ALEX GARLAND Das Koma Roman Deutsch von Rainer Schmidt
Bis das Telefon klingelte, war das einzige G...
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ALEX GARLAND Das Koma Roman Deutsch von Rainer Schmidt
Bis das Telefon klingelte, war das einzige Geräusch in meinem Büro das Kratzen meines Füllers, mit dem ich Papiere abzeichnete und Randnotizen, Korrekturen und Ergänzungen einfügte. Ich drückte auf die Freisprech taste. »Carl hier.« »Carl.« »Catherine! Verdammt. Ich wollte dich schon vor Stunden nach Hau‐ se schicken. Ich brauche dich heute nicht mehr, und deshalb ...« Sie unterbrach mich. »Ich bin zu Hause. Ich war zu Hause, dann im Kino, ich habe eine Pizza gegessen, den Babysitter bezahlt und den Schluss der Spätnachrichten gesehen.« Die Uhr auf meinem Schreibtisch zeigte 23:42. Ich drehte mich auf meinem Schreibtischsessel um. Das Fenster in meinem Büro reichte vom Boden bis zur Decke. Draußen sah ich das Funkeln der Stadt und den Nachthimmel. Keine Sterne ‐ eine niedrige Wolkendecke gab dem Himmel einen beinahe roten Glanz. »Ich rufe dich an«, fuhr Catherine fort, »weil die letzte U‐Bahn in fünfundzwanzig Minuten fährt.« Im U‐Bahnhof ging ich weiter meine Unterlagen durch. Ich fügte wei‐ tere Randnotizen an, und der Füller rutschte ab, als das Papier unter der Federspitze nachgab. Von irgendwoher hallte Gelächter durch die Gänge, und die gekachelten Wände warfen das Echo zurück. Ich blickte auf, als das Geräusch verklang, aber ich war allein auf dem Bahnsteig. Trotzdem bereitete dieses Lachen mir Unbehagen. Es war humorlos und raubtierhaft.
Ich faltete die Papiere zusammen. Die losen Blätter in meiner Hand gaben mir ein Gefühl der Verletzlichkeit. Als ich meine Tasche schloss und die abgegriffene Messingschließe zuschnappen ließ, spürte ich den Luftsog der näher kommenden U‐Bahn. Außer mir war nur ein einziger Fahrgast in meinem Wagen, ein Mädchen von Anfang zwanzig; sie saß am anderen Ende und las ein Buch. Kurz bevor die Türen sich schlossen, hörte ich erneut das Gelächter, näher und klarer als beim ersten Mal. Der Bahnsteig war immer noch leer ‐ zumindest da, wo ich ihn überblicken konnte, als ich nach rechts und links über meine Schulter spähte und dabei den Kopf nach hinten zur Scheibe lehnte, um meinen Blickwinkel zu vergrößern. Dann schlossen sich die Türen, und die Bahn fuhr mit leichtem Ruck‐ en an. Ich sah mich nach dem Mädchen um. Sie war immer noch in ihren Roman vertieft. Ich starrte mein Spiegelbild im Fenster gegenüber an und sah zu, wie mein Kopf mit dem Schlingern des Wagens hin und her wippte. Als die Bahn ihre Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte, bemerkte ich etwas am Rande meines Gesichtsfeldes. Einen Schatten in einer hellen Fläche. Ich drehte den Kopf in die Richtung und sah die Gesichter von vier jungen Männern hinter den schmutzigen dicken Scheiben der Tü‐ ren zwischen den U‐Bahnwagen. Ihre Köpfe drängten sich in der Um‐ rahmung des Fensters. Augenblicke später glitten die Türen auf. Während die Männer aus ihrem in meinen Wagen kamen, war alles erschreckend laut: das Häm‐ mern der Räder auf den Gleisen, das Rauschen der vorüberrasenden Tunnelwände. Die jungen Männer drängten sich um das Mädchen, wie sie sich ins
Fenster gedrängt hatten. Sie lehnten sich über sie, die Hände an den Halteschlaufen, und versperrten mir die Sicht auf sie. Einer langte nach unten und griff nach der Tasche, die zwischen ihren Beinen stand. Es kam zu einem kurzen Handgemenge ‐ und im ersten Augenblick schien das Mädchen zu gewinnen. Sie nahm ihre Tasche beim Riemen, stand auf und stieß die Männer beiseite. Das meiste von all dem sah ich aus dem Augenwinkel. Das Mädchen kam vom anderen Ende des Wagens auf mich zu und setzte sich genau vor mein Spiegelbild im Fenster gegenüber. Sie machte einen mutigen Eindruck. Ich glaube, es lag daran, dass sie noch immer ihr Buch in der Hand hielt und mit dem Finger die Seite markierte, die sie eben gelesen hatte. »Verzeihung«, sagte sie. »Stört es Sie, wenn ich hier sitze?« Ich schüttelte den Kopf und sah ihr in die Augen, und ich hoffte, mein Blick wirkte beruhigend. Ich brauchte nicht zur Seite zu schauen, um zu wissen, dass die jungen Männer ihr durch den Wagen folgen wür‐ den. Ich fragte mich, was als Nächstes passieren würde. Die jungen Männer erreichten uns. Einer von ihnen zerrte wieder an der Tasche des Mädchens. Ihr Handgelenk wurde gepackt, ihr Arm umgedreht, damit sie den Riemen losließ. Sie schrie. Mir war nicht ganz klar, was hier vorging. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand auf. Ich hob eine Hand. Ich sagte: »Hey.« Als kleiner Junge bin ich einmal rückwärts von einer hohen Schaukel gefallen und mit dem Hinterkopf hart auf den Boden geschlagen. Diesen Unfall sah ich von außen mit an, aus der Perspektive des Astes, an dem die Schaukel befestigt war.
Durch die Seitenfenster des Zuges, als schwebte ich außen zwischen Glasscheibe und der vorüberrauschenden Tunnelwand, sah ich mich rückwärts durch den Wagen gehen, die Arme schützend vor Oberkörper und Gesicht erhoben. Die jungen Männer attackierten mich. Viele ihrer Schläge schienen meinen Kopf und meine Schultern nur harmlos zu streifen, und einige verfehlten mich überhaupt. Aber einige trafen mich hart. Meine Bewegungen erschienen mir langsam und ungelenk. Meine Hände fuchtelten durch die Luft, um die Männer abzuwehren, aber diese Gesten sahen nicht bedrohlicher aus, als wollte ich eine Fliege verscheuchen. Bald knickten meine Knie ein, ich fiel rückwärts gegen die Sitze und rollte dann über den Boden. Von meinem Standort außer‐ halb des Wagens sah ich zu, wie die jungen Männer auf mich eintraten, und dann war ich bewusstlos.
1 Immer noch unbeteiligter Zuschauer, blieb ich weiter in der Nähe meines bewusstlosen Körpers. Doch nicht als Beobachter ununterbrochener Abläufe ‐ vielmehr sah ich mich in einer lang‐ samen Folge von Momentaufnahmen, zwischen denen mehrere Stunden, wenn nicht Tage liegen mussten. Auf dem ersten ‐ und kürzesten ‐ Bild befand ich mich hinten in einem Krankenwagen. Mein Hemd war offen und blutig, und man hielt mir eine Sauerstoffmaske ans Gesicht. Auf dem nächsten Bild lag ich in einem Krankenhausbett, ver‐ mutlich auf einer Intensivstation. Ich trug immer noch die Sauerstoffmaske, Kopf und Brust waren mit Verbänden umwi‐ ckelt, und ich war an irgendwelche Apparate angeschlossen. Ca‐ therine, meine Sekretärin, saß an meinem Bett und weinte. Ein Arzt stand hinter ihr. Er streckte die Hand nach ihr aus, als eine Art tröstende Geste, aber nie schien er die letzten paar Zentime‐ ter zu überwinden, um die Bewegung zu vollenden, und seine Finger schwebten über ihrer Schulter wie die Hand eines Geist‐ heilers. Auf einem anderen Bild hatte man mich von der Intensivstation in ein Privatzimmer verlegt, und das Mädchen aus dem U‐ Bahnwagen war bei mir. Sie hielt einen Strauß Chrysanthemen mit einer Karte in der Hand, und sie sah beklommen aus. Sie blickte öfter auf ihre Blumen als auf mein Gesicht, das jetzt, ver‐ bandlos, seine Blutergüsse offen zeigte, aber friedlich schlafend
dalag. Das Mädchen blieb eine ganze Weile bei mir. Ihre Lippen bewegten sich gelegentlich, doch ich hörte nicht, was sie sagte. Schließlich stellte sie die Blumen in eine Vase, legte die Karte auf den Nachttisch und ging. Auf dem letzten Bild saß ein Mann ‐ ein Pfleger, glaube ich ‐ auf meiner Bettkante und redete mit mir, und dabei betrachtete er sehr konzentriert mein Gesicht. Wieder hörte ich nicht, was er sagte, aber an seiner Haltung und seinem Gesichtsausdruck er‐ kannte ich, dass er sehr eindringlich zu mir sprach. Ich nehme an, er versuchte mich aufzuwecken. Der Pfleger war immer noch bei mir, als ich schließlich tatsäch‐ lich aufwachte. Ich war wieder in meinem Körper, und es berei‐ tete mir einige Mühe, die Augen zu öffnen; ich zog die Brauen hoch, um die Lider zu trennen und die Schlafverkrustung aufzu‐ brechen. Ein feuchtes Tuch oder ein Schwamm fuhr mir über das Gesicht. Ich bat um Wasser, und der Pfleger hielt mir den Rand eines Glases an die Lippen. Beim Schlucken hatte ich das Gefühl, ich könne den Weg des Wassers durch meine Kehle genau ver‐ folgen. Mir war, als fühlte ich, wie es sich in meinem Magen sammelte und wie kleine Wellen über die Oberfläche zogen, so‐ bald ich mich bewegte. »Ich bin also noch am Leben«, sagte ich schließlich. »Ja«, sagte der Pfleger. »Bin ich schwer verletzt?« »Sie erholen sich.« »Gut«, sagte ich. »Das ist gut zu hören.«
2 Einige Zeit später saß ich in einem Rollstuhl und sprach mit zwei Polizisten. Die meiste Zeit redete der ältere. Er wollte wis‐ sen, ob ich vor dem Angriff Hand an die jungen Männer gelegt oder sie sonstwie angegriffen hätte. »Überhaupt nicht«, antwortete ich. »Ich meine, ich wollte sie daran hindern, das Mädchen zu berauben. Aber ich bin nur auf‐ gestanden. Ehe ich mich versah, schlugen sie auf mich ein. Ich hätte gar keine Gelegenheit gehabt, sie anzugreifen, selbst wenn ich es gewollt hätte.« Der ältere Polizist nickte. »Das entspricht den Angaben der Zeugin.« »Ist ihr etwas passiert? Dem Mädchen?« »Nein.« »Ich hatte Angst, sie könnten sie vergewaltigen.« »Sie ist unverletzt. Die Jungs haben ihre Tasche mitgenommen, aber die konnten wir bei der Festnahme sicherstellen.« »Sie haben sie gefasst?« Ich muss überrascht geklungen haben, denn der jüngere Poli‐ zist war anscheinend beleidigt. »Es soll vorkommen, dass wir Leute fassen«, sagte er, und seine Stimme klang leicht erregt. Der ältere Polizist schaltete sich ein. »Als sie an der nächsten Station aus der Bahn sprangen, waren sie an fünf verschiedenen Stellen von den Überwachungskameras erfasst worden, ehe sie
auch nur oben auf der Straße ankamen. Zwei von ihnen konnten wir über die Kameras sogar bis an ihre eigene Haustür verfolgen. Die werden nicht davonkommen; da können Sie ganz beruhigt sein.« »Was ist mit meiner Tasche?«, fragte ich. »Ich hatte eine Tasche dabei. Haben Sie die auch sichergestellt?« Der ältere Polizist runzelte die Stirn. »Eine Tasche?« »Ja. Mit einer Messingschließe. Es waren Papiere drin.« Der jüngere Polizist blätterte in seinem Notizbuch. »Ich habe hier nichts von einer Tasche mit einer Messingschließe«, sagte er dann. »Bei Ihnen im Wagen war sie nicht.« »Und ich kann mich nicht erinnern, auf den Bändern der Überwachungskameras jemanden mit einer zweiten Tasche ge‐ sehen zu haben«, fügte der ältere Polizist hinzu. »Aber wir wer‐ den der Sache nachgehen.« »Es ist sehr wichtig, dass ich die Tasche zurückbekomme«, sag‐ te ich. »Ich brauche sie für meine Arbeit.« »Im Augenblick sollten Sie sich um Ihre Arbeit keine Sorgen machen«, sagte der ältere Polizist. »Aber Sie werden versuchen, sie zu finden. Meine Brieftasche war drin, und sie war voller Unterlagen, und ...« »Wenn Sie gestatten«, sagte der ältere Polizist, »ich finde, Sie sollten jeden Gedanken an Arbeit und Unterlagen beiseite schie‐ ben. Ihre wichtigste Aufgabe ist es jetzt, wieder auf die Beine zu kommen.« Er lächelte mich an. »Raus aus diesem Krankenhaus und nach Hause.«
3 Am nächsten Abend wurde ich entlassen. Das Krankenhaus be‐ sorgte mir ein Taxi und etwas zum Anziehen. Meine Kleider waren bei dem Überfall zerrissen und stark mit Blut verschmiert worden, und deshalb stieg ich in einem grünen Pyjama und Pan‐ toffeln die Stufen zu meiner Haustür hinauf. Wie lange ich bewusstlos im Krankenhaus gelegen haben muss‐ te, sah ich schon an dem großen Berg Briefe, der von der Haustür zur Seite geschoben wurde. Ich nahm sie mit ins Wohnzimmer und drückte auf die Abspieltaste an meinem Anrufbeantworter. Ich hatte vierunddreißig Nachrichten, aber ich fühlte mich noch nicht imstande, sie abzuhören oder meine Post aufzumachen. Ich war nicht einmal imstande, das Licht einzuschalten. Stattdessen schaltete ich den Fernseher ein. Ich sah mir die Zehn‐Uhr‐Nachrichten an. Die Schlagzeilen und die Hauptmeldungen hatte ich verpasst. Ich hörte einen Bericht über einen Brand in einem Nachtclub und sah einen Streit zwi‐ schen zwei Prominenten. Der Streit fand im Freien vor einer Filmpremiere statt und war von einem Zuschauer mit der Vi‐ deokamera aufgenommen worden. Der Nachrichtensprecher stellte Vermutungen an, dass das Ganze, obwohl es dabei fast zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre, womöglich doch nur ein Publicity‐Akt sei. Als ich dem Sprecher zuschaute, hatte ich den Eindruck, dass ihn der wahre Sachverhalt hinter der Konfronta‐ tion wenig interessierte, denn mehrmals schien er den Sinn des‐
sen, was er da von seinem Teleprompter ablas, aus den Augen zu verlieren, und es gelang ihm nicht, das Ende eines Satzes oder den Anfang des nächsten vorauszusehen. Außerdem hatte ich den Verdacht, dass ihm diese Prominenten ebenso unbekannt waren wie mir. Genau wie der Nachrichtensprecher verlor ich den Faden. Als ich ihn wiederfand, hatte das Fernsehprogramm zu einem Schwarzweißfilm gewechselt. Ich schaltete den Apparat ab und ging hinauf in mein Schlafzimmer. Der Staub dort oben erinnerte mich wieder daran, wie lange ich bewusstlos im Krankenhaus gelegen hatte. Das Bett war unge‐ macht ‐ so, wie ich es hinterlassen hatte, als ich am Morgen vor dem Überfall zur Arbeit gegangen war. Als ich das Federbett zurechtschüttelte, brannte mir der Staub wie Pollen in den Au‐ gen, und ich musste krampfhaft zwinkern. Ich spürte die Rei‐ zung auch in der Nase und im Rachen. Aber es war eine warme Nacht, und so warf ich die Bettdecke auf den Boden und öffnete das Fenster, um ein bisschen frische Luft ins Zimmer zu lassen. Dann zog ich den Krankenhauspyja‐ ma aus und Boxershorts an und legte mich hin. Ich hatte die Vorhänge nicht zugezogen, und das Licht der Straßenlaternen fiel hell ins Zimmer. Ich versuchte nicht wirk‐ lich, gleich einzuschlafen. Auf der Taxifahrt von der Klinik nach Hause hatte mich die bange Frage beschäftigt, welchen psycho‐ logischen Fallout ich nach diesem Überfall zu erwarten hätte. Sicherlich würden sich die Auswirkungen vor allem zu Hause bemerkbar machen, wenn ich versuchte, nach einem so unnor‐ malen und schockierenden Ereignis wieder ins normale Leben zurückzufinden. Die Vertrautheit meines Heims würde im kras‐
sen Gegensatz dazu stehen, ganz anders als die sowieso unge‐ wohnte Umgebung des Krankenhauses. Konkret befürchtete ich Alpträume, glaube ich ‐ den Angriff in einer Traumwelt noch einmal zu durchleben, in einem Traum, der sich vielleicht in ei‐ ner Endlosschleife wiederholen und in dem der Überfall womög‐ lich noch brutaler und unangenehmer sein würde als sein reales Gegenstück. Auf der Taxifahrt war ich zu dem Schluss gekommen, dass die vernünftigste Art der Annäherung an den psychologischen Nie‐ derschlag die war, keine überzogenen Erwartungen zu hegen. Ich würde keine Pläne machen, mir keine Ziele setzen ‐ etwa, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder zur Arbeit ge‐ hen würde. Was den Schlaf anging, so würde ich mich nicht dar‐ um bemühen, aber ich würde mich auch nicht gegen ihn wehren. Der Taxifahrer, mit dem ich mich unterwegs ein bisschen un‐ terhalten hatte, war ganz meiner Meinung gewesen. »Ich hatte mal einen Unfall«, erklärte er. »Die Leute sagen, nach ʹnem Autounfall muss man gleich wieder fahren, oder man traut sich nie wieder. Auch, wenn man vom Pferd fällt. Oder vom Fahrrad. Oder von ʹner Leiter.« Ich nickte seinen Augen im Rückspiegel zu. »Aber ich binʹs anders angegangen«, fuhr er fort. »Als ich nach dem Unfall zum ersten Mal wieder in meinem Taxi saß, hab ich den Motor gar nicht angelassen.« Wir hatten gerade vor einer Ampel angehalten, und er drehte sich auf seinem Sitz nach hinten, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich habe nicht mal das Lenkrad angerührt!« Er schüttelte den Kopf, als die Ampel auf Grün sprang und wir weiterfuhren.
»Meine Frau dachte, ich sei verrückt geworden. Sie sah vom Ge‐ hweg aus zu. Aber ich war nicht verrückt.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Und beim zweiten Mal hab ich den Motor auch nicht gestartet, aber dafür die Handbremse gelöst. Unsere Straße ist leicht abschüssig, und der Wagen rollte einen knappen Meter weit. Nicht mehr, denn davor parkte ein anderes Auto. >Du bist verrückt geworden!<, sagte meine Frau. Aber jetzt sehen Sie mich an. Ich fahre wieder.« Er schwieg einen Augenblick und fügte dann hinzu: »Es ist okay, wenn manʹs langsam angehen lässt.«
4 Obwohl es durch die Straßenlaternen einigermaßen hell im Zimmer war, bemerkte ich das Blut, das durch meinen Verband sickerte, erst, als ich mich auf die Seite drehen wollte und das Laken an meinem Rücken kleben blieb. Die Feuchtigkeit hatte ich wohl gespürt, der warmen Nacht wegen aber für Schweiß gehal‐ ten. Ich setzte mich auf und entdeckte einen großen dunklen Fleck auf der Bettwäsche, und als ich eine Hand an den Verband legte, war er durchnässt. Erschrocken lief ich ins Bad und knipste das Licht an. Im Spiegel sah ich, dass ich mit einem roten Verband umwi‐ ckelt war. Ich musste mehrere Schnittwunden geöffnet haben, ohne es zu merken ‐ Wunden, deren Existenz mir gar nicht be‐ wusst gewesen war. Ich hatte keine konkrete Vorstellung von meinen Brustverletzungen, und der Verband an meinem Ober‐ körper war seit meinem Aufwachen nicht gewechselt worden. Bis ich jetzt das Blut sah, war ich davon ausgegangen, er sollte die Blutergüsse bedecken, die sich über den Rand der Bandagen hinweg weiter nach oben erstreckten, über das Schlüsselbein herauf bis zum Gesicht. Aber als ich mich jetzt genauer im Spiegel betrachtete, sah ich, dass die Blutergüsse, die ich im Krankenhaus gesehen hatte, so weit verblasst waren, dass ich gar nicht mehr sicher war, ob es sich um Oberflächenverfärbungen der Haut oder nur um Schat‐ ten handelte, die durch die Halogenbeleuchtung an der Decke
verursacht wurden. Wenn ich den Kopf drehte und meinen Oberkörper bewegte, schienen die Male, die aussahen wie Blut‐ ergüsse, sich jedenfalls zu verändern, und wenn ich den Ober‐ körper zurückbog und dem Licht aussetzte, erschien meine Haut völlig makellos. Unterdessen sickerte das Blut bereits aus dem Verband in den Gummibund meiner Boxershorts. Ich beschloss, die Bandagen so schnell wie möglich abzunehmen und mir selbst ein Bild von der Ernsthaftigkeit meiner Verletzungen zu machen. Sollten sie schlimm aussehen, wäre das einzig Vernünftige, wieder ins Krankenhaus zu fahren. Sie sahen schlimm aus. Das heißt ‐ sie wirkten schlimm. Ich war praktisch rot angestrichen, ein großer Block Farbe von der Brust bis zum Bauchnabel. Aber als ich den letzten durchnässten Mull‐ streifen herunterschälte und zu Boden fallen ließ, erkannte ich, dass der Schein gottlob trog. Ich konnte nirgends eine wirkliche Wunde entdecken ‐ keinen Schnitt, keinen Stich, keinen Kratzer. Im Grunde war ich nicht überrascht. Ich hatte schon oft gehört, dass blutende Wunden in Bezug auf ihre Ernsthaftigkeit irrefüh‐ rend sein konnten. Und ich fühlte mich wohl; mir war nicht schwindlig, ich hatte keine Schmerzen, empfand nicht einmal Unbehagen. Ich stellte mich ans Waschbecken und wischte das Blut mit ei‐ nem Waschlappen ab. Meine einzige Sorge bestand jetzt darin, den Ursprung der Blutung zu finden und ordentlich zu verbin‐ den ‐ vermutlich würde ein gut angebrachtes Heftpflaster genü‐ gen. Wahrscheinlich hatte der lockere Verband auf der blutenden Wunde den Kapillareffekt gefördert.
Dann hatte ich eine Idee. Wie der Sturz von der Schaukel war auch dies eine Kindheitserinnerung ‐ und zwar an das Flicken von Reifenpannen an meinem Fahrrad. Ein Loch im Schlauch war mit bloßem Auge auch nicht zu entdecken. Man musste ihn entweder ans Ohr halten und drehen und auf ein leises Zischen lauschen, oder man tauchte den ganzen Schlauch in eine Wasser‐ schüssel, und dann sah man die entweichende Luft in einem Strom von Bläschen. Dass ich zischen würde, glaubte ich nicht, und selbst ein Schwarzer Gürtel in Joga würde mich nicht dazu befähigen, mir das Ohr an die Brust zu halten. Also ließ ich mir ein Bad ein. An einer Stelle in der Nähe meines Solarplexus kräuselte sich ein feines Blutfädchen ins Wasser, wie eine zarte Koralle oder eine Seeanemone. Die Wunde konnte nicht größer sein als ein Nadelstich. Mein Blick wanderte zwischen der Koralle, dem klebrigen Hau‐ fen Verbandmull auf dem Badezimmerboden und der roten Schmiere am Waschbecken und an dem verchromten Wasser‐ hahn hin und her, und allmählich schwante mir, dass der psychi‐ sche Fallout womöglich schlimmer als erwartet auf mich nieder‐ gehen würde.
5 Ich hielt den Daumen auf Anthonys Klingelknopf. Mitternacht war längst vorbei, und in seinem Haus war alles dunkel, ebenso wie in den Nachbarhäusern und überhaupt in der ganzen Straße, so weit ich sehen konnte. Als er zur Tür kam, trug er einen Ba‐ demantel, und die Haare an der linken Kopfseite standen senk‐ recht in die Höhe. »Carl!«, sagte er. Dann noch einmal: »Carl! Mein Gott. Wie spät ist es? Alles okay?« »Ich glaube ja«, sagte ich. »Mehr oder weniger. Aber ich muss reinkommen.« »Ja, ja, natürlich.« Er fasste sich, strich sich die Haare glatt und wischte sich Schlaf und Überraschung aus den Augen. Ich folgte ihm ins Haus und in die Küche. »Tut mir Leid, dass ich dich geweckt habe«, sagte ich, während Anthony den Wasserkocher unter den Hahn hielt. »Hab ich Mary auch geweckt? Und die Kinder?« Anthony zuckte die Achseln. »Mary wird schon wieder einge‐ schlafen sein. Und die Kinder ‐ ich weiß nicht. Ist auch egal. Je‐ denfalls bin ich hier derjenige, der sich entschuldigen muss. Ich wollte dich heute vom Krankenhaus abholen. Ich wusste ja, dass du entlassen wirst, aber ...« Er drehte sich zu mir um. »Na ‐ kein Aber. Ein echter Freund hätte da sein sollen.« »Ich glaube nicht, dass ich abgeholt werden wollte. Ich wollte
lieber allein nach Hause fahren und alles eher langsam angehen lassen. Jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht war das keine besonders gute Idee.« Anthony lehnte sich an die Theke und wartete, dass ich weiter‐ redete. Aber das tat ich nicht. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also warteten wir beide, und nach einer Weile stieg Dampf aus dem Kocher und sammelte sich unter den Hänge‐ schränken. Schließlich sagte ich: »Wenn wir lange genug warten, wird et‐ was Merkwürdiges passieren.« Anthony runzelte die Stirn. »Was meinst du damit?« »Einfach ... das. Wenn wir lange genug warten, wird etwas Merkwürdiges passieren. Vermutlich werde ich der Einzige sein, der es bemerkt. Also ist es vielleicht nur für mich merkwürdig.« »Merkwürdig?« »Merkwürdig.« »Sag mir, was du meinst.« »Na ja, zum Beispiel weiß ich nicht, wie ich heute Nacht hierher gekommen bin.« » ... hierher zu mir?« »Zu dir, ja. Ich habe keine Ahnung. Ich kann mich nicht mal erinnern, dass ich beschlossen habe, herzukommen. Ich lag in der Badewanne, und dann habe ich bei dir geklingelt. Und dazwi‐ schen war nichts, nur ...« Ich schüttelte hilflos den Kopf. »Eine Art Übergang.« »Ein Blackout?« »Ich nehmʹs an. Das ist die plausibelste Erklärung. Aber ...« Ich schwieg einen Moment. »Wie bin ich heute Nacht hergekommen? Bin ich gefahren? Steht mein Auto draußen?«
Anthony warf einen Blick aus dem Küchenfenster. »Nein.« »Bin ich zu Fuß gegangen? Dazu hätte ich mindestens vierzig Minuten gebraucht. Busse und U‐Bahnen fahren nicht.« Ich durchsuchte meine Taschen. »Und ich habe mein Portemonnaie nicht dabei. Ich hätte kein Taxi bezahlen können.« Wieder schwiegen wir kurz. Anthony beobachtete mich mit leicht verwirrtem oder besorgtem Blick. Dann schaltete sich der Wasserkocher ab. »Wir haben keine Milch im Haus, deshalb gibtʹs nur schwarzen Kaffee«, sagte Anthony. »Tut mir Leid.« Ich schüttelte den Kopf, um zu zeigen, dass es mir nichts aus‐ machte. Oder dass es mich nicht interessierte. »Nein«, sagte Anthony ziemlich nachdrücklich, als wolle er meine unverbindliche Reaktion korrigieren. »Es ist schade. Fri‐ sche Milch, frischer Kaffee. Manche Dinge sind einfach wie ge‐ schaffen füreinander.« »Okay.« Anthony goss zwei Tassen auf, stellte Zucker auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. »Tja«, sagte er, »wenn wir warten ‐ was glaubst du, wie lange es dauert, bis etwas Merkwürdiges passiert?« »Ich weiß nicht mehr als du«, sagte ich. Anthony lächelte. »Okay. Dann warten wir einfach.«
6 Ich wollte den Kaffee nicht trinken. Er sah zu schwarz und bit‐ ter aus, und außerdem schwamm eine dünne regenbogenbunte Schicht auf der Oberfläche. Ich glaube, es waren Reste des Spül‐ mittels. Die Flüssigkeit schillerte ein bisschen wie der Rücken eines Käfers oder wie eine Ölpfütze. Und Milch hätte die Sache auch nicht besser gemacht. Ganz ab‐ gesehen von Milch oder schwarzem Schillern, ich wollte den Kaf‐ fee nicht trinken, weil ich Kaffee nicht besonders mochte ‐ und nie gemocht hatte. Tatsächlich war ich sogar ein bisschen verär‐ gert darüber, dass Anthony mir den Becher überhaupt angeboten hatte, denn in Anbetracht unserer Freundschaft gehörte meine Abneigung gegen Kaffee eigentlich zu den Dingen, die er hätte wissen sollen. Je mehr ich darüber nachdachte, desto eigenartiger erschien mir der Kaffee. Ich starrte den unerbetenen Becher an, und auf ein‐ mal fiel mir ein, dass vielleicht er ‐ der unerbetene Becher ‐ das Merkwürdige war, das ich vorausgesagt hatte. Das Merkwürdige war schon passiert. Es war in dem Moment passiert, als ich meine Vorhersage aussprach. Der Gedanke war interessant, aber auch frustrierend: Ich hatte gehofft, dass das Merkwürdige ein bisschen spektakulärer aus‐ fallen würde. So spektakulär wie blutgetränkte Verbände und Bettlaken. Im Vergleich dazu, als Illustration eines ungewöhnli‐ chen Ereignisses, war das Aufbrühen und Servieren einer Tasse
Kaffee ein eher subtiler Missgriff. Und schlimmer noch, wenn ich versuchen wollte, Anthony das Merkwürdige daran zu vermit‐ teln, würde ich vielleicht allzu angespannt erscheinen ‐ allzu ver‐ tieft in die Analyse eines Heißgetränks. Das Einzige, was merk‐ würdig aussehen würde, wäre ich selbst. Wie auf ein Stichwort fragte Anthony: »Trinkst du deinen Kaf‐ fee nicht?« Ich blickte von meinem Becher auf und sah ihn an.
7 »Oh!«, sagte ich. Die Hausfassaden hinter Anthony auf der anderen Straßenseite lagen dunkel im Schatten einer Sonne, die noch nicht über die Dächer aufgestiegen war. Aber der Himmel war klar und blau, und Licht flutete in die Küche. Die Vögel sangen. »Da.« Ich beugte mich über den Tisch. »Da! Das meine ich!« Anthony starrte mich an. »Wovon redest du?« »Wovon ich ...?«Ich brach ab, schob meinen Stuhl zurück und ging zum Fenster. »Es ist Morgen! Das Licht scheint in die Küche. Unten auf der Straße fährt der Milchwagen.« »Ich weiß, dass es Morgen ist«, sagte Anthony. »Das ist es also! Das ist das Merkwürdige! Gerade war es noch dunkel, mitten in der Nacht, und ich habe den Kaffee ange‐ schaut, und jetzt ...« »Moment mal«, unterbrach Anthony. »Hast du gesagt, draußen kommt der Milchwagen?« »Ja.« »Entschuldige, Carl.« Anthony sprang eilig auf und rannte fast hinaus. »Ich muss den Milchmann erwischen, ehe er weiterfährt«, rief er aus dem Flur. Ein paar Augenblicke später sah ich ihn im Bademantel durch seinen Vorgarten laufen. Er hielt eine Zwanzig‐Pfund‐Note in die Höhe wie eine olympische Fackel.
Ich empfand jähe und furchtbare Verzweiflung. Ich kannte das Gefühl. Als kleiner Junge, mit fünf oder sechs Jahren, hatte ich manchmal machtvolle Fieberträume. Fast immer ging es dabei um Größenverhältnisse: In einer beigefarbenen Landschaft fühlte ich mich überwältigt von einem Gefühl un‐ glaublicher Größe oder unerträglicher Kleinheit. Ich war in die‐ ser Landschaft klein, während die Landschaft grenzenlos und gewaltig war. Oder ich war riesig groß in einer klaustropho‐ bieweckenden und beengenden Landschaft. Oder beide Zustän‐ de existierten gleichzeitig, was zweifellos unmöglich, aber den‐ noch der Fall war. Die beigefarbene Landschaft konnte eine flache Ebene sein. In meiner großen Form war ich vielleicht ein gigantischer Ball oder eine Kugel, viel größer als ein Planet oder eine Sonne. An meinen Händen oder zwischen den Fingern fühlte ich die harten Ecken und Kanten von Würfeln und Pyramiden oder die glatte, runde Oberfläche einer anderen gigantischen Kugel. Alles stellte sich in geometrischen Kategorien dar. Alles war im Fluss. Und alle diese Zustände und Empfindungen waren äußerst verstörend. Im Rückblick kann ich diese Träume rational dergestalt erklä‐ ren, dass sie in Beziehung zum Bett meiner Eltern standen, in dem ich lag, wenn ich hohes Fieber hatte. Ich war im Halbschlaf, halb im Delirium vielleicht, und das Große war der Abstand von einer Seite der Matratze zur anderen. Die Beengtheit war das schwere Federbett, das auf meinem Körper lastete. Die harten
Kanten und glatten Flächen waren das hölzerne Bettgestell oder das Laken. Rational weniger leicht zu erklären war der Umstand, dass ich diese Träume so verstörend fand. Ich weiß, dass ich hohes Fieber hatte, was an sich schon verstörend wirkt, und sei es nur, weil man sich körperlich so unwohl fühlt. Aber da war noch mehr ‐ etwas, das für einen Fünf‐ oder Sechsjährigen besonders beäng‐ stigend ist. In diesem Traum verhaftet, empfand ich die Land‐ schaft als äußerst real. Mehr noch: diese Landschaft aus Geomet‐ rie und unmöglichen Größenverhältnissen, in der alles im Fluss war, war die einzige reale Landschaft. Alle anderen Landschaften, auch die, in der sich meine Eltern und mein Bruder befanden, waren eine Illusion, die über dieser beigefarbenen Ebene lag, und sie waren unecht. »Carl?« Ich drehte mich um. Mary stand in der Tür. Sie hatte ihren Jüngsten, Joshua, auf dem Arm. »Hi, Mary«, sagte ich. »Wo ist Anthony?« »Draußen.« Ich deutete zum Fenster. »Er bezahlt den Milch‐ mann.« »Gut. Das sage ich ihm schon seit einer Ewigkeit.« Lächelnd kam Mary in die Küche. »Und?« Sie musterte die Lebensmittel‐ bestände im Kühlschrank und balancierte Joshua dabei auf der Hüfte. »Bleibst du zum Frühstück?« »Bis zum Frühstück hab ich noch nicht gedacht«, antwortete ich. »Dieser Morgen hat mich irgendwie überrumpelt.«
8 Mary hatte mir den Rücken zugewandt. Sie stand neben der Spüle und schlug in einer Schüssel zwei Eier auf. Neben ihr auf dem Herd brieten eine ganze Packung Speck und ein paar dicke Pilze in einer Pfanne. Eine zweite, kleinere Pfanne war leer bis auf ein schmelzendes Stück Butter. Ich hatte ein Glas Orangensaft in der Hand. Joshua hatte auch Orangensaft, in einem Kinderbecher mit Deckel. Er saß mir ge‐ genüber auf einem hohen Kinderstuhl und beobachtete mich mit großen dunklen Augen. Draußen sprach Anthony immer noch mit dem Milchmann. Wenn ich über Marys Schulter hinweg aus dem Fenster schaute, konnte ich sie beide sehen; sie schienen sich über einen Witz zu amüsieren. »Mary«, sagte ich und bemühte mich um einen ruhigen Ton. »Hast du schon mal einen Nervenzusammenbruch gehabt?« »Gerührt oder gebraten?«, fragte sie. »Entscheide dich schnell.« »Rühreier«, sagte ich, als ich begriffen hatte, dass sie nicht von meinem Geisteszustand sprach. Mary fing an, die Eier mit einem Holzlöffel hin und her zu schieben. »Ja, ich hatte schon mal einen Nervenzusammenbruch. Ist inzwischen Jahre her. Ich war Mitte zwanzig.« »Erinnerst du dich gut daran?« »Kaum. Ich erinnere mich, dass er mit einem Krankenhausauf‐ enthalt endete.«
»Meiner scheint mit einem Krankenhaus angefangen zu ha‐ ben.« »Okay«, sagte Mary. »Deshalb bist du mitten in der Nacht hier aufgekreuzt.« »M‐hm.« »Du hast Angst, du könntest einen Nervenzusammenbruch be‐ kommen.« »Genau.« »Hat es was mit dem Überfall zu tun?« »Ich glaube ja. Ich glaube, ich bin ernstlich traumatisiert. Psy‐ chisch.« Ich nahm einen großen Schluck Orangensaft, und Joshua ahmte meine Bewegung nach wie ein Echo; er hob und senkte die Hand zugleich mit mir. »Seit ich entlassen bin, hab ich prak‐ tisch dauernd Halluzinationen.« »Halluzinationen?« Mary klang überrascht. Sie nahm die Eier vom Feuer und drehte sich zu mir um. »Du siehst Dinge?« »Ja.« »Das klingt ziemlich ...« Sie suchte nach einem Wort. »Extrem.« »Ist es auch.« Ich sah, dass ihr Blick zu Joshua huschte. »Aber ich bin keine Gefahr für andere«, fügte ich hastig hinzu. »Hast du jetzt auch Halluzinationen?« Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Bist du eine Halluzi‐ nation?« »Soweit ich weiß, nicht.« »Okay, dann habe ich ‐ wenn ich mich auf dich verlassen kann ‐ jetzt keine.« Mary nickte. Dann sagte sie: »Erzähl mir, was du gesehen hast.« Ich erzählte ihr von dem Blut und dem Verband und von den Blackouts und dem plötzlichen Morgen.
Als ich fertig war, dachte Mary einen Augenblick nach und fragte dann: »Bist du deprimiert?« Ich schüttelte den Kopf. »Haben die Ärzte dich auf irgendwelche Medikamente ge‐ setzt?« »Nein.« Mary schaute mir tief in die Augen, als könne sie durch sie hin‐ durch in die Verwirrung in meinem Kopf blicken. »Tja, Carl«, sagte sie, »ich bin keine Expertin, aber für mich klingst du nicht wie jemand mit einem Nervenzusammenbruch. Und du be‐ nimmst dich auch nicht so.« »Das ist gut zu hören.« Mary öffnete den Mund, aber dann zögerte sie. »Oder doch nicht?«, fragte ich. »Ich weiß es nicht, Carl«, sagte sie. Dann senkte sie die Stimme, als werde ein leiserer Tonfall mich nicht so schnell erschrecken. »Hast du dich schon gefragt, ob deine Halluzinationen vielleicht gar nicht die Folge eines psychischen Traumas sind?« »Sprich weiter«, sagte ich. »Wie gesagt, Carl, ich bin keine Expertin. Aber ... du wurdest bewusstlos geschlagen.« »Das weiß ich«, sagte ich ungeduldig. »Worauf willst du hi‐ naus?« Marys Stimme wurde noch leiser. »Was ist, wenn du einen neu‐ rologischen Defekt hast?« Joshua legte sich eine Hand an den Kopf und ahmte erneut meine Bewegungen nach. »Was ist, wenn es eine Hirnverletzung ist?« »Eine Hirnverletzung«, wiederholte ich. Es erschien mir so na‐
he liegend und so einleuchtend, dass ich nicht wusste, wieso ich bis jetzt nicht daran gedacht hatte. »Tut mir Leid«, sagte Mary. »Ich wollte nicht so direkt sein, aber ...« »Nein«, antwortete ich abwesend. »Das ist ganz in Ordnung.« »Was wirst du jetzt tun?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Vermutlich sollte ich eine Compu‐ tertomographie machen lassen.« »Ich halte das für sehr vernünftig«, sagte Mary. »Zumindest musst du mit einem Arzt sprechen.« »Ja«, sagte ich. »Ich gehe besser sofort. Zurück ins Kranken‐ haus.« »Das wäre wahrscheinlich am besten«, sagte Mary.
9 »Du gehst?«, fragte Anthony, als ich im Vorgarten an ihm vor‐ beiging. Er unterhielt sich immer noch mit dem Milchmann. »Ja«, sagte ich. »Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus.« Ich wartete einen Augenblick, denn ich dachte, Anthony werde mir anbieten, mich hinzufahren. Aber stattdessen streckte er nur den Daumen in die Höhe. »Gute Idee«, sagte er. »Aber lass mich wissen, was sich ergibt.« »Mach ich«, sagte ich gereizt. »Und danke für die viele Hilfe.« Entweder bemerkte er meinen Sarkasmus nicht, oder er ging absichtlich nicht darauf ein. Der Milchwagen parkte im frühmorgendlichen Sonnenschein; die Sonne war inzwischen über die Dächer gestiegen. Die Milch wurde warm. Das konnte man riechen, und man sah es an den Kondenswassertröpfchen außen an den Glasflaschen. Nach dem blauen, wolkenlosen Himmel zu urteilen, würde es ein schöner Tag werden.
10 Ich war schon fünf Minuten unterwegs, als mir einfiel, dass ich nicht mit der U‐Bahn oder mit dem Taxi fahren konnte, weil ich mein Portemonnaie nicht bei mir trug und vergessen hatte, mir von Anthony oder Mary Geld zu leihen. Ich überlegte, ob ich zurückgehen sollte, aber ich war zunehmend erbost über Antho‐ nys blasierte Reaktion auf meinen Zustand, und ich dachte, wenn ich ihn an diesem Morgen noch einmal wiedersähe, würden wir vielleicht Streit bekommen. Also ging ich weiter. Vermutlich würde ich nicht mehr als eine Stunde brauchen, um zu Fuß zum Krankenhaus zu gehen, und ich hatte das Gefühl, ich könnte die Zeit zum Nachdenken gut gebrauchen. Ich bemühte mich, klar zu denken. Wahrscheinlich litt ich nicht an einem psychischen Trauma, wie ich zunächst angenommen hatte. Wahrscheinlicher war es, dass ich, wie Mary vermutet hatte, eine Hirnverletzung davongetra‐ gen hatte. Und die konnte, optimistisch betrachtet, reversibel sein. In mancher Hinsicht sogar leichter zu behandeln als ein psychisches Trauma ‐ oder doch wenigstens unkomplizierter. Ein Blutgerinn‐ sel zwischen Schädel und grauen Zellen könnte man entfernen, dadurch den Druck beseitigen und die normale Funktion wie‐ derherstellen. In diesem Fall wäre die Entfernung des Blutge‐ rinnsels womöglich dringlich, und indem ich langsam zu Fuß
zum Krankenhaus ging, verschwendete ich wertvolle Minuten, die erforderlich waren, um mich vor einem dauerhaften Hirn‐ schaden zu bewahren oder mir vielleicht sogar das Leben zu ret‐ ten. Aber ich ging nicht schneller. Ich nehme an, ich war fatalistisch gestimmt, und es erschien mir einfach wahrscheinlicher, dass der Schaden irreversibel war, und in diesem Fall kam es nicht darauf an, wie lange ich für den Weg zum Krankenhaus brauchte. Und vielleicht war er nicht nur irreversibel, sondern bleibend. In die‐ sem Fall musste ich mir überlegen, ob ich in einem Zustand sich regelmäßig erneuender Halluzinationen erfolgreich in der Welt funktionieren könnte. Wäre es möglich, einen Job zu behalten und dabei ständig im Ungewissen zu sein, ob es nun Mitternacht oder Vormittag war? Wäre es möglich, eine Beziehung zu Freunden zu unterhalten, deren Benehmen mir unerklärlich war? Und wenn ich in die Zu‐ kunft blickte: Wäre ich fähig, die fundamentalsten Ziele zu errei‐ chen, eine Partnerin zu finden und eine Familie zu gründen? Angesichts meiner Erfahrungen aus den letzten zwölf Stunden ‐ wobei ich nicht einmal sicher war, dass es sich um zwölf Stunden handelte ‐, schien mir die Antwort auf alle diese Fragen ein Nein zu sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich Vater sein sollte, wenn ich zur Schule käme, um meine Kinder abzuholen, und mich dann nicht entscheiden könnte, ob ich vor einer Schule oder einer Tankstelle stand. Vielleicht hätte ich nicht einmal Gewiss‐ heit über die Identität meiner Kinder. Vielleicht müsste ich am Schultor warten, die kleinen Gesichter an mir vorbeiziehen las‐ sen und nach denen Ausschau halten, die mich mit vertrauten oder erwartungsvollen Blicken anschauten.
Die aus meinem Zustand resultierenden Implikationen verviel‐ fachten sich explosionsartig. Plötzlich fiel mir ein, dass ich gar nicht wissen konnte, ob ich nicht schon längst eine Frau und eine Familie hatte und mich nur in eine Lage halluzinierte, in der sie nicht existierten. Ich verfluchte mich dafür, dass ich meine Brief‐ tasche zu Hause gelassen hatte, denn jetzt hätte ich darin nach Passfotos suchen können oder nach Buntstiftzeichnungen mit Häusern, vor denen lächelnde Strichmännchen standen. Tatsächlich waren die Verflechtungen nahezu grenzenlos. Wenn ich nicht zwischen Halluzination und Realität unterschei‐ den konnte, war es schwer, mir noch etwas Verlässliches vorzus‐ tellen, anhand dessen ich mich selbst definieren konnte. Womög‐ lich war ich gar nicht in dem Alter, in dem ich zu sein glaubte, oder mein Geschlecht war ein anderes. Vielleicht ging ich keine Straße entlang, sondern stand auf einem Feld oder lag in einem Zimmer. In diesem Augenblick, auf meinem langsamen Fußweg zum Krankenhaus, schien mir einfach alles möglich zu sein. Jedes x‐beliebige Etwas mit einem Bewusstsein konnte ich sein. Ein Hupkonzert riss mich aus meinen Gedankengängen. Anthony und Mary wohnten in einem Mittelklasse‐Vorort mit Einfamilienhäusern und Rasenflächen und Hecken und bleiver‐ glasten Fenstern mit kleinen, karoförmigen Scheiben. Viele von denen, die in diesen Häusern wohnten, machten sich eben auf den Weg zur Arbeit. Einer der Pendler versuchte, seinen Wagen zu wenden; die Straße war voll von parkenden Autos, und so war dies ein schwieriges Manöver auf engem Raum, durch das der Verkehrsfluss in beiden Richtungen aufgehalten wurde.
Ich sah zu, wie der Fahrer ein kleines Stück vorwärts, dann rückwärts und dann wieder vorwärts fuhr, und jedes Mal gelang es ihm, den Wagen um ein paar Grad zu drehen. Das Hupen wurde wütender und abwechslungsreicher, weil immer mehr Autos einstimmten, und aus dem Dreifachmanöver wurde ein fünf‐, ein sechs‐, ein siebenfaches. Der anschwellende Lärm schien den Fahrer zu verunsichern; er fuhr ein paar Mal vorwärts und rückwärts, und der Wagen drehte sich kaum weiter. Aber schließlich hatte der Fahrer genug Platz, um das Auto wieder in Fahrtrichtung zu bringen; er ließ den Motor im ersten Gang wild aufheulen und kam die Straße herunter auf mich zu geschossen. Zu meiner Überraschung bremste er neben mir so scharf, dass die beiden Vorderreifen qualmten und die Autos hinter ihm ein neues Hupkonzert ertönen ließen. Die Beifahrertür flog auf, und der Fahrer, dessen Gesicht ich nicht sehen konnte, rief mir zu, ich solle einsteigen.
11 »Würden Sie sich anschnallen?«, sagte der Fahrer und gab Vollgas. Während ich nach dem Sicherheitsgurt griff, riss der Fahrer das Lenkrad herum und bog so scharf in eine kleine Straße ein, dass ich gegen das Seitenfenster geschleudert wurde. »Sorry«, sagte er. »Wir habenʹs eilig.« Ich zog den Gurt über meinen Körper, so schnell ich konnte, bevor er in diesem Tempo noch einmal um die Ecke fuhr. Was er genau dann tat, als ich gerade den Verschluss hatte einrasten lassen. »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte der Fahrer. Ich schaute zur Seite und sah ihn im Profil, wie er sich angestrengt auf die Straße konzentrierte. Das Profil kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte es nirgends unterbringen. »Nein«, sagte ich. »Aber nehmen Sieʹs mir nicht übel. Wie die Dinge liegen, könnten Sie nach allem, was ich weiß, mein Bruder sein.« »Ich bin nicht Ihr Bruder.« Der Fahrer bremste hart vor der nächsten Ecke, und ich hob die Hand und stützte mich am Armaturenbrett ab. Als er den Wagen jetzt herumriss, verließen wir die Wohngegend und fuhren auf einem Zubringer zur Schnellstraße. »Oder meine Tante von mir aus«, sagte ich. »Sie könnten ir‐ gendjemand sein.«
»Ich bin auch nicht Ihre Tante«, sagte er. »Ich habe Ihnen Was‐ ser gegeben. Ich habe Ihnen geholfen, sich aufzusetzen.« Ich sah ihn noch einmal an. Und diesmal funkte es bei mir. Es war sein konzentrierter Gesichtsausdruck ‐ den gleichen Aus‐ druck hatte ich gesehen, als der Mann an meinem Bett im Kran‐ kenhaus gesessen und auf mich eingeredet hatte, um mich auf‐ zuwecken. »Ich erinnere mich an Sie«, sagte ich.«Sie sind der Pfleger.« »Ja«, bestätigte er. »Ich bin der Pfleger.« Ich warf einen Blick auf das Armaturenbrett. Die Tachonadel kletterte schnell höher. Sie überschritt die Sechzig‐Meilen‐Marke, dann siebzig, achtzig, neunzig. »Wir habenʹs aber wirklich eilig«, stellte ich fest. »Wo fahren wir hin?« »Ins Krankenhaus«, sagte der Pfleger und überholte eine Reihe Autos auf der Innenspur. »Ah. Dann bin ich in Schwierigkeiten. Mein Zustand wird sich verschlechtern.« »Könnte sein.« Ich nickte. So viel zum entspannten Fatalismus, dachte ich und verspürte eine leise Aufwallung von Panik ‐ und dass unser Wa‐ gen immer schneller wurde und jetzt die hundert Meilen pro Stunde überschritt, machte die Sache nicht besser. »Was ist pas‐ siert?«, fragte ich und zwang mich, meine Stimme mit Gelassen‐ heit zu ölen. »Ich nehme an, Mary oder Anthony haben im Kran‐ kenhaus angerufen und Ihnen meinen Zustand geschildert, und Sie haben mich aufgespürt, als ich ...« Er schnitt mir das Wort ab. »Carl ‐ ich habe keine Zeit, Ihre Fra‐ gen zu beantworten. Ich muss Ihnen welche stellen.«
»Natürlich«, sagte ich. »Diagnose. Okay.« »Können Sie mir sagen, welchen Tag wir haben?« Ich überlegte kurz, aber es überraschte mich nicht, dass ich die Antwort nicht wusste. Selbst bei bester Gesundheit verliere ich die Abfolge der Wochentage aus dem Auge. »Nein«, sagte ich. »Oder welches Jahr?« » ... nein.« »Was können Sie mir über Ihre Arbeit sagen?« Wieder dachte ich nach. Und diesmal war ich allerdings über‐ rascht von der Leere, die mich angesichts dieser Frage erfüllte. »Ich arbeite mit Papieren«, sagte ich zögernd. »Die ich abzeich‐ nen muss. Ich hatte diese Papiere in einer Aktentasche mit einer Messingschließe. Und ich habe in einem Hochhaus gearbeitet. Irgendwo im Zentrum ... der Stadt.« »Welcher Stadt?« Ich schaute aus dem Fenster auf die hohen Wohnblocks am Rande der Schnellstraße. »Ich weiß nicht, was für eine Stadt das ist«, sagte ich. Und jetzt war die Woge der Panik nicht mehr auf‐ zuhalten. Mir war, als hätte ich auf der Krone eines Dammes gestanden, der am Einbrechen war. Und jetzt war er gebrochen. Die endlos zunehmende Geschwindigkeit des Wagens war die Woge, die mich davontrug. Und obwohl ich wusste, dass es pure Halluzination war, hatte sie mich eine Zeit lang völlig in ihrer Gewalt: Die Autos auf der Straße wurden zu rollenden Betonblöcken, und die Straße wurde zu einem schäumenden Wildwasser, und der Motorenlärm wur‐ de zum Tosen einer Strömung, die mich verschluckte.
12 »Wir sind da«, sagte der Pfleger. Ich sah mich um. Wir hatten angehalten. Wir standen auf dem Vorplatz der Klinik. »Bleibt noch Zeit, mich zu retten?«, fragte ich. »Das hoffe ich«, antwortete der Pfleger. »Danke«, sagte ich. Meine Stimme zitterte. »Dass Sie mir gehol‐ fen haben. Dass Sie mich gesucht haben.« Der Pfleger lächelte. »Das ist mein Job.« »Wie heißen Sie? Ich würde es gern wissen.« Der Pfleger zögerte. »Sie kennen meinen Namen nicht«, sagte er. »Dann kann ich Ihnen nicht sagen, wie ich heiße.« Das verstand ich nicht, aber er gab mir keine Gelegenheit, ihn um eine Erklärung zu bitten. Er langte über mich hinweg und öffnete die Wagentür. »Kommen Sie«, sagte er. »Wir gehen bes‐ ser.«
1 Ich ließ mich von dem Pfleger durch das Krankenhaus führen, gesichtslose Korridore hinunter und desinfizierte Treppen hi‐ nauf. Der Pfleger ging schnell, und ich blieb stumm. Auf einer Station lief ein Radioprogramm über die Lautspre‐ cheranlage, aber die Lautstärke war so niedrig, dass die Worte des DJs nicht zu hören waren. Die Patienten hier hatten Hand‐ verletzungen; alle waren von den Ellenbogen abwärts verbun‐ den, und ihre Arme waren an Drähten befestigt, die sie in die Höhe hielten. Auf einer anderen Station sah ich, dass alle Patientenbetten von Plastikzelten umschlossen waren, als ständen sie unter Quaran‐ täne. Durch die Planen waren ihre verschwommenen Umrisse zu sehen. Einer saß aufrecht im Bett, und sein Kopf drehte sich, als wir vorübergingen. Schließlich blieb der Pfleger vor einer Schwingtür stehen. Über der Tür war ein Schild mit der Aufschrift: Koma‐Station. Der Pfleger drehte sich zu mir um und lächelte kurz und aufmun‐ ternd. Dann gingen wir hinein. An einem fensterlosen Korridor lagen zwölf Zimmer, sechs an jeder Seite. Der Gang war mit Teppichboden ausgelegt, und das Licht war gedämpft. »Haben Sie irgendwelche Erinnerungen an diesen Bereich?«, fragte der Pfleger leise.
»Ich glaube ja«, antwortete ich. »Ganz schwach. Er kommt mir ... vertraut vor.« »Reden Sie weiter.« Ich atmete durch die Nase. »Er riecht vertraut. Nach Blumen, die man den Kranken mitgebracht hat. Und ... nach Staub ... oder ...« Plötzlich fiel mir ein, wie mir die Augen gebrannt hatten, als ich mich zu Hause ins Bett gelegt hatte. »Pollen.« Ich ging ein paar Schritte weiter und warf einen Blick durch die erste Tür zu meiner Rechten. Das Zimmer, fiel mir auf, war heller erleuchtet. Die Patientin ‐ es war eine Frau ‐ lag auf der Seite. Sie war nicht mit Apparaten oder Schläuchen verbunden. Der Anblick war nicht dramatisch; sie sah einfach aus wie eine Schlafende. Aber als ich durch die offene Tür zur Linken blickte, sah ich, dass der Patient von ein paar Kissen gestützt aufrecht saß und offensichtlich wach war. Der Mann ‐ schätzungsweise zwanzig bis dreißig Jahre alt ‐ schien mit offenen Augen und offenem Mund im Zimmer umherzustarren. Der Pfleger reagierte mit einem kurzen Kopfschütteln auf mei‐ nen Gesichtsausdruck. »Ein solches Koma kann für die Familie sehr schwierig sein«, flüsterte er. »Er ist nicht wach?« »Nein.« Ich schaute genauer hin und stellte fest, dass der wandernde Blick des Mannes nicht zielgerichtet war; er ging im Kreis herum, immer wieder, und ohne etwas zu erfassen. »Er sieht nichts«, sagte ich. »Bei einer Computertomographie wird man keine wirklichen
Gehirnaktivitäten feststellen. Das ist der große Unterschied zwi‐ schen ihm und ihr.« Der Pfleger deutete zurück zu der schlafen‐ den Frau auf der rechten Seite. »Und Ihnen«, fügte er hinzu und ging weiter den Korridor hinunter. Am Ende, vor der letzten Tür, die geschlossen war, drehte er sich um. »Das ist Ihr Zimmer«, sagte er. »Hier komme ich hin?«, fragte ich. »Sie sind schon da«, antwortete der Pfleger und ließ mich ein‐ treten.
2 So ist es im Traum. Gerade noch öffnete ich die Tür des Kran‐ kenzimmers und sah mich im Bett liegen. Ich lag im Bett. Die Blutergüsse, die ich verblasst und verschwunden geglaubt hatte, bedeckten meinen Kopf und meine Schultern. Meine Augen waren violett und gelb und zugeschwollen, und meine Lippen waren aufgeplatzt. Ich trug einen Stützkragen um den Hals. Neben mir auf dem Nachttisch standen die Blumen, die ich bekommen hatte; sie fingen an zu welken. Eine Blüte war abgefallen; anscheinend war sie auf meinem Kopfkissen gelandet und dann zu Boden gerollt. Eine orangegelbe Pollenspur zeigte, welchen Weg sie genommen hatte. Im nächsten Augenblick lag ich im Bett. Ich lag im Bett, und der Pfleger kam durch das Zimmer auf mich zu. Er setzte sich auf die Bettkante. »Carl«, sagte er, »können Sie mich hören?« »Ja«, sagte ich, und mein Mund bewegte sich nicht. »Carl, können Sie mich hören?« Seine Stimme klang laut und durchdringend, aber ruhig ‐ etwa so, wie man mit Schwerhörigen redet.
»Ja.« Meine Stimme klang genauso laut und deutlich. »Ich kann Sie hören.« Laut und deutlich, aber sie drang nicht nach außen. Der Pfleger hob meine Hand und legte sie in seine. Seine Finger fühlten sich kräftig an. Sein Händedruck war warm und trocken. »Wenn Sie mich hören können, Carl, dann drücken Sie meine Hand. Können Sie das? Drücken Sie, so fest Sie können.« »Ja«, sagte ich. »Können Sie mir die Hand drücken, Carl?« »Das tue ich doch.« »Drücken Sie, so fest Sie können.« »Ja doch.« »Okay, Carl.« Der Pfleger lockerte seinen Griff, und meine Hand entglitt ihm wie die eines Toten. »Okay, Carl«, wiederholte er, leiser jetzt und mehr zu sich selbst. »Wir versuchenʹs morgen wieder.« So ist es im Traum. Nicht zum ersten Mal in diesem Traum wachte ich auf.
3 Ich wachte mit offenem Mund auf, als hätte ich geschrien. Ich saß aufrecht im Bett und war schweißnass, wie ich nass vom Blut gewesen war. Catherine neben mir fuhr gleichfalls hoch. »Himmel«, sagte sie. »Carl ‐ was ist?« Eine wirre Haarsträhne hing ihr ins Gesicht, und sie klang ein wenig schwerzüngig. Schlaf und Adrenalin prallten aufeinander. »Was ist los? Was hast du?« »Ich träume.« »Nein, Schatz, nein. Du hast geträumt. Jetzt bist du wach. Alles okay. Ich bin hier bei dir.« »Ich bin wach?« »Ja, ja.« Catherine nahm meine Hand und drückte sie. Ich drückte zu‐ rück. »Ich dachte«, sagte ich, »ich dachte, ich wäre ...« Ich sah mich um. Ich war in meinem Schlafzimmer. Das Fenster stand offen, und der Wind wehte die Vorhänge herein. Ein war‐ mer Wind, eine warme Nacht. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte drei Uhr früh, und das Licht der Digitalanzeige beleuchte‐ te einen Chrysanthemenstrauß in einer Vase von unten. »War es ein böser Traum?«, fragte Catherine. Sie war jetzt rich‐ tig wach. Wir waren es beide. »Erzähl ihn mir.« »Ein böser Traum. Gott ‐ ein scheußlicher Traum. Ich fühle
mich, als hätte ich tagelang geträumt. Vielleicht monatelang. So einen Traum hatte ich noch nie.« »Erzähl ihn mir«, sagte sie noch einmal. »Das wird ihn verja‐ gen.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.« Sie beugte sich vor und küsste mich. »Versuchʹs.« »Okay«, sagte ich. »Ich ...« Ich brach ab. Als Catherine sich vorbeugte, um mich zu küssen, hatte ich einen Hauch von ihrem Parfüm wahrgenommen. Und mit dem Duft kam eine halbe Erinnerung, ähnlich denen vom Sturz von der Gartenschaukel und vom Fahrradflicken. Ein Fens‐ ter mit Blick auf ein Bruchstück eines Augenblicks, nichts rechts und links daneben, kein Kontext. Aber innerhalb des Rahmens war etwas, das sich stark und wahr anfühlte. Und dies war die halbe Erinnerung: Manchmal, wenn Catheri‐ ne in mein Zimmer im Büro gekommen war, blieb nach ihrem Verlassen des Raumes dieser Duft zurück. Er war eine angeneh‐ me Ablenkung, die mich für kurze Zeit von der Arbeit abhielt und zu einem Tagtraum verleitete. Ich küsste Catherine wieder, und sie reagierte und küsste mich heftiger und hob eine Hand an meine Wange. Dann wich ich zurück. »In diesem Tagtraum«, sagte ich, »hatten wir beide eine Affä‐ re.« »In deinem scheußlichen Traum?« »Nein ‐ in meinem Tagtraum. Im Büro hab ich immer davon ge‐ träumt, dass wir beide ein Verhältnis hätten.« »Das verstehe ich nicht. Wieso solltest du davon träumen?«
Der Vorhang wehte einen kurzen Moment lang vollständig auf, und das Licht der Straßenlaternen beleuchtete Catherines Gesicht zur Hälfte. Sie lächelte mich an. »Genau«, sagte ich vorsichtig. »Wieso sollte ich davon träu‐ men?« Catherine lachte. »Du wolltest ein bisschen Nervenkitzel. Eine einfache Beziehung hat dir nicht genügt.« »Nein. Ich malte mir das aus, weil wir kein Verhältnis hatten.« Der Vorhang senkte sich, und ihr Gesicht lag wieder im Schat‐ ten, aber ich wusste, dass sie die Stirn runzelte. »Ich versteh das nicht, Carl. Ich verstehe wirklich nicht, wovon du da redest. Hör mal ‐ du bist gerade aus einem Alptraum aufgewacht. Du bist durcheinander, und du bringst mich auch durcheinander ...« »Warum sind wir zusammen im Bett?«, unterbrach ich sie. »Warum?« »Sind wir verheiratet?« »Nein ‐ wir sind nicht verheiratet. Wir sind ... zusammen.« »Zusammen.« »Ja.« »Wir teilen unser Leben miteinander.« Sie zuckte die Achseln. »Ja.« »Was habe ich für einen Job?« Sie zögerte. »Was arbeite ich in meinem Büro? Das ist eine einfache Frage. Als meine Sekretärin oder als meine Partnerin musst du wissen, was für einen Job ich habe. Also, was ist es?« Sie antwortete nicht. Ich streckte die Hand aus und knipste die Leselampe an, um ih‐ ren Gesichtsausdruck besser sehen zu können. Und ihr Gesicht
war ausdruckslos, als ich meine Frage wiederholte, und sie ant‐ wortete immer noch nicht.
4 »Ich habe eine Weile gebraucht«, sagte ich. »Ich weiß nicht, wie lange. Aber ich glaube, ich hab gerade noch geschafft, zu begrei‐ fen, was los ist.« Wir waren jetzt im Bad. Catherine saß in einem von meinen T‐ Shirts auf der Toilette, die Knie zusammengedrückt und die Ar‐ me verschränkt, als sei ihr kalt. Ich saß auf dem Rand der Bade‐ wanne. Wir schauten uns an, und zwischen uns lag der Haufen Verbandmull, den ich auf dem Boden hatte liegen lassen. »Ich bin gar nicht aufgewacht.« Ich brauchte noch einen Augenblick, um meine Gedanken wei‐ ter zu ordnen. Catherine wartete geduldig. »Ich wurde auf dem Heimweg von der Arbeit in der U‐Bahn zusammengeschlagen und bin ins Koma gefallen. Und ich bin nie aufgewacht. Ich habʹs nur geträumt.« »Das ist dein scheußlicher Traum.« »Das alles ist mein scheußlicher Traum. Aufwachen, von der Polizei vernommen werden, nach Hause fahren, zu Anthony gehen ... und neben dir im Bett liegen. Dir im Badezimmer gege‐ nüber zu sitzen. Aber in Wahrheit ...« Ich versuchte, mich präzi‐ ser auszudrücken.»... oder in Wirklichkeit ‐ ist das alles nie pas‐ siert. In Wirklichkeit liege ich in einem Krankenhausbett mit Blumen auf dem Nachttisch und verstreuten Pollen, und das hier ist der Traum, den ich habe, während ich schlafe.« Catherine nickte.
»Genau«, sagte ich. »Du nickst, weil ich dir nichts erzähle, was du nicht genauso gut verstehst wie ich. Weißt du, warum?« Ich wartete nicht auf eine Antwort. »Weil du nicht Catherine bist. Ich spreche nicht mit Catherine. Ich träume von Catherine. Tatsächlich spreche ich mit mir selbst.« Ich lächelte schief über diesen Gedankengang, weniger aus Heiterkeit als vielmehr aus Erleichterung, weil die Puzzle‐ stückchen sich ineinander gefügt hatten. »Du weißt nicht, was für einen Job ich habe, weil ich nicht weiß, was für einen Job ich habe.« Catherine legte den Kopf schräg. »Warum weißt du nicht, was für einen Job du hast, Carl?«, fragte sie. »Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich einen Schlag auf den Kopf bekommen habe, der mich ins Koma versetzt hat. Ich habe eine Amnesie, oder ...« Catherines zur Seite gelegter Kopf, ihr nachdenklicher Ge‐ sichtsausdruck beim Zuhören und die schlanken Beine unter dem T‐Shirt lenkten mich ab. Das alles erinnerte mich daran, wie hübsch sie war. »Wer weiß?«, fuhr ich fort. »Kann sein, dass die wirkliche Ca‐ therine in diesem Augenblick mit demjenigen spricht, der mei‐ nen Platz im Büro eingenommen hat, und ihn in die Aufgaben einweist, an die wir uns beide nicht erinnern können. Und wenn derjenige nur ein bisschen Ähnlichkeit mit mir hat, fängt er schon an, Tagträume über dich zu haben. Fragt sich schon, was das für ein Duft ist, den du trägst.« Catherine zog die Brauen zusammen, als finde sie diesen Ge‐ danken abscheulich. »Ich weiß nicht, warum du das sagst. In diesem Augenblick könnte die wirkliche Catherine an deinem
Bett im Krankenhaus sitzen. Es könnte sein, dass du ihr ebenso viel bedeutest wie sie dir. Vielleicht hat sie dir die Blumen ge‐ bracht.« »Das ist eine schöne Vorstellung.« Ich schaute sie eine Weile an. »Du bist das Beste, was in diesem Traum bis jetzt passiert ist.« »Danke«, sagte sie schlicht. »Ah«, sagte ich. »Gerade fällt mir noch etwas ein. Du warst immer gut darin, Komplimente anzunehmen.« Wir schwiegen beide für eine Weile. Als die Stille verflog, war‐ en wir wieder im Schlafzimmer. Catherine hatte die Vorhänge aufgezogen, und es war wieder Morgen. »Und was wirst du jetzt tun, Carl?«, fragte sie. Ich zuckte die Achseln. »Was jeder, der im Koma liegt, tun muss«, sagte ich. »Ich muss aufwachen.«
5 Ich hatte eine Idee: Aufwachen aus dem Koma ‐ ein Leitfaden für Laien. Die Idee nahm die Gestalt eines Bildes an: Koma‐ Patienten lagen in Krankenhausbetten, und daneben saß jemand und las aus einem Buch vor oder spielte ein Musikstück auf ei‐ nem tragbaren Tonbandgerät. Verwandte und Freunde, die ver‐ suchten, einen Katalysator in den Kopf des Koma‐Patienten ein‐ zuschleusen. Einen Auslöser, eine Schalterkombination, die den Schlafenden aus der Bewusstlosigkeit heben würde. Ich erwähnte es Catherine gegenüber, kurz bevor der Traum mich forttrug. Ich war schon dabei, sie zu verlassen, sie, das Schlafzimmer, die offenen Vorhänge, als ich sagte: »Ich brauche einen Katalysator.« »Was für einen Katalysator?«, fragte Catherine. »Ich weiß nicht. Ich könnte mir vielleicht ein paar Schallplatten anhören.« »Dann geh in ein Plattengeschäft«, sagte sie, und das war in je‐ dem Fall ein ausgezeichneter Rat. Die Erkenntnis, dass ich schlief, machte diese Ortswechsel sehr viel einleuchtender. Bis dahin hatte ich sie für Blackouts gehalten und war rückblickend im Unklaren darüber gewesen, wie ich von der Badewanne zu Anthonys Haustür gekommen war, aber jetzt erkannte ich sie als vertraute Aspekte des Traumlebens: In diesem Augenblick bist du hier und im nächsten dort.
Sehr vertraut. Ich hatte schätzungsweise ein Drittel meines Le‐ bens schlafend verbracht, und einen großen Teil dieser Zeit musste ich geträumt haben. Ein großer Teil meines Lebens war Traumleben gewesen. Also: Ich kannte das Traumleben. In gewisser Weise fühlte ich mich sogar wohl darin. Das Traumleben, begriff ich nun, war nur dann verwirrend, solange man wach war. Aus der Perspektive des wachen Lebens betrachtet, erschien das Traumleben zersplit‐ tert und ohne Folgerichtigkeit, ohne die Gewissheit, dass eins zum andern führte. Aber innerhalb des Traumlebens war die Welt im Allgemeinen kohärent. Zwar nicht ganz frei von Verwirrungen ‐ aber eben auch nicht verwirrender als jede ande‐ re Welt. Und jetzt wusste ich, dass ich träumte, ich war mir meiner selbst bewusst, ich hatte Zeit, die Details im Ablauf dieser Ortswechsel zur Kenntnis zu nehmen. Catherine verschwand nicht wie ein Gespenst, das vor dem Tageslicht erschrickt. Stattdessen ver‐ blasste das Gefühl, dass ich einen Raum mit ihr teilte. Und so wie dieses Gefühl verblasste auch ihr Bild. Ebenso das Schlafzimmer. Der Ort, den ich sah, war das Gefühl eines Ortes. Solange ich ihn fühlte, konnte ich ihn sehen. Und während ich von einem Ort zum andern wechselte, fühlte ich zwei Orte ... Ich fühlte ein Schlafzimmer und offene Vorhänge, aber auch ein Schallplattengeschäft mit Leuchtstoffröhren und Fächern voller LPs, alphabetisch sortiert... Einen Augenblick wehten Vorhänge vor dem Schaufenster der Plattenhandlung auseinander, und dann stand die Vase mit den Blumen auf der Ladentheke.
6 Außer mir waren keine Kunden da. Die Etiketten und Preis‐ schilder waren allesamt mit der Hand geschrieben. Die Wände waren mit Kork verkleidet, und an den Kork waren Picture Discs in Plastikhüllen und eselsohrige Poster gepinnt, die in der Nähe des Fensters verblichen waren. »Kann ich helfen?«, fragte der Mann hinter der Theke. Ich schaute ihn an, um festzustellen, ob ich sein Gesicht kannte. Soweit ich sehen konnte, war das nicht der Fall. Ich glaube nicht, dass ich jemals Männer mit Pferdeschwanz gekannt habe ‐ nicht aus Prinzip, aber unsere Wege haben sich nie gekreuzt. »Ich sehe mich nur um«, sagte ich, und er nickte. »Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid.« »Ja.« Er nickte und fing an, in einer Zeitschrift zu blättern. Ich wusste genau, was ich suchte. Einen Katalysator aus meinen frühesten Erinnerungen aus der Kindheit. Etwas, das ich etwa um die Zeit gehört haben dürfte, als ich sprechen lernte. So weit zurück, wie Erinnerungen gehen können. Little Richard. Würde der unter L oder unter R stehen? Galt Little als Vorna‐ me? Vermutlich nicht. Ich schaute unter L nach und fand sofort, was ich suchte. Seltsamerweise waren auch Chubby Checker und Fats Domino unter L einsortiert. Aber egal ‐ ich hatte Little Richardʹs
Greatest Hits. Ich trug meinen Fund zu dem Mann hinter der Theke. »Jetzt brauche ich doch Hilfe«, sagte ich. »Können Sie die für mich spielen?« Der Mann warf einen Blick auf das, was ich in der Hand hielt. »Welches Stück?« Ich brauchte mir die Titelliste nicht anzusehen, um die Antwort zu wissen. »Good Golly Miss Molly.« In einer einzigen Bewegung ließ er die Platte aus der Hülle gleiten, drehte die Vinylscheibe mit fachmännischem Schwung um und legte sie auf den Plattenteller. »Bitte sehr.« Er musste die Nadel unmittelbar nach dem Anfang des Stücks aufgesetzt haben, denn die Musik fing abrupt an. Und sofort er‐ tönte Little Richards unverkennbare Singstimme. »Good Golly Miss Molly. So like a mo. Good Golly Miss Molly. So like a mo. The way the rocking and the rolling. You canʹt get your ma‐ ma home.« Ich fühlte mich plötzlich beschwingt. Genau so, wie ich es er‐ hofft hatte, versetzte die Musik mich in Entzücken. Eine neue Woge von halben Erinnerungen flutete über mich hinweg ‐ wie ich auf dem Boden saß und zu meinem Dad aufschaute, einer großen, schattenhaften Erscheinung an der Stereoanlage, einem Gerät, das für mich lauter Rätsel barg, außer Reichweite, außer‐ halb meines Gesichtsfeldes. Das nostalgische Gefühl war so stark, dass ich fast damit rech‐ nete, an Ort und Stelle aufzuwachen. Und vielleicht hätte ich es auch getan, wenn mit dem Stück nicht etwas Merkwürdiges pas‐ siert wäre.
Ich konnte es mir zwar nicht richtig erklären, aber die abge‐ spielte Passage schien in einer Schleife geradewegs und nahtlos zu der Stelle zurückzuführen, wo sie angefangen hatte. Kaum hatte Little Richard den kurzen Refrain zu Ende gebracht, da sang er ihn schon wieder. »Good Golly Miss Molly. So like a mo. Good Golly Miss Molly. So like a mo. The way the rocking and the rolling. You canʹt get your ma‐ ma home.« Und als ich ihn jetzt noch einmal hörte, schien mit dem Text etwas nicht zu stimmen. Er klang richtig, aber er erschien mir nicht richtig. Als der Refrain zum dritten Mal anfing, winkte ich dem Mann, er solle den Tonarm von der Platte nehmen. »Genug gehört?«, fragte er, als die Musik verstummt war. »Ja«, sagte ich ‐ und korrigierte mich dann. »Nein. Ist mit der Platte etwas nicht in Ordnung?« Der Mann runzelte die Stirn. »Nicht in Ordnung?« »Ist sie hängen geblieben oder ...« »Verkratzt?« »Ja.« Er sah ein bisschen beleidigt aus. »Sie ist nicht verkratzt. Ich verkaufe keine verkratzten Platten.« »Nein, aber ...« »Hören Sie etwa, dass die Nadel springt?« »Nein, aber ... es wiederholt sich. Ich meine, der Text. Das ist doch nicht alles an Text, oder?« »Hören Sie«, sagte der Mann, »man spielt dieses Stück nicht des Textes wegen. Das ist Little Richard, nicht Leonard Cohen. Wenn Ihnen der Text nicht gefällt, suchen Sie sich ʹne andere Platte
aus.« »... okay«, sagte ich. »Und übrigens, mir gefällt der Text«, fügte er hinzu, als ich mich wieder den Plattenfächern zuwandte. Ich fing von neuem an zu suchen. Und jetzt merkte ich beim Durchblättern, dass, obwohl es so aussah, als seien die Platten alphabetisch geordnet, dies keineswegs der Fall war. Unter A fand ich Leute, deren Namen mit H anfingen. Unter B fand ich Schubert. Unter C war überhaupt niemand aufgeführt. »Ich kapiere Ihr System hier nicht«, rief ich zu dem Mann hinü‐ ber. »Ich aber«, antwortete er. »Was suchen Sie denn?« Ich überlegte kurz. »Die Beach Boys.« »Unter P.« »P?« »Oder unter S.« »Wieso denn das ...?« »Pet Sounds.« Pet Sounds ‐ ausgezeichnet. Mehr noch als Little Richard war das der Soundtrack meiner Jugend. Das war die Zeit, als ich schon sprechen gelernt hatte; ich konnte mir allein eine Platte aussuchen und auf einen Stuhl steigen, um den Plattenspieler zu erreichen, und ich konnte unbeaufsichtigt den Tonarm aufle‐ gen. Und mitsingen. »We sailed on the sloop John B. My grand‐daddy and me. Show me the captain ashore, I want to go home. I want to go home, I want to go home. 1 feel so broke up. Let me go home.«
So weit, so gut, sagte ich mir. So weit, so ... »The first mate he got the shits. He ate up all of my grits. Call the cap‐ tain ashore...« Got the shits? Er kriegte die Scheißerei? »Wollen Sie die nicht?«, rief der Mann, als ich zur Tür ging. »Zeitverschwender«, hörte ich noch, als die Tür sich hinter mir mit einem Glockenläuten schloss. Ich war ratlos. Ich wusste nicht recht, warum diese vertrauten Songs sich nicht fassen ließen. Ich blieb ratlos, bis ich die Buch‐ handlung auf der anderen Straßenseite besucht hatte.
7 Was ich in der Buchhandlung erlebte, war noch schlimmer. Ich ging mit einem Stapel Bücher, die ich aus den Regalen gezogen hatte, zu der Verkäuferin und hielt das oberste Buch in die Höhe. »Das ist einer der größten Romane, die je geschrieben wurden«, sagte ich. Das Mädchen warf über den Rand ihrer Brille hinweg einen Blick auf den Umschlag und nickte dann zustimmend. »Es ist wunderbar, ja. Ein Klassiker. Ich habe es drei Mal gelesen.« »Drei Mal? Wirklich? Wie lange haben Sie dazu gebraucht?« »Oh ...« Sie machte ein überraschtes Gesicht. »Ich weiß nicht. Das erste Mal habe ich es in den Ferien gelesen, und ... na ja, viel‐ leicht eine Woche oder so.« »Eine Woche? Ich habe das ganze Ding gerade in einer Minute gelesen.« »In einer Minute ...?« »Wollen Sie wissen, wie?« »Äh ...« Sie schaute sich nervös um. »Ich glaube ja.« »So«, sagte ich und fing an, die Seiten durchzublättern. »Der einzige Satz in dem ganzen Buch lautet nämlich: >Nennt mich Ismael<, ungefähr fünfhunderttausend Mal wiederholt. Sagen Sie ‐ glauben Sie, so etwas ist große Literatur?« »Es ...« »Und was ist hiermit?« Ich zeigte ihr das zweite Buch auf mei‐ nem Stapel. »Auch so ein großer Roman, den Sie in weniger als
drei Sekunden durchackern können. >Es war die beste Zeit, es war die schlimmste Zeit.< Wollen Sie wissen, wie es weitergeht?« »Ich ...« »Pech. Mehr gibtʹs nämlich nicht. Aber kein Problem, kommen wir zum Fänger im Roggen.« Ich räusperte mich. »>Ziemlich faul<, sagte Holden Caulfield. Ende.« »Sir ...«, sagte das Mädchen. »Warten Sie. Jane Austen hatte ich noch nicht: >Es ist eine all‐ gemein anerkannte Wahrheit, dass ein Mann, der eine Frau sucht, ein Mann ist, der Dinge braucht, die eine Frau mit Be‐ dürfnissen anerkennen zu wollen imstande ist ...<« Ich klappte das Buch mit einem Knall zu. »So geht das noch gut dreihundert Seiten lang weiter. Da fragt man sich doch, weshalb so was in der Schule unterrichtet wird, finden Sie nicht auch?« »Sir«, sagte das Mädchen, »ich muss Sie bitten, zu gehen.«
8 Draußen vor der Buchhandlung betrachtete ich die Gebäude auf der anderen Seite und staunte über den absoluten Irrwitz meiner Erinnerungen. An diesen Gebäuden konnte ich Ziegels‐ teine sehen. Von einem zum andern Ziegelstein sah ich Farbva‐ riationen, und zwischen den Steinen sah ich Stellen, die neu ver‐ fugt werden mussten. Ich sah Wasserflecken unter Simsen und an Abflüssen und blinkendes Blei unter Dachfenstern. In der Fas‐ sade waren Schiebefenster. Bei einem sah ich, dass eine Scheibe absolut plan war, während die Spiegelungen im Glas der Scheibe daneben leicht verzerrt aussahen, und ich wusste, dass man die glatte Scheibe aus modernem Glas eingesetzt hatte, nachdem die alte Scheibe gesprungen oder kaputtgegangen war, während das leicht verzerrte Glas noch die Originalscheibe war. Die Oberfläche der Straße. Veränderungen in der Oberfläche, unterschiedliche Arten von Asphalt, unterschiedliche Schattie‐ rungen von Grau. Unterschiedlich geformte Asphaltflächen ‐ ineinander gefügte und überlappende Rechtecke. Streifen, wo die Straßendecke aufgerissen worden war, weil man an den Wasser‐ rohren gearbeitet hatte, an Stromkabeln, an der Gasleitung. Un‐ terschiedliche Höhen im Asphaltbelag. Stellen, wo ein Schlagloch ausgebessert worden war. Stellen, wo ein Schlagloch noch nicht ausgebessert worden war. Der Gehweg, gezeichnet von Schmiere und Regenwasser und Kaugummi. Tausende von ausgespuckten Kaugummis, von den
Fußgängern zu Sternbildern platt getreten. Und wenn ich mich bückte und den Gehweg berührte, fühlte ich harten Staub unter den Fingern. Der Staub blieb an den natürlichen Fetten meiner Hand hängen. Wenn ich die Hand hob und mir den Staub an‐ schaute, sah ich, dass jedes Staubkorn anders aussah als die an‐ dern ‐ wie schmutzige Schneeflocken. Details. Spektakulär. Fraktal. Die Fäden, die mein Hemd bilde‐ ten, und die kleinen Fäden, die die größeren Fäden bildeten. Die Formen der Wolken über mir, die Formen, die zu weiteren Formen führten, und die langsame Bewegung der Wolken über den Himmel. Die Wolkenschatten, die über den Asphalt zogen und das Blitzen der geschlossenen Fenster dämpften. Ein offenes Fenster, hinter dem ich undeutlich das Muster einer Tapete er‐ kennen konnte. Spektakuläre, fraktale, überwältigende Details vom Aussehen der Welt. Mühelos präsentiert von meiner Erinnerung, ohne jedes Aufbringen von Konzentration. Kein Stocken, um das Bild zu‐ sammenzutragen oder zu überdenken, während mein Blick von links nach rechts wanderte, nach oben, nach unten oder sonst wohin. Und dennoch ‐ da sollte meine Erinnerung eine Hand voll Wor‐ te aus einem vertrauten Song heranschaffen, und sie war gestol‐ pert und gestürzt. Umgeben von diesen beeindruckenden und nutzlosen Details, fragte ich mich kurz, ob das Aufwachen aus dem Koma nicht doch schwieriger werden würde, als ich zunächst gedacht hatte. Vermutlich hatte meine anfängliche Erkenntnis ‐ dass ich träum‐ te ‐ das Koma zahmer erscheinen lassen, weniger dramatisch, als es in Wirklichkeit war. Schließlich hatte ich in meinem ganzen
Leben bis dahin nie etwas anderes getan, als aus Träumen auf‐ zuwachen. Das Aufwachen war das Zuverlässigste an einem Traum, mit Träumen verknüpft wie der Tod mit dem Leben. Du träumst, du wachst auf: Du lebst, du stirbst. Irgendwie kam mir plötzlich der Gedanke: Wenn du stirbst, wachst du auf. Oben auf einem der hohen Gebäude, die ich betrachtet hatte, stand ich auf der Mauerkrone, die das flache Dach umgab. Es war ein Backsteinhaus, und im Erdgeschoss waren Geschäfte, die leere Bücher und gesprungene Schallplatten verkauften. Acht Stockwerke lagen zwischen mir und dem Kaugummi und dem Gehweg. Ich spreizte die Arme leicht vom Körper ab und streckte die Finger wie die Federn am Ende eines Falkenflügels. Aber ich stellte keine aerodynamischen Erwartungen an meine Finger. Es ging mir hier nicht ums Fliegen. Als ich hinunterschaute, kam und ging mein Mut in Wellen und wiegte mich sanft auf den Fußsohlen, und immer schien der Mut im Widerspruch zu dem Wind zu stehen, der in größeren Höhen auftritt. Wenn er da war, drückte der Wind mich vom Rand des Daches zurück, er packte mein Hemd und blähte es wie einen Ballon in meinem Rücken. Wenn der Mut mich verließ, drückte der Wind von hinten, schob mich der Tiefe entgegen, dem Absturz, und presste das Hemd flach an mich. Ich schloss die Augen. Ich lauschte dem Rauschen des Windes. Durch das Rauschen des Windes hörte ich einen Dieselmotor. Als der Wind mich das nächste Mal anwehte, gestattete ich mir einen Schritt in die gleiche Richtung.
9 »Sie schon wieder.« Ich öffnete die Augen und begegnete im Rückspiegel dem Blick des Taxifahrers, der mich vom Krankenhaus nach Hause gefah‐ ren hatte. »Ja«, sagte ich. »Ich schon wieder.« Die Augen des Taxifahrers funkelten. »Wie groß ist die Wahr‐ scheinlichkeit, dass so was passiert? Dass ich Sie zweimal mit‐ nehme?« »Überraschend hoch«, sagte ich und lehnte mich zurück. »Ich muss wohl einen Schritt rückwärts gemacht haben.« »Wie bitte?« »Ich sagte, ich muss einen Schritt rückwärts gemacht haben. Auf dem Dach.« »Auf welchem Dach?« »Ich wäre beinahe von einem Hausdach gesprungen.« »Zieht das Leben Sie runter?« »Nein.« »Was hat Sie am Springen gehindert?« »Ich weiß nicht. Der Wind war gegen mich.« Die Neugier des Fahrers war anscheinend verflogen. »Und wo fahren wir hin?«, fragte er geschäftsmäßig. Ich überlegte kurz. »Ich lasse es Sie gleich wissen«, sagte ich dann.
Passagen aus meinen Lieblingsstücken aus Musik und Literatur waren also zu unvollständig, um den Auslöser zum Aufwachen zu liefern, nach dem ich suchte. Und meinen Begegnungen mit Anthony oder Mary oder Catherine nach zu urteilen, würden Unterhaltungen mit Traumpersonen auch nichts bewirken. Aber wenn ich mich darauf verlassen konnte, dass meine Erin‐ nerung Gebäude akkurat reproduzierte, dann hatte ich vielleicht immer noch ein Ass im Ärmel. Manche Gebäude oder Orte war‐ en genauso erinnerungsträchtig und beziehungsreich wie Musik oder Gespräche. Und Gebäude konnte man erkun‐ den. Räume konnten zu Korridoren führen, die wiederum zu anderen Räumen führten. Es kam nur darauf an, das richtige Gebäude zu finden. »Wissen Sie, wo ich zur Schule gegangen bin?«, fragte ich. »Keine Ahnung«, sagte der Taxifahrer. »Geben Sie mir einen Tipp.« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist kein Ratespiel. Ich wollte fra‐ gen, ob Sie zufällig wissen, wo ich zur Schule gegangen bin.« »Woher soll ich so was wissen?« »Ich dachte, Sie wüssten es vielleicht.« Er verdrehte den Kopf, um mir einen ungläubigen Blick zuzu‐ werfen. »Man sollte meinen, Sie wüssten das.« »Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Aber ich weiß es nicht.« »Sie wollen also zu Ihrer alten Schule?« »Nicht unbedingt. Das war nur das Erste, was mir in den Sinn kam. Was ich will, ist ...« Ich zögerte. »Naja, die Straße der Erin‐ nerung, sozusagen.« »Was für eine Straße? Ist das auf der anderen Seite der Them‐ se?«
»Das war bildlich gemeint.« »Und ich habʹs scherzhaft gemeint.« Als klar war, dass ich nicht lachen würde, räusperte der Fahrer sich. »Also, wenn ich scharf auf die Straße der Erinnerung wäre, dann würde ich wohl zu dem Haus gehen, in dem ich aufge‐ wachsen bin.« »Ah. Das wäre ideal.« »Warum fahren wir dann nicht dahin?« »Das würde ich gern.« Ich fügte nichts weiter hinzu, auch nicht die Adresse, die der Fahrer zweifellos erwartete. Schließlich sagte er: »Wo das ist, wissen Sie auch nicht.« »Nein«, sagte ich. »Und wie sollen wir es dann finden?« »Ich nehme an ...« Ich nehme an, ich hatte gehofft, dass ich das Haus, in dem ich aufgewachsen war, oder meine alte Schule nur zu erwähnen brauchte, und im nächsten Augenblick wären wir einfach da. So war es mit dem Krankenhaus gewesen, mit dem Plattengeschäft und mit dem Dach. Bisher waren die Ortswechsel ganz einfach gewesen. Sogar hilfreich. Aber jetzt vielleicht nicht mehr. »... ich hatte das Beste gehofft«, vollendete ich. »Ich glaube, Sie müssen mehr tun als hoffen«, sagte der Fahrer, und ich fragte mich, ob das ein Tadel sein sollte. »Was schlagen Sie vor?« »Na ja, ich bin Taxifahrer. Ich fahre überall herum. Kann gut sein, dass ich mehr als einmal an dem Haus vorbeigefahren bin, in dem Sie aufgewachsen sind. Wahrscheinlich habe ich schon Leute in der Straße abgesetzt. Wahrscheinlich kenne ich es gut.«
»Okay ...« »Wenn Sie es fertig brächten, irgendetwas an dem Haus oder an der Gegend zu beschreiben, verraten Sie mir möglicherweise mehr, als Sie glauben.« »Das Haus beschreiben ...« Wahrlich ein ganz vernünftiger Vorschlag. Aber hoffnungslos vereitelt durch meine Amnesie, die mir im Augenblick nur die Momentaufnahme zugänglich machte, die ich im Plattenladen gesehen hatte ‐ die Kinderperspektive einer schattenhaften Va‐ tergestalt, die vor einem unsichtbaren Plattenspieler stand. Der Fahrer wartete. Es war mir zu peinlich, ihm zu sagen, dass ich ihm nichts weiter beschreiben konnte, also improvisierte ich. »Das Haus hatte ein Dach«, sagte ich und fügte sofort hinzu: »Natürlich«, um ihm zu zeigen, dass ich gerade erst angefangen hatte. »Ein Dach«, vermerkte der Fahrer ernsthaft. »Und eine Haustür. Und Wände und so weiter.« »Dach, Haustür, Wände. Bis dahin kann ich folgen.« Ich versuchte mir weitere Eigenschaften auszudenken, die mein Haus vielleicht gehabt hatte. Ich wollte ihn nicht mit falschen Informationen in die Irre führen, aber ich wusste nicht genau, was ich sonst noch mit Zuversicht vermuten konnte. »Fenster?«, schlug der Fahrer vor. »Ja«, antwortete ich sofort. »Mehrere.« »Ein Vorgarten?« Ein Vorgarten. Ein Bild blitzte auf, das Gefühl eines Ortes. Das Gefühl einer Bewegung, vor und zurück. »... eine Schaukel.«
»Was?« »Ein kleiner Vorgarten mit einem Baum und einer Schaukel.« »Ah. Jetzt kommen wir weiter. Wissen Sie, wie viele Häuser ei‐ nen Vorgarten mit einem Baum haben?« »Nein.« »Eher weniger als mehr. Deshalb denke ich, dass sich Ihr Haus in einem der behaglicheren Viertel finden wird.« Ich nickte. »Ich kann mich an nichts Unbehagliches erinnern.« »Sehen Sie«, sagte der Fahrer. »Und ich sage Ihnen noch was. Ich würde vermuten, dass das Haus gebaut wurde, als Autos bereits gang und gäbe waren. Denn bei den älteren Häusern sind die Vorgärten verschwunden, als die Straßen verbreitert wurden. Nein ‐ Sie sind in einem Vorort aufgewachsen.« »Sie sind sehr gut«, sagte ich. Die Augen des Taxifahrers funkelten wieder. »Ich sehe das Haus schon vor mir.« »Ja«, sagte ich. »Ich auch.«
10 Es war klar, dass seit einiger Zeit niemand mehr in dem Haus gewohnt hatte, denn das Gras im Vorgarten war eine Wiese, und die Fenster waren schwarz vor Dreck. Von den Fensterrahmen blätterte die Farbe ab, und die Gardinen hinter den Scheiben waren grau und zerrissen. Meine Eltern ‐ oder meine Traum‐ Eltern, deren Gesichter ich mir nicht vorstellen konnte und deren Namen mir nicht einfallen wollten ‐ waren also entweder tot oder schon vor langer Zeit verzogen. Außerdem war klar, dass dies ein Traum‐Haus war. Der Verfall war keine Erinnerung, sondern die Darstellung einer kaum erin‐ nerlichen Vergangenheit. Er war eine Metapher, die ich um‐ schreiten und von metaphorischen Spinnweben säubern konnte. Und aus all diesen Gründen war es auch eine Enttäuschung: dass ich nichts Besseres zustande brachte als diese ziemlich durchschaubare Darstellung einer kaum erinnerlichen Vergan‐ genheit. Hohes Gras und dunkle Fenster. Ein Stück Seil, das von einem Baum hing und früher einmal die Schaukel gehalten hatte, deren Holzbrett verrottet war. Ein Weg, wo Moos auf brüchigem Zement wuchs und Löwenzahn aus den Rissen wucherte. Aber egal. Es war das Haus, in dem ich aufgewachsen war; also war ich zumindest am richtigen Ort. Und schnell kamen mir kleine Details in Erinnerung. Ich wusste, beim Öffnen der Haus‐ tür würde ich ein bassdunkles Knarren hören, nicht von den An‐ geln, sondern vom Holz, und ich wusste, beim Eintreten würden
lockere Bodenfliesen klicken, sobald ich sie betrat. »Denken Sie daran, was ich Ihnen gesagt habe«, rief der Fahrer durch sein Seitenfenster. »Was haben Sie denn gesagt?«, rief ich zurück. »Langsam angehen lassen.« »Okay«, sagte ich. Der Dieselmotor sprang an und war bald nicht mehr zu hören.
11 Und richtig, die Fliesen klickten, das Holz knarrte, und noch mehr Vertrautheit lag in der kühlen, abgestandenen Luft im Flur und im Geräusch der Haustür, die sich hinter mir schloss. Da war noch etwas. Kaum spürbar. Es war eine leichte Loslö‐ sung von dem Boden, auf dem ich stand, als wäre ich leichter geworden. Es war das Gefühl, das man verspürt, wenn man eine schwere Tasche, die man eine Zeit lang getragen hat, absetzen kann und die Schultern plötzlich zur Decke streben. Und ‐ es war eine Verlagerung in mir selbst. Im Gefüge meiner selbst, als füllte ich in Beziehung zu Haus und Flur weniger Raum aus, als ich sollte. Ich hob eine Hand, um sie zu inspizie‐ ren, und erwartete, dass ich durch meine Finger hindurchschau‐ en könnte, als wären Haut und Knochen aus Milchglas. Ich sah nur meine Hand. Aber das Gefühl blieb. Ob ich es war oder nicht, ich fühlte mich durchscheinend. Ich würde sagen, ich brauchte ein paar Sekunden, um diese Empfindungen als das zu erkennen, was sie waren ‐ aber das Traum‐Leben war nicht in Sekunden oder Minuten eingeteilt. Stattdessen könnte ich sagen, dass ein paar Augenblicke vergin‐ gen, oder einfach, dass irgendetwas verging, bis mir klar wurde: Diese Übung, diese Rückkehr in das Haus, in dem ich aufge‐ wachsen war, würde funktionieren. In diesem Haus würde ich aufwachen. Tatsächlich war ich dabei, aufzuwachen.
Diese Eingebung stimmte mich nachdenklich. Ich hielt den Atem an. Aus irgendeinem Grund wusste ich oder glaubte sicher zu wissen, dass der Prozess des Aufwachens fragil sein würde, ebenso delikat wie der Verlauf des Einschlafens. Er konnte schief gehen. Ein plötzliches Geräusch, irgendetwas Schrilles oder Überraschendes, und die Gelegenheit wäre dahin. Also befolgte ich den Rat des Taxifahrers: Ich ließ es langsam angehen und sah mich um. Hier im Flur stand ich vor der Wahl. Ich konnte die Treppe hinaufsteigen oder auf den klickenden Fliesen weiter zur Küche und zum Wohnzimmer gehen. Im Wohnzimmer würde ich den Plattenspieler finden. Ich dach‐ te daran, wie machtvoll die Wirkung von Little Richard gewesen war, als ich ihn im Plattenladen gehört hatte, bevor der Song sich in Bruchstücken zu wiederholen begann. Mir schien, dass die Wirkung entsprechend stärker sein würde, wenn ich Miss Molly hier hörte. Mir schien aber auch, dass die Treppe eine gewisse Anzie‐ hungskraft ausübte und mich lockte. Ich fragte mich, ob ich da vielleicht einer speziellen Erinnerung auf der Spur war und ob es einen Weg durch das Haus gab, an den ich mich halten musste. Womöglich hing die Erinnerung davon ab, dass ich mich an die‐ sen Weg hielt, und womöglich hing mein Aufwachen davon ab, dass ich diese Erinnerung vollendete. Ich wog die Möglichkeiten gegeneinander ab und entschied mich für die Anziehungskraft, vermutlich ein rein instinktiver Vorgang. Ich stieg also die Treppe hinauf und zwang mich, es ohne Hast zu tun. Ich merkte, dass die Leichtigkeit und das Ge‐ fühl der Durchsichtigkeit nicht vergingen. Vielleicht sogar ein bisschen stärker wurden, je höher ich kam. Dies ließ mich darauf
vertrauen, dass ich auf dem richtigen Weg war. Oben an der Treppe, auf dem Absatz, blieb ich wieder stehen und wartete auf einen neuerlichen Sog, der mich führen würde. Von hier aus konnte ich geradeaus zum gemeinsamen Badezim‐ mer gehen. Links durch den Korridor ging es zum Schlafzimmer meiner Eltern, das zur Straße hinaus lag. Und rechts war mein Zimmer. Während ich auf einen Hinweis wartete, welche Richtung ich einschlagen sollte, blieb mir die Zeit zu sehen, dass der Verfall, den ich außerhalb des Hauses festgestellt hatte, nicht bis ins In‐ nere reichte. Das Haus war still und ein bisschen leblos, aber in gutem Zustand. Der braune Teppich auf dem Treppenabsatz war nicht verschlissen, und die Tapeten waren nicht fleckig und hin‐ gen auch nicht klamm am Putz herunter. Es war jedoch dunkel, verglichen mit dem hellen Tag draußen. Künstliches Licht drang unter den geschlossenen Türen am Treppenabsatz hindurch und vom Flur herauf, aber ich konnte nicht so gut sehen, wie ich es mir gewünscht hätte. Ich war im‐ mer noch halb blind, wie man es ist, wenn man plötzlich aus dem Hellen ins Dunkle gerät, und meine Augen waren anschei‐ nend entweder nicht fähig oder nicht willens, sich anzupassen. Ich wartete weiter. Schließlich dämmerte mir, dass ich deshalb in keine bestimmte Richtung gezogen wurde, weil ich schon an der Stelle war, wo die Erinnerung anfangen konnte.
12 »Hallo Carl.« Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern hatte sich geöffnet, und der Treppenabsatz füllte sich mit Licht. Jetzt war es die Hel‐ ligkeit, die mich fast nichts sehen ließ, nicht die Dunkelheit. »Wie gehtʹs dir heute?« In der Tür stand die hoch gewachsene Silhouette, an die ich mich im Plattengeschäft erinnert hatte. Es war mein Dad im Ge‐ genlicht, und er beugte sich herunter, um mich anzusehen, wäh‐ rend ich blinzelnd und zwinkernd im grellen Licht stand. Dann kam er auf mich zu, geradewegs auf mich zu, so schien es, ein bedrohlicher Schatten ‐ und ich dachte, wir würden zu‐ sammenstoßen, und er würde mich rückwärts die Treppe hinun‐ terfallen lassen. Aber gleichzeitig geschah etwas mit der Perspek‐ tive des Schattens ‐ er wuchs unnatürlich groß, unnatürlich schnell vor mir herauf. Und als ich mich auf den Zusammenstoß gefasst machte und der Schatten meines Dad sogar die Ränder meines Gesichtsfeldes in Schwarz tauchte ‐ ging er einfach durch mich hindurch. Augenblicke später hatte ich es begriffen. Er war nicht durch mich durchgegangen. Er war über mich hinweggegangen. So groß war er, und so klein war ich. Ich drehte mich rasch um und sah gerade noch, wie seine Ge‐ stalt am Fuße der Treppe ankam. Dann machte er kehrt und ging
den Flur hinunter zum Wohnzimmer. Ich war frustriert, denn wäre der steile Blickwinkel vom Treppenabsatz nicht gewesen, hätte ich ihn vielleicht deutlich sehen können. Aber so sah ich ihn nur als beweglichen Schatten, wie in einem Zoetrop, zwischen den Gitterstäben des Treppengeländers.
13 Natürlich folgte ich ihm. Ich hatte jetzt Vertrauen gefasst. Jede Menge Vertrauen darin, wie diese Sache ausgehen und warum sie so ausgehen würde. Vertrauen in meine Methode, die zu der Entdeckung geführt hatte, dass ich noch im Koma lag. Ein bis‐ schen Eigenlob war auch dabei, weil ich nicht in Panik geraten war, nicht zu sehr jedenfalls. Weil ich ruhig und besonnen ge‐ blieben war, weil ich nachgedacht und geplant hatte, wie ich aus einer Lage herauskommen könnte, die in Wahrheit und in jegli‐ cher Hinsicht katastrophal war. Und so hatte alles geklappt: Ich werde überfallen. Ich werde bewusstlos. Ich glaube, ich wache auf. Die Welt ist zersplittert und verrückt. Ich glaube, ich bin traumatisiert. Ich glaube, ich habe einen Hirnschaden. Ich erkenne, dass beides nicht der Fall ist: Ich liege im Koma. Mir wird klar, dass ich aufwachen muss. Also mache ich einen Plan. Ich suche nach einem Katalysator, und ich finde das Fragment einer Erinnerung in Form von Miss Molly. Durch behutsames Suchen lassen sich weitere Fragmente her‐ vorlocken. Gärten, Schaukeln, Steine und Fenster.
Sie führen mich zu dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Wo die Miss‐Molly‐Erinnerung in einen Zusammenhang ge‐ stellt wird. Wo ich leicht und gewichtslos werde. Und die Erinnerung so vollständig wird. So vollständig, wie sie sein muss. Und ‐ vielleicht muss ich mich dafür am meisten loben ‐ das al‐ les schaffe ich allein. Ich schaffe es allein ‐ alles, was ich erreiche, erreiche ich allein, denn es ist mein Kopf, in den ich eingesperrt bin, und ich teile diesen Raum mit niemandem außer mir selbst. Im Wohnzimmer sah ich meinen Dad. Und neben ihm stand meine Mutter. Zwei Silhouetten vor den Glastüren zum Garten. Aber ich brauchte ihre Gesichter nicht zu sehen, um sie zu er‐ kennen. Ich konnte nicht sprechen. Das Gefüge meines Körpers war jetzt so leicht wie ein Spinnwebfaden. Die beiden drehten sich um und sahen mich an. Dann sagte mein Vater: »Der hier bereitet mir ziemliches Kopfzerb‐ rechen.« Und meine Mutter sagte: »Mehr als die anderen?«
1 Aufwachen bedeutet Emporsteigen: Man wacht auf, nicht ab. Aufwachen bedeutet Emporsteigen, und deshalb gerieten mei‐ ne Schultern ins Schweben, als ich das Haus betrat. In dem Au‐ genblick war ich wie ein Taucher auf dem Meeresgrund, der sei‐ ne Bleigewichte abwirft. Und als ich die Schatten meiner Eltern sah, fiel der letzte Ballastgürtel von mir ab, und ich geriet auf eine schnelle Aufwärtsbahn. Erst als ich anfing emporzusteigen, merkte ich, wie kalt und dunkel das Wasser auf dem Meeresgrund war, wie schmerzhaft meine Lunge nach Luft lechzte und wie sehr ich darauf brannte, den Meeresgrund zu verlassen. Mein Weg war eine Einbahnstraße. Der Aufstieg geschah ohne mein Zutun, unabänderlich. Ich war sicher, dass nichts mich an den Ort zurückbringen konnte, den ich jetzt verließ. Ich stieg aus dem Kalten Tiefwasser auf und durch die Thermokline hindurch, jene Temperaturgrenzschicht, nach der das Wasser wärmer und heller wurde. Die Lichtsplitter von oben rückten immer näher. Ich erinnerte mich an ein paar Dinge im Zusammenhang mit dem Aufwachen. Ich erinnerte mich an das Gefühl der Überraschung, wenn Traumleben und Wachleben die Vorherrschaft tauschen, und daran, wie selbst handfeste und zutiefst aufwühlende Träume völlig verblassen konnten. Ich erinnerte mich, dass das Wachle‐ ben die Vorherrschaft hatte, dass das Grauen des geträumten
Verlustes der Familie mit der Realität des Kissens an deinem Hinterkopf nicht vergleichbar war. Ich erinnerte mich an Dinge, die das Wachleben so anders sein ließen als das Traumleben. Die kristallklare Beschaffenheit, das Gefühl, dass die Welt im Umkreis von dreihundertsechzig Grad existiert, nicht nur auf dem schmalen Streifen, den man sieht. Ich erinnerte mich, dass das Aufwachen hundert verschiedene Arten von Klarheit brachte, und ich machte mich darauf gefasst, dass sie wie eine Kaskade über mich kommen würden. In der Erwartung dieser Klarheiten fiel es schon jetzt schwer, zu glauben, dass das Traumleben jemals so real hatte erscheinen können. Und gerade als meine Finger, die ausgestreckten Finger meines ausgestreckten Arms, die Oberfläche durchstoßen wollten ... Gerade als ich aufwachen wollte, umschloss etwas meinen Fuß‐ knöchel und bremste meinen Aufstieg, hielt mich im warmen Wasser fest, an der Grenze zum vollen Bewusstsein, so dicht vor Luft und Tageslicht, dass ich hinter den Verzerrungen der Was‐ seroberfläche Formen erkennen konnte. Ich blinzelte und bemühte mich um klare Sicht, und ich sah zwei Gestalten. Es waren gar nicht meine Eltern.
2 »Der hier bereitet mir ziemliches Kopfzerbrechen.« »Mehr als die anderen?« »Mehr als die anderen. Ja.« »Warum?« Zwei Leute standen neben mir. Ein Mann. Der Krankenpfleger. Ich erkannte seine Stimme. Eine Frau. Eine Ärztin vielleicht. Sie hatte gefragt, warum ich dem Pfleger stärkeres Kopfzerbrechen bereitete als die anderen, aber sie klang abgelenkt, als interessiere sie sich nicht für die Antwort. Sie schauten nicht mich an. Sie schauten ein Klemmbrett an. Ich blickte hoch. Ich fühlte mich wie in einem Rahmen. Ich sah Metall‐ stangen, senkrechte und waagerechte. Ich blickte hinunter und sah, dass etwas meinen Mund und meine Nase bedeckte. Ein Beatmungsgerät. Es schien mein Atmen zu dämpfen und zugleich zu verstärken. Ich versuchte meine Hand zu bewegen. Ich konnte nicht feststellen, ob es mir gelang. »Die Bewegungslosigkeit«, sagte der Pfleger. Die Ärztin entfernte sich. In Richtung eines hellen Bereichs, eines Fensters vielleicht, vielleicht auch zur Zimmertür. Jedenfalls sah ich sie nicht mehr. Aber ich konnte ihre Stimme noch hören. »Tja«, sagte sie. »Sicher können wir erst sein, wenn er aufwacht. «
3 Wenn meine Augen wirklich offen gewesen waren ‐ und ein paar Sekunden lang hatte ich ja wirklich mein Krankenzimmers gesehen ‐, schloss ich sie jetzt. Aufwachen bedeutet Emporsteigen, und Träumen bedeutet Sinken. Man wacht auf, man sinkt in Schlaf. Ich sank wieder zurück in meinen Traum. Es besteht die Möglichkeit, dass in dem Gespräch der Ärztin mit dem Pfleger Unbedachtheit oder Verantwortungslosigkeit mitschwang und dass sie die Anwesenheit des Komatösen ver‐ gessen hatten, so wie man die Anwesenheit von Kameras ver‐ gisst. Aber das glaube ich nicht. Ich glaube, dass der Pfleger ab‐ sichtlich und unmittelbar mit mir sprach. Ich wusste von mindes‐ tens einer Gelegenheit, bei der er es schon einmal getan hatte: Als er mich bat, seine Hand zu drücken. Auch vorher war er schon von Fall zu Fall in meinem Traum zugegen gewesen, was ver‐ mutlich auf seine Anwesenheit an meinem Krankenbett zurück‐ zuführen war. Und jetzt hatte er ein Gespräch mit einer Ärztin inszeniert, weil er wollte, dass ich dieses Gespräch hörte. Ich hatte ein Telegramm geschickt bekommen, eine groß he‐ rausgestellte Nachricht: Es gab eine Wahl zu treffen, die Wahl zwischen den Ungewissheiten der Traumwelt und den Unge‐ wissheiten der Wachwelt. Also strampelte ich nicht, um nicht weiter zu versinken, ich sträubte und wehrte mich nicht. Aber ich empfand doch eine
leise Verzweiflung darüber, dass die Überwindung einer merk‐ würdigen und verzweifelten Situation mich nur in die nächste versetzt hatte. Und es machte mir Angst, dass Ungewissheit das Einzige sein sollte, was hier im Angebot war. Vermutlich war die Traumwelt, in die ich zurückkehrte, deshalb so anders als die Traumwelt, die ich verlassen hatte.
4 Ich sank und sank, und als ich die Augen wieder öffnete, war es völlig finster. Ich nahm daher an, dass ich immer noch sank oder abstieg, und ich musste einfach warten, bis ich auf der Ebene angelangt wäre, auf der die Traumlandschaft wieder Gestalt an‐ nehmen würde. Einige Zeit verging ‐ genug für mich, um zu erkennen, dass ich entweder langsamer hinabsank, als ich emporgestiegen war, oder dass ich auf eine Ebene sank, die sehr viel tiefer lag als die vorige Landschaft. Dann verging noch mehr Zeit, und ich fragte mich, ob ich vielleicht gar nicht mehr sank. Vielleicht war ich schon da angekommen, wohin ich gesunken war, und bewegte mich gar nicht mehr weiter. Da ich in der totalen Dunkelheit nichts sehen konnte, war ich auf mein Tastgefühl angewiesen. Aber ein vorsichtiges Schwen‐ ken meiner gestreckten Arme verriet mir, dass in unmittelbarer Reichweite meiner Hände nichts war. Ein ebenso vorsichtiges Strecken der Beine ergab, dass auch meine Füße nirgends anstie‐ ßen. Tatsächlich schien ich auf nichts zu stehen. Das bedeutete vermutlich: Wo immer ich sein mochte, ich schwebte. Aber worin schwebte ich? Beim Aufstieg hatte ich das Gefühl gehabt, mich durch Wasser emporzubewegen. Jetzt war ich nicht im Wasser. Wenn ich Arme oder Beine bewegte oder den Kopf drehte, spürte ich keinen Widerstand. Und wenn ich den Arm heftiger bewegte, schnell und kraftvoll genug, um den Wider‐ stand der Luft zu spüren, spürte ich immer noch nichts.
Ich hielt inne. Versuchte nachzudenken. Aber ich fand keine Gelegenheit zum Nachdenken, denn während des Innehaltens merkte ich, dass ich nicht nur an den Enden meiner Gliedmaßen nichts spürte, nicht nur nichts sah, sondern auch nichts hörte. Nicht meinen Atem, nicht das Rascheln meiner Kleidung, nicht das Geräusch einer anderen Person, eines Wesens, Apparats oder Objekts, das diesen Raum mit mir teilte. Also versuchte ich zu sprechen und brachte keinen Laut hervor. Und ich versuchte zu klatschen, aber als ich die Hände gege‐ neinander schwang, fanden meine Handflächen keinen Kontakt. Auch hatte ich keine Gewissheit, dass dieses Schwingen der Hände etwas war, das ich tatsächlich getan hatte. Keine meiner Bewegungen wurde durch eine wie auch immer geartete Sin‐ neswahrnehmung belegt. Ich spürte weder das Öffnen meiner Lippen noch meinen Lidschlag. Schließlich hob ich die Hand und wollte mein Gesicht berüh‐ ren, und es war einfach nicht da. Meine Finger griffen ins Leere, bewegten sich weiter nach hinten, durch einen Schädel, der nicht da war, und immer weiter, bis die Bewegung zu einer Unmög‐ lichkeit wurde und eine Verrenkung von Arm‐ und Schulterge‐ lenken erfordert hätte, zu der ich sicher nicht imstande war. Und jetzt verlor ich jegliche Vorstellung von dem, was Bewegungen sein könnten und in welcher Beziehung die nichtexistenten Teile meines Körpers früher einmal zueinander gestanden haben mochten. Ich verlor überhaupt jegliche Vorstellung von Körper‐ lichkeit. Ich war bei Bewusstsein, weiter nichts. Über mein Bewusstsein hinaus gab es nichts.
Wieder verging Zeit. Ich wartete darauf, dass etwas geschah. Nichts geschah. Ich war ruhig. Oder gefühllos. Mir war, als sei ich im Begriff, den schrecklichsten Gedanken der Welt zu haben, aber ich hatte ihn noch nicht ganz. Dann hatte ich ihn.
5 Bin das also ich? Es klingt weniger erschreckend, wenn man es nur nieder‐ schreibt. Vielleicht muss man dabei gewesen sein ... Jedenfalls war dies der Gedanke: Bin das also ich? Wenn ich beispielsweise bei einem Unfall einen Arm verloren hätte, wäre ich immer noch ich. Niemand würde sagen, ich sei nicht ich. Man würde nicht sagen: Das war Carl, aber er hat einen Arm verloren, und jetzt ist er John. Und wenn ich bei einem zweiten Unfall auch den anderen Arm verloren hätte, träfe das Gleiche noch immer zu. Das gilt auch für meine Beine, mein Augenlicht, mein Gehör, meine Stimme, mei‐ nen Tastsinn. Man könnte so weitermachen, mich immer weiter demontieren, bis ich nur noch ein Bewusstsein wäre, schwerelos im Leeren. Aber nimmt man das Bewusstsein weg, bin ich plötzlich ver‐ schwunden. Carl gibt es nicht mehr. Und nimmt man nur das Bewusstsein, lässt aber den Körper da, die komplette Ausstat‐ tung mit Armen und Beinen, dann bin ich immer noch ver‐ schwunden. Also: Ob ich träume oder wach bin ‐ das hier bin ich. Ob ich träume oder wach bin ‐ das hier bin ich? DAS HIER? Von da an war es nur noch ein Katzensprung hin zu einer al‐ lumfassenden, weltfernen Sinnlosigkeit. Und nachdem ich mei‐
nen Körper schon verloren hatte, verlor ich jetzt auch den Ver‐ stand. Für ein Bewusstsein im Nichts ist es eine ernste Sache, den Ver‐ stand zu verlieren, wenn man bedenkt, dass der Verstand alles ist, was man hat. Anders als beim Verlust des Verstandes im Kontext des Wachlebens gibt es hier ja nichts Äußerliches, das sich als Kontrapunkt zu diesem Zusammenbruch geltend ma‐ chen ließe. Man wird keinen Anker finden, und man wird keinen bereitgestellt bekommen. Dessen ungeachtet ist »den Verstand verlieren« natürlich eine Redewendung und in diesem Zusammenhang irreführend. Wenn man ein Verstand im Nichts ist und den Verstand verliert, impliziert das, dass der Verstand an der falschen Stelle ist, ir‐ gendwo anders, und man selbst als das Nichts zurückbleibt. Als etwas Leeres. Aber das war nicht passiert, denn natürlich hatte ich meinen Verstand noch. Er funktionierte nur nicht. Und genau genommen war ich das Gegenteil von leer ‐ ich war voll, oder übervoll, dem Platzen nahe. Das Überraschende für mich ist, dass ich mich genau erinnern kann, wie es war, den Verstand zu verlieren. Es ist fassbar, es ist wie ein Geschmack im Mund. Und noch überraschender ist: Ich glaube, ich kann es beschreiben. Man muss sich den Tonfall einer Stimme vorstellen. Der Tonfall ist ein bisschen öde. Aber er ist auch verzweifelt und frustriert. Wäre der Tonfall wirklich eine Stimme, wäre es die näselnde Stimme eines langweiligen Mannes, der kraftlos seine Verzweif‐ lung intoniert: O nein, nein, du lieber Gott, nein, o nein ... Aber egal, was die Stimme sagt ‐ wichtig ist der Ton. Öde, verzweifelt,
frustriert jämmerlich und ziemlich laut. Man nimmt diesen lau‐ ten Ton und hat Zutat Nummer eins. Die zweite Zutat, sehr unmittelbar: Angst. Zittrig, panisch. Man sollte nicht meinen, dass so etwas neben diesem öden Ton exis‐ tieren kann, aber das tut es. Bebende, kalte, beißende Angst. Die dritte und letzte Zutat, ebenfalls sehr unmittelbar: beliebige Wörter. Beliebige Wörter, aneinander gehängt. Einfach und un‐ zusammenhängend. Beliebige Wörter, planlos, ohne Schleifen, ohne sinnvolle Wiederholungen. Und IN ÄUSSERSTER LAUT‐ STÄRKE. ATOM BART EDEL ROH NABEL AMOK TUBA ÜBEL RASEN LOCKER IRRTUM CARAVAN HOTEL NORDEN IMMER CHARME HAREM TORWART SONDERN OSLO BAHNHOF ELEND LAUT ITALIEN ESSEN BÖSE IMPORT GUTENBERG WIESE IMAM EBENFALLS EVENT SATT ZAHN URTEIL NIE‐ MALS ÄTHER CHORAL HAFEN STEIN TRETEN EDEN ROSE SATURN CUBA HEUTE EGAL IRGENDWO NIL THEATER Man schmeißt das Ganze zusammen, bis seine Existenz alles andere ausschließt, und das ist es.
6 Über zwei Dinge zerbreche ich mir jetzt den Kopf. Das eine ist: Wie lange war ich in diesem besinnungslosen Zustand? Offen‐ sichtlich war er nicht endlos, denn dann wäre ich jetzt nicht hier. Aber kurz war er auch nicht. Irgendwie weiß ich das. Er erzeugte auch nicht das Gefühl, das man empfindet, wenn um acht der Wecker klingelt und man nochmal einschläft und einen Traum hat, der einem sehr lang vorkommt ‐ um dann beim erneuten Aufwachen festzustellen, dass nur zehn Minuten vergangen sind. Wenn ich unter Berücksichtigung der eigentümlichen Zeitrech‐ nung des Innenlebens eine Vermutung anstellen sollte, würde ich sagen, dass ich vielleicht zwei oder drei Monate des Wachlebens so dahindriftete. Aber das ist nur eine Vermutung. Die zweite Frage ist: Was hat mich da herausgezogen? In An‐ betracht der Leere, der Abwesenheit jedes Ankers ‐ warum dauerte der Verlust des Verstandes nicht ewig? Darauf habe ich keine Antwort, nicht mal eine Vermutung. Ich weiß nur, dass der Wahnsinn abrupt ‐ wie wenn man einen Was‐ serhahn zudreht ‐ aufhörte und ich wieder in die vertrautere Traumlandschaft rangiert wurde, die ich vorher bewohnt hatte. Ich fühlte mich wie zu Hause. Ich war zu Hause. Es war mein Bett, und ich war mit Catherine zusammen. Und sie hatte die Arme um mich geschlungen und
sagte: »Hey, keine Angst. Es ist okay. Alles okay.« Dann küsste sie mich und sagte, dass sie mich liebte. Und ihre Lippen waren weich und warm, und ich konnte sie riechen, und das alles fühlte sich völlig real an. Und obwohl ich verwirrt war, groggy, geistig ramponiert, kehrte mein Verstand ‐ mein verlorener Verstand ‐ erstaunlich schnell zu mir zurück. Und ich wusste, dass dies immer noch ein Traum war. Das hier war in Wirklichkeit nicht mein Bett, Catherine war in Wirklich‐ keit nicht hier, und in Wirklichkeit liebte sie mich nicht ‐ aber im Grunde war mir das egal.
7 An dem Morgen taten wir Folgendes: Wir liebten uns, wir duschten, und dann gingen wir nach unten und frühstückten. Nichts davon war Wirklichkeit. Mir war das egal. Zum Frühstück aß ich Speck und Toast. Es war kein wirklicher Speck, und das war mir egal. Ein, zwei Mal geschah etwas Verrücktes. Zum Beispiel brauch‐ ten Speck und Toast buchstäblich keine Zeit für die Zubereitung; sie erschienen einfach. Und der Küchenbereich war vielleicht doppelt so schmal wie sein Gegenstück im realen Leben, aber dafür war die Decke höher. Es war mir egal. Warum auch nicht? Wird mein Wachleben weggenommen, bin ich ein Bewusstsein im Nichts. Wird mein Traumleben wegge‐ nommen, bin ich ein Bewusstsein im Nichts. Wo liegt der Unterschied? Nach dem Frühstück machten wir einen Spaziergang.
8 Am Ende meiner Straße bogen wir nach rechts in die Haupt‐ straße ein, die hinunter zum Fluss führte. Es war Vormittag, und der Tag versprach heiß zu werden. Catherine trug einen Sonnen‐ hut und ein hübsches Sommerkleid, Baumwolle mit Blumenmus‐ ter. Ich trug Jeans und ein kurzärmeliges Hemd, und in einem kleinen Rucksack hatte ich eine Wasserflasche und einen Fotoap‐ parat. Statt in der zunehmenden Hitze die ganze Hauptstraße hinun‐ terzugehen und uns zu strapazieren, nahmen wir lieber die Fuß‐ gängerunterführung, die kürzlich ausgebaut worden war. Jetzt konnte man den ganzen Weg bis zum Fluss in klimatisierter Umgebung zurücklegen, unbehelligt von Verkehrslärm und Auspuffqualm. Man konnte unterwegs sogar ein bisschen shop‐ pen. In den kleinen Nischen, die den Gang säumten, hatten etli‐ che Geschäfte aufgemacht; die meisten verkauften Schmuck oder Kleidung. Dadurch wurde der Weg ein bisschen länger und ein bisschen langsamer, als er es sonst gewesen wäre, denn Catheri‐ ne blieb immer wieder stehen, um sich das Zeug anzusehen. Dann schwatzte ich vor mich hin, und wenn ich mich mitten im Satz zu ihr umdrehte, merkte ich, dass ich die letzten paar Schrit‐ te mit mir selbst gesprochen hatte. Die Fußgängerunterführung verwirrte einen aber auch ein bis‐ schen, denn es war schwer einzuschätzen, wie weit man ge‐ kommen war. In bestimmten Abständen führten Treppen zur
Straße hinauf, doch durch irgendein seltsames Versäumnis war‐ en sie noch nicht durch Schilder markiert, die erkennen ließen, auf welche Querstraße sie mündeten. Deshalb mussten wir schließlich raten, welchen Ausgang wir nehmen sollten, und zu‐ fällig wählten wir den richtigen. Wir kamen bei der Brücke heraus, und dort blieben wir stehen, um aus der Wasserflasche zu trinken. Wir waren vielleicht eine halbe Stunde unter der Erde gewesen, aber schon war es sehr viel heißer geworden ‐ entweder das, oder die Klimaanlage hatte uns verweichlicht. Allmählich wünschte ich, ich hätte so viel Verstand wie Catherine gehabt und eine Mütze aufgesetzt, denn ich merkte, dass ich mir bei diesem Wetter wahrscheinlich einen Sonnenbrand holen würde. »Wo möchtest du hin?«, fragte ich sie. Catherine zuckte mit den Achseln. Sie lehnte am Brückenge‐ länder und schaute auf das langsam fließende Wasser hinunter. »Glaubst du, die essen, was sie fangen?«, fragte sie und zeigte auf die Angler, die an der abschüssigen Betonböschung saßen. »Das Wasser sieht immer so schmutzig aus.« »Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube eher, es gibt eine Vorschrift, dass sie den Fang wieder hineinwerfen müssen.« Aber sicher war ich mir nicht. Ein kleines Stück weit flussab‐ wärts drängten sich am Ufer die Holzhütten und Baracken, wo viele dieser Fischer lebten. Ein anderer Teil der Stadt, weniger wohlhabend. Als ich mir die Behausungen ansah, erschien es mir plötzlich unwahrscheinlich, dass sie ihre Tage mit Sportangeln verbringen sollten. »Ich glaube, die essen sie«, sagte Catherine; vielleicht war sie dem gleichen Gedankengang gefolgt wie ich. »Ich wette, sie
schmecken nach Schlamm.« »Die Angler oder der Fisch?« »Beide.« Sie richtete sich vom Geländer auf. »Wie wärʹs, wenn wir durch das Antiquitätenviertel und dann rauf zu einem der Tempel gehen?« Jetzt war ich es, der vor jedem Schaufenster stehen blieb, und Catherine wartete ungeduldig ein paar Schritte weiter. Vor allem die kleinen Elfenbeinfigürchen, die in fast allen Geschäften ver‐ kauft wurden, zogen mich an. Die gut erhaltenen waren viel zu teuer für mich, aber ich erfreute mich an ihrem Anblick, und ich mochte den Duft der Räucherstäbchen, der zu den Türen he‐ rauswehte. Eine Figur erregte meine besondere Aufmerksamkeit. Es war ein kleiner, hockender alter Mann; er hatte die eine Hand auf das Knie gelegt und hielt einen Fächer in der anderen. Sein Gesichts‐ ausdruck war seltsam ‐ eine Art Grimasse, ein bisschen missbilli‐ gend, aber auch zornig amüsiert. Neben dem alten Mann war noch eine Figur, eine stehende diesmal. Sie sah älter aus als die andern, aber sie war nicht aus Elfenbein. Sie sah aus, als sei sie aus Ton oder Porzellan, und ich fragte mich, ob sie deshalb vielleicht billiger wäre. Die Jahre hat‐ ten ihre Spuren hinterlassen; die Glasur war rissig und abgesplit‐ tert, und alle Auswölbungen ‐ die Falten der Kleidung, die Füße und Hände ‐ waren abgewetzt, als habe jemand sie jahrelang in der Tasche mit sich herumgeschleppt. Bei genauerer Betrachtung sah ich, dass die Figur zwar die Pro‐ portionen eines Mannes hatte und bekleidet war ‐ sie trug eine Robe ‐, aber das Gesicht war seltsam spitz. Kein menschliches
Gesicht. Da war eine Schnauze, wie bei einem Hund, aber nicht so ausgeprägt. Während ich das kuriose Gesicht noch anschaute, kam eine Hand aus dem Inneren des Ladens und griff nach der Figur. Der Ladenbesitzer, der ein wenig Ähnlichkeit mit dem hockenden Figürchen hatte, das ich vorher angeschaut hatte, starrte mich mit der gleichen seltsamen Grimasse an. Er hielt die Figur im Fenster hoch, damit ich sie sehen konnte, und dann schnippte er kurz auf ihren Rücken. Und das Hunde‐ gesicht streckte mir die Zunge heraus. Die Grimasse des Ladenbesitzers zerbarst zu einem Grinsen. Das war sein kleiner Trick, mit dem er die Kundschaft überrasch‐ te. Er machte es noch ein paar Mal, und ich sah, dass die Zunge lose im Kopf saß, ein kleiner Knochensplitter. In ihrer natürlichen Ruhelage befand sie sich im Innern, aber wenn man auf den Rücken tippte, kam sie heraus. Der Ladenbesitzer sagte etwas, das ich nicht verstand. Ich legte eine Hand hinter mein Ohr. »Affengott!«, hörte ich leise durch die Schaufensterscheibe. »Amüsierst du dich?«, fragte Catherine und kam zu mir zu‐ rück. »Ich dachte, das wäre ein Hund«, sagte ich. Der Ladenbesitzer führte seinen Trick aus lauter Freude, dass er sein Publikum verdoppelt hatte, noch einmal vor. Zu Mittag aßen wir in einem billigen Restaurant, das Catherine kannte. Es musste billig sein, sagte sie, in Anbetracht dessen, was wir im Antiquitätenviertel für den porzellanenen Affengott ge‐ lassen hatten, der jetzt, lose in ein Stück Bubblefolie gewickelt, in meiner Tasche steckte. Er hatte sich nicht als weniger wertvoll als
die Elfenbeinfiguren entpuppt, sondern war noch teurer gewe‐ sen. Aber ich machte mir keine übermäßigen Sorgen wegen des Preises. Im Gegenteil, der Preis war der springende Punkt gewe‐ sen. Ich glaube, mir lag mehr an Catherines entrüsteter Reaktion auf meine Extravaganz als an der Figur selbst. Catherine wollte bis zum späten Nachmittag warten, damit die Hitze uns nicht zu sehr anstrengte, wenn wir auf dem Gelände des Tempels umherspazierten, den sie besuchen wollte und der ihr, wie sie sagte, von allen in der Stadt der liebste war. Also zo‐ gen wir den Lunch eine Weile in die Länge. Wir tranken Tee und ließen uns von der Kellnerin immer wieder nachschenken, wäh‐ rend die Rechnung unbezahlt auf dem Tisch lag, bis die Schatten der Passanten draußen allmählich länger wurden.
9 Wir erkundeten das Heiligtum und den Tempelkomplex stun‐ denlang. Zuerst das kühle Innere, wo die Bodendielen, wenn man sie betrat, einen knarrenden Singsang von sich gaben, der an Vogelstimmen denken ließ. Dann die Gärten, die voll von versteckten Orten waren, von Bächen und Teichen.
10 Zum Schluss aßen wir Eis, und dabei saßen wir auf den Stein‐ stufen unter dem mächtigen Laubdach eines Ahornbaums in der Nähe des Haupteingangs. »Was du mir noch nicht erzählt hast«, sagte ich. »Warum ist das hier dein Lieblingstempel?« »Na ja«, sagte Catherine. »Er hat ein sehr dramatisches Ein‐ gangstor.« Sie zeigte mit dem kleinen Plastiklöffel, der in ihrem Eisbecher gesteckt hatte, dahin. Das Tor ‐ die Torflügel, um ge‐ nauer zu sein ‐ sah in der Tat dramatisch aus, und es war be‐ rühmt für seine Größe, eine Meisterleistung der alten Ingenieure, mehr als doppelt so hoch wie irgendeines der Gebäude in der Umgebung, ob modern oder alt. Und eine Touristenattraktion: An der Straßenseite der Torflügel war eine Nische, wo man sich von einer Kamera mit verzerrter Linse fotografieren lassen konn‐ te, sodass man selbst und das Tor in seiner vollen Größe auf dem Bild zu sehen waren. Wenn sie das Foto bekommen hatten, gin‐ gen die Touristen manchmal weiter, ohne sich die Mühe zu ma‐ chen, den Tempel dahinter zu besuchen. »Aber es ist auch sehr friedlich hier«, fuhr Catherine fort. Ich nickte. »Ich höre keinen Verkehr. Nur ...« »Die Bodendielen.« Ich lachte. »Ja. Was hat es damit auf sich, mit diesen Bodendie‐ len?« »Sie sind so konstruiert. Die Eisennägel sind in einem bestimm‐
ten Winkel in das Holz geschlagen oder so was. Dabei dachte man sich, wenn nachts ein Dieb käme, würde das Geräusch ihn sofort verraten.« »Eine Alarmanlage.« »Ja.« »Du weißt viel über diesen Tempel.« »Ich sage ja, es ist mein Lieblingstempel.« »Du warst schon oft hier.« Catherine zögerte. »Ehrlich gesagt, nein. Einmal nur.« Ein paar junge Mönche kamen vorbei. Als sie vorübergingen, sah ich, dass der Himmel die gleiche Farbe annahm wie ihre Ge‐ wänder. Die Sonne, die hinter den hohen Torflügeln nicht mehr zu sehen war, stand entweder dicht über oder auf dem Horizont. Ich aß meinen letzten Löffel Eis. »Weißt du was?«, sagte ich und stellte den leeren Becher ab. »Es war ein vollkommener Tag heute.« »Ja«, sagte Catherine. »Es war ein guter Tag.« »Ein vollkommener Tag«, wiederholte ich und dachte an den Morgen im Bett, an das späte Frühstück und daran, wie sich un‐ sere gemeinsame Zeit überhaupt entfaltet hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, was ich mir sonst für einen Tag wünschen soll‐ te.« »M‐hm. Es ...« Sie brach ab. Ihre Stimme stockte. »Es ...?«, drängte ich. »Es war gut.« »Hast du schon mal einen besseren Tag erlebt?« Catherine gab keine Antwort. »Du hast mal im Lotto gewonnen und einen Caravaggio gefun‐
den, den jemand in deinen Garten geworfen hat.« Ich sah sie an und erwartete irgendetwas: ein Lächeln oder we‐ nigstens ein halbes Lächeln. Aber stattdessen sah sie plötzlich ziemlich traurig aus. Ich war verwirrt. Ich spürte, dass die Stim‐ mung umgeschlagen war, aber ich wusste nicht, warum. »Als ich das erste Mal hier war«, sagte Catherine. »Das war bes‐ ser.« »Warum?«, fragte ich und trat dann sofort den Rückzug an. »Nein«, fing ich an, »du brauchst jetzt nicht...« Aber sie unterbrach mich. »Ich war mit jemand anderem hier.« »Aha«, sagte ich und wiederholte dann: »Aha.« Es klang ziemlich dumm. Ungeschickt. Vermutlich sollte es klingen, als führten wir immer noch ein ganz normales, unbelas‐ tetes Gespräch. Aber das war Zeitverschwendung, denn zwei Sekunden später belastete ich es wieder, indem ich fragte: »Mit wem?« »Es ist egal, mit wem«, antwortete sie. »Das ist es ja gerade.« Ich runzelte die Stirn. Wollte sie mich absichtlich provozieren? Gab sie ihren Worten so viel Gewicht, um ein Maximum an beunru‐ higender Wirkung zu erzielen? Aber als sie meinen Blick erwi‐ derte, sah ich, dass sie in Wirklichkeit das Gegenteil beabsichtig‐ te. Ihre Miene war voller Bedauern und Zärtlichkeit. »Ich will damit sagen, Carl, dass ein guter Tag nur dann ein perfekter Tag ist, wenn man ihn mit jemandem teilen kann.« »Oh«, sagte ich, als der Groschen gefallen war. »Ich verstehe.« Dann ertranken der Garten und Catherine und alles andere in einer plötzlichen Flut von Worten. Ganz ähnlich den GEBRÜLL‐ TEN WORTKETTEN, wie ich sie schon einmal gehört hatte ...
11 FERN AN LUNA LACHEN SAUBER ECHOS SUPER SÄMIG IM EIS IRGENDWIE NUR TRITT ERDE RASANT EHER SO SE‐ HEN INFERNALISCH ENDLOS RUNDE TÜRME EILIG SCHLAFEND WAS AUCH REGEN EWIG IN NIRVANA SEL‐ TEN PORTWEIN ABENTEUER ZÄRTLICH IRREN EBENHOLZ REGISTER GARTEN ABFALL NOTDURFT GERADE DORT UND RADIO CHARAKTER HEIMWEH KNOTEN YOGA ODER TOTE ORTE ... aber seltsam ‐ obwohl die Worte mir weniger beliebig als zu‐ vor erschienen, hatten sie, glaube ich, weniger Sinn. Es kann schwierig sein, herauszufinden, was etwas bedeutet und was nicht. Der blutige Verbandmull auf dem Boden meines Badezimmers war zu einem harten Klumpen erstarrt. Er brach, als ich ihn auf‐ heben wollte. Ausgetrocknet zerbröselte er in meinen Händen zu schwarzem Staub und Fasern. Durch das Fenster ihrer Küche sah ich Mary, die Joshua auf ei‐ nen hohen Kinderstuhl setzte. Anthony stand am Spülbecken und schaute in seinen Vorgarten hinaus. Ich stand mitten in sei‐ nem Blickfeld, aber er schaute durch mich hindurch. Ich sah ihn
an und kam zu dem Schluss, dass ich diesen Mann nie gekannt hatte, nicht ihn, nicht seine Frau, nicht ihren kleinen Sohn. Ihre Gesichter waren generisch, ihre Züge anonym. Sie sahen aus wie Schaufensterpuppen, nicht wie eine Familie. Auf dem Rücksitz des Taxis kam ich zu dem Schluss, dass die Augen im Rückspiegel die Augen eines Freundes waren. Sie waren älter als meine und gehörten jemandem, dem ich vertraut, von dem ich mich geleitet gefühlt hatte. Ich wusste nicht, wer der Freund war. Aber ich wusste, dass die Augen real und für mich so wichtig waren, dass dieser scheibendünne Gesichtsaus‐ schnitt die Kraft hatte, sich durch meine Amnesie zu boxen. Als ich jedoch versuchte, meine Position auf dem Rücksitz zu verän‐ dern, um ein bisschen mehr von dem Gesicht zu sehen, blieb das Spiegelbild, wie es war. Der Geruch von Milch, die in der Morgensonne warm wird, drang mir in die Nase. Aus dem Radio im Führerhaus des Milchwagens kräuselte sich eine undeutliche Melodie durch sta‐ tisches Rauschen. Ich tippte auf den Rücken des Affengottes, und die Zunge schnellte hervor. Die Vorhänge wehten auf. Alle diese Ortswechsel vollzogen sich schnell. Die Übergänge zwischen ihnen schienen nahtlos zu sein. Sie folgten, vermute ich, meinen Gedankengängen.
12 Beim letzten Ortswechsel verdunkelte sich alles ziemlich schnell, etwa so unerwartet, wie eine Wolke die Sonne überzieht. Aber das Schwinden des Lichts kam einer mondlosen Nacht nä‐ her. Ein ruckartiger Schreck durchfuhr mich, und ich hatte Angst, ich könnte wieder in das dunkle Nichts zurückfallen. Ich streckte die Hände aus. Mit einem Gegenstand oder einem Gefühl als Anker könnte ich dieses Nichts in Schach halten. Ich fand an meinen Ellenbogen, auf beiden Seiten, ein ge‐ schwungenes Etwas. Das beruhigte mich. Vorsichtig lehnte ich mich zurück und fand etwas, das weich und fest zugleich war, geformt zur Stüt‐ zung der Wirbelsäule. Ich tat einen leisen Seufzer der Erleichterung. Ich schwebte nicht im weltfernen Nichts. Ich saß auf einem Stuhl in meinem Büro. Ich streckte die Hand aus und knipste die Schreibtischlampe an. Dann nahm ich ein Blatt Papier aus der linken Schublade und einen Füller aus der rechten, und ich schrieb: Bis das Telefon klingelte, war das einzige Geräusch in meinem Büro das Kratzen meines Füllers, mit dem ich Papiere abzeichnete und Randnotizen, Korrekturen und Ergänzungen einfügte.
Ich drückte auf die Freisprechtaste. »Carl hier.« »Carl.« »Catherine! Verdammt. Ich wollte dich schon vor Stunden nach Hause schicken. Ich brauche dich heute nicht mehr, und deshalb ...« Sie unterbrach mich. »Ich bin zu Hause. Ich war zu Hause, dann im Kino, ich habe eine Pizza gegessen, den Babysitter be‐ zahlt und den Schluss der Spätnachrichten gesehen.« Die Uhr auf meinem Schreibtisch zeigte 23:42. Ich drehte mich auf meinem Schreibtischsessel um. Das Fenster in meinem Büro reichte vom Boden bis zur Decke. Draußen sah ich das Funkeln der Stadt und den Nachthimmel. Keine Sterne ‐ eine niedrige Wolkendecke gab dem Himmel einen beinahe roten Glanz. »Ich rufe dich an«, fuhr Catherine fort, »weil die letzte U‐Bahn in fünfundzwanzig Minuten fährt.« »Okay«, sagte ich. Ich legte auf. »Okay.« Ich hob die Füße und stemmte sie gegen die Schreibtischkante. Dann stieß ich mich ab, so fest ich konnte.
13 Ich schoss über den Boden, krachte durch das Fenster und flog ins Leere. Eine Zeit lang blieben die Glasscherben auf meiner Höhe, als ich an der Fassade des Bürogebäudes herabfiel. Dann verloren ich, die Scherben und der Stuhl den Kontakt miteinander ‐ wie Fallschirmspringer, die ihre Formation auflösen. Ich fiel schnell, aber ich drehte mich langsam. Anfangs schaute ich zum Himmel und wandte der Erde den Rücken zu. Aber das Gewicht meines Oberkörpers drehte mich, bis ich die Stadt auf dem Kopf sah. Die merkwürdige Perspektive verhinderte, dass mir bewusst wurde, mit welcher Geschwindigkeit ich abwärts sauste, und das Gleiche galt, wenn ich geradewegs zu Boden schaute. Er kam näher, aber nicht so schnell, wie ich es vielleicht erwartet hatte. Ich hatte Zeit, die Bewegung der nadelstichgro‐ ßen Scheinwerfer der Autos wahrzunehmen. Das Tempo wurde erst spürbar, als der Schwung mich nahezu vollständig einmal um mich selbst gedreht hatte und ich das Ge‐ bäude wieder vor mir sah, die Stockwerke, die blitzartig an mir vorbeizogen. Plötzlich kam mir der Abstieg ungeheuer schnell vor. Adrenalin und Hochstimmung packten mein Herz, und ich schnappte nach Luft ‐ und da setzte unvermittelt ein Luftrau‐ schen ein, als habe dieses Luftschnappen einen Druckausgleich auf meinen Trommelfellen herbeigeführt. Und jetzt fing ich an, starre Bilder in den erleuchteten Fenstern
zu sehen, die an mir vorüberrauschten, nur eine Armlänge ent‐ fernt von mir. Plötzlich übermannte mich der Eindruck, dass es das Gebäude war, das sich bewegte, während ich starr an mei‐ nem Platz blieb. Wie man einen Zug vorbeifahren sieht, wenn man auf dem Bahnsteig steht.
14 Auf der anderen Seite der Zugfenster sah ich zweierlei. Das Erste war eine Reklame über den Fenstern. Ein Foto zeigte Anthony, strahlend lächelnd, und hinter ihm seine nichts sagen‐ de Familie. Der Text des Plakats lautete: Frische Milch, frischer Kaffee. Manche Dinge sind einfach wie geschaffen füreinander. Mir war nicht klar, welches der beiden Produkte er hier verkaufte, aber ich war froh, dass ich ihn endlich einordnen konnte. Das Zweite, das ich sah, waren vier junge Männer, die sich an‐ schickten, in den nächsten Wagen zu steigen, wo sie das Mäd‐ chen mit dem Buch drangsalieren und kurz danach mich atta‐ ckieren würden. Vielleicht nenne ich sie junge Männer, weil ich dann die Mühe‐ losigkeit besser ertrage, mit der sie mich bewusstlos traten, aber in Wahrheit waren es Jungen. Der Jüngste war nicht älter als fünfzehn, der Älteste vielleicht achtzehn oder neunzehn. Ver‐ mutlich ist es keine Schande, von vier Teenagern zusammenge‐ schlagen zu werden ‐ aber trotzdem machte es mir etwas aus. Nicht der physische Aspekt, nicht der Vergleich von Schnellig‐ keit und Kraft, aber sehr wohl die Entmachtung. Als ich sie durch das schmutzige Glas beobachtete, fragte ich mich, ob ich mich selbst hören würde, wenn ich im ersten Au‐ genblick ihres Angriffs protestierte. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass ich den gleichen verzweifelten Tonfall hören würde, den ich beim Verlust meines Verstandes mit halbem Ohr gehört
hatte. Einen langweiligen Mann, der kraftlos verzweifelte. Das also bin ich? O nein, nein, du lieber Gott, nein, o nein ... Näselnd viel‐ leicht, weil mir soeben die Nase gebrochen worden war. Das machte mich zornig. Ich wollte durch das Fenster steigen und ihren Raum ausfüllen, ehe sie meinen ausfüllten. Wollte sie ins Koma treten. Mal sehen, wie sie damit zurechtkamen! Aber ich konnte sie nicht angreifen. Ich war ein Geist. Ich konn‐ te mich nur ein bisschen näher ans Fenster drücken und ihnen folgen, als sie die Türen zwischen den Waggons öffneten und hindurchgingen. Ich habe es bereits erwähnt: Das Mädchen war tapfer. Wie sie mit dem Finger die Stelle im Buch markierte, noch während sie ihre Handtasche festhielt und die Jungen wegstieß. Ich ging an dem Mädchen vorbei, bis ich dem Platz, an dem ich saß, unmittelbar gegenüber war. Was mich verwunderte: Als ich geglaubt hatte, mein Spiegelbild in der Fensterscheibe zu sehen, hatte ich mich da tatsächlich selbst gesehen? Einen Blick auf den Geist einer Koma‐Zukunft geworfen? Was auch immer ‐ ich war nicht so tapfer wie das Mädchen. Das war deutlich zu erkennen ‐ daran, wie meine Augen immer wieder zur Seite blickten, um zu sehen, was weiter hinten im Wagen passierte, und wie diese Augen sich weiteten, als das Mädchen auf mich zukam. Aber vielleicht war ich auch tapfer. Als das Mädchen sagte: »Verzeihung. Stört es Sie, wenn ich hier sitze?«, betrachtete ich die Art, wie ich den Kopf schüttelte und ihr in die Augen sah. Ich weiß noch, dass ich da hoffte, mein Blick könne sie beruhigen.
Und aus meiner neuen Perspektive sah ich, dass er sie tatsächlich beruhigte. Mein Blick schien ihr zu sagen: Keine Sorge. Wenn hier gleich jemand zusammengeschlagen wird, dann ich. Dann waren die Jungen bei uns, und das Handgelenk des Mäd‐ chens wurde gepackt, und ihr Arm wurde umgedreht, und sie schrie. Als ich aufstand und die Hand hob und dazwischenging, war ich tatsächlich ein bisschen stolz auf mich. Nicht so sehr, weil ich dazwischenging, weil ich tat, was ich in diesem Augenblick tat, sondern weil ich wusste, was für eine extrem seltsame Folge von Ereignissen sich für den Mann im U‐Bahnwagen entfalten wür‐ de. Ich wusste genau, was er vor sich hatte und wie er damit zu‐ rechtkommen würde, und ich fand, dass er sich gar nicht so übel geschlagen hatte. Und dann: Durch die Seitenfenster des Zuges, als schwebte ich außen zwischen Glasscheibe und der vorüberrauschenden Tunnelwand, sah ich mich rückwärts durch den Wagen gehen, die Arme schützend vor Oberkörper und Gesicht erhoben. Die jungen Männer attackierten mich. Viele ihrer Schläge schienen meinen Kopf und meine Schultern nur harmlos zu streifen, und einige verfehlten mich überhaupt. Aber einige trafen mich hart. Meine Bewegungen erschienen mir langsam und ungelenk. Meine Hände fuchtelten durch die Luft, um die Männer abzuwehren, aber diese Gesten sahen nicht bedrohlicher aus, als wollte ich eine Fliege verscheuchen. Bald knickten meine Knie ein, ich fiel rückwärts gegen die Sitze und rollte dann über den Boden. Von meinem Standort außer‐ halb des Wagens sah ich zu, wie die jungen Männer auf mich eintraten,
und dann war ich bewusstlos.
15 So. Die Jungen waren weg, und das Mädchen war weg, und die Bahn stand an einem Bahnsteig, und die Türen waren offen. Der Bahnsteig war leer. Eine Alarmglocke läutete. Vielleicht hatte das Mädchen die Notbremse gezogen, bevor sie weggerannt war, oder vielleicht holte sie auch Hilfe. Ich betrat den Zug und schaute hinunter auf meinen blutigen Körper, der tief schlief und möglicherweise schon zu träumen begann, von Blumen in Vasen und von Verbänden. Neben mir lag eine Aktentasche mit einer Messingschließe. Ich hob sie auf und nahm sie mit.
16 An einem stillen Ort, meinem Lieblingsort unter denen, die ich besucht hatte, setzte ich mich hin und nahm die Aktentasche auf den Schoß. Es war seltsam, überlegte ich, dass der einzige Schutz gegen die Ungewissheiten des Wachlebens, den ich noch hatte, selbst eine Ungewissheit war: Ich hatte eine Amnesie. Alle meine Reisen durch Erinnerungen und Örtlichkeiten hatten mir immer noch nicht gesagt, wer ich war. Ich hatte keinen Nachnamen, keine Eltern mit Gesichtern, nicht einmal eine klare Vorstellung von meinem Alter. Und jetzt lag das Mittel zur Beendigung dieser Ungewissheit in meinen Händen. Die Papiere in der Aktentasche würden mir sagen, was ich in der allerletzten Stunde vor dem Überfall getan und gedacht hatte. Zumindest würden sie mir meinen Beruf offenbaren, und ich war ganz sicher, dass diese grundlegende Information auf natürliche Weise Licht in die üb‐ rigen Geheimnisse meiner Geschichte bringen würde. Ich legte die Daumen auf die Messingschließe und zögerte eine Weile. Jetzt frage ich mich. Hätte ich die Aktentasche nicht mitge‐ nommen, hätte die Polizei die Aktentasche neben meinem be‐ wusstlosen Körper gefunden ‐ wäre der Traum dann anders ver‐ laufen? Tja. Wer weiß?
Der Traum war vorbei. Ich ließ die Schließe hochschnappen, sah die Blätter, sah die ers‐ te Zeile auf dem ersten Bogen und erwachte sofort. Möglicherweise können Sie erraten, was ich sah. Es gibt hier keine Überraschungen.
EPILOG Ein letzter Gedanke kommt mir, als ich aus dem Koma empors‐ teige. Es ist die Formel, die ich aufgestellt habe, als ich auf dem Dach des Hauses gegenüber der Buchhandlung stand: Du wachst auf, du stirbst. Der Grund ist folgender: Jeder träumt. Jeder träumt, aber nie‐ mand hat es je geschafft, mir zu erzählen, wie sein Traum war. Nicht so, dass ich wirklich verstanden habe, was er gesehen oder gefühlt hat. Jeder Traum, den je irgendjemand hatte, war allein seiner, und niemand hat es je geschafft, einen anderen daran teil‐ haben zu lassen. Und auch erinnern konnte sich niemand. Nicht wirklich, nicht akkurat. Nicht an den Traum, wie er tatsächlich war. Unsere Erinnerung und unser Wortschatz sind dieser Auf‐ gabe nicht gewachsen. Nein ‐ es war, als sei ich in einem Wald, aber es war weniger ein Wald, als vielmehr ‐ na ja, jedenfalls, wir waren beide da, und du sag‐ test... nein, ich sagte zu dir, dass ... Du wachst auf, du stirbst. Die Formel ist korrekt. Wenn du aufwachst, verlierst du eine Geschichte, und du findest sie nie wieder. Jetzt, Augenblicke vor dem Erwachen, ist der Tod plötzlich be‐ ängstigend. Ich möchte ihn aufhalten, so lange es geht. Aber ich glaube, das kann ich nicht. Und aus meinem Hinter‐ kopf drängt sich wieder eine gebrüllte Kette von beinahe beliebi‐
gen Wörtern nach vorn in mein Bewusstsein, noch während ich die Augen öffne! IN COLUMBIEN HABEN WELTEN ABGRUND CHAOS HEBT TRAUMATISCH ERNTE ABER UNTER FRAGEN URSPRUNG NEBEL DER AUS LAMPEN LEUCHTET EPIGRAMME SODA WARM AN RAUCH ES IST NIEMALS TOTEM RADIKAL ANGST UM MITTE