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DAS BUCH Einst durchzogen magische Kraftlinien das Inselreich Bhealfa, doch die Usurpatoren aus Gath Tampoor haben Menschen und Magie gnadenlos unterworfen. Aufstände werden im Keim erstickt, Aufwiegler ohne Prozess verurteilt. Der einzige Widerstand formiert sich unter der Führung des Diplomaten Karr. In den politischen Angelegenheiten Bhealfas bewandert, weiß er, dass seinen Leuten nur ein Ausweg bleibt: die Übersiedlung auf eine andere Insel und die Gründung eines eigenen, friedlichen Staates. Mit aller Macht treibt er diesen ebenso ehrgeizigen wie verzweifelten Plan voran und versucht dabei, den Qalochier Reeth Caldason ein weiteres Mal für seine Ziele einzuspannen. Caldason, dem der Ruf der Unsterblichkeit vorauseilt, wird indessen von heftigen Albträumen und Anfällen gequält. Seine Hoffnung, vom Magischen Bund Heilung zu erfahren, hat sich zerschlagen, allein das Schicksal seiner Freunde Kutch und Serrah hält ihn noch in der Stadt Valdarr. Da wird der Sänger Kinsel Rukanis, ein Mitglied der Widerstandsbewegung, in Gewahrsam genommen. Machtlos müssen die Gefährten mit ansehen, wie er gefoltert und dann zu lebenslangem Dienst auf den Galeeren verurteilt wird. Nur einer aus den Reihen der Widerständler begehrt auf, um Kinsel beizustehen - mit verheerenden Folgen ... Mit »Das magische Zeichen« setzt Bestseller-Autor Stan Nicholls die atemberaubende Fantasy-Trilogie fort, die mit »Der magische Bund« begann. DER AUTOR Stan Nicholls war viele Jahre in London als Lektor, Herausgeber, Journalist und Kritiker tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben von Fantasy-Romanen widmete. Seit dem internationalen Bestseller-Erfolg von »Die Orks« gehört der Brite zur ersten Garde zeitgenössischer Fantasy-Autoren. Nicholls lebt mit seiner Frau in den West Midlands. Weitere Informationen zum Autor unter: www.stannicholls.com
STAN NICHOLLS
DAS MAGISCHE ZEICHEN Roman Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Titel der englischen Originalausgabe QUICKSILVER ZENITH Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski Das Umschlagbild malte Geoff Taylor Umwelthinweis: Das Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt Deutsche Erstausgabe 04/2005 Redaktion: Angela Kuepper Copyright © 2004 by S. J. Nicholls Copyright © 2005 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH Printed in Germany 2005 http://www. hey ne. de Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN 3-453-53022-5 Für ihre Liebe und ihre unerschöpfliche Unterstützung widme ich DAS MAGISCHE ZEICHEN
meiner lieben Schwiegermutter Eileen (Paddy) Booth, meiner Schwägerin Janet Calderwood, ihrem Partner Owen Sutherland und meinen wundervollen und erschreckend klugen Nichten Anna und Elaine Kennedy.
WAS BISHER GESCHAH Die Welt ist mit Magie getränkt. Ihr Einfluss ist auf jeder Ebene der menschlichen Kultur spürbar. Sie zeigt sich in Form von Technologie, als Währung und als Instrument der Kontrolle. Die Verfügungsgewalt über die Magie und deren Qualität bestimmen den gesellschaftlichen Status. Sie kann sich auf vielerlei Arten manifestieren, darunter auch als künstliche Lebensformen, die allgemein als Zauber bezeichnet werden. Das magische System ist das Vermächtnis eines lange verschollenen Volks, dessen Angehörige als die Gründer bezeichnet werden. Ihre Ära, die Traumzeit, erlebte vor der Morgendämmerung der aufgezeichneten Geschichte ihre Blüte. Doch es bleibt ein Geheimnis, wie diese Zeit zu Ende ging. Die rivalisierenden Reiche Rintarah und Gath Tampoor, einander in Waffen und Magie ebenbürtig, beherrschen gegenwärtig den größten Teil der Weltkugel. Der Inselstaat Bhealfa liegt zwischen ihnen wie ein Ei in einer Schraubzwinge. Zu verschiedenen Zeiten hat die Insel 7 als Kolonie zum einen oder zum anderen Reich gehört. Im Augenblick trägt sie die Ketten von Gath Tampoor. Bhealfas Herrscher ist Prinz Melyobar. Er ist nichts als eine Marionette und von der fixen Idee besessen, der Tod sei ein lebendiges Wesen. Um seinem Schicksal zu entgehen, hat Melyobar unter ungeheuren Kosten einen magisch angetriebenen, beweglichen Hofstaat eingerichtet: einen schwebenden Palast, der niemals anhalten darf. Die nach tausenden zählende Gefolgschaft, die der Palast anlockt, verleiht dem Hof das Aussehen einer Nomadenstadt. Die Brutalität der Reiche hat eine Widerstandsbewegung auf den Plan gerufen, die auch in Gath Tampoor und Rintarah selbst sowie in den vielen abhängigen Gebieten aktiv ist. Der bewaffnete Widerstand bildet das Herz dieser Opposition. Die Paladin-Clans sind die wichtigsten Organe der Unterdrückung durch die Reiche. Sie sind Söldner, doch die eigennützigen Regeln der Clans erlauben es ihnen, beiden Seiten zu dienen. Mit Ausnahme der Regierungen sind sie so wohlhabend und mächtig wie jede andere Institution in den Reichen. Reeth Caldasons Hass auf die Paladine ist legendär. Reeth ist Qalochier und in den Augen der Behörden ein berüchtigter Gesetzloser. Die Qalochier, ein eingeborenes Kriegervolk in Bhealfa, sind nahezu ausgerottet. Sie wurden betrogen, abgeschlachtet und massakriert. Caldason gehört zu jener Hand voll Menschen, die das Gemetzel überlebt haben, und er sinnt auf Rache. Außerdem sucht er Heilung von einem einzigartigen, unerklärlichen Leiden. Anfangs widerstrebend, freundet er sich mit Kutch Pirathon an, dem jungen Lehrling eines Zauberers, 8 den er konsultieren wollte, der jedoch von den Paladinen getötet wurde. Caldason schockiert Kutch, weil er einerseits magische Hilfe sucht, andererseits aber strikt gegen die Magie eingestellt ist, die jedermann für selbstverständlich hält. Noch beunruhigender sind die Anfälle von blinder Raserei, unter denen Caldason leidet, und die bizarren Visionen, die ihn heimsuchen. Die beiden begegnen dem Patrizier Dulian Karr, einem politischen Dissidenten, der in Opposition zu den Kolonialherren steht. Karr bietet Caldason an, ihn mit dem Bund in Verbindung zu bringen, einem Geheimorden von Magiern, die ihn möglicherweise von seinen entsetzlichen Anfällen befreien können. Caldason willigt ein, den Patrizier und Kutch nach Valdarr, Bhealfas größter Stadt, zu begleiten. In Merakasa, der Hauptstadt von Gath Tampoor, leitet Serrah Ardacris eine Spezialeinheit des Rates für Innere Sicherheit. Bei einer Razzia im Haus einer Bande, die das illegale Rauschgift Ramp vertrieben hat, wird ein Angehöriger ihrer Einheit getötet. Da er der Sprössling einer Adelsfamilie war, kommt es zu politischen Komplikationen. Serrah wird zu Unrecht für seinen Tod verantwortlich gemacht und unter Druck gesetzt, ein öffentliches Geständnis abzulegen. Obwohl sie misshandelt wird, weigert sie sich. Serrahs Tochter Eithne ist mit fünfzehn Jahren an einer Überdosis Ramp gestorben. Eithne erscheint Serrah, anscheinend von den Toten wieder auf er standen. Doch Serrah durchschaut den grausamen magischen Trick, der ihren Willen brechen soll. Als sie der Verzweiflung nahe ist, wird sie von einer Widerstandsgruppe aus der Gefangenschaft befreit. Sie entkommt 9 und kann auf einem Schiff, das nach Bhealfa segelt, aus Gath Tampoor fliehen. Unterwegs belauscht sie ein Gespräch über einen Kriegsherrn namens Zerreiss, der sich in den von Barbaren beherrschten Wüsten im Norden erhoben haben soll. Sein Volk bezeichnet ihn als den Mann, der von der Sonne fiel, und er besitzt angeblich eine unbekannte Art von Macht, die ihn befähigt, Land um Land zu erobern. Der Oberste Clanchef Ivak Bastorran, erblicher Anführer der Paladine, und Andar Talgorian, der imperiale
Gesandte Gath Tampoors, stellen die gewohnten Rivalitäten zurück, um eine gemeinsame Expedition auszurüsten, die mehr über Zerreiss in Erfahrung bringen soll. Angespornt werden sie durch den Verdacht, dass Rintarah eine ähnliche Mission plant. Devlor Bastorran, Ivaks Neffe und Protege und dank seines Erbrechts der zukünftige Anführer der Clans, ist besessen davon, Reeth Caldason zu töten oder zumindest gefangen zu nehmen. Sein Onkel mahnt ihn zur Vorsicht und offenbart ihm, dass die Paladine in Bezug auf Caldason gewisse, nicht näher bestimmte Regeln befolgen müssen - Regeln, die von der höchsten Autorität festgelegt worden seien. Tanalvah Lahn, Qalochierin und vom Staat lizenzierte Kurtisane, hat nie ein anderes Leben gekannt als die Arbeit in den Freudenhäusern von Jecellam, der Hauptstadt Rintarahs. Doch alles verändert sich, als ihre beste Freundin, eine Prostituierte wie sie, von einem Freier ermordet wird. Ln einem Akt der Selbstverteidigung tötet Tanalvah den Mann unabsichtlich. Voller Angst vor den Konsequenzen nimmt sie die bei10 den kleinen Kinder ihrer Freundin mit und flieht. Sie erkauft sich eine Überfahrt auf einem Schiff und gelangt mit den Kindern nach Bhealfa. Kinsel Rukanis aus Gath Tampoor ist einer der bedeutendsten klassischen Sänger seiner Zeit. Als Pazifist unterstützt er insgeheim den Widerstand. Rukanis begegnet Tanalvah und den Kindern im Hafen von Valdarr, wo sie von Wächtern und einem Paladin verfolgt werden. Serrah Ardacris, die ebenfalls in diesem Hafen an Land gegangen ist, rettet Kinsel und die anderen und tötet dabei drei ihrer Verfolger. Kinsel bringt die Frau und die Kinder in ein sicheres Haus des Widerstands. Reeth Caldason, Kutch Pirathon und Dulian Karr treffen in Valdarr ein. Sie lernen Phönix kennen, den Anführer des Bundes, der zunächst in der Verkleidung eines launischen zehnjährigen Mädchens auftritt. In Wirklichkeit ist Phönix ein älterer Magier, der das Wenige studiert hat, das von der magischen Überlieferung der Gründer noch erhalten ist. Er gebraucht seine herausragenden magischen Fähigkeiten, um in verschiedenen Verkleidungen aufzutreten. Caldason lernt auch Quinn Disgleirio kennen, einen Abgeordneten der Bruderschaft der Gerechten Klinge. Die Bruderschaft, ein lange Zeit ruhender Orden, ist vor kurzem wieder aktiv geworden, um für Bhealfas Unabhängigkeit zu kämpfen. Der Widerstand, der Bund und die Bruderschaft der Gerechten Klinge haben ein Bündnis geschmiedet, um gegen die Tyrannei des Reichs zu kämpfen. So wurde der Vereinigte Revolutionsrat gebildet. Karr vertraut Caldason an, dass der Rat auf etwas viel Radikaleres abzielt als auf eine bloße Revolution. Sein Ziel 11 ist nichts Geringeres als die Gründung eines freien Staates, dessen Standort jedoch noch gefunden werden muss. Derweil kommt das ganze Ausmaß von Caldasons Leiden ans Licht. Er ist sehr langlebig und äußerst widerstandsfähig, wenngleich nicht ganz und gar unsterblich. Wenn er verletzt wird, dann heilen seine Wunden bemerkenswert schnell, und er altert nur sehr langsam. Seit sein Stamm vor mehr als siebzig Jahren ausgerottet wurde, befindet er sich in diesem Zustand, doch er hat keine Ahnung, wie es dazu gekommen ist. Seine Visionen und Tobsuchtsanfälle lassen ihn mitunterfürchten, er könne eines Tages ganz und gar den Verstand verlieren. Phönix glaubt, die Gründer hätten eine Sammlung ihres Wissens hinterlassen, das er die Quelle nennt. Diese Quelle ist angeblich mit der Legende der Clepsydra verknüpft, bei der es sich um ein Gerät handeln soll, mit dem man die Äonen bis zum Ende der Welt abmessen kann. Wenn diese Geschichten zutreffen, dann könnte die Quelle dem Widerstand eine mächtige Waffe gegen die Reiche in die Hand geben, und zugleich könnte Caldason dort von seinem Leiden geheilt werden. Die Forschungen des Bundes haben einen möglichen Fundort der Clepsydra offenbart, den Caldason dringend aufsuchen will. Der Rat verspricht ihm, eine Expedition auszurüsten, doch das dauert seine Zeit. Phönix glaubt auch, Kutch könne ein latenter Aufklärer sein. Der Zauberlehrling besitzt eine äußerst seltene natürliche Begabung, denn er kann die Illusionen der Magie durchschauen und instinktiv Vorspiegelungen von der Realität unterscheiden. Kutch willigt 12 ein, sich von Phönix ausbilden zu lassen, um seine Fähigkeiten zu entwickeln. Caldasons und Kutchs Lebenslinien kreuzen sich mit denen von Serrah Ardacris, Kinsel Rukanis, Tanal-vah Lahn und der Kinder, die beim Widerstand Unterschlupf gefunden haben. Es dauert nicht lange, bis Kinsel und Tanalvah ein Liebespaar werden und zusammen mit den Kindern in ein Haus ziehen. Doch Tanalvah macht sich Sorgen, weil Kinsel mit seiner Arbeit für den Widerstand große Risiken eingeht. Devlor Bastorran entdeckt, dass Kinsel und Tanalvah an der Auseinandersetzung im Hafen beteiligt waren. Er lässt sie beobachten und wartet zunächst ab. Unter der Leitung von Caldason und Serrah wird eine Spezialeinheit gebildet. Sie sollen in ein geheimes Archiv der Regierung eindringen und die Akten zerstören. Während dieses Unternehmens findet Caldason in einem Regal eine Akte mit seinem Namen, aus der allerdings sämtliche Seiten entfernt worden sind. Das Archiv wird zerstört, und auf der Flucht gerät Caldason mit Devlor Bastorran aneinander. Ein wilder Zweikampf entbrennt, in dem der Paladin schwere Verletzungen davonträgt. Als sie in einem Tempel Zuflucht sucht, trifft Serrah auf Tanalvah. Tanalvah ist eine Anhängerin der wohlwollenden Göttin Iparrater und fordert Serrah auf, dem Orakel des Tempels eine Frage zu stellen. Die
Antwort stürzt Serrah in eine tiefe Melancholie. Unbelehrbar von der Richtigkeit seiner Ansichten überzeugt, entwickelt Prinz Melyobar den Plan, die gesamte Bevölkerung Bhealfas auszurotten. Er will damit seinem großen Widersacher, dem Tod, die Menschenmassen nehmen, in denen er sich verbirgt. 13 Kutch erzählt Caldason, dass auch er Visionen hat. Als der Zauberlehrling sie beschreibt, erkennt Caldason, dass sie die gleichen Träume haben. Zutiefst bekümmert unternimmt Serrah einen Selbstmordversuch und lässt sich auch nicht aufmuntern, als Dulian Karr verkündet, der rechte Ort für einen Rebellenstaat sei gefunden ... 14 Die Wirklichkeit bekam keine Atempause. Sie war und blieb von magischen Impulsen erschüttert. In der Nacht legte sich ein dichter, drückender Nebel über die Stadt, der die Geräusche dämpfte, während er die ewigen magischen Entladungen nur geringfügig abschwächen konnte. Die Funken der Zauberei pulsierten und flimmerten; Illusionen flogen durch die Lüfte, Erscheinungen gingen um. Ein junger Mann schlurfte durch taufeuchte Straßen. Er hatte sich gegen die herbstliche Kälte dick eingepackt und den Kragen hochgestellt. Die verbeulte Kappe hatte er sich tief in die Stirn gezogen, doch ein paar ungehörige Strähnen seines blonden Haars lugten unter dem Rand hervor. Er konnte nichts sehen. Seine Augen waren hinter einer Vorrichtung verborgen, die an eine lederne Maske erinnerte. Sie bestand aus zwei runden Flecken, die vor dem Gesicht festgezurrt waren. Hinter jedem Flecken steckte eine weich eingepackte Münze. In einer Hand hatte er einen Stock, mit dem er unsicher seinen Weg ertastete. Um die andere hatte er eine Leine geschlungen, deren Ende an einem Halfter befestigt war, das den glänzenden schwarzen Panzer eines Tausendfüßlers umgab - eines Wesens von den Ausmaßen eines großen Jagdhundes. Es bewegte sich geschmeidig; die riesigen Insektenaugen starrten unergründlich, die unzähligen dürren Beinchen bewegten sich in Wellen. Der junge Mann war nervös. Er befürchtete, dass er sich in einer nicht eben ungefährlichen Gegend befand, und wusste nicht, wie spät es war. Mit dem Stock tappte er nach links und nach rechts und ging zögernd weiter, als hätte er erst vor kurzem das Augenlicht verloren. Der Tausendfüßler zerrte an der Leine, sah sich neugierig um, schnüffelte und lenkte seinen Schutzbefohlenen um Hindernisse herum. Der junge Mann hatte es eilig. Hätte er sehen können, dann hätte er das Gewitter von Magie zu beiden Seiten wohl als recht gewöhnlich und billig eingeschätzt. Ein weiterer Blick hätte ihn vielleicht innehalten lassen, denn vor ihm tauchte ein Lichterpaar im Nebel auf und näherte sich rasch. Er hörte ein Geräusch und hielt den Tausendfüßler mit einem Ruck an der Leine an. So stand er und lauschte mit schief gelegtem Kopf. Die Blenden vor den Augen sahen aus wie dunkle Löcher im Kopf. Er hörte das regelmäßige Knirschen von Stiefeln auf Pflastersteinen. Eine kleine Gruppe, die im Gleichschritt marschierte. Sie kam in seine Richtung. Sein Unbehagen wuchs, und er dachte daran, sich zu verstecken. Er hob eine Hand an die Maske, als wollte er sie abnehmen. »Du da! Keine Bewegung!« 16 Das schleifende Geräusch, mit dem die Klingen aus den Scheiden gezogen wurden, unterstrich die Warnung. Der junge Mann hielt den Atem an und blieb mucksmäuschenstill stehen. Der Tausendfüßler schlängelte sich zu ihm zurück und strich um seine Beine, wie es eine erschreckte Katze tut, wenn sie Schutz sucht. Aus den wehenden, gelblichen Nebelschwaden tauchte eine Gruppe von Männern auf, vorneweg eine aus drei Bewaffneten bestehende Streife in grauen Uniformen. Neben ihnen schritt ein Paladin, dessen rote Tunika einen starken Kontrast zu ihrer farblosen Kleidung bildete. Der Magier, der wie üblich die Streife begleitete, kam als Letzter. Er trug braune Gewänder und hatte einen geschnitzten Stab in der Hand. Zwei Wachleute waren mit magischen Laternen ausgerüstet, welche die Straße in weiches Licht tauchten. »Lass die Waffe fallen!« Ihm wurde bewusst, dass sie seinen Stock meinten. Er ließ ihn los. Das Klappern klang in der gespannten Stille unnatürlich laut. Vorsichtig näherten sie sich ihm. »Weißt du nicht, dass Sperrstunde ist?« Der Sprecher war der Hauptmann der Wache, ein schlaksiger Mann mit mürrischem Gesicht. Trotz der Kälte waren seine Arme nackt. Auf einen Arm war ein wutentbrannter, Feuer speiender Drache tätowiert - das Abzeichen Gath Tampoors, des herrschenden Reichs. Der Junge, der die Maske noch nicht abgenommen hatte, schwieg. »Hast du etwa die Sprache verloren?« »Es tut mir Leid, ich ...« 17 »Du brichst die Sperrstunde«, knurrte der Paladin. »Warum?« Der junge Mann drehte sich zu dem neuen Sprecher herum und schluckte schwer. »Ich ... ich habe die Zeit falsch
eingeschätzt. Ich dachte ...« »Das ist keine Entschuldigung«, unterbrach ihn der Hauptmann. »Und blind zu sein ist auch keine«, fügte ein anderer Bewaffneter barsch hinzu. »Aber ich ...« »Unwissenheit ist keine Entschuldigung«, zitierte der Paladin. »So sagt es das Gesetz.« Irgendjemand knuffte ihn in die Rippen, und er zuckte zusammen. »Was machst du hier?«, fragte ein anderer. Sein Atem roch nach billigem Pfeifentabak. »Wer hat dich hergebracht?«, knurrte ein Dritter, der sich ungemütlich nahe zu dem jungen Mann vorbeugte. Der Blinde wich ein wenig zurück, als die Fragen auf ihn einprasselten. Verschüchtert wollte er antworten und beschwichtigen, doch sie waren nicht auf Antworten aus, sondern vor allem darauf, ihn zu schikanieren. Der Hauptmann beäugte den Tausendfüßler. »Woher hast du einen so teuren Zauber?« »Das war ein Geschenk«, log der junge Mann. »Wen könntest du wohl kennen, der so reich ist?« Der junge Mann antwortete nicht. »Kannst du beweisen, dass er dir gehört?«, bohrte der Clankrieger weiter. »Wie ich schon sagte, es war ...« »Dann haben wir das Recht, ihn zu zerstören.« 18 Der Paladin nickte dem Zauberer zu. Mit gemessenen Bewegungen zückte er ein Messer mit einer langen, silbernen Klinge, das durch Sprüche verstärkt und aufgewertet worden war, und bot es mit dem Griff voraus dar. Der Hauptmann der Wache nahm es entgegen. »Wenn du nicht beweisen kannst, dass er dir gehört«, sagte der Hauptmann, »dann darfst du ihn nicht behalten.« »Bitte, nicht...«, flehte der Junge. Der Tausendfüßler schaute bekümmert zu ihm auf. Der Hauptmann bückte sich, hob das Messer und stieß es dem Geschöpf in den Rücken. Tausend Risse platzten im Panzer des Insekts auf. Es blutete Licht. Wie dünne Nadeln brach das Licht ringsum hervor. Einen Augenblick später waren es schon Lichtbalken, die so hell leuchteten wie die Sommersonne und genauso grell im Auge brannten. Der Tausendfüßler wurde durchsichtig und verblasste zu einem leeren Umriss, bis er sich in silbrigem Dunst auflöste, der noch einmal flackerte, bevor er endgültig verschwand. Der Zauber war gestorben. Seufzend füllte die Luft das Vakuum, das er hinterließ. Die Leine, die der junge Mann festhielt, wurde schlaff, der Halfter war leer. Die Bewaffneten lachten ihn aus. »Das war doch nicht nötig«, protestierte er schwach. »Du hast keine glaubwürdigen Antworten, und du verletzt die Ausgangssperre«, erklärte ihm der Paladin. »Wir werden dich einlochen.« »Los, komm.« Der Hauptmann legte dem jungen Mann grob die Hand auf die Schulter. 19 »Nein, ich will nicht!«, platzte der junge Mann heraus und versuchte, die Hand abzuschütteln. »Was hast du gesagt?« »Ich meine ... das war doch nur ein Versehen. Ich wusste doch nicht, dass ich das Gesetz gebrochen hatte, und ...« Der Hauptmann versetzte ihm einen kräftigen Schlag ins Gesicht, woraufhin der junge Bursche taumelte. »Du redest nur, wenn du gefragt wirst.« Ein roter Fleck breitete sich auf der Wange des Jungen aus, und aus dem Mundwinkel rann Blut. »Und du wirst uns mit dem gebotenen Respekt anreden«, fügte der Stadtwächter hinzu, während er noch einmal die Faust hob. »Nehmt eure dreckigen Hände weg.« Aus dem Nebel tauchte jemand auf. Er war, groß und dunkel. Sein wehender Mantel verlieh ihm das Aussehen eines riesigen geflügelten Tiers. Der Wächter drehte sich um und stellte sich dem Fremden. »Wer, zum Teufel, bist denn du"?« Die Bewaffneten vergaßen ihren Gefangenen und wandten sich dem Neuankömmling zu. »Tretet zur Seite«, sagte er. Sein Tonfall war ruhig. Gelassen. »Wer, zum Teufel, bist du, dass du glaubst, du könntest uns Befehle erteilen?«, rief der Paladin. »Ich sagte, tretet zur Seite.« »Wer bist du, dass du hier nach der Sperrstunde herumläufst und die Stadtwache behinderst?«, entgegnete der Wächter. Er war wütend, zugleich aber auch verunsichert, denn er war nicht daran gewöhnt, dass jemand seiner Autorität trotzte. 20 »Der Junge kommt mit mir.« »Ach, wirklich? Nun, hier haben nur wir zu bestimmen.« Er schwenkte das Messer des Magiers, um seine Worte zu unterstreichen. »Wenn er überhaupt irgendwo hingeht, dann geht er mit uns. Und dich nehmen wir auch
gleich mit.« Der Fremde kam näher. Seine Bewegungen verrieten keine Eile, er ging fast gemächlich. Doch als das Licht der Laternen ihn erfasste, verrieten seine Augen, wie gefährlich er war. »Nein, wir kommen nicht mit«, sagte er. Der Hauptmann der Wache starrte ihn an. Er musterte das finstere Gesicht des Fremden. Die etwas eckigen Züge, die leicht gerötete Haut, das lange, pechschwarze Haar. »Schau mal einer an«, höhnte der Hauptmann. Er drehte den Kopf zur Seite und spuckte verächtlich aus. »Wir haben hier ja einen richtigen Strolch vor uns, Leute.« Seine Kameraden lachten, einig in ihrer Borniertheit, wenngleich ein wenig verunsichert. Der Paladin schwieg, auch der Zauberer hielt sich zurück. Der Junge drehte verblüfft den Kopf hin und her und versuchte zu verfolgen, was da vor sich ging. »Der glaubt wohl, er könnte Leute beleidigen, die weit über ihm stehen«, verkündete der Hauptmann großspurig. »Jetzt werden wir ihm mal zeigen, welchen Preis er dafür zu zahlen hat.« Der Fremde trat vor. Er blieb erst stehen, als die Messerspitze des Hauptmanns seine Brust berührte. Besonders besorgt schien er freilich nicht. Ihre Blicke trafen sich. Der Fremde wich nicht aus und rührte sich nicht. Die Knöchel des Hauptmanns waren weiß vor Anspannung. 21 Ein Schwärm übergroßer Schmetterlinge torkelte vorbei. Sie waren grellbunt und sahen aus, als wären sie aus Blech geschmiedet. Die flatternden Flügel quietschten leicht. Niemand achtete auf sie. »Wir können die Sache friedlich beilegen«, sagte der Fremde. »Überlasst mir den Jungen, und ich lasse euch gehen.« »Du lässt uns ...« Der Hauptmann kochte vor Wut. Er verstärkte den Druck des Messers. »Eher wird die Hölle zufrieren, als dass ich vor einem wie dir kneife.« »Ich könnte dafür sorgen, dass du dort bald persönlich die Temperatur prüfst«, sagte der Mann lächelnd. Das Lächeln war keineswegs freundlich zu nennen. Möglicherweise dämmerte dem Hauptmann inzwischen, wen er vor sich hatte, denn er war plötzlich ausgesprochen nervös. »Wer bist du?«, fragte er mit belegter Stimme. »Ein Mann, dem es nicht gefällt, vor einer Messerspitze zu stehen.« Es folgten einige rasche Bewegungen, so schnell und fließend, dass die anderen mit ihren Blicken nicht folgen konnten. Jetzt hatte der Fremde das Messer in der Hand. Er hielt es an der Klinge mit dem Griff nach oben. Der Hauptmann starrte ihn mit leeren Händen an. »Ich glaube, das gehört dir«, sagte der Fremde. Dann warf er es, doch sein Ziel war nicht der Hauptmann der Wache. Das Messer traf den Zauberer. Es durchbohrte seine Brust und drang tief ein. Unter dem Schnurrbart öffnete sich ein überraschtes »Oh«, und der Zauberer starrte verwirrt auf den Messergriff, der in seiner Brust 22 steckte. Dann brach er in seinen wallenden Gewändern zusammen. Wo zuvor Lähmung geherrscht hatte, brach jetzt ein Tumult aus. Alle außer dem Fremden brüllten durcheinander. Es gab hastige Bewegungen, Waffen wurden gezückt, Laternen eilig abgestellt. »Was ist los?«, jammerte der Junge, der sich inmitten des Chaos um sich selbst drehte. »Was ist los?« Der Fremde stieß ihn zur Seite, sodass der Bursche torkelte und stürzte. Unter dem weiten Mantel holte der Fremde rasch zwei Schwerter hervor. Die Streife griff an. Auf Händen und Knien und mit gesenktem Kopf suchte der Blinde sich vom klirrenden Stahl zu entfernen. Er prallte gegen eine Wand, drückte sich mit dem Rücken gegen die raue Fläche und machte sich so klein wie möglich. Ein Wächter umging den Fremden und wollte von hinten angreifen. Ein genau gezielter Stoß mit einem steinharten Ellenbogen vereitelte den Plan. Seine Nase brach mit vernehmbarem Knacken. Beide Hände vors Gesicht gepresst, taumelte der Wächter zurück. Ohne sich aus dem Rhythmus bringen zu lassen, nahm der Fremde sogleich den Kampf gegen die anderen auf. Er sah sich nun dem Hauptmann und dem dritten Wächter gegenüber. Sein bei weitem gefährlichster Gegner, der Paladin, kniete neben dem Zauberer. Er tastete am Hals des Magiers nach einem Puls und beobachtete währenddessen den Kampf. Der Hauptmann wurde wütend, und seine Wut machte ihn unbeherrscht. Er kämpfte mit weit ausholenden Schlägen und achtete kaum auf seine Deckung. 23 Sein Gefährte war vernünftiger. Er teilte genau bemessene und gut gezielte Hiebe aus. Der Fremde bekämpfte beide Gegner mit gleicher Heftigkeit, und seine beiden Klingen zuckten blitzschnell vom einen zum anderen. Die abgestellten Laternen warfen ein gespenstisches grünes Licht auf die Straße und hinter dem kauernden Burschen die riesigen Schatten der Kämpfer auf die Mauer. Es waren die Schatten wild fechtender Riesen, die
ein verrücktes Ballett aufführten. Bis einer von ihnen stehen blieb. Ein bestürzter Ausdruck ergriff Besitz vom Gesicht des Hauptmanns. In seiner Brust steckte ein Schwert. Der Fremde zog es heraus, und ein roter Blutschwall ergoss sich auf die Straße. Die Knie des Hauptmanns gaben nach, und er brach zusammen. Sein Kumpan war einen Atemzug lang wie betäubt, dann griff er mit verdoppelter Wut wieder an. Der Mann mit der gebrochenen Nase, das Gesicht blutverschmiert und doch bleich, hatte sich weit genug erholt, um sich wieder einzumischen. Sie wollten ihren Gegner mit brutaler Kraft überwältigen, doch der Fremde hielt sie mühelos auf Abstand, wich ihren Hieben aus und sprang gewandt und leichtfüßig zur Seite, ehe ihn die Stiche trafen. Nichts, was sie taten, konnte seinen Angriff verlangsamen. Dann nutzte er eine Lücke. Der junge Mann, der sich an die Wand drückte, barg den Kopf in den Händen. Ein halbes Dutzend Schritte links neben ihm war ein verschlossenes Fenster. Ein grau uniformierter Körper flog darauf zu und krachte durch die hölzernen Läden. Halb drinnen, halb draußen blieb der Stadtwächter mit zappelnden Beinen hängen. Der Bursche wimmerte. 24 Nachdem der Wächter mit der gebrochenen Nase nicht mehr mitspielte, wandte sich der Fremde dem noch kampffähigen Bewaffneten zu und fiel wie ein heißhungriger Wolf über ihn her. Hellrotes Blut spritzte ein Stück über dem jungen Burschen an die Mauer. Einige Tropfen trafen auch ihn; warm rieselte es auf seinen Kopf, auf Hände und Schultern. Er schrie erschrocken auf. Der Fremde kümmerte sich nicht weiter um den besiegten Wächter, sondern konzentrierte sich auf den Paladin, der noch beim Magier kniete. Sie starrten einander an. Der Paladin war jung und kräftig und makellos herausgeputzt, sein Haar und der Bart waren sauber gestutzt, wie es seiner Zunft entsprach. Langsam erhob er sich und trat gemessenen Schrittes vor. Im Gehen zog er das Schwert. Der Fremde steckte unterdessen die breitere Klinge weg und war nun nur noch mit dem Florett bewaffnet. »Warum tust du das?«, fragte der Paladin. »Damit wir als Ebenbürtige kämpfen können.« »Ritterlichkeit bei einem Wilden?«, höhnte er. »Nur ein Narr gibt einen Vorteil so leicht aus der Hand.« Langsam umkreisten sie einander. »Wir werden ja sehen«, erwiderte der Fremde. Sie bewegten sich gleichzeitig und schnell. Ihre Klingen trafen aufeinander, schepperten und verhakten sich kurz. Die Männer lösten sich voneinander, zogen sich zurück und begannen nun ernstlich zu kämpfen. Sie stachen, hackten und hieben und drangen unter regelmäßigem Klirren von Stahl aufeinander ein. Der Paladin war ein geschickter Kämpfer, und er hatte die nötige Disziplin, doch er war kein Gegner für den Fremden. 25 Das Ende war abzusehen, als der Fremde einen Hieb parierte und die Klinge seines Gegners ablenkte. Die folgende Riposte zerfetzte eine Lunge des Paladins und ließ ihn zu Boden sinken. Bäche von Blut rannen in die Gosse und färbten das träge fließende Wasser. Der Fremde sah sich zu dem jungen Burschen um, der an der Mauer kauerte. Er steckte das Schwert in die Scheide und eilte mit wehendem Mantel zu ihm. »Steh auf«, sagte er. Der junge Mann bewegte sich nicht, abgesehen davon, dass er zitterte. »Auf die Füße!« Er rührte sich immer noch nicht. Der Fremde verlor die Geduld und zog ihn unsanft am Kragen hoch. »Nimm das Ding ab.« »Nein, ich kann nicht, ich ...« Er wurde gegen die Mauer gestoßen. »Nimm es ab!« »Ich trau mich nicht.« Der Fremde riss dem Jungen brutal die Maske vom Gesicht und warf sie fort. Die befreiten Münzen rollten klimpernd übers Pflaster. Der Junge hielt die Augen fest geschlossen. »Mach die Augen auf«, verlangte der Fremde. »Mach sie auf.« Mühsam und heftig zitternd gehorchte der Bursche. »Wie geht's?« Der Junge blinzelte und sah sich benommen um. »Es ... ich glaube, es geht schon.« »Diese Maskerade ist doch wirklich nicht nötig. Es ist dumm und gefährlich und ...« »Nicht nötig? Du weißt, was ich gesehen habe. Wie kannst du da sagen ...« 26 In der Nähe stöhnte jemand. Es war der Hauptmann der Wache, der noch schwach atmete. Der Fremde zog ein Messer. »Nein«, bat ihn der Junge. »Kannst du ihn nicht einfach in Ruhe lassen?« »Wir machen keine Gefangenen. So wenig wie sie.« Er trat zu dem Schwerverletzten und setzte seinem Leiden ein rasches Ende. Der Junge konnte nicht hinschauen. Der Fremde wischte sich die Klinge an einem Tuchfetzen ab. »Du hältst mich für grausam, aber dies ist ein
Krieg. Vielleicht wird er nicht so genannt, aber es ist ein Krieg.« Der Junge nickte. »Ich weiß.« »Komm schon, es bringt nichts, hier noch länger zu verweilen.« Zusammen machten sie sich im Nebel auf den Weg. Etwas, das an einen Aal erinnerte, schwamm vorbei. Es hatte Streifen wie ein Bonbon und Flügel, die viel zu winzig waren, um mit ihnen zu fliegen. Als es sich durch die Luft schlängelte, hinterließ es eine Spur von orangefarbenen Funken. Erheblich milder gestimmt fragte Caldason: »Wie fühlst du dich?« »Ich habe Angst«, sagte Kutch. 27 Die Morgendämmerung war nahe, der Nebel lichtete sich. Valdarr, theoretisch die Hauptstadt des Inselstaates Bhealfa, begann sich zu regen. Menschen traten auf die Straße zwischen die magischen Erscheinungen, die niemals schliefen. Wie in allen großen Städten waren Reich und Arm nicht weit voneinander entfernt. Daneben gab es auch Bezirke, die weder besonders wohlhabend noch besonders Not leidend waren - unauffällige Wohnviertel, in denen die Gebäude und dazugehörigen Zauber ein bescheidenes Mittelmaß aufwiesen. Eine geschlossene Kutsche fuhr mit hoher Geschwindigkeit durch eine solche Gegend. Sie wurde von zwei pechschwarzen Pferden gezogen. Den Fahrer, der von Kopf bis Fuß in dunkle Gewänder gehüllt war, konnte man nicht erkennen. Das Gefährt klapperte durch schmale Straßen, die gerade zum Leben erwachten, und hielt vor einer Reihe spartanischer Gebäude. Die meisten waren private Wohnhäuser, andere erfüllten 29 verschiedene Grundbedürfnisse der Bevölkerung. Billige Waren und geschmacklose Zauber waren vor den Läden auf wackligen Tischen aufgestapelt. Ein Passagier stieg aus der Kutsche. Er hatte den Mantel eng um sich gezogen, und sein Gesicht war finster. Der Kutscher ließ sofort die Peitsche knallen, und die Kutsche entfernte sich. Während das Klappern der Hufe verklang, blieb der Fahrgast stehen und blickte die verlassene Straße hinauf und hinunter, bevor er sie überquerte und durch die offene Tür in eine Bäckerei trat. Brotlaibe, Kuchen und Zuckerwerk lagen zum Auskühlen auf Holzregalen und warteten auf Kundschaft. Im Augenblick war nur eine alte Frau im Laden. Sie stand direkt vor der zerkratzten Theke und begrüßte den Mann mit einem Nicken. Ohne ein weiteres Wort schob er sich an ihr vorbei und ging in den hinteren Teil des Raumes, wo er eine Steintreppe hinabstieg, bis er vor einer massiven Tür stand. Er klopfte, und als man ihn durch einen Türspion in Augenschein genommen hatte, wurde er eingelassen. Wärme und der Duft von frisch gebackenem Brot schlugen ihm entgegen. Die Backstube war lang gestreckt und niedrig und hatte eine gewölbte Decke aus unverputzten Ziegelsteinen. Mehlsäcke, Fässer mit getrockneten Früchten und Salzfässchen standen herum. An einer Wand befanden sich drei Backöfen. Jeder hatte zwei eiserne Türen - eine für das Backwerk und eine zweite, hinter der ein starker Gitterrost das Feuer hielt. Schwitzende Männer entriegelten die Türen mit Zangen und speisten das Feuer mit Holzklötzen, die gleich daneben aufgestapelt waren. Bäcker mit weißen 30 Schürzen schoben den rohen Teig auf langen, abgeflachten Stangen in die Ofenkammern. Der Besucher wurde erkannt und begrüßt. Er legte den Mantel ab und ließ sich auf dem einzigen Stuhl nieder. Er wirkte vornehm, seine Kleidung war von guter Qualität. Das silbergraue Haar trug er ungewöhnlich lang. Seine Augen blickten müde in die Runde, doch man sah, dass ein wacher Verstand dahintersteckte. Er war nicht so alt, wie seine Müdigkeit vermuten ließ. Er ging zum letzten der drei großen Öfen, und die Arbeiter sammelten sich um ihn. »Ich werde alt«, sagte er mehr zu sich selbst. Dann, etwas lauter: »Wenn Ihr so freundlich sein könntet?« »Aber gern, Sir«, erwiderte der Bäckermeister und gab den anderen ein Zeichen. Er war dick, und auf seiner Haut glänzte der Schweiß. Ein Mann trat vor und öffnete die Feuerklappe eines mächtigen Backofens. Die Hitze drang wie ein körperlich spürbarer Schlag heraus, tosende Flammen brachen hervor. Zwei kräftige Arbeiter packten den Besucher. Sie legten ihm die Hände in die Kniekehlen und unter die Schulterblätter, um ihn zu halten, und hoben ihn wie in einem Sessellift. Mit geübten Bewegungen schwangen sie ihn vor und zurück und holten Schwung. Dann warfen sie ihn in den Backofen. Die Glut schien völlig real, und die Hitze versengte ihm die Haut. Er hätte beinahe laut geschrien, obwohl er es besser wusste. Einen Moment später war er durch. Vom grellen Licht wechselte er in relative Dunkelheit, von lodernder Hitze in willkommene Kühle. 31 Er landete weich auf einem Haufen mit Garn ausgestopfter Säcke, aber trotzdem raubte ihm der Aufprall den Atem. Von dieser Seite aus war der Zauber, durch den er geflogen war, nicht mehr als ein fenstergroßes Loch in einer Wand. Gedämpfte Farben, die sanft umeinander kreisten wie Öllachen auf einer Wasserfläche. Auf dieser
Seite gab es keine Illusion von Flammen und gewiss keine Hitze. »Auf die Beine, Patrizier.« Dulian Karr schaute auf. Eine Frau in mittleren Jahren hatte sich vor ihm aufgebaut. Sie war kräftig und hatte eine eher muskulöse als weibliche Figur und einen durchdringenden Blick. Wie immer war sie mit einem dicken Packen Dokumente ausgerüstet, den sie sich im Augenblick unter den Arm geklemmt hatte. Sie streckte ihm die freie Hand entgegen, die für eine Verwaltungskraft überraschend schwielig war. »Goyter«, grüßte er die Frau und ließ sich auf die Füße ziehen. Als er aufstand, schnaufte er durch die geschürzten Lippen. »Mir tun alle Knochen weh«, klagte er. »Quatsch«, schnaubte die resolute Frau. »Ihr seid doch kaum älter als ich. Ich schlage vor, dass Ihr aufhört, Euch selbst zu bemitleiden, und Euch stattdessen hier nützlich macht. Jedenfalls hebt das für gewöhnlich Eure Stimmung ganz deutlich.« Nachdem sie ihren Spruch aufgesagt hatte, drehte sie sich um und marschierte davon. Karr lächelte, als er sie eilig abziehen sah, um jemand anderen zu drangsalieren. Auswahl hatte sie wahrlich genug. Dieses Versteck war viel größer als die Bäckerei, die er gerade hinter sich gelassen hatte. Es bestand aus den Kellern mehre32 rer benachbarter Häuser, die man mit Durchbrüchen verbunden hatte. Mindestens zwanzig Leute arbeiteten hier. Er klopfte sich den Staub von den Kleidern und begann mit seinem Inspektionsrundgang. Eine Abteilung war der Herstellung von Zaubern vorbehalten. Männer und Frauen saßen, mit Baumwollhandschuhen geschützt, an langen Tischen und arbeiteten behutsam mit magischen Sprengsätzen. Unter den aufmerksamen Blicken einiger Magier, die hier die Aufsicht führten, wurde ein Vorrat an illegaler Munition hergestellt: Zauberkapseln, Blender, falsche Feuer, Stinkbomben, Betäubungsstäbe, Abschirmungen gegen Lauscher, die als Halsketten oder Armbänder getarnt waren. Er begrüßte die Leute kurz und ging weiter, um den Schießstand aufzusuchen. Ein mehrere hundert Schritt langer und etwa dreißig Schritt breiter Raum war dem Erproben okkulter Waffen vorbehalten. Angesichts der Gefährlichkeit der Sprüche war dieser Bereich mit einem schützenden Feld versiegelt. Die Abschirmung war fast völlig durchsichtig und schimmerte, einer Seifenblase nicht unähnlich, ganz leicht in allen Regenbogenfarben. Am hinteren Ende des Schießstandes waren mehrere Puppen aufgestellt worden. Im Grunde waren es bessere Vogelscheuchen, die man an Holzrahmen befestigt hatte. Am vorderen Ende zielten die Waffentester. Energielanzen zuckten von den Stäben hinüber und enthaupteten die Opfer, dass das Stroh in alle Richtungen flog. Andere, mit Zauber verstärkte Waffen umhüllten die Opfer mit elastischen ektoplasmati33 sehen Netzen oder durchbohrten sie mit Eiszapfen. Einer der Tester setzte sich ein Messinghorn an die Lippen und blies hinein. Doch statt eines Tons kam eine Wolke winziger geflügelter Eidechsen mit spitzen Krallen und rasiermesserscharfen Zähnen heraus. Der Schwärm summte zu einer Puppe und zerfetzte Tuch und Holz. Eine andere Testerin hielt einen Kampfstab umfasst. Er war kurz und schwarz und mit einem Handgriff versehen. Die daran befestigten Lederbänder konnte man sich um Finger und Handgelenke wickeln. Als sie mit dem Stab zielte, spuckte er apfelgroße Feuerkugeln aus. Beim Aufprall platzten die Kugeln und setzten die Puppen in Brand. Einige verfehlten ihr Ziel und sprangen eine Weile im Schießstand herum, ehe sie explodierten. Eine Kugel, die kein Ziel gefunden hatte, prallte vom Boden ab und nahm Kurs auf Karr. Direkt vor seinem Gesicht schlug sie gegen den fast unsichtbaren Schild und explodierte in einem strahlend roten und gelben Blitz. Er zuckte instinktiv zurück, obwohl er wusste, dass ihm nichts geschehen konnte. Die Testerin grinste verlegen. Sie kam ihm noch sehr jung vor. Goyter tauchte neben Karr auf. »Wir arbeiten noch an der Stabilität«, meinte sie mit einem Nicken zum Stab hin. Etwas leiser fügte sie hinzu: »Diese Nervosität sieht Euch aber gar nicht ähnlich. Stimmt etwas nicht?« »Schon gut, ich bin nur ... etwas müde.« »Hmm.« Sie war nicht überzeugt, drehte sich aber wortlos um und wandte sich wieder ihren anderen Pflichten zu. 34 Karr stand mit geschlossenen Augen da und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. In einem schattigen Winkel in der Nähe regte sich etwas. Langsam kam ein riesiger Körper ins Licht. Das Geschöpf war stark und kräftig gebaut, die Schultern breit. Es hatte einen dicken schwarzen Pelz und kurzes, rotbraunes Haar auf der helleren Brust. Das Gesicht sah aus wie altes Leder, die Nase war platt, und die Augen waren schwarz. Leicht torkelnd kam es dem Patrizier entgegen, die Fingerknöchel schleiften fast über den Boden. Als Karr das Schlurfen hörte, drehte er sich um. »Was haltet Ihr davon?«, fragte der Gorilla. Er drehte sich ungeschickt um sich selbst und gab unbewusst die Parodie einer arthritischen Matrone zum Besten, die sich in einem neuen Kleid bewundern lässt. »Es ist ein bisschen unförmig, aber erheblich bequemer als das kleine Mädchen. Noch ein paar minimale Anpassungen, und es müsste ...« »Um Gottes willen, erspart uns das«, unterbrach Karr ihn müde. »Was?«
»Mir hat das Kind besser gefallen.« »Oh.« So weit das überhaupt möglich war, schien der Gorilla enttäuscht. »Warum denn?« »Ich mag es nicht, wenn Ihr Euch ständig verändert. So widerborstig die Kleine auch war, bei ihr wussten wir wenigstens, woran wir waren.« »Mir kam es so vor, als wäre es höchste Zeit für eine Veränderung.« »Findet Ihr nicht, dass wir auch so schon genügend Veränderungen zu ertragen haben?« 35 »Dies aus Eurem Mund zu hören ist mir ein besonderes Vergnügen.« »Irgendwann reicht es einfach. Ich bin derzeit wirklich nicht in Stimmung, Streitgespräche mit einem Menschenaffen zu führen. Wenn es Euch also nichts ausmacht...« Der Gorilla hob beschwichtigend die Pranken. »Na gut, na gut.« Er drehte sich um und hoppelte mit baumelnden Armen und eingeknickten Knien in seine Ecke zurück. Im dortigen Zwielicht gab es heftige Bewegungen, ein helles Flackern war zu sehen, honigfarbener Nebel wallte, und ein stechender Schwefelgeruch breitete sich aus. Dann kam ein schlaksiger Mann aus der Ecke hervor. Er war alt und hatte ein abgehärmtes Gesicht, doch sein Rücken war gerade, und er schritt fest aus. Er trug ein einfaches blaues Gewand, das von einem Kummerbund gehalten wurde, und mit Gold bestickte Pantoffeln. Dieser Kleidungsstil wurde von vielen Magiern bevorzugt. Während er näher kam, strich er sich einige widerspenstige Strähnen im grauen Haar und Bart glatt. »Ich muss schon sagen, Ihr seid heute ausgesprochen schlecht aufgelegt, Patrizier«, bemerkte er. »Es tut mir Leid, Phönix. Es ist eine schwierige Zeit.« »Ihr seid erschöpft, Mann.« »Wir stehen unter großem Druck. Da der Umzug so nahe bevorsteht...« »Ihr könnt nicht die Sorgen der ganzen Welt auf Euren Schultern tragen. Ihr seht aus, als stündet Ihr schon mit einem Fuß im Grab. Ihr müsst lernen, Euch zu entspannen.« 36 »Entspannen? Wie könnte ich mich entspannen? All die Vorbereitungen und die Logistik, die große Zahl der beteiligten Menschen... Das Ausmaß dessen, Was wir vorhaben, ist geradezu atemberaubend.« »Trotzdem solltet Ihr Euch ein wenig schonen und mehr delegieren.« »Wusstet Ihr eigentlich schon«, antwortete Karr, der den Ratschlag überging, »dass letzte Nacht ein halbes Dutzend Häuser von hohen Kolonialbeamten in Flammen aufgegangen sind?« »Davon habe ich gehört.« »Allerdings war es nicht unser Werk. Die Leute nehmen die Dinge allmählich selbst in die Hand.« »Das ist doch gut, oder etwa nicht? Je mehr Schläge das Regime einsteckt, desto besser ist es für unsere Sache, oder nicht?« »Ihr wisst genau, dass wir keinen bewaffneten Aufstand anzetteln wollen. Wir setzen ihnen zu, ja, aber wir wollen keine direkte Konfrontation. Alles, was wir tun, fußt auf der Annahme, dass wir auf diese Weise nicht gewinnen können.« »Wir können aber auch nichts daran ändern, Karr. Wenn die Menschen so erbost sind, dass sie zuschlagen, dann sollten wir die Letzten sein, die sie daran zu hindern versuchen.« »Wir wollen aber keine Anarchie.« »Ich bin nicht sicher, ob ich da zustimmen kann. Hartes Durchgreifen der Regierung treibt uns die Leute in die Arme.« »Dabei ist alles meine Schuld.« »Was denn?« »Die letzten drei Monate, in denen die Repressionen immer schlimmer geworden sind. Ausgangssper37 ren, Unschuldige werden ins Gefängnis geworfen, Folterungen, Massenhinrichtungen. Alles ausgelöst durch den Überfall auf das Archiv. Ich hätte die Mission nicht genehmigen dürfen. Es war ein Fehler.« »Nein, es war kein Fehler. Wir haben sie empfindlich getroffen, und es war klar, dass es Gegenreaktionen geben würde. Es ist wirklich nicht nötig, dass Ihr Euch an allem die Schuld gebt.« »Was wir gewonnen haben, wurde durch die Folgen nahezu wieder aufgehoben. Die Paladine haben jetzt praktisch freie Hand. Die geringfügigen Freiheiten, die wir noch hatten, sind noch weiter eingeschränkt worden. Warum sollte ich mir da keine Vorwürfe machen?« »Weil es nicht Eure Schuld ist. Oder haltet Ihr Euch selbst für so wichtig und verkennt, dass auch Ihr nicht mehr seid als ein Rädchen im Getriebe, genau wie alle anderen? Ihr seid schließlich nicht der Einzige, der versucht, diesen Plan umzusetzen.« Karr gab sich geschlagen. »Das hatte ich wohl verdient. Ich glaube, ich bin vor allem deshalb so besorgt, weil wir ursprünglich gehofft hatten, an diesem Punkt eine weitaus bessere Kontrolle über die Entwicklung zu haben.« »Kontrolle ist eine Illusion, das solltet Ihr doch inzwischen wissen. Selbst im günstigsten Fall können wir nicht mehr tun, als auf der Woge mitzuschwimmen. Verliert nicht den Glauben, Karr. Nicht gerade jetzt. Nicht wenn wir so nahe vor dem Ziel stehen und dieses Ziel so viel Streit heraufbeschwört.«
»Streit ist ein zu starkes Wort. Einige Leute müssen noch überzeugt werden, das ist alles.« »Und der Grund dafür ist nicht schwer zu erken38 nen, oder?« Der Magier verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich meine, wenn man von allen Orten, die man aussuchen konnte, ausgerechnet...« »Fangt nicht wieder damit an, Phönix, ich bitte Euch. Das Ziel unserer Flucht wurde von allen Angehörigen des Bundes mit Ausnahme von Euch selbst und obendrein vom gesamten Rat gebilligt.« »Ich weiß, ich weiß. Ich meine ja nur, es ist ... eine ungewöhnliche Wahl. Und das ist unter denen, die Bescheid wissen, eher eine allgemeine Einschätzung.« »Die Entscheidung ist gefallen. Es gibt jetzt kein Zurück mehr.« »Ich wollte Euch ja nur daran erinnern, dass die Entscheidung nicht überall auf helle Begeisterung gestoßen ist«, erklärte Phönix. Seine Stimme klang ein wenig beleidigt. »Auch damit sagt Ihr nichts Neues.« Gerade als sie ihr Patt erreicht hatten, tauchte Goyter mit zwei Neuankömmlingen auf. Einer war groß und abgehärtet und trug ein schwarzes Gewand. Seine Augen waren dunkel und durchdringend. Mit ihm kam ein junger Bursche, beinahe schon ein Mann. Nicht rasiert wie sein Begleiter, sondern sehnsüchtig auf einen Schnurrbart wartend, und schüchtern. »Guten Morgen, Reeth«, begrüßte Karr den älteren Mann, froh über die Unterbrechung. Caldason nickte. »Und wie geht es dir heute?«, wollte Karr von dem jungen Burschen wissen. Kutch Pirathon sagte kein Wort, sondern starrte nur den Qalochier an. »Es ist schon wieder passiert«, erklärte Caldason. »Die Visionen?«, fragte Phönix. 39 »Und er hat schon wieder auf die gleiche Art versucht, ihnen zu entgehen.« Kutch ließ verlegen den Kopf hängen. Phönix seufzte. »Wir müssen das Übel bei der Wurzel packen.« An Caldason gewandt, fügte er hinzu: »Es wäre nützlich, wenn wir mehr Einzelheiten über das erfahren könnten, was er sieht.« »Ich habe Euch darüber bereits alles gesagt, was ich weiß.« Caldasons Antwort war schroff genug, um jede weitere Nachfrage zu unterbinden. »Komm schon, Kutch. Wir wollen darüber reden.« Phönix fasste den Jungen am Arm. »Augenblick mal.« Karr deutete auf Kutchs blutbefleckten Wams. »Was ist das denn?« »Was glaubt Ihr denn, was es ist?«, gab Caldason ein wenig gereizt zurück. »Wie oft muss ich Euch eigentlich noch sagen, dass Ihr solche Schlägereien bleiben lassen sollt?« »Ihr könnt es so oft sagen, wie Ihr wollt. Das wird mich nicht davon abhalten, zu tun, was ich für richtig halte.« »Wir können es uns wirklich nicht erlauben, jemanden wie Euch zu verlieren, aber wir können ganz sicher darauf verzichten, unnötige Aufmerksamkeit zu erregen.« »Eine Streife hat mich aufgegriffen«, warf Kutch ein, »und Reeth ...« »Es ließ sich nicht vermeiden, Karr«, unterbrach Caldason ihn. »Oder wäre es Euch lieber gewesen, wenn der Junge erwischt und zum Reden gebracht worden wäre?« »Ich war dumm«, räumte Kutch mit niedergeschlagenen Augen ein. 40 »Und unbesonnen«, fügte Caldason hinzu. Der Junge schaute auf, und seine Antwort war beinahe ein Flüstern. »Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, dem man dies vorwerfen könnte.« Caldason wollte etwas erwidern, doch er hielt sich zurück. Schließlich ergriff Karr wieder das Wort. »Jedenfalls ist jetzt gewiss nicht der richtige Augenblick, um den Narren zu spielen.« Sein Blick wanderte vom Mann zu dem Jungen. »Das gilt für euch beide.« Goyter und Phönix hatten bisher unbeteiligt in der Nähe gestanden; nun wandte er sich an sie. »Wie die beiden aussehen, braucht Kutch jetzt vor allem etwas Schlaf. Seht zu, dass er ihn bekommt, und dann tut, was Ihr tun könnt, Phönix.« Der Magier nickte und wollte gehen. Dann bemerkte er, dass Caldason ihn anstarrte. »Was ist los? Was ist denn?« »Ich glaube, der Affe hat mir besser gefallen.« »Pah.« Phönix drehte sich auf dem Absatz um. Kutch warf ihm noch einen langen Blick zu, ehe er mit Goyter im Labyrinth der Kellerräume verschwand. »Ich mache mir Sorgen wegen des Jungen«, gestand Karr, als sie gegangen waren. »Nicht ganz unbegründet«, meinte Caldason. »Ich weiß, was er sieht.« »Aber wir sind bezüglich der Frage, warum Ihr die gleichen Visionen habt, noch keinen Schritt weitergekommen.« »Ich versuche seit Jahren herauszufinden, warum ich sie habe und was sie bedeuten könnten. Es kommt mir so vor, als hätte ich ihn ... als hätte ich ihn irgendwie angesteckt.«
41 »Wir können nur hoffen, dass Phönix und der Bund irgendeine Lösung finden.« »Falls sie nicht alles noch schlimmer machen.« »Eure Haltung der Magie gegenüber ist verständlich, doch sie entspricht im Grunde nicht der Realität. Wenn es nach Euch ginge, dann sollen wir die womöglich einzige Gelegenheit einer Heilung für den Jungen gänzlich ignorieren. Ganz zu schweigen von den vielen anderen Vorteilen, die uns die Magie verschafft.« Er nickte zum Schießstand hin. Die erste Abteilung Puppen war zerfetzt und verkohlt, und die Überreste waren beseitigt worden. Jetzt arbeiteten die Tester daran, eine neue Gruppe zu zerstören. Einige Figuren trugen die auffälligen roten Umhänge der Paladin-Clans. Winzige Lichtblitze, so grell, dass es in den Augen schmerzte, sprangen knisternd aus den Stäben der Tester. Ein Pfeil wurde abgeschossen und mit einem präzisen Spruch in einige Dutzend identischer Pfeile aufgespalten. Die Zauberpfeile verpufften beim Aufprall und verschwanden, der echte Pfeil aber durchbohrte sein Ziel. Andere Geschosse wurden mit Schleudern abgefeuert, zerplatzten in einer grünen Wolke vor den Füßen der Puppen und gaben ein Knäuel angriffslustiger grüner Schlangen frei. »Ich vertraue lieber auf kalten Stahl«, meinte Caldason. »Das ist aber nicht das, was Kutch braucht.« »Gestern Abend hat es ihm geholfen.« Karr schüttelte langsam den Kopf und lachte leise. »In diesem Punkt werden wir wohl nie einer Meinung sein, was?« »Wahrscheinlich nicht.« Caldason sah ihn an. »Ihr 42 sagtet, Kutch brauche Ruhe. Das gilt aber noch viel mehr für Euch selbst. Ihr seht abgespannt aus.« »Das habe ich in der letzten Zeit schon öfter gehört.« »Dann richtet Euch danach. Die Leute können sich nicht alle irren. Ihr habt Euch zu viel aufgebürdet.« »Es wird bald besser werden, hoffe ich. Ich lege demnächst mein politisches Amt nieder und verzichte auf den Titel des Patriziers.« »Das habt Ihr schon oft angekündigt.« »Dieses Mal mache ich Ernst. Es ist ein Schritt, den ich schon längst hätte tun sollen.« »Gut. Wann wird es so weit sein?« »In ein paar Tagen. Es wird sich seltsam anfühlen, nachdem ich diesen Titel schon so lange trage.« »Ich glaube nicht, dass Politiker wirklich viel erreichen können. Selbst die paar Anständigen werden letzten Endes korrumpiert. Ihr solltet sehen, dass Ihr da rauskommt.« »Das denke ich inzwischen auch. Und vielleicht habe ich sogar viele Jahre verschwendet.« »Nein, verschwendet waren sie nicht. Ich sage ja nicht, dass Politiker überhaupt nichts ausrichten können.« Der Patrizier lächelte. »Aus Eurem Munde ist das ein gewaltiges Zugeständnis. Aber ich bin bereit für den Wechsel, auch wenn ich dadurch den geringen Schutz verliere, den mein Status mir bisher noch bietet.« »Dann werdet Ihr also tun, was Ihr Rukanis zu tun drängt, und in den Untergrund gehen?« »Darüber muss ich noch nachdenken. Wenn ich unmittelbar nach meinem Rücktritt verschwinde, be43 stätige ich möglicherweise nur den Verdacht, den die Behörden ohnehin schon haben. Vielleicht sollte ich eine Weile am öffentlichen Leben teilnehmen. Aber vorher habe ich noch eine äußerst unerfreuliche Aufgabe zu erledigen.« »Was denn?« »Ein gesellschaftliches Ereignis. Ein sehr hochrangiges dazu. Es ist ein Ball, bei dem gleich zwei Dinge zusammenkommen, die ich nicht mag: offizielle Auftritte und Maskerade.« »So etwas ist auch nicht unbedingt nach meinem Geschmack, aber ganz so schlimm klingt es doch eigentlich nicht.« »Ihr habt das Schlimmste ja noch gar nicht gehört. Der Ball wird vom Diplomatischen Korps aus Gath Tampoor und den Clans gemeinsam ausgerichtet. Ich werde das Vergnügen haben, die Gesellschaft von dem Gesandten Andar Talgorian und niemand Geringerem als Ivak Bastorran persönlich zu genießen.« »Ich würde einen ordentlichen Preis dafür bezahlen, mit dem Kerl ein paar Minuten allein verbringen zu dürfen«, knurrte Caldason. »Aber wenn es Euch so unangenehm ist, dann geht doch einfach nicht hin.« »Das lässt das Protokoll leider nicht zu. Vor allem nicht, weil ich dort meinen Rücktritt erklären will.« »Dann müsst Ihr es eben lächelnd ertragen.« »Ja, und danach konzentriere ich mich ausschließlich auf die Planung für unsere neue Zuflucht. Da wir gerade dabei sind ...« Mit der Gewandtheit des Berufspolitikers wechselte er das Thema. »Ich werde mich bald mit dem derzeitigen Besitzer des Ortes treffen, und ich hätte Euch gern dabei.« »Was könnte ich schon beisteuern?« 44 »Vielleicht etwas sehr Wertvolles. Ich kann noch nicht in die Einzelheiten gehen, aber ich möchte mich jetzt schon vergewissern, ob Ihr mitkommt.« »Es wäre hilfreich, wenn ich eine Ahnung hätte, was Ihr von mir erwartet.«
»Vielleicht könnt Ihr dem neuen Staat einen Dienst erweisen. Vielleicht aber auch nichts weiter, als dass Ihr als Beobachter am Treffen teilnehmt.« Caldason überlegte. »Also gut.« »Ich hätte auch Serrah gern dabei.« »Bei den Verhandlungen?« »Letzten Endes könnte es mit Eurer Einheit zu tun haben, der sie ja angehört.« »Unsere Einheit, die seit drei Monaten keinen Einsatz mehr hatte.« »Ich würde Serrah jedenfalls gern einschließen. Wir können es uns nicht erlauben, jemanden mit ihrer Erfahrung außen vor zu lassen, zumal wir in uns einer so schwierigen Lage befinden.« »Ich hätte sie gern wieder an meiner Seite. Sie hat nach ihrem Selbstmordversuch große Fortschritte gemacht. Allerdings ist sie manchmal ... unberechenbar.« »Sie hat so viel verloren, Reeth. Ihr Kind, ihren Beruf, ihr Land. Alles, woran sie geglaubt hat. Ich finde, man muss es ihr nachsehen, wenn sie etwas sprunghaft ist. Für einen echten Einsatz ist sie wohl noch nicht ganz bereit, aber wir sollten allmählich über diese Möglichkeit nachdenken.« »Wie ich schon sagte, ich hätte sie gern wieder an meiner Seite.« »Ausgezeichnet. Ich werde es ihr ausrichten lassen.« Er sah sich im geschäftigen Keller um und bemerkte 45 Goyter, die zu ihnen zurückkehrte. Er winkte sie zu sich. »Wisst Ihr vielleicht, wo Serrah sich heute Morgen aufhält?«, fragte er. Goyter befeuchtete einen Daumen mit der Zunge und blätterte ihre zahlreichen Dokumente durch. »Sie ist bei Tanalvah Lahn.« »Ah, das ist gut. Tanalvah ist ein Pol der Ruhe. Sie wird dafür sorgen, dass Serrah keinen Ärger bekommt.« 46 Serrah Ardacris hatte Ärger. Erschrocken sah Tanalvah, wie ihre Schutzbefohlene von den beiden Wächtern, die noch auf den Beinen waren, an die Mauer zurückgedrängt wurde. Sie hatten Piken und waren im Vorteil, und sie waren wütend. Serrah kämpfte gegen sie, als hätte sie Tollwut, und hackte wild mit der Klinge um sich, während sie sich zurückzog. Für Tanalvah sah die Lage hoffnungslos aus, doch Serrah schien zu lachen. Drei Kameraden der Wächter waren bereits am Boden. Einer stöhnte und wollte sich aufrichten, ein anderer lag bewusstlos auf dem Rücken. Um den Dritten, der sich ebenfalls nicht mehr rührte, breitete sich eine Blutlache aus. Die Bank, die sie am Kontrollpunkt auf die Straße gestellt hatten, war umgekippt, und im kalten Morgenwind flatterten Papierfetzen herum. Zu beiden Seiten des Wagens, der als Straßensperre diente, hatte sich eine kleine Menschenmenge gesammelt. 47 Ein lautes Krachen holte Tanalvah in die Gegenwart zurück. Serrah hatte die Pike eines Wächters in der Mitte durchgehackt. Der Besitzer starrte seine zerstörte Waffe fassungslos an, dann konnte er gerade noch ihrem nächsten Schlag ausweichen. Er warf die nutzlose Pike weg, zog sich rasch zurück und tastete nach seinem Schwert. Serrah nahm sich unterdessen grinsend seinen Kollegen vor. Er verfolgte eine einfache Strategie: Er wollte sie wie ein Stück Vieh vor sich hertreiben, bis er ihr die Pike in die Brust bohren konnte. Serrah hielt ihn für wenig einfallsreich. Sie drehte sich zu ihm um und nutzte den Schwung, um ihm einen tiefen Schlag zu versetzen. Er zuckte zurück und entging dem Hieb um Haaresbreite. Ihr nächster Schlag fügte ihm einen tiefen Schnitt auf der Hand zu. Heulend löste er die verletzte Hand von der Pike, die daraufhin wegsackte. Als er seine Waffe neu ausrichten wollte, griff sie sofort wieder an. Ihr Schlag traf ihn voll, er taumelte zurück und landete, alle viere von sich gestreckt, auf dem Boden. Die Pike rollte weg. Selbst von ihrem Standort aus, gut dreißig Schritt entfernt, glaubte Tanalvah noch einen satten Aufprall zu hören, als der Mann auf dem Pflaster landete. Serrah warf den Kopf zurück; ihr langes pechschwarzes Haar fiel offen herab, und sie lachte laut. Teilweise triumphierend, teilweise aber auch von tieferen Gefühlen bewegt. Der letzte Wächter griff sie an und brüllte, um seine Furcht zu verbergen. Sie blieb ungerührt stehen und ließ ihn kommen. Ihre Schwerter krachten zusammen und gaben ein unschönes Klirren von sich, das niemandem in der Umgebung entging. Dann entbrannte ein heftiger, erbitterter Zweikampf. 48 Ihr stürmischer Angriff brachte ihn rasch aus dem Konzept, und ihm war anzusehen, dass er die Auseinandersetzung am liebsten sofort beendet hätte. Seine Augen verrieten genug, selbst Tanalvah konnte es, einen guten Steinwurf entfernt, deutlich erkennen. Doch er bekam keine Atempause, und der Kampf wurde immer heftiger. Der Wächter schlug und hackte drauflos, während Serrah ihre Klinge führte wie ein Skalpell. Er wollte sie mit roher Gewalt und Körperkraft überwinden. Sie dagegen focht wie eine Meisterin. Einen Augenblick später schlug sie zu. Ihre Klinge riss ihm die Wange auf. Er stieß einen Schrei aus und legte eine Hand auf die Wunde. Rote Fäden rannen zwischen seinen Fingern hindurch. Voller Schmerzen ging er auf sie los und fuchtelte, wutentbrannt und heiser brüllend, mit dem Schwert herum. Sie lenkte seine Klinge ab und stach ihn nieder. Mit hängendem Kopf sank er eher, als dass er fiel, auf die Knie. Als er endgültig umkippte, hatte sie sich schon ein gutes Stück entfernt.
Tanalvah kam aus ihrem Versteck hervor und rannte der Freundin entgegen. Serrah lächelte. »Komm schon, wir müssen verschwinden!« Serrah starrte sie verständnislos an. Tanalvah packte ihr Handgelenk. »Wir können nicht hier bleiben, nun komm schon!« Serrahs Lächeln verblasste, und sie kam wieder zu sich. Sie betrachtete Tanalvahs Hand. »Du zitterst ja.« »Du bist diejenige, die eigentlich zittern sollte.« Sie drückte Serrahs Arm. »Das ist doch verrückt, gleich werden andere Bewaffnete kommen. Wir müssen sofort verschwinden.« 49 Die Gaffer schauten schweigend zu. Serrah sah sich um, als hätte sie ganz vergessen, wo sie war. Dann tauchte ein Teil ihrer alten Entschlossenheit wieder auf. »Ja. Ja, du hast Recht.« Sie nickte zur Durchgangsstraße hin. »Da entlang.« Sie rannten. Vereinzelte Hochrufe waren aus der Menge zu hören, einige riefen auch Ermutigungen. Wieder andere schrien, es habe ein Verbrechen gegeben. Als die Frauen sich im Laufschritt entfernten, gab es hinter ihnen eine nervöse Unruhe und ein wütendes Gedrängel, und eine kleine Abteilung Bewaffneter, die Bhealfa unter ihrer Knute hielten, erschien auf dem Schauplatz. Doch Serrah und Tanalvah wurden nicht verfolgt. Jedenfalls nicht von Menschen. Sie waren schon einen ganzen Häuserblock weiter, als Tanalvah an Serrahs Ärmel zupfte. »Schau!«, sagte sie und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Serrah sah nach hinten, ohne die Schritte zu verlangsamen. In Höhe der Dachkanten flog etwas, und es näherte sich rasch. Die riesigen Flügel flappten langsam und geradezu bedächtig. Dabei wusste jedes Kind, dass dieses Ding eigentlich gar keine Flügel brauchte. Ein Schatten fiel über die fliehenden Frauen. Das Wesen kreiste über ihnen, und jetzt konnten sie es deutlicher sehen. Es war eine Kreuzung, eine Art Fledermaus mit Merkmalen eines Insekts, wozu auch drei Paare von spindeldürren Beinen zählten. Es sah einer Stubenfliege recht ähnlich, hatte allerdings die Größe eines Heuwagens und rot glühende Augen. 50 »Ich glaube nicht, dass es ein Menschenjäger ist«, meinte Serrah. Sie runzelte gereizt die Stirn. »Das ist nur ein verdammter Schnüffler.« »Dann wird er sicher gleich herausschreien, dass er uns gefunden hat.« Sie liefen jetzt im Trab, doch der Spürzauber blieb über ihnen und hielt ihr Tempo. Zu dieser frühen Stunde waren nicht viele Menschen auf den Straßen, und die wenigen, die unterwegs waren, interessierten sich vor allem für die Verfolgungsjagd. »Alarm, Alarm!«, kreischte der Spürzauber. »Verbrecher gesichtet! Ruft die Wache!« »O nein«, seufzte Tanalvah. Die Leute blieben stehen und drehten sich um. »Zur Hölle damit.« Serrah griff zum Gürtel. Der Zauber flog über ihnen dahin und schrie: »Flüchtlinge, Aufständische, hierher, hierher, hierher!« Serrah zog ein Wurfmesser mit kurzer Klinge heraus. »Alarm, Alarm! Gesetzlose Elemente sind unterwegs! Ruft die ...« Sie holte weit aus und warf das Messer mit aller Kraft. »... örtlichen Milizen oder ...« Die Klinge traf die weiche Unterseite des Wesens und verschwand, als wäre sie verschluckt worden. Der Zauber blieb abrupt in der Luft stehen, auch die zackigen Flügel stellten ihre Arbeit ein. So unmöglich es auch aussah, das Wesen schwebte reglos in der Luft. Dann erschien an der Stelle, wo das Messer eingedrungen war, ein roter Fleck, der rasch größer wurde. Der Anblick erinnerte an Feuer, das ein Blatt Papier verzehrt, nur dass das vermeintlich feste Fleisch der Erscheinung nicht in Asche, sondern in unzählige sil51 berne Flocken verwandelt wurde. Immer schneller griff die Zerstörung um sich und verzehrte den Körper des Zaubers, fraß sich an den Flügeln entlang und löste die dürren Beine auf. Der schwarze Körper zerfiel zu einem Schauer strahlender Kügelchen. Wie silberner Hagel fielen sie herab und zerplatzten leise auf dem Straßenpflaster. Was dann noch übrig war, ging als weicher Regen nieder, der an Lötzinn erinnerte, bestäubte einen Augenblick lang die Straße und verschwand. Irgendwo fiel auch Serrahs Messer wieder herunter und klapperte auf das Pflaster. Sie hörten es, aber sie achteten kaum darauf. »Guter Wurf«, flüsterte Tanalvah, auch wenn sie offenbar immer noch große Angst hatte. »Ich habe ein gutes Messer verloren«, beklagte sich Serrah. Sie rannten weiter. Dieses Mal gaben sie sich bei der Flucht etwas mehr Mühe. Sie bewegten sich durch Seitengassen und Hinterhöfe, schmale Straßen und überdachte Durchgänge. Wo sie einen Blick auf die Hauptstraßen werfen
konnten, sahen sie berittene Milizionäre, die in jene Richtung vorrückten, aus der sie kamen. »Langsamer«, keuchte Serrah. »Wenn wir rennen, erregen wir nur unnötige Aufmerksamkeit.« »Mehr als wenn wir Leute umbringen?«, gab Tanalvah zurück. Serrah zuckte mit den Achseln. »Legst du es etwa darauf an, geschnappt zu werden?« »Nein.« Serrah warf ihr einen harten Blick zu. »Das wird nie wieder passieren. Lieber sterbe ich.« 52 »Ah, so sieht das aus.« »Was meinst du?« »Musst du da wirklich noch fragen? Du bist unberechenbar, Serrah. Was du da getan hast, war ... es war unvernünftig.« »Ich lasse mich nicht wie ein Stück Dreck behandeln.« »Es war völlig überflüssig. Du hättest ihnen einfach deinen Ausweis zeigen sollen. Die Fälschungen sind gut genug, um nicht aufzufallen.« »Du verstehst nicht, worum es mir geht, Tan. Sie haben mich respektlos behandelt. Ich bin kein Stück Fleisch, ich lasse mich nicht herumstoßen und beleidigen.« »Was nützt dir der Respekt, wenn du getötet wirst? Oder wenn sie uns beide schnappen? Wer weiß, was uns hätte passieren können.« Es waren nicht nur Tanalvahs erregte Vorhaltungen, die andere Passanten auf sie aufmerksam machten. Auch Serrahs pechschwarzes Haar, die hellbraune Hautfarbe und die markanten Gesichtszüge lockten die Blicke der Menschen an. Sie hatte genügend Erfahrung mit den Vorurteilen gegenüber Qalochiern, um die Blicke zu ignorieren. »Wie ich schon sagte«, gab Serrah kalt zurück, »man wird mich nicht fangen.« »Und was ist mit mir?« »Ich lasse auch nicht zu, dass es mit dir geschieht.« »Wirklich? Wie willst du das verhindern?« »Wenn es so aussieht, als könnten sie dich schnappen, dann würde ich dir die Kehle durchschneiden.« »Das finde ich wirklich beruhigend«, gab Tanalvah sarkastisch zurück. »Aber manche Handlungen haben Folgen, die nicht nur dich selbst betreffen.« 53 »Glaubst du, das wüsste ich nicht?« »Du handelst, als wäre es dir nicht klar.« »Ich tue, was ich tun muss.« »Und wenn der Kampf, den du gerade vom Zaun gebrochen hast, ein Urteil erlaubt, dann genießt du es.« »In gewisser Weise schon. Nichts ist so gut geeignet wie der nahende Tod, um dem Leben einen Sinn zu geben.« »Das ist ja immerhin ein Fortschritt. Vor einiger Zeit wolltest du nur den Tod und nichts sonst.« »Geh weiter«, drängte Serrah sie, ohne auf ihre Worte einzugehen. Als sie weiterliefen, murmelte Tanalvah: »Bei den Göttern, manchmal machst du mir richtig Angst.« Sie näherten sich dem Stadtzentrum. Hier waren die Straßen belebter als weiter draußen. Es war ein frischer Morgen, und die schwache, frühe Herbstsonne verbrannte den letzten Dunst der vergangenen Nacht. Der Nebel hatte sich gelichtet, doch die Magie lag wie immer schwer über der Stadt. Wo die Menschen sich in größerer Zahl versammelten, gab es natürlich auch magische Erscheinungen im Überfluss. Auf den Plätzen, Märkten und Boulevards im Zentrum Valdarrs war die Magie trotz der frühen Stunde schon dicht gewoben, und ihre Vielfalt entsprach jener der Bevölkerung. Für die Reichen waren die Zauber ein Mittel, um ihren Reichtum zu demonstrieren. Sie schlenderten in Begleitung magischer Eskorten, die unerhört schön oder ausnehmend widerwärtig waren, durch die Straßen. Sie lockten Schwärme fliegender Tauben aus Eis zu sich, die schmolzen oder in tausend Stücke zer54 sprangen, wenn sie den Boden berührten. Sie beschworen Scharen rosafarbener Rehkitze herauf oder Libellen in der Größe von Tauben, in deren Körpern blendend helles Licht pulsierte. Sie ließen sprechende Bären herumlaufen und erschufen Hähne, die eher singend als krähend die Stunde verkündeten. Für die Armen war die Magie eine Linderung ihres Elends. In Seitenstraßen und anrüchigen Vierteln spielten ungewaschene Kinder mit billigen Spaßzaubern, die flackernd und unscharf ihre Magie zum Besten gaben. Akrobaten, in verschwommenen Farben dargestellt, führten flackernd ihre Kunststücke vor. Die hageren Eltern der Kinder trugen Lumpen und versuchten, sich mit Betteln über Wasser zu halten. Sie setzten primitive Zauber ein, die gefälscht oder gestohlen waren, um einfache Musikinstrumente zu erschaffen. Magische Pfeifen und Geigen schwebten frei in der Luft und quakten und kratzten einfache Melodien. Hin und wieder warf ein Passant eine Münze in eine umgedrehte Mütze. Es gab auch magische Bettler, die für einen guten Zweck sammelten, etwa um die Armut zu lindern. Diese Zauber, die saubere Lumpen und sauber gewaschene, lächelnde Gesichter hatten, waren idealisierte Versionen ihrer menschlichen Gegenstücke. Ihre Mützen quollen vor Münzen über, während die echten Armen ignoriert wurden.
Überall fanden sich glitzernde Illusionen und raffinierte Trugbilder, um die Sinne zu täuschen. Ständig erschienen neue Zauber, während andere, verbraucht oder weggeworfen, erloschen. Ein neuer Tag der unendlich formbaren Realität hatte begonnen. 55 Serrah und Tanalvah nahmen all das ganz selbstverständlich hin. Ihre Gedanken kreisten vor allem um die Frage, wie sicher sie auf den Straßen waren. Wie nicht anders zu erwarten, mischten sich Streifen und Milizabteilungen unter die Menschen, und in der letzten Zeit hatte deren Zahl noch erheblich zugenommen. Jetzt standen zusätzlich sogar gewöhnliche Soldaten an jeder Ecke, und überall waren die auffälligen roten Uniformen der Paladin-Clans zu sehen. Tanalvah bemühte sich so gut sie konnte, jede Aufmerksamkeit zu vermeiden. Sie betete, dass Serrah ihrem Beispiel folgen möge. »Es gibt ein Gerücht, dass demnächst der private Waffenbesitz verboten werden soll«, vertraute Tanalvah ihr an. »Wie kann das sein? Du darfst nicht so viel auf den Klatsch geben, Tan.« »Kinsel hat es in der Konzerthalle gehört. Ein hochrangiger Beamter soll es gesagt haben.« »Das werden sich die Leute nicht gefallen lassen. Sie werden Widerstand leisten. Falls jemand versuchen sollte, mir das Schwert abzunehmen ...« »Da geht es schon wieder los. Du tust, als wäre alles durch Gewaltanwendung lösbar.« »Wie sonst willst du sie aufhalten? Mit zärtlichen Worten und Girlanden?« »Ich meine doch nur, dass ...« Tanalvah sah sich um und senkte die Stimme. »Ich meine doch nur, dass es nicht der richtige Augenblick ist, irgendein Risiko einzugehen. Nicht wenn der Umzug so nahe ist.« Eine Erscheinung, die einem Gespenst ähnelte, flog mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Sie wirkte irgendwie weiblich und war in eine Art Gaze gehüllt, die hin56 ter ihr her flatterte wie Spinnweben. Das Wesen kümmerte sich nicht um sie. Tanalvah nahm an, dass es sich um eine Art Botenzauber handelte. »Da ich nicht beteiligt bin, kann ich die Pläne auch nicht in Gefahr bringen, oder?« »Aber ich bin sicher, dass sie dich dabeihaben wollen. Schließe dich der Bewegung an. Mit deinen Fähigkeiten ...« »Ja«, gab Serrah zynisch zurück. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.« »Ach, Serrah ... ja, wir brauchen dich wirklich. Ob du nun beim Umzug eine Rolle spielen willst oder nicht.« Sie erreichten eine Kreuzung zweier Durchgangsstraßen. Große Kutschen fuhren vorbei, die von Zebras, Hirschen, Panthern, grotesk vergrößerten Schwänen und Eidechsen sowie hundert anderen exotischen Tieren gezogen wurden, in die man die Pferde mithilfe der Magie verwandelt hatte. »Ich gehe wieder in Karrs Haus«, entschied Serrah. »Ich komme mit.« »Nein, das ist nicht nötig.« »Ich mache mir Sorgen um dich.« »Es ist wirklich nicht nötig.« »Nun ja, ich sollte eigentlich zu Kinsel zurückkehren. Bist du sicher, dass du zurechtkommst?« »Ja, es wird schon gehen.« »Wenn du wieder auf eine Straßensperre triffst...« »Ich verspreche dir, dass ich mich zurückhalten werde.« Serrah lächelte schwach, aber von Herzen, drehte sich um und verschwand in der Menge. Tanalvah sah ihr noch einen Augenblick nach, dann entfernte sie sich in die andere Richtung. 57 Es war nicht weit bis zum Haus, doch Tanalvah näherte sich ihrem Ziel vorsichtshalber auf Umwegen. Sie lebte jetzt in einer wohlhabenden Gegend. Es gab hier breite, saubere Straßen und großzügige, gut unterhaltene Häuser. Die Magie, die man hier zu sehen bekam, war geschmackvoll und teuer, und die Bettler hielten sich fern. Alles an dieser Gegend schien geeignet, ihr Schuldgefühle einzuflößen. Als Tanalvah die Villa betrat, wartete ihr Geliebter schon auf sie. Sie umarmten sich, dann sagte er: »Was ist los, Tan? Du wirkst so besorgt.« »Ich war mit Serrah unterwegs.« »Ah.« Mehr brauchte Kinsel Rukanis eigentlich nicht zu wissen. Er war in der Nähe gewesen, als Serrah ihrer tiefen Verzweiflung nachgegeben hatte, und er hatte beobachten können, wie es ihr seither ergangen war. Dennoch fragte er: »Was ist denn passiert?« »Nichts, was sie nicht schon ein Dutzend Mal getan hätte. Nicht, dass es dadurch weniger beängstigend wird.« »Nein. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir, wenn Serrah nicht gewesen wäre ...« »... dass wir dann gar nicht erst bis hierher gekommen wären. Ich weiß. Wenn sie dies nicht für uns getan hätte, dann würde ich sagen, sie soll zur Hölle fahren.« »Sie braucht ihre Freunde jetzt mehr denn je. Mit ihrem Selbstmordversuch haben ihre Sorgen ja nicht aufgehört. Ganz im Gegenteil.« »Wenigstens hat sie es nicht noch einmal probiert.«
»Wirklich? Meinst du nicht, ihr waghalsiges Auftre58 ten könnte womöglich nichts weiter als eine andere Art sein, ihrer Todessehnsucht nachzugeben?« »Ich glaube, ganz so einfach ist das nicht. Nun ja, teilweise mag es durchaus zutreffen. Vor allem glaube ich, dass sie ... dass sie ausprobiert, wie weit sie gehen kann. Es ist, als müsste sie stets die Kontrolle behalten, auch wenn es bedeutet, dass sie Situationen erzeugt, in denen sie die Kontrolle höchstwahrscheinlich schnell verlieren wird.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ach, ich weiß es auch nicht.« »Wir können im Augenblick keine derartigen Probleme gebrauchen, Tan. Nicht, da der Umzug unmittelbar bevorsteht.« »Das habe ich ihr auch gesagt. Vielleicht hat sie es verstanden, aber sicher bin ich mir nicht.« Kinsel seufzte. »Der Rat hat wahrlich genug Probleme, mit denen er sich befassen muss, zumal unser Ziel so großen Widerspruch erregt hat.« »Das muss aber nicht deine Sorge sein, mein Lieber. Sollen doch die anderen die Entscheidungen fällen. Zerbrich dir deshalb nicht den Kopf.« »Das sieht mir ähnlich, was?« Er lächelte beinahe schüchtern. »Ich glaube, ich kann nicht anders, weil mir dieses Unternehmen nun einmal sehr am Herzen liegt. Ich will auf keinen Fall, dass es irgendwie gefährdet wird.« Sie erwiderte sein Lächeln. »Das weiß ich doch. Selbst wenn wir nicht völlig mit dem Ort einverstanden sind, den der Rat ausgewählt hat.« »Es war auf jeden Fall eine kluge Wahl.« »In gewisser Weise, ja. Aber sie weckt bei vielen meiner ehemaligen Berufskolleginnen böse Erinnerungen. Der Ort war bei Huren nie besonders beliebt.« 59 »Ich wünschte, du würdest...« »Wir können nicht ungeschehen machen, was ich früher getan habe, Kin. Ich dachte, wir seien uns einig, dass wir ehrlich damit umgehen wollen.« »Das sind wir auch. Es gefällt mir nur nicht, wenn du so über dich selbst sprichst.« »Es ist doch nur ein Wort. Eine Beschreibung für etwas, das ich früher einmal getan habe, aber nicht für das, was ich jetzt bin.« »Ja, das ist richtig, meine Liebe. Und was unseren Zufluchtsort angeht, so können wir seine Geschichte zu vergessen versuchen und etwas Besseres aufbauen. Es spielt keine Rolle, wo unser Zufluchtsort ist. Wichtig ist nur ...« Er beugte sich vor und küsste sie. »Wichtig ist nur, dass wir den gleichen Traum träumen.« »Ja, Liebster.« »Ich wünschte nur, ich könnte etwas Konstruktives beisteuern, um den Traum zu verwirklichen.« »Ist heute ein Tag, an dem du dir ständig Vorwürfe machen musst?« »Nun ja, als Pazifist kann ich in der Widerstandsbewegung nicht viel ausrichten.« »Du Narr«, widersprach sie liebevoll. »Du hast unermesslich viel für die Sache getan und dabei sogar dein Leben riskiert.« »Ich glaube, jetzt übertreibst du ein wenig, Tan. Wie auch immer, seit Karr mich nicht mehr als Spion arbeiten lässt, komme ich mir vor wie das fünfte Rad am Wagen.« »Ich bin froh, dass er dich da herausgezogen hat. Es ist viel zu gefährlich geworden. Jetzt kannst du dich auf deine wahre Begabung konzentrieren.« 60 »Anis Singen? Das kommt mir in Zeiten wie diesen ziemlich unsinnig vor.« »Es schenkt den Menschen eine kleine Erholungspause. Unterschätze nicht den Wert, den dies hat, mein Lieber.« »Wenn überhaupt jemand eine Erholungspause bekommt, Tan, dann sind es die falschen Leute - die Wohlhabenden, die Mächtigen, die Besatzer und ihre Anhänger. Ich komme mir so nutzlos vor.« »Dann unternimm etwas und mach dich nützlich.« »Wie meinst du das?« »Du hast eine Gabe, die dir von den Göttern geschenkt wurde. Es ist eine Sünde, sie nicht zu nutzen. Lasse diejenigen deine Stimme hören, die sie normalerweise nie hören würden. Lass die Armen endlich auch einmal etwas Schönes erleben.« »Ich habe immer versucht, vor möglichst großem Publikum aufzutreten.« »Ja, aber was ist dabei herausgekommen? Ein paar Freikarten für Bedürftige. Das ist nicht deine Schuld, Kin. So sieht das System, in dem du dich befindest, eben aus. Nein, ich stelle mir eine große Veranstaltung vor, billig genug, damit die Menschen es sich leisten können. Nein, vergiss das. Umsonst. Umsonst und für jeden offen.« »Auf einem großen Platz in der Stadt. Oder in einem Park.« »Genau.« »Das ist eine gute Idee, Tan. Aber ...« »Was denn?« »Vergiss nicht, dass hier eine Art Ausnahmezustand herrscht. Kriegsrecht. Die Behörden sind nicht gerade versessen auf große Versammlungen.«
61 »Du kennst so viele Leute. Nutze deine Kontakte. Lass deine Beziehungen spielen.« Kinsel fing an zu strahlen. »Ja, das könnte ich vielleicht versuchen.« »Verkaufe es als Ereignis, das die Massen besänftigen soll. Du weißt schon, ein Weg, um die Leute von ihren Sorgen abzulenken.« »Brot und Spiele.« »Wenn du es nicht ernst nimmst, Kin ...« »Doch, doch.« Er umarmte sie lachend. »Wie ich schon sagte, es ist eine gute Idee. Vielen Dank, Tan.« Sie spürte, dass die Idee ihn gepackt hatte. Es war gut, dass er wieder ein Ziel vor Augen hatte und nicht mehr ständig an den Umzug dachte. Auf der Treppe war ein Poltern zu hören, dann wurden schrille, aufgeregte Stimmen laut. Kinsel grinste. »Da kommt der Ärger.« Zwei kleine Wirbelstürme platzten herein. Teg, beinahe sechs Jahre alt, hatte einen roten Schopf und Sommersprossen auf den Wangen. Seine Schwester Lirrin, beinahe neun, hatte eine lange blonde Mähne, die fast so hell war wie ihre Haut. Die Kinder warfen sich in die ausgebreiteten Arme. Lachend und unter lebhaftem Austausch von Zärtlichkeiten schob Kinsel sie ins Wohnzimmer. Tanalvah folgte als Letzte und beobachtete die anderen. Lirrin, die wie immer ein wenig ernst schien, sogar dann, wenn sie keinerlei Aufgaben zu verrichten hatte. Teg, glücklicherweise noch viel zu klein, um die entsetzliche Wahrheit über die Ermordung ihrer Mutter zu verstehen. Und Kinsel. Ein wenig klein geraten, aber kräftig gewachsen, mit dem fassähnlichen Brustkorb des 62 klassischen Sängers, kurz gestutztem schwarzem Haar und einem sauber getrimmten Bart. Auf Händen und Knien ließ er sich glücklich von den Kindern als Pferdchen benutzen und wurde selbst wieder zum Kind. Vielleicht versuchte er auf diese Weise, die Verletzungen zu heilen, die seine eigene Kindheit überschattet hatten. Tanalvahs Familie. Die einzige Familie, die sie je gehabt hatte. Wie durch ein Wunder war diese Familie auf einen Schlag in ihr Leben getreten. Ein Geschenk der Götter. Sie sollen ein besseres Leben haben, dachte sie. Wir alle wollen es haben. In unserem neuen Heim. Sie schauderte, als wehte ihr aus der ungewissen Zukunft ein kalter Wind entgegen. Falls wir jemals dort ankommen. 63 Wie in jedem anderen Land gab es auch in Bhealfa Gegenden, die man gewöhnlich mied. Gefährliche, unheimliche Orte wie die Große Schlucht in Murcall, die sich der Legende nach einst aufgetan hatte, um die eindringende Horde eines Kriegsherrn zu verschlucken. Orte wie den Wald von Böhm mit seinen eigenartigen Ruinen, von denen viele Menschen glaubten, sie seien bereits in der Ära der Gründer entstanden, und aus denen nur wenige Reisende jemals zurückkehrten. Oder die Bodenverwerfung im Tal von Starkiss, wo in regelmäßigen Abständen ein Geysir rohe Magie ausspuckte, obwohl man schon seit dreißig Jahren versuchte, das Loch zu schließen. Auch in den Städten gab es unbeliebte Viertel. Gesetzlose Bezirke, Schuldtürme und Besserungsanstalten nahmen die vorderen Plätze auf der Liste ein. Ein Ort aber wurde noch stärker gemieden als alle anderen. Ein Ort, zu dem die Menschen eher geschleppt wurden, als dass sie ihn freiwillig aufsuchten. 65 Das Hauptquartier der Paladin-Clans in Valdarr war eine abweisende Bastion, die in der herbstlich frühen Dämmerung womöglich noch schroffer wirkte, als sie es ohnehin schon war. Es war ein großer, beeindruckender Komplex aus grauen Steinbauten, die von hohen Mauern und streng bewachten Toren abgeschirmt wurden. Schwarze Banner flatterten auf den zahlreichen Wachtürmen. Die Tatsache, dass dieser Gebäudekomplex an einer so prominenten Stelle stand, legte ein Zeugnis von der unermesslichen Macht der Clans ab. Die Paladine waren Glücksritter, um es höflich auszudrücken, kämpften sie doch sowohl für Gath Tampoor als auch für Rintarah und verkündeten obendrein, es könne keinen Interessenkonflikt geben. Ihre verfassungsrechtliche Position war einzigartig. Sie galten als staatenlos - eine juristische Finesse, die sie dankbaren Kunden in beiden Lagern zuzuschreiben hatten. Wenn ein Unwissender fragte, was denn die Paladine zu bieten hätten, das die normalen Truppen nicht bieten konnten, dann lautete die Antwort: Alles und jedes. Folglich waren sie reich und übten großen Einfluss aus. Als das Licht schwächer wurde, lief ein Mann über die makellos sauberen Wege zwischen zwei Reihen gut gepflegter Gebäude. Ein Beobachter hätte ihn auf etwa zwanzig geschätzt. Er war blond und glatt rasiert. Seine Tunika war schwarz und hatte dreifache rote Linien an den Ärmeln und einen roten Flecken auf der linken Brust. Diese Abzeichen verrieten, dass seine Aufgaben eher im Verwaltungsbereich als bei der kämpfenden Truppe lagen und dass er den Clans diente, ohne jedoch als vollwertiges Mitglied geboren zu 66 sein. Unter einem Arm trug er eine Dokumentenmappe aus wasserabweisendem Stoff. Mit geradem Rücken bewegte er sich energisch, der freie Arm pendelte wie bei einer militärischen Parade. Aufmerksame menschliche Augen beobachteten ihn, und Lauschzauber schwebten über ihn hinweg.
Seine Gedanken kreisten um die Geheimnisse, die in dieser abweisenden Umgebung gehütet wurden. Die Geheimnisse der Paladine und seine eigenen. Er erreichte ein niedriges, lang gestrecktes einstöckiges Gebäude, das genau genommen nur ein Gebäudeflügel war, der aus einem größeren, zentralen Bauwerk ragte. Dies war der Kern der Festung. Die Mauern waren atemberaubend hoch und mit Zinnen bewehrt. Der Gebäudeflügel war eine Krankenstation, die den hochrangigen Offizieren vorbehalten war. Zwei Wächter standen vor der Tür. Ihre Tuniken waren karminrot, was sie als Vollmitglieder der Clans auswies. Sie salutierten nicht, als er kam, sondern traten nur zur Seite und ließen ihn passieren. Er nickte und trat ein. Drinnen ging er einen Flur hinunter, von dem zu beiden Seiten Türen abzweigten. Der Raum, den er aufsuchen wollte, befand sich am hinteren Ende. Kurz bevor er ihn erreichte, flog die Tür auf. Ein älterer Mann stolperte heraus. Seine Gewänder wiesen ihn als Arzt aus, und er war offensichtlich sehr erregt. Kaum dass er durch die Tür war, flog ein Porzellankrug hinter ihm her, der ihn nur knapp verfehlte und an der gegenüberliegenden Wand zerschellte. Mit aschgrauem Gesicht stürmte der Heiler vorbei und floh. Der junge Mann holte tief Luft, klopfte an und steckte den Kopf ins Zimmer. 67 »Ich sagte doch, dass Ihr draußen bleiben sollt - oh, du bist es, Meakin.« Devlor Bastorran, der Erbe der Führerschaft über die Clans, lag in einem übergroßen Bett. Ein Bein war vom Oberschenkel bis zum Fußgelenk eingegipst und hing in einem Flaschenzug. Er hatte zahlreiche Narben und Schürfwunden, und im kurz geschnittenen schwarzen Haar konnte man eine kleine rasierte Stelle erkennen, wo eine Platzwunde noch nicht ganz verheilt war. Er stellte die Porzellanschale ab, die er gerade hatte werfen wollen. »Nun steh nicht so herum, Mann. Komm herein!« Lahon Meakin trat ein. »Wenn es Euch gerade nicht passt, Sir ...« »Zeit ist etwas, das ich im Augenblick im Überfluss habe.« Er nickte zu einem Stuhl hin. »Setz dich.« Der Adjutant schloss hinter sich die Tür und ließ sich auf einem Stuhl nieder. Die Aktenmappe legte er auf seinen Schoß. Bastorran drehte sich um und sah ihn an. Die Bewegung schmerzte offensichtlich, denn er zuckte zusammen. »Verdammtes Bein!« »Soll ich Hilfe holen, Sir?« »Auf keinen Fall. Wenn dieser letzte Heiler als Maßstab dienen soll, dann bin ich ohne die Art von Zuwendung sicher besser dran.« »Sir.« »Also gut, dein Bericht.« Meakin blätterte die Akten in seiner Mappe durch. »Und fasse dich kurz, ja?«, fügte Bastorran hinzu. »Nur das Wichtigste.« »Ja, Sir. Ich habe hier eine Übersicht.« Er fischte ein Dokument heraus und räusperte sich. »Mal sehen. Die 68 Berichte für den heutigen Tag sind noch nicht vollständig eingegangen, aber wir haben den größten Teil der Zahlen aus Valdarr für die letzten vierundzwanzig Stunden. Es gab vierzehn Fälle von öffentlicher Ruhestörung, die schwerwiegend genug waren, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Fünf Fälle von Brandstiftung in Gebäuden der Regierung oder des Reichs. Es gab einen Versuch, einen Waffentransport zu entführen, der erfolglos verlief, wenngleich drei Todesopfer zu beklagen sind. Leider haben bei verschiedenen Vorfällen auch zwei Paladine ihr Leben verloren. Ebenso elf Angehörige der Stadtwache und ein lizenzierter Zauberer, der einer solchen Einheit zugeteilt war.« »Festnahmen?« Meakin sah auf einem anderen Dokument nach. »Äh, siebenhundertzweiundzwanzig, Sir.« »Schon wieder gestiegen.« »Ja, Sir. Einunddreißig davon wurden mit einer standrechtlichen Hinrichtung zum Abschluss gebracht, wie es die neuen Notstandsverordnungen erlauben.« »Ausgezeichnet. Es sieht so aus, als hätte man uns endlich gestattet, die Samthandschuhe auszuziehen.« »Der Hohe Clanchef wird sich sicher sehr darüber freuen, Sir.« »Mein Onkel?« Bastorrans Gesicht verdüsterte sich. »Da er sich doch schon seit so langer Zeit für härtere Maßnahmen gegenüber den Aufständischen einsetzt, Sir«, fügte Meakin eilig hinzu. »Ah, ja. Onkel Ivak steckt im Augenblick ziemlich in der Scheiße.« Wenn Meakin der Ansicht war, diese Bemerkung sei respektlos, dann ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Wollt Ihr die Einzelheiten hören, Sir?« 69 »Was?« »Über die Verhaftungen. Ich kann sie für Euch aufschlüsseln nach ...« »Einzelheiten ermüden mich, das solltest du doch inzwischen wissen. Das einzig Wichtige ist, dass wir jetzt mehr Kriminelle denn je ins Gefängnis oder aufs Schafott schicken. Aber das ist nicht der Grund dafür, dass ich
dich gerufen habe.« »Sir?« »Du sollst jemanden kennen lernen. Ich weihe dich ein, weil du möglicherweise zu dieser Person Verbindung aufnehmen musst, wenn ich es nicht selbst tun kann. Du brauchst aber nicht zu wissen, welche Aufgabe sie für die Clans erledigt, und du musst nicht mehr als unbedingt nötig über diese Besucherin erfahren.« »Ich verstehe, Sir.« »Dann verstehe auch dies«, fuhr er mit Nachdruck fort und fasste seinen Adjutanten scharf ins Auge. »Alles, was du in Zusammenhang mit dieser Person erfährst, ist streng geheim. Jeder Vertrauensbruch wird schärfste Konsequenzen nach sich ziehen. Du stehst noch nicht lange in meinen Diensten, deshalb will ich dich an die Bedeutung des Eides erinnern, den du auf die Clans geschworen hast, und an deinen persönlichen Eid auf mich. Du weißt, welche Folgen es hat, wenn du ihn brichst.« »Ja, General.« Etwas milder gestimmt, fuhr Bastorran fort: »Du bist bei den Paladinen rasch aufgestiegen, Meakin. Bemerkenswert schnell sogar, wenn man bedenkt, dass du nicht von Geburt an zu den Clans gehörst. So etwas geschieht nicht oft, und nicht alle beobachten 70 deinen Aufstieg mit wohlwollenden Blicken. Betrachte dies also als eine Prüfung deiner Loyalität. Diene mir gut, und du wirst es nicht bereuen.« »Ja, Sir. Danke, Sir.« »Ich sollte dir noch etwas über unsere Besucherin sagen. Sie ist eine Symbiontin.« Meakin hatte Mühe, seine Überraschung zu verbergen. »Eine Verschmolzene?« »Ich glaube, das ist der gebräuchliche Begriff für eine sehr ungewöhnliche ... Beziehung. Du solltest ihn aber nicht in ihrer Gegenwart gebrauchen.« »Natürlich nicht, Sir.« »Ich erwarte, dass du ihr gegenüber die gleiche Höflichkeit an den Tag legst wie gegenüber jedem anderen, der für uns arbeitet.« »Ich habe noch nie eine Symbiontin gesehen, Sir. Jedenfalls nicht, soweit ich weiß.« »Nur sehr wenige Menschen bekommen sie zu sehen. Es gibt wohl nicht sehr viele von ihnen. So einen Pakt gehen nicht viele Menschen freiwillig ein.« Draußen auf dem Flur regte sich etwas. »Ich glaube, du wirst gleich deine erste Begegnung erleben, Meakin.« Jemand klopfte laut an die Tür. »Herein!« Begleitet von einem Wächter, den Bastorran sodann mit einer knappen Geste entließ, trat der Gast ein. Die Person, die nun vor ihnen stand, war eine beeindruckende Erscheinung. Sie wirkte androgyn, das hellblonde Haar war so kurz geschnitten, dass man es kaum noch erkennen konnte. Die Haut war wie weißer Marmor, und sie hatte schmale, blutleere Lippen. Meakin fand ihre Augen äußerst beunruhigend. Sie waren unglaublich groß, und die Iris waren schwärzer 71 als alles, was er bisher bei einem Menschen gesehen hatte. Die helle Haut hob diese Abgründe noch stärker hervor. Sie war schlank, doch ihre Haltung verriet, dass sie durchtrainiert und kräftig war. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Eigenartiges, als wären alle Konturen nicht ganz dort, wo sie eigentlich sein sollten. Die Frau war weder hässlich noch schön zu nennen, allerdings besaß sie eine strenge Eleganz. Wie ein Fleisch gewordener Gletscher. Insgesamt hinterließ sie einen beunruhigenden und irgendwie hypnotischen Eindruck. Sie war völlig entspannt und erwiderte ungerührt den Blick der Männer. »Willkommen«, sagte Bastorran schließlich. Die Frau nahm den Gruß kaum zur Kenntnis. »Dies ist mein Adjutant«, fuhr er fort. »Sein Name ist Lahon Meakin. Meakin, begrüße Aphri Kordenza.« Beide nickten, sie sehr knapp und desinteressiert. »Für den Fall, dass ich mich nicht persönlich mit Euch treffen kann, Kordenza, könnt Ihr mit Meakin hier Verbindung aufnehmen. Aber nur mit Meakin und mit niemandem sonst. Ich hoffe doch, das ist klar?« »Ja.« Meakin sträubten sich die Haare, als er das Timbre ihrer Stimme hörte. »Es gibt keinen Grund mehr, dass du noch hier verweilst, Meakin«, entschied Bastorran. »Du kannst jetzt gehen.« Der Adjutant hatte den Befehl offenbar nicht gehört und starrte die Symbiontin unverhohlen an. »Meakin.« »Sir!« 72 »Verschwinde. Und sorge dafür, dass wir nicht gestört werden.« Der Adjutant sammelte seine Papiere ein und ging leise hinaus. Der ans Bett gefesselte Paladin und die magische Symbiontin betrachteten einander.
»Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich mich entkopple?«, fragte Kordenza. »Wie bitte?« »Das Teilen des Körpers mit einem magischen Partner wird unbequem, wenn wir zu lange beide gleichzeitig darin sind. Ich bekomme ein Gefühl, als hätte ich zu viel gegessen. Ich hoffe, unsere Kohabitation in Zukunft weniger unangenehm gestalten zu können. Bis dahin aber ...« Ohne die Handschuhe auszuziehen, deutete sie mit einem Daumen auf ihre flache Brust. »... lieber draußen als drinnen, wenn Ihr wisst, was ich meine.« Sie lächelte, doch das Lächeln erreichte ihre Augen nicht. »Vergesst nur nicht, dass ich Männer draußen vor der Tür habe. Falls Ihr daran denken solltet...« »Regt Euch ab, General. Wir sollten einander vertrauen. Wir haben eine geschäftliche Beziehung. Außerdem, wenn wir Euch töten wollten, dann wärt Ihr längst tot.« Das Wort »wir« störte ihn erheblich. »Nun gut, nur zu.« Was als Nächstes geschah, war erschreckend genug, auch wenn es schnell vor sich ging. Aphri Kordenza machte einfach einen Schritt zur Seite. Doch ein Umriss ihres Körpers blieb auf dem Platz stehen, den sie gerade geräumt hatte. Der Umriss schwebte in der Luft wie ein Seil, das ihre Figur nachzeichnete. Inner73 halb dieser Silhouette tanzten und wirbelten kleine Partikel wie im Kaleidoskop. Sie verdichteten sich, und nach einigen Sekunden entstand eine neue Gestalt, die annähernd menschlich wirkte. Sie sah aus wie Kordenzas Ebenbild. Bastorran bemerkte eine fast unsichtbare, geschmeidige Membran, oder ein Spinnennetz aus vielen kleinen Fäden, das Kordenza mit dem heraufbeschworenen Zauber verband. Das Geflecht spannte sich, riss und wurde sogleich vom Doppelgänger absorbiert. Bei näherer Betrachtung stellte sich freilich heraus, dass Kordenzas Doppelgänger nicht völlig identisch war, auch wenn er die gleiche Kleidung trug. Genau wie sie war er androgyn, doch er besaß eindeutig maskuline Züge. Und er war nicht ganz und gar menschlich. Kordenza streckte sich, zog die Ellenbogen zurück und ließ den Kopfkreisen. Dabei erweckte sie den Eindruck, als wäre ihr eine Last von den Schultern genommen worden. Ihr magischer Zwilling tat neben ihr das Gleiche. Ohne es zu bemerken, war jeder ein Spiegel für den anderen, wie bei einer gut durchdachten Choreografie. Kordenza schnaufte und richtete sich auf. »Was Ihr zu sagen habt, könnt Ihr uns beiden sagen.« »Wir arbeiten zusammen«, fügte das magische Wesen hinzu. Seine Stimme verriet, was es wirklich war, sofern man überhaupt noch Zweifel haben konnte. Die Stimme klang sehr nach Zauberei, ein wenig hohl, ein wenig leblos, nicht ganz und gar menschlich. Bastorran betrachtete das Paar schweigend, als müsste er überlegen, mit wem er sich nun zu befassen 74 hatte. »Wie soll ich Euch nennen?«, fragte er schließlich. »Aphrim«, entgegnete das magische Wesen. Aphri lehnte sich mit verschränkten Armen an eine Kommode. Das Zauberwesen, das Bastorran sich mit großer Mühe als ein »Er« vorzustellen versuchte, nahm am Kamin eine ähnliche Haltung an. »Lasst uns anfangen.« Bastorran gab sich einen Ruck. »Ihr seid Euch der Natur Eures Auftrags bewusst?« »Wir akzeptieren nur eine Art von Aufträgen«, erwiderte Aphri. »Wir müssen nur noch wissen, wer das Ziel ist«, fügte der Zwillingsbruder hinzu. »Wenn Ihr es hört, werdet Ihr womöglich lieber zweimal darüber nachdenken, ob Ihr annehmt.« Das Wortspiel war nicht beabsichtigt, und keiner seiner Gäste schien es zu bemerken. »Für Herausforderungen sind wir immer zu haben«, erklärte Aphrim. »Das hält uns wach«, ergänzte Aphri. »Ich nehme an«, sagte das magische Wesen, »dass Euer Problem mit Eurem derzeitigen Gesundheitszustand zusammenhängt, oder?« »Ihr wollt Euch rächen«, mutmaßte Aphri. »Nicht nur für die Verletzungen ...« »... sondern auch für die entsetzliche öffentliche Demütigung, die Ihr erleiden musstet.« Bastorran fand ihre Art und Weise, sich die Antworten zu teilen, mindestens ebenso entnervend wie die Worte selbst. »Eine Blamage, die nicht nur Euren eigenen Ruf befleckt ...« 75 »... sondern auch den Clans insgesamt schwer im Magen liegen dürfte, und außerdem ...« »Schon gut! Ich bin mehr als geneigt, Euch für diese Unverschämtheiten auspeitschen zu lassen.« »Das dürfte, sofern es mich betrifft, auf gewisse technische Schwierigkeiten stoßen«, bemerkte der magische Zwillingsbruder. »Es scheint, als wären unsere Annahmen richtig gewesen, Aphrim«, sagte Kordenza. »Ja«, bestätigte Bastorran. »Es geht um Caldason. Ich will ihn vernichten.« »Hmm. Er ist ein berüchtigter Bandit.« »Manche behaupten, er könne überhaupt nicht getötet werden.«
»Das ist abergläubischer Quatsch«, fauchte Bastorran. »Mag sein«, räumte Aphri ein. »Dennoch würde ein solcher Auftrag selbstredend eine nicht unerhebliche Entlohnung erfordern.« »Das dürfte kein Problem sein, vorausgesetzt, Ihr stellt keine exorbitanten Forderungen.« »Wir wissen genau, dass dieser Auftrag ein exorbitantes Honorar erfordert, General. Und was die Art der Bezahlung angeht, so wollen wir natürlich Bargeld haben, doch wir würden auch einen größeren Teil in Form von Magie annehmen. Wäre das ein Problem?« »Für die Clans? Nein, das ist kein Problem für uns. Aber warum?« »Unsere Beziehung verschlingt eine Menge Magie.« Aphri warf einen Blick zu Aphrim. »Besonders, da mein Partner viel Kraft benötigt, um mit Menschen zu interagieren.« Bastorran zog die Augenbrauen hoch. 76 »Also gut, um sie zu töten«, korrigierte sie sich. »Ob Geld oder Magie, Ihr könnt Euren Sold in jeder Form bekommen, die Ihr für richtig haltet, solange Ihr mir nur Caldason erledigt.« »Ich will uns keineswegs um den Auftrag bringen«, meinte Aphri, »aber warum könnt Ihr das nicht selbst erledigen? Angesichts der Möglichkeiten, die den Clans zur Verfügung stehen ...« »Es gibt gewisse Einschränkungen hinsichtlich der Art und Weise, wie wir mit dem Qalochier verfahren dürfen.« Ihre übergroßen Augen wurden noch ein wenig weiter. »Die mächtigen Paladine stoßen an ihre Grenzen?« Es war mehr als nur eine Stichelei am Rande. »Wir wollen einfach sagen, dass es gewisse organisatorische Aspekte gibt, die Euch nicht zu kümmern brauchen. Ihr müsst lediglich wissen, dass wir in diesem Fall beschlossen haben, den Auftrag einem Außenstehenden zu erteilen.« »Wie finden wir die Zielperson?«, fragte Aphrim. »Ihr mischt Euch unter die Nichtsnutze. Sagt nicht, dass Ihr nicht Eure Möglichkeiten habt. Außerdem sorge ich dafür, dass Ihr alle Informationen aus der Spionageabteilung der Clans bekommt, die nützlich sein könnten. Und natürlich werde ich Euch ein gewisses Maß an Schutz bieten, wenn Ihr Euch an die Arbeit macht.« Er war jetzt sichtlich verstimmt. »Wollt Ihr nun diesen Auftrag annehmen oder nicht?« »Eine Frage noch«, warf Aphri ein. »Weiß der Hohe Clanchef davon?« »Ich bin der einzige Amtsträger, über den Ihr Euch den Kopf zerbrechen müsst«, gab Bastorran kalt zu77 rück. »Mein Onkel ist ein viel beschäftigter Mann. Ich belästige ihn nicht mit Routineangelegenheiten.« Die Zwillinge wechselten einen Blick. »Eins muss Euch klar sein«, fuhr er grob fort. »Wenn Ihr scheitert oder eine Indiskretion begeht, dann werde ich Euch ...«, er deutete auf Aphrim, »auslöschen lassen. Ihr dagegen ...«, er deutete auf Aphri, »werdet die Bekanntschaft meines Foltermeisters machen. Ihr könnt sicher sein, dass er Euch erst die Augen aussticht, wenn er mit Euch fertig ist.« »Das klingt sehr einladend«, meinte Aphrim leise. »Ich glaube, wir haben uns verstanden.« Bastorran schenkte ihnen ein kaltes Lächeln. »Und vergesst meinen Onkel. Wie ich schon sagte, er hat im Augenblick mehr als genug mit anderen Dingen zu tun.« 78 Nach der brutalen Besetzung Bhealfas hatten die Eroberungstruppen Gath Tampoors alles niedergerissen, was an den Sieg der letzten Besatzer aus dem rivalisierenden Reich von Rintarah erinnerte. Auf den Ruinen waren noch größere, höhere und weitläufigere Gebäude entstanden. Nur wenige waren so prächtig wie die riesige Anlage, die Gath Tampoor im Zentrum Valdarrs errichtet hatte. In Sichtweite des Hauptquartiers der Clans erbaut, bildete sie einen krassen Gegensatz zu jenem finsteren Gelände. Der Stützpunkt der Paladine wirkte düster und bedrückend, doch dieses Gebäude war feierlich und rühmte mit jeder Fuge die Macht seiner Erbauer. Es war ein Monument des Triumphs und der Herrschaft. Ein Gebäude, das protzte. Die Architektur hatte, ganz wörtlich, etwas Magisches. Die Steine, aus denen der Komplex gebaut worden war, waren mit Zauberkraft behandelt, und sogar in den Mörtel war magisch veränderter Sand gemischt worden. Die Pigmente, mit denen die wundervollen 79 Buntglasfenster eingefärbt waren, hatte man angeblich aus konzentriertem Dämonenblut, den gemahlenen Knochen von Trollen und getrockneten Mähnen von Einhörnern gemischt - obwohl solche Wesen gewiss nicht mehr existierten, falls sie es denn überhaupt einmal getan hatten. Das Ende vom Lied war jedenfalls, dass das Gebäude vor magischer Energie flimmerte. Auf den Außenmauern konnte man nach Belieben wundervolle Bilder erscheinen lassen - beispielsweise die Porträts von Helden und Staatsmännern, von Forschern und Kaufleuten des Reichs. Gesichter, die das Volk aufmuntern oder doch wenigstens daran erinnern sollten, dass es besiegt war. Die Besatzer aus Gath Tampoor hatten es keineswegs ironisch gemeint, dem Gebäude den Namen
»Freiheitshalle« zu geben. Angeblich sollte es ein Palast des Volkes sein, doch natürlich durften gewöhnliche Sterbliche, es sei denn als Diener, nur selten die Schwelle überschreiten. Die riesige Halle wurde von zwanzig magisch betriebenen Kristalllüstern beleuchtet. Sie waren groß wie Heuhaufen und hingen ohne sichtbare Befestigung unter der gewölbten, mit Gold belegten Decke. Ihr Licht ließ den Schmuck des Raums glitzern und funkeln. Auch hier gab es Gold, viel Gold, und dazu blinkte Silber und funkelten Edelsteine. Edelmetall und auserlesene Juwelen waren in Schmuck und Möbel eingearbeitet. Geschmackvolle Behänge hatte man auf den vertäfelten Wänden drapiert. Die Teppiche auf dem Boden waren dick und weich. Nicht nur Füße liefen darüber, sondern auch Krallen, Hufe, Klauen und Saugnäpfe. Zu Fleisch gewordene Träume. Oder Albträume. Menschen mit den 80 Köpfen von Adlern, Ziegen und Heuschrecken liefen umher. Müßiggänger, die ihre Körper verändert hatten und verzierte Masken trugen. Menschen, die sich als Dämonen und Cherubim verkleidet hatten. Es gab Katzen und Küchenschaben, so groß wie Männer. Die beste Körpermagie, die man mit Geld kaufen konnte. Echte Schimären mischten sich unter die Menschen. Magische Wesen in vielfältigen ausgefallenen Gestalten, mitgebracht als Gefährten oder Haustiere oder einfach nur, um Eindruck zu machen. Es war unmöglich, die Magie von den Geschöpfen aus Fleisch und Blut zu unterscheiden, und jedes Zauberwesen war ein Spiegel für den Besitzer. Einige wirkten engelhaft, die meisten waren Inkarnationen grundlegender Instinkte, hässlich und käuflich. Der Maskenball war in vollem Gange. Ein magisches Orchester spielte auf, livrierte Lakaien eilten mit hoch erhobenen Zinntabletts zwischen den Tänzern hindurch. In der Gewissheit, dass sie über dem Gesetz standen viele der Anwesenden waren eigentlich sogar Diener des Gesetzes -, benahmen sich die Müßiggänger, wie es ihnen beliebte. Manche genossen Trauben und Hopfen in ungesunder Menge. Andere gaben sich den Freuden von Cuzcoll, Vipernbiss oder Pelluzid hin oder griffen gleich zu stärkeren Drogen wie Säbelschnitt, Roter Reif und sogar Ramp. In einer stillen Ecke waren eine Ratte und eine Schlange in ein ernstes Gespräch vertieft. »Ich sage ja nicht, dass ich mit ihnen sympathisiere, um Himmels willen«, protestierte die Ratte. »Es ist aber eine Frage der Methode.« »Ihr habt diesen Dissidenten gegenüber schon im81 mer viel zu viel Nachsicht gezeigt«, schnaubte die Schlange. »Das weise ich entschieden zurück! Ich verabscheue sie genau wie Ihr. Unsere Meinungsverschiedenheit dreht sich nur um die Art und Weise, wie das Problem am besten anzugehen ist.« »Ist das nicht inzwischen eine müßige Diskussion? Von ganz oben sind Befehle gekommen, und jetzt spielt es keine Rolle mehr, was wir denken. Oder stellt Ihr die Weisheit unserer Vorgesetzten in Frage?« »Aber nein, natürlich nicht. Ich sage nur, dass man mit Honig mehr Fliegen fängt als mit Essig. Ich war schon immer der Meinung, dass verdeckte Aktionen die beste Politik sind, um diesen Abweichlern zu begegnen.« »Ihr wollt ihnen um den Bart gehen, meint Ihr.« Die Schnurrhaare der Ratte zuckten gereizt. Bevor sie antworten konnte, drängte sich ein betrunkener Satyr zwischen ihnen hindurch. »Wir wollen uns lieber setzen«, meinte die Schlange und nickte in Richtung eines leeren Tischs. Sobald sie sich niedergelassen hatten, kam ein Diener mit Getränken. Wein für die Ratte, Branntwein für die Schlange. Der Rattenmann trug ein schweres, kupferfarbenes Medaillon. Er strich mit dem Finger darüber und legte die Maske ab. Zum Vorschein kam ein glatt rasierter Mann in mittleren Jahren. Die reine Haut und das ergraute, sorgfältig frisierte Haar wiesen ihn als Menschen aus, der eher vom Reden als vom Handeln lebte. Die Schlange folgte seinem Beispiel und legte ebenfalls die Verkleidung ab. Dieser Mann war älter, und sein Gesicht war von einem Leben voller Taten gezeichnet. Sein Haar und sein Bart waren militärisch kurz gestutzt und weit stärker ergraut als bei seinem Gegenüber. »Ihr müsst aber zugeben, Hoher Clanchef«, sagte die ehemalige Ratte, »dass die Unruhen schlimmer geworden sind, seit die Notstandsverordnungen eingeführt wurden.« »Nach Einführung solcher Regelungen gibt es immer eine Phase der Unruhe«, erklärte Ivak Bastorran, während er seinen Cognacschwenker hob. »Das wird sich schon wieder beruhigen, sobald die Hitzköpfe begreifen, dass wir es ernst meinen.« Andar Talgorian, der Botschafter von Gath Tampoor, war der Ansicht, dass der Paladin wie üblich viel zu sehr von sich selbst eingenommen war. Er trank einen Schluck Wein und behielt seine Gedanken für sich. »Die Berichte, die das diplomatische Korps erreichen, sprechen freilich keineswegs dafür, sondern lassen, ganz im Gegenteil, eher befürchten, dass die Unruhen wie ein Flächenbrand um sich greifen.« »Ich würde nicht sagen, dass die Situation so schlimm ist. Wir konnten im Kampf gegen die Terroristen gewisse Erfolge verzeichnen, und es liegt in der Natur der Sache, dass sie zurückschlagen.« »Ihr gebt es also selbst zu. Euer hartes Durchgreifen macht alles nur noch schlimmer.« »Das habe ich nicht gesagt. Wir rotten Ungeziefer aus. Es muss zwangsläufig Blutvergießen geben, ehe wir
damit fertig sind. Es kommt jetzt nur darauf an, nicht die Nerven zu verlieren.« »Wir wollen nur hoffen, dass die Rebellen zuerst der Mut verlässt. Um unser aller willen.« 83 »Ihr überschätzt diese Lumpen bei weitem, Talgorian. Nicht zuletzt, indem Ihr sie als Rebellen bezeichnet. Sie sind Verbrecher und Glücksritter, oder auch Vandalen. Abschaum. Ich bin stolz darauf, dass die Clans in vorderster Front stehen, wenn es darum geht, sie auszulöschen.« »Es muss sehr befriedigend sein, endlich freie Hand zu haben«, bemerkte der Botschafter trocken. »Ich habe noch nie einen Hehl aus meinen Ansichten über die öffentliche Ordnung gemacht. Und es scheint, als stünde ich mit meiner Meinung nicht allein da. Ihr wisst so gut wie ich, dass auch Rintarah hart durchgreift. Das bedeutet, dass dieses Geschwür überall aufgebrochen ist.« »Dann sind die Aufständischen also doch organisiert? Ihr könnt nicht beides gleichzeitig vertreten, Bastorran. Entweder es ist ein Ausdruck von unorganisiertem Ungehorsam, oder es ist eine Bewegung.« »Sie sind so gut organisiert wie jede andere Horde von Banditen, und ihre Ziele sind genauso edel.« »Wir sollten uns nicht durch ein vorgefasstes Bild selbst täuschen«, gab Talgorian spitz zurück. »Sonst könnten wir womöglich noch die wahre Natur des Problems verkennen.« »Unsinn. Die Wahrheit ist, dass beide Reiche schärfere Sanktionen verhängen, weil die Gesetzlosigkeit ansteckend ist, sobald man dem Pöbel zu viel Freiheit gewährt. Im Osten und Westen war man zu nachgiebig. Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzuwerfen.« »Es kommt mir eher so vor, als wolltet Ihr neues Öl ins Feuer gießen.« »Wie würde denn Eure Lösung aussehen? Freund84 liehe Worte? Den unverschämten Forderungen nachgeben?« »Ich würde ein wenig Balsam verteilen. Den Leuten ein paar Zugeständnisse machen. Ein oder zwei unwichtige Gesetze widerrufen, vielleicht die Steuern ein klein wenig senken und den Ärmsten besseren Zugang zur Grundversorgung gewähren. Mit vollem Bauch erhebt man sich nicht so leicht.« »Das kommt mir vor wie Katzbuckelei. Warum sollte man ihnen geben, was sie nicht verdient haben?« »Ihr habt mich nach meiner Meinung gefragt. Ich glaube, was ich sage, ist gar nicht so falsch, wenn man es geschickt anfängt. Eine Möhre, um den Esel zu locken.« »Eine Möhre«, höhnte der Paladin. »Wie wäre es mit der Gerte?« »Glaubt nur nicht, ich sei zimperlich. Meine Vorgehensweise würde die Anführer isolieren und schlecht dastehen lassen. Man könnte sie sogar so weit isolieren, dass sie ermordet werden können, wie es der Rat für Innere Sicherheit daheim gelegentlich handhabt.« »Dann sind wir einer Meinung. Auch die Clans sind der Ansicht, dass die Agitatoren beseitigt werden müssen. Es ist eben nur so, dass Ihr ein paar verfaulte Köpfe in einem Salatbeet seht, während wir glauben, dass längst der ganze Garten verseucht ist.« »Worauf Ihr am liebsten alles mit Stumpf und Stiel ausreißen würdet.« »Allerdings, wenn es nötig ist. Doch Ihr solltet solche Überlegungen besser uns überlassen, Talgorian. Ihr macht Euch einfach zu viele Sorgen.« »Genau dafür werde ich ja auch bezahlt.« 85 »Auch dieser Kriegsherr, von dem Ihr so besessen seid«, bohrte Bastorran weiter. »Auch seinetwegen macht Ihr Euch viel zu große Sorgen.« »Nichts ist geschehen, das mich glauben lässt, die von Zerreiss ausgehende Bedrohung sei geringer geworden«, meinte der Botschafter empört. »Nach allem, was wir hören, führt er weiterhin Angriffe durch.« »Ich weiß nicht, warum Ihr Euch deshalb so aufregt. Wenn die Barbaren sich zum Zeitvertreib gegenseitig abschlachten, dann ist das ihre Sache. Für das Reich sind sie jedenfalls keine Gefahr.« »Abermals hoffe ich, dass sich Euer Optimismus als begründet erweist.« »Ihr braucht Euch da nicht allein auf meine Meinung zu verlassen. Die Expedition, die in den Norden geschickt wurde, müsste bald ihr Ziel erreichen. Dann werdet Ihr selbst sehen, was von diesem Zerreis zu halten ist. Ach ja, hat man eigentlich schon Nachrichten bekommen?« »Nein. Wie unsere Agenten berichten, hat auch die von Rintarah ausgesandte Expedition noch keine Botschaft geschickt.« »Die Nachrichten aus dem Barbarenland fließen immer spärlich. Auf diesem weiten Weg gibt es immer wieder Verzögerungen.« »Das mag sein.« »Da, jetzt macht Ihr schon wieder so ein ängstliches Gesicht.« Er trank einen Schluck. »Vertraut mir, Botschafter. Ihr werdet schon sehen, dass dies alles nichts weiter ist als ein paar lästige Nadelstiche.« Talgorians Aufmerksamkeit richtete sich längst auf das andere Ende des Saales. Er nickte in die betref86 fende Richtung. »Da wir gerade von Nadelstichen reden ...« Bastorrans Blick irrte umher, dann erkannte er, wen der Diplomat meinte. »Ach, Dulian Karr.« Keine Spur von Wärme klang in seiner Stimme mit.
Karr stand mit dem Rücken zu der Wand, die das allgegenwärtige Symbol der Macht von Gath Tampoor trug: den wilden Drachen mit den schillernden Schuppen, der Zauberflammen spuckte. Karr unterhielt sich mit einigen Leuten, doch selbst aus der Ferne war zu sehen, dass er innerlich nicht bei der Sache war. Er trug eine einfache Augenmaske aus schwarzem Tuch, die in starkem Gegensatz zu dem aufwändigen Gesichtsschmuck der anderen Gäste stand. »Diese Rede, die er vorhin gehalten hat«, meinte Talgorian, »war im Grunde schon als subversiv zu bezeichnen. All dieses Geschwafel über die Barmherzigkeit für die so genannten Mittellosen ...« »Das war beinahe schon umstürzlerisch, wenn Ihr mich fragt. Eine Haltung, die der Euren nicht unähnlich ist.« Das Gesicht des Gesandten lief dunkelrot an. »Diese Bewertung verbitte ich mir entschieden. Wie ich schon mehrmals betont habe, unterscheiden wir uns lediglich in der Frage, welche Methoden ...« »Ja, ja, schon gut. Ich habe Euch auf den Arm genommen, Mann. Eure Ansichten erscheinen mir einfach unangebracht. Karr dagegen bewegt sich am Rande des Verrats.« »Das nehme ich dann wohl als verstecktes Kompliment«, meinte Talgorian kühl. »Wenigstens wisst Ihr den Unterschied zwischen meinen Gedanken über eine 87 richtige Strategie und Karrs Liebäugeln mit staatsfeindlichen Elementen zu würdigen.« »Ihr wisst, dass es mehr als ein Liebäugeln ist. Wir haben ihn, genau wie Eure Leute, schon seit Jahren im Verdacht. Er ist ein Sympathisant, ein Anhänger der Aufständischen. Vielleicht sogar mehr als das.« »Verdacht ist eine Sache, den Verdacht beweisen eine ganz andere.« »Die Rahmenbedingungen haben sich verändert. Vergesst nicht, dass wir jetzt weitgehend freie Hand haben. In ein paar Wochen wird er sein Amt als Patrizier an den Nagel hängen. Dieses Amt gab ihm bisher einen gewissen Schutz. Sobald er sich daraus zurückzieht, verliert er auch den Schutz.« »Er ist ein Mann, den man nicht unterschätzen sollte. Es braucht schon eine gewisse Gerissenheit, um so lange Jahre so hart am Wind zu segeln.« »Glaubt mir, er wird reichlich Gelegenheit bekommen zu straucheln. Wenn er auch nur um Haaresbreite vom rechten Weg abweicht...« »Er hat uns gesehen.« Karr wich den bizarr herausgeputzten Tänzern aus und kam zu ihnen herüber. Sie begrüßten ihn mit geheucheltem Lächeln und unaufrichtigen Gesten. »Patrizier«, sagte Talgorian gedehnt. »Das war eine ausgezeichnete Rede.« »Sehr aufschlussreich«, fügte Bastorran hinzu. »Vielen Dank.« Talgorian deutete auf einen freien Stuhl. »Bitte, nehmt doch Platz.« »Nun denn«, sagte der Diplomat. »Ihr wollt Euch also tatsächlich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen. Nach ... wie viele Jahre waren es eigentlich?« 88 »Viel zu viele, wie mir manchmal scheint.« Karrs Bemerkung wurde mit dem gebührenden unechten Lächeln quittiert. »Und wie werdet Ihr danach Eure Tage ausfüllen?« »Ich nehme an, dass es eine Menge Dinge geben wird, die mich beschäftigen werden, Hoher Clanchef.« »Zweifellos wird Euer Mitgefühl mit den Unterdrückten auch in Zukunft einen Ausdruck finden«, warf Talgorian ein. »Vielleicht in der Form von mildtätigen Werken?« »Ich hoffe, ich werde immer Zeit für die weniger Glücklichen finden.« »Wie ich sehe, bringt Ihr auch heute mit Eurem Kostüm diese Solidarität zum Ausdruck«, kommentierte Bastorran Karrs schlichte, schmucklose Maskerade. Der Patrizier lächelte humorlos. »Meiner Ansicht nach haben die Privilegierten die Pflicht, mit gutem Beispiel voranzugehen.« »Indem wir selbst verarmt aussehen? Womit ich Euch natürlich nicht beleidigen will.« »Gewiss, Botschafter. Ich dachte eigentlich eher an Bescheidenheit im Konsum.« Er bemerkte ihre verwirrten Gesichter. »Seht Euch nur um.« Bastorran schniefte. »Ich sehe wohlgenährte Männer und Frauen. Sie geben ein Beispiel dafür, dass alle ein besseres Leben haben könnten.« »Jedermann könnte unter der schützenden Hand des Reichs gedeihen, wenn er nur wollte«, fügte Talgorian salbungsvoll hinzu. »Aber wie viele von denen hier haben es wirklich verdient?«, fragte Karr. »Immer zum Widerspruch aufgelegt, nicht wahr, Karr? Das öffentliche Leben wird ärmer sein, wenn 89 Ihr Eure schlagfertigen Bemerkungen nicht mehr zum Besten gebt.« »Ich fürchte nur, die Not leidenden Menschen haben nicht viel zu lachen.« »Eure geliebten Unterdrückten«, erwiderte der Paladin gereizt, »täten sicher gut daran, ihr Los durch harte Arbeit zu verbessern.« »Die meisten täten nichts lieber als genau dies. Wenn es doch nur Arbeit gäbe, und wenn sie nicht ständig
Gefahr liefen, willkürlich aufgegriffen und verprügelt zu werden, sobald sie sich auf den Straßen blicken lassen.« »Wer sich nichts zuschulden kommen lässt, hat nichts zu befürchten.« »Sie würden entgegnen, dass sie so oder so als Feinde des Staates betrachtet werden. Dabei sind sie ja keineswegs alle Aufständische.« Bastorran starrte ihn böse an. »Ihr würdet Euch wundern, wenn Ihr wüsstet, wer alles dazu zählt, Patrizier.« »Ihr seid gewiss von edlen Gefühlen angetrieben, Karr«, warf Talgorian ein, »und wir können Eure humanitären Neigungen selbstverständlich aus ganzem Herzen billigen. Lasst uns die Gläser heben und auf Euren Ruhestand trinken.« Er wollte einem Diener winken. »Nein«, hielt Karr ihn zurück. »Vielen Dank, aber ... es war ein langer Tag, und ich muss noch einige Leute sprechen, ehe ich gehen kann.« »Ihr wirkt ein wenig abgespannt, wenn Ihr verzeiht.« »Ach, das ist nichts weiter. Überarbeitung. Ihr wisst schon, ich versuche, alles in Ordnung zu bringen, bevor ich in den Ruhestand gehe.« »Ihr solltet dabei aber nicht Eure Gesundheit aufs Spiel setzen«, sagte Bastorran mit unüberhörbarer Schärfe. »Es war eine kluge Entscheidung, in den Ruhe90 stand zu treten. letzt könnt Ihr Eure Bürde ablegen und es anderen überlassen, sich um das Wohlergehen der Menschen zu kümmern.« »Ja, so ist es.« Karr verabschiedete sich von den Männern mit einem knappen Nicken. »Hoher Clanchef, Botschafter Talgorian.« Dann ging er. Als sie ihm nachsahen, wie er sich durchs Gedränge bewegte, hauchte Talgorian nur ein einziges Wort: »Skandalös.« »Er wollte noch nicht einmal mit uns anstoßen. Und was seine Ansichten angeht ... freie Meinungsäußerung, gut und schön, aber ...« »Er sieht krank aus, findet Ihr nicht auch?« »Ich glaube fest daran, dass die innere Verfassung die äußere Erscheinung bestimmt. In neun von zehn Fällen sind es Schuldgefühle, die äußerlich den Eindruck von schlechter Gesundheit erwecken.« »Wenigstens wird er nun das bisschen Macht abgeben, das ihm seine Position verliehen hat.« »Das bedeutet aber nicht, dass er aufhören wird, sich für unmögliche Anliegen einzusetzen. Der Mann ist der geborene Unruhestifter.« »Dann werdet Ihr ihn im Auge behalten?« »Aber ganz gewiss, Botschafter, ganz gewiss. Genau wie Ihr, nehme ich an.« Talgorian beugte sich vertraulich vor. »Wusstet Ihr eigentlich, dass es schon mehrere Anschläge auf ihn gegeben hat?« »Allerdings, und zwar mehr als nur einige wenige, wenn ich mich nicht irre. Und alle haben den Eindruck erweckt, sie seien offiziell sanktioniert.« »Nicht von meinen Leuten und auch nicht von irgendwelchen anderen Behörden, soweit ich weiß.« Er 91 flüsterte jetzt. »Ich nehme an, sie gehen auf das Konto des Rates für Innere Sicherheit.« »Wenn die Paladine die Arbeit übernehmen, gibt es keine Fehlschläge mehr.« »Zweifellos. Ich wollte damit lediglich sagen, dass der RIS ja eigentlich nicht außerhalb von Gath Tam-poor operieren darf. So wollen es die Gesetze. Ich habe allerdings auch Gerüchte gehört, dass seine Methoden dennoch auf die Protektorate ausgedehnt werden.« »Und was haltet Ihr davon?« »Falls Karr das Opfer eines Mordanschlags werden sollte, dann könnten meine Vorgesetzten, Eure Arbeitgeber also, schwerlich einen großen Wirbel machen, nachdem einer ihrer eigenen Dienste bereits etwas Ähnliches versucht hat.« »Gut zu wissen. Ich werde es im Auge behalten.« Er betrachtete das bizarre Gedränge. »Wir vernachlässigen unsere Pflichten. Wir sollten uns besser wieder den Gästen zeigen.« Er berührte sein Medaillon, und seine magische Maske baute sich wieder auf. Ein längliches Maul erschien, die Augen wurden schmale Schlitze, und grüne Schuppen bildeten sich heraus. »Ausgezeichnete Maske«, lobte Talgorian. »Nicht schlecht, was?« Bastorran bewunderte sich in einem Wandspiegel. Auch der Botschafter reaktivierte seine Maske. Graues Fell wuchs, die Nase verlängerte sich, der Schnurrbart spross. Bastorran betrachtete sein Gegenüber. »Was ich vorhin schon fragen wollte ...« »Hmm?« »Warum eine Ratte?« »Selbstironie.« 92 Die unlängst erlassenen Gesetze zur Wahrung der öffentlichen Ordnung wirkten, je nachdem, wer betroffen war, sich ganz unterschiedlich aus. Die Bürger von Gath Tampoor, die in der Kolonie Bhealfa lebten, ignorierten sie
einfach. Ähnliche Nachsicht übte man mit den Bürgern Bhealfas, die genügend Macht und Einfluss besaßen. Solche Unterschiede gab es auch in Hinblick auf die nächtliche Ausgangssperre. Wer reich war und Ansehen genoss, konnte sich jederzeit frei bewegen. Die Schwachen und Mittellosen aber hatten ständig die Gesetzeshüter im Nacken. Als die Sperrstunde näher rückte, waren die Straßen voller Passanten, die sich auf dem Heimweg befanden. In einem Gewerbegebiet brandete die Woge der Menschen an den Bug eines Gebäudes, das am Zusammenfluss zweier wichtiger Verkehrsadern stand. Äußerlich wirkte es wie ein Verwaltungsgebäude, eine Heimstatt von Erbsenzählern, und wer das Gebäude betrat, stellte fest, dass es sich tatsächlich so verhielt. 93 Doch die Schreiber und Büroarbeiter hatten sich dem Strom der anderen Menschen angeschlossen, und mittlerweile war das Gebäude verlassen. Die Stockwerke waren dunkel. Eines davon war raffiniert im Dachboden untergebracht und vor neugierigen Blicken gut abgeschirmt. Es war schwierig, aus dem Innern des Gebäudes einen Zugang zu finden, und angesichts der magischen Schutzvorrichtungen war es obendrein tödlich. Eine kleine Gruppe hatte sich dort versammelt. »Wo, zum Teufel, bleibt eigentlich Disgleirio?«, knurrte Caldason. »Wahrscheinlich ist er im Gedränge stecken geblieben«, erklärte Karr. »Wenn Ihr hier herumlauft wie ein gefangenes Raubtier, wird er auch nicht schneller kommen. Setzt Euch zu uns.« Der Qalochier seufzte und ließ sich gegenüber von Karr am großen Holztisch nieder. An einem Ende saß Kutch, der nervös mit seiner improvisierten Augenbinde spielte. Auch Serrah war da, doch sie hielt sich abseits von den anderen und hatte den Stuhl ein Stück weggerückt. Ihrem Gesicht war nicht anzusehen, was sie dachte. »Während wir warten«, fuhr Karr fort, »kann ich Euch etwas erzählen, das Euch vielleicht interessiert.« Er schob sich einen Finger ins rechte Ohr, drehte ihn herum und bohrte tiefer. Dann zog er mit Daumen und Zeigefinger einen winzigen Gegenstand heraus. Der milchige Glanz des Objekts erinnerte an eine Perle. Er warf es gegen die nächste Wand. Die kleine Kugel prallte nicht ab und zersprang auch nicht. Sie blieb haften, als wäre sie von Harz umhüllt, flachte sich ab und breitete sich aus. Als sie ihren 94 Umfang verdoppelt hatte, entfaltete sie sich einmal und noch einmal. Wie Blütenblätter legten sich die Ausläufer über die Wand, bis ein schimmernder, perlmuttfarbener Bildschirm entstanden war. »Hier hätten wir einen weit ausgeklügelteren Plan«, erklärte Karr. »Besser als alles, was wir bisher hatten.« Linien und Konturen, Senken und Erhebungen schälten sich heraus, bis eine dreidimensionale Abbildung einer Insel entstanden war. Sie hatte in etwa die Form einer Niere, in deren Ende ein hungriger Hund gebissen hatte. Es gab Klippen, Sandstrände, Buchten und Flussmündungen. Vor der Küste tauchten Riffe und Felsbrocken im unruhigen Meer auf. Im Westen und im Süden gab es natürliche Häfen, im Landesinneren grüne Weiden, Hügel und Wälder. Von Osten her schlängelte sich ein Fluss durchs Land, verzweigte sich und mündete an der Nordostküste ins Meer. Wege liefen im Zickzack über das Land, größere Straßen gingen von den Häfen aus. Hier und dort waren vereinzelte Gebäude zu sehen; in der Nähe des Zentrums der Insel gab es eine Ansiedlung, die man beinahe schon als Stadt bezeichnen konnte. »Die Hoffnung der Welt«, verkündete Karr. »Batariss.« Serrah fuhr aus ihren tiefen Gedanken auf. »Was?« »Das ist der ursprüngliche Name der Insel, auch wenn es viele wohl nicht mehr wissen.« »Ich erinnere mich noch an die Zeit, als man nur diesen einen Namen kannte«, erwiderte Caldason. »Das kann ich mir vorstellen«, sagte Serrah. Wahrscheinlich war es als Scherz gemeint. Er beschloss jedenfalls, es so aufzufassen. »Wir wollen die Insel umbenennen«, erklärte Karr. 95 »Wir sollten ihr einen Namen geben, der ihrer neuen Bedeutung gerecht wird. Vielleicht sollten wir sie nach einem Märtyrer des Widerstands benennen - Sab Winneba, Kryss Mirrall oder ...« »Ich bin sicher, dass die Kämpfer diese Ehre verdient hätten«, unterbrach Caldason ihn, »aber macht Euch darauf gefasst, Patrizier, dass niemand sie anders nennen wird als bei dem Namen, den jeder kennt.« »Der Rat findet, dies sei eine gute Gelegenheit, einige zu ehren, die das höchste Opfer für unsere Sache erbracht haben.« »Wirklich sehr aufmerksam. Aber glaubt Ihr nicht, wir sollten uns zunächst einmal darauf konzentrieren, überhaupt dorthin zu kommen?« Kutch brach als Erster das darauf folgende Schweigen. »Ich hatte immer angenommen, sie wäre nach ihrem Umriss benannt worden oder so.« »Nein«, entgegnete Karr. »Nach ihrer Funktion.« »Ich wusste nicht, dass dort wirklich Edelsteine abgebaut werden.« »Das trifft auch nicht zu. Man nennt sie die Diamantinsel, weil sie so viele Leute reich gemacht hat.« »Wie ist es dann möglich, dass wir die Gelegenheit bekommen, sie zu kaufen?«, fragte Serrah.
»Sie ist schon seit Jahren im Niedergang begriffen. Ihre Blütezeit erlebte sie, als Reeth noch ein Kind war. Wenn sie immer noch Reichtümer in gleichem Maße wie früher hervorbrächte, dann könnten wir sie keinesfalls erwerben. Wie es aussieht, hat der derzeitige Besitzer aber genug davon und will in den Ruhestand gehen.« »Wie kann eine Insel von dieser Größe überhaupt in privater Hand sein? Ich dachte, nur die Herrscher der 96 Reiche hätten genügend Einfluss, um Grundbesitz von diesen Ausmaßen zu besitzen.« »Die Insel hatte schon immer einen Sonderstatus. Früher, vor einem Jahrhundert oder noch weiter zurück, war die Insel eine Beute, um die Rintarah und Bhealfa sich stritten, wie sie heute um Bhealfa oder um die anderen Kolonien streiten.« »Was ist dann geschehen? Was hat sich verändert?«, fragte Kutch. »Beide Seiten kamen zu dem Schluss, dass die Beute doch zu klein war, um ihretwegen Blut zu vergießen. Dann ist irgendjemand, wahrscheinlich einer der alten Räuberclans, auf die Idee gekommen, die ganze Insel in einen Vergnügungspark zu verwandeln. Dies geschah in einer tugendhaften Phase der Reiche, als Glücksspiel und Prostitution nicht erlaubt waren. Batariss befriedigte diese Bedürfnisse. Ein weiterer Faktor ist natürlich, dass die Insel nicht in den Hoheitsgewässern der beiden Reiche liegt. Der nächste Nachbar ist Bhealfa. In der Praxis existierte die Insel weiter wie gehabt, weil die Reiche, die jeweils die Kontrolle über diesen Teil der Welt ausübten, sie einfach in Ruhe ließen.« »Aber warum taten sie das?« Karr ließ den Blick über seine kleine Zuhörerschaft schweifen. »Ihr müsst das doch alles schon einmal gehört haben.« Serrah zuckte nur mit den Achseln. »Es füllt die Zeit aus, bis Disgleirio sich bequemt, hier zu erscheinen«, bemerkte Caldason. »Ich weiß überhaupt nichts darüber«, sagte Kutch. »Ich finde es faszinierend.« »Also gut«, fuhr Karr fort. »Warum haben die Rei97 che Batariss oder die Diamantinsel sich selbst überlassen?« Er holte tief Luft und dachte nach. »Nun, es gibt einige Hinweise darauf, dass die Reiche früher, als die Insel noch ein exklusiver Ferienort war, ihre Günstlinge als Belohnung dorthin schickten. Später, als es für immer mehr Menschen einfacher wurde, die Insel zu besuchen, dachte man wohl, sie sei eine Art Ventil für die aufgestaute Unzufriedenheit der Massen. Oder wenigstens für diejenigen, die es sich leisten konnten. Dies waren die betuchten, gebildeten Mitbürger, denen man zutrauen konnte, einen organisierten Widerstand aufzubauen. Die Sorte Untertanen, die ein Herrscher bei Laune halten möchte. Andererseits gehen die Gerüchte auch wieder dahin, dass die Behörden immer noch an der Insel verdienen. Inoffizielle Steuern, so nennt man das zuweilen. Wer kann schon sagen, warum die Diamantinsel in Ruhe gelassen wird? Ich glaube, es ist einfach nur ein unerledigter Punkt auf ihrer Liste.« »Dann werden sie diesen Punkt ziemlich schnell abhaken, wenn wir in großer Zahl dorthin umziehen«, gab Caldason zu bedenken. »Nicht, wenn wir es geschickt genug anfangen. Und sobald genügend Leute von uns auf der Insel sind ...« »Ich verstehe. Der Blutzoll, um die Insel zurückzuerobern, wäre zu hoch. Das ist eine sehr riskante Strategie.« »Natürlich. Doch wir haben unser Vorhaben genau geplant. Wenn alles verläuft, wie es laufen soll ...« »Das ist sehr wahrscheinlich, wenn Ihr alle hinter Euch habt...« »Mir ist klar, dass die Insel vielen im Widerstand als unglückliche Wahl erscheint...« 98 »Ach, ich weiß nicht«, warf Serrah ein. »Eine Urlaubsinsel finde ich auch nicht verrückter als viele andere Orte, auf die Ihr hättet kommen können.« Karr ignorierte den Seitenhieb. »Seht sie Euch an.« Er nickte zur schimmernden Karte hin. »Sie ist vollkommen. Ungefähr ein Zehntel so groß wie Bhealfa, groß genug, um eine ansehnliche Bevölkerung zu ernähren. Sie hat Süßwasser und reichlich Holz. Außerdem viel urbares Land. Und man kann sie gut verteidigen. Mit der Zeit wird sie sich ganz und gar selbst versorgen können.« »Mit der Zeit«, wiederholte Caldason. »Das wird ein Wettrennen, und wenn Ihr glaubt, Gath Tampoor werde untätig zuschauen, wie Ihr ...« »Es ist ein riskantes Unterfangen, das wissen wir. Der ganze Plan beruht darauf, dass wir in mehr als einer Hinsicht großes Glück haben. Aber was sollen wir sonst tun? Resignieren und uns von den Eroberern überrollen lassen? Jede Hoffnung aufgeben, dass wir eines Tages ihre Ketten abstreifen können?« »Niemand will das«, meinte Serrah. »Aber ist dies der richtige Augenblick, das alles noch einmal durchzukauen?« »Ihr habt Recht. Der Besitzer muss jeden Augenblick hier eintreffen, und wir sollten ihm geschlossen gegenübertreten.« »Ich werde nicht aus der Reihe tanzen«, versprach Caldason. »Es wäre schön, wenn ich das glauben könnte«, sagte Karr lächelnd. »Phönix hat dieses Gebäude persönlich gegen Lauscher abgesichert. Kutch, du bist unsere zweite Verteidigungslinie. Ich hätte dich nicht darum gebeten, wenn wir nicht so knapp an Aufklä99
rem wären. Besonders angesichts der ... angesichts der Schwierigkeiten, die du in der letzten Zeit hattest.« »Wollt Ihr damit etwa sagen, dieses Treffen könnte gefährlich werden?«, fragte Caldason. »Nein. Aber wir wollen nicht vergessen, mit wem wir es hier zu tun haben. Bist du bereit, Kutch? Wenn du lieber ...« »Ich will helfen. Aber was soll ich tun, wenn ich etwas spüre?« »Einfach laut schreien«, sagte Caldason. »Wir erledigen dann den Rest.« »Weiß unser Besucher, warum wir die Insel haben wollen?«, fragte Serrah. »Ich glaube, es ist ihm ziemlich egal, auch wenn er nicht dumm ist. Ein schäbiger Opportunist mag er sein, aber gewiss nicht dumm.« »Ich kann es kaum erwarten, ihn kennen zu lernen.« Am hinteren Ende des Dachbodens begann über einer massiven Doppeltür eine magische rote Kugel zu blinken. »Euer Wunsch soll offenbar gleich in Erfüllung gehen.« Knarrend und quietschend wurde die Tür aufgestoßen. Der Mann, der nun eintrat, war um die dreißig. Er hatte einen sauber getrimmten Schnurrbart und ein hartes Gesicht. Seine Kleidung und sein Selbstvertrauen wiesen ihn als geübten Schwertkämpfer aus. »Verzeiht mir«, sagte er, als er sein Cape aufschnürte. »Die Straßen waren verstopft, und ich musste die ganze Zeit gegen den Verkehrsstrom laufen.« »Manche brechen lieber beizeiten auf«, meinte Caldason. 100 »Nicht jeder hat so viel Zeit.« Der Qalochier und Quinn Disgleirio, der Anführer der Bruderschaft der Gerechten Klinge, wechselten einen Blick. »Schon gut, Reeth«, beschwichtigte Karr. »Er hat eben keine gute Laune.« »Wann hätte er die schon jemals gehabt?« »Ihr habt nichts verpasst, Quinn«, fügte Karr eilig hinzu. »Unser Gast ist noch nicht eingetroffen.« »Doch, er ist da. Er kommt gerade herauf.« Der Patrizier wurde geschäftlich. »Also gut. Die Waffen offen sichtbar, wie vereinbart.« Disgleirio, Serrah und Caldason zogen widerstrebend ihre Klingen aus den Scheiden und legten sie auf den Tisch. »Kutch, verstecke deine Augenbinde.« Wieder begann die Kugel zu blinken. »Und ihr anderen, denkt daran, dass unser Besucher klug und gewissenlos ist. Aber vergesst auch nicht, dass er uns so dringend braucht wie wir ihn.« Die Türflügel wurden aufgestoßen und krachten gegen die Wände. Ein kleiner Hofstaat trat ein. Vier Leibwächter waren es, die gleichartige schwarze Lederwämser, Kniebundhosen und Stiefel trugen, dazu Lederhandschuhe und Stirnbänder. Unter ihnen war eine Frau mit roten Haaren und grünen Augen, keineswegs weniger gefährlich als ihre männlichen Kollegen. Alle vier waren hervorragend bewaffnet. Sie nahmen ihren Arbeitgeber in die Mitte, und einen Augenblick lang schien es gar, als trügen sie ihn in Schulterhöhe. Doch als sie ausfächerten, wurde klar, dass er nicht durch Muskelkraft, sondern durch Magie in der Luft gehalten wurde. Er saß auf einer großen, gepolsterten Scheibe 101 mit einer Lehne, die an einen Stuhl erinnerte. Seine Beine baumelten über die Kante, und er hatte sich einen dicken Sicherheitsgurt um die Hüfte gelegt. Diejenigen, die Zahgadiah Darrok noch nie gesehen hatten, aber um seinen Ruf wussten, hätten vielleicht einen Mann erwartet, der von Faulheit und Ausschweifung gezeichnet war, und keinen, der so durchtrainiert aussah wie ein Athlet. Er hatte ein markantes Gesicht, einen sauber getrimmten blonden Schnurrbart und aufmerksame, hellblaue Augen. Der einzige Missklang entstand, sobald er den Mund aufmachte. Ein rascher Befehl an seine Eskorte, die Waffen abzulegen, wurde mit einer knirschenden Stimme erteilt, die nicht recht zu seinem Äußeren passen wollte. Die Stimme klang eher nach einem gewohnheitsmäßigen Pfeifenraucher und Konsumenten von scharfem Likör. Als Darroks Leibwächter die Waffen abgelegt hatten, stellte Karr die Anwesenden einander vor. Dann zogen sich die Beschützer zurück, beobachteten aber aus einiger Entfernung aufmerksam den Verlauf der Begegnung. Darrok lenkte seine schwebende Scheibe zum Tisch und senkte sie ab, bis er in normaler Höhe saß. »Können wir Euch eine Erfrischung anbieten?« Karr deutete auf die Weinflasche und das Gebäck auf dem Tisch. »Ich halte nichts davon, Geschäftliches mit Gelüsten zu verquicken«, knirschte Darrok. »Wie Ihr wollt.« »Ich schlage vor, dass wir umgehend über die letzte Zahlung reden.« »Deshalb sind wir hier.« 102 »Könnt Ihr das Geld beschaffen?« »Aber gewiss.« »In Gold?« »Ja, in Gold.« »Und Ihr könnt es liefern, wie ich es bestimmt habe?« »Wir können von unserer Seite alle Bedingungen erfüllen. Aber natürlich wüssten wir auch gern, ob dies
genauso für Euch gilt.« Darrok zeigte sich ein wenig gereizt. »Ihr habt mein Wort.« »Wir wollen Euch keineswegs beleidigen. Doch es ist wichtig, dass Ihr unser Bedürfnis versteht, die Übergabe so reibungslos und diskret wie möglich vorzunehmen.« »Ich könnte fragen, warum Ihr heimlich vorgehen wollt, wenn Eure Ziele legal sind.« »Ich bin sicher, dass jeder von uns private Angelegenheiten hat, die er niemandem offenbaren möchte«, sagte Karr. »Ich könnte Euch auch daran erinnern, dass ein Anteil des nicht unbeträchtlichen Preises, den wir zahlen, genau diese Vertraulichkeit gewährleisten soll.« »Die werdet Ihr bekommen. Ich garantiere es.« »Ich möchte noch in einem weiteren Punkt um Eure Garantien bitten.« »Ach?« »Wie Ihr wisst, werden bald einige unserer Leute als Vorhut auf der Insel eintreffen. Wir müssen uns darauf verlassen können, dass Ihr mit ihnen zusammenarbeitet.« »Darüber waren wir uns längst einig, Karr.« »Ich sage es nur, um noch einmal die Bedeutung zu unterstreichen.« 103 »Ja, schon gut, schon gut. Es soll geschehen, wie Ihr wünscht. Was nun das Gold angeht...« »Ihr könntet uns eine Menge Schwierigkeiten ersparen«, warf Disgleirio ein, »wenn wir die Zahlung hier auf dem Festland leisten könnten.« »Wer will denn nun gegen die Abmachung verstoßen? Wir haben vereinbart, dass der Rest des Goldes auf die Insel geschafft und von dort aus weiterbefördert wird.« »Damit übernehmen wir das ganze Risiko, und Ihr habt nur Vorteile.« Darrok zuckte mit den Achseln. »Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis.« »Wir erfüllen den Vertrag von unserer Seite«, versprach Karr. »Haltet Ihr nur Euren Teil ein, und die Lieferung wird in wenigen Wochen eintreffen.« »Ihr tut sicher gut daran, sie mit möglichst großem Begleitschutz zu schicken.« »Natürlich werden wir unsere Vorkehrungen treffen.« »Ihr werdet womöglich etwas mehr als die üblichen Vorkehrungen brauchen.« Disgleirio sah ihn misstrauisch an. »Was meint Ihr damit?« »Nun, es gibt ein ... ein gewisses Maß an Unfrieden in meinen Gewässern.« »Welche Art von Unfrieden?« »Wir haben Probleme mit Freibeutern.« »Ihr meint Piraten?«, platzte Kutch heraus. »Ich bin es nicht gewöhnt, von einem Kind ausgefragt zu werden.« »Dann antwortet einem Mann«, sagte Caldason und nahm eine drohende Haltung an. 104 »Ich bin auch nicht daran gewöhnt, mich einem angeheuerten Helfer zu erklären«, sagte Darrok verächtlich. Der Qalochier sprang auf, und sein Stuhl kippte um. Serrah folgte seinem Beispiel, und Darroks Leibwächter eilten sofort herbei. »Es reicht!«, donnerte Karr. »Wir sind hier, um zu reden, und nicht, um zu kämpfen. Beruhigt Euch. Das gilt für alle.« Einige Atemzüge lang standen alle reglos da und starrten einander an, die Fäuste geballt und die Muskeln gespannt. Karr nickte seinen Leuten zu. »Setzt Euch.« Darrok schickte seine Leibwächter mit einer Geste wieder zurück. Caldason stellte seinen Stuhl auf, und auch Serrah setzte sich wieder. Beide bewegten sich zögernd und behielten ständig die Eskorte im Auge. »So, dann habt Ihr also Schwierigkeiten mit Piraten«, sagte Karr. »Ich glaube, sie nennen sich lieber Händler und Abenteurer«, wandte Darrok ein. »Zum Teufel damit, wie sie sich selbst nennen. Warum habt Ihr uns das nicht gesagt?« »Ich sage es Euch doch jetzt.« »Wie groß ist das Problem denn?«, wollte Disgleirio wissen. »Bis vor kurzem war es beherrschbar. Nicht mehr als eine kleine Unbequemlichkeit. Aber das hat sich verändert.« »Warum?« »Früher waren die Freibeuter nicht organisiert. Sie haben ebenso häufig gegeneinander gekämpft, wie sie 105 Reisende ausgeplündert haben, die ihnen über den Weg gelaufen sind. Jetzt haben sie sich zusammengeschlossen und ein Bündnis gegründet.« »Das bedeutet, dass sie irgendeine Art von Anführer gefunden haben«, überlegte Caldason. »Wer hat sie so hinter sich einen können?« »Ihr seid klüger, als es den Anschein hat. Habt Ihr schon einmal von einem Mann namens Kingdom Vance
gehört?« »Oh, verdammt«, murmelte Serrah. »Also kennt Ihr den Namen«, sagte Darrok. Karr sah ihn finster an. »Wer kennt ihn nicht? Immerhin ist er der berüchtigtste, kaltblütigste Freibeuter, der jemals einem Menschen die Kehle durchgeschnitten hat. Wollt Ihr mir etwa sagen, dass er dieses Bündnis geschmiedet hat?« Darrok nickte. »Er muss den anderen einen Preis geboten haben, der verlockend genug war, um sie zusammenzubringen«, meinte Caldason. »Eine Beute, die ihre Differenzen mehr als aufwiegt.« »Das hat er getan. Er hat ihnen etwas angeboten, das sie schon lange wollen.« Darrok hielt inne und betrachtete die Gesichter seiner Gastgeber. Er sah, dass einer oder zwei es bereits erraten hatten. »Einen festen Stützpunkt. Ein Land, das sie ihr Eigen nennen können.« »Sie wollen die Insel haben«, flüsterte Disgleirio, dem die Wahrheit dämmerte. »Darrok, Ihr seid ein Bastard. Das grenzt an Verrat. Worauf seid Ihr aus? Wollt Ihr mehr Geld? Läuft es darauf hinaus?« Unwillkürlich war er aufgesprungen. »Von meiner Seite gibt es keine Täuschung.« Darrok winkte seinen nervösen Leibwächtern, dass sie sich zu106 rückhalten sollten. »Ich bitte nur um die abschließende Zahlung.« »Nachdem Ihr uns diese Neuigkeiten serviert habt? Vergesst es.« »Ihr werdet feststellen, dass unser Abkommen vorsieht, dass es ohne vollständige Zahlung keinen Abschluss gibt. Und ich darf behalten, was bisher schon gezahlt worden ist.« Disgleirio drehte sich wutentbrannt zu Karr herum. »Auf so etwas habt Ihr Euch eingelassen?« Darrok antwortete, bevor der Patrizier etwas erwidern konnte. »Es gibt nicht gerade viele Inseln, die zum Verkauf stehen. Wie ich schon sagte, Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Nehmt an oder lasst es bleiben.« »Karr?«, bohrte Disgleirio. »Er hat Recht. Wir sind nicht in der Position, die Bedingungen zu diktieren.« Serrah brach schließlich das Schweigen, das sich über den Raum senkte. Im Gegensatz zum aufgebrachten Disgleirio schien sie beinahe amüsiert. »Nun, die Luft hier im Raum könnte man mit dem Messer schneiden«, sagte sie. Mit einem Blick zu den abgegebenen Waffen fügte sie hinzu: »Will es vielleicht jemand versuchen?« Karr stand auf und bat mit einer Geste um Ruhe. »Also gut. Bleibt ruhig, lasst uns die Sache vernünftig regeln. Wir werden schon eine Lösung finden.« »Immer der Diplomat, was, Patrizier?« Serrah schenkte ihm ein Lächeln, das fast ein wenig irre wirkte. »Er hat Recht«, unterbrach Darrok. »Es ist möglich, dass Ihr Rivalen habt, was die Insel angeht. Na und? Verglichen mit Euch ist ihre Zahl klein, wenn man sich 107 ansieht, wen Ihr auf Eurer Seite habt. Ihr werdet schon damit klarkommen.« »Das klingt, als wäre es eine Kleinigkeit«, bemerkte Disgleirio, der immer noch kochte. »Nein, es sollte eher so klingen, als wäre es nicht mein Problem. Meine einzige Sorge ist, wie ich das Geld ausgebe, das ich von Euch bekomme.« »Damit Ihr Euch noch mehr Spielzeuge wie das da kaufen könnt?« Er deutete mit dem Daumen zur schwebenden Scheibe. Darrok ließ sie aufsteigen, bis er in Kopfhöhe der Männer schwebte. »Es ist eher eine Notwendigkeit denn ein Luxus.« Er klopfte mit dem Knöchel auf seine Beine. Der hohle Klang verriet, dass sie künstlich waren. »Kingdom Vance«, sagte er nur. »Und genau deshalb ist das alles nicht mein Problem.« Als sie die Neuigkeit verdaut hatten, beschied Karr: »Wir müssen darüber nachdenken.« »Ich bin noch ein paar Tage in Valdarr. Ihr wisst ja, wie Ihr mich erreichen könnt.« Zahgadiah Darrok winkte seinem Gefolge. Die Leibwächter kamen und holten ihre Waffen, bauten sich um ihren Herrn auf und folgten ihm, als er zum Ausgang schwebte. Hinter ihnen fielen die Türflügel mit lautem Knall zu. Karr wandte sich an die anderen. »Wir wollen uns dadurch nicht abschrecken lassen.« »Wirklich?« Caldason gab sich keine Mühe, seinen Zynismus zu verbergen. »Ja. Viel zu viele Leute bauen auf uns. Wir sind es ihnen schuldig.« »Ich kann nicht glauben, dass Ihr mit diesem Mann so eine Abmachung getroffen habt«, klagte Disgleirio. 108 »Ist die Aufgabe, vor der wir stehen, nicht auch so schon schwierig genug?« »Geschehen ist geschehen, Quinn. Und Darrok hat Recht damit, dass Angebot und Nachfrage die Preise bestimmen. Er hat uns über den Tisch gezogen.« »Und was sollen wir jetzt dagegen tun?« »Zuerst einmal sollten wir die Truppe verstärken, die Reeth mit der Goldlieferung anführt.« »Augenblick mal«, unterbrach Caldason. »Es ist eine Sache, mich zu bitten, das Gold abzuliefern. Aber von mir zu erwarten, dass ich gegen ein Piratenbündnis antrete, ist eine ganz andere.«
»Aber Ihr müsst doch einsehen ...« »Ich sehe nur, dass ich trotz Eurer Versprechungen meinem Ziel, die Clepsydra zu finden, keinen Schritt näher gekommen bin. Jetzt wollt Ihr mich für einen Krieg verpflichten, mit dem ich nichts zu tun habe.« »Aber der Plan ...« »Das ist Euer Problem, Karr. Sucht Euch einen anderen Trottel.« Er ging zur Tür und schnappte sich unterwegs die Schwerter vom Tisch. »Reeth!«, rief Kutch. »Lass ihn laufen«, riet Karr ihm, als die Türen ein weiteres Mal zugeknallt wurden. »Er wird schon wieder zu sich kommen. Und wenn nicht...« »Seht mich nicht so an«, sagte Serrah. »Man kann mir schließlich nicht weit genug vertrauen, um mich zu schicken, oder?« Kutch ließ mutlos die Schultern hängen. Disgleirio legte, immer noch wütend, sein Schwert wieder an. Karr seufzte müde und schwieg. Er starrte die strahlende Karte auf der Wand an. Dann schnippte er mit 109 den Fingern. Die Karte zog sich sogleich zusammen und fiel auf den Boden; dann sprang sie wieder hoch, einmal nur, und flog in hohem Bogen zielsicher in seine ausgestreckte Hand. Er nahm die Hoffnung der Welt und steckte sie sich ins Ohr. 110 Schweigen herrschte. Ein weicher Dunst umgab ihn. Ihm war kalt, und er fühlte sich gewichtslos. Langsam kehrte das Gefühl zurück. Doch er hatte keine Vorstellung, wer er war und wo er war. Dann bemerkte er einen starken Luftzug, der auf seiner Haut kribbelte und sein Haar zauste. Es stach in den Augen und ließ Tränen hervorquellen. Sein Magen regte sich. Der Puls pochte in seinen Ohren. Er stürzte. Die klebrige weiße Umgebung verschwand. Als er stürzte, sah er, dass es eine Wolke gewesen war, die inzwischen hoch über ihm stand. Dann ein Blick, noch höher hinauf, wo die Sterne auf blauen Samt gepudert waren. Er drehte sich und wand sich und konnte die Erde sehen, so tief unter sich, dass sogar die Krümmung zu erkennen war. Er fiel mit dem Kopf voraus, und rings um ihn pfiff der Wind. Er hatte keine Kontrolle über den Sturz, aber irgendwie schien er sich auf einmal absichtsvoll zu bewegen. Er fiel nicht mehr einfach hinunter, sondern er flog. 111 Das Land unter ihm wuchs, einzelne Merkmale schälten sich deutlicher heraus. Mit Schnee bedeckte Berggipfel, silberne Flüsse und saftige Wiesen. Er glitt über Ebenen, fruchtbare Täler und die smaragdgrüne Wolle großer Wälder. Noch tiefer sah er hier und dort auch die Hand der Menschen. Gepflügtes Land zwischen den Wiesen, aus Granit gebaute Bauernhäuser, Holzhütten und die Narben der Straßen. Ein Schwindel erregender Schwenk brachte ihn auf eine solche Straße hinunter. Er flog höher als die höchsten Bäume und folgte ihr. Eine große Gruppe Reiter tauchte auf. Bewaffnete, die wie der Teufel galoppierten. Er beschattete sie und folgte mühelos den Biegungen und Windungen der Straße. Viele Meilen hielt er Schritt mit ihnen. Dann dämmerte ihm, dass sie nicht die Einzigen waren, die sich in diese Richtung bewegten. Noch etwas anderes folgte den Reitern. Etwas, das flog wie er selbst, doch in größerer Höhe und hinter ihm. Es jagte die Reiter nicht, sondern begleitete sie, trieb sie an. Was es auch war, das den aufgewühlten Himmel durchquerte, man konnte es spüren, aber nicht sehen. So eigenartig es klang, es war zugleich ein Rudel und ein einziger Verstand. Er wusste es, ohne genau zu begreifen, woher er es wusste. Ebenso gewiss war, dass es eine böse Kraft besaß. Eine Bedrohung, die auf ihn zielte und tiefe Angst weckte. Seine Furcht spornte ihn an. Er beschleunigte und schoss nach vorn, überholte die Reiter und das Entsetzen, das ihnen folgte. Er bewegte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit; die Landschaft unter ihm war nur noch verschwommen zu erkennen, ein grüner Streifen mit braunen Flecken. Seen wie Spiegel, Felder wie Flickenteppiche, Wäldchen, die das Licht tranken. Bis 112 er endlich eine ferne Region erreichte, wo das Land noch wild war. Dort wurde er langsamer. Er schwebte über einer Waldlichtung, auf der vier oder fünf hellbraune Halbkugeln standen. Er brauchte einen Augenblick, um zu erkennen, dass es sich um Rundhäuser handelte, aus Holzbalken gebaut und mit Stroh gedeckt. Eine Hand voll Menschen bewegte sich im Lager. Einer zog einen Eimer aus dem Brunnen, ein anderer schnitt Holz. Die meisten hielten Wache. Vieh war in Pferche gesperrt, mehrere Pferde hatte man an einen Pfosten gebunden. Irgendwie kam ihm die Gegend sehr bekannt vor, und als er langsam tiefer sank, er konnte einfach nicht anders, nahm sein Unbehagen noch zu. Sachte und lautlos landete er. Er rechnete damit, von den Leuten zur Rede gestellt zu werden, doch niemand drehte den Kopf, und keine Wächter kamen gerannt. Er konnte sehen, ohne gesehen zu werden. Als Erstes sah er, dass es Leute von seiner eigenen Art waren. Ein Schrei war zu hören. Er kam aus einer kleinen Hütte, die ein Stück abseits von den anderen stand. Kein Bewohner des Lagers drehte sich um. Sie schnappten sich nur ihre Waffen und sahen nervös zum Wald. Wieder ertönte der Schrei, schrill und länger als beim ersten Mal. Er bewegte sich zu dessen Ursprung, unsichtbar wie
ein Geist. Das Innere der Hütte lag im Halbdunkel und wurde nur vom weichen Licht abgedeckter Laternen erhellt. Als seine Augen sich umgestellt hatten, konnte er eine kleine Gruppe von Menschen erkennen, die rings um etwas kauerten, das sich auf dem nackten Erdboden befand. Zwei waren Matriarchinnen, weise Frauen, de113 nen eine Novizin diente. Die letzte Person war ein alter Mann, der einem unbekannten Volk angehörte. Auch er wirkte auf eigenartige Weise vertraut. Er drang tiefer in die Hütte ein und sah, dass die Menschen sich um eine Frau von seiner eigenen Art kümmerten, die auf grobem Sackleinen lag. Ihr Wollhemd war um die Hüfte gerafft, sodass der pralle Bauch entblößt war. Strähnen ihres glänzenden schwarzen Haars klebten auf der schweißfeuchten Stirn. Sie hatte die Lippen zurückgezogen und zeigte die makellosen weißen Zähne. Obwohl ihr Gesicht vor Schmerzen verzerrt und das Licht nur schwach war, erkannte er, dass sie eine Schönheit war. Gebannt schaute er zu, wie die anderen sich um die Frau bemühten. Doch sehr schnell wurde deutlich, dass etwas nicht stimmte. Die Frau wand sich jetzt heftiger, und ihre Schreie wurden länger. Die Helfer wechselten besorgte Blicke, und ihre Bemühungen bekamen etwas Hektisches. Machtlos, als körperloser Zuschauer konnte er nur beobachten, wie sie sich als Hebammen versuchten. Als der Knabe geboren war, sank die Frau auf ihr Lager und schwieg. Jetzt herrschte eine Stille, die viel unheimlicher war als ihre Schreie. Auch das Kind war still. Ein totes kleines Ding schien es zu sein, das nicht atmete. Während die Frauen sich bemühten, die starken Blutungen der Frau zu stillen, nahm der alte Mann das Kind auf. Rasch schnitt er mit einer silbernen Sichel die Nabelschnur durch, wie es die Tradition gebot. Dann hob er das blau verfärbte Neugeborene an einem Fußgelenk hoch und klatschte ihm mit der Hand aufs Hinterteil. Noch zweimal musste er schlagen, ehe das Kind nach Luft schnappte und zu schreien begann. 114 Die Mutter konnte nicht wiederbelebt werden. Sie lag reglos da und bekam bereits die bleiche Farbe des Todes. Ihr Mund war erschlafft, die Augen trüb. Die Verzweiflung ihrer Helfer griff auch auf den Beobachter über. Eine eiserne Klammer legte sich um sein Herz. Eis strömte durch seine Adern. Sein Kummer war stärker, als es bei einem bloßen Zuschauer hätte sein sollen. Er schob sich noch näher heran. Schreie, die von draußen hereindrangen, ließen ihn zögern. Der alte Mann drückte das Neugeborene fest an seine Brust. Ängstlich schauten die Hebammen zur Tür. Die Rufe wurden lauter. Er sah die Bewohner der Hütte ein letztes Mal an, bevor er sich zurückzog. Draußen herrschte helle Aufregung. Männer rannten und brüllten. Einige warfen Sättel auf Pferde, andere waren bereits aufgesessen und nahmen eilig die Tiere herum, dass der Schlamm nur so spritzte. Durch die Bäume konnte er die Reiter erkennen, die er auf der Straße gesehen hatte. Viele waren es, die rasch näher kamen. Die Männer aus dem Lager, hoffnungslos in der Unterzahl, bemühten sich, die Eindringlinge aufzuhalten. Einige blickten zum Himmel hinauf. Dort war etwas, ein brütendes Wesen. Doch nur er konnte die bösartige Horde schwarzer Gespenster, die am Himmel lauerten, wirklich sehen. Der alte Mann kam aus dem Rundhaus. Er hatte das Kind in eine blutige Decke gewickelt und blieb einen Augenblick stehen, um sich zu orientieren. Traurig blickte erzürn unheildrohenden Himmel hinauf. Dann fasste er sein Bündel fester und lief überraschend geschwind in den Wald, fort von den Angreifern. Die Schatten wallten und sammelten sich am Himmel. Sie konnten fließen und unendlich viele verschie115 dene groteske Gestalten annehmen. Als sie herabstießen, gingen ihnen grelle Lichtströme voraus. Entsetzliche Kräfte rissen die Luft auf, Feuerlanzen zuckten hinunter, und eine tödliche Strahlung breitete sich aus. Wie ein lebender, todbringender Regen fielen sie herunter. Wie droben, so drunten. Die Reiter stürmten auf die Lichtung. Mit blutrünstigen Schreien und zuckenden Klingen griffen sie an. So wenige sie auch waren, die Menschen seines Volks stellten sich auf, um die Angreifer abzuwehren. Über das Land und vom Himmel her kamen die Feinde. Flammen und Stahl drangen auf ihn ein und umhüllten ihn. Er kam zu sich und unterdrückte einen Schrei. Dann spürte er den Griff einer Hand, packte das Handgelenk und hielt es fest wie ein Schraubstock. »Autsch, du tust mir weh!« Caldason blinzelte und orientierte sich. »Kutch? Was, zum Teufel, tust du hier? Weißt du nicht, wie gefährlich es ist, wenn du ...« »Du hast gebrüllt wie am Spieß, dass fast das Haus eingestürzt wäre. Ich habe dich von oben gehört.« »Ich ... es tut mir Leid.« Er ließ los. Kutch schnitt eine Grimasse und rieb sich das Handgelenk. »Was ist denn passiert? Schon wieder einer?« »Ja.« Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. »Ein ... ein Traum, oder wie man es auch nennen will.« »Es klang schlimm.« Der Qalochier nickte. »Anders als sonst.« Dann fiel 116
ihm etwas ein. »Aber was ist mit dir? Ich meine, hast du auch etwas gesehen? Warst du ...« »Nein, ich habe nichts mitbekommen. Dieses Mal nicht. Es geschieht auch seltener, seit ich nicht mehr so oft als Aufklärer arbeite.« »Meinst du, dass da ein Zusammenhang besteht?« Er schwenkte die Beine von der Pritsche und ließ die steifen Schultern kreisen. »Tja, es hat angefangen, als ich mit meiner Ausbildung zum Aufklärer begonnen habe. Ich wüsste nicht, dass sich sonst noch etwas verändert hätte.« »Du selbst hast dich stark verändert, seit wir hierher gekommen sind, Kutch.« »Wirklich? Wie denn?« »Überwiegend zum Besseren.« Er lächelte leicht. »Du sagtest, dieser Traum sei anders gewesen.« Das Lächeln verschwand. »Ja. Manches kam mir bekannt vor. Viel zu bekannt. Aber da war auch etwas Neues.« »Was denn?« Caldason stand auf und ging an ihm vorbei zum Fenster. Der Morgen graute, und auf Valdarrs Straßen herrschte schon reges Treiben. Drunten bewegten sich überwiegend echte Menschen, doch hin und wieder sah man auch eine magische Erscheinung. Viele Illusionen waren auf den ersten Blick zu erkennen, andere waren von einem flüchtigen Beobachter nicht ohne weiteres von Fleisch und Blut zu unterscheiden. Lichtblitze zeigten, wo neue Zauber erschienen. Ebenso groß war die Zahl der lichtlosen Implosionen, wo sich verbrauchte Zauber auflösten. Ein Vogelschwarm zog über den grauen Himmel. Vielleicht waren sie echt. Er wusste es nicht zu sagen. 117 »Reeth?« »Die Visionen haben mir viele Male meinen Tod gezeigt«, sagte Caldason, der immer noch die Szenerie draußen betrachtete. »Oder das, was mein Tod hätte sein sollen. Jetzt ist etwas Neues passiert.« »Was es auch war, es hat dich anscheinend ganz schön mitgenommen.« »Ich habe gesehen, wie ich auf die Welt gekommen bin und wie meine Mutter bei meiner Geburt gestorben ist.« Er drehte sich zu dem Burschen um. »Ich war für den Tod meiner Mutter verantwortlich, Kutch.« Hoch droben flatterten die Vögel träge der aufgehenden Sonne entgegen. 118 Tausende Vögel verdunkelten den regenschweren Himmel. Sie kreisten über einem Gebiet, das vergleichsweise dünn besiedelt war, obwohl es sich mitten in Bhealfa befand. Die Aussicht auf leichte Beute hatte sie in so großer Zahl angelockt: nicht nur die unzähligen Würmer, die ans Licht kamen, sondern auch die Menge an Abfällen, die vom Geleitzug hinterlassen wurde. Für die Vögel war es ein niemals endender Festschmaus. Allerdings war er nicht ganz ungefährlich. Auch wilde Hunde und Raubkatzen wurden von diesem Angebot angelockt. Und die Menschen in der großen Prozession setzten Falken und Bogenschützen ein, um die Vogelschwärme zu reduzieren, oder einfach nur zum Sport. Die anderen Rivalen der Vögel waren die Trödler, die dem Geleitzug folgten. Diese Männer, Frauen und Kinder lebten in einer ebenso strengen Hierarchie wie die anderen Menschen in der übrigen Gesellschaft, aus der sie verstoßen worden waren. Die Geringsten 119 unter ihnen, die Dungsammler, wanderten zu Fuß und schleppten auf Karren und Wagen die Früchte ihrer Arbeit hinter sich her. Direkt über ihnen standen die Lumpensammler. Der Name entsprach nicht ganz ihrer Tätigkeit, denn sie lasen nicht nur abgelegte Kleider, sondern vor allem auch wertvolle Gegenstände aus dem Abfall auf. Beflügelt von Geschichten über weggeworfene Münzen und sogar Juwelen, führten sich viele Lumpensammler auf wie Goldgräber. Hin und wieder stieß man auch auf eine Leiche. Es handelte sich um Hingerichtete oder um Ausgestoßene, was aufs Gleiche hinauslief, wenn sie von den höheren Stellen des Geleitzuges heruntergeworfen worden waren. Manche hatten auch Selbstmord begangen, weil sie dem Tod durch die eigene Hand gegenüber der willkürlichen Grausamkeit des Regimes den Vorzug gaben. Sobald sie ausgeplündert waren, überließ man die Toten den Totengräbern. Diese bunt zusammen gewürfelte und von allen anderen geächtete Truppe setzte sich aus Verbannten zusammen - Menschen, die an hässlichen Krankheiten litten oder geistig verwirrt waren und keine andere Beschäftigung finden konnten. Sie lebten davon, die Leichen an die nicht selten adligen Angehörigen zu verkaufen, die ihre Verstorbenen anständig begraben wollten. Die reisenden Handwerker hielten sich im Vergleich zu den Trödlern, Lumpensammlern und Totengräbern für etwas Besseres. Tischler, Baumeister, Dachdecker, Wagner, Hufschmiede und Vertreter eines Dutzends weiterer Berufe zählten zu ihnen. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mit der Reparatur der Schäden, die durch die Prozession angerichtet wurden. Eine Hand 120 voll Magier von zweifelhaftem Ruf stand mit dieser Truppe in lockerer Verbindung. Sie versprachen den Betroffenen Schutzzauber, damit solche Katastrophen in Zukunft vermieden wurden. Da sie wohlhabender waren als die unter ihnen stehenden Kasten, konnten sich die Handwerker ein gewisses Maß an primitiver Magie erlauben. Manch einer verfügte über magische Vogelscheuchen, die er ab und zu auf
die Vögel losließ, um ein paar Minuten verschnaufen zu können. So sah es also in dieser kühlen Morgendämmerung aus. Ein Spruch löste eine ohrenbetäubende Salve aus. Brennende bunte Fäden stachen in den Himmel hinauf und verscheuchten die erschrocken kreischenden Ziele. Die Vögel flohen in höhere Regionen und formierten sich neu. Ein Trödler nahm den Aufruhr als willkommene Unterbrechung, um den Rücken zu strecken. Er hob eine Hand und wischte sich die Stirn trocken, auf der ihm trotz der kühlen Morgenstunde schon der Schweiß stand. Er holte Luft, sah sich nach der Quelle der Unruhe um, die etwa eine Meile entfernt war, und spürte das vertraute Pochen unter den Füßen, während sie sich langsam entfernte. Dieses Spektakel und dieses Chaos, es jagte ihm immer wieder Ehrfurcht ein. Und er musste dankbar sein, dass es ihn ernährte. Es war ein Wunder, ein Geschenk der Götter. Diese Schattenwirtschaft, die allein auf den Narrheiten eines Mannes beruhte, der allgemein für verrückt gehalten wurde. Jemand hatte Prinz Melyobars fliegenden Hofstaat einmal mit einer Sau verglichen, die ihre unzähligen Ferkel nährte. Die weniger Wohlwollenden dachten 121 an einen aufgedunsenen Blutegel, der den Lebenssaft aller Menschen im Land anzapfte. Melyobars Palast war ein kapriziöses Ding. Riesig war er und entsprach dem aufgeblasenen Ich seines Herrn, brachte zugleich aber auch dessen Verwirrung zum Ausdruck. Überall gab es Türme und Zinnen. Eine Unmenge Statuen standen auf den Wehrgängen, ebenso ausgefallen wie absonderlich. Die Anlage starrte vor Verteidigungsbauten und Sperren gegen Eindringlinge. Alles war verziert, geschnitzt, gefärbt, überdeckt und überlagert von kostbaren Steinen und Edelmetall. Insgesamt machte das Ding den Eindruck eines stachligen Kuchens, den ein manischer Koch mit einem Überguss versehen hatte. Niemals stand diese Festung oder dieser Palast auch nur eine Sekunde still. Er schwebte und wurde durchs Land gelenkt, angetrieben von Schwindel erregend teurer Magie. Sein einziger Zweck war es, dem Bedürfnis des Prinzen Genüge zu tun, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und ihm zu entrinnen. Mit diesem Bedürfnis war er zwar allein, aber er fand Nachahmer. Um ihre Position bei Hofe nicht zu verlieren, waren die Adelsfamilien gezwungen, ähnliche Paläste zu unterhalten, die natürlich nicht ganz so großzügig angelegt sein durften wie der des Prinzen. Die Gilden schlössen sich dem Zug an, dazu noch zahlreiche bedeutende Höflinge und reiche Mitbürger. Alle wetteiferten darin, ihr Vermögen zu verprassen, indem sie den äußeren Schein wahrten. Auch verschiedene magisch angetriebene Nebengebäude standen dem Prinzen zur Verfügung. Die königliche Garde, die Rittmeister, die Waffenschmiede, Pfeilmacher, Verwalter, Gelehrte, Wahrsager, Zaube122 rer und ein Dutzend anderer Gruppen von Spezialisten verfügten jeweils über eigene Transportmittel. Weniger wichtige Beamte und Anhänger, deren Zahl Legion war, mussten auf konventionelle Methoden zurückgreifen, um mit dem Palast Schritt zu halten. Unzählige Reiter befanden sich im Gefolge, darunter mehrere Abteilungen Kavallerie und eine ganze Division Paladine. Wagen, Kutschen, Karossen, Einspänner und Streitwagen gab es zu hunderten. Ihre Insassen hatten es, verglichen mit den nach tausenden zählenden Fußgängern, vergleichsweise leicht. Letztere mussten auf ein ausgeklügeltes System von mit Pferden bespannten Schlafkutschen zurückgreifen, um hin und wieder Ruhe zu finden. Die einzige Regel war, dass der Geleitzug auf gar keinen Fall anhalten durfte. Es hatte durchaus ernst gemeinte Vorschläge gegeben, Melyobars fliegende Narretei offiziell als Stadt anzuerkennen. Nichts war dem Prinzen ferner als dieser Gedanke. Ihm ging es ausschließlich darum, seinen Todfeind zu überlisten. Zu diesem Zweck stand er mit einer Abteilung seiner Miliz auf dem Exerzierfeld, das aus einem der höchsten Wälle des Palasts herausragte. Als Monarch war Melyobar automatisch der oberste Befehlshaber der vereinigten Streitkräfte, auch wenn es sich nur um einen Ehrentitel handelte, da im Grunde Gath Tampoor das Land beherrschte. Aus irgendeinem nicht nachvollziehbaren Grund hatte der Prinz sich entschlossen, heute als Lordadmiral der Flotte aufzutreten, wie es ihm von Rechts wegen zustand. Die dunkelblaue Uniform mit den gepolsterten Schultern war mit goldenen Tressen verziert. Der 123 Mantel passte nicht ganz über den Schmerbauch, daher standen die goldenen Knöpfe offen. Kniebundhosen mit Goldstreifen an den Seiten und glänzende kniehohe Stiefel verhüllten seine kümmerlichen Beine. Er trug einen Dreispitz mit einer weißen Feder auf dem Kopf. Strähnen von ergrautem Haar lugten unter dem Rand hervor und verliehen seinem fahlen, aufgedunsenen Gesicht das Aussehen einer gesprungenen Eierschale. Außerdem hatte er ein prächtiges Schwert, mit dem er vortrefflich herumfuchteln konnte. »Jetzt lasst den Nächsten los!«, verlangte er. Seine Stimme war viel zu schrill, um irgendjemanden zu beeindrucken. »Sir!« Ein Sergeant knallte die Hacken zusammen und schaffte es tatsächlich, ernst zu bleiben. Er marschierte los und brüllte Befehle. »Da rüber!«, rief der Prinz. »Da entlang!« Er deutete auf ein fernes Bauernhaus, an dem sie langsam vorbeifuhren. »Beeilt euch!«
Eine Abteilung Soldaten bemannte eines der großen Belagerungskatapulte, die vor der Brustwehr standen. Das Holz krachte, als sie hektisch den Wurfarm zurückkurbelten. Einer nahm einen Schlägel zur Hand, um die Keile unter die Vorderräder des Katapults zu zwängen. Vier Männer kamen mit einem Netz, in dem sie einen runden, lederartigen Gegenstand trugen, größer als der Kopf eines Ochsen. Er war schwer genug, um sie ein wenig wanken zu lassen. Ein blau gewandeter Zauberer folgte ihnen; er war mit einem kleinen Samtbeutel bewaffnet. Der schmächtige, kahlköpfige und bärtige Mann schaute mit dem gebotenen Ernst in die Runde. 124 Melyobar klatschte in die Hände wie eine Lehrerin, die ihre Kinder antreiben will. »Nun macht schon, macht!« Sie luden die Lederkugel auf den Wurfarm des Katapults. Der Magier kramte in seinem Beutel und produzierte dann eine rechteckige Steintafel, deren Größe und Farbe an ein rotbraunes Blatt im Herbst erinnerte. Er schob sie in die Seile, die die Kugel zusammenhielten, und murmelte eine Anrufung. Der Prinz sah mit kaum verhohlener Ungeduld zu. »Wir wollen dieses Mal aber etwas genauer zielen, nicht wahr?«, bemerkte er sarkastisch. Er nahm ein durch Magie verstärktes Fernglas vom Tisch, auf dem eine ganze Anzahl dieser Geräte aufgestapelt waren. Wenn er es vors Auge hielt, konnte er das Bauernhaus aus der Nähe betrachten, gerade so als befände es sich nur einen Steinwurf vom Palast entfernt. Er sah, dass einige Leute sich auf der Veranda versammelt hatten. Ein paar winkten herüber. Melyobar blinzelte empört, als das Bild flackerte und verblasste. Das Fernrohr hatte seine Magie verbraucht, und er warf es gereizt fort. Es rollte ein paar Schritt weit und fiel über die Kante. Er schnappte sich das Nächste vom Tisch. Etwa ein Dutzend weitere Ferngläser waren noch vorhanden, und jedes war so viel wert, wie ein Milizionär im Monat verdiente. Die Katapultmannschaft hielt sich bereit, während der Prinz sein Fernglas ausrichtete. Als das Bauernhaus genau auf gleicher Höhe war, hob er das Schwert. »Feuer!« Der Hebel wurde gezogen, und der Wurfarm schnellte mit gewaltiger Kraft nach oben. Die abgefeuerte Lederkugel stieg rasch empor. In einem großen Bogen 125 flog sie zum Bauernhaus. Die Bewohner liefen erschrocken fort. Ameisen, die vor einem Stiefel flohen. Man sah dem Zauberer die Anspannung an, als er mit halb geschlossenen Augen seine Beschwörungen murmelte. Melyobar beobachtete das Ziel durchs Fernglas. Ein schwarzer Punkt kam herunter. Es sah so aus, als wollte die Kugel harmlos weit hinter dem Bauernhaus auftreffen. Die fliehenden Ameisen erkannten dies ebenfalls, und die meisten blieben stehen und starrten nach oben. Als die Kugel direkt über dem Dach war, erreichte die Anrufung des Magiers ihren Höhepunkt, und sie platzte lautlos. Einen Sekundenbruchteil später drang ein gedämpfter Knall bis zum Palast. Eine purpurne Wolke hing in der Luft, wo die Kugel gerade noch gewesen war. Dann entließ sie wie eine Regenwolke ihre Fracht. Eine blaue Flüssigkeit regnete herunter und prasselte aufs Dach, auf den Garten vor dem Bauernhaus und die verblüfften Zuschauer herab. Unbeeindruckt vom Wind hielt die Wolke ihre Position. Aus dem Nieselregen wurde ein starker Guss. Jetzt rannten die Leute wieder. Sie hatten sich die Hände über den Kopf gelegt, während das blaue Wasser die ganze Gegend färbte. »Besser«, lobte Melyobar. »Viel besser.« Der Magier entspannte sich ein wenig, und auch die Milizionäre am Katapult und auf dem Exerzierplatz wirkten erleichtert. Drüben beim Bauernhaus hörte die Sintflut unterdessen auf. Die Wolke verschwand, und die letzten purpurnen Schwaden verzogen sich. Der Prinz winkte den Magier zu sich. »Das gefällt mir schon viel besser. Die Übung macht den Meister, nicht wahr?« 126 »Äh, ja, Euer Hoheit. Vielen Dank, Euer Hoheit.« Er verneigte sich ungeschickt. »Man muss alle Fehler ausbügeln. Man muss sich ins Zeug legen, und so weiter.« »Wir könnten die Wünsche Eurer Hoheit gewiss besser erfüllen, wenn wir etwas genauer wüssten, welche Absichten und Ziele Ihr verfolgt.« Der Magier bereute sofort, dies ausgesprochen zu haben. Melyobars Gesicht verdüsterte sich, doch wie sich herausstellte, bekam er keinen seiner gefürchteten Wutausbrüche. Er beugte sich vor wie ein Verschwörer. »Es soll reichen zu sagen ...« Er drehte den Kopf nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sie nicht belauscht wurden. »Es soll reichen zu sagen, dass meine Arbeit hier zur Zerstörung des ...«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »... des großen Zerstörers führen wird.« »Wir haben gewiss alle den Wunsch, dass es so kommen möge, Hoheit.« Der Magier wählte seine Worte vorsichtig, denn er wusste, dass jedes Gespräch mit dem Prinzen wie ein Rundgang durch ein Haus voller Zauberspiegel war. »Der Plan ist gut«, vertraute Melyobar ihm an. »Mein Vater, der König, hat ihn selbst entwickelt.« »Wirklich, Hoheit?« Der Magier schluckte. »Welch ein Glück für uns, dass die große Weisheit Seiner Majestät
uns dabei hilft, dieses Problem zu lösen.« »Aber gewiss doch. Das sage ich ihm auch selbst oft, wenn wir uns unterhalten.« Der Magier wusste so gut wie alle anderen, dass der König tot oder wenigstens so gut wie tot war. Er nickte bedächtig und versuchte, sich einen passenden Gemeinplatz auszudenken, den er als Antwort geben 127 konnte. »Ich hoffe doch, dass Seine Majestät bei guter Gesundheit ist«, gab er in seiner Verzweiflung zurück. »Bei bester Gesundheit und guter Dinge. Und er will unbedingt dabei helfen, den Feind zu vernichten.« »Das ist ausgezeichnet, Hoheit. So sind die Tage des Schnitters wohl gezählt.« »Zweifellos. Und heute habe ich, was meine Bewaffnung gegen ihn angeht, einen großen Schritt gemacht.« Der Magier warf einen verstohlenen Blick zum durchnässten Bauernhaus. »Ich bitte um Verzeihung, Hoheit, aber mit... mit gefärbtem Wasser?« Melyobar zwinkerte listig und tippte sich an den Nasenflügel. »Oh, schaut nur. Eine Scheune. Sergeant! Ein neues Ziel!« 128 Das geht doch nicht«, flehte Kutch. »Ich kann das nicht.« »Du schaffst es«, beharrte der Magier. »Vertrau mir. Konzentriere dich auf die Übung und ...« »Ich kann nicht! Zuerst dachte ich, es sei eine gute Idee, aber jetzt kann ich Euch sehen ...« »Genau darum, mich zu sehen, ging es doch, oder? Nun vergiss alles andere und konzentriere dich auf deine Aufgabe.« »Das ist nicht so einfach.« »War irgendetwas, das mit der Kunst der Magie zu tun hat, schon irgendwann einmal einfach? Versuche es nur. Willst du das für mich tun?« »Ich ... ja, ich versuche es.« »Gut. Ich schlage vor, dass wir einen Augenblick lang still sind und uns konzentrieren. Atme, wie man es dich gelehrt hat.« Kutch nahm die Meditationshaltung ein: gerader Rücken, die Hände auf die Schenkel gelegt. Er war steif und nervös. 129 »Entspanne dich.« »Auch das Entspannen ist manchmal schon schwere Arbeit«, grollte der Bursche. Ein Lächeln ließ Falten im Gesicht des alten Mannes erscheinen. Die Zähne, die zum Vorschein kamen, waren gut erhalten und ebenmäßig. Sein Gesicht war voller Runzeln und wettergegerbt, und er verstand sich darauf, einen Gesichtsausdruck aufzusetzen, der gleichermaßen streng und wohlwollend wirkte. Bis aufs i-Tüpfelchen entsprach er Kutchs altem Meister Grentor Domex. Kutch hatte die Augen geschlossen, doch seine Wimpern bebten und verrieten, unter welcher Anspannung er stand. Der Magier ließ ihn in Ruhe. Es war still in dem schwach erleuchteten Raum. Unverkennbar war es das Arbeitszimmer eines Magiers, voll gestopft mit Steintöpfen und Glaskrügen voller Kräuter und Elixiere und all dem anderen Zubehör, das man für Zeremonien brauchte, sowie den vielen alten Büchern. Alles war willkürlich und unordentlich irgendwo aufgestapelt. Der Raum hatte etwas Behelfsmäßiges an sich. Offenbar war der Bewohner ein ruheloser Geist. Nach einigen Minuten sagte der Magier: »Öffne die Augen.« Der Bursche gehorchte. »Das brauchen wir doch jetzt nicht mehr, oder?« Der Magier beugte sich vor, nahm die Augenbinde, die Kutch in der Hand hatte, und warf sie auf den Tisch. »Nein, die brauchen wir wirklich nicht mehr.« Kutch nickte, prägte sich aber vorsichtshalber genau ein, wo sie lag. »Wir versuchen etwas anderes«, beschloss der Ma130 gier. »Schau mal da drüben.« Er deutete auf einen hohen Holzschrank mitten im Raum. Die Türen bestanden zur Hälfte aus Drahtgeflecht. Drinnen bewegte sich etwas, doch das Gitter war zu engmaschig, um erkennen zu lassen, was es war. Der Magier machte eine rasche Geste, und die Schranktüren flogen auf. »Welche ist echt?«, rief er. Drei Tauben flatterten heraus, eine schwarz, eine weiß und eine grau. Sie breiteten die Flügel aus und flogen los. Das Zimmer war klein, und die aufgeregten Vögel schienen überall zugleich zu sein. Sie beschrieben Kreise in der Luft, prallten gegen Möbel, pickten an den geschlossenen Fenstern und machten einen Höllenlärm. »Konzentriere dich, Kutch!«, rief der Magier, der den Lärm nicht zu bemerken schien. »Konzentriere dich, konzentriere dich!« Kutch bemühte sich, seine Aufklärerbegabung einzusetzen. Die hektischen Bewegungen, das Gurren der Vögel, die flatternden Flügel, all das brachte ihn durcheinander. Zettel flogen im Zimmer herum, ein Steintopf fiel aus einem Regal und zerbrach, und etwas Zähflüssiges und Hellgrünes breitete sich auf dem Boden aus. Eine Phiole mit einem funkelnden, lachsfarbenen Pulver fiel herunter und zerbrach direkt daneben. Keine der Substanzen hatte einen sonderlich angenehmen Geruch. Den Magier störte es nicht. »Du schaffst das!«, drängte er. »Hab nur Vertrauen zu deinem Meister.«
»Ihr seid aber nicht mein Meister«, antwortete Kutch bockig. Seine Stimme war in dem Lärm kaum zu hören. »Mein Meister ist tot.« Der Magier sah die feuchten Augen des Burschen und seufzte. Er schnippte mit den Fingern, und sofort 131 wurde es still. Die Tauben standen, mitten in der Bewegung erstarrt, in der Luft. Zwei von ihnen, die weiße und die schwarze, verloren ihre Konturen. Federn und Fleisch lösten sich zu goldenen Flocken auf. Die schimmernden Umrisse der Vögel blieben noch einen Augenblick sichtbar, dann verblassten sie. Noch ein Fingerschnippen, und die echte Taube, die graue, war befreit. Ihre Flügel schlugen wieder, und sie kehrte gehorsam in den Schrank zurück. Hinter ihr schloss sich die Tür. »Es tut mir Leid, Kutch«, sagte der Magier. »Ich ... einen Augenblick.« Er senkte den Kopf, und sofort lösten sich seine Gesichtszüge auf. Sie kamen in Bewegung, änderten und verformten sich. Seine Haut bekam eine breiige, nachgiebige Konsistenz und zerfloss wie heißes Kerzenwachs. Das Ebenbild von Kutchs früherem Meister verschwand, und ein neues Gesicht entstand an dessen Stelle. Jetzt saß ein anderer alter Mann auf dem Stuhl, ganz anders als derjenige, der noch wenige Sekunden vorher dort gesessen hatte. Auch er war Kutch bekannt, doch es war nicht mehr Grentor Domex. Phönix bewegte den Kopf, als wollte er seine Benommenheit abschütteln. »Vielleicht habe ich ihn nicht gut genug nachgeahmt«, überlegte er. »Immerhin habe ich deinen Meister schon einige Jahre nicht mehr gesehen, und ich musste mir vorstellen, wie er in der Zwischenzeit ...« »Nein, das war es nicht«, erklärte Kutch. »Wenn überhaupt, dann wart Ihr viel zu gut.« »Ich dachte, es könnte dir Sicherheit geben, wenn ich in der Gestalt deines Meisters auftrete.« 132 »Das dachte ich auch, aber es hat nur die Erinnerungen geweckt, und es waren keine guten. Erinnerungen an seinen Tod und daran, dass ...« »Ich verstehe. Verzeih mir.« »Aber ... ich war nicht nur aufgeregt, weil ich meinen Meister wieder gesehen habe.« »Nein?« »Warum lasst Ihr mich weiter das Aufklären üben, obwohl ich erst einmal Hilfe wegen dieser Visionen brauche, die ich hatte?« »Ich sehe es so, als müsste ich ein lahmes Pferd behandeln.« »Ich bin kein Pferd, und ich bin auch nicht lahm.« »Nein, aber das Pferd, das du reitest, könnte es sein.« »Das verstehe ich nicht.« »Du nimmst an, dass deine Visionen in irgendeiner Weise mit der Ausbildung zum Aufklärer zu tun haben.« »Ich kann mir kaum vorstellen, was es sonst sein sollte.« »Ich stimme dir zu, dass es nahe liegt. Wir müssen also das Pferd herumführen, um zu erkennen, wo das Problem liegt.« »Dann glaubt Ihr auch, dass es mit dem Aufklären zu tun hat?« »Ich versuche zunächst einmal, alles auszuschließen, was nicht in Frage kommt, Kutch.« »Habt Ihr denn schon einmal von Aufklärern gehört, die ähnliche Probleme hatten?« »Nein. Andererseits ist die Zahl der Aufklärer sehr klein, und ich kenne gewiss nicht alle. Es gibt aber keinen Grund zu der Annahme, dass das Aufklären in dieser Hinsicht gefährlich sein könnte.« 133 »In welcher Hinsicht?« »Nun, wir wissen im Augenblick noch nicht viel, aber es scheint, als neigten Aufklärer ein wenig mehr als andere dazu, in gewisse Fallen zu tappen.« »Welche denn?« »Übermäßiger Genuss von Alkohol, Drogenkonsum, unsoziales Verhalten, solche Dinge.« »Warum habt Ihr mir das nicht gleich gesagt?« »Teilweise, weil ich da noch nicht so viel wusste wie jetzt. Ich habe inzwischen Nachforschungen angestellt. Übrigens sind es nicht viele, die auf diese Weise scheitern. Ich vermute, es liegt nicht so sehr an der Fähigkeit selbst, sondern sie fallen wohl eher dem Druck zum Opfer, dem sie ausgesetzt sind, wenn sie ihre Fähigkeit ständig einsetzen müssen.« »Ihr sagtet >teilweise<.« »Der zweite Grund war der, dass ich dich für stark genug hielt, solchen Verlockungen zu widerstehen.« »Wie könnt Ihr da so sicher sein? Ich meine, wenn das Training nun irgendetwas ausgelöst hat? Wenn es eine Tür geöffnet hat, die jetzt nicht mehr geschlossen werden kann, oder ...« »Die Magie hat ihre Gefahren, das ist dir ja bekannt. Allerdings habe ich noch nie von irgendetwas gehört, das deinen Erlebnissen auch nur entfernt ähnlich wäre. Außerdem wollen wir nicht vergessen, dass dein Problem in mehr als einer Hinsicht einzigartig ist.« »Ihr meint, weil ich die gleichen Visionen habe wie Reeth?« »Ja. Von so etwas habe ich noch nie gehört. Es ist nicht so, als sprächen wir über irgendeine Art von magischer Illusion, die vorübergehend ihr Opfer verwirrt, nicht wahr?«
134 »Nein, es ist etwas anderes. Es ist, als beobachtete ich etwas Reales. Aber es sind Dinge, die auch Reeth schon seit langer Zeit immer wieder sieht.« »Siehst du alles, was er wahrnimmt?« »Nein, nur ... nur eine bestimmte Sache.« »Fahre fort«, bat Phönix ihn. »Du hast es mir bisher noch nicht richtig erklärt.« »Ich kann es auch nicht richtig erklären. Ich erhasche einen Blick von ... von einem anderen Ort. Besser kann ich es nicht beschreiben. Eine ganz eigenartige Landschaft, aber nichts, was ich jemals vorher gesehen oder gehört habe.« »Wie sieht sie aus?« »Schlimm. Sie ist immer in Bewegung, sie verändert sich unablässig. Als wäre das Land selbst ein Lebewesen, immer im Fluss. Und ich spüre eine schreckliche Bedrohung. Ein Gefühl, dass ich nicht dorthin gehöre.« Er schauderte. »Nein, dorthin gehöre ich gewiss nicht.« »Schon gut, Kutch. Was noch?« »Dort lebt etwas. Ein Wesen oder eine Menge von Wesen, ich weiß nicht. Bösartige, giftige Geschöpfe, die mich nur zu gern verletzen würden.« »Hast du so etwas schon einmal in deinen Träumen gesehen?« »Nein, ich sehe es nur, wenn ich wach bin. Es fing an, als ich das Aufklären übte. Dann kamen die Visionen auch, wenn ich nicht trainierte. Das hat mir Angst gemacht.« Er hatte die Augen niedergeschlagen. Jetzt hob er den Blick, und seine Augen waren weit vor Furcht. »Wisst Ihr, was mir am meisten Angst macht?« »Sag es mir.« »Dass ich es noch öfter sehen werde.« 135 »Wir müssen dafür sorgen, dass dies nicht geschieht.« »Wie denn?« Phönix antwortete nicht, sondern fragte weiter. »Und Caldason kennt diesen ... diesen Ort?« »Er sagt es jedenfalls. Aber er sieht viel mehr als ich. Es ist schwer zu sagen, was er wahrnimmt, weil er nicht gern darüber spricht.« Er zögerte, dann fuhr er unsicher fort. »Er hat mir aber gerade etwas erzählt, das er gesehen hat. Etwas Neues. Ich kann Euch doch vertrauen, Phönix, nicht wahr? Ich meine, wenn Reeth irgendwie dahinter kommt, dass ich darüber geredet habe ...« »Ich verspreche es dir.« Kutch holte tief Luft. »Er hat mir erzählt, dass er für den Tod seiner Mutter verantwortlich war.« »Hat er das in einer seiner Visionen gesehen?« »Ja. Oder er glaubt es jedenfalls. Ich war in der Nähe. Er hat im Schlaf gerufen und geschrien, davon bin ich aufgewacht. Wir haben darüber geredet.« »Und er sagte, er habe seine eigene Mutter getötet?« »Näher erklärt hat er es nicht, er sagte nur, es sei seine Schuld. Aber ich kann nicht verstehen, wie er dafür verantwortlich sein sollte.« »Noch einmal, um es völlig klarzustellen: Caldason hat also Visionen über sein früheres Leben. Diese Visionen teilst du nicht. Die anderen Visionen aber, die über jenen fremdartigen Ort, die teilst du.« »Ja. Außerdem scheinen sich Reeths Visionen weiterzuentwickeln. Aus irgendeinem Grund werden sie immer vielschichtiger.« »Und sie haben irgendwie mit den Tobsuchtsanfällen zu tun, die er manchmal bekommt.« »Er hat auch Visionen, ohne zu toben. Aber er hat 136 selten einen Anfall ohne Vision. Wenigstens sagt er das. Es ist alles so kompliziert, ich verstehe es nicht.« »Dies ist einer der Gründe dafür, dass er so gefährlich ist, Kutch.« »Ich weiß.« »Ich meine, er ist gefährlicher als jeder gewöhnliche Mann. Denk doch mal darüber nach. Stell dir vor, du hast unendlich viel Zeit, um zu vervollkommnen, was du dir vorgenommen hast. Deine magischen Studien beispielsweise. Auch ich selbst hatte das Glück, eine verlängerte Lebensspanne genießen zu dürfen, und es hat mir beim Verständnis der Zauberkunst sehr geholfen. Caldason ist ein hervorragender Kämpfer geworden, weil er so viele Jahre Zeit hatte, seine Fähigkeiten zu trainieren. Jahre, in denen weder sein Körper verfiel noch seine Kräfte nachließen. Ich schätze, dass er älter ist als ich, aber er ist immer noch stark wie ein Bergbüffel, der Ramp genommen hat. Ob aber seine geistigen Fähigkeiten ebenso sehr auf der Höhe geblieben sind ...« »Er ist kein schlechter Mann.« »Ich sage gewiss nicht, dass er es ist. Ich glaube, du hast Recht. Er hat die Impulse eines anständigen Mannes. Doch selbst die besten Menschen können manchmal böse Dinge tun, wenn sie unter einen mächtigen Einfluss geraten. Geld, Wollust, Stolz ... viele Dinge können einen Menschen verderben.« »Aber nicht Reeth.« »Mag sein. Ich verstehe allerdings, warum er eine solche Abscheu gegenüber der Magie empfindet. Vorausgesetzt jedenfalls, die Magie ist die Ursache seines Zustandes, wobei ich mir dessen nicht ganz sicher
bin.« 137 »Zweifelt Ihr denn daran?«, fragte Kutch überrascht. »In gewisser Weise schon. Kennst du denn irgendeine Art von Magie, die jemanden mehr oder weniger unsterblich macht?« »Die Magie der Gründer.« »Ich meine irgendeine Magie, zu der wir Zugang haben.« »Ihr habt Zugang dazu. Sie hat Euer Leben verlängert. Ihr habt es selbst gesagt.« »Ich hatte das Glück, einen winzigen Abschnitt aus der Lehre der Gründer studieren zu können. Eines von den sehr wenigen vorhandenen Fragmenten. Ich habe Jahrzehnte darüber gebrütet. Das Geschenk dieser Magie an mich ist, dass mein Leben verlängert wurde und dass ich Krankheiten gegenüber in gewisser Weise immun bin. Das sind wundervolle Dinge, aber mehr ist da nicht zu holen, da bin ich ganz sicher.« »Das beweist doch, was ich sage, oder? Wenn Ihr dies mit einem kleinen Bruchstück erreicht habt, was könnte dann jemand vollbringen, der mehr herausgefunden hat? Mit der Magie der Gründer ist alles möglich.« »Es gibt niemanden, dem so etwas gelungen ist. Ich hätte es längst erfahren, oder der Bund hätte es herausgefunden. Es gibt nur sehr wenige überlieferte Fragmente des Gründer-Wissens.« »Aber mal angenommen, jemand hat die Clepsydra schon gefunden und kennt die Quelle?« »Dann hätten wir mit Sicherheit davon gehört. Wer diese Macht auch hätte, und vorausgesetzt, er wüsste sie einzusetzen, würde die Welt regieren. Vergiss nicht, dass die Betreffenden, wenn sie den Fund früh genug gemacht hätten, um Caldason damit heimzusuchen, 138 inzwischen längst alle Geheimnisse aufgedeckt hätten.« »Nun, vielleicht stehen sie kurz davor. Vielleicht haben sie über Jahre hinweg kleine Bröckchen gefunden und jedes Stückchen, das sie entziffert haben, erst einmal ausprobiert. Und vielleicht war Reeth ...« »Nein. Der beste Schutz, den die Quelle hat, besteht darin, dass es praktisch niemandem möglich ist, ihre Geheimnisse aufzudecken. Abgesehen höchstens vom Bund, der seit Jahrhunderten praktisch nichts anderes studiert.« »Hoffentlich habt Ihr Recht, Phönix. Um Reeths willen, und wenn sonst schon nichts herauskommt. Er setzt große Hoffnung darauf, dass die Clepsydra gefunden wird.« »Das ist verständlich. Ich wünschte nur, ich hätte ihm nie davon erzählt.« »Ihr wisst, dass er sich weigert, das Gold an Darrok zu liefern?« Phönix nickte. »Ich kann es ihm nicht verdenken. Wie er schon sagte, er hat sich nicht verpflichtet, einen Krieg gegen Piraten zu führen.« »Ich glaube, er wird es sich noch einmal überlegen. Wenn nicht, gibt es noch andere in der Bewegung, die diesen Auftrag übernehmen können. Niemand ist unersetzlich, Kutch. Nicht einmal ein Mann mit so außergewöhnlichen Fähigkeiten wie Caldason.« »Ich weiß nicht, ob er es sich anders überlegen wird. Irgendwie ist er völlig unberechenbar. Außerdem machen sich alle Sorgen um Serrah.« »Auch sie ist eine Seele voller Kummer. Ihr Problem ist allerdings nicht die Magie, so viel ist sicher. Wir 139 könnten auf all diese Schwierigkeiten gut verzichten, zumal der Umzug so bald beginnen soll.« »Was kann ich tun?« »In Bezug auf Caldason und Serrah? Nicht viel, fürchte ich. Abgesehen davon, ihnen ohne Wenn und Aber deine Freundschaft zu schenken. Was im Grunde gar nicht so wenig ist, wenn ich es mir recht überlege.« »Und meine Visionen?« »Das ist ein Punkt, über den ich noch etwas nachdenken muss. In der Zwischenzeit solltest du die Übungen machen, die ich dir gezeigt habe. Meditiere, achte auf deinen Atem. Und deine Ausbildung zum Aufklärer wird vorläufig ausgesetzt. Oh, es gibt noch einige Texte, die du lesen könntest und die dir vielleicht nützlich sind. Ich gebe dir eine Liste.« Kutch machte ein langes Gesicht. »Noch mehr studieren?« »Die Kraft, die dir ein gutes Buch schenken kann, ist mit nichts zu vergleichen, mein hinge, glaube es mir.« »Es gibt nichts Schöneres als einen sauberen Blattschuss, um die Trübsal zu vertreiben, mein Junge, glaube es mir«, sagte Ivak Bastorran begeistert. Sein Neffe grunzte nur und legte einen Pfeil ein. Sie standen auf dem Balkon eines Gebäudes im Gelände der Paladine. Gegen die herbstliche Kälte dick eingepackt, saß Devlor Bastorran auf einem Stuhl, der einem Thron nicht unähnlich war. Sein bandagiertes Bein ruhte auf einem Hocker. Stuhl und Hocker waren mit Holzblöcken erhöht worden, damit er einen guten Blick über die niedrige Balkonbrüstung hatte. Er war mit einem Kurzbogen ausgerüstet, im Schoß lag 140 ein Köcher. Sein Onkel stand neben ihm, das Rückgrat bolzengerade und die Hände hinter dem Rücken verschränkt.
Mehrere Stockwerke unter ihnen erstreckten sich ordentlich getrimmte Rasenflächen, die in einiger Entfernung von einer Reihe großer Bäume begrenzt wurden. Direkt vor dem Gebäude gab es, von abschüssigen Hängen umschlossen, ein recht weitläufiges, natürliches, mit Gras bewachsenes Amphitheater. Auf dieses Gelände blickten die Bastorrans hinunter. Links von ihnen, fast außer Sicht, stand ein langer Holzbau, der an einen Stall erinnerte. Ivak gab mit erhobener Hand ein Zeichen, und ein unsichtbarer Lakai führte den Befehl aus. Bolzen wurden weggezogen, Scharniere quietschten, man hörte Peitschen knallen. Ein Rehkitz stolperte hervor. Es lief unbeholfen, die dürren, unsicheren Beinchen überkreuzten sich beinahe bei jedem Schritt. Es war braun mit weißen Flecken und hatte einen hellen Bauch. Auf der Stirn waren kleine Höcker zu sehen, wo einmal das Geweih sprießen sollte. Die Augen waren dunkel und sanft. Ein Pfeil schlug in den Hals des Kitzes. Das Tier brach zusammen. Es war so leicht, dass es zu federn schien, als es im weichen Gras landete. Die Beine zuckten und traten ins Leere, dann lag es still. »Zu leicht«, murmelte Devlor. Er griff nach dem nächsten Pfeil. Drei oder vier Kaninchen rannten ins Amphitheater. Eins traf er mitten in den Kopf, die Wucht des Einschlags warf es mehrere Schritte zurück. »Guter Schuss!«, rief sein Onkel. 141 Devlor kümmerte sich nicht um die anderen Kaninchen, denn nun erschien ein viel besseres Ziel: Ein schnaubender Keiler kam gerannt. Er hatte den Kopf gesenkt, hielt die Hauer dicht über der Erde und war wütend wie ein wilder Stier. Er rannte im Zickzack durch die grasbewachsene Senke und war so schnell, dass Devlors erster Pfeil harmlos über seinen Rücken hinwegflog und im Gras stecken blieb. Das Tier drehte sich um und starrte hinauf; der Atem stand als Dampfwolke vor den geblähten Nasenlöchern. Devlor legte rasch einen neuen Pfeil ein und schoss noch einmal. Der Pfeil durchbohrte die Stirn des Keilers, der quiekend zusammenbrach und zuckend liegen blieb. Sekunden später war alle Wut aus seinen Augen gewichen, und er gab auf. Der Todeskampf des Tiers kümmerte den jüngeren Bastorran schon nicht mehr. Er konzentrierte sich bereits auf einen Hirsch, der das Leichenfeld betrat. Es war ein voll ausgewachsenes Tier mit vor Stolz geschwellter Brust und edel gehobenem Kopf. Das leicht gelblich gefärbte Geweih bot einen prächtigen Anblick. Er roch das Blut, wurde nervös und wollte seinem Instinkt folgen und fliehen. So rannte er in Kreisen und warf den Kopf hin und her. Er spürte, dass er dem Tod geweiht war. Devlors Pfeil flog und bohrte sich in seine Flanke. Der Hirsch lief weiter und zog eine Blutspur durchs Gras. »Noch einmal, noch einen!«, drängte Ivak. Der Hirsch wandte sich zum Hang und stieg hinauf, doch oben auf dem Rand waren Männer postiert. Sie riefen und schwenkten Piken und scheuchten den Hirsch wieder hinunter. Stolpernd und fast schon 142 strauchelnd geriet er mehr und mehr in Panik. Er drehte sich um und wollte einen weiteren Ausbruch versuchen, doch in diesem Augenblick fuhr Devlors zweiter Pfeil in seine Flanke. Die Beine knickten ein, und er brach tot zusammen. »Gut gemacht, mein Junge!« Ivak schlug seinem Neffen erfreut auf die Schulter. Eine Berührung unter Männern, die sich sonst niemals berührten. Kalt lächelnd zog Devlor einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. Neue lebende Zielscheiben kamen heraus, von Peitschen gescheucht. Eine Gazelle. Zwei gescheckte Schweine. Ein schleichender Fuchs, drei Grasschlangen, ein Lama. Ein Büffel trottete hervor und sah sich um, ob er etwas angreifen könnte. Tiere, die in freier Natur Feinde gewesen wären, suchten sich zwischen erlegten Artgenossen einen Weg und fanden in ihrer Angst zusammen. Als Devlor sein nächstes Ziel wählte, ließ jemand ein diskretes Räuspern hören. Lahon Meakin trat vor, verneigte sich zuerst vor dem Onkel und dann, eine Spur weniger ehrerbietig, vor dem Neffen. »Ja?«, sagte Devlor. »Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber Ihr habt mich gebeten, Euch an den Termin mit der Waffengilde zu erinnern. Die Delegation ist soeben eingetroffen.« »Verdammt auch, ja. Das hatte ich vergessen. Ich bin in zehn Minuten da.« »Sehr wohl. Ich schicke jemanden, der Euch hilft.« Meakin dienerte erneut, drehte sich um und ging. Ivak Bastorran sah ihm verstimmt hinterher. »Mir will einfach nicht in den Kopf, warum du dir keinen vom rechten Blut als Adjutanten ausgesucht hast.« 143 »Ich habe es mit mehreren versucht. Clanmänner sind viel eher Kämpfer als Bürokraten. Keiner von ihnen war den Anforderungen gewachsen.« »Ich bin sicher, dass ich jemanden für dich ...« »Vielen Dank, Onkel, aber lieber nicht. Ich bin mit Meakin zufrieden. Er ist der beste Adjutant, den ich je hatte. Bisher habe ich nicht bereut, ihn aus dem Heer zu mir versetzt zu haben.« »Aus dem Heer? Ist er etwa ein Bhealfaner?« »Ja. Warum auch nicht? Sollte ich ihn wegen seiner Herkunft benachteiligen, obwohl wir nicht einmal einen
eigenen Staat haben?« »Er ist kein geborener Paladin. Außenseitern gewähren wir gewöhnlich keinen solchen vertrauten Umgang mit uns, das solltest du wissen.« »Es gibt natürlich Grenzen, die er genau kennt. Aber du kannst sicher sein, dass ich weiß, was ich tue, Onkel.« Ivak lächelte. »Es ist gut zu sehen, dass dein alter Kampfgeist wieder erwacht. Die Heilung verläuft gut, und du gewinnst deine Kräfte zurück. Das freut mich natürlich sehr, aber ...« »Aber?« »Aber ich mache mir Sorgen, dass du etwas Dummes tun könntest, um die Rechnung mit Caldason zu begleichen.« »Um die Rechnung zu begleichen? Ich sollte ihm umgehend eine Rechnung präsentieren, die sich gewaschen hat. Ihn auslöschen, beispielsweise. Nach den Verletzungen und Demütigungen, die er mir angetan hat, ganz zu schweigen vom Ehrverlust für die Clans ...« »Ich weiß, ich weiß. Ich teile deine Sehnsucht nach 144 Rache. Als er dich in diesem Zweikampf besiegt hat...« »Ich denke, Onkel«, erwiderte Devlor verstimmt, »dass es doch eher der umstürzende Wagen war, der mich daran hinderte, ihn zu erledigen. Außerdem hat er mich überrumpelt.« »Aber natürlich, und dafür muss er büßen. Teuer bezahlen soll er. Allerdings musst du berücksichtigen, dass wir, was unseren Umgang mit diesem Mann angeht, gewisse Regeln zu beachten haben.« »Nicht, dass du mir je erklärt oder es begründet hättest, warum wir sie beachten müssen.« »In diesem Stadium brauchst du nur zu wissen, dass es Regeln gibt, die wir nicht ändern können, und dass es für den Einfluss der Clans äußerst schädlich wäre, wenn sie gebrochen würden. Ich stelle mir nur ungern vor, dass du unsere Stellung bei höheren Mächten gefährdest, nur weil du vom Gedanken besessen bist, dich an diesem Qalochier zu rächen.« »Du kannst in dieser Hinsicht ruhig schlafen.« Er visierte den Büffel an und zog die Sehne straff. Der Pfeil, den er fliegen ließ, traf das Tier ins Auge und tötete es auf der Stelle. »Versprichst du es mir?« »Mach dir keine Sorgen. Ich verspreche dir, dass ich nichts tun werde, um Caldason zu schaden, Onkel.« 145 Wie lange wirst du da drin bleiben?« Kutch lächelte. »Du musst wirklich nicht mitkommen, Reeth. Ich komme schon allein damit klar.« »Ich weiß noch genau, was passiert ist, als du das letzte Mal allein warst.« »Das wirst du mir wohl noch ewig vorhalten, oder?« »Die Straßen sind nicht sicher. Wir bleiben besser zusammen.« Er blickte zu zwei Milizionären, die links und rechts neben der Straße standen und die Passanten beobachteten. »Du bist der Gesuchte«, erinnerte Kutch ihn. »Ich denke, dass die Gefahr für dich größer ist.« Caldasons Blick verriet, was er über derlei Gefahren dachte. Doch er hatte Zugeständnisse gemacht, seit er als Gesetzloser galt. Er trug jetzt ein graues Wams mit Kapuze, dessen Kragen immer hochgekrempelt war, und vorübergehend verzichtete er auch auf sein Erkennungszeichen, sein zweites Schwert. Kutch dagegen schirmte sich die Augen nicht mehr 147 mit der Binde ab, obwohl er sie griffbereit in der Tasche hatte. So wanderten sie im Zentrum Valdarrs durchs Gedränge. Sie mussten einige Straßen weit laufen, ehe sie ihr Ziel erreichten. Neben der Miliz und den regulären Soldaten waren überall Wächter zu sehen. Auch die auffällig rot gekleideten Clanmänner waren in großer Zahl unterwegs. »So viele Paladine habe ich noch nie gesehen«, meinte Kutch. »Eigentlich bedeutet das Wort so viel wie >Helden<«, erklärte Caldason ihm bitter. »Wusstest du das? Es sagt einiges über ihre Überheblichkeit aus, dass sie sich ausgerechnet diesen Namen gegeben haben.« »Vielleicht ist dies nicht der beste Augenblick, draußen auf der Straße herumzulaufen«, meinte Kutch, als er sah, in welcher Stimmung der Qalochier war. »Wir sind fast da. Es wäre sinnlos, jetzt noch umzukehren.« Etwas sanftmütiger fügte er hinzu: »Keine Sorge, es wird keinen Ärger geben.« Eine kleine Weile liefen sie schweigend weiter, dann fand Kutch den Mut, ein anderes Thema zur Sprache zu bringen. »Reeth?« »Hmm?« »Was du mir da erzählt hast...« »Was meinst du?« »Dass du verantwortlich warst für ...« »Für den Tod meiner Mutter?« »Ja.« Er war nicht sicher, wie Caldason reagieren würde, und tastete sich nur vorsichtig weiter. »Was ist damit?«
148 »Es war eine Vision, Reeth. Bist du sicher, dass es die Wahrheit war?« »Ich kann nicht beschwören, dass alles, was ich in meinen Visionen sehe, wirklich wahr ist. Aber ich könnte beschwören, dass es sich so anfühlt.« Er richtete den Blick auf den Jungen. »Du hast ja inzwischen auch selbst etwas Erfahrung mit Visionen. Kommen sie dir wirklich vor?« »Ja, sie kommen mir wirklich vor. Erinnerst du dich noch an unsere erste Begegnung im Haus meines Meisters? Du hast etwas gesagt, das ich nicht verstanden habe. Als dein Anfall begann, sagtest du, es sei eine Prise Realität.« »Habe ich das wirklich gesagt?« »Ja, und damals habe ich es nicht verstanden.« »Ich meinte damit wohl, dass dieser andere Ort, den ich sehe, manchmal so real zu sein scheint wie die Realität. Manchmal sogar ... manchmal sogar noch realer.« »Ich weiß, mir geht es genauso. Ich erkenne, wie echt das alles wirkt. Aber ... aber nehmen wir mal an, es sei irgendein sehr überzeugender Zauber oder ...« »Du klammerst dich an Strohhalme. Genau, wie ich es getan habe.« »Was sagst du da? Sagst du mir, dass es wirklich ist? Wenn das der Fall ist, warum hast du dann meinen Meister und all die anderen Magier aufgesucht? Du musst doch selbst geglaubt haben, es sei irgendeine Art von Zauber.« »Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, Kutch. Wie ich schon sagte: Auch ich habe mich an Strohhalme geklammert.« »Phönix meint, wir sollten nicht von vornherein ir149 gendwelche Möglichkeiten ausschließen, solange wir keine überzeugenden Beweise gefunden haben. Du hast keine Beweise dafür, dass die Visionen dir die Wahrheit zeigen.« »Ich hatte gehofft, dass sich dies mithilfe der Quelle ändern könnte - dass ich zwischen Wahrheit und Lügen unterscheiden und mich befreien kann.« »Warum wirfst du dann diese Gelegenheit weg?« »Was?« »Um die Quelle zu finden, musst du das Versteck der Clepsydra finden. Um dorthin zu kommen, brauchst du die Hilfe des Widerstands. Wenn du dich weigerst, das Gold bei Darrok abzuliefern, wollen sie dir vielleicht nicht mehr helfen.« Ein heißer, unbändiger Zorn blitzte in Caldasons Augen auf. »Hat Karr dich darauf angesetzt? Oder Disgleirio?« »Du solltest mich besser kennen, Reeth. Wirklich.« Der Qalochier schwieg einen Augenblick lang. »Ja, es tut mir Leid.« Dann verhärtete sich sein Gesicht wieder. »Ich denke mir inzwischen, zum Teufel mit dem Widerstand, ich gehe besser allein.« »Aber wie?« »Geld auftreiben und ein Schiff mieten vielleicht. Zur Not auch als Matrose anheuern.« Kutch hatte reichlich Einwände. »Und wohin genau willst du fahren? Hat Phönix dir den Weg vielleicht erklärt? Und wo findest du einen Kapitän, der bereit ist, tausend oder mehr kleine Inseln abzusuchen? Und wenn du die richtige Insel gefunden hast, was ist, wenn sie von etwas bewacht wird, das selbst für dich zu stark ist? Würde eine angeheuerte Mannschaft für dich kämpfen? Du bist es gewöhnt, die Dinge allein 150 zu regeln, Reeth. Das muss ich erst noch lernen. Aber man kann nicht alles allein tun.« Wenigstens kam keine scharfe Erwiderung. Caldason schien über die Worte des Burschen nachzudenken. Doch schließlich sagte er mit gepresster Stimme: »Du bist nicht allein.« Danach schwiegen sie wieder, und bald erreichten sie den Bezirk, den sie aufsuchen wollten. Es war eines der wohlhabenderen Viertel Valdarrs, in dem es vornehme Wohnhäuser und teure Geschäfte gab. Hier konnten sich die Händler durch Zauber verstärkte Firmenschilder leisten. Über einer Metzgerei fuhrwerkte ein dickes, beleuchtetes Schwein herum. Beim Stiefelmacher tappten Schuhe über einen unendlichen, unsichtbaren Weg. Ein Laden mit Musikinstrumenten warb mit einer übermütigen Flöte und einer Trommel. Der Bäcker hatte einen dampfenden Brotlaib, ein Waffenschmied zwei rote Schwertklingen, die gegeneinander fochten. Caldason hoffte, dass Kutch das Schild über einem Bordell ein Stück weiter unten auf der Straße nicht bemerkte. Der Bursche fasste seinen Arm. »Da ist es.« Er führte Caldason in eine Seitenstraße, die deutlich ärmer war als diejenige, auf der sie sich gerade noch befunden hatten. Auch hier gab es Läden, doch sie waren schlichter; viele brauchten dringend einen neuen Anstrich, und die Auslagen waren verstaubt. Auf halbem Weg in der Seitenstraße befand sich ein stark verfallenes Geschäft. Es hatte nichts vom gepflegten Äußeren seiner Nachbarn auf der Hauptstraße. Hier sah man nur noch abblätternde graue Bretter, wo vielleicht einmal ein Fenster gewesen war. Über dem 151 Eingang hing ein magisch verstärktes Schild, das ein offenes Buch mit umblätternden Seiten zeigte, doch es flackerte und spuckte und schien kurz vor dem Verlöschen. Die verblichenen Buchstaben über der Tür ergaben die Worte: »Fundgrube der Verseschmiede«.
Caldason zog die Augenbrauen hoch. »Na gut, es klingt ein bisschen anmaßend«, räumte Kutch ein. »Aber sie sollten haben, was ich brauche.« Er streckte die Hand zum Türgriff aus. Eine alte Dame schlurfte herbei. Sie war klein, hatte Warzen und einen krummen Rücken, und das silbergraue Haar quoll unter der alten, knittrigen Haube hervor. Ein altersschwacher Schal von undefinierbarer Farbe lag über ihren Schultern. Das beinahe bodenlange Kleid war konturlos, und sie trug abgewetzte Stiefel mit Knöpfen. Auch sie wollte offenbar den Buchladen aufsuchen. Kutch öffnete die Tür und setzte damit eine Klingel in Gang, die beinahe das Knarren des Holzes übertönte. Er ließ der Dame den Vortritt. Sie schob sich ungelenk vorbei und krächzte: »Danke, junger Mann.« Er lächelte und wollte ihr folgen, doch dann hielt er inne. »Stimmt etwas nicht?« »Ich weiß nicht. Es war ... Kennst du das, wenn die Leute sagen, sie seien einem Gespenst begegnet? So ungefähr. Es ist schon wieder vorbei.« »Alles wieder in Ordnung?« »Ja. Nun komm.« Er betrat den Laden. Caldason nahm seine Kapuze ab und folgte ihm. Wie nicht anders zu erwarten, sahen sie sich unzähligen Büchern gegenüber. Die Regale reichten an allen Wänden vom Boden bis zur Decke, und zwi152 sehen den großen Tischen blieben nur noch kleine Gänge frei. Jede freie Fläche war mit Büchern überladen. Dicke Bände mit rostigen Eisenscharnieren, dünne Bücher, aus vielen Folgen bestehende Buchreihen, eselsohrige Flugblätter. Hier und dort waren auch andere Farben zu sehen, doch die weitaus meisten Bücher hatten braune Einbände. Manche waren neu und glänzten, andere fielen buchstäblich auseinander. Bände mit vergoldeten Rücken standen neben solchen, deren Buchstaben unlesbar abgewetzt waren. Der Geruch, anscheinend zusammengesetzt aus verrottendem Papier, Schimmel und zerkrümelnden Einbänden, war überwältigend. Es war der Geruch alter Dinge. Die einzige Öffnung in den Regalen war eine Tür, die sich in einen weiteren, ebenfalls mit Büchern voll gestopften Raum öffnete. Daneben führte eine wacklige Treppe ins Obergeschoss. Die alte Frau war nirgends zu sehen. Der einzige Mensch weit und breit war der Inhaber, der hinter seiner unordentlichen Theke wie ein Geier auf einem Hocker saß. Er war spindeldürr, hatte ein schmales Gesicht, und sein Alter war nicht zu bestimmen. Das schwarze Kraushaar lief vorne in einer Tolle aus, und er hatte winzige, dunkle und forschende Augen. Auch wenn er nicht geneigt schien, es durch ein Lächeln zu beweisen, musste man annehmen, dass er schlechte Zähne hatte. Kutch zog ein gefaltetes Pergament aus der Tasche und ging zu ihm. »Ich wüsste gern, ob Ihr diese Bücher habt«, sagte er und wollte ihm die Liste geben. Der Buchhändler würdigte sie keines Blickes, ganz 153 zu schweigen davon, sie anzunehmen. »Was soll es denn sein?« »Bücher.« »Was für Bücher?« Sein halb sarkastischer und halb entnervter Tonfall verriet die gezwungene Langmut eines Mannes, der Tag für Tag mit Leuten zu tun hat, die er für schwachsinnig hält. »Oh, ja. Entschuldigung. Bücher über die Zauberkunst.« »Da hinten.« Er deutete zum hinteren Teil des Ladens. Kutch roch seinen schlechten Atem und wich zurück. »Äh, danke.« »Und geh mir vorsichtig mit den Büchern um, denn manche sind teuer.« Nachdem er den Kunden kurz abgefertigt hatte, steckte er wieder die Nase in das Buch, das offen auf der Theke lag. Caldason stand schon an der Treppe. Kutch ging zu ihm. »Was ich brauche, ist anscheinend da hinten.« Er deutete mit dem Daumen in die entsprechende Richtung. »Ich hab's gehört. Während du da hinten bist, sehe ich mich oben um.« Er deutete auf eine Kreidetafel an der Wand. Ein nach oben weisender Pfeil war darauf gemalt, und darunter stand: ACKERBAU ZIMMERHANDWERK KRÄUTERKUNDE GESCHICHTE KRIEGSKÜNSTE WAFFENKUNDE ZUTRITT BESCHRÄNKT AUF IEWEILS ZWEI KUNDEN Kutch konnte sich lebhaft vorstellen, für welche Themen Caldason sich besonders interessierte. »In Ordnung. Wir sehen uns dann, wenn du fertig bist.« »Vergiss nicht, dass wir uns hier mit Serrah treffen wollten.« »Ich werde aufpassen, ob sie kommt.« Damit entfernte er sich. Als Caldason den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte, hob der Buchhändler sofort den Kopf. Sein Gesichtsausdruck erinnerte an einen Falken, der ein Beutetier erspäht hat. »Vorsichtig auftreten da oben«,
knurrte er, ohne eine Erklärung abzugeben, warum dies nötig sei. Am oberen Ende der wackligen Treppe verstand Caldason die Warnung und die Beschränkung auf zwei Kunden. Der nicht gerade klein zu nennende Raum, in dem er nun stand, hatte einen unebenen Boden, und die Dielenbretter stöhnten unter jedem Schritt. Im Gegensatz zum unteren Raum gab es hier nur wenige Tische, auf denen Bücher hoch aufgestapelt waren. Die Wände dagegen waren ebenso voll gestellt wie unten. Der einzige Unterschied war, dass die Bücher hier mehr oder weniger willkürlich in eine Reihe schwerer Regale gestopft worden waren, deren Bretter sich unter dem enormen Gewicht stellenweise durchbogen. Als er den Raum durchquerte, krachten die Dielenbretter unter seinen Füßen. Das ganze Haus schien zu wackeln und zu schwanken. Der Raum hatte einen ebenfalls mit Regalen ausgestatteten Erker, in dem er die alte Frau sitzen sah. Sie beugte sich über ein Kräuterbuch, das sie auf einem Stuhl aufgeschlagen hatte. Caldason nickte ihr zu, und sie lächelte ihn mit rosigen Wangen an. 155 Er fand die Abteilung für Kampftechniken, überflog die Buchrücken und zog einen schweren Band heraus. Das Buch war magisch verstärkt. Als er die Seiten umblätterte, wurden die Illustrationen zum Leben erweckt. Gemalte Figuren kämpften mit Schwertern, Äxten und Stäben. Lanzen wurden angelegt, Krieger ritten auf Streitrössern in die Schlacht. Bei einem Bild, das eine Belagerung zeigte, hielt er etwas länger inne. Ein Rammbock donnerte gegen das Tor einer Burg, während die Verteidiger von den Mauern Pfeile herunterregnen ließen. Er hörte ein leises Geräusch. Eine Bewegung, ein Rascheln, eine kleine Unruhe. Dann mischte sich ein neuer Duft in den Geruch der verrottenden Bücher. Süß und schwer, mit einem Hauch Schwefel. Er schaute auf. Drunten hatte Kutch mehrere Bücher ausfindig gemacht, die er brauchte. Der Preis war höher als erwartet, und er bezweifelte, dass die Summe, die Phönix ihm gegeben hatte, für alle Bücher ausreichte. So hatte er begonnen, sie in notwendige und nicht ganz so wichtige aufzuteilen. Er hielt inne, ließ behutsam ein Buch aus seiner Hand gleiten und richtete sich auf. Er spürte, dass sich etwas zusammenbraute. Es war dem Gefühl nicht unähnlich, das er vor einer Vision hatte, und er fürchtete schon, eine zu bekommen. Mehrere atemlose Sekunden später wusste er, dass dies nicht zutraf. Es war etwas anderes. Er schaute auf. Caldason erkannte, dass die Geräusche aus dem Erker kamen. Vorsichtig schlich er hinüber. 156 Doch bevor er ihn erreichte, trat eine Gestalt heraus und hielt ihn auf. Es war keine alte Frau mehr, und es war nicht schwer zu erraten, dass eine Verwandlung stattgefunden hatte. Er schaute jemanden an, der weder männlich noch weiblich schien, obwohl die Gesichtszüge eher weiblich wirkten. Sie war drahtig, hatte ausgebildete Muskeln und eine flache Brust. Das Haar war sehr kurz gestutzt, und sie war erschreckend bleich. Die Augen waren hinreißend - riesengroß und schwarz wie Kohlenstücke starrten sie ihn unverwandt an. Insgesamt war der Anblick eher abstoßend, und seine erste Idee war, dass es sich um einen Zauber handeln müsse. Doch irgendein Instinkt sagte ihm, dass dem nicht so war. Er nahm an, dass sie auf irgendeine Weise magisch verstärkt war, doch sie war menschlich. Bevor er etwas sagen konnte, sprang sie zur Seite und ließ eine gespenstische Silhouette ihres Körpers an der Stelle zurück, an der sie gerade noch gestanden hatte. Der wabernde Umriss füllte sich rasch mit Licht und verfestigte sich. Dabei waren Knochen, Sehnen, Blut und schließlich auch Fleisch zu sehen. Jetzt stand ein Duplikat der Frau neben ihr, das auf den ersten Blick völlig identisch schien. Sie hätten Zwillinge sein können, und sie trugen sogar die gleiche Kleidung. Dann sah er, dass die zweite Gestalt ein wenig anders und eher männlich wirkte. Außerdem waren sie verbunden. Eine Art Spinnennetz, glänzend und feucht aussehend und zart wie das Mondlicht, verband sie von Kopf bis Fuß. Doch nur einen Herzschlag lang. Das Netz spannte sich und zerriss, und die beiden Hälften wurden in die Körper der Zwillinge aufgenommen. 157 Sie betrachteten ihn, als wäre er ein Pferd, das sie gleich stehlen wollten. Als die Frau das Wort ergriff, sprach sie nicht mit Caldason. »Was meinst du, Aphrim? Reicht einer, oder sollen wir beide?« »Hmm.« Er betrachtete den Qalochier. »Um sicherzugehen, würde ich sagen, lieber beide.« Die Stimme des Wesens verriet es dem scharfen Ohr. Sie klang ein wenig künstlich und zeigte, dass es sich um ein magisches Wesen handelte. »Um mich braucht ihr euch nicht zu kümmern«, sagte Caldason, der allmählich in Rage geriet. »Machen wir auch nicht«, antwortete derjenige, der Aphrim hieß. »Lass es uns erledigen, Aphri.« Die Frau nickte, und sie zogen die Schwerter. Auch Caldason zog sein Schwert blank und verfluchte die Tatsache, dass er nur eine Waffe hatte. Die Frau ging auf ihn los, und sie war schnell. Instinktiv wich er ihrem Hieb aus. Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, drehte sich rasch herum und schlug gleich noch einmal zu. Dieses Mal traf Stahl auf Stahl, und ein wütender Schlagabtausch begann. Sie war eine geschickte Fechterin und schwer festzunageln, und sie konterte
seine Schläge fehlerlos. Caldason war ebenso geschickt, wenn es darum ging, ihre Angriffe abzuwehren. Eine volle Minute tauschten sie Schläge aus und suchten eine Lücke in der Deckung des Gegners. Sie duckten sich und wichen aus, die Klingen klirrten, und jeder versuchte, den anderen zu verleiten, sich eine Blöße zu geben. Sie ließ einen wilden Überkopfschlag gegen ihn los, der ihm den Schädel spalten sollte. Caldason brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Sie konnte das 158 Schwert nicht mehr rechtzeitig aufhalten, und so knallte es auf einen Tisch und spaltete ein Buch. Als sie die Klinge zurückzog, hing das Buch noch daran. Geschickt schleuderte sie es ab, und das Buch flog durch den Raum. Caldason wusste die Ablenkung zu nutzen. Als sie sich wieder zu ihm umdrehte, sprang er vor, packte ihren Arm, zog ruckartig daran und schleuderte sie gegen die Wand. Sie stieß einen Schrei aus, als sie mit dem Rücken schwer gegen ein Bücherregal prallte. Das Regal schwankte bedrohlich, ein Dutzend Bände lösten sich und prasselten auf sie herunter. Die Hand schützend über den Kopf gelegt, brachte sie sich eilig in Sicherheit. »Aphrim!«, rief sie. Ihr Zwillingsbruder kam ihr zu Hilfe. Caldason wirbelte sofort zu ihm herum, doch er sah sich nicht der Klinge gegenüber, mit der er gerechnet hatte. Etwas Funkelndes und Heißes verfehlte seinen Kopf um Haaresbreite. Im unteren Stockwerk starrte Kutch zur Decke hoch. Er hörte dumpfes Knallen und Poltern, und der Staub rieselte durch die Bretter. »Was, zum Teufel, ist da los?«, rief der Buchhändler. Er sprang auf und warf den Stuhl um, dann starrte er Kutch böse an. »Was habt ihr beiden vor? Was soll das bedeuten?« Kutch konnte ihn nur anstarren. »Wir werden es schon herausfinden«, meinte der Buchhändler und wollte zur Treppe. Als der Lärm oben zunahm, zögerte er auf der ersten Treppenstufe. Dann ging er vorsichtig weiter. Der magische Zwillingsbruder ließ eine Kette über dem Kopf kreisen und wollte gerade wieder werfen. 159 Die Eisenkugel am Ende der Kette leuchtete kirschrot und hinterließ eine glühende Spur in der Luft. Ob die Hitze durch magische Kräfte erzeugt war oder nicht, sie fühlte sich jedenfalls sehr wirklichkeitsgetreu an. Die Kette wurde ausgelassen, und die brennende Kugel flog in Caldasons Richtung. Er sprang zur Seite und konnte dem glühenden Geschoss gerade noch ausweichen. Es traf ein Bücherregal und versengte die Buchrücken. Der beißende Geruch von brennendem Leder stach ihm in die Nase. Aphrim riss die Kette zurück und ließ sie gleich wieder kreisen. Ein wütender Kopf erschien am oberen Ende der Treppe. »Was, zum Teufel, ist hier los?«, kreischte der Buchhändler. Er kam ganz herauf und starrte sie an. Sein Gesicht war vor Empörung puterrot. »Ihr Banditen! Ihr macht mir mein Geschäft kaputt, ihr Philister! Hört auf damit, hört sofort auf damit, sonst hole ich die Garde!« Aphrim schleuderte die Feuerkugel mit einem Brüllen auf ihn. Sie kam ihm nahe genug, um seine Nase zu versengen, ohne ihn direkt zu treffen. Der Buchhändler fuhr erschrocken zurück. Eine Sekunde lang ruderte er noch auf der obersten Treppenstufe mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dann trug die Schwerkraft den Sieg davon. Er stieß einen schrillen Schrei aus, kippte nach hinten und verschwand. Sie hörten ihn über die Treppenstufen nach unten poltern. Aphri machte einen spitzen Mund und ermahnte ihren Zwillingsbruder mit erhobenem Finger. »Du darfst nicht so grob mit den Leuten spielen«, sagte sie. »Die gehen davon kaputt.« 160 Dann richteten sie die Aufmerksamkeit wieder auf Caldason. Kutch stand am Fuß der bebenden Treppe, über die der Buchhändler heruntergekugelt kam. Er stürzte wie ein betrunkener Akrobat, ein Durcheinander von fliegenden Gliedmaßen und verrutschten Kleidungsstücken, und blieb direkt vor Kutch liegen. »Seid Ihr verletzt?«, fragte Kutch und beugte sich über ihn. Der Buchhändler stöhnte. Unter Schmerzen setzte er sich auf und stieß die Hand weg, die Kutch hilfreich ausgestreckt hatte. Als er wieder klar sehen konnte, konzentrierte er sich auf den Jungen. »Ihr wollt mich ruinieren«, heulte er. »Aber ganz gewiss nicht. Ich meine ... es ist doch nur ein Missverständnis. Ich meine, wir können doch ...« Oben waren wieder laute Kampfgeräusche zu hören. Mit einer für einen Geistesarbeiter, der gerade die Treppe heruntergefallen war, durchaus überraschenden Geschwindigkeit sprang der Mann auf die Beine. »Dafür sollt ihr bezahlen!«, tobte er. »Warte nur, bis ich die Wache geholt habe!« »Nein, nicht!«, flehte Kutch. »Es ist doch nicht nötig ...« Aber der Buchhändler bewegte sich trotz des neuerdings humpelnden Ganges erstaunlich schnell und war schon halb zur Tür hinaus. Kutch hätte ihn beinahe verfolgt, doch dann besann er sich und kehrte zur Treppe zurück. »Reeth!«, rief er hinauf. »Dein kleiner Freund ruft dich«, spottete Aphri. Sie schlug nach Caldason, der den Hieb parierte. »Halte dich raus, Kutch«, rief Caldason. »Verschwinde!«
161 Jetzt kämpfte er gegen beide gleichzeitig. Die Frau versuchte es mit einem tiefen seitlichen Schlag, der auf seine Beine gezielt war. Caldason sprang darüber hinweg. Als er wieder landete, bog sich der Dielenboden durch und bebte heftig. Aphri musste sich zurückziehen, damit ihr Partner seine Kette mit der Kugel einsetzen konnte. Dieses Mal wich Caldason zur Seite aus, bis er parallel zur Kette stand. Er hob das Schwert, damit sich die Kette um die Klinge wickelte. Dann warf er mit einer Bewegung, als wollte er eine Giftschlange entfernen, die sich um einen Stock gewickelt hatte, die Kette in hohem Bogen weg. Kugel und Kette rutschten über die Klinge und fielen klappernd auf den Boden. Von ihrem magischen Herrn und der Energiequelle getrennt, lösten sie sich sofort in Funken auf und verglühten wie erkaltende Asche. Die Zwillinge waren darüber nicht erbaut. Sie griffen gemeinsam an und wollten Caldason überrennen. Er wehrte ihre Klingen ab, und ein heftiger Schwertkampf entbrannte, als er gegen beide gleichzeitig fechten musste. Seine Klinge zuckte von einem zum anderen, hin und her. Der scharfe und wilde Schwertkampf ließ keinen Raum für einen Irrtum. Eine falsche Bewegung, und es wäre um ihn geschehen. Es gelang ihm, die beiden auszumanövrieren. Er zog sich einige Schritte zurück und packte das Ende eines Bücherregals. Ein kräftiger Stoß, und es kippte. Dutzende Bände flogen von den Regalbrettern, als das schwere Möbelstück umstürzte. Es landete mit einem lauten Knall zwischen ihm und seinen Gegnern. Der Aufprall ließ den ganzen Boden erbeben. 162 Caldason hatte freilich nicht damit gerechnet, dass er einen Dominoeffekt auslösen würde. Auch die anderen Regale schwankten nun heftig hin und her und entluden ihre Bücher. Eine Sekunde später stürzten sie alle nacheinander um und krachten unter ohrenbetäubendem Lärm auf den Boden. Ein Brett hob sich direkt vor ihm aus dem Boden und ließ die rostigen Nägel zurück, die es gehalten hatten. Ein zweites folgte mit einer Bewegung, die an einen Katapultarm erinnerte. Aphri sprang über die Hindernisse, die sie von Caldason trennten, während Aphrim ihnen seitlich auswich. Sie gingen gemeinsam auf ihn los, und der Kampf entbrannte von neuem. Der Boden gab hässliche Geräusche von sich, das ganze Haus bebte. Dann machte die Welt einen verrückten Satz. In einer benachbarten Straße bahnten Serrah und Tanalvah sich einen Weg durch den dichten Fußgängerverkehr der Innenstadt. »Was ist denn da drüben los?«, sagte Tanalvah und deutete zur anderen Straßenseite. Ein dürrer, dunkelhaariger und ziemlich ramponierter Mann rannte schreiend und mit beiden Armen fuchtelnd die Straße hinunter. Serrah zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Verstehst du, was er ruft?« »Es geht um die Stadtwache, glaube ich. Oder um Sandalen oder Vandalen.« »So etwas sieht man in Großstädten öfter.« »Vielleicht ist er einer dieser armen verwirrten Menschen, die man manchmal auf der Straße mit sich selbst reden sieht.« 163 »Kann sein.« Sie gingen weiter. In der Ferne verklangen die Rufe des Mannes. »Du glaubst doch nicht...« »Was denn, Tan?« »Du glaubst doch nicht, dieser Mann könnte etwas mit Reeth und Kutch zu tun haben, oder?« »Warum sollte er mit ihnen zu tun haben? Was kann schon passieren, wenn sie einen Buchladen aufsuchen? Ah, da ist es ja.« Sie standen gerade vor dem Geschäft, als drinnen ein lautes Donnern zu hören war. Staubwolken wallten aus der offenen Tür. Caldason und die Zwillinge waren mitten im Kampf, als der Boden zusammenbrach. Er sackte weg wie das Deck eines blitzschnell sinkenden Schiffs. Balken, Mauerwerk, Putz und tausende Bücher stürzten zusammen mit drei hilflosen Gestalten durch die Decke zum Erdgeschoss hinunter. Mit lautem Krachen folgten die Tische und die ungesicherten Bücherregale. Ein Schneesturm von unzähligen flatternden Blättern folgte herab, danach kam der Dreck von Jahrhunderten herunter, der sich als Garnierung über das Chaos legte. Dann herrschte die Ruhe nach dem Sturm, nur hier und dort fiel noch ein einzelnes Buch verspätet herunter. »Aaah! Mach das noch einmal, mach es noch einmal!« Aphri, immer noch auf den Füßen, grinste breit und freute sich wie ein Kind auf der Achterbahn. Ihr magischer Zwillingsbruder war ganz in der Nähe. Er saß scheinbar unbeteiligt mit untergeschla164 genen Beinen auf einem Bücherstapel und schaute harmlos drein. Der halb unterm Schutt begrabene Caldason hob den Kopf und stellte fest, dass er sein Schwert nicht losgelassen hatte. Er befreite sich von den Trümmern und richtete sich auf.
»Lebst du denn immer noch?«, schnaubte Aphrim empört. »Das müssen wir ändern, mein Lieber«, sagte Aphri. Wieder gingen sie auf den Qalochier los. »He!« Alle Köpfe fuhren herum. Serrah und Tanalvah kletterten über den Schutt zu ihnen, Serrah hatte bereits das Schwert gezogen. »Die Spielstunde ist vorbei«, meinte Aphri. »Komm.« Sie winkte Aphrim. Er rannte zu ihr und sogar in sie hinein und verschmolz augenblicklich mit ihr. Aphri zuckte ein wenig, als sie ihren Zwillingsbruder in sich aufnahm. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür. Tanalvah wich ihr aus; sie war entsetzt über das, was sie gerade gesehen hatte. Serrah wollte die Verfolgung aufnehmen. »Lass sie laufen«, rief Caldason, während er seine Klinge wieder in die Scheide steckte. »Wahrscheinlich sieht sie jetzt schon wieder ganz anders aus.« »Was ist passiert?«, fragte Tanalvah. »Und was, zur Hölle, war das?«, wollte Serrah wissen. Caldason ignorierte beide Fragen. »Kutch?«, brüllte er. »Kutch?« »Hier«, antwortete eine gedämpfte Stimme. Die Stimme kam unter der Treppe hervor, die den 165 Zusammenbruch mit knapper Not überstanden hatte. Sie machten sich daran, die Trümmer wegzuräumen, und fanden den Jungen unter den schützenden Treppenstufen. Reeth und Serrah fassten ihn an den Armen und zogen ihn heraus. »Bist du verletzt?«, fragte Tanalvah besorgt. »Ich glaube nicht.« Er schien eher aufgeregt als verängstigt, als er sich den Staub abklopfte. »Ich konnte sie beobachten, als ich da unten lag. Es war eine Verschmolzene, Reeth! So etwas habe ich noch nie gesehen. Die sind wirklich selten.« »Und die Frau hat eine magische Maske getragen und so getan, als wäre sie alt«, sagte Caldason. »Das ist beides nicht billig«, meinte Serrah. »Ganz und gar nicht.« »Und sie ... sie hatte es auf dich abgesehen?«, fragte Tanalvah. »Ja.« »Es kommt mir so vor, als hätte sich eine neue Komplikation in deinem Leben aufgetan, Reeth«, meinte Serrah. »Das kann ich wirklich gut gebrauchen.« Sie sah das Blut an seinem Ärmel. »Du bist verletzt.« Er hatte es noch nicht bemerkt und sah kaum hin. »Das ist nicht wichtig. Du weißt ja, wie schnell Wunden bei mir verheilen.« »Macht es das weniger schmerzhaft?« Serrah fasste den Stoff und riss ihn auseinander. Er hatte einen hässlichen Schnitt auf der Außenseite des Arms. Sie riss ein Stück von ihrem eigenen, sauberen Hemdsärmel ab und verband seine Wunde. Ihre Bewegungen hatten beinahe etwas Zärtliches. 166 »Ich störe euch ja wirklich nicht gern«, sagte Tanalvah, »aber ...« »Ja«, stimmte Caldason zu. »Wir müssen hier verschwinden.« Er fing Serrahs Blick auf und fügte leise hinzu: »Danke.« Sie gingen zur Tür. Kutch zögerte und betrachtete das Durcheinander. »Nun trödele nicht«, schalt Serrah ihn. »Aber ich habe noch gar kein Buch gekauft«, brummte er und folgte ihr zögernd. 167 Eine Symbiontin?« »Sch-scht! Ich wollte nicht, dass die Kinder etwas davon hören, Kinsel, damit sie keine Albträume bekommen.« »Entschuldige«, antwortete Rukanis leise. Er sah zur halb offenen Schlafzimmertür auf der anderen Seite des Flurs. »Das ist einer der Nachteile, wenn man Sänger ist. Ich spreche immer, als stünde ich vor meinem Publikum.« Sie lächelte. »Du Dummkopf.« »Wie auch immer, ich bin sicher, Teg und Lirrin halten viel mehr aus, als du glaubst, Tan.« »Kann sein. Aber nach allem, was sie durchgemacht haben, finde ich, dass sie etwas Erholung von der Grausamkeit der Welt brauchen.« »Unbedingt. Wir haben allerdings über das gesprochen, was du heute durchgemacht hast.« »Ach, ich war ja eigentlich gar nicht beteiligt. Wir sind angekommen, als alles schon vorbei war. Abgesehen davon, dass ich gesehen habe, wie ...« 169 »Ich glaube, man nennt sie meist Verschmolzene.« »Ja, aber zum Glück gibt es nur sehr wenige von ihnen.«
»Ich dachte immer, das wären nur Märchen.« »Diejenige, die ich gesehen habe, war völlig real.« Kinsel kostete seinen Wein. »Der arme Reeth. Er scheint den Ärger anzuziehen, wohin er auch geht.« Im Schein der magischen Leuchtkugeln sah man, wie Tanalvahs Gesicht sich verhärtete. »Bei Leuten von seiner Art ist das immer so.« »Leute von seiner Art? Gehörst du nicht auch zu ... zu seiner Art?« »Nein. Ich habe nicht darauf angespielt, dass wir dem gleichen Volk angehören.« »Oh.« »Schau mich nicht so an, Kinsel.« »Irgendwie sieht dir das überhaupt nicht ähnlich. Normalerweise bist du allen Menschen gegenüber sehr nachsichtig. Das ist einer der Gründe, warum ich dich liebe.« Er drückte ihre Hand. »Aber wenn es um Reeth geht, ist dein Blick anscheinend von Vorurteilen getrübt.« »Ich würde es genau anders herum ausdrücken. Ich sehe sehr genau, wozu er fähig ist.« Sie seufzte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Also gut. Vielleicht bin ich ungerecht. Aber ich fühle mich einfach unwohl, sobald er irgendwo auftaucht, und wenn ich ehrlich bin, habe ich auch ein wenig Angst.« »Ich glaube, du schätzt ihn falsch ein. Gerade du müsstest doch verstehen können, warum er immer so kämpferisch ist. Eure Geburt verbindet euch schließlich in dieser Hinsicht.« 170 »Ich mag von den Qalochiern abstammen wie er, doch ich wurde nicht im selben Geist erzogen.« »Aber nur, weil die Umstände es verhindert haben.« »Glaubst du, früher oder später kommt unser Blut so oder so zum Vorschein?« »Ich wollte nur sagen, dass die Qalochier seit Jahrhunderten als Kriegervolk bekannt sind. Dieses Vermächtnis prägt euch beide.« »Ich hätte nicht gedacht, dass so ein Vermächtnis einen Pazifisten wie dich anzieht, mein Lieber.« »Es ist nur eine Beobachtung. Ich sage ja nicht, dass es gut oder schlecht ist.« »Es geht nicht um Reeths Erbe oder um meines. Ich denke ... ein Mann wie er, ein Einzelgänger, kann für andere Menschen alles zerstören.« Sie sprach jetzt mit größerem Nachdruck. »Ich will nicht, dass uns so etwas zustößt, Kin. Niemals. Egal, was ich dafür tun muss, ich will es verhindern.« »Er wird gewiss nicht unser Leben zerstören«, versprach er ihr. »Vielleicht habe ich doch noch eine Spur der qalochischen Kriegermentalität in mir«, gestand sie lächelnd. »Uns wird schon nichts passieren. Auch Teg oder Lirrin nicht.« »Du bist immer so leidenschaftlich, wenn du über die Kinder sprichst, Liebster.« »Wirklich?« »Ja, und sei deshalb nicht verlegen. Ich freue mich, dass dir ihr Wohlergehen so am Herzen liegt.« Sie hielt inne und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen, dann tastete sie sich behutsam weiter. »Es hat mit deiner eigenen Kindheit zu tun, nicht wahr?« 171 Er nickte. »Du redest nie darüber. Du weißt alles über mich und meine Vergangenheit...« »Ich weiß, wie schrecklich sie war.« »Ich habe mich damit abgefunden. Das ist alles weit weg, so als wäre es das Schicksal eines anderen Menschen.« »Es ist nicht so, dass ich dir etwas verheimlichen will.« »Ich verstehe schon. Aber vergiss nicht, dass deine Vergangenheit genau wie meine tatsächlich vorbei ist. Du musst mir auch nichts darüber erzählen, wenn du es nicht willst.« »Aber ich will es dir erzählen. Wir sollten keine Geheimnisse voreinander haben.« Sie beschloss, ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen. »Du hast gesagt, dass du in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen bist...« »Ja. Oder besser, so hat es sich entwickelt.« »Was ist denn passiert?« Zuerst dachte sie, er werde überhaupt nicht mehr antworten. Doch dann, zögernd zuerst, sprach er weiter. »Damals in Gath Tampoor war mein Vater im öffentlichen Dienst, er war Beamter. Ein kleiner Beamter nur, aber er hat sich sein ganzes Leben bemüht, etwas aus sich zu machen, sich weiterzubilden und für uns, für seine Familie, etwas zu erreichen. Verglichen mit vielen anderen, war unser Leben also gar nicht so schlecht.« »Aber dann ist etwas geschehen, und alles hat sich verändert?« Er nickte und trank noch einen Schluck. »Als ich sieben oder acht Jahre alt war, bekam mein Vater eine Be172 förderung. Es war nur ein kleiner Schritt, er war auf einer sehr langen Leiter eine kleine Stufe aufgestiegen. Aber er war sehr stolz. Kurz danach wandte sich jemand an ihn und erzählte ihm eine Geschichte. Die Einzelheiten sind nicht wichtig, aber jedenfalls reichte es aus, um meinen Vater zu überzeugen, diesem Mann gewisse Dokumente zu zeigen, die ihm anvertraut waren. Er tat es, weil er glaubte, er könne jemandem helfen, dem ein Unrecht widerfahren war.« »Aber das war eine Lüge.«
»Ja. Es stellte sich heraus, dass der Bittsteller kein Opfer, sondern eher ein Täter war. Er war ein Agent vom RIS und behauptete, mein Vater habe sich bestechen lassen. Doch er hatte nichts angenommen. Der schlimmste Vorwurf, den man ihm machen kann, ist, dass er leichtgläubig war.« Er hatte Tanalvah gegenüber noch nie so freimütig über seine Vergangenheit gesprochen. Sie sah den Schmerz in seinen Augen. »Was haben sie mit deinem Vater gemacht?«, fragte sie. »Sie haben an ihm ein Exempel statuiert. Zuerst wurde er zum Arbeiten aufs Land geschickt. Im Grunde war es Sklavenarbeit. Dann begann einer ihrer Kriege, und er wurde eingezogen. Wir haben ihn nie wieder gesehen. Damals wurden die ersten Samen meines Pazifismus gelegt.« »Mein armer Kinsel.« »Es hat meine Mutter umgebracht. Nun, sie war sowieso schon halb tot, weil sie versucht hatte, uns beide zu unterstützen, und vollkommen überarbeitet war. Ganz zu schweigen von der Schande.« »Was ist aus dir geworden?« »Ich kam in die Obhut des Staates, was eine be173 schönigende Art ist zu sagen, dass ich als Waisenkind in einem Armenhaus gelandet bin. Es war ... schlimm. Sie haben mich hinausgeworfen, als ich vierzehn war. Sie haben mich buchstäblich auf die Straße gesetzt. Wenn ich nicht hätte singen können und wenn ich nicht ein paar mildtätige Menschen getroffen hätte, dann ... nun, ich weiß nicht, was dann aus mir geworden wäre.« »Ich kann verstehen, wie du dich nach diesen Erlebnissen dem Widerstand zugewendet hast.« »Von diesem Tag an habe ich große Angst vor Versklavung und vor jeder Art von Vorherrschaft eines Menschen über einen anderen, und das gilt in noch stärkerem Maße für den Staat. Für jeden Staat. Und ich habe Angst vor Armut. Das betrifft nicht nur mich selbst, sondern alle Menschen. Ich kann nicht erkennen, dass eines der beiden Reiche für die Mehrheit der Menschen die Dinge zum Besseren wenden würde. Ganz im Gegenteil. Deshalb setze ich so große Hoffnungen in den neuen Staat. Für uns und vor allem für die Kinder.« »Danke, Kinsel.« »Wofür, meine Liebe?« »Dafür, dass du es mir erzählt hast. Dass du dich mir anvertraut hast. Ich weiß, dass es dir nicht leicht gefallen ist.« »Vielleicht habe ich einfach noch eine Spur dieser alten Scham in meinem Blut. So ähnlich wie deine Gefühle, wenn es um dein Kriegervolk geht.« »Es gibt keinen Grund, sich zu schämen. Du hast nichts Falsches getan.« »Es zu wissen und es zu fühlen sind manchmal ganz verschiedene Dinge.« 174 »Du weißt jedenfalls, dass du über alles mit mir reden kannst.« »Ich weiß. Das ist eine der vielen Segnungen, die du mir geschenkt hast.« Tanalvah streckte sich. »Es wird spät. Morgen ist ein großer Tag.« »Ah ja, das Konzert.« »Nervös?« »Ein wenig. Ich bin immer nervös. Ich mache mir eben Sorgen, dass etwas schief gehen könnte.« »Warum sollte etwas schief gehen? Die Götter sind meine Zeugen, dass du lange genug geprobt hast. Du wirst ein wundervolles Konzert geben, und obendrein tust du etwas für die Armen.« »Ich will sie einfach nicht enttäuschen.« »Du wirst sie auch nicht enttäuschen. Du wirst alles geben, was du hast, Kinsel. Wie du es immer tust.« Sie schob ihre Hand in seine. »Und jetzt lass uns etwas Ruhe finden, ja?« Nicht weit entfernt, auf dem Gelände der Paladine, war »Ruhe« ein Begriff, den man keinesfalls auf Devlor Bastorrans Gemütslage hätte anwenden können. Er hatte sich in seine privaten Gemächer zurückgezogen. Sein verletztes Bein lag auf einem gepolsterten Hocker, und er war mitten in einem längeren Wortschwall. Das Ziel seines Zorns wirkte dabei durchaus gleichgültig und hatte einen Arm lässig auf den kostbaren Marmor des Kamins gelegt. »... ganz zu schweigen von einer inkompetenten, idiotischen, verantwortungslosen, nutzlosen kleinen ... Missgeburt.« »Fertig?«, sagte Aphri Kordenza. 175 »Unverschämtes Miststück.« »Ja. Und was wollt Ihr nun damit sagen?« »War es nicht deutlich genug? Ihr habt versagt. Ich habe Euch einen einfachen Auftrag gegeben, und Ihr habt es vermasselt.« »Ganz so einfach war es nicht, wenn man bedenkt, auf wen wir angesetzt waren. Wie auch immer, es gab unvorhersehbare Komplikationen, die dazu führten, dass Caldason uns entwischen konnte.« »Ach, hört doch auf.« »Etwas Ähnliches ist auch Euch passiert. Jedenfalls habt Ihr dies angedeutet. Er habe Euch überrumpelt, so habt Ihr es ausgedrückt.«
»Schon gut, schon gut. Ich gebe zu, dass der Qalochier für jemanden von Eurem Kaliber ein schwieriges Ziel ist.« »Nun, Ihr habt uns ausgesucht.« »Ich hatte angenommen, Ihr würdet Eurem Ruf gerecht werden. Auch in dieser Hinsicht war ich ein Narr.« »Ihr Militärs habt doch eine Redensart, dass die Zeit, die man mit Aufklärung verbringt, nie vergebens ist. Wir haben beim Angriff auf Caldason eine Menge über sein Verhalten gelernt. Wenn wir ihn das nächste Mal treffen ...« »Dann wird er noch wachsamer sein. Nein, Ihr sollt ihn nicht noch einmal angreifen, solange die Umstände nicht sehr zu Euren Gunsten sprechen.« »Augenblick mal. Dies ist inzwischen eine persönliche Angelegenheit für uns. Wir können ihn nicht damit davonkommen lassen, dass er uns ausmanövriert hat. Es ist eine Frage der Ehre.« »Ich dachte, die Ehre sei etwas, das Ihr schon vor 176 Jahren aufgegeben habt. Vergesst Eure persönlichen Gefühle.« »Genau wie Ihr?« »Meine eigenen Gefühle haben mit dieser Sache nichts zu tun.« »Wirklich nicht?« Sie deutete auf seinen Verband. »Wie geht es eigentlich Eurem Bein?« »Ihr vergesst Euch«, erwiderte er kalt. »Macht weiter so mit Euren Unverschämtheiten, und der nächste Auftrag geht an jemand anderen.« »Der nächste erst? Ich dachte, wir hätten Euch schon beim ersten enttäuscht.« »Das habt Ihr auch. Aber ich bin bereit, Euch eine zweite Chance zu geben. Befolgt dieses Mal meine Anweisungen peinlich genau, wenn Ihr Euch bewähren wollt. Ganz zu schweigen davon, dass Ihr Euch sogar noch eine größere Belohnung verdienen könnt.« »Wie denn?« »Ich sehe einen Weg, wie man einen ganzen Vogelschwarm mit einem einzigen, gut gezielten Wurf vom Himmel holen kann.« »Wie bitte?« »Überlasst das Denken nur mir, Kordenza. Wir wollen einfach sagen, dass ich einen noch größeren Auftrag für Euch habe, wenn Ihr den Mut habt, ihn zu übernehmen.« »Ein größeres Ziel?« »Ja. Aber leichter zu treffen und erheblich lukrativer für Euch.« »Ihr wisst genau, wie Ihr ein Mädchen verführen könnt, General.« »Dann setzt Euch und hört zu, ich will es Euch erklären.« 177 Bastorran entwickelte seinen Plan, und sie redeten, bis das Feuer im Kamin bis auf die Glut heruntergebrannt war. »Es liegt eine gewisse poetische Gerechtigkeit darin«, räumte Aphri ein, »und ich ziehe meinen Hut vor Eurer Dreistigkeit. Aber das Risiko ...« »Es wird auf ein Minimum beschränkt bleiben, was die Tat selbst betrifft. Dafür werde ich sorgen. Vergesst nicht, dass Ihr unter meinem Schutz steht, und außerdem wird Euch meine ewige Dankbarkeit gewiss sein.« »Und Euer Geld.« »Auch das.« »Bereitet es Euch keine Sorgen, dass Ihr mir so viel erzählt habt? Ich meine, Ihr habt Euer Schicksal in meine Hände gelegt.« »Nehmt es als Zeichen dafür, wie sehr ich Euch vertraue. Andererseits, wenn Ihr auch nur ein Wort darüber verlauten lasst oder wenn Ihr mich auf irgendeine Weise betrügen wollt, dann werde ich nicht nur alles abstreiten, sondern Euch auch töten lassen. Euch beide. Und es wird kein angenehmer Tod werden.« »Verschwiegenheit ist in unserer Branche lebenswichtig, General.« »Dann haltet Euch daran. Nun, was meint Ihr?« »Es klingt gut. Ich muss natürlich mit Aphrim darüber reden.« »Ach, ja?« »Ja. Wir sind Partner.« »Äh, wo ist er denn eigentlich?« Sie deutete mit dem Daumen auf ihre Brust und antwortete mit gedämpfter Stimme: »Er schmollt. Er hat heute seine Lieblingswaffe verloren und muss sich 178 eine neue bauen.« Noch leiser fügte sie hinzu: »Es ist jetzt kein guter Augenblick.« Er starrte sie an. »Ich verstehe. Aber Ihr werdet es bald mit ihm besprechen?« »So bald wie möglich.« Es klopfte. »Herein«, bellte der Paladin. Lahon Meakin trat ein, begrüßte seinen Herrn mit einem respektvollen Nicken und quittierte die Gegenwart der
Verschmolzenen mit einem entsetzten Blick. »Die Lagebesprechung, Sir. Aber wenn es Euch jetzt nicht passt...« »Es passt hervorragend. Kordenza wollte sowieso gerade gehen.« Sie stand auf. »Ich melde mich.« »Ich freue mich schon darauf. Unten wartet eine Eskorte, die Euch zum Ausgang begleiten wird. Meakin, die Tür.« Der Adjutant öffnete ihr die Tür. Sie ging hinaus, ohne seine Gegenwart auf irgendeine Weise zur Kenntnis zu nehmen. »Setz dich, Meakin.« »Danke, Sir.« Er entschied sich für den schlichtesten Stuhl und legte den Stapel Notizen auf seinen Beinen ab. »Morgen ist ein wichtiger Tag, Meakin. Erinnere mich, warum dies so ist.« »Nun, Sir, um Mitternacht tritt das >Zehn zu Eins< Gesetz in Kraft.« »Das wird auch Zeit. Zehn Gefangene hinrichten für jeden Paladin, der getötet wird, das wird den Pöbel schon lehren, sich zu benehmen. Was gibt es sonst noch?« 179 »Ein persönlicher Hinweis, Sir. Es wird Zeit, dass diese Bandage entfernt wird.« »Ja, den Göttern sei Dank. Endlich kann ich mich wieder bewegen und höchstpersönlich in ein paar Hinterteile treten. Aber es ist nicht ausschließlich persönlich, Meakin. Was mir zustößt, das hat seine Auswirkungen auf die Clans. Man kann das eine nicht vom anderen trennen, vergiss das nicht.« »Selbstverständlich, Sir.« »Und der letzte Punkt?« »Noch ein Punkt? Ahm.« Er blätterte in seinen Notizen. »Ich glaube, ich habe hier kein ...« »Nein, du hast nichts dazu. Weil du bisher nur das erfahren hast, was du unbedingt wissen musstest. Ich erzähle dir jetzt mehr, und ich erwarte, dass du trotz der späten Stunde alle notwendigen Vorkehrungen triffst.« »Ja, Sir. Und worauf genau soll ich mich vorbereiten, Sir?« »Ich habe beschlossen, auf gewisse Informationen zu reagieren, die mir aus den Kreisen der Dissidenten zu Ohren gekommen sind.« Er lächelte wie eine Katze, die den Sahnetopf entdeckt hat. »Wir werden dem Widerstand einen Schlag versetzen, Meakin. Einen Schlag, den er so schnell nicht wieder vergessen wird.« 180 Es war ein wundervoller Herbsttag. Eine Hand voll Schäfchenwolken zog über den ansonsten makellos blauen Himmel. Die kristallklare Luft war kalt. Die Bäume warfen allmählich die roten und braunen Blätter ab. Das Konzert sollte im größten Park der Stadt stattfinden, die Bühne war zwischen zwei großen Statuen halb mythischer Helden von Gath Tampoor errichtet worden. Eine Statue war ein Reiterstandbild. Es zeigte einen Helden mit einer Lanze, der ein Furcht erregendes Untier mit vielen Tentakeln erlegte. Die zweite war das Abbild eines Kriegers, der breitbeinig auf einem Berg von Leichen stand und triumphierend das Schwert gehoben hatte. Beide waren erst vor kurzem aus Bronze gegossen und aufgestellt worden. Nur der Vogelkot besudelte ihren Glanz. Vor der Bühne war ein großer Bereich mit Seilen abgeteilt worden. Sitze gab es keine. Die in die tausende gehenden Zuschauer sollten sich mit Gras und kalter Erde begnügen. Den meisten machte es nichts aus. Es 181 war ein dankbares Publikum, das sich danach sehnte, eine Weile das alltägliche Ringen zu vergessen. Nur wenige waren überschwänglich, doch allgemein herrschte freudige Erwartung. Fliegende Händler drängten sich durch die Menge und verkauften Speisen und Getränke. Liedermacher und Gaukler traten auf, Straßenmagier boten kleine magische Zerstreuungen feil. Uniformierte Gesetzeshüter drehten ihre Runden, und die weniger auffällig gekleideten Schnüffler lauschten auf abweichlerische Reden. Am Himmel schwebten Spionzauber. Ein Teil des Publikums hatte es hinter Sperren und auf einer überdachten Tribüne erheblich besser als die anderen. Das Konzert war zwar für die Armen gedacht, doch viele von Valdarrs Würdenträgern waren zugegen. Hochrangige Beamte, Militärführer, Grundbesitzer, Gildenvertreter, Gesandte und magische Bruderschaften hatten in feinem Putz neben Bürgern des Reichs ihren Platz gefunden - gut versorgt, gefeiert und abgeschirmt vom gemeinen Volk. Hinten auf der Bühne stand eine breite Markise, unter der ein reges Treiben herrschte. Musiker und Bühnenbildner drängten sich neben Geräuschmagiern und Chormitgliedern. Letztere zählten mehr als zwanzig, allesamt sehr jung und in gleichartige weiße Chorhemden gekleidet. Kinsel Rukanis stand natürlich im Mittelpunkt. Tanalvah, Lirrin und Teg drängten sich um ihn, die Kinder waren aufgeregt und eingeschüchtert zugleich. >Also gut, ihr zwei«, erklärte Tanalvah ihnen, »es ist fast Zeit, und Kinsel muss gleich auftreten. Verabschiedet euch von ihm.« Sie kamen eilig herbei, ließen sich hochheben und umarmen und lieferten feuchte 182 Küsse ab. Sie deutete auf Kutch, der mit Quinn Disgleirio etwas abseits stand. »Geht zu Kutch. Ich komme gleich zu euch.« Sie rannten zu dem jungen Zauberlehrling. »Und benehmt euch!« Tanalvah richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Mann. Er trug einen schwarzen Bühnenanzug, allerdings ohne Jacke, und ein weißes Seidenhemd mit Rüschen auf der Brust. Sie lächelte. »Du siehst
wundervoll aus, Kinsel.« »Wirklich?« Er nestelte an seiner Krawatte herum. »Glaubst du nicht, ich sollte vielleicht...« »Nein, es ist schon in Ordnung. Hör auf mit dieser Fummelei. Was machen deine Nerven?« »Offensichtlich steht es nicht so gut um sie.« Endlich erwiderte er ihr Lächeln. »Aber das ist ja nichts Neues. Du weißt ja, was man sagt. Wenn man vor einem Auftritt nicht nervös ist ...« »... dann wird es kein guter Auftritt. Ich weiß. Und ich will gerade diesem Publikum eine schöne Veranstaltung bieten.« »Das wird dir sicher gelingen. Wie immer.« »Ich bin etwas unglücklich wegen der magischen Verstärker.« »Nicht einmal deine Stimme reicht für ein so großes Publikum aus. Betrachte es doch als notwendiges Übel.« »Wahrscheinlich hast du Recht.« »Ganz sicher. Mach dir keine Sorgen.« Sie umarmte ihn. Ein Kostümbildner erschien mit der Samtjacke des Sängers und räusperte sich diskret. Rukanis entschuldigte sich und trat einen Schritt zur Seite, um die 183 Jacke anzuprobieren. Mithilfe des Kostümbildners inspizierte er sie. »Tan?« Sie drehte sich um. Serrah war da. Was sie heute trug, war ungewöhnlich für sie: ein dunkelroter, bodenlanger Rock, eine schlichte Bluse und eine Schärpe, dazu ein verblichenes Kopftuch. Waffen waren nicht zu sehen, doch Tanalvah war sicher, dass Serrah mindestens eine unter der Kleidung verborgen hatte. »Wie läuft es?«, wollte Serrah wissen. »Ach, Kinsel ist schrecklich nervös. Nicht, dass das irgendwie ungewöhnlich wäre.« »Da draußen wartet wirklich ein großes Publikum.« »Ist das nicht wundervoll? Kin kann es kaum glauben.« »Was hat er denn erwartet? Angesichts seiner Bekanntheit und der Tatsache, dass es kostenlos ist?« »Ich glaube, ihm ist manchmal gar nicht klar, wie bekannt er wirklich ist. Aber andererseits ist seine Bescheidenheit einer seiner besten Züge.« Sie betrachtete Serrah. »Es ist schön, dass du gekommen bist.« »Alle sagen, er sei ein hervorragender Sänger. Ich dachte, das darf ich mir nicht entgehen lassen.« »Schön, dass du da bist, Serrah. Aber du wirst doch hoffentlich ...« »Du meinst, ob ich eine Schlägerei vom Zaun breche?« »Ich wollte nicht andeuten ...« »Doch, das hast du.« Sie lächelte. »Ich kann es dir nicht übel nehmen. Aber du musst wissen, dass ich nicht völlig außer Kontrolle bin. Es ist nur so, dass ich manchmal nicht... die Grenzen erkenne.« Sie hielt inne und überlegte. »Ich werde nichts tun, um euch 184 den großen Tag zu verderben, Tan«, versprach sie. »Ich bin einfach nur eine Zuschauerin.« »Und eine gut gekleidete dazu.« Serrah betrachtete ihren Aufzug. »Ein Zugeständnis, damit ich nicht auffalle.« »Nun, du gibst eine hinreißende Bäuerin ab.« »Danke.« Sie sah sich um. »Es geht gleich los.« »Ja. Weißt du, ob Karr es geschafft hat?« »Nein, er konnte nicht kommen.« »Das ist aber schade.« »Er sagte, er habe zu viel zu tun, wie immer. Aber ich glaube, es ist eher seine schwache Gesundheit. Nicht, dass er es jemals zugeben würde.« »Du musst ihn nur anschauen, um zu erkennen, dass er krank ist. Kin macht sich Sorgen um ihn. Und nicht nur er.« »Es sähe ihm nicht ähnlich, von heute auf morgen einfach kürzer zu treten.« »Jemand müsste mal mit ihm reden.« »Glaubst du, das hätte noch niemand getan?« Sie beäugte Tanalvah und fügte hinzu: »Reeth ist auch nicht da.« Tanalvahs Gesicht verhärtete sich, doch sie schwieg. »Er dachte, seine Gegenwart könne unerwünschte Aufmerksamkeit erregen«, fuhr Serrah fort. »Das ist gut. Ich bin froh, dass er nicht hier ist.« »Ich dachte mir schon, dass du das sagst.« »Er macht nur Scherereien, auf die ich gut verzichten kann, Serrah. Besonders heute.« »Bist du da nicht ein wenig zu hart?« »Wenn er in der Nähe ist, gibt es Ärger. Die Probleme folgen ihm wie ein Schatten.« »Das könntest du aber auch über mich sagen.« 185 »Du bist anders.« »Wieso?«
»Du hast... jemanden verloren, der dir nahe stand.« »Er hat sein ganzes Volk verloren.« »Und irgendwo unterwegs hat er auch sich selbst verloren, Serrah. Das ist der Unterschied.« »Du meinst, ich sei noch zu retten, er aber nicht, was?« »Ich sage nur, dass ich froh bin, wenn er nicht hier auftaucht.« »Ich hätte gedacht, dass gerade du etwas mehr Verständnis für einen ...« »Ach, jetzt fang du nicht auch noch damit an. Das sagt Kinsel auch immer. Weil ich wie Reeth dem qalochischen Volk angehöre, soll ich verstehen, was ihn quält. Aber ich verstehe es nicht. Wir haben die gleiche Abstammung, aber keine gemeinsame Geschichte.« »Es ist die Geschichte eures Volkes.« »Ich kannte mein Volk überhaupt nicht. Vielleicht ist dies mein Verlust. Aber wenn ich sehe, wie Reeth sich verhält, dann bezweifle ich es.« »Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst.« »Meine Herkunft hat mir nichts weiter eingebracht, als dass ich auf der Straße angespuckt worden bin. Man hat mich mit Verachtung gestraft, geschmäht und missbraucht und für etwas Geringeres als einen Menschen gehalten.« »Dafür gibt es keine Entschuldigung, das ist unverzeihlich. Aber Reeth versucht wenigstens, etwas zu tun, um seine Würde zurückzugewinnen.« »Wirklich? Ich dachte, er will sich einfach nur rächen.« 186 »Er behält seine Selbstachtung, indem er alle angreift, die eurem Volk so großes Leid zugefügt haben. Ich kann das verstehen.« »Vielleicht ist das für dich und für ihn verständlich. Ihr seid Kämpfer. Aber meiner Art zu leben entspricht das gewiss nicht, auch wenn ich eine Qalochierin bin.« »Es tut mir Leid, Tan. Ich glaube, du bist Reeth gegenüber ungerecht.« »Ich weiß, wie nahe du ihm stehst, Serrah, aber ...« »Ich weiß nicht, ob ich es unbedingt so ausdrücken würde.« »Wie du es auch ausdrückst, sei vorsichtig. Ich habe keine Ahnung, wie deine Beziehung zu ihm aussieht, aber pass auf, dass du nicht verletzt wirst.« »Beziehung?«, gab sie unwirsch zurück. »Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.« »Vielleicht kannst du es wirklich nicht verstehen. Manchmal können andere viel besser als wir selbst erkennen, was mit uns ist.« »Warte mal, willst du damit etwa sagen, dass ...« »Serrah, es tut mir Leid, Kinsel tritt gleich auf, und die Kinder brauchen mich. Wir sehen von der Seitenkulisse aus zu. Wo bist du?« »Irgendwo in der Nähe.« Sie machte abrupt kehrt und entfernte sich. »Serrah!« Tanalvah fluchte leise, als ihr Ruf ungehört verhallte, und kehrte zu Kinsel zurück. Serrah marschierte wortlos an Kutch, Disgleirio und den Kindern vorbei. »Alles klar, Serrah?«, rief Disgleirio. »Ja«, gab sie kalt zurück. »Einfach wundervoll.« Kutch und Quinn wechselten einen verdutzten Blick. 187 Das Publikum applaudierte und jubelte, sobald Kinsel die Bühne betrat. Er war hervorragend bei Stimme, und jedes Lied wurde mit tosendem Beifall quittiert. Die Zuschauer waren begeistert und verzaubert und ließen sich von der Musik mitreißen. Seine Lieder über ritterliche Helden berührten die Menschen, und die lyrischen Balladen ließen sie in süßer Melancholie versinken. Er führte sie durch die Schatten zurück ins Licht, und sie staunten. Sein reiner Gesang verzückte sie und ließ die Tränen fließen. Das aufmerksamste Publikum stand in der Seitenkulisse. Tanalvah, mit Teg in den Armen und Lirrin an den Rockschößen, stand wie verzaubert da. Hin und wieder schenkte Kinsel ihnen ein heimliches Lächeln und zwinkerte ihnen zu. Er hatte in Waisenhäusern und Kinderheimen gesucht und jedes Mitglied seines Chors persönlich ausgewählt. Seine Sorgfalt und einige Tage voll anstrengender Proben machten sich nun bezahlt. Die Kinder begleiteten ihn ganz hervorragend, ihre Stimmen ergänzten sich, wie ein Samthandschuh zu der Hand einer reichen Frau passt. Schwärme von magischen Klangverstärkern, die Vögeln oder unglaublich vergrößerten Wespen glichen, schwirrten über der Menge und trugen die Musik in jeden Winkel, damit sie überall so gut zu hören war wie in der ersten Reihe. Endlich erreichte Rukanis den Höhepunkt der Vorstellung. Er sang von Heldentaten, und seine Stimme erhob sich zu voller Kraft, als er die Märchen über galante Ritter und unerwiderte Liebe zum Besten gab. Die Bronzestatuen zu beiden Seiten der Tribüne begannen sich dank magischer Einwirkung zu regen. 188 Links von ihm streckte sich der Held, als erwachte er aus einem langen Schlaf. Auch die Feinde, die er
bezwungen hatte, erhoben sich von neuem, und die Schlacht ging weiter. Rechts regte sich der Krieger, und sein Pferd stieg auf die Hinterhand. Die Tentakel des Ungeheuers peitschten und zuckten; ein Speerstoß des Helden ließ gelbe Säfte aus dem schuppigen Körper der Kreatur spritzen. Es war nicht unbedingt nach Kinsels Geschmack, aber der Menge gefiel es. Kurz vor dem Abschluss entstand ein magisch erzeugter Regenbogen über den Köpfen der Zuschauer. Die Farben waren lebhafter als in der Natur. Er wirkte, als wäre er aus fester Materie - eine vielfarbige Brücke, die sich über den ganzen Park spannte. Tausende schauten nach oben und konnten sehen, wie der Regenbogen unzählige Risse bekam. Dann zerfiel er in kleine rote, blaue und grüne Brocken, die in immer kleinere Stücke zerplatzten und aufs Publikum herunterregneten. Die Menschen schrien erschrocken, und manche legten schützend die Hände auf den Kopf, doch was herunterkam, war eine Fülle von Blumen. Wundervolle, strahlende, bunte Blüten aller möglichen Arten. Einige Sekunden fielen sie, dann verwandelten sie sich in einen Schauer winziger goldener Sterne, und schließlich lösten sie sich ganz auf. Nur ihr köstlicher Duft blieb zurück. Kinsel brachte sein letztes Lied zum Abschluss und stimmte ein triumphierendes Finale an. Die Menge tobte. Sie warfen echte Blumen auf die Bühne, einzelne Blüten und ganze Sträuße und Buketts. Die Zuschauer riefen im Chor seinen Namen und zündeten grelle rote und weiße magische Fackeln an. Sie pfiffen, 189 klatschten und ließen künstliche Tauben fliegen, die so hell glänzten wie Platin. Grinsend verneigte er sich und zog sich zurück. In der Seitenkulisse drängten sich Tanalvah und die Kinder um ihn und umarmten ihn. »Du warst wundervoll«, sagte sie. »Tatsächlich?« Er schien ein wenig erstaunt, als läge ihm dieser Gedanke völlig fern. »Wirklich?« »Ja. Es war eine wunderbare Vorstellung. Ein wundervoller Auftritt.« Sie tat so, als müsste sie mit ihm schimpfen. »Ach, Kinsel, manchmal weiß ich wirklich nicht ... Wenn du mir nicht glaubst, dann hör doch, was die Leute da draußen sagen.« Der Lärm des begeisterten Publikums hatte keineswegs abgenommen. Sie lächelte warm. »Und jetzt geh da raus und verbeuge dich noch einmal.« Er küsste sie auf die Wange und zeigte sich auf der Bühne. Eine Zuschauerin in der jubelnden Menge nahm seinen Auftritt nicht zur Kenntnis. Serrah stand weit vorn und beobachtete zwei Männer, die sich zur Bühne drängten. Sie trugen fast identische schwarze und graue Kleidung, und sie waren mit identischen Schwertern bewaffnet. Aber das war noch nicht alles. Es war die Art, wie sie gingen und sich bewegten. Es waren ihre Gesichter und die aufmerksam hin und her wandernden, wachsamen Blicke. Serrahs Instinkte regten sich, wenn sie diese Männer sah, und sie hatte gelernt, ihren Instinkten zu vertrauen. Die Männer erreichten die Bühne und steuerten eine Lücke daneben an, wo ein Gang zum Zelt hinter der Bühne führte. Am Eingang standen Wachen, die 190 jedoch nach einem kurzen Wortwechsel Platz machten. Die Männer gingen hinein. Serrah drängte sich durch die Menge und folgte ihnen. Hinter der Bühne war es jetzt sogar noch chaotischer als vor dem Konzert. Neben Musikern, Chorsängern und den anderen Mitwirkenden waren nun auch noch Anhänger, Gratulanten und einige wichtige Persönlichkeiten mit ihrem Gefolge anwesend. Kinsel öffnete seinen Kragen und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Tanalvah behielt die Kinder im Auge, deren anfängliche Begeisterung inzwischen der Langeweile wich. »Weißt du«, überlegte Kinsel, »vielleicht mache ich so etwas noch einmal.« »Gut. Ich dachte mir schon, dass du dies nach dem Konzert sagen würdest.« Er lachte. »Du kennst mich viel zu gut, meine Liebe.« Ein Assistent kam zu ihm. »Meister Rukanis, Sir? Auf Eure Anweisung lassen wir jetzt einige Zuschauer herein, die Euch begrüßen wollen. Könntet Ihr sie gleich empfangen?« »Aber gern. Kommst du mit, Tan?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bleibe mit den beiden hier. Sie werden allmählich etwas aufsässig.« Teg und Lirrin sahen sie an, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Kinsel entfernte sich mit dem Assistenten. »Es wäre schön, wenn ich all die Leute begrüßen könnte, die mich hier sehen wollen«, klagte er. 191 »Dann wärt Ihr vermutlich noch den ganzen Rest der Woche beschäftigt«, antwortete der Helfer. »Ich weiß. Aber Ihr habt doch hoffentlich eine repräsentative Gruppe ausgesucht?« »Die Mischung ist so gut, wie es nur möglich war.« Am anderen Ende des Zelts, wo zwei Öffnungen ins Freie führten, schlängelten sich vierzig oder fünfzig Zuschauer im Gänsemarsch herein. Sie waren so unterschiedlich wie versprochen. Junge und ältere Paare, Musikliebhaber in mittleren Jahren, Bettler, Eltern mit Kleinkindern auf dem Arm. Sobald sie Rukanis sahen, begannen sie zu jubeln. Ordner hielten sie zurück, als er lächelnd zu ihnen trat, um ihnen die Hand zu schütteln und ein paar Worte mit
ihnen zu wechseln. Pergamente und magische Schreibstifte wurden ihm gereicht. Silbern, golden und rot gab er Autogramme und schrieb Sprüche für die aufgeregt plappernden Anhänger auf. Einige zupften gar ungeduldig an seinem Ärmel, andere hoben ihre Kinder hoch, damit er ihnen einen Kuss auf die Wange geben konnte. Zwei dunkel gekleidete Männer, die nicht lächelten, näherten sich ihm. Tanalvah stand etwas erhöht in der Seitenkulisse, doch sie bemerkte es kaum, denn die Kinder verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit. »Wann fahren wir denn nach Hause?«, gähnte Lirrin. Ihrem kleinen Bruder wurden die Augenlider schwer. Er lehnte sich an sie und war sogar zu müde, um zu jammern. »Es dauert nicht mehr lange«, versprach Tanalvah. Sie zauste dem Mädchen das Haar. »Sobald Kinsel wieder da ist.« 192 Serrah kam zu ihnen. »Serrah, wie schön, dass du wieder da bist. Ich wollte dir sagen, dass ...« »Mach dir deshalb keine Sorgen.« Sie überblickte das lebhafte Treiben im Zelt. »Ich glaube, wir haben hier ein Problem.« Als sie Serrahs Gesichtsausdruck sah, zog Tanalvah die Kinder instinktiv an sich. »Was ist denn los? Ist etwas mit Kinsel? Ist etwas passiert?« »Nur so eine Ahnung.« Sie sah zu Kinsel, der Autogramme gab und mit Bewunderern sprach. »Die beiden da.« Sie deutete auf die Männer. »Die gleich gekleideten Männer dort.« »Die in Schwarz und Grau? Was ist mit denen?« »Vielleicht ist es gar nichts.« »Wenn Kinsel in Gefahr ist, dann braucht er mich.« »Nein, bleib, wo du bist.« Serrahs Stimme duldete keinen Widerspruch. »Wird Kinsel etwas Schlimmes passieren?«, fragte Lirrin ängstlich. Sie spürte, wie besorgt die Erwachsenen waren. »Nein, Liebes«, versicherte Tanalvah ihr, fast schon wieder ruhig. »Es ist alles in Ordnung.« Doch an Serrah gewandt, fügte sie hinzu: »Oder?« Serrah antwortete nicht. Sie warteten und beobachteten. Kinsel gab soeben einem Bewunderer das Blatt mit dem Autogramm zurück. »Kinsel Rukanis.« Es war keine Frage, es war eine Feststellung. Er schaute auf. Zwei dunkel gekleidete Männer starrten ihn an. Ihre Gesichter verrieten nicht, was in den Köpfen vorging. »Ja«, sagte er etwas unsicher. 193 »Ihr werdet genau das tun, was wir Euch sagen«, befahl einer der beiden. Er sprach leise, doch er war sich seiner Macht bewusst, und Kinsel spürte die stumme Drohung. »Wer seid Ihr?« »Wir haben die Autorität des Staates hinter uns. Mehr braucht Ihr nicht zu wissen.« »Und außerdem sind wir nicht allein«, fügte der zweite Mann hinzu. »Bin ich verhaftet?« »Ihr werdet in Haft genommen, ja.« »Unter welcher Anklage?« »Dies ist keine Debatte«, informierte der erste Mann ihn kalt. »Wir haben Befehl, Euch unauffällig mitzunehmen, wenn es möglich ist. Aber im Grunde ist es uns egal. Wenn Ihr Schwierigkeiten machen wollt, dann werden eine Menge Leute hier darunter leiden. Die Entscheidung liegt bei Euch.« Kinsel zweifelte nicht daran, dass der Mann es ernst meinte. »Ich verstehe.« »Gut. Und jetzt werdet Ihr Euren Ordnern sagen, dass Ihr fort müsst. Fasst Euch kurz. Dann gehen wir ohne Aufsehen hinaus. Habt Ihr verstanden?« »Ja.« Er wollte fragen, ob er sich von Tanalvah und den Kindern verabschieden dürfe, doch er wusste, dass es ein Fehler wäre. »Tut einfach, was wir sagen«, erklärte ihm der zweite Mann, »dann muss kein Blut vergossen werden.« Kutch und Disgleirio hatten sich auf der Bühne zu den Frauen gesellt. »Habt Ihr ...« »Ja«, sagte Serrah. »Wir haben es gesehen.« 194 Tanalvah war der Verzweiflung nahe. »Sie nehmen ihn mit. So tut doch etwas!« »Die beiden sind nicht allein«, erinnerte Serrah sie. »Da unten sind noch mehr.« Mindestens ein Dutzend ähnlich gekleidete Männer drangen gerade ins Zelt ein. »Zweifellos sind noch weitere da draußen auf Posten«, vermutete Disgleirio. »Das können sie doch nicht machen«, protestierte Tanalvah mit feuchten Augen. »Es ist die Regierung«, sagte Serrah. »Die können tun und lassen, was sie wollen.« »Glaubt Ihr, sie sind hinter uns allen her?«, fragte Kutch besorgt. »Sie interessieren sich anscheinend nur für Kinsel«, erwiderte Quinn. »Wenn es eine breit angelegte Razzia
wäre, dann hätten wir es längst bemerkt.« »Was steht ihr hier herum und redet?«, warf Tanalvah ein. »Nun helft ihm doch!« Auch die Kinder waren verzweifelt und fingen an zu weinen. Kutch bemühte sich, sie zu trösten. »Es gibt hier eine Menge Zivilisten, Tan«, erinnerte Serrah sie. »Ich möchte wetten, dass es diesen Schweinehunden völlig egal ist, wer in Mitleidenschaft gezogen wird. Wenn wir einschreiten, dann ...« »Wenn du nichts tust, dann werde ich eben selbst etwas unternehmen!«, fauchte Tanalvah. Serrah packte sie am Arm und hielt sie zurück. »Wenn du jetzt Theater machst oder schreist oder sonst etwas tust, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, dann werde ich dich niederschlagen.« Sie unterstrich ihre Drohung, indem sie die Faust ballte. Tanalvah starrte sie einen Augenblick an. Dann 195 brach sie zusammen. »Oh, bei den Göttern, das ist alles meine Schuld. Ich habe ihn überredet, dieses Konzert zu geben. Ich ...« »Halt den Mund und nimm dich zusammen. So kannst du Kinsel nicht helfen - und den Kindern auch nicht.« Sie wandte sich an Kutch. »Du bleibst bei Lirrin und Teg. Du bleibst bei ihnen, was auch immer geschieht, verstanden?« Kutch nickte. »Und was Kinsel angeht, so können wir im Augenblick nichts weiter tun, als herauszufinden, wohin sie ihn bringen.« »Das kann ich übernehmen«, bot Quinn an. »Gut, aber seid vorsichtig.« Er huschte davon. Flankiert von seinen beiden Bewachern und gefolgt von deren Spießgesellen, die aufmerksam die Menge beobachteten, verließ Kinsel unterdessen das Zelt. »So hätte es aber nicht laufen sollen«, murmelte Tanalvah. Serrah sah sie an. »Was?« Tanalvah starrte ins Leere. »Wir müssen hier verschwinden, Tan. Aber wir können nicht in euer Haus. Kutch, bleib in der Nähe. Kommt alle mit.« Als die Beamten Kinsel ein Stück von der Bühne fortgeschafft hatten, blieben sie stehen. Einer zog magisch verstärkte Handschellen aus der Tasche. »Das ist doch nicht nötig«, protestierte Kinsel. »Wir haben unsere Befehle«, knurrte der Mann. Er legte die Handschellen um Kinsels Handgelenke. Sie strafften sich von selbst und würden geschlossen bleiben, bis der Gegenzauber sie auflöste. Gefolgt von den Komplizen, die etwa zwanzig Mann zählten, gingen sie rasch weiter. Einige liefen voraus, 196 um neugierige Bürger zu vertreiben, die den Park verließen. Viele Menschen waren unterwegs, und nicht wenige erkannten Rukanis. Doch keiner von ihnen brachte den Mut auf, sich ihm zu nähern und die Eskorte zur Rede zu stellen. Disgleirio folgte in einiger Entfernung. Er bemühte sich, wie ein normaler Bürger auszusehen, und nutzte hin und wieder die Bäume als Deckung. Kinsel wurde in eine Straße geführt, die hinter dem Park verlief. Dort waren starke Sicherheitskräfte zusammengezogen. Eine ganze Anzahl von uniformierten Männern und Frauen patrouillierte in der Gegend, doch vor allem beherrschten die rot gekleideten Paladine die Szene. Neugierige Passanten wurden auf Abstand gehalten. In der Straße waren auch einige Kutschen abgestellt. Die größte war mit vier pechschwarzen Pferden bespannt, und die Fenster waren zugehängt. Dorthin wurde der Sänger geführt und gefesselt auf einen Ledersitz verfrachtet. Die Tür wurde zugeknallt, und Rukanis sah sich im Innern einem jungen Mann in der Uniform eines hochrangigen Paladin-Offiziers gegenüber. Der Mann lächelte triumphierend. »Welche Freude, Euch endlich einmal persönlich zu begegnen«, sagte Devlor Bastorran. 197 Als sie das nächste sichere Haus erreichten, waren sie der Panik nahe. Serrah bemühte sich, Tanalvah so gut wie möglich zu trösten, und überließ es Kutch, sich mehr oder weniger allein um die Kinder zu kümmern. Keiner von ihnen fühlte sich sicher, und Serrah ging alle paar Minuten ans Fenster oder zur Tür, um einen Blick nach draußen zu werfen. Von Disgleirio war nichts zu sehen. Eine Stunde später kam Caldason. »Alles in Ordnung?«, fragte er, als er das Haus betrat und die Kapuze abnahm. »Ja. Nun ja, äußerlich jedenfalls.« Serrah nickte und blickte zu Tanalvah, die auf einem Stuhl am Herd hockte und in die gelbblauen Flammen des Holzfeuers starrte. »Sie steht noch unter Schock. Lass sie besser in Ruhe.« Er nickte. »Und Kutch?« »Er ist oben bei den Kindern, er ist einigermaßen gefasst.« 199 »Und du?« »Ich?«
»Wie fühlst du dich?« »Mir geht es gut, Reeth. Was erwartest du? Dass ich Amok laufe oder so?« »Nein. Nach allem, was ich gehört habe, hast du dich genau richtig verhalten. Aber du warst in der letzten Zeit ein wenig, nun ja ...« »Unberechenbar? Ständig vor Wut geladen? Wie du?« »Tja...« Sie wechselten einen verlegenen Blick. »Es ist schon komisch, aber als ich da die Führung übernehmen musste, bin ich irgendwie auch wieder zu mir gekommen. Sonst ... na ja, meine Reaktion wäre sonst vielleicht etwas anders ausgefallen.« »Das ist gar nicht so abwegig, wenn man es bedenkt.« »Mag sein. Aber was heißt >nach allem, was du darüber gehört hast« »Beim Konzert waren noch andere Leute vom Widerstand, und sie haben es weitererzählt. Ich konnte mir ausrechnen, wo ich dich finden würde.« »Glaubst du, Kinsels Verhaftung kündigt allgemein ein schärferes Vorgehen an?« »Auf den Straßen ist anscheinend nicht mehr los als sonst auch. Ich glaube, sie hatten es nur auf ihn abgesehen.« »Das dachte ich mir schon.« »Wo ist Quinn?« »Das wollte ich dich auch gerade fragen. Er wollte herausfinden, wohin sie Kinsel bringen. Ich hoffe, er hat nicht dessen Schicksal geteilt.« 200 »Er kann schon auf sich aufpassen.« Caldason betrachtete Tanalvah, die sich nicht gerührt und ihn offensichtlich nicht einmal bemerkt hatte. »Ich war vorhin bei Karr. Er ist noch unterwegs, er kommt genau wie ich auf Umwegen.« »Gut. Reeth, diese Verschmolzene, die auf dich losgegangen ist ...« »Was ist mit ihr ... oder mit ihnen?« »Von mir aus auch >es<. Glaubst du, da könnte ein Zusammenhang bestehen?« »Ich wüsste nicht, wie. Ich verstehe nicht, was da überhaupt passiert ist.« »Ja, wer weiß, was dahintersteckt. Du hast dir ja eine Menge Feinde gemacht.« »Das verbindet uns.« Sie kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen, denn in diesem Augenblick betrat Kutch den Raum. »Reeth! Ich bin so froh, dich zu sehen.« »Wie geht es den Kindern?«, fragte Serrah. »Sie schlafen. Was ist los, Reeth? Nehmen sie jetzt alle Widerständler fest?« »Es sieht nicht so aus, aber es ist auf jeden Fall gut, wenn wir Vorkehrungen treffen.« »Dazu gehört auch, Häuser wie dieses hier aufzugeben«, fügte Serrah hinzu. »Ich bin allerdings nicht sicher, ob Kinsel von diesem Haus wusste. Wir müssen allerdings hinsichtlich der Art und Weise, wie wir operieren, umfassende Veränderungen vornehmen.« »Warum denn?«, fragte Kutch. »Ach, nun hör doch auf, Kutch.« »Was?« »Serrah meint, dass wir jetzt, da Kinsel in ihren Händen ist, besonders vorsichtig sein müssen«, er201 klärte Caldason. »Denn man könnte ihn zum Sprechen bringen.« »Das würde er nie tun.« Sie drehten sich um. Tanalvah hatte den Kopf gehoben und starrte sie aus verweinten Augen an. »Er würde es nicht tun«, sagte sie noch einmal. »Kinsel würde niemals jemanden verraten.« »Natürlich nicht«, stimmte Serrah zu. »Freiwillig sicher nicht. Wie fühlst du dich, Tan?« Sie ignorierte die Frage. »Er ist stark. Ich weiß, dass er nicht so hart gesotten ist wie du. Er ist kein Kämpfer. Aber er hat... moralische Stärke.« »Das bezweifelt niemand«, sagte Caldason. »Niemand stellt in Frage, dass er versuchen wird, es tapfer durchzustehen.« »Er wird niemanden verraten. Dazu ist er zu prinzipientreu.« »Es ist nicht so, dass er sich entscheiden könnte, Tan. Besonders nicht, wenn ich mir überlege, wer ...« Jemand klopfte das Signal an die Tür. Die Hand auf den Schwertgriff gelegt, ging Caldason zum Spion, dann löste er die Riegel. Karr und Disgleirio kamen zusammen. Der Patrizier war bleich und erschöpft. »Wir sind uns unterwegs begegnet«, erklärte Disgleirio. »Wurde jemand verletzt?«, wollte Karr wissen. Es klang etwas atemlos. »Nein«, beruhigte Serrah ihn. »Erschüttert, aber sonst unverletzt.« Karr wandte sich an Tanalvah. »Es muss schrecklich für Euch sein, meine Liebe.« Er fasste ihre Hände. »Wir werden dafür sorgen, dass Ihr sicher seid, Ihr und die 202
Kinder. Und wir werden alles tun, um Eurem Mann zu helfen.« »Ich habe Kinsel gesagt, dass es nicht so wichtig ist. Ich sagte, keine Sache sei so wichtig wie sein Leben.« Sie schaute zu Karr auf. »Das hat er mir nicht geglaubt. So wenig, wie Ihr es mir glaubt.« »Ich verdiene Eure Vorwürfe. Ich hätte ...« »Nein. Wenn ich überhaupt jemandem Vorwürfe mache, dann mir selbst. Ich war diejenige, die ... die ihn überredet hat, das Konzert zu geben.« »Wir helfen Kinsel nicht, indem wir Schuldzuweisungen verteilen«, erklärte Serrah. »Wichtig ist, was wir wissen und was wir tun können.« Karr nickte. »Ihr habt Recht. Quinn hat uns dazu etwas zu sagen.« »Also, ich kann es kurz machen, und es ist nicht erfreulich«, berichtete der Mann von der Gerechten Klinge. »Die Kutsche, in die man ihn gesteckt hat, ist direkt zum Hauptquartier der Paladine gefahren.« »Können wir ihn da herausholen?«, fragte Kutch. »Vielleicht, wenn wir mit einem ganzen Heer angreifen«, meinte Caldason, »aber ich bezweifle es. Und die Aussichten, dass Kinsel noch lebt, wenn wir ihn erreichen, sind schlecht.« Darauf folgte nachdenkliches Schweigen. Disgleirio ergriff als Erster wieder das Wort. »Es gibt noch etwas. Ratet mal, wer mit ihm in der Kutsche gefahren ist. Es war Devlor Bastorran.« »Der junge Aufschneider«, überlegte Karr. »Und Euer größter Bewunderer, Reeth.« Caldason ließ sich nicht anmerken, ob er den Scherz zu würdigen wusste. »Welchen Eindruck hat er gemacht, Quinn?« 203 »Ich habe ihn nur kurz gesehen. Keine Anzeichen von Verbänden oder Bandagen, und seine Beine waren nicht mehr eingegipst. Er hat sich etwas steif bewegt, aber davon abgesehen, schien er gesund und munter zu sein.« »Dann stecken also die Paladine dahinter«, sagte Karr. »Oder wenigstens der junge Bastorran.« »Möglicherweise ist es nicht ganz so einfach«, erwiderte Serrah. »Ich glaube, einige der Männer, die Kinsel verhaftet haben, waren Agenten vom RIS.« »Seid Ihr sicher?« »Nicht ganz und gar, aber ich habe lange genug mit ihnen zusammengearbeitet, um ein Gefühl dafür zu haben.« »Das verstehe ich nicht«, gab Kutch zu. »Was hat das zu bedeuten?« »Der Rat für Innere Sicherheit ist einer der mächtigsten und am meisten gefürchteten Arme der Regierung von Gath Tampoor«, erklärte Karr. »Doch es ist üblich und auch durch Verträge festgelegt, dass er nur innerhalb von Gath Tampoor operiert.« »Ihr seid naiv, wenn Ihr glaubt, er habe sich noch nie in die Angelegenheiten der Kolonien des Reichs eingemischt«, sagte Disgleirio. »Der Anschein, er täte es nicht, soll eher die anderen Geheimdienste beruhigen und den Eindruck erwecken, sie träten sich nicht gegenseitig auf die Zehen. Diese Beschränkung hat hauptsächlich mit Innenpolitik zu tun.« »Das ist wahr. Aber wenn sie hier in Bhealfa offen auftreten und eng mit den Paladinen zusammenarbeiten, dann ist eine neue Stufe erreicht.« Caldason zuckte mit den Achseln. »Ein weiterer Be204 leg dafür, dass sie die Samthandschuhe abgelegt haben. Das wussten wir bereits.« »Allerdings ist es ein denkbar schlechter Augenblick, da unser Umzug so kurz bevorsteht«, erinnerte der Patrizier ihn. »Was nützt das Kinsel?«, unterbrach Tanalvah. Niemand wusste eine Antwort. Sie redeten weiter und trugen zusammen, was ihnen bekannt war, sie diskutierten und zogen verschiedene Pläne in Betracht. Und sie bemühten sich, Tanalvah zu trösten, wann immer die Tränen sie zu übermannen drohten. Schließlich kam der Abend, und die Sperrstunde stand bevor. Karr ging nach Hause und versprach, Leute zu schicken und das sichere Haus überwachen zu lassen. Disgleirio suchte die Späher auf, die rings um das Hauptquartier der Paladine stationiert waren, und verstärkte ihre Zahl. Kutch, der schon das Gähnen unterdrückte, wurde nach oben zu den Kindern geschickt, wo er schlafen sollte. »Ich sehe mich noch einmal in der Nähe um, bevor die Sperrstunde beginnt«, meinte Caldason. »Gut«, sagte Serrah. »Sei vorsichtig.« Er ging hinaus, und sie versperrte hinter ihm die Tür. Tanalvah saß verloren am sterbenden Feuer und sah wer weiß wen in den tanzenden Flammen. Serrah legte ein Stück Holz nach und setzte sich neben sie. »Es klingt wie eine dumme Frage«, gestand sie, »aber wie geht es dir?« »Ich habe ihn verloren, nicht wahr? Den einzigen Mann, der mich je geachtet hat. Den einzigen Mann, den ich je ... geliebt habe.« »Hör zu, Tan. Wir werden alles tun, was wir kön205 nen, um ihn herauszuholen. Du hast gehört, was Karr und die anderen gesagt haben. Keine Mühe ist uns zu groß, um Kinsel zu dir zurückzubringen.« »Ich habe auch gehört, dass er in einer Festung und in den Händen rücksichtsloser Männer sein soll. Ich mache
mir nichts vor, Serrah. Es ist vorbei.« »Es ist erst vorbei, wenn du glaubst, dass es vorbei ist.« »Wo noch Leben ist, da ist auch Hoffnung, was?« »Nun ja, es klingt banal, aber so ist es.« »Es fällt mir schwer, in diesem Augenblick nicht jede Hoffnung zu verlieren. Ich kann nicht sehen ... ich sehe keinen Ausweg aus ...« »Für mich ist es natürlich leicht, so etwas zu sagen, Tan, aber dies ist nicht der richtige Augenblick, um die Nerven zu verlieren. Kinsel braucht dich, ganz zu schweigen von Teg und Lirrin.« Tränen rollten über Tanalvahs Wangen. »Die Kinder ...« »Wenigstens sie sind in Sicherheit.« Sie drückte Tanalvahs Hand. »Darauf kannst du dich verlassen. Ich schwöre es.« »Ich weiß. Wenn du nicht wärst, dann hätten wir auch nicht das kurze Glück gehabt, das uns vergönnt war.« »Du kannst es wieder haben. Wir werden uns schon etwas einfallen lassen.« »Ich weiß, dass ihr euch alle bemühen werdet, aber ...« »Was?« »Es gibt da etwas, das du noch nicht weißt.« »Wenn es etwas ist, das Kinsel helfen könnte, dann musst du es mir sagen, Tan.« 206 Sie lachte kurz und bitter. »Nein, es hilft nicht. Ganz und gar nicht.« Serrah gab ihr ein Taschentuch, und Tanalvah tupfte sich die feuchten Wangen ab. »Was ist denn, Tan?« »Serrah, ich ... ich bin schwanger.« Serrah war im ersten Augenblick sprachlos. »Bist du sicher?« Tanalvah nickte. »Wie lange schon?« »Ein paar Monate.« »Bei den Göttern, Tan.« »Ist das nicht komisch? Ich habe darum gebetet. Ich habe die Göttin jeden Tag gebeten, uns mit einem eigenen Kind zu segnen, damit wir eine richtige Familie werden. Die Wege der Götter sind so geheimnisvoll. Sie geben mit der einen Hand und nehmen einem mit der anderen wieder etwas weg.« »Was Kinsel zugestoßen ist, ist das Werk von Menschen und nicht von Göttern.« »Ich glaube, die Göttin wusste, was ihm passieren sollte. Sie hat mir das Kind als Ausgleich gegeben, um wieder ein Gleichgewicht herzustellen.« »Wenn es dir hilft, es so zu sehen, dann musst du es eben so sehen. Aber verliere nicht die Möglichkeit aus dem Auge, dass du beides haben kannst, Kinsel und das Kind.« »Du bist im Augenblick viel optimistischer als ich.« »Ja, im Augenblick. Du hast einen mächtigen Schock erlitten. Bald wirst du die Dinge anders sehen.« »Hoffentlich hast du Recht. Aber ... sprich mit niemandem darüber. Über das Kind, meine ich. Noch 207 nicht. Ich glaube, noch mehr Mitleidsbekundungen könnte ich im Augenblick nicht ertragen.« Als Caldason zurückkehrte, schlief Tanalvah auf dem Sofa am Kamin. »Du siehst auch müde aus«, sagte er zu Serrah. »Es war ein langer Tag.« »Geh doch schlafen. Ich passe auf Tanalvah auf.« »Wirklich?« »Ja, geh nur. Wenn du gebraucht wirst, rufe ich dich.« Sie ging hinaus und legte sich in einem anderen Zimmer hin. Er trug leise einen Stuhl zum Kamin. Die Schwerter legte er daneben auf den Boden, dann setzte er sich. Eine Weile war es völlig still. »Reeth?« »Ich dachte, du schläfst.« Tanalvah drehte sich um. »So, wie ich mich gerade fühle, kann ich ganz sicher nicht schlafen.« »So geht es mir manchmal auch.« »Auf dich warten Dämonen, wenn du einschläfst. Ich weiß jetzt, wie das ist.« Er schwieg. »Sage mir, Reeth, was gibt dir Kraft?« »Was meinst du damit?« »Die Kraft weiterzumachen. Dein Wille zu überleben.« »Mir bleibt doch nichts anderes übrig.« »Wegen dieser ... weil du unsterblich bist?« »Ich könnte meinem Leben selbst ein Ende setzen, wenn ich wollte. Es gab Augenblicke, in denen ich es versucht habe.«
208 »Anscheinend hast du dir nicht genug Mühe gegeben.« Wieder verzichtete er auf die Antwort. »Also ist es einfach die Rachsucht, die dir die Entschlossenheit zum Weitermachen gibt?«, fragte sie weiter. »Unterschätze dieses Gefühl nicht. Es kann ein sehr guter Antrieb sein.« »Es gab eine Zeit, in der ich dir widersprochen hätte.« »Aber das hat sich geändert.« »Nach dem, was Kinsel zugestoßen ist, denke ich an nichts anderes mehr als an Rache.« »Dann verstehst du es.« »Wir sind nicht gleich. Versuche nicht, den Eindruck zu erwecken, wir wären es.« »Uns unterscheidet nur die Größenordnung. Du willst Vergeltung für deine persönlichen Verletzungen. Ich suche Rache für meinen Stamm, für unser ganzes Volk.« »Wie edel von dir.« Es war ein böser Seitenhieb. »Du bist eine Qalochierin. Ich hätte gedacht, dass du wohlwollend betrachtest, was ich tue.« »Ich bin in diesem Stamm geboren, aber das macht mich nicht zu einer Qalochierin. Ganz und gar nicht.« »Du irrst dich, das Blut setzt sich durch.« »Ich habe keine Erfahrungen damit, eine Angehörige des Volks zu sein, dem wir angeblich beide angehören. Oder wenn, dann negative.« »Das ist aber nicht die Schuld unseres Volkes. Es sei denn, du willst dem Opfer die Schuld geben.« »Die Qalochier sind die Opfer der Geschichte. Kannst du gegen die Geschichte ankämpfen?« 209 »Die Geschichte wird von Menschen geschrieben, und gegen die kann ich kämpfen. Oder wenigstens gegen diejenigen, die uns etwas angetan haben und die fortfahren, uns etwas anzutun.« »Dann kämpfst du gegen die ganze Welt. Du bist ehrgeizig in der Wahl deiner Feinde, das muss ich dir lassen.« »Du weißt nicht viel über unsere Vergangenheit und unsere Kultur, nicht wahr?« »Was gibt es denn da noch, abgesehen von der Tatsache, dass wir ein Kriegervolk sind?« »Viel, Tanalvah. Leider schwindet es mit jedem Jahr, das vergeht. Sprichst du die qalochische Sprache?« Tanalvah schüttelte den Kopf. »Die Sprache war eines der ersten Dinge, die sie uns genommen haben, weil sie um die Macht der Worte wussten. Es gab eine Zeit, in der viele Orte in diesem Land qalochische Namen hatten. Aber das ist vorbei. Und wo sie die Sprache nicht abschaffen können, verdrehen sie sie. Invasion bedeutet Befreiung, die Sklaverei nennen sie Freiheit. Diese Dinge bleiben unbemerkt, wenn wir unsere Gebräuche und Überzeugungen verlieren.« »Ich habe meine Überzeugungen«, erwiderte sie entrüstet. »Ich bete Iparrater an, die Verteidigerin von ...« »Die Beschützerin der Unterdrückten, ich weiß. Sie ist eine Göttin Rintarahs.« »Glaubst du denn an die alten qalochischen Gottheiten?« »Ich folge keinem Gott.« »Es wäre besser, du würdest es tun.« »Wen könntest du mir vorschlagen? Mapoy, die Pa210 tronin der Badehäuser? Ven, den Gott der Lumpensammler? Oder Isabelle, die Göttin der Schuhmacher?« »Du machst dich über mich lustig.« »Nein. Ich frage mich nur, warum du kleine fremde Gottheiten anbetest statt die qalochischen Götter.« »Was würde das nützen? Die Götter der Qalochier haben uns verlassen.« »Und deine neue Göttin hat dich nicht im Stich gelassen?« »Was kümmert es dich, Reeth? Du hast keinen Raum für einen Glauben in deinem versteinerten Herzen.« »Die Götter haben nichts für mich getan. Falls es überhaupt Götter gibt. Ich gehe meinen eigenen Weg, so gut es ein Mann eben vermag.« »Du forderst deinen eigenen Untergang heraus, wenn du die Mächte verhöhnst, die dir das Leben geschenkt haben, Reeth.« »Das Leben? Das Leben ist nur der Unterschied zwischen dem, was wir erhoffen, und dem, was wir bekommen.« Sie starrte ihn kalt an. »Wenn du das wirklich glaubst, dann tust du mir Leid.« Es gab nicht mehr viel zu sagen. Tanalvah wandte sich ab, und nach einer Weile schlief sie ein, oder wenigstens erweckte sie den Anschein, als schliefe sie. Caldason hielt Wache, bis Serrah ihn im Morgengrauen ablöste. Dann sank er selbst in den Schlaf. Er stand am Rand eines Feldes, das goldene Korn war so hoch wie seine Brust. 211 Es war heiß. Die Sonne schlug wie ein Hammer auf die Erde, und die Hitze ließ die Luft wabern. Kein Lüftchen regte sich. Das Summen der Bienen und ein leises Zwitschern waren die einzigen Geräusche. Eine Bewegung erregte seine Aufmerksamkeit. Weit entfernt, fast am anderen Ende des Feldes. Dort bewegte sich etwas durch die Halme und kam ihm entgegen. Er konnte nicht erkennen, was es war, er hörte nur das Korn
rascheln, als es sich näherte. Als es etwa ein Drittel des Weges zurückgelegt hatte, bemerkte er noch etwas anderes. Eine Gruppe von Reitern, fünf waren es, erschienen am anderen Ende des Feldes. Sie drangen ins Korn ein wie lebende Schiffe, die durch ein goldenes Meer kreuzten. Er konnte die Rufe hören und sah, wie die Reiter ihre Pferde unbarmherzig mit Gerten antrieben. Ihre unsichtbare Beute schob sich weiter durch das Feld und näherte sich ihm mehr oder weniger auf geradem Wege. Die berittenen Verfolger stürmten rücksichtslos durch das Feld und schlössen rasch auf. Plötzlich schoss eine Gestalt heraus, und Stängel, Blätter und Körner flogen in alle Richtungen. Reeth erkannte den alten Mann, den er schon so oft gesehen hatte. Dann sah er, dass der Mann ein Kind trug, das etwa drei oder vier Jahre alt war. Auch das Kind kam ihm bekannt vor, obgleich er nicht zu sagen vermochte, warum. Das Kind an die Brust gedrückt, eilte der alte Beschützer mit überraschender Geschwindigkeit und Beweglichkeit an ihm vorbei. Er wusste nun, dass er abermals den ohnmächtigen Beobachter spielen musste, der für die Akteure dieses Dramas unsichtbar blieb. Er drehte sich um und beobachtete den fliehenden al212 ten Mann. Dieser hatte das Kornfeld hinter sich gelassen und hielt auf das Grasland zu, hinter dem sich in einiger Entfernung Hügel erhoben. Der alte Mann rannte auf eine zweite, größere Gruppe von Reitern zu, bei denen es sich offenbar um Verbündete handelte. Sie kamen ihm im Galopp entgegen. Mit einer Geschicklichkeit, die seine Jahre Lügen strafte, kletterte der Alte auf ein reiterloses Pferd und nahm das Kind vor sich auf den Sattel. Dann preschte er über die Ebene davon, so schnell sein Pferd ihn tragen wollte. Die anderen blieben zurück und formierten sich zu einer Verteidigungslinie. In diesem Augenblick kamen die fünf berittenen Verfolger hinter Reeth aus dem Kornfeld. Zwei donnerten rechts und zwei links an ihm vorbei. Der Fünfte -ein beunruhigendes Gefühl - ritt mitten durch ihn hindurch. Er sah zu, wie die beiden Gruppen unter blutrünstigem Geschrei und klirrendem Stahl aufeinander losgingen. Dann kam ein greller Blitz, die Szene löste sich auf, und es wurde schwarz. Jetzt stand er am Rande einer nicht sehr hohen Klippe und blickte auf einen rasch fließenden Fluss hinab. Hier und dort schauten glatte Felsen aus dem Wasser, vor denen das gestaute Wasser schäumte. Ein Boot tauchte auf und fuhr unruhig stromabwärts. Es war ein einfacher Kahn aus gegerbtem Leder, das man über einen Holzrahmen gespannt hatte. Ein Segel gab es nicht, das Boot wurde mit den Riemen und einem primitiven Steuerruder gelenkt. Sechs Menschen saßen darin. Vier von ihnen waren Ruderer, die sich dank der Geschwindigkeit, mit der 213 das Wasser strömte, nicht anstrengen mussten. Sie nahmen die Ruder, um sich von den halb unter Wasser liegenden Felsblöcken abzudrücken, die den Rumpf des Bootes aufreißen konnten. Hinten, mit der Hand am Steuerruder, saß der alte Mann. Neben ihm kauerte ein Junge, unverkennbar das Kind, das er aus dem Kornfeld getragen hatte, doch jetzt war es acht oder neun Jahre alt. Der Junge war um einige Jahre gealtert, doch der Mann sah genauso aus wie immer. Am gegenüberliegenden Ufer tauchte eine Bande von Männern auf, es mochten etwa zwanzig sein. Sie waren zu Fuß und rannten, um mit dem auf den Wellen tanzenden Boot Schritt zu halten. Unter ihnen waren auch Bogenschützen, die gelegentlich einen Pfeil auf das Boot abschössen. Die unruhige Fahrt sorgte allerdings dafür, dass die meisten Pfeile dem Boot nicht einmal nahe kamen. Trotz seines zarten Alters schoss der kleine Junge gelegentlich zurück. Seine Pfeile waren besser gezielt und veranlassten die wütenden Banditen, die Köpfe einzuziehen. Einen Augenblick später raste das Boot um eine Flussbiegung und verschwand. Wieder der Lichtblitz, danach die Dunkelheit. Er stand in rauem, sumpfigem Gelände, es war Nacht. Doch vor ihm brannten mehrere Gebäude, und die Flammen beleuchteten die Gegend. Stechender Holzrauch brannte in seinen Augen und ließ ihn husten. Es war eine chaotische Szene. Überall rannten Leute, und er brauchte einen Augenblick, um zu verstehen. Dort war eine kleine Schlacht im Gange, ein Überfall auf eine bescheidene Siedlung, wie es aussah. Die Verteidiger sammelten sich gerade erst. Er sah vom Pferd 214 gestürzte Räuber, die aufgespießt worden waren. Gruppen von Männern bearbeiteten einander mit Breitschwertern. Überall war ein wildes Handgemenge im Gange. Erwartungsvoll sah er sich um. Der alte Mann fiel ihm sofort auf. Er hatte sich nicht verändert, er lief durch das Getümmel und brüllte Befehle. Dann sah er den Jungen, obgleich man ihn jetzt eher als Jugendlichen bezeichnen musste. Er war fünfzehn oder sogar schon älter und suchte nicht mehr den Schutz des Mannes. Er teilte so gut aus wie die anderen, wenn nicht sogar besser, und er kämpfte nicht nur, sondern leitete die anderen Kämpfer an. Mit fließender Eleganz bewegte er sich, machte seine Gegner nieder, feuerte seine Kameraden an und zeigte kein Erbarmen mit den Feinden. Mitten im Gefecht drehte sich der Junge um und schaute in seine Richtung. Es schien, als träfen sich ihre Blicke, obwohl der Beobachter unsichtbar war. Ln diesem Augenblick des Kontakts, ob wirklich oder eingebildet, erkannte der körperlose Zuschauer den Jungen, oder er bekam vielmehr die Bestätigung für etwas, das er im
Grunde längst wusste. Es dauerte nur einen kleinen Moment. Das unerträglich grelle Licht war wieder da, und darauf folgte eine Dunkelheit, die ihn verschluckte. 215 Er hätte einen Palast haben können. Er entschied sich für ein Zelt. Er hätte Bankette ausrichten und feine Speisen essen können, doch er bevorzugte Soldatenrationen. Er hätte sich fein herausputzen können, doch er wählte einfache Kleidung. Er hätte den Besiegten das Leben nehmen können, doch er ließ Gnade walten. Er hätte Reichtümer und Frauen haben können, doch er beschloss, bescheiden und keusch zu leben. Er hätte ein Tyrann werden können, doch er war nachsichtig. Wegen dieser und wegen anderer Qualitäten liebten ihn seine Anhänger. Sie liebten ihn beinahe so sehr, dass sie die Angst nicht mehr spürten. Der Kriegsherr Zerreiss - der Schatten der Götter, die samtene Axt, der Mann, der von der Sonne fiel, und der Träger eines Dutzends weiterer Beinamen, die er nicht angenommen hatte, sondern die man ihm gegeben hatte war, äußerlich betrachtet, ein bemerkenswert unauffälliger Mann. Viele fanden dies bei einem Menschen, der so viel erreicht hatte, überraschend, als 217 müsste die Natur einem Eroberer auch äußerlich besondere Eigenschaften schenken. Die Wahrheit war jedoch, dass er in beinahe jeder Hinsicht unauffällig war. Seine körperliche Erscheinung war bestenfalls durchschnittlich, und sein Gesicht konnte man, wenn man ihn zum ersten Mal sah, leicht wieder vergessen. Abgesehen von der einzigartigen Tatkraft, die es belebte - einer eigenartigen, undefinierbaren Kraft, die ihm eine ganz besondere Aura verlieh. Die Welt mochte ihn einen Barbaren nennen, doch er war kein Tyrann. Allerdings war er ein Despot, und viele sahen dies als kleinen, aber wichtigen Unterschied. Er war kein Tyrann, der einen Krieg begann, wenn er keinen Ausweg mehr sah, und er bemühte sich, nicht unnötig Leben zu zerstören. Er war despotisch, wenn es darum ging, sein Gebiet zu erweitern, und wenn er darauf beharrte, dass die Geschenke, die er seiner Ansicht nach zu geben hatte, auch angenommen werden müssten. Erst wenn er in dieser Hinsicht auf Ablehnung stieß, kam seine härtere Seite zum Vorschein. Drunten im Tal bereitete sein Heer wieder einmal eine Belagerung vor, weil der Gegner anscheinend nicht einlenken wollte. Seine Truppen sahen sich einer bemerkenswerten Festung gegenüber: eine weitläufige Anlage, die im Schein von unzähligen magischen Lichtquellen und Entladungen schimmerte. Sie war gut bemannt, reichlich mit Vorräten ausgestattet und noch nie eingenommen worden. Doch seine Horde war guter Dinge, denn alle wussten, dass ihr Kriegsherr den Schlüssel zum Sieg in der Hand hielt. Es schneite. In den Einöden im Norden brach der Winter viel früher an, und bisher war das Wetter mild 218 im Vergleich zu dem, was noch kommen sollte. Doch der Beginn der kalten Jahreszeit war ein guter Grund, die Sache möglichst schnell zu erledigen. Niemand bezweifelte, dass es ihm gelingen würde. Zerreiss betrat sein Kommandozelt wie irgendein anderer Offizier. Kein großartiger Auftritt, keine Fanfaren, kein Gefolge. Doch sein Erscheinen ließ die Generäle und Helfer, die dort arbeiteten, sofort auffahren. Er rief zwei seiner wichtigsten Adjutanten zu sich. »Haben wir schon eine Antwort auf unseren Vorschlag bekommen, Sephor?« »Bisher noch nicht, Sir«, erwiderte der Jüngere der beiden. »Sollen wir noch einen Gesandten schicken?« »Nein. Sie haben Stoff zum Nachdenken, und das sollen sie jetzt erst einmal tun.« Er wandte sich an den anderen Mann. »Weilern.« »Sir?« Der ältere Soldat nahm unwillkürlich Haltung an, obwohl Zerreiss nur selten solche Gesten des Gehorsams verlangte. »Ist alles bereit, was unsere Truppen und ihre Bedürfnisse angeht?« »Alles erledigt, Sir. Sie warten schon auf Eure Befehle.« »Gut. Dann wollen wir hoffen, dass ich sie nicht geben muss. Wie sieht es denn mit der Suche nach magischen Spuren aus, Sephor?« »Ihr hattet Recht, Sir, was die Kraftlinien in dieser Gegend angeht. Es scheint, als kreuzten sich unter der Stadt mindestens drei Linien. Zweifellos wurde sie deshalb an dieser Stelle gegründet.« »Also das Übliche. Die elenden Gründer«, grollte Zerreiss. »Die haben eine Menge auf dem Kerbholz.« 219 »Somit sehen wir uns der vollen Bandbreite magischer Munition gegenüber«, fügte Sephor hinzu. »Natürlich abhängig davon, wie es ausgeht.« »Ich glaube, wir können ziemlich sicher sein, wie es ausgeht.« Er wandte sich an den zweiten Adjutanten. »Sage mir, Weilern, was glaubst du, wie die da unten antworten werden?« Der Kriegsherr liebte es, solche Fragen zu stellen, und er war durchaus für offene Antworten zu haben. »Sie werden nicht aufgeben, würde ich sagen, Sir. Ich an ihrer Stelle würde es jedenfalls nicht tun.« »Das ist die Antwort, die ich von einem alten Kämpfer erwartet habe, mein Freund. Wie lautet deine Begründung?« »Nun, abgesehen von der offensichtlichen Tatsache, dass sie sich von jemandem angegriffen sehen, dem sie
nichts getan haben, würde ich sagen, dass sie keinen Grund erkennen, einen Wechsel der Herrscher hinzunehmen. Von ihrem Standpunkt aus seid Ihr hier, um ihnen etwas wegzunehmen, und nicht, um ihnen etwas zu geben.« »Anders ausgedrückt, ist es die Angst vor dem Unbekannten. Die übliche Reaktion.« »Wir wollen hoffen, dass es auch den üblichen Verlauf nimmt, Sir.« »Am Ende wird es so kommen«, versicherte Zerreiss ihm. »Ich wünschte nur, wir könnten dieses Ziel ohne Blutvergießen erreichen.« »Es ist ein Krieg, Sir«, warf Willem ein. »Ja, da hast du Recht.« Das Gesicht des Anführers verriet echten Kummer. »Kennst du die Geschichte von Sythea?« Natürlich kannten sie die Geschichte, denn diese 220 alte Legende war im Norden wohlbekannt. Doch Zerreiss gefiel es, hin und wieder in Gleichnissen zu sprechen, und so taten sie so, als wäre es ihnen neu. »Die Männer von Sythea«, begann er, »lebten tief verborgen in den Höhlen von Bariall und glaubten, ihnen sei eine große Gnade zuteil geworden. In ihren unterirdischen Höhlen fanden sie Schutz, und sie hatten es warm, sie konnten Pilze essen und Trinkwasser aus unterirdischen Flüssen schöpfen. Sie hatten sogar etwas Licht, weil es glühende Mineralien und phosphoreszierende Flechten gab. Die Sytheaner wussten, dass irgendwo weit über ihnen eine andere Welt existierte, und gelegentlich wagte sich auch eine besonders mutige Seele nach draußen, ohne je zurückzukehren. Im Grunde aber waren diesen Höhlenmenschen die anderen Welten einerlei. Warum sollten sie sich auch um andere Welten kümmern? In ihrem Reich hatten sie alles, was sie brauchten, und sie glaubten, ihre dunklen Höhlen und sie selbst stünden unter dem Schutz ihrer Unterweltgötter. Aber wisst ihr, wie sich dies alles dann verändert hat?« Natürlich wussten sie es, denn sie hatten die Geschichte schon viele Male gehört. »Eine Flut, Herr«, erwiderte Sephor pflichtschuldigst. »Allerdings, eine Flut.« Manchmal führte Zerreiss sich auf wie ein Lehrer, der kleine Kinder unterrichtete, oder wie ein Priester, der seiner Gemeinde predigte. Irgendwie verstand er sich aber darauf, dennoch nicht herablassend zu wirken. »Ihre unterirdischen Flüsse und Seen schwollen an, weil es an der Oberfläche ungewöhnlich schwere Regenfälle gab, was sie aber natürlich nicht wissen konnten. Das Wasser stieg immer weiter, und sie mussten immer höher 221 klettern, bis sie schließlich keine andere Wahl mehr hatten, als ihre Höhlen zu verlassen und sich der fremden Welt an der Oberfläche auszusetzen. Sie hatten dort große Angst, und viele waren störrisch und klammerten sich an das, was von ihrem unterirdischen Königreich noch übrig war. Nach einer Weile fanden sie den Tod. Die anderen aber, die mutiger oder auch verzweifelter waren, wagten sich ganz hinaus. Diejenigen, die sich an der Oberfläche bewährten, obwohl sie vom Licht fast geblendet wurden, fanden eine wundervolle, fruchtbare Welt vor. Natürlich besagen die Legenden, aus ihnen seien die Menschen entstanden, die wir heute kennen. Manche glauben, die Götter jener Welt hätten die Flut geschickt, um die Bewohner aus den Höhlen zu treiben, damit die Entwicklung der wahren Menschheit endlich ihren Anfang nehmen konnte.« Fast theatralisch hielt er inne. »Ich bin die Flut.« »Kein Gott?«, gab Sephor scherzend zurück. Es sprach für den Großmut seines Herrn, dass solche Kommentare möglich waren. Zerreiss lächelte. »Nein, ich bin kein Gott, obschon es manch einen gibt, der mich so sehen möchte. Mag sein, dass ich ein Werkzeug der Götter bin, falls Götter überhaupt existieren. Nun schau nicht so erschrocken drein, Weilern. Du kennst doch meine Ansichten über diese Dinge.« »Ja, Sir. Es liegt wohl an meiner Erziehung. Verzeihung, Sir.« »Niemand soll sich für etwas entschuldigen müssen, das er glaubt, mein Freund. Du hast nie erlebt, dass ich in den Ländern, die wir erobert haben, irgendeinen Glauben unterdrückt hätte, und ich werde 222 auch jetzt nicht damit beginnen. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass die Menschen zu gegebener Zeit schon ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen werden, was sie in dieser Hinsicht für richtig oder für falsch halten wollen.« »Das gereicht Euch zur Ehre, Sir.« »Wie ihr wisst, hatten die Kommandanten früher Helfer, deren Aufgabe es war, den Feldherren in die Ohren zu flüstern, dass ihre Siege und Triumphe vergänglich waren wie das Leben selbst. Wenn nicht gar Illusionen.« Er lächelte wieder. »Keine Sorge, das werde ich nicht von euch verlangen. Ich brauche keine Einflüsterer. Diese Stimme höre ich auch so schon in meinem Kopf.« Er hob eine Hand an die Schläfe. »Aber ich schweife ab. Ich glaube, ihr wisst, worauf ich mit der Geschichte über die Sytheaner hinauswollte. Die Menschen in der Stadt da unten sind Höhlenmenschen, aber das ist nicht ihre eigene Schuld. Sie sehen keinen Grund, ihre bequemen Höhlen zu verlassen. Unsere Aufgabe ist es, sie ins Licht zu bringen. Ins wirkliche Licht.« Er ließ die Worte wirken, ehe er fortfuhr. »Warum folgt ihr mir?« Wäre die Antwort von einem echten Tyrannen gestellt worden, dann hätten seine Untertanen sich gewunden vor
Furcht, eine falsche Antwort zu geben. Nicht so bei Zerreiss. »Weil Ihr ein großer Eroberer seid, Sir«, sagte Weilern. »Genau die Antwort, die ich von einem alten Soldaten erwartet hätte.« Er wandte sich an den jüngeren Adjutanten. »Sephor?« »Weil Ihr gerecht seid, Sir, und weil Ihr das Leben der Menschen verbessern wollt.« 223 »Ich will sie ins Licht bringen, ja. Aber ich sage, dass ihr nicht mir folgt, sondern dem, was ich habe oder dem, was ich bin. Nicht dem Mann folgt ihr, sondern gewissermaßen dem Funken, den er in sich hat.« Das Bild schien ihm zu gefallen. »Wir sind also fest entschlossen? Wir sind einig, was die Rechtmäßigkeit unseres Kreuzzuges angeht?« »Ja, Sir«, sagten sie gleichzeitig. »Dann bin ich ein gesegneter Mann.« Mit wohlwollendem Lächeln wandte er sich an sie. »Und jetzt zu praktischeren Dingen. Was wissen wir über die beiden Schiffe, die von den Reichen zu uns geschickt wurden?« »Sie machen ein Wettrennen daraus, Sir«, berichtete Sephor. »Es ist schwer zu sagen, welches zuerst unsere Gewässer erreichen wird.« »Wenn sie hier eintreffen, dann müssen wir bereit sein.« »Begegnen wir ihnen als Freund oder Feind?« »Ich muss mir erst noch überlegen, welche Reaktion angemessen ist.« »Bei allem Respekt, Sir«, sagte Weilern, »wäre es nicht gefährlich, Gath Tampoor oder Rintarah gegen uns einzunehmen?« »Man sollte die Frage besser andersherum stellen: Wäre es klug, wenn sie gegen mich Position bezögen?« »Vielleicht brauchen sie einfach nur eine Zusicherung, dass Ihr Euren Einfluss begrenzen werdet, Sir«, meinte Sephor. »Wir dringen freilich immer weiter nach Süden vor.« »Ja, Sir. Aber werden wir nicht eines Tages irgendwo aufhören?« »Aufhören? Wir haben gerade erst begonnen.« 224 Ein Bote kam und unterbrach die Diskussion. Er war blau gefroren und mit Schnee überkrustet. Schaudernd stampfte er mit den Stiefeln, während er salutierte. »Wir haben Nachricht bekommen, Sir.« »Du bist erschöpft, Leutnant«, sagte Zerreiss. »Etwas Warmes zu trinken für diesen Mann!« Dann trat er zu ihm. »Wie lautet ihre Entscheidung? Ja oder nein?« »Sie weigern sich aufzugeben, Sir.« Zerreiss seufzte. »Dann muss ich also wieder einmal etwas unternehmen.« Er ging zum offenen Ausgang des Zelts und blickte hinunter auf die Stadt und die große Festung, die sich von ihr ernährte. Das flackernde Licht und das Schneetreiben gaben der Szenerie etwas Gespenstisches. Seine Adjutanten traten neben ihn. »Wir wollen es hinter uns bringen«, entschied er. »Die Truppen sollen sich bereitmachen, wir kommen zum Endspiel.« Er hob beide Hände. Was dann geschah, ließ alle in seiner Nähe denken, dass er am Ende vielleicht doch ein Gott war. Bislang hatte das, was der Kriegsherr tat, auf den gemäßigten Süden kaum Auswirkungen gehabt. Außerdem hatte man näher an der Heimat erheblich wichtigere Probleme zu lösen. In einem heruntergekommenen, fast gesetzlosen Viertel Valdarrs, nicht weit vom Hafen entfernt, hatte man hastig ein Versteck eingerichtet. Das Gebäude war eine aufgegebene Kirche, deren Gemeinde verschwunden war, als es mit dieser Gegend bergab gegangen war. Ein neues, vom Reich gebautes Haus der Anbetung in einer angenehmeren Gegend hatte den Rest der Gläubigen übernommen. Die ehemalige 225 Kirche war vernagelt und staubig und für die Zwecke des Widerstands sehr gut geeignet. Phönix und Caldason standen in einer Ecke vor einer leuchtenden, an der Wand befestigten Karte. Der Magier hatte zur Abwechslung einmal keine magische Verkleidung angelegt. »Seht Ihr das?« Er deutete auf einen von zahlreichen Lichtpunkten vor Bhealfas Nordküste. »Ja. Und Ihr seid sicher, dass es der richtige Ort ist?« »Absolut sicher kann man nie sein«, gab Phönix zu. »Aber der Bund studiert das Geheimnis der Clepsydra nun schon seit vielen Jahren, und alles deutet auf diese kleine Insel hin.« Er tippte auf die Karte. »Wirkliche Gewissheit habt Ihr aber nicht«, wandte Caldason ein. »Mehr können wir nicht anbieten, abgesehen davon, selbst hinzufahren.« »Was Ihr aber hoffentlich nicht tun werdet, Reeth«, sagte Karr. Er war unbemerkt zu ihnen getreten. »Oder wenn, dann nur im Rahmen einer Mission des Widerstands.« »Wir haben eine Abmachung, oder nicht?« »Die haben wir. Ich weiß aber, wie frustrierend diese Warterei für Euch sein muss.« »Ich war neugierig und habe Phönix gebeten, mir zu zeigen, wo dieser Ort liegt. Andererseits hat meine Geduld durchaus Grenzen, Karr. Habt Ihr eine Ahnung, wann es losgeht?« »Ehrlich gesagt nicht, zumal jetzt auch noch Kinsel verhaftet worden ist. Außerdem ist immer noch nicht geklärt, wie wir Darrok das Gold liefern.«
»Ich dachte mir schon, dass Euch das beschäftigt.« 226 »Nun ja, wenigstens schmollt Ihr nicht gleich, sobald man es erwähnt. Das ist immerhin ein Fortschritt.« »Ich denke darüber nach.« »Das freut mich zu hören.« Karr strahlte. »Aber nehmt nichts für gegeben. Wie ich schon sagte, meine Geduld hat Grenzen.« »Sollten wir uns nicht zunächst um die nahe liegenden Dinge kümmern?«, erinnerte Phönix ihn. »Ja, natürlich«, stimmte Karr zu. Sie wechselten alle ins Mittelschiff der ehemaligen Kirche, wo sich weitere Personen aufhielten. Einige saßen auf Bänken, ein paar hatten es sich auf dem Boden bequem gemacht. Caldason schob sich neben Serrah. Auch Kutch war da, bei ihm war Quinn Disgleirio. Phönix unterhielt sich ein Stück abseits mit Karrs unermüdlicher Verwaltungsbeamtin Goyter, die wie üblich einen Stapel Dokumente herumschleppte. Die übrigen etwa zwanzig Personen kannte Caldason mehr oder weniger gut. Es handelte sich um hochrangige Mitglieder des Bundes, der Gerechten Klinge und einiger anderer Gruppen, die mit dem Widerstand zusammenarbeiteten. Weniger als die Hälfte gehörte dem Vereinigten Revolutionsrat an, denn man achtete darauf, dass sich niemals zu viele wichtige Funktionäre gleichzeitig am selben Ort aufhielten. Karr trat vor die Gruppe und begann, ohne Einleitung zu sprechen. »Wir haben zu viel zu tun, um uns lange hier aufzuhalten, von Fragen der Sicherheit mal ganz abgesehen. Deshalb will ich mich so kurz wie möglich fassen. Ich brauche nicht zu betonen, dass wir uns eine gewaltige Aufgabe aufgebürdet haben. Der bevorstehende Um227 zug ist eines der größten Unternehmen der jüngeren Geschichte, und bisher läuft alles mehr oder weniger nach Plan. Angesichts der Schwierigkeiten, die wir bisher hatten, und nicht zuletzt, da die Behörden immer schärfer gegen die Zivilbevölkerung vorgehen, ist dies bemerkenswert.-« »Er sieht immer noch krank aus«, flüsterte Serrah. »Sogar etwas schlechter, fürchte ich«, gab Caldason zurück. »Wir wollen mit diesem Treffen zwei Dinge erreichen«, fuhr der Patrizier fort. »Zuerst einmal wollen wir Eure Berichte über Eure jeweiligen Verantwortungsbereiche hören. Auf diese Weise gewinnen wir ein genaues Gesamtbild. Zweitens ist dies eine Gelegenheit, Eure Gegenstücke in anderen Gruppen kennen zu lernen, Gedanken auszutauschen und Euch vielleicht auch gegenseitig bei Problemen zu helfen, die Ihr habt. Wir werden es einfach halten. Es ist nicht nötig, Namen zu nennen. Sagt uns einfach nur, welche Position oder Funktion Ihr bekleidet und wie Ihr vorankommt. Habt Ihr verstanden? Gut. Wer ist der Erste?« Etwa die Hälfte der Anwesenden hob die Hand. »Ja, Ihr dort.« Er deutete auf einen vierschrötigen Mann mit Vollbart in der ersten Reihe. »Verschiffung«, sagte der Mann unumwunden und stand auf. »Unsere Flotte hat etwa zwei Drittel des Umfangs, den wir benötigen, aber unsere Marine ist so erbärmlich, dass man es kaum glauben mag.« Die Bemerkung wurde hier und dort mit Gelächter quittiert. »Wir könnten natürlich noch mehr Schiffe gebrauchen. Schiffe jeder Klasse. Besonders fehlen uns auch erfahrene Seeleute, die sich auf deren Führung verstehen.« Er setzte sich. 228 »Wir tun in dieser Hinsicht, was wir können«, versicherte Karr ihm. »Wir haben die Gruppen verstärkt, die unterwegs sind, um Schiffe zu kaufen und zu stehlen, und wir untersuchen sogar, ob es möglich ist, eigens Schiffe zu bauen. Sie müssen nur eine einzige Überfahrt aushalten, also sollte dies nicht zu schwierig sein. Und jetzt...« Er sah sich in der Runde um. »Ihr.« Ein dünner Mann, kahlköpfig und in mittleren Jahren, stand auf. »Transport, darunter auch Versorgung mit Pferden, Maultieren, Ochsen und anderen Arbeitstieren. Wir haben das Glück, mit einer erneuerbaren Ressource zu arbeiten, und wir haben schon eine ganze Anzahl von Herden, die sich weiter vermehren werden. Dazu einen ordentlichen Vorrat an Wagen.« Er setzte sich, und eine etwa gleichaltrige Frau, die weit vorn saß, meldete sich zu Wort. »Auch wir haben mit erneuerbaren Ressourcen zu tun. Was das Trinkwasser angeht, so wissen wir, dass es genügend Quellen und Brunnen auf der Insel gibt. Wir haben Vorräte von getrockneten Nahrungsmitteln, aber ich mache mir Sorgen, dass die Nahrung knapp werden könnte.« Sie wandte sich ans Publikum, um es zu erklären. »Zwischen dem Zeitpunkt, an dem die mitgenommenen Lebensmittel zur Neige gehen, und der ersten Ernte könnte eine gewisse Zeit vergehen. Ich glaube, meine Kollegin, die für die Landwirtschaft zuständig ist, kann dazu etwas sagen.« Sie nickte einer anderen Frau zu, die als Nächste aufstand. »Ich bin recht zuversichtlich, dass wir auf der Insel genügend Nahrungsmittel anbauen können. Die zentralen Ebenen sind fruchtbar, der Boden ist gut und lässt sich leicht entwässern, auch wenn man natürlich immer mit schlechtem Wetter rechnen muss. Wir ha229 ben noch einige Lücken beim Saatgut, und ich würde mich freuen, wenn uns dabei jemand helfen könnte. Ich könnte auch noch mehr Leute gebrauchen, die bei den Feldfrüchten und der Tierzucht helfen, ganz zu schweigen von erfahrenen Fischern.« Karr wählte einen weiteren Sprecher aus.
»Da bekommt man einen Eindruck vom Maßstab dieses Projekts, was?«, meinte Kutch mit gedämpfter Stimme. Caldason nickte. Nun war ein kleiner, muskulöser Mann mit grauem, schulterlangem Haar an der Reihe. »Waffenschmied«, erklärte er. »Ich spreche auch für die Bogenmacher, die Schwertschmiede und allgemein für die Bruderschaft der Waffenbauer. Wir haben einen beachtlichen geheimen Vorrat aufgebaut. Klingen gibt es reichlich, außerdem Bogen, Pfeile, Speere und Äxte. Schilde, Kettenpanzer und Helme sind vielleicht noch etwas knapp. Dies liegt eher am Mangel an brauchbarem Material als an geschickten Arbeitern.« »Gebäude und Befestigungen«, sagte der nächste Mann. »Auch wir haben ein Materialproblem. Holz ist vorhanden, aber es wird nicht lange reichen, wenn wir beginnen. Es gibt Stein, den wir abbauen können, und wir können die existierenden Gebäude anpassen, aber wir müssen überlegen, woher wir Holz importieren können. An Arbeitskräften dürfte kein Mangel herrschen, zumal vor allem Hilfsarbeiter gebraucht werden. Und ich würde meinen, dass eine Menge Leute dorthin wollen.« »Darauf könnt Ihr wetten«, stimmte Karr zu, »wenn die Götter es wollen. Quinn, was könnt Ihr berichten?« 230 Disgleirio stand auf. »Die Bruderschaft der Gerechten Klinge kümmert sich um die Verteidigung der Insel, um die Ausbildung im Kriegshandwerk und um die allgemeine Sicherheit. In allen Punkten können wir unsere Ziele erreichen. Doch ich will daran erinnern, dass wir eine Volksmiliz aufstellen wollen, sobald die Insel gesichert ist. Das heißt, dass jeder, der eine Waffe tragen kann, zur Verteidigung beitragen soll. Die Mitglieder der Klinge übernehmen die Ausbildung. Davon abgesehen, bauen wir so rasch wie möglich ein stehendes Heer auf. Also gebt bekannt, dass wir gesunde, motivierte Männer und Frauen suchen.« Ihm folgte ein pummeliger, wettergegerbter Mann mit schwarzem Haar und Ziegenbärtchen. »Ich spreche für die Handwerker. Dazu gehören Hufschmiede, Wagner, Tischler, Glasbläser, Töpfer und so weiter. Unsere Zünfte sind in den Reihen des Widerstands gut vertreten. Wie meine Vorredner muss auch ich sagen, dass unser größtes Problem die Versorgung mit Material ist, und wir könnten auch mehr Brennstoff für unsere Öfen, Kohlenpfannen und Schmelzöfen gebrauchen.« Phönix sprach über magische Vorkehrungen und die Rolle, die der Bund spielen sollte. Goyter, die sich um die Logistik kümmerte, bat um mehr Schreiber und Gelehrte, die mit Zahlen umgehen konnten. Es gab noch weitere Redner, die jeden Aspekt behandelten, der mit dem Aufbau des neuen Rebellenstaates verbunden war. Sie berichteten über ihre Fortschritte und Fehlschläge, über ihre Bedürfnisse und Schwierigkeiten. Endlich, nachdem alle gesprochen hatten, ergriff Karr wieder das Wort. »Viele von euch fragen sich, wann der Umzug statt231 finden soll. Es ist leider nicht möglich, ein bestimmtes Datum festzulegen. Ich kann nur sagen, dass der günstigste Augenblick gewählt werden wird, und dass Ihr so frühzeitig wie möglich unterrichtet werdet. Einige unserer Leute sind schon auf Batariss und bereiten unsere Ankunft vor. In gewisser Weise hat der Auszug also sogar schon begonnen.« Er hielt inne und sah sich um. »Nun, da ich die Bühne der Politik verlassen habe, um mich ausschließlich unserer Sache zu widmen ...«, er wurde durch Beifall und einige laut gerufene Komplimente unterbrochen, »... nun werde ich so hart arbeiten, wie ich nur kann, damit wir möglichst bald aufbrechen können.« Serrah und Reeth wechselten besorgte Blicke, während die anderen applaudierten. »Und nun zu einem weniger erfreulichen Thema«, fuhr Karr fort und brachte die Leute zum Schweigen. »Viele von euch werden sicher schon gehört haben, dass Kinsel Rukanis, ein großer Unterstützer unserer Sache und ein Mann, den ich als guten persönlichen Freund betrachte, verhaftet worden ist. Wir wissen nicht, welche Anklage, wenn überhaupt, man gegen ihn erheben wird. Ich bin sicher, dass eure Gedanken und Gebete ihm und seiner Familie gelten. Kinsel ist ein Ehrenmann, der nicht im Traum daran denken würde, zu verraten, was er über unsere Aktivitäten weiß. Doch wenn wir es realistisch betrachten, dann müssen wir berücksichtigen, dass er von entschlossenen und skrupellosen Feinden festgehalten wird, die vor keiner Grausamkeit zurückschrecken. Wir müssen das Schlimmste annehmen und uns entsprechend verhalten. Bevor ihr heute Abend hier weggeht, werdet ihr erfahren, welche sicheren Häuser Ihr in Zukunft 232 meiden und welche Kontakte ihr nicht mehr pflegen solltet, und ihr werdet alles hören, was Kinsel über uns gewusst haben könnte. Es tut mir Leid, dass wir mit einer so betrüblichen Mitteilung schließen müssen. Doch jetzt ergreift bitte die Gelegenheit, euch untereinander bekannt zu machen, zu reden und Ideen auszutauschen.« Als die Runde sich auflöste, wandten sich Serrah und Reeth an Disgleirio. »Gibt es etwas Neues von Kinsel?«, fragte Serrah. »Nichts, und es liegt nicht daran, dass wir es nicht versucht hätten. Ich habe mehr Augen und Ohren aufgesperrt, als ... nun ja, als ich gewöhnlich überhaupt habe. Aber sie halten ihn fest unter Verschluss. Wie geht es Tanalvah?« »Ungefähr so, wie man es erwarten würde. Sie ist im Augenblick bei guten Freunden und wird bewacht. Ich gehe gleich selbst wieder zu ihr.« »Was glaubt Ihr, wie seine Chancen sind?«, fragte Caldason. »Was für Chancen?«, gab Disgleirio zurück. »Einen raschen Tod zu finden? Ein langes Gefängnisurteil zu
bekommen? Ich will nicht schwarz malen, aber in einer Situation wie dieser gibt es nicht mehr viele Möglichkeiten.« Serrah war nicht sehr glücklich darüber. »Wir können ihn doch nicht so einfach aufgeben.« »Das sagt ja auch niemand. Die Frage ist allerdings, was wir überhaupt noch ausrichten können.« »Vieles ist möglich, wenn man den Willen hat«, gab Caldason zurück. In diesem Augenblick kam Phönix zu ihnen. Disgleirio wandte sich sofort an ihn. 233 »Sagt diesen beiden, was Ihr mir vorhin gesagt habt.« »Was meint Ihr denn?« Dann dämmerte es ihm. »Oh, ja, diese Sache. Ich wollte eigentlich kein solches Aufheben darum machen, Quinn.« »Was ist es denn?«, fragte Serrah, deren Neugierde erwacht war. Der Magier antwortete nicht, also klärte Disgleirio sie auf. »Phönix wird bald seinen hundertsten Geburtstag feiern. Damit seid Ihr ja wohl Altersgenossen, nicht wahr, Reeth?« Der Qalochier betrachtete ihn mit versteinertem Gesicht. »Äh ... meinen Glückwunsch, Phönix«, sagte Serrah und hoffte, jemand werde gleich das Thema wechseln. »Danke. Wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muss noch mit einigen Leuten reden.« Damit entfernte er sich. »Ich glaube, er war verlegen«, überlegte Disgleirio. »Das ist erstaunlich für so einen alten Knaben. Aber ich muss schon sagen, Reeth, Ihr habt Euch erheblich besser gehalten als er.« Es war wohl nur als freundliche Frotzelei gemeint, doch Serrah konnte Caldason ansehen, dass dieser alles andere als amüsiert war. Sie sollte gleich darauf erlöst werden. Die Wächter hatten einen Boten hereingelassen, der sich direkt an den Vertreter der Gerechten Klinge wandte. Nach einer kurzen geflüsterten Unterhaltung entließ Disgleirio ihn wieder. »Nun, es gibt Neuigkeiten«, klärte er Serrah und Reeth auf. »Es scheint, als sei soeben eine bedeutende Persönlichkeit aus Gath Tampoor eingetroffen.« »Wer denn?«, fragte Serrah. 234 »Das wissen wir noch nicht. Aber sie war wichtig genug, um ein eigenes Schiff und eine schwere Eskorte zum Hauptquartier der Paladine zu bekommen.« »Nehmt Ihr an, es hat mit Kinsel zu tun?« »Das ist eine nahe liegende Annahme. Ein hochrangiger Beamter trifft kurz nach der Verhaftung einer bekannten Persönlichkeit ein - das ist doch höchstwahrscheinlich kein Zufall, oder? Und wir haben nichts davon gehört, dass ein offizieller Besuch bevorstehe.« »Habt Ihr eine Ahnung, wer es sein könnte?«, fragte Caldason. »Nur ein paar ungute Vorahnungen.« »Nämlich welche?« »Wenn sie nun einen wirklich geschickten Verhörspezialisten hergebracht haben? Oder einen Foltermeister?« »Ich dachte, sie hätten bereits gute Leute hier stationiert.« »Wisst Ihr, was ich glaube? Ich glaube, Karr unterschätzt den Schaden, den Rukanis anrichten könnte. Er weiß eine Menge über unser Projekt, und falls ... Nun, wenn er redet, dann könnte er uns alle in Gefahr bringen. Wir sollten alles Menschenmögliche tun, um das zu verhindern.« »Was wollt Ihr damit sagen, Disgleirio?« »Er war ein Gewinn für unsere Sache. Jetzt ist er durch eine schicksalhafte Wendung oder durch Verrat zu einer Gefahr geworden. Ich will nicht hartherzig erscheinen, aber wenn wir Rukanis nicht retten können ...« »Fahrt fort.« »... empfehle ich, ihn zu ermorden.« 235 Die Paladin-Clans rühmten sich damit, dass noch kein Gefangener aus ihrem Hauptquartier in Valdarr geflohen war. Nicht, dass es niemals Einbruchs oder Ausbruchsversuche gegeben hätte, doch alle waren fehlgeschlagen und hatten mit dem Tod der Beteiligten geendet. Wichtige Gefangene wurden, was man vielleicht nicht erwartet hätte, keineswegs in schlecht beleuchteten Kerkern tief unter der zentralen Festung verwahrt. Sie wurden vielmehr in aller Öffentlichkeit festgehalten. Auf dem Gelände gab es eine weite Lichtung, auf der kein Baum stand und kein Stein lag. Nicht einmal ein Grashalm durfte dort wachsen. Die Lichtung wurde Tag und Nacht von Posten bewacht, denen aufs Töten abgerichtete Hunde an ausrollbaren Leinen zur Verfügung standen. Die zweite Verteidigungslinie war sogar noch gefährlicher: eine Reihe von schützenden Sprüchen der höchsten Ordnung. Zauber, die einen ohrenbetäubenden Alarm auslösten, während sie jeden verletzten, verstümmelten und 237 töteten, der es etwa wagen sollte, sich ihnen unerlaubt zu nähern. Mitten auf der Lichtung stand ein Gebäude. Es war ein fensterloser, einstöckiger Steinbau mit flachem Dach und massiver Tür. Man hatte sich keine Mühe gegeben, die verwitterten, einförmig grauen Außenwände auf
irgendeine Weise zu verschönern. Drinnen gab es nur sechs Räume. Vier davon waren Zellen. Die anderen beiden wurden verharmlosend als Konsultationszimmer bezeichnet. Im Augenblick hatte dieses Gebäude nur einen Bewohner. Man hatte Kinsel Rukanis Essen, Wasser und vor allem Schlaf vorenthalten. Er war fast pausenlos verhört worden, und man hatte ihm Gewalt angetan, auch wenn es eher grobe Behandlung denn Misshandlung zu nennen war. Seine Häscher wollten vor allem wissen, wer aus dem Widerstand ihm bekannt sei und wie die Organisation aufgebaut sei. Bisher hatte er sich geweigert, diese Fragen zu beantworten. Die letzten paar Stunden hatte er mit gefesselten Händen vor einem sichtlich aufgebrachten Devlor Bastorran ungemütlich auf einem harten Holzstuhl gesessen. »Ihr wisst, dass diese Einstellung Euch nicht hilft, nicht wahr?«, sagte der Paladin. »Ich bemühe mich doch, Eure Fragen so gut wie möglich zu beantworten.« »Ihr habt bisher keine einzige Frage beantwortet.« »Ich kann nur über Dinge etwas sagen, von denen ich auch etwas weiß. Wenn Ihr darauf besteht, mich nach Dingen zu fragen, die jenseits meiner ...« 238 »Ach, nun hört schon auf, Rukanis. Wir wissen doch ganz genau, dass Ihr bis zum Hals in terroristische Aktivitäten verwickelt seid.« »Diese Anschuldigung weise ich zurück«, antwortete er zornig. »Terrorismus ist etwas, das ich niemals ...« »Wir haben Beweise und Zeugen.« »Dann konfrontiert mich mit ihnen. Klagt mich an und bringt mich vor Gericht. Als Bürger des Reichs habe ich das Recht auf eine ordentliche Verhandlung.« »Unter den neuen Notstandsgesetzen werden den Bürgern die Bürgerrechte nur insoweit zuerkannt, wie es den Strafverfolgungsbehörden angemessen erscheint«, zitierte Bastorran. »Wie soll ich denn unter diesen Bedingungen meine Unschuld beweisen?« »So weit es uns betrifft, ist die Frage Eurer Unschuld bereits beantwortet.« »Wenn das so ist, warum sollte ich dann kooperieren?« »Weil es für Euch erheblich leichter wird, wenn Ihr es tut.« »Zeigt mir auch nur ein einziges Gesetz, das ich gebrochen habe. Bringt mir ein Beispiel für ...« »Es geht nicht so sehr um das, was Ihr getan habt. Uns interessieren vor allem Eure Freunde in der so genannten Widerstandsbewegung. Erzählt uns von ihnen, und Ihr werdet sehen, wie entgegenkommend wir sein können. Wenn Ihr uns aber weiter behindert ...« Er ließ die Drohung in der Luft hängen. »Ich fürchte, ich kann Euch nicht helfen.« »Ihr fürchtet es? Ihr wisst nicht, was Furcht bedeutet ...« Es klopfte leise an der offenen Zellentür. Ungehal239 ten drehte Bastorran sich um und sah seinen Adjutanten Lahon Meakin warten. »Ja? Was gibt es?« »Verzeihung, Sir, aber Ihr habt mich gebeten, Euch zu unterrichten, wenn unser Besucher bereit ist, den Gefangenen zu sehen.« »Ah, ja.« Er wandte sich wieder an Rukanis. »Einen Augenblick.« Zusammen mit seinem Helfer verließ er die Zelle und knallte die Tür hinter sich zu. Kinsel sank auf seinem Stuhl zusammen. Er war nicht sicher, ob er diese Tortur noch lange würde ertragen können, und es gab beunruhigende Anzeichen dafür, dass sie noch nicht einmal richtig begonnen hatten. Jetzt wurde anscheinend auch noch jemand anders hinzugezogen, auch wenn er sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wer es sein sollte. Das Öffnen der Tür unterbrach seinen Gedankengang. Devlor Bastorran kam mit einem beinahe spindeldürr zu nennenden, etwa sechzig Jahre alten Mann wieder herein. Der Mann war kahlköpfig und glatt rasiert, seine Lippen waren ein farbloser Spalt, und er hatte scharfe, strahlend blaue Augen. Seine teure Kleidung war von einer Qualität, wie man sie nur bei reichen, einflussreichen Menschen sah. Der Mann kam Kinsel irgendwie bekannt vor, doch er konnte sich nicht erinnern, wo er ihm schon einmal begegnet war. »Ihr habt Besuch«, sagte Bastorran, als wollte er ihm im Rahmen eines gesellschaftlichen Anlasses einen Gast vorstellen. »Dies ist Kommissar Laffon vom Rat für Innere Sicherheit.« Kinsel wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Dies war zweifellos ein sehr wichtiger Mann, der Leiter des 240 RIS. Und wenn das, was er über ihn gehört hatte, der Wahrheit entsprach, dann war er ein Mann von mehr als zweifelhaftem Ruf. »Danke, General, ich komme jetzt allein zurecht«, sagte Laffon zu Bastorran. Der Paladin schien beleidigt, weil er kurzerhand entlassen wurde wie ein Dienstbote. »Es könnte doch nützlich sein, wenn noch jemand bei Euch und dem Gefangenen ist«, sagte er. »Ich bin sicher, dass dies nicht notwendig ist.« Bastorran nickte knapp und ging hinaus. Die Tür ließ er halb offen. Laffon stieß sie weiter zu, bis sie nur noch
einen Spalt offen stand. Dann grinste er Kinsel breit an und trat vor, um dessen gefesselte Hände zu packen. »Ich bin ja so erfreut, Euch kennen zu lernen.« Kinsel war völlig überrascht. »Wirklich?« »Oh, ja. Ich bin ein großer Bewunderer Eurer Gesangskunst. Ich habe mehrere Eurer Auftritte in Mera-kasa gesehen.« Er setzte sich auf den Stuhl, der bis eben noch Bastorran gehört hatte. »Nun, wie geht es Euch denn?«, fragte er. Es schien eine derart absurde Frage zu sein, dass der Sänger nicht recht wusste, was er darauf sagen sollte. »Nun ja, ich ...« »Zweifellos seid Ihr verstimmt. Zornig und aufgebracht, da man Euch so behandelt. Das ist verständlich. Wir müssen diesen schrecklichen Fehler aufklären.« »Fehler?« »Ja, natürlich. Denn das ist es doch, oder? Ich meine, ein geachteter Mann wie Ihr, ein Mann in Eurer Position, würde sich doch niemals mit zwielichtigen Elementen einlassen, nicht wahr?« 241 »Ich kann Euch versichern, Kommissar, dass ich mich keinesfalls mit zwielichtigen Elementen einlassen würde.« »Das glaube ich gern. Ich war von Anfang an sicher, dass es nur ein schreckliches Missverständnis sein kann. Nicht zuletzt, weil Ihr ein so bekannter Anhänger des Pazifismus seid.« »Ich habe nie ein Geheimnis aus der Tatsache gemacht, dass ich an die Gewaltlosigkeit glaube.« »Dafür bewundere ich Euch von ganzem Herzen. Ich wünschte, ich hätte ebenso eherne Moralvorstellungen wie Ihr. Es ist nur so ... nun ja, nicht jeder empfindet wie Ihr. Es ist bedauerlich, aber so ist nun einmal die Welt, in der wir leben.« »Das ist mir bewusst. Doch was hat das mit mir zu tun?« »Die Anschuldigungen gegen Euch drehen sich vor allem um die Gesellschaft, in der Ihr Euch angeblich aufhaltet. Ihr sagt, man könne Euch in dieser Hinsicht keine Vorwürfe machen, und das akzeptiere ich natürlich. Aber angesichts der großen Zahl von Menschen, die ein Mann wie Ihr zwangsläufig trifft, besteht doch die Möglichkeit, dass einige von ihnen vielleicht Eure, wollen wir sagen, Eure Freundlichkeit ausgenutzt haben?« »Nein! Ich meine ... wie soll das möglich sein?« »Unterschätzt nicht Eure eigene Bedeutung. Ihr hattet Zugang zu bedeutenden Persönlichkeiten wie kaum ein anderer. Würdet Ihr nicht einräumen, dass Ihr vielleicht hier und dort ein unbedachtes Wort über das verloren haben könntet, was Euch zu Ohren und unter die Augen gekommen ist? Wart Ihr nie in Versuchung, einem Freund einen kleinen Gefallen zu tun?« 242 »Ich bin Sänger, kein Politiker oder Straßenkämpfer. Und gewiss kein Hilfsarbeiter oder Bote.« »Ah, Botschaften.« »Ich bitte um Verzeihung?« »Ihr habt gerade Botengänge erwähnt. Davon habe ich nichts gesagt. Ihr habt es aus eigenem Antrieb erwähnt. Ich frage mich, warum.« »Nun, ausgehend von dem, was Ihr gesagt habt, schien es mir nur natürlich anzunehmen, dass ...« »Seht Ihr? So einfach ist es.« »Was meint Ihr? Was ist einfach?« »Etwas zu vergessen, wenn man ein erfülltes Leben führt. Ich habe Euch gefragt, ob Ihr Freunden Gefälligkeiten erwiesen habt, und Ihr habt das Überbringen von Botschaften erwähnt.« »Nein, so meinte ich das nicht. Bei Euch klingt es, als hätte ich etwas getan, für das ich mich schämen müsste, aber so ist es nicht.« »Dann kann es ja keinesfalls schaden, wenn Ihr ein paar Namen nennt«, gab Laffon triumphierend zurück. »Ihr verdreht mir die Worte im Mund und lasst mich dastehen, als wäre ich ein Krimineller.« Der Kommissar schien entsetzt. »Ich würde nicht im Traum an so etwas denken. Ich bin sicher, dass Ihr noch nie etwas getan habt, um die Sicherheit des Staates zu gefährden ... nicht absichtlich.« »Was soll das heißen?« »Wir können niemals völlig sicher sein, welche Absichten jemand anders verfolgt. Wenn es um die Sicherheit des Staates geht, dann sollte man das Feld den Fachleuten überlassen. Ihr sollt ja nichts weiter tun, als eine Liste mit Namen ...« 243 »Warum sollte ich dabei helfen, andere Leute der gleichen Behandlung auszusetzen, die mir selbst hier zuteil wird?« »Dann gibt es also andere Leute?« »Ich habe rein hypothetisch gesprochen.« »Haben diese hypothetischen Personen denn reale Namen?« »Ich kann Euch nicht helfen, Kommissar.« »Ihr glaubt vielleicht, dass gewisse Leute, die Ihr kennt, unschuldig sind, und vielleicht sind sie es wirklich, aber das muss gründlich untersucht werden.«
»Wenn ich Euch Namen nenne, dann würde dies nur aufgrund von Druck geschehen. Ich wüsste aber niemanden, der es verdient hätte, von Euch überprüft zu werden.« »Das können wir am besten selbst entscheiden.« »Ich will einen Anwalt sprechen, bevor ich noch etwas sage.« »Das ist nicht möglich.« Laffon seufzte. »Schaut her, Rukanis, es gibt böse, gewalttätige Menschen auf dieser Welt.« »Damit sagt Ihr etwas, das mir längst bekannt ist, Kommissar.« »Möglicherweise ist Euch aber nicht bekannt, dass viele von ihnen Paladine sind, und es sind die Paladine, die Euch im Augenblick gefangen halten. Mein Einfluss ist in dieser Hinsicht leider begrenzt.« »Soweit ich weiß, sind die Clans Glücksritter im Dienst des Reichs. Ihr habt die Befehlsgewalt über sie.« »Letzten Endes schon. Doch man muss die Bürokratie bedenken, die heute eine so große Rolle spielt, und die Tatsache, dass dies ein Protektorat und nicht Gath Tampoor selbst ist... nun, es könnte eine Weile 244 dauern, um zu klären, wer hier das Sagen hat. Während dies geklärt wird, würdet Ihr in Haft bleiben. Wenn Ihr aber vorbehaltlos mit mir kooperiert, dann könnte ich dafür sorgen, dass Ihr in die Obhut des RIS überstellt werdet. Ich bin sicher, dass Ihr meine Behörde erheblich entgegenkommender finden werdet als die Paladine.« »Ihr werdet mir sicher verzeihen, wenn ich sage, dass ich daran zweifle.« Laffon verlor allmählich die Geduld. »Ihr verkennt, wie ernst Eure Situation ist, Rukanis. Ihr wisst nicht, wie viel wir über Eure Aktivitäten herausgefunden haben.« »Sagtet Ihr nicht, es sei alles nur ein Irrtum?« »Ihr versteht es wirklich nicht, was? Es ist keine Frage von Schuld oder Unschuld oder ob Ihr naiv wart. Es geht darum, dass Ihr tun sollt, was wir Euch sagen.« »Das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren.« »In diesen schwierigen Zeiten können sich nicht viele Menschen erlauben, ein Gewissen zu haben. Sprecht, Mann. Sagt mir, was Ihr wisst, und vermeidet weitere ... Unannehmlichkeiten.« »Ich sagte bereits ...« »Nun gut.« Laffon erhob sich steif vom Stuhl. »Ich wasche meine Hände in Unschuld.« Er ging zur Tür der Zelle und klopfte zweimal mit der Faust dagegen. Die Tür wurde geöffnet. Draußen stand ein großer, kräftiger Mann im traditionellen schwarzen Gewand und mit der Maske der Folterknechte. 245 Tanalvah schauderte. »Was ist denn los?«, fragte Serrah. »Es ist mir kalt den Rücken hinuntergelaufen.« »Es wird ja auch kälter.« »Nein, das war es nicht.« Sie saßen nebeneinander auf einer Pferdedecke und hatten sich gegen den frischen Wind, der auf dem Hügel wehte, dick eingepackt. »Du bist nicht allein, Tan. Ich wünschte, du könntest das einsehen. Wir sind alle hier, um dich zu unterstützen.« »Das weiß ich, und ich bin euch dankbar dafür. Aber wir können nicht das Gleiche über Kinsel sagen, nicht wahr? Ich muss immer an ihn denken, wie er da allein ist und wer weiß was erleidet ...« Ihre Stimme brach. Serrah versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen. »Wenigstens hast du die Kinder, und die sind hier in Sicherheit.« Sie nickte zu Teg und Lirrin hinüber, die mit Kutch spielten. Caldason stand ein wenig abseits und blickte zur Stadt hinunter. Die Dämmerung kam, und die Stadt glühte vor magischer Energie. Sie mussten bald wieder zurück. »Du hast Recht«, räumte Tanalvah ein, »ich bin selbstsüchtig.« »Wie meinst du das?« »Ich habe die Kinder. Sie sind jetzt meine Kinder, und ich liebe sie, als wären sie meine eigenen. Aber du hast dein einziges Kind verloren, und du hast niemanden mehr. Verzeih mir, dass ich so offen spreche. Ich will dich nicht unnötig an deinen Kummer erinnern.« Serrah schüttelte den Kopf. 246 »Ich erwähne es nur«, fuhr Tanalvah fort, »weil du unter vielen Menschen die Einzige bist, die verstehen kann, wie ich mich fühle. Sag mir, wurdest du auch von dem Gedanken verfolgt, dass es hätte anders kommen können, wenn du dich anders verhalten hättest? Hast du dir Vorwürfe gemacht?« »Aber natürlich. Endlos. Ich glaube, in so einer Situation würde das jeder tun.« »Dann weißt du, wie ich mich fühle. Ich habe Fehler gemacht, und ich habe Dinge getan, die ich nicht hätte tun sollen, und jetzt muss Kinsel dafür büßen.« »Du solltest dir wirklich keine Vorwürfe machen.« »Du weißt nicht, was ich meine.« »Erzähle es mir doch.«
»Ich kann nicht.« Serrah hatte angenommen, ihre Freundin sei kurz davor, sich zu öffnen, doch sie wollte sie nicht drängen. »Also gut. Ich bin da, wenn du darüber reden willst. Auf jeden Fall solltest du dich nicht in deine Schuldgefühle hineinsteigern. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.« Tanalvah nickte, aber sie war offensichtlich nicht überzeugt. Zwei kleine Wirbelwinde machten sich bemerkbar. Die Kinder wollten Tanalvah bewegen, sich ihrem Spiel anzuschließen, und zerrten sie an den Händen, bis Tanalvah mit ihnen zu Kutch ging. Serrah sah ihnen eine Weile zu, dann kam Caldason langsam herüber und setzte sich neben sie. »Schau sie nur an«, sagte sie. »Ich wünschte, ich könnte noch einmal ein Kind sein und all die elenden Dinge in meinem Leben vergessen. Wie schaffen sie das nur?« 247 »Ich weiß nicht, so war es nie für mich. Aber es ist gut, dass sie es können. Wie geht es Tanalvah?« »Ist das nicht offensichtlich?« »Es fällt mir schwer, mir eine Meinung zu bilden, wenn sie nicht mit mir reden will.« »Das kannst du ihr nicht vorwerfen. Sie nimmt sich einfach zusammen, würde ich sagen. Und jetzt wird sie von Schuldgefühlen zerfressen.« »Welchen Grund hätte sie denn, Schuldgefühle zu haben?« »Meiner Ansicht nach überhaupt keinen. Aber sie sieht das anders.« »Du hast ihr doch nicht gesagt, dass Disgleirio meinte, man müsse Kinsel töten?« »Natürlich nicht. Wofür hältst du mich?« »Entschuldige, ich hätte wissen sollen, dass du es nicht weitererzählst.« »Aber was er sagt, macht mich nachdenklich. Disgleirio, meine ich. Ich werde nicht recht schlau aus dem Mann. Du glaubst, du wüsstest, wo er steht, und dann kommt er auf einmal mit so etwas.« »Eigentlich ist es gar nicht so überraschend. Die Bruderschaft der Gerechten Klinge besteht in gewisser Weise aus Fanatikern. Sie sind auf ihr Ziel fixiert, und alles, was ihnen in die Quere kommt, muss rücksichtslos beseitigt werden.« »Macht sie das wirklich so einzigartig? Ich kenne mindestens einen weiteren Menschen, der sich ähnlich verhält.« Er musste lächeln. »Da habe ich mir wohl gerade selbst ein Bein gestellt, was?« Sie erwiderte das Lächeln. »Keine Sorge, das kann ich auch ganz gut.« 248 »Die Bruderschaft der Klinge ist eine patriotische Gemeinschaft. Ich nehme an, es ist bitter für jemanden wie Quinn, die Tatsache zu akzeptieren, dass er sein Land nicht zurückgewinnen kann. Sich für Karrs Traum von einem neuen Staat einzusetzen, muss ihm wie eine Notlösung vorkommen.« »Sind sie nicht Monarchisten?« »Ich glaube, ja. Sie haben den alten Institutionen die Gefolgschaft geschworen, und das dürfte die Krone einschließen.« »Werden sie damit nicht zu Anhängern von Melyobar?« »Theoretisch schon. Aber ich kann nach vollziehen, warum sie diesen König verschmähen und sich lieber auf Karrs Seite schlagen.« Wieder mussten sie lächeln. Dann wurde Serrah ernst. »Er sieht immer noch schlecht aus, nicht wahr?« »Karr? Ja. Er ist offensichtlich erschöpft, aber dahinter steckt etwas anderes. Irgendein Leiden.« »Es gibt da eine Möglichkeit, wie du ihm einen Teil seiner Bürde abnehmen könntest.« »Lass mich raten - ich soll das Gold überbringen?« »Es kommt mir vernünftig vor, Reeth.« »Er hat dich doch nicht darauf angesetzt? Er oder irgendeiner der anderen?« »Du solltest mich besser kennen. Ich denke einfach nur, dass es richtig wäre. Vorhin habe ich mit Tan über den Umzug gesprochen, und sie sagte, es müsse weitergehen, weil es das sei, was auch Kinsel gewollt hätte. Er hat für die Sache alles gegeben, was vermutlich auch sein Leben einschließt. Ich glaube, wir sollten bereit sein, das gleiche Risiko einzugehen.« 249 »Wie es der Zufall will, bewegen sich meine Gedanken in eine ganz ähnliche Richtung.« »Oh, das ging jetzt aber viel zu leicht. Ich dachte, ich müsste dich mit Prügeln überzeugen.« »Nein, ich habe mir überlegt, dass ich es vielleicht wirklich tun sollte. Allerdings wäre es mir lieber, es könnte im Rahmen einer Expedition zur Clepsydra geschehen.« »Karr meint, die Ablieferung des Goldes bringt uns dem Ziel einen Schritt näher. Ich glaube ihm. Der Widerstand und besonders der Bund brennt nicht weniger darauf als du, die Quelle zu finden.« »Wenn ich zur Diamantinsel fahre, dann hätte ich dich gern dabei.« »Nein, ich glaube nicht...« »Hör mir zu. Es geht dir besser, du bist stabiler und gefestigter. Auch wenn du noch nicht ganz wieder die Alte bist...«
»Nimm bitte kein Blatt vor den Mund.« »Aber du warst ein Gewinn für die Truppe, und das könntest du wieder sein. Ich denke, wir haben gut zusammengearbeitet.« »Danke. Das denke ich auch. Aber ich bin nicht sicher, ob der Rat damit einverstanden wäre. Außerdem meine ich, dass ich besser hier sein und auf Tan Acht geben sollte.« »Sie hat genügend Leute, die sich um sie kümmern können.« »Reeth ...« Sie warf einen Blick zu Tanalvah und vergewisserte sich, dass sie außer Hörweite war. »Ich muss es dir wohl sagen, obwohl ich versprochen habe zu schweigen. Tanalvah ist schwanger.« »Oh. Von Kinsel?« 250 »Aber natürlich!« Sie spielte die Entsetzte. »Männer! Aber verstehst du, wenn ihm nun etwas zustößt, und ich bin nicht hier, um ihr zu helfen ...« »Ich verstehe.« »Verrate es niemandem sonst. Ich hab's ihr versprochen.« »Würdest du es dir anders überlegen, wenn Kinsel dort wieder herauskäme?« »Wenn das möglich wäre ... ja, dann würde ich es mir anders überlegen. Aber wir wollen den Tatsachen ins Gesicht sehen, Reeth. Dazu brauchte es ein Wunder, oder?« 251 Die Bürger von Jecellam, der Hauptstadt von Rintarahs riesigem Reich, führten ein geordnetes Leben. In ihrer Gesellschaft wurden viele alltägliche Aktivitäten zentral geregelt. Die meisten Menschen waren mehr oder weniger zufrieden damit, solange sie nicht mit dem Willen des Staates in Konflikt gerieten, was freilich viel leichter geschehen konnte, als die Mehrheit vermutete. Als Angehöriger einer rigide kontrollierten Gesellschaft konnte der durchschnittliche Mitbürger erwarten, von seinem Staat eine Wohnung, genügend Essen und Schutz zu bekommen. Dagegen erwartete niemand, einen mehr als höchst geringfügigen Einfluss auf die Staatsführung ausüben zu dürfen. Allerdings vertrauten die Leute darauf, dass es ihnen unbenommen blieb, Reichtümer, Besitz und Magie anzuhäufen, solange sie nicht gegen die ausnehmend strengen Regeln verstießen. Ganz gewiss erwarteten sie nicht, jemals mit der Elite, die alle Fäden in der Hand hielt, auf irgendeine Weise in Kontakt zu kom253 men oder deren Angehörige auch nur von ferne sehen zu dürfen. Falls ein gewöhnlicher Bürger ausnahmsweise doch einmal Zugang zu dem hinter hohen Mauern verborgenen Sitz der Herrscher bekam, sah er viele Dinge, die er höchst erstaunlich finden musste, was in einer mit Magie getränkten Welt etwas heißen wollte. Eines der bescheideneren Wunder war ein Garten, den es eigentlich nicht hätte geben dürfen. Er war sogar in zweierlei Hinsicht unglaublich. Zunächst einmal enthielt er eine Fülle von Blumen, die keinesfalls in einer so ungünstigen Jahreszeit hätten blühen können. Zweitens gab es Pflanzen - exotische, wunderschöne und bizarre Gewächse -, die auch den in Pflanzenkunde erfahrenen Menschen völlig unbekannt waren. Eine weitere Eigentümlichkeit dieser hektargroßen Wunderwelt war die Tatsache, dass sie rund war wie ein exakt bemessener Kreis. Außerhalb einer unsichtbaren Grenze lag alles im Winterschlaf oder war verwelkt, wie man es um diese Jahreszeit erwarten konnte. Es schien, als wäre über die ganze üppig bewachsene Fläche eine durchsichtige Kuppel gelegt worden, unter der ganz andere Klimabedingungen herrschten. Der Garten wurde von einem großen, schmalbrüstigen alten Mann gehütet. Er hatte eine faltenlose Haut und volles Haupthaar, doch beides wirkte äußerst unnatürlich. Wenn er kniete und eine Kelle in der Hand hatte, schien er in seinem Element zu sein. Doch Schmach und Schande über den, der ihn für einen Hilfsarbeiter gehalten hätte. Trotz seiner einfachen Gärtnerkleidung und der Erde unter den Fingernägeln war er bei weitem der mächtigste Mann in Rintarah. 254 Er war der Alteste Felderth Jacinth, der Vorsitzende des Zentralrats des Reichs. Nicht weit von seinem Garten entfernt stand einer der vielen Fahnenmasten, die überall auf dem Gelände verteilt waren. Auf der Flagge war Rintarahs Wappen zu sehen: ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen, eingerahmt von Blitzen. Der Mann, der sich auf einem gewundenen Weg dem unmöglichen Garten näherte, blickte kurz zur Flagge hoch. Als er durch die unsichtbare Barriere trat, schlug ihm warme, köstlich duftende Luft entgegen. »Guten Tag, Bruder.« Jacinth schaute auf. »Rhylan. Du lässt dich nicht oft hier blicken.« »Ich dachte, du wolltest an der Strategiedebatte teilnehmen.« Der Herrscher stand auf und klopfte sich die Erde von den Händen. »Diese Routineversammlungen funktionieren auch ohne mich ganz gut«, erklärte er seinem jüngeren Bruder. »Ich verbringe meine Zeit lieber hier.« »Ich habe nie verstanden, warum du diese Tätigkeit so erbaulich findest, Felderth. Du benutzt ja nicht einmal die Magie, um die Pflanzen zu ziehen. Und du hast auch keine Sklaven.« »Es ist mir wichtig, dass ich alles selbst erledige. Das gibt mir Zeit zum Nachdenken.«
»Und es stillt auch dein Bedürfnis, wirklich etwas zu erschaffen? Wenn man bedenkt, dass dies für uns jetzt vor allem eine Erinnerung ist.« »Oder ein Traum dessen, was wiederkommen wird.« »In der Tat.« 255 »Ein anderer Aspekt der Arbeit mit der Erde hier ist, dass ich ein wenig Mitgefühl mit den gemeinen Menschen gewinne.« »Aber wozu soll das gut sein?«, staunte sein Bruder. »Sie sind irgendwo in die Irre gegangen. Oder vielleicht auch wir. Die Massen zeigen nicht mehr die gleiche Ehrerbietung wie früher. Einige wagen es sogar, die Hand gegen uns zu erheben.« »Dann müssen wir diese Unbotmäßigkeit beantworten, wie wir es immer getan haben. Mit Gewalt.« »Wir lassen es sie spüren, und wir verhängen härtere Strafen, aber das scheint sie nur noch weiter zu erzürnen. Wir wissen, dass Gath Tampoor genau das Gleiche tut und ebenso wenig Erfolg hat wie wir.« »Stell dir nur vor, wie schlimm es noch werden könnte, wenn wir nicht so verfahren. Die Gesellschaft ist zum Glück noch nicht zusammengebrochen, und wir haben keine Anarchie.« »Ich entwickle ein gewisses Verständnis für diejenigen, die sagen, es sei das Einfachste, die Massen, die uns dienen, einfach auszulöschen, und noch einmal von vorn zu beginnen. Genau, wie die Natur das Leben zerstört, um alles für die nächste Jahreszeit vorzubereiten.« Rhylan betrachtete den blühenden Garten. »Dies hier steht im Widerspruch zu deinen Worten. Du hast die Jahreszeiten nach Gutdünken verlängert.« »Das hätten wir auch bei denen tun sollen, über die wir herrschen.« »Was meinst du damit, Bruder?« »Unseren Interessen wäre am ehesten gedient, wenn wir das Volk fest unter der Knute halten. Doch wir gewähren den Leuten immer mehr und mehr Freiraum. 256 So viel, dass sie jetzt sogar unsere Macht in Frage stellen.« »Sie verfügen nicht über unendlich viele Leben, die sie für ihre Sache fortwerfen können. Wir werden es überstehen.« »Aber das ist doch nicht alles, oder? Es ist selten vorgekommen, dass so viele Unwägbarkeiten gleichzeitig gegen uns gesprochen haben. Nicht nur, dass eine immer größere Zahl von Menschen sich gegen unsere Herrschaft auflehnt, da ist auch noch dieser Kriegsherr im Norden, der sein Gebiet erweitert. Von der Expedition, die wir ausgesandt haben, ist noch keine Botschaft gekommen. Bereitet dir das keine Sorgen?« »Offenbar haben sich deine Ansichten verändert. Vor gar nicht so langer Zeit hast du diese Probleme noch als unbedeutend abgetan.« »Ich glaube allmählich, dass ich mich geirrt habe. Ich neige jetzt eher dem Lager der Zweifler zu, Rhylan.« »Ich denke immer noch, dass Gath Tampoor eher Täter als Opfer ist, was diese Unruhen angeht. Es würde mich nicht wundern, wenn wir herausfänden, dass sie auch auf irgendeine Weise hinter Zerreiss stecken. Es ist die alte, alte Geschichte, Bruder. Der Kampf zwischen den Reichen geht immer weiter, er nimmt nur unterschiedliche Formen an.« »Das allein ist schon Grund genug zur Sorge.« »Unterschätze nicht, was wir gegen sie ins Feld führen können. Rintarah ist kein kranker Schwächling. Unsere Macht ist unvergleichlich.« »Doch im Hinblick auf die Aufständischen in unserer Mitte sind wir wie ein Bär, der in einen Ameisen257 häufen getreten ist. Trotz unserer Macht ist es uns nicht gelungen, sie auszurotten.« »Es wird uns noch gelingen. Vergiss nicht, wer wir sind. Und was wir sind.« »Du hast die gefährlichste Entwicklung noch gar nicht erwähnt. Die Störung der Matrix. Wie du weißt, gab es erst in den letzten Tagen einen äußerst schweren Vorfall.« »Ich frage noch einmal: Warum sollte nicht Gath Tampoor dahinterstecken?« »Weil wir etwas Vergleichbares nicht tun könnten. Es übersteigt die Macht, die wir im Augenblick haben, und wir haben keinen Grund zu der Annahme, dass sie weiter fortgeschritten sind als wir.« »Was war es dann?« »Es gibt zwei Möglichkeiten, die ich ähnlich beunruhigend finde. Eine ist die, dass eine unbekannte Macht, über die wir nichts wissen, für die Störungen im Fluss der Magie verantwortlich ist. In gewisser Weise wäre dies sogar die schlimmere Möglichkeit, denn sie beruht auf etwas, das wir nicht vorhergesehen haben.« »Und die andere Möglichkeit?« »Ich fürchte, Caldason könnte sich seiner Fähigkeiten bewusst geworden sein.« »Jetzt kommen wir der Sache näher. Diese verdammte Situation ist uns schon viel zu lange ein Dorn im Auge. Aber warum soll er ausrechnet jetzt erwacht sein? Warum nicht schon früher?« »Wer weiß? Vielleicht ist diese Frage auch nicht so wichtig wie die Tatsache, dass es geschehen ist.« »Er kann sein Potenzial noch nicht ganz und gar erkannt haben, sonst hätten wir es schon erfahren.« 258
»Mag sein, aber er macht gewisse Fortschritte. Wie ein Mann, der eine neue Fertigkeit erlernt.« »Bei allem Respekt, Felderth, was ich sehe, sind zusammenhanglose Ereignisse. Gauner machen Scherereien auf den Straßen wie immer, ein Kriegsherr der Barbaren macht auf erstaunliche Weise von sich reden, eine Anomalie in der Matrix, die für sich genommen jedoch nicht völlig ohne Beispiel ist. Keiner dieser Aspekte stellt eine Bedrohung für uns dar. Ich sage es noch einmal: Vergiss nicht, wer wir sind.« »Nimm das«, sagte sein Bruder, »und betrachte es als Symbol für unsere Herrschaft für den Fall, dass du dich irrst.« Rhylan nahm die Blume und atmete ihren wundervollen Duft tief ein. Doch als er durch die Barriere trat, färbte sich die Rose schwarz und zerfiel zu Staub. Der ewige Widerschein der Magie, der über jedem dicht bevölkerten Gebiet lag, hellte gewöhnlich den Nachthimmel auf. Doch an diesem Abend war das Strahlen weniger stark als sonst. Ein Grund hierfür war vielleicht, dass wegen des kalten Wetters nicht viele Menschen draußen unterwegs waren. Außerdem lag das sichere Haus, in dem Caldason und Serrah sich aufhielten, am Rande Valdarrs, weit entfernt vom hektischen Zentrum. So konnten sie, was recht selten möglich war, die Sterne betrachten. »Wie erklärt dein Volk die Sterne?«, wollte Serrah wissen. »Bei den Qalochiern gibt es mehrere Geschichten über die Erschaffung der Sterne.« 259 »Dann gibt es nicht eine einzige, allgemein akzeptierte Version?« »Nein. Die Religion und die Mythen der Qalochier sind nicht in Stein gemeißelt wie bei den meisten anderen Völkern. Unsere Legenden existieren oft in mehreren Versionen nebeneinander.« »Welche gefällt dir am besten?« »Welche der Legenden über die Sterne? Die über Jahon Alpseer. Hast du schon von ihm gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Er ist einer der göttlichen Helden der Qalochier, der über die Geburt der Welt wachte. Damals gab es noch keine Sterne, weil die Götter keinen Sinn darin sahen, neben der Sonne und dem Mond weitere Lampen aufzuhängen. Vor allem aber waren sie sehr damit beschäftigt, einen ewigen Krieg gegen ein ebenso mächtiges Volk von dämonischen Gottheiten zu führen. Sie kämpften um das Schicksal der ganzen Menschheit, was in unserer Geschichte vor allem um das Schicksal des qalochischen Volks bedeutet. Die Dämonen wollten die kleine Zahl von Männern und Frauen auslöschen, welche die Götter erschaffen hatten. Sie fürchteten, diese neue Lebensform könne sich ausbreiten und ihre Macht bedrohen.« »Was ist dann geschehen?« »Nun, eine ganze Menge. Der Höhepunkt der Geschichte dreht sich jedenfalls darum, dass Jahon sich Pavall, dem Herrn aller Dämonen, in einem Duell stellen musste, das sie am ganzen Himmel austrugen. Jahon zog dabei den Kürzeren, weil Pavall ein Nachtdämon war, der sich im Schatten verbergen und aus der Dunkelheit heraus zuschlagen konnte. Also nahm Jahon sein Schwert, das zufällig aus Eis bestand, und 260 bohrte Löcher in den dunklen Schleier, der die Welt einhüllte. Die Löcher ließen das starke Licht von draußen herein und zeigten, wo Pavall war, sodass Jahon ihn töten konnte. Jahon ließ die Löcher, wie sie waren, damit kein Dämon sich jemals wieder in der Dunkelheit verbergen konnte.« »Das ist eine reizende Geschichte. Nur ein bisschen ... blutrünstig.« »Ja, sie entspricht dem qalochischen Volk. Heute wird sie bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Qalochier sich treffen, eher ironisch erzählt.« »Wie meinst du das?« »Nun ja, wenn man sieht, wie es gelaufen ist, dann müssen wir sagen, dass am Ende Pavall doch noch gewonnen hat.« »Oh. Galgenhumor.« »Was ja eigentlich gar nicht so schlecht ist. Wie heißt es noch? Lache, wenn du nicht weinen musst.« »Das gilt nicht nur für Qalochier, Reeth. Auch wenn es in der letzten Zeit herzlich wenig zu lachen gab. Aber wir wollen nicht wieder über Kinsel sprechen. Ich finde es viel zu deprimierend, darüber nachzudenken.« »Du hast niedergeschlagen ausgesehen, als wir vom Hügel heruntergekommen sind. Lag es an etwas, das Tanalvah gesagt hat?« »Ja, aber es ging nicht um Kinsel. Sie hat Eithne erwähnt.« »Ich dachte, das sei ein Thema, über das du nicht gern sprichst.« »Manchmal meide ich das Thema wie ein Tabu«, gestand sie ihm. »Aber manchmal werden die Erinnerungen auch durch etwas Unerwartetes ausgelöst, wie 261 bei meinem Besuch im Tempel. Meist kann ich damit leben, auch wenn ich keine Versprechungen über die Zukunft abgeben kann. Ich war recht erfolgreich darin, nicht an Eithne zu denken, bis Tan das Thema zur Sprache gebracht hat.« »Es gibt da eine Sache, die mich wirklich neugierig macht«, sagte er vorsichtig. »Ich meine nicht deine Tochter, sondern ...« »Spuck's aus. Wenn es mir zu sehr unter die Haut geht, dann sage ich es dir.«
»Eithnes Vater.« »Ah. Das ist eher eine Fleischwunde als ein Volltreffer.« »Du kannst mir ruhig sagen, dass es mich nichts angeht.« »Schon gut. Eigentlich gibt es nicht viel über ihn zu erzählen. Er war wie ich. Nun ja, in gewisser Weise jedenfalls. Größtenteils aber auch nicht. Ich meine, wir waren beide professionelle Kämpfer. Nur, dass er beim Heer gedient hat. Er war sehr ehrgeizig und ist rasch aufgestiegen, hat in einer Reihe von Feldzügen gekämpft und sich gut bewährt. Dann hat sich der Idiot bei einer Kneipenschlägerei abstechen lassen. Nein, er ist dabei nicht umgekommen. Er ist mit der Heilerin durchgebrannt, die ihn gepflegt hat. Sie war auch etwas älter als ich. Eithne war fünf oder sechs, als es passierte. Er wollte nicht durch ein Kind gebunden sein, weißt du. Das hat er jedenfalls gesagt.« »Es tut mir Leid.« »Nicht nötig. Ich war zu jung, und wir hatten unterschiedliche Ziele. Ich habe nicht lange gebraucht, um herauszufinden, dass ich ohne ihn besser dran war. Allerdings habe ich mich oft gefragt, ob es nicht besser 262 für Eithne gewesen wäre, wenn sie einen Vater gehabt hätte.« »Vielleicht hätte ich dich nicht dazu bringen sollen, darüber zu reden. Es muss schmerzlich für dich sein.« »Nein, überhaupt nicht. Reden kann sogar helfen. Ich habe lange gebraucht, um das zu verstehen.« Ihre Stimmung hellte sich sichtlich auf. »Lass uns eine Übereinkunft treffen. Von jetzt an können wir uns gegenseitig alles fragen. Wenn es etwas ist, über das wir nicht reden wollen, dann sagen wir es einfach. Auf diese Weise können wir aufhören, uns auf Zehenspitzen zu bewegen.« »In Ordnung.« »Gut. Und jetzt zur Goldlieferung.« »Ich habe gesagt, dass ich darüber nachdenke, oder?« »Es ist der beste Dienst, den du dem Widerstand im Augenblick erweisen kannst, Reeth. Außerdem wäre es keine schlechte Idee, wenn du eine Weile aus Bhealfa verschwinden würdest.« »Warum?« »Schau mich nicht so an. Ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst, aber es gibt einige Dinge, die mich beunruhigen. Zuerst einmal ... erinnerst du dich an deine Akte, die du gefunden hast, als wir das Archiv niedergebrannt haben? Die Akte, aus der alle Seiten herausgerissen waren? Beim Rat für Innere Sicherheit habe ich beobachten können, wie Verwaltungen funktionieren, und ich kann dir sagen, dass so etwas nicht ohne Befehl von oben geschieht. Jemand, der sehr mächtig ist, hat Interesse an dir, und diese Leute wollen nicht, dass irgendjemand den Inhalt der Akte liest, am wenigsten du selbst.« 263 »Ich muss zugeben, dass mich das auch beschäftigt hat. Was geht dir sonst noch durch den Kopf?« »Die Verschmolzene. Ich bin nicht sicher, ob es eine Verbindung gibt, aber wenn auch nur die leiseste Chance besteht, dass dies der Fall ist, dann sieht es so aus, als wärst du irgendjemandem in die Schusslinie geraten.« »Das wäre nicht das erste Mal. Ich gelte als Gesetzloser, und ich weiß, dass es auch hier Akten über mich gibt.« »Und wenn wir die Akten hier durchsehen würden, dann wäre ich sicher, dass deine die Einzigen sind, die nicht vollständig sind. Das hat etwas zu bedeuten, Reeth. Auch wenn ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, was es sein soll.« »Ich weiß nicht, ob das allein ausreicht, damit ich das Land verlasse.« Er hob die Hände. »Schon gut, schon gut. Ich gehe ja vielleicht sowieso ...« »Gut!« »Aber ich bin kein Mann, der einfach fortläuft, Serrah. Ich laufe vor nichts und niemandem fort.« »Das weiß ich doch. Das ist einer deiner eher angenehmen Charakterzüge.« »Danke.« »Kein Grund, überheblich zu werden. Du hast auch weniger angenehme.« Sie lächelten einander an. Im Dach wurde eine Luke geöffnet, und ein Kopf erschien in der Öffnung. »Quinn?«, sagte sie. Disgleirio stieg zu ihnen herauf. »Es gibt Neuigkeiten.« »Über Kinsel?« 264 Er nickte. »Sie wollen ihn bald vor Gericht stellen.« »Das ist immerhin etwas«, meinte Caldason. »Eigentlich nicht. Er darf keine Entlastungszeugen benennen, und niemand darf ihm ein Leumundszeugnis ausstellen. Das Ganze wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit unter Vorsitz eines Einzelrichters stattfinden.« »Ein Schauprozess«, murmelte Serrah. »Der Anschein einer gerechten Justiz wird gewahrt, aber in Wirklichkeit steht das Urteil schon fest, bevor sie überhaupt beginnen.« Disgleirio zuckte mit den Achseln. »Was habt Ihr erwartet? Es gibt aber noch eine Neuigkeit, die besonders Euch interessieren dürfte, Serrah.« »Was denn?«
»Wir wissen jetzt, welche wichtige Persönlichkeit aus Gath Tampoor gekommen ist. Es ist Euer alter Vorgesetzter beim RIS, Kommissar Laffon persönlich.« Sie erbleichte und brauchte einen Augenblick, um sich zu fangen. Dann flüsterte sie: »Ich fürchte, damit sind alle Chancen, die Kinsel vielleicht noch hatte, endgültig begraben.« 265 Wenn wir uns ewig hier versteckt halten, werden wir nie etwas herausfinden.« »Nun warte doch ein wenig ab, Reeth. Wir sind doch noch nicht einmal eine Stunde hier.« »Ich weiß nicht, was du überhaupt damit erreichen willst. Der Widerstand hat schon jede Menge Leute eingesetzt, die das Gelände überwachen.« »Wie ich schon sagte, als ich hörte, dass Laffon hier ist, musste ich einfach etwas unternehmen.« »Du glaubst doch nicht wirklich, dass er ohne Begleitschutz herauskommt, oder?« »Wenn er das macht, dann ist er tot, bevor er zehn Schritte tun kann«, versprach Serrah. »Also gut, wir bleiben noch eine Weile. Aber ich weiß nicht, wie sicher dieser Ort ist. Die Paladine sind gemeine Hunde, aber sie sind nicht dumm. Wir müssen damit rechnen, dass sie die Gebäude in der Nähe ihres Hauptquartiers öfter überprüfen. Disgleirios Männer sind einige Male nur mit knapper Not entkommen.« 267 »Wenn es aussieht, als könnte es ungemütlich werden, verschwinden wir sofort. Versprochen. Und jetzt halte deine Augen offen.« Das leere Haus, in das sie eingebrochen waren, lag direkt vor den mächtigen Mauern der Paladin-Festung und fast in gerader Linie vor dem Haupttor. Serrah und Reeth waren nicht lange nach der Morgendämmerung eingetroffen, und jetzt füllten sich die Straßen allmählich mit Menschen. »Was wird denn deiner Ansicht nach passieren, Serrah?« »Wahrscheinlich nichts. Aber hattest du noch nie das Gefühl, dass du nicht mehr einfach nur herumsitzen kannst und etwas tun musst? Siehst du, so ist das. Ich bleibe noch eine Weile hier und ...« »Nein, du hast schon Recht. Wir können uns auch hier umsehen, da wir sowieso nichts Sinnvolles zu tun haben. Aber mach dir keine allzu großen Hoffnungen.« Wieder verging eine Stunde. Was sich auf der Straße tat, sah sehr nach alltäglicher Routine aus. Dann aber verließ eine geschlossene Kutsche das Gelände. »Nach allem, was wir wissen, könnte er das sein«, sagte Reeth. »Aber wir können schlecht hinübergehen und Aufklärung verlangen.« »Ja, leider«, seufzte Serrah. »Vielleicht war es am Ende doch eine dumme Idee. Aber ich ...« Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. »Was ist los?« »Da drüben. Die kleine Pforte neben dem Haupttor. Siehst du, was ich sehe?« Er lugte durch den Spalt zwischen den staubigen Fenstervorhängen. 268 »Das ist sie, oder nicht?« »Da ist kaum ein Irrtum möglich, sie ist schon recht auffällig.« Eine beeindruckende Gestalt verließ das Gelände. Sie war athletisch gebaut und bleich wie Schnee, und ihr Haar war kurz geschnitten. »Interessant, dass sie dort herauskommt, was?«, meinte Reeth. »Wir wollen ihr folgen.« »Warte.« Serrah wühlte in ihrer Tasche herum und holte zwei kleine, orangefarbene Würfel heraus. »Gesichtszauber.« »Oh, nein. Muss das sein?« »Ja. Die Verschmolzene weiß, wie du aussiehst, und sie hat auch mich gesehen. Ohne Verkleidung erkennt sie uns sofort.« »Ich hasse diese Dinger.« »Ich kann sie auch nicht leiden.« Er nahm den Würfel, auf dem ein M eingeritzt war, und ließ ihr den anderen mit dem Buchstaben F. »Die sind ziemlich teuer. Woher hast du sie?« »Echte konnte ich nicht bekommen. Das hier sind Fälschungen. Sie sind nicht ganz so zuverlässig wie echte Zauber. Sie halten auch nicht so lange, vergiss das nicht.« »Wundervoll.« »Beeil dich, sonst verlieren wir sie.« Er zerdrückte den Würfel in der Hand und spreizte die Finger. Der magische Staub flog von seiner Handfläche auf wie ein Schwärm winziger Käfer. Gleich darauf bedeckte, nur Augen und Mund blieben frei, ein feiner, gleichmäßiger Belag sein Gesicht, und die Illusion baute sich auf. Serrah folgte seinem Beispiel, und nach wenigen Sekunden waren sie beide verwandelt. 269 »Brünett steht dir nicht schlecht«, sagte er. »Nur bei den grünen Augen bin ich mir nicht so sicher.« »Na schön. Und jetzt...« »Wie sehe ich aus?«
Sie schnaufte verzweifelt. »Deine qalochischen Züge sind ein wenig weicher geworden. Das blonde Haar macht sich ganz gut, würde ich sagen, aber der Bart passt nicht richtig zu dir.« Unwillkürlich wanderte seine Hand zum Kinn, doch natürlich fand sie nichts außer glatter Haut. »Können wir jetzt endlich gehen?«, drängte sie. Als sie das Haus verließen, war die Verschmolzene schon ein gutes Stück die Straße hinuntergelaufen. Sie folgten ihr in sicherer Entfernung und versuchten, sich möglichst unauffällig zu bewegen. Caldason, der sich mit seinem Gesichtszauber unwohl fühlte, fiel dies nicht eben leicht. Doch niemand schien auf sie zu achten. Die Verschmolzene bog in eine der belebtesten Straßen im Stadtzentrum ein. Zwischen den vielen Menschen, die hier unterwegs waren, konnten Reeth und Serrah sich leicht verstecken, doch die Gefahr, ihr Ziel aus den Augen zu verlieren, wuchs in gleichem Maße. Sie schlössen etwas weiter auf. »Dieses verdammte Ding juckt«, klagte Reeth und widerstand der Versuchung, sich im Gesicht zu kratzen. »Meins auch. Versuche es zu ignorieren.« Es ging eine steile Seitenstraße hinauf und eine andere hinunter, dann über einen Platz. Einen Häuserblock weiter erreichten sie einen belebten Straßenmarkt. »Glaubst du, sie hat ein Ziel, oder läuft sie einfach nur so herum?«, fragte Reeth. 270 »Sie scheint sich recht zielstrebig zu bewegen. Lass uns noch etwas weiter aufrücken.« Sie ging schneller. Auf dem Markt wurde buchstäblich alles verkauft. Es gab Stände mit Gemüse, Früchten, Käse, Fleisch, Fisch, Brot und Wein. Auf anderen Theken waren Kleider, Stiefel, Sättel, Kettenpanzer, Töpferwaren, Weidenkörbe, Glücksbringer und billige Zauber gestapelt. Lebendige Hummer wurden feilgeboten, daneben Kaninchen, Hähnchen, Ziegen, Katzen und Giftschlangen. Heiler boten am Straßenrand ihre Kunst an, Wahrsager lasen den Leuten aus Karten ihr Schicksal, bei fliegenden Friseuren konnte man sich die Haare schneiden lassen. Musiker schlenderten umher, zupften an Saiten oder bliesen in Hörner, Gaukler ließen Keulen fliegen, Straßenclowns tollten herum, Vieh blökte, und überall wurde gefeilscht. Natürlich waren auch viele magische Gestalten unterwegs. Unablässig materialisierten unter Blitzen widerwärtige oder hübsche Geschöpfe oder zerstoben zu Funken. Überall gab es große und kleine magische Entladungen. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm, und die Luft war schwer von tausend Gerüchen, angenehmen wie unangenehmen. Auf diesem belebten Markt mussten Reeth und Serrah befürchten, die Verschmolzene aus den Augen zu verlieren, und so waren sie gezwungen, sehr dicht zu ihr aufzuschließen. Sie waren ihr schließlich fast nahe genug, um ihr mit ausgestrecktem Arm auf die Schulter klopfen zu können. »Das verdammte Ding juckt höllisch«, flüsterte Reeth. Er deutete mit dem Daumen auf sein Gesicht. »Meins auch. Denk nicht drüber nach.« 272 Genau in diesem Augenblick blieb die Verschmolzene stehen und drehte sich um. Reeth packte Serrah am Arm und zog sie zur Seite. Sie senkten die Köpfe und taten so, als interessierten sie sich für eine Auslage mit billigem Schmuck. Aus dem Augenwinkel konnte Reeth sehen, dass die Verschmolzene in ihre Richtung blickte. Einen Augenblick später ging sie weiter. »Ob sie uns bemerkt hat?«, überlegte Serrah. »Ich weiß es nicht. Aber wenigstens rennt sie nicht weg. Komm weiter.« Sie verfolgten die Verschmolzene, die über den Markt spazierte und hin und wieder einen Blick auf die ausgestellten Waren warf. Hauptsächlich aber schien ihr daran gelegen, sich möglichst schnell einen Weg durchs Gedränge zu bahnen. Erleichtert schlössen Serrah und Reeth wieder dichter zu ihr auf. Als sie noch etwa sechs Schritt hinter der Verschmolzenen waren, blieb diese erneut stehen, fuhr herum und starrte in die Runde. Die Verfolger liefen inzwischen mitten auf der Straße, weit entfernt von den Ständen auf beiden Seiten. Sie blieben wie angewurzelt stehen. »Verdammt«, murmelte Serrah. »Mach ein desinteressiertes Gesicht.« »Hast du eine Ahnung, wie ich das anstellen soll?« Die Verschmolzene machte einen Schritt auf sie zu, dann erschrak sie. »Reeth, dein Gesicht!« Seine Gesichtszüge lösten sich auf. Sekunden später hatten seine Augen wieder die ursprüngliche Farbe, seine Wangenknochen waren geformt wie zuvor, und sein Schnurrbart war verschwunden. 272 »Diese verdammten gefälschten Zauber«, fluchte Serrah, als auch ihre Verkleidung sich auflöste. Die Verschmolzene drehte sich sofort wieder um und rannte nach rechts, doch während sie rannte, entfernte sich ein beinahe identisches Duplikat nach links. Die beiden Gestalten waren durch eine Membran verbunden, ein schimmerndes Gewebe, das an ein Spinnennetz erinnerte. Als sie sich ein paar Schritte voneinander entfernt hatten, riss es entzwei, und die Enden wurden rasch in die Körper der beiden Zwillinge aufgenommen. Jetzt sahen Reeth und Serrah sich zwei Gegnern gegenüber, und alle vier griffen nach den Klingen. Die anderen Passanten, so dicht das Gedränge auch war, wichen erschrocken zurück. »Pass auf den da auf«, rief Reeth und deutete auf Aphrim. »Pass du nur auf die da auf«, gab sie zurück.
Aphri und Aphrim griffen an. Die Frau kam Reeth rasch entgegen, ihre Klingen prallten aufeinander, und der Kampf begann. Ihre Hiebe waren schnell und genau gezielt. Er war ihr ebenbürtig und teilte ebenso gut aus, wie er einstecken musste. Sie hüpften und sprangen und ließen ihre Schwerter durch die Luft zucken. Aphri war beweglich, Aphrim setzte eher auf seine Stärke. Als seine und Serrahs Klinge sich zum ersten Mal trafen, fuhr die Erschütterung vom Handgelenk bis zur Schulter durch Serrahs Arm. Ein wenig benommen wich sie vor seinem nächsten Hieb zurück. Als er sich neu aufstellte, fand sie unter seiner Deckung eine Lücke und schlug zu. Er blockte ab, und wieder zitterten ihr alle Knochen. 273 Beim Kampf zwischen Reeth und Aphri kam es eher auf Präzision an. Sie deckte ihn mit einer Serie genau gezielter Schläge ein, doch dazwischen kamen immer wieder unvorhersehbare, weit ausholende Hiebe. Er duckte sich, ihre Klinge zischte über seinen Kopf hinweg und durchtrennte ein Seil, an dem ein Käfig mit Hühnern hing. Der Käfig fiel herunter und sprang auf. Die Hühner gackerten erschrocken, und ihre Federn stoben auf. Reeth prügelte auf die Verschmolzene ein und zwang sie, sich zurückzuziehen. Dann versetzte er ihrer Klinge einen Schlag von der Seite. Es war kein besonders harter Schlag, doch sie hatte ohnehin schon das Gleichgewicht verloren und geriet ins Straucheln. Sie taumelte, rutschte aus und fiel in die Karre eines Gemüsehändlers, die sie umwarf. Als sie sich elegant abfing, sich abrollte und mit einer einzigen fließenden Bewegung wieder auf die Füße kam, prasselten die Waren des Händlers von der Karre herunter. Äpfel, Blumenkohl und Zwiebeln ergossen sich in einer Lawine auf die Straße, Kartoffeln, Rüben und Orangen sprangen in alle Richtungen davon. Einige Gaffer schnappten sich das Gemüse, andere traten darauf und rutschten aus, während der Besitzer des Standes ohnmächtig fluchte. Caldason und die Verschmolzene standen einander wieder gegenüber. Die Zuschauer schrien, und inzwischen brachen sogar weitere Zweikämpfe aus. Caldason wusste, dass dies ein schlechter Ort für eine Schlägerei war. Die Unruhe musste die Gesetzeshüter anlocken wie die Fliegen. Serrah und Aphrim hackten und hieben unterdessen wie wild aufeinander ein. Er führte sein Schwert 274 wie eine Axt und versuchte es mit brutalen, nach unten gerichteten Schlägen, von denen jeder Serrah hätte spalten können wie ein Holzscheit. Dann durchschlug seine Klinge die Holzstütze eines Standes, an dem Bier verkauft wurde. Die Theke kippte nach vorn, und ein halbes Dutzend Fässer rollte auf den Boden. Zwei zersprangen sofort in schäumenden, bernsteinfarbenen Explosionen. Die übrigen Fässer rollten in die Menge hinein und warfen einen Mann von den Füßen, während die anderen Zuschauer sich um die Beute zankten. Serrah ergriff die Gelegenheit, sich zurückzuziehen, und bereitete sich auf Aphrims nächsten Angriff vor. Doch was er dann tat, verblüffte sie. Er warf sein Schwert weg, als wäre es ein zerbrochenes Spielzeug, und starrte sie mit weit geöffnetem Mund an. Sie dachte schon, er sei verrückt geworden und wolle ihr die Zunge herausstrecken. Statt seiner Zunge kam jedoch eine funkelnde rote Kugel in der Größe einer Pampelmuse aus seiner Mundhöhle geschossen. Schnell wie ein Pfeil flog die Kugel auf sie zu und zog eine brennende Bahn durch die Luft. Im letzten Augenblick ließ sie sich fallen, und das Geschoss flog über ihr vorbei. Die glühende Kugel traf einen Stand mit Kleidung, explodierte und spuckte große Flammen. Der Stand und seine Waren fingen sofort an zu brennen. Hitze und beißender schwarzer Rauch breiteten sich aus. Das war mehr, als die meisten Zuschauer verkraften konnten, und ein ungeordneter Rückzug setzte ein. Doch das Gedränge war so dicht, dass sie nicht mehr als zehn Schritt zurückweichen konnten. Der Brand griff unterdessen auf einen benachbarten Stand über, 275 der Zuckerwerk feilbot. Ein paar tatkräftige Helfer kamen mit Wassereimern und versuchten zu löschen. Langsam und vorsichtig näherte Serrah sich ihrem Gegner. Aphrim stand völlig reglos da, sein Gesicht wirkte unbeteiligt. Sie wollte gerade angreifen, als er wieder den Mund öffnete und die nächste Feuerkugel ausspuckte. Diese war niedriger gezielt als die erste und hätte Serrahs Hüfte getroffen, wäre sie nicht blitzschnell ausgewichen. Die Kugel flog vorbei, prallte auf die Straße, dass die Funken stoben, und flog weiter in Richtung der Zuschauer. Panik brach aus, die Leute kreischten und brüllten und versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Reeth und Aphri hatten sich im Laufe ihres Zweikampfs wieder auf die Straße bewegt. Die nächste Feuerkugel zischte einige Fuß an ihnen vorbei und flog direkt in Richtung der Zuschauer. Reeth sah es, trieb Aphri mit harten, schnellen Schlägen vor sich her, warf sich zur Seite und zog das Schwert in einem weiten Bogen hoch. Die Feuerkugel prallte vor die flache Seite seiner Klinge wie der Spielball vor einen Baseballschläger. Er bewegte sich instinktiv, denn soweit er wusste, musste die Kugel beim Aufprall explodieren. Doch als Reeth schwer auf dem Boden aufkam, wurde die Kugel in eine neue Richtung abgelenkt. Sie flog im rechten Winkel zur Menge weiter in Richtung der Häuser, die den Markt begrenzten. Niemand bewegte sich, nicht einmal Aphri. Alle sahen wie gebannt der Feuerkugel nach. Ein kleiner Komet zog einen hellroten Schweif hinter sich her, bis er im oberen Stockwerk eines aus Ziegel und Holz gebauten Lagerhauses einschlug. Mit ei276 ner Präzision, die mit einem gezielten Schuss kaum zu überbieten gewesen wäre, traf die Kugel das einzige Fenster, dessen Läden geöffnet waren. Einen Atemzug lang herrschte tiefe Stille, dann folgte eine laute
Explosion, und die Flammen schössen empor. Rauch quoll aus dem Fenster. Mit roten Augen und hustend stürzten Menschen durch die Tür auf die Straße. Hinter ihnen stand das Innere des Lagerhauses lichterloh in Flammen. Der Bann war gebrochen, und die Leute auf dem Markt fingen wieder an zu schreien. Reeth kam auf die Beine. Aphri war inzwischen verschwunden. Er orientierte sich und sah sie in einiger Entfernung rennen. Aphrim hatte Serrah umgangen und ebenfalls die Flucht ergriffen. Er lief seiner Zwillingsschwester entgegen. Reeth kam es so vor, als stürzte Aphri sich in einen lebensgroßen Spiegel hinein. Die beiden Gestalten prallten zusammen, und eine einzige rannte weiter. Die Gaffer wichen erschrocken aus, um die Verschmolzene durchzulassen. Serrah lief zu Reeth herüber. »Sollen wir sie verfolgen?« »Nein. Schau mal, dort.« Milizionäre stießen die Zuschauer zur Seite, ein Stück entfernt tauchten rote Uniformen auf. Unter den Gaffern gab es durchaus ein paar, die Lust gehabt hätten, Reeth und Serrah an der Flucht zu hindern. Ob sie aus Furcht untätig blieben oder aus Dankbarkeit, oder auch, weil ihr Hass auf die Gesetzeshüter noch größer war, jedenfalls teilte sich die Menge vor ihnen und ließ sie durch. Einige Minuten später waren sie schon mehrere Straßen vom Schauplatz des Kampfes entfernt. 277 »Ich kann nicht behaupten, dass wir heute viel herausgefunden hätten«, klagte Serrah. »Abgesehen von der Tatsache, dass die beiden gefährlich sind.« »Oh, wir haben sogar etwas sehr Wichtiges herausgefunden. Wir können jetzt ziemlich sicher sein, dass die Verschmolzene auf irgendeine Weise mit den Paladinen zu tun hat.« »Wie gesagt, Reeth, es ist vielleicht gar keine schlechte Idee, wenn du eine Weile aus Bhealfa verschwindest.« 278 Unter allen großen Städten in der bekannten Welt war Merakasa, die Hauptstadt des westlichen Reichs Gath Tampoor, eine der farbenprächtigsten und lebendigsten. Wie im östlichen Gegenstück Jecellam in Rintarah gab es auch in Merakasa eine Stadt in der Stadt. Dieser Kern, oder dieses wuchernde Geschwür, wie manche es sahen, war die Zitadelle der Anführer. Es war eine abgeschottete Metropole, in der die herrschende Gruppe alles vorfand, was sie benötigte, um von ihren Untertanen isoliert leben zu können. Mit Ausnahme von Zeremonien oder Angelegenheiten von nationaler Bedeutung, bei denen ihre kurze, distanzierte Gegenwart unvermeidlich war, lebten die Herren des Reichs im Verborgenen. Hin und wieder war es freilich unumgänglich, dass die Herrscher mit den gewöhnlichen Sterblichen, die ihnen dienten, in Berührung kamen. Manchmal ging es darum, Belohnungen zu verteilen oder Strafen zu verhängen, manchmal gab es auch Neuigkeiten, die 279 ihre vielfältigen Interessen unmittelbar berührten und es ratsam erscheinen ließen, die Nachrichten unmittelbar aus dem Mund der Untergebenen zu vernehmen. Heute wurde Andar Talgorian empfangen, der Gesandte des Reichs im souveränen Staat Bhealfa, der natürlich alles andere als souverän war. Ob er nach Merakasa berufen wurde, weil man ihn belohnen, ihn bestrafen oder über wichtige Dinge unterrichten wollte, wusste Botschafter Talgorian im Voraus nicht zu sagen. Dies gab seinem Beruf den rechten Kitzel. Es war ein Kitzel in dem gleichen Sinne, wie ein Ertrinkender es aufregend findet, wenn man ihm einen bleiernen Rettungsring zuwirft. Die Unsicherheit war beileibe nicht der einzige Grund dafür, dass der Gesandte eine Audienz bei der Kaiserin unweigerlich als eher unangenehme Erfahrung verbuchen musste. Die Herrscherin war eine beunruhigende Erscheinung. Teilweise lag dies an der Macht, die sie besaß, und an dem Wissen, dass seinem Leben durch ein launisches Fingerschnippen jederzeit ein Ende gesetzt werden konnte. Teilweise lag es aber auch, wie er zugeben musste, an ihrer äußeren Erscheinung. Er vermochte nicht einmal annähernd erraten, wie alt Bethmilno XXV. war, abgesehen davon, dass sie in der Tat sehr alt sein musste. Wie ihre Gegenstücke in Rintarah, die Talgorian allerdings noch nie gesehen hatte, versuchte auch sie, die Verwüstungen des Alters zu übertünchen. Sie trug weißen Puder in dicken Schichten auf und färbte ihre Lippen mit Pigmenten, die roter waren als Blut. Ihre Wimpern, die Augenbrauen und das verdächtig volle Haupthaar waren tief280 schwarz. Die Tatsache, dass dies alles so synthetisch wirkte, war entweder auf die Unfähigkeit ihrer Zofen oder auf die Tatsache zurückzuführen, dass sich ein so hohes Alter beim besten Willen nicht mehr kaschieren ließ. Nun saß er also im großen Audienzzimmer im Erdgeschoss des Palastes vor ihr. Eine ganze Seitenwand des Raumes wurde von Flügelfenstern eingenommen, die einen wundervollen Ausblick auf das Gelände erlaubten. Ein unterirdischer Energiestrom verlief direkt unter diesem Raum. Er wusste es, weil der kaiserliche Hof gehalten war, diese magischen Ströme farbig zu markieren. Der Verlauf war quer über den Fußboden hinweg eingezeichnet. Die unpassende goldene Linie lief fast schnurgerade mitten durchs Zimmer. Seiner Ansicht nach hatte man es mit den Sitten und Gebräuchen ein wenig übertrieben, wenn man den Raum auf diese Weise verschandelte.
Talgorians verletztes ästhetisches Gefühl war allerdings sofort vergessen, als die Kaiserin mitten in ihrem Gespräch über Sicherheitsfragen unvermittelt erklärte: »Es könnte zum Krieg kommen.« Dem Gesandten fuhr der Schreck bis in die Knochen. »Exzellenz?« Bethmilno ließ sich zu einer demonstrativen Geste übergroßer Geduld herab und erklärte es ihm. »Gegen die andere Seite.« Sie bezeichnete Rintarah fast immer als »die andere Seite«. »Verzeiht mir, dass ich so begriffsstutzig bin, Exzellenz, aber wir führen doch schon seit langer Zeit Stellvertreterkriege gegen Rintarah.« »Ich meinte jetzt einen offenen Konflikt, eine direkte Konfrontation.« 281 »Darf ich so kühn sein zu fragen, was Euch bewogen hat, eine solche Maßnahme ins Auge zu fassen, Madame?« »Ungeduld, Botschafter. Ich bin dieses ewige Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen leid.« »Würde es denn nicht ausreichen, unsere gegenwärtigen Aktivitäten zu verstärken, Exzellenz?« »Wie denn?« »Vielleicht, indem wir die Aufständischen im Gebiet von Rintarah stärker unterstützen?« »Möglicherweise ist Eurer Aufmerksamkeit entgangen, Botschafter, dass das Geld, das wir ihren Terroristen zuspielen, letzten Endes bei unseren eigenen landet. Außerdem betrachte ich den so genannten Widerstand als unorganisierten Pöbel, der als Waffe gegen die andere Seite denkbar ungeeignet ist.« Sie sah die Einwände voraus und brachte den Botschafter mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Ich will ja nicht sagen, dass sie kein Problem darstellen, aber sie könnten nicht einmal im kleinsten unserer Protektorate einen Umsturz zuwege bringen. Im Grunde sind sie einfach nur Störenfriede.« Talgorian wagte nicht, ihr zu widersprechen, und verlegte sich lieber auf die Diplomatie. »Gewiss, Euer Hoheit. Freilich kann auch ein Störenfried wichtige Ressourcen binden und gelegentlich sogar einen echten Schaden verursachen, wie wir in Bhealfa herausfinden mussten.« »Ja, das scheint eine besonders ärgerliche kleine Insel zu sein.« Sie richtete einen vorwurfsvollen Blick auf ihn, der ihm einen kalten Schauer über den Rücken jagte. »Ich erwarte allerdings, dass die Unruhen dort nachlassen, nachdem ich unsere Gesetzeshüter ange282 wiesen habe, energischer gegen die Aufrührer vorzugehen.« Er hoffte inständig, dass sie Recht behielt. »Was dies angeht«, fuhr sie fort, »so können wir erheblich schärfer durchgreifen, seit der Rat für Innere Sicherheit ermächtigt wurde, auch außerhalb unserer Grenzen zu operieren. Ich wünschte nur, wir hätten dies schon vor langer Zeit getan. Wie Ihr wisst, hält sich Kommissar Laffon derzeit persönlich in Bhealfa auf und erweist sich abermals als unser treuester Diener.« Talgorian bemerkte ihren wohlwollenden Tonfall und spielte mit dem Gedanken, seine Solidarität mit jemandem zu bekunden, den sie schätzte. Doch er beherrschte sich, weil er andererseits nicht zu eng mit einem Mann in Verbindung gebracht werden wollte, der durchaus noch stürzen konnte. »Ein äußerst fleißiger Mitarbeiter, Exzellenz. Der Kommissar hat bereits bei der Verhaftung einer sehr wichtigen Person mitgewirkt.« »Sehr gut. Und wenn er in Bhealfa Erfolg hat, was ich nicht bezweifle, dann bekommt der RIS meinen Segen, seine Operationen auf alle unsere Protektorate auszudehnen.« Was Laffon noch mächtiger machen wird, dachte Talgorian. Doch er beschränkte sich auf ein freundliches Lächeln. »Wir sind allerdings vom Thema abgeschweift«, fuhr die Kaiserin fort. »Einige meiner Ratgeber«, womit sie ihre Kinder meinte, »haben sich besorgt über die Erfolge dieses Zerreiss, dieses neuen Kriegsherrn im Norden, geäußert. Was mich selbst angeht, so bin ich keineswegs überzeugt, dass er unsere Interessen ir283 gendwie gefährden könnte, doch es gibt ein oder zwei Dinge, die mich nachdenklich gestimmt haben.« Sie meinte die Störungen der Essenz, war aber natürlich nicht bereit, Talgorian gegenüber konkreter zu werden. Das Wissen, das man brauchte, um die Matrix zu lesen, stand nur ihren Blutsverwandten zur Verfügung und durfte keinesfalls einem Außenstehenden offenbart werden. »Wir müssen mit der Möglichkeit rechnen, so entfernt sie auch sei, dass der Kriegsherr sich mit unseren Feinden verbündet.-« Sie fasste ihn streng ins Auge. »Welche Nachrichten gibt es von unserer Expedition in die Einöden im Norden?« Das war die Frage, die er gefürchtet hatte. »Bisher, Eure kaiserliche Hoheit«, erwiderte er vorsichtig, »bisher sind nur wenige Nachrichten von dort gekommen.« »Überhaupt keine, meint Ihr. Was ist mit der Gruppe, die nach Rintarah geschickt wurde? Wie ist es ihr ergangen?« »Informationen über ihre Fortschritte sind gleichermaßen ...« »Also habt Ihr auch von ihnen nichts gehört. Wir brauchen Informationen, denn bisher tappen wir in Bezug auf diesen Mann im Dunklen. Es missfällt mir sehr, im Dunklen zu tappen. Die Anstrengungen, den Kontakt herzustellen, sollen verdoppelt werden.« »Exzellenz.« »Und wenn dabei immer noch nichts herauskommt, dann werde ich ernsthaft die Möglichkeit erwägen, Euch in die Einöden im Norden zu schicken, damit Ihr Euch persönlich ein Bild von der Lage machen könnt.«
Talgorian unterdrückte einen Schauder. »Ich verstehe, Exzellenz.« 284 »Falls sich der Barbar und Rintarah verbünden«, sagte die Kaiserin, »wäre eine denkbare Konsequenz sicherlich ein großer militärischer Konflikt. Doch auch das kann seine Vorteile haben. Eine Ablenkung für die Bevölkerung ist in unruhigen Zeiten gar keine so schlechte Idee.« »Aber ... aber ein Krieg, Exzellenz?« »Ich sagte, es könnte zum Krieg kommen.« Sie seufzte ein wenig entnervt. »Ihr als Diplomat neigt zu Kompromissen und zu Verhandlungen. Es gibt allerdings Zeiten, in denen die angenehmen Worte dem Klang des Stahls weichen müssen.« Er neigte den Kopf, um sie, wie es sich geziemte, seines Gehorsams zu versichern. Ihr Wille war Gesetz. »Meine Spione berichten mir, dass dieser Narr Melyobar nach wie vor Bhealfas Ressourcen für haarsträubende Pläne vergeudet«, fügte sie hinzu. Talgorian schaute auf. »Es entspricht seit jeher unserer Politik, unterworfene Herrscher als Marionetten im Amt zu belassen, wie Eure Majestät ja weiß. Das hat sich als kostengünstige Möglichkeit erwiesen, die Protektorate zu verwalten.« »In diesem Fall ist es leider nicht mehr ganz so kostengünstig. Seine Exzesse haben die Schatzkammer nahezu geleert. Vielleicht ist es an der Zeit, die Frage der Titularherrscher in unseren Kolonien noch einmal zu überdenken.« »Bedenkenswert ist, dass die Menschen, die ins Reich aufgenommen werden, gewöhnlich viel fügsamer sind, wenn ihre eigenen Herrscher im Amt bleiben. Sie respektieren die Herrscher, die sie kennen.« »Welchen Respekt kann der Pöbel vor einem Irren haben?« 285 Talgorian wusste genau, dass Erbmonarchen trotz allem, was sie von sich geben mochten, recht empfindlich reagieren konnten, wenn es um Anspielungen auf Geisteskrankheiten ging. »Ein Irrer, Exzellenz? Das ist vielleicht ein wenig zu hart geurteilt.« Prinz Melyobar hatte den Morgen im Gespräch mit seinem toten Vater verbracht. Wenn man den Prinzen fragte, dann war der Vater natürlich keineswegs verstorben. Die vielen Experten, die man konsultiert hatte, waren freilich nicht bereit, sich mit ähnlicher Entschiedenheit zu äußern. Melyobars Unterredung mit seinem technisch verstorbenen Vater, König Narbetton, war sehr aufschlussreich gewesen. Der Prinz wusste jetzt, welche weiteren Elemente noch erforderlich waren, damit sein Plan erfolgreich umgesetzt werden konnte. Ein Plan, der unweigerlich mit der Bloßstellung und dem Tod des Todes enden musste. Im Augenblick war der Prinz nervös. Genau genommen war er ständig nervös, doch angesichts der gegenwärtigen Umstände war er noch unruhiger als ohnehin schon. So war es immer, wenn sein fliegender Hofstaat, und sei es noch so kurz, anhalten musste. Eine solche Pause war in Melyobars Reisen über das Land ein derart ungewöhnliches Ereignis, dass, sobald sich die Kunde verbreitet hatte, die Leute von nah und fern kamen, um zuzuschauen. Dies verstärkte noch die Ängste des Prinzen, und so wurden besonders ausgeklügelte Verteidigungsanlagen aufgebaut, um ihn vor seinem Todfeind zu schützen. Denn wer konnte schon sagen, ob der Schnitter 286 nicht den allgemeinen Tumult nutzen würde, um sich unbemerkt anzuschleichen? Der königliche Palast stand still, schwebte aber trotz seiner ungeheuren Ausmaße immer noch ungefähr so hoch wie das Dach eines Bauernhauses. Um seine Sicherheit zu gewährleisten, hatte der Prinz angeordnet, dass alle anderen magisch angetriebenen Burgen und Villen seiner Höflinge ständig um den Palast zu kreisen hatten. Das Ergebnis war ein riesiges Karussell, das viele Hektar der blühenden Landschaft bedeckte. Aus der Luft sah es aus, als würde eine Bienenkönigin von eifrigen Drohnen umschwärmt. Jenseits der kreisenden Anwesen und Schlösschen war eine ausgedehnte provisorische Siedlung gewachsen, die sich wie ein Gürtel rings um die ganze Anordnung legte. Hier hatte sich die nach tausenden zählende Gefolgschaft des Hofes niedergelassen und erweckte den Eindruck eines Heeres, das sich auf die Schlacht vorbereitete. Eine Stadt mit Zelten und Hütten, Pferdeherden und abgestellten Wagen war entstanden. Für viele war es ein ungewohntes Erlebnis, an einem Ort einfach zu verharren. Manche, die auf der Reise geboren worden waren, machten so eine gänzlich neue Erfahrung. Am reglos stehenden Palast war eine Rampe eingerichtet worden, die von der untersten Etage bis zum Erdboden führte. Sie war nur mäßig geneigt und breit genug, damit zwei Wagen nebeneinander fahren konnten. Auf diesem Weg sollte Fracht aufgenommen werden. Gewöhnlich wurden die Vorräte während der Fahrt übergeben, und man hatte viele komplizierte Vorrichtungen und Prozeduren entwickelt, um die 287 erforderlichen Manöver durchzuführen. Gelegentlich aber wurde Frachtgut von derart ungewöhnlicher Beschaffenheit geliefert, dass sich selbst die geschickten Ingenieure des Prinzen geschlagen geben mussten. Melyobar saß auf einem Thron, der direkt am oberen Ende der Rampe aufgestellt war, und überwachte alles, was an Bord gebracht wurde. Ein Adjutant stand ihm zur Seite, und ein Schwärm von Höflingen wartete ihm auf. Während die Fracht an ihm vorbeigeführt, gesteuert, getragen und geschleppt und wenn gewünscht vom
Adjutanten identifiziert wurde, gab der Prinz nickend sein Einverständnis oder lehnte kopfschüttelnd ab. Alles kam ohne Ausnahme in Paaren. Zwei edle Pferde wurden mit einem Nicken akzeptiert, darauf folgten zwei Esel und zwei Ochsen. Ein Stier und eine Kuh kamen, dann waren Schafe, Ziegen, Säue und Keiler an der Reihe. »Wir wollen einfach alle Nutztiere als zulässig abhaken«, beschloss der Prinz. »Sehr wohl, Euer Majestät«, bestätigte der Adjutant und schrieb eine Nachricht. Verschiedene Rassen von Pferden, Schafen und Ziegen und vergleichbarer Tiere wurden folglich eilig vorbeigescheucht. Doch Melyobars Definition eines Nutztiers war keineswegs frei von Widersprüchen. »Sollen wir auch alle Hunde als akzeptabel vermerken, Majestät?«, fragte der Adjutant, als eine kläffende, bellende Meute kam. »Ja. Nein! Die da mag ich nicht.« Er deutete auf zwei Bulldoggen und zwei Möpse, die prompt wieder entfernt wurden. »Hässliche Biester.« Katzen wurden akzeptiert, da er Katzen mochte. Er 288 sah allerdings keinen Sinn darin, Mäuse oder Ratten anzunehmen. Auch gegen Frösche hatte er Einwände. Er hegte keinerlei Zweifel, dass diejenigen, die ihm dienten, mehr als neugierig waren, warum er eine solche Menagerie sammelte. Aber natürlich wagte niemand, ihn danach zu fragen. Außerdem ging es sie sowieso nichts an. »Was ist das?«, wollte der Prinz von einem Soldaten wissen, der eine mit Stroh ausgelegte Kiste trug. Der Mann zeigte sie ihm. Im Innern dösten zwei Schildkröten. »Ich bin nicht sicher, ob diese Tiere irgendeinen Nutzen haben«, bemerkte Melyobar. Der Soldat sah den Adjutanten an. »Das ist ein Nein«, flüsterte der Helfer. Die Schildkröten wurden zu den anderen abgelehnten Lieferungen befördert. Ein Hirsch und ein Reh wurden zugelassen, dann kamen verschiedene Vogelarten. Mit Adlern und Falken hatte Melyobar keine Probleme, und die Singvögel wurden ebenfalls aufgenommen. Ein Hahn und eine Henne durften in den Palast, doch bei den Eulen sträubte sich der Prinz. Schließlich nickte er, doch die Rebhühner lehnte er entschieden ab, weil er sie für unschön hielt. Schwäne und Gänse durften passieren. Bei den Enten gab es Zweifel, bis man ihn erinnerte, dass sie ebenso wie die Wachteln Eier legten. Tauben überstanden die Prüfung. Einige exotische Tierarten aus fernen Ländern erwiesen sich als unproblematisch. Zwei mit Ketten gesicherte und jeweils von drei Begleitern beaufsichtigte Tiger wurden vorgeführt. »Die sind gut für den Sport«, erklärte Melyobar. Von einem Löwen und einer Löwin war er nicht weniger angetan. Doch als sich zwei Krokodile vor ihm 289 schlängelten, war er nicht begeistert. »Ich wüsste nicht, dass man mit ihnen mehr tun könnte, als sie zu Tode zu prügeln. Das ist wenig unterhaltsam.« »Sehr wohl, Majestät.« Der Adjutant machte eine Handbewegung, ließ die Krokodile zur Seite führen und machte sich eine Notiz über Alligatoren. Die Elefanten boten einen beeindruckenden Anblick. Die Beine waren mit schweren Eisenketten gefesselt, und jeder trug einen geschickten Elefantenführer auf dem Rücken. Beides tat ihrer beeindruckenden Erscheinung keinen Abbruch, und der Prinz verrenkte sich den Hals, als er zu ihnen hinaufstarrte. »Außerordentlich«, sagte er. »Aber haben sie einen Nutzen?« »Den haben sie, Hoheit. Als Lasttiere sind sie unübertrefflich, und es heißt, ihr Erscheinen auf einem Schlachtfeld habe eine höchst günstige Wirkung.« Er war überzeugt. Über die Kamele musste er lachen, und deshalb wurden sie zugelassen. Zwei riesige, langsam schleichende Eidechsen mit grünem Schuppenpanzer und forschenden Zungen verblüfften ihn. »Wenn ich groteske Dinge wollte«, entschied er, »dann hätte ich Zauber anfertigen lassen.« Die Eidechsen wurden fortgeführt. Auch auf Schlangen wollte er verzichten, doch er ließ sich überzeugen, dass bestimmte Arten ein Gift produzierten, das, wie ihm sein leitender Apotheker erklärte, für Heilzwecke eingesetzt werden konnte. Die Affen behielt er, weil sie ihn amüsierten, ebenso zwei freche Papageien. Insekten wies er unweigerlich ab, denn er sah dies als Gelegenheit, sie loszuwerden. Allerdings zögerte er, als man ihm zwei außer290 gewöhnlich schön gezeichnete Schmetterlinge zeigte. Geschützt vor der herbstlichen Kälte flatterten sie in einem durch Zauber erwärmten Glaskasten umher. »Diese Tiere sind problematisch, Majestät«, erklärte sein Adjutant. »Wirklich?« »Insekten brauchen andere Insekten, von denen sie sich ernähren. Ich glaube, man kann dabei nicht nach Belieben auswählen.« »Was ist mit den Vögeln? Fressen die nicht auch Insekten?« »Ah, Ihr habt natürlich völlig Recht, Sir. Einige fressen Insekten.« Er machte sich eine Notiz. »Ich werde es untersuchen.«
»Kaninchen sind genehmigt«, sagte Melyobar, als ein Paar in einem Holzkäfig gebracht wurde. »Aber ganz gewiss nicht mehr als zwei, vergesst das nicht.« Maulwürfe hielt er für nutzlos, weil sie nichts weiter konnten, als Gänge zu graben. Dachse wurden an Bord genommen, ebenso die Braunbären. Die Bärenhatz war eine seiner liebsten Beschäftigungen, und er musste für zukünftige Vergnügungen Vorsorge treffen. Dann wurden ihm Fässer und Wannen mit Fischen gezeigt. Die meisten nahm er an, doch er lehnte all diejenigen ab, deren Aussehen ihm nicht zusagte. Hechte, Aale und Welse fanden keine Gnade. Krabben und Hummer waren erwünscht, weil er den Geschmack mochte. Melyobar blickte auf die endlose Reihe der Tiere und ihrer Führer hinunter, die sich der Rampe näherten. Auf der anderen Seite liefen die Zurückgewiesenen wieder bergab. In diesem Gedränge war es schwierig, Raubtiere und ihre Beute voneinander ge291 trennt zu halten, und so gab es ein munteres Schnappen, Hauen und Beißen. Der Lärm und der Geruch wurden immer schlimmer. Eine Reinigungsmannschaft hatte reichlich zu tun, den Dung mit Schaufeln zu entfernen. »Sind es noch viele?«, fragte der Prinz. »Wir haben gerade erst begonnen. Ihr habt zwei von jeder Art verlangt, Majestät.« In der Tat forschten Suchtrupps im ganzen Land nach Paaren sämtlicher Tierarten. Seine Agenten kauften Tiere aus zoologischen Gärten und privaten Sammlungen und verhandelten mit Kaufleuten, die aus fernen Regionen zurückkehrten. Die Anweisungen seines Vaters waren unmissverständlich gewesen. Die Tiere mussten immer in Paaren erworben werden, um die Bedürfnisse des Prinzen in einer Welt, in der es keinen Tod mehr gab, zu befriedigen. Viele andere Menschen sollte es dort ebenfalls nicht mehr geben. Melyobar war entschlossen, seinen Willen zu stählen und die Sache durchzuziehen, um die Pläne zu verwirklichen. Und um seine Haut zu retten. Ein unschönes Tröten und ein lautes Platschen störten seinen Tagtraum. Ein Walross wackelte zu ihm herauf, die Gefährtin folgte dicht hinter dem Bullen. Wärter gingen vor ihnen und lockten sie mit Fischen, während andere sie mit Wassereimern abspülten. Der Walrossbulle zog den Schnurrbart hoch und sah den Prinzen an. Er fand, dass das Tier einen traurigen Blick hatte. 292 Es war der Morgen des Tages von Kinsel Rukanis' Verhandlung. Vor diesem Hintergrund hielt Caldason es für eigenartig, dass Karr ausgerechnet diesen Tag wählte, um ihn in ein Geheimnis einzuweihen. Karr ließ sich nicht bewegen, vorab irgendetwas preiszugeben, und Reeth musste schwören, keiner Menschenseele ein Wort zu verraten, bevor er überhaupt selbst etwas erfahren hatte. In der Kutsche, die sie zu einem Ziel brachte, über das Karr sich ebenfalls ausschwieg, stellte er den Qalochier zur Rede. »Ich muss sagen, ich bin nicht glücklich über die Prügelei mit der Verschmolzenen, in die Ihr und Serrah geraten seid.« »Wir hatten keine andere Wahl.« »Doch, die hattet Ihr. Wie ich es sehe, habt Ihr den Arger geradezu herausgefordert.« »Dann versteht Ihr es nicht, Karr. Wir haben die Verschmolzene nicht gesucht.« »Nein, Ihr und Serrah habt einen schlecht durch293 dachten kleinen Plan ausgeführt. Ausgerechnet bei den Paladinen zu spionieren, ohne uns Bescheid zu sagen, ganz zu schweigen davon, um Erlaubnis zu bitten.« »Erlaubnis?«, grollte Caldason. »Ich weiß, dass Ihr Eure Probleme mit Autoritäten habt, Reeth. Mit jeder Art von Autorität. Aber wenn Ihr Euch mit dem Widerstand einlasst, dann müsst Ihr ein Mindestmaß an Disziplin halten.« »Ich gebe ja zu, dass es aus einer Augenblickslaune heraus geschah. Wir wollten einfach etwas für Kinsel tun.« »Das wollen wir alle, Reeth. Aber Ihr und Serrah habt kein Monopol auf Mitgefühl. Kinsel ist auch mein Freund, und ich kenne ihn sogar länger als Ihr. Glaubt Ihr denn, mir fällt es leicht, hier herumzusitzen, während er in die Mangel genommen wird?« »Nein, Karr, das glaube ich nicht.« »Wir können diese unnötige Aufmerksamkeit nicht gebrauchen, besonders jetzt nicht, da der Umzug kurz bevorsteht.« Er war sichtlich angespannt, und sein Gesicht war gerötet. »Also gut«, gab Reeth nach. »Ich hab's begriffen. Aber jetzt beruhigt Euch wieder, Karr. Regt Euch nicht so auf. Ihr seht krank aus.« »Warum machen sich bloß alle Leute solche Sorgen um meine Gesundheit?«, gab der Patrizier gereizt zurück. »Weil Ihr es offenbar nicht selber tut. Ihr übernehmt Euch, guter Mann.« »Mir bleibt nichts anderes übrig, weil im Augenblick so viel geschieht.« »Es geschieht immer viel. Delegiert Eure Aufgaben.« 294 Karr schwieg. Er starrte durch das getönte Fenster der Kutsche hinaus. Es war ein frischer Herbsttag, kühl, aber
angenehm sonnig. Draußen waren viele Menschen unterwegs, und der Straßenverkehr nahm zu. »Ihr seid nicht unersetzlich«, fügte Caldason hinzu. »Ihr habt mir oft genug erklärt, dass niemand unersetzlich ist.« Karr richtete die Aufmerksamkeit wieder auf ihn. »Ich habe nicht mehr das Standvermögen wie früher. Mein Gehirn funktioniert mehr oder weniger unverändert, aber früher hatte ich noch Reserven, und jetzt... ach, mir fehlt manchmal einfach die Kraft. Es ist erbärmlich, älter zu werden, Reeth.« Caldason hatte Karr noch nie fluchen hören, und sei es noch so behutsam. »Ich habe ein wenig Erfahrung mit dem Älterwerden. In gewisser Weise jedenfalls.« »Aber ja, natürlich. Entschuldigt. Ich vergesse immer, wie alt Ihr seid.« Er lachte leise. »Ich kann mich nur schwer mit der Vorstellung anfreunden, dass Ihr älter seid als ich.« »Stellt Euch vor, wie ich mich dabei fühle. Aber Ihr habt Recht. Das Alter hinterlässt Spuren und verformt die Menschen. Sie blicken in den Spiegel und sehen einen Fremden. Der letzte große Verrat des Lebens. Ich habe es schon bei vielen Menschen gesehen. Eigentlich hätte es schon lange auch mit mir passieren müssen. Ihr macht Euch keine Vorstellungen, wie schwer es ist, die Menschen ringsum zu beobachten, während das Alter sie entstellt, bis sie schließlich hinfällig werden und sterben.« »Ich kann verstehen, warum Ihr Bindungen meidet.« 295 »Es ist nicht immer möglich. Manchmal könnt Ihr nicht vermeiden, in irgendetwas hineingezogen zu werden.« »So ist das, wenn man mit Menschen zu tun hat. Je mehr man sich einlässt, desto mehr sorgt man sich um sie. Aber sagt mir ...« »Ja?« »Ich bin im Geiste immer noch ein junger Mann, immer noch der idealistische junge Bursche, der vor so vielen Jahren mit der Bewegung in Kontakt kam. Es ist mein Körper, der zunehmend versagt, nicht mein Geist. Wie ...« »Wie es um meinen Geist bestellt ist? Ob ich mich wie ein alter Mann fühle? Nein. Ich bin innerlich immer noch mehr oder weniger der Gleiche wie damals, als ich jung war. Etwas weiser, hoffe ich. Nach allem, was ich bei anderen Menschen beobachte, scheint das die Norm zu sein. Auch das ist ein Streich, den die Natur uns spielt.« Sie schwiegen eine Weile und betrachteten die Straßen, durch die sie fuhren. »Wohin wollen wir eigentlich?«, fragte Caldason. »Es ist ein gewöhnliches Wohnhaus. Wir sind gleich da.« »Wollt Ihr mir nicht sagen, was all dies zu bedeuten hat?« »Erinnert Ihr Euch an den Tag, an dem Ihr hier in Valdarr eingetroffen seid? Als Ihr mit Kutch und mir in Domex altem Wagen hier angekommen seid?« »Was ist damit?« »Erinnert Ihr Euch an den Sturm und den Blitz, der die Kraftlinie traf und zerstörte?« »So etwas vergisst man nicht so schnell.« 296 »Nein, sicher nicht.« »Aber was hat das mit unserem heutigen Ziel zu tun?« »Das werdet Ihr gleich selbst herausfinden. Wir sind da.« Die Kutsche hielt in einer wenig bemerkenswerten Seitenstraße, in der unauffällige Häuser standen. Es war keine arme Gegend, aber sicherlich auch keine besonders wohlhabende. Sie stiegen aus, Karr nickte dem Fahrer zu, und die Kutsche entfernte sich wieder. »Wir wollen nicht hier herumstehen«, sagte er. Er führte Caldason zur Vordertür und gab ein schnelles Klopfsignal. Gleich darauf wurde ein Spion geöffnet, und sie wurden prüfend angestarrt. Dann wurden von innen die Riegel weggezogen, und sie durften eintreten. Der Mann, der sie einließ, nickte wortlos. Er war wie ein normaler Arbeiter gekleidet und gehörte vermutlich dem Widerstand an. Caldason hatte ihn noch nie gesehen, und Karr stellte ihn nicht vor. »Könntet Ihr ihnen Bescheid sagen, dass wir da sind?«, fragte Karr. Der Mann nickte wieder und deutete auf eine offene Tür. Sie traten hindurch und standen in einem staubigen, offenbar unbewohnten Zimmer, dessen ganzes Mobiliar aus einem abgenutzten Tisch und ein paar Stühlen bestand. Die Fensterläden waren geschlossen, und das einzige Licht kam von einigen Kerzen. »Es dürfte nicht lange dauern«, erklärte Karr. »Sie wollen sich nur so gut wie möglich vergewissern, dass es nicht gefährlich ist.« Caldason hob darauf fragend eine Augenbraue, doch Karr sagte nichts mehr. 297 Nicht lange danach kam der Mann zurück und winkte sie weiter. Sie wurden durch einen Flur zu einer weiteren Tür gebracht. Dahinter lag ein Treppenhaus, das in den Keller führte. Sie durften ohne Begleitung nach unten gehen. Der Keller war recht geräumig und mit einer Reihe magischer Lampen hell beleuchtet. Zwei Männer und eine Frau, alle in mittlerem oder fortgeschrittenem Alter und alle mit den zeremoniellen blauen Gewändern des Bundes bekleidet, waren hier beschäftigt. Karr begrüßte sie, und auch dieses Mal wurden keine Namen genannt. In einer Ecke sperrte ein Holzgeländer ein anscheinend recht tiefes, großes Loch ab.
»Dürfen wir näher heran?«, fragte Karr einen der blau gekleideten Verschwörer. Der Mann nickte. »Aber seid vorsichtig, und wenn wir es Euch sagen, müsst Ihr Euch sofort zurückziehen.« »Ich verstehe. Kommt her, Reeth.« Sie näherten sich dem Loch. »Das wird Euch bekannt vorkommen«, meinte Karr. Das Loch war tief genug, um einen großen Mann aufzunehmen, und die Seitenwände waren glatt. Am Grund hatte sich eine kleine Pfütze einer Substanz gesammelt, die an Quecksilber erinnerte. Die Flüssigkeit strömte aus einer Höhle an einer Seite des Lochs herein und auf der anderen Seite durch eine ähnliche Öffnung wieder hinaus. Die silberne Lache war ständig in Bewegung. Sie kreiste und warf Blasen, und vielfarbige Farben schillerten auf der Oberfläche wie in einem Kaleidoskop oder in einer Öllache auf dem Wasser. Eine intensive Kälte stieg von unten herauf, doch aus irgendeinem Grund kühlte sich der Keller nicht ab. 298 »Wisst Ihr noch, wie es die Magier nennen?«, fragte Karr. »Die Kutsche der Magie. Diese Ader hier wurde freigelegt, als die Hausbesitzer den Keller erweitern wollten. Genau wie der Kanal, der vor unseren Augen durch einen Blitzschlag geöffnet wurde, verläuft auch diese Ader hier ungewöhnlich dicht unter der Oberfläche. Wie auch immer... Zum Glück für uns sympathisieren die Leute, die hier gewohnt haben, mit der Bewegung und haben uns unterrichtet. Wir haben sie umquartiert und das Haus übernommen.« »Zum Glück? Wie sollte das hier dem Widerstand nützen?« »Es könnte von ungeheurem Wert sein, wenn sich eine Theorie unserer Freunde im Bund als richtig erweist. Doch das erklären sie am besten selbst.« Er rief den Mann zu sich, der zuvor mit ihnen gesprochen hatte. Der Angehörige des Bundes machte keine langen Worte. »Wir haben schon seit lahren vermutet, dass die Energieadern eine ganze Reihe von Funktionen haben. Nun ja, es waren nicht bloß Vermutungen. Nach den ausgiebigen Forschungen über die Gründer waren wir uns sogar ziemlich sicher. Da ist vor allem eine Möglichkeit, die uns schon seit langer Zeit fasziniert: Wir glauben, dass die Energieadern als Kommunikationsnetzwerk benutzt werden können.« Caldason hatte in die Grube gestarrt und wie gebannt die sich verändernden Muster beobachtet. letzt schaute er wieder auf. »Ich kann nicht behaupten, dass ich die esoterischen Einzelheiten wirklich verstehe«, gab Karr zu, »aber es klingt einleuchtend. Wir wissen, dass dieses Netz überall ist, es bedeckt die ganze Welt. So ist es nicht 299 unvernünftig anzunehmen, dass eine Botschaft, die man an einem Ende hineinschickt, am anderen wieder herauskommt.-« »Und die Übermittlung würde gewiss nicht viel Zeit erfordern«, fuhr der Mann vom Bund fort. »Wir haben guten Grund zu der Annahme, dass die Informationen fast augenblicklich transportiert werden.« »Haltet Ihr das wirklich für möglich?«, fragte Caldason. »Den Gründern war es sicherlich möglich. Nach allem, was wir wissen, ist dies noch eines ihrer kleineren Wunder.« »Stellt es Euch nur vor«, meinte Karr begeistert. »Die Fähigkeit, überall auf der Welt Botschaften zu senden und zu empfangen, vorausgesetzt, man ist in der Nähe einer Kraftlinie. Aber die Kraftlinien gibt es ja buchstäblich überall.« »Könntet Ihr die Kraftlinien auf diese Weise nutzen?«, fragte Caldason. »Davon kann, um ehrlich zu sein, leider keine Rede sein«, erwiderte der Magier. »Aber der Bund hat eine Entdeckung gemacht«, fügte Karr hinzu. »Es scheint so, als benutzte bereits jemand die Kraftlinien für diesen Zweck.« »Damit ich das richtig verstehe«, sagte Caldason, »diese Kanäle, diese Kraftlinien, sind so etwas wie ...« Er überlegte, wie er es ausdrücken sollte. »Eine Art Flusssystem. Wenn man ein Boot hat, kann man jeden Ort erreichen.« Der Magier lächelte. »Das ist eine recht zutreffende Beschreibung. Nur, dass das Boot sich schneller bewegen würde, als es mithilfe des Windes möglich wäre.« 300 »Aber Ihr sagtet, dass jemand dieses System bereits benutzt, um Botschaften zu übermitteln?« Der Mann vom Bund nickte. »Es sieht ganz danach aus«, bestätigte Karr. »Wer denn?«, wollte Caldason wissen. »Das ist die große Frage. Es liegt nahe, dass es eine Elite sein muss. Diejenigen, die uns beherrschen. Ob es nun die Anführer von Gath Tampoor oder von Rintarah sind oder auch gewisse Staatsorgane auf einer niedrigeren Ebene, also etwa die Regierung hier in Bhealfa ... nun ja, das ist nebensächlich. Ich glaube allerdings, dass eine Ressource wie diese mit ihren großartigen Möglichkeiten wahrscheinlich von den allerhöchsten Machthabern eifersüchtig gehütet wird. Damit hätten sie einen gewaltigen Vorteil.« »Das heißt also, dass wir nicht darauf zugreifen können, weil uns jemand zuvorgekommen ist?« »Genau. Wir könnten es nicht tun, ohne bemerkt zu werden. Aber wir sind auf eine weitere Idee gekommen, wie wir dies zu unserem Vorteil nutzen könnten. Wenn das Netzwerk tatsächlich benutzt wird, um Botschaften zu
übermitteln, dann können wir sie möglicherweise abfangen.« Caldason wandte sich an den Magier. »Liegt es denn in Eurer Macht, so etwas zu tun?« »Theoretisch schon. Aber leicht ist es nicht.« »Was ist dazu nötig?« »Ich will nicht unhöflich sein, aber wenn Ihr kein Angehöriger der Zunft seid, dann ...« »Das bin ich gewiss nicht.« »Ich fürchte, dann kann ich es nicht richtig erklären. Man könnte vielleicht sagen, wobei es eine grobe Verallgemeinerung ist, dass der Energiekanal einer silber301 nen Schnur ähnelt. Die Sprüche, die wir wirken, schneiden dort hinein wie eine Klinge, und die Informationen sickern heraus. Man könnte sagen, dass wir uns hineinhacken.« »Reeth ist ein Mann der Klinge«, erläuterte Karr. »Ich denke, er weiß diesen Vergleich zu schätzen.« Caldason starrte in das ständig bewegte, eiskalte Loch. »Sind diese Kanäle nicht gefährlich? Als wir das letzte Mal einen gesehen haben, ist das Chaos losgebrochen.« »Ja, sie sind potenziell sehr gefährlich«, stimmte der Magier zu. »Aber wir halten diesen hier mit einer Reihe von Bindesprüchen unter Kontrolle. Damit sollten die gefährlichen Nebenwirkungen, mit denen man sonst rechnen müsste, ausbleiben.« »Hoffentlich habt Ihr Recht.« »Keine Sorge, in dieser Hinsicht sind wir sicher. Aber wenn Ihr mich jetzt entschuldigen wollt, ich muss ...« »Selbstverständlich«, sagte Karr. »Und vielen Dank.« Der Mann gesellte sich wieder zu seinen Kollegen und beschäftigte sich außer Hörweite mit anderen Dingen. Karr und Reeth kehrten zur Grube zurück und legten die Hände auf das hölzerne Geländer. Unten brodelte die Flüssigkeit. »Glaubt Ihr, sie werden es schaffen?« »Ich weiß es nicht, Reeth. Aber es ist ein Ziel, für das sich jeder Einsatz lohnt.« Reeth erwiderte nichts darauf, sondern starrte nur in den blubbernden, quecksilbernen Teich. »Reeth?« Er schien ihn nicht zu hören. Seine Knöchel spannten sich weiß um das verkohlte Geländer. 302 »Reeth!« »Hmm? Oh, entschuldigt.« Er schüttelte den Kopf, als müsste er wieder zu sich kommen. »Ich glaube, ich ... war einen Augenblick im Land der Magie gefangen.« In der Quecksilberquelle gab es eine kleine Eruption, als wollte ein Miniaturvulkan Lava speien. Winzige Quecksilberkugeln schlugen gegen die Wand des Lochs und rollten wieder in den Teich zurück. Die Kälte, die nach oben drang, war noch stärker als sonst. Karr zupfte Reeth am Arm. »Wir sollten vielleicht besser hier verschwinden und die Arbeit den Experten überlassen.« Sie zogen sich zurück. Der kleine Quecksilberausbruch beruhigte sich wieder. »Denkt Ihr, die Leute hier wissen, was sie tun?«, flüsterte Caldason. »Wenn der Bund es nicht weiß, dann weißt es niemand.« Er sah sich zu den kauernden Magiern um. »Nun ja, ich hoffe, das hat Euch, wenn es schon sonst nicht hilft, wenigstens ein bisschen von Kinsel abgelenkt.« »Ein wenig. Aber Ihr habt mich doch nicht deshalb hierher mitgenommen, oder?« »Ich wollte Euch zeigen, um welch hohen Einsatz wir spielen. Und ich muss zugeben, dass ich auch gehofft hatte, Euch in Bezug auf den Goldtransport umzustimmen, wenn ich Euch weiter ins Vertrauen ziehe.« »Ihr habt für alles einen guten Grund, was, Karr?« Es war nicht abweisend gemeint. »Nun ja, ich glaube, ich habe mich so gut wie entschieden, was ich tun werde.« 303 »Ist es eine Entscheidung, über die ich mich freuen werde?« »Das kommt darauf an, ob Ihr das Gold noch abliefern wollt oder nicht.« »Gut.« Er strahlte. »Karr?« »Ja?« »Was Kinsel angeht ... Disgleirio hat Serrah und mir gegenüber eine Bemerkung gemacht...« »Dass man ihn umbringen sollte? Das hat er auch dem Rat vorgeschlagen.« »Und wie ist der Vorschlag aufgenommen worden?« »Er ist auf einhellige Ablehnung gestoßen. So arbeiten wir nun einmal nicht. Wie könnten wir auch? Wenn wir im Kampf gegen die Unterdrücker unsere Menschlichkeit verlieren und unsere Seelen verkaufen, dann sind wir nicht besser als sie. Ehrlich gesagt, Reeth, mir fällt es schon schwer genug, den Tod von einem Feind zu beschließen, ganz zu schweigen von jemandem, der zu uns gehört.« »Dann glaubt Ihr nicht, dass Disgleirio und die Gerechte Klinge auf eigene Faust handeln könnten?« »Nein. Wir haben deutlich gemacht, dass dies nicht hinnehmbar wäre.« »In gewisser Weise kann ich ihn sogar verstehen. Da jetzt der RIS auch in Bhealfa operiert, und da ich weiß, wie
geschickt sie darin sind, die Leute zum Reden zubringen ...« »Kinsel ist im Verhör oder unter den Folterungen, denen sie ihn wahrscheinlich unterzogen haben, nicht zusammengebrochen. Ganz sicher nicht, denn es wurde niemand verraten. Wir hätten es inzwischen sicher längst erfahren, wenn er etwas verraten hätte. 304 Ich glaube, für den Mut, den er gezeigt hat, sind wir ihm etwas mehr schuldig als seine Ermordung, findet Ihr nicht auch?« »Können wir jemanden da hineinbekommen?« »Ins Gericht? Keine Chance. Ich habe jede Handbreit der Route von dort bis zum Hauptquartier der Paladine sorgfältig überprüfen lassen. Wir können keine Lücke finden, so sehr wir es auch versuchen.« Er seufzte. »Der arme Kinsel. Ich fürchte, er ist auf sich allein gestellt.« 305 Sie führten ihn in Ketten vor, obwohl es nicht nötig war. Rukanis nahm an, dass sie damit den Eindruck erwecken wollten, er sei ein gefährlicher Mann und habe die Strafe verdient. Doch als er sich von seinem Platz auf der Anklagebank im Gerichtssaal aus umschaute und die Gesichter sah und die allgemeine Stimmung spürte, da wusste er, dass sie sich die Mühe hätten sparen können. Er bezweifelte, dass irgendjemand sonst überhaupt größere Vorurteile gegen ihn hegen könnte als diese Leute. Man hatte ihn gefoltert, und manchmal war er kurz davor gewesen, die anderen zu verraten. Irgendwie hatte er die Kraft gefunden, den Qualen zu widerstehen. Selbst als sie gedroht hatten, ihm die Stimmbänder herauszureißen und ihn für immer zum Schweigen zu verdammen. Er war stolz auf seinen Trotz und rechnete ihn sich als Triumph an, auch wenn sein Körper bei jedem Atemzug höllisch schmerzte. Die Besuchergalerie des Gerichtssaales war leer, und der Tisch, an dem für gewöhnlich die Anwälte der 307 Verteidigung saßen, blieb unbesetzt. Es gab nur drei Gerichtsbeamte. Ein Einzelrichter hatte den Vorsitz, er saß höher als alle anderen und schaute streng drein. Unter ihm hatte der Gerichtsschreiber Platz genommen, und ein Stenotypist protokollierte den Verlauf der Verhandlung. Drei Personen saßen auf der Bank des Anklägers. Er kannte sie alle. Ivak Bastorran, der Anführer der Paladine, war persönlich gekommen; neben ihm saß sein Neffe und Erbe Devlor. Kommissar Laffon war der Dritte im Bunde. Er sah aus wie ein hockender Geier. Zwei Wächter, einer links und einer rechts neben Kinsel, vervollständigten die Mannschaft. Der Gerichtshof verschwendete keine Zeit und begann sofort mit der Verhandlung. Der Gerichtsschreiber erhob sich und entrollte ein Pergament, räusperte sich und klärte die Formalitäten. »Ihr seid Kinsel Rukanis, Berufssänger und Bürger des Reichs von Gath Tampoor, mit Hauptwohnsitz in der Stadt Merakasa?« Kinsel starrte ihn an. Es war, als hätte er vergessen, wie man redet. »Ihr müsst antworten«, knirschte der Richter unwirsch. Kinsel schluckte. »Ja, der bin ich.« Seine Stimme klang schwach und unsicher. »Die Anklage wird verlesen werden«, fuhr der Gerichtsschreiber fort, »und dann werdet Ihr Euch schuldig oder unschuldig bekennen. Habt Ihr verstanden?« »Ich protestiere«, quetschte Kinsel heraus. »Ich habe keine rechtliche Vertretung bekommen, und ...« »Schweigt!«, donnerte der Richter und knallte den Hammer auf sein Pult. »Ihr werdet hier keine Anspra308 chen halten. Ihr werdet die Fragen beantworten, die Euch der Gerichtsschreiber stellt. Verlest die Anklage gegen den Gefangenen.« »Kinsel Rukanis, Euch wird zur Last gelegt, Euch zu verschiedenen Zeiten und gemeinsam mit einer oder mehreren derzeit unbekannten Personen vorsätzlich und mit böswilliger Absicht verschworen zu haben, gewisse vertrauliche Informationen weiterzugeben, zu übermitteln oder anderweitig zu verbreiten, um der Kaiserin, ihren Dienern und ihrem Volk Nachteile oder Schaden oder einen Verlust des Ansehens zuzufügen. Weiterhin wird Euch vorgeworfen, Euch mit anderen verbündet zu haben, um gewaltsame und aufrührerische Akte gegen die verfassungsmäßigen Mächte und verschiedene Ordnungsbehörden zu begehen, die diesen Mächten dienen. Schließlich wird Euch vorgeworfen, mit erklärten Feinden des Staates geplant, Euch verschworen oder diese Feinde unterstützt und deren Ziele gefördert zu haben, um gewisse verräterische Handlungen zu begehen, die geeignet sind, den Frieden des Reichs zu stören, was letzten Endes dem Ziel dienen sollte, besagten Staat zu unterminieren und zu stürzen. Bekennt Ihr Euch schuldig oder nicht schuldig?« »Die Anklagen sind bedeutungslos. Sie können alles beinhalten, was Ihr Euch ausdenkt.« »Ihr werdet antworten, wie man es Euch befohlen hat«, donnerte der Richter. »Bekennt Ihr Euch schuldig oder nicht schuldig?« »Man hat mich schlecht behandelt. Sogar gefoltert. Meine Rechte wurden ...« »Der Angeklagte wird schweigen, oder er wird zum Schweigen gebracht werden. Wachen!« 309 Kinsels Wächter kamen und zogen seine Ketten fester an. Dann stießen sie ihn gegen das Geländer, das die Anklagebank vorn begrenzte. Der Aufprall nahm ihm den Atem. »Bekennt Ihr Euch schuldig oder nicht schuldig?«, fragte der Schreiber noch einmal.
Kinsel seufzte. »Nicht schuldig.« »Der Gefangene soll sich setzen.« Jemand riss kräftig an seinen Ketten, und er krachte schwer auf einen Holzstuhl, der im Boden verschraubt war. »Die Anklagevertretung soll die Anklage zusammenfassen«, ordnete der Richter an. Laffon stand auf und nannte für die Akten seinen Rang und seinen Namen. Er fügte hinzu, dass nach den neu erlassenen Gesetzen gegen innere Unruhen seiner Behörde das verfassungsmäßige Recht übertragen worden sei, als Strafverfolgungsbehörde tätig zu werden, sofern es um terroristische Aktivitäten gehe. So sammelte also ein angebliches Opfer der Verschwörung die Beweise gegen Kinsel und trat zugleich als sein Hauptankläger auf. »Trotz des Ausmaßes und der Vielzahl von Vorwürfen, die gegen den Gefangenen erhoben werden«, begann er, »liegt dieser Fall im Grunde recht einfach. Wir sind der Ansicht, dass der Angeklagte sich schon vor langer Zeit mit revolutionären und kriminellen Elementen verschworen hat, deren einziges Ziel es ist, die rechtmäßig eingesetzte Regierung unserer gnädigen Kaiserin zu stürzen.« Er hielt inne, um seine Worte wirken zu lassen. Der Federkiel des Schreibers kratzte auf dem Pergament. 310 »Wir wollen das Gericht nicht mit einer endlosen Reihe von Beweisen langweilen«, fuhr Laffon fort, »so belastend sie zweifellos auch wären. Wir wollen nur zwei Beispiele für das verräterische Verhalten dieses Mannes nennen. Euer Ehren, ich bitte um Erlaubnis, den ersten Zeugen der Anklage aufrufen zu dürfen.« »Stattgegeben.« »Ich rufe Ivak Bastorran auf, den Hohen Clanchef der Paladin-Clans.« Bastorran stand auf. »Ich sehe keine Notwendigkeit, allzu streng das Protokoll zu beachten«, sagte der Richter. »Ihr könnt auch gleich von dort aus Eure Aussage machen, Clanchef Bastorran. Bitte setzt Euch.« »Danke, Euer Ehren.« Bastorran setzte sich wieder. »Kann ich davon ausgehen, dass alle Zeugen vor der Verhandlung vereidigt worden sind?«, fragte der Richter. »So ist es, Euer Ehren«, bestätigte Laffon. »Dann wollen wir fortfahren.« Laffon wandte sich lächelnd an den Paladin. »Ich glaube, wir können uns recht kurz fassen. Seid so freundlich und seht den Mann auf der Anklagebank an und sagt mir, ob Ihr ihn erkennt.« »Ich erkenne ihn.« »Und woher kennt Ihr ihn?« »Ich kenne ihn natürlich als bekannte Persönlichkeit, da ich ihm mehrmals begegnet bin. Gesellschaftliche Verpflichtungen und so weiter. Ich kenne ihn auch aufgrund meiner Tätigkeit als Hüter der öffentlichen Ordnung.« »Könntet Ihr dies näher darlegen?« 311 »Sein Name ist in Berichten aufgetaucht, die von Agenten der Paladine verfasst wurden. Aufgabe dieser Agenten ist es, terroristische Aktivitäten zu bekämpfen. Mir ist auch bekannt, dass andere Behörden aus ähnlichen Gründen Interesse an ihm haben.« »Wie oft ist sein Name in diesen Berichten aufgetaucht?« »Oh, das ist öfter vorgekommen. Wir haben in unseren Akten viele Hinweise auf ihn. Die Paladine haben ihn schon lange im Verdacht.« »Könntet Ihr den Angeklagten charakterisieren?« »Im günstigsten Fall ein Mitläufer, im schlimmsten Fall hat er sich aktiv an illegalen Aktivitäten beteiligt. Bisher war aber er von seinen aufständischen Kohorten zu gut abgeschirmt, und er war zu gerissen, als dass man ihn hätte anklagen können.« »Betrachtet Ihr ihn als Gefahr für den Staat?« »Daran kann kein Zweifel bestehen. Ich begründe diese Ansicht nicht nur mit den Beweisen, sondern auch mit den Erfahrungen, die ich in den vielen Jahren sammeln konnte, in denen ich die Ehre hatte, die Clans zu führen.« »Vielen Dank, Clanchef Bastorran.« »Der Angeklagte darf den Zeugen befragen«, verkündete der Richter. Kinsel war verblüfft. Niemand hatte ihm gesagt, dass er Gelegenheit haben sollte, seine Ankläger zu befragen. Die Wächter zogen ihn hoch, bis er stand. »Nun?«, sagte der Richter. »Das Gericht ist stark beschäftigt und hat nicht den ganzen Tag Zeit. Sprecht oder verzichtet auf Euer Recht.« Kinsel holte Luft. »Ihr sagt, Clanchef Bastorran, die Beschuldigungen gegen mich seien in zahlreichen Berufe 312 richten aufgetaucht. Könnt Ihr mir erklären, welcher Natur diese Berichte sind?« »Aus Gründen der nationalen Sicherheit kann ich diese Frage nicht beantworten.« »Wäre es nicht möglich, diese Berichte hier dem Gericht vorzulegen, damit der Richter selbst die Anschuldigungen sehen kann, die sie enthalten?« »Die nationale Sicherheit erlaubt es nicht, diese Dokumente der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.«
»Aber hier ist doch niemand, der als Sicherheitsrisiko betrachtet werden müsste. Warum könnt Ihr nicht...« »Abgelehnt.« Der Richter unterstrich seine Entscheidung mit einem Hammerschlag. »Die Akten sind aus gutem Grund als geheim eingestuft. Der Angeklagte wird andere Fragen stellen oder schweigen.« »Da wären noch die Leute, die diese Berichte zusammengestellt haben«, sagte Kinsel. »Könnten sie nicht vorgeladen werden, um ...« Laffon sprang auf. »Einspruch, Euer Ehren. Der Angeklagte stellt die gleiche Frage mit anderen Worten.« »Ich stimme Euch zu, Kommissar. Eure Einwände sind berechtigt. Der Angeklagte muss seine Fragen auf Bereiche beschränken, die die nationale Sicherheit nicht berühren.« »Wenn ich einen Anwalt hätte«, beklagte sich Kinsel, »dann würden vielleicht auch die richtigen Fragen gestellt.« »Dies ist eine unpassende Bemerkung. Setzt Euch.« Die Wächter stießen Kinsel auf den Stuhl zurück. »Ruft Euren nächsten Zeugen, Kommissar.« »Danke, Sir. Ich rufe Devlor Bastorran, den Kommandierenden General der Paladin-Clans. Sagt mir, 313 General, ob Ihr aufgrund Eurer Kenntnis der Anti-Terror-Maßnahmen des Staates bestätigen könnt, was Euer Onk... was der Hohe Clanchef Bastorran über den Angeklagten gesagt hat?« »Das kann ich.« »Ihr wisst, dass sich die Sicherheitskräfte des Staates schon seit längerer Zeit für Kinsel Rukanis interessieren, und auch Ihr verdächtigt ihn, sich an aufrührerischen Handlungen beteiligt zu haben?« »So ist es.« »Könnt Ihr noch irgendetwas ergänzen, um, sagen wir, das Bild abzurunden?« »Ja. Rukanis' Name wurde mehrfach von Personen erwähnt, die wir verhört haben. Es handelte sich um Straftäter und Staatsfeinde, denen verschiedene terroristische Akte nachgewiesen werden konnten.« »In welcher Weise haben sich diese Kriminellen über den Angeklagten geäußert?« »Sie haben ihn als Waffenbruder und Mitverschwörer betrachtet. Als jemanden, der ebenso tief in die aufrührerischen Aktivitäten verwickelt ist wie sie selbst. Sie haben ihn aber auch als Mann beschrieben, dem man kaum etwas nachweisen könne. Es gab sogar Hinweise darauf, dass er unter dem Schutz einflussreicher Persönlichkeiten stünde.« »Das ist ein interessanter Aspekt, General. Ich denke aber, wir wollen uns dies für eine andere Gelegenheit aufheben. Man könnte also zusammenfassend sagen, dass Eure Einschätzung des Angeklagten mit dem übereinstimmt, was Clanchef Bastorran berichtet hat?« »So ist es. Der Mann ist eine Bedrohung für die anständigen Bürger, die ihren gesetzmäßigen Verrichtungen nachgehen.« 314 »Danke, General.« Der Richter starrte Kinsel an. »Fragen?«, knurrte er. »Diese Leute, die in Verhören meinen Namen genannt haben sollen - könnt Ihr sie hier dem Gericht vorführen?« »Leider nein«, antwortete Devlor Bastorran, und sein Gesicht war ein Abbild unendlicher Zerknirschung. »Ihr müsst verstehen, dass es sich um unverbesserliche Revolutionäre und Gesetzlose handelte. Einige wurden zu langen Gefängnisstrafen in verschiedenen Kolonien verurteilt. Über andere wurde die Todesstrafe verhängt, was meiner Ansicht nach durchaus berechtigt war. Und ein oder zwei weitere haben sich bedauerlicherweise dem Verhör widersetzt und so ihr Leben verwirkt.« »Wenn ihr ... wenn ihr Verhör dem meinen ähnlich war, dann überrascht mich das nicht.« Der Hammer des Richters knallte erneut auf den Tisch. »Der Angeklagte wird sich mit solchen frechen und irrelevanten Bemerkungen zurückhalten.« »Wenn Ihr diese Leute nicht hier vorführen könnt, General, dann nennt wenigstens ihre Namen«, sagte Kinsel. »Das ist nicht möglich, fürchte ich. Dadurch könnten weitere Nachforschungen behindert werden. Es ist eine Frage der ...« »Eine Frage der nationalen Sicherheit, ich weiß. Aber vielleicht könntet Ihr dem Gericht erklären, welche einflussreichen Persönlichkeiten mich angeblich schützen?« »Einspruch«, sagte Laffon. »Es muss selbst dem Angeklagten klar sein, dass so heikle Informationen nicht der Öffentlichkeit preisgegeben werden dürfen.« 315 »Wo ist denn die Öffentlichkeit?«, fragte Kinsel. »Ich sehe hier keine.« »Für solche Scherze haben wir hier keine Zeit«, bellte der Richter. »Ihr habt Recht, Kommissar. Derartige Fragen sind nicht zulässig.« Er beäugte Kinsel. »Habt Ihr sonst noch etwas zu fragen? Etwas Vernünftiges, meine ich?« »Ich ...« »Also nicht, das dachte ich mir. Habt Ihr noch weitere Zeugen, Kommissar?« »Nur einen, Euer Ehren. Er wartet draußen.« »Dann holt ihn herein, holt ihn rein.«
»Ruft Aido Brendall.« Der Name sagte Kinsel nichts, doch als der Gerichtsdiener den Mann zum Zeugenstand lotste, erkannte er ihn wieder. Der Zeuge war schätzungsweise Mitte dreißig, von durchschnittlichem Körperbau, mit einem wenig bemerkenswerten Gesicht und ebenso farbloser Kleidung. Das einzig hervorstechende Merkmal war ein schwarzer lederner Aufsatz, den er statt einer Nase im Gesicht trug. Das Ding war offenbar gepolstert und wurde von straffen Bändern gehalten, die hinter dem Kopf verknotet waren. »Seid Ihr Aido Brendall, Wachtmeister bei der Hafenwache?«, fragte Laffon. »Der bin ich, Sir.« Es überraschte nicht, dass seine Stimme etwas erstickt klang. »Ich will nicht lange herumreden, Wachtmeister. Es ist offensichtlich, dass Ihr verletzt wurdet. Nun sagt mir, hat sich dies ereignet, während Ihr im Auftrag der Bürger Valdarrs Dienst getan habt?« »Jawohl, Sir. Ich wurde im Dienst verstümmelt.« »Und trifft es nicht auch zu, dass bei demselben 316 Vorfall zwei Eurer Kollegen ihr Leben verloren haben?« »Allerdings, Sir. Zwei waren es, und das war ein schwerer Verlust für die Hafenwache, Sir.« »Ich glaube, an diesem Abend wurde auch ein Angehöriger der Paladin-Clans ermordet, nicht wahr?« »Ja, Sir. Er ist heldenhaft gestorben, jawohl.« »Bitte beschreibt doch dem Gericht mit Euren eigenen Worten, wie sich diese Tragödie zugetragen hat.« »Da gibt es nicht viel zu sagen, Sir. Es war im letzten Sommer, und meine Streife war im Hafen eingesetzt. Wir haben die Meldung bekommen, eine illegale Einwanderin sei mit einem Schiff eingetroffen, eine Frau mit zwei Kindern. Die Kinder waren noch ganz jung. Wir haben sie entdeckt und verfolgt. An diesem Abend war unserer Einheit ein Paladin zugeteilt, der uns begleitet hat. Wir haben die Illegale eingeholt, und da war schon ein Mann bei ihr.« »Könnt Ihr den Mann identifizieren?« »Ja, Sir. Es war der da.« Er deutete auf Kinsel. »Seid Ihr sicher?« »Das werde ich wohl mein Lebtag nicht vergessen, Sir, wenn man bedenkt, was dann passiert ist.« »Fahrt fort.« »Nun, wir stellten ihn und die Frau zur Rede, und dann auf einmal ist noch eine Frau aufgetaucht. Ich nehme an, sie kannten sich. War eine von ihnen, wenn Ihr mich fragt. Denn als wir ihr befohlen haben, zur Seite zu treten, da hat sie uns angegriffen.« »Und die Folge dieses unprovozierten Angriffs war, dass zwei Eurer Kameraden und der tapfere Paladin-Offizier ihr Leben verloren haben, während Ihr selbst eine schlimme Wunde davongetragen habt?« 317 »Ja, Sir. Gezeichnet für mein Leben, das bin ich.« »Welche Rolle hat der Angeklagte bei diesem Angriff gespielt?« »Er hat sie angetrieben, Sir. Daran besteht kein Zweifel.« »Dann seht Ihr ihn als den Anstifter? Als treibende Kraft hinter dem Angriff sozusagen?« »Ich glaube, diejenige, die all den Schaden verursacht hat, hätte uns wohl sonst nicht angegriffen, Sir.« »Fassen wir zusammen: Der Angeklagte, den Ihr gerade identifiziert habt, war in eine Auseinandersetzung verwickelt, die mit dem Tod von drei wackeren Friedenshütern und einer schweren Verletzung eines Vierten, nämlich von Euch selbst, geendet hat?« »Genauso war es, Sir.« »Ich denke, die Zeugenaussage dieses Mannes, eines Mannes, der sich selbst jeden Tag in Gefahr bringt, um den Frieden und die Sicherheit für die braven Bürger Valdarrs zu gewährleisten, straft die Unschuldsbeteuerungen des Angeklagten Lügen. Danke, Wachtmeister.« »Euer Zeuge«, grollte der Richter und nickte Kinsel zu. »Ihr habt dem Gericht gesagt, Ihr hättet an diesem Abend fünf Personen gestellt. Zwei Frauen, zwei kleine Kinder und einen Mann.« »Das solltet Ihr wissen, denn Ihr wart der Mann.« »Ich möchte etwas klarstellen. Eure Einheit bestand aus drei Wachtmeistern der Hafenwache und einem Paladin, allesamt ausgebildete Kämpfer. Was den Paladin angeht, so nehme ich an, dass er ein höchst erfahrener Schwertkämpfer war. Ist das richtig?« 318 »Das ist richtig.« »Haben sich die Kinder beteiligt und Euch angegriffen, als der Kampf begann?« »Das ist lächerlich. Natürlich nicht.« »Haben Euch beide Frauen angegriffen?« »Nur die eine.« »Und was ist mit dem Mann? Hat er sich am Kampf beteiligt?« »Ihr wisst doch, dass Ihr es nicht getan habt.« »Dann können wir also festhalten, dass vier sehr erfahrene Gesetzeshüter einer einzigen Frau gegenüberstanden,
die drei von ihnen getötet und Euch selbst eine schwere Verletzung zugefügt hat?« »Nun ... ja. Aber sie war gut. Ich meine, sie war wild. Wahrscheinlich irre. Mit Vernunft konnte man ihr nicht beikommen.« »Habt Ihr denn versucht, mit ihr zu reden? Oder habt Ihr dieser Frau einfach befohlen, zur Seite zu treten, damit Ihr an die nicht am Kampf Beteiligten heran konntet? Ist es nicht möglich, dass ...« »Einspruch, Euer Ehren!« Laffon war schon wieder auf den Beinen. »Es scheint mir fast, als wollte der Angeklagte darauf hinaus, dass es sich bei diesem schrecklichen Vorfall um einen Akt der Selbstverteidigung gehandelt habe. Und falls dies zutrifft, ist dies nicht so gut wie ein Eingeständnis, dass er anwesend war?« »Ich neige dazu, Euch zuzustimmen«, erwiderte der Richter. »Im Übrigen sind die genauen Begleitumstände des Vorfalls zweitrangig gegenüber der Tatsache, dass drei Gesetzeshüter getötet wurden. Dafür kann es keine Rechtfertigung geben, und jeder Anwesende, in welcher Eigenschaft auch immer, muss als 319 Mittäter betrachtet werden. Ich werde keine weiteren Fragen in diese Richtung zulassen. Hat der Angeklagte noch andere Fragen?« Kinsel schüttelte müde den Kopf und ließ sich auf den Stuhl sinken. Der Wachtmeister der Hafenpatrouille wurde entlassen, dann wies der Richter Laffon an, sein Schlussplädoyer zu halten. »Euer Ehren, ich habe nicht die Absicht, die kostbare Zeit des Gerichts mit einer langwierigen Zusammenfassung unserer Beweisführung in Anspruch zu nehmen. Die Fakten sprechen für sich. Wir haben die Aussagen der beiden höchsten Vertreter der geschätzten Paladin-Clans gehört, die keinen Zweifel daran ließen, dass Kinsel Rukanis ihrer Ansicht nach ein gefährliches und heimtückisches Individuum ist. Was die von Aido Brendall vorgetragenen Beweise angeht, so liegt dem Gericht nunmehr die Zeugenaussage eines ergebenen, mutigen Staatsdieners vor, der berichten konnte, wie der Angeklagte in einen bösartigen Gewaltakt verstrickt war. Ihr werdet bemerkt haben, Euer Ehren, dass Rukanis nicht bestritten hat, sich in jener Nacht, als es zu Mord und Gewalt kam, im Hafen aufgehalten zu haben. Mein Lord, die Tatsache, dass Kinsel Rukanis ein bekannter Sänger ist, lässt seine Verbrechen nur umso schlimmer erscheinen, denn gerade ein Mann wie er sollte das Gesetz achten und jederzeit ein patriotisches Beispiel geben. Ein Aspekt der Persönlichkeit des Angeklagten wurde bisher nicht vor Gericht erwähnt, obwohl er gut bekannt ist. Ich beziehe mich hier auf seinen erklärten Pazifismus. Auch dies hat Auswirkung auf die Frage des Patriotismus. Denn wie kann man einen Mann einen Patrioten nen320 nen, der nicht bereit ist, für sein Land zu kämpfen, und der auch noch andere anhält, sich diesem absurden Standpunkt anzuschließen? Wie verzerrt muss denn die Weltanschauung eines Menschen sein, damit er Feigheit und Verachtung für die Heimat als Tugend sieht, derer man sich rühmen könnte? Für eine solche Philosophie, wenn sie denn diesen Namen überhaupt verdient, und für solche Beweise kann es nur ein Urteil geben.« »Der Angeklagte darf zu seiner Verteidigung sprechen«, sagte der Richter. Kinsel richtete die müden Augen auf den Richter. »Ist das überhaupt noch sinnvoll?« »Das Volk muss die Gewissheit haben, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren stattgefunden hat. Ich will mir nicht nachsagen lassen, ein Angeklagter habe in meinem Gerichtssaal nicht das Recht bekommen, seinen Standpunkt darzulegen.« »Herr Vorsitzender, ich bin sicher, dass das Volk genau dies ohnehin schon glaubt. Der Unterschied zwischen mir und allen anderen hier ist die Tatsache, dass ich meinen Mitbürgern durchaus genügend Intelligenz zutraue, um zwischen wahrer Gerechtigkeit und einem Etikettenschwindel zu unterscheiden. Und ich bin fest davon überzeugt, dass echte Gerechtigkeit das Geburtsrecht jedes Mannes und jeder Frau ist, aus welcher Schicht er oder sie auch kommen mag und wie ihre Hoffnungen und Wünsche auch von den Herrschern betrachtet werden mögen. Ich habe kein gerechtes Verfahren erwartet. In dieser Hinsicht wurde ich nicht enttäuscht.« »Eine hübsche Ansprache, die nicht geeignet ist, dieses Gericht milde zu stimmen. Der Gerichtsschrei321 ber möge diesen Teil aus dem Protokoll streichen und lediglich festhalten, dass der Angeklagte auf die Gelegenheit, für sich selbst zu sprechen, verzichtet hat.« Der Schreiber verneigte sich knapp und strich aus, was er notiert hatte. »Ich sehe keine Notwendigkeit, mich zurückzuziehen und über die vorgelegten Beweise nachzudenken«, erklärte der Richter. »Die Tatsachen liegen wohl auf der Hand. Doch da keine zwingenden Beweise vorgelegt wurden, die Euch mit der tatsächlichen Beteiligung an Gewaltakten belasten, will ich nachsichtig verfahren.« Ein kleiner Hoffnungsfunke flammte in Kinsels Brust auf. »Dennoch sind die vorgetragenen Beschuldigungen ernst, und jeder Richter muss Sorge tragen, dass die verhängten Strafen als Abschreckung für andere dienen. Kinsel Rukanis, ich stelle fest, dass Ihr schuldig im Sinne der Anklage seid. Vermöge der mir von der Verfassung von Gath Tampoor und der Protektorate verliehenen Amtsgewalt verurteile ich Euch zur Überstellung an die Marineabteilung des Strafvollzugs. Ihr werdet auf unbestimmte Zeit als Angehöriger einer Galeerenmannschaft schwere körperliche Arbeit verrichten. Und mögen die Götter Euch trotz Eurer Missetaten gnädig sein.« Der Hoffnungsfunke erstarb. Zur Arbeit als Galeerensklave verurteilt zu werden war ebenso verhängnisvoll wie
ein sofort vollstreckbares Todesurteil. Der einzige Unterschied bestand darin, dass die Arbeit auf der Galeere im Gegensatz zur Hinrichtung durch das Seil oder auf dem Schafott den Tod ein wenig hinauszögerte. 322 »Es ist der Wunsch des Gerichts, dass das Urteil unverzüglich vollstreckt wird«, fuhr der Richter sogleich fort. »Der Gefangene ist abzuführen.« Als sie ihn unsanft von der Angeklagtenbank zerrten, galt Kinsels einziger Gedanke den Kindern. Und dem Kind, das sie trug und das er niemals sehen würde. Als er an den Bastorrans und Laffon vorbeigeführt wurde, konnte er sehen, dass sie guter Dinge waren. 323 Wir gehen ein höllisches Risiko ein«, flüsterte Caldason. »Wir tun es für Tan«, erinnerte Serrah ihn. »Dies wird vermutlich das letzte Mal sein, dass sie ihn zu sehen bekommt. Wie könnten wir ihr das abschlagen?« Am Straßenrand standen Menschen. Nicht gerade sechs Reihen tief, wie es beim Besuch eines wichtigen Würdenträgers oder an einem Festtag der Fall gewesen wäre, aber es hatte sich dennoch eine beachtliche Menschenmenge gesammelt, wenn man bedachte, dass die meisten um diese Zeit eigentlich arbeiten sollten. Groß genug auch, um als Versteck für jene zu dienen, die nicht erkannt werden wollten. Mit Kapuzen und einfacher Kleidung ausgerüstet, standen Reeth und Serrah am Bordstein. Tanalvah und Kutch waren in der Nähe, und rings um sie hatten sich gut zwanzig weitere Widerständler im Gedränge versteckt, um im Notfall als Leibwächter einzuspringen. 325 »Es sollte jetzt nicht mehr lange dauern«, meinte Serrah. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum wir es nicht einfach mit einem Hinterhalt versucht haben.« »Sieh dich um. Hier sind eine Menge Uniformierter unterwegs, und du kannst sicher sein, dass ebenso viele Zivilbeamte im Einsatz sind. Wenn man berücksichtigt, wie diese Leute arbeiten, kann man außerdem davon ausgehen, dass jemand bei Kinsel im Wagen sitzt, der ihm beim ersten Anzeichen von Krawall die Kehle durchschneidet.« »Diese Schweine würden so etwas wirklich tun, was? Ich fühle mich so hilflos, Reeth.« »So muss sich auch Tanalvah fühlen. Vielleicht solltest du ihr Gesellschaft leisten.« »Ja, das dachte ich auch gerade. Ich tausche mit Kutch.« Er nickte, und sie huschte davon. Als Serrah sich neben Tanalvah geschoben hatte, sagte sie: »Kutch, du kannst jetzt rüber zu Reeth gehen.« »Ach, ich stehe hier ganz gut, Serrah.« »Kutch!« »Oh. Schon gut. Bis später, Tanalvah.« Sie lächelte nachsichtig, als er sich durch die Zuschauer drängte. »Es ist eine dumme Frage, Tan, aber wie fühlst du dich?«, fragte Serrah leise. »Es ist eigenartig, aber ich bin irgendwie jenseits von Wut und Verzweiflung und so weiter. Ich fühle mich wie betäubt.« »Du stehst immer noch unter Schock. Vielleicht war es doch keine so gute Idee, dich hierher zu bringen.« 326 »Nein, ich will hier sein, ich muss hier sein. Das verstehst du doch, oder? Du willst mich doch nicht hier wegzerren, oder?« »Natürlich nicht. Deshalb bin ich doch bei dir.« »Weißt du, ich bin wirklich stolz auf Kinsel.« »Aber sicher bist du das. Das weiß ich doch.« »Ich meine besonders, weil er nicht unter ... unter der Folter zerbrochen ist.« Ihre Stimme klang belegt, als sie es aussprach. »Wir wissen nicht, ob er gefoltert wurde, Tan.« »Bitte, Serrah, ich bin kein kleines Kind. Es ist schön, dass du mich schonen willst, aber ich weiß, wozu diese Leute fähig sind. Ich habe genug Erfahrungen mit dieser Sorte gemacht, als ich noch in Rin-tarah als Hure gearbeitet habe.« »Entschuldige.« »Aber das Wichtigste ist, dass Kinsel niemanden verraten hat. Niemand musste seinetwegen leiden.« »Er ist ein sehr tapferer Mann.« »Ja. Aber das haben nicht alle geglaubt, nicht wahr? Sie sagten, er werde zusammenbrechen und viele Leute in Gefahr bringen.« »Nicht alle waren der Ansicht.« »Mag sein. Aber ein paar waren so sehr davon überzeugt, dass sie sogar meinten, man müsste ihn töten, um ihn zum Schweigen zu bringen.« »Oh, das hast du gewusst?« Serrah kam nicht einmal auf die Idee zu fragen, wie Tanalvah es erfahren hatte. »Ja, und ich glaube, ich weiß auch, wer den Vorschlag gemacht hat. Ich war verletzt, als ich es hörte, aber ich mache ihm keinen Vorwurf.«
»Das ist sehr nachsichtig von dir.« 327 »Es ist, wie Kinsel immer gesagt hat. Du musst stets an das Wohl einer größtmöglichen Anzahl von Menschen denken. Er hat es so oft gesagt, dass ich beinahe glaubte, unsere kleine Familie sei gar kein Teil dieses größeren Ganzen. Er hat immer alles danach beurteilt, ob es für die Welt richtig sei, ehe er an sich selbst dachte. Vielleicht sogar, ehe er an die Seinen dachte.« »Tan ...« »Nein, so ist er eben, und das ist einer der Gründe, warum ich ihn liebe.« »Ich bin sicher ... ich weiß genau, dass er dich und die Kinder mehr geliebt hat als alles andere.« »Ja, das hat er, und das Wissen tröstet mich. Aber weißt du, ich habe so ein Gefühl, dass trotzdem noch alles gut wird.« »Wirklich?« »Ja, ehrlich. Ich glaube, eines Tages werden wir auf all dies zurückblicken, als wäre es nur ein schlechter Traum gewesen, und dann werden wir wieder zusammen sein.« »Du beziehst deine Kraft aus deinem Glauben, nicht wahr?« »Teilweise, ja. Aber das ist nicht der Grund dafür, dass ich so empfinde.« »Tan, du kannst kein Wunder erwarten. Das Leben ist nicht immer so, wie die Verseschmiede es beschreiben.« »So sollte es aber sein. Ich denke, die Menschen haben etwas Glück verdient.« »Wenn es überhaupt jemand verdient hat, dann bist du es.« »Und ich werde alles tun, was nötig ist, damit es auch so kommt.« 328 Serrah war einigermaßen beunruhigt. »Glaubst du wirklich, du kannst etwas tun?« »Es gibt Mittel und Wege, Serrah. Es gibt immer einen Weg, wenn du nur den Mut hast, ihn zu gehen. Das ist ein Teil der Philosophie, für die meine Schutzgöttin Iparrater eintritt.« »Ah, ich verstehe.« Doch irgendwie hatte Serrah das Gefühl, dass Tanalvah nicht ausschließlich an die Religion dachte. Nicht weit entfernt warfen Reeth und Kutch heimlich Blicke zu den Frauen. »Glaubst du, Tan wird damit zurechtkommen, Reeth?« »Schwer zu sagen. Sie hat einen schrecklichen Schlag erlitten. Andererseits hat sie nach allem, was sie erlebt hat, auch viel Kraft.« »Und sie hat die Kinder. Serrah sagt, es werde Tan helfen, bei Verstand zu bleiben, wenn sie sich um Teg und Lirrin kümmern muss.« »Damit hat sie wohl Recht.« »Die Leute opfern viel für ihre Kinder, nicht wahr?« »Ja. Manchmal sogar alles.« »Ich kann mich kaum an meine Mutter erinnern«, gestand Kutch, »aber ich bin ihr dankbar.« »Sie hat dich verkauft.« »Nun ja, aber ich denke, als sie mich Meister Domex gab, hat sie mir eigentlich die bestmögliche Zukunft verschafft, die es für mich überhaupt geben konnte. Genauso war es mit meinem Bruder, der Soldat wurde. Ich weiß nicht, ob er wirklich zum Heer wollte. Ich glaube, er wollte vor allem meine Mutter entlasten, damit sie ein Maul weniger zu füttern hatte.« »Vermisst du deinen Bruder?« 329 »Ich würde ihn gern wieder sehen. Ich frage mich oft, was aus ihm geworden ist.« »Was soll dieses Gerede über Familien, Kutch? Normalerweise sprichst du kaum darüber.« »Es hat wohl mit dem zu tun, was Kinsel und Tan zugestoßen ist. Ist es nicht traurig, Reeth? Sie haben einander gefunden und sind eine Familie geworden, und jetzt sind sie wieder getrennt. Das ist doch gemein.« »Das Leben ist manchmal ungerecht. Du müsstest das inzwischen erkannt haben. Es gibt kein Gesetz, das besagt, dass die Guten immer obenauf sein müssen.« Kutch schwieg und dachte eine Weile darüber nach. »Was meinst du, was wird mit Kinsel passieren?«, fragte er schließlich. »Was mit ihm passieren wird? Ich fürchte, nichts sehr Angenehmes.« »Nun ja, sie haben ihn doch nicht zum Tode verurteilt.« »Doch, das haben sie, und zwar zu einem langsamen, schmerzvollen Tod. Von den Galeeren ist noch niemand zurückgekehrt, Kutch. Die Leute dort haben Glück, wenn sie ein schnelles, sauberes Ende finden. Ein Unfall auf See oder dergleichen. Das geschieht recht häufig. Wenn nicht...« »Oh. Glaubst du, Tan weiß es?« »Natürlich weiß sie es.« »Ich dachte nur, dass sie es recht gefasst aufnimmt.« »Sie ist tapfer. Oder sie steht unter Schock. Vielleicht auch beides.« Er legte den Kopf schräg. »Hast du das gehört?« »Was denn?«
330 »Sie kommen.« In der Ferne war die Menge zu hören. Je näher der Konvoi kam, desto lauter wurden die Rufe, und man konnte leicht erkennen, dass es gemischte Reaktionen gab. »Warum machen die Leute so komische Geräusche?«, wunderte sich Kutch. »Es ist mehr als nur ein Geräusch. Einige jubeln, andere protestieren. Ich glaube, die Gefühle der Menschen für Kinsel sind nicht einheitlich.« Der führende Wagen des Konvois kam in Sicht, und das Brüllen nahm an Lautstärke zu. »Warum machen sie es dann so, Reeth?«, fragte Kutch. »Ich meine, warum fahren sie ihn durch die Straßen? Sie hätten es doch auch still und leise tun können, oder?« »Sie stellen eine Trophäe zur Schau und verdeutlichen uns ihren Standpunkt. Sie sagen uns, dass du, ganz egal, wie hochrangig du bist oder wie sehr man dich mag, vor ihrer Rache nicht sicher bist. Das soll als Warnung an andere dienen, die geneigt sein könnten, ins Lager des Widerstands zu wechseln. Ich bin aber nicht sicher, ob sie es richtig angepackt haben. Hör nur, wie die Menge schreit.« Zweifellos waren die Reaktionen der Zuschauer gemischt. Jubelrufe und Proteste hielten sich in etwa die Waage. Seltsamerweise applaudierten auch viele Leute, doch Caldason glaubte nicht, dass sie damit ihre Billigung für die Maßnahmen der Behörden zum Ausdruck bringen wollten. Einige pfiffen auch, oder sie spuckten und warfen mit Gegenständen, doch die meisten standen nur schweigend und mit finsteren Gesichtern am Straßenrand. Hier und dort winkte auch 331 jemand, was man wirklich nicht als ablehnende Geste auffassen konnte. Bei einem recht großen Teil der Bevölkerung war Kinsels Beliebtheit ungebrochen. Mehrere mit Milizionären besetzte Kutschen fuhren vorbei. Kavalleristen und Paladine dienten als Begleitschutz. In der Mitte des Konvois kam Kinsels Wagen in Sicht. Der Sänger stand auf dem offenen Wagen in einem Käfig, seine Hände waren an die Gitterstäbe gekettet, und er schaute mit unbewegtem Gesicht hinaus. Einige Leute warfen faules Obst, andere warfen Blumen. Einen Augenblick später war der Wagen vorbei. »Komm«, sagte Caldason. Die Menge war jetzt eigenartig still und zerstreute sich bereits. Reeth und Kutch zwängten sich zu Serrah und Tanalvah durch. »Wir wollen uns hier nicht länger aufhalten als nötig«, drängte Caldason. »Ich glaube, er hat mich gesehen«, sagte Tanalvah mit leuchtenden Augen. »Ganz gewiss hat er dich gesehen«, bekräftigte Serrah. Sie nahm die Freundin in den Arm. »Aber wir müssen jetzt gehen. Die Straßen sind nicht sicher.« Zwei Männer vom Widerstand, die ihnen bekannt waren, tauchten auf und informierten sie, dass in der Nähe eine Kutsche wartete. »Du fährst bei Tanalvah mit, Kutch«, sagte Serrah zu ihm. »Reeth und ich kommen nach.« Sie sahen zu, wie Tanalvah, der Zauberlehrling und die Männer vom Widerstand einstiegen und abfuhren. »Ihr Verhalten gefällt mir nicht, Reeth. Das ist nicht natürlich.« 332 »Was ist in so einer Situation schon natürlich? Sie steht unter Schock.« »Das dachte ich auch, aber ... ich weiß nicht, da ist noch etwas anderes.« »Was willst du damit sagen?« »Verdammt, Reeth, sie erinnert mich an ... nun ja, an mich selbst. Daran, wie ich vor ein paar Monaten geworden bin.« »Meinst du, sie könnte sich etwas antun?« »Vielleicht. Andererseits hat sie die Kinder, und das sollte sie daran hindern. Es sei denn ...« »Du glaubst doch nicht, sie könnte den Kindern etwas tun?« »Das ist unwahrscheinlich, sehr unwahrscheinlich sogar. Aber man weiß nie genau, wie die Menschen reagieren. Glaube mir, ich spreche aus Erfahrung.« »Dann wäre es das Beste, du könntest so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen.« »Das dachte ich mir auch. Verdammt, Reeth! Warum musst du auch gerade morgen aufbrechen und das Gold abliefern?« »Was? Nach all der Mühe, die du dir gegeben hast, um mich zu überreden? Und nachdem Karr alles so schnell organisiert hat? Jetzt kann ich doch wohl kaum noch absagen, oder?« »Nein, natürlich nicht. Es ist einfach nur ein unglückliches Zusammentreffen, und ...« »Ja?« »Ich wünschte, ich könnte mitkommen.« Als der Konvoi die dichter besiedelten Stadtviertel hinter sich gelassen hatte, fuhr er schneller. Die Behörden hatten dafür gesorgt, dass die Straßen vor den Wa333 gen geräumt waren, und an jeder Ecke standen Fußstreifen.
Schließlich fuhr der Konvoi klappernd ins Hafenviertel hinein. Es war eben jener Hafen, in dem Kinsel in einem Sommer, der schon so lange zurückzuliegen schien, Tanalvah und die Kinder zum ersten Mal gesehen hatte. Sein Wagen hielt vor einem großen Gebäude mit vergitterten Fenstern und Wachtposten vor der Tür. Der Käfig wurde aufgesperrt, und begleitet von zwei Wächtern wurde Kinsel, an den Fußgelenken gefesselt, hineingeführt. Drinnen hockten fünfzig oder sechzig weitere Verurteilte elend auf langen Bänken. Alle trugen Fußschellen, die mit langen Ketten verbunden waren. Kinsel wurde zur nächsten Bank gestoßen, ein Wächter schnauzte etwas, und die Gefangenen machten ihm Platz. Dann kniete ein Schmied nieder, fummelte mit den Fußschellen herum, und Kinsel war angekettet wie alle anderen. Es war kalt, und die schlecht sitzende Sträflingskluft bot kaum Schutz vor der Kälte. Abgesehen vom Klirren der Ketten und hin und wieder einem pfeifenden Husten war es still im Raum. Sie warteten auf etwas, doch niemand erklärte ihm, was es war. Eine halbe Stunde später sollte er es erfahren. Ein muskulöser, breitschultriger Mann stolzierte herein. Abgesehen von einem bleistiftdünnen schwarzen Schnurrbart war er völlig kahl, und seine gebräunte Haut glänzte, als wäre sie eingeölt. Er trug Lederhosen und ein ärmelloses Lederwams, das trotz der kühlen Jahreszeit über der unbehaarten Brust offen stand. Auf dem rechten Oberarm war das Dra334 chensymbol von Gath Tampoor eintätowiert. Seine Stiefel waren dick und schwer, und er hatte sich breite Nietenbänder um die Handgelenke geschlungen. Eine große, reich geschmückte goldene Schnalle hielt seinen Gürtel, an dem ein gekrümmtes Messer in einer Scheide hing. Außerdem hatte er eine zusammengerollte Stachelpeitsche. »Hier sind die wichtigsten Tatsachen eures neuen Lebens«, verkündete er. Er sprach langsam und durchdringend. »Ich bin euer Aufseher. Ihr seid Abschaum. Ihr nennt mich Sir oder Meister oder Gott. Noch besser ist, ihr sprecht mich überhaupt nicht an. Mein Wort ist das Gesetz, euer Leben ist weniger wert als eine Prise Salz. Ihr springt, wenn ich es sage. Ihr arbeitet, bis ich sage, dass ihr aufhören könnt, was aber nicht oft geschehen wird. Wenn ich euch sage, dass ihr mit dem Arsch ein Loch im Kiel stopfen sollt, dann tut ihr es. Wenn ich euch auffordere zu kämpfen, dann kämpft ihr mit aller Kraft und ohne Rücksicht auf euer eigenes elendes Leben, wann immer ich es für nötig halte.« Er schritt die Reihe der Sträflinge ab und betrachtete die Gesichter seiner Untertanen. Nur wenige erwiderten seinen Blick. »Jeder, der ohne Ketten an Bord herumläuft, ist euer Vorgesetzter, dessen Befehle kommentarlos befolgt werden müssen. Euer oberster Vorgesetzter bin ich. Wenn ihr mir in irgendeiner Weise Ärger macht oder meine Befehle nicht schnell genug ausführt, werdet ihr bestraft. Die Bandbreite reicht von einer Tracht Prügel bis zum Verlust eines Fußes, vom Ausstechen eines Auges mit einem glühenden Stab bis zum Verfüttern eures Körpers an die Haie. Es geht euch nichts an, wohin wir fahren. Was wir tun, wenn wir dort sind, hat nichts mit euch zu 335 schaffen.« Er hatte Kinsel erreicht und offensichtlich erkannt. »Niemand wird bevorzugt.« Er starrte den Sänger an. »Niemand schert sich darum, wer ihr in eurem früheren Leben wart. Dieses Leben ist in diesem Augenblick vorbei, erledigt, vergessen. Ob von hoher oder niedriger Geburt, mir ist alles einerlei, und der hier auch ...« Er hob die Peitsche. »Ach ja, und wenn ihr dreißig Jahre überlebt, dann werdet ihr von der Kaiserin begnadigt. Aber freut euch nicht zu früh, das hat bisher noch niemand geschafft.« Er ging weiter. »Ihr werdet erfreut sein zu hören, dass wir mit der Flut am Abend auslaufen. Eure Seereise beginnt in einer Stunde. Ich würde gern sagen, dass ich hoffe, ihr werdet es genauso genießen wie ich. Aber das wird nicht der Fall sein.« Er drehte sich um und marschierte hinaus. Ein Trupp Männer mit Eimern kam. Sie gingen an der Reihe der Sträflinge entlang und verteilten aus Kellen schales Wasser und kleine Stücke von altbackenem Schwarzbrot. Zehn Minuten später waren die angeketteten Sträflinge unterwegs. Angetrieben von den Peitschen der Sklaventreiber marschierten sie aus dem Haus und wurden über den Laufsteg eines angedockten Schiffs auf Deck und dann unter Deck gescheucht. Das Schiff war innen steuerbord wie backbord mit Bänken ausgestattet. Auf jeder Bank konnten zwei Männer sitzen. Sie wurden mit Peitschenschlägen auf die Bänke verteilt, dann wurden die Handgelenke an die großen Ruder gefesselt, die in Löchern im Schiffsrumpf steckten. Die Fußgelenke wurden an kräftige Ringe gekettet, die in den Boden eingelassen waren. Kinsel saß neben einem älteren, spindeldürren Mann 336 mit gebrochenen Zähnen. Als sie alle an ihren Plätzen saßen, tauchte der Aufseher wieder auf. »Da dies euer erster Einsatz ist«, verkündete er, »werden wir nett und freundlich beginnen. Legt die Hände auf die Ruder!« Ein Trommler begann, den Takt zu schlagen. Kinsel fasste das Ruder und spürte, wie in einem Augenwinkel eine Träne entstand. 337 Die Nacht hatte sich über die Stadt gesenkt. In einer stillen Wohnstraße eines wenig bemerkenswerten Viertels von Valdarr stand eine Kutsche diskret im Schatten eines Baums mit ausladenden Ästen. Die Kutsche war mit aufwändigen Zaubern gegen Lauscher gesichert, und der Kutscher war mit einem fingierten Auftrag fortgeschickt worden.
In der Kutsche, hinter vorgezogenen Jalousien, waren zwei Menschen in ein Gespräch vertieft. »Wir gehen es noch einmal durch«, beharrte Devlor Bastorran. »Wenn es denn unbedingt sein muss«, gab Aphri Kordenza müde zurück. »Aber ich habe es schon bei den ersten drei Durchgängen verstanden. Ich bin ja nicht dumm.« »Ich muss sicher sein, dass Ihr Euch jede Einzelheit genau eingeprägt habt. Dies ist eine äußerst gefährliche Operation.« »Wir sind an gefährliche Situationen gewöhnt. Vertraut mir.« 339 »Wenn Ihr scheitert, dann wird es nicht nur für mich schlecht aussehen, sondern auch extrem schlecht für Euch. Für Euch beide. Wenn Ihr es richtig macht, werdet Ihr bekommen, was Ihr wollt.« »Ihr werdet dafür sorgen, dass unser Zustand dauerhaft wird?« »So ist es abgesprochen.« »Und Ihr werdet bezahlen?« »Das habe ich zugesagt.« »Bald?« »Ja, doch, ja! Ihr habt mein Wort. Können wir es jetzt bitte noch einmal durchgehen? Gut. Wann sollt Ihr dort sein?« »Kurz vor Mitternacht.« »Genau. Damit habt Ihr Zeit, hineinzukommen, Euer Werk zu tun und wieder zu verschwinden. Ihr müsst unbedingt dort heraus sein, bevor die Glocken Mitternacht schlagen. Habt Ihr das verstanden?« »Ja, sicher.« »Der Raum hat zwei Eingänge. Ihr braucht Euch keine Gedanken um den Zugang zum Innern des Hauses zu machen. Euch interessiert nur der Notausgang. Ihr erreicht die Tür durch die Gasse hinter dem Gebäude. Es ist die einzige Tür dort, und außerdem steht ein Wächter davor.« »Den ich töten soll.« »Ja, und vermasselt es nicht. Wenn er überlebt, sind wir beide geliefert. Denn Ihr werdet Euch ihm mit dem hier nähern.« Er hielt ein zusammengerolltes Pergament mit einem Wachssiegel hoch. »Mein persönliches Siegel. Damit werdet Ihr sein Vertrauen gewinnen, und Ihr könnt ihm nahe genug kommen, um ihn 340 zu erledigen. Auf welche beiden Dinge müsst Ihr an diesem Punkt achten?« »Ich töte ihn auf konventionelle Weise ohne Magie. Und ich muss den Brief mit dem Siegel sicherstellen.« »Das ist äußerst wichtig. Wenn Ihr ihn dort lasst, unterschreibt Ihr damit unser Todesurteil.« Er schob die Hand in die Tasche seiner Tunika. »Dann benutzt Ihr diesen Schlüssel hier, um die Tür zu öffnen. Zieht die Wache hinein und schließt hinter Euch ab.« »Und dann trenne ich mich von Aphrim.« »Genau. Ihr lasst ihn als Wache am Eingang zurück, falls noch jemand kommen sollte. Das ist sehr unwahrscheinlich, da es nicht viele weitere Schlüssel gibt, aber ich will auf alles vorbereitet sein. Nun seid Ihr im Gebäude. Wie geht es weiter?« »Ich steige die Treppe hoch, und dort oben ist eine weitere Tür.« »Die öffnet Ihr mit diesem Schlüssel hier.« Er ließ ihn vor der Verschmolzenen baumeln. »Seid leise. Wenn Ihr die Tür durchschritten habt, steht Ihr in einer kleinen, mit Vorhängen abgeteilten Nische. Hinter dem Vorhang liegt sein privates Arbeitszimmer. Die Tür, die zum Rest des Hauses führt, ist verschlossen, Ihr braucht also aus dieser Richtung keine Störung zu fürchten. Es besteht die Möglichkeit, dass er, mit dem Rücken zur Nische, am Schreibtisch sitzt und arbeitet. Ihr könnt Euch ihm also nähern, ohne von ihm bemerkt zu werden, wenn Ihr heimlich vorgeht.« »Heimlich bin ich besonders gut.« »Wenn er nicht am Schreibtisch sitzt, ist das Überraschungsmoment dennoch auf Eurer Seite. Doch wenn er Euch kommen sieht und kämpft, müsst Ihr damit rechnen, dass er nicht leicht zu besiegen ist.« 341 »Darauf werde ich vorbereitet sein.« »Ich kann nicht oft genug betonen, dass er behandelt werden muss wie die Wache - keine Spur von Magie. Wenn Ihr damit fertig seid, dann bringt Ihr das Arbeitszimmer etwas durcheinander. Erweckt den Anschein, es habe einen Kampf gegeben, falls es keinen gab. Dann tretet Ihr von außen die Tür ein, durch die Ihr gekommen seid. Es soll so aussehen, als sei jemand mit Gewalt eingedrungen, nicht mit einem Schlüssel. Sein Arbeitszimmer liegt in einem etwas abgelegenen Teil des Hauses, und es ist mit Holz vertäfelt, also könnt Ihr ein wenig Lärm machen, aber übertreibt es nicht. Oh, und denkt daran, dass die Tür abgeschlossen ist, wenn Ihr sie eintretet. Wenn jemand bemerkt, dass eine nicht verschlossene Tür eingetreten wurde, wäre das verräterisch. Sagt mir, wie es dann weitergeht.« »Die Treppe hinunter zu Aphrim, und dann das Gleiche mit der unteren Tür. Wir brechen sie von außen auf.« »Das ist möglicherweise der gefährlichste Augenblick. Wenn jemand vorbeikommt oder auf Euch aufmerksam wird, während Ihr die Tür zerstört...« »Dann töten wir ihn.«
»Genau. Es ist wichtig, dass Euch niemand erkennt, denn das würde den ganzen Plan vereiteln. Auch hier darf wieder keine Magie eingesetzt werden.« »Ihr könnt Euch darauf verlassen.« »Das will ich hoffen. Mir ist nicht an einer Wiederholung Eurer Prügelei mit Caldason und der Frau gelegen.« »Das geschah ja nicht aus freien Stücken. Sie haben uns beschattet.« 342 »Genau das macht mir Sorgen. Wenn sie Euch schon von meinem Hauptquartier aus beschattet haben, dann wissen sie jetzt, dass wir in Verbindung stehen.« »Das nützt ihnen allerdings nicht viel. Wem wollen sie es erzählen, und wer wollte ihnen glauben? Und überhaupt, Caldason hat bald eine Menge andere Sorgen.« »Das mag sein. Hier.« Er übergab die Schlüssel und das versiegelte Dokument. »Ich will alles zurückbekommen, wie es abgesprochen ist.« »Selbstverständlich.« »Noch etwas. Falls Ihr daran denkt, diese Sachen zum Gegenstand einer kleinen Erpressung zu machen, dann vergesst es lieber gleich. Ihr würdet Euch nicht nur um die Belohnung bringen, ich würde außerdem jeden Paladin in der Stadt auf Euch ansetzen und den Befehl geben, Euch auf der Stelle zu töten.« »So etwas ließe ich mir nicht im Traum einfallen. Wenn der Auftrag erledigt ist, werden Aphrim und ich für immer aus Eurer Umgebung verschwinden.« Genau das hatte auch Devlor Bastorran im Sinn. In Ivak Bastorrans palastartigem Stadthaus gab es einen Empfang. Die Gästeliste war erlesen, die Gastfreundschaft großzügig. Viele einflussreiche Familien Bhealfas waren vertreten, und nicht wenige große und wichtige Persönlichkeiten aus Gath Tampoor, die in der Kolonie stationiert waren, ließen sich blicken. Ein kleines Orchester spielte im Ballsaal des Hauses auf, und nach der letzten Mode gekleidete Paare bevölkerten die Tanzfläche. 343 In einem benachbarten Empfangszimmer begrüßten Ivak und Devlor, in ihre Paradeuniformen gekleidet, die Gäste. Trotz der späten Stunde trafen immer noch neue Besucher ein. »Es war eine exzellente Idee, Laffon zu Ehren ein Fest auszurichten«, bemerkte Ivak. »Ich sehe es als Akt der Höflichkeit, Onkel. Da der Rat für Innere Sicherheit jetzt die Erlaubnis hat, außerhalb von Gath Tampoor tätig zu werden, hat seine Macht noch zugenommen. Er scheint auf jeden Fall die Gunst der Kaiserin zu genießen, und es kann nicht schaden, wenn die Paladine auf gutem Fuße mit ihm stehen.« »Ich bin wirklich froh, dass du an solche Dinge denkst, Devlor. Diese diplomatischen Feinheiten haben mir noch nie gelegen.« »Nun ja, Onkel, aber das größte Lob muss dir gelten, weil du heute Abend dein Heim zur Verfügung stellst.« »Ich kann jetzt schon sehen, dass du eines Tages ein großer Gewinn für die Führung der Clans sein wirst, mein hinge.« »Vielen Dank, Onkel. Ich freue mich schon darauf.« »Aber hoffentlich nicht zu bald, was?« Er lachte. »Wie du meinst, Onkel. Ah, da ist ja unser Ehrengast.« Mit einem Kristallglas in der Hand kam Laffon zu ihnen. Devlor dachte, es sei typisch für den Mann, dass er nichts Stärkeres als Wasser trinken wollte. »Es ist ein wundervoller Empfang, meine Herren.« Er schenkte ihnen ein seltenes Lächeln. »Noch einmal vielen Dank. Es ist schön, dass Ihr ihn so kurzfristig ausrichten konntet.« 344 »Wir hatten die Absicht, ein Fest zu geben, sobald wir hörten, dass Ihr kommt«, log Devlor. »Nach Ru-kanis' erfolgreicher Aburteilung, bei der Ihr eine so entscheidende Rolle gespielt habt, schien es uns genau das Richtige zu sein.« »Hört, hört«, fügte der ältere Bastorran hinzu. »Ihr seid zu freundlich.« Laffon hob sein Glas an die bleichen Lippen. »Natürlich sollte dies als doppelte Feier betrachtet werden«, erklärte Devlor. »Wie das?«, wollte Laffon wissen. »Abgesehen davon, dass Rukanis' Schuld nachgewiesen wurde, können wir noch Euren zweiten Triumph feiern, Kommissar, da nun der Rat für Innere Sicherheit eine so große Verantwortung in unserem gemeinsamen Kampf gegen die Terroristen übernehmen wird.« »Die Kaiserin hat meiner Organisation eine große Ehre erwiesen, indem sie so viel Vertrauen in uns setzte. Selbstredend bemühen wir uns nach Kräften, Ihre Majestät nicht zu enttäuschen.« »Gott segne sie«, sagte Ivak und nahm einen Schluck aus seinem Cognacschwenker, den er anschließend auf dem Tablett eines vorbeihuschenden Dieners abstellte. »Gewiss besteht keinerlei Gefahr, dass Eure geschätzte Organisation die Kaiserin enttäuschen könnte«, sagte Devlor. »Und selbstverständlich werden auch die Paladine jederzeit bereit sein, in jeder nur denkbaren Weise mit Euch zusammenzuarbeiten.« »Umgekehrt wird natürlich auch der RIS mit den Paladinen zusammenarbeiten«, gab Laffon mit ebenso
geheuchelter Liebeswürdigkeit zurück. »Ich freue mich 345 schon sehr darauf, dass wir in Zukunft öfter so eng zusammenarbeiten werden, wie es bereits im Fall von Rukanis geschehen ist.« In diesem Augenblick unterbrach Devlors Adjutant Lahon Meakin den Austausch der Artigkeiten, verneigte sich und bat um Verzeihung für die Störung. Er flüsterte dem jüngeren Bastorran etwas ins Ohr und zog sich ebenso schnell wieder zurück. »Ich bitte um Nachsicht«, verkündete Devlor ihnen, »aber eine unbedeutende Angelegenheit erfordert meine Aufmerksamkeit. Wenn Ihr mich einen kleinen Augenblick entschuldigen wollt...« »Aber gewiss, mein Junge. Die Arbeit geht immer vor, nicht wahr? Ein Gesetzeshüter findet niemals Ruhe. Geh nur, ich leiste einstweilen dem Kommissar Gesellschaft.« Devlor lächelte und zog sich zurück. Die Botschaft, die Meakin ihm wie zuvor abgesprochen überbrachte, war nichts weiter als die Erinnerung, dass es nur noch ein wenig mehr als eine Viertelstunde bis Mitternacht war. Mitternacht war, wie es die Tradition der Paladine gebot, die Stunde, zu der man einem Ehrengast zuprosten musste. Devlor verließ den Empfangssaal, nickte den Gästen, denen er begegnete, lächelnd zu, und betrat einen benachbarten Raum, durch den er wiederum den Flur erreichte, der zum Haupteingang führte. Er blieb dort einen Augenblick stehen, wechselte mit einigen Leuten ein paar Worte und kehrte auf dem gleichen Weg in den Empfangssaal zurück. Laffon und sein Onkel waren noch ins Gespräch vertieft. »Alles in Ordnung, mein Junge?«, fragte Ivak. 346 »Absolut, Onkel. Ich fürchte nur, es ist nötig, dich kurz von unserem Gast zu entführen.« Er wandte sich an Laffon. »Eine kleine Entscheidung hinsichtlich des Weins, den wir später trinken werden, ist zu treffen. So etwas kann natürlich nur der Hausherr persönlich entscheiden.« »Aber natürlich, ich verstehe.« »Aber darum kannst du dich doch ebenso gut kümmern, Devlor«, sagte Ivak. Er war verstimmt über die Aussicht, von seinem Gesprächspartner fortgezerrt zu werden. Sein Neffe sah ihn scharf an. »Es wäre wirklich das Beste, du könntest selbst kommen, Onkel.« »Oh, na gut. Entschuldigt uns, Kommissar.« Grollend ließ er sich wegziehen. Devlor führte ihn in einen anderen, weniger überfüllten Raum. »Onkel, ich habe da drin gerade eine kleine Notlüge gebraucht.« »Wirklich? Ich soll gar nicht den Wein aussuchen?« »Nein. Es hat überhaupt nichts mit dem Wein zu tun. Es geht um eine Angelegenheit, um die wir uns besser außer Sichtweite von neugierigen Augen kümmern. Ein Bote hat gerade dies hier abgeliefert.« Er zog die Jacke zur Seite und zeigte ihm einen Umschlag, der aus der Innentasche lugte. »Was ist das?« Devlor beugte sich vor und flüsterte: »Der Brief trägt das persönliche Siegel der Kaiserin.« Ivak zog die Augenbrauen hoch. »Eine Botschaft vom kaiserlichen Hof?« Devlor nickte. »Angesichts dieser Umstände hielt ich es für das Beste, diskret vorzugehen.« 347 »Das war völlig richtig. Gib ihn mir, es könnte dringend sein.« »Möglicherweise geht es um heikle Dinge, ganz gewiss ist es eine eher private Mitteilung. Vielleicht solltest du den Brief besser hinter verschlossenen Türen in deinem Arbeitszimmer lesen. Einfach nur, um ganz sicher zu sein.« »Ja, das ist eine gute Idee.« »Hier, stecke ihn dir in die Tasche. Es muss ja niemand sehen, was du bekommen hast. Ziehe dich zurück und lies ihn, und ich entschuldige dich bei den Gästen.« Sie trennten sich am Fuß der Treppe. Devlor kehrte zu Laffon zurück. Er lud mehrere andere Gäste ein, sich ihrem Gespräch anzuschließen, und später noch einige weitere. Nicht lange, und der jüngere Bastorran stand im Mittelpunkt einer Gruppe von Zuschauern, die er mit seinem Repertoire an Anekdoten und Geschichten über die Heldentaten der Clans unterhielt. Zwei Stockwerke höher hatte sein Onkel inzwischen die Tür seines Arbeitszimmers verriegelt und sich an den Schreibtisch gesetzt. Als er den Umschlag aus der Tasche zog, fiel ihm etwas Seltsames auf. Zwar klebte ein Wachssiegel darauf, doch es war flach und ungeschmückt. Kein kaiserliches Siegel, wie Devlor ihm gesagt hatte. Verwirrt langte er nach einem Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Drinnen war ein einziges Blatt Pergament. Er faltete es auf und stellte fest, dass es völlig leer war. Es sah seinem Neffen überhaupt nicht ähnlich, ihm solche dummen Streiche zu spielen. Er glaubte vielmehr, dass es sich um einen Irrtum handeln müsse. 348 Vielleicht hatte Devlor ihm versehentlich den falschen Umschlag gegeben. Doch Ivak konnte nicht verstehen, warum sein Neffe einen versiegelten Umschlag mit einem leeren Blatt Papier bei sich tragen sollte. Er konnte
nichts weiter tun, außer hinunterzugehen und die Sache zu klären. Als er aufstehen wollte, hörte er hinter sich ein leises Geräusch und wollte sich umdrehen. Er hätte es fast geschafft. Unten hatte Devlor gerade eine reich ausgeschmückte Geschichte über einen Feldzug der Paladine vor einem Jahrhundert fast zu ihrem Abschluss gebracht, als Meakin neben ihm auftauchte und höflich hüstelte. »Ja?« »Es ist fast Mitternacht, Sir.« »Also beinahe Zeit, um auf unseren Gast anzustoßen. Das muss mein Onkel übernehmen.« Er sah sich um. »Wo ist er denn?« »Ich fürchte, ich weiß es nicht, Sir.« »Ah, ich erinnere mich. Er sagte, er wolle hinauf in sein Arbeitszimmer gehen. Wahrscheinlich hat er über dem Verwaltungskram die Zeit und die Gäste völlig vergessen. Das sähe Onkel Ivak ähnlich.« »Soll ich ihn holen, Sir?« »Nein, das ist nicht nötig, Meakin. Ich springe rasch selbst hinauf. Ihr könnt Euch unterdessen weiter hier unten verlustieren«, sagte er zu den Gästen. »Füllt Eure Gläser nach, und ich werde mit meinem Onkel gleich wieder zu Euch stoßen.« Gemächlich ging er zur Treppe und grüßte alle Gäste, denen er begegnete, mit einem Lächeln. Als er den ersten Treppenabsatz erreicht hatte, konnte er sicher sein, dass man ihn nicht mehr von unten 349 sehen würde, und nun sprang er, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Für alle Fälle, um sich zu vergewissern, dass die Verschmolzene ihre Arbeit auch wirklich getan hatte, klopfte er an die Tür und rief den Namen seines Onkels. Als er keine Antwort bekam, zückte er seinen Zweitschlüssel und sperrte auf. Kordenza hatte ihren Auftrag erledigt, und sie hatte ganze Arbeit geleistet. Sein Onkel war über dem Schreibtisch zusammengesunken. Er hatte zahlreiche Stichwunden im Rücken, und überall war Blut. Keine Frage, er war tot. Devlor trat an den Schreibtisch, schnappte sich den Umschlag und das leere Pergament, die wie alles andere rote Flecken hatten, und stopfte sich beides in die Tasche. Einige Möbelstücke waren umgeworfen worden, Krimskrams war verstreut. Die Verschmolzene hatte wie befohlen den Anschein erweckt, es habe einen Kampf gegeben. Er ging zur Nische, deren Vorhang offen stand. Die Tür dahinter war aufgebrochen, unten am Fuß der Hintertreppe lag der tote Wächter. So weit, so gut. Jetzt war er an der Reihe, und er durfte keine Zeit verlieren. Er hatte das kostbare Schwert, das zur Galauniform gehörte, am Vortag rasiermesserscharf geschliffen. Jetzt zog er die Waffe, biss die Zähne zusammen und zog die Klinge rasch über die Außenseite seines linken Schenkels. Stoff und Haut platzten auf, und Blut begann zu fließen. Er wechselte die Hand und tat das Gleiche noch einmal mit seinem rechten Arm. Dann holte er tief Luft, hob die Klinge an die Wange und brachte sich auch dort eine Schnittwunde bei. Nicht tief genug, um eine Narbe zu hinterlassen, aber 350 doch ausreichend, um eine Menge Blut fließen zu lassen. Er war stolz auf sich, dass er dabei nicht aufschrie. Nach einem kurzen prüfenden Blick in die Runde, ob alles richtig aussah, rannte er zur Tür. »Mord!«, schrie er vom Treppenabsatz hinunter. »Hilfe, Mord! Ruft die Wache!« Sekunden später donnerte die Meute die Treppe hinauf. Er sank am Türrahmen in sich zusammen. Das Schwert baumelte in den kraftlosen Fingern, und das Blut strömte aus seinen Wunden und über sein Gesicht. Meakin kam, Laffon folgte dicht hinter ihm. Ihnen folgten Gäste und Paladine mit blank gezogenen Waffen. »Sir!«, rief sein Adjutant. »Was ist passiert?« »Mord«, krächzte Devlor. Er ließ das Schwert fallen. »Da drin. Mord.« Laffon sprang ins Arbeitszimmer, die Paladine folgten ihm. Meakin blieb bei seinem Herrn. »Ihr seid verletzt, Sir. Lasst mich die Wunden ansehen.« »Ich ... ich glaube, es ... es ist wohl nicht so schlimm.« »Ihr müsst Euch setzen, Sir.« Er bugsierte Devlor zu einem Stuhl mit hoher Lehne, der auf dem Treppenabsatz an der Wand stand, und riss vorsichtig den Stoff ab, um die Wunden freizulegen. Laffon tauchte wieder auf. »Was ist geschehen?« »Als ich ... hier heraufkam, war die Tür ... verschlossen. Kein ... keine Antwort. Glücklicherweise hatte ich einen Schlüssel und fand ... Onkel Ivak.« 351 »Ruhig, Sir«, ermahnte Meakin ihn. »Nein ... muss ... muss ihn schnappen.« »Wen denn?«, fragte Laffon. Eine Reihe schockierter, bleicher Gesichter schaute jetzt auf Devlor herab. »Wir haben gekämpft. Ich habe ... musste wohl ein paar Hiebe einstecken. Aber er ... er hat mich überrumpelt. Muss ... muss ihn verfolgen.« »Drei Männer sind gerade über die Hintertreppe hinunter und nehmen die Verfolgung auf«, erklärte Laffon ihm. »Es sieht so aus, als hätte es da unten noch einen Toten gegeben.« »Der ... die Wache. Der arme Kerl.« »Aber wer war es, Bastorran? Wer hat das getan?«
»Caldason ... der Gesetzlose ... Reeth Caldason.« »Er hat dies getan?« »Ja, und er hätte ... beinahe auch mich erwischt.« »Ich glaube, die Verletzungen sind nicht sehr schwer, Sir«, berichtete Meakin, der sie mit einem Tuch abgetupft hatte. »Viel Blut, aber nicht sehr tief, den Göttern sei Dank.« »Das ... wird schon wieder. Nur ... der Schock.« »War er allein?«, fragte Laffon. »So weit ich sehen konnte ... ja.« Bastorrans Atem ging jetzt ruhiger, und in seine Wangen kehrte die Farbe zurück. »Seltsam, dass jemand auf diese Weise einbricht. Man sollte doch meinen, Euer Onkel sei darauf aufmerksam geworden und hätte gekämpft oder Alarm gegeben.« »Vielleicht hatte Caldason ... noch jemand bei sich. Aber ich ... ich habe nur ihn gesehen.« »Nun, es ist jedenfalls ziemlich dreist, so etwas zu versuchen.« 352 »So ... so sind diese Leute, Kommissar. Unverschämt. Frech. Und sie haben ... haben meinen Onkel umgebracht, die Schweine.« »Wenn dies gerade erst geschehen ist, dann sind sie hoffentlich noch nicht weit gekommen. Wir könnten sie noch erwischen.« »Ihr wisst doch ... dass es eigentlich um Euch geht, Laffon? Rukanis ... Das war die Rache für diesen verdammten Verräter.« »Das zeitliche Zusammentreffen spricht gewiss eine deutliche Sprache.« Laffon starrte ihn an. »Wie geht es Euch überhaupt?« »Es wird schon. Ich habe schon schlimmere Verletzungen erleiden müssen als diese.« Er beruhigte sich allmählich. »Aber wenn ... wenn dies nun ein Teil eines ... eines allgemeinen Aufstandes ist? Der erste von vielen weiteren Anschlägen?« »Ich glaube, wir sollten uns auf diese Möglichkeit vorbereiten. letzt seid Ihr der Hohe Clanchef, Bastorran. Was wollt Ihr tun?« »Ich werde erbarmungslos und mit aller Kraft zurückschlagen. Dafür sollen sie büßen. Habe ich Eure Unterstützung?« Laffon blickte zur offenen Tür des Arbeitszimmers. »Aber selbstverständlich.« Draußen schlug die Glocke Mitternacht. 353 Am Tag danach traf in der Morgendämmerung eine Reihe von gedeckten Wagen in einer versteckten Höhle an Bhealfas Südostküste ein. Es war eine gefährliche Reise gewesen, nicht nur wegen der Fracht, die von den Wagen befördert wurde, sondern auch, weil sie gegen die Sperrstunde verstoßen mussten, wenn sie so früh eintreffen wollten. Doch gute Planung und Glück halfen ihnen, und so konnten alle Wagen ohne Zwischenfälle den Treffpunkt erreichen. Die Planer des Widerstands hatten Jahre gebraucht, um die Logistik für den Umzug von tausenden Menschen und die Verschiffung der Fracht aus verschiedenen Teilen Bhealfas zum neuen Inselstaat zu organisieren. Sechs Wagen etwa zur gleichen Zeit an einem bestimmten Strandabschnitt eintreffen zu lassen, war dagegen ein Kinderspiel. So versammelten sie sich alle im Laufe von weniger als einer Viertelstunde am Strand. Nicht weit vor der Küste ankerte ein Schiff. Das Meer war kabbelig, und das Schiff rollte leicht, als sein 355 Bug durch die Schaumkronen der Wellen stach. Am grauen Himmel zogen sich dunkle Regenwolken zusammen, und die Grasbüschel am Rand des Sandstrandes wurden vom steifen Wind flach gedrückt. Caldason, Serrah und Kutch stiegen aus verschiedenen Wagen. Sie wurden von der fast sechzig Köpfe zählenden Gruppe von Widerstandskämpfern begleitet, die Reeth befehligte. Der Kapitän und einige Matrosen hatten in einem großen Ruderboot übergesetzt und begrüßten sie an Land. Mit dem letzten Wagen kamen Quinn Disgleirio und die restlichen Mitglieder der Truppe. Er eilte zu den anderen. »Habt ihr schon die Neuigkeiten gehört?« »Welche Neuigkeiten?«, fragte Serrah. »Wir sind ohne Halt die ganze Nacht durchgefahren«, erklärte Caldason. »Nun ja, wir mussten anhalten«, erklärte Disgleirio. »Auf halbem Wege hierher, nicht weit von einem Dorf, hätten wir beinahe ein Rad verloren. Sogar dort hatte man es schon gehört.« »Was denn nun eigentlich?«, fragte Serrah noch einmal. »Ivak Bastorran ist tot.« »Bei den Göttern.« »Ja, und das ist noch nicht alles. Er wurde in seinem eigenen Haus mitten in Valdarr ermordet, während ein Fest im Gange war. Hält man das für möglich?« »Hat das irgendwie mit uns zu tun? Mit dem Widerstand?«, fragte Serrah. »Sie sagen, es habe mit uns zu tun. Genau genommen ... macht Euch auf etwas gefasst, Reeth. Die Paladine sagen, Ihr wärt es gewesen.«
356 »Ich?« »Devlor, der Neffe des alten Mannes, schwört nicht nur, Ihr hättet seinen Onkel ermordet, sondern er behauptet auch noch, er sei beim Kampf mit Euch verletzt worden.« »Das ist doch verrückt. Was ist denn nun wirklich dort passiert?« »Die offizielle Verlautbarung besagt, gestern Abend habe ein allein operierender Meuchelmörder einen Wachtposten getötet und zwei verriegelte Türen aufgebrochen, um Zugang zu Bastorran zu bekommen. Dann habe er, oder habt Ihr, wenn man ihnen glauben will, den Mann mit einer Reihe von Stichen in den Rücken getötet.« »Ein Messer in den Rücken, das ist aber ganz und gar nicht dein Stil, Reeth«, sagte Serrah. »Könnte nicht trotzdem der Widerstand dahinter stecken?«, fragte Kutch. »Vielleicht haben sie jemand anders mit Reeth verwechselt?« »Das hatte nichts mit uns zu tun«, sagte Disgleirio entschieden. »Sonst wüssten wir davon.« »Und Devlor Bastorran wird schwerlich irgend jemanden mit mir verwechseln«, warf Reeth ein. »Nicht nach unserer letzten Begegnung.« »Dank sei dem, der es war, auch wenn wir ihn nicht kennen«, meinte Serrah. »Spielt es eigentlich eine Rolle, dass man dich dafür verantwortlich macht, Reeth? Wenn du die Gelegenheit bekommen hättest, dann hättest du es doch sicher auch selbst getan, oder? Allerdings nicht mit einem Stich in den Rücken wie ein Feigling.« »Das ist alles schön und gut«, sagte Disgleirio, »aber der Vorfall hat Auswirkungen, die wir berücksichtigen 357 müssen. Der oberste Chef der Paladine wird ermordet, und jemand, dessen Hass auf die Paladine bekannt ist, wird als Täter genannt. Man bringt Euch mit dem Widerstand in Verbindung, Reeth, und jetzt haben sie den Vorwand, den sie brauchen, um noch härter durchzugreifen. Das sind, da der Umzug so nahe ist, keine guten Nachrichten.« »Je länger ich darüber nachdenke«, sagte Caldason, »desto mehr scheint mir die Sache zu stinken. Jeder im Widerstand weiß, dass ein solcher Mordanschlag die Sache für uns nur noch schwerer macht. Wenn ihr mich fragt, wer am meisten davon profitiert, dann sollten wir den Täter vielleicht in der Umgebung des Opfers suchen.« »Verdammt«, zischte Serrah. »Devlor.« »Er ist äußerst verdächtig.« »Tja, allerdings. Aber ich meinte: Verdammt, jetzt hat er das Sagen. Er ist jetzt der Anführer der Paladine, und Laffon ist vor kurzem hier eingetroffen ...« »Es wird hart.« »Ich sagte ja schon, du solltest dich besser eine Weile verziehen, Reeth.« »Im Augenblick können wir nichts daran ändern«, sagte Disgleirio. »Wir wollen uns auf die unmittelbar vor uns liegende Mission konzentrieren.« Er blickte zum unebenen Weg, der zum Strand hinunterführte. »Ich frage mich nur, wo Darrok steckt.« »Warum fährt er überhaupt mit dir, Reeth? Ich dachte, er wollte auf einem anderen Weg zur Insel zurückkehren.« »Karr sagte, Darrok habe im letzten Augenblick seine Pläne geändert. Wahrscheinlich kann er es nicht ertragen, so lange von seinem Gold getrennt zu sein.« 358 »Da wir gerade davon reden«, warf der Kapitän ein, »wir sollten so langsam mit Laden beginnen, damit wir in der Frühe die Flut erwischen.« Disgleirio nickte. »Wie wollt Ihr es organisieren, Kapitän?« »Fahrt die Wagen weiter den Strand hinunter und bildet mit Euren Männern eine Kette, um das Gold ins Beiboot zu laden. Meine Mannschaft verstaut die erste Fuhre, und dann lasse ich noch mehr Boote schicken, um die Sache zu beschleunigen.« »Gut«, sagte Reeth. »Dann wollen wir die Leute einteilen.« Mehr als eine Stunde verging, bis die Kisten mit dem Gold verladen waren. Als das letzte Ruderboot abgelegt hatte, meldeten die Späher, die Caldason eingeteilt hatte, dass sich jemand nähere. Kurz darauf trafen zwei Kutschen ein. »Sieht aus, als wäre der Mann endlich da, Reeth«, sagte Serrah. »Pünktlich, wenn die schwere Arbeit getan ist. Das hat er sich gut ausgerechnet.« Die Fahrgäste stiegen aus dem Wagen. Es war die Gruppe, die sie schon in Valdarr gesehen hatten: vier Leibwächter, darunter eine Frau, in schwarzes Leder gekleidet und vor Waffen starrend. Vor ihnen schwebte ihr Schutzbefohlener Zahgadiah Darrok auf seiner Scheibe. »Guten Morgen«, knirschte Darrok. »Ihr habt Euch aber Zeit gelassen«, erwiderte Caldason. »Noch etwas länger, und wir wären nicht mehr da gewesen.« »Oh, das ist aber gewiss nicht Euer Ernst.« »Ach, nein? Habt Ihr schon einmal die Redensart gehört, dass Zeit und die Gezeiten auf keinen Sterbli-
359 chen warten? Das ist wahr, Darrok, und es gilt sogar für Euch.« »Schon gut, wir sind ja da. Wo ist das Gold?« »Die letzte Fuhre wird gerade geladen.« Darrok blickte zum Schiff hinüber. »Das ist ein recht kleines Schiff.« Er schien nicht begeistert. »Es ist eine Brigg«, klärte der Kapitän ihn auf. »Zwei Masten, Rahsegel. Auf Schnelligkeit gebaut. Meine Mannschaft ist gut bewaffnet, aber Geschwindigkeit ist die beste Waffe. Ihr findet es an Bord vielleicht ein wenig beengt, doch die Reise wird nicht sehr lang.« »Wisst Ihr, dass in den Gewässern, durch die wir fahren, Piraten ihr Unwesen treiben?« »Das weiß ich ganz genau, Meister Darrok. Ich und meine Mannschaft, wir sind ihnen mehr als einmal begegnet. Deshalb hat mich der Patrizier Karr für diese Reise ausgewählt. Die Freibeuter in diesen Meeren haben es auf große, schwere Schiffe abgesehen, die sie mit ihrer Übermacht einnehmen. Ich habe herausgefunden, dass die beste Verteidigung darin besteht, sie nicht zu nahe kommen zu lassen.« Darrok war es zufrieden. »Ich verbeuge mich vor Eurem überlegenen Wissen, Kapitän.« Der Seemann blickte zum Meer hinaus. »Die Boote kommen jeden Augenblick zurück. Macht Euch bereit, an Bord zu gehen.« Alle packten ihre Siebensachen zusammen. »Nun, das war es dann, Reeth«, sagte Serrah. Zu seiner Überraschung umarmte sie ihn und gab ihm einen warmen Kuss auf die Wange. »Pass auf dich auf«, flüsterte sie. »Das werde ich tun«, erwiderte er leise. »Und tu mir einen Gefallen, ja? Behalte Kutch im Auge.« 360 »Keine Sorge, er kommt schon zurecht.« Nach einem Blick, der eine Spur länger dauerte, als es für bloße Freundschaft üblich war, lösten sie sich voneinander, und Serrah ging weiter, um auch den anderen Mitgliedern der Mannschaft alles Gute zu wünschen. Caldason verabschiedete sich von Kutch mit dem Kriegergruß - jeder packte mit der Hand fest den Unterarm des anderen. Der junge Zauberlehrling war ob dieser männlichen Geste sichtlich gerührt. »Benimm dich, Kutch. Mach, was Serrah dir sagt. Und lass diese verdammten Augenklappen in Ruhe.« Der Bursche lächelte. »Mach ich. Und komm ja wieder zu uns zurück, ja?« »Ich bin so schnell wieder da, dass du gar nicht merkst, ob ich fort war.« Caldasons Abschied von Disgleirio fiel knapper und nüchterner aus. »Da sind sie«, rief der Kapitän, als die Ruderboote den Strand erreichten. Die Wagen und Kutschen fuhren ab, und dann verging noch einmal fast eine Stunde, bis alle Passagiere und ihre Habseligkeiten an Bord verstaut waren. »Ihr habt nicht gescherzt, als Ihr sagtet, es sei beengt an Bord«, beklagte sich Darrok beim Kapitän, als er das überfüllte Schiff sah. »Ihr bekommt eine Kabine. Meine eigene, genauer gesagt. Eure übrigen Leute müssen sich entweder bei Euch hineinquetschen oder zu meiner Mannschaft in die allgemeinen Unterkünfte. Es ist nicht mehr als das, was ich von meiner eigenen Mannschaft verlange.« Er wandte sich an Caldason. »Für Euch habe ich möglicherweise auch noch eine Kabine, wenn Ihr wollt.« 361 »Keine Umstände, ich schlafe sowieso lieber auf Deck.« »Wirklich?« »Wenn möglich, bin ich lieber an der frischen Luft.« »Dann wollen wir hoffen, dass sich das Wetter hält.« »Wenn nicht, gehe ich zu den anderen unter Deck.« »Wie es Euch beliebt, Master Caldason. Ich würde vorschlagen, dass Ihr Euch jetzt alle eine Weile schlafen legt. Ihr seht aus, als könntet Ihr es gebrauchen, und das wird Euch außerdem daran hindern, meinen Leuten in die Quere zu kommen.« »Gute Idee«, stimmte Darrok zu. »Wir sehen uns später, Caldason.« Er schwebte davon, und seine Leibwächter folgten ihm. »Das Heck könnte der beste Platz sein, um sich hinzulegen«, erklärte der Kapitän Caldason. »Ich lasse Euch von jemandem eine Decke bringen.« »Danke.« Zehn Minuten später war das Schiff unterwegs, und Caldason ließ sich in einer Ecke des Hecks nieder. Besonders müde war er nicht. Er musste an die Ermordung Ivak Bastorrans und an die Mission denken, die vor ihm lag. Doch bald schläferte ihn das sanfte Wiegen der Wellen ein, und er schloss die Augen. Es war anders als alles, was er bisher erlebt hatte. Er betrachtete eine Landschaft, die er nicht erkannte. Sie lag unter einer dichten Schneedecke, und was er vom Land überhaupt ausmachen konnte, war abweisend und feindselig. Hier und dort hoben sich gedrungene, farblose Büsche aus dem weißen Schnee. Einige hohe, zerklüftete Felsen, an die sich krank aussehende 362
Flechten klammerten, lagen frei. Vor dem schiefergrauen Himmel zeichneten sich die Skelette halb toter Bäume ab. Der schneidende Wind trieb Schneeflocken in die Höhe. Es war mörderisch kalt, doch er wusste dies, ohne es wirklich zu fühlen - genau, wie ein Koch weiß, dass ein kochender Kessel heiß ist, ohne ihn berühren zu müssen. Für ihn war die Kälte etwas Abstraktes. Seine Augen stellten sich auf das Dämmerlicht ein, und er blickte sich um. Er sah die Stadt. Sie lag weit entfernt auf einer Hochebene in den Bergen, doch selbst aus dieser Entfernung war sie noch groß. Und sie war in funkelndes Licht getaucht. Er bemerkte, dass er sich ein Stück über der Einöde befand und sich schnell bewegte. Das Land flog unter ihm vorbei, eine weiße Wildnis, hier und dort unterbrochen von mit Schnee beladenen Kiefern und Felsen, die vor Kälte knackten. Er sah vereiste Flüsse und einen zugefrorenen See, dessen Oberfläche durch mehrere Schneeschichten das Aussehen von Milch bekommen hatte. Irgendwo erspähte er sogar einen erstarrten Wasserfall, der mitten in der Bewegung funkelnd innehielt. Seine Geschwindigkeit nahm zu, und er erreichte eine weite Ebene, die bis zum Stadtrand reichte. Auf dieser Ebene lagerte ein gewaltiges Heer, dessen Stärke man nicht einmal ahnen konnte. Unzählige Zelte bedeckten ein riesiges Gebiet, tausende Lagerfeuer blinkten wie geschliffene Rubine. Dann raste er geradewegs den Festungsmauern der Stadt entgegen. In einem hohen Bogen, der ihm den Magen umdrehte, flog er darüber hinweg, bis er auf das Mosaik der Gebäude und Straßen hinter den Wällen hi363 nunterblicken konnte. Tausende Menschen waren dort emsig beschäftigt. Als er sank, sah er, dass die Einwohner der Stadt bauten, sich versammelten und verbündeten, Eide schworen, die Stadtmauern verteidigten, die Tore verstärkten, Waffen ausgaben, ihre Kinder im Keller versteckten, Klingen schärften, Pfeile einlegten, Öl in Kesseln kochten, Katapulte luden, die Fenster vernagelten und Selbstmordpakte schlössen. Leicht wie eine Feder schwebte er zum Boden hinab. Die Straßen waren in helles Licht getaucht, gleißende Strahlen kamen von allen Seiten und bildeten einen starken Kontrast zur Dunkelheit draußen. Unsichtbar und unbemerkt nahm er die Atmosphäre in sich auf. Er erkannte den Patriotismus, er spürte die Hoffnung und die Verzweiflung und roch die Angst. Ein schwaches Grollen ließ den Boden beben, und die Menschen hielten inne. Es verebbte, dann folgte eine andere, stärkere Vibration. Die Menschen blickten zum zornigen Himmel hinauf, Mütter pressten ihre Kinder an die Brust. Noch ein Beben, mächtiger als alle anderen zuvor. Gebäude zitterten, Geschirr fiel herunter und zerbrach, das Buntglas in den Fenstern eines Tempels zersprang von einer Seite bis zur anderen. Kreischen, Schreie, Stoßgebete waren zu hören. Menschen rannten, Pferde gingen durch. Wagen kippten um und verstreuten ihre Fracht. Dann gingen nacheinander ringsum alle Lichter aus. Auch er stürzte in die Dunkelheit. Es war ein völliges, alles umfassendes Fehlen von Licht, das sich anfühlte wie eine dicke Decke. Schwach hörte er die Triumphschreie der nach tausenden zählenden Angreifer vor den Mauern. 364 Er stürzte hilflos durch den unendlichen schwarzen Samt. Der Fall dauerte eine Sekunde oder vielleicht eine ganze Ewigkeit. Dann kehrte das Gefühl zurück. Er befand sich auf dem Gipfel eines flachen, schneebedeckten Hügels. Vor ihm stand ein großes Zelt. Im offenen Eingang erwartete ihn ein Mann. Er war wenig bemerkenswert, weder seine Statur noch seine Kleidung oder sein Benehmen waren besonders auffällig. Er hatte die Sorte Gesicht, die man leicht wieder vergaß. Doch er hatte eine undefinierbare Ausstrahlung, die ihn zu etwas Besonderem machte. Sie blickten einander tief in die Augen, und die Welt hörte auf, sich zu drehen. Caldason richtete sich auf und schnappte nach Luft. Er lag ausgestreckt auf dem Deck eines Schiffs, das von den Wellen gewiegt wurde. Eine Mischung aus Gischt und Nieselregen hatte ihn durchnässt. Seine Lippen schmeckten salzig, und die Knochen taten ihm weh. Er legte den Kopf zurück und ließ sich vom leichten Regen das Gesicht abspülen. Der Kriegsherr fuhr abrupt aus unruhigem Schlaf hoch. »Verzeihung, Sir-«, sagte jemand. »Geht es Euch nicht gut?« Zerreiss richtete sich auf. Sein Bettzeug war durcheinander, und das Fell, das ihn bedeckt hatte, war vom Feldbett gerutscht. »Wer ist da?«, murmelte er benommen. 365 Eine Lampe wurde angezündet und verbreitete einen warmen, orangefarbenen Schein im Zelt. Sephor, der jüngere seiner persönlichen Adjutanten, blies die Kerze aus. »Ich bin es, Herr. Verzeiht mir mein Eindringen, aber Ihr habt geschrien.« »Wirklich?« »Mehrmals sogar.«
Er massierte sich mit Daumen und Zeigefinger den Nasenrücken. »Ich habe keine Erinnerung daran. Was habe ich denn gesagt?« »Nichts, was ich verstehen konnte, Sir.« Sephor schenkte einen Becher Wasser ein. »Oder wollt Ihr lieber Wein?«, fragte er. »Nein, danke. Wasser ist gut.« Er nahm den Becher und trank ihn aus. »Wie spät ist es?« »Die Morgendämmerung wird erst in zwei Stunden beginnen.« Er betrachtete seinen Herrn. »Geht es Euch auch gut, Sir?« »Ich hatte einen Traum. Anders als alle Träume, die ich je hatte.« »Einen Traum? Das sieht Euch aber gar nicht ähnlich, Sir.« »Auch ich kann Träume haben, die mich bewegen, Sephor. Genau wie jeder andere Mann.« »Ich meine, ich habe noch nie gesehen, dass Euer Schlaf auf diese Weise gestört wurde. Wir sind daran gewöhnt, dass Ihr Wachträume habt. Die Träume, die Ihr in Taten umsetzt. Wenn Ihr versteht, was ich meine.« »Ich verstehe.« Zerreiss lächelte ihn an. »Und du hast es gut ausgedrückt. Du hast Recht - es sieht mir nicht ähnlich, Träume zu haben, die dich aus dem Bett scheuchen. Entschuldige, Sephor.« 366 »Nicht nötig, Sir. Dafür bin ich ja da.« Der Kriegsherr schauderte. »Es ist kalt.« »Ich lege Holz nach.« Er beschäftigte sich mit dem Feuer. »Hast du eigentlich keine Träume, Sephor? Nein, das ist eine alberne Frage. Natürlich hast du Träume. Ich meine, hast du Träume, die dir einen Eindruck hinterlassen und die dich noch beschäftigen, wenn du erwacht bist?« »Manchmal schon, glaube ich. Aber das sind eher Alb träume als Träume. Hattet Ihr einen Albtraum, Sir?« »Das ist eine gute Frage.« Zerreiss überlegte. »Manche sagen, die Träume seien nur bedeutungslose Dramen, die unser Bewusstsein aufführt, wenn es im Schlaf frei herumstreifen kann. Andere glauben, es gebe Götter, die uns Träume als Vorzeichen oder Vorboten kommender Dinge schicken.« »Und was glaubt Ihr, Sir?« »Ich glaube, dass es noch eine andere Sorte gibt.« »Das verstehe ich nicht, Sir.« »Ich bin mir selbst nicht ganz sicher, Sephor. Aber der Traum, den ich in dieser Nacht hatte, hat ein ganz eigenartiges Gefühl hinterlassen.« »Sir?« »Es gibt jemanden, den ich finden muss. Falls er überhaupt existiert.« 367 Kutch. Kutch! Wach auf!« . »Äh. Hmm?« Serrah schüttelte ihn. »Nun komm schon, wach auf, Kutch!« Er riss die Augen auf. Trotz des Zwielichts konnte sie sehen, wie erschrocken er war. »Du hast gerufen«, sagte sie. Er richtete sich auf und schmiegte sich wie ein verängstigtes Kind eng an sie. Sie spürte, wie er zitterte. »Hm-hm, schon gut«, beruhigte sie ihn. »Ich bin ja da, es ist alles gut.« »Oh, Serrah.« »Was war es denn, ein Albtraum?« »Es ... es war ...« Seine Stimme brach, als wäre er dem Weinen nahe. »Atme tief durch. Mach weiter, atme einige Male tief durch.« Sie streichelte sachte sein Haar. »Es ist alles wieder gut.« »Es war kein ... kein Albtraum.« 369 »War es wieder eine dieser Visionen? Wie diejenigen, die Reeth hat?« Er nickte. »Es ist vorbei. Du bist hier sicher.« »Wirklich?« »Ja.« Verlegen löste er sich von ihr. Seine Augen waren feucht. »Es tut mir Leid, Serrah.« Er schluckte. »Du musst mich für ein Kind halten.« »Natürlich nicht, sei nicht albern. Lass uns Licht machen, ja?« Sie beugte sich vor und schnippte vor der Zauberkugel neben seinem Bett mit den Fingern. Ein weiches Licht entstand. »Besser?« Er nickte wieder und kam allmählich zu sich. »Hier.« Sie reichte ihm einen Becher Wasser. »Willst du darüber reden?« »Es ... es ist schwer zu erklären.« Er trank einen Schluck. »Es war anders als die anderen Visionen, die ich sonst hatte.« »Inwiefern war es anders?« »Vorher waren es keine Träume, sondern ich habe Dinge gesehen, wenn ich wach war. Wenn ich das Aufklären geübt habe. Aber es war auch in anderer Hinsicht anders.«
»Beschreibe es mir.« »Ich ... es war ein anderer Ort, wie aus der Vergangenheit. Aber trotzdem ganz woanders. Es hat geschneit, und es gab einen Krieg oder so. Da war auch ein Mann ... oder vielleicht zwei Männer, und ... es war ein solches Durcheinander, Serrah.« »Immer mit der Ruhe.« »Wenigstens hat es nach einem Ort ausgesehen, der tatsächlich existieren könnte. In den Visionen habe ich 370 dagegen fremdartige Orte gesehen, wirklich beängstigende Szenen.« »Vielleicht war es tatsächlich nur ein Traum, ein ganz gewöhnlicher Albtraum. Das ist doch möglich, oder?« »Nein, dazu war es zu real. So sind keine Träume. Es hat sich genauso angefühlt wie ... wie früher.« Er schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht erklären.« »Musst du auch nicht. Jedenfalls nicht jetzt gleich.« »Ich hatte eine ganze Weile keine Visionen mehr, und ich dachte ...« »Was?« »Ich dachte, weil Reeth nicht mehr hier ist...« »Du hast gedacht, sie ließen dich jetzt in Ruhe?« »Verrückt, oder? Weil ich doch die gleichen Dinge wie er gesehen habe. Ich dachte, er habe irgendwie damit zu tun.« Er schniefte und lächelte schief. »Als ob man sich Träume einfangen könnte, so wie man sich ein Fieber fängt.« »Das ist nicht verrückter als irgendeine andere Erklärung, die ich mir ausdenken könnte. Reeth sieht diese Dinge schon seit Jahren, und er versteht es nicht einmal selbst.« »Ich will nicht, dass sie wiederkommen, Serrah. Sie machen mir Angst.« »Ich weiß. Hör mal, leg dich wieder hin und ruh dich aus.« »Bleibst du bei mir?« »Ja, ich bleibe hier.« Die Sonne würde bald aufgehen. Durch den halb offenen Fensterladen konnte er den ersten roten Schimmer am Horizont erkennen. Als er ruhiger war, sagte sie: »Ich habe mich heute 371 mit Karr über den Umzug zur Insel unterhalten.« Sie bemühte sich, unbeschwert und beiläufig zu sprechen. »Hat er etwas von Reeth gehört?« »Nein, noch nicht. Aber er hat gesagt, er will ihn vielleicht bitten, noch eine Weile dort zu bleiben.« »Warum denn? Ich dachte, Reeth wolle sofort zurückkehren.« »So war es eigentlich auch vorgesehen. Aber Karr braucht dort jemanden wie Reeth. Jemanden, dem er vertrauen kann und der die Leute für die Verteidigung der Insel ausbildet. Da wir jetzt wissen, dass es da draußen auch Piraten gibt, ist das sicher eine gute Idee.« »Was, glaubst du, wird Reeth dazu sagen?« »Das weiß ich nicht. Karr hat ihn noch nicht gefragt. Er wird ihm eine magische Botschaft schicken. Um ehrlich zu sein, Kutch, ich wünschte, Reeth würde tatsächlich dort drüben bleiben. Die Paladine behaupten, er habe ihren Chef getötet, und deshalb hält er sich besser von Bhealfa fern.« »Was ist mit der Expedition, um die Clepsydra zu suchen?« »Das ist kein Problem. Karr sagte mir, man könne auch von der Insel aus aufbrechen. Das ist vielleicht sogar leichter, weil hier die Paladine so wachsam sind.« Er schien enttäuscht. »Oh, ich verstehe.« »Karr hat noch etwas gesagt. Er sagte, wenn ich will, dann könnte ich auch zur Insel fahren, um Reeth zu helfen.« »Wirst du es tun?« »Falls Reeth sich entschließt, dort zu bleiben, ja, dann würde ich gern zu ihm fahren. Ich bin nicht mit 372 der ersten Vorhut gefahren, weil, nun ja, vor allem, weil Karr es nicht wollte. Er dachte, ich hätte mein Gleichgewicht noch nicht wieder gefunden, und er hatte Recht. Aber ich habe mich inzwischen gefangen. Dann dachte ich, es sei wegen Tanalvah besser, ich bliebe hier, doch sie scheint ganz gut ohne mich zurechtzukommen. Irgendwo findet sie in sich die Kraft, die sie braucht, und sie hat jetzt viele Leute, die sich um sie kümmern. Ehrlich gesagt, Kutch, ich bin ein Tatmensch. Ich bin am liebsten dort, wo etwas los ist. Sicher, es gibt auch hier viel Arbeit, aber das ist eher Routine, und ...« »Du willst bei ihm sein, nicht wahr?« Serrahs Gesicht bekam einen Ausdruck, den Kutch noch nie bei ihr gesehen hatte. Sie schien beinahe verlegen, sie wurde sogar ein wenig rot, und in ihren Augen war auf einmal ein Funkeln. »Es waren ja nur ein paar Tage, aber ... ich vermisse ihn. Du hältst das sicher für sehr dumm.« »Nein! Ich finde das schön. Aber ... aber was wird jetzt aus mir?« »Ach, Kutch! Als ob ich ... ich habe Reeth versprochen, auf dich aufzupassen, und das werde ich auch tun. Ich wollte damit eigentlich sagen, dass ich eigentlich gehofft hatte, du würdest mitkommen.«
»Ich? Mit dir kommen? Ja!« Er hob eine Faust. »Das darf ich dann wohl als Zustimmung auffassen, ja?« »Ich will gewiss nicht allein hier bleiben, und wir fahren ja sowieso später noch zur Diamantinsel, oder?« »Ich will dir deine Freude nicht nehmen, aber du solltest es dir genau überlegen, Kutch. Du kannst hier bleiben, wenn du willst, und Karr und die anderen 373 würden dafür sorgen, dass es dir gut geht. Außerdem, ich will dich nicht anlügen - es könnte gefährlich werden.« »Ich will fahren, und wenn es gefährlich wird, dann habe ich lieber dich und Reeth um mich.« »Und Phönix hätte nichts dagegen?« »Warum sollte er? Er ist nicht mein Meister. Nicht richtig, jedenfalls.« »Da wäre noch etwas. Ich kann gehen, wohin ich will, und das gilt auch für Reeth. Bhealfa ist nicht meine Heimat. Eigentlich habe ich nirgends mehr eine Heimat, da ich nicht nach Merakasa zurückkehren kann. Aber du bist in Bhealfa geboren, du bist hier verwurzelt.« »Ich habe mich schon entschieden, als ich das erste Mal von Karrs Plan hörte. Ich wusste, dass ich gehen würde, wenn man mich fragt. Hier ist niemand mehr, an dem mir etwas liegt.« »Also gut, wenn du sicher bist, dann rede ich mit Karr, wie wir es angehen wollen. Aber freu dich nicht zu früh, es ist immer noch möglich, dass Reeth Nein sagt und zurückkehrt, wie er es ursprünglich vorhatte.« »Aber in diesem Fall wäre er ja wieder hier, oder?« »Ja, so ist es.« Sie lächelte. »Na, geht es dir besser?« »Ja, viel besser.« Die aufgehende Sonne schickte goldene Lichtstrahlen ins Zimmer. »So«, sagte Serrah und reichte ihm einen warmen, frisch gebackenen Brotlaib. »Hmm, das riecht aber gut.« Kutch brach sich ein Stück ab und begann zu kauen. 374 »Direkt aus dem Ofen oben. Es hat schon einige Vorteile, sich unter einer Bäckerei zu verstecken.« Sie setzte sich zu ihm und nahm sich ebenfalls einen Kanten Brot. Kutch war viel fröhlicher, als sie es nach dem Drama der letzten Nacht befürchtet hatte. Es war fast Mittag, und da der Umzug bevorstand, war es im Kellergewölbe des Widerstands geschäftiger denn je. Fünfzig bis sechzig Menschen arbeiteten hier, und überall lagerten Vorräte, die fürs Verschiffen vorbereitet worden waren. »Wir beraten uns gleich mit Karr«, versprach Serrah ihm. »Aber vorher will ich noch kurz mit Tan reden.« Sie nickte zu einem Dutzend Leuten hin, die kleine magische Munition einpackten. Tanalvah saß ein Stück abseits von den anderen am Ende einer Bank und war ebenfalls bei der Arbeit. »Mach nur«, sagte Kutch mit vollem Mund. »Ich habe hier genug zu tun.« Krümel klebten rings um seinen Mund und verzierten sein Hemd. »Das sehe ich. Bis gleich dann.« Auf dem Weg zu Tanalvah wurde sie von der matronenhaften Goyter abgefangen. »Wenn du dich zu Tanalvah gesellen willst, meine junge Dame, dann brauchst du das hier.« Sie hielt eine Schürze und ein Paar weiße Handschuhe hoch. »Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas anzufassen, Goyter.« »Sei so nett.« Sie drückte ihr die Handschuhe und die Schürze in die Hand. Serrah zog beides rasch an. »Danke für die >junge Dame<«, sagte sie, als sie weiterging. Sie trat an Tans Bank. »Darf ich mich zu dir setzen?« 375 »Natürlich.« Serrah setzte sich. »Was ist das?« Tanalvah verteilte rostrotes Pulver in kleine Papiertütchen. »Getrocknetes Drachenblut. Ich weiß nicht, ob es echt ist oder ob es nur so genannt wird. Hat es überhaupt mal echte Drachen gegeben? Ich habe keine Ahnung.« »Ich auch nicht. Was macht man damit?« »Es entzündet sich, wenn es mit Wasser in Berührung kommt. Anscheinend aber nur in Salzwasser. Das Papier, in das wir es stecken, löst sich im Wasser nach ein paar Minuten auf. Mit genügend Pulver bekommst du eine Explosion.« »Das ist nützlich. Jetzt verstehe ich auch, warum man Handschuhe braucht.« »Ja. Wenn ein Bröckchen davon feucht wird, explodiert es mit einem netten Knall.« »Wie gefällt dir die Arbeit hier, Tan?« Tanalvah hielt inne. »Sie lenkt mich ab, und dafür bin ich dankbar.« »Findest du es nicht ein wenig ...« »Unter meiner Würde? Langweilig? Aber was sollte ich sonst tun? Meine Fähigkeiten als Hure sind beim Widerstand nicht gefragt.« Wäre ihr Tonfall nicht so unbeschwert gewesen, dann hätten ihre Worte bitter geklungen. »Es besteht die Möglichkeit, dass ich der Abteilung für gefälschte Magie zugeteilt werde, um Geld einzuspielen. Wenn ich meinen Körper verkaufen kann, dann kann ich sicher auch billige Liebestränke an den
Mann bringen.« »Wirst du gut behandelt?« »Die Leute sind wirklich nett. Quinn geht mir aus 376 dem Weg, aber das ist verständlich. Außerdem helfen sie mir, auf die Kinder aufzupassen.« »Geht es dir wirklich gut? Sei ehrlich, kommst du klar?« »Nun schau nicht so finster drein. Was du siehst, entspricht mehr oder weniger dem, wie ich mich fühle.« Serrah war noch nicht ganz überzeugt. »Es ist ja nur ein paar Tage her, Tan. Manchmal setzt der Schmerz erst nach einer Weile richtig ein ...« »Ich hab dir doch gesagt, ich weiß, dass es gut ausgehen wird. Ich kann es fühlen. Hier.« Sie legte eine Hand auf ihr Herz. Serrah nickte. Sie nahm an, dass Tanalvah zu Selbsttäuschungen Zuflucht nahm, doch es widerstrebte ihr, etwas zu hinterfragen, das offensichtlich funktionierte. »Ich weiß, warum du fragst, Serrah.« »Wirklich?« »Karr hat mich auch schon gefragt. Er meinte, du gingest vielleicht zur Diamantinsel, und wollte wissen, was ich davon hielte.« »Was hast du ihm gesagt?« »Dass du gehen sollst, wenn du willst. Es gibt keinen Grund, meinetwegen hier zu bleiben.« »Wenn du es willst, dann bleibe ich hier, Tan.« »Ich weiß, dass du das tun würdest, und ich bin dir dankbar dafür.« »Wie auch immer, es ist noch nicht sicher. Wir müssen erst hören, was Reeth dazu sagt.« »Du willst bei deinem Mann sein, das kann ich verstehen.« »Jetzt aber mal langsam. Reeth und ich sind kein Paar oder so. Ich wollte nur ...« 377 »Wir wollen nicht über Worte streiten. Du musst etwas Bestimmtes tun, weil deine Instinkte dir sagen, dass es richtig ist. Das reicht doch völlig aus.« »Es scheint mir so ungerecht, weil du nicht mit Kinsel zusammen sein kannst.« »Aber ich glaube, wir werden wieder zusammen sein. Nein, schau mich nicht so an, Serrah. Ich meine dieses Leben hier, und ich habe nicht die Absicht, mich bald daraus zu verabschieden.« »Gut. Und vergiss nicht, dass ich nur vorausgehe. Wir sehen uns bald wieder.« »So die Götter es wollen.« »Ja. Weißt du, Karr wartet auf mich. Wenn ich fahre, dann sehen wir uns aber noch einmal, bevor wir aufbrechen.« Sie beugte sich vor und küsste Tanalvah auf die Wange, dann ging sie. Serrah zog die Schürze und die Handschuhe aus, ließ sie auf einen Stuhl fallen und winkte Kutch zu sich. Der Patrizier saß am anderen Ende des Kellers an einem Schreibtisch und sortierte Stapel von Dokumenten. »Ich habe mich entschieden«, erklärte Serrah ihm. »Wenn Reeth sich entschließt, auf der Insel zu bleiben, dann werde ich zu ihm stoßen. Kutch will auch mit.« »Fühlst du dich wohl mit dieser Entscheidung, Kutch?« »Ja, ich möchte bei Reeth sein.« Karr nickte. »Es kommt natürlich darauf an, was Reeth sagt, aber ich habe ihm schon eine Botschaft geschickt. Wir werden hoffentlich in Kürze eine Antwort bekommen.« 378 »Er müsste doch jetzt bald die Insel erreicht haben, oder?«, fragte Serrah. »Es hängt von den Gezeiten ab.« Er deutete auf einen Papierstapel. »Ich stelle gerade eine neue Verschiffung von Männern und Waffen zusammen. Mit etwas Glück seid ihr zwei dabei. Ihr seid da drüben sicher eine große Hilfe, Serrah.« »Danke, ich werde mich bemühen.« »Und Tanalvah ...« »Ich wollte auch gerade auf sie zu sprechen kommen.« »Glaubt Ihr, sie bleibt stabil?« »Sie sagt es jedenfalls, und sie scheint sich ganz gut zu schlagen. Ich weiß natürlich nicht, wie viel davon nur vorgespielt ist.« »Das kann ich auch nicht sagen. Ich sehe, dass die anderen dafür sorgen, dass sie beschäftigt ist, und wir behalten sie natürlich im Auge.« »Sie glaubt, Kinsel werde unversehrt aus allem herauskommen. Das ist völlig irrational, aber sie ist fest davon überzeugt.« »Ich werde mich bemühen, diese Illusion nicht zu zerstören. In dunklen Zeiten braucht jeder etwas, an das er sich klammern kann.« »Für Kinsel müssen die Zeiten dunkel sein wie die Hölle. Ich frage mich, was ihn aufrechterhält.« 379 Kinsel Rukanis war erstaunt, wie rasch er jedes Zeitgefühl verlor.
Er war erst seit einigen Tagen gefangen, höchstens seit einer Woche, und doch hatte er das Gefühl, es könnten genauso gut schon Jahre sein. Sein Leben war fast ausschließlich auf die schlecht beleuchteten Räume unter Deck beschränkt, und den Wechsel von Tag und Nacht verlor er bald aus den Augen. Die Gefangenen mussten unablässig arbeiten und wurden ab und zu in einen verdreckten, stinkenden Abort geführt, in dem sie sich erleichtern durften. Ausruhen bedeutete, einen kurzen, unruhigen Schlummer am Ruder zu finden, wenn man zu müde war, um sich noch um die Ratten zu sorgen, die zwischen den Füßen herumliefen. Nur selten war ihnen der Luxus vergönnt, im Innern des Schiffs auf den von Flöhen verseuchten Strohlagern ein paar Stunden zu schlafen. Sie hatten Blasen an den Händen, und die Ketten rissen ständig nässende Schürfwunden an Handgelenken und Füßen auf. Sie bekamen schlechtes Essen, und 381 nicht einmal davon genug, und das Wasser war gerade eben trinkbar. Neben der Erschöpfung und Entbehrung waren sie zudem ständig der Brutalität ihrer Aufseher ausgesetzt. Zwei seiner Mitgefangenen hatte Kinsel schon sterben sehen. Einer brach am Ruder zusammen, und erst als Schläge und ein kalter Wasserguss ihn nicht wecken konnten, bemerkte man, dass sein Herz versagt hatte. Der Zweite wurde beschuldigt, irgendeine Regel geringfügig verletzt zu haben, und starb durch die Peitsche. Die Leichen wurden ohne viel Aufhebens über Bord geworfen. Doch es gab etwas, das für Kinsel noch schockierender war als alles andere. Zum ersten Mal in seinem Leben, und so sehr er sich auch dafür schämte, empfand er einen Hass auf einen anderen Menschen, der so heftig war, dass der Gedanke an Mord nicht mehr völlig abwegig war. Das Objekt seines Zorns war der Aufseher. Kinsel hatte noch nie einen Mann gesehen, dem es so sehr an schlichter menschlicher Anständigkeit fehlte. Seine einzige Freude bestand offenbar darin, den hilflosen Sträflingen Schmerzen zuzufügen. Wenn er lächelte, dann nur, weil jemand anders Qualen litt. Für Kinsel, der auch bei den gemeinsten Menschen nie die Hoffnung auf Besserung verloren hatte, war dies unendlich deprimierend. Er war entschlossen, seinen Pazifismus nicht aufzugeben. In diesem Punkt schwach zu werden, wäre ein Verrat an seinen Prinzipien gewesen. Doch der Aufseher kannte Kinsels Ruf als Mann des Friedens und legte es darauf an, seinen Willen zu brechen. Bis jetzt waren Spott und Peitsche seine Waffen gewesen. 382 Am achten oder neunten Tag der Reise, oder vielleicht auch irgendwann im zweiten Jahrhundert, kamen die Helfer des Aufsehers zu Kinsel. Sie lieferten den Sänger blinzelnd und halb nackt auf dem eiskalten Deck ab. Die meisten Mannschaftsmitglieder waren anwesend und sahen ihn aufmerksam und erwartungsvoll an. Außerdem war noch ein Mitgefangener zugegen, der eingeschüchtert wirkte und die Spuren von Prügeln trug. »Da wäre er«, höhnte der Aufseher. »Der Mann, der keinen Finger rühren wollte, um sein Land zu verteidigen!« Die Zuschauer johlten. »Ein Mann, der untätig dabeistehen würde, wenn unsere Häuser zerstört und unsere Frauen geschändet würden ... Und das nennt er auch noch ehrenhaft!« Aus seinem Mund klang es wie ein Fluch. »Ein Mann, der seine Feigheit als Tugend verkauft und seinen Verrat als Idealismus!« Die Matrosen buhten. »Sagte ich Mann? Die Ehre, Mann genannt zu werden, hat er nicht verdient.« Er näherte sich Kinsel. »Aber ich will dir die Gelegenheit geben, einer zu sein.« Der Aufseher deutete auf den anderen Galeerensklaven. »Der da hat die Regeln verletzt, und ich habe die Absicht, die Bestrafung mit ein wenig Unterhaltung zu verbinden.« Die Mannschaft schrie begeistert und klatschte. »Ich sage dir, wie es laufen wird. Du regelst das jetzt für uns. Entweder du kämpfst, oder ich werde ihn selbst töten«, sagte er zu Kinsel. Dann wandte er sich an den anderen Mann. »Wenn du diesen ... diesen Friedensengel tötest, dann sollst du leben. Falls ihr glaubt, ihr könntet da herauskommen, indem ihr ein383 fach nicht kämpft, dann habt ihr euch geirrt. Dann lasse ich euch alle beide hinrichten.« Kinsel war wie betäubt. Er sah den Mann an, gegen den er kämpfen sollte. Seinen Namen kannte er nicht. Da die Ruderer nicht miteinander sprechen durften, kannte keiner den Namen eines anderen. Doch Kinsel erinnerte sich an ihn. Er hatte ihm ein paar Tropfen von seinem Wasser zukommen lassen, als er in der Nacht halb verdurstet geröchelt hatte. Vielleicht war dies bemerkt worden und der Grund dafür, dass der Aufseher sie gegeneinander antreten ließ. Der Mann sah so elend und hilflos aus wie Kinsel selbst, und zum Kämpfen war er gewiss nicht aufgelegt. Ein Befehl wurde gebrüllt, und Kinsel und seinem Gegner wurden die Ketten abgenommen. Der Aufseher hielt Kinsel mit dem Griff zuerst ein Schwert hin. »Nimm das. Nimm es!« Er hatte erst ein- oder zweimal im Leben ein Schwert in der Hand gehalten. Nicht einmal als Requisiten auf der Bühne wollte er Waffen um sich haben. Es war schwer, und der metallene Griff war kalt. Er hatte keine Ahnung, wie man ein Schwert führte, doch er konnte sicher sein, dass seine Unerfahrenheit zur Belustigung seiner Quälgeister beitragen sollte. Der Mann, gegen den er antrat, hatte anscheinend schon einmal mit einem Schwert gefochten, doch auch ihm war, vermutlich aus schierer Müdigkeit, die Waffe viel zu schwer. So langsam Kinsels Geist in dieser Situation auch arbeitete, eine Abfolge von Gedanken ging ihm rasch durch den Kopf. Der erste war, die Klinge gegen sich selbst zu richten, aber es war klar, dass der Aufseher dies nicht zulassen würde. Er überlegte, ob er
384 den Gegner vielleicht einfach nur verwunden konnte, doch sie würden darauf bestehen, dass er es bis zum bitteren Ende trieb, und dies unterstellte ohnehin eine Fähigkeit, die er nicht besaß. Dann kam er auf die Idee, das Schwert gegen den Aufseher einzusetzen, aber auch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Die einzige Möglichkeit bestand darin, sich von dem anderen Mann töten zu lassen, und dann wäre es vorbei. Er und sein Gegner wurden grob nach vorn gestoßen. Die Menge brüllte und wollte sie anfeuern. Kinsel warf sein Schwert hin. Es war unlogisch, aber eine rein instinktive Geste. Er konnte einfach nicht einem anderen Mann mit einer Waffe in der Hand gegenübertreten. Sein Gegner stand mit offenem Mund da, die Spitze seines Schwerts aufs Deck gestützt. Die Zuschauer waren wütend und schrien ihre Frustration heraus. Der Aufseher steigerte sich in einen apokalyptischen Wutanfall hinein. »Du Schweinehund! Heb das auf! Heb es sofort auf, sage ich!« Der Befehl wurde mit einem kräftigen Peitschenhieb auf Kinsels Brust unterstrichen. Er zuckte zusammen und schwankte, aber er bewegte sich nicht. Der Aufseher schlug ihn ein weiteres Mal mit der Peitsche, noch fester, und die Zacken fraßen sich in seine Haut. »Heb es auf und kämpfe, du Schwein!« Kinsel hatte das Gefühl, zwei Dutzend glühend heiße Schürhaken hätten seine Haut durchbohrt. Doch er weigerte sich standhaft zu gehorchen. »Zur Hölle mit ihm!«, tobte der Aufseher. »Tötet sie beide!« 385 Kinsel und der Mann, gegen den er nicht hatte kämpfen wollen, wurden unsanft gepackt. Stricke und Peitschen wurden gehoben. Irgendjemand stieß einen lauten Schrei aus. Im Getümmel konnte man die Worte nicht verstehen. »Ruhe!«, brüllte der Aufseher. »Ruhe! Maul halten, ihr Abschaum!« Der Mob verstummte, nur eine einzige schrille Stimme war noch zu hören. »Ahoi! Im Westen! Im Westen!« Alle blickten jetzt zum Korb des Ausgucks hinauf und dann in die Richtung, in die er aufgeregt deutete. Ein Schiff näherte sich ihnen rasch, es hielt direkt auf sie zu. Es war mindestens so groß wie die Galeere, und die Segel waren voll in den Wind gestellt. »Bei den Göttern!«, schrie der Aufseher. »Wir haben die Wache vergessen! Auf die Gefechtsstationen! Fahrt aufnehmen!« Er trieb seine Mannschaft mit Peitsche und Stiefel an und brüllte Befehle. Chaos brach aus. Männer rannten in alle Richtungen, um an Tauen zu ziehen, Waffen zu holen und ein Dutzend oder mehr Dinge zu tun, die für die Verteidigung des Schiffs nötig waren. Mehrere Stellvertreter des Aufsehers rannten eilig unter Deck, um die Ruderer mit Peitschenhieben anzutreiben. Ein schneller Trommelrhythmus war jetzt zu hören. Kinsel und der andere Sklave waren vergessen. Die Männer, die vor Sekunden noch darauf gebrannt hatten, sie zu töten, ließen sie los und zerstreuten sich. Der Sträfling und Kinsel wechselten einen ungläubigen Blick. Dann schnappte sich der Sträfling sein Schwert und stürzte sich ins Gedränge. Kinsel ließ seine Waffe liegen, wo sie war. 386 Er blickte nach Westen. Das Schiff war inzwischen viel näher, und es fuhr so schnell, dass es sie in wenigen Minuten erreichen musste. Kinsel schätzte, dass es knapp vor ihnen vorbeifahren oder vielleicht sogar den Bug rammen musste. Unter Schmerzen humpelnd und von allen ignoriert, zog er sich zum Heck zurück. Die Galeere nahm wieder Fahrt auf, doch da sie fast gestanden hatte, kam sie nur schwerfällig in Bewegung. Es wäre besser gewesen, sie hätte sich überhaupt nicht von der Stelle gerührt. Vorher hatte noch die Möglichkeit bestanden, dass das sich nähernde Schiff sie knapp verfehlte, doch jetzt fuhren sie direkt in seinen Kurs hinein. Kinsel erreichte das Heck der Galeere und blickte aufs Meer hinaus. Das angreifende Schiff war nur noch einen Steinwurf entfernt, und er konnte die Männer sehen, die sich in dessen Bug drängten. Dann rammte es die Galeere und traf mittschiffs mit einem gewaltigen Krach auf. Kinsel wurde umgeworfen. Er hörte die Ruder auf der beschädigten Seite splittern und zerbrechen. Der Ausguck, der schon halb die Takelage heruntergeklettert war, verlor den Halt und stürzte schreiend ins Meer. Die Männer brüllten und rannten mit gezückten Klingen umher. Er wollte sich aufrichten, musste aber sogleich in Deckung gehen, als ein Pfeilhagel einsetzte. Manche blieben ganz in der Nähe im Deck stecken. Andere fanden lebendige Ziele und töteten keine zehn Schritt entfernt einige Matrosen. Kinsel kroch umher und suchte nach einem Versteck, bis er auf eine schwere Seilrolle stieß. Das Tau war so dick wie sein Arm. Er verkroch sich dahinter. 387 Kinsel wusste nicht, wie lange er dort lag und dem Schreien und Kreischen und dem Klirren von Stahl lauschte. Es war schlimm, nichts sehen zu können und doch genau zu wissen, was geschah. Irgendwann waren unter Deck viele grässliche Schreie zu hören. Es mussten die angeketteten Ruderer sein, die hilflos der Gnade der Angreifer ausgeliefert waren. Er hatte wenig Zweifel, was dort unten vor sich ging.
Nach einer Weile klangen die Kampfgeräusche ab. Dann senkte sich Stille über das Schiff, was in gewisser Weise sogar noch schlimmer war. Die einzigen Geräusche, die er jetzt noch hörte, waren knackende Laute. Er hoffte, dass es nur die natürlichen Spannungen der Schiffsplanken waren. Schließlich keimte in ihm sogar die Hoffnung auf, die Angreifer wären geflohen und hätten das herrenlose Schiff treiben lassen. Diese Hoffnung wurde schnell zunichte gemacht. Grobe Hände packten ihn, und er wurde auf die Füße gezogen. Die Männer, die ihn nun umringten, gehörten nicht zur Galeere. Er hatte nichts weiter als den Tod zu erwarten, und wenn er Glück hatte, so wurde es ein schneller Tod. »Wir haben hier noch einen erwischt«, rief jemand. Sie zerrten ihn lachend zum Bug des Schiffs. So kurz der Weg auch war, er bemerkte unterwegs eine entsetzliche Zahl von Leichen. Die meisten Toten hatten zur Mannschaft der Galeere gehört; unter ihnen war auch der Ruderer, der nach dem Willen des Aufsehers gegen ihn hatte kämpfen sollen. Kinsel wurde vor einem Mann, offenbar dem Kommandanten der Angreifer, auf die Knie gezwungen. 388 Der große, breitschultrige Mann hatte schwarzes Lockenhaar und einen Vollbart. Sein Gesicht war faltig, wettergegerbt und pockennarbig. Er trug einen blauen Gehrock, dessen Schöße die Hacken berührten, dicke Hosen und abgewetzte schwarze Stiefel, die bis zu den Schenkeln reichten und trotzdem noch einen Fuß weit umgekrempelt waren. An dem Mann hing mehr Gold, als Kinsel jemals bei einer einzigen Person gesehen hatte. An jedem Finger, sogar an den Daumen, trug er mindestens einen Ring. Eine einzige Kette um den Hals reichte ihm nicht, es mussten mehrere sein, und mindestens zwei hatten schwere Anhänger. Außerdem schmückten ihn goldene Armreifen, eine fette Brosche und eine Gürtelschnalle, die groß genug war, um ein Pferd daran festzumachen. Doch der Kapitän, vor dem Kinsel nun kniete, war im Augenblick mit anderen Dingen beschäftigt. Er starrte den Aufseher an, der gefesselt zwischen zwei grinsenden Matrosen stand. Kinsel sah etwas im Blick des Aufsehers, das er dort noch nie gesehen, aber immer herbeigesehnt hatte. Furcht. »Es gefällt mir nicht, wenn man mir Widerstand leistet«, erklärte der Kapitän, »aber noch viel weniger Achtung habe ich vor einem Mann, der sich versteckt und andere für sich kämpfen lässt.« Trotz seiner Angst entging Kinsel nicht die düstere Ironie der Situation. Doch während er zitternd wie Espenlaub vor dem Kommandanten kauerte, glaubte er dennoch nicht, dass er eine hohe Lebenserwartung hatte. Der Kapitän schnippte mit den Fingern. »Bringt mir Branntwein«, befahl er. »Den Guten.« Ein Untergebener trabte los. 389 Kinsel verstand es nicht. Wollte er dem Aufseher zuprosten? Bald darauf kehrte der Untergebene mit einer vollen Flasche zurück und hielt kurz inne, um den Korken mit den Zähnen zu ziehen. Der Kapitän trat mit der geöffneten Flasche vor den Aufseher. »Auf deine Gesundheit«, sagte er und nahm einen großzügigen Schluck. Dann kippte er den Rest über den Kopf, die Schultern und den Leib des Mannes, bis dieser völlig durchnässt war. Der Aufseher spuckte, und sein Gesichtsausdruck schwankte zwischen Wut, Verwirrung und Angst. Noch ein Fingerschnippen vom Kapitän, und ein Lakai zog etwas aus der Tasche. Der Aufseher sah noch vor Kinsel, was es war, und heulte und wehrte sich in seinen Fesseln. Der Kapitän schlug den Feuerstein an, oder vielleicht war es auch eine magische Vorrichtung, und eine winzige Flamme entstand. Er hielt sie kurz an das Wams des Aufsehers und wich zurück. Der Mann war binnen kurzem von Flammen eingehüllt und verwandelte sich in einen brüllenden Feuerball. Die beiden Wächter hatten sich zurückgezogen und überließen den Aufseher den Flammen. Kreischend torkelte er auf dem Deck herum. Seine Haut kochte und schälte sich ab, und der üble Gestank von brennendem Fleisch breitete sich aus. Blind herumstolpernd, erreichte der verzweifelte Aufseher schließlich die Reling, schwankte einen Augenblick und stürzte sich kreischend hinüber. Weit unten war ein Platschen zu hören. Am Geländer, wo er gelehnt hatte, war eine kleine Flamme entstanden. Einer der Männer nahm den Hut ab und klopfte sie abwesend aus. 390 »Wer mag da noch an meiner Großzügigkeit zweifeln?«, sagte der Kapitän. »Ich biete den Haien sogar gekochtes Fleisch.« Seine Männer johlten begeistert. »Was ist mit dem da?«, fragte er und deutete auf Kinsel, ohne ihn wirklich anzuschauen. »Nur einer der Ruderer, Kapitän«, erklärte jemand. »Erledigt ihn, aber verschwendet keinen Branntwein mehr.« Feste Hände zogen Kinsel hoch, bis sein Hals frei lag. Ein Schwert wurde gezogen und gehoben. »Halt!«, rief der Anführer und fuchtelte affektiert mit einem goldenen Dolch herum. »Ich glaube, den kenne ich.« Er legte die flache Klinge unter Kinsels Kinn und drückte dessen Gesicht hoch, bis er es besser sehen konnte. »Wie ich schon sagte. Hoch mit ihm.« Sie stellten Kinsel auf die Füße. »Ich bin Kingdom Vance«, erklärte der Kapitän. »Händler und Abenteurer. Bist du zufällig Kinsel Rukanis?«
Kinsel war zu verängstigt, um ein Wort herauszubekommen. Er konnte nur hilflos nicken. »Ich könnte mich natürlich irren«, überlegte Vance, »und du könntest natürlich nach einem Strohhalm greifen. Wenn du aber der bist, für den ich dich halte, und wenn du deinen Kopf retten willst, dann gibt es nur einen Weg, um die Sache zu klären. Du musst es einfach beweisen.« Er starrte Kinsel mit dunklen Augen an. »Singe«, sagte er. Die Reise war für Caldasons Geschmack viel zu lang geraten, und er sehnte sich danach, wieder festen Bo391 den unter die Füße zu bekommen. Der Kapitän hatte ihm anvertraut, dass sein Wunsch sehr bald in Erfüllung gehen sollte. Die beengten Verhältnisse an Bord der Brigg hatten nicht dazu beigetragen, die Stimmung zu heben. Darrok überstand es, indem er sich einfach für längere Zeit in seiner Kabine verbarrikadierte. Caldason kam nicht umhin, wie alle anderen zu bemerken, dass Darroks rothaarige Leibwächterin den größten Teil ihrer Zeit bei ihm verbrachte. Als die Landung bevorstand, drängten sich die meisten Passagiere auf Deck, um möglichst früh ihr Ziel zu erspähen. Caldason stand beim Kapitän und bei Darrok, der seine Scheibe auf eine Ankerwinde gesetzt hatte, um magische Energie zu sparen. Sie redeten über Belanglosigkeiten, und ihr Blick schweifte ebenso oft zum Horizont wie zum jeweiligen Gesprächspartner. »Schaut mal, dort«, sagte der Kapitän. »Wo denn?« Darrok suchte mit Blicken den Horizont ab. »Da oben.« Der Seemann deutete zum Himmel. Ein Vogel kam in ihre Richtung geflattert. Er flog schnell, und je näher er kam, desto deutlicher wurde, dass er groß war. Schließlich erreichte er das Schiff und kreiste darüber. Er war weiß, hatte riesige lange Schwingen und einen gekrümmten Schnabel. »Also, da hol mich doch ...«, rief der Kapitän. »Was ist denn?«, fragte Caldason. Doch bevor er eine Antwort bekam, sank der Vogel herab und landete in der Nähe auf der Reling. Er war so groß, dass er kaum genug Platz hatte, um dort zu hocken. Caldason bemerkte, dass einige Mannschaftsmitglieder den Vogel ängstlich beobachteten. 392 »Augenblick mal«, sagte der Kapitän und näherte sich vorsichtig dem Wesen. Dicht beim Vogel hielt er inne, dann kehrte er zurück. »Für Euch«, sagte er zu Caldason. Reeth lief übers Deck zu dem großen Vogel, und es sah beinahe so aus, als führte er mit dem Tier eine angeregte Unterhaltung. »Was ist denn da los?«, wollte Darrok wissen. »Es scheint, als hätte Dulian Karr einen eigenartigen Sinn für Humor«, erklärte der Kapitän. »Entweder das, oder er hat keine Ahnung, wie es auf See aussieht. Anders kann er kaum auf die Idee gekommen sein, eine magische Botschaft in Form eines Albatros zu schicken.« Ein paar Minuten später hob der tollpatschige Vogel wieder ab, kreiste noch einmal über dem Schiff und kehrte in die Richtung zurück, aus der er gekommen war. Caldason sah ihm nach, dann kehrte er zu den anderen zurück. »Es sieht so aus, als sollte ich länger auf der Diamantinsel bleiben als ursprünglich vorgesehen«, sagte er, und die Aussicht schien ihm durchaus zu behagen. »Nun, ich hoffe, es wird Euch dort gefallen«, meinte der Kapitän. »Denn dort ist sie endlich.« Zwischen Meer und Himmel tauchte am Horizont das Land als schmaler, dunkler Streifen auf. 393 Ich denke, technisch gesehen gehört die Insel jetzt Euch«, sagte Darrok. »Nicht mir persönlich«, erwiderte Caldason, »und es ist mehr als eine technische Frage. Da jetzt das restliche Gold abgeliefert ist, gehört die Insel dem Interessenverband, den Karr anführt.« »Ach, hört doch auf, Caldason. Es passt nicht zu Euch, wie ein Paragraphenreiter zu reden. Seid doch ehrlich, Ihr meint den so genannten Widerstand.« Der Qalochier antwortete nicht. »Wie Ihr wollt«, fuhr Darrok mit seiner Reibeisenstimme fort. »Mir persönlich ist das sowieso egal, nachdem ich das Gold bekommen habe.« »Dann trifft zu, was man über Euch sagt? Dass Ihr Euch nur für Gold und Geld interessiert?« »Trifft es zu, was man über Euch sagt? Dass Ihr nur von Rachsucht und Blutdurst angetrieben werdet? Die Dinge sind selten so, wie sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Gerade Ihr solltet das doch wissen. Und wenn es mir wirklich nur ums Geld ginge, dann 395 würde ich Euch ausliefern und von den Paladinen die auf Euren Kopf ausgesetzte Belohnung kassieren. Ihr wisst doch sicher davon, oder?« »Das überrascht mich nicht. Seid Ihr nicht in Versuchung?«
»Nein, obwohl die Belohnung hoch ist.« »Wie hoch?« »Sehr hoch, wenn auch auf keinen Fall mit dem Betrag zu vergleichen, den ich für diese Insel hier bekomme. Trotz allem, was die Leute sagen, bin ich nicht ausschließlich von Geldgier getrieben, Caldason. Dieses Gold ist meine Altersvorsorge und meine zukünftige Sicherheit. Und nicht nur die meine - es gibt eine ganze Reihe von Leuten, deren Lebensunterhalt von mir abhängt.« »Ich wusste gar nicht, dass Ihr so ein Wohltäter seid«, gab Caldason trocken zurück. »In gewisser Weise bin ich das, wenn man weiß, dass ich das Geld nur als Mittel zum Zweck betrachte.« »Tut das nicht jeder?« »Die meisten setzen es weniger klug ein als ich.« »Wozu denn? Um ihre Familien satt zu bekommen und so weiter?« »Ich füttere eine ganze Menge Familien durch. Mehr als Ihr Euch vorstellen könnt, würde ich sagen.« Er bot Caldason die Weinflasche an. »Ihr wollt bestimmt nichts?« »Nein.« »Schade, es ist ein ausgezeichneter Jahrgang.« Er nippte genießerisch an seinem Glas. Sie saßen in einem der vielen Zimmer von Darroks geräumigem, wunderschön in den Hügeln gelegenem Haus. Seine schwebende Scheibe ruhte in der Aus396 buchtung eines eigens für ihn angefertigten, verstärkten Stuhls, sodass er auf gleicher Höhe mit seinen Gästen saß. Durch ein großes Fenster konnten sie das anmutig gestaltete Gelände betrachten. »Ein beeindruckendes Haus, nicht wahr?«, meinte Darrok. »Aber glaubt nicht, die ganze Insel sehe so aus. Ich fürchte, der Rest ist ziemlich heruntergekommen. Nur mein Anwesen hier ist wirklich ansprechend. Ach - es ist gar nicht mehr meins, es ist ja jetzt Euer Haus, nicht wahr? Verzeihung, das Haus des Interessenverbandes, dem Karr vorsteht. Ich nehme an, Ihr könntet hier selbst leben, wenn Ihr höflich fragtet. Die sind Euch ja etwas schuldig.« »Das ist nicht mein Stil. Ich halte nichts von Prunk und Pracht. Ich glaube, das offenbart zu viel über die innere Unsicherheit des Besitzers. Verzeihung, des Vorbesitzers.« Darrok ignorierte den Seitenhieb. »Ich werde das Haus vermissen. Die Insel nicht, die war mir schon viel zu lange ein Stachel im Fleisch. Aber ich bedauere, dass ich dieses Haus nicht mehr bewohnen kann. Ich habe viel Arbeit hineingesteckt.« Caldason betrachtete das auf den Besitzer abgestimmte Mobiliar und die extrabreiten Durchgänge ohne Türflügel und ein Dutzend weitere Vorrichtungen. »Wie ich sehe, ist es für einen Mann eingerichtet, der keine Beine hat.« »Allerdings, und später, als ich die Scheibe bekommen habe, ließ ich noch weitere Umbauten vornehmen.« Er tätschelte liebevoll die Seite seines fliegenden Sitzkissens. »Es muss ein Vermögen kosten, dieses Ding zu betreiben.« 397 »Ich kann es mir leisten.« »Darrok, wie habt Ihr eigentlich Eure Beine verloren? Ihr sagtet, es sei Kingdom Vance gewesen, aber Ihr habt den Hergang nicht genauer beschrieben. Oder würdet Ihr lieber nicht darüber reden?« »Ihr werdet feststellen, dass es nicht sehr viele Dinge gibt, über die ich nicht gern rede, Caldason. Ja, es war Vance.« »Habt Ihr einen seiner Überfälle überlebt?« »Nein, so war es nicht. Man könnte sagen, dass ich mich mit ihm überworfen habe.« »Überworfen? Soll das heißen, Ihr wart...« »Ein Pirat, ganz recht. Auch wenn ich einwenden muss, dass ich auf einer etwas höheren Stufe stand als ein bloßes Mannschaftsmitglied. Ich war sein Partner. Doch als es darauf ankam, sah er das anders.« »Was ist geschehen?« »Ich war drei Jahre in dieser Branche tätig. Ich gebrauche dieses Wort mit Bedacht, denn so weit es mich betrifft, war es ein Geschäft wie jedes andere.« »Das ist aber eine ungewöhnliche Art, Piraterie zu beschreiben.« »Aber es ist wahr. Piraterie ist auch nur eine primitive Form des Handels. Ihr nehmt den Leuten ihren Besitz und lasst sie im Austausch dafür am Leben. Das ist dem Erheben von Steuern nicht unähnlich. Niemand will Steuern zahlen, aber die Regierung zwingt die Leute dazu. Es ist sicher auch nicht schlimmer als das, was die Herrscher der Reiche tun, deren Gesetze die Menschen beachten müssen, wenn sie nicht ihr Leben verlieren wollen.« »Ihr könnt diese Rechtfertigungen meinetwegen getrost überspringen.« 398 Darrok grinste. »Vance und ich haben eine Weile ganz gut zusammengearbeitet, auch wenn wir den Beruf des Freibeuters unterschiedlich gestaltet haben -beispielsweise diese Sache mit dem Nehmen von Besitz und dem Lassen des Lebens. Er wollte zu oft beides nehmen. Doch der große Unterschied zwischen uns, der letztlich dazu führte, dass ich heute diesen Stuhl benutzen muss, hatte mit Geld zu tun.« »Das überrascht mich aber.«
»Vance hat das Geld so schnell ausgegeben, wie er es bekommen hat. Ich habe den größten Teil des Geldes, das ich bekam, auf die hohe Kante gelegt. Die Piraterie war für mich ein Trittstein auf dem Weg zu anderen Zielen und nichts, was ich den Rest meines Lebens tun wollte, das übrigens wahrscheinlich recht kurz geworden wäre.« »Es sieht aus, als wärt Ihr gerade noch mal davongekommen.« »Nun ja, wir hatten Ebbe in der Kasse. Sogar bei Piraten kommt das vor, ob Ihr es glaubt oder nicht. Vance wollte einen Anteil von meinen Rücklagen haben. Das allerdings stieß bei mir, sagen wir mal, auf wenig Gegenliebe, und so kam es rasch zum Bruch. Er überzeugte den Rest der Mannschaft, sich auf seine Seite zu schlagen, indem er ihnen einen Teil meines Geldes anbot. Um die lange und äußerst unerfreuliche Geschichte kurz abzuhandeln, es endete mehr oder weniger zwangsläufig mit Gewalt.« »Was für eine Gewalt ist es, bei der ein Mann seine Beine verliert?« »Die Sorte, der man sich gegenübersieht, wenn man über Bord springen muss. Ich wurde auf felsigem Untergrund in flachem Wasser unter den Kiel des Schiffs 399 gezogen. Dadurch habe ich auch diese betörende Stimme bekommen.« »Wie meint Ihr das?« »Die Wasseroberfläche stand in diesem Augenblick in Flammen. Man kann Vance eine Menge nachsagen, aber ganz sicher nicht, dass er nicht gründlich sei. Ich habe eine ordentliche Portion siedendes Öl geschluckt.« »Und das habt Ihr überlebt?« »Wie ich höre, seid auch Ihr kaum unterzukriegen. Vielleicht seid Ihr ebenso störrisch und unbeugsam wie ich. Jedenfalls bin ich hier auf Batariss gelandet, auf der Diamantinsel. Ich hatte Glück. Es gab hier einige Leute, die bereit waren, mir zu helfen, und sie verstanden sich auch auf die Heilkunst. Meine Beine, oder das, was von ihnen übrig war, konnten sie nicht retten, aber sie haben mich am Leben erhalten. Später war ich imstande, sie zu belohnen, und zwar recht großzügig, wie ich betonen möchte. Die damaligen Besitzer wollten verkaufen, und ich habe den größten Teil meiner Ersparnisse eingesetzt, um die Insel zu erwerben. Es war nicht unbedingt das Ziel, das ich eigentlich im Sinn hatte, aber die Möglichkeiten für einen halben Mann sind doch recht beschränkt. Bis vor einigen Jahren hatte ich so ein ganz ordentliches Einkommen.« »Und Vance?« »Er hielt mich für tot und war ausgesprochen wütend, weil es ihm nicht gelungen war, vorher noch herauszubekommen, wo ich meinen Anteil versteckt hatte. Doch das war nichts im Vergleich zu seiner Reaktion, als er herausfand, dass ich noch lebte und das Geld verwendet hatte, um die Insel zu kaufen.« 400 »Dann ist es etwas Persönliches? Sein Interesse an der Insel, meine ich?« »Wahrscheinlich würde er so oder so in diesen Gewässern jagen. Aber die Tatsache, dass ich hier war, hat ihm sicherlich schwer im Magen gelegen. Vance glaubt, all das hier sollte eigentlich ihm gehören, und er ist deshalb höllisch wütend.« »Das wird sich wohl auch nicht ändern, wenn Ihr fort seid, oder?« »Das weiß ich nicht. Es besteht die Möglichkeit, dass er mich verfolgt. Genauso wahrscheinlich ist es, dass er zuerst versucht, die Insel zu plündern. Wenn je ein Mann von Gier getrieben war, dann ist es Vance.« »Wohin werdet Ihr gehen?« Darrok lächelte. »Ihr werdet mir verzeihen, dass ich diese Frage nicht beantworten kann. Ich will nur so viel sagen, dass ich eine andere Insel im Auge habe, die weit von hier entfernt ist. Ich habe Gefallen daran gefunden, ein Stück Land zu besitzen.« »Kein kleines Königreich?« »Das ist ein Wort, das heutzutage in meinem Wortschatz eher selten vorkommt.« Beide Männer lächelten. »Ich bin aber noch nicht ganz bereit zu gehen. Ich muss noch einige Vorkehrungen treffen, um das Gold zu verschiffen. Recht komplizierte Vorkehrungen. Es macht Euch doch nichts aus, dass ich noch eine Weile bleibe, oder?« »Das ist mir einerlei. Ich glaube auch nicht, dass es Karr und die anderen stören wird. Außerdem könnt Ihr mir inzwischen etwas über die Insel erzählen. Ich muss wohl eine Weile hier bleiben, und es könnte nützlich sein, wenn ich so viel wie möglich weiß.« 401 »Dann lasst uns gleich damit beginnen. Eine kleine Rundfahrt, bevor die Sonne untergeht - wenn Ihr wollt?« Caldason wollte. Sie fuhren in einer offenen Kutsche; Darrok nahm selbst die Zügel, und Caldason saß neben ihm. Darroks Schwebescheibe war hinten aufgeladen. Er hatte keinen seiner Leibwächter mitgenommen, nicht einmal die rothaarige Frau, mit der er auf der Überfahrt von Bhealfa so viel Zeit verbracht hatte. Caldason fasste dies als Vertrauensbeweis auf. Vermutlich war der Mann sicher, dass Reeth ihm nicht die Kehle durchschneiden würde, sobald sie um die erste Ecke bogen. Der Wagen fuhr auf einer recht holprigen Straße in Richtung einer Ansammlung von Häusern. »Da es nicht mehr lange hell bleibt, können wir nicht die ganze Insel sehen«, erklärte Darrok. »Die Insel hat nur einen Bruchteil der Größe Bhealfas, aber sie ist trotzdem noch recht groß. Ihr braucht mindestens einige Tage, um sie ganz zu erkunden. Aber das ist Euch sicher schon bekannt.«
»Ich war noch nie hier, aber ich habe einige Karten gesehen und eine grobe Vorstellung von der Geografie gewonnen. Kommen eigentlich noch Besucher hierher?« »Zahlende Gäste? Nein, eigentlich nicht. Wie ich schon sagte, in den letzten Jahren sind die Einnahmen zurückgegangen. Wusstet Ihr eigentlich, dass die Geschichte der Insel als Ferienort mehrere Jahrhunderte zurückreicht?« »Ich glaube, jemand hat dies einmal erwähnt. Es muss früher ein recht exklusiver Ort gewesen sein.« 402 »Bis vor, nun ja, bis vor siebzig oder achtzig Jahren etwa. Damals geriet der Name Batariss in Vergessenheit, und man nannte sie die Diamantinsel. Die Tage als teurer Ferienort sind längst vergangen. Nicht, dass es steil bergab ging, es war ein langsamer Niedergang.« »Wie kam es denn dazu?« »Es war eine Kombination verschiedener Faktoren. Hauptsächlich wohl eine Modeerscheinung. Die Leute waren nicht mehr so versessen darauf, hierher zu kommen. Vielleicht lag es daran, dass die Wohlhabenden noch reicher geworden waren und sich immer mehr Magie zum persönlichen Gebrauch leisten konnten. Sie mussten nicht mehr nach Batariss reisen, um zu erleben, was sie auch daheim haben konnten. Es ist teuer, einen solchen Betrieb zu unterhalten. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem das ganze Geld, das hereinkam, gleich wieder für Reparaturen und so weiter ausgegeben werden musste. Der letzte Sargnagel waren in den letzten Jahren die Piraten.« »Habt Ihr eigentlich auch Leute überfallen, die hierher wollten, als Ihr noch einer wart?« »Das wäre eine nette Ironie, was? Nein, das war sinnlos, wenn man bei einem Überfall einen Haufen Geld verdienen wollte. Nur die Handelsschiffe oder höchstens noch die teuren Kreuzfahrtschiffe, auf denen sehr reiche Gäste mitfuhren, waren lohnende Ziele. Natürlich waren die auch besser geschützt, aber die Beute war es wert. Das war jedenfalls meine Philosophie. Vance dagegen musste überzeugt werden, nicht wahllos alles anzugreifen, was auf dem Wasser schwamm. Nicht, dass sich meine Vorgehensweise immer ausgezahlt hätte. Ich erinnere mich, dass wir einmal einen Kauffahrer überfallen haben, der einem Ker403 zenmacher gehörte. Er hatte ungefähr hunderttausend Kerzen an Bord, und das ist keine Ware, die man schnell wieder abstoßen kann, zumal die meisten Menschen heute sowieso magisches Licht bevorzugen. Vance hat sich dermaßen aufgeregt, dass er das Schiff in Brand gesteckt und versenkt hat.« Caldasons Vorbehalte gegenüber dem Mann schwanden, und er erwärmte sich sogar ein wenig für ihn, ungeachtet der Tatsache, dass er ein Bandit war und nicht unbedingt jemand, mit dem er sich freiwillig eingelassen hätte. Sie erreichten die Ansammlung verfallener Häuser, die einem kleinen Dorf ähnelte, obschon die Häuser mehr oder weniger gleich aussahen. »Man kann es sich jetzt kaum noch vorstellen, aber dies waren einst luxuriöse Ferienhäuser«, sagte Darrok. »Ein Ferienort für die Begüterten und Einflussreichen. Heute könnte man sie nicht einmal mehr als Schweineställe benutzen.« Die Rundfahrt ging weiter zu anderen Gebäudegruppen. Es gab Bereiche, in denen früher Spielcasinos gestanden hatten, einen ganzen Straßenzug voller Bordelle, hübsch verborgen hinter sanften Hügeln, um die sittenstrengen Besucher nicht vor den Kopf zu stoßen. Sie kamen an einem Stadion für Wagenrennen und einem recht großen See mit Booten vorbei, der inzwischen von Pflanzen überwuchert war. Das Seltsamste waren die so genannten Fahrgeschäfte wie die mit magischer Kraft betriebenen Achterbahnen, oder die Häuser voller Zerrspiegel, die Spielhöllen, die Kuriositätenkabinette und so weiter. Die Architektur dieser Vergnügungsstätten war fantastisch, bizarr und keineswegs kitschig. Verfallen und 404 vom Unkraut erobert, wie sie jetzt waren, wirkten sie umso fremdartiger. »Es wird bald dunkel«, meinte Darrok. »Wir müssen zurück. Morgen werde ich Euch den Rest der Insel zeigen. Seid Ihr sicher, dass Ihr mein Angebot, in meinem Haus zu übernachten, ausschlagen wollt?« »Vielen Dank, aber ich bleibe am besten bei meinen Leuten.« »Ihr wollt wohl nicht ihre Moral untergraben, indem Ihr sie in einem eher schäbigen Gästehaus lasst, während Ihr Euch bei mir in Samt und Seide bettet.« »Etwas in dieser Art.« »Wahrscheinlich habt Ihr Recht damit. Ertragt es noch ein paar Tage, dann will ich sehen, ob ich für Eure Leute etwas Besseres finde.« Sie machten sich auf den Rückweg. Als sie eine weitere Gruppe maroder Gebäude passierten, meinte Darrok: »Es ist erstaunlich, wie schnell die Natur alles zurückerobert. Einige dieser Häuser waren vor zwei oder drei Jahren noch in Gebrauch. Der größte Teil der Insel ist beinahe jungfräulich. Höchstens ein Zehntel der Fläche wurde jemals wirklich bewirtschaftet. Ich nehme aber an, eine Ansammlung alter Häuser ist für Eure Leute nicht sehr interessant. Wahrscheinlich werden sie einen großen Teil der Insel für den Ackerbau nutzen wollen.« »So sieht es der Plan vor.« »Ach, ich denke, das ist nur ein Teil davon, Caldason, wenn Ihr ehrlich sein wollt. Nein, Ihr müsst nicht so verlegen dreinschauen, mein Freund. Vielleicht haltet Ihr mich für einen Materialisten, aber Ihr sollt wissen, dass
ich dem ... nun ja, dem, was Ihr hier tun wollt, durchaus gewogen bin.« 405 »Ist es denn derart offensichtlich?« »Das wollen wir um unser beider willen nicht hoffen.« »Dieser ... dieser Plan, den wir angeblich haben. Wie seht Ihr die Sache?« »Rein hypothetisch gesprochen natürlich, und unterstellt, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, worum es geht?« »Genau.« »Ich würde sagen ... ja, dass es mitreißend und wundervoll idealistisch ist. Edel sogar.« »Und was würdet Ihr sagen, wie die Chancen sind?« »Realistisch gesprochen? Ungefähr so, wie die Lebenserwartung eines Eiskristalls in der Hölle.« »Ah.« »Aber was wäre das Leben ohne Herausforderungen?« 406 Ich bin so froh, dass Ihr kommen konntet, Kommissar«, sagte Devlor Bastorran, als sein Adjutant Laffon ins Büro des Paladins bat. »Eure Nachricht ließ mir kaum eine Wahl. Ich hoffe, die Angelegenheit, die Ihr erwähnt habt, ist dringend genug, um ein Treffen zu so später Stunde zu rechtfertigen.« »Ich bin sicher, Ihr werdet Euch meiner Einschätzung anschließen, sobald ich es Euch erklärt habe. Bitte, macht es Euch bequem. Soll Meakin Euch etwas bringen? Eine Erfrischung oder etwas zu trinken?« Laffon hob eine knochige Hand. »Danke, nein, Hoher Clanchef. Es reicht mir völlig, wenn ich die versprochenen Informationen bekomme.« »Nun gut. An dem Abend, als mein Onkel auf so tragische Weise ermordet wurde, und auch danach, haben wir mehrmals über die Notwendigkeit gesprochen, dass unsere beiden Organisationen in Fragen der Staatssicherheit eng zusammenarbeiten müssen.« 407 »Das ist richtig. Ich muss allerdings sagen, dass der Informationsfluss bisher nicht ganz dem entsprochen hat, was ich erhofft habe.« »Wenn ich ganz offen sein soll, dann könnte ich das Gleiche auch umgekehrt sagen. Doch bei dem, was ich Euch heute Abend mitzuteilen habe, handelt es sich um handfeste, zuverlässige Informationen, die erhebliche Auswirkungen auf unsere Aktionen gegen die Terroristen haben werden. Dies verlangt eine enge Zusammenarbeit zwischen dem RIS und den Paladinen, von der beide Seiten profitieren werden.« Laffon legte die Finger beider Hände zu einem Spitzdach zusammen. »Fahrt fort.« »Wir haben schon vor längerer Zeit Spione in die Reihen der Dissidenten eingeschleust.« »Das haben wir auch, Bastorran.« »Ja, aber bei allem Respekt, wir haben jetzt eine bestimmte Quelle, die sich in einer viel zentraleren Position befindet als alle anderen bisher. Das ist keine Annahme, sondern eine Tatsache.« »Handelt es sich um einen neuen Kontakt?« »Ja.« »Und Ihr habt keinen Grund, an den Motiven zu zweifeln?« »Falls Ihr meint, wir bekämen Fehlinformationen oder würden in eine Art Falle gelockt - nein, das glaube ich nicht. Ich darf sagen, Kommissar, dass unser schärferes Vorgehen gegen die Dissidenten und die Verhaftungen bekannter Persönlichkeiten, wie etwa von Kinsel Rukanis, erheblich dazu beigetragen haben, dass wir bessere Aufklärungserfolge erzielen. Ich glaube, unsere unbeugsame Haltung trägt Früchte, 408 und wir werden in Zukunft sehen, dass noch mehr Informationen wie diese hereinkommen.« »Das wäre sehr erfreulich. Aber fahrt doch fort.« »Diese Quelle hat uns Namen, Adressen und andere Daten über diejenigen geliefert, die sich als der Widerstand bezeichnen. Natürlich haben wir nicht alles erfahren, was wir gern wissen würden, aber doch genug, um einen entscheidenden Schlag zu führen. Möglicherweise ausreichend, um ihre Aktivitäten auf absehbare Zeit zu unterbinden.« »Ich frage noch einmal: Könnt Ihr diesen Informationen trauen? Wir müssten in einem solchen Fall, wenn wir in großem Maßstab tätig werden, erhebliche Ressourcen zur Verfügung stellen.« »Das ist mir bekannt. Ja, ich traue der Quelle. Für die betreffende Person ist es aus persönlichen Gründen sehr wichtig, uns die Wahrheit zu sagen.« »Nun gut, ich bin bereit, dies zu akzeptieren. Was schlagt Ihr vor?« »Ich schlage natürlich vor, dass wir handeln, und zwar so schnell wie möglich. Wir müssen an den Adressen, die ich bekommen habe, eine Reihe von Razzien ansetzen. Sie müssen gleichzeitig stattfinden, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen, und sie sollten gemeinsam von Paladinen und dem RIS durchgeführt werden. Es wird viel effektiver sein, wenn wir unsere Erfahrungen und unser Personal zusammenlegen.« »Das lässt sich machen. Da der RIS immer noch dabei ist, hier in Valdarr ein Hauptquartier einzurichten, schlage ich vor, wir benutzen das Eure als Operationsbasis.«
»Unsere Einrichtungen stehen Euch zur Verfügung.« 409 »Ich schicke meine Leute sofort herüber, damit die Planungen umgehend beginnen können.« »Ausgezeichnet.-« »Ich würde mir gern einige Eurer Boten ausleihen, wenn ich darf. Aber das kann warten. Im Augenblick gibt es noch etwas anderes, über das ich mit Euch reden möchte. Es ist privater Natur.« Er warf einen vielsagenden Blick zu Meakin. »Gewiss. Meakin, geh und sorge dafür, dass der Kommissar gleich die Botschaften schicken kann, die er erwähnte. Danach kommst du wieder her.« »Jawohl, Sir.« Der Adjutant entfernte sich. »Hat es mit dem Thema zu tun, über das wir gerade gesprochen haben, Kommissar?« »In gewisser Weise. Es betrifft die hohe Belohnung, die Ihr für die Ergreifung Reeth Caldasons ausgesetzt habt.« »Was ist damit?« »Jetzt, da Ihr die Leitung der Paladine übernommen habt, kennt Ihr sicher auch die besonderen Richtlinien, die in Hinblick auf diesen Mann gelten?« »Ja. Mein Onkel hat einen versiegelten Umschlag hinterlassen.« »Wir sind besorgt, dass das Aussetzen einer so hohen Belohnung einen Verstoß gegen die Richtlinien darstellen könnte.« »Ich sehe nicht, wie dies möglich sein sollte.« »Ich erlaube mir, in diesem Punkt anderer Meinung zu sein.« »Ein Mann ermordet den leitenden Offizier aller Paladin-Clans. Es ist undenkbar, dass wir keine Belohnung auf seine Ergreifung aussetzen. Welche Botschaft würden wir denn dem Pöbel schicken, wenn wir da410 rauf verzichteten? Dass es erlaubt sei zu ermorden, wen immer man will, ganz egal, wie hochrangig der Betreffende ist, weil man sicher sein kann, dass unsere Bemühungen, den Schuldigen zu finden, nur halbherzig sein werden? Beachtet bitte auch, Kommissar, dass unsere Belohnung für die Gefangennahme gilt, nicht für seinen Tod.« »Ein feiner Unterschied, der aber möglicherweise vom durchschnittlichen Straßenschläger oder Kopfgeldjäger, der in Versuchung sein könnte, die Belohnung kassieren zu wollen, übersehen wird. Ihr müsst wissen, dass ich verstehe, wie Ihr Euch fühlt, besonders angesichts des persönlichen Verlusts, den Ihr hinnehmen musstet. Ich glaube aber immer noch, dass wir in Bezug auf Caldason sehr vorsichtig vorgehen müssen. Darf ich Euch erinnern, dass die fraglichen Richtlinien von der höchsten nur denkbaren Autorität erlassen wurden?« »Ich habe die Absicht, eben diese Autorität zu bewegen, sie zu widerrufen. Offen gestanden halte ich sie für sinnlos.« »Es ist uns nicht immer gegeben, nach dem Warum zu fragen, Bastorran.« »Kommissar, könnten wir diese Erörterung angesichts der Tatsachen, die ich Euch zuvor mitgeteilt habe, auf einen späteren Zeitpunkt verschieben? Wir haben heute Nacht eine Menge zu tun.« »Einverstanden. Dann werden wir ein andermal weiter darüber reden. Wo ist denn nun Euer Mann?« Wie auf Stichwort klopfte Meakin an und betrat den Raum. Er führte Laffon zum Quartier der Kuriere und kehrte bald darauf zu seinem Herrn zurück. 411 »Sir, da wir gerade von Botschaften sprechen, es sind mehrere Nachrichten von Aphri Kordenza gekommen. Sie will Euch sehen, und sie ist sehr hartnäckig.« »Hartnäckig, zum Teufel. Es geht jetzt nicht. Halte sie hin. Wir fangen jetzt einen viel größeren Fisch, Meakin.« »Auf Informationen von Spionen kann man sich nicht immer verlassen«, wandte Disgleirio ein. »Haben wir eine unabhängige Bestätigung?« »Noch nicht«, erwiderte Karr, »aber unsere Spitzel im Hafen haben sich stets als zuverlässig erwiesen. Wir wissen bis jetzt auch nur, dass die Galeere, auf der Kinsel sich befindet, nicht wie erwartet eingelaufen ist. Die Verzögerung ist inzwischen so groß, dass sie auch mit widrigem Wetter nicht mehr erklärt werden kann. Freilich hat es gar kein ungünstiges Wetter gegeben.« »Das heißt aber noch nicht, dass das Schiff verloren ist. Es könnte neue Befehle erhalten und den Kurs gewechselt haben.« »Ja, es gibt mehrere Gründe dafür, dass wir jetzt noch nicht über die Maßen beunruhigt sein müssen. Wir sollten uns andererseits aber auch darauf gefasst machen, dass etwas passiert ist. Und in diesem Fall...« »Tanalvah.« »Ja. Nach allem, was sie durchlitten hat, wäre es ein unerträglicher Schlag, Kinsel ganz und gar zu verlieren. Sie wäre damit um jede Hoffnung gebracht, ihn eines Tages doch noch wieder zu sehen, so unrealistisch diese Hoffnung auch sein mag. Deshalb habe ich auch Euch dazu gebeten, Goyter. Wenn es wirklich zum Schlimmsten gekommen ist, dann müsst Ihr 412 Tanalvah zur Seite stehen. Neben Serrah seid Ihr die Einzige, die sie nach Kinsels Verurteilung überhaupt an sich herangelassen hat.«
»Natürlich will ich für das arme Ding tun, was in meinen Kräften steht«, sagte seine Adjutantin. »Um ehrlich zu sein, muss ich aber einwenden, dass ich dabei sicher nicht so erfolgreich wäre wie Serrah. Die beiden haben sich wirklich angefreundet.« »Karr, sollten wir angesichts dieser Tatsache Serrahs Aufbruch nicht verschieben oder ganz abblasen?«, meinte Disgleirio. »Besser nicht, wenn man es sich recht überlegt. Sie und Kutch sind jetzt in einem sicheren Haus und werden morgen in aller Frühe zur Insel übersetzen. Ich würde die Reise nur ungern absagen. Ich will ja nicht hartherzig erscheinen, aber es ist wichtiger, dass Serrah uns da draußen den Weg ebnet, als dass sie hier mit einer hoffnungslosen Situation belastet wird.« »Vielleicht sollten wir es ihr wenigstens mitteilen«, meinte Goyter. »Hat sie nicht das Recht, es zu erfahren?« »Ich neige dazu, auch diesen Vorschlag zu verwerfen. Das Wissen, dass wir Kinsel möglicherweise verloren haben, nützt ihr überhaupt nichts und wird nur dazu führen, dass sie sich Sorgen macht. Das wird ihre Leistungsfähigkeit sicher nicht erhöhen. Ja, ich weiß, es ist hart, wenn man es auf diese Weise betrachtet, doch man muss die Entscheidungen mit Blick auf das größere Ganze treffen. Je näher der Umzug rückt, desto wichtiger wird diese Regel, fürchte ich.« »Es scheint mir«, sagte Disgleirio, »als sollten wir diese Argumentation ausweiten und auch Tanalvah nicht sagen, was wir erfahren haben.« 413 Karr seufzte. »In dieser Hinsicht bin ich unschlüssig. Wollen wir ihr jetzt mitteilen, dass ihr Geliebter möglicherweise tot ist? Oder halten wir es zurück, bis wir Gewissheit haben? Andererseits, wenn sein Schiff untergegangen ist, gibt es wahrscheinlich bald irgendeine öffentliche Erklärung, und wir wollen sicher nicht, dass sie es auf diese Weise erfährt.« »Es scheint also nötig, zunächst weitere Informationen einzuholen.'« »Ja. Ich würde einen Kompromiss vorschlagen. Ob wir mehr erfahren oder nicht, ich werde ihr die Neuigkeiten morgen um diese Zeit mitteilen. Inzwischen nutzen wir alle Kontakte, die wir haben. Ich werde sogar mit Phönix über dieses Projekt sprechen, mit dem die Matrix angezapft werden sollte. Sie erzählen uns immer, wie nahe sie einem Durchbruch sind. Vielleicht können sie etwas Licht auf die Angelegenheit werfen.« »Es scheint mir, als wären sie noch weit davon entfernt, Nachrichten im Netz abzufangen. Falls man es tatsächlich entsprechend benutzen kann.« »Es ist einen Versuch wert, Quinn. Was haben wir schon groß zu verlieren?« »Ist das nicht aufregend?« »Nicht aufregend genug, um auf den Schlaf zu verzichten, denke ich. Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.« »Bist du nicht aufgeregt, weil du einen Ort siehst, den du noch nicht kennst, Serrah?« »Ich bin zu alt, um mich aufzuregen. Nein, das war gelogen.« Sie grinste. »Doch, ich freue mich natürlich darauf, die Diamantinsel zu sehen. Es war ziemlich 414 hektisch hier, aber gleichzeitig auch langweilig. Für mich jedenfalls.« »Und wir sehen Reeth wieder. Das ist doch sicher etwas, auf das man sich freuen kann, oder?« »Das ist keine Frage, Kutch.« »Du hast mir noch nicht verraten, was morgen passieren wird. Was wir tun müssen und so weiter.« »Eigentlich ist es gar nicht so kompliziert. Das Schiff, das uns mitnimmt, heißt Hirsch. Es liegt nicht direkt im Hafen, sondern hat vor der Küste geankert. Wir steigen auf ein Ruderboot, das uns hinbringt. Ein paar Tage später sind wir dann auf der Insel.« »Ich kann es kaum erwarten, ich bin noch nie mit einem Schiff gefahren.« »Dann hast du ja noch etwas, auf das du dich freuen kannst. Aber wenn du jetzt nicht schläfst, dann bist du morgen nicht wach genug, um es zu genießen. Vergiss nicht, dass wir ganz früh aufstehen müssen. Dieses sichere Haus hier ist nicht weit vom Hafen entfernt, aber ich will nichts dem Zufall überlassen. In der Morgendämmerung verschwinden wir.« »Alles klar.« Sie blies die Kerze aus. Bevor sie die Tür schloss, sagte sie noch: »Schlaf gut, Kutch. Von morgen an wird alles anders.« 415 In der Morgendämmerung wurden die Bewohner von mehr als vierzig Häusern in ganz Valdarr unsanft geweckt. Die Häuser wurden umstellt, Türen wurden eingetreten, Verdächtige abgeführt. Nicht alle unterwarfen sich. Es gab Widerstand von Einzelnen, die sich hoffnungslos einer gewaltigen Überzahl schwer Bewaffneter gegenübersahen und dennoch lieber sterben wollten, als sich gefangen nehmen zu lassen. Vielen wurde dieser Wunsch erfüllt. Einige griffen zur Brandstiftung, um die Geheimnisse des Untergrundes zu wahren, und in einigen Fällen wurde zusammen mit den Beweisen, die sie vernichten wollten, auch ihr eigenes Leben zerstört. Einige wenige nahmen sich mit Klinge oder Gift lieber selbst das Leben, als den staatlichen Folterknechten in die Hände zu fallen. Ein paar der hoffnungslos unterlegenen Widerständler nahmen sogar Ramp, um sich dem Feind in einem von der
Droge verstärkten Tobsuchtsanfall zu stellen. Nicht alle wurden überrascht. Manche waren gut vorbereitet, sehr vorsichtig oder konnten dank einer 417 glücklichen Fügung entkommen, sodass sich die Neuigkeit zusammen mit der Panik rasch verbreitete. Bald griff die Unruhe auch auf die Straßen über. Der überrumpelte Widerstand hatte keinen Grund, den um sich greifenden zivilen Ungehorsam weiter anzustacheln. Das taten die Gesetzeshüter schon von sich aus. Sie machten hin und wieder Fehler, überfielen die falschen Gebäude und misshandelten unschuldige Bürger. Sobald die Unruhen einmal begonnen hatten, waren ihre wie üblich unbeholfenen Versuche, die Ruhe wiederherzustellen, lediglich dazu geeignet, den Aufruhr noch zu verstärken. Doch Fehleinschätzungen gab es auf beiden Seiten. Eine beachtliche Zahl der Widerstandskämpfer, die in die Pläne der Bewegung eingeweiht waren, zeigte nun, dass sie eben auch nur Menschen und keineswegs frei von menschlichen Fehlern und Unzulänglichkeiten waren. Sie trafen Entscheidungen, die das Chaos noch vergrößerten. »Was ist da draußen los?« »Ich kann nichts sehen, Kutch.« Serrah beugte sich aus dem Fenster, dann zog sie sich zurück. »Das nützt nichts, ich kann nichts erkennen, aber es muss etwas Großes sein.« »Das wird doch kein Krieg sein, oder?« »Ich glaube, wir hätten es gehört, wenn ein Krieg ausbrechen sollte«, gab sie trocken zurück. »Ich frage nur, weil ich diese Vision hatte. Sie schien sich um eine Art Krieg zu drehen.« Sie bereute ihren bissigen Tonfall. »Nein, das ist kein Krieg«, erklärte sie freundlicher. »Selbst wenn du irgendwie ein Prophet geworden bist, Kriege werfen ihre Schatten lange voraus. Sie passieren nicht einfach 418 so.« Ganz im Gegensatz zu Bürgerkriegen, dachte sie, doch sie verzichtete darauf, diesen Gedanken laut auszusprechen. »Da gibt es nur irgendeinen Ärger unten auf der Straße.« »Was tun wir jetzt?« »Gute Frage. Wir sollten natürlich zunächst weitermachen wie besprochen. Hör mal, wir wissen nicht, wie weit dies hier um sich greift und was es ausgelöst hat. Ich meine aber, wir sollten zum Hafen gehen, und wenn es nicht gut aussieht, dann können wir es uns immer noch anders überlegen.« »In Ordnung.« »Und das Gepäck lassen wir hier. Wir wollen uns nicht aufhalten lassen, und wenn wir Koffer schleppen, ziehen wir womöglich neugierige Blicke auf uns.« »In meinem Koffer sind aber Bücher. Die Bücher, die Phönix mir zum Studieren gegeben hat.« »Siehst du? Es liegt doch in allem etwas Gutes.« Sie lächelten beide. »Im Ernst, lass sie hier. Sie halten uns nur auf. Du kannst dir später neue Bücher besorgen. Stopf dir einfach nur die wichtigsten Dinge in die Hosentaschen.« »Ist schon in Ordnung.« Serrah zögerte, bevor sie ihren nächsten Gedanken aussprach. »Kutch, ich möchte, dass du das hier nimmst.« Sie langte unter ihr Hemd und zog einen kleinen Dolch hervor. Er riss die Augen auf. »Warum?« »Für alle Fälle.« »Du wolltest doch noch nie, dass ich eine Waffe trage.« »Wir waren auch noch nie in einer Situation wie dieser.« »Ich wüsste nicht, was ich damit anfangen sollte.« 419 »Du hältst ihn so wie ich jetzt.« Sie zeigte es ihm. »Es ist nicht schwer. Wenn du ihn benutzen musst, stichst du einfach zu. Geradeaus und fest. Mach es so, als wolltest du jemanden schlagen. Ist das klar?« »Ich denke schon.« »Hier, nimm ihn.« Unsicher nahm er die Waffe entgegen. »Und wo bewahre ich ihn auf?« »Vielleicht im Stiefel? Nein, schieb ihn dir hinter den Gürtel. Hier, schau.« Sie führte es ihm vor. »Keine Sorge, Kutch. Ich bin sicher, dass du ihn nicht hernehmen musst. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Du kannst ihn mir zurückgeben, wenn wir auf dem Schiff sind.« »Was meinst du, was uns da draußen erwartet?« »Ich weiß es nicht. Deshalb hast du jetzt den Dolch. Und nun lass uns gehen.« Sobald sie auf die Straße traten, wusste sie, dass es ernst war. Die Atmosphäre war angespannt. Mehrere Trauben von Leuten hatten sich gebildet, und es war unübersehbar, dass sie unzufrieden waren. Paladine mit ernsten Gesichtern, Milizionäre und Soldaten der regulären Truppen waren in großer Zahl im Einsatz. Überall sahen Serrah und Kutch schwarze Rauchwolken aufsteigen, im Hintergrund das beständige Summen von menschlichen Stimmen. Rufe, Johlen, marschierende Stiefel, Gesänge, hin und wieder ein Schrei. Es schien vor allem aus dem Stadtzentrum zu kommen, das sie glücklicherweise meiden konnten. »Sollen wir nicht jemanden fragen, was hier los ist?« »Nein, Kutch. Halte den Kopf gesenkt und gehe zügig weiter. Wir sind anständige Bürger, die sich nur um ihre
eigenen Angelegenheiten kümmern.« 420 Wenn man den Aufruhr sah, schienen sie die einzigen anständigen Bürger zu sein. In der nächsten Straße erwartete sie das gleiche Bild. Eine wütende Menge und gereizte Ordnungshüter, ausgebrannte Häuser, ein Geschäft, das offensichtlich geplündert worden war. Eine Häuserzeile weiter näherten sie sich einem Haus, das sie kannten. Es war ein eher unauffälliges Gebäude, doch sie erkannten es beide als sicheres Haus des Widerstands. Draußen standen ein Dutzend oder mehr Milizionäre und Paladine, und vier Männer bearbeiteten mit einem Rammbock die Tür. »Ist das nicht...«, wollte Kutch sagen. »Ja. Geh weiter, sieh nicht hin.« Sie bugsierte ihn um eine Ecke und in eine vergleichsweise ruhige Seitenstraße. Dort nahm sie ihn beiseite. »Ich glaube, was wir gerade gesehen haben, beweist es«, erklärte sie ihm. »Offensichtlich ist eine große Aktion im Gange, noch größer als alles, was wir in den letzten Wochen gesehen haben. Sie haben es auf den Widerstand abgesehen, und es scheint, als wären die Leute damit nicht einverstanden.« »Was sollen wir jetzt tun?« »Ich denke, wir sollten schleunigst zum Hafen gehen.« »Was ist mit den anderen? Karr und Quinn und ... oh, Tanalvah und die Kinder?« »Hör zu, Kutch, wir müssen einfach hoffen, dass sie es geschafft haben unterzutauchen. In einer Situation wie dieser können wir ohnehin nichts tun, um ihnen zu helfen. Ich denke, die Behörden versuchen gerade, den ganzen Widerstand auszulöschen.« 421 »Aber das schaffen sie doch nie. Oder doch?« »Vielleicht nicht ganz und gar, aber sie können dabei eine Menge Schaden anrichten, was auch völlig Unschuldige einschließt.« »Wir dürfen unsere Freunde doch jetzt nicht im Stich lassen.« »Du darfst es dir nicht so vorstellen, als ließen wir sie im Stich. Es spricht einiges dafür, dass sie wohlbehalten herauskommen. Sie sind klug, und sie haben Erfahrung mit schwierigen Situationen.« Serrah schaute ihn an und musste daran denken, dass sie ihre Tochter nicht hatte schützen können, und auch Kinsel hatte sie nicht geholfen. Verdammt wollte sie sein, aber soweit es überhaupt in ihrer Macht stand, wollte sie alles tun, damit diesem Jungen nichts zustieß. »Wir müssen auf uns selbst aufpassen«, sagte sie ihm leise. »Komm schon.« Sie gingen weiter. Fünf Minuten später erreichten sie eine Seitenstraße und sahen sich einer Straßensperre gegenüber. Sie war mit einem Paladin und einem regulären Soldaten besetzt, die alle Fußgänger und Fahrzeuge aufhielten. »Verdammt«, fluchte Serrah. Der Paladin sah sie und winkte. »Er will, dass wir weggehen«, sagte Kutch. »Wir gehen nicht weg.« Sie beschleunigte ihre Schritte. »Er sieht ziemlich wütend aus, Serrah.« »Wir bleiben nicht stehen.« »Aber ...« »Wir bleiben nicht stehen. Bleib einfach bei mir und ignoriere alles, was er sagt, aber weiche ihm aus, wenn wir ihn erreichen.« 422 Der Paladin rief jetzt und winkte wütend, sie sollten umkehren. Sie konnten nicht genau hören, was er rief. Dann waren sie nahe genug. »Seid ihr zwei verrückt geworden, oder was? Ich befehle euch umzukehren. Dieses Gebiet hier ist gesperrt. Und jetzt macht, dass ihr verschwindet!« Serrahs Antwort bestand darin, zuckersüß zu lächeln und sich ihm weiter zu nähern. Kutch tat, was sie ihm gesagt hatte, und rückte ein wenig von ihr ab. »Seid ihr nicht nur taub, sondern auch noch dumm?«, tobte der Paladin. Seine Hand tastete nach dem Schwertgriff. Serrah überwand die Distanz zwischen ihnen mit drei raschen Schritten. Etwas Metallisches blitzte in ihrer Hand. Was dann kam, sah für Kutch aus wie ein Faustschlag, doch er erinnerte sich, was Serrah über den Messerkampf gesagt hatte, und ihm wurde übel. Der Paladin ging zu Boden, ein dunkelroter Fleck breitete sich auf dem etwas helleren Rot seiner Tunika aus. Seine Augen waren starr und tot. »Komm schon«, fauchte Serrah. Sie rannten zur Straßensperre. Der Soldat, der gerade jemand anderen schikaniert hatte, sah sie kommen. Dann bemerkte er den sterbenden Paladin auf dem Pflaster. Er zog das Schwert und ging auf Kutch und Serrah los. »Wenn der uns nahe kommt«, wies Serrah ihn an, »dann halte dich raus.« Sie hatte noch das mit Blut befleckte Messer in der Hand. Im Laufen nahm sie rasch den Arm zurück und warf es. Der Soldat duckte sich, und die Klinge flog harmlos über seinen Kopf hinweg.
423 »Verdammt«, knurrte Serrah. »Mach dich bereit wegzulaufen, Kutch. Ich sorge dafür, dass es nicht lange dauert.« Als der Soldat sie erreichte, hatte sie ihr Schwert schon gezogen. Sie blockte seinen ersten Hieb ab und erwiderte sofort, doch auch er wehrte ihren Konterschlag ab. Ein erbitterter Schwertkampf entbrannte, der damit endete, dass sie seine Waffe zur Seite schlug und seine Brust durchbohrte. Der Soldat sackte wie ein umgekippter Sack Rüben in sich zusammen. »Lass uns zum Schiff laufen!«, rief sie. Sie sprang über den gestürzten Mann und setzte sich in Trab. »Serrah«, rief Kutch, »wir werden verfolgt!« Sie sah sich um. Zwei oder drei Uniformierte rannten hinter ihnen her. Sie packte Kutchs Hand, zog ihn mit sich, und dann liefen sie los. Zwei Umstände halfen ihnen. Die Straßen waren voller Menschen, und sie waren keineswegs die Einzigen, die rannten. Unsicher, ob sie ihre Verfolger abgeschüttelt hatten, zog Serrah Kutch schließlich in eine Seitengasse. Keuchend versteckten sie sich hinter einem Haufen leerer Kisten. »Wir ... bleiben ... eine Weile hier ... dann gehen wir weiter«, erklärte Serrah. Als sie einige Minuten in Deckung kauerten, schlenderte ein kleiner, etwa fünf oder sechs Jahre alter Junge herbei. Er sah sie und lächelte schüchtern. Serrah erwiderte das Lächeln, Kutch folgte ihrem Beispiel. Sie machten kleine Gesten, um das Kind wegzuscheuchen. Ohne Vorwarnung schrie der Junge: »Sie sind hier! Sie sind hier!« Dann wackelte er auf die Straße zurück, 424 wedelte heftig mit den Armen und deutete, immer noch brüllend, in die Gasse. Kutch und Serrah rappelten sich auf und flohen. Erst vier Straßen weiter liefen sie wieder langsamer. Sie waren in der Nähe des Hafens, und die Straßen waren ungewöhnlich belebt. Doch es waren nicht die Menschen, die sie früher gesehen hatten, diese Gruppen von Leuten, die Ärger machen wollten. Hier waren Männer, Frauen und Kinder zielstrebig unterwegs, und viele von ihnen schleppten Gepäck. Es war eine Atmosphäre voll mühsam unterdrückter Hysterie. Alle wollten zu dem Ziel, das auch Serrah und Kutch ansteuerten. »Was ist hier los?«, fragte Kutch. Serrah hatte inzwischen eine Ahnung, was sich ereignet haben musste. »Man hat uns verraten«, flüsterte sie. Als sie um die Ecke eines Lagerhauses bogen, sahen sie das ganze Chaos vor sich. Die Paladine hatten eine unauffällige Kutsche besorgt, und es bedurfte einer entschlossenen Eskorte, um sie durch die chaotischen Straßen zu geleiten. Endlich erreichte sie das Hauptquartier der Clans und wurde sofort durchs Tor gewinkt. Der einzige Fahrgast trug einen langen Mantel, der bis zum Hals zugeknöpft war, und eine weite Kapuze, die das Gesicht vollständig verdeckte. Es hätte ein Mönch sein können, der aus einem zurückgezogenen Orden auf eine Pilgerschaft ging. Begleitet von zwei kräftigen, gut bewaffneten Wächtern wurde der Besucher durch ein verborgenes Tor in einen besonders gesicherten Bereich geführt. Ein 425 Marsch durch endlose Flure folgte, unterbrochen von mehreren Kontrollstellen, wo die Wächter die Papiere prüften. Schließlich erreichten sie einen kleinen, fensterlosen Raum, der von einer einsamen magischen Lichtkugel erhellt wurde. Die einzigen Möbelstücke waren zwei schlichte Stühle. Die Wächter wiesen den Besucher an, sich zu setzen, und zogen sich zurück. Gleich darauf trat Devlor Bastorran ein. »Gut, dass du gekommen bist«, sagte er. »Blieb mir denn etwas anderes übrig?« »Ich fürchte, in diesem Fall wurden meine Entscheidungen von schlichter Notwendigkeit diktiert«, erklärte er, als er sich auf den anderen Stuhl setzte. »Es ist nicht nötig, das da auf dem Kopf zu behalten«, fügte er hinzu. »Schließlich haben wir keine Geheimnisse voreinander, oder?« Der Besucher warf die Kapuze zurück. »Es war gefährlich, mich hierher zu bringen. Warum konnten wir uns nicht an einem weniger auffälligen Ort treffen?« »Hast du gesehen, was heute auf den Straßen los ist? Oh, natürlich hast du es gesehen. Wie dumm von mir.« »Warum bin ich hier? Ich habe getan, was ich tun sollte.« »Wir müssen reden.« »Wir haben geredet. Jetzt will ich, dass Ihr tut, was Ihr versprochen habt.« »Zu gegebener Zeit werde ich es tun. Doch vorher müssen wir uns noch einmal unterhalten.« »Und wenn ich mich weigere?« »Dann, so fürchte ich, wird es mir schwer fallen, meinen Teil der Abmachung zu erfüllen. Wir wollen also lieber vernünftig sein, ja?« »Was wollt Ihr wissen?«, fragte Tanalvah Lahn. 426
Vor ihnen waren gut und gern tausend Menschen auf der Straße. In den Seitenstraßen und Gassen am Hafen waren gewiss noch einmal einige hundert unterwegs, und ständig kamen mehr. Ihre Stimmung war von zunehmender Verzweiflung geprägt. Kutch starrte sie ungläubig an. »Wer sind all diese Menschen?« »Einige erkenne ich wieder«, sagte Serrah. »Wirklich?« »Ja. Wahrscheinlich könntest auch du sie erkennen, wenn du lange genug Zeit hast.« Er sah sich verdutzt um. »Wirklich?« »Vielleicht sind auch einige Kriminelle hier, die den Razzien entgehen wollen, und dazu ein paar normale Bürger, denen die ständige Unterdrückung zu viel wird. Aber ich schätze, dass die Mehrheit zum Widerstand gehört oder mindestens mit ihm sympathisiert. Ich habe einige bekannte Gesichter gesehen.« 427 »Der Widerstand? Meinst du damit, es sind unsere eigenen Leute?« Sie nickte und hielt einen Finger vor die Lippen. »Bleib ruhig. Nicht jedes Paar Ohren gehört einem, der uns freundlich gesonnen ist.« »Ich verstehe das nicht«, flüsterte er. »Wohin wollen sie denn?« »Was glaubst du?« Allmählich dämmerte es ihm. »Das sollten sie aber nicht tun.« »Kein Gesetz verbietet ihnen, zur Diamantinsel zu fahren, wenn sie die Überfahrt bezahlen können. Noch nicht, jedenfalls.« »Aber die Schiffe im Hafen fahren doch nicht alle zur Insel.« »Nein. Aber die Leute werden versuchen, die Besitzer umzustimmen. Sie werden zuerst Geld bieten, und wenn sich nicht genügend Kapitäne darauf einlassen, oder wenn es zu wenig Schiffe sind, um alle mitzunehmen, dann wird es eine hässliche Wendung nehmen.« »Aber wer organisiert das alles? Wer hat hier die Leitung?« »Hast du es immer noch nicht verstanden, Kutch? Niemand hat hier die Leitung. Die organisierte Bewegung ist zusammengebrochen, und jetzt kommt die Sache in Gang, obwohl die Vorbereitungen noch nicht abgeschlossen sind.« Sie sah seine Verwirrung und erbarmte sich. »Die Behörden haben immer schärfer durchgegriffen. Heute härter denn je. Es muss Leute im Widerstand geben, die glauben, dies sei die große Säuberung, und die Bewegung werde endgültig zerschlagen. Wer weiß? Vielleicht haben sie sogar Recht. 428 Mehr als einer oder zwei, die von Karrs Plänen wussten, waren nicht nötig - sie mussten nur sagen: »Rettet euch, fahrt zur Diamantinsel. Das ist eine sichere Zuflucht.« So etwas verbreitet sich schnell, und dies hier ist das Ergebnis.« Er war entsetzt. »Kann man das nicht aufhalten?« »Zu spät, der Geist ist aus der Flasche. Ich bin sicher, dass es Leute im Widerstand gibt, die nicht den Kopf verloren haben und versuchen, die anderen zur Vernunft zu bringen. Ich glaube aber nicht, dass sie diese Flut aufhalten können.« »Aber der Widerstand ... unsere Leute ... sie sollten doch nicht...« »Sie sollten nicht so sein wie alle anderen? Wir haben vielleicht das moralische Recht auf unserer Seite, aber das ist noch lange keine Garantie dafür, dass wir uns rational verhalten.« Das Gedränge wurde immer dichter. Serrah fasste sein Handgelenk und zog ihn in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren, bis sie ein weniger dicht bevölkertes Gebiet erreichten. Lange würde es allerdings nicht ruhig bleiben. »Das ist wirklich eine gefährliche Situation«, sagte sie. »Hier sind nur wenig Uniformierte, die nicht viel ausrichten können. Im Augenblick sind sie an anderen Stellen der Stadt stark beschäftigt und haben noch nicht bemerkt, was hier vor sich geht. Sie werden es aber bald merken, und dann werden sie den Hafen blockieren und wer weiß was noch. Versuch mal ihren Standpunkt einzunehmen, Kutch. Was siehst du dann? Eine große Gruppe von Staatsfeinden ist praktischerweise an einem einzigen Ort versammelt und hat das Meer im Rücken. Hast du schon einmal die 429 Redensart gehört, dass man einen Fisch im Fass leicht aufspießen kann?« »Du sagtest, jemand habe uns verraten. Woher weißt du das?« »Die Paladine, der RIS, die Milizen und die anderen haben die Häuser nicht willkürlich ausgewählt. Sie sind gezielt vorgegangen.« »Wer könnte so etwas tun?« Serrah zuckte mit den Achseln. »Wie ich schon sagte, wir haben kein Monopol auf Vernunft. Auf Loyalität natürlich auch nicht.« »Wir werden hier in Bhealfa hängen bleiben«, stöhnte Kutch. »Wir kommen nie an all diesen Leuten vorbei, und wir werden Reeth nie wieder sehen.« »Nur wenn wir hier in der Nähe der Meute bleiben.« Serrah sah sich um und fand, was sie suchte. »Wie gefällt es dir, hoch oben zu stehen?«
»Hoch oben?« »Für eine Weile jedenfalls. Komm mit und bleib dicht bei mir.« Sie drängte sich zu dem Lagerhaus durch, an dem sie kurz zuvor vorbeigekommen waren, und kämpfte sich bis zur anderen Seite, wo eine Mauer eine schmale Gasse begrenzte. Dort gab es eine Tür. »Schirme mich gegen Blicke von der Straße ab, Kutch.« Sie zog ein Messer und schob es ins Schloss. »Hoffentlich ist niemand da.« Das Messer ruckte, es klickte. Ein Stoß, und die Tür ging auf. »Schnell, rein da.« Drinnen war es dunkel, und das Gebäude war offensichtlich verlassen. Sie schlängelten sich durch Kistenstapel, die so hoch waren wie ein Haus, und suchten nach einem Fenster. Es gab keines, doch sie fanden 430 eine Treppe. Sie stiegen zwei Absätze hinauf und erreichten das oberste Stockwerk. Dort gab es ein Fenster, doch es war verrammelt. Auch hier erwies sich Serrahs Messer wieder als nützlich. Sie klappte die Fensterläden auf. Hinter dem vergitterten Fenster konnten sie das Meer sehen. »Das dachte ich mir. Das Lagerhaus grenzt hinten ans Wasser.« »Und jetzt?« »Hier kommen wir nicht durch.« Sie rüttelte am Gitter. »Also müssen wir es doch mit dem Dach versuchen.« »Das Dach?« »Aber wie?« Serrah sah sich aufmerksam um. »Dort!« In die Decke war eine Falltür eingelassen. »Hilf mir mal, die Kisten zu verschieben.« Rasch bauten sie eine kleine Pyramide auf. Die Falltür hatte nur einen einfachen Riegel. Sie drückten mit flachen Händen fest dagegen und legten ein Stück blaugrauen Himmel frei. Es war nicht schwierig, hindurchzuklettern und das Dach zu erreichen. Der Wind schmeckte salzig, aber der Ausblick war beeindruckend. Vor sich sahen sie das Meer. Rechts war der Hafen mit den unzähligen Menschen, die sich dort zusammendrängten. Dahinter ragte eine lange Mole ins Wasser hinaus. Zwei Schiffe hatten am Ende festgemacht. Auf der Mole waren noch mehr Leute, die aus dieser Entfernung wie Ameisen wirkten, die ein Schiff belagerten. Viele andere Schiffe hatten an der Hafenmauer festgemacht. Auch sie wurden bedrängt. »Das da müsste die Hirsch sein.« Serrah deutete auf einen Dreimaster, der mitten in der Bucht vor Anker lag. 432 Sie führte Kutch zur Kante des Dachs. Als sie nach unten blickten, packte er ihre Hand. Seine Handfläche war feucht. Sie drückte seine Hand. Zwei Stockwerke tiefer lief die Mauer des Hafens am Lagerhaus aus und bildete ein breites Sims. Noch einmal ein gutes Stück tiefer war das Wasser. Die Fassade des Hauses war mit Reihen von Ziegelsteinen geschmückt, die ein Stück weit aus der Mauer ragten. »Da können wir nach unten klettern«, erklärte Serrah. »Kutch?« Er blickte zum Himmel, und sie folgte seinem Blick. Vier oder fünf schwarze Umrisse flogen hintereinander zum Hafen. Die Entfernung war noch zu groß, um sie zu erkennen, doch es waren gewiss keine Vögel. Dafür waren sie viel zu groß. Serrah ging zur anderen Seite des Dachs hinüber, Kutch folgte ihr. Wagenkolonnen verstopften die Zufahrt zum Hafen. Viele Wagen waren offen, und man konnte die auffälligen roten Uniformen der Paladine erkennen. »Jetzt geht es los, was?«, sagte Kutch. Sie nickte. »Und die Götter mögen wissen, wie diese Menschenmassen auf das Eintreffen eines kleinen Heeres reagieren werden. Sie sind nur noch einen winzigen Schritt von einer regelrechten Panik entfernt.« Jetzt konnten sie die fünf Objekte am Himmel deutlicher erkennen. Weiter hinten folgten weitere. »Magische Einsatzgruppe«, bestätigte Kutch schaudernd. Die inzwischen deutlich erkennbaren Formen wiesen sie als Feuerspeier, Meuchelmörder, Berserkerdrohnen, Zerfleischer, Bluthunde und Zermalmer aus. 432 »Die sparen wirklich nicht an Feuerkraft«, bemerkte Serrah. Auf einmal bekam das Getöse unten eine neue Qualität. Die Menschen begannen laut zu schreien, als die Truppen aus den Wagen sprangen. An den Rändern des Gedränges hatten die Kämpfe bereits begonnen. Dann erregte ein lautes Geräusch ihre Aufmerksamkeit. Ein fliegender Zauber, der aussah wie eine Kreuzung zwischen einer Schlange und einer Spinne, setzte zum Sturzflug auf die Mole an. Er spuckte Feuerkugeln aus, die beim Aufprall zerplatzten. Die Menschen gerieten in Brand und sprangen ins Hafenbecken. Auch die Takelage eines Schiffs fing Feuer. Ein weiteres Wesen, dick und stachelig, setzte das Feuer anders ein. Es legte eine zähflüssige, brennende Masse über die Köpfe der Menschen. Wie in jeder Menge waren auch hier einige Menschen bewaffnet. Einige hatten konventionelle Waffen wie Pfeil und Bogen. Andere besaßen magische Munition. Pfeile flogen, und das Blitzen magischer Entladungen begann. Doch diejenigen, die kämpfen wollten, wurden von den Fliehenden behindert. Überall sprangen oder stürzten Menschen von der Mole herunter. Einige konnten schwimmen, einige überladene Ruderboote hatten abgelegt. Ein weiteres Schiff, das der Mole viel näher war, ging in Flammen auf. Sie sahen die Mannschaft auf dem Deck
herumlaufen. »Vielleicht ist es doch keine gute Idee, auf dem Dach herumzustehen«, meinte Serrah. »Wir sollten ...« Ein fliegender Zauber glitt dicht über ihnen vorbei und bestätigte ihre Befürchtungen. Sie legten sich flach auf den Bauch. Der schwebende Zauber war wie eine 433 Pyramide geformt und wie ein Tiger gestreift. Er hatte riesige Augen auf Stängeln und ließ rasiermesserscharfe Eiskristalle auf die Menschen regnen, die in der Falle saßen. »Die Hirsch wird nicht mehr lange warten-«, sagte Serrah. Sie krochen zur anderen Seite zurück, wo die Hafenmauer ansetzte. Mehrere Schiffe mit den Militärwimpeln von Bhealfa und Gath Tampoor näherten sich vom offenen Meer her. »Das hatte ich befürchtet. Sie blockieren die Ausfahrt. Wir müssen sofort zum Schiff.« Sie sahen eine Galeere, die um die Landspitze bog. Die Ruder schlugen das Wasser zu weißem Schaum auf. »Glaubst du ...« »Nein, Kutch. Kinsel ist weit weg.« Serrah blickte an der Mauer hinunter. »So hoch ist es nicht. Geh es ruhig an und nimm die vorstehenden Ziegelsteine als Halt. Es wird schon klappen.« Sie sah seinen Gesichtsausdruck. »Denk nicht darüber nach, tu es einfach.« Sie schoben sich über die Kante und stiegen hinunter, kletterten gleichmäßig und belasteten jeden Ziegelstein probeweise, ehe sie ihm ihr ganzes Gewicht anvertrauten. Sie kamen nur langsam voran. Irgendetwas stürzte an ihnen vorbei, wand sich im Fall und heulte ohrenbetäubend. Kutch zuckte erschrocken zusammen, und der Ziegel, auf den er gerade den Fuß gesetzt hatte, löste sich aus der Mauer, fiel hinunter und zerbarst. Serrah, die neben ihm war, packte sein Handgelenk. »Ruhig, ganz ruhig. Alles klar?« 434 Er nickte keuchend. Sie bewegten sich weiter, noch langsamer als zuvor. Mit dem Gesicht zur Wand konnten sie den Aufruhr hören, aber nicht sehen, und das machte alles nur noch schlimmer. Sie rechneten schon damit, von den fliegenden Zaubern gestellt und gebraten zu werden. Schließlich erreichten sie die Krone der Hafenmauer. Unbeeindruckt vom Kampflärm und den schrillen Todesschreien schwammen die Möwen gemächlich auf dem Wasser. »Zum Glück ist die Hirsch nicht sehr weit draußen«, sagte Serrah. »Wie kommen wir da hin?« »Was meinst du denn? Willst du warten, bis uns ein Boot rüberbringt?« »Ehrlich gesagt, hatte gehofft, dass uns jemand abholt.« »Dazu ist die Konkurrenz ein bisschen zu scharf. Wir müssen schwimmen. Verdammt - kannst du überhaupt schwimmen?« »Na ja, schon. Nur nicht sehr gut. Und ich mag Wasser nicht besonders.« »Du wirst dich schon mit ihm anfreunden. Zieh die Stiefel aus.« Sie streifte bereits ihre Stiefel ab, und widerstrebend trennte sie sich auch von ihrem Schwert. Sie standen auf der Mauer, die Zehen um die Kante gekrümmt. »Es gibt keine andere Möglichkeit, wir müssen springen«, sagte Serrah. »Wir springen mit den Füßen zuerst. Dann schwimmen wir mit ruhigen, gleichmäßigen Zügen zum Schiff. Es ist kein Wettrennen. Keine Sorge, ich bin bei dir. Alles klar? Auf drei. Eins, zwei ... drei...« 435 Das kalte Wasser trieb ihnen den Atem aus den Lungen. Einige Herzschläge lang verloren sie die Orientierung, dann tauchten sie wieder auf, sahen sich um und schwammen nebeneinander zum Schiff. Nur einmal mussten sie ausweichen, als eine brennende Öllache in ihre Richtung trieb. Sie sahen mehrere Leichen im Wasser schwimmen, schrecklich verbrannt oder verstümmelt. Serrah fragte sich, wie sehr ihnen die Kälte zusetzen würde, doch bald konnte sie die Hand ausstrecken und den glitschigen Rumpf der Hirsch berühren. Es folgte ein Augenblick voller Anspannung, als die Mannschaft den Eindruck erweckte, man werde sie nicht an Bord lassen. Doch als Serrah ihren Namen rief und erkannt wurde, ließen die Männer ein Netz an der Seite des Schiffs für sie herab. Als sie über die Reling geklettert waren, sagte der Kapitän: »Noch fünf Minuten, und ich wäre nicht mehr da gewesen. Wir müssen der Blockade entkommen, die sie da gerade aufbauen.« »Werden wir es schaffen?« Serrah wischte sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht. »Ich denke schon.« Er drehte sich um und gab seine Befehle. Ein Matrose versorgte sie mit Decken. Serrah und Kutch lehnten sich an die Reling und ruhten sich tropfnass, wie sie waren, ein wenig aus. »Das hast du gut gemacht, Kutch«, lobte sie ihn. »Ich bin stolz auf dich.« Er lächelte schwach. »Wir hatten mehr Glück als die anderen, die noch am Ufer sind.« Im Hafen brannte es, überall herrschten Chaos und Verwirrung. 436
Als das Schiff den Anker lichtete und die Mannschaft sich aufs Auslaufen vorbereitete, bemerkte Serrah, dass sie nicht die Einzigen waren, die man aufgelesen hatte. Weiter hinten auf dem Deck standen zehn oder zwölf ramponierte Menschen mit bleichen Gesichtern eng beisammen. Gnade uns Gott, dachte sie, wenn das alles ist, was noch vom Widerstand übrig ist. 437 Es stank nach verkohltem Fleisch. Dulian Karr hielt sich ein Tuch vor den Mund und suchte sich einen Weg durch die Trümmer. Disgleirio, der am anderen Ende des Kellers herumkramte, hatte sich diese Mühe gespart. Vier Leichen lagen auf den Bodenfliesen, alle entsetzlich verbrannt. Die blauen Kutten des Bundes waren kaum mehr als brüchige Asche. Hier hatte auch eine Frau gearbeitet, doch die Leichen waren zu stark entstellt, um die Geschlechter der Toten unterscheiden zu können. In der Ecke blubberte leise die abgesperrte Grube wie ein Kochtopf. Die Wände waren mit einer schmierigen, rußigen Substanz bedeckt. Der quecksilberne Strom am Grund war zu einem trägen Rinnsal geschrumpft. Der ganze Keller - Boden, Wände und Decke - sah aus, als hätte hier große Hitze geherrscht. Doch kein anderer Teil des Hauses war betroffen. »Hier finden wir nichts heraus«, sagte Disgleirio. »Es ist alles verbrannt.« 439 »Ich fürchte, Ihr habt Recht, Quinn«, stimmte Karr zu. Er war noch bleicher als sonst, und seine Lippen waren sogar ein wenig bläulich verfärbt. Sein Atem ging schwer, obwohl er sich körperlich nicht angestrengt hatte. Doch die Ereignisse der letzten Stunde hatten nicht dazu beigetragen, seine Lebensgeister zu stärken. »Ich weiß sowieso nicht, was Ihr eigentlich hier finden wolltet«, fügte der Vertreter der Gerechten Klinge hinzu. »Ich suche nach Anhaltspunkten, was an diesem Ort geschehen ist. Vielleicht einen Hinweis darauf, dass die armen Teufel tatsächlich irgendeine Botschaft aus der Matrix ziehen konnten.« »Es ist doch offensichtlich, oder? Was sie auch gemacht haben, es ging schief. Sie waren nicht gut genug, um mit der Magie der Gründer herumzupfuschen, auch wenn sie selbst anderer Meinung waren.« Der Patrizier seufzte. »Das ist möglich. Ich wünschte allerdings, wir könnten Phönix' Ansicht dazu einholen.« »Wenn wir nur wüssten, wo er ist. Lasst uns hier verschwinden. Es nützt nichts, unsere Zeit mit etwas zu verschwenden, das wir nicht einmal verstehen. Es gibt dringendere Angelegenheiten, um die wir uns kümmern müssen.« »Nun gut.« »Ich denke, wir sollten ...« »Still! Was war das?« »Was?« Ein winziges Geräusch, das dieses Mal auch Disgleirio wahrnehmen konnte. Unverkennbar ein Stöhnen. Sie erkannten, dass es von dem Opfer kam, das 440 am weitesten von der Grube entfernt lag, und eilten zu ihm. »Bei den Göttern«, murmelte Disgleirio, »er lebt.« Der Mann war entsetzlich verbrannt. Was von seinem Fleisch noch vorhanden war, war beinahe schwarz. Doch seine versengten Lippen bebten. »Er will etwas sagen.« Karr wollte dem Mann helfen und ihn bequemer lagern, doch er wusste, dass jede Berührung die Qualen noch verstärken würde. So beugte er sich nur herunter, bis er den Kopf dicht vor den zitternden Mund halten konnte. Wieder ein Versuch zu sprechen. »Was sagt er?«, flüsterte Disgleirio. »Ich weiß nicht. Wartet.« Wieder ein Krächzen. Dann das Zittern des Todes. »Er ist tot. Ich weiß nicht, wie er es überhaupt so lange ausgehalten hat.« »Vielleicht, um die Botschaft zu übermitteln? Habt Ihr verstanden, was er gesagt hat?« »Ja. Es war nur ein Wort. Flut.« »Flut? War das alles?« »Ja.« »Wisst Ihr, was es bedeutet?« »Leider nein. Auch dazu könnten wir Phönix oder jemanden mit vergleichbarem Wissen brauchen.« »Wir können hier nichts mehr tun, Karr. Wir sollten unsere Bemühungen auf das richten, was jetzt wichtig ist.« »Ihr habt Recht.« Sie schlössen die verkohlte Tür hinter sich und stiegen die Treppe hinauf. Karr bewegte sich wie ein um viele Jahre gealterter Mann. Im Erdgeschoss suchten sie das größte Zimmer auf. Dort waren mehrere nervöse Widerstandskämpfer ver441 sammelt, unter ihnen auch Karrs Adjutantin Goyter. Karr schüttelte den Kopf, um die unausgesprochene Frage zu beantworten. Dann ging er langsam zu einem Stuhl und setzte sich seufzend. »Können wir davon ausgehen, dass dieses Haus sicher ist?«, fragte Disgleirio. »Das habt Ihr schon mehrmals gefragt, Quinn, und ich kann Euch immer nur die gleiche Antwort geben. Ich weiß es nicht. Es ist eines der am besten geschützten Verstecke, die wir überhaupt haben. Eigentlich sollte es
sicher sein. Aber nach allem, was heute passiert ist, wer weiß?« »Es läuft auf die Frage hinaus, ob derjenige, der uns verraten hat, von diesem Haus weiß, nicht wahr?« »Können wir sicher sein, dass es Verrat war?«, fragte Goyter. »Es gibt keine andere Erklärung«, erklärte Karr. »Und es muss jemand gewesen sein, der entsetzlich viel über uns weiß.« »Umso mehr ein Grund, möglichst schnell neue sichere Häuser zu finden«, meinte Disgleirio. »Goyter, haben wir schon etwas von Tanalvah gehört?«, wollte Karr wissen. Sie schien bekümmert. »Nein. Weder von ihr noch von den Kindern. Ich bete, dass sie wohlauf sind.« »Und Serrah und Kutch?« »Nichts.« »So viele werden vermisst. Sie können doch nicht alle beim Massaker im Hafen umgekommen sein, oder?« »Auf keinen Fall«, beruhigte Disgleirio ihn. »Aber sie sind natürlich erst einmal untergetaucht.« »Ich frage mich, wie viele es geschafft haben, aus dem Hafen zu entkommen«, sagte Goyter. 442 »Das ist schwer zu sagen«, meinte Karr, »aber ich fürchte, es sind nicht sehr viele.« Disgleirio fiel etwas ein. »Glaubt Ihr, in Gath Tampoor und Rintarah gehen ähnliche Dinge vor? Oder in den anderen Kolonien?« »Wir wissen, dass die Behörden dort in der letzten Zeit ähnlich hart durchgegriffen haben. Wenn Ihr aber annehmt, dort habe sich heute das Gleiche ereignet wie bei uns, dann würde dies unterstellen, dass sie einen Informanten haben, der nicht nur hier, sondern auch dort über die Arbeit des Widerstands unterrichtet ist. Es gibt nur sehr, sehr wenige Menschen, die so viel wissen, und für die lege ich persönlich die Hand ins Feuer.« Er schnaufte leicht und legte die Hand an die Stirn. »Geht es Euch nicht gut?«, fragte Goyter besorgt. »Hmm? Doch, es geht schon.« »Dass Ihr es auch immer übertreiben müsst«, sagte sie streng. »Ich wage mir kaum auszumalen, welche Folgen dies für Eure Gesundheit hat.« Er schaffte es, sie schwach anzulächeln. »Ihr macht Euch zu viele Sorgen, Goyter.« Disgleirio ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Ich habe die Reiche vor allem deshalb erwähnt, weil ich mich frage, ob auch von anderswo Angehörige des Widerstands zur Insel gefahren sind.« »Das ist ein zweischneidiges Schwert, nicht wahr? Wenn auch andere unterwegs sind, dann bedeutet dies, dass die Bewegung das Opfer eines weit reichenden Verrats wurde. Wenn nicht, ist die Diamantinsel aus unserer Sicht viel zu dünn besiedelt. Beide Möglichkeiten wollen mir nicht gefallen.« »Es wird verdammt schwierig sein, nach diesen Ereignissen die Bewegung noch in Gang zu halten.« 443 »Vielleicht ist überhaupt nichts mehr von ihr übrig.« »Was meint Ihr damit?« »Überlegt es Euch doch. Dieser Bruch in der Disziplin des Widerstands, den wir gerade gesehen haben, hat den Plan offenbart. Die Reiche müssten schon sehr dumm sein, wenn sie jetzt nicht wüssten, was wir vorhaben. Rintarah und Gath Tampoor dürften gleichermaßen in Versuchung sein, die Diamantinsel zu besetzen, um die Gründung eines Staates von Dissidenten schon im Keim zu ersticken. Ich würde sagen, dass die Reiche früher oder später eine Invasion versuchen werden.« »Und unsere Leute dort sind kaum in der Lage, dergleichen abzuwehren.« »Genau. Ihr wisst ja, ich wollte Euch heute eigentlich etwas zeigen. Es ist schon ironisch.« »Was denn?« »Goyter, könntet Ihr es mir bitte reichen?« »Seid Ihr sicher, dass es überhaupt noch sinnvoll ist? Nach allem, was Ihr gerade gesagt habt?« »Ja. Es sollte eine Inspiration sein. Jetzt dient es vielleicht noch als kleine Erinnerung an einen zerstörten Traum.« »Wie Ihr wollt.« Goyter beugte sich vor und hob etwas auf, das neben ihr auf dem Boden gelegen hatte. Es war ein zusammengefaltetes grünes Tuch. Sie stand auf und brachte es Karr. Er erhob sich und faltete den Stoff auseinander, damit es alle sehen konnten. Es war eine Flagge, und das Motiv war ein Skorpion, der drohend den gekrümmten Stachel gehoben hatte. »Das wurde erst letzte Woche vom Rat abgesegnet«, erklärte Karr. »Es ist das Abzeichen des neuen 444 Staates. Das Bild werdet Ihr sicher auch ohne Erklärung verstehen.« »Klein, aber tödlich, was?«, bemerkte Disgleirio zustimmend. »Ja. Es sagt, dass wir vielleicht winzig sind, aber wir ... wir haben ... einen Stachel.« Er schwankte, verdrehte die Augen, riss den Mund auf und stürzte um. Die Flagge legte sich wie eine Decke über seine Brust. »Bei den Göttern!«, rief Goyter. »Dulian! Dulian! So tut doch etwas, Quinn!« Disgleirio und die anderen Kämpfer eilten zu ihm. Sie öffneten ihm den Kragen, und Disgleirio tastete nach dem Puls. »Schafft einen Heiler her«, sagte er. »Schnell!« Der Herbst ging allmählich in den Winter über.
Vier Menschen standen in der kalten Morgendämmerung auf einer Hügelkuppe und blickten zum Meer hinaus. Genauer gesagt, standen nur drei von ihnen, während der vierte auf einer schwebenden Scheibe saß, die mit magischer Energie angetrieben wurde. Unten lief ein Schiff langsam in den kleinen Hafen ein. »Ich frage mich, wie viele neue Leute damit noch kommen werden«, überlegte Serrah. »Das erinnert mich daran, dass ich einige Zahlen zusammenstellen ließ«, erklärte Zahgadiah Darrok. Er griff sich eine Mappe, zog ein Stück Papier hervor und entfaltete es. »Zählt man die Vorausabteilung mit, die schon hier war, und Eure Gruppe, Reeth, und außerdem alle, die seit den Unruhen den Weg hierher gefunden haben, dann kommen wir auf eine Gesamtzahl von 445 zweitausendvierhundertsiebenundsechzig Menschen. Meine eigenen Leute habe ich natürlich nicht mitgerechnet.« »Das ist nicht viel, verglichen mit der Zahl, die eigentlich hierher kommen sollte, nicht wahr?«, sagte Kutch. »Nein«, stimmte Caldason zu. »Aber eine kleine Zahl von Leuten kann sehr viel erreichen, wenn sie die richtige Einstellung haben. Viele von denen, die diese Reise überstanden haben, sind zweifellos sehr motiviert.« »Ich muss immer an die anderen denken«, sagte Serrah. »Tanalvah, Karr, Phönix. Kinsel natürlich, und Quinn. Was meinst du, wie es ihnen geht?« »Hoffentlich kommen sie zurecht. Auf ihre Weise sind sie alle Kämpfer.« »Genau wie wir«, schaltete Kutch sich ein. »Ja, genau wie wir.« Caldason lächelte. »Ich überlege schon die ganze Zeit, wer uns verraten hat«, fügte Serrah hinzu, und ihr Gesicht verdüsterte sich. »Wenn ... falls ich jemals herausfinde, wer es war, dann wird es mir ein besonderes Vergnügen sein, ihn dafür büßen zu lassen.« »Vielleicht kommt es nie heraus«, wandte Darrok ein. »Meiner Erfahrung nach ist es manchmal besser, die Vergangenheit einfach ruhen zu lassen. Konzentriert Euch lieber auf die Zukunft und versucht, Eure Träume zu verwirklichen.« »Ich bin nicht so sicher, was die Träume angeht. Ich glaube, wir sehen gerade, wie einer stirbt.« Sie riss sich aus ihrer düsteren Stimmung. »Wie sehen deine Träume aus, Reeth?« Sie legte einen Arm um seine Hüfte. »Wann willst du ihnen nachgehen?« 446 »Hoffentlich bald. Aber das ist mit einer neuen Reise verbunden.« »Tja, beim nächsten Mal komme ich mit, was auch passiert.« »Ich auch«, versprach Kutch. »Wir werden sehen.« »Und bis dahin«, sagte Darrok, »scheint es so, als wäre diese Insel Eure Heimat.« »Mag sein«, erwiderte Caldason, »doch liegt die Entscheidung darüber nicht allein in unseren Händen.« »Alles liegt in unseren Händen«, widersprach Serrah. »Wir werden lernen, unsere Träume zu träumen.« Rot wie Blut ging über der Diamantinsel die Sonne auf. 447