Helene Kynast
Das Mädchen ohne Gesicht
Thienemann
Kynast, Helene: Das Mädchen ohne Gesicht ISBN 3 522 17704 5
Umsc...
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Helene Kynast
Das Mädchen ohne Gesicht
Thienemann
Kynast, Helene: Das Mädchen ohne Gesicht ISBN 3 522 17704 5
Umschlaggestaltung: Niklas Schütte Einbandtypografie: Michael Kimmerle Schrift: Veljovic und Futura Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Reproduktion: immedia 23, Stuttgart Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg © 2005 by Thienemann Verlag (Thienemann Verlag GmbH), Stuttgart/Wien Printed in Germany. Alle Rechte vorbehalten. Thienemann im Internet: www.thienemann.de
»Sie hat einen falschen Schritt gemacht.« Dieser Satz erscheint auf Lauras Monitor. Immer wieder erhält sie in letzter Zeit anonyme E-Mails. Dazu das Foto von einem Mädchen. Es ähnelt Laura, doch dort, wo das Gesicht zu sehen wäre, klafft nur ein weißer Fleck. Laura ist ratlos. Was bedeutet das? Und wer soll den falschen Schritt gemacht haben – sie oder dieses Mädchen ohne Gesicht?
»Lass mich, Hendrik! Lass mich los. Das mit uns, das war doch nur Spiel!« »Und das mit Wailand, das ist Ernst?« »Hör auf damit, du siehst ja Gespenster!« »Ach so, ein Gespenst aus Fleisch und Blut.« »Lass mich jetzt vorbei!« »Gib mir deine Hand!« Er wollte sie nur beschützen! Vor Wailand, dessen schwarze Silhouette gerade über der Felsklippe aufgetaucht war und jetzt im vollen Mondlicht stand. Er streckte seine Hand nach ihr aus. Der schmale Steg aus Holz war moosig und glatt. Doch dann machte sie diesen falschen Schritt. »Lisa! Lisa!« »Der da oben soll aufhören zu rufen! Sie kann ihn doch jetzt nicht mehr hören!«
»Bin in der Stadt«, hat Mama uns auf der Pinnwand mitgeteilt. »Warmes Essen gibt’s abends.« Meinetwegen, dann kann ich hier am PC in Lauras geheimem Tagebuch gleich erst mal was Brandneues loswerden. Seit Wochen herrschte ja große Öde an unserer Bildungsanstalt, dafür kam es heute gleich dreifach! Zuerst mal erschien die Bender nicht. Das war schon ganz spannend. Statt ihr tauchte nach zehn Minuten Lechner bei uns auf und ließ einen echten Knaller los: »Anstelle von Frau Bender werde ich ab heute den Englisch-Unterricht übernehmen und auch die Theater-AG.« Wow, die Bender sind wir wieder los! Sie war die Vertretung für unseren Goldi. Der hatte vor drei Wochen plötzlich mitten in der Stunde schlappgemacht. Herzinfarkt mit fünfundfünfzig! Für uns war das ein richtiger Schock. Goldi ist sehr beliebt,
nicht zuletzt weil er uns nie Stress macht. Er lässt immer mit sich reden und ist sogar verhandlungsbereit, wenn es um die Noten geht. Ein echtes Goldherz eben. Und als Ersatz ausgerechnet die Bender! Aber mit Lechner wird es bestimmt spannend. Jedenfalls für den weiblichen Teil der Elf. Punkt drei des heutigen Überraschungspakets: Mitten in unsere erste Englischstunde bei Lechner platzte der Direx rein. Er neigt zu unverhofften Besuchen. Aber diesmal war es keine seiner spontanen Kontrollvisiten. Er stellte uns einen Neuen vor. »Das ist Hendrik Frenzen. Nehmt ihn freundlich auf, damit er sich schnell einlebt.« Dann verschwand er gleich wieder. Der Neue: so ein smarter Typ, mittelgroß, schmaler, edler Gesichtsschnitt, nackenlange, wellige Haare, Farbe Goldhonig, lässig schicke Klamotten. Er blieb erst mal vorne stehen und sah sich ausgiebig um. Vier freie Plätze, welchen würde er ansteuern? Vielleicht dauerte es Lechner zu lange. Er gab ihm in seinem leicht ironischen Tonfall Hilfestellung: »Wie wär’s zum Beispiel mit dem Platz dort drüben?« Dabei wies er zu Thilo hinüber. Dann fügte er mit besonderer Betonung noch »Herr Frenzen« hinzu. Aber-hoppla! Der Neue scheint empfindlich auf Ironie zu reagieren. Er wendete im Zeitlupentempo den Kopf zu Lechner und in dem Augenblick passierte was! Obwohl konkret gar nichts passierte. Aber ich hab eine Antenne für PsychoDramatik. Der Blick des Neuen musste es in sich gehabt haben, denn Lechners Miene gefror plötzlich. Er sagte nichts mehr und wartete, bis dieser Hendrik Frenzen endlich den Platz neben Ines ansteuerte. Direkt schräg vor mir! »Das wäre also geschafft«, sagte Lechner kühl und machte weiter im Unterricht – eine halbe Stunde noch bis zur großen Pause –, aber unsere Aufmerksamkeit war wie magnetisch auf
den Neuen gerichtet. Auch die Lechners, obwohl er kein einziges Mal zu ihm hinsah und jetzt wieder um seine übliche lockere Art bemüht war. Zu bemüht. In der Pause nahm Thilo den Neuen gleich etwas in die Mangel. Der lehnte neben dem Eingang, auf einem Bein stehend, das andere an der Mauer abgestützt. Seine ganze Haltung drückte Desinteresse an dem Pausenszenario auf dem Schulhof aus. »Gefallen wir dir nicht so richtig?«, startete Thilo seinen Angriff und baute sich vor ihm auf. Er ist einen Kopf größer als der Neue und trainiert in einem Fitnessstudio seine Muskeln. Wir hielten uns etwas im Hintergrund und stellten nur mäßige Neugier zur Schau, obwohl wir alle gespannt waren. »Bist du hier der Chef im Ring?«, fragte der Neue zurück, ohne seine Haltung zu verändern. Thilo hielt ihm die Faust vor die Nase. »Da, riech mal dran, dann weißte es!« Eine falsche Bemerkung vom Neuen und sie wäre wahrscheinlich mitten in sein Gesicht gedonnert. Doch der sagte ganz ohne Provokation: »Okay, Chef!« Dabei streckte er Thilo die Hand entgegen. Wir hielten die Luft an und warteten, was passieren würde. Ich hab Thilo selten so verblüfft gesehen. Sollte er jetzt in die hingehaltene Hand einschlagen oder sich doch lieber das Edelgesicht seines Gegenübers vorknöpfen? Er zögerte einen Moment, dann klatschte er die Handfläche des Neuen ab und sagte grinsend: »Okay, alles klar.« »Alles klar«, wiederholte der Neue und grinste zurück. Damit war das Eis gebrochen. Jedenfalls gab es erst mal keinen weiteren Stress zwischen den beiden. Mal abwarten, ob das schon alles war. Ich bin auch gespannt, wie Lechner sich weiter ihm gegenüber verhalten wird. Bis jetzt ist es selbst
Thilo noch nicht gelungen, Lechner zu provozieren. Und der Neue schafft das offenbar mit einem einzigen Blick! Es gibt ja auch so was wie spontane Antipathie, die man gar nicht so richtig begründen kann. Fürchtet Lechner vielleicht, dass der Neue mit seinem Edelgesicht ihm bei den Mädchen die Schau stehlen könnte? Die Haustür geht. Das muss Philipp sein. Ich werde mein Passwort wieder mal ändern müssen, damit er seine Nase nicht in meine Angelegenheiten stecken kann. Passwörter knacken ist das Hobby meines Bruders. Neulich hab ich ihn erwischt, wie er an meinem Laptop rumgemacht hat. Angeblich war sein PC gerade abgestürzt und er musste dringend an seine Mails. Er ist in letzter Zeit ziemlich neugierig und spioniert heimlich bei mir rum. Ich glaube, er braucht als Pubertierender ein paar Informationen, wie Frauen so »funktionieren«. Obwohl jede zweite Bemerkung von ihm »typisch Frau« ist. Mit seinen vierzehn Jahren ist er eben voll im Macho-Alter.
Hanno hat keine Lust, gleich nach der Schule nach Hause zu radeln. Dort hängt er dann bloß rum und kriegt schlechte Laune. – Wieso kriegt? Die hat er doch schon. Laura hat ihn vorhin abblitzen lassen. »Treffen wir uns heute Nachmittag?«, hatte er sie nach dem Unterricht gefragt. Sie hatte ihn auf die Antwort warten lassen und nachdenklich die Stirn gerunzelt, als müsste sie erst im Kopf ihren Terminkalender überschlagen. »Heute geht’s nicht.« Dabei sah sie dem Neuen nach, der auf einem silberfarbenen Moped davonrollte. »Toller Hecht«, sagte Hanno anzüglich. »Hm.« Tat Laura nur so, als hätte sie seinen spöttischen Ton nicht rausgehört? Dann stieg sie aufs Fahrrad, drehte sich vor
dem Abbiegen kurz noch mal um und winkte ihm zu. »Ciao, bis morgen!« Hanno beschließt, erst mal zum Stadtwald zu fahren. Dort tritt er kräftig in die Pedale. So kann er sich den Frust etwas abstrampeln. Er weiß einfach nicht, woran er bei Laura ist. Wenn sie zusammen sind, fühlt er sich wie unter der Wechseldusche. Sie muss doch merken, dass er in sie verliebt ist! Erst verabredet sie sich mit ihm und dann, wenn er einen Vorstoß wagt, schiebt sie den Riegel vor. ICH LIEBE DICH. Was würde passieren, wenn er das endlich über die Lippen brächte? »Ach du Armer!«, würde sie wahrscheinlich in so einem gespielt bedauernden Ton sagen. Oder vielleicht nur lachen? Ihr kurzes, helles Haha, wenn sie sich über etwas lustig macht. Und wenn er es einfach riskierte? Er hat Angst davor, von ihr zurückgewiesen zu werden. Hoffentlich kommt ihm jetzt der Neue nicht noch in die Quere! Dieser blasse Schönling. Laura schielte dauernd zu ihm hin, das hat er aus den Augenwinkeln beobachten können. Der soll nur vorsichtig sein! Wenn er sich für was Besonderes hält, kriegt er vielleicht doch noch Ärger. Wahrscheinlich will er mit seiner coolen Masche ja kompensieren, dass er nicht gerade wie ein Preisboxer aussieht. Er hat beinahe was Feminines an sich. Hoffentlich ist er schwul wie Pepe, wünscht sich Hanno, dann hätte er eine Sorge weniger in Bezug auf Laura. Dass der Neue gleich vor Thilo gekuscht hat, war jedenfalls klug von ihm. Thilo nimmt sich so smarte Typen wie den gerne mal vor. Reifeprüfung nennt er das. Doch der Neue scheint bei ihm schon bestanden zu haben. Bei Laura auch?
Hanno bremst ab und wendet. Nein, den Frust strampelt er sich heute auf dem Rad nicht runter. Also heimwärts und sich dem harten Leben stellen.
Die Wohnzimmertür steht offen. Hendrik hört den Fernseher laufen. »Hendrik, bist du’s?« Wer wohl sonst! Er wirft den Rucksack hin und geht hinein. Seine Mutter liegt auf der Couch. »Hallo, Mam«, sagt er lahm mit einem raschen Blick auf sie. »Wie war’s in der Schule?«, fragt sie. »Gut«, antwortet er knapp. »Gibt’s was zu essen?« »Machst du dir heute allein was? Mir geht’s noch nicht so gut.« »Immer noch deine Migräne?« Die hat sie schon wieder drei Tage! »Dann mach doch den Fernseher aus, damit du ‘n bisschen Ruhe kriegst.« »Ich hab gedacht, das lenkt mich etwas ab.« Wovon, braucht er nicht zu fragen. Das weiß er. »Okay, ich kann ja eine Dose Ravioli aufmachen. Willst du auch was?« »Danke, aber ich habe keinen Appetit.« Klar, bei den vielen Schmerzpillen, die sie schluckt! Er wärmt in der Küche die Ravioli auf, füllt zwei Teller, stellt sie aufs Tablett und geht damit ins Wohnzimmer zurück. »Hier, iss wenigstens ein paar Happen.« »Lieb von dir«, murmelt seine Mutter, setzt sich auf und nippt am Essen. Dann schiebt sie den Teller von sich weg. »Tut mir Leid, ich bekomme nichts runter.« Sie legt sich auf die Couch zurück. Hendrik setzt sich neben sie und sieht hilflos auf sie hinunter. »He, Mam…«
Sie dreht sich weg und drückt ihre Stirn auf das Wärmekissen. »Versuch etwas zu schlafen, ja?« Er steht auf, zieht die Vorhänge zu und stellt den Fernseher ab. Dann verharrt er einen Augenblick unschlüssig. Wieder spürt er diese Wut in sich hochkochen, auf seine Mutter und auf sich selbst. Diese Wut der Verzweiflung. Schließlich geht er hinaus. In seinem Zimmer hockt er sich an das offene Fenster und starrt in den Garten. Der Rhododendron blüht schon. Für die Jahreszeit ist es viel zu warm und zu trocken. Er springt vom Fensterbrett ab und wirft sich aufs Bett. Was soll er nur mit sich anfangen? Er hat zu nichts Lust. Doch statt den Nachmittag hier im Zimmer zu vergammeln, sollte er sich vielleicht aufraffen und weiter die Stadt erkunden. Viel davon hat er noch nicht gesehen. Das Viertel hier ist eher etwas langweilig, kleine Villen, gepflegte Vorgärten. Die Bewohner gut verdienender Mittelstand. Bevor er geht, schaut er noch einmal zu seiner Mutter rein. »Mam?« Sie antwortet nicht. Ist sie eingeschlafen? Das Tablettenröhrchen steht auf dem Couchtisch, daneben das Wasserglas und der Aschenbecher mit ein paar Kippen. Er horcht: Sie atmet regelmäßig. Leise schließt er die Tür hinter sich. Draußen schiebt er sein Moped die Auffahrt bis zur Straße hinunter, sitzt auf, gibt Gas und knattert los.
Hanno öffnet den Kühlschrank. Nur Milch, ein Ei und zwei Scheiben Käse, sonst nichts. Sein Vater hat schon wieder nicht eingekauft. Dabei ist er dran, wenn seine Mutter abends noch zum Lehrgang muss. Hannos Laune sinkt auf den Nullpunkt. Er trinkt die Milch direkt aus der Tüte und schlingt die zwei
Scheiben Käse ohne Brot hinunter. Dann geht er in sein Zimmer, legt eine CD ein und lässt sich berieseln. When I need you, I just close my eyes and I’m with you. Die Augen schließen, um mit ihr zusammen zu sein, das ist ihm auf die Dauer zu wenig. Aber für den Moment besser als nichts. Er driftet in seine Phantasien ab. Und die heißen Laura. Später holt er sich einen Döner im Istanbul. Dann setzt er sich an den PC, um mit der Geschichtsarbeit anzufangen. Über Formen des Terrors sollen sie sich Gedanken machen. Sie brauchen sich dabei nicht auf die Gegenwart zu beschränken, Terror hat es auch in anderen historischen Epochen und Gesellschaftsformen gegeben. Bis zu den Sommerferien haben sie Zeit mit der Abgabe. Soll er auch über den 11. September schreiben? Der Tag des Anschlags auf das World Trade Center in New York. Dafür haben sich schon etliche aus dem Kurs entschieden. Für ihn haben die Bilder immer noch etwas Unwirkliches. Er hatte nach der Schule gerade den Fernseher eingeschaltet, um eine Sportsendung zu sehen, als das laufende Programm unterbrochen wurde und diese kaum zu glaubenden Bilder kamen: Ein Flugzeug nimmt Kurs auf einen der beiden Türme zu, die Explosion, die Flammen, der Rauch, der gespenstische Einsturz. Das gleiche grausige Szenario wenige Minuten später: Der zweite Turm stürzt in sich zusammen. Es war damals, als funktionierte die Leitung zu einer wichtigen Schaltzentrale in seinem Gehirn nicht. Er registrierte zwar, was dort auf dem Bildschirm geschah, und auch die Sätze dazu kamen irgendwo bei ihm an, doch wie über eine lange Umleitung. Und statt des Grauens spürte er zunächst etwas anderes, etwas wie Faszination, Gänsehaut: Das passiert doch nicht wirklich! Das ist ein Fake! Sabotage im Sendezentrum. Einer hat einen Sciencefiction-Streifen eingelegt, um die Welt zu schocken.
Dann mit den herangezoomten Bildern kam das Grauen. Er sah Menschen von den Fenstern der Stockwerke abspringen, sah das Fallen an den Wänden entlang, das kein Ende zu nehmen schien. Für ihn nicht, in seinem Sessel vor dem Fernseher. Und für die, die dort in den Tod stürzten? Existierte für sie in dem Moment noch die Zeit? Fühlten sie noch etwas? Entsetzen? Todesangst? Hatten sie noch einen Gedanken? Das eigene Leben spult sich in den letzten Sekunden vorm Tod wie ein Film im Zeitraffer vor einem ab, hat er mal irgendwo gelesen. Rückwärts, bis hin zum Augenblick der Geburt. Das waren ihre letzten Sekunden! Und vor dem Aufprall? Würden sie vor dem Aufprall wenigstens bewusstlos? In den Tagen nach dem Anschlag war der 11. September das einzige Thema gewesen. Fast dreitausend Tote unter Schutt und Asche. Darunter Feuerwehrleute, die beim Einsatz ums Leben gekommen waren. Menschen mit Fotografien von Verwandten und Freunden, die sie vermissten und die wahrscheinlich unter den Trümmern begraben lagen. Die dunkle Wolke über Manhattan, tagelang. Und immer wieder die Bilder der einstürzenden Türme. Die Fernseher liefen damals heiß. Auf allen Kanälen Expertenrunden. Alle waren sich einig: Dies ist eine neue Dimension des Terrors. Seither ist Terror ein tagtägliches Nachrichtenthema. Selbstmordattentate, Geiselnahmen, Enthauptungen vor laufender Kamera – alle Tabus sind gebrochen. Hanno grübelt. Soll er darüber schreiben? Wenn er versucht sich damit auseinander zu setzen, fühlt er sich wie in einem unheimlichen Dschungel, aus dem kein Pfad herausführt. Was geht eigentlich in ihm vor, wenn er die Abendnachrichten hört und die Toten des jeweiligen Tages in einer Zahl
zusammengefasst werden? Zehn, fünfzig, Hunderte. Was bewirkt das bei ihm? Er zwingt sich diesem Gedanken nachzugehen und dabei so ehrlich wie möglich zu sein. Schrecklich, denke ich und spüre einen Augenblick lang das Entsetzen und meine eigene Angst. Aber dann folge ich dem Nachrichtensprecher, der zum nächsten Thema übergeht. Sport, Wetterbericht. Schotte ich mich ab oder schütze ich mich nur, wenn ich die Toten dieses Tages beim spannenden Abendkrimi schon irgendwo in meinem Gehirn »abgespeichert« habe, wo sie nicht stören? Das Argument, mit dem auch ich mich rechtfertige: Das Leben muss ja weitergehen. Es sind zu viele Tote jeden Tag. Es sind nicht »meine« Toten, ich habe diese Menschen nicht gekannt. Ich weiß nichts von ihrem Leben, ihren Gedanken und Gefühlen. Sie stehen nicht mehr auf und erzählen ihre Geschichte. Einzelne hebt die Kamera für Augenblicke aus der Anonymität der Zahlen heraus: ein lebloses Kind auf dem Arm seines Vaters, ein junges Mädchen, blutüberströmt auf einer Bahre, eine Frau, die sich verzweifelt an einen Sarg klammert. Was spüre ich? – Mitleid. Und hilflose Wut. Aber dann sind die Bilder schon wieder ausgewechselt. Schumacher siegt in Monte Carlo. Und der Sekt sprudelt aus der Flasche. Und die Täter? Töten ist unmenschlich. Wie stark also muss der Hass sein, wenn man sich dazu entschließt? Der Terror hat viele Wurzeln. Für die meisten muss dieser eine Begriff herhalten: Dschihad, der Heilige Krieg. Alle Kriege sind unheilig. Als Hanno mit seinem Vater darüber diskutieren wollte, dass auch Armut und Ausbeutung Formen des Terrors sind und ihrerseits wieder Terror erzeugen, blockte der ab. »Klopf doch keine Sprüche. Würdest du den Wohlstand, in dem du leben kannst, denn wirklich teilen, wenn’s drauf ankommt?«
Neulich auf dem Parkplatz des Supermarkts haben sie auf der Heckscheibe einer geparkten Luxuslimousine in Großdruck gelesen: Armut ist ätzend, Armut ist hässlich!! »So ein Scheißtyp!« Hanno versetzte der Scheibe einen Schlag mit der Faust. Sie blieb heil. Wahrscheinlich Panzerglas! »Bist du verrückt?«, hat sein Vater geschimpft. »Lass das! Jeder Schwachkopf kann bei uns eben seine Meinung äußern. Daran änderst du auch nichts, wenn du zuschlägst. Wir leben schließlich in einer Demokratie.« »Dem Idioten sollte man wenigstens die Luft aus den Reifen lassen, wenn man ihn schon nicht am Luftholen hindern kann. Messer rein und zisch!« »Und was kommt als Nächstes? Amoklauf? Bomben werfen?« Sein Vater sieht ihn wohl auch eines Tages als Terroristen enden und das große Inferno inszenieren. Er könnte ihn da beruhigen, aber sein Vater hört ihm ja nicht zu. Hanno fährt den PC runter. Nein, heute wird das noch nichts mit der Geschichtsarbeit. Er schaut auf die Uhr. Gleich vier. Soll er doch noch bei Laura vorbeifahren? Heute nicht, hat sie gesagt. Und warum nicht? Vielleicht kriegt er ja raus, was sie heute Nachmittag vorhatte.
Drei Neuzugänge in der Theater-AG. Wegen Lechner? Er ist eben das Schmuckstück des gesamten Lehrkörpers. Oder besser: der gesamten Lehrerkörper. Ein Bild von einem Mann, wie Mama sagen würde. Als er vor einem halben Jahr an unsere Schule kam, war er tagelang das einzige Pausenthema. Das hat sich gelegt. Doch ein Teil der weiblichen Schülerschaft stellt immer noch wer weiß was an, um ihm möglichst oft über den Weg zu laufen. Und einige Jungen
ziehen in seinen Stunden irgendwelche Macho-Nummern ab, so ein typisches Männchen-Imponiergehabe. Vor Goldis Herzinfarkt, als wir nur Musik bei Lechner hatten, war sein Kurs hoch frequentiert. Hauptsächlich Sopranund Altstimmen! Doch er weicht all unseren weiblichen Anmach-Versuchen freundlich-geschickt aus. Auch mein ganz unfreiwilliger Striptease heute in der Theater-AG hatte keine erkennbaren Auswirkungen auf sein Hormonsystem. Er blieb dabei reichlich unterkühlt. Goldi hatte mit uns zusammen Kleists Erzählung Die Marquise von O. in eine Bühnenfassung umgearbeitet. Einige fanden den Stoff zwar todlangweilig und nicht mehr zeitgemäß, aber ich selbst war dafür. Hauptsächlich deswegen, weil ich mir die Rolle der Marquise gegen meine Konkurrentin Ines mit knapper Mehrheit gesichert hatte. Lechner schlug in der heutigen Probe vor, eine Szene daraus zu spielen, damit er sich ein Bild von unseren schauspielerischen Fähigkeiten machen könnte. Alle wussten natürlich gleich welche: die, in der die Marquise halb ohnmächtig in die Arme des Grafen von M. sinkt, der sie vor einer Horde marodierender Soldaten beschützt. (Um sie dann selbst zu schwängern! Aber das natürlich hinter den Kulissen.) Nur Ines war nicht einverstanden. Kleist wäre es in seiner Erzählung hauptsächlich um die Entlarvung der prüden bürgerlichen Moral seiner Zeit gegangen. Sie schlug deshalb die Szene vor, in der die Eltern ihre Tochter verstoßen, weil sie ein uneheliches Kind erwartet. Brav, Ines! Aber wir wollten lieber Action als verstaubte Moral. Und legten gleich los. Die Soldaten sprangen also auf mich zu und fielen über mich her. Nach Goldis dramaturgischer Anweisung sollten sie mir zwar etwas auf den Leib rücken, nicht aber direkt an die Wäsche gehen. Doch plötzlich machte es ratsch und der
Reißverschluss meiner knallengen lila Strickweste stand bis zum Bauchnabel offen. Darunter: ein Hauch von Nichts. Sollte ich zuerst meine Blöße bedecken und Bastian dann eine runterhauen? Oder umgekehrt? Also, ich hab kein großes Drama draus gemacht und es einfach ordentlich blitzen lassen! Das war doch mal eine modernere Variante als die von Goldi autorisierte! Auf die Ohrfeige für Basti habe ich verzichtet, das hätte die Szene zu sehr verfremdet. Tim, der den Grafen M. spielte und als mein rettender Engel herbeisprang, um mich zu beschützen, fielen fast die Augen aus dem Kopf und direkt auf meinen sehr knappen schwarzen Spitzen-BH. Eine Neuerwerbung von H&M. Er schluckte so heftig, dass sein Adamsapfel hüpfte, dann kicherte er hysterisch und ich musste mir alle Mühe geben, die Szene zu retten und gekonnt in Ohnmacht zu fallen. Ich hing also leblos in Tims Armen, doch er konnte mich vor lauter Gekicher nicht halten und legte mich einfach auf dem Boden ab. Ich verharrte trotzdem weiter in Ohnmacht und stellte mir dabei Ines’ moralinsaure Miene vor. »Jetzt schwängere sie endlich!« Das war typisch Thilo. Ein paar johlten. Lechner sagte nur kühl: »Ich wusste gar nicht, dass die Novelle von Kleist so ausbaufähig ist.« Daraufhin schlug ich die Augen auf und sah ihn scharf an. Keine Spur von einem Adrenalinstoß bei ihm. Ich konnte den Reißverschluss meiner Strickweste also getrost wieder zuziehen. Ach ja, kurz noch zu Hendrik. Er ist einer der Neuzugänge in der AG. Aber bestimmt nicht wegen Lechner! Das Klima zwischen den beiden ist nach wie vor auf so eine unheimlich schweigsame Art gereizt. Es scheint, als ignorierten und belauerten sie sich gleichzeitig.
Hendrik stand nach der Szene immer noch in seiner Lieblingspose da: an die Wand gelehnt, ein Bein leicht vors andere gestellt. Doch so entspannt, wie er vorgab, war er wohl nicht. Ich sah, dass er Lechner beobachtete. Er muss meinen Blick gespürt haben. Jedenfalls starrte er plötzlich auf irgendeinen Punkt an der Decke. Wie finde ich Hendrik überhaupt? Wenn ich das wüsste! Er ist ja erst seit zwei Wochen bei uns. Abgesehen von der offensichtlichen Abneigung gegen Lechner verhält er sich unauffällig, also ganz normal. Trotzdem hab ich das Gefühl, als wäre so was wie eine Glaswand zwischen ihm und uns anderen. Kontakt ja, aber bitte nicht zu nah treten. Und keinesfalls berühren! Man kommt nicht wirklich an ihn ran. Was also ist mit Hendrik Frenzen? Oder dichte ich ihm nur so eine geheimnisvolle Aura an?
Inzwischen kennt Hendrik sich in der Stadt ganz gut aus. Mit seinem Moped hat er auch schon einige Vororte erkundet. Der Stop-and-go-Verkehr im Zentrum nervt ihn heute. Da kann er nicht richtig durchstarten. An einem Verkehrskreisel biegt er ab, fährt auf den Zubringer Richtung Autobahn und dreht das Gas auf. Erst mal querfeldein und Ausschau halten nach einem Gelände, das sich als Übungspiste eignet. Im letzten Jahr hatte er seine freie Zeit meistens auf dem Motocross-Platz verbracht. Eine echte Profistrecke, auf der er Sprünge von beachtlicher Weite schaffte. Aufdrehen, voll auf die Rampe zu und dann abheben! Seine Landungen waren meist vorbildlich wie mit einem Gleitschirm. Auf der Brücke über der Autobahn stoppt er. Von hier oben hat er einen guten Überblick. Ungefähr dreihundert Meter Luftlinie entfernt liegt eine Kiesgrube. Sie sieht verlassen aus.
Eine Baracke, ein Bagger, doch niemand, der dort arbeitet. Da wird er es gleich versuchen. Er lehnt sich über das Geländer und sieht eine Weile dem fließenden Verkehr zu. Ob die da unten alle an ihr Ziel kommen? So ein Sekundenschlaf und aus ist es. Du merkst nicht mal richtig was davon. Und ab sofort brauchst du keine Angst mehr zu haben. Nicht vorm Sterben, das hast du dann hinter dir, und vorm Leben erst recht nicht. Doch er, er hat keine Angst. Vor nichts mehr. Wenn er mit der Maschine so durch die Luft segelt, das ist Spaß pur! Und dabei behält er alles unter Kontrolle. Alles! Wirklich alles? Ja. Und keiner stellt ihm mehr irgendwelche Fragen. Längst nicht mehr. »Wie ist das passiert? Red doch. Du warst doch dabei!« Auch seine Eltern fragen nichts mehr. Es war ein Unfall, soll Wailand später auch vor den deutschen Behörden ausgesagt haben. Doch zunächst waren sie beide noch in derselben Nacht von der korsischen Polizei vernommen worden. Einer der Beamten sprach ganz gut Deutsch. Hendrik verstand zwar jede Frage, doch etwas in ihm weigerte sich, auch den Sinn zu begreifen. Wailand antwortete für sie beide. Er hörte die Wörter Leichtsinn und Unfall heraus und spürte Wailands Blick auf sich: Hüte dich! Du kannst von Glück sagen, dass ich nicht auspacke. Aber Wailands Wahrheit ist nicht seine eigene. Seine Wahrheit ist eingemauert in Lisas Grab. Sie kann sich nicht befreien. Sie kann nicht ans Licht. »Der Junge steht noch unter Schock«, vermutete der Kripobeamte. »Wir müssen ihn schonen.« Seine Eltern schickten ihn Wochen später zu einem Psychologen. »Wenn du über das, was passiert ist, nicht reden kannst, versuch es aufzuschreiben«, schlug Dr. Stern ihm vor.
Sie hat einen falschen Schritt gemacht. Nur diesen einen Satz hatte er aufgeschrieben. Danach war er nicht mehr in die Praxis gegangen. Zu Hause herrscht seither Schweigen über das, was geschehen ist. Keine Fragen mehr. Und niemand spricht mehr Lisas Namen aus. Er ist mit einem Tabu belegt, damit der Alltag funktioniert. Stattdessen die Arbeitswut seines Vaters. Und alle vier Wochen die Migräne seiner Mutter. Schließlich der Umzug hierher. Seine Eltern verkauften das Haus in L. »Als Bezirksleiter in B. verdiene ich mehr, wir können uns dort ein größeres leisten«, hatte sein Vater erklärt. »Außerdem sind wir dann ganz in der Nähe von Oma.« Aber das war nur ein Vorwand. Sie alle kennen den eigentlichen Grund für den Umzug: Das heimliche Gerede in dem kleinen Nest. Doch vor allem das anklagende Schweigen von Lisas Eltern. Sie waren ja Nachbarn und miteinander befreundet gewesen. Er wird das Poster wieder in seinem Zimmer aufhängen: Erinnert ihr euch noch? Das ist Lisa. Das war Lisa. Hinter der Brücke biegt Hendrik ab und fährt auf die Kiesgrube zu. Das Gelände scheint wirklich ganz brauchbar zu sein. Er dreht ein paar Kurven, testet die Piste, dann gibt er Gas und lässt den Motor aufheulen. Der Kies spritzt unter den Rädern weg und er kommt ins Rutschen. Doch sofort hat er alles wieder im Griff. Alles!
Genau um fünf Uhr wählt Hanno Lauras Nummer. Nach dem dritten Läuten hebt jemand ab. »Von Osten.« Lauras Mutter. Hanno hat gehofft, dass Laura selbst ans Telefon kommt. Sie kann sich doch denken, dass er das ist! »Du kannst ja mal gegen fünf anrufen«, hatte sie nach dem Unterricht gesagt und
war losgeradelt. »Hanno Bertram. Kann ich bitte Laura sprechen?« »Tag, Hanno. Tut mir Leid, Laura ist nicht da. Aber versuch’s doch mal auf ihrem Handy.« Soll er jetzt fragen, wo sie ist? Geht ihn das was an? »Danke. Die Nummer hab ich ja«, sagt er, zögert aber aufzulegen. Lauras Mutter scheint zu merken, dass er noch Genaueres erfahren möchte. »Ich weiß nicht, wo sie steckt. Ich bin gerade erst nach Hause gekommen. Jedenfalls ist ihr Fahrrad nicht da.« »Danke. Ich werde es dann mal auf ihrem Handy probieren. Tschüss.« »Tschüss, Hanno.« Er legt auf. Was jetzt? Wahrscheinlich landet er nur auf Lauras Nachrichtenbox: Alle guten und auch alle Hiobsbotschaften bitte in Kurzfassung meiner Box anvertrauen. Jede wird garantiert mit SMS oder Rückruf beantwortet. Danke. Soll er sich den Frust antun? Doch dieses ungewisse Nagen ist genauso frustrierend. Wenn sie nicht selbst drangeht, weiß er zumindest, dass sie im Moment nicht gestört werden will. Wer weiß, warum nicht! Seine Hände sind schwitzig, als er ihre Nummer wählt. Laura meldet sich nicht und auch ihre Nachrichtenbox ist ausgeschaltet. »Der gewünschte Teilnehmer ist nicht erreichbar. Bitte rufen Sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder an«, hört er die automatische weibliche Service-Stimme des Netzanbieters. Nach einer halben Stunde versucht er es erneut. Diesmal ist Laura sofort dran. »Ach, du, Hanno! O Mann, fünf Uhr, das hatte ich glatt vergessen!«
Hanno glaubt ihr nicht. Wahrscheinlich macht sie sich nur über ihn lustig! Soll er einfach auflegen? Schließlich ist er nicht ihr Dackel! Oder doch? Lieber leidet er wie ein Hund, als dass er das Gespräch jetzt abwürgt. »Wo bist du denn?« »Zu Hause.« »Seit wann?« »Seit einer halben Stunde, Herr Kriminalkommissar.« »Ha-ha! Der Witz ist alt.« Er versucht, es spöttisch klingen zu lassen. Kann er was dafür, dass sein Vater bei der Polizei arbeitet? Hauptkommissar Bertram, Abteilung Kripo. »Wo warst du denn vorhin?« Sie hat ja Recht, er schnüffelt wirklich in ihrem Privatleben wie einer von der Kripo. »Rate mal.« »Bei…« Er zögert bei diesem Milchbubi Hendrik zu sagen. »Beim schönen Hendrik?« »Leider daneben, er hat mich bisher noch nicht zu sich eingeladen. Aber was nicht ist…« Vielsagende Pause. Will sie ihn jetzt provozieren? Warum kann sie nicht mal ernst sein? Oder hat sie das etwa ernst gemeint? Er ärgert sich, dass er überhaupt gefragt hat. »Na, hoffentlich gibt er sich bald die Ehre!« Das sollte gleichgültig klingen, aber es hörte sich wohl eher sarkastisch an. »Ach, komm, sei nicht gleich sauer. War doch nur ein Scherz«, sagt sie in so einem tröstenden Ton. Sofort lenkt Hanno ein. »Können wir uns gleich noch irgendwo treffen?« »Na ja«, sie überlegt kurz, »warum nicht? In einer halben Stunde im Ambiente?« »In zwanzig Minuten. Ich bin jetzt nämlich beflügelt!« Sie lacht. »Nichts ist schöner als fliegen. Schon ausprobiert?« »Klar. Ich schwebe gerade einen Zentimeter über dem Boden.« Und das trifft es im Moment genau!
»Hört sich aber so an, als wärst du mindestens schon im zwanzigsten Stockwerk«, sagt sie lachend und legt auf. Hanno sprintet in sein Zimmer hinauf, nimmt ein frisches TShirt aus der Schublade und verschwindet im Bad. Er spritzt sich etwas Wasser ins Gesicht, zieht das T-Shirt über und wirft einen kritischen Blick in den Spiegel: ganz passabler Typ, der ihm da entgegensieht. Und wenn er erst mal knackig braun ist… Der Sommer verspricht sehr heiß zu werden. Ein heißer Liebessommer. Ja, so was wünscht er sich. Bei dem Gedanken läuft ihm ein leiser Schauer über die Haut und seine Flimmerhärchen richten sich auf. Ob er Laura überreden kann in den Ferien ein paar Tage mit ihm zusammen was zu unternehmen? Vielleicht mal nach Paris fahren? Noch besser wäre natürlich eine einsame Insel für zwei Personen ohne Fluchtweg! Ich muss dich leider in Gewahrsam nehmen, Laura von Osten. Was habe ich denn verbrochen? Du machst mich total crazy. Darauf steht Höchststrafe. Lebenslängliche Liebe. Halt jetzt mal die Luft an! Knall nicht gleich durch!
Hanno hat mal wieder versucht mich anzumachen. Echt süß. Er muss wirklich zum Ambiente geflogen sein! Jedenfalls saß er schon auf der Terrasse und sah vor lauter Warten ganz mitgenommen aus, als ich ankam. Erst mal hat er mich natürlich damit gelöchert, wo ich heute Nachmittag gewesen bin. Wo schon! Die meiste Zeit zu Hause, um endlich das Chaos in meinem Zimmer zu lichten. Danach war ich noch in der Bücherei. Ob er’s mir geglaubt hat? Jedenfalls hat er mich dabei mit seinem Röntgenblick fixiert: Lügt sie vielleicht?
Doch ich hab nur unterschlagen, dass ich auf dem Weg zur Bücherei Hendrik getroffen habe. Er knatterte auf seinem Moped über den Ringplatz, stellte es vor dem Fotogeschäft ab und verschwand im Laden. Ich wartete im Hinterhalt – warum, weiß der Himmel! – und als er rauskam, fuhr ich mit dem Rad ganz zufällig vorbei, stoppte und tat überrascht ihn zu treffen. Er war offenbar wirklich überrascht. Wir hatten bisher ja noch nicht so viel miteinander zu tun gehabt und im ersten Moment waren wir beide etwas verlegen. »Hallo! Nett, dass man sich mal privat trifft«, sagte er dann aber ganz locker und ich fand das natürlich auch nett. Er ließ das Moped stehen und kam die paar Schritte zur Bibliothek mit. Er hätte ohnehin vorgehabt sich dort etwas umzusehen. Nachher haben wir in der Cafeteria der Bibliothek noch eine Cola getrunken und ein bisschen Smalltalk gemacht. Er kann ganz witzig und schlagfertig sein. Von sich selbst gibt er aber nicht viel preis. Sein Vater hat hier einen neuen Job bekommen, darum mussten sie umziehen. Sie wohnen nur zwei Straßen von uns entfernt. Geschwister hat er nicht. Die Schule? Findet er ganz okay. Und den Lechner? Ich wollte einfach mal wissen, was er gegen ihn hat. »Wie findest du ihn denn?«, hat er nur gegengefragt und mich dabei regelrecht fixiert. »Du meinst wohl, ob ich in ihn verknallt bin?« Und er darauf: »Bist du?« »Ich könnte für ihn sterben«, hab ich theatralisch geantwortet. Hat er das etwa geglaubt? Er kriegte jedenfalls so einen ganz merkwürdigen Blick. Wie versteinert. Doch dann wechselte er plötzlich das Thema und fragte im Gegenzug mich etwas aus. Als er hörte, dass Papa Bürgerschaftsabgeordneter ist, pfiff er anerkennend durch die Zähne. Doch ich hatte das Gefühl, als
machte er sich gleichzeitig etwas darüber lustig: Ah, dein Vater ist also ein hohes Tier in dieser Stadt! Dabei hat Papa sich vom Verwaltungsangestellten zum Abgeordneten ganz allein hochgearbeitet. Mama ist stolz auf ihn, obwohl sie wegen der vielen Verpflichtungen, die sie jetzt oft durch Papas Job hat, manchmal stöhnt. Als wir zum Ringplatz zurückgingen, fing Hendrik ganz unvermittelt noch mal von Lechner an. Dass er an der Schule wohl ziemlich beliebt sei. »Hauptsächlich bei den Schülerinnen«, hab ich ihn aufgeklärt. »Doch bei dem kann bestimmt keine landen. Es sei denn, da läuft vielleicht geheim was. Aber das würde man irgendwann doch rauskriegen.« Dabei beobachtete ich von der Seite seine Reaktion. Sein Gesicht hatte jetzt so was Lauerndes. Er scheint sich offenbar brennend für Lechner zu interessieren. Aber im negativen Sinn. »Jeder ist verführbar«, sagte er auf einmal leise. Dann lachte er plötzlich auf. »Du hättest bestimmt Talent zum Verführen.« Spielte er etwa auf meine Oben-ohne-Szene in der TheaterAG an? »Soll das jetzt eine Wette zwischen uns sein?«, fragte ich. Und er: »Warum nicht?« Ich spürte, wie er mir dabei einen raschen Seitenblick zuwarf. Meinte er das etwa ernst? »Komm, lass stecken!«, sagte ich nur und damit war das Thema beendet. Als wir auf dem Ringplatz bei seinem Moped ankamen, schlug er, wir könnten uns ja mal treffen, wenn ich Lust hätte. Das klang so, als wäre ihm wirklich was daran gelegen. »Warum nicht?«, sagte ich vage und stieg aufs Rad. Obwohl wir den gleichen Weg hatten, kam er nicht mit. Er hätte noch was vor, sagte er genauso vage. Was? Natürlich hab ich nicht gefragt.
Ich hab Hanno deswegen nichts davon gesagt, dass ich Hendrik getroffen hab, weil ich ihn schonen wollte. Ich weiß ja, dass er in mich verknallt ist und in Hendrik einen Konkurrenten wittert. Nachdem wir unsere Apfelschorle im Ambiente getrunken hatten, schlug Hanno noch eine Kahnpartie im Stadtgarten vor. Wie romantisch! Ich habe ihn aber nicht damit aufgezogen. Eigentlich ist das ja ein ganz schönes Gefühl, wenn jemand in einen verliebt ist. Nur dass Hanno wohl mehr will als Händchen halten. Doch mehr will ich erst mal nicht. Aber beim Rudern hatte er sowieso alle Hände voll zu tun, um den Kahn zu manövrieren. Auf der Heimfahrt kam er noch bis an die Haustür mit. »Warum ist Hanno denn nicht mit reingekommen?«, wollte Papa wissen. Er hat ein Faible für ihn: netter Bursche! Wahrscheinlich sähe er es gern, wenn wir richtig miteinander gingen, wie Mama das nennt. »Es ist ja schon neun Uhr. Die Zeit für so einen späten Besuch ist noch nicht reif«, habe ich etwas sibyllinisch auf Papas Frage geantwortet und Philipp hat einen Lachkrampf gekriegt. Wenn ich die beiden H mal miteinander vergleiche – sie könnten unterschiedlicher gar nicht sein: – Hanno ist total lieb und trägt sein Herz auf der Zunge. – Hendrik hat die Aura eines Geheimnisträgers.
Hendrik versucht, sich leise an der angelehnten Wohnzimmertür vorbei die Treppe hinaufzuschleichen. Doch seine Mutter hört ihn trotzdem. »Hattest du einen schönen Nachmittag?«, ruft sie und kommt an die Tür. »Hm, war ganz gut.« »Hast du schon Freunde gefunden?«
Was soll er darauf antworten? Am besten das, was sie gern hören würde. »Es gibt ein paar ganz nette Leute an der Schule«, sagt er ohne große Überzeugung. »Wenn du sie einladen möchtest, so zum Einstand…«, schlägt seine Mutter zögernd vor. »Mal sehen.« Hendrik beeilt sich in sein Zimmer zu kommen. Seine Eltern warten darauf, dass sich allmählich sein Leben – und damit auch ihres – wieder normalisiert. Und sie alle sind ja auch auf dem Weg dahin: Der Smalltalk klappt inzwischen doch schon wieder ganz gut. Bald wird er drüber weg sein, hoffen sie. Zur Normalisierung des Lebens gehören eben auch Freunde. Am besten wäre natürlich eine Freundin, ein nettes Mädchen, das ihn auf andere Gedanken bringt. Er schaltet das Licht in seinem Zimmer nicht an. Im Dunkeln streift er die Schuhe ab und wirft sich aufs Bett. Fast eine halbe Stunde bleibt er so liegen. Es war reiner Zufall, dass Laura ihm heute über den Weg gelaufen ist. Ausgerechnet sie, die ihn in ihrer Art jeden Tag stärker an Lisa erinnert. Ihr kurzes, helles Lachen, der manchmal nachdenkliche und dann wieder leicht spöttische Blick. Seit Lisas Tod hat er kaum mehr mit einem Mädchen gesprochen. Wozu auch! Er traut keiner mehr. Er wird sich nie mehr verlieben. Er will sich nie mehr verlieben. Ganz allmählich wird auch Lisas Bild in ihm verlöschen wie eine verblassende Fotografie aus fernen Tagen. Er wird seltener an sie denken, vielleicht irgendwann gar nicht mehr. Nein! Sie wird ihn nie loslassen! Er hätte sich für Lisa rächen sollen. An Wailand, der war doch der Schuldige! Warum hat er es nicht getan? Weil Wailand ihn gedeckt hatte? Ein Unfall. Es war ja ein Unfall gewesen! Aber der ging allein auf Wailands Konto.
An diesem Punkt muss er abschalten, wenn er nicht durchdrehen will. Abschalten und einfach weitermachen mit dem Leben! Doch wie? Wie diese beiden unvereinbaren Bilder von Lisa loswerden? Seine Lisa ist makellos, ein heiliges Bild unter Glas, das niemand antasten darf. Mit der anderen Lisa will er nichts zu tun haben. Die muss endlich aus seinem Kopf raus! Die darf es für ihn nicht gegeben haben, wenn er drüber hinwegkommen soll. Er steht vom Bett auf, knipst das Licht an, greift nach der Papprolle im Regal und zieht das Foto von Lisa heraus. Er hat es damals zum Poster vergrößern lassen und ihr einen Abzug geschenkt. Sie hat einen falschen Schritt gemacht. Nachdem er das letzte Mal bei dem Psychologen gewesen war, hat er das Foto von der Wand genommen und in die Papprolle gesteckt. Seither hat er es nicht mehr angesehen. Hendrik rollt das Poster aus und beschwert es an den Ecken: Lisa auf dem Felsen am Strand. Das Meer dahinter entflammt vom Abendhimmel. »He, Lisa! Cheese!« Sie wandte den Kopf rasch zu ihm um. Klick! Genau den Moment hatte er festgehalten: die fliegende Mähne, das Blitzen in den Augen, das kleine, leichte Lächeln. Dort am Strand hatte er sie zum ersten Mal berührt. Seine und ihre Eltern hatten in den Ferien gemeinsam ein Haus auf Korsika gemietet. Es lag oben am Hang über einer einsamen Bucht. Dicht blühende Macchia überall, ein kleiner Trampelpfad führte bis hinunter zum Strand. Dort am Meer waren sie meistens, während ihre Eltern mit dem Auto die Insel erkundeten. Das Jahr darauf machten sie mit Wailand eine Klassenfahrt nach Korsika. Er unterrichtete bei ihnen Sport und Deutsch. Auf den ausgedehnten Wanderungen lernten sie die Insel doch
noch kennen. Wenn sie dann abends ziemlich geschafft in ihrem Quartier ankamen, ließ Wailand den Tag meistens literarisch ausklingen, indem er ihnen was vorlas. Hendrik rollt das Poster wieder zusammen und steckt es in die Papprolle zurück. Er setzt sich an den Schreibtisch und fährt den PC hoch. Aus seiner Jeanstasche holt er die Visitenkarte. Sie ist Laura in der Bibliothek aus einem Buch gerutscht. Wahrscheinlich hatte sie das Kärtchen als Lesezeichen benutzt. Blitzschnell hat er sich gebückt und es eingesteckt. Eine Weile starrt er abwesend auf den Bildschirm, dann legt er einen neuen Ordner mit dem Buchstaben L an und speichert Lauras Telefonnummer und E-Mail-Adresse darin ab.
»Natürlich, ihr jungen Leute wisst ja, wie man die Welt verbessern kann! Ihr glaubt immer, es gibt nur eine Wahrheit. Und die habt ihr gepachtet.« Die Stimme von Hannos Vater klingt gereizt. »O Mann! Nicht schon wieder diese Platte!« Hanno knallt das angebissene Brötchen auf den Teller, verdreht die Augen und kippelt mit dem Stuhl. »Verdammt noch mal! Kann man nicht wenigstens am Sonntag in Ruhe frühstücken?« Seine Mutter springt genervt auf, räumt klirrend ihr Gedeck in die Spüle und verlässt türenschlagend die Küche. »Da hast du’s wieder!«, sagt Hannos Vater vorwurfsvoll. Leck mich doch! – Hanno schluckt es gerade noch runter. »Klar, alles mal wieder meine Schuld! Kapierst du überhaupt, worum es geht?« »Jetzt reicht’s aber, mein Herr Sohn, ja? Wir Alten dürfen die Brötchen für euch verdienen, aber natürlich sind wir nur Analphabeten. Haben keine Ahnung!«
»Ach, hör doch auf zu nerven!« Hanno setzt klirrend die Tasse ab und springt auch auf. Bloß weg hier, bevor sein Vater komplett ausrastet! »Wohin willst du denn?«, ruft seine Mutter ihm von der Terrasse aus nach, als er sich draußen aufs Fahrrad schwingt. »Auswandern!« »Im Jogginganzug? Und ausgerechnet am Sonntagmorgen?« Hanno grinst und winkt ihr zu. Seine Mutter ist schon in Ordnung. Ganz humorig und nie lange sauer. Am Gartentor zögert er kurz. Wohin jetzt? Dann biegt er in die stille Wohnstraße ein. Er fühlt sich zur falschen Zeit in den falschen Klamotten am falschen Ort. Hübsche Gärtchen und blanke Fenster mit sauberen Häkelgardinen überall. Und dahinter? Friede, Freude, Eierkuchen? Oder Mord und Totschlag? Nein. Doch nicht in ihrer Reihenhaus-Idylle! Am Sonntagmorgen um neun Uhr ist die Welt hier garantiert noch in Ordnung. Nur sie sind die Ausnahme. Und jetzt hat er keinen Cent in der Tasche und noch nicht mal ein Frühstück im Magen. Und alles wegen dem Buch, das er gestern bei der Aufräumaktion aus dem Altpapier gefischt hat. Ein Journalist berichtet darin über die RAF, eine linksextreme terroristische Vereinigung aus den Siebzigerjahren der Bundesrepublik. Was für ein Theater sein Vater deswegen gemacht hat! »Weg damit! Das taugt doch nichts! Das ist nicht objektiv!« »Und warum hast du es dann gekauft und gelesen? Dein Name steht jedenfalls drin.« Sein Vater guckte nur säuerlich und antwortete nicht. Da wurde Hanno erst recht neugierig. Er nahm das Buch in sein Zimmer mit und las die halbe Nacht durch, so sehr fesselte es ihn.
Heute Morgen wollte er mit seinem Vater darüber diskutieren. Eigentlich hätte er vorgewarnt sein müssen, so wie der gestern reagiert hatte. Aber dass er gleich so ausflippte! »Keil dir doch den Kopf nicht mit so was zu! Das waren Kriminelle! Eiskalte Mörder, sonst nichts.« Sein Vater ließ ihn gar nicht richtig zu Wort kommen. Sonst hätte er vielleicht mitgekriegt, dass Hanno die RAF-Morde keineswegs rechtfertigen wollte. Aber konnte man die BaaderMeinhof-Gruppe nur als Mörderbande abtun, ohne sich mit ihren Motiven auseinander zu setzen? Sie waren davon überzeugt, eine gerechtere Welt schaffen zu können. Mit diesem Ziel rechtfertigten sie die Attentate, die sie begingen. In der Zelle von Gudrun Ensslin fand man nach ihrem Tod ein Buch mit Stücken von Bertold Brecht. Einige Stellen dort waren angekreuzt. Eine davon: Furchtbar ist es zu töten. Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es Not tut. Da doch nur mit Gewalt diese tötende Welt zu ändern ist, wie jeder Lebende weiß. Nein, dass mit Terror und Gewalt die Welt zu ändern ist, daran glaubt Hanno auch nicht. Aber man darf deswegen nicht resignieren und seine Träume von einer gerechteren Welt ganz aufgeben. Sein Vater sieht ihn wohl auch schon mit einer Knarre in der Hand enden. Hat er wirklich Angst um ihn? Hanno hätte ihm sagen können, warum ihn das Thema Terrorismus seit einiger Zeit beschäftigt. Weil er eine Arbeit darüber schreiben muss. Doch er hat es aus Trotz nicht getan. Verdammt noch mal, wenn sein Vater sich um ihn sorgt, warum hört er ihm denn nicht auch mal zu? Er kommt gleich mit irgendwelchen Sprüchen: »… noch grün hinter den Ohren und keine Ahnung vom Leben!« Damit blockt er jedes Gespräch ab, kappt einfach die Leitung. Schluss, aus! Vorübergehend nicht zu erreichen!
Dabei hat er in seiner Jugend als Hausbesetzer doch selbst den Aufstand geprobt. Damals studierte er noch. Aber dann brauchte er als werdender Vater einen Job. Keine Zeit mehr zum Demonstrieren und kein Geld zum Studieren. Da hat er sich ausgerechnet bei der Polizei beworben. Jetzt ist er Hauptkommissar. Er will noch eine oder zwei Sprossen höher hinauf. Aber dann ist Ende der Fahnenstange für ihn. Vielleicht haben sie ja deswegen so oft Zoff miteinander! Weil Hanno damals mitten in seine Pläne reingeraten ist. Jurastudium und Karriere machen: alles zerplatzte Träume. Er hat wohl den ganzen Lebenslauf seines Vaters durcheinander gebracht. Und jetzt lässt er ihn das ausbaden. Quatsch! Seine Eltern haben ihn gezeugt und offenbar auch haben wollen. Sonst wäre er wahrscheinlich nicht auf der Welt, oder? Hanno tritt in die Pedale. Doch der Gedanke geht ihm nicht aus dem Kopf: Dein Alter hasst dich insgeheim, weil du ihm dazwischengeraten bist! Er muss ihn wieder da rauskriegen, bevor er sich festsetzt. Sonst kann eines Tages vielleicht wirklich was passieren!
Ausgerechnet am Wochenende werde ich immer viel zu früh wach. Wenn ich mich dann noch im Bett wälze, kriege ich Kopfschmerzen und schlechte Laune. Doch Frühstück gibt’s sonntags erst um neun. Dafür mit frischen Brötchen. Diesmal ist Philipp dran, sie im Wiener Backeck zu holen. Also Zeit, meine erneute Begegnung mit Hendrik Revue passieren zu lassen. Gestern trafen wir uns wieder mal rein zufällig im Supermarkt. Das wird wahrscheinlich noch öfter passieren, es ist der einzige Supermarkt im Viertel. Hendrik stand wie ich mit einem Karton Rohlingen an der Kasse. Er an der anderen
genau auf meiner Höhe. Wir mussten grinsen, als wir uns sahen. Nachdem wir bezahlt hatten, tranken wir im Stehcafé in der Vorhalle noch einen Cappuccino und hechelten die Charts der letzten Woche durch. Immer die Falschen unter den Top Ten. Was haben die Leute nur für einen fatalen Musikgeschmack! Ich war zu Fuß unterwegs, weil mein Hinterrad seit vorgestern platt ist. Hendrik bot mir an, mich nach Hause zu bringen. Warum nicht? Doch statt gleich die Haydnstraße anzusteuern, fuhr er mit mir in einem Wahnsinnstempo Zickzack durchs Viertel. Ich tippte ihm auf die Schulter. »He, du Rennfahrer! Haydnstraße!« »Ich kenne mich hier noch nicht aus«, rief er mir zu. Als er endlich in unsere Straße einbog, hupte er bis zu unserem Haus. Er hat so ein schreckliches Ding, das etliche Töne draufhat. Diesmal klang es wie Hühnergackern. Papa goss gerade die Rabatten im Vorgarten, als wir anknatterten. Ich war unschlüssig. Sollte ich Hendrik auffordern mit reinzukommen? Dann hätte ich ihn Papa vorstellen müssen. Ich habe erst mal darauf verzichtet und mich nur fürs Bringen bedankt. Vor dem Abbiegen unten an der Ecke drückte er noch mal auf die Hupe, diesmal produzierte sie ein makabres Lachen mit Echo. Wirklich pervers! Das fand Papa wohl auch, jedenfalls guckte er ziemlich misstrauisch. »Wer war das denn?« Und ich: »Ein neuer Mitschüler.« Dann verschwand ich schnell ins Haus. Papa hätte bestimmt gern Näheres über ihn gewusst. Er interessiert sich immer sehr detailliert dafür, mit welchen Jungen ich es gerade zu tun habe.
Aber was weiß ich selbst denn schon über Hendrik! Eins allerdings inzwischen doch: Er ist ein exzellenter Schauspieler. Das hat er das letzte Mal in der Theater-AG eindrücklich demonstriert. Davon später. Unten duftet es nach Kaffee!
Hendrik steigt vom Moped ab und hängt sich über das Geländer der Autobahnbrücke. Sogar am Sonntagmorgen scheinen jede Menge Leute ein wichtiges Ziel zu haben. Dort unten ist allerhand los. Vielleicht machen einige ja nur so eine Fahrt ins Blaue? Oder besser ins Grüne? Unwillkürlich muss er kichern. Einen Moment lang schließt er die Augen und horcht auf den Sound, der zu ihm raufdröhnt: Er mag dieses an- und abschwellende Brummen der Motoren, das Wummern der Räder auf dem Asphalt. Immer unterwegs sein, das wär’s. Das lenkt ab. Er setzt sich wieder aufs Moped und braust los zum Kiesplatz. Dort hat er eine Stelle entdeckt, die sich als Rampe eignet. Von da aus kommt er auf eine passable Weite. Zweimal ist er gestürzt. Aber es ist glimpflich abgegangen. Nur eine kleine Schramme auf der Stirn. Inzwischen ist sie abgeheilt. Seine Eltern haben nichts gefragt, obwohl er ein Pflaster auf der Stirn trug. Sie taten, als sähen sie es nicht. Doch er hat den besorgten Blick seiner Mutter in seinem Rücken gespürt. Er startet von der Rampe, der Kies spritzt weg, das Vorderrad schlenkert so heftig, dass es ihm fast den Lenker fortreißt. Es gelingt ihm, das Moped auszubalancieren und aufrecht zu landen. Von der Stadt her hört er die Domglocken. Erst zehn Uhr. Womit schlägt er den Sonntag bloß tot?
Hanno fährt auf den Deich. Hier sind wahre Volksmassen unterwegs! Vor allem Jogger in sportlichem Outfit, den Pulsmesser am Handgelenk, die Arme angewinkelt, locker in den Knien, in gut abrollendem Laufschritt. Alle im Wettlauf mit der Zeit. Eigentlich ja gegen sie. Wenn du hier deine Stunden abläufst, vielleicht zehn in der Woche, und dabei richtig atmest und deine Lungen weitest, kannst du diese Zeit später hinten wieder dranhängen. Und so versuchen auf hundert zu kommen. Hundert Jahre! Dann sind sie alle da, der Pfarrer, der Gesangsverein, die Enkel und Urenkel. Und natürlich die von der Zeitung. Nur Lokalpresse. Aber das ist doch auch schon was: Mit hundert gibst du dein erstes Interview! Herr Bertram, wie schaffen Sie es nur, sich so gut zu halten? So frisch und munter? Jemand rüttelt dich wach und du machst kurz die Augen auf und lächelst in die Kamera wie ein Zombie. Mit deinem perfekt weißen Gebiss. Das haben sie dir heute reingetan, obwohl du damit klapperst und schmerzhafte Druckstellen hast. Hanno muss bei der Vorstellung grinsen. Und wieso ist er selbst so scharf darauf, hundert zu werden? Er will wirklich so alt werden, wie’s nur geht. Wahrscheinlich ist die Genforschung in ein paar Jahren ja so weit, dass man sich das ewige Leben in einem Labor kaufen kann, wenn man das nötige Kleingeld dafür hat. Ein junges Herz, eine frische Leber, vielleicht sogar ein neues Hirn. Am Leben hängt, nach Leben drängt doch alles. Ach nein, nicht am Leben. Am Golde heißt das und ist von Goethe. Der hat es schon zu einer Zeit auf achtzig Jahre gebracht, als die mittlere Lebenserwartung ungefähr bei fünfundvierzig lag.
Jedenfalls ist das Leben das Beste, was einem passieren kann. Stell dir vor, dich gibt es nicht! Du bist nicht geboren worden. Nicht ein einziger Gedanke, der von dir ist! Na gut, seine Gedanken sind vielleicht nicht sonderlich originell. Schon x-mal auch von anderen gedacht, so eine Art Urbilder, wie es sie in Träumen geben soll. Trotzdem sind es seine Gedanken, er denkt sie aus sich selbst heraus eben noch mal neu. Und er ist gerade mal siebzehn und strotzt vor Gesundheit und Kraft. Er hat noch viel Zeit. Vielleicht überfällt ihn eines Tages ja eine revolutionäre Inspiration. Er erfindet das Rad noch mal neu oder entdeckt endlich das geheimnisvolle Atlantis. Im Augenblick fühlt er sich jedenfalls wieder ganz gut. Den Frust ist er los und dieser letzte Sonntag im Mai ist strahlend schön. Der letzte Maisonntag, an dem ich siebzehn bin, fällt ihm ein. Süße Siebzehn! Aber das bezieht sich wohl mehr auf die weiblichen Reize dieses Alters. An seinen siebzehn ist zurzeit nicht viel Süßes dran: im Augenblick Zoff mit dem Erzeuger, dauernd soll er auch schon an seine Zukunft denken und in Sachen Liebe steht er voll im Stau. Wieder muss Hanno einem Jogger-Club ausweichen. Jetzt kommen ihm auch noch drei Inline-Raser vors Rad. Er bremst ab. Hier kann er nicht voll in die Pedale steigen. Er will sprinten und nicht dauernd Slalom radeln. Einen Augenblick zögert er. Soll er doch nach Hause fahren und erst mal ordentlich frühstücken? Vom Dom her hört er die Glocken läuten. Zehn Uhr. Bei wem kann er am Sonntagmorgen um zehn im Trainingsanzug und ohne Frühstück im Magen antanzen? Der letzte Maisonntag, an dem auch sie süße siebzehn ist. Laura! Vielleicht ist ihr das ja gar nicht bewusst und das Ereignis rauscht glatt an ihr vorbei. Aber das darf sie auf
keinen Fall verpassen! Er muss sie sofort daran erinnern. Unbedingt!
Ich bin total durcheinander. Hab ich mich von Hanno vorhin überrumpeln lassen? Oder hab ich es auch gewollt? In dem Moment, ja. Aber jetzt? Ein paar Stunden danach? Beinahe hätte ich mich heute Morgen verschluckt, als er hinter Phil in die Küche stolperte. Wir saßen alle gemütlich am Frühstückstisch, da klingelte es. Nur so ein leises Plong, als wäre jemand mit dem Finger am Klingelknopf abgerutscht. »Am heiligen Sonntag!«, stöhnte Papa. Manchmal nervt’s wirklich, wenn die Leute sogar noch am Wochenende bei uns auf der Matte stehen. Meistens einer von den Nachbarn. Jürgen, kannst du nicht mal dies oder das in der nächsten Bürgerschaftssitzung aufs Tapet bringen? Als wären Schützenfest oder Kleingarten-Streitereien die dicksten Probleme unserer Stadt. »Mach bitte auf«, sagte Papa zu Phil. »Wenn es für mich ist, abwimmeln. Ich bin noch unter der Dusche!« »Immer ich!«, maulte der. »Wenn es die Zeugen Jehovas sind, lasse ich sie rein.« Doch dann kriegte er seinen Hintern hoch und schlurfte zum Flur. »Herrenbesuch für Laura!«, rief er schon an der Haustür. Hinter ihm tauchte Hanno in der Küche auf, im Jogginganzug und mit knallroten Ohren. Ich warf Papa einen raschen Blick zu, aber der war sichtlich froh, dass keiner was von ihm wollte. »Setz dich doch«, lud er Hanno gleich ein. Und Mama: »Möchtest du eine Tasse Kaffee?« »Äh… ja, bitte. Äh… o danke«, stotterte er verlegen. Und nebenbei verdrückte er noch zwei Brötchen und versuchte uns zu verklickern, er wäre rein zufällig hier vorbeigekommen!
Nach dem Frühstück wollten wir eigentlich zu unserer Datsche am Deich. Aber Papa gab sich großzügig: Vielleicht wollten wir bei dem schönen Wetter ja zum Schwimmen? Und so, wie er das sagte, hörte es sich direkt nach Verkuppelung an! »Schwimmbad wär prima.« Hanno stürzte sich gleich auf die Idee. Ich stand also vor der Alternative: Unkraut jäten oder schwimmen gehen. Bei der Hitze war die Wahl nicht schwer. Als die drei weg waren, kam Hanno mit hinauf in mein Zimmer. Ich wollte dort meine Badesachen zusammenpacken, da druckste er plötzlich rum. Er hätte Zoff mit seinen Eltern und keine Lust, zu Hause Badehose und Geld zu holen. Okay, dann Minigolfen im Stadtwald. Ich würde den Eintritt spendieren. »Weißt du, warum ich wirklich vorbeigekommen bin?«, stotterte er plötzlich und kriegte schon wieder rote Ohren. »Na, rein zufällig doch.« »Äh… nicht ganz«, meinte er. »Dann schieß mal los, damit ich’s gleich weiß«, sagte ich trocken. »Das ist der letzte Maisonntag, an dem du süße siebzehn bist. Daran wollte ich dich nur erinnern!« Dabei himmelte er mich so an, dass selbst ein Eisberg geschmolzen wäre. Total lieb! Und bei mir schmolz wirklich was weg. Der Verstand? Jedenfalls der Widerstand. Als er mich zu streicheln begann, habe ich ihn gewähren lassen. Es fühlte sich ja auch sehr schön an! Dann schob er seine Hände unter mein T-Shirt und ich spürte sie auf meiner nackten Haut. Da war ich so weit. Wir haben uns beide schnell ausgezogen und auf dem Bett weitergemacht. Seit mit Marco Schluss ist, war ich mit keinem Jungen mehr zusammen. Und das ist schon neun Monate her. Also, in dem Moment hab ich gespürt, dass ich Sex wohl doch
mehr brauche, als ich geglaubt habe. Jedenfalls war ich sehr erregt. »Hast du ein Gummi?«, hab ich gefragt. Hatte er nicht. Ich auch nicht. Danach ging dann plötzlich nichts mehr bei ihm. Und das war’s. Er war ziemlich down und verlegen. Und ich war stinksauer auf mich. Das hätte ich uns beiden wirklich ersparen können! Warum hatte ich es so weit kommen lassen? Ich hab im Moment einfach keine Lust auf eine feste Beziehung. Und nur mal so, weil einem gerade mal danach ist – das wäre auch sehr unfair Hanno gegenüber, der das bestimmt nicht so locker sehen würde. Ich muss endlich mit ihm darüber reden! Aber dann ist vielleicht auch unsere Freundschaft hin? Trotzdem, das muss ich eben riskieren. Als wir uns nach dieser peinlichen Situation eine Weile angeschwiegen hatten, fiel mir zum Glück mein kaputtes Hinterrad ein. Hanno war direkt erleichtert, dass er was zu tun hatte. Wir flickten es, dann schoben wir eine Tiefkühlpizza in den Backofen. Er rief seine Eltern an und sagte Bescheid, dass er nicht zum Mittagessen käme. Beim Rumhantieren in der Küche entspannten wir uns wieder etwas. Dennoch war es eher mühselig, ein unverfängliches Gesprächsthema zu finden und wieder mal um den heißen Brei herumzureden. Dann machte ich den nächsten Fehler und spendierte einen Rotwein zur Pizza. Wir kippten beide das erste Glas schnell runter, hauptsächlich um unsere Unsicherheit zu überspielen. Nach dem zweiten Glas fing ich plötzlich zu flennen an. Einfach so, weil ich einen im Tee hatte. Doch Hanno war jetzt komplett durcheinander. Hatte er schon wieder was falsch gemacht? Nichts! Das habe ich ihm auch gesagt. Trotzdem konnte ich nicht aufhören zu heulen, meine Gefühle wirbelten durcheinander. Ich weiß im Moment wirklich nicht, was mit
mir los ist. Meine Hormone scheinen was anderes zu wollen als mein Kopf. Gegen drei Uhr wurde ich total müde und Hanno merkte das offenbar. Er müsste noch was für seine Geschichtsarbeit tun, sagte er. Ich kam bis ans Gartentor mit. Wir waren beide deprimiert, obwohl wir das überspielten. Warum kann ich mich bloß nicht richtig in ihn verlieben! Er ist der netteste Junge der Welt. Ganz nebenbei sieht er auch noch gut aus. Bin ich frigide? Nein. Doch das mit Marco damals war auch nur so eine halbherzige Sache. Ich glaube, ich warte auf etwas, was es vielleicht gar nicht gibt. Auf die ganz große Liebe, die sich wie der Urknall ereignet. Auf einmal explodiert was in mir und dann ist sie da und strahlt so phantastisch wie das gesamte Universum.
Hendrik biegt in den Feldweg ein. Hinter ihm wirbelt eine Staubwolke hoch. Es hat den Mai über kaum geregnet und der Boden ist ausgetrocknet. Am Deich stellt er das Moped ab und folgt durch dichtes Gestrüpp dem kleinen Trampelpfad zum Fluss. Er streckt sich am Ufer aus. Über ihm wogt das junge Schilfgras in der leichten Brise. Eine Weile versucht er angestrengt, jeden hochkommenden Gedanken zu blockieren. Er beobachtet einen Marienkäfer, der am Halm hinaufkrabbelt, ein paar Sekunden auf der Spitze verharrt und dann abfliegt. In blaue Fernen. Genau. Einfach abhauen. Verschwinden, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Keine Spuren legen und erst am Ende der Welt wieder auftauchen. Als ein anderer. Als einer, der noch mal anfangen kann.
Wenigstens ein einziges Jahr zurück! Nein, ganz von vorn. Und Lisa nie begegnen. Wailand war drei Monate später weg. Eine Stelle als Lehrer in Tokio, über den Akademischen Austauschdienst. Angeblich hatte er sich lange darum bemüht. Und plötzlich hat es geklappt. Was für ein Zufall! Und warum haut er nicht auch ab? Wegen seiner Eltern? Wartet er darauf, dass der richtige Zeitpunkt dafür kommt? Dass er eines Morgens aufwacht mit dem starken Impuls: jetzt! Wenn du jetzt gehst, am besten bis ans Ende der Welt, dann kriegst du vielleicht noch mal eine Chance. Hendrik starrt in den Himmel. Das grelle Licht blendet ihn. Nein, er hat keine Chance. Überhaupt keine. Weil er es überallhin mitnimmt! Es ist in seinem Kopf. Es ist in seinem ganzen Körper. Wie ein Geschwür, das sich dort ausgebreitet hat, in seine Lungen hineinwächst und ihm die Luft abdrückt. Er müsste ganz verschwinden. Den falschen Schritt machen, wie sie. Das ist seine einzige Chance. Mit den Tränen spürt er auch die Wut aufsteigen. Wut auf sich selbst: Warum hat er Wailand so einfach davonkommen lassen? Das mit den beiden war bestimmt nicht nur von Lisa ausgegangen. Wailand musste ihr deutliche Signale gegeben haben. Dieser Abend: Sie hatten am Meer gegrillt. Lisa schwamm später noch ein Stück hinaus, obwohl es schon Nacht war. Hendrik wollte sie zurückhalten. Sie hörte nicht auf ihn und wurde sogar richtig wütend. »Ich will mal allein sein!« Er wagte nicht ihr zu folgen. »Lass sie! Sie ist ja eine ausgezeichnete Schwimmerin«, hatte Wailand gesagt. Das stimmte, aber in der Dunkelheit konnte man leicht die Orientierung verlieren. Plötzlich wurde Wailand doch ziemlich nervös.
»Ich schau mal nach, wo sie bleibt. Und dass es keinem von euch einfällt, hinter mir herzukommen!« Er zog seinen Jogginganzug aus und schwamm ihr nach. Die Nacht lag wie schwarze Watte über dem Meer, der Himmel war bedeckt, diesmal kein Mond- oder Sternenlicht. Es dauerte lange, bis die beiden zurückkamen. Später hockten sie ganz nah beieinander am Feuer und wärmten sich. Es wäre einfach gewesen, Wailand zur Strecke zu bringen. Lisas Tagebuch-Kladde! In der hatte auch der Zettel mit diesem Gedicht von Villon gesteckt. Erdbeermund. Es war ein Computer-Ausdruck, aber in Wailands Handschrift waren die Lebensdaten des Dichters darauf vermerkt. Und Wailand war zu dem Treffpunkt gekommen, den Lisa ihm genannt hatte, das Felsenplateau über der Schlucht. Wenn auch fast eine Stunde zu spät. Das alles hätte doch ausreichen müssen zu beweisen, dass Lisa mehr als nur Wailands Schülerin gewesen ist. Aber damit hätte er auch Lisa verraten! Seine Lisa. Nicht diese andere, von der er nichts wissen will. Was wäre gewesen, wenn Wailand pünktlich zum Treffpunkt gekommen wäre? Würde sie dann noch leben? Hendrik springt auf, zwängt sich durchs Gebüsch, wirft das Moped an und fährt in die Stadt zurück. In seinem Zimmer greift er wieder nach der Papprolle im Regal, zieht das Poster heraus und klebt es mit Tesafilm an die Wand über dem Schreibtisch: sein heiles Bild von Lisa. Dann setzt er sich an den PC, klickt den Ordner L an und benennt ihn in Lisas Rache um.
Ich habe ein Herz in meinem Posteingang! Ein knallrotes, pulsierendes Herz. Absender: Herz-Ass. Über einen anonymen Server verschickt. Als Anhang zu einer in Frakturschrift geschriebenen Mail: Wenn ich dich sehe – fast täglich –
explodiert mein Herz. Du fühlst genauso, da bin ich mir sicher. Gib mir ein Zeichen, auch wenn unsere Liebe verboten ist. Soll ich das Herz anklicken und dann passiert’s: Kompletter PC-Absturz! Ich bin ein Killervirus, Pech gehabt. Oder noch gemeiner: ein Trojaner? Jemand hat es auf meine Intimdateien abgesehen und versucht heimlich, eine Verbindung zu meinem PC herzustellen. Aber wer? Hanno? Nein. Obwohl: Das Herz spricht für ihn, nach dem, was zwischen uns gelaufen ist. Doch dann kann ich es auch ohne Bedenken anklicken. Hanno hat nun wirklich kein Talent zu kriminellen Handlungen. Und gemein ist er erst recht nicht. Oder Philipp? Dem traue ich so was schon eher zu. Er ist PC-Spezialist und sein Berufswunsch ist Hacker. Damit will er demnächst mindestens so viel Geld machen wie Bill Gates und nebenbei noch die PIN zu dessen Konto knacken. Doch vielleicht habe ich ja auch den einen oder anderen heimlichen Feind, von dem ich nichts ahne. Oder eine Feindin! Ines zum Beispiel liebt mich nicht sonderlich. Und ich sie auch nicht. Sie ist mir zu oberlehrerinnenhaft. Ich bin ihr zu exaltiert. Andererseits ist sie korrekt bis in die Haarspitzen, die Zuverlässigkeit in Person und als Schulsprecherin am Heinrich-Heine-Gymnasium ein echter Glückstreffer. Was noch gegen eine Attacke ihrerseits spricht: Ihre Phantasie reicht wahrscheinlich nicht aus, um so boshaft zu sein. Was mache ich jetzt mit dem Herz? Ich klicke es – natürlich! – an, bevor ich vor Neugier ersticke. Plopp! Tausend Herzsplitter! Die sich wieder zu einem kompletten Herz zusammensetzen. Das Ganze untermalt mit Celine Dion: My heart will go on.
Aber was bedeutet das: verbotene Liebe? Darauf kann ich mir wirklich keinen Reim machen. Kann Liebe überhaupt verboten sein? Wenn man liebt, liebt man. Egal wen. Basta! Mal sehen, ob demnächst noch weitere Herzen vor Liebe auf meinem Bildschirm explodieren. Jedenfalls werde ich meine Umgebung mal genauer beobachten. Vielleicht gibt mir HerzAss ja zuerst ein heimliches Zeichen.
Hanno nimmt während der Pausen mehrmals Anlauf, mit Laura zu reden. Aber immer scheint sie gerade mit jemand anderem über etwas Wichtiges zu verhandeln. Sogar mit Ines! Dabei weiß jeder, dass die beiden sich nicht sehr viel zu sagen haben. Nach Schulschluss versucht er es wieder. Sie steht noch mit ein paar Leuten aus der Theater-AG am Schultor zusammen. Hendrik ist auch darunter. Der Typ ist ja direkt penetrant, so, wie er sich bei ihr einschleimt! Dann sollte er sich aber auch mit Lechner besser stellen. Für den schwärmt Laura schließlich genauso wie die anderen Mädchen. Lechner lässt Provokateure normalerweise mit sanfter Ironie auflaufen. Doch sein Ton Hendrik gegenüber ist schärfer. Der mag diesen bleichen Schönling auch nicht, das merkt man deutlich. In der TheaterAG soll es neulich Zoff zwischen den beiden gegeben haben. Warum der überhaupt da mitmacht? Doch nur Lauras wegen! Letzte Woche war Hanno mit Laura zu Mathe-Übungen verabredet. »Hol mich nach der Theater-AG ab. Dann können wir gleich zu mir gehen«, schlug sie vor. Als sie rauskam, war Hendrik an ihrer Seite. Er musste gerade was Witziges gesagt haben, jedenfalls lachte sie auf. Dann sah sie Hanno warten. Ein bisschen spät! Wahrscheinlich hatte sie ihn absichtlich übersehen. »Ach so, wir wollten ja Mathe machen!«, sagte sie, als wäre es ihr gerade erst wieder
eingefallen, und Hendrik wünschte ihnen in so einem speziellen Ton: »Viel Spaß!« Dieser arrogante Typ! Hanno wartet, bis sich die Gruppe am Schultor aufgelöst hat, dann geht er zu Laura rüber. In dem Moment kurvt Hendrik mit seinem Moped noch mal vorbei. »Bis nachher!«, ruft er Laura zu und winkt. Sie nickt lächelnd. »Ciao dann!« Hendrik fährt eine gekonnte Acht und Hanno merkt, wie er ihn dabei mit einem flüchtigen Blick streift. Dieser Angeber! Doch dann gibt er Gas und verschwindet endlich. »Wir wollen uns heute Nachmittag in der Blauen Lagune treffen«, sagt Laura und wird dabei etwas rot. »Kommst du mit?« Die Blaue Lagune ist das neue Erlebnisbad, das letzte Woche draußen in Arbergen eröffnet hat. »Du und Hendrik?«, fragt Hanno frustriert. »O Mann! Was ist denn dabei? Die anderen kommen auch!« Hanno räuspert sich, damit er was sagen kann. »Der ganze Verein?« Immerhin besser als nur Hendrik und sie. »Mal sehen. Wir haben es nur locker abgemacht. Du kannst ja mitkommen.« »Wohl kaum. Ich habe schon was anderes vor.« Das klang wenig überzeugend. Am liebsten würde er jetzt losbrüllen. Scheiße auch! »Dann tschüss«, sagt sie nur und lässt ihn einfach stehen. Es interessiert sie also nicht, was er vorhat. Als sie sich noch einmal umdreht, ihm »Gegen vier?« zuruft und dabei winkt, ist er komplett frustriert. Wieso ist sie sich so sicher, dass er doch kommen wird? Jetzt erst recht nicht!
Hendrik wartet an der Ecke zum Schifferwall. Lechner kommt als einer der Letzten aus dem hinteren Ausgang des Schulgebäudes, neben ihm die Bender. Die beiden reden noch
einen Augenblick miteinander, dann geht Lechner auf den blauen Golf zu, steigt ein und fährt los. Als er beim Kurfürstenkreisel ist, folgt Hendrik ihm. Der Verkehr ist dicht, Lechner wird nicht merken, dass er hinter ihm fährt. Doch der biegt plötzlich in die Arberger Landstraße ein und tritt aufs Gas. Hendrik kann das Tempo nicht lange mithalten. Soll er umkehren? Nein. Wenn Lechner draußen in Arbergen wohnt, wird er den blauen Golf schnell finden. Der Vorort zieht sich an der Straße entlang. Er kennt sich inzwischen dort aus, seine neue Piste liegt in der Nähe. Gestern hatte er versucht, über die Telefonauskunft herauszubekommen, wo Lechner wohnt. Jemanden aus der Klasse wollte er nicht danach fragen. Es gab einen B. Lechner, jedoch ohne Adresse. Zweimal hatte er die Nummer von B. Lechner gewählt. Jedes Mal meldete sich nach dem fünften Läuten eine Net-Box mit automatischer Ansage. Er könnte ja auf dem Einwohnermeldeamt die Adresse erfahren. Aber wahrscheinlich muss er sich dort erst mal ausweisen. Zu brisant! Andererseits, was soll das alles? Wozu will er überhaupt wissen, wo Lechner wohnt? Nur, weil er ihn nicht ausstehen kann? Vom ersten Augenblick an war er ihm unsympathisch. Auch so ein Typ! Ja, er erinnert ihn an Wailand. Trotzdem, was will er mit seiner Adresse? Einfach so. Aus Neugier. Hendrik sieht den Golf nur noch als kleinen blauen Punkt in der Ferne. Lechner könnte auch in Mahnhold wohnen. Das ist so ein Haufendorf, noch zehn Kilometer weiter. Verwinkelte enge Gassen mit altem Kopfsteinpflaster. Ihn dort zu finden ist schon schwieriger.
Doch gleich am Ortseingang von Arbergen steht Lechners Wagen auf dem Parkplatz einer Wohnanlage. Auf der anderen Straßenseite, direkt gegenüber, ist ein italienisches Café: Il Dottore. Dort hat Hendrik schon mal was getrunken, als er durstig von der Kies-Piste kam. Er parkt das Moped ein bisschen abseits und sieht sich um, bevor er dicht an der Hausfront entlanggeht und die Namen auf den Klingelleisten der drei Türen liest. An der dritten findet er, was er sucht. Das Schild sieht improvisiert aus. Gedruckte Frakturschrift. Es scheint aus einer Visitenkarte ausgeschnitten und in das Kästchen geklebt zu sein. Bernd Lechner. Offenbar wohnt er allein. Nach Anordnung der Klingeln wahrscheinlich in der zweiten Etage. Soll er sich ins Café gegenüber setzen? Vielleicht lässt sich Lechner ja noch mal sehen, verlässt das Haus, tritt auf einen der Balkone oder öffnet ein Fenster. Hendrik zögert. Gegen vier ist er mit Laura und den anderen im Schwimmbad verabredet. Doch er hat kein Badezeug dabei. Und eine Badehose mag er sich nicht ausleihen. Er startet das Moped und fährt in die Stadt zurück.
Fünf nach drei. Hanno versucht zu arbeiten, doch dauernd muss er auf die Uhr sehen. »Gegen vier?«, hat Laura ihm nachgerufen. »Du kannst ja mitkommen.« Wie das klang! Als würde sie einem armen Hund einen Knochen hinwerfen. Da, fang auf! Braves Hündchen! Nein, er kommt nicht mit. Soll sie sich doch mit Hendrik & Co amüsieren! Ihm ist das egal. Er jedenfalls wird nicht schon wieder nach ihren Almosen schnappen! Hanno legt wieder die CD mit den Oldies auf, die er auf dem Flohmarkt gekauft hat. When I need love I hold up my hands and I touch love…
Das zieht ihn erst recht runter. Der Verfasser des Songs scheint in Sachen Liebe ja sehr genügsam zu sein. … the telephone can’t take place of your smile… Warum hört er sich den Senf bloß an? Weil er genau in der Stimmung dafür ist! Schon wieder sieht er auf die Uhr: halb vier. Er könnte noch anrufen: »Ich komme doch mit.« Aber Hendrik holt sie bestimmt ab. Sie sitzt dicht hinter ihm auf dem Moped, die Arme um seine Taille gelegt, und schaut über seine Schulter. Ihr Atem streift dabei sein Ohr. Hanno sieht rot, wenn er sich das vorstellt! Er wechselt die CD. Nach den Schnulzensongs braucht er jetzt knallharten Beat. Dann setzt er sich wieder an den PC, um weiterzuarbeiten. Doch was geht ihn im Moment der Terror in der Welt an! Der eigene Gedankenterror macht ihn fertig. Ratata, ratata! Viertel vor vier. Hendrik wird jetzt vor ihrem Gartentor warten. Sie kommt die Auffahrt runter auf ihn zu. »Hallo, da bin ich!« Er reicht ihr den zweiten Helm, den er für sie dabeihat, und sie setzt sich hinter ihn. »Leg die Arme um mich.« Sie schmiegt sich an ihn, presst ihre festen kleinen Brüste gegen seinen Rücken und dann… steigt der Hormonpegel! Jedenfalls bei Hanno. Und das Kopfkino läuft weiter. Er kann es nicht abstellen: Er fährt hinter den beiden her. Natürlich nicht mit seinem Bike. Er jagt sie auf einer schweren Maschine – einer Honda. Oder noch besser: einer Harley. Rammt das mickrige Moped und weidet sich daran, wie die halbe Portion Hendrik sich vor Angst in die Hosen macht. Er spielt mit ihm, drängt ihn ab, lässt ihn vorbei, um ihn wieder zu attackieren. Gleich kommt die scharfe Rechtskurve, kurz vor Arbergen. Aus der wird er ihn rausdrücken, diesen Zwerg! Der muss mit der Nase in den Dreck! Im hohen Bogen
schickt er ihn auf den Acker, alles in Zeitlupe. Doch vorher holt er sie auf sein Motorrad rüber. Sie streckt ihm ihre Arme entgegen, er fährt ganz dicht ran, packt sie um die Taille und reißt sie an sich. Mit einem einzigen Schwung! Sie sitzt jetzt vor ihm, fast auf seinem Schoß, und zieht den Helm ab. Weg damit! Ihre Haare flattern im Fahrtwind, streicheln sein Gesicht. Er küsst ihren Nacken, hält die Maschine sekundenlang nur mit der rechten Hand und die andere legt er auf ihre linke Brust, genau da, wo das Herz schlägt. Ende des Films. Wirklich, er hätte Lust, dem Typ eine ordentliche Lektion zu verpassen: Er stellt ihn, drückt ihn gegen die Wand, zückt die Dienstpistole seines Vaters, hält sie ihm an die Stirn, den Finger am Abzug. Nein, er darf nicht so nah ran, er will ja die Angst in Hendriks Augen auskosten. »Du Zwerg!« Stopp! Was für ein hirnrissiger Unsinn! Schließlich ist er nicht einer von diesen durchgeknallten Typen, die plötzlich Amok laufen. Warum steigert er sich da bloß so rein? Verdammt noch mal, der Typ ist dabei, sich klammheimlich an Laura ranzumachen! Und wenn ihm das gelingt, dann…? … bringt er ihn um! Zwei Minuten vor vier. Hanno blättert in der Stoffsammlung für die Geschichtsarbeit. In jedem Menschen steckt ein potenzieller Terrorist, notiert er dazu. Wahrscheinlich trägt jeder Mensch wirklich so was wie eine Keimzelle des Terrors in sich, ähnlich wie Krebszellen. Und eines Tages beginnt sie zu wuchern, wenn sie stimuliert wird. O Mann! Was denkt er sich denn jetzt schon wieder für einen Quatsch zusammen! Kein Quatsch. Irgendwer oder irgendwas füllt dich mit der Zeit so randvoll mit Hass, dass du heißläufst. Dass du zu einem lebenden Pulverfass mutierst. Dann bist du zu allem bereit. Du
rennst los und nichts in der Welt hält dich mehr auf. Alles sonst ist ausgeschaltet. Keine Notbremse, die du noch ziehen könntest. Dein Kopf, dein ganzer Körper ist eine einzige lodernde Flamme Hass und du gehorchst blind nur einem Befehl: Drück ab! Wenn ein körperlicher Schmerz unerträglich wird, dann tritt oft ein natürlicher Schutz ein: Man wird ohnmächtig. Der Körper produziert selbst Morphine, die ihn betäuben. Das haben sie im Biologieunterricht durchgenommen. Aber der Schmerz, der an der Seele frisst? Der die Gedanken beherrscht? Der lässt sich nicht betäuben. Und du brennst irgendwann vor Hass. Zehn nach vier. Hanno fährt den PC runter, packt seine Badesachen zusammen und schwingt sich aufs Rad. Auf der Arberger Landstraße treibt er den Tacho seines Bikes auf sechzig Stundenkilometer hoch. Er spürt die Kraft seiner Beine und jeden angespannten Muskel. Amok! Ich laufe Amok! Bei dem Gedanken muss er plötzlich laut lachen und er fühlt sich im Moment, als hätte er irgendwo ein Leck, aus dem jede Menge Überdruck entweicht.
Hanno tut so, als hätte er Besitzrechte an mir. Ich glaube, er ist wirklich total eifersüchtig auf Hendrik. Dabei hat er nicht den geringsten Grund dazu. Jedenfalls bis jetzt noch nicht. Ich bin ja weder mit dem einen noch mit dem andern liiert. Und selbst wenn ich mit Hendrik was anfangen würde, wäre das immer noch meine Sache. Ich muss dringend wegen Sonntag mit Hanno reden. Bisher war keine Gelegenheit dazu. Ich muss auch erst darüber nachdenken, wie ich’s ihm sagen will. Ich möchte seine Gefühle nicht verletzen. Oder drücke ich mich vielleicht nur vor einer Aussprache? Schiebe ich sie aus Feigheit vor mir her?
Im Moment bin ich jedenfalls mit tausend Sachen beschäftigt. Gesangsunterricht, Stepptanz und die Theater-AG. Dafür geht fast meine ganze Freizeit drauf. Auf jeden Fall möchte ich nach dem Abi auf die Schauspielschule, dafür tu ich jetzt schon eine Menge. Vor allem muss ich Papa erst mal rumkriegen. Sein Kommentar zu dem Thema: »Lern was Solides!« Wenigstens unterstützt Mama meine Pläne, so stehen die Chancen nicht allzu schlecht, dass er am Ende auch zustimmt. Wenn nicht, dann hat er Pech. Ich werde auf keinen Fall mein Ziel aufgeben. Bühne und Film, das ist für mich das Größte! Das alles ist mir im Moment wichtiger als eine feste Beziehung. Sie würde viel von meiner Zeit beanspruchen. Andererseits traue ich mir manchmal selbst nicht recht. Seit das mit Hanno passiert ist, bin ich mir meiner Gefühle nicht mehr so sicher. Jedenfalls aber weiß ich, dass ich zwischen Hanno und mir was klarstellen muss! Apropos Schauspielerei: Hendrik scheint auch eine Menge draufzuhaben. Nur dass er leider mit Lechner ein echtes Problem hat. Dauernd kommt es zu Spannungen und der frostige Ton, der zwischen den beiden vom ersten Tag an herrschte, verstärkt sich mehr und mehr. Schade, denn das wirkt sich allmählich auch auf das Klima in der AG aus. Lechner kam letztens eine Viertelstunde zu spät. Wir standen alle auf dem Hof vor dem Sportgeräte-Raum, den wir für die Theaterproben benutzen. Der ist ideal dafür, weil dort manches herumsteht, was wir als Requisiten einbeziehen können. »Pünktlich wie die Maurer«, sagte Hendrik leise, aber für alle hörbar, als Lechner uns aufschloss und wir endlich reinkonnten. Darauf Lechner: »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige. Und ich bin nur Pauker.«
Beifälliges Gelächter, was Hendrik bestimmt ärgerte, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Lechner schlug vor, ein bisschen mehr Platz um die improvisierte Bühne herum zu schaffen, und wir fassten alle mit an. Bis auf Hendrik. Der setzte sich auf den Regiestuhl, den Goldi der AG spendiert hat, und tat, als ginge ihn unsere Aufräumaktion nichts an. Thilo, der mit den Gymnastikmatten rumwuchtete, maulte, er solle mal seinen Hintern heben und mithelfen. Hendrik stand auf, nahm den Stuhl zur Seite und ließ ihn vorbei. Dann setzte er sich wieder an die gleiche Stelle, genau in dem Augenblick, als auch Lechner mit einer Matte ankam. Doch Lechner machte einen Bogen um ihn. Er verzog dabei keine Miene, aber man merkte trotzdem, dass er wütend war. »So, dann wollen wir mal ein paar Regeln aufstellen«, sagte er, als wir fertig waren. »Was denn für Regeln?«, kam es im Chor. »Die erste ist, dass wir uns ab sofort demokratisch verhalten wollen«, meinte Lechner. Doch dass dabei er die Fäden zöge und die Regie hätte. Dann ging er auf Hendrik zu. »Und da dies hier ja der Regiestuhl ist… Würdest du bitte so freundlich sein?« Dabei ergriff er die Lehne und zog den Stuhl förmlich unter Hendriks Hintern weg. Dann setzte er sich so drauf, als wollte er ihn erst mal ausprobieren. »Hm, ganz ordentlich. Zu bequem wollen wir es uns schließlich ja nicht machen.« Wieder Gelächter. Mit Ausnahme von Hendrik natürlich. Lechner regte an zur Auflockerung erst mal frei zu improvisieren. »Und Die Marquise von O.?« Tim hätte sie gerne weitergeprobt. Wahrscheinlich hoffte er wieder auf großzügige Einblicke bei mir.
Doch die Mehrheit war fürs Improvisieren. Jeder von uns sollte zunächst einzeln etwas vortragen. Zwei, drei Sätze nur, ein Zitat oder was ihm spontan einfiel. Lechner sah in die Runde. »Wer fängt an?« Keiner meldete sich. Ich mich auch nicht. Sollte ich was aus meinem Repertoire vortragen? Oder mich auf meine Intuition verlassen? Ich konnte mich nicht so schnell entscheiden. Da sagte Hendrik: »Ich bin der Dreizehnte, falls Sie selbst auf einen Beitrag verzichten wollen. Um die anderen Plätze darf gewürfelt werden.« Gekicher. Wir sind ohne Lechner genau dreizehn! »Gut, dann erst mal ein paar Mutige voran«, sagte Lechner kühl, ohne Hendrik weiter zu beachten. Diesmal keine Lacher. Kein Laut. Doch in der Stille lag etwas Knisterndes. Die Luft zwischen Lechner und Hendrik roch förmlich nach Explosion! Schließlich hab ich mich gemeldet, ganz plötzlich war mir der berühmte Satz von Antigone in den Kopf gekommen. Vielleicht hatte das Reizklima mich ja auch inspiriert. Nur diesen einzigen Satz wollte ich bringen, den aber so, dass er Eindruck machte. »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« Ich habe ihn ohne dramaturgischen Aufwand wie eine selbstverständliche These gesagt, die keinen weiteren Kontext braucht. Und ich glaube, das kam auch so rüber. Erst mal war es still. Alle erwarteten natürlich, dass noch was kommen würde. Dann hat Lechner angefangen zu applaudieren: »Bravo, Laura!«, und ein paar andere auch, darunter sogar Ines! Ist sie vielleicht doch die Tolerantere von uns beiden? Auch wenn sie manchmal verbissen um was kämpfen kann? Ich will es gar nicht so genau wissen. Mit meinem Anfang war jedenfalls das Eis gebrochen. Jeder kramte reihum in seinem Zitatenschatz oder bastelte sich was
zusammen. Thilo brachte einen tollen Rap-Song und ein paar von uns, ich auch, ließen sich anstecken und machten mit. Zum Schluss dann Hendrik. Es war auf einmal mucksmäuschenstill. Zeit genug hatte er ja gehabt, sich was Besonderes auszudenken. Und alle erwarteten wohl auch irgendwas ziemlich Schräges. Doch was kam? Goethe! Der Mephisto. Aber wie er kam! Hendrik trat auf die Bühne, ganz ohne Show. Eigentlich war das schon die halbe Sensation. Dann fing er mit einer leisen, aber eindringlichen Stimme an. Er hätte flüstern können, auch dann hätte man jedes Wort verstanden. »Ich bin der Geist, der stets verneint. Und das mit Recht; denn alles, was entsteht…« Hier machte er eine Pause und sah direkt Lechner an, genau lang genug, dass es provozierend wirkte und die Spannung zu greifen war. »… ist wert, dass es zugrunde geht.« Dann wieder zu uns allen: »Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So ist denn alles, was ihr Sünde, Zerstörung…« Pause, dann wieder nur zu Lechner: »… kurz, das Böse nennt… « Jetzt zu uns allen: »… mein eigentliches Element.« Also, dabei konnte man schon eine Gänsehaut kriegen! Ich habe eine alte Verfilmung des Faust gesehen, in der dieser berühmte Gustav Gründgens Regie führte und gleichzeitig den Mephisto spielte. Der hatte es jedenfalls nicht besser gemacht. »Ausgezeichneter Vortrag, Hendrik«, sagte Lechner nur. Das war ein Lob, aber eins, das sehr eisig klang.
Hendrik blieb noch einen Moment stehen, mit so einem merkwürdigen Innenblick. Gehörte das noch zu seinem Auftritt? Dann ging er ab und setzte sich an meine Seite. Ich hörte ihn wie zu sich selbst flüstern: »Jeder ist verführbar. Jeder.« Doch ich spürte, das war an mich gerichtet. Plötzlich fiel mir wieder ein, was er neulich zu mir gesagt hatte, als wir zusammen in der Bibliothek waren: »Du hättest Talent zum Verführen.« Und ich kriegte schon wieder eine Gänsehaut. Draußen hupt es! Dieses Echo-Lachen. Wenn man vom Teufel spricht… und so weiter! Verabredet war das jedenfalls nicht. Eigentlich wollte ich gleich mit dem Bus ins Schwimmbad fahren. Hanno ist ja nicht gekommen, er scheint eingeschnappt zu sein. Und ich hab keine Lust, alleine bis nach Arbergen rauszuradeln. Dann lieber bei Hendrik auf dem Sozius. Und den Fahrradhelm vorsichtshalber aufsetzen!
Hanno schaut sich in der Lagune um. Ob sie überhaupt hier ist? Wenn ja, muss auch der AG-Tross um sie herum sein und der ist nicht zu übersehen. Selbst hier in der ausgedehnten Badelandschaft nicht. Aber vielleicht hat sie sich mit Hendrik schon abgesetzt. Er schwimmt ein paar Runden im Wellenbad, doch nach einer Viertelstunde hat er genug. Soll er sie auf ihrem Handy anrufen? Und ihr die Meinung sagen? Und weswegen? Sie sind schließlich nicht fest verabredet gewesen. Er lässt eine Weile die eisige Massagedusche auf sich runterprasseln und zieht sich dann an. Im Eingangsbereich ist eine Telefonzelle, ein Handy hat er nicht. Klar könnte er sich eins leisten und manchmal wäre es auch ganz praktisch, so ein
Ding parat zu haben. Aber ihm geht die Handymanie ziemlich auf die Nerven und er gehört deshalb zur seltenen Spezies der Handy-Verweigerer. Pech! Der Apparat in der Halle funktioniert nur mit TeleKarte. Die hat er nicht. Zu kaufen gibt es hier auch keine. Seine Laune ist schon wieder im Keller und er will sich auf den Heimweg machen. Halt! Er hat gar nicht in das Plastikpalmen-Café geschaut. Dort hinein kommt er auch über eine Außentür. Eilig strebt er darauf zu. Tatsächlich! Die komplette AG ist hier versammelt. Sogar Ines ist da. Sie haben zwei Tische zusammengeschoben. Laura sitzt neben Hendrik. Wo auch sonst! Sie sieht ihn gleich und winkt ihm zu. »Hanno! Schön, dass du noch gekommen bist.« Hanno mimt gute Laune. Jetzt bloß nicht vor versammelter Mannschaft zeigen, wie mies er sich fühlt. Andererseits: Was will er bloß hier! Er gehört ja nicht zur AG. Doch Lothar und Pepi auch nicht. Trotzdem scheinen sie sich gut zu amüsieren. Hanno holt sich einen freien Stuhl, Laura rückt mit ihrem dichter an Hendrik heran und Hanno setzt sich an ihre linke Seite. Die muntere Unterhaltung geht weiter. Offenbar ist er in das Thema Lechner hineingeplatzt. Hanno mokiert sich darüber. »Was ist an dem denn so interessant? Ein ganz normaler Pauker.« Das ist er wirklich, wie sich mit der Zeit herausgestellt hat. »Wir spekulieren gerade darüber, ob er schwul ist, weil er keine Frau an sich ranlässt. Noch nicht mal Laura. Und das will was heißen«, sagt Tim augenzwinkernd in ihre Richtung. »Ha-ha«, macht Laura nur müde. »Jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass Pepi sein Liebling ist«, behauptet Tim weiter.
»Red doch kein Blech!«, widerspricht Ines, die Pfadfinderin der Wahrheit und Gerechtigkeit, wie Laura sie manchmal spöttisch nennt. Ines hat Recht, denkt Hanno. Lechner nimmt Pepi zwar öfter dran als die anderen, doch nur um ihn zwischendurch mal zu wecken. »Peter, würdest du das bitte wiederholen?« Und Pepi: »Hä?« Um dann gleich weiterzudösen. Tim lässt nicht locker: »Jedenfalls hat ihn Lauras Oben-ohneNummer neulich ziemlich kalt gelassen. Dabei war die mindestens so heiß wie vierzig Grad Fieber.« »Ich fand sie eher geschmacklos«, sagt Ines und sieht dabei kurz zu Hanno rüber. Klar, er weiß schon, warum. Er bemerkt die kleinen Anzeichen, die raschen Blicke von ihr. Sie ist in ihn verknallt, auch wenn sie das ganz gut verbergen kann. Und mit ihr hätte er nicht halb so viel Trouble wie mit Laura. Ganz nebenbei sieht sie verdammt gut aus! Aber was kann er dafür, dass Laura wie ein Virus in jedem seiner Gedanken und jeder Faser seines Körpers nistet. »Danke für das Neid-Urteil«, kontert Laura ungerührt und lächelt Ines so an, als seien sie beste Freundinnen. »Vielleicht hat Lechner ja eine Allergie gegen Frauenbrüste. Saure Muttermilch gehabt oder so.« Auch Hanno muss jetzt über Tims Bemerkung lachen. Die Spekulationen gehen noch eine Weile hin und her. »He, Pepi, mach doch bei uns in der AG mit«, schlägt Tim vor. »Dann kriegen wir’s ziemlich schnell raus. Du bist die Julia und Lechner zeigt uns, wie man den Romeo spielen muss.« »Dagegen hätte ich aber was!« Lothar legt seinen Arm um Pepi, der gelangweilt gähnt. Wieder Gelächter. Nur Ines guckt immer noch wie eine Staatsanwältin.
»Dauernd diese Herz-Ass-Geschichten«, seufzt Laura plötzlich. Hanno schielt sie von der Seite an. Was soll das denn jetzt heißen? Meint sie ihn damit? Will sie sich über ihn lustig machen? Jedenfalls hat sie ganz rasch den Kopf gewendet und ihm einen Seitenblick zugeworfen. »Herz ist eben Trumpf«, sagt Hendrik wie scherzend, wird dabei aber leicht rot. Ist zwischen den beiden etwa schon was? Auf einmal springt Laura auf. »Ich muss jetzt los. Der Bus geht gleich.« »Du kannst wieder mit mir zurückfahren. Ich hab noch was vor und muss jetzt auch los.« Hanno wünscht Hendrik zum Teufel. Was der vorhat, und zwar mit ihr, das kann er sich denken. Unsinn. Sie wollte ja mit dem Bus zurück! Wer weiß! Wahrscheinlich hat sie das nur gesagt, um vor ihm zu vertuschen, dass sie auch schon mit Hendrik hergekommen ist. Offenbar hat sie nicht damit gerechnet, dass Hanno doch noch kommen und es rauskriegen würde. Verflixt, warum kann er diesen Dauerfilm Laura in seinem Kopf nicht mal abstellen? Warum hört er bei jeder ihrer Bemerkungen gleich das Gras wachsen? An der Tür winkt Laura ihnen zu. Auch Hendrik dreht sich noch mal um und Hanno scheint es so, als sähe er nur ihn an. Mit so einem Lächeln, das eigentlich keins ist, irgendwie abwesend und trotzdem für ihn bestimmt. Dann sind die beiden draußen. Hanno bleibt noch eine Weile frustriert sitzen, doch als Ines aufbricht, steht er auch auf. »Bist du mit dem Fahrrad hier?«, fragt er sie. Ines hebt einen Moment lang erstaunt die Augenbrauen, ist aber gleich wieder ganz die Alte. »Ja. Wir können gern zusammen zurückfahren, allerdings wirst du dich mit mir
wahrscheinlich nicht so gut unterhalten wie mit…« Sie spricht den Namen nicht aus. Stattdessen sieht sie ihn mit einem Blick an, der in etwa bedeutet: Hab bloß keine Angst vor mir. Ich habe mich unter Kontrolle. »Macht nichts. Reden ist schließlich nur Silber und Schweigen ist Gold«, sagt Hanno, grinst verlegen und trottet hinter ihr her.
Hendrik hält vor dem Gartentor und Laura steigt ab. »Danke fürs Heimbringen.« Sie küsst ihn flüchtig auf die Wange. »Bis morgen!« Er wartet, bis sie an der Haustür ist, dann fährt er los, diesmal ohne zu hupen. Zu Hause geht er gleich in sein Zimmer hinauf. Er nimmt die Schreibmappe aus der Schublade, öffnet das kleine Schloss und zieht die schwarze Kladde mit den aufgeklebten Herzstickern heraus. Einen Augenblick blättert er darin, klappt sie dann wieder zu, schließt die Augen und kämpft gegen die Tränen an. Er braucht die Kladde nicht. Jeden Satz darin kennt er auswendig, Wort für Wort. Mein Herz explodiert, wenn ich ihn sehe. Er ist mein absolutes Herz-Ass. Ich will ihn. Und ich werde ihn kriegen. Verbotene Liebe! Sie muss richtig prickeln und knistern und brennen. Ich spüre, dass er mich auch will. Ich muss ihm nur zuerst ein Zeichen geben. Das war nicht seine Lisa! Seine Lisa war anderen gegenüber kühl, ja unnahbar gewesen. Nur er hatte sie berühren dürfen. Seine Hände und Lippen hatten in jenem Sommer jede Stelle ihres Körpers kennen gelernt. »Lass uns noch warten«, hatte sie gesagt, »so ist es doch auch schön!« Und er hatte gewartet. Petting mit Hendrik, das reicht mir nicht mehr. Letztes Jahr auf Korsika waren wir fünfzehn und drei Wochen lang den
ganzen Tag zusammen. Unsere Eltern waren ja immer auf Achse, da haben wir eben damit angefangen. Richtig verliebt in ihn war ich nicht. Wie auch! Wir haben doch schon zusammen im Sandkasten gebuddelt. Er ist beinahe wie ein Bruder für mich. Doch jetzt klammert er total. Ich mag nicht mehr! Okay, Petting, das war schon ganz schön, aber beim ersten Mal muss es jemand sein, den ich mit Haut und Haaren will. Und ich will IHN! Hendrik presst die Lippen fest aufeinander. Bloß nicht schreien! Er legt die Kladde in die Schublade zurück und sperrt zu. Dann setzt er sich an den PC. Nach einer Weile klopft seine Mutter an die Tür. »Kommst du bitte zum Abendbrot runter?« Er antwortet nicht, kurz darauf hört er ihre Schritte wieder auf der Treppe. Ihr Sohn braucht noch Ruhe. Er steht wahrscheinlich unter Schock. Seither betreten seine Eltern nicht mehr unaufgefordert sein Zimmer. Selbst wenn er »Herein« sagt, öffnen sie die Tür nur zögernd, als erwarteten sie etwas Unheimliches dahinter. Vielleicht, dass er sich in ein Monster verwandelt hat, das heimtückisch in einer Ecke lauert. Sie klopfen an und lassen ihm genug Zeit, wieder in seine Haut zu schlüpfen und eine menschliche Gestalt anzunehmen. Auch wenn das Monster darin weitertobt. Solange seine Schreie stumm bleiben, kann man so tun, als hörte man sie nicht. Er schaltet den PC aus, nimmt die Fototasche und geht hinunter. Im Arbeitszimmer seines Vaters brennt Licht. Die Tür steht einen Spalt offen, er hört ihn dahinter tippen. Als er an der Küche vorbeikommt, sitzt seine Mutter am Tisch und raucht. »Ich muss noch mal weg«, sagt er nur und will vorbeigehen. »Iss wenigstens vorher eine Kleinigkeit.« Sie fragt nicht, wohin er jetzt noch will. Das gehört mit zu ihren Rücksichten
ihm gegenüber. Doch er versteht sich inzwischen darauf, dahinter ihre Fragen zu hören und ihre Unruhe zu spüren. In solchen Momenten fühlt er sich noch mit seinen Eltern verbunden. Der Faden ist noch nicht gerissen. Doch er will, dass er endlich reißt! Er will frei sein von allem. Dann kann er gehen. Dann kann er mit einem Schlag alles beenden. Wie Lisa. Er betritt die Küche, setzt sich zu seiner Mutter an den Tisch, greift nach einem belegten Brot und gießt sich ein Glas Milch ein. »Hat Vater schon zu Abend gegessen?«, fragt er kauend. »Er arbeitet. Nachher muss er noch zu einem Kunden.« Hendrik trinkt die Milch in einem Zug, dann springt er auf. »Kann spät werden, ich möchte ein paar Nachtfotos machen.« Seine Mutter nickt nur und drückt die Zigarette aus. Auch jetzt keine Fragen: Seit wann fotografierst du wieder? Hast du wieder Freude daran? Hendrik steht einen Moment unschlüssig da, dann gibt er ihr einen raschen Kuss auf die Wange und geht. Im Flur nimmt er Helm und Lederjacke vom Haken und verlässt das Haus.
Eine weitere Herz-Ass-Mail! Ich hab heute in der Lagune als Test so ganz beiläufig Herz-Ass fallen lassen. Hanno guckte mich daraufhin so an, als hätte ich ein Geheimnis zwischen uns beiden ausgeplaudert. Sind die Mails vielleicht doch von ihm? Die von heute: Das bekannte Herz, beim Anklicken explodiert es in tausend Splitter und drei Transparente flattern heraus: Ich denke an dich! Ich will dich! Ich kriege dich! Dann setzen sich die Splitter wieder zu einem pulsierenden Herzen zusammen.
Das Ganze mit esoterischem Sound untermalt, zu dem so eine verruchte, rauchige Männerstimme einen dazu sehr passenden Text spricht: »… im Klee, da hat der Mai ein Bett gemacht, da blüht ein süßer Zeitvertreib mit deinem Leib – die lange Nacht. Da will ich sein im tiefen Tal dein Nachtgebet und auch dein Sterngemahl.« Ziemlich eindeutiges Angebot! Also, wenn ich mal Detektiv spiele, fällt mir wieder nur Hanno ein. »Der letzte Maisonntag, an dem du süße siebzehn bist!« So wie er das sagte, klang es unheimlich lieb. Vielleicht hab ich mich deswegen überrumpeln lassen? Ich muss endlich mit ihm reden und ein paar Sachen richtig stellen. Auch was Hendrik angeht. Was er sich da wohl alles zusammenphantasiert! Hendrik hat mich übrigens nach der Lagune noch kurz auf eine Cola in die Stehpinte beim Supermarkt eingeladen. Ich hatte das Gefühl, er wollte mir was sagen. Irgendwas Wichtiges. Er wirkte auf einmal bedrückt. Aber das dauerte nur einen Augenblick. Dann sind wir aufs Thema Schauspielerei gekommen. Er ist genauso film- und theaterversessen wie ich. Nach dem Abi würde er gern auf die Filmhochschule gehen und später Kameramann werden. Das erste Mal, dass er etwas ganz Persönliches von sich erzählt hat. Ich gebe zu, dass mich seine distanzierte Art ziemlich neugierig macht. Er ist wie eins von diesen Riesenpaketen, die man manchmal zum Geburtstag oder zu Weihnachten kriegt. Erst muss man tausend Schichten aufpacken, bis man auf den Kern der Sache stößt. Und der ist entweder besonders kostbar oder besonders banal. Hendrik hat mich dann nach Hause gefahren. Papa hat wieder ein ziemlich angesäuertes Gesicht gemacht, als ich reinkam.
Dabei kennt er Hendrik gar nicht. Nur seine Moped-Hupe, die er nicht mal betätigt hat! Aber Papa ist Hannos Fahrradklingel lieber. Zum Überfluss fing auch Phil beim Abendessen noch an: »Dein neuer Lover scheint ein bisschen gestört zu sein!« Ich war sauer und wir kriegten richtig Zoff am Tisch. Sonst spricht Papa dann ein Machtwort, er will zu Hause seine Ruhe haben. Doch diesmal hat er Phil nicht zurückgepfiffen. Keine Frage, wie ich das interpretieren muss! Klar ist Hendrik nicht so ein offenes Buch wie Hanno, dem die Seele direkt aus den Augen schaut. Aber Schluss jetzt! Gleich ist Mitternacht. Geisterstunde. Da sieht man schon mal, was es gar nicht gibt. Gespenster!
Hendrik stellt das Moped auf dem kleinen Parkplatz neben dem italienischen Eiscafé ab und geht hinein. Hinter dem Tresen steht der junge Mann von gestern Abend. Er erkennt ihn gleich: »Wieder einen Prosecco?« »Einen Espresso zum Ausnüchtern«, antwortet Hendrik grinsend. »Ist deine Fotoreportage gelungen?« »Sie ist noch im Entwickler-Bad.« »Na dann, viel Erfolg. Wie soll sie denn heißen?« »Nachtleben in italienischen Cafés oder so ähnlich.« »Wie wär’s denn damit: Mach nachts amore oder komm ins Il Dottore.« »Nicht schlecht. Ich werde dich als Co-Autor erwähnen.« »In Ordnung. Ich heiße Paolo Pavarotti. Hab dieselben Ahnen wie Luciano Pavarotti.« Er schiebt Hendrik augenzwinkernd den Espresso zu. Hendrik nimmt die Tasse und geht hinaus. Er setzt sich an denselben Tisch wie gestern Abend. Von hier aus hat er die
Wohnanlage und den Parkplatz gegenüber im Blick. Er musste gestern lange warten, bis sich drüben etwas tat. Erst gegen halb elf abends kam Lechner nach Hause. Den Golf parkte er an derselben Stelle wie neulich. Kurz darauf ging im zweiten Stock Licht an und Lechner öffnete die Balkontür. Nach ein paar Minuten nahm Hendrik hinter einem kleinen geriffelten Fenster Lechners Konturen wie einen Schattenriss wahr: Er zog sich aus und verschwand mit zwei Schritten aus seinem Blickfeld. Wahrscheinlich unter die Dusche. Nach zehn Minuten tauchte er wieder auf und trocknete sich ab. Dann ging er mit bloßem Oberkörper durchs Zimmer, schloss die Balkontür und ließ die Rollos runter. Ende der Vorstellung. »Bist du Hobby-Fotograf?«, wollte dieser Paolo wissen, als er anschließend eine Aufnahme von dem mit Lampions geschmückten Garten des Eiscafés machte. »Noch«, antwortete Hendrik nur. »Willst du damit später mal Kohle machen?« In dem Augenblick läutete das Telefon am Tresen und Hendrik konnte sich die Antwort sparen. Jetzt wartet er schon wieder seit einer Stunde. Inzwischen hat er den zweiten Espresso getrunken. Der blaue Golf steht immer noch drüben. Die Fenster von Lechners Wohnung sind gekippt, es scheint aber, als sei er nicht zu Hause. Jedenfalls hat er sich bis jetzt noch nicht blicken lassen. Oder schläft er? Am Nachmittag um vier? Hendrik steht auf, bezahlt und will zu seinem Moped gehen. Doch dann zögert er. Soll er es versuchen? Er überquert die Straße und geht auf die dritte Tür der Wohnanlage zu.
Hanno füllt gerade die Spülmaschine, als das Telefon läutet. Er sprintet in den Flur und hebt ab. Laura! »Wollen wir uns gleich treffen?« Sein Herz stolpert. »Wo?«, fragt er heiser vor Aufregung und schluckt. »Draußen in der Waldbühne? In einer halben Stunde?« »In zwanzig Minuten!« »In einer halben Stunde.« Sie zögert und lacht leise. »Ich kann ja nicht fliegen wie du.« Sie legt noch nicht auf. Hanno spürt, dass sie noch auf etwas wartet. Er will ihr was Verrücktes sagen, dass sie trotzdem ein Engel ist, auch wenn sie nicht fliegen kann, und dass er sie gern als seinen Schutzengel engagieren würde. »Okay?«, fragt sie vorsichtig nach. »In fünfzehn Minuten! Ich nehme den Turbo-Gang.« Sie lacht wieder und legt auf. Er sprintet die Treppe hinauf ins Bad und prüft sein Aussehen im Spiegel: Fieber in den Augen, das Innenleben knapp vorm Siedepunkt! Er hält sein Gesicht unters kalte Wasser, dann seine Hände. Das kühlt ihn etwas runter. Dann sieht er noch einmal in den Spiegel. Hoffentlich überlebst du das! Unten steckt er den Schlüssel ein und wirft die Haustür hinter sich zu. Halt, die Spülmaschine! Kann warten. Schließ wenigstens ab! Wieso? Bei einem von der Kripo steigt schon keiner ein. Doch dann steckt er den Schlüssel ins Schloss, schließt zweimal ab, schnappt sich sein Fahrrad und ist schon wie der Blitz unterwegs.
Außer Atem kommt er in der Waldbühne an. Er hat genau fünfzehn Minuten gebraucht. Rekordverdächtig. Irgendwann wird er die Tour de France gewinnen. Laura ist noch nicht da. Gibt es hier im Garten einen freien Tisch? Er will mit ihr allein sein. Drinnen wird sie ja nicht sitzen wollen bei so einem Bilderbuch-Wetter. Alles besetzt. Er geht auf zwei Kids von ungefähr dreizehn an einem der Tische im Halbschatten zu. Die beiden halten Händchen und knutschen. »Ihr kriegt von mir drei Euro und ich krieg euern Tisch, okay?« »He, Alter, is’ was?« Die Stimme des Jungen kiekst schon. Die beiden sehen ihn drohend an. »Keine Panik!«, beruhigt Hanno sie und gibt auf. Als ein Tisch in voller Sonne frei wird, macht er einen Spurt darauf zu. Noch zehn Minuten. Er wird zählen, bis sie da ist. Doch in seinem Kopf beginnt es plötzlich zu rotieren: Was hat diese spontane Verabredung zu bedeuten? Sie haben sich doch vorhin in der Schule gesehen, da hat sie keine Andeutung gemacht. Wahrscheinlich will sie mit ihm über das reden, was an diesem verflixten Sonntag so schief gelaufen ist. In dem Fall stehen seine Karten schlecht. So nah am Ziel seiner Träume und dann hat er komplett versagt! Und nachher hat sie geweint. Seither weicht sie ihm irgendwie aus, das spürt er. Aber eben am Telefon, da klang ihre Stimme doch, als würde sie sich auf ihn freuen. Dreiundfünfzig, vierundfünfzig… Bei hundert schaut er wieder auf seine Armbanduhr. Hunderteins, hundertzwei, hundertdrei… Dabei behält er den Radweg im Auge. »Hallo, du Turbo-Sprinter«, hört er ihre Stimme von hinten. Er dreht sich blitzschnell zu ihr um. Von welcher Seite ist sie gekommen? Er hat doch die ganze Zeit auf den Weg gestarrt! »Mein Vater hat mich hier abgesetzt. Er muss zum Zahnarzt und holt mich in ungefähr einer halben Stunde wieder ab.«
Ach so ist das! In einer halben Stunde schon! Dann kann er sich denken, was jetzt kommt. Das hat sie geschickt gemacht. Mittendrin im Drama wird sie sagen: Tut mir Leid, aber ich muss jetzt… mein Vater… Und so weiter. »Laura, bitte…« Mach’s kurz und schmerzlos, will er sagen. Aber das funktioniert ja nicht! Kurz vielleicht, aber nicht schmerzlos. Und so will er es auch gar nicht. Es soll dauern! Ewig. Auch wenn es wahnsinnig wehtut. Wenigstens diesen Schmerz will er haben, überall da, wo er Laura spürt: Kopf, Bauch, Herzgegend. Doch was er will, ist ihr bestimmt egal. Tschüss, Hanno, da kommt mein Vater. Und dann wird sie einfach aufstehen und gehen. »Hanno, ich muss dir was sagen«, fängt sie an und nippt an der Maibowle, die er schon bestellt hatte. Jetzt wird sie es gleich aussprechen. Dann ist es gesagt und er kann es nicht mehr ignorieren. Nicht mehr an den Signalen vorbeisehen, die sie ihm dauernd schon gibt: Hanno, du bist wirklich mein Freund, aber… Nein! Bloß nicht so. Sie soll nur richtig draufhauen. Nägel mit Köpfen machen. Das andere kriegt er nicht hin. Dieses: Du bist wirklich mein Freund, aber… Nicht nach dem, was zwischen ihnen war. »Hanno, das, was am Sonntag zwischen uns passiert ist, das war…« Warum zögert sie noch? Sie sieht ja, dass er auf alles gefasst ist. Sie kann es ihm doch ansehen! »… das war sehr schön.« Ist das jetzt die Erlösung? Der Himmel? Die Wolke Sieben, auf der er mit ihr schweben will? »Nur…« »Nur dass du mich nicht liebst.« Klar, er ist ein Idiot. Ein kompletter Idiot. Klammert sich an jeden Strohhalm. Klammert überhaupt.
»Tut mir so Leid! Es liegt nicht an dir. Bestimmt nicht! Es ist…« Es liegt nicht an ihm. Da kann er ja beruhigt sein! Auch wenn er gerade in einen Tunnel reinrast und genau auf diese schwarze Wand am Ende zu. »Es ist wegen Hendrik«, sagt er tonlos. Wenn sie jetzt Ja sagt, macht das gar nichts mehr. Die Schmerzgrenze hat er schon erreicht. Sogar überschritten. Er spürt sich kaum mehr. Seine Gedanken sind Nebelschwaden, sein Innenleben ist im freien Fall. »Nein, es ist nicht wegen Hendrik. Bestimmt nicht. Wegen niemandem sonst.« Wegen niemandem sonst? Er sieht sie an. Ja, es stimmt. Wegen niemandem sonst. Sie lügt jetzt nicht. Also doch nur seinetwegen. Er selbst ist schuld. In diesem Augenblick verschwindet der Nebel in seinem Hirn und er spürt, wie der Gedanke alles andere verdrängt und den Schmerz zurückbringt: Es liegt an ihm selbst. Wenn doch ihr Vater jetzt käme! Tschüss, Hanno, dann steht sie auf und geht und er kann endlich flennen, was das Zeug hält. Als sie die Hand auf seinen Arm legt und »Hanno« sagt, brechen alle Dämme bei ihm. Das bringt er jetzt nicht! Er springt auf und rennt los. »Hanno!« Nein. Das Spiel hier hat er doch sowieso verloren! Eine Trostkarte wäre jetzt das Letzte. Er versucht die Tränen zurückzuhalten, während er an seinem Fahrrad rumfummelt, um das Schloss zu öffnen. Als er sich aufrichtet, sieht er, wie sie auf ihn zukommt. Er kämpft einen Moment mit sich, dann geht er ihr entgegen. Sie sind beide verlegen, als sie voreinander stehen.
»Vielleicht krieg ich’s ja doch gebacken«, sagt er und versucht ein Lächeln. Sie nickt deprimiert. »Es hat wirklich nichts mit dir zu tun, Hanno. Ich bin im Moment total durcheinander und weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Lass uns vorläufig nur Freunde sein, ja? Vielleicht…« Sie spricht nicht weiter. Freunde. Er hat gewusst, dass sie das sagen würde. Aber erst mal braucht er Zeit. Und an ihr Vielleicht glaubt er nicht. Er sollte sich jetzt von ihr loseisen. Warum steht er noch wie ein Volltrottel vor ihr? »Komm«, sagt sie und zieht ihn an der Hand wieder zum Tisch zurück. Braves Hündchen Hanno! Fehlt nur, dass er gleich noch Männchen macht. Er lässt es zu, dass ihre Finger über seine Hand streicheln, und hängt seine Augen in ihre. Okay, das hier tut mordsmäßig weh. Aber er wird es überleben. Schließlich will er ja hundert Jahre alt werden!
Hendrik drückt auf den untersten Klingelknopf an der Tür der Wohnanlage: Gaby und Hans Becker. Niemand öffnet. Er wartet, klingelt noch einmal, dann probiert er es woanders: Emilie Ahnert, direkt unter Lechners Namensschild. Nach ein paar Sekunden hört er eine etwas zittrige Frauenstimme aus der Gegensprechanlage: »Wer ist da?« »Ein Eilbrief!« Kurz darauf geht der Summer und er lehnt sich gegen die Tür. Dann ist er im Haus. »Zweiter Stock«, ruft die Frauenstimme durchs Treppenhaus hinunter. Hendrik sieht sich kurz im Flur um: rechts eine Reihe mit Briefkästen. Er geht daran vorbei und überfliegt die Namen.
Unter dem vierten, der einem Rick Kroger gehört, klebt noch ein Zettel: Bernd Lechner. »Zweiter Stock«, ruft es wieder von oben. Hendrik springt die beiden Treppen hinauf. »Oh, entschuldigen Sie, dass ich bei Ihnen geklingelt habe«, sagt er höflich schon auf der letzten Stufe zu der alten Dame, die an der Tür steht. »Eigentlich wollte ich zu Beckers. Aber die scheinen nicht zu Hause zu sein.« Seine Stimme klingt gepresst und sein Herz klopft ihm bis zum Hals. »Ach, für Beckers! Die sind bestimmt noch bei der Arbeit. Ich hab mich schon gewundert, wer mir einen Eilbrief schickt.« »Trotzdem schönen Dank, dass Sie geöffnet haben«, sagt Hendrik höflich und versucht ein Vertrauen erweckendes Lächeln. Er kommt noch einen Schritt näher und wirft dabei einen raschen Blick auf das Schild der Nachbartür. Rick Kroger, steht da, sonst nichts. »Soll ich den Brief für Beckers entgegennehmen?«, bietet die alte Dame an. »Danke, aber ich habe ihn schon unten in den Briefkasten geworfen«, antwortet Hendrik. Er spürt seinen Puls in den Schläfen pochen. Wenn Lechner zu Hause ist? Wenn er gleich die Tür öffnet, weil er ihn an der Stimme erkannt hat? Doch er darf sich die Gelegenheit hier nicht entgehen lassen. »Vielen Dank noch mal«, sagt er liebenswürdig, zögert kurz, dann wagt er es: »Oh bitte sehr, haben Sie vielleicht eine Kopfschmerztablette und ein Glas Wasser für mich?« Er spürt den misstrauischen Blick der alten Dame, aber er weicht ihm nicht aus und versucht, auch seine Augen bitten zu lassen. »Kommen Sie einen Moment herein«, bietet sie ihm an, nun offenbar von seiner Harmlosigkeit überzeugt. Sie tritt zur Seite und lässt ihn vorbei in die Wohnung. Dann dreht sie den
Schlüssel im Schloss einmal um. Wahrscheinlich aus Gewohnheit, denn sie muss ihn ja gleich wieder hinauslassen. »Wissen Sie, wenn man so alt ist wie ich und allein wohnt…« Sie beendet den Satz nicht und humpelt an ihm vorbei in die Küche. »Nehmen Sie doch Platz.« »Danke. Aber nur einen Augenblick.« Er setzt sich an den Küchentisch. Sie holt ein Glas und eine Flasche Mineralwasser und stellt beides vor ihn hin. Dann sucht sie in einer Schublade nach den Tabletten. »Heutzutage muss man wirklich vorsichtig sein«, sagt Hendrik und überlegt krampfhaft, wie er zum Thema kommen kann. »Hoffentlich haben Sie wenigstens nette Nachbarn, die Ihnen mal behilflich sein können?« »O ja. Der Herr Kroger ist sehr nett. Doch er ist im Moment verreist. Jetzt wohnt ein Bekannter, ein Lehrer, so lange in seiner Wohnung.« Sie reicht ihm eine Aspirin-Tablette. »Vielleicht öffnen Sie sie selbst, meine Hände sind etwas zittrig.« »Oh, natürlich! Vielen Dank.« Er reißt die Alufolie auf – auch seine Hände zittern dabei –, wirft die Tablette ins Glas und gießt sich Mineralwasser ein. »Ja, gute Nachbarschaft ist wichtig. Besonders, wenn man schon älter und allein ist«, redet er weiter und nippt am Glas. Die Frau setzt sich jetzt zu ihm an den Tisch. »Ein so junger Mensch wie Sie und schon Kopfschmerzen«, seufzt sie. »Migräne«, sagt er rasch. »Hab ich von meiner Mutter geerbt.« Dabei lächelt er gewinnend. Wie soll er wieder aufs Thema zurückkommen? »Vielleicht kann ich mich ja für Ihre Freundlichkeit revanchieren? Wenn Sie mal Hilfe brauchen…« »Danke, Sie sind ein netter Junge. Das darf ich doch sagen? Aber ich lasse mir alles kommen. Die Lebensmittel und was
ich sonst noch brauche. Höchstens wenn ich mal zum Arzt muss…« »Kann Sie Ihr Nachbar nicht mal zum Arzt fahren? Dieser Freund von Herrn… Kroger?« Sie wird redselig: »Ach, der Herr Lechner, der ist viel unterwegs. Und ich kenne ihn ja kaum. An den Wochenenden ist er meistens nicht da.« Sie seufzt, bevor sie weiterredet. »Überhaupt, die Sonntage! Als alter Mensch weiß man gar nicht, wie man sie rumkriegen soll.« »Also…«, er zögert, »… wenn es Ihnen recht ist, kann ich Sie sonntags vielleicht mal besuchen. Ich fahre ja manchmal in das neue Schwimmbad. Da komme ich direkt hier vorbei.« »Das würden Sie tun?« Sie scheint jetzt wirklich Vertrauen zu ihm gefasst zu haben und sich zu freuen. »Klar. Eines Tages werde ich wahrscheinlich auch froh sein, wenn mich mal einer besucht.« Er trinkt das Glas mit einem Zug leer, dann steht er auf. »So, jetzt muss ich aber gehen. Übrigens, ich heiße He… Hanno.« »Ich bin Frau Ahnert. Wenn Sie mal wieder vorbeikommen, melden Sie sich einfach mit Hanno. Wissen Sie, ich mache ja nicht jedem auf. Aber Ihnen…« Sie sieht ihn verschmitzt an, dann humpelt sie vor ihm her und schließt die Tür auf. Links an der Wand hängt ein Schlüsselbrett mit zwei Schlüsseln, einer mit einem Schild. Er dreht es hinter ihrem Rücken blitzschnell um. Kroger. »Auf Wiedersehen, Frau Ahnert. Und vielen Dank. Bis bald mal.« »Auf Wiedersehen, Hanno. Und wenn Sie mal Lust auf einen guten Sonntagskaffee und Erdbeerkuchen haben…« Er winkt ihr von der Treppe aus kurz zu und eilt dann die Stufen hinunter. Er hört noch, wie oben der Schlüssel im Schloss gedreht wird, dann ist er mit einem Satz draußen. Jetzt bloß schnell weg hier!
Ich musste es Hanno sagen. Seit Sonntag war er total verunsichert. Und ich zunächst auch. Ich wusste nicht: Sind wir jetzt irgendwie zusammen? Oder ist das nur mal so passiert, einfach aus der Situation heraus? Für mich ja, denn ich bin nicht in ihn verliebt. Aber für ihn ist das natürlich ganz anders. Deshalb habe ich mir in den letzten Tagen auch tausend Gedanken darüber gemacht, wie ich ihm so schonend wie möglich erklären soll, warum ich nicht mit ihm schlafen will. Jedenfalls im Moment nicht. Was ich ihm heute gesagt habe, war bestimmt hart für ihn. Und auch für mich. Ich weiß nicht, wie Hanno sich mir gegenüber jetzt verhalten wird. Vielleicht ist in der nächsten Zeit Sendepause zwischen uns. Er muss das ja erst mal schlucken! Ich hoffe sehr, dass wir Freunde bleiben können. Eigentlich hat er die besten Voraussetzungen, dass man sich in ihn verlieben kann. Und trotzdem! Für mich fehlt was. Was bloß? Vielleicht ja, dass ich nicht die geringste Anstrengung machen musste, um ihn zu erobern. Er kann es gar nicht verheimlichen, dass er in mich verliebt ist. Aber ich brauche auch den Anreiz, das Prickeln, ein bisschen flirten und taktieren. Das ganze Vorspiel-Programm eben. Kann ich mich vielleicht nur in jemanden verlieben, den ich nicht kriegen kann? Und dann bin ich auch unglücklich. Weil Unglücklichsein so schön ist? Bin ich etwa eine Masochistin in Sachen Liebe? Ganz entschieden nicht! Ich glaube, über die Liebe sind sogar schon Doktorarbeiten geschrieben worden. Aber wahrscheinlich klaffen Theorie und Praxis nirgendwo mehr auseinander als hier.
Ich hab Hanno heute nicht fragen wollen, ob die Herz-AssMails von ihm sind. Wenn ja, werden in Zukunft wohl keine mehr kommen. Er war so frustriert, da hab ich’s einfach nicht über mich gebracht, davon anzufangen. Ob das richtig war? Hat er vielleicht sogar daraufgewartet, dass ich ihn frage?
Hendriks Mutter lehnt im Morgenmantel an der offenen Terrassentür und raucht. Sein Vater ist noch nicht aufgestanden. Freitags kommt er oft erst in der Nacht von Kundengesprächen zurück und schläft an den Wochenenden aus. »Gibt’s Frühstück?«, fragt Hendrik. Seine Mutter nickt, nimmt noch einen tiefen Zug und drückt die Zigarette aus. Dann folgt sie ihm in die Küche und setzt sich zu ihm an den Tisch. Hendrik gießt den Kaffee ein und hält ihr den Korb mit den Brötchen hin. Sie schüttelt den Kopf. »Danke, lieb von dir, aber ich hab keinen Appetit.« Sie zieht die Zigarettenschachtel aus dem Morgenmantel und zündet sich eine an. Hendrik nimmt sich ein Brötchen und stellt den Korb zurück. Klar, sie hat ja schon gefrühstückt! Fünf Zigaretten mindestens. Seit einem Jahr hat sie wieder zu rauchen begonnen, stärker als vorher. Er kaut und sieht an ihr vorbei. Sie inhaliert tief und legt den Kopf leicht in den Nacken, wenn sie den Rauch ausstößt. Hendrik konzentriert sich auf den Sekundenzeiger der Küchenuhr. Tickticktick. Das einzige Geräusch, das sich in ihr Schweigen mengt – gleichgültig, mechanisch, unerbittlich. So kann er diesen immer stärker werdenden Drang beherrschen, einfach loszuschreien und erst wieder aufzuhören, wenn er ganz leer ist.
»Hast du heute was vor?«, fragt seine Mutter endlich. »Ich will ans Meer, ein paar Fotos machen.« Er hat ihr ein Signal gegeben: Frag mich was! Frag: Wann hast du wieder mit dem Fotografieren angefangen? Doch sie fragt nichts. Sie weiß so gut wie er, dass dadurch auch nichts ins Lot kommen wird. Lieber gar nicht dran rühren. »Dann bist du zum Mittagessen nicht da?«, sagt sie stattdessen, halb Frage, halb Feststellung. »Nein.« Er kaut weiter. »Hast du genug Geld mit?« »Klar. Dann also…«, er steht auf und stellt sein Gedeck in die Spüle, »… bis später.« »Schönen Tag«, sagt sie und bleibt sitzen. In seinem Zimmer schließt er die Schreibmappe auf und holt die schwarze Kladde heraus. Er steckt sie in seine Fototasche und geht. Auf dem Flur begegnet er seinem Vater, der aus dem Bad kommt. »Willst du schon weg?« »Ja, ans Meer«, sagt er knapp. »Allein?« »Mal sehen. Vielleicht kommt ja jemand aus meiner Klasse mit«, antwortet er vage. »Dann einen schönen Tag«, sagt sein Vater. »Danke.« Hendrik geht schnell die Treppe hinunter. Durch die halb geöffnete Wohnzimmertür sieht er seine Mutter wieder auf der Terrasse stehen. »Tschüss, bis heute Abend«, ruft er im Vorbeigehen. »Tschüss, Hendrik«, sagt sie, wendet sich einen Moment zu ihm um und zupft dann ein paar verwelkte Blüten im Kübel ab.
Hanno springt vom Frühstückstisch auf und entschuldigt sich: »Sorry, aber ich muss los.«
»Du könntest auch mal zu Hause bleiben und mir im Garten helfen«, sagt sein Vater in vorwurfsvollem Ton. »Die Hecke muss geschnitten werden.« »Muss das ausgerechnet heute sein? Du weißt doch genau, dass ich zur Demo will!« »Ja! Den Weltverbesserer spielen. Wie ernst ist es dir denn wirklich mit dem Demonstrieren? Für euch ist das heute doch nur noch ein großes Happening.« »Klar«, sagt Hanno ungerührt, obwohl er innerlich vor Wut schäumt. »Alles eine riesige Party für uns, das ganze Leben.« »Warum soll er nicht zur Demo gehen?«, mischt sich seine Mutter gereizt ein. Sie ist oft auf Hannos Seite. »Wir sind früher doch auch für und gegen alles Mögliche auf die Straße gegangen. Fast jedes Wochenende waren wir unterwegs.« Hannos Vater sagt darauf nichts und gießt sich noch einen Kaffee ein. »Bis du die Fronten gewechselt hast«, sagt Hanno. Das konnte er sich jetzt einfach nicht verkneifen. Sein Vater steht wortlos vom Tisch auf und geht an Hanno vorbei, als wäre der Luft. »Hanno!« Das war jetzt wohl selbst für seine Mutter zu dick. »Du kannst dich aber auch mal zusammennehmen!« Sie läuft seinem Vater in den Garten nach. Hanno rennt in sein Zimmer, wirft sich aufs Bett und starrt an die Decke. Nein, hier bleibt er nicht länger! Er wird sich eine eigene Bude suchen. Gleich morgen. Mit seinem Vater weiter unter einem Dach, das kann nicht mehr lange gutgehen. Polizistensohn erschoss Vater mit dessen Dienstwaffe. Kalt geplanter Mord oder Affekthandlung? Wie kam der Sohn an die Waffe seines Vaters? Quatsch, solche Schlagzeilen wird es über ihn nicht geben. Nie! Was ist nur mit ihm los in der letzten Zeit? Warum geht alles immer so verdammt schief? Weil er das eine nicht aus
dem Kopf kriegt? Er muss eben begreifen, dass man Liebe nicht erzwingen kann. Sie will ihn nicht und damit basta! Das ist doch nicht so schwer zu kapieren! Im Kopf hat er es ja längst gecheckt, aber das Gefühl hinkt ziemlich hinterher. Durch das geöffnete Fenster hört er seine Eltern. Er steht auf und schaut hinunter. Sein Vater hat inzwischen bei den Rabatten ein tiefes Loch gegraben. Zu zweit hieven sie den Rosenstrauch aus dem zu klein gewordenen Kübel und setzen ihn ein. O du schöne, heile, kleine Welt da unten! Die er morgen verlassen wird. Vielleicht. Und wenn er in eine Besenkammer ziehen muss! Aber erst mal schreibt er eine Nachricht in Großdruck an seine Erzeuger und legt sie ihnen auf den Küchentisch: Hände weg von der Gartenhecke! Euer lausiger Sohn macht das, wenn er vom Happening zurück ist. Noch vor Einbruch der Nacht. Schönen Tag auch! Schließlich liebt er die beiden! Und würde sie niemals für zwei andere Exemplare eintauschen wollen.
Hendrik stoppt und holt die Straßenkarte heraus. Etwa achtzig Kilometer bis ans Meer bei C. In zwei Stunden kann er dort sein. Er will Schnappschüsse machen, Strandszenen einfangen. Davon wird es genug geben an einem so schönen frühsommerlichen Sonntag. Warum belügt er sich? Die Strandszenen interessieren ihn nicht. Nicht mehr. Seit einem Jahr hat er weder gefilmt noch Fotos gemacht. Doch, das Foto neulich Abend in dem italienischen Café. Aber das war was anderes. Das hatte Alibifunktion. Er hatte ja auf ein ganz anderes Motiv Jagd gemacht. Vergeblich.
Und genau deswegen hat er seine Fotosachen auch heute mitgenommen. Für alle Fälle! Obwohl er sich wirklich vorgenommen hatte ans Meer zu fahren. Aber was bringt das, Lechner zu beschatten? Er wird ihn sowieso nicht vor die Linse kriegen. An den Wochenenden ist er selten da, hat diese Frau Ahnert gesagt. Hofft er auf einen spektakulären Schnappschuss, mit dem er ihn bloßstellen kann? Das ist doch nur eine fixe Idee von ihm! Wer weiß! Er muss Geduld haben. Ihn beschatten und auf einen günstigen Augenblick warten. Der ist genau so ein Typ! Das hat er gleich im ersten Moment gespürt. Arrogant und von seiner Unwiderstehlichkeit überzeugt. Wie Wailand. Auch einer mit der Maske des perfekten Saubermanns. Und dahinter… … im Klee, da hat der Mai ein Bett gemacht, da blüht ein süßer Zeitvertreib mit deinem Leib – die lange Nacht. Da will ich sein im tiefen Tal dein Nachtgebet und auch dein Sterngemahl. Hatte Wailand Lisa nur benutzt? Hatte er mit ihr etwas angefangen und sie dann einfach abserviert? Ihr letzter Eintrag in der Kladde: Ich muss mit ihm reden. Für mich ist das keine bloße Schwärmerei. Ich liebe ihn! Er wird mir zuhören. Ich habe ihm einen Zettel aufs Bett gelegt; seine Tür war offen. Heute Abend um zehn Uhr oben auf dem Plateau. Wenn er nicht kommt, dann… dann will ich nicht mehr leben! Aber er wird kommen. Bestimmt. Es war der Morgen nach der Grillparty am Meer. Hendrik beobachtete, wie Lisa mit dem Zettel in der Hand die Treppen zum zweiten Stock hinaufstieg, wo die Jungen schliefen. Wailand hatte dort auch sein Zimmer. Als sie in den Frühstücksraum zurückkam, ging er selbst hinauf. Er sah sich
oben im Gang um – niemand. Da drückte er die Klinke an Wailands Tür hinunter. Sie war offen. Er huschte ins Zimmer, entdeckte den Zettel auf dem Bett und überflog ihn. Dann legte er ihn wieder zurück und verließ schnell das Zimmer. Wailand war wirklich zum Plateau gekommen, allerdings zu spät. Lisa war schon auf dem gefährlichen Abstieg: hinunter ans Meer. Nur der Trampelpfad mit der Holzbrücke über die Klippen führte dorthin. Kaum einen Meter breit und nur mit einem Halteseil – darunter schäumte das Meer. Dort, auf dem Steg, stand Hendrik. Er war vom Meer aus hochgestiegen. »Bitte tu es nicht, triff dich nicht mit ihm!«, bettelte er. Doch sie wehrte ihn ab. »Lass mich, Hendrik! Lass mich vorbei!« Er hielt ihr seine Hand hin. Auf einmal war es passiert. »Dann will ich nicht mehr leben!« Dieser Satz dröhnt in seinem Kopf. Mit einem einzigen Blick hatte ihn Wailand später zum Schweigen gebracht: Was auch immer du weißt, halt den Mund, sonst packe ich aus! Was hatte er von dort oben vom Felsen aus wirklich gesehen? Er stand mindestens dreißig Meter über ihnen. Und es war Nacht. Aber eine Vollmondnacht… Wailand ist davongekommen. Wenn Lechner auch so einer ist, dann wird er ihn zur Strecke bringen! Dafür ist ihm jedes Mittel recht. Nicht jedes. Er muss Laura aus allem herauslassen. Was er mit ihr vorhat, ist gemein. Er darf sie nicht auf Lechner ansetzen. Den muss er auf andere Weise zur Strecke bringen. Wieso denn nicht durch Laura? Sie ist wie alle Mädchen. Wie Lisa. Sie sind alle gleich. Verlockend und… falsch. Hendrik steckt die Straßenkarte ein, wendet und fährt zum Verkehrskreisel zurück. Nach wenigen Minuten ist er beim Il Dottore.
Zehn Uhr, Lechners Golf ist nicht auf dem Parkplatz. Er ist nicht da, genau wie seine Nachbarin gesagt hat. Ist es für einen Sonntagsbesuch bei ihr nicht zu früh? Eine halbe Stunde wartet er besser noch. Er betritt das Café. Heute bedient eine junge Frau. Sie serviert den beiden Gästen am Fenster ein Frühstück. Hendrik setzt sich an den Tresen. Als sie zurückkommt, bestellt er einen Cappuccino. »Prima Wetter, was?«, sagt sie und lächelt ihm zu. »Kann man wohl sagen«, bestätigt er. Mit einem Blick schätzt er sie ab. Kann er sie so direkt fragen? Er versucht es: »Sind Sie aus Arbergen? Ich glaube, ich habe Sie neulich in der Lagune gesehen.« »Am letzten Dienstag vielleicht? Da war ich dort.« »Kann sein.« Soll er sie noch einmal fragen, ob sie aus Arbergen ist? Lieber nicht. Sie wird sich wundern, was ihn das angeht. »Ich war heute Morgen eigentlich hier mit jemandem verabredet«, sagt er stattdessen. »Ach ja?« Sie zieht die Augenbrauen hoch und sieht ihn fragend an. »Wie heißt er denn?« Das wird allmählich brenzlig. Wenn sie Lechner wirklich kennt? Vielleicht sogar gut? Und plaudert, wenn er bei ihr mal wieder einen Kaffee trinkt? »Nicht so wichtig«, sagt er lapidar, trinkt seinen Cappuccino aus, zahlt und wünscht ihr einen schönen Tag. »Tschüss.« Sie lächelt ihm noch mal zu, zieht dann eine Zeitschrift unter dem Tresen hervor und beginnt darin zu lesen. Er überquert die Straße und geht schnell auf die Wohnanlage zu. Als er bei Ahnert klingelt, zittert seine Hand. »Wer ist da?« »Ich bin’s. Hen… Hanno!« »Wer?« »Hanno! Der Eilbriefbote von…«
»Ach Sie, der nette junge Mann!« Er hört den Summer und drückt gegen die Tür. Leise hastet er die Treppen hinauf. Sie erwartet ihn schon. »Damit habe ich gar nicht gerechnet, dass Sie mich wirklich mal besuchen«, sagt sie und strahlt ihn an. »Kommen Sie doch rein, ich trinke gerade noch ein Tässchen Kaffee. Und das schmeckt immer besser in Gesellschaft.« Diesmal bittet sie ihn in ihr Wohnzimmer. Es ist mit Möbeln voll gestopft. Überall Spitzendeckchen und Nippes. Sie holt noch ein Gedeck und schenkt ihm eine Tasse ein. »Auch ein Stückchen Erdbeerkuchen?« »Nein danke. Ich hab gut gefrühstückt. Aber Ihr Kaffee ist ganz ausgezeichnet.« Was kann er von ihr über Lechner noch rauskriegen? Wie gut sie ihn kennt und wer dieser Kroger ist, bei dem er wohnt. Vielleicht sein Liebhaber? Hat Tim Recht und ist er doch schwul? »Das Wetter ist schon richtig hochsommerlich«, fängt er an. »Ihr Nachbar, dieser Herr Kroger, macht der Urlaub?« »O nein. Er arbeitet beim Entwicklungsdienst. Irgendwo in Afrika.« »Bestimmt sehr interessant. Und sein Freund wird heute wohl auch unterwegs sein. Bei dem Wetter.« »Der Herr Lechner ist schon gestern früh gefahren. Zum Segeln, hat er gesagt. Er hat ein Boot am Meer.« »Toller Sport. Würde ich auch gerne machen. Ist nur ziemlich teuer.« »Aber vielleicht kann Herr Lechner Sie ja mal mitnehmen. Wenn Sie möchten, mache ich Sie mit ihm bekannt.« Das fehlte noch! Hendrik kann nur mit Mühe ein hysterisches Kichern unterdrücken. »O nein! Ich komme mit Lehrern nicht so gut aus. Schule, das ist nichts für mich.« Er fühlt, wie ihm das Blut in den Kopf schießt und er vor Anstrengung schwitzt.
»Aber ich gehe oft zum Schwimmen, hier in Arbergen. Das ist ja auch Wassersport. Gleich bin ich dort mit Freunden verabredet. Und da dachte ich, ich schau mal kurz bei Ihnen vorbei. Liegt ja auf dem Weg.« Allmählich bekommt er einen Krampf vom Lächeln. »Das war wirklich lieb von Ihnen.« Schnell trinkt er den Kaffee aus und steht dann auf. »Leider muss ich jetzt los. Ich will meine Freunde nicht warten lassen. Danke für den guten Kaffee.« »Schade«, sagt sie. »Das Schwätzchen hat mir richtig gut getan.« Sie bringt ihn zur Tür. Als sie aufschließt und ihm dabei den Rücken zukehrt, nimmt er, einem plötzlichen Impuls folgend, blitzschnell den Schlüssel mit dem Plastikschildchen Kroger vom Haken. Er fühlt das kalte Metall, das seine schwitzige Hand fest umklammert, und schiebt es in die Jeanstasche. »Auf Wiedersehen, Hanno.« Sie lässt ihn an sich vorbei. »Oh, ich hab noch eine Bitte!«, sagt er zögernd, dreht sich zu ihr um und lächelt sie an. »Aber immer, wenn ich sie Ihnen erfüllen kann…« Sie schaut erwartungsvoll. »Darf ich nachher doch noch Ihren Erdbeerkuchen probieren? Nach dem Schwimmen hab ich immer einen Mordshunger.« Sie lacht. »Aber natürlich. Ich freue mich darauf.« Dabei blinzelt sie ihm schelmisch zu. »Also bis später!« Er winkt ihr zu und sprintet die Treppen hinunter. Dort wartet er einen Moment, bis er oben das Schließgeräusch hört. Dann öffnet er die Haustür und wirft sie laut zu. Aber von innen. Jetzt muss er sich erst mal beruhigen! Warum hat er bloß den Schlüssel mitgenommen? Wenn sie es bemerkt? Dann hat sie ihn sofort in Verdacht. Wen auch sonst?
Und schickt die Polizei hinter ihm her. Ins Schwimmbad! Oder gleich in Krögers Wohnung. Er muss sich beeilen! Wenn er weg ist, können sie lange nach ihm suchen. Was weiß diese Frau Ahnert denn schon von ihm! Nicht einmal seinen richtigen Namen. Aber Hanno…? Da wird Lechner doch gleich hellhörig! So häufig gibt es den Namen nicht. Dazu eine Personenbeschreibung, dann ist er schnell bei ihm. Soll er das Risiko wirklich eingehen? Er greift in die Tasche, fühlt den Schlüssel und schließt die Faust darum. Sein Herz trommelt ihm gegen die Rippen. Was jetzt? Aber das ist die Gelegenheit! Er muss es riskieren. Nach zwei Minuten schleicht er sich wieder hinauf und horcht an der Tür von Frau Ahnert. Er hört die Klospülung, dann ihren hinkenden Gang im Flur. Kurz darauf geht der Fernseher im Wohnzimmer an. Irgendein Film scheint zu laufen. Hendrik steckt den Schlüssel leise ins Schloss der Nachbartür und öffnet sie.
Die Demo ist in der Innenstadt angekommen. Alles bleibt friedlich, die Polizei hält sich im Hintergrund. Zwei junge Polizisten stehen bei ein paar Punks. Einer von ihnen scheint einen Witz gemacht zu haben, denn alle brechen in Lachen aus. Noch ein paar Ansprachen über die Megaphon-Anlage, dann bröckelt die Demo allmählich auseinander. Eine afrikanische Trommler-Gruppe bringt auf dem Marktplatz jetzt heiße Rhythmen, die auch Hanno in die Beine fahren. Er wippt mit. Plötzlich tippt ihm jemand auf die Schulter. »Na, hast du dich auch gesellschaftspolitisch engagiert?«
Er dreht sich um. Ines! »Klar, auf den großen Happenings bin ich immer zu finden«, antwortet Hanno grinsend. »Dann warst du auf der falschen Veranstaltung. Das hier ist eine Anti-Globalisierungsdemo und keine Haschparty«, sagt sie halb ernst, halb scherzend und sieht sich um. »Bist du alleine da?« »Nee. Mit noch mindestens tausend Leuten.« »Spaßvogel.« »Was wolltest du denn sonst hören?«, fragt er etwas anzüglich. Bloß nicht das Thema Laura! »Ob du Laura nicht überreden konntest mitzukommen.« Zack! Sie schießt einen Pfeil mitten in sein lädiertes Herz. Kann man ihm denn nicht ansehen, dass er noch Schonung braucht? »Ist nicht so einfach mit den Frauen«, versucht er zu scherzen. »Die lassen sich heutzutage nicht mehr so leicht rumkriegen.« »Schön, dass wenigstens ein paar von euch Y-Chromosomen das inzwischen gecheckt haben.« Das sagt sie mit Biss, lacht dann aber und zeigt rechts ein Grübchen in der Wange. Hatte sie das schon immer beim Lachen? Jedenfalls steht es ihr gut. »Und du? Bist du allein hier?« »Wenn man von den tausend anderen absieht, ja. Übrigens, hast du auch Hunger?« »Hast du denn ein Lunchpaket dabei, das wir uns teilen können?« »Vielleicht kannst du dir ja auch selbst eine Bockwurst leisten«, sagt sie ungerührt. »Die Demo scheint ohnehin beendet zu sein.« »Wo gibt’s denn eine?«, fragt er ohne große Begeisterung. »Am besten schmeckt sie in der Waldbühne«, schlägt sie vor. »Ich hab aber mein Rad nicht dabei. Du musst mich schon auf dem Gepäckträger mitnehmen.«
Auf keinen Fall zur Waldbühne! Das ist der Ort seiner Niederlage. Und an die will er heute jedenfalls nicht erinnert werden. Schon gar nicht im Beisein von Ines. »Da haben wir bestimmt tausend Mitbewerber um freie Plätze.« »Dann eben eine Pizza. Bei mir.« Pizza bei ihr? Das toppt die Waldbühne ja noch! Das erinnert ihn an seine allergrößte Niederlage. »Und deine Eltern?«, fragt er in der Hoffnung, dass sie von der Idee wieder abrückt. »Sind keine Monster.« Er sieht sie nicht an, spürt jedoch ihren Blick und weiß, dass sie lächelt. Was für eine Augenfarbe hat sie eigentlich? Grün? Genau. Grüne Blitze, wenn sie so richtig in Rage ist. »Aber wenn es dich beruhigt«, fährt sie fort, »sie sind bei dem schönen Wetter ausgeflogen. Ans Meer.« Ach so ist das! Bei ihr ist alles sturmfrei. Und wo das enden soll, kann er sich schon denken. Warum ist sie nicht mit ans Meer gefahren? Aber sie will ja auch die Welt verbessern, wie er. »Also?«, fragt sie. Und als hätte er schon zugestimmt, sagt sie noch mal: »Du musst mich auf dem Gepäckträger mitnehmen.« »Das ist aber polizeilich verboten.« »Dein Vater wird uns schon aus dem Knast holen, wenn wir geschnappt werden«, erwidert sie lachend. Er sieht wieder auf ihr Grübchen und dann in ihre grünen Augen. Auch jetzt blitzt es darin. Obwohl sie nicht in Rage ist! Sie steigt hinten auf, legt ihre Arme um seine Taille und löst damit ein heftiges Sehnsuchtsgewitter in seinen Eingeweiden aus. Wenn es doch ihre Arme wären! Ein Gefühlschaos tobt in ihm und er tritt kräftig in die Pedale. LAURA! Er muss sich zusammennehmen, um nicht ihren Namen laut herauszuschreien.
»Anstrengend?«, fragt Ines hinter ihm und er spürt ihren Atem in seinem Nacken. Sie kann wirklich ganz nett sein. Doch er würde sich mehr ins Zeug legen, wenn es der Atem von Laura wäre. Er wendet den Kopf und sagt über die Schulter: »Ich hab leider nur meine Manneskraft einzusetzen und kein silbernes Moped unterm Hintern.« »Umso besser«, erwidert sie nur. Was soll das schon wieder heißen? Jedenfalls klang es ein bisschen zweideutig.
Hendriks Knie zittern, als er in Lechners Wohnung steht. Er lehnt sich gegen die Tür. Was riskiert er da bloß! Und warum? Einen Augenblick lang fühlt er sich wie gelähmt. Er braucht einige Sekunden, bis er sich weiterbewegen kann. Doch dann verschafft er sich einen raschen Überblick. Ein schmaler Flur mit drei Türen, alle zur Straßenseite gelegen. Unwillkürlich geht er auf Zehenspitzen. Er öffnet die erste Tür: der Wohnraum. Ein Durchtritt verbindet ihn mit dem Arbeitszimmer, in dem auch eine Bettcouch steht. Alles ist tipptopp aufgeräumt. Hinter der zweiten Tür befindet sich das Bad. Das Fenster aus Riffelglas ist gekippt. Hendrik macht einen Schritt in den Raum hinein. Nirgendwo sichtbare weibliche Spuren, kein Lippenstift auf der Ablage, keine herumliegenden Kleidungsstücke. Nur zwei Herrenbademäntel am Wandhaken. Einer von diesem Kroger? Er tritt ganz ein und öffnet den Spiegelschrank über dem Waschbecken: ein paar Tablettenpackungen, Zahnpasta, ein Stück Seife, Tempotaschentücher. Auch in der kleinen Küche herrscht penible Ordnung. Nicht mal eine benutzte Tasse in der Spüle.
Er schließt die Küchentür und huscht durch den Wohnraum zurück ins Arbeitszimmer. Außer der Bettcouch stehen noch zwei Regale – voll gestopft mit Büchern und Aktenordnern – darin und ein Schreibtisch mit einem Drehstuhl davor. Sofort registriert Hendrik den Laptop. Der Schlüssel zu Lechners Privatleben? Seine Hände schwitzen und auf seiner Stirn liegt ein Schweißfilm, als er mit den Fingern fahrig am Gerät entlangtastet, bis er den Druckschalter findet. Der Laptop fährt mit leisem Surren hoch. Gebannt sieht Hendrik auf den Bildschirm. Doch Lechner hat vorgesorgt. Plong! Zugang nur mit Passwort. Logisch! Womit hat er denn gerechnet? Er versucht es mit Lechners Namen. Das Einfachste ist oft das Wirksamste. Doch er wird erneut nach dem Passwort gefragt. Er macht noch ein paar weitere Versuche, tippt die Namensbuchstaben rückwärts ein, dann Vor- und Nachnamen einzeln. Nichts. Frustriert gibt er auf und schaltet den Laptop wieder aus. Die Schubladen des Schreibtischs sind nicht zugesperrt. Er zieht sie nacheinander auf, nimmt vorsichtig einige Schnellhefter heraus und blättert darin. Alles von diesem Kroger – lauter technisches Zeugs, irgendwelche Pläne und Grundrisse. In der untersten Schublade findet er zwei Plastikboxen, eine mit Disketten, die andere mit CDs. Er probiert – beide verschlossen! Wo sind die Schlüssel dazu? In einer Schale liegen nur Bleistifte, Kugelschreiber, Klammern, Radiergummis, sonst nichts. Er drückt die Schublade zu und sucht die Regale ab. Bücher über Statik und Architektur. Auf drei Ebenen Lehrwerke über Pädagogik, Englisch und Musikerziehung, Stapel von Noten. Einige ausgeliehene Bücher über Laien- und Schülertheater. In
einem steckt ein Lesezeichen. Er schlägt die Seite auf und liest die Überschrift: Verhalten gegenüber dominanten Akteuren in der Gruppe. Hendrik überfliegt den Text, der mit Bleistift unterstrichen ist. Der Regisseur soll genügend Raum für eigene Ideen der Spieler geben und nicht zu rigide eingreifen. Doch das Gleichgewicht in der Gruppe darf nicht durch einzelne Spieler, die sich zu sehr produzieren, gestört werden. Wer die anderen an die Wand zu spielen versucht, muss vom Leiter der Gruppe ermahnt werden. Er muss ihm behutsam, aber bestimmt klar machen, dass alle sich an seine Regieanweisungen zu halten haben. Hendrik klappt das Buch zu und stellt es wieder zurück. An ihm soll sich Lechner ruhig die Zähne ausbeißen! Der will doch den Machtkampf mit ihm! Er betritt noch einmal den Wohnraum. Bis auf die große Zimmerpalme und das alte Klavier aus weißem Holz mit gedrechselten Verzierungen ist die Einrichtung kühl und nüchtern. Viel Chrom und Glas. An den Wänden Drucke mit geometrischen Objekten, irgendwelche Grundrisse, ebenfalls in Chrom gerahmt. Auf dem Couchtisch liegt ein Briefumschlag. Hendrik nimmt ihn und dreht ihn um: Er ist offen. Zwei Fotos drin, sonst nichts. Ein junger Mann – vielleicht achtzehn – in weißen Shorts und schwarzem Rollkragenpullover auf einem Boot. Er hantiert mit einem flatternden Segel, der Wind wirbelt in seinen blonden Haaren. Auf dem zweiten Foto derselbe Junge, diesmal schaut er lachend in die Kamera. Hinter ihm, im schwarzen Jogginganzug, steht Lechner mit gespreizten Beinen, den Kopf auf der Schulter des Jungen abgestützt, die Arme um seine Taille gelegt. Hendrik dreht das Foto um. Der Käpt’n und sein Matrose steht in einer etwas steilen Handschrift auf der Rückseite. Es ist nicht die von Lechner.
Lechner ist schwul! Das Foto ist doch eindeutig! Na und? Was ist denn schon dabei! Und wenn ein schwuler Lehrer an der Schule Schwierigkeiten kriegt? Er muss erst mal raus hier! Er muss nachdenken! Und die Fotos? Soll er sie mitnehmen? Nein. Er kann sie abfotografieren. Das Zoom-Objektiv hat er dabei. In seinen Schläfen pulsiert es so heftig, dass sein Kopf zu schmerzen beginnt. Migräne. Wie seine Mutter. Ein hysterisches Kichern schüttelt ihn plötzlich. Er legt die Fotos auf die Tischplatte, zoomt sie heran und fotografiert sie mehrmals ab. Dabei versucht er die Kamera in seinen schwitzigen Händen ruhig zu halten. Dann schiebt er die Fotos wieder in den Umschlag und legt ihn auf den Tisch zurück. Er presst einen Moment lang die Finger gegen die pulsierenden Schläfen: Ist das hier alles Realität oder träumt er das nur? Doch er muss sich beeilen. Nur weg hier! An der Tür zögert er: Hat er auch keine Spuren hinterlassen? Da fällt sein Blick auf das Telefon im Flur. Mit einem Satz ist er dort. Er drückt die Memory-Taste und notiert die Nummer des letzten Anrufs. Eine Handy-Nummer. Jetzt aber raus! Im Hausflur muss er erst einmal durchatmen, bevor er den Schlüssel ins Schloss stecken und zuschließen kann. Dann schleicht er die Treppe hinunter, öffnet leise die schwere Haustür und schlüpft hinaus.
Hanno steigt hinter Ines die Treppen zum dritten Stock hinauf. Sie schließt die Tür auf und lässt ihn eintreten. Etwas unbeholfen steht er in der großen Diele herum, die eher einem
Abstellraum gleicht. Die Garderobe ist entweder ein uraltes Erbstück oder vom Sperrmüll. Die Haken sind mit Jacken und Mänteln überladen. Zwei alte Sessel sind an die Wand gerückt, auch darüber sind achtlos Kleidungsstücke geworfen. Mitten im Raum liegt der Staubsauger wie gebraucht und nicht weggeräumt. Ines tippt Hanno auf die Schulter. »Komm, rühr dich!« Sie schiebt ihn auf eine angelehnte Tür zu und er muss aufpassen, dass er nicht über die Ritterburg aus Legosteinen und das umgekippte Dreirad stolpert. »Hast du noch kleine Geschwister?«, fragt er, um überhaupt etwas zu sagen. »Wie man sieht.« Sie weist auf die verstreuten Spielsachen. »Zwillinge. Drei Jahre alt.« »Und deine Eltern?« »Was willst du jetzt hören? Beide sind zwar schon über die vierzig weg, wenn du das meinst, aber deswegen noch lange nicht zu alt zum Liebemachen. Und das Ergebnis sind Nora und Jan.« Okay, die Frage war ungeschickt. Aber muss sie dann gleich ironisch werden? »Das ist unser Salon«, erklärt sie, als sie in einem großen Raum mit hohen Wänden und Stuckdecke stehen. Bücher stapeln sich in Regalen und auf dem Boden. In einem der Sessel schlafen zwei dicke Tigerkatzen auf einem Stoß Zeitungen, eine andere – schlank und mit schwarz glänzendem Fell – sitzt auf der Fensterbank und fixiert Hanno mit smaragdgrünem, unergründlichem Blick. Wahrscheinlich wird sie ihre Krallen ausfahren oder ihm gleich in den Nacken springen, wenn er versucht sich ihr zu nähern. Der große runde Tisch in der Mitte ist übersät mit bunt bekleckstem Papier und Fingerfarbe. »Gemütlich«, sagt Hanno und räuspert sich.
»Hm, finde ich auch.« Das scheint sie wirklich ernst zu meinen. Eine ganz neue Seite an ihr, der Korrekten. Dieses Chaos passt jedenfalls nicht in das Bild, das er von ihr hat. Aber vielleicht ist ihr Zimmer ja tipptopp aufgeräumt. Doch danach fragt er sie lieber nicht. Sie könnte sich dabei was Unpassendes denken! Die schwarze Katze springt plötzlich mit einem Riesensatz vom Fenster ab, landet vor Ines’ Füßen und streicht miauend an ihren Waden entlang. »Das ist Caruso. Die beiden Vollschlanken da drüben sind Paul und Pauline. Damit ist die Familie komplett. Und jetzt lass uns die Pizza in den Ofen schieben.« Hanno ist überrascht, dass es in der Küche aufgeräumt und wirklich gemütlich ist. Die drei Katzen sind ihnen gefolgt und sitzen erwartungsvoll vor ihren Näpfen. Ines drückt ihm eine Dose mit Futter und einen Löffel in die Hand. »Gerecht verteilen! Jede ein Drittel.« Während er die Katzen füttert, schiebt sie die Pizza in den Backofen. Er sucht nach einem unverfänglichen Gesprächsthema. Am besten die Geschichtsarbeit. Er hat sich entschlossen über Gudrun Ensslin und die RAF zu schreiben. Wohl mehr aus Protest gegen seinen Vater. Ines schreibt über etwas, was auf den ersten Blick gar nichts mit dem Thema zu tun hat: über ganz alltäglichen Terror. Der permanente Konsumzwang. Die Dauerberieselung mit Werbung. Die sofortige Totalvermarktung jedes neuen Jugendtrends. Die Verheizung vieler Jugendlicher vor großer Kulisse: Big Brother, Superstar & Co. Am Ende wird ja einer gewinnen. Und Hauptsache, die Kohle stimmt! Jedenfalls für die Macher. Dann die ganze Quatschbuden-Kultur, dieser permanente, billige Schau-Zoff am Nachmittag auf allen Kanälen. Ines redet sich richtig heiß.
Hanno stoppt sie. »Du kannst doch einfach abschalten! Oder du machst erst gar nicht an.« »Klar! Aber nicht alle können das und infizieren sich allmählich mit diesem Schrott-Virus. Schließlich, wer kann sich schon den Luxus leisten, hinterm Mond zu leben. Du wirst einfach gezwungen, von dem ganzen Mist Kenntnis zu nehmen. Das empfinde ich als Terror!« »Für den Terror der schönen bunten Medien- und Warenwelt wirst du bei Bräuer notenmäßig wohl kaum eine vordere Platzierung kriegen.« »Zerbrich dir nicht den Kopf über meine Noten. Ich tu’s auch nicht. Außerdem sollten wir jetzt die Pizza aus der Röhre holen, bevor sie nur noch aus krebsauslösenden Substanzen besteht.« Als Ines ihm ein Glas Rotwein anbietet, lehnt er vorsichtshalber ab. »Nur Wasser bitte.« Hier darf nichts außer Kontrolle geraten. Sie drängt es ihm nicht auf, gießt sich selbst ein halbes Glas ein und füllt es mit Wasser auf. »Dann mal auf die Zukunft!« Sie hebt ihr Glas, sieht ihn an und hält seinen Blick fest. Er kann sich da jetzt nicht einfach herausschleichen. Okay, sie sieht Masse aus. Volle Lippen. Die grünen Augen kontrastieren toll zu ihrem schwarzen Haar. Sie hat Ähnlichkeit mit ihrem Kater Caruso. Trotzdem. Sie ist ziemlich prosaisch, spricht alles aus, was sie denkt, und kann dabei ganz schön bissig sein! »Welche Zukunft speziell meinst du?«, fragt er und versucht dabei gleichgültig zu gucken. »Unsere.« Das war diesmal nicht der übliche sarkastische Ton. Und es ist schon wieder was Zweideutiges drin! Er muss ihr jetzt eine Abfuhr erteilen, ein entsprechendes Signal geben, damit alles klar ist. Bloß keine weiteren Komplikationen! Sein
Gefühlsleben ist auch schon so aus dem Tritt. »Ich bin in Laura verliebt«, sagt er trotzig und blickt jetzt auf seinen Teller. »Und ich in dich«, sagt sie leise, aber deutlich und zwingt ihn damit, sie wieder anzusehen. Was könnte jetzt passieren, wenn er nicht durch Laura blockiert wäre? Warum kann er nicht zugeben, dass er sich dann auch in Ines verlieben könnte? Warum will er sich nicht eingestehen, dass er sie manchmal bewundert? Sie ist stark, eine echte Kämpfernatur. Und sie lässt sich nie auf taktische Spielchen ein, wenn es um etwas geht, was ihr sehr wichtig ist. Auch jetzt nicht, denn jetzt geht es ihr um was Wichtiges. Um ihn. »Laura hat mich in die Warteschleife gestellt«, gesteht er deprimiert. »Obwohl ich mir keine großen Hoffnungen mache, dass sie mich da wieder rausholen wird. Das muss ich erst mal gebacken kriegen.« »Hast du noch einen Platz in deiner eigenen Warteschleife?« Wie mutig sie ist, in dieser heiklen Situation so ehrlich zu sein. Keinen Eiertanz zu veranstalten, einfach zu sagen, was sie denkt und fühlt. »Kommt Zeit…«, fängt er an. »… kommt Rat«, sagt sie. »Und jetzt Schluss mit dem Thema, sonst schlägt es dir noch auf den Magen.« Da schwang jetzt wieder eine Portion Sarkasmus mit. Vielleicht nur aus Selbstschutz, schließlich hat sie ihm offen gezeigt, was sie für ihn empfindet und dass sie auch verletzbar ist. Sie essen schweigend zu Ende, dann steht Hanno auf. »Schönen Dank für die Einladung. Aber jetzt muss ich los. Meine Alten verlassen sich darauf, dass ich die Gartenhecke heute noch frisiere.« »Dann tschüss. Und… nett, dass du dich in die Höhle des Löwen gewagt hast.«
»In die Höhle der Löwin«, verbessert er sie. »Ich revanchiere mich mal. Die nächste Pizza geht auf meine Rechnung.« »Schön. Aber auf freiwilliger Basis. Tu dir meinetwegen keinen Zwang an.« Sie ist wieder ganz die Alte. Hält ihre Wunde jetzt unter Verschluss. Bevor er geht, ist er einen Augenblick lang versucht sie zu umarmen. Einfach nur, um nett zu ihr zu sein. Doch dann lässt er es. Er mag ja auch keine Trostpflästerchen. Stattdessen gibt er ihr einen raschen Luftkuss neben die Wange. »Bis morgen!« »Ciao«, sagt sie nur und schließt gleich hinter ihm die Tür.
Hendrik muss zweimal läuten, ehe er die verschlafene Stimme von Frau Ahnert in der Gegensprechanlage hört. Wahrscheinlich hat er sie aus ihrem Mittagsschlaf gerissen. Egal, er muss so schnell wie möglich den Schlüssel loswerden! Er sprintet die Treppe hinauf und hält ihr schon auf der letzten Stufe die langstielige rote Rose hin, die er in der Friedhofsgärtnerei besorgt hat. »Tut mir Leid, wenn ich sie geweckt habe, aber ich kann nachher leider nicht zum Kaffee kommen. Meine Freunde wollen noch ans Meer, da möchte ich gern mit.« Ihre unwillige Stirnfalte glättet sich sofort. »Oh, eine Rose, das ist aber lieb! Dann ein andermal?« »Bestimmt. Dürfte ich schnell noch Ihre Toilette benutzen?« »Natürlich.« Sie lässt ihn hinein und geht voraus, um die Tür zum Bad zu öffnen. Hinter ihrem Rücken hängt er blitzschnell den Schlüssel an den Haken und schlüpft ins Bad. Nach ein paar Sekunden drückt er die Spülung und kommt wieder heraus. »Vielleicht doch ein Stückchen Kuchen? Ich kann es Ihnen ja einpacken.«
Er lehnt mit überschwänglichem Dank ab und verabschiedet sich schnell. »Bis bald mal«, ruft er ihr auf der Treppe noch zu. Draußen holt er tief Luft. Geschafft! Was jetzt? Auf seine Piste? Nein, jetzt doch noch ans Meer. Nach zwei Stunden ist er am Strand. Alles überlaufen. Aber das hat er doch gesucht! Ablenkung! Plötzlich stören ihn die vielen Menschen. Er verzieht sich in die Dünen, findet einen stillen Platz, starrt aufs Meer hinaus. Er zwingt sich, nachzudenken. Doch seine Gedanken zersplittern, sie schwirren in seinem Kopf herum wie Puzzleteile, die nicht zueinander passen. Das Glitzern der frühen Abendsonne auf der Wasserfläche blendet ihn. Seine Augen brennen und beginnen zu tränen. Er springt auf und läuft am immer noch belebten Strand entlang bis weit hinaus zu den Deichen. Beim Laufen schafft er es, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Was hat er nur vor? Was konstruiert er für Verbindungen zwischen Lechner und Wailand? Rache für Lisa? An Lechner, weil Wailand sich aus dem Staub gemacht hat? Das ist doch verrückt! Er verrennt sich da in was. Es stimmt ja: Lechner ist ihm nicht sympathisch, weil er ihn irgendwie an Wailand erinnert. Aber da hören die Gemeinsamkeiten auf! Warum stoppt er den Wahnsinn nicht einfach? Es ist diese Wunde, die nicht aufhört in ihm zu brennen. Und die Schuld, die er allein aushalten muss. Wailand hat sie auf ihn abgewälzt. Mit einem einzigen Blick. Das mit Hendrik ist für mich zu Ende. Was war denn auch schon zwischen uns? Nichts. Eine Sandkastenliebe! Daraus kann nichts werden. Ich werde es ihm irgendwie beibringen müssen – hoffentlich macht er kein Drama daraus. Er ist ja so ein Sensibelchen. Doch wenn W. mich ansieht, geht es mir durch und durch. Und wenn er mich das erste Mal berührt – bald!? – plopp,
dann explodiere ich! Dann platze und zerfließe ich vor Glück! Wirklich, für ihn könnte ich sterben. Es ist spät, als Hendrik nach Hause kommt. Seine Mutter ist schon im Bett, sein Vater sitzt vor dem Fernseher und sieht sich einen Polit-Talk an. »Schönen Tag gehabt?«, fragt er, als Hendrik reinkommt. »Hm, war ganz gut. Bin jetzt ziemlich müde.« »Hast du was gegessen? Im Kühlschrank ist noch ein Hähnchenflügel für dich.« »Hab keinen Appetit.« Er setzt sich aufs Sofa und hört eine Weile zu. Blabla! »Ich geh dann mal«, sagt er, bleibt aber sitzen. »Schlaf gut.« Dabei schaut sein Vater weiter auf den Bildschirm. Hendrik rührt sich immer noch nicht. Sein Vater sagt nichts mehr, doch Hendrik spürt seine Ungeduld. Dann geh doch auch! »Ich war am Meer«, fängt er wieder an und wartet. »War heute fast so blau wie das Mittelmeer.« Doch sein Vater reagiert nicht. »Bei Korsika«, fügt er hinzu. »Hm«, macht sein Vater nur, doch Hendrik sieht, wie seine Gesichtsmuskeln sich anspannen und er diese Stirnfalte bekommt. Bestimmt nicht deshalb, weil er auf den Talk im Fernsehen konzentriert ist. »Ich geh dann mal«, wiederholt Hendrik und steht jetzt auf. »Gute Nacht.« Sein Vater sieht kurz zu ihm rüber. Die Stirnfalte ist wieder weg. Oben in seinem Zimmer wählt er die Nummer, die er sich als letzten Anruf von Lechners Apparat aus notiert hatte. Seine eigene Nummer unterdrückt er. Nach dem fünften Läuten nimmt jemand ab. Eine junge, etwas näselnde Männerstimme meldet sich. »Hallo?«
»Mit wem spreche ich?« »Mit wem möchten Sie denn sprechen?« Als Hendrik nicht antwortet, sagt die Stimme nach kurzem Zögern ungeduldig: »Dann eben nicht!« Leises Knacken: Der andere hat aufgelegt. War das dieser Junge auf den Fotos? Wenn er das eine am schwarzen Brett aufhängt? Das, auf dem Lechner seine Arme um ihn legt? Er braucht dann Laura nicht auf ihn anzusetzen. Er sollte ihr aus dem Weg gehen. Er beobachtet sie heimlich. Sie lacht wie Lisa, sie wirft die Haare wie sie zurück und hat manchmal dasselbe übermütige Blitzen in den Augen. Er fühlt sich von ihr angezogen, er spürt, wie er allmählich in ihren Bann gerät. Doch er wird sich nie mehr auf ein Mädchen einlassen. Er kann keiner mehr trauen. Die Zeit heilt alle Wunden? Dieser Spruch gilt nicht für ihn. Es ist ja nicht nur die Wunde. Es ist die Schuld. Er muss alle da raushalten. Auch Lechner. Obwohl er ihn nicht ausstehen kann. Lisas Rache? – Eine fixe Idee. Das weiß er doch selbst!
Hendrik hat Lechner heute ein Friedensangebot gemacht. Jedenfalls kam das für mich so rüber. Aber Lechner hat geblockt. Er hat Hendrik einfach ins Leere laufen lassen. Es ging darum, was wir nach den Sommerferien einstudieren wollen. Die Marquise von O. ist endgültig aus dem Rennen. Lechner hat deutlich andere Vorstellungen von der Regie als Goldi und das Stück einfach abgesetzt. Schade um meine starke Szene in den Armen des Grafen M.! Interessanterweise hat Ines das Stück verteidigt, obwohl ich ihr ja die Hauptrolle weggeschnappt hatte.
Was also sollten wir für unsere traditionelle winterliche Theateraufführung einstudieren? Ein ziemliches Tohuwabohu entstand. Alle redeten durcheinander. Jeder wollte seinen eigenen Vorschlag durchbringen. Lechner hielt sich eine Weile zurück. Als keine Einigung zustande kam, griff er ein und schlug die Antigone von Sophokles vor. Nicht schlecht. Die Hauptrolle natürlich für mich, schließlich hatte ich ja neulich schon für mein Antigone-Zitat viel Applaus bekommen. Aber von den andern kam nur Gemaule. Sophokles? Wer is’n das? Einer aus der Antike? Das ist ja schon zweitausend Jahre her! Tödlich! Und Thilo: »Antigone? Ich kenn nur Antigene!« Lechner gab eine kurze Zusammenfassung des Stoffs. Gleich hagelte es wieder Protest. »Ist doch zum Gähnen!« – »Kalter Kaffee!« – »Mega-out!« Thilo war für eine knallharte Rap-Oper mit eigenen Texten. Damit hatte er natürlich fast die ganze AG hinter sich. Ich selbst fand den Vorschlag auch originell. Das würde bestimmt spaßig werden. Da meldete sich Hendrik ganz unvermutet zu Wort: »Ich bin für Herrn Lechners Vorschlag.« Wow! Sofort trat Ruhe ein, so verblüfft waren wir alle. Lechner zog die Augenbrauen leicht hoch und tat erstaunt. Doch Hendrik redete weiter. Die Antigone sei als Story vom Untergang eines Tyrannen doch immer noch ziemlich aktuell. Man könnte sie von der Antike ja in die Gegenwart übertragen. Es gäbe auch in unserem Jahrhundert genügend Beispiele für tyrannische Diktatoren. Kreon zum Beispiel als Hitler. Der Chor als die große Masse der Mitläufer. Die Aufmärsche, Hitler auf der Tribüne, wie er herumfuchtelt und schreit wie ein Geisteskranker. Und der Chor, der ihm zujubelt. Antigone eine junge Widerstandskämpferin, eine wie Sophie Scholl. Der
schleimige Wächter ein Nachbar, der Antigone an die Gestapo verrät. Sie wird hingerichtet, ihre letzten Worte: Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Ja, das war schon besser! Wenn überhaupt die Antigone, dann wenigstens eine moderne! Doch Lechner kam sofort mit Einwänden. Hitler wäre bis zu seinem Ende der geblieben, der er war: ein unbelehrbarer Despot. Der klassische Kreon aber würde noch einsichtig, wenn auch zu spät. Das genau mache eben das Tragische des Dramas aus. Und deshalb würden wir die klassische Version spielen. Ganz textgetreu. Wieder allgemeines Maulen. Auch Ines verteidigte Hendriks Idee ziemlich rigoros. Im antiken Drama bestimmten die Götter noch das Schicksal der Menschen. Der moderne Mensch sei aber frei, über sich selbst zu entscheiden und zwischen Gut und Böse zu wählen. Während wir uns noch die Köpfe heiß redeten, sagte Hendrik gar nichts mehr. Lechner versuchte wieder die Diskussion abzuwürgen. »Lest erst mal den Text!« Goldi hätte sich nie so verhalten. Lechner wollte Hendrik nur auflaufen lassen, das war doch deutlich zu merken. Das erste Mal, dass ich richtig sauer auf Lechner war. Aus Enttäuschung, weil ich ihn für überlegener gehalten hatte. Ich sah zu Hendrik rüber. Sein Blick war in irgendeine Ferne gerichtet, als ginge ihn das hier plötzlich nichts mehr an. Ich hätte ihn gerne da weggeholt, wo er gerade mit seinen Gedanken war. Kein angenehmer Ort, wie es aussah. Seine Miene war verschlossen, ja geradezu abweisend. Obwohl ich auch gern die antike Antigone gespielt hätte – ich als Antigone im wallenden Gewand! –, verteidigte ich jetzt eine zeitgemäße Version. Einfach, um Lechner zu widersprechen. Theben könnte doch die ehemalige DDR sein,
schlug ich vor. Wenige Tage vor dem Mauerfall. Lichterketten, Friedensmärsche überall, aber auch noch Stasispitzel darunter. Antigone und ihr Bruder wagen sich mit einem Transparent an den Todesstreifen: Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da. Und darunter der Satz von Gorbatschow, dem weisen Seher: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. An der Mauer noch die Schergen mit Gewehren. Denn Kreon hat den Schießbefehl noch nicht aufgehoben. Antigones Bruder bricht getroffen zusammen. Sie läuft zu ihm, will ihn aus dem Todesstreifen ziehen, da kommt die nächste Salve. Die beiden als die letzten Maueropfer und gleichzeitig Repräsentanten von Mut und Freiheit. Da brechen alle Dämme. »Wir sind das Volk«, ruft der Chor und reißt die Mauer ein. Dafür waren auf einmal alle. »Das machen wir!« – »Das ist doch wirkliche Zeitgeschichte! Nicht nur so was Ausgedachtes.« Lechner gab schließlich nach, aber auf so eine Art, wie man quengelnden Kindern nachgibt. Ich sah noch mal zu Hendrik hin. Unsere Blicke begegneten sich. Seine Miene war sehr ernst, dann plötzlich lächelte er mir zu. Und ich hatte auf einmal einen Moment lang ein zittriges Gefühl im Bauch. Der Blick war beinahe so was wie eine Verschwörung zwischen uns. Das mit der DDR ist mir eingefallen, weil wir in Mecklenburg Verwandte haben. Ein Cousin um mehrere Ecken von Papa. Nach der Wende haben wir uns gegenseitig besucht. Sabine, die Tochter des Cousins, und ich waren da gerade mal im Krabbelalter. Die Jahre darauf haben wir dort Urlaub gemacht. Die Erwachsenen haben geredet und geredet und Sabine und ich haben mit den Welpen der Schäferhündin in der Küche gespielt. Jetzt sind wir ganz dicke Freundinnen. Die Sommerferien verbringen wir meistens zusammen auf dem Reiterhof. Manchmal kommen Papa und Mama dann zum
Wochenende zu Besuch. Unsere Eltern reden sich immer noch die Köpfe heiß, wenn es um Politik geht. Was früher besser oder schlechter war. Meistens finden diese Polit-Happenings in der großen Bauernküche statt. Mama und Tante Irma kochen dabei stundenlang Marmelade ein und Papa und Onkel Paul spielen nebenher Schach. Nachtrag um 23 Uhr: Eine neue Mail, wieder über einen anonymen Server eingegangen! Die Sache wird immer spannender. Das obligatorische Herz schwebte heran, doch diesmal mit einem Riss mitten hindurch. Beim Doppelklick auf das Herz teilte es sich genau am Riss in zwei Hälften, die auseinander strebten, und ein Foto kam zum Vorschein: ein Mädchen in Jeans und T-Shirt am Meer auf einem Felsen. Ihre langen Haare wehen im Wind, doch statt des Gesichts ein weißer Fleck! Darunter eine Art Gedicht: Bevor der Schatten kam, waren wir ein einziges Herz, ein einziger Mund, derselbe Gedanke. Das Herz ist zerrissen. Der Mund bleibt verschlossen. Der Gedanke ist verflogen. Auf was bezieht sich das? Ist es wirklich für mich bestimmt? Aber es ist ja meine E-Mail-Adresse! Klar, die kennen eine Menge Leute. Doch das zerrissene Herz kann eigentlich nur Hannos sein. Sonst hab ich – jedenfalls wissentlich – keinem das Herz zerrissen oder gebrochen. Auch Marco nicht, denn er hat damals mit mir Schluss gemacht. Wenn Hanno dahinter steckt, dann finde ich es für seine Verhältnisse schon sehr – ja wie? Ein einziges Herz… ein einziger Mund.
Na ja, ein bisschen sehr übertrieben! Obwohl auch irgendwie rührend. Aber was soll das mit dem Foto? Ich bin jedenfalls nicht das Mädchen auf dem Felsen, obwohl ich blonde lange Haare hab und in etwa ihre Figur. Schluss jetzt. Heute zermartere ich mir nicht mehr das Hirn darüber.
Hanno sitzt auf der Terrasse und versucht sich auf seine Lektüre für die Geschichtsarbeit zu konzentrieren. Er liest in einer Biografie über Gudrun Ensslin. Wie konnte aus der braven Pfarrerstochter eine Terroristin werden? In ihrer Zelle schrieb sie: Entweder Schwein oder Mensch. Entweder überleben um jeden Preis oder Kampf bis zum Tod. Entweder Problem oder Lösung. Dazwischen gibt es nichts. Daraus spricht Fanatismus und Hass. Hasser hassen sich selbst, hat Hanno in einem Psychogramm über Gudrun Ensslin gelesen. Und dass Hass durch Frustration und demütigende Erlebnisse entsteht. Man wird nicht mit einem Hass-Gen geboren. Doch nur wenige Menschen werden durch seelische Verletzungen zu Amokläufern oder Terroristen. Sie finden kein anderes Ventil gegen ihren Frust als den Hass. Hanno legt das Buch zur Seite. Und wie ist das mit ihm selbst? Er ist ein Hitzkopf und regt sich ziemlich schnell über alles Mögliche auf. Genau wie sein Vater. Deswegen gibt es zwischen ihnen ja so oft Stress. Doch wenn er mal wieder so richtig vor Wut schäumt und seinen Vater in Gedanken gerade erschießt, kippt die Wut um und er spürt, dass er ihn eigentlich liebt und aus jeder Art Hölle retten würde.
Klar fühlt er sich oft verletzt. Und das mit Laura tut auch noch ziemlich weh. Er hat sich vor ihr blamiert, als es drauf ankam. Es ist ihm nicht leicht gefallen, danach wieder auf sie zuzugehen und mit ihr zu reden. Manchmal fährt er mit dem Rad noch an ihrem Haus vorbei. Er hat die Hoffnung immer noch nicht aufgegeben. Neulich kurvte auch Hendrik dort rum. Wohl aus den gleichen Gründen wie er? Hanno war in die Sackgasse eingebogen und hatte ihn von da aus beobachtet. Hendrik war zweimal die Haydnstraße entlanggefahren, dann war er abgerauscht. Klar, er wünscht den Typ wegen Laura zur Hölle! Aber würde er ihm wirklich mit der Pistole vor der Nase rumfuchteln? Zwischen diesem Kopf-Amok und der Umsetzung in die Realität gibt es hoffentlich unüberwindliche Barrieren. Nicht dass irgendwann doch das rote Warnlämpchen auf Grün umschaltet! Und dann… Das Telefon! Soll er rangehen? Laura wird es wohl kaum sein. Er hat keine Lust, mit jemandem sonst zu sprechen. Und wenn sie es doch ist? Fix ist er auf den Beinen und hebt den Hörer ab. »Ich wollte gerade wieder auflegen«, hört er Ines. Soll er sagen, wäre nicht so schlimm gewesen? »Ach du bist es!«, nuschelt er stattdessen lahm. »Ja, nur ich!« Sie wartet einen Moment. »Enttäuscht?«, fragt sie dann. »Ich kommuniziere auch gerne mit dir«, antwortet er schließlich und muss grinsen. »Was liegt an?« »Mein Vater hat Grippe.« »Oh, tut mir Leid. Gute Besserung.« »Und zwei Karten für das Bryan-Adams-Konzert am Sonntag. Ich muss auf jeden Fall hin und seinen Job machen. Fünf Sätze, das langt für sein Blatt. Ich könnte dich als CoRezensenten gebrauchen.«
»Ich bin leider so musikalisch wie ein krähender Hahn.« »Das reicht für Bryan Adams.« Sie lacht. Er muss auch lachen. Humor hat sie ja. »Okay, dann bin ich der richtige Mann. Wann und wo?« »Um vier erst mal Minigolf im Stadtwald, dann die Pizza auf deine Rechnung bei Camillo, um halb neun das Konzert in der Stadthalle, und danach…«, sie macht es spannend, bevor sie fortfährt, »… in die Heia.« Jetzt soll er wahrscheinlich fragen: Bei dir oder bei mir? Er fühlt sich komplett verplant. »Das volle Programm also«, sagt er. Doch immer noch besser, als hier rumzuhängen. Er hat sich ja sogar schon eingestanden, dass er sich vielleicht in sie verlieben könnte, wenn es Laura nicht gäbe. Aber dieses Wenn ist eben eine Riesenhürde! Da kann er nicht mal so eben mit einem Satz drüber. »Gebongt?«, fragt sie nicht ganz so forsch wie sonst. »Gebongt«, wiederholt er ohne große Begeisterung und schluckt erst mal, bevor er herausbringt: »Ich freu mich drauf.«
Hendrik montiert den zerbrochenen Rückspiegel am Moped ab und schraubt den neuen an. Vor zwei Tagen auf der Piste hatte er die Maschine wieder mal nicht ganz im Griff und war gestürzt. Er ist geschickt gefallen und hat sich nicht verletzt, nur das Moped hat ein paar Lackschrammen abbekommen und der Spiegel ist zu Bruch gegangen. Als er fertig ist, schaut er auf die Uhr. Gleich drei! Über dem Basteln hat er die Zeit vergessen. Zur AG wird er ein paar Minuten zu spät kommen. Er schrubbt sich die Hände im Bad und zieht sich saubere Sachen an. Als er loswill, läutet das Telefon. Er geht nicht ran. Nach dem fünften Läuten schaltet sich der Anrufbeantworter ein. Es ist seine Mutter. Sie wird heute Abend später nach Hause kommen. Seit zwei Wochen
hat sie wieder eine Stelle als Medizintechnikerin. Nachdem sie aufgelegt hat, verlässt Hendrik das Haus und fährt los. »‘tschuldigung«, nuschelt er, als er den Proberaum der AG betritt. »Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige«, bemerkt Lechner kühl, ohne ihn anzusehen. »Und ich bin nur der königliche Hofnarr«, sagt Hendrik im gleichen Ton. Ein paar kichern. »Ich glaube, wir sollten zur Entkrampfung mal wieder ein paar Lockerungsübungen einlegen«, schlägt Lechner vor, ohne Hendrik weiter zu beachten. »Sport haben wir heute schon bei Herrn Braun gehabt«, mault Thilo. »Eine Sportveranstaltung soll es ja auch nicht werden«, sagt Lechner. »Wir stellen uns im Kreis auf, atmen tief ein und aus, heben dabei die Arme so weit, dass wir Kontakt zu unserem Nebenmann haben.« »Und wie ist das mit den Nebenfrauen?« Wieder lachen alle. Lechner ignoriert den Einwurf von Thilo diesmal. Mit einem Seitenblick auf Hendrik fährt er fort: »Du bist auch herzlich dazu eingeladen.« »Was verstehen Sie denn bitte unter Kontakt?«, fragt Hendrik anzüglich, ohne sich in den Kreis einzureihen. »Ich denke, es genügt, wenn wir uns mit den Fingerspitzen berühren.« Lechners Stimme klingt jetzt spöttisch. »Es gibt hier mindestens einen, der kein Fingerspitzengefühl hat«, sagt Hendrik sehr leise, aber deutlich. »Und der sollte es dann entweder einüben oder aber der Theater-AG in Zukunft fernbleiben.« Lechners Stimme klingt jetzt eisig. Dann klatscht er in die Hände. »Also los, Freunde. Üben wir etwas«, und kümmert sich nicht mehr um Hendrik.
Hendrik steht einen Moment unschlüssig im Raum, plötzlich wendet er sich um und geht. Das hier hat keinen Sinn mehr. Wahrscheinlich erwarten jetzt alle, dass er die Tür hinter sich zuknallt. Aber danach ist ihm nicht zumute. Er schließt sie leise, geht über den Hof und steigt auf sein Moped. Wohin er jetzt fährt, ist eigentlich ganz egal. Jeder Weg ist eine Sackgasse. Er kurvt ziellos in der Stadt herum und fährt schließlich nach Hause. Seine Eltern sind noch nicht da. In seinem Zimmer öffnet er die Schreibtischschublade und nimmt die Fotos von Lechner und dem Jungen heraus. Einen Moment zögert er noch, bevor er sie in kleine Schnipsel zerreißt und in den Papierkorb wirft. Dann nimmt er das Poster von der Wand. Wieder zögert er, bevor er mit der Schere Lisas Gesicht herausschneidet. Er lässt das Poster mit der Bildseite nach unten zu Boden gleiten.
Das mit Lechner und Hendrik eskaliert allmählich. Okay, so was gibt’s ja, dass sich zwei Leute aus irgendwelchen unerklärlichen Gründen gegenseitig ablehnen. Die beiden sind so ein Fall. Gleich vom ersten Tag an lief da unterschwellig etwas, was keiner von uns richtig versteht, selbst Ines nicht. Mit der hab ich gleich nach der AG deswegen gesprochen. Und sie meinte, dass es Zeit wird, uns da einzumischen. Wir müssen zuerst mit Lechner reden. Er als Pädagoge müsste doch in der Lage sein, die Sache in den Griff zu kriegen und einzulenken. Hendrik kam heute ein paar Minuten zu spät und schon gab es wieder einen gereizten Wortwechsel zwischen den beiden, wobei der Provokateur diesmal Lechner war, denn Hendrik hatte sich für sein Zuspätkommen entschuldigt, wenn es ihn wohl auch Überwindung gekostet hat. Lechner hat nach dem
Wortwechsel angedeutet, dass es am besten wäre, wenn Hendrik nicht mehr zur AG käme. Hendrik ist daraufhin sofort gegangen, nicht mit Karacho, sondern leise und, wie ich glaube, sehr deprimiert. Einen Augenblick lang war ich versucht ihm nachzulaufen. Aber dann hatte ich nicht den Mut. Er ist nicht der Typ, dem man sich einfach so aufdrängt. Kurz darauf hörte ich sein Moped anspringen. Ich hatte ein sehr ungutes Gefühl. Deshalb bin ich auch mal über meinen Schatten gesprungen und hab mich mit Ines beraten. Die anderen scheinen das weniger dramatisch zu sehen. Ich hab den Eindruck, sie finden den Clinch zwischen den beiden eher unterhaltsam. »Man müsste zuerst mal mit Lechner reden, und zwar sehr diplomatisch«, meinte Ines. Bei man sah sie mich so an, als ob ich das diesmal in die Hand nehmen sollte. Und dann sagte sie auch geradeheraus, dass sie in diesem Fall das Diplomatische eher mir zutrauen würde. Hört, hört! Vielleicht hat sie ja Recht, denn sie selbst geht normalerweise gleich aufs Ganze. Meistens ist sie damit auch erfolgreich. Aber das hier ist eben ein spezieller Fall. Wahrscheinlich hat sie bemerkt, dass ich zu Hendrik einen besseren Draht habe als die anderen. Und auch bei Lechner einen gewissen Bonus, der wohl eher meinem Engagement in der AG zuzuschreiben ist als meiner holden Weiblichkeit. Ines und ich treffen uns nachher, um zu beraten, wie wir genau vorgehen wollen. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet wir zwei mal Teamwork machen! Vor der nächsten AG sollte schon was passieren. Aber erst mal liegt noch ein Wochenende dazwischen. Und fraglich ist natürlich auch, ob Hendrik überhaupt weiter mitmachen wird. Wenn nicht, wäre das jedenfalls sehr schade und würde einzig auf Lechners Konto gehen.
Kurzer Nachtrag zur Geisterstunde: Ines und ich sind übereingekommen, dass ich am Montag mit Lechner sprechen soll. Und dass erst mal alles unter uns bleibt. Hendrik soll natürlich nicht wissen, was wir vorhaben. Aber ich könnte vorsichtig nachforschen, ob er noch an der AG teilnehmen will. Vielleicht kann ich ihn dazu kriegen, weiterzumachen. Den Lechner wird er sowieso nicht los, wir haben ihn ja auch in Englisch. Das Gespräch zwischen Ines und mir lief erstaunlich gut. Dass wir in Zukunft dicke Freundinnen werden, glaube ich zwar nicht, aber vielleicht können wir unsere gegenseitigen Spitzen ja etwas zurückfahren. Ich hatte sogar das Gefühl, dass sie damit den Anfang machen wollte. Irgendwas in der Richtung schien sie loswerden zu wollen. Aber ich kann mir das auch nur einbilden, denn sie hat ja nichts gesagt. Wahrscheinlich hab ich mal wieder das Gras wachsen hören.
»Hast du heute nichts vor?«, fragt Hannos Mutter, als er ihr nach dem Mittagessen freiwillig bei der Küchenarbeit hilft. »Schon. Doch die Spülmaschine einzuräumen ist bestimmt spannender als Minigolfen im Stadtwald.« »Kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber warum lässt du’s dann nicht?« »Steht nicht in meiner Macht«, seufzt Hanno. »Ah!«, macht seine Mutter nur. Hanno fühlt ihren neugierigen Blick in seinem Rücken, sie ist jedoch so taktvoll ihn nicht auszuhorchen. In seinem Zimmer legt er die CD von Bryan Adams auf, die er sich aus der Musikbücherei ausgeliehen hat. Das erste Mal, dass er sich von dem Typ was anhört. Die meisten Songs findet er langweilig. Es soll wohl nach fetzigem Rock klingen, kommt aber wenig überzeugend rüber. Auch der Stimme traut
er nicht so recht. Sie scheint ein bisschen zu sehr auf rau gemacht. Trotzdem muss an ihm ja was dran sein, jedenfalls ist das Konzert ausverkauft. »Have you ever really loved a woman?«, fragt er jetzt in einem Song. Was geht das den Typ an! Hanno schaltet ab, geht ins Bad und beäugt sein Spiegelbild. Heute hat er kein Liebesfieber in den Augen. Warum auch? Er hat einen wahrscheinlich nur sehr durchschnittlichen Samstag vor sich. Ines wird mit ihm bestimmt die Latte der Weltprobleme rauf und runter durchdiskutieren wollen. Er kann ja einfach abschalten und sie reden lassen. Bei dem Gedanken muss er schmunzeln. Konsequent ist das nicht. Er sucht doch dauernd jemanden, mit dem er diskutieren kann. Oder hat er es in der Beziehung nur auf seinen Vater abgesehen? Weil der sich meistens verweigert? Unter der Dusche bessert sich seine Laune und er pfeift vor sich hin. Soll er sich für das Konzert irgendwas Besonderes anziehen? Seine schwarze Lederhose und das bestickte Hemd? Und wie wird Ines kommen? Stinknormal wahrscheinlich, in ihren No-name-Jeans und einem ihrer lindgrünen T-Shirts, die das Grün ihrer Augen hervorheben. Wenn er objektiv sein könnte, würde er zugeben müssen, dass sie auch darin besser aussieht als Laura. Doch ihn macht an Laura was anderes an: Sie ist seine Sphinx, voller Rätsel. Und für jedes, das sie ihm zu lösen aufgibt, würde er Kopf und Kragen riskieren. Gegen vier steht er in seinen neuen schwarzen Jeans und einem strahlend weißen T-Shirt vor Ines’ Tür und drückt dreimal den Klingelknopf. »Wo brennt’s denn?«, hört er ihre Stimme durch die Gegensprechanlage. »Nirgendwo!«, ruft Hanno in den Lautsprecher. »Nur ein Tornado vor der Tür.«
Sie lacht. Ein kurzes Knacken in der Sprechanlage, dann hört er schon ihre Schritte auf der Treppe. Recht gehabt, denkt er mit dieser leisen Enttäuschung, als sie in Jeans und lindgrünem T-Shirt vor ihm steht. Sie ist eben die Zuverlässigkeit in Person und komplett berechenbar. Wie er selbst.
Als Hendrik gegen elf Uhr in die Küche kommt, sitzen seine Eltern noch am Frühstückstisch. Sein Vater erzählt von einem dicken Fisch, den er gestern an Land gezogen hat. Ein Unternehmer, der für ein großes Projekt eine hohe Versicherung bei ihm abgeschlossen hat. Das wird eine ordentliche Provision geben. Hendrik hört nicht weiter hin. Auch seine Mutter scheint nicht richtig bei der Sache zu sein. Sein Vater nimmt sich eine Tasse Kaffee ins Arbeitszimmer mit. Er muss nachher noch mal weg, ein Kunde, der nur samstags erreichbar ist. »Oma hat heute Morgen angerufen und gefragt, wann du sie mal wieder besuchst«, wendet sich seine Mutter jetzt an Hendrik. »Ich könnte heute zu ihr fahren«, sagt er. »Sie würde sich freuen, wenn du kommst.« Sie zündet sich eine neue Zigarette an und inhaliert den ersten Zug tief. »Willst du über Nacht bleiben?« »Vielleicht«, antwortet er knapp. Er weiß es wirklich nicht. Er weiß noch nicht mal, ob er fahren wird. Auf jeden Fall aber will er das Wochenende nicht zu Hause verbringen, obwohl seine Eltern ihn in seinem Zimmer oben ja nie stören. Er geht hinauf und packt den Rucksack. Er braucht nicht viel, ein T-Shirt, eine Unterhose, den Waschbeutel. Unschlüssig bleibt er im Zimmer stehen. Soll er wirklich fahren? Er mag seine Großmutter sehr. Sie behandelt ihn
normal, nicht wie einen Kranken, den man abschirmen muss, damit er über seinen schlimmen Zustand nichts erfährt. Von ihr war auch die Idee mit dem Moped. »Dann bist du etwas beweglicher, bis du den Führerschein hast.« Sie hat es ihm zum Geburtstag geschenkt. Früher hat sie selbst mal eine Vespa gefahren, statt eines Sturzhelms trug sie so eine Fliegerkappe aus Leder. Schick sah das aus. Er hat sich oft die alten Fotos von ihr angesehen und später tolle Ausschnitte davon gemacht, als Fotografieren sein Hobby wurde. Er wirft den Rucksack noch mal aufs Bett, macht den PC an und sendet die Mail ab, die er gestern spätabends geschrieben und abgespeichert hat. Dann löscht er die Datei Lisas Rache und fährt den PC wieder runter. Er hebt das Poster, das immer noch am Boden liegt, auf, hängt es mit der Bildseite nach unten über den Schreibtisch, nimmt den Rucksack und verlässt das Zimmer. »Ruf Oma an, bevor du fährst«, sagt seine Mutter. »Ist noch nicht ganz klar, ob ich fahre. Vielleicht treffe ich mich ja mit jemandem aus der Schule.« Er weiß, dass seine Mutter das mehr freuen würde, als wenn er zur Großmutter führe, doch sie fragt nicht, mit wem er sich treffen will. »Gib bitte Bescheid, wenn es sehr spät wird oder du über Nacht wegbleibst.« »Hm«, nuschelt er und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Tschüss, Papa«, ruft er im Flur, als er am Arbeitszimmer seines Vaters vorbeigeht. »Tschüss, mein Junge«, kommt es von drinnen. Mein Junge, das hat er schon lange nicht mehr gesagt. Seit dem letzten Jahr nennt er ihn immer bei seinem Namen. Ist er so mit seinen Policen und Kundenprofilen beschäftigt, dass es ihm aus reiner Gedankenlosigkeit rausgerutscht ist?
Als Hendrik sein Moped zum Gartentor schiebt, ist er sich sicher, dass seine Mutter ihm vom Fenster aus nachsieht. Doch er dreht sich nicht um.
O Mann, wo soll ich bloß anfangen! Das Mädchen ohne Gesicht. Jetzt weiß ich, wer sich hinter Herz-Ass verbirgt. Hendrik! Aber gerade deswegen blicke ich überhaupt nicht mehr durch. Der Reihe nach: In dem Moment, als ich die neue Herz-AssMail in meinem Briefkasten anklickte, stürzte mein Laptop komplett ab. Der Bildschirm in tiefstem Schwarz. Also doch so ein gemeiner pickliger Hacker, dieser Herz-Ass! Ich war total sauer und habe so laut geflucht, dass Phil seine Nase durch meine Zimmertür steckte. Hatte er was damit zu tun? Zugetraut hätte ich es ihm schon. Jedenfalls bot er mir gönnerhaft seine Hilfe an. Ein kurzer Check und dann kam sein Urteil: »Typisch Frau!« Der Stecker war aus dem Netzteil gerutscht. Das Teil liegt nämlich so auf dem Boden, dass es leicht mit den Rollen meines Schreibtischstuhls kollidieren kann. Sehr peinlich! Natürlich hab ich die Mail sofort noch einmal angeklickt. Zwei Herzen, die zu einem verschmelzen. Doch bevor sie deckungsgleich sind, schweben sie wieder auseinander und folgender Text erscheint: Sie hat einen falschen Schritt gemacht. Rien ne va plus. Sehr merkwürdig. Rien ne va plus, das ist doch dieser Roulette-Spruch, wenn die Spieler ihren Einsatz gemacht haben und die Kugel zu rollen beginnt. Dann geht nichts mehr. Und nach wenigen Sekunden kann man entweder total pleite sein und schießt sich eine Kugel durch den Kopf oder man fährt für den Rest seines Lebens im Rolls-Royce durch die Gegend.
Also doch Hanno!, war ich mir in dem Moment sicher. Den falschen Schritt habe ich in seinen Augen gemacht, als ich ihm klar zu machen versucht habe, dass ich erst mal keine feste Beziehung will. Und seither geht bei ihm eben nichts mehr. Nur, was sollte das mit dem Foto? Das Mädchen ohne Gesicht. Hatte er es vielleicht irgendwo aus dem Internet? Und das Gesicht einfach rausgeschnitten? Der Rest stimmte ja, die blonden langen Haare und die Figur. Ich nahm mir vor ihn jetzt doch auf die Mails anzusprechen. Im Moment wäre ich mit einer Beziehung einfach überfordert. Ich muss zuerst rauskriegen, was ich eigentlich will. Und dann (vielleicht), wen! Auf jeden Fall wollte ich erst mal versuchen, mich am Nachmittag mit Hendrik zu treffen. Wegen der AG. Von der Auskunft hab ich mir die Nummer seiner Eltern geben lassen. Sie stehen noch nicht im Telefonbuch. Und Hendrik hat mir seine Handy-Nummer noch nicht anvertraut. Allerdings ich ihm meine auch nicht. Es gab bis jetzt keine Veranlassung dazu. In unserm Viertel hat man reichlich Gelegenheit, sich rein zufällig über den Weg zu laufen. Wir sind fast so was wie eine Insel mit eigener Infrastruktur. Außerdem sehen wir uns ja täglich in der Schule. Gegen zwölf Uhr rief ich bei den Frenzens an, obwohl ich ziemliches Herzklabastern hatte: Ist Hendrik zu Hause? Wie wird er reagieren? Ist es ihm peinlich? Freut er sich? Aber niemand meldete sich. Vielleicht waren alle in der Stadt zum Einkaufen. Um halb drei bin ich einfach hingeradelt, sie wohnen ja nur um die Ecke. Vor dem Haus wäre ich beinah wieder umgekehrt. Hendriks Moped stand nicht da. War er unterwegs? Das Garagentor war offen, die Garage leer. Aber das Auto der Frenzens konnte auch unten an der Straße stehen.
Sollte ich da jetzt reinschneien: Hallo, ich bin Laura, eine gute Freundin von Hendrik. Aber dann siegte mal wieder die Neugier. Ich läutete an der Haustür. Niemand machte auf. Da drückte ich die Klinke runter. Die Tür stand offen! Die Frenzens scheinen ja sehr vertrauensselig zu sein. Gerade in unserer Gegend gibt es öfter Einbrüche. Ich trat in den Flur und sah mich um. Überall offene Türen! Auf der linken Seite ein eleganter Wohnraum, dahinter eine Terrasse. Rechts die Küche. Aber weit und breit niemand. Das war ja richtig unheimlich! »Hallo!« Meine Stimme piepste etwas. Keine Reaktion. Die hatten sich offenbar dezent zurückgezogen, um es den Dieben leichter zu machen. Bitte nehmt, was ihr brauchen könnt. Wir sind gut versichert. Hendriks Vater arbeitet ja in so einem Versicherungsladen. Ich schlich mich die Treppe hinauf. Auf halber Strecke kriegte ich plötzlich Angst vor meiner eigenen Courage, wer weiß, was mich dort oben erwartete! Vorsichtshalber rief ich noch mal: »Hallo?« Nichts! Da machte ich die erste Tür gegenüber der Treppe auf. Sie war nur angelehnt. Volltreffer! Ich befand mich ganz offensichtlich in Hendriks Zimmer. Sein Mathebuch lag auf dem Boden. Vor dem Bett stand ein Aschenbecher mit Kippen, daneben ein leeres Weinglas. Trinkt und raucht er vielleicht? Über dem Schreibtisch hing ein großes Blatt glänzendes Papier. Es sah wie die Rückseite eines Posters aus. Auf Zehenspitzen tappte ich bis dahin vor. Mein Herz produzierte lauter Doppelschläge. Was, wenn jetzt jemand ins Zimmer kommt? Hendrik oder sonst wer! Ich war mitten in einem Krimi. Ich drehte das Poster um, meine Hände flogen dabei. Das kann doch nicht wahr sein! Das gibt’s doch nicht! Fast hätte
ich einen Herzstillstand bekommen: Das Mädchen ohne Gesicht! Und jetzt? Sollte ich nach weiteren Indizien suchen? Da hörte ich von irgendwo ein Geräusch, eine Tür ging, dann eine zweite. Danach Stille. Ich wartete mit angehaltenem Atem. Los, weg hier! Jetzt oder nie! So fix und leise bin ich in meinem Leben noch keine Treppe runtergekommen! Als ich mich durch den Hausflur schlich, hörte ich, wie oben wieder eine Tür ging und eine weibliche Stimme »Bernhard?« rief. Ich konnte mich plötzlich nicht mehr bewegen, obwohl ich die Hand schon fast am Griff der Haustür hatte. »Bernhard?«, rief die Stimme jetzt noch einmal, diesmal näher. Oben am Treppengeländer stand eine Frau. »Hallo«, sagte ich mit einer Stimme, die überhaupt nicht meine war, und sah hinauf. »Hallo«, antwortete die Frau, kam die Treppe herunter und sah mich ziemlich erstaunt an. Kein Zweifel, das musste Hendriks Mutter sein. Die Ähnlichkeit war unverkennbar: das schmale, blasse Gesicht, die geschwungenen Augenbrauen bis an die Schläfen heran. Sie trug einen braunen, seidenen Morgenmantel. Ihr Haar war leicht zerwühlt. Hatte sie geschlafen? Bevor sie noch auf die Idee kommen konnte, dass ich hier lange Finger machen wollte, kriegte ich endlich heraus, dass ich eine Schulkameradin von Hendrik sei und ihn fragen wollte, ob er zur Kirmes mitkäme. Sehr originell! Aber was Besseres fiel mir im Moment nicht ein. Der fragende Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand sofort und sie war total freundlich. Es tue ihr sehr Leid, aber Hendrik sei wahrscheinlich bei seiner Großmutter. Wieso wahrscheinlich? Das musste sie doch wohl genau wissen! Natürlich habe ich das nicht gefragt.
»Äh…«Ich tat, als müsse ich überlegen. »Jetzt weiß ich gar nicht, wo ich seine Handy-Nummer hab.« Das war eine Notlüge, aber vielleicht kriegte ich sie so raus. Sie zögerte einen Moment, als müsste sie erst darüber nachdenken, ob sie sie mir anvertrauen kann. Dann lächelte sie und gab mir die Nummer. Ich bedankte mich und obwohl tausend und x Fragen in mir brannten, verabschiedete ich mich schnell mit einer weiteren Notlüge: Ich wollte ja auf die Kirmes! Jetzt zermartere ich mir das Hirn. Hendrik alias Herz-Ass! Was will er nur von mir? Will er mir auf die Art etwas sagen, was er anders nicht ausdrücken kann? Ich hatte neulich schon das Gefühl, dass er irgendwas loswerden wollte. Aber dann hat er gleich wieder einen Rückzieher gemacht. Und da man ihm seinen Gemütszustand ja nicht von der Stirn ablesen kann wie Hanno, hab ich jetzt ziemlich was zu rätseln. Obwohl – was Hanno angeht, hab ich vielleicht auch nicht so den großen Durchblick? Da fällt mir ein, woher hat Hendrik überhaupt meine E-Mail-Adresse? Tim? Thilo? Ines? Hanno??? Nein! Sie hat einen falschen Schritt gemacht. Dieses Mädchen? Hat er deswegen ihr Gesicht aus dem Foto geschnitten? Und dann: Rien ne vaplus. Nichts geht mehr! Aber die Mails vorher? Verbotene Liebe. Wenn ich dich sehe – fast täglich – explodiert mein Herz. Wen hat er damit gemeint? Auch das Mädchen? Oder doch mich? Mir ist ziemlich mulmig. Sein Abgang gestern in der AG. Wenn er sich was antut? Der falsche Schritt… Vielleicht war er ja verliebt in sie, aber sie hat ihn in die Wüste geschickt. Jetzt ist er verletzt, kann nicht drüber reden und zieht sich zurück. Und dann kommt so einer wie Lechner ihm noch mit ironischen Sprüchen und er fühlt sich zusätzlich gedemütigt.
Was soll ich nur machen? Ihn anrufen? Oder Ines? Dann müsste ich aber auch mit den Herz-Ass-Mails rausrücken. Und das wäre so was wie ein Vertrauensbruch Hendrik gegenüber. Solange ich seine Gründe nicht kenne…
Hanno schiebt sich den letzten Bissen der Pizza in den Mund und gießt mit einem Schluck Rotwein nach. »Na, wie fühlst du dich in so ungewohnter Gesellschaft?«, fragt Ines mit einem sehr direkten Blick. Was soll er antworten? Alles ist bis jetzt besser gelaufen, als er befürchtet hatte. Oder soll er noch weiter gehen? Es lief sogar ziemlich gut! »Ich kann nicht klagen«, sagt er und schaut sie an. »Das darf ich dann wohl als ein Kompliment an mich deuten?« Obwohl sie dabei lacht, blicken ihre Augen eher fragend und ernst. »Kannst du.« Was passiert da bloß mit ihm? Er sieht immer noch in ihre grünen Augen. Ihm ist, als ertrinke er und greife dabei ständig nur nach einem Strohhalm, statt nach der rettenden Hand, die sich ihm entgegenstreckt. »Hast du mich vorhin beim Minigolfen extra gewinnen lassen?«, will er von ihr wissen. »Wie kommst du denn darauf?« Sie scheint wirklich erstaunt zu sein. »Na, weil du doch sonst so treffsicher bist.« »Okay, dann lass mich mal treffen: Du hast pausenlos an eine blonde Person mit blauen Augen gedacht?« »Daneben.« »Ganz daneben?« »Ähm… nicht ganz. Doch überwiegend habe ich über eine Person mit schwarzen Haaren und grünen Augen nachgedacht.«
Sie wird bis über die Ohren rot. Ausgerechnet Ines! »Ich glaube, meine Leitung ist nicht mehr blockiert«, sagt er, lächelt sie an und fasst nach ihrer Hand. »Jedenfalls klingelt’s gerade bei mir.« »Und? Nimmst du den Hörer demnächst ab?« »Ich werde eilen!« »Eilen müssen wir beide jetzt auf jeden Fall, wenn wir Bryan Adams noch vor der Zugabe erwischen wollen.« Hanno bezahlt und beim Rausgehen legt er den Arm um Ines.
An der Kreuzung hält Hendrik an. Siebzig Kilometer bis W. die Stadt, in der seine Großmutter jetzt in einem Seniorenstift lebt. Sie ist die Tochter eines Kapitäns und am Meer geboren. Und dort will sie auch sterben, hat sie gesagt, als die Eltern ihr vor vier Jahren vorschlugen zu ihnen ins Haus zu ziehen. Vielleicht war das nicht der einzige Grund. Sie ist ein sehr unabhängiger Mensch und hätte sich bei ihnen eingeengt gefühlt, auch wenn niemand sie gegängelt und ihr Vorschriften gemacht hätte. In zwei Stunden kann er in W. sein. Nach dem Umzug ist er schon mal mit dem Moped dort gewesen. Das Stift hat auch ein Gästehaus, in dem man übernachten kann. Er hat vorhin mehrmals versucht sie anzurufen. Sie hat nicht abgenommen. Er hätte eben doch heute Morgen Bescheid sagen sollen, dass er kommt. Aber da war er ja noch unentschlossen, was er mit dem Wochenende anfangen sollte. Oder genauer: wie er es am besten totschlagen könnte. Doch die Stunden, die er mit seiner Großmutter verbringt, sind keine tote Zeit. Wie damals als kleiner Junge bittet er sie auch heute noch oft: »Oma, erzähl.« Dann kann er abschalten und in eine andere Welt eintauchen. Natürlich sind es keine Kindergeschichten mehr. Aber eine andere Zeit, über die er
viel von ihr erfährt. Sie erzählt von ihrem Leben, ihren Eltern und Großeltern. Oft kramen sie dazu die alten Fotos hervor. Vielleicht kommt seine Liebe zur Fotografie ja daher. Die Bilder, die ihre Erzählungen in ihm erzeugen, und dazu die Fotos. Teils Schnappschüsse, teils auch stilisiert wirkende Aufnahmen, wie man sie heute nicht mehr macht. Plötzlich freut er sich darauf, wieder einmal ein Wochenende mit seiner Großmutter zu verbringen. Er holt sein Handy aus der Jackentasche und wählt noch einmal ihre Nummer. Diesmal nimmt sie ab. »Oma?« »Oh, du, Hendrik. Lieb, dass du anrufst. Hast du es schon mal versucht? Bruno ist ganz unverhofft gekommen und da waren wir in der Stadt.« »Ach so. Wie lange bleibt er denn?« »Bis morgen Mittag. Er hatte geschäftlich in der Nähe zu tun und auf einmal stand er bei mir in der Tür.« »Dann tschüss, Oma! Schönes Wochenende.« »Tschüss, Hendrik. Und danke für deinen Anruf. Grüß die Eltern. Mit Amelie hab ich ja heute Morgen schon telefoniert.« »Mach ich. Bis demnächst mal.« Bruno ist der jüngere Bruder seiner Mutter. Er wohnt in Süddeutschland und kommt nur selten zu Besuch. Überhaupt hat er wenig Familiensinn. Vielleicht weil er keine eigene Familie hat. Und wohl auch keine haben will, vermutet seine Großmutter. Hendrik wählt die Nummer seiner Eltern. Niemand meldet sich. Der Anrufbeantworter ist auch nicht eingeschaltet. Kann sein, dass seine Mutter schläft und das Telefon unten nicht hört. Sein Vater ist wohl noch bei seinem Kunden. Jetzt muss er die Zeit totschlagen. Aber wie?
Am Wall ist Kirmes. Und er ist gerade in der richtigen Stimmung für den Rummelplatz. Er wendet und fährt in die Stadt zurück.
Also heute kommt’s ziemlich dick! Gegen halb vier hab ich versucht Ines zu erreichen. Sie hatte mir gestern die Nummer ihrer Eltern und ihre Handy-Nummer gegeben. Ich wollte noch mal mit ihr über Hendrik sprechen. Von den Mails wollte ich allerdings nichts sagen. Erst hab ich’s auf dem Handy versucht. Das war ausgeschaltet. Na prima! Dann habe ich bei ihren Eltern angerufen. Ihre Mutter war dran, im Hintergrund Kindergeschrei, ich konnte sie kaum verstehen. Ines sei zu diesem Bryan-Adams-Konzert gegangen. »Jetzt schon? Das fängt doch erst um halb neun an?« »Vorher wollte sie noch was mit einem Klassenkameraden unternehmen.« »Äh… mit Thilo?« Das war einfach ein Blindversuch. Mit wem aus unserer Klasse könnte sie wohl heimlich was haben? Wenn wirklich was dran ist, halten die beiden jedenfalls perfekt dicht. Und dann kam der Hammer! »Ich glaube, er heißt Hanno«, sagte ihre Mutter. »Danke«, konnte ich nur noch rauskriegen und hab aufgelegt. Ich musste erst mal schlucken. Bin ich jetzt geschockt? Und wenn ja, warum? Weil ich mir schwere Gedanken mache, dass Hanno noch wie ein Hund leidet, und dann: alles reine Energieverschwendung meinerseits! Eigentlich müsste ich ja erleichtert sein. Aber ich bin sauer. Hat er mir nur was vorgespielt? Nein, das nicht. Hanno kann sich nicht verstellen. Getröstet hat er sich allerdings ziemlich schnell. Doch warum diese Heimlichkeiten? Bei Hanno könnte ich es ja verstehen. Er will
nicht gern zugeben, dass er mit fliegenden Fahnen zu Ines übergelaufen ist. Aber bei ihr? So eine Trumpfkarte hätte sie doch bestimmt gegen mich gezogen! Gestern waren wir ja fast eine Stunde zusammen. Kein Sterbenswörtchen von Hanno! Oder überschätze ich sie und sie hat auch ein schlechtes Gewissen? Wollte sie mich vielleicht sogar schonen? Andererseits weiß sie wahrscheinlich schon von Hanno, dass wir zwei nicht das Traumpaar sind, und hat es deshalb nicht für nötig gehalten, mir was zu sagen. Aber stopp mal: Wieso nehme ich überhaupt an, dass zwischen den beiden was ist? Bevor ich mir jetzt das Hirn zermartere, setze ich mich auf meinen Drahtesel und radle zum Rummelplatz. Bestimmt stolpere ich da über ein paar Leute aus der Schule. Und wer weiß, ob nicht über die beiden? Sie hatten vor dem Konzert ja noch was vor! Vielleicht krieg ich auf dem Riesenrad etwas mehr Übersicht über das ganze Chaos!
Die Konzerthalle tobt, als Bryan Adams seine letzte Zugabe ankündigt. Ein paar virtuose Griffe auf der Gitarre, dann fragt er in die Runde: »Have you ever really loved a woman?« Und alle schreien: »Yeah!« Hanno hält sich zurück, schielt heimlich zu Ines hin und wird verlegen, als er merkt, dass sie ihn auch aus den Augenwinkeln beobachtet. Aber dann packt der gute Bryan wirklich noch mal richtig aus und bringt diesen Song, wie man ihn bringen muss. Nicht in dem harten Rocksound, den man ihm ohnehin nicht so richtig abkauft. Er singt ihn, wie eine Ballade übers Liebesleid gesungen werden muss: Gefühl pur, dazu eine Prise Melancholie mit einem kleinen Schuss Ironie. Klasse!
»Wir dürfen ihn wohl doch nicht total verreißen«, sagt Ines, als sie sich mit der Menge aus der Halle schieben. »Was meinst du?« »Er sollte vielleicht seinen Manager entlassen und sich ein neues Outfit zulegen. Seinem Alter entsprechend. Wenn er dann wie heute Abend mit seiner Stimme nur er selbst ist, kann man ihm noch einen weiteren Grammy zutrauen.« »Und welchen Song fandest du am besten?« Sie sieht ihn gespannt an. Hanno seufzt, als wäre die Frage zu kompliziert. Doch dann grinst er und tippt Ines auf die Nasenspitze: »Run to you.« Er zögert noch kurz, bevor er die Arme um sie legt. »Und wenn ich bei dir angekommen bin, könnten wir ein Stück zusammen laufen.« Ines lehnt ihren Kopf gegen seine Schulter. »Wenn du nicht gleich die Lust verlierst, falls es auch mal schlechtes Wetter gibt?« »Immer blauer Himmel wäre ziemlich langweilig«, antwortet Hanno. Und das sagt er nicht nur so dahin. Das, woran er immer noch nicht so richtig glauben will, gibt’s vielleicht doch? Die Liebe auf den zweiten Blick.
Hendrik schwebt allein in der Riesenrad-Gondel in den rotvioletten Abendhimmel. Auf halber Höhe hält das Rad noch mal an, um weitere Fahrgäste aufzunehmen. Kurz darauf setzt es sich wieder in Bewegung und wird schneller. Doch gerade, als seine Gondel auf dem Scheitelpunkt ist, gibt’s einen heftigen Ruck, sodass er sich an der Stange festhalten muss, um nicht vom Sitz zu fliegen. Aufschreie, dann aufgeregte Stimmen. »Kleine Panne, meine Herrschaften! Tut uns Leid. Aber keine Sorge, gleich geht’s weiter. Bleiben Sie bitte auf Ihren
Plätzen sitzen.« Die Stimme am Mikrofon klingt aufgeräumt. Die Leute beruhigen sich wieder, einige aus den Nachbargondeln finden das alles eher lustig und reißen laut ein paar Witze. Doch als sich nach zehn Minuten immer noch nichts tut, vergeht ihnen allmählich das Lachen. Hendrik beugt sich über die Gondel und schaut hinunter. Eine Menschentraube hat sich unten versammelt und sieht zu ihnen hoch. Auf einmal wird ihm schwindlig und er muss die Augen schließen. Plötzlich sind die Bilder wieder da, die Brandung unten, die Wellen, die sich am Felsen brechen, Lisa, die schluchzend den Trampelpfad herunterläuft, ihr Erschrecken, als sie den Steg erreicht und ihn dort stehen sieht. Sie hat die schwarze Kladde mit den Herzstickern dabei. »Hendrik! Was machst du denn hier?« »Er ist wohl nicht gekommen? Hat dich hängen lassen, was?« »Wer? Was meinst du überhaupt?« »Wer! Du weißt genau, wen ich meine. Wailand. Und was, weißt du auch. Gestern Abend, als er dir nachgeschwommen ist.« »Du spinnst ja. Das war doch ganz harmlos!« »Ach ja? Und der Zettel, den du ihm heute aufs Bett gelegt hast? Ich muss Sie sehen! Wegen gestern! Bitte, bitte, kommen Sie!« »Du spionierst mir nach? Du bist so gemein!« »Ja. Und du bist so falsch. Was ist jetzt mit uns?… O Mann, pass auf! Gib mir deine Hand!« »Lass mich, Hendrik! Lass mich los. Das mit uns, das war doch nur Spiel.« »Und das mit Wailand, das ist Ernst?« »Hör auf damit, du siehst ja Gespenster!« »Ach so, ein Gespenst aus Fleisch und Blut.« »Lass mich jetzt vorbei!«
Sie stößt seine Hand weg, weicht zurück und presst die Kladde mit gekreuzten Armen gegen ihre Brust. Das Klingeln des Handys erlöst Hendrik aus seinem Albtraum. Eine SMS. Von wem? Von Laura? Wieso? Wer hat ihr seine Nummer gegeben? »Die Reise geht weiter«, tönt die Stimme von eben plötzlich munter durch den Lautsprecher. »Halten Sie sich fest, meine Herrschaften, wir heben wieder ab.« Die Lichterorgel des Riesenrads blinkt, aus dem Lautsprecher dröhnt jetzt Marschmusik herauf, ein kleiner Ruck: Das Rad setzt sich in Bewegung, das Schauspiel des Sonnenuntergangs ist vorüber, es dämmert inzwischen. Hendrik liest die SMS. Panne am Riesenrad – hänge in der Luft. Wollte dich zur Kirmes abholen, hob deine Mutter kennen gelernt und von ihr deine Handynummer gekriegt. Wann sieht man sich? Sie ist hier in einer der Gondeln! Sie war bei ihm zu Hause! Worüber hat seine Mutter mit ihr gesprochen? Darüber? Nein. War sie in seinem Zimmer? Das Poster! Unsinn. Seine Mutter betritt sein Zimmer ja selbst kaum. Aber vielleicht hat Laura doch irgendwie herausgekriegt, dass er hinter den Mails steckt. Will sie sich deswegen mit ihm treffen? Ihn direkt damit konfrontieren? Er möchte sie sehen. Er möchte sie nicht sehen. Er traut seinen Gefühlen nicht mehr. Er kann niemandem mehr trauen. Auf keinen Fall mehr einem Mädchen. Soll er sie anrufen? Oder mit einer SMS antworten? Seine Mutter wird ihr gesagt haben, dass er das Wochenende bei seiner Großmutter verbringt. Warum fragt sie dann, wann man sich sieht? Am Montag in der Schule. Vielleicht. Wenn er hingeht. Oder hat sie ihn hier in der Gondel entdeckt? Und wartet ab, wie er sich verhält. Er tippt eine Antwort an sie ein:
Bist du gerade unten oder schwebst du oben? Man sieht sich in ca. 1 Minute vor der Kasse, falls keine weitere Panne passiert… »O Mann, das ist ja direkt einer von den XXL-Zufällen«, begrüßt Laura ihn unten mit diesem Lächeln, das den Gefühlswirrwarr in ihm noch steigert. Es zieht ihn in ihren Bann und hält ihn gleichzeitig auf Abstand. »Hast du Lust, noch mal mit mir in die Luft zu gehen?« Er zögert. »Aber nicht auf dem Riesenrad. Vielleicht nehmen wir diesmal den fliegenden Teppich?« »Einverstanden. Der ist märchenhaft schön«, stimmt sie zu, hakt sich bei ihm unter und zieht ihn mit sich fort.
War das jetzt Schicksal oder nur Zufall? Aber ein Zufall kann vielleicht ja auch zum Schicksal werden. Hendrik auf dem Rummelplatz statt bei seiner Großmutter! Hatte der ein Glück, dass er die Panne im Getriebe von ganz oben genießen konnte! Meine Gondel blieb im rechten Winkel hängen und ich hatte weder einen erhebenden Ausblick noch nette Gesellschaft. Also hab ich die SMS an ihn geschrieben in der Hoffnung, dass er darauf reagieren würde und wir uns noch vor Montag sehen könnten. Am Dienstag ist wieder AG, vorher muss das mit Lechner über die Bühne gehen. Ich hoffe, dass der kein Sturkopf ist und irgendwie einlenkt. Dass Hendrik noch mal einen Annäherungsversuch unternimmt, ist eher unwahrscheinlich, nach dem, was letztens in der AG zwischen den beiden gelaufen ist. Natürlich war ich nicht darauf vorbereitet, ihm so plötzlich gegenüberzustehen. Mir war überhaupt nicht klar, wie ich auf das Thema Herz-Ass kommen sollte. Also hab ich es erst mal gelassen. Auf keinen Fall darf ich mit der Tür ins Haus fallen!
Natürlich hab ich meine Ohren besonders gespitzt, wenn er was sagte. Resultat: Er will und er will nicht! Was das heißt? Manchmal will er mehr Nähe, dann zack!, ist er wieder in seinem Schneckenhaus. Und wenn ich das mit den Mails und diesem Mädchen in Verbindung bringe, dessen Gesicht er aus dem Foto geschnitten hat, dann kann ich’s mir denken. Eine geplatzte Liebe, eine große Enttäuschung, irgendeine Verletzung, mit der er noch nicht fertig ist. Ich muss vorsichtig sein und ihm zeigen, dass er mir vertrauen kann. Auf keinen Fall darf ich ihn drängen, muss aber versuchen, ihn trotzdem zum Reden zu bringen. Ob ich das schaffe? Und warum will ich das schaffen? Belüg dich jetzt nicht, Laura von Osten! Sag nicht, aus lauter Nächstenliebe! Vielleicht aus… Liebe? Nein. Jedenfalls noch nicht. Aber wer weiß…? Vielleicht kann die Liebe ja auch auf leisen Sohlen kommen ohne diesen Urknall-Effekt?
Liebe Laura… Hendrik starrt auf den Bildschirm. Wie soll er nur anfangen? Ich mag dich, weil… Ich würde dich mögen, wenn… Ich kann dich nicht mögen, weil… Ich darf dich nicht mögen, weil doch alles schief laufen würde. »Sie scheint ein sehr nettes Mädchen zu sein«, hat seine Mutter gesagt, dabei wirkte sie etwas unsicher. Vielleicht, weil sie Laura seine Handy-Nummer gegeben hat. »Das war doch in Ordnung so?« »Kein Problem«, hat er sie beruhigt und dann gesagt: »Sie ist wirklich nett.«
Heute Morgen in der Schule bekam er mit, dass Laura häufiger zu ihm rübersah. Einmal begegneten sich ihre Blicke kurz. Sie konnte nicht so rasch wegschauen und er bemerkte diesen nachdenklich forschenden Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie wurde rot, als habe er sie bei irgendwas ertappt. »Kommst du morgen wieder in die Theater-AG?«, fragte sie ihn in der Pause. Was sollte er antworten? Er weiß ja selbst nicht, was morgen sein wird. Mit Lechner kommt er einfach nicht klar. Er mag seine Art nicht. Diesen ironischen Ton ihm gegenüber. Und das wird sich auch nicht ändern, da ist er sich sicher. Der konnte ihn doch auch vom ersten Tag an nicht leiden! Aber Theaterspielen ist schon lange seine Leidenschaft, auch an der alten Schule hat er in einer Laiengruppe gespielt. Soll er wegen Lechner aufgeben? Und Laura? Sie hat das gleiche Faible fürs Theaterspielen wie er. Vielleicht ist es das, was ihn zu ihr hinzieht? Wahrscheinlich. Denn mehr würde nicht gehen. Und er muss ihr erklären, warum nicht. Am besten in einem Brief. Liebe Laura… Er löscht das Wort liebe und ersetzt es durch hallo. Hallo, Laura… Oder nur: Laura Er gibt auf. So geht das nicht! Jedenfalls nicht heute. Er drückt die Eins auf dem Handy, darunter hat er ihre Nummer gespeichert. Sie nimmt sofort an. »Hendrik! Find ich prima, dass du anrufst.« Ja, es klingt, als freue sie sich wirklich. »Hättest du Lust, dich nachher mit mir zu treffen?« Pause, dann fragt sie: »Wann?« Warum hat sie gezögert? Wenn es bei ihr nicht geht, kann sie es ruhig sagen. »Hast du schon was vor?«
»Ja. Aber danach hätte ich Zeit. Um sieben, nach dem Abendbrot?« »Und wo?« Sie zögert wieder, bevor sie einen Vorschlag macht. »Beim Filmpalast? Wir könnten ins Kino gehen.« »Kino ist spitze. Wie wär’s mit Lost in Translation?« »Super. Bis heute Abend. Ich freu mich.« »Ich mich auch.« Er legt auf, macht den PC aus, geht runter und nimmt Helm und Jacke vom Haken. Er wird noch ein paar Runden auf der Piste drehen. Da wird er diese inneren Spannungen etwas los.
Hendrik hat angerufen! Er wollte sich mit mir verabreden. Damit hab ich nicht unbedingt gerechnet. Ich hab vorgeschlagen, dass wir ins Kino gehen. Wir sind beide Cineasten, wie wir festgestellt haben. Da haben wir erst mal einen unverfänglichen Gesprächsstoff und vielleicht sind wir nachher so locker drauf, dass wir endlich aufs Eigentliche kommen. Gleich muss ich ja los. Das Treffen mit Lechner. Meine Güte, hat der es kompliziert gemacht! In den Pausen war er ständig verschwunden und als ich ihn dann endlich nach der letzten Stunde vor dem Lehrerzimmer erwischt habe, hatte er keine Zeit. Er muss dringend weg! Und ich muss dringend mit Ihnen reden. Heute noch. Ja, dann aber schnell. Nein, nicht zwischen Tür und Angel. Die Sache ist wichtig. Sehr wichtig sogar. Vielleicht… Vielleicht? Vielleicht lebenswichtig. Ja dann… Aber er kann erst gegen halb fünf.
Wo? In die Stadt kommt er heute nicht mehr. Keine Zeit. Wenn schon, dann draußen in Arbergen. Ich kann ja den Bus nehmen. Wo da? »Äh… da ist ein italienisches Eis-Café, gleich am Ortseingang.« »Gebongt. Punkt vier bin ich da. Und rechne schwer mit Ihnen.« »Um was geht’s denn?« »Später! Keine Zeit…« Ich hatte es wirklich eilig. Ines wartete unten und wollte wissen, ob es geklappt hat. Sie war allein, ohne Hanno! Sein Rad war schon weg, aber wahrscheinlich wartete er um die Ecke auf sie. »Prima, dass du das mit Lechner auf dich nimmst«, sagte sie und verdrückte sich dann schnell. Ich konnte mir heute in der großen Pause einen bissigen Kommentar jedenfalls nicht verkneifen. Und sie? Wurde rot wie eine Tomate und fing zu stottern an! Aber dann wurde es wieder sachlich zwischen uns. Mann, ich muss los! Am besten fahre ich mit dem Bus, am Himmel hängen plötzlich dunkle Wolken.
Hendrik hat schon ein paar rasante Abheber auf der Piste gelandet, als es zu regnen beginnt. Er guckt in den Himmel. Nur ein Schauer? Da oben sieht es ziemlich drohend aus. In vier Minuten kann er im Il Dottore sein und dort erst mal den Regen abwarten. Er wirft einen Blick hinüber zur Wohnanlage, bevor er das Café betritt. Lechners Golf steht drüben. Er scheint zu Hause zu sein. Einen Moment lang überrieselt ihn eine Gänsehaut, als er an seinen Einbruch in Lechners Wohnung denkt. Er nimmt
den Helm ab, klemmt ihn unter den Arm und betritt das Lokal. Er wird sich an die Bar setzen und einen Cappuccino trinken. Mit einem raschen Blick überfliegt er den Raum. Nicht viel los hier. Dann: Ihm stockt der Atem und er steht wie gelähmt da. Das hier ist nicht wahr! Er ist im falschen Film! Lauras und Hendriks Blicke begegnen sich für Sekunden. Er fühlt plötzlich nichts mehr, sein Körper gleitet von ihm weg, seine Gedanken flattern davon und sein Kopf ist ein Luftballon. Er macht einen Schritt, nein, er schwebt auf Watte. Er kriegt keinen Fuß auf den Boden. Dann ist er an der Tür. »Hendrik, bitte! Du denkst was Falsches. Ich kann dir alles erklären.« Ihre Stimme! Die Stimme von Lisa! Sie soll ruhig sein. Er will sie nie mehr hören. Sie muss aus seinem Kopf. »Hendrik!« Was will sie denn noch? Sie hat doch schon alles erreicht! Er ist fertig mit ihr. Er ist am Ende. Er rennt zum Moped, öffnet das Schloss und rast los. »Hör auf damit, du siehst ja Gespenster!« »Ach so, ein Gespenst aus Fleisch und Blut!« »Lass mich jetzt vorbei!« Sie stand ganz nah am Abgrund, nur ein einziger falscher Schritt und sie stürzt hinunter. »Nimm meine Hand!« Sie stieß sie weg, umklammerte dann mit beiden Händen die Kladde und presste sie gegen ihre Brust. »Verschwinde! Verschwinde endlich! Ich würde für ihn sogar sterben, damit du’s weißt! Aber das kapierst du sowieso nicht.« Nein, das verstand er nicht. Sie sollte für ihn sterben! Sie würden zusammen sterben! Er fasste nach ihr. Da machte sie
diesen falschen Schritt und er hielt plötzlich die Kladde in den Händen. »Lisa! Lisa!« »Warum schreit der da oben denn so? Sie kann ihn doch nicht mehr hören!« Und er hatte hinaufgesehen zu dem Schatten dort auf dem Felsen. »Lisa!« Wailand hatte gar nicht mehr aufgehört ihren Namen zu rufen. Bevor er bei ihm unten war, hatte Hendrik die Kladde unter den Bund seiner Jeans gesteckt. Lisas Geheimnisse gingen den anderen nichts an. Die Piste ist regennass und glatt. Das wird ein toller Abflug! Er wird von ganz oben starten, damit er weit übers Ziel hinausschießen kann. Der Bruchpilot! Er kichert, kriegt einen Lachkrampf, seine Arme zittern, das Lachen schüttelt jetzt seinen ganzen Körper. »Hendrik!« Warum gibt sie keine Ruhe, diese verdammte Stimme in ihm? Wer steht denn da auf seiner Landebahn rum, verdammt noch mal! »Weg da, weg da! Haut ab!«
Mitternacht ist schon vorbei. Aber ich kriege kein Auge zu, bevor ich nicht alles los bin! Das Wichtigste: Bis auf einen Handwurzelbruch ist Hendrik nichts passiert. O Gott, wie froh bin ich, dass es so glimpflich abgelaufen ist! Der Bruch ist unkompliziert, hat der Arzt im Krankenhaus gesagt. Und Hendrik darauf: »Kann ich damit trotzdem später mal eine Filmkamera lenken? Für großes Kino, meine ich.«
Seine Mutter hatte leise gelacht und dann plötzlich gar nicht mehr aufhören können zu heulen. Und ich hab aus reiner Gesellschaft wie ein Schlosshund mitgeheult. Aber jetzt von vorne, damit ich selbst erst mal raffen kann, was passiert ist. Ich war pünktlich um halb fünf im Il Dottore, nur Lechner natürlich nicht. Ich hab mich ans Fenster gesetzt und gute fünfzehn Minuten warten müssen, bis er endlich in mein Gesichtsfeld kam. Sein Golf hielt auf der anderen Straßenseite und er stieg aus. Aber nicht allein! Bei ihm war so ein blonder Typ mit wehenden Locken, deutlich jünger und mindestens so gut aussehend wie er. Was sollte das denn! Wollte er den mitbringen? Ich musste dringend mit ihm alleine sprechen! Aber dann verabschiedeten sich die beiden voneinander mit Küsschen auf die Wange. Sein Freund? Sein Geliebter? Der andere trollte davon und Lechner kam über die Straße auf das Café zu. Endlich! Ich saß wie auf heißen Kohlen. »Entschuldige«, sagte Lechner, als er an meinem Tisch war. »Ich musste meinen Bruder vom Zug abholen. Und der hatte Verspätung. – Also was liegt an?«, fragte er dann salopp und aufgeräumt. »Leg mal los.« Und ich legte los! Offenbar hatte ich irgendwo in mir einen Haufen Wut gespeichert, ohne dass mir das klar war. Und die explodierte jetzt wie ein Pulverfass. Ich war regelrecht in einem Wutrausch. Von wegen Diplomatie, liebste Ines! Als ich fertig war, war Lechner es auch. Was wir uns eigentlich nur einbilden! Er ist nicht dazu da, unsere Primadonnen-Launen zu ertragen, sondern dazu, den Stoff des Lehrplans in uns reinzutrichtern. »Na wunderbar! Ein toller Pädagoge! Jede Menge Theorie im Kopf, aber null Ahnung von der Praxis.«
Ich glaube, das saß. Er wurde kleinlaut, fing an mich zu beschwichtigen und sah plötzlich richtig zerknirscht aus. Er machte einen Haufen Versprechungen, die er hoffentlich alle halten wird, und gab zu, dass auch er nur ein Mensch ist. Sieh an, wer hätte das vermutet! Er würde morgen mit Hendrik reden. Und wenn der kein Sturkopf wäre, würden sie schon irgendwie miteinander klarkommen. Dann fragte er mich, ob wir nach dem ganzen Stress noch einen Prosecco trinken wollten. Okay, das war zwar Verführung Minderjähriger zum Drogenmissbrauch, aber schließlich war es ja für einen guten Zweck. Wir stießen gerade an, als Hendrik reinkam. Ich kann auch jetzt noch nicht beschreiben, was in dem Moment in mir vorging. Jedenfalls war es das perfekte Chaos. Aber das dauerte nur ein paar Sekunden. Dann war ich vollkommen klar im Kopf. »Los, hinter ihm her! Bevor was passiert!« Lechner trat aufs Gas, als wollte er unbedingt seinen Führerschein loswerden. Erst ging es ein paar hundert Meter auf der Arberger Landstraße entlang Richtung Stadt, dann bog Hendrik plötzlich links ab ins Brachland. Der holprige Weg führte direkt in eine Steinwüste. Für uns war da Schluss. Wir stürzten aus dem Auto hinter dem Moped her. Hendrik fuhr über den Schotterweg den Steinbruch rauf. Oder besser, er rutschte und schleuderte rauf, der Schotter spritzte dabei nach allen Seiten weg. Dann drehte er vor einer Art Rampe und da war klar, was er vorhatte. In dem Moment hatte ich schon das Bild vor Augen: Ich sah ihn durch die Luft fliegen und tot liegen bleiben. Er gab Gas… Wir rasten unten zu der Stelle, wo er in etwa tot landen musste. Wahrscheinlich würde auch einer von uns beiden gleich tot sein, Lechner oder ich, denn wir standen ihm unten
mit ausgebreiteten Armen mitten im Weg. Aber das war mir in dem Moment so was von scheißegal. Da hörten wir ihn schreien: »Weg da, weg da! Haut ab!« Er konnte nicht mehr bremsen, er war ja schon in der Luft! Aber er warf sich auf die linke Seite und schaffte es irgendwie, ein Stück neben uns runterzukommen, flog über den Lenker weg und rollte sich schon in der Luft wie eine Katze zusammen. So landete er. Eine artistische Meisterleistung! Doch dann blieb er liegen. Lechner war mit einem Satz bei ihm, beugte sich über ihn, schlug ihm ins Gesicht, obwohl Hendrik gar nicht bewusstlos war, und fluchte dabei wie ein Bierkutscher: »Himmelarschnochmal! Was hab ich dir denn bloß getan, du Blödmann! Na schön, ich war sauer auf dich! Aber du hast dich auch nicht gerade wie ein Gentleman benommen.« Hendrik tat, als kriegte er davon nichts mit, aber ich wette, dass er jedes Wort hörte. Lechner war noch längst nicht am Ende. Er explodierte genau wie ich vorhin im Café. Er schien auch jede Menge Wut gespeichert zu haben. Seine Stimme überschlug sich direkt und er japste nach Luft. Als er mit Hendrik fertig war, fiel er über mich her. Dass ich bloß nicht noch mal bei ihm auftauchen und für irgendeinen von uns Idioten eine Schneise bei ihm schlagen sollte. Egal für wen. Er hätte die Nase gestrichen voll von uns allen. Kein Wunder, dass Goldmann einen Herzinfarkt gekriegt hätte! Der könnte uns demnächst gerne wiederhaben. Mit dem allergrößten Vergnügen! Dann war er leer. Und wurde wieder gemütlicher. Er half Hendrik auf die Beine. »Kannst du deine verdammten Gehteile benutzen?« Lechner fasste ihn unter die Arme und hievte ihn hoch.
Man sah Hendrik an, wie peinlich ihm das war. »Thanks, Mister«, quetschte er zwischen den Zähnen raus und zog ein Gesicht, als wollte er gleichzeitig heulen und lachen. Als Lechner mich dann noch einmal anpflaumte, dass ich meinen Spezi gefälligst von der anderen Seite stützen sollte, kicherte Hendrik plötzlich los und ich hatte das Gefühl, als fiele in dem Moment ein ziemlicher Druck von ihm ab. Oh Mann, ist er etwa deswegen durchgedreht, als er mich mit Lechner zusammen im Café sah, weil er eifersüchtig ist? Und dann hat er rot gesehen. Oder phantasiere ich mir schon wieder was zusammen? Kaum stand Hendrik wieder einigermaßen auf seinen Beinen, wollte er zu seinem blöden Moped rüber. Aber da platzte Lechner noch mal der Kragen. Ob er nicht alle Tassen im Schrank hätte! Das Ding sah keineswegs mehr fahrtüchtig aus. Und so, wie Hendriks Hand runterhing und er vor Schmerzen Grimassen zog, hätte er das Moped nicht mal aufrichten können. Wir trollten uns also zu Lechners Golf, Hendrik und ich stiegen hinten ein und Lechner gab Gas. »Wohin jetzt mit euch, ihr schrecklichen Kinder?«, wollte er wissen. Er war allmählich wieder auf Normaltemperatur runtergekühlt und sein latent vorhandener Humor kehrte zurück. »Ich glaub, ich brauch einen Gips«, sagte Hendrik mühsam grinsend. »Sehr gut. Ein Gipsverband passt ausgezeichnet zur Rolle des Kreon. Dieser sture Kerl, der ständig mit dem Kopf durch die Wand rennen muss.« »Ich werde aber den weisen Teiresias spielen«, sagte Hendrik, hielt seine kranke Hand gegen die Brust gepresst und stöhnte leise.
»Du spielst die Rolle, die ich dir verpasse, kapiert? In den weisen Teiresias musst du noch reinwachsen. Und jetzt sag erst mal deinen Eltern Bescheid.« Ich wählte für ihn und gab ihm das Handy: Ein kleiner Unfall, leichte Schmerzen im Handgelenk, nichts Schlimmes, er sei auf dem Weg ins Krankenhaus, vorsichtshalber, sie sollen sich keine Sorgen machen. Dann gab er mir das Handy zurück und ich rief zu Hause an. Ich sagte, dass ich mit Freunden ins Kino wollte und nicht zum Essen käme. Als ich zufällig in den Rückspiegel guckte, bekam ich mit, dass Lechner und Hendrik sich darin offenbar beäugten. Dann kriegte Lechner Lachfältchen um die Augen. Wir waren schon fast beim Krankenhaus, als Hendrik plötzlich den Kopf auf der vorderen Rückenlehne abstütze und seine Schultern auf einmal zu zittern begannen. Kein Wunder, dass er nach all dem jetzt total durch den Wind war. Ich ließ ihn einen Moment in Ruhe, dann legte ich den Arm um ihn. Auch Lechner sagte nichts. Hendrik schniefte kurz, hob den Kopf wieder und ich sah, wie er Lechner im Rückspiegel angrinste. Der grinste zurück. Lechner blieb so lange mit uns in der Notaufnahme, bis Hendriks Eltern da waren und er ins Behandlungszimmer kam. »Ich hoffe, dass du das bisschen Gips nicht gleich zum Anlass nimmst, bis zu den Sommerferien blauzumachen«, sagte er diesmal ganz im O-Ton Lechner: freundlich ironisch, bevor er ging. Hendrik war ziemlich verlegen, als seine Eltern ihm die Hand schüttelten und sich für den Krankentransport bedankten. Lechner hatte ihnen gesagt, er sei bei dem kleinen Unfall zufällig an Ort und Stelle gewesen! Schöner Zufall! »Wir behalten den Patienten erst mal bei uns. Er fiebert leicht«, sagte der Arzt. »Nur zur Sicherheit, soweit scheint alles in Ordnung zu sein.«
»Sieht man sich morgen?«, fragte Hendrik mich vorsichtig, als die Nachtschwester uns rauswarf. »Worauf du dich verlassen kannst«, antwortete ich und wunderte mich schon ein bisschen, dass seine Mutter plötzlich wieder zu weinen begann. War ihr das nicht recht, dass er das mich und nicht sie gefragt hatte? Obwohl sie sich doch offensichtlich gefreut hatte mich wiederzusehen. Hendriks Eltern nahmen mich mit und setzten mich in der Haydnstraße ab. Es war schon halb zwölf, als ich endlich zu Hause war. Papa hat natürlich mitgekriegt, dass mich jemand mit dem Auto heimgebracht hat. Er kam noch mal in die Küche runter, angeblich um was zu trinken. »Schon ein bisschen spät dafür, dass du morgen zur Schule musst«, hat er gemurrt und seine Sorgenfalten auf der Stirn gehabt. Doch er hat sich verkniffen zu fragen, wer mich nach Hause gebracht hat. »Sorry, der Film hatte Überlänge«, hab ich genuschelt. »Und jetzt bin ich hundemüde. Ich muss gleich ins Bett.« Dann war ich verschwunden und für eine mitternächtliche Diskussion über meinen Umgang nicht mehr verfügbar. Doch wahrscheinlich wird es in Zukunft einige davon zu bestehen geben. Wenn ein Moped die Haydnstraße raufknattert, ein ziemlich abgedrehtes Hupsignal von sich gibt und ich mit einem Satz draußen bin und die Auffahrt runterrenne. Und Papa die Stirn kraus zieht, wenn ich spätabends erst zurückkomme. Wenn Phil mal wieder lästert: »Dein neuer Lover scheint ein bisschen gestört zu sein. Aber wo die Liebe eben hinfällt!« Und Papa ihm heimlich Recht gibt. Wenn ich diese Liebe dann mit allen Mitteln und gegen alle verteidigen werde. Wenn eines Tages Liebe draus wird? Eine, die leise kommt und dann vielleicht doch die große Liebe ist? Aber jetzt erst mal: Der Vorhang zu und alle Fragen offen!