Das ne Gruteau
der Simo-
VERLAG NEUES LEBEN – BERLIN 1957
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Das ne Gruteau
der Simo-
VERLAG NEUES LEBEN – BERLIN 1957
Copyright by Verlag Neues Leben Berlin 1957 Lizenz-Nr. 303 (305/79/57) Umschlagzeichnung und Illustrationen: Werner Ruhner, Leipzig Druck: (140) Neues Deutschland, Berlin N 54 · 2572
Der General ging durch die Stadt, und ich ging drei Schritt hinter ihm; der General trug ein Monokel, und ich trug die MP. Man nannte mich den „Schutzengel“ des Generals. Die Stadt, durch die wir gingen, lag in Südfrankreich; es war Mitte Juli 1944. Einige Wochen zuvor war ich beim Morgenappell zum Stab abkommandiert worden. Als ich mich beim General meldete: „Unteroffizier Gottfried…“, winkte er ab und fragte: „Wie alt?“ „Neunundzwanzig Jahre, Herr General.“ „Ausgezeichnet?“ „EK zweiter Klasse, Herr General, Verwundetenabzeichen in Silber, Nahkampfspange in Bronze.“ „Was für ein Landsmann?“ „Mecklenburger, Herr General.“ „Beruf?“ – „Tischler, Herr General.“ „Sie sind mir als bester Schütze des Bataillons gemeldet worden, Unteroffizier. Ich vertraue mich Ihnen an. Sie begleiten mich ständig.“ „Jawohl, Herr General.“ Ich war gleich zu Beginn des Krieges Soldat geworden; bei meinem Vater, einem Tischlermeister, hatte ich meine Lehrzeit durchgemacht, dann hatte ich die Gesellenprüfung mit „sehr gut“ bestanden und zwei Monate vor dem Kriege mein Meisterdiplom erhalten. Es hing neben dem meines Vaters und dem meines Großvaters in unserer Werkstatt; wir hießen alle drei Gottfried. Ich hatte den Krieg mitgemacht, wie alle den
Krieg mitgemacht hatten; in der Partei war ich zwar nicht, aber Vater hatte mich zum Deutschen erzogen, und für einen Deutschen gehörte sich, das hatte ich auch vom Lehrer gehört, daß er sein Vaterland verteidigte. Schon der Vater hatte es so in der Schule gelernt und der Großvater auch. Wann es verteidigt werden mußte, bestimmten der Kaiser und seit Dreiunddreißig der Führer Ich habe mich verdammt wenig um das alles gekümmert, wir hatten in der Werkstatt genug zu tun, und ich wollte mich weiterbilden, um Kunsttischler zu werden. In Polen noch nicht, aber dann in Holland und in Frankreich und später, als es gegen Rußland ging, hatte ich allmählich begonnen, mir Gedanken zu machen über den Krieg und über das, was im Krieg geschah; aber wie ich mich nun verhalten sollte, wußte ich nicht. Mein Vaterland verraten, wie es eine Handvoll Kameraden getan hatten, und zu den Russen überlaufen, das konnte ich nicht. Es gehörte mehr dazu, zum Überlaufen, als einer aufzubringen vermochte, der von Vater und Lehrer gehört hatte, daß ein Soldat gehorchen muß. Und nun war ich also der „Schutzengel“ des Generals, und der General kommandierte hier unten in Südfrankreich die verschiedenen bunt zusammengewürfelten Einheiten, die mit dem „Maquis“ aufräumen sollten. Wenn ich ehrlich sein will, ich war froh über dieses Kommando. Der Maquis war eine gefährliche Sache, beinahe gefährlicher noch als der Kampf gegen die Partisanen im Osten. Solche urwaldhaften Gegenden hatte ich in Rußland nicht kennengelernt. Hier wenn
hier ein MG neben dem Weg im dichten Gebüsch lag, sah man nicht einmal das Mündungsloch, und wenn man es sah, war es zu spät. Ich glaubte, neben dem General würde der Krieg ungefährlicher sein. Generale waren zumeist nicht da, wo gestorben wurde aus dem Bunker, zwanzig Meter vor dem Feind, konnte man auch schlecht eine Armee befehligen, und in den Wäldern, so richtig im Maquis, wo der Feind auf Armweite neben einem im Gebüsch stecken konnte, ohne daß man ihn sah, da konnte man keine Kompanien und Bataillone kommandieren. Dazu mußte man in einer solchen kleinen Stadt sitzen, Telefon haben, Funkverbindung bis nach Paris hinauf und was sonst noch dazu gehörte. Aber auch ein General mußte zuweilen an die Luft, mußte dahin und dorthin fahren, und dazu brauchte er einen Schutzengel. Das war also ich. Ich begriff bald, daß es gar nicht so einfach war, Schutzengel zu sein. Der General fürchtete ständig, jemand könne auf ihn schießen oder gar eine Bombe werfen. Ich nahm zwar an, daß es niemanden in der Stadt gab, der auf offener Straße einen General erschießen würde etwas Dümmeres konnte man nicht tun, schließlich hatte die SS schon geringerer Ursachen wegen ganze Ortschaften vernichtet , aber der General war anderer Meinung. Wenn er vor einem Schaufenster stehenblieb, mußte ich drei Schritt hinter ihm stehen und die Fenster der Häuser beobachten, und wenn wir unterwegs waren, mußte ich neben dem Fahrer sitzen und die Straße beobachten, obwohl ich ebensowenig sah wie der Fahrer oder der General selbst ich kam mir langsam komisch vor.
Henry Monstein lachte auch. Wir saßen im Cafe „La Jacinthe“, in der „Hyazinthe“. Henry war Feldwebel, wir kannten uns von der Kompanie her; im Stab des Generals hatte er die gesamte Verpflegung unter sich, ein nicht unangenehmer Posten im Krieg. Henry befand sich schon seit Monaten beim Stab, und hier, in der „Hyazinthe“, hatte er so eine Art Stammtisch aufgemacht, mit im paar Franzosen, die dieses und jenes für den Stab lieferten. Hin und wieder machte er mit Monsieur Ricord und Monsieur Tritignant ein Spielchen. Ich sah davon wenig. Sie saßen bei gedämpftem Licht im Hinterzimmer. Sicher war es verbotenes Spiel. Henrys Flüchen nach zu urteilen schien er meist zu verlieren. Aber das ging mich nichts an, jeder mußte wissen, was er tat. Die beiden Franzosen auch denn daß sie bei ihren Landsleuten nicht sonderlich gut angeschrieben waren, merkte ich bald. Die Leute auf der Straße beachteten sie kaum, und sonst grüßte sich jeder mit jedem. Henry, als wir bei einem Aperitif an der Bar saßen, schlug mir auf die Schulter. „Du hast dir ja einen feinen Posten andrehen lassen Schutzengel.“ „Was heißt andrehen“, sagte ich. „Befehl ist Befehl.“ „Und wie so ein Bählamm hinter dem Alten herlaufen, Mann die Leute lachen schon über dich, wenn du stehst und herumäugst.“ Er verzog spöttisch den Mund, dann meinte er: „Paß morgen auf, ihr fahrt zum Bataillon Kempner.“ „Halt den Mund“, sagte ich. Er lächelte nur. „Lieber Junge, wir kommen doch immer zu spät. Es gibt hier Leute, die mehr wissen als du und ich. Mehr als manchmal der Alte. Na, mir soll es recht sein, ich fahre
in die andere Richtung. Wir brauchen ein paar Schweine oder Kälber, Hühner und frisches Gemüse. Aber, wie gesagt, sieh dich vor, du weißt, wenn der Alte Pulver riecht, läuft er bis nach vorn. Und du mußt mit.“ Als wir die „Hyazinthe“ verließen, begegneten wir einem Einspänner. Neben dem bärtigen Lenker saß ein junges Mädchen, und was hinter ihnen unter einer Plane stand, das konnte ein Sarg sein. Henry stieß mich an. „Das ist Jean Lebrun, der Tischlermeister, ein Kollege von dir, und das Mädel soll seine Nichte sein, Simone Gruteau, wohnt hier irgendwo auf dem Dorf.“ Als sie dicht an uns vorüberfuhren, blickten wir uns an, Simone und ich; sie hatte wunderbar braune Augen, ganz dunkle, und der Mund lächelte ich mußte an Himbeeren denken, an schöne, reife rote Himbeeren. Aber dann war mir, als wenn sie über mich hinweglächelte, stolz, triumphierend. Vielleicht hatte sie mich, den deutschen Unteroffizier, gar nicht gesehen, gar nicht sehen wollen. Henry sagte: „Eine komische Angewohnheit von Jean Lebrun: Wenn er einen Sarg gebaut hat, bringt er ihn immer selbst an Ort und Steile, wie ein Schneider, der einen Maßanzug abliefert.“ Am anderen Morgen fuhren wir zu dem Einsatz, an dem der General selbst teilnehmen wollte. Es ging, soviel hatte ich erfahren, um eine Mühle in einem tief eingeschnittenen Waldtal; von der Mühle aus waren unsere Kolonnen mehrfach beschossen worden: offenbar ein Nest der Maquisarden, das in einem überraschenden Angriff ausgehoben werden sollte. Militärisch gesehen eine kleine nebensächliche Angele-
genheit, zu der ein General durchaus nicht notwendig war. Aber Henry hatte recht, gerade an solchen Unternehmungen nahm der General gern teil. Als wir ankamen, war der Angriff bereits im Gange. Zwei Kompanien lagen an der Straßenböschung in einer Art Ruhestellung. Rechts der Straße zog sich ein dichter Wald steil hoch, links fiel der Hang genauso steil zu einem kleinen, dicht umbuschten Bach ab, hinter dem der Wald gleich wieder hoch anstieg. Zweihundert Meter voraus führte die Straße in einem scharfen Knick über den Bach und lief drüben auf etwa gleicher Höhe weiter, um dann hinter dem Bergwald zu verschwinden. Die Brücke, der Wald; es sah alles sehr romantisch wild und einsam aus, schön wenn man nicht als Soldat hier sein müßte… Fünfzig Meter hinter der Brücke stand die Wassermühle Le Pavillon, wie sie auf der Karte hieß, ein altes, wunderschön romantisch anmutendes Gebäude. Von dort aus beherrschte man beide Zinken der Straßengabel. Setzten sich dort Maquisarden fest, konnten ganze Regimenter von der Straße gefegt werden; zwei, drei Maschinengewehre genügten. Der Major, der die Einheit befehligte, meldete dem General. Zwei Pak-Geschütze waren aufgefahren, doch nur eines stand hinter einer Felszacke in Deckung; das zweite wurde nicht eingesetzt, es hätte auf offener Straße stehen müssen. Der General empfahl einen Umfassungsangriff; der Major hatte Bedenken. Mindestens ein schweres MG mußte durch den dichten Hochwald den Berg hinaufgebracht werden, denn es gab nur die Möglichkeit, von
rechts her, wo wir standen, vorzugehen. Wir konnten ja nicht über den Bach. Warum nicht eine weitere Einheit von der anderen Straßenseite her eingesetzt worden war, blieb mir rätselhaft. Wahrscheinlich halte man es nicht für nötig gehalten. Der General setzte seine Meinung durch, schließlich wai er der General. Mehrere Gruppen sollten sich durch den Wald schleichen bis hinter die Talwiese, auf der die Mühle lag und die1 sich von der Brücke aus vielleicht einen knappen Kilometer weit erstreckte. Sie sollten also die Mühle umgehen, wobei den Maquisarden immer noch die Möglichkeit blieb, spurlos im dichten Wald zu verschwinden. Der General fragte: „Warum wollen Sie den Angriff nicht so umfassend führen?“ Der Major entgegnete: „Ich hatte den Befehl, die Partisanen ohne größere Verluste zu vertreiben.“ „Und was verstehen Sie unter größeren Verlusten?“ Der General hatte nicht einmal das Monokel aus dem Auge genommen, seine Stimme schien die schwüle Sommerhitze über der grauen Straße zu zerschneiden. Ich kletterte, da der General seinen Schutzengel hier kaum benötigte, den Hang hinauf, zu den Posten, die dort die Straße sicherten. Von jenem Fieber gepackt, das halb Neugier ist, halb soldatischer Drang oder Mut, wie man nun sagen will, schob ich mich so weit als möglich an den felsigen Rand des Waldes und beobachtete, hinter einem Gebüsch versteckt, die Mühle. Die altmodischen schweren MGs, mit denen diese Einheiten ausgerüstet waren, hier am Hang vorwärts zu bringen, den schweren Schlitten, die Patronenkästen
und alles, was noch dazugehörte den Leuten würde es verdammt trocken unter der Zunge und naß auf dem Buckel werden. Das Gefecht war recht eintönig. Dann und wann blaffte die Pak gegen die Mühle, dann und wann kam von dort ein Feuerstoß herüber. Es hallte und schallte im Wald, und dann war wieder Ruhe. Ich nahm das Glas an die Augen. Sie hatten sich da drüben gut verbarrikadiert. Die Geschosse der Pak platzten einfach weg an dem alten granitnen Mauerwerk. Die Mündungsfeuer der MGs drüben blitzten aus kleinen Mauerlöchern. Die Fenster waren nicht besetzt das Bretterwerk davor von der Pak schon zerschossen. Aber die Löcher in dem Mauerwerk genügten, in jedem ein MG die Geschichte hier konnte sehr lange dauern. Zuletzt würde man schießen und schießen, und drüben war niemand mehr. Kampf im Maquis war Kampf gegen Windmühlenflügel. Die Maquisarden waren überall und nirgends; wenn wir zu einem Einsatz fuhren, pflügten sie auf den Feldern, und wenn wir müde und verstaubt zurückkamen, knallte es plötzlich aus irgendeinem Winkel, und wenn wir dann zugreifen wollten, war nichts da. Hinter mir kroch stöhnend und fluchend der erste MG-Zug den Wald herauf. Ich schob mich vorsichtig weiter, um eine Felsnase herum da sah ich, daß hinter diesem Berg ein Taleinschnitt war. Es ging steil hinunter, wie überall hier, dann kam eine straßenbreite glatte Wiese, ein Wassergraben darin breit konnte er nicht sein, einen Meter oder anderthalb, und hinter dem Grün stieg der Wald gleich wieder steil und dickichtar-
tig hoch. Von der Mühle aus konnte man dieses Quertal genau beobachten. Ich blickte hinüber man mußte hier ein MG postieren, um den Hof der Mühle und deren Giebelseite unter Feuer zu nehmen, man mußte den ganzen Waldrand mit Scharfschützen besetzen, um… Weiler kam ich nicht; am Seitenfenster war für einen Augenblick ein Kopf sichtbar gewesen, ein Mädchenkopf. Solch dunkelrotes Haar hatte ich nur einmal gesehen, bei dem Mädchen Simone, das gestern kurz nach Mittag mit dem Tischler Jean Lebrun zur Stadt hinausgefahren war, einen Sarg auf dem Wagen. Ich nahm das Glas von den Augen. Das war doch nicht möglich! Ich schaute wieder hinüber hinter mir keuchten die Männer mit den alten MGs. Es war eine Quälerei, ich konnte verstehen, daß sie fluchten, die MGs stammten aus den Jahren vor dem Krieg, da waren sie sogar modern gewesen, wir waren daran ausgebildet worden. Wahrscheinlich hatte man gedacht, für den Partisanenkampf genügten sie noch. Die besseren Waffen brauchte man in der Normandie, im Osten, dort, wo Krieg war, hier… Mit einem Male begannen die in der Mühle zu schießen, und wenn ich richtig gehört hatte, war das eines von unseren modernen MGs. Hatte das Mädel uns gesehen? Wenn das Simone Gruteau war, mußte Jean Lebrun mit seinem Sarg auch da sein. Hinter mir schrie einer auf. Ich robbte zurück und rannte stolpernd den Hang hinunter, ich mußte meine Beobachtungen dem General mitteilen. Der General nahm meine Meldung, daß zwi-
schen den Bergen eine straßenbreite, glatt einzusehende Lichtung sei, ruhig entgegen. Von dem Mädel sagte ich nichts. Das Monokel blitzte den Major an. „Ich gehe mit hinüber“, sagte der General, trocken, sachlich, nebenbei, als wollte er in ein anderes Zimmer hinübergehen zuweilen bekam er solche Anfälle, wurde mir später gesagt. Im Augenblick war alles ruhig. Vielleicht war Simone schon nicht mehr da Simone, Simone, welch ein Unsinn… „Kommen Sie, Unteroffizier“, sagte der General noch nie hatte er meinen Namen genannt, für ihn gab es nur Dienstgrade. „Zeigen Sie mir die Stelle.“ Wir blickten auf die Karte; ein dünner grüner Strich markierte das Tal. Die Wiese war ja auch sehr schmal, aber die in der Mühle konnten sie genau übersehen. Der General nahm die Scherbe auch jetzt nicht aus dem Auge, wo er die Steile des Berges auf allen vieren nehmen mußte. Wir überholten den MG-Zug, die Männer hörten auf zu fluchen, der General sagte: „Schweinerei, was?“, und sie fluchten weiter. Der General hatte es gestattet, warum sollten sie nicht fluchen? Die in der Mühle mußten gute Augen haben. Das MG spuckte immer wieder in den Wald. Querschläger flogen umher. Rechts von uns stieg der Berg dunkel drohend immer höher, wir gingen nun schon wieder hangab. Dreißig oder vierzig Meter unter uns lag die grüne Straße wollte der Alte vielleicht allein darüber hinwegspazieren? Oder wollte er mich vorschicken? Vielleicht sollte ich mit meiner MP Feuerschutz für den Über-
gang des MG-Zuges geben? Links von ihm gehend, deckte ich ihn schon mit meinem Leib. Aber das war selbstverständlich, ich war ja sein Schutzengel. Anscheinend war auch die zweite Pak jetzt in Stellung gegangen jedenfalls hörten wir es öfter als vorher aufbellen. Aber was konnten sie denn erreichen? Wir kamen hundert Meter von der Mühlwiese entfernt an die Schneise. Von einer Tanne gedeckt, beobachtete der General das Gebäude. Die grüne Straße lag vom Mühlengiebel her haargenau in der Schußrichtung; sie war ungefähr zwanzig Meter breit. Die Mühlwiese war größer, als ich sie von der Straße aus geschätzt hatte. Der eine MG-Zug würde nicht viel nützen, hier mußten zwei angesetzt werden diese Partisanennester erforderten mehr an Aufwand, als sie wert waren. Und wenn man zupackte, waren sie leer wie alte Wespennester. Anders würde es uns auch hier nicht ergehen, schließlich hatte ich vier Jahre Krieg hinter mir und genügend Erfahrung, um solche Situationen beurteilen zu können, „Kriechen Sie bis zur Spitze vor und übernehmen Sie den Feuerschutz, Unteroffizier“, sagte der General, und ich wiederholte: „Jawohl, Feuerschutz übernehmen, Herr General.“ Feuerschutz mit einer MP! Ich tastete nach meinem Brotbeutel. Hundert Schuß Munition hatte ich nur bei mir, hundert Schuß! Ich schlich von Baum zu Baum, ein Tier. Die Leute vom MG-Zug waren höher hinauf gestiegen. Offenbar hatte ihnen niemand befohlen, vorsichtig zu sein, es klapperte und rasselte, als kletterten da eiserne Skelette umher, als klingele eine Herde Kühe durch den Wald. Kühe? Das waren andere Zeiten
gewesen… Plötzlich pfiff es von der Mühle her. Sie schossen verdammt gut. Wenn ich mit der MP hinüberreichen wollte, mußte ich bis zum vordersten Baum kriechen. Aber auf das rotschopfige Mädchen .schießen auf ein Mädchen! Verdammt, es schoß doch auf mich. Weil es sich, weil es sein Vaterland verteidigen wollte. Wie kam ich nur auf solche Gedanken! Ich? Die Gedanken waren einfach da. Sie sagten mir, daß ich gar kein Recht habe, hier zu schießen aber ich mußte doch die hinter mir decken, deren Schutzengel war ich doch… Ich sah zurück, der General wollte die Mütze heben, wenn es soweit war. Das Fenster, durch das das Mädchen geschaut hatte, war wieder mit Brettern abgedichtet daneben war ein Loch im Mauerwerk, ein Schießloch wie in alten Burgmauern, und wenn ich nicht irrte, stak das MG darin. Ich visierte das Loch an aber vielleicht saß Simone dahinter! Über mir hockten die Männer mit dem MG. Später erfuhr ich, daß der General einen Melder zurückgeschickt hatte; er sollte die zweite Kompanie heranholen und über die grüne Straße schicken. Jetzt pfiff es wieder von der Mühle herüber. Wenn ich hinter dem Baum vorlugte, um ein Ziel anzuvisieren, lag mein Kopf für die drüben auf dem Teller und dort lag Simone. Simone! Ich hatte sie doch nur einmal gesehen, aber sie ging mir nicht aus dem Kopf. Als das MG schwieg, blickte ich zurück, der General hob seine Mütze. Ich schoß, aber ich mußte mit meinen Patronen haushalten. Auch das MG rasselte einen langen Stoß hinüber. Ich sah Mauerwerk aufstauben. Ge-
nau in das Mauerloch zielte ich. Zielte, aber ob ich mit der MP hinüberreichte? Einen Feuerstoß nach dem anderen schickte ich zur Mühle. Hinter mir schrie einer. War es vielleicht der General? Ich sah zurück. Zwei Leute lagen mitten auf der grünen Straße die Kugeln von drüben waren schneller als Menschenbeine. Noch einen Feuerstoß, noch einen, noch einen und nun das letzte Magazin. Ich kroch zurück. Beim General ar gelangt, sah ich vier von den Leuten in der grünen Straße liegen einen mitten im Bach, den Schlitten vom MG neben sich. Das Wasser strudelte über ihn hinweg. Wenn er noch nicht tot war, so wie er da lag, das Gesicht nach unten, mußte er in dem zwei Hand hohen Wasser ertrinken. Retten konnte ihn niemand; in der Mühle paßte man auf. Der General hatte auch diesmal sein Monokel nicht verloren; er stand mit dem Rücken an einer übermannsdicken Tanne und befahl jeden der Leute einzeln hinüber. Das schwere MG war drüben, doch der Schütze lag im Gras, der mit dem Schlitten im Wasser. Mehrere Leute mit Karabinern sollten jetzt Feuerschutz übernehmen mit Karabinern! Ich hatte Schlachten mitgemacht, war hinter Panzern hergelaufen das hier war doch nur eine Spielerei. Und trotzdem da saßen zehn, fünfzehn Männer in einer Steinburg und säuberten allmählich Straßen und Wald von den von uns, von uns. In der Nacht fuhren wir zurück. Der General mußte das Monokel selbst im Schlaf tragen! Die Mühle Le
Pavillon war unbesiegt geblieben, die Brücke unpassierbar. Ich hörte später, daß man in der Nacht über die Brücke und die Wiese gekommen war und die Mühle erobert hatte natürlich war sie leer gewesen. Drei Tage später wurde eine Kraftwagenkolonne dort zusammengeschossen… Das war der Kampf im Maquis. Der General verlor dabei nicht einmal sein Monokel, die beiden Kompanien aber hatten zehn Verwundete und zwei Tote, den im Wasser und einen bei der zweiten Pak, er war nicht schnell genug hinter das Schutzschild gekommen. Ob jemand die Gräber fand, sie pflegte, im Wald an der Mühle Le Pavillon? Diese Überlegungen sind mir erst später gekommen, viel später. Im Juli Vierundvierzig war ich noch Soldat. Doch seit diesem Tage war ich nicht mehr froh, den Druckposten bekommen zu haben. Auf der Rückfahrt sagte der General plötzlich: „Sie sind doch Tischler?“, und als ich mein „Jawohl“ heraushatte, fragte er, ob ich den kleinen Schrank in seinem Zimmer schon gesehen hätte. Ich hatte ihn gesehen. Es war ein Stück alter Handwerksarbeit, eine Art kleine Truhe, früher nahm man so etwas wohl mit auf die Reise. Sie war zierlich gearbeitet, mit vielem Schnitzwerk, und wenn man den Deckel hob, fiel die Vorderseite herunter und gab mehrere Schübe frei. „Können Sie mir so was bauen, Unteroffizier?“‘ „Jawohl, Herr General.“ „Überlegen Sie es sich, hätte meine Freude daran. Das Stück in meinem Zimmer gehört dem Schuldirektor, das kann ich nicht - haben.“
„Nicht haben“ hieß soviel wie „nicht mitnehmen“ er wohnte bei vornehmen Leuten… Zwei Tage später er war bei seinem täglichen Vormittagsspaziergang vor einem Möbelgeschäft stehengeblieben kam der General wieder darauf zu sprechen. Ich sagte, daß ich mich anderntags darum kümmern würde ich hätte es schon vorher tun können, aber ich hatte nicht gewagt, zu Jean Lebrun zu gehen, ich wußte selbst nicht, warum. Vielleicht war es, weil ich dann Simone wiedergesehen hätte. Es war übrigens Sonntag. Bei unserem Spaziergang kamen wir auch zum Marktplatz, auf dem eine Gruppe Franzosen spielte, „Boule“ oder wie dieses eigenartige Spiel mit den Kugeln hieß. Den General interessierte das Spiel, vielleicht wollte er auch Sympathien erwerben Generäle sind doch auch Menschen, nicht wahr? Vorgestern hatte er zwei Mann in den Tod geschickt, zehn ins Lazarett, und wie vielen er noch befohlen hatte zu sterben, wer wußte es. Schließlich war Krieg! Und warum war Krieg? Es wäre vielleicht besser für mich, wenn ich nicht soviel Zeit zum Überlegen hätte. Wenn man bis zum Hals im Dreck steckte, fragte man nicht soviel, und es war nicht gut, zu fragen. Ändern jedenfalls konnte man dadurch nichts. Nicht denken, Gottfried, nicht denken, du bist Soldat. Der General wollte beim „Boule“ - Spiel zuschauen, und die Männer, als wir näher kamen, nahmen ihre Kugeln und gingen weg. Sie schauten auf die Uhren und nickten einander zu und schlenderten davon, die Zigaretten hingen schief im Mundwinkel, die Hände staken in den Taschen. Ganz gemächlich gingen sie.
Der General verzog keine Miene; vielleicht hatte er das auch verlernt, vielleicht war er doch kein Mensch mehr, obwohl er einen kleinen Schrank haben wollte. Vor ein paar Tagen hatte er zwei Leute in den Tod gehetzt – sinnlos! Und er hatte das Gesicht nicht verzogen. Das Monokel saß wie eingewachsen vor seinem Auge. Warum sollte er jetzt das Gesicht verziehen, weil ein paar Franzosen bei seinem Näherkommen mit dem Spiel aufhörten? Er war General, er gehörte zu den Siegern, und er hatte den Befehl, hier unten für Ordnung zu sorgen. Er hatte für Ordnung gesorgt, er würde es weiter tun. Hier konnte er noch für Ordnung sorgen, aber was war da oben, in der Normandie? Die Engländer und Amerikaner waren schon vierzehn Tage an Land, nun würde sie wohl keiner mehr in den Kanal werfen! Und im Osten? Begradigungen an der Front und wieder Begradigungen, und der Russe sorgte dafür, daß die begradigten Fronten bald neu zu begradigen waren. Vor ein paar Tagen nun das Attentat auf ihn auf ihn… Und wir saßen hier unten in Südfrankreich, im „Maquis“, zwischen den Franzosen, die geruhsam Boule spielten und ebenso geruhsam ihren Aperitif tranken und manchmal Transporte von den Straßen schössen und Züge sprengten. Wieviel Männer mußte der General als gefallen melden, wenn er das Ritterkreuz haben wollte? Aber das hatte er ja schon. Daß die Franzosen vor ihm weggegangen waren, hatte den Alten offenbar doch verschnupft, wenn er es sich auch nicht anmerken ließ. Von nun an suchten wir nur noch am Nachmittag die Stadt auf, und die Boule-
Spieler interessierten uns nicht mehr. Es war dann auch schon ein wenig kühler. Hier unten schien es weder Wolken noch Regen zu geben, nur blauen Himmel und Sonne. Es war eben ein Unterschied, ob man an der Ostsee lebte oder dicht am Mittelmeer, hier blühten schon Orangenbäume, und im Maquis hatte ich Bambus gesehen. Daheim freuen wir uns über Rosen! Als ich noch bei der Kompanie war, hatten wir einen Berg genommen, warum, weiß ich nicht. Vielleicht wußte es niemand. Wir haben dort oben gezeltet, es war ein wunderbar schönes Stück Erde, den Berg hinab glitt eine Welle Gold, halbmannshoher Ginster; wir haben dort oben gelegen wie im Urlaub, wie in den Ferien; und wir haben gehofft, daß man uns vergessen würde. Es gibt viele solcher Winkel hier unten, aber wenn man Uniform trägt und wenn dieser schöne Winkel Feindesland ist, dann hat man nicht viel Zeit für Naturschönheit. Ich hatte von dem kleinen Schrank eine Zeichnung gemacht und war damit zu Jean Lebrun gegangen; es gab noch andere Tischler in der Stadt, doch ich wußte nicht, ob die eine Nichte wie Simone hatten. Jean Lebrun war nicht da. Er sei mit einem Sarg unterwegs beteuerte eine alte Frau, die mit angstweiten Augen auf mich starrte. Er sei nur mit einem Sarg unterwegs… Die beiden an der Mühle Le Pavillon und all die anderen hatte man in eine Zeltbahn gewickelt. Ich bummelte durch die Straßen, stieg die schmalen Gassen hinauf bis zu der Mutter Gottes, die man hier aus irgendeinem Grunde hoch über der Stadt auf einen
Felsen gestellt hatte. Die gekrönte Notre Dame war zweiundzwanzig Meter hoch und aus Eisen gegossen. Die Stadt hatte noch mehrere solcher Besonderheiten: eine Kirche, der Notre Dame gegenüber, auf einem noch steileren Felsen, der wie ein mächtiger Zuckerhut aussah, und einige Kilometer vor der Stadt, einen Sonntagnachmittagsspaziergang weit, befand sich eine Felswand, wo der Basalt steil emporgestoßen worden war; man nannte sie die „Orgelpfeifen“. Dann gab es noch eine Basilika, einen alten romanischen Bau mit Ecken und Bögen und Gärten. Als ich die Höhe erreicht hatte und vor dem sechsekkigen Sockel stand, unter dem Jesuskind) das die Madonna der Stadt zu hielt, sah ich mit einem Male Simone. Wir sahen uns an, um ihren Mund irrte ein Lächeln, ein etwas verlegenes Lächeln, nicht so stolz und sieghaft wie neulich, und ihre Augen waren dunkelbraun, beinahe schwarz, es war die Farbe, die Brombeeren kurz vor der Reife haben können. Sie ging an mir vorbei, sehr langsam, vielleicht war ich schon gar nicht mehr da und das Lächeln war Freude über den schönen Blick in das Tal und auf die Stadt mit ihren ineinandergeschachtelten Häusern, es war der leuchtende Stolz auf die Schönheit der Heimat. Simones Haar war dunkelrot, und das Mädchen in der alten grauen Mühle Le Pavillon, jetzt wußte ich es ganz genau, hatte das gleiche rote Haar gehabt. Sie ging an mir vorbei die Stufen hinab; ich schaute ihr nach, ich mußte ihr nachschauen, und da blickte sie zurück. Zu mir? Zur Mutter Gottes? An diesem Tage hatte es, wie ich am Abend im
Stabsquartier hörte, wieder einen Zusammenstoß im Maquis gegeben. Zwei Polizeikompanien und eine Wehrmachtskompanie hatten die Maquisarden gestellt, der Kampf sollte noch im Gange sein. Im Stab steckte man Fähnchen auf eine Landkarte. Nach dem Abendbrot ging ich in die „Hyazinthe“. Der Wirt wies mit dem Kinn nach dem hinteren Raum. Henry Monstein saß mit seinen beiden Franzosen beim Spiel; an diesem Abend ließen sie ihm noch so viel Francs in der Tasche, daß er ein paar Aperitifs an der Bar bezahlen konnte. „Ich muß wahrhaftig morgen schon raus, ein Schwein holen das Geld ist alle, kommst du mit?“ sagte er, den Branntwein hinuntergießend. „Die einzige Abwechslung neben dem Spielchen.“ Er fuhr immer mit einem LKW und einem offenen Volkswagen weg, vielleicht war es der, den er vor Jahren schon bezahlt hatte, er hatte ein MG bei sich und zwei Mann mit MPs. Es war eben Krieg, und man konnte nicht, wie der Schlächter daheim, mit einem Gitterwagen zu den Bauern fahren. Ich lehnte ab und ging am nächsten Tag zu Jean Lebrun. Er stand steil aufgerichtet in seiner Werkstatt, als ich eintrat; sein Gesicht verfärbte sich. Ich winkte ab, er brauche keine Sorge zu haben. Mit
meinen paar Brocken Französisch versuchte ich ihm klarzumachen, was ich wollte. Als ich ihm die Zeichnung wies, leuchteten seine Augen auf. Oh, den Schrank, den hatte sein Vater gebaut, es war sein Meisterstück. Jean Lebrun sprach etwas Deutsch, er war im ersten Weltkrieg als ganz junger Soldat in deutscher Gefangenschaft gewesen. Ich nahm den Hobel. Meine Hände paßten besser daran als an einen MP-Kolben. Die Späne wirbelten, ich
atmete den herben Duft von trockenem Holz. Dann zog ich den Rode aus, und Jean Lebrun reichte mir eine grüne Schürze Tischler scheinen in aller Welt diese grünen Schürzen zu tragen. Er gab mir ein Brett, und mich überkam eine tolle Lust zu arbeiten. Ich hätte das ganze Brett zu Spänen hobeln können, sinn- und zwecklos, nur um zu hobeln! Ich rührte im Leimtopf, ich prüfte die Schneiden der Messer und Stichel, wog den Schlegel in der Hand. Die Uniform hing an einem Nagel, der Krieg war weit weg, der General auch. Aber wegen des Generals war ich ja hier, er wollte einen Schrank haben. Die Grand’mere mußte uns einen Kaffee machen, Jean Lebrun langte eine Flasche heran der Handwerker war beim Handwerker zu Gast. Alle Tage konnte ich natürlich nicht zu Jean Lebrun gehen, schließlich war ich auch noch der GeneralsSchutzengel. Wir fuhren immer öfter hinaus. Man bereitete einen entscheidenden Schlag gegen die Maquisarden vor. Simone hatte ich zweimal in der Tischlerei gesehen. Sie war zunächst erschrocken. Selbstverständlich, eine Frau mußte erschrecken, wenn sie plötzlich einem deutschen Soldaten gegenüberstand. Aber beim zweiten Besuch kam sie schon lächelnd in die Werkstatt. Sie blieb neben mir stehen, und ich hatte Mühe, ihren Duft, ihr Parfüm atmend, ruhig zu bleiben. Ich war verlobt gewesen, früher, vor dem Krieg, meine Verlobte hatte einen anderen kennengelernt, und ich war damals froh gewesen, daß der Krieg kam… Und nun war hier Simone Gruteau. Sie sprach etwas Deutsch, und
sie sagte mir, sie sei erstaunt, einen Deutschen bei einer so friedlichen Beschäftigung zu sehen. Sie meinte, bei solcher Tätigkeit sei ich ihr wesentlich angenehmer. Ich fragte, ob sie mich schon bei einer anderen gesehen hätte. Sie lachte, oft habe sie mich gesehen, ich heiße der Schutzengel des Generals. Bei den Franzosen also auch! Wir müßten doch sehr viel Angst haben, sagte sie, oder ob der General meine, er könne gekidnappt werden. Dazu suche man sich unschuldige Babys aus oder hübsche Mädchen; für den Herrn, der wie eine Bohnenstange daherspaziere, bekäme man sicher kein Lösegeld. Jean Lebrun ermahnte Simone, nicht so frech von meinem Herrn General zu sprechen; ich beruhigte ihn. Hell lachend und sich in den Hüften wiegend, fragte Simone, ob der General ein Korsett trage, er halte sich so, als sei er eingezwängt. Dann lief sie hinaus, ein frecher roter Wirbelwind, und neben dem Geruch trokkenen Holzes blieb der Duft ihres Parfüms schweben. Der General mußte nach Bordeaux. Ich hatte sozusagen Urlaub, denn ich hatte keine neue Aufgabe erhalten. Im Stab traf ich Henry Monstein über die Karte gebeugt, er wollte wieder über Land fahren. Vom Stabszahlmeister bekam er eine Handvoll großer Francnoten hingeblättert. Er hatte seine Einkäufe bar zu bezahlen. Wieder lud er mich ein, aber ich ging zu Jean Lebrun hinüber. Die Arbeit an dem Schränkchen lockte, und Simone lockte, und sie schien sich auch zu freuen, mit mir schwatzen zu können. Der Krieg fand am anderen Ende der Welt statt… Simone stand am Fenster, als Henry mit seinen beiden
Wagen abfuhr. Jean Lebrun war nicht zu Haus. Er sei über Land gefahren, sagte Simone; wir waren allein. Plötzlich wurde Simones Gesicht hart ein ganz anderes Gesicht, als wenn sie mit mir sprach. Ich blickte auch zum Fenster hinaus und sah Henry vorbeifahren. „Ihr Kamerad?“ fragte Simone. Ich nickte. „Ihr Freund?“ Ich hob die Schultern. Wir kannten uns lange, man lebte zusammen, man war Kamerad, war Freund, aber es gab nichts, was uns verband. „Er spielt“, sagte Simone, „mit schlechten Franzosen, spielt um viel Geld.“ Das wußte sie auch! Nun ja, in der kleinen Stadt sprach sich so etwas wohl schnell herum. „Er hat viel Geld haben Sie auch viel Geld, Monsieur Gottfried?“ Sie hatte recht, Henry hatte viel Geld; er mochte es den Franzosen abgewinnen. „Schlechte Franzosen“, wiederholte Simone. „Haben erst Geld, seit die Deutschen hier sind.“ In ihren schwarzbraunen Augen funkelte es. „Monsieur Jean ist dann auch ein schlechter Franzose“, sagte ich. Und doch Simone fuhr herum, zürnte mich an: „Nein!“ Ich sagte lächelnd: „Mademoiselle Simone spricht auch mit einem Deutschen.“ Heftig wandte sich Simone zurück, die Augen glühten groß und blank, die Hände hatte sie zu Fäusten geballt und vor die Brust gehoben es sah aus, als wolle sie auf mich losgehen. „Monsieur Jean ist ein guter Franzose, ein sehr guter, und ich weiß, was ich bin, und was Monsieur Ricord und Monsieur Tritignant sind, weiß das kleinste Kind in der Stadt - Kollaborateure!“ Sie sprach stockend, so aufgeregt war sie. „Monsieur Henry ist auch ein schlechter Mensch.“ „Und ich? Bin ich auch ein schlechter Mensch?“ frag-
te ich. Simone ließ die Hände sinken, sie lächelte. „Sie?“ fragte sie und sagte dann: „Un ami ein Schutzengel. Au revoir“, und hinaus war sie. Minuten später fuhr Simone mit ihrem Fahrrad davon. „Un ami ein Schutzengel.“ Das eine hatte zärtlich geklungen, und in ihren Augen war Zärtlichkeit gewesen, und das andere hatte sie spöttisch gesagt, und in ihren Augen hatte Spott gefunkelt. Eine Viertelstunde später kam Henry Monstein zurück, den Volkswagen im Schlepp des LKW eine Panne. Zwei Tage später, der General war noch nicht zurück, bat mich Henry wieder, mitzukommen; er müsse hinaus, auf jeden Fall, und außer den beiden Fahrern könne er niemand auftreiben. Nun schön, eine kleine Fahrt durch den Sommer war auch angenehm. „Nimm deine MP mit“, sagte Henry. Das mußte ich sowieso, fragte aber: „Zum Vieheinkaufen?“ Ich mußte noch schnell zu Jean Lebrun hinüber, der auf mich wartete. Er bekam kleine Augen, als er hörte, ich wolle mit Monsieur Henry fahren. „Nicht gut“, meinte er und wies auf unsere Arbeit. Ich überlegte: Wie genau die Franzosen uns doch kannten, obwohl sie kaum Verkehr mit uns hatten, und das „nicht gut“ Jeans schien durchaus nicht auf unsere Arbeit gemünzt zu sein. Wir fuhren. Es war ein herrlicher Tag. Der Himmel, ein großes dünnseidenes Tuch, von einem Wind, der gar nicht wehte, über die Landschaft gehoben, war so blau, daß die Augen weh taten, wenn ich hinaufschaute. Die Sonne leuchtete viel heller als in der Heimat die
Heimat, zweitausend Kilometer war sie entfernt. Es hätte eine schöne Fahrt sein können ohne die Uniform und ohne die MP. Ich verlor mich wieder in Gedanken und ich wollte nicht denken. Es war gefährlich, wenn ein Soldat zu überlegen begann, was er hier unten, nahe dem Mittelmeer zu suchen hatte, zweitausend Kilometer von seiner Werkstatt entfernt, zwischen Franzosen, die schlecht waren, weil sie mit Deutschen spielten, und anderen Franzosen, die gut blieben, obwohl sie sich auch mit Deutschen abgaben. Verteidigten wir hier Deutschland? Der Führer hatte es als den großen geschichtlichen Auftrag der deutschen Nation bezeichnet, Europa neu zu ordnen und die Neuordnung war ein Krieg geworden, der nun schon das fünfte Jahr währte, und es sah gar nicht danach aus, als würden wir mit dieser Neuordnung zu Ende kommen. Und wir saßen hier unten in Südfrankreich und lebten so, als gäbe es keine begradigten Fronten und keine Luftangriffe auf deutsche Städte. Wir machten unseren Kleinkrieg, ich, Henry, die beiden Kraftfahrer, der General und für jeden von uns sah dieser Krieg anders aus. Er hieß sattes Leben, und er hieß Sterben, es gab hundert oder tausend Möglichkeiten und wir hatten uns damit abgefunden. Bei Jean Lebrun in der Werkstatt war auch einmal davon gesprochen worden. Jean hatte gesagt, wir Deutschen seien komische Menschen, eigenartige, wir kämen mit Gewalt in ein fremdes Land und seien verwundert, daß man nichts von uns wissen wolle; aber wenn in einen Körper Gift käme, wehre sich dieser dagegen. Vielleicht war es so nur, daß wir Gift seien,
wollte ich nicht wahrhaben, damals. „Mach dich fertig“, sagte Henry. Ich schrak auf, sah mich um. Abseits der Straße mitten in der weiten flachgehügelten Landschaft lag ein einzelner Hof. Einen Kilometer weiter erblickte man die Hausdächer des Dorfes. „Wir werden einen kleinen Sturmangriff machen müssen“, sagte Henry. Ich sah ihn verständnislos an. „Wie meinst du das?“ fragte ich. „Stell dich nicht so an hast doch eben selbst gehört, daß wir von da drüben beschossen worden sind. Ein Partisanennest, man hat uns überfallen. Wir müssen uns verteidigen. Sie stecken da in dem Hof.“ Vielleicht war ich sehr dumm. Die beiden Fahrer grinsten. Henry stand breitbeinig im Wagen und gab einen Feuerstoß auf den Bauernhof ab. Es antwortete niemand, die Schüsse verhallten in der sommerlichen Weite. Wir fuhren näher, immerfort schießend. Ich war aufgestanden, hatte entsichert es war doch Blödsinn, was wir taten. Wenn dort drüben Maquisarden saßen, rasierten sie uns von dem glatten Weg herunter. „Laß doch den Unsinn!“ rief ich. „Quatsch nicht, schieß lieber, da rennen schon welche los, einen Feuerstoß drüberweg, umzulegen brauchst du keinen“, bestimmte er. Wir fuhren bis an den Hof. Henry schoß immer noch. Die Leute waren davongelaufen. Man wußte hier, wie viele schon auf diese Art abgeschossen worden waren, um nichts und wieder nichts. Ganze Dörfer waren verbrannt worden, und die Menschen darin waren auch verbrannt. Bisher hatte ich noch nie damit zu tun gehabt, es waren die anderen gewesen, die SS, und nun…
Henry lachte über mein Gesicht. Der Hof war leer. Wir gingen in die Ställe, fesselten ein Kalb und ein junges Rind, zogen ein Schwein heraus. „Paß auf, daß keiner kommt“, wies Henry mich an. Ich ging um den Hof. Der Himmel war noch so blau wie vorher, und die Landschaft so schön, aber irgendwo kauerten Menschen in furchtbarer Angst.
Die aufgeregten Tiere wurden auf den LKW verladen. Henry und einer der beiden Kraftfahrer holten Gemüse aus dem Garten und Kartoffeln aus dem Keller. Nach einer knappen Stunde war die Arbeit erledigt Henry hatte eingekauft. Vor der Stadt hielt er noch einmal an. Er zog die Brieftasche, die prall war von den Francs, die ihm der Zahlmeister gegeben hatte. Die Kraftfahrer bekamen jeder zweitausend Franc, mir wollte Henry dreitausend zuschieben. Ich lehnte ab. Henry sah mich mit kleinen Augen an. „Mach keinen Quatsch, Gottfried. Wir haben das Vieh reell eingekauft, hier ist die Quittung des Bauern.“ Er zog einen Schein aus der Tasche, der Zettel war unterschrieben. „Aber“, begann ich. Der eine Kraftfahrer sagte: „Du
willst doch nicht etwa behaupten, daß Feldwebel Monstein und wir das Vieh gestohlen haben? Die Unterschrift stimmt, und ich fahre deinen General jede Stunde zu dem Bauern, dessen Unterschrift das ist und bei dem wir eingekauft haben.“ Henry zündete sich eine Zigarette an. Das war das Geld, das Henry in der „Hyazinthe“ verspielte, mit dem er gewann! Ich begriff: Henry konnte den Schein mit der Quittung vorweisen, gab ihn beim Stabszahlmeister ab. Es gab einen Bauern, der ihm die Unterschrift gab, vielleicht kaufte er bei ihm auch wirklich ein. In der Stadt angekommen, erfuhr ich, daß der General aus Bordeaux zurück sei. Ich hatte ihm verschwiegen, daß ich im Fenster der Mühle Le Pavillon Simones roten Haarschopf entdeckt halte, und ich verschwieg ihm auch, wie Henry einzukaufen pflegte. Ich war der Schutzengel des Generals, der Schutzengel Simones und der Schutzengel Henrys nur ich selbst hatte keinen. Am Abend ging ich zu Jean hinüber. Er hatte Besuch. Fünf Männer waren da und auch Simone. Jean goß mir einen Aperitif ein. Er sagte, es seien Freunde und sie feierten ein wenig. Ich ging mit Simone in den Garten hinter dem alten Haus. Wir blickten zur Notre Dame hinauf, wo wir uns zum erstenmal richtig angeschaut hatten. Simone trällerte ein Lied. Ich schwieg, und sie fragte, was mit mir sei. „Es gibt schlechte Menschen“, sagte ich. „Es wäre besser, wenn es keinen Krieg gäbe“, erwiderte Simone, „dann würden viele schlechte Menschen
wieder gute Menschen sein. Der Krieg macht alle schlecht.“ „Sie nicht, Mademoiselle Simone.“ „Wer sagt Ihnen das, Monsieur Gottfried? Wenn der Krieg mir an die Haut kommt, werde ich auch böse. Und der Krieg, das seid ihr, die Deutschen.“ Sie sagte es, wie kleine Mädchen über den Krieg sprechen, so kam es mir vor. Ich erzählte ihr, daß ich vor Tagen an der Mühle Le Pavillon ein Mädchen gesehen habe, dessen Haare genau so granatrot gewesen wären wie ihre, außerdem hätte es mit einem MG schießen können. „Le Pavillon?“ fragte sie, das Gesicht abgewandt. „Was ist das? Haben Sie da mit Monsieur Henry Mehl geholt?“ „Nein“, sagte ich, „wir hatten da ein Rendezvouz mit Macuisarden, sie haben zwei von uns totgeschossen und zehn ins Lazarett geschickt.“ Simone trug dasselbe feine Lächeln ein um den Mund wie die Notre Dame auf dem Fels über der Stadt, die Madonna aus achthundertfünfunddreißig Tonnen Eisen lächerlich, so ein Vergleich. Simone war ein Mensch aus Fleisch und Blut, sie wog bestimmt keine sechzig Kilo… Sie sagte: „Man wird es bedauern, zwei Menschen totgeschossen zu haben. Wenn die Franzosen bei Ihnen wären, so wie Sie bei uns sind, würden Sie es auch bedauern, Monsieur Gottfried, zwei von den Eindringlingen totzuschießen.“ Sie sagte das, als spräche sie von den Blumen im Garten oder von sonst etwas. „Der eine macht den anderen schlecht wenn es schlecht ist, seine Heimat zu lieben.“ Sie lächelte.
Als wir wieder hineingingen, war der Besuch fort. Jean goß mir noch einen Aperitif ein. Simone begleitete mich bis an die Tür. Sie war mir ganz nahe. „Bon soir Schutzengel“, sagte sie. Ich ging in die „Hyazinthe“, es war ein gewohnter Weg. Der Wirt wies zum Hinterzimmer; er stellte eine Flasche Rotwein und drei Gläser auf ein Tablett und trug es nach hinten. Henry hatte heute ein gutes Geschäft gemacht und außerdem das Geld gespart, das er sonst seinem seinem Diebesgenossen geben mußte. Ich goß meinen Aperitif hinunter, er schmeckte bitter. Das war auch eine Art des Krieges! Ich hatte Kameraden gehabt, die über den Dreck fluchten, in dem wir alle steckten, und einige waren zu den Russen übergelaufen. Sie wurden für tot erklärt, sie waren keine Deutschen mehr. Aber gestohlen und gemordet um des Geldes willen das hatte noch keiner; das hatte ich noch nicht erlebt. In dieser Nacht fand ich, daß von dem ganzen großen Heidengeschrei und von dem geschichtlichen Auftrag, Europa neu zu ordnen, verdammt wenig übrigblieb, beinahe weniger noch als von dem, was wir einmal erobert hatten. Wer hatte eigentlich recht, der General? Oder Henry? Oder die zu den Russen Übergelaufenen? Manchmal hatten die Funker schon den englischen Soldatensender herangeholt natürlich nur, um über dessen Lügen zu lachen… Ich war immer allein gewesen vielleicht weil ich nach meinen Verwundungen stets zu anderen Einheiten gekommen war. Ich hatte keinen richtigen Freund und keinen Kameraden gehabt in all den Jahren. Im Stab war ich überhaupt nur der Generals-
schutzengel, und für Henry war ich wahrscheinlich ein Idiot. Vielleicht hatten die recht, die sagten, das ganze System sei Wahnsinn. Mein Vater hatte es bei meinem letzten Urlaub auch gesagt. Aber gab es denn für einen Deutschen überhaupt die Möglichkeit, sich von ihm zu trennen? Ich hatte wohl kaum zwei Stunden geschlafen, als ich geweckt wurde. Der General wartete schon. Im Morgengrauen verließen wir die Stadt, die große Aktion gegen die Maquisarden war im Gange. Ich wußte davon weniger als die Männer in den Einheiten, obwohl ich beim General war. Wir kamen an eine Gendarmeriestation. Das weißgekalkte Haus leuchtete in der Sonne. Vor der Station breitete sich eine Wiese eine weißgoldene Flut von Margeriten. Zu Haus gab es so etwas nicht. Ich saß vor der Station auf der Bank und träumte über die Margeriten hin. Mir kam der Gedanke, einen Strauß für Simone zu pflücken ob sie sich freuen würde? Sie hatte „un ami“ zu mir gesagt. Irgendwo in den Bergen lag ein altes Schloß, dort sollte das Hauptquartier der Maquisarden sein. Wagen kamen. SS-Führer. Ich stand auf, ging hinter das Haus und blickte über die Felder zu den schwarzen Bergen hinauf, die in weitem Bogen von unseren Einheiten umstellt wurden. Gerade kam eine motorisierte Batterie ach was, es waren die beiden Paks von Le Pavillon, die durch das Dorf kamen. Hinter dem offenen Fenster schnarrte die Stimme eines SS-Offiziers. „Der Kopf der Bande soll ein Handwerker sein, Kommunist natürlich, was sonst. Und ein
Mädchen man nennt es ,Notre Dame rouge’, die ,rote heilige Jungfrau’“, er lachte auf. Ich sah Simone neben dem Denkmal stehen, hoch über der Stadt, der Wind spielte mit den Flammen ihres Haares. Und der Anführer der Maquisarden war ein Handwerker Jean Lebrun war Handwerker! Jean und Simone. Ich mußte wieder an Le Pavillon denken. „Wir vermuten, daß sie in der Stadt sitzen. Vielleicht sind es Ihre Nachbarn, Herr General. Ihre Leute verkehren zu viel mit den Franzosen ich weiß, es ergibt sich so, wenn man länger an einem Ort liegt. Es sind auch nur Gedanken, Herr General, Gedanken, die man einmal so äußert.“ Der General antwortete heftig: „Sie wollen hoffentlich nicht sagen, daß meine Leute sich zur Spionage verleiten lassen, es sind alles alte Soldaten! Oberleutnant“, er meinte seinen Adjutanten, „lassen Sie, wenn wir zurück sind, feststellen, wer engeren Verkehr mit Franzosen hat.“ Ich saß ganz still, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf in den Händen. Der Zahlmeister verkehrte mit einer Französin, Henry hatte seine Spieler, die Offiziere des Stabes trafen sich auch gelegentlich mit Franzosen, mit Französinnen; in den Cafes und Restaurants begegnete man sich, ich ging zu Jean Lebrun, und der General wohnte in der Villa des Schuldirektors. Er aß zuweilen gemeinsam mit der Familie aber das war natürlich eine Art standesgemäßer Verkehr. „Wir haben jetzt Verbindung mit einem Makler aufgenommen. Es kann sein, daß wir die Galgenvögel schnell in die Hände bekommen, wenn wir es nicht heute schon schaffen.“
Melder kamen und gingen, auf dem Hof bauten sich Funker auf. Die Paks fuhren gegen den Wald wahrscheinlich strebten jetzt von allen Seiten Kolonnen gegen den schwarzen Berg dort hinten. Bei den . früheren Einsätzen hatte mich das immer interessiert. Ich halte auf die Karten geschaut, um den Verlauf der Aktion zu beobachten. In vier, fünf Jahren wird man interessierter Soldat… Jetzt saß ich schläfrig in der Sonne und rauchte. Manchmal wurde ich von hastig umherlaufenden Meldern und Funkern aufgesehreckt. Ganz weit weg standen winzigkleine Wölkchen im blauen Tag, aber ein richtiges Gefecht schien nicht in Gang zu kommen. Der Wald war, wie überall hier, sehr dicht, ein Urwald fast. Es war schwer, den Gegner darin zu finden. Gegen Mittag wurde bekannt, daß eine Polizeikompanie, die zehn oder zwölf Kilometer entfernt halbrechts vorging, auf einer Waldstraße angegriffen worden sei. Sie war dem sagenhaften Schloß näher als wir. Ich hatte das Gefühl, daß Blinde gegen einen sie mit tausend Augen beobachtenden Gegner vorgingen. Wir nahmen an, der Feind sei da beim Schloß, aber er konnte längst schon zwischen den einzelnen Umfassungskompanien durchgeschlüpft sein, und wenn er stark genug war, konnte er uns sogar in die Zange nehmen. Aber vielleicht ging das ganze Rennen, zu dem wir etwa fünfhundert Mann auf die Beine gebracht hatten, um hundert Menschen oder um zweihundert oder auch nur um fünfzig. Am Nachmittag fuhren die SS-Offiziere wieder weg. Ich hörte noch, daß sie zu der angegriffenen Polizei-
einheit wollten, weil diese näher an dem Schloß liege. Ich habe dieses Schloß nie zu sehen bekommen. Das Gesicht des Generals war versteinert. Er konnte die mit den Runen auf dem Kragenspiegel nicht leiden, das wußte ich, aber sie hatten wenn nicht mehr zu bestimmen, so doch bessere Beziehungen nach oben. Der General hatte schmale Lippen. „Polizeischnüffler Intriganten. Hätten Schlächter werden sollen. So was steckt in Uniform.“ Der General sagte das niemandem, niemand antwortete ihm. „Die Auserwählten eine Clique von Mördern…“ Der Oberleutnant und ich wußten, wen er meinte. Aber hatte er nicht selbst Menschen getötet, töten lassen?… Der General lachte auf. „Vielleicht ist unser Monsieur le Directeur ein Agent der Maquisarden…“ Der Oberleutnant verzog den Mund. „Wissen kann man es nicht.“ Das Monokel blitzte ihn an. „Oder Mademoiselle Irene?“ „Auch das ist nicht unmöglich, Herr General.“ „Und warum schäkern Sie dann mit unserer Haustochter? Übrigens Mademoiselle Irene hat rote Haare.“ „Rotblonde, Herr General, und von einer Notre Dame kann bei Mademoiselle Irene keine Rede sein was das Rouge betrifft.“ Der General gab sich zufrieden. „Sie bleiben hier, Oberleutnant. Ich nehme den Unteroffizier und einen Funker mit, alle fünfzehn Minuten treten wir in Sprechverkehr.“ Er nahm die Zeit. „Vergleichen Sie Ihre Uhr, Oberleutnant wir haben jetzt sieben nach voll. Das ist die Grundzeit, alle fünfzehn Minuten von nun an.“ Der Funker saß beim General im Beiwagen, ich hatte
ein eigenes Krad. Wir fuhren durch das Dort zurück und bogen auf einen jämmerlichen Feldweg ab. Nach kurzer Zeit hatten wir die erste Einheit erreicht. Durch den Wald scholl Gefechtslärm herüber, ein paarmal bellte weit weg eine Pak auf. „Sie treiben die Bande zu uns her“, sagte der General; er sagte auch schon „Bande“. Sonst hatte er jede Bezeichnung für die Maquisarden vermieden. Daß er hier zum Partisanenkampf befohlen worden war, behagte ihm nicht; der Oberleutnant hatte einmal die Bemerkung gemacht, es sei kein Generalskrieg. Jetzt wußten wir, daß dem General ein Handwerker gegenüberstand. Ich mußte an Jean Lebrun denken, ein Tischler gegen einen General, und bis jetzt hatte immer wieder der Tischler gesiegt. Ich war fast etwas stolz auf meinen Beruf, und ich begriff, es war kein ehrlicher Krieg für den General; dazu hatte er nicht dreißig Jahre Soldat gelernt, um nun gegen einen Schuster oder Schneider oder auch Tischler zu verlieren… Die Pak wurde vorgezogen, MGs auf Krädern rollten gegen den Wald, dann kamen Infanteriekolonnen. Obwohl es auf den Abend zuging, brannte die Sonne mit unverminderter Kraft herab. Ganz plötzlich knatterte es aus dem Wald. Wir warfen uns hin. Ein Motorrad brannte, eine grelle Fackel, gelbrot in grüner Wiese. Die Pak bellte in den Wald hinein, die MGs jagten ihre Feuerstöße hinüber ebensogut hätten sie in den blauen Himmel schießen können. Der Waldrücken, vor dem wir standen, war an die tausend Meter lang. Hinter ihm, durch ein Tal getrennt, ein anderer Waldberg. Dort sollte sich das Schloß be-
finden. Wenn oben am Waldrand zwei, drei MGs lagen, würden wir nicht durchkommen. Es gab kaum einen richtigen Busch hier im Tal. Wer von uns aufstand, konnte mit einem Fingerdruck weggeschnippt werden. Wir waren durch halb Europa gekrochen, nach Afrika und nach Lappland – und überall fluchte man uns, selbst in der Heimat. Und die da drüben fluchten uns auch. Und wenn der General jetzt befahl: „Sprung auf, marsch, marsch!“, dann sprangen wir auf, dann liefen wir, rannten, stürmten wir, brüllten „hurra!“, schössen, warfen uns hin, schössen, sprangen wieder auf, und nicht einer von uns würde den Wald erreichen aber wir hätten gehorcht. Und zu Hause gehorchten sie auch. Wir hatten es ja schon in der Schule gelernt. Ich fand in eine Furche geklemmt, die Stiefel des Generals vor meiner Nase, daß diese Gedanken verdammt wenig zu einem mehrfach ausgezeichneten Unteroffizier paßten, aber sie waren nun einmal da, waren da wie die Maquisarden drüben im Wald, wie die beiden Bussarde hoch über uns. Wir konnten hier nicht liegenbleiben. Der General stand auf. Kein Schuß fiel. Langsam gingen die Züge vor, gruppenweise, weit auseinandergezogen. MGs übernahmen den Feuerschutz. Aber nichts geschah. Wir konnten da hinspazieren, als machten wir an einem Sonntagvormittag eine Feldbesichtigung. Die Sonne sank tiefer, die größte Hitze war vorbei. Es war angenehm, so zu laufen. Aber jeden Augenblick konnten wieder Schüsse fallen. Aber es geschah nichts – wenigstens nicht bei uns. Von der anderen Seite kam dann und wann Geschieße herüber. Der General war
verdrießlich. Kein Wunder das war kein Generalskrieg! Das war ein Volkskrieg wie kam ich nur darauf? Wir hatten mit dem Oberleutnant Funksprechverkehr, aber es gab keine neuen Meldungen. „Rose“ hatte Feindberührung, das hörten wir, „Nelke“ hatte noch keinerlei Gegner getroffen, „Tulpe“ meldete ebenfalls kurze Feindberührung. Wir, „Mohn“, wir hatten bisher auch Glück gehabt. Wir erreichten den Waldrand. Vielleicht hatten wir geträumt und waren gar nicht beschossen worden. Es dämmerte, die Aktion ging ihrem Ende entgegen oder wollte der General vielleicht noch in der Nacht durch den Wald ziehen? Er wollte es. Die Männer sahen sich an, bei Nacht durch den Wald? Auf den Berg hinauf? Der General und der Hauptmann von „Mohn“ hockten vor der Karte hier war „Rose“, hier „Tulpe“, dort „Nelke“. „Mohn“ mußte bei Nacht den Berg hinauf, um am Morgen den Talweg zu sichern, über dem das Schloß lag, das „Rose“ oder „Tulpe“ in dieser Stunde zu erreichen hatten. Plötzlich war bei dem äußeren Vorposten unserer Stellung Lärm. Ich schaute mit dem Glas hinüber es war eben hell genug, um alles zu erkennen ich setzte das Glas ab, nahm es wieder hoch träumte ich etwa? Man brachte zwei Personen herbei, einen Mann, einen bärtigen Mann, und eine Frau oder ein Mädchen eine rothaarige junge Frau und einen bärtigen älteren Mann, sie trugen beide Sensen Jean und Simone… Die beiden hatten Gras gemäht, dort drüben unter dem Hang, und sie stammten, wie ihre Ausweise besagten, aus dem Dorf hinter uns. Sie erklärten, sie wären schon frü-
her weggegangen, aber sie wollten die Wiese erst fertig mähen, und sie hätten auch Furcht gehabt wegen des Schießens und natürlich vor den Deutschen; aber nun wieder fürchteten sie, wenn man sie in der Nacht anträfe, wäre es noch schlimmer. Vielleicht hätte man gar auf sie geschossen… Es klang so natürlich, daß man es glauben mußte, glauben konnte und die SSOffiziere waren nicht mehr bei uns, glücklicherweise… Ich stand zwanzig Schritt entfernt, und meine Hände krampften sich zusammen, öffneten sich wieder, schlossen sich wenn jetzt Henry hier gewesen wäre ich hätte ihn erschossen, wenn er den Mund aufgemacht hätte. Die beiden gingen mitten zwischen uns hin, die Sensen auf dem Rücken. Das Mädchen trug einen Korb, in dem wohl das Essen gewesen sein mochte. Sie gingen beide ein wenig krumm, es war ihnen unangenehm, zwischen deutschen Soldaten hinzugehen. Sicher war es unangenehm, und ein paar von den Männern machten freche Bemerkungen über das Mädchen, dem die roten Locken unter dem gelben Kopftuch hervorkringelten. Es hatte eine Bewegung nach der Haarsträhne gemacht, die nur einer kannte ich, und ich
wollte Simone nicht an der Mauer stehen sehen! Ich ließ mich auf die Knie fallen, als sie vorbeigingen, öffnete meine Feldflasche und hob sie an den Mund; so konnte ich, ohne daß es auffiel, Simone anschauen, ihr nachblicken ich hätte ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre sie erkannt und an die Mauer gestellt worden ich hätte irrsinnig um mich geschossen… In der Nacht stiegen wir auf den Berg, Mann um Mann verschwand im dichten Wald, als würde er in ein geheimnisvolles Schattenreich aufgenommen, aus dem es kein Wiederkommen gab. Hier waren die letzten fünftausend Jahre Geschichte nicht mehr wahr. Jeder Laut fiel weg und war versunken, ehe er ausgesprochen oder gehört werden konnte. Leibhoch stand der Farn, dazwischen lagen von Zeit und Wetter gestürzte Baumriesen. Wenn man darauf trat, gab das morsche Holz nach, vielhundertjähriges Leben verging in weißem Staub, und man stolperte über sich selbst weiter, in eine Hecke hinein, zerschrammte Gesicht und Hände, zerriß sieh das Zeug an wildem Dorngestrüpp, wurde zerrend festgehalten, riß sich los, stolperte weiter. Oder man trat auf eine weiße Steinplatte, rutschte ab, schlug lang hin, fluchte, platschte in ein Rinnsal, das sich schmatzend um die Füße schloß es war ein unheimlicher Berg. Um uns wurde die Dunkelheit immer furchtbarer: schwarz, lichtlos, lautlos. Manchmal, wenn man anhielt, nach Luft zu schnappen, horchend, wo die anderen Stimmen waren, umkrallte einem die Stille. Es war, als quälten sich nächtliche Tiere den ungeheuerlichen Berg hinauf, der auf hunderterlei Art versuchte sie festzuhalten. Am Tage hatte er wie eine
mächtige Halbkugel auf der sommersatten Erde gelegen. Jetzt krochen wir auf seiner runzligen, zerschrammten, stubbenstoppligen Haut empor. Ich weiß nicht, wie lang wir krochen, wir hatten das Gefühl für die Zeit verloren. Vielleicht schimmerten über uns Sterne, vielleicht hing ein Gewitter am Himmel. Manchmal, wenn wir anhielten und lauschten, hörten wir einen aufgeschreckten Vogel über uns ängstlich in die Finsternis rufen. Dann waren wir oben, auf einem Fleck freier Erde, stampften durch kniehohes Heidekraut. Über uns leuchteten Sterne, herrlich schöne Sterne und vor mir blinzelte das gläserne Auge des Generals. „Tolle Sache tolle Sache“, sagte er, offenbar stolz. Die Männer fielen in das Heidekraut. Wenn Jean und Simone mit ihren Leuten hier herumlagen, sie hätten uns in dieser Nacht zusammenschießen können, doch sie hatten längst den Weg nach Haus angetreten. Ich war irgendwie glücklich… Von drüben, dort, wo das Schloß sein mußte, zischte eine weiße Leuchtkugel in den Nachthimmel, und mit einemmal, als wären wir auf einem Sommernachtsfest, als brenne Lust und Freude in uns, als müßte gleich Musik erklingen mit einemmal flammten auch bei uns die Leuchtkugeln auf, rote, grüne, weiße, ein Feuerwerk begann, zu dem niemand den Befehl gegeben hatte, dem niemand widersprach. Der General saß neben mir im Heidekraut, ich sah sein vom farbigen Leuchten überrieseltes Gesicht lächeln - laß den Jungen ihren Spaß, schien er zu sagen, und mit einemmal war es mir märchenhaft, daß er sein Monokel immer
noch tragen konnte. Dann fiel die Nacht über uns nieder, die Nacht, die Schlaf war. Wir hatten einmal mehr die Maquisarden „gejagt“, und sie waren mit dem heimlichen Lächeln Simones die Stärkeren geblieben, die Listigeren, sie waren zwischen uns hindurchgegangen. Ich wußte, daß ich dieses heimlich lächelnde Triumphieren, mit dem Simone an mir vorbeigegangen war, niemals vergessen würde. Gegen dieses Lächeln waren Generäle, Paks und MGs machtlos, es würde immer siegen… Drei oder vier Tage später fragte der General nach seinem Schrank. Ich hatte es nicht gewagt, zu Jean Lebrun zu gehen, zu dem Tischlermeister, der keiner war. Wie sollte es sein, wenn wir uns gegenübertraten? War er überhaupt noch da? War er so frech oder, besser, so stark, daß er in der kleinen Stadt blieb? Und wenn er nicht mehr da war, mußte ich es dem General sagen. Und dann? Würde man mir glauben, daß ich nicht erkannt hatte, wer Jean Lebrun war? Wohl kaum. Am wenigsten jene, die jetzt in der Stadt auftauchten die SS-Offiziere. Der General drängte: „Möglich, daß wir abgelöst werden, einen anderen Auftrag bekommen. Ich möchte den Schrank mitnehmen.“ Abgelöst? Von den Maquisarden vielleicht, oder von den Amerikanern. Die Kämpfe in der Normandie gingen längst schon darum, wer schneller nach Osten kam, die Amis oder unsere Panzer… Eines Tages würden sie auch hier unten landen. Und vorher wollte der General seinen Schrank haben. Jean Lebrun blickte kaum auf, als ich kam, er arbeite-
te an dem Schränkchen des Generals. Ich zog meinen Uniformrock aus und hängte ihn auf einen Nagel. Jean schnitzte feinfingrig eine Rose für die Vorderseite; ich leimte Rückwand und Schübe zusammen. Manchmal fiel eine Bemerkung über die Arbeit. Plötzlich stand Jean Lebrun auf, er hielt das Schnitzmesser in der Hand. „Was ist los bei euch, Monsieur Gottfried?“ fragte er geradezu, brutal ehrlich. „Ich habe geglaubt, Sie seien ein Spion. Wenn ich gewußt hätte, geahnt, daß Sie dort am Berg waren, wir wären nicht gekommen, wir hätten einen anderen Weg genommen.“ Er atmete auf, streckte mir die Hand hin. „Sie haben uns nicht verraten.“ „Ich habe es nicht getan, und werde es nicht tun, Monsieur Lebrun.“ „Und was wollen Sie tun?“ Er wartete. „Sie sind die längste Zeit hier gewesen. Wir hatten Glück, daß ihr keinen von uns ermordet habt. In anderen Gebieten habt ihr wie die Teufel gehaust. Aber wenn es euch einfällt, mordet ihr noch am letzten Tag. Wir sind nicht stark genug, eurem General ein Ultimatum zu stellen. Wir müssen warten“, sagte er, die Schultern hebend. „Und worauf, Monsieur Lebrun worauf wollen Sie warten?“ fragte ich. „Man erzählte von einem Handwerker und einer Notre Dame rouge wissen Sie das? Die SS ist in der Stadt.“ Jean Lebrun wußte es nicht. Er erschrak nicht, daß er zusammenzuckte, aber er wurde sehr bleich. Ich weiß nicht, was mich drängte, dies zu sagen. So etwas galt als Verrat, und es stand die Todesstrafe darauf. Es war so, als ob ich mich mit jemand über allge-
mein bekannte Dinge unterhielt, ein Schwatz zwischen Kollegen. Ich sagte: „Man wird sich mit Monsieur Tritignant unterhalten, ob er wisse, wer Notre Dame rouge sein könne.“ Jean Lebrun saß schon wieder bei der Schnitzerei. Ein seltsamer Mensch, er war so ruhig, als ginge ihn das alles nichts an. „Wo ist Mademoiselle Simone?“ fragte ich drängend, und er überlegte: „Monsieur Tritignant, der Makler der Kollaborateur, er wird Auskunft geben, wenn er gefragt wird. Er wird später sagen, man habe ihn gefoltert. Er besitzt einen Bauernhof, der Monsieur Tritignant, er unterschreibt für Monsieur Henry die Scheine, damit Monsieur Henry kostenlos einkaufen kann, und am Abend nimmt er ihm das Geld ab. Monsieur Tritignant spielt sehr gut.“ Dann: „Mademoiselle Simone ist nicht in der Stadt, Monsieur Gottfried. Wenn Sie sie sehen wollen, müssen Sie zu ihr hinausfahren. Aber das werden Sie nicht können, leider, dann würde ja der Schrank für Monsieur General nicht fertig.“ Seine grauen Augen warteten vor meinem Gesicht. Ich verstand den Blick nicht. Ich fragte: „Sie kommt nie mehr in die Stadt?“ „Nur um Sie zu sehen, Monsieur? Das ist gefährlich, zu gefährlich wollen Sie Simones Leben aufs Spiel setzen?“ Aber nein nein das nicht, welche Frage! Ich sagte, und vielleicht klang es kleinlaut: „Ich werde sie also nie mehr sehen, nie mehr.“ „Nie?“ fragte Jean Lebrun, über die Rose gebeugt sie war kaum so groß wie eine Daumenkuppe, sehr zart, vielblättrig. Er schnitzte mit der gleichen Sicherheit und Ruhe, mit der er uns am schwarzen Berg genarrt
hatte. „Es liegt an Ihnen, Monsieur. Nur wenn Sie zu Simone gehen, wird es keine Rückkehr für Sie geben. Was ist?“ Die Grand’mere stand in der Tür, wortlos, nur Angst. Jean ging hinaus, und ich begriff langsam: Ich sollte in den Maquis gehen, wie die Kameraden damals zu den Russen gegangen waren. Jean Lebrun traute mir mehr zu als ich mir selbst: Ich sollte in den Maquis gehen, das hieß Jean Lebrun kam zurück. „Es ist besser, Monsieur Gottfried, Sie verlassen dies Haus. Es ist etwas geschehen…“ „Was?“ rief ich fragend, drängte: „Reden Sie, Monsieur Lebrun.“ Er sah mich nicht an. Seine Blicke schweiften zur Wand zurück. „Sie hat mehr getan, als ihr befohlen worden war. Ich habe eben einen Funkspruch bekommen. Monsieur Henry war heute wieder draußen. Ich wußte es. Simone war dort, wo er hinkam, sie sollte es nicht. Ihr Kamerad…“ Ich wehrte mich: „Henry ist nicht mein Kamerad.“ Und Lebrun sagte: „Sie tragen die gleiche Uniform, und solange Sie diese Uniform tragen, gehören Sie dem General.“ Ich wollte das nicht hören, fragte wieder: „Was ist mit Simone?“ Jean Lebrun lächelte. „Sie war schneller als Monsieur Henry vielleicht ist er tot, wenn sie ihn bringen.“ Er stand vor mir, groß, stark, ein Mensch, erfüllt von Liebe, Liebe zu seinem Vaterland, und voll ruhigem, sicherem Haß gegen uns. „Simone lebt!“ sagte ich, fast glücklich. Lebrun nickte, sagte: „Ja aber nun gehen Sie, bitte.“ „Und…“ Ich fragte töricht, unendlich töricht: „Darf
ich wiederkommen?“ Jean hob die Schultern: „Vielleicht ist der Schrank für Monsieur General morgen fertig.“ Die Wagen waren noch nicht zurück. Ich wartete voller Unruhe. Als sie kamen, lebte Henry Monstein noch er starb erst in der Nacht. Simone hatte ihm drei Kugeln in die Brust gejagt. Ein Zufall, daß er nicht gleich tot gewesen war. Der SS-Führer tobte der General tobte. Er nahm sein Glas aus dem Auge, zum erstenmal, seit ich ihn kannte. „Strafexpedition sofort ein Kommando fertigmachen lassen.“ Strafexpedition – Strafexpedition das hieß: Vernichtung des Dorfes, Ermordung der Bewohner, Verschleppung nach Deutschland, und Simone mein Gott, Simone - Simone . Ich war nicht in der Lage, irgend etwas anderes zu denken. Ich hörte den General und den SS-Führer sprechen – mir war, als stände ich unter einer Brücke, über die ein Zug hinwegdonnerte, und Stück um Stück brach hinter ihm alles zusammen, brach alles auf mich nieder. Einmal sagte der General: „Vielleicht ist es zu spät, ich habe den Befehl in der Tasche, hier alles aufzugeben am Tag X.“ Der SSFührer bellte dagegen: „Herr General! Ich beharre auf der Strafaktion! Und wenn wir im Abmarsch wären! Wir können nicht dulden, daß ein Mann von uns heimtückisch ermordet wird, das können wir nicht dulden. Ich verlange, daß die Aktion durchgeführt wird. Es war Notre Dame rouge, die den Feldwebel abschoß. Die Aussagen der Leute bestätigen es. Man sollte diese Leute auch zur Verantwortung ziehen, daß sie nicht gleich das Urteil vollstreckt haben. Ich werde das
Kommando selbst führen. Lassen Sie es bitte sofort au» Ihrem Stab zusammenstellen. Wir haben nicht viel Zeit.“ Der General rief nach mir. „Unteroffizier – Sie begleiten den SS-Obersturmführer.“ Ich riß die Hacken zusammen, sagte: „Jawohl, Herr General.“ Ich ging in meine Stube, nahm meine MP, packte gefüllte Magazine in den Brotbeutel, stopfte einen zweiten voll – ich wollte nicht wieder, wenn ich den Feuerschutz übernahm, zuwenig Munition haben. Das Kommando sollte in einer Stunde abfahren. Ich ging zur Kraftfahrstaffel, ließ mir ein Krad mit Beiwagen geben. „… nein, ich fahre selbst, auf Befehl des Generals, ich fahre den SS-Obersturmführer.“ Ich fuhr das Krad hinaus, fuhr zu Jean Lebrun wir hatten eine Stunde Zeit. Als ich die Schule verließ, brachte man Monsieur Tritignant. Was ich tat, tat ich wie ein Traumwandler. Jean Lebrun wollte mich zurückschicken. Er glaubte mir nicht. So etwas tue der General nicht, er habe es ja noch nie getan. Ich sagte: „Vielleicht nicht vielleicht doch, ich weiß nicht, er ist ein General.“ Ich war immer noch in diesem seltsamen Zustand. Ganz weit weg, oben auf dem Berg, stand Notre Dame rouge und Jean sagte: „Wenn sie das Dorf - wenn
sie das Dorf, die Menschen dort – die sind doch unschuldig.“ Sein Gesicht bekam einen schrecklichen Ausdruck. Ich sagte: „Man hat eben Monsieur Tritignant verhaftet – vielleicht weiß er irgend etwas. Vielleicht ist es aufgefallen, daß Sie so oft unterwegs sind, Jean. Dann wird man Sie in einer halben Stunde abholen.“ Wir hatten bestenfalls fünfundvierzig Minuten Vorsprung, und wir hatten zwanzig Kilometer zu fahren.
Wir kamen zu spät, Simone war schneller gewesen. Einen Kilometer vor dem Dorf; in einem Hohlweg, wurden wir angehalten – es war Simone, sie lag hier mit zwanzig Maquisarden und wartete. Wer in diesen Hohlweg fuhr, kam nicht mehr hinaus, die Bäume an seinem Beginn und seinem Ende waren angesägt. Sie kamen, als die Sonne schon tief stand; sie fuhren wie zu einer Spazierfahrt in den Hohlweg – aber im ersten Wagen, dem des SS-Obersturmführers, lag ein MG feuerbereit. Jean Lebrun hatte befohlen, nur diesen Wagen unter Feuer zu nehmen. Die beiden Bäume am Ende des Hohlweges fielen zu langsam, der Wagen schlüpfte unter dem sich senkenden Gezweig durch. Zehn Meter hinter der Sperre explodierte er und brannte aus – die Männer im Hohlweg verteidigten sich nicht. Jean Lebrun hatte mir verboten, mich zu zeigen. „Es ist nicht nötig, daß man deinen Vater und deine Mutter tötet, weil du nicht mehr töten willst“, hatte er gesagt. Ich stand neben Simone hinter einem Gebüsch und beobachtete alles, mir standen Tränen in den Augen. Simone lächelte, lächelte wieder das stolze Lächeln, das unbesiegbare, stolze Lächeln der Kämpferin. In ihren roten Haaren spielte der Widerschein der Sonne. Die Angehörigen des Stabes durften am anderen Morgen zurückfahren und die Toten mitnehmen, die Waffen behielt Jean Lebrun. Wir warteten, daß der General ein anderes, stärkeres Kommando schicken würde, doch es kam keines. Der General saß in der Stadt, eine verhungernde Spinne in ihrem Netz, und von dem Netz riß Faden um Faden. Vierzehn Tage
später landeten die Amerikaner in Toulon. Jean Lebrun sammelte die Maquisarden des Gebietes und befreite die Stadt, der General hatte seinen Tag X nicht erlebt – die Maquisarden waren schneller, einer von ihnen war ich, und neben mir stand die Notre Dame rouge – Simone…