Thierry Maugenest
Das Königspulver
Inhaltsangabe Sevilla in der Mitte des 13. Jahrhunderts Als innerhalb kurzer Zeit ...
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Thierry Maugenest
Das Königspulver
Inhaltsangabe Sevilla in der Mitte des 13. Jahrhunderts Als innerhalb kurzer Zeit fünf angesehene Kaufleute der Stadt durch ein geheimnisvolles Fieber ums Leben kommen, erhält Abraham, der Leibarzt des Königs, den Auftrag, die Ursache herauszufinden. Dabei helfen sollen ihm seine Tochter Sarah und der französische Arzt Roscelin, der sich bald einen sagenhaften Ruf bei den Patienten erwirbt, da er über das geheimnisvolle ›Königspulver‹ verfügt, das angeblich alle Krankheiten heilen kann. Zunächst erzielt er auch überraschende Erfolge damit – doch gegen das tödliche Fieber, das die Reichen Sevillas befällt, ist auch er machtlos. Steckt in Wahrheit Mord hinter den mysteriösen Todesfällen?
Die französische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel ›La poudre des rois‹ bei Editions Liana Levi, Paris. Besuchen Sie uns im Internet: www.knaur.de
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Deutsche Erstausgabe Januar 2007 Copyright © 2004 by Editions Liana Levi Copyright © 2007 für die deutschsprachige Ausgabe by Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Redaktion: Antje Nissen Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagabbildung: FinePic, München Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: Nørhaven Paperback A/S Printed in Denmark ISBN-13: 978-3-426-63301-4 ISBN-10: 3-426-63301-9 24531
Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
O Menschen von Al-Andalus, welch Glück ist Euer! Ihr habt Wasser, Schatten, Flüsse und Bäume. Der Garten der Glückseligkeit liegt eben hier, und, wenn ich wählen müsste, nähme ich gerne diesen. Ibn Khafaja, 11. Jahrhundert
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ine langersehnte Dämmerung kündigte sich über dem Okzident an, jene Sonne aber würde nicht aus dem Osten kommen. Diejenigen, die auf sie warteten, waren Philosophen, Astronomen, Mathematiker oder Mediziner, und sie wandten allesamt den Blick gen Süden, weit jenseits der Pyrenäen, in Richtung der Ebenen von Al-Andalus, wo Dörfer und Städte, wie von dem Dichter Ibn al-Hammâra beschrieben, inmitten von Obstgärten und Olivenhainen wie weiße Perlen zwischen Smaragden zum Vorschein kamen. Diese Perlen, von denen die schönsten Namen wie Córdoba, Granada oder Sevilla trugen, waren selbst Schmuckschatullen, die den größten aller Schätze hüteten: das Wissen. Daher beeilten sich die christlichen Könige, nach jedem Sieg über die maurischen Herrscher und der Eroberung andalusischer Städte durch das Schwert, die Tore der majestätischen Bibliotheken weit zu öffnen. Und die Sonne, die zu lange zurückgehalten worden war, konnte endlich aufgehen. Alles, was der Okzident verloren hatte, befand sich an den ehemaligen Emirhöfen, und Kopisten und Übersetzer machten sich daran, wie Felswände die Echos der Namen Aristoteles, Ptolemäus, Euklid, Galen oder Hippokrates um ein Vielfaches zurückzuwerfen. So hielt auch die Kunst, Männer und Frauen zu heilen, wieder feierlichen Einzug im Abendland, nachdem sie einmal das Mittelmeer umrundet hatte und um das Wissen des Orients erweitert worden war. Die Medizin, die immer mehr der Autorität der Geistlichen entkam, wurde nach und nach zur wahren Wissenschaft, deren größte Fortschritte noch in der Zukunft lagen. Allerdings hat jede Medaille ihre Kehrseite. So wurden im Herzen Sevillas in jenem Jahr 1265 die immer tiefgreifenderen Erkenntnisse über Krankheitsbilder für einige zu einer neuen Waffe, die noch hinterhältiger zu töten vermochte als das Gift, der Dolch oder das Schwert …
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1 30. August 1265
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ie sind zurückgekommen! Sie sind zurückgekommen, um sich zu rächen! Sie sind da, alle beide! Sie sind zurückgekommen, um mir mein Leben zu nehmen …« Der Mann, der diese Worte ausspricht, ist allein. Sein Pferd, dem er ununterbrochen die Sporen gibt, galoppiert über die Abhänge der Hügel des Aljarafe. Weiter nördlich hängen Gewitterwolken schwer über der Sierra de Aracena. Es ist bereits eine Stunde her, seit der Mann Sevilla verlassen hat. Von Zeit zu Zeit dreht er sich um, schließt die Hand um den Griff eines Krummschwerts, zieht es aus der Scheide und fuchtelt damit in der Luft herum, als müsste er unsichtbare Kämpfer auf Abstand halten. »Sie sind zurückgekommen! Sie sind zurückgekommen, um sich zu rächen! Nach fünfzehn Jahren sind sie zurückgekommen, um mich zu töten …« Nach und nach lassen seine Kräfte nach. Er hat Fieber. Er zittert vor Kälte in der schwülen Augustsonne. Seine Stimme wird schwächer, seine mühsam gestammelten Sätze sind kaum mehr als ein Röcheln, das sich hier und da in einen Anfall schleimigen Hustens verwandelt: »Sie sind da … alle beide … sie sind von den Toten zurückgekehrt …« Der Mann schlingt seinen langen schwarzen Umhang um sich und versucht so, seine Körperwärme zu bewahren. Aber vergeblich. Sein Mund beginnt zu zittern, und seine Zähne klappern immer heftiger aufeinander. Jenseits der silbrig wogenden Olivenhaine erkennt der Reiter auf dem Gipfel eines Hügels einen kleinen beweglichen Fleck, der ihn an Schaum2
kronen erinnert, die manchmal Wogenkämme säumen. Doch durch die flimmernde Hitze am Horizont kann er nicht genau erkennen, um was es sich handelt. Das gleißende Licht lässt ihn Grimassen schneiden, was die Furchen um seine Augen vertieft. Doch je näher er kommt, desto mehr beginnt er Farben zu erkennen, Weiß und Braun, die allmählich die Form gezackter Mauern, weißgekalkter Häuser und hoher Kirchtürme und Minarette aus ockerfarbenem Stein annehmen. Das muss das Dorf Sanlúcar la Mayor sein, sagt er sich. Ich werde darum bitten, dass man meinem Pferd Wasser gibt … dann werde ich weiterreiten … weit … sehr weit weg von Sevilla. Ist es die Wirkung der Sonne, die die Konturen des Dorfes vor seinen Augen verschwimmen lässt, bevor sie sich in feinen, schwarzen Fäden verflüchtigen? Nein, der Mann ist bei weitem zu nah an die ersten Behausungen herangekommen, als dass sie derart in einer Wärmespiegelung erzittern könnten. Der Grund für seine Visionen ist der Schwindel des Fiebers. Das Fieber, das vor knapp ein paar Stunden urplötzlich eingetreten ist. Dasselbe Fieber, das ihn wahrscheinlich dahinraffen wird, bevor die Sonne untergeht. Als er das Dorf betritt, zwingt der Mann sein Pferd, eine gemächlichere Gangart einzuschlagen. Sein Blick verschwimmt immer mehr. Er schafft es trotzdem, ein paar Schritte von ihm entfernt die Gestalt eines Bauern auf seinem Esel auszumachen. »He! Mann!«, ruft er zitternd und von Krämpfen geschüttelt. »Wo könnte ich … wo könnte ich Wasser für mein Pferd finden?« Der Bauer dreht sich langsam um, um zu sehen, woher die Stimme kommt, aber kaum bemerkt er die Züge des Reiters, verrät sein Gesicht Schrecken. »Zurück!«, ruft er. »Wo auch immer du herkommst, Fremder, kehre dorthin zurück, anstatt unsere Häuser zu infizieren und unsere Familien zu verseuchen!« Die Rufe des Bauern haben schnell die Bewohner von Sanlúcar la Mayor alarmiert, die auf den Schwellen ihrer Häuser und an ihren Fenstern erscheinen. Sie bemerken auf den ersten Blick das von roten, eitrigen Flecken übersäte Gesicht des Reiters, seinen abwesenden Blick, 3
den Speichel, der ihm aus dem halb geöffneten Mund rinnt, und seine Arme, die vor Fieber zittern und die sich nur mit Mühe und Not um den Hals seines Reittieres klammern. »Zurück, Fremder! Zurück!«, rufen auch sie mit erschreckter Stimme. »Kehre dorthin zurück, woher du gekommen bist, bringe dein Fieber weit weg von hier!« Die Männer haben bereits ihr Schwert gezogen, um den Reiter auf Abstand zu halten, während die Frauen und Kinder sich daran machen, mit Steinen nach ihm zu werfen. Schon hat einer von ihnen den Reiter an der Stirn getroffen, und das Blut spritzt von seinem Gesicht auf. Er muss fliehen. Er weiß es, hat aber nicht mehr die Kraft, seinem Pferd den Befehl zu erteilen, das ebenfalls von einem Wurfgeschoss getroffen worden ist. Es bäumt sich auf, was seine Muskeln glänzend hervortreten lässt, und nimmt von selbst den Galopp wieder auf. Dem Mann gelingt es, sich an den Rücken seines Reittieres zu klammern. In fiebrig gestammelten Worten fleht er den Himmel an, dass er nicht aus dem Sattel geworfen werden möge. Sollte er loslassen, würden ihn die Dorfbewohner umbringen, um sich vor der Ansteckung zu bewahren. Das Leiden lebt, solange der Mensch lebt, der es trägt – so sagt man hier in der Gegend. Und das erfährt er am eigenen Leib. Er ist davon überzeugt, dass die Männer und Frauen, die er um sich herum keifen hört, nicht einen Augenblick zögern würden, ihn zu töten und seine Leiche sofort zu verbrennen, um sich so sicher wie möglich vor dem Fieber zu schützen. Der Mann hält das Gesicht in der Mähne seines dahinrasenden Pferdes verborgen, hat aber nicht die Kraft, die Augen zu öffnen. Nach und nach verebbt das Stimmengewirr der Bewohner von Sanlúcar la Mayor. Wahrscheinlich habe ich bereits das Dorf verlassen, denkt er halb bewusstlos.
Wie viele Meilen hat er zurückgelegt, seitdem er die letzten Behausungen hinter sich gelassen hat? Wie lange ist er schon mit geschlossenen Augen dahingeritten, kaum bei Bewusstsein? Er weiß es nicht mehr. 4
Ein paar Minuten, Stunden, einen ganzen Tag vielleicht oder sogar länger? Nun dringt allein das Geräusch der klappernden Hufe seines Pferdes an seine Ohren. Es ist höchstwahrscheinlich erschöpft und verlangsamt sein Tempo, um schließlich ganz stehen zu bleiben. In einer tiefen Stille, die von einem fernen Donnergrollen kaum gestört wird, gleitet sein zitternder, schweißgebadeter Körper über die Seite seines Reittieres, bevor er schwer auf dem Boden zusammenfällt. Sturmböen eines Gewitters, das von den Anhöhen der Sierra de Aracena hinabzieht, blähen die Enden seines langen Umhangs. Auf einem Bett aus Schotter verweilen die Glieder des Mannes vollkommen starr, ohne mehr von Krämpfen geschüttelt zu werden. Sein Gesicht, das noch vor kurzem vom Fieber gerötet war, fängt nach und nach an, violett zu glänzen. Ein letzter Hauch von Leben gibt seinem Geist jedoch noch die Kraft zum Träumen. Da sind zwei Männer. Ihre Körper, mehr tot als lebendig, triefen von Meerwasser. Starr und bedrohlich stehen sie vor ihm. »Siehst du, wir haben doch noch das Festland erreicht«, sagt einer von ihnen. »Glaubst du etwa, die Vergangenheit sei vergessen?«, fragt der andere. Auf diese Vision bewegen sich die Lippen des Mannes zu einem Murmeln: »Sie sind zurück! Sie sind aus den Tiefen des Meeres zurückgekehrt, um sich zu rächen! Sie sind da, alle beide!«
»Rührt Euch nicht, mein Sohn, ich werde mich um Euch kümmern.« Die Stimme, die gerade gesprochen hat, gehört einem alten Mann, der neben dem Sterbenden kniet. Mit einer zitternden Hand hebt er ihm mühevoll den Kopf an, während er mit der anderen versucht, ihm den Inhalt einer Phiole zwischen die Lippen zu gießen. »Versucht, diese Zubereitung auf der Basis von heilendem Salbei und aqua ardens zu trinken, das dürfte wahrscheinlich das Fieber senken und Euch ein paar Kräfte zurückgeben … Nein, versucht nicht zu sprechen. Ich werde Euch zu meinem Unterschlupf geleiten, dort werde ich Euch leichter meine Pflege zukommen lassen können.« 5
Mit diesen Worten streckt er den Körper seines Patienten auf einer eilig aus ein paar Zweigen gefertigten Trage aus, vor welche er das Pferd spannt, das bei seinem Herrn geblieben war. Sobald der Körper festgebunden ist, gibt der alte Mann dem Tier den Befehl loszulaufen. Als er sieht, dass der Kranke die Augen halb öffnet, wendet er sich erneut an ihn: »Oh! Ich bin selbstverständlich kein Arzt, ich bin nur ein alter Mann Gottes, ein armer Einsiedler mit einer angegriffenen Gesundheit, aber als ich damals im Kloster lebte, hatte ich das Vergnügen, den herbularius, unseren Heilkräutergarten, zu betreuen, und die Brüder haben mich die Grundkenntnisse der Heilkunst gelehrt. Ich werde mich bemühen, mich ihrer Regeln zu erinnern.« Dann hebt der Einsiedler ängstlich die Augen gen Himmel. Die Nacht und das Gewitter sind nun über ihnen, und der Weg bietet keinerlei Obdach. Ein Blitz erleuchtet die Anhöhen der Sierra de Aracena, und mit ihm ergießt sich kalter und kräftiger Regen über die beiden Männer und ihr Reittier. »Verliert nicht den Mut, mein Sohn! Es sind nur noch ein paar Schritte bis zu meinem Unterschlupf.« Wenig später streckt der alte Mann den triefenden Körper des Unbekannten auf dem erdigen Boden seiner Hütte aus Trockensteinen aus, die den verlängerten Eingang zu einer naturgeschaffenen Grotte bildet. Erschöpft setzt er sich einen Augenblick, um auszuruhen. Als sein Atem seinen normalen Rhythmus wiederfindet, wendet er sich an den Kranken: »Dies ist nun meine bescheidene Bleibe, mein Sohn. Aber bevor ich Euch untersuche, werde ich ein Feuer machen – das wird Euch bald aufwärmen.« Als hohe Flammen das enge Steingewölbe schwärzen, zieht der Einsiedler seinem Patienten mit einem Zittern der Hände, das er kaum kontrollieren kann, das Hemd und die Kniehose aus, um seine Haut besser betrachten zu können. »Diese eitrigen Rötungen erinnern an das Sankt-Lorenz-Feuer«, sagt er laut. »Man kann sie wahrscheinlich heilen durch einen Breiumschlag aus Alraunenwurzeln und Schweinespeck. Gleichwohl könnte dieser vor Fieber brennende Körper auch vom Sankt-Benedikt-Feuer gebeutelt sein, und in diesem Fall wäre es angebracht, ihm einen Trank 6
auf der Basis von Lilien, wilder Raute und Salbei zu geben … Es sei denn, es handelte sich ganz einfach um einen besonderen Fall von Sankt-Georg-Fieber, das ich vielleicht durch einen Sud aus gekochtem Mohn und Rosenblüte beruhigen könnte …« Mitten in seine Überlegungen hinein wird er von seinem Patienten unterbrochen: »Ich danke Euch für Eure Güte, mein Vater, aber gebt Euch keine Mühe mehr, mich zu heilen. Keine Medizin kann mir mehr zu Hilfe kommen. Wenn Ihr ein Mann Gottes seid, so ist es vielmehr Zeit, sich meine Beichte anzuhören.« Der Einsiedler schwankt einen Moment lang zwischen der Entscheidung für eine Behandlung, die man dem Körper zukommen lassen sollte, und der, welche die Seele verlangt, und entschließt sich letztendlich dazu, neben dem Mann niederzuknien und seine letzten Worte zu empfangen. »Ich höre Euch zu, mein Sohn. Sprecht leise, und versucht, Eure Kräfte einzuteilen.« Daraufhin nimmt der Kranke mit letzter Anstrengung einen tiefen Atemzug, der von einem Schluckauf unterbrochen wird, und flüstert mit kaum vernehmbarer Stimme: »Segnet mich, mein Vater, denn ich habe gesündigt. Dies ist schon sehr lange her, genau fünfzehn Jahre. Es war im Frühjahr 1250. Ich hatte mich in Sevilla eingeschifft in Begleitung anderer Kaufleute, auf einem Schiff, das den Guadalquivir hinunterfahren und dann das Mittelmeer durchqueren sollte. Wir nahmen Kurs auf Akkon, im Orient. Der Gewürz- und Seidenhandel florierte, wir hatten so viele Reichtümer, mein Vater … so viele Reichtümer, dass uns nichts und niemand etwas anhaben konnte. Aber als wir dann auf hoher See waren … ein Mann genannt Sebastian, und sein jüngerer Bruder Felipe …« »Ich höre Euch zu, mein Sohn. Was ist geschehen?« »Ich … ich habe es nicht gewollt, das habe ich nicht … Ihr müsst mir glauben … Ich schwöre es bei Gott. Versteht Ihr, ich hatte Angst, wie die anderen …« »Angst wovor, mein Sohn, oder Angst vor wem?« »Angst vor … vor … Ich hätte niemals … Nun sind sie von den Toten zurückgekehrt … fünfzehn Jahre später … sind sie alle beide zu7
rückgekehrt, um sich zu rächen … Sie haben bereits vier Leben ausgelöscht … die Kaufmänner, die sich mit mir eingeschifft hatten …« Diese Worte sind die letzten, die der Sterbende ausspricht. Der Einsiedler schlägt daraufhin mehrfach das Kreuz über dem Körper, den das Leben gerade verlassen hat, und spricht ein langes Gebet. Dann beschließt er, dass die Seele des Verstorbenen von nun an in Frieden ruhen würde und öffnet die Umhängetasche aus Leder, die noch mit dem Trageriemen an der Leiche hängt. Er holt Lebensmittel daraus hervor, die bereits vertrocknet sind, ein Messer und eine Geldbörse, die reich mit Goldstücken ausgestattet ist, welcher er nur geringe Aufmerksamkeit schenkt. Plötzlich wird sein Blick von einem Pergament angezogen, das ein Siegel aus dem Jahre 1250 trägt und ein Handelsschiff darstellt. Der alte Mann nähert sich langsamen Schrittes dem Licht der Flammen und entdeckt folgende Sätze: Vier sind bereits tot, du wirst der Fünfte sein. Wenn der Tag zur Neige geht, wird das Leid, das wir in uns tragen, in deinem Blut fließen. Wenn es auch vergeblich ist, deinen Körper retten zu wollen, so kannst du dich wohl von den Verbrechen reinwaschen, die noch deine Seele beflecken. Welch merkwürdige Botschaft, sagt sich der alte Mann. Dieser Unglückliche muss also gewusst haben, dass sein Hinscheiden nah war. Was mich betrifft, so werde ich mich, wenn meine Kräfte es mir erlauben, auf den Weg in die Ebene machen und den Behörden den Tod dieses Mannes melden. Ein Arzt wird wahrscheinlich das Leiden, das ihn soeben dahingerafft hat, eher beim Namen nennen können als ich.
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2 Sevilla, fünfzehn Jahre zuvor, 16. Mai 1250
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in bauchiges Schiff mit vier Segelmasten liegt am Kai. Die Menge der Kaufleute, die an Bord geht, scheint darauf hinzuweisen, dass es noch am selben Tag Anker lichten wird. Die Besatzungsmitglieder ziehen mit Hilfe eines an der Rahe des Großmasts befestigten Spills die Lebensmittel auf die Brücke, bevor sie sie in den Kielräumen einlagern. Da gibt es Nahrung und Getränke für hundert Menschen für mehr als einen Monat auf dem Meer: ganze Säcke voller Trockenfrüchte, Bohnen oder Erbsen, Stücke getrockneten, geräucherten und gepökelten Fleisches, Fässer mit Wasser und Gewürzwein. Nach den Vorräten werden die Handelskisten voller Seidenwaren, Wolle, Schmuck und Schwerter aus Toledo an Bord befördert und dann in der dunklen Feuchtigkeit des Kielraums und des Unterdecks verstaut. Zum Schluss wird ein Dutzend Pferde, die den reichsten der Kaufleute gehören, an Bord geführt. Eines nach dem anderen werden sie in schmale Unterstände unter dem Achterdeck geführt, bevor man ihre Beine mit Leinenstricken festbindet, um sie vor dem Schlingern zu schützen. Auf der Brücke gibt der Vorarbeiter bereits seine Manöverbefehle. Matrosen steigen mit schweren quadratischen Segeln beladen auf den Groß- und den Fockmast, um sie an den Rahen zu befestigen. Danach werden die leichteren dreieckigen Segel auf den Achter- und den Besanmast getakelt, bereit zum Setzen im Moment des Aufbruchs. Die letzten Passagiere drängen auf den Steg. Da sind Kaufleute aus Sevilla, die an lange Reisen in den Orient gewohnt sind, reich bekleidet 9
und mit schweren Packtaschen aus Leder beladen, neben bescheidenen Pilgern, die nur eine einfache Umhängetasche und ihren Stab bei sich tragen. Bevor sie einen Fuß auf das Schiff setzen, leisten alle die Bezahlung der Reise und die Steuer auf die transportierten Waren. Jeweils mit einer langen gelben Robe bekleidet, stehen ein Angestellter des Hafenzolls und ein Kontrolleur der königlichen Finanzen neben einem alten zahnlosen Schreiber, der eines jeden Namen und Vornamen notiert, bevor er ihn das Bordregister unterzeichnen lässt. Hundert Schritte weiter, gegen Ende der Straße der Tavernen, beobachten zwei Personen in Begleitung eines Kindes die Vorbereitungen zur Einschiffung. Sie zögern, sich dem Schiff zu nähern. Eine von ihnen, die das Katapult bemerkt, das sich auf dem Vordeck befindet, wird sich plötzlich der Gefahren der Reise bewusst. »Bist du sicher, dass das die richtige Entscheidung ist, Sebastian? Es ist bestimmt noch nicht zu spät, um uns anderweitig zu entscheiden. Lass uns nicht dieses Schiff besteigen, die Risiken sind bei weitem zu groß. Hast du an Stürme, Piraten oder Krankheiten gedacht? Lass uns in Sevilla bleiben, und wenn wir unser ganzes Leben lang arm bleiben …« »Nein, Lysandra, wir haben schon zu lange darüber gesprochen. Du weißt, dass dies die einzige Lösung ist. In Sevilla bringt uns unsere Weberei nicht genug ein, um angemessen leben zu können. Dort drüben im Orient häufen die Zünfte der Färber und Tuchhändler Reichtümer an, der Handel floriert, die Häfen sind rege, die Städte prunkvoll. Die Stoffe aus dem Morgenland haben einen derartigen Ruf, dass sehr schnell Kunden aus dem Königreich Frankreich, Venedig oder Palermo zu uns kommen werden. Wir müssen fort. Diese Reise ist unsere einzige Chance. Dank der wenigen Ersparnisse, die uns bleiben, werden wir uns in Akkon niederlassen können. Wie dem auch sei, es geht nicht um uns, es ist unser Sohn Galeo, für den wir diese Reise machen müssen. Damit es ihm nie an etwas fehlen wird.« Sebastian drückt seinen Sohn an sich. Das Kind ist knapp sieben Jahre alt. Es hebt die Augen zu seinem Vater und zeigt dabei auf das Handelsschiff. »Ist das das Schiff, auf dem wir mit Mama wegfahren?« 10
»Ja, Galeo, es ist genau das Schiff, das du dort drüben siehst«, sagt der Vater und kniet sich auf die Höhe seines Sohnes nieder. »Aber hör mir zu: Sobald wir uns dem Schiff nähern, und während der gesamten Zeit der Überfahrt, darfst du deine Mutter nie wieder Mama nennen. Frauen sind an Bord verboten. Genau deswegen hat sich deine Mutter wie ein Mann angezogen, um diese große Reise zu machen. Von nun an müssen wir sie beide Felipe nennen. Und Felipe wird als mein jüngerer Bruder angesehen werden, auch er ist Weber.« »Warum dürfen Frauen nicht das Schiff besteigen?«, fragt der Junge. »Die Besatzungsmitglieder denken, dass sich ein großes Unglück auf das Schiff niederschlagen würde, wenn eine Frau an Bord ginge. Aber das sind Anschauungen aus einem anderen Zeitalter. Aberglaube.« Es ist nun an der Mutter, neben ihrem Sohn niederzuknien. Ihre Männerkleidung und ihre Haare, die sie noch am selben Morgen abgeschnitten hat, lassen sie wie einen zerbrechlichen, bartlosen Jugendlichen aussehen. »Hör mir gut zu«, sagt sie zu ihm. »Du hast verstanden: Niemand darf ahnen, dass ich deine Mutter bin. Wir werden an Bord daher so wenig wie möglich miteinander sprechen. Du musst verstehen, dass wir das für dich tun. Versprich mir nun, dass du mich Felipe nennen wirst. Onkel Felipe.« »Versprochen … Onkel Felipe. Ich werde es tun.« Von der höchsten Rahe aus machen sich die Besatzungsmitglieder bereits daran, das Focksegel zu setzen. Sebastian läuft los, gefolgt von seiner Frau und seinem Sohn. Sie wenden den königlichen Arsenalen den Rücken zu und laufen an der Casa de la Moneda vorbei, bis sie nur noch etwa zehn Schritte vom Zugangssteg des Schiffes entfernt sind. Sebastian ist gezwungen, einen Moment stehen zu bleiben, um auf Lysandra zu warten, die unwillkürlich ihren Gang verlangsamt. Je mehr sich die junge Frau dem Schiff nähert, desto stärker fangen ihre Hände an zu zittern, und ihre Gesichtsfarbe wird blass. Ihre Beine scheinen sie nicht mehr tragen zu können. Mit langsamen Schritten gesellt sie sich schließlich zu ihrem Mann und betrachtet das Segelschiff am Kai. Das Handelsboot ragt wie eine Festung aus Menschen bedrohlich vor 11
ihnen auf. Sie sind die letzten Passagiere, die an Bord gehen. Vor ihnen antwortet ein Priester auf die Fragen des Schreibers: »Name, Vorname?« »Ich bin Pater Johannus van Neesroy.« »Was ist der Grund für Eure Reise?« »Ich habe gelobt, auf den Spuren Christi zu wandeln. Ich werde daher, so denn Gott mir Leben verleiht, mich ins Heilige Land begeben, um dort den Rest meiner Tage zuzubringen.« Nachdem er den erforderlichen Betrag bezahlt hat, unterzeichnet der Priester das Register und geht auf die Reling des Vordecks zu, während er gleichzeitig darauf achtet, nicht die Vorbereitungen des Abfahrtsmanövers zu behindern. Dann ist Sebastian an der Reihe. »Name, Vorname?«, fragt der Schreiber. »Sebastian Rodrigo, und das sind mein Sohn Galeo sowie mein jüngerer Bruder Felipe«, sagt er und versucht, sich schützend vor den Körper seiner Frau zu schieben. »Was ist der Grund für Eure Reise?« »Ich bin Weber, und wir werden uns in Akkon niederlassen.« Der Schreiber taucht die Feder in ein Tintenfass aus Horn und hält sie Sebastian hin. Dieser stützt sich auf das Schreibpult, unterzeichnet das Register und geht dann einige Schritte in Richtung Deck. Dann ist Lysandra an der Reihe. Der Schreiber hält ihr die Feder hin, ohne seine Augen von seinem Register zu heben, dann entdeckt er die Feinheit der Hand, die sich anschickt zu unterschreiben, und hält plötzlich in seiner Bewegung inne. Er hebt die Augen und mustert eine Weile das Wesen, das vor ihm steht. Die junge Frau wendet das Gesicht ab, unfähig, diesem Blick standzuhalten. »Deine Hände sind sehr fein, und deine Gesichtsfarbe recht blass, Felipe, was für eine Art Mann bist du denn?« Lysandras Herz klopft zum Zerspringen. Die Kehle ist ihr vor Angst zugeschnürt, sie ist unfähig zu antworten und sucht den Blick ihres Mannes, der die Szene beobachtet, ohne eingreifen zu können. Ein langes Schweigen tritt ein, als sich von der Schiffsbrücke aus ein reich gekleideter Mann dem Steg nähert und pöbelt: »He! Süßer! Überleg es 12
dir gut, bevor du an Bord gehst, denn wenn die Piraten dich in die Finger kriegen, dann haben sie aus dir schnell einen Eunuchen für ihren Sklavenmarkt gemacht!« Darauf folgt ein Schwall hochnäsigen Gelächters, das von einer kleinen Gruppe von acht reichen sevillanischen Kaufleuten kommt. Der Schreiber, der endlich der Person, die er für einen Mann hält, die Feder reicht, erstickt fast an seinem eigenen Lachen. Plötzlich stürzt sich Galeo, der das Gespött nicht länger ertragen kann, auf die Gruppe der Kaufleute, um sie zum Schweigen zu bringen. »Hört auf, hört auf, dazu habt Ihr kein Recht!«, schreit er. Bevor er sie erreicht, wird er von seinem Vater eingefangen, der ihn mit Gewalt zu den Unterdecks des Schiffes bringt.
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s ist kurz nach Mittag, als ein Reiter in schnellem Galopp in einer Staubwolke vor dem königlichen Alcazar von Sevilla ankommt. Während er in aller Eile die Zügel seines Pferdes dem ersten Diener anvertraut, der vor ihm erscheint, bittet er, so schnell wie möglich von Abraham Alfaquin, dem Arzt des Königs, empfangen zu werden. Einige Augenblicke später kommt ihm ein weiterer Diener entgegen: »Folgt mir. Meister Alfaquin befindet sich in den königlichen Gemächern, aber er wird Euch empfangen. Wenn Ihr in der Bibliothek auf ihn warten würdet.« Der junge Mann ist offensichtlich mit dem Ort vertraut, denn er überquert geradewegs den palmengesäumten Patio und stößt die Tür zu einem Raum auf, in dem Kopisten, Kalligraphen und Illuminatoren gewöhnlich ungestört arbeiten. Trotz der Stille und der besänftigenden Kühle dieses Ortes mit seinem Duft nach ägyptischen Papyri und aramäischen Schriftrollen, gelingt es dem jungen Mann nicht, Ruhe zu bewahren. Er läuft nervös umher und die Absätze seiner Stiefel klappern über den Boden. Kaum zeichnet sich die Gestalt des Mannes, den er zu treffen wünscht, vor der Türöffnung ab, stürzt der junge Mann auf ihn zu: »Meister, ich komme aus der Sierra de Aracena. Mit schlechten Neuigkeiten.« Abraham Alfaquin, dessen Haare und Bart durch die Jahre weiß geworden sind, bewegt sich in kleinen Schritten mit gebeugtem Rücken vorwärts und antwortet mit einer Stimme, die anscheinend nichts berühren kann: »Ich bin glücklich, dich wiederzusehen, Aguirre. Aber wie du siehst, entspricht deine Aufregung nicht der Ruhe dieser Bibliothek; folge mir lieber in den Garten, dort können wir uns ungestört unterhalten.« 14
Der junge Mann nimmt daraufhin den Arzt des Königs beim Arm, um ihn zu stützen, und bewegt sich langsam mit ihm auf eine von Orangenbäumen beschattete Allee zu. Nach ein paar Schritten fragt ihn der alte Mann: »Du sagtest mir, du seiest der Überbringer schlechter Nachrichten?« »Ja, Meister, ein fünfter Fall des Leidens wurde gerade in einem Dorf westlich von Sevilla gemeldet. Genau wie die vier vorangegangenen Opfer hat der Mann das Fieber nicht überlebt. Sein Leichnam trägt auf dem Gesicht noch die roten Spuren der entzündeten Flecken. Er wurde von einem alten Einsiedler in das Dorf Sanlúcar la Mayor gebracht, dieser hat ihn auf den Anhöhen der Sierra de Aracena zu Füßen seines Pferdes liegend entdeckt.« »Die Leiche ist in den Bergen gefunden worden, sagst du? Das ist überraschend. Ist das Opfer dieses Fiebers denn zum ersten Mal kein reicher Kaufmann aus Sevilla?« »Ihr irrt Euch, Meister Alfaquin, die Dokumente, die bei der Leiche gefunden wurden, beweisen sehr wohl, dass jener einmal mehr ein Sevillaner ist, der sich durch Handel bereichert hat. Dieser Mann hat bestimmt dem Leiden zu entkommen versucht, indem er aus der Stadt flüchtete.« Nach dieser Antwort verweilt der Arzt des Königs ein paar Minuten lang stillschweigend, bevor er sich auf einer Steinbank neben einem Brunnen niederlässt. Allein das unauffällige Plätschern des Wassers auf dem Stein und der Gesang der im Palmlaub versteckten Vögel sind zu vernehmen. Nachdem er mit einer einfachen Handbewegung seinen jungen Gesprächspartner gebeten hat, sich neben ihm niederzulassen, setzt der alte Meister seine Überlegung laut fort: »Dies ist nun doch eine recht seltsame Infektionskrankheit, die sich ihre Opfer mit Absicht auszusuchen scheint. Keine Frau, kein Kind, kein Greis ziehen sich je dieses Fieber zu … nur reiche Kaufmänner aus unserer Stadt, von denen keiner dem Tod entrinnen konnte.« Dann wendet er sich erneut an den jungen Mann: »Da praktiziere ich die Medizin nun schon seit über sechzig Jahren, und noch nie habe ich von einem ähnlichen Fall reden hören. Sein Studium ist bestimmt überaus interessant, 15
und eben deswegen habe ich zunächst dich, meinen einzigen Schüler, ausgewählt, um über dieses Leiden eine Untersuchung durchzuführen. Ich muss allerdings anderen als uns die Sorge um die Aufklärung dieses Rätsels überlassen. Dieses Unternehmen fordert in der Tat einen Zeitaufwand, den weder du noch ich zu erfüllen vermögen. Die Jahre setzen meinem Körper sehr zu, und die wenige Zeit, die mir bleibt, muss vielmehr darauf verwendet werden, dir all meine Kenntnisse zu vermitteln, als Untersuchungen über eine neue Epidemie durchzuführen. Unser König Alfonso X. der Weise braucht einen großen Arzt, und es wird an dir sein, über seine Gesundheit und die seines Hofes zu wachen, wenn ich diese Welt verlasse. Bald.« »Ihr habt mir oft gesagt, dass Ihr den vertrauten Schritt des Todes vernehmt, wenn er sich Euren Patienten nähert; hört Ihr ihn heute auf Euch zukommen?« »Ja, er hat sich bereits vor ein paar Tagen angekündigt. Mein Körper ist verbraucht, er ist bereits auf mehreren Meeren gesegelt und hat mehrere Kontinente durchquert; er hat auch zu oft mit Krankheiten zu tun gehabt, um nicht davon geschwächt zu sein. Ich habe mich allerdings nie über das Älterwerden beklagt, denn ich habe früh erfahren, dass dieses Privileg nicht jedem vergönnt ist, und sobald meine letzte Stunde gekommen ist, werde ich mich auch nicht darüber beklagen, sterben zu müssen. Die Menschen kommen und gehen, das liegt in der Ordnung der Dinge, allein das Wissen muss bleiben und im Laufe der Jahrhunderte überliefert werden. Ich danke Gott dafür, dass er mir erlaubt hat, dich an meinem Lebensabend kennen zu lernen. Ich habe sofort in dir die Qualitäten eines großen Arztes erkannt, des größten von uns vielleicht, und es war nicht schwer, unseren König davon zu überzeugen, dass nur du allein eines Tages mein Nachfolger am königlichen Hof des Alcazar von Sevilla sein kannst. Eben deswegen muss ich deine Ausbildung vervollkommnen, solange es mir meine Kräfte noch erlauben.« »Gewährt mir zumindest den Gefallen, im Rahmen meines Studiums bei Euch die Untersuchung über dieses Leiden fortzusetzen, das bereits fünf sevillanischen Kaufmännern das Leben gekostet hat.« 16
Offensichtlich verlegen, aber nicht überrascht ob dieser Bitte, atmet Abraham Alfaquin tief ein, bevor er antwortet. »Du weißt, wie hoch ich dich schätze, Aguirre. Ich habe während der langen Monate, die du bei mir verbracht hast, gelernt, deine Herzensqualitäten beim Kontakt mit den Leidenden zu schätzen. Ich kenne auch deinen Sinn für Gerechtigkeit und deine Rechtschaffenheit, die du bei jeder Gelegenheit unter Beweis stellst. Meines Erachtens aber legst du zu viel Leidenschaft in dein Bestreben, diese Infektionskrankheit zu erklären. Die Medizin, wie du sehr wohl weißt, verlangt Ruhe und Ausgeglichenheit, sie hat mit der übertriebenen Unruhe, die du bei dieser Angelegenheit an den Tag legst, nichts zu tun. Glaub mir, ich habe lange über die Frage nachgedacht, und ich habe mich bereits unserem König geöffnet, der sich besorgt darum gezeigt hat, sein Volk vor einer Epidemie zu bewahren. Das Beste, was wir im Augenblick tun können, ist, diesen Fall der einzigen Person zu unterbreiten, die meines Wissens in der Lage ist, ihn aufklären zu können.« »Von wem sprecht Ihr, Meister?« »Harmad Ibn Akzar, einer der größten Gelehrten unseres Landes; er lehrt Philosophie und Medizin am Studium Generale von Sevilla. Ich kenne diesen Mann gut, und ich habe vollstes Vertrauen zu ihm. Du weißt, dass ich ihm die Ausbildung meiner Tochter Sarah übertragen habe. Sie verspricht, die Hebamme der Frauen der königlichen Familie zu werden, und wird eines Tages die Ehre haben, ihnen dabei behilflich zu sein, die Prinzen des Königreiches auf die Welt zu bringen. Daher geh und finde Meister Akzar so schnell wie möglich, und berichte ihm alles, was wir bereits über dieses Leiden erfahren haben. Erzähle ihm von den ersten Fällen, ohne das fünfte Opfer auszulassen, das soeben in den Bergen der Sierra de Aracena dahingeschieden ist. Wenn er dich angehört hat, bitte ihn, eine Untersuchung im Namen unseres Königs durchzuführen.«
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ie Leinen sind soeben losgemacht worden. Am Fuße des Torre del Oro, der den Hafen von Sevilla überragt, winken die Kaufmannsfrauen zum Abschied ihren Männern zu, die in Richtung Orient aufbrechen. Diese haben sich auf dem Achterdeck des Schiffes versammelt und erwidern die letzten Abschiedsgrüße, während die Besatzungsmitglieder, ohne die Stadt eines weiteren Blicks zu würdigen, bereits eifrig mit den Abfahrtsmanövern beschäftigt sind. Je weiter das Boot auf dem Guadalquivir dahingleitet, desto verschwommener werden die Gestalten auf dem Kai, und die Oberdecks des Schiffes leeren sich langsam. Die Passagiere begeben sich einer nach dem anderen in die angenehme Kühle unter Deck, um sich dort hinzulegen, oder setzen sich auf das zusammengerollte Tauwerk im Schatten der Segel. In diesem Moment haben sich Sebastian, seine Frau und ihr Sohn Galeo in den feuchten Tiefen des Schiffes eingerichtet. Sie sind darauf bedacht, das Geheimnis um Lysandras wahre Identität zu wahren, und haben sich daher von den anderen Passagieren entfernt niedergelassen, in der ungesunden Feuchtigkeit der Kielräume, direkt neben den Pferdeständen. Im Halbschatten, wo sich der beißende Geruch der Tiere mit dem Schimmel des Schiffsrumpfs vermischt, breiten die Eltern des Jungen ihr Lager aus, das aus einer Strohmatratze und einem Laken aus Stoffresten besteht. »Galeo«, sagt die Mutter ganz leise zu ihrem Sohn, da sie fürchtet, ihre Frauenstimme könnte sie verraten, »wenn wir in dieser Dunkelheit bleiben, dein Vater und ich, dann, um nicht auf uns aufmerksam zu machen. Du aber kannst dich dort oben, wo die Luft gesünder ist als hier, gefahrlos unter die Besatzungsmitglieder und die Passagiere 18
mischen. Geh, erinnere dich nur daran, dass ich für alle dein Onkel Felipe bin.« Galeo klettert eine nach der anderen die verschiedenen Leitern empor, die von den finsteren Ständen zu den sonnendurchfluteten Oberdecks führen, erreicht schließlich das Achterdeck des Schiffes und betrachtet Sevilla. Der Blick des Jungen bleibt zunächst an dem bläulichen Licht hängen, das die azulejos der maurischen Gebäude zurückwerfen. Er betrachtet lange die Fassade eines reichen Wohnsitzes, die mit lackiertem Steingut und Mosaiken verziert ist. An diesem klaren Frühlingsmorgen scheint die Stadt mit dem Sonnenlicht zu spielen, es bildet nur noch Reflexe, die ihn blenden. »Ist es das erste Mal, dass du Sevilla verlässt?« Beim Klang der fremden Stimme fährt Galeo ruckartig herum. Vor ihm steht ein großgewachsener Mann, kaum älter als sein Vater, mit einem schmalen, länglichen Gesicht. »Ja«, antwortet der Junge vorsichtig, »es ist das erste Mal, dass ich mit meinem Vater und … meinem Onkel Felipe auf Reisen gehe.« »Wie heißt du?« »Ich heiße Galeo Rodrigo. Und Ihr, ist dies Eure erste Reise?« »Im Gegenteil, es ist wahrscheinlich die letzte. Ich bin ein Pilger und komme aus der fernen Provinz Flandern, im Norden Europas. Aber da du mir deinen Namen gesagt hast, sollst du wissen, dass ich Pater Johannus van Neesroy bin.« »Wenn Ihr Euch mit Schiffen und ihrer Besatzung auskennt«, wagt der Junge zu fragen, »dann könnt Ihr mir vielleicht von der Arbeit eines jeden an Bord erzählen?« »Will dein Vater es dir nicht selbst erklären?« »Nein … mein Vater Sebastian ruht sich lieber unten mit … seinem Bruder aus.« »In diesem Fall«, antwortet der Pilger, »will ich dir gerne als Führer dienen.« In diesem Moment zieht das Schiff an den letzten Wohnhäusern Sevillas vorüber, das hinter dem ockerfarbenen Licht seiner Stadtmauern verschwindet, und der Lotse erkennt bereits am rechten Flussufer die 19
Umrisse von San Juan de Aznalfarache. Von dieser Stadt, die aus einem Wald aus Palmen aufzutauchen scheint, sind nur schmale senkrechte Striche zu sehen, die zum Himmel emporragen, ohne dass man noch sagen könnte, ob es sich um jahrhundertealte Minarette oder um neue christliche Kirchtürme handelt. Pater van Neesroy legt für einen Augenblick die Hand über die Augen, um die ferne Stadt besser sehen zu können, legt dann seine Umhängetasche und seinen Stab zu seinen Füßen ab und zeigt dem Jungen die Menschen, die sich an Bord des Schiffes befinden: »Siehst du diesen Mann dort, der gebundene Karten in der Hand hält? Das ist der Lotse; man nennt ihn auch den Steuermann. Er ist es, der unser Schiff über die Meere führen wird. Dank des Kompasses, der in sein Kartenbuch eingefügt ist, kann er unseren Kurs halten, und dank des Astrolabiums kennt er immer unsere Position.« »Und die da ganz oben«, fragt Galeo und zeigt auf die Männer, die auf den Masten und Rahen umherklettern, »was machen die?« »Sie setzen die Segel oder rollen sie zusammen. Zuvor hat der Segelmachermeister, den du dort drüben mit seinem Handleder, seinen Nadeln, Pfriemen und Glätthölzern siehst, die Segel vorbereitet. Der Mann dort hinten, der nahe bei der Reling steht, ist der Zimmermannmeister, er kümmert sich um die Abdichtung des Schiffsrumpfs.« »Und die da drüben, wer sind die?« Eine Gruppe von acht Männern hat sich am Fuße des Großmasts ausgestreckt. Sie lachen und unterhalten sich laut, während sie einen Weinkrug herumgehen lassen. »Die dort«, antwortet der Pilger, dessen Züge sich unmerklich verhärten, »sind sevillanische Kaufleute, die reichsten Passagiere. Sie haben sich ihren Reichtum durch den Ankauf von Wein aus Nephin, Batrun und Zypern aufgebaut oder durch den Handel mit Pfeffer, Safran, Kardamom und Pfefferschoten. Außerdem verkaufen sie chinesisches Porzellan, das dank der Araber Akkon passiert und das sie in Sevilla zu Goldpreisen verkaufen. Diese Männer dort haben alle Rechte, ihre Nahrung wird nicht rationiert wie für uns, und sie können so viel Wasser schöpfen, wie sie wünschen. Solltest du auf hoher See einmal Durst haben und deine Tagesration ist bereits erschöpft, so werden sie sich 20
sogar über dich lustig machen und sich vor deinen Augen mit Süßwasser waschen. Diese Männer dort sind die wahren Herrscher an Bord. Sie wissen auch, sich vor Krankheiten zu schützen, weil sie sich von den ungesündesten Orten des Schiffs fern halten, die sie den ärmsten Passagieren überlassen.« Die letzte Antwort macht Galeo eine ganze Weile nachdenklich. Der Pilger greift daher schweigend nach seinem Bettelsack und zieht mehrere gebundene Pergamente daraus hervor; darunter ein sehr umfangreiches, das dem Jungen einen flüchtigen Blick auf Zeichnungen gewährt, die den menschlichen Körper darstellen und einen lateinischen Text illustrieren. Pater van Neesroys Hand schiebt die Bücher kurz darauf wieder in seine Tasche. Er behält nur eines zurück, einen einfachen Kartenband, den er durchblättert und dabei aufmerksam die Ufer des Guadalquivir beobachtet. Dort liegt Coria del Rio, sagt er sich, als er ein von Orangenhainen umgebenes Dorf entdeckt, dann, ein wenig später, werden wir an Ermita de la Vera Cruz vorbeikommen. In diesem Augenblick wird sein Blick von einem Schwarm Graugänse angezogen. Diese Vögel, die gewöhnlich in den Sanddünen und Sümpfen der Flussmündung leben, kündigen an, dass das Meer nicht mehr weit ist. Neben ihm ist der Junge immer noch in Gedanken versunken. Dann bricht er schließlich das Schweigen und richtet abermals das Wort an den Pilger: »Was würde geschehen, wenn man, einmal auf dem Meer angekommen, entdecken würde, dass eine Frau an Bord wäre?« »Ich weiß es nicht, denn ich habe diese Erfahrung noch nie gemacht. Ich nehme an, dass die Männer sie sofort ausschiffen würden, natürlich unter der Bedingung, dass man in Küstennähe wäre. Sollte sich das Schiff aber auf hoher See befinden, dann weiß ich nicht, wie ihre Reaktion aussehen würde.«
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Könnte ich ein einziges Mal in die Tiefe meines Wesens schauen und dort etwas anderes erblicken als einen Mörder? Nun ist es schon zehn Jahre her, dass der schwärzeste Teil meiner Seele nach und nach den Mord an diesen Männern gebilligt hat. Zehn Jahre ist es her, dass mein Arm getötet hat, und der beißende Geruch des Blutes meiner Opfer verfolgt mich immer noch. Ich rieche ihn beim Erwachen und auch spät in der Nacht, wenn – nachdem ich den ganzen Tag unter dem brennenden Feuer des Sommers oder den kalten Schauern des Winters gelaufen bin – mich der Schlaf schließlich übermannt. Jeden Tag, den Gott mir seit jener Zeit zugesteht, sehe ich aufs Neue, wie sich ihre verschreckten Blicke auf mich richten. Und doch erinnere ich mich nicht daran, dass meine Hand auch nur einen Augenblick gezittert hätte. Nach dem Anblick des ersten leblosen, vor mir ausgestreckten Körpers wusste ich, dass andere folgen würden. Ich wusste, dass ich nicht aufhören würde, bevor ich nicht meine Aufgabe vollendet hätte. Heute verdanke ich es dem Zufall, dass ich diese Feder zwischen den Fingern halte. Vor heute Abend hatte ich noch nie zuvor das Bedürfnis verspürt, den Fluch aufzuschreiben, der mich seinerzeit zum Töten getrieben hat. Seitdem ich Sevilla verlassen habe und auf den Straßen Afrikas wandle, um vor mir selbst zu fliehen, habe ich mich dem gegenüber, der ich damals war, entfremdet, indem ich auf meine Pflichten, meine Prinzipien und auch auf meinen eigenen Namen verzichte. Aber trotz alledem bleibt die Erinnerung an das, was ich gewesen bin, in den Abgründen meiner Seele verankert. Jene Bilder, die mich ununterbrochen verfolgen – ich schicke mich heute an, sie in diesen Reisenotizbüchern zu Papier zu bringen. Jener, der mir diese Feder, dieses Pergament und dieses Schreibzeug geschenkt hat, ist ein Wanderschreiber, der mich auf den Pfaden und Straßen begleitet, die zum Hafen von Ribat el-Fath führen, zu dem wir uns beide begeben. Es ist nicht das erste Mal, dass ich in Begleitung unterwegs bin. Seitdem ich Wanderapotheker geworden bin und meine Pulver, Latwergen, Salben, Pomaden und Phiolen auf Märkten und Volksfesten im ganzen Land anbiete, haben meine Wege oft die jener Männer gekreuzt, welche die Vorsehung mir geschickt hat, seien es nun 22
Gewürzverkäufer, Schlangenbeschwörer, Gefangene auf der Flucht oder einfache Reisende. Adzirk zieht auch von Stadt zu Stadt, lässt sich auf öffentlichen Plätzen nieder und verfasst Privatbriefe oder begibt sich in den Dienst von Kaufleuten, für die er die Kontenbücher führt. Wenn der Abend kommt und er seine Arbeit beendet, schließt er sein Schreibzeug nicht weg, sondern ordnet sorgfältig seine kostbaren, aus Leinenresten angefertigten Papierbogen. Dann beginnt er Verse aufzuschreiben, die er zuvor auf Notizblöcken gedichtet hat, Blöcke, die er günstig bei einem Pergamenthändler erstehen konnte. Am ersten Tag unseres Zusammentreffens habe ich ihn schweigend dabei beobachtet, auf meiner einzigen Decke ausgestreckt, während die Flammen eines Lagerfeuers mir die Wangen röteten. Am zweiten Abend, nachdem wir den ganzen Tag in Richtung Westen gelaufen waren und dabei die Schutzwälle von Meknes weit hinter uns gelassen hatten, hielt Adzirk einen Moment im Schreiben inne. Er muss erraten haben, dass ich ein belastendes Geheimnis in mir trage, denn er griff in seine Umhängetasche und holte eine Feder, ein Tintenfass aus Horn und einen Notizblock aus sieben Pergamentbogen hervor, die zunächst gefaltet worden waren, bevor man sie durchgeschnitten und dann mit Leinenfäden eng miteinander verbunden hat. Unsere Dämonen auf Papier zu bringen kann uns manchmal helfen, sie aus unserer Seele zu verjagen, sagte er schlicht, bevor er seine Feder wieder aufnahm. Sieben Tagesmärsche trennen uns heute von Ribat elFath. Jeden Abend bemühe ich mich, auf einem Blatt aufzuschreiben, wie ich vor zehn Jahren zum Mörder geworden bin. Bei Ankunft an unserem Ziel werde ich die sieben Seiten meines Heftes gefüllt haben. Dann werde ich mich zum Hafen begeben und die Schriften dem Steuermann eines Schiffes übergeben, das hinauffährt in den Norden, und ihn bitten, sie der Person zu übergeben, deren Name und Adresse ich ihm anvertrauen werde.
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achdem er sich von dem Arzt des Königs verabschiedet hat, verlässt Aguirre die Gärten des Alcazar im Laufschritt, springt auf sein Pferd und reitet zum Studium Generale, um Meister Harmad Ibn Akzar zu treffen. Der Galopp, den er seinem Reittier auferlegt, ist allerdings nicht von langer Dauer. Kaum hat er die kleinen Sträßchen von Sevilla erreicht, steckt er in einem Gedränge aus Eseln und Karren fest. Es ist Markttag, und die Stadt ist in hellem Aufruhr. Er bittet darum, dass man ihm Platz mache, vergeblich. Das Stimmengewirr der Kaufleute, das Wiehern und das Eselsgeschrei übertönen seine Stimme. Kaum hat er sich einen schmalen Durchgang zwischen den Gespannen gebahnt, als er am Ende der Straße der Böttcher erneut inmitten einer Maultierkarawane gefangen ist, die sich in einer dicken Staubwolke vorwärts bewegt. Ununterbrochen muss Aguirre um Verzeihung bitten für die unruhigen Schritte seines Pferdes, bis er schließlich die Plaza San Francisco erreicht, wo sich der Rauch verbrannter Aloe mit den Düften verschiedenster Gewürze mischt. Menschen drängen sich um einen Geschichtenerzähler zu seiner Rechten, dazu bilden ein Kniehosenhändler zu seiner Linken und eine Schar Wasserträger ihm gegenüber einen schier undurchdringlichen Wall. So bleibt dem jungen Mann nichts übrig, als abzusteigen. Er vertraut sein Pferd einem Gerber an und beauftragt ihn gegen den Austausch einiger Dinare mit dessen Bewachung bis zu seiner Rückkehr. Als er sich zu Fuß in das Herz Sevillas begibt und zwischen einer Bude mit Schwertern aus Toledo und der eines Juweliers hindurchschlüpft, spürt Aguirre plötzlich den Griff einer alten Straßenwahrsagerin, die ihre knotigen Hände um 24
seinen rechten Arm schließt und ihm zuraunt: »Der Tod, schöner junger Mann … ich sehe, dass der Tod dich umgibt …« Überrascht zögert Aguirre einen kurzen Moment, bevor er sich von dem Griff der alten Frau befreit, was diese dazu bringt, ihre Weissagung fortzusetzen: »… Viel Leid ist bereits in deinen Venen geflossen … aber der Tod ist immer noch da, ich spüre, wie er um dich streift …« Obwohl er sich schließlich losgerissen hat, redet die Wahrsagerin weiter auf ihn ein: »Du fliehst, denn du weißt, dass ich die Wahrheit sage … du fliehst, denn du hast Angst vor deiner Vergangenheit und vor deiner Zukunft …« »Schweig«, antwortet Aguirre und drückt ihr einen Golddinar in die Hand. »Ich bitte dich, schweig!« »Gott beschütze dich«, antwortet die Alte und schließt ihre Faust fest um das Geldstück, »denn ich weiß, dass ich die Wahrheit sage …« Verärgert über die Verzögerung setzt Aguirre seinen Weg zum Studium Generale fort, dessen hohe Fassade in weniger als hundert Schritten Entfernung bereits vor ihm aufragt. Zwei bewaffnete Wachposten beaufsichtigen das Haupttor. Der junge Mann tritt auf sie zu und bittet, so schnell wie möglich zu Harmad Ibn Akzar geführt zu werden. »Unmöglich«, antwortet einer der beiden Soldaten. »Meister Akzar befindet sich im Moment bei seinen Schülern. Ihr müsst daher später wiederkommen oder aber hier warten – wie es Euch beliebt.« »Ich habe keinerlei Absicht, auf ihn zu warten«, antwortet der junge Mann unnachgiebig. »Ich habe Anweisungen von Meister Abraham Alfaquin persönlich. Ich bin sozusagen im Auftrag des Königs hier.« Aguirres natürliche Autorität, die er seiner kräftigen Stimme, seiner Körpergröße und seinem kühnen Blick zu verdanken hat, genügt, um die beiden Wachen davon zu überzeugen, ihn die angesehene Sevillaner Universität betreten zu lassen. Im Inneren des Studium Generale lässt sich Aguirre den Medizinsaal zeigen. Er biegt in lange dunkle Korridore ein, durchquert Heilkräutergärten, erklimmt eine Treppe und stößt schließlich eine schwere, mit Schnitzereien verzierte Holztür auf, die den Blick auf einen Raum freigibt, aus dem ein bestialischer Gestank entweicht. Dort stehen, um ihren Lehrer und eine von 25
der Brust bis zum Bauch aufgeschlitzte Leiche geschart, etwa fünfzehn Studenten, die sich Dufttücher ans Gesicht halten. Unter ihnen erkennt er sofort Sarah Alfaquin, die Tochter seines Meisters, und die einzige Frau in dieser Versammlung. Sie trägt eine lange Leinenschürze eng um die Taille geknotet, die ihr bis auf die Knöchel reicht und von ihrem Körper lediglich zwei schlanke, weiße Arme erkennen lässt. Ihr feines Gesicht, das von großen braunen Augen erhellt wird, ist das eines jungen Mädchens von knapp zwanzig Jahren. Dennoch bringt alles an ihr eine unfehlbare Entschlossenheit und Reife zum Ausdruck. Ihre Augenbrauen sind zusammengezogen und lassen kleine Fältchen auf ihrer Stirn erscheinen, und ihre vollkommen unbeweglichen Hände und ihr Blick, der langsam über die Leiche gleitet, sind ebenso Zeichen ihrer tiefen inneren Ruhe wie ihres begierigen Wissensdursts. Sarah löst den Blick von dem ausgestreckten Körper und betrachtet lange den jungen Mann, der sich in keiner Weise von dem Gestank stören lässt und unbeweglich vor der Tür steht, die er hinter sich geschlossen hat. Stumm beobachtet Aguirre die Sezierungslektion. Dann trifft sein Blick auf Meister Harmad Ibn Akzar, ein großer Mann mit matter Haut und graudurchzogenem Bart, bekleidet mit einem langen braunen Kaftan, dessen Ärmel er sorgfältig hochgekrempelt hat. Nachdem er sich langsam herumgedreht hat, betrachtet der Meister einen Augenblick lang den Eindringling, bevor er seinen Unterricht wieder aufnimmt. Von seinem Platz an der Tür hört Aguirre, wie er sich an seine Schüler richtet: »Wenn das Blut in der rechten Herzkammer gereinigt worden ist, muss es in die linke Kammer fließen, wo sich die Lebensgeister bilden. Dort ist die Herzsubstanz, und im Gegensatz zu dem, was Galen glaubte, gibt es weder einen sichtbaren noch unsichtbaren Durchgang für dieses Blut. Daher muss es nach seiner Reinigung zwangsläufig in die arterielle Vene fließen, danach bis in die Lunge, sich in seiner Substanz verteilen und sich dort mit Luft vermischen, damit sein nützlichster Teil gereinigt wird und in die venöse Arterie fließen kann, um in die linke Herzkammer zu gelangen, die nun in der Lage ist, die Lebensgeister zu bilden. Diese Theorie ist zum 26
ersten Mal von dem berühmten ägyptischen Arzt Ibn an-Nafis diktiert worden, aber, da ihr nie etwas für wahr halten dürft, das ihr nicht selbst überprüft habt, nähert euch noch mehr den inneren Organen und betrachtet sie aufmerksam.« Dann wendet er sich an jeden einzelnen Schüler und fährt fort: »Abgesehen von der Funktion und dem Platz der Organe, ist es auch wichtig, ihre Konsistenz zu kennen. Nehmt euch die Leber, ja, genau so, holt sie heraus, betrachtet sie und legt sie wieder an den Platz, der ihr zukommt … Nun nehmt euch die Blase und schneidet sie ein, damit wir zusammen ihre beiden Wände betrachten können, die innere und die äußere. Gut … Macht nun alle, einer nach dem anderen, nach, was ich euch gezeigt habe.« Nachdem er den letzten Satz ausgesprochen hat, entfernt sich Harmad Ibn Akzar einige Schritte von dem Tisch und der darauf ausgestreckten Leiche, wäscht sich die Hände in einem Kupferbecken und geht dann langsam auf Aguirre zu: »Da bist du nun, junger Schüler von Meister Alfaquin. Wie lautet denn die so dringende Botschaft, deren Überbringer du bist?« Überrascht antwortet der junge Mann wie aus der Pistole geschossen: »Woher wisst Ihr, wer ich bin, Meister Akzar? Wir haben uns doch vor dem heutigen Tag noch nie getroffen.« »Ich erwartete eine Antwort auf meine Frage und keine weitere Frage deinerseits nach der merkwürdigen Angewohnheit der griechischen Philosophen; trotzdem bin ich bereit, dir zu antworten. Es stimmt, ich kenne dich nicht. Ich habe allerdings bei deiner Ankunft sofort bemerkt, dass du wegen der Sezierungslektion nicht verstört schienst, was mich zu der Annahme geführt hat, dass du Arzt bist. Im Übrigen gebe ich, wenn ich operiere oder unterrichte, immer genaue Anweisungen, unter keinem Vorwand gestört oder unterbrochen zu werden. Folglich kann nur ein Gesandter des Königshofes meine Instruktionen übergehen und die bewachten Tore des Studium Generale passieren. Ich habe daher daraus gefolgert, dass du vom königlichen Alcazar kommst, und da du Arzt zu sein scheinst, kannst du nur Aguirre sein, Abraham Alfaquins Schüler, der eines Tages dazu berufen werden wird, der Arzt 27
unseres Königs zu werden. Anschließend habe ich beim Betrachten deiner äußeren Erscheinung den Schweiß bemerkt, der dir auf der Stirn steht, sowie dein Hemd, das feucht an deiner Haut klebt, was mich zu dem Gedanken geführt hat, dass du gerannt bist, um hierher zu kommen, und dass folglich das, was du mir zu sagen hast, von großer Wichtigkeit ist. Eine Frage bleibt mir allerdings noch: Wenn deine Nachricht so dringend ist, warum hast du mich nicht unterbrochen?« »Nun ja … Ihr wart gerade dabei, zu praktizieren, Meister Akzar.« »Gewiss, aber du hast bestimmt schon beim Betreten dieses Raumes bemerkt, dass der Körper, an dem ich arbeitete, bereits vor längerer Zeit zu leben aufgehört hat.« »Ich denke trotzdem, dass ein chirurgischer Akt, sei er auch an einer Leiche praktiziert, nicht für ein einfaches Gespräch unterbrochen werden darf – im Namen des Respekts für die Medizin und den Körper des Verstorbenen, der so auf seine Weise zum Fortschritt unserer Wissenschaft beiträgt.« Nach dieser Antwort lächelt Harmad Ibn Akzar und nimmt Aguirre beim Arm, um ihn mit sich in Richtung Garten zu führen: »Abraham Alfaquin hat sich nicht geirrt, ich sehe bereits in dir einen großen Arzt heranreifen. Aber nun sag mir erst einmal, was dich hierher führt. Komm, setzen wir uns auf diese Bank, ich werde dir so besser zuhören können.« Sobald er sich gesetzt hat – nicht weit von einem Tor entfernt, das sich zu einem der Gärten des Studium Generale hin öffnet, wendet sich Aguirre an den Medizinmeister, der von seinem Platz aus weiterhin seine Studenten am Seziertisch beobachtet. »Nun, Meister, vor einem Monat wurde ein reicher Kaufmann aus Sevilla von einer Krankheit heimgesucht, die hohes Fieber und eitrige rote Flecken verursacht, die nach und nach das gesamte Gesicht bedecken. Einige Tage später erlag der Elende mit verwirrtem Geist diesem Leiden.« »Wurde seine Familie angesteckt?«, fragt der Medizinmeister. »Nein, weder seine Frau noch seine Kinder legen das geringste Anzeichen von Krankheit an den Tag«, antwortet Aguirre. »Die Geschichte ist allerdings noch nicht zu Ende. Drei Tage später weist ein Mann, 28
auch er Kaufmann von Beruf, dieselben Anzeichen auf und kommt kurz darauf um.« »Gab es diesmal eine Ansteckung im Umfeld des Kranken?«, fragt Harmad Ibn Akzar erneut. »Nein, immer noch nicht. Aber eine Woche später trat ein neuer Fall zu Tage: Fieber, Delirium, Infektion des Gesichts. Ratet, wer das Opfer war …« »Ich nehme an, es handelte sich wieder um einen reichen Kaufmann, und seine Familie war wieder einmal in keiner Weise von dem Leiden betroffen.« »Das ist richtig, Meister Akzar. Und danach wurden noch zwei neue Opfer desselben Fiebers gemeldet. Das letzte ist gestern zu Füßen seines Pferdes von einem alten Einsiedler entdeckt worden, auf den felsigen Anhöhen von Sanlúcar la Mayor, einem kleinen Dorf westlich von Sevilla.« Während Harmad Ibn Akzar gedankenverloren mit den Fingern durch seinen Bart fährt, verlässt einer seiner Schüler, ein junger Mann mit blonden Haaren und blassem Gesicht, plötzlich den Seziertisch und kommt im Laufschritt an ihm vorbei, um in den Garten zu stürzen. Einen Augenblick später kehrt der Student mit aschfahlem Gesicht in den Medizinsaal zurück, während er sich noch den Mund abwischt. Als er auf der Höhe seines Meisters vorbeikommt, spricht dieser ihn an: »Wer bist du denn? Mir scheint nicht, dass ich dein Gesicht wiedererkenne.« »Ich heiße Roscelin Chelderay, ich komme aus dem Königreich Frankreich, um Eurem Unterricht zu folgen. Ich bin erst gestern Abend in Sevilla angekommen und sofort heute Morgen im Studium Generale erschienen.« »Du wünschst also, dein Medizinstudium zu vervollkommnen?« »Ich habe in der Tat die Absicht«, antwortet der junge Mann und hebt mühevoll den Kopf von dem Stück Stoff, das er gegen seine Nase drückt, um sich vor dem Leichengestank zu schützen. »In diesem Fall«, antwortet Harmad Ibn Akzar, amüsiert von diesem jungen Schüler, der so bleich ist wie der Körper, den er soeben seziert 29
hat, »nimm diese Kürette und siehe zu, dass du jedes fremde oder abgestorbene Element entfernst, das sich noch in den Eingeweiden unseres Mannes befindet. Dann verschließe mit Hilfe einer Nadel und einem Faden aus Katzendarm die Häute untereinander, als handelte es sich um eine Operation an einem noch lebenden Kranken.« Fieberhaft nickend greift Roscelin nach dem Instrument und kehrt an den Operationstisch zurück. Erst dann nimmt Harmad Ibn Akzar das Gespräch mit Aguirre wieder auf, während gleichzeitig ein Auge auf seine Studenten hält. »So sind also an dem Leiden, von dem du mir erzählst und das nur reiche Händler trifft, bereits fünf Kranke zu Grunde gegangen.« »So ist es.« »Und wie kann ich euch behilflich sein?«, fragt der Medizinmeister und beobachtet dabei mit einem unmerklichen Lächeln um die Mundwinkel, wie der junge, mit Übelkeit kämpfende Franzose sich bemüht, mit einer Hand den Körper zuzunähen, ohne mit der anderen den Stofffetzen loszulassen, den er sich vor das Gesicht hält. »Ihr könnt uns helfen, indem Ihr im Namen König Alfonso X. des Weisen für eine Weile Euren Unterricht am Studium Generale aufgebt, um Untersuchungen über dieses Leiden anzustellen.« »Sehr gut, sehr gut«, antwortet Harmad Ibn Akzar, der im selben Augenblick sieht, wie Roscelin unmittelbar nach dem letzten Nadelstich schwer auf dem Boden zusammenbricht. »Geh nur und sag deinem Meister, dem Arzt des Königs, dass ich diesen Auftrag annehme, aber nach dem, was du mir darüber sagst, ist der Fall recht schwer zu lösen. Ich werde daher sofort Morgen früh aufbrechen, nachdem ich mir zu meiner Unterstützung zwei meiner besten Studenten ausgesucht habe. Zu dritt werden wir nicht zu viele sein, um das Rätsel dieser Infektionskrankheit zu lösen.« Harmad Ibn Akzar verabschiedet sich von Aguirre, den er bis zum Tor begleitet, und begibt sich dann schweigend zurück zu seinen Studenten. Ohne auf Roscelins Körper zu achten, der bleicher als je zuvor auf dem Boden liegt, mustert er die zukünftigen Ärzte einen nach dem anderen. Dann streicht er sich wieder den Bart und betrachtet sie lan30
ge, in tiefes und stummes Nachdenken versunken. Plötzlich wendet er sich an die Tochter Abraham Alfaquins. »Du, Sarah Alfaquin, halte dich bereit, mich morgen bei Sonnenaufgang in die Sierra de Aracena zu begleiten. Wir werden dort eine Ermittlung durchführen, die mit der aufmerksamen Untersuchung einer Leiche beginnen wird.« Die junge Frau willigt mit einem einfachen Kopfnicken ein, während Meister Akzar weiter seine Studenten betrachtet und sich die Eigenschaften eines jeden ins Gedächtnis ruft. Dann, nach langem Schweigen, scheint seine Wahl festzustehen. Er zeigt mit dem Finger auf Roscelins Körper, der noch immer ausgestreckt zu seinen Füßen liegt: »Wenn er wieder zu sich gekommen ist, werdet ihr diesen jungen Mann bitten, mich ebenfalls zur ersten Stunde des Tages vor den Toren des Studium Generale zu treffen.«
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aleo und seine Eltern sitzen auf dem nackten Boden des Kielraums und verschlingen stumm ein mageres Mahl aus Pökelfleisch und Erbsenbrei. Die erstickende Hitze des Tages hatte einer schwülen Feuchtigkeit Platz gemacht, die den beißenden Pferdegeruch verstärkt und tief in die Kleider und das Nachtlager eindringt. Das Knarren des Schiffsrumpfes wird gelegentlich von einem flüchtigen Rascheln begleitet, das die Anwesenheit von Ratten verrät. Als der letzte Bissen verschlungen ist und Sebastian und seine Frau gerade aufstehen wollen, nehmen die bislang schwachen Bewegungen des Schiffes plötzlich ein unerwartetes Ausmaß an. Lysandra gerät für einen Moment aus dem Gleichgewicht und wird von ihrem Mann festgehalten. »Was ist los?«, fragt sie. »Es ist nichts«, antwortet Sebastian und hilft seiner Frau, sich auf ihrem Lager auszustrecken. »Wir verlassen die ruhigen Gewässer des Guadalquivir für das offene Meer.« »Das Meer?«, ruft Galeo aus. »Wenn man den Bewegungen des Schiffes Glauben schenken darf, dann besteht kein Zweifel«, antwortet ihm sein Vater. »Wir sollten uns besser daran gewöhnen, denn unsere Reise wird vielleicht länger als einen Monat dauern.« Galeo steigt daraufhin aufs Deck hinauf, das lediglich vom schwachen Schein des Mondes erhellt wird, und begibt sich auf das Vordeck, wo sein Gesicht gerade eben über die Reling ragt. Dort atmet er, angesichts der dunklen Weite, die sich vor ihm öffnet, aus voller Lunge die von hoher See kommende Gischt ein. Je weiter das Schiff auf das offene Meer hinausdrängt, desto stärker findet er Gefallen daran, das Kräu32
seln der Schaumkronen in der Dünung zu beobachten. Einige Schritte von ihm entfernt erkennt er die Gestalt Pater Johannus van Neesroys wieder, dessen Blick sich im Himmel verliert. »Was beobachtet Ihr dort oben?«, fragt Galeo den einzigen Menschen an Bord, dem er vertraut. »Die Sterne natürlich«, antwortet der Pilger. »Was gibt es anderes am Himmel zu sehen mitten in der Nacht? Du kannst sie auch beobachten. Wenn man Ptolemäus' Almageste Glauben schenken darf, sind es angeblich tausendzweiundzwanzig an der Zahl, alle in siebenundvierzig Sternbildern versammelt.« Als nun der Junge, das Kinn zum Himmel gereckt, die Himmelskörper bewundert, streckt der Priester den Zeigefinger aus und sagt: »Schau, dieser Stern hier heißt Deneb, dieser dort, weiter im Süden, ist Al-Debaran, und in Richtung Westen, dem Schiff gegenüber, kannst du noch Merak erkennen, bevor uns die Wolken, die den Himmel verdunkeln, vollkommen seines Scheins berauben.« Nach und nach ziehen in der Tat dicke Regenwolken herauf, welche die Wölbung des Himmelszelts überdecken. Zur gleichen Zeit schlagen die Wellen, nachdem sie mit voller Wucht gegen den Bug brechen, schwer über der Brücke zusammen und verjagen dabei die meisten Passagiere, die sich noch dort befanden. Der Westwind, der von Stunde zu Stunde stärker wird, zwingt die Besatzungsmitglieder dazu, ununterbrochen das Segelwerk zu reduzieren. Bald wird nur noch die Takelage von Fock- und Besanmast zurückbehalten. Damit das Boot nicht gegen die Küsten von Cádiz abgetrieben wird, gibt der Steuermann den Befehl, mit voller Kraft Kurs auf Westen zu nehmen, auf das offene Meer hinaus, wo sich bereits Hohlwellen von mehr als zwanzig Ellen gebildet haben. Galeo, der sich plötzlich der Gefahr bewusst wird, kehrt in den Kielraum zu seinen Eltern zurück. Der Sturm hallt mit ohrenbetäubendem Lärm in den Tiefen des Schiffs nach. Auf das anhaltende Knacken des Gebälks antwortet das dumpfe Geräusch der Pferdehufe. Als die Pferde spüren, dass der Boden unter ihnen wegzugleiten droht, versuchen sie auszubrechen, trotz der soliden Leinen, die sie mit ihrem Stand verbinden. 33
»Da bist du ja endlich, Galeo«, sagt Lysandra, als sie ihren Sohn bemerkt. »Leg dich schnell neben uns und versuche zu schlafen.« Es ist fast Mitternacht, als das Schiff, nachdem es sich weit genug von den Felsen der andalusischen Küsten entfernt hat, Kurs auf Süden nimmt. Auf Deck stützen sich die Besatzungsmitglieder gegen das Spill und versuchen, das Focksegel unter Kontrolle zu halten, das ununterbrochen in Mitleidenschaft gezogen wird von den Wasserbergen, die über ihm zusammenbrechen. In den Laderäumen lässt das Ausmaß des Schlingerns niemanden mehr schlafen. Nach den Kisten mit Waren und Nahrungsmitteln, die von einer Seite zur anderen rutschen, sind es nun die Passagiere selbst, die gegen die Trennwände geschleudert werden oder gegen die Kanten des Schiffsrumpfes stoßen, da ihnen die Kraft fehlt, sich festzuhalten. Die Dunkelheit ist vollkommen. Galeos Eltern schützen ihren Sohn, wo sie nur können, indem sie sich gegen seinen Körper pressen. Beim ersten Tageslicht ist die Meerenge von Gibraltar endlich in Sicht. Die Männer lockern langsam die Spannung des Fock- und dann des Besansegels und lenken um ein paar Grad nach Osten. Das Schiff, das nun von einem starken Rückenwind angetrieben wird, begibt sich zu den weniger unruhigen Gewässern des Mittelmeers. Die Passagiere kommen aus den Kielräumen auf das Oberdeck, glücklich, wieder Sonnenlicht und frische Luft vorzufinden. Auf der Backbordseite des Schiffes, das nun Kurs auf die Levante nimmt, erkennen sie, neben den ersten Erhebungen Afrikas, die weißen Mauern von Tarifa. Auch Galeo erscheint wieder auf der Brücke. Er trifft dort auf Pater Johannus van Neesroy in genau dem Augenblick, als das Schiff ins Mittelmeer einfährt. Nachdem er seinen Kartenband geschlossen hat, betrachtet der maurische Lotse lange die Gewässer der Meerenge, die sich vor ihm öffnet, und verkündet feierlich: »Al-babar al-mutawassit.« »Was hat er gesagt?«, fragt der Junge den Priester. »Er hat gerade in seiner Sprache die Gewässer begrüßt, in die wir im Augenblick einfahren und die er als ›das Meer, das sich in der Mitte befindet‹ bezeichnet. Dieser Name bedeutet, dass die zwei Kontinente, 34
die du zu beiden Seiten des Schiffes siehst, nicht durch eine flüssige Grenze voneinander getrennt werden, sondern eher wie zwei Ufer desselben Flusses sind.« »Ein Fluss, der durch ein einziges Land fließt?« »So ist es. Seinerzeit waren es vor allem Waffen und Soldaten, die, von Süden kommend, diesen Meeresarm überquerten, um neues Land zu erobern. Anschließend sind dieselben Soldaten nach Afrika zurückgekehrt, verjagt von anderen, stärkeren Armeen, die aus dem Norden kamen. Mit den Soldaten haben auch ganze Familien die Flucht ergriffen, denn sie waren mit Gewalt dazu gezwungen worden, ihr Land zu verlassen, weil sie nicht denselben Gott verehrten oder nicht dieselbe Sprache sprachen wie die neuen Besetzer. Heute, da wir in Frieden leben, haben jene bewaffneten Soldaten, jene flüchtenden Männer und Frauen den Handelswaren und dem Wissen Platz gemacht, die der Bewegung folgen, welche die Sonne am Himmel beschreibt: Sie kommen aus dem Orient und wandern in Richtung Okzident.« Alle Segel sind nun aufgetakelt, und das Boot wird bald den Hafen von Ceuta passieren, wo sich ein pisanisches Schiff und eine arabische Boutre, die der Holzhandel angelockt hat, Seite an Seite drängen. Auf dem Deck des Handelsschiffs ziehen die Passagiere und Besatzungsmitglieder, mit nacktem Oberkörper und nichts als Kniehosen bekleidet, eimerweise Wasser an Bord, das zum Waschen gedacht ist. Lysandra, die sich zum ersten Mal mit ihrem Mann nach draußen wagt, hält die Augen auf den Boden gerichtet, da sie nicht den Mut hat, sich zu waschen oder die fast nackten Männer um sich herum zu betrachten. Ihr Körper aber, der nach einer ganzen Nacht voller Stöße gegen das schimmelige Holz des Kielraums geschunden ist, verlangt nach Behandlung. Ihre Haut ist, wie auch die ihres Mannes, an vielen Stellen zerkratzt, und Blut läuft ihr in einem dünnen Rinnsal über das Bein. Als sie gerade schüchtern die Fingerspitzen in einen Eimer taucht, um die Verletzungen ihrer Glieder zu säubern, wird sie von einem der reichsten Kaufmänner angefahren: »Nun, Felipe, fürchtest du so sehr das Sonnenlicht, dass du dich lieber vollständig angezogen wäschst?« 35
Lysandra bleibt still. Sebastian, der vorgibt, nichts gehört zu haben, nähert sich einem Eimer mit Meerwasser. »Die Kielräume stinken so schon genug, Felipe, also sieh zu, dass du dich wäschst, wie es sich gehört!«, fährt ein anderer Mann Lysandra an und bespritzt sich ebenfalls mit Wasser. Daraufhin bricht die gesamte Gruppe der sevillanischen Kaufmänner in donnerndes Gelächter aus und zwingt Lysandra, sich vom Oberdeck zu entfernen und in Begleitung von Sebastian in die dunklen Tiefen des Schiffs zurückzukehren.
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as Handelsschiff hat die Meerenge von Gibraltar seit einer Woche hinter sich gelassen. Dank des Westwindes, der seitdem unermüdlich weht, glaubt die Besatzung, in weniger als fünf Tagen Halt auf Sizilien machen zu können. Trotzdem scheinen die glatten Gewässer, die der Steuermann auf offener See ausmacht, eine weite Ruhezone anzukündigen. Nach und nach verringert sich die Spitzenkante der Bugwelle an jeder Seite des Schiffes, bis sie die Meeresoberfläche kaum mehr kräuselt. Seit Mitte des Nachmittags hält das Handelsschiff, mehrere Tage Seefahrt von der nächsten Küste entfernt, fast vollkommen auf seinem Kurs an. Die Segel flattern kaum unter der gleißenden Sonne. Galeo ist schon seit dem Erwachen beunruhigt. Seine Eltern, die ihr Lager seit der Fahrt durch die Meerenge von Gibraltar nicht verlassen haben, sind vom Fieber befallen. Blasse Rötungen, die zunächst nur auf ihren Beinen aufgetaucht sind, haben nun das Gesicht seines Vaters sowie das seiner Mutter befallen. Im Lichtschein einer Kerze bemerkt der Junge eine dickliche Flüssigkeit, die den kleinen Wunden entströmt, Wunden, die von Tag zu Tag größer werden. Lysandra atmet schwer, und ihre Stimme wird immer schwächer. Sie kann sich nur noch verständlich machen, indem sie ihren Mund an das Ohr ihres Sohnes hält: »Bleib nicht hier … geh lieber an die frische Luft, dieser … feuchte und dunkle Kielraum ist ungesund … Geh in die Sonne, und wenn du kannst, wasche deinen Körper mit reichlich Wasser …« Als er wieder das Oberdeck betritt, ist Galeo überrascht von der Ruhe und der Stille, die dort herrschen. Die großen weißen Segel, die der Wind seit ihrer Abfahrt aus Sevilla aufblähte, hängen nun schlapp 37
von den Rahen, bereit für den geringsten Luftzug. Am Fuß des Besanmasts breitet der Steuermann die großen Karten direkt auf dem Deck aus – ohne die Gefahr, dass sie weggeweht werden könnten – und legt den Finger auf die Position des Handelsschiffs, das zwischen dem Norden des Emirats Tunis und dem Süden Siziliens stillsteht. Die meisten Besatzungsmitglieder halten ein Schläfchen und liegen mit nacktem Oberkörper direkt auf dem vergilbten, zusammengerollten Tauwerk. Sie stehen nur auf, um die Planken mit einem Eimer Meerwasser zu kühlen, den sie darauf ausschütten. Nur Galeo läuft auf dem Deck umher, die drückende Hitze zwingt alle anderen zur Unbeweglichkeit. Er sucht den Priester und entdeckt ihn im Schatten des Focksegels in die Lektüre eines Buches vertieft, das er auf seinen Knien hält. »Pater van Neesroy«, sagt der Junge, ohne sich der Reichweite seiner Stimme gewahr zu werden, die das tiefe Schweigen der Windstille zerreißt. »Ich brauche Euch, mein Onkel und mein Vater sind krank.« »Ich habe dich gehört«, flüstert ihm der Pilger sofort zu, »aber sprich nicht so laut, Galeo, es ist nicht nötig, die ganze Besatzung zu alarmieren.« Ein Kaufmann, der an der Reling des Vordecks vor sich hin döste, hat trotzdem die Stimme des Jungen gehört. Er dreht sich zu seinem Nachbarn um, der neben ihm ausgestreckt liegt, und spricht zu ihm mit leiser Stimme. Dieser sagt daraufhin etwas zu einem anderen Mann, den er soeben aufgeweckt hat, und zeigt dabei mit dem Finger auf Galeo. Als Johannus van Neesroy an ihnen vorbeigeht, um sich zu den Kranken zu begeben, verstummen die Männer und sprechen erst wieder miteinander, als der Priester und das Kind in den Tiefen des Schiffes verschwinden. Der Pilger hat sich am Lager der Eheleute niedergelassen und schickt sich nun an, sie zu untersuchen, nachdem er sie zu dem Übel befragt hat, an dem sie leiden. Als er versucht, Lysandras Hemd anzuheben, um sich ein Urteil über den Zustand ihrer Haut zu bilden, ergreift Sebastian seinen Arm, um seine Bewegung zurückzuhalten. »Nein, mein Vater«, sagt er zu ihm, »es ist nicht nötig, Felipe die Kleider auszuziehen. Lasst uns nun in Ruhe.« 38
»Ich kann Euch aber behandeln«, antwortet Johannus van Neesroy, »unter der Bedingung, dass ich durch die Untersuchung Eurer Symptome erfahren kann, an was Ihr leidet.« »Dann kümmert Euch vielmehr um mich, denn mein jüngerer Bruder und ich haben uns bestimmt dasselbe Leiden zugezogen.« »Wenn Ihr wollt, aber ich muss Euch sagen, dass Felipe schlimmer befallen zu sein scheint, als Ihr es seid.« Während Galeo mit fester Hand eine Kerze über die Körper seiner Eltern hält, untersucht Johannus van Neesroy, der Sebastian die Kleider ausgezogen hat, jede seiner eitrigen Wunden: »Ich würde mich gerne irren, aber ich fürchte, Ihr seid vom Sankt-Sylvester-Feuer befallen. Dieses Leiden, das in den Miasmen abgestandener, feuchter Orte wie diesem hier lebt, dringt durch eine ungewaschene Wunde in den Körper ein. Ich werde versuchen, die Wundsäfte von Eurer Haut zu entfernen, aber um Euch heilen zu können, brauche ich eine Arzneizubereitung, deren Zutaten ich nur auf dem Festland finde. Betet daher dafür, dass die Winde sich endlich erheben und wir schnell die Küsten Siziliens erreichen.« Nachdem er Sebastians Wunden gereinigt hat, beugt sich der Priester über Lysandra. Ihr Mann will ihn erneut daran hindern, als Galeo die zitternde Hand seines Vaters zurückhält. »Nein, du musst ihn machen lassen, ansonsten wird sie sterben.« »Sie?«, fragt Johannus van Neesroy. Vater und Sohn antworten nichts. Der Pilger zieht daraufhin Lysandra das Hemd aus und entdeckt die Rundungen eines Frauenkörpers. Nach einem unmerklichen Zögern lässt der Priester schließlich auch Galeos Mutter seine Behandlung zukommen, genauso wie er es mit dem Vater getan hat. Dann steht er auf und sagt mit leiser Stimme: »Ihr habt vor mir nichts zu befürchten. Ich werde Euer Geheimnis bewahren. Aber alles, was ich hier tun kann, wird nicht ausreichen. Hoffen wir, dass die Winde uns so bald wie möglich an Land bringen!«
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ie Sonne geht über Sevilla auf. Auf der Türschwelle der Ställe des Studium Generale schirrt Harmad Ibn Akzar sein Pferd an. Nicht weniger als zehn Ledertaschen baumeln zu beiden Seiten des Sattels. Einige enthalten Schröpfköpfe, Feuerspitzen, Stilette, Küretten, Brenneisen, Nadeln und Leinenbinden, während andere Töpfe mit Salben, Pulvern oder Honig unter Verschluss halten, der nützlich ist für die Zubereitung von Tränken. Außerdem hat er die medizinischen Abhandlungen von Gilles de Corbeil, das Antidotarium von Nicolaus Praepositus und eine Übersetzung von Hippokrates' Corpus im Gepäck. An der Seite des Medizinmeisters steht Sarah Alfaquin in einem Reisekleid aus Leinen, dessen Oberteil mit Kordeln geschnürt ist; an den Füßen trägt sie Lederhalbstiefel mit erhobenen Spitzen, die mit Zinnknöpfen geschlossen werden. Ihre langen schwarzen Haare hat sie feinen, verzierten Nadeln aufgesteckt. Das Reittier der jungen Frau ist ebenfalls schwer mit Taschen voller Heilkräuter beladen. Sie beinhalten Ballen opiumhaltigen Mohns, der den Schmerz bekämpfen soll, Rainfarn zum Abtöten von Würmern, Wolfsmilch zur Linderung von Hautkrankheiten, Salbei zum Bekämpfen von Fieber und Krämpfen sowie Haselnussstrauchblätter zur Beruhigung von Bauchschmerzen oder Bekämpfung von Vergiftungen. All diese Pflanzen, die sie heute mit sich nimmt, sind Sarah seit ihrer Kindheit bekannt. Im Alter von sieben Jahren ließ ihr Vater sie den herbularius instand halten, wo nur seltene oder regionsfremde Gewächse angebaut wurden. Seinen Angaben folgend, legte sie größte Sorgfalt in den Bau der Strohnester, um zu vermeiden, dass Unkraut zwischen den Pflanzen wächst, die durch ein Geflecht aus Kastanienzweigen voneinander getrennt werden. Später, 40
als sie das Alter von zehn Jahren erreichte, begleitete sie ihren Vater außerhalb der Mauern Sevillas auf der Suche nach regionalen Kräutern und Essenzen, deren Duft daraufhin den Medizinraum füllten, der neben ihrem Zimmer lag. Dieses war seit jeher voller Pflanzen, die darauf warteten, zu Pulver verarbeitet oder mit Honig oder Wein vermengt zu werden, um ihren Geschmack zu mildern. Von dieser Zeit an hatte Sarah beschlossen, Ärztin zu werden. Sie kann sich noch an den Morgen erinnern, an dem sie ihre Entscheidung ihrem Vater mitteilte, der sich ihrem Vorhaben unbeugsam entgegenstellte und seine Weigerung unterstrich, indem er mit seinem Gehstock auf den Boden stampfte. Das junge Mädchen hatte zunächst vorgegeben, auf ihr Vorhaben zu verzichten, aber im Laufe der Zeit hatte sie es geschafft, ihren hartnäckigen Willen, sich um Leidende zu kümmern, durchzusetzen. Wenn er einen Sohn gehabt hätte, dachte sie, hätte Abraham Alfaquin aus ihm einen Arzt gemacht, der sein ganzer Stolz gewesen wäre, und das junge Mädchen wollte in ihrem tiefsten Inneren ihrem Vater beweisen, dass sie es mit dem Sohn aufnehmen konnte, den er niemals haben würde; er hatte nach dem Tod seiner Frau darauf verzichtet, wieder zu heiraten.
Kurz bevor sie in den Sattel steigt, fragt Sarah Harmad Ibn Akzar: »Meister, hattet Ihr nicht darum gebeten, dass der französische Student sich uns anschließen solle?« »Ich habe es in der Tat angeordnet, aber verlieren wir keine Zeit damit, auf ihn zu warten. Wahrscheinlich schläft er zur Stunde noch. Da du bereit bist, machen wir uns nun auf den Weg.« Kaum hat er seinen Satz beendet, hallt das Klappern von Hufen auf den Gassen der Stadt wider. Die beiden Reiter drehen sich gleichzeitig in die Richtung um, aus der das Geräusch kommt, und sehen Roscelin auftauchen, der in Höchstgeschwindigkeit auf einem Pferd dahinschießt und sich dabei mühsam eine im Wind schnalzende Leinentunika über ein weißes Hemd zieht. 41
»Da bin ich … da bin ich!«, ruft er keuchend wie sein Pferd, als er sich in Hörweite Meister Akzars befindet. Als er neben ihm Sarah Alfaquin erkennt, wirft er ihr ein breites Lächeln zu. Diese bemerkt die langen blonden, ungekämmten Haare und den nachlässigen Aufzug des jungen Franzosen, der gerade erst aufgewacht ist, und beantwortet sein Lächeln mit einem einfachen Kopfnicken. Dann gibt sie ihrem Reittier den Befehl, loszureiten. Einige Augenblicke später bewegen sich die drei Reiter schweigend durch die engen Gassen, in denen es nach Jasmin duftet, und überqueren Plätze, die mit Zitronen- und Orangenbäumen bepflanzt sind und wo sich die Quadersteine öffentlicher Bauten mit der Stampfbauweise der Volksbehausungen abwechseln. Anschließend kommen sie an weiß getünchten Fassaden vorbei, die man zu den wärmsten Stunden des Tages nicht mit bloßem Auge betrachten kann. Die Sonne steht noch sehr tief am Himmel, und die Werkstätten, Läden, Märkte und öffentlichen Bäder haben ihre Türen noch nicht geöffnet. Nur ein paar einzelne Bauern, die lange vor Tagesanbruch aufgestanden sind, um Feigen, Trauben und Datteln in der Stadt zu verkaufen, laufen durch die Straßen. Plötzlich, am Ausgang der Straße der Franziskaner, dringen dumpfe Schläge an die Ohren der drei Ärzte, die bald die Ursache dieses Lärms erkennen: Es sind Arbeiter an der Plaza San Francisco, die sich bereits an ihr Tagewerk machen, um die schwüle Hitze des Tages zu meiden. Als sich die Reiter der Baustelle nähern, sehen sie Steinmetze, die von weißem Staub bedeckt sind, den jeder ihrer Meißelschläge aufwirbelt, und die das erste christliche Kloster im Herzen der ehemaligen Kalifenstadt errichten. Als die drei Reiter die Straße der Gerber verlassen und auf die Stadtmauer zusteuern, fragt Harmad Ibn Akzar, dem aufgefallen ist, dass der junge Franzose nur eine einfache Decke und eine Umhängetasche mit sich trägt, seinen Studenten: »Hast du es nicht für richtig befunden, Roscelin, Instrumente, Tränke und Kräuter mitzuführen, wie es alle Ärzte oder Ärztelehrlinge tun, wenn sie unterwegs sind, damit sie jederzeit in der Lage sind, ihresgleichen zu behandeln?« 42
»Ganz im Gegenteil, Meister Akzar«, antwortet der junge Franzose, »was ich in meiner Tasche habe, kann die meisten aller Krankheiten heilen.« »Deine Tasche ist allerdings recht klein, und die Krankheiten sind recht zahlreich.« »Das stimmt«, fährt Roscelin fort. »Es ist nämlich so, dass mein Gepäck nur ein paar Beutel enthält, die ich aus dem Königreich Frankreich mitgebracht habe.« »Und was ist in diesen berühmten Beuteln?«, fragt Sarah, die zu ihren Reisebegleitern aufschließt. »Sie beinhalten das Pulver der Könige«, antwortet Roscelin schlicht, der nicht bereit zu sein scheint, mehr darüber zu sagen. »Das Pulver der Könige?«, fragt die junge Frau erstaunt. »Ja, das Pulver der Könige«, wiederholt Roscelin knapp und beendet somit das Gespräch. Er bemerkt nicht das stille Lächeln Meister Akzars, der, nachdem er gerade das Stadttor passiert hat, sein Reittier auf die Straße nach Sanlúcar la Mayor lenkt, in Richtung der Anhöhen des Aljarafe.
Der Tag geht zur Neige. Wir haben soeben ein Behelfslager aufgeschlagen, das sich im Herzen einer Ebene befindet, die von einem Gestrüpp aus Zwergpalmen bedeckt ist. Der Herbst geht seinem Ende zu, und die Menschen sowie die Herden wenden sich nach Süden. Der Horizont hat sich plötzlich verdunkelt, und ein kalter Windhauch wirbelt Staubwolken und trockenes Strauchwerk auf, das wir einsammeln, um damit unser Feuer zu unterhalten. Mein Reisebegleiter hat der Brise den Rücken zugekehrt und ist über sein Schreibpult gebeugt, es scheint ihm gleichgültig zu sein, was um ihn herum passiert. Seine Feder rast über das Papier und entwirft Verse, die er hin und wieder leise aufsagt, um den Rhythmus und die Laute besser beurteilen zu können. Mir dagegen, der ich einige Schritte von ihm entfernt in meine Decke eingerollt liege, genügt es, mich mit meinen Erinnerungen zu beschäftigen, damit mir 43
die Worte wie von selbst aus der Hand fließen. Es war alles so einfach. Einer nach dem anderen sind die Männer zu mir gekommen. Sie hätten jederzeit den Weg verlassen können, der sie direkt ins Verderben führen sollte, aber sie haben es nicht getan. Kein einziger hat bei meinem Anblick in mir die Züge seines Mörders erkannt. Keiner hat in meinem Blick gelesen, dass ich derjenige sein würde, durch den das Übel in sie eindringt, bis in das tiefste Innere ihres Körpers. Von jener Zeit an spürten sie allerdings, dass der Tod sie umschlich wie ein ausgehungertes Tier. Aber sie hätten niemals gedacht, dass er jenes Gesicht annehmen würde. Nein, alle vertrauten dem Arm, der sich über sie erhob und den sie seit jeher kannten. Später, als ihre Haut geschunden und ihr Blut vergiftet war, haben sie wahrscheinlich Zeit gehabt, zu verstehen, wer in Wahrheit diese Hand war, die sie geschlagen hatte. Allein der fünfte Mann hat fliehen wollen. Nachdem die Klingen in ihn eingedrungen waren, hatte er die Kraft gehabt zu glauben, es sei noch nicht zu spät. Er dachte, wenn er Sevilla verließe, entkäme er dem Tod, der ihm versprochen war. Trotzdem konnte niemand ihn mehr retten, als er sein Pferd genommen hat und auf der Straße nach Westen fortgeritten ist. Als ich ihn dabei beobachtete, wie er sich entfernte, wusste ich, dass er unser Zusammentreffen nicht überleben würde. Niemand konnte es überleben. Er trug bereits tiefe Wunden und führte mit sich das Leiden, das ihn dahinraffen würde, mitten in der Nacht, auf den Anhöhen der Sierra de Aracena.
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eit fünf langen Tagen ist das Schiff Gefangener der Windstille im Mittelmeer. Vom höchsten Punkt der Rahen aus überwachen die Besatzungsmitglieder die Horizontlinie in der Hoffnung, auf der Wasseroberfläche die geringste Erhebung zu erkennen, die das Erwachen des Windes anzeigen würde. Aber vergeblich. Soweit die Blicke auch reichen, das Meer bleibt zum Verzweifeln glatt. Die Passagiere sind von der Hitze niedergeschlagen und nervös. Um seine Zeit so gut er kann zu nutzen, lässt der Segelmachermeister die Segel herunterholen, und verstärkt mit Hilfe seiner Nadeln und Litzen aus Sisal nacheinander ihre Konturen, bevor er sie glättet. Die vier Masten sind abgetakelt worden, ohne dass der geringste Windhauch gekommen und eines der auf dem Deck ausgebreiteten Segel aufgebläht hätte. Der Mundschenk wiederum, einziger Verantwortlicher für die Lebensmittel an Bord, macht eine genaue Bestandsaufnahme der geladenen Vorräte: »Wenn der Wind sich nicht erhebt«, sagt er und zieht eine Grimasse, »werden Wasser und Nahrung sehr bald fehlen.« Am Abend des fünften Tages der Windstille werden die Essensrationen um die Hälfte gekürzt. Galeo, der auf dem Vordeck hockt, beobachtet das Meer durch die Holzverkleidung der Reling. Er wendet den Blick nicht von der Horizontlinie ab und hofft, der Erste zu sein, der den trüben, dunklen Kontrast wahrnimmt, der früher oder später als Vorzeichen einer Böe auf der Wasseroberfläche erscheinen wird. Trotz seines jungen Alters ist er sich der Situation vollauf bewusst. Er weiß, dass, wenn der Wind sich nicht erhebt, Pater van Neesroy sich auf dem Festland nicht die notwendigen Heilpflanzen für die Heilung seiner Eltern beschaffen kann. Von nun an fürchtet der Junge um ihr Leben. 45
Seine Mutter gibt seit zwei Tagen bereits seltsame Worte von sich, während weiterhin eine weißliche Substanz aus den geröteten Wunden im Gesicht seines Vaters fließt. Trotz der stickigen Hitze des Laderaums frieren beide, und der Pilger, der über sie wacht, hat die einzige Decke über sie gebreitet, die er besitzt. Als er zurück aufs Deck steigt, wird Pater van Neesroy von einem der reichen Kaufmänner angesprochen, die wie gewöhnlich am Fuße des Großmasts sitzen: »Sind die beiden Männer da unten immer noch krank?« »Es ist fast nichts«, versucht der Priester sie zu beruhigen, »ein leichtes Fieber, das bald von allein verschwinden wird.« »Bist du denn nun Arzt oder ein Mann Gottes?«, fährt der Mann missmutig fort. »Ich bin kein Arzt, aber ich habe die Heilkunst bei meinen vielen Pilgerreisen erlernt, als ich vor allem in den Hospizen der Komtureien gedient habe. Aus genau diesem Grund habe ich bereits ähnliche Fälle des Fiebers in den Häfen von Hamburg, Lübeck und Neapel gesehen, und ich versichere Euch, dass es nicht ansteckend ist.« »Und wenn du dich irren solltest«, fragt ein anderer Mann, »werden wir bald alle von diesem Leiden verseucht sein. Was sollten wir denn dann zu unserer Behandlung tun, ohne einen richtigen Arzt an Bord und fern jeder Küste?« »Ich wiederhole Euch, dass das Leiden, von dem diese beiden Männer befallen sind, keine Bedrohung für Euch ist. Es ist durch Verletzungen, die sie sich während der Sturmnacht zugezogen haben, in ihre Körper eingedrungen. Der Schimmel, die Feuchtigkeit und die Hitze des Laderaums besorgten den Rest. Ihr habt nichts zu befürchten, versichere ich Euch.« »Wenn sie genesen müssen«, mischt sich ein dritter Kaufmann noch heftiger ein, »dann sollen sie schnell genesen, und wenn sie sterben müssen, dann sollen sie ebenso schnell sterben, denn ich kann es nicht länger ertragen, dass es Fieberkrankheiten an Bord eines Schiffes gibt, auf dem ich mich befinde.« Galeo, der Zeuge dieser Szene ist, spürt, wie ihm ein Schauer durch den Körper fährt. Kaum steht Johannus van Neesroy neben ihm, flü46
stert er ihm ins Ohr: »Sei versichert, ich werde deine Eltern behandeln können. Wenn der Wind sich erhebt, kann ich sie noch retten. Aber im Moment muss ich wieder hinuntergehen und sie vor der neuen Bedrohung beschützen, die diese Männer darstellen.« Kurze Zeit später baut der Priester, der sich vom Zimmermann Werkzeug ausgeliehen hat, mit seinen eigenen Händen Trennwände um einen leeren Verschlag, um daraus einen vollkommen geschlossenen Raum zu machen. Wer weiß, zu was diese Kaufmänner fähig sind?, sagt er sich. Im Augenblick ist es mir lieber, wenn ich Sebastian und Lysandra für sie außer Reichweite halte. Auf Worte folgen Taten, und der Pilger hebt nacheinander die Körper der beiden Eheleute hoch und verbirgt sie in dem Notunterschlupf, den er soeben errichtet hat.
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wei Tage und zwei Nächte liegen Galeos Eltern nun schon von der Krankheit entstellt in Pater van Neesroys Verschlag. Die Trennwände aus Holz dämpfen ihr Stöhnen und die unzusammenhängenden Worte, die sie laut im Fieberwahn vor sich hin sprechen. Ihr Gesundheitszustand verschlechtert sich, und dem Pilger, der den Großteil des Tages über sie wacht, bereitet es immer größere Mühe, die Schwere ihrer Krankheit vor den restlichen Passagieren zu verbergen. Galeo hockt neben seiner Mutter und spricht leise mit ihr. Auf das geringste Knarren des Schiffsrumpfes oder eine kaum wahrnehmbare Schlingerbewegung, die das Erwachen des Windes ankündigen würde, stürzt der Junge auf das Oberdeck, um das Meer zu betrachten. Oben angekommen aber sieht er die unbeweglichen Segel auf ihren Rahen und die am Fuße der Masten ausgestreckten Besatzungsmitglieder und versteht sofort, dass das Schiff noch von der Windstille festgehalten wird. Die Hoffnung, schnell eine Küste zu erreichen, verringert sich von Tag zu Tag.
Eines Morgens, nach einer unruhigen Nacht, hört der Junge das Holz des Schiffes auf ungewöhnliche Weise knarren. Das ist bestimmt ein Traum, denkt er zunächst. Einige Augenblicke später aber, als er vollkommen erwacht ist, wird das Geräusch deutlicher. Vielleicht ist es eine Dünungsbewegung, die der Ankunft des Windes vorausgeht? Galeo klammert sich an diese Hoffnung. Außer dem Knarren des Holzes hört er nun die undeutlichen Stimmen der Männer, die an Deck sind. 48
Diesmal ist er sicher, dass dies nur die Befehle zur Manövervorbereitung sein können. Der Junge erklimmt die Leitern und bemerkt, dass eine große Unruhe an Deck herrscht. Galeo hebt sofort den Blick zu den Segeln, aber er erkennt, dass keine Brise sie aufbläht. Sein Blick wandert anschließend zu den sevillanischen Kaufmännern. Sie haben sich alle um einen von ihnen versammelt, der mit voller Stimme ruft: »Wir hatten bereits mehr Geduld als vernünftig ist. Wir gehen ein zu großes Risiko ein, wenn wir weiterhin die Hände in den Schoß legen. Wenn wir nicht so schnell wie möglich handeln, werden wir schließlich alle von diesem Übel verseucht werden. Ist es das, was wir wollen? Unsere Tage auf diesem Schiff beenden, von der Krankheit zerfressen, ohne Arzt und ohne Hoffnung auf Heilung? Wir wissen nichts über das Fieber, das sich diese beiden Männer zugezogen haben, und es kann sehr gut sein, dass es ansteckend ist. Entledigen wir uns ihrer, bevor die gesamte Mannschaft befallen wird.« »Er hat Recht«, antwortet ein anderer, »diese beiden da scheinen nicht mehr zu retten zu sein, was macht es also für einen Unterschied, wenn sie ein bisschen früher sterben?« »Ja«, fährt ein Dritter fort, »werfen wir ihre Körper sofort ins Meer, das ist die einzige Möglichkeit, das Schiff von dieser Krankheit zu befreien. Kommt mit mir, gehen wir zusammen hinunter, es gilt keinen Moment mehr zu verlieren!« In diesem Moment brüllt Galeo, dessen Anwesenheit an Deck bisher niemand bemerkt hatte, aus Leibeskräften: »Nein, nein, dazu habt Ihr kein Recht, wenn die Winde sich erheben, können sie noch gesund werden! Sie können noch gesund werden!« Überrascht von dem Schrei des Kindes zögern die sevillanischen Kaufmänner eine Sekunde auf ihrem Weg in den Kielraum. Diesen Moment des Aufschubs nutzt Galeo, um, dicht gefolgt von den Männern, auf die Leitern zuzustürzen und seine Eltern zu warnen. Als der Pilger, der sich bei den beiden Kranken befindet, auf den Lärm aufmerksam wird, hat er gerade noch Zeit, sich mit ihnen in dem Notunterschlupf zu verbarrikadieren, dessen Holztür er blockiert, eine Tür, für deren Anfertigung er zur Vorbeugung einer solchen Situation 49
gesorgt hatte. Die Kaufmänner, die den Jungen schnell eingeholt haben, schubsen ihn brutal zur Seite und stehen schon bald vor der Tür, die sie nur noch von dem Priester und dem Ehepaar trennt. »Kommt heraus!«, befiehlt einer der Männer. »Niemals«, antwortet der Pilger durch die Tür, »kehrt aufs Deck zurück, ich wiederhole noch einmal, dass dieses Fieber nicht ansteckend ist. Der Beweis ist, dass ich immer noch nicht von dem Leiden befallen bin.« »Eben!«, brüllt ein Kaufmann, »werfen wir sie über Bord, solange noch Zeit ist, entledigen wir uns ihrer, bevor sie uns alle verseuchen!« Pater Johannus sieht, wie die Holzbretter seines Unterschlupfs wanken. Mit Fußtritten und Schulterstößen gelingt es den Männern, die Bretter nacheinander zu zerbrechen. Die Trennwände widerstehen diesem Ansturm nicht lange. Im Inneren des Verschlags hat das Ehepaar die Situation erfasst. Das Fieber aber, das an ihnen nagt, hält sie davon ab, sich zu bewegen. In wenigen Augenblicken werden die Kaufmänner eintreten und sie ergreifen. Nichts und niemand wird sie mehr davon abhalten können. Lysandra wendet sich daher mit geschwächter Stimme an Pater Johannus van Neesroy: »Versucht nicht, sie zurückzuhalten. Wir werden bald sterben. Und da Ihr nichts mehr für uns tun könnt, schwört mir vor Gott, dass Ihr an unserer Stelle über Galeo wachen werdet.« Im diesem Moment gibt die Tür nach. Zwei Männer stoßen den Priester, der ihnen Widerstand zu leisten versucht, gewaltsam zur Seite, während sechs andere die Körper von Sebastian und Lysandra hochheben. Der Kampf beginnt, aber Pater Johannus van Neesroy findet sich schnell am Boden wieder, unfähig, das Ehepaar zu retten, das bereits mit Gewalt aufs Oberdeck geschleppt wird. Lysandra dreht sich zu dem Priester um, der auf dem Boden liegt, und ruft ihm zu: »Schwört mir bei Gott, dass Ihr über unseren Sohn wachen werdet, schwört es mir bei Gott!« Pater Johannus richtet sich mit letzter Kraft auf und macht sich daran, die Kaufleute zu verfolgen. Kaum hat er das Deck erreicht, wirft er sich auf einen von ihnen, aber er wird erneut zurückgestoßen, und es 50
gelingt ihm nicht, allein gegen acht anzukämpfen. Die Männer sind nur noch wenige Schritte von der Reling entfernt. Sie heben einen der Körper mit ausgestreckten Armen hoch und werfen zuerst Sebastian über Bord. Galeo stürzt sich mit tränenüberströmtem Gesicht schreiend auf die Männer, die sich nun anschicken, seine Mutter hochzuheben. Durch einen einfachen Fußtritt wird Galeo mehrere Schritte weit zurückgeworfen, und sein Kopf, den er sich daraufhin am Fockmast stößt, beginnt zu bluten. Auf der anderen Seite wird Lysandras Körper über die Reling gehoben. Pater van Neesroy kann nichts mehr für sie tun. Er kreuzt ein letztes Mal ihren Blick und hört ihre flehende Stimme: »Schwört es mir bei Gott, schwört mir, dass Ihr Euer Leben lang über unser Kind wachen und es beschützen werdet!« Als er den Körper ins Meer fallen sieht, beugt sich Johannus van Neesroy über das Wasser, bekreuzigt sich und ruft Lysandra zu: »Ich schwöre es bei Gott dem Allmächtigen!« Galeo hat sich wieder aufgerichtet. Das Gesicht von Blut und Tränen überströmt, läuft er über das Deck und beugt sich über die Reling. Pater van Neesroy kann ihn kaum davor zurückhalten, sich ins Meer zu stürzen, um seine Eltern zu retten. Seine Mutter, nach der er ununterbrochen ruft, schlägt an der Wasseroberfläche kaum um sich. Sein Vater, der sich noch eine Weile über Wasser hält, hat gerade noch die Kraft, ein letztes Mal seinem Sohn zu antworten, bevor auch er untergeht. Der Priester legt seine Hand auf Galeos Augen. Er versucht, ihn zur Mitte des Decks zu ziehen, Galeo aber klammert sich noch an der Reling fest. Die Körper von Sebastian und Lysandra verschwinden für immer, und die Schreie des Jungen verlieren sich in der Windstille. Einige Augenblicke später verliert Galeo, am Ende seiner Kräfte, das Bewusstsein.
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rotz der frühen Stunde lastet die warme Septembersonne bereits schwer auf dem Medizinmeister und seinen beiden Schülern, deren Reittiere zügig die großen Serpentinen des Aljarafe erklimmen. Die Pferdehufe stampfen über die trockene Erde, in der seit Jahrhunderten Oliven- und Orangenbäume Wurzeln schlagen, und wirbeln leichte Wolken roten Staubes auf. Auf dem Gipfel der Hügel angekommen, zieht Harmad Ibn Akzar leicht an den Zügeln und befiehlt seinem Pferd, über der weiten Ebene von Sevilla anzuhalten. Sarah und Roscelin tun es dem Medizinmeister gleich und überblicken die Stadt, die vor einigen Jahren noch die majestätische Hauptstadt des Kalifats Marrakesch war. Im Zentrum der weißen Stadt ragt, wie ein zum Himmel erhobener Zeigefinger, das Minarett der großen Moschee empor, die nun zum katholischen Kult konvertiert und in Santa Maria la Mayor umgetauft wurde. Die drei Ärzte betrachten stillschweigend die Stadt, die zwar weder von ihrer Sprache noch von ihrem König her mehr arabisch ist, in ihrem Kern jedoch maurisch bleibt. Von Zeit zu Zeit erkennen sie hinter der langen silbernen Schlange, die der Guadalquivir zu dieser Stunde bildet, einige ockerfarbene Erhebungen, die sie benennen: »Da sind die Zinnen der Befestigungen des königlichen Alcazar und die Spitze des Torre del Oro …«, sagt Harmad Ibn Akzar mit ausgestrecktem Zeigefinger. »Und dort die Dächer des Marktes der Alcaiceria de la Seda, und ein Stück weiter dort drüben kann man die Masten der Schiffe erkennen, die im Hafen vor Anker liegen«, sagt Sarah Alfaquin und legt eine Hand zum Schutz vor der Sonne über die Augen. Dann, nach einem kurzen Moment der Stille, murmelt die junge Frau: »Eine Sache kann 52
man allerdings von hier aus nicht sehen – den Frieden, der heute unter den Sevillanern herrscht, die aus aller Herren Länder kommen und von verschiedenen Glaubensrichtungen beseelt werden …« »… Männer und Frauen«, fährt Harmad Ibn Akzar fort, ohne den Blick von der weißen Stadt zu wenden, »die gemeinsam gelernt haben, dass, welchen Namen auch immer man Gott gibt, dieser Name der schönste ist. Aber wie lange noch werden sie sich dessen erinnern?« Nachdem sie die Stadt eine Weile beobachtet hat, ertappt sich die junge Frau dabei, wie sie ihren Meister betrachtet, dessen Reittier wenige Schritte von dem ihren entfernt steht. Was ist dieser Mann nur für ein Rätsel, denkt sie, dessen Mundwinkel so seltsam hochgezogen sind, was ihn aussehen lässt, als lächle er ununterbrochen. Und die Konturen seines Gesichts gleichen vorspringenden Gebirgsausläufern, die für immer das Geheimnis seines Mienenspiels und seiner Stimmungen bewahren. Welche Gefühle, fragt sich Sarah, können jemals das Gemüt hinter diesem schwarzen, silberdurchzogenen Bart in Aufruhr bringen? Vieles aus dem Leben Harmad Ibn Akzars wird wahrscheinlich für immer unbekannt bleiben, wortkarg wie er sich außerhalb seines Unterrichts zu zeigen weiß. Trotzdem behaupten einige Sevillaner, aufgrund der seltenen, vertraulichen Mitteilungen des Medizinmeisters, dass er in Fostat, im fernen Ägypten, das Licht der Welt erblickt hat. Sehr früh studierte er Geometrie, Physik, Logik und Medizin. Mit siebzehn Jahren besuchte er mehrere Monate lang den Unterricht von Maimonides, bevor er sich allein der chirurgischen Praxis widmete. Nachdem er gezwungen wurde, der Armee des Sultans Al-Adel beizutreten, behandelte er die Soldaten, die von Al-Kamel, dem Neffen des Saladin, angeführt wurden. Mit einundzwanzig diente er in der Schlacht von Damiette, wo Zehntausende von Kreuzrittern im Gefolge des Johann von Brienne, König von Jerusalem, die Stadt dem ägyptischen Sultan wieder abnahmen. Dort häufte er innerhalb weniger Tage mehr Wissen über Anatomie an als während seiner gesamten Studienjahre. Auf den Schlachtfeldern gab es ebenso viele zu sezierende Leichen wie zu operierende Verletzte, und es war nicht selten, dass er das, was er soeben an einem toten 53
Körper gelernt hatte, dazu verwendete, einen noch lebenden Soldaten zu retten. Da er bei seiner Behandlung keine Unterschiede zwischen Freunden und Feinden gemacht hatte, wurde er eingesperrt, doch er brach aus dem Gefängnis aus und wanderte auf den Straßen von Orient und Okzident, um sich der Philosophie und dem Studium der Himmelskörper zu widmen. Seine Ideen, seine Religion oder auch seine Hautfarbe sorgten dafür, dass man ihn aus bestimmten Städten verjagte, und sein Weg kreuzte wieder den des Krieges und der Verletzten. So sah man ihn in Córdoba, Jaén und Sevilla – Städte, die König Fernando III. den maurischen Herrschern wieder entriss. Sobald wieder Frieden eingekehrt war, gestand ihm Alfonso X. der Weise das Privileg zu, am Studium Generale zu unterrichten. Heute, ohne Frau und ohne Kind, verbringt er, so sagt man, seine Nächte mit der Beobachtung des Himmels, um eine Karte zu entwerfen. Einige, die ihn bei der Arbeit beobachten durften, behaupten, dass er nach dem Studium der astronomischen Tabellen, die von Hipparkos und Ptolemäus in Babylon und in Alexandria ausgearbeitet worden waren, den Bezug des Erddurchmessers zum Sonnen- und zum Monddurchmesser hergestellt und die Oberfläche jeder dieser Sphären berechnet hat. Andere behaupten wiederum, er könne mehrere Nächte hintereinander wach bleiben und sei erst bereit zu schlafen, wenn die Wolken die Untersuchung der Sterne unmöglich machen. Tagsüber, wenn er Medizin unterrichtet oder öffentliche Operationen praktiziert, ist seine Stimmung immer gleichbleibend. Ob der Patient, dessen Körper er gerade geöffnet hat, die Gesundheit wiedererlangt oder sein Herz plötzlich zu schlagen aufhört, löst in ihm keinerlei Zeichen von Befriedigung oder Verdruss aus. Sarah erinnert sich in diesem Augenblick daran, wie sie das erste Mal im Studium Generale einen von ihrem Meister operierten Mann unwiederbringlich in den Tod gleiten sah. Als der letzte Hauch Leben aus dem Körper gewichen war, hatte Harmad Ibn Akzar, ohne seinen Unterricht zu unterbrechen, einfach dessen Inhalt geändert. Von einem Medizinmeister verwandelte er sich nun in einen Philosophiemeister, der seine Schüler bat, 54
über den Tod nachzudenken, der ihm zufolge nur ein Ausdruck des ständigen Gemenges sei, das im Universum existierte, in dem nichts vollständig verfällt und nichts Neues geschaffen wird. »Die Lebewesen werden aus Teilen gebildet, die in einem Ganzen zusammengefasst werden«, hatte er schlicht gesagt. »Die Menschen werden nur geboren und sterben, um die Möglichkeit zu haben, sich zu erneuern; erinnert euch daran, dass jeder Körper jederzeit in Bewegung ist und ununterbrochen nach dem Ganzen strebt.« Sarah richtet nun das Wort an ihren Meister: »Was genau werden wir in Sanlúcar la Mayor tun? Die Sonne steht nun hoch im Himmel, und Ihr habt uns noch immer nichts darüber gesagt.« »Wenn ich nicht viel spreche, dann weil ich kaum mehr weiß als du«, sagt der Medizinmeister und lässt sein Pferd wieder dem Weg nach Sanlúcar la Mayor folgen. »Was ich dir sagen kann, ist, dass wir Untersuchungen über eine Epidemie anstellen werden, der wir zunächst einen Namen geben müssen. Und da es keine Epidemie ohne Krankheit und keine Krankheit ohne Kranken gibt, werden wir zuerst die Leiche des letzten Mannes untersuchen, der diesem Leiden zum Opfer gefallen ist.« »Aguirre, der Schüler meines Vaters, der Euch gestern besucht hat, zeigte sich sehr beunruhigt …« »Dieses Fieber scheint sich nämlich seine Opfer auszusuchen. Es hat bereits fünf reiche Kaufmänner aus Sevilla dahingerafft und dabei sorgfältig ihre Familien verschont. Nie zuvor hat ein Leiden innerhalb einer Bevölkerung mit so viel Unterscheidungsvermögen zuschlagen können. Wir haben daher einen doppelten Auftrag: Wir müssen uns zu Beginn darum bemühen, die Ursache dieser Krankheit zu finden, und dann, wenn wir können, versuchen, sie einzudämmen.« Roscelin, der aufmerksam Harmad Ibn Akzars Worten gelauscht hatte, fragt: »Meister, könntet Ihr Eure Untersuchung nicht allein führen?« »Um meine Vorgehensweise zu verstehen, hättest du dich sofort bei deiner Ankunft in Sevilla zum Grab Fernandos III. begeben müssen. Vor Ort hättest du dann festgestellt, dass die Grabinschrift so55
wohl auf Spanisch, als auch auf Hebräisch und Arabisch geschrieben ist. Ebenso wie dieser Monarch und sein Sohn, unser König Alfonso X. der Weise, glaube ich an die Harmonie. Meine Studienjahre und meine langen Reisen haben mich gelehrt, dass die Gesundheit eines menschlichen Körpers, ebenso wie die einer Gesellschaft, allein auf dem Gleichgewicht zwischen den unterschiedlichen Bestandteilen beruht. Wenn diese Harmonie gebrochen ist, wird der Körper, so wie die Gesellschaft, sofort krank. Bei dem einen zeigt sich das durch Fieber, Schmerzen oder eine Lähmung, und bei den anderen durch Hass unter den Menschen, Kämpfe und Fanatismus. Ich habe mich daher an euch beide mit der Bitte gewandt, mir zur Seite zu stehen, denn ich beabsichtige, diese Untersuchung zu führen, wie unser König unser Land führt, das heißt, dass ich mich auf die Komplementarität eines jeden stütze. Seht mich an: Ich bin in einem weit fortgeschrittenen Alter, es ist daher natürlich, dass ich mich mit zwei jungen Wesen umgebe. Im Übrigen sind du, Roscelin, und ich selbst Männer, wir brauchen daher zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eine Frau unter uns. Das ist aber nicht alles: Sieh dir nun an, wie matt meine Haut ist, ich stamme aus dem fernen Orient, es ist daher notwendig, dass ich mich mit zwei Wesen umgebe, die im Okzident geboren wurden; dasselbe gilt für unsere Religionen. So viele Arten, die Welt zu sehen, die sich ebenfalls ergänzen sollten. Auf diese Weise werden sämtliche Kräfte, die ich nicht in mir finde, in einem von euch sein, und was ihr nicht in euch beiden findet, ist bestimmt bei mir zugegen. Wenn daher für uns eine Möglichkeit existiert, unsere Untersuchung zum guten Ende zu führen, dann werden wir es gemeinsam schaffen.« Da Roscelin schweigt, fragt Harmad Ibn Akzar ihn nun: »Und, bist du mit meiner Antwort zufrieden?« »Ja, Meister, nur stellt sich mir eine neue Frage: Eure Schüler am Studium Generale von Sevilla sind zahlreich, und viele von ihnen hätten Euch ebenso gut zur Seite stehen können.« »Das stimmt.« »Warum«, fährt der junge Mann fort, »ist Eure Wahl auf Sarah und mich gefallen?« 56
»Da uns ein wenig Zeit bleibt, bevor wir Sanlúcar la Mayor erreichen, bin ich bereit, euch die Gründe zu erklären, welche die meinigen sind. Zunächst sollt ihr wissen, dass die Tatsache, dass Sarah die Tochter von Abraham Alfaquin, dem Arzt des Königs ist, in keiner Weiser ihre Anwesenheit an meiner Seite erklärt. Ich kenne dich, Sarah, nun seit ungefähr einem Jahr, und ich schätze deine Qualitäten. Dein Geist ist bedächtig, deine Hand zittert nie, wenn du operierst, und du weißt dich bei jeder Gelegenheit zu beherrschen. Ich weiß auch, dass du ganze Tage in den Bibliotheken der ehemaligen Emirhöfe verbringst, auf der Suche nach den neuesten Übersetzungen griechischer Manuskripte. So hast du unter den Schätzen Aristoteles', Galens oder Hippokrates' die Abhandlungen entdeckt, die den Krankheiten der Frauen und Kleinkinder gewidmet sind. Vor dir ist noch nie eine Hebamme Ärztin gewesen, und meines Wissens hat auch noch nie ein Arzt Hebamme werden wollen. Indem du dich auf die Vergangenheit stützt, ersinnst du eine neue Zukunft in der Kunst der Medizin, genau deswegen habe ich nicht gezögert, dich mitzunehmen.« Sarah hat ihrem Meister stillschweigend zugehört. Sie denkt an all die Prüfungen zurück, die sie durchstehen musste, um als Ärztin anerkannt zu werden. Ihr Name Alfaquin, den sie zwar mit Stolz trägt, ist ihr oft eine Last gewesen, öffnete er ihr doch zu leicht Türen, die sie gern allein durch ihr Talent aufgestoßen hätte. Und auch wenn sie weiß, dass das Vertrauen ihres Meisters sich allein auf ihre Fähigkeiten stützt, ist sie sich darüber im Klaren, dass es noch eine Person zu überzeugen gilt: ihren eigenen Vater. Abraham Alfaquin sieht noch immer in seiner Tochter eine junge Frau, die der Pflicht, sich einen Ehemann zu nehmen und eine Familie zu gründen, nicht entkommt, selbst wenn das ihrer Berufung zur Ärztin zuwiderlaufen sollte. »Was dich betrifft«, fährt der Medizinmeister fort und wendet sich an Roscelin, dessen Reittier sich rechts neben ihm befindet, »ich kenne dich, ehrlich gesagt, recht wenig, da du ja erst vor zwei Tagen in Sevilla angekommen bist. Trotzdem hast du nicht gezögert, einen großen Teil Europas zu durchqueren, um die Medizin hier in Andalusien zu studieren, wo sich die medizinischen Kenntnisse dank unserer Über57
setzer jeden Tag um das Wissen der Alten erweitern. Deine Entschlossenheit ist daher groß, und das ist eine Eigenschaft, die man niemals vernachlässigen sollte. Es stimmt zwar, dass du bei der Arbeit an dem Körper, den wir gestern im Studium Generale seziert haben, in Ohnmacht gefallen bist, aber mir ist nicht entgangen, dass du das Bewusstsein verloren hast, nachdem und nicht bevor du die letzte Naht beendet hast, was meines Erachtens einen sehr großen Unterschied macht. Was mich dazu geführt hat, mich an dich zu wenden, ist eine Intuition, die mir sagt, dass du, genau wie Sarah, neue Wege in der Heilkunst suchst. Es genügt festzustellen, in welchen Zustand dich der einfache Anblick von Blut versetzt, um zu verstehen, dass du kein Chirurg, ja noch nicht einmal ein herkömmlicher Arzt werden willst.« In diesem Augenblick erblicken die drei Reiter vor ihnen die Mauern von Sanlúcar la Mayor. Während er mit dem Handrücken seinen Kaftan von dem rötlichen Staub befreit, der sich während der Reise angesammelt hat, sagt Harmad Ibn Akzar abschließend: »Wir werden später weiter darüber reden, denn wir sind nun bald an unserem Ziel angelangt. Wir haben eine Verabredung mit der Leiche eines sevillanischen Kaufmannes und auch mit dem Einsiedler, der ihn hat sterben sehen. Alle beide können uns bestimmt viel beibringen.«
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s ist fast Mittag, als die Reiter das Dorf Sanlúcar la Mayor erreichen. Harmad Ibn Akzar, der voranreitet, zeigt seinen beiden Schülern eine Apothekenoffizin in einem weißgekalkten Stampfbau. »Nach den Angaben des jungen Aguirre werden wir hier erwartet.« Nachdem sie abgestiegen sind und ihre Pferde angebunden haben, stoßen die drei Besucher die Ladentür auf und betreten einen dunklen Raum, in dem Hunderte von Töpfen und Gefäßen eingelagert sind, auf denen man den Namen ihres Inhaltes lesen kann. Neben zahlreichen Suden aus den gebräuchlichsten Pflanzen befinden sich auch Akelei, Veronika, Kleines Habichtskraut, Odermennig oder auch Kantharidenpulver und Auszüge aus dem Amberbaum und Myrrhe im Sortiment. Sobald sich die Augen des Medizinmeisters und seiner beiden Schüler an die Dunkelheit des Ortes gewöhnt haben, erkennen sie die magere Gestalt des Apothekers, der aus dem hinteren Teil des Ladens auf sie zukommt und fragt: »Ihr seid, nehme ich an, die Boten des Königs, die gekommen sind, um die Leiche zu untersuchen, die im Keller unter meiner Offizin liegt?« »Ihr nehmt richtig an«, antwortet Meister Akzar schlicht. »Ihr kommt nicht zu früh«, fährt der Mann fort und stößt einen langen Seufzer der Erleichterung aus. »Es ist nun schon vier lange Tage her, dass uns dieser Körper hergebracht wurde, und ich verberge Ihnen nicht meine Ungeduld, ihn verschwinden zu sehen, ihn und die Fliegen, die ihn umgeben.« »In diesem Fall – verlieren wir keine Zeit«, sagt der Medizinmeister. Der Apotheker führt die drei Besucher zu einer schmalen Treppe, die in einen Keller führt, in dessen Mitte ein verwesender Körper auf 59
einem Tisch liegt. In diesem Moment taucht ein alter Mann hinter ihnen auf. Er bewegt sich nur in kleinen Schritten vorwärts, seine Gesichtsfarbe ist blass, und seine Hände werden permanent von einem leichten Zittern geschüttelt. »Ah, da seid Ihr endlich«, sagt er atemlos, »ich bin es, der den Körper in den Bergen entdeckt hat, und ich habe den Befehl erhalten, bis zu Eurer Ankunft hier zu warten.« »Der Weg über die Sierra war lang. Erzählt uns doch von den Umständen seines Todes«, bittet Harmad Ibn Akzar. »Als ich den Mann entdeckt habe, wie er seinem Pferd zu Füßen lag, war er gesundheitlich bereits schwer angeschlagen, und ich habe nichts tun können, um ihn zu retten.« »War sein Fieber sehr hoch?« »Ja, er brannte«, antwortet der Einsiedler und unterstreicht seine Antwort mit einer Grimasse, »und seine Haut war von eitrigen Rötungen bedeckt.« »Hat er etwas gesagt, bevor er starb?« Diese Frage scheint dem alten Mann unangenehm zu sein. Er atmet tief ein, dann blickt er Sarah, Roscelin und ihren Professor nacheinander an und sagt: »Er hat vor dem Dahinscheiden zu mir gesprochen, aber ich bin ein Mann Gottes, und auch wenn seine Sätze aufgrund des Fiebers mehr Wortverirrungen ähnelten als einer wirklichen Beichte, habe ich nicht das Recht, Euch ihren Inhalt mitzuteilen. Der Sterbende hat allerdings vor seiner Beichte in seinem Delirium eine Anspielung gemacht auf die Rache zweier Männer, die vor fünfzehn Jahren im Meer umgekommen sind. Sie sind es, denen er das Leiden zuspricht, von dem er befallen war.« Nach diesen Worten streicht sich Harmad Ibn Akzar langsam über den Bart, dann wiederholt er die Worte des Einsiedlers, als wolle er sie sich besser einprägen: »… die Rache zweier Männer, die im Meer umgekommen sind …« Währenddessen führt Roscelin hinter ihm ein Taschentuch zum Mund, wendet den Blick ab und entfernt sich unmerklich von der Leiche auf dem Tisch. Der alte Einsiedler bricht bald darauf das Schwei60
gen und fragt mit keuchender Stimme verhalten: »Nun, da Ihr mich angehört habt, und bevor ich in meine Berge zurückkehre, wollte ich Euch, wenn Ihr Arzt seid, um einen Gefallen bitten.« »Ich höre«, antwortet Meister Akzar, noch in Gedanken versunken. »Nun ja, könntet Ihr mir sagen, ob dieser Mann Euch zufolge sein Übel auf mich übertragen konnte? Sein Leiden war derart, dass ich mich gern, wenn möglich, vor diesem schrecklichen Fieber bewahren möchte.« Harmad Ibn Akzar denkt einen kurzen Augenblick nach, bevor er antwortet: »Ich würde Euch gerne beruhigen können, aber im Moment weiß ich noch nichts über diese Krankheit und kann Euch daher nicht sagen, ob sie auf Euch übertragen wurde. Und sollte das der Fall sein, weiß ich nicht, ob ich das Erscheinen der ersten Symptome verhindern könnte.« Der alte Mann wird noch blasser. Es fällt ihm immer schwerer, das Zittern seiner Hände zu kontrollieren. Er ist von Panik ergriffen, und seine Stimme fängt an, sich zu überschlagen: »Versteht wohl, dass ich … ich … in keiner Weise den Tod fürchte … Ich bin ein alter Mann Gottes, und ich habe mich schon vor recht langer Zeit darauf vorbereitet. Aber … aber diese Krankheit war so schrecklich … so schrecklich …« In diesem Augenblick wittert Roscelin die Gelegenheit, den Keller mit seinem Gestank nach der Leiche zu verlassen, und sagt: »Erlaubt mir, Meister Akzar, mich mit diesem alten Mann zurückzuziehen, während Ihr die Leiche untersucht. Es wäre für unsere Untersuchung bestimmt sehr nützlich, zu prüfen, ob das Übel in ihn eingedrungen ist. In jenem Fall hätte ich in meinem Beutel etwas, das für immer verhindert, dass er daran zu leiden hat.« Bei diesen Worten fasst der Einsiedler Vertrauen. Er sieht Meister Akzar kurz an und bemerkt, wie sich ein feines Lächeln auf seinen Lippen abzeichnet: »Untersuche diesen Mann, und, falls es sich als notwendig erweist, behandle ihn. Was uns betrifft, Sarah, wir werden uns um die Leiche des sevillanischen Kaufmannes kümmern und versuchen, dem Leiden, das ihn dahingerafft hat, einen Namen zu geben.« Ohne einen Augenblick zu verlieren entfernt sich Roscelin mit seinem Patienten und bittet den Herrn des Hauses, den er in seiner Offi61
zin vorfindet, ihm einen ruhigen Raum zu zeigen, wo er nicht gestört würde. Währenddessen haben sich der Medizinmeister und seine junge Schülerin dem Tisch genähert, auf dem der Körper ruht. Dann legen sie sämtliche Arten von Instrumenten aus Silber bereit, von denen sie abwechselnd Gebrauch machen, um die infizierte Haut abzulösen und die von der Krankheit verursachten Wunden zu analysieren. Sarahs Hand zittert nicht. Ihr Herz hat sich schon vor langer Zeit verhärtet, und sie hat am Ende eines heftigen Kampfes gegen sich selbst gelernt, den Anblick und den Geruch des Todes zu ertragen. Sie war erst fünfzehn Jahre alt, als sie das erste Mal ihren Vaters heimlich beobachtet hatte, welcher mit Hilfe einer Säge das verletzte Bein eines Kindes entzweigeschnitten hatte, das den ganzen Körper zu infizieren drohte, bevor er mit rotglühendem Eisen das so freigelegte blutige Fleisch verbrannte. Schmerzen und Zittern hatten sich damals ihres Körpers bemächtigt, als wäre die Säge an jenem Tag in sie selbst eingedrungen und als wäre es ihr eigenes Blut, das sie auf den Boden zu Füßen ihres Vaters hatte fließen sehen. Aber der Wille des jungen Mädchens war stärker gewesen, und sie hatte nie aufgehört, zu beobachten. Meistens hatte sie sich dabei hinter einer Tür versteckt oder die Lakenteile zur Seite geschoben, die um ein Bett aufgehängt worden waren; hatte jene Körper betrachtet, in welche die scharfen Klingen ihres Vaters und seiner Assistenten eindrangen, um unbekannte Organe zu Tage zu führen. Dem Tod hatte sie sich schon recht oft angenähert, ihn sogar berührt, wenn sie den Operationssaal betrat, sobald die Ärzte gegangen waren, und sich gezwungen, die Hand auf jene Körper zu legen, die das Leben verlassen hatte. Ich werde Ärztin sein, hatte sie oft in Gedanken wiederholt, um sich Mut zu machen, ich werde das tun, was der Sohn getan hätte, den mein Vater nie gehabt hat. Heute hat sie diesen Kampf gegen ihre Angst gewonnen. Ich habe das Ziel erreicht, das ich mir gesetzt hatte, denkt sie. Nur mein Vater scheint es noch nicht zu wissen und erinnert mich ständig an die Pflichten meines Alters. 62
»Schau, Sarah«, sagt Harmad Ibn Akzar, »die Infektion hat sich nicht auf den äußeren Teil der Haut beschränkt, sie hat sich auch in tieferen Schichten ausgebreitet, die natürlich reich sind an Fettgewebe. Dir wird auch auffallen, dass diese abgestorbenen Zonen, die sich vor einigen Tagen noch als rote, schillernde Flächen gezeigt haben, zunächst die Beine bedeckt haben, um anschließend das Gesicht zu erreichen, wobei der Rumpf und die oberen Glieder jedoch ausgespart wurden.« »Und was schließt Ihr daraus?«, fragt Sarah, als sie ihre Instrumente zurücklegt. »Daraus schließe ich«, antwortet der Professor, »dass kein Zweifel darin besteht, dass dieser Mann einer Hauterkrankung zum Opfer gefallen ist, die seinerzeit von den griechischen Ärzten mit dem Namen erusipelas bezeichnet wurde – im Okzident bekannter unter dem Namen Sankt-Sylvester-Feuer – und die Ibn an-Khatif, der Arzt von Granada, als Infektionskrankheit erkannt und klassifiziert hat.« »Aber jenes Leiden«, wundert sich die junge Frau, »ist doch in keiner Weise ansteckend. Wie kommt es, dass mehrere Männer dieselbe Erkrankung aufwiesen?« »Da das Sankt-Sylvester-Feuer in der Tat weder durch Körperkontakt noch durch die Atemwege übertragen wird, müssen wir noch herausfinden, wie das Leiden in diesen Mann eingedrungen ist.« Dann beugt sich Meister Akzar erneut über den Körper und bittet seine junge Schülerin, ihm bei der Untersuchung jeder Parzelle der Haut behilflich zu sein, auf der Suche nach einem Anzeichen, welches das Auftreten der Krankheit erklären würde. »Da haben wir's«, sagt Sarah kurz darauf und zeigt mit dem Finger auf die Schultern der Leiche, »seht Euch diese feinen Einschnitte an, die von leichten Hautverdickungen umrandet werden. Hier ist bestimmt das Leiden eingedrungen.« »Das ist in der Tat sehr wahrscheinlich«, antwortet Harmad Ibn Akzar und richtet den leblosen Körper auf, um den Rücken genauer zu untersuchen. »Ich frage mich, wer diesem Mann wohl derartige Verletzungen zufügen konnte. Und wie haben diese Wunden sich anschließend infizieren können?« 63
Nach einem kurzen Moment der Überlegung legt der Medizinmeister die Leiche wieder auf den Rücken, bedeckt sie vollständig mit einem großen, weißen Laken und wendet sich der Treppe zu, während er Sarah ein Zeichen gibt, ihm zu folgen: »Dieser Mann war viel sagend genug, es ist höchste Zeit, nach Sevilla zurückzukehren. Dieser Kaufmann war das fünfte Opfer des Leidens, und etwas sagt mir, dass unter seinen Kollegen innerhalb kurzer Zeit neue Fälle ausbrechen könnten.«
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ährenddessen wird Roscelin in einen großen Raum geführt, der nur von einem Fenster erhellt wird, das auf die Hauptstraße hinausgeht. Er gibt dem Einsiedler ein Zeichen, sich zu setzen, bringt dann seinen Gastgeber zur Tür, bevor er diese sorgfältig hinter sich schließt. Der junge Franzose legt einen Finger an die Lippen und bittet seinen Patienten, still zu bleiben. Dann geht er auf das Fenster zu und schließt die Läden. Anschließend durchquert er einmal stumm den Raum, um sich zu versichern, dass es keinen versteckten Eingang gibt, geht dann auf Zehenspitzen zur Tür, legt sein Ohr an das Holz und öffnet sie unvermittelt, um einen vermeintlichen Spion zu überraschen, der sich eventuell dahinter aufhalten könnte. Als er niemanden vorfindet, schließt er zufrieden die Tür, dreht den Schlüssel einmal im Schloss und nähert sich dann seinem Patienten. Er atmet tief ein, dreht sich ein letztes Mal um, um sicher zu sein, dass niemand sonst hören kann, was er sagen wird, und fragt dann sein Gegenüber flüsternd: »Habt Ihr schon einmal von panacea gehört?« Der alte Einsiedler ist durch das Verhalten des französischen Arztes neugierig geworden, aber er hat die zu leise formulierte Frage nicht verstanden. Als er ihn bittet, sie doch zu wiederholen, scheint Roscelin verärgert, doch er tut, worum der Alte ihn bittet, während er verstohlene Blicke um sich wirft: »Kennt Ihr den Namen panacea?« »Nein«, antwortet der alte Mann schlicht und fixiert das Gesicht des Arztes in Erwartung auf eine Erklärung. »Nun, dann solltet Ihr wissen«, fährt Roscelin mit leiser Stimme fort, »dass in der griechischen Mythologie Äskulap, der Gott der Medizin, eine Tochter mit Namen Panacea hatte, die selbst Göttin der Heilkunst 65
war und ein Mittel besaß, das in der Lage war, sämtliche Krankheiten zu heilen. Aber glaubt bloß nicht, dass dieses Präparat, das in der antiken Welt unter dem Namen ›Pulver der Panacea‹ bekannt war, nur eine Legende sei. Ganz im Gegenteil. Vor sehr langer Zeit wurde ein persischer Apotheker, der nach Jahren der Forschung diese Formel wiedergefunden hatte, sehr schnell der reichste Mann der Welt. Der König von Persien drohte von einem Fieber dahingerafft zu werden, das sein ganzes Königreich heimsuchte, und so ließ er zur Stunde den Apotheker an sein Bett rufen und wurde sofort von jenem rätselhaften Pulver geheilt. Im Gegenzug schenkte er ihm einen Großteil seines Schatzes. Von diesem Moment an dauerte es nicht lange, bis die Geschichte vom Pulver der Panacea auf allen Kontinenten verbreitet war. Man sprach darüber am Hofe der Könige von China, in Anatolien, in Babylon, dann in Ägypten, wo die großen Ärzte aus Crocodilopolis, Elephantine und dem göttlichen Theben sich versammelten und versuchten, sein Geheimnis zu ergründen. Niemand aber konnte das wertvolle Präparat herstellen, und allein die größten Monarchen der Welt besaßen genug Reichtum, um einige Beutel davon aus Persien kommen zu lassen. Dies ist der Grund, warum jenes Mittel, das in der Lage ist, alle Krankheiten zu heilen, heimlich unter dem Namen Pulver der Könige bekannt ist.« Roscelin unterbricht sich und lauscht, um sicherzugehen, dass sich niemand dem Zimmer nähert, dann drückt er seinen Beutel an sich und fährt flüsternd fort: »Jahrhundertelang hatte man unglücklicherweise die Spur dieses wertvollen Pulvers verloren. Trotzdem gründeten Gelehrte und Übersetzer antiker Texte vor vierhundert Jahren in Salerno eine Medizinschule, welche die alte Formel dieses Präparats wiederfinden sollte. Nach mehreren Jahrzehnten der Forschung gelang es schließlich einem Arzt, der unter dem Namen Mathaeus Platearius bekannt und angeblich der Autor des Liber de simplici mediana ist, das Geheimnis zu ergründen. Er wurde prompt an die Höfe der mächtigsten Könige gerufen und verkaufte dort sein Pulver, das ewige Gesundheit garantierte, zu Goldpreisen. Jahrhunderte später bauten Ritter des Johanniterordens, die sich sowohl durch Intrige als auch Kampf der 66
Formel bemächtigt hatten, wahre Festungen, um das Geheimnis für sich zu bewahren. Danach haben die Sultane von Ägypten und Syrien ganze Armeen aufgestellt, gefolgt von dem Kurden Saladin und den Herrschern von Galiläa und Tiberias; sie alle versuchten vergeblich, sich der Formel zu bemächtigen. Man erzählt sich sogar, dass der Leprakönig Balduin IV. seine eigene Krone Raimund von Tripolis gegen einen einzigen Beutel des Pulvers angeboten hat, das ihn für immer von seiner Krankheit befreit hätte. Aber alle Bemühungen waren vergeblich, denn das Geheimnis des Heilpräparats war bereits in den Okzident zurückgekehrt. Lange Zeit glaubte man, es sei das Eigentum Friedrich Barbarossas, dann König Konrads IV. gewesen, aber das sind vielleicht nur Gerüchte. In unserem Jahr 1265 existiert nur noch eine einzige Kiste mit dem Pulver der Könige, und diese befindet sich im Tresorraum eines Schlosses im Königreich Frankreich, was bedeutet, dass sie das Eigentum Ludwigs IX. ist. Trotz seiner zahlreichen Eroberungen im Orient, trotz der Epidemien, die den Großteil seiner nahen Verwandten dahinrafften, und trotz seiner Gefangenschaft nach der Schlacht von Mansura regiert der Sohn von Ludwig VIII. und Blanka von Kastilien seit vierzig langen Jahren, ohne jemals an dem geringsten Übel zu leiden. Was beweist, dass er das wertvollste aller Heilmittel besitzt.« Der Einsiedler hat Roscelins Rede aufmerksam verfolgt, denn nie zuvor hatte er vom Pulver der Könige reden hören. Trotzdem fragt er sich, aus welchem Grund der junge Mann ihn in diesem abgeschlossenen Raum geführt und ihm eine solche Geschichte erzählt hat. Die beiden Männer sitzen einander gegenüber, schweigen und beobachten sich. Nach einer Weile legt der junge Franzose erneut einen Finger an die Lippen und öffnet anschließend mit größter Vorsicht seine Tasche. Als er seine Hand hineinschiebt, murmelt er: »Ich habe Euch angelogen, als ich Euch sagte, dass nur Ludwig IX. das Pulver der Könige besitzt. Während meiner Lehre bei den größten Ärzten des Königreichs Frankreich habe ich mir unter Einsatz meines Lebens das Geheimnis der Formel beschaffen können.« Nun zieht Roscelin langsam seinen Arm aus der Tiefe seiner Tasche hervor und hält seine Faust geschlossen unter die Augen seines Pa67
tienten. Dann löst er seine Finger einen nach dem anderen und lässt schließlich einen kleinen Lederbeutel, der mit einer Kordel verschlossen ist, in seiner Handfläche zum Vorschein kommen. »Hier ist nun das einzige Mittel der Welt, das für immer Euer Leiden heilt und auch allen zukünftigen Leiden vorbeugt.« Auch nachdem er mehrere Male trocken geschluckt hat, ist der Einsiedler vollkommen sprachlos. Daraufhin ergreift der französische Arzt die Hand seines Patienten und legt den Beutel hinein. »Löst dies in ein wenig Wasser auf und schluckt es in einem Zug hinunter. Aber gebt Acht, sein Geschmack ist der abscheulichste schlechthin. Sobald dieses Pulver Eure Zunge berührt, werdet Ihr sogar den Eindruck haben, Feuer zu schlucken. Diese Unannehmlichkeit wird sich vermindern, und das Heilmittel wird in Eurem Körper seine wundersame Wirkung tun. Im Gegenzug verlange ich von Euch für diesen Beutel nur eine Sache: Stillschweigen. Sprecht mit niemandem über dieses Geheimnis, oder mein Leben wäre sofort in Gefahr gebracht. Ich werde nun diesen Raum verlassen. Wenn ich die Schwelle überschritten habe, werdet Ihr das Pulver der Könige schlucken, dann werdet Ihr in Eure Berge zurückkehren und für immer von jeglicher Krankheitsgefahr befreit sein.«
Als er aus der Offizin tritt, trifft Roscelin auf Sarah und Harmad Ibn Akzar, die neben ihren Pferden warten. Einen Augenblick später sehen die drei, wie der Einsiedler ebenfalls den Laden des Apothekers verlässt. Der alte Mann lächelt, und sein Gesicht ist entspannt, als er mit kräftiger und sicherer Stimme die drei Besucher grüßt, bevor er festen Schrittes die Richtung der Berge einschlägt. »Als er mit dir fortgegangen ist, damit du ihn untersuchst«, wendet sich Sarah an Roscelin, »schritt dieser Greis gemessen einher, seine Gesichtsfarbe war blass, seine Hände zitterten, und alles an ihm verriet Ängstlichkeit. Und nun haben wir gerade einen verjüngten Mann voller Lebendigkeit gesehen. Was ist der Grund für eine solche Verwandlung?« 68
»Ich habe dir bereits zweimal davon erzählt«, sagt der junge Franzose, während er auf sein Pferd steigt. »Ein einfacher Beutel mit dem Pulver der Könige hat mir gereicht!«
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aleo ist nun schon seit zwei Tagen und Nächten nicht wieder zu Bewusstsein gekommen. Im Schlaf ruft er laut nach seinem Vater und seiner Mutter, während sein schweißgebadeter Körper von nervösen Krämpfen geschüttelt wird. Von Zeit zu Zeit führt Pater Johannus van Neesroy, der dem Jungen seit dem Tod seiner Eltern nicht mehr von der Seite gewichen ist, ihm einen Becher Wasser an die Lippen. Galeo trinkt dann einige Schlucke und lässt seinen Kopf wieder nach hinten fallen, ohne aufzuwachen. Erst als sich bei Anbruch des vierten Juni mit den ersten Sonnenstrahlen große Aufregung an Bord breit macht, wird der Junge aus dem Schlaf gerissen. Ein Matrose kündigt lauthals von der Rahe des Großmasts, auf die er geklettert ist, die Rückkehr des Windes an. Sofort werden Manöverbefehle gerufen, was die Passagiere aufweckt. Alle stoßen Freudenschreie aus. Das Schiff, das seit mehr als zehn Tagen stillstand, wird endlich auf die Weiterfahrt vorbereitet. Das Focksegel flattert zuerst unter der Wirkung einer kräftigen Südböe, dann bläht sich das Großsegel voll auf und das Schiff neigt sich im Wind auf die Seite. Die Wanten spannen eine nach der anderen, während die Masten und Rahen wieder zu knarren beginnen. Die Brise ist anhaltend, und der Schiffsrumpf zieht erneut eine tiefe Furche durch die weiße Gischt. Galeo hat soeben die Augen halb geöffnet und fragt, was geschieht. Der Pilger antwortet ihm, dass das Schiff endlich wieder seine Fahrt aufnimmt und dass der Steuermann vorhat, Akkon direkt anzusteuern, ohne auf Sizilien oder Zypern Halt zu machen, um die verlorene Zeit aufzuholen und den Wind zu nutzen. 70
»Was wird aus mir werden, sobald wir im Orient angekommen sind?«, fragt der Junge. »Ich werde über dich wachen, wie ich es deiner Mutter versprochen habe. Ich werde dich zu einem Weber in die Lehre geben, es sei denn, du möchtest dich lieber den Studien widmen. In diesem Fall werde ich dir die besten Werke über Astronomie, Mathematik und Poesie besorgen, und ich werde dafür sorgen, dass du die größten Gelehrten aus Akkon und Jerusalem triffst.« »Pater van Neesroy«, antwortet Galeo nach einem Moment des Schweigens, »ich möchte Arzt werden, um nie wieder Männer und Frauen leiden zu sehen.« »Wenn dies dein Wunsch ist, werde ich dir helfen. Ich werde dich alles lehren, was ich bei meinen weiten Reisen gelernt habe, und wenn mein Wissen nicht mehr ausreicht, wirst du Schüler der renommiertesten Ärzte des Orients werden.« Galeos Gesicht aber verfinstert sich. Er dreht sich um und beobachtet die kleine Gruppe von acht Passagieren, die auf dem Deck steht, einen Weinkrug untereinander kreisen lässt und so die Rückkehr des Windes feiert. Dann sagt er: »Sobald ich ein Mann bin, werde ich diese acht Kaufmänner einen nach dem anderen sterben sehen!« Johannus van Neesroy legt ihm eine Hand auf die Schulter: »Vor einem Augenblick noch wolltest du Arzt werden, um deinesgleichen zu behandeln, und jetzt willst du sie sterben sehen. Es ist allerdings nicht an dir, die Menschen zu verurteilen oder zu verdammen.«
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er Südwind hat sich im Laufe der weiteren Seereise nach Westen gedreht, und so gelang es der Mannschaft, die Zeit aufzuholen, die wegen der Windstille zwischen Sizilien und dem Emirat Tunis verloren gegangen war. Nachdem das Schiff die Küste von Kreta und bald darauf auch Zypern passiert hat, bereitet sich die Mannschaft schließlich bei gespannten Segeln darauf vor, gegen Mitte des Tages im Hafen von Akkon vor Anker zu gehen. Seit dem Morgengrauen sind alle Passagiere an Deck. Nach einem Monat auf dem Meer können sie es kaum mehr erwarten, den Fuß aufs Festland zu setzen. Die Umrisse der Stadt, die bis dahin nur ein kleiner Fleck zwischen Meer und Wüste waren, zeichnen sich nun deutlicher ab. Die Mannschaft hat eine Hand an die Augen gelegt, um sie vor der aufgehenden Sonne zu schützen. Jetzt erkennen sie die gezackte Linie, die die Stadtmauern bilden, sowie das imposante palatum der Templer, das wichtigste Bauwerk der Stadt. Zu dieser Stunde erscheinen die ersten Segel der Schiffe, die den Hafen verlassen. Da sind mehr als vierzig Ellen lange arabische Boutren, die leicht an ihren geraden Vordersteven zu erkennen sind und dank ihrer dreieckigen Segel gegen den Wind steuern können, sowie genuesische, venezianische und pisanische Schiffe, die schwer bewaffnet sind, um den in der Adria kreuzenden Barbarenschiffen die Stirn bieten zu können. Kurz vor Mittag lenkt der Steuermann den Bug des Schiffes nur noch mit Hilfe des Focksegels zwischen die beiden Türme hindurch, welche die Hafeneinfahrt markieren. Die gewaltige Kette, die dazwischen gespannt ist, wird nun von den Zollbeamten gelockert und nach 72
der Durchfahrt des Schiffes wieder hochgezogen, um auf diese Weise sämtliche Ein- und Ausfahrten von Akkon zu kontrollieren. Als das Schiff am Kai liegt, steigen zwei Gebühreneintreiber an Bord, um eine Silbermark einzufordern, die der Ankergebühr entspricht. Anschließend müssen alle Passagiere eine Hafengebühr entrichten, um von Bord gehen zu können. Die reichen sevillanischen Kaufmänner betreten als Erste den Landungssteg, nachdem sie die Steuer bezahlt haben. An Land werden sie sofort von einer lärmenden Menge überfallen. Da sind Bettler, Lastenträger, die ihre Dienste anbieten, und Verkäufer religiöser Gegenstände, die eine große Auswahl an Reliquien, Statuetten oder Zinnphiolen mit heiligen Ölen vor ihnen ausbreiten. Galeo, der noch an Deck geblieben ist, lässt die acht sevillanischen Kaufmänner nicht aus den Augen. Er will sich das Gesicht eines jeden für immer einprägen, bevor sie in der Menge verschwinden. Als er sieht, wie sie sich um einen der Wanderverkäufer im Hafen drängen, dreht er sich zu Johannus van Neesroy um und fragt, was die Kaufleute gerade im Begriff sind zu erwerben. »Sie kaufen sich Ablassbriefe«, antwortet der Pilger und verzieht missbilligend das Gesicht. »Sie glauben, sich auf diese Weise günstig Gottes Vergebung für das zu erkaufen, was sie während der Überfahrt getan haben.« Nachdem sie wieder festen Boden unter den Füßen haben, begeben sich Galeo und Pater van Neesroy zum Herzen der Stadt. Auch sie werden von Bettlern und Verkäufern religiöser Objekte umringt, hinzu kommen falsche Gebühreneintreiber, die ununterbrochen Steuergelder von ihnen fordern, die offensichtlich ihrer eigenen Vorstellungskraft entspringen. Die Schritte des Pilgers und des Jungen führen sie alsbald zum Markt von Foundouk, wo Stoffe aus Damaskus und chinesisches Porzellan ausliegen und wo die Menschen Preise aushandeln und sich in allen Sprachen der Erde zanken. Die Menge, die sich um die beiden drängt, und das stete Stimmengewirr dieser Stadt, in der man alles kaufen und verkaufen kann, machen Galeo schwindelig, und er weicht dem Priester nicht mehr von den Fersen. Als sie den Getreidemarkt erreichen, drängt er sich an Vermessern, Schreibern und Wasserträgern 73
vorbei, die sich unter dem Gewicht ihrer Schläuche aus Ziegenleder beugen, geht anschließend an Weberläden vorbei, die ihn an den seiner Eltern in Sevilla erinnern, bevor er zum ersten Mal Färbereiwerkstätten entdeckt, aus denen ein dicker, violetter Rauch kommt, der ihn sofort zum Husten bringt. Im Inneren stampfen Frauen Kräuter und Pflanzen, bevor sie sie in heißem Wasser auflösen, um daraus die Substanz verschiedener Farben zu gewinnen – Gelb aus Reseda und Blau aus Färberwaid. Ihm fallen Kinder seines Alters auf, die durch das Färben des Naturleinens, das in ganzen Schiffsladungen hierher befördert wird, von Purpur überzogene Händen und Füße haben. Nachdem sie das venezianische, französische, portugiesische, spanische und byzantinische Viertel durchquert haben, sieht Galeo, wie sich Pater van Neesroy einem gewaltigen Bauwerk aus schwarzen Steinen von mehr als zwanzig Metern Höhe nähert. An jeder Ecke ragen imposante, gezackte Türme hervor, die von massiven Pfeilern gestützt werden und die einen mit Schießscharten durchsetzten Bergfried in der Mitte schützen. »Was ist das für ein Schloss?«, fragt Galeo. »Die Komturei von Karjik. Hier werden wir wohnen. Ich werde dafür sorgen, dass es dir an nichts fehlt. Ich habe seinerzeit den Komtur, der diese Festung leitet, gut gekannt, er ist ein Mann des Vertrauens. Ein Zimmer wird dir zur Verfügung gestellt, und du wirst dort täglich drei Mahlzeiten einnehmen.« »Kann ich dort auch studieren?« »Du wirst hier alles finden, was du brauchst. Ein ganzes Leben würde nicht ausreichen, um sämtliche Bücher zu lesen, die sich hinter diesen Mauern befinden. Ich werde dich sofort morgen früh hinführen, und wir werden anfangen, gemeinsam zu arbeiten, damit du eines Tages Arzt werden kannst.«
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armad Ibn Akzar und seine beiden Schüler reiten gerade nach Sevilla zurück, als Sarah am Ausläufer eines Olivenhains ihren Medizinmeister fragt: »Meister Akzar, warum habt Ihr gesagt, dass andere Kaufleute sich ebenfalls sehr bald dasselbe Leiden zuziehen könnten?« »Das ist im Augenblick nur eine Eingebung, aber bemühen wir uns, darüber nachzudenken, indem wir auf diese einfache Frage antworten: Woher kommen die Krankheiten den Menschen zufolge?« »Dem Alten Testament nach«, antwortet die junge Frau nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens, »ist das Auftreten des Leidens im Körper des Mannes und der Frau allein Gottes Wille.« »Im Christentum«, fährt Roscelin fort, »wird die Krankheit als eine göttliche Strafe angesehen, die sich auf den Sünder niederschlägt.« »Und was denkt ihr als Ärzte über diese Gründe?«, fragt Harmad Ibn Akzar. »Ich denke«, antwortet Sarah, »dass man beim Studium der Medizin – wie es der große Gelehrte Moses Maimonides sein ganzes Leben lang betont hat – manchmal in der Lage sein muss, von der Theologie abzuweichen.« »Ich glaube auch«, fährt Roscelin fort, »dass die Gründe für das Auftreten der Krankheit woanders zu suchen sind als in der Absicht Gottes. Denn bevor auch ich die Abhandlungen des Maimonides entdeckte, habe ich einige Menschen getroffen, die von morgens bis abends – wenn es nicht gar von abends bis morgens war – fluchten und Gott lästerten, oder andere, die weit davon entfernt waren, vor der täglichen Begehung der Todsünden Halt zu machen, die sogar Vergewaltigun75
gen und Morde begingen, und die sich alle einer solideren Gesundheit erfreuten als viele Asketen. Ich glaube daher sagen zu können, dass wir bei der Entstehung der Krankheit, wenn wir die natürliche, toxische oder geistige Dimension voneinander unterscheiden, den göttlichen Einfluss ausschließen können.« »Sehr gut, sehr gut«, antwortet Meister Akzar. »Daraus schließen wir, dass weder du noch ich glauben, dass die Krankheit eine Strafe ist, die man erhält, um eine Sünde zu büßen. Was zählt, ist, dass eine große Anzahl der Kranken vom Gegenteil überzeugt ist. Erinnert euch an die letzten Worte des sevillanischen Kaufmannes, die uns der alte Einsiedler zitiert hat. Jener Kranke sprach das Fieber, das ihn dahinraffen sollte, einem Vergehen zu, das fünfzehn Jahre zuvor begangen worden war. Anscheinend hat er sogar auf die Rache zweier Männer angespielt, die damals im Meer umgekommen sind. Wenn also keiner von uns an eine Strafe des Himmels glaubt, dann sollten wir bei der Vorstellung, dass die Toten zu den reichen Kaufleuten Sevillas zurückkehren, ebenfalls skeptisch sein.« »Und daraus schließt Ihr …?«, fragt Roscelin. »Wenn man einerseits die Tatsache berücksichtigt, dass es für den Vollzug einer Rache vorzuziehen ist, am Leben anstatt tot zu sein, und andererseits, dass die infizierten Wunden auf den Schultern des letzten Opfers keine natürliche Ursache haben, schließe ich daraus, dass der Verantwortliche für das Leiden, das diese Männer dahinrafft, sehr wahrscheinlich ein Wesen aus Fleisch und Blut ist.« »Sollten wir es also mit einer Reihe von Morden zu tun haben?«, fragt Sarah. »Ich bin mir dessen bereits sicher«, erklärt Harmad Ibn Akzar. »Im Übrigen muss der Mörder über sehr beachtliche medizinische Kenntnisse verfügen, denn auch wenn das Heilen einer Krankheit oft nicht einfach ist, so ist es sicherlich auch nicht leichter, sie jemandem beizubringen.« »Und was können wir tun, um die anderen Kaufmänner vor diesem Leiden zu retten?«, fragt Roscelin. »Erinnere dich an die ersten Worte des Medizingedichts von Avicenna: ›Die Medizin ist die Kunst der Erhaltung der Gesundheit und 76
eventuell der Heilung der im Körper aufgetretenen Krankheit.‹ Für ihn war es also wichtiger, dem Leiden vorzubeugen, als es zu heilen. Wenden wir nun dieses hervorragende Prinzip auf unsere Untersuchung an. Das Sankt-Sylvester-Feuer ist in der Tat furchterregend und recht schwierig zu behandeln. Wenn wir uns daher damit begnügen, darauf zu warten, dass unsere nächsten Kranken zu uns kommen, wird es wahrscheinlich zu spät sein, um sie zu retten. Lassen wir uns in einem Gasthaus mitten im Kaufmannsviertel von Sevilla nieder und bieten wir morgen früh der Bevölkerung kostenlose Sprechstunden an. Wir werden so versuchen, die nächsten Opfer zu identifizieren, bevor sie dem Fieber ausgesetzt werden. Wir werden die Patienten, die bei uns vorstellig werden, untersuchen und behandeln, dann werden wir sie zum Reden bringen, wir werden ihre Frauen und Kinder befragen und auch versuchen, zu erfahren, was die fünf Kaufmänner, die durch dieses Leiden umgekommen sind, gemeinsam hatten.«
Den ganzen Tag sind wir nach Westen marschiert. Dann haben wir unser Lager aufgeschlagen, ganz in der Nähe eines ausgetrockneten, sandigen Wadis, das in den kommenden Wochen dank der ersten Herbstschauer anschwellen wird. In knapp vier Tagen werden wir in Ribat el-Fath sein, und bereits jetzt ist die Nähe der Stadt spürbar. Viele Menschen bewegen sich mit ihren Tieren – Schafe, Esel und Pferde – in diese Richtung, um die kalte Jahreszeit in der Stadt zu verbringen. Ein runder und heller Mond ist soeben aufgegangen, und es ist Zeit für mich, zu meiner Vergangenheit zurückzukehren. Der fünfte Mann ist gerade auf den Anhöhen des Aljarafe gestorben. Drei waren da noch am Leben, aber auch sie mussten zu Grunde gehen. Ich habe das nie gewollt. Wahrscheinlich habe ich gegen meinen Willen gehandelt. Ich musste es tun, das ist alles. Ich hatte keine Möglichkeit, meinem Schicksal zu entfliehen, selbst als es mich dazu zwang, zum Mörder zu werden. Nichts und niemand konnte meinen Arm zurückhalten. Mein Opfer ist zu mir gekommen. Ich sehe seine Züge noch vor mir, als würde heute Abend sein Geist aus 77
den Tiefen der Hölle zurückkehren und sich vor meinen Augen erheben. Ich erinnere mich daran, wie ich auf ihn zugegangen bin. Ich hatte keinerlei Schwierigkeit, sein Vertrauen zu gewinnen. Er hat mir seinen Namen genannt, und als der Moment gekommen war, hat mein Arm nicht gezittert. Anschließend habe ich mich entfernt und ihn seinem Leiden, seinem Fieber überlassen, allein in seinem Zimmer, angesichts seines eigenen Todes.
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aleos erste Studienjahre in Akkon waren dem Erlernen von Sprachen gewidmet. Der Junge zeigte sich darin als begabter Schüler. Er stand in den ersten Stunden des Tages auf und begab sich direkt in die Bibliothek der Komturei von Karjik, wo er seit seiner Ankunft im Orient wohnte. Dort ließ er sich in aller Stille an seinem Pult nieder, auf dem sich der Staub der Bücher mit dem Gold der Illuminatoren vermischte, und studierte tagelang Werke, deren Gewicht ihm den Rücken krümmte, wenn er im Regal danach griff. So konnte Galeo bereits im Alter von vierzehn Jahren jedes beliebige Buch entziffern, sei es nun auf Griechisch oder Latein geschrieben. Er kannte die Grundprinzipien der Mathematik und der Geometrie, konnte die wichtigsten Sternbilder am Himmel erkennen und benennen und war in der Lage, die schönsten Verse der größten antiken Dichter auswendig aufzusagen. Es waren aber die medizinischen Werke, die ihn am meisten interessierten. Er lernte das Antidotarium von Praepositus, merkte sich Gilles de Corbeils Abhandlungen über den Urin und den Puls, entdeckte ein Exemplar des Corpus von Hippokrates und begeisterte sich für das Studium der Werke von Avicenna, Averroes und Maimonides. In der Bibliothek hatten sich alle nach und nach an seine Anwesenheit gewöhnt, seien es Kopisten, Illuminatoren, Botaniker, Philosophen, Übersetzer, Mathematiker oder Astronomen. Nicht einer von ihnen zögerte, sich von seiner Arbeit abzuwenden, um dem Jungen behilflich zu sein. Unter diesen Männern war einer besonders geheimnisvoll, denn er kam nur von Zeit zu Zeit, um ein Werk zu suchen, überflog daraus rasch eine Passage, bevor er ebenso schnell verschwand, wie er 79
gekommen war. Kein einziges Mal hatte er den Jungen angesprochen. Als Galeo die anderen nach seinem Namen fragte, waren jene zahlreich, die es vorzogen, nicht zu antworten. Eines Abends jedoch hatte ein italienischer Übersetzer Galeo ins Ohr geflüstert: »Arto d'Angefort. Halte dich von ihm fern, denn er ist ein gottloser Mann, der nur an seine Forschungen glaubt. Es gab kein Land, in dem er Zuflucht suchen konnte, bevor der Komtur von Karjik ihm seine Türen öffnete. Dieser Mann muss seine Identität und sein Aussehen einige Male gewechselt haben, um denen zu entkommen, die auf der Suche nach ihm sind. Die Kirche hat ihn zum Tode verurteilt, seitdem er in einer seiner medizinischen Abhandlungen geschrieben hat, dass ›wenn die Seele mit dem Körper zur Existenz kommt, kann sie weder durch eine außerhalb des Körpers liegende Ursache, noch zeitlich vor dem Körper leben. Folglich kommt sie zur Existenz, wenn das Gehirn zum Leben kommt, und sie besteht nur fort, wenn das Prinzip selbst seiner Existenz, das heißt eben dieses Organ, fortbesteht. Wenn dieses verschwindet, sobald der Tod eintritt, verschwindet auch die Seele, die nicht unsterblicher ist als der Körper, der sie begleitet.‹« »Warum«, hatte Galeo gefragt, »irrt sich dieser Mann Euch zufolge?« »Arto d'Angefort ist ein großer Arzt, und niemand kann behaupten, dass das, was er sagt, falsch ist. Trotzdem wird er noch lange auf der Straße der Wissenschaft wandeln müssen, bis er erkennt, dass, wenn uns diese auf den ersten Blick von Gott entfernt, sie uns letztendlich, je größere Fortschritte wir machen, ihm wieder annähert.«
Mehrere Monate nach diesem Gespräch war es eines Abends spät geworden, und als sich die Bibliothek leerte, erkannte Galeo einige Schritte von sich entfernt die Gestalt Arto d'Angeforts. Dieser hielt etwas in der einen Hand, während er mit der anderen die Regale nach einem Werk absuchte. Dann legte er das Objekt vorsichtig auf ein Pult und griff nach einem Buch. Galeo, der unauffällig näher gekommen war, 80
bemerkte etwas Rundes, Glänzendes. Als er noch näher kam, begriff er plötzlich, dass das, was er auf dem Pult liegen sah, nichts anderes war als ein menschliches Auge. Er sprang auf und wich sogleich zurück, als Arto d'Angefort, der dem Jungen den Rücken zudrehte, mit tiefer, autoritärer Stimme befahl: »Wende dich nicht ab!« Dann fragte er, ohne die Lektüre des Buches zu unterbrechen, das er in der Hand hielt: »Warum willst du fliehen, nachdem du dich zunächst genähert hast?« »Nun ja …«, stammelte der Junge. »Ich … habe noch nie zuvor ein Auge gesehen.« »Das denke ich aber schon. Nur siehst du für gewöhnlich auch das Gesicht, in dem es seinen Platz hat.« »Dürfte ich mich nun entfernen?« »Wenn du das willst. Aber bevor du gehst, sag dir, dass der Mensch, dem dieses Organ gehörte, nun aufgehört hat zu leiden. Und wenn du es genau untersuchst, könntest du eines Tages anderen Menschen, Lebenden diesmal, ersparen, an der gleichen Krankheit zu leiden. Also, wofür entscheidest du dich nun, für die Flucht aus Furcht vor einem toten Auge oder für einen Schritt nach vorn, um es näher zu betrachten und dein Wissen zu erweitern?« Nach einem kurzen Augenblick des Nachdenkens entschloss sich Galeo für den Schritt nach vorn. »Kennst du die Funktionsweise dieses Organs?«, fragte Arto d'Angefort und drehte sich zu dem Jungen um. »Nein, ich kenne sie nicht.« »Denkst du vielleicht – wie die Alten, die Aristoteles vorangegangen sind –, dass vom Auge ein Strahl ausgeht, der ein Ding erreicht, es berührt und es sieht?« »Bestimmt«, zögert Galeo. »Das ist absurd.« Nach dieser Antwort zog der Mann eine feine Eisenklinge aus der Tasche und schnitt das Auge quer durch. »Denkst du wirklich, dass eine so kleine Höhle Sehstrahlen enthalten oder sie für ein ganzes Leben produzieren könnte?« »Nein, wahrscheinlich nicht.« 81
»Denkst du also, wie eine Vielzahl von Ärzten weiterhin lehrt, dass nur ein winziger Strahl vom Auge ausgeht, der sich sofort mit den Strahlen der Luft mischt, um gemeinsam zu einem Sehorgan zu werden? … Wenn du das denkst, dann schenkst du erneut einer Absurdität Glauben, denn wenn sich die Luft auf diese Weise mit Sichtstrahlen auflüde, müsste sich ein Mensch von schwacher Sicht nur jemandem nähern, der eine gute Sicht besitzt, um von seinem Strahl zu profitieren und ebenfalls perfekt zu sehen.« »Wie funktioniert das Auge dann?« »Eben deswegen bin ich in diese Bibliothek gekommen, und ich habe die Antwort in diesem Werk von Avicenna gefunden, der sich auf Aristoteles' Arbeiten stützt und behauptet, das Auge sei wie ein Spiegel. Das sichtbare Ding entspricht dem Ding, das sich in diesem Spiegel mittels der Luft reflektiert. Und indem das Licht auf das sichtbare Ding fällt, projiziert es das Bild auf das Auge. Dieses Bild wird von einem Feuchtkörper empfangen, der einem Stück Eis oder einem Leinsamen ähnelt und es dem Sichtfeld übermittelt, bevor es dem Geist übersendet wird. Wenn also der Spiegel einen Geist besäße, würde auch er das Bild sehen, wenn es auf ihm produziert wird.« Das war das einzige Gespräch, das Galeo je mit Arto d'Angefort geführt hatte. Danach studierte er weiterhin seine Bücher. Als Johannus van Neesroy ihn einmal spät in der Nacht überraschte, wie er an seinem Pult eingeschlafen war, die Augen vom Lesen gerötet, klappte er sorgfältig Galeos Bücher zu und sagte zu ihm: »Bücher sagen nicht alles, Galeo.« »Wie könnte ich ohne sie lernen?« »Es gibt tausend und eine Art zu lernen. Du kannst gehen und im Lande umherreisen und dir das Leben um dich herum ansehen; du kannst die Natur beobachten und auch Heiler, Zauberer, alte Bäuerinnen und Wanderapotheker befragen. Du kannst die Wirkung ihrer Heilmittel auf ihre Patienten beobachten und jede deiner Beobachtungen aufschreiben und dich dann weiter auf die Suche nach neuen Entdeckungen machen.« Pater van Neesroy, der die Fortschritte seines Schützlings aus der Nähe verfolgte, regte ihn auch dazu an, seinen Körper zu stärken. Er 82
brachte ihm sehr früh das Reiten bei und ermutigte ihn, die felsigen Wüsten zu durchreiten, die sich gen Osten weit jenseits der Stadtmauern erstreckten. Galeo, der diese langen, einsamen Ritte liebte, kehrte oft erst in dem Moment zurück, als sich die Stadttore schlossen. An manchen Tagen zog er es vor, zu Fuß durch die Gassen der Stadt zu streifen. Er beobachtete gern die Sonnenreflexe in den Innenhöfen der Häuser oder auf den Mosaiken der schönsten Fassaden, bevor er sich in den Gärten der Stadt unter einer üppigen Fülle von Jasmin und blühenden Mandelbäumen ausstreckte. Meistens lenkten ihn seine Schritte ins Handwerkerviertel. Er mochte es, in der fruchtigen Wärme zu verweilen, die von den Ölkeltereien ausging, und gewöhnte sich nach und nach an die beißenden Gerüche der Gerbereien. Manchmal machte er vor den Werkstätten der Weber halt und schaute stundenlang den Frauen bei der Arbeit zu, die ihn an jene erinnerte, die seine Mutter damals in Sevilla ausgeübt hatte. Galeos Lieblingsstrecke aber führte ihn zum Hafen, wo er sieben Jahre zuvor an Land gegangen war. Dort beobachtete er jedes Schiff, das unter sevillanischer Flagge segelte. Er erwartete immer, die Gestalten der acht Kaufmänner zu sehen, die damals seine Eltern ermordet hatten. Er wäre ihnen dann in die Stadt gefolgt, um ihre Namen, ihre Gewohnheiten zu kennen und das Gasthaus, in dem sie abgestiegen wären. Der Hass, den er gegenüber diesen Männern empfand, war nicht einen Augenblick lang verloschen. Nachts sah er seine Eltern in seinen Träumen wieder und wieder mit dem Tode ringen, das Gesicht von dem Leiden infiziert, vor dem sie sich um jeden Preis hatten bewahren wollen. Jedoch sah er die acht sevillanischen Kaufmänner in Akkon nie wieder. Wahrscheinlich handelten sie in anderen Häfen, anderen Ländern, oder aber sie waren für immer nach Sevilla zurückgekehrt, um von den Zinsen ihrer Reichtümer zu leben. Eines Morgens, als Galeo wieder einmal die Türen zur Bibliothek aufstieß, um sich zu seinem Studium zu begeben, empfing ihn Pater Johannus van Neesroy, der dort auf ihn gewartet hatte, mit den Worten: »Du bist auf dem Weg des Wissens gut vorangeschritten. Da du immer noch Arzt zu werden wünschst, ist der Moment gekommen, 83
dass du dich der Behandlung leidender Männer und Frauen widmest. Dein Körper und deine Seele haben sich verhärtet; du bist im Begriff, ein Mann zu werden. Du wirst mich daher von heute an zum Hospiz der Komturei begleiten, um dich mit der Krankheit und ihren beiden möglichen Ausgängen zu konfrontieren, der Heilung oder dem Tod.« Galeo nickte und teilte von nun an seine Tage zwischen der Bibliothek und den Räumen des Hospizes auf, die erfüllt waren vom Röcheln der Kranken und den Schmerzensschreien der Operierten, die sich in den Händen der Chirurgen befanden. Das Hospiz der Komturei von Karjik war in vier unterschiedliche Säle unterteilt. Der erste, zu dem kein Mann Zugang hatte, empfing schwangere Frauen. Nur Hebammen und Nonnen durften ihn betreten und die Gebärenden unterstützen. Die Neugeborenen wurden mit großer Sorgfalt behandelt: Sobald sie auf der Welt waren, schnitt eine Geburtshelferin die Nabelschnur durch, bevor sie aus ihr einen Doppelknoten machte und ihn mit einer Mischung aus Kerbel und Kümmel bestäubte. Dann befreite die Geburtshelferin die Babys von dem Schleim, der ihre Körper bedeckte, und trug Salz mit zermalmten Rosenblättern auf. Anschließend benetzte sie ihre Lippen und Gaumen mit einer Lösung, um ihre Münder zu reinigen und ihren Appetit anzuregen, bevor sie sie in ein Warmwasserbad tauchte, sie mit Öl einrieb – vorsichtig, wenn es sich um ein Mädchen handelte, und kräftiger, wenn das Neugeborene ein Junge war – und sie schließlich in Windeln einwickelte, die neben dem Feuer aufgewärmt worden waren. Der zweite Saal war durch einen einfachen Flur abgetrennt, dort waren Kranke und Verletze untergebracht. Diese wurden dann, je nach Entwicklung ihrer Leiden, in den dritten Saal, den der Genesenden, gebracht, oder aber in den vierten, der den Sterbenden vorbehalten war. Am Anfang wurde entschieden, dass Galeo seine Lehre mit der Behandlung der Genesenden beginnen sollte. So lernte der junge Mann unter dem Blick von Ärzten und Apothekern, wie man Wunden reinigte, Salben auftrug und Verbände wechselte. Je mehr sich seine Seele bei dem Kontakt mit Blut und Eiter verhärtete, desto mehr öffnete er sich ganz den Schmerzen der Leidenden. Nach ihrer Behandlung 84
verbrachte er manchmal Stunden am Bett seiner Kranken. Währenddessen linderte Pater van Neesroy die Schmerzen der Patienten, die im Saal der Sterbenden lagen. Wenn es Abend wurde und er seinen Schützling wiedertraf, sprachen beide über ihre Arbeit, über unerwartete Heilungen und die Ergebnisse neuer Behandlungsmethoden. »Wenn der Tod keinen Zweifel mehr zulässt«, sagte Johannus van Neesroy, »nützt es nichts, ihn verbissen fern halten zu wollen. Besser ist es, ihn zu zähmen, ihn sich zum Freund zu machen, sich auf ihn vorzubereiten, sich ihm in Frieden hinzugeben. Wenn die Krankheit gegen die Natur ist und um jeden Preis bekämpft werden muss, so ist der Tod es nicht; er ist sogar notwendig für die Erneuerung des Lebens. Ebendies muss jeder Arzt seinem Patienten begreiflich machen, wenn ihm die letzte Hoffnung auf Heilung entronnen ist. Wenn es unsere Pflicht ist, die Schmerzen des Körpers zu erleichtern, müssen wir auch die Leiden der Seele auf die Weise lindern, die uns als die beste erscheint.«
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ach ihrer Ankunft im Kaufmannsviertel von Sevilla haben Harmad Ibn Akzar und seine beiden Schüler zunächst drei Zimmer im Gasthaus Esteban belegt. Dann, nachdem sie ihr Gepäck abgestellt und ihre Pferde in den Stall gebracht hatten, verbrachten sie den Rest des Abends damit, sich in den Geschäften, Tavernen, öffentlichen Bädern und Gärten vorzustellen und der Bevölkerung anzukündigen, dass sie in ihrem Gästezimmer ab dem darauf folgenden Morgen kostenlos die Kranken untersuchen würden, die behandelt zu werden wünschten. Der Medizinmeister, der weit vor Sonnenaufgang aufgestanden ist, klopft an Sarahs und an Roscelins Tür, um sich mit ihnen zu beraten. »Wir werden folgendermaßen vorgehen: Sobald unsere ersten Patienten im Gasthaus vorstellig werden, werden wir sie auf diese Stühle platzieren, die ich vor die Tür eines jeden von uns gestellt habe, dann werden wir sie einzeln empfangen. Ich habe bereits in meinem Zimmer einen Tisch zur Untersuchung der Kranken aufgestellt, und ich verfüge über die gesamte Ausrüstung zur Praktizierung der Eingriffe. Ich werde daher die dringendsten Fälle übernehmen. Was dich betrifft, Sarah, du wirst die Frauen und Kleinkinder empfangen. Und du, Roscelin, da du weder ein medizinisches Instrument noch andere Heilpräparate bei dir hast, außer diesem mysteriösen Pulver der Könige, weiß ich noch nicht, welche Kranken ich dir überweisen soll.« »Ihr irrt Euch, Meister, abgesehen von meinen wertvollen Beuteln habe ich drei medizinische Werkzeuge bei mir, von denen ich mich niemals trenne.« »Und welche wären dies bitte?«, fragt der Medizinmeister. 86
»Es handelt sich ganz einfach um meine beiden Ohren und meinen Mund. Die einen dienen mir dazu, meinen Patienten zuzuhören, der andere, um mit ihnen zu sprechen.« »Seltsame Praktik …« »Sie geht auf meine Anfangsjahre des Medizinstudiums im Königreich Frankreich zurück. Mein erster Meister, der auf der Suche nach dem sichersten Heilmittel gegen die Krankheiten der Seele wie Melancholie, Schlafstörungen, Gedächtnisverlust oder nervöser Unruhe war, hatte damit begonnen, an seinen Patienten alle Arten von Behandlungen auszuprobieren. Zunächst ist er davon überzeugt gewesen, dass die Störungen, die er zu bekämpfen hatte, einer Instabilität des Herzens in der Brust zuzuschreiben waren. Daher ließ er alle möglichen Arten von Räucherwerk zubereiten – großartig duftend für die einen und mächtig ekelerregend für die anderen –, die der Patient nacheinander inhalieren sollte, bis sein Herz wieder an seine natürliche Stelle rückte.« »Hat diese Behandlung die erhoffte Wirkung gehabt?«, fragt Harmad Ibn Akzar. »Nein, in keiner Weise. Dies ist der Grund, weshalb mein Meister begonnen hat, alle möglichen Sorten von Abführmitteln auszuprobieren, welche die Eingeweide seiner Patienten von ihren ungesunden Säften befreien sollten. Sie sind es, die ihm zufolge ihre Seele in Mitleidenschaft zogen. Es wurden daher Abführ- und Brechmittel auf der Basis von Katzengalle, Stierhorn, Knochenpulver und gegärter Hühnerbrühe zubereitet und den Kranken auf nüchternen Magen verabreicht. Es wurde auch entschieden, das schmutzige, übelriechende Blut, das ihnen den Geist verstopfte, aus ihrem Körper zu vertreiben. Dafür setzte man ihnen etwa zehn Blutegel von beachtlicher Größe auf den Hals und den Nacken.« »Was war diesmal der Ausgang einer solchen Behandlung?« »Offen gestanden konnte es niemand genau feststellen, denn unter die übelriechenden Ausdünstungen der Abführmittel, die in großen Mengen zubereitet wurden, hatten sich schnell Gerüche gemischt, die durch ihre prompte Wirkung im Körper der Patienten ausgelöst wor87
den waren – und zwar derart, dass diejenigen unter uns, die nach einer solchen Kur den Geisteszustand ihrer Patienten kontrollieren sollten, so unpässlich waren, dass sie sie keiner aufmerksamen Untersuchung unterziehen konnten. Diese Behandlungsmethode wurde schnell aufgegeben, als ein Arzt aus Paris mit Ruhm überschüttet wurde, nachdem er verkündete, er habe soeben zum ersten Mal aus der Niere eines Patienten einen Stein entfernt, der deren Funktion störte. Von diesem Zeitpunkt an war mein Meister der festen Überzeugung, dass die Störungen der Seele ebenfalls auf einen Stein zurückgingen, der sich im Geist seiner Patienten eingenistet hatte. Daher hatte er es sich in den Kopf gesetzt – eher aus Sorge um seine ärztliche Bekanntheit als aus dem Wunsch, seine Kranken zu heilen –, ihnen eher mit Gewalt als mit Einverständnis den Schädel zu öffnen, um den berühmten Stein daraus zu entfernen.« »Und war dieses Unternehmen von Erfolg gekrönt?« »Nicht mehr als das vorangegangene. Immerhin und obwohl die ersten Experimente scheiterten, stieß die Entfernung des Steins des Wahnsinns, der Name, den er dieser Operation gab, auf große Begeisterung unter seinen Schülern und Kollegen. Diese war sogar so groß, dass mein Meister, der um jeden Preis nach der Bestätigung seiner Theorie suchte und sich daranmachte, von morgens bis abends Schädel zu operieren, jedem seiner Schüler die Männer und Frauen überwies, die er aus Zeitmangel nicht persönlich töten konnte.« »Hast du also die Entfernung des Steins des Wahnsinns praktiziert?« »Nein. Meine mangelnde Neigung für den Anblick von Blut und die Gewissheit, meinen Patienten während dieser Operation zu verlieren, haben mich für immer von dieser Idee abgebracht. Da ich aber trotz allem einen Stein des Wahnsinns entfernen musste, beschloss ich, ihn durch den Mund des Kranken herauszuholen, indem ich ihn in den Fluss seiner Worte lockte. Ich bat daher meine Patienten, mir von sich zu erzählen, von ihren Störungen und der Ursache ihrer ersten Symptome. Nach und nach öffneten sie sich mir und vertrauten mir Geheimnisse an, die ihnen schwer auf der Seele lasteten und die ich geschworen habe, niemals zu offenbaren. Einige Kranke waren sichtlich 88
erleichtert, mit mir gesprochen zu haben, und sie erhielten langsam ihre Gesundheit zurück. Andere wurden sogar wieder vollkommen gesund. Es war mir demnach auf meine Weise als Erster gelungen, den Stein des Wahnsinns zu entfernen. Ich bin davon überzeugt, einen neuen Weg des Heilens entdeckt zu haben. Einen Weg, den ich vertiefen muss.« »Ist dies nun«, fragt der Meister seinen jungen Schüler, »der Grund, warum du nach Andalusien gekommen bist?« »Ja, ich habe diese lange Reise unternommen, weil die Ärzte des Königreichs Frankreich in keiner Weise bereit waren, meine neuen Forschungen anzunehmen; sie, die den Ausbruch von Epidemien noch der Konjunktion von Jupiter und Saturn zuschreiben und denken, die Muttermilch sei nichts anderes als durch die Brust geweißtes Blut. Im Gegensatz zu hier, wo sich die Medizin dank der zahlreichen Übersetzer antiker Texte jeden Tag um die Schätze der Bibliotheken erweitert. Bei meiner Rast in Córdoba habe ich ein Exemplar vom Kommentar Averroes' über De anima von Aristoteles entdeckt sowie eine Übersetzung der Acht Kapitel von Maimonides. Darin heißt es, dass ebenso wie der Arzt, der sich mit den Körpern beschäftigt, den Körper kennen muss, den er zu behandeln hat, die Person, welche die Seele heilen will, die Seele in ihrer Gesamtheit kennen muss. Dank dieses Werks verstand ich besser, was Emotion ist, Angst, Leid, Vorstellungskraft, Vernunft oder Freude.« »Dies ist ja alles sehr interessant, Roscelin, aber was machst du mit den Krankheiten des Körpers?« »Einige von ihnen gehen eben aus einer seelischen Erkrankung hervor, und in diesem Fall ist es vorzuziehen, eher die Seele als den Körper zu behandeln. Und dann vergesst nicht, dass ich ja immer noch mein Pulver der Könige habe.« »Sehr gut, sehr gut, ich werde dir heute alle Patienten anvertrauen, die über eine Krankheit der Seele klagen oder aber an einem Organ oder Übel leiden, das keine Operation benötigt. Und heute Abend werden wir sogleich gemeinsam deine Praktik nach deinen Ergebnissen beurteilen.« 89
Mit diesen Worten bläst der Medizinmeister die Kerzen aus, die das Zimmer erhellen, steht auf und öffnet die Fensterläden, um das Tageslicht hereinzulassen. Dann wendet er sich in ernstem Tonfall an seine beiden Schüler: »Das alles darf uns nicht unsere Untersuchung vergessen lassen. Die Sonne ist bereits aufgegangen, und ein langer Tag erwartet uns. Ich erinnere euch, dass wir hier sind, um herauszufinden, wie sich fünf Männer das Sankt-Sylvester-Feuer zuziehen konnten, und vor allem, um zu vermeiden, dass neue Fälle in Erscheinung treten. Sollte es heute vorkommen, dass ihr einen reichen Kaufmann empfangt, denkt daran, seine Schultern zu untersuchen, denn auf diese Weise ist das Leiden in das letzte Opfer eingedrungen.«
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eit den ersten Stunden des Tages kommen zahlreiche Patienten und melden sich im Gasthaus Esteban an. Da sind Greise, Männer, Frauen und Kinder, die nacheinander, je nach Art der Erkrankung, von einem der drei Ärzte empfangen werden. Harmad Ibn Akzar hat in wenigen Stunden bereits Wunden vernäht, Abszesse ausgedrückt, Brüche eingerenkt, Salben aufgetragen, Verbände angelegt und Sude zum Ausspülen des Magens eines Kranken zubereitet. Nach jeder Behandlung versucht der Medizinmeister, die Männer und Frauen zum Sprechen zu bringen. Meistens erhält er keinerlei Antwort auf seine Fragen. Manchmal, wenn er sie nach der Infektionskrankheit fragt, welche die sevillanischen Kaufmänner dahingerafft hat, raten ihm die Männer und Frauen schlichtweg davon ab, mehr über diese Angelegenheit erfahren zu wollen. »Das ist das Werk des Teufels«, sagt man ihm, »er hat fünfzehn Jahre gewartet, und jetzt kommt er, um sich die Seelen derer zu holen, die gesündigt haben.« Oder aber: »Ihr werdet sehen, dagegen könnt Ihr nichts tun, er wird sie alle wieder holen. Alle, bis auf den Letzten!« Sarah hingegen pflegt die Säuglinge und Kleinkinder, die von ihren Müttern gebracht werden. Sie bepinselt den Mund eines kleinen Mädchens mit einer Pomade auf Mohn- und Linsenbasis, um sie von ihren Aphthen zu befreien, dann trägt sie Breiumschläge aus Chicoree und Gerstenmehl auf, um den Juckreiz eines kleinen Jungen zu stillen, und schenkt der Mutter eines hustenden Kindes ein Präparat auf der Basis von Tannenzapfen und Lakritzsaft. Sobald die Schmerzen der Kinder gelindert sind, unterhält sie sich genau wie ihr Meister mit den Frau91
en über das Leiden, das die sevillanischen Kaufmänner getroffen hat. Aber auch sie stößt auf Widerstand und Angst: »Das sind die Geister der Toten! Herumirrende Seelen ohne Grabstätte! Fünfzehn Jahre danach fordern sie Rache!« »Aber fünfzehn Jahre nach was?«, bohrt Sarah nach. »Versucht nicht, mehr darüber zu erfahren – das betrifft in keiner Weise die Medizin. Das ist ein Fluch des Himmels!«
Roscelin schließlich sitzt, wie es seine Angewohnheit ist, seinen Patienten gegenüber. Es gelingt ihm sehr schnell, ihr Vertrauen zu gewinnen und sie lange über sich selbst und ihre Familie sprechen zu lassen. Nachdem er eine junge Frau geheilt hat, die sich über Kribbeln in den Gliedern begleitet von Herzklopfen beklagte, sowie eine Familienmutter, die an Schwindel und Schlaflosigkeit litt, empfängt er zwei Mönche, die bedächtig sein Zimmer betreten. Er bittet sie mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. Obwohl sie beide mit einer langen braunen Kutte bekleidet sind, unterscheiden sich die beiden Männer in jeder Hinsicht voneinander. Der erste, ein zarter Jugendlicher von allerhöchstens fünfzehn Jahren, hat eine Gesichtsfarbe, die blasser ist als ein Laken. Er hält den Blick fortwährend auf den Boden geheftet, so dass Roscelin im Sitzen nichts mehr von ihm sieht außer der frisch rasierten Haut, die sich über seine Schädeldecke spannt. Der zweite ist mindestens vierzig Jahre älter, ein Mann mit fettem Gesicht, das ein schwarzes Gebiss erahnen lässt, und der stolz die beiden fleischigen Erhebungen seiner Unterlippe und seines Bauches zur Schau stellt. Als der Ältere wiederholt ein Räuspern ertönen lässt, schaut Roscelin ihn an in der Hoffnung, seine Stimme zu vernehmen, aber vergeblich. »Nun, ich höre«, sagt der junge Arzt schließlich. Der Mönch, der nicht aufhört, die Hände aneinander zu reiben, scheint schließlich seine Worte gewählt zu haben. »Nun ja … unsere Angelegenheit ist delikat«, zögert er. »Ich höre, an was leidet Ihr?« 92
»Es geht nicht um mich, sondern um den hier anwesenden Novizen Arturo«, sagt er und zeigt mit dem Ellbogen auf den schüchternen Jugendlichen an seiner Seite, der bei der Erwähnung seines Namens sein Gesicht noch mehr versteckt. »Es ist nun gerade mal ein Jahr her, dass dieser Junge in das Kloster eingetreten ist, das wir kürzlich im Süden des Flusses, zwei Tagesmärsche von Sevilla entfernt, errichtet haben. Während dieses Jahres, das er unter den Brüdern verbracht hat, erwies er sich als fleißiger Schüler auf allen Gebieten und respektvoll den Regeln gegenüber, die unseren Tagesablauf gestalten. Wenn aber die schwärzesten Stunden der Nacht kommen, nach dem Abendgottesdienst und vor der Frühmette, ist der Novize, den Ihr vor Euch seht, seit nun einem Monat das Opfer einer seltsamen geistigen Verirrung. Diese versetzt das beschauliche Leben in unserem bescheidenen Kloster in tiefe Unruhe, da sie auch Verwirrung im Geiste seiner Schlafsaalkameraden stiftet.« »Um was handelt es sich genau?«, fragt Roscelin. »Nun ja, es scheint, als würde dieser unglückliche Novize, dessen Geist doch tagsüber so bedächtig ist, während seines Schlafs von einem ungewöhnlichen Geschwätz heimgesucht.« »Es handelt sich da um eine recht geläufige Störung, die meines Erachtens keine Kur benötigt.« »Nein, natürlich, natürlich«, antwortet der Mönch, der auf seinem Stuhl hin- und herrutscht und nach Worten sucht, »aber es ist so, dass … seht Ihr … unser Problem rührt eher vom Inhalt der nächtlichen Rede des jungen Arturo her, denn dessen … Anstößigkeit und … Vulgarität der Ausdrücke, unweigerlich aus klassischem und Vulgärlatein geschöpft, entsprechen nur sehr wenig … nur sehr wenig …« »… den Reden, die normalerweise von Klostermauern widerhallen«, unterbricht ihn Roscelin angesichts der Verlegenheit seines Gesprächspartners. »Genau, ich sehe, dass Ihr mich versteht«, fährt der Mönch erleichtert fort. »Zu Anfang haben wir in den Äußerungen des Arturo das Werk des Teufels gesehen, der gekommen war, um sich einer unschuldigen Seele zu bemächtigen; aber all unsere Gebete und Bußen haben daran 93
nichts geändert. Jede Nacht dringen von neuem dieselben Geschichten, erzählt mit denselben Worten, aus dem Mund des Jungen. Wir haben ihn in einer Zelle isolieren müssen, damit er aufhört, die Ruhe im Schlafsaal zu stören. Trotzdem ist dieser Fluch im Begriff, das ganze Kloster zu verseuchen. Die jungen Novizen, die schnell Geschmack an jenen nächtlichen Erzählungen fanden, versammeln sich nun heimlich vor Arturos Tür, um sich an seinen Geschichten zu laben.« »Ich verstehe, ich verstehe«, wiederholt Roscelin amüsiert. »Wenn Ihr also in der Lage seid, die Krankheiten der Seele zu behandeln, könnt von nun an nur Ihr allein diesen Jungen retten.« »Dafür müsste ich mehr über die Erzählungen hören, die aus dem Munde dieses Novizen kommen«, antwortet der Arzt und versucht, den Blick des Jungen zu erhaschen. »Es ist unnötig, ihn zu fragen«, beeilt sich der alte Mönch zu antworten, »denn Arturo hat keinerlei Erinnerung an seine geistigen Verirrungen, und er kann sich nur dem Gebet widmen und versuchen, die Scham zu vergessen, die ihn überkommt, wenn er bei der Frühmette aus dem Mund der anderen die unschicklichen Reden erfährt, die er während der Nacht gehalten hat.« »Mag sein, aber Ihr selbst seid doch bestimmt in der Lage, mir diese Reden widerzugeben?« »Nun, sagen wir, sie erwähnen meistens die Irrungen zweier Lustmolche, die auf die Namen Encolpius und Ascyltus hören.« »Und erinnert Ihr Euch an ein paar Sätze, die von dem Novizen nachts gesprochen wurden?« Auf Roscelins Frage färbt sich das Gesicht des jungen Arturo und das seines Begleiters purpurrot. Dieser schien die Bitte jedoch schon befürchtet zu haben und sagt schließlich wider Willen: »Ich erinnere mich, dass ich in der letzten Nacht, die Arturo vor unserem Aufbruch nach Sevilla in seiner Zelle verbracht hat, aus dem Schlaf gerissen wurde, weil ich Arturo den folgendem Satz proklamieren und nicht flü-
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stern hörte: ›Ja was denn, denkt ihr noch an Schlafen, wenn ihr wisst, dass diese ganze Nacht dem Priapuskult gewidmet ist?1‹« »Erinnert Ihr Euch noch an etwas anderes?« »Kurz darauf … wenn ich mich recht erinnere … hat der Novize angefangen, eine Geschichte zu erzählen. Da ich zu weit von ihm entfernt lag, habe ich die ersten Sätze nicht genau verstehen können, aber als ich mich seinem Bett näherte, konnte ich das Ende der Erzählung hören, die ich gegen meinen Willen gut behalten habe: ›Ohne eine Minute zu verlieren, hat Eumolpus das Fräulein, mit ihm eine Sitzung heiliger Gymnastik zu halten. Er hatte aber überall erzählt, sein Unterleib sei gelähmt. Um dieser Lüge treu zu bleiben, bat er die junge Frau, sie solle kommen und ihn reiten, dann befahl er Corax, unter das Bett zu kriechen, in dem er selbst lag, die Hände auf die Holzplanken zu drücken und ihm so den Rhythmus mit dem Unterleib vorzugeben. Corax gehorchte mit einer weise kalkulierten Langsamkeit und antwortete mit gleichwertigen Stößen den sachverständigen Bewegungen der jungen Frau.2‹ Später in der Nacht hallte es folgendermaßen von den Klostermauern wider, als er dieses Gedicht laut vortrug: ›Was für eine Nacht, Götter und Göttinnen! Welch eine Süße in diesem Bett! In einer brennenden Umarmung empfangen wir auf unseren Lippen unsere umherirrenden Seelen und tauschen sie aus.‹3« »Sehr gut, ich danke Euch, es ist nicht nötig, weiter fortzufahren«, unterbricht ihn Roscelin und unterdrückt ein Lächeln. Dann, nach ei1 ›Itane est? etiam dormire uobis in mente est, cum sciatis Priapi genio peruigilium deberi?‹ 2 ›Eumolpus non distulit puellam inuitare ad pygesiaca sacra. Sed et podagricum se esse lumborumque solutorum omnibus dixerat. Itaque ut constaret mendacio fides, puellam quidam exorauit ut sederet super commendatum bonitatem, Coraci autem imperauit ut lectum, in quo ipse iacebat, subiret positisque in pauimento manibus dominum lumbis suis commoueret. Ille lente parebat imperio, puellaeque artificium pari motu remunerabat.‹ 3 ›Qualis nox fuit illa, di deaque, Quam mollis torus! Haesimus calentes Et transfudimus hinc et hinc labellis. Errantes animas.‹ 95
nem kurzen Augenblick der Überlegung, steht der Arzt auf und prüft, ob die Tür seines Zimmers geschlossen ist, bevor er langsam auf die beiden Männer zugeht. Dann raunt er ihnen zu: »Ich habe Euch aufmerksam zugehört, und ich schwöre, Eure Worte geheim zu halten. Nun müsst ihr mir versprechen, niemandem zu verraten, was ich Euch jetzt anvertrauen werde.« »Seid Euch unseres Schweigens gewiss«, antwortet der alte Mönch, überrascht von dem Verhalten des Arztes. »Es ist nun an mir, Euch eine sehr alte Geschichte zu erzählen. Sie begann in einer Offizin im fernen Orient, zu welcher jeden Tag Dutzende von Karren strömten, die alle wahre Schätze transportierten. Und wisst Ihr, für wen diese Reichtümer bestimmt waren?« »Wie sollten wir das wissen?«, fragt der Ältere der beiden Mönche schlicht. »Nun ja, sie wurden einem einfachen Apotheker übergeben, der seinen Besuchern gegen das siebenfache Gewicht in Gold einen einzigen Beutel eines Heilpräparats anvertraute, das die Macht besaß, alle Krankheiten zu heilen. Dazu gehören auch Verirrungen der Seele, so wie jene, von der Ihr mir erzählt habt. Es gab nicht einen König, nicht einen Lehnsherr, nicht einen Provinzstatthalter, der nicht sein gesamtes Vermögen bot, um dieses wundersame Heilmittel zu besitzen. Als die Schatzkammern der mächtigen Monarchen leer waren, so sagt man, hätten die Herrscher oft sogar ihre eigenen Töchter gegen einen neuen Beutel des Präparats eingetauscht, das man deswegen bald schon das Pulver der Könige nannte.« In diesem Augenblick steht Roscelin auf, greift nach seinem Beutel und drückt ihn an sich, während er mit leiser Stimme weiterspricht. »Ich könnte stundenlang die Geschichte dieses Heilmittels erzählen, das seit Jahrhunderten Gegenstand allen Begehrens ist. Wisst Ihr zum Beispiel, dass die größten Lehnsherren aus Orient und Okzident noch heute ihre besten Spione um die Welt schicken, um sich dieses wertvollen Pulvers zu bemächtigen? Eben deswegen habe ich Euch um Geheimhaltung gebeten, denn es gibt keinen Ort der Welt, der sicher genug für mich wäre, wenn jemand erfahren würde, was ich hier be96
sitze.« Dann öffnet Roscelin langsam die Hand und hält dem Novizen einen kleinen Lederbeutel hin. Arturos Augen huschen zwischen dem Gesicht des Arztes und seiner ausgestreckten Hand hin und her. Dann stottert er schließlich: »Aber … was ist das? Das ist doch nicht etwa … das … das Pulver der Könige?« Daraufhin schließt Roscelin rasch seine Faust und legt einen Finger verschwörerisch an die Lippen, bevor er seine Hand wieder öffnet, dem jungen Mann das Heilmittel reicht und ihm sagt: »Wenn du ins Kloster zurückkehrst, löse dies in ein wenig Wasser auf und trinke es in einem Zug. So wirst du dich deiner nächtlichen Delirien entledigen.« »Aber wir haben nur sehr wenig Geld«, wirft der ältere Mönch beunruhigt ein, »und wir sind unfähig, die Summe aufzubringen, die dieses Heilmittel kostet.« »Die ältesten Vorschriften der Medizin«, beruhigt ihn Roscelin sofort, »wie jene, die Hippokrates von Kos seinen Schülern auferlegte, haben mich immer dazu angehalten, nicht gewinnsüchtig zu sein, Reichtum zu verachten und das Vergnügen der Erkenntlichkeit dem eines eitlen Luxus vorzuziehen. Aus ebendiesem Grund werde ich von Euch keinerlei Bezahlung für dieses Heilmittel verlangen. Die Jahre, in denen ich die Heilkunst erlernt und ausgeübt habe, haben mich gelehrt, dass man die Medizin nicht lieben kann, ohne die Menschen zu lieben. Nun dankt mir nicht und geht, ohne ein Wort mehr zu diesem Thema zu verlieren.« Als die beiden Männer das Zimmer verlassen wollen, bittet Roscelin, dem plötzlich etwas eingefallen zu sein scheint, den älteren der beiden Mönche, hinauszugehen und ihn einen Augenblick mit dem Novizen allein zu lassen. Als die Tür geschlossen ist, sagt er zu ihm: »Die Wirksamkeit des Pulvers kann um einiges erhöht werden, wenn sie von einem einfachen Gespräch begleitet wird. Antworte auf meine Frage: Kommt es schon mal vor, dass du in die Bibliothek gehst?« »Ja, das Kloster hat viele Kopisten und Illuminatoren, und wir machen uns oft auf die Suche nach Manuskripten, die wir abschreiben oder übersetzen können.« 97
»Dabei handelt es sich selbstverständlich immer um heilige oder von Gelehrten verfasste Texte, oder?« »Natürlich«, antwortet der Novize und senkt den Blick. »Wäre es trotzdem nicht unmöglich, dass sich deine Hand eines Tages auf der Suche nach einem Manuskript – und das nur durch den größten aller Zufälle – ein Buch gegriffen hat, das Titus Petronius Niger zugeschrieben wird und sich das Satiricon nennt?« »Nein, das wäre nicht unmöglich«, antwortet der junge Arturo mit kaum hörbarer Stimme. »Und wenn das der Fall gewesen wäre, dann hättest du bestimmt ein paar Seiten gelesen, die dir zufällig in die Hände gefallen sind. Und deine Augen hätten bestimmt, wie von einer übermächtigen Kraft bewegt, jene Sätze weitergelesen. Bist du nicht einer Meinung mit mir?« »Doch«, murmelt der Novize schlicht. »Und die folgenden Tage wären jenem ersten ähnlich gewesen, bis du am Ende den Großteil dieses anstößigen Werks entziffert und im Gedächtnis behalten hast, ohne zu wagen, die Verirrung, die dich zur Weiterführung deiner Lektüre geführt hat, zu beichten.« Als sein Patient schweigt, fährt Roscelin fort: »Du solltest allerdings wissen, dass ein starker Gewissensbiss, wenn er geheim gehalten wird, in der Seele, die ihn birgt, oft große Schäden anrichtet. Wenn er mit Gewalt in ihrem Innern festgehalten wird, hört er nicht auf, sie aufzureiben, um zu entkommen. Du hast diesen Gewissensbiss in dir unterdrücken wollen, indem du ihn verschwiegst, aber es ist ihm gelungen, herauszukommen, als er deinen Schlaf benutzte. Wenn du dich nicht von ihm befreist, wird er dich weiterhin verfolgen.« »Ich habe …« »Sprich ohne Furcht!« »Ich habe … versucht, dieser Lektüre zu widerstehen, aber … mein Verlangen war stärker«, gibt der Novize schließlich schluchzend zu, wagt aber nicht, den Blick zu heben. »Trotz der Scham und der Verachtung, die mir mein Verhalten einflößte, habe ich dieses Werk lange Zeit in meinem Schreibpult versteckt und las es ständig anstelle meines Studiums. Ihr seid die erste Person, der ich dies anvertraue. Ich 98
habe nie gewagt, dieses Geheimnis bei der Beichte zu gestehen, und je länger ich es verschwieg, desto mehr quälte es mich.« »Sei nun beruhigt. Wie eben derselbe Titus Petronius Niger sagte, den auch ich gelesen habe und zwar lange vor dir! ›Der Arzt ist nichts anderes als ein Seelentröster.‹ Die wahre Heilung geht nur von dir selbst aus. Du hast dich soeben ganz allein, und einfach, indem du zu mir sprachst, von dem Leiden befreit, das deine Störung verursacht hat. Wenn du nicht vergisst, das Pulver der Könige einzunehmen, was deine Heilung bestärken wird, wirst du friedlich schlafen können, und die anderen Mönche werden von nun an des Vergnügens beraubt sein, dir in der Nacht zuzuhören.«
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m Nachmittag ist die Zahl der Männer und Frauen, die sich im Gasthaus Esteban melden, weiterhin gestiegen. Schon bald reichen die Stühle, die im Flur des Stockwerks aufgestellt worden sind, nicht mehr aus. Die schier endlose Schlange der Kranken reicht über die Treppe hinaus, weswegen die letzten Neuankömmlinge draußen in der Sonne warten müssen. Nachdem er sich von seinem letzten Patienten verabschiedet hat, ruft Meister Akzar die nächste Person auf und wundert sich, als niemand sein Zimmer betritt. Dann wendet er sich an einen Mann, der im Flur sitzt, und fragt ihn, an was er leidet. »Ich bin Goldschmied«, antwortet der Mann, »und am Ende meines Arbeitstages tun mir meine Augen und mein Kopf schrecklich weh.« »Kommt bitte mit«, sagt der Medizinmeister und deutet auf sein Zimmer, »ich werde Euch untersuchen.« »Ich danke Euch«, antwortet der Goldschmied, ohne sich von seinem Stuhl zu erheben, »aber ich möchte lieber den französischen Arzt treffen.« Überrascht wendet sich Harmad Ibn Akzar an die nächste Person, die ihm anvertraut, dass sie ebenfalls Roscelins wegen gekommen sei. Während er eine Treppenstufe nach der anderen hinabsteigt, vernimmt er ständig dieselbe Antwort. Auch Sarah ist sehr schnell frei. Sie geht auf die Frauen zu, die im Flur des Gasthauses sitzen, und fragt sie nach ihren Leiden, aber sie lehnen es allesamt ab, jemand anderen als den jungen französischen Arzt zu treffen. »Dürfte ich fragen, aus welchem Grund?«, hakt die junge Frau bei einer der Patientinnen nach. 100
»Er hat auf wundersame Weise meinen Vater geheilt, der heute morgen in seine Sprechstunde gekommen ist«, antwortet diese. »Kein Arzt hat meinen Bruder von seinen Kopfschmerzen befreien können«, mischt sich nun einer der Männer ein. »Doch seit er das Heilmittel des Franzosen genommen hat, sind seine Schmerzen wie durch Zauberkraft verschwunden.« Harmad Ibn Akzar und Sarah wechseln erstaunte, ungläubige Blicke und gehen in ihre Zimmer zurück.
Es ist schon nach Mitternacht, als Roscelin seinen letzten Patienten hinausbegleitet und die Tür hinter sich schließt. Freudig, endlich wieder allein zu sein, schließt er die Augen und stößt einen tiefen Seufzer aus. Dann bläst er die Kerzen aus und wirft sich, ohne sich die Mühe zu machen, seine Kleider auszuziehen, auf seine Matratze, die mit frischem Rainfarn und Labkraut gefüllt ist. Er hat sich kaum hingelegt, als sein Geist diversen Erinnerungen freien Lauf lässt. Er entsinnt sich der Etappen seiner langen Reise, die ihn von Paris aus in dieses sevillanische Gasthaus geführt hat, wo er nun in Begleitung einer jungen Kollegin und eines alten maurischen Meisters auf den Spuren eines Mörders wandelt. Es ist nun schon ein Jahr her, dass er sich auf der Suche nach dem Wissen, das von Süden nach Europa gelangte, auf den Weg gemacht hat. Die Idee dieser Reise war lange in ihm herangereift. Als er elf Jahre alt war, hatten ihm seine Latein- und Griechischlehrer das abenteuerliche Leben von Peter dem Verwundbaren, Abt von Cluny, erzählt, der 1143 nach Spanien gereist war, um die Übermittlung des orientalischen Wissens im Abendland zu fördern. Später, als Roscelin sein Medizinstudium begonnen hatte, hörte er Weitgereiste und Gelehrte von Abulcasis, Avenzoar, Averroes und Maimonides sprechen, in deren Werken die Krankheiten der Seele und deren Heilmöglichkeiten erwähnt wurden. Die Bücher brauchten allerdings lange, um nach Frankreich zu kommen. Davon soll es nicht abhängen!, hatte er sich an einem Winterabend gesagt, an dem er auf den Bänken der Universität 101
von Paris vor Kälte zitterte, wenn das Wissen zu langsam ist, um zu mir zu gelangen, dann werde ich eben zu ihm gehen! Die Reise war aber nicht ungefährlich, dessen wurde er sich bereits nach den ersten Meilen bewusst. Schließlich war er aufs Geratewohl aufgebrochen und hatte sich so der Möglichkeit ausgesetzt, die tausend Gesichter des Unglücks kennen zu lernen. Oft machte er bei Einbruch der Dunkelheit an einer Wegbiegung oder in Dörfern Halt, um seine Dienste als Arzt gegen ein Nachtlager oder ein Obdach anzubieten, bevor er am nächsten Morgen wieder aufbrach. Heute Abend, in seinem Zimmer im Gasthaus, erinnert er sich daran, wie er in gestrecktem Galopp aus einem Weiler nahe bei Nîmes geflüchtet war, von Menschen mit Heugabeln und Lanzen verfolgt, nachdem der Kranke, den er behandelt hatte, plötzlich in der Nacht gestorben war. Er erinnert sich auch, wie er später bei der Überquerung der Pyrenäen ein Dorf in Eile verlassen musste – diesmal, weil er einen jungen Patienten, der bereits als verloren galt, so gut geheilt hatte, dass man ihn der Hexerei beschuldigte. Ein Bischof war von den Dorfbewohnern alarmiert worden und hatte sofort das Urteil ausgesprochen. Als Roscelin zur frühen Stunde erwachte, waren die Reisigbündel bereits neben einem Scheiterhaufen aufgestellt, der für ihn bestimmt war. An jenem Morgen verdankte er seine Rettung lediglich den dankbaren Eltern, denen es gelungen war, seine Flucht zu organisieren. Ihm fällt wieder ein, wie er in den Bergen von Toledo drei Verfolgern entkommen war, die ihm den ganzen Tag auf den Fersen gewesen waren und fest entschlossen waren, sich des Geheimnisses des Pulvers der Könige zu bemächtigen, dessen Existenz ihnen zu Ohren gekommen war. Dann entgleiten ihm die Erinnerungen langsam, seine Gedanken verlieren sich, und er fällt in einen tiefen Schlaf.
Bald werden wir Rihat el-Fath erreichen. Nachdem ich mich zum Hafen begehen habe, werde ich mich auf dem größten Platz der Stadt niederlassen und dort meine Pulver, Phiolen und Latwergen verkaufen. Jeden 102
Tag habe ich unterwegs Halt gemacht, um Kräuter und Heilpflanzen zu pflücken, die mein Auge, das seit meinem jüngsten Alter geübt ist, erkannt hat. Es stimmt, dass die Ebene von Akzour voll von besonders gefragten Essenzen ist. Heute Nachmittag habe ich mir weißen Mohn beschafft, dessen Saft eine sehr wirksame Droge gegen Schmerzen ist; und ich habe auch schwarzes Bilsenkraut gefunden, das sehr bei der Heilung von Verletzungen, Wunden oder Geschwüren geschätzt wird. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, gegen die Leiden zu kämpfen, die Männer und Frauen in sich tragen. Als ich töten musste, war die Waffe, die ich dazu verwendet habe, jene, die ich am besten kannte: die Krankheit. Es war die gefürchtetste aller Waffen, gegen die Macht oder Reichtum nichts ausrichten konnten. Darüber hinaus wusste ich, dass die Krankheit, im Gegensatz zu Schwert oder Dolch, nicht sofort Misstrauen erwecken und es mir erlauben würde, meine Aufgabe zu Ende zu führen. Trotzdem haben die Menschen schnell versucht, jenen Arm aufzuhalten, der den Tod unter den reichen Kaufleuten Sevillas verbreitete. Sie haben sie alle gesehen, diese mörderische Hand, die mir blind gehorchte, nur ist es die einzige, die sie niemals einer solchen Tat für schuldig gehalten hätten. Mir war es gelungen, den Tod unsichtbar zu machen. Er drang ins Herz meiner Opfer ein, obwohl er sich vor den Augen aller verbarg. Die Kaufmänner, welche die Schlüssel zweimal im Schloss herumdrehten und ihre Fenster verriegelten, haben ihn nicht hinter sich aufragen sehen. Es ist alles in ihren Zimmern geschehen. Und niemand hat mich jemals aus ihnen heraustreten sehen.
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aleo ist nun zum Mann gereift. Seine große Statur, seine breiten Schultern und sein kraftvoller Gang bilden einen Kontrast zu den feinen Zügen seines Gesichts, auf dem sich ein zarter Bartwuchs abzeichnet. Er praktiziert die Operation von Tumoren und die Schädelöffnung, weiß, wie man Glieder amputiert, Blutgefäße abbindet, Wunden vernäht und Brüche einrenkt. Seine Aufopferung für die Kranken und sein Talent als Arzt werden von allen anerkannt, und sein Ruf beginnt, sich über die dicken Mauern der Komturei von Karjik hinaus auszudehnen. »Du bist nun ein großer Arzt geworden, Galeo«, sagt Johannus van Neesroy eines Tages zu ihm. »Ich habe mich daher gestern Abend mit dem Komtur der Festung unterhalten, der am frühen Morgen seinen Rat versammelt und beschlossen hat, dir die Türen zum Cryptoporticus zu öffnen.« Kein anderer Ort ist derart mit Rätseln behaftet. Seit nun fast fünfzehn Jahren versucht Galeo, sein Geheimnis zu ergründen, bisher vergeblich. Niemand innerhalb der Komturei von Karjik hat je den Namen dieses Ortes erwähnt, ohne die Stimme zu senken und sicherzugehen, dass kein Fremder anwesend ist. Sämtliche Fragen, die der junge Mann diesbezüglich seit seiner Kindheit gestellt hat, sind ohne Antwort geblieben. Obwohl er den Anordnungen Pater van Neesroys zuwiderhandelte, hatte sich Galeo manches Mal Zutritt zum Cryptoporticus verschaffen wollen und sich in den Untergeschossen der Festung versteckt. Jedes Mal hatte sich ihm allerdings ein bewaffneter Wachposten in den Weg gestellt, ihn zu seiner Anwesenheit an jenem Ort befragt und sofort zu den Stockwerken zurückgeschickt, die er niemals hätte verlassen dürfen. 104
»Der Cryptoporticus«, fährt der Priester fort und senkt unwillkürlich den Ton seiner Stimme, »ist ein Ort, dessen Lage, ja dessen Existenz du niemandem je verraten darfst. Er liegt in den Untergeschossen der Festung, wo die Ärzte und Apotheker des Landes Forschungen zum menschlichen Körper, den Krankheiten und den neuen Arten, sie zu behandeln, nachgehen. Aber folge mir, und du wirst selbst die Arbeit entdecken, die wir dort jeden Tag vollbringen.« Nachdem sie durch verschiedene Türen gegangen sind, die hinter Tapisserien versteckt liegen, schwere Schlüssel mehrere Male in breiten Schlössern herumgedreht und Pergamente vorgezeigt haben, die es den bewaffneten Wachen erlauben, sie passieren zu lassen – betreten Johannus van Neesroy und Galeo einen weiten gewölbten Raum, in dem etwa zehn Männer arbeiten. Einige von ihnen haben Glasflakons oder Zinnvasen in der Hand, die farbige, riechende Flüssigkeiten enthalten. Andere zerdrücken mit Hilfe eines Steinmörsers Pulver in Schalen aus Horn, die sie anschließend in Metallkäfige mit Mäusen und Ratten stellen, von denen einige noch leben, andere bereits tot sind. »Die meisten Krankheiten, die wir kennen, sind hier vereint«, sagt Pater van Neesroy und zeigt auf den Raum, der sich vor ihnen öffnet. »Wie das denn?«, fragt Galeo verwundert. »Leben die Krankheiten denn außerhalb des menschlichen Körpers?« »Sozusagen. Siehst du die Flüssigkeit in diesem Gefäß?« »Ja«, sagt der junge Mann, nähert sich dem Flakon und nimmt ihn in die Hand. »Nun ja, dieses Wasser, das aus einem der nahegelegenen Sümpfe stammt, vergiftet mit Sicherheit jeden Menschen, der davon trinkt. Wer es schluckt, wird bald an einer Erkrankung leiden, die wir seit langer Zeit unter dem Namen Niluferkrankheit kennen. Hier im Cryptoporticus untersuchen wir aufmerksam diese Flüssigkeit und versuchen zu verstehen, wie das Leiden wirkt, das sie enthält. So entdecken wir nach und nach das geeignetste Heilverfahren. Da, dieses orangefarbene Pulver ist nichts anderes als Rost. Einer der Apotheker hier hat festgestellt, dass diese Substanz eine schreckliche Krankheit auslösen kann, wenn sie sich mit dem Blut des Menschen mischt und dessen Wunde nicht 105
gereinigt wird. Sie tötet alle Patienten, die von ihr befallen sind, weil sie ihre Muskeln versteift.« »Und die Tiere?«, fragt Galeo anschließend und zeigt auf die Eisenkäfige. »Sie dienen unserer Forschung. Ein Arzt studiert im Moment die Katzenkratzkrankheit, und er braucht sie für seine Experimente.« Dann wird die Aufmerksamkeit des jungen Mannes auf weiße Behänge gelenkt, die am anderen Ende des Raumes senkrecht auf Holzpfosten gespannt sind. Als er näher kommt und eine der Stoffbahnen zur Seite zu schiebt, entdeckt er eine Leiche, die auf einem Operationstisch liegt und deren Körper vollständig aufgeschlitzt ist, so dass er der Länge nach in zwei Hälften gespalten wird. Auf dem Fleisch sind Muskelklemmen und kannelierte Sonden verteilt. Ein Mann, dessen Kleider von einer langen Leinenschürze bedeckt sind, beugt sich über den Körper. Als er aufblickt, erkennt Galeo die Züge Arto d'Angeforts. Er hält Pinzetten in beiden Händen und hebt, ohne von seinen Besuchern Notiz zu nehmen, vorsichtig das Fleisch an, um den Verlauf der Nerven zu studieren, bevor er seine Beobachtungen auf Velinblöcken, die neben ihm liegen, notiert. »Kennt Ihr diesen Mann gut?«, fragt Galeo. »Ja«, murmelt Johannus van Neesroy, während er den Lakenvorhang schließt und sich von dem Operationstisch entfernt. »Er ist der ehrgeizigste, wahrscheinlich aber der verrückteste Arzt dieser Welt; seine Devise scheint Obscurum per obscurius, ignotum per ignotius zu sein, das heißt, er geht zum Dunklen und Unbekannten, indem er noch dunklere und unbekanntere Wege einschlägt.« »Nach was sucht er?« »Er versucht zu beweisen, dass Hippokrates Unrecht hatte, als dieser behauptete, dass der Lebenshauch, oder das nervöse Fluidum, mit bloßem Auge unsichtbar sei und nur durch Verstandeskraft geschaffen werden kann. Wenn es d'Angefort gelingt, zum ersten Mal dieses Lebensfluidum zu identifizieren, dann hätte sich Hippokrates getäuscht.« »Und wenn er es nicht findet?« 106
»In diesem Fall wird er zwischen zwei Möglichkeiten wählen müssen; bei der ersten müsste er zugeben, dass das Fluidum nicht existiert, und bei der zweiten, dass Hippokrates Recht hatte, als er behauptete, dass es sehr wohl existiere, aber unsichtbar sei – gemäß der Vorstellung des Lebensfluidums, das den Raum zwischen Erde und Himmel erfüllt und das sich seit jeher dem Blick der Menschen entzieht, auch wenn es dafür sorgt, dass sich die Gestirne bewegen.« »Aber wenn Arto d'Angefort schließlich dieses Lebensfluidum im Körper des Menschen finden würde«, fragt sich Galeo laut, »und wenn, wie es Hippokrates behauptet, diese Substanz wirklich die stärkste Aktions- und Kohäsionskraft des menschlichen Körpers ist, eben die, welche dem Menschen Leben gibt und Schutzwälle gegen Krankheiten errichtet, dann würde es genügen, diesen Stoff aufzufangen oder zu reproduzieren, um ein Heilmittel zu schaffen, das in der Lage wäre, alle Übel zu behandeln, an denen die Menschen leiden.« »Das hast du richtig erkannt, Galeo. Eben deswegen sagte ich, dass Arto d'Angefort der ehrgeizigste aller Ärzte ist, denn er ist auf der Suche nach dem größten Geheimnis, das es auf der Welt gibt: dem Geheimnis der panacea. Zahlreiche Menschen vor ihm haben dieses Heilmittel zu entdecken versucht, das in der Lage ist, sämtliche Krankheiten zu heilen. Allerdings sind meines Wissens alle Forschungen, die auf der ganzen Welt seit dem Ursprung der Medizin unternommen wurden, erfolglos geblieben. Und nur die Zukunft wird uns sagen können, ob es ihm gelungen ist.« Galeo, der während des Gesprächs seine Erkundung des Cryptoporticus fortgesetzt hat, beugt sich nun über mehrere Schalen aus Horn, die schwer identifizierbare Stoffe enthalten. »Das sind Auszüge aus Mineralien und Lösungen«, erklärt der Priester, um der Frage des jungen Mannes zuvorzukommen. »Ich bin davon überzeugt, dass in diesem Bereich noch große Entdeckungen zu machen sind. Obwohl sie lange als Gift für den menschlichen Körper angesehen wurden, können Lösungen aus Zink, Eisen, Schwefel, Borax oder Alaun, ebenso wie Gold- und Silbersalze, bestimmte Vorzüge besitzen.« Die Aufmerksamkeit des jungen Arztes wird plötzlich von einer Kiste angezogen, die ein ekelerregendes Pulver enthält. Als er seinen Arm 107
ausstreckt, um die Konsistenz zwischen seinen Fingern zu prüfen, hält ihn Pater van Neesroy in seiner Bewegung zurück. »Sei vorsichtig!«, warnt er. »Wenn diese Substanz durch eine kleine Wunde in deinen Körper eindringt, würdest du von hohem Fieber befallen, das sich sehr schnell als tödlich erweist.« »Welche Krankheit löst sie denn aus?« Der Priester zögert einen Moment mit der Antwort, legt seine Hand auf die Schulter des jungen Mannes und sagt dann: »Diese Substanz habe ich von feuchtem, schimmligem Holzwerk abgekratzt. Sie löst bei den Männern und Frauen, die es infiziert, das Sankt-Sylvester-Feuer aus.« »Ist es Euch schon einmal gelungen, einen von diesem Leiden befallenen Patienten zu heilen?« »Ich habe es oft versucht«, antwortet Johannus van Neesroy. »Aber sprechen wir nicht mehr darüber. Ab morgen wirst du hierher kommen und ebenfalls mit den Forschungen beginnen, die du für lohnenswert hältst.«
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achdem er sich am nächsten Morgen in den Krankensaal begeben und den gebrochenen Knochen eines Patienten eingerenkt hat, begibt sich Galeo unverzüglich zu Pater Johannus van Neesroy. »Ich muss Euch sprechen.« »Ich höre«, antwortet der Priester, der die Ernsthaftigkeit im Ton seines Schützlings bemerkt hat. »Ich werde keinerlei Forschung im Cryptoporticus durchführen. Nach den fünfzehn Jahren, die ich in Akkon verbracht habe, habe ich heute beschlossen zu gehen.« Nach einem Augenblick des Nachdenkens äußert sich der Priester: »Ich kann diese Entscheidung nur begrüßen, Reisen ist die beste Möglichkeit, dein Wissen mit dem anderer Menschen zu konfrontieren und deine Arztausbildung zu vervollkommnen. Aber sag mir, wohin möchtest du gehen? Nach Fostat, um Meister Yehouda kennen zu lernen, der selbst Schüler von Maimonides war, oder aber an die Universität von Alexandria oder an die von Montpellier? Es sei denn, du möchtest dich eher zur Schule des Großkalifats Bagdad oder der des fernen Samarkand begeben?« Galeos Antwort lässt auf sich warten. Dann sagt er schließlich: »Nein, meine Wahl ist auf keines dieser Ziele gefallen. Ich habe beschlossen, nach Sevilla zurückzukehren.« Pater van Neesroy scheint mit dieser Antwort gerechnet zu habe. Seine Gesichtszüge verhärten sich unmerklich. »Warum hast du die Stadt gewählt, in der du keine Familie mehr hast?« Der Priester erhält keine Antwort auf seine Frage. »Lass die Vergangenheit in Frieden ruhen, Galeo«, fährt er mit ruhiger Stimme fort, »und erinnere dich lieber an Avicennas Worte: ›Die 109
Zeit lässt die Schmerzen vergessen, sie vernichtet die Rache, mildert die Wut und erstickt den Hass; die Vergangenheit ist daher so, als habe sie nie existiert.‹« »Wenn Schmerzen vergessen werden können, dann sind dies die unbedeutendsten. Die Seele behält in den Maschen ihrer Netze immer die größten Leiden zurück, die wir erlebt haben. Es ist die Erinnerung, die nachts unsere Träume heimsucht und uns tagsüber quält. Wir werden ihr nie entfliehen, und gerade wenn wir sie verschwunden glauben, kehrt sie umso stärker zurück. Falls sie einmal die Seele verlässt, dann um an unserem Körper zu nagen, um unseren Atem zurückzuhalten und unsere Stimme zu trüben oder aber um Organe leiden zu lassen, die eigentlich von Krankheit verschont sind. Das haben mich die medizinische Praxis und mein eigenes Leben gelehrt. Bestimmt hilft die Zeit dabei, das Leiden, das ich in mir trage, zu zähmen, aber meine Seele wird es niemals loslassen können.« »Ich sehe, dass all die Jahre die Vergangenheit nicht haben auslöschen können. Kannst du mir wenigstens bestätigen, dass du deinen Wunsch nach Rache aufgegeben hast?« Nach einem langen Schweigen antwortet Galeo schließlich: »Die Medizin ist die Kunst des Heilens und nicht des Tötens.« »Deine Worte sind richtig, aber du hast nicht auf meine Frage geantwortet. Was würde geschehen, wenn du in Sevilla einem der Kaufmänner, die damals deine Eltern ermordet haben, über den Weg laufen würdest?« »Nichts und niemand kann mich davon abhalten, zu gehen. Ein Handelsschiff, beladen mit Seidenwaren, Juwelen und Porzellan, wird im Morgengrauen Anker lichten, um zu der Küste Andalusiens zu fahren. Ein Platz erwartet mich bereits an Bord. Wenn die Winde günstig sind, werde ich in einem Monat in Sevilla sein.«
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ls Roscelin kurz nach dem Erwachen die Tür einen Spaltbreit öffnet, entdeckt er eine Menschenmenge, die noch gedrängter als am Vortag auf dem Flur des Gasthauses Esteban wartet. Roscelin hat sich vom Wirt eine Mahlzeit nach oben bringen lassen und schickt sich an, seinen ersten Patienten hereinzubitten, als ein korpulenter Mann mit schwarzen Haaren und Bart, der sehr reich gekleidet ist, auf ihn zugeht, ohne zu warten, bis er an der Reihe ist. Angesichts des lautstarken Protests, den sein Verhalten auslöst, nimmt er eine Börse voller Silbermünzen von seinem Gürtel und wirft sie voller Verachtung in die Menge, um sie zu beruhigen. Danach betritt er Roscelins Zimmer und achtet darauf, die Tür fest hinter sich zu schließen. »Ihr müsst mir helfen«, sagt er zu dem Arzt, »denn ich befürchte stark, dass mein Leben in Gefahr ist.« »Welches Leiden fürchtet Ihr im Besonderen?« Der Mann ist sehr aufgeregt und antwortet nicht gleich auf die Frage. Stattdessen nagt er an seinen Lippen, bis er schließlich erklärt: »In Sevilla wird gemunkelt, dass Ihr im Besitz eines Heilpräparats seid, das Wunder vollbringt. Alle, die zu Euch in die Sprechstunde gekommen sind, wurden plötzlich von ihren Leiden befreit. Daher könnt nur Ihr allein mich retten. Ich habe viel Geld, und ich werde Euch den Preis bezahlen, um den Ihr mich bittet, wie hoch er auch sein mag.« »Es ist in der Tat möglich«, antwortet Roscelin vorsichtig, »dass ich ein solches Heilmittel besitze. Aber wenn Ihr nicht mit mir über die Krankheit sprecht, die Euch bedroht, und zwar in allen Einzelheiten, kann ich nicht wissen, welche Dosis ich Euch verschreiben soll.« 111
Der Besucher wird immer nervöser. Seine Hände bewegen sich fahrig, seine Atmung wird schneller und große Schweißperlen stehen ihm auf der Stirn. Er schaut sich vergewissernd um und flüstert: »Ich kann Euch das Leiden, das ich fürchte, nicht benennen.« »Handelt es sich um eine ansteckende Krankheit?« »Ich habe Gründe anzunehmen, dass das der Fall ist. Und ich weiß vor allem, dass dieses Leiden tödlich ist.« »Woher kommt diese Sicherheit?« Der Mann bleibt still. Dann, während Roscelin ihn schweigend anstarrt, murmelt er plötzlich: »Heute Nacht habe ich im Traum meinen eigenen Tod gesehen … eine alte Glut, seit fast fünfzehn Jahren erloschen, hat sich wie durch Zauber neu entzündet. Ich spürte zunächst, wie ihre Hitze die Haut meines Gesichts rötete. Als ich vor den Flammen fliehen wollte, war es zu spät, denn diese hatten sich in lange Arme verwandelt, und es war ihnen gelungen, meinen Körper zu entflammen.« »Und so habt Ihr das Leben verloren?« »Nein, nicht ganz. Ich erinnere mich daran, mich ins Meer geworfen zu haben, damit ich nicht verbrenne, und ich habe mich darin für immer verloren.« »Schenkt Ihr Euren Träumen Glauben?« »Man sagt, sie können die Zukunft voraussagen …« »Ich denke nicht. Man sollte sie aber trotzdem berücksichtigen. Wenn man dem Dânesh-Nâma oder dem Buch der Wissenschaft von Avicenna glaubt, dann ›kommt der Traum daher, dass die Vorstellungskraft isoliert bleibt und sich vom Einfluss der Sinneseinwirkung befreit.‹ Daher sagt der Traum oft mehr aus als der Geist, der über die Sprache herrscht. An was habe ich denn gedacht, um unfreiwillig zu einem solchen Traum zu gelangen?, fragte sich der große persische Arzt. Er schlug den Kunstgriff des Nachdenkens vor, um die unserem Traum vorangegangenen Gedanken wiederherzustellen, und schloss daraus, dass es für jeden Traum eine Deutung gibt. Wenn ich nun ebenfalls diese Methode anwende, muss ich Euch fragen: An was habt Ihr denn gedacht, um zu dem Traum zu gelangen, von dem Ihr mir erzählt habt?« 112
»Ich weiß es nicht.« »Oder Ihr glaubt nur, es nicht zu wissen. Denn Ihr fürchtet eine Krankheit, und eines der ersten Bilder Eures Traums ist Euer von den Flammen gerötetes Gesicht. Könnte es sein, dass Ihr insbesondere ein Leiden fürchtet, das die Haut trifft?« »Das ist möglich …« »Und hat der Name des Leidens, das Ihr Euch in Form von Flammen vorstellt, etwas mit Feuer zu tun?« »Wahrscheinlich …« »Wie das Sankt-Sylvester-Feuer zum Beispiel, das vor kurzem reiche Kaufmänner aus der Stadt dahingerafft hat?« »Was, zum Teufel, seid Ihr bloß für ein Arzt, dass Ihr ins Innere der Seelen vordringen könnt?«, ruft der Kaufmann aufbrausend. »Nun ja, wie dem auch sei! Es ist genau dieses Leiden, das ich fürchte, und Ihr müsst mich retten!« Der junge Arzt nähert sich seufzend seinem Patienten, schaut ihm in die Augen und raunt schließlich: »Ihr solltet zunächst wissen, dass alle Reichtümer, die Ihr besitzt, nicht ausreichen würden, um nur ein einziges Korn des Heilpräparats zu kaufen, das ich besitze, denn selbst die mächtigsten Könige aus Orient und Okzident haben schon oft neue Steuern einführen oder ihre Schatzkammern leeren müssen, um es sich zu beschaffen. Außerdem dürft Ihr nicht glauben, dass dieses Heilmittel ohne die Hilfe eines Arztes wirken kann. Es kann Euch nur vor der Krankheit bewahren, wenn Ihr Euch zuerst vor mir von dem Geheimnis befreit, das Euren Geist quält. Sobald Ihr mit mir gesprochen habt, und erst dann, werde ich Euch einen Beutel des wertvollen Pulvers übergeben. Danach könnt ihr gehen, von jeglicher Krankheitsgefahr befreit.« Nach diesen Worten öffnet sich der Mann schließlich vertrauensvoll, denn seine Ängstlichkeit hat ihn erschöpft. »Ich habe seinerzeit die Männer, die an diesem Leiden gestorben sind, sehr gut gekannt. Wir haben uns gemeinsam auf einem Handelsboot eingeschifft, das nach Akkon fuhr. Sobald wir auf hoher See waren, sind ein Passagier und sein jüngerer Bruder erkrankt, und aus Angst, angesteckt zu werden, 113
haben wir beschlossen, uns ihrer zu entledigen. Das war die einzige Möglichkeit, uns von dem Fieber zu befreien. Wir hatten diese Entscheidung zu acht getroffen. Fünf von uns sind bereits tot, von demselben Leiden dahingerafft, vor dem wir uns damals schützen wollten.« »Habt Ihr schon vor mir mit jemandem darüber gesprochen?«, fragt Roscelin. »Nein, mit niemandem«, antwortet der Mann. »Außer vor einer knappen Stunde, als ich gebeichtet habe.« »Was machte diese Beichte so dringend?« »Ich fürchte um mein Leben und noch mehr um mein Seelenheil. Heute Morgen hat ein Unbekannter das hier in meinem Laden abgegeben.« Der Kaufmann reicht Roscelin ein Pergament, auf dem folgender Text geschrieben steht: Fünf sind bereits tot, du wirst der Sechste sein. Wenn der Tag zur Neige geht, wird das Leid, das wir in uns tragen, in deinem Blut fließen. Wenn es auch vergeblich ist, deinen Körper retten zu wollen, so kannst du dich wohl von den Verbrechen reinwaschen, die noch deine Seele beflecken. Roscelin überlegt einen Moment, dann fragt er seinen Patienten: »Wurden diese beiden Männer an Bord des Schiffes von einem anderen Familienmitglied begleitet?« »Ja, ich erinnere mich in der Tat an ein kleines Kind, das, glaube ich, der Sohn einer der beiden Brüder war.« »Würdet Ihr den Jungen heute wiedererkennen?« »Unmöglich, das ist fünfzehn Jahre her, und er war vielleicht knapp sieben Jahre alt.« »Sehr gut«, sagt Roscelin schließlich, »aber bevor ich Euch mein Heilpräparat übergebe, muss ich noch Eure Schultern untersuchen.« 114
Der Mann zieht daraufhin sein Hemd aus und bietet seinen nackten Rücken dem Blick des Arztes dar, der sich der Tatsache versichert, dass der Kaufmann keinerlei Verletzung trägt. Dann lässt er seine Hand tief in seine Tasche gleiten und holt mit unendlicher Behutsamkeit einen kleinen Lederbeutel hervor, der fest mit einer Kordel verschlossen ist. »Geht nach Hause und trinkt dies in einem Zug mit Wasser«, sagt er zu dem Kaufmann. »Der Geschmack lässt Euch vielleicht eine Weile das Gesicht verziehen, aber dieses Heilmittel wird Euch vor der Krankheit bewahren. Sprecht vor allem mit niemandem darüber. Es ist das Pulver der Könige, und niemand darf wissen, dass es in meinem Besitz ist.« Sofort nachdem der Mann ihn verlassen hat, stürzt Roscelin in den Raum, in dem Meister Akzar und Sarah immer noch auf ihren ersten Patienten des Tages warten. »Folgt diesem Mann!«, ruft er ihnen zu. »Das ist ein reicher Kaufmann, der noch bei perfekter Gesundheit ist, und seine Schultern sind nicht geschädigt, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sich jemand sehr bald an seinem Leben vergreifen wird.«
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armad Ibn Akzar und seine Schülerin stürzen dem Kaufmann hinterher und folgen ihm, als er sich durch mehrere kleine Gassen drängt, bevor er die erste Taverne auf der Plaza Virgen de los Reyes betritt. Der Medizinmeister geht direkt nach ihm durch die Tür, während Sarah, die draußen geblieben ist, das Ein- und Ausgehen eines jeden Gastes überwacht. In der Taverne herrscht großer Aufruhr, denn hier werben Matrosen mit lauter, vom Trinken heiserer Stimme weitere Besatzungsmitglieder für die Handelsschiffe an. Es wimmelt von Männern, die sich dem Höchstbietenden verkaufen, wenn es auch nur derjenige ist, der ihnen die meisten Weinkaraffen auf den Tisch stellt. Bevor sie vollkommen betrunken sind, werden den zukünftigen Matrosen Pergamente vorgelegt, die als Einschiffungsvertrag dienen. Die Männer unterzeichnen mit einem einfachen Kreuz, bevor sie ein paar Dinare ihres Solds erhalten, die sofort in die Hände der Frauen wandern, die sich in den Alkoven des ersten Stockwerks eingerichtet haben. Abgesehen von den Matrosen ist die Taverne dicht von Straßendieben, Handwerkern oder königlichen Soldaten in Zivil bevölkert, die der umstrittene Ausgang einer Würfelpartie in Zank verwickelt hat. Als er die Taverne betritt, hält der Kaufmann einen Augenblick inne, um die Männer zu mustern, die sich dort befinden. Einer von ihnen, denkt er, der gegen ein paar Münzen wahrscheinlich Vater und Mutter verleugnen würde, kann durchaus gut dafür bezahlt worden sein, mich zu töten. Dann entfernt er sich von der Gästeschar, behält jedoch ihre Arme und den Dolch, den sie alle am Gürtel tragen, im Auge. Er strebt dem abgelegensten Tisch der Taverne zu, achtet darauf, dass er sich mit dem Rücken zur Wand setzt, und ruft den Wirt. Kurz darauf 116
erscheint ein fetter, schlecht rasierter Mann vor ihm, dessen Backenund Schneidezähne schwarzen Löchern Platz gemacht haben. Der Kaufmann überreicht ihm mehrere Silberdinare, ohne sich die Mühe zu geben, sie zu zählen, und bittet um einen Becher und eine Karaffe Wasser. »Wasser?«, antwortet der Wirt erstaunt. »Ja, genau, Wasser«, fährt er auf. »Das Silber, das ich dir gegeben habe, reicht bei weitem aus, um mehrere Dutzend Tonnen davon zu kaufen, also beeil dich!« Einen Augenblick später schüttet der Kaufmann, ohne zu wissen, dass er beobachtet wird, so unauffällig wie möglich den kleinen Beutel des Pulvers, das Roscelin ihm gegeben hat, in seinen Becher und stürzt es nach dem Auflösen in einem Zug hinunter. Harmad Ibn Akzar, der sich in der Menge der Gäste versteckt hat, sieht, wie sich das Gesicht des Kaufmanns vor Abscheu verzerrt. Dann überfällt ihn ein trockener Husten, während er seine Hände an Hals und Brust führt und versucht, das Feuer zu lindern, das in seinen Körper eindringt. Einige Augenblicke später steht der Kaufmann, außer Atem und mit tränenfeuchten Augen, mühevoll von seinem Stuhl auf, durchquert den Raum und verlässt die Taverne. Er geht in Richtung der Plaza San Francisco, und kurz bevor er sie erreicht, öffnet er ein großes schmiedeeisernes Tor, überquert einen von Lorbeersträuchern gesäumten Patio, umrundet ein rechteckiges Becken, über das sich ein Marmorbrunnen erhebt, und gelangt in das Innere seines riesigen Anwesens.
Der Mann hat nun schon vor mehreren Stunden sein Haus betreten. Sarah und ihr Medizinmeister sitzen in einem weitläufigen, mit Zypressen und Orangenbäumen bepflanzten Garten und haben das Tor des Wohnsitzes nicht einen einzigen Moment aus den Augen gelassen. Nach dem Kaufmann ist niemand mehr über die Schwelle getreten.
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Der Tag ist zu Ende, und die Sonne ist untergegangen. Gingen tagsüber zahlreiche Sevillaner auf den weiten Pfaden des Gartens in der schattigen Kühle spazieren, so sind zu dieser nächtlichen Stunde der Medizinmeister und seine Schülerin allein. Das Mondlicht schimmert durch die Zweige der Orangenbäume und lässt diese schwach aufleuchten, und nur eine leichte Brise, die in den Wipfeln spielt, durchdringt die Stille. Obwohl sie bereits gegen die Müdigkeit ankämpfen, achten die beiden Beobachter weiterhin aufmerksam auf das geringste Geräusch und sind bereit, auf jeglichen Einbruchversuch in das Anwesen des Kaufmanns zu reagieren. Aber es ist alles ruhig, bis sich die Tür öffnet und die Gestalt einer Dienerin erahnen lässt, der die Herrin des Hauses befiehlt: »Lauf schnell los und hol Hilfe! Frag nach den besten Ärzten, und lass auch einen Priester kommen!« Ohne einen Moment zu zögern, stürzen Harmad Ibn Akzar und Sarah zur Tür. »Wir sind beide Ärzte«, rufen sie. »Was ist passiert?« »Es ist mein Mann, er brennt vor Fieber! Kommt schnell hoch!« Die beiden Ärzte folgen der Frau des Kaufmanns und gehen an hohen, stuckverzierten Wänden entlang, die hier und da von Teppichen bedeckt sind, durchschreiten einen Gang mit kleinen maurischen Doppelsäulen, und gelangen schließlich in den ersten Stock, wo sich das Sommerzimmer des Hausherrn befindet, ein weitläufiger, mit azurblauer Keramik ausgestatteter Raum. Harmad Ibn Akzar eilt zu dem Bett, auf dem der Kaufmann liegt, legt das Ohr an seine Brust, richtet sich dann langsam wieder auf und bedeutet den Anwesenden mit einer Kopfbewegung, dass der vor ihm liegende Mann nicht mehr am Leben ist. Nach einem kurzen Gespräch mit der Gattin des Kaufmanns wenden sich der Medizinmeister und seine Schülerin wieder dem Verstorbenen zu und betrachten eingehender sein Gesicht, das von roten, eitrigen Flecken bedeckt ist. Anschließend untersuchen sie den restlichen Körper, der vereinzelt kleine blaue Flecken aufweist, und werfen sich einen Blick zu, der besagt, dass sie beide zu demselben Schluss gekommen sind. »Das Sankt-Sylvester-Feuer«, lässt Sarah schlicht vernehmen. »Aber wie konnte das Leiden so schnell in seinen Körper eindringen?«, fragt sich Meister Akzar laut. 118
Dann dreht er sich zur Gattin des Kaufmanns um und fragt: »Hat Euer Mann seit heute Morgen Besuch erhalten?« »Nein«, antwortet die Frau schluchzend, »er schien sehr besorgt und wollte mit niemandem sprechen. Dann hat er sich lange in sein Arbeitszimmer eingeschlossen und ist erst herausgekommen, als er zu Bett gehen wollte. Da wirkte er schon sehr angeschlagen. Ich habe ihn aber erst spät in der Nacht stöhnen gehört und festgestellt, dass er krank war.« »Hat man Euch etwas Ungewöhnliches zur Mahlzeit serviert?« »Nein, unsere Dienerin hat uns gestern Abend Gerichte gebracht, die ich selbst gegessen habe, ohne dadurch unpässlich geworden zu sein.« In diesem Augenblick macht Sarah, die die Leiche weiter untersucht hat, ihren Meister auf etwas aufmerksam: »Seht, dieselben Wunden an den Schultern und auf dem Rücken, die wir beim letzten Opfer festgestellt haben. Ein weiteres Mal ist das Leiden hier eingedrungen.« »Aber wer«, fragt sich Meister Akzar, »kann ihm solche Verletzungen zugefügt haben, wo doch kein Fremder sein Haus betreten hat?« »Und wie können sie sich in diesem sauberen Haus so schnell entzündet haben?« »Dieses Haus ist in der Tat weit davon entfernt, das ungesündeste in Sevilla zu sein. Und da wir selbst festgestellt haben, dass unser Mann es nicht verlassen hat, ist das Leiden daher auf die eine oder andere Weise zu ihm gekommen.« Nach diesem Satz verstummen die beiden Ärzte einen Moment, als sie beide zu demselben Schluss kommen: »Könnte es sein«, fragt Sarah mit leiser Stimme, »dass …« »… der Inhalt des Beutels, den ihm Roscelin übergeben hat, ihn vergiftet hat?«, fährt Harmad Ibn Akzar fort, der die Gedanken der jungen Frau erraten hat. »Schließlich ist er Arzt, er kommt aus einem fernen Land, und wir wissen fast nichts über ihn.« »Und seine Ankunft in Sevilla erfolgte nur ein paar Tage nachdem die ersten Fälle des Sankt-Sylvester-Feuers bei den Kaufleuten der Stadt 119
aufgetreten sind«, fügt Meister Akzar hinzu und streicht sich mit den Fingern durch den Bart. »Es bleibt uns nur noch eines, was wir tun können, um uns zu vergewissern, ob Roscelin tatsächlich seinen Patienten vergiftet hat.« »Ja, wir müssen vollständig aufklären, was es mit diesem Pulver der Könige auf sich hat.«
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itten in der Nacht wird Roscelin durch heftige Schläge gegen seine Zimmertür aus dem Schlaf gerissen. Als er öffnet, wundert er sich, seinen Medizinmeister in Begleitung von Sarah vorzufinden, die ihn in ernsthaftem Ton bittet, eintreten zu dürfen. »Wir würden gern einen Blick in deinen Beutel werfen«, sagt Harmad Ibn Akzar schlicht zu ihm. Der junge Franzose hat die Augen noch halb geschlossen. Er gähnt ausgiebig, zündet mehrere Kerzen an und deutet dann, während er sich sein Hemd überzieht, mit einer achtlosen Geste auf seine Tasche, die auf dem Tisch liegt. Sarah ergreift sie als Erste, öffnet sie und zieht ein Dutzend Lederbeutel daraus hervor. Diese werden allesamt durch eine kleine Kordel verschlossen und enthalten ein rosafarbenes Pulver. »Wir möchten, dass du uns alles von diesem Heilmittel erzählst, das du Pulver der Könige nennst«, bittet die junge Frau. »Und das konnte nicht bis morgen früh warten?«, antwortet Roscelin, reibt sich die Augen und fährt sich verschlafen mit den Fingern durch seine langen blonden, zerzausten Haare. »Nein, das kann nicht warten«, mischt sich der Medizinmeister ein, »denn der Kaufmann, der dieses Präparat geschluckt hat, ist zur Stunde tot.« »Wenn er tot ist«, antwortet der junge Arzt, »dann bestimmt nicht wegen meines Pulvers der Könige, das an sich ein Heilverfahren ist, das absolut keine Wirkung auf die Gesundheit der Patienten hat.« Als Roscelin merkt, wie ihn seine beiden Gesprächspartner perplex anstarren, seufzt er, setzt sich auf sein Bett und wendet sich ihnen zu: »Ich schulde Euch die ganze Wahrheit. Dafür muss ich in eine Zeit 121
zurückgehen, zu der ich festgestellt habe, dass die Macht des Geistes unbegrenzt ist. Schrieb Maimonides nicht, dass ›die Wirkung des Seelenleidens die Körperfunktionen schwächt‹? Ein Trauerfall, eine Enttäuschung, eine Trennung können in der Tat Krankheiten im Körper auslösen, ebenso wie Hoffnung und Freude eine unerwartete Heilung erbringen können. So hatte ich, als ich angesichts des Leidens meiner ersten Patienten die geringe Wirksamkeit der herkömmlichen Heilmittel feststellte, die Idee, an die Macht ihres Geistes zu appellieren, um ihrem Körper die Heilung zu bringen. Dafür musste ich sie davon überzeugen, dass sie das wirksamste und geheimnisvollste Präparat der Welt einnehmen würden. Da sie vollkommen sicher waren, gesund zu werden, haben sich meine ersten Patienten quasi von selbst erholt. Von jenem Tag an bestand meine Arbeit als Arzt nun hauptsächlich darin, eine Geschichte zu erfinden, die so überzeugend wie möglich von den außergewöhnlichen Eigenschaften eines mysteriösen Pulvers erzählt, um das sich die mächtigsten Könige aus Orient und Okzident seit jeher streiten. Ein Heilmittel, von dem jedes Korn mehrere Säcke Gold wert sei, und das demjenigen, der es schluckt, das Gefühl gibt, den mächtigsten Monarchen der Erde ebenbürtig zu sein.« »Und du behauptest also«, fragt Sarah, »dass auf diese Weise dargelegt, das Präparat eine heilende Wirkung besitzt?« »Die Fakten haben es mir mehrmals bewiesen. Wie viel Schmerz habe ich mit meinem Pulver gelindert, wie viel Angst, Melancholie oder Bauchschmerzen sind auf diese Art verschwunden? Ihr macht Euch davon keine Vorstellung. Von Gedächtnisstörungen zu Muskelermüdung, von Verdauungsschwierigkeiten zu Kopfschmerzen, und, nicht zu vergessen, Schlaflosigkeit oder Geschlechtsträgheit – die meisten Schmerzen dieser Welt verschwinden definitiv dank dieses Heilverfahrens. Um seine Wirksamkeit zu steigern, verlange ich von meinen Patienten unbedingtes Stillschweigen, was das sicherste Mittel ist – da werdet Ihr mit mir einig sein –, dass sie seine Existenz sofort einem nahen Verwandten oder einem Freund verraten. So sind die meisten meiner Patienten oft schon von der wundersamen Macht des Pulvers der Könige überzeugt, bevor ich ihnen auch nur davon erzähle. Wie 122
viele Heilpräparate oder von großen Chirurgen durchgeführte Operationen verschlimmern die Leiden, die sie doch heilen sollten? Das Pulver der Könige hingegen verursacht keinerlei Schaden. Indem ich es benutze, bleibe ich den beiden Grundsätzen treu, auf denen die Hippokratische Lehre beruht. Erstens, niemals seinem Patienten schaden, und zweitens die günstigen Selbstheilungskräfte der Natur im Inneren seines Körpers unterstützen.« Harmad Ibn Akzar und Sarah sehen sich schweigend an, während ihnen gegenüber Roscelin sitzt, der sie lächelnd betrachtet. »Und aus was ist dieses Präparat zusammengesetzt?«, fragt schließlich der Medizinmeister, der die Erklärung des jungen Franzosen mit höchstem Interesse zur Kenntnis genommen hat. »Für seine Zusammensetzung wähle ich die günstigsten Zutaten aus, die ich auf den Märkten finde, das sind meistens dicke Bohnen, die ich grob mit scharfen Pfefferschoten zerstoße. Denn je schlechter der Geschmack des Heilmittels, desto größer das Gefühl seiner Wirksamkeit.« »Somit wäre dieses Pulver vollkommen unschädlich?«, bohrt Sarah nach. »So, wie es ein paar mit Pfefferschoten vermengte Bohnen nur sein können.« »In diesem Fall«, fährt Harmad Ibn Akzar fort, »wirst du wohl nichts dagegen haben, ein wenig davon vor unseren Augen zu schlucken.« Bei diesen Worten verwandelt sich Roscelins Lächeln in eine Grimasse des Abscheus. »Aber Meister Akzar, sein Geschmack ist abscheulich!« »Es ist aber die einzige Möglichkeit, die es gibt, um uns zu beweisen, dass du diesen Kaufmann nicht vergiftet hast.« »Wenn ich keine andere Wahl habe …«, antwortet der junge Franzose und greift voller Widerwillen nach einem Beutel, dessen Inhalt er in einem Becher Wasser auflöst und trinkt. Danach verzerrt sich Roscelins Gesicht krampfhaft, und Tränen stehen ihm in den Augen. Doch dann, nach einem kurzen Keuchen, das von einem Schluckauf unterbrochen wird, kommt er wieder zu Atem und fängt an zu lachen: 123
»Noch nie zuvor habe ich mein Pulver der Könige probiert! Ich wusste nicht, dass es so übel sein kann. Möge Gott mich davor bewahren, es in meinem Leben noch ein zweites Mal schlucken zu müssen!« Daraufhin steckt sich Harmad Ibn Akzar aus reiner Neugier ebenfalls eine Prise in den Mund. Sarah tut es ihm gleich und amüsiert sich zunächst über die Grimasse ihres Medizinmeisters, bevor sie selbst nach einem Glas Wasser greift, um das Feuer zu beruhigen, welches das Pulver in ihrer Kehle ausgelöst hat. Meister Akzar räuspert sich und wendet sich dann wieder an Roscelin: »So gelingt es dir also, deine Kranken zu behandeln, indem du sie davon überzeugst, dass das Pulver der Könige sie heilen wird.« »So einfach ist es. Aber ich trage nicht viel dazu bei, ich passe mich nur der Welt an, die sich verändert. Wenn der Glaube an Gott doch immer die Ursache von Wunderheilungen war, warum sollte ein blindes Vertrauen in die neue Heilwissenschaft nicht dieselben Auswirkungen haben?« »Ich habe gleich gewusst«, antwortet Harmad Ibn Akzar, »dass du, wenn auch ohne die meisten Eigenschaften, die einen guten Arzt ausmachen, trotz allem das Genie derer besitzt, die unsere Wissenschaft vorantreiben.« »Ich muss trotzdem anerkennen, Meister, dass bei bestimmten Leiden mein Pulver der Könige ohne Wirkung bleibt. Es hat zum Beispiel den Kaufmann, der heute Morgen zu mir gekommen ist, nicht vor dem Tod retten können. Ich denke aber, dass ich eine Erklärung habe. Bevor er mein Zimmer verließ, hat er mir anvertraut, dass er sich vor fünfzehn Jahren in Begleitung von sieben anderen Männern eines Doppelmordes schuldig gemacht hat, und zwar an Bord eines Schiffes, das in den Orient fuhr. Ein Junge, der Zeuge dieses Mordes gewesen ist, stellt die einzige Familie der Opfer dar. Heute dürfte er erwachsen sein und allen Grund haben, sich an den acht Kaufleuten zu vergreifen, von denen sechs bereits ihr Leben verloren haben.« »Das ist wahr«, stimmt Harmad Ibn Akzar zu. »Und wir können wetten, dass dieser junge Mann Arzt geworden ist. Aber trotz der Tatsache, dass wir nun einen Entwurf unseres Mörders haben, bleibt noch 124
eine Frage offen. Wie bringt er es fertig, dass die Opfer, die doch auf der Hut sind, es einfach zulassen, dass er sich ihnen nähert?« »Als der Mann zu mir kam«, fährt Roscelin fort, »war es wahrscheinlich schon zu spät. Es ist daher zwecklos, weiter darauf zu warten, dass die Opfer uns konsultieren. Im Gegenteil, wir müssen sie identifizieren und überwachen, bevor sich ihr Mörder ihnen überhaupt nähern kann. Nur, wie sollen wir das anstellen, da wir doch gar nicht wissen, wer diese Männer sind und wo sie sich heute befinden?« »Es gibt vielleicht eine Möglichkeit, es zu erfahren«, sagt Sarah. »Wir kennen bereits die Namen der sechs ersten Kaufmänner, die ermordet worden sind. Es genügt daher, die Bordverzeichnisse der Handelsschiffe wiederzufinden, die vor fünfzehn Jahren nach Akkon aufgebrochen sind.«
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uhe liegt über den Palastmauern des königlichen Alcazar. Die langsamen Schritte der Wachen können das Murmeln des Wassers, das in den Marmorbecken fließt, kaum übertönen. Lediglich die Gärten und Innenhöfe des sevillanischen Palasts scheinen zu dieser nächtlichen Stunde die Quelle des nahen Guadalquivir zu sein, so jedenfalls wirkt das Plätschern der Steinkanäle, das Sprudeln in den Brunnenröhren oder aber das Gluckern in den Kanälen, die unter der Zypressenallee verschwinden und erst verborgen unter einer Kuppel von Oleander wieder auftauchen. Den ganzen Tag über ist die Sonne großzügig gewesen, und die Steine der Mauern sind noch warm. Zwei Wachposten beobachten, gegen eine Zinne der Festung gelehnt, die Gärten und Innenhöfe, als ihr Blick von einem schwachen Licht angezogen wird, das durch die Fensterläden der Gemächer des königlichen Arztes dringt. »Schau«, sagt eine der Wachen, »ein Mitglied des Hofes empfängt wohl in diesem Moment eine Behandlung.« »Es sei denn, der Kranke ist der Arzt des Königs selbst. Sein Schritt wurde in letzter Zeit immer langsamer, und seit ein paar Tagen habe ich ihn nicht mehr in den Gärten spazieren gehen sehen, wie es sonst seiner Gewohnheit entspricht.« In den Gemächern liegt Meister Abraham Alfaquin in seinem Bett. Er ist sehr schwach. Sein Schüler sitzt neben ihm und bietet ihm einen Trank aus Salbei und Alraunenwurzeln an. Der alte Arzt lehnt mit einer Handbewegung ab. »Gegen die Macht des Todes hat noch keine Pflanze auf der Erde je Wurzeln geschlagen. Mein Herz hat nicht mehr viel Kraft, und meine Tage sind gezählt. Geh und suche Sarah. Ich 126
möchte diese Erde nicht verlassen, ohne vorher meine einzige Tochter wiedergesehen zu haben. Du findest sie im Gasthaus Esteban im Kaufmannsviertel in Begleitung von Meister Akzar und dem französischen Arzt.«
Sarah wird von dem harten Getrappel der Pferdehufe unter ihrem Fenster aus dem Tiefschlaf gerissen. Sie steht auf und beugt sich hinaus. Als sie die große Gestalt des Schülers ihres Vaters erkennt, ruft sie überrascht: »Aguirre!« Seit einem Jahr ertappt sich Sarah bei jedem ihrer Besuche im Alcazar dabei, wie sie den Blick des jungen Mannes sucht, während sie sich mit ihrem Vater unterhält. Das erste Mal, als sie Aguirre richtig wahrgenommen hatte, war er gerade aus Córdoba eingetroffen, der Stadt, die Averroes und Maimonides hat auf die Welt kommen sehen. Der Schüler ihres Vaters war nach der orientalischen Mode gekleidet gewesen, die in dieser Stadt üblich war. Die Heilmittel, die er verwendete, waren ebenfalls im Orient beliebt, wie Alkohol, aqua ardens, Schwefelsäure, Silber- oder Goldsalze. Sein Wissen war trotz seines jungen Alters immens. Er hatte gerade zwei Jahre in der üppig bestückten Bibliothek von Córdoba verbracht, die man mit der Alexandrias vergleicht, die seinerzeit den Ruf der Stadt ausmachte. Aguirre hatte schon früh bestimmte Elemente der Anatomie Galens oder Aristoteles' abgelehnt, die vorgab den Körper des Menschen zu beschreiben, obwohl sie sich auf die Sektion von Tieren stützte. Als er in Sevilla ankam, trug er bereits Holzschnitte bei sich, die er selbst angefertigt hatte. Sie stellten die Anatomie des menschlichen Körpers dar, so, wie er ihn am Fuß der Galgen an den zum Tode Verurteilten studiert hatte. »Wenn man die gesunden Organe nicht perfekt kennt, wie soll man dann die Krankheit erkennen können?«, hatte er Abraham Alfaquin gefragt, als dieser sich über seine Zeichnungen gebeugt hatte. Von diesem Augenblick an war der alte Arzt des Königs von dem jungen Mann so eingenommen gewesen, dass er ihn zu seinem einzi127
gen Schüler und Nachfolger am Hofe Alfonso X. des Weisen machte. Am Anfang hatte Sarah in Aguirre einen Rivalen gesehen, mit dem sie von nun an die Zuneigung ihres Vaters würde teilen müssen. Denn Abraham Alfaquin betrachtete seinen Schüler rasch als seinen eigenen Sohn, jenen Sohn, den er niemals gehabt hatte und dem sie so sehr hatte ähneln wollen. Nach und nach aber hatte Aguirre einen immer größeren Platz in Sarahs Leben eingenommen. Sogar dem alten Abraham Alfaquin war schließlich das Interesse aufgefallen, das seine Tochter seinem Schüler entgegenbrachte. »Wen kommst du denn heute besuchen«, fragte er sie manchmal, »deinen Vater oder seinen jungen Schüler?« Heute Abend hat die junge Frau sofort den Ernst in Aguirres Gesicht bemerkt, als er sie bittet, ihm zu folgen: »Mit deinem Vater steht es zum Schlechtesten, er verlangt nach dir.« Weniger als eine Stunde später durchschreitet der junge Mann die Tore des Alcazar und begleitet Sarah an das Bett des Arztes der königlichen Familie. Dann lässt er sie beide allein. »Vater«, fragt die junge Frau, als sie neben dem Bett des alten Mannes niederkniet, »willst du, dass ich Aguirre hereinbitte, damit er dir seine Behandlungen zukommen lässt?« »Ich danke dir, Sarah, aber trotz seines immensen Wissens kann er nichts mehr für mich tun. Mein Herz ist verbraucht, seine Schläge werden jeden Tag schwächer, und ich werde diese Welt innerhalb kurzer Zeit verlassen, es sei denn, es würde in meiner Brust ersetzt. Aber Jammern nützt nichts: Mein Geist ist noch rege, und ich kann mich mühelos mit dir unterhalten. Reden wir daher über deine Studien. Seitdem die großen Bibliotheken ihre Türen geöffnet haben und die Kopisten und Übersetzer uns die Geheimnisse der Alten enthüllen, erweitert sich unsere Kunst jeden Tag um vergessenes Wissen. Die Medizin ist von nun an im Besitz eines Grundsatzes und einer Methode, dank derer sich große Fortschritte vollziehen. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass du diesem Vorankommen nicht gleichgültig gegenüberstehst.« Sarah hört zwischen den Zeilen ihres Vaters die Worte, auf die sie insgeheim schon seit Jahren wartet und die lauten: ›Ich weiß sehr gut, 128
dass du Ärztin bist, und ich erkenne dich als solche an. Ich werde dir nicht sagen, dass es Zeit ist zu heiraten, Kinder zu haben. Nein, auch du kennst die Heilkunst, und es ist unser Beruf, über den wir gemeinsam sprechen müssen.‹ »Das ist richtig, Vater«, sagt Sarah schließlich, »und ebenso wie Hippokrates, der davon überzeugt war, dass nur wer das Wissen über die alten Entdeckungen besitzt, die Kunst vorantreiben kann, stütze ich mich auf die Werke, die vor mehr als tausend Jahren von Soranos von Ephesos geschrieben worden sind, um die Krankheiten der Frauen zu studieren und die Kunst, ihre Kinder auf die Welt zu bringen. Denn die Frauen dürfen nicht mehr von den Fortschritten der Medizin ausgeschlossen werden. Vom Gewicht der Scham und der Moral erdrückt, wagen sie nicht, ihren Körper den Ärzten zu zeigen, und wenn sie sich schließlich fügen, ist es oft zu spät, um sie zu heilen. Selbst die Hebammen hüten sich davor, die Geschlechtsteile der Frauen im Kindbett eingehend zu betrachten, aus Angst, die Frauen könnten ihren Körper zusammenziehen anstatt ihn zu entspannen.« »Wenn es stimmt, dass Krankheiten und Epidemien Männer und Frauen unterschiedlich treffen, so stimmt es auch, dass es oft Männer waren, die mich an ihr Bett gerufen haben. Die Frauen befürchten, hinter dem Auge des Arztes könnte sich der Blick des Mannes auf sie richten. Schon Herodot erinnerte daran, dass die Königin Atossa den letzten Moment abgewartet hat, um ihren kranken Busen Demokedes, dem Hofarzt, zu zeigen.« »Wenn die Scham einmal besiegt ist, müssen wir uns noch vom Aberglauben und dem falschen Wissen befreien, die sich über die Jahrhunderte angehäuft haben. Wenn ich bestimmte Fälle durch Diät, Chirurgie oder Medikamente behandele, vermeide ich alte Praktiken, die behaupten, die erste Muttermilch, dick und käsig, sei Gift für das neugeborene Kind, der Gebrauch eines Instruments aus Eisen zum Durchschneiden der Nabelschnur bringe Unglück oder auch dass es vorzuziehen sei, den linken Arm des Säuglings zu verbinden, um sicherzugehen, dass dieser ein Rechtshänder würde. Man sagt sogar, dass es gut für ein Neugeborenes sei, wenn man es in 129
ein Bad aus kaltem Wein vermischt mit Salzlake und frischem Urin taucht.« »Die Medizinkunst ist nicht leicht. Erinnere dich daran, dass selbst der große Maimonides Gott anflehen musste, damit er ihm die Kraft und die Geduld gebe, unwissende, dickköpfige und ungehobelte Kranke zu behandeln. Aber da wir gerade von den Fortschritten in der Heilkunst sprechen – was hast du mir über diesen jungen Roscelin Chelderay zu berichten, dessen Ruf in nur wenigen Tagen durch die Mauern des Alcazar gedrungen ist? Der König selbst ist gekommen, um mich zu fragen, ob ich dieses mysteriöse Pulver kenne, das Roscelin aus dem Königreich Frankreich mitgebracht hat und das anscheinend Wunder vollbringt.« »Ich weiß bisher nur wenig über diesen jungen Mann. Oft scheint er mit der Medizin sein Spiel zu treiben, aber trotzdem heilt er seine Patienten wirksam. Es ist ihm gelungen, eine neue Kunst zu entdecken, die ich ihn bitten werde, mir beizubringen, denn sie kann sich als nützlich erweisen für die Behandlung von Frauen, die ein Kind erwarten und die herkömmlichen Heilmittel nicht vertragen. Im Augenblick beschränken wir uns darauf, gemeinsam die Untersuchung über das Leiden durchzuführen, das die reichen Kaufmänner unserer Stadt befällt.« »Ach ja, ich hatte diese seltsame ansteckende Krankheit vergessen. Zu welchen Schlüssen seit ihr drei gelangt?« »Wir haben bereits erfahren, dass es sich auf keinen Fall um eine Epidemie handelt, sondern eher um eine Mordserie.« »Und wie stellt es der Mörder an, den Tod beizubringen? Bedient er sich der Krankheit als Waffe?« »Wir wissen es noch nicht, aber anscheinend verletzt der Mörder zunächst seine Opfer an den Schultern und am Rücken, bevor er ihre Wunden beschmutzt; niemand hat ihn aber bisher die Anwesen, in denen er seine Verbrechen beging, betreten oder verlassen sehen.« »Und wer wäre der Autor solcher Taten?« »Nach dem, was wir wissen, handelt es sich zweifelsohne um einen Mann, der sehr große medizinische Kenntnisse besitzt.« 130
»Wie ist das möglich?«, fragt Alfaquin seine Tochter. »Wie kann ein Mann, der Medizin studiert hat, töten anstatt zu heilen?« »Die Untersuchung, die wir mit Meister Akzar durchführen, müsste bald eine Antwort auf diese Frage liefern.« »Wenn dieser Mann Arzt ist, habe ich wahrscheinlich von ihm gehört. Was weißt du noch über ihn?« »Wir wissen überhaupt nichts über ihn, außer dass er vor fünfzehn Jahren noch ein Kind war.« Nach dieser Antwort denkt der alte Arzt lange nach und bittet dann seine Tochter mit einer Handbewegung, ihn allein zu lassen.
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m folgenden Tag begibt sich Harmad Ibn Akzar in Begleitung von Sarah und Roscelin zu Fuß zu den Gebäuden des Hafenzollamts. Seitdem sie ihr Gasthaus verlassen haben, sind ihnen zwei Männer auf den Fersen. Sie sind von solider Konstitution, schwarz gekleidet und verbergen einen Teil ihres Gesichts durch die breiten Krempen ihrer Hüte. Keiner der Ärzte hat ihre Anwesenheit bemerkt. Als sie an den Mauern des Torre del Oro ankommen, wird ihr Blick von den weißen dreieckigen Segeln einer riesigen orientalischen Boutre von mehr als fünfzig Ellen Länge angezogen, die gerade ein Anlegemanöver durchführt. Bevor die Boutre den Kai auch nur berührt, wird sie bereits von zahlreichen Booten mit flachem Kiel, die normalerweise zwischen den Ufern des Guadalquivir hin- und herpendeln umringt. Der Schiffsrumpf der Boutre besteht aus glatten Brettern, die von Kokosnussfasern zusammengehalten werden, die man zuvor in Pflanzenöl getränkt hat. Auf dem Kai drängt sich eine Menschenmenge im Freudentaumel, die gekommen ist, um die Ankunft der Seefahrer zu feiern, und nur schwer von den Soldaten der königlichen Garde im Zaum gehalten wird. Meister Akzar und seine Schüler bleiben ebenfalls stehen und entdecken eine Gruppe von etwa zehn Personen, die sich in einem Spalier von Matrosen bewegt, die sie beschützen. Die Mitglieder der Gruppe tragen lange rote Seidenroben, und ihre Köpfe werden von einem gelben Stoff bedeckt, unter dem schwarzes glattes Haar hervorquillt. Der älteste der Männer steht einen Schritt vor den anderen. Er trägt einen feinen Schnurrbart, dessen Enden weit über sein Kinn fallen. Als er den Steg hinunterläuft, kommt Roscelin, der sich einen Weg durch die Menge gebahnt hat, um sich dem Schiff so weit es ging zu 132
nähern, zu Sarah und seinem Meister zurück: »Es handelt sich um eine chinesische Gesandtschaft, diese Männer bringen Geschenke, die für den König und seinen Hofstaat bestimmt sind.« »Vergessen wir aber trotzdem nicht unsere Untersuchung«, antwortet Harmad Ibn Akzar und entfernt sich vom Kai. »Uns bleibt wenig Zeit, wenn wir die beiden letzten Kaufmänner vor dem Tod retten wollen.« Wenig später passieren sie den Eingang des Zollgebäudes. Nachdem sie sich vorgestellt haben, zeigt man ihnen das Archiv, und sie betreten einen weiten Raum, durch dessen schmale, hohe Fenster schwaches Licht fällt. An den Wänden stehen reich verzierte Bücherregale. Meister Akzar und seine Schüler werden von einem alten, blassen Mann empfangen. »Da seid Ihr nun, medizinische Ermittler im Dienste des Königs. Was kann ich für Euch tun?« »Wir würden gern«, antwortet Meister Akzar, »die Zollregister und das Bordbuch eines Handelsschiffs einsehen, das im Frühjahr des Jahres 1250 in den Orient aufgebrochen ist.« »Wenn ich mich recht entsinne«, antwortet der alte Mann, »ist vor ein paar Wochen jemand für dieselbe Nachforschung gekommen. Und ich glaube mich daran zu erinnern, dass er in den Werken dieser Reihe fündig wurde.« Der Archivar entfernt sich einige Schritte und besteigt dann langsam eine Trittleiter, greift nach einem dicken Buch, dann nach einem anderen, das ein paar Regale weiter steht. »Das ist wahrscheinlich, was Ihr sucht«, sagt er und reicht Harmad Ibn Akzar die beiden Bände. »Es handelt sich um das Zollregister, in dem die Steuer für jede Ware vermerkt ist, die den Hafen von Sevilla verlässt. Das andere ist das Bordbuch eines Handelsschiffs, das am 16. Mai 1250 nach Akkon aufgebrochen ist.« Die drei Ärzte setzen sich an einen Tisch im Archivraum und öffnen die Bücher. »Die Namen der Opfer befinden sich eindeutig auf der Passagierliste«, sagt Meister Akzar. »Und hier, direkt neben den Unterschriften, ist die Summe vermerkt, die sie entrichtet haben. Nur acht Passagiere haben mehr als fünfzig Silberdinare bezahlt, was beweist, 133
dass sie eine große Anzahl an Waren und wahrscheinlich auch Pferde an Bord gebracht haben.« »Sechs dieser Männer sind in den letzten Wochen gestorben«, mischt sich Roscelin ein. »Hier nun die Namen der beiden Kaufmänner, die heute noch am Leben sind: Miguel Abalquinto und Bayardo Orzarin.« »Am Leben für wie lange noch?«, fragt sich Sarah. »Jemand hat bereits vor uns in diesen Registern nachgeschlagen und sich sicherlich dieselben Namen notiert. Es besteht kein Zweifel, dass es sich dabei um unseren Mörder handelt. Er wird diese beiden Männer bald dasselbe Schicksal erleiden lassen, das er bereits den sechs anderen zugedacht hat.« »Suchen wir sie daher so schnell wie möglich auf«, sagt Harmad Ibn Akzar. »Und sobald sie identifiziert sind, dürfen wir sie nicht einen einzigen Augenblick aus den Augen verlieren. Wenn wir sie überwachen, wird es für unseren Mann nicht leicht sein, sich ihnen zu nähern. Bevor wir aber diesen Ort verlassen, müssen wir noch einen letzten Namen finden: den des Kindes, das sich seinerzeit auf diesem Boot eingeschifft hat und das heute unser Hauptverdächtiger ist.« »Hier ist der, den wir suchen«, sagt Sarah und zeigt mit dem Finger auf eine Zeile des Buchs, »er ist das einzige Kind, das im Bordregister vermerkt wird. Sein Name lautet Galeo Rodrigo, Sohn von Sebastian Rodrigo, Weber, der mit seinem jüngeren Bruder Felipe reist, beide starben an den Folgen eines Fiebers, das sie sich auf der Reise zugezogen haben.«
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och am selben Tag durchkämmen der Meister Akzar und seine Schüler die Alcaiceria de la Seda, das Kaufmannsviertel von Sevilla, in alle Richtungen und fragen die Ladenbesitzer, ob sie die Namen Miguel Abalquinto und Bayardo Orzarin kennen. Ein Schmied schüttelt bedächtig den Kopf, nachdem er die Besucher zunächst gebeten hat, ihre Frage zu wiederholen. Die Frau eines Tuchhändlers wendet sich zunächst an ihre Arbeiterinnen und antwortet dann, indem sie schlicht ein Gesicht zieht und mit den Schultern zuckt. Nach weiteren unfruchtbaren Versuchen stehen Akzar, Sarah und Roscelin schließlich vor einem alten Gerber, der langsam nickt. »Miguel Abalquinto, dieser Name sagt mir etwas. Moment mal … Ja, das ist es, der Mann besitzt das beste Seidenwarengeschäft, das sich am Eingang zur Plaza San Francisco befindet.« Die drei Ermittler begeben sich daraufhin zu der Plaza, ohne die beiden Männer in ihren schwarzen Umhängen zu bemerken, die ihnen immer noch in einigem Abstand seit Tagesanbruch folgen. Kurz darauf gelangen sie zu einem großen Seidengeschäft. Sarah und Roscelin betreten es und geben vor, sich für die Stoffe zu interessieren, die dort ausgestellt sind. Nacheinander befühlen sie die kostbaren Gewebe, die hauptsächlich aus dem Orient stammen, um ihre Qualität abzuschätzen. Draußen betrachtet Harmad Ibn Akzar die Fassade des hohen Hauses, das an den Laden angrenzt und reich mit kleinen Säulen und Keramikreliefs verziert ist. Das dürfte der Wohnsitz unseres Mannes sein, sagt sich der Medizinmeister. Zwanzig Schritte entfernt entgeht den beiden Männern in Schwarz, die sich hinter einem Portal verbergen, nichts von dem Kommen und 135
Gehen der drei Ermittler. Von ihrer Position aus beobachten sie Sarah und Roscelin, die die Seidenwaren begutachten, und sind die Ersten, die den mit Holzkisten beladenen Karren bemerken, der sich dem Geschäft nähert. »Eine Lieferung für Miguel Abalquinto!«, ruft der Fahrer des Gespanns und zieht an den Zügeln seiner Pferde. Kurz darauf kommt ein Mann aus dem Laden. Er ist kräftig, trägt rote Kniehosen und einen mit einer schwarzen Borte gesäumten Leinenumhang. An seinem Gürtel hängen eine verzierte Lederbörse sowie ein Dolch, in dessen Griff Edelsteine eingearbeitet sind. Mit befehlsgewohnter Stimme weist er seine Verkäufer an, alle Waren auf den Ladentischen vor dem Geschäft aufzustellen. »Das ist er«, raunt Roscelin Sarah zu. »Er scheint bei guter Gesundheit zu sein, wir sind nicht zu spät gekommen.« »Verlieren wir ihn nicht aus den Augen«, antwortet die junge Frau. Währenddessen öffnet der reiche Kaufmann die Kisten, nachdem er sie hat abladen lassen, und zählt höchstpersönlich die Stoffe nach, die sie enthalten. Als er die letzte Kiste öffnet, entdeckt er auf den Stoffen ein zusammengerolltes Pergament. Er ergreift es, entsiegelt es, entfernt sich einige Schritte und liest seine Botschaft. Kurz darauf hebt und senkt sich seine Brust in verstärktem Rhythmus. Seine Hand schließt sich reflexartig um den Griff seines Dolchs, doch dann, nachdem er sich versichert hat, dass niemand neben ihm steht, der ihn bedroht, steckt er seine Waffe ein und wischt sich das Gesicht mit einem Seidentuch ab, bevor er sich in Richtung Innenstadt entfernt. Die drei Ärzte stürzen ihm sofort hinterher, gefolgt von den beiden Männern, die ihr Versteck verlassen haben. Miguel Abalquinto, der nicht ahnt, dass ihm fünf Personen auf den Fersen sind, begibt sich regen Schrittes in Richtung Plaza Virgen de los Reyes. Als er in eine einsame Gasse einbiegt, zögern die beiden schwarz gekleideten Individuen einen Moment und beraten sich, bevor sie ihre Schritte beschleunigen und sich wieder an die Fersen der drei Ärzte heften. Just als Miguel Abalquinto auf dem Weg zur Kathedrale Santa Maria la Mayor um eine Ecke biegt, lösen die beiden Männer ihre Umhänge und stürzen sich auf Roscelin. Harmad Ibn Akzar zögert keine 136
Sekunde, seinem Schüler zu Hilfe zu kommen, greift einen der beiden Männer am Hals und stößt ihn gewaltsam zurück. Sarah hingegen, die keine Zeit hatte zurückzuweichen, wird zu Boden geworfen. Beim Abfangen des Sturzes verletzt sich die junge Frau an beiden Händen, steht aber sofort wieder auf. Ihre Wunden sind nur oberflächlich. »Kümmere dich nicht um uns!«, ruft ihr Meister Akzar zu. »Folge dem Kaufmann, er führt dich sicher zu …« Ihm bleibt keine Zeit, seinen Satz zu beenden, denn während Sarah davoneilt, wirft sich sein Angreifer auf ihn, und ein heftiges Handgemenge beginnt. Währenddessen wird Roscelin von seinem Angreifer bereits in Schach gehalten. Ein einziger Schlag auf den Kopf genügt, und er verliert das Bewusstsein. Die beiden Männer in Schwarz sind nun im Vorteil. Da der Franzose am Boden liegt, werden sie mit Harmad Ibn Akzar leicht fertig, den sie ebenfalls niederschlagen, bevor sie die Flucht ergreifen und verschwinden.
Einige Zeit später gelangt der Medizinmeister als Erster wieder zu Bewusstsein. Langsam führt er die Hand an seinen Schädel und kriecht zu Roscelins Körper hinüber, dessen blonde Haare mit Blut bedeckt sind. Nachdem er überprüft hat, dass sein Schüler noch am Leben ist, schüttelt er ihn heftig, damit auch er wieder zu sich kommt. Dann, als er entdeckt, dass sich die Börse des jungen Mannes immer noch an dessen Gürtel befindet, schiebt er den Saum seines eigenen Umhangs zur Seite, um festzustellen, dass auch ihm nichts gestohlen wurde. »Wir hatten Unrecht zu glauben, dass nur eine Person sich an den sevillanischen Kaufmännern vergreift«, bemerkt Harmad Ibn Akzar. »Unser Schuldiger hat Komplizen, und sie sind es bestimmt, die uns angegriffen haben. Wahrscheinlich hatten sie den Auftrag, uns von der Entdeckung der Wahrheit abzuhalten, während wir die Spur desjenigen verfolgen, der das siebte Opfer sein könnte.« Die beiden Männer helfen sich gegenseitig aufzustehen und klopfen sich anschließend den Staub von den Kleidern. Roscelin öffnet seine Umhängetasche, schiebt 137
eine Hand hinein und bricht plötzlich in schallendes Gelächter aus. »Ihr irrt Euch, Meister«, antwortet er, »ich bin davon überzeugt, dass die beiden Männer, die uns angegriffen haben, absolut nichts mit den Morden zu tun haben, die wir untersuchen. Unsere Angreifer hatten nur ein einziges Ziel: mir das zu rauben, was sie für das Pulver der Könige halten. Nachdem es sich unter den Kranken herumgesprochen hat, ist das Gerücht den Straßenräubern zu Ohren gekommen.« Während er spricht, zeigt Roscelin seinem Meister die Umhängetasche, in der nur die kleinen Lederbeutel fehlen, die das Präparat beinhalten. »Ab heute«, fährt er fort, »werden sie wahrscheinlich versuchen, das Pulver zu Goldpreisen zu verkaufen. Nur wissen sie nicht, dass es aus ein paar zerstoßenen Bohnen und Pfefferschoten besteht.« »Und wer weiß«, antwortet Harmad Ibn Akzar, »ob die Geschichte, die du zu diesem Heilmittel erfunden hast, nicht schon die größten Monarchen in Orient und Okzident erreicht hat, nachdem sie den Straßenräubern zu Ohren gekommen ist. Bestimmt wird sich in den nächsten Tagen ein Herrscher finden, der diesen Männern jeden Preis zahlt, den sie verlangen, um der Einzige auf der Welt zu sein, der das Pulver der Könige besitzt. Aber sprechen wir nicht davon, denn wir haben Sarahs Spur verloren. Ihre Verletzungen an den Händen scheinen mir nicht schwer zu sein, und ich denke, sie hat Miguel Abalquinto folgen können. Ob sie seine Ermordung verhindern kann?«
Während ich auf der Straße nach Ribat el-Fath Heilpflanzen sammelte, war Adzirk, mein Reisebegleiter, schon den ganzen Tag nachdenklich. Unsere baldige Ankunft in der Stadt verleitet ihn bestimmt zur Melancholie. Seine Feder, die im Abendrot über die Pergamente rast, um seine Gedichte zu notieren, wird bald nur noch Kontozeilen, Wechselbriefe oder Testamente niederschreiben. Heute Abend errate ich anhand der Bewegung seines Arms die Freude, die er beim Formen seiner Buchstaben, bei den Krümmungen, Windungen, Grundstrichen und Haarstri138
chen empfindet. Was mich betrifft, so weiß ich, dass ich diese Seiten vor unserer Ankunft in der Stadt beenden muss. Dafür kann ich auf mein Erinnerungsvermögen zählen, denn es wird mich nicht im Stich lassen. Schließlich ist es daran gewöhnt, mich seit über zehn Jahren zu quälen. Heute erinnere ich mich wie gestern an jeden Augenblick, der aus mir einen Mörder gemacht hat. Seit ich mich in Sevilla niedergelassen hatte, waren sechs Männer gestorben. Es blieben noch zwei. Der erste hieß Miguel Abalquinto. Das Pergament, das ich ihm in seine Kiste mit Seidenwaren geschoben hatte, hatte ihn zutiefst erschreckt. Viele seiner ehemaligen Reisebegleiter waren kurz zuvor umgekommen, und er spürte, wie die Bedrohung, einem Raubvogel gleich, über ihm kreiste. Sein Schritt war zögerlich geworden, aber er hat nicht lange gebraucht, um in die Falle zu tappen, die ich ihm gestellt hatte. Als er vor mir aufgetaucht ist, habe ich sofort gewusst, dass er sterben würde. Niemand war Zeuge unseres Zusammentreffens. Und wieder einmal war mein Arm unerschütterlich. Als ich ihn verlassen habe, lebte er noch. Dann ist er, seiner Umgebung misstrauend, zu sich nach Hause zurückgekehrt, hat darauf geachtet, seine Tür verschlossen zu halten, und die Schlösser seines Zimmers verriegelt. All dies blieb jedoch nutzlos. Der Tod war bereits ins Herz seines Wohnsitzes eingedrungen und hielt ihn gegen seinen Willen gefangen. Wie die anderen hat er bis zum Ende gedacht, ihm entkommen zu können. Währenddessen hat sich hinter ihm ein Arm erhoben, und das Übel ist tief in seinen Körper eingedrungen. Niemals hätte ich seinen letzten Blick kreuzen wollen. Niemals hätte er wissen können, wer ich war und warum ich so gehandelt hatte.
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ls sie sich gerade ein Stück Stoff um die verletzten Finger wickelt, bemerkt Sarah weit vor sich die Gestalt des Seidenhändlers. Sie überlegt, ob sie es bis zum Alcazar schafft, um die Diener ihres Vaters oder Aguirre um Hilfe zu bitten, aber dafür hat sie keine Zeit; denn der Mann entfernt sich bereits von ihr. Sie hat keine andere Wahl, als ihm zu folgen. In diesem Augenblick empfindet sie keinerlei Furcht. Sie handelt, wie sie angesichts eines Patienten handeln würde, den die Krankheit jeden Moment dahinzuraffen droht. Der einzige Unterschied, denkt sie, besteht darin, dass ich nicht weiß, welches Gesicht das Übel annehmen wird, das sich auf Miguel Abalquinto niederschlagen wird. Wird es sich um einen Angriff handeln, ein Gift oder etwas anderes? Die einzige Art, es herauszufinden, ist, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Sarah beschleunigt ihren Schritt. Eine Gruppe zankender Kinder, die vor ihr auftaucht, zwingt sie stehen zu bleiben, während Abalquinto um die Ecke in die Straße der Töpfer einbiegt. Einen Augenblick später ist ihm die junge Frau wieder auf den Fersen, aber die dichte Menschenmenge, darunter auch Bauern mit ihren Eseln, die sich zu beiden Seiten der Geschäfte drängt, befindet sich nun zwischen ihr und dem Seidenhändler. Sarah hat ihn soeben aus den Augen verloren und bahnt sich einen Weg durch die Gasse. Mit gerecktem Hals erkennt sie schließlich wieder den weißen Umhang und die roten Kniehosen des Mannes, den sie überwacht, und sieht, wie er in Richtung des Platzes der Gerber verschwindet. Sie befreit ihren Arm aus dem Griff eines Feigen- und Traubenverkäufers, beginnt zu laufen und verlässt schließlich die Straße der Töpfer. Der Platz der Gerber ist son140
nendurchflutet, doch die Strahlen, die von den geweißten Fassaden seiner Anwesen zurückgeworfen werden, blenden die junge Frau. Mit zusammengekniffenen Augen, eine Hand an die Brauen gelegt, biegt sie in eine Gasse ein, in der sie den Schatten des Kaufmanns erahnt. Doch schon verschmilzt dieser mit einem Menschenauflauf, der sich um einen Geschichtenerzähler bildet. Sarah drängt sich weiter vor und findet sich im Herzen der Ansammlung wieder, in der sie nur schwer vorwärts kommt. Inmitten der dicht aneinander gedrängten Menschen findet sie endlich Miguel Abalquinto wieder. Sie steht sogar so nah bei ihm, dass sie seinen Atemhauch wahrnimmt, woraufhin sich Sarah abwendet und einen Moment lang vorgibt, dem Bericht des Erzählers zu lauschen. Dann lässt sie etwas Abstand zwischen sich und den reichen Kaufmann kommen, während sie ihn mit den Blicken verfolgt und feststellt, dass er sich zu keinem Zeitpunkt umdreht. Er hat mich nicht bemerkt, denkt die junge Frau, bevor sie die Verfolgung wieder aufnimmt. Abalquinto, der sich wie ein Schatten vorwärts bewegt, geht nun auf die Kathedrale Santa Maria la Mayor zu. Aber als er auf dem Vorplatz ankommt, zögert er, das Gebäude zu betreten, und bleibt stehen. Er verharrt eine ganze Weile ohne sich zu rühren, sein Geist ist mit seinen Gedanken beschäftigt. Nur ein paar Schritte von ihm entfernt steht Sarah und beobachtet ihn. Dann hebt sie langsam, um nicht seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ihren Blick zu dem eindrucksvollen Gebäude, das vor ihr emporragt. Die bewegte Geschichte der Stadt, in der sie aufgewachsen ist, findet sich in diesen Steinen wieder. Sie erinnert sich an die Zeit, als sie noch ein Kind war und Sevilla, das damals unter maurischer Herrschaft stand, die Hauptstadt von AlAndalus war. Vor ihrem inneren Auge tauchen Bilder der zahlreichen muslimischen Gläubigen auf, die sich in das Gebäude begaben, das damals die größte Moschee des Landes war. Immer wenn sie den Blick zum riesigen Minarett erhob und feststellte, dass es von einer Kuppel gekrönt wurde, die selbst wiederum von vier dicken goldenen Kugeln überragt wurde, erinnerte ihr Vater sie daran, dass er in seiner Jugend Zeuge seines Baus gewesen war. Dann kam jener Herbstmorgen, an dem 141
die Armeen des katholischen Königs Fernando III. vor den Stadttoren lagerten. Abraham Alfaquin hatte seine Tochter von der Straße geholt, wo sie gerade mit Kindern ihres Alters spielte, hatte sie auf den Arm genommen und sie nach Hause gebracht, wo er Türen und Fenster verschloss und durch den Schlitz eines Fensterladens beobachtete, wie Heerscharen bewaffneter Männer mit donnerndem Getöse in die Stadt einritten. Fernando III. war siegreich, und der Maurenherrscher wurde verjagt. Am Tag nach der Eroberung Sevillas wurde die Moschee dem katholischen Kult zugewiesen. Die Gebete, die sich daraufhin an diesem heiligen Ort des Islam erhoben, kamen nun von anderen Gläubigen, die sich auf andere Weise und mit anderen Worten an einen Gott richteten, den sie bei einem anderen Namen nannten. Als sie heute Männer und Frauen eine Kathedrale betreten sieht, die sie nur von außen kennt, muss Sarah wieder an die Worte ihres Meisters denken, die er auf dem Hügel von Sevilla ausgesprochen hat: Welchen Namen auch immer man Gott gibt, dieser Name ist der schönste. In diesem Augenblick wendet sich Miguel Abalquinto dem Eingangsportal von Santa Maria la Mayor zu, und Sarah folgt ihm auf direktem Wege in die Kathedrale. Ihre Augen, die kurz zuvor noch vom Licht geblendet waren, brauchen lange, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Als sie endlich beginnt, die Umrisse der rechteckigen Pfeiler zu erkennen, die sich zu Arkaden aus rosa Marmor erheben, ist es bereits zu spät: Sie hat den Mann verloren, den sie überwachen sollte. Nervös geht sie von einem Kirchenschiff zum nächsten, dreht sich um, betrachtet jede Gestalt der Gläubigen und Priester, die ihr entgegenkommen, biegt in einen von weißen Säulen gesäumten Gang ein, der schwach von einem gelben Lichtstreifen erhellt wird und in dem sich Weihrauchspiralen erheben, bewegt sich unter Kuppeln und verschnörkelten Kapitellen vorwärts, aber vergeblich. Der Seidenhändler ist verschwunden. Sie beschleunigt ihre Schritte, wendet sich nun einem Seitenschiff zu, das fast in Dunkelheit getaucht ist und in dem das Echo eines Chorgesangs widerhallt. Hier bestehen die Mauern zunächst aus roten Backsteinen, dann führt der Weg Sarah an weißen Steinen und behauenem Marmor entlang, bevor sie einen Raum betritt, dessen Holztafeln mit grüner 142
Keramik verkleidet sind. Dort erkennt sie endlich die roten Kniehosen und den Leinenumhang des Seidenhändlers wieder, der auf den Marmorfliesen kniet. Sarah versteckt sich hinter einer Säule und hört Miguel Abalquinto mit leiser Stimme beten. Sie lässt ihn nicht aus den Augen. Weniger als eine Stunde später steht der Mann langsam auf und wendet sich dem Ausgang der Kathedrale zu. Die junge Frau folgt ihm in gebührendem Abstand zu seinem Geschäft zurück. Kurze Zeit später bleibt sie vor der Tür stehen, die neben dem Laden zu seinen Wohnräumen führt. Während der Mann seinen Umhang zur Seite schiebt, um einen Schlüsselbund aus der Tasche zu ziehen, bemerkt Sarah, wie sich eine Art Staub von seinen Kleidern löst und zu seinen Füßen fällt. Sobald Abalquinto seine Wohnung betreten hat, nähert sich die junge Frau der Türschwelle. Sie hockt sich nieder, streckt die Hand aus und hebt das Pulver auf, das von den Kleidern des Kaufmannes stammt. Als sie es durch ihre Finger gleiten lässt, fällt ihr seine leicht körnige Konsistenz auf und sie überlegt, woraus es sich zusammensetzen könnte, wie zum Beispiel Staub oder Erde aus der Kathedrale, in der er sich niedergekniet hat. Sarah reibt die Hände gegeneinander, steht auf und sieht sich ihrem Medizinmeister gegenüber, der in Begleitung von Roscelin zu ihr geeilt ist. »Hast du unserem Mann folgen können?«, fragt Harmad Ibn Akzar. »Ja, ich habe ihn nur für einen Augenblick aus den Augen verloren, aber als ich ihn wiedergefunden habe, kniete er und betete. Niemand schien ihn angegriffen zu haben. Danach ist er auf direktem Weg nach Hause gegangen und nicht wieder herausgekommen.« »Sehr gut«, sagt der Medizinmeister, »da Roscelin und ich nun hier sind, werden wir vor seinem Haus Wache halten. Wenn du es wünschst, kannst du dich im Gasthaus ausruhen.«
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eister Akzar und Roscelin bewachen die ganze Nacht hindurch den Eingang von Miguel Abalquintos Haus. Beim ersten Tageslicht sind sich beide sicher, dass niemand den Wohnsitz des Kaufmannes betreten oder verlassen hat. Allerdings ist Harmad Ibn Akzar überrascht, dass der Kaufmann nicht in seinen Laden gegangen ist, und beschließt kurz nach Mittag, an seine Tür zu klopfen. Kurz darauf erscheint das Gesicht einer alten Dienerin in einem Guckloch, das von einem Eisengitter geschützt ist. »Können wir Miguel Abalquinto treffen?«, fragt der Medizinmeister. »Nein, tut mir Leid«, antwortet die alte Frau. »Mein Herr ist krank und wird bestimmt den ganzen Tag das Bett hüten. Im Übrigen hat er mir gestern befohlen, niemandem zu öffnen.« »An was leidet er?«, fragt nun Roscelin. »Das kann ich Euch nicht sagen, er hat Fieber, und sein Gesicht hat sich nach und nach mit roten Flecken überzogen.« »Macht uns auf!«, redet ihr Meister Akzar zu. »Wir sind Ärzte, und es ist bestimmt noch nicht zu spät, um ihn zu behandeln.« Die Dienerin aber weigert sich, ihren Befehlen zuwiderzuhandeln. Trotz der Beharrlichkeit der beiden Männer bleibt die Tür verschlossen. »Sagt uns zumindest«, bittet Roscelin, »ob seine Schultern geschädigt sind.« »Seine Schultern?«, antwortet die alte Frau. »Ich habe nichts bemerkt, als ich sein Zimmer betreten habe.« »Geht nachsehen«, fährt der junge Franzose fort. »Danach lassen wir Euch in Ruhe.« 144
Ohne eine Antwort stößt die Dienerin das Fenster des Gucklochs wieder zu, ohne es ganz zu schließen. Kurze Zeit später erscheint ihr Gesicht wieder in der Fensteröffnung. Sie ist sehr blass geworden, und ihre Worte überschlagen sich. »Es ist … zu spät … Mein Herr, Miguel Abalquinto … ist gerade … ist gerade eben gestorben!«, stammelt sie, bevor sie sich anschickt, das Guckloch endgültig zu schließen. Roscelin richtet ein letztes Mal das Wort an sie: »Ihr habt nicht auf meine Frage geantwortet.« »Ja«, sagt die Dienerin, bevor sie verschwindet, »die Schultern und der Rücken meines Herrn waren von Verletzungen bedeckt, die jede von einem kleinen Fettwulst umrandet war.« Die beiden Ärzte entfernen sich vom Haus des Kaufmannes und schlagen die Richtung ihrer Herberge ein. »Auf welche Weise nur«, fragt Roscelin, »stellt es der Mörder an, jedes Mal in das Haus seines Opfers zu gelangen, ohne dass jemand seine Anwesenheit bemerkt? Unser Mann war doch auf der Hut und hat darauf geachtet, seine Tür für jeden Fremden verschlossen zu halten. Darüber hinaus haben wir niemanden sein Anwesen betreten oder verlassen sehen.« »Wir werden dieses Rätsel bald aufklären«, antwortet ihm Meister Akzar. »Gehen wir zurück zu Sarah und finden wir gemeinsam einen Weg, um Bayardo Orzarin, den Letzten der acht Kaufmänner, vor einem Tod zu retten, der nun unvermeidbar scheint.« Als sie im Gasthaus eintreffen, klopfen die beiden Männer an die Tür der jungen Frau, aber sie erhalten keine Antwort. Als sie daraufhin ihr Zimmer betreten, finden sie Sarah auf ihrem Bett liegend vor. Ihr Atem ist schwach, und ihr Körper, der vor Schweiß glänzt, weist kleine rote Flecken auf. Harmad Ibn Akzar legt seine Hand auf ihre Stirn und kontrolliert ihren Puls. Dann dreht er sich zu Roscelin um und sagt: »Sarah ist einem hohen Fieber ausgeliefert, ich werde sie behandeln. Geh du währenddessen zum Alcazar und benachrichtige Abraham Alfaquin, dass seine Tochter schwer erkrankt ist.«
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ls er den Hof des Alcazar betritt, verlangt Roscelin, sofort mit dem Arzt des Königs zu sprechen. »Das ist unmöglich«, antwortet ihm ein Diener, »Meister Abraham Alfaquin ist sehr schwach und kann niemanden empfangen.« »Sagt ihm, dass ich ihm Nachrichten von seiner Tochter bringe.« »Wartet einen Augenblick.« Kurz darauf sieht Roscelin Aguirre auf sich zukommen, der ihn fragt: »Was ist mit Sarah?« »Sie ist bettlägerig, und ihre Temperatur ist erhöht.« »Wo ist sie?« »Sie befindet sich noch immer im Gasthaus Esteban.« Abraham Alfaquins Schüler stürzt daraufhin zu den Ställen und kommt auf einem Pferd, das ebenso nervös zu sein scheint wie er, wieder heraus, bevor er im Galopp in Richtung Stadtkern verschwindet. Ohne auch nur an die Tür zu klopfen, betritt Aguirre Sarahs Zimmer. Er hat keinen Blick für Harmad Ibn Akzar, der neben ihrem Bett sitzt und die Symptome der jungen Frau untersucht. Doch als er sich anschickt, ihr die Schultern zu entblößen, um diesen Teil ihres Körpers eingehend zu betrachten, wird er von dem Medizinmeister unterbrochen, der zu ihm sagt: »Das ist zwecklos. Die Haut auf ihren Schultern und auf ihrem Rücken ist in keiner Weise geschädigt. Sie ist kein Opfer des Mörders, den wir suchen. Dafür ist das Leiden hier hereingelangt.« Mit diesen Worten greift Harmad Ibn Akzar nach den Händen der jungen Frau und zeigt Aguirre die infizierten Wunden auf ihren Fingern, die von einer leichten Hautverdickung begrenzt wer146
den. Der junge Mann richtet sich auf und erklärt in autoritärem Ton: »Es handelt sich ohne Zweifel um das Sankt-Sylvester-Feuer. Ich muss Sarah schnellstens in meine Gemächer im Alcazar überführen.« »Warum das?«, fragt Meister Akzar. »Wir können sie ebenso gut hier behandeln.« »Nein, Ihr müsst mich machen lassen, ich kenne diese Krankheit gut, und ich glaube, mit diesem Fieber fertig werden zu können.« »Wie kommt es, Aguirre, dass du dir so sicher bist? Diese Erkrankung ist doch gar nicht so geläufig.« »Ich habe keine Zeit, es Euch zu erklären. Vertraut mir, und lasst mich die Tochter meines Meisters mitnehmen, um sie zu behandeln.« Harmad Ibn Akzar streicht sich daraufhin lange mit der Hand durch den Bart, bevor er schließlich antwortet: »Wie dem auch sei! Ich vertraue dir. Ich weiß, dass du alles tun wirst, um mit diesem Leiden fertig zu werden.«
Im Medizinsaal des königlichen Alcazar liegt Sarah Alfaquin brennend vor Fieber auf einem Bett. Das Licht der Kerze lässt ihre Haut bernsteinfarben wirken, der Körper ist mit kleinen Flecken übersät. Aguirre ist bei ihr. Er beugt sich über ihren Körper, desinfiziert jede ihrer Wunden mit einem Brenneisen, trägt dann Salben auf ihre Glieder auf, die vor Schweiß glänzen. Manchmal versteifen sich die Muskeln der jungen Frau. Sie stöhnt. Von ihren zitternden Lippen entweicht ein kurzer, keuchender Atem. Ihre Finger schließen sich wie die Krallen eines erschöpften Vogels um Aguirres Arm, der versucht, sie zu beruhigen. Er hört nicht auf, mit ihr zu sprechen, um sie wach zu halten, legt ihr einen Schwamm auf die Stirn und beruhigt mit einer sicheren Handbewegung das Zittern ihrer Beine. Dann kontrolliert er ihren Puls und hebt ihren Kopf an, um ihr einen Trank einzuflößen, den er kurz zuvor zubereitet hat. 147
Aguirre ist die ganze Nacht an Sarahs Bett geblieben, hat ihre Atmung überwacht und jedes ihrer kalt gewordenen Glieder massiert, bevor er sie in warme Breiumschläge wickelte. Beim ersten Tageslicht erwacht die junge Frau langsam. Ihre Glieder sind schwer, und jede Bewegung bereitet ihr Mühe. Als es ihr schließlich gelingt, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen, bemerkt sie Aguirres Blick, der auf ihr ruht. »Du wirst gesund werden«, sagt er schlicht. Ihre Wangen, die noch hohl von der Krankheit sind, wirken daraufhin etwas belebter. »Was ist mit mir geschehen?«, fragt sie mit schwacher Stimme und führt die Hände zum Gesicht. »Du hast dir das Sankt-Sylvester-Feuer zugezogen, aber dieses Leiden, das ich rechtzeitig behandeln konnte, hat deinen Körper bereits verlassen. Nach ein paar Tagen Ruhe wird deine Haut ihr normales Aussehen wiedererlangen.« »Und Miguel Abalquinto, der Mann, dem ich gefolgt bin, bevor ich krank wurde, was ist aus ihm geworden?« »Auch er hat sich diese Erkrankung zugezogen, aber er hat sie nicht überlebt. Er ist somit das siebente Opfer.« »Aguirre«, sagt die junge Frau nach einem langen Schweigen, »ich kenne die ganze Wahrheit.« »Was meinst du?« »Das weißt du sehr gut, und du weißt auch, dass du vor mir nichts zu befürchten hast.« Da Aguirre Sarah schweigend ansieht, fährt diese fort. »Mir wäre es lieber gewesen, deine Geschichte aus deinem eigenen Munde zu hören, aber da du schweigst, werde ich dir sagen, was ich weiß: Mein Medizinmeister Harmad Ibn Akzar, sein Schüler Roscelin Chelderay und ich haben erfahren, dass vor fünfzehn Jahren ein Handelsschiff nach Akkon aufgebrochen ist, mit einem Weber namens Sebastian Rodrigo an Bord, der von seinem Bruder Felipe und seinem Sohn Galeo begleitet wurde. Nur das Kind ist lebend im Orient angekommen. Sein Vater und sein Onkel sind von acht Kaufleuten ermordet worden, von denen 148
bereits sieben am Sankt-Sylvester-Feuer gestorben sind. Dies haben unsere Untersuchungen ergeben. Du solltest allerdings wissen, dass ich allein in den Archivraum des Hafenzollamts zurückgekehrt bin. Ich habe darum gebeten, das Register der Reisenden konsultieren zu dürfen, die vor einem Jahr aus dem Orient angekommen sind, und ich habe entdeckt, dass dein Name, gefolgt von deinem Beruf als Arzt, auf der Passagierliste eines Schiffs auftaucht, das am 23. April dieses Jahres von Akkon aufgebrochen ist. Du kamst somit nicht aus Córdoba, wie du bei deiner Ankunft in Sevilla behauptet hast, Aguirre.« Der junge Mann schweigt weiterhin beharrlich. »Oder sollte ich dich lieber bei deinem wirklichen Namen Galeo nennen, den du vorgezogen hast, bei deiner Ankunft in Spanien zu verheimlichen, um keinen Verdacht zu erregen?« »Ich heiße tatsächlich Galeo, und was du sagst, ist wahr«, antwortet er schließlich. »Aber meine Geschichte ist noch komplizierter als das. Mein Vater Sebastian hat nie einen Bruder gehabt. Der Passagier, der unter dem Namen Felipe Rodrigo reiste, war meine Mutter, die sich als Mann ausgeben musste, um sich mit uns einschiffen zu können. Es stimmt auch, dass ich Akkon verlassen habe, um ein Rachegelüst zu befriedigen, das ich nie unterdrücken konnte. Trotzdem wollte ich, als ich in Sevilla an Land ging, in erster Linie meinen Arztberuf ausüben. Ich habe sehr schnell das Vertrauen deines Vaters gewonnen, der damals jemanden suchte, der sein Nachfolger beim König werden sollte. Er hat mir die Ehre erwiesen, mich als seinen einzigen Schüler zu wählen. Von jenem Tag an ist alles schwieriger geworden. Ich wollte mich weiterhin an den acht sevillanischen Kaufmännern rächen, wollte aber zugleich das Vertrauen Abraham Alfaquins nicht missbrauchen, indem ich zum Mörder würde. Zu ebenjener Stunde hat sich einer der Kaufleute, deren Spur ich wieder aufgenommen hatte, das Sankt-SylvesterFeuer zugezogen und ist ihm zum Opfer gefallen. Einige Tage später geht ein zweiter der acht Männer an derselben Krankheit zu Grunde. Am Tag nach dem Tod des dritten Kaufmanns schickt mich mein Meister Abraham Alfaquin, der keine Ahnung hat, persönlich fort, um Untersuchungen zu dieser Epidemie durchzuführen. Ich kenne heute 149
immer noch weder die Identität noch die Beweggründe des Mörders. Ich glaube nur zu wissen, dass dieser Arzt ist, wie wir beide.«
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ls er am Morgen des 21. September 1265 erwacht, schiebt Bayardo Orzarin die blau-gelben Vorhänge seines Baldachinbetts zur Seite, schlüpft dann in seine Kniehosen und seine hohen schwarzen Lederstiefel, knöpft das Leinenhemd zu, das seine Dienerin ihm am Vorabend ins Zimmer gelegt hat und öffnet das Fenster. Durch das Laub der Palmen, das von Zeit zu Zeit von einer Brise aufgewirbelt wird, nimmt er die azurblauen Reflexe des Torre del Oro wahr. Ein Stück dahinter kann er die dreieckigen und quadratischen Segel erkennen, die nach dem willkürlichen Verlauf des Flusses angeordnet sind. Als er die Gestalten der Besatzungsmitglieder erahnt, die rittlings auf den Rahen sitzen, erinnert er sich an die Zeit, in der auch er auf ähnlichen Schiffen den Guadalquivir hinuntergefahren ist, um zu den Städten des Orients zu gelangen. Während das Stimmengewirr Sevillas langsam zu ihm heraufdringt, schlägt er die Augen zum Himmel, und sein Blick verliert sich im Nichts. Der Mann ist beunruhigt. Am Vortag hat er vom Tod seines Freundes Miguel Abalquinto erfahren, mit dem er sich damals nach Akkon eingeschifft hatte. Er ist das siebente Opfer des Leidens, sagt er sich. Wie hat dieses verfluchte Fieber uns verseuchen können, fünfzehn Jahre nachdem wir ihm auf jenem Handelsschiff ausgesetzt waren? Mein Gold ist immer ein Schutzschild gewesen, das mich vor allem bewahrt hat, aber gegen die Klauen der Krankheit nützen Reichtümer nichts. Es sei denn, es handelt sich um einen Fluch. Ja, das ist es bestimmt, es sind die beiden Brüder, die wir damals ins Meer geworfen haben, die zurückkommen, um sich zu rächen. Bayardo Orzarin dreht sich zu einem großen, mit Edelsteinen besetzten Spiegel um und betrachtet aufmerksam seine Erscheinung dar151
in. Er sieht einen Mann mit langen, leicht ergrauten Haaren und tief eingegrabenen Falten, der anscheinend von Angst verzehrt wird. Orzarin bewegt seinen Kopf langsam von rechts nach links, dann wieder von links nach rechts und versucht, auf seinem Gesicht das geringste Zeichen von Krankheit zu entdecken. Dann ruft er mit lauter Stimme, wütend über seine eigene Ängstlichkeit: »Ach was, es gibt keine Geister, nichts und niemand wird mich heimsuchen können, wenn ich auf der Hut bleibe!« Er verlässt sein Zimmer, geht die Treppe seines Anwesens hinab und stößt im Erdgeschoss eine Tür auf, die sich zu einem Geschäft öffnet, das die schönsten Stücke orientalischer Goldschmiedekunst der Stadt beherbergt. Als er seinen Laden durchquert, um sich auf die Straße zu begeben, ohne auch nur die Kunden oder seine eigenen Angestellten zu grüßen, wird er von einem Bediensteten angesprochen: »Ein Unbekannter ist sofort nach Ladenöffnung vorbeigekommen und hat das hier für Euch abgegeben.« Bayardo Orzarin ergreift das Pergament, das ihm sein Angestellter hinhält und entdeckt folgenden Text: Sieben sind bereits tot, du wirst der Achte sein. Wenn der Tag zur Neige geht, wird das Leid, das wir in uns tragen, in deinem Blut fließen. Wenn es auch vergeblich ist, Deinen Körper retten zu wollen, so kannst du dich wohl von den Verbrechen reinwaschen, die noch deine Seele beflecken. Der Kaufmann stürzt auf die Straße und verharrt dort einen Moment lang. Da er nicht weiß, wohin er gehen soll, wartet er einfach ab, bis sich die Schläge seines Herzens in seiner Brust beruhigen.
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Morgen werden wir zum ersten Mal die Mauern von Ribat el-Fath, der Stadt mit den fünf Toren, sehen können. Morgen wird auch der Tag sein, an dem ich die Niederschrift dieser Briefe beende, bevor ich mich zum Hafen begebe und sie dem Lotsen eines Schiffes überreiche, das den Norden ansteuert, um nach Sevilla zurückzukehren. Diese Seiten enthalten eine Episode meines Lebens, die nur kurze Zeit gedauert hat, die mich aber bis zum Tod verfolgen wird. Wer sie liest, wird mich wirklich kennen. Mein ganzes Leben lang haben mich die Leute, die ich behandelt habe, für einen guten und gerechten Menschen gehalten. Denn sie wissen nicht, was ich in Sevilla während des Jahres 1265 getan habe. Sicher hatte ich eine andere Wahl, als zu töten, aber selbst wenn ich eine Rechtfertigung finde, wird das meine Verbrechen nie aus meinem Gedächtnis löschen können. Ich erinnere mich, dass nur einer übrig blieb, sein Name war Bayardo Orzarin. Nach ihm wäre meine Aufgabe beendet gewesen. Ich habe ihn an jenem Tag nur einen kurzen Moment gesehen, aber ich kenne jede seiner Taten und Gesten, die er ausgeführt hat, nachdem er sich von mir entfernte. Keiner von ihnen ist mir entkommen. Nachdem er sich in die Stadt begeben und mich getroffen hat, lenkte er seine Schritte direkt zu dem Viertel, in dem er wohnt. Beim Betreten seines Anwesens hat er seine Hausangestellten versammelt und sie gebeten, keinen Fremden hereinzulassen, unter welchem Vorwand auch immer. Als er sich an eine seiner Dienerinnen wandte, hat er ihr bestimmt gesagt, dass es nicht nötig sei, ihm eine Mahlzeit zu bringen, denn er würde an jenem Abend nichts essen. Dann hat er ihr befohlen, lediglich darauf zu achten, dass ihn niemand störe. Er wird das Schloss seiner Zimmertür gründlich verriegelt haben. Er hat die Läden des Fensters zugedrückt, das einen Spaltbreit offen geblieben war, und mehrere Male nachgeprüft, ob es auch wirklich geschlossen war. Er hat bestimmt auch seine hohen Schränke inspiziert, um sicherzugehen, dass sich niemand dort versteckte. Dann hat er sich auf den Boden gehockt und einen Blick unter sein Bett geworfen. Wie kann mich die Krankheit heimsuchen, hat er sich bestimmt gefragt, wenn ich allein bleibe und nicht von hier weggehe? Kein Leiden wird kommen, um mich in diesem Zimmer zu befallen, und es 153
wird auch von niemandem betreten werden, der mich ermorden kann. Und doch irrte er sich. Bereits in diesem Augenblick hatte die Waffe ihn mehrere Male geschlagen.
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ls er am nächsten Morgen erwacht, versucht Bayardo Orzarin aufzustehen, doch sein Körper bereitet ihm Schmerzen. Er friert. Er muss sich warm anziehen, um seine Körperwärme zu bewahren, aber als er nach seinem Hemd greift, bemerkt er, dass seine Glieder von einem leichten Zittern geschüttelt werden. Beim Ankleiden entdeckt er, dass seine Haut von kleinen roten Flecken bedeckt ist. Das Fieber, das ihn heimsucht, zwingt ihn, seine Dienerin um Hilfe zu bitten. Seine Stimme aber ist zu schwach, um gehört zu werden. Er nimmt seine Kräfte zusammen, dreht den Schlüssel im Schloss, atmet tief ein und bittet ein weiteres Mal darum, dass man ihm zu Hilfe kommen möge: »Lasst nach den besten Ärzten der Stadt fragen!«, ruft er noch, bevor er auf dem Boden zusammenbricht. Kurze Zeit später spürt Bayardo Orzarin mit geschlossenen Augen, wie Hände nach seinem Körper greifen und ihn auf das Bett legen. Jemand zieht ihm das Hemd aus, und zwei starke Arme richten seinen Rücken auf. Dann hört er die Stimmen von zwei Männern, die miteinander sprechen: »Sieh, Roscelin, das Leiden ist wieder einmal durch Verletzungen an den Schultern eingedrungen.« »Und wahrscheinlich kommen wir wieder zu spät.« Mühsam versucht der Kranke, die Augen zu öffnen. Er nimmt einen Mann von großer Statur, mit matter Haut und einem langen Bart wahr, der sich über ihn beugt und ihm ins Ohr flüstert: »Ich bin Meister Harmad Ibn Akzar, ich werde versuchen, Eure Schmerzen zu lindern.« Nachdem er jede seiner Wunden gereinigt hat, führt ihm der Arzt einen Becher an die Lippen, in dem er ein Präparat auf der Basis von Alraunenwurzeln und wilder Raute aufgelöst hat. Als Bayardo Orza155
rin ein paar Schlucke davon getrunken hat, spürt er, wie die Schmerzen auf seiner Haut zurückgehen. Sein Körper erscheint ihm weniger schwer, und seine Augen schließen sich langsam wieder. Von diesem Augenblick an gelingt es ihm nicht mehr, die Träume, die seinen Geist bevölkern, von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Er hat nur noch die Kraft, ein entferntes Flüstern wahrzunehmen, das nicht an ihn gerichtet ist: »Das Heilmittel, das ich ihm zu trinken gegeben habe, wird seine Schmerzen lindern, aber ich bezweifle, dass es das Leiden aus seinem Körper entfernt.« Ein Schauder schüttelt den Kranken. Die entferntesten Bilder seiner Kindheit vermischen sich nach und nach mit seinen kürzlich zurückliegenden Erinnerungen, während sich eine dichte Finsternis auf ihn herabsenkt. Ein letztes Zittern schüttelt seine Arme. Ein bitterer Geschmack erfüllt seinen Mund, dann bemächtigt sich seiner ein Eindruck von vollständiger Leere. Er sinkt nun in einen dunklen Abgrund, zappelt in dunklen, kalten Gewässern. Dann ist alles vorbei. »Wir konnten nichts tun«, sagt Harmad Ibn Akzar und bedeckt den leblosen Körper Bayardo Orzarins mit einem großen weißen Laken. »Zumindest hat das Mittel, das ich ihm gegeben habe, seine Schmerzen gelindert.« Nach einem kurzen Augenblick der Stille, während der sich die beiden Ärzte vor dem Körper des Verstorbenen sammeln, bückt sich der junge Franzose nach einem Gegenstand, den er auf dem Boden entdeckt hat, und schickt sich an, ihn zu ergreifen. Der Medizinmeister kann gerade noch seine Bewegung zurückhalten. »Rühre das nicht an!«, ruft er Roscelin zu. »Schau dir diese Substanz an: Sie ist es wahrscheinlich, die den Körper des Opfers infiziert hat. Wenn deine Haut auch nur den kleinsten Kratzer aufweist, dringt das Leiden in deinen Körper. Und diese gespitzten Lamellen, die sich am Ende des Lederbandes befinden, sind es bestimmt, die Bayardo Orzarins Fleisch geschädigt und ihm das Leben genommen haben. Das hier ist sehr wahrscheinlich die Waffe, die dazu diente, die acht Männer zu töten, und die der Mörder hier gelassen hat, nachdem er sein letztes Verbrechen begangen hat. Aber vergiss nicht, dass wir Ärzte sind und dass es uns von nun an 156
nicht mehr zukommt, einen Mörder zu verfolgen oder festzunehmen, der niemanden mehr bedroht.« »Es wird nicht nötig sein, nach dem Schuldigen dieser Morde zu suchen.« Der Mann, der auf diese Weise spricht, ist gerade im Türrahmen erschienen. »Wer seid Ihr?«, fragt Roscelin sogleich. »Was kümmert mein Name, da ich mich doch heute des Mordes an dem Mann anklage, der auf diesem Bett liegt sowie des Mordes an den sieben anderen sevillanischen Kaufmännern. Ihr könnt Soldaten kommen lassen, denn für mich ist die Zeit gekommen, mich auszuliefern.« »Wir brauchen keinesfalls eine bewaffnete Eskorte«, antwortet Harmad Ibn Akzar und mustert den Unbekannten aufmerksam. »Da Ihr Euch als Gefangener ausweist, werden wir Euch bis zur Festung des Alcazar begleiten, damit Ihr bald vor dem Gerichtshof des Königs erscheinen könnt.«
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achdem sie die Tore des Königspalasts passiert haben, melden sich Harmad Ibn Akzar und Roscelin bei den Soldaten der Garde und vertrauen ihnen ihren Gefangenen an. Danach bittet Roscelin sogleich, zu Sarah Alfaquin geführt zu werden. Einige Augenblicke später betritt er die Gemächer des königlichen Arztes, wo die junge Frau in einem großen Bett liegt. »Ich komme, um dir mitzuteilen«, sagt er, als er das Zimmer betritt, »dass unsere Untersuchung von nun an beendet ist.« »Wie das denn? Wer ist nun schuld an den Morden?« »Ein Mann, von dem wir nichts wissen, hat sich uns heute ausgeliefert. Wahrscheinlich zieht er es vor, sein Geständnis erst vor Gericht zu machen. Aber sprechen wir lieber von dir. Ich bin froh zu wissen, dass du geheilt bist.« »Ja, die Heilmittel, die der Schüler meines Vaters verwendet hat, sind mit meinem Leiden fertig geworden.« »Du sprichst von Medikamenten, aber du hast nicht ein Wort für den Arzt, dem du noch mehr als nur die Heilung verdankst.« »Was meinst du?« »Nun ja, wenn auch Herophilos vor sehr langer Zeit den Sitz der Gedanken und Gefühle im Hirn des Menschen ansiedelte, so hatte Aristoteles, der diesen Sitz in seinem Herzen platzierte, meines Erachtens nicht vollkommen Unrecht. Denn die Handlungen der Menschen gehen entweder aus einem reiflich überlegten, im Hirn entstandenen Gedanken hervor oder aus einer spontanen Bewegung des Herzens. Und du, wenn du vom Schüler deines Vaters sprichst, erscheint es mir, dass es die Gedanken in deinem Herzen sind, die sich zum ersten Mal äußern.« 158
»Ich glaube, du siehst klar in mir, Roscelin. Vor nicht allzu langer Zeit noch habe ich in den Männern, die mich umgaben – Erzieher, Ärzte oder einfache Patienten –, lediglich Wesen gesehen, durch die ich das einzige Ziel erreichen konnte, das ich mir als Kind gesetzt hatte, nämlich Ärztin zu werden.« »Und ich nehme an, dass du dieses Ziel nicht für dich selbst verfolgt hast, sondern um einen weiteren Mann nicht zu enttäuschen: deinen Vater.« »Durch meine Geburt habe ich ihn für immer der einzigen Frau beraubt, die er jemals geliebt hat, und darüber hinaus war ich nicht der Sohn, den er sich immer gewünscht hatte, um bei Hofe sein Nachfolger zu werden. Es stimmt, dass ich lange Zeit gelebt habe, um meinem Vater zu beweisen, dass ich ebenso viel wert bin wie der Sohn, den er niemals haben würde. Aber nun muss auch ich dir eine Frage stellen: Woher besitzt du diese Kunst, Männer und Frauen zum Reden zu bringen und in ihren Seelen zu lesen wie in einem offenen Buch?« »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Aber ich habe an der Universität von Paris einen Mann namens Thomas von Aquin kennen gelernt, Prediger des Dominikanerordens, der, als er von den körperlichen Vorgängen sprach, bemerkte, dass die Zeugungsfähigkeit über den eigenen Körper hinausginge, denn seinen Worten zufolge kann sich kein Wesen selbst zeugen. Was für die Fortpflanzung gilt, gilt auch für die Heilung der Seelen, denn wenn kein Wesen sich selbst zeugen kann, kann auch niemand sich selbst kennen, und seine Seele muss, wie der Samen des Mannes, ebenso über seinen eigenen Körper hinausgehen, um sich in einer anderen Seele zu befreien, die ihr zuhört. Bestimmte Körper weisen eine größere Neigung als andere für Liebesdinge auf; ich glaube, dass auf dieselbe Weise bestimmte Geister eher geneigt sind, das Bekenntnis anderer Seelen hervorzurufen und aufzufangen.« »Und wie wir festgestellt haben, hat Gott dich mit dieser Gabe ausgestattet.« »Bestimmt mehr, das ist wahr, als mit der Gabe, mich an den Anblick von Blut zu gewöhnen, oder daran, mit Eingeweiden zu hantieren. Ich ziehe es nämlich vor, mit dem Wort ins tiefste Innere des 159
menschlichen Körpers zu dringen anstatt durch den Einschnitt. Aber wir werden nicht mehr das Vergnügen haben, gemeinsam darüber zu sprechen, denn ich verlasse Sevilla noch heute. Mein Besuch hatte das alleinige Ziel, mich vor meiner Abreise von dir zu verabschieden.« »Warum willst du so schnell fort?« »Vor zwei Tagen bin ich ins Alcazar gekommen, um mich nach deiner Gesundheit zu erkundigen. Nachdem ich mit dem Schüler deines Vaters gesprochen habe, traf ich in den Palastgärten zufällig den Dolmetscher, der die chinesische Gesandtschaft begleitet, und habe mich lange mit ihm unterhalten. Ich habe bei dieser Gelegenheit erfahren, dass in dem fruchtbaren Tal des Gelben Flusses, an den nördlichen Küsten des Chinesischen Meeres, die Ärzte seit Jahrhunderten ihre Patienten mit Hilfe von winzigen Metallnadeln behandeln, die sie ihnen in den Körper stecken.« »Aber welches Ziel verfolgt diese Praktik genau?« »Nach dem, was ich gehört habe, zielt sie darauf ab, die Körperenergien zu kontrollieren, denn dort sind die Ärzte davon überzeugt, dass die Krankheit nicht, wie es uns die Alten gelehrt haben, aus einem Ungleichgewicht zwischen Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle hervorgeht, sondern aus einer Anomalie, die in der Bahn des Lebensflusses eingetreten ist, der in jedem von uns fließt. Und ich gestehe, dass diese Vorgehensweise mich weit mehr verlockt als die Praktik des Aderlasses, die in der westlichen Welt gängig ist. Ich habe daher bereits an dem Abend, der diesem Gespräch folgte, die Entscheidung getroffen, mich auf der Boutre einzuschiffen, welche die Chinesen zurück in ihre Heimat bringt, um diese Kunst des Heilens zu lernen. Das Schiff wird mittags Anker lichten. In einer Stunde also werde ich den Guadalquivir hinunterfahren, um zum anderen Ende der Erde zu gelangen.« Nach diesen Worten kniet Roscelin neben Sarah nieder, öffnet seine Tasche, die ihm quer über die Schultern hängt, und greift nach einem kleinen Lederbeutel, den er der jungen Frau hinhält: »Hier ein wenig von meinem Pulver der Könige. Behalte es als Erinnerung an mich, und erinnere dich daran, dass es eine weitreichendere Macht hat als viele andere Heilmittel. Es hat mir bewiesen, dass Schmerzen oft 160
nur eine Illusion sind und dass das, was wir unser Leiden und unser Unglück nennen, oft nur in unserer Vorstellungskraft groß ist.«
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n der Wachhalle des Alcazar schließt ein Soldat schwere Eisenringe, die miteinander durch eine Kette verbunden sind, um die Handgelenke und Fesseln seines Gefangenen. Dann wird der Mann barfuß aus dem Gebäude geführt, wo er von zwei bewaffneten Reitern erwartet wird. Der Druck einer Lanzenspitze in seinem Rücken treibt ihn vorwärts. Langsam lenkt der Gefangene, behindert durch die Ketten, seine Schritte auf eines der Tore des königlichen Palasts zu und schlägt dann mit ernstem und resigniertem Gesicht den Weg in Richtung der Stadtkerker ein. Unter großem Geleit passiert er kurz darauf die Schwelle eines Gebäudes, das von vier Türmen gekrönt wird, die auf einer Grundmauer aus Trockensteinen ruhen. Im Inneren vertrauen die Soldaten ihren Gefangenen einem Kerkermeister an, der, ohne auch nur ein Wort zu sprechen, nach den Ketten greift und sogleich in einen schmalen Gang einbiegt, bevor er eine Treppe hinabsteigt, die vor dicken schmiedeeisernen Gittern endet. Anhand des schwachen Lichts einiger Fackeln, die in den Wänden eingelassen sind, kann der Mann den Kerker erkennen, der für ihn bestimmt ist. Es ist ein großer Raum, in dem bereits zehn Gefangene in gewissem Abstand zueinander angekettet sind. Das verrußte Steingewölbe erhebt sich nur sehr geringfügig über den Boden, der dürftig mit Stroh bedeckt ist. Hier und da nagen Ratten, die niemand sich die Mühe macht zu verjagen, an den mageren Reste eines Napfs, der auf dem Boden liegen geblieben ist. Als das Gitter offen ist, löst ein zweiter Wachmann eine der Ketten vom Handgelenk seines Gefangenen, bevor er sie um einen in der Wand befestigten Ring montiert. Kurz darauf sind die Wachen fort, und der Kerker wird in ein Halbdunkel getaucht. Der Mann, dessen Kette ihm gerade erlaubt, sich auf 162
den Boden zu setzen, versucht nun einzuschlafen. Einige Stunden später aber wird er von zwei Soldaten geweckt, die ihn, nachdem sie sich seiner Identität versichert haben, mit sich aus dem Kerker zerren. Ohne die geringste Erklärung wird der Gefangene in einem Raum gestoßen, in dem er mehrere Folterinstrumente erkennt. »Es ist zwecklos, mich zum Geständnis meiner Verbrechen zu zwingen«, sagt er zu den Wachen, »denn ich habe nicht die geringste Absicht, die Wahrheit zu verbergen. Ich bekenne mich als der einzige Schuldige an acht Morden, die in Sevilla an den Personen reicher Kaufmänner begangen worden sind.« Ohne sich um eine Antwort zu bemühen, schubst einer der Soldaten den Gefangenen zu einem Amboss, bevor er nach einem Hammer und einem Eisenpfriem greift und sämtliche Verschlüsse der Ringe aufbricht. Sobald der Vorgang beendet ist, legt der Soldat seine Werkzeuge zur Seite und gibt dem Gefangenen, der jetzt nur noch an den Handgelenken angekettet ist, ein Zeichen aufzustehen. »Folgt uns!«, befiehlt er schlicht mit einer brüsken Handbewegung. Die Soldaten verlassen die Folterkammer und machen sich auf den Weg zu einer kleinen Tür, die ins Freie führt. Die Soldaten bewegen sich mit ihrem Gefangenen in Richtung Ufer des Guadalquivir und gehen an Bord eines Lastkahns, der sie am Kai erwartet. Als er den Fuß auf die einfache Planke setzt, die als Steg dient, wendet sich der Gefangene ein weiteres Mal an seine Wachen: »Ihr sollt wissen, dass ich meine Verurteilung annehme und dass ich mich meiner Bestrafung unterwerfe, wie auch immer sie aussehen mag, aber dürfte ich erfahren, zu welchem Ort Ihr mich führt?« »Ruhe! Ihr werdet es schon früh genug erfahren«, antwortet einer der beiden bewaffneten Männer. Nachdem er in dem Boot Platz genommen hat, wendet er sich anschließend an den Lotsen: »Fahrt zwei Meilen den Fluss hinunter und wartet dann auf unsere Befehle.«
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braham Alfaquin durchlebt seine letzten Stunden. An seinem Krankenbett sitzt seine Tochter, die gerade von ihm gebeten wurde, seinen Schüler zu holen. Als Aguirre das Zimmer betritt, sagt der alte Mann mit schwacher Stimme: »Ich grüße dich, Aguirre, oder sollte ich vielmehr Galeo sagen, da Sarah mir berichtet hat, dass das dein wahrer Name ist.« Er deutet mit zitterndem Zeigefinger auf das blasse Licht, das durch die Läden seiner Fenster fällt, und fährt fort: »Dieser Tag wird für mich der letzte sein. Ich habe dir oft gesagt, dass ich den Schritt des Todes erkenne, wenn er sich meinen Patienten nähert, nun ja, jetzt erahne ich bereits seine Hand auf meiner Brust. Zum Abschluss hat der König auf meine Bitte hin ein Dokument aufsetzen lassen, das dich zur Stunde meines Todes zu seinem neuen Arzt ernennt.« »Ich werde mich dieser Ehre würdig erweisen«, antwortet Galeo schlicht. Mit einer Handbewegung bittet der alte Mann seine Tochter und seinen Schüler, näher zu rücken, damit er ein letztes Mal das Wort an sie richten kann: »Der König ist gestern Abend zu mir gekommen. Wir haben uns lang über den Fall dieses Gefangenen unterhalten, der für acht Morde verantwortlich ist. Wir haben uns gefragt, ob dieser Mann für das Verbrechen, dem er sich nicht wirklich entziehen konnte, verurteilt werden soll. Spät in der Nacht hat der König, nachdem er lange sein Gewissen befragte, die Entscheidung getroffen, ihn zu begnadigen, und ihn sogleich befreien lassen. Zu dieser Stunde hat der Gefangene Sevilla bereits heimlich auf einem Schiff der königlichen Marine mit dem Befehl verlassen, nie wieder zurückzukehren.« 164
»Wer war er, und was waren seine Beweggründe?«, fragt Sarah ihren Vater. »All dies ist nun nicht mehr wichtig, und es ist Zeit, dass wir uns dem Morgen zuwenden. Euch beiden steht eine große Zukunft als Ärzte bevor. Ich für meinen Teil habe euch mein gesamtes Wissen vermittelt. Nun kann ich euch als Testament nur Gott empfehlen. Außerdem wünsche ich euch, was schon Maimonides in seinem medizinischen Gebet gesagt hat, nämlich, ›dass Er eure Seele mit Liebe erfüllt für die Kunst und alle Kreaturen und dass Er dafür sorgt, dass euer Geist klar bleibt, denn groß und erhaben ist die Kunst, die der Erhaltung der Gesundheit und des Lebens dient. Dass Er nicht zulässt, dass der Gewinndurst oder das Trachten nach Ruhm euch in der Ausübung eurer Kunst beeinflussen, denn die Feinde der Wahrheit und der Menschenliebe könnten euch leicht irreführen und von der edlen Pflicht entfernen, Seinen Kindern Gutes zu tun. Dass Er auch die Kraft eures Herzens stärkt, damit es allzeit bereit ist, dem Armen und dem Reichen zu dienen, dem Freund und dem Feind, dem Guten und dem Bösen. Dass Er ebenfalls dafür sorgt, dass ihr in allem bescheiden seid, aber unersättlich in eurer Liebe zur Wissenschaft und dass Er euch von der Idee fern hält, alles zu können. Dass Er euch schließlich die Kraft und den Willen gibt, eure Kenntnisse zu erweitern, damit ihr heute in eurem Wissen Dinge entdecken könnt, die ihr gestern nicht vermutet hättet. Denn der Geist des Menschen drängt immer weiter voraus.‹« Dies sind die letzten Worte Abraham Alfaquins, mit dessen Dahinscheiden künftig Galeo Rodrigo Arzt des Königs Alfonso X. des Weisen ist.
Unser letztes Lager haben wir auf den Hügeln errichtet, die die Stadt Ribat el-Fath überragen. Heute Abend werde ich die Niederschrift dieses Hefts beenden, und schon morgen früh werden diese Seiten nicht mehr mir gehören. Sobald man sie dir überreicht hat, wirst du sie lesen und alsbald vernichten, denn niemand anderes darf jemals von ihnen erfah165
ren. Somit wirst nur du allein wissen, wie jene Männer umgekommen sind. Sie waren alle streng gläubig und entsetzt von dem Brief, den ich ihnen habe zukommen lassen. Daher wusste ich, dass sie nicht lange warten würden, um sich in die Kathedrale Santa Maria la Major zu begeben, die damals das einzige christliche Gebäude der Stadt war. Sobald sie es betraten, haben sie nach jemandem gesucht, an den sie sich wenden konnten, und im selben Augenblick ist ihnen ein Mann in Priesterkleidung aufgefallen, der sich ihnen näherte. Keiner von ihnen wusste, dass ich mich absichtlich dort aufgestellt und auf sie gewartet hatte. Da sie allesamt äußerst um ihr Seelenheil besorgt waren, haben sie sich mir sogleich geöffnet, mir ihre Sünden gestanden und den Himmel um Vergebung angefleht. Da sie sich bedroht fühlten und den Tod erahnten, der sie umschlich, waren sie bereit fürs Fasten, für die Beichte und Gebete, für den Kauf von Ablassbriefen, für das Lesen der Messe oder sogar für die Pilgerreise, wenn diese sie von der Sünde hätte freisprechen können. ›Ihr habt seinerzeit ein Verbrechen begangen‹, habe ich ihnen gesagt. ›In den Augen des Herrn kann allein eine gerechte Buße, wenn sie am Fleische des Sünders selbst vorgenommen wird, die schlimmsten Vergehen sühnen. Dafür genügt es, dass Ihr um die Vergebung Eurer Sünde bittet, indem Ihr Euer eigenes Blut fließen lasst. Und da Eure Reue ehrlich zu sein scheint, schenke ich Euch eine Geißel, Sie wurde in Erde aufbewahrt, die von den Hügeln Jerusalems stammt, und besitzt die Macht der Vergebung über Eure Verbrechen. Benutzt sie so bald wie möglich. Wartet auf keinen Fall, bis es zu spät ist.‹ In diesem Moment habe ich ihnen eine Geißel übergeben, die ich ganz speziell für sie angefertigt hatte. Was anschließend geschehen ist, kann man sich leicht vorstellen. Sobald sie zu Hause waren, allein in ihrem Zimmer, haben sich meine Opfer niedergekniet, ihre Hände gefaltet und halblaut ein langes Gebet aufgesagt. Dann haben sie sich der Geißel bedient. Wahrscheinlich haben sie sie betrachtet und bemerkt, dass jedes der Lederbänder in einer feinen Silberlamelle endete, die mit einer dicken Paste mit blauen und grünen Sprenkeln bestrichen war. Dann haben sie ihren Arm langsam vor sich ausgestreckt, den Kopf nach vorn gesenkt und in einer schnellen Bewe166
gung heftig ihren Rücken ausgepeitscht. Die Silberlamellen haben daraufhin die Oberfläche ihrer Haut eingeschnitten, was ihnen bestimmt eine schmerzvolle Grimasse entlockt haben dürfte. Zweimal, dreimal, ja zehnmal haben sie die Bewegung wiederholt und sich abwechselnd die rechte und dann die linke Schulter ausgepeitscht. Mit jedem Schlag werden sich ihre Gesichtszüge krampfhaft verzerrt haben, und durch ihre zusammengepressten Zähne wird ein dumpfes Stöhnen entkommen sein. Sehr schnell wird ihr Rücken mit Blut bedeckt gewesen sein, und das Pulver ist in jede der Verletzungen eingedrungen. Als ihnen die Buße, die sie sich selbst auferlegten, ausreichend erschien, haben sie sich erhoben und die Geißel zu Boden fallen lassen. Dann werden sie sich bäuchlings auf ihr Bett gelegt haben und sind kurz darauf mit dem Gedanken, ihre Seele gerettet zu haben, eingeschlafen, erschöpft vom Schmerz, bevor das Leiden sie dahinraffte. Nun aber, da meine eigenen Verbrechen gestanden sind, muss ich dir noch die Gründe darlegen, die mich dazu geführt haben, ein Mörder zu werden. Du warst noch sehr jung, als deine Eltern gestorben sind, und wahrscheinlich erinnerst du dich nicht mehr genau an jenen Tag, als deine Mutter, wenige Augenblicke vor ihrem Ableben, mich angefleht hat, ihr zu schwören, dass ich über dich wache und dich beschütze. Ich habe meinen Schwur vor einer Sterbenden ausgesprochen, mit Gott als Zeugen. Von jenem Moment an war ich an dieses feierliche Versprechen gebunden, und meine gesamte Existenz war ihm gewidmet, indem ich mich um dich gekümmert habe, wie es dein eigener Vater getan hätte. Als du zum Mann geworden warst und Akkon verlassen wolltest, um nach Andalusien zu gehen, habe ich sofort verstanden, dass du dich an den acht sevillanischen Kaufmännern rächen wolltest. Wenn du dich allerdings dieser Verbrechen schuldig gemacht hättest, wärst du bald von einem Gerichtshof zum Tode verurteilt worden. Würde ich dich deinen Racheakt begehen und deinen Untergang besiegeln lassen, dann hätte ich den Eid, den ich deiner Mutter gegenüber leistete, gebrochen. Ich, der ich dich besser kenne als irgendjemand sonst auf der Welt, habe sofort gewusst, dass es sinnlos war, dich von deiner Abreise abzubringen. Die einzige Lösung, die sich mir bot, um mein Versprechen zu ehren, 167
bestand darin, dass ich mich ebenfalls nach Sevilla einschiffte, um jene Verbrechen an deiner Stelle zu begehen und dir eine Verurteilung zu ersparen. So habe ich zwar das Gesetz gebrochen, aber indem ich dich bewahrte, habe ich auch meinen Schwur eingehalten. Heute bist du, Galeo Rodrigo, Arzt am königlichen Hofe, und du lebst, während ich mein Versprechen gehalten habe. Darin liegt der einzige Trost, der mir bleibt. Wenn du diese Zeilen in deinen Gemächern im Alcazar liest, werde ich weit weg sein und auf den Straßen des Südens wandeln, während die Winde die Spuren meiner letzten Lager hinter mir verwischen und ich nur noch darauf warte, dass mich der Tod holen kommt. Bevor ich diese Zeilen beende, komme ich nicht umhin, die Frage zu formulieren, die mich seit Jahren quält, obwohl ich bereits weiß, dass ich niemals ihre Antwort kennen werde: Hättest du es getan, Galeo? Hättest du diese acht Männer eigenhändig ermordet? Dein Hass war groß, aber dein Glaube an deinen Arztberuf ist wahrscheinlich noch größer, so dass du letztendlich darauf verzichtet hättest, jene Verbrechen zu begehen.
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Epilog
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in kalter Wind, begleitet von einem feinen Regen, peitscht schon den ganzen Tag gegen die Mauern des Alcazar. Die Nacht ist bereits hereingebrochen, als ein Mann, der sich als Lotse eines Handelsschiffes vorstellt, das sechs Tage zuvor den Hafen von Ribat el-Fath verlassen hat, darum bittet, den Hofarzt zu treffen. Kurz darauf überreicht er ihm ein Heft, bevor er sich von ihm verabschiedet. Als Galeo Rodrigo von seinem Inhalt Kenntnis genommen hat, nähert er sich langsamen Schrittes dem Kamin, zerreißt die Seiten, die er in den Händen hält, und wirft sie ins Feuer. Während er beobachtet, wie sich die Flammen aufrichten, murmelt er zu den Schatten des Raums: »Gott hat meine Seele mit Liebe zur Medizin und zu allen Kreaturen erfüllt. Nein, Pater van Neesroy, ich habe es lange Zeit gewünscht, aber ich hätte diese Männer niemals töten können. Ihr habt gehandelt, um mich zu retten, aber wahrscheinlich habt Ihr Euch umsonst verdammt.«
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