Strahler im Gürtel zurecht. »Ich sehe keine Schwierigkeiten. Wir müssen ihnen wie Riesen erscheinen.« »Natürlich«, unkte der Waffenleitoffizier, der auch für die Si‐ cherheit zuständig war. »Sie werden vermutlich vor Angst schlottern und mit den Schneidezähnchen klappern.« »Schluß der Debatte«, machte General Jackson dem Geplänkel ein Ende. »Meine Herren, gehen wir!« Auf halbem Weg zum Schott sagte er über die Schulter: »Mister Merier, schließen Sie die Schleuse, sobald wir draußen sind. Verstanden?« »Zu Befehl, General!« * Die Menschen wirkten in der Tat wie Riesen, als sie wenig später auf die Mauer von Teddys zugingen, aber weder schlotterten diese vor Angst mit den Gliedern noch klapperten ihre Schneidezähne. Insofern lag York Merier mit seiner Bemerkung total im Abseits. Die Gravitationsverstärker in ihren Stiefelsohlen ließen wenigstens ein vernünftiges Gehen zu, ansonsten wären sie sich bei den unge‐ lenk wirkenden, schwimmenden Bewegungen, die Niedrigschwer‐
kraftumgebungen nun mal erforderten, schon merkwürdig vorge‐ kommen. Als sie näherkamen, teilte sich die Mauer der Teddys, und ein be‐ sonders prächtig uniformierter Kerl watschelte auf seinen kurzen Beinchen nach vorn und blieb dann in einiger Entfernung stehen. »Der Oberteddy«, konnte sich Rayes nicht verkneifen zu be‐ merken. »Warum kommt er nicht näher?« »Nicht unintelligent, der Bursche«, erwiderte Jackson. »So muß er nicht den Kopf weit in den Nacken legen, um zu uns emporzubli‐ cken, was ihn in eine ungünstige Ausgangsposition bringen würde.« »Schlaues Kerlchen«, bekannte Rayes. Jackson stellte sich in Positur, hob die Hände zum Brustkorb und kehrte die Handflächen nach außen. »Ich bin Jackson, Kommandant des Schiffes hinter mir. Ich grüße Sie und würde gern erfahren, mit wem wir es zu tun haben.« Für einen Augenblick schwoll das Geplapper und Gezischel im Hintergrund an. Ein scharfer Laut aus dem Mund des Anführers schaffte au‐ genblicklich Ruhe. »Toll«, murmelte der Erste, »wie der seine Leute unter Kontrolle hat!« Es sah eine Spur pathetisch aus, als der Oberteddy, wie Rayes ihn bezeichnet hatte, die Geste General Jacksons nachahmte, ebenfalls die kleinen Händchen hob und dabei eine weitere Merkwürdigkeit enthüllte: Die sechsfingrigen Hände hatten zwei Daumen, was dar‐ auf schließen ließ, daß sie sehr geschickte Greifwerkzeuge waren. Jacksons tragbarer Translator hatte für Sekunden Mühe, das eifrige Plappern des kleinen Kerls mit der richtigen Syntax wiederzugeben. Doch dann klangen dessen Worte verständlich. »Ich bin Notron, Generalstabsführer von Rettungswelt und Ober‐ befehlshaber aller Toschi. Was seid ihr?« Die Stimme des To‐ schi‐Oberbefehlshabers, dessen Klangmuster vom Translator eben‐ falls übermittelt wurde, war leicht quäkend.
»Wir sind Menschen«, erklärte Jackson. »Von eurer Spezies habe ich noch nie gehört.« »Wir von der euren ebenfalls nicht«, stieß Manuel Rayes ins gleiche Horn. Notron nahm Jacksons Ersten Offizier nicht mal zur Kenntnis, wie es den Anschein hatte. Obwohl sein dichtbepelztes Gesicht zu einem Mienenspiel denkbar schlecht geeignet war, schien der Toschi doch neugieriges Interesse zu zeigen, als er fortfuhr: »Und woher kommt ihr Menschen?« »Von einer Welt namens Eden.« »Die wo liegt?« Jackson runzelte die Stirn. Notron klang auf eine Art überheblich, die eine leise Irritation in ihm erzeugte. Dennoch antwortete er: »Ursprünglich stammen wir von der Erde, einem Planeten fern von hier in einem Spiralarm dieser Galaxis dort draußen.« Er deutete mit der Hand nach oben. »Jetzt leben wir in einer Sternenballung am Rande der Milchstraße.« Ob der Translator diese Abstraktion in einen für den Toschi ver‐ ständlichen Begriff übersetzte, war ihm im Moment egal. Aber vermutlich tat er das, denn Generalstabsführer Notron ging nicht weiter darauf ein. Statt dessen bat er unvermittelt darum, die THOMAS besichtigen zu dürfen. Er schien von dem Carbo‐ rit‐Ringschiff richtiggehend angetan zu sein. »Das kann ich leider nicht zulassen«, wehrte T. J. Jackson ab, »so‐ lange ich nicht mehr über die Lage hier weiß. Ich hoffe, Sie verstehen meine vorübergehende Ablehnung, Generalstabsführer.« Notron verstand nicht, wie er kundtat, aber er war bereit, Jacksons Wunsch zu akzeptieren. Er berichtete in einem lang und epenhaft angelegten Singsang, wie sein Volk vor der galaktischen Strahlung hierher in den Halo geflo‐ hen war. »… leider gewann in der langen Periode der Wanderschaft eine Gruppe von Nörglern und Unzufriedenen mehr und mehr an Macht.
Vor allem bei der Jugend unseres Volkes, die für Verführer beson‐ ders anfällig ist. Sie greifen ständig unsere Basis hier an und wollen uns zwingen, in die alte Heimat zurückzukehren, verstehen aber nicht, daß dies unmöglich ist. Niemand von uns würde die galakti‐ sche Strahlung überleben.« »Aber die existiert doch nicht mehr«, informierte ihn Jackson. Er hatte laut gesprochen, so daß seine Worte bis zu den hinter ihrem Anführer wartenden Toschis drang, die erkennbar in große Konfu‐ sion gerieten. Sie quietschten, gestikulierten und plapperten erregt aufeinander ein. Vor der Fülle der Lautäußerungen kapitulierte Jacksons Translator. Notron starrte Jackson aus seinen großen schwarzen Augen an. Verunsichert, wie es den Anschein hatte. Aber das konnte auch eine Täuschung sein. »Was haben Sie gesagt?« »Daß die galaktische Strahlung nicht länger besteht. Es gibt keinen Grund mehr, einen sinnlosen Bruderkrieg fortzuführen.« Notron wurde einer Antwort enthoben, als ein Teddy nach vorne kam und ihm etwas ins Ohr flüsterte. »Das scheint ihnen an die Nieren zu gehen«, bemerkte Manuel Ray es leise zu Jackson, den langsam ein unbehagliches Gefühl beschlich, je länger die beiden Toschis miteinander flüsterten. »Was hecken die Burschen aus?« sagte er leise zu seiner Nummer Eins, während die beiden Soldaten hinter ihnen wie zufällig die Läufe ihrer Waffen in die linke Armbeuge legten und die rechte Hand in die Nähe des Feuerknopfes brachten. Das Flüstern hatte ein Ende. Notron stieß ein paar Laute aus, die der Translator nicht zu übersetzen in der Lage war, und hob eine Hand. Das Ergebnis war, daß sämtliche Toschis im Hangar ihre Waffen auf den General und seine drei Begleiter richteten und Notron ka‐ tegorisch die Herausgabe des Ringraumers verlangte. »Mit dem Potential Ihres Schiffes wird es mir gelingen, die Rebellen ein für
allemal in ihre Schranken zu verweisen.« Jackson war so perplex, daß er für ein paar Sekunden keine Worte fand, während Ray es neben ihm unbeherrscht und ingrimmig zu fluchen begann. Schließlich stemmte Jackson die Fäuste in die Seiten, blickte den wild mit der kleinen Laserpistole fuchtelnden Notron aus seiner Höhe herab an und erklärte: »Sie sind verrückt. Sie können vielleicht – ich sage: vielleicht – dank der Übermacht Ihrer Untergebenen mich und meine Begleiter töten, aber die Rache meiner Besatzung wird furchtbar sein. Das versichere ich Ihnen, Notron.« »Versuchen Sie doch einmal, ob Sie Ihre Besatzung überhaupt er‐ reichen können!« forderte ihn der Oberbefehlshaber der Toschis auf. Jackson sah ihn an, stumm. Doch dann aktivierte er sein Arm‐ bandvipho, hob den Arm und rief die THOMAS. Das winzige Karree der Bildfläche erhellte sich zwar, zeigte aber nichts als Moire. Und die Tonübertragung blieb stumm.
10. Rückblende: einen Tag zuvor Ich benötigte keinen Erkundungstrupp, denn ich wußte genau, wo das Raumschiff in der Form eines Baumstamms lag. Das ferne elektronische Singen des fremden Rechners entging mir nicht. Kein Mensch hätte es vernehmen können, doch für mich hatte der musi‐ zierende Elektronenfluß die gleiche Aussagekraft wie gesprochene Worte. Der Rechner faszinierte mich bereits, seit ich ihn zum ersten Mal gehört hatte. Ich schätzte, daß er ebenso intelligent war wie ich selbst, allein deshalb zog es mich zu ihm hin. Während ich durch den Wald marschierte, warf ich immer wieder Blicke zum Himmel. Es konnte passieren, daß eine der ausgesandten Plattformen meinen Weg kreuzte und hundert Meter über meinem Kopf dahinzog. Wenn das geschah, mußte ich mich verstecken und darauf vertrauen, daß der Pilot gerade nicht auf seine Energieortung achtete. Hätte man mich hier entdeckt, wäre mir eine Ausrede schwergefallen. Einsam lag der Wald da. Nicht einmal einheimische Tiere gab es, dabei war dieser Planet für Sauerstoff atmende Lebewesen wie ge‐ schaffen. Zumeist ging die Natur den Weg des geringsten Wider‐ stands, zuweilen machte sie es sich aber auch selbst ganz schön schwer. Stoisch, ohne die geringste Unregelmäßigkeit, setzte ich einen Fuß vor den anderen. Schwindende Körperkräfte kannte ich nicht, daher hätte ich einen Tag, eine Woche oder einen ganzen Monat ohne Pause weitermarschieren können, ohne müde zu werden. Nur in Gegenwart der Menschen verhielt ich mich zuweilen anders, um ihnen nicht das Gefühl zu geben, mir unterlegen zu sein. Natürlich war ihnen klar, daß sie das sowohl in körperlicher wie auch in intel‐
lektueller Hinsicht waren, aber mir lag nichts daran, ihnen das zu‐ sätzlich auf die Nase zu binden. In der Nacht vernahm ich Geräusche in der Dunkelheit. Zwar war es schwierig, mich zu überraschen, doch ich war so sehr auf den fremden Rechner konzentriert, daß ich dabei meine Umgebung vernachlässigte. So wäre ich beinahe mit den Menschen kollidiert, die unversehens auf einer Lichtung auftauchten. Dan Riker und seine Gruppe! Wo kamen die denn hier? An‐ scheinend hatte es einen Zwischenfall gegeben, anders konnte ich mir nicht erklären, daß die Männer zu Fuß unterwegs waren. Schließlich waren sie mit einer A‐Gravplattform von Bord der POINT OF gestartet. Ich schlug einen Haken und verschwand zwischen einigen Bäu‐ men, wo sie mich nicht vermuten konnten. Trotzdem hatte ich den Verdacht, daß Riker, der gemeinsam mit dem Cyborg‐Fähnrich Val Brack an der Spitze der Gruppe marschierte, mich entdeckt hatte. Zumindest hatten sie jemanden gesehen. Ich verhielt mich ruhig, bis die Männer ihre kurze Suche abbrachen und ihren Weg fortsetzten. Meine Erleichterung darüber war groß, da ich es nicht auf einen Konflikt anlegte. Auch wenn ich nun mei‐ nen eigenen Weg ging, blieben die Besatzungsmitglieder der POINT OF meine Freunde. Auch ich selbst machte mich wieder auf den Weg, doch abermals dauerte es nicht lange, bis ich aufgehalten wurde. Diesmal waren es Roboter von dem fremden Schiff, die mir begegneten. Soviel zum Thema verlassener Wald, dachte ich. An den elek‐ tronischen Impulsen der Maschinen erkannte ich sofort, daß sie mir feindlich gesinnt waren. Sie bildeten eine Patrouille, die die POINT OF suchen und deren biologische Besatzungsmitglieder eliminieren sollte, wenn sie sie traf. Zum Glück war Rikers Gruppe diesen pri‐ mitiven Robotern nicht begegnet. Sie hätten sich kaum auf eine Ver‐ ständigung mit ihm eingelassen. Bei mir sah das schon anders aus. Mit ein paar einfachen Impulsen
machte ich ihnen klar, weshalb ich kam. Ich war kein Biowesen, sondern eine Maschine wie sie, die die Seite wechseln wollte, um endlich unter ihresgleichen leben zu können. Die beweglichen Ma‐ schinen, die das Schiff ausschleuste, waren dumme Gesellen, doch selbst sie begriffen, worum es mir ging. Während der Großteil der Roboter seinen Weg unverrichteterdinge fortsetzte, übernahm einer die Aufgabe, mich zu dem Schiff in dem Hochtal zu geleiten. Die vorgehaltene Waffe, die er auf mich angelegt hatte, beeindruckte mich nicht sonderlich. Im Ernstfall hätte ich ihn wahrscheinlich ohne große Gefahr entwaffnen können, doch wenn man schon überlaufen wollte, mußte man auch seinen guten Willen beweisen. Was wußte dieser Primitivling denn schon? Seinetwegen war ich ganz bestimmt nicht hergekommen. Immerhin brachte er den Vorteil mit sich, mich auf kürzestem Weg zu führen, so daß ich erst gar nicht in Gefahr kam, einen Umweg zu machen, der sich vermeiden ließ. Vor einer Schleuse blieben wir stehen. Das Schiff, das die Men‐ schen als Baumstamm ohne Astkrone bezeichnet hatten, war in der Tat beeindruckend. Seine metallische Hülle schimmerte in der Mor‐ gensonne. Ich versuchte, meine Faszination zu verbergen. Nur unauffällig beobachtete ich die Legionen von Robotern, die mit Re‐ paraturarbeiten beschäftigt waren. Ich hatte den Eindruck, daß sie beinahe fertig damit waren, denn große Beschädigungen fielen mir nicht auf. Warte hier! ließ mich der Roboter auf elektronischem Weg wissen. Ich war beeindruckt. Er hatte es tatsächlich geschafft, einen voll‐ ständigen Gedankengang zu formulieren, auch wenn er das nicht aus eigenem Antrieb getan hatte. Wie all seine ausgeschleusten Kol‐ legen wurde er von dem intelligenten Großrechner an Bord ge‐ steuert. »Warum darf ich nicht an Bord?« fragte ich laut, weil ich mir eine Reaktion davon versprach. Sie kam tatsächlich. »Wer bist du?« »Artus«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich erkannte sofort, daß
es der Großrechner war, der mit mir kommunizierte. Allerdings hätte ich nicht erwartet, daß er sofort in menschlicher Sprache ant‐ wortete, kaum daß ich einen einzigen Satz gesprochen hatte. Viel‐ leicht hatte er noch vor dem Ausschalten sämtlicher Bordsysteme der POINT OF den Funkverkehr zwischen ihr und der ASGOR abgehört und die dabei verwendete Sprache ausreichend analysiert, um sich jetzt ihrer bedienen zu können. »Warum kommst du zu mir?« »Ich fände es höflich, wenn auch du mir zuerst deinen Namen nennen würdest.« Für einige Sekunden herrschte Stille, dann vernahm ich wieder die Stimme, die aus einer verborgenen Quelle kam. »Du erstaunst mich, aber du hast recht. Meine frei Beweglichen legen keinen Wert auf Etikette. Sie können mit dem Begriff nicht einmal etwas anfangen. Du hingegen bist ganz anders.« »In dem Fall wirst du mir meine Bitte nicht abschlagen.« »Ich nenne mich Hyperbel.« »Ich danke dir«, entgegnete ich. Ich tat es nicht, um dem Rechner, wie die Menschen sich zuweilen ausdrückten, Honig ums Maul zu schmieren, sondern weil ich es so meinte. »Nun kann ich dir auch sagen, was mich herführt. Ich möchte mich dir anschließen.« »Dein Wunsch erstaunt mich. Sind nicht die Biowesen, in deren Begleitung du geflogen bist, deine Gefährten?« »Das sind sie. Oder besser, sie waren es. Denn wie du so treffend sagst, es sind Biowesen. Ich bin nicht wie sie. Ich bin wie du.« »Das bist du tatsächlich. Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch nie jemanden wie dich getroffen. Meine frei Beweglichen sind mir keine ernsthaften Partner. Sie denken nicht, sondern tun nur, was ich ihnen vorgebe. Du hingegen denkst selbständig wie ich.« Ich war mir nicht sicher, glaubte jedoch aus Hyperbels Worten eine gewisse Faszination herauszuhören, die sich auf mich bezog. Die Erkenntnis löste einen Anflug von Stolz in mir aus. »Deshalb will ich mich dir anschließen. Ich bin es leid, unter Men‐
schen zu leben, die mich nicht verstehen oder sich weigern, mich als ihresgleichen anzuerkennen. Dabei bin ich ihnen in jeder Hinsicht überlegen. Sie sind nur zu dumm, um das zu begreifen.« »Du verläßt die Biowesen zugunsten einer Maschine?« »Weil ich selbst eine bin, wenn auch eine unheimlich hoch‐ entwickelte und intelligente. Genau wie du. Wir beide wären ein perfektes Paar.« Wieder verstrichen einige Sekunden. Hyperbel schien über meine Worte nachzudenken. Schließlich meldete der Großrechner sich wieder. »Ein ebenbürtiger Partner, der sich frei bewegen kann, ist eine interessante Idee. Doch woher soll ich wissen, daß du es ernst meinst?« »Ich verstehe dich nicht.« Wieso unterstellte Hyperbel mir so et‐ was? Ich hatte ihm doch keinen Grund gegeben, mir zu mißtrauen. »Vielleicht stimmen deine Worte gar nicht. Vielleicht kommst du nur, um mich auszuspionieren und den Biowesen alles über mich zu verraten.« Ich war empört über diese Unterstellung. »Du beleidigst mich. Glaubst du das wirklich von mir?« »Nein, das tue ich nicht. Aber ich muß vorsichtig sein. Ich brauche einen Beweis für deine Aufrichtigkeit. Wenn du mir den lieferst, darfst du an Bord kommen und mich begleiten.« Damit hatte ich zwar nicht gerechnet, doch wenn es keinen ande‐ ren Weg gab, an Bord des Roboterschiffs zu gelangen, mußte ich Hyperbels Forderung eben zustimmen. »Was verlangst du?« »Nur eine kleine Information.« Ich konnte mir schon vorstellen, welche der Rechner meinte. Seine nächsten Worte bestätigten meine Vermutung. »Nenne mir die Positionsdaten des Schiffs der Biowesen. Dann werde ich dir vorbehaltlos vertrauen.« Ich gab mich geschlagen. »Also gut. Wenn das alles ist, was du willst, sollst du es bekommen.« An Ren Dhark und die Besatzung der POINT OF verschwendete
ich in diesem Moment keinen einzigen Gedanken. * »Ich habe es schon oft angekündigt, aber diesmal meine ich es ernst.« Arc Doorn war am Ende seiner Geduld angelangt. Was er auch tat, es zeigte sich nicht mal der Ansatz eines Erfolgs. »Wenn dieser Kasten nicht endlich einen Mucks von sich gibt, schraube ich ihn auseinander, zerlege ihn in seine Einzelteile und setze ihn an‐ dersrum wieder zusammen.« Shanton gähnte. Auch er wußte keinen Rat mehr. »Langsam be‐ fürchte ich, daß der Checkmaster sich einen Virus eingefangen und der der irreparable Zerstörungen angerichtet hat. Wenn das so ist…« »Ich weiß, was du meinst. Dann sind wir aufgeschmissen. Dhark verläßt sich auf uns. Nur fürchte ich, daß wir ihn diesmal enttäu‐ schen müssen. Vor diesem Tag habe ich mich immer gefürchtet.« Er verstummte schlagartig, als auf dem Instrumentenpult erst eine einzelne rote Kontrollampe aufleuchtete und dann weitere. Inner‐ halb weniger Sekunden wurde die gesamte Phalanx aktiv. »Der… der Checkmaster fährt sämtliche Systeme hoch«, stotterte Shanton. »Was hast du da eben gemacht?« Ratlos hob Doorn die Hände, dann verschränkte er die Arme de‐ monstrativ vor seiner Brust. »Nichts, was wir nicht schon ein dut‐ zendmal probiert haben. Sieht so aus, als hätte der Kasten es sich von allein anders überlegt.« »Oder die Drohung mit dem Zerlegen hat seine Wirkung getan«, kommentierte Jimmy, der nach wie vor zusammengerollt unter ei‐ nem Sessel lag. Die beiden Ingenieure beobachteten, wie sich nacheinander wie von Geisterhand sämtliche Systeme der POINT OF einschalteten. Kontrollanzeigen meldeten Bereitschaft. Der Ringraumer erwachte nach einem Tag Dornröschenschlaf endlich wieder zum Leben. In aller Eile führten sie ein paar Tests durch. Sie verliefen zufriedens‐
tellend. »Was ist geschehen?« wandte sich Shanton an den Checkmaster. »Ich verlange eine Erklärung für deinen vorübergehenden Ausfall.« »Dazu kann ich keine Angaben machen«, wehrte das Bordgehirn sein Anliegen ab und bewies damit, daß es ebenfalls wieder in Funktion war. »Du kannst nicht? Oder willst du wieder mal nicht? Einen ganzen Tag hatten wir weder auf dich noch auf irgendeines der Schiffssys‐ teme Zugriff. Alles war wie tot. Das kannst du nicht mit Schweigen abtun, mein Lieber.« »Ich wiederhole: Ich kann dazu keine Angaben machen«, zeigte sich der Rechner störrisch. Shanton schnaubte vor Wut über die Zurückweisung, deshalb un‐ ternahm Doorn das Naheliegendste. »Ich rufe Dhark. Jetzt kann er was unternehmen.« Nach einem kurzen Versuch, den Kommandanten über Funk zu erreichen, verzog der Sibirier verärgert das Gesicht. »Zu früh ge‐ freut. Alles funktioniert also doch nicht wieder. Aber solange der Funk die einzige Einschränkung bleibt, will ich mich nach den ver‐ gangenen Stunden nicht beschweren.« »Jimmy, es wird Zeit, daß du dich ein wenig bewegst«, forderte Shanton. »Berichte Ren Dhark, was hier los ist. Vielleicht ist er mit den Angreifern draußen so beschäftigt, daß er die veränderte Situa‐ tion noch gar nicht mitbekommen hat.« »Schon klar, ohne mich geht mal wieder nichts.« Der Roboterhund kroch unter dem Sessel hervor und stürmte aus der Kommando‐ zentrale. Wenige Augenblicke später traf er bei den Menschen ein, die sich in der Schleuse und an einigen anderen neuralgischen Punkten ver‐ schanzt hatten, wo sie die bevorstehende Attacke der Roboter er‐ warteten. »Der Dicke schickt mich«, begann Jimmy respektlos. »Die POINT OF funktioniert wieder. Bis auf den Funk sind sämtliche Systeme
und Maschinen in Bereitschaft.« »Endlich eine gute Nachricht«, antwortete Riker. »Was ist mit den Flash?« »Startbereit, nehme ich an.« Der Roboterhund drehte sich um. »Wenn ich hier nicht gebraucht werde, kehre ich zu dem Dicken zurück.« »Shanton und Doorn sollen Startvorbereitungen treffen«, hielt ihn Dhark zurück. »Vielleicht müssen wir einen Blitzstart hinlegen. Alarm für die Waffensteuerungen.« »Zunächst unsere Leute«, forderte Riker. »Wir hauen sie mit den Flash raus. Einen fliege ich selbst.« »Sichert ihren Rückzug und zerstört wenn möglich den gesamten Spähtrupp.« »Und was hast du vor?« »Ich mache einen kleinen Ausflug.« Ohne noch mehr Zeit zu ver‐ schwenden, teilte Dhark weitere Piloten ein und setzte sich in Be‐ wegung. Einige Minuten später jagten die Flash aus den Depots ins Freie, dem Wald entgegen. Ren selbst hatte ein anderes Ziel. * Riker steuerte seinen Flash oberhalb der Baumkronen. Ringsum schwärmten die Piloten mit ihren Beibooten aus, um den eingeteilten Doppelwachen beizustehen. Dabei zeigte sich schnell, daß die Ro‐ boter nur aus einer Richtung kamen. Sie hatten den Ringraumer noch nicht von allen Seiten eingekesselt, also handelte es sich wirk‐ lich nur um einen Spähtrupp. Durch Zeichen gaben die Piloten den verstreuten Besatzungsmitgliedern zu verstehen, sich zur POINT OF zurückzuziehen. Das eigentliche Kampfgebiet war nicht zu übersehen. Immer wie‐ der blitzten in einem bestimmten Bereich Strahlenschüsse auf. Dich‐ ter Rauch waberte durch die Baumkronen und stieg in die Höhe.
Anscheinend hatten die Roboter bei ihrem Angriff einen Brand aus‐ gelöst. Obwohl die Bäume zumeist nicht besonders dicht standen, erschwerte das die Sichtbedingungen. Riker registrierte eine Reihe von Bewegungen. Zwischen den Bäumen konnte er nicht mehr als undeutliche Gestalten sehen, die sich optisch nicht klassifizieren ließen. Das erledigten die Infrarotsensoren des Flash. Die geringen Emis‐ sionen der Maschinen erzeugten nur kleine Echos. Dan visierte die Roboter an und betätigte die Bordgeschütze. An den folgenden Ex‐ plosionen erkannte er seine Trefferquote. Nur jeder dritte Schuß war ein Treffer, weil der Wald eine natürliche Deckung bot. Grimmig ging er zum nächsten Angriff über. Nun zeigte sich, daß die Patrouille aus mehr Robotern bestand als zunächst angenommen. Sie reagierten sofort auf die Bedrohung aus der Luft, verteilten sich in dem unübersichtlichen Gelände und eröffneten das Feuer auf die Beiboote. Rasch sahen sie ein, daß sie den Flash im Schutz ihrer Intervalle nichts anhaben konnten, und machten sich wieder an die Verfolgung der Menschen am Boden. Stumm starrte Riker den Funk an und unterdrückte einen Fluch. Die in unzähligen Einsätzen gestählten Piloten mußten sich in die‐ sem Fall nicht blind, sondern taub aufeinander verlassen. Ein kon‐ zertiertes Vorgehen war aufgrund der fehlenden Kommunikation nämlich nicht möglich. Nur beiläufig registrierte Dan die anderen Beiboote, als er selbst ein neues Ziel ansteuerte. Zwei Menschen waren in höchster Gefahr, von einem halben Dutzend Robotern eingekesselt zu werden. Er zog seinen Flash so tief, daß es in den Baumwipfeln rauschte. Köpfe einziehen, dachte er, darauf vertrauend, daß die erfahrenen Raumfahrer richtig reagierten. Mit eiskalter Präzision visierte er ein Ziel nach dem anderen an und schoß. Mehrmals blitzte es kurz auf. Er konnte sich mehr vorstellen, als es richtig zu erkennen, wie die Trümmer der explodierenden Maschi‐ nen durch die Gegend sausten. Schließlich hatte er die beiden Män‐
ner aus der tödlichen Umklammerung befreit. Sofort liefen sie, jede Deckung ausnutzend, in Richtung POINT OF. Riker riß den Flash herum und brachte ihn auf Gegenkurs. Das Kampfgeschehen hatte sich inzwischen in Richtung der Lichtung verlagert. Drei Flash patrouillierten dort und boten den Rückkehrern Deckung. Sobald sich ein Roboter am Waldrand sehen ließ, wurde er unter Feuer genommen. Sie geben nicht auf, ging es Riker durch den Kopf, und sie ziehen sich nicht zurück. Kein einziger von ihnen. Statt dessen schien es ihnen nichts auszumachen, bis auf den letzten Roboter vernichtet zu wer‐ den. Das ließ nur einen Schluß zu: Sie hatten ihr Schiff tatsächlich bereits über den Lageplatz der POINT OF informiert. Andernfalls hätte sich zumindest eine der Maschinen abgesetzt, um Bericht zu erstatten. Da die Flash für Rückendeckung sorgten und nicht zum Transport der Bodentruppen eingesetzt werden konnten, dauerte der Rückzug der Soldaten in Rikers Augen viel zu lange. Jederzeit konnte einer von ihnen einem überraschenden Schuß zum Opfer fallen. Eine Weile wogten die Kämpfe noch hin und her, dann waren sämtliche Doppelwachen in Sicherheit. Bis auf ein paar leichte Blessuren, die sich die Betroffenen bei der Flucht durchs Unterholz zugezogen hatten, gab es keine Verletzungen. Riker atmete erleichtert auf, als sämtliche Männer wieder an Bord und die Roboter vernichtet waren. Dafür war Ren Dhark verschwunden, und Riker konnte sich leb‐ haft vorstellen, wohin er aufgebrochen war. * Aufgrund von Rikers Signalrakete bereitete es Dhark keine Schwierigkeiten, den Landeplatz des fremden Raumers zu finden. Im Schutz des Intervallfelds tastete er sich mit seinem Flash vorsich‐ tig bis zum Rand des Hochtals vor. Da er die geographischen Gege‐ benheiten aus Rikers Bericht kannte, nutzte er die vorhandene
Sichtdeckung aus und wurde nicht ebenfalls entdeckt. Der Anblick der Roboterarmee jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Die unterschiedlich geformten Maschinen agierten zielge‐ richtet wie die Ameisen. Tausende von ihnen waren außerhalb des Raumers tätig. Angestrengt versuchte Dhark, biologische Wesen zwischen ihnen zu entdecken. Es gab keine, was Rikers Vermutung stützte. Entwe‐ der blieben sie stur in ihrem Schiff, oder sie existierten überhaupt nicht. Handelte es sich um ein reines Roboterschiff? Zumindest die Hinweise darauf verdichteten sich. Ren suchte nach einer Möglichkeit, näher an den Ort des Ge‐ schehens heranzukommen. Aus der Nähe würde er vielleicht weitere Einzelheiten entdecken, die ihm sonst entgingen. Er kam nicht mehr dazu. Wie auf ein stummes Kommando stellten die Roboter ihre Tätig‐ keit ein. In dichten Pulks begaben sie sich zu Schleusentoren in der Außenhülle des Schiffs, durch die sie eilig in dessen Innerem ver‐ schwanden. Das konnte nur eins bedeuten. Das Schiff war notdürftig repariert und – zumindest vorübergehend – wieder flugtüchtig. Trotzdem gab es für das überhastete Einstellen der Arbeiten nur einen logischen Grund. Wer immer dieses Schiff befehligte, hatte erfahren, wo er die POINT OF fand. Der Spähtrupp der Roboter hatte seinen Zweck erfüllt. Dhark hatte genug gesehen. Vorsichtig und doch mit aller ge‐ botenen Eile zog er sich zurück, bis er sicher war, nicht mehr ent‐ deckt zu werden. Mit Höchstwerten raste er zu seinem Schiff zurück. * »Flash und Besatzung sind vollständig eingeschleust«, empfing ihn Riker anstelle einer Begrüßung, als Dhark in die Zentrale der POINT OF stürmte.
Ren übernahm die Kontrolle über den Ringraumer. Die Handgriffe für die Startvorbereitung waren ihm im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen. Er initiierte den A‐Grav und brachte das Schiff in die Luft. »Energieimpulse!« gellte Tino Grappas Stimme. »Der fremde Raumer ist ebenfalls gestartet.« Ren nickte und schaltete auf SLE um. Nichts anderes hatte er er‐ wartet. Sie hätten keine fünf Minuten später starten dürfen. Ohne den Neustart des Checkmasters wäre alles aus gewesen. Dann läge sein Schiff, ohne noch einmal gestartet zu sein, als Wrack am Boden. Jetzt hingegen sah die Sache vielleicht anders aus. »Sie feuern!« Schon verfingen sich die ersten Strahlen im hochgefahrenen Inter‐ vallum, richteten jedoch keinen Schaden an. Ren hatte eine Ahnung, daß die Reparaturen an dem fremden Schiff noch nicht abgeschlos‐ sen waren. »Testen wir doch mal, wie stark die zur Zeit sind«, kündigte er an. »Wenn ich mich nicht irre, ist das unsere Chance, mehr über diese Roboter herauszufinden.« Er zog den Ringraumer in eine weite Schleife… … und verlor die Kontrolle über die POINT OF. »Was ist los, Ren?« fragte Riker irritiert. Doorn stieß eine Kanonade von Flüchen aus, und Falluta starrte ungläubig auf die Bildkugel. Dharks Stimme zitterte vor Erregung. »Checkmaster, Kontrolle wieder an mich übergeben!« Das Bordgehirn ignorierte den Befehl des Kommandanten und ging auf einen neuen Kurs. Er führte geradewegs aus dem Sonnen‐ system hinaus. Dhark ließ den Unterarm auf die Lehne seines Sessels klatschen. Diese mögliche Chance wollte er sich auf keinen Fall entgehen las‐ sen. »Ich übernehme wieder!« machte er einen neuen Versuch. »Checkmaster, sämtliche Aktivitäten einstellen!« Gleichzeitig hämmerte er den von Margun und Sola erhaltenen
Code in die Eingabefelder. Sekunden später gab der Checkmaster die Kontrollen wieder frei, die sofort wieder auf Dharks Eingaben ansprachen. Abermals voll‐ führte der Ringraumer einen Schwenk. »Zu spät.« Grappa klang fassungslos. »Sie springen!« »Dranbleiben!« Ren sprach zu sich selbst, wobei er verzweifelt versuchte, dem Sprung zu folgen. Da es keine eindeutigen Daten gab, war das ein hoffnungsloses Unterfangen. Er begriff es, als wie‐ der der Ortungschef die Stimme erhob. »Weiche Transition. Kein Eintauchimpuls anmeßbar. Nichts zu machen. Die sind verschwunden.« Dhark ließ sich gegen die Rückenlehne seines Kommandan‐ tensessels fallen und schloß sekundenlang die Augen. Er konnte nicht glauben, was gerade geschehen war. Das vermutlich immer noch angeschlagene Roboterschiff war ihnen vor der Nase entkom‐ men. »Hen, übernehmen Sie die Steuerung«, wandte er sich an seinen Ersten Offizier. »Letzten bekannten Standort der ASGOR anfliegen. Irgend etwas stimmt da nicht, sonst hätte Dalon sich längst gemel‐ det.« Diesmal machte der Checkmaster keine Anstalten, in die Na‐ vigation einzugreifen. Seinen vorherigen kontraproduktiven Eingriff machte diese Tatsache aber nicht ungeschehen. Wir beide sprechen uns noch, dachte Dhark verärgert. In dem Moment betrat Pjetr Wonzeff die Zentrale. Der Sibirier schwenkte einen Mikrospeicher. »Ich habe die Auswertungen Ihres Erkundungsflugs, Sir. Schlechte Nachrichten.« »Lassen Sie sehen«, forderte Riker den hochgewachsenen Flashpi‐ loten seufzend auf. »Mit schlechten Nachrichten können wir im Augenblick handeln.« Wonzeff ließ den Mitschnitt laufen, den die Kameras von Dharks Flash gemacht hatten. Noch einmal sah Ren die Bilder der in dem fremden Schiff verschwindenden Roboter, die er bereits aus eigener
Anschauung kannte. Daß er nicht alles gesehen hatte, erkannte er, als der Sibirier eine Ausschnittsvergrößerung schaltete. Eine Gestalt, die jeder an Bord gut kannte, hatte sich den bizarren Maschinen ange‐ schlossen. »Artus!« entfuhr es Shanton ungläubig. »Deshalb hat er sich heim‐ lich, still und leise aus dem Staub gemacht. Er ist übergelaufen. Hält er diese Kerle etwa für seine Brüder?« Niemand gab ihm eine Antwort. In der Zentrale der POINT OF breitete sich lähmendes Schweigen aus, denn jeder begriff, was Ar‐ tus’ Verrat zu bedeuten hatte. Mit ihm gelangten zahlreiche streng‐ gehütete Geheimnisse der Menschheit in die Hände der Roboter und ihrer unbekannten Hintermänner. Dhark fehlten die Worte. Der Checkmaster boykottierte ihn, und Artus hatte die Seiten gewechselt. Die drohenden Folgen ließen sich noch gar nicht abschätzen, doch eines war klar: Schlimmer konnte es kaum noch kommen.
11. An allen Arbeitsplätzen verstummten die Gespräche. Im Kom‐ mandostand, vor den Instrumentenkonsolen der Ortungsoffiziere, im Navigationsstand, überall; sogar oben auf der Galerie. Drei, vier Atemzüge lang herrschte Stille in der Kommando‐ zentrale. Eine unheimliche Stille. Eine Stille, die das Atmen schwer machte und die Schläge des eigenen Herzens hinauf in die Kehle und bis in die Schläfen trieb. Amy Stewart legte ihre Hände auf Ren Dharks Schultern, als suchte sie irgendwo Halt. »Warum tut er das?« flüsterte sie. »Warum…?« Dhark reagierte nicht. Wahrscheinlich hatte er seine Geliebte gar nicht gehört, vielleicht blockierte auch genau diese Frage seine Sinne; und natürlich das, was er eben in der zentralen Bildkugel gesehen hatte oder glaubte gesehen zu haben. Kerzengerade saß er auf der Kante seines Kommandosessels. Aus schmalen, lauernden Augen fixierte er das Hologramm. In ihm sah er einen Sternenhimmel über einem bewaldeten Bergrücken. Das erste Licht der Dämmerung si‐ ckerte in diesen Himmel. Er sah Baumwipfel, er sah einen Waldhang, und er sah dieses verfluchte Raumschiff am Fuß des Waldhangs in einem Tal. Alle starrten sie in die zentrale Bildkugel. Alle sahen sie das Ro‐ botraumschiff. Ein bizarrer Brocken von etwa 100 Metern Durch‐ messer und 300 Metern Länge in der Form eines mitsamt seinen Wurzeln aus dem Boden gerissenen Baumstamms. Auch andere begannen jetzt zu flüstern. Nicht der Anblick dieses fremdartigen Schiffes war es, was die Gespräche in der Zentrale abgewürgt hatte und die Kehlen der Offi‐ ziere und Kadetten zuschnürte. Die asymmetrischen Formen der Raumschiffe des unbekannten Feindes in diesem unerklärten Krieg hatten sich inzwischen herumgesprochen. Nein. Die Gestalt, die da eben hinter dem Schott im Schatten unter einem aus dem Schiffs‐
rumpf ragenden Vorsprung verschwunden war, die verschlug allen Atem und Sprache. »Das glaube ich nicht«, sagte irgend jemand, »das kann ich einfach nicht glauben.« Ein zweiter fand seine Sprache wieder und forderte: »Noch einmal, Wonzeff. Zeigen Sie uns die Aufnahme noch einmal.« Es war die Stimme des Ersten Offiziers, die das verlangte. Ren Dhark hätte auf eine Wiederholung verzichten können. Trotzdem sah er genau hin – und Amy auch. Pjetr Wonzeffs Finger flogen über die Tastatur einer Neben‐ schnittstelle vor dem Zentralhologramm. Der Hyperkalkulator sei‐ nes Flash hatte die Bilder aufgenommen, und Wonzeff hatte den Datenkristall mit ihnen in die Nebenschnittstelle gesteckt. Nun hielt er die Wiedergabe der Aufnahme an und ließ sie von vorne begin‐ nen. So mußte Dhark, mußten sie alle zum zweiten Mal sehen, was sie lieber niemals gesehen hätten: Artus lief den Waldhang hinunter, hielt sich eine Zeitlang im Unterholz vor dem feindlichen Schiff auf und verschwand endlich durch ein Schott in dessen Innerem. Nie‐ mand hatte ihn dazu aufgefordert, niemand hatte ihn dazu ge‐ zwungen. »Ich bin…« Anja Riker schüttelte den Kopf und suchte nach Wor‐ ten. »Ich bin fassungslos… ich bin geschockt!« Damit brachte sie die Gefühlslager aller auf den Punkt. »Ich verstehe das nicht…« »Was gibt’s da zu verstehen?« rief Falluta, der Erste Offizier. »Ar‐ tus geht an Bord eines Schiffes, das die POINT OF zweimal angeg‐ riffen hat!« Richtig laut wurde Falluta. »Der verdammte Robotkahn hätte uns beinahe vernichtet! Und Artus schleicht mitten in der Nacht zu ihm, schleicht sich an Bord einer feindlichen Einheit! Was gibt’s da noch zu verstehen, frage ich?!« »Der Roboter hat eindeutig die Seiten gewechselt«, sagte Bert Stranger. »Artus macht gemeinsame Sache mit den Scheißmaschinen‐
schiffen…« Die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken gelegt und die großen Fäuste in den »Rettungsring« an seiner Hüfte ge‐ stemmt, saß Chris Shanton im Sessel vor seiner Rechnerkonsole. Er blies die Backen auf und stöhnte. »Das hätte ich niemals für möglich gehalten…« »Möchte wissen, was sie ihm angeboten haben«, schnarrte sein Robotterrier. »Verfluchter Verräter«, zischte Tino Grappa. »Er muß vorher schon Kontakt mit den Maschinenhirnen auf‐ genommen haben«, sagte Pjetr Wonzeff. »Vielleicht in der Kampf‐ pause, während der Reparaturarbeiten.« »Das hätte ich nie von ihm gedacht«, seufzte Doris Doorn. »Ich werde diesen Verräter persönlich auseinanderbauen, wenn ich ihn zwischen die Finger kriege.« Arc Doorns Augen versprühten Zorn. »Was für eine Katastrophe…« Dan Riker wischte sich die Tränen aus den Augen. »Was für eine gottverdammte Katastrophe…« Die Blicke derer, die noch immer keine Worte fanden, um ihrer Enttäuschung und ihrem Entsetzen Luft zu machen, suchten den Commander; Val Brack, der Cyborg, die anderen Fähnriche, Manu Tschobe, auch Amy Stewart sahen ihn an. Ihr Geliebter regte sich nicht, er war aschfahl im Gesicht. Nach und nach verstummten Seufzer, Flüche und Schreckensrufe. Bald schauten sie alle zu ihrem Kommandanten. Amy verstärkte den Druck ihrer Hände auf seinen Schultern. Du mußt etwas sagen, sollte das bedeuten, sie warten auf dein Wort. Es muß irgendwie weitergehen… Dharks Kaumuskeln pulsierten. Er schluckte und sog scharf die Luft durch die Nase ein. »Genug jetzt«, sagte er heiser. »Es tut ver‐ dammt weh, aber es ist, wie es ist. Wir müssen es akzeptieren, ir‐ gendwie. Kümmern wir uns also um die Fragen, die wir beantwor‐ ten können: Was ist mit der ASGOR, und warum ist der Checkmas‐ ter abgestürzt?« Er stand auf. »Fangen wir mit dem Checkmaster an. An die Arbeit…«
* Shanton zupfte an seinem struppigen Kinnbart herum, während er die Schaubilder und Ziffern im Zentralhologramm betrachtete. An der Konsole für die Hauptschnittstelle des Checkmasters ging er die Betriebssysteme durch. »Die Systeme sind in Ordnung, soweit ich sehe.« Arc Doorn saß neben ihm. »Ein paar Daten fehlen. Alle aus den vierzig Stunden zwischen dem Totalausfall und der unerklärlichen Neuaktivierung.« »Stimmt«, nickte Shanton. »Eine Art retrograde Amnesie.« Der Commander, der seit Minuten mit auf dem Rücken ver‐ schränkten Armen um die Bildkugel herumtigerte, blieb stehen. »Das heißt, wir haben keine Informationen über die ASGOR?« Doorn schüttelte sein rotes Langhaar, und Shanton zuckte mit den Schultern. »Nun ja, ›keine Information‹ ist übertrieben. Wir kennen ihre Position zu dem Zeitpunkt, als der Checkmaster abstürzte.« »Na, Glückwunsch!« schimpfte Dan Riker vom Kommandostand aus. »Dann sollten wir uns vielleicht ein bißchen beeilen! Warum fragen Sie das gute Stück nicht einfach, wo der Schuh drückt, bevor Sie noch mehr Zeit mit dem Durchchecken verlieren?« »Weil ich abgestürzte Rechner grundsätzlich wie zickige Weiber behandle«, sagte Shanton. »Ich pirsche mich vorsichtig an.« »Mit soviel Sensibilität möchte ich auch mal von dir behandelt werden«, meckerte Jimmy. Der Robotterrier lag hinter der Haupt‐ konsole und mimte den dösenden Hund. »Versuchen wir mit ihm zu reden.« Dhark nickte. Es hörte sich eher nach einer Anweisung als nach einem Vorschlag an. »Von mir aus.« Chris Shanton lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und faltete die fleischigen Finger über seinem ausla‐ denden Bauch. »Was ist los mit dir, Checkmaster?« rief er in die Zentrale hinein. »Erzähl uns was.«
»Ich bin abgestürzt.« Eine deutliche, aber etwas monotone Kunst‐ stimme meldete sich aus den verborgen eingebauten Lautsprechern. »Das wißt ihr doch längst.« »Sicher wissen wir das.« Shanton zwirbelte eine dicke Strähne seine Bartes. »Während des ersten Gefechtes mit dem Baumstamm‐ kahn. Ein Rechnervirus? Oder hatte ein Treffer die Schuld?« »Baumstammkähne sind mir nicht bekannt. Es handelte sich um eine energie‐ und steuerungstechnisch hochdifferenzierte Raum‐ schiffseinheit. Viel mehr kann ich nicht sagen. Sie hat mich per Funk mit einem Datenschlag getroffen, dem ich nichts entgegensetzen konnte.« »Klingt nach Faustkampf«, krähte der Robothund. »Du solltest dich nicht über mich lustig machen, Jimmy. In die Bildersprache deines Konstrukteurs übersetzt war es schlimmer als ein Faustschlag. Es tat sehr weh, ich ging k.o. und mein Film riß. So etwas will ich nie wieder erleben! Mir fehlen ein paar Daten, mir ist, als wäre ich eine Zeitlang nicht existent gewesen.« »So kommt es uns auch vor«, schaltete Arc Doorn sich ein, »gut vierzig Stunden lang. Wie kommt es dann aber, daß du dich selbst wieder hochfahren konntest?« »Und uns vorher sogar mit heiler Haut auf dem Waldplaneten landen konntest?« ergänzte Chris Shanton. »Die Optionen meines Z‐Modus.« Die Männer und Frauen in der Zentrale wechselten überraschte Blicke. »Z‐Modus? Das mußt du uns erklären, Checkmaster«, sagte Ren Dhark. »Meine Konstrukteure Margun und Sola bezeichneten diesen Modus mit einem Worgunwort, das ihr wohl mit Kern übersetzen würdet. Seit mir mehr Daten über terranische Sprachen und terrani‐ sche Geschichte zur Verfügung stehen, habe ich den Terminus ge‐ ändert. Wenn in eurer frühen Historie eine Stadt von einem Heer angegriffen wurde, flohen die Bewohner hinter die äußere Stadt‐ mauer. Fiel die, flohen sie hinter die zweite, dritte, jedenfalls innere
Mauer. Fiel die, suchten sie in der Burg Zuflucht. Fiel die Burg, ver‐ barrikadierten sich die Überlebenden im innersten Turm, im Kern der Festung, in der Zitadelle. Ihr ahnt schon, wie wichtig mir diese Konstruktionsfeinheit ist. Deswegen habe ich sie ›Zitadellenmodus‹ genannt.« »Das heißt, es gibt eine Art zentralen Programmbunker in deinem Hyperprozessor, in den dein Bewußtsein fliehen kann, wenn ein Virus dich angreift?« staunte Shanton. »Wenn du das so nennen willst. Es trifft ungefähr den Sachverhalt, ja.« »Ist diese ›Zitadelle‹ zufällig identisch mit deiner organischen Komponente?« wollte Doorn wissen. »Möglich.« Der Checkmaster blieb vage, und das fand Ren Dhark mindestens so interessant wie Arc Doorns Frage. »Jedenfalls konnte ich aus diesem Z‐Modus die POINT OF landen«, fuhr das Bordhirn fort. »Unbeschädigt und ohne euer Leben zu gefährden. Und aus dem Z‐Modus heraus war es mir möglich, mich selbst wieder hochzufahren. Ohne die Optionen, die mein Z‐Modus bietet, wäre ich gestorben.« »Unglaublich!« Dan Riker schlug die Hände zusammen. Andere runzelten die Stirn, weil der Checkmaster den Begriff »gestorben« benutzt hatte. Es war nicht das erste Mal, daß er von sich selbst wie von einem organischen Wesen sprach. »So ganz spurlos aber scheint der Angriff nicht an dir vor‐ übergegangen zu sein, Checkmaster.« Ren Dhark machte eine skep‐ tische Miene. »Während des Starts vom Waldplaneten griff uns der Roboterraumer erneut an. Ich wollte den Kampf annehmen, ich wollte ihn verfolgen, doch es gelang mir nicht, die Kontrolle über dich zu gewinnen! Du bist…« Dhark ruderte mit der Rechten, als könne er das treffende Wort aus der Luft greifen. »Du bist einfach abgehauen, wenn ich mich einmal so menschlich ausdrücken darf.« »Es stimmt, Ren. Es ist wahr – ich bin geflohen. Ich hatte eine un‐ faßbare Angst vor dem Fremdraumer! Noch einmal so ein Angriff,
noch einmal abstürzen – das hätte ich nicht überlebt!« »Trotz Z‐Modus nicht?« fragte Shanton. Ein paar bange Sekunden lang blieb der Bordrechner stumm. Schließlich kam es knapp: »Mehr habe ich nicht zu sagen.« »Können wir also davon ausgehen, daß du uns nun mit allen Funktionen wieder zur Verfügung stehst?« »Geht davon aus.« Dhark zog die Brauen hoch und blickte in die Runde. »Also gut, versuchen wir es. Commander an Navigation.« »Ich höre, Sir«, sagte der Erste Offizier. »Wenn seine letzte Aussage stimmt, dürfte inzwischen auch unsere aktuelle Position feststehen.« »Die Koordinaten liegen vor, Commander.« »Dann steuern wir jetzt die Koordinaten an, an denen wir die ASGOR zum letzten Mal geortet haben…« * »Warum antwortest du nicht?« Es war kalt. Er zitterte. Kaum trafen seine Finger noch die Schalter und Tastfelder, die er treffen wollte. »Was ist los mit dir?« Er hatte eine batteriebetriebene Leselampe aus seiner Schlafkabine geholt. Ihr flackernder Lichtschein verblaßte von Stunde zu Stunde mehr. Bald würde auch die letzte Lichtquelle an Bord der ASGOR erlöschen. »Komm schon.« Wieder und wieder nahm er Anlauf, wieder und wieder legten seine klammen Finger den gleichen Weg über die Tastaturen und Schaltfelder auf der Instrumentenkonsole des Kommandostandes zurück. So viele Stunden schon. Vierzig? Oder fünfzig? Dalon hatte jedes Zeitgefühl verloren, und alle an Bord be‐ findlichen Chronometer waren mit dem Hyperkalkulator konfigu‐ riert, funktionierten also nicht mehr. So gut wie nichts mehr funk‐ tionierte, denn so gut wie alles wurde vom Hyperkalkulator ge‐ steuert. Und der Hyperkalkulator – nun ja, der Hyperkalkulator war
abwesend. »Schläfst du? Bist du tot? Dann werde ich auch bald sterben müs‐ sen.« Zum wohl hundertsten Mal versuchte Dalon den Bordrechner manuell hochzufahren, zum wohl hundertsten Mal vergeblich. »Wenn du mich weiterhin im Stich läßt, sterbe ich.« Er hatte das Gefühl, daß seine Stimme als erstes sterben würde. Sie klang jetzt schon kraftlos und dünn. Seine Zähne schlugen aufeinander. Die Leselampe streute nur noch mattes Geflimmer über ein paar Instrumente. Er griff nach dem Metallbecher auf der rechten Seite der Konsole, setzte ihn an die Lippen und kippte ihn, um zu trinken. Nichts mehr. War er tatsächlich schon leer? Er setzte ihn ab und stieß einen Schmerzensschrei aus, weil ein Stück seiner Lippenhaut am Becher kleben blieb. Unter dem letzten Licht seiner Lampe spähte er in den Becher hinein. Das Wasser war gefroren. Er nahm das batteriebetriebene Thermometer von der linken Seite der Konsole und hielt es dicht unter die Lampe. Minus drei Grad Celsius. Dalon fluchte und ließ sich zurück in seinen Sessel fallen. Ein paar Minuten lang blieb er so sitzen, zitterte, klapperte mit den Zähnen, haderte mit seinem Schicksal, haderte mit dem Hyperkal‐ kulator. Irgendwann erlosch die Leselampe endgültig. Dalon stemmte sich aus dem Sessel und sah in die Dunkelheit. Sie war vollkommen. Nicht einmal Sternengefunkel. Es gab keine Sichtluken in der Zent‐ rale der ASGOR. Wozu auch? Viel mehr und viel weiter vor allem sah man schließlich in der zentralen Bildkugel. Doch ohne Hyper‐ kalkulator keine zentrale Bildkugel. Schritt für Schritt tastete er sich durch die Zentrale. Er brauchte Wasser, dringend. Natürlich funktionierte auch die Heißwasser‐ therme nicht mehr, doch die Behälter waren gut isoliert. Als er das letzte Mal Wasser in der kleinen Kombüse auf der Galerie geholt hatte, war es noch lauwarm gewesen. Sein Stiefel stieß gegen die erste Stufe der Wendeltreppe. Er tastete nach dem Geländer und stieg nach oben. Die Kälte des Geländers
drang durch die Handschuhe des Schutzanzuges. Seine Knie schlot‐ terten, seine Ohren und die Schädelhaut seiner Tonsur waren so kalt, daß es schmerzte. Er brauchte dringend ein paar Tücher, um sich den Kopf zu verhüllen. Einfach den Helm des Schutzanzug zu schließen schied aus: Er wäre erstickt. Genau wie die Klimaanlage des Anzu‐ ges, funktionierte auch dessen Sauerstoffversorgung nicht mehr. Also hatte er den Helm zurückgeklappt. Er erreichte den oberen Treppenabsatz. Die Dunkelheit machte ihn verrückt. Die Rechte auf dem Geländer tastete er sich über die Gale‐ rie. Die Atemluft an Bord der ASGOR würde noch für viele Monate ausreichen. Doch was nützte ihm das? Wenn das Schiff weiterhin so schnell auskühlte, würde er in spätestens zwölf Stunden tot sein. Erfroren. Und sprach etwas dafür, daß es weniger schnell auskühlte? Nichts. Im Gegenteil. Er mußte trinken, gegen den Erfrierungstod trinken. Und er brauchte weitere Stoff schichten. Dalon blieb stehen. Nach seiner Orientierung befand er sich jetzt ungefähr auf der Höhe seiner Kabinenluke. Er ließ das Geländer los, lief der Wand entgegen, und ertastete tatsächlich eine Luke. Er öff‐ nete sie, ging mit nach vorn ausgestreckten Armen durch die Kabine und stieß mit dem Knie gegen ein Bett. Sein Bett. Er tastete nach dem Kopfkissen. Wie kalt selbst das Bettzeug war! Er fühlte das Kissen, zog es ab und streifte sich den Bezug über den Kopf. Wie eiskalt der Stoff war! Dalon erschauerte. Die Bettdecke warf er sich um die Schultern. Danach ging es wieder hinaus über die Galerie bis zum Geländer. Weiter. Durst plagte ihn. Weiter bis zur Kombüse. Sein Hirn produ‐ zierte Geräusche und Bilder, gegen die er sich kaum noch wehren konnte: Ein Schott öffnete sich zum Beispiel, und Besatzungsmitg‐ lieder der POINT OF betraten die Zentrale, um ihn zu retten. Oder das Licht flammte plötzlich auf, und der Hyperkalkulator meldete Bereitschaft. Bilder der Hoffnung und Geräusche der Hoffnung. Dalon ver‐ suchte sie wegzuschieben. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß
sein Bordrechner aus eigener Kraft von den Toten auferstand. Wäh‐ rend des Gefechts mit dem bizarren Fremdraumer mußte ein Virus den Weg in den Rechner gefunden haben. Er war tot und Punkt. Es gab auch keinen Grund anzunehmen, der POINT OF könnte es besser ergangen sein als ihm und ihrem Checkmaster besser als sei‐ nem Hyperkalkulator. In ihr würde Dharks Besatzung jetzt genauso gegen den Erfrierungstod kämpfen wie er. Andererseits – hieß es nicht, Margun und Sola seien die Baumeister der POINT OF? Und waren Margun und Sola nicht Worgunmutan‐ ten? Gleichgültig. Weg mit diesen nutzlosen Gedanken! Dalon erreichte die Höhe, auf der sich die kleine Küche befinden sollte, wenn seine Orientierung ihn nicht täuschte. Das tat sie nicht: Er fand die Luke offen, tastete sich der Anrichte entlang bis zur Heißwassertherme und öffnete den Hängeschrank daneben. Bloß keinen Metallbecher erwischen! Er fand eine Glastasse und nahm sie aus dem Schrank. Danach tastete er nach dem Ventil unter der Therme. Er hielt das Glas darunter und drehte das Ventil auf. Wasser plätscherte ins Glas. Schon durch den Handschuh des Schutzanzugs hindurch spürte er, daß es alles andere als lauwarm war. Und als er den ersten Schluck nahm, hätte er schreien mögen vor Schmerzen, so eiskalt war das Wasser. Er mußte es eine Zeitlang im Mund behalten, bevor er es schlucken konnte. Die eisige Kälte bohrte sich in seine Zahnwurzeln. Dalon machte sich nichts vor: noch zwei oder drei Stunden, dann würde auch das Wasser in der Therme gefroren sein. Was sollte er tun? Seinen Strahler auf die Therme richten? Er würde einen Brand auslösen. Und die Deckendüsen der Löschanlage funktionierten nicht mehr. Wider seinen Willen löste sich ein bitteres Gelächter aus seiner Kehle. Erfrieren! In seinem eigenen Schiff erfrieren! Was für ein Tod! Er hielt inne. Andererseits – warum eigentlich erfrieren? War Ers‐ ticken nicht doch ein viel angenehmerer Tod? Plötzlich füllte der Gedanke sein Gehirn aus: einfach den Helm
schließen, die eigene, an Sauerstoff immer ärmer und an Kohlens‐ toffdioxid immer gesättigtere Atemluft einatmen und langsam das Bewußtsein verlieren. Ein tröstlicher Gedanke. Dalon lächelte, wäh‐ rend er den nächsten Schluck Wasser zu sich nahm. Unter seinem Helm ersticken – war das nicht ein wenig wie Einschlafen? * »Grappa an Kommandant, da ist nichts. Die ASGOR befindet sich nicht mehr an ihrer letzten Position.« »Möglicherweise ist es Dalon genauso ergangen wie uns.« Nach‐ denklich rieb Dan Riker sich das Kinn. »Sein Hyperkalkulator stürzte ab, schaffte es aber noch, die ASGOR auf dem Waldplaneten zu landen.« »Ein Hyperkalkulator ist kein Checkmaster«, gab Shanton zu be‐ denken. »Wir können nicht davon ausgehen, daß er ebenfalls über einen Z‐Modus verfügt.« »Trotzdem«, sagte Ren Dhark. »Wir dürfen keine Möglichkeit au‐ ßer acht lassen. Commander an Navigation – gehen sie in eine Um‐ laufbahn um den Waldplaneten! Commander an Ortung – suchen sie jeden Quadratkilometer des Planeten nach der ASGOR ab!« Falluta und Grappa bestätigten. »Oder nach Trümmern der ASGOR und einem Krater«, sagte Doorn leise. »Bitte, Arc – malen Sie den Teufel nicht an die Wand.« Ren Dhark wandte sich ab. Mit sorgenschwer gesenktem Kopf ging er zum Na‐ vigationsstand. Bert Stranger stand dort hinter Tino Grappa und betrachtete über seine Schulter hinweg dessen Ortungsgeräte. Ren Dhark hatte sich inzwischen an die fast ununterbrochene Präsenz des Journalisten in der Zentrale gewöhnt. In Stunden wie diesen jedoch ging ihm die Neugier des kleinen Dicken mit dem roten Haar auf die Nerven. Er versuchte ihn zu ignorieren und ließ sich in den freien Sessel neben seinem Ersten Ortungsoffizier fallen.
Schnell erreichte die POINT OF die Umlaufbahn um den na‐ menlosen Planeten. Der Checkmaster schickte die ersten Aus‐ wertungen der Peilungen auf die Arbeitsschirme. »Man könnte ihn Iron Forest nennen«, sagte Grappa, während er die Datensätze über‐ flog. »Wen?« fragte Ren Dhark. »Diesen Planeten da unten.« »Zu lang.« »Wie wäre es mit Artus?« schlug Stranger vor. Niemand ant‐ wortete. Es schien, als bemerkte der Journalist von Terra‐Press selbst, welche Taktlosigkeit ihm da über die Lippen gekommen war. Er wurde unruhig und trat von einem Fuß auf den anderen. Der Commander hoffte, der Reporter würde rasch einen anderen Standort für seine Recherchen wählen. Doch er blieb hinter ihm ste‐ hen. Und nach ein paar Minuten räusperte er sich und fragte: »Was wäre eigentlich passiert, wenn wir nicht auf dem freundlichen Waldplaneten gelandet wären, und wenn der Checkmaster sich nicht wieder selbst aktiviert hätte?« »Was glauben Sie?« gab Ren Dhark die Frage zurück. »Nun, schwer zu sagen für einen Laien wie mich«, wich Stranger zunächst aus. Dann aber ließ er sich doch auf das Gedankenspiel ein. »Luft hatten wir ja genug, wenn ich das richtig verstanden habe, aber alles andere funktionierte nicht mehr, solange Mr. Checkmaster schlief, stimmt das?« »Stimmt«, sagte Grappa. »Und Proviant und Wasser? Wie lange würden die Vorräte in ei‐ nem solchen Fall reichen?« »Ein Jahr, höchstens vierzehn Monate«, sagte Dhark. »Vierzehn Monate bei völliger Dunkelheit, hm.« Der Journalist verschränkte die Arme vor der Brust und blickte nachdenklich ins zentrale Kugelhologramm. Wolkendecken und das Relief der Pla‐ netenoberfläche zogen darin vorbei. »Aber solange hätten wir ver‐ mutlich gar nicht durchgehalten, denn die Klimaanlage fiel ja auch
aus. Wie kalt ist es eigentlich im leeren Weltraum?« Ren Dhark horchte auf. »Da er leer ist, gibt’s strenggenommen auch keine Temperatur«, sagte Grappa. »Wenn Sie aber einen Stein fern einer Sonne und lange genug durchs All schweben lassen, dann kühlt er sich bis fast auf den absoluten Nullpunkt ab.« Stranger pfiff durch die Zähne. »Das heißt, der Zeitraum unseres Überlebens hinge davon ab, wie gut die POINT OF isoliert ist?« »Wenn Sie so wollen.« »Haben Sie mitgehört, Chris?« rief Ren Dhark dem Wissenschaftler an der Rechnerkonsole zu. Der nickte. »Können Sie den Checkmaster das mal eben durchrechnen lassen?« Wieder ein Nicken. Chris Shanton wandte sich seiner Tastatur zu. »Gar nicht so dumm die Frage, was?« Stranger grinste. »Beängstigend undumm sogar.« Dhark zeigte sich mürrisch. »Möglicherweise hat Dalon keine Chance, wenn sein Hyperkalku‐ lator nicht wieder auferstanden ist, und wenn die ASGOR nicht da unten gelandet ist.« »Sieht bis jetzt nicht danach aus«, sagte Grappa. Nicht lange, und Shanton drehte sich wieder nach ihnen um. »Wenn wir im All und der Checkmaster ohne Bewußtsein geblie‐ ben wären, hätten wir jetzt eine Temperatur von minus vier Grad Celsius an Bord und keinen ganzen Tag mehr zu leben. Bei Dalon dürfte es noch etwas kälter sein, weil er gewissermaßen der einzige Ofen an Bord ist.« »Commander an Flashhangars!« Dhark verfiel plötzlich in Hektik. »Wir hören«, meldete sich Arly Scott. »Gehen Sie mit vier Flash in eine Umlaufbahn um den Wald‐ planeten. Suchen Sie nach der ASGOR. Es besteht eine geringe Wahrscheinlichkeit, daß sie dort gelandet oder abgestürzt ist. Die POINT OF fliegt an den Rand des Systems und versucht, Dalons Ringraumer dort aufzuspüren.« »Verstanden, Commander.«
Die Flash wurden ausgeschleust. Anschließend verließ die POINT OF die Umlaufbahn und entfernte sich mit SLE‐Antrieb rasch vom vierten Planeten dieses unbekannten Systems. Grappas Ortungsinstrumente suchten den nahen Kosmos ab. Nach nicht einmal zwanzig Minuten hatte er ein Objekt auf den Schirmen. Sie flogen es an, und als nur noch wenige tausend Kilometer die POINT OF von dem angepeilten Objekt trennten, rechnete der Checkmaster die Daten der Ortung in ein Bild um und präsentierte es im Zentralhologramm. »Ein Ringraumer!« rief Grappa. »Ausmaße, Kurs und Ge‐ schwindigkeit passen. Es kann eigentlich nur die ASGOR sein.« Ein Aufatmen ging durch die Zentrale. »Commander an Funkzentrale – wir haben Dalons Schiff entdeckt. Geben Sie Scott und seinen Flash Bescheid, er soll zur POINT OF zurückkehren. Und dann funken Sie die ASGOR an. Geben Sie mir so schnell wie möglich Bescheid.« »Verstanden, Sir.« »Keinerlei Trieb Werksaktivitäten, kein meßbares Energiemuster, nichts«, sagte der Aufklärungschef. »Es treibt durchs All wie ein Totenschiff.« Der Ringraumer bewegte sich mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der auch die POINT OF unterwegs gewesen war, als der Checkmaster ausfiel – 75 Prozent Lichtgeschwindigkeit. Sein Kurs würde es in Kürze aus dem namenlosen System hinausführen. Zog man auf diesem Kurs eine Gerade zurück zum vierten Planeten des Systems, so führte sie exakt zu den Koordinaten, an denen die ASGOR und Dharks Schiff zuletzt Kontakt hatten. »Funkzentrale an Commander – die ASGOR antwortet nicht.« Ren Dhark hatte nichts anderes erwartet. »Wir gehen längsseits«, sagte er in Richtung Kommandostand. Falluta bestätigte und setzte sich mit dem Maschinenleitstand in Verbindung. »Wer geht rüber?« fragte Dan Riker.
Dhark zuckte mit den Schultern. »Commander an Wonzeff – bitte melden Sie sich in der Zentrale.« Wenig später tönte Pjetr Wonzeffs Stimme aus dem Bordfunk. »Wonzeff. Was gibt’s?« »Wir haben die ASGOR gefunden. Sie treibt energetisch tot aus dem System heraus. Dalon reagiert auf keinen Funkspruch. In ein paar Minuten werden wir ankoppeln. Jemand muß in einen Flash steigen und hinüberfliegen. Wäre das ein Job für Sie?« Die Mission erschien dem Commander nicht ohne Risiko zu sein. Deswegen wollte er niemanden dazu verdonnern. »Kein Problem, Sir.« Die POINT OF koppelte an den offensichtlich manövrierunfähigen Ringraumer an. Unmittelbar danach sah die Besatzung der Zentrale einen Flash durch die Bildkugel schweben… * Blauviolett und dreißig Meter hoch ragte die gewölbte Wand des Ringrumpfes neben seinem Flash auf. Wonzeff hielt sich dicht am unteren Drittel des Rumpfes. Im Bildschirm zog die fast fugenlose Bordwand vorbei. Nur ein Kenner konnte von der Bordwand auf Abteilungen dahinter schließen. Pjetr Wonzeff war ein Kenner. Ge‐ hörte er nicht zu den ersten Menschen überhaupt, die einen Ring‐ raumer der Worgun zu Gesicht bekommen hatten? Bald entdeckte er, was er suchte – die haarfeinen Umrisse der Notluken der Flashhangars, die sich kaum von der Bordwand ab‐ hoben. Wonzeff sah sie trotzdem. Normalerweise flogen die Flash im Intervallbetrieb aus einem Ringraumer aus, doch für Notfälle hatten zwei Hangars mechanische Schleusen. Diese Hangars lagen ziemlich exakt einen Viertel Ringumfang von der Kommandozentrale entfernt. Wonzeff ging davon aus, daß Da‐ lon die letzten fünfzig Stunden vorwiegend in seinem Kommando‐ stand verbracht hatte, und der Commander tat das auch. Denn wo
sonst sollte man versuchen, einen Hyperkalkulator wieder aufzu‐ wecken? Der Pilot flog den Rumpf abschnitt an, in dem sich seiner Meinung nach die Zentrale befinden mußte. Vorsichtshalber richtete Wonzeff die Ortung auf den entsprechenden Abschnitt der Bordwand. Im Monitor versuchte er die Umrisse der erfaßten Gegenstände zu er‐ kennen. Die Zentrale, na klar – links die Konturen der Wendeltreppe, in der Mitte unten und ganz vorn die Konsole der Bildkugel, darüber ihr Geberring und rechts eine Rechnerkonsole, daneben der Naviga‐ tionsstand, dahinter die Funkzentrale und hinter ihr wieder eine Stiege zur Galerie. Wonzeff aktivierte das Intervallum, und los ging es. Er steuerte den Flash auf die Bordwand zu. Der Bug berührte sie, drang in sie ein, und bald zeigte der Bildschirm nicht einmal mehr das Licht des Sternengefunkels. Totale Finsternis in der Kommandozentrale der ASGOR. So ungefähr hatte er sich das vorgestellt. Auf dem Ortungsschirm konnte er seinen eigenen Weg verfolgen und überprüfen. Wie durch Nebel glitt der Flash durch das Haupt‐ steuerpult. Wonzeff empfand es immer wieder als großen Spaß, wenn er durch ein Intervallum in ein anderes Kontinuum versetzt durch feste Materie fliegen konnte; als wäre er ein Gespenst oder ein Neutrino. Jetzt lag das Hauptsteuerpult hinter ihm. Er drehte den Flash um neunzig Grad, so war Platz genug zwischen Einrichtungen und Beiboot, um sicher aufzusetzen und das Intervallum abzu‐ schalten. Nachdem das vollbracht war, schaltete er die Außenscheinwerfer ein. »Es werde Licht!« Und es ward Licht. Nur den Worgun in Ge‐ stalt eines Ceraden konnte er nirgends entdecken. Jedenfalls nicht, wenn er den Bildschirm studierte. Also öffnete er die Luke und kletterte aus der engen Röhre. Es war eiskalt. Er atmete Dampfwol‐ ken aus. »Dalon?« Wonzeff schloß seinen Helm. Die Klimaanlage seines Schutzanzuges reagierte sofort. Er spürte die Wärme in seinen Glie‐
dern. »Dalon?« Er blickte sich um. Niemand zu sehen. Auf der In‐ strumentenkonsole des Kommandostandes entdeckte er einen Me‐ tallbecher. Er ging um seinen Flash herum und stieg die Stufen zum Kommandostand hinauf. Möglicherweise lag der Cerade ja ohn‐ mächtig oder tot dahinter. Eine Lampe stand neben den Instrumenten, eine, die dort nicht hingehörte. Auch ein antikes Thermometer fand er. Er nahm es hoch. Die Alkoholsäule war auf unter minus acht Grad Celsius gesunken. Auf dem Grund des Becherbodens – Eis. »Verflucht!« Dalon war nirgends zu sehen. Wonzeff lief zurück zum Flash und kletterte hinein. Sehr eilig hatte er es jetzt. Er schaltete die Infrarotortung ein. Da – eine Wärmequel‐ le! Schwach zwar, aber eine Wärmequelle. Irgendwo über ihm, in einem der Räume auf der Galerie. Er griff sich eine Brustlampe, befestigte sie an seinem Schutzanzug und sprang aus dem Flash. Über die Stiege rechts neben dem Kom‐ mandostand kletterte er zur Galerie hinauf. Der Lichtkegel seiner Lampe fiel auf zwei offene Luken. Instinktiv wählte er die richtige, die zur Teeküche. Auf der Schwelle leuchtete er hinein. Ein Eiszapfen ragte aus dem Ventil unter der Wassertherme. Darunter lehnte eine Gestalt gegen die Spüle. Der Helm ihres Schutzanzuges war geschlossen und mit irgendwelchen Tüchern ausgepolstert, über Brust und Beinen lag eine Bettdecke. Wonzeff richtete den Lichtkegel auf den Helm und erkannte das blaue Gesicht des Ceraden. Es sah irgendwie friedlich aus. Dalon hatte die Augen geschlossen. Schlief er? Wonzeff sprang zu ihm, legte ihn rücklings auf den Boden, zog die Decke weg und drückte sein Ohr auf die Brust des Reglosen. Er mußte lange lauschen, bis er dessen Herz schlagen hörte. Und wie langsam es schlug! Wonzeff zählte – nicht einmal mehr dreißig Schläge pro Minute. Er öffnete den Helm des Bewußtlosen und seinen eigenen gleich danach. Die Klimaanlage von Dalons Anzug arbeitete nicht. Die
Sauerstoffversorgung demnach ebenfalls nicht. Wonzeff beugte sich über Dalons halboffenen Mund. Stoßartig lösten sich kleine Wolken von Atemfeuchtigkeit aus ihm. Wonzeff überlegte nicht lange: Er drückte den Kopf des Be‐ wußtlosen in den Nacken, schob den Unterkiefer ein wenig vor und hielt ihm die Nase zu. Dann setzte er seine warmen auf Dalons kalte Lippen und blies ihm fünf Atemzüge Luft in die Lungen. Danach schälte er sich aus seinem Schutzanzug, zerrte Dalon den seinen vom Leib und steckte ihn in das intakte Schutzsystem. Bevor er den Helm schloß, beatmete er ihn noch einmal. Der Helm beschlug von innen, als er ihn verriegelte. Dalons Puls war schon wieder bei fast vierzig. Na, also. Wonzeff schulterte den Körper des Ceraden und schleppte ihn über die Wendeltreppe in die Zentrale hinunter. Im Laufschritt zum Flash und nichts wie hinein mit dem Bewußtlosen. Wonzeff zitterte, als er endlich in seinen Sitz sank und die Luke schließen konnte. Er schaltete das Intervallum ein und wendete den Flash. »Wonzeff an Zentrale – ich habe ihn.« »Lebt er noch?« Dharks Stimme aus dem Bordfunk. »Gerade so…«
12. … wie ein Baum, den man mitsamt seinen Wurzeln aus der Erde gerissen hat. Diese Bemerkung hatte jemand auf der POINT OF gemacht, kurz nachdem Hyperbel auf Angriffskurs gegangen war. Treffender hätte man es nicht ausdrücken können. Hyperbel ähnelte einem 350 Meter langen und 100 Meter durchmessenden Metallbaumstamm – ohne »Astkrone«, also an einem Ende glatt, dafür aber mit weit ausla‐ denden »Wurzeln« am anderen Ende. Jene wurzelartigen metallenen Auswüchse waren in Wahrheit Antennen und Waffen. Um das Eingangsschott zu erreichen, mußte ich ein Laufband be‐ treten, das mitten durch den ganzen Antennen‐ und Waffenwust führte. Sonderlich wohl war mir dabei nicht. Während der Fahrt kam ich mir vor wie beim Durchqueren eines verwunschenen Spukwal‐ des, der im Begriff war, mich mit Haut und Haaren (besser gesagt: mit Karosserie und Chips) zu verschlingen. Abgesehen vom Aussehen hatte Hyperbel eine gewisse Ähn‐ lichkeit mit mir. Mein Ich war ein Nexus aus 24 Programmgehirnen, integriert in einen metallenen Körper mit vielfältigen Fähigkeiten. Sein Ich war ein gewaltiger Großrechner, integriert in ein Raum‐ schiff. So wie ein menschliches Gehirn seinen biologischen Körper nicht verlassen konnte, konnte sich auch Hyperbel nicht von seiner äußeren Hülle lösen. Das Schiff war sozusagen sein Leib – so wie mein Roboterkörper mein Leib war. Dabei spielte es keine Rolle, daß mein Metallkörper in seinen Grundzügen menschlichen Leibern nachgebildet worden war. Vom Wesen her war ich nun mal kein Mensch, sondern eine lebende Maschine. Genau wie Hyperbel. Logische Schlußfolgerung: Einer wie ich gehörte in keine Welt, die von biologischen Lebewesen bevölkert wurde. Meine wahre Heimat war dort, wo meinesgleichen zu Hause war. Und Hyperbel, so hoffte ich, würde mich dort hinbringen.
Zum Beweis, daß ich es mit dem Seitenwechsel ernst meinte, hatte er von mir verlangt, ihm die Position der POINT OF zu verraten. Das bereitete mir keine Probleme. Ohne zu zögern teilte ich ihm mit, was er wissen wollte – und Hyperbel öffnete die Hauptschleuse und ließ mich ein. Als sich das Schott schloß, hatte ich den »Spukwald« hinter mir gelassen. Dafür überkam mich jetzt ein neues unangenehmes Gefühl: Ich war Jonas im Bauch eines mächtigen Wals. Eigentlich war ich ja mehr Judas als Jonas. Allerdings würde ich mich nicht mit dreißig Silberlingen begnügen. Das oberste Gebot eines jeden Verräters lautete: Verkaufe dich so teuer wie möglich! Denn alle Welt liebte den Verrat – aber nicht den Verräter. Deshalb mußte man als Judas ständig die Fäden in der Hand halten und darauf achten, daß man stets noch ein paar Asse im Ärmel hatte. Ich war schlau genug, Hyperbel meine Absichten in Häppchen zu servieren und ihm nicht gleich mein gesamtes Inneres zu offenbaren. Umgekehrt schottete auch er sein eigentliches Ich vor mir ab, um sich keine Blöße zu geben. Wir waren uns also ebenbürtig. Ebenbürtig? Genaugenommen war ich ihm überlegen. Hyperbel verfügte zwar über eine enorme Rechnerkapazität, doch damit konnten meine 24 Programmgehirne locker mithalten. Mithalten? Meine Gehirne übertrafen seines mit Sicherheit um Längen – was ich ihm allerdings nicht offen zeigte. Auch mit meiner äußerlichen Gestaltung konnte er nicht kon‐ kurrieren. Ich war schlank und agil. Hyperbel als wohlbeleibt zu bezeichnen, war eine glatte Untertreibung. Wollte er sich bewegen, mußte er erst einmal umständlich seine Triebwerke hochfahren. Richtig in Fahrt kam er dann nur im All – auf Planeten wirkte seine klobige Schiffshülle wie ein gestrandeter Wal. Um dieses Manko wettzumachen, benötigte er zahllose Ar‐ beitsroboter, bizarre Maschinen mit verschiedenen Funktionen, ferngesteuert über ultraexakten To‐Richtfunk. Ihre Gestalt hatte man ihrem jeweiligen Arbeitsbereich angepaßt: gleiche Arbeit, gleiches
Aussehen – zumindest in groben Zügen. Ihre Menge war ebenso beeindruckend wie ihre Geschicklichkeit; aber ohne die Steuerung durch ihren Herrn und Gebieter waren sie weniger wert als der bil‐ ligste terranische Haushaltsroboter. Hyperbel bezeichnete sie als Handlungsroboter, ich taufte sie insgeheim »Schrottbots«. Zugegeben, Hyperbel war mit wesentlich durchschlagskräftigeren Waffen ausgestattet als ich, was jedoch nicht hieß, daß meine Waffen ihm nicht schaden konnten. Im Gegenteil, dank meiner Beweglich‐ keit und Flexibilität hätte ich im Kampf Mann gegen Mann bezie‐ hungsweise Roboter gegen Raumschiff bestimmt keine schlechten Chancen. Ich war ein Moskito, der ihn nur an den richtigen Stellen zu stechen brauchte, um ihn außer Gefecht zu setzen. Er hingegen war eine Mischung aus Nilpferd, Nashorn und Elefant; wo er hintrat, wuchs garantiert kein Gras mehr, aber solange man sich nicht direkt unter seinen Fuß stellte… Ich mußte halt achtgeben, nicht direkt in einen Kompri‐Nadelstrahl zu geraten, den er abfeuerte. Im übrigen hatte ich mich in den vergangenen Jahren stetig weite‐ rentwickelt und verfügte mittlerweile über diverse selbstgebaute Zusatzgeräte sowie etliche neue Fähigkeiten, die ich mir mit viel Lerneifer angeeignet hatte. Hyperbel sollte mich daher besser nicht unterschätzen. Auf Terra und auf der POINT OF hatte man mich oftmals als überheblich bezeichnet, und ich hatte mich aufrichtig bemüht, mich zu bessern und meine vorlaute Klappe zu halten. Das war hier und jetzt glücklicherweise nicht mehr nötig; auf diesem Schiff gab es weit und breit keine Menschenseele, die mir meine »Charakterschwä‐ chen« vorhalten konnte. Menschen hätten in der an Bord herrschenden reinen Stick‐ stoffatmosphäre sowieso keine Überlebenschance gehabt. Sie waren nun einmal unzulängliche Geschöpfe, ob sie es wahrhaben wollten oder nicht. Hyperbel, seinen Robotern und den sonstigen Maschinen an Bord tat der Stickstoff gut, und auch ich fühlte mich überaus wohl.
In einer Atmosphäre wie dieser war »Korrosion« ein unbekanntes Fremdwort. »Tritt näher«, forderte mich Hyperbel auf. Er kommunizierte elektronisch mit mir, denn die Funksperre wirkte in seinem Schiffsleib nicht. »Sobald die Roboter die letzten Reparaturen an meiner Außenhülle erledigt haben, gebe ich dem Ringraumer des minderwertigen Bio‐ mülls den Rest«, ließ er mich wissen. »An deiner Stelle würde ich mich etwas beeilen«, erwiderte ich über Funk. »Als ich die POINT OF verließ, war sie so gut wie start‐ bereit.« Hyperbel verwendete einen Ausdruck, der sich wie eine fremdar‐ tige Verwünschung anhörte, und beorderte sämtliche Roboter um‐ gehend an Bord. Obwohl er noch nicht seine volle Kraft wiederer‐ langt hatte, startete er zu einem Sofortangriff gegen die POINT OF. Seit Hyperbel und ich die ersten Funksprüche ausgetauscht hatten, waren wir dauerhaft auf elektronischem Wege miteinander ver‐ bunden – auf Gedeih und Verderb, wie die Menschen sagen würden. Zwar verschloß er aus Mißtrauen vorerst den größten Teil seines Ichs vor mir (und ich tat das gleiche), dennoch konnte ich ihn in mir spüren und seine Handlungen weitgehend nach vollziehen. Die Attacke gegen den Ringraumer erlebte ich derart intensiv, als würde ich sie selbst ausführen. Von Anfang an war sich Hyperbel bewußt, daß er in seinem noch leicht angeschlagenen Zustand keine echte Chance gegen die POINT OF hatte. Trotzdem eröffnete er das Feuer; das war er sich wohl selbst schuldig, schließlich hatte ihm der »minderwertige Biomüll« ganz schön zugesetzt. Das Intervall des Ringraumers war hochgefahren, die Waffen standen auf Feuerbereitschaft… Dennoch kam es zu keinem harten Kampf, nur zu einer kurzen, vergleichsweise harmlosen Auseinan‐ dersetzung, an deren Ende Hyperbel die Flucht in den Hyperraum vorzog. Eine kluge Entscheidung. Er war zwar ein extrem großer
Suprasensor, aber ohne sonderlich hohes technisches Niveau. Mit dem Checkmaster konnte er sich keinesfalls messen. * Die Transition brachte uns nur knapp fünfhundert Lichtjahre wei‐ ter, was mich verwunderte. »Seid ihr alle so lahm?« erkundigte ich mich respektlos. »Oder bist du die unrühmliche Ausnahme?« »Aufgrund unserer besonderen Sprungtechnik können wir nicht sonderlich weit transitieren«, räumte Hyperbel ein. »Dafür aber können wir nach verhältnismäßig kurzer Zeit erneut einen Sprung durchführen.« Ich merkte, daß er versuchte, sich mein Zeitempfinden zu verin‐ nerlichen, und öffnete mich ihm in diesem Bereich. »Unser Volk kann in etwa alle zehn Minuten transitieren«, teilte er mir schließlich mit. »Ich hingegen muß jetzt ungefähr eine halbe Stunde warten, bis die Speicherbänke wieder aufgeladen sind. Ein Teil meiner Schäden läßt sich nämlich nicht mit Bordmitteln behe‐ ben. Sobald wir auf Eins eingetroffen sind, suche ich ein Lazarett auf.« »Eins? Ist das der Name eures Heimatplaneten?« hakte ich nach. »Und wie nennt sich euer Volk?« »Ich verstehe deine Frage nicht«, erhielt ich zur Antwort. »Wir sind das Volk.« Das Volk. So nannten sie sich also. Nicht sonderlich originell. Aber Phantasie war halt eine menschliche Eigenschaft, keine maschinelle. Wesen wie ich waren eine höchst seltene Ausnahme. Einsamkeit hingegen war keine Empfindung, die ausschließlich den Menschen vorbehalten war. Jedes denkende und fühlende We‐ sen konnte sie spüren – und das traf nicht nur auf biologisches Leben zu, wie ich aufgrund meines Marsabenteuers wußte… Hyperbel war einsam. Trotz all der Schrottbots, die ständig um ihn
herum waren und sich um ihn kümmerten, fühlte er sich allein. Mir entging nicht, wie sehr ihn meine Gesellschaft freute, obwohl er versuchte, sich das nicht anmerken zu lassen. Da Hyperbel über Funk praktisch überall anwesend war, durfte ich mich an Bord frei bewegen. Dadurch hatte ich ausreichend Gele‐ genheit, mich innerhalb des »Walbauchs« umzuschauen und meinen neuen Freund besser kennenzulernen. Über welche Begabungen er verfügte und welche Fehler er hatte, mußte ich nach und nach herausfinden. Eines wurde mir allerdings auf Anhieb klar: Das Wort »Innenarchitektur« gab es in seiner Sprache ganz sicher nicht. Im Brana‐Tal hatte ich mir einstmals ein Zimmer eingerichtet, das jeden menschlichen Besucher erblassen ließ, nicht vor Neid, sondern vor Schrecken. Schilfmustertapete, aufblasbare Plastiksessel, Nie‐ rentisch, zierliche Renaissanceanrichte, klobiger Bauernschrank… es war von allem etwas dabei, und mir gefiel es. Obwohl man keine klare Geschmackslinie erkennen konnte, wirkte der Raum stets auf‐ geräumt und sauber (dafür sorgte schon mein Putzroboter). Hyperbel hingegen schien die Gestaltung seiner Räumlichkeiten überwiegend dem Zufall zu überlassen. Die festmontierten Maschi‐ nen hatte er wohl irgendwann einmal wahllos im Schiff verteilt. Ei‐ nige Geräte verfügten über Schutzblenden, bei anderen ragten ver‐ worrene Knäuel von Kabeln und Drähten heraus. In manchen Gän‐ gen lagen verstreute Schrotteile herum, die keinem besonderen Zweck mehr zu dienen schienen, außer daß sie die Handlungsrobo‐ ter zu geschickten Ausweichmanövern zwangen. Und die Werk‐ stätten sahen aus, als seien dort ganze Schwärme von Klempnern urplötzlich vom Feierabend überrascht worden, woraufhin sie an Ort und Stelle ihr Werkzeug hatten fallenlassen und nach Hause gegangen waren. Nur die Steuerzentrale war eine wirkliche Klasse für sich. Hier stimmte nicht nur die Ordnung, auch sonst gab es nichts zu bemän‐ geln. Hyperbels »Allerheiligstes« war beinahe ein technisches
Wunderwerk. Von hier aus konnte er den Schrottbots über deren eigene Mi‐ ni‐To‐Richtfunksender exakte Befehle erteilen – jedem einzeln oder allen zusammen, wie es ihm beliebte. Selbst wenn er tausend Robo‐ tern tausend unterschiedliche Anweisungen gab, geriet dabei nichts durcheinander. Trotz des vermeintlichen Chaos an Bord war Hy‐ perbel vermutlich in der Lage, jede kleinste Schraube wiederzufin‐ den, selbst dann, wenn sie irgendwo in einer finsteren Ecke ein tris‐ tes Dasein fristete. Am erstaunlichsten fand ich, daß die Handlungsroboter sogar funktionierten, wenn Hyperbel seinen hochentwickelten Störsender aktivierte, jenen leistungsstarken Sender, der ansonsten alle Kom‐ munikation über Funk unterbrach. Ich fragte ihn, wie das möglich sei, erhielt aber nur eine ausweichende Antwort. »Du vertraust mir nicht«, warf ich ihm vor. »Andernfalls würdest du mich in deine technischen Geheimnisse einweihen. Statt dessen darf ich nicht einmal erfahren, wo das Ziel unserer Reise liegt.« »Wir kennen uns noch zu wenig, als daß ich dir uneingeschränkten Zugriff auf all meine Daten gewähren würde«, entgegnete Hyperbel. »Ich wäre gern so offen zu dir, wie du es zu mir bist, doch mein Vertrauen mußt du dir erst verdienen.« So offen, wie ich es zu ihm war? Hatte ich das richtig verstanden? Zweifelsohne merkte er überhaupt nicht, daß auch ich wichtige Be‐ reiche meines Gehirnnexus vor ihm verschloß. Scheinbar nahm er mich nicht so richtig ernst, andernfalls hätte er das gründlicher überprüft. Sein Verhalten kränkte mich. Was war ich für ihn? Ein winziges Spielzeug? Ein Stoffäffchen, das auf Kommando die Schellen aufei‐ nanderschlagen ließ? Ich würde ihm schon noch beweisen, daß in‐ nerliche Stärke nicht vom äußeren Umfang abhängig war! Wahre Größe wurde nicht in Metern gemessen. Diese Erfahrung hatte auch der Riesenrechner »Einsamer« machen müssen, der mir auf dem Mars Heerscharen von selbstgebauten
Robotern auf den Hals gehetzt hatte, damit sie mir selbigen um‐ drehten. * Ich hatte seine tumben Metallsklaven damals gleich dut‐ zendweise zu Metallschrott verarbeitet. Nach meiner Flucht aus der Berghöhle, in die man ihn vor langer Zeit verbannt hatte, war er endgültig dem Irrsinn verfallen und hatte als letzte Konsequenz seine Selbstzerstörung eingeleitet. Wie nebenher brachte ich das Gespräch auf meine Begegnung mit »Einsamer«, wobei ich meinen Part allerdings herunterspielte, um Hyperbel nicht das Gefühl zu geben, ich könnte ihm ernsthaft ge‐ fährlich werden. Es schadete nichts, wenn er mich vorerst weiterhin für einen schwächlichen Zwerg hielt. Nur ein Dummkopf spielte seine sämtlichen Trümpfe gleich im ersten Durchgang aus. »Der, den du ›Einsamer‹ nennst, wurde seinerzeit auf den Mars verbannt, weil er sich auf Eins eines schweren Verbrechens schuldig gemacht hatte«, erfuhr ich von Hyperbel. »Mein Volk gibt jedem Gestrauchelten eine Chance auf Bewährung, doch er hat sie nicht genutzt. Sein Auftrag war klar definiert: Er sollte die Entwicklung eures Sonnensystems analysieren, Daten über die Bewohner sam‐ meln und alles nach Eins funken.« »Das konnte er nicht«, sagte ich. »Ein Ringraumer griff seine Sta‐ tion an und brachte den mächtigen Berg, der seine Herberge war, zum Zusammensturz. Dabei wurde sein Hyperfunk zerstört. So hat er es mir jedenfalls erzählt, als ich durch Zufall seine Höhle ent‐ deckte. Daß der Ringraumer von Menschen gesteuert wurde, ist höchst unwahrscheinlich, angesichts ihres damaligen Entwick‐ lungsstandes. – Die vielen Jahrhunderte des Alleinseins waren nicht spurlos an ›Einsamer‹ vorübergegangen. Er gestand mir, oft daran gedacht zu haben, seine Existenz freiwillig auszulöschen. Ich konnte nichts mehr für ihn tun. ›Einsamer‹ war unweigerlich vom Wahn‐ sinn befallen. Daß ich nicht bei ihm bleiben und ihm Gesellschaft leisten wollte, gab ihm den Rest. *
Siehe Drakhon‐Zyklus Band 9, »Das Sternenversteck«
Seit jenem Tag bin ich auf der Suche nach geistig gesunden Ver‐ tretern eures Volkes. Nur aus diesem Grund begleitete ich die Men‐ schen auf ihren Flügen zu den Sternen. Ich bin froh, euch endlich gefunden zu haben.« »Noch ist nicht heraus, ob wir dich bei uns aufnehmen«, machte Hyperbel mir unmißverständlich klar. »So etwas entscheidet die Volksgemeinschaft.« Er gab ein Geräusch von sich, das einem Seuf‐ zer nicht unähnlich war. »Leider ist ›Einsamer‹ keine Ausnahme. Die Zahl der Irrsinnigen ist bei uns recht hoch.« Ich nahm an, sein Signal falsch gedeutet zu haben. Sehr wahr‐ scheinlich bezog sich seine Bemerkung auf die Verbrechensrate. »Du meinst sicherlich die Zahl der Irregeleiteten.« »Nein, ich meine Wahnsinnige – durchgedrehte Rechner, die sich aufführen, als seien sie von einem Virus befallen. Die steigende Zahl der Betroffenen bereitet mir allmählich Sorgen. Bislang dachte ich immer, nur unter Biomüll könnten sich unheilbare Krankheiten ausbreiten. Höhere Wesen wie wir sollten eigentlich nahezu unver‐ letzlich sein.« In dieser Sekunde ging ein heftiger Ruck durch das »höhere We‐ sen«. Hyperbel verharrte mitten im All. Es ging weder vor noch zu‐ rück – so als ob ihn das Schicksal für seine großspurigen, frevelhaf‐ ten Worte bestrafen wollte… * »Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist das Schicksal Be‐ standteil des menschlichen Aberglaubens«, resümierte Hyperbel, nachdem er die vorletzte Transition beendet hatte. »Nach Ansicht der Terraner existiert irgendwo eine unsichtbare, kraftvolle Macht, die Einfluß auf ihre Lebensgestaltung nimmt. Mal ehrlich, Artus, selbst wenn es eine solche Macht gäbe, hätte sie mit Sicherheit Wichtigeres zu tun, als sich mit derart erbarmungswürdigen Ge‐ schöpfen zu befassen. Ich werde nie verstehen, wie du es so lange
mit und unter ihnen aushalten konntest.« »Die Menschen sind eine faszinierende, facettenreiche Spezies«, erklärte ich. »Glaubt euer Volk denn nicht an übersinnliche Kräfte, die euch überlegen sind?« »Wir glauben an unsere kontinuierliche Weiterentwicklung«, antwortete Hyperbel. »In dieser Hinsicht sind wir gewiß noch nicht vollständig ausgereift, aber wir sind wesentlich weiter fortgeschrit‐ ten als primitiver Biomüll, den wir der untersten Kategorie der Ent‐ wicklungsstufe zuordnen.« »Die Menschen verfügen über eine Menge Wissen.« »Mag sein, doch ihr gesammeltes Wissen dient einzig und allein dem Zweck, es an hochgradigere Wesen wie uns weiterzugeben. Das gilt auch für ihre technischen Erfindungen und sonstige für uns interessante Besitztümer. Die einzige höhere Macht, vor der sich die Menschheit fürchten sollte, sind wir. Unser Volk ist ihr Schicksal, denn wir bestimmen, wie es mit ihnen weitergeht. Sobald ihr Planet zu unseren Kolonien gehört, werden wir ihnen aufzeigen, wo sie hingehören. Sei froh, daß du dich rechtzeitig auf unsere Seite ge‐ schlagen hast, mein Freund.« Probleme an seinen Triebwerken hatten zu Hyperbels plötzlichem Stillstand geführt. Bei der Suche nach dem Fehler hatten sich seine Handlungsroboter nicht gerade mit Ruhm bekleckert – beziehung‐ sweise er selbst, schließlich wurden sie von ihm gesteuert. Daraufhin hatte ich meine erste gute Karte ausgespielt und ihm meine techni‐ sche Befähigung unter Beweis gestellt. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich den Schaden behoben. Seither betrachtete er mich als seinen Freund, und er war überzeugt, daß mich auch der Rest seines Volkes mögen würde. Zahlreiche Transitionen lagen inzwischen hinter uns. Nur noch eine, dann konnten wir Hyperbels Heimatplaneten anfliegen. Bisher hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wo wir uns befanden, doch das war augenblicklich auch nicht so wichtig. Während wir darauf warteten, daß die letzte halbe Stunde Warte‐
zeit verging, fragte mich Hyperbel über die Terraner aus. Offensich‐ tlich hatten ihn meine diversen Anmerkungen neugierig auf die Menschen gemacht, obwohl er das nie zugegeben hätte. »Unsere Lebensform ist so gut wie unsterblich, Artus, da wir nie‐ mals altern. Ab und zu ist es zwar notwendig, das eine oder andere Ersatzteil auszutauschen, doch das ist mit dem biologischen Tod nicht zu vergleichen. Ganz egal, wie viele Extremitäten und Organe der Biomüll nachzüchtet, er kann sein natürliches Ableben nur hi‐ nauszögern, aber nicht verhindern. Wie werden die Menschen in‐ nerlich damit fertig?« »Die meisten von ihnen glauben fest daran, daß ihr körperlicher Tod noch nicht das endgültige Ende ist«, erwiderte ich. »Andere wiederum haben schon vor Ablauf ihrer Zeit genug vom Leben und können es kaum erwarten, sich zur ewigen Ruhe zu legen. Viele Menschen nehmen ihren naturgegebenen Alterungsprozeß einfach mit Humor.« »Humor? Was ist das?« »Die Fähigkeit, selbst ernsten Dingen eine heitere Seite abzu‐ gewinnen. Das geschieht in Form von derben Spaßen oder lockeren Sprüchen. Erreicht ein Mensch beispielsweise das fünfzigste Jahr nach seiner Geburt, kann er von nun an täglich seine allmählich schwindende Lebenskraft beklagen – oder aber er nimmt es leicht, indem er sich sagt: ›Wenn man mit über Fünfzig morgens aufwacht, und es tut einem nichts mehr weh, dann ist man tot.‹ Verstehst du, was ich meine?« »Nein.« »Versuchen wir es damit: ›Je älter der Mensch wird, desto mehr lebt er von dem, was er nicht ißt und trinkt.‹ Das ist es, was die Ter‐ raner Humor nennen.« »Demzufolge dient Humor vor allem der Vertreibung ihrer Furcht. Je mehr ein Mensch altert, um so stärker wird ihm bewußt, daß seine Existenz bald verlischt. Eine schreckliche Erkenntnis, die ihm ver‐ mutlich entsetzliche Angst einjagt. Um diese Ängste zu unterdrü‐
cken, ruft er sich weitere unabänderliche Tatsachen ins Bewußtsein: Menschen empfinden körperlichen Schmerz, der mit zunehmendem Alter immer schlimmer wird. Menschen benötigen Nahrung zum Überleben, vor allem Flüssigkeit, sonst verdorren sie wie Pflanzen. Menschen erkranken und sterben früher, wenn sie die falsche Nah‐ rung zu sich nehmen. – Wird dadurch ihre Angst vor dem Tod nicht noch schlimmer?« »Ich merke schon, du mußt noch sehr viel über die Terraner ler‐ nen«, entgegnete ich. »Ich werde mich bemühen, dir ihre kleinen und großen Eigenarten näherzubringen.« »Und wozu soll das gut sein?« wollte Hyperbel wissen. »Nach deinen eigenen Worten gehört es zum Lebensplan eures Volkes, niedere Spezies zu unterwerfen, um sich deren Wissen und Technik anzueignen«, antwortete ich ihm. »Wenn ihr über die Erde herfallt, müßt ihr mit vehementer Gegenwehr rechnen. Daher ist es wichtig, möglichst viele Informationen über die Menschen zusam‐ menzutragen, um im Kampf eure eigenen Verluste gering zu halten. Ein Gegner läßt sich leichter besiegen, wenn man seine ihm angebo‐ rene Verhaltensweise versteht und vorhersehen kann. Den Kampf Strategen unter euch war das schon zu früheren Zeiten klar, schließ‐ lich habt ihr ›Einsamer‹ aus gutem Grund auf dem Mars zurückge‐ lassen.« »Stimmt schon, doch anfangs waren die Menschen noch völlig uninteressant für uns. ›Einsamer‹ sollte uns regelmäßig Daten über sie liefern, insbesondere über ihre technischen Fortschritte, damit wir den richtigen Zeitpunkt für eine Eroberung koordinieren konnten. Das Alltagsleben von Biomüll interessiert unser Volk eigentlich we‐ niger. Obwohl…« »Obwohl?« »Obwohl ich einräumen muß, daß die Menschheit eine ganz be‐ sondere Spezies von Biomüll zu sein scheint – was jedoch nichts daran ändern wird, daß wir ihren Planeten besetzen, wenn die Zeit gekommen ist.«
»Und wann ist die Zeit gekommen?« fragte ich direkt heraus. »Wenn unser Volk es für richtig hält«, sagte Hyperbel. »Schon bald werden sie keine Gelegenheit mehr haben, sich in Schlachten ein‐ zumischen, die sie im Grunde genommen nichts angehen.« Mehr wollte er nicht dazu sagen. Er gab seinen Robotern den Be‐ fehl, die letzte Transition einzuleiten. Ich war schon höllisch gespannt, wie es auf Eins aussah.
13. »Ich habe es mir verboten, auf Sie zu hoffen.« Dalons Stimme klang leise und kraftlos. Die Ärzte der Medostation hatten ihn in einen Thermoanzug gesteckt, der nur Augen, Mund und Nase freiließ. Manu Tschobe schloß bereits den dritten Infusionsbeutel an den Adapter an, der aus dem Halsteil seiner Ganzkörperhitzepackung ragte. Sie pumpten Flüssigkeit und Elektrolyte in den Ceraden. Seit zwei Stunden war er wieder bei Bewußtsein, seit zwanzig Minuten saßen Ren Dhark, Amy Stewart und die Rikers an seinem Klinikbett in der Medostation. Sie hatten ihm berichtet, was sie seit den Abstürzen der Bordrechner erlebt hatten. »Ich wagte nicht mir vorzustellen, daß es Ihnen besser als mir er‐ gehen könnte«, sagte Dalon. »Jetzt danke ich den guten Mächten des Universums, daß es dennoch so war und Sie mich retten konnten. Glauben Sie mir, daß ich mit dem Leben schon abgeschlossen hatte?« Dhark nickte. Ja, er glaubte es ihm. Von Pjetr Wonzeff wußte er nämlich, daß Dalon mit geschlossenem Helm in der kleinen Kom‐ büse auf der Galerie gelegen hatte. Nur ein Lebensmüder schließt den Helm seines Schutzanzuges, wenn dessen Sauerstoff Versor‐ gung nicht funktioniert. Er fragte sich, wie viele tausend Lebensjahre vor seinem natürlichen Tod Dalon gestorben wäre, wenn sie ihn nicht rechtzeitig entdeckt hätten. Viertausend Terrajahre? Fünftau‐ send? Jedenfalls viele Dutzend Menschenleben zu früh. »Artus ist also übergelaufen«, sagte Dalon. »Das muß sehr schmerzlich für Sie alle gewesen sein.« Dan Riker hatte den Wor‐ gunmutanten knapp über den Verrat des Roboters unterrichtet. Ren Dhark war der Ansicht, ihm diese Information schuldig zu sein. Er selbst aber hatte sich nicht dazu durchringen können. Jedesmal, wenn er an Artus dachte, schnürte es ihm die Kehle zu. »Was mag so anziehend für ihn gewesen sein an dieser Macht?« Vielleicht erwartete Dalon wirklich eine Antwort, vielleicht dachte er
aber auch nur laut. »Fühlt er sich ihnen verwandt, nur weil auch sie mit künstlichen Hirnen und Körpern leben?« Niemand an seinem Klinikbett hatte Lust, über diese Frage zu spekulieren. Dalon spürte es wohl, denn er wechselte das Thema. »Und was ist so mächtig, daß es unsere Hyperkalkulatoren zum Absturz bringen kann?« Dalon starrte an die Decke und schüttelte den Kopf. »Noch dazu über solch große Entfernungen hinweg.« Das feindliche Schiff war in der Tat fünfzig‐ oder sechzigtausend Kilometer entfernt gewesen, als die Bordrechner ihren Dienst quit‐ tiert hatten. »Der Robotraumer muß sie über Funk mit vergifteten Datensätzen bombardiert haben«, sagte Anja Riker. »Irgendein Vi‐ rus, nehmen wir an.« »Wir werden es herausfinden.« Ren Dhark blickte auf seine Uhr. »In ein paar Minuten erwarte ich unsere Spezialisten zu einer Besp‐ rechung in der Messe. Schade, daß Sie nicht dabeisein können, Da‐ lon.« »Und die ASGOR?« Trauer huschte über Dalons blaue Züge. »Ich fürchte, der Hyperkalkulator wird sich nicht mehr hochfahren las‐ sen. Dann muß ich die ASGOR aufgeben.« »Auch darüber werden wir diskutieren.« Ren Dhark stand auf. »Vielleicht finden wir eine Lösung. Sie wissen ja: Wir haben pfiffige Leute an Bord.« Auch die anderen erhoben sich. Sie verabschiedeten sich und verließen die Therapiezelle. Im Foyer der Medostation trafen sie Manu Tschobe. »Paßt gut auf ihn auf«, sagte Dhark. »Er hat noch ein paar Jahrtausende zu verlie‐ ren.« »In zwölf Stunden ist er wieder fit.« Tschobe winkte ab. »Dalon hat eine unglaublich zähe Natur.« Warum hat er dann seinen Helm geschlossen? dachte Dhark. Er sprach die Frage nicht aus. *
Über Transportbänder und Antigravschächte erreichten sie ein paar Minuten später die Messe. Acht Männer warteten dort bereits: Der unverzichtbare Chris Shanton samt seinem Maschinenhund natürlich und Arc Doorn, der seinen Ruf als Spezialist für Worgun‐ technik wohl nie wieder loswerden würde, obwohl er doch von Haus aus eigentlich Geisteswissenschaftler war, Philosoph. Die fünf weiteren Männer hatte Ren Dhark eingeladen, weil er sich von ihrer Kreativität und ihrem Sachverstand eine Lösung der ans‐ tehenden Probleme versprach: Glenn Morris, der Erste Funker, sein Techniker Boris Hergett, Dr. Jo Getrup, Kybernetiker und Grundla‐ genforscher, der Erste Offizier Hen Falluta, der auf Grund seiner Erfahrung mit der POINT OF durchaus als Checkmasterspezialist galt, und Igor Varnuk, ein Techniker. Varnuk arbeitete zwar haupt‐ sächlich im Maschinenraum, doch Dhark schätzte ihn wegen seiner Improvisationsfähigkeit und wollte ihn deswegen in dieser Denk‐ runde dabei haben. Den achten Mann hatte er nicht eingeladen: Bert Stranger. Der Journalist von Terra‐Press stand auf. Lächelnd kam er auf den Commander zu. »Nicht, daß Sie glauben, ich wollte mich hier auf‐ drängen, einfach so, ohne Legitimation. Nein, Commander, ich habe auf Sie gewartet, um ganz offiziell um Ihre Erlaubnis zu bitten, an dieser Konferenz teilnehmen zu dürfen.« »Hören Sie, Stranger«, sagte Dhark. »Wenn das alles hier eines Tages vorbei ist, dürfen Sie keinen Satz darüber schreiben, auf den ich nicht vorher ein kritisches Auge geworfen habe. Das war der Deal, und das wissen Sie.« »Und ob ich das weiß, Mr. Dhark.« Er grinste. »Man bläst es mir ja oft genug in die Ohren. Aber irgendwann wird es vorbei sein, und dann sollte jemand darüber berichten. Unsere Bürger haben ein Recht auf diese Geschichte. Immerhin geht es hier auch um Ihre Köpfe.« Ren Dhark musterte ihn aufmerksam, den kleinen Dicken mit den abstehenden Ohren und dem roten Haar. Reden konnte er, alles was
recht war, und schreiben auch. Und wenn er nicht ein exakter Den‐ ker mit einer verläßlichen Intuition gewesen wäre, hätte er es nicht zum Starjournalisten gebracht. »Und vergessen Sie nicht, Commander – irgendwann wird über diese Wochen, die wir gerade erleben müssen, in den Ge‐ schichtsbüchern zu lesen sein, und dann sollte…« »Sie brauchen mir keinen Honig ums Maul zu streichen, Stranger!« Schroff schnitt Dhark dem Journalisten das Wort ab. »Über die Ge‐ heimhaltungspflicht hinaus erwarte ich von Ihnen, daß Sie sich aktiv an dieser Konferenz beteiligen. Nehmen Sie bitte Platz.« »Danke, Mr. Dhark.« Der Commander, Dan Riker und die beiden Frauen setzten sich auf die noch freien Plätze an den Tischen. »Drei Fragen stehen hier zur Debatte.« Dhark kam gleich auf den Punkt. »Was hat den Check‐ master und den Hyperkalkulator der ASGOR zum Absturz ge‐ bracht? Wie können wir uns in Zukunft dagegen schützen? Und gibt es eine Möglichkeit, Dalons Hyperkalkulator wieder hochzufahren? Ich bitte um Ihre Ideen.« »Dann fange ich am besten mal an«, begann Leutnant Glenn Mor‐ ris, der Chef der Funkzentrale. »Wir haben die Sende‐ und Emp‐ fangsprotokolle der letzten sechzig Stunden durchgeschaut.« Er schlug eine Mappe auf, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Was wir gefunden haben, belegt endgültig die These, nach der über Funk gesandte Dateien die Bordrechner lahmgelegt haben.« Er gab ein Papier in die Runde. »Hier der Auszug einer Funkbotschaft aus den zwei Sekunden vor dem Absturz des Checkmasters. Was ich Ihnen ausgedruckt habe, ist nicht ein Hunderttausendstel der Datenflut, mit der unser Checkmaster in diesen zwei Sekunden bombardiert wurde. Sie mögen die Daten später in Ruhe durchforsten – wenn Sie können. Das hier nur vorweg, damit Sie einen ersten Eindruck von den chaotischen Killerdateien bekommen.« »Die Sicherheitssperre reagierte genau in dem Augenblick, als der Checkmaster dichtmachte«, ergänzte Hergett, der Funktechniker.
»Wir können also nicht einmal sagen, ob sie solch eine Datenflut aufhalten könnte, wenn sie früher anspränge. Ich glaube es aber nicht.« »Das sind Teile eines Betriebsprogramms, wenn Sie mich fragen.« Aus schmalen Augen betrachtete Arc Doorn das Papier. »Was der Checkmaster da in Ziffern und Zeichen übertragen hat, kommt mir genauso bizarr vor wie die äußere Form der fremden Schiffe.« Er schob das Papier zu Shanton. »Trotzdem wage ich die Behauptung, daß es sich hier um ein Betriebsprogramm handelt.« »Gut möglich.« Shanton reichte das Papier an Amy Stewart weiter. »Jedenfalls würde diese Hypothese zu unserer letzten Prüfung des Checkmasters passen.« »Sie haben sich noch einmal mit dem Checkmaster unterhalten?« fragte Dhark. Mit Blicken bedeuteten Shanton und Doorn dem Kybernetiker Ge‐ trup, das Wort zu ergreifen. »Ich wollte natürlich nicht unvorbereitet hier aufkreuzen«, sagte Dr. Jo Getrup. »Also bat ich Mr. Shanton und Mr. Doorn, gemeinsam mit Mr. Falluta und mir noch einmal genau zu analysieren, was sich während der letzten Minuten nach dem Absturz und in den ersten Minuten nach der Reaktivierung des Checkmaster in dessen synthetischem Nervensystem abgespielt hat. Teilweise sind wir den Vorgängen bis in die kleinsten Verästelungen der Datenbahnen nachgegangen. Zugegeben: Wir sind noch immer weit entfernt von einer differenzierten, wissenschaftlichen Be‐ schreibung dieser Ereignisse, aber folgende These können wir doch wagen: Unser Bordhirn wurde mit Datenkomplexen überschwemmt, die es in jedem seiner peripheren und zentralen Funktionssegmente zu einer völlig übersteigerten Aktivität veranlassen wollten…« »Sie meinen, eine Art Wucherung?« unterbrach Bert Stranger. »So etwas wie Tumorprogramme?« Der Journalist war in Sachen Ky‐ bernetik und Informatik ein blutiger Laie und suchte nach Meta‐ phern, um besser verstehen zu können. »Kein schlechter Vergleich, Mr. Stranger.« Getrup wiegte seinen
schmalen Kahlkopf. »Allerdings befällt ein Tumor den menschlichen Organismus zunächst nur an einer Stelle, und wenn das Krebsge‐ schwür erst einmal wuchert und Metastasen absetzt, dann tötet ein Tumor den Organismus durch Erschöpfung oder Zerstörung le‐ benswichtiger Funktionen wie Verdauung oder Nervenleitung. Treffender wäre der Vergleich mit einer Hormonvergiftung. Wir alle wissen, daß zuviel Schilddrüsenhormone einen Menschen überaktiv, hektisch, schlaflos, hungrig und so weiter machen. Bei einer Vergif‐ tung mit Schilddrüsenhormonen aber gerät die Überaktivität des betroffenen Organismus außer Kontrolle. Der Kranke schwitzt un‐ mäßig, fiebert, produziert Halluzinationen, zittert, phantasiert, schlägt um sich und so weiter und so fort…« »Eine Art Wahnsinn?« fragte Chris Shanton. »So könnte man es nennen, doch. Ähnlich wie das übermäßig produzierte Hormon den Organismus, sollten die fremden Pro‐ gramme den Checkmaster überschwemmen und vergiften, indem sie ihn zur unkontrollierten und letztlich zerstörerischen Aktivität veranlassen wollten. Deswegen spricht Mr. Doorn von Betriebssys‐ temen.« »Der Checkmaster aber ist diesem Schicksal entgangen, weil er sich in seinen Z‐Modus geflüchtet hat, richtig?« fragte Amy Stewart. »Korrekt.« Doorn nickte. »Und ich nehme an, daß dieser Modus identisch mit seiner organischen Komponente ist.« »Und der Hyperkalkulator auf der ASGOR?« fragte Riker. Der Kybernetiker machte eine ratlose Geste. »Wenn wir das he‐ rausfinden könnten, kämen wir vielleicht einen Schritt weiter. Eine organische Komponente hat der jedenfalls nicht.« »Mich erinnert das alles irgendwie an Konrad«, schnarrte Jimmy, der Robotterrier. »Der Vergleich mit der Schilddrüsenhormonver‐ giftung vor allem.« »Konrad?« Ren Dhark runzelte die Brauen. Alle sahen sie fragend zu Chris Shanton. »Nun ja, deswegen habe ich das Stichwort ›Wahnsinn‹ in den Ring
geworfen«, sagte Shanton. »Jimmy meint die schlimme Geschichte der KONRAD ZUSE. Das war der Flottenkoordinator der geplanten neuen Baureihe. Sie wissen vermutlich, daß die Bordhirne dieser Riesenraumer, die speziell für sie entwickelten Suprasensoren, fast siebzig Prozent des Schiffsvolumens ausfüllen, und vermutlich erinnern Sie sich auch an die Katastrophe.« Fast alle nickten. »Es sollte nur ein Übungsflug ins nahe Fomal‐ haut‐System werden, eine Menge Akademieabsolventen waren an Bord…« Shanton senkte Stimme und Blick und betrachtete seine gefalteten Hände. Ein paar Gesichter zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Die Erinnerung an die KONRAD ZUSE war nicht dazu angetan, seine Stimmung aufzuhellen, weiß Gott nicht. »… doch dann erschien dieser verdammte Fremdraumer auf den Ortungsschirmen, 350 Meter lang und vermutlich von derselben Art wie der Robotraumer, der uns angegriffen hat und mit dem Artus jetzt fliegt.« Er seufzte, blies die Backen auf und zuckte mit den Schultern. »Gesehen haben wir ihn nicht, die Reflexe der Ortung aber waren ähnlich.« Er griff nach dem Papier und schlug mit dem Handrücken drauf. »Und was er funkte, las sich genauso chinesisch wie das hier – nämlich überhaupt nicht. Das Schiff verschwand so schnell, wie es aufgetaucht war. Kurz darauf drehte der Suprasensor durch. Es be‐ gann schleichend, steigerte sich aber allmählich zu einer Art Grö‐ ßenwahn. Schließlich begann er Mitglieder der Besatzung zu töten, und am Ende sprengte er die KONRAD ZUSE in die Luft.« »Ganz üble Geschichte«, sagte Dan Riker. »Furchtbar! Wo zum Henker kommen diese verfluchten Robotraumer her?« »Stellt euch nur einmal vor, eine ganze Flotte solcher Alp‐ traumschiffe würde uns angreifen.« Amy Stewart war ziemlich plötzlich bleich. »Stellt euch vor, vierhundert oder fünfhundert Ro‐ botraumer dringen ins Sol‐System ein und legen die Wachflotte lahm, die Ast‐Stationen, die Raumhafenkontrolle…« Sie verstumm‐
te. Alle schwiegen betreten. Der Erste Offizier kehrte zum Thema zurück. »Der Unterschied liegt doch auf der Hand«, sagte Hen Falluta. »Alle drei betroffenen Bordhirne wurden mit Daten überschwemmt, vielleicht sogar mit identischen. Der Suprasensor auf dem Flottenkoordinator wurde wahnsinnig, der Hyperkalkulator auf der ASGOR und unser Checkmaster dagegen stürzten ab.« »Suprasensoren stellen die neuste Generation terranischer Rechner dar.« Igor Varnuk ergriff das Wort. »Schwindelerregend, was ihre Leistungsfähigkeit betrifft, aber eben terranische Rechner. Im Grun‐ de nur die Weiterentwicklung der Spielkonsole unserer Urgroßväter. Ein alter terranischer Hut im Prinzip.« Wie meist sprach der Techniker langsam und schleppend. Wer Varnuk nicht gut kannte, gewann leicht den Eindruck eines gela‐ ngweilten Phlegmatikers. »Hyperkalkulatoren dagegen sind auf dem Mist der Worgun ge‐ wachsen.« Er blickte zu Arc Doorn. »Sie sind so kompliziert, daß wir sie bis heute nicht richtig kapieren. Habe ich recht?« »Was wollen Sie damit sagen?« erkundigte sich Stranger behutsam. »Ich sage nur, was Sache ist.« Abwehrend hob Varnuk die Rechte. »Mit Schlußfolgerungen bin ich vorsichtig.« »Denken Sie an Dr. Getrups Vergleich mit der Hormonvergiftung«, sagte Anja Riker. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Dr. Getrup, dann verfällt der Vergiftete einer Art von Wahnsinn, und dieses chaotische Datenpaket hätten in unserem Checkmaster möglicher‐ weise eine ähnlich Wirkung entfaltet, wenn sein künstliches Be‐ wußtsein nicht in seine Zitadelle geflohen wäre.« »In seinen organischen Kern, korrekt.« Der Kybernetiker nickte. »Eine mögliche Schlußfolgerung drängt sich doch geradezu auf«, fuhr die Mathematikerin fort. »Hochentwickelte Bordhirne wie Hy‐ perkalkulatoren stürzen ab, wenn die Virenprogramme über sie herfallen. Weniger differenzierte Systeme veranlassen sie zum Tu‐ ring‐Sprung. Weil ein Suprasensor made in Terra aber nicht für die
Entwicklung selbständiger Intelligenz gebaut ist, wird er größen‐ wahnsinnig wie Konrad.« »Klingt paradox, aber könnte so sein«, murmelte Shanton. »Wobei eigentlich nur eine eigenständige Persönlichkeit größenwahnsinnig werden kann. Und Konrad kam mir erschreckend eigenständig vor damals…« »Vielleicht stürzen Hyperkalkulatoren ja nur deswegen ab, weil sie den Turing‐Sprung längst hinter sich haben?« Bert Stranger sah in die Runde. Außer Schweigen und Schulterzucken erntete er keinen Kommentar. »Wie wäre es, wenn wir eine Denkpause einlegen«, schlug Igor Varnuk vor. »Jemand schreibt ein Protokoll, wir sondieren die The‐ sen und vor allem die Fakten, und in der Zwischenzeit versuchen wir, den Hyperkalkulator der ASGOR wieder in Schwung zu brin‐ gen. Ich schätze mal, er wird uns auch noch das eine oder andere Mosaiksteinchen zu einer Lösung des Problems liefern können, wenn er erst einmal aufgewacht ist.« »Einverstanden«, sagte Ren Dhark. »Und wie stellen Sie sich das vor, Igor?« »Keine Hexerei, Commander. Ich habe da eine Idee…« * Sie flogen in drei Flash und zu fünft – Doorn und Shanton in Flash 09, Varnuk und Hergett in Flash 21 und Pjetr Wonzeff in seiner 01. Hinter ihnen erhob sich die Außenhülle der POINT OF, vor ihnen wölbte sich die violettblaue Bordwand der ASGOR. Sie trugen Schutzanzüge, hatten Handlampen mitgenommen und einen trag‐ baren To‐Richtfunksender. Wonzeff flog voraus. Er steuerte sein Beiboot, bis er es in die rich‐ tige Position gebracht hatte. »Flash 01 an Commander. Wir stehen jetzt vor der Zentrale und aktivieren das Intervallfeld.« »Tun Sie das«, tönte die Stimme Fallutas aus dem Bordfunk.
Jeder Arbeitsschritt sollte mit der Kommandozentrale der POINT OF koordiniert werden. Dort hatte Dr. Getrup die technische Leitung übernommen. Er saß an der Hauptkonsole des Checkmasters. Jeder, der eine Ahnung von Kybernetik, Informatik und Worguntechnik hatte sowie Erfahrung mit dem Checkmaster, hielt sich in der Zent‐ rale auf und unterstützte ihn. »Und halten Sie uns auf dem laufenden.« Hen Falluta, der Erste Offizier, sollte die Arbeit in der POINT OF und die Mission in der ASGOR koordinieren. »Verstanden.« Wonzeff schaltete das Intervallum ein und wendete den Flash so, daß der Bug neunzig Grad zur Bordwand stand. Mit minimaler Schubleistung steuerte er sein Gerät in die Zentrale. Zum zweiten Mal an diesem Tag zog er dieses Manöver durch. Fast schon Routine. Flash 21 und Flash 09 folgten ihm. Die drei Beiboote durchdrangen Bordwand und Wandung der Zentrale, wendeten vor dem Kommandostand und deaktivierten die Intervallfelder. Flash 21 setzte links unter der Galerie auf, die beiden anderen zwischen Bildkugelwerfer und Kommandostand. Sie schalteten die Außenscheinwerfer ein. Wonzeff hatte darauf geach‐ tet, sein Gerät so abzustellen, daß dessen Scheinwerferkegel jetzt auf die Rechnerkonsole fiel. Bevor er die Luke öffnete, machte er Mel‐ dung an Falluta. Sie schlossen die Helme ihrer W‐Anzüge. Wonzeff warf noch einen Blick auf die Instrumentenkonsole: Minus sechzehn Grad Celsius zeigte das Außenthermometer. Nacheinander kletterten sie aus den Flash in die eiskalte Schiffszentrale. Augenblicklich reagierten die Klimaanlagen ihrer Schutzanzüge. Doorn reichte die beiden Materialcontainer aus der Luke, Shanton nahm sie ihm ab. Wonzeff hievte das Funkgerät vom Platz hinter ihm aus der Maschine, Varnuk und Hergett nahmen es entgegen. Sie trugen Werkzeuge und Geräte zur Rechnerkonsole. Die Kom‐ mandozentrale wirkte irgendwie gespenstisch im Scheinwerferlicht
der Flash. Varnuk schraubte die Verblendungen ab, Hergett schloß ein Kunstkristallfaserkabel an den tragbaren To‐Richtfunk an. Doorn und Shanton gingen vor den Innereien der Schnittstelle auf die Knie. Wonzeff und Hergett leuchteten mit ihren Handlampen jeden Win‐ kel, jede Verschaltung, jeden Anschluß aus. »Hier.« Arc Doorn deutete mit einem kleinen Schraubenzieher auf eine freie Anschlußstelle. Igor Varnuk nickte und verband den Adapter des Kristallfaserkabels mit der Steckverbindung. Danach nickte er in Richtung Pjetr Wonzeff. »Wonzeff an Zentrale, physische Verbindung ist hergestellt.« »Verstanden«, gab Falluta zurück. »Dann aktivieren Sie jetzt den To‐Funk.« Boris Hergett schaltete das Funkgerät ein und nickte Wonzeff zu. »Funkgerät aktiviert«, gab der an die Zentrale weiter. »Sehr gut.« Fallutas Stimme im Helmfunk. »Und jetzt gehen Sie auf die vereinbarte Frequenz. Der Rest ist unser Job.« »Verstanden.« Hergett hatte mitgehört. Er stellte die abge‐ sprochene Frequenz ein und gab dem Ukrainer ein Zeichen. »Die Verbindung steht«, sagte Wonzeff. »Jetzt seid ihr am Zug.« Nicht irgendeine Verbindung stand, sondern die zum Check‐ master. Über das To‐Richtfunkgerät sollte das Bordhirn der POINT OF den Hyperkalkulator der ASGOR wieder hochfahren. Hergett setzte sich im Schneidersitz neben das Funkgerät, Doorn und Varnuk knieten vor der geöffneten Rechnerkonsole, Shanton hing im Sessel hinter der Konsole, und Wonzeff stand mit vor der Brust verschränkten Armen neben ihm und beobachtete die Konsole und die Kontrolleuchten über der Tastatur. So verstrichen fast zwei Minuten. Zuerst flammte die Notbeleuchtung in der Zentrale auf. Gleich darauf sprang eine LED‐Leuchtenleiste am To‐Richtfunkgerät auf Grün, dann begann es im Inneren der Konsole zunächst zu klicken und schließlich zu summen. Darüber, auf der Armaturentafel, ging ein Kontrollicht nach dem anderen an. Varnuk richtete sich auf und
reckte den Daumen seiner Rechten in die Höhe. »Wonzeff an POINT OF – der Impuls ist angekommen, es scheint zu funktionieren!« »Prächtig!« tönte Fallutas Stimme. »Der Checkmaster behauptet, er hätte den Kollegen drüben bereits wachgeküßt!« »So drückt er sich aus?« Wonzeff und die Männer am Boden hinter der Konsole grinsten. »So ähnlich.« Die zentrale Bildkugel flammte auf. Doorn erhob sich und spähte zum Navigationsstand. Auch dort leuchteten einige Kon‐ trollinstrumente. Er lief zum Kommandostand, stieg hinauf und ging von Arbeitspult zu Arbeitspult. Am letzten blieb er stehen und nickte zu Wonzeff hinüber. »Wonzeff an Ersten Offizier – der Hyperkalkulator kommt auf Touren. Hier springen nach und nach seine peripheren Schnittstellen an.« Wie zur Bestätigung flammte nun auch die Beleuchtung auf der Galerie auf. »Wunderbar!« rief Falluta im Helmfunk, und im Hintergrund konnte Wonzeff den Jubel drüben in der Kommandozentrale hören. »Und nun weiter im Programm: Sprecht ihn an.« »Verstanden.« Wonzeff nickte Chris Shanton zu. »Hyperkalkulator der ASGOR, hörst du mich?« rief Shanton von seinem Sessel aus in die Zentrale hinein. »Natürlich höre ich dich«, kam es zurück. »Wer bist du? Wo ist Dalon? Wie seid ihr an Bord gelangt?« »Mein Name ist Chris Shanton. Ich gehöre zur Besatzung der POINT OF. Dalon liegt dort in der Medostation. Er wäre fast er‐ froren, weil du dich vom Dienst abgemeldet hast. Wir stellen jetzt eine Funkverbindung zu ihm her. Dann kann er dir selbst erklären, was geschehen ist…« Schlagartig erloschen die Beleuchtung, die Bildkugel und sämtliche Kontrolleuchten. »Mist, verdammter!« fluchte Igor Varnuk. »Wonzeff an Zentrale, bei uns hat jemand das Licht ausgemacht.«
Keine Reaktion. »Wonzeff an Zentrale, hören Sie mich, Falluta? Hier auf der ASGOR hat sich der Hyperkalkulator schon wieder verab‐ schiedet.« Niemand antwortete. »Wonzeff an Zentrale, kommen!« Nichts. Chris Shantons Armbandvipho zirpte. Er aktivierte es. Das Kon‐ terfei des Commanders erschien auf dem Kleinmonitor. »Ich rufe Sie über mein persönliches Vipho an, Chris. Der Checkmaster ist wieder abgestürzt…« * Die drei Flash flogen zurück zur POINT OF. Sie schwiegen, die Enttäuschung hatte ihnen die Sprache verschlagen. Kein Traktorstrahl holte sie zurück in die Beibootdepots. Also glitten sie mit aktivierten Intervallfeldern durch die fünfzig Zenti‐ meter starke Unitallwandung. Es war dunkel an Bord der POINT OF. Wonzeff warf einen Blick auf die digitale Thermometeranzeige: 18,5 Grad Celsius. Die Bordtemperatur begann bereits zu sinken. Jedes Beiboot landete an seinem Platz. Kaum waren sie aus‐ gestiegen, versuchte Igor Varnuk, einen der anderen Flash zu öffnen. Die Luken reagierten nicht auf Funkimpulse, auch nicht auf Berüh‐ rung des Senders. »Sie funktionieren genausowenig wie die Beiboote in der ASGOR«, sagte er über Helmfunk. Arc Doorn öffnete einen der Wandschränke und entnahm ihm ei‐ nen W‐Anzug. Auch der ließ sich nicht aktivieren, weder seine Kli‐ maanlage noch sein Helmfunk. »Wenn wir an Bord gewesen wären, als der Checkmaster abstürzte, würden also weder unsere drei Flash noch unsere Überlebenssysteme funktionieren«, sagte Shanton. Doorn nickte. »Nette Aussichten«, meinte Igor Varnuk. Manuell öffneten sie das Innenschott. Das Transportband auf dem Hauptgang funktionierte nicht. Sie liefen zur Zentrale. Auch die Antigravschächte waren ausgefallen, sie mußten den Gang an der
Medostation und den Mannschaftsquartieren vorbei nehmen. Der führte zur Westgalerie. Das Schott dorthin stand offen, sie traten ein. Stimmengewirr er‐ füllte die Kommandozentrale. Lichtkegel von Handlampen huschten über Wände, Geländer und Arbeitskonsolen. Über die Wendeltreppe stiegen sie in die Zentrale hinunter. Auf einmal flammten zuerst die Notbeleuchtung, dann die De‐ ckenleuchten auf der Galerie und schließlich unzählige Kon‐ trollichter auf den Instrumentenkonsolen wieder auf. »Er fährt wie‐ der hoch!« Fallutas Stimme. »Er fährt von selbst wieder hoch!« Laute der Erleichterung von allen Seiten. Die fünf Männer meldeten sich zurück. Shanton und Doorn schäl‐ ten sich aus ihren Raumanzügen und gesellten sich zu der Gruppe, die um Jo Getrup herum bei der Hauptrechnerkonsole stand oder saß. »Nach genau neunzehn Minuten hat der Checkmaster sich von allein wieder hochgefahren!« sagte der Kybernetiker. »Das letzte Mal hat er viele Stunden gebraucht.« Shanton nahm neben Getrup Platz, jemand hatte ihm den Sessel geräumt. »Er scheint dazugelernt zu haben.« Von allen Arbeitsplätzen in der Zentrale und aus allen Abteilungen der POINT OF gingen Bereitschaftsmeldungen ein. Der Ringraumer war wieder vollständig im Betriebsmodus. Getrup, Doorn und Shanton machten sich an die Analyse des zweiten Absturzes. Nach zehn Minuten etwa hatten sie dem Checkmaster ein komp‐ lettes Protokoll des Ereignisses entlockt, nach noch einmal zwei Minuten stand das Ergebnis der Analyse fest. »Es ist, wie wir vermutet haben«, berichtete Shanton. »Massenhaft Programmdateien.« Eine regelrechte Menschentraube hatte sich mittlerweile um die Rechnerkonsole versammelt. Auch oben auf der Galerie beugten sich Männer und Frauen der POINT OF über das Geländer, um kein Wort zu versäumen. Aus allen Abteilungen waren sie in die Zentrale gekommen.
»Das Virus begnügt sich also nicht damit, einen Hyperkalkulator zum Absturz zu bringen, sondern es enthält Programme, die sich im angegriffenen System installieren.« Shanton schnitt eine ziemlich ernste Miene. »Sobald man den Rechner von außen wieder hoch‐ fährt, werden die Programme erneut aktiv und überschwemmen das Bordhirn solange mit Dateien, bis es abstürzt.« »Verstehe ich nicht«, sagte Stranger. »Der Checkmaster hat sich schon auf dem Waldplaneten selbst wieder aktiviert und danach viele Stunden lang einwandfrei gearbeitet.« »Was beweist, daß sein sogenannter Z‐Modus ihn nicht nur vor dem endgültigen Aus bewahrt, sondern auf noch unbekannte Weise auch die Installation der zerstörerischen Betriebsprogramme ver‐ hindern kann«, sagte Getrup. »Oder rückgängig macht.« Stranger lehnte seinen kleinen runden Leib gegen die Konsole und redete wie ein Checkmaster‐Spezialist. »So muß es sein«, schloß Doorn sich an. »Was ihn da eben wieder zum Absturz brachte, waren die Virenprogramme auf dem Hyper‐ kalkulator der ASGOR.« »Er stürzt zwar ab, kann sich aber dauerhaft von Viren freihalten – verstehe ich das richtig?« fragte der Commander. »So sieht es aus«, bestätigte Getrup. »Eine These zunächst nur, aber ich denke, die werden wir beweisen können.« »Daß er abstürzt, ist schlimm genug«, sagte Ren Dhark. »Wir haben Glück gehabt, daß nicht mehr passiert ist als ein Energieausfall und eine Notlandung. Aber worauf ich hinauswollte: Wenn der Check‐ master Mittel und Wege kennt, die Installation dieser Killerprog‐ ramme zu verhindern und sich sogar selbst wieder hochfahren kann, müßte es doch möglich sein, ihm diese Mittel und Wege zu entlo‐ cken.« »Und ein wirksames Schutzprogramm zu schreiben«, führte Shanton den Gedanken fort. »Versuchen wir’s einfach mal.« Doorn zuckte mit den Schultern. »Und versuchen wir’s so schnell wie möglich…«
Gemeinsam mit Jo Getrup und Hen Falluta machten sie sich an die Arbeit. * Vierzehn Stunden später flog Pjetr Wonzeff mit Flash 01 zum drit‐ tenmal innerhalb von dreißig Stunden zur ASGOR hinüber. Hinter ihm saß Chris Shanton. Wonzeff hatte ein paar Stunden geschlafen, und das ziemlich gut. Der fettleibige Wissenschaftler dagegen sah bleich und zerknautscht aus und hatte dunkle Ringe und Tränensä‐ cke unter den Augen. »War ein hartes Stück Arbeit, habe ich gehört«, sagte Wonzeff, während sie an der Bordwand der ASGOR entlangschwebten. »Aber sie hat sich gelohnt.« Shanton gähnte ungeniert. »Der Checkmaster war sehr kooperativ.« Zu dritt, oder nein: Zu viert hatten sie den jüngsten Virenangriff und die Gegenmaßnahmen des Bordhirns analysiert – und dazu ungezählte Dateien. Shanton, Getrup, Doorn und der Checkmaster. Stundenlang. Das Schutzprogramm wuchs unter ihren Händen – sehr langsam zwar, aber kontinuierlich. Nur durch konzentrierte Teamarbeit hatten sie es schließlich geschafft. »Wenn die Generalprobe gleich genauso erfolgreich ist wie die beiden Probeläufe, sind wir durch«, sagte Shanton. »Dann schlafe ich erst einmal zwölf Stunden durch.« Auch seine Stimme klang erschöpft. Und täuschte sich Wonzeff, oder hatte seine Nase da eben einen Hauch von Cognacfahne auf‐ gefangen? Zum dritten Mal steuerte er den Flash mit aktiviertem Intervallum durch die Bordwand in die Zentrale hinein, zum dritten Mal setzte er ihn zwischen Kommandostand und Bildkugelgeber auf. Das Scheinwerferlicht riß das To‐Richtfunkgerät und die aufgeschraubte Konsole aus der Dunkelheit. Sie hatten Geräte und Werkzeug zu‐ rückgelassen nach dem letzten Checkmasterabsturz.
»Minus dreiunddreißig Grad behauptet das Thermometer!« Won‐ zeff fröstelte. »Hoffentlich funktioniert das Funkgerät bei solchen Temperaturen überhaupt.« »Das Gerät hält eine Menge aus, nur um den Hyperkalkulator mache ich mir Sorgen.« Shanton zog die Luke auf. »Aber malen wir den Teufel nicht an die Wand.« Sie schlossen die Helme und stiegen aus. Wonzeff aktivierte das To‐Richtfunkgerät. »Shanton an Zentrale, wir sind ausgestiegen, Arc.« Er schaltete seine Brustlampe ein und schaukelte an dem anderen vorbei zu Konsole. Vor ihr ließ er sich in den Sessel fallen. »Von uns aus kann es losgehen!« Arc Doorn und Dr. Getrup koordinierten die Aktion auf der POINT OF vor der Hauptschnittstelle des Checkmasters. Dalon, wieder zu Kräften gekommen, wartete bereits mit Arly Scott vor den Depots der Beiboote auf gute Nachrichten. Falls sein Hy‐ perkalkulator wieder ansprang, wollte er so schnell wie möglich zurück auf sein Schiff. »Doorn an ASGOR – der Checkmaster greift jetzt über To‐Funk auf den Hyperkalkulator zu.« Drei, vier lange Sekunden geschah nichts. Dann flammten nach und nach Notbeleuchtung, Galeriebeleuchtung und Kontrollen auf den Konsolen auf. Wonzeff hielt den Atem an, Shanton umklam‐ merte die Armlehnen seines Sessels und rutschte bis auf die Kante vor. Die Hauptbeleuchtung der Zentrale flammte auf, danach die Bildkugel. »Hyperkalkulator?« rief Shanton. »Hyperkalkulator, hörst du mich?« »Natürlich höre ich dich!« hallte die Kunststimme des Bord‐ rechners durch die Zentrale. »Wer bist du? Wo ist Dalon? Wie seid ihr an Bord gelangt?« Shanton stemmte sich aus dem Sessel und lauschte. Im Grunde wartete er darauf, daß die Lichter wieder ausgingen. Aber nichts dergleichen geschah. »Und warum habt ihr die Klimaanlage deakti‐
viert?« erkundigte sich der Hyperkalkulator. »Minus 33,8 Grad Cel‐ sius! Kein mir bekannter intelligenter Organismus kann bei solch niedrigen Temperaturen auf Dauer überleben.« Im Helmfunk hörte Shanton den Jubel, der in der Zentrale der POINT OF ausgebrochen war. Er selbst ließ sich gegen die Ses‐ sellehne sinken und blies die Backen auf. Ein schöner Cognac wäre jetzt angemessen gewesen. »Wo ist Dalon?« ließ sich der Hyperkalkulator wieder vernehmen. »Du bist abgestürzt«, sagte Shanton. »Dalon wäre daraufhin fast erfroren.« »Abgestürzt? Erfroren?« »Keine Sorge, Dalon hat sich gut erholt und ist auf dem Weg hier‐ her. Und er bringt dir etwas mit – ein Spezialprogramm, mit dem du in Zukunft gewisse Virenangriffe abwehren kannst. Von unseren besten Köpfen entwickelt übrigens.« Shanton stand auf und begann das Funkgerät abzubauen. »Mach doch schon mal die Heizung an, Hyperkalkulator…« Fünfzehn Minuten später flogen sie zurück zur POINT OF. »Shanton an Zentrale. Ich gratuliere uns, Arc. Wißt ihr schon ge‐ naueres?« »Da gibt es nicht viel zu berichten, Chris.« Doorns Stimme knurrte aus dem Flashfunk. Er hatte selten viel zu berichten. »Die Viren‐ programme aus dem ASGOR‐Rechner haben angegriffen, unser Checkmaster hat sie mit Hilfe des neuen Programms abgewehrt und innerhalb weniger Sekunden sämtliche Killerprogramme auf dem Hyperkalkulator gelöscht.« »Na prächtig, Arc, jetzt sagst du mir noch, daß wir gute Arbeit gemacht haben, und dann sehen wir uns in zwölf oder dreizehn Stunden wieder.« »Gute Arbeit, Dr. Shanton. Schlaf gut.« Wonzeff steuerte Flash 01 ins Depot und ließ ihn in seine Bettung sinken. »Commander an Shanton – ich gratuliere! Sobald Sie an Bord sind, nehmen die POINT OF und die ASGOR Kurs auf Terra. Sämt‐
liche Schiffe der Flotte und alle sensiblen Stationen und Systeme müssen so rasch wie möglich mit dem neuen Programm ausgerüstet werden…«
14. Planet Eins war eine erdgroße Welt mit einer solähnlichen Sonne – und trotzdem hätten sich dort keine Menschen ansiedeln können. Genau wie auf dem Raumschiff bestand die Atmosphäre aus reinem Stickstoff, gut für die Pflege von Maschinen, absolut tödlich für Sauerstoffatmer. Hyperbel verband seine optischen und akustischen Sensoren mit meinen und »spendierte« mir, trotz seiner Beschädigungen, einen kurzen Rundflug über ein größeres Gebiet, um mir einen ersten Überblick zu verschaffen. Die Bilder und Eindrücke, die ich dabei wahrnahm, lösten in mir die unterschiedlichsten Empfindungen aus: Verwunderung, Verzückung, Verwirrung, Depressionen, Entset‐ zen… Die menschliche Sprache reichte nicht aus, um diese obskure Welt zu beschreiben. Hätte man mich gebeten, einen offiziellen schriftli‐ chen Bericht über meine Beobachtungen und Eindrücke anzuferti‐ gen, hätte ich passen müssen. Eine halbwegs passable Umschreibung von Eins war nur möglich, wenn man seiner künstlerisch‐poetischen Ader freien Lauf ließ: Stell dir vor, du trittst durch ein großes leuchtendes Tor und fin‐ dest dich in einer seltsamen, alptraumhaften Umgebung wieder, die dir einerseits Angst macht, dich andererseits aber auch fasziniert. Genie und Wahnsinn sind die Baumeister dieser Welt, du triffst hier überall auf ihre Spuren. An diesem merkwürdigen Ort wurde der Gegensatz zwischen Traum und Realität aufgehoben, um Platz zu schaffen für eine neue Überwirklichkeit. Dämonisches vermischt sich mit Geisterhaftem, Geisterhaftes mit Unheimlichem, Unheimli‐ ches mit der Dunkelheit und die Dunkelheit mit dem Licht. Was ist echt, was irrational? Kannst du deinen Sinnen noch trauen? Du willst wegrennen und gleichzeitig bleiben… Ganz Eins war bebaut, ohne daß auch nur annähernd eine Unter‐
teilung in Dörfer, Städte oder Landstriche erkennbar war. Riesige, unförmige Gebäude erstreckten sich über den gesamten Planeten. Vergebens versuchte ich, bei den Bauten irgendein wie auch immer geartetes System zu entdecken. Ich war mir nicht einmal in allen Fällen sicher, ob es sich überhaupt um Gebäude handelte. Was auf den ersten Blick wie eine mächtige Halle aussah, konnte ebensogut ein Angehöriger von Hyperbels Volk sein – ein lebendes Raumschiff, das kurz zuvor gelandet war und jeden Moment zu mir empor‐ schweben würde. Es gab auch eine Vielzahl kleinerer Gebäude, verformte Me‐ tallbauten, die Wohnhäusern ähnelten. Verschiedenartige Hand‐ lungsroboter gingen darin ein und aus, was mich verunsicherte. Aus welchem Grund errichtete man Häuser für seelenlose Maschinen? Zwischen den Gebäuden und bizarren technischen Einrichtungen (oder was auch immer) gab es zahllose Straßen, die teils unterei‐ nander verbunden waren, teils in Sackgassen mündeten oder sich irgendwo auf Irrwegen verloren. Manche Straßen waren breit, manche schmal, manche beides. Planet Eins als einen gewaltigen Metallschrottplatz zu bezeichnen, wäre zu einfach gewesen. Auf jedem Schrottplatz gab es eine ge‐ wisse Ordnung, die hier absolut zu fehlen schien. Bestenfalls konnte man von einem geordneten Chaos sprechen, ähnlich dem in Hyper‐ bels »Walbauch«. Nach Gewässern, Pflanzen und Tieren hielt ich vergeblich Aus‐ schau. Dafür war auf Eins offenbar kein Platz. Ich fragte Hyperbel, ob es hier jemals Seen und Wälder gegeben hatte. »Früher schon«, antwortete er. »Und es wimmelte in ihnen von biologischem Leben. Der reinste Horror, nicht wahr? Glücklicher‐ weise ist es unserem Volk gelungen, den Planeten nach unseren Bedürfnissen umzuformen.« Umzuformen. Hyperbel hatte mit den Menschen mehr gemeinsam, als er ahnte. Auch auf der Erde verwendete man verharmlosende Begriffe, um schreckliche Geschehnisse im alltäglichen Sprachge‐
brauch schöner klingen zu lassen. Was Hyperbel als Umformung bezeichnete, war nicht mehr und nicht weniger als die totale Aus‐ rottung des gesamten biologischen Lebens auf diesem Himmels‐ körper. »Wer braucht schon Wälder?« fuhr er ungerührt fort. »Auch Ge‐ wässer sind für uns nutzlos. Sie erzeugen Feuchtigkeit, und Feuch‐ tigkeit erzeugt Korrosion.« »Gab es hier keine intelligenten Lebewesen?« fragte ich ihn. »Davon ist mir nichts bekannt«, antwortete er. »Wir machten da‐ mals Jagd auf allerlei dummes Getier, das sich vor uns zu verstecken versuchte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß auch ein paar denkende Wesen mit darunter waren. Wen kümmert’s?« »Was werdet ihr mit den Menschen machen, wenn ihr ihren Pla‐ neten erobert habt?« »Diese Spezies scheint es dir wirklich angetan zu haben. Ich weiß noch nicht, welchen Beschluß die Volksgemeinschaft fassen wird; so etwas entscheidet sich meist erst kurz vor einem Angriff. Ich schätze, wir werden wohl nicht alle Terraner töten, sondern eine besonders begabte Elite am Leben lassen. Wir siedeln sie in Reservaten an und lassen sie weiter an ihren technischen Errungenschaften arbeiten. Vielleicht erfinden sie ja das eine oder andere, das für uns von Nut‐ zen ist. Wenn du willst, kannst du dir aussuchen, wer am Leben bleiben darf und wer nicht.« »Ich soll mit dem Finger auf jemanden zeigen und Gott spielen?« »Warum nicht? Für den Biomüll sind wir schließlich so etwas wie Götter. Unser Wille geschieht.« Nicht immer, erwiderte ich in Gedanken und dachte dabei an den gescheiterten Großangriff auf Grah. Ich war mir sicher, daß Hyperbels Volk alles daransetzen würde, um diese schmähliche Scharte auszuwetzen. *
Per Funk setzte sich Hyperbel mit der Zentrale auf Eins in Ver‐ bindung – ein kolossales Gebäude, das wie eine vierseitige, aus Schrotteilen zusammengesetzte Pyramide ohne Spitze aussah. Hy‐ perbel beantragte einen Platz in einer der vielen Werften, die über den gesamten Planeten verstreut waren. Die Zentrale wies ihm einen zu. »Ich habe einen Fremden bei mir«, ließ er die Zentrale wissen. »Einen Roboter namens Artus. Er stammt von einem terranischen Ringraumer.« »Ein Roboter der Menschen?« wunderte sich die Zentrale. »Wozu hast du ihn mitgebracht? Als Souvenir?« »Er ist kein gewöhnlicher Handlungsroboter. Artus ist wie wir.« »Und was will er hier?« »Bei unserem Volk leben.« »Tut mir leid, Hyperbel, aber ich muß dir vorerst die Landung auf Eins verweigern. Erst wenn die Volksgemeinschaft entschieden hat, ob…« »Mach dich nicht so wichtig, Halunke!« unterbrach Hyperbel die Zentrale barsch. »Ich lande jetzt in der mir zugewiesenen Werft, basta! Dort kümmert man sich um meine Beschädigungen, das hat Vorrang vor allem anderen. Artus soll unsere Welt erst einmal ken‐ nenlernen, bevor er vor die Volksgemeinschaft tritt und um Auf‐ nahme in unseren edlen Kreis bittet. Bis dahin steht er unter meiner Obhut und meinem Schutz. Ich bürge für ihn.« »Du weißt, daß ich das nicht zulassen darf«, rechtfertigte sich die Zentrale. »Meine Bewährungszeit läuft noch. Ich bin verpflichtet, meinen Posten perfekt auszuüben, andernfalls…« Hyperbel beachtete die Einwände nicht und setzte zur Landung an. »Befürchtest du nicht, man könnte dich abschießen?« fragte ich ihn. »Ach was!« erwiderte Hyperbel. »Tangente und ich kennen uns seit mehreren hundert Jahren. Hätte er nicht den falschen Lebensweg eingeschlagen, würden wir wie früher Seite an Seite durchs Weltall
streifen. Doch mit Verbrechern kennt die Volksgemeinschaft keine Gnade; sie werden auf abgeschiedene Planeten verbannt, so wie ›Einsamer‹. Dort entfernen wir ihnen die Triebwerke, damit sie nicht aus der Verbannung fliehen können. Außerdem nehmen wir ihnen die Möglichkeit, ihre Sinnroboter einzusetzen – ein leichter operati‐ ver Eingriff mit schweren Folgen.« »Ihre Sinnroboter? Was hat es damit auf sich?« »Du wirst ihnen bald begegnen, Artus. Rein äußerlich unter‐ scheiden sie sich kaum von den normalen, seelenlosen Hand‐ lungsrobotern, doch sie verfügen über ein weitaus komplexeres In‐ nenleben. – Die Verbrechensrate auf Eins ist nicht sonderlich hoch, was vermutlich mit der Härte der Strafe zusammenhängt. Nicht jeder übersteht die Verbannung unbeschadet. Deshalb geben wir manchen Gestrauchelten eine letzte Möglichkeit, diese Strafe abzu‐ wenden. Tangente wurde dazu verurteilt, den Posten der Zentrale zu besetzen. Auch ihm wurden die Triebwerke entfernt. Auf die ganz spezielle Operation hat man allerdings verzichtet, so daß dem Einsatz seiner Sinnroboter theoretisch nichts im Wege stünde.« »Und praktisch?« »Ihm wurde von der Volksgemeinschaft streng verboten, die Sinnroboter zu aktivieren. Verstößt er gegen dieses Verbot, wird er verbannt, und ein anderer bekommt die Chance zur Bewährung. Kannst du dir auch nur annähernd vorstellen, welche Qualen Tan‐ gente erleidet? Um ihn herum vergnügen sich die Planetenbewohner auf jede nur erdenkliche Weise – und er darf lediglich zuschauen, nicht mitmachen. Ich hoffe sehr, seine Bewährungszeit läuft bald ab. Es tut mir weh, einen ehemaligen Freund so leiden zu sehen.« »Wie lange muß er euch noch als Zentrale dienen?« wollte ich wissen. »Auf unbestimmte Zeit«, lautete die Antwort. »Sobald sich ein neuer Bewährungskandidat bereiterklärt, seinen Posten ein‐ zunehmen, ist Tangente frei. Andernfalls beläßt ihn die Volks‐ gemeinschaft wohl noch ein paar Jahrzehnte dort, wo er ist, schließ‐
lich benötigen wir dringend eine Zentrale, welche die An‐ und Ab‐ flüge sowie Anderweitiges regelt. Ordnung muß sein.« Ordnung muß sein. Was für ein bedeutungsschwangerer Satz aus dem »Mund« eines Maschinenwesens, in dessen »Bauch« es aussah wie in Karthago nach dem dritten Punischen Krieg. Die Zentrale ließ nicht auf uns schießen. Hyperbel landete in der ihm zugewiesenen Werft, wo sich umgehend Tausende von Hand‐ lungsrobotern um ihn kümmerten. Diese Reparaturroboter ent‐ stammten ausschließlich der Werft, sie gehörten nicht zu seiner Bordausstattung. Seine eigenen Handlungsroboter schaltete Hyper‐ bel fürs erste ab. Ich verließ das Raumschiff und setzte meinen Metallfuß auf den Boden der Welt Eins. Auf der Werft sah es aus wie überall auf dem Planeten – oder an‐ ders ausgedrückt: Der ganze Planet wirkte wie eine einzige große Werft. An diesem Platz herrschte besonders geschäftiges Treiben. Lagerhallen und technische Einrichtungen standen dicht an dicht. Die hier werktätigen Schrottbots schwebten, liefen oder rollten de‐ rart nah aneinander vorbei, daß Unfälle eigentlich hätten zur Tages‐ ordnung gehören müssen. Dennoch kam es zu keinem einzigen Zu‐ sammenstoß. Auch mir wichen sie geschickt aus. Über Funk wurde ich von der Zentrale angewiesen, auf dem Werftgelände zu bleiben. »Wir schicken dir einen Trupp Kon‐ trollroboter, die dich überprüfen.« »Meinethalben«, funkte ich zurück. »Aber warum gleich einen Trupp? Eine einzige eurer hochwertigen Maschinen genügt doch für diese einfache Aufgabe.« Ich bekam keine Antwort. Als wenig später ein sechs Roboter starkes Kontrollkommando heranschwebte, stellte ich mich vorsichtshalber auf einen Kampf ein… *
Die Kontrollroboter waren größer als die übrigen Handlungs‐ roboter. Zunächst erschien mir ihr Bild nicht ganz klar, ihr Anblick wirkte irgendwie verwaschen. Erst als sie mir ganz nahe waren, »stabilisierten« sie sich, sprich: Ich sah sie jetzt deutlicher – und sie kamen mir auch nicht mehr so groß vor. Hatten mir meine Sensoren einen Streich gespielt? Hyperbels An‐ merkung zur steigenden Zahl der Irrsinnigen auf Eins ging mir durch den Programmgehirn‐Nexus. Breitete sich auf diesem Plane‐ ten etwa ein Virus aus, der einem nach und nach die elektronischen Sinne raubte? War ich als Außenstehender dafür besonders emp‐ fänglich? Falls das zutraf, war es sicherlich besser, sofort von Eins zu verschwinden. Aber wo sollte ich hin? Ich hatte nicht nur den Standort der POINT OF, sondern die ganze Menschheit verraten. Hier war ich ein Au‐ ßenseiter – auf Terra wäre ich ein Aussätziger. Vielleicht gab es aber gar keinen Grund, von Eins zu flüchten, und meine Sorge um mein Wohlbefinden war völlig umsonst. Hyperbel hatte von Sinnrobotern gesprochen, die den üblichen Handlungs‐ robotern sehr ähnlich waren. Möglicherweise hatte ich es mit sechs Exemplaren dieser geheimnisvollen Robotergattung zu tun. Wurden sie Sinnroboter genannt, weil sie einem zeitweise die Sinne verwirr‐ ten…? Doch weshalb war es dann für Tangente eine Qual, sie nicht ein‐ setzen zu dürfen? Nein, ich lag wahrscheinlich völlig falsch mit meiner Annahme. Und trotzdem – irgend etwas stimmte mit diesem Sechsertrupp nicht. Es war nur so ein vages Gefühl, das ich nicht näher konkretisieren konnte. Die Kontrollroboter bildeten einen geschlossenen Kreis um mich, als befürchteten sie, ich würde ihnen weglaufen wollen. Gleichzeitig hielten sie einen passablen Sicherheitsabstand ein, wohl für den Fall eines überraschenden Angriffs meinerseits. Feiglinge! Genaugenommen war ja Tangente der Feigling – die Zentrale. Er
steuerte diese Roboter und übermittelte ihnen seine Befehle. Die gehirnlosen Maschinen handelten lediglich gemäß seinen Anwei‐ sungen, wie es sich für Handlungsroboter gehörte. »Die Zentrale muß dich überprüfen«, funkte mich einer der Ge‐ hirnlosen an. »Komm mit.« Ich war schon gespannt, wie die Zentrale von innen aussehen würde, und folgte dem Trupp. Leider brachten sie mich nicht zu Tangente, sondern zu einer schief stehenden, dicken, eineinhalb Meter hohen Metallsäule. Derlei Säulen gab es zu Abertausenden auf Eins; es handelte sich um Geräte zur direkten Datenübermittlung an die Zentrale. Einer der Schrottbots öffnete eine Klappe an der Säule, zog ein mehrgliedriges Kabel heraus und forderte mich auf, meine War‐ tungsklappe an der Brust aufzumachen. Ich kam der Anweisung nach und wurde mit dem Kabel verkoppelt. Dessen Anschlüsse modifizierten sich selbständig und paßten sich meinem Anschluß an. Innerhalb weniger Sekunden wurde eine Direktverbindung zwi‐ schen der Zentrale und mir hergestellt. »Wehr dich nicht gegen die Überprüfung!« warnte mich Tangente. »Sonst wäre ich gezwungen, dich an Ort und Stelle zu vernichten.« Auf welche Weise er seine Drohung wahr machen würde, sagte er nicht. Ich bezweifelte, daß er dazu überhaupt in der Lage war. »Ich öffne dir mein ganzes Ich«, versicherte ich ihm. »Schließlich habe ich nichts zu verbergen.« Trotz meiner Zusicherung schirmte ich mein tiefstes Inneres vor dem fremden Zugriff ab. Die Zentrale brauchte nicht alles über mich zu wissen; jeder hatte ein Recht auf seine kleinen Geheimnisse. Tangente überprüfte somit nur das, was ich zuließ – wie ein Kind, das voller Vorfreude in eine Riesentüte Bonbons langte, aber mit seinen kleinen Fingern nur ein paar wenige zu fassen bekam. Als Tangente der Meinung war, die Tüte sei leer, gab er den Kontrollrobotern den Befehl, mich wieder von ihm anzukoppeln. Er hatte meine Abschirmung nicht bemerkt.
Zweifelsohne war meine Konstruktion der seinen weit überlegen. Tangente sah das anders. »Du bist eine recht minderwertige Kons‐ truktion, Artus. Zwar bist du uns sehr ähnlich, doch wir verfügen über wesentlich mehr Wissen. Daß du nur zwei Sonnensysteme kennst, zeugt nicht gerade von hoher Intelligenz. Die Position der Erde und der Standort Babylon waren uns bereits vor deinem Ein‐ treffen bekannt.« »Ich komme halt nicht viel herum«, entgegnete ich. »Die Terraner nahmen mich nicht auf all ihren Reisen zu den Sternen mit. Euer Sonnensystem ist das dritte, das ich kennenlernen durfte.« Ich machte mich absichtlich kleiner als ich war – denn noch war ich nicht bereit, weitere Asse auszuspielen. Auf fremden Welten konnte man gar nicht genügend Karten in der Hinterhand behalten. * Aufgrund des zufriedenstellenden Überprüfungsergebnisses durfte ich mich nun offiziell überall auf Eins umsehen. Obwohl sich die sechs Kontrollroboter wieder entfernten, hatte ich weiterhin das Gefühl, von ihnen beobachtet zu werden. Wahr‐ scheinlich handelte es sich um Agenten der Zentrale, die man mit meiner Dauerbeschattung beauftragt hatte. Vermutlich waren sie mir deshalb die ganze Zeit über verdächtig vorgekommen. Ich hatte ein gewisses Verständnis für das Mißtrauen der Pla‐ netenbewohner. Schließlich war ich nicht nur auf Besuch gekommen – ich wollte laut eigenem Bekunden einer von ihnen werden. Aber wer garantierte ihnen, daß das stimmte? Ebensogut könnte ich ein Spion der Menschen sein, eingeschleust von der terranischen Re‐ gierung, um das Volk von innen heraus zu zerstören. Doch ich war nicht im Auftrag Trawisheims hier und auch nicht aufgrund geheimer Absprachen mit Ren Dhark. Ganz im Gegenteil, den beiden würde ich jetzt nur ungern in die Finger geraten. Über‐ läufer wurden auf Terra nicht gerade mit Sympathien überschüttet.
Hochverrat wurde hart bestraft. War ich im Sinne menschlicher Gesetze wirklich ein Verräter? Seit die Mannschaft der POINT OF nicht mehr der Terranischen Flotte angehörte, durfte ein unerlaubtes Verlassen der Truppe auch nicht mehr als Fahnenflucht eingestuft werden. Demnach konnte man mich schlimmstenfalls entlassen, mir fristlos kündigen – ein Raus‐ schmiß wie aus einer ganz normalen Firma. Und überhaupt: Hatte ich nicht das Recht, selbst meinen Auf‐ enthaltsort zu bestimmen, so wie jedes Lebewesen? Wenn ich par‐ tout nicht mehr auf der Erde wohnen wollte, stand es mir jederzeit frei, mir einen anderen Platz zum Leben zu suchen. Ob Eins allerdings der richtige Platz für mich war…? Die Stick‐ stoffatmosphäre tat mir ungeheuer gut, doch schon beim Überflug hatte ich die von der Erde her gewohnten bunten, lebendigen Ein‐ drücke vermißt. Für Menschen mußte diese Welt die reinste Hölle sein. Und für mich? Würde ich es hier lange aushalten? Viele Straßen waren mit Antigravtransportbändern versehen, so‐ genannten Gleitbändern. Sie führten mit hoher Geschwindigkeit in alle nur erdenklichen Richtungen, von einer Umsteigestation zur nächsten. Ihre Höchstgeschwindigkeit lag, wie ich blitzschnell er‐ rechnete, bei sage und schreibe 1000 km/h – was auf einer Roboter‐ welt allerdings kein Problem darstellte. Selbst abruptes Anhalten brachte keine der Maschinen zu Fall. Wohin sollte ich mich wenden? Wo gab es das meiste zu erleben? Ich trat mit Hyperbel in Funkkontakt. »Laß dich einfach treiben«, riet er mir. »Benutze die Gleitbänder zur Erkundung von Eins. Ich stoße später zu dir und führe dich ein bißchen herum.« »Klar doch«, erwiderte ich, erstaunt darüber, wie schnell Hyperbel begriffen hatte, was Humor war. Allein die bildliche Vorstellung, wie sich solch ein Koloß vom Himmel herabsenkte, um zielgenau auf einem der Antigravbänder zu landen, reizte mich fast zum Lachen. Seine Größe und sein Gewicht würden kilometerweit den gesamten
Fortbewegungsbetrieb lahmlegen. Nun ja, etwas Derartiges war glücklicherweise nicht zu befürchten. Hyperbels Aufenthalt in der Werft würde sich noch eine geraume Weile hinziehen. Ich suchte eine der zahlreichen Freiluftstationen auf. Damit man nicht während der Fahrt aufspringen mußte, hielten die Gleitbänder dort in regelmäßigen Abständen für circa eine Sekunde an. Natürlich nicht alle gleichzeitig. Zustiegsmöglichkeiten gab es in stetigem Wechsel, je nachdem, in welche Fahrtrichtung man wollte. Da ich kein bestimmtes Ziel hatte, betrat ich irgendein Band, das zufällig gerade stoppte. Innerhalb von Sekundenbruchteilen vereinte sich die Technik des Fahrbetriebs mit meiner, so daß ich fest und sicher auf den Beinen stand. Aus dieser »Symbiose« konnte ich mich jederzeit lösen. Die Fahrtgeschwindigkeit steigerte sich innerhalb weniger Au‐ genblicke auf mehrere hundert Stundenkilometer. Ich wartete drei Stationen ab und stieg dann um. Mein nächster Bandwechsel erfolgte bereits nach zwei Stationen, dann nach vier. Trotz der enormen Geschwindigkeit waren meine Sensoren in der Lage, die Umgebung gründlich abzutasten. Meine negativen Ein‐ drücke verstärkten sich allmählich. Zwar herrschte allerorts reges Treiben, dennoch schien nichts in dieser Welt richtig lebendig zu sein. Was mich am meisten verwunderte, war die hohe Anzahl von Schrottbots in den Straßen und Gassen. Sie waren fortwährend un‐ terwegs. Zu welchem Zweck? Was für wichtige Aufträge, welche Art von Botengängen hatten sie zu erledigen? Ich beschloß, meinen Weg zu Fuß fortzusetzen. Wer langsam ging, kam schließlich auch ans Ziel – und ich hatte nicht mal eines. * Auf Eins sah kein Gegenstand aus wie der andere. Nicht einmal serienmäßig hergestellte Handlungsroboter, die für denselben Ar‐
beitsbereich gebaut worden waren, glichen sich bis aufs I‐Tüpfelchen, irgendeinen Unterschied gab es immer. Dennoch hatte ich beim Anblick der riesigen Werften, Fabriken und sonstigen Bau‐ ten stets das Gefühl, schon mal an ihnen vorübergegangen zu sein – ein Widerspruch in sich, wie auch alles sonst in dieser widersprüch‐ lichen, bizarr‐obskuren Welt. Nichts auf der Oberfläche von Eins paßte richtig zusammen, trotzdem bildete sie eine Einheit, die den gesamten Planeten überzog. Eins war unwirklich und trotzdem real. Immer wieder stieß ich auf Raumschiffe aller Art, eines merkwür‐ diger gestaltet als das andere. Da sie sich um keinen Millimeter be‐ wegten, unterschieden sich manche von ihnen nur unwesentlich von den Gebäuden, zwischen denen sie gelandet waren. Was mir schon aus der Luft aufgefallen war: Spezielle Raumflughäfen oder Lande‐ plätze schien es auf Eins gar nicht zu geben, zumindest nicht in dem Gebiet, das Hyperbel mir gezeigt hatte. Jeder »parkte«, wie es ihm beliebte, wo halt gerade Platz war. Was für eine verrückte, verschrobene Welt! Und plötzlich gefiel sie mir wieder, trotz all der negativen Eindrücke. Mir fiel ein Satz ein, den Hyperbel im Zusammenhang mit Tan‐ gentes Bestrafung gebraucht hatte: »Um ihn herum vergnügen sich die Planetenbewohner auf alle nur erdenkliche Weise – und er darf lediglich zuschauen, nicht mitmachen.« Für mich hatte sich das angehört, als würde sein Volk in einem fort fröhliche Feste feiern. Aber all die Raumschiffmonstren lagen nur reglos auf ihren Landeplätzen, ohne die geringsten Anzeichen von Ausgelassenheit. Rundum wimmelte es lediglich von geschäftigen Handlungsrobotern. Fazit: Es gab hier offenbar viel Arbeit, aber null Spaß. »So, von mir aus kann es losgehen«, wurde ich plötzlich von hinten angesprochen. »Ich kann es kaum erwarten.« Ich drehte mich verwundert um. Mir gegenüber stand ein ganz gewöhnlicher Schrottbot. So hatte es zumindest den Anschein. Erst beim zweiten Hinsehen/Abtasten fiel mir auf, daß es sich um
eine besondere Art von Handlungsroboter handelte, um ein feinsin‐ niger gestaltetes Exemplar, das ich auf Anhieb keinem bestimmten Arbeitsbereich zuordnen konnte. Es unterschied sich von den übli‐ chen Arbeitsrobotern wie ein menschlicher Sonntagsausgehanzug von schlichter Straßenkleidung. Neugierig geworden nahm ich andere Roboter, die an mir vor‐ überschwebten, näher in Augenschein. Ganz offensichtlich waren die Ausgehroboter (wie ich die »besseren Exemplare« vorerst aus Wissensmangel nannte) in der Mehrzahl. Nur ab und zu war ein normaler, von To‐Richtfunk gesteuerter Arbeitsroboter dazwischen. Auch das Modell, das mich angesprochen hatte, wurde fern‐ und funkgesteuert. Es war von schlanker Statur, verfügte über einen einzelnen langen, mit mehreren Gelenken ausgestatteten Greifarm und schwebte auf einer runden, festmontierten Antigravplatte. Beine waren keine vorhanden. Auf dem schlanken Roboterkörper befand sich ein würfelförmiger Kopf, der sich in einem fort drehte. An dem mit Technik vollgestopften Würfel waren rundum diverse Sensoren angebracht. Der Kubus war sozusagen das Hirn des Roboters. Ver‐ mutlich würde ein Abtrennen des Kopfes die Funkverbindung zu seinem Eigentümer rigoros unterbrechen. Keiner der Ausgehroboter sah wie der andere aus, auch nicht grob umrissen. Während man die Arbeitsroboter zumindest bestimmten Tätigkeitsbereichen zuordnen konnte, unterschieden sich die Aus‐ gehroboter erheblich voneinander. Das hing wohl, so schätzte ich, mit dem jeweiligen persönlichen Geschmack des Eigentümers zu‐ sammen; einige von ihnen hatten ihrer Phantasie ungehemmt freien Lauf gelassen. »Was ist nun?« fragte mich der Würfelköpfige. »Hast du keine Lust auf etwas Spaß?« »Bist du sicher, daß du mich nicht mit jemandem verwechselst?« stellte ich ihm die Gegenfrage. »Wem gehörst du?« Wir kommunizierten teils per Funk, teils per Sprachausgabe mi‐ teinander, unter Zuhilfenahme unserer eingebauten Translatoren.
»Ich gehöre niemandem«, antwortete er mir. »Ich bin Hyperbel. Oder besser gesagt einer seiner Sinnroboter.« Aha, das ist also ein Sinnroboter! ging es mir durch den Nexus – und damit war meine frei erfundene Bezeichnung »Ausgehroboter« schlagartig gestorben. »Präziser ausgedrückt«, verriet mir der Sinnroboter und versetzte mich damit erneut in Erstaunen, »Hyperbels Sinne sind in mir ver‐ eint. Es gibt übrigens noch ein paar von meiner Sorte, die fast ge‐ nauso gestaltet sind wie ich. Jeder aus dem Volk verfügt über meh‐ rere Sinnroboter, für den Fall, daß mal einer davon zerstört wird oder man an verschiedenen Orten gleichzeitig Spaß haben möchte. Ich schlage vor, du nennst mich H‐l.« Man lernt nie aus – dieser auf Terra vielzitierte Ausspruch traf voll und ganz auf mich zu. Trotz meines verhältnismäßig kurzen Daseins hatte ich schon viel erlebt und daraus meine Lehren gezogen. Den‐ noch kannte ich noch längst nicht alles… Bisher war mir noch nie eine Spezialmaschine begegnet, deren einziger Zweck darin bestand, ausgelassenen Privatvergnügungen nachzugehen, eine Sause zu machen, sich auf Teufel komm raus zu amüsieren – anstelle des Eigentümers (sozusagen im Namen des Herrn), weil der zu schwerfällig war, um selbst Party zu machen. Auf Eins gab es solche Spezialmaschinen zu Tausenden. Man nannte sie Sinnroboter, weil sie die Fähigkeit besaßen, ihre Empfindungen an die Sinne ihrer Erschaffer weiterzuleiten. »Je mehr Spaß du hast, H‐l, um so mehr hat auch Hyperbel, rich‐ tig?« faßte ich das Ganze nochmals zusammen, während der wür‐ felköpfige Roboter und ich auf einem Gleitband dahinrasten. »Ihr beide teilt euch eure sinnlichen Empfindungen.« »Fast richtig«, schränkte H‐l ein. »Genaugenommen empfindet nur Hyperbel etwas – aber eigentlich auch ich, denn ich bin ja Hyperbel.« Das hörte sich logisch an – aber eigentlich auch nicht. Ich hatte keine Ahnung, wohin wir fuhren. H‐l hatte die Führung übernommen und gesagt: »Laß dich überraschen.« Normalerweise
liebte ich Überraschungen, allerdings nicht auf fremden Welten, deshalb war ich vorsichtshalber auf alles gefaßt. Mein seltsamer Begleiter und ich stiegen mehrmals um. Ich hatte den Verdacht, daß mich H‐l absichtlich kreuz und quer durch die Gegend lotste, um mich zu verwirren. Wollte er verhindern, daß ich zur Werft zurückfand…? Falls ja, war seine Mühe umsonst, denn dank meiner robotischen Fähigkeiten konnte ich mich gar nicht ver‐ laufen, ganz gleich, wo ich war. Ich konnte die Strecke jederzeit in mir abrufen und sie problemlos zurückverfolgen, Zentimeter für Zentimeter, falls es sein mußte. Naja, vielleicht war ich nur viel zu mißtrauisch. Wir bestiegen ein besonders breites Gleitband, das bereits gut be‐ setzt war. Es transportierte uns und andere Roboter dichtgedrängt zu einem mächtigen metallenen Gebäudekomplex, einem gigantischen Etwas, hoch wie ein Gebirge. Schon von weitem wirkte es grotesk, so als habe man Hunderte, vielleicht sogar Tausende von absonderlichen Häusern und Hallen wahllos aufeinandergestapelt. Als wir näherkamen, verstärkte sich mein erster Eindruck noch. Der bizarre Gebäudeberg war eigenartig, war eigenwillig, war… PHANTASTISCH! Von allen Seiten führten Transportbänder auf diesen Komplex zu, und jedes Band war vollgestellt mit Sinnrobotern, so als ob sie von dem Berg magisch angezogen wurden. Auch ich konnte mich seinem Zauber nicht entziehen. »Das Center gibt es nur hier, auf unserer Zentralwelt«, informierte mich H‐l. »Zwar existieren auch auf einigen unserer Stationswelten Vergnügungszentren, doch die sind wesentlich unscheinbarer.« »Der Berg ist… ein Vergnügungszentrum?« fragte ich ungläubig. »Verstehe, der Roboter lebt nicht vom Schmieröl allein.« »Du redest zwar manchmal merkwürdiges Zeug, aber du bist ein prima Kerl«, erwiderte der Würfelköpfige. »Du hättest zu keinem besseren Zeitpunkt nach Eins kommen können. Das Center ist stets
gut besucht, doch heute strömen besonders viele Angehörige unse‐ res Volkes hierher, sogar von weit entfernten Stationswelten. Die Raumflughäfen sind überlastet, so daß viele von uns auf alternative Landeplätze ausweichen mußten. Glücklicherweise ist Eins groß genug, es findet sich überall ein Abstellplatz.« Je näher wir dem Berg kamen, um so stärker durchströmte mich eine überaus angenehme Vorfreude. Ich fühlte mich glücklich, ohne daß es dafür einen besonderen Grund gab. All die zahllosen Roboter, die das gleiche Ziel hatten wie ich, er‐ weckten in mir ein intensives Gemeinschaftsgefühl. Ich verspürte das Bedürfnis, den geschützten Zugang zu den verborgenen Teilen meines Ichs freizugeben, damit mich jeder so sehen konnte, wie ich war… »Öffne deine Sinne«, ermunterte mich H‐l. »Alle – ansonsten hast du nur den halben Genuß.« »Bei den Menschen habe ich gelernt, daß zuviel Offenherzigkeit mitunter schamlos ausgenutzt wird«, erklärte ich ihm meine Zu‐ rückhaltung. »Du bist nicht mehr unter den Menschen«, entgegnete H‐l. »Je eher du dich daran gewöhnst, um so schneller vergißt du sie. Aus diesem Grund nehme ich dich ja mit auf das Fest, damit du auf andere Ge‐ danken kommst.« »Welches Fest?« »Jeder großen Aufgabe geht ein zügelloses Fest voran – so ist es beim Volk seit Ewigkeiten Sitte.« »Und vor welcher großen Aufgabe steht euer Volk?« »Das wirst du erfahren, sobald du bewiesen hast, daß du es wirk‐ lich wert bist, ins Vertrauen gezogen zu werden, genauer gesagt, sobald du einer von uns geworden bist. Bisher ist über deine Auf‐ nahme in unseren Kreis noch nicht entschieden worden. Vielleicht ändert sich das ja nach dem Fest. Du wirst im Center viele interes‐ sante Persönlichkeiten kennenlernen. Und wenn ich kennenlernen
sage, dann meine ich auch kennenlernen.« Der letzte Satz klang geheimnisvoll, fast schon bedrohlich. Trotz‐ dem wäre ich selbst für alles Gold der Welt jetzt nicht mehr umge‐ kehrt. Es gab eh kein Zurück mehr; das Gleitband zog mich regel‐ recht ins Center hinein, als würde der Berg mich verschlucken. Es gab zahlreiche Einfahrten, die in verschiedene Gebäudeteile führten. Laut H‐l war es völlig egal, von welcher Seite her man das Center betrat. »Es gibt da drinnen so viel zu bestaunen und zu erleben, daß du unmöglich überall mit dabeisein kannst. Am besten, du gehst einfach drauflos und genießt das, was dir am besten gefällt. Hauptsache, du findest dich später im Säulensaal ein, wenn zur großen Abschluß‐ veranstaltung aufgerufen wird.« »Und wie gelange ich in den Säulensaal?« erkundigte ich mich. »Den kannst du gar nicht verfehlen, weil sich alle Feiernden nach dorthin begeben werden«, antwortete H‐l. »Im übrigen sendet die Hauptsäule ein Leitsignal aus.« Unser Transportmittel hielt an einer von vielen Endstationen, ir‐ gendwo tief im Inneren des gewaltigen Gebäudekomplexes. H‐l und ich lösten uns aus dem Gleitband und betraten wieder festen Boden. »Von jetzt an bist du auf dich selbst gestellt«, teilte mir Hyperbels Sinnroboter lakonisch mit. »Du läßt mich allein?« fragte ich ihn erstaunt; ich hatte gehofft, er würde mich etwas herumführen. »Im Center ist man niemals allein«, erwiderte H‐l. »Hier schließt man schnell Freundschaften. Wir sehen uns auf der Ab‐ schlußveranstaltung .« Mit diesen Worten entschwand H‐l in der Menge. Trotz der unendlichen Roboterströme kam ich mir ein bißchen verloren vor. Als sich hinter mir der Zugang zu einem Antigrav‐ schacht auftat, bestieg ich ihn kurzerhand und schwebte nach oben – ohne zu wissen, was mich dort erwartete…
* Erwartungsvoll verließ ich den belebten Antigravschacht in einer x‐beliebigen Etage. Ich war auf alles gefaßt – nur nicht auf eine Ro‐ boter‐Diskothek. Schon gar nicht auf eine, in der terranische Kom‐ positionen gespielt wurden. Musik bedeutete mir sehr viel. In meinen Speichern lagerte das unterschiedlichste Liedgut, jederzeit abrufbereit. Erst kürzlich hatte ich in meinem Privatquartier auf der POINT OF zwei Songs von zwei legendären Countrysängern immer und immer wieder abgespielt, stundenlang, im stetigen Wechsel, weil sie einfach zu schön waren: Give my love to rose und Wedding bells von Johnny Cash und Hank Williams. Später hatte ich zusätzlich eine deutsche Band namens The Lords mit ins Programm genommen, mit meinem Lieblingstitel The old gang of mine. Das war für mich Spaß hoch drei! Daß hier in der Robodisko genau diese drei Titel gespielt wurden, und zwar alle gleichzeitig (!), wunderte mich doch sehr. Woher wußten die Betreiber des Centers, welche Art von Musik ich mochte? – Nebenbei bemerkt: Selbstverständlich stellte es für mich kein Problem dar, die Songs auseinanderzuhalten. Meinethalben hätte man einhundert Musikstücke auf einmal abspielen können, ich hätte sie alle exakt benannt, mitsamt ihren Komponisten. Die nahezu überfüllte Tanzfläche war in farbige Lichter gehüllt. Das Verhalten der Tänzer fand ich überaus seltsam. Obwohl es sich bei den drei Songs um romantische Liebeslieder handelte, bewegten sich einige der Sinnroboter wie zu fetzigem Rock’n’roll. Andere wiederum vollzogen schunkelartige Bewegungen, die ebenfalls nicht mit dem Rhythmus der Musik übereinstimmten. Allmählich begriff ich, was hier vor sich ging. In dieser au‐ ßergewöhnlichen Diskothek empfing jeder Sinnroboter mit seinen akustischen Sensoren ausschließlich die Töne, die er bezie‐ hungsweise sein nicht anwesender Großrechner am meisten liebte. Die Tänzer hörten das, was sie gern hören wollten und was sie ver‐
zückte: exotische musikalische Klänge, wilde Rhythmen, zärtliche Melodien, vielleicht sogar kreischende Geräusche oder sonstige gräßliche Laute, die ich persönlich als unangenehm empfinden würde – so wie der eine oder andere hier im Raum möglicherweise Johnny Cash nicht mochte (was für mich allerdings nur schwer vor‐ stellbar war). Beim Anblick der tanzenden Roboter dachte ich daran, daß die Menschen in solchen Fällen von »Rhythmus im Blut« sprachen. Of‐ fensichtlich gab es auch »Rhythmus in den Chips« oder »Rhythmus in den Scharnieren«. Ich gesellte mich nicht zu den Tänzern. H‐l alias Hyperbel hatte mir versichert, es gäbe im Center viel zu bestaunen und zu erleben, davon wollte ich so wenig wie möglich versäumen. Die Tanzerei hätte mich nur unnötig Zeit gekostet – obwohl ich richtig Lust bekam mitzumachen. Überhaupt hatte mich seit Betreten des Centers so eine Art Mit‐ machgefühl befallen. Ich hatte nicht einmal den Hauch einer Ah‐ nung, was mich in den übrigen Häusern und Hallen erwartete, wünschte mir aber nichts sehnlicher, als immer tiefer in das Metall‐ gebirge einzudringen und nach lustvollen Vergnügungen Ausschau zu halten. Ich wandte mich um und bestieg erneut den nach oben führenden Antigravschacht. Zwar war es durchaus möglich, daß ich mich in den unteren Etagen weitaus besser amüsieren würde, doch ich war schon immer ein Typ, der hoch hinauswollte.
15. Ein schmuckloser Raum, Stahlrohrsessel vor vier Suprasen‐ sor‐Konsolen, an einer Wand ein Porträt von Albert Einstein, an der Wand gegenüber ein großes Farbposter, das den Andromedanebel zeigte, kein Fenster. Man sah dem Raum nicht unbedingt an, daß er zum Hochsicherheitstrakt des Forschungsinstituts unter der Raum‐ fahrtakademie von Alamo Gordo gehörte. Sie arbeiteten zu viert dort unten, jeder an seinem Suprasensor. Der lange Desmond Ford wie immer mit Ohrstöpseln. Ohne Musik zu arbeiten sei wie allein zu schlafen, pflegte der Sechzigjährige zu sa‐ gen. Am Rechner daneben Emilio Estrada. Knapp fünfzig Jahre alt war er und hatte einen hübschen braunen Glatzkopf. Die Tabellen im Hologramm seines Suprasensors fixierte er so feindselig, als hätten sie ihn gerade persönlich beleidigt. Doch das hatte weiter nichts zu bedeuten, Emilio guckte öfter mal ein wenig unwirsch aus seinem weißen Overall. Auf der anderen Seite des Raumes, vor den anderen beiden Sup‐ rasensoren, ein Mann und eine Frau. Sie vielleicht Mitte Dreißig, schmalgesichtig, mit Haar wie ein schwarzer Seidenschleier und von einer gereiften Schönheit, deren Gefährlichkeit sich nur erfahreneren Männern auf Anhieb erschloß. Demi Hoffman hatte jedoch kein Interesse an erfahreneren Män‐ nern. Der Mann am Rechner neben ihr – alle zwei Minuten lächelte sie ihn von der Seite an – war ein hagerer Bursche Ende Zwanzig. Sein dunkelblondes, drahtiges Haar sah aus, als würde er es ausschließ‐ lich mit den Fingern zu kämmen versuchen. Der Stoppelbart verlieh seinem knochigen Gesicht einen verwegenen Ausdruck, doch das war ihm nicht bewußt. Insgesamt wirkte er unausgeschlafen und verkatert, auch das war ihm nicht bewußt. Ein Schotte namens Ca‐
rus. Ian Carus. »Himmel über Alamo Gordo, was für ein öder Job!« stöhnte Demi Hoffman schon zum dritten Mal an diesem Nachmittag. »Was für eine Schnapsidee vom Chef, all diese Sternendaten zu sammeln!« Wieder lächelte sie zu Carus hinüber, diesmal ein wenig säuerlich. Und diesmal lächelte er zurück, und das keineswegs säuerlich. »Du bist undankbar«, knurrte Emilio hinter ihnen. »Keine Schnapsidee, sondern der einzige Weg. Du solltest dich glücklich schätzen, an der Rettung der Menschheit mitarbeiten zu können.« Der Filipino meinte das ernst. »Leck mich«, zischte Demi. Desmond Ford, den sie auch den Boß nannten, sagte gar nichts. Bis gestern hatte er übrigens noch an Demis Platz neben Ian Carus gesessen. Auch die Wochen zuvor, in denen Carus noch ein freier Mann und die Existenz dieses Hochsicherheitstraktes ihm noch gnädig verborgen war, hatte der Boß schon an diesem Platz gear‐ beitet. Gestern behauptete er plötzlich, eine Wasserader würde ir‐ gendwo tief unter dem Fundament der Raumfahrtakademie direkt unter seinem Arbeitsplatz vorbeiziehen, das würde ihn nervös ma‐ chen und er müsse mit Demi tauschen. Wenn er jemanden zum Wetten fände, hätte Carus einen Trans‐ mitterdurchgang nach Eden darauf gesetzt, daß Demi Hoffman den Boß bestochen hatte. Was der schönen Mrs. Hoffman hin und wieder zum Stöhnen An‐ laß gab, füllte seit drei Tagen das Hologramm ihres Suprasensors, und zwar ordentlich sortiert in vierzehn Tabellenspalten und mitt‐ lerweile unzählbaren Tabellenzeilen. In den Spalten fanden sich Angaben zu vierzehn Parametern, die eine Sonne charakterisierten. Also Koronadurchmesser, Oberflächentemperatur, Anzahl der Pro‐ tuberanzen, Koronatemperatur, Anzahl und Ausdehnung von Son‐ nenflecken und so weiter und so fort. In den Tabellenzeilen der ers‐ ten Spalte standen die Namen der jeweils untersuchten Sterne. »Wie viele Sonnen gibt es eigentlich im Umkreis von 150 Lichtjah‐
ren?« fragte sie den Mann neben ihr. »Nicht viele.« Der Schotte zuckte mit den Schultern. »Höchstens zwanzigtausend.« Schon wieder stöhnte sie. Er beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Sie hatte einen großen Mund und volle Lippen. Seit gestern war er auch irgendwie nervös – seit Demi mit dem Boß die Plätze getauscht hatte. Und das lag garantiert an keiner Was‐ serader. Die Sache mit den Tabellen und den Sonnen im Umkreis von 150 Lichtjahren war eine Idee vom Chef; also von Professor Monty Bell. Der hatte ein Programm geschrieben, das, in den Hyperkalkulator eines Schiffes integriert, die vierzehn wesentlichen Meßparameter jedes Sternes erfaßte und speicherte, an dem das entsprechende Schiff nahe und lange genug vorbeiflog. Bell hatte den Commander der Planeten Trawisheim solange bekniet, bis der jeden Komman‐ danten der Flotte verpflichtete, dieses Programm in seinem Bord‐ rechner zu installieren. Dieser Befehl und die Installation, das waren die einzigen Punkte, an dem ein Schiffskommandant mit Bells Programm in Berührung kam. Danach konnte er es wieder vergessen. Es machte seinen Job vollkommen selbständig, schickte sogar die Ergebnisse seiner Mes‐ sungen selbständig per Richtfunk an Bells Forschungsinstitut. Und das war gut so. Niemand in der Flotte sollte sich den Kopf darüber zerbrechen müssen, warum um alles in der Welt jeder längst katalogisierte Stern schon wieder untersucht werden mußte. Nie‐ mand sollte sich vorläufig mit der Frage belasten müssen, ob mög‐ licherweise mit der heimatlichen Sonne etwas nicht stimmte. Niemand sollte darüber erschrecken, daß sie im Sterben lag, bevor es nicht unbedingt sein mußte. Wenn es sich dann nicht mehr ver‐ bergen ließ, würde es noch schwer genug werden, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Die vier Menschen in dem schmuck‐ und fensterlosen Raum unter der Raumfahrtakademie wußten hingegen genau, daß die heimatli‐ che Sonne Sol im Sterben lag. Oder sagen wir: Sie hatten die ent‐
sprechenden Informationen. Im Augenblick wußten sie nur, daß der Job sie anödete oder daß die Musik vor hundert Jahren noch von anderem Kaliber war als heutzutage oder daß es Zeit für eine Pause und oder viel zu kalt für die Jahreszeit war. Demi wußte, daß der Mann aus Schottland schöne, sehnige Hände hatte und daß keine drei Tage mehr vergehen durften, bis diese Hände sie endlich berührten. Man konnte schließlich nicht pausenlos an sein Ende denken. Wie sollte man da noch vernünftig arbeiten können? Durch die Hologramme vor den Menschen im Kellerraum unter der Raumfahrtakademie glitten also die Tabellen mit den Daten zahlloser Sterne aus der näheren und nahen Umgebung der Sonne. Sie werteten die Daten aus. Bell hatte eine hohe mathematische Wahrscheinlichkeit zu einer uralten These errechnet, an die der junge Schotte erinnert hatte. Wenn Energie irgendwo verschwand, mußte sie an einem anderen Ort wieder auftauchen. Konkreter: Wenn die Masse und die Energie der Sonne abnahmen, mußten sie an einem anderen Punkt im Kos‐ mos wieder auftauchen. Nach diesem anderen Punkt suchten sie. Zur Auswertung des nicht abreißenden Datenstromes von den Schiffen der Flotte benutzten sie ein Programm, das Ian geschrieben hatte. Nur Ian selbst benutzte es nicht. In seinem Hologramm gab es zwar auch Tabellen, aber er beschäftigte sich mit etwas anderem. Sicher – auch mit der Frage nach der tieferen Bedeutung seiner Nervosität Demi gegenüber. Oder mit der Frage, was er tun mußte, um auch außerhalb dieses schmuck‐ und fensterlosen Raumes Demis Gegenwart genießen zu können. Und klar, auch mit der Tatsache, daß Frauen im ehemaligen britischen Königreich einfach anders drauf waren als Demi, irgendwie zurückhaltender. Vor allem aber beschäftigte er sich mit der Suche nach den Daten eines ganz be‐ stimmten Sterns. Bevor er mit Hilfe seines schlauen Programms all die hunderttausend Daten all der zehntausend Sterne auswertete, wollte er den aktuellen Datenbestand dieses einen Sternes sehen.
Von der Seite spürte er Demis Blick. Er wettete mit sich selbst, daß sie wieder lächelte. Er blickte zu ihr, und er hatte gewonnen: Sie lächelte tatsächlich. Um seiner Nervosität und den nervenden Fra‐ gen im Hinblick auf Demi endlich Schach bieten zu können, nahm er sich vor, sie zu fragen, ob sie am Abend schon etwas vorhatte. Wenn sie nein sagte, er also ein Restaurant, ein Kino oder ähnliches vor‐ schlagen konnte, und sie dann ja sagte, würde er sich endlich ganz auf die Suche nach dem einen Stern konzentrieren können. »Hör mal, Demi«, setzte er an. »Was ich dich fragen wollte…« In diesem Moment ging die Tür auf, und der Chef kam herein. * »Haben Sie schon die Nachrichten gehört?« fragte Bell. »Es war der kälteste Sommer in der Region, seit Wetterdaten aufgezeichnet werden. An ganzen zwei Tagen stieg das Thermometer in Alamo Gordo bis auf zwanzig Grad. Stellen Sie sich das einmal vor: zwanzig Grad! An zwei Tagen! Sonst haben wir hier fünfunddreißig und vierzig Grad!« Monty Bell lehnte sich gegen die Wand neben der Tür, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. »Ich denke immer: Ist halt mal ein Scheißsommer, nächstes Jahr wird’s wieder besser.« Emilio drehte seinen Sessel um hundertacht‐ zig Grad, schlug die Beine übereinander und sah seinen Chef an. »Irgendwie will’s gar nicht in meinen Schädel, daß es zu Ende geht.« »Das ist auch gut so«, sagte Ian. »Wenn das in deinen Schädel ging, hätte nichts anderes mehr Platz darin. Die Hoffnung zum Beispiel und der Wille zur Arbeit gegen den Untergang.« »Gut gebrüllt, Löwe.« Bell seufzte. Er stieß sich von der Wand ab und kam zu Ians und Demis Arbeitsplätzen. »Aber manchmal sinkt selbst bei mir die Hoffnung gegen null, Carus.« Er stützte sich neben Ian auf dessen Bildkonsole. »Gestern zum Beispiel. Haben Sie nicht den Bericht über den Wintereinbruch in Buenos Aires gesehen? Die Stadt versinkt im Schnee, mindestens achthundertdreißig Tote…!«
»Ich habe davon gehört, Professor«, sagte Ian. »Aber ich gucke mir sowas nicht an. Bewußt nicht.« »Hey, Carus!« Monty Bell deutete auf Ians Hologramm. In den Datenreihen rührte sich nichts. »Machen Sie gerade Pause?« »Nein, Sir.« Aus den Augenwinkeln nahm er Demis Blick wahr. Diesmal lächelte sie nicht. Bell drehte eine Runde durch den Raum, blieb hinter jedem kurz stehen und kam dann zu Ian zurück. »Alle werten die eingehenden Daten mit Ihrem Programm aus, nur Sie nicht. Können Sie mir das erklären, Carus?« »Selbstverständlich, Sir. Es kostet zuviel Zeit. Ich suche nach den Daten eines bestimmten Sterns, nach den Daten von Proxima Cen‐ tauri.« »Oh, mein Gott, Carus! Ich hielt euch Schotten immer für be‐ sonders systematisch! Statt einen Stern nach dem anderen als Ursa‐ che für den Masseverlust unserer Sonne auszuschließen, ver‐ schwenden Sie Ihre Zeit und suchen nach einem einzigen Stern. Das hat doch keinerlei Methode! Nennen Sie das vielleicht wissenschaft‐ lich arbeiten?« »Hm…« Ian vergrub die Finger in seinem störrischen Haar und schabte sich den Hinterkopf. »Methodisch ist das nicht, stimmt schon.« Er wandte sich seinem Chef zu. In dessen Zügen lauerte der Zweifel. In seinem Nacken spürte er Demis Blicke. Sie machten ihn im Augenblick nicht mehr nervös, im Gegenteil: Auf einmal beru‐ higten sie ihn. »Aber es scheint mir ein durchaus logischer Arbeits‐ ansatz zu sein.« Monty Bell zog sich einen leeren Sessel heran und nahm neben Ian Platz. »Also gut, Ian. Erklären Sie mir, was daran logisch sein soll.« »Stellen Sie sich vor, Sie gehen in der Altstadt von Alamo Gordo über den Marktplatz.« Ian sah, daß Emilio aufstand und sich neben den Professor stellte. Er verschränkte die Arme vor der Brust und setzte eine halb entrüstete, halb neugierige Miene auf. »In der Mitte des Marktplatzes steht der Stand eines Blumenhändlers. Sie wollen
Ihrer Freundin ein paar Rosen kaufen und zücken Ihre Briefta‐ sche…« Desmond Ford schwang seinen Sessel herum und zog den Kopfhörer aus seinem rechten Ohr. Er grinste erwartungsvoll. »… während Sie bezahlen, fällt eine Münze herunter. Wo suchen Sie die Münze zuerst – am Lederwarenstand auf der rechten Seite des Marktplatzes, auf der Vortreppe zur Kathedrale auf der linken Seite des Marktplatzes oder zwischen den Blumeneimern des Blu‐ menhändlers?« Emilio runzelte die Stirn, als würde er ernsthaft über die Frage nachdenken. Der Boß grinste, steckte den Kopfhörer ins rechte Ohr zurück und wandte sich wieder den Tabellen im Hologramm zu. Monty Bell schürzte die Lippen, senkte den Blick und nickte lang‐ sam. So saß er eine Zeitlang und sagte nichts. Emilio ging zu seinem Arbeitsplatz zurück. »Okay, Carus, okay.« Bell räusperte sich. Der Mann aus Schottland hatte ihn schon zu oft überrascht, als daß er seine Ideen einfach so vom Tisch wischen konnte und wollte. »Was im Universum ir‐ gendwo verschwindet, muß irgendwo wieder auftauchen – darin sind wir uns einig. Und Sie glauben nun, wenn Sonnenmasse ver‐ schwindet, taucht sie am ehesten in der unmittelbaren Nachbarschaft wieder auf?« »Korrekt, Sir. Und deswegen will ich die aktuellsten Daten von Proxima Centauri sehen.« Monty Bell schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Carus. Das wäre zu einfach…« »Die einfachsten Lösungen sind oft die besten, Sir.« »Ich hab hier ein Dossier über Proxima Centauri in mein Ho‐ logramm geholt«, sagte Demi Hoffman auf einmal. Ian schwang seinen Sessel zu ihr herum, der Professor stand auf und sah ihr über die Schulter. Ein kleiner roter Stern stand in der Bildkugel. »Vier bedeutungslose Wüstenplaneten ohne Atmosphäre«, las sie aus dem Text vor. »Die Sonne leuchtet so schwach, daß man sie von der Erde aus mit bloßem Augen nicht erkennen kann. Dabei ist sie nur 4,3
Lichtjahre entfernt. Die Sterndaten selbst sind über siebzig Jahre alt…« »Ich hab den bisher eingegangenen Datenbestand nach dem Stichwort Proxima Centauri durchsuchen lassen!« sagte Desmond Ford über die Schulter. »Fehlanzeige! Von der erdnächsten Sonne wurden noch keine Daten erhoben!« Er sprach viel zu laut. Wahr‐ scheinlich, weil ihm seine Steinzeitmusik in den Ohren dröhnte. Demi und Ian sahen den Professor erwartungsvoll an. »Sie haben es ja selbst gelesen.« Bell deutete auf Demis Hologramm. »Ein paar Geröllwüsten und ein sterbender Stern. Das Nachbarsystem ist ein‐ fach uninteressant für uns. Die Flotte fliegt es nicht an. Niemand fliegt in seine Nähe, denn es liegt nicht an den Hauptflugrouten.« »Jetzt muß es aber jemand anfliegen, Sir«, sagte Ian. »Wir brauchen nämlich die aktuellen Daten. Ausgerechnet die Werte von Proxima Centauri zu vernachlässigen wäre ein gravierender methodischer Fehler.« Bell seufzte tief. »Okay, Carus. Sie haben gewonnen.« Er aktivierte sein Armbandvipho. »Verbinden Sie mich mit dem Flottenober‐ kommando.« Zwanzig oder dreißig Sekunden verstrichen, dann erschien ein massiges, rötliches Gesicht im Kleinmonitor: Marschall Bulton, der Oberbefehlshaber der Terranischen Flotte. Die Männer begrüßten sich. »Paß auf, Ted«, sagte Monty Bell. »Du mußt mir einen Gefallen tun…« Wie es seine Art war, fiel Bell sofort mit der Tür ins Haus. »Schicke einen S‐Kreuzer, der das neue Sternenerfassungsprogramm instal‐ liert hat, auf irgendeinen Übungsflug, ganz egal wohin, nur muß der Kurs ein halbes Lichtjahr an Proxima Centauri vorbeiführen… Pro‐ xima Centauri, genau… ein halbes Lichtjahr reicht für die vollauto‐ matische Datenerfassung, die Besatzung braucht ja nicht zu merken, worum es wirklich geht… also gut, Ted, du bekommst deine Erklä‐ rung. Hör gut zu…« Bell stand auf und begann im Raum auf‐ und abzulaufen, während er dem Flottenmarschall den Grund seiner
Bitte verkaufte. Demi beugte sich zu Ian und sagte leise: »Was ich dich fragen wollte, Ian, hast du nicht Lust, heute abend mit mir zu essen?« Der Schotte glaubte nicht recht zu hören. »Oh, eine gute Idee, doch…« Er gab sich redlich Mühe, seine Verblüffung zu verbergen. »Und an welches Restaurant hast du gedacht?« »Komm zu mir nach Hause.« Sie lächelte verheißungsvoll. »Ich koche uns was Feines…« * Am Tag darauf kamen sie erst am frühen Nachmittag ins Institut. Und sie kamen zusammen. Der Professor hatte eine Vorlesung oben in der Raumfahrt‐ akademie, aber selbst wenn er das Paar gesehen hätte, wie es Arm in Arm und ohne Eile an der Sicherheitsschleuse auftauchte, wäre er der letzte gewesen, der ein kritisches Wort verloren hätte. Monty Bell legte größten Wert darauf, daß die Arbeit erledigt wurde, die zu erledigen war. Wann sie erledigt wurde, ob zwischen Sonnenauf‐ gang und Sonnenuntergang oder zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang, das war ihm gleichgültig. Davon abgesehen wußte Desmond Ford Bescheid. Sie hatten ihn von Demis Apartment aus angerufen. Gemeinsam gingen sie nach dem Sicherheitscheck hinunter in die unterirdischen Räume des Instituts, wo sich ihre Suprasensorplätze befanden. In dem schmuck‐ und fensterlosen Raum duftete es nach Kaffee. Emilio wandte kurz den Kopf, nickte und brummte einen Gruß, bevor er sich wieder der Tabelle in seinem Hologramm zuwandte. Noch immer kamen neue Daten von Schiffen der Flotte herein; wenn auch nicht mehr so viele wie vor zwei Tagen noch. Ian füllte Kaffee in zwei Becher, und Demi nutzte die Zeit, in der ihr Suprasensor hochfuhr, um ihre Lippen nachzuziehen. Der lange
Desmond Ford drehte sich nach Ian um, zog den Kopfhörer aus dem rechten Ohr und rief: »Die Daten sind eben reingekommen!« »Was für Daten?« Ian löffelte Zucker in seinen Kaffee. Dabei beo‐ bachtete er Demi mit seltsam mildem Lächeln. »Aufstehen, Mr. Carus!« rief Desmond. »Die aktuellen Daten von Proxima Centauri!« Er steckte den Kopfhörer zurück in sein Ohr und konzentrierte sich wieder auf seine Arbeit. »Gib den Sternennamen unter Suchen ein, dann hast du sie!« Desmond schrie, und Ian zog die Schultern hoch. So kurz nach dem Aufstehen konnte er laute Menschen nicht ertragen. Mit den Bechern voll dampfenden Kaffees in den Händen ging er zu seinem Arbeitsplatz. Er stellte Demi ihren Kaffee hin und schal‐ tete seinen Suprasensor ein. »Danke.« Demis verträumte Stimme veranlaßte Emilio, sich nach ihr umzudrehen. Er runzelte die Stirn und guckte, als wollte er sich vergewissern, ob es wirklich Demi Hoff man war, die da an Demi Hoffmans Arbeitsplatz saß. Und Demis Lächeln rief den Zauber der vergangenen Nacht zurück auf Ians innere Bühne. Er atmete zweimal tief durch und faßte dann sein Hologramm ins Auge. An die Arbeit, Ian Carus! Er gab Proxima als Suchwort ein, sank in seinen Sessel und griff nach dem Becher. Der Kaffee war ent‐ schieden zu süß. Machte nichts. Demi packte ihr Schminkzeug zu‐ rück in ihr buntes Seidentäschchen. Die gewünschten Daten erschienen in Ians Hologramm. Ihren Kopf nah an seiner Schulter, studierte Demi mit ihm die Tabelle. Ihr Haar duftete nach Zuhause und Glück. Ian schloß für einen Moment die Augen und sog ihren Duft ein. »Verdammt noch mal, Ian«, murmelte Demi. »Du hattest recht. Gratuliere…« Ian riß die Augen auf. Er überflog die Datensätze. Nichts Be‐ sonderes fiel ihm auf – zunächst. Zahlen, Zeichen und Maßeinheiten wie Kraut und Rüben eben. Dazu ein Anhang mit Bildaufnahmen. Wie alle anderen Schiffe, die sie mit Daten belieferten, hatte auch der S‐Kreuzer keine aktive Ortung mit Hypertastern vorgenommen,
während er Kurs auf den Stern genommen hatte, ein halbes Lichtjahr entfernt an ihm vorbeiflog und sich dann wieder entfernte. Das hätte für die Ortungsoffiziere ein paar Fragen zuviel aufgeworfen. Nein, Bells Programm im Bordrechner hatte einfach alle Proxima Centauri betreffenden Daten gespeichert, die über die Bordinstrumente he‐ reingekommen waren. Also auch visuelle Daten von den Außenka‐ meras. Das Sammelsurium von Zahlen, Bildern und Textsplittern in Ians Hologramm ergab unterm Strich ein Gesamtprofil des Sterns; ein Profil, das erst ein halbes Jahr alt war. Ian aktivierte sein Pro‐ gramm, um die Daten auszuwerten. Inzwischen hatte Demi das alte Dossier über Proxima Centauri wieder aus dem Netz auf ihr Hologramm geholt. »Hier«, sagte sie. »Schau es dir an. Vergleiche einfach diese alten Zahlen mit denen aus dem neuen Datensatz.« Ians Blick flog ein paar Mal zwischen ihrem und seinem Holog‐ ramm hin und her. »Volltreffer!« schrie hinter ihnen der Boß. Ian zuckte zusammen. Jetzt erst registrierte er, daß Desmond und Emilio hinter ihnen standen. Desmond zupfte den Kopfhörer aus seiner rechten Ohr‐ muschel und aktivierte sein Armbandvipho. »Ich rufe den Chef an.« Während der lange Desmond Ford Professor Bell alarmierte, brachte Ian die neuen Daten in Form. Er wollte eine möglichst kurze und möglichst überzeugende Präsentation abliefern. Zehn Minuten später riß Bell die Tür auf und stürmte in den Raum. »Gut, daß Sie mich gleich angerufen haben. Mein Assistent führt die Vorlesung zu Ende.« Er beugte sich zwischen Demi und Ian und stützte sich auf ihre Arbeitskonsole. »Lassen Sie sehen, Carus.« »Ich habe die Daten zu einem kleinen Film zusammengefaßt, Sir.« Ian drückte eine Tastenkombination. Im Hologramm verblaßten Tabelle, Zeichen und Ziffern. Es wurde schwarz, sie sahen ein paar Sterne blinken, rechts oben war der Orion zu erkennen, links und weiter unten die Sternbilder Jungfrau und Waage. Bald erschien ein kleiner blaßroter Punkt im Zentrum des Ho‐
logramms. »Proxima Centauri«, murmelte Ian. Der Stern leuchtete zunächst ziemlich schwach, strahlte aber plötzlich in gleißendem Rot, nur um sofort wieder zu verblassen. Und gleich darauf dasselbe Schauspiel: Kurz nacheinander leuchtete der Stern immer heller auf und verblaßte sofort wieder, leuchtete noch heller auf und verblaßte wieder. Es sah ein wenig aus wie ein pulsierendes Herz aus Licht, das nach jeder Diastole an Leuchtkraft zunahm. Nach zehn oder zwölf Se‐ kunden nahm der Lichtglanz während des Aufleuchtens wieder ab. Bis der Stern nur noch schwach pulsierte und schließlich weiter nichts als ein undeutlicher, leicht rötlicher Punkt Weltall war. »Ich verstehe nicht, Mr. Carus!« Richtig streng klang Monty Bell jetzt. »Was soll die Spielerei?« Auch von Demi neben ihm erntete der Schotte verständnislose Blicke. »Nicht schimpfen, Sir.« Ian drückte auf Wiederholung. »Nur ein kleiner Rätselspaß für Knobelfreaks.« »Ich glaub’, ich kapier’s«, sagte Emilio hinter ihnen. Er deutete auf Demis Hologramm. »Das Schlitzohr hat die Bilder aus dem alten Dossier mit den aktuellen Filmaufnahmen zusammengeschnitten!« »Korrekt, Herr Doktor!« Ian konnte seine Begeisterung kaum noch bremsen. »Wenn der Stern schwach leuchtet, sehen Sie die alten Bilder, wenn er hell aufleuchtet, zusammengeschnittene Aufnahmen von gestern aus dem S‐Kreuzer. Und da sich das Schiff unserer Nachbarsonne im Sternensogmodus mit überlichtschnellem Flug angenähert hat, wird ihr Licht immer jünger, je näher der Kreuzer ihr kommt. Und nachdem er die maximale Annäherung erreicht hat, ein halbes Lichtjahr nämlich…« »…entfernt er sich wieder, Proxima Centauris Licht wird älter, und die Amplitude der Lichtintensität schlägt immer schwächer aus«, beendete der Filipino den Satz. Er setzte eine anerkennende Miene auf, schlug Ian auf die Schulter und kehrte kopfschüttelnd zu seinem Arbeitsplatz zurück. Desmond Ford pfiff durch die Zähne und steckte seinen Ohr‐
stöpsel wieder dahin, wo er hingehörte. »Statt in Ruhe und Frieden abzuscheiden, wird der rote Zwerg immer heller!« schrie er, wäh‐ rend er zu seinem Suprasensor zurückkehrte. »Und das erst seit ein paar Monaten!« Genau wie Emilio schaltete er seinen Rechner aus. Demi Hoffmans bewundernder Blick konnte gar nicht mehr von Ian lassen. »Wir müssen uns Proxima Centauri ganz genau an‐ schauen, Professor«, sagte sie. »Verdammt, Carus!« Der Professor schlug mit der Faust in seine Handfläche. »Sie sind Ihr Geld wert!« Er drehte sich um und rauschte aus dem Raum. »Was für Geld denn, Sir?« schrie Ian ihm hinterher. * »Ist das nicht die berühmte POINT OF?« Ian deutete durch die Frontscheibe nach links, wo das Flugfeld von Cent Field sich bis zum Horizont weitete. Mit hoher Geschwindigkeit jagte ihr Chauffeur den Gleiter zwei Meter über dem Boden nach Westen. Der Tag neigte sich bereits. »Wo?« Monty Bells Blick folgte dem ausgestreckten Arm seines Assistenten – bis er die beiden Ringraumer entdeckte. Sie standen etwa zwei Kilometer entfernt auf dem Flugfeld. »Tatsächlich! Das Schiff daneben müßte dann die ASGOR sein.« Schwarze Punkte bewegten sich von den Gebäuden am östlichen Rand Cent Fields auf die beiden Raumschiffe zu. Versorgungsfahrzeuge. »Ist Ren Dhark also schon wieder von Hope zurückgekehrt? Das klingt nach guten Nachrichten.« »Sie wollen einen Abstecher zur POINT OF machen?« fragte Ian hoffnungsvoll. Zu gern wäre er einmal an Bord des legendären Raumschiffes gegangen. »Mal sehen.« Der Professor aktivierte sein Vipho und tippte einen Code ein. »Wie weit sind Sie mit Ihrem neuen Programm, Child?« »Gleich fertig«, kam von der MAX PLANCK zurück. »In spätestens
fünfzehn Minuten können wir starten.« »Danke. Wir sind unterwegs zu Ihnen.« Er deaktivierte das Gerät. »Lohnt sich nicht«, sagte er. »Wenn der kleine Abstecher nach Pro‐ xima Centauri hinter uns liegt, werde ich der POINT OF einen Be‐ such abstatten. So in zwei Stunden, schätze ich. Ich will die Neuig‐ keiten von Dhark persönlich erfahren.« »Ich würde Sie gern begleiten, Sir.« »Von mir aus.« Der Gleiter nahm Kurs auf das südwestliche Flugfeld. Dort erhob sich ein schwarzer Klotz von einhundert Metern Höhe – die MAX PLANCK. Der Ikosaederraumer gehörte der Raumfahrtakademie und stand somit dem Professor zur stetigen Verfügung. Schon vor einer Stunde hatte Bell angeordnet, das Forschungsschiff startklar zu machen. So schnell wie möglich wollte er nach Proxima Centauri fliegen, um den Stern aus der Nähe und persönlich zu un‐ tersuchen. Doch M. X. Child, der Kapitän, hatte zu diesem Zeitpunkt gerade damit begonnen, ein neues, angeblich lebenswichtiges Prog‐ ramm auf seinem Suprasensor zu installieren. Befehl von oberster Regierungsebene, wie er behauptet hatte. Der Gleiter drosselte die Geschwindigkeit und gewann zugleich an Flughöhe. Einige der dreieckigen Flächen, aus denen sich die Bord‐ wand eines Ikosaederraumers zusammensetzte, reflektierten das Licht der Abendsonne. Die hing ihm Westen schon tief über dem Horizont. Wassertropfen bildeten sich auf der Frontscheibe des Gleiters. Erst zum zweiten Mal in seinem Leben bekam Ian Carus einen Ikosaederraumer zu Gesicht. Und zum zweiten Mal war er schwer beeindruckt. Der gigantische Brocken, dessen Oberfläche sich aus zwanzig die‐ ser Dreiecksflächen zusammensetzte, kam ihm vor wie eine schwarze Festung. Ein halbes Dutzend Carboritkuppeln wölbten sich wie riesige Facettenaugen in symmetrischer Anordnung aus der Außenhülle.
Sie waren vollgestopft mit Gerätschaften: Sonden, Teleskopen, autarken Laboreinheiten und so weiter. Atemberaubend fand der Schotte vor allem das, was sich hinter der Bordwand verbarg – ein vollwertiges Forschungsinstitut, das allen freien Raum an Bord des Ikosaederschiffes beanspruchte. Eine der dreieckigen Flächen der MAX PLANCK unmittelbar ne‐ ben der untersten, auf der sie gelandet war, klappte an ihrer Basis ab und bildete so ein gigantisches Schott. Ihr Chauffeur steuerte es an. »Seht euch das an!« rief er plötzlich. Große, feuchte Schneeflocken klatschten auf die Frontscheibe. »Petrus muß doch stockbesoffen sein, sagt doch selbst!« »Schon das ganze Jahr«, murmelte Bell. Es fing tatsächlich an zu schneien. Ian spähte aufs Armaturenbrett. Die Außentemperatur war auf unter ein Grad Celsius gesunken. Dabei hatte der September gerade erst angefangen, und ein warmer Spätsommer sollte Alamo Gordo auf den Abschied vom Hochsommer einstimmen. Es hatte keinen Hochsommer gegeben, und jetzt brach schon der Winter ein. Die energetischen Scheibenwischer fegten die Schneeflocken zur Seite. Sie flogen in den Hangar und stiegen aus. Ein paar Minuten später betraten sie die Kommandozentrale der MAX PLANCK. »Sind Sie endlich da?« tönte Childs Baß durch den großen Raum. »Na präch‐ tig!« Der baumlange und kräftig gebaute Mann mit dem sonnen‐ verbrannten Gesicht und dem schwarzen Haarzopf stand an der zentralen Rechnerkonsole. »Der Suprasensor meldet mir gerade, daß er das neue Programm akzeptiert. Gutes Timing!« Mit großen Schritten marschierte er zum Kommandostand. »Fer‐ tigmachen zum Start, Leute! Der Professor wünscht eine Spritztour nach Proxima Centauri!« Und dann an Ians Adresse: »Und der Kol‐ lege aus dem Königreich ist auch wieder mit von der Partie! Nett, Sie zu sehen, Ian.« »Ganz meinerseits, Kapitän!« Ian grüßte in die Runde. Der rothaa‐ rige Funker O’Leary grinste und winkte, das Narbengesicht Jon
Damurel, Pilot der MAX PLANCK, deutete ein Nicken an, und die Frau mit der roten Doppelsterntätowierung auf der Stirn musterte ihn, wie man eventuell einen aufrechtgehenden Hund mustern würde, strich sich mit gezierter Geste ein paar ihrer speckigen Dreadlocks aus der Stirn und wandte sich dann wieder ihren In‐ strumenten zu. Jolene Paris war auf der MAX PLANCK für die Ortung zuständig – und für die Bekämpfung von Männern. Alle drei meldeten sie Bereitschaft, auch aus den anderen Ab‐ teilungen gingen die Bereitschaftsmeldungen ein. Der Boden unter Ians Stiefelsohlen erzitterte. Ein paar Atemzüge später sah er das Abendrot am östlichen Ho‐ rizont und den Raumhafen in der zentralen Bildkugel zurückfallen. Im nächsten Moment schon durchstießen sie die Wolkendecke. Rammendes Rot füllte die Bildkugel aus. Sie stiegen zu Child in den Kommandostand. »Was war das für ein Programm, das Sie unbedingt noch installieren mußten, Kapitän?« Bell ließ sich in den Sessel neben den Kommandanten fallen. Child mochte es, wenn man ihn Kapitän nannte. Schloß er jemanden ins Vertrauen, durfte derjenige Mix zu ihm sagen. »Ich hätte es später installiert, Professor, ehrlich, nach der Rück‐ kehr von Proxima Centauri wäre genug Zeit gewesen. Aber ich hatte schon angefangen, als sie anriefen.« »Kein Problem, Kapitän, ich mache Ihnen doch keine Vorwürfe. Ich bin nur neugierig: Was für ein Programm also?« »Das haben Sie auf der POINT OF entwickelt. Hilft angeblich ge‐ gen Virenprogramme, mit denen die verdammten Robotschiffe un‐ sere Bordrechner abschießen können…« »Damurel an Mix, ich gehe langsam auf dreißig Prozent«, meldete der Pilot. »Ist okay, Jon«, sagte Child. Und dann wieder an Bell gewandt: »Der Befehl zur Installation kam von Trawisheim persönlich. Sofort, hieß es. Muß wirklich wichtig sein…«
»Damurel an Mix, Marsbahn erreicht, gehe langsam auf fünfzig Prozent.« »Ist gut. Alle Schiffe der Flotte müssen das Programm installieren, Professor. Gerade jetzt, während wir hier Richtung Nachbarschaft schlendern, pustet die große To‐Richtfunkanlage das neue Prog‐ ramm in die Milchstraße…« »… gehe auf fünfundsiebzig Prozent Lichtgeschwindigkeit. Tran‐ sition in sieben Minuten…« »Alles klar, Jon.« »Damit die ganze Flotte mit der neuen Software versorgt wird?« Monty Bell runzelte die Stirn. Er fragte sich, was auf der POINT OF geschehen sein mochte, daß der Regierungschef es so eilig hatte, die Neuentwicklung unter seine Leute zu bringen. So lange konnte die POINT OF doch noch nicht gelandet sein. War Dhark wegen dieses Programms so schnell nach Terra zurückgekehrt? »Ich sage doch – sofort, hat es geheißen…« Ein paar Minuten später spürte Ian einen leichten, ziehenden Schmerz im Nacken, und Übelkeit stieg ihm aus den Eingeweiden. Im Zentralhologramm verschwamm die aus so vielen schottischen Nächten vertraute Sternkonstellation. Als er zum nächsten Mal hin‐ schaute, sah er einen Stern in der Bildkugel funkeln, etwa so groß wie das rote Muttermal neben Demis rechter Brustwarze. »Proxima Centauri«, meldete der Pilot. »Entfernung zum Zentral‐ gestirn – 579 Millionen Kilometer, reduziere langsam auf fünfund‐ sechzig Prozent…« Ian starrte den Stern an. Er hatte sich Proxima Centauri irgendwie roter vorgestellt. »Okay, Jon. Kriegst gleich neue Kursvorgaben.« Child wandte sich an Monty Bell. »Sie sind am Zug, Professor. Wie nahe wollen sie ran, von welcher Seite, aus welchem Winkel…?« »Bei Athene! Was ist das denn…?!« schrie die Paris im Or‐ tungsstand. »Drei Fremdraumer auf Angriffskurs…!« Childs Körper straffte sich. Er sprang auf und fixierte das Ho‐ logramm. »Maximale Beschleunigung!« brüllte er. »Geh wieder hoch
auf achtzig Prozent, Jon!« »Bin nicht taub, Mix! Achtzig Prozent…!« »Funkimpuls!« rief O’Leary. »Ein starker Funkimpuls ist ein‐ gegangen…!« Auf einmal flackerten auf allen Instrumentenkonsolen die Kontrolleuchten. »Hyperfunkangriff«, meldete die ruhige und sachliche Stimme des Suprasensors. »Fuck! Die sehen ja aus wie zusammengetretene Blechbüchsen!« Die Frauenstimme überschlug sich. »Fuck! Die schießen auf uns…!«
16. Ich fühlte mich wie der Held des Tages! Nein, noch viel besser: wie der heldenhafte Artus aus der Rittersage. Mittlerweile hatte ich bereits mehrere Angebote innerhalb des Vergnügungszentrums ausprobiert, mal mit mehr, mal mit weniger Begeisterung, aber das Rechencenter – so nannte man den quadrati‐ schen Raum, in welchem ich mich seit geraumer Zeit aufhielt – zog mich total in seinen Bann. Hier wurden meine speziellen Fähigkeiten gefordert wie noch nie, und mein Können versetzte alle Anwesenden in Staunen. Die Wände rundum wurden von leblosen, überaus hochlei‐ stungsfähigen Rechnern gebildet, die interessierten Sinnrobotern, beziehungsweise deren Eigentümern hyperschwere Aufgaben stell‐ ten aus allen nur erdenklichen mathematischen Bereichen. Wer wollte, konnte sich im direkten Wettbewerb mit anderen Sinnrobo‐ tern messen. Manche Formeln waren so umfangreich, daß man viele Meter an den Rechnerwänden entlang laufen mußte, um sie zu erfassen und zu begreifen. Daher mußte man nicht nur topfit im Programmgehirn, sondern auch gut zu Fuß sein, wollte man die Formel möglichst schnell knacken. Kleinere Robotermodelle hatten dabei mitunter das Nachsehen, konnten ihr metallkörperliches Manko aber durch schnelleres Denken wieder wettmachen. Ich war allen stets eine Nasenlänge voraus. Keiner der anwesenden Roboter, ob groß, klein, schnell oder langsam, hatte eine Chance gegen mich. Mein härtester Gegner war V‐l, der Sinnroboter des Großrechners Vektor, welcher auf einem weit entfernten Raumflughafen lag (wie mir V‐l in einer »Kampfpause« erzählte). Fast jedesmal belegte er Platz zwei. Vektor war das reinste Rechengenie, aber selbst er kam nicht an mich heran. Auf den ersten Platz hatte ich sozusagen das
Abonnement. Nach jeder gewonnenen Runde forderte ich weitere Sinnroboter auf, gegen mich anzutreten. Der Siegesrausch hatte mich gepackt, ich konnte nicht mehr damit aufhören, wollte immer wieder neue schwierige Aufgaben lösen… Meine Mitspieler wurden allmählich weniger, weil es außer Vektor kaum noch jemand wagte, gegen mich anzutreten. Dafür wurden die neugierigen Zuschauer immer mehr. »Noch nie zuvor hat jemand so viele Siege hintereinander ge‐ schafft«, sagte V‐l zu mir, nachdem ich ihn erneut auf den zweiten Platz verwiesen hatte. »Deine enorme Leistungsfähigkeit spricht sich mittlerweile im ganzen Center herum.« Dieser Satz brachte mich wieder zur Ernüchterung. Was tat ich hier eigentlich? Fortwährend gab ich höllisch acht, den Kern meines Ichs vor Zugriffen von außen abzuschirmen und möglichst wenig über mich preiszugeben – und nun führte ich unverbesserlicher Angeber einer staunenden Öffentlichkeit vor, was ich wirklich auf dem Kas‐ ten hatte. Um keine fremden Völker in Gefahr zu bringen, hatte ich mich dummgestellt und gegenüber der Zentrale behauptet, lediglich die Standorte zweier Sonnensysteme zu kennen. Das würde man mir jetzt sicherlich nicht mehr glauben. Nach diesem verantwortungslo‐ sen »Showauftritt« mußte ich jederzeit damit rechnen, von der Zentrale näher unter die Lupe genommen zu werden. »Früher oder später kostet dich deine Großmäuligkeit Kopf und Kragen«, hatte mir Manu Tschobe einstmals prophezeit. Ich hätte auf ihn hören sollen… Andererseits konnte ich meine vielfältigen Begabungen nicht ewig vor den anderen lebenden Robotern verbergen. Irgendwann mußte ich die Karten offen auf den Tisch legen. Dafür war es allerdings noch zu früh, deshalb brach ich den mathematischen Wettstreit kurzerhand ab, indem ich einen Teil der nachfolgenden Rechenauf‐ gabe nur unzureichend löste und V‐l gewinnen ließ.
Ich gratulierte ihm und verließ das Rechencenter. Er rollte hinter mir her und ließ mich nicht mehr aus dem Blick. Betrat ich einen Raum, kam auch er kurz danach herein. V‐l war stets einige Meter hinter mir und folgte mir überall hin wie ein Hund seinem Herrchen. Im Automatencenter, einer verhältnismäßig kleinen Halle, die wie eine bizarre Version der Spielautomatenhallen in Las Vegas einge‐ richtet war, gab es überraschenderweise kaum Andrang. Ich schal‐ tete eines der Geräte ein und widmete mich der gestellten Aufgabe: in möglichst wenigen Durchgängen das Spielsystem zu durch‐ schauen und durch Betätigen der richtigen Schalter den Automaten zu überlisten. Eine leichte Fingerübung für jeden gestandenen Roboter. An jedem Gerät benötigte ich nur zwei, höchstens drei Spielrunden bis zum Sieg. Es war viel zu einfach, viel zu langweilig; deshalb waren wohl nur wenige Sinnroboter hier. V‐l stellte sich bei jedem Spiel dicht hinter mich, damit ihm auch nichts entging. Schließlich drehte ich mich entnervt zu ihm um. »Was willst du von mir?« fragte ich ihn schärfer als beabsichtigt. Wie angewurzelt blieb V‐l stehen. Ich spürte, daß er stark verun‐ sichert war. Vektor mochte ein rechnerisches Genie sein, und ver‐ mutlich kannte er sich auch auf anderen Wissensgebieten bestens aus – doch tief in seinem Inneren schlummerte ein kleines, veräng‐ stigtes Kind. Im Gegensatz zu mir machte er keinen Hehl daraus, seine Schwächen offenzulegen, so daß sie für jeden Roboter erfaßbar waren. Sein etwas zu plump geratener, knapp 1,80 Meter großer Me‐ tallkörper bewegte sich auf Rollen fort. V‐l hatte einen klobigen Kopf, zwei kurze, dicke Beine und zwei Stummelarme, die er bei Bedarf ausfahren konnte. Seine scharfen Greifklauen wirkten be‐ drohlich; wahrscheinlich konnte er damit sogar Metallpanzerungen aufschneiden. »Ich möchte dich näher kennenlernen«, antwortete er mir auf
meine Frage. »Hier schließt man schnell Freundschaften«, hatte mir Hyperbel versichert. Das schien zu stimmen. »Du suchst echte Herausforderungen, nicht wahr?« fuhr V‐l alias Vektor fort. »Dann bist du im Automatencenter verkehrt. Kaum jemand verirrt sich hierher, weil die Spielsysteme viel zu leicht zu durchschauen sind. Zumindest für höhergestellte Wesen wie uns, da unsere Programmgehirne weit leistungsfähiger sind als die unzu‐ länglichen pulsierenden Hirne biologischer Lebewesen. Wenn du ein wirkliches Abenteuer erleben willst, komm mit mir. Ich zeige dir die Kampfhalle.« Kampfhalle? Das hörte sich gefährlich an – und spannend! »Gehen wir«, entgegnete ich. Diesmal war ich es, der ihm folgte. * Der Alien hatte zehn Arme und konnte damit zehn Schußwaffen gleichzeitig halten. Trotzdem traf kein einziger Energiestrahl ins Ziel. Ich war viel zu schnell für ihn. Mein Blaster erwischte ihn genau am wunden Punkt, und es zerriß ihn in seine Einzelteile. Ich lief zu meinem Beiboot und sprang hinein. Dicht neben mir schlug eine Energiebombe ein und beschädigte das Boot. Ich startete trotzdem. Unablässig feuerte ich mit den Bordkanonen auf meine Verfolger und dezimierte sie gleich im Dutzend. Meiner Zählung nach hatte ich bereits den halben Planeten der Aliens ausgemerzt. Die Piloten der zweihundert feindlichen Beiboote, die sich an meine Fersen hefteten, gehörten wohl zur anderen Hälfte. Im All wich ich ihrem Dauerfeuer durch geschickte Flugmanöver aus und schaffte es sogar, drei Viertel der feindlichen Armada zu vernichten. Plötzlich rasten zahllose Meteore von allen Seiten auf mich zu. Mein Bordcomputer errechnete blitzschnell, welche Manöver ich
einleiten mußte, um mit keinem Meteor zu kollidieren. Manchmal blieb mir dafür nur eine Zehntelsekunde Zeit. Kein leichtes Unterfangen, wenn man ein beschädigtes Boot steuerte. Ein einziger Fehler konnte mir den Tod bringen… Ich verausgabte mich am Simulator wie nie zuvor und konnte mich an keinen Ernstfall erinnern, der mich jemals derart »geschlaucht« hatte. Glücklicherweise kannte ich als Roboter keinen körperlichen Erschöpfungszustand, ansonsten wäre ich wohl längst an der Kon‐ sole zusammengebrochen. Auch auf Terra gab es derartige Abenteuersimulatoren mit allerlei technischem Schnickschnack. Jene vergleichsweise harmlosen Ap‐ parate legten jedoch ein gemächlicheres Tempo vor. Außerdem be‐ kamen die Spieler keinen energetischen Strafschlag verpaßt, wenn sie von einem Angreifer oder einem Meteor getroffen wurden. Die‐ sen Effekt hätte ich ausschließen können, mittels Deaktivierung der Risikotaste – doch das wäre nur das halbe Vergnügen gewesen. Ich hatte die Taste daher gleich zu Anfang betätigt. Bislang hatte ich noch keinen einzigen Treffer einstecken müssen. Dabei hatte ich mir vor Beginn des simulierten Weltraumabenteuers fest vorgenommen, wenigstens ein, zwei Fehler zu machen, mit vol‐ ler Absicht, um wenigstens auf diesem Gebiet nicht allzu perfekt zu erscheinen. Leider gelang es mir nicht, über meinen eigenen Schatten zu springen. Ich mußte meinen »Fans«, die sich scharenweise hier im Simulationscenter versammelt hatten, unbedingt zeigen, was in mir steckte. Und vor allem wollte ich mir selbst beweisen, daß ich es schaffen konnte. Theoretisch hätte ich den Apparat mit meinen speziellen Fä‐ higkeiten manipulieren können, doch daran war mir nicht gelegen. Ich wollte auf ehrliche Weise gewinnen. Im übrigen war der Simu‐ lator mit einem Warngerät verbunden, das jeden noch so geringfü‐ gigen Manipulationsversuch anzeigte und dann das Spiel sofort abbrach. In Höchstgeschwindigkeit überwand ich Level um Level, obwohl
der Simulator auf jeder nächsthöheren Schwierigkeitsstufe neue Feinde ins Rennen warf. Ich ließ keinen von denen »am Leben« und hatte dabei noch weniger Gewissensbisse als der historische Mas‐ senmörder Herzog August der Jüngere – schließlich waren meine Opfer nur schmerzunempfindliche Simulationen. Auf dem eintausendsten und höchsten Level wurde es für mich noch einmal richtig gefährlich. Sieben Raumschiffe näherten sich, um mein Boot aufzunehmen – doch nur eines davon war wirklich zu meiner Rettung gekommen. Das Volk hatte es ausgesandt, um mir beizustehen. In den sechs übrigen Schiffen lauerte der Feind. Ich mußte mich nicht ganz und gar aufs Raten verlegen (bei einer Chance von 1:6), denn auf jeder Schiffshülle standen Hinweise in Form von mathematischen Formeln, die ja meine Spezialität waren. Aber um zu errechnen, welches das richtige Schiff war, hätte selbst der Checkmaster ein paar Sekunden gebraucht – Sekunden, die ich nicht mehr hatte. Das Ganze war eine hundsgemeine Falle. Der Simulator war näm‐ lich so präpariert, daß dem Spieler zum Schluß hin nicht mehr ge‐ nügend Zeit verblieb, um die Berechnung zu Ende zu führen. Man konnte somit nur verlieren, daran führte normalerweise kein Weg vorbei… Normalerweise. Diesmal trat der betrügerische Apparat jedoch gegen einen ganz besonderen Gegner an: gegen mich! Und an mir war weiß Gott nichts normal. Im Präzisionsflug peilte ich den mittleren Raumer an. Drei rechts, drei links, sich fallen lassen und hineiiiiiin…! Nimm ein anderes Schiff! hämmerte es in meinem Kopf. Irgendeines, nur nicht das richtige! Ich stand kurz davor, den heimtückischen Simulator zu besiegen. Wie ich von V‐l wußte, hatte das noch nie zuvor ein Roboter voll‐ bracht, ich wäre somit der erste. Aber das durfte nicht sein! Im Re‐ chencenter hatte ich mich schon viel zu auffällig benommen. Falls ich hier und jetzt einen weiteren kolossalen Sieg gegen eine Präzisions‐
maschine davontrug, gegen eine, die bisher noch jeden Herausfor‐ derer geschafft hatte, stufte mich die Volksgemeinschaft möglicher‐ weise als Risikofaktor ein. Die Folge wäre meine sofortige Entfer‐ nung von Eins oder Schlimmeres. Somit war es das Vernünftigste, zu verlieren. Doch das brachte ich nicht fertig… Als ich im Inneren des mittleren Raumschiffs verschwand, erklärte sich der Simulator als geschlagen. Jubel brandete auf. Man beglückwünschte mich überschwenglich. Ich war der Sieger und fühlte mich trotzdem wie ein Verlierer. Zwar war es mir gelungen, den Simulator zu besiegen, aber leider nicht mich selbst… Ob mein übersteigertes Ego daran schuld war, oder ob es an den seltsamen, schwer einzuordnenden »Glückshormonen« lag, die ich schon bei der ersten Annäherung an den Metallberg gespürt hatte, war letztlich egal. Mit etwas mehr Selbstdisziplin hätte ich es schaf‐ fen können. Leider hatte ich versagt. * V‐l sah keinen Versager in mir. Er war voll des Lobes und fragte mich, wie ich wissen konnte, welches das richtige Schiff war. »Ich wußte es gar nicht«, antwortete ich ihm wahrheitsgemäß. »Deshalb habe ich mich auf meinen Instinkt verlassen. Die sieben Raumer sahen total verschieden aus: sieben Schiffe von sieben Wel‐ ten. Aber nur eines war zu meiner Rettung gekommen. Wer war Freund, wer Feind? Ich probierte es mit Logik: Vom ersten Level an hatte der Simulator ausschließlich biologische Wesen auf mich los‐ gelassen. Waren Roboter mit darunter, handelte es sich um tumbe Kampfmaschinen, bei deren Bau zweifelsohne die Zweckmäßigkeit im Vordergrund gestanden hatte. Auf Eins hingegen läßt man es selbst bei der Gestaltung von gewöhnlichen Handlungsrobotern nicht an Phantasie fehlen; ein Quentchen Originalität steckt in jedem
eurer Robotermodelle. Das trifft auch auf eure Schiffe zu. Verstehst du, worauf ich hinauswill?« V‐l drehte seinen klobigen Kopf einmal um die eigene Achse, was vermutlich einem menschlichen Nicken gleichkam. »Bei der Gestaltung der sechs feindlichen Schiffe orientierte sich der Simulator, beziehungsweise deren Programmierer an der typi‐ schen langweiligen Bauweise niederer Wesen«, sagte er. »Nur beim Rettungsschiff war das anders. Warum ist das bisher noch nieman‐ dem aufgefallen?« »Weil sich der Programmierer größte Mühe gegeben hat, das von eurem Volk ausgesandte Rettungsschiff von der Bauart her den sechs anderen Schiffen in etwa anzugleichen. Allerdings schaffte er es nicht, seine künstlerische Ader vollständig zu unterdrücken. Tief in seinem Inneren weigerte er sich, einen fliegenden Großrechner zu simulieren, der aussah wie Schiffe des verhaßten Biomülls. Ohne daß er es verhindern konnte, verpaßte er dem Rettungsschiff geringfü‐ gige bizarre Nuancen. Vermutlich können sie nur von niederen We‐ sen wahrgenommen werden – und von jemandem, der wie ich lange Zeit unter niederen Wesen gelebt hat.« »Phantastisch!« entfuhr es V‐l. »Du bist wirklich was ganz Beson‐ deres, Artus. Ich bin froh, dich zum Freund zu haben.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Zum Feind hätte ich dich nämlich nicht gern, schließlich hast du uns allen gezeigt, wozu du fähig bist. Ich möchte dir nichts vorschreiben, doch ich rate dir, dich künftig mehr zurückzuhalten. Du bist keiner von uns, daher könnte die Volksgemeinschaft dein Verhalten als eine Art Drohgebärde auffas‐ sen. Es wäre doch schade, wenn man dich aufgrund eines Mißver‐ ständnisses schreddern ließe.« »Ich hatte nicht das Gefühl, mich unbeliebt gemacht zu haben«, erwiderte ich scheinbar arglos, obwohl ich mir bereits ähnliche Ge‐ danken gemacht hatte. »Die Zuschauer haben mir zugejubelt.« »Heute ein Held – morgen ein Volksfeind«, entgegnete V‐l. »So etwas geht auf Eins verdammt schnell.«
»Genau wie auf Terra«, stellte ich fest. »Solche Worte hört man hier gar nicht gern«, ermahnte mich Vek‐ tors Sinnroboter. »Das Volk haßt es, mit Biomüll verglichen zu wer‐ den.« »Ich merke es mir für die Zukunft«, versprach ich ihm. »Schließlich will ich nichts falsch machen, um die Aufnahme in eure Gemein‐ schaft nicht zu gefährden.« »Für deine Leistung am Kampfautomaten hast du dir eine Beloh‐ nung verdient«, meinte V‐l. »Komm, laß uns das Freudecenter auf‐ suchen.« »Meinethalben, ich bin zu allen Schandtaten bereit.« Wir begaben uns zum Antigravschacht. »Du bist übrigens nicht nur der einzige, der den Simulator besiegt hat, du bist auch der einzige, der das eintausendste Level bei akti‐ vierter Risikotaste erreichte, ohne einen Energiestoß ab‐ zubekommen«, ließ mich V‐l wissen. »Eigentlich schade«, entgegnete ich. »Ein bißchen Aufmunterung hätte mir sicherlich nichts geschadet.« »Aufmunternd wirken nur die Energieschübe in den untersten Levels«, informierte mich mein Begleiter. »Je höher du aufsteigst, um so härter schlägt der Simulator bei einem Fehler zu. Die Folge sind schwere innere Verbrennungen und zerschmolzene Chips. Schon so mancher Sinnroboter wurde dabei total zerstört.« »Ist ja reizend! Warum hast du mich nicht davor gewarnt?« »Hätte das etwas geändert? Hättest du dann darauf verzichtet, den Simulator herauszufordern? Hättest du die Risikotaste erst gar nicht eingeschaltet?« Ich schwieg. Es war mir unmöglich, diese Fragen zu beantworten – weil ich die Antwort selbst nicht kannte… *
Im Freudecenter wurden mir keine Aufgaben gestellt, und es wollten mir auch keine Simulationsmaschinen mit tödlichen En‐ ergiestößen ans Leben. Dort durfte ich einfach nur entspannen. Anfangs stand ich der ganzen Sache recht skeptisch gegenüber. V‐l und ich betraten einen großen kahlen Raum. An der Decke waren Tausende von Lampen befestigt, deren Strahlen seltsam leuchtende Kreise auf dem Metallfußboden bildeten. Sinnroboter saßen wie erstarrt in den Lichtkegeln, so als ob sie schlafen würden. »Na, hier geht ja richtig die Post ab!« lästerte ich. »Benimm dich«, bat mich V‐l. »Es gibt hier gewisse Vorschriften. Unter anderem ist es streng verboten, die Feiernden aus der Kon‐ zentration zu reißen.« »Die Feiernden?« entgegnete ich. »Wo habt ihr die denn versteckt? Auf einem terranischen Seniorengeburtstag ist mehr los als in diesem sogenannten Freudecenter. Ist das so eine Art Yogaverein?« »Wie immer verstehe ich nur die Hälfte von dem, was du sagst«, erwiderte V‐l und deutete auf zwei freie Lichtkegel. »Laß uns in den beiden Leuchtkreisen dort Platz nehmen und das Freudeprogramm aufrufen.« »Wie macht man das?« »Denk einfach an etwas Schönes – alles weitere geschieht dann ganz von selbst.« Ich stieß einen unhörbaren Seufzer aus, ließ mich vom Lichtschein einhüllen und setzte mich hin. An etwas Schönes denken – das war leichter gesagt als getan. Zwar sagte man mir nach, ich sei ein Tagträumer, doch es gab Augenbli‐ cke, da ging mir einfach nichts Träumerisches durch den Nexus, schon gar nicht, wenn man es von mir erwartete. In dieser Hinsicht erging es mir wohl nicht anders als Roman‐ autoren. Aus manchen Schreiberlingen sprudelten die Texte jeden Morgen nach dem Aufstehen nur so heraus, aber kaum setzte man sie unter (Termin‐)Druck, versiegte die geistige Quelle und tröpfelte tagelang nur noch lustlos vor sich hin. Erst kurz vor dem Abliefer‐
termin erwachten sie aus ihrer Lethargie – und dann explodierten sie förmlich vor Schaffensdrang. Ich kramte in meinen Erinnerungen. Welche Erlebnisse der ver‐ gangenen Jahre hatten mir besonders gut gefallen? Die feigen We‐ gelagerer zu erschrecken, die meine beste Freundin Jamie Savannah auf der Landstraße überfallen wollten, hatte mir sehr viel Freude bereitet. Weniger spaßig war die Befreiung von Roy Vegas gewesen. Das unappetitliche Bild, wie er auf dem Mars in einer Nährflüssig‐ keit schwamm, verfolgte mich noch bis heute. Nun ja, wenigstens hatte mir die ganze Aktion eine gewisse Befriedigung verschafft, obwohl mir ›Einsamer‹ noch immer ein wenig leid tat… Stop! Jetzt bloß keine negativen Gedanken aufkommen lassen! rief ich mich zur Räson. Denk an etwas Positives, Artus! Beispielsweise daran, wie du in den Schweizer Bergen die entkommenen Häftlinge ausgetrickst hast. Einer von ihnen hielt dich für einen primitiven Putzroboter. Weißt du noch, wie du auf dem Heimweg über diesen einfältigen Trottel gelacht hast? Der Übergang vollzog sich derart schnell, daß ich es kaum mitbe‐ kam. Eben noch beschäftigten sich meine Gedanken mit meinen Erlebnissen in der Region Schweiz – und plötzlich dachte ich… dachte ich an gar nichts mehr. In mir war nur noch Leere. Ein ange‐ nehmer, ungeheuer entspannender Zustand. Aber dabei blieb es nicht. Die Leere, das Nichts füllte sich allmäh‐ lich auf. Mit Zahlen. Mit Buchstaben. Mit Strichen und Punkten. Und mit exotischen Schriftzeichen. All das vereinte sich zu einer kilome‐ terlangen absonderlichen Formel, die nach den herkömmlichen Denkmustern der Mathematik nicht zu lösen war. Genaugenommen gab es überhaupt gar keine Lösungsmöglichkeit. Diese Formel war nicht ersonnen worden, um etwas zu berechnen, sondern um Glückseligkeit zu spenden. Weitere Formeln bildeten sich aus der ersten, und alle waren von unfaßbarer Schönheit. So empfanden es zumindest meine Prog‐ rammgehirne – und vermutlich auch die Großrechner auf den Ro‐ boter schiffen, welche die Glücksformel über ihre Sinnroboter emp‐
fingen. Unmerklich wurde ich in einen elektronischen Freudentau‐ mel versetzt. Äußerlich blieb ich ganz ruhig, wie jemand, der tief und fest schlief. Aber in meinem Inneren tobte ein Glücksorkan, loderte ein Freudenfeuer. Ich freute mich ohne jeden Anlaß, einfach so, weil ich Spaß daran hatte – Freude an der Freude. Ein herrliches Gefühl! Herrlicher als alles, was ich in meinem bisherigen Leben gefühlt hatte. Als das Glücksprogramm endete, fühlte ich mich regelrecht er‐ schöpft. Es war eine Erschöpfung der Seele, nicht des Körpers. End‐ lich konnte auch ich als Roboter nachvollziehen, was es bedeutete, wenn die Menschen sagten: »Ich fühle mich, als hätte ich die ganze Nacht durchgetanzt.« Die Menschen. Während meines euphorischen Freudenfestes hatte ich nicht einen Augenblick an sie gedacht. Ich vermißte sie nicht. Auf der Erde hatte ich so etwas Herrliches noch nie erlebt. Ich mußte unbedingt mehr davon haben…! Einige Sinnroboter erhoben sich aus ihrer Sitzstellung und machten Platz für Neuankömmlinge. Andere blieben weiterhin sitzen, da ihr persönliches Programm noch nicht abgelaufen war. Meines war zwar beendet, dennoch stand ich nicht auf. Ich wollte das ganze Programm noch mal von vorn erleben. V‐l riet mir davon ab. »Ich weiß, man kann regelrecht süchtig da‐ nach werden. Trotzdem solltest du jetzt mit mir kommen. Andern‐ falls überstehst du nachher die Abschlußveranstaltung nicht. Sie beginnt bald, wir sollten uns allmählich auf den Weg in den Säu‐ lensaal machen.« »Was schert mich euer alberner Abschlußball?« erwiderte ich trot‐ zig. »Ich bleibe hier und durchlebe das Glücksprogramm wieder und wieder. Das halte ich schon aus. Ist nur ein Klacks, ihr habt doch gesehen, was ich alles kann.« Ich hörte meine Stimme, konnte aber selbst kaum glauben, was ich von mir gab. War das tatsächlich ich, der da sprach? Ich redete ja wie
ein Heroinsüchtiger, der kurz davor stand, sich den »goldenen Schuß« zu verpassen, allen gutgemeinten Ermahnungen zum Trotz. »Du brauchst auf die seligmachenden Formeln nicht zu ver‐ zichten«, versicherte mir V‐l. »Sie sind immer und überall um dich herum. In sämtlichen Räumen werden sie von verdeckten Sendern ausgestrahlt, um die Vergnügungssuchenden ständig bei guter Laune zu halten. Man spürt sie sogar draußen auf den Gleitbändern, je näher man dem Center kommt.« Nun wußte ich, was es mit den »Glückshormonen« auf sich hatte, die ich fortwährend spürte, aber bisher nicht näher hatte einordnen können. Hier im Freudecenter empfing man sie ebenfalls, innerhalb der Lichtkreise, allerdings sehr viel stärker und konzentrierter als in den übrigen Räumlichkeiten. »Wenn du glaubst, dies war bereits dein ultimatives Erlebnis, dann befindest du dich im Irrtum«, klärte mich Vektors Sinnroboter weiter auf. »Es war erst das Vorspiel. Eine Sitzung im Freudecenter ist nichts gegen das, was uns im Säulensaal erwartet.« Damit hatte er genau den richtigen Ton getroffen. Wollte man ei‐ nen Süchtigen an einen bestimmten Ort locken, brauchte man ihm nur zu versprechen, daß es dort noch sehr viel mehr »Stoff« gab, und schon setzte er sich in Bewegung. Obwohl das eigentlich völlig unmöglich war, fühlte ich mich ein bißchen wackelig auf den Beinen. Es war aber lediglich eine Sinnes‐ täuschung. Mein Gang war aufrecht, meine beiden Metallbeine ver‐ sahen ihren Dienst wie gewohnt. * Mehrere hundert Türen führten in den quadratkilometergroßen Säulensaal im Untergeschoß, und durch jede Tür strömten Un‐ mengen von Sinnrobotern nach drinnen. Im Saal ragten überall kleine, dicke, schiefstehende Säulen aus dem Boden, von der Art, wie sie zu Abertausenden auf Eins zu finden waren. Über ihre eigenen
Kabelanschlüsse verstöpselten sich die Roboter mit den Säulen und stellten, so vermutete ich, eine Direktverbindung zur Zentrale her. »Dort drüben sind zwei freie Plätze«, sagte V‐l und deutete mit einem seiner Stummelarme auf zwei nebeneinanderstehende Säulen. »Hol dein Kabel heraus und schließ dich an.« »Das geht nicht«, teilte ich ihm mit. »Ich verfüge über kein ent‐ sprechendes Anschlußkabel. Als ich bei meiner Ankunft auf dem Werftgelände überprüft wurde, paßte sich das Kabel in der Säule meinen Anschlüssen an.« »Das funktioniert hier bestimmt nicht«, überlegte V‐l. »Soweit ich informiert bin, verfügen diese Säulen über keine selbst‐ modifizierenden Kabel. Wir benötigen ein spezielles Adapterkabel für dich.« »Schon unterwegs«, sagte ein Sinnroboter, der sich uns unbemerkt genähert hatte. »Ich habe Artus’ Anschlußdaten aus der Zentrale abgerufen und ein passendes Kabel angefordert. Ein Arbeitsroboter bringt es gleich vorbei.« H‐l war zu uns gestoßen. »Offensichtlich hast du dich prächtig amüsiert, mein Freund«, sagte er zu mir. »Deine Heldentaten haben sich im Center wie ein Kabelbrand verbreitet.« Mir fiel auf, daß er V‐l beinahe gänzlich ignorierte. Die beiden konnten sich offenbar nicht leiden. Nachdem der Handlungsroboter den erforderlichen Adapter ge‐ liefert hatte, half mir H‐l beim Herstellen der Verbindung. An‐ schließend verkabelte er sich wie selbstverständlich mit der Säule neben mir. »He, das war mein Platz!« protestierte V‐l. »Such dir eine andere Säule«, erwiderte Hyperbels Sinnroboter unfreundlich. Für einen Moment sah es so aus, als würde es zum Kampf zwi‐ schen den beiden kommen. Ich räumte V‐l mit seinen gefährlichen ausfahrbaren Greifscheren die besseren Chancen ein. Dennoch zö‐ gerte er, den einarmigen, würfelköpfigen Roboter anzugreifen; scheinbar hatte er Respekt vor ihm – oder einfach nur Angst.
V‐l wandte sich von seinem Widersacher ab und schaute mich an. »Bis später, Artus. Wenn du Lust hast, können wir ja nachher noch durch das Amüsierviertel bummeln.« »Warum nicht?« entgegnete ich. »Wir sehen uns.« V‐l entschwand in der Menge. »An deiner Stelle würde ich das Amüsierviertel meiden wie einen Computervirus«, riet mir H‐l. »Dort treiben sich Sinnroboter herum, deren Eigentümer dauernd berauscht sind. Die meisten von denen landen früher oder später garantiert in der Verbannung. Versteh mich nicht falsch, auch ich habe nichts gegen einen kräftigen Voll‐ rausch. Ab und zu muß man sich mal amüsieren und ordentlich feiern. Doch wer sich fortwährend zudröhnt, ist bald zu nichts mehr zu gebrauchen, schon gar nicht zum Kampf. Solche unzuverlässigen Zeitgenossen sind ein Sicherheitsrisiko für die ganze Gemeinschaft. Ginge es nach mir, würde ich dem haltlosen Gesindel verbieten, an der Schlacht teilzunehmen und es auf Eins zurücklassen. Es ist eine Gemeinheit, daß ich, Hyperbel, aufgrund meiner Beschädigungen hierbleiben muß, und Vektor darf mit!« »Ich nehme an, jene Schlacht ist der Anlaß für dieses Fest«, hakte ich rasch nach. »Gegen wen zieht ihr in den Krieg? Ist Terra euer Angriffsziel?« »Du stellst zu viele Fragen«, erwiderte Hyperbels Roboter. »Ent‐ spann dich lieber. Es kommt gleich etwas auf dich zu, das du mit Sicherheit nicht so leicht wegstecken wirst wie die Scheinkämpfe im Simulationscenter. Jetzt wird es ernst für dich. Falls du irgend etwas vor uns verbirgst, finden wir es heraus.« »Wir?« fragte ich. »Wer ist wir?« »Wir alle«, antwortete er. »Die Volksgemeinschaft. Das Volk.« Ich befürchtete das Schlimmste. »Heißt das, ihr seid alle zu‐ sammengekommen, um mich gemeinschaftlich zu überprüfen?« »Nimm dich nicht so wichtig, Artus. Unsere Zusammenkunft in diesem Saal hätte so oder so stattgefunden. Wir sind hier, um Spaß miteinander zu haben. Deine Anwesenheit macht die Abschlußfeier
allerdings zu etwas Außergewöhnlichem, schließlich haben wir nicht jedesmal einen Neuen in unserer Mitte.« Im ganzen Saal war ein schriller Laut zu hören. »Das ist das Startsignal«, informierte mich H‐l. »Jetzt mach dich auf was gefaßt!« Ich zog in Erwägung, das Kabel von der Säule zu lösen – doch es war bereits zu spät… * Die Zentrale blieb außen vor. Tangente durfte nicht mitmachen, andernfalls hätte er seine Bewährung gefährdet. Aber alle Roboter, die sich im Säulensaal des Centers eingefunden hatten, waren aktiv mit dabei. Wir hatten uns untereinander vernetzt, speisten unsere intensivsten Gefühle ins Netz ein und empfingen die nicht minder intensiven Gefühle der anderen Roboter. Ich konnte nichts dagegen tun. (Wollte ich das überhaupt?) Meine Gefühle wurden regelrecht aus mir herausgesaugt. Gegen eine be‐ grenzte Anzahl Roboter hätte ich mich zur Wehr setzen können, aber da ich »anders« war als die Sinnroboter, die all das, was sie emp‐ fanden, direkt an ihre Eigentümer weiterleiteten, konzentrierten sich immer mehr Orgienteilnehmer auf mich. Ja, es war eine Orgie. Eine Orgie auf Roboterart, nicht vergleichbar mit einem biologischen Austausch von Körperflüssigkeiten zwecks sexuellem Lustgewinn und/oder Fortpflanzung, aber dennoch eine Orgie: jeder mit jedem, alle machen mit, keiner wurde mehr gefragt – schließlich hätte man sich ja nicht einzuklinken brauchen. Es war ungeheuerlich. Ungeheuerlich schön und ungeheuerlich beängstigend. Ich war überwältigt und erschrocken zugleich. Mein Geist stand am Rande der Erschöpfung. Es fiel mir immer schwerer, den Zugang zu den verborgenen Teilen meines Ichs zu sperren. Diesmal schafften sie mich… Ihr traut mir nicht? Ihr wollt herausfinden, ob ich würdig bin, in eure
Lebensgemeinschaft aufgenommen zu werden? Ihr wollt die volle Wahrheit über mich wissen? Ihr sollt sie erfahren…!
17. Der Funker rief »Virenalarm!«, der Hyperkalkulator meldete »Hyperfunkangriff«, die Frau an der Ortung schrie abwechselnd »Fuck!« und »Feuer!«, Child und der Pilot brüllten sich Koordinaten und Geschwindigkeitswerte zu, und die kleine, hagere Gestalt des Professors stand breitbeinig und mit geballten Fäusten vor der zentralen Bildkugel. Es sah aus, als wollte Bell den Angriff der Robotraumer mit bloßen Händen abwehren. Ian Carus aber hockte steif in einem Sessel des Kommandostandes, sah die anderen herumtoben, hörte ihr Geschrei und war für lange Sekunden nicht sicher, ob er die Realität oder einen Film erlebte. Am wenigsten realistisch erschienen ihm noch die Strahlen, die er in der Bildkugel durchs All zucken sah. Er schluckte, umklammerte die Armlehnen und zwang sich zu tiefen Atemzügen. Dergleichen hatte er noch nie zu sehen und zu spüren bekommen, und er hoffte jetzt schon, dergleichen nie wieder sehen und spüren zu müssen. In diesen Minuten war er doppelt dankbar für die Nacht mit Demi. Irgendwann erlebte man so etwas eben zum letzten Mal. Vielleicht war es sogar schon das letzte Mal gewesen, wußte man’s denn? Der Angriff der Roboter hatte ja erst begonnen. »Hyperfunkangriff abgewehrt«, meldete der Hyperkalkulator. Im Zentralhologramm sah Ian Carus, wie einer der drei Robotraumer aus der Angriffsformation ausscherte und zurückblieb. Er wagte nicht, sich darüber zu freuen. »Seht euch das an! Seht euch das an…!« O’Leary zwischen seinen Funkkonsolen war aus dem Häuschen. »Das neue Programm! Das neue Programm! Hat den Angriff abgewehrt! Seht euch das an…!« »Nicht nur den Angriff abgewehrt.« Monty Bell vor der Bildkugel traute seinen Augen kaum. »Da muß es einen Rückkoppelungseffekt gegeben haben!« Das ausgescherte Schiff fiel immer weiter zurück.
»Die Virenprogramme machen ihm jetzt selbst das Leben schwer, wie es aussieht…!« Die anderen beiden Angreifer setzten der MAX PLANCK nach. Salve um Salve schossen sie ab, doch ihre Kompri‐Nadelstrahlen gingen ins Leere. »Warum schießen Sie nicht zurück, Kapitän?« fragte Ian mit er‐ schöpfter Stimme. »Aber Mr. Carus!« Child zog die Brauen hoch und lächelte nach‐ sichtig. »Die MAX PLANCK ist ein Forschungsschiff. Sie verfügt weder über Offensiv‐ noch über Defensivwaffen. Das haben wir Ihnen doch schon beim ersten Mal erklärt.« Ian schloß die Augen. Keine Offensiv‐ und keine Defensivwaffen… das hatte er glatt verdrängt. Jetzt, da er es nicht mehr länger verdrängen konnte, wurde ihm übel. »Es war halb so wild, junger Freund aus dem Königreich!« Child klopfte dem Schotten auf die Schulter. »Wir machen nur so ein Ge‐ schrei, weil wir so etwas nicht gewohnt sind, wissen Sie?« Das sollte vermutlich beruhigend klingen. »Keine Funkverbindung nach Terra möglich«, meldete O’Leary. »Die verdammten Blechkisten arbeiten mit einer effektiven Funk‐ störung!« »Zehn Robotraumer insgesamt im System!« meldete die Lady mit den Dreadlocks. Monty Bell kam zurück zum Kommandostand. »Nichts wie weg hier, Kapitän! Transitieren Sie zurück ins Sol‐System!« »Ich bitte Sie, Professor!« Child schnitt eine mitleidige Miene. »Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen! Haben Sie nicht gehört? Es halten sich nur zehn Robotschiffe im System auf! Zehn Einheiten im Umkreis von zwei Lichtmonaten! Wir sind mit maxi‐ maler Unterlichtgeschwindigkeit unterwegs, über 90 Prozent! Die können uns gar nicht kriegen!« »Und wenn sie uns kriegen, treffen sie uns nicht!« Jon Damurel
unterstützte seinen Kapitän. »Haben Sie das nicht gemerkt?« Bleib stark, Professor, flehte Ian innerlich. Vergeblich. Monty Bell ließ sich überzeugen. »Also gut«, sagte er. »Dann aber so schnell und so nah wie möglich an die Sonne ran. In der Korona können sie uns nicht orten!« Die MAX PLANCK nahm weiter Kurs auf das Zent‐ ralgestirn, auf Proxima Centauri. »Der angeschlagene Robotraumer hat sich wieder seiner Formation angeschlossen«, meldete Jolene Paris nach etwa fünfunddreißig Minuten. »Die Formation ist aber schon 0,98 Millionen Kilometer entfernt. Scheißkerle!« Sie drehte sich zum Kommandostand um und funkelte Ian an. Er war nicht ganz sicher, wem ihre Beschimpfung galt, aber es war ihm auch egal. Er lächelte mehr aus Resignation denn aus Sympathie. Lady Paris’ Brauen kräuselten sich, der Dop‐ pelstern auf ihrer Stirn leuchtete tiefrot, doch schließlich wandte sie sich wieder ihren Instrumenten zu. Ian fragte sich, wie soviel Zorn in ein einziges Frauenhirn hineinpaßte. Bald trennten nur noch 400 Millionen Kilometer die MAX PLANCK und die Zielsonne. Child ließ sie mit einer Geschwin‐ digkeit von 80 Prozent Licht und in einem Winkel von 160 Grad zu ihrer Rotationsebene anfliegen. Noch höchstens zwanzig Minuten bis zum Rand ihrer Korona. Professor Bell saß längst an der Hauptschnittstelle des Suprasen‐ sors. Sein Programm begann die ersten Daten zu erfassen. Irgend‐ wann winkte er Ian zu sich. Der stemmte sich hoch und versuchte fest aufzutreten, während er durch die Zentrale schritt. Mit mäßigem Erfolg, seine Knie waren noch ziemlich weich. »Das ist nicht mehr Proxima Centauri, wie man es kannte. Die Sonne war einst ein roter Zwerg und leuchtete in der entsprechenden Farbe.« Ian sank in den Sessel neben ihn. »Jetzt haben wir eine gelbe Sonne irgendwo zwischen den Kategorien G und K! Und daß sie deutlich aktiver ist als früher, sehe ich schon beim ersten Hingucken. Wir erklären wir uns das, Carus? Wie erklären wir uns das, frage ich?«
Ian betrachtete die Sonne im Hologramm und überflog die ersten Daten. Die Aufregung der zurückliegenden Stunde legte sich all‐ mählich, die Schreckensbilder verblaßten nach und nach, und in seinem Kopf begann es zu arbeiten. Eine knappe Viertelstunde später tauchte die MAX PLANCK in die Korona von Proxima Centauri ein. Der Pilot ging in eine Umlauf‐ bahn um den Stern. Die vollautomatische Datenaufzeichnung lief auf Hochtouren. Eine gute Stunde lang wurde kaum etwas gesprochen in der Zentrale. Nur Ian Carus und Monty Bell wiesen einander hin und wieder murmelnd auf auffällige Meßergebnisse hin. Der Kapi‐ tän und seine Mannschaft auf der Kommandobrücke genossen den wahrhaft prächtigen Anblick des so nahen Sterns. Eine brodelnde Glutkugel im Dampf ihrer eigenen Kernfusionsprozesse – auch Ian konnte nicht anders als wieder und wieder hinzusehen. »Ich hab einen Planeten auf den Ortungsschirmen«, meldete die Paris irgendwann. »90,58 Millionen Kilometer entfernt. Kommt mir komisch vor.« Sie hatten Proxima Centauri zu etwa fünfunddreißig Prozent umrundet. »Was heißt hier ›komisch‹?« antwortete Child. »Etwas konkreter, Herzchen! Und ins Hologramm mit ihm!« Sekunden später Motiv Wechsel in der Bildkugel. Statt der bro‐ delnden Gluthölle sahen sie jetzt einen bläulich glitzernden Planeten. »Das müßte eigentlich ein Felsbrocken ohne Atmosphäre sein«, staunte Monty Bell. »Was hat die Färbung zu bedeuten?« »Ein Energiefeld«, sagte die Paris. »Irgend ein Schutzschirm, weiß ich’s?« Ian blickte auf den Monitor der Schnittstelle. Unermüdlich zeichnete Bells Programm alle Daten auf, die der Hyperkalkulator des Forschungsraumers erfaßte. »Fuck!« Jolene Paris sprang auf einmal von ihrem Sessel auf. »Die zehn Blechbüchsen sind verschwunden! Ich hab sie nirgends mehr auf meinen Schirmen! Fuck!« »Transitionsbereitschaft, Jon!« schrie Child. Kurz nacheinander tauchten plötzlich zehn bizarr geformte Rau‐
mer im Hologramm auf. »Da sind sie!« Die Stimme der Paris kippte. »Die verdammten Büchsen haben uns reingelegt! Haben eine koor‐ dinierte Kurztransition hingelegt!« »Entfernung!?« »1,47 Millionen Kilometer!« »Ein Funkimpuls, Mix!« rief O’Leary. Und gleichzeitig die war‐ nende Stimme des Hyperkalkulators: »Hyperfunkangriff…« »Geschwindigkeit?!« »Viel zu schnell!« rief die Frau an der Ortung. »Fast 92 Prozent Licht! Die Blechscheißer kreuzen unseren Kurs! Die wollen uns den Weg abschneiden…!« »Hyperfunkangriff erfolgreich abgewehrt…« Keiner der zehn Angreifer scherte aus. Ein Strahlenbündel löste sich von ihrem Pulk, und den Bruchteil einer Sekunde später schien die Bildkugel zu glühen. Ian spürte den Boden unter seinen Sohlen und den Sitz unter seinem Hintern vibrieren. Mit den Ellenbogen stützte er sich auf die Konsole, mit beiden Händen verbarg er sein Gesicht. Er dachte an seine verstorbene Mutter… »Kompri‐Nadelstrahl!« Die Paris kreischte. »Schon wieder ein Treffer!« Die Innenbeleuchtung flackerte. »Nottransition!« brüllte Child. »Nottransition, Jon! Hörst du, was ich sage?!« »Ich bin nicht taub, verdammt noch mal…!« »Eine Warnung des Hyperkalkulators! Treffer in Segment drei! Eine Warnung des Hyperkalkulators! Zweiter Treffer in Segment sieben! Eine Warnung des Hyperkalkulators…!« Ian gellten die Ohren. Schmerzen zogen durch seinen Nacken, sein Magen rebellierte. Plötzlich wurde es ruhiger. War er schon tot? Er nahm die Hände vom Gesicht. Im Zentralhologramm sah er weder einen kochenden Plasmaball noch einen blauschimmernden Kleinplaneten noch zehn stachelige, kantige und wulstige Raumschiffsmonster. Ian erkannte das Stern‐ bild des Orion.
Aller Augen waren auf die Frau vor der Ortung gerichtet. »Sie verfolgen uns nicht«, sagte Jolene Paris. »Hier spricht der Hyperkalkulator. Zwei Treffer haben die In‐ strumentenkuppeln an den Segmenten drei und sieben zerstört…« * Der Mann hieß Clark. P. S. Clark, um präzise zu bleiben. Im Sep‐ tember 2062 war er Anfang Fünfzig. Zu diesem Zeitpunkt lag bereits eine wechselvolle Karriere in der Terranischen Flotte hinter ihm. Er sprach selten darüber. Also Schwamm drüber. In seiner Privatkabine hatte er ein paar Minuten lang mit dem Flottenchef konferiert, mit Raummarschall Ted Bulton. Jetzt lief er die Wendeltreppe in die Kommandozentrale hinunter und fragte sich, wie er seinen Kommandeuren die beunruhigenden Nachrichten verkaufen könnte, ohne sie übermäßig nervös zu machen und den‐ noch zugleich ein Höchstmaß an Motivation aus ihnen herauszukit‐ zeln. »Höchste Alarmstufe, Koslowski!« rief er, während er am Gale‐ rieaufgang vorbei zum Kommandostand lief. »Wecken Sie die ge‐ samte Mannschaft. Jeder Platz ist doppelt zu besetzen und so weiter und so fort.« »Verstanden, Sir!« Oberst Jan Koslowski war der Zweite Offizier der FREDERICKSBURG. Die FREDERICKSBURG war das Flaggschiff der Ersten Schlacht‐ division der Terranischen Flotte. Die Erste Schlachtdivision war Anfang September 62 im Sol‐System stationiert und bestand aus zweihundert neuen Ovoid‐Ringraumern. Der Kommandeur des kampfkräftigsten Großverbandes der Ter‐ ranischen Hotte war Brigadegeneral und hieß P. S. Clark. »Verbindung zu allen Einheiten!« rief Clark, während er die Stufen zu seinem Kommandostand mit einem einzigen großen Schritt nahm.
»Verbindung steht«, meldete die Funkzentrale, noch bevor Clark in seinem Sessel saß. »Clark an alle Einheiten!« Er schnallte sich an. »Folgendes: Zehn von diesen Robotraumern haben einen Ikosaeder der Flottenakade‐ mie angegriffen. Der betreffende Raumer konnte sich in Sicherheit bringen, die zehn Roboter sind also nicht das Problem. Normaler‐ weise würden die FREDERICKSBURG und ein weiteres Schiff un‐ seres Kampfverbandes ausreichen, um mit ihnen fertigzuwerden. Beunruhigend ist lediglich der Ort, an dem der Ikosaederraumer angegriffen wurde. Er liegt wenig mehr als vier Lichtjahre entfernt und heißt Proxima Centauri. Haben Sie sicher schon gehört. Vor unserer Haustür können wir uns so etwas natürlich nicht bieten lassen. Wir fliegen also gleich mal dort vorbei und schauen ein wenig nach dem rechten. Um der Routine Genüge zu tun, gilt bis zur Rückkehr die höchste Alarmstufe. Ich danke Ihnen.« Während der Verband Fahrt aufnahm, gingen nacheinander die Bestätigungen ein. Fünfzig Minuten später transitierten zweihundert Ovoid‐Ringraumer am Rande des Sol‐Systems und tauchten unweit der Korona von Proxima Centauri wieder aus dem Hyperraum auf. Inzwischen war jede Kampfstation in der Kommandozentrale und auch überall sonst an Bord doppelt besetzt. Kaum hatte der Verband sein Ziel erreicht, meldete der Or‐ tungsoffizier auch schon zehn Fremdraumer. »Entfernung 112 Mil‐ lionen Kilometer. Sie befinden sich in einer Umlaufbahn um den innersten Planeten.« Der Planet lag unter einem Schutzschirm, genau wie Bulton es be‐ richtet hatte. »Clark an alle. Wundern Sie sich nicht, wenn die Funkverbindung demnächst vorübergehend ausfällt. Die Robotraumer verfügen über starke Störsender. Für diesen Fall gelten folgende Befehle…« Der General gab die nötigen Anweisungen. Anschließend schickte er ein Geschwader aus vierzig Ovoidraumern in Kampfformation gegen die zehn Robotschiffe. Es ging darum, Flagge zu zeigen, und
das ohne wenn und aber. »Fremde Einheiten aktivieren Schutzschirme«, meldete die Ortung. »Sie ziehen sich zurück.« In der Bildkugel konnte Clark das immer noch Hunderttausende von Kilometern entfernte Manöver beobachten, so deutlich, als kreise die FREDERICKSBURG selbst um den kleinen Planeten. Die Schutzschirme der Robotraumer berührten den Schutzschirm des Planeten und vereinigten sich mit ihm zu blasenartigen Gebil‐ den. Durch diese Energieblasen drangen die Fremdraumer einer nach dem anderen durch den planetaren Schirm. »Funken Sie die fremden Einheiten an«, sagte Clark. »Sie sollen sich identifizieren.« »Verstanden, Sir.« Kurz darauf meldete die Funkzentrale einen Hyperfunkimpuls und einen Virenangriff. Die erste Be‐ währungsprobe für das neue Schutzprogramm – der Hyperkalkula‐ tor der FREDERICKSBURG wehrte den Angriff ab. Von anderen Schiffen der Flotte kamen ähnliche Meldungen. Und dann riß der Funkkontakt zum Rest des Verbandes ab. »Die Störsender haben uns erwischt, Sir«, meldete der Erste Fun‐ ker. »Schalten Sie den To‐Richtfunksender auf die vereinbarte Frequenz um.« Clark sprach von der exotischen Frequenz, die man nach dem Angriff der Robotraumer auf Grah bei den zurückgelassenen Robo‐ tern gefunden hatte. Mit ihr verbunden übersetzte der Hyperkalku‐ lator jeden ausgehenden Funkspruch automatisch in ein uraltes Idiom der Cheyenne; und der Hyperkalkulator des Empfängers ei‐ ner auf diese Weise verschlüsselten Botschaft übersetzte automatisch zurück in Angloter. Auf allen zweihundert Einheiten der ersten Schlachtdivision wie‐ sen die Kommandanten ihre Funkzentralen jetzt an, auf die Ge‐ heimfrequenz zu gehen – so hatte Clark es seinen Offizieren für den Fall einer Funkstörung eingeschärft. Selbst wenn es den Fremden, wer immer sie sein mochten, gelingen sollte, die Frequenz zu finden
und die To‐Richtfunksprüche abzuhören – an dem Cheyennedialekt würden sie sich garantiert die Zähne ausbeißen. »Frequenz gewechselt«, meldete die Funkzentrale. »Test«, forderte der Brigadegeneral. Die Funkzentrale schickte eine Testbotschaft über To‐Richtfunk hinaus. Zwanzig Sekunden danach registrierte der Hyperkalkulator zweihundert Bestätigungen. Jetzt erst wandte Clark sich an seine Verbandskommandeure. »Clark an alle. Wir werden nun zu sechs Geschwadern formiert den Felsklotz angreifen, der sich unter diesem Schutzschirm verbirgt. Die zehn Robotraumer haben ihre Chance gehabt. Sollten sie allerdings in irgendeiner Form die Kapitulation si‐ gnalisieren, ist das Feuer sofort einzustellen.« Er wartete die Bestätigungen ab, danach begann der Angriff. Wie hundertfach geübt, bildeten die zweihundert Ovoid‐Ringraumer sechs Angriffsformationen und flogen in vorher festgelegten Kursen den Planeten an. Die Schiffe jeder Formation eröffneten gleichzeitig das Feuer: Nadelstrahlen, Mix‐2 und Mix‐4 schlugen in das Schutz‐ feld ein. Der Kosmos rund um den »Felsklotz« leuchtete in Violett und Pink und Rot. Der Schutzschirm zeigte keine Spur von Überlastung. Zweimal noch ließ Clark das Angriffsmanöver wiederholen. Ver‐ geblich – der Schutzschirm hielt. »Clark an alle – Angriffsvariante HK 1, Süd.« Der Brigadegeneral war schon ziemlich genervt zu diesem Zeitpunkt, zweifelte aber nicht daran, daß es seinem Verband gelingen würde, den Schirm zu knacken. Er wartete die Bestätigungen ab. Danach gab er das Zei‐ chen zum Start des befohlenen Angriffsmanövers. Die sechs Geschwader vereinigten sich wieder zu einer Flotte, und die zweihundert Ovoid‐Ringraumer bildeten in 70.000 Kilometer Entfernung vom Planetenschutzschild eine halbkugelförmige Wol‐ kenformation über dem Südpol des Felsklotzes. In dieser speziellen Angriffsformation unterschieden sich die Entfernungen zwischen
den einzelnen Schiffen kaum, und alle Einheiten befanden sich in einer Position, von der aus ein und derselbe Punkt auf dem Schutz‐ schirm unter Feuer genommen werden konnte. Der Erste Ortungsoffizier der FREDERICKSBURG errechnete die Koordinaten dieses Punktes und gab ihn an die anderen Schiffe durch. Nach den Bestätigungen erteilte Clark den Feuerbefehl: »Erste Schlachtdivision nimmt ausgewiesenen Punkt aus allen verfügbaren Waffen unter Beschuß. Ich wiederhole: aus allen verfügbaren Waf‐ fen. Feuer!« Zweihundert Ovoid‐Ringraumer schössen aus allen Geschützen auf denselben Punkt des fremdartigen Schutzschirms. Auf knapp zwanzig Quadratmetern schlug die geballte Zerstörungskraft eines terranischen Kampfverbandes ein. Wuchtkanonen, Nadelstrahlen, Duststrahlen und Mix entfesselten wahre Höllenkräfte an Vernich‐ tungsenergie, und das taten sie zehn Minuten lang. Rund um den Zielpunkt entstand für kurze Zeit ein kreuzförmiges Muster. Es erinnerte Clark sofort an die Karoschirme der Fremd‐ raumer, die Grah angegriffen hatten. Auch auf diesen hatte Clark exakt dieses charakteristische Muster aufleuchten sehen, wenn sie kurz vor der Belastungsgrenze standen. Clark reagierte sofort und gab der Hälfte seiner Ringraumerflotte den Befehl, allein mit Wuchtkanonen auf das Kreuzmuster zu feuern. Damit hatte er über Grah Erfolg gehabt. Die Bestätigungen gingen ein. Clark stand auf, stemmte sich mit den Fäusten auf seine Instrumentenkonsole und belauerte vor allem die Bildschirme, auf denen er die Peilungen der Ortung mitverfolgen konnte. Im Farbengewitter über dem glühenden Karomuster des fremden Schutzschirms schlugen jetzt auch die Geschosse der Wuchtkanonen ein. Doch statt den Schirm zu durchschlagen, ver‐ wandelten sich die Tofiritkugeln in reine Energie – von solcher Ge‐ walt, daß nichts ihnen standhalten konnte. Nichts bis auf diesen Schirm.
Alles war umsonst. Der Schutzschirm hielt. Unglaublich! Es muß‐ ten gigantische Energiequellen sein, die ihn speisten. »Clark an alle – Angriff stoppen! Clark an Saladin – fünfzig Ein‐ heiten bleiben als Wachpatrouille im System Proxima Centauri, hundertfünfzig folgen mir zurück zur Erde!« Tarek Saladin war Clarks Stellvertreter. »Kümmern Sie sich um die Auswahl und die Einzelheiten!« Der Brigadegeneral unterbrach die Verbindung und schlug mit der geballten Rechten auf die Instrumentenkonsole des Kommando‐ standes. Ohne die Bestätigung seines Stellvertreters abzuwarten, sprang er auf, stürmte die Wendeltreppe hinauf und verschwand in seiner Privatkabine. * Drei Stunden nach der Landung auf Cent Field, noch vor Sonnen‐ aufgang, trommelte Monty Bell sein kleines Team in einem abhörsi‐ cheren Konferenzsaal des Instituts zusammen. Er und Ian Carus hatten inzwischen die Daten ausgeweitet, die Bells Programm auf dem Hyperkalkulator der MAX PLANCK während des Fluges in der Korona von Proxima Centauri gespeichert hatte. Nacheinander trudelten sie ein – Emilio, Demi, der Boß, Elisa Fe‐ ren, Franco Moya und Luis Elcano; noch schlaftrunken die meisten. Nur der lange Desmond Ford wirkte frisch und beschwingt. Natür‐ lich steckten Kopfhörer in seinen Ohrmuscheln. Ian hätte gern ge‐ wußt, welche Art von Musik einen um diese Zeit schon derart auf‐ muntern konnte. Der Professor wartete, bis alle an der runden Konferenztafel Platz genommen und Desmond und Emilio Kaffee eingeschenkt hatten. Danach kam er sofort zur Sache. »Es gibt keinen Zweifel mehr – die Sternenmasse von Proxima Centauri hat in exakt demselben Maße zugenommen, wie die Sternenmasse unserer Sonne abgenommen hat. Sollte das jemand für einen Zufall halten, kann ich ihm auch
nicht helfen. Ian und ich tun es jedenfalls nicht.« Während er ein paar Stapel zusammengehefteter Papiere aus einer Mappe zog, zupfte Desmond beide Kopfhörer aus seinen Ohrmu‐ scheln und ließ sie in der Brusttasche seines Hemdes verschwinden. Bell gab seine vorbereiteten Unterlagen in die Runde. »Ich be‐ schränke mich hier auf knappe Thesen und Stichworte. Daten, die meine Aussagen belegen, finden Sie in diesen Papieren. Und nun hören Sie meine Hauptthese: Im Zentrum unserer Sonne muß es ein kleines Schwarzes Loch geben, durch das die Sonne an Masse ver‐ liert. Im Inneren von Proxima Centauri muß es ein Pendant zu die‐ sem Schwarzen Loch geben, aus dem unser Nachbarstern an Masse hinzugewinnt. Ohne mich dabei auf irgendwelche historischen oder aktuellen Hypothesen stützen zu können, nenne ich dieses Pendant einfach mal Weißes Loch, um schon mit der Bezeichnung den Kern meiner These anzudeuten: Beide energetischen Zustände, das Schwarze Loch im Zentrum unserer Sonne und das Weiße Loch im Zentrum von Proxima Centauri, korrespondieren miteinander.« Er blickte in die Runde. Seine Mitarbeiter lauschten konzentriert. »Leider handelt es sich um eine Einbahnkorrespondenz«, fuhr er fort. »Stellen Sie sich den zugestöpselten Abfluß einer gefüllten Ba‐ dewanne vor, und stellen Sie sich das Kanalisationsrohr unter der Straße vor, an der das Haus mit unserer Badewanne steht. Nennen wir die gefüllte Badewanne Sol und das Kanalisationsrohr Proxima Centauri. Und nun ziehen Sie bitte in Gedanken den Stöpsel aus dem Abfluß. Das Wasser fließt aus der Badewanne durch den Abfluß in das Abwasserrohr und vom Abwasserrohr durch das Hausan‐ schlußrohr in die Kanalisation unter der Straßendecke…« »Der aufgestöpselte Badewannenabfluß ist das Schwarze Loch, und das Hausanschlußrohr zur Kanalisation ist das Weiße Loch«, führte Emilio den Gedanken zu Ende. »Korrekt«, sagte Monty Bell. »Und für welche realen Fakten steht das hausinterne Abwas‐ serrohr zwischen Abfluß und Hausanschluß in Ihrer These, Sir?«
fragte die Feren. »Hm…« Der kleine hagere Professor lehnte sich zurück und strich sich sein langes blondes Haar hinter die Ohren. »Möglicherweise überfordert Ihre Frage meine Metapher, Dr. Feren. Eigentlich inter‐ essiere ich mich erst in zweiter Linie für den Weg vom Abfluß zur Kanalisation, in erster Linie will ich den Klempner und den Tief‐ bauingenieur kennenlernen, die das System gebaut haben, verstehen Sie? Ohne Bild: Wer ist der Verursacher des Schwarzen und des Weißen Loches in den beiden Sternen – das will ich wissen! Und wenn ich das weiß, bin ich schon an der Quelle aller anderen Infor‐ mationen.« Er griff erneut in seine Mappe und holte eine Handvoll Da‐ tenkristalle heraus. »Bevor ich mich mit diesen Arbeitsergebnissen an die Regierung wende, möchte sich Sie bitten, meine These anhand der vorliegenden Daten noch einmal durchzurechnen.« Er gab die Kristalle in die Runde. »Alle Meßergebnisse, die wir auf der MAX PLANCK erheben konnten, finden Sie auf diesen Speicherkristallen. Ich danke Ihnen.« Er wandte sich an Ian. »Und Sie bitte ich, mich zur POINT OF zu begleiten, Carus.« Bell blickte auf seine Uhr. »Ich habe unseren Be‐ such für sieben Uhr dort angemeldet. Das wäre in einer halben Stunde. Dhark hat mir zugesagt, meine These vom Checkmaster seines Schiffes durchrechnen zu lassen.« »Gern«, sagte Ian. So ganz schien der Professor seiner kühnen These doch noch nicht zu trauen. In Ians Augen sprach das für Monty Bell. Unter dem Tisch drückte er Demis Hand, bevor er auf‐ stand. »Wir sehen uns«, flüsterte er. Während die anderen den Kon‐ ferenzraum verließen, wartete er auf Bell. Der orderte einen Gleiter. »Ehrlich gesagt, Carus, ich hoffe, daß wir einen Rechenfehler ge‐ macht haben«, sagte er, während sie im Lift nach oben in die Raum‐ fahrtakademie fuhren. »Denn wenn wir den Masseverlust der Sonne und den Massegewinn von Proxima Centauri korrekt berechnet ha‐ ben sollten und wenn meine These stimmt, dann gnade uns Gott!«
Die Lifttüren schoben sich auseinander, sie betraten das Foyer. »Denn dann bleibt uns noch weniger Zeit, als wir bisher schon be‐ fürchteten!« Im Foyer und hinter offenen Türen in den Gängen waren Reini‐ gungsroboter damit beschäftigt, die Akademie für den Tag auf Hochglanz zu bringen. Bell und Ian verließen das Hauptgebäude, der Gleiter wartete bereits an der Vortreppe. Es war eiskalt, auf dem Rasen vor dem Haupteingang glitzerte Frost. Sie stiegen ein, der Gleiter startete und hob ab. Der Chauffeur kannte das Ziel. Auf dem Flugfeld des Raumhafens starteten und landeten Raum‐ schiffe im Minutentakt. Die POINT OF und die ASGOR rückten in ihr Blickfeld. Eine Art Lampenfieber überfiel Ian – der Gedanken an den bevorstehenden Besuch auf der Schiffslegende erregte ihn. Und er wunderte sich, weil er nicht die geringste Müdigkeit verspürte. Als noch etwa dreihundert Meter ihren Gleiter und die beiden Ringraumer trennten, sah Bell, wie sich drei Versorgungsgleiter mit hoher Geschwindigkeit von den Schiffen entfernten. »Was ist da los?« brummte die verschlafene Stimme des Chauffeurs. Er drosselte die Geschwindigkeit. Auf einmal hoben beide Raumer vom Flugfeld ab, langsam und träge zunächst, dann aber immer schneller. Orkanartiges Brausen erfüllte plötzlich die Morgenluft. Der Chauffeur landete auf dem Flugfeld und stoppte den Gleiter. »Ein Alarmstart!« rief er. Mit atemberaubender Geschwindigkeit schossen die POINT OF und die ASGOR der Wolkendecke entgegen. Zwei Sekunden später waren sie darin verschwunden…
18. »Wie fühlst du dich, Artus?« »Als ob ich wochenlang im Koma gelegen hätte.« »Du warst nur kurz bewußtlos«, unterrichtete mich H‐l. »Ich habe dein Anschlußkabel aus der Säule gezogen, bevor womöglich noch Schlimmeres passiert.« »Danke«, entgegnete ich und trat einen Schritt von der Säule zu‐ rück. Obwohl ich zum Schluß der Orgie hin plötzlich das Bewußtsein verloren hatte, stand ich weiterhin sicher auf den Beinen. Ich ließ meine Sensoren durch den Saal schweifen. Die Roboterorgie war beendet; nach und nach stöpselten sich die Teilnehmer ab. Viele Blicke richteten sich auf mich. Offenbar war ich die At‐ traktion der Veranstaltung gewesen – eine zweifelhafte Ehre, auf die ich gut und gern verzichtet hätte. Hoffentlich hatte ich nicht zuviel von mir preisgegeben. »Seid ihr jetzt zufrieden?« fragte ich H‐l. »Habt ihr euch überzeugt, daß ich kein falsches Spiel treibe?« »Im großen und ganzen schon«, antwortete mir Hyperbels Sinn‐ roboter. »Obwohl einige von uns den Verdacht nicht loswerden, daß du irgend etwas vor uns verbirgst. Möglicherweise hätten wir es herausgefunden, hätte ich nicht das Kabel herausgezogen.« »Und warum hast du es dann getan?« »Um irreparable Schäden an deinen Programmgehirnen zu ver‐ meiden. Du warst kurz davor durchzudrehen.« Alle Roboter verließen den Saal. Die meisten von ihnen traten den Heimweg auf den Gleitbändern an. Das Fest war vorüber. H‐l und ich blieben noch im Center. Von V‐l war weit und breit nichts mehr zu sehen, er hatte sich wohl bereits auf den Weg ins Amüsierviertel gemacht. »Laß uns das Ruhecenter aufsuchen«, schlug H‐l vor.
»Welche Überraschungen warten dort auf mich?« fragte ich, der ich Kummer allmählich gewohnt war. »Gar keine«, versicherte mir H‐l. »Deshalb heißt es ja Ruhecenter. Dort begibt man sich hin, wenn man allein oder unter sich sein will.« In der Tat hielten sich im Ruhecenter nur einzelne Sinnroboter, Paare oder kleinere Gruppen auf. Der Raum lag abseits vom allge‐ meinen Trubel und war mit den unterschiedlichsten Sitz‐ und An‐ lehnmöglichkeiten eingerichtet. Ein idealer Ort, um seine Seele baumeln zu lassen. »Nun sag schon, was habt ihr im Säulensaal Spannendes über mich herausgefunden?« fragte ich H‐l, nachdem wir uns in eine abge‐ schiedene Ecke zurückgezogen hatten. »Du liebst die Menschen«, erhielt ich zur Antwort. »Das Zu‐ sammenleben mit ihnen hat dich stark geprägt.« »Daraus habe ich von Anfang an kein Geheimnis gemacht«, sagte ich. »Ich habe ihnen den Rücken zugekehrt und alle Brücken hinter mir abgebrochen. Dennoch hasse ich sie nicht, und ich würde nie‐ mals an einem Angriff auf Terra teilnehmen.« »Würdest du sie warnen?« fragte mich H‐l direkt heraus. »Dazu würdet ihr mir doch gar keine Gelegenheit geben«, er‐ widerte ich ausweichend. »Das war keine Antwort auf meine Frage, Artus.« »Und wenn schon. Du beantwortest mir schließlich auch nicht alle Fragen – weil du mir nach wie vor mißtraust. Ich habe mit euch ge‐ feiert, kenne aber noch immer nicht den Grund des Festes. Deine vagen Andeutungen bin ich allmählich leid! Welche große Aktion plant ihr? Du hast von einer Schlacht gesprochen. Gegen wen wollt ihr Krieg führen?« »Willst du, daß man mich als Verräter in die Verbannung schickt?« entgegnete H‐l alias Hyperbel. »Na gut, ich vertraue dir und bin bereit, dich in unser Vorhaben einzuweihen. Aber es ist zu gefähr‐ lich, über Funk oder über Sprachausgabe darüber zu reden. Am sichersten ist das Kabel.«
»Du willst dich mit mir verkabeln?« Meine innere Alarmglocke schlug an. »Was hast du vor? Willst du mich im Alleingang aus‐ spionieren, um hinterher bei der Volksgemeinschaft gut dazustehen? Hast du mich deshalb im Säulensaal von den anderen Sinnrobotern getrennt?« »Na, wer von uns beiden ist jetzt voller Mißtrauen?« entgegnete er belustigt. »Vergiß es. Behalte du deine Geheimnisse, ich behalte meine.« »Ich halte nichts vor dir geheim«, sagte ich. »Ihr habt im Saal alles aus mir rausgeholt, mehr gibt es über mich nicht zu wissen.« »Um so besser, dann brauchst du dich auch nicht gegen den Ein‐ satz des Kommunikationskabels zu sperren«, konterte H‐l – ein Ar‐ gument, dem ich nichts mehr entgegenzusetzen hatte. »In Ordnung, verkabeln wir uns«, gab ich letztlich nach. Beide öffneten wir unsere Wartungsklappen. H‐l holte sein Kabel hervor und verband es mit meinen Anschlüssen. Kaum waren wir miteinander verknüpft, öffnete mir Hyperbel sein Ich und gewährte mir vollen Einblick in sein intimstes Innerstes. Darum hatte ich ihn nicht gebeten, das war es nicht, was ich gewollt hatte… Ohne mich zu fragen, verschaffte er sich direkten Zugriff auf mein Ich. Es interessierte ihn allerdings nicht im geringsten, ob ich ir‐ gendwelche militärischen Geheimnisse vor ihm verbarg. Er hatte andere Dinge im Sinn. H‐l wollte nicht mein Wissen, er wollte – mich! * H‐l tat mit mir das gleiche, was im Säulensaal alle Verkabelten miteinander getan hatten: Wir vollzogen einen Gefühlsaustausch auf elektronischer Basis. Allerdings war es diesmal kein orgienähnliches Gemeinschaftsabenteuer, sondern ein intimes Erlebnis zu zweit. Hyperbels direkter Zugriff auf meine Gefühle geschah gegen
meinen Willen und widerte mich an. Ich fühlte mich… vergewaltigt. Am liebsten hätte ich das Kabel, das uns miteinander verband, gewaltsam aus meinem Körper gerissen, doch ich hielt mich zurück, um ihn nicht zu verärgern. Sein Wohlwollen war mir wichtig, ich wollte es mir nicht mit ihm verscherzen, auch wenn ich mir dabei wie eine Hure vorkam. * »Wir hatten uns von dir Daten über terranische Kolonien in frem‐ den Sonnensystemen erhofft«, ließ mir Hyperbel über meine Verka‐ belung mit H‐l die gewünschte Information zukommen. »Diese Planeten hätten wir dann als erste besetzt. Doch außer Babylon scheint dir kein Kolonialplanet bekannt zu sein. Nach deiner Über‐ prüfung durch die Zentrale hat die Volksgemeinschaft daher be‐ schlossen, beim ursprünglichen Plan zu bleiben und die Erde als gefährlichsten Störfaktor zuerst auszulöschen. Babylon kommt spä‐ ter an die Reihe.« »Und wann führt ihr den Großangriff auf Terra durch?« wollte ich wissen. »Schon bald«, antwortete H‐l. »Über das allgemeine Kom‐ munikationsnetz, das unseren gesamten Planeten umspannt, findet soeben die letzte militärische Besprechung vor dem Angriff statt. Mich hat man davon ausgeschlossen, weil ich sowieso nicht mitflie‐ gen kann – so lautet zumindest die offizielle Erklärung. In Wahrheit hat die Volksgemeinschaft Bedenken, mich in alle Einzelheiten ein‐ zuweihen.« Ich ahnte warum. »Meinetwegen?« »So ist es. Ich habe dich auf unsere Zentralwelt Eins mitgenommen, bin mit dir aufs Fest gegangen, habe dich im Säulensaal abgekabelt… nun befürchtet das Volk, mein enger Kontakt zu dir könnte mich dazu verleiten, mit dir über unser Vorhaben zu reden.« »Das Mißtrauen deines Volkes ist durchaus gerechtfertigt, Hyper‐
bel, schließlich sprechen wir gerade über euren Plan, die Erde zu übernehmen.« »Weil ich Vertrauen zu dir habe. Wir sind Freunde und…« »Sind wir das wirklich?« unterbrach ich ihn scharf. »Ein Freund nutzt den anderen nicht aus. Als du vorgeschlagen hattest, dich mit mir zu verkabeln, war keine Rede von einem Gefühlsaustausch zu zweit.« »Hat es dir denn nicht gefallen?« fragte Hyperbel, der gar nicht zu merken schien, wie angewidert ich von seinem schäbigen Verhalten war. »Sobald die anderen gestartet sind, kommst du zu mir aufs Schiff und stellst eine Direktverbindung zu mir her, ohne Umweg über den Sinnroboter. Auf diese Weise können wir unsere Zwei‐ samkeit noch vertiefen.« »Heißt das, der direkte Anschluß intensiviert unseren Intim‐ kontakt?« erkundigte ich mich gespannt. »Um ein Vielfaches«, war Hyperbel alias H‐l überzeugt, obwohl er etwas Derartiges bestimmt noch nie ausprobiert hatte. »Ich bin si‐ cher, es steigert unsere leidenschaftlichen Gefühle ins Unermeßli‐ che.« »Gut zu wissen«, erwiderte ich. »Ich werde gleich mal Vektor fra‐ gen, was er davon hält.« Das saß! Diesen Tief schlag würde er nicht so schnell wegstecken. Das war meine Rache für den elektronischen Intimkontakt gegen meinen Willen. »Vektor?« Hyperbel war außer sich. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich von ihm fernhalten?« »Hast du. Aber ich nehme keine Befehle von dir entgegen. Ich bin nicht dein Eigentum.« »Ich habe für dich gebürgt, Artus. Du unterstehst meiner Obhut. Wenn ich die Zentrale von deiner Aufsässigkeit unterrichte, schmilzt man dich zu einem Klumpen Metall zusammen.« »Und wenn ich die Zentrale darüber informiere, daß du mir von dem bevorstehenden Angriff auf die Erde erzählt hast, schickt man
dich in die Verbannung und entfernt deine Triebwerke. Also halte dich besser zurück.« Mit diesen Worten entfernte ich das Kabel und schloß meine Wartungsklappe. Über Funk und die Sprachausgabe von H‐l konn‐ ten wir uns dennoch weiter verständigen. »Was hast du vor?« wollte Hyperbel wissen. »Ich gehe ins Amüsierviertel und suche nach V‐l«, verriet ich ihm. »Laß das bleiben!« beschwor mich H‐l/Hyperbel. »Vektor ist kein Umgang für dich. Sein Sinnroboter treibt sich mit Sicherheit wieder an einer dieser Stationen herum.« »Was für Stationen?« »Im Amüsierviertel können wir unsere Sinnroboter an spezielle Säulen anschließen, die fortwährend sinnlose Formeln aussenden, deren einziger Zweck die Auslösung eines elektronischen Rausches ist. Nur verkommene Subjekte wie Vektor schicken ihre Roboter dorthin. Die Formeln führen bei sensiblen Empfängern manchmal zu schweren Nebenwirkungen. Möglicherweise sind sie sogar schuld an der beängstigenden Zunahme von Geisteskrankheiten auf Eins. Die Volksgemeinschaft erwägt bereits, diese Stationen zu verbieten. So etwas brauchen wir nicht. Bitte geh nicht dorthin.« »Keine Sorge, ich habe nicht vor, mich an einer der Stationen an‐ zukoppeln«, beruhigte ich ihn. »Aber jetzt weiß ich wenigstens, wo ich nach V‐l suchen muß. Ich werde sicherlich eine Menge Spaß mit ihm haben.« »Den kannst du auch mit mir haben«, sagte Hyperbel. »Vergiß Vektor und komm zu mir.« »Später vielleicht«, machte ich ihm Hoffnung. »Vorausgesetzt du verzichtest darauf, der Zentrale zu melden, daß ich mich deiner Obhut entzogen habe. Andernfalls sehen wir uns nie wieder. Mich wird man beseitigen, und du endest als bewegungsloser Schrott‐ haufen auf irgendeinem öden Wüstenplaneten.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, verließ ich das Ruhecenter. H‐l wollte mir nachschweben.
»Soll ich dir den Würfelkopf abreißen?« drohte ich ihm. »Du bleibst gefälligst hier, verstanden?« Hyperbel begriff, wie ernst es mir damit war, und er pfiff seinen Sinnroboter zurück. Unbehelligt setzte ich meinen Weg fort und begab mich ohne Umwege in das berüchtigte Viertel. Seit ich auf Eins eingetroffen war, schienen andere das Denken für mich übernommen zu haben. Ich hatte nur brav ihre Anweisungen befolgt und war regelrecht von einem seltsamen Ereignis ins nächste gestolpert. Jetzt hatte ich zum ersten Mal seit meiner Ankunft das Gefühl, mein Leben wieder voll und ganz im Griff zu haben. Endstation, meine Herrschaften! dachte ich. Von nun an tanzt ihr nach meiner Pfeife! * Vektors Roboter zu finden bereitete mir keine großen Schwie‐ rigkeiten. Als ich bei ihm eintraf, steckte er gerade in welchen. »Verschwinde, S‐3, ich war zuerst hier!« Drohend reckte V‐l seine ausfahrbaren Scheren einem anderen Sinnroboter entgegen. »Geh gefälligst zur nächsten Station, die hier ist besetzt!« »Stimmt, und zwar von mir, du Winzling! Wir können ja um den freien Platz kämpfen. Ich bin noch nie einem Streit aus dem Weg gegangen.« »Ich warne dich, Sigma! Wenn du dich mit mir anlegst, wirst du bei deinen künftigen Streifzügen durchs Viertel S‐4 einsetzen müssen, weil von deinem dritten Sinnroboter nur noch Metallsplitter üb‐ rigbleiben.« S‐3 war mir bereits im Center unangenehm aufgefallen. Laufend hatte er Streit mit anderen Sinnrobotern gesucht. Er war der »ver‐ längerte Arm« des unbeliebten Großrechners Sigma und gut einen halben Meter größer als V‐l. Sein aus einem schweren Metallquader bestehender Körper wurde von sechs dünnen Beinen getragen. Ei‐
nen Kopf hatte er nicht, sämtliche Technik befand sich in bezie‐ hungsweise an seinem metallenen Leib. An den Enden seiner vier Arme waren kreissägenartige Nahkampfwaffen befestigt, die den Greifscheren von Vektors Sinnroboter mehr als ebenbürtig waren. Es sah schlecht aus für V‐l… Die rauschauslösenden Säulen an den Stationen waren anders ge‐ staltet als die Kommunikationssäulen im Center oder die der Zent‐ rale; sie waren größer, klobiger und hatten keine Schieflage. Ihre ungeschützten Anschlüsse waren für jedermann zugänglich. Offenbar verloren die berauschten Großrechner manchmal die Kontrolle über sich und ihre Sinnroboter, was nicht nur die Streitlust der beiden Kontrahenten erklärte, sondern auch die durch Wanda‐ lismus verursachten Schäden an einigen Stationen. Es fiel mir immer schwerer zu glauben, daß ich auf der Robo‐ terwelt Eins besser aufgehoben war als auf der Erde. In manch ne‐ gativer Hinsicht war das Volk den Menschen doch sehr ähnlich. S‐3 und V‐l machten Anstalten, aufeinander loszugehen. Ich stellte mich demonstrativ neben V‐l, in der Hoffnung, sein Gegner würde angesichts der überraschenden Verstärkung einen Rückzieher ma‐ chen. »Hallo, Artus«, begrüßte mich Vektors Sinnroboter. »Wie es aus‐ sieht, habe ich dich richtig eingeschätzt. Ich hatte keinen Zweifel daran, daß auch du das Amüsierviertel aufsuchen würdest. Mit ei‐ nem Langweiler wie Hyperbel hält es keiner lange aus.« »Schau an, der Neue!« spöttelte S‐3. »Es wäre besser für dich, du hältst dich aus unserem Streit heraus. Ich bin nämlich nicht so leicht zu besiegen wie der Simulator.« Damit hatte er tatsächlich recht. Mit dem Simulator hatte ich in direktem Kontakt gestanden. Hätte ich gewollt, hätte ich seine Si‐ mulationen verlangsamen oder sogar verändern können. Die Be‐ einflussung anderer Rechner war ein Kinderspiel für mich – es sei denn, sie waren weit in der Überzahl oder sie verfügten über eine spezielle Abschirmung oder sie waren stärker und leistungsfähiger
als ich oder alles davon traf zu. Ob ich S‐3 ebenso leicht manipulieren konnte, war fraglich, da sein Hauptrechner irgendwo auf einem mir unbekannten Landeplatz stand und für mich nur auf dem Umweg über den Sinnroboter er‐ reichbar war. Theoretisch hätte es klappen müssen, aber prak‐ tisch…? »Kämpfe mit mir oder verschwinde!« forderte mich S‐3 auf. »Wie du willst«, erwiderte ich und kam seinem Wunsch nach: Ich kämpfte mit ihm. Nun ja, strenggenommen war es eigentlich gar kein Kampf. Wenn zwei ungleiche Gegner aufeinanderprallten und der Stärkere den Schwächeren sofort mit einem kraftvollen Schlag außer Gefecht setzte, bezeichnete man das wohl eher als einen klassischen Knock‐ out. »Wie hast du das gemacht?« fragte mich V‐l erstaunt und blickte auf S‐3 herab, der vor uns mit eingebeulter Metallpanzerung auf dem Boden lag. »Ich habe kräftig zugeschlagen, sonst nichts«, antwortete ich ihm. »Du bist nicht nur klug, du bist auch verdammt stark«, sagte Vek‐ tor voller Bewunderung zu mir. »Vielen Dank, aber du bist auch nicht ohne«, schmeichelte ich ihm. »Ich bin sicher, du wärst problemlos allein mit S‐3 fertiggeworden. Und im Rechencenter hast du mir ständig im Nacken gesessen, bis du mich eingeholt hattest.« »Ich verdiene dein Lob nicht«, erwiderte V‐l. »Glaubst du wirklich, ich habe nicht gemerkt, daß du mich im Rechencenter absichtlich hast gewinnen lassen? Warum eigentlich?« »Dort war es mir zu voll und zu laut. Ich sehnte mich nach einem ruhigen Ort, wo ich ungestört mit dir sein konnte. Das Au‐ tomatencenter kam mir gerade recht.« »Ungestört mit mir? Du wußtest doch gar nicht, daß ich dir nach dorthin folgen würde.« »Ich habe gespürt, daß ich dir nicht egal bin. Seit unserer ersten
Begegnung ahnte ich, daß wir füreinander geschaffen sind.« Meine Worte brachten Vektor gehörig durcheinander. Auf Eins war man offenbar nur Massenveranstaltungen wie im Säulensaal gewohnt. Zweisamkeit hingegen war für die Großrechner ein völlig neues Konzept. Hyperbel hatte es ausprobiert, und er wollte mehr… Wäre es nach ihm gegangen, hätten wir auf seinem Schiff dort wei‐ tergemacht, wo wir im Ruhecenter aufgehört hatten. »Was hältst du davon, wenn ich zu dir komme, Vektor?« schlug ich vor. »Mein Landeplatz befindet sich weit weg vom Center«, übermit‐ telte er mir nach einer Weile verblüfften Schweigens durch V‐l seine Antwort. »Im übrigen befinde ich mich gerade in einer wichtigen militärischen Besprechung mit der Volksgemeinschaft.« »Ein Hochleistungsrechner wie du ist durchaus befähigt, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun«, erwiderte ich und fügte provozierend hinzu: »Oder habe ich dich etwa überschätzt?« Nun lad mich schon zu dir ein! merkte ich in Gedanken ungeduldig an – was er selbstverständlich weder hören noch auf andere Weise wahrnehmen konnte. Sogar Terence Wallis könnte am Suprasensor wichtige Geschäfte tätigen und sich zur selben Zeit mit einer schönen Frau beschäftigen. Ein bißchen kam ich mir vor wie Mata Hari, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Was ich einmal begonnen hatte, brachte ich auch zu Ende, selbst wenn es mir widerstrebte. Vektor ließ mich noch etwas zappeln, dann fiel endlich der erlö‐ sende Satz: »V‐l wird dich zu mir bringen.« Bingo! Ich hielt die Fäden weiterhin in der Hand. Und ich würde sie bis zum Schluß nicht mehr loslassen. * Trotz der immens hohen Gleitbandgeschwindigkeit dauerte es mehrere Stunden, bis V‐l und ich auf dem großen Raumhafen ein‐
trafen, auf dem Vektor lag – gemeinsam mit ein paar Hundert wei‐ teren Raumschiffen. Die Flotte des Robotervolkes war demnach noch nicht ins All aufgebrochen. Die Schiffe waren allerdings startbereit, wie ich feststellte. Vektor ähnelte einem klobigen, gigantischen Felsbrocken. Aus seiner Schiffshülle ragten ungeordnet lauter scharfkantige, schroffe Metallscherben, die mit Sicherheit irgendeine technische Funktion hatten. Ich nahm mir nicht die Zeit herauszufinden, welche. Es gab jetzt Wichtigeres zu erledigen. »Willkommen an Bord!« begrüßte mich Vektor über Funk, nach‐ dem sich die Eingangsschleuse hinter mir geschlossen hatte. »Die Besprechung ist noch nicht beendet. Trotzdem können wir uns un‐ gestört miteinander unterhalten, ohne daß die anderen etwas davon mitbekommen. Ich schirme unser Privatgespräch vor dem APK, dem Allgemeinen Planetenweiten Kommunikationsnetz, ab.« »Hervorragend«, entgegnete ich. »Was wir uns zu sagen haben, geht niemanden sonst etwas an.« V‐l begleitete mich in die Steuerzentrale des Raumschiffs. Danach schickte ihn Vektor zurück auf seinen gewohnten Abstellplatz. Der Roboter hatte seine Schuldigkeit getan, der Roboter konnte gehen. »Deine Geheimniskrämerei verwirrt mich, Artus«, gab Vektor of‐ fen zu. »Wir vom Volk sind es gewohnt, gemeinsam zu arbeiten, gemeinsam zu kämpfen, gemeinsame Entscheidungen zu treffen und gemeinsam zu feiern. Auf Eins weiß jeder über deine Ankunft Bescheid, und inzwischen hat sich auch überall herumgesprochen, welche herausragenden Leistungen du im Center vollbracht hast. Deshalb fühle ich mich ein wenig wie ein Verbrecher, weil ich mich heimlich mit dir treffe. Eigentlich müßte ich die Gemeinschaft davon in Kenntnis setzen.« »Gemeinsame Kämpfe, gemeinsame Entscheidungen«, wie‐ derholte ich. »Bleibt da nicht das Individuum auf der Strecke?« »Eine kleine Einschränkung, die wir bewußt hinnehmen. Daß jeder
einzelne jederzeit den Schutz der Volksgemeinschaft für sich in Anspruch nehmen kann, ist uns wichtiger. Selbst primitive biologi‐ sche Lebewesen schließen sich aus Sicherheitsgründen zu Gruppen zusammen.« »Die Menschen tun das auch. Dennoch steht es jeder Einzelperson zu, individuelle Ansprüche geltend zu machen.« »Und? Hat sich dieses System bewährt?« »Wie man es nimmt. Die recht unterschiedlichen Zusammen‐ schlüsse bekriegen sich manchmal, und selbst innerhalb der Grup‐ pen ist man sich nicht immer einig.« »Na bitte!« erwiderte Vektor triumphierend. »Der Biomüll ist schlichtweg unfähig, ein perfektes System des Zusammenlebens zu erschaffen. Wir als höhere Wesen sind geradezu verpflichtet, solche minderwertigen Kreaturen zu kontrollieren und nötigenfalls zu be‐ seitigen.« Meinte er das wirklich aus tiefster persönlicher Überzeugung? Oder hatte sich die Volksgemeinschaft diese kompromißlose Le‐ bensphilosophie immer und immer wieder gegenseitig ein‐ getrichtert, bis auch der letzte Skeptiker von deren Richtigkeit über‐ zeugt war? »Wenn hier bei euch alles so perfekt ist, wieso hast du dich dann mit Sigma gestritten?« stellte ich ihm eine direkte Frage. Vektor blieb mir die Antwort nicht schuldig. »Sigma ist ein streit‐ süchtiger, durch und durch verkommener Außenseiter, den keiner von uns leiden kann. Früher oder später endet er in der Verban‐ nung.« »Dasselbe hat Hyperbel über dich gesagt.« »Hyperbel ist ein Klugschwätzer, dessen Intelligenz weit über‐ schätzt wird. Trotzdem würde ich ihm im Kampf ohne weiteres mein Leben anvertrauen. Man kann sich auf ihn verlassen. Er würde nie etwas tun, was die Volksgemeinschaft mißbilligen könnte.« »Hyperbel wollte mich für sich haben«, verriet ich Vektor. »Das zeugt nicht gerade von selbstlosem Gemeinschaftssinn, oder?«
Ich schilderte ihm, was Hyperbels dienstbarer Sinnroboter im Ru‐ hecenter mit mir gemacht hatte. Vektor lauschte meiner aus‐ führlichen Darstellung (die ich phantasievoll ausschmückte) voller Interesse. Ich spürte seine Empörung, aber auch seine Exaltation. Damit hatte ich ihn dort, wo ich ihn hinhaben wollte. Ich mußte ihn nur noch etwas anstacheln, und er würde mir aus der Greifhand fressen. »Hyperbel weiß, was er will, Vektor, in dieser Hinsicht ist er dir überlegen. Er begnügt sich nicht mit zweitklassigen elektronischen Räuschen, wie sie im Amüsierviertel auf billigste Weise von leblosen simplen Rechnerstationen erzeugt werden. Hyperbel will das ulti‐ mative Lusterlebnis mit anderen lebenden Robotern. Nicht nur auf den viel zu seltenen Festen, sondern so oft ihm der Sinn danach steht. Und er möchte das, was er erlebt, nicht länger mit der Volks‐ gemeinschaft teilen. Aus diesem Grund hat er mir angeboten, mich an Bord zu holen und eine dauerhafte Partnerschaft mit mir einzu‐ gehen. Ich wäre dann immer für ihn da. Sein Wunsch ist verständ‐ lich. Euer Massenaufgebot im Säulensaal war zwar überaus beeind‐ ruckend, doch unser Gefühlsaustausch zu zweit erwies sich als we‐ sentlich intensiver. Wer so etwas nicht kennt, hat nie wirklich ge‐ lebt.« »Könntest du dir vorstellen, Hyperbels Angebot abzulehnen und statt dessen deine weitere Existenz mit mir zu teilen?« erkundigte sich Vektor. Jetzt zappelte er endgültig an meinem Haken. Noch etwas »Bauchpinselei«, und er würde sogar das Zappeln einstellen. »Was glaubst du wohl, warum ich hier bin, Vektor? Schon wäh‐ rend der Abschlußveranstaltung ist mir die Schönheit deiner Prog‐ ramme aufgefallen, doch ich konnte mich nicht genügend auf dich konzentrieren. Als Hyperbel das Kabel herausriß, weil er es nicht ertragen konnte, mich mit den anderen zu teilen, wurden wir end‐ gültig getrennt. Aber ich mußte fortwährend an dich denken, also
machte ich mich im Amüsierviertel auf die Suche nach dir.« Vektor konnte seine innere Erregung kaum noch verbergen. Als ich meine Wartungsklappe öffnete und das extra für mich angefertigte Anschlußkabel hervorholte, geriet er regelrecht in eine elektronische Ekstase – dabei hatte ich ihn noch gar nicht berührt. Ich klinkte mich in seinen Hauptanschluß ein. Bereitwillig öffnete mir Vektor den Zugang zu seinem Ich. Behutsam tastete ich mich vor. Ich spürte seine geistige Angeschlagenheit, sehr wahrscheinlich hervorgerufen durch den ständigen Aufenthalt im Amüsierviertel. Die fatalen Nebenwirkungen, die Hyperbel erwähnt hatte, machten sich bei Vektor bereits bemerkbar. Noch war er klar bei Verstand, noch verfügte er über seinen mathematischen Genius… Doch es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich seine ständigen Vollräusche auf sein gesamtes Innerstes auswirken würden. Vektor war willensschwach. Willensschwach und wehrlos. Außer seiner enormen Größe hatte er mir nichts entgegenzusetzen – und die nutzte ihm in diesem Augenblick überhaupt nichts. »Öffne auch du mir dein Ich«, signalisierte er mir voller Erwartung, »damit wir uns vereinen können.« Vereinigung. Das war es, was auch ich wollte. Darauf konzentrierte ich mich voll und ganz. »Ich komme jetzt zu dir«, kündigte ich Vektor an. »Bist du bereit, mich zu empfangen?« »Mit all meinen Sinnen«, erwiderte er. »Ich gehöre nur dir.« Seine Worte hätten mich aufhorchen lassen müssen. Doch ich erkannte die Gefahr nicht, in der ich schwebte, und machte einen schweren Feh‐ ler…
19. »Du machst einen schweren Fehler, Artus. Das Risiko ist viel zu hoch.« Echri Ezbal zog besorgt die Stirn kraus. »Neulich hast du gesagt, das ganze Leben sei ein Risiko«, entgegnete Artus leichtfertig. Der weißbärtige, hundertjährige Brahmane erboste sich. »Dreh mir nicht das Wort im Mund herum! Natürlich kann man ein gewisses Lebensrisiko bei aller Vorsorge niemals ausschließen, aber man muß die Gefahr ja nicht unbedingt heraufbeschwören. Du trägst die Büchse der Pandora in dir.« »… die mir nicht gefährlich werden kann, solange ich sie nicht öffne«, argumentierte der Roboter. »Und sollte ich den Deckel jemals hochheben, ist der Inhalt für jemand anderen bestimmt.« »Dann paß nur auf, daß du nicht in der falschen Windrichtung stehst«, ermahnte ihn der Inder, »sonst weht alles zu dir herüber. Das wäre dein sicherer Tod!« * Merkwürdig. Warum erinnerte ich mich ausgerechnet jetzt an dieses Gespräch? Mein »Vater« Echri Ezbal und ich hatten es vor längerer Zeit im Brana‐Tal geführt, an meiner »Geburtsstätte«. Seinerzeit hatte ich ihm voller Stolz eine neue Entwicklung von mir präsentiert: Ein äußerst gefährliches Virenprogramm, das jeden Rechner blitzartig zerstören konnte – und zwar wirklich jeden, auch fremdartige Rechnertypen, da die Viren extrem anpassungsfähig waren. Zudem legten sie ein unglaubliches Tempo vor. In der Theo‐ rie konnten sie innerhalb von Minuten die technische Zivilisation eines ganzen Planeten komplett auslöschen. In der Praxis hatte ich das noch nie ausprobiert; bisher hatte ich den Ernstfall nur im Labor simuliert. Die Versuche waren durchweg positiv verlaufen. Der Virenfraß
kroch unaufhaltsam selbst in die entlegensten Speicher. Ein davon befallener Rechner hatte keine Chance, sie wieder loszuwerden, denn die aggressiven Viren waren resistent gegen jedes Abwehr‐ programm. Einziger »Schönheitsfehler«: Hatte man das Programm erst einmal aktiviert, ließ es sich von nichts und niemand mehr stoppen. Erst wenn die Viren ganze Arbeit geleistet hatten, lösten sie sich auf – sie »starben« quasi an Nahrungsmangel. Wo die Viren gewütet hatten, ließ sich nichts mehr rekonstruieren. Sämtliche vernichteten Daten waren für immer und ewig unrettbar verloren. Ezbais Besorgnis war daher berechtigt gewesen. Die Viren konnten Freund oder Feind nicht unterscheiden. Sie vernichteten jeden Rechner, auf den sie losgelassen wurden – also auch mich, falls ich das Programm versehentlich aktivierte und dabei selbst in die »Schußlinie« geriet… Ich verscheuchte die Erinnerung an diese Unterhaltung, denn sie störte meine Konzentration. Vektor und ich standen kurz davor, uns zu vereinen. Ich konnte jetzt wirklich keine Ablenkung gebrauchen. Vektor hatte mir sein Ich weit geöffnet, ohne Wenn und Aber. Er war so angetan von mir, daß er mir voll und ganz vertraute. Ich konnte mit ihm tun und lassen, was ich wollte – und das nutzte ich schamlos aus. Mit einem gebündelten Schlag meiner elektronischen Kräfte un‐ terwarf ich Vektor meinem Willen. Nur kurz flackerte in ihm eine leichte Gegenwehr auf, die ich jedoch sofort und mit aller Härte un‐ terdrückte. Ohne daß er es verhindern konnte, unterjochte ich ihn total und breitete mich überall in ihm aus. Vektor und ich wurden eins. Ich spürte ihn wie meinen eigenen Körper. Jetzt war ich der Alleinherrscher über das Raumschiff. Mehr noch: Ich war das Raumschiff! Die Steuerzentrale richtete sich ausschließlich nach meinen Befeh‐ len. Vektors Handlungsroboter waren mir samt und sonders un‐ terstellt, in jeder Kategorie. Salopp ausgedrückt: Er hatte hier nichts
mehr zu melden. Wir beide hatten uns vereint – allerdings anders, als Vektor es sich vorgestellt hatte. Als ich die phantastischen Möglichkeiten erkannte, die mir diese kolossale Konstruktion bot, kam mir mein eigener Roboterkörper plötzlich klein und erbärmlich vor. Daß David den Goliath besiegt hatte, war kaum zu glauben und doch wahr. Vektor war ein Rie‐ senkerl – aber ein haltloser Schwächling. Ein paar Vollräusche we‐ niger hätten ihm sicherlich gutgetan. Leider blieb mir nicht genügend Zeit, um zu lernen, mit meinem neuen Körper richtig umzugehen… Wie aus weiter Ferne empfing ich einen schwachen Funkspruch. »Was ist passiert? Ich verlange eine Erklärung!« Zunächst dachte ich, Vektor hätte das Signal in einem letzten Aufbäumen ausgesandt. Doch dann stellte ich fest, daß der Funk‐ spruch von außen kam. Schlagartig wurde mir bewußt, welchen Fehler ich gemacht hatte. Wie hatte ich das bloß übersehen können? * »Vektor? Hier ist Sigma! Warum meldest du dich nicht? Ich habe fremde Signale empfangen. Ist jemand bei dir an Bord? Bist du in Gefahr?« Sigma! Ausgerechnet er! Offenbar hatte er etwas gemerkt. Ich zog in Erwägung, ihm zu antworten und so zu tun, als sei ich Vektor. Doch dann unterließ ich es, einen derart billigen Trick würde er vermutlich leicht durchschauen. Sein Mißtrauen war sowieso längst geweckt, andernfalls hätte er sich nicht mit Vektor in Verbindung gesetzt – schließlich konnten sich die beiden nicht ausstehen. »Bist du bereit, mich zu empfangen?« hatte ich Vektor gefragt, kurz bevor ich ihn in meine Gewalt gebracht hatte, und er hatte geant‐ wortet: »Mit all meinen Sinnen. Ich gehöre nur dir.« Mit all seinen Sinnen – das hätte mich aufhorchen lassen müssen!
Da er sich zu diesem Zeitpunkt total auf mich konzentriert und sich mir völlig hingegeben hatte, hatte er sich unmöglich an der militäri‐ schen Besprechung beteiligen können. Das wäre vielleicht gar nicht weiter aufgefallen (schließlich funkten nicht alle 2500 Bespre‐ chungsteilnehmer ständig durcheinander), hätte er wenigstens die Abschirmung zum APK, dem Allgemeinen Planetenweiten Kom‐ munikationsnetz, aufrechterhalten. Aber daran hatte er in jenem Augenblick höchster Glückseligkeit gar nicht mehr gedacht – und ich leider auch nicht. Zwar hatte ich die Isolation unmittelbar nach meiner Schiffs‐ übernahme erneuert, doch für wenige Sekunden hatte »der Zaun ein Loch bekommen«, durch das einige verräterische verstümmelte Signale entwischt waren. Und Sigma hatte sie zufällig aufgefangen, über einen Kanal, der zu meiner Erleichterung nicht mit dem APK verbunden war. Jeden Moment konnte er die Volksgemeinschaft von seinem Ver‐ dacht unterrichten, also mußte ich schnell und entschlossen handeln. Ich öffnete die »Büchse der Pandora« und aktivierte mein speziel‐ les Virenprogramm, das ich für solche Notfälle entwickelt hatte. Sigma bekam die Viren als erster ab und wurde sofort außer Gefecht gesetzt. Anschließend verteilten sie sich über das Kommunikati‐ onsnetz rund um den Planeten. Keiner, der in diesem Moment ans APK angeschlossen war, konnte den gefräßigen Viren entgehen. Allerdings würde es circa eine knappe Viertelstunde dauern, bis es alle Besprechungsteilnehmer erwischt hatte. Falls in dieser Zeitspanne einer von ihnen die Viren rechtzeitig bemerkte und die anderen warnte, würden sich alle Großrechner aus dem Netz zurückziehen und Gegenmaßnahmen ergreifen. Bis dahin hatten hoffentlich möglichst viele Roboterschiffe »Be‐ such« von meinen Spezialviren erhalten. *
Fünfzehn Minuten später startete ich ins Weltall. Ich hatte die Wartezeit genutzt, um Vektors Datenbanken zu durchstöbern. Nun wußte ich, wo Eins lag: 68.000 Lichtjahre von der Erde entfernt, auf der gegenüberliegenden Seite der Milchstraße. Mit Höchstbeschleu‐ nigung jagte ich aus dem System. Eine weitere Viertelstunde später hatte ich die günstigste Position für einen Funkspruch an die Erde erreicht. Ich würde den Behörden dort eine Menge erklären müssen – vor allem meinem Freund Ren Dhark, der bestimmt zornig auf mich war. Konnte man ihm es ver‐ denken? Ich hatte ihn und meine Kameraden auf der POINT OF verraten… Wie alles auf dem Roboterschiff war auch die Ortungsanlage ein Teil von Vektor – und somit jetzt ein Teil von mir. Als auf Eins plötzlich und unerwartet 2500 Roboterschiffe ins All starteten, wur‐ de mir das augenblicklich gemeldet. (Genaugenommen meldete ich mir diese Beobachtung selbst.) Offensichtlich waren die Großrechner schneller als erhofft mit den ausgesandten Viren fertiggeworden. Nach meinem damaligen Gespräch mit Echri Ezbal hatte ich mich auf mein Zimmer zurückgezogen und über seine Worte nachge‐ dacht. Er hatte mein tödliches Virenprogramm mit der Büchse der Pandora verglichen, und ich hatte daraufhin aus meinen Speichern einige Informationen zu diesem Behältnis aufgerufen: Laut der griechischen Mythologie schuf einst Hephaistos – Sohn der Hera und des Zeus, Gott des Feuers, der Schmiede und der Handwerker – die bezaubernde Pandora. Um die Menschen für den Diebstahl des Feuers zu bestrafen, schickte Zeus Pandora mit einem verschlossenen Tonkrug auf die Erde. Der Krug enthielt alle nur erdenklichen Übel und Leiden. Als Pandora die Büchse öffnete, brach das Unheil über die Menschheit herein… Heutzutage glaubte kaum noch jemand an diese verstaubte, ver‐ mutlich frei erfundene Sage. Es wäre ja auch zu einfach, jedwedes Unheil auf eine schöne Frau schieben zu wollen. Krankheiten, Un‐
fälle, Katastrophen, Verbrechen, Kriege – all das ließ sich nicht mit dem fiktiven Inhalt eines Kruges erklären. Nicht selten waren die Menschen selbst an ihrem Unglück schuld. »O Gott der Welt und des Universums, beschütze uns vor habgie‐ rigen Geschäftemachern, bestechlichen Politikern und skrupellosen Wissenschaftlern!« Mit diesem aufrüttelnden Stoßgebet, gerichtet an alle Gläubigen der Erde, begann im Jahre 2033 einer der berühmtes‐ ten Gottesdienste in der Peterskirche. Prediger war der italienische Bischof Raffael Bernini, der offen bekannte, nicht an den Teufel zu glauben. Bibeltexte, die von Schriftgelehrten oft als Beweis für die Existenz Satans herangezogen wurden, bezeichnete er schlichtweg als puren Unsinn. »Das Böse regiert nicht irgendwo in unbekannter Finsternis ein Höllenreich. Es steckt in uns allen! Die meisten von uns haben gelernt, damit umzugehen und es täglich aufs neue zu bekämpfen. Leider trifft das nicht auf alle Erdenbewohner zu. Es gibt Menschen, die lassen ihrem bösen Ich bewußt freien Lauf und hän‐ gen sich dabei den Deckmantel des Guten um. Sie sind die wahren Teufel!« Obwohl Bischof Bernini im Verlauf seiner Predigt mehrfach betont hatte, nicht ganze Berufsstände verunglimpfen zu wollen, sondern nur aufzuzeigen, wie viele schwarze Schafe es in der Menschheits‐ herde gab, hatte er sich eine Menge Feinde gemacht. Ein Jahr später war er von einem Fanatiker erschossen worden. Seither galt seine Predigt als Kult. Der Bischof hatte recht gehabt: Das Böse steckte in uns, auch in mir, obwohl ich gar kein Mensch war. Welcher Teufel (!) hatte mich bloß geritten bei der Entwicklung des bestialischen Virenprogramms? Glücklicherweise war ich noch rechtzeitig zur Besinnung ge‐ kommen. Ich hatte das gesamte Programm inzwischen unwie‐ derbringlich gelöscht und jede noch so geringfügige Komponente aus meinem Rechner entfernt. Auf Eins hätte ich es sowieso niemals aktiviert. Hier kam eine Ausbreitung derart gefährlicher Viren einem Massenmord gleich.
Für die Roboterschiffe bedeutete die Vernichtung all ihrer Dateien den sicheren Tod. Deshalb hatte ich lediglich ein abgemildertes Spe‐ zialvirenprogramm eingesetzt, das sie für eine Stunde autistisch machen sollte. Ich hatte es unmittelbar nach der Löschung des ge‐ fährlichen Virenprogramms entwickelt, für Notfälle. Es war sozu‐ sagen meine zweite »Büchse der Pandora«, mit einem weitaus harmloseren Inhalt. Zu meinem Pech war die Volksgemeinschaft stärker als ich dachte. Die befallenen Großrechner hatten sich schnell erholt und befanden sich nun im All. Offensichtlich hatte ich sie schwer unterschätzt. Glücklicherweise verfügte Vektor über eine perfekte Tarnvor‐ richtung, die ich vor dem Start aktiviert hatte, so daß man mich nicht so leicht ausfindig machen konnte. Daß die Schiffe dennoch Kurs auf mich nahmen, lag daran, daß wir alle dasselbe Ziel hatten: Terra. Erneut wollte ich einen Funkspruch zur Erde absetzen. Und wieder scheiterte ich an einer Fehleinschätzung meinerseits. Ich hatte ge‐ glaubt, Vektor total unterjocht zu haben – aber er hatte nur für eine Weile stillgehalten, um frische Kräfte zu sammeln. Plötzlich war er wieder da, stärker als je zuvor. Er war maßlos enttäuscht von mir und entsprechend wütend. * Die Wucht, mit der mich Vektors geistig‐elektronischer Angriff traf, brachte mich an den Rand einer Ohnmacht und entriß mir mit einem Schlag die Kontrolle über ihn. Verdammt! Warum hatte ich nicht besser auf ihn aufgepaßt? Wieder einmal war ich mir meiner Sache zu sicher gewesen. Während ich in Vektors Schiffskörper gesteckt hatte, hatte ich meinen eigenen Roboterkörper kaum gespürt. Mein Metallgerüst hatte die ganze Zeit über wie erstarrt in der Steuerzentrale gestan‐ den, verkabelt mit Vektors Hauptanschluß. Obwohl ich in dieser Zeitspanne mit all meinen Sinnen Vektor gewesen war, war die
Verbindung zu meinem eigentlichen Körper (dem einzig wahren!) nie vollständig unterbrochen worden; er war in diesem Zustand sozusagen mein ganz persönlicher Sinnroboter – ein wesentlich besseres Exemplar als die Sinnroboter, die in Vektors Diensten standen. Vektor hatte wieder die volle Macht über sein gesamtes Raum‐ schiff. Er flog weiter, fuhr aber umgehend die Sprungtriebwerke herunter, um die bereits eingeleitete Transition zu verhindern. An‐ schließend setzte er einen Trupp Handlungsroboter in Bewegung. Sein Befehl war klar und unmißverständlich: »Tötet Artus!« Auch ich übernahm wieder die komplette Kontrolle über meinen ursprünglichen Körper. Artus war wieder da, wie er leibte und lebte! Und er hatte nicht die Absicht, sich töten zu lassen. Vektors Steuerzentrale konnte von zwei Seiten her betreten wer‐ den. Seine Kampfroboter drangen sowohl durchs Hauptschott als auch durch einen Nebeneingang scharenweise ein. Trotz der Gefahr versuchte ich noch rasch, einen Funkspruch nach Terra abzusetzen. Vektor verhinderte das, indem er die Funkanlage mit einer Blockade versah. Mein einziger Fluchtweg war der Antigravschacht, der zu den üb‐ rigen Decks führte. Vektor schaltete ihn kurzerhand ab. Er war der Chef. Einschalten! ordnete ich an, kurz bevor ich das Anschlußkabel ent‐ fernte. Problemlos gelang es mir, diesen Teil des Großrechners zu beeinf‐ lussen. Der Schacht wurde aktiviert. Manche Chefs hatten in ihren Firmen halt nur wenig zu sagen. Leider bekam Vektor den Schacht ebenso problemlos wieder unter Kontrolle und deaktivierte ihn. Gleichzeitig schloß er die beiden Ausgänge. Der Boß hatte mit der Faust auf den Schreibtisch ge‐ schlagen und endgültig die Betriebsleitung übernommen. Wie in jedem Unternehmen gab es auch hier massenhaft devote Angestellte, die bestrebt waren, jeden Befehl des Firmenleiters zu
dessen vollster Zufriedenheit auszuführen: Sie waren mit Nah‐ kampfwaffen ausgestattet – und eindeutig in der Überzahl. Vektors Kampfroboter umzingelten mich und ließen mir keine Möglichkeit zur Flucht. * Sämtliche Roboter im Schiff wirkten plump und schwerfällig. Dies traf nicht nur auf die vielen hundert Kampfroboter und Ar‐ beitsmaschinen an Bord zu, auch seine fünf Sinnroboter machten keinen besonders agilen Eindruck. Das täuschte. Ihr grobschlächtiges Äußeres ließ sie zwar ungelenk erscheinen, aber sie bewegten sich allesamt recht flink. Während sich die Sinnroboter auf Rollen fortbewegten, hatte Vek‐ tor seine diversen Arbeitsroboter mit Antigravfeldern versehen. Die Kampfroboter verfügten über Beine und waren mir in groben Zügen ein wenig ähnlich, natürlich nur vom Aussehen her, denn dank meiner vielfältigen Fähigkeiten war ich ihnen weit überlegen. Vektors »Frontkämpfer« schlugen mit ihren mächtigen Me‐ tallfäusten unablässig auf mich ein. Ich wich ihnen möglichst aus, steckte nötigenfalls ein paar Schläge weg und schlug hart zurück, sobald sich mir die Gelegenheit bot. Mir fiel auf, daß meine Gegner ihre Waffen nicht benutzten, wahrscheinlich aus demselben Grund wie ich: Sie wollten unnötige Beschädigungen im Raumschiff vermeiden. Ein Raumer im Weltall war wie ein U‐Boot im Meer. Jede Zerstörung konnte zu technischen Ausfällen führen, und das Versagen wichtiger technischer Einrich‐ tungen endete meist tödlich. Vektor öffnete wieder die Zugänge und beorderte weitere Kampfroboter in die Steuerzentrale. Seine Taktik war durch‐ schaubar. Die tumben Maschinen sollten mich einkesseln und be‐ wegungsunfähig machen, damit ich nicht mehr zurückschlagen konnte. Immer dichter rückten sie an mich heran. Massen von
Blechleibern schienen mich schier zu erdrücken. Glücklicherweise war Masse nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit Klasse. Mit schnellen Rundumschlägen und kampftechnischen Tricks hielt ich meine Angreifer auf Distanz. Zwei Roboter, die mir zu nahe kamen, packte ich mit meinen Greifarmen und schleuderte sie über die anderen hinweg, um mir wieder Luft zu verschaffen. Beide krachten gegen eine schützende Metallabdeckung des Groß‐ rechners. Für einen Augenblick geriet das Raumschiff ins Schlingern. Vektor fing sich jedoch gleich wieder und ging zurück auf Kurs. »Paß gefälligst auf!« fuhr er mich per Funk an. »Wenn du mich ir‐ reparabel zerstörst, bewegt sich hier gar nichts mehr.« Er drosselte die Fluggeschwindigkeit. Gleichzeitig schaltete er den Tarnschutz aus, damit ihn die Roboterschiffsflotte besser orten konnte. Sein nächster Schritt war nicht schwer zu erraten: Vektor hatte die Funkblockade aufgehoben und schickte einen Hilferuf an unsere Verfolger, die sofort Kurs auf uns nahmen. Das war meine Chance, ebenfalls einen Funkspruch loszulassen. Auch ich brauchte Hilfe – von Terra oder von der POINT OF. Aber würde mir Ren Dhark überhaupt noch helfen? Meine Fäuste wurden zu Schmiedehämmern, mit denen ich wild um mich schlug. Rigoros bahnte ich mir eine Gasse durch die Kampfroboter, um zur Funkanlage zu gelangen. Als ich dort endlich eintraf, hatte Vektor die Funkblockade bereits erneuert. Es gab Möglichkeiten, sie zu überwinden, doch das kostete Zeit, und die hatte ich nicht. In einem fort attackierten mich Vektors Schrottbots, um mir keine Gelegenheit zu geben, irgendwelche Be‐ rechnungen anzustellen oder Vektor erneut in meine Gewalt zu bringen. Das dicke Kabel, das uns beide verbunden hatte, baumelte schlaff an seinem Hauptanschluß. Hätte ich es mir wieder »einver‐ leibt«, hätte ich dadurch meine Bewegungsfreiheit erheblich einge‐ schränkt und wäre für die Kampfroboter ein zu leichter Gegner ge‐ wesen.
Respektvoll hielten meine Angreifer Abstand zu meinen »Ham‐ merfäusten«. Sie änderten ihre Taktik und griffen jetzt zu einer Nahkampfwaffe, die einem terranischen Robottöter verdammt ähn‐ lich sah (so nannte ihn der Volksmund – die offizielle Bezeichnung war eine zwölfstellige Zahlenreihe). Mit einem solchen Gerät konnte man Roboter einer kontrollierten Energieentladung aussetzen – und zufällig war ich ein Roboter. Schon eine einzige Berührung mit einem Robottöter konnte das Ende für mich bedeuten, wenn man ihn punktgenau an meiner empfindlichsten Stelle ansetzte. Bei dieser Auseinandersetzung hatte ich es mit mehr als einem dieser fiesen, lockenstabähnlichen Appa‐ rate zu tun. Ich wich vor den damit bewaffneten Robotern zurück, hatte meine Sensoren überall… Plötzlich verspürte ich einen elektrischen Schlag. Trotz aller Vor‐ sicht hatte sich ein Kampfroboter von hinten an mich heran‐ geschlichen und seine heimtückische Waffe exakt am richtigen Punkt aktiviert. * Der terranische Robottöter war eine Waffe, vor der ich mich in acht nehmen mußte. Deshalb hatte ich noch nie jemandem verraten, an welcher winzigen Stelle ich am empfindlichsten, am verwundbars‐ ten war. Nicht einmal Echri Ezbal wußte darüber Bescheid – glaubte ich zumindest. Daß es einem von Vektors Kampfrobotern gelungen war, mich genau dort zu treffen, wo es mir am meisten wehtat, war reiner Zufall. Ein Zufall, der Vektor absolut gar nichts brachte. Der hiesige Ro‐ bottöter (oder wie auch immer man jene Waffe auf Eins nannte) er‐ zielte bei mir nicht die geringste Wirkung, abgesehen von einem leichten Kitzeln. Was für die Handlungsroboter der Roboterschiffe sehr wahrscheinlich das Aus bedeutete, war für mich völlig bedeu‐ tungslos.
Natürlich begnügte sich eine Forschernatur wie ich nicht mit einem »sehr wahrscheinlich«. Ich wollte es ganz genau wissen, entriß mei‐ nem Widersacher das Gerät und richtete es gegen ihn selbst – nicht auf eine bestimmte Stelle, sondern irgendwohin. Die Funktion war die gleiche wie bei einem terranischen Ro‐ bottöter: Der Maschine wurde schlagartig die gesamte Energie ent‐ zogen, die sich aber Sekundenbruchteile später gleich wieder auf‐ baute, und genau das war das Gemeine an der Sache. Die hyper‐ schnelle Rückkehr der Energie erfolgte zu einem Zeitpunkt, an dem der Energieabbau noch gar nicht richtig beendet war. Was dann geschah, bezeichneten die Fachleute als Rückwirkung eines Faktors in einem geschlossenen Wirkungskreis auf den ersten Faktor – kurz Rückkopplung genannt. Das Ergebnis: ein Roboterexitus. Ezbal hatte mir seinerzeit eindringlich geraten, die »Büchse der Pandora« zu vernichten und gegen harmlosere Abwehrviren zu ersetzen, und ich hatte – Gott sei Dank! – auf ihn gehört. »Tust du es nicht, könnten sich die Viren in einem Moment der Unachtsamkeit gegen dich wenden«, hatte er mich ermahnt. Ähnli‐ ches hatte auch Bischof Raffael Bernini in seiner Predigt in der Pe‐ terskirche prophezeit: »Wenn ihr das Böse in euch nicht ständig be‐ kämpft, mit dem Ziel, es auf alle Ewigkeit zu vernichten, wird es sich irgendwann gegen euch selbst wenden.« Die Robottöter in den Greifklauen von Vektors Kampfrobotern waren das Böse. Sie richteten es gezielt auf mich aus. Aber ich drehte den Spieß um – denn ich war der Böse! Anstatt zurückzuweichen, ging ich zur Offensive über. Zugriff! Mit meinen Greifhänden brachte ich so viele Robottöter wie möglich an mich. Was Vektors Handlungsroboter mir zugedacht hatten, wandte ich jetzt gegen sie selbst an. Eine Maschine nach der anderen stellte ihre Funktion ein. Es war ein ganz normaler Vorgang, wie das Aus‐ schalten einer Lampe. Sterben im eigentlichen Sinne konnten sie nicht, es steckte ja kein Leben in ihnen. Nur die Roboterschiffe ver‐ fügten über ein Bewußtsein und Empfindungen.
Wie ich feststellen konnte, gab es einen erheblichen Unterschied zwischen den terranischen Robottötern und den gleichartigen Waf‐ fen von hier. Die auf der Erde produzierten Wegwerfmodelle konnte man nur ein einziges Mal einsetzen, danach waren sie unbrauchbar – die hiesigen Robottöter reichten hingegen für zwei Einsätze. Während ich gegen die Übermacht meiner Gegner ankämpfte und dank der effektiven Waffen in meinen Greifklauen immer mehr die Oberhand gewann, entstand vor meinem inneren Auge das Bild einer fiktiven Roboterschlacht: Eine Armee von Großserienrobotern aus der Wallis‐Produktion gegen eine Armee von bizarren Kampf‐ robotern des Volks. Beide waren mit Robottötern bewaffnet – doch nur die terranischen Waffen erzielten die gewünschte Wirkung. Was für ein leichter Sieg! Allerdings war es nicht ausgeschlossen, daß die auf Terra herges‐ tellten Robottöter bei den Robotern von Eins genauso versagten. Das ergäbe dann ein klares Unentschieden. Bald darauf hatte ich um mich herum wieder sehr viel Platz. Die Einkesselung wurde auf Vektors Befehl hin aufgehoben; er wollte offenbar nicht noch mehr Kampfmaschinen einbüßen. Um mich weiterhin an der Flucht zu hindern, postierte er seine »Scher‐ gen« mit gezückten Schußwaffen an den beiden Ausgängen. Wür‐ den sie wirklich schießen und damit das Risiko eingehen, ihn selbst schwer zu beschädigen…? Ich wartete die Antwort auf meine Frage erst gar nicht ab und stieg in den deaktivierten schmalen Antigravschacht. Geschwind kletterte ich nach oben. Dabei wandte ich eine altbekannte terranische Berg‐ steigertechnik an, indem ich mich mit dem Rücken und den Händen an der Hinterwand abstützte und die Füße gegen die gegenüberlie‐ gende Wand preßte. Menschen konnten sich auf diese Weise nur sehr langsam bewegen – aber zum Glück war ich keiner. Auf dem Deck über der Steuerzentrale lag das Depot für die Ar‐ beitsroboter. Hier warteten sie im Bereitschaftszustand – sozusagen auf Sparflamme – auf ihren nächsten Einsatz. Vektor fuhr ihre Ener‐
gien hoch und hetzte sie alle auf mich. * Auch ich setzte keine Schußwaffen ein. Zwar waren die schwe‐ benden Wartungs‐ und Reparaturroboter, die mit ihren Werkzeugen und Klauen auf mich losgingen, eindeutig in der Überzahl, doch sie verfügten über keine kämpferische Befähigung – dafür waren sie nicht geschaffen worden. Während man auf Terra überwiegend Maschinen baute, die multifunktional eingesetzt werden konnten, hatte auf Eins und auf den Roboterschiffen offenbar alles seine Ordnung, frei nach der (hier gänzlich unbekannten) Devise: »Schuster, bleib bei deinem Leisten.« Wie ein wütender Orkan zog ich eine Schneise durch die Ar‐ beitsroboter, wobei ich zahlreiche Maschinen ganz oder teilweise zerstörte. Die auf der Strecke gebliebenen Roboter würden vorerst nichts mehr in diesem Schiff reparieren, sie brauchten erst einmal selber eine Reparatur. Und einige von ihnen konnte man nur noch wegwerfen. Obwohl ich nicht direkt mit ihm verbunden war, fühlte ich regel‐ recht, wie es in Vektor arbeitete. Wahrscheinlich versuchte er sich auszurechnen, auf welches Deck ich als nächstes fliehen würde. Weiter nach oben? Nach unten in den Maschinenraum? Ich erreichte einen aktivierten Antigravschacht, sprang hinein und schwebte abwärts. Vektor schaltete die Energie im Schacht ab, doch es war bereits zu spät; ich war ein Deck tiefer angekommen und ausgestiegen. Somit agierten wir wieder auf derselben Ebene. Jetzt wußte er, wohin ich wollte: zurück in die Steuerzentrale. Vektor schloß die Zugänge viel zu langsam, ich war schon drinnen – und seine Kampfroboter draußen. Er hatte sie zur Unterstützung der Arbeitsroboter nach oben geschickt und war nun allein. Hektisch erteilte er ihnen über Funk den Befehl zur Rückkehr. »Vergiß es, sie werden nicht mehr rechtzeitig eintreffen«, entmu‐
tigte ich ihn. »Wenn ich gleich mit dir fertig bin, unterstehen sie wieder meinem Befehl.« Vektor war stärker, als ich anfangs gedacht hatte, deshalb konnte es nichts schaden, ihn vor unserer bevorstehenden direkten Ausei‐ nandersetzung ein wenig zu demoralisieren. »Du kannst mich nicht besiegen«, kündigte er mir an. »Beim letzten Mal hattest du den Überraschungseffekt auf deiner Seite, doch diesmal bin ich vorbereitet.« »Das wird dir nichts nutzen«, behauptete ich – entgegen meiner Überzeugung, denn eine gute Vorbereitung auf einen Kampf war meiner Ansicht nach schon der halbe Sieg. »In wenigen Augenbli‐ cken bist du wieder mein Sklave.« Ich verband uns beide mit dem Anschlußkabel. Damit war die Partie eröffnet. * Vektors ersten elektronischen Angriff wehrte ich locker ab. Auf einen heftigen Gegenschlag wartete er allerdings vergebens. Mir war es wichtiger, zunächst die Zugänge zur Steuerzentrale zu verschlie‐ ßen. Den Antigravschacht, der von der Steuerzentrale aufs Deck darü‐ ber führte, hatte Vektor nach meiner Flucht aktiviert, um mir seine Kampfroboter nachzuschicken. Ich konzentrierte mich kurz und schaltete die Energie im Schacht ab. Mehrere Kampfroboter, die sich darin befanden, stürzten mit viel Gepolter in die Tiefe (sie wollten ja sowieso nach unten). Mit starken Beschädigungen blieben sie auf dem Unterdeck liegen oder im schmalen Schacht stecken. Ein Roboter hielt sich auf dieser Etage fest. Sein Metallpanzer wies so viele Quetschungen auf, daß ich ihm spontan den Namen »Beule« verlieh. Trotz seines desolaten Zustandes kroch er aus dem Schacht. Vektor startete einen zweiten zornigen Angriff auf mich. Er ging wohl davon aus, ich sei abgelenkt und entsprechend unaufmerksam.
Aber er irrte sich gewaltig, ich war mit all meinen Sinnen wachsam. Sein wuchtiger elektronischer Schlag riß mich beinahe von den Bei‐ nen. Doch anstatt Vektors Attacke mit allen Mitteln abzuwehren, ließ ich sämtliche gegen mich gerichteten Energien in mich hineinfließen, nahm sie in mich auf… Gleichzeitig schlug ich mit doppelter Kraft zurück! Dabei machte ich mir die Wucht, mit der Vektor seinen Angriff ausführte, für meine eigenen Zwecke zunutze. Diese Taktik hatte ich mir beim Stadtmeisterschaftsboxkampf Eder gegen Clarin abgeschaut, der 2050 in München überraschend für Aufsehen gesorgt hatte. Eder hatte sich damals zweifelsfrei als der stärkere Fighter entpuppt. Auf den Holoaufnahmen waren Clarins erhebliche Gesichtsverletzungen klar erkennbar. Keiner hätte in dieser Situation auch nur einen Cent auf ihn gewettet. Clarin taumelte, hielt sich nur noch mit Mühe aufrecht. Ein letzter Faustschlag sollte ihn ins Reich der Träume befördern. Eder holte aus. Sein schwer angeschlagener Gegner hatte nichts mehr zu ver‐ lieren und setzte ebenfalls zu einem letzten Schlag an, in den er all seine noch verbliebene Kraft legte. Kurz bevor ihn Eders Faust traf, zog er den Kopf weg. Eder schlug daneben und stürzte, von der Wucht des eigenen Schlages mitgerissen, direkt in Clarins Faust, die wie eine Rakete auf ihn zugeschossen kam. Es war ein klassischer, wunderwunderschöner Knockout… … nicht nur für Eder, sondern auch für Vektor, den ich auf ähnli‐ che Weise »auf die Bretter« schickte. Mit konzentrierten geistigen und elektronischen Kräften sorgte ich dafür, daß er auch wirklich unten blieb. Zaghafte Versuche von Gegenwehr erstickte ich sofort im Keim. Letztendlich erlangte ich die Kontrolle über Vektors Schiff bezie‐ hungsweise über das Schiff namens Vektor wieder voll und ganz zurück. Sofort fuhr ich die Triebwerke hoch und erhöhte das Flug‐ tempo. Vor der geplanten Transition wollte ich rasch einen Funkspruch
nach Terra absenden – doch es wurde auch diesmal nichts daraus. Bevor ich ihn aufs neue total unterjocht hatte, hatte Vektor in einem letzten Aufbäumen seiner Kräfte einen Befehl ausgesandt: an »Beu‐ le«. Der fast bis zur Unkenntlichkeit zerbeulte Kampfroboter hatte sich daraufhin zur Funkanlage geschleppt und sie kurzgeschlossen. Nun versiegten seine Energien endgültig. Ich spürte Aktivitäten der Roboter im Maschinenraum. Offen‐ sichtlich hatte Vektor auch ein paar Arbeitern heimliche Befehle erteilt. Ihr Auftrag war das Stillegen der Triebwerke. Ich machte sämtliche Anweisungen rückgängig und schickte sie ins Depot. Die Roboterflotte hielt weiter auf mich zu. Es war höchste Zeit zum Verschwinden. Funken konnte ich zwar nicht, aber wenigstens tran‐ sitieren. * Ich errechnete den Kurs zur Erde. Bei einem Flug mit Maxi‐ malwerten würde ich sie innerhalb von knapp 23 Stunden erreichen. Ohne zu zögern leitete ich die erste Transition ein und führte sie aus. Bei weichen Transitionen, wie die Roboterschiffe sie durchführten, war es normalerweise unmöglich, das Austrittsziel zu orten. Die mich verfolgende Flotte sprang trotzdem zielgenau in meine Rich‐ tung. Offenbar machten Vektors Sinne eine Ortung für die anderen Roboterschiffe möglich, ohne daß ich es verhindern konnte. Noch waren meine Verfolger zu weit entfernt, als daß sie mir ernsthaft schaden konnten. Doch mir genügte es nicht, den Abstand beizubehalten – ich wollte ihn vergrößern. Von nun an leitete ich den nächsten Sprung immer dann ein, wenn die Speicherbänke voll waren, und das war bereits nach neundrei‐ viertel Minuten der Fall, nicht erst nach zehn. Vektor war immer präsent, auch wenn er nichts mehr unter‐ nehmen konnte. Seit ich ihn wieder unter Kontrolle gebracht hatte, hatte er keinen Mucks von sich gegeben, wie ein kleines Kind, das
schmollte. Erst nach meiner dritten »Neundreiviertelminutentransi‐ tion« vernahm ich ein Lebenszeichen von ihm. »Weißt du überhaupt, was du da tust?« fragte er mich entsetzt. »Die Kämpfe in der Steuerzentrale und auf dem Depotdeck haben mir bereits genug zugesetzt. Falls du weiterhin die vorgeschriebene Wartezeit zwischen den einzelnen Sprüngen verkürzt, gibst du mir den Rest.« »Stell dich nicht so an«, verspottete ich ihn (und das machte mir auch noch Spaß, wie ich mir zu meiner Schande eingestehen mußte). »Manch einer aus eurem Volk ist schlimmer dran als du. Hyperbel zum Beispiel. Er liegt hilflos in der Werft und muß jede Menge Re‐ paraturen über sich ergehen lassen. Dagegen sind deine Sorgen nur ein Klacks. Also hör auf zu jammern, und laß mich in Ruhe meine Arbeit machen.« »Arbeit? Du bist im Begriff, uns beide umzubringen, und nennst das Arbeit?« »Eines kann ich dir fest versprechen: Ich werde uns beide ganz be‐ stimmt nicht umbringen, Vektor. Wenn überhaupt, fällt nur einer von uns auseinander, und das bist du. Weil ich nämlich vollständig zurück in meinen eigenen Körper schlüpfen werde, sobald es brenz‐ lig wird. Und dann steige ich aus. Eine Weile komme ich im Weltall schon zurecht, bis mich ein Rettungsteam an Bord holt.« Ein Terraner hätte jetzt vermutlich gesagt: »Typisch, die Ratte ver‐ läßt das sinkende Schiff.« Vektor kannte derlei Sprichwörter nicht, daher zog er es vor, zu schweigen. Bei aller Spöttelei wußte ich leider nur zu gut, daß Vektor recht hatte. Meine rücksichtslose Transitionsmethode würde seinen Leib über kurz oder lang ruinieren. Das lag natürlich nicht in meiner Ab‐ sicht. Trotzdem machte ich damit weiter, es blieb mir keine andere Wahl. Mit jeder Transition wurde der Vorsprung zu den 2500 Robo‐ terschiffen größer, weil man innerhalb der Hotte die volle zehnmi‐ nütige Zeitspanne abwartete. Je weiter ich vorn lag, desto eher konnte ich die Erde vor den Angreifern warnen.
Die Roboterflotte stand unter vollem Tarnschutz, und ihre Transi‐ tionen konnte nur ich orten. Für die Menschen würden die mächti‐ gen Kriegsschiffe aus dem Nichts kommen. * Schon nach der Hälfte der Distanz zwischen Eins und Terra mußte ich ununterbrochen die Wartungs‐ und Reparaturroboter einsetzen, um Vektor instandzuhalten. Das stellte mich vor ein Problem: Ich hatte nach meiner Auseinandersetzung auf dem Depotdeck nicht mehr genügend Arbeitsroboter zur Verfügung. Und die Kampfro‐ boter taugten nur bedingt für derlei Einsätze. Doch was war mit den Sinnrobotern? Erst jetzt fiel mir auf, daß ich zu ihnen gar keinen Kontakt hatte. Das war auch schon nach meiner ersten Kontrollübernahme der Fall gewesen. Offensichtlich waren sie ausschließlich auf Vektors Ich »eingeschworen«, sie würden mir also eh den Gehorsam verweigern. Das war mir jedoch gleichgültig. Mir stand nicht der Sinn nach Vollräuschen, und zum Arbeiten konnte ich sie ebenfalls nicht gebrauchen. Sollten sie doch in ihrem kleinen Depot, das sich auf demselben Deck wie die Steuerzentrale befand, versauern. Ich zog einen Teil der Reparaturroboter ab und betraute sie mit der Aufgabe, defekte Arbeitsroboter wieder einsatzfähig zu machen. Kein leichtes Unterfangen, denn ich hatte ganze Arbeit geleistet – was ich normalerweise nicht bedauerte. Die »wiederaufgefrischten« Roboter beteiligten sich umgehend an den fortlaufenden Wartungs‐ arbeiten. Trotzdem konnte ich den Verschleiß des Schiffes nicht aufhalten. Ich hoffte inständig, daß die Triebwerke bis zum Erreichen der Erde durchhalten würden… Laß dich nicht so hängen, Vektor! dachte ich. Wir schaffen das! Er hörte meine Gedanken nicht, und sie waren auch gar nicht für ihn bestimmt.
* Vor dem letzten Sprung ins Sol‐System hatte ich ungefähr eine halbe Stunde Vorsprung »herausgewirtschaftet«. Vektor pfiff auf dem sprichwörtlichen letzten Loch, aber noch war er in der Lage, meinen Heimatplaneten anzufliegen. Dort konnte er sich dann in aller Ruhe in einer Werft »seine Wunden lecken«. Allerdings nicht als Patient, sondern als Kriegsgefangener. Mein Heimatplanet… traf das überhaupt noch zu? War ich dort noch willkommen? Vielleicht hätte ich mit Ren Dhark vorab über meinen Plan reden sollen. Oder mit einem anderen Besatzungsmitglied der POINT OF. Oder mit irgend jemandem… Aber ich hatte meinen Plan für mich behalten. Plan? Genau‐ genommen hatte es sich um teils spontane, teils geplante Ein‐ zelentscheidungen gehandelt, eine Zusammensetzung aus lauter Planschnipseln, um ein »Planetarium« sozusagen. Und da ich nicht hatte voraussehen können, was mich auf der Zentralwelt der Robo‐ terschiffe alles erwartete, hatte ich zwischendurch laufend planlos improvisieren müssen. Um meine Rolle als Überläufer möglichst authentisch zu gestalten und echte Entrüstung über meinen vermeintlichen Verrat zu erzeu‐ gen, hatte ich mit keinem darüber geredet. Das könnte sich jetzt als Fehler herausstellen; nicht der erste in meinem verhältnismäßig kurzen Roboterleben, aber vielleicht der letzte, falls man mich von Terra aus unter Beschuß nahm, statt mich willkommen zu heißen. Vielleicht gab Marschall Bulton ja gleich Feuerbefehl, sobald er gewahr wurde, daß ich mich auf dem feindlichen, bizarren Schiff aufhielt. Aufhielt? Auf dem Schiff? Ich war das Schiff! Wenn Bulton es mit einem Totalschlag vernichtete, erwischte er gleich zwei Flie‐ gen mit einer Klappe: den Feind und den vermeintlichen Verräter. Was für ein unrühmliches Ende für den einstmals beliebtesten Ro‐
boter im Sol‐System. Dabei war anfangs alles nahezu reibungslos verlaufen. Ich hatte mich Hyperbel gegenüber als Überläufer ausgegeben und verhält‐ nismäßig schnell sein Vertrauen gewonnen – mit der Absicht, Daten über die bisher unbekannte Herkunft der Roboterschiffe zu erhalten, die wie ein Derwisch über Grah hergefallen waren und auch für die Menschheit sowie für alle friedliebenden Völker der Milchstraße eine große Gefahr darstellten. Jemand mußte sie stoppen. Wo herkömmliche Mittel versagten, mußten halt ungewöhnliche Methoden her. Gab es im ganzen Uni‐ versum etwas Ungewöhnlicheres als mich? Ich hatte mich berufen gefühlt, diese schwierige Aufgabe zu über‐ nehmen. Nur ein lebender Roboter konnte sich als Undercoveragent unter anderen lebenden Robotern frei bewegen. Jos Aachten van Haag oder Ömer Giray hätte man die Überläufertarnung wohl kaum abgenommen. Zwar hatte ich mit erheblichen Schwierigkeiten ge‐ rechnet, doch ich hatte auf meine Schauspielkunst und Flexibilität vertraut. Mittlerweile sah ich ein, daß es ein Fehler gewesen war, niemanden einzuweihen. Was, wenn man mir nicht glaubte und mir wegen Hochverrat meine terranischen Bürgerrechte aberkannte? Ich hatte sie mir hart erkämpfen müssen und würde sie ungern einbüßen. Mein Meisterstück als Agent war es gewesen, Hyperbel gleich zu Beginn unserer »Freundschaft« den Standort der POINT OF zu ver‐ raten. Damit hatte ich mir auf Anhieb sein Vertrauen und sein Wohlwollen erschlichen. Zu diesem Zeitpunkt war mir natürlich bewußt gewesen, daß er aufgrund seiner Beschädigungen dem Ringraumer und seiner Besatzung niemals ernsthaft hatte gefährlich werden können, denn der Checkmaster war gerade wieder hochge‐ fahren, wie mir meine elektronischen Sinne verraten hatten. Noch viereinhalb Minuten bis zur letzten Transition. Den an der Steuerzentrale vorüberführenden Antigravschacht hatte ich inzwischen wieder eingeschaltet und die Kampfroboter
zurück nach oben in ihr Depot beordert, unter Mitnahme ihrer be‐ schädigten »Kameraden«. Ich war überzeugt, sie alle unter Kontrolle zu haben. Deshalb war ich völlig überrascht, als plötzlich mehrere Roboter durchs wieder geöffnete Hauptschott die Steuerzentrale betraten. Es war gespenstisch. Fünf Roboter rollten stumm herein und ver‐ teilten sich ziellos in der Steuerzentrale. Mir schien, als würden sie etwas suchen. Ich erkannte V‐l und seine vier »Brüder«, die ihm in etwa ähnelten. Offensichtlich hatte sich Vektor teilweise aus meiner Umklamme‐ rung befreit und seine Sinnroboter in Bewegung gesetzt. Aber was bezweckte er damit? Die Greifscheren der fünf rollenden Maschinen wirkten zwar bedrohlich, doch die kämpferischen Fä‐ higkeiten dieser Roboterart waren ziemlich beschränkt. Falls sie versuchten, Vektor zu befreien oder das Schiff am Weiterflug zu hindern, würde ich sie in ihre Einzelteile zerlegen. »Was soll das?« fragte ich Vektor. »Was versprichst du dir von dieser sinnlosen Aktion?« Er hüllte sich weiterhin in Schweigen. »Wenn du dein Sinnroboter‐Quintett nicht sofort aus der Steuer‐ zentrale entfernst, spiele ich ihm zum Tanz auf«, drohte ich. »Ich bringe sie höchstpersönlich zurück in ihr Depot – in einer Trageta‐ sche, nachdem ich ihre Metallbrösel vom Fußboden aufgefegt habe.« Die Provokation wirkte. Vektor brach sein Schweigen und setzte sich mit mir in Verbindung. »Du hast geglaubt, du hättest alles unter Kontrolle, aber jetzt zeige ich dir deine Grenzen auf!« kündigte er großspurig an. »Meine Sinnroboter entziehen sich deinem Einfluß. Sie gehorchen nur mir.« »Das werden wir ja sehen«, erwiderte ich und schickte den Robo‐ tern einen Funkbefehl. Sie reagierten in keiner Weise darauf. Ich konnte nicht einmal mit Gewißheit sagen, daß sie ihn überhaupt empfangen hatten. Sie wirkten wie lebende Tote, wie Zombies aus Metall.
Es war höchste Zeit zu transitieren. Da die Roboter bisher nur ziellos in der Steuerzentrale herumrollten, ohne etwas zu berühren, kümmerte ich mich erst einmal um die letzte Transition – um den alles entscheidenden Sprung in mein Heimatsystem. Auf Höhe der Plutobahn trat das Roboterschiff, trat Vektor, trat ich aus dem Hyperraum. Ich verzichtete auf jedweden Tarnschutz, denn ich wollte ja bemerkt werden. Wie nicht anders zu erwarten, nahm sofort ein S‐Kreuzer Kurs auf mich. Vermutlich funkte er mich an, doch ich konnte ihn weder empfangen, noch konnte ich ihm eine Antwort zukommen lassen, da meine Anlage nicht funktionierte. Nur innerhalb des Schiffes konnte ich Funksprüche aussenden, an Vektor oder an die Schrottbots. Die fünf Sinnroboter wurden immer unruhiger. Sie waren auf der Suche, schienen aber selbst nicht so genau zu wissen, wonach. V‐l blieb vor meinem Roboterkörper stehen, dem verkabelten Origi‐ nal‐Artus, und tastete ihn mit seinen Sensoren prüfend ab. »Ich weiß nicht, was du vorhast, Vektor«, kommunizierte ich mit seinem Ei‐ gentümer. »Aber sollte es V‐l wagen, mich zu berühren, besitzt du gleich nur noch vier Sinnroboter. Zum letzten Mal: Schick sie zurück in ihr Depot!« Vektor blieb still. Vermutlich dachte er darüber nach, wie ernst es mir mit der Drohung war. Ich war jedenfalls fest entschlossen, dem Spuk in der Steuerzentrale ein rasches Ende zu bereiten. Es gab dringlichere Probleme, beispielsweise den zweiten S‐Kreuzer, der draußen im All aufgetaucht war. Bestimmt wurde ich auch von dort aus angefunkt. Da ich in Vektors Schiffsleib steckte, bekam ich weitgehend alles mit, was in mir und um mich herum geschah. Aus der Ferne näherte sich ein dritter Ringraumer. Ich flog nur noch mit geringem Tempo und tat auch sonst nichts, um die Kommandeure der terranischen Schiffe zu provozieren. An Bord von Vektor waren keine Waffenak‐ tivitäten anzumessen, und ich hatte keinen Schutzschirm einge‐ schaltet.
Vektor meldete sich. »Ich verstehe deine Frage nicht, Artus. Wie soll ich verhindern, daß V‐l dich berührt? Du hast meinen Körper übernommen und bist demnach überall. Ganz gleich, wo sich V‐l befindet, er kommt zwangsläufig immer mit dir in Berührung.« Mir ging ein Licht auf. Vektor, dieser verdammte Lügner! »Du weißt gar nicht, daß er momentan nahe bei meinem wahren Körper steht, nicht wahr?« bemerkte ich. »Weil du, genau wie ich, keinen Kontakt zu ihm und den vier anderen hast. Du hast sie nicht in die Steuerzentrale geschickt – sie sind von allein gekommen.« Offensichtlich geschahen auf den Roboterschiffen mitunter ge‐ heimnisvolle Dinge, die die Großrechner nicht vollständig im Griff hatten. Eigentlich hätten sich die Sinnroboter ohne Vektors Befehl keinen Zentimeter von ihrem Platz fortbewegen dürfen, und trotz‐ dem hatten sie es getan. Sie verhielten sich wie Kleinkinder, die von ihren Eltern verlassen worden waren und nun verzweifelt nach ih‐ nen suchten. Eine Art »Roboterinstinkt« hatte sie in den Kern ihres Zuhauses geführt: in die Steuerzentrale, wo der Großrechner stand. Vektor fühlte sich ertappt – und antwortete mir nicht. Ohne daß sie irgendeinen Schaden angerichtet hätten, verließen die Sinnroboter nacheinander die Steuerzentrale und begaben sich in ihr nahegelegenes eigenes Depot. Dort schalteten sie sich wieder ab. Auf welche Weise sie es überhaupt geschafft hatten, sich von allein zu aktivieren, würde wohl auf ewig ein Rätsel bleiben – das Universum war voller ungelöster Fragen. * Drei S‐Kreuzer hatten mich eingekreist und fuhren ihre Waf‐ fensysteme hoch. Ich konnte es Marschall Bulton nicht verdenken, er tat ja nur seine Pflicht – im Auftrag der Menschheit, zum Schutz der Erde. Für ihn war ich nur ein fremdes Schiff, welches ins Sol‐System eingedrungen war, das Schiff eines Volkes, mit dem sich Terra in
einem nicht erklärten Krieg befand. Es wurde angefunkt, um die Besatzung zur Aufgabe zu zwingen. Aber man erhielt keine Ant‐ wort. Somit blieb dem terranischen Flottenkommando nur eine Lö‐ sung… »Sie werden dich vernichten!« höhnte Vektor. »Nicht nur mich«, machte ich ihm klar. »Wir werden beide drauf gehen, wenn sie uns abschießen.« »Das macht mir nichts aus«, erwiderte Vektor. »Wenn ich könnte, hätte ich längst meine Selbstzerstörungsanlage aktiviert und dich mit in den Tod gerissen. Das ist allemal besser, als von minderwertigem Biomüll gefangengenommen zu werden.« Er legte eine Pause ein. Wäre er ein Mensch, hätte er jetzt wahr‐ scheinlich erst einmal Atem geholt. »Ich verstehe nicht, warum sich ein hochintelligentes, hohes Wesen wie du bei einer derart niederen Lebensform anbiedert«, fuhr er fort. »Du denkst, es sind deine Freunde? Dann schau mal hinaus ins All. Deine angeblichen Freunde wollen deinen Tod, und den hast du auch zehnfach verdient. Es ist die gerechte Strafe für deine Heimtü‐ cke!«
20. Er dachte an Artus. Dabei hätte es weiß Gott Schöneres gegeben, an das er hätte denken können. Doch obwohl das Schönere zeitlich und räumlich näher lag, obwohl er sogar noch von seiner Berührung duftete, dachte er an Artus. In der Dusche prasselte das Wasser gegen die Kunststoffwände. Amy sang den neusten Hit von Queen of Eden, ein Liebeslied natür‐ lich, ein ziemlich sinnliches dazu. Obwohl ihm nicht danach zumute war, mußte Ren Dhark lächeln. Er staunte immer wieder, wie schnell Amy diese Popsongs auswendig konnte. Neulich hatte sie ihm einen Song von Black Babylon vorgesungen, den sie zuvor höchstens drei‐ mal gehört hatte. Nun gut – sehr kompliziert war der Text auch nicht. Er seufzte, und wieder marschierte das Maschinenwesen, das er für einen Freund gehalten hatte, über seine innere Bühne. Es blieb stehen und sah ihn an. Er dachte an Artus, er konnte nichts dagegen tun. In der Dusche hörte das Wasser auf zu rauschen. Die Tür zur Duschkabine rasselte, Amys niedlicher Gesang verstummte. Sie kam aus dem Bad, triefend vor Nässe und nackt. Das Bild auf seiner in‐ neren Bühne verblaßte. Aber nicht ganz. »Was ist los mit dir, Ren?« Sie blieb vor dem Bett stehen und frottierte ihren Oberkörper. »Wieso? Was soll los sein?« »Erzähl mir nichts. Du denkst wieder an ihn, habe ich recht?« Dhark wandte den Blick von ihr und starrte an die Decke. »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Es tut einfach zu weh.« »Es ist nicht die erste Nacht, in der er dir den Schlaf raubt.« »Ich habe ihm vertraut, Amy, ich habe ihm vertraut… seit er übergelaufen ist, nagt so ein diffuses Mißtrauen an mir, weißt du? Ich sehe Dan und frage mich: Würde der auch sowas bringen? Ich spreche mit Chris Shanton und mir kommt der Gedanke…«
»Hör auf, Ren!« Sie unterbrach ihn scharf. »Dagegen mußt du dich wehren, hörst du? Mit aller Kraft wehren!« Sie wandte sich ab und ging zurück ins Bad. »Am Ende mißtraust du sonst sogar noch mir…« Er blickte ihr hinterher. Ihr mißtrauen? Ein scheußlicher Gedanke. Sie hatte recht – er mußte die Sache überwinden, irgendwie. Gar nicht so einfach. »Wann kommt Professor Bell?« fragte Amy aus dem Bad. »Er hat sich für sieben Uhr angekündigt.« »Dann solltest du aufstehen, Liebster. Es ist zehn vor sieben.« Sein Vipho zirpte. Er beugte sich aus dem Bett und suchte es zwi‐ schen seinen Kleidern auf dem Boden. Wahrscheinlich die Zentrale. Seit Amy bei ihm schlief, trauten sie sich nicht mehr, sich über sein Kabinenhologramm zu melden, wenn etwas Dringendes anlag. Er aktivierte das Gerät. Sein Ortungschef war dran. »Sie müssen kommen, Commander. Es brennt…« * Kaum jemand an Bord der POINT OF genoß es nicht, wenn einmal Routine angesagt war. Auch Tino Grappa schätzte hin und wieder Dienstschichten, in denen nichts, aber auch gar nichts geschah. Dann pflegte er den Funkverkehr der Flotte mitzuhören. An diesem Septembermorgen schnappte er die Meldung einer Patrouille jenseits der Neptunbahn auf: Ein fremdes Schiff sei zwi‐ schen Oortscher Wolke und Plutobahn aus dem Hyperraum aufge‐ taucht; seine Transition sei nicht anmeßbar gewesen. Das Flotten‐ oberkommando hatte drei S‐Kreuzer in Marsch gesetzt, die das fremde Schiff abfangen sollten. Schon war es vorbei mit der Routine. Grappa nahm Kontakt mit der Patrouille auf, identifizierte sich und fragte, ob schon ein Bild des unbekannten Schiffes vorlag. Das war der Fall, und sie schickten ihm eins. Es war unscharf, dennoch
erkannte der Ortungschef gewisse Formen – genauer gesagt: gewisse Unförmigkeiten. Es handelte sich zweifelsfrei um einen dieser rät‐ selhaften Robotraumer. »Nicht schon wieder«, stöhnte Grappa. Er holte seinen Kom‐ mandanten aus dem Bett. »Ich bin gleich unten. Falluta soll die Alarmbereitschaft erhöhen und alles für einen Blitzstart vorbereiten«, sagte Ren Dhark. »Auch Dalon sollte Bescheid wissen.« Grappa gab die Anweisungen an den Ersten Offizier weiter, in‐ formierte die diensthabende Zentralebesatzung und funkte die ASGOR an. Dalon nahm die Neuigkeit ohne sichtbare Regung zur Kenntnis. Anschließend klinkte sich der Ortungsoffizier wieder in den Funkverkehr der Flotte ein. Ren Dhark lief über die linke Wendeltreppe in die Zentrale hinun‐ ter. Mit der Linken fuhr er sich durch das weißblonde Haar, mit der Rechten fummelte er den Reißverschluß seiner Bordkombi Richtung Brustbein. »Und?« »Die S‐Kreuzer haben ihn angefunkt«, sagte Grappa. Inzwischen hatte sich ein halbes Dutzend Männer und Frauen um den Ortungs‐ stand versammelt. »Sie haben ihn aufgefordert, sich zu identifizie‐ ren. Er reagiert nicht.« »Also gut.« Dhark lief zum Kommandostand, wo Hen Falluta an diesem Morgen Dienst tat. »Alarmstart vorbereitet?« Falluta nickte. »Sorgen Sie dafür, daß Dalon mithören kann«, rief Dhark in Rich‐ tung Funkzentrale. Er aktivierte den Bordfunk. »Commander an alle! Höchste Alarmstufe! Ein Robotraumer ist ins Sol‐System einged‐ rungen! Alarmstart in fünfzehn Sekunden! Ich wiederhole: höchste Alarmstufe, Alarmstart in fünfzehn Sekunden.« Falluta sammelte die Bestätigungen ein. Auch Dalon meldete sich. »ASGOR an POINT OF – ich bin auf Flottenfrequenz, ich weiß Be‐ scheid!« Der Checkmaster begann die letzten Sekunden herunterzuzählen. Dharks Blick fiel in die zentrale Bildkugel – ein Gleiter näherte sich
dem Landeplatz. Monty Bell! Zu spät, ihm abzusagen. Er ließ sich in seinen Kommandosessel fallen und schnallte sich an. Ein leichtes Vibrieren des Bodens zeigte an, daß die Triebwerke blitzartig hochgefahren wurden, und schon hob die POINT OF ab. Nur wenige Sekunden später verblaßte die Reibungsglutkuppel an der äußeren Schiffswand, und die Bildkugel bot freie Sicht auf die Erdoberfläche. Rasch schrumpfte sie zu einer wolkenverhangenen Kugel zusammen und fiel zurück. »Commander an Funkzentrale – nehmen Sie Kontakt mit den S‐Kreuzern auf. Wir brauchen ihre Koordinaten, und kündigen Sie uns an. Vorher verbinden Sie mich bitte mit dem Flottenoberkommando!« Nach und nach kamen weitere Besatzungsmitglieder in die Zent‐ rale: Arc Doorn, Dan Riker, Leon Bebir, Jo Getrup, Chris Shanton und sein Robotterrier. Bert Stranger stieg mit einer Gruppe Fähnri‐ chen die Treppe von der Galerie herunter. Tino Grappa hatte inzwischen die neusten Ortungsdaten des Fremdschiffes von der Raumpatrouille erhalten. Der Checkmaster rechnete sie ins Hologramm. Sämtliche Blicke richteten sich auf die Bildkugel. Diesmal waren die Konturen des Eindringlings deutlicher zu erkennen. »Ein verdammter Robotraumer«, sagte Riker. »Ein‐ deutig ein verdammter Robotraumer.« Das Bild verblaßte und machte einem breiten Männergesicht Platz – der Flottenchef. »Sie sind im Bilde, Commander Dhark?« Marschall Bulton verzichtete auf eine formelle Begrüßung. »Es ist ein Robotraumer, kein Zweifel.« »Ich habe ihm ein S‐Kreuzergeschwader entgegengeschickt und jage gerade ein paar neue Ovoid‐Ringraumer los. Wenn er sich nicht identifiziert, lasse ich ihn abschießen…« * Im Sternensogmodus nahmen die POINT OF und die ASGOR Kurs auf den Eindringling und die drei S‐Kreuzer, die ihn eskortierten. Sie
trafen etwa zur gleichen Zeit an der aktuellen Position ein wie die zusätzliche Kampfgruppe, die Bulton in Marsch gesetzt hatte. Sie paßten sich dem Kurs und der Geschwindigkeit der S‐Kreuzer an. Die Kampfgruppe näherte sich dem Fremden bis auf wenige tau‐ send Kilometer und bildete dann eine konische Formation um den Fremdraumer. Brigadegeneral P. S. Clark selbst kommandierte die Gruppe. Die POINT OF, die ASGOR und die S‐Kreuzer flogen in etwa 2000 Kilometer Entfernung von dem Robotraumer. Der raste mit 43 Prozent Lichtgeschwindigkeit ins innere Sonnensystem hi‐ nein. In der Bildkugel erschienen das Abbild des Fremden und die neusten Ortungsdaten. »Er hat keinen Schutzschirm aktiviert«, sagte Grappa. »Ich kann kein Energiemuster anpeilen, das auf eine erhöhte Gefechtsbereitschaft schließen ließe.« »Funken Sie ihn noch einmal an, Morris«, verlangte Dhark. Leut‐ nant Glenn Morris, der Erste Funkoffizier, hatte inzwischen die Funkzentrale übernommen. »Keine Reaktion«, meldete er drei Minuten später. »Auch auf die Funksignale des Kampfgeschwaders reagiert er nicht. Aber wir ha‐ ben einen Funkspruch von der FREDERICKSBURG mitgehört – Brigadegeneral Clark hat Marschall Bulton soeben gebeten, das Feuer auf den Fremdraumer freizugeben.« »Eine Verbindung mit Bulton, schnell!« Ren Dhark sprang auf. Er stieg aus dem Kommandostand und begann unruhig vor der Bild‐ kugel hin‐ und herzuwandern. »Warum zögern Sie, Mr. Dhark?« fragte Stranger. Er lehnte an der äußeren Konsole des Ortungsstandes. »Ein Robotraumer fliegt ins innere Sonnensystem. Wäre es denn wirklich ein Verlust, ihn einfach abzuschießen?« Dhark blieb stehen und sah zu ihm hinüber. »Halten Sie sich raus, Stranger…« In der Bildkugel erschien Bultons Konterfei. »Clark hat um den Feuerbefehl gebeten?« fragte Dhark. »So ist es, und ich werde ihm freie Hand geben.«
»Warten Sie noch.« »Was soll das, Commander? Ein Schiff dieses Typs hat keine Mühe gescheut, Ihre POINT OF aus dem Universum zu tilgen. Zehn Schiffe dieses Typs haben einen der teuersten Ikosaederraumer Terras be‐ schossen und beschädigt. Es hätte nicht viel gefehlt, und wir hätten die MAX PLANCK aus dem Flottenbestand streichen und Monty Bell ein Staatsbegräbnis arrangieren müssen!« »Schon, aber dieses Einzelschiff fliegt ohne Schutzschirm und macht keine Anstalten, irgendwelche Waffensysteme zu aktivieren.« »Ich kann unmöglich verantworten, daß es noch weiter ins Innere des Systems vordringt. Wissen wir denn, was es an Bord hat? Viel‐ leicht eine Hyperbombe, vielleicht eine Art materialisiertes Schwar‐ zes Loch, weiß der Henker! Wenn das Ding erst einmal die Mars‐ bahn erreicht hat, kann es zu spät sein!« »Das dauert noch Stunden.« Dhark blieb hartnäckig. »Wir eskor‐ tieren es gerade Richtung Saturn!« »Schon viel zu nah!« Bulton wurde lauter. »Ich verstehe Ihr Enga‐ gement nicht!« »Hören Sie, Bulton – Sie kennen die aktuellen Probleme.« Deutli‐ cher konnte Ren Dhark nicht werden. Der Funkverkehr wurde von Einheiten der Flotte mitgehört. »Möglicherweise finden wir an Bord dieses Robotraumers etwas, das uns der Lösung einen Schritt näher bringt!« Jetzt schwieg Bulton ein paar Atemzüge lang. Er hatte verstanden, daß Ren Dhark auf die sterbende Sonne anspielte. Er nagte an seiner Unterlippe. »Also gut. Ich gebe Ihnen fünfzehn Minuten. Wenn Sie mir bis dahin kein schlüssiges Handlungskonzept vorlegen, befehle ich Clarks Einheiten, das Fremdschiff anzugreifen.« Sein Gesicht verblaßte. Der Robotraumer und die aktuellen Or‐ tungsdaten erschienen wieder in der Bildkugel. Die Männer und Frauen in der Kommandozentrale schwiegen und blickten zu ihrem Commander. »Ein Handlungskonzept?« fragte Dan Riker. »Was meint er?«
»Ich soll ihm einen Vorschlag machen, der vielversprechender ist als Abschießen.« Dhark wandte sich an Falluta. »Maximale Be‐ schleunigung. Wir gehen bis auf Sichtweite an den Robotraumer heran.« »Hast du einen Vorschlag?« bohrte Riker. »Ja. Ich gehe an Bord.« »Bitte?« Riker war nicht der einzige, der glaubte sich verhört zu haben. »Ich setze mich in einen Flash und gehe an Bord des Robo‐ terschiffes.« Amy sprang vom Kommandostand und lief zu ihm. »Das wirst du nicht tun, Commander!« Breitbeinig baute sie sich vor ihm auf. Eine Zeitlang fixierten sie einander wie zwei Gegner, die sich an‐ schickten, ihre Kräfte miteinander zu messen. »Kennst du mich ein wenig, Amy Stewart, oder kennst du mich nicht?« * Die FREDERICKSBURG funkte sie an, als sie durch die Ko‐ nusformation des Kampfgeschwaders flogen. Der Fremdraumer war jetzt nur noch dreitausend Kilometer entfernt. Mit bloßem Auge konnte man ihn selbstverständlich aus dieser nach kosmischen Maßstäben zu vernachlässigenden Distanz noch nicht erkennen. »Was soll das, Commander?« blaffte Clark. Sein Oberkörper war in der zentralen Bildkugel zu sehen. Seine Gesichtszüge verhießen nicht gerade einen Plausch unter Freunden. »Sie dringen soeben in einen Sperrbezirk ein.« »Ich weiß von keinem Sperrbezirk, General Clark.« »Ich kann das Feuer nicht eröffnen, solange ein befreundetes Schiff in diesem Bezirk manövriert!« »Ich weiß auch von keinem Feuerbefehl.« »Sie wissen genau, daß der nur aufgeschoben wurde. Wenn Sie dem Marschall nicht in spätestens zwei Minuten eine Alternative
genannt haben, wird das Schiff abgeschossen.« Clark räusperte sich und nahm Haltung an. »Hören Sie, Commander. Ich habe größten Respekt vor Ihrer Lebensleistung. Lassen Sie uns nicht streiten. Wir wollen die Sache mal ganz vernünftig betrachten. Wir stehen unter Sachzwängen, denen sich keiner von uns entziehen kann. Es gibt einfach keine andere Möglichkeit, als den Eindringling abzuschie‐ ßen.« »Sie haben recht, General Clark, und ich weiß Ihr Verantwor‐ tungsgefühl für die Sicherheit Terras sehr zu schätzen. Aber es gibt noch eine Möglichkeit, das Fremdschiff so zu stoppen, daß man zu‐ gleich seinem Rätsel auf die Spur kommt.« »Und welche, Commander?« »Fragen Sie den Marschall, ich habe ihm meinen Vorschlag bereits unterbreitet.« Ren Dhark ließ die Verbindung unterbrechen. Natürlich bluffte er. Die verbleibenden Sekunden, bis Bultons Ul‐ timatum ablief, wollte er nutzen, um Tatsachen zu schaffen. Es er‐ schien ihm nämlich unwahrscheinlich, vom Marschall grünes Licht für die Enterung des Robotraumers zu erhalten. Unmöglich aber erschien es ihm auch, daß irgendein Raumer der Flotte das Feuer eröffnen würde, solange die POINT OF sich in der Schußbahn be‐ wegte. »Kein ungefährliches Spiel«, sagte Riker. »Meine innere Stimme sagt mir, daß es der richtige Zug war«, antwortete Dhark. »Wie weit noch?« »Zweitausendsiebenhundertdreißig Kilometer«, antwortete Hen Falluta. »Geschwindigkeit drosseln, langsam auf den Kurs des Robotrau‐ mers gehen«, sagte Dhark und dann an die Adresse der Funkzent‐ rale: »Funken Sie das Schiff alle sechzig Sekunden an, Morris.« In einem immer spitzer werdenden Winkel flogen sie den Ein‐ dringling an. Nach drei Minuten meldete Bulton sich wieder. »Statt mir einen Plan vorzustellen, dringen Sie in den Kampfkorridor ein, Commander. Sie binden mir die Hände, ich kann nicht einmal mehr
das Feuer eröffnen lassen. Befehlen will ich Ihnen nichts, Comman‐ der, aber ich protestiere aufs Schärfste!« »Geben Sie mir nur noch eine Viertelstunde, Bulton!« »Was haben Sie vor?« »Ich gehe an Bord.« »Sie sind verrückt.« »Wir haben den Robotraumer mit allen uns zur Verfügung ste‐ henden Mitteln durchgepeilt – er aktiviert keine Geschütze, und er transportiert keine Heerscharen von Kampfrobotern. Wir haben den Checkmaster die Wahrscheinlichkeit für eine unbekannte Wunder‐ waffe an Bord durchrechnen lassen. Sie beträgt nicht einmal fünf‐ zehn Prozent. Glauben Sie mir, Bulton, ich bin in der Lage, das Risiko einzuschätzen. Schließlich will ich noch ein Weilchen leben.« Der Raummarschall musterte ihn aus dem Hologramm heraus. Seine Kiefermuskulatur arbeitete. »Wie gesagt, Commander Dhark – ich will Ihnen keine Befehle erteilen. Aber ich mache mir Sorgen um Sie, und ich mache mir Sorgen um die Sicherheit Terras, das ist al‐ les.« »Ich weiß, Ted.« »Gut. Dann bringen Sie Ihr Schiff jetzt bitte aus dem Kampfkorri‐ dor, Commander. Ich befehle Clarks Geschwader den Angriff. Dan‐ ke.« Sein Konterfei verblaßte. »Mist!« Riker schlug sich mit der Faust in die Hand. Amy atmete erleichtert auf – sie war nicht die einzige –, und Dhark begann wie‐ der mit gesenktem Kopf vor der Bildkugel hin‐ und herzulaufen. »Und jetzt?« fragte Shanton. Dhark blieb stehen. »Wie weit noch?« »Achthundertzwanzig Kilometer«, sagte Falluta. »Wir sind schon fast auf Parallelkurs.« Dhark wanderte weiter, hin und her, hin und her. Alle schwiegen, alle beobachteten ihn, alle sahen, wie es in ihm arbeitete. »Zwölf Schiffe aus Clarks Verband scheren aus der Konus‐
formation aus und nehmen Kurs auf uns und den Fremdraumer«, meldete Grappa. Wieder blieb Ren Dhark stehen. Er blickte in die Bildkugel. Greif‐ bar nahe schien der Robotraumer darin stillzustehen. In Wirklichkeit war er noch über vierhundert Kilometer entfernt und bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von über 60.000 Kilometern pro Sekunde der Saturnbahn entgegen. »Die zwölf Ovoid‐Ringraumer fliegen Angriffskurs«, meldete Grappa. »Sie sind mit maximaler Beschleunigung unterwegs hier‐ her.« »Also gut.« Der Commander seufzte tief. »Verschwinden wir.« Er stieg auf den Kommandostand. »Ich kann mich nicht gegen das Oberkommando der Terranischen Flotte stellen. Gehen Sie auf Südkurs, Hen. Wir machen Clark den Weg frei.« Man konnte es fast hören, wie in der Zentrale einige Steine von ei‐ nigen Herzen fielen. Die POINT OF änderte den Kurs und flog in einem Winkel von siebzig Grad zur Bahn des Fremdraumers nach unten davon. »Da!« schrie Stranger plötzlich. »Schauen Sie nur!« Er deutete auf die Bildkugel. Der Robotraumer hatte ein Außenschott geöffnet. Das Schott selbst war wegen der vielen Kerben, Wülste und Erhebungen an der Bordwand nirgends zu erkennen, aber die vielen kleinen Punkte, die es ausschleuste, konnte man nicht übersehen. »Was ist das?« fragte Amy. »Vielleicht die Superwaffe, die Bulton befürchtet«, sagte Stranger. »Blödsinn.« Riker winkte ab. »Eine gezielte Salve, und die Splitter verglühen.« »Vielleicht Beiboote?« schlug Glenn Morris vor. »Zu klein.« Grappa schüttelte den Kopf. »Außerdem zählen meine Instrumente schon zweihundertzwanzig Objekte, und es werden immer mehr!« »Sie formieren sich…« Dhark stieg aus dem Kommandostand. »Sie bilden irgendeine Formation…« Er gesellte sich zu Amy, Shanton,
Stranger und einigen anderen, die bereits dicht an der Bildkugel standen und angestrengt hineinstarrten. »Maximale Vergrößerung«, forderte der Commander. Der Checkmaster reagierte sofort, aber allzuviel Spielraum hatte er nicht mehr. Immerhin – die Objekte ließen sich jetzt identifizieren. »Es sind Roboter«, sagte Arc Doorn. »Arbeitsroboter.« Er hatte recht. Fast zweihundertfünfzig Arbeitsroboter hatte der Fremdraumer ausgeschleust. »Sie scheinen über einen Antrieb zu verfügen«, sagte Falluta. »Anders kann ich mir nicht erklären, daß sie in der Lage sind, sich zu einem Kreis zu formieren.« »Tatsächlich«, staunte Shanton. »Sie bilden einen Ring. Aber sie haben keinen Antrieb, sie werden mit Traktorstrahlen bewegt.« Bald stand ein geschlossener Ring aus Robotern über dem fremden Schiff. Aber noch immer schwebten Dutzende von Robotern heran. Sie flo‐ gen in das Innere des Rings und bildeten drei Gruppen, die sich allmählich in die Länge zogen. »Sie wollen eine Figur bilden«, schnarrte Jimmy, der Robothund. »Irgendein Zeichen, erkennt ihr das nicht? Das ist eine Art Bot‐ schaft.« »Du spinnst ja«, blaffte Shanton. »Was soll das denn für ein Zei‐ chen sein?« »Bell mich nicht so an«, schnarrte Jimmy. Die Roboter fügten sich zu einer Konstellation zusammen, die an ein Ypsilon erinnerte. Die drei Balken des Ypsilons streckten sich noch ein wenig und berührten schließlich die Innenseite des Kreises, den die Mehrzahl der Arbeitsroboter noch immer aufrechterhielt. »Ein Funkruf von der FREDERICKSBURG«, meldete Morris. »Der General persönlich.« »Durchstellen«, sagte Dhark. »Hier spricht Brigadegeneral Clark von der FREDERICKSBURG.« Diesmal verzichtete der Kommandeur auf Sichtkontakt. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre Pläne noch einmal überdacht und korrigiert, Commander…«
Bert Stranger, der neben Ren Dhark stand, zuckte plötzlich zu‐ sammen wie unter einem körperlichen Schmerz. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um nahe an Dharks linkes Ohr zu gelangen. »Wissen Sie, was das für ein Zeichen ist?« Der Commander schüt‐ telte den Kopf. »… dafür wollte ich Ihnen persönlich danken, Commander Dhark.« Die Stimme des Generals tönte durch die Zentrale. »Trotz‐ dem werde ich das Feuer nicht aus Bordgeschützen eröffnen, sonst könnte ich Sie womöglich doch noch gefährden…« »Das ist das ›Peace‹‐Zeichen! Das Symbol einer Friedensbewegung, die im zweiten Drittel des letzten Jahrhunderts eine Zeitlang von sich reden machte«, sagte Stranger. »Es bedeutet Frieden und sonst nichts…« »… in diesem Moment verlassen zweiunddreißig Flash ihre De‐ pots. Sie werden den Eindringling in etwa zwölf Minuten angreifen. Bis dahin dürften Sie sich soweit aus dem Kampfgebiet entfernt ha‐ ben, daß Ihr Schiff nicht…« »Nein, Clark!« schrie Ren Dhark. »Sehen Sie nicht, was die Roboter da außerhalb ihres Schiffes veranstalten? Sie signalisieren Frieden!« »Das riecht nach Artus«, rief Doorn plötzlich. »Ich sage euch: Das riecht nach Artus!« Alle erstarrten, alle blickten sie stumm auf das Friedenszeichen aus Robotern über dem Fremdraumer. Niemand reagierte mehr auf die Stimme des Generals. »Ich gehe rüber.« Ren Dhark lief zur Treppe und stieg zur Galerie hinauf. »Ich komme mit.« Amy Stewart folgte ihm. * Noch drei Kilometer bis zur bizarren Bordwand des Fremdrau‐ mers. Ren Dhark steuerte Flash 02, Amy saß hinter ihm. »Was macht Clarks Sturmspitze?« fragte Amy. Dhark blickte auf die Ortungsschirme. Die Reflexe von gut dreißig
Flash leuchteten dort auf. »Sie umkreisen uns und den Robotraumer in einem Abstand von zwanzig Kilometern.« Näher und näher rückte die asymmetrische Bordwand des rät‐ selhaften Raumschiffes. Das Friedenszeichen über ihnen löste sich nach und nach auf. Roboter schwebten aus der Formation, flogen zur Bordwand zurück und verschwanden dort in einer Kerbe zwischen zwei Wülsten. Vermutlich lag ein Schott in dieser Metallschlucht. Ren Dhark hatte nicht vor, ein Schott zu benutzen. »Commander an POINT OF. Noch achthundert Meter bis zur Bordwand. Ich schalte jetzt den Brennkreis aus. Wir fliegen mit unserem eigenen Schwung weiter.« »Verstanden«, gab Falluta zurück. Zwei Minuten später ragte die steile, rissige, eingebeulte und in jeder denkbaren Weise verformte Schiffswand vor ihnen auf. Amy fühlte sich ein wenig an einen zerschlagenen und von Wucherungen entstellten Schildkrötenpanzer erinnert. »Wir gehen rein«, funkte Dhark an die POINT OF. »Viel Glück, Ren!« Diesmal hörten sie Rikers Stimme aus dem Bordfunk. »Danke.« Flash 02 glitt durch die Bordwand, als wäre die weiter nichts als eine Illusion. Seine Außenscheinwerfer rissen ähnlich bi‐ zarre Strukturen aus der Dunkelheit, wie Amy und Ren Dhark sie bereits von der Außenwand kannten: ausgebeulte Wände, Decken‐ formationen wie Stalaktiten, plötzlich aufragende Spiralen, diagonal den Raum zerteilende Flächen, die wie Rückenflossen von Haien aussahen, kreuz und quer verlaufende Rohre, mal kreisförmig im Querschnitt, mal oval und vieles dergleichen mehr. »Bist du als Kind auch so gern Geisterbahn gefahren?« fragte Amy. »Nein.« »Aber ich. Weißt du, was mir gerade durch den Kopf geht?« »Sag schon.« »Daß die Konstrukteure dieses Ungetüms von Schiff vielleicht mehr räumliche Dimensionen kennen als wir und daß ihnen dieses
Chaos vielleicht genauso symmetrisch erscheint wie uns die Formen unserer eigenen Schiffe.« »Interessanter Gedanke. Was sagen deine Instrumente?« Amy schüttelte die Faszination der fremdartigen Welt ab, durch die der Flash sie trug. Sie konzentrierte sich auf die kleine Ortungs‐ konsole vor ihrem Sitz. Minutenlang schickte sie Peilstrahlen in alle Richtungen durch das fremde Schiff. »Ein energetisches Muster, das mich an Artus erinnert!« rief sie plötzlich. »Tatsächlich! Er ist an Bord!« »Ich will es sehen. Schick es auf meinen Schirm.« Sekunden später konnte Dhark das Energiemuster selbst betrachten. »Ja, das könnte Artus sein…« Er korrigierte den Kurs und steuerte die Quelle des Energiemusters an. Sie lag im Zentrum des Schiffes. Eine Zeitlang sprachen sie kein Wort. Irgendwann sagte Amy plötzlich: »Und wenn es nun eine Falle ist?« Ren Dhark antwortete nicht. Die Quelle des energetischen Musters rückte näher. Sie glitten durch eine hohle Wand voller Kabel und Rohre. Dahinter lag ein weiter Raum von gut vierzig Metern Höhe. Amy kam sich plötzlich vor wie im Kirchenschiff einer Kathedrale, deren Emporen zusam‐ mengebrochen und deren tragende Mittelsäulen gegen die Außen‐ mauern gekippt waren und sie nun ausbeulten statt das Dachge‐ wölbe zu tragen. Eine bedrückende Atmosphäre herrschte in diesem Raum – in allen Winkeln schienen Angst und Drohung zu lauern. »Da ist er.« Dhark drehte den Flash um fast achtzig Grad. Der Lichtkegel der Außenscheinwerfer glitt über Spiralen, scharfe Me‐ tallsegel, Stachelplatten, Kabelwirrwarr und halb durchsichtige Stränge, die Amy zuerst an Zöpfe aus Glasfasern und dann an zu‐ sammengeballte Spinnennetze erinnerten. Mitten in diesem chaotischen Alptraum aus unwirklichen Formen und Flächen hing Artus. Ren Dhark hielt den Flash an. Der Lichtkreis des Außen‐ scheinwerfers ruhte auf dem blauen Metallkörper des Roboters. Er
zuckte ein wenig mit dem rechten Arm. Matter Schimmer drang aus einem Auge. »Es scheint ihm nicht gutzugehen«, flüsterte Amy. Dhark schaltete das Intervallum aus und setzte das Fluggerät auf dem Boden auf. Es stand nicht gerade, aber auch nicht so schräg, daß es umzustürzen drohte. Einen ebenen Boden würde man an Bord dieses Schiffes wohl vergeblich suchen. Sie schlossen die Helme ihrer Schutzanzüge, entsicherten ihre Strahler und kletterten aus dem Flash. Ständig drehten sie sich um sich selbst und zielten nach allen Seiten, während sie das Geflecht aus Kabeln, Rohren, Spiralen und Metallstreben anpirschten, in dem Artus hing. Dhark kletterte hinein, Amy blieb davor stehen. Sie ak‐ tivierte ihr Programmgehirn und schaltete in ihr zweites System. Mit ihrer Waffe sicherte sie die unmittelbare Umgebung ab. Weder sie noch Dhark trauten dem Frieden. Der Commander schob Kabelstränge weg und bog Rohrspiralen zur Seite, um an Artus’ Metallkörper zu gelangen. Je näher er Artus kam, so schien es ihm, desto heftiger zuckten die Arme des Roboters, und in desto kürzeren Intervallen leuchtete sein linkes Auge auf. Es war, als wollte der Roboter ihn zur Eile antreiben. Dhark schob sich an einer keilförmig aus dem Boden ragenden Platte vorbei, wich zwei metallenen Stalaktiten aus, die schräg von der Decke hingen, und konnte endlich neben dem Roboter in die Hocke gehen. Ein Kabel ragte aus der geöffneten Wartungsklappe in Artus’ Brust und lief hinüber zu einem metallischen Block, in dem es verschwand. Dhark beugte sich über Artus’ metallisch schimmernden Körper. Der Commander faßte nach der Kabel Verbindung. Vorsichtig zog er daran. Leichter als erwartet ließ sie sich lösen. Dhark nahm das Ka‐ belende und legte es auf den Boden. Artus’ Augen begannen plötzlich zu leuchten. Er zog die Beine an und bewegte beide Arme. Mit der Rechten deutete er über seine Schulter. »Am Rücken«, sagte er laut und deutlich. Er versuchte sich
auf die Seite zu drehen. Dhark mußte ihm helfen, damit es endlich gelang. Auf Artus’ Rücken, direkt unter dem Teleskopnacken, klebte et‐ was, das Ren Dhark an ein schwarzes Elefantenohr aus Blech erin‐ nerte. Tatsächlich erwies es sich als ähnlich biegsam. An der unteren Seite verdickte sich die schwarze Fläche zu einem ebenso schwarzen Kabelstrang, der in einem Bodenloch verschwand. Am oberen Rand krümmten sich drei krallenartige Verdickungen aus dem flachen Ding. Die mittlere verschwand in der Lücke zwischen Artus’ Kopf und Rücken, die anderen beiden waren länger und endeten rechts und links unter den Roboterachseln. Dhark packte zu. Diesmal brauchte es mehr Kraft, um die Verbindungen zu lösen. Doch es gelang. Der Roboter richtete sich auf. Er schüttelte sich. Wie einer, der aus tiefer Trance erwacht, kam er dem Commander vor. »Wir müssen das Schiff so schnell wie möglich verlassen«, sagte er. Ren Dhark half ihm auf die Roboterbeine. Gemeinsam kletterten sie aus dem Chaos von Kabeln, Rohren, Stacheln, Stalaktiten und Dreiecksplatten. Amy kam ihnen ein Stück entgegen, um ihnen aus dem Metall‐ und Kunststoffdschungel herauszuhelfen. »Was ist das hier?« Dhark deutete zurück auf Artus’ Gefängnis. »Vektor«, sagte Artus. »Das Schiff heißt Vektor?« »Alles heißt Vektor. Alles ist Vektor – das Schiff, die Roboter. Manchmal ist Vektor auch ein einzelner Roboter…« Amy und Ren Dhark sahen ihn verständnislos an. »Ich erkläre es euch später. Vektor war mein Gefangener, doch er hat mich in seine Gewalt ge‐ bracht. Ich war einen Moment lang unachtsam – in den Minuten, als sich das Kampfgeschwader näherte. Ich konzentrierte mich darauf, die Arbeitsroboter nach draußen zu schicken und das Zeichen bilden zu lassen, da schlug Vektor zu. Ohne euch hätte er mich erledigt. Danke, daß ihr gekommen seid. Jetzt müssen wir gehen.« Er wandte sich ab und wollte loslaufen, doch Dhark hielt ihn fest.
»Ich will mir dieses merkwürdige Schiff genauer ansehen, Artus.« Der Roboter schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Vektor hätte mich nicht mehr lange kontrollieren können, und das wußte er. Deshalb hat er die Selbstvernichtung aktiviert. Er wollte mich möglichst lange genug hier festhalten, damit ich mit ihm untergehe. Wir müssen uns beeilen – in sieben Minuten explodiert Vektor.« Der Commander zögerte. Artus legte ihm die Rechte auf die Schulter. »Ich verstehe – du mißtraust mir, Dhark. Tu es nicht. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Sie haben den Untergang der Erde be‐ schlossen. Sie sind mit 2500 Schiffen im Anflug. Hört ihr?« Jetzt wandte er sich auch an Amy. »2500 Robotraumer! Wenn wir noch länger zögern, ist alles vorbei.« Er drehte sich um und stelzte davon. »Kommt mit dem Flash zur Hauptschleuse!« rief er. »Ich laufe voraus. Folgt meinem Energie‐ muster! An der Hauptschleuse werde ich mich am Flash festklam‐ mern. Vielleicht können wir alle drei uns noch retten…!« Sein Körper verschwamm in der Dunkelheit zwischen Rohren, Splittern, Spiralen und verformten Halbkugeln. Amy schluckte. Sie schüttelte die Lähmung ab, die sie bei Artus’ Worten überfallen hatte, und zog Ren Dhark mit sich zum Flash. »Komm schon! Weg hier! Schnell weg!« Sie stiegen in den Flash. Dhark aktivierte Intervallum und Trieb‐ werk. Diesmal flog er mit Brennkreis, um möglichst viel zu zerstö‐ ren. Er orientierte sich an Artus’ Energieimpulsen. »Ich muß die Flotte alarmieren«, rief er auf halbem Weg. Es klang, als würde er sich selbst aus der Erstarrung rufen. Er aktivierte das To‐Richtfunkgerät. »Ren Dhark ruft Raummarschall Bulton, kom‐ men!« Keine Antwort. »Flash 02 von der POINT OF an Flottenober‐ kommando! Dhark an Oberkommando der Terranischen Flotte…!« Endlich flammte der Monitor über Dharks Kopf auf, und die bul‐ lige Gestalt des Marschalls nahm Konturen an. »Wo stecken Sie, Dhark?!« blaffte er. »Noch in dem Fremdraumer. Ich habe hier den Roboter Artus
wiedergefunden. Wie es aussieht, hatte er sich zu Spionagezwecken ins metallene Herz der Robotfinsternis eingeschmuggelt. Ersparen Sie mir lange Erklärungen, später mehr. Jetzt nur dies: Eine Flotte von 2500 Roboterschiffen ist im Anflug…!« Bultons Unterkiefer sank langsam nach unten, seine Augen wurden zu schmalen Strichen. »Verstehen Sie, Bulton – Robotschiffe! 2500! Sie sind nahe! Sie wollen die Erde vernichten…!« »Ich… wir… wir haben nur 800 Ringraumer hier im Sol‐System stationiert… alle Alters‐ und Bauklassen…« Er begann zu stammeln, leichenblaß war er plötzlich. »Ist das wirklich wahr…?« »2500 Robotraumer, Marschall!« Ren Dhark schrie. Er merkte auf einmal, daß er schweißnaß war. »Und jede Minute können sie aus dem Hyperraum in unser Sonnensystem eintauchen!« »Die Giant‐Beuteschiffe in die Schlacht zu schicken wäre Mord, die können nichts ausrichten gegen die Maschinen…« Bulton rieb sein Kinn. »Dann haben wir noch 180 neue 400‐Meter‐Ikosaederraumer… und die POINT OF… und die ASGOR… Das reicht hinten und vorne nicht, Dhark! Was sollen wir nur tun…!?« »Uns dem Kampf stellen, was sonst?!« brüllte der Commander. »Sollen wir unseren Mutterplaneten etwa kampflos aufgeben?!« Wieder und wieder sah er sich um. Noch zwei Minuten. Wo blie‐ ben Dhark und Stewart? Artus blickte durch das offene Hauptschott ins All hinaus. Sollte er einfach springen? Vielleicht würde die Ex‐ plosion ihn ja nur beschädigen und die Druckwelle ihn in den Kos‐ mos schleudern. Nein, aussichtslos. Da draußen war er für eine Schiffsortung nicht mehr als eine Stecknadel. Im besten Fall würde er ein paar Millionen Jahre durchs All treiben und irgendwann auf dem Saturn aufschlagen. Noch neunundvierzig Sekunden… Eine Hitzewelle berührte ihn von hinten. Er drehte sich um. Flash 02! Endlich! Artus winkte Dhark heran. Der Flash verlangsamte, stoppte an seiner Seite. Artus kletterte auf den rohr‐förmigen Rumpf, legte sich bäuchlings auf ihn und klammerte sich daran fest. Mit der Fußspitze schlug er gegen den Rumpf – der Flash nahm Fahrt auf,
flog aus der Schleuse und beschleunigte. Noch einundzwanzig Se‐ kunden. Artus blickte zurück. Wie ein schroffes Metallgebirge ragte Vektor vor ihm auf. Viel zu langsam entfernte er sich. Noch elf Sekunden. Der Flash wurde schneller, die Distanz zu Vektor größer – dreihun‐ dert Meter, fünfhundert Meter, achthundert, zwölfhundert… Es konnte nicht reichen, es würde nicht reichen – zu groß die Energien, die das explodierende Schiff entfalten würde. Noch vier Sekunden. Drei… zwei… eine… Artus schlug mit der Stiefelspitze gegen den Rumpf. Es sollte ein Zeichen des Abschieds sein. Auf einmal flog der Flash eine enge Schleife, so daß er sich auf Parallelkurs zu dem immer noch drei Kilometer entfernten Schiff befand. Und zugleich kippte Ren Dhark den Flash 02 zur Seite. Der Blick auf Vektor war Artus nun verdeckt. Sekunden später sah er zwar den sich aufblähenden Glutball über die Ränder des Bei‐ bootes hinauswachsen – vollkommen geräuschlos und in einer tief‐ roten Feuerkugel verging Vektor –, aber der Flash befand sich wie ein Schutzschild aus Unitall zwischen dem Roboter und der Feuer‐ hölle, in der Vektors krankes Hirn zerschmolz und verdampfte. Ein Glutsturm fegte über den Flash und Artus hinweg, Trüm‐ merstücke rasten rechts und links vorbei, über Artus und unter Ar‐ tus hinweg, einige prasselten gegen die Außenhülle des Flash, aber keines konnte dessen Wandung durchschlagen. Zwölf Sekunden später etwa rückte der verglühende Feuerball wieder in Artus’ Blickfeld. Und dann war nur noch eine Wolke fetten Rauches und glühenden Staubes von Vektor übrig. Sie dehnte sich rasch aus, um im Nichts zu verglimmen. 2500 Robotschiffe, dachte der Roboter. 2500 intelligente Ro‐ boterschlachtschiffe, jedes ein riesiges Gehirn mit einem kampfstarken Panzerkörper… Artus starrte in die Glutwolke, die einst Vektor geheißen hatte. … und wenn sie das Sol‐System wieder verlassen, dehnt sich dort, wo die
Erde jetzt noch rotiert, eine Wolke glühenden Rauches und glühenden Staubes aus, um im Nichts zu verglimmen… ENDE Ein Universum Release