C. H. Guenter
Das Licht des Bösen
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT 1
1. Mit der Abendflut des 14. April 1709 s...
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C. H. Guenter
Das Licht des Bösen
ERICH PABEL VERLAG GMBH, 7550 RASTATT 1
1. Mit der Abendflut des 14. April 1709 segelte das Linienschiff »Prince Royal« themseaufwärts, um bei den Marinekais östlich von London festzumachen. Der Dreidecker mit seinen neunundneunzig Kanonen kam von weit her. Im Arabischen Meer hatte er Kauffahrer der Westindien-Kompanie gegen Seeräuber geschützt. Nach siebenjährigem Einsatz brachte nun das Linienschiff Ihrer britischen Majestät, Königin Anna, Gold für die Kassen der Krone in die Heimat zurück. Außerdem bedurfte es dringend einer Werftüberholung, und Seeleute wie Offiziere wollten ihre Familien wiedersehen. Kapitän Phineas Adams hatte jedoch andere Gründe, das Schiff so rasch wie möglich zu verlassen. »Lassen Sie mir eine Kutsche rufen!« befahl er dem Ersten Offizier. »Nach London, Sir? Es wird Nebel geben heute nacht.« »Mein Auftrag kann nicht warten.« »Der Lordadmiral ist zu dieser späten Stunde mit Sicherheit abwesend. Außerdem ist morgen Sonntag, Sir.« Mit einer Handbewegung wischte der Kapitän die Einwände seines Ersten Offiziers beiseite. Er mochte diesen feingliedrigen Adligen nicht besonders. Aber nach dieser Unternehmung würde er ihn ja loswerden. Wie es aussah, kommandierte man den Burschen schnurstracks ins Marineministerium ab, wo er dann die Befehle erteilte. Vielleicht sogar über ihn. Deshalb beherrschte sich Adams und sagte: »Ich habe Order für die Königin.« 2
Der adlige Erste Offizier, der sich bei Hofe besser auskannte als der Kapitän, bemerkte: »Dann wenden Sie sich am besten an die Oberhofmeisterin, Sir.« »An die Marlborough?« »Lady Marlborough genießt das Vertrauen Ihrer Majestät.« Der Kapitän hatte es anders vernommen. Doch an der engsten Beraterclique von Königin Anna führte wohl kein Weg vorbei. »Wohl denn«, rief Phineas Adams und steckte das versiegelte Dokument ein, das höchstpersönlich an die Königin, zu ihren Händen und an keinen anderen zu Überbringen war. Als die Kutsche über das Pflaster ratterte, begleitete der I. Offizier seinen Kapitän ans Fallreep. Adams erteilte noch Anweisungen. »Ich verlasse mich auf Sie, Bedford. Urlaub für die Mannschaft erst nach meiner Rückkehr. Übergabe der Ladung an Ihrer Majestät Schatzamt unter Aufsicht von drei Offizieren und gegen Quittung. Sie sind mir dafür verantwortlich. Ich hoffe bis morgen früh wieder an Bord zu sein.« »Wenn Sie, Sir«, sagte der I. Offizier, »meinen Vater Lord Bedford in Buckingham Palace sehen sollten, bitte bestellen Sie ihm, ich sei wohlbehalten.« Mit einem Ruck blieb der bullige Kapitän mitten auf dem Fallreep stehen und wandte sich um. »Wieso Buckingham Palace, wohnt denn die Königin nicht mehr in ...? Hat man denn nicht erst mit dem Bau begonnen?« »Das war vor acht Jahren, Sir. Inzwischen ist der neue Palast fertiggestellt.« Kopfschüttelnd eilte der Kapitän über das schwankende Holzgestell an Land. »Da sieht man wie die Zeit vergeht«, murmelte er und stieg in die Kutsche. Der Nebel verdichtete sich. Dabei überzog er alles mit Nässe.
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Kapitän Adams wußte ungefähr, was das Dokument unter der Jacke seiner Galauniform enthielt. Und das machte ihn stark. Mit aller Energie, die ihm nach neunzig Tagen Sturmfahrt noch übriggeblieben war, setzte er sich gegen den Hofstaat zur Wehr und weigerte sich, selbst dem allmächtigen Lord Marlborough das Dokument auszuhändigen. »Ich muß die Königin sprechen, Sir«, beharrte er, stur wie ein Kanonenrohr. »Ihre Majestät ist unpäßlich.« »Sir«, antwortete Adams, »wir segelten sechstausend Seemeilen weit um Kopf und Kragen, um diesen Brief nach London zu bringen. Ich fürchte, Majestät wird äußerst ungehalten sein, wenn sie erfährt, daß man mich hinderte ihr die Botschaft sofort zu bringen.« Der Diplomat, seit Jahren leitete er die Außenpolitik des Landes, er war erfolgreich, hatte aber auch Feinde, lenkte nun ein: »Von wem ist der Brief, Kapitän?« »Von Lordadmiral Conrads, Sir.« Als Marlborough diesen Namen hörte, verfinsterten sich seine Züge auffallend. Jedem in London war bekannt, daß der Admiral, ein blendend aussehender hervorragender Offizier, für den Anna schon immer eine heimliche Zuneigung empfunden hatte, der Liebhaber der Königinwitwe war. Nach dem Tode ihres Gemahls war die Liebe der beiden voll erblüht. Aber der Admiral hatte nach Indien gemußt, um dort die politischen Pläne der Tories einzuleiten und den Kampf gegen die ausufernde Seeräuberei zu führen. »Von Lord Conrads«, murmelte der Außenminister und versuchte zu lächeln, »das ist, hm, etwas anderes.« Eine Stunde später stand Kapitän Adams vor der Königin. Sie hatte nur ein schlichtes Gewand über ihr Nachthemd geworfen und trug auch keine Perücke. Ihr volles langes Haar schimmerte wie Abendrot. Sie hatte kaum eine Falte in dem schönen Gesicht. Erstaunlich für eine Fünfundvierzigjährige, der 4
das Schicksal so zugesetzt hatte wie Anna von York, der letzten Stuart. Die Königin brach die Siegel, trat mit dem Brief an die Lampe und las. Dabei beobachtete der Kapitän ihr Antlitz. Es verriet nichts. Zu ereignisreich war das Leben dieser Frau gewesen, als daß sie noch etwas zu erschüttern vermochte. Man hatte ihr den Thron streitig gemacht, weil sie den falschen Glauben hatte. Erst nach dem Tod des kinderlosen Wilhelm von Oranien war sie Königin geworden. Sie heirateten den ungeliebten Dänenprinzen Georg. In ihrer Zeit war protestantisch als Staatsreligion eingeführt worden, waren die Niederlande erobert, Gibraltar besetzt, Schottland mit dem Königreich vereint worden. Und nun führte sie Krieg mit Spanien. Plötzlich überraschte die Königin den Kapitän mit einer unerwarteten Gefühlsäußerung. »Mein Gott!« rief sie. Tränen rannen über ihre Wangen. »Er ist schwer krank!« Sie wandte sich an Adams: »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen, Kapitän?« »Bevor wir von Magaior in See gingen, Majestät. Das war im November um Allerheiligen.« »Leidet er Schmerzen?« fragte sie mit erstickter Stimme. »Mitunter sehr, Majestät.« »Ein Geschwür.« »Links im Leib, Majestät.« »Und die Ärzte können nichts tun?« »Die Ärzte in Indien sind nicht die besten, Majestät, und offenbar ratlos. Aber einer von ihnen meint, daß es ein Medikament gebe, aus Italien. Alles Weitere enthält wohl dieses Schreiben.« Die Königin stützte sich, um nicht zu wanken. Die Hand mit dem Brief des Admirals fiel herab. »Warum kam er nicht mit Ihnen nach London?« flüsterte sie. 5
»Ein Mann wie der Lordadmiral, Majestät«, erklärte Adams, »verläßt sein Kommando nicht ehe der Auftrag beendet ist, oder ihn der Befehl der Königin zurückruft.« Ein Schluchzen erschütterte den Körper der Königin. Doch dann straffte er sich. »Danke, Kapitän Adams. Ich werde alles Weitere unverzüglich anordnen.« Sich verbeugend ging Adams rückwärts zur Tür. Aber dort holte ihn die Königin ein. »Wie alt sind Sie, Kapitän?« wollte sie wissen. »Vierundvierzig Jahre, Majestät.« »Ein guter Offizier und immer noch Kapitän?« »Sieben Jahre auf allen Weltmeeren, Majestät. Da wird man leicht übergangen und in London vergessen.« »Ich weiß«, äußerte die Königin. »Kraft meines Amtes ernenne ich Sie hiermit zum Kommodore, Mister Adams. Ich lasse Sie rufen, wenn ich Sie brauche.« »Ewig zu Eueren Diensten, Majestät«, stotterte der alte Seebär, sichtlich betroffen von der Gnade seiner Königin.
Schon am nächsten Morgen ließ Königin Anna den deutschen Komponisten Händel, einen Mann, den sie sehr schätzte und dessen Oratorien sie außerordentlich liebte, in den Buckingham Palace rufen. Diesmal faßte sie sich jedoch kurz. »Heute geht es nicht um Eure Musik, Meister Händel«, begann sie, »sondern um die Krankheit, von der Ihr erzähltet.« »Die mich in Rom überfiel«, Händel verstand sofort, »als ich Scarlatti im Klavier- und Orgelwettstreit besiegte. Das war letztes Jahr, Majestät.« »Ihr habt überlebt, wie ich sehe, Händel. Es geht Euch gut. War es nicht ein böses Geschwür?« Der deutsche Musiker deutete auf seinen Leib, etwas unterhalb des Nabels an die linke Seite. 6
»Hier, fast kinderkopfgroß, Majestät.« »Was taten die Ärzte dagegen?« Händel sprach langsam. Er beherrschte das Englische nur unzureichend. Deshalb gestattete ihm die Königin französisch zu parlieren, das sie gut verstand. »Die Ärzte meinten, schneiden sei tödlich. Also verabreichte man mir ein neues Medikament. Es kam aus Süditalien.« »Kennen Sie den Namen des Heilmittels, Händel?« »Nein, Majestät, nur den des Mannes, der es aus vielen Bestandteilen zusammenbraut. Ich glaube er ist aus adligem Geschlecht, weder Arzt noch Apotheker, mehr das, was man einen Alchimisten nennt.« Die Königin reagierte ein wenig ungehalten. »Sein Name, Mister Händel!« »Fürst Sansevero, Raimondo Sansevero, glaube ich. Der Name kann aber auch ein wenig anders lauten.« »Wo findet man ihn?« fragte Anna. »Zwischen Neapel und Sizilien, Majestät.« »Was für ein Pulver war es?« »Grün schimmernd, Majestät. Übelkeit erregend, aber schmerzlindernd. Und die Geschwulst ging zurück.« »Danke, Händel«, sagte die Königin huldvoll, »man wird Sie belohnen.« Über die Marlborough-Clique sich hinwegsetzend, beauftragte die Königin noch in dieser Stunde einen Colonel ihrer Leibgarde mit den Nachforschungen nach Fürst Sansevero. Dem Colonel gelang es binnen vier Tagen, den Fürsten in Paris ausfindig zu machen. Trotz der Erschwernisse des Krieges wurde alles unternommen, um den adligen Alchimisten so rasch wie möglich nach London zu bringen. Von Paris bis Calais wechselte seine Kutsche alle zwei Stunden die Pferde. In Calais wartete ein Schnellsegler und in Dover die besten Pferde des königlichen Marstalls. 7
Am 20. April empfing Königin Anna den italienischen Fürsten in geheimer Audienz. Unmengen von Golddukaten hatten es ermöglicht, diesen Mann so rasch nach London zu holen. Wenn es nun mit Sanseveros Hilfe gelang, den Lordadmiral im fernen Indien zu retten, sollte Geld keine Rolle spielen.
Eine Woche später ließ Königin Anna den neuernannten Kommodore Phineas Adams in den Palast holen. Adams fand, daß sie schön war wie ein Engel zu Fuß, als sie, mit einer Hand an den Tisch gestützt, vor ihm stand. Auf dem Tisch brannte ein vierarmiger Silberleuchter. Nahe dabei lag eine kleine Schachtel, etwas größer als eine Tabakdose, verschnürt und versiegelt. Die Königin empfing den Kommodore huldvoll und kam sofort zur Sache. »Was für ein Schiff, Mister Adams«, fragte sie, »ist das schnellste meiner Flotte?« Der erfahrene Kommandant überlegte nicht lange. »Die neue Star of Gibraltar, Majestät.« Königin Anna, die sich ebenso für das Schuhwerk ihrer Soldaten wie für die Gestaltung der Glasbilder in der Westminster Abbey interessierte, erkundigte sich zur Verwunderung des Kommodore sehr genau. »Und warum ist es schneller als die anderen?« »Ein neuer Schiffstyp«, erklärte Adams, »wir nennen ihn Fregatte. Eine Mischform aus Galeere und Galeone. Ein schnittiger Segler mit scharfen Unterwasserformen, wo früher ein runder Bug und gebauchte Linien vorherrschten. Ein Dreimaster mit Hochtakelung plus drei Stengen: Mars, Bram und Royal.« Dies überforderte die Königin keineswegs. »Wie schnell kann dieses Schiff laufen, Kommodore?« »Unter günstigsten Umständen fünf bis sechs Knoten, Majestät.« 8
»Das würde bedeuten, daß die Star of Gibraltar in drei Monaten, binnen neunzig Tagen also, bei Lordadmiral Conrads eintreffen kann.« »Günstige Winde vorausgesetzt, Majestät.« »Wer ist der schnellste Segler unter meinen Kapitänen?« »Phillip Howard«, nannte Adams ehrlich. »Aber meines Wissens steht er mit dem Geschwader von Admiral Cleveland vor Jamaica.« Die Königin lächelte wieder einmal äußerst huldvoll. »Sie sind zu bescheiden, Kommodore. Ich weiß, daß Sie als schnellster Mann auf der Westindienroute gelten. Können Sie mit einer Fregatte umgehen?« »Majestät«, erwiderte Adams, »ein Schiff ist ein Schiff. Aber darf ich erinnern, daß die zwei bis jetzt existierenden Fregatten Flaggschiffe der Nordsee-Admirale sind.« Dieses Problem wischte Königin Anna mit einer Handbewegung vom Tisch. In Anwesenheit von Adams rief sie ihren Schreiber und diktierte ihm mehrere Orders. Die eine sah vor, daß Kommodore Adams, für einen Geheimauftrag der Krone, sofort die Fregatte Star of Gibraltar zu unterstellen sei. »Das geht mit Eilkurier an die Admiralität!« entschied sie. »Mit Kopie an das Staatsarchiv, Majestät?« Die Königin nickte, unterschrieb und siegelte. Als der Sekretär gegangen war, übergab sie Kommodore Adams einen Brief und das Päckchen, das auf dem Tisch neben dem Leuchter lag. »Beides ist für Lordadmiral Conrads in Bombay. Ich lege Ihnen Brief und Sendung ans Herz, Kommodore Adams. Wann können Sie in See stechen?« »Sobald die Fregatte klar ist, Majestät. Wenn Verproviantierung und die Munitionierung vordringlich durchgeführt werden, in drei bis vier Tagen.« »Dafür sorge ich«, entschied Majestät. »Haben Sie noch einen Wunsch, Mister Adams?« 9
Der Kommodore bat darum, daß es ihm erlaubt sein möge, einige Offiziere, Maate sowie Matrosen aus der Besatzung seines Linienschiffes mitzunehmen. Auch dies genehmigte Königin Anna ohne Umschweife. Sie hätte wohl auch eine Provinz Britanniens geopfert, nur um ihrem fernen Geliebten das Leben zu retten.
Der Schnellsegler Star of Gibraltar kam zunächst gut voran. Vor steifem Nordwest zeigte das Log bisweilen sieben Knoten. Doch je weiter es in südliche Breiten ging, desto mehr schliefen die Winde ein. Kommodore Adams ließ jeden Fetzen Leinwand stehen, aber mehr als neunzig Seemeilen pro Tag schaffte er im Monat Juni kein einziges Mal. Hinzu kam, daß die Fregatte bei schwerer See unruhig lag. Sie hatte kaum Ladung und nur den allernötigsten Ballast. Trotzdem gelang es Adams, am 28. Juni das Nadelkap, die südlichste Landspitze Afrikas zu umrunden. Von hier ab nahm er Kurs Ost auf Madagaskar. Im Indischen Ozean kam er bald in den beständig wehenden Südwest-Monsun. Oft stand Kommodore Adams nächtelang auf dem Ruderdeck, blickte in die Sterne, zu den gebauschten Segeln und beobachtete die Drift der Wolken. »Lassen Sie einen halben Strich abfallen, Mister Pears«, wandte er sich an seinen Wachhabenden. »Sehen Sie nicht, wie die Royal killt? Ich möchte jedes Pfund Schub nützen, und sei es geringer als der Atem eines Kolibri.« »Südost zu Ost!« befahl der Wachhabende. »Liegt an!« bestätigte der Mann am Ruder. »Wir kriegen schwere See«, befürchtete der Wachhabende mit einem Blick gen Himmel.
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»Schwere See, steife Brise«, tat Adams es ab. »Aber erst gegen Morgen. Sie nehmen keinen Quadratfuß Leinwand weg ohne meinen Befehl, Mister Pears.« »Aye, aye, Sir«, sagte der II. Offizier. Die Fregatte ritt zwei Tage steifen Wind ab, der sich mitunter zu Sturmstärke aufblies. Das Gaffelsegel am Besan ging in Fetzen, aber sie machten in vierundzwanzig Stunden hundertzwanzig Seemeilen. Am 15. Juli erreichten sie die Straße von Mozambique zwischen Afrika und Madagaskar. In der Abenddämmerung meldete der Ausguck ein Schiff voraus. Beim Näherkommen sahen sie in ihren Spektiven, daß es sich um ein Linienschiff handelte, das die holländische Flagge führte. »Wir sollten ihm aus dem Weg gehen«, riet der I. Offizier. »Wir haben Frieden mit Holland«, erinnerte Adams. »Nachdem wir die spanischen Niederlande eroberten«, gab der I. Offizier zu bedenken. »Das vergessen sie uns nicht. Und er hat hundert Kanonen, Sir.« »Wir haben auch dreißig. Außerdem kann er nur Breitseiten feuern. Wir hingegen sind weitaus beweglicher. Und sehen Sie hin, Gentlemen. Der Seegang hindert ihn die unteren Stückpforten zu öffnen. Keine Gefahr also. Dichter heran bitte. Vielleicht hat er Nachrichten aus Indien für uns.« Das schwere Linienschiff behielt den Kurs bei. Es dippte die Flagge zum Gruß. Doch in der Minute, als sich beide Schiffe auf Rufweite passierten, geschah es. Das Linienschiff öffnete drei Reihen seiner Stückpforten und deckte die Fregatte Star of Gibraltar mit einer Breitseite ein. Im selben Moment ging drüben die schwarze Freibeuterflagge am Mast hoch. War es Zufall oder lag es am Können der Seeräuber, die Breitseite aus vierzig Rohren traf die englische Fregatte voll. Sie riß Besan und Ruderstand weg. Treffer glühender Kugeln setzte die Galion in Brand. 11
Die allgemeine Verwirrung nutzend, bestrichen die Seeräuber das Deck noch mit Musketenfeuer. Der I. Offizier des Engländers wurde getroffen und verblutete. Kommodore Adams befehligte schwerverletzt das Fluchtmanöver. Aber ruderlos wurde die Fregatte schließlich Beute des Linienschiffes.
Sarafino nannte sich der Seeräuberkapitän. Sein Prisenkommando segelte die Star of Gibraltar in den Sund von Marunga. Wer von den Engländern noch lebte, wurde in die Festung geworfen. Was Sarafino besonders erboste, war der Umstand, daß er außer der Fregatte nichts erbeutet hatte. Immer wieder verhörte er den schwerverletzten Kapitän des britischen Kriegsschiffes. »Deine eitrigen Verbände stinken«, schrie er, »und du wirst im eigenen Mist krepieren, wenn du nicht sprichst.« Abgesehen davon, daß man ihm seit Tagen jeden Schluck Wasser verweigert hatte und seine Zunge so am Gaumen klebte, daß er kaum in der Lage zu antworten war, hätte Adams nie preisgegeben, wo er den Brief der Königin an den Lordadmiral und das versiegelte Päckchen versteckt hatte. Selbst wenn sie die Fregatte in all ihre Bestandteile zerlegten, würden sie es nicht finden. »Warum habt ihr kaum Ladung?« fragte der Seeräuberkapitän mit dem zerschnittenen Gesicht. »Wir segeln unter Ballast nach Indien, um Waren zu holen. Gewürze, Seide.« »Und Gold«, ergänzte Sarafino. Adams sagte nichts und der Folterknecht mit der Peitsche schlug zu. »Zersägt das Schiff, ihr werdet nichts finden«, erklärte der Kommodore mit schmerzverzerrtem Gesicht. 12
»Ihr habt einen Geheimauftrag«, drang Sarafino in ihn. »Wie lautet er?« »Wir sollen Lordadmiral Conrads zurück nach London holen«, antwortete Adams in seiner Not. Da fing Sarafino zu fluchen an. Das Fluchen ging in Lachen über und das Lachen endete abrupt. »Zu spät. Conrads ist krepiert. Die schwarze Pest hat ihn aufgefressen. Am Ende war er aufgeblasen wie eine Kugel und platzte.« Adams glaubte Sarafino nicht und wollte die Neugier des Seeräubers, weshalb die Fregatte keine Ladung habe, auch nicht befriedigen. Sie folterten ihn. Weil er bei seiner Aussage blieb, folterten sie ihn so, daß er nach zwei Tagen daran starb. Die Seeräuber durchsuchten die Fregatte bis zum letzten Kupfernagel, ohne etwas zu finden. Da die Fregatte eines der schnellsten Schiffe war, die es auf den sieben Meeren gab, wendiger als die stärkeren, stärker bewaffnet jedoch als die noch schnelleren kleinen Segler, machte Sarafino sie zu seinem Flaggschiff. Bis ihn das Westindien-Geschwader der Briten zwei Jahre später in eine Falle lockte, gefangennahm und in Basra aufknüpfte.
Im Jahre 1715, Königin Anna war verstorben, nachdem sie den Frieden von Utrecht geschlossen und England Weltgeltung verschafft hatte, rief die Admiralität die Fregatte Star of Gibraltar in die Heimat zurück. Ein junger, nicht sonderlich befähigter Kommandant übernahm das lädierte Schiff, das sich seit sechs Jahren im pausenlosen Einsatz befand, um es an die Themse zurückzusegeln. Ein Sturm in der Biskaya zerschlug ihm den Großmast. Und schon im Anblick der Küste von Cornwall geriet er in so schwere See, daß ihm das Ruder brach. 13
Manövrierunfähig warf der Strom die Fregatte gegen die Riffe von Lizard Point am Ostende der Mounts Bay. Die scharfen Unterwasserfelsen rissen die Kupferbeplankung vom Rumpf und drückten die Spanten ein. Obwohl die Mannschaft bis ans Ende ihrer Kräfte an den Pumpen stand, sank die Fregatte. Das war im Oktober zu Beginn der Herbststürme. Tageland waren die Masten der Star of Gibraltar noch zu sehen, ehe neue Stürme sie aus der Umklammerung der Felsen riß und ins offene Meer zog, wo sie endgültig versank. Dort blieb sie 250 Jahre in einem der größten Schiffsfriedhöfe der Welt liegen. Wie bei der Admiralität der britischen Flotten üblich, wurde der Hergang der Havarie sowie der vermutliche Lageort des Wracks peinlich genau verzeichnet. Bei dem Untergang der Fregatte Star of Gibraltar kamen 64 Matrosen und Offiziere ums Leben. Der Kapitän konnte sich retten. Er wurde später Admiral und unterlag den Franzosen 1744 bei der Seeschlacht von Dünkirchen, in einer Auseinandersetzung, die man später den österreichischen Erbfolgekrieg nannte.
2. Der französische Fischlogger befand sich auf der Rückfahrt nach St. Malo. Neun Meilen südlich der Insel Jersey, die Küste tauchte schon im Frühlicht auf, sichtete der Rudergänger etwas im Ebbstrom. Zunächst hielt er es für einen Plastiksack mit Abfall. Durch den schlechten Fang wachsamer als sonst, legte er das Ruder geringfügig nach Backbord und griff nach dem Fernglas. 14
Sekunden später zog er den Stöpsel aus dem Sprachrohr und rief in die Kajüte: »Treibende Leiche!« Mit einem Fußtritt gegen den brusthohen Hebel kuppelte er das Getriebe aus. Zugleich nahm er das Gas zurück. Der schwere Diesel arbeitete nun im Leerlauf. Der Logger trieb langsam an die Leiche heran. Polternd kamen die zwei Fischer an Deck. Charles, der jüngere, zog sich noch Gummistiefel und Troyer an. »Leiche? - Wo?« Da schwenkte der Ältere schon die Stange mit dem Bootshaken hoch und wartete, bis die Leiche in den Zugriffbereich schwamm. »Vorsicht!« warnte der Patron aus dem Ruderhaus. »Stecht sie nicht an, sonst sackt sie uns weg.« »Ohne Leiche keine Prämie. Bin ich ein Anfänger?« Der Patron ließ die Schraube für wenige Umdrehungen rückwärts gehen. Damit nahm er die letzte Fahrt aus dem Kutter. Sein Helfer erwischte die Leiche unter der linken Achsel. Anders war ihr nicht beizukommen, denn der Tote war nackt bis auf eine Badehose. »Den haben schon die Aale angeknabbert.« »Wirf das alte Netz!« befahl der Patron dem Jungen. »Wir wickeln ihn hinein.« »Der Bursche muß schon 'ne Weile unterwegs sein«, meinte der Alte. Es kostete einige Mühe, bis sie ihn an Deck hatten. »Männlich, etwa einsachtzig groß, ungefähr vierzig Jahre«, schätzte der Alte. »Ich geb's per Funk durch«, sagte der Patron. »Haar braun, rechter Fuß fehlt. Am linken trägt er eine Schwimmflosse.« »Und eine Erkennungsmarke um den Hals«, ergänzte der Junge, der vor kurzem seinen Militärdienst bei der französischen Marine beendet hatte. Er studierte die ovale Aluminiummarke, die der Tote an einer Kette trug, und versuchte, deren Prägung zu entziffern. 15
»Was steht drauf?« fragte der Patron. »In Friedenszeiten das Geburtsdatum, Name, Einheit und eine Nummer«, sagte der Junge. »So hält es die französische Marine. Aber das ist keine von unseren Erkennungsmarken.« Der Patron kannte die Strömungsverhältnisse im Ärmelkanal gut genug, um zu wissen, daß es viele Möglichkeiten gab. Der Mann konnte von einem Schiff gestürzt oder von der britischen Küste herübergetrieben sein. Nein, von einem Schiff war er wohl nicht gefallen. Die Schwimmflosse sprach dagegen. »Engländer?« »Deutscher«, vermutete der junge Fischer und deutete auf die Buchstabengruppe GERM. »Aber mit Sicherheit ein Soldat.« Der Patron gab dem Diesel wieder Drehzahl, nahm Kurs auf St. Malo und erstattete Funkmeldung. Als der Kutter im Heimathafen einlief, stand schon die Polizei am Pier.
An seinem Eurosignal glühten zwei rote Dioden. Das bedeutete, Anruf im Hauptquartier. Immer in der Sauna oder in der Dame, dachte der Geheimdienstagent mit der Codenummer 18. Er verließ den Schwitzkasten, hüpfte ins Tauchbecken, duschte dann und zog den Bademantel über. Es handelte sich zwar um eine gemischte Sauna, wo Buben und Mädchen nackt zu sein pflegten, aber in der Bar hing ein Schild: Es wird gebeten, von paradiesischer Kostümierung Abstand zu nehmen. »Einen Dynamit extra?« fragte die Blonde hinter dem Tresen. Er nickte, und sie mixte Urbans Bourbon-Martini 50:1. »Das Telefon, Mary! » »Ich bin Graziella.« »Dann das Telefono per favore.« Sie schob es ihm hin. 16
Er wählte, vielmehr er betätigte irgendwo im Gehirn einen Knopf, woraufhin sein Zeigefinger die Pullacher Nummer automatisch eindrehte, wie etwas, das man x-tausendmal geübt hatte. Der Operationschef des BND war am Draht. »Was«, meldete sich Urban. »Was ist mit der Leiche?« »Sollten Sie gerade bei einer Hellseherin weilen?« »In der Sauna«, sagte Urban, »aber es war Thema Nummer eins heute morgen. Da inzwischen weder ein Nuklearsprengkopf gezündet, noch ein Attentat verübt oder ein Jumbo entführt wurde, nehme ich an, daß das Thema noch heiß ist.« »Das Bild bekommt langsam Konturen«, übermittelte der Alte. »Laut Erkennungsmarke ist der Tote aus dem Golf von Saint Malo Max Sperber, Kapitänleutnant der Bundesmarine. Vor zehn Tagen ging sein Urlaub zu Ende. Seitdem wird er vermißt.« »Der Militärische Abschirmdienst ist im Ausland nicht zuständig und Interpol für diesen Fall auch nicht sehr kompetent.« »Immerhin kann der Verdacht eines Spionagefalles nicht völlig von der Hand gewiesen werden.« »Also muß der Auslandsnachrichtendienst dieses unseres Landes in Aktion treten.« »Für den Sie meines Wissens tätig sind, Nummer achtzehn.« Urban faßte es in einen Satz. »Mord oder Unfall?« »Ist es überhaupt Max Sperber, oder hängte man einem anderen seine Marke um? Soll ja schon vorgekommen sein, daß man Legenden aufbaute, um einen Mann für immer wegtreten zu lassen.« »Ich ziehe mir rasch was über.« Urban legte auf. Jede Barfrau war geschult Gespräche mitzuhören, sogar mehrere gleichzeitig. Die Blonde, die sich Graziella nannte, fragte: »Darauf einen Doppelten?« 17
»Darauf ein Glas Apollinaris«, bat Urban, »gibt leider nix zu feiern.«
Zweiundzwanzig Stunden später stand er vor dem Kühlhaus der Fischereigenossenschaft von St. Malo. »Wir haben ihn in Eis gelegt«, erklärte der zuständige Kommissar. »Das kommunale Schauhaus wird renoviert und den Transport nach St. Brieuc, so glaubt der Polizeiarzt, würde die Leiche nicht überstehen.« Nach rund eintausend Kilometern hinter dem Lenkrad seines BMW brauchte Urban erst einen Kaffee. Es war der siebente oder achte seit seiner Abfahrt in München. Aber der Entschluß, den Wagen zu nehmen, war von den Flugplänen beeinflußt worden. Mit der Air France wäre er erst um diese Stunde in Paris gelandet. Ein Dienstreiseflugzeug hatte man ihm für die Ermittlungen nicht genehmigt. Und die Flugbereitschaft der Bundeswehr war für die privaten Trips der Kabinettsmitglieder mehr als ausgelastet. Der Kaffee schmeckte würzig, war aber zu dünn. Seine Wirkung reichte bis vor den länglichen Kasten mit zerhacktem Eis, wie es die Kutter zum Frischhalten der Fänge an Bord nahmen. Der Kommissar schob mit der Hand die oberste Schicht beiseite. Darunter kam ein weißes Gesicht zum Vorschein. Das Gesicht war noch am besten erhalten. Urban verglich es mit den Funkfotos. Anschließend versuchte er von dem Toten Fingerabdrücke zu nehmen. Immerhin gelang ihm das am Daumen rechts, ohne daß sich die obere Hautschicht mit den Papillaren löste. Er verglich die Fragmente mit der Kopie des Originalabdrucks aus der Marineakte. »Kein Zweifel«, entschied er, »Kapitänleutnant Max Sperber.« »Damit können wir die Leiche freigeben.« 18
Urban warf einen langen Blick auf den Toten, der nach Berechnung der französischen Küstenwache im Geschiebe von Ebbe und Flut nach Süden abgetrieben worden war. »Vermutlich kommt er aus England«, bemerkte der junge Kriminalkommissar, »Cornwall«, vermutete Urban. »Dort wird viel getaucht.« »Er hat zweihundert Seemeilen hinter sich.« »Das sieht man ihm an.« Urban bat einen der Eismänner den Lampenschirm anzuheben. Er hatte sich nicht geirrt. Der rechte Nasenflügel des Toten zeigte eine deutliche Blaufärbung. »Hat einer mal eine Lupe?« Der Angestellte der Kühlhausgenossenschaft versuchte im Büro ein Vergrößerungsglas zu bekommen. »Lupe? Wozu?« fragte der Kommissar. Urban deutete auf den Punkt. »Der Arzt stellte keine äußere Verletzung fest.« »Eben deshalb«, meinte Urban. »Eine Leiche, die zweihundert Meilen weit treibt, kann Kollisionen verschiedener Art erleben.« Der Angestellte brachte die Lupe. Mit der Kugelschreiberlampe leuchtete Urban ins Naseninnere des Toten. Dort setzte sich die Verfärbung deutlich fort. Wie bei einem verätzten Wundkanal. »Einschußlöcher sehen aber anders aus«, äußerte der Kommissar. »Es gibt kleine, sehr wirksame Kaliber.« »Aber nicht Zwei-Millimeter-Geschosse.« Urban dachte nicht an ein Geschoß, sondern mehr an eine Stichwaffe. Er konnte sich irren, aber dem Verdacht mußte nachgegangen werden. »Ich beantrage Obduktion«, erklärte er. »Mon dieu!« seufzte der Franzose. Diese peniblen Deutschen, schien er zu denken. Urban wartete den Befund des Pathologen nicht ab. Das konnte Tage dauern. 19
Er fuhr weiter nach Norden Richtung Belgien, Holland, Ostfriesland. Nach einem Drittel der Neunhundert-Kilometer-Strecke half auch Kaffee nicht mehr. Er rollte in einen Seitenweg, kippte den Beifahrersitz ab und schlief eine Runde.
Sie hieß Jenny Jannings. Sie wohnte in Bremerhaven nahe der Weser, von der Steubenstraße in Richtung Flugplatz um drei Ecken. Sie war, wie man sich in den Alpenländern eine Friesin vorstellte, strohblond mit Betty-Grable-Frisur, blauen Augen, weichem Mund, weichen Zügen, fast ein wenig zu schlank. Sie wußte wer er war und bat ihn in das gekachelte Wohnzimmer mit holländischem Gaskamin. »Es geht um Max Sperber«, begann Urban. »Das hat man mir mitgeteilt. Sie sind nicht der erste, der seinetwegen bei mir reinschaut.« Das Wort »reinschaut« ließ ihn stutzig werden. Immerhin stand auf dem Türschild der Wohnung Jannings und darunter Sperber. Sie galt als seine Verlobte. Sie saß ihm auf dem englischen Ledersofa gegenüber und kreuzte die Beine. Sie hatte welche zum vorzeigen, sonnengebräunt bis hinauf zu den strumpflosen Schenkeln. »Er wohnte hier«, stellte Urban fest. »Nicht mehr«, erklärte sie. »Wir sind seit zwei Monaten auseinander. Was nicht bedeutet, daß mir sein Tod ... daß mich sein Tod nicht berührt.« Die Änderung der Wortwahl mitten im Satz vo n nahegeht zu berührt, was einer Abschwächung entsprach, ließ ihn abermals auforchen. »Sie waren verlobt?« »Wer verlobt sich heute noch. In einer Zeit, wo ein Mann, der zweimal mit ein und derselben Frau schläft, als altmodisch gilt.« 20
Daher weht also der Wind, dachte er. Sperber hatte ihre Beziehung wohl ein wenig zu modern ausgelegt. »Dann wissen Sie nicht wo er seinen Urlaub verbrachte?« »In England. Wir telefonierten vor seiner Abreise.« »Urlaub in England?« fragte Urban ein wenig ungläubig. »Er war Hobbytaucher.« »Wo tauchte er?« »Ich sage es jetzt schon zum hundertsten Mal«, antwortete sie ungehalten, »daß ich es nicht weiß. Er wohnte zuletzt im Haus seiner Mutter.« »Vielleicht weiß seine Mutter mehr.« »Die starb letzten Sommer.« Urban wechselte das Thema, weil er glaubte, daß sie sich festgefahren hatten. »Sie sind Tänzerin.« Das amüsierte sie offenbar so, daß sie lockerer wurde. Darauf war es ihm mit dieser freihändigen Behauptung angekommen, »Ich bin Studienrätin und gebe Mathematik und Physik.« »Sie könnten aber Tänzerin sein.« »Danke«, erwiderte sie. In ihre Augen trat ein gewisser Schimmer. Urban glaubte, daß er wieder zur Sache kommen könne. »Mit seiner Dienststellung als Funkoffizier auf dem Zerstörer Rommel hat Sperbers Hobby wenig zu tun.« »Sie sind aus München«, erwähnte die hübsche Friesin, »was wissen Sie schon von der Flotte.« »Mein Reservedienstgrad ist Kapitän zur See.« »Warum nicht Admiral?« Sie glaubte ihm also nicht. Egal, er brauchte Informationen. »Wonach tauchte Sperber?« »Im Mittelmeer nach seltenen Fischen, im Roten Meer nach Korallen, in der Karibik nach versunkenen Schiffen. Er nutzte jeden Urlaub für solche Trips.« »Und Sie selbst fanden das nicht so lustig.« 21
»Meine Ohren vertragen es nicht. Und außerdem ...« Er wartete. Weil nichts kam, bohrte er weiter: »Sperber war zum ersten Mal in England?« »Nein, schon letzten Sommer. Er korrespondierte wohl mit einem anderen Tauchfex.« »Seinen Namen haben Sie nicht zufällig?« »Danach fragte schon der Mann vom MAD, der von der Kripo und die Reporter. Max und der Engländer telefonierten nur.« Sie stand auf und ging in die Küche. Ihre Bewegungen waren von tierhafter Eleganz. Mit Gin und Bitterlemon mit Eis und zwei Gläsern auf einem Tablett kam sie wieder. »Einen Drink? Zufällig vorbereitet.« »Ich bin der letzte, der Sie wegen dieser Sache belästigen wird, Gnädigste.« »Gnädigste«, sie lachte. »Veralbern Sie mich oder ist das in der Münchner Schickeria die übliche Anrede?« Er mixte viel Gin mit wenig Lemon. »Und warum sind Sie der letzte, was macht Sie so sicher?« wollte sie wissen. »Ich stelle gewissermaßen die oberste Instanz dar.« »Instanz«, wiederholte sie. »Was vermutet man? Spionage etwa?« Urban hob die Schultern. »Sperber waren keine Geheimnisse, die der Gegner nicht längst schon kannte, zugänglich.« Sie leerte ihr Glas und setzte es hart hin. »Warum zum Teufel«, brach es aus ihr heraus, »läßt man mich dann nicht in Ruhe?« Urban unterdrückte sein angeborenes Grinsen. »Weil es sich herumgesprochen hat, daß Sie ein schönes Mädchen sind ... Gnädigste.« »Gleich werfe ich Sie raus«, rief sie. »Gleich gehe ich von alleine«, sagte Urban. 22
Im Hotel lag eine Nachricht für ihn, die ihn veranlaßte, sofort mit der Zentrale zu telefonieren. »Sie hatten recht, in Saint Malo Druck zu machen«, eröffnete ihm sein Boß, Oberst a. D. Sebastian. »Die Nasenverletzung ergab einen Wundkanal bis hinauf ins Gehirn.« »Waffe?« »Sie fanden kein Projektil, kein noch so winziges.« »Dann handelt es sich um einen Stich.« »So dünne Messer gibt es nicht.« »Aber Nadeldolche«, erinnerte sich Urban. »In südlichen Ländern waren sie zu einer Zeit, als die Gerichtsmedizin noch nicht in der Lage war winzige Einstiche zu erkennen und zu verfolgen, in Mode.« »Mord also«, sagte der Oberst. »Wenn nicht Mord, was dann. Fand man Wasser in seinen Lungen?« Der Oberst bestätigte es. »Mord unter Wasser.« »Beim Tauchen.« »Er trug noch eine Schwimmflosse«, erwähnte Urban. »Aber kein Atemgerät.« »Das verlor er«, vermutete Urban. »Warum tötete man ihn?« Die Antwort war einfach und schwierig zugleich. Wer einen Taucher unter Wasser umbrachte, wollte verhindern, daß er wieder an die Oberfläche kam und von seinem Fund berichtete, oder seinen Fund barg. »Er wußte wohl etwas, das er nicht wissen sollte. Wobei das Wort >Wissen< mit dem Wort >finden< austauschbar ist.« »Und was bitte war dies?« »Was kann ein Taucher finden, daß man ihn deswegen umbringt«, bemerkte Urban. »Ich weiß es nicht.« »Klären Sie das«, forderte der große Hetzer von Pullach. 23
»Aber sofort«, erwiderte Urban und hängte auf. Später fuhr er noch einmal zu der Mathe-Lehrerin mit der Ballerinafigur. In ihrer Wohnung brannte Licht. Jenny Jannings öffnete ihm sogar. Allerdings hatte sie sich zum Ausgehen zurechtgemacht. »Sie führen mich zum Essen?« fragte sie aufreizend schön. »Das ist meine Absicht.« »Ich wußte es«, sagte sie. »Jeder kam noch einmal vorbei. Stets zwar mit einer anderen Masche, aber jeder wollte dasselbe.« »Was?« fragte er. »Mit mir schlafen.« »Das wäre nichts Neues«, sagte Urban. »Ich aber habe eine Neuigkeit.« »Sie wollen also nicht mit mir schlafen?« »Max Sperber wurde ermordet«, berichtete er, und das reichte ihr für eine Weile. Sie machte Tee, friesischen, mit Kandiszucker und all dem üblichen Zauber. Dazu stellte sie eine Karaffe Rum auf den Tisch. »Für Gentlemen, die es härter mögen.« »Noch härter«, er nahm davon, »als es schon ist.« »Ja, das Leben ist schon lange kein solches mehr.« »Einst waren wir Kinder von Fröhlichkeit.« »Passé, passé! » Sie erweckte den Eindruck, als habe sie schon getrunken. »Also konzentrieren wir uns mal schön.« »Auf den Mathematikunterricht morgen.« »Morgen ist Sonnabend, mein Herr.« »Bedeutet das hier soviel wie Samstag bei uns?« »Aber klaro, Sie Bajuware.« »Franke«, verbesserte er, »das liegt zwischen Main und der malerischen Pegnitz.« Sie beugte sich vor. Das Kleid war tief ausgeschnitten. Sie hatte mehr Busen als abzuschätzen gewesen war. Er stand freitragend und wippte bei jeder Bewegung ein wenig. »Also, warum kommen Sie noch einmal vorbei, wenn es nicht um Beischlaf geht?« fragte sie sehr direkt. 24
»Nach was«, setzte er an, »kann Sperber getaucht haben?« »Fragen Sie mich lieber nach der Quadratur des Kreises.« »Wonach tauchte er denn für gewöhnlich?« »Nach allem und nach gar nichts. Er brachte den unglaublichsten Schund mit nach oben. Damit dekorierte er dann die Wände.« Urban versuchte es von der anderen Seite. »Wie waren Sperbers Vermögensverhältnisse?« »Geordnet.« »Wie geordnet?« »Er kam aus.« »War er verschwenderisch?« »Nicht geizig, aber sparsam.« »Hatte er Pläne, etwa ein Schiff, eine Villa im Süden et cetera?« »Sie sehen zu viele Hollywoodfilme. Er war Marineoffizier und wollte es zum Admiral bringen. Natürlich hätte er den Goldfund aus einer Galeone mitgenommen. Aber er hätte sein Leben nicht geändert.« »Er tauchte mehr des Abenteuers wegen.« »Wer weiß schon«, erwiderte sie, »etwas von anderen Leuten.« »Wie lange lebten Sie zusammen?« »Vier Jahre. Aber ich versuche eben zu erklären, daß man nichts weiß, weder über sich, geschweige denn über seinen Nächsten. Wir verstanden uns nicht mehr. Und in gewissen Punkten nie besonders gut. Klar, er brauchte schon mal eine Frau, aber selten, ziemlich selten. Er war der geborene Landsknecht.« »Seeknecht«, verbesserte Urban. So ging es nicht weiter. Er fand Jenny unergiebig. Doch dann dieser unerwartete Blick aus verhangenen Augen. Urban wußte, wann und warum eine Frau einen Mann auf diese Weise anschaute. »War das alles?« fragte sie. »Ja, alles.« »Die anderen versuchten mehr zu bekommen.« »Mit Erfolg?« 25
»Ohne jeglichen«, gestand sie. »Und warum?« »Keine Spannung.« »Richtig, Spannung muß sein. Ein Funke.« Er leerte das Teeglas, steckte sich eine Goldmundstück-MC an und schob die blaugoldene Zigarettenschachtel in die Glenchecktasche. »Also dann.« An der Tür sagte sie leise: »Sie können auch dableiben.« »Ich habe ein Hotelzimmer, Jenny.« »Und ich habe«, flüsterte sie, »kein Höschen an.« »Das glaube ich einfach nicht.« »Dann überzeug dich, Macho!« Er faßte sie auf eine Weise an, daß er unter dem Kleid ihre nackten Beine berührte und die Schenkel nach oben verfolgte. »Stopp!« sagte sie. »Wenn ich kein Höschen trage, bleibst du. Abgemacht?« »Logo«, sagte er. Seine Hand durfte weitertasten. Sie hatte nicht gelogen. Er berührte sie, spielte erst drumherum, dann tiefer. Sie stöhnte und drängte sich an ihn. »Manchmal bin ich ein Tier«, flüsterte sie, »ich kann nichts dafür.« »Ich auch, Gnädigste«, gestand er. »Und ich kann ebenfalls nicht dagegen an.« Die Entfernung zu ihrem Bett war viel zu weit. Sie taten es noch auf dem Weg dahin.
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3. Der eleganteste Palazzo in Amalfi gehörte den Marachi. Schon seit dreihundert Jahren. Damit sein Unterhalt steuerlich absetzbar blieb, hatten die Marachi im Nordflügel Büros eingerichtet. Von hier leitete das letzte Glied der Familie die umfangreichen Geschäfte. Sofern es sich nicht irgendwo in der Welt auf Reisen befand. In Abwesenheit von L. Marachi hielten zwei Bevollmächtigte die Zügel des Konzerns fest in der Hand. Mit Hilfe eines modernen Kommunikationssystems - sie verfügten über Fernschreiber, Funkund Drahttelefone - standen sie mit allen Niederlassungen des Konzerns in Verbindung. Mit dem Forschungslabor in Milano, mit den Fabriken in Italien, Nordeuropa und Übersee und mit den Anbaugebieten für Rohprodukte rund um den Erdball. Immer wenn L. Marachi im Palazzo weilte, wurde am Mast die Firmenflagge gesetzt. Sie war weiß, goldumrandet und zeigte als Familienwappen zwei Löwen, einen großen und einen kleinen. Es konnte sich um Vater und Sohn handeln. Wie das Wappen entstanden war und welchen tieferen Sinn die beiden unterschiedlichen Löwen hatten, dies herauszufinden war bis jetzt unmöglich gewesen. An diesem Tag im April war der Mast des Palazzo ohne Flagge. Aber die Fahne lag bereit, denn L. Marachi wurde erwartet. Hin und wieder trat Lucio Turini, der Generaldirektor des Konzerns, auf die Terrasse und suchte mit dem Fernglas die Bucht ab. Aus der sengenden Sonne wieder im Büro mit dem kühlen Marmorboden, sagte er zu seinem Stellvertreter: »Die Yacht ist noch nicht in Sicht.« Woraufhin Dott. Moffo meist mit einem Schulterzucken reagierte. 27
»Gibt ja noch andere Verkehrsmittel. Auto, Flugzeug, die Bahn.« »Kein Präsident des Konzerns benutzte seit dem Jahre 1944, als ein amerikanischer Mustang-Jäger den Salonwagen beschoß, jemals wieder die Eisenbahn. Der Salonwagen steht seitdem im Ausbesserungswerk in Neapel.« »Man sollte ihn ins Familienmuseum bringen lassen. Mit all den Blutspritzern.« Doch der Direktor hatte an diesem Tag andere Sorgen. »Ein Historiker aus Palermo schreibt zum zweihundertjährigen Bestehen der Firma ein Buch. Er bat um Unterlagen über die Entstehungsgeschichte des Löwenwappens.« »Es gibt keine Unterlagen«, bedauerte der Dottore. »Auch nicht bei den neuen Aktenfunden in Neapel?« Dott. Moffo lachte so bitter wie er seinen Espresso zu trinken pflegte. »Sie enthalten den Briefwechsel zwischen dem Großvater des Gründers. Fürst Raimondo Sansevero und der Königin von England.« »Das ist mir bekannt.« »Ferner ein Traktat über dieses ominöse Produkt, mit dem Sansevero, der Alchimist, sein Vermögen begründete.« »Beides veranlaßte uns die Suchaktion zu starten.« Dott. Moffo, der auch Produktmanager des Unternehmens war, steckte sich nervös eine Zigarette an. »Wo immer wir auch graben, nirgends fand sich bis jetzt die Rezeptur. Wir wissen ungefähr welche Wirkung dieses Naturprodukt hatte. Wir wissen, daß man damit Gewinne in Milliardenhöhe erzielen könnte, aber wir kennen die Zusammensetzung und die dazu verwendeten Rohstoffe nicht. Wir entdeckten keinerlei Hinweise. Weder in Italien noch in England.« »Bis jetzt«, schränkte der Direktor ein und nahm ein Ferngespräch aus New York entgegen. Seine Sekretärin hatte es auf den weißen Apparat gelegt, der zwischen dem blauen und dem roten auf seinem Schreibtisch stand. 28
Als er auflegte, war die Naturbräune des Süditalieners grauer Blässe gewichen. »In Cincinatti«, sagte er, »wurde heute nacht das Rohdrogenlager unserer Fabrik überfallen.« »Und?« fragte der Dottore entsetzt. »Ausgeraubt.« »Unmöglich! Die Opiate werden in Bunkern aus Stahlbeton verwahrt.« »Sie haben die Türen herausgesprengt und vorher die Alarmanlage abgeschaltet.« »Was erbeuteten sie?« »Mehrere hundert Kilo Kokain, Opiumbasen und vierzig Kilo reines H.« »Madonna!« stöhnte der Dottore. »Das wird uns die USRauschgiftbehörde schwer ankreiden.« Der Direktor nickte. »Und genau das beabsichtigt die Mafia.« Turini steckte sich eine Zigarette an und lief wie gehetzt im Büro auf und ab. »Mafia, Cosa Nostra«, rief er. »Ich habe immer vor ihnen gewarnt. Sie machen mit ihren Verbrechen Abermilliarden Dollar. Die wollen sie in seriöse Unternehmen investieren. Unter anderem haben sie sich dazu den Marachi-Leone-Konzern ausgesucht. Der Druck hält schon mehrere Monate an.« »Und verstärkt sich täglich«, ergänzte Dott. Moffo. »Aber was wollen Sie machen? Sollen wir etwa zum Verkauf raten?« »Um Gottes willen nein!« »Sobald wir mit Aktien auf den Markt gehen, raffen sie zusammen was sie kriegen können und haben eines Tages die Mehrheit.« Turini setzte sich und hob in einer verzweifelten Geste die Hände. »Die schaffen das noch.« »Wenn der Staat nicht einschreitet.« 29
»Gegen die Mafia? Niemals! Zu oft hat sich Rom dabei die Finger verbrannt.« »Gewöhnlich hat kein Zivilist, keine Bank, keine Unternehmergruppe gegen die Mafia die geringste Chance.« In diesem Moment erschütterte ein Kanonenschuß den Palazzo auf eine Weise, daß der Kronleuchter klirrte. »Der Böller«, rief Dott. Moffo und eilte auf die Terrasse. »Die Yacht hat angelegt.« Turini war durch die Nachricht insofern erleichtert, als ihm der Konzernchef jetzt wichtige Entscheidungen abnehmen würde. Wenige Minuten später stürzte die Chefsekretärin erregt ins Chefbüro. »Auf L. Marachi wurde geschossen.« »Mit dem Begrüßungsböller.« »Nein, mit einem Gewehr. Haben Sie den Knall nicht gehört, Signori?« »Nur den einen«, sagte der Dottore, »aber es war ziemlich laut und nahe.« »Unmittelbar mit dem Böllerschuß fiel der zweite.« Der Generaldirektor des Konzerns, wegen des Chefvortrags an diesem Tag trug er einen dunkelblauen Seidenanzug, stand auf und hielt sich an der Stuhllehne fest. »Was ist geschehen?« »Die Kugel ging vorbei.« »So etwas wagt niemand. Es muß sich um einen Irrtum handeln.« »Wohl kaum, denn sie erwischten den Schützen.« Im Park fuhr der Mercedes vor. Dann dauerte es nicht lange und einer der Leibwächter kam in den Nordflügel. Er bestätigte, was der Yachtkapitän herauftelefoniert hatte. »Wir haben den Täter.« »Wo ist er?« Der Leibwächter grinste. »Im Himmel.« 30
»Hat man ihn ...?« »Er hat sich selbst. Als er sah, daß seine Kugel danebenging und wir ihn kriegen würden, weil es von der äußeren Mole nur einen Fluchtweg gab, nämlich ins Wasser, und wir ihn auch dort erwischt hätten, steckte er sich den Lauf in den Mund.« »Den Gewehrlauf?« »Irgendwie betätigte er mit dem Fuß oder mit dem Zeh den Abzug. Leider nicht mehr zu erkennen, der Bursche. Wahrscheinlich ein Sizilianer.« »Sie wagen es also doch«, murmelte Turini. »Ich habe immer davor gewarnt. Man darf das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Sie fangen stets auf dieselbe Weise an. Ein Anruf, ein Brief, ein Abgesandter. Die erste Warnung, die zweite, dann schlagen sie ein Büro, eine Fabrik, ein Depot zu Klumpen, dann ein Schuß ins Bein, Entführung eines Familienmitglieds ...« Das Telefon schrillte. Diesmal das rote, das den Direktor mit dem obersten Chef verband. Schweißnaß in der Handfläche hob er ab und sagte: »Unsere Glückwünsche, daß es so gut ablief. Und willkommen in Amalfi. Sollen wir die Polizei verständigen?« Eine stählerne Stimme unterbrach ihn. »Nein, keine Polizei.« »Vom Gesetz her ...«, setzte der Direktor an. Sofort wurde er unterbrochen. Diesmal eher noch schärfer. »Vom Gesetz her ist das Leben jedes unbescholtenen Bürgers zu respektieren und vor verbrecherischen Anschlägen zu schützen. Wer schützt mein Leben, wer respektiert es? Niemand. Also interessiert mich auch das Gesetz nicht.« »Was sollen wir unternehmen? Kennen Sie schon die Meldung aus Cincinati?« »Sie verdarb mir den Genuß des Frühstücks«, lautete die Antwort. »Ich veranlaßte bereits Gegenmaßnahmen. Und was diesen Mafiosi-Schützen aus Sizilien betrifft, senden Sie ihn dorthin zurück, wo er hergekommen ist.« »Nach Palermo?« fragte der Direttore erstaunt. »Einen Toten?« 31
»So wie er ist, ohne Gesicht, in einem Plastiksack, den man in einen Sarg legen wird und den Sarg in einen Container.« »An welche Adresse?« fragte Direktor Turini. Die Antwort war ein Lachen, aber schneidend wie ein Sägeblatt. »An den Rechtsanwalt, der mir vor Wochen seine Aufwartung machte, um uns dieses Kaufangebot zu unterbreiten. Er wird schon wissen, wohin er die Leiche weiterzuleiten hat. - In zwei Stunden zum Lagevortrag bitte.« Damit war aufgelegt. Der Direktor leitete die Anweisung die Leiche betreffend an seinen Assistenten weiter. »Der Tag fängt ja gut an.« Er nahm eine Kreislauftablette. Wenig später näherte sich ein Hubschrauber dem Palazzo und setzte am Landekreuz im hinteren Teil des Parkes auf. Der Direktor ging zu seinem Stellvertreter hinüber, »Ist Ihnen ein Besucher gemeldet, Dottore Moffo?« »Laut Terminkalender erst um sechzehn Uhr. Der Präsident der Mezzogiorno-Bank.« »Wer kann das sein im Helikopter?« Der Dottore nahm die Brille ab. »Ist er grün-weiß?« »Soviel ich sehen konnte, ja.« »Ein amerikanisches Modell?« »Ich verstehe zu wenig von Helikoptertechnik.« »Aber grünweiß.« »Ja, zum Teufel!« Der Dottore setzte seine Brille wieder auf. »Dann will der Mann im Helikopter nicht zu uns, sondern zu L. Marachi.« »Und wer ist es bitte, da Sie schon alles zu wissen scheinen.« »Da muß ich passen«, gestand der Dottore. »Was mir auffällt ist jedoch die Tatsache, daß in letzter Zeit gewisse Dinge an uns vorbeilaufen.« »Was für Dinge?« »Geschäftliche Entscheidungen.« 32
Der Generaldirektor, der hoffte demnächst sogar Vizepräsident zu werden, tat dies mit einer Handbewegung ab. »Unmöglich! Das müßte ich festgestellt haben.« »Es gibt«, deutete der Dottore an, »möglicherweise Geheimdienste, die noch effektiver sind als Ihr hauseigener, mein lieber Turini.« Turini machte kehrt, daß sein Gummiabsatz auf dem Marmor quietschte. Vom Balkon seines Büros aus sah er den Passagier des Hubschraubers durch den Park kommen. Ein Mann, den sich Turini in keiner Sportart als Gegner gewünscht hätte. Er war etwa einsneunzig groß, bewegte sich wie ein Athlet mit zuviel Muskeln, legte aber eine äußerst wache Art, sich umzusehen und seine Umgebung aufzunehmen, an den Tag. Man konnte nicht sagen, daß es sich um einen gutaussehenden Burschen handelte, was wohl an der Totalglatze lag. Sein Kopf war so glattrasiert, daß die Haut glänzte. Am Säulenportal nahm der Diener den Gast in Empfang und führte ihn sogleich in den Südflügel, wo L. Marachi residierte. »Mister Lawrence«, meldete der Diener. Leona Marachi ging, was selten vorkam, auf den Besucher zu. Sie duldete auch, daß er ihre Hand nahm und sie küßte. Er brachte dies zustande ohne sich an dem übergroßen Brillantring zu verletzen. »Seit wann nennen Sie sich Lawrence?« fragte die schöne, aber eiskalt wirkende Contessa. »Ich halte Caine Lawrence für besser. Es gelang uns einen Mann ausfindig zu machen, der diesen Namen trug und vor kurzem verstarb.« »Bliebe noch Ihr Akzent, Josef«, bemerkte die etwa dreißigjährige dunkelhaarige Italienerin, die so klug war wie hart, so berechnend wie schön, so elegant wie zielstrebig. »Am Akzent schleife ich«, erwiderte der Besucher noch slawisch hart. 33
»Schleifen Sie besser an unserem Problem«, riet ihm die letzte Marachi, der man völlig zutreffend, den Namen Leona, die Löwin, ins Geburtenregister geschrieben hatte. Sie bat den Glatzkopf Platz zu nehmen, läutete dem Diener, und als dieser eintrat, fragte sie den Gast: »Wein, Whisky, Champagner?« »Tee«, bat Lawrence und deutete zwischen Daumen und Zeigefinger einen Spalt an, »mit einem winzigen Schuß Wodka.« Danach ließ Leona dem Besucher nicht mehr viel Zeit. »Kommen wir zu dem, was Sache ist«, schlug sie vor. »Großer Löwe, kleiner Löwe«, deutete Lawrence an. »Sie meinen gewiß nicht unser Firmensymbol.« »Mehr das, was dahintersteckt, Contessa.« »Daran arbeiten wir noch.« »Wie lange?« »Solange mich die Mafia läßt«, rückte Leona mit der Wahrheit heraus. »Daß wir Erfolg haben werden, ist sicher. Wir sind sehr bemüht, sowohl bei der Suche nach Dokumenten als auch bei der Auswertung derjenigen, die wir fanden. Derzeit verfolgen wir Spuren, die sich bis an die Küsten Britaniens ziehen. Wir werden das Geheimnis der Alchimistenküche des Fürsten Sansevero enträtseln, vorausgesetzt, man läßt mir die Zeit dazu.« »Wer«, fragte der Besucher mit dem Tarnnamen, »sollte Sie, Leona, daran hindern?« Sie atmete tief ein. Unter der Bluse zeichneten sich die nackten Brüste ab, als sie sich dem Mosaiktisch neben dem Sofa zuwandte. Einer Mappe entnahm sie ein Foto. Dieses zeigte sie dem Besucher. »Eine Polaroidaufnahme, geknipst vor zwei Stunden.« Lawrence hielt das Foto ins Licht. »Ein Mann, böse zugerichtet.« »Wie der Gewehrschuß in den Mund einen Menschen eben verunstaltet. Aber die Kugel, die den Gewehrlauf vor dem Selbstmord verließ, galt mir. Ich hörte sie dicht am Ohr vorbeisingen.« 34
Lawrence legte das Foto auf den mit Intarsien verzierten Tisch. »Wer?« »Ein Killer jener Leute, die Marachi-Leone aufkaufen wollen.« »Und wer steckt dahinter?« »Die Mafia.« Lawrence lachte. »Das beliebte italienische Mafiamärchen.« Die strengen Madonnenzüge der Contessa veränderten sich auffällig. Was sie dachte, drückte sich in der Art, wie sie ihre Zigarette in den Ascher stieß, aus. »Ohne mich kein Ergebnis. Entweder man bewahrt mich vor den Angriffen der Mafia, oder es gibt mich bald nicht mehr, mein Freund.« »Dieses geheimnisvolle Medikament«, erwiderte Lawrence, »ist vielleicht wichtiger als eine Milliarde Dollar, die man in die Rüstung steckt.« »Dann schützen Sie mich gefälligst.« »Dazu ist nicht einmal die italienische Regierung fähig.« Ihr Mund verhärtete sich zu einem zynischen Lächeln. »Die italienische Regierung, was ist das schon. Aber Sie, Lawrence, vertreten eine Weltmacht. Die zweitgrößte ...« »Die größte«, verbesserte sie der glatzköpfige Besucher. »Um so besser. Dann unternehmen Sie gefälligst etwas.« »Bitte«, ergänzte der Besucher. »Also gut, va bene, bitte tun Sie etwas. Ohne meine Sicherheit gibt es keine Zusammenarbeit.« Der Besucher hatte verstanden. Diese Frau stellte keine unnötigen Forderungen, aber was sie verlangte, war unabdingbar. Auf dieser Basis setzten sie die Verhandlungen fort. Sie dauerten bis 15 Uhr, weit über die bei Italienern heilige Siestazeit hinaus. Dann störte sie der Privatsekretär der Contessa. Er flüsterte der Konzernpräsidentin unangenehme Meldungen aus England zu. 35
Daraufhin verabschiedete Leona Marachi ihren Gast schnell und gab Order, daß sich der Pilot des Firmen-Jets für einen Flug nach Bristol bereitzuhalten habe. »Bis in einer Stunde«, wünschte sie. Ihr Sekretär erinnerte an den Vortrag von Direktor Turini. »Das kann warten«, entschied die Contessa messerscharf, als schneide sie eine hauchdünne Scheibe Salami ab.
4. Sie tauchten hier das ganze Jahr über. Sie tauchten auch im Winter, aber im Sommer war Saison. Speziell in der Mounts Bay, zwischen Kap Lands-End und Lizard Point, dem größten Segelschifffriedhof der Welt. Gute Taucher machten hier immer Beute. Millionen Dollar an Gold, Silber und Edelsteinen lagen noch ungehoben in den Rümpfen der gesunkenen Schiffe. Totzdem war die Crew von Commander Stew höchst unzufrieden. Als sie meuterte, rief sie der Commander in die Kajüte seines Tauchkatamarans. »Freunde«, begann er, »so geht es nicht weiter. Pit brachte einen Eimer französischer Goldlouisdors herauf, und Maxwell gar ein spanisches Kreuz mit Rubinen und Smaragden. Mir geht es in diesem Jahr nicht um Schätze dieser Art.« »Sollen wir sie im Sand liegenlassen?« entgegneten sie aufgebracht. »Ihr seid für ein Festgeld von zweitausend Pfund pro Monat angeheuert. Das ist genug, denke ich.« »Das Zeug liegt doch nur so herum.«
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Aber das konnten sie einem erfahrenen Taucher wie Stew nicht weismachen. Er war Lehrer an der Wracktaucherschule der Royal Navy gewesen, hatte die Teams bei den Ölplattformen trainiert und galt obendrein als erstklassiger Marine-Historiker. »Das Zeug liegt nicht einfach herum«, fuhr er sie an. »Man muß es suchen. Das kostet Zeit. Ich habe eure Zeit bezahlt. Also sucht gefälligst das, was ich euch auftrage.« »Die Spanten dieser alten Fregatte.« »Oder ihr holt eure Papiere und steigt aus.« Das wollten sie auch nicht, denn ohne Stews erstklassige technische Ausrüstung waren sie so gute Taucher wie ein Mann, der nur einen Propeller sein eigen nannte, ein Luftfahrer war. Commander Stew hatte seinen Katamaran speziell für Tauchunternehmungen bauen lassen und ihn mit allem was dazugehörte ausgerüstet. Unter anderem mit Magnetometern, die auf Metall ansprachen, mit Sonarabtastern, mit TV-Kameras, die geschleppt werden konnten und einer Propwash-Anlage. Gebaut nach Andy Stews Plänen ließen sich damit die ständig wandernden Sandbänke entweder absaugen oder fortblasen. Das Ding war wie ein Rüssel und arbeitete zusammen mit den Propellern der zwei 500-PS-Diesel. »Also«, fragte Commander Stew und blickte seine Leute der Reihe nach an, »wer will die Papiere?« Weil nach den Heuerverträgen eine Konventionalstrafe fällig war, wenn sie abmusterten, trieb es keiner bis zum Äußersten. Auch nicht Pit, ihr Wortführer. Aber in einem Punkt bildeten sie eine Front gegen den Boß. »Wir fordern Gefahrenzuschlag.« Jetzt lachte der Commander, ein rothaariger Hüne von nahezu zwei Metern Körperlänge. »Wegen der paar Spione, die uns von Land aus beobachten?« »Sie haben unsere Bojen versetzt.« »Das kann auch der Ebbstrom gewesen sein«, erwiderte Stew gegen besseres Wissen. »Und die Schüsse kürzlich vor den Bug?« 37
»Da fischt irgendwo ein Wahnsinniger mit Handgranaten, damit die Fische mit geplatzten Blasen hochtreiben und er sie nur einzusammeln braucht.« »Über mich ist einer gezielt mit dem Speed-Boot hinweggefahren. Die Schraubenflügel haben meine Preßluftflasche geschrammt.« Und ein anderer sagte: »In meiner Nähe haben sie eine Sprengladung gezündet. Ich war minutenlang wie betäubt vom Wasserdruck.« Stew kannte all diese Geschichten. »Das passiert immer«, schwächte er ab. »Wo gejagt wird gibt es Wilderer, und wo Wracks liegen gibt es Wrackpiraten.« »In diesem Jahr und hier gibt es aber besonders viele davon.« »Laßt euch nicht entmutigen, Männer.« Pit hatte einen letzten Einwand. »Und wo ist der Deutsche geblieben, dieser Captain Sperber?« Nun belog sie der Boß zum ersten Mal. »Er ist ausgestiegen«, antwortete er. »Aber wegen einer anderen Sache. Eine Frauengeschichte.« Immerhin handelten sie einen Zuschlag von zwei Pfund pro Tauchstunde heraus. »Los, wieder an die Arbeit! » befahl der Commander. »Und noch mal, es geht nur um die Wrackteile dieser Fregatte. Sie hatte keine Ladung, macht euch also keine Illusionen.« Die Männer kletterten an Deck. Sie ließen den Generator für die Elektronik und für die Lampen an, die das Umfeld des Schiffes erhellten. Dann schnallten sie ihre Aqualungen fest, die Unterwasserscheinwerfer, und tauchten ab.
Der Ebbstrom riß sie im Treibsand fast um. Aber sie waren mit Leinen an der Ankerkette des Katamarans gesichert und arbeiteten weiter. Der Boß legte auf jedes Stück Holz dieser verdammten Korvette Wert. Warum, das wußten nur er und der Teufel. 38
Dann kam Sturm auf. Durch ihn verstärkten sich die Tidenströme, Innerhalb eines Tages veränderte sich die Unterwasserlandschaft völlig. Draußen bei den Scilly-Inseln verschwand der Turm des deutschen Weltkrieg-II-U-Bootes. Das Wrack war wohl für immer vom Meer verschlungen worden. Als die nächste Schicht am Morgen abtauchte, sahen sie das Wrack der Fregatte Star of Gibraltar deutlicher denn je. Es lag auf dem Sand wie das Gerippe eines abgenagten Kamels in der Sahara. Über Kabeltelefon riefen sie den Commander herunter. In den nächsten Tagen leitete Stew persönlich die Bergungsarbeiten der Hölzer. Er gönnte seinen Männern und sich keine Pause. Als das letzte brauchbare Stück oben lag, waren sie dermaßen übermüdet, daß sie kaum noch zu schlafen vermochten. »Nun hat er endlich alles, was er suchte«, sagte Pit. »Stew ist doch niemals zufrieden.« »Was er bloß will mit den alten Spanten.« »Er hockt ständig über historischen Schriften und Plänen«, steuerte ein anderer bei. »Mir erzählte er, daß vor zweihundertfünfzig Jahren ein Verband der königlichen Marine aus Indien nach England zurückgekehrt sei. Im Sturm versuchte sich die Fregatte Star of Gibraltar in diese Bucht zu retten. Die anderen Schiffe wurden gegen die Felsen getrieben und zerschellten. Der Kapitän der Fregatte wollte zwischen den Meedlees hindurchschlüpfen. Es half ihm offenbar wenig.« »Warum solches Theater mit einem Schiff ohne Goldladung?« »Deshalb blieb es bis heute auch unangetastet.« »Erkläre mir einer, warum wir es ausgerechnet in diesem Sommer suchten wie einen Pfirsichkern in der Kirschtorte.« »Vermutlich liegen neue Erkenntnisse vor.« »Von wem und über was?« »Schätze, der Commander arbeitet im Auftrag der Royal Navy oder so.« 39
»Oder der Geheimdienste«, murmelte einer. »Für den MI-6 hat er schon so manches rausgefischt. Ich erinnere nur an das unbekannte Aufklärungsflugzeug und an die russischen Klein-UBoote in den schottischen Schären.« »Seinen Schnitt wird er schon machen«, sagte Pit. Dann hörten sie Schritte an Deck. Sie löschten das Licht und versuchten zu schlafen.
Andy Stew verfügte nicht nur über ein Wrackverzeichnis, um das ihn die Lloyds-Versicherung beneidete, er besaß auch Baupläne aller in diesem Gebiet gestrandeten Schiffe. Er war fast hundertprozentig sicher, daß die geborgenen Holzteile zu der Fregatte Star of Gibraltar gehörten. Der letzte Beweis dafür fehlte ihm allerdings. Er ließ also eine Aqualunge klarmachen und tauchte noch einmal ab. Die Sicht auf dreißig Meter Tiefe war außerordentlich schlecht. Wehender Treibsand bildete Unterwassernebel. Der Strom riß ihn beinahe um. Stew schäkelte sich in die Bojentrosse ein und arbeitete sich bis zu den letzten Wrackstücken vor. An Resten, die noch aus dem Sand ragten, suchte er nach Hinweisen auf deren Zugehörigkeit. Gekennzeichnete Kanonen, die Glocke, den Anker, Metallteile hatte man bis jetzt leider nicht gefunden. Sein Luftvorrat ging schon zu Ende, da entdeckte er eine Steinplatte, die jedoch aus Bronze war. Stew glaubte, darin Vertiefungen zu sehen. Er tastete sie ab. Es ergaben sich Buchstaben und Ziffern. Februar 1708. Baldham. Das konnte stimmen. Die Fregatte war vom Schiffsbaumeister Baldham im Auftrag der Königin an der Themse erbaut worden. Der Rest an Zweifeln war damit beseitigt. 40
Andy Stew machte sich klar zur Rückkehr an Bord des Katamarans, da bewegte sich im Kegel des Handscheinwerfers ein Schatten, Es gab Haie hier, aber das dort war kein Fisch. Drei Dinge tat der erfahrene Taucher sekundenschnell. Er löste den Karabinerhaken, der ihn mit der Bojentrosse verband, vom Bleigürtel, öffnete den Patentverschluß des Gürtels, so daß er Auftrieb bekam, und riß das Messer aus dem Gummiband an der Wade. Da sah er die Harpune auf sich zuschießen. Er rollte vorwärts ab. Klirrend traf die Stahlspitze seinen Lufttank. In der Drehung, die die Lampe mitmachte, erkannte er einen zweiten Körper, der ebenfalls nicht der eines Fisches war. Zwei fremde Taucher nahmen ihn in die Zange. Stew griff denjenigen, der näher war, an. Von unten kommend stieß er ihm das Messer in den Neoprenanzug. Dadurch schoß der Gegner seine Harpune unvisiert ab. Sie traf den zweiten Taucher im Oberschenkel weit oben. Bedingt durch die unterschiedlichen Druckverhältnisse quoll sofort Blut aus der Wunde und wehte wie ein roter Schleier davon. Der Getroffene versuchte mit raschen Flossenbewegungen seines intakten Fußes zu fliehen. Commander Stew hätte ihn mühelos eingeholt, wenn er nicht unerwartet gepackt und an die Wasseroberfläche gezogen worden wäre. Er versuchte sich zu wehren. Vergebens. Erst an Deck eines Schiffes kam er wieder zu sich. Es war sein eigenes Fahrzeug. »Was zum Teufel«, keuchte er und sah seinen Männern die Betroffenheit an. An der Bewegung der Boje hatten sie bemerkt, daß sich unter Wasser etwas Außergewöhnliches ereignet haben mußte. Außerdem lag nahebei, im Dunst des grauenden Morgens, ein 41
Motorboot vor Anker. Sie waren dem Boß zu Hilfe geeilt und hatten ihn dadurch gehindert, des Gegners habhaft zu werden. »Schon gut«, beherrschte sich der Commander. »Ich denke hier gibt's nichts mehr zu tun für uns. Anker auf und Kurs Falmouth.« Er fuhr gleich nach Falmouth, weil von diesem Hafen der Weg zum Röntgenlabor nur halb so weit war. Das Röntgenlabor Dr. Stirling lag am Stadtrand von Plymouth in der Grafschaft Davon. Dr. Stirling besaß einen guten Ruf als Fachmann für die Bestimmung von Wracktrümmern jeder Ar t. Auf dem Lagerplatz seines Labors wurden die Holzteile der Fregatte Star of Gibraltar zunächst gestapelt. Stück für Stück wurden sie grob mit Magnetsonden untersucht und in handliche zwei Fuß lange Stücke zersägt. Nur in dieser Große paßten sie in die hochempfindliche Meßapparatur. Als Commander Stew bei Dr. Stirling vorbeischaute, war es schon später Abend. Die beiden kannten sich seit vielen Jahren. Dr. Stirling war dem Commander schon bei der Bestimmung der Archibald Castle behilflich gewesen. Aber diesmal hatte der Röntgenologe starke Zweifel. »Sind Sie sicher, Stew, daß es sich um Teile des gesuchten Schiffes handelt?« »Unbedingt. Warum fragen Sie, Doktor?« »Nun, die Untersuchungen sind nicht gerade billig.« »Ist es Ihr Geld, Doktor?« »Naturlich nein, aber vergessen Sie nicht, daß vor Britanniens Küsten ungefähr zweihundertfünfzigtausend Wracks liegen.« »Nur ein Teil davon liegt vor Cornwall.« »Immer noch genug, um sich zu irren.« »Was fanden Sie bis jetzt, Doktor?« drängte der Commander. Der Experte nahm die Brille ab und zog seinen weißen Labormantel aus. Nach einem anstrengenden Arbeitstag wollte er Schluß machen und nach Hause fahren. »Nichts bis jetzt. Nur ein paar Kupfernägel.« 42
»Das ist bedauerlich.« »Hören Sie, Commander«, Dr. Stirling wurde deutlicher. »Wenn Sie mir sagen wonach ich suchen soll, wäre es leichter.« Der Commander wollte seine Unwissenheit nicht eingestehen. Er selbst hatte keine Ahnung, um was es ging. Irgend etwas Eiförmiges aus Metall sollte es sein. Angeblich war es an Bord der Fregatte so gut versteckt gewesen, daß nicht einmal Seeräuber es gefunden hatten. Aber es mußte vorhanden sein, falls den amtlichen Dokumenten zu glauben war. »Das Holz enthält das Geheimnis«, erklärte er. »Suchen Sie, holen Sie mir alles heraus, was sich in den Eichenbalken befindet. Kosten spielen keine Rolle.« Der Röntgenologe wußte, daß es wenig Sinn hatte weiter in den Commander zu dringen. »Sie vermuten einen Behälter mit Aufzeichnungen über die Ladung anderer Goldgaleeren.« Andy Stew grinste, daß sich sein unrasiertes Gesicht in Falten legte. »So ist es, Doktor«, »Ich rufe Sie an, sobald wir es haben.« »Ich verlasse mich auf Sie, Doktor.« Der Commander ging, bestieg draußen seinen Range Rover und fuhr wieder nach Falmouth zurück. Kaum hatte er das Gelände der Stirling-Labors verlassen, öffnete sich im Büro eine Seitentür, und ein Mann betrat den Raum. Er trug einen maßgeschneiderten Zweireiher. Sein Hemd und seine Schuhe waren von modischem Schnitt. »Hat er es geschluckt?« fragte er. »Ja, er hat«, antwortete Dr. Stirling. »Sie werden das Ding niemals finden, Doktor.« Der Röntgenologe zog seinen Burberry-Mantel an, setzte die karierte Six-Pence-Mütze auf und nahm seinen Aktenkoffer. »Niemals, natürlich.« 43
»Und Sie wissen von nichts.« »Von nichts«, bestätigte Dr. Stirling. »Wir kennen uns auch nicht«, forderte der elegante Bursche mit dem Akzent. »Wir haben uns nie gesehen«, versicherte der Laborchef, dem seine Sicherheit und das Wohlbefinden seiner Familie mehr wert war als die Loyalität einem Kunden gegenüber. Auch zur Polizei wagte er nicht zu gehen. Für diesen Fall hatte man die Entführung seiner sechsjährigen Tochter angedroht.
Alarmiert durch den Telefonanruf eines Landwirts fand die Polizei nahe der Straße Nr. 390 ein Fahrzeugwrack. Es stand inmitten eines Feldes voll blaublühender Bitterlupinen. Den stickstoffliefernden Pflanzen hatte der Molotow-Cocktail wenig anzuhaben vermocht. Desto mehr jedoch dem weißen Range Rover. Was an ihm brennbar gewesen war, war auch verbrannt. Den Fahrer hatte das Feuer nur deshalb verschont, weil es ihm noch gelungen war den Geländewagen zu verlassen. Weit war er nicht gekommen. »Neun Yards«, las der Kriminalbeamte vom Maßband ab. »Fing er Feuer?« »Er walzte sich noch im Acker, um es zu ersticken.« »Todesursache?« Die Leiche wurde untersucht. »Todesursache«, lautete das Ergebnis, »nicht erkennbar. Kein Schuß, keine Schlagwunde, kein Messerstich.« »Dann muß er obduziert werden.« Sie suchten weiter, fanden im Wagen aber keine Papiere und bei dem Toten auch nichts. Schließlich gelang es nach mehreren Funkgesprächen und anhand des Nummernschildes wenigstens den Besitzer des Range Rovers zu ermitteln. 44
Es handelte sich um einen gewissen Andy Stew, Inhaber eines Tauchunternehmers, eines Bergungsbetriebes und einer Taucherschule in Cornwall. »Commander Stew«, bemerkte der Kriminalinspektor, »ziemlich bekannter Mann hier. War früher bei der Navy.« »Handelt es sich bei dem Toten mit Sicherheit um Commander Stew?« »Ich kenne ihn nicht persönlich«, bedauerte der Beamte. »Laden wir Leute vor, die mit ihm zu tun hatten.« Am Abend war alles klar. Taucher aus Andy Stews Team hatten den Toten eindeutig als ihren Commander identifiziert. Nur die Ursache für sein Ende blieb rätselhaft. Auf Grund der Sachlage neigte man jedoch zu der Annahme, daß ein Verbrechen und kein Unfall vorlag. Um rasche Klärung herbeizuführen, schaltete man die Experten von Scotland Yard ein.
5. Die Beerdigung fand im engsten Kreise statt. Der BND-Agent Robert Urban war nur deshalb nach Bremerhaven gekommen, weil ihm Jenny Jannings diesen Brief geschrieben hatte. Jetzt stand er auf dem kleinen Friedhof in Geestemünde, ein wenig abseits, im Schatten von Trauerweiden. Vom offenen Grab herüber vernahm er die Worte des Geistlichen wie leises Murmeln. Unter den Schwarzgekleideten ragte der Blondkopf der Friesin heraus wie ein goldener Helm. Urban dachte an den Abend mit ihr, an die Nacht vor einer Woche, dann an den Anruf gestern. 45
»Sie haben ihn überführt«, hatte ihm Jenny mitgeteilt, »Oder heißt es übergeführt? Jedenfalls wird er Donnerstag beerdigt.« »Das ist morgen.« »Ich möchte, daß du kommst, Bob«, hatte sie ihn gebeten. »Ich habe ihn nie kennengelernt.« »Trotzdem.« »Er ist mir so gleichgültig, als würde man eine Kiste mit Steinen in die Erde senken«, versuchte er sich herauszumogeln. »Stellst du nie Beziehungen zu Personen her, die dir in so einem Fall oder Job, oder wie du es nennen magst, begegnen?« »Selten zu Menschen, die mir fremd sind, niemals zu Toten.« »Auch wenn es sich um Schlüsselfiguren handelt?« »Man befaßt sich mit ihnen, taucht notgedrungen in ihr Leben ein. Selbst wenn sie Ergebnisse lieferten, vergißt man sie.« »Erst recht wenn sie keine Erkenntnisse brachten«, ergänzte Jenny. »Dann um so schneller.« »Wie ist es mit lebenden Randfiguren, die gar nicht in der Lage sind Ergebnisse beizusteuern?« wollte sie wissen. Er ahnte wohin diese Frage zielte. »Kommt darauf an.« »Auf was?« »Dich«, sagte er, »werde ich nicht vergessen, Deern. Von dir wird immer eine Blume zwischen den Blättern meiner Erinnerung liegen.« »Gepreßt und getrocknet.« »Aber noch sehr bunt anzusehen«, gestand er. Immerhin war sie eines von den Abenteuern mit Langzeitwirkung gewesen. Gewiß hat sie noch was auf dem Herzen, dachte er, sonst würde sie nicht anrufen. »Kommst du wieder einmal nach Bremen, Bob?« »Wenn es sich einrichten läßt.« »Und wenn ich dich bitte rasch zu kommen?« »Weil morgen Max Sperber beerdigt wird?« »Nein, nur meinetwegen und einer anderen Sache wegen.« 46
Vorsichtig fragte er, um welche andere Sache es sich handle. Darauf Jenny Jannings: »Warst du heute schon am Briefkasten?« Nun gehörte Urban zu den Leuten, die nicht gerne Post bekamen. Keine Post ist eine gute Post, gehörte zu seinen stehenden Reden. Briefe las er selten, handgeschriebene möglichst überhaupt nicht. Bei Ansichtspostkarten interessierte ihn nur das Bild und die Unterschrift. Rechnungen zahlte er um den Ersten herum. »Ich leere den Kasten nur einmal in der Woche.« »Du wirst etwas von mir vorfinden«, deutete sie an, »in einem Umschlag. Ich habe nichts dazu geschrieben. Der Inhalt wird für sich sprechen. Ich rufe an, um mich zu überzeugen, daß du die Sendung erhalten hast.« »Dann sag mir, um was es sich handelt, und ich spare mir den Weg.« »Tut mir leid, das ist unmöglich. Es hat mit dem Fall zu tun. Du rufst zurück, ja?« Er hatte zurückgerufen, nachdem er den Umschlag mit der Ansichtskarte geholt, gelesen und verarbeitet hatte. Die Karte kam aus England, genauer aus einem Nest in der Grafschaft Cornwall. Sie zeigte einen kleinen Hafen umgeben von den Felsen einer Steilküste. Alles hübsch und romantisch mit Leuchtturm, Fischerbooten und kleinen bunten Häusern. Die Karte stammte von einem gewissen Andy Stew. Er schrieb: Du hattest recht auszusteigen, Max. Die Killerfische sind hinter mir her. Daraufhin hatte Urban Jenny angerufen. »Danke für die Karte.« »Ich würde dich gerne sehen«, gestand sie, »und noch mehr. Jetzt wo du die Karte in Händen hast, wirst du natürlich nicht heraufkommen.« »Vielleicht auf dem Rückweg aus Cornwall«, sagte er. »Ich habe aber das Gefühl, daß man mich beobachtet.« »Bist du sicher?« 47
»Es ist kein Trick, um dich nach Bremerhaven zu locken. Gibt es nicht einen schattigen Waldweg nach England, der über Bremen führt?« »Ich komme«, entschied er. »Bis dann!«
Und jetzt stand er unter der Weide. Der Sarg war hinabgelassen worden. Sie warfen Blumen und Erde. Wenig später löste sich die Trauergesellschaft auf. Auch Urban setzte sich in Bewegung. Mit Jenny Jannings hatte er verabredet, daß sie sich in ihrer Wohnung treffen wollten. Zuerst folgte er dem knappen Dutzend Trauernder vorbei an der Kapelle bis zur Friedhofspforte. Dort standen mehrere Privatwagen. Als langjährige Freundin Sperbers begleitete Jenny den Onkel des Kapitänleutnants zu einem Imbiß in ein Stadtrestaurant. Daß sie beobachtet oder verfolgt wurde, konnte Urban nicht feststellen. Er wartete eine Zigarettenlänge, begab sich zu seinem BMW und fuhr an die Weser hinaus. Punkt 16 Uhr 20 hatten sie Kapitänleutnant Sperbers sterbliche Hülle in die Erde gesenkt. Jetzt ging es auf 21 Uhr, und die Nacht kam. Vier Stunden für einen Leichenschmaus, rechnete Urban, sollten eigentlich genug sein. Noch in dieser Nacht wollte er runter bis Calais, um die erste Hoover-Craft-Fähre nach Ramsgate zu erwischen. Allmählich wurde die Zeit knapp dafür. Er hatte die Tür zur Terrasse geöffnet, hatte sich einen von Jennys Rattansesseln in Position geschoben und saß nun da, rauchte, süffelte von ihrem gelben Genever und spähte durch das Gitter zur Straße hinab. Sie führte in weiter Kurve um das Apartmenthaus herum und dann leicht bergauf. Der Verkehr war mäßig. Frequenz etwa zwei Wagen pro Minute. Die Autos fuhren meist vorbei. Nur wenige parkten im 48
überblickbaren Teil der Straße oder bogen in die Garagenhöfe und Tiefgarage ab. Urban schaltete das Fernsehgerät ein, stellte den Ton aber so, daß das Telefon nicht zu überhören war. Das Licht löschte er und wartete weiter. Gegen 21 Uhr 15 rief das Hauptquartier an. Einer der Assistenten des Operationschefs gab durch, was man in bezug auf Andy Stew ermittelt hatte. »Stew gilt als einer der erfahrensten Taucher Englands. Er reorganisierte nach dem Krieg die Taucherei sowie die Froschmannverbände der Royal Navy und modernisierte sie in Technik und Training. Eines Tages boten ihm Ölbohrfirmen in der Nordsee eine Chance und viel Geld. Als Commander quittierte er den Dienst, arbeitete für verschiedene Off-Shore-Konzerne, war privat als Wracktaucher tätig, aber auch in Sonderaufträgen für die Navy. Stew ist erstklassig beleumundet. Er gilt als vermögend, aber auch als knauserig, was nicht als unehrenhaft bezeichnet werden kann. Wir ermitteln weiter.« »Vielleicht«, sagte Urban, »läßt sich feststellen, welche Verbindung zwischen Commander Stew und Kapitänleutnant Sperber bestand. Aber macht ihn nicht scheu. Die persönliche Befragung Stews behalte ich mir vor.« »Er wird von unseren Recherchen nichts merken«, versicherte man ihm. Urban begab sich wieder in den Rohrsessel und steckte sich eine neue MC an. Dabei stellte er fest, daß er die Ankunft einer dunkelblauen Limousine nahe dem Eingang des Hauses verpaßt hatte. Ein Taxi war es nicht. Taxis hatten bundesweit helle Farben. Die Fondtür des Wagens war soeben zugefallen. Urban hatte noch den satten Schlag vernommen. Nun sah er eine schlanke Gestalt auf das Haus zugehen und hörte ihre schnellen Schritte. Gespannt wartete er auf das Summen des Lifts. Der Lift glitt nach unten, ruckte nach einer Weile wieder an, fuhr herauf und rastete im Obergeschoß ein. 49
Die Lamellentür schliff auf, der Teppichbelag im Flur dämpfte jedoch den Schritt. Urban drückte die Zigarette aus. Im Türschloß bewegte sich etwas. Der Riegel schnappte sehr dezent. Die Türunterkante bürstete ein wenig den Teppichflor. Zug entstand von der Terrassentür durch die Wohnung ins Treppenhaus. Urban dachte daran Hallo zu rufen, unterließ es aber. Jenny wußte, daß er auf sie wartete und würde ihn schon finden. Er rechnete damit, daß sie Licht machte. Doch sie machte kein Licht. Das irritierte ihn. Er stand auf, um ihr entgegenzugehen. Das Korbmöbel knarrte leise. Das Knarren war deutlicher als der gedämpfte Ton im Fernsehgerät und von völlig anderer Art. Die schlanke Gestalt blieb im Rundbogen zwischen Eingang und Wohnraum stehen, geduckt wie ein Tier, das Gefahr wittert. In dieser Sekunde sah Urban etwas und hechtete in Deckung. Der Reflex des Bildschirms schimmerte auf einer Waffe. Noch während seines Sprunges hinter die Polstermöbel fiel der gedämpfte Schuß. Er war reaktionsschnell abgefeuert, aber schlecht gezielt worden. Profis versuchten gewöhnlich zu treffen, wenn sie am Abzug rissen. Ein Warnschuß besagte aber nicht unbedingt, daß es sich um einen Anfänger handelte. Der Mann, der Jennys Schlüssel gehabt hatte, sprang frei, ging in die Hocke, um ein kleines Ziel zu bieten und schoß mit ausgestrecktem Arm drei-, viermal. Urban sah die Mündungsflamme aus dem Schalldämpfer züngeln. Welche Waffe der Mann auch benutzte, sie verfügte bestenfalls noch über zwei Patronen. Am Boden liegend, stemmte sich Urban mit den Füßen gegen die Wand, packte den Clubsessel bei den Rollen und schob ihn mit aller Kraft in Richtung auf den wildgewordenen Killer. 50
Der Sessel glitt gut auf dem Velour und traf den Unbekannten in Kniehöhe. Er stürzte vornüber in den Sessel. Dabei schoß er noch einmal ungezielt. Ehe er wieder auf den Füßen war, traf ihn Urbans Handkante im Nacken. Aber es war, als hämmere er gegen ein Stahlkorsett. Der Unbekannte vollführte eine Drehung, kam auf die Beine, so schnell, als entspanne sich eine Spiralfeder, und schlug mit der offenbar leergeschossenen Waffe zu. Urban drosch sie ihm aus der Hand, mußte aber einen beachtlichen Boxhieb einstecken. Zwar verdaute er ihn binnen weniger Sekunden, dies genügte aber dem Unbekannten, um die Flucht zu ergreifen. Er sprang in Richtung Wohnungstür. Urban setzte ihm nach, verfehlte ihn jedoch um we nige Zentimeter. Der andere schloß die Tür und sperrte von außen ab. Bis Urban sie geöffnet hatte, war der Killer im Lift und auf dem Weg nach unten. Urban, froh daß er es überlebt hatte, stürzte zur Terrasse. Ein Anlasser ging. Der lange Schlanke hastete aus dem Eingang, sprang in den anfahrenden Wagen und war weg. Der Fahrer hatte die Beleuchtung nicht eingeschaltet. Trotzdem glaubte Urban zu hören, daß es sich um einen Motor mit sportlichem Auspuffklang handelte. Im Licht der Peitschenlampe sah er noch das Kennzeichen. Es war schwarz mit silbernen Buchstaben. Ein britisches Fahrzeug also, ein Jaguar. Im Kennzeichen glaubte er ein Q, ein X sowie die Ziffern 8 und 4 zu lesen. Was allerdings nicht zu der englischen Limousine paßte, war die Waffe, eine italienische Beretta, Kaliber 7,65 Millimeter. Wegen der Fingerabdrücke wickelte er sie vorsichtig in ein Papiertaschentuch. Dann verließ er Jennys Wohnung. 51
Daß sie in dieser Nacht noch kommen würde, schien äußerst zweifelhaft. Der Bursche hatte den Schlüssel gehabt, also hatte er auch das Mädchen. Jennys Verdacht, beobachtet zu werden, war also kein leerer Wahn gewesen. Eine Gruppe von Personen hatte sie als Honigfalle benutzt. Natürlich ohne ihr Wissen. Sonst hätte sie ihm die Postkarte aus Cornwall nicht zugeschickt. Allerdings lagen zwischen dem Absendedatum ihres Briefes und heute abend drei Tage. In zweiundsiebzig Stunden konnte viel geschehen.
Da es sinnlos war nach Jenny zu suchen, nahm Urban die siebenhundert Kilometer nach Calais unter die Räder. Von einem Fernfahrerbistro an der Route Nr. 43, die von Arras an die Küste führte, rief Urban in Pullach an. Er gab das wenige, das er hatte, für den Computer durch. »Eine Beretta siebenfünfundsechzig mit Schalldämpfer ist per Luftpost unterwegs. Sichert die Fingerabdrücke und laßt über BKA-Interpol nach dem Inhaber fahnden.« Dann nannte er Wagentyp, Farbe sowie die erkannten Ziffern und Buchstaben der Nummerntafel. »Jaguar, schwarz oder dunkelblau«, wiederholte der Assistent. »Ob man ihn an den Grenzübergängen kriegt?« »Versucht es. Sie könnten Jenny Jannings im Wagen haben.« »Dann werden sie ihn wechseln.« »Das ist zu befürchten.« »Warum benutzten sie nicht ein deutsches Auto?« »Sie dachten wohl, ein englisches würde die Nachforschungen erschweren.« »Womit sie nicht unrecht haben.« »Wenn der Yard nicht weiterhilft, dann gewiß die Kollegen von MI-6.« »Wir versuchen alles.« »Schon Neues über Andy Stew?« 52
»Nichts Neues. Es sei denn die Tatsache, daß sich unser Mittelsmann in London plötzlich sehr verschlossen zeigt, wäre ein Indiz.« »Wofür?« fragte Urban mehr sich selbst als seinen Gesprächspartner. Aber für Mutmaßungen hatte er keine Zeit. In fünfzig Minuten ging die erste Hoover-Craft nach England, und er hatte noch ein gutes Stück Weg. Er beendete das Gespräch, ließ sich eine Tasse schwarzen Fernfahrer-Kaffee einschenken, trank ihn ohne Zucker und fuhr dann weiter. In Küstennähe kam Nebel auf. In Calais übersah er eine Beschilderung, erwischte aber als einer der letzten die Rampe zu dem Luftkissenfahrzeug, das ihn in vierzig Minuten nach Ramsgate bringen würde.
6. »Das ist zwar neu!«, sagte der Chiefinspektor zu seinem Yardkollegen, »aber keine Premiere. Wir hatten das vor kurzem schon mal.« »Duplizität der Ereignisse«, meinte dieser, seine Zigarre abstippend. »Aber wovon sprechen Sie, Jake?« Der Chiefinspektor öffnete die Akte mit dem Untersuchungsbefund noch einmal und zuckte ratlos mit den Schultern. »Die Art und Weise, wie sie diesen Taucher umbrachten«, erwiderte er. »Commander Stew?« »Wir hatten wohl nur diesen einen Todesfall eines prominenten Unterwassermenschen in dieser Woche, oder?« »Sie irren sich auch nicht, Jake?« 53
»Es gab da noch so eine mysteriöse Mordsache mit ähnlichen Merkmalen.« »In unserem Zuständigkeitsbereich?« »Eine Interpolmeldung aus Saint Malo.« »Ach, dieser deutsche Kapitänleutnant.« »Er wurde von Cornwall nach Frankreich abgeströmt.« »Was nicht zu beweisen war.« »Das hier ist möglicherweise der Beweis«, meinte der Chiefinspektor in einem Ton, der seinen Kollegen veranlaßte, die Zigarre endgültig auszudrücken. »Was halten Sie davon, Jake?« fragte er britisch unterkühlt, »wenn Sie sich entschlössen, nicht ständig die Lösung von Kreuzworträtseln zu verlangen?« »Den Nadeldolch meine ich.« »Was ist das?« erkundigte sich der andere Yardmann. Chiefinspektor Jake Crispean öffnete die linke Tür seines Schreibtisches, entkorkte die dort stehende Scotchflasche und legte den Korken auf die Schreibunterlage. Dann suchte er in der Schublade nach einer langen Kugelschreibermine und steckte diese ins Zentrum des senkrecht stehenden Korkens. Dazu erlärte er: »Der Korken ist der Dolchgriff. Die Mine, in natura allerdings doppelt so lang, dünner und vorne verteufelt spitz zugeschliffen, stellt die Klinge dar. Von der Nadelform leitet das Ganze seinen Namen, nämlich Nadeldolch, ab.« »Und wozu ist das gut?« »Fragen wir anders herum. Wozu ist es schlecht? Ich würde meinen, zum Setzen von Wunden an tief im Körper liegenden Organen, bei denen schon ein Stich genügt, um sie zu beeinträchtigen oder ganz außer Betrieb zu setzen. Zum Beispiel den Herzbeutel, bestimmte Schlagadern ... oder das Gehirn.« »Richtig, dem Gehirn ist mit einem Messer kaum beizukommen.« »Bestenfalls mit einem Beil oder einem Hammer.« »Dann wird es zertrümmert.« 54
»Und das Opfer zeigt äußere Spuren von Gewaltanwendung«, ergänzte der Chiefinspektor, »was bei einem Stich durch die Nase nach oben oder durch das Ohr nach innen weitgehend vermieden wird. Man muß da schon verdammt genau hinsehen, um Spuren zu entdecken. Geht der Killer geschickt vor, ist diese Form der Tötung wohl nur durch Obduktion feststellbar.« »Wer brachte das auf?« erkundigte sich der Zigarrenraucher. »Dolche dieser Art gab es schon im Mittelalter.« »Im Grunde genügt dazu eine geschliffene Fahrradspeiche oder eine Stricknadel.« »Im Mittelalter verwendete man sogar Hohlnadeln, um noch Gifte in die jeweiligen Körperpartien einzuspritzen. Wenn man ganz sichergehen wollte.« »Sie meinen«, sagte Crispeans Kollege, »bei Königsmord ließ man sich die Sache etwas mehr kosten und bestellte einen Nadelstich erster Klasse.« Der Chiefinspektor legte die Akte wieder weg. »In unserem Fall genügte jedenfalls eine Ausführung zweiter Klasse. Heutzutage sind die Killer ohnehin besser trainiert. Commander Stew starb durch so einen Nadeldolch. Das ist erwiesen. Und dieser deutsche Marineoffizier starb ebenfalls daran. Nun wäre interessant zu erfahren, ob der Stich auf dieselbe Weise gesetzt wurde, nämlich durch das Nasenloch nach schräg rechts oben.« »Eine Gemeinsamkeit zwischen den Opfern besteht bereits«, gab Crispeans Kollege zu bedenken. »Sie waren beide Marineoffiziere. Der eine aktiv, der andere pensioniert. Ist das wesentlich?« »Zufall ist es wohl kaum«, äußerte Jake Crispean. »Deshalb werde ich auch den Navy-Geheimdienst unterrichten.« »Und ich spreche mit Interpol«, schlug der andere Polizist vor.
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Noch am selben Tag nahm ein technisches Kommando der Royal Navy die Arbeiten dort wieder auf, wo Andy Stew sie beendet hatte. Das Bergungsschiff T-2, ein umgebauter Kriegs-LandungsPrahm, wurde über die Fregatte Star of Gibraltar verholt und dort verankert. Mit jeder Zwei-Stunden-Schicht stiegen acht Taucher ab. Die Navy verfügte über perfektes Gerät. Was von der gesunkenen Fregatte noch in den Sänden der Mounts-Bay zu finden war, saugten, hievten, holten sie herauf. Am Abend kam ein Hubschrauber von der Marinebasis Bristol herüber und landete auf dem Prahm. Ein Navy-Ingenieur und ein Korvettenkapitän stiegen aus. Sie erörterten mit dem Prahm-Kommandanten in dessen Kajüte die Lage. »Commander Stew war so gut wie fertig«, meldete der Prahmführer. »Er hatte weitgehend abgeräumt. Was wir noch fanden waren Teile des Ruderschafts, Material von Aufbauten und ein Mastrumpf.« »Das ist mit Sicherheit nicht was wir suchen«, befürchtete der Kapitän. »Der Ruderschaft ist noch am besten erhalten. Für Ruder verwendete man damals Eichenholz, das in salzhaltigem Wasser bekanntlich eisenhart konserviert wird. Für die Aufbauten hingegen setzte man weniger wertvolles Material ein. Fichte, Birke, Buche. Es läßt sich zwischen den Fingern zerbröseln.« »Schauen wir uns den Maststumpf an«, schlug der NavyIngenieur vor. Der Kapitän winkte jedoch ab. »Nach meinen Unterlagen wurden die Masten der Star of Gibraltar während ihrer ganzen Dienstzeit nicht ausgewechselt. Als Kommodore Phineas Adams im Auftrag von Königin Anna das Schiff übernahm, war es seeklar. Die Masten saßen mit ihren Stümpfen fest auf dem Kielbalken, Adams kann das, was wir suchen, also nicht im Mast verborgen haben.« 56
»Es sei denn, er bohrte ihn seitlich an, legte die geheime Fracht in die Bohrung und verschloß sie wieder.« »Auch vor dreihundert Jahren«, wandte der Prahmkommandant ein, »wußten die Kapitäne schon einiges über Festigkeit, über Oberflächenspannung und auf welche Weise Material durch Beschädigung in seiner Elastizität beeinträchtigt wird.« »Wahrscheinlich verstanden sie mehr von Holz und Masten als wir heutzutage.« »So ein Mann bohrte niemals mutwillig den Mast an. Der Mast war früher das, was heute die Kurbelwelle eines Diesels ist.« Der Prahmkommandant ließ Tee reichen und äußerte seine Meinung über das ganze Unternehmen mit erstaunlicher Offenheit. »Was wir suchen, ist angeblich nicht viel größer als eine Männerfaust. Und das im Wrack eines Seglers, der über mehr als zweihundertfünfzig Jahreszeiten mit all ihren Stürmen, Springfluten, Wintern und Sommern über sich ergehen lassen mußte. Ich sehe da keine Chance, Gentlemen.« Der Kapitän aus dem Admiralsstab äußerte Bedenken. »Die Sache hat wenig historischen Wert. Ich will sagen, sie hat überhaupt keinen historischen Wert, denn darüber steht alles in den Urkunden und Akten des Hofarchivs der Königin Anna. Um was es geht, ist etwas ganz anderes, nämlich der Inhalt eines Gefäßes.« »Was kann es schon enthalten, wenn es nur faustgroß war?« »Material, das wir heute nicht mehr kennen.« »Ist das möglich?« zweifelte der Prahmkommandant. »Heute, wo sich unser Wissen alle zehn Jahre verdoppelt.« Der Kapitän vom Stab versuchte es zu erklären: »Tier- und Pflanzenarten sterben aus. Im botanischen und biologischen Bereich existieren heute von ehemals einer Million Arten höchstens noch zwanzigtausend. So sind sie unter dem Einfluß der feindlichen Umwelt geschrumpft. Beim Zusammenbruch ökologischer Systeme und Regelkreise geht aber noch mehr kaputt als nur das. Warum also sollen Erkenntnisse, 57
zum Beispiel auf dem Gebiet der Heilkunde, nicht mit dem Aussterben gewisser Heilpflanzen dahingegangen sein.« »Davon verstehe ich zu wenig«, bedauerte der Prahmführer, »ich hebe Ihnen, wenn ich mich sehr anstrenge, vielleicht die Lusitania, aber mit ausgestorbenen Sauriern und Sumpflilien dürfen Sie mir nicht kommen.« »Keiner kann alles wissen«, sagte der Offizier vom Flottenstab. Die Besucher aus Bristol unterzogen die Funde einer Nachkontrolle und flogen bald wieder zum Festland zurück.
Sehr früh am nächsten Morgen rollte ein marineblauer Dienstwagen in das Gelände der Stirling-Labors am Stadtrand von Plymouth. Ein Offizier des Marinenachrichtendienstes, der keinen Namen nannte, sondern nur den Ausweis zückte, verlangte Dr. Stirling zu sprechen. Das konnte ihm nicht abgeschlagen werden. Im Chefbüro kam er ohne Umschweife zur Sache. »Sie bearbeiten röntgenologisch einige Holzstücke, die Ihnen die Taucherfirma Stew anlieferte.« Dr. Stirling zeigte sich bockig. »Das ist Betriebsgeheimnis, Sir.« »Vielleicht beantworten Sie mir doch einige Fragen, Doktor.« »Im Zusammenhang mit meinen Kunden wohl kaum, Sir.« »Ich komme vom Marinegeheimdienst, wenn Ihnen das etwas sagt.« »Aber nicht vom Staatsanwalt«, entgegnete der Röntgenologe und wechselte die Brille, um den Besucher besser sehen zu können. »Ich kann Sie vorladen lassen«, drohte der Navy-Offizier. »Bitte«, erwiderte Dr. Stirling, »wenn Sie meinen.« »Dann müssen Sie aussagen.« Langsam stand der Röntgenologe von seinem Drehstuhl auf. »Niemand kann mich zwingen, Laborergebnisse offenzulegen«, erklärte er. »Aus Erfahrung klug geworden speichere ich wichtige 58
Erkenntnisse nicht auf Papier, sondern hier oben«, er tippte links gegen seinen eindrucksvollen Schädel. »Haben Sie doch Vertrauen«, lenkte der Abwehroffizier ein. »Ich bin Profi«, äußerte Dr. Stirling. »Ich habe zu niemandem Vertrauen.« »Dann zwingen Sie mich ...«, setzte der Besucher an. »Wozu?« »Das ganze Material hier zu beschlagnahmen.« Diese Eröffnung reizte den Wissenschaftler zu einem ironischen Lächeln. »Aber bitte, Sir.« »Ich bin bis heute abend mit der Verfügung zurück. Und Sie, Doktor, sollten sich schon mal nach einem guten Anwalt umsehen. Man könnte Sie in Beugehaft nehmen.« Der Röntgenologe gab sich weiterhin herablassend und arrogant. »Und Sie, Sir«, konterte er, »sollten sich schon mal nach einer erstklassigen Begründung umsehen, die diesen Übergriff rechtfertigt.« »Die haben wir bereits«, deutete der Abwehroffizier an. »Na fein«, spottete Stirling, »gut für Sie. Dann bis heute abend, Sir.« Auf diese Weise abgebürstet wollte der Abwehrmann des Marine-Geheimdienstes das Büro nicht verlassen. »Vorgestern war Commander Stew noch bei Ihnen.« »Gegen siebzehn Uhr.« Der Besucher nickte mehrmals. »Und eine Stunde später war er tot. - Merkwürdig.« Von unten nach rechts oben schielend glaubte er zu bemerken, wie der Röntgenologe zusammenzuckte. »Wußten Sie das nicht, Doktor Stirling?« Während der andere ziemlich betroffen wirkte, spielte der Offizier seine Trümpfe weiter aus. »Es gibt noch mehr Dinge, die Sie nicht wissen, Doktor.« »Wollen Sie mir Angst machen?« 59
»Ihnen doch nicht, Doktor«, beteuerte der Besucher. »Sie haben ein reines Gewissen, haben nichts mit dem Mord zu tun und demnach auch nichts zu befürchten.« Die Antwort des Röntgenologen klang reichlich verkrampft. »Gott sei Dank! » Der Abwehroffizier ließ ihn in diesem Zustand allein. Er wußte, daß Dr. Stirling jetzt gar werden würde, wie Kartoffeln in einer Kochkiste, wie man sie im Krieg benutzte, um Energie zu sparen. Am Abend würde er gewiß auspacken. Noch besser war es, ihn über Nacht schmoren zu lassen.
Die Taktik des Marinenachrichtendienstes schlug fehl. Dies ging aus einer Polizeimeldung hervor, welche die NavyIntelligence-Agency um 03 Uhr morgens erreichte. »Hatten Sie nicht«, setzte der Polizeibeamte am Telefon an, »irgendwelche Probleme mit den Stirling-Labors?« Der zuständige Mann, die Kripo von Plymouth hatte ihn endlich erreicht, räumte ein, daß dies möglicherweise zutreffend sei. »Deshalb baten wir Sie auch um Einsicht in das Strafregister von Doktor Stirling.« »Abgesehen von zwei Eintragungen wegen einer Straßenverkehrssache ließ er sich bisher nichts zuschulden kommen, Sir.« Das Wort »bisher« war es, was den Sachbearbeiter der NIA stutzig werden ließ. »Hat sich das geändert?« »Das wissen wir noch nicht, Sir.« »Warum rufen Sie dann mitten in der Nacht an, Inspektor?« »Weil der ganze Laden da draußen am Stadtrand schon seit zwei Stunden brennt. Und zwar lichterloh.« »Lichterloh«, war das einzige, was dem Mann von der NavyAbwehr als Kommentar einfiel »Und zwar so, als hätte man einen Tanker mit Benzin drübergeschüttet, Sir.« 60
»Wir kommen«, entschied der NIA-Offizier. Im Morgengrauen fielen sie mit drei Dienstwagen am Stadtrand von Plymouth ein. Der Nebel hatte ihre Ankunft um Stunden verzögert. Aber selbst wenn sie nicht aufgehalten worden wären, hätten sie wenig zu retten vermocht. Die Stirling-Labors waren nur noch ein schwelender Trümmerhaufen. »Brandstiftung?« fragte einer der Marineleute. »Ganz zweifellos. Backstein brennt nicht wie Zunder. Das Feuer griff rasch auf Schuppen und Freilager über, obwohl wir kaum Wind hatten.« »Was lag im Freidepot?« »Vornehmlich Holz, altes Holz.« »Die Wracktrümmer«, befürchtete einer der Navy-Leute. »Wurde Doktor Stirling verständigt?« »Ja, sofort.« Sie blickten sich um. »Und warum ist er nicht zu Stelle?« »Weil man ihn nicht erreichte«, erklärte ein Polizeibeamter. »Wir riefen an, wir fuhren sogar hin, aber zu Hause ist er nicht.« Die Navy-Leute schöpften sofort Verdacht. »Dann dürfen wir nicht ausschließen, daß er sich, vielmehr seine Leiche, unter den Trümmern befindet.« Die Antwort der Polizisten klang wenig befriedigend. »Nach Aussage seines Laborleiters verließ er gestern um sechzehn Uhr fünfundvierzig den Betrieb.« »Er kann zurückgekommen sein.« »Der Nachtwächter verneint dies.« »Ein äußerst aufmerksamer Nachtwächter. Aber warum zum Teufel bemerkte er das Feuer so spät?« »Es entstand wohl zwischen seinen Runden, zwischen Mitternacht und Null ein Uhr.« »Gab es kein Feuer-Alarmsystem?« 61
»Die Labors verfügten sogar über eine automatische Sprinkleranlage.« »Sprach sie an?« »Das prüfen wir gerade.« Der Branddirektor kam hinzu und brachte, wie er glaubte, eine beruhigende Nachricht. »Soweit sich überblicken läßt, befindet sich unter den Trümmern kein Opfer. Zumindest Menschenleben vernichtete der Brand mithin nicht.« Die Leute von der Marine ließen nicht locker. »Warum trat die Sprühanlage nicht in Aktion?« »Die Wasserzufuhr war wohl abgedreht.« »Sabotage.« »Der Nachtwächter meldet, daß der firmeneigene Tiefbrunnen überholt wird.« »Außer dem Brunnen gibt es auch noch die städtische Wasserversorgung.« »Wer dachte schon an so was?« »Ja, es passiert immer dann, wenn keiner damit rechnet«, sagte ein ganz Schlauer. Sie begannen Dr. Stirling zu suchen. Er war nicht zu Hause, nicht auf seinem Landsitz und auch nicht auf seinem Boot, das ungetakelt in Devonport lag.
Die Polizei konnte nicht umhin, den Yard einzuschalten. Nur in London gab es Experten für so mysteriöse Brandfälle. In Chiefinspektor Crispean verstärkte sich das flaue Gefühl. »Zwei tote Marineoffiziere mit Ambitionen als Taucher«, zählte er zusammen. »Beide durch Nadeldolche getötet. Commander Stew arbeitete für die Navy an einem Geheimprojekt, in das er die Stirling-Labors einschaltete. Nun hat es dort ein Vernichtungsfeuer gegeben.« »Vermutlich Brandlegung. Und Doktor Stirling ist verschwunden. » 62
»Alles konzentriert sich auf Südwestengland.« »Auf Cornwall«, sagte Crispeans Kollege. »Ja, hier liegt das Zentrum.« »Man muß endlich wissen, um was es der Navy überhaupt ging.« »Darüber schweigen die Behörden hartnäckig.« »Aber diese Nuß werde ich knacken«, schwor Crispean, »mit oder ohne die Geheimdienstkomiker der NIA.« »Einige Fixpunkte haben wir immerhin.« »Nichts haben wir«, entgegnete der Yardinspektor, »aber die anderen haben auch nichts.« »Und der Zufall allein hilft selten.« »Der Zufall kommt nur dem Fleißigen zu Hilfe. Doch was er für Zufall hält, ist Ergebnis seiner Mühen.« »Der berühmte Lichtstrahl ins Dunkel.« Der erfahrene Yard-Beamte sah das anders. »Nicht alles Licht ist hell und klar«, zitierte er, »doch das Licht des Bösen ist immerdar.« »Johannes vier, Vers hundertvierzehn«, spottete sein Kollege, der Zigarrenraucher. »Ich hab's irgendwann mal gelesen«, sagte Jake Crispean, »weiß nicht mehr wo. Laß uns an die Arbeit gehen.«
7. Die Yacht war vor zwanzig Jahren die größte und eleganteste an der italienischen Mittelmeerküste gewesen. Inzwischen hatten sich arabische Ölscheichs, Waffenhändler und neureiche Industrielle größere Schiffe bauen lassen. Aber meist aus Kunststoff. Auf der Leone Marachi hingegen bestand alles aus edlem Material wie schwedischem Stahl, Holz, Leder und Messing.
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Die zwei 900-PS-Diesel, noch keine nervösen Turbos, liefen so ruhig, daß sachverständige Bordgäste glaubten, die Yacht würde von Benzinmotoren angetrieben. Die Brücke wurde stets mit den neuesten Errungenschaften wie Trägheitsnavigation, Loran, Radar, Echolot, Sonar und Funk, Funktelefon und Funkfernschreiber ausgerüstet. Die Kabinen der Eignerin, ebenso wie die der Gäste, mit allem Luxus versehen, hatte der Mailänder Innenarchitekt Bertolucci erst vor kurzem neu ausgestattet. Nur ganz unten, zwischen Maschinenraum und dem Mannschaftslogis, gab es ein kahles, finsteres Schapp. Es diente der Aufbewahrung von Leinen, Sonnensegeln, Farben und anderem Gerät. Auf einer Hängemattenrolle saß gefesselt eine blonde Frau. Da sie nicht Italienisch sprach, bemühte sich der Mann, der sie täglich mit neuen Fragen quälte, um ein verständliches Englisch. »Well, noch einmal von vorne. Wie war Ihr Verhältnis zu Max Sperber?« »Wie oft denn noch. Es war zu Ende.« »Wann sahen Sie ihn zum letzten Mal?« »Irgendwann im Frühling.« »Wann sprachen Sie zuletzt mit ihm?« »Vor sechs Wochen etwa, als er den Urlaub antrat.« »Sagte er, wohin er fahren würde?« »England. Verdammt, das kennen Sie doch nun alles.« Der bläßliche Italiener lächelte. Jenny Jannings wußte, wenn sich sein Kindermund verzog, dann schlug er gleich zu. Seine Hand war fleischlos, fast knochig. Er holte aus und traf sie zwischen Kinn und Hals. Es schmerzte auf merkwürdig stechende Weise. »Wann ich genug habe, das entscheide ich«, erklärte er. »Ich möchte nicht nur wissen, woran Sie sich freundlicherweise erinnern, sondern auch alles, was Sie vergessen haben. Es gab Fälle, da fiel den verhörten Personen erst unter dem Galgen ein, 64
worauf es ankam. Zu spät natürlich. Auch für Sie, Madam, wird es bald zu spät sein.« Die sind imstande, dachte Jenny, und bringen mich um. Aber wofür zum Teufel. Nur um rauszukriegen, ob du etwas verschwiegen hast? »Machen Sie es mit jedem so, der Kontakt zu Sperber hatte?« »Mit allen.« »Das bringt euch auch nicht weiter«, keuchte sie. »Sperber war ein schweigsamer in sich gekehrter Mann. Außerdem war er ein Lügner. Er konnte behaupten es regnet, dabei war der Himmel blau.« Wieder lächelte der Italiener, diesmal aber auf eine andere, auf eine belehrende Art. »Dies, Madam«, erklärte er, »steht überhaupt nicht zur Diskussion. Sie unterschätzen uns. Was wir haben wollen, befindet sich längst in unseren Händen. Nun geht es darum, die Kanäle abzudichten, das ganze Adersystem, auf dem Informationen von A nach B gelangen, zu unterbinden.« »Eine Arbeit wie Kakerlaken jagen«, entgegnete sie, »und da fangen Sie ausgerechnet bei mir an?« »Eine Arbeit«, pflichtete ihr der Italiener bei, »als versuche man, ein Sieb zu einem Kochtopf dichtzulöten. Aber wir schaffen das. Wer waren jene Leute, die zu Ihnen kamen, nachdem Sperbers Leiche vor Saint Malo angetrieben worden war?« »Reporter, Polizei, Beamte des militärischen Abschirmdienstes«, zählte sie auf. »Verdammt!«, der Italiener fluchte, »was haben Sie ihnen erzählt?« »Alles was ich wußte.« »Genauer!« »Was ich auch Ihnen sagte. Daß es längst on the rocks war zwischen mir und Sperber, und daß ich wirklich keine ...« Er schlug sie erneut, diesmal in rasender Folge mehrmals so, daß ihr Kopf sich anfühlte, als habe man ihn gegen die Wand gehämmert. 65
»Sie sind eine infame Lügnerin, ebenso wie Max Sperber«, schrie er. Sie konnte nichts dagegen tun, ihre Hände waren gebunden. »Und Ihre Killer sind Stümper«, stieß sie wütend hervor. Der Italiener war aufgestanden und an das Bulleye getreten. Dort steckte er sich eine filterlose Zigarette an, rauchte vor sich hin und nickte dabei wie eine Buddhafigur. »Womit Sie recht haben. Es hätte nicht passieren dürfen, daß uns der Bursche in Ihrer Wohnung entging. - Wer war dieser Mann?« »Reporter einer Bremerhavener Zeitung«, log sie. »Bestellen Sie alle Reporter abends in Ihre Wohnung?« »Dieser Mann bemüht sich um mich. Wir haben uns angefreundet. Er hat mich zum Essen eingeladen, und danach sind wir ins Bett gegangen. Genügt Ihnen das?« Er schien ihr zu glauben. Vielleicht verblüffte ihn die Offenheit, mit der sie über intime Dinge sprach und hielt sie deshalb für Wahrheit. »Wir überprüfen das«, entschied er. »Nur merkwürdig, wie routiniert sich dieser angebliche Reporter unserem besten Mann gegenüber aus der Affäre zog.« »Killer meinten Sie doch wohl.« »Wehe Ihnen, wenn Sie versuchen mich aufs Kreuz zu legen, Miß Jannings.« »Wann komme ich heraus aus diesem Schweinestall?« rief sie hinter ihm her. Aber schon schlug das eiserne Schott zu, und die schweren Vorreiber rasteten ein.
Der Glatzkopf mit dem Decknamen Caine Lawrence kam diesmal nicht per Hubschrauber, sondern mit einem RivaRennboot von Ischia her.
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Weniger elegant als kraftvoll schwang er sich an Bord der Yacht und grüßte den Kapitän so herablassend, als sei er der Besitzer des Schiffes. »Die Contessa erwartet Sie im Salon, Signore.« Lawrence mußte den Kopf einziehen, als er vom Achterdeck her in den klimatisierten Wohnraum trat. Die schöne Leona Marachi empfing ihn im weißen Seidenbikini, über den sie einen kniekurzen Frotteemantel trug. Sie kannte die Wirkung ihrer Beine und brachte sie bei Verhandlungen gern ins Spiel. Was ihr mißfallen hatte war die kurzfristige Ankündigung von Lawrences Besuch. Sie ließ Drinks kommen und gab sich den Anschein, als sei sie in Eile. »Wir sind erst für nächste Woche verabredet, Lawrence.« »Meine Zentrale drängt, Contessa.« »Mit den Gegenleistungen«, erwiderte die Konzernchefin, »läßt sie sich aber außergewöhnlich Zeit.« »Zum Beispiel?« bat der Besucher um Details. »Meine Probleme mit den Leuten aus Palermo wachsen. Man hat mir schon wieder ein Kaufangebot unterbreitet. Diesmal mit der Drohung, meine Betriebe würden Schwierigkeiten mit den Arbeitskräften bekommen, wenn ich nicht darauf einginge.« »Die Firma Marachi-Leone ist eben ein lukratives Unternehmen.« »Und bestens geeignet, um unter seinem Mantel Rauschgiftgeschäfte zu tätigen.« »Wir tun, was wir können«, versicherte der Mann mit dem slavischen Akzent. »Unsere Experten werden diese Sizilianer bald zum Schweigen bringen. Aber wie sieht es mit Ergebnissen aus, meine Liebe?« Sie hatte auf der Backe ihres Clubsessels Platz genommen, stand wieder auf, klappte ein Ölgemälde buchdeckelartig beiseite und drehte die Buchstabenschlösser eines Wandsafes in die richtige Stellung. Als er offen war, bat sie Lawrence zu sich und deutete ins mittlere Fach des Tresors. 67
Dort lag ein grauschimmernder Behälter, etwa von der Größe einer Eierhandgranate. Außen war er bis auf einige Verzierungen, die Lawrence nicht genau erkennen konnte, glatt. Auf der Linie seines größten Umfanges hatte der Behälter eine Fuge. Hier ließ er sich öffnen. »Blei?« fragte Lawrence. »Blei«, betätigte Leona Marachi. »Der Inhalt bestand aus einer zugeschmolzenen Glasphiole.« »Unbeschädigt?« »Voll Pulver.« »Die äußere Hülle, wie war sie abgedichtet?« »Mit einer Masse aus Harz und Teer.« »Wo ist die Glasampulle mit dem Pulver jetzt?« »In meinem Labor.« Lawrence nahm wieder Platz. »In einem unserer Labors wäre sie mir lieber. Dann könnte ich beruhigt schlafen.« »Meine Chemiker sind die besten Italiens.« »Rußland ist größer«, erwiderte Lawrence, »und es leben mehr Menschen dort. Außerdem haben wi r mehr Universitäten und eine intensivere Methode, wirklich erstklassige Eliten auszusieben. Folglich sind auch unsere Chemiker besser.« Leona Marachi schwang ihre nackten Beine übereinander. Lawrence entging das faszinierende Spiel der Schenkelmuskeln unter der zartbraunen Haut nicht. »Sie kennen den Preis«, sagte sie. »Wir zahlen ihn. Aber natürlich erst, wenn das Ergebnis vorliegt.« Sie lachte zynisch. »Aus diesem Grund beabsichtige ich, das Ergebnis durch meine eigenen Labors ermitteln zu lassen.« Lawrence strich sich über das kahle Haupt. »Sie fürchten, daß wir Sie betrügen und um den Lohn Ihrer Mühe bringen könnten.« »Und damit um das Erbe meines Ahnen.« 68
Lawrence versuchte in seine Stimme einen seriösen Klang zu legen. »Sie müssen das verstehen, meine Liebe«, erklärte er. »Ihr Preis ist, mit Verlaub zu sagen, recht gesalzen. Eine Million Goldrubel, das ist mehr als eine Million Dollar bei heutigem Spitzenkurs. Und wir wissen gar nicht, was am Ende unter dem Strich stehen wird.« »Laut alten Familienurkunden handelt es sich um ein Naturpräparat, welches das Wachstum stoppt.« »Vorausgesetzt, es gibt die dazu nötigen Pflanzen noch.« »Anderenfalls wird sich der Grundstoff gewiß synthetisch herstellen lassen.« »Ja, in zwanzig Jahren vielleicht.« »Haben Sie es so eilig?« Der Russe schloß die Augen. »Ich bin kein sehr phantasievoller Mensch«, gestand er. »Aber die Möglichkeiten mit so einem Produkt sind beinahe grenzenlos. Sie sind ebenso gigantisch als besäße man ein Medikament, um das Wachstum zu verdoppeln.« »Ja, man kann Zwerge züchten«, tat es die Contessa ab. »Und die Körpergröße ganzer Völker beeinflussen.« Die Contessa nahm einen Schluck Campari. Offenbar regte das ihre Vorstellungsgabe an. »Die sowjetischen Armeen würden eines Tages Divisionen von kleinen Däumlingen gegenüberstehen. Was für ein spaßiger Krieg.« »Denken Sie nur an die Möglichkeiten im Weltraum. Kleine Menschen, kleine Raumschiffe, kleine außerirdische Stationen, weniger Energieverbrauch, weniger Bedarf an Proviant et cetera.« »In jede Rakete könnte man einen winzigen Piloten setzen, der mit hundertprozentiger Genauigkeit das Ziel ansteuert.« Der Besucher stemmte sich aus dem Sessel zu voller Überlänge. Zwischen seinem Kopf und der Salondecke war gerade noch eine Handbreit Luft. 69
»Sie sollten uns die Hälfte des Materials zu Testzwecken überlassen, Contessa.« »Dann wäre der Rest für jeden von uns zu gering.« »Nicht bei den modernen Untersuchungsverfahren, wo schon Milligrammportionen zur Vollanalyse ausreichen.« »Ich muß mir das überlegen«, schob sie die Entscheidung hinaus. »Auf diese Weise kann keiner den anderen hinters Licht führen, Contessa. Entweder wir kommen zu den selben Ergebnissen, oder einer findet etwas, was dem anderen entgeht. Wobei Ihre Leute zweifellos mehr entdecken würden, denn Sie haben bekanntlich die besten Chemiker der Welt beschäftigt.« Leona Marachi schätzte Ironie, sofern sie von anderen Leuten kam, wenig. »Ich gebe Ihnen Bescheid.« »Und noch etwas«, bat der Gast zu bedenken. »Vergessen Sie nicht die Konkurrenz. Sie werden hinter der Sache her sein wie der Teufel hinter einer lauteren Seele.« »Noch wissen die gar nichts.« In diesem Punkt mußte der KGB-Bevollmächtigte sie enttäuschen. »Die westlichen Geheimdienste sind längst an der Arbeit«, berichtete er. »Und wie das im Westen so abläuft, Geheimdienstinteressen sind Sicherheitsinteressen. Sicherheitsinteressen sind Machtinteressen. Machtinteressen sind wirtschaftliche Interessen. - Wie sie auch heißen mögen, ob CIA, MI-6, BND, SDECE oder SIFA, sie alle tun das, was die Herren des großen Geldes fordern. Und das große Geld sind Banken und Industrie. Vergessen Sie das nie, meine Teuere.« »Auch ich habe Wirtschaftswissenschaft und Politologie studiert«, erwiderte Leona Marachi kühl. »Ich kenne die Zusammenhänge, Colonel.« »Dann bin ich beruhigt und darf mich verabschieden«, äußerte Lawrence. »Wenn Interessen so übereinstimmen wie die unseren, dann kann nichts schiefgehen.« 70
Doch an der Salontür, mit einem Fuß schon auf dem blankgescheuerten Deck, wandte er sich noch einmal um. »Meine Agenten konnten ermitteln, daß sich einer von den allerbissigsten Kötern aus einem NATO-Zwinger an dem Fall festgebissen hat.« »Störfeuer abzuhalten ist Ihre Aufgabe, Lawrence.« »Wir hätten aber gerne die Bestätigung, ob unsere Befürchtungen zutreffen, um geeignete Maßnahmen ergreifen zu können.« »Was kann ich dabei tun?« Der Russe massierte seine Glatze diesmal von hinten nach vorn. Dadurch bekam seine Stirn für wenige Augenblicke Denkfalten. »Sie haben eine weibliche deutsche Person in Gewahrsam.« »Was wissen Sie eigentlich nicht, Lawrence?« »Wenig«, räumte der KGB-Oberst ein. »Sehr wenig.« »Was vermuten Sie hinter dieser Frau?« »Allein die Tatsache, daß Sie sie aus Bremen entführten, spricht dafür, daß Sie die Dame für ergiebig halten. Quetschen Sie sie weiter aus. Irgendwann einmal wird sie, unter der richtigen Behandlung, wichtige Dinge zu erzählen haben. Ich bin ganz sicher. Geben Sie mir dann bitte Nachricht.« Leona Marachi nickte. »Ich nehme mir das blonde Biest persönlich vor«, versprach sie. Caine Lawrence hatte sein Riva-Boot kaum bestiegen, um nach Ischia hinüberzufahren, als die Contessa am Pool den MarinoBademantel fallenließ und in das blaue Süßwasser hechtete. Die Form des Schwimmbeckens war ungewöhnlich, nämlich schmäler als die meisten, dafür um die Hälfte länger. Es hatte den Technikern einige Mühe gekostet, es auf dem Vorderdeck unterzubringen, aber die Contessa hatte darauf bestanden. Sie hielt viel von Leibesübungen. Täglich schwamm sie wenigstens zweitausend Meter. Man konnte sagen, sie befand sich körperlich wie geistig in Hochform. Sie liebte den Kampf, die Gefahr, die Hektik, den Einsatz, den ihre Position als Präsidentin von Marachi-Leone von ihr forderte. 71
Was sie manchmal vermißte, war ein Mann, ein Liebhaber ihres Formats. Einem solchen Burschen war sie noch nie begegnet. Sie fürchtete, daß es nie dazu kommen würde. Was hatte ihre Großmutter, eine Frau, die ihre Enkelin sehr gut gekannt hatte, einmal gesagt: Den Mann, der zu dir paßt, den kannst du nur aus Ton formen und bei tausend Grad im Ofen brennen lassen. Neben dem Pool stand ihr Butler mit der Stoppuhr. »Elf Sekunden für eine Bahnlänge«, rief er. »Sie sind besser als gestern, Contessa, aber um eine halbe Sekunde langsamer als letzte Woche.«
8. Urbans BMW 633 CSi, obzwar mit Autotelefon ausgestattet, war in England nicht erreichbar. Deshalb rief er aus einem Pub, auf dem Weg nach London, im Hauptquartier an. Der Operationschef selbst führte das Gespräch mit ihm. »Erster Teilerfolg«, meldete er. »Der Jaguar mit der rekonstruierten Nummer wurde bei Avis in London angemietet.« »Von wem?« »Schon vor einer Woche.« »Von wem?« wiederholte Urban seine Frage. »Von einem Amerikaner, oder besser wohl Italo-Amerikaner. Der Mann hatte einen US-Paß, ausgestellt auf Mario Roselli, wohnhaft in Connecticut. Der Wagen wird nach Angaben des Mieters in Paris zurückgegeben.« »In Bremen gewiß nicht«, bemerkte Urban. »Woher haben Sie die Information? Die Rekonstruktion der Nummer war wohl ohne MI-6-Hilfe nicht möglich.«
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»Babingtons Truppe koppelte uns mit den Yard-Leuten zusammen. Sie sollen sich übrigens, so rasch wie möglich, bei New Scotland Yard am Themseufer einfinden.« Urban fand dies merkwürdig. Gewöhnlich arbeiteten nur Geheimdienste mit Geheimdiensten und Kripo mit Kripo zusammen. Kompetent für ihn wäre der MI-6 gewesen. »Ist Babingtons Verein nicht mehr zuständig?« »So wenig wie wir es für innerdeutsche Angelegenheiten sind.« »Ich stürze mich ins Gewühl«, Urban dachte mit Schaudern an den Londoner Vormittagsverkehr, »stürzen Sie sich auf die Fahndung nach dem Jaguar. Die Burschen haben Jenny Jannings entführt. Weiß der Teufel warum. Vielleicht ist das der Schlüssel.« »Die Prints an der Beretta ergaben übrigens nichts.« »Na, wer sagt's denn.« Urban fuhr weiter, immer schön links wie es auf der Insel noch üblich war. Ohne Beulen im Blech, mit angekratzten Nerven allerdings, erreichte er die Parkgarage des neuen Yardgebäudes nahe Piccadilly. Sein Anlaufpunkt im Yard war das Büro eines Chiefinspektors namens Jake Crispean, den Urban überhaupt nicht kannte. Crispean hingegen hatte von ihm gehört und empfing ihn wie einen alten Freund. Solchen Liebenswürdigkeiten mißtraute Urban von Natur aus »Über den Jaguar kommen wir wohl nicht weiter«, stieg Crispean sofort ein. Urban glaubte seinen Worten eine gewisse Schadenfreude zu entnehmen und zögerte nicht, seinen Trumpf auszuspielen. Er griff in die Sakkotasche und legte die Ansichtspostkarte des Andy Stew an Max Sperber auf den Tisch. Dabei grinste er, als hätte er wirklich eine Fullhand ins Spiel gebracht. Der Inspektor schaute sich die Karte an. Erst das bunte Bildchen der Küste mit Hafen und Leuchtturm, dann Briefmarke und Datum. 73
Er las die paar Grußworte, murmelte den Namen des Absenders und nickte endlich versonnen. »Killerfische, wie wahr«, bemerkte er. »Kapitänleutnant Max Sperber ist tot«, informierte ihn Urban. »Ich weiß.« »Die Karte traf zwei Tage vor seiner Beerdigung in Bremerhaven bei seiner Exfreundin ein.« »Commander Stew glaubte, sein Taucherkollege sei nur aus Angst ausgestiegen.« »Es muß Anlaß zu dieser Befürchtung gegeben haben«, wandte Urban ein. Der Inspektor befaßte sich mit seiner Pfeife und blickte beim Stopfen des Kopfes gelegentlich einmal auf. »Sperber ertrank nicht. Die primäre Todesursache war wohl der Stich mit einem Nadeldolch.« »So lautet der Obduktionsbefund.« »Und daran ist nicht zu zweifeln?« »In der Regel kaum«, meinte Urban. Die Pfeife war gestopft und brannte. Sie verbreitete einen Duft, der das Aroma von Feigen, Rum und Honig enthielt. Man konnte sagen, er war angenehm würzig und verlieh dem nüchternen Blechmöbelbüro eine altenglische Atmosphäre. Für Urbans Geschmack kam das Gespräch leider recht zäh voran. Wollte der Inspektor etwas aus ihm heraushorchen und tat er deshalb so beschränkt? Schon eine halbe Minute später verstand Urban das Verhalten des Yardbeamten. »Wegen dieser Karte sind Sie extra herübergekommen?« »Die Spur zu den Mördern könnte über Commander Stew führen«, erwiderte Urban ahnungslos. »Die Mörder«, murmelte Crispean, »was gehen euch diese Leute an?« »Sperber war Marineoffizier. Der Verdacht von Agententätigkeit ist nicht auszuschließen. Falls noch andere 74
Gründe vorliegen, sind mir diese bis zur Stunde unbekannt. Ich handle im Auftrag meiner Operationsabteilung.« »Die Spur zu Sperbers Mördern«, betonte der Yard-Beamte, »führt mit Sicherheit über Commander Stew.« Das überraschte Urban, denn es handelte sich um eine klare Aussage. »Sie haben sich also mit ihm befaßt.« »Wir mußten.« Crispean trat ans Fenster und schaute zur Themse hinunter. Der Frühdunst war abgezogen, die Sonne kam heraus. »Wird ein schöner Tag«, stellte er fest. »Kommt darauf an«, erwiderte Urban, »ob es nicht verteufelt rasch eintrübt, wenn Sie Ihren Satz beendet haben, Inspektor. Sie sagten, daß Sie sich mit Commander Stew befassen mußten. Warum?« Crispean antwortete ohne sich umzudrehen. »Weil er ebenfalls tot ist.« Schluß der Fahnenstange, dachte Urban. Gott sei Dank. »Infolge eines Stiches mit einem Nadeldolch durch die Nase und so weiter und so weiter«, ergänzte Crispean. »Wann?« »Vor drei Tagen.« Urban nahm Zigaretten und Streichhölzer vom Tisch, steckte beides ein und überlegte, wann die nächste Fähre von Ramsgate nach Calais ging. »Keine Täterspur?« »Leider.« »Mit dem blauen Jaguar konnten Sie wenig anfangen?« »So gut wie gar nichts.« Urban hatte noch eine Frage auf dem Herzen. »Woran arbeitete Commander Stew, ich meine Stew und Sperber?« »Sie holten die Reste einer vor zweihundertfünfzig Jahren gestrandeten britischen Fregatte aus der Tiefe. Sie konnten ein paar Eichenholztrümmer bergen. Mehr nicht.« 75
Als er das hörte, wurde Urban sofort mißtrauisch. Wracktaucher waren meist gewinnorientiert. Für alte Spanten riskierten die nicht Leben und Gesundheit. »Nur Holz?« »Etwas anderes förderten sie nicht zutage.« »Dann arbeiteten sie im Auftrag.« Der Inspektor nickte. »Stimmt. Im Lohn der Royal Navy. Aber von dort ist über Sinn und Zweck der Aktion wenig zu erfahren.« Urban versuchte logisch zu folgern. »Wo liegt das geborgene Material? In einem von der Navy gesicherten Depot, schätze ich.« »Nein, es lag im Schuppen einer privaten Firma, der StirlingLabors, die sich mit röntgenologischen Untersuchungen befaßt.« Urban hatte jetzt den Faden. »Dann darf ich annehmen, daß Sie sich, nach Stews Tod, bei dieser Firma umsahen.« »Das dürfen Sie«, gestattete der Engländer. »Es war der nächste Schritt. Leider mit null Ergebnis.« »Mauern diese Burschen?« »Das nicht. Der Inhaber, Doktor Stirling, mauert keineswegs. Er ist nur verschwunden.« »Ein Mann bewältigt so einen Laden nicht alleine.« »In der Tat. Aber die Angestellten wissen nichts, und die Labors samt dem von Commander Stew angeliefertem Material sind gestern niedergebrannt. Totalschaden. Sorry.« »Wenn das keine Spur ist«, bemerkte Urban fast schwärmerisch. »Eine Spur schon«, äußerte der Inspektor. »Sie endet nur leider dort wo sie anfing, in einem Vorort von Plymouth.« Der Yard-Mann versuchte Urban klarzumachen, daß sie alles unternommen hätten, daß sie aber nicht weitergekommen seien. »Es handelt sich um Brandstiftung. Doktor Stirling ist verschwunden, und Commander Stew wurde zum letzten Mal lebend bei den Stirling-Labors gesehen. Aber zum Teufel, warum 76
solcher Einsatz an krimineller Energie wegen ein paar zerbröselter Hölzer?« »Sie fahnden nach Doktor Stirling?« fragte Urban. »Selbstverständlich ja.« »Und Sie haben nichts dagegen, wenn ich mich in Plymouth umsehe?« »Selbstverständlich nein«, antwortete der Yard-Inspektor. Es erleichterte ihn offenbar, daß er Urban damit vom Hals hatte.
Die dreihundertfünfzig Kilometer von London bis Plymouth brachte Urban, dank Autobahn und Schnellstraße, bis zum späten Nachmittag hinter sich. Die Brandstelle im landeinwärts gelegenen Industrieviertel war nicht mehr abgesperrt. Die Fahnder hatten ihre Ermittlungen abgeschlossen. Urban konnte sich in Ruhe umsehen. In die zerstörte Halle, wo Labors und Verwaltung untergebracht waren, hineinzukommen, erwies sich als schwierig. Von den Fertigbau stand nur noch das Stahlgerippe. Dach und Zwischenwände bilden einen Haufen Schutt und Asche, der die Fragmente zerschmolzenen Gerätes zudeckte. Urban glaubte, daß das Feuer nur gelegt worden sei, um etwas zu vertuschen. Vermutlich hatte man längst gefunden, wonach man suchte. Da das Feuer im Zusammenhang mit dem Auftrag von Commander Stew stand, war es um das Holz der Fregatte, vielmehr um Einschlüsse darin, gegangen. Wenn er weiter annahm, daß die Röntgengeräte etwas im Holz Verborgenes sichtbar gemacht hatten, durfte er schlußfolgern, daß man diesen Gegenstand herausgeholt hatte. Vermutlich durch Zertrümmern oder Zersägen des Holzes. Und was machte man mit wertlosem alten Schiffsholz? Man warf es auf den Abfallhaufen. Abfälle lagerten meist im Freien. Sie waren wertlos und hätten nur teuren Platz weggenommen. Urban suchte also im Freigelände. 77
Neben einem Stapel Blechfässer, die vom Feuer mehr oder weniger zerstört worden waren, fand er auch altes, schwarzes, sehr hartes Schiffsholz. Das Feuer hatte ihm wenig anzuhaben vermocht. Nur die äußere Schicht war verkohlt. Leider nützte ihm dieses Holz wenig. Es lag offensichtlich da, wie man es angeliefert hatte, war also noch nicht untersucht worden. Warum nicht? Antwort: Weil man die Untersuchungen bereits beendet hatte. Wohin also warfen sie die Abfälle? Urban fand nichts dergleichen, sah aber auf dem Gelände nebenan einen roten Müllcontainer stehen. Er fragte nach der Adresse des Müllverwerters. Dort bekam er den Namen des Fahrers, der zweimal wöchentlich den Container bei den Stirling-Labors abgeholt hatte. Gegen 19 Uhr traf Urban den Mann in dem Pub, den er nach Arbeitsende aufzusuchen pflegte. »Fünfzig Pfund«, bot er. »Wenn Sie mir sofort die Stelle zeigen, wo Sie Holzabfälle von Stirling weggekippt haben.« »Machen wir«, sagte der Fahrer. Es wurde schon dunkel, als sie bei der Deponie ankamen. Während der Fahrer mit einem Holzprügel die Möwen abwehrte, begann Urban zu stochern. Der Müllfahrer hatte ihm die Stelle ziemlich genau bezeichnet. Unter einer Halbmeterschicht stinkender Abfälle stieß Urban tatsächlich auf Holz. Es handelte sich eindeutig um Wrackteile. »Sieht aus und ist hart wie Eisen«, bemerkte der Fahrer. »Eiche«, erklärte Urban und suchte nach einer scharfen Schnittkante. Es dauerte nicht lange, und er entdeckte einen Balken, der innen noch einen hellen Kern aufwies. Die Schnittstelle war glatt. Vermutlich hatte man an ihr getestet, welche Sägemethode, Kreis, Gatter oder Band, und welche Zahnteilung die günstigste war. Urban machte weiter, und der Fahrer jagte weiter die Möwen fort. Plötzlich fühlte sich Urban von hinten angerempelt. Der 78
Fahrer war durch Zufall auf einen Block getreten, auf einen Balken, etwa einen Quadratfuß messend und auch einen Fuß lang. Nahe der Mitte war die Schnittstelle verletzt, als habe jemand mit dem schweren Hammer eine ovale Vertiefung hineingeschlagen. »Nochmal fünfzig Pfund«, bot Urban, »wenn Sie das Gegenstück dazu finden.« »Wird gemacht«, sagte der ziemlich wortkarge Mülldriver. Die fünfzig Pfund verdiente sich Urban selbst. Etwa zwanzig Minuten später, es war schon dunkel, entdeckte er das auf die Schnittstelle passende Reststück. Es zeigte ebenfalls die eiförmige Vertiefung. Urban tastete die Stelle ab. Sie war nicht völlig glatt, sondern hatte Erhebungen und Vertiefungen, kaum sichtbar allerdings. Man konnte sie nur mit den Fingerspitzen aufspüren, »Zufrieden?« fragte der Müllfahrer. »Und ob«, antwortete Urban. Urban nahm ein Hotelzimmer. Seine Neugier war größer als sein Hunger. Mit der Lupe versuchte er die von der Kapsel im Holz hinterlassenen Abdrücke zu entziffern. Es war nicht möglich. Also versuchte er es mit der bewährten Fingerabdruckmethode. Er brannte ein Streichholz an, rieb die Holzkohle fein, brachte sie mit dem Rasierpinsel an die richtigen Stellen und preßte darauf ein Papiertaschentuch. Immerhin glaubte er zwei Dinge erkennen zu können, nämlich zwei Tiere. Ein großes und ein kleines. Das kleine war hinter dem großen her. Es konnten Ratten sein, Hunde, aber auch Tiger oder Löwen. Bald glaubte er, daß die Kapsel nicht nur mit eingravierten Ornamenten und Ranken verziert gewesen war, sondern daß sie auch eine Inschrift getragen hatte. Alles hatte sich im Laufe der vielen Jahre durch Trocknen und Quellen auf das Holz übertragen. Doch ohne Labor kam er nicht weiter. Andererseits wollte er die unförmigen Holzblöcke nicht mit auf die Reise nehmen. 79
Da fiel sein Blick auf die Kerze. Er steckte sie an und ließ das Wachs auch auf jene Stellen tropfen, die er noch nicht entziffert hatte. Dabei arbeitete er mit handwerklicher Akribie von außen nach innen. Geduldig wartete er, bis das Wachs erstarrt war und sich abziehen ließ. Damit hatte er einen brauchbaren Negativabdruck. Er färbte ihn mit Resten der Streichholzasche ein. Als er das dünne Wachsstück gegen das Licht hielt, konnte er aus den Buchstaben einen Sinn ableiten. Er notierte: Conte Raimondo de Sansevero der Ältere. London anno MDCCIX (das bedeutete 1709). Dazu kam noch ein kleiner und ein großer Löwe. Was für eine unermeßliche Ausbeute, dachte er und ging zum Essen. Nur noch Corned beef, das zuviel Rinderfett enthielt, mit welkem Salat und gummiartigem Weißbrot war aufzutreiben. Dazu schenkten sie ein Bier aus, das in München als Bayerisch-Malz extra-süß nicht zu verkaufen gewesen wäre. Darauf brauchte er einen Whisky. Aber sie hatten nur Scotch oder Irish. Gegen 22 Uhr 45 kam er ins Hotel zurück und durfte auf seinem Zimmer einen unerwarteten Besucher begrüßen. »Dachte mir«, sagte Inspektor Crispean, »steh ihm ein wenig bei, damit er nicht vor die Hunde geht.« »Nett von Ihnen. Beinahe hätte mich eine Lokomotive überfahren.« Mit einem Blick sah Urban, daß Crispean das Zimmer durchsucht hatte. Die Balkenstücke konnte er nicht finden, die hatte Urban auf das Balkondach gelegt. Aber der schlaue Yard-Beamte hatte den Tisch poliert und Reste von Holz, Wachs und Asche abgewischt. »Schon etwas entdeckt?« »Nicht wert darüber zu reden, Inspektor.« »Und woher kommt das Sägemehl und die Asche?« »Das trug ich wohl mit den Schuhen herein.« 80
»Gehen Sie immer auf dem Tisch spazieren, Mister Urban?« »Eine dumme Angewohnheit von mir«, erwiderte Urban mit todernstem Gesicht. Der Inspektor rückte den Stuhl näher unter die Lampe, bearbeitete seine Pfeife und sagte: »Der Tip mit den Stirling-Labors kam von uns. Machen wir halbe-halbe.« »Gern, wenn auch Sie, was die Hintergründe betrifft, mit mir teilen.« Überraschenderweise ließ sich der Inspektor auf den Handel ein. »Königin Anna«, erzählte er, »nahm sich, nachdem sie verwitwet war, einen Geliebten. Marlborough, der die Regierungsgeschäfte führte, sah das nicht gern, intrigierte und schickte den Admiral nach Indien. Dort erkrankte Lord Conrads schwer. Er sandte Botschaft nach London. Die Königin beschaffte ein Medikament und ließ eine Fregatte, das schnellste Schiff der damaligen Zeit, nach Indien in See gehen. In Madagaskar wurde es von Seeräubern aufgebracht. Aber es war ohnehin zu spät. Der Lordadmiral war bereits gestorben. Das Indiengeschwader jagte den Seeräubern später die Fregatte wieder ab. Im Jahre 1715 wurde die Fregatte nach London zurückbeordert und sank im Sturm an den Klippen vor Cornwall.« Erwartungsvoll steckte Crispean seine Pfeife neu an. Urban bemerkte: »Das ist nicht alles, Sir.« Der Inspektor warf ihm einen schiefen Blick zu und fuhr fort: »Die Fregatte hatte nur Ballast und das Medikament an Bord. Der Kapitän, Kommodore Adams, hatte die Kapsel gut versteckt. Da unsere Rüstungsforschung annimmt, daß es sich um ein äußerst wichtiges Präparat handelte, das man heute nicht mehr kennt, sollte das Wrack gehoben, die Kapsel samt Inhalt gesucht und gefunden werden. So lautete der Auftrag der Royal Navy an Commander Stew.« Urban nickte zustimmend. 81
»Stew fand das richtige Stück Holz, aber was die Auswertung betrifft, kamen ihm andere zuvor.« »Gibt es Beweise dafür?« »Der Schiffsspant, in dem die Röntgengeräte die Kapsel entdeckten und den man zersägte, um an die Kapsel heranzukommen, ist nicht mitverbrannt. Er lag auf der Müllkippe.« Crispean wirkte plötzlich sehr wach. »Und wo liegt er jetzt?« »In Sicherheit.« »Sie dürfen nicht frei darüber verfügen, Mister Urban.« »Aber ich kann frei über mein Wissen in bezug auf den Lageort verfügen. Das ist der feine Unterschied, Inspektor.« »Aber Sie sind noch nicht zufrieden«, tastete sich Crispean näher heran. »Nicht ganz.« »Was wollen Sie denn noch?« »Das Interesse Ihrer Rüstungsforscher an der Kapsel macht mich neugierig.« »Mich auch«, gestand Crispean, »aber bringen Sie diese Burschen mal zum Reden.« »Der Yard verfügt über Informanten und über Kanäle.« Noch zögerte der Inspektor. Dann aber rückte er damit heraus. »Das Präparat, das man in der Kapsel vermutet, stammt aus einer der berüchtigten Alchimistenküchen. Was dort zusammengebraut wurde, war nicht immer schlecht. Schließlich stammt auch das Porzellan aus solchen mittelalterlichen Labors. Unsere Forschung glaubt nun, daß es sich um ein Naturpräparat handelt, das zu Ergebnissen führt, die man nur auf Umwegen, durch Genmanipulation etwa, erreichen kann. Wachstumshemmung lautet das Stichwort.« Urban faßte nach, aber mehr konnte ihm der Inspektor beim besten Willen nicht verraten. »Der Lordadmiral litt an einem Geschwür. Das wollte man damit wohl kleinkriegen. Okay, ich wiederhole also meine Frage: 82
Wo liegen die Spantenstücke jetzt, Mister Urban? Sie fanden den Kapselabdruck?« Urban bestätigte dies. »Das Holz ist natürlich Staatseigentum. Es gehört der britischen Krone, Mister Urban.« Urban sah einen Silberstreifen am Horizont. Für ihn näherte sich der Fall dem Ende. Er würde ihnen die Blöcke aushändigen, good bye sagen, nach Hause fahren, seinen Bericht verfassen und die ganze Geschichte vergessen. Luke dicht, Akte zu. »Darauf müssen wir einen trinken«, schlug er vor. »Auf was?« tat Crispean erstaunt. »Daß ich aus dem Rennen bin.« »Wollen Sie die Mörder von Kapitänleutnant Sperber nicht entlarven?« »Es ist jene Gruppe, die Ihnen die Kapsel abjagte. Aber ich bin sicher, daß der Yard in Zusammenarbeit mit MI-6 und dem Marinenachrichtendienst die Täter eines Tages ergreifen wird.« Crispean schob die Pfeife in den anderen Mundwinkel. »Wo zum Teufel haben Sie die Beweisstücke?« »Draußen auf dem Balkon«, sagte Urban, »im Regen. Altes Holz braucht Feuchtigkeit. Wenn es trocknet, zerfällt es.« »Ich besorge Skotch«, rief Crispean beinah entzückt. »Ich habe Bourbon im Wagen.« »Auch nicht schlecht«, meinte der Yard-Inspektor. »Ich sage es ständig. Das Licht des Bösen ist immerdar. Aber auch das Licht des Guten. Sie sind ein feiner Junge, Urban. Ein wirklich feiner Junge.«
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9. Urban fühlte sich einen Tag lang glücklich wie ein Aussteiger. Er kam sich vor wie damals als Siebzehnjähriger, als er mit nichts als einem Matchsack losgezogen war. Er wollte nach Jugoslawien, und in Persien hatte die Reise geendet. Auf den neunhundert Kilometern von der Kanalküste bis München fühlte er sich wie befreit. Bis er dann vor dem Operationschef referierte und dieser sagte: »Dazu braucht man einen langen Atem.« »Aber im Moment ist Atempause«, antwortete Urban. »Dafür wissen Sie noch zu wenig.« »Dann klären Sie mich endlich über die Geheimnisse der Fortpflanzung bei Gänseblümchen auf. Ist es wahr, daß das von Bienen besorgt wird?« An ungeraden Tagen verstand der Alte keinen Spaß. »Mit der Feststellung, daß man dazu einen langen Atem benötigt, will ich ausdrücken, daß diese jungen Leute, und damit meine ich auch Sie, einfach keine dicken Bretter mehr bohren. Sie werfen die Flinte ins Korn, geben auf. Viel zu rasch und viel zu früh.« Der Alte wußte, daß dies bei Urban nicht immer zutraf. Ganz im Gegenteil. Sein Agent Nr. 18 war es, der meist hartnäckig an einer Sache blieb, die schon gelöst zu sein schien, weil man ein Zwischenergebnis als Lösung akzeptierte, um die Sache abhaken zu können. Getreu dem Grundsatz: Schlafende Wölfe weckt man nicht. Da Urban den ganzen Fall geschildert hatte, spürte er wenig Lust, es noch einmal zu tun. »Wir sind wegen Kapitänleutnant Max Sperber eingestiegen. Sperber starb bei Ausübung seines Hobbys, das er während seines Urlaubs einem Freund zuliebe geschäftlich nutzte. Was immer das britische Verteidigungsministerium hinter der Sache vermuten mag, es geht uns nichts an. Es ist deren Hoheitsgebiet, deren 84
Fregatte, deren Bleikapsel und deren Fall von Brandstiftung. Bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit dem NATO-Bündnis. Hier handelt es sich nicht um Gefährdung der Sicherheit der Bündnisstaaten oder der Bundesrepublik. Noch weiß kein Mensch, was sich in der Kapsel befand. - Genau weiß es keiner«, setzte Urban einschränkend hinzu. Der Alte klemmte das Monokel ins Auge, ging um den Schreibtisch herum zu seinem Sessel, wo er dicht an der Wand saß und damit Rückendeckung hatte und antwortete: »Darauf will ich auch gar nicht hinaus, Nummer achtzehn.« »Dann erklären Sie mir es jetzt oder Sie finden mich in meiner Wohnung. Ich muß gelegentlich mal eine Runde schlafen.« »Halten Sie sich bereit«, empfahl der Oberst. »Wofür?« »Bereit«, wiederholte der Operationschef. Diese Wichtigtuerei konnte nur den einen Grund haben, daß man sich in der Führungsspitze des BND über eine Menge Punkte noch nicht klar war. Bei größeren Operationen war immer Abstimmung mit dem Kanzleramt in Bonn notwendig, mit dem NATO-Hauptquartier in Brüssel und mit den anderen Diensten. Offenbar konnte hier noch keine Einigkeit erzielt werden. Urban fuhr ins Basement des BND, wo sich die Labors befanden, denen Professor Stralman vorstand. Man konnte sagen, es handelte sich dabei um eine Zusammenfassung aller Forschungsstätten der Weltindustrie in verkleinertem Maßstab. In den mehrere tausend Quadratmeter großen klimatisierten Kellerräumen gab es kaum ein Gebiet von Naturwissenschaften und Technik, das nicht mit mindestens einem Experten vertreten war. Der Boß des Ganzen war ein weißhaariger Mann mit Goldrandzwicker, der aussah wie ein Lateinlehrer, den sie vergessen hatten, in Pension zu schicken. Urban legte dem Professor einen Zettel mit jenen Daten hin, die er dem Schiffsholz entnommen hatte. Dazu lieferte er eine kurze Erklärung. 85
Stralman putzte den Zwicker und las Urbans Aufschrieb. »Und das da ist ein Hund, ein großer und ein kleiner.« »Sebastian hielt es für eine Katze.« »Der ist ja blind«, spottete der Professor, »aber was immer es sein mag, und wenn es zwei Elefanten sind, es wird erledigt, mein Junge.« Beruhigt lenkte Urban sein Coupé stadteinwärts.
Es war nicht so, daß er Jenny Jannings vergessen hätte. Immer wieder tauchte der strohblonde Kopf in seiner Erinnerung auf. Manchmal sogar mit Zöpfen, wußte der Teufel warum, und mit weißen Söckchen an den braunen Beinen. Dann mußte er daran denken, was wohl mit ihr geschehen war, und seine Lebensfreude bekam einen Knacks. Nach allen Erfahrungen würde sie irgendwann wieder auftauchen, munter und krekel. Sie war keine Top-Figur in dieser Sache, keine Tür, die man aus den Angeln heben mußte, um in die Schatzkammer vorzustoßen. Sie hatte Max Sperber recht gut gekannt, das war aber auch alles. Und Interpol suchte nach ihr. Mehr war im Augenblick nicht machbar. Trotzdem bauten sich in Urban Schuldgefühle auf. Schon aus geringeren Gründen war er weiß wohin gejettet. Darauf brauchte er einen doppelten Bourbon, ohne alles, nur mit einem Glas drumherum. In den ersten Stunden fühlte er sich zu Hause immer wie ein Fremder. Das ließ gerade nach, als das Telefon summte. »Die Sache ist durch«, meldete Oberst a. D. Sebastian. In einem Ton, als handle es sich um die Subvention für einen Kinderhort. »Zwischen Bonn, dem MAD und uns ist alles klar.« Ein Fakt war neu in dem Reigen. »Was hat der MAD damit zu tun, Großmeister?«
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»Jetzt, nachdem die Geheimhaltung aufgehoben wurde, kann ich es Ihnen sagen. Kapitänleutnant Sperber war Angehöriger des Militärischen Abschirmdienstes.« Urban schluckte zweimal trocken. »War er in dieser Eigenschaft in England tätig?« »Man gibt es nicht gerne zu.« »Dann hat der MAD natürlich seine Kompetenzen überschritten. Nicht, daß ich an so etwas nicht gedacht hätte, ich zog es nur nicht näher in Betracht, weil dem MAD in der Regel nur militärische Überwachungsaufgaben obliegen.« »Alles Weitere morgen früh.« Der Alte war ein Fuchs. Er kannte seinen Agenten Nr. 18. Mit der kurzen Information versuchte er Urban einzustimmen. Über Nacht verdaute Urban seinen Ärger und kam vielleicht schon mit einem Konzept ins Hauptquartier. In diesem Punkt irrte der Operationschef. Urban war an die Überschreitung von Zuständigkeiten gewöhnt. Im Einsatz tat er oft dasselbe. Wenn man dem Wild auf den Fersen war, fragte man nicht nach den Gesetzen der Jagd. Dann wollte man es erlegen. Zudem kannte er Sperbers Auftrag nicht im Detail. Deshalb schlief Urban ganz vorzüglich. Als er bei der Frühkonferenz erschien, hatte er nichts zu sagen. Er wartete darauf, was die anderen sagen würden. Aber die wußten auch nichts. Später nahm der BND-Vize Urban beiseite. Er ging voraus in das Zimmer nebenan und schloß die Tür. »Im Schatten der verlogenen Wahrheit lauert stets die schäbige Wahrscheinlichkeit«, begann er. »Und umgekehrt«, bestätigte Urban. »Ich bekam gestern einen Anruf des MAD-Chefs. Große Beichte. Sie schickten schon letztes Jahr einen als Urlauber getarnten Offizier nach Cornwall. Dort war bei den Goodwin Sands ein altes deutsches U-Boot aufgetaucht. Der Offizier, Max Sperber, sollte eindringen und Dinge, die noch wichtig sein konnten, sicherstellen. Kriegstagebücher, Logbücher et cetera. 87
Vermutlich war es auch für die deutschen U-Boot-Werften interessant zu erfahren, wie sich bestimmte Materialien in vierzig Jahren Fliegender-Holländer-Reise verhalten, sowie die Verwendbarkeit bestimmter Grate nach so langer Zeit und, und, und ... Jedenfalls bewältigte Sperber seinen Job nicht restlos. Die Herbststürme begannen. So beschloß er in diesem Jahr wiederzukommen, um den Rest zu erledigen. In der Mounts-Bay lernte er dann einen gewissen Commander Stew kennen.« Den Rest kombinierte sich Urban zusammen. »Commander Stew war mit allen Wassern gewaschen. Ihm war klar, daß Sperber im Auftrag eines Geheimdienstes arbeitete. Sie freundeten sich an. In diesem Jahr weihte Stew den Kollegen in seine Auftrag, der Suche nach der Fregatte Star of Gibraltar, ein.« »Wenn Sie schon alles wissen«, reagierte der BND-Vize enttäuscht. »Das ist nur jene Seite der Medaille, die ich kenne«, entschuldigte sich Urban. »Nun gut. Sperber hatte noch ein wenig Zeit. Er schloß sich Commander Stews Unternehmung an und starb als erster.« Urban stellte die Überlegung, was dies mit der Tätigkeit des BND zu tun habe, gar nicht an. Er fragte: »Was ändert sich dadurch grundsätzlich?« »Auch wir möchten gerne wissen, was sich in der Kapsel befand. Wenn es für die Engländer von Bedeutung ist, dann ist es auch für uns wichtig. - Oder?« »Für unsere Forschung und unsere Industrie.« »Immerhin war der Hersteller des Produktes Mitteleuropäer.« »Herstellungsort London, steht auf der Kapsel.« »Aber der Name lautet Raimondo de Sansevero.« Die Informationskanäle innerhalb des BND funktionierten offenbar zufriedenstellend. Stralman hatte wohl etwas herausgefunden und den Vize unterrichtet. »Stralman erwartet Sie«, sagte der zweite Mann des BND. »Also weiter hinter dem Balle her.« 88
»Dabeisein ist die Hälfte, wissen ist alles. Es bestehen grundsätzliche Interessen von seiten des Verteidigungsministeriums.« »Hat Interpol«, fragte Urban, »schon eine Spur des Jaguars mit der Londoner Nummer?« »Er soll über die Schweiz nach Italien gefahren sein.« »Soll, was heißt das bitte?« »Die Fahndung lief zu spät an. Aber die eine oder andere Zollstation erinnerte sich wohl an den Wagen.« »Danke für Ihr Vertrauen«, bemerkte Urban sarkastisch. »Möglicherweise wird das eine Selbstmordpartie«, warnte der Vize. »Mit ziemlicher Sicherheit möglicherweise«, betonte Urban.
Stralman besaß die Fähigkeit, sich auf die Seelenlage seiner Freunde einzustellen. »Die Tage folgen einander«, begrüßte er Urban, »gleichen sich aber nie. Und das ist tröstlich.« »Sie sind nur anders gestrichen«, sagte Urban, »aber die Farbe ist abwaschbar. - Wie ich höre, sind Sie vorangekommen.« »In zehn Stunden«, antwortete der Professor, »muß sich Erfolg einstellen oder man sollte aufgeben.« »Wo fingen Sie an?« »Bei den Tieren. Es sind Löwen«, erklärte Stralman, »ein kleiner und ein großer.« »Was bedeutet das?« »Dazu kommen wir später. Das heißt, später dürfte sich diese Frage von selbst beantwortet haben. Begeben wir uns jetzt in das Jahr siebzehnhundertneun. Damals weilte ein italienischer Edelmann namens Raimondo de Sansevero in London. Er galt als geheimnisumwitterter Mann, war Theosoph, Literat, Jünger der Alchemie, Physiker und Heilkundiger. Manche hielten ihn für ein Genie, andere für einen Hexer. Man behauptet auch, er sei Freimaurer gewesen wie später sein Sohn Raimondo de Sansevero 89
der Zweite. Jedenfalls war er eine hochinteressante Persönlichkeit, die als Gast an den Höfen geschätzt war. Er unterhielt die Leute, verführte die Damen und verkaufte wohl auch seine Pülverchen, Pflästerchen und Mixturen.« »Königin Anna rief ihn zu Hilfe, um ihren Geliebten, den Lordadmiral zu kurieren.« Stralman erklärte, dies bereits dem Archiv entnommen zu haben. »Der Lordadmiral litt an einem Geschwür. Die Ärzte wollten nicht schneiden. Sansevero behauptete, mit seinem Pulver könne sich das Geschwür zurückbilden. Leider kam es nie in Indien an.« »An dem Pülverchen muß was dran gewesen sein«, vermutete Urban. »Ich möchte nicht behaupten«, fuhr Stralman fort, »daß es eines der frühen, vielleicht sogar das erste Antikrebsmittel gewesen sein könnte, aber soviel ist überliefert, daß dieses Präparat in der Lage war, das Zellenwachstum zu verlangsamen, wenn nicht einzuschränken oder gar zu beenden.« Dies beantwortete den größten Teil von Urbans Neugier. »Großer Löwe, kleiner Löwe. Der kleine Löwe ist so alt wie der große Löwe, nur hat er Sanseveros Schappi gefressen.« Ein Zucken um Stralmans Mundwinkel besagte, daß er diese Deutung für treffend hielt. Dann kam er zum Schluß seiner Ausführungen. »Vor dreihundert Jahren war man der Annahme, daß sich alle kleinen Menschen, die Zwerge, die Liliputaner, die Pygmäen, auf bestimmte Weise ernährt haben müßten. Dem ging Sansevero offenbar nach und fand das Rätsel. Eine Pflanze, ein Mineral, was wissen wir. Wir wissen so gut wie nichts mehr.« Urban stellte einige konkrete Fragen. »Wo lebte der Conte?« »Vorwiegend in Neapel.« »Waren die Löwen sein damaliges Firmensymbol?« »Es hat sich bis heute erhalten«, erwähnte der Professor, »ein Pharmahersteller, der sich vorwiegend mit Naturprodukten befaßt, 90
führt es als Markenzeichen. Er hat internationale Bedeutung, nennt sich DL, Due Leoni, zwei Löwen, und gehört zum Marachi-LeoneKonzern.« »Mit Sitz in Italien.« »Nachkommen der Sansevero taten sich wohl mit Bankiers, Geldleuten und bürgerlichen Unternehmertypen zusammen.« »Ob die Leoni dahinterstecken?« fragte Urban mehr sich als den Professor. »Die Italiener besitzen, was alte Urkunden und Rezepturen betrifft, schon immer erstklassige Quellen. Wenn sie sich die Kapsel zu beschaffen versuchten, ist das eher ein Beweis, daß die Quellen nichts ergaben.« »Und woher wissen sie von der Suchaktion der Royal Navy?« Stralman machte eine weitausholende Armbewegung. »So was liegt in der Luft, das spricht sich herum. Auch in der Arzneimittelindustrie werden für neue Präparate Milliarden ausgegeben. - Und für Laborspionage.« Urban hatte eine letzte Frage. »Angenommen, sie brachten das Pulver in der Kapsel an sich. Was können sie damit anfangen? Ist es noch analysierbar?« »Warum nicht. Gewisse Eigenschaften erhalten sich unter Luftabschluß über Jahrtausende. Wachstumshemmung kann Krebsrückbildung bedeuten, aber noch viel mehr. Stell dir vor, mein Junge, es gelänge Menschen zu züchten, so winzig, daß sie den Vergaser deines BMW-Motors von innen reparieren.« »Ich fahre einen Einspritzer«, bemerkte Urban. »Aber Kleinheit hat natürlich etwas für sich.« »Mehr als schiere Größe.« »Sie macht weniger leicht verletzbar.« »Weil das Schießen mit Kanonen auf Spatzen schon immer als wenig effizient galt.« Urban bedankte sich und fuhr ans Tageslicht. Auf dem Weg in sein Büro lief er dem kurzsichtigen Sebastian über den Weg. »Melde mich ab an den Golf von Neapel.« 91
»Natürlich dahin, wo es sonnig, warm und schön ist.« »Ich weiß, Sie wünschen mir einen Fall am Nordpol«, entgegnete Urban. »Alles schon dagewesen, oder?« Der Oberst lenkte ein. »Auch ich habe ein Faible für Neapel. Als junger Spund, so in den Zwanzigern, als wir sechs Millionen Arbeitslose hatten, da träumte ich davon, nach Neapel zu gehen und reiche Amerikanerinnen zu vernaschen. Totkitzeln sagten wir dazu.« »Ist ja egal«, antwortete Urban, »womit man sich die Hände schmutzig macht, oder?«
10. Die Kerkertür ging auf. Eine bildschöne schwarzhaarige Frau stand da. Die Gefangene sah sie überscharf wie durch eine Lupe. Seitdem man sie in den Palazzo gebracht hatte, pumpte man sie mit Drogen voll. Was immer Jenny Jannings zu sich nahm, ob Brot, Wasser, Minestrone oder Tagliatelle, war extra für sie zubereitet worden. Sie wußte, daß dieser Zustand von Glückseligkeit, den man bei ihr erzeugte, mit Chemie zu tun hatte, aber es beunruhigte sie nicht. Ihr Horizont hatte sich nähergeschoben. Über die nächsten Stunden dachte sie nicht mehr hinaus. Zugleich stellte sie fest, daß sie keine Schmerzen mehr verspürte. Die Prellungen, die Blutergüsse, die man ihr in der ersten Verhörphase beigebracht hatte, waren zu sehen, aber nicht zu fühlen. Man präparierte sie für die entscheidende Stunde, wie man Vieh für die Stunde am Schlachthof mästete. Aber auch das machte ihr keine Angst. Zwar funktionierte ihr Gehirn. Doch was morgen sein würde lag im Dunkel und ängstigte sie nicht. 92
Sie war froh über jede Zigarette, über jeden Schluck Wein, den man ihr gewährte. So saß sie im Keller und wartete. Die Frage, was man von einer unbedeutenden Schachfigur wie Jenny Jannings wollte, stellte sie sich längst nicht mehr. Und dann ging die Tür auf. Eine madonnengleiche Person im hautengen schwarzen Lederanzug kam herein und lehnte sich an die Wand gegenüber. »Hör zu, Schätzchen«, sagte sie in typischem Internatsenglisch, »du hast eine Chance, wenn auch molto minimo.« »Ich möchte raus hier«, sagte die Friesin, »um jeden Preis.« »Das hört sich erfreulich an.« »Es ist meine Absicht, mein ernster Wille.« »Aber wehe dir, wenn du uns wieder belügst.« Die Italienerin öffnete die Hand. Darin lag ein Instrument, wie es die Deutsche noch nie gesehen hatte. Eine Seilschlinge lief durch zwei Bohrungen eines handlangen Rundholzes und hatte auf der anderen Seite zwei Knoten. »Eine Garrotte«, erklärte die Schönheit. »Man legt sie dir um den Hals. Auf diese Art ...« Sie warf das Seil über den Kopf der Deutschen, zog das Holz herum, bis es im Genick auflag. »... dann dreht man den Knebel.« Sie drehte einmal. »Man dreht weiter und schnürt alles ab. Sehr schmerzhaft, meine Teure.« Endlos lange hielt der Zustand der Drosselung an. Jenny Jannings rang nach Luft, glaubte die Besinnung zu verlieren. Nun erst löste die Italienerin die Garrotte und lächelte so herablassend, als sei sie Herr aller Sklaven. »Ein paar überprüfbare ehrliche Antworten, und wir sind Freunde.« Auf Freundschaft verzichtete Jenny gern, aber es war so, wie die Frau in Leder angedeutet hatte, es gab keine Chance. Und wenn es um Tod und Leben ging, war das Leben wichtiger. »Fragen Sie«, keuchte die Gefangene, 93
»Der Mann«, setzte die Italienerin an, »in Ihrer Wohnung, der dort auf Sie wartete und unseren besten Nahkämpfer in die Flucht schlug, er ist nicht Reporter des Weserkurier. Wir haben das überprüft.« Zum Teufel und Gott verdammt, dachte die Jannings. Sie sitzen im Trockenen und ich stehe im Regen. Hier hilft mir keiner raus, wenn ich es nicht selbst tue. Also keine Rücksicht mehr, auf wen auch immer. Sie war soweit, jeden ans Messer zu liefern, um ihre eigene Haut zu retten. »Ja, ich habe Sie belogen, Madam.« »Dann versuchen Sie, das wiedergutzumachen«, drohte die Frau mit dem schneidenden Sopran, »das rate ich Ihnen,« »Er kam eines Tages zu mir.« »Nicht als Reporter.« »Nein, auch nicht als Kriminalbeamter.« »Woher kam er?« »Aus Süddeutschland, aus München.« »Name?« forderte die Frau im Nappaanzug, »Robert Urban.« Wieder bewies die Italienerin, daß sie einen Verdacht hegte und diesen zu erhärten trachtete. »Agent eines Geheimdienstes?« drängte sie. Zunächst nannte Jenny Jannings die Abkürzung. »BND«, danach erst lieferte sie die Langform: »Bundesnachrichtendienst Deutschland.« »Also German Intelligence Service.« Sie blickten sich an. Die Italienerin schien ihrer Gefangenen zu glauben. »Los, beschreiben Sie ihn!« Dies tat Jenny Jannings so gut sie konnte. Die Italienerin wollte alles wissen. Größe, Körperbau, Haarund Augenfarbe, Gesichtschnitt, welche Anzüge er trug, welchen Wagen er fuhr. »Etwas über einsachtzig lang, gebaut wie ein nicht übertrainierter Zehnkämpfer, Augen grau, Nase gerade, Haar 94
dunkelbraun, dicht und voll, gebräunte Haut. Er trägt meist dunkle Hose und Glenchecksakko, zweireihig mit Schlitzen, einfarbiges Hemd, einfarbige Seidenstrickkrawatte, Rolexuhr, das StahlPlatin-Modell. Die Schuhe können von Gucci sein, College-Form mit Spange, schwarz.« Die Italienerin war noch lange nicht zufrieden. »Sie haben mit diesem Mann geschlafen?« Die Deutsche nickte. »Dann haben Sie ihn auch nackt gesehen, Sie kleine Hure.« »Er hat Narben«, gab Jenny Jannings angewidert preis. Aber die Italienerin wollte mehr wi ssen, alles, auch von jenseits der Geschmacksgrenze. Sie kostete es offensichtlich aus, ihre Gefangene danach zu fragen. Dabei glänzten ihre Augen und sie atmete erregt. Doch von einer zur anderen Sekunde hatte sie genug von dem Spiel. »Wir überprüfen das«, entschied sie. »Wenn es die Wahrheit ist und wenn es uns nützt, dann kommen Sie frei ... eines Tages.« »Wann ist das?« wollte die Gefangene wissen. »Irgendwann.« Die Italienerin verließ die Zelle mit den granitrauhen Wänden. Droben im Arbeitszimmer telefonierte sie mit einer Nummer in Rom, die sie nirgendwo aufgeschrieben hatte. Der KGB-Oberst mit dem Falschnamen Caine Lawrence war immer der Meinung gewesen, daß dies aus Gründen der Sicherheit notwendig sei. Die Contessa Leona Marachi verabredete sich mit Lawrence nahe der Autobahn nach Neapel. Beide wollten sie in Caserta herausfahren und an der ersten Abzweigung nach Osten abbiegen. Zwischen Pinien und einem Weinfeld stand schon Lawrences Alfa Romeo, als die Contessa mit ihrem dunkelroten Ferrari den Berg heraufpreschte. Der Bequemlichkeit halber nahmen sie in der großen Limousine Platz. Der Russe holte seinen Aktenkoffer nach vorn, 95
ließ die Schlösser schnappen und entnahm ihm einen Schnellhefter. »Alles über Mister Dynamit.« »Wer ist das nun wieder?« Lawrence erklärte der Konzernpräsidentin, daß sie sich leider einen Haifisch an die Angel geholt hätten. Der BND-Agent Urban, genannt Mister Dynamit, gehöre seit vielen Jahren zu den Intimfeinden des KGB. Man achte diesen Mann außerordentlich, aber so, wie man einen fairen Gegner achtet, den man nichtsdestoweniger auszuschalten wünschte. »Dynamit ist sein Kampfname, gewissermaßen ein Synonym dafür, daß mit ihm alles zu sprengen ist.« Die Akte war umfangreich und mit Sorgfalt angelegt. Sie enthielt eine Materialsammlung über den BND-Agenten Nr. 18, wie sie nur ein leistungsfähiger Geheimdienstapparat zu sammeln in der Lage war. Die Aufzeichnungen waren weitgehend in Russisch abgefaßt, einige aber auch in Englisch. Manche Partien, meist vier Schreibmaschinenseiten umfassend, waren in sich zusammengeheftet. Sie stellten Einzelfälle dar. Dazu gab es Skizzen, Landkarten und Fotos. Die Fotos dieses Mannes prägte sich die Contessa besonders gut ein. »Was macht ihn so gefährlich?« wollte sie wissen. »Nun, eine Anhäufung von Eigenschaften, aus denen man Spitzenagenten macht. Mut, Cleverneß, Hartnäckigkeit, Schlauheit, eine stromlinienförmig sich anpassende Moral. Ein gewisses Maß an Universalbildung, Kaltschnäuzigkeit, Wirkung auf Frauen, der Charme eines Gangsters, die Präzision eines Rechenautomaten, Agentencharisma.« »Und was macht ihn für unseren Fall so gefährlich?« »Ganz einfach, seine Einsatzorder.« »Warum trägt er für ein britisches Problem die Haut zu Markte?« 96
»Max Sperber war MAD-Mann. Der MAD ist der Militärische Abschirmdienst der Deutschen. Zwischen Agenten einer Couleur besteht Zusammenhalt wie zwischen Polizisten. Ein Gangster sollte nie Polizisten töten, sonst hat er die ganze Meute am Hals.« »Das kann nur einer der Gründe sein«, erwiderte Leona scharfsinnig. Der Glatzkopf gab ihr recht. »Inzwischen ist der BND wohl so weit in die Sache vorgedrungen, daß man das wissenschaftliche und wirtschaftliche Interesse der Briten teilt. Für die Industrienationen des Westens gilt der Spruch: Mitspielen ist wichtiger als zusehen.« Die Contessa bewunderte den Informationsstand jener Leute, die hinter Lawrence standen. Binnen eines Tages hatten sie das Wesentliche zusammengestellt. Gewiß wußten sie noch mehr. »Rückt er uns auf den Pelz, der Bursche?« Lawrence massierte die Glatze. »Er ist schon in Neapel.« Sie fluchte leise. Es war ein Fluch, wie man ihn in besseren Kreisen ausstieß, etwas mehr als verflixt, aber etwas weniger als verdammt. »Neapel ist schon sehr nahe. Wo ist er abgestiegen?« »Termini-Hotel.« »Wie arbeitet so ein Mann?« erkundigte sich die Contessa. »Nun«, vermutete Lawrence, »er wird sich einen Plan zurechtgelegt haben und ihn mit Hilfe der kooperierenden Behörden, in seinem Fall des italienischen Geheimdienstes, durchziehen.« »Ich kenne einige Leute bei SIFA«, erklärte die Contessa, »aber ich kann sie schlecht anrufen und um Hilfe bitten.« »Sie müssen sich bedeckt halten, Contessa«, riet der Russe, »zumindest nach der offiziellen Seite hin.« »Wie darf ich das verstehen?« »Versuchen Sie diesem Mann über andere Verbindungen seine Arbeit in Neapel zu vergällen.« In diesem Punkt hatte die Contessa schon klare Vorstellungen. 97
»Frauen«, erwähnte sie, »lassen Mister Dynamit nicht völlig kalt, wie ich dem Dossier entnehme.« »Für eine schöne Frau läßt er den besten Borscht stehen, wie man bei uns sagt.« Nach kurzem Schweigen fragte sie: »Was wissen Sie noch über ihn, Lawrence?« »Daß er Kontakt zu SIFA bereits aufgenommen hat.« »Sie sind beängstigend gut informiert«, sie staunte. »Wie ist das möglich? Haben Sie die Telefonistin im Termini bestochen?« »Wir haben einen Mann bei SIFA-Rom, mitten im Palazzo, sitzen.« Sie ließ sich eine von Lawrences schwarzen filterlosen Zigaretten geben und rauchte sie, ohne der ungewohnten Würze wegen husten zu müssen. Diese Frau war nicht nur von beneidenswerter Schönheit, sondern auch von ebensolcher Selbstbeherrschung. Jedes Gefühl hatte sie voll unter Kontrolle. »Ich nehme mir diesen Wunderknaben persönlich vor«, entschied sie. »Wirklich verlassen kann man sich nur auf sich selbst.« »Was reizt Sie daran?« fragte Lawrence ein wenig besorgt. »Ob ich das schaffe.« »Sie können es nur schaffen, wenn die Voraussetzungen stimmen.« Sie drückte die Zigarette aus. »Das weiß ich. Ich habe es mit mehreren Gegnern zu tun. Mittlerweile auch noch mit dem Geheimdienst unseres Landes.« »Für den Treff des Kontaktmannes von SIFA-Rom und Urban wurde ein Kennwort vereinbart.« Das Lächeln mißglückte ihr ein wenig. »Und das kennen Sie natürlich.« »Nicht natürlich«, zierte sich der Russe, »aber wir kennen es. Es ist lateinisch und lautet Leo Leonis, italienisch: Il Leone dei leoni. - Der Löwe des Löwen.« »Unser Firmenemblem.« 98
»Ja, es zielt wohl auf den Marachi-Konzern ab.« Sie wiederholte das Kennwort nachdenklich und gab sich einen Ruck. »Wann findet das Treffen statt?« »Vermutlich morgen.« »Woraus schließen Sie das?« »Ich hörte, daß die Kennwortvergabe heute nachmittag, also vor vier Stunden stattfand.« Die Contessa hatte ihren Entschluß gefaßt und ging nun an dessen Realisierung. »Man muß den Kontakt verhindern.« »Wollen Sie etwa an Stelle des SIFA-Mannes ...?« »Man muß diesen Urban aus dem Wirkungsfeld der SIFA entfernen. Und sei es nur für kurze Zeit.« Lawrence verstand. »Die Signori werden sich im Hotel Termini wie üblich an der Bar treffen.« »Dann muß man dort anrufen.« Lawrence konnte nicht anders. Er spielte mit. Diese Frau hatte die Regie bereits übernommen und war nicht mehr davon abzubringen. Dadurch konnte der KGB für eine Weile in den Hintergrund treten und beobachten. Mit Eingriffsmöglichkeit im günstigsten Moment. »Wer soll das mit dem Anruf erledigen?« fragte er. »Ich«, sagte Leona. »Von Neapel aus?« »Von meinem Autotelefon aus«, entschied sie. »Die schwierigen Dinge erledigt man möglichst sofort.« Sie stieg aus, nicht ohne ein Foto ihres Zielobjekts mitzunehmen. Lawrence sah Leona zu ihrem Ferrari gehen, wo kurz darauf die Antenne des Funktelefons ausfuhr.
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11. »Signor Urban in Zelle zwei!« wurde in der Halle des Termini ausgerufen. »Legen Sie das Gespräch auf mein Zimmer«, bat der deutsche Geheimagent und nahm die teppichbelegte Marmortreppe zum ersten Obergeschoß. Als er sein Apartment betrat, klingelte der Apparat neben dem Bett. Er nahm ab. »Rom für Sie!« Er wartete. In der Leitung herrschte starkes Rauschen, als käme der Anruf über eine Funkbrücke. Dann eine Stimme: »SIFA-Rom. Ich verbinde.« Wieder dauerte es eine Weile. Die Hotelzentrale fragte nach, ob er noch spreche. Dann eine Sekretärinnenstimme, gedämpft und überraschend sanft. »Signor Urban, ich habe eine Nachricht für Sie von Comandante Rivoli.« »Kenne ich nicht. Geben Sie mir das Codewort.« »Möchten Sie es auf Italienisch oder auf Lateinisch?« »Das wissen Sie besser.« Er schaute auf die Uhr. Als Sicherheit hatten sie extra vereinbart, daß bei Telefongesprächen zu ungeraden Minuten das Kennwort lateinisch genannt werden sollte. Jetzt ging es auf 20 Uhr 35. »Uhrenvergleich bitte.« »Sechsunddreißig jetzt.« Er bestätigte es. »Kennwort: Il leone dei leoni.« »Danke, korrekt. Wie lautet die Nachricht?« Wieder das Frequenzrauschen.
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»Colonello«, hörte er, »Sie werden gebeten möglichst sofort einen Wechsel des Hotels vorzunehmen. Die Gründe dafür sind schwerwiegend. Unser Agent wird sie Ihnen nennen. Nur soviel jetzt: Ihre Anwesenheit wurde von östlicher Seite erkannt. Wir bitten Sie, das Hotel Cavalière zu wählen. Es wird von einem unserer Vertrauensleute geleitet. Ihr Apartment ist angemietet. Nennen Sie nur den Namen.« »Verstanden«, quittierte er, »grazie.« Eigentlich hatte er sich im Termini recht wohl gefühlt. Er steckte nur das Allerwichtigste ein, Zigaretten, Zündhölzer und Zahnbürste, und fuhr mit dem Taxi ins Cavalière. Unterwegs ließ er den Fahrer anhalten, um einen Stadtplan zu kaufen. Im Hotel Cavalière war alles wie versprochen. Er nannte seinen Namen, bekam den Schlüssel und fuhr mit dem alten Grand-HotelLift in den dritten Stock. Dort fand er eine hübsche Suite mit Kamin, alten Ölbildern und Spiegeln in Goldrahmen vor. Er bestellte eine Flasche Bourbon. Am Schreibtisch sitzend faltete er den Stadtplan auf. Mit dem Kugelschreiber markierte er den Standort des Hotels, kreuzte den Palazzo Sansevero an und zog eine Linie zwischen Hotel und Palazzo. Dann sprach er mit München. Von Professor Stralman wurden ihm die letzten Erkenntnisse übermittelt. »Die Hauskapelle von Sanseveros Palazzo diente gleichzeitig als Kultraum für seine Freimaurerloge. Unter der Kapelle soll eine Werkstatt gelegen haben. Neben anderem erfand der Conte einen wasserdichten Stoff, den man heute Ölhaut oder auch Wachstuch nennen würde. Die vorzüglichen italienischen Kanonen des achtzehnten Jahrhunderts gehen auf eine von ihm gemixte Speziallegierung zurück. Er baute auch anatomische Modelle des Menschen. Man nannte sie Metallmenschen, weil Sansevero für die Adern Drähte verwendete. Dem König von Neapel konstruierte 101
er ein Feuerwerkstheater und für die Damen des Hofes ein Wassertretmobil.« »Ein zweiter Leonardo da Vinci«, bemerkte Urban, »Nun, er hatte tüchtige Ahnen. Er führte seinen Stammbaum auf Karl den Großen zurück. Aber jetzt kommt eine leider weniger gute Nachricht.« Urban, hart im Nehmen, wartete geduldig, beinah gespannt auf das, was der Professor noch zu berichten hatte. »Ein junger neapolitanischer Wissenschaftler kam zu völlig anderen Ergebnissen.« »Daß alles nur Legende ist.« »Der junge Experte, übrigens auch ein exzellenter Bergsteiger, ging der Sansevero-Saga auf den Grund und durchforschte die berühmten Höhlen unter Neapel. Er stieg hinab bis auf achtzig Meter Tiefe. Unter Sanseveros Hauskapelle wurde er nicht sonderlich fündig, dafür unter dem Vomero-Hügel.« »Vomero-Hügel«, wiederholte Urban, »Moment bitte, ich suche ihn auf der Karte.« Als er ihn gefunden hatte, fragte er: »Gibt es da Querverbindungen?« »Ja, ein kompliziert verzweigtes System von Gängen und Grotten. Dieser junge Forscher weiß sehr viel. Er weiß mehr als er zugibt, denn er hat Angst. Er wurde sogar bedroht wie wir ermittelten. Kontaktaufnahme ist ratsam.« »Name?« »Micinelli Carlo.« An der Tür wurde geklopft. »Entrate!« rief Urban. Da Stralman alles gesagt hatte, beendeten sie das Gespräch. Der schwere Türknauf aus Messing bewegte sich. Die Tür ging auf. »Permesso?« fragte jemand. »Ist es erlaubt?« Er dachte, der Kellner serviere den Whisky. Urban sah ein silbernes Tablett, darauf eine Flasche Four Roses und ein Glas. Aber das war nicht der Kellner, das war eine Lady. 102
»Scusi, ich nahm dem Boy die Arbeit ab«, sagte sie und kam herein. Eine Schönheit fürwahr. So, wie man sich eine Neapolitanerin vorstellte, das tiefbraune Haar nach hinten gebürstet und im Nacken irgendwie geknotet. Ebenholzdunkel die Augen und die Brauen, getönter Teint, dezentes Make-up. Kleid und Schuhe wirkten teuer. Eine Hotelangestellte hätte drei Monate dafür arbeiten müssen. Sie setzte das Tablett ab und schaute auf die Uhr. Zweifellos ein Cartier-Modell. »Das Kennwort bitte!« Ihr strenger Sopran überraschte Urban. »Leo Leonis«, antwortete er. »Mein Zeiger steht auf einer geraden Minute.« »Dann il leone dei leoni.« Sie schien zufrieden und legte die Handschuhe ab. Im Ring, den sie trug, glänzte ein großer Saphir, umgeben von kleinen Saphiren. »Urban, BND«, stellte er sich vor. »Ich bin Diana, Servizio Informazioni, Via venti Settembre Roma. Sie haben einen männlichen Kollegen erwartet?« »Mein Name ist Roberto.« Er sah, daß sie vibrierte. Was machte sie nervös, wenn sie ein Profi war? Wie die Göttin der Jagd, deren Namen sie trug, schritt sie im Zimmer auf und ab, öffnete den Schrank und auch die Schiebewand zu dem Schlafraum, wo ein breites Bett stand. »Was kann ich für dich tun?« fragte sie, als hätten sie schon in der fernen Türkei Seite an Seite gekämpft. »Wenig«, äußerte er. »Du hast schon ein Konzept, Roberto?« »Ich werde mich um die Hinterlassenschaft des Conte Sansevero kümmern.« »Und ich soll dir die Türe dazu öffnen. Sie können hier unter Umständen ziemlich vernagelt sein. Aber wer Neapel kennt ...« Am Kamin blieb sie stehen, drehte sich um, und ihre Lippen glänzten wie roter Flitterlack. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm. 103
Enger geschlitzter Rock, dazu eine kurz taillierte Jacke mit tiefem Ausschnitt. Die Jacke hatte drei weiße Perlmuttknöpfe, Bluse oder Pullover sah Urban darunter nicht, nur ihre zartbraune Haut. Indem er wortkarg blieb, provozierte er sie zum Reden. »Die Behörden können leicht Schwierigkeiten machen, wenn man sich falsch verhält.« Er verstärkte sein angeborenes Lächeln. »Das erlebt man meist bei falschem Verhalten.« Sie schien über seine Bemerkung nachzudenken. Warum, überlegte Urban, dieses mißtrauische Abtasten. Sie kommt aus der SIFA-Zentrale, sie soll mich unterstützen und nicht behindern. »Um was«, setzte sie an, »geht es im Endeffekt eigentlich?« »Das weiß ich selbst nicht genau. Einen Drink, Diana?« Sie winkte ab mit einer Geste, die einer Fürstin zu Gesicht gestanden wäre, und die man heutzutage nur noch auf Bühnen sah oder in historischen Filmen. »Hast du Angst«, fragte sie, »etwa vor Verrat?« »Was sagte Talleyrand zu Napoleon«, Urban zitierte: »Ich werde Sie eines Tages verraten, Sir, aber ich sag Ihnen am Abend vorher Bescheid.« Da sie nicht trinken wollte, goß er Bourbon ins Glas und nahm einen Schluck. »Sie sind also keine Türöffnerin für mich, Diana.« »Und auch keine Aufpasserin, wenn du so willst.« »Worin besteht dann Ihre Aufgabe bitte?« »Nennen wir es Kollegenbetreuung.« »Truppenbetreuung«, scherzte er. Aber es gelang ihm nicht, sie zu entspannen. Sie blieb kühl und so anziehend wie ein scharfes Messer. »Im Sinne des Wortes«, betonte sie. Er überlegte, wie das zu verstehen sei. Daß SIFA-Agentinnen neuerdings Callgirlfunktionen hatten, war nicht anzunehmen. »Heißt das, Sie bringen mich auch zu Bett?« 104
Jetzt lächelte sie tatsächlich, aber es öffnete ihr Gesicht nicht, sondern verschloß es eher noch. Urban deutete auf den Rokokosessel. »Es plaudert sich nicht gut im Stehen.« Doch sie schaute auf die Uhr, was immer Zeitprobleme andeutet. »Nenne mir deine Wünsche, Roberto«, drängte sie, »und morgen früh ist alles vorbereitet. Sagen wir bis neun Uhr.« Er konnte nicht anders, als ihr sein Hauptproblem anzuvertrauen. »Ich möchte mir den alten Palazzo der Sanseveri ansehen, die Hauskapelle und die Labors darunter.« Sie zögerte nicht lange. »Das läßt sich machen.« »Ferner würde ich gerne einen jungen Neapolitaner kennenlernen, Carlo Micinelli.« »Carlo Micinelli«, wiederholte sie. »Wo wohnt er?« »Keine Ahnung. Man sagt, er sei wegen gewisser Funde in Schwierigkeiten geraten und halte sich versteckt.« »Welcher Funde wegen?« »Mehr darüber, wenn ihr mir den Jungen bringt.« Sie öffnete die Handtasche und machte sich Notizen. Dabei fiel ihm wieder auf, daß sie es schmuckmäßig zweifellos ein wenig übertrieb. Abgesehen davon, daß ihre Uhr von Saphiren glitzerte, daß sie einen hochkarätigen Saphir im Ring hatte und ein Armband, das einige hundert Millionen Lire kostete, falls es echt war, war auch der Kugelschreiber mit Saphiren besetzt. Und mit solchen Saphiren im Ohr wagte sich in Neapel keine Frau auf die Straße. Es mußte sich also um Imitationen handeln. »Ist das alles?« fragte sie sachlich wie eine Protokollführerin. »Fürs erste ja.« »Wirklich?« In ihrer Stimme lag ein verruchter Hauch. Nun goß sie sich ebenfalls Bourbon ein, gleich zwei Finger breit. Sie leerte das Glas in einem Zug. Sie schüttete ihn regelrecht hinunter. 105
»Die Augenblicke«, sagte sie, »sind wie der Wind. Wie der Wind, der schon vorbei ist, wenn du ihn spürst. Und er kommt nie wieder.« »Dante«, bemerkte Urban. In Italien war fast jedes Zitat auf Dante zurückzuführen. Man lag dabei so richtig wie in England mit Shakespeare und in Deutschland mit Goethe. »Bedaure, es ist von mir, von Diana.« Sie erklärte, daß sie ihn jetzt verlassen würde. Aber sie kam näher, blieb vor ihm stehen, und begann ihre Kostümjacke aufzuknöpfen. Den letzten Knopf riß sie ungestüm heraus. Sie trug nichts unter der Jacke als nackte Haut. Zwei unerwartet kräftige Brüste, so fest wie Granatäpfel, machten mit dunklen zustechenden Spitzen auf sich aufmerksam. »Faß sie an!« keuchte sie. »Los, pack sie fest, oder du bringst mich um.« Er berührte ihren Busen nicht. Seine Hand tastete zum Reißverschluß an der Rockseite. Bevor sich der Verschluß hinabschieben ließ, war noch ein Haken zu öffnen. Aber auch dann fiel der Rock noch nicht, denn sie hatte eine sehr schmale Taille, aber einen runden Hintern. Urban mußte den Rock kraftvoll darüber hinwegzerren. Auch unter dem Rock nicht ein Faden Stoff. Ein sehr schlanker, aber dennoch wohlgeformter Körper, trotz Muskeln und wenig Polstern, bot sich ihm dar. Er drängte sie gegen den Kamin. Sie öffnete die Schenkel. »Du bringst mich um«, wiederholte sie leidenschaftlich und dennoch kühl wie Trockeneis. »Du willst es so.« »Und ich bringe dich um.« »Das könnte geschehen.« »Wir wollen uns nicht töten, ja?« »Es wäre strafbar.« »Wir sind für Gesetz und Ordnung.« »Unbedingt.« 106
Dann ging es mit ihm durch. Er nahm sie am Kamin und dann auf dem Bett. Trotz aller Erregung legte sie erst ihren Schmuck ab. Als Jungfrau hatte man ihr wohl anerzogen, daß man sich nicht mit Gold behängt hingab. Gegen seine Erwartung hatte sie einen fast stummen Orgasmus. Sein Auto paßte genau in ihre Garage. Eng an sie gepreßt parkte er dort ungefähr eine Stunde.
Diana schlief fest. Sie merkte nicht, wie er sich aus ihren Armen löste und ins Badezimmer ging. Dort machte er Licht und prüfte ihr Armband, das er heimlich an sich genommen hatte. Die Fassung war zweifellos bestes Platin. Nirgendwo in der Welt, erst recht nicht in Italien, faßte man falsche Steine in solches Edelmetall. Es sei denn zum Zwecke des Betrugs. Daß sie sich von einem Juwelier übers Ohr hauen ließ, war nicht anzunehmen. Nicht bei Diana. Also mußten die Steine echt sein, die blauen Saphire wie die weißen Brillanten. Mit schmalgekniffenen Augen versuchte er den Schliff der Steine zu begutachten. Auch ein erfahrener Juwelier hätte Dianas Schmuck wohl als äußerst kostbar eingeschätzt. Und dafür fand Urban keine Erklärung. Er schlich zurück ins. Schlafzimmer, legte das Armband auf das Nachttischchen und legte sich wieder zu ihr. Sie schlief noch immer. Aber bald merkte er, daß sie es nur perfekt verstand, Schlaf vorzutäuschen. Sie stand auf, ging ins Bad, kam heraus und machte im Dunkeln einige Hantierungen. Zweifellos kleidete sie sich an. Er hörte den Reißverschluß sirren, wie sie in die Schuhe schlüpfte, den Schmuck nahm und ihn sorgsam anlegte. Der Bügel ihrer Handtasche schnappte. Gedämpfte Schritte entfernten sich. Die Tür schwang auf, Licht fiel aus dem Korridor herein. Die Tür klinkte zu. 107
Als der Lift ging, machte Urban Licht. Am Boden lag ein Notizzettel. Morgen neun Uhr Piazza Scarlatti. Roter Ferrari. Diana. Es war in Eile hingekritzelt. Das Papier duftete nach ihrem Parfüm. Nach dem Parfüm, das mit ihrer Haut verwachsen zu sein schien. Urban zog das Telefon heran und sprach mit München. »Stellt es an wie ihr wollt, aber ich brauche die Adresse dieses Höhlenbergsteigers bis Sonnenaufgang.« »Wer sitzt eigentlich in Neapel?« fragten sie zurück. »Es gibt dort das Einwohnermeldeamt, eine Telefonauskunft, die Polizei und unsere Freunde vom italienischen Geheimdienst.« »Ihr kennt Neapel nicht und noch weniger die Situation.« Er wußte, daß sie gewisse Möglichkeiten hatten, Kontakte, die er nicht kannte, zu aktivieren. Jeder Geheimdienst verfügte über Verbindungsleute. Angefangen von der Unterwelt bis hinauf in die Kreise von Wirtschaft, Politik und Kirche. Dann rief er in Rom an. Der Mann bei SIFA, den er gestern gesprochen hatte, war nicht erreichbar. Weil er es hochdringend machte, nannte man ihm drei Adressen. Seine Privatwohnung, die seiner Freundin und die seiner Bar. Dort erreichte ihn Urban endlich gegen Mitternacht. »Wo brennt es?« fragte Parolieri. »Neapel brennt«, sagte Urban. »Wir haben dir den besten Mann geschickt, den wir freistellen konnten, Roberto.« »Diana«, bemerkte Urban. »Für mich klingt Diana verdammt weiblich. Ich spreche von einem Mann, von Mario Corrado.« »Und Diana?« »Ich kenne keine Diana.« Urban beschrieb sie. »So ein Weib haben wir im ganzen Palazzo nicht vorrätig.« 108
»Vom Palazzo kam ein Anruf, daß ich das Hotel wechseln sollte.« Der SIFA-Agent mit Namen Parolieri pfiff wie eine Ratte, die ihre Artgenossen warnte. »Leg auf und zieh sofort Leine«, riet er Urban. »Das war die Botin des Todes, mein Junge. Eine alte neapolitanische Sitte. Bevor der Killer zuschlägt, warnt er, indem er den Todesboten schickt.« »Grazie. Ich melde mich, wenn ich noch kann.« Urban überlegte nicht lange, wer dahintersteckte und wie es dazu gekommen sein mochte. Er verließ das Zimmer mit Zahnbürste, Zigaretten und Feuerzeug. Vorsichtshalber ging er nicht durch den Haupteingang des Cavalière auf die Via Marconi, sondern durch das Restaurant und die Seitentür in die Via Cortese. Geduckt zwischen parkenden Autos eilte er Richtung Corso Umberto. Wegen der lauen Nacht waren noch viele Menschen unterwegs. Unter ihnen fühlte er sich einigermaßen sicher. Er sah nicht, daß man ihn verfolgte. Diese Diana glaubte offenbar, er würde das Rendezvous einhalten. Dann waren diese Leute keine Profis. Doch darauf kam es jetzt nicht an. Er mußte den Höhlenforscher finden, denn er hatte Diana seinen Namen verraten. Er dachte schon daran Kontakt zur Camorra, der neapolitanischen Mafia, aufzunehmen, verwarf es aber rasch. Er würde es erst tun, wenn es keinen anderen Weg gab. In der Not fraßen Teufel auch kleine blonde Engel und umgekehrt. Von einer Cantina in der Stadt aus rief er München an. »Wir haben alles versucht«, versicherten sie. »Man kennt diesen Carlo Micinelli zwar, aber keiner weiß wo er steckt. Wir können dir nicht helfen.« Urban hängte auf. Leckt mich ... dachte er. 109
»Noch ein Gespräch«, bat er den Padrone und schob einen Zehntausender nach. Aber der Wirt, schon ein wenig weinselig, wäre auch ohne Geld freundlich gewesen. Seinem Notizbuch, das Urban - wo immer auf der Welt er arbeitete- stets bei sich trug, entnahm er eine verschlüsselte Nummer. Er hofft, daß sie noch stimmte. Die italienischen Staatsanwälte waren in letzter Zeit sehr aktiv gegen die Mafiafamilien, weshalb diese häufig Ortswechsel vornahmen. Außerdem herrschte ständige Rivalität zwischen den Paten. Man wußte also nie, wer von ihnen noch lebte. Urban wählte die Nummer. Zuerst ging keiner hin. Er versuchte es wieder. Eine Kinderstimme meldete sich. »Bist du Miranda?« tippte er. »Nein Penelopa.« »Dann gib mir deinen Nonno, deinen Großvater.« »Er ist nicht im Haus. Ich hab' Nonno schon lange nicht mehr gesehen, Signore«, tönte es aus der Muschel. Dann wurde dem Mädchen anscheinend der Hörer aus der Hand gerissen. »Diavolo«, fluchte jemand, »wer ist da?« Gewiß einer von den vielen Söhnen oder Schwiegersöhnen jenes Mannes, den Urban kannte und der ihm verpflichtet war, weil er ihn vor der Riesendummheit, ins Waffengeschäft einzusteigen, bewahrt hatten »Roberto Urbano«, enttarnte er sich. Kurze Pause. Dann ein Aufschrei. »Wo steckst du, amico mio?« Urban senkte die Stimme. »Das möchte ich lieber für mich behalten. Ich bin in der Klemme. Aber ich suche einen Mann, einen Neapolitaner.« »Gib mir den Namen und du hast ihn.« »Carlo Micinelli«, sagte Urban. 110
Vier Stunden später stieg Urban mit dem Forscher in die Höhlenwelt unter Neapel ein. Sie hatten Seile dabei und Lampen. Elektrische mit Akkus und für den Notfall auch Kerzen. »Jetzt sind wir auf sechzig Meter Tiefe«, erklärte der Mann vom italienischen Alpenverein. »Die Sohle ist erreicht.« »Was brachte Sie zu diesem Hobby?« wollte Urban wissen. »Die Berge sind alle besiegt«, antwortete Micinelli. »Die Felswände alle durchstiegen. Im Alleingang, in Gruppen, im Sommer und im Winter. Such das Neue, Carlo, in der Tiefe, dachte ich mir.« »Und wenn alle Höhlen erforscht sind, was dann?« »Werde ich tauchen, Signore«, sagte Micinelli, der aussah wie eine Mischung aus Trenker und Messner, hager, kräftig und wetterfest, aber mit Bart und einem fanatischen Himalajaglitzern in den Augen. Sie gingen durch die teils roh gehauenen, mitunter auch gemauerten Gänge. Es war ein gigantisches Labyrinth. Sie überwanden Berge von Schutt, überquerten Rinnsale und unterirdische Wasserläufe, nahmen Treppen, stiegen bergan, bergab. Gespenstisch wanderten ihre Schatten mit ihnen. Einmal blieb Urban stehen. »Sind das unsere Schritte?« »Ihr Echo wohl nur, Signore.« »Mir kam es vor ...« »Eine Welt der Geister, der verwirrenden Töne und Geräusche, Signore.« Später, als sie Pause machten, erzählte der junge Forscher: »Unter Sanseveros Kapelle werden Sie nichts finden. Der Conte hatte seine Alchemistenküche in einer Grotte tief im Vomerohügel. Wir werden sie in zwanzig Minuten erreichen.«
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Der letzte Abschnitt war eine üble Kletterei. Als sie endlich ankamen, waren ihre Schutzanzüge über und über mit Lehm beschmiert. Aber was Urban vorfand, versetzte ihn in Staunen. Wände mit magischen Zeichen bemalt. In der hohen Grotte standen Sarkophage mit Mumien von Kindern und Erwachsenen. »Alles spanische Fürsten«, erläuterte Micinelli, »aus dem Hause Aragon. Sie beherrschten in der Renaissance Neapel. Aber was bewog strenggläubige Katholiken zu dieser Bestattungsart?« »Was war in diesen Kästen dort?« fragte Urban. »Manuskripte. Es ist überliefert, daß Sansevero eine Menge Medikamente destillierte. Eines soll sogar modernsten chemotherapeutischen Antikrebsmitteln ähnlich sein. Aber man fand wohl nicht mehr was man suchte.« Urban wollte sich schon enttäuscht zurückziehen, als er ganz hinten in der Grotte mehrere Gerippe liegen sah. Sie konnten von Hunden stammen, aber von Hunden mit merkwürdig langen gebogenen Nasen. Micinelli, der Urban gefolgt war, hob die Lampe. »Das ist das größte Rätsel dieser Grotte, Signore.« »Tierknochen.« »Von Elefanten, von Zwergelefanten.« Urban versuchte, die Größe der Skelette abzuschätzen. »Der Vater ist nur knapp einen Meter hoch, das Junge kaum dreißig Zentimeter.« »Aber eindeutig Elefanten. Und es gibt nicht nur Zwergelefanten. Man fand Gerippe von Nashörnern, auch von Löwen. Alle in Liliputausführung. Alter der Knochen zweihunderttausend Jahre.« Urban blickte den jungen Höhlenforscher fragend an. »Das Pulver aus der Bleikapsel.« »Wovon sprechen Sie, Signore?« »Sansevero kannte das Geheimnis eines Wirkstoffes, der das Wachstum hemmte.« »Ist es das, was Sie suchen, Signore?« 112
»Nein«, antwortete Urban. »Ich suche die Spuren zu Leuten, die jede Art von Verbrechen begehen, um sich in den Besitz der Rezeptur zu bringen.« Urban hockte sich hin und steckte sich eine MC an. Zwischendurch lauschte er immer wieder, als höre er etwas, als vernehme er Geräusche, die für solche Tiefen fremdartig waren. »Hoffentlich«, bemerkte er, »habe ich Sie nicht in Gefahr gebracht, Carlo.« Micinelli lächelte. Doch mit einem Mal erstarrte sein Lächeln. Er fuhr hoch. »Diabolo! Da ist jemand.« Er packte Urbans Arm und riß ihn von der Marmorplatte, auf der er saß, weg in eine finstere Ecke. Gleichzeitig löschte er seine Lampe. Geduckt hinter einem Schutthaufen lagen sie am Boden und lauschten. Sie flüsterten nur noch. »Gibt es hier mehrere Ausgänge?« »Nur Luftschächte, Signore.« »Sind sie bekannt?« »Nur mir allein.« »Dann ist man uns gefolgt«, kombinierte Urban, »und ich weiß auch wer.« Er wußte es nicht genau. Es gab zwei Möglichkeiten. Die eine war jene Gruppe, die ihn mit Micinelli zusammengebracht hatte, und die andere? Ein dünner Lichtschein erhellte den stollenartigen Gang, über den sie die Grotte erreicht hatten. Das Licht wurde heller, so hell, daß sich ein Schatten am Fels abzeichnete. Aber die Person, die den Schatten warf, blieb unsichtbar für sie im toten Winkel. Doch als sie zu sprechen anfing, erkannte sie Urban. »Kommt heraus oder wir räuchern euch aus. Mit Gas und Sprengstoff.« Kein Zweifel, das war Diana. Nach der zweiten Aufforderung sagte Micinelli: »Die meint das ernst.« 113
Diana meinte es so ernst, daß sie freitrat und deutlich zu erkennen war. »Wir geben euch noch eine Minute.« Urban war nahe daran zu fragen, was sie eigentlich wollte. Aber es ging wohl um die Dokumente, die angeblich nicht vorhanden waren, aber vielleicht doch irgendwo steckten. »Haben Sie eine Waffe, Signore?« fragte Micinelli leise. »Ja, im Hotel.« »Ich kenne diese Frau«, deutete der Neapolitaner an. In diesem Moment zischte es hell auf. Mit dumpfem Plopp wurde etwas abgefeuert. Vermutlich aus einem Granatwerferrohr. »Gas«, keuchte Urban und preßte sein Taschentuch vor Nase und Mund. »Die schaffen uns.« »Wo ist der Fluchtweg?« »Dicht an der Schußlinie.« Die Gaspatrone war aufgeschlagen und blies ihren Inhalt zischend aus. Die Schwaden bissen sich in ihren Schleimhäuten fest, aber sie vernebelten die Grotte nicht völlig. Außerdem hatten die Verfolger jetzt Scheinwerfer aufgebaut. In seiner Not tastete Urban nach geeigneten Trümmern, schleuderte sie gegen die Verfolger und deckte sie mit einem Hagel von Schuttbrocken ein. Micinelli begann zu husten. »Ich will raus hier.« Daraufhin wieder Dianas Stimme. »Sie sind unbelehrbar. - Handgranaten!« forderte sie. Sekunden später wirbelte die erste heran. Sie detonierte wenige Meter entfernt und brachte die Erde zum Beben. Sie preßten sich gegen den nassen Dreck und überstanden es. Die zweite Handgranate torkelte heran. Klatsch! Aufschlag. Ein Blitz, ein Donner. Die dritte landete zwischen Urban und Micinelli. Urban hatte mitgezählt. Noch zwei Sekunden bis zur Zündung. Er packte die Stielhandgranate und schleuderte sie zurück. Sie 114
explodierte im Flug, aber schon nahe dem Grottenausgang. Es war, als stürzte alles um sie herum zusammen. Durch den Schlamm, über geborstenes Gestein, durch Tränengasschwaden und Explosionsstaub kriechend, versuchten sie jenen Winkel der Grotte zu erreichen, wo der Luftschacht nach oben führte. Dianas Leute schossen mit Maschinenpistolen Dauerfeuer, um sie niederzuhalten. Und dann kam auch noch ein Teil der Grottendecke herunter.
12. Ein Viertelmond stand in halber Himmelshöhe. Sein schwaches Licht wurde immer wieder von Wolken verdeckt. Das konnte Urban nur recht sein. In der Dunkelheit gelang es ihm die Parkmauer zu überklettern. Ohne daß ihn die Wachen entdeckten, betrat er den MarachiPalazzo in Amalfi. Der Einsturz der Grotte hatte sein und Micinellis Leben gerettet. Als sie endlich das Tageslicht gesehen hatten, nach einer verflucht mühsamen Kaminkletterei, hatte er den Neapolitaner gefragt: »Wer ist diese Frau?« »Die Contessa«, hatte Micinelli erschöpft von sich gegeben, »die kennt doch jeder hier. Leona Marachi. Pharmakonzern Marachi-Leone.« Von diesem Augenblick bis hierher an die Küste waren die vierzig Kilometer kein weiter Weg gewesen. Urban erstarrte zur bewegungslosen Skulptur. Links von ihm raschelte etwas. 115
Im selben Moment gab eine Wolke den Mond frei. Ein Mann stand zwischen den Agaven. Den Umrissen nach trug er ein Gewehr. An langer Leine führte er einen Hund. Der Hund hatte zum Glück Wichtigeres zu tun. Er schnüffelte auf einer Spur und scharrte mit den Pfoten im Blumenrondell. Der Parkwächter pfiff und zerrte den Hud weiter. Der Hund lief an der Leine voraus. Urban folgte den beiden. Er glaubte dies tun zu können, denn der Wächter hatte den Mond gegen sich, seine Sohlen knirschten auf dem Kiesweg, und aus dem Erdgeschoß des Palazzoflügels drang Lärm. Trotzdem hielt Urban ausreichend Abstand und richtete es so ein, daß er in der Lage war, jederzeit in Deckung zu springen. Ein Motorgeräusch, wandernde Scheinwerferstrahlen, ein Wagen, der die Einfahrt heraufkam, zwangen ihn dazu. Urban warf sich flach hin. Als die Limousine am Portal hielt, sah Urban den Wächter nicht mehr. Dann aber fand er dessen Gummischuhe. Sie standen an der Mauer vor einer Nische. In der Nische gab es eine Tür, an der Urban vorbeigegangen wäre, ohne sie zu sehen. Vorsichtig drückte er sie auf. Von drinnen drang ihm Kühle entgegen und weiniger Duft. Ganz hinten wurde ebenfalls eine Tür geöffnet. Männerstimmen wurden lauter, dann leiser, als sich die Tür wieder schloß. Hier unten wohnte offenbar das Gesinde. Urban tastete sich ins Dunkel hinein. Unversehens trat er auf eine Nußschale. Im selben Augenblick leuchtete eine Zigarette auf. Ein Mann hatte im Kellergang gestanden und war herumgefahren. Urban preßte sich an die Wand, noch ehe das Licht anging. Der Mann mit der Zigarette kam näher, den Blick zu Boden gerichtet. Er entdeckte die zertretene Nußschale. Sie lag kaum einen Meter von Urbans Fußspitze. Das konnte nicht gutgehen. Gewiß kombinierte der Mann jetzt: ein Geräusch, die Nußschale, hier muß jemand sein. 116
Er schaute nach rechts, sah Urban stehen. Sie blickten sich in die Augen. Urban legte den Zeigefinger senkrecht an den Mund. Schweig besser, hieß das. Aber der Mann pumpte sich mit Luft voll für einen Schrei. Da schlug Urban zu. Er hämmerte ihm die Handkante in den kräftigen Bauernnacken. Der Mann zuckte nur ein wenig. Der Schlag war zu schwach bemessen. Urban setzte nach. Der andere taumelte, fiel, lag da und wälzte sich stöhnend auf den Rücken. Am Gürtel hatte er einen Schlüsselbund eingeklippt. Jemand rief nach ihm, eine weibliche Stimme. »Alfonso! He, Alfonso!« »Komme schon«, antwortete Urban an seiner Stelle. Die Frau ging wieder hinein. Urban zerrte ihn aus dem Weg, nahm den Schlüsselbund und öffnete der Reihe nach alle Türen, soweit sie versperrt waren. In einem Gewölbe standen mächtige Weinfässer und eine Abfüllmaschine. Hier zogen sie wohl den berühmten Castello Marachi auf Flaschen. Urban suchte das ganze Untergeschoß ab. Alle Vorratsräume, die Heizung, die einen neuen aber nie benutzten Eindruck machte, eine Art Werkstatt, in der die Umwälzanlage für den Pool summte, die Waschküche. Er hatte gehofft, Jenny Jannings hier zu finden. War wohl ein Irrtum. Oder sie hatten sie anderswo versteckt. Noch einmal mußte er am Weinkeller vorbei. Er machte sich die Mühe, ihn bis in den letzten Winkel auszuleuchten. Tatsächlich war da noch eine Tür. Und dahinter fand er das Mädchen aus Friesland.
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Sie stand noch unter dem Einfluß von Drogen, aber die Wirkung ließ nach. »Ich versteh' das nicht«, sagte sie, »ich habe dich ans Messer geliefert, nun bist du hier.« »Aber noch sind wir nicht fort, mien Deern.« »Das Schicksal geht seltsame Wege«, flüsterte sie. »War mal ein Schnulzentitel.« Er löste ihre Fesselung. »Raus hier kommen wir vielleicht, aber ich möchte gern noch etwas klären.« »Dann tu es«, forderte ihn Jenny auf. »Nimm keine Rücksicht auf mich.« Er brachte sie in den Weinkeller. Sie war recht weich in den Knien, aber von Schritt zu Schritt wurde sie sicherer. Bevor er in den Kellergang hinaustrat, löschte er das Licht. An der Gesindekammer vorbei lotste er Jenny durch das Dunkel in den Park. »Geh immer schön geradeaus«, sagte er, »bald kommst du an eine Mauer. Taste dich daran entlang und du findest eine Bank. Steig von der Bank auf die Lehne und über die Mauer. Wenn du draußen bist, läufst du los soweit du kommst, bis hinunter in den Ort. Halte dich irgendwo am Hafen auf, möglichst nahe der Carabinieri-Station.« Sie nickte. Sie hatte verstanden. Er drückte sie an sich, streichelte ihr Haar. Dann war sie verschwunden. Noch sekundenlang stand er da. Außerhalb des Parkes fuhr ein Wagen vorbei und noch einer. Er sah das Licht der Scheinwerfer durch die Schirmpinien wandern. Ziemlicher Verkehr heute auf dieser schmalen Bergstraße. Jetzt eine Zigarette. - Später, dachte er. Bring es erst hinter dich. Er trat aus dem Gebüsch und marschierte auf den Haupteingang im Mittelflügel zu. Zehn Meter breite Marmorstufen, flankiert von Säulen und marmornen Titanengestalten, die einen Balkon trugen, bildeten das Portal. 118
Wo es früher doppelmannshohe Flügeltüren gegeben hatte, war jetzt alles mehrschichtiges Panzerglas. Dahinter sah man die Halle, die Teppiche, die Kronleuchter, die sich nach oben schwingende Treppe aus weißem Alabaster. Am Fuß der Treppe stand die Contessa im vollen Ornat, wenn diese Bezeichnung für großes Abendkleid mit Dekollete und Collier zutraf. Sie sprach gerade mit einem Mann im Dinnerjackett. Er küßte ihre Hand und machte ihr offenbar Komplimente, denn sie lächelte. Madame empfing Gäste zum Dinner. Urban blieb hinter den Säulen in Deckung bis er annehmen durfte, daß sich Jenny in Sicherheit befand. Ein schwerer Cadillac fuhr vor. Ein verspätetes Paar stieg aus. Der weißhaarige Mann war gewiß Commendatore, die hübsche Frau vielleicht seine Sekretärin. Ein Diener riß den linken Panzerglasflügel auf. Unmittelbar hinter den neuen Gästen drang Urban ein. Der Diener wollte ihn zurückhalten. Urban boxte ihn nieder. Der zweite Diener griff sofort ein. Urban wuchtete ihm die Faust in den Leib. Der Commendatore drehte sich um. Seine Begleiterin kreischte, als sie den einen Diener blutend liegen sah. Mit einem Mal herrschte Totenstille. In der Halle trat ein Bediensteter neben Diana, flüsterte ihr etwas zu. Dann blickte sie Urban an. »Guten Abend. Du kommst spät«, rief sie, bemüht die Situation zu retten. »Früh genug«, antwortete er. Und indem er auf sie zuging, zog er seine 7,65er Mauserpistole vom Magnethalfter. Blitzschnell packte er sie am Arm und hielt sie mit eisernem Griff fest. »Die Herrschaften entschuldigen«, bat er, »aber die Contessa wird außer Haus verlangt.« 119
Schlagartig verlor sie ihr einstudiertes Ladygrinsen. Sie begriff wohl den Ernst der Lage. »Was wirft man mir vor?« fragte sie überflüssigerweise. »Mord in mindestens zwei Fällen, Körperverletzung, Erpressung und ...« In dieser Sekunde entdeckte Urban im Nebenraum einen Mann von beeindruckender Körpergröße. Gewiß hatte er die Kraft eines sibirischen Bären. Die polierte Glatze war das Markenzeichen von Oberst Josef Tomarow. Urban kannte diesen Mann. Nun wußte er wieder einiges mehr. Deshalb ergänzte er seine Aufzählungen: »... und Zusammenarbeit mit einem östlichen Geheimdienst.« Die Contessa blieb erstaunlich gefaßt. Als habe sie vor ihren Freunden keine Geheimnisse. Sie erteilte dem Diener, der ihr etwas zugeflüstert hatte, einen Wink. Daraufhin verschwand dieser. Fast gleichzeitig entstand unter der Treppe Lärm, als mühe sich jemand mit etwas ab, das ihm Widerstand entgegensetzte. Zwei Männer zerrten eine Frau mit sich und blieben auf dem blau-roten Königsteppich stehen. Zwischen ihnen hing erschöpft und abgekämpft, mehr tot als lebend, das Mädchen aus Friesland. Erst wartete die Contessa die Wirkung ab, dann wandte sie sich an Urban. »Machen wir einen Handel«, schlug sie vor. »Sie als Preis dafür, daß du gehst und wir unser Dinner beginnen können.« Urban wußte, daß dies ein schlechtes Geschäft war. Lebend kamen er und Jenny nicht weit. Er nickte. Trotzdem packte er die Contessa fester. »Und dich als Pfand. Du kommst mit.« Im Augenwinkel nahm er wahr, wie Colonel Josef Tomarow seine Position verändert hatte. Tomarow war nicht mehr zu sehen. Er mußte in Deckung gegangen sein. Dafür sah Urban, wie sich etwas Dünnes, Schwarzes seitlich am Durchgang zum Speisesaal zeigte. Zweifellos der brünierte Lauf einer Waffe. Der KGB-Offizier war kein Mann, der lange zögerte. 120
Fast gleichzeitig mit der Zielaufnahme fiel der Schuß. Urban versuchte sich und die Contessa aus der Feuerlinie zu drehen. Er hörte die Kugel nicht vorbeisirren. Sie hatte also getroffen. Nicht ihn, aber die Frau, die sich Diana genannt hatte. Das Einschußloch lag zwischen ihren Brustansätzen. Nun trat der Russe frei, legte beidhändig auf Urban an und ging leicht in die Hocke. Diesmal würde er ihn treffen. »Bleib stehen!« rief er. »Sei kein feiger Hund. Jetzt kriege ich dich. Und damit sind eine Masse Probleme aus der Welt geschafft. Die Hände hoch, oder ich nehme mir erst dein Mädchen vor.« Urban hielt die schwerverletzte Contessa im Arm. Deshalb konnte er nur die Linke heben. Der KGB-Oberst kam so langsam auf Urban zu, als wolle er die Zeitspanne zwischen dem Krümmen des Zeigefingers und dem Auftreffen des Schlagbolzens an der Patrone auskosten. »Die Firma Marachi-Leone ist ab sofort allein unsere Sache«, erklärte er. »Ruft einen Krankenwagen«, forderte Urban ziemlich laut. »Zwei«, ergänzte der Russe. »Einen Krankenwagen und eine Leichenwagen. Du bist uns verdammt oft in die Quere gekommen, Dynamit. Jetzt habe ich einen legalen Grund, dich ins Jenseits zu befördern.« Er gab dem Lauf seiner Makarow eine leichte Korrektur. Ein Mann wie er wußte wohin man zielte, um einen Gegner mit dem ersten Schuß zu erledigen. »Draußen stehen meine Freunde«, bluffte Urban. »Es wird nur ein kurzer Triumph sein, Oberst.« Der Russe verzog keine Miene. »Ich kenne deine Tricks. Die Polizei ist ahnungslos. Bei SIFA weiß man nicht wo du steckst, von deinen eigenen Leuten, vom MI-6, CIA und den anderen gar nicht zu reden.« Urban beobachtete, wie Jenny sich loszureißen versuchte, um sich auf Tomarow zu stürzen. Es mißlang. Tomarow zeigte schon 121
die schmalen Augen, die den Willen zum Töten ankündigten, als ein Diener neben ihm auftauchte. Er hatte ein Telefon in der Hand. »Gespräch für Sie, Signore.« »Das kann warten«, zischte der Russe. Aber der Diener ging nicht. Schließlich fauchte ihn Tomarow an: »Verdufte! Spaghetti!« Der Diener schien sich zu entfernen, blieb aber ruckartig hinter dem Russen stehen, fuhr herum, hob den schweren Te lefonapparat aus Achat und hämmerte ihn dem Russen gegen den Schädel. Der Schuß löste sich, ging aber in den Deckenstuck. Putz stäubte herunter. Urban drosch dem Russen die Waffe aus der Hand und schleuderte sie mit dem Fuß weg. Plötzlich füllten fremde Gestalten den Palazzo. Männer in dunklen Overalls mit Masken, die nur die Augen freigaben und mit Maschinenpistolen in den Fäusten. Einer gab mit sichtbarem Genuß Dauerfeuer in den Kronleuchter. Ein anderer schrie: »Von jetzt ab übernehmen wir den Laden.« Er eilte auf Urban zu. »Mach, daß du wegkommst, Amico, ich kann dir nur zwei Minuten geben.« Er griff in die Tasche und entnahm ihr einen Autoschlüssel. »Paßt für den roten Ferrari. Es ist der einzige Wagen, auf den meine Leute nicht ballern werden. Va bene?« Urban sah nur seine Pupillen. Sie waren wasserhell. Der Mann war il nonno, der Großvater. Der große Pate von Neapel, der Boß der ersten Camorra-Familie. »Va bene«, sagte Urban. Die Camorra hatte die Sache also an sich gerissen. Wie lange sie damit glücklich sein würde, war Urban im Moment egal. Nicht lange, fürchtete er, hoffte er.
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Er stützte Jenny Jannings beim Gehen. Sie nahmen den roten Ferrari und fuhren nach Neapel hinauf. In den Polstern glaubte Urban das Parfüm Dianas wahrzunehmen. »Wie geht es dir?« fragte er noch einmal. »Jetzt recht gut«, antwortete das strohblonde Mädchen neben ihm. »Warum nicht sehr gut?« wollte er wissen. Sie zögerte lange mit der Antwort. »Wer hat uns eigentlich freigeschossen?« »Die Mafia vermutlich. Eine Familie, die auch in diesem Geschäft mitmischen möchte.« »Also nicht meine Leute?« Eine Bemerkung, die Urban nicht verstand. »Deine Leute? Welche Leute?« Sie sah ihn an und legte ihre Hand auf die seine, die wiederum auf dem kurzen Schalthebel des Ferrari ruhte. Plötzlich gab sie sich einen Ruck. »Ich heiße nicht Jenny Jannings.« Danach war für drei Kilometer Pause. »Sondern?« »Spielt das eine Rolle?« »Überhaupt nicht«, sagte Urban, weil es nun wirklich nicht mehr wichtig war. Er empfand nur Enttäuschung darüber, daß er nicht längst darauf gekommen war, daß man eine normale Studienrätin wohl nicht so wichtig nahm, daß man sie entführte. »Sag ruhig weiter Jenny zu mir.« »Okay, Jenny.« »Okay, Bob.« »Deine sogenannten Leute«, äußerte er später auf dem kurvigen Abschnitt an der Küste entlang, »ist das der britische MI-6 oder die amerikanische CIA?« »Dreimal darfst du raten.« 123
»Nicht ein einziges Mal werde ich raten«, entschied er. »Sie haben dich an die Stelle der echten Jannings gesetzt, um im Spiel zu bleiben.« »Als in Washington gewisse Vorgänge ruchbar wurden, hat man mich aktiviert. Die echte Jenny überließ mir kurzfristig ihre Wohnung. Dadurch ersparte sie sich zweifellos ein paar schlimme Beulen.« »Mehr will ich nicht wissen.« »Nun sind wir alle raus aus dem Scheißspiel«, sagte sie. »Lauter Verlierer. Aber was keiner hat, das schadet auch keinem.« »Und es nützt auch keinem viel.« Urban fuhr sehr schnell. Nach einer langgezogenen Kurve tauchte ein stattlicher Berg auf, der die Silhouette des Vesuvs hatte. Es war der Vesuv. Aber er zeigte nicht seine bekannte Kraterwolke. - Er war cool. So cool wie Robert Urban ...
ENDE
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