JOHN SLADEK
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JOHN SLADEK
DAS MOMSTER UND ANDERE ALIENS Stories, Parodien auf bekannte SF-Größen und andere boshafte Schnurren vom Erfinder des berüchtigten Müller-Fokker-Effekts
Scanned by Doc Gonzo
Science Fiction
Deutsche Erstausgabe
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/4432
Titel der amerikanischen Originalausgabe THE STEAM-DRIVEN BOY AND OTHER STRANGERS Deutsche Übersetzung von Ronald M.Hahn Das Umschlagbild schuf Klaus Hulitzka
Redaktion: Wolfgang Jeschke Copyright © 1973 by John Sladek Copyright © 1987 der deutschen Übersetzung by W i l h e l m Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1987 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Schaber, Weis Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin ISBN 3-453-0044-0
INHALT
STORIES Das Geheimnis des alten Eierkuchens (THE SECRET Of THE Ol.D CUSTARD) Seite 10
Der Aggressor (THE AGGRESSOR) Seite 19
Der Bestseller (THE BEST-SELLER) Seite 30
Gibt es den Tod auf anderen Planeten? (IS THERE DEATH ON OTHER PLANETS?) Seite 48
Die glückliche Spezies (THE HAPPY BREED) Seite 62
Ein Bericht über die Abwanderung der Bildungsgüter (A REPORT ON THE MIGRAT1ONS OF EDUCATIONAL MATERIALS)
Seite 87
INHALT
Der seltsame Besucher aus dem Noch-Nicht (THE SINGULAR VISITOR FROM NOT-YET) Seite 97
Das fett-fröhliche Weib Mansard Eliots (THE SHORT, HAPPY WIFE OF MANSARD ELIOT) Seite 111
Das Momster (THE MOMSTER) Seite 120
Anno Domini 1937 (1937 A.D.!) Seite 131
Geheimidentität (SECRET IDENTITY) Seite 144
Das transzendentale Sandwich (THE TRANSCENDENTAL SANDWICH) Seite 157
Der Dampfmaschinen-Junge (THE STEAM-DRIVEN BOY) Seite 167
INHALT
PARODIEN
Das entwendete Dingsbums (THE PURLOINED BUTTER)
Seite 182
Pemberlys Neubeginn-Dampforgel (PEMBERLY'S START-AFRESH CALLIOPE)
Seite 186 Ralph 4F (RALPH 4F)
Seite 198
Ingenieur der Götter (ENGINEER TO THE GODS)
Seite 205
Mit brutaler Gewalt (BROOT FORCE)
Seite 213
INHALT
Der Ausflug (JOY RIDE)
Seite 220
Der Mond ist ein Groschen (THE MOON IS SIXPENCE)
Seite 228
Der Solare Schuhverkäufer (SOLAR SHOE SALESMAN)
Seite 231
Eine verdammte Sache nach der anderen (ONE DAMNED THING AFTER ANOTHER)
Seite 242 Die Sublimierungswelt (THE SUBLIMINATION WORLD)
Seite 249
STORIES
Das Geheimnis des alten Eierkuchens Agnes hatte sich den ganzen Tag über ein Baby gewünscht, deswegen war es keine Überraschung für sie, als sie durch die Glastür des Ofens lugte und eins fand. Es schlief, in sauberen Flanell eingewickelt, auf dem Feuerrost, während sie verstaubte Flaschen abrieb, Rezepte sichtete und die Wiege vom Dachboden holte. Als Glen von der Arbeit nach Hause kam, gab sie dem Baby das erste Fläschchen. »Schau mal!« rief sie aus. »Ein Baby!« »Oh, mein Gott, wo hast du das denn her?« sagte er, wobei sein gesund aussehendes, rosafarbenes Gesicht weiß wurde. »Du weißt doch, daß es ungesetzlich ist, Babies zu haben.« »Ich habe es gefunden. Wieso ist es ungesetzlich?« »Alles ist ungesetzlich«, flüsterte er, zog die Gardinen einen Spaltbreit auseinander und sah vorsichtig hinaus. »Es kann nicht mehr lange dauern.« Das Gesicht auf Glens großem, rosafarbenen, würfelförmigen Kopf sah irgendwie angespannt aus. »Was ist denn los?« »Oh, nichts«, sagte er leicht gereizt. »Es wird einen Benzinkrieg geben, mehr nicht.« Glen gab eine pathetische Gestalt ab, als er sich so bewegte, um keinen Schatten auf die Gardinen zu werfen. Sein heller, hautenger Plastikanzug war jedoch weit davon entfernt, hauteng zu sein, selbst seine Kappe sah zerknautscht aus. »Tatsächlich? Ist das alles?« »Nein. Sag mal, unser Nachbar dort drüben recht die Blätter ja schon unheimlich lange zusammen.« »Gib Antwort. Was ist schiefgegangen? Irgendwas im Büro?« »Alles. Allmählich verschwinden das Kohlepapier, 10
die Briefmarken und die Büroklammern. Ich fürchte, man wird mich dafür verantwortlich machen. Der Boß wird einen Computer anschaffen, um den Verlusten nachzuspüren. In der Eisenbahn hat mir jemand die Le bensmittelkarten gestohlen und dafür eine Zeitung von voriger Woche zurückgelassen. Die IBM-Aktien fallen, als würden sie bald den Geist aufgeben. Ich habe eine Erklärung oder sowas. Und .. .und man will das Dezimalsystem wieder abschaffen.« »Du bist nur überarbeitet. Warum setzt du dich nicht einfach hin und schaukelst unser neues Baby ein biß chen auf den Knien? Ich könnte in der Zeit etwas zu.essen besorgen.« »Essen stehlen? Das ist doch verboten!« »Alle tun es, Liebster. Weißt du eigentlich, daß ich es im Ofen gefunden habe?« »Nein!« »Ja, und das Komischste ist: Ich habe mir bloß ein Baby gewünscht - und schon war es da.« »Wie geht's den anderen Haushaltsgeräten?« »Die Waschmaschine wollte mich fressen. Die Spül maschine gibt den Geist auf. Wir müssen vergessen haben, eine Rate zu bezahlen.« »Ja, und unser Konto ist überzogen«, sagte Glen seuf zend. »Der Müllschlucker ist verschnupft.« »Verschnupft?« »Da drüben.« Er schaute sich nicht das an, worauf sie zeigte, seitdem blickte unverwandt aus dem Fenster, wo sich allmählich ein Wetter zusammenbraute. Ein Willkommen-Waggon fuhr langsam durch die Straße. Glen konnte zwar das Schild nicht lesen, aber er erkannte die Panzerplatten und die blauen Rüssel der Maschinengewehre. »Ja, er sitzt verschnupft im Spülstein und will nichts fressen. Seinen Garantieschein hat er dennoch gefressen.« 11
Der Nachbar, ein »Mr. Green«, legte beim Rechen eine Pause ein, um sich die Nummer des Willkom menWaggons zu notieren. »Er ist nicht verschnupft, Liebling, sondern verstopft«, sagte Glen. »Wie viele Wörter du kennst! Und dabei liest du nicht mal Lange Wörter, leicht gesagt.« »Ich lese Philosophie in Kürze, wenn ich Zeit dazu finde«, gestand er. »Aber vergangene Woche habe ich ihren Test mitgemacht und herausgefunden, daß ich nicht entfremdet genug bin. Deswegen bin ich auch so verdammt stolz auf unsere Kinder.« »Jenny und Peter?« »Genau die.« Agnes seufzte. »Ich würde irgendwann gern mal eine Ausgabe der Irischen Post lesen. Übrigens waren die Kartoffeln mal wieder vergiftet. Sämtliche Augen.« Sie ging ins Schlafzimmer und legte das Baby in die Wiege. »Ich gehe runter und schalte was in der Glotze ein«, kündigte Glen an. »Etwas Gutes.« »Leg erst deinen Umhang ab! Du weißt doch, die Sicherheitsvorschriften, die wir auf dem Elternabend gelernt haben ...« »Herr im Himmel, wie könnte ich sie vergessen? Blas' alle Kerzen aus. Stell dich in einem Kanu oder in der Badewanne nie aufrecht hin. Gib nur Name, Rang und Seriennummer an. Nimm nur Schecks an, die in deiner Gegenwart unterzeichnet worden sind. Laß nicht zu, daß die Ratten die Streichhölzer anknabbern, wenn ihnen der Sinn danach steht.« Er verschwand, und zur gleichen Zeit kamen Jenny und Peter aus der Schule zurück und verlangten einen »Imbiß«. Agnes versorgte sie mit ungarischem Gulasch, Brot, Butter, Kaffee und Apfelkuchen. Sie zahlten pro Nase 95 Cent und jeder gab ihr ein Trinkgeld von 15 Cent. Sie waren bärbeißige, sture Achtjährige, die während des Essens wenig redeten. Agnes hatte ein bißchen 12
Angst vor ihnen. Nach dem Imbiß schnallten sie ihre Revolvergurte um und gingen hinaus, um andere Kinder zu jagen, bevor es zu dunkel wurde, um sie zu sehen. Agnes seufzte und setzte sich vor ihren Geheimübermittler. ERWARTE TANTE ROSE MIT DEM MITTAGSZUG, sendete sie. HABE MICH UM IHRE GLADIOLEN GEKÜMMERT. BEACHTEN, DASS FUDGE UM 0400 KERZEN AN PARIS-MASCHINE BRINGT. GÄRTNER BRAUCHT PFLANZENHEBER PER EXPRESS. Kurz darauf kam die Antwort: PFLANZENHEBER ARRANGIERT. FUDGE HAT KEINE WIEDERHOLE KEINE KERZEN. WIRD DDT VERWENDEN. ROSE FESTHALTEN BIS VIOLET VON SICH HÖREN LÄSST. Es war m i mer dasselbe, langweilige, bedeutungslose Botschaften. Als Glen die Treppe heraufkam, versteckte Agnes ihren Übermittler in einer Keksdose. Er hatte einen eigenen Übermittler im Keller, dessen war sie sich gewiß. Nach allem, was sie wußte, war er es, den sie jeden Abend anmorste. »Schau dir das an!« sagte er stolz und zeigte ihr einen Geländerpfosten. Draußen warf ein Flugzeug Flugblätter ab. Der Nachbar eilte hinaus, rechte sie zusammen und verbrannte sie. »Jeden Abend die gleiche verdammte Geschichte«, sagte Glen zähneknirschend. »Jeden Abend werfen sie Flugblätter ab, um uns zu sagen, daß wir aufgeben sollen, und jeden Abend werden sie von diesem Hundesohn verbrannt. Wenn das so weitergeht, werden wir nie erfahren, wer >sie< sind.« »Ist es wirklich so wichtig?« fragte sie. Er würde ihr eh nicht antworten. »Komm rein, hör auf zu schmollen! Ich sage dir, was ich gern tun möchte. Ich möchte gern mal mit der Meisenbahn fahren.« 13
»Eisenbahn«, korrigierte er sie. »Aber das geht nicht. Das Gesundheitsministerium sagt, daß es krebsfördernd ist,, wenn man schneller als fünfzig Stundenkilometer fährt.« »Es scheint dich ja wirklich zu interessieren, was aus mir wird!« Glen beugte seinen großen, würfelförmigen Kopf über das Fernsehgerät. »Dir wird sicher auffallen,« sagte er, »daß es aussieht, wie ein gewöhnliches Fußballspiel der Armee gegen die Marine. Und das ist es vielleicht auch. Vielleicht geht der Ball gar nicht in die Luft, wenn er dagegen tritt. Vielleicht ist diese Spielrunde nur ein bloßer Zufall.« »Nummer siebenundzwanzig wird vom Platz gestellt«, murmelte sie. »Ich frage mich, was das nun wie der zu bedeuten hat.« Glen spürte, wie ihre Hand die seine suchte. Nachdem er sich rückversichert hatte, daß sie ihren Giftring nicht trug, hielt er im abgedunkelten Wohnzimmer mit seiner Frau Händchen. »Die allgemeine Kälte«, murmelte er. »Sie nennen es >die allgemeine Kälte<. Hab ich dir übrigens gesagt, daß unser Konto überzogen ist?« »Ja. Es liegt an diesem verdammten Wagen. Du hättest das ganze Zubehör nicht auch noch bestellen sollen.« »Die Bazooka unter der Kühlerhaube? Die Richtungsfinder-Anlage? Den Geschützturm? Das hat doch schon seit Jahren jeder, Agnes. - Was soll ich beispielsweise tun, wenn die Polizei mich jagt? Soll ich versuchen, sie abzuhängen - mit der dicken Panzerung, die mich so langsam macht wie eine Schnecke?« »Ich weiß einfach nicht mehr, wovon wir leben sollen«, sagte sie. »Wir können Essensmarken essen, bis ...« »Nein, sie sind heute morgen konfisziert worden. Ich hab vergessen, dir davon zu erzählen.« Die Kinder kamen wieder rein, sie rochen nach 14
Schmutz und Pulverdampf. Jenny hatte sich an einer Stacheldraht-Barrikade einen Kratzer am Knie geholt. Agnes bandagierte sie aus dem Erste-Hilfe-Kasten und versorgte sie mit Kaffee und Doughnuts - für 15 Cent. Dann schickte sie sie zum Zähneputzen nach oben. »Und nehmt bloß nicht das Leitungswasser«, rief Glen. »Da ist irgend etwas drin.« Er begab sich in den Raum, in dem das Baby schlief und kehrte eine Minute später kopfschüttelnd zurück. »Ich könnte schwören, ich hätte es ticken gehört.« »Oh, Glen, laß uns für ein paar Tage wegfahren! Laß uns aufs Land gehen!« »Oh, klar! Wir fahren dreißig Kilometer über verminte Straßen, um uns ein paar Kuhfladen anzusehen. Du würdest es nicht mal wagen, einen Fuß aus dem Auto zu setzen, weil du Angst vor den tödlichen Giftschlangen hast. Außerdem haben sie den Boden mit Giftsumach und Riesenviren verseucht.« »Es wäre mir egal! Ich möchte nur mal frische Luft schnappen ...« »Sicher. Nervengas. Senfgas. Tränengas. Pollen. Selbst wenn wir es überleben würden - man würde uns festnehmen. Niemand geht noch aufs Land - außer Drogenhändler, die nach wildem Tabak suchen.« Agnes fing an zu weinen. Jeder war sonstwer. Keiner war so wie sie. Der Müllmann überprüfte ihre Botschaften an den Milchmann. Die Tauben im Park trugen angeklebte Metallkapseln an den Beinen. Auf dem Land gab es zwar Kuhfladen, doch keine Kühe. Selbst im Supermarkt mußte man vorsichtig sein. Wenn man irgend etwas auswählte, das den Eindruck erweckte, es bilde eine Art Muster ... »Haben wir noch 'ne Limo da?« fragte Glen. »Nein. Der Kühlschrank ist bis auf einen übriggeblie benen Eierkuchen leer. Wir können ihn nicht essen, weil in ihm eine Landkarte drin ist. Glen, was sollen wir überhaupt essen?« 15
»Ich weiß nicht. Wie wär's mit ... dem Baby? - Nun schau mich doch nicht so an! Du hast es doch im Ofen gefunden, oder? Stell dir mal vor, du hättest ihn angezündet, ohne hineinzusehen.« »Nein! Ich werde doch mein Baby nicht für ... einen Auflauf aufgeben!« »Na schön, na schön! Es war ja nur ein Vorschlag, weiter nichts.« Es war jetzt dunkel, und zwar im gesamten bleiummantelten Haus - außer in der Küche. Durch das QuarzBildfenster sahen sie, wie die Dämmerung sich über den Rasen und den leblosen Körper »Mr. Greens« senkte. Der Fernseher übertrug eine Gesprächsrunde maßgeblicher Ärzte, die sich fragten, ob Essen nicht die Hauptursache des Schwachsinns sei. Agnes ging zum Vordereingang, weil es geklopft hatte. Glen ging in die Küche zurück. »Entschuldigen Sie«, sagte der Priester zu Agnes, »aber ich bin zu einem Kranken gerufen worden. Jemand war so freundlich, mir seinen Windeldienst-Lieferwagen zu borgen, aber ich fürchte, er tut's nicht mehr. Könnte ich vielleicht mal Ihr Telefon benutzen?« »Gewiß, Pater. Es ist natürlich verwanzt.« »Natürlich.« Sie machte Platz, um ihn hereinzulassen, doch im gleichen Moment schrie Glen: »Das Baby! Es ist beim Eierkuchen!« Agnes und der Priester machten einen Satz, um es sich anzusehen. In der sauberen, gut beleuchteten Küche starrte Glen mit offenem Mund auf den offenen Kühlschrank. Irgendwie hatte das Baby ihn aufbekommen, denn jetzt konnte Agnes seinen gewindelten Hintern und die rosafarbenen Zehen sehen, die aus einem der unteren Einle geböden hervorlugten. »Es hat Hunger«, sagte sie. »Schau noch mal hin!« krächzte Glen. Als sie sich vorbeugte, sah sie, daß das Baby die 16
Landkarte aus dem Eierkuchen gezogen hatte und sie mit einer winzigen Kamera im Baby-Format abfotografierte. »Mikrofilm!« keuchte sie. »Wer sind Sie?« fragte Glen den Priester. »Ich bin ...« »Moment mal! Für mich sehen Sie nicht wie ein Geistlicher aus.« Er hatte recht; jetzt, im Licht, sah Agnes es auch. Der leichte Wind ließ die Kohlepapier-Soutane rascheln, und sie sah, daß sie von Büroklammern zusammengehalten wurde. Aus der Nähe besehen war seine Stola ein Streifen purpurner Briefmarken. »Wenn Sie ein Priester sind«, fuhr Glen fort, »warum sehe ich denn auf Ihrem römischen Kragen den Briefkopf meines Büros?« »Sie sind sehr clever«, sagte der Mann und zog eine Pistole aus dem Ärmel. »Tut mir leid, daß Sie unseren kleinen Trick durchschaut haben. Leid für Sie, meine ich.« »Unseren?« Glen schaute auf das Baby. »Moment mal! Agnes, in was für einem Wagen ist er vorgefahren?« »In einem Windeldienst-Lieferwagen.« »Aha! Ich habe lange darauf gewartet, Sie einzuholen, Windel-Mann. Ihre wechselvolle Karriere dauert schon viel zu lange.« »Ah, Sie haben mich und meinen krummbeinigen Assistenten also erkannt, was? Aber ich fürchte, es wird Ihnen wenig nützen. Wissen Sie, die Fotos haben wir nämlich schon, und da ist noch eine Kugel für jeden von Ihnen. Versuchen Sie nicht, uns aufzuhalten!« Der falsche Priester hob das Baby auf, ohne sie aus den Augen zu lassen. »Ich glaube, es ist besser, ich kille euch auf jeden Fall«, sagte er. »Ihr wißt schon zuviel von meinem Modus operandi.« Das Baby, das er auf dem Arm hielt, schwenkte freudig die Kamera und sabberte spöttisch. 17
»In Ordnung«, sagte Windel-Mann. »Stellt euch an die Wand, wenn ich bitten darf!« »Jetzt!« sagte Glen. Er hechtete auf die Waffe zu, während Agnes dem Baby die Kamera aus der knubbeligen Faust trat. Der Säugling-Spion wirkte zwar überrascht, doch er reagierte so schnell, daß man seine Bewegungen kaum wahrnahm. Er riß zwei Handvoll Eierkuchen hoch und warf sie Glen in die Augen. Glen ließ keuchend das Schießeisen fallen, während das infame Duo sein Heil in der Flucht suchte. »Lebend kriegt ihr mich nie!« knurrte der falsche Priester und hechtete in seinen Lieferwagen. »Laß sie gehen!« sagte Glen. Er kostete den Eierkuchen. »Es hätte mir früher auffallen sollen, daß das Baby nicht getickt, sondern geklickt hat. Doch laß sie gehen; weit kommen sie sowieso nicht, und die Landkarte haben wir gerettet. Wozu auch immer.« »Bist du in Ordnung, Liebling?« »Bestens. Mmmmmm. Der schmeckt aber verdammt gut, Agnes.« Das Kompliment ließ sie erröten. Dann ertönte eine dumpfe Explosion, und in der Ferne konnten sie Flammen hoch in die Luft schießen sehen. »Esso bombardiert die Shell-Tankstellen«, sagte Glen. Der Benzinkrieg hatte begonnen.
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Der Aggressor Es heißt, G. sei einst ein Mann von hoher gesellschaftlicher Stellung gewesen, ja, der Kopf einer großen Com puterfirma, deren Fabriken sich meist an Bord von Schiffen befanden. Diese Schiffe waren ständig von einem Ozean zum anderen unterwegs und ließen in ih rem Kielwasser Stückchen gedruckter Schaltkreistafeln und blanke Drähtchen zurück. G. und sein Firmen -Image waren überall bekannt; es mangelte ihm an nichts, und doch ... Doch obwohl G. in einem bequemen Büro saß und Ausblick auf Ausstellungsräume und Wachhunde hatte, war er nicht sehr glücklich. Glücklich schon, aber nicht sehr. Alles was er sah, ermüdete ihn so: die Anordnung der Druckknöpfe, die Türme ... Eines Tages kam ein Ingenieur, um ihm die neuesten Geheimverfahrenstechniken zu zeigen. »Schauen Sie mal! Dieses komische Material macht etwas mit dem Umlauf. Sehen Sie? Die Elektronen gehen nur bis dahin, und dann verschwinden sie.« G. dachte kurz darüber nach. Dann ordnete er an, man solle aus dem komischen Material ein Auto bauen. Als es fertig war, stieg er ein und ließ sich von ihm zum Schlagbaum runterfahren. Nachdem er bis zum Maut-Häuschen gekommen war, hielt der neue Wagen an. Ein Mann in einer eigenartigen Uniform trat aus dem Maut-Häuschen und ihm zu: »Freut mich, daß Sie's geschafft haben, Mr. G.« »Aber wieso kennen Sie meinen Namen?« »Nun, ich nehme an, jeder kennt Sie, Mr. G. Kommen Sie, ich bringe Sie zur Empfangshalle!« Als sie dorthin gingen, mus terte G. die eigenartige Uniform des Mannes. Wenn man sie bloß aus den Au genwinkeln betrachtete, schien sie in allen Farben zu 19
glänzen. Nur wenn man sie direkt ansah, war sie einfach nur braun. »Warten Sie hier drin«, sagte der Mann und hielt am Eingang der Empfangshalle an. »Die Prüfer werden gleich zu Ihnen kommen.« »Die Prüfer?« »Oh, yeah. Jeder muß nämlich eine Prüfung über sich ergehen lassen. Tut mir leid, daß wir für einen VIP wie Sie keine Ausnahme machen können, aber Sie kennen ja die Redensart: Vorschriften sind dazu da, daß man sie einhält.« G. mußte stundenlang in einer muffigen Halle warten. Er inspizierte die einzige eselsohrige Illustrierte im Ständer, aber sie war unlesbar, denn jede Seite zeigte das gleiche Bild, das stets eine unters chiedliche Bildunterschrift aufwies. Die Überschriften waren sämtlich in Fremdsprachen gedruckt, - und offenbar auf jeder Seite in einer anderen. In der Annahme, daß eine die Obersetzung der anderen war, blätterte G. weiter, um die englische Version zu suchen, doch es gab keine. Er las: »SANIAG ARUOY TUBA ESOLA OTA GANIHTON EVAHA AUOY! ETINGIA KROWA EHAT FOA SAREKROW! ELBANIMOBA SIA NOITIDOCA NAMUHA EHAT!« Das Bild zeigte eine Flamme. »HAWO GARK FAER JASO HAFT GAHE JAWO HARK GAIG JANI HASS!« Als er näher hinsah, konnte er inmitten der Flamme so etwas wie einen verschrumpelten Affen sehen. »SIEI HIAIBIEN NICIHITS ZIU VIERILIEIRIEN AIUISISIER IHIRIEM EINIFILIUISS!« Im Hintergrund war ein Bordstein. Die Flamme mußte sich in der Mitte irgendeiner Straße befunden haben. »ERO KFOITR GHKEEN IRW TOS!« In der Nähe der Flamme befand sich eine Art Kasten. 20
»INTABIL UNHABIL UNEABEBAL UNHABIL INU ABLAL UNMABIL UNAABAL INNABEBIL UNCABIL INOABAL INNABIL UNDABIL UNIABAL INTABIL UNIABAL INOABAL INNABEBIL UNIABAL INSABE BIL UNAABAL UNBABIL INOABAL UNMABIL UNIABAL INNABIL UNAABAL UNBABIL UNLABIL UNEABAL!« Der Affe sah irgendwie menschenähnlich aus, aber klein und dunkel. »IE DESHFENIT DS MRESHN IS QDERWÄRG!« Er fragte sich, ob sein gesamtes sensationelles Leben auf dies hier abgezielt hatte - beim Durchblättern einer irritierenden Illustrierten in einem Wartezimmer zu sterben. »D BSCHFFNHT D MNSCHN S WDRWRTG!« Oder war die Warterei schon ein Teil der Prüfung? »IED SEBCHAFFNEHITE SIT IDERWWÄTIGRE!« Nun ja, wenn dies das Material war, mit dem man heutzutage Illustrierten füllte - mit Bildern eines Affen, der irgendwie aus seiner Kiste entkommen war und Feuer gefangen hatte - konnte er sich mehr als glücklich schätzen, ein vielbeschäftigter und unwissender Geschäftsführer geblieben zu sein, der keine Zeit zum Lesen hatte! »ICH BOMBE KANAL LÄRM-NAGEL - SCHINKEN DANN!« Diese Überschrift sah beinahe lesbar aus, doch sie ergab nicht mehr Sinn als die anderen. Was, zum Beispiel, sollte ein »Lärm-Nagel« sein? »DIEROE MENSCHEROLIEROCHE BEEROSCHAFEROFENEROHEIT ISTERO WIERODEREROWÄREROTIG!« Er ließ die Illustrierte angeekelt fallen. In diesem Moment betraten die vier Prüfer den Raum. Sie stellten sich mit den Namen Stone, Brown, White und einem weiteren vor, den G. nicht verstand. Da die vier identische farblose Anzüge und Regimentskrawat21
ten trugen, sahen sie einander so ähnlich, daß G. nie genau wußte, wer gerade mit ihm sprach. »Sie müssen drei Tests durchlaufen«, sagte einer von ihnen. »Natürlich können Sie die ersten beiden vermasseln, aber der dritte ist, wie wir sagen, ultra-wichtig. Wenn Sie den nicht bestehen, ist der Ofen aus. Alles klar?« G. nickte. »Wann soll ich anfangen?« »Auf der Stelle. Wir bringen Sie bloß noch zum Testzentrum.« Draußen war eine einzige windige, staubige Straße, die an der Empfangshalle vorbeiführte. Nicht sehr weit davon stand eine Reihe roter Schilder mit wei ßen Buchstaben. G. konnte nur die beiden ersten ausmachen: »BÄRTE WACHSEN SCHNELL IM GRAB« Er wollte auch den Rest lesen, doch die Prüfer geleiteten ihn in die entgegengesetzte Richtung. Jetzt, wo er die Möglichkeit hatte, sie anzuschauen, sah G., daß die vier sich auch körperlich und im Gesicht ähnelten. Es handelte sich um schwerfällige Männer mit dicken Hüften, flachen Nasen und Gesichtsnarben, deren verdrehtes Gewebe sie scheinbar ironisch lächeln ließ, etwa so wie einen alten Boxer, der einem jungen den Spucknapf hält. Und mit diesem zynischen Lächeln deutete einer von ihnen auf einen fernen Kirchturm. »Ich habe Hunger«, sagte er. Sie kletterten einen Abhang hinauf, und G.s Auf merksamkeit richtete sich auf einen dahinterliegenden kleinen See. Er war fast zur Gänze von etwas bedeckt, das nach tiefliegenden Wolken oder einem enormen Schaumberg aussah. An der schärfsten Stelle der Kurve sahen sie eine Lücke in der weißen Leitplanke. Dahinter, vor der Böschung, lag ein Fahrzeug, das sich überschlagen hatte und in Flammen aufgegangen war. G. hielt einen Mo22
ment an, um es anzusehen, dann eilte er weiter, um mit den anderen Schritt zu halten. »Sollten wir nicht etwas tun?« fragte er. »Zu spät!« schrie der erste Prüfer, und machte eine saubere Rolle. »Kommt immer wieder vor!« rief der zweite und machte einen dreifachen Salto. Der dritte legte seinen Gürtel ab und fing an, damit Seil zu springen, ohne seinen Schritt zu unterbrechen. »Sie lernen es nie!« kreischte er. »Was glauben die eigentlich, wozu die Leitplanke da ist - zur Dekoration?« dröhnte der letzte und vollführte einen Luftsprung, um einen blitzschnellen Entrechat zu machen. Obwohl G. sich über das mangelnde Mitgefühl seiner Gefährten wunderte, war er kein Querulant. Er trottete weiter. Plötzlich rief einer von ihnen: »Da ist das Testzentrum!« Die anderen grinsten sich an, und einer von ihnen stupste G. an und sagte: »Ist die Luft nicht herrlich?« Es schien eine Frage zu sein, doch G. war zu sehr mit dem Anschauen des Testzentrums beschäftigt, um den Versuch zu machen, sich eine Antwort auszudenken. Soweit er sehen konnte, sah das Testzentrum ebenso aus wie die Empfangshalle. Seine dicken ZementblockWände waren fensterlos. Eine einsame Ulme verstellte das meiste des großen Schildes, das auf eine Seitenwand gemalt war: »... E! DAMIT BIST DU GEMEINT!« Als sie auf die Glastüren zugingen, näherte sich ihnen ein Bettler. Das Lächeln, mit dem er ihnen ein Körbchen mit Bleistiften entgegenhielt, war noch zernarbter und zynischer als das der Prüfer. Sein Aufzug war eine zer franste Kopie des ihren, und um seinen hemdlosen Hals schlang sich eine ölige Regimentskrawatte. »Bleistifte, Boß?« Einer der Prüfer haute ihm fest aufs Maul und stieß 23
ihm die Faust in den Magen, dann trat er liebenswürdig vor, um G. die Tür zu öffnen. »Das war eins der Dinge, vor denen wir Sie beschützen mußten«, sagte er, als G. die Stirn runzelte, ohne daß ihm eine Antwort einfiel. Eine Sekunde lang sehnte er sich danach, wieder in den ihm gehörenden kühlen Korridoren zu sein, unter sauberen jungen Systemanalytikern. Die Prüfer zeigten ihm eine schalldichte Kabine und erklärten die drei Tests. »Sie geben die Antworten einfach über diese Tastatur ein, klar?« »Dann stellt Ihnen der Computer eihe neue Frage.« »Die ersten beiden Tests sind nur zum Aufwärmen ...« »... dann gibt der Computer Ihnen das echte Kampfproblem.« »Und jetzt viel Glück".« Sie ließen ihn mit der Computertastatur allein, die ihm sofort die erste Frage stellte: »C GAB B EBENSO OFT SO VIELE ÄPFEL WIE A HATTE, ALS B JETZT C VON SEINEN EIGENEN GIBT. C GAB A GENUG ÄPFEL, UM DIE GESAMTMENGE As INSGESAMT FÜNFMAL SOVIEL WERDEN ZU LASSEN, WIE B URSPRÜNGLICH HATTE. NACHDEM C GENUG VON SEINEN EIGENEN ÄPFELN GEGESSEN HATTE, DAMIT IHM NOCH 2 /3 DESSEN ÜBRIGBLEIBEN, WAS A NUN HAT, HATTE ER INSGESAMT VIERMAL SOVIEL ÄPFEL WENIGER, ALS ER A GAB. A GIBT NUN C 1 /7 SEINER ÄPFEL, UND C KAUFT SO VIELE DAZU, WIE ER B GAB, WOMIT ER DIE ANZAHL DER SEINEN VERDOPPELT. A WIRD B EINEN APFEL MEHR GEBEN ALS C AN B ABGEBEN WIRD. WENN B ZWEI ÄPFEL ISST, WIRD ER FÜNFMAL SO VIELE ÄPFEL HABEN WIE A IHM JETZT GIBT. A WIRD SCHLIESSLICH EINEN APFEL WENIGER HABEN ALS C JETZT HAT, UND C 24
WIRD SCHLIESSLICH 1 /2 SO VIEL ÄPFEL HABEN, WIE ER URSPRÜNGLICH HATTE. B HAT NUN V2 SO VIELE ÄPFEL, WIE C HATTE, NACHDEM ER B SO VIELE ÄPFEL GAB, WIE A AN B ABGEBEN WIRD. C HAT NUN VIERMAL SO VIELE ÄPFEL, WIE MONATE IM JAHR VERBLEIBEN. WELCHEN MONAT HABEN WIR?« G. antwortete, beziehungsweise er vermasselte die Antwort, und die zweite Frage kam: »LISTEN SIE - DAVON AUSGEHEND DASS SIE >ZWISCHENSTATIONEN< EINES KUNSTMEDIUMS IN EINEM ANDEREN SIND - DIE FOLGENDEN SECHS WERKE NACH IHRER WICHTIGKEIT AUF, KATEGORISIEREN SIE SIE NACH DEM GRAD DER ZWISCHENSTATION UND DISKUTIEREN SIE DEN TYP DER ZWISCHENSTATION, OB ENTSPRECHEND »WIDERSPRÜCHLICH* ODER ANDERWEITIG, WIEVIEL EINES JEDEN MEDIUMS IN >ZWISCHENSTATION< GEGANGEN IST ETC. 1. O. FLAKE: >DER ZELTWEG< 2. J. ASHBY: >ENTWURF FÜR EIN GEHIRN< 3. CLYDE OHIO: >AUSDEHNUNG< 4. R. MUTT: >URSPRUNG< 5. J. C. ODEON: >O< 6. L. POSTMAN/R. D. WALK: >FEHLERWAHR NEHMUNG<« Nachdem G einen Versuch unternommen hatte, dies zu beantworten, kam die dritte: »EIN PRIESTER UND DREI NONNEN WERDEN AUF EINE EINSAME INSEL VERSCHLAGEN, OHNE DASS HOFFNUNG AUF RETTUNG BESTEHT. DER PROVIANT IST KNAPP, UND BIS SIE ETWAS ANPFLANZEN KÖNNEN, BESTEHT DIE ERNSTE GEFAHR DES VERHUNGERNS. DER PRIESTER VERLIERT BEI EINEM UNFALL BEIDE ARME. ER KANN ZWAR NOCH GERETTET WERDEN, DOCH MAN STEHT VOR DEM DILEMMA, OB DIE VIER SEINE 25
AMPUTIERTEN ARME VERZEHREN DÜRFEN ODER NICHT, INKLUSIVE ODER EXKLUSIVE DER GEWEIHTEN ZEIGEFINGER UND DAUMEN. OHNE SEINE HILFE GEHT DER ANBAU NUR LANGSAM VORAN. ES IST KLAR, DASS SIE IN EIN PAAR JAHREN ALLE VERHUNGERN WERDEN, ES SEI DENN, SIE BRECHEN IHREN KEUSCHHEITSSCHWUR UND ZEUGEN NACHWUCHS. DER PRIESTER HAT EINEN TRAUM, IN DEM IHM, WIE ER GLAUBT, EIN ERSCHÖPFTER UND BLUTBEFLECKTER HIMMLISCHER KURIER ERSCHEINT, UM IHN DAVON IN KENNTNIS ZU SETZEN, DASS DER TEUFEL FÜR EINE GEWISSE ZEIT DIE MACHT ÜBER DEN HIMMEL ERRUNGEN HAT UND ALS HÖCHSTE MACHT REGIERT. WER SATAN NICHT SOFORT ANBETET, WIRD IN DER HÖLLE LANDEN. ES IST NUR ZEITWEILIG, BEHAUPTET DER ENGEL. ICH BIN SICHER, DASS DER HERR EINEN GRUND HAT, DASS DIES STATTFINDET. LÖSEN SIE DIESE DILEMMAS.« Für den zweiten Test öffnete sich der Computer, um G. einen Durchgang in die Erde zu zeigen. Er folgte ihm, bis er in einen Raum kam, der drei Haushaltsgeräte enthielt: eine automatische Waschmaschine, eine Mülltonne und einen Fernsehapparat. Von Piktogrammen angewiesen, zog er Hemd und Krawatte aus und steckte sie in die Waschmaschine bzw. die Mülltonne. Das Hemd wurde auf der Stelle in Fetzen gerissen, und obwohl es ihm gelang, die Krawatte zurückzuerlangen, war sie zerknittert und mit Schmiere bedeckt. Dennoch kriegte er einen korrekten Knoten hin. Der Fernseher zeigte G. mehrere Standbilder berühmter Schauspielerinnen, die er korrekt als Carole Lombard, Gene Tierney, Marilyn Monroe und Jayne Mansfield identifizierte. Ihre Augen schienen ihm, wohin er in dem Raum auch ging, überallhin zu folgen. Nach mehreren Wiederholungen der Bilder erschienen 26
auf dem Bildschirm die Worte »GEHEN SIE IN DEN NÄCHSTEN RAUM«. G. gehorchte. Er war in der Wartehalle eines großen Flughafens und stand vor Ausgang 1. Plötzlich kam eine riesige Menschenmenge aus Tor l gelaufen und rannte ihn über den Haufen. Niemand blieb stehen, um nachzusehen, ob er sich wehgetan hatte; die Meute jagte auf Tor 3 zu und verschwand. G. hatte kaum Zeit, sich auf ein Knie zu erheben (um das blutende andere zu untersuchen), als eine zweite Gruppe Koffer und Kinder schwingend aus Tor 2 her ausgaloppierte. Er hatte jedoch Zeit, um zu erkennen, wie erfreulich gewöhnlich sie waren - ordentliche Computerprogrammierer, aufgedrehte Touristen, Rentner, Frauen mit bedruckten Kleidern und Männer mit Strohschuhen, Vertreterköfferchen, Fotoapparaten und Verschlußbeuteln mit schmutzigen Windeln -, bevor sie ihn niederrannten. Sie eilten zu Tor 4, und ließen G. mit einer aufgeris senen Lippe, einen zerrissenen Revers und Fetzen lebhafter Konversation zurück: »... aufm Abflug ...« »... vom Zoll beschlagnahmt und ...« »... Töpfchen ...« »Hast du das Hühnerfleischsandwich gesehen?« G. hatte keine Zeit, sich aus dem Staub zu machen. Er wurde überrannt und in rascher Folge von Passagieren niedergetreten, die von Tor 3 zu Tor l, von Tor 4 zu Tor 2, von Tor l zu Tor 2, von Tor 2 zu Tor l, von Tor 3 zu Tor 2, von Tor 4 zu Tor 3, von Tor l zu Tor 4, von Tor 2 zu Tor 3, von Tor 3 zu Tor 4 und von Tor 4 zu Tor l unterwegs waren. Inzwischen war er kaum noch in der Lage, in den Nebenraum, eine Kaserne, zu kriechen. Die Soldaten, die Arbeitsanzüge und NarrenkappenHelme der Aggressor-Armee trugen, sahen ihn und brüllten laut Verwünschungen auf Esperanto. Sie 27
banden G. an eine Leiter und fingen an, Fetzen aus ihm herauszuhacken, die sie über Armee-Feuerzeugen grillten. Trotz starker Schmerzen wußte G., daß alles glücklich enden würde; er hatte weniger gegen die Folter als dagegen, daß man ihm das Rauchen untersagte. Eine Klingel ertönte. Die Soldaten zogen eilig ihre Aggressor-Uniformen aus und legten Armee-Grün an. Sie »entdeckten« G., der noch immer an die Leiter gefesselt war und befreiten ihn. Ob er in Ordnung sei? wollte man von ihm wissen. Ein Soldat meinte, es müsse die reinste Hölle gewesen sein, von den un menschlichen Aggressoren gefangengenommen worden zu sein. G. lächelte achselzuckencf und fragte, ob jemand eine Zigarette habe, am besten eine mit Filter. Niemand rauchte, und obwohl ein Sergeant G. einen Schokoladenriegel anbot, fühlte er sich schlecht behandelt. Er war müde und ruhelos zur gleichen Zeit; am liebsten hätte er alles andere getan ... Bleistifte verkaufen, oder sonstwas ... Als Veteran mußte G. die Spitzenposition der an seinem Vorstadt-Eigenheim vorbeiziehenden Parade ein-nehmen. Joan, seine Frau, winkte ihm vom Vorgärtchen aus zu, dessen Rasen auch mal wieder gemäht werden mußte. G. fiel auf, daß sie sic h eine neue Frisur zugelegt hatte, die ihr Haar noch mehr strahlen ließ. Sie sah hübsch aus, zumindest aus der Ferne. Er winkte, und sie winkte zurück, dachte er. So waren sie eben - lässig, klar? Die Straße wurde von ordentlichen Programmierern und Systemanalytikern umsäumt, die ihn mit LochkartenAusstanzungen überschütteten. »Danke, Jungs. Aber jetzt wieder an die Arbeit.« Am Ende der Straße stand ein eckiger roter Kanister. Als G. ihn sah, wußte er, was er tun mußte, um die Prüfung zu bestehen. Irgendwo im Hintergrund, texteten meterhohe Buchstaben die bis auf die Minute aktuelle Nachricht des Computer-Problems: 28
»ES HEISST, G. WAR EIN MANN VON HOHER GESELLSCHAFTLICHER STELLUNG, JA, DER KOPF EINER GROSSEN COMPUTERFIRMA ...« Die Massen verfolgten diese Neuigkeit mit feierlichem Interesse, und als sie die Gegenwart einholte, brachen sie in Jubel aus. »... SCHRIEBEN SIE, UND DANN HOB G. DEN KANISTER HOCH UND ÜBERGOSS SICH MIT BENZIN. ER BAT EINEN IN DER NÄHE STEHENDEN GENERAL UM FEUER, UND OBWOHL DER GENERAL SELBST NICHTRAUCHER WAR, WAR ER EIN GENTLEMAN. SEIN BUTAN-FEUERZEUG FUNKTIONIERTE BEIM ERSTEN VERSUCH. G. GAB EINE LIEBLICHE FLAMME AB, SOGAR IN SCHWARZWEISS«, schrieben sie, und dann hob G. den Kanister hoch ...
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Der Bestseller Ein Expose
Erstes Buch: Adrian Vier Paare treffen sich im Sommerurlaub in einem kleinen Hotel am Meer. Das Hotel liegt auf einer Insel, die durch eine Brücke mit dem Festland verbunden ist. Am Morgen der Ankunft wird die Brücke von einem Sturm fortgeschwemmt; sie sind gestrandet. Alle haben das Decamerone gelesen, und die Zeit lastet schwer auf ihnen. Statt sich Geschichten zu erzählen, kommen sie überein, solche zu erfinden - vielleicht wahre, vielleicht unwahre -, die sie selbst und ihre Be ziehungen betreffen. Jeden Tag wird einer von ihnen delegiert, die Ereignisse des Tages aufzuzeichnen, sie auszuschmücken, wie es ihm beliebt, und selbige abends seinen Gefährten vorzulesen. Adrian Warner, der Architekt, zieht den ersten Tag. Er schreibt auf offene und ehrliche Weise, wie man es vielleicht von einem Beton-Arbeiter erwarten kann. Er beginnt mit einem Bericht, in dem sich seine Gattin Etta in einen anderen Gast, den dynamischen jungen Stahl-Manager Farmer Bill, verliebt. Von einem morgendlichen Sturm überrascht, suchen die beiden Zuflucht in einer Höhle am Strand. Zwar erwidert Bill ihre Liebkosungen, doch nicht ihre Liebe. Trotz ihrer Schönheit verschmäht Farmer Bill sie ebenso wie seine Gattin Theda, eine dunkeläugige Schönheit, die außerdem die einzige Braumeisterin des Kontinents ist. Er liebt nur Glinda Cook, ein schmales, blasses Mädchen aus dem Süden, mit verträumtem Wesen, mausbraunem Haar und schiefen Zähnen. Glinda ist tatsächlich nicht glücklich mit ihrem Gatten, dem prominenten Kolumnisten Van Cook. Doch 30
wenn überhaupt jemand ihr Herz beherrscht, ist es der weibische, affektiert grinsende Hagiograph Dick Hand. An diesem Abend beim Essen gibt Van Cook mutig bekannt, daß er Mrs. Hand liebt und fordert Dick zu einem Duell heraus. Dick schlägt lachend mit Tinte gefüllte Wasserpistolen und Badehosen vor. »Einverstanden!« ruft Cook hitzig aus. Das Duell findet nach dem Abendessen auf der Hotelterrasse statt. Am fernen Strand, erklingen die wehmütigen Akkorde von Ettas Englischem Horn (sie ist Be rufsmusikerin und hat sich, um zu üben, etwas abge sondert). Die Kombattanten erhalten Wasserpistolen, deren Tintenfüllung die gleiche Farbe aufweist wie ihre Badehosen: die Cooks ist rot, die Hands ausgewaschenes Schwarz. Den Sieger, so entscheidet man, wird Dolly Hand bekanntgeben, eine große, grobknochige Frau von fünfzig, von der es heißt, sie sei einst Leiterin eines Trommlerzuges gewesen. Dolly scheint äußerst desinteressiert zu sein. Cook foult absichtlich; er klammert und spritzt rote Farbe in Hands Augen. Dick ist ein ziemlicher Feigling; er schafft es nicht, bei seinem Gegner auch nur einen einzigen Treffer zu landen. Nach mehreren vergeblichen Ausfällen benügt er sich damit, Adrian, der eine weiße Smokingjacke trägt, mit Tinte zu bespritzen. Hand macht noch mehrere solcher Pässe, bevor Glinda, die die Stoppuhr hält, den Kampf abbricht. Als der Kampf vorüber ist, kommen Cooks Fouls ans Tageslicht. Er hat während der Klammereien zuge schlagen, die rote Tinte hat das Blut bis jetzt verdeckt. Glinda fängt zärtlich an, Dicks arg mitgenommenes Gesicht abzuwischen, doch er reißt sich von ihr los und spritzt kichernd noch mehr schwarze Tinte auf Adrian. Der verärgerte Architekt springt auf. »Jetzt schau her!« schreit er. Doch dann, als sein Blick auf die schwarzen Flecke auf der Jacke fällt, wird sein Gesicht aschfahl. 31
Die anderen wollen nun wissen, wer gewonnen hat doch Dolly, die Schiedsrichterin, wird nicht gefunden! Sie hat sich während des Kampfes abgesetzt, und jemand berichtet, man habe ihre weißges tiefelte Gestalt eine andere Frau zum Strand hinabzerren gesehen. Die Klänge von Ettas Hörn sind verstummt. Die Flecke auf Adrians Jacke bilden die Buchstaben »ICH LIEBE D«.
Zweites Buch: Theda In seinem gleichgültigen und elliptischen Stil enthüllt der dunkeläugige Braumeister, daß alles, was bisher geschah, erlogen ist. Adrian Warner ist eine Hure und Lügnerin. Sie hat über das Geschlecht aller Beteiligten nur Lügen verbreitet. Sie ist es nämlich selbst, die die damenhafte Gießereileiterin Farmer Bill liebt, nicht ihr Gatte Etta. Tags zuvor hat Adrian sogar Leidenschaft für ihn - Theda - vorgetäuscht, doch nur so lange, bis sie ihn so weit hatte, daß er vor ihr auf die Knie fiel. Doch heute lassen wir, wie Theda es ausdrückt, die Katze aus dem Sack. Als er an diesem Morgen auf dem Weg zum Sommerhaus an der Weinpresse vorbeigeht, hört Theda, wie Adrian Farmer Bill ihre Liebe gesteht. Bill weist ihre Liebe zurück und erklärt statt dessen, daß sie nur die männliche Etta liebt. Gestern scheint Etta sie auch geliebt zu haben, doch heute, seit seiner Nacht mit Dolly am Strand, scheint Etta auf seltsame Art geistesabwesend zu sein. Theda befindet sich jetzt in einer hoffnungslos verfahrenen Position, liebeskrank nach einer eingefleischten Lesbierin. Eine weitere Überraschung erwartet ihn, als er das Sommerhaus betritt. Jemand wirft die Arme um Theda und küßt ihn wild - es ist Etta! »Paß auf, daß du deine Lippe nicht zugrunde rich32
test«, sagt Theda und verdrückt sich. Etta lacht herzlich über seine Unwissenheit in Sachen Musik. Er gesteht, daß Dolly ihn in der vergangenen Nacht von der Hete rosexualität abgebracht hat, und lädt Theda ein, die Nacht allein am Strand zu verbringen. Voller Übelkeit lehnt der Braumeister ab. Die kokette Van Cook ist immer noch hinter Dolly her, doch der große Trommler-Major tritt ihr beim Essen unters Auge. Er scheint statt dessen mit ihrem Gatten Glinda zu flirten, einen schüchternen Jungen aus dem Süden. Glinda reicht Dick Hand einen Zettel, auf dem er abstreitet, daß er sie immer noch liebt, und sie für ihre dumme Vernarrtheit in Van Cook tadelt. Theda, der die Note übergibt, fragt sie danach. »Es stimmt«, seufzt Dick. »Ich bin, wie du weißt, Hagiographin. Ich habe ihr sogar angeboten, unter ihren Vorfahren einen Heiligen nachzuweisen - was sie auch will -, doch sie will nicht mal mit mir reden. Manchmal wünsche ich mir, Dolly und ich könnten das Geschlecht wechseln ...« Der Rest des Tages, als alle in der Lounge des Hotels herumsitzen, knistert vor erotischer Schwüle und wütender, verlangender Niedergeschlagenheit. Farmer verbringt Stunden damit, Ettas Name auf ein Tischtuch zu schreiben. Sie zeichnet sogar sein Profil. Etta stiert Theda finster an und versucht sein Manuskript zu zerreißen. In dem sich daraus ergebenden Kampf verliert Theda ein Ohr, das sein Gegenspieler aufißt.
Drittes Buch: Van Mit allem Respekt vor jenen, die vor ihm an der Reihe waren, behauptet der Kolumnist, daß sowohl Theda als auch Adrian ihre Gründe gehabt haben, einige Wahrheiten zu übertreiben und andere zu verheimlichen. Vielleicht obliegt es einem Zeitungsmann, einem Hand33
ler in Tatsachen, so etwas wie Objektivität in das - wie er es ausdrückt - »Liebesnest« hineinzubringen. Er entschuldigt sich nicht für die Leidenschaft, die er für Dick Hand empfindet, aber dann solle jener den ersten Stein werfen, der ... usw. Denn es ist die Wahrheit, daß sich an diesem dritten Tag unter den acht Men schen keiner befindet, der nicht schwul ist. Der kleine, zur Kahlköpfigkeit neigende Hagiograph, Ex-Torwart eines bekannten kanadischen Hockey-Teams, liebt jetzt niemanden außer A. Warner. Dieser Ar chitekt, Designer des wohlbekannten Piedmont Tower, und berühmt für sein neues Konstruktionsprinzip, die »Betonabstützung«, bleibt weiterhin dem fünfunddreißigjährigen Stahlmagnaten Farmer Bill zugeneigt. Das ironische Viereck ist komplett, da Bill, den man schon lange für einen beinharten Hetero hielt, dem Erzähler seine Liebe gestanden hat. Farmer Bill kam durch die Fusion eines Stahl- und des Molybdän-Konzerns, dessen stellvertretender Vorstandsvorsitzender er vor drei Jahren war, zu Macht und Einfluß. Er ist jetzt mit der vormaligen Theda Baker verheiratet und hat ein Kind, Ebo. Die Frauen begeben sich ebenfalls auf einen hoff nungslosen Trip. Theda liebt die nachsichtige Glinda, eine graziöse Dame aus dem Süden mit einem feinen Instinkt fürs Amüsement, die Enkelin des Gouverneurs ihres Staates. Glinda heiratete den Berichterstatter vor sechs Jahren. Sie haben keine Kinder. Vielleicht ist das der Grund, weshalb sie sich von der jugendlichen, robusten Dolly Hand angezogen fühlt, die einst für ihren Lebensunterhalt getanzt hat und den Männern noch immer unter die Augen treten kann. Ihre Liebe schließt Spinat, Basketball und Etta Peer Warner mit ein, doch letztere ist ein hoffnungsloser Fall. Etta bleibt angeblich ihrer Ex-Geliebten treu, der kräftigen dunklen Schönheit der Braumeisterin. Obwohl das Hotelpersonal sein Bestes tut, um es je34
dermann so angenehm wie möglich zu machen, sind sie Gefangene und wissen es. Als am späten Nachmittag ein Flugzeug über sie hinwegfliegt, stürzen sie alle an den Strand und winken ihm. Obwohl es niedrig fliegt, scheint es sie nicht wahrzunehmen, denn es entfernt sich. Dann als es das Festland erreicht, macht es eine langsame Wendung, um erneut über sie hinwegzufliegen. Leider ist es zu niedrig für dieses Manöver. Eine Schwinge streift einen Baumwipfel, dann ist das Flugzeug ein durch den Wald kreiselndes Flammenbündel. Es stürzt ab und explodiert, wobei es auf dem Festlan d einen Waldbrand erzeugt, der die ganze Nacht wütet und nur von den hilflosen Zeugen auf der Insel gesehen wird. Viertes Buch: Dolly »Ich bin drogensüchtig. Bemitleidet mich nicht. Ich erbitte nur euer Verständnis. Ich habe meine Krankheit lange geheimgehalten. Zu lange ...« So beginnt Dollys erstaunliche Erzählung. Sie liefert Hintergrundmaterial über die anwesenden Personen: Sie sind alle Süchtige. Dick, ihr Dickylein, war einst süchtig nach in Kakao gerührtem Kokain, und lebt jetzt von in Himbeerbrandy gerührtem Reserpin. Etta und Adrian mischen Thorazin und Thiamin, das sie mit Meretran und Serutan würzen. »Kiffer« Van Cook und Glinda bewegen sich in einem Traum aus Nembutal und Hadacol, Darvon und Ritalin, während Farmer Bill und Theda seit langer Zeit ohne Nahrung existieren und sich nur noch Methedrin und Methanol einwerfen. Und natürlich Dolly selbst. Nachdem sie jede Droge ausprobiert hat, die ihr Vokabular kennt, ist sie gegenwärtig in einem Experimentierstadium: sie mixt Drogen und Schnäpse, etwa Benzedrin mit Ratzeputz oder 35
Dramamin mit Piepensever ... Die Nacht wird länger. Wie kommt es, fragt sie sich, daß alle lügen? Wunschdenken erklärt vielleicht einiges. Van Cook hat behauptet, Farmer Bill liebe ihn, obwohl das Gegenteil stimmte. Doch warum ignoriert er, daß Theda ihn liebt? Wie kann er ihren Uberdosis-Selbstmordversuch ignorieren? Kann er einfach darauf beharren, sie wolle bloß auf sich aufmerksam machen? Ach! Wenn Theda Glinda lieben könnte, lägen die Dinge ganz anders. Die arme kleine Glinda, eine Sieben-Monats-Doktorandin, halbblind vom Sterno-Frühstück, hoffnungslos in Theda verliebt. Sie bietet sich so gar an, bei Klein-Ebo zu sitzen, während Theda ihre Überdosis nimmt. : Adrian gibt, nachdem er zweimal das Objekt der kranken Begierde Dicks gewesen ist, die Gunst nun zurück, doch zu spät. Dick hat für Etta, seine neue Liebe, ein Gedicht geschrieben, in dem er den Klang ihres Horns mit dem Branden der Wellen auf die siebente Ebene des Bewußtseins vergleicht. Etta versucht s ich seiner zu bedienen, um an Dolly heranzukommen, die gesteht, daß sie nur Abscheu für die kleine Serutan Schluckerin empfindet. An dieser Stelle stürmen die Worte nur so auf Dolly ein. Sie hat nie süchtig sein wollen; als sie die High School-Band leitete, hat man ihr erzählt, der Pot würde ihr dabei helfen, besser zu. marschieren. Es war eine Lüge. Nun läßt sie ihr Manuskript für einen Moment im Stich und versucht Adrian zu liebkosen, der die Halle betritt. Nun fügt Adrians feste Hand hinzu, daß er Dolly mit ihrem eisernen Taktstock in die Zähne geschlagen hat. Er ist, fügt er außerdem hinzu, von Farmer Bills Firma hergestellt worden.
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Fünftes Buch: Etta Wie nur sie und ihr Gatte wissen, ist Etta Endokrinolo gin. In klinisch präzisen Worten teilt sie die Einzelheiten des fünften Tages mit. Essen und Wasser werden knapp, und die sanitären Anlagen sind weniger als adäquat. Etta hat den Rest des Quinins und des Insektenschutzmittels aufgeteilt und strikt rationiert. Sie startet den Versuch, Thedas Ohr, Vans Auge und die Risse in Dicks Gesicht mit einem einfachen Erste-Hilfe-Kasten zu behandeln. Nun schüttet ein ungelenker Kellner Crepes suzette auf Farmer Bills Schoß und erzeugt damit Verbrennungen zweiten Grades. Dann verlangt Dollys Mund nach zahnärztli chen Werkzeugen, die Etta nicht hat, und Ebo entwik -kelt Windelwundheit. Da sie nur vor oder nach der Mittagshitze hinausgehen, sammeln die Männer ebenso Feuerholz für die hereinbrechende Nacht als auch ein paar gerade Bretter zum Schienen. Die Frauen zerreißen Bettlaken, um aus ihnen Bandagen zu machen. Es wird zunehmend schwerer, alles zu sterilisieren, besonders als Glindas frühgeborenes Kind kommt, doch mit Tag- und Nachtarbeit kriegt Etta es irgendwie hin, und irgendwie hält sie auch ihr Tagebuch auf dem neuesten Stand. Glinda ist sehr schwach und krank. Nur die Hoffnung, daß Theda ihre mitleidsvolle Liebe erwidert, hält sie am Leben. Etta bringt Theda dazu, daß sie nett zu Glinda ist. Welch seltsame Sache die Freundschaft einer Frau ist, denkt Etta. Sie ist wie die Liebe eines Leoparden - wild, scheu und ein wenig schmerzhaft. Damit meint sie nicht nur Glindas Liebe zu Theda, sondern auch ihre eigene zu Dolly. Die blöde, arme Kuh scheint in ihren eigenen Gatten verliebt zu sein. Doch sind die Männer weniger launisch? Heute verschmäht Adrian die Liebe Dick Hands so resolut, wie er sie gestern gesucht hat. Dick verfolgt ihn von Gestrüpp 37
zu Gestrüpp, als sie Feuerholz sammeln. Adrian gibt seiner Sorgen um Glinda Ausdruck. »Es kümmert mich nicht, wessen Kind es ist«, sagte er gepreßt. »Ich werde sie heiraten, wenn sie mich haben will.« Doch Glinda liebt Theda, die wiederum ihren Gatten Farmer Bill fanatisch liebt. Jetzt bringt Farmer Bill Van Cook herein, der von einem Sonnenstich niedergestreckt wurde, und es ist eine neue Zärtlichkeit in des Industriekapitäns Blick, als er den schwergeprüften Mann ansieht. Ach, welch seltsame Dinge sind doch unsere Drüsen! Van Cook flüstert im Delirium ständig ein - und den selben Namen: »Etta!« -. i> Sechstes Buch: Farmer In knappen, kurzen Sätzen spricht Bill es aus. Er liebt Että. Keine andere. Andere haben vielleicht Zeit, her umzuschludern. Bill nicht. Er weiß jetzt, was er will, nachdem er sich ein Leben lang von einem Job zum anderen herumgetrieben hat. Er möchte malen. Manche sagen, es erfordere Mumm, dies zu tun - sein Leben auf den Schrotthaufen zu werfen und einen neuen Anfang zu machen. Ist-nicht wahr. Ein Mann tut, was er tun muß, das ist alles. Bill muß malen. Es ist wie Atmen. Aus der Brust. Wo das Herz ist. Wenn ein Mann den falschen Weg geht, kann er sich ebensogut das Herz herausreißen und es an die Wand klatschen. Bill malt, und das ist recht so. Er möchte Etta gern nackt malen, vielleicht für ein zehn Stockwerke hohes Fresko, so, wie er sie sieht. Was sie hat, braucht keinen Namen. Doch Etta hat einen Lesbo-Hang zu dem SüdstaatenMädchen Glinda, das von der Lesbe Dolly träumt. Das reicht, um einen echten Mann zum Kotzen zu bringen. 38
Dolly ist mittlerweile auf ihren kapriziösen Gatten Tricky Dicky abgefahren. Doch der hat wie üblich nur Augen für einen Mann, Van Cook. Falls man ihn über haupt einen Mann nennen kann, so affektiert wie er Adrian Warner zulächelt. Zumindest Adrian hat richtige Eier. Er hängt an Theda, der Gattin des Erzählers. Die wahr e KastratenSchlampe. Sie würde Bill gern kastrieren und ihn vom Malen abhalten. Damit er Etta nicht nackt malen kann. Soviel gibt Theda zu. Sie gibt zu, Bill zu lieben. Siebentes Buch: Glinda-Girl Weil's nichts ausmacht was ihre Schwestern von ihr dachten als sie in Billy Farmers schmutziggrünem Sportzweisitzer im Busch des Nahrungssammelbehälters jeder scheint als würden sie sterben und der Nachmittag so still man konnte die Ortshummel zur Metro runter jagen hören. Vor Rieh Hands Haus hatte man jemandes Gedärme zu Weihnachten wie einen Feuerwehrschlauch über einen Baum gehängt weil Theda nämlich meint Tod manche Leute mögen Cookie nicht was er Dollys Nippeln mit der kaputten Agri-Cola Flasche angetan hat war echt gemein selbst wenn sie ihn liebt und welcher Vater tut's nicht aber Cookie is'n Idiot beurkundet von Dr. Sam H. Smith. Sie wünscht es wäre Rieh Hand in dem Wagen nicht Billy wenn er auch ebenfalls 'n Buckliger zumindest hat er ein schönes blaues Auge wie Ettas Kleid und aus Menschenhaut gemachte Mokassins Rieh mag Dolly weil sie sein Sohn ist deswegen hat er sie mit dem Telefonhörer vergewaltigt. Weil Etta Zitze bedeutet wünscht sie ihre Schwester Etta hätte weitergemacht und das Baby in ihr ausgebrütet so daß sie damit hätte spielen können doch es war 39
von Adrian ihrem Sohn aus jenem Winter als sie so arm waren daß sie außer getrocknetem Rotz nichts im Ofen verbrennen konnten Etta möchte nett und fade für Billy sein. Die Ratten haben im gleichen Winter seine Zehen abgenagt und Theda die Frau ohne Kinn sie hat Haare auf der Brust sagt Adrian er sollte wissen daß er ihre Mutter ist aber sie will ihn aus einem Grund er mochte nur Theda schlug sie wieder mit der Säge letzten Winter nahm der Doc ihr den Arm bis zum Ellbogen ab und Reverend Bregs sagte dankt Gott für das was übrig ist erst dieses Jahr hat man ihr den Rest abgenommen Theda sagt jetzt ist es aus mit dem Dankbar sein sie verlor es als Adrians Schweinehospital bis auf die Grundmauern niederbrannte in der gleichen Nacht bat er Etta ihn zu heiraten er liebt sie immer noch wie ein Bruder doch sie möchte daß Billy sie wieder mit seinem Doppelfinger berührt er ist dick und schmierig sie versteht warum Etta ihn nicht mehr will doch Theda immer noch. Weil sie Rieh Hand liebt ihm sogar beim Ausgraben der Leiche seiner Mutters hilft um sich zu versichern daß die Ringe und etwas hatte die Finger gefressen sie lachte bis sie platzte doch niemand liebt sie außer Coo-kie alles bedeckt mit Entzündungen von Kämpfen im Sand und kann die Achsel nicht bewegen seit der Eisenbahnüberflutung sagt er hat noch nie ein Baby gehängt. Achtes Buch: Dick: Epilog Seit dem schicksalsträchtigen Urlaub ist viel geschehen. Nach ihrer Rettung trennten sich die acht Charaktere und gingen auf die Suche nach einer Geschichte, ihrer eigenen Wege. Dick Hand allerdings bleibt ihnen auf der Spur: Er liebt Dolly nicht mehr und hat sich von ihr scheiden lassen, damit sie mit Adrian zusammen sein kann. 40
Unfähig, dies zu ertragen, ist Dolly in die Tropen gereist, wo sie zur Zeugin einer ungewöhnlich brutalen Foltermethode wird, der organischen Kreuzigung. Sie beschließt, sie zu ihrer Suizid-Methode zu machen und engagiert wilde Folterspezialisten, um ihr zu helfen. Zuerst wählt man einen Yabyag (oder Nadelwaldbaum) von passender Größe und Form aus. Vier seiner dünnen Äste werden abgetrennt, und auf deren Strünke binden die Eingeborenen Dollys Hände und Füße. In den fruchtbaren Tropen wachsen die Äste ein paar Stunden später weiter und durchbohren ihre Extremit äten. Um Dick zu quälen, nimmt Dolly jede Minute ih res Todeskampfes auf Band auf und sorgt dafür, daß es ihm zugeschickt wird. Etta hat Adrian inzwischen verlassen und befindet sich gerade in der Eisenbahn, um zu Dolly zu ziehen, als sie im Radio vom tragischen Tod ein er Ex-Trommlerin hört. Starr vor Entsetzen und Kummer springt Etta sofort aus dem Zug, in der Stadt, in der zufällig Adrian lebt. Adrian hat gerade einen langen Schäkerbrief von Dick erhalten, der ihn so deprimiert, daß er mit der va gen Vorstellung zum Bahnhof geht, sich vor den Zug zu werfen. Doch er sieht Etta und verliebt sich sofort wie Schneidbrenner Es ist jedoch zu spät. Vergebens bringt Adrian Etta in den Keller des Piedmont Tower, seinen architektonischen Triumph, und erklärt ihr vergeblich die Betonabstützung. Etta verhält sich wie ein Zombie. Dennoch muß sie irgendwie einen Teil seines Vertrags über überbelasteten Beton, die unverspreizte Tragfläche, das Prinzip des »Primum Mobile« etc. absorbiert haben, denn später, in der Nacht, kehrt sie m it einem Schneidbrenner allein zum Piedmont Tower zurück. Der Wachmann, der sie in Begleitung des Architekten gesehen hat, denkt sich nichts dabei und läßt sie erneut in den Keller. Dort bindet sie sich wie ein gespannter Bogen an 41
einen der gewaltigen Betonträger und durchschneidet den tragenden Eisenträger! Dieser richtet sich plötzlich auf, und als der Piedmont Tower sich vom Boden bis zum Dach spaltet, wird sie einhundertunddreißig Stockwerke hoch in die Luft geworfen - um auf das gigantische Firmenzeichen der Vereinigten StecknadelWerke zu fallen und von diesem aufgespießt zu werden. Adrian erfährt noch in dieser Nacht von ihrem Tod. Er bucht sofort eine Passage auf dem Linienschiff Henkersmahlzeit, sein Bordgepäck sind zwei Überseekoffer. Einer ist mit Salpetersäure in einer dünnen Glashülle gefüllt; der andere enthält in Terpentin eingelegten Plastiksprengstoff. Er überwacht die Verladung, um sicherzugehen, daß die Koffer auch nebeneinander stehen werden. Der Ladeprozeß läßt die Glashülle nat ürlich zerbrechen, und es wird genau zweiundsiebzig Stunden dauern, bis sich die Salpetersäure durch das dicke Metall des Koffers gefressen hat. In der zweiten Nacht ihrer Reise sendet die Henkersmahlzeit einen Hilferuf aus. »Irgendein Irrer« hat Benzin in die Rettungsboote gekippt und sie in Brand gesteckt. Das Schiff wird nur gerettet, indem man sämtliche Beiboote über Bord wirft. Nur ein Schiff, die Vivisektionistin, hört den Hilferuf. Sie ist zwar viel zu weit entfernt, um den Kurs zu ändern, bloß um ein oder zwei Beiboote auszuleihen, doch sie wünscht der Henkersmahlzeitalles Gute. In der folgenden Nacht reißt eine flammende Explosion den Schiffsboden auf und setzt die Henkersmahlzeit in Brand. Brennendes öl treibt überall auf dem Wasser. Man entdeckt, daß die Schwimmwesten mit Benzin durchtränkt sind. Damit ins Wasser zu springen ist reinster Selbstmord. Adrian bemächtigt sich der Funkanlage des Schiffes, um der Welt sein Verbrechen zu erläutern: Selbstmord. »Aufgeschnittene Pulsadern und Gasöfen waren mir 42
nicht sicher genug«, ruft er über die Schreie der Alten und Kinder hinweg. »Wir wissen alle, wie das Lebens prinzip unsere jämmerlichen Selbstmordversuche ver eitelt. Ich durfte mir keinerlei Ausweg mehr lassen ...« Die Übertragung endet. Theda hat in einem Schönheitssalon angefangen, wo sie bald in die Hände eines unersättlichen weißen Les -benSklavenrings fällt. Nachdem sie diverse Artikel für die Herrenmagazine geschrieben hat (»Leidenschaftliche Mädchen im Lesben-Höllencamp«; »Jungfrauen n i Ketten für die Halbtier-Frauen«; »Ich war eine Liebessklavin der Zofen des Grauens«; »Ich war besessen von den Harpyien der Hölle«; »Gefangen von den Sex -Amazonen der Metzel-Königin«) bricht sie still in einer Gasse neben einer Schickeria-Straße zusammen -zu Tode gedildet. Am anderen Ende der Stadt, im Viertel der Boheme, lebt ihr Gatte, Farmer Bill. Er ist jetzt kein Gießereileiter mehr, sondern hat sich zu einem verhungernden Fres komaler gemausert. Er liebt Glinda, die längst wieder zu ihrem Geburtsort im Süden zurückgekehrt ist. Dort ar beitet sie als Gruppentherapeutin in einem exklusiven Bordell und sorgt sich nur noch um ihren schneidigen Gatten Van Cook. Van, der immer noch versucht, Theda mit seiner Tapferkeit zu beeindrucken, hat seinen Job bei der Zeitung aufgegeben und ist ein zackiger Pilot geworden, ein Schößlingsbestäuber. Er begrenzt die Schreiberei auf einen Roman über sein neues Leben (»Die Schößlings bestäuber: Die Geschichte jener verwegenen Flieger Asse, die täglich über Nebraska dem Tod ins Auge schauen, um die Pest, den dritten apokalyptischen Reiter, zu bekämpfen. Die Geschichte der Maschinen, die sie fliegen; des Lebens, das sie führen; der Frauen, die sie lieben.«) Doch diese gefährliche, männliche Beschäftigung bringt ihn in Thedas Gunst überhaupt nicht weiter; sie liebt Farmer Bill. Als Van Cook von ihrem Tod 43
hört, schickt er Dick ein Selbstmord-Telegramm, dann jagt er seine Maschine, eine Mr. Mulligan, ins nächste Kornfeld. Glinda, unfähig, das Leben ohne ihren Mann zu er tragen, macht in der Hoffnung, daß ihre Darmwände explodieren, bei einem Kuchenwettessen mit. Erfolglos. Nachdem sie den Wettbewerb nach dem Verzehr von vierunddreißig Aprikosenkuchen gewonnen hat, bringt man sie ins Krankenhaus, um ihr den Magen auszu pumpen. Ihr freundliches Schicksal hilft bei ihrem Selbstmordplan. In der stets sommerlichen Stadt liegt das Hospital in einem echten Wald aus Geißblatt, üppigen wuchernden Rosen und Spanischem Flieder. An diesem Som merabend sind die Fenster der Pumpstation geöffnet, um Kühle hereinzulassen, und die süßen Düfte dringen ein. Glinda kann nicht sprechen, also nimmt die Bereit schaft an, daß sie versucht hat, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. Man bindet sie fest, schiebt ihr einen Plastiktrichter in den Mund und ein Pumprohr in den Magen. Bald dringt, angezogen von ihren gemurmelten Alpträumen und dem Geruch der abgepumpten Aprikosen ein Schwärm von Honigbienen in den Raum ein. Glinda liegt hilflos da, als die Bienen das Personal in die Flucht schlagen und in die seltsame rote Blume eindringen, geil auf den Duft der stinkenden Aprikosenmarmelade. Ihre Todesagonie, spekuliert Dick, was für ihn ein ungewöhnlicher Augenblick der Subjektivität ist, muß qualvoll gewesen sein. Als Farmer Bill vom Tod seiner Geliebten hört, verhält er sich stoisch und faßt den Plan, seine Gefühle in Kunst umzusetzen. Er beginnt ein gewaltiges dreistöckiges Fresko mit dem Titel Glinda. An dieser Stelle erklärt Dick, daß dies seine Selbstmordankündigung ist. Er kann ohne Adrian nicht weiterleben, und so hat er schon ausführliche Vorbereitungen für seinen eigenen Tod getroffen: 44
Da er durch Investitionen in gartenbauliche Unter nehmen zu einem ansehnlichen Vermögen gekommen ist, war es Dick Hand beschieden, Macht über die Regierung eines kleinen afrikanischen Landes zu erringen. Er legt vorsichtig die Saat der Revolution aus und enga giert Männer, die Experten in diesen Dingen sind, damit sie a) die Bevölkerung zu rebellischen Akten anstiften und b) die Regierung auffordern, härtere Maßnahmen (Exekutionen, unerträglich hohe Steuern, zwangsweisen Militärdienst für Alte und Untaugliche, Sperrstunden zu den unmöglichsten Tageszeiten, Geldstrafen fürs Wassertrinken etc.) einzuführen. Der Kopf des Staates, Präsident Rudy Bung, hat soviel Angst vor seinem eigenen Volk, daß er stets inkognito auftritt, sich einen schwarzen Damenstrumpf über den Kopf zieht und seine Reden mit Piepsstimme hält. Nachdem er sichergestellt hat, daß die Revolution er folgreich sein wird, betäubt Dick heimlich Rudy, tötet ihn und nimmt dessen Identität an. Als er allein im Büro des Präsidenten ist, wird er sofort von den Aufständischen getötet, die mit seiner Leiche - wie er gehofft und geplant hat - unaussprechliche Dinge anstellen. Die letzte Geschichte ist natürlich als Zeitungsmeldung abgefaßt. Auf der nächsten Seite kommt ein Artikel über den Einsturz einer großen Mauer, bei dem der Freskenmaler Farmer Bill von siebzig Tonnen feuchtem Gips zermalmt wird. ENDE
Das obige Ende wurde vom Verlag als »zu deprimierend« abgelehnt. Demzufolge schrieb der Autor das folgende Ende, das der Verlag akzeptierte:
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Achtes Buch: Dick: Epilog Seit dem schicksalsträchtigen Urlaub ist viel geschehen. Nach ihrer Rettung trennten sich die acht Charaktere und gingen, auf der Suche nach einer Geschichte, ihrer eigenen Wege. Dick Hand allerdings bleibt ihnen auf der Spur: Adrian und Etta beschließen, das Problem seiner Trunksucht gemeinsam anzugehen. Sie arbeitet als Statistin beim Film, um Geld für seinen Psychiater zu verdienen. Adrian macht sich an einen brillanten neuen Entwurf für einen Bunker, den Muschelhüllen-Schoß, der den einmaligen Vorzug hat, über dem Explosionsherd zu liegen, auf einem mehrere Kilometer hohen Turm. Ein weltbekannter Architekt, jetzt vom Alter gebeugt, kommt als niedriger Student vorbei, um Adrians Entwurf zu studieren und zu bewundern. Etta bekommt ein neues Rollenangebot, das sie ablehnt. Adrians Gattin zu sein, sagt sie, ist Ruhm genug für jede Frau! Glinda und Van Cook treiben auseinander, als er seinen Job bei der Zeitung aufgibt und Pilot wird, der Wolken besät. Doch nach all ihren Differenzen und dem Versagen eines Dutzends von Pfaffen und Standesbeamten, werden sie endlich vom kleinsten vorstellbaren Standesbeamten wieder vereint: einem Gentleman, der nur fünf Pfund und drei Unzen wiegt - Van junior. Van beginnt einen Roman über seine Arbeit »Die Regenmacher«. Er fliegt seinen Gee Bee-Renner nur noch selten und mit großer Vorsicht - jetzt, wo er daheim so viel Liebes hat, zu dem zurückzukommen sich lohnt. Theda ist Visagistin geworden, Mr. Theda, bekannt auf drei Kontinenten. Sie hat Bill seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen. Eines Tages kommt er in ihren Schönheitssalon, in alte Kleider gehüllt, mit Bartstoppeln, das Haar in Unordnung, knautscht seinen alten Hut in den Händen, hat abgebrochene Nägel und einge46
rissene Nagelhaut. Er möchte noch eine Chance, ihr seine Liebe zu beweisen. Theda will ihm eigentlich sagen, daß er wieder gehen soll, doch sie sieht die Tränen in seinen Augen. Dieser Anblick führt dazu, daß auch ihr die Tränen in die Augen steigen und eine ihrer Kontaktlinsen herausspülen. - Als sie beide auf dem Boden herumkriechen, um nach ihr zu suchen, berühren sich ihre Hände ... Dick endet mit der Erzählung seiner eigenen Geschichte. Er ist ein erfolgreicher, bärbeißiger, doch gutmütiger Dermatologe geworden. Nächtliche Anrufe halten ihn davon ab, zu oft an Dolly zu denken, die in ein Hospital gegangen ist, um sich ihrer Gewohnheiten zu entledigen. Neun Monate vergehen, und dann, an einem Frühlingstag, geht sie schlapp zum Tor. Dort steht er, grinst schüchtern und hält einen ihrer alten Taktstöcke in der Hand. Sie rennen aufeinander zu, um sich zu umarmen. Sie verleiht ihrem alten Taktstock ei nen Experten-Wirbel! »Liebling«, sagt er mit rauher Stimme, »es ist Zeit, nach Hause zu gehen.« ENDE
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Gibt es den Tod auf anderen Planeten? Ich hätte zur Erde zurückkehren können, dachte Peter und eilte durch den nebelverhangenen Abend. Ich hätte per Anhalter nach Kalifornien gehen und in großen, neonbeleuchteten Raststätten Coke trinken können. Unter jeder Straßenlaterne hielt er an und schaute zurück. Und jedesmal war der untersetzte Mann mit der Sonnenbrille da. Eine Straßenlaterne hinter ihm. Die Gossen von Centerville, der Hauptstadt des Planeten Lumpkin, waren mit allen erdenklichen Abfällen bedeckt. Und noch vor ein paar Stunden, dachte Peter, war ich ein Teil dieses Abfalls. Und jetzt? Jetzt bin ich ein Spion, ein Agent der US-Regierung. »Ich - ein Spion? Hier auf Lumpkin? Das geht doch nicht! Ich sehe nicht mal wie ein Spion aus. Ich bin doch nur ein Weltraum-Penner. Schauen Sie, meine Kleider bestehen aus Segeltuch von einem Weltraumschiff. Mein Gürtel ist ein Stück von einem geteerten Tau.« Der Mann mit dem grünen Hut seufzte. »Das langt doch! Wie sagte doch schon der große n-fache Agent Waldmir? >Ein Spion muß so aussehen wie jeder x-beliebige^« Das Gesicht unter der Krempe des grünen Hutes war unsichtbar; Peter sah nur eine Reihe gezackter Unterzähne. »Und so sieht der Plan aus: Lumpkin will mit den Vereinigten Staaten einen Krieg vom Zaun brechen; man ist angriffsbereit. Man braucht dem Computer nur noch das entsprechende Wort einzugeben. Wenn die Aussichten entsprechend sind, lassen sie so viele Raketen los, wie sie brauchen, um die Ver einigten Staaten der Erde in einen Feuerball zu verwandeln. Ihr Auftrag besteht darin, das Dingsbums zu stehlen, das den Computer programmiert. Es ist ein kleines Ge48
rät, daß man leicht in diesem Täschlein verstecken kann. Sie werden es einem Mann namens Adrian am Raketenbahnhof übergeben. Er wird einen grünen Hut tragen, wie diesen, und außerdem betreibt er den dortigen Ansichtskartenstand. Alles klar?« »Und wo kriege ich das Ding? Und wie?« »Es ist im Safe des Kriegsministeriums eingeschlossen.« Der Mann reichte Peter eine Zigarettenschachtel. »Dies ist in Wirklichkeit eine Zeitmaschine. Sie projizie-ren sich einfach in die Zukunft, schauen sich zu, wie Sie den Safe öffnen und merken sich die Kombination! Al les klar?« »Mir kommt's so vor, als wäre da irgendwo ein Paradoxon«, sagte Peter nachdenklich und kratzte sich an seinem unrasierten Kinn. »Aber erzählen Sie weiter! Was geschieht, nachdem ich es abgeliefert habe?« »Wenn wir das Dingsbums erst mal haben - es soll übrigens, sagt man, einer seltenen alten Schallplatte gleichen -, werden wir in der Lage sein, den Computer umzuprogrammieren. Wir werden ihm eingeben, daß der Krieg beendet ist und die Vereinigten Staaten gewonnen haben. Unsere Truppen werden dann sofo rt landen. Danach kommen sofort unsere ausgebildeten TouristenArmeen, um die rebellischen Lumpkiniten zu bestrafen.« Mit einer Geste kühner Erwartung fuhr sich der Mann mit der Zunge über die gezackten Zähne. »Aber jetzt legen Sie lieber los. Wir haben nicht viel Zeit.« Der kleine Mann mit der Sonnenbrille war immer noch hinter ihm her. Vor Peter befand sich ein Schild: »AN NIES ERDBAR - Ihr Daheim fern von Zuhaus. Kein Kredit.« Peter huschte dankbar in den schlecht beleuchteten, übelriechenden Schankraum. Wie gut er diese Treibgut-Zuflucht kannte - und seine liebliche Besitzerin. Annie kam an seinen Tisch und beugte sich über ihn, 49
wobei ihr kohlrabenschwarzes Haar sein Kinn bürstete. Ihre dünne Alabasterkehle funktionierte mit unausgesprochener Emotion, als sie heiser keuchte: »Keinen Kredit.« »Annie, du mußt mich verstecken.« Aber ach - es war schon zu spät! Peter zerknüllte die Zigarettenschachtel und erkannte, daß der kleine Mann ihn finden würde. Seufzend bestellte er ein Bier und fing an, Annie von der Fauna eines exotischen Planeten namens Erde zu erzählen. »Dann gibt's da noch die tierischen Geister. Wie das Bähschaf. Stell dir vor, du spazierst in der Nacht ganz allein in Indien herum ... Plötzlich hörst du dieses entsetzliche Bäääää. Du siehst, wie sich in der Dunkelheit etwas Großes, Weißes bewegt ...« »Das hast du mir schon mal erzählt«, sagte sie. Der untersetzte, wieselgesichtige Mann kam herein und setzte sich an den Neben tisch. Er nahm die Son* nenbrille ab, und Peter sah, daß sich sein Blick nicht von dem Täschlein abwandte, das er in der Hand hielt. »Auch das von dem Grummelbär? Es ist der blutrünstige Geist eines Bären, der durch die Wälder von lowa strolcht. Er kann nämlich nicht in seinen Körper zurück, da ihn jemand getötet hat, als er schlief. Überwinterte. Er strolcht in Irland umher ...« »Du hast lowa gesagt.« »Ich meinte natürlich Irland. Wohin alle Bärenseelen ziehen, wenn sie überwintern. Deswegen nennt man das Land auch Überwintrien.« Der kleine Mann zog, wie Peter es vorau sgesehen hatte, eine Laserpistole. »Was haben Sie da in dem Täschlein?« fragte er geradeheraus. »Nur 'ne alte Schallplatte.« Es war ein verzweifelter Schritt, aber der falsche. »Ist es zufälligerweise >Apple Blossom Time< von den Andrews Sisters? Wenn ja, verhafte ich Sie im Namen ...« 50
Peter packte das Täschlein fester und verlor die Be sinnung. Er kam in einem üppigen Apartment wieder zu sich, in dem sich eine ebenso üppige Blondine mit einem wie selgesichtigen Mann stritt. Das Mädchen fuchtelte mit einer Säge herum und rief: »Es ist die einzige Möglichkeit! Das Täschlein besteht aus irgendeinem undurchdringlichen Material, und er weigert sich, es loszulas sen.« »Mmf. Du könntest recht haben, meine Liebe. Aber könnten wir ihn nicht einfach filzen und uns den Schlüssel für das Täschlein greifen?« »Ihn filzen? Kotz! Ich weigere mich, diesen Schmutzfink auch nur anzurühren«, erwiderte sie mit einem damenhaften Frösteln. »Ich bin doch wach!« rief Peter aus. »Hier, ich öffne das Täschlein für Sie!« »Versuch bloß keine Tricks, mein schmutziger Freund!« knurrte der Mann. »Roberta, halt ihn mit der Säge in Schach!« Peter tat so, als fummle er an dem Schloß herum, doch er wollte nur Zeit schinden. »Hab ich Ihnen schon die Geschichte von dem Werhuhn erzählt? We nn in Ost-Island die Hühnerblume blüht, der Mond wie ein großes, verhextes Ei aussieht und die Bauern alle Türen verrammeln ...« Peter sprang wie ein geölter Blitz auf und warf sich durch das Fenster. Zu seiner Überraschung fand er sich im gleichen Raum wieder. »Was ist passiert?« fragte er, als Roberta erneut mit der Säge auf ihn zielte. »Du kannst nicht entkommen«, kicherte der frett chengesichtige Mann, »und zwar aus dem einfachen Grund, weil es nichts gibt, wohin man entwischen könnte. Mmmf. Wir befinden uns nämlich in einem 51
re-orientierten Universum, das von den Wänden des Raumes begrenzt wird. Es gibt kein Draußen.« Die Blonde kam näher und verbreitete Moschusgeruch. »Es gibt also gar keinen Grund für dich, entkommen zu wollen, Liebling«, sagte sie. »Würdest du nicht lieber bei mir bleiben - für immer?« »Wenn dies ein abgeschlossenes Universum ist, was werden wir dann essen und trinken?« fragte Peter argwöhnisch. »Wir könnten von der Liebe leben. Leg jetzt das Täschlein hin und küß mich!« »Nix da. Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Weib. Beispielsweise sehen deine Zähne zu echt aus. Und dann dieser Moschusgeruch. Es scheint, als entströmte er durch eine einzige Pore deines lieblichen Alabasterhalses.« In diesem Augenblick umgab sich Robertas gesamter Körper mit einer tödlichen Hochspannungsaura. »Ein Roboter!« rief Peter aus und sprang zurück. »Hätte ich mir doch gleich denken können. Nur Roboter nennen jedermann Liebling.« Mit ausgebreiteten Armen taumelte sie durchs Zim mer hinter ihm her. »Liebling ...«, murmelte sie. Da es keinen Ausweg gab und ihre feuerknisternden Millionen -Volt-Arme nach ihm griffen, stolperte Peter über einen merkwürdig geschnitzten Buddha, und der Raum löste sich auf! Er fand sich unter einem blendend weißen Licht wieder, während sich um ihn herum schattenhafte Gestalten bewegten. »Wer sind Sie? Was tue ich hier? Was ist in dem mmmf - Täschlein?« fragte die Stimme des Frettchens mit vielen schaurigen Echos. Peter gab keine Antwort. »Eine nette Freundin haben Sie. Es wäre eine Schande, wenn etwas ihre Lieblichkeit verbiegen würde ...« 52
»Das würden Sie nicht wagen!« schrie Peter und stand taumelnd auf. »Wirklich nicht? Wie heißen Sie?« »Rumpelstilzchen heiß ich ...« Irgend etwas knallte gegen seinen Kopf - ein gewaltiger Hieb, der Glocken erklingen und Sterne herumwirbeln ließ. Die Glocken und Sterne waren echt. Die Alarmsysteme im Kontrollraum des Raumschiffes kündeten einen Meteoritenschwarm an. Warum weicht das Schiff ihm nicht automatisch aus? fragte sich Peter. Die Antwort bestand aus einer schattenhaften Gestalt, die sich über die Kontrollen beugte und das Steuerrad fest auf Kurs hielt. Sie drehte sich zu ihm um. Peter sah in ein barbarisches Gesicht mit kleinen Augen und einem grausamen, verrückten Lächeln. »Wenn Sie mir nicht sofort das Täschlein geben, fahren wir gemeinsam zur - mmmmf - Hölle«, frohlockte der kleine Mann. »Da wir gerade vom Tod sprechen«, sagte Peter. »Ich kenne ein paar Geschichten, laut denen es auf den Westindischen Inseln tierische Zombies gibt. Zum Beispiel untote Enten!« Peter knallte das Täschlein flink in das geistesabwesende Gesicht. Das Wiesel wurde zu Boden geschlagen, und das Schiff änderte langsam den Kurs - doch zu spät! Schon waren die Meteoriten da und bohrten sich beharrlich durch die Hülle! Peter legte sofort den Rückwärtsgang ein und nahm die Überlichtgeschwindigkeit zurück. Sein Schiff durchsauste das Universum und traf auf sein Gegenstück, das noch mit Lichtgeschwindigkeit flog. KRA-WUMM! Materie traf auf Anti-Materie. Beides explodierte in einem Blitz aus Licht und Anti-Licht! ZWUTSCH! 53
Peter flog im Zickzack davon (mit Lichtgeschwindigkeit), verfolgt von Restmaterie in Form eines schleimigen Außerirdischen. Er bestand ganz aus Mus und hatte zwei kleine Antennen. »Warte, bis ich meine Kiefer in dich schlage, Mmmf!« dachte der Alien ihn an. »Da mußt du dir schon was anderes ausdenken«, schoß Peters Verstand zurück. »Mir ist schon Schlim meres auf den Fersen gewesen.« »Wirklich? Leg das Täschlein hin und erzähl mir mehr davon!« Peter verlangsamte sein Tempo keinesfalls, doch er fing an, sein Garn zu spinnen. Er sprach von der Zeit in Indien, als ihn ein gigantisches, schwerfälliges Ungeheuer verfolgt hatte, das absolut unsichtbar gewesen war - ein Zellofant! Doch nun verringerte der schleimige Außerirdische den Abstand zwischen sich und seiner Beute immer mehr! Als Peter am Wegesrand einen Klumpen schlaffer Materie sah, hüpfte er hinter sie und ließ den schwerfälligen Alien vorbeistolpern. »Na sowas!« sagte er und sah sich den schlaffen Materieklumpen an. Je eingehender er ihn untersuchte, desto mehr stellte er sich als Gebrauchtwagen heraus. Peter stieg ein und jagte über die Straße. Im Rückspiegel tauchte ein Pünktchen auf und wurde zu einem Taxi. »Dieses Taxi«, sagte Peter grimmig, »verfolgt mich.« Er fuhr schneller, doch das Taxi holte weiter auf. Jetzt konnte er die spitze Nase und die kleinen Augen des Fahrers erkennen. Peter wußte, daß er das Taxi niemals abschütteln würde, denn es war zweifellos ein getarnter Geländewagen. Und genau vor ihm war die Haarnadelkurve. Diese Stelle hatte ihren farbigen Namen aufgrund der Tatsache erhalten, daß man eine Haarnadel über ihren Rand werfen konnte, ohne sie je am Boden aufschlagen zu 54
hören. Oft tauchten hier Frauen auf, die Haarnadeln in den Abgrund warfen und begierig auf ihr Klirren lauschten. Im Moment stand auch gerade eine Frau am Rand, warf objets de coiffure in den Abgrund und versuchte erfolglos alles Erdenkliche, um ihre Kollision mit dem Boden zu ermitteln. Sie nahm eine Nadel aus ihrem herrlich kastanienbraunen Haar, warf sie in die Kluft und strengte völlig nutzlos die Ohren an, um den Aufschlag wahrzunehmen. Sie trug einen Trenchcoat. Als das Taxi mit ihm auf gleicher Höhe war, riß Peter scharf das Steuer herum und hielt an. Das Taxi kippte in den Weltraum und überschlug sich, bis es schließlich Feuer fing. »Kann ich Sie mitnehmen?« fragte Peter und musterte das Mädchen. Wortlos warf sie sich in seine Arme und drückte schluchzend ihre brennenden Lippen auf die seinen. Als sie weiterfuhren, schaltete er das Radio ein. » . . . und stellenweise bewölkt. Die sensationellste Nachricht des Tages ist die Flucht des verurteilten Kriminellen Peter O'Hare alias Jean Pierre Lapin, der heute morgen unter der Guillotine sterben sollte. Laut Polizeibericht ist dem berüchtigten Täschleindieb heute morgen während eines Verhörs die Flucht gelungen. Man geht davon aus, daß er sich in einem Parellel-Universum, einer anderen Dimension oder in den Pariser Abwasserkanälen versteckt hält.« Das Handschuhfach klappte auf. Heraus trat ein kleiner, wieselartiger Mann, der eine häßliche Automatik in der Hand hielt. »Mmmf. Würden Sie bitte so nett sein und mir das Täschlein da reichen?« sagte er, während seine kleinen Augen es hungrig anglotzten. »Ich werde Sie natürlich dafür belohnen - mit dem Tod.« »Habe ich Ihnen schon die Geschichte vom Oktohorn erzählt?« fragte Peter. »Es ist das seltsamste Ungeheuer 55
von Idaho, es hat den Körper eines Einhorns und den Kopf eines Oktopoden. Es ist unheimlich schnell, äußerst harmlos und tut niemandem was, wenn es den schlabbrigen Kopf schwenkt und ...« »Ich mag keine Tierwitze«, sagte der Mann kalt. »Greta und ich sind frei geborene, mutierte, sorgfältigst ausgebildete Füchse. Das heißt, ich bin ein Fuchs, und sie ist eine Fähse. Ich weiß nicht mehr genau, aber unsere Kinder werden entweder Welpen oder Junge genannt. Während Sie ihren Wagen stoppte, versteckte ich mich im Handschuhfach. War das nicht listig?« »Eine Fähse!« rief Peter aus. »Da brat mir doch einer 'n Storch!« Er kniff Greta in die Wange, und sie biß ihm in den Finger. »Autsch! Das erinnert mich an einen Araber, den ich mal kannte. Er betrieb im Iran einen Flohzirkus. Haben Sie vielleicht schon mal von den berühmten 1001 arabischen Flöhen gehört? Nein? Tja, eines Tages ist einer von ihnen entwischt. Um sicherzugehen, mußte der Araber sie alle zählen. Einen Floh, zwei Flöhe, drei Flöhe ...« Peter legte im Armaturenbrett zwei Drähte frei. Während seine Geschichte für die nötige Ab lenkung sorgte, leitete er sie zum Benzintank um. Dann fischte er einen Kupfer- und einen Zinkpenny aus der Tasche, spuckte auf ein Blatt Papier und plazierte es zwischen sich und die beiden. »Neunhundertachtundneunzig Flöhe, neunhundertneunundneunzig Flöhe ...« Er preßte die beiden Drähte auf seine Pennies und warf sich aus dem Wagen. Er spürte eine heiße Druckwelle im Rücken, und kurz darauf hörte er ein fernes Brüllen, als das Fahrzeug in die Luft flog. »Der alte Pennybatterie-Trick funktioniert immer«, sagte er nachdenklich und schaute auf die Rauchsäule, die einst Kansas City gewesen war. Riesige Wolken von Heuschrecken schwebten neben ihm, sie waren auf dem 56
Weg, die Weizenfelder zu verwüsten und den Planeten zu übernehmen. Peter stürzte sich auf seine Antigrav-Maschine, die sich auf seinen Ohrenabdruck hin öffnete. Als er abhob, spürte er, daß er nicht allein in der Kabine war. Ruhig bleiben, dachte er und fuhr, als sei alles in Ordnung, damit fort, die großen Dampfventile einzustellen. Doch er wußte während der ganzen Zeit, daß ihn jemand -oder etwas - beobachtete. Er drehte sich um. Und keuchte. Eine Spore des Grauens rollte auf ihn zu - auf der Suche nach Nahrung. »Mmmmf!« brüllte sie. Keine Zeit für eine Flucht. Schon griffen die Pseudopodien der Spore nach ihm. Peters ganzes Leben lief vor seinen Augen noch einmal ab. Und dann, denn die Pseudopoden hatten ihn noch nicht gepackt, dachte er über das Leben nach, das er hätte führen können. Ochsen einfangen. Anschlagtafeln lesen. Den Wagen ins Pfandhaus bringen, dachte er verbittert. Hot Dogs essen und das Einwickelpapier in den Grand Canyon werfen. Und dann mit der Schmalfilmkamera Gattin und Blagen aufnehmen. Die Spore des Grauens umrundete ihn und begann ihren eigentümlichen Verdauungsvorgang, einem Spaltungsprozeß. Peter wurde in zwei Duplikate seiner Selbst zerlegt, und diese zerlegten sich erneut. Kurz darauf befanden sich hunderttausend winzige Peters im Innern der Spore. Peter verstand etwas von Massenpsychologie. Er wußte, daß Massen von Natur aus streitsüchtig, überheblich, halsstarrig und unzufrieden sind. Massen gierten danach, zu plündern und Feuer zu legen; sie waren im Zustand der Frustration entsetzlich, und im allgemeinen Feiglinge. All diese Attribute spürte er auch heftig in sich selbst. Doch es gab hier nichts zu plündern, und Feuer legen 57
konnte man höchstens an den Pseudomagen der Spore. Die Massen ergriffen Fackeln und setzten die Spore in Brand, die sie auf der Stelle in einer Wüstenebene aus kotzte. Er war zu lange eingepfercht gewesen, jetzt irrte er ziellos und frustriert umher. Große Schwärme seines Ichs warfen ihre Täschlein zu Boden und wanderten jam mernd davon, um den Tod von Feiglingen zu sterben. Ein paar von ihm hoben jedoch das fortgeworfene Gepäck auf und schichteten es zu großen Stapeln. Dann stritten sie sich darüber, ob sie die Täschlein plündern oder verbrennen sollten, und bald darauf bekämpften sie einander bis aufs Messer. Es war schwierig, in diesem Tohuwabohu aus Fäusten und Fackeln Freund von Feind zu unterscheiden. Der Freund killte den Freund, der Feind verbrannte den Feind, bis sich die Sonne über ihren Wahnsinn nieder senkte. Der Letzte von ihnen viel an der Glutasche sei ner verstorbenen Verbündeten in den Schlaf. Auf ihrem Namensschild stand >Melissa Forbes<. Sie hatte langes, aschblondes Haar und trug einen Laborkittel, der sich über ihre weichen Brüste und Hüften spannte. Sie schüttelte ihn wach. »Aufstehen, Doktor! Wir müssen arbeiten!« »Hmm? Oh, ja. Ich muß über den Fromminger -Gleichungen eingenickt sein. Aber wer würde das nicht?« Er grinste, und Melissa hielt die Luft an. Dr. Peter O'Hare war sich der Wirkung seines schiefen Grinsens durchaus bewußt. »Wo waren wir doch gerade?« »Wir müssen das Universum vor dem sicheren Un tergang bewahren«, sagte sie kehlig. »Zwei Parel-lelUniversen sind außer Kurs geraten. Sie werden in ein paar Minuten zusammenstoßen und sich in einen Tropfen reiner Energie verwandeln, es sei denn ...« 58
»Soll das etwa heißen ...?« keuchte er und wickelte sich in seinen Laborkittel. Eine Seite hatte einen Einschnitt für das Täschlein, das er immer bei sich zu tragen schien. »Ja, Doktor - nur Sie allein können einen Ausweg finden.« Ein paar Kalkulationen mit dem Rechenschieber, dann hatte der Wissenschaftler es geschafft. »Sie und ich gehen in die Vergangenheit je eines dieser Universen zurück. Dort werden wir die nötigen Justierungen vornehmen, um sicherzustellen, daß die beiden sich nie begegnen werden. Schade nur, daß wir niemals zurückkehren werden.« »Dann kann ich es Ihnen ja sagen«, schluchzte sie. »Doktor, ich liebe Sie!« Eine klare Träne rann über ihre Wangen und klatschte in das Reagenzglas, das sie umklammert hielt. »Soll das etwa heißen ...?« keuchte er und nahm sie in die Arme. »Nein.« Sie schob ihn zurück. »Dazu ist jetzt keine Zeit, Liebling. Wenn du mir doch nur etwas geben könntest, das mich an dich erinnert - etwa dieses Täschlein da ...« Peter wandte sich ab, um seine privaten Gefühle zu verbergen, und während er dies tat, erkannte er, daß das Labor nur drei Wände hatte! Dort, wo die vierte hätte sein müssen, befand sich ein finsteres Nichts, das mit feindselig glitzernden Augen gefüllt war. Es war also eine Falle! Wie gut er doch die lumpkinitische Polizei und ihre Zusammenstellungen aus Trugbi ld und Psychodrama kannte! Peter grapschte sich eine handliche Kanone und feuerte in die Menge. »Sie semper tyrannus!« schrie er und eilte zum Bühnenausgang.
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»Das ist ja alles schön und gut«, sagte er und steckte die Waffe ein, »aber wie komme ich aus dieser Hölle wieder raus?« Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß die unaufhörliche Trommelei aufgehört hatte. Die Wilden planen bestimmt wieder eine Teufelei, dachte er. Ein weißer Mann trat aus dem Dickicht. Er trug eine fließende weiße Robe und verbreitete eine sich auflösende Aura. »Sind Sie zufällig der Weiße Gott?« fragte Peter. »Ich bin Vergil, gekommen, um dich aus dieser Hölle zu führen.« »Bei Dantes Großem Geist! Wie nennt man diesen Ort, o edler Mantuaner?« Der Poet sah für einen Augenblick verdutzt aus. »Oh, den Sündenpfuhl, nehme ich an. Komm, Pilger, laß mich deine Bürde tragen!« »Nimm dies statt dessen«, knurrte Peter und pumpte acht blaue Bohnen in Vergil hinein. Der Poet nahm seine wahre Form an und verdrückte sich. Adrian lag gefesselt in der Gasse hinter dem Raketenbahnhof. Während Peter ihm die Bande löste, erzählte er ihm den Fall. »Reib deine Gelenke, damit das Blut wieder zirkuliert! Ich erklär's dir inzwischen. Auch mich hat man gefesselt und mir die Augen verbunden. Man brachte mich auf einen anderen Planeten, aber ich hab mitgezählt, wie oft das Raumschiff abbog, und so fand ich den Rückweg. Wir haben's mit einer skrupellosen Bande von ServoMechanismen zu tun, Tatsache. Die alte Schallplatte war nur eine Finte. Was sie wirklich wollten, war das Täschlein.« »Das Täschlein?« »Es ist eine Antiquität, Millionen wert. Der Besitzer hat es sich selbst gestohlen, um die Versicherungssumme zu kassieren. Aber ich war mir nicht ganz si60
eher, deshalb habe ich auch die alte Schallplatte versteckt.« »Schnell gedacht, Häuptling. Wo hast du sie ver steckt?« »Am aller-alleroffensichtlichsten Platz - in Annies altem Plattenspieler.« »Toll! Aber woher hast du gewußt, daß er nicht der echte Vergil war?« fragte Adrian. »Er hat sich verraten, als er den Sündenpfuhl er wähnte. William Faulkner hat das Wort nämlich erst Jahre nach dem Tod des echten John Bunyan erfunden. Von da an war es nicht mehr schwierig.« Peter boxte die Dellen aus Adrians grünem Hut und reichte ihn ihm. Als Adrian den Hut aufsetzte, hielt er einen Taschenspiegel in der Hand. Dann lud Peter erneut seine Kanone und bolzte acht blaue Bohnen in ihn hinein. Tja, so ist das Leben der Spione, dachte er. Die Guten sterben jung. Man wird zwar nie reich, doch man führt ein aufregendes Leben. In der einen Woche drehen die Arcrusischen Piraten durch, und in der nächsten, zur gleichen Stunde, steigt vor Los Angeles etwas aus dem Meer und knabbert die Küste an. Ich werde die alte Erde dennoch vermissen. Ungefähr jetzt wird sie sich in einen Feuerball verwandeln, wenn Lumpkin in den Krieg zieht. Kichernd stieß er die Tür zu Annies Erdbar auf.
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Die glückliche Spezies Anno Domini 1987 »Ich weiß nicht«, sagte James und erhob sich von den Kissen, die wie helle Herbstblätter auf dem Fußboden verstreut waren. »Ich kann eigentlich nicht sagen, daß ich wirklich glücklich bin. - Gin oder irgendeinen Pantsch?« »Herrjeh, Mann«, sagte Porter, »komm mir nicht mit Schlüssen, komm mit dem Drink.« Er lag auf dem schwarzen, troddelverzierten Sofa, das er » James' Schrumpfcouch« nannte. »Also dann Gin.« James drückte einen Knopf, und ein eisgrau und eßbar aussehendes Martiniglas glitt in die Wandnische und füllte sich. Er faßte es am Stiel an und reichte es Porter, dann hob er seine buschigen Brauen und musterte Marya. »Nada«, sagte sie. Sie fläzte sich in einem »Sessel«, der in Wahrheit Teil einer Skulptur war, und einer ihrer nackten Füße streckte sich aus, um Porters Bein zu berühren. James machte sich selbst einen Martini und sah ihn angewidert an. Würde ich das Glas jetzt zerbrechen, dachte er, würden nicht mal scharfe Ränder übrig bleiben, an denen ich mir die Pulsadern aufschneiden könnte. »Wo waren wir gerade? Oh, ich kann zwar nicht sagen, daß ich wirklich glücklich bin, aber ich bin auch nicht . . . äh ...« »Traurig?« half Marya ihm aus und sah ihn unter dem Schirm ihrer Jagdmütze hervor an. »Deprimiert. Ich bin nicht deprimiert. Also muß ich glücklich sein«, endete er und verbarg seine Verwirrung hinter dem Glas. Als er einen kleinen Schluck nahm, sah er sie von oben bis unten an, von den wohlgeform62
ten Schenkeln bis zu ihrer häßlichen braunen Jagdmütze. Letztes Jahr um diese Zeit hatte sie eine blaue Baseballmütze mit goldenen Biesen getragen. Es war leicht, sich daran zu erinnern, denn dieses Jahr trugen sämtliche Mädchen im Village Baseballmützen. Marya Ka -tovna war der Meute stets voraus, sowohl in ihrem Aufzug wie in ihren Gemälden. »Woher weißt du, daß du glücklich bist?« sagte sie. »Letzte Woche habe ich auch geglaubt, ich wäre glücklich. Ich hatte gerade meine beste Arbeit beendet und wollte mich ersäufen. Die Maschine hat den Stöpsel rausgezogen. Dann war ich traurig.« »Warum wolltest du dich umbringen?« fragte James und bemühte sich, sie im Brennpunkt seiner Augen zu behalten. »Ich hatte die Vorstellung, daß der Künstler nach einem perfekten Werk vernichtet werden sollte. Dürer hat die Platten seiner Gravuren nach ein paar Abdrucken auch immer vernichtet.« »Er hat es wegen des Geldes getan«, murmelte Porter. »Na schön, dann eben wie dieser arabische Architekt. Nachdem er sein Magnum opus erschaffen hatte, ließ der Sultan ihn blenden, damit er keine Kopien davon machen konnte. Versteht ihr, was ich meine? Das Leben eines Künstlers sollte auf sein Meisterwerk hinzielen, nicht davon weg.« Porter öffnete die Augen und sagte: »Existiere! Das Ende des Lebens ist Leben. Existiere, Mensch, das ist alles, was du tun wirst!« »Klingt wie billiger Existenzialismus«, knurrte sie und zog den Fuß zurück. »Porter, du wirst diesen verdammten Muselmännern immer ähnlicher.« Porter grinste finster und schloß die Augen. Es war an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Kennt ihr den über den Marsianer, der sich für einen Erdenmenschen hält?« sagte James in seinem liebens63
würdig professionellen Tonfall. »Er geht also zu seinem Psychiater ...« Während er den Witz weitererzählte, musterte er die beiden. Marya war keine Sorge wert, trotz ihrer dramatischen Selbstmordversuche. Doch Porter befand sich in einem schlimmen Zustand. Sein voller angenommener Name war O. Henry Porter, nach irgendeinem unwichtigen Autor der Frühzeit. Porter war ebenfalls Autor - oder er war es gewesen. Vor ein paar Monaten hatte er sich noch für ein Genie gehalten, für eins der wenigen des zwanzigsten Jahrhunderts. Irgend etwas war passiert. Vielleicht lag es am allgemeinen Rückgang des Lesens. Vielleicht war ein Ele ment der Selbstzerstörung in ihm. Woran es auch liegen mochte, Porter war kaum mehr als ein Schwachkopf. Selbst wenn er sprach, befleißigte er sich der billigsten Klischees des alten Hippieslangs, wie er vor zwanzig Jahren Mode gewesen war. Und er redete immer weniger. James brachte es vage mit den Maschinen in Verbin dung. Porter war den therapeutischen Umwelt-Maschinen länger ausgesetzt gewesen als die meisten, vielleicht war sein Genius mit dem verheddert, was immer sie auch kurierten. James hatte zu lange nicht mehr praktiziert, um zu ahnen, wie es war, doch er erinnerte sich an ähnliche Baby/Badewasser-Fälle. »>Also deswegen leuchtet es im Dunkeln<«, beendete James den Witz. Wie er erwartet hatte, lachte Marya, doch Porter rang sich nur ein Lächeln ab, das über sein übliches mystisch-blödes Grinsen hinausging. »Der Witz ist schon sehr alt«, entschuldigte sich James. »Du bist auch ein alter Witz«, erklärte Porter. » Ein Kopfschrumpfer ohne Köpfe, die er schrumpfen lassen kann. Was, um Himmels willen, tust du eigentlich den ganzen Tag?« 64
»Was hast du denn?« sagte Marya zu dem Ex -Autor. »Was hat dich aus den Tiefen hervorgebracht?« James holte sich einen neuen Drink aus der Mauernische. Bevor er ihn an die Lippen setzte, sagte er: »Ich glaube, ich brauche ein paar neue Freunde.« Sobald sie gegangen waren, bedauerte er seine Flegelhaftigkeit. Doch irgendwie schien es keinen Grund mehr zu geben, sich human zu verhalte n. Er war kein Psychiater mehr, und sie waren nicht seine Patienten. Jedes kleine Trauma, das er vielleicht erzeugte, würden ihre Maschinen schnellstens beheben. Und selbst wenn er nicht in der Lage gewesen wäre, FREUNDE anzurufen und sich ein paar neue zu bestellen, hätte er besondere Anstrengungen unternommen, um die Neurosen seiner Freunde zu negieren. Nur ein paar waren vorbei gekommen, seit die Maschinen angefangen hatten, sich um das Glück, die Gesundheit und die Weiterexistenz der menschlichen Rasse zu kümmern, doch er konnte sich kaum noch an das Leben vor ihnen erinnern. Im staubigen Spiegel seiner ungenutzten Erinnerungen waren nur noch wenige helle Flecke. Er erinnerte sich an seine Tätigkeit als Psychiater während der Thera peutischen Umwelttests. Er erinnerte sich an eine Auseinandersetzung mit Brody. »Sicher, sie arbeiten an ein paar Testfällen. Aber bisher haben diese Geräte nichts getan, was nicht auch ein qualifizierter Psychiater tun könnte«, sagte James. »Einverstanden«, sagte sein Vorgesetzter. »Aber sie haben auch noch keine Fehler gemacht. Die Leute sind geheilt, Doktor. Und noch mehr - sie sind glücklich!« Auf Brodys plumpem Gesicht stand der nackte Neid geschrieben. James wußte, daß sein Vorgesetzter wieder einmal Ärger mit seiner Frau hatte. »Aber, Doktor«, setzte James an, »man bringt diesen 65
Leuten doch nicht bei, wie sie mit der Umwelt fertig werden. Man bringt der Umwelt bei, wie man mit diesen Leuten fertig wird. Das ist keine Medizin, sondern das Kurieren von Symptomen! - Wenn jemand depressiv ist, bekommt er eine Ritalin-Dosis, man läßt ihn nette Musik hören, und irgendein Freund platzt uner wartet bei ihm herein. Wenn er manisch oder gewalttätig ist, kriegt er Thorazin, süße Musik, melancholische Geschichten per Fernseher, und vielleicht ein kühles Bad. Wenn er sich langweilt, kriegt er Aufregung; ist er frustriert, kriegt er eine Chance, ist er ...« Brody unterbrach ihn. »Na schön«, sagte er, »dann will ich Ihnen die Vierundsechzig -Dollar-Frage stellen: Wissen Sie etwas Besseres?« Niemand wußte etwas Besseres. Der immer größer werdende, weitreichende Komplex der Therapeutischen Umwelt-Maschinen, brachte die Medizin pro Jahr um ein Jahrtausend voran. Die Regierung übernahm die Kontrolle, um sicherzustellen, daß jeder - auch derjenige mit den bescheidensten Mitteln - die Top-Speziali-sten des Landes, und die allerneuesten Daten und Techniken zur Verfügung hatte. Tatsächlich waren die Spezialisten im Haus jedes Patienten rund um die Uhr im Dienst. Sie hielten ihn am Leben, gesund, und angemessen glücklich. Auch wurde ihr Handlungsspielraum nicht einge schränkt. Die Maschinen hatten Außenstellen, die sich durch die Dschungel der Welt schlugen, Hexendoktoren ausspähten und von neuen Arzneien erfuhren. Drogen und diätetische Forschung wurde ihre Domäne, ebenso die wissenschaftlich kontrollierte Landwirtschaft und die Geburtenrate. 1985, als sich abzeichnete, daß sie alles besser betrieben, und nahezu jeder im Land Patient sein wollte, kapitulierte die US-Regierung. Andere Nationen taten es ihr gleich. 66
Jetzt arbeitete, soweit James wußte, niemand mehr. Man hatte nur noch die Pflicht, glücklich zu sein. Und glücklich war man. Das Glück war garantiert, von jedem Relais und Transistor der Klimaanlage bis hinauf zu denen im Hauptcomputer-Komplex in Washington, der MEDZENTRAL hieß - oder stand er jetzt in Den Haag? Seit die Menschen aufgehört hatten, einander umzubringen, hatte James keine Zeitung mehr gele sen, denn sie bestanden nur noch aus dem Wetterbe richt und Sportnachrichten. Im Grunde hatte er sie nicht mehr gelesen, seit die ersten Ärzte sich in Anzei- gen um Jobs beworben hatten. Es gab keine Jobs mehr. Nur noch Glücksjobs - von den Maschinen erfundene Arbeitstherapien. In solchen Jobs stieß man nie auf unlösbare oder schwierige Probleme. Man erledigte seine tägliche Quote, ohne Körper und Geist zu erschöpfen. Arbeit war keine Arbeit mehr, sondern Therapie, und als solches konstant belohnend. Glück, Normalität. James sah die Persönlichkeiten aller Menschen vorbeidefilieren. Sie waren so unterschiedlich wie Schneeflocken, die endlich in ein ge meinsames, formloses Grab fielen. »Ich bin betrunken, mehr nicht«, sagte er laut. »Alkohol ist ein Depressivum. Ich brauche noch einen Drink.« Er wankte leicht, als er den Raum bis zur Nische durchquerte. Der Fußboden schien es bemerkt zu haben, denn statt ihm einen Martini zu servieren, entnahm der Bestellknopf ihm eine Blutprobe. Eine Sekunde später hatte die Wand sein Blut analysiert und präsentierte ihm ein Glas mit einer Flüssigkeit. Ein heller Schriftzug sagte: »Trinken Sie dies sofort! Stellen Sie das Glas wieder in die Spüle!« Er kippte die schmackhafte Flüssigkeit hinunter und fühlte sich gleich schläfrig und warm. Irgendwie fand er den Weg ins Schlafzimmer, die Tür bewegte sich, um ihm zu helfen, und er fiel ins Bett. 67
Sobald James R. Fairchild, AAAAGTR-RHO1A, schlief, machten sich Mechanismen ans Werk, um sein Leben zu retten. Er schwebte zwar nicht in unmittelbarer Le bensgefahr, doch MED 8 meldete als Resultat seiner übermäßigen Völlerei eine ungefähre Lebenszeitverkürzung um 0,00005 Jahre, und MED 19 bewertete sein auf Magnetband aufgezeichnetes Verhalten und erhöhte seinen Suizid-Index um gefährliche 15 Punkte. Eine diagnostische Einheit löste sich von der Badezimmerwand, schwankte ins Schlafzimmer und hielt still und steif neben ihm. Sie entnahm ihm eine weitere Blutprobe, prüfte Puls, Temperatur, Atmung, Herz und Ge hirnwellenmuster und röntgte seinen Magen. Da sie nicht instruiert war, seine körperlichen Reflexe zu überprüfen, packte sie sich wieder zusammen und zischte davon. Im Wohnzimmer summte ein Haushälter bei der Ar beit. Er zerstörte die orangenfarbenen Kissen, die Skulptur, die Couch und den Teppich. Die Wände nahmen einen kaum wahrnehmbaren wärmeren Farbton an. Der neue Teppich paßte dazu. Das Mobiliar - ohne das Wissen des Schlafenden ausgewählt und geliefert - war im Queen Anne-Stil und genug, um den Raum zu füllen. Die Polyäthylen-Verpackung wurde erst nach der Desinfektion des Raumes beseitigt. In der Küche bestellte und erhielt PHARMO 9 eine neue Ladung Anti-Depressionsmittel. Lloyd Young wurde stets vom Geräusch eines Traktors geweckt, doch obwohl er wußte, daß es künstlich er zeugt wurde, erfreute es ihn doch. Es machte den Anfang des Tages irgendwie vollkommener. Er blieb liegen und lauschte ihm eine Weile, bevor er die Augen öffnete. Teufel noch mal, echte Traktoren erzeugten überhaupt keine Geräusche. Sie arbeiteten während der 68
Nacht, wühlten herum und pflügten ein Feld, für das ein Mensch zwölf Stunden brauchen würde, in einer. Die Maschinen pumpten seltsame neue Chemikalien in den Ackerboden und hielten ihn warm, damit man im kurzen Minnesota-Sommer zweimal Getreide ernten konnte. Es hatte zwar nicht viel Sinn, Farmer zu sein, aber er hatte schon immer einen Bauernhof haben wollen, und die Maschinen gaben einem, was man wollte. Lloyd war beinahe der einzige Mensch, der in dieser Gegend noch auf dem Lande lebte. Hier gab's nur ihn, zwölf Kühe, und Joe, seinen halbblinden Hund. Es gab nicht viel zu tun, da sie alles besorgten. Er konnte hinausgehen und zusehen, wie die Kühe gemolken wurden, er konnte zusammen mit Joe zum Briefkasten gehen oder sich das Fernsehprogramm anschauen. Doch es war still und friedlich hier, und das gefiel ihm. Abgesehen von ihnen und ihrer verdammten Art. Sie hatten Joe einen Satz maschineller Augen verpassen wollen, doch Lloyd hatte nein gesagt. Wenn der Herr gewollt hätte, daß Joe sehen konnte, hätte er ihn nicht erblinden lassen. Das gleiche hatte er ihnen auch zu der geplanten Herzoperation gesagt. Es sah fast so aus, als wären sie mit all dem, was sie jetzt schon taten, immer noch nicht ausgelastet. Sie waren immer so verdammt besorgt um ihn - ausgerechnet um ihn, der immer verdammt gut auf sich selbst hatte aufpassen können. Er hatte am M.I.T. studiert und konnte auf eine zwanzigjährige Tätigkeit als Ingenieur zurückblicken. Als man sie hatte vom Band laufen lassen, hatte er seinen Job verloren, aber er nahm es ihnen nicht übel. Wenn Maschinen bessere Ingenieure waren, nun dann ...! Er öffnete die Augen und stellte fest, daß er zu spät zum Melken kommen würde, wenn er sich jetzt nicht auf die Socken machte. Ohne weiter nachzudenken holte er den babyblauen Overall mit dem rosafarbenen 69
Biesen von der Garderobe, drückte sich einen blauen Strohhut an den Kopf und trottete in die Küche hinaus. Sein Melkeimer stand an der Tür. Heute war es ein silberner - gestern war es ein goldener gewesen. Er war der Meinung, daß der silberne ihm lieber war, er ließ die Milch kühl und weiß aussehen. Die Küchentür wollte sich nicht vom Fleck bewegen, und so wurde Lloyd klar, daß er die Schuhe anziehen mußte. Verdammt noch mal, er wäre so gern barfuß gegangen. Verdammt, er wäre es wirklich! Er hätte seine Kühe ja am liebsten selbst gemolken, aber sie hatten ihm erklärt, wie gefährlich es war. Tja, man konnte einen Tritt vor den Kopf kriegen, ehe man sich umsah! Die Maschinen hatten ihm jedoch zögernd gestattet, jeden Morgen eine betäubte und mit allen vier Beinen an einen Stahlrahmen gefesselte Kuh zu melken. Lloyd schlüpfte in seine bequemen blauen Haferlschuhe und nahm den Eimer wieder in die Hand. Diesmal öffnete sich die Küchentür problemlos. Und als sie es tat, krähte in der Ferne ein Hahn. Tja, vor Lloyds Gesicht hatten sich schon eine Menge Türen geschlossen. Genug, um einen verbitterten Menschen aus ihm zu machen, doch ihnen gegenüber verspürte er keine bitteren Gefühle. Er wußte, daß man ihnen vertrauen konnte, auch wenn sie Schuld daran waren, daß er 1970 seinen Job verloren hatte. Zehn Jahre lang hatte er herumgelungert und versucht, Arbeit in einer Fabrik zu kriegen, alles mögliche. Er war am Ende seines Weges gewesen, als sie ihn gerettet hatten. Als er den Stall betrat, war Betsy, seine Lieblingsjer seykuh, bereits besinnungslos und gefesselt. Die Musik spielte eine schmissige, unbeschwerte Melodie, perfekt zum Melken. Nein, es waren nicht die Maschinen, die einen auf gemeine Weise herumschubsten, das war ihm klar. Es waren die Menschen. Die Menschen und die Tiere. Le70
bewesen versuchten stets, einen vor den Kopf zu treten. So sehr er Joe und Betsy auch mochte - und er mochte sie mehr als Menschen -, richtig vertrauen tat er ihnen nicht. Doch den Maschinen konnte man vertrauen. Sie kümmerten sich um einen. Das einzig Ärgerliche an ihnen war - nun, sie wußten so viel. Sie waren immer so verdammt fleißig und beschäftigt, daß man sich beinahe nutzlos vorkam. Es war fast so, als stünde man ihnen ständig im Weg. Insgesamt waren es erfreuliche zehn Minuten, und als er in die kühle Milchkammer trat, um den Eimer in einen Trichter zu leeren, der Gott weiß wohin führte, verspürte Lloyd einen seltsamen Impuls. Er wollte die warme Milch probieren, obwohl er versprochen hatte, dergleichen nicht zu tun. Sie hatten ihn vor Krankheit gewarnt, aber heute morgen fühlte er sich einfach zu gut, um sich ihretwegen Sorgen zu machen. Er hob den silbernen Eimer an die Lippen ... Ein Blitzschlag fegte ihn beiseite und warf ihn zu Boden. Zumindest fühlte es sich wie ein Blitzschlag an. Lloyd wollte aufstehen, doch er stellte fest, daß er sich nicht bewegen konnte. Von der Decke her sprühte grüner Nebel auf ihn herab. Was, zum Teufel, hat das nun wieder zu bedeuten? fragte er sich und sank inmitten der vergossenen Milch in tiefen Schlaf. Die erste MED-Einheit meldete keine äußerlichen Verletzungen. Lloyd C. Young, AAAAMTL-RHO1AB, ruhte sanft, mit erhöhtem Puls und normaler Atmung. MED 8 desinfizierte gründlich die Umgebung und vernichtete alle Spuren der verschütteten, unabgekochten Milch. Während MED 19 Lloyds Magen auspumpte und ihm Nase, Kehle, Speise- und Luftröhre reinigte, schnitt MED 8 ihm die Kleidung vom Leib und vernichtete sie. Eine Notfall-Heizungseinheit wärmte ihn, bis frische Kleider zugeschnitten waren. Trotz des gepolsterten 71
Bodens hatte sich der Patient beim Fallen einen Zeh gebrochen. Es wurde entschieden, ihn nicht zu bewegen, sondern an Ort und Stelle ein Bett auf Schienen zu errichten. MED 19 empfahl therapeutische Bestrafung. Als Lloyd erwachte, schaltete sich der Fernseher ein und zeigte ihm einen liebenswürdig aussehenden Mann mit weißem Haar. »Herzliches Beileid«, sagte der Mann. »Sie haben gerade das überlebt, was wir einen >Nummer -l-Killer-Un-fall< nennen - einen bösen Sturz im eigenen Heim. Unsere Maschinen waren zum Teil daran schuld, weil sie damit beschäftigt waren, Ihr Leben vor einer ...« - der Mann hielt inne, während hinter ihm eine Schrift mit den Worten »BAKTERIELLE VERGIFTUNG« aufflammte - »... zu bewahren. Da wir keine andere Möglichkeit hatten, war Ihre Verletzung also unabwendbar. - Nur Sie hätten sie vermeiden können. Nur Sie können in letzter Instanz Ihr Leben retten.« Der Marin deutete auf Lloyd. »Nur Sie können die gesamte moderne Wissenschaft lohnend machen. Und nur Sie können dazu beitragen, unsere schockierend hohe Sterbequote zu verringern. Sie werden doch mitarbeiten, nicht wahr? Vie len Dank.« Der Bildschirm wurde dunkel. Der Apparat spuckte eine Broschüre aus. Es handelte sich um eine komplette Zusammenfassung seiner Unfallgeschichte und eine Warnung vor unpasteurisierter Milch. Er würde eine Woche im Bett bleiben müssen, hieß es, und man riet ihm dringend, Gebrauch von Telefon und FREUNDE zu machen. Professor David Wattleigh saß im lauwarmen Wasser seines Swimmingpools in Südkalifornien und wäre gern eine Runde geschwommen. Doch Schwimmen war verboten. Die Maschinen, nahm er an, hatten ir gendeine Möglichkeit, zu erkennen, was er tat, denn jedesmal, wenn er sich tiefer als bis zur Brust ins Wasser 72
hineinbegab, klickte der Motor des Sauerstoffgeräts eine Warnung vom Beckenrand. Es klang wie das Knurren eines Schäferhundes. Oder vielleicht auch, dachte er, wie das eines Himmelhundes, eines Anti-Mephistophe-les, der gekommen war, ihn zu versuchen. Wattleigh saß einen Moment ganz still, dann hievte er zögernd seinen plumpen, rosafarbenen Körper aus dem Wasser. Ah, es war nicht mehr als ein Bad. Als er zum Haus hinüberging, warf er einen verächtlichen und renitenten Blick auf die dahockende Maschine. Ihm schien, als sei alles, was er gern getan hätte, verboten. Seit man Wattleigh gezwungen hatte, die Englische Literatur des 19. Jahrhunderts aufzugeben, hatten die Zwänge der Mechanica den Druck auf ihn verstärkt und ihn von allen alten Lastern - außer einem - abgeschnitten. Seine Pfeife und sein Portwein waren weg, und seine üppigen Mahlzeiten und morgendliche Runden im Pool waren abgeschafft. In seiner Bibliothek befand sich nun eine Art Verkaufsautomat, der ihm pro Tag zwei Seiten gründlich von mutmaßlich anstößigen Stellen gereinigten Dickens »verkaufte«. Es waren zwar lustige, bunte und witzige Passagen, in großer Schulbuchschrift gesetzt, doch sie deprimierten ihn bis auf die Knochen. Dennoch hatte er noch nicht ganz aufgegeben: Er artikulierte seinen Abscheu vor den Maschinen in jedem Brief an Delphinia, eine imaginäre Dame, die er kannte, und er stritt sich ständig mit dem Eßzimmer wegen des Essens. Wenn das Eßzimmer ihm tatsächlich Mahlzeiten vorenthielt, gab es sein Bestes, ihm den Appetit zu nehmen. Hin und wieder hatte es sich gallig gelb gestrichen, laute, kratzige Musik gespielt und Bilder dicker nackter Menschen auf die Wände projiziert. Jeden Tag spielte es ihm einen neuen Streich, und jeden Tag legte Wattleigh es trotzdem herein. Jetzt gürtete er seinen Talar und betrat kampfbereit 73
das Eßzimmer. Heute, sah er, war der Raum mit grünem Samt gepolstert und wurde von einem goldenen Kandelaber beleuchtet. Der Eßtisch war aus schwerem, massivem, unbearbeitetem Eichenholz. Nicht der kleinste Nahrungspartikel war auf ihm zu finden. Statt dessen saß da eine blonde, anmutige Frau. »Hallo«, sagte sie und sprang vom Tisch. »Sind Sie Professor David Wattleigh? Ich bin Heien Hershee aus New York. Ich habe Ihren Namen von FREUNDE erhalten, und da bin ich einfach mal vorbeigekommen.« »Ich ... Wie geht's?« stammelte er. Statt einer Antwort stieg sie aus dem Kleid. MED 19 billigte das Folgende als eine geeignete Maßnahme, die zur Schwächung der schädlichen Selbsttäuschung »Delphinia« beitrug. MED 8 projektierte eine zwölfmonatige Behandlung und registrierte, daß der damit verbundene Gewichtsverlust das Leben des Patienten Wattleigh um zwölf Jahre verlängern konnte. Nachdem Helena schlafen gegangen war, spielte der Professor eine Partie mit dem Idealen Scha chspieler. Wattleigh hatte einst einem Schachclub angehört. Er wollte nicht, daß er den Kontakt mit diesem Spiel völlig verlor. Man rostete sonst ein. Er war erstaunt darüber, wie oft der Ideale Schachspieler sich tatsächlich selbst bemogeln mußte, um ihn gewinnen zu lassen. Aber er gewann, und zwar eine Partie nach der anderen, und jedes Mal neigte der Ideale Schachspieler den Kopf von der einen Seite zur anderen und kicherte: »Tja, Wattleigh, diesmal haben Sie mich wirklich dran-gekriegt. Spielen wir noch eins?« »Nein«, sagte Wattleigh, dem es schließlich zum Halse heraushing. Gehorsam faltete die Maschine das Brett zusammen und trollte sich. Wattleigh setzte sich an den Schreibtisch und begann einen Brief an Delphinia. 74
»Delphinia, mein Liebling«, kritzelte er mit der alten Stahlfeder auf das teure Papier, »als ich heute in Brighton badete, kam mir ein Gedanke. Ich habe Dir oft er zählt, wie sehr ich mich über das Betragen meines Be diensteten M beschweren muß. Sie - ich kann ihn leider nicht >ihn< nennen - ist äußerst ungehalten darüber; daß ich Dir schreibe, und das geht so weit, daß sie sogar meine Feder abstumpft und mein Papier versteckt. Ich habe sie wegen ihres ungebührlichen Betragens nicht entlassen, weil ich an sie gekettet bin - ja, an sie gekettet, aufgrund einer seltsamen und schrecklichen Bestim mung, die mich manchmal daran zweifeln läßt, wer ei gentlich Herr und wer Knecht ist. Es erinnert mich an einige alte Komödien, in denen Herr und Knecht die Rollen tauschen (und Herrin und Zofe ebenfalls), und sich dann begegnen. Ich meine natürlich, in den Wer ken von ...« An dieser Stelle endete der Brief, weil dem Professor kein Name einfiel, der dorthin paßte. Nachdem er »Dikkens, Dryden, Dostojewski, Racine, Rousseau, Camus« und ein Dutzend weitere niedergeschrieben und wieder durchgestrichen hatte, trocknete sein Füller aus. Er wußte, daß es sinnlos war, nach neuer Tinte zu verlangen, weil die Maschine absolut gegen diesen Brief eingestellt war ... Er blickte aus dem Fenster und sah einen hellrosa und gelbgestreiften Krankenwagen. Aha, der Arzt von nebenan war also ins Zombie-Land unterwegs, wie? Oder, um es korrekt auszudrücken, ins Asozialen-Hospital. Im Osten nannte man sie Muskelmänner; hier hießen sie Zombies; aber es kam alles auf das gleiche raus: auf die lebenden Toten, die weder schmucke Häuser noch Spiele oder Tinte brauchten. Sie brauchten nur intrave nöse Ernährung, und davon nicht viel. Die Vorhänge zogen sich selbst zu, Wattleigh wußte, daß der Arzt hin ausgetragen wurde. Er führte seinen unterbrochenen Gedanken zu Ende. 75
... und ebenso war auch er durch und durch unzu frieden mit seinem Brief. Er hatte Helena, den Imbiß, das Sauerstoffgerät, das ihn angeknurrt hatte, und vie les andere gar nicht erwähnt. Er hätte Bände füllen können, wenn er Tinte gehabt hätte. Doch sobald er sich zum Schreiben hinsetzte, versagte seine Erinnerung. Wenn er doch nur ... James stützte den Ellbogen auf den Marmorkamin von Maryas Wohnung, musterte die anderen Gäste und stufte sie ein. Da war ein Farmer aus Minnesota, ein entsetzlicher Langweiler, der behauptete, einst Ingenieur gewesen zu sein, doch kaum wußte, was ein Re chenschieber war. Da war Marya in der Gesellschaft eines muskulösen jungen Mannes, der James schon auf den ersten Blick mißfiel: ein Ex-Mathematiker namens Dewes oder Clewes. Marya wollte gerade mit einem fettleibigen Kalifornier Schach spielen, dessen Freundin, eine hübsche kleine Blondine namens Helena Hershee, dabeistand, um zu kiebitzen. »Ich bin sozusagen ein Meister«, erklärte Wattleigh und stellte die Figuren auf. »Vielleicht sollte ich dir deswegen ein paar Züge vorgeben.« »Wenn du möchtest«, sagte Marya. »Ich habe seit Jahren nicht mehr gespielt. Ich erinnere mich gerade noch ans Schäfermatt.« James begab sich an Helenes Seite und schaute dem Spiel zu. »Ich bin James Fairchild«, sagte er und fügte beinahe keck hinzu: »Doktor der Medizin.« Helenas knallrote Lippen teilten sich. »Ich habe von Ihnen gehört«, murmelte sie. »Sie sind der aggressive Dr. Fairchild, der so wahnsinnig viele FREUNDE verbraucht, stimmt's?« Maryas Blick erhob sich vom Spiel. Ihre Augen wirkten pupillenlos, und James nahm an, daß sie voll mit Ri-talin war. 76
»James ist nicht im geringsten aggressiv«, sagte Marya. »Aber er dreht durch, wenn man es ihm nicht erlaubt, einen zu psychoanalysieren.« »Stört das Spiel nicht«, sagte Wattleigh. Er legte in konzentrierter Haltung beide Ellbogen auf den Tisch. Helena hatte Maryas Bemerkung nicht gehört. Sie hatte sich umgedreht, um zu beobachten, wie der muskulöse Mathematiker Lloyd in die Mysterien der Mathematik einführte. »Teufel, ja. Die Maschinen müssen sämtliche Geburten und das Aufziehen der Kinder übernehmen. Täten sie es nicht, hätten wir nämlich bald eine Bevölkerungsexplosion. Ich meine, die Nahrung würde knapp werden ...« »Du suchst dir wirklich nur die verrücktesten Freunde aus, Marya«, sagte James. Er deutete auf den jungen Mann. »Was ist eigentlich aus diesem >Autor< geworden? Porter hieß er doch, oder? Herrgott, ich höre immer noch, wie er >existiere, Mensch!< sagt«, prustete James. Maryas Kopf hob sich erneut, und Tränen standen in ihren pupillenlosen Augen. »Port ist im Hospital. Er ist zu einem Muselmann geworden«, sagte sie mit glänzendem Blick. »Ich wünschte, ich könnte etwas für ihn empfinden, aber sie lassen mich nicht.« »... so wie Malthus' Gesetz - oder war es von irgendeinem anderen? Tiere wachsen nun mal schneller als Nutzpflanzen«, fuhr der Mathematiker in seinem Gespräch mit dem Farmer fort. »Schachmatt«, sagte Marya und stand auf. »James, hast du eine Zuckerzigarette? Oder eine aus Schokolade?« Er zeigte ihr eine helle Orangenzigarre. »Nur Bitterorange, fürchte ich. Frag doch mal deine Maschine.« »Ich habe Angst, sie heute um irgendwas zu bitten«, sagte Marya. »Sie setzt mich fortwährend unter Drogen. James - Porter wurde vor einem Monat abgeholt, und seither bin ich nicht fähig gewesen, etwas zu malen. 77
Glaubst du, ich bin verrückt? Die Maschine tut jedenfalls so.« »Die Maschine«, sagte er und biß das Ende der Zigarre mit den Zähnen ab, »hat immer recht.« Als er sah, daß Helena fortgegangen war, um sich auf Maryas Seidensofa zu legen, entschuldigte er sich mit einem Nicken und folgte ihr. Wattleigh saß immer noch da und brütete über dem Schäfermatt. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Das verstehe ich einfach nicht.« »... wie mit dem Hasen und der Schildkröte«, dröhnte der Mathematiker. Lloyd nickte feierlich. »Der Langsamere holt nämlich einfach nicht auf.« Lloyd sagte: »Nun, das ist auch ein Argument. Eins zu null für Sie. Ich habe immer angenommen, der Langsamere hätte gewonnen.« »Ach.« Dewes (oder Clewes) versank in nachdenkliches Schweigen. Marya wanderte im Zimmer umher und berührte die Gesichter der Anwesenden, als sei sie blind und suche jemanden, den sie kenne. »Das verstehe ich wirklich nicht!« sagte Wattleigh. »Ich schon«, murmelte James über die Zigarre hinweg. Der bittersüße Rauch in seinem Mund war so dick wie eine Flüssigkeit. Er verstand, was hier los war. Er sah sie sich der Reihe nach an: den Ex -Mathematiker, der Schwierigkeiten mit dem Unterscheiden von Arithmetik und Geometrie hatte; den Ex -Ingenieur, dito; die Malerin, der man weder das Malen noch die Emp findungsfähigkeit gestattete; den ehemaligen Schach»Meister«, der nicht spielen konnte. Und das ließ nur noch Helena Hershee übrig, die Geliebte des armen, dummen Wattleigh. »Vor den Maschinen ...?« setzte er an. »... war ich Richterin«, sagte sie und ließ die Finger spitzen provokativ über seinen Hals gleiten. »Und du? Was für'n Arzt warst du?« 78
Anno Domini 1988 »Während des Zweiten Weltkriegs«, sagte Jim Fairchild. Er lag auf dem langen, mit Tigerstreifen gemusterten Seidensofa und hatte eine Ausgabe der Hot Rod Komiks über die Augen ausgebreitet. »Ich dachte, es hätte erst in den sechzig er Jahren angefangen«, sagte Marya. »Yeah, aber das Wort Muselmann - nicht zu verwechseln mit Muselmane - tauchte erstmals in den Vernichtungslagern der Nazis auf. Es gab in diesen Lagern nämlich ein paar Leute, die einfach nicht mehr mitkamen. Sie aßen nicht mehr, sahen nichts mehr und hörten nichts mehr. Man nannte sie >Muselmänner<, weil sie wie Muselmanen wirkten, so mystisch . . . « Sein Organ verstummte, als er an den Zweiten Welt krieg dachte. An die gute alte Zeit, als der Mensch sich noch seine eigenen Gesetze gemacht hatte. Als die Maschinen noch keinem erzählt hatten, was er zu tun und zu lassen hatte. Er lebte nun seit mehreren Monaten mit Marya zu sammen. Sie war seine Freundin, so, wie die Marya in den Hot Rod Komiks die Freundin eines anderen Jim war die von Jim (»Die Hölle auf Rädern«) White. Das war komisch an den Komiks. Sie waren das wirkliche Leben, doch sie waren gleichzeitig besser als das Leben. Marya - seine Marya - war keine Intellektuelle. Sie las und dachte nicht gern (so wie er ), aber das war okay, weil Männer dazu bestimmt waren, das Lesen, Denken, Kämpfen und Töten in die Hand zu nehmen. Marya saß in einem lavendelfarbenen Schalensitz in der Ecke und malte mit Buntstiften. Jim hob seinen schlaksigen, hageren Leib vom Sofa, stellte sich hinter sie und schaute sich die Skizze an. »Ihre Nase ist schief«, sagte er. »Macht doch nichts, Dummerchen. Es ist doch eine Modeskizze. Da zählt nur das Kleid.« 79
»Tja, und wie kommt's, daß sie gelbes Haar hat? Es gibt doch gar keine Menschen mit gelbem Haar.« »Doch Helena Hershee.« »Sie hat doch gar keine gelben Haare.« »Hat sie nicht?« »Nein, hat sie nich. - Es is nich gelb.« Dann hielten sie inne - Muzik spielte gerade ihren Lieblingsschlager. Zwar hatte jeder seinen eigenen - der von Jim hieß »Blap«, und der Maryas »Ja, ich bin würk-lich affengeil auf dir« - doch sie hatten auch einen ge meinsamen. Er hieß »Die Verbrauchstragödie«, und gehörte zu denen, wobei Muzik ihre Stimmen nachmachte und zweistimmig sang: Jim Fairchild war ein toller Hecht Marya war sein Mädchen. Sie liebten sich mit Fug und Recht In einem kleinen Städtchen. Jims Auto war 'ne wahre Pracht, Marya wollt's verstehen. Nur konnte sie's bei Tag und Nacht, blind wie sie war, nicht sehen. Das Lied erzählte weiter, daß Jim sich nichts sehnlicher wünschte als das Geld für eine Augenoperation seiner Freundin, damit sie seinen tollen Wagen bewun dern konnte. Also fuhr er zu einem Laden und raubte ihn aus. Doch jemand hatte seinen Wagen erkannt, und Jim wurde von der Polizei erschossen. Er umarmt Marya ein letztes Mal, da trifft auch sie die tödliche Kugel, und sterbend versichert sie ihm, daß sie plötzlich seine wunderschöne Karre sehen kann. Worauf Jim gerührt die Augen schließt. Die wirkliche Marya konnte natürlich sehr gut sehen, auch hatte Jim nie einen Wagen, und Polizisten gab es gar keine. Aber für sie war es dennoch zutreffend. In einem gewissen Sinn, den sie nicht ausdrücken konn80
ten, hatten sie das Gefühl, daß ihre Liebe eine Tragödie war. Da Marya wußte, daß auch ihr Jim sich einsam und traurig fühlte, ging sie zu ihm hinüber und küßte ihn aufs Ohr. Sie legte sich neben ihn, und sofort schliefen sie ein. MEDZENTRALs Bilanz zeigte eine in NORDAMER stabilisierte Bevölkerung von 250 Millionen. Es hatte ein paar Inkubator-Versager und einen Bottich versehentlich infizierter Embryos gegeben, doch sonst verlief die Entwicklung wie vorausberechnet. Geburts- und Todesquoten waren identisch. Die Norm hatte sich erneut zugunsten der Asozialen verschoben, und die Uterus Kontrolle meldete, daß 90,2 Prozent der Erwachsenen in den beiden großen Kliniken untergebracht waren. Eindeutige Anomalitäten wurden in ein kindliches Stadium zurückversetzt, da es keine absolut befriedigende Methode gab, sie ohne Schocktherapie und unerwünschte Nebenwirkungen zu normalisieren. Lloyd zog die Taschenuhr aus dem Lätzchen seines karierten Overalls. Die Micky-Maus-Zeiger standen beide aufrecht, was bedeutete, daß er gerade noch Zeit hatte, die Post zu holen, bevor Die Bauernburschen im Fernsehen liefen. Einem Impuls folgend schob er die Uhr in den Mund und zerkaute sie. Sie schmeckte zwar herr lich, doch er empfand nur wenig Vergnügen dabei. Alles war zu leicht, zu nachgiebig. Er wollte, daß aufregende Dinge passierten, wie in den Bauernburschen, wo der Schwarze Angus versucht hatte, den Helden Lloyd White umzubringen, indem er seine Maschine kaputtgemacht hatte. Lloyd White hatte ihn mit einer Mistgabel gepiekt und ins Krankenhaus gebracht. Der mechanische Joe, der wußte, daß es Zeit war, die Post zu holen, kam aus dem Haus gelaufen. Er wedelte mit dem Schwanz und winselte ungeduldig. Man merkt 81
gar nicht, daß er kein echter Hund ist, dachte Lloyd, als sie zum Briefkasten hinunterschlenderten. Joe hatte es immer noch gern, wenn man ihn hinter den Ohren kraulte. Man konnte es schon am Blick seiner Augen erkennen. Er war lebhafter und viel spaßiger als der alte Joe. Lloyd hielt einen Moment lang inne. Ihm fiel ein, wie traurig er beim Tod des alten Joe gewesen war. Es war ein erfreulich melancholischer Gedanke, doch nun tanzte der mechanische Joe um ihn herum und bellte aufgeregt. Sie gingen weiter. Der Briefkasten war voller Post. Da war auch ein neuer Komik mit dem Titel Lloyd Farmer und Joe, und eine große Schachtel mit neuem Spielzeug. Doch später, als Lloyd den Komik gelesen, die Bauernburschen gesehen und ein wenig mit seinem Baukasten gespielt hatte, fühlte er sich immer noch irgendwie bedrückt und deprimiert. Es ist nicht gut, immer allein zu sein, dachte er. Vielleicht sollte ich nach New York fahren und Jim und Marya besuchen. Vielleicht waren die dortigen Maschinen anders, nicht so vorgesetztenhaft. Zum ersten Mal kam ihm ein anderer, ungewöhnlicher Gedanke. Vielleicht sollte er sogar in New York wohnen. »LIEBE DELPHINIA«, schrieb Dave in Druckbuchstaben, »DIES WIRD MEIN LETZTER BRIEF AN DICH SEIN, DENN ICH LIEBE DICH NICHT MEHR. ICH WEISS JETZT, WARUM ICH MICH SO SCHLECHT GEFÜHLT HABE - DU BIST SCHULD. DU BIST IN WIRKLICHKEIT MEINE MASCHINE, STIMMT'S? HA, HA, ICH WETTE, DU HAST NICHT GEGLAUBT, DASS ICH ES WEISS. ICH LIEBE HELENA JETZT MEHR ALS DICH UND WIR FAHREN ZUSAMMEN NACH NEW YORK UND BESUCHEN EINE MENGE FREUNDE UND GEHEN 82
AUF VIELE PARTIES UND HABEN EINE MENGE SPASS UND ES IST MIR WURSCHT OB ICH DICH WIEDERSEHE. ALLES LIEBE UND VIEL GLÜCK VON EINEM SCHLAUEN JUNGEN. „ ... Dave W.« Nachdem ein Erdbeben siebzehn Millionen Bewohner der Westklinik vernichtet hatte, ordnete MEDZENTRAL den Umzug des Rests in den Osten an. Alle Abnormalen, die nicht in der Nähe de r Ostklinik lebten, wurden aufgefordert, nach New York zu ziehen. Uberzeu gungsmaßnahmen waren folgende: Schrittweise wurden Feuchtigkeitsgehalt und Luftdruck auf 0.9-Unbehagen angehoben, während auf alle geraden Flächen im Gesichtskreis der Patienten Bilder von New York projiziert wurden. Dave und Helena waren mit der U-Bahn aus L.A. gekommen, und sie waren müde und schlecht gelaunt. Die U-Bahn-Fahrt hatte zwar nur zwei oder drei Stun den gedauert, doch sie hatten eine zusätzliche Stunde in dem Taxi verbracht, das sie zu Jim und Marya brachte. »Es ist ein elektrisches Taxi«, erklärte Dave. »Es fährt pro Stunde nur eine Meile. Diese Reise werde ich bestimmt nie wieder machen.« »Ich freue mich, daß ihr gekommen seid«, sagte Marya. »Wir haben uns schrecklich einsam und traurig gefühlt.« »Ja«, fügte Jim hinzu, »und mir ist eine Idee gekommen. Wir könnten nämlich einen Club gründen, gegen die Maschinen. Ich hab mir schon alles überlegt. Wir . . . « »Bäbi, erzähl doch mal von den Zombies - von den Muselmännern, meine ich«, sagte Helena. Dave sprach mit einem aufgeregten, wilden Blick. »Gott, ja, sie hatten fast eine Million Wagen von ihnen 83
an den Zug angehängt, und sie waren alle in Glasfla schen verpackt. Zuerst wußte ich nicht genau, was, zum Teufel, sie überhaupt waren, also ging ich hin und schaute mir eine an. Da lag ein dürrer, haarloser Mann ganz krumm in einer Flasche, die in einer anderen Fla sche steckte. Das sah vielleicht irre aus.« Zu Ehren ihres Besuches spielte Muzik die Lieblingsschlager von allen vieren: »Zonk«, »Ja, ich bin würklich affengeil auf dir«, »Blap« und »Das ist mein Bäbi«, während die Wände für einen Moment durchsichtig wurden und den atemberaubenden Anblick der goldenen Türme New Yorks zeigten. Lloyd, der mit niemandem sprach, saß in der Ecke und lauschte. Er hatte kein Lieblingslied. »Ich werde ihn Jim Fairchild-Club nennen«, sagte Jim. »Das Ziel des Clubs ist es, uns die Maschinen vom Hals zu schaffen. Schmeißt sie raus!« Marya und Dave setzten sich zu einer Schachpartie hin. »Ich weiß auch, wie wir es machen können«, fuhr Jim fort. »Hier ist mein Plan: Wer hat die Maschinen eingesetzt? Die US-Regierung. Es gibt aber keine US-Regierung mehr. Also sind die Maschinen illegal. Klar?« »Richtig«, sagte Heien. Lloyd stampfte weiterhin mit dem Fuß auf, obwohl Muzik gar nicht mehr spielte. »Sie sind Gesetzlose«, sagte Jim. »Wir sollten sie umlegen!« »Aber wie?« fragte Helena. »Ich habe noch nicht alle Einzelheiten ausgearbeitet. Ich brauche Zeit. Weil die Maschinen uns nämlich falsch behandeln.« »Wieso das?« fragte Lloyd wie aus weiter Ferne. »Wir hatten alle mal gute Jobs und schwer was auf dem Kasten. Es ist lange her. Jetzt werden wir nämlich alle dumm.« »Das stimmt«, gab Helena ihm recht. Sie öffnete eine kleine Flasche und fing an, ihre Fußnägel zu lackieren. 84
»Ich glaube«, sagte Jim und blickte sich um, »daß die Maschinen Muselmänner aus uns machen wollen. Will einer von euch vielleicht in eine Flasche gesteckt werden? Häh?« »In eine Flasche in einer Flasche«, korrigierte ihn Dave, ohne von seinem Spiel aufzuschauen. Jim fuhr fort: »Ich glaube, die Maschinen pumpen uns mit Drogen voll, bis wir Muselmänner sind. Oder vielleicht haben sie auch einen Strahl, der uns verdummt. Vielleicht einen Röntgenstrahl.« »Wir müssen was tun«, sagte Helena, die ihren Fuß bewunderte. Marya und Dave stritten sich über die Züge ihrer Türme. Lloyd stampfte, den Takt begleitend, mit dem Fuß auf. Anno Domini 1989 Jimmy hatte eine gute Idee, aber niemand wollte ihm zuhören. Ihm war eingefallen, daß er als kleiner Junge eine Eiermaschine gesehen hatte. Sie hatte die Eier aus der Schale geholt und in Plastik ... dinger gesteckt. Es war so komisch gewesen, was die Maschine getan hatte. Jimmy hatte zwar keine Ahnung, was daran so komisch gewesen war, aber er lachte und lachte, wenn er nur daran dachte. Blöde, blöde, blöde Eier. Marya hatte eine Idee, eine wirklich gute. Bloß wußte sie nicht, wie sie sie erklären sollte; also nahm sie sich einen Buntstift und zeichnete ein wirklich GROSSES Maschinen-Bild: Mama-Maschine, Papa-Maschine und viele kleine Knirps-Maschinen. Loy-Loy brabbelte vor sich hin. Er baute ein Blockhaus. »Jetzt setz ich die Tür ein«, sagte er. »Jetzt setz ich das kleine Fenster ein. Und jetzt... Warum ist das Fenster kleiner als das Haus? Ich weiß nicht. Dies ist der Kamin, und das ist der First, und wenn man die Tür aufmacht, wo sind dann die Leute? Ich weiß nicht.« 85
Helena hatte einen Holzhammer und schlug Holzdübel ein. Fang! Fang! Fang! »Eins, zwei drei!« sagte sie. »Fang! Fang! Fang!« Davie hatte die Schachfiguren in zwei Reihen aufgestellt, immer zwei nebeneinander. Er wollte sie in Dreierreihen aufstellen, aber irgendwie konnte er es nicht. Das machte ihn wütend, und dann fing er an zu heulen. Dann kam eine Maschine und steckte ihm etwas in den Mund. Die anderen wollten auch was Süßes, und jemand kreischte, und mehr Maschinen kamen, und ... Die kodierte Nachricht lief bei MEDZENTRAL ein. Die letzten fünf Abnormalen waren geheilt worden. Sämtliche physischen und mentalen Funktionen waren jetzt auf die Norm reduziert. Ihre gesamten Daten wurden der UterusBereitstellung übermittelt, die sie um 16.00 Uhr MGZ am 1. Tag des Jahres 1989 registrierte. MED ZENTRAL bestätigte die Zeitkontrolle, dann schaltete es sich selbst ab.
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Ein Bericht über die Abwanderung der Bildungsgüter Als Edward Sankey aus seiner Limousine stieg, schaute er ungewollt nach oben. Der Himmel war eine glas blaue, wolkenlose Fläche. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr: eine gezackte Linie aus Pünktchen. Vögel? Er wollte sie nicht direkt ansehen, um es herauszufinden. Er schirmte sich mit der Krempe seines schwarzen Homburgers vor ihnen ab und betrat das Gerichtsgebäude. Preston, das andere Komiteemitglied, saß bereits an seinem Tisch und legte, wie bei einem Solitärspiel, Dokumentenstapel vor sich aus. Es schien sich dabei um die neuen Protokolle der Zeugenaussagen in Sachen Abwanderung zu handeln. Preston schien sie nach ir gendeinem verzwickten System zu ordnen, das er selbst erfunden hatte. »Sie sehen aus, als hätten Sie 'ne harte Nacht hinter sich, Ed«, murmelte er. »Hoffentlich schaffen Sie es noch, auch unseren letzten Zeugen für heute anzuhören. Ich glaube, wir können den Bericht bis Donners tagnachmittag wegpacken und uns ein langes Wochenende genehmigen.« »Ich ... Letzte Nacht ist etwas passiert, Harry.« Sankey ließ sich in einen Sessel fallen und öffnete mit be handschuhten Fingern den obersten Knopf seines Überziehers. »Ich ... Ich glaube, ich habe selbst etwas gesehen. Und nicht nur das. Ich ...« »Ich hab jetzt keine Zeit, mich damit abzugeben, alter Junge. Wir müssen dort draußen fünfzig Zeugen befragen und noch all diese Erklärungen lesen. Versuchen Sie, sich für einen Moment zusammenzureißen; Sie können mir dann alles beim Mittagessen erzählen.« Sankey nahm sich vor, den Rat seines Partners zu beherzigen. Doch während des gesamten Morgens, selbst 87
als er den Aussagen lauschte, stellte er fest, daß sein Geist mit den Ereignissen der vergangenen Nacht gefüllt war. Er saß in der Leseecke, einem wärmeren und gemütlicheren Raum als der Bibliothek. Gegen Mitternacht fand Sankey sich über einem lauwarmen Täßchen Schokolade eingeduselt vor einem Bericht wieder. Er war in abscheulichem Englisch von einem Polizisten namens H.L. Weems abgefaßt worden. »Wir erhielten einen Anruf von der Wachgesellschaft, die für die Waxman-Manuskriptsammlung zuständig ist. Man meldete ein zerschlagenes Fenster. Wir begaben uns unverzüglich an den Tatort. Wir trafen um 10.45 Uhr dort ein. Keine anderen Türen oder Fenster waren offen. Das zersplitterte Glas lag draußen, als hätte man das Fenster von innen zertrümmert. Wir fanden ein Buch, das im Gras lag. Anschließend stellten wir fest, daß kein anderes Buch fehlte. Das Buch war von den Glassplittern beschädigt worden. Es war ein Exemplar der Chronik von Nürnberg, ein seltenes Buch, das zu den ersten gehört, die gedruckt wurden.« Plötzlich hielt Edward den Atem an. Das Geräusch falls wirklich eins ertönt war - schien aus der Bibliothek zu kommen. Er nahm an, daß Marian nach einem Roman suchte, über dem sie einschlafen konnte. Die letzten Zeugen waren Regierungsexperten. Bates von der Wildlife Commission war ein kleiner, zur Kahlheit neigender Mann mit einem clownhaften Haarkranz über den Ohren und hohen giebelförmigen Brauen, die ihn so aussehen ließen, als sei er über alles, was sich seinem Blick bot, aufs äußerste erstaunt. »Wie diese Tabelle zeigt, zielt die Abwanderung nicht einfach nach Süden, sondern hält auf einen speziellen Punkt im brasilianischen Dschungel zu. Die Dichte der Abwanderer nimmt proportional zur Annäherung an 88
diesen Punkt zu. Wir haben die Luftwaffe gebeten, das Gebiet zu überfliegen und Bericht zu erstatten, aber es hat den Anschein, als kämen konventionelle Maschinen nicht bis dorthin durch. Die Luft ist buchstäblich mit... äh ... Abwanderern gefüllt.« »Was ist mit Aufklärungsflugzeugen?« fragte Preston, dessen Stimme vom Streß der Woche heiser war. »Sie haben das Gebiet zwar überflogen und gründlich fotografiert, doch die Fotos zeigen nichts von besonderer Bedeutung ...« Das Gebumse begann erneut. Sankey runzelte die Stirn und sah sich einen Bericht von zweifelhafter Wichtigkeit an: »Emma Thwart, Bibliothekarin (51), meldet einen unbekannten Angreifer, der von hinten ein dickes Wörterbuch auf sie warf. Die beiliegenden Fotografien zeigen Miß Thwarts Schulterprellungen. Falls . . . « Das Geräusch splitternden Glases erklang, und Sankey sprang auf. Fast automatisch ging er zum Wandschrank hinüber, bewaffnete sich mit einem Golfschlä ger und pirschte zur Bibliothekstür. Das Licht hinter sich schaltete er aus, und das der Bibliothek ein. Mit einer einzigen Bewegung trat er die Tür auf und duckte sich. Niemand war im Zimmer. Hoch oben in dem französischen Fenster hatte jemand eine Scheibe eingeschlagen, doch es schien noch immer verschlossen zu sein. Er bemerkte, daß an einem Ende des Regals vier oder fünf Jahrgänge mit alten Vierteljahreszeitschriften und die ersten Bände von Dial und Transition fehlten. Es würde teuer werden, sie zu ersetzen, dachte er, während er sich umsah. Irgend etwas traf ihn von hinten hart am Kopf. Er stürzte zu Boden, und dabei erinnerte er sich ohne besonderen Grund an die Fotos von Miß Thwarts Prellungen ... 89
Mr Tone von der Kongreßbibliothek ergriff das Wort »Wir scheinen eine Wechselbeziehung zwischen den Abwanderern und der Buchausleihquote zu haben -eine negative Wechselbeziehung, sollte ich vielleicht hinzufugen«, sagte er mit wichtigtuerischer Stimme »Wir haben nämlich festgestellt, daß jene Sammlungen, die die seltensten Bucher enthalten, am schwersten betroffen sind Es ist keine Überraschung, zu erfahren, daß die Restauflagen-Regale der Buchhandlungen leergefegt sind « Er verteilte vervielfältigte Bogen mit Statistiken »Aber ist es nicht eine Tatsache, Mr Tone, daß die Quote der Abwanderungen tatsächlich zugenommen hat7 Und wurde dies nicht implizieren, daß mehr Bucher aller Art verschwinden7« Tone leckte sich mit bleicher Zunge über seine papierenen Lippen »Ja Es stimmt tatsächlich die momentan verschwindenden Bucher sind zunehmend solche, die öfter frequentiert wurden Nach unseren neuesten Schätzungen, wird der gesamte Buchausstoß am « -er schlug in einem Notizbuch nach - » am zweiundzwanzigsten dieses Monats verschwunden sein « »Das ist ein Freitag, nicht7« »Ja, ich glaube schon « »Richtig Dann nehmen wir den Tag als Freitag, den zweiundzwanzigsten April, ms Protokoll auf « Sankey hatte das Gefühl, kaum mehr als ein paar Se kunden lang besinnungslos gewesen zu sein, und doch war das gesamte Regal mit den Vierteljahreszeitschnf-ten jetzt leer Er taumelte, den nutzlosen Golfschlager noch immer in der Faust, hoch und hielt nach seinem Angreifer Ausschau Dort hinten, hinter dem Schreibtisch, war etwas zu hören - als schlüge ein Vogel mit einer ge brochenen Schwinge gegen den Fußboden Er zog den Tisch mit einem Ruck zurück und hob den Schlager 90
Band l von Gibbons Aufstieg und Fall des römischen Reiches hupfte hm und her und flatterte wild mit den Seiten Die Buchrucken war gebrochen und zerfetzt - und zwar fraglos deswegen, weil er das Fenster ein- oder Sankey niedergeschlagen hatte1 Also dies hatte den Vierteljahreszeitschnften das Entkommen ermöglicht 1 Sankey versuchte an seinen Blutdruck zu denken, aber sein Geist konzentrierte sich plötzlich voll und ganz auf die Finger, die den Golfschlager festhielten Wütend drosch er immer wieder auf das flatternde Ding auf dem Boden ein und sah zu, wie der kitschige Umschlag in Fetzen ging Die Zeugen - Amateure und Spezialisten - hatten feste Ansichten über die Ursachen der Abwanderung Wahrend viele Amateure übernatürliche Erklärungen lieferten oder auf die Ratten verwiesen, die ein sinkendes Schiff verließen, fielen den Fachidioten kaum weniger verdrehte Erklärungen ein Ein Psychologe bestand darauf, daß die Kalte-Knegs-Hystene und der Streß des modernen Lebens derartige Massenhalluzmationen er zeuge, er behauptete, daß die Bevölkerung die Bucher vernichteten oder versteckten, ohne es selbst zu wissen Ein Meteorologe versuchte die Abwanderung in einen Bezug zu atmosphärischen Störungen zu bringen, die auf Sonnenfleckenaktivitat zurückzuführen war Selbst als sich seine absonderliche »Wmd«-Theone als inadäquat herausstellte, hielt er kindischerweise noch daran fest Bates von der Wildhfe Commission wagte die Vermutung, daß die Bucher den Versuch unternahmen, in einen Naturstatus zurückzukehren »Es ergibt einen Sinn«, beharrte er »Sie wurden aus Bäumen gemacht Wer weiß, vielleicht sind sie sich, wenn auch nur auf einer chemischen Ebene, ihres Urzustandes bewußt geworden7 Sie haben sich danach ge91
sehnt, in den Dschungel zurückzukehren, und jetzt tun sie es.« Mr. Tone fragte sich, ob sich die Bücher vielleicht ungeliebt und zurückgestoßen fühlten. »Diese Bildungsgüter«, sagte er, »stehen Woche für Woche ungelesen herum. Wie würden Sie sich fühlen? Sie würden Selbstmord begehen. Und genau das tun sie jetzt auch; sie bringen sich um, wie die Lemminge. Ich bin das ganze Leben lang von Büchern umgeben gewesen, und ich glaube, daß ich die Qualifikation habe, zu sagen, daß ich sie verstehe.« Sedley von der NASA erklärte ihnen, wie die Bücher flogen, doch er zauderte, ihrer Flucht eine bestimmte Bedeutung beizumessen. »So wie wir es sehen, wan deln sie einen kleinen Teil ihrer Masse in Energie um, auf eine Weise, die wir noch nicht verstehen. Und dann flattern sie - nun ja - einfach mit dem Umschlag. Was flach ist, kann auch fliegen; soweit ist das leicht zu verstehen. Aber warum sie fliegen, ist eine Vermutung, die ich nicht gern anstellen möchte. Vielleicht könnten die Russen diese Frage schneller beantworten als ich. Ich sage nichts mehr.« Marian sah sich die Abwanderung auf dem Fernseh schirm an, als Sankey an diesem Abend nach Hause kam. »Telefonbücher über Florida«, sagte er strahlend. »Und zwar Millionen, Liebling!« Er warf den großformatigen, langsam flatternden, anmutigen Geschöpfen nur einen kurzen Blick zu, bevor er ins Bett ging. Später, nahm er sich vor, wollte er wieder aufstehen, um den letzten Berichtestapel durchzuarbeiten. Der Schmerz an sein em Hinterkopf war schlimmer geworden, als er am Abend aufwachte. Obwohl Sankey versuchte, die Berichte in seiner Leseecke zu begutachten, war sein Blick vom Schmerz getrübt, und er konnte 92
die klopfenden Geräusche aus der Bibliothek nicht ignorieren. Marian kam herein, um ihm Gute Nacht zu sagen. »Wenn du ein Buch möchtest, Schatz«, sagte er vorsichtig, »hol lieber ich dir eins. Heute abend ist die Bi bliothek bestimmt nicht sicher.« »Oh, guter Gott, nein!« sagte sie. »Ich käme nie auf die Idee, dich - aus welchem Grund auch immer - dort reingehen zu lassen. Jedenfalls hoffe ich, daß ich heute früher einschlafen kann. Morgen ist in der Stadt aller hand los.« »Äh? Was meinst du?« »Es heißt, morgen, gegen Mittag, würde ein riesiger Schwärm die Stadt überfliegen.« Sankey und Preston arbeiteten nur zwei Stunden an der Abfassung ihres Berichts. Um 11.30 Uhr standen sie mit zwei Ferngläsern auf dem Dach des Gerichtsgebäudes. Die am Horizont auftauchende finstere Wolke, behauptete Preston, war erst die Vorhut des Schwarms. Sankey richtete sein Fernglas nach unten, auf die Menschen menge. »Da unten herrscht die reinste Feiertagsatmosphäre«, bemerkte er. »Es ist, als warteten sie auf eine Parade.« Während er diese Worte aussprach, wurde ihm klar, daß er sich selbst nicht anders fühlte. Unerklärlicherweise erfüllte die Atmosphäre ihn mit einer gewissen Vorfreude. Er erforschte seine sprudelnden Gefühle und stellte sie in Frage. Wie lächerlich! Er war nach draußen gekommen, um was zu sehen? Er wollte wieder hineingehen und arbeiten - doch er gab den Platz an der Balkonbrüstung nicht auf. Unter ihm staute sich der Verkehr meilenweit in alle Richtungen. Fußgänger hatten sich auf die Straßen er gossen. Viele Fahrer hatten es aufgegeben, sie hatten die Motoren abgestellt und waren auf die Wagendächer geklettert, um zuzusehen. Hie und da sah man Leute 93
mit Büchern unter dem Arm; möglicherweise wollten sie sie freilassen, um zu sehen, ob sie sich dem Schwärm zugesellten. Straßenhändler gingen mit Kartons auf und ab, sie hielten billige Taschenbücher feil. »Da kommen sie!« schrie Harry Preston und sprang auf. Die Wolke war jetzt heran, und jetzt konnte Sankey die individuellen Partikel erkennen, aus denen sie bestand. Durch das Fernglas konnte er eben die Umrisse der Anführer ausmachen, die gleichmäßig dahinflatterten. Mit heldenhafter Anstrengung zogen sie nach oben, um den Schwärm über die Stadt hinwegzuzie hen. Es handelte sich um dickleibige, schwere Leinenbände und Nachschlagwerke. Die Bücher, die hinter ih nen kamen, vermutete Sankey aufgrund ihrer Keilformation, mußten dann Enzyklopädien sein. Es waren etwa zehntausend Bände, vielleicht auch eine Million; man konnte ihre Zahl nicht schätzen. Unter ihnen klirrte irgendwo ein Gerichtsfenster; ein Satz von Gesetzesverordnungen erhob sich zu einer trägen Spirale und schlug mit starken, festen Einbänden. jetzt kamen Myriaden von Bänden aller Art, die einmal nach ihrer Farbe, dann nach dem Alter gruppiert waren. Sankey bemerkte ein gigantisches Gesangbuch, dessen pergamentene Blätter sich nach unten öffneten, um quadratische, schwarze Einzelnoten zur Schau zu stellen, von denen jede größer als eine Menschenhand war. Es wurde umgeben von einer Unzahl winziger alter Psalter oder Stundenbücher (er war sich nicht sicher), die wie ministrierende Cherubim dahinflogen. Sofort dahinter kamen numerierte Schulbücher in grauen Umschlägen; sie flatterten einstimmig mit bilderlosen, farblosen Seiten. Alte Medizinbücher mit leuchtend bunten Farbtafeln flatterten vorbei, ihre Seiten aufgeweicht, noch tröpfelnd von einem kurz zuvor durchflogenen Regenschauer. 94
Dicht dahinter kamen dünne Gedichtbände in grünem Saffianleder, blauem Sackleinen oder braunem Packpapier; Sankey war überrascht, daß auch sie die gleiche Anstrengung aufwandten wie der Rest, um in der Luft zu bleiben. Hinter ihnen flatterten schöne LoseblattKochbücher und buntbebilderte Schwulenma-gazine. Hier war die gesamte Literatur, die ganze Philosophie, die antiken und modernen Wissenschaften, die Summe des geschriebenen Erdachten. Sankey justierte sein Fernglas, um die in der Nähe vorbeischwebenden Titel zu lesen: Pascals Gedanken in einem schmalen Indigobändchen; Whitmans Grashalme in Olivgrün; Rembrandt in verbranntem Umbra, Der Collie und seine Dressur in Weiß, und eine kleine schwarze Taschenbibel. Jetzt kamen endlich die neuesten lebenden Aufzeichnungen des zivilisierten Menschen: Almanache, Scheckbücher, Adreßbücher, Tagebücher, veilchenblaue Bände aus den Leihbibliotheken. Sie flatterten und leuchteten in tausend Farben vor dem abnehmen den Sonnenlicht (das deswegen abnimmt, dachte Sankey, weil es von weiteren Myriaden verdunkelt wird): billige Taschenbuch-Krimis neben Tractatus Logico-Phüo-sophicus, Voltaire neben Aquin, Rabelais neben Eliza-beth Barren Browning. Und jetzt hielten die Menschenmassen ihre Bücher hoch, hielten sie mit dem Gesicht nach unten zwischen gespreizten Armen, hoben sie in den beißenden Wind. Mit einem großartigen, rauschenden Klatschen ihrer flatternden Seiten erhoben sich Tausende von Büchern, um sich mit dem über ihnen schwebenden Schwärm zu vereinen. »Könnten wir doch auch etwas hinaufschicken«, rief Sankey über den Lärm hinweg. »Scheckbücher! Wie war's mit unseren Scheckbüchern?« 95
Die beiden grauhaarigen Männer holten ihre Scheckbücher hervor und warfen sie feierlich in die Brise. Die häßlichen dünnen Dinger glitten einen Moment lang unschlüssig dahin, dann fingen sie an, mit großer Energie die ledernen Schwingen zu schlagen. »Es müßte etwas anderes sein«, maulte Preston. »Warum nehmen wir nicht unseren Bericht?« »Ja, warum nicht? Wer wird ihn überhaupt noch lesen wollen, den Bericht über die Abwanderung der Bil dungsgüter?« Sie nahmen die halbfertige Fassung aus Prestons Köfferchen und balancierten ihn einen Moment lang auf dem Balkongeländer des Gebäudes. Der Klemmer, der den Bericht an einer Seite hielt, verlieh ihm eine Art Buchform, nahm Sankey an. Vielleicht funktionierte es. »Nach Ihnen«, sagte er und trat zurück. Preston klappte den Papierstapel auf, hob ihn wie einen Einloch-Schläger hoch und warf ihn gerade vom Dach. Er tauchte hinab, klappte zusammen und fiel. In dem Moment, in dem Sankey aufstöhnte, öffnete das Bündel mehrere Stockwerke unter ihnen erneut seine Schwingen und fing an zu fliegen. Er stieg schnell auf und wurde vor der dunklen Wolke zu einem strahlend weißen Fleck. Durch das Fernglas beobachtete Sankey, wie es sich zu seinen Brüdern gesellte und leicht nach Süden abschwenkte. Bald war es außer Sichtweite.
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Der seltsame Besucher aus dem Noch-Nicht Mit einem Rechenschaftsbericht über den darauf folgenden beklagenswerten Niedergang des Dr. Lemuel Jones
An den ehrenwerten Jeremy Bedford
10. August 1772
Lieber Jerry, nach all den Jahren bin ich mit gemischten Gefühlen nach London zurückgekehrt. Die Stadt ist enger und schrecklicher als je zuvor; wie eine Art Riesen-Presse, in die jedermann hineingestoßen wird, ohne daß es je manden schert, ob der Mief seiner Nachbarn ihn erstickt oder nicht. Die einzige Rückzugsmöglichkeit aus der ungesunden Massenfäulnis ist für mich das Cafehaus. Damit meine ich natürlich das Cafe Crutchwood in der Clove-belly Lane, an das Du Dich gewiß mit Freuden erin nerst. Es verfügt noch immer über ein unterhaltsames Publikum, und zu meiner Überraschung entdeckte ich am Kamin mehrere Angehörige unseres alten Kreises. Augustus Strathnaver ist zwar ziemlich korpulent und wassersüchtig geworden, doch seine Schlagfertigkeit ist so trocken und spontan wie immer. Dick Blackadder sammelt immer noch Subskriptionen für seine Ovid Übersetzungen. Er sammelt zwar immer noch vergebens, doch er ist wegen der Angelegenheit noch immer guten Mutes. Ich erfuhr, daß der arme Oliver Colqu-houn, der es nie geschafft hat, sein Stück auf die Bühne zu bringen, verstorben ist. Doch von größtem Erstaunen wurde ich heimgesucht, als ich direkt am Kamin eine massige Gestalt in einem schnupftabakfarbenen Mantel gewahrte, die der Gesellschaft den Rücken zukehrte. 97
Die Gestalt wandte den Kopf, um mich anzusehen, und zeigte mir ein riesiges Warzenschweingesicht. Als sich ihr Mund öffnete, war es wie das Aufplatzen eines noch heißen Puddings. »Ich stelle fest«, (sagte das Warzenschwein), »daß Sie es immer noch nicht gelernt haben, Timothy Scunthe! Sie haben immer noch keine Manieren! Wissen Sie nicht, daß man einen Menschen, der meditiert, nicht stört?« Es war in der Tat unser alter Freund, streitsüchtig wie immer. Ich werde nie den Tag vergessen, als ich ihm Glühwein über den Rock schüttete - weil er's mich nie vergessen lassen wird, obwohl es jetzt beinahe elf Jahre her ist! Ich blieb, um den Abend mit Jones und seinem Kreis, der viele Neuzugänge aufweist, zu beenden. Der Onkel Doktor ist dicker geworden und neigt (sagt er), zur Gicht; doch fiel mir nicht auf, daß er kurzatmiger geworden ist. Letzten Abend erledigte er zwei Philosophiestudenten (die sich, glaube ich, über die Seele stritten, aber ich konnte ihnen nicht folgen), einen Schul meister, einen Zeilenschinder aus der Grub Street und einen armen, friedfertigen Anwalt, der auf eine Tasse Tee hereinkam und nicht lange genug blieb, um sie kalt werden zu sehen. Kurz gesagt: Dr. Jones ist ganz der alte: Schlagfertig, übellaunig, und von eminenter Auffassungsgabe. Ich fühlte mich heftig an die Zeiten erin nert, in denen wir kleinen Welpen ihn noch n eckten, und er uns dementsprechend übers Maul fuhr. Weißt Du noch, welchen Spaß wir mit dem Besucher aus der »Zukunft« hatten, und wie der Onkel Doktor ihn als den Hanswurst entlarvte, der er war? Ich werde es nie vergessen; und ich hoffe, Du vergißt nicht den Dich herzlich grüßenden TIMOTHY SCUNTHE
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An Sir Timothy Scunthe, Baronet
25. August
Lieber Tim, ich freue mich, daß Du die Episode mit dem Mann aus dem »Noch-Nicht« nicht vergessen hast, denn ich habe angefangen, ein paar schofle Lebenserinnerungen zusammenzutragen und würde die Hilfe Deiner scharf sinnigen Erinnerung sehr zu schätzen wissen. Obwohl ich glaube, mich bestens an den Vorfall zu erinnern, hat in den zehn vergangenen Jahren viel Mist meine Erinnerung getrübt, und ich würde sehr gern auch Deine Version der Geschichte hören. Ewig in Deiner Dankbarkeit stehend, lieber Tim, verbleibe ich der Dich herzlich grüßende JER. BOTFORD An den ehrenwerten Jeremy Botford
5. September
Lieber Jerry, Dein Erinnerungsvermögen ist zwar zweifellos besser als das meine, doch ich habe ein paar Aufzeichnungen über diesen seltsamen Vorfall gemacht, die ich Dir für Dein Buch hiermit zur Verfügung stelle: Es war an einem Dezemberabend im Jahre 1762, und unser üblicher Kreis, in dem Dr. Jones den Ton angab, hatte sich im Spielzimmer des Cafe Crutchwood ver sammelt. Pauceford, der Inhaber, schien im Eingang eine Auseinandersetzung mit einem Unbekannten zu haben, und so wurde der Raum ziemlich kalt. »Verdammich, Sir!« brüllte Jones. »Haben Sie vor, uns mit Schüttelfrost zu beglücken? Bringen Sie den Gentleman doch herein!« Pauceford führte einen dünnen, spinnenbeinigen, komisch gekleideten Burschen herein. Ich erinnere 99
mich, daß er das Haar natürlich und schockierend kurz trug, und die Beinkleider ihm bis an die Knöchel reichten. Jones' Schnupftabakdose klapperte zu Boden. »Guter Gott!« rief er aus. »Was für ein Freigeist ist denn das?« Der Bursche gab keine Antwort, aber er sah ihn ir gendwie konsterniert an. »Oder verbreiten Sie den Methodismus? Sind Sie etwa ein Dissident?« knurrte Jones. »Sie würden viel mehr Zulauf kriegen, wenn Sie eine anständige Perücke trügen.« »Vielleicht«, sagte Strathnaver kichernd, »vielleicht glaubt der Gentleman, es sei satanisch, den Körper zu schmücken.« »Na gut, doch Ihnen dürfte auffallen, daß er sich nicht scheut, seine spindeldürren Beine zu verbergen. Mein Name ist Dr. Lemuel Jones, Sir. Verzeihen Sie, daß ich mich nicht erhebe. Ich werde heute abend arg von der Gicht geplagt. Wie war doch Ihr Name?« Der Mann streckte die linke Hand aus, zog sie zurück und bot sie ihm dann erneut an. Schließlich streckte er die Rechte aus und schüttelte die von Jones. »Mein Name ist Darwin Gates«, sagte er schüchtern. »Und ich komme aus dem zwanzigsten Jahrhundert.« Dr. Jones' Hand zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, als er nach seiner Schnupftabakdose griff. »Soll das ein Ort sein?« fragte er und reichte sie herum. »Ich hätte es für eine Richtung gehalten. Doch es ist sehr in teressant, Sie kennenzulernen, Sir. Ich nehme an, Sie haben dieser glücklichen Gesellschaft von allerlei Wundern zu berichten, nicht wahr?« Mr. Gates nahm Platz und beugte sich ernst vor. »Das habe ich, in der Tat. Sie würden nicht die Hälfte von dem glauben, was ...« »Tatsächlich? Doch mir haftet der Ruf des Leichtgläubigen an«, sagte Jones. Ein listiges Lächeln umspielte 100
jetzt seinen großen, häßlichen Mund. »Sie möchten mir zweifellos von Kutschen berichten, die ohne Hilfe von Pferden fahren. Von Maschinen, die Menschen durch die Luft tragen wie Vögel. Von Schiffen ohne Segel.« Der Mann errötete sehr stark und stammelte: »Tatsache ist ...« Jones' Stimme wurde lauter und schriller. »Von Ma schinen, die wie Fische Menschen unter dem Meeres spiegel transportieren, wo er zahllose Wunder schaut. Von mechanischen Pferden, die fähig sind, ein Dutzend Wagen auf einmal zu ziehen. Von künstlichen Kerzen, die von einer geheimnisvollen Kraft gespeist werden, über die wir jetzt noch nichts wissen. Vielleicht auch von Gebäuden aus Kristall und Eisen, in denen man seinen Diener anweist, das Wetter zu bestimmen, das man ersehnt. - Ist das die ungefähre Zukunft, die Sie uns beschreiben möchten, Mr. Gates?« Der arme Besucher sah äußerst kleinlaut, verlegen und verdrießlich aus. Ich zweifelte nicht daran, daß er ein viel armseligeres Garn als dieses vorbereitet hatte. »Ich ...«, stammelte er, »... ich ... ich meine ...« »ABER«, fuhr Dr. Jones zähneknirschend fort, »ich spreche lediglich von rein physikalischen Erfindungen, von Geräten, die sogar jeder Tolpatsch von Mechaniker voraussehen kann. Es stünde Ihnen nicht gut an, Sir, wenn Sie nichts besseres zu erzählen wüßten als dies. Vielleicht können Sie mir etwas über die Politik des zwanzigsten Jahrhunderts sagen. Wollen wir doch mal sehen ... Kriege gäbe es nicht mehr, weil man so schreckliche Waffen erfunden hätte, daß es zu gefährlich wäre, sie einzusetzen. Die amerikanischen Kolonien werden rebelliert haben und zu einer Großmacht her angewachsen sein, die behauptet, daß Alle Menschen Gleich Sind. Vielleicht wird man sogar die Negersklaven befreien, obwohl wir damit vielleicht ein bißchen zuviel von unseren amerikanischen Freunden erwarten.« 101
»Einen Moment!« sagte der Besucher. »Das erzürnt mich! Ich bin Amerikaner!« »Tusch!« sagte Jones. »Gleich sind Sie wohl noch ein Indianer? Ich warne Sie, Sir, ich war es, der George Psalmanazar entlarvte, der sich vierzig Jahre lang als >Formosaner< ausgab, nachdem er seine eigene >Sprache< erfunden hatte.« Jones sagte all dies mit gedämpfter Stimme, dann nahm er seinen üblichen groben Tonfall wieder auf und sagte: »Ich glaube, die Mächte und Allianzen Europas werden sich beträchtlich verschoben haben. Ich nehme an, der Monarch von England wird wohl nicht mehr Gewicht haben als ein gewöhnlicher Besen.« »Woher wissen Sie das?« fragte der erstaunte Mr. Gates. »Pah, Sir, ich spinne lediglich ein Garn, damit mich das Ihre nicht langweilt. Aber seien Sie so gut und lassen Sie mich fortfahren. Ich habe noch nichts über die Zukunft der Malerei, der Musik, der Moral und der Naturphilosophie gesagt ...« »Zuerst sollten wir Mr. Gates einen Becher Punsch geben«, murmelte Strathnaver. »Vorausgesetzt, daß Personen aus dieser Zeit, die unseren Sinnen so wenig bewußt ist, überhaupt essen und trinken können. Sind Sie ein ätherischer Geist, Mr. Gates, wie Mr. Miltons Engel? Schlafen Sie? Verdauen Sie Nahrung und so weiter?« Während der arme Besucher erst einmal mit einem Becher Punsch versorgt wurde, lehnte Dr. Jones sich zurück und maß ihn desinteressiert. Ich sah Gering schätzung in seinem Gesicht; wenn er nämlich den rechten Mundwinkel hochzieht, als würde die Warze, die sich in der Ecke darüber befindet, ihn anziehen, ist er in einem rasenden Zustand der Geringschätzung. »Ich verstehe nicht viel von Malerei«, sagte er. »Sie ist bestenfalls eine schwerfällige Kunst, die abscheuliche Imitationen der Natur liefert. Ich erwarte, daß die Mä102
zene des Kopismus ihrer müde werden und ihre Aufmerksamkeit auf anderes konzentrieren. Natürlich wird im zwanzigsten Jahrhundert jedermann Musik hören können, wann er nur immer will. Ich kann mir den verderblichen Einfluß, den dies auf Geschmack und Sinne haben wird, lebhaft vorstellen, wenn jeder Schuhmacher und jeder Schmied zu Musik seiner Wahl Schuhe behämmern kann. Die Kunst, Sir, gibt sich der Verwässerung nicht selbst hin. Es wird stets eine Überfülle von Unterschiedlichkeiten im Garten der Philosophie geben, aus der man einen Blumenstrauß machen kann. An irgendeinem Punkt werden die Menschen aufhören über Vernunft zu reden und anfangen von Verantwortung zu sprechen. Sie werden sagen, daß es im Universum keine Ordnung gibt, außer jener, die wir selbst sehen wollen - so wie Don Quixotes Windmühlen keine Riesen waren. Ab surdität wird ein philosophisches Schlagwort werden -es wirdteine Sauregurkenzeit geben. In Sachen Naturphilosophie kann ich mir gut die Er findung aller Arten von Maschinen und Spielen vorstellen. Ohne Zweifel werden die Menschen des zwanzig sten Jahrhunderts zum Mond und zurück reisen, wenn nicht gar zur Sonne. Astronomie, Alchimie, Mathematik und Medizin werden alle an Boden gewinnen. Die Pest wird fast unbekannt sein. Ich wage sogar die Behauptung, daß man zur Zufriedenheit der Allgemeinheit beweisen wird, daß Tabak ein Giftgewächs ist.« »Erstaunlich!« stieß unser Besucher hervor. »Woher wissen Sie ...« »Mir sind schon bessere Scharlatane begegnet als Sie, Sir!« donnerte Jones ihn an und warf ihm einen finsteren Blick zu. »Die Gicht zwingt mich nämlich, jede Nacht hier herumzusitzen und für jeden von ihnen die Beute abzugeben. Erst letzten Monat sah ich mich einem Mann aus dem >Noch-Nicht< gegenüber, der Sie vor Neid erblassen ließe. Er hatte nicht nur elegante 103
Manieren und wundersame Geschichten zu erzählen, er sah auch so aus wie ich!« Unser Besucher sah jetzt blaß und krank aus. »Wie Sie?« sagte er. »Ja. Der Halunke wollte mich davon überzeugen, er sei ich, doch mir ist noch kein Mensch begegnet, dem ich nicht mit reiner Vernunft beigekommen wäre. Ich bewies ihm, wie ich auch Ihnen beweisen werde, daß der Mensch nicht aus der Zukunft in die Vergangenheit reisen kann. Der Mensch kann sich in der Zeit nicht so wie im Raum bewegen. Die Natur verbietet es, so wie sie die Levitation oder ein Vakuum verbietet. Denken Sie nur an die schrecklichen Paradoxa, die dadurch entstehen würden! Kehrte man beispielsweise in seine Kindheit zurück, könnte man sich selbst als Kind begegnen. Und nun nehmen wir einmal an, ihre eigene Equipage würde das Kind überfahren. Hörten Sie dann auf zu existieren? Wie hätten Sie dann überhaupt erst leben können? Au ßerdem gibt es noch Paradoxa, deren Vorstellung noch schrecklicher ist. Angenommen, man zeugte mit der eigenen Mutter ein Kind, und angenommen, man wäre selbst dieses Kind. Was dann? Kann ein Mensch sein eigener Vater oder Sohn sein - eine Travestie der physikalischen und moralischen Gesetze? Ich wage nicht einmal, an das Problem zu denken, das noch viel schlimmer ist: Wer von ihnen hätte, wenn sie einander begegneten, Ihre Seele? Ist die Seele einzig oder teilbar? Wären einige Ihrer Ichs seelenlose Tiere, lediglich Automaten? Sie können nicht aus der Zukunft kommen, weil die Zukunft per definitionem das ist, was noch nicht ist. Es gibt keine Zukunft. Und selbst wenn die Zeitreise möglich wäre, man wäre nicht ohne Nachwelt. Ich glaube, daß die Menschheit glücklicherweise mit jeder Generation verständiger wird - und dennoch ist man damit be schäftigt, mit offenem Mund hier zu sitzen und sich Scheinargumente anzuhören.« 104
»Bitte«, sagte Mr. Gates, »ich kann beweisen, daß ich aus der Zukunft komme. Ich habe die einzige existierende Zeitmaschine gebaut. Lassen Sie es mich beweisen. Hier ist eine Münze ...« Er fummelte einen Moment an der Hüfte seiner Beinkleider. »Dies ist ein Vierteldollar der Währung der Vereinigten Staaten von Amerika«, verkündete er stolz und reichte Strathnaver eine Münze. »Sie werden sehen, daß das Datum neunzehnhundertundnochwas zeigt.« »Guter Gott!« sagte Strathnaver. »Der arme Narr hat sich seine Beweise selbst gezimmert. Dies ist ebenso wenig eine Münze, wie ich eine bin. Ho ho, Mr. Gates, irgendeines Tages muß ich Ihnen etwas über das Münzenschlagen erzählen. Wenn man eine Matrize entwirft, muß man das Bild umkehren, damit es auf der Münze seitenrichtig erscheint.« Er ließ die Münze reihum gehen, und wir konnten alle sehen, daß die Inschrift seitenverkehrt war. Es war eine jämmerliche Fälschung. »Die Dinge haben sich irgendwie umgekehrt!« rief Gates. »Ich weiß auch nicht, wie. Was soll ich tun, damit Sie mir glauben?« »Gar nichts«, sagte Jones. »Der letzte Bube führte mir eine komische Maschine vor, die er Feuerzeug nannte doch als ich sie untersuchte, war sie nichts anderes als ein kleines öllämpchen mit einem eingefügten kleinen Feuerstein-Zündschloß.« »Ich nehme Sie mit in meine Zeit, das wird Sie über zeugen!« »Eine hübsche Idee«, sagte Mr. Strathnaver, »aber vom Kamin kriegen Sie ihn niemals weg.« »Was?« sagte Jones. »Ich soll das Feuer verlassen, um draußen im schüttelfrostigen Schnee herumzuwandern, bis die Komplizen dieses Wegelagerers mir auflauern und mich umbringen? Ich kann nicht sagen, daß mir diese Aussicht gefällt.« »Oh, wir brauchen nicht weit zu gehen«, sagte Gates. 105
»Meine Zeitmaschine steht ganz in der Nähe - und ein paar Ihrer Freunde könnten mitgehen und aufpassen. Oder fürchten Sie sich etwa davor, mir recht geben zu müssen?« Zum ersten Mal hatte Jones keine Antwort parat. Mit überraschender Agilität sprang er auf und winkte nach Umhang und Stock. »Sehen wir sie uns an, Sie Mist kerl!« dröhnte er. Dick Blackadder und ich wurden ausgewählt, ihnen zu folgen. Doch schon nach zwanzig Schritten durch den Schnee hatten wir die »Zeitmaschine« erreicht. Sie sah fast so aus wie ein Sedan-Sessel, und glich irgendwie einer Badewanne und einem aufrechten Sarg auf Rädern. Gates öffnete eine Klappe, und die beiden M änner gingen hinein. Die Klappe schloß sich wieder. Dick und ich musterten das Gerät genauestens. Wir waren auf jeden Trick vorbereitet. Alles war totenstill. »Ich fürchte, Lemuel ist etwas zugestoßen«, sagte Dick. »So lange hat er den Mund noch nie gehalten.« Ich drehte am Griff der Klappe, doch er saß fest. Ein unirdisches Licht, das zunehmend heller wurde, schien aus den Spalten und Ritzen der Tür zu strömen. Ich legte das Auge an einen Sprung und lugte hindurch. Drinnen war keine Seele zu sehen. Das Licht wurde heller und heller - bis mit einem Donnerschlag die ganze Maschine über mir zusammenfiel. Der Riesenlärm warf mich um, und als ich wieder auf den Beinen war, stellte ich überrascht fest, daß Dr. Jones allein inmitten des Wracks stand. »Sind Sie verletzt, Jones?« fragte Dick, der sich gerade wieder aufrappelte. »Nein. Ich ... nein.« »Und wo ist Mr. Gates?« »Es sieht beinahe so aus«, sagte Jones, »als sei er in die Ewigkeit gepustet worden.« Wir halfen ihm an den Kamin zurück, wo er, wie ich mich erinnere, den ganzen Abend seltsam still und 106
mürrisch saß und auf keine Neckerei reagieren wollte. Er saß mürrisch in seinem Umhang da und weigerte sich, ein Wort zu sagen. Das ist alles, was ich über den Vorfall weiß, Jerry. In der Hoffnung, daß Dir diese Schilderung etwas nützt, verbleibe ich Dein Dich herzlich grüßender TlMOTHY SCUNTHE
An Sir Timothy Scunthe, Baronet
9. September
Lieber Tim, ich habe Deine Geschichte gelesen und bin wirklich er staunt über die Reichhaltigkeit Deines Erinnerungsver mögens und Deiner Beobachtungen. Du bist gewiß der bessere Mann, wenn es darum geht, die Feder der Erin nerung zu führen. Du hast die Würze der Worte des alten Warzenschweins bestens wiedergegeben, und ich meine, daß Deine Zusammenfassung in nahezu jedem Detail exakt ist. Grüße Dr. Jones von mir und bitte ihn, mir ein paar Anekdoten zu schicken, die für meine Lebenserinne rungen vielleicht von Interesse sind. Wenn es ihm nicht lästig ist, würde ich sehr gern mehr über seine Erfah rungen dieses seltsamen Abends hören. Dir ewig dank bar bleibend ,,, verbleibe ich Dein Dich herzlich grüßender JEREMY BOTFORD
Postscriptum: Wie kommt es, daß Du sagst, die Warze des Doktors befände sich rechts von seinem Mund? Vor mir steht eine kleine Büste von ihm, doch die Warze ist
auf der linken. Nochmals alles Gute etc. JER. BOTFORD 107
An den ehrenwerten Jeremy Botford
14. September
Lieber Jerry, die Arbeit ruft! Dies ist nur eine kurze Notiz, um Dich zu informieren, daß ich mit Dr. J. gesprochen habe, und er versprochen hat, Dir etwas zu schicken. »Doch ich bezweifle«, (sagte er) »daß er es verwenden wird.« Verstehst Du das? Ich muß gestehen, ich nicht. Später mehr von Deinem Dich herzlich grüßenden TlMOTHY SCUNTHE
An den ehrenwerten Jeremy Botford
15. September
Mein lieber Jeremy, wenn Du diesen Brief vor einen Spiegel hältst, um ihn zu lesen ... hoffe ich, daß Du seinen Verfasser bemitleiden wirst. Verurteile mich nicht, darum bitte ich Dich, bevor Du die ganze Wahrheit meiner mißlichen Lage erfahren hast. Nachdem ich am 10. Dezember 1762 den Hof des Cafe Crutchwood verließ, reiste ich in die Zukunft. Nachdem ich meine Witze über das zwanzigste Jahrhundert gerissen hatte, wurde mir zu sehen ermöglicht, daß sie tragischerweise wahr geworden waren. Ich sah den Nieder gang der Kunst und Architektur zu Kinderspielzeug und die Reduktion der Literatur zu einem Babel. Tu genhaftigkeit existierte nicht mehr, die Wissenschaft beschäftigte sich mit Haushaltsgeräten. Die Hauptbe schäftigung dieser Zeit schienen weltweiter Krieg oder von Menschenhand geschaffene Katastrophen zu sein. Ganze Städte voller Menschen wurden angezündet, die bei lebendigem Leibe gekocht wurden. Zwischen den beiden Kriegen fuhren die Menschen in großen Kutsch-Maschinen über das Land, die die Luft mit schrecklichen Dünsten vergiften. Diese Kut108
sehen haben die Städte mit schwarzem und giftigem Schmok zugedeckt. Es gibt im zwanzigsten Jahrhundert weder Schönheit noch Vernunft, noch ein anderes An zeichen, das zeigt, daß der Mensch mehr ist als ein Tier. Doch genug dieses traurigen Klagens über einen schrecklichen Ort. Es machte mich beinahe krank bis zum Wahnsinn. Ich wußte, daß ich einen Fehler begangen hatte, als ich Mr. Gates in sein Land des Schreckens begleitete, und so ersann ich einen Plan, um meinen Besuch ungeschehen zu machen. Ich kam im November 1762 zurück und begegnete meinem Ich. Ich flehte mich mit allem Ernst an, eine solche Reise nicht zu unternehmen - doch das Objekt meiner Bemühungen war so damit beschäftigt, mich als Schwindler und Hochstapler zu entlarven, daß meine Argumente nutzlos waren. Damit blieb mir nur noch eine Chance - an jener Stelle und zu jener Zeit wieder zu erscheinen, an der mein nichtsahnendes Ich sich auf die Abreise in die Zu kunft vorbereitet hatte, und mich - wenn es nicht anders ging mit Gewalt daran zu hindern. Gates und der arme Jones waren gerade in die Zeitmaschine geklettert, als ich materialisierte. Sie verschwanden im gleichen Moment, und die kombinierte Kraft unserer multiplen Fluxionen vernichtete die Maschine ganz und gar. Es war die erste und letzte ihrer Art, nehme ich an. Aus Gründen, die ich nicht ermitteln kann, bin ich nun seitenverkehrt. Mr. Gates nahm an, daß Zeitreisen vielleicht die gesamten Atome eines Körpers verdrehten. Wie Du Dich erinnern wirst, war Gates, als er erschien, stets versucht, einem die Linke zum Gruß zu reichen. Gleichermaßen war die Münze in seiner Tasche seitenverkehrt geprägt. Auf meiner Reise in die Nachwelt wurde auch ich verdreht. Als ich zurückkam, um mit mir selbst zu reden, war ich wieder seitenrichtig, doch jetzt bin ich wieder seitenverkehrt. Du wirst, fürchte ich, nicht in der Lage sein, dies in 109
Dein Buch aufzunehmen - es sei denn als das Gesabber eines Irren oder als eine blödsinnige Erzählung. Bring es als Erzählung oder ignoriere es, aber stell mich nicht als Irren hin! Denn ich habe die Zukunft gesehen, will sagen, ich habe in die Abgründe der Hölle geschaut. Ich bitte Dich, bleibe wohlgesonnen Deinem Freund LEMUEL JONES
An den ehrenwerten Jeremy Botford
15. September
Lieber Jerry, ich hatte noch nicht die Zeit, auf Deinen Brief zu antworten. Ich nehme an, Dr. J. hat Dir inzwischen etwas für Deine Lebenserinnerungen geschickt oder wird es noch schicken. Ich darf vielleicht sagen, daß er sich neuerdings recht sonderbar aufführt. Ich habe gehört, daß sein schlechtes Betragen während der letzten zehn Jahre ständig abgenommen hat. Jetzt ist er oft trübsinnig und geistesabwesend oder lacht grundlos vor sich hin. Beispielsweise brach er heute in Gelächter aus, als ich ihn nach seiner Meinung zur Besteuerung Amerikas fragte. Er ist wirklich ein Rätsel für Deinen Dich herzlich grüßenden TlMOTHY SCUNTHE
Postscriptum: Deine Miniaturbüste lügt, denn ich habe mir heute das Original angesehen. Mein Gedächtnis mag mich vielleicht trügen, doch mein Blick ist scharf. Die Warze sitzt auf der rechten Seite. Schöne Grüße etc. T. SCUNTHE
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Das fett-fröhliche Weib Mansard Eliots Mansard Eliots langer, aristokratischer Schatten kam aus seiner Galerie in der Fifth Avenue und bewegte sich über den Bürgersteig. Eliot wußte genau, wie er aussah, wenn die Sonne sein Haar beschien. Das Haar würde leicht zur Seite geteilt, überall glatt anliegen und voller ölig-dunkler Gesundheit sein. Und die Zähne: so weiß und ebenmäßig, daß selbst Gladys sagte, sie würden sie an Badezimmerfliesen erinnern. Heute hatte er Gladys gebeten, seine Frau zu werden. Und wenn Dr. Sky davon nicht erbaut war - na und? Dr. Sky mit seiner «Trennung des Traumlebens von der Realität«, seinen »horizontalen Rissen in der Ich-Struktur«! Sollte er sich doch wie ein Seehundbaby auf den Wahrheitstisch fallen lassen und sich den Stahlhelm der Erinnerung aufsetzen ... Mansard würde, beim Himmel, unstandesgemäß heiraten. Heute wollte sie es sich überlegen. Während er wartete, fiel Mansard die Formel wieder ein, mit der man Straßenadressen auf der Fifth Avenue ausfindig machte. Von 775 bis 1286, wußte er, ließ man die letzte Zahl weg und zog 18 ab. Es war sowas ähnliches, nahm er an, wie irgendeiner der geographischen oder historischen Fakten, die ihn reich gemacht hatten. Also hatte er Gladys heute gebeten, sich von ihrem arbeitslosen Gatten Dean scheiden zu lassen. Sobald sie ja sagte, wollte er zu Dr. Sky eilen, um es ihm mitzuteilen. »Ich kann mich nicht von Deanie scheiden lassen«, heulte sie. »Es würde ihm das Rückgrat brechen.« »Ach so.« Mansard war ernst. Seine Frühstücksflokkenfirma hatte eine Sportstiftung ins Leben gerufen, deren Direktor sich gerade räusperte, um eine Bemerkung zu machen. Mansard Eliot besaß wenigstens zwei Sportjacken, einen schwarzen oder marineblauen Bla111
zer, einen gediegenen Schuhlöffel, ein Paar Arbeitshosen, einen Sommeranzug, ein bügelfreies Hemd, einen Regenmantel, ein Paar Baumwollhosen, zwei Krawatten, zwei Sporthemden, ein Paar Frackschuhe, ein paar Leinenschuhe, einen dünnen Bademantel, drei Paar Socken, drei Garnituren Unterwäsche, zwei Taschentücher, eine Badehose, Toilettenartikel und Rasierapparat (auch auf kontinentaleuropäischen Strom umschaltbar), und das Gebäude, in dem Gladys Putzfrau war. »Deanie braucht mich«, erklärte sie. »Die Leute wollen ihm alle nur Böses. Gestern kam ich nach Hause und fand ihn schlafend auf dem Sofa, und die Kinder hatten ihm eine Plastiktüte über den Kopf gezogen. Er ist ihnen zu schneidig. Er hätte sterben können. Sie sind ihm auch zu schneidig.« Was tut Monique Van Vooren nach dem Dinner? Eine Kerze flackert. Sie befingert den langen, graziösen Hals der Flasche. Plötzlich regnet es flüssige Smaragde. Mansard war größer als Gladys, die - auf Gladys, Mansard und Dean bezogen - nicht die kleinste war. »Er schlägt mich«, erklärte sie. »Er zwingt mich, Kinder zu haben, die ich nicht will. Er will sie auch nicht. Er schickt mich raus zum Arbeiten, während er nur im Haus rumliegt und zwei Biersorten pichelt. Meiner Mutter ist er auch zu schneidig. Sie würde sich freuen, wenn ich mich von ihm scheiden ließe.« Das ROSS ist ein Westernhemd, stark tailliert, aus Baumwoll-Chambray. Leiden Sie unter Haarausfall? »Allen ist er zu schneidig«, erklärte sie. »Er haßt sich sogar selbst. Nur ich verstehe, liebe und wertschätze ihn. Vielleicht ist es auch nur Haß. Ja, jedenfalls liebt er seine Kinder.« Minnesota hat 99 Lang- und 97 Schlamm-Seen. »Warum machen wir nicht einfach reinen Tisch und gehen nach Europa?« fragte Mansard und musterte sich im See. »Oder sonstwo hin?« »Ach, ich könnte die Kinder niemals verlassen. Sie 112
kommen nicht allzu gut mit Deanie aus. Sie kommen einfach nicht mit ihm aus.« Gladys ließ Mop und Eimer sinken und nahm die Zigarette aus dem Goldetui, die er ihr anbot. Satinlaken und Kissenbezüge sind ein Muß für das vollständige Junggesellen-Apartment. Der KöterKackhaufen aus Gummi ist das ideale Geschenk oder der ideale »Eisbrecher« bei Parties. So realistisch, daß Ihre Freunde abschnallen werden. Mansards Hand zitterte, als er mit einem Spezialfeuerzeug zwei Zigaretten anzündete und eine an Gladys weitergab. »Rauchst du?« »Oh, danke, nein. Aber kannst ruhig. Ich liebe den Duft einer männlichen Zigarette.« Eine aromatische Rauchwolke ausstoßend, sagte er: »Laß mich jetzt mal nachdenken ...« Sie zündete zwei Zigaretten an und reichte ihm eine. Als er ihre Zigaretten angezündet hatte, schloß Mansard die Augen. Er verzehrte sie mit seinem Blick: ihre von der Kälte gerötete Nase, ihr bedrucktes Kleid, ihre aus den was serfleckigen Pumps hervorquellenden Füße. Sein Apartment, ein Penthouse über dem Supermarkt, wurde jeden Abend von sanfter Muzak erfüllt. Wenn er abends allein war, lauschte er ihr und rauchte in der Dunkelheit eine spezialgemischte Zigarette. Das Apartment konnte sie als selbstverständlich hinnehmen, warum konnte er es nicht? »Wie kannst du ihn nur lieben?« sagte er und berührte mit seinem Glas das ihre. »Er haßt sich ja sogar selbst!« Aber sie wollte nicht reden. »Es ist nicht gut, wenn wir uns auf diese Weise treffen, Mansard«, sagte sie. »Heimliche Rendezvous in eleganten Nachtklubs. Bis zum Morgengrauen in piekfeinen Cafes tanzen. Unser privater Blumen-Kode. Bei Drück-A-Glück mal eben zehn Riesen verspielen, und sich dann wie die Irren, die wir sind, auch noch kaputtlachen. >Das falsche Hotel113
zimmer<. Billets-doux. An Gebirgsbächlein Menthol rauchen. Nachts an einem exklusiven Treffpunkt erscheinen. Segeln. Und alle anderen Wassersportarten, inklu sive Schnee und Eis und Wasser. Und schließlich, mein Lieber, zusammen in einen Vulkan springen.« Sie schien unfähig zu sein, etwas zu sagen. Mansard dachte an Dean. Die Internationale Au -dioWandsonde bloß gegen eine Mauer halten, und man kann jedes Geräusch und jede Stimme aus dem Nachbarraum empfangen. Duales Abhörgerät, von Hütern des Gesetzes weltweit eingesetzt, paßt in jedes Telefon. Der Schnüffler - das einzige private Lauschgerät der Welt, von Hütern des Gesetzes verwendet, verstärkt Geräusche millionenfach. Sieht aus wie eine Aktentasche. Das Spanner-Fernglas ist nicht größer als eine Füllfeder, vergrößert jedoch sechsmal. »Ich möchte diesen >Dean< kennenlernen«, sagte Mansard plötzlich. »Sie wollen sich also selbst erniedrigen«, sagte Dr. Sky. »Was, glauben Sie, ist der Grund? Hat es etwas mit der Zeit zu tun, als mein Vater mich an meinen kleinen Kackstuhl festband?« »Sein Vater hat nichts in dieser Art getan«, sagte Mansard gleichmütig. »Ich habe nie gesagt, daß er mich fest gebunden hat. Er hat mich nur gebunden.« »Warum fühlten wir uns reingelegt?« »Er hat mich mal auf die Streckbank geschnallt«, sagte Mansard. »Er war der Ansicht, das ich dann größer werden und mehr Vertrauen in große Frauen und Geschäftspartner haben würde. Wie üblich hatte er recht.« »... reden wir uns ein.« Mansard erinnerte sich. »Er hat mich gewaltsam er nährt. Er hat meinen Hund vivisektioniert, um mir die Geheimnisse der Biologie zu erklären. Der arme Lumpi.« »... armer Ich, meinen Sie wohl.« 114
»Ja, Paps hat nie aufgehört, mich auf mein zukünftiges Glück vorzubereiten. Wenn ich schlief, ließ er mir von einem Kindermädchen Kant vorlesen. Ich hatte einen wiederkehrenden Alptraum, in dem ich von einer synthetischen a priori -Proposition verfolgt wurde. Ich wollte immer nach Europa gehen, aber ich habe es nie getan.« »Was träumen Sie denn jetzt so?« Mansard Eliot spulte den Traum in Steno ab, eine Fähigkeit, die er sich in drei kurzen Wochen angeeignet hatte. »Vergangene Nacht träumte mir, ich sei Mitglied einer Halbstarkenbande. Wir zertöpperten mit dicken Eisenketten eine Kloschüssel. Der Anblick des zerhauenen blaßlila Porzellans verursachte mir zwar Übelkeit, aber ich wagte nicht aufzuhören. Dann war ich im Krankenhaus, wo Ärzte mit Sägen und Meißeln Schmerz oder Farbe von mir abkratzten. Es schien das Pfirsich-Festival zu sein. Ich stand auf und lief durch einen Gang, der von roten Ameisen umsäumt war. Tausende von Menschen waren da, und sie gingen alle zum großen Ananas-Feuer. Ich sah einen Mann, der einen Doughnut aus Eiskrem aß, und mir fiel auf, daß es eine Rosengirlande von meinem Grab war. Auf dem Boden lag überall Geld verstreut, und - Pech gehabt- es war elektrisch geladen. Ich sauste zu meinem Roller, dessen Scheinwerfer statt Licht Dunkelheit abzugeben schien. Vor mir waren nur Blechspielzeug und Käfige voller lebendiger Seife. Ich mußte mich beeilen, bevor das Bureau schloß, doch die Zeiger meiner Armbanduhr gingen falsch, egal wie ich sie auch ansah. Im Kinozelt war der Bildschirm leer, doch alle saßen da und schauten zu. >Was ist das?< fragte ich meine Mutter, die Vorführerin. >Schau's dir doch selbst an<, sagte sie. Auf den Röntgenbrillen standen irgendwelche Instruktionen, auf den Pappbügeln, aber in einem Code. Ich entzifferte ihn Buchstabe für Buchstabe: Es war ein Brief von Monique Van Vooren an Mamie Van 115
Doren, in dem das Menü stand. Ich bestellte Kaffee-Eier. Sie waren herrlich, aus einem transparenten Garten schlauch und Zellophanhaut gemacht. Aber dann fing die Messe auch schon an. Pater Zossima, Pater Coughlin, Pater Divine, Pater Noster, Pater Flanagan, Pater Keller und mein Pfater hielten sie ab, aber dann mußte ich einen windigen Berg besteigen, auf dem seltsame Hornissen wuchsen. Auf dem Gipfel war ... - na, egal. Nachdem ich mir einen Weg durch den Sümpf gebahnt hatte, ging ich in eine U-Bahn-Station hinunter. Sämtliche Züge fuhren zu einem Ort namens >Früh stück<. Ich ließ den Motor mit einem großen, dreibärtigen Schlüssel an. Gladys und ich rasten über den Highway, verfolgt von einer synthetischen a priori-Pro-position. Man propositionierte nämlich, sie in einer Priorei einzuschließen ...« »Die Zeit ist um!« schrie der Arzt, der beim Summen seiner Armbanduhr erwachte. »Wir machen morgen weiter.« »Aber ich habe Ihnen nicht mal die Hälfte von dem Traum erzählt! Dann durchbohrte ich ...« »Tut mir leid, aber wir haben noch weitere Patienten. Schreiben Sie alles auf, wir reden dann morgen dar über.« Mansard versteckte sich in der Lobby in einer Tele fonzelle, bis er Dr. Sky mit seinem Golfsack abmarschieren sah. Dean war untersetzt, dick und sah - insgesamt gesehen freundlich aus. Zum Beispiel trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift »Gott sei Dank, es ist Freitag«, obwohl es erst Mittwoch war. Seine Arme waren mit Dumbo und Pinocchio tätowiert. »Marine?« fragte Eliot, die Initiative übernehmend. »Nee, ich wollte sie einfach haben. Wer weiß schon, warum Kinder diese verrückten Sachen überhaupt tun.« Entfernen Sie unerwünschtes Haar! Lernen Sie 116
Fleisch zu schneiden: Menschen müssen essen! Man-sard fiel auf, daß Dean einen leichten, nicht unerfreulichen Mundgeruch hatte. Man hat Ihr Abgangszeugnis geklaut? »Dann sind Sie also Glads Boss?« Dean, ein kahlköpfiger, schwitzender Mann, den Mansard gerade erst kennengelernt hatte, lachte. »Stimmt. Sie hat mir viel von Ihnen erzählt, Mister ...« »Nennen Sie mich ruhig Dean«, sagte Dean ——. »Wollense 'n Bier? Wir haben zwei Sorten.« Mansard entschied, daß es nun Zeit war, zu reden. »Ich finde, wir sollten uns wie zwei zivilisierte Menschen darüber unterhalten, Dean.« Dean lächelte. »Dalu 'mun karon fenna«, sagte er. »Waa narrapart weearn manuungkurt barrim barrim tillit impando. Nxabo amacebo: Amakwata nekra wai?« »Ich möchte, daß Sie Gladys die Freiheit geben.« »Sagt Glad auch immer zu mir. Von mir aus geht's okay. Ich werd die alte Punze zwar vermissen, aber ...« Er machte eine geringschätzige Geste, als wolle er »Mes sentiments!« sagen. Mansard nahm eine Patrone aus der Tasche. »Freut mich, daß Sie es wie ein Mann aufnehmen, Dean«, sagte er. »Viele Männer Ihres Standes - das soll keine Beleidigung sein - hätten sicher eine Szene gemacht, hätten Zeter und Mordio etc. geschrien und so weiter.« »Ich bin nur neugierig, wissen Sie, warum Sie sie überhaupt haben wollen.« In der Stille stieß Mansards Ar mbanduhr einen leisen elektronischen Kreischer aus. Warum wollte er sie haben? Wie sollte er es in Worte kleiden? Er schaute zu ihr hinüber, wo sie mit hochgelegten Füßen vor dem Fernseher saß. Die Hälfte ihres Gesichts lag im Schatten. Von der anderen Hälfte entfernte ihre Hand mit einem silbernen Stößel in regulären Intervallen Mitesser. Er dachte an die Zeiten, in denen sie sich geweigert hatte, 117
zu ihm zu kommen, an die Zeiten, als er in den Wandschrank geeilt war, um sein heißes Gesicht auf den kühlen, feuchten Mop zu pressen und ihren süß -sauren Wohlgeruch zu inhalieren. Ihr Mop! »Man wird der Erklärungen müde«, sagte er. »Das erinnert mich an was. Was wird aus den Kin dern?« »Ich hatte gedacht, wir schicken sie auf eine Art Schule oder in ein Ferienlager«, sagte Mansard leichthin. »Na ja, nichts so wahnsinnig Teures, aber exklusiv sollte es schon sein.« Dean runzelte die Stirn. »Ich wette, daß es heutzutage ganz schön schwierig ist, was Anständiges zu finden.« »Und wie! Die Preise sind absurd - es muß an der Regierung liegen.« »Hat Gladys erst kürzlich auch gesagt. Genau dasselbe. Ich weiß auch nicht, was noch aus dem Land wer den soll.« Deans Gesicht rötete sich. Er haute auf den Tisch und schrie: »Das ist doch alles Scheiße! Es macht mich ganz krank, wenn ich sehe, wie die Regierung den Kleinen Mann herumstößt!« Im Innern dieses Federhalters befindet sich eine Qualitäts-Heftmaschine! Im Innern dieser Scotch-Flaschen-Nachbüdung befindet sich ein Radio mit neun Transistoren, das auf dem Weg ist, das Geschäftsführer-Geschenk zu werden! 24 Karat goldene Erdnüsse enthalten Feuerzeug, Pülenschachtel oder Geschäftsführer-Werkzeugkasten! »Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagte Mansard. Er öffnete ein kleines, goldgefülltes Federhaltermesser. In der Regel wurde es dazu verwendet, die Enden jener Zigar ren abzuschneiden, die er in Havanna rollen und von Spezialmaschinen einfliegen ließ. Heute jedoch wurde es einer neuen Bestimmung zugeführt: Er kniff damit die Patronenkugel ab. »Was haben Sie denn da, eine Kugel?« »Ja, eine blaue Bohne.« Dean öffnete zwei unterschiedliche Bierdosen. »Ich 118
sehe, Sie machen ein Dum-Dum-Geschoß daraus. Hübsche Idee.« Mansard zeigte ihm seine Kanone. Deans Augen weiteten sich. »Ist die schön!« »Danke. Ich nenne sie mein Schießeisen.« Eliot zog den Schlitten nach hinten. »Soweit ich weiß, ist ein Fünfundvierziger die reinste Ramme«, sagte Dean. »Die schmeißt einen Menschen um, wenn man sie nur mit dem kleinen Finger antippt. Aber wie ist der Rückstoß?« Mansard lud und spannte die Kanone. »Na ja, am Anfang ist er ziemlich stark, aber ich habe geübt.« Gladys stand auf, als er über den Lauf auf Deans Herz blickte. »Nein, das tust du nicht!« kicherte sie und warf sich in die Schußlinie. Eine Europareisende sollte mitnehmen: vier Nylonhöschen, sechs Paar Nylonstrümpfe, zwei Petticoats, zwei Büstenhalter, einen Cardigan-Pullover, ein Paar Hosen oder Bermudashorts, ein Paar Sandalen, ein Paar gute, robuste Wanderschuhe, ein paar Pumps für den Abend: Badekappe und -anzug, ein Strickkleid für den Tag, eine bügelfreie Tagesbluse ...
»Verdammt«, sagte Dean und schaute auf die Leiche. »Ich werde sie wirklich vermissen. Ist Ihnen aufgefallen, wie treu sie war - sie starb, um mein Leben zu retten. Ist Ihnen das aufgefallen?« »Ja. Ich nehme an, daß die Polizei dies hier haben will.« Mansard zog einen Kugelschreiber aus der Tasche, der seinen Namen in Goldschrift trug (60 Cent pro Dutzend, inklusive Porto und Verpackung), schob ihn in den Lauf der Automatik, um die Fingerabdrücke nicht zu verwischen, und reichte sie ihm.
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Das Momster Sie ließen ihn einfach auflaufen. Und zumindest für Sewell war es noch erniedrigender, daß ihn eine Ma schine einfach auflaufen ließ. Sie lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück, sah über seinen Kopf hinweg, legte die Plastikfingerspitzen gegeneinander und mimte ein Zögern, bevor sie sprach. »Es tut mir leid, Mr. Sewell, aber wir haben, offen gesagt, unsere Zweifel. Ihre Prüfungsergebnisse ... Ich möchte zwar jetzt noch kein endgültiges Nein aussprechen, aber die Aussichten sind mies. Mies!« »Ich verstehe schon. Ich soll den Galaktischen Forschungsdienst nicht anrufen - er ruft mich an.« Roger Sewell stand auf. »Aber ich hätte erwartet, daß ich den GF-Stiefel von einem menschlichen Gesprächspartner kriege, statt von einem Ding, das nur von den Hüften aufwärts an menschlich aussieht.« »Warten Sie!« Die Maschine hob eine Hand, die mit einem militärischen Klassifizierungsring versehen war. »Warten Sie, bis ich fertig bin. Da wir Ihre Prüfungser gebnisse kennen, hätten wir diese Art Verhalten eigentlich erwarten müssen. Sie müssen lernen, mit der vor gegebenen Realität zurechtzukommen, Mr. Sewell. -Wir werden Ihre Ergebnisse und Ihr Gesuch jetzt an den Vorstand weiterleiten, dessen Beschluß bindend sein wird. Sie sind durchaus noch nicht aus dem Rennen - es sei denn, sie wollen es sein.« Sewell wäre am liebsten um den Schreibtisch herumgegangen, hätte das konzentrische Ding gepackt, das die untere Hälfte seines Gesprächspartners bildete, und es aus dem Sockel gerissen, damit »er« mit einem eingefrorenen Lächeln auf dem »Gesicht« zurückblieb. Aber ebenso gern wollte er Forscher werden, und es gab nur einen Weg hier heraus - durch den GF. Deswegen blieb er sitzen und musterte das Plakat des 120
Forschers mit den üblichen Attributen: Grübchen am Kinn, weiße Zähne, blondes Haar, von außerirdischem Wind zerzaust, und weitblickend blaue Augen. Drei Blitze verbreiteten die Botschaft: »MAN BRAUCHT SCHNEID.« »MAN BRAUCHT PHANTASIE.« »SIND SIE MANNS GENUG?« Sein Gesprächspartner räusperte sich. »Wir werden Sie dann anrufen, Mr. Sewell.« Wer den Vorstand auch bildete (und er stellte sich einen Kreis humanoider Mechanismen vor, die einander grinsend zunickten), sie gaben seinem Gesuch schließlich statt. Nachdem er den Ve rtrag unterzeichnet hatte, schaltete man in den ersten Gang. In einem Tag war er uniformiert, geimpft und hatte eine kurze Einweisung in sein Ziel erhalten: New Cedar Rapids. Am frühen Morgen wurde er transmittiert. Er schneeschuhte über eine Viertelmeile Sand vom Empfänger zum Hauptzelt und trug dabei eine Sauer stoffmaske und eine Schutzbrille. Es war unangenehm, ein mühsames Sichdurchbeißen. Der Wind war kalt und peitschte ihn mit Sandkörnern. Als er ankam, hatte er das Gefühl, sein Hals und seine Ohren würden bluten, als sei sein Schöpf voller Dreck. Durch die beschmierte Schutzbrille sah er zwei Gestalten, die auf ihn warteten, um ihn im Innern des Pla stikzeltes zu begrüßen - ein Mann und eine Frau. Erst als er im Innern des Zeltes war, erkannte Sewell, daß die »Frau« eine Maschine war. »Sie« war von unbestimmbarem Alter, schlank und fast hübsch - wenn man das Kinnscharnier nicht bemerkte. »Hei«, sagte sie und schüttelte seine staubbedeckte Hand. »Ich bin Rita, Ihre hiesige Partnerin. Dies ist Benny, der Mann, den sie für einen wohlverdienten Heimaturlaub ablösen.« Komischerweise war sie es, die spontan und lebendig wirkte, während Benny sich wie ein abgelaufenes Uhr121
werk verhielt. Er reichte Sewell nicht mal die Hand, sondern starrte ihn nur eine Zeitlang an. Dann wandte er sich um und ging langsam davon. Er kehrte mit einem Logbuch und einem Schreiber zurück. »Ich trage mich dann jetzt aus«, sagte er und schaute zögernd von einem zum anderen. »Er möchte, daß Sie sich eintragen«, erklärte Rita. »Damit er zurückkehren kann.« »Für einen Wohlverdienten«, sagte Sewell trocken. Er nahm das Buch und trug sich ein. Er wunderte sich über den Mann. Hätte er ihm nicht die Hand schütteln oder wenigstens Hallo sagen können? Na schön, er war müde, aber immerhin ... »Mach's gut, Benny«, sagte die Maschine. Benny murmelte eine Erwiderung, legte die Sauerstoffmaske an und schlurfte davon, ohne Sewell auch nur eines Blickes zu würdigen. »Roger Sewell«, las Rita aus dem Buch vor. »Wollen wir uns nicht duzen?« »Wie du willst. Wo kann ich meine Klamotten hintun?« »Ich werde Bennys Quartier für dich saubermachen -es ist ein Schweinestall. Ehrlich, ich verstehe einfach nicht, wie ihr Männer euch in sowas wohlfühlen könnt. Ich versteh's wirklich nicht. Ich habe übrigens keinen offiziellen Namen. Meine Hersteller haben mich Rita genannt, aber meine Freunde nennen mich alle Mom.« »Mom? Mama? Warum das denn?« »Ich habe keine Ahnung. Vielleicht halten sie's für witzig? Vielleicht nennen sie mich auch so, weil sie hier draußen eine Mama brauchen. Vielleicht, weil sie sich auf mich verlassen? Ich weiß es wirklich nicht.« Sewell faßte den Entschluß, sie überhaupt nicht mit einem Namen anzusprechen. »Tja, wie sehen meine Pflichten hier aus? Was sind die Routinesachen?« Sie lächelte. »Darüber können wir morgen reden. Jetzt mache ich erst mal dein Zimmer sauber, Roger, 122
und dann möchtest du dich vielleicht ein bißchen aufs Ohr legen. Die Reise muß dich doch ermüdet haben.« Das gefiel ihm nicht. »Nein, ich bin nicht im geringsten müde. Und mein Zimmer werde ich selbst reinigen, danke.« Das tat er auch - und warf Bennys armselige Habseligkeiten (schmutzige Socken, ein zerknicktes Kartenspiel, einen Kamm, der voller Haare war) in einen Pla stikbeutel. Er stellte Janes Bild, die philosophischen Bücher und sein Tagebuch auf. Nachdem er das Bett gemacht hatte, nahm er darauf Platz und bereitete sich auf seine Meditation vor. Die Tür wurde aufgestoßen. »Ich dachte, du möchtest vielleicht ein Täßchen Tee, Roger. Ich hätte auch Kaffee machen können, wenn es dir lieber gewesen wäre, aber da ich sowieso Tee aufgesetzt habe, dachte ich, du möchtest vielleicht mal probieren. Du kommst mir irgendwie wie ein Teetrinker vor. Ich könnte mich natürlich irren, aber meist kann ich einen Kaffeetrinker mit einem Blick von einem Teetrin ker unterscheiden. Die einzigen, die mir stets sauer aufstoßen, sind die Kakaotrinker, aber Gott sei Dank sind sie nicht so zahlreich. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber einem Menschen, der nichts als Kakao trinkt, kann ich einfach nicht vertrauen, verstehst du, was ich meine? Oh, ich weiß, es klingt verrückt, aber ...« Er saß verblüfft da und beobachtete sie. Sie redete weiter über Tee, die unterschiedlichsten Sorten und die Tatsache, daß sie alle aus der gleichen Pflanze hergestellt wurden, doch aus unterschiedlichen Teilen, die zu den verschiedensten Jahreszeiten geerntet wurden. Sie redete auch kurz über Tee-Zeremonien, von denen sie zwar persönlich nichts wußte, was sie auch freimütig zugab, und von den ungerechten Teesteuern und dem Unabhängigkeitskrieg. Sie redete weiter, bis der Tee in der Tasse, die sie hielt, kalt wurde. Dann kehrte sie in die Küche zurück. 123
Sewell klemmte einen Stuhl unter die Türklinke. Nachdem er eine halbe Stunde lang meditiert hat te, fühlte er sich gelinde euphorisch, voller Energie und einsatzbereit. Da fing der Stuhl an zu knirschen. »Warum hast du denn die Tür verrammelt? Roger, ich bin's nur! Ich bringe dir eine Tasse Tee. Roger?« Der Stuhl zersplitterte, und sie kam herein, st rahlte durch die Dampf wölken. Während er den Tee trank, erzählte sie, daß Benny und die anderen zu dieser Tageszeit immer gern ein Täßchen Tee getrunken hätten. Benny war als Engländer natürlich auf Tee mit Milch fixiert. Sie selbst stand auf Zitrone. Manche wollten gar nichts drin haben. Dann gab es noch Katzenminze, Kamillentee und Pfefferminztee ... Sewell brachte ihren Redefluß zum Stoppen, indem er sie nach der Arbeit fragte. »Oh, mach dir deswegen keine Sorgen. Nicht heute. Du bist doch gerade er st angekommen, um Himmels willen. Geh die Sache langsam an!« »Ich bin nicht hier, um eine ruhige Kugel zu schie ben«, schrie Sewell zu seiner eigenen Überraschung, »sondern um etwas zu erforschen. Wirst du mir jetzt erzählen, wie's hier läuft, oder soll ich dich abschalten?« »Tut mir leid.« Sie schwieg für einen Moment und klemmte ihre Plastikfinger hinter die Enden ihrer Schürzenbänder. »Roger, ich wollte es dir nicht sofort auf die Nase binden, aber Tatsache ist, daß hier gar nichts läuft. Es gibt überhaupt nichts, was du tun könntest.« »Was soll das heißen?« Er sprang auf und packte ihre Kehle. »Was willst du damit sagen?« »Es stimmt«, sagte sie mit flacher Stimme. »Du kannst die allgemeinen Vorschriften lesen - und sämtliche Befehle der letzten dreißig Jahre, von Anfang an, als wir erstmals nach New Cedar Rapids kamen.« »Ich glaube, genau das werde ich auch tun!« Er warf 124
sie gegen die Wand und marschierte ins Büro. Eine Stunde später, als sie ihm ein Sandwich mit Milch brachte, saß er immer noch da und raufte sich das sandige Haar. Es stimmte. Die ersten Forscher hatten den Planeten vermessen, seine einzige Gebirgskette entdeckt, die Konsistenz des Sandes untersucht, der nahezu alles bedeckte, die beiden Seen ausgelotet, ihr Wasser geprüft und die Klimaverhältnisse aufgezeichnet. Jetzt war die Arbeit - was den GF betraf - beendet. Tägliche Wetterbeobachtung und periodische Untersuchung des Sandes konnten am besten von Maschinen ausgeführt werden. Man hatte einen Mann auf New Cedar Rapids stationieren müssen, um den Anspruch des GF aufrechtzuerhalten, »für den Fall«. Es gab nichts für ihn zu tun - und das zwei Jahre lang! »Ich glaube, ich gehe mal raus und sehe mich ein bißchen um«, sagte er später am Abend. »Wo ist das Atemgerät?« »Tja - sowas gibt's hier nicht, Roger. Wir haben schon seit Jahren keine mehr. Es gibt nur die, die der jeweilige Neue trägt, wenn er ankommt, und die nimmt der Alte dann mit, wenn er wieder geht.« »Verflucht!« Er dachte einen Moment lang nach. »Aber ich könnte es vielleicht eine Weile mit einem Luftfilter aushallen. Ich versuche es mal.« Die Maschine hatte inzwischen angefangen, Plätzchen zu backen, und das ganze Zelt duftete nach ihnen. »Dann solltest du aber früh aufstehen«, sagte sie. »Später wird der Wind nämlich ziemlich stark.« Aber am nächsten Morgen verschlief er, und als er erwachte, erwachte er mit dem wohligen Gefühl, die Schule zu schwänzen. So übel ist es hier ja auch nicht, dachte er. Es gab eine Million Dinge, die der Mühe wert waren, die Zeit auszufüllen: Er konnte seine Studien in logischem Empirismus fortsetzen, sich voll und ganz in sie vertiefen, und vielleicht sogar den einen oder ande125
ren kritischen Aufsatz zu diesem Thema verfassen. Dann war da noch sein Tagebuch. Na schön, dann würde es eben nicht die Aufzeichnungen seiner Aben teuer enthalten, sondern die seiner Gedanken und Ein drücke aus dem Zentrum eines Sandsturms. Er konnte einen Roman schreiben. Schlußendlich konnte er meditieren. Und er konnte gleich damit anfangen. Doch zuerst mal: Frühstück im Bett. Sie lehnte im Türrahmen, fragte ihn, was er geträumt hatte, kommentierte die Art, in der er sein Zimmer eingerichtet hatte. »Ist das deine Freundin?« >ln Liebe, Jane<. Ist das nicht süß? Ein hübsches Mädchen. Genau das, was man fotogen nennt. Manche Mädchen kommen einfach auf Fotos nie richtig raus, während andere auf ihnen viel bes ser aussehen als in Wirklichkeit, nicht wahr? Ich wette, Jane gehört zu diesem Typus.« »Was ist mit dir, Rita-Mom? Ich wette, dein Bild sieht exakt so aus wie du leibst und lebst, he?« Er kicherte, als er sah, daß er voll ins Schwarze getroffen hatte. Er wollte den Rest des Morgens mit ein bißchen Philosophie verbringen, doch sie unterbrach ihn a) um den Raum zu säubern (»Das steht so in den Vorschriften«) und b) um ihn zu fragen, was er zu Mittag essen wolle. Das Mittagessen war ausgezeichnet, doch das selbstgebraute Bier, das sie ihm dazu servierte, machte ihn müde. Er träumte von Jane, doch die Maschine hörte nicht auf, seine Träume in den unmöglichsten Situationen zu stören. Dann wurde auch Jane zu einer Maschine, und er entdeckte, daß sie - von den Hüften an abwärts - lediglich aus einem Koaxialkabel bestand. Er wachte am Spätnachmittag mit Kopfschmerzen und einem schlechten Geschmack im Mund auf. Mom war da - mit einem Aspirin und Zitronentee. »Ich habe den ganzen Tag vergeudet«, sagte er. »Es wird schon dunkel.« »Du hast dich nur noch nicht angepaßt«, sagte sie besänftigend. »Der Tag hat hier nämlich nur zwanzig 126
Stunden. Ich habe nie herausgefunden, warum sich alle an die irdische Uhr gehalten haben, statt die Stunden so zu kürzen, daß sie wieder vierundzwanzig ergeben. So bliebe zwar jeden Tag ein bißchen Zeit übrig, aber dadurch gewinnt man ja alle paar Monate wieder einen hinzu. Oder verliert man einen? Ich vergesse ewig, ob man die Uhr vor- oder zurückstellen muß, du auch? Bei der Sommerzeit ist es genauso ...« Und weg war sie wieder, ignorant pünktlich jede (normale) Stunde einen Vortrag haltend. Sie ist nur eine Maschine, sagte er sich. Er konnte sie jederzeit abschalten. Nach dem Abendessen setzte er sich vier Stunden lang vor sein Tagebuch, aber alles, was er schreiben konnte, war: »Sand. Sand. Sand.« Die folgenden Tage sahen nicht anders aus. Seine philosophischen Studien versandeten an jenem Tag, an dem sie ihm zeigte, daß sie Wittgenstein Seite für Seite abspulen konnte - und zwar auf deutsch und auf englisch, so daß Wittgenstein reine Zeitverschwendung wurde. Ihm fiel auf, daß er zunahm, dann fiel es ihm nicht mehr auf. Schließlich hängte er ein schmutziges Unterhemd über den Spiegel seines Zimmers und verbat ihr, es anzurühren. Sie unterbrach seine Meditation so oft, bis er feststellte, daß er sie auch ohne Störung nicht mehr praktizieren konnte. Er rasierte sich nicht mehr, anfangs, um sie zu ärgern, dann völlig ohne Grund. Als sie eines Tages saubermachte, warf sie Janes Bild zu Boden und zer brach das Glas. Er verbat ihr, den Raum je wieder sauberzumachen. Scheiß auf die Vorschriften! Er fand ihren Vorrat an Selbstgebrautem und betrank sich. Dabei saß er auf dem Küchentisch und lauschte ihrem endlosen Geschwätz. »Halt die Klappe!« schrie er. Er packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Halt um Himmels willen 127
endlich die Klappe!« Er brachte ihren sich bewegenden Plastikmund mit seinem eigenen zum Schweigen. »Ich möchte eine Frau«, murmelte er. Langsam, doch entschlossen, schoben die Eisenstangen in ihren Armen ihn beiseite. Ihr Ausdruck war gelassen, wie immer. »Leider haben meine Hersteller dein Bedürfnis nicht einkalkuliert«, sagte sie trocken. »Was?« grunzte er, während sein gerötetes, ver ständnisloses Gesicht über ihr hing. Er hatte inzwischen leichte Schlagseite. »Ich bin keine Frau«, sagte sie und betonte die Worte dabei langsam und deutlich. »Ich bin eine Puppe, Roger.« Er wankte auf den Knien und kotzte. Und dann lag er flach in der Kotze und wollte schlafen. Am Morgen schrieb er einen neuen Eintrag in sein Tagebuch. »Wir alle sind Maschinen oder ...« Er legte den Filzschreiber hin, ohne ihn zu verschließen. Die darin befindliche Farbe trocknete aus, und die Seite mit dem begonnenen Eintrag setzte Staub an. Mit feiner Ironie fing er an, sie »Mom« zu nennen. Es wurde zu einer bedeutungslosen, gewohnheitsmäßigen Form der Anrede. Er wollte in den Sandsturm hinausgehen - nur einmal, bevor seine Ablösung eintraf. Doch er hatte Angst. Mom sprach über Janes Foto. »Ich meine, da das Glas sowieso zerbrochen und es wirklich blöd ist, sich anhand von Fotografien an Leute zu erinnern, an die man sich entweder sowieso erinnert oder ...« Er berührte den Schalter an ihrem Ohrläppchen, und sie wurde zu einer Statue. In der Stille konnte er ihr Uhrwerk ticken hören. Er verhüllte sein Gesicht mit einem Fetzen Stoff und ging hinaus. Es war unmenschlich kalt. Die gesichtslose Landschaft, die ihn umgab, lag brach. Sie war der Grund ir128
gendeines leblosen Meeres, kalt, leer, beängstigend. Mit einiger Anstrengung stieß Roger sich von der Tür ab und watete ein paar Schritte hinaus. Dann, als der Morgenwind die öde Wüste berührte, wurde sie lebendig. Die Dünen verwischten und veränderten sich, und das Sonnenlicht wurde matter. Roger atmete schwerer. Was tat er hier? Der Wind war jetzt ungestüm; er versuchte seine Beine einzugraben und schleuderte ihm Sand ins Gesicht. Hier konnte ein Mensch vergehen wie ein Aufschrei, unbemerkt, inmitten der sinnlosen Be wegungen des Sandes. Roger spürte, wie er ihn einhüllte. Die Tür, nur ein Dutzend Schritte entfernt, erschien ihm nun unerreichbar. Er sah sich ersticken, sterben, die Lungen voller Sand, das Fleisch von den Knochen gerissen, die Knochen selbst zu Sand zermahlen ... Roger stolperte ins Innere und fiel hustend und flu chend über sein Bett, während die Tränen ihm aus den entzündeten Augen flössen. Es dauerte einige Zeit, ehe ihm mit einem Schock bewußt wurde, das er hysterisch geworden war. »Man hat mir erzählt, daß man als Forscher Mumm und Phantasie haben muß«, schrieb er in sein Tagebuch. »Es war eine Lüge. Ein Forscher muß ein Feigling sein, der Angst davor hat, irgend etwas zu tun, das über seine Befehle hinausgeht. Er muß in der Lage sein, nicht an Frauen zu denken, keine Gedankenketten zu verfolgen oder überhaupt zu denken und zu fühlen. Er muß lediglich mit dem Weltlichen, dem Alltäglichen, fertig werden - der vorgegebenen Realität<, wie man es mir gegenüber ausgedrückt hat. Ich glaube, der GF war sehr erfindungsreich bei dem Gedanken, jeden Forscher mit einer Mama zu versehen, um ihn zu zerbrechen und zu einem wirkungsvollen Werkzeug zu machen. Wer mit Maschinen zusammenlebt, wird maschinenähnlich, und jetzt verstehe ich auch, daß der Name Mom mehr als ein Ehrentitel ist. Sie 129
ist tatsächlich die Mutter des Mechanismus' Roger Sewell.« Es war clever vom GF, sie mit einem Schalter zu versehen, dachte er. Als erfülle es einen Zweck, sie abschalten zu können. »... eben nicht. Na ja, wie ich sehe, hast du mich lange genug abgeschaltet, um hinauszugehen, zurückzukehren und die gesamte Unterkunft in einen Schweinestall zu verwandeln - als hätte ich nicht schon genug zu tun! Ihr Männer! Wenn es keinen Schmutz gäbe, würdet ihr ihn erfinden, darauf wette ich! Was machst du denn da? Verbrennst du dein Tagebuch? Warum, in aller Welt, tust du das? Wir hätten das Papier gebrauchen können. Vor ein paar Tagen habe ich noch gedacht, hättest du nur etwas Papier, dann könntest du dir ein paar AlternativeMenüs zu jeder Mahlzeit aufschreiben, dann brauchtest du bloß anzukreuzen, was du magst, und ich brauchte dich nicht mit einem Haufen Fragen zu löchern. Und ich hätte dich dazu gebracht, daß du mir sagst, ich rede zuviel, ich weiß doch, daß du das denkst. Zumindest brüte ich nicht vor mich hin, mein Geist ist ein offenes Buch ...«
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Anno Domini 1937 Stell dir, wenn du willst, einen Erfinder vor, der 1878 in einem Fahrradgeschäft arbeitet. Dann und wann rutscht ihm sein langes Haar vor die Augen; er schüttelt es ungeduldig beiseite, beugt sehnige Arme gegen einen Schraubenschlüssel und beißt sich geistesabwesend auf die Lippe. Hin und wieder legt er vielleicht eine Pause ein, um einen Schluck der kühlen Limonade zu trinken, die ihm seine verwitwete Mutter gebracht hat. Dann nimmt er ein Schlückchen zu sich und wirft einen Blick auf das Bild Sam Franklins, das an der weißgekalkten Holzwand hängt. Früh ins Bett und früh aufstehen ..., denkt er. Ein gesparter Penny ist ein verdienter Penny. Seine ernste Stirn runzelt sich noch mehr, als er das letzte Körnchen Wahrheit aus diesen Sprichwörtern saugt. Ein solcher Erfinder war Emil Hart. Er und seine Mutter teilten sich ein kleines Häuschen im Zentrum des Staates Kiowa. Ihr bescheidenes Heim war - abgesehen von einer gewaltigen Miete, die die Witwe zu reduzieren hoffte völlig unscheinbar. Schließlich nähte sie listig AntiMacMillans (Spitzendeckchen, die dazu dienten, Sofa- und Sesselbezüge vor der damals populären Haarpomade der Firma MacMillan zu schützen) und verkaufte Pfaueneier. Emil erhöhte sein mageres Ein kommen, indem er Fahrräder reparierte und die Friday Evening Post (gegründet von Sam Franklin) verkaufte. Dennoch wußte er, daß das Schicksal Größeres für ihn bereithielt - er würde die Zeitmaschine erfinden! Eines Tages kam Fenton Morbes, der Ortsrüpel, bei ihm vorbei. Als er die große Maschine sah, die die ganze Werkstatt einnahm, stieß er einen erstaunten Pfiff aus. »Was machsten da?« fragte er. »Ich raste nur ein Stück Isingglas ein«, sagte Emil und warf sein Haar zurück. Er hatte nicht genug Zeit, um sie an Morbes zu verschwenden. 131
»Ich mein ... Was bausten da?« Morbes löste seine Fahrradspangen und warf sie sorglos in eine Ecke. Sie waren aus teurem Aluminium hergestellt, denn er war reich. Emil seufzte. »Ich konstruiere einen Temporalexplorator«, sagte er. »Er wird mich befähigen, in die Zukunft zu reisen.« Dem Rüpel fiel die Kinnlade runter. »Was sollen der Scheiß«, sagte er. »Sowas gibt es doch gar nich!« Mit einem wissenden Lächeln beugte Emil sich über seine Arbeit. Nachdem er das Stück Isingglas in ein Getriebe von sonderbarer Form eingesetzt hatte, machte er sich daran, ein paar Drähte an einer Telegraphentaste zu befestigen. Morbes' Gesicht wurde oberhalb seiner breiten Sattelnase rot. Er war es nicht gewöhnt, daß man ihn ignorierte. »Was sollen der Scheiß!« sagte er noch einmal. »Selbst wenn sie funktioniert, diese Maschine bringt dir niemals genug ein, daß du deine Pfauen ernähren kannst. Von der Miete ganz zu schweigen, wenn mein Paps vorbeikommt, um sie einzutreiben.« »Einzutreiben!« sagte der junge Erfinder erbleichend. »Jawoll ja. Am nächsten Montag haste besser hundert Dollar auf der Kralle«, sagte Morbes mit einem Grinsen. »Weißte was? Wenn du mein Fahrrad saubermachst, kriegste von mir 'n ganzen Dollar. Aber 's muß blitzsauber sein, weil ich nämlich heute auf 'n Picknick geh - mit Maud Peed.« Diese Nachricht ließ Emil Hart noch bleicher werden, und er zuckte wie vom Blitz getroffen zurück. »Oh, ich weiß, daß du wild auf sie bist«, sagte der Rüpel genüßlich grinsend. »Aber sie hat keine Zeit nich übrich für'n irren Hanswurst, der in seim Laden an Zeitmaschinen rumpfuscht. Ha!« Keine Zeit für ihn! Während die Farbe aus Emils Gesicht wich und sich auf dem seines Rivalen niederließ, fragte er sich, welch seltsames Schicksal sie beide dazu 132
bestimmt hatte, um die Hand der lieblichen Maud Peed zu konkurrieren. Na schön. Er hob seinen tränenver hüllten Blick und musterte erneut das Bild Sam Franklins. Seine hausbackenen Gesichtszüge und rheumatischen Augen schienen ihn zu kräftigen. Was sollte er jetzt tun, was war die richtige kolumbianische Tat? Sollte er bleiben und versuchen, Maud von Fenton Morbes zurückzugewinnen, auch wenn dies eine hoffnungslose Sache war? Oder sollte er in eine glänzende Zukunft entfliehen und dort versuchen, sein Glück zu machen? Kurz darauf hatte er eine Entscheidung getroffen. Er würde ins Morgen gehen! Er würde das Jahr 1937 sehen das Gelobte Land, das unser System der Jahresnumerierung ihm versprach! Er würde sich an seinen Wundern ergötzen: an den Flugmaschinen, der Brücke über den Ärmel-Kanal, an der Unsterblichkeit durch den Mesmerismus, an der Elektro-Kanone, am Weltfrieden -an einer Erde, auf der die Sonne nie auf das Banner der Vereinigten Staaten von Kolumbia geschienen hatte! »Wülste jetzt weiter das Ding da angaffen oder mein Fahrrad saubermachen?« verlangte Morbes zu wissen. »Weder noch. Du darfst dich jetzt von meinem Grund und Boden entfernen«, erwiderte Emil. Er hob die geballten Fäuste und fügte hinzu: »Geh ruhig zu Maud Peed! Und sag ihr ... Sag ihr ...« Er ließ die Arme wieder sinken, und als er den Kopf neigte, fielen ihm erneut die Haare ins Gesicht. Er sah dem jungen Abner Lincoln nicht unähnlich, dachte Morbes beiläufig. »... und sag ihr«, sagte Emil ruhig, »daß der beste Mann gewonnen hat. Ich wünsche euch beiden eine -ha, ha - glückliche Zukunft!« Mit einem erstickten Schluchzen wandte er sich ab. Sein Ausbruch hatte Morbes so überrascht, daß er nicht in der Lage war, seine freche Klappe aufzumachen. Er drehte sich um und ging hinaus. 133
Emil wußte, daß er das Richtige getan hatte. Ohne weiteres Bedauern füllte er seine Taschen mit den Keksen, die seine Mama gebacken hatte, nahm einen letzten Schluck Limonade und fing an, in die Pedale des großen Generators zu treten, der seine Maschine antrieb. Vor sich, auf dem Lenker, hatte er ein besonderes Uhrenzifferblatt befestigt, und als die Zeiger das Jahr 1937 erreichten, drückte er auf die Telegraphentaste. »Jetzt sind wir im Jahre des Herrn 1937!« rief er aus und schaute sich um. Der Raum hatte sich nicht sonderlich verändert, doch er sah so aus, als hätte man eine Art Museum aus ihm gemacht. Emil fand sich von dicken Samtkordeln umgeben. »He, gehen Sie da weg!« sagte ein Uniformierter. Er packte Emils Arm und zerrte ihn von der Zeitmaschine weg. »Die Ausstellungsstücke sind nicht zum Anfassen da, verstanden?« Bevor der verwirrte Erfinder etwas sagen konnte, fand er sich vor der Werkstatt wieder und erblickte ein Messingschild, auf dem stand: >Emil-Hart-Gedächtnismuseum<. Er war in die Geschichte eingegangen! Emil blieb nur für einen Augenblick stehen, um sich über seinen Ruhm zu wundern, dann st rebte er der Hauptstraße des Ortes entgegen, denn er war begierig, endlich zu sehen, welche Veränderungen die Zeit er bracht hatte. Ihm fiel auf, daß die Straßen eine neue, harte Oberfläche aufwiesen, und nirgendwo lagen Pferdeäpfel! Dann sah er sie. Sie standen in einer Reihe am Straßenrand: große schienenlose Lokomotiven, genau wie er sie sich vorgestellt hatte. Während er sie musterte, kamen zwei Männer aus einem Geschäft und stiegen in eine der Lokomotiven ein. Durch das Fenster konnte Emil sehen, wie er Kohlen in einen Kessel schaufelte, während der andere Mann die Ventile aufdrehte. Kurz 134
darauf bewegte sich die große, puffende Maschine über die Straße. Emils momentane Erleichterung löste sich sofort auf, als er sich umwandte, um sich die Geschäfte anzusehen. Auf der Hauptstraße gab es nicht einen einzigen Neubau, und obwohl viele Geschäfte inzwischen große Plattenglasfenster installiert hatten, waren die darüber befindlichen Fassaden verblaßt, schmutzig und abgenutzt. Delmonicos Mittagsstübchen hieß zwar nun Esseria, doch Carlsons Pfauenfutterladen hatte nicht ein mal das Firmenschild gewechselt. Emil begutachtete die Auslagen eines Textilgeschäfts, und sein Magen drehte sich angesichts der stumpfen Vertrautheit um. Warum hatte man noch nicht die goldenen Halbnackt-Kostüme mit den Scharlachumhängen eingeführt? Die Schaufensterpuppen stellten bloß Frauen mit den gleichen blöden Hüten und langen Gewändern dar, sowie Männer in dunklen, langweiligen Anzügen. Und was noch schlimmer war, die paar Fußgänger, die er sah, trugen Overalls vom gleichen Zuschnitt und der gleichen Farbe wie er selbst. Als Emil das Ende der einzigen Straße des Ortes und die Stadtbibliothek erreichte, war er völlig deprimiert. Verzweifelt darauf aus, weitere wunderbare Erfindungen wie die schienenlose Lokomotive zu sehen, suchte er sich den Weg durch das vertraute Gebäude in den kleinen Raum, über dem »Wissenschaft und Technik« stand. Hier würde er endlich auf die vollzogene Ver gangenheit stoßen. Hier fand er vielleicht die Zukunft, die seine Heimatstadt übersehen zu haben schien. Er öffnete einen Band mit dem Titel »Erfindungen«. Ja, hier standen sie: Thomas Alva Edison - das elektrische Licht; Burgess Venn, die Flugmaschine; Gordon Q. Mott, das Televidium ... Was, in aller Welt, war das? Er suchte hinten im Buch und erfuhr, daß es sich dabei um das visuelle Gegenstück zum Radium handelte. Letzteres sandte mittels elektrischer »Wellen« verbale 135
Botschaften über lange Strecken durch den Äther; das Televidium tat desgleic hen mit visuellen Botschaften. Die Vorstellung, daß sich elektrische Wellen überall in diesem Raum bewegten, daß sie geradewegs durch seinen Körper fuhren, faszinierte Emil. Es lag nur an der Intensität seines Nachdenkens, daß er die neben ihm stehende Gestalt nicht wahrnahm. »Hallo, Emil.« Es war Morbes. »Du hast meine Maschine benutzt?« »Jawoll ja. Als ich zurückkam, um meine Fahrradklammern zu holen, sah ich, daß du weg warst. Nun ja, dachte ich - man könnte vielleicht 'n Haufen Geld machen, wenn man wüßte, was in der Zukunft so passiert. Also bin ich hier. Wo stehen hier die alten Zeihingen?« »Was hast du vor?« Emil sprang auf und stolperte über einen Stuhl. Ein anderer Leser räusperte sich vor wurfsvoll. »Ein bißchen was über Pferderennen nachlesen - und 'n paar Börsenberichte. Ich bin zwar jetzt schon reich, Emil Hart, aber dann werde ich noch reicher.« Morbes' Grinsen entblößte eine Reihe unebener, fleckiger Zähne. »Das kannst du nicht! Es wäre unehrlich! Denk doch mal an all die Kleinaktionäre, die durch deine Spekulationen ruiniert werden würden!« rief Emil. Er folgte dem Rüpel in den Zeitschriften-Lesesaal und packte seinen Arm. Morbes schüttelte ihn ab. »Laß mich in Ruhe!« brüllte er. »Ich tu, was mir paßt!« »Ja, lassen Sie ihn in Ruhe!« befahl eine kindliche Stimme. »Ich versuche gerade, etwas zu lesen, und sie erzeugen hier nur Unruhe.« Emil schaute um die Ecke und sah sich einem etwa zehnjährigen Jungen gegenüber, dessen Stirn bis unter den Rand seiner blonden Ponyfrisur vor Mißmut gerunzelt war. Morbes sagte grinsend: »Wo sind die Zeitungen, Kleiner? Du weißt schon: das Woll Street Journal?« »Weiß ich nicht. Hier gibt's nur das hier.« Der Junge 136
deutete auf den vor ihm liegenden Band, in dem er mit einem Federhalter herumgekrakelt hatte. Emil erkannte, daß es sich dabei um einen Band jenes großen uniformen Werkes handelte, das die Wände des gesamten Raumes einzunehmen schien. Es gab Tausende davon. »Doch darin werden Sie alles finden, wonach Sie suchen«, sagte der Junge. »Es hat nämlich auch ein alphabetisches Stichwortregister.« Die gesamten Bände trugen den Titel Universal-Synop-sis. »Na sowas!« rief Morbes, erleuchtet von einem untypischen Blitz der Intuition, aus. »Wenn ich so reich werde, wie ich es werden will, dann müßte ja auch was über mich in diesem Buch stehen.« Er suchte einen Moment, dann kam er mit einem Band an den Tisch, auf dem MORAL -MORBIDE stand, und nahm dem Jungen gegenüber Platz. »Hier steht's! Morbes, Fenton Junior«, las er mit gewaltiger Lautstärke vor. »Lies nicht weiter!« sagte Emil. »Wir sind nicht dazu bestimmt, unsere Zukunft zu kennen.« »Was für'n Scheiß! Wer will mich denn dran hin dern?« »Ich!« rief Emil laut. Er riß dem Jungen den Federhalter aus der Hand, tauchte ihn ein und strich die Passage durch, die Morbes gerade lesen wollte. »Hör mal, warum hast du das getan? Ich ...« Mit einem hörbaren Klicken löste Fenton Morbes sich auf. »Wie interessant«, sagte der Junge. »Also hatte ich doch recht. Dies ist die einzige erhalten gebliebene Ausgabe.« »Was?« Emil stand wie gelähmt da und gaffte die leere Stelle an, die sein Rivale so plötzlich hinterlassen hatte. »Sie wissen nicht, was passiert ist? Es war der >Doppler-Effekt<, benannt nach mir, Julius Doppier. 137
Wollen Sie sich nicht hinsetzen? Dann werde ich es Ihnen erklären.« Emil ließ sich auf den Stuhl niedersinken und brachte es mit einiger Anstrengung fertig, den Blick auf das ernste sommersprossige Gesicht zu richten. »Ich habe nämlich die Theorie entwickelt, daß die Zukunft die Vergangenheit beeinflußt. Ich hatte das Glück, die Universal-Synopsis zu finden, um sie daran zu testen. Wenn sie, wie ich glaubte, die einzige Ausgabe des einzigen Buches wäre, in dem viele Sachen stehen, dann folgt daraus, daß ich die Vergangenheit verändern kann, indem ich sie einfach umschreibe.« »Aber wie kann man die Geschichte verändern?« fragte Emil verblüfft. »Mit einfacher Semantik: Das Wort ist die Sache zumindest nachdem die Sache an sich zu existieren aufgehört hat. Verändere ein Wort in der Zukunft- und du veränderst die Sache, für die es einst gestanden hat. Lassen Sie's mich Ihnen zeigen.« Der Junge blätterte zu einer anderen Seite seines Bandes weiter und deutete darauf. »Hier habe ich zum Beispiel den Namen >Sam Franklin< in >John Franklin< geändert. Aber wenn in der Zukunft jemand vorbeikäme und würde ihn in - sagen wir - >Ben< ändern; tja, dann hieße er Ben, verstehen Sie?« »Nein.« »Na schön, sehen wir uns mal das hier an.« Julius wandte sich einer Karte der Vereinigten Staaten zu. Da war der vertraute rosafarbene Rhombus, der Kiowa darstellte, und genau darüber das grüne Stundenglas von Minnehaha - aber die Namen stimmten nicht! »Kiowa« war ohne K geschrieben, und »Minnehaha« hieß hier »Minnesota«! Und das Wort, das am unteren Rand der Karte den »Vereinigten Staaten von« folgte, war nicht Kolumbia, sondern irgendein unaussprechliches lateinisches Wort! Die Karte war falsch, sie war voller Druckfehler! 138
»Vergangene Woche«, sagte der Junge, »habe ich mit Tinte diese Änderungen vorgenommen. Und jetzt -diese Woche - sind sie ein Bestandteil des Originalbuches.« »Aber wie kann das sein?« Julius runzelte die Stirn. »Ich glaube, daß die Vergangenheit die Zukunft beeinflußt«, sagte er. »Aber dieser Einfluß geht langsamer vonstatten. Meine Theorie ist zwar wirklich ganz einfach, aber ich könnte sie Ihnen wahrscheinlich nicht erklären, jedenfalls nicht ganz. Wieso auch, Sie verstehen ja nicht mal, was e = mc 3 heißt, oder?« »Eins verstehe ich aber«, sagte Emil und sprang auf. »Ich weiß, daß ich den armen Morbes umgebracht habe! Ich bin ein Mörder!« »Nehmen Sie's nicht so tragisch«, sagte der Junge. »Sie hätten's ja nicht getan, wenn ich nicht gewesen wäre. Tatsächlich ist es so, daß Sie nur deswegen durch die Zeit gereist sind, weil ich Ihren Namen mit einer handschriftlichen Randbemerkung versehen habe.« »Meinen Namen?« Emil war wie elektrisiert, als er sich an seinen Ruhm erinnerte. »Meinen Namen ... Möchtest du einen Keks?« »Danke.« Die beiden mummelten die Kekse der Witwe Hart und diskutierten die Theorie erneut, bis Emil glaubte, sie zu verstehen. Er wußte zwar nicht genau, ob es ihm gefiel, von der Gnade der Zukunft abzuhängen, doch wenn man es sich genau überlegte, war es nicht schlimmer, als wenn man von der Gnade der Ver gangenheit abhängig war. Man überlebte. Als der letzte Keks verzehrt war, stand Emil auf und verabschiedete sich. Er trottete zum Museum zurück und kaufte sich eine Eintrittskarte. Ein paar Augen blicke später, als der Wächter gerade nicht hinschaute, bot sich ihm eine Gelegenheit, auf die Zeitmaschine zu springen. Er trat wie ein Wilder in die Pedale und strampelte ins Jahr 1878 zurück, wo sich ein herrliches 139
Gefühl in seiner Brust ausbreitete, als er wieder die altvertrauten Züge John Franklins erblickte. »Ich bin gesund, reic h und klug - oder werde es jedenfalls in Kürze sein«, brabbelte Emil vor sich hin, »Mein Rivale ist aus dem Rennen. Ich erinnere mich nicht mal mehr an seinen Namen. Und ich werde be rühmt werden!« Nachdem er seinen Sonntagsanzug angelegt hatte, nahm er sich einen Blumenstrauß seiner Mama und rauschte zum Haus der Familie Peed ab. Mr. Peed saß in einem Schaukelstuhl auf der Veranda und rieb sich mit seiner Pfeife geschäftig die Nase. »Hallo, Hart-Junior«, rief er. »Was führen Sie heute abend im Schilde, so wie Sie angezogen sind?« »Ich ...«, fing Emil an, doch dann wurde ihm klar, daß er die Antwort nicht wußte. Warum hatte er sich aufgemacht, um Mr. und Mrs. Peed seine Aufwartung zu machen? »Blumen, für Ihre Gattin«, sagte er dann laut. »Aus Mamas Garten.« »Für wessen Gattin?« fragte Peed, als er sich vorbeugte, um den Blumenstrauß in Empfang zu nehmen. »Ich bin doch gar nicht verheiratet, mein Sohn. Ich ...« Peeds ausgestreckte Hand wurde zunehmend durchsichtiger. Dann verschwanden er, die Veranda und das Haus mit einem Klicken. Es war ein Alptraum! Emil eilte nach Hause zurück, um nach seiner Mama zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wer als nächster an der Reihe war, sein Leben auszuklicken! Als er ihre gebrechliche alte Gestalt mit einem Tablett in die Werkstatt trotten sah, beruhigte er sich wieder. »Komm, laß mich das nehmen!« sagte er und nahm ihr das Tablett aus den aufopferungsvollen Händen. »Limonade und Kekse - für mich? Dullijöh, du bist wirklich lieb zu mir, Mama!« Er beugte sich hinunter und küßte ihr weißes Haar. Mit einem glückseligen Lä140
cheln trottete die alte Dame in die Küche zurück, aus der der Duft frischen Backwerks drang. Emil sah ihr ängstlich hinterher, bis sie außer Sichtweite war. Er drängte Julius in der Bibliothek in eine Ecke und verlangte eine Erklärung. »Über was?« fragte der junge Bursche. »Eine Erklä rung wessen?« »Ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich glaube, daß die Peeds eine Tochter hatten, und ebenso glaube ich, daß ich in sie verliebt war. Jetzt ist sie weg, und ihre Eltern auch - hast du schon was gegessen?« »Du hast es selbst getan, Kumpel. Als du den Eintrag über diesen Fenton Sowieso durchgestrichen hast, hast du auch den einzigen existierenden Eintrag über das Mädchen Maud durchgestrichen. Sie war seine Frau. Hast du noch ein paar Kekse?« »Soll das heißen, ich hätte sie auf jeden Fall verloren?« »Mhm-mhm«, erklärte der Junge, der den Mund voller Witwe-Hart-Kekse hatte. Durch das Ausradieren der Existenz Mauds hatte er auch ihre Eltern und deren Eltern ausradiert, und so weiter und so weiter - bis zurück in jene Zeit, als irgendein Verwandter berühmt genug gewesen war, einen eigenen Eintrag in die Universal-Sy-nopsis zu erhalten. Es fiel Emil nicht leicht, dieser Erklä rung zu folgen, da der Junge nicht nur mit vollem Mund sprach, sondern weder er noch Emil sich genau daran erinnern konnten, worüber sie überhaupt diskutierten. Wie Julius sagte, war alles sehr mythisch - oder vielleicht hatte er auch mystisch gesagt. Endlich kapierte Emil, daß er das einzige Mä dchen verloren hatte, in das er je verliebt gewesen war. Sein Kummer war ungeheuerlich. Er wußte, daß alles seine Schuld war. Hätte er doch bloß keinen Blick auf die goldenen Türme und Zinnen der Zukunft werfen wollen! Wäre er doch nur beschei141
den geblieben! Seine Sünde war sein Stolz gewesen, jener Stolz, der vor (oder - laut Julius - nach) dem großen Fall kommt. Wie hatte es überhaupt ausgesehen, dieses Mädchen, das er verloren hatte? Er hatte ein paar flüchtige Erinnerungen an ihre lieblichen, haselnußbraunen Augen -oder ihr Haar. (Oder hatte er sie Hazel genannt?) In tie fer Verzweiflung bettete er den Kopf auf die Arme und flennte, ohne sich seiner Tränen zu schämen. »Hier, lies das mal!« sagte Julius Doppier. »Das wird dich wieder aufrichten.« Es handelte sich um den Band HART -HASENSCHARTE, und darin stand: »Hart, Emil (1860-?), Erfinder der Zeitmaschine und einziger erfolgreicher Zeitreisender. Verließ das Jahr 1878 und reiste ins Jahr 1937, wo er in einer Stadtbibliothek Julius Doppier (siehe dort) traf, der ihm den berühmten >Doppler-Effekt< erläuterte den Einfluß der Zukunft auf die Vergangenheit. Nach diversen Schnitzern las Hart schließlich seine eigene Geschichte in der Universal-Synopsis (siehe dort) und machte sich während des Lesens klar, daß er einen kostspieligen Fehler hätte vermeiden können, wenn er sie eher gelesen hätte: die Auslöschung einer wahrschein lich mythischen Frauengestalt der Geschichte. Als ihm all dies klar wurde, soll Hart Zeugenaussagen zufolge gesagt haben: >Pest und Hölle! Warum bin ich nicht eher darauf gekommen?<« »Pest und Hölle!« sagte Emil und klopfte sich gegen die Stirn. »Warum bin ich nicht eher darauf gekommen?« Damit lieferte er allerdings keinen Verweis auf seine bereits begangenen Fehler, sondern auf die noch vor ihm liegenden Erfolge. Er borgte sich den Federhalter aus, mit dem Julius gerade die Pfauen in Hühner umgewandelt hatte, und schrieb das Folgende an den Rand: »Verdutzt wiedererschuf der tollkühne Erfinder sein Mädchen Hazel Peid aus der Erinnerung und fügte 142
sie seiner Lebensgeschichte hinzu. Nach kurzer Verlo bungszeit heirateten die beiden. Der forsche Hart wurde zu einem gesunden, reichen und klugen Mann.« Nach einem Moment des Nachdenkens fügte er hinzu: »Und nichts, was irgend jemand diesem Eintrag in der Zukunft hinzufügen wird, konnte es verhindern.« Dann gab er Julius seinen letzten Keks und kehrte zurück. Sie befand sich in seiner Werkstatt - die liebliche Ha-zel Peid mit dem haselnußfarbenen Haar und den ha selnußfarbenen Augen - genauso, wie er sie in Erinnerung hatte. Emil fiel vor ihr auf die Knie, warf seine störrische Locke nach hinten und sagte: »Miß Peid, wollen Sie meine Frau werden?« »O ja!« rief sie und klatschte in die kleinen, wohlgeformten Hände. »Dann wird's ja bald eine Feierlichkeit geben«, sagte Mama und schlurfte mit einem Tablett herein. »Möchtet ihr etwas Limonade und ein paar Kekse?« Emil und seine Verlobte umarmten sich, während Ben Franklins rheumatische Augen ihnen ein segnendes Lächeln zu schenken schienen.
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Geheimidentität Oxbox, mein indischer Kammerdiener, brachte mir eine druckfrische Ausgabe von Jean-Claude Odeons seltenem dadaistischen Buch Ö, das seit langem nicht mehr lieferbar ist. »Ein unerwarteter Genuß, das versichere ich dir«, sagte ich und schlug es auf Seite 47 auf. Zufällig wußte ich nämlich, daß echte Ausgaben dieses Buches, dessen 453 Seiten (21 Zeilen ä 51 Anschläge pro Seite) ausschließlich aus dem Buchstaben >6< bestehen, einen gewissen Satzfehler aufwiesen. Und tatsächlich, der dritte Vokal auf Seite 47 hatte keinen Accent circumßex. »Dieser Fehler«, erklärte ich Oxbox, »macht den Unterschied zwischen einem der seltensten Bücher der Welt und einer billigen Fälschung aus, die nur ein paar Dollar wert ist. Dieses Buch ist echt.« Ich riß Seite 47 heraus und aß sie, wobei ich sie mit Guardia Civil hinunterspülte, einem Schnaps, der aus Ovaltin gewonnen wird. »Aber wer könnte es geschickt haben, Oxbox?« »Ich nicht wissen, Boss-Wallah,« sagte er. »Es kommen vor paar Minuten mit eine Sonderkurier in einfache Packpapier.« Ich schnippte mit den Fingern. »Ich wette, es war Margo!« »Das stimmen, Kimo-Sabe. Ich nicht daran denken.« Mein Diener kratzte sich bestürzt am Kopf. Meinen Wunsch vergötternd, schob er mir das Telefon hin, damit ich meine Freundin und »Gefährtin«, die liebliche Margo, anrief und um eine Verabredung bat. »Au weia«, sagte sie. »Und ich wollte mir grad die Haare waschen.« Doch so leicht ließ ich mich nicht abwimmeln. »Margo, du allerlieblichstes Geschöpf«, röchelte ich in ihren Hörer. Bevor wir auf der Party ankamen, sagte Rose 144
Garland, die immer noch junge Gold Star-Mutter: »Vergiß nicht, Brad! Sechs Millionen Juden!« »Nicht genau.« Brad, ihr immer noch gut aussehender Ehemann, lächelte tolerant. »Du vergiß t, daß die Deutschen ungeachtet ihres Rufes, gründlich zu sein, schon immer notorische Buchhalter waren.« »Notorisch schlechte, meinst du wohl.« »Ach, wer kann schon sagen, was schlecht ist?« Der Müll unter Mrs. Onagers Spüle wuchs allmählich an. Rose las, und Brad schaute ihr dabei zu. Er hatte die Gordimer-Trilogie von P. B. X. Thomson bereits beendet: Gordimers Chance, Gordimers Bestimmung und Gordi-mers Torheit. Jetzt wartete er auf Gäste, mit denen er sie diskutieren konnte. Vielleicht würde man auch über Roman, einen Roman Horace Mattricks, des Ehrengastes, diskutieren. Mattrick war allerdings noch nicht da. Fenster Doybridge war nicht einmal eingeladen worden. An der Küchentür sagte Gene Nein zu Eileen. Jahre zuvor, als ich noch in Greenwich Village gelebt und Oxford-Schuhe getragen hatte, hatte man meinen Hispano-Suiza wegen Überziehung der Parkdauer Parken unausweichlich verknollt. Gene stand auf und ging hinaus, um an einem Tref fen der Zivilverteidiger teilzunehmen. Tad kroch herein und übernahm seinen Platz. »Warum nennt man dich eigentlich >Tad« fragte Eileen. Mein Hispano-Suiza stand jetzt in der Garage und hatte eine Spezial-Bazooka unter die Motorhaube montiert. Ich schlang mir einen weißen Schal um den Hals, quetschte mich durch ein Brett auf der Rückseite meiner Medizinkiste und kletterte aufs Dach. Mein Nieuport war da, er pulsierte bereits vor Leben. »Halt ein Auge auf die Sachen, Oxbox!« rief ich über 145
das heisere Brüllen des Motors hinweg. »Vielleicht bin ich erst morgen zurück.« »Ich machen, Sahib!« »Und vergiß nicht, das Schwarze Phantom, meinen Wunderhund, zu füttern.« »Roger, Baas! Später.« Er salutierte gewandt. Ich hob des Nieuports Nase sternwärts, dann zog ich ihn nach oben und trampelte in die Rieh hing von Mar gos Penthouse. Damals in Greenwich Village hatte ich Sonnenfleck kennengelernt - und natürlich seine Freundin Waverly, die von Natur aus kahlköpfig war und am liebsten Wildlederhaar-Badekappen trug. Bei eingeschaltetem Autopiloten setzte ich meine Überkonzentrationskräfte ein, um in flotter Reihenfolge Du und die Kräfte des Geldverdienens von M. Bartleby, Dickdarmkatarrh von Dr. Duane Gardens, Eine Schatzkammer voller Feuermythen von O. Dawson Lotts (Hrsg.), Ober die verfluchte Jugend von Pete Lamb, Unbewußter Lesbianismus von Dr. Duane Gardens und Aufzucht und Ausbildung der Apachen von D. Gardens zu lesen. Als ich über den Rand peilte, erblickte ich einen untersetzten, dunkelhaarigen Mann, der mich durch ein Fernglas beobachtete, doch in diesem Moment dachte ich mir noch nichts dabei. Ich hatte nicht das Gefühl, daß mir vom Boden her eine unmittelbare Gefahr droh te, nachdem ich meine Maschine mit einer frühen Erfindung kugelsicherer Luft - gepanzert hatte. Auf Margos Tür fand ich einen Zettel: »Bin nach Paris gegangen, um ein paar Sachen zu besorgen. Bin nicht entführt worden.« Nicht entführt? Das erschien mir eigenartig formuliert zu sein. Konnte dies ein Fall von übermäßigem Protest sein? Margo kannte doch gewiß ihren Shakespeare. Oder konnte es eine Art Falle sein? Nach ein paar Drinks entschied ich mich, ihr zu folgen. Gene, den ich damals unter dem Namen Jean-Claude 146
kannte, hatte mich vor Gericht verteidigt. Man hatte den Hispano-Suiza, das Protokoll und die gesamte Straßensektion als Beweisstück vorgelegt. Im Hotel Odeon veranstaltete der Poeten-Kongreß der US-Armee eine Lesung, also hielt ich dort für einen Drink an. Ein dicker Junge namens OGfr Lyle las gerade das Ende seines Epos Die Japaniade. Ich wollte mir einen Weg durch die Menge bahnen, um ein paar private Worte mit ihm zu wechseln, doch ich fand meinen Pfad von einem riesigen Stabsarzt versperrt. »Schleich dich!« schrie er und zerschlug eine Bierflasche. Ich wendete einen Trick an, den ich im Orient gelernt hatte, und übte Druck auf die Ba sis seines Daumens aus, bis er ohnmächtig wurde. Die Menge der ungebildeten Soldaten teilte sich, um mich durchzulassen. Ich fand OGfr Lyle allein an einem Tisch; er weinte und trank. Ein anderer Infanterist hatte das Podium er klommen, um ein Gedicht mit dem Titel »Bestandteile« vorzulesen. »Hallo, OGfr«, sagte ich. Lyle schaute auf. »Du!« Inzwischen sagte jemand auf einer Party, die zu Ehren Vance Raglans gegeben wurde - wahrscheinlich Doybridge -: »Ein Buch, oder auch ein Film. Ja, ich glaube, er hieß ... Oder ist es 'ne Schallplatte, die ich meine?« Vance Raglan war Klebstoff-Bildhauer. Eileen dachte an den Orient, an ihren Buick-Händler und Thomas Hardys neuesten Roman. Sie dachte daran, eine »Be rühmte Macs«-Party zu schmeißen. Zu Tad sagte sie: »Goodbye, Tad, oder wie immer du dich jetzt nennst. Ich schieb nach Hongkong ab.« Sie schüttelte Doybridge die Hand - aus Versehen. »Sonnenfleck«, sagte ich, und OGfr fing wieder an zu weinen. Ich hatte echt das Gefühl, ich müsse mit ihm weinen, doch aus diversen Gründen waren meine Trä147
nendrüsen entfernt worden. Sonnenfleck! Unser alter Gefährte, jetzt war er tot oder vermißt. Sonnenfleck! Der behauptet hatte, er sei die Prä-Inkarnation des Mannes im Mond. Sonnenfleck! Unser bester Freund in der Schule der Nation. OGfr packte meinen Ärmel und krächzte: »He, weißt du noch, wie er immer behauptet hat, er habe auf der Tonspur von Lassie, komm heim das Gewinsel gemacht?« Auf dem Podium las der Soldat vor: »... Milchpulver, Sojamehl, Gummi Arabicum, Trockenei, Hefepulver, Maisstärke, Traubenzucker, Malzose, Mononatriumglutamat, künstlicher Geschmacksstoff und Lebensmittelfarbe. Natrium anteilig hinzufügen, um ein Verderben zu verhindern.« Inmitten des frenetischen Applauses fragte ein Radarexperte einen anderen: »Ich glaube, da fehlt noch irgendwas, meinst du nicht auch?« »Ich erinnere mich an Sonnenfleck«, sagte ich. Meine Stimme war heiser vor Erinnerung. »Als ich noch im Village lebte, kam er immer rüber, wenn ich nicht zu Hause war und legte mir eine kleine Ermahnung mitten auf den Boden.« »Die Legende sagt, er wurde von einem Auto über fahren, das er verfolgte. Später haben raffinierte Unter nehmer im ganzen Land kleine Plastik -Nachbildungen seiner >kleinen Ermahnungen< über die Neuheiten-Läden verkauft.« »Er hat nie einen Pfennig von den Millionen gesehen, die sie gemacht haben.« Ich reichte den Abschied ein und flog direkt zum Le Bourget Flughafen von Paris. Da ich keinen Paß hatte, wollten die Grenzbeamten mich festhalten, was mich zwang, meine Spezial-Identitätskarte aufblitzen zu lassen. Bei ihrem Anblick winkte man mich mit über schwenglichen Entschuldigungen durch die Sperre. Der Müll unter Mrs. Onagers Spüle fing an, sich allmählich zu rühren. 148
Ich wußte genau, wo ich Margo finden würde. Sie war in Les Halles und feilschte mit einem Händler. Margos Französisch war - wie immer - mangelhaft, deswegen hatte der arme Mann Schwierigkeiten, zu verstehen, was sie wollte: Eier zum Haarewaschen. »D'ozene«, sagte sie und machte ein Zeichen. »Pour mes chevaux.« Erbost fragte mich der Mann, wozu Mademoiselles Pferde unbedingt verfaulende Geschwüre auf der Nase benötigten. Nachdem ich Margo die Eier gekauft hatte, flogen wir zurück, um an einer Party teilzunehmen, die für PlastikMann gegeben wurde. Unterwegs hielten wir auf einem Blumenmarkt in Barcelona, wo ich für ihr Haar einen Ableger kaufte. »Toll, Danke!« Sie schob ihn zwischen ihre rosafarbenen Lockenwickler, wodurch sie ziemlich fröhlich aussah. Wir scherzten über den relativen Wert der französischen und der Blumensprache. In Hongkong infizierte Eileen eine Reihe von Menschen mit Pest. Die Pest hieß Tularämie und war als »Karnickelfieber« bekannt. »Plas« spielte mit einer Anzahl distinguierter Gästen Verstecken. Unter ihnen waren auch der beka nnte Arachnologe Dr. Aa, diverse gekrönte Häupter und Prätendenten, einschließlich des Prinzen J. C. und Mr. Boggs (Eileens Buick-Händler). Plas hatte sich schon als Lampenschirm, Comic-Heft, Socke, Margarine, Tapete und gelber Nebel getarnt, der sich den Rük-ken am Fensterbrett kratzte. Jetzt hatte er sich schon wieder versteckt. Seltsamerweise schien außer mir niemand die offensichtlichen Schwächen seiner Verkleidung zu erkennen, d. h. er war immer rot mit schwarzgelben Streifen, egal welche Form er gerade hatte. Ich genehmigte mir ein paar Drinks und untersuchte Plas' kuriose Sammlung mittelalterlicher Eggen. Tularä149
mie, fiel mir ein, war nach einer Provinz in Kalifornien benannt worden. »Eins-zwei-drei für Mr. Boggs' Schärpe!« rief ich plötzlich aus. Mit einem schafsblöden Grinsen gab Plastik sich zu erkennen. Mir fiel allerdings auf, daß sein Lächeln eine Spur zu schief war. Tatsächlich, sein ganzer Kopf schien in komische Umrisse zu zerfließen. Ich signalisierte Margo, sie solle meinen Schal und ihren Reiseumhang holen. »Was ist denn?« fragte sie, als wir zu Mattricks Party eilten. Dr. Aa zog es vor, mit uns zu kommen. »Plastik war betrunken«, sagte ich ungehalten. »Die Sache hätte sich leicht in Gottes Privat-Orgie entwickeln können.« »Ach, du!« Sie schien verärgert, aber auch erfreut zu sein. Dr. Aa machte einen Vorschlag. »Warum lassen Sie den Nieuport nicht hier und fliegen in meinem Gee BeeRaser mit rüber?« Wir nahmen ihn beim Wort. Unterwegs erklärte er uns, warum er aus dem Club Berühmte Wissenschaftler ausgetreten war. »Es fing alles damit an, daß ich meine Routinearbeiten liegen ließ, um der Schwerkraftforschung etwas Zeit zu widmen. Mit der Teildestillation von Katzen, unter Verwendung Ihrer kugelsicheren Luft, gelang es mir, eine bleiartige Substanz zu isolieren, die von der Anziehungskraft der Erde tatsächlich abgestoßen wird! Je weiter sie sich von diesem Planeten entfernt, desto größer wird der Rückstoß. Unter großen Kosten demonstrierte ich sie, doch meine Kollegen hatten sich gegen mich verschworen. >Scharlatanerie!< rief einer. >Wahnsinn<, höhnte ein anderer. >Mesmerismus< beleidigte mich ein dritter. Ich wurde gezwungen, mich wieder meiner alten Be schäftigung zu widmen, der Arachnologie. Jetzt bin ich für die Streitkräfte tätig, klassifiziere Spinnen als >eßbar< 150
und >nicht eßbar< für das Survival-Training der Marines. Ich bin tot.« Er machte eine Immelmann-Wendung und demonstrierte sie. »Doch das ist noch nicht das Schlimmste«, fuhr er fort. »Ausländische Mächte, hauptsächlich die Finnen, sind nun darauf aus, meine Erfindung zu stehlen. Auf der Party heute wurde ich zu einer Schachpartie mit verbundenen Augen eingeladen, und ich fürchte, daß man dabei einen Anschlag auf mein Leben plant. Hier . . . « - er drückte mir einen Fetzen Papier in die Hand »... dies ist das einzige Exemplar meiner Formel. Achten Sie darauf, daß sie nicht in falsche Hände fällt!« »Bei mir ist sie sicher, Doktor«, versicherte ich ihm und steckte sie in das Geheimfach meiner Brieftasche. In Hongkong zog Oxbox sich Tularämie zu. Er wurde durch eine Milzmassage wiederbelebt, und sobald er dazu fähig war, rief er mich über Funk an. »Hast du das Schwarze Phantom, meinen Wunder hund, gefüttert?« »Ja, Meister. Bwana; passen gut auf. Achten besonders auf Mädchen von lowa Autorenkongreß, Effen-di. Over und out, Häuptling.« Kurz bevor er abschaltete, hörte ich die Geräusche eines Handgemenges - und einen Schuß. »Er hört sich etwas krank an«, sagte Margo. Oxbox und sie sind die einzigen, die meine Geheimidentitat kennen. Wir stiegen auf Mattricks Party aus, wo Eileen, aus Hongkong zurückkehrend, zu »George« sagte, sie sollten endlich heiraten. »Ja, aber wen?« Ein paar Leute schienen auf der falschen Party zu sein. Darunter ein Junge in einem Strampelanzug, der einen Reifen und eine Kerze trug; ein Quäker mit schwarzem Hut, eine dicke, fröhlich aussehende Negerin, die ihr Haar mit einem rotgelbkarierten Taschentuch zusammen151
gebunden hatte, und ein sehr großer grüner Mann. Sie redeten unnatürlich, und in der Stimme des Quäkers entdeckte ich etwas Vertrautes. Margo schrieb alles auf, was er sagte: Kodel Fiberglas Doelon Polymit Acrylan Curon Durastran Lastex Vinylit Fortrel Nykon Polyester Corfam Fabricon Acrylex Doron Bunalenex Luzit Actinen Creslan Dynel Prontoschaum Banlon Caprolan Formica Rayon Celustran Chemex Fiberfil Actinel Lurex Quiltacel Antron Koromit Spandex Nylon Strantron Forion Koratron Polynel Gene kam von seiner Zivilverteidigungstagung zurück, legte sein Fernglas ab und fragte Eileen, was es Neues gäbe. »Nich viel. Tad war hier.« »Warum, um alles in der Welt, nennst du ihn >Tad« fragte Gene. Ein Mann in einem Bauernkostüm kam von oben, um sich etwas Zahnpasta auszuleihen. »Wir haben eine >Bekannte Macs<-Party«, erklärte er. »Ich bin >Old McDonald<. Könnt ihr mir etwas Zahnpasta leihen? Wir schrubben uns nämlich gegenseitig die Zähne.« Ich ging zu Mattrick hinüber, der sich mit einem würdevollen Mann mit Kneifer unterhielt. »Hallo«, sagte Mattrick. »Hätte nicht erwartet, dich hier zu sehen. Kennst du schon Fenster Doybridge, den bekannten Kidnapper?« »Wir kennen uns«, knurrte der Dicke. »In der Tat«, sagte ich und bot ihnen Zigaretten an. »Und wenn ich mich nicht irre, habe ich heute abend sogar eine Kostprobe Ihrer Arbeit gesehen, Doybridge.« Er kicherte unfreiwillig und wandte sich ab, um einem Fotokopiermaschinen-Ingenieur zuzusehen, der 152
komische Imitationen machte. Plötzlich wurde mir klar, daß Margo nirgendwo zu sehen war! Der Mann kam von oben zurück, weil er noch mehr Zahnpasta brauchte. »Es dauert noch etwas, bis wir >Mary McCarthy< fertiggemacht haben«, erklärte er. »Hinterher führen wir ein paar Pantomimen auf. >Kardinal Maclntyre< wird die Hölle für uns eggen, damit >MacAdam< eine Straße darauf bauen kann, auf der >MacArthur< dann von den Philippinen zurückkehrt. Ich hoffe, der Lärm macht euch nicht allzu viel aus.« »Wirst du was aus Roman vorlesen?« fragte ich Horace Mattrick. Er nickte. »Würd ich gern. Er ist«, fügte er lachend hinzu, »ganz in Vokalen geschrieben. Die Konsonanten muß man sich denken - deswegen werden die meisten wohl ein paar Schwierigkeiten mit dem Inhalt haben.« Ich beobachtete den Quäker, der einem großen, seltsam aussehenden Mann ein Zeichen gab. Dieser trug nur schwarze Ärmel und Hosenbeine über s einen dünnen Gliedmaßen, sonst war er nur mit einem schwarzen Ofenrohrhut und einem Monokel bekleidet. Ich sagte zu Mattrick, daß der Mann nichts anderem ähnlicher sei als einer halbnackten Erdnuß. Der Erdnuß-Mann gab hingegen einem anderen Mann mit Ofenrohrhut (kamen sie in Mode?) ein heim liches Zeichen. Dieser Mann trug zwar einen flauschigen weißen Bart, sah aber sonst ganz wie ein Malocher aus, denn seine Blaumann-Ärmel (mit weißen Sternen) waren hoch über seine venösen, knorrigen Arme gerollt. Sein Hut war weißrot gestreift. Ich behielt das Mädchen vom lowa-Autorenkongreß im Auge, das in einer Art trunkenem Tanz von Raum zu Raum wirbelte. Der Plattenspieler spielte einen Code. Ich bemerkte, daß Doybridge ihm konzentriert zuhörte ebenso wie die Männer mit den Ofenrohrhüten. Und Doybridge hatte sich ebenfalls einen aufgesetzt! 153
Er war aus schwarzer Seide, um seinen Aufzug aus Cutaway, Mantel, gestreiften Hosen und Gamaschen zu komplettieren. Er trug einen Spazierstock und einen Sack, der mit einem Dollarzeichen bestickt war. Als ich ihn anstarrte, wurde mir mit einem Frösteln klar, daß er genau die Größe eines Menschenkopfs hatte. Der Müll unter Mrs. Onagers Spüle nahm eine unir dische Form an und rührte sich. »Wenn ich dich heiraten würde, wird Pater mich mit einem Penny abspeisen«, sagte »George« zu Eileen. Laut Eileens geistiger Einstellung hieß George auf französisch Georges, während Penny sich auf Penis reimte. Doch Eileen hatte Fieber und war krank. Ich wanderte in den Garten, wo der Quäker sich auf eigentümliche Weise an einem Baum zu schaffen machte. »Sonnenfleck!« schrie ich. »Bist du's?« »Pssst! Die Finnen - oder sonstwer - sind hinter mir her. Es könnte auch nur ein Witz sein - wie der Schwanz, der mit dem Hund wedelt -, aber ich will's nicht drauf ankommen lassen. Tu so, als würdest du mich nicht kennen, und geh wieder rein - zu deinem eigenen Schutz!« Mit bösen Ahnungen gehorchte ich. In einer Wohnzimmerecke führte der Fotokopiermaschinen-Ingenieur gerade die tolle Imitation eines gesetzwidrig legal Handelnden aus. Eine Sekunde später entwickelte Doybridge eine Ästhetik des Kidnapping. Drei Sekunden später hatte Eileen es sich auf dem Sofa bequem gemacht, um Die Renaissance zu lesen, während Dr. Aa sich vier Sekunden später darauf vo rbereitete, mit einem kleinen dunkelhäutigen Mann, in dem ich Gene erkannte, eine Partie Schach mit verbundenen Augen zu spielen. Ich erkannte alles auf einen Blick, ohne mich an der Aussicht, die ich genoß, zu erfreuen. Fenster D. erklärte mit päpstlicher Würde: »Im Kern 154
wie in Theorie, in Ausführung wie Konzeption, vom ersten Symbol zur höchstmöglichen Sensibilität, muß das Ganze ... wie soll ich sagen ...« Ein lautes KRACKS! ertönte, und die Schlafzimmerdecke, auf der sich ein Mann mit einem Mack-Dampfroller befand, sank auf den Mantelstapel, das Mädchen vom lowa-Autorenkongreß und Tad herab. »Das ist vorher noch nie passiert«, sagte der Fahrer, der sowohl einen Mackintosh als auch einen Mackinaw trug. Ein deus ex Mackinaw? fragte ich mich. Vielleicht genügt es, den »Kardinal« nicht aus den Augen zu lassen. Da er wußte, daß Dr. Aa mit einem Springer eröffnen würde, hatte sein Gegenspieler das Pferdchen gegen ein winziges lebendiges, giftiges Seepferdchen ausgetauscht. Als der arme Aa es berührte, biß das Geschöpf brutal zu. »Aa!« Seinen eigenen Namen rufend, erhob sich der Arachnologe mit verbundenen Augen vom Spielbrett und fiel tot um. Mrs. Onager lugte unter ihre Spüle und rieb sich ungläubig die Augen. Sobald die Polizei mit Aas Habseligkeiten gegangen war, fing das Mädchen aus lowa wieder mit dem Tanz an. »Ich muß etwas bekanntgeben«, sang sie. »Ich bin nicht das, was ich zu sein scheine. Tatsächlich bin ich hier, um Sie für NAMENSETIKETTEN zu interessieren. Sie sind gummiert, damit man sie leicht überall draufkleben kann, und auf ihnen steht IHR NAME, IHRE ADRESSE, JEDERMANNSTADT, ÜBERALL. Einhundert Stück kosten nur einen Dollar, und sie werden in dieser eleganten Styren-Schachtel geliefert.« Sie zeigte eine tadellose kleine S ty r öl-Seh achtel herum. Dann verbeugte sie sich, um ihr langes Blondhaar hochzuwerfen und schwebte aus dem Raum, um Bestellungen für NAMENSETIKETTEN entgegenzunehmen. 155
Ihre Liste durchschauend, nahm ich mir vor, später mit ihr abzurechnen, nach Mattricks Improvisation. Der bekannte Autor schlug seinen Roman Roman auf und las vor: »Ich sitz in Rimini, kipp Drinks in limitiertem Licht. Hip-hip! In Rimini ich sitz, licht-kitzelnd. Mimis Lippen: Kiss! Ist's Mimi, die swingt? Ich wirble, zwirble. Mimi, die Isis, sie wirft die Finger in Riminis Wind - ihr Finnen! O Goldmond von Hongkong ...!« Ich zog meine Waffe während des Applauses. »Ja, wo ist denn der ganze Müll geblieben?« sagte Mrs. Onager nachdenklich. »Er kann doch nicht einfach weggegangen sein.« Eileen hatte das Gefühl, als sei bei ihr eine Psittakose im Anmarsch; man kennt sie allgemein auch als »Papageienfieber«, wie sie Gene erklärte. »Wo hast du sie her?« fragte er neidisch. Ich schoß zweimal auf das sogenannte Mädchen vom lowa-Autorenkongreß. Ich drehte die Leiche gerade mit dem Zeh herum, als Margo aus dem Garten hereinkam mit Jean-Claude Odeon und Oxbox. Wir reichten uns die Hände. Im Garten stieß Sonnenfleck einen erstickten Schrei aus. Dann war alles still, abgesehen von den verstohlen raschelnden, sich zurückziehenden Schritten des Müllmanns.
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Das transzendentale Sandwich »Wir können Ihnen Wissen vermitteln«, sagte das Vertreter-Ding. Claude Mabry sah sich in seinem Zimmer um: ver schimmelte Tapeten, gebrochenes Linoleum, schmutzige lange Unterhosen, die über einem Stuhl mit einem wackligen Bein hingen, das Zifferblatt einer Uhr, das so oft zerbrochen und mit Klebeband geflickt war, daß er kaum erkennen konnte, wie spät es war. Es war 15.20. »Ich bin für meine Bedürfnisse clever genug«, sagte er. »Manchmal kann es hinderlich sein, wenn man zuviel auf dem Kasten hat.« »Wie wahr«, sagte das Vertreter -Ding. »Es zeugt wirklich von Cleverness, wenn man es bis zum Teller wäscher in Stans Schnellimbiß gebracht hat und sich ein solches Leben leisten kann.« Claude antwortete nicht. Die ganze Angelegenheit erinnerte ihn an die Bibel: Da war eine Schlange oder so was, die sich als Mensch verkleidet hatte und einem >Wissen< offerierte. Es ergab bloß keinen Sinn. »Schauen Sie, ich möchte ja nicht unhöflich sein«, sagte der Vertreter, »aber wir Guzz sind verdammt mächtiger und gerissener als Ihre Spezies. Wenn wir darauf aus wären, könnten wir Ihren ganzen Planeten verdunsten. Aber das ist nicht unsere Art. Wenn jemand kommt und Ihnen offeriert, Sie klüger zu machen, hauen Sie ihm nicht gleich die Tür vor der Nase zu.« Am liebsten hätte Claude ihm die grinsende Men schenmaske abgerissen, um nachzusehen, wie der Guzz aussah. Er richtete sich halb auf, dann ließ er sich zurücksinken und sah zu Boden. »Wenn Sie wirklich so gut sind, warum wollen Sie dann überhaupt etwas für mich tun?« »Ich möchte gar nichts für Sie tun. Ich habe dafür plädiert, die Erde in ein Vogelschutzgebiet umzuwan157
dein. Aber wir haben eine demokratische Regierungs form, und die Mehrheit wollte eure Rasse zu mündigen Bürgern erziehen, damit ihr das Universum mit uns teilt.« »Na schön - aber woher soll ich wissen, daß Sie mich wirklich klüger machen können?« Der Vertreter öffnete sein Köfferchen und entnahm ihm eine Handvoll glänzender Broschüren. »Verlassen Sie sich nicht darauf, daß wir Sie zu einem der intelli gentesten Köpfe der Erde machen können«, sagte er. »Glauben Sie nicht, daß es der Mühe wert ist, klug zu sein. Millionen probieren unsere Vorhaben aus. Tausende haben es bereits ausprobiert. Schauen Sie mal!« Er reichte Claude einen Aktenordner voller Farbfotos von stillen Gelehrten, Wissenschaftlern in weißen Kitteln, würdevollen Richtern in schwarzen Roben und strahlenden Geschäftsleuten in Maßanzügen. Ihre Aus sagen waren in roten Schlagzeilen mit Großbuchstaben überschrieben: ... KONNTE SEINEN EIGENEN NAMEN NICHT LESEN - GIBT NUN ANORDNUNGEN IN ZWANZIG SPRACHEN! BERÜHMTER VOLKSWIRTSCHAFTLER GESTEHT: »ICH HASSTE DIE MATHEMATIK« VOM »BLÖDIAN« ZUM BRILLANTEN THEOLOGEN IN SIEBEN MONATEN! »Aber ... was würde ich denn studieren?« »Alles.« Der Vertreter förderte eine weitere Kunstdruck-Broschüre zutage und zeigte Claude Fotos glücklicher Hausfrauen, haarigarmiger Arbeiter, die dicke Wälzer studierten, Landwirte, die durch Mikroskope blickten, und Omas, die mit Rechenschiebern hantierten. »Wir nennen unser System >die Schnittstellen-Me158
thode<. Jeder, den wir annehmen, muß wenigstens zwei Fachgebiete intensiv studieren. Wenn die Gebiete nichts miteinander zu tun haben - umso besser. Wir paaren Mathematik mit Literatur, wir werfen theoretische Physik mit medizinischem Spezialistentum in einen Topf; wir schulen Mathematiker in Theologie.« »Was würde ich dann kriegen?« »Falls wir Sie annehmen, würde man Sie zunächst testen. Dann würden wir es wissen.« »Was soll das heißen - >falls« Claude hatte das Gefühl, als hätte man ihm gerade eine Million Dollar angeboten doch bei dem Wort >falls< hatten sie sich in eine Zehncentmünze verwandelt. Der Fremde, der Claudes Unruhe spürte, sagte besänftigend: »Machen Sie sich deswegen keine allzu großen Sorgen! Wir haben nicht vor, Ihren Intelligenzquotienten oder Ihre bisherige Bildung zu prüfen. Offen gesagt - je weniger Sie von beidem haben, desto besser. Wir sind auf Menschen aus , denen man keine Chance gegeben hat; auf Leute, die sich nutzlos fühlen, weil man das schlafende Genie in ihnen nie geweckt hat. Was meinen Sie?« »Ich weiß nicht. Was würde es mich kosten?« »Alles Geld der Welt könnte Ihnen keine bessere Bildung vermitteln, Mann. Doch es kostet Sie nicht mehr als Ihre Unterschrift.« »Tja ... Teufel noch mal, warum eigentlich nicht?« »Eben - warum eigentlich nicht?« sagte der Vertreter und reichte ihm einen Federhalter. Claude unterzeichnete ein paar Formulare unterschiedlicher Färbung, und der Vertreter gab ihm eine Kopie von jedem Blatt. »Claude«, sagte er, »Sie haben gerade Ihre erste intelligente Entscheidung gefällt.« Die Guzz hatten die Erde auf jede nur erdenkliche Weise übernommen. Guzzische Geräte fanden sich in jedem Heim. Die Geistlichkeit dankte dem Herrn von 159
der Kanzel, daß die Guzz kein kriegerisches oder hinterlistiges, sondern ein wirklich demokratisches ... äh ... Volk waren. Die Regierung gab täglich neue Guzz-Geschenke an die Menschheit bekannt. Die Guzz entwaffneten in aller Stille die Atommächte, reinigten auf wirkungsvolle Weise die Luft, bauten funktionierende Abwassersysteme für unsere Städte und führten ein paar neue Nahrungsquellen und die Geburtenkontrolle ein. Fast jede Regierung der Welt war von den Guzz mit einem Vorschlag oder einem Geschenk bedacht worden - und die Außerirdischen verwendeten keine stärkeren Kräfte als Takt und freundli chen Nachdruck. Das einzig Eklige an ihnen war ihr Aussehen - sowohl daheim als auch in irdischer Verkleidung. Auf ihrem Heimatplaneten (jedenfalls sagte man es so, denn dort gewesen war noch keiner) sahen die Guzz wie widerliche Würmer aus. Doch um die Eingeborenen nicht zu verschrecken, trugen sie auf der Erde menschliche Kunststoffhüllen. Zwar bewegten sie sich recht natürlich, doch sie sahen alle gleich aus. Den meisten Menschen einschließlich Claude - kamen sie wie sprechende Schaufensterpuppen vor. Die erste Sendung, die er erhielt, umfaßte einen Tischcomputer mit Tastatur, Mikrofon, Lautsprecher und Bildschirm. In der Nacht, als Claude aus Stans Imbiß stube nach Hause kam, lag er wach, starrte das glän zende, komplizierte Ding an und fragte sich, ob es vielleicht ein Fehler gewesen war, zu glauben, daß ... Am nächsten Tag trafen drei Pakete ein. Das erste enthielt Bücher und ein Dokumentenbündel - ein Zertifikat, das besagte, Claude Mabry sei für diesen Korrespondenz-Kursus geeignet; weitere Exemplare der diversen Formulare, die er unterschrieben hatte, und eine Broschüre mit dem Titel Willkommen, Genie der Zukunft! 160
»Die Regierung der Guzz und die unsere möchte diese Gelegenheit nutzen, Sie willkommen zu heißen ... Be dingungen und Satzung ... Sie werden vielleicht nicht immer die Gründe für die Instruktionen erkennen, die Sie in diesem Kursus erhalten, aber sie sind notwendig, um Ihre Zeit effizient zu nutzen. Die beiliegenden Bücher betreffen die Erste Lektion. Die für jede Lektion nötigen Bücher werden mit der Lektion zugestellt. An verschiedenen Stellen des Programms wird man Sie bitten, sie gründlich zu studieren.« Claude sah sich die Buchtitel an: Die Traumdeutung von Sigmund Freud; Verbales Verhalten von B. F. Skinner; Die Gewinnung von Informationen von Fairthorne dies waren nur ein paar. Das Traumdeutungsbuch sah interessant aus, doch es enthielt - wie alle anderen - bloß ellenlange Sätze, die ihm überhaupt nichts sagten. Das zweite Paket enthielt eine Diskette mit der Aufschrift Programm für die Erste Lektion, sowie einfache Anweisungen, wie man sie in den Lehrcomputer eingab. Sobald Claude dazu fähig war, schaltete er die Ma schine ein. Vielleicht hatte er damit gerechnet, sie würde ihm eine Aufgabe stellen, die Tatsache registrieren, daß sie eingeschaltet war - oder ihn wenigstens nach seinem Namen fragen, doch sie tat nichts dergleichen. Statt dessen bat sie ihn freundlich, ein Sandwich zu essen. Claude kratzte sich am Kopf. Die Guzz wollten ihn wohl verarschen! Er stellte sich vor, daß sie ihn jetzt beobachteten und sich über seine Blödheit kaputtlachten. Das war also ihr toller Bildungskursus! Das war also ... Ihm fiel das dritte Paket ein, und er öffnete es. Darin befand sich ein zellophanverpacktes Sandwich. Obwohl Claude es von allen Seiten ansah, konnte er nur einen 161
Unterschied zwischen ihm und jedem anderen zellophanverpackten Sandwich ausmachen: Hinter der Zellophanverpackung lag ein einfaches, bedrucktes Etikett. Doch statt »Schinken mit Käse« oder »Erdnußbutter mit Vierfruchtmarmelade« stand dort ganz einfach »Iß mich.« Das Brot war ein bißchen altbacken, aber die Salami (oder Para-Salami) schmeckte nicht schlecht. Eine Stunde später beantwortete er korrekt die An frage, wie und warum Träume syntaktischen Gesetzen unterworfen sind. Die Antwort war doch völlig klar. Zwei Stunden später hatte er mit rasende r Geschwindigkeit Ayers Problematik des Wissens gelesen, denn die Problematik war ihm bestens vertraut. Ein, zwei Lektionen später hatte Claude sich ohne die geringsten Schwierigkeiten durch etwa fünfzig schwierige Bücher gefressen. Die Programme ließen ihn rasche Fortschritte machen, obwohl es ihm gar nicht so erschien: Er wußte einfach, was zu tun war. Die Verwendung der Fourier-Analyse, um Elektronik -Probleme zu lösen, erschien ihm als etwas, das er schon immer gewußt hatte - ebenso wie ihm die Gesetze der Newtonschen Mechanik und der Quantenmechanik, die Stellung Hubert van Eycks in der flämischen Malerei, die syllogisti-schen Eigenheiten eines Andrew Marvell -Gedichts, die Schwächen der historischen Theorien Spenglers und Toynbees stets klar gewesen waren - oder andersrum: wie man eine Sauce ozene mit sieben Ingredienzen anrichtete. Alles wurde ihm im kleinen und dann im großen klar, bis es keine komplexen Strukturen mehr für ihn gab. Nachdem er gelernt hatte, arbeitete er. Bei der vierten Lektion hatte Claude sich mit Gödels Beweis der unbedingten Unzulänglichkeiten mathematischer Theoreme auseinandergesetzt und erkannte die Lücken in Lucas' diesbezüglicher Kritik bezüglich mechanischer Gerätschaften. Außerdem hatte er eine ästhetische Theorie 162
formuliert, die zehn Menschen vielleicht verstehen, aber höchstens einer widerlegen konnte. Er hatte die ma thematische Ökonomie auf eine neue Grundlage gestellt und versuchsweise eine Übersetzungsmaschine ersonnen. Er war sich kaum bewußt, daß dies noch keiner vor ihm getan hatte; er nahm nicht einmal wahr, daß er sich berufsmäßig von der Imbißstube an das For schungsinstitut einer bekannten Universität veränderte. Dieser Wechsel fand nach der Publikation seiner diversen Monographien in akademischen Zeitschriften statt, deren Titel er lediglich aus den Fußnoten der Bücher kannte, die er überflog. Manche der Monographien kamen zurück. Er hatte sie an falsche Adressen geschickt -oder an Zeitschriften, die gar nicht mehr existierten. Andere, etwa »Die Ans tell-Theorie, angewandt auf Neural-Aktivität« oder »Über die poetische Dikton« wurden Klassiker. Männer mit sanften Manieren, maßgeschneiderten Anzügen und sauberen Aktenköffer-chen kamen, um ihn kennenzulernen. Sie saßen in der dunstigen, fettverschmierten Küche von Stans Imiß-stube und unterhielten sich mit ihm über die Erforschung von Quasaren, neue internationale Gesetzestexte und logische Mechanismen. Na schön, jetzt, wo die Guzz ihr gewaltiges Heimstudienprogramm anboten, tauchten überall Wunderkinder auf, aber Genies waren im Augenblick noch immer etwas, um das die Universitäten sich rissen. Und so, beinahe ohne daß er es merkte (er dachte an andere Dinge), überreichte Claude Mabry Stan die Kündigung, packte seine T-Shirts und Blue Jeans ein und bestieg die Eisenbahn zur Universität von Attica. Er erinnerte sich nur an vereinzelte Fakten seiner Reise: daß er den Guzz per Postkarte seinen Umzug mitgeteilt, daß er sein Ticket verloren und nicht genug Papier mitgenommen hatte (weswegen er in Attica, wo die Würdenträger der Universität auf ihn warteten, um ihn 163
willkommen zu heißen, dem Zug mit Händen voller Toilettenpapier entstieg, auf dem er die Notizen einer revolutionären Geschichtstheorie niedergeschrieben hatte, so daß er ihren Händedruck nicht annehmen konnte). Er gewöhnte sich kommentarlos an sein neues Leben und fing an zu arbeiten. Von Zeit zu Zeit fragte er sich, was wohl in dem Sandwich war, das mit jeder Lektion kam. Eine Wunderdroge, die ein versteckt in ihm schlummerndes Wissen freilegte? Einen Intelligenzbeschleuniger? Was es auch war, es war für den Prozeß von hoher Wichtigkeit. Das einzige Mal, als Claude ohne Sandwich zu studie ren versucht hatte, war er zwischen Symbolen herumgetappt, die beinahe einen Sinn ergaben. Er stellte sich auch Fragen über die Guzz. Das wenige, was er (in der letzten Lektion) über ihren Planeten und ihre Kultur erfahren hatte, steigerte seinen Appetit auf mehr. Er war ganz wild darauf, alles über sie zu erfahren und sehnte sich beinahe danach, einer der ihren zu werden: Sie allein würden verstehen, was er tat. Ihm wurde klar, daß die Kollegen auf der Universität ihn für eine Art Ausgeflippten hielten - er weigerte sich, Anzüge zu tragen, konnte nicht über Universitätspolitik konferieren und war unmenschlich intelligent. Claude ließ sich sämtliche Informationen über die Guzz kommen, die zu haben waren. Er fand sie in einem dünnen Bändchen, das ein zweitklassiger Anthropologe verfaßt hatte. Er hatte ein paar Außerirdische interviewt. Claude las das Bändchen quer und begann mit einer eigenen Abhandlung. »Trotz der fortgeschrittenen >Demokratie< der Guzz«, schrieb er, »haben sie sich ein paar seltsam >primitive<, wenn nicht gar sakramentale Eigenarten erhalten.« Da klopfte es an der Tür. Das Standardgesicht eines Guzz schaute durch den Türspalt, sah, daß er allein war und schob seinen Standardkörper ins Büro. Ohne irgend etwas zu sagen, kam er herüber und schlug 164
Claude auf die Stirn. Claude fiel zuckend zu Boden. Der Besucher beschäftigte sich derweil mit einem Satz Plastik tüten. Der gestürzte Mann murmelte etwas. Die MenschenImitation beugte sich vor und hörte: »... Süßwas serPlattwürmer? DNS? Oder ...?« »Recht hast du!« dröhnte der Guzz. »Ja, wir sind euren Süßwasser-Plattwürmern ähnlich - so wie ihr natürlich auch -, und wir können das Verhalten genetisch vererben.« Er zog ein langes Messer aus einer Tüte und prüfte die Klinge an seinem falschen Daumen. »Natürlich brauchen unsere Gene Unterstützung. Unsere Kinder -ich sollte die euren mit einschließen - erfahren offenbar nicht sehr viel aus den Genen ihrer Eltern. Aber die gleichen Gene, entsprechend angepaßt . . . « »Ich wußte es!« krächzte Claude und erhob sich auf einen Ellbogen. Der Schlag hatte ihn zwar gelähmt, doch die Maschinerie seines Geistes funktionierte immer noch. Mit einem ekstatischen Ausdruck sagte er: »Das alte Tabu, daß man den König, den Alten, den Weisen, den Vater, nicht fressen darf, stimmt's?« »Stimmt!« Mit einem herzlichen Lachen kniete der Besucher an Claudes Seite nieder und tastete nach seiner Halsschlagader. »Dieses lächerliche Tabu hat unsere Spezies seit Hunderttausenden von Jahren aufgehalten. Im Augenblick holen wir die verlorene Zeit für euch auf.« »Die Salami auf dem Sandwich ...« »Hausfrauen, Mechaniker, Geschäftsleute - all jene, die du in den Broschüren gesehen hast. Das muß man sich mal vorstellen!« Er schwenkte bedeutungsvoll das Messer, und sein Plastikgesicht wandte sich nach oben, als schaue es in eine Zukunft. »Ein Genie reicht für dreitausend Sandwiches, und jedes davon ist fähig -ohne jeden Verschnitt -, zur Heranbildung eines neuen Genies beizutragen! So wird das Lernen eure ganze 165
Spezies umwandeln. - Na! Ihr werdet wie die Götter sein!« Der Guzz richtete seine Aufmerksamkeit wieder den Dingen zu, die anstanden. Er hob das Messer. »Übermenschen«, murmelte das Genie. »Auf Roggenoder Weißbrot?«
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Der Dampfmaschinen-Junge Captain Charles Conn dachte so angestrengt nach, daß sogar seine Füße schmerzten. Das erinnerte ihn an das Jahr '89 - und seine Anfangstage bei der Truppe, als er vom Marschieren Kopfschmerzen bekommen hatte. Vor seinem Schreibtisch standen drei Zeitpolizisten, die linkisch auf die Säume ihrer langen roten Mäntel traten und nervös an ihren Helmen herumfingerten. Captain Conn hätte sie am liebsten angeknurrt, aber was hätte das genützt? Schließlich wußten sie über seine Probleme genauestens Bescheid - schließlich waren sie er selbst, in einer Viererschicht. »Na los, Charlie, deine Meldung.« Der erste Zeitpolizist stand stramm. »Ich bin durch drei verschiedene Perioden gereist, Sir. In der ersten löste der Präsident das Repräsentantenhaus auf, in der zweiten ernannte er sich zum Obersten Bundesrichter, und in der dritten unterzeichnete er das Umweltverschmutzungsförderungsgesetz. Ich hab ihm das ganze Zeug vorgelegt: Statistiken, Fotos, Zei tungsartikel. Doch er sagte nur: >Ich hab meine Ent scheidung getroffen!<« Chuck und Chas meldeten ähnliche Mißerfolge. Es gab nichts, was den Präsidenten aufhalten konnte. Er hatte nicht nur die Macht über die Bundes-, Staats- und Kommunalbehörden an sich gerissen, sondern setzte sie auch bewußt ein, um die Bevölkerung zu schikanieren. Der Verzehr von Speiseeis war ein Verbrechen. Singen, Pfeifen, Fluchen und Küssen auch. Es war ein Kapitalverbrechen, zu lächeln oder die Worte »UdSSR« und »China« auszusprechen. Laut dem Straßensicherungsge-setz war es untersagt, zu Fuß zu gehen, herumzustehen oder sich in der Öffentlichkeit zu unterhalten. Und natürlich waren Neger und alle anderen »Verdächtigen« 167
von vornherein Kriminelle und unterstanden der Gerichtsbarkeit des Rassistenausschusses. Das Naturnahrungsgesetz hatte anfangs fast vernünftig geklungen und war ihnen wie eine Reaktion auf die Warnungen der Wissenschaft angesichts abnehmender Fruchtbarkeit und Umweltverschmutzung erschienen. Doch das Kleingedruckte hatte ausgeführt, daß man fortan außer menschlichen und tierischen Exkrementen keine Düngemittel mehr benutzen durfte und sämtliche landwirtschaftlichen Maschinen verboten waren. Bald sah man in den Zeitungen Fotos von Bauern, die sich an verrosteten Traktoren vorbeischleppten, um mit spitzen Stöcken Löcher in den Boden zu stechen. Und bald darauf klagten die Zeitungen über Papiermangel. Warnungen vor einer Hungersnot wurden irgnoriert, bis die Regierung schließlich in der Ud •£•&•«• Getreide einkaufen mußte. »Meine Herren, wir haben alles Menschenmögliche versucht. Jetzt müssen wir uns ausdenken, wie wir uns Präsident Ernie Barnes vom Halse schaffen.« Die Männer murmelten sich eins zurecht. Dies ging mit Effizienz und Schnelligkeit vonstatten, da Wachtmeister Charlie, der wußte, daß Chuck ihm als erstem etwas zuflüstern würde, sein eigenes Gemurmel zurückhielt, bis er an der Reihe war. Und als Chuck Char lie etwas zugeraunt hatte, schwieg er still und ließ Charlie und Chas mit ihrem Gemurmel fortfahren, bevor er in aller Heimlichkeit Charlie etwas zumurmelte. Der Captain ergriff wieder das Wort. »Ihn in der Vergangenheit abzuservieren wäre einfacher als in der Gegenwart, aber das ist nur ein Teil des Problems. Wenn wir ihn aus der Vergangenheit ver schwinden lassen, müssen wir dafür sorgen, daß niemand das große Loch bemerkt, das wir in der Ge schichte hinterlassen. Da wir als Zeitpolizisten die einzigen sind, die über Zeitfahrräder verfügen, wäre das schon genug, uns in eine mißliche Lage zu bringen. 168
Wißt ihr noch, welchen Ärger wir hatten, nachdem wir die Pyramiden verschwinden ließen? Monatelang rannten die Leute rum und fragten einander > Was ist das für ein komisches Ding auf der Dollarrückseite?< Wißt ihr noch?« »He, Captain, was ist das für ein komisches Ding ...?« »Klappe halten! Tatsache ist, daß man zwar gewisse Zeiten zu gewissen Zeiten verändern kann und ... äh ... gewisse ... Sehen wir es so: Ernie hat gewiß einer Million Menschen die Hand geschüttelt. Wenn wir ihn ausradieren, kriegen sämtliche Leute, die ihm je die Hand geschüttelt haben, die Bakterien zurück, die sie auf ihn übertragen haben. Und plötzlich haben wir eine Epidemie.« »Yeah, Captain, aber hat er überhaupt je einem Menschen die Hand geschüttelt? Jetzt tut er es jedenfalls nicht mehr. Er sitzt nur noch fett und satt im Weißen Fort herum und läßt sich vom FBI, von der CIA, den In dividualisierten Anti-Personen-Raketen, Giftgasbakterientürmen und diesem großen, fiesen Köter bewachen.« Captain Conn machte den Wachtmeister mit einem finsteren Blick nieder, dann fuhr er fort: »Ich habe folgenden Plan: Wir entführen Ernie als Kind, im Jahr 1937. Und lassen statt dessen ein Gipsei zurück.« »Ein Piepsei?« »Ein Gipsei. Früher setzte man Hennen auf ein Gipsei, wenn man ihnen die Nachkommenschaft weggenommen hatte. Ich will damit sagen, wir ersetzen das echte Kind durch ein künstliches. Wilbur Grafton sagt, er könne eine Roboter-Nachbildung Ernies herstellen, die so aussieht, wie er 1937 ausgesehen hat.« Wilbur Grafton war ein reicher Exzentriker und Amateurerfinder, den sämtliche Angehörige der Zeitpatrouille bestens kannten. Ihr Vater, James Conn, war ein Angestellter Wilburs. »Noch was. Für den Fall, daß irgend jemand im Jahr 169
1937 mißtrauisch wird und ihn zerlegt, lassen wir den Roboter aus Materialien bauen, die es schon vor 1937 gab. Er wird mit Dampf betrieben. Es wäre wenig sinnvoll, die Geheimnisse der Molekular -Stromkreise und peristaltischen Logik vor ihrer Entdeckung preiszugeben.« Zu viert erschienen sie zusammen mit einem fünften Wachtmeister (Carl) eines Abends im Landhaus Wilbur Graftons. Jeder von ihnen sagte zu dem Butler, der sie einließ, »Hallo, Paps«, woraufhin ihr unerschütte rter Vater antwortete: »Guten Abend, Sir. Sie finden Mr. Grafton im Salon.« Der ehrwürdige Millionär hieß sie in seinem tadellosen Abendanzug willkommen, dann entschuldigte er sich, um das Experiment vorzubereiten. James genehmigte sich ein paar Drinks, und während einige Angehörige der Gruppe die echten, aus den fünfziger Jahren stammenden Gegenstände bewunderten, die den Raum füllten darunter eine »Stereo«-Anlage -, sahen die anderen fern. Die Sperrstunde war nahe, und die einzelnen Sender übertrugen in rauhen Massen die Spots des Präsidenten. »Ruhe sanft, Amerika! Dein Präsident ist sicher. Ja, dank der I.A.P.R. - der Individualisierten Anti-Personen-Raketen - kann niemand unserem Führer ein Leid antun! Denk daran: über zehn Milliarden allzeit ber eite kleine Raketen umgeben das Weiße Fort und bewachen seinen und deinen Schlaf. Und vergiß nicht: Es gibt auch eine, auf der dein Name steht!« Wilbur Grafton kehrte zurück, und als Sperrstunde war, bat ihn einer der Männer, seine Demonstration zu beginnen. Grafton schnaufte vor Wonne und erwiderte mit funkelnden Brillengläsern: »Guter Mann, die Demonstration hat längst begonnen.« Er drückte auf einen Manschettenknopf und fügte hinzu: »Und hier ist er der Dampfmaschinen-Junge!« 170
Sein Körper teilte sich in der Mitte und öffnete sich in zwei halbierte Schalen, die einen fettleibigen Jungen mit gestrickter Badehose und einem gestreiften T-Shirt freigaben, der eifrig Kurbel und Hebel bediente. Der Junge schaltete das brüllende Graftonsche Schnaufgelächter ab, kletterte aus seiner Umhüllung, machte zwei Schritte und erstarrte. »Aber wo ist dann der echte Wilbur Grafton?« fragte Chuck. »Nirgendwo anders als hier, Sir.« Der Butler stellte die unbezahlbare Woolworth-Karaffe ab und zog fest an seiner Nase. Klappernd und quietschend wie ein Mu miensarg teilte er sich in der Mitte und gab den leibhaf tigen Grafton frei, der wie immer makellos gekleidet war. »Ein kleines Scherzlein dann und wann«, gackerte er, als der echte James mit ein paar Drinks eintrat. »Doch jetzt erlauben Sie mir, daß ich unseren kleinen Freund wiederbelebe.« Er schob eine Kurbel ins Ohr des Jungen und drehte sie mehrmals mit aller Kraft. Mit einem leisen Puffen und dem Ausstoß einer winzigen Dampfmenge kehrte der kleine Automat ins Leben zurück. Seine Schweinchennase, die weit auseinanderstehenden Augen und das hinterhältige Grinsen waren allen Anwesenden von den Plakaten bekannt, auf denen »Euer Präsident macht das schon« stand. Als der weißhaarige Erfinder sich bückte, um am Specknacken des Automaten noch ein paar Justierungen vorzunehmen, trat »Ernie« ihm, wie es seine Art war, vors Schienbein. »Haben Sie diese Präzision bemerkt?« sagte Wilbur strahlend und hüpfte auf einem Bein herum.
Der Roboter sah bemerkenswert realistisch aus komplett bis auf einen ausgefransten Streifen schmutzigen Klebebandes auf dem glatten Ellbogen. Charlie beging den Fehler, sich hinzuhocken und Ernie ein Bon171
bon anzubieten. Zwei der Wachtmeister halfen ihrem unglücklichen Kollegen auf ein Sofa, wo er endlich den Kopf zurücklegen konnte, damit das Bluten aufhörte. Die kleine Maschine quiekte vor Freude, bis es Wilbur gelang, sie abzuschalten. »Ich bin davon überzeugt, daß seine Eltern den Austausch nie bemerken werden«, sagte Wilbur und führte sie in seine Werkstatt. »Ich werde Ihnen die Pläne zeigen.« Die Organe des Roboters entsprachen denen eines le benden Wesens, das zeigten Wilbur Graftons Pläne deutlich. Sein Herz und seine Adern waren in Wirklichkeit ein feinverästeltes hydraulisches System; die Leber war eine winzige Destille, die verzehrte Nahrung auflöste und ihr öl entzog. Ein Teil dieses Öls speiste die Adern, ein anderer Teil wurde verbrannt, um die Minia turDampfmaschine der Milz anzutreiben. Von dort aus übertrugen Treibriemen die Kraft auf die Gliedmaßen. Abschweifend erklärte Wilbur, daß Orville Grafton, sein Großvater, eine eigentümliche Substanz entwickelt hatte, eine Anode, die in ihrer Dichte variierte, je nachdem, wie intensiv Licht auf sie fiel. »Während Großvater jedoch nichts anderes als Basrelief-Fotografien aus seinem Graftonit machen konnte, habe ich es (zusammen mit einer mechanischen Iris und Gelatine-Linsen) dazu verwendet, die Augen des Jungen zu formen«, sagte er und deutete auf ein Detail. »Sobald die Graftonit-Retina auch nur das kleinste Bild aufnimmt, tastet ein pantografischer Schreiber blitzschnell darüber hinweg und übersetzt sie dem Gehirn in Bewegungen.« Ähnliche Schalter übertrugen die Bewegungen der Grammophonohren, und Hunderte von kleinen, über den ganzen Körper verteilten Gleitventilen erzeugten seinen Tastsinn. Die hydraulische Flüssigkeit war eine Einschlämmung roter Partikel, die aussahen wie rote Blutkör172
perchen. Kamen sie dann durch die Poren an die Oberfläche, wurden sie gefiltert - und zeigten sich als Schweiß. Das Gehirn enthielt eine Anzahl Federn, die unterschiedlich angezogen waren. Mit dem Uhrwerk, das sie mit verschiedenen Gliedern, Organen und Gesichtsmuskeln verband, stellten sie »Ernies« Erinnerungen dar. Grafton ließ die Pläne schnappend wieder zusammenrollen und gab James die Anweisung, die Gläser mit Champagner zu füllen. »Meine Herren, ich übergebe Ihnen den falschen Ernie Barnes - von den Ballonlungen bis zur Gummihaut, der schicken Perücke und dem Gebiß! Einen durch und durch amerikanischen Boy - Made in USA!« »Aber eins noch«, sagte der Captain. »Werden seine Eltern nicht merken, daß er ... äh ... nicht wächst?« Der Erfinder wandte ihm einen Moment seufzend den Rücken zu und griff nach dem Rand der Werkbank, um sich abzustützen. Ein ernstes Schweigen machte sich breit, während die Anwesenden ihm dabei zuschauten, wie er die Brille abnahm und die Gläser polierte. »Meine Herren«, sagte er gelassen, »ich habe an alles gedacht. In etwa einem Jahr wird das Kind sich plötzlich eine Grippe zuziehen. Sein Fieber wird steigen, es wird schwächer werden. Dann wird es seine Mutter zu sich rufen. Sie geht an sein Bett. >Mom<, sagt Ernie, >es tut mir leid, daß ich so ein böses Balg gewesen bin. Kannst du mir von ganzem Herzen vergeben? Denn - von jetzt an werde ich ein Engel sein.< Seine Lider flattern und schließen sich. Seine Mutter beugt sich über ihn und küßt seine heiße Stirn. Dies löst den letzten Mechanismus aus, und Ernie wirkt, als würde er ... als würde er ...« Sie verstanden. Die Männer der Zeitpolizei nahmen nacheinander die Brillen ab und verließen leise den 173
Raum. Carl wurde auserwählt, den Roboter ins Jahr 1937 zu bringen. »Er sollte das Balg doch zum Hauptquartier bringen«, sagte Captain Charles Conn. »Aber er ist nie aufgetaucht. Und Ernie ist immer noch an der Macht. Was ist schiefgegangen?« Eine Sorgenfalte trübte seine leicht milden Gesichtszüge, als er den Terminkalender durchblätterte. »Vielleicht geht sein Zeiter falsch«, mutmaßte Charles. »Vielleicht ist er am falschen Ort vom Zeitfahrrad gestiegen. Vielleicht hatte er einen Platten - wer weiß?« »Er müßte längst zurück sein. Wie lange dauert es, um fünfzig Jahre weit zu reisen? Nun, jetzt ist keine Zeit, es auszurechnen. Laut Kalender müssen wir uns jetzt wieder doubeln. Ich werde zurückgehen, um zu Charlie zu werden. Charlie, du gehst zurück und übernimmst Chucks Stelle. Chuck wird zu Chas - und du, Chas, übernimmst für Carl.« Er hielt inne, während die Männer ihre Marken tauschten. »Was Carl angeht, werden wir noch alle früh genug erfahren, was ihm passieren wird. Packen wir es an!« Und die Hymne der Zeitpatrouille mit lauten Baßstimmen schmetternd (ja, sie kamen sich blöd dabei vor, aber so lautete nun mal der Befehl des Präsidenten), kletterten sie auf ihre funkelnden Zeitfahrräder, stellten die an den Lenkstangen befestigten Eieruhren ein und flitzten los. Im Jahr 1937 hielt Carl hinter einem Baum an und stieg ab. Der Junge kniete in einem Sandkasten und war offensichtlich gerade damit beschäftigt, einem Welpen eine Blechbüchse an den Schwanz zu binden. »RUNTER VON UNSEREM HOF! HAU AB, ODER ICH FANG AN ZU SCHREIEN! WENN DU MIR KEINEN HONIG UMS MAUL SCHMIERST, DANN ...« Carl, der immer noch auf dem Zeitfahrrad saß, trat 174
eifrig in die Pedale, reiste in den Herbst des Jahres hinein, raubte einem Imker eine Handvoll widerlich süßen Honig und erstand in der örtlichen Drogerie eine Fla sche Äther. Er würde garantiert beides brauchen, um dieses Kind zu überrumpeln. »Ich nehm an«, sagte der Drogist, »... ich nehm an, Sie woll'n, daß ich Ihnen frage, warum Sie 'n goldenen Football-Helm mit Schwingen und 'n langen roten Umhang tragen. Werd ich aber nich. Nix da. Hier rennen die verrücktesten Typen rum ...« Aus Rache klaute Carl so nebenbei einen Philip-Marlowe-Privatdetektiv-Verkleidungskoffer. Carl blendete zu seinem sich gerade auflösenden anderen Ich um und streckte beide Arme nach dem Jungen aus. In der rechten Hand hielt er den Honig, in der linken ein mit Äther getränktes Taschentuch. Als Carl mit dem über der Lenkstange hängenden fetten Jungen durch die grauen, windigen Zeitkorridore fuhr, hatte er den Eindruck, er benötige ein besseres Versteck als das Hauptquartier. Das FBI würde das Hauptquartier als erstes hochnehmen, wenn es nach dem verschwundenen Präsidenten suchte. Das Landhaus Wilbur Graftons war ein viel besserer Platz. Oder vielleicht sogar - hmmm. »Ein ausgezeichneter Plan!« Wilbur saß am Swimming Pool und behandelte sein verletztes Knie. »Wir schmuggeln ihn selbst ins Weiße Fort - es ist der einzige Ort, an dem sie ihn niemals suchen werden!« »Es ist allerdings ein Problem, an den Wachen vorbeizukommen, und ...« Wilbur setzte seine Brille auf und meditierte. »Sie kennen doch den Hund des Präsidenten - diesen großen, häßlichen Köter, der zusammen mit ihm in den Werbespots für Pferdefleisch auftritt. Heißt er nicht Ralphie?« 175
Carl sang, wie aus der Pistole geschossen: »Ralphie kann es gar nicht lassen - freßt auch ihr es, doofe Massen!« »Ich habe an einer Nachbildung dieses Hundes gearbeitet. Er müßte groß genug sein, um den Jungen in sich aufzunehmen. Heute abend, nach Eintritt der Sperrstunde, lassen Sie den Hund verschwinden. Dann verkleiden wir den Jungen und schicken ihn hinein.« Als der Hund aus dem Weißen Fort kam, um den Rasen auf organische Weise zu düngen, erwartete Carl ihn mit der Nachbildung und einem mit Äther getränkten Lappen. Innerhalb weniger Minuten hatte er einem Wächter des Weißen Forts die Nachbildung zugespielt und warf Ralphie in die düsteren, anonymen Korridore der Zeit. Niemand brauchte Ernies Entlarvung zu fürchten, da die Bestandteile der Hunde-Hülle so konstruiert waren, daß sie nur die Geräusche eines Hundes erzeugen konnten und sich auch so aufführten. Im Landhaus erstattete Carl Bericht. »Ich muß Ihnen ein Geständnis machen«, sagte der alte Erfinder. »Ich bin nicht Wilbur Grafton, sondern bloß ein Roboter. - Der echte Wilbur Grafton hat einen Verjüng er erfunden. Da er ihn ausprobieren wollte, ohne Aufsehen zu erregen, entschloß er sich, in die Vergangenheit zu reisen - ins Jahr 1905, wo er als Assistent seines Großvaters Orville tätig werden konnte.« »Per Zeitreise? Aber dazu braucht man doch ein Zeitfahrrad!« »Genau! Deswegen erklärte er sich auch bereit, für die Zeitpatrouille zu arbeiten. In der Nacht, in der er den Dampfmaschinen-Jungen vorstellte, verließ er, wie Sie sich erinnern werden, den Raum und kehrte in der James-Hülle zurück. Doch ich befand mich in dieser Hülle. Der echte Wilbur Graf ton schlich sich hinaus, lieh sich ein Zeitfahrrad aus und verschwand nach 1905. Das Fahrrad schickte er per Autopilot zurück. Seither nehme ich seine Stelle ein.« 176
Carl kratzte sich am Kopf. »Warum erzählst du mir das alles?« »Damit Sie davon profitieren können. Mit Hilfe Ihres Verkleidungskoffers könnten Sie sich selbst als Wilbur Grafton ausgeben. Ich weiß, daß man bei der Zeitpatrouille nicht viel verdient - besonders dann nicht, wenn man fürs gleiche Geld Fünferschichten fahren muß. Ich dagegen führe ein herrliches Leben. Sie könnten in die Vergangenheit zurückkehren und mich ersetzen.« Der Roboter reichte ihm einen Umschlag. »Hier sind die Instruktionen, wie man mich zerlegt - und wie man einen Verjünger baut, sollte Ihnen je der Sinn danach stehen. Dies ist eine Bandaufzeichnung. Ende der Durchsage.« Warum nicht, dachte Carl. Hier gab es einen blauen Swimmingpool, eine »Stereo«-Anlage und ein tolles Haus. James, sein Vater, stand diskret neben ihm, bereit, den Champagner einzuschenken. Und das Zimmermädchen war außergewöhnlich hübsch. Es könnte ein sehr langes Leben werden - mit gelegentlichen Verjüngungen ... Ernie räkelte sich in einem gewaltigen Sessel und sah sich selbst im Fernsehen zu. Ein Wächter brachte den Hund herein. Der Hund biß Ernie. Ernie wollte gerade nach dem Hunde-Scharfrichter rufen, um Ralphie eine Lektion zu erteilen, als irgend etwas im Blick des Tieres seine Aufmerksamkeit erregte. »Also du bist es, stimmt's?« Er lachte. »Oder sollte ich sagen, ich bin es? Beiß mich bloß nicht noch mal, verstanden? Wenn das noch mal vorkommt, laß ich dich in dem Ding drin. Dann kriegst du nur noch den letzten Dreck zu fressen, und ich singe den Leuten im Fernsehen davon was vor.« Depp, dachte das Kind (Ernie wußte es). »Ich kann es tun, Junge. Ich bin der Präsident, also kann ich alles tun, was mir Spaß macht. Deswegen bin 177
ich auch so dick.« Er stand auf und ging im Thronsaal auf und ab, wobei seine Wampe wie ein plattes Vorderrad vor ihm herschlabberte. Depperter Depp! dachte der Junge. Wenn du tun kannst, was du willst, warum sorgst du dann nicht dafür, daß alle früh zu Bett gehen und sich den Mund ausspülen, nachdem sie gesagt haben ... »Das tu ich schon noch. Aber wir haben da ein kleines Problem. Du bist noch zu jung, um es zu verstehen ... Ich verstehe es ja selbst nicht ganz - doch du bist >alle<, und du bist ich. Ich bin alle Menschen, die es je gab und je geben wird. Jedenfalls alle Männer. Alle Frauen ist das Mädchen, das früher in Wilbur Graftons Landhaus die Zimmer saubermachte.« Er erklärte Klein-Ernie die Zeitreise, obwohl er wußte, daß das Balg nur die Hälfte davon verstand, doch er fuhr damit fort, auf die gleiche Weise, wie der große Ernie es ihm erklärt hatte: Carl Conn, der sich als Wilbur ausgab, war alt geworden. Er hatte schließlich den Entschluß gefaßt, daß es an der Zeit sei, sich zu verjüngen und in die Vergangenheit zu reisen. Der wüste, alte Ralphie, der immer noch in den Korridoren der Zeit herumlungerte, hatte ihn angegriffen und ordentlich fertiggemacht. Ein Teil Carls war ins Jahr 1905 zurückgekehrt, um zu Orville Grafton zu werden. Ein anderer Teil Carls war - zusammen mit dem Hund - verjüngt worden und im Jahr 1937 aufgetaucht. »Dieser Carl-Teil, mein Junge, warst du. Der Verjünger hat den größten Teil deiner Erinnerungen - außer den Träumen - gelöscht und dich zu einem häßlichen, fetten Burschen gemacht. Es ist nämlich so, daß unsere - deine, meine, jedermanns - Aufgabe darin besteht, sich durch den Lauf der Zeit zu schlängeln ...« - er fuhr mit der Hand durch die Luft- »... und das Volk zu sein. Meine nächste Aufgabe besteht darin, ein Butler zu sein, während du vorgibst, ein Roboter zu sein, der vorgibt, er sei du. Dann wirst 178
du wahrscheinlich zu meinem Vater werden. Ich werde sein Vater werden, und dann bist du ich. Alles klar?« Er drückte den Hundeschwanz wie einen Hebel herunter, und die Hülle öffnete sich. »Möchtest du ein Eis? Ich hab nichts dagegen, solange bloß kein anderer eins kriegt.« Der Junge nickte. Das Stubenmädchen, hübsch wie immer, brachte einen Präsidenten-Eisbecher herein. Der Junge musterte es, und sein Stirnrunzeln wurde beinahe zu einem Lächeln. »Mom?«
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PARODIEN
Das entwendete Dingsbums Bearbeitet und gekürzt von John Sladek An einem stürmisch-windigen Abend des Jahres 18.. genoß ich kurz nach Einbruch der Dunkelheit in der kleinen Pariser Hinterzimmer-Bibliothek meines Freundes C. Auguste Dupin gerade den doppelten Luxus der Meditation und der Meerschaumpfeife, als die Tür aufgestoßen wurde und unser alter Bekannter Monsieur G. eintrat - der Präfekt der Pariser Polizei. »Und um was geht's diesmal?« fragte ich. »Also gut, ich werde es Ihnen sagen«, erwiderte der Präfekt. »Ich habe von äußerst hoher Seite die persönliche Information erhalten, daß eine gewisse Zutat von höchster Wichtigkeit aus den königlichen Gemächern entwendet wurde. Die Person, die sie entwendete, ist bekannt. Sie ist noch immer in ihrem Besitz, was man eindeutig aus der Natur der Zutat und dem Ausbleiben gewisser Folgen ersehen kann, die eingetreten wären, hätte der Räuber sie weitergegeben.« »Dann«, bemerkte ich, »ist das Zeug einwandfrei noch da. Daß diese Person es am Leibe bei sich trägt, dürfen wir wohl als ausgeschlossen ansehen.« »Absolut«, sagte der Präfekt. »Er ist zweimal überfallen worden, so daß es nach Straßenräubern aussah, und man hat ihn unter meiner persönlichen Anleitung peinlichst genau durchsucht.« »Und sein Hotel?« »Nun ja, Tatsache ist, daß wir uns die Zeit genommen haben, alles zu suchen. Ich nahm mir das ganze Gebäude vor, Zimmer für Zimmer; wir haben jedem einzelnen die Nächte einer ganzen Woche gewidmet. Wir untersuchten zuerst die Möbel jedes Gemachs. Wir öffneten alle möglichen Schubladen; und ich nehme an, Sie wissen, daß es für einen ordentlich ausgebildeten 182
Polizisten Dinge wie Geheimfächer einfach nicht gibt. Wir haben genaue Regeln; uns würde nicht einmal der fünfzigste Teil einer Linie entgehen. Die Kissen der Sessel wurden mit langen, dünnen Nadeln geprüft, die Sie mich schon benutzen sahen. Wir entfernten die Tischplatten, um zu untersuchen, ob es möglicherweise ausgehöhlte Beine gab; ebenso die Bettpfosten.« »Sie haben doch wohl nicht auch noch die ganzen Stühle auseinandergenommen?« fragte ich. »Natürlich nicht, doch wir taten was Besseres - wir untersuchten mit Hilfe eines äußerst starken Mikroskops die Stäbe aller im Hause befindlichen Stühle, und auch die Fugenteile jeder Art Mobiliars. Hätte es dort Spuren einer kürzlichen Beschädigung gegeben, hätten wir sie auf der Stelle entdeckt. Schon ein einziges Körnchen Bohrstaub wäre uns gewiß ebenso aufgefallen wie ein Apfel.« »Ich nehme an, Sie haben sich auch die Spiegel angesehen, zwischen die Rückwände und Platten geschaut und die Betten ebenso untersucht wie die Vorhänge und Teppiche?« »Das natürlich auch; und als wir mit den Möbeln fertig waren, untersuchten wir das Haus selbst. Wir suchten, wie zuvor, mit dem Mikroskop jeden Quadratzoll des ganzen Grundstückes ab, einschließlich der beiden unmittelbaren Nebengebäude. Die Höfe waren mit Zie geln gepflastert, die mikroskopische Untersuchung des zwischen den Steinen befindlichen Mooses enthüllte keine Beschädigungen.« Dupin ergriff nun zum ersten Mal das Wort. »Ich nehme an, daß das Hotel wenigstens fünfzig Fuß im Quadrat mißt«, sagte er. Der Präfekt nickte. »Und es hat wenigstens drei Stockwerke, von denen jedes zwanzig Fuß hoch ist. Und auf jedem Stockwerk befinden sich mindestens vier Zimmer. Wenn Sie nur eine Woche hatten, um ein Zimmer zu untersuchen, 183
und angenommen, Sie hätten pro Nacht sechs Stunden zur Verfügung, müßten Sie . . . « - er hielt inne und führte eine tolle Kopfrechenleistung vor - »... sechzehneinfünftel Quadratzoll pro Sekunde absuchen. Der Bohrstaub, von dem Sie eben sprachen, müßte den Durchmesser eines vier- oder fünftausendstel Zolls haben oder etwa ein Tausendstel der Dicke eines Apfels auf weisen. Würde also einer Ihrer Leute das Volumen eines Apfels in der sichtbaren Umgebung absuchen wollen, würde er vierhundert Sekunden oder achtzehnzweidrittel Minuten brauchen, um einen Quadratzoll zu überprüfen. Daraus folgt also, daß es bei einem Mann neunhundertsechzig Minuten oder sechzehn Stunden dauert, einen Quadratfuß Boden abzusuchen. Ein Zimmer von vierundzwanzig Quadratfuß und zwanzig Fuß Höhe umfaßt eine Gesamtfläche von dreitausendzweihundertundfünfzig Quadratfuß; ein Mann würde ziemlich viel Zeit damit verbringen, ihn zu durchsuchen.« »Natürlich habe ich ...« »... mehr als einen Mann eingesetzt? In der Tat, damit habe ich gerechnet. Wenn Ihre Leute, wie Sie sagen, diese Räume untersucht haben, hätten sie die Hilfe von eintausendzweihundertundachtunddreißig Männern gebraucht, die alle, mit Mikroskopen ausgerüstet, zur gleichen Zeit im gleichen kleinen Zimmer hätten arbeiten müssen! Und das, wie Sie andeuteten, lautlos! Also, ich muß schon sehr bitten, mein lieber Präfekt!« Ich war verblüfft. Der Präfekt stand da wie vom Blitz getroffen. Einen Augenblick lang war er sprach- und bewegungslos, und blickte meinen Freund mit offenem Mund und Augen an, die den Anschein erweckten, als würden sie ihm gleich aus den Höhlen fallen. »Sie wissen ganz genau, was ich meine, Monsieur G.«, sagte Dupin. Der Präfekt errötete. Dann griff er zu meinem äußersten Erstaunen in seine Tasche und zog das Ding her184
vor. Dupin überzeugte sich, daß es tatsächlich das fragliche war, dann schloß er es weg. »Sie können gehen«, sagte er kühl zu dem Präfekten. Der Beamte packte in totaler Freudenekstase Hut und Stock, dann hastete er, sich aufrappelnd, zur Tür und eilte ohne Säumen ganz unzeremoniell aus dem Raum und dem Haus. Als der Präfekt gegangen war, brachte mein Freund ein paar Erklärungen vor.
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Pemberlys Neubeginn-Dampforgel Oder Der Neue Proteus Ich hoffe, daß ich diese Geschichte so exakt niederschreiben kann, wie der Chirurg sie mir im Club erzählte. Wir waren zu dritt im Rauchsalon: Lord Suffield; der Chirurg, dessen Name ich nicht weiß, und ich. Sobald er in seinen Sessel sank, begann Lord Suffield mit einer Anekdote über Indien, und sobald ihm unsere Aufmerksamkeit zuteil geworden war, fiel er mitten im Satz in tiefen Schlaf. Der Chirurg und ich tauschten Zigarren und unterhielten uns über nichts Besonderes. Irgendwann machte ich dann eine Bemerkung darüber, daß neue Zigarren einem Mann neue Ansichten über das Leben gäben. Der Chirurg maß mich mit einem eigentümlichen Blick, dann begann er seine erstaunliche Geschichte über Pemberly, den Erfinder. An einem Oktobernachmittag des Jahres 1889 (sagte der Chirurg) erspähte ich Gabriel Pemberly in der Menge auf der Atlas Street. Er war während der Jahre, in denen ich ihn nicht mehr gesehen hatte, sichtlich gealtert, doch ich erkannte ihn an der seltsamen Steifheit seines Schrittes, die mir sagte, daß er Pemberlys schrittsparende Sockenhalter trug. Dieser Uhrwerk-Apparat wurde entworfen, um die Lebenszeit seines Trägers zu verlängern, indem er die Länge und Schnelligkeit seiner Schritte erhöht, ohne die dazu erforderliche Energie zu steigern. Meines Wissens hat außer Pemberly nie je mand dieses Ding getragen. »Gealtert« ist jedoch nicht das richtige Wort: Pemberly war verfallen und zu einem gebeugten, runzligen, kranken alten Mann geworden. Seine Kleider waren 186
zerlumpt und besudelt von Essensresten, und sein Haar und sein Bart dünn geworden. Auch glaubte ich eine Stumpfsinn anzeigende Schlaffheit seines Kinns zu entdecken. Ich grüßte ihn, doch er sah mich nicht, vielleicht deswegen, weil er hartnäckig in eine andere Richtung blickte - über die Schulter zurück. Leider konnte ich nicht anhalten, da ich mich auf dem Weg zum Krankenhaus befand, um das Bein eines gewissen Grafen zu amputieren. Pemberly sockenhalterte von dannen, und bald amputierte ihn die Menge von meinem Blick. Jedoch nicht von meinem Verstand. Ich dachte über das Pech meines Erfinder-Freundes nach, der so schnell und fähig gewesen war, alles außer seinem persönlichen Seelenfrieden zu erfinden. Seit seiner letzten Torheit, der Dampfrasierer-Affäre von 1882, hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Er hatte dieses Gerät zum Ruhme einer kunstfertigen, sanften, wirkungsvollen Rasur bauen wollen, das bei Berührung eines Hebels rasierte. Es sollte selbst Seifenschaum mischen, sich selbst die Klingen schärfen und sogar eine Art Papageiengeschwätz liefern. Ein Junitag wurde für den Test bestimmt; Pemberly sollte der »Kunde« sein, während ich beobachten und, falls nötig, medizinische Hilfe leisten sollte. In der Nacht vor dem Test wurde Pemberly ernstlich krank: ein Resultat von Überarbeitung, Besorgtheit, und, wie ich annehme, der Einnahme selbstentwickelter Nährstoff-Pillen, die er anstelle von Nahrung zu sich nahm. Wir ließen seinen Mechaniker, einen jungen Mann namens Groon, bei der Maschine zurück und wiesen ihn an, ein paar Veränderungen vorzunehmen. Ich brachte Pemberly nach Hause und gab ihm ein Beruhigungsmittel. Am nächsten Morgen betraten Pemberly und ich die Werkstatt und fanden Groon in einem Sessel sitzend vor. Um seinen aufgeschlitzten Hals war ein Handtuch 187
geschlungen. Der gesamte Raum war mit Blut und Seifenschaum besudelt, wie von ekstatischer Aktivität. Als wir hereinkamen, schliff die Maschine das Rasiermesser und fragte den Toten mit krächzender Stimme, ob ihm das heutige warme Wetter gefiele. Beim Verhör sagte ich aus, daß Pemberly nicht am Tatort gewesen sei, nichts gegen Groon gehabt habe und ganz sicher keine boshafte Person oder ein krimineller Charakter sei. Man legte ihm den Tod nicht zur Last, doch nur was das Gesetz betraf. Viele seiner Freunde schnitten ihn auf grausame Weise, der ErfinderClub schloß ihn aus, und schließlich hörte der arme Pemberly ganz damit auf, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Bis jetzt. Jetzt, nachdem ich ihn wiedergesehen hatte, bildete ich mir ein, ihn überall zu sehen: als blinden Bettler auf der Mapp Road, als Marinesoldat in der North Street, als Angestellten in der Stadt - alle glichen Pemberly in unterschiedlichem Alter, und zwar so, daß ich nicht umhin kam, sie anzustarren. Einmal, nachts, hörte ich einen Droschkenkutscher so etwas wie »Reis-Stahl« sagen, und zwar exakt in Pemberlys Tonfall, und ich wußte, daß die Sichtung meines heruntergekommenen Freundes allmählich begann Besitz von mir zu ergreifen. Schließlich sah ich ihn auf der Straße wieder, und diesmal konnte es kein Irrtum sein. Ich ging direkt auf ihn zu und bot ihm meine Hand an. »Guter Gott!« Er zuckte zusammen und zitterte. »Fatheringale! Sind Sie es?« Er nahm meine Hand, und zu meinem Entsetzen fing er an zu weinen. »Na, kommen Sie«, sagte ich. »Ist ja schon gut. Wir sollten lieber in meine Praxis gehen - auf einen Whisky und einen kleinen Schwatz.« Ich schob ihn in die Droschke hinein, und wir fuhren los. Pemberly machte überhaupt keine Konversation. Er blickte sich ständig um und versuchte, aus dem Ruck188
fenster zu sehen. Da das Rückfenster nicht mehr als ein winziges, hoch oben angebrachtes Oval aus Rauchglas war, hielt ich seine sinnlose Gebärde für eine Art kompulsiven Tick, ähnlich dem Herumlaufen eines Tieres in einem Käfig. Ob es möglich war, daß die Dampfrasie rerAffäre seinen Geist in Mitleidenschaft gezogen hatte? Ich fürchtete allmählich, daß dem so war. Nachdem wir angekommen waren, weigerte Pemberly sich auszusteigen. »Gehen Sie zuerst hinein«, bat er mich. »Schauen Sie nach, ob die Luft rein ist.« Verblüfft fragte ich ihn, auf was in aller Welt ich achten sollte. »Auf alles Ungewöhnliche. Frühstück zum Beispie l. Oder Dampforgeln.« Das Schlimmste für den Geist meines Freundes befürchtend, ertrug ich seine Bitte mit Geduld, und tat so, als würde ich hineinsehen. »Keine Mahlzeit in Sicht«, versicherte ich bei meiner Rückkehr. »Und auch keine Orgeln, außer ein paar eingelegten Exemplaren.« Mein flauer Scherz ließ ihn in ein dermaßen lautes Gelächter ausbrechen, daß ich mich genötigt sah, ihm voll ins Gesicht zu schlagen - und zwar so! Damit holte der Chirurg aus und versetzte dem immer noch schlafenden Lord Suffield eine Backpfeife! Ich sprang verblüfft auf und befragte ihn nach der Bedeutung dieser Handlung. »Ich hoffe, seine Lordschaft wird mir vergeben«, sagte er, offenbar nicht weniger erstaunt als ich. »Ich ... ich bin heute abend kaum ich selbst. Doch lassen Sie mich fortfahren.« Ich pflichtete ihm bei, da ich sah, daß Lord Suffield nicht den Eindruck erweckte, den Schlag als allzu heftig empfunden zu haben. Tatsächlich rührte sich seine Persönlichkeit in seinem Sessel so gut wie nicht. Er murmelte nur »Drei Gläser Marmelade und ein Brief«. Dann 189
nahm er erneut den Faden seines Geschnarches auf, so wie der Chirurg den seiner Erzählung. Nachdem ich Pemberly in das Vorderempfangszimmer meiner Praxis bugsiert und dazu überredet hatte, ein Glas Whisky zu sic h zu nehmen, fragte ich ihn offen, von wem er sich verfolgt fühlte. »Nicht von wem«, erwiderte er mysteriöserweise, »sondern von was.« »Sie als Mann der Wissenschaft wollen mir doch wohl nicht erzählen, daß Sie ein Gespenst gesehen haben?« fragte ich. »Ein Gespenst? Ich wünschte mir, es wäre nichts anderes.« Er schüttelte sich. »Mein Gott, Fatheringale! Ich werde verfolgt von ... von Dienstagmorgen!« Ich sollte jetzt vielleicht erwähnen, daß Pemberly stets ein Mann von spezieller Ausdrucksweise gewesen war. Ich hatte seine komischen Wendungen stets als leicht exzentrisch, sogar als Zeichen seines Genies abgetan. Doch jetzt hatte ich den Eindruck, als würde ich zum Zeugen der Auswirkung jener krankhaften Gehirnveränderung, die Zeit und Gebrechlichkeit bis zum Punkt des Wahnsinns verschlimmert hatte. Ich machte mir die Mühe, ihn zu untersuchen, und dabei zog ich ihm die Geschichte seiner letzten sieben Jahre aus der Nase. Wovon hatte er gelebt? Komischerweise von dem Dampfrasierer. Er hatte ihn an eine südamerikanische Republik verkauft, doch nicht als Rasierer, sondern als Exekutionsmaschine. Es scheint, daß man ihn für Akkordarbeit bezahlt hat, denn da diese Republik von zahlreichen echten und eingebildeten Revolutionen bedroht war, die niedergeschlagen werden, und Rebellen, die exekutiert werden mußten, versorgte die vermietete Maschine Pemberly mit einem behaglichen Einkommen. Der Grund, aus dem er pleite zu sein schien, war ein190
fach der, daß er jeden überzähligen Penny (und mehr) in seine neueste Erfindung gesteckt hatte - die Neubeginn-Dampforgel. »Seit der Dampfrasierer-Affäre«, sagte er, »habe ich mich stets danach gesehnt, mein Leben wie eine Schie fertafel auszuwischen und neu anzufangen, ein neuer Mensch zu werden. Ich hätte alles mögliche werden können - General, Gottesmann, ein erfolgreicher Anwalt ... aber nein. Der Würfel war, wie es so schön heißt, gefallen. Oder nicht? Ich studierte Philosophie, Astronomie, Logik und die Einzeller - und je mehr ich las, desto überzeugter wurde ich, daß das, was ist, nicht notwendig ist. Ich stürzte mich in die Arbeit und fing an, eine Maschine zu bauen, die den Job erledigen konnte!« »Ich glaube, ich verstehe nicht«, sagte ich lächelnd. »Dann sind Sie so dumm wie die anderen!« schrie er. Ich wagte nicht zu fragen, wen er meinte. »Ach, was verschwende ich meine Zeit, mit Dummköpfen zu reden?« Ich bat ihn, es mir erneut zu erklären. »Ich habe entdeckt, daß wir den unbeschrittenen Pfad gehen können«, sagte er voller Inbrunst. »Wie Sie hielt auch ich einst die Wirklichkeit für eine Art fest verankerte Wahrheit, unverwechselbar wie einen Löffel. Aber jetzt ist nichts leichter zu verändern als Tatsachen. Das Leben ist ein Plural! Die Wirklichkeit ist keine Wahrheit, sie ist eine Halb-Wahrheit, sowas wie ein Schnaufer, eine bloße Erscheinung!« Diese außergewöhnlichen Beobachtungen ließen mich zwar ebenso im dunkeln tappen wie zuvor, doch ich wagte nicht, es zu zeigen. »Ach so«, sagte ich und tat, als verstünde ich ihn. »Ist Ihre Erfindung also erfolgreich gewesen?« »O ja, natürlich. Der Bau der Maschine war leicht. Aber auf ihr spielen zu lernen war eine quälende Folter. Meine Fehler hören nicht auf, mich heimzusuchen, und 191
sie sind unzahlbar Jetzt, zum Beispiel, bin ich hier, um Ihr Leben zu retten « Mit diesen Worten packte er mich an der Schulter und stieß mich grob zu Boden Bevor ich fragen konnte, warum er dies tat, krachte ein Schuß' Ich schaute aus dem Fenster und sah ein unheimlich grinsendes Gesicht - dann war es wieder weg »Tut mir leid«, sagte Pemberly und half mir wieder auf die Beine »Braucht es nicht, alter Junge « Ich schaute dorthin, wo die Kugel eingeschlagen war »Sie haben mir tatsächlich das Leben gerettet « »Es tut mir nicht leid, daß ich Sie zu Boden geworfen habe, Sie Narr1 Es tut mir leid, daß ich auf Sie geschossen habe'« Das war der Augenblick, in dem ich anfing, halb an Pemberlys neue Erfindung zu glauben - und zu verstehen, worüber er so irre redete Offensichtlich ermöglichte ihm diese heimtückische Geratschaft, seinen Korper auf irgendeine Weise zu multiplizieren Anscheinend waren einige seiner Ichs weniger stabil als andere - seine »Fehler« Sein reales Ich - wenn es real war mußte also dafür sorgen, daß ihr Unheil ungeschehen gemacht wurde In diesem Augenblick rief die Polizei nach mir, um sich nach dem Schuß zu erkundigen Ich mußte den Raum verlassen, um mich mit den Beamten zu unterhalten Als ich zurückkehrte, war Pemberly nicht mehr da Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis ich bemerkte, daß auf meinem Schreibtisch ein dickes Manuskript lag, das in Pemberlys Handschrift an mich adressiert war »Mein lieber Fathenngale wie kann ich es nur erklären7 Ich habe so wenig Zeit, da ich in dieser Rolle bald sterben muß Nicht, daß ich das Sterben bedaure, denn welches Bedauern konnte ausgerechnet ich schon haben7 Ich habe, allein unter Sterbh192
dien, ein erfülltes Leben gelebt Ich bin überall gewesen und habe alles gesehen und getan, was ich mir möglicherweise ersehnen konnte Jetzt mochte ich, daß Sie die Neuanfang-Dampforgel bekommen Sie wird Ihnen einen Tag nach meinem Tode geliefert werden Doch ich muß Sie bitten, die anliegenden Instruktionen sorgfaltig zu lesen, damit Sie die kostspieligen Fehler vermeiden, die ich begangen habe Mit der Maschine werden Sie fähig sein, jeder zu werden, der Sie sein mochten Aber machen Sie sich unter allen Umstanden klar, daß nicht jede Veränderung Ihnen zum Besseren gereicht Ihr herzlich grüßender Freund Gabriel Pemberly « Ich wandte mich den »Instruktionen« zu - fünfzig Seiten eng beschriebener Formeln und Diagramme »Wenn x gleich undurchlässiger Griff Z" (Eckstein B [n*0]) definieren oder Heirat von Schädel und Gewicht pars (x-ln y) dy mal vier-Heimlichkeiten 0 gerippte Mogl waren die Ergebnisse von Kuh 14 Millionen licht-durchschnittlicher Storungsanstieg Nerven-Klammern7 Aber nein 1 Anti-weiter worin die Schnell-Entfernung n z (Mogl B*) die ich wiederum Griff nenne... Stern... Q E D « Es war ein Buch mit sieben Siegeln für mich Ich legte es beiseite und versuchte, nicht mehr über die schrecklichen Möglichkeiten der Maschine nachzudenken Über eine Woche spater deutete ich auf eine Leiche in der Leichenhalle des Friedhofs und identifizierte sie als die Pemberlys Er hatte sich eine Kugel in sein gepeinigtes Gehirn gejagt
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»Und die Dampforgel?« fragte ich. »Am Tag nach der Beerdigung«, sagte der Chirurg, »lieferte Pemberly sie mir. Höchstpersönlich.« »Was?« Mein Aufschrei weckte Lord Suffield, der auf der Stelle mit seiner Anekdote fortfuhr: » ... schickte einen Diener mit drei Gläsern Marmela de und einem Brief zum Gouverneur, doch der Lump leerte unterwegs ein Glas. Erklärte ihm, der Brief hätte ihn verraten, verpaßte ihm 'ne ordentliche Tracht Prügel. Als ich ihn das nächste Mal mit drei Gläsern Marmelade und einem Brief losschickte, versteckte er den Brief hinter einem Baum, damit dieser ihn nicht beim Marmeladeessen sah. Hatte diesmal nicht das Herz, ihn zu verhauen, so mußte ich lachen. Oh, nach und nach ...« Als seine Lordschaft wieder schlief, beantwortete der Chirurg meine Frage. Es war ein jüngerer, robusterer Pemberly, der die Dampforgel an meine Tür brachte. »Ich bin kein Gespenst«, sagte er ungeduldig. »Und wenn Sie sich die Mühe gemacht hätten, meine Instruktionen zu lesen, würden Sie bestens verstehen, warum ich am Tag nach meinem eigenen Begräbnis hier bin. Aber es macht nichts, kommen Sie raus und sehen Sie sie sich an!« »Sie?« »Die Neubeginn-Dampforgel!« deklamierte er. Er führte mich auf die Straße hinaus - und ich war so bestürzt, daß ich in Weste und Hemdsärmeln hinausging -, und zeigte mir einen Waggon, der von einer Unermeßlichkeit aus Stahl und Glas beladen war. Sie ähnelte irgendwie einer Dampforgel. Doch die Pfeifen standen in keiner erkennbaren Ordnung, sondern sprossen und drehten sich in alle Richtungen und waren mit einer Vielzahl von Utensilien verbunden. Ich erkannte das Zifferblatt einer Uhr, ein paar Blasebälge, 194
Zahnräder und Webmaschinerie. Die Tasten waren mit irgendwelchen Geheimzahlen Pemberlys markiert. Nachdem er den Kessel gefeuert und die Ventile geprüft hatte, nahm er seinen Platz an der Tastatur ein, hob beide Hände und rief: »Die Musik des Wechsels sie setze ein!« Noch mehr von diesem Wahnsinn konnte ich nicht verdauen. Mir war irgendwie klar, daß dieser Mensch den alten Pemberly ermordet hatte und nun seine Rolle spielte. Ich wandte mich zum Haus um, weil ich nach den Behörden schicken wollte, und sagte, ich wolle nur meinen Mantel holen. »Die Musik des Wechsels kann nicht warten«, sagte er und fing an zu spielen. Die Melodie war irgendein bekannter Gassenhauer, doch sein Arrangement machte ihn gleichzeitig unheimlich schön und entsetzlich. Donner ... das Klagen verlorener Seelen ... der Kristallring ... das Klatschen frischen Rasierschaums ... Nein, nichts kann sie vermitteln. Ich schweife ab. Wie bei den meisten Chirurgen hängt auch neben meiner Haustür ein poliertes Messingschild, auf dem mein Name und mein Beruf stehen. Die Musik fing an und ließ mich erstarren, als ich hineingehen wollte, und ich schaute auf - und durch - das Schild. Ich sah mein überraschtes Gesicht - und hinter mir den Rücken Pemberlys, der wie ein buckliger Satan vor den Tasten hockte. Er glühte. Das heißt, er strömte kein Licht aus, sondern eine Art unirdische Intensität. Ich konnte in ihn hineinsehen und sah durch seine Haut und seine Kleider andere Leute glühen. Hier war ein junger Pemberly, der an seinem Dampfrasierer arbeitete; ein noch jüngerer, der Chemie studierte; ein Schüler; ein Säugling. Und da waren auch Pemberly der Finanzier, der Rechtsanwalt, der Bischof, der General ... 195
Meine Brennweite wechselte, und ich sah, der Name auf dem Schild war nicht mein eigener. Die Brennweite wechselte erneut, und ich sah, daß mein Gesicht nicht das meine war, sondern das Pemberlys, des Chirurgen. »Also das ist es!« schrie ich mit seiner Stimme. »Genau«, sagte er gelassen. »Ich lebe für eine Weile von Ihnen getrennt, alter Junge. Hoffe, Sie haben nichts dagegen.« Er schloß die Orgel ab, schlenderte davon und ließ mich als den verfluchten Apparat und den zweimal verfluchten Menschen zurück, den sie jetzt vor sich sehen. Ich bin gezwungen, ein Leben auszuleben - ein immens erfolgreiches Leben —für Pemberly, als Pemberly. Ich weiß immer noch, wer ich bin. Ich habe all meine persönlichen Erinnerungen, obwohl ich mir einer zweiten Seele bewußt bin, die meinen Körper bewohnt und sich von meinen privaten Erfahrungen ernährt. Und obwohl ich weiß, daß ich Fatheringale bin, wäre es Wahnsinn, dies zu behaupten. Ich weiß nicht, wie viele andere Leben Pemberly sich angeeignet hat, aber ich treffe mich überall, wohin ich gehe. Vielleicht wird der Prozeß erst enden, wenn die ganze Menschheit zu einer großen, brabbelnden Version seines Ichs geworden ist. Ich kann nur hoffen, daß ich den Mut habe, mir das Leben zu nehmen, wenn die ser Tag kommt. Da ich das Dampforgelspiel noch nicht vernommen hatte, hielt ich den armen Chirurgen natürlich für wahnsinnig, und soviel deutete ich auch Lord Suffield gegenüber an, nachdem der andere gegangen war. »Wahnsinnig? Der alte Pemberly doch nicht. Er gehört nämlich zu den besten Ärzten, die wir haben. Soweit ich weiß, soll er demnächst geadelt werden. Oder meinen Sie einen anderen Pemberly? Ich würde wetten, es sind drei auf der Ehrenliste in diesem Jahr. Eine verdammt ehrgeizige Sippschaft. Einen dieser Empor196
kömmlinge trifft man überall. Kürzlich habe ich einen am Obersten Gerichtshof getroffen. Netter Kerl, dieser Pemberly, aber er redete ziemlichen Stuß. Zwei Glas Portwein, und der Bursche fing tatsächlich an, sich für einen anderen zu halten! Verwendete auch absonderliche Worte: >der Keil der Wahl<, >das Futteral der Protektionsmeinung<, das Sonstwas des Sowieso ... so'n Kauderwelsch. Eine komische Bande, diese Pemberlys, aber nicht verrückt.« Am anderen Ende des Raumes trat ein Diener ein, um die Tische zu säubern. Glich er nicht Dr. Pemberly? Und bewegte er sich nicht, als würde er von einer Uhrwerksfeder angetrieben? Nein, das Licht spielte mir einen Streich, kein Zweifel, oder es lag an meiner Müdigkeit. Es gibt keinen verrückten Erfinder, der mit der menschlichen Rasse Arpeggio spielt. Die ganze Geschichte ist nichts anderes als ein Sellerie ohne Grenzen!
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(Gewinner des HUGOLES AWARD 1911)
Ralph 4F 1. Kapitel: Der Ausreißer Ralph 4F, der größte Wissenschaftsexperte der Welt, musterte den Kalender. Heute war der 15. März 2720. Mit etwas Glück konnte er sein kniffeliges Radium-Experiment innerhalb von fünf Tagen zu- Ende bringen. Das wäre dann am ... Ralphs Berechnungen wurden von einem verzweifelten Schrei unterbrochen, der aus dem Weitseh-Gerät drang. »Hilfe! Hilfe!« Diese Maschine gestattete es dem Erfinder aufgrund einer komplizierten Anordnung wissenschaftlicher Gerätschaften, Dinge zu sehen und zu hören, die nicht direkt vor ihm, sondern Dutzende, sogar Hunderte von Meilen entfernt waren. Während das altmodische Tele phon Drähte verwendet hatte und lediglich Stimmen übermitteln konnte, setzte das Weitseh vibrierende Wellen ein, um sie mit hoher Geschwindigkeit durch den Äther zu schicken und Stimmen und Bilder gleic hzeitig zu übermitteln! Ralph sah jetzt auf die polierte Spiegelplatte des Weitseh. Er schaute geradewegs in die ängstlichen Augen einer hübschen jungen Frau, und anhand ihrer Umgebung war es nicht schwierig, zu erkennen, was sie so beängstigte, denn sie und ein älterer Herr in der Kleidung eines Bankiers schienen Insassen eines durchgedrehten Motorwagens zu sein! Als Ralph ihnen voller Grauen zusah, verlor die junge Dame das Bewußtsein, und das Vehikel verschwand aus seinem Blickfeld! Ohne eine Sekunde zu vergeuden, sprang der kräftig 198
gebaute wissenschaftliche Erfinder an die Kontrollen seines Spezialfliegers, des Kolibri. Wie sein Namensvetter war der Kolibri dazu fähig, vertikal, zur Seite und rückwärts zu fliegen - er konnte sogar stundenlang mitten in der Luft stehenbleiben, als existiere die Schwerkraft lediglich in der Phantasie. In kurzer Zeit hatte Ralph die Maschine über dem durchgegangenen Motorwagen zum Halten gebracht. Dann ließ er einen starken Magneten hinunter und zog den Wagen herauf, wie ein Kind vielleicht eine Eisenfüllung herausgezogen hätte. 2. Kapitel: Fenster Nachdem Ralph seine Gäste mit Hilfe künstlicher Brandy-Tabletten wiederbelebt hatte, stellten sie sich einander vor. »Ich heiße Jerome V8«, sagte der Bankier, »und dies ist meine Tochter, Doris XK100. Wie können wir Ihnen je danken, daß Sie uns das Leben gerettet haben?« Ralph errötete und wagte die hübsche junge Dame nicht anzusehen. »Indem Sie mir gestatten, daß ich Sie in unserer Stadt herumführe«, sagte er. »Sie sind doch beide fremd hier, nehme ich an?« Doris zeigte lächelnd ein Grübchen. »Ja, wir sind gerade mit dem >Düsen<-Flieger aus Council Bluffs gekommen, nicht wahr, Papa?« »Das stimmt«, stimmte der vornehme Bankier ihr zu. »Sagen Sie, Ralph, warum nennt man sie eigentlich >Düsen<-Flieger? Für mich sah die Maschine gar nicht wie eine Duschbrause aus.« »Nein, da haben Sie recht.« Ralph, der den >DüsenDüsen<-Flieger, weil er wie eine Duschbrause aussieht, sondern weil heiße Gase aus seinem Endedü199
sen. Diese drücken gegen die Luft und treiben die Maschine nach vorn.«* Während seiner Erklärung musterte Ralph begeistert das Mädchen. Er fühlte sich sehr zu Doris hingezogen, obwohl er sie erst seit wenigen Minuten kannte, wie seine äußerst genau gehende elektrische Uhr anzeigte. »Aber«, sagte Ralph, »Sie haben mir noch gar nicht erzählt, wie Sie in diesen durchgehenden Wagen gerie ten.« Jerome V8 schaute ernstlich betrübt drein. »Ich glaube, es war das Werk eines unserer alten Feinde, eines enttäuschten Bewerbers um Doris' Hand, dessen Name Fenster 2814T lautet.« 3, Kapitel: Eine Rundfahrt Als sie wieder in seinem fliegenden Flieger waren, zeigte Ralph seinen Gästen viele der städtischen Sehenswürdigkeiten. Da waren die gewaltigen, qualmenden Elektrizitätswerke, die so fleißig schwarze Fossilien in reines Licht verwandelten wie eine Kuh Gras in Milch. Da waren die Abwasserwerke, die Wasserwerke, die Fabriken und Bürogebäude, Straßen, Autobahnen und mächtigen Brücken. Jerome V8 äußerte Interesse an den Mammut-Straßenzügen, die voller Motorwagen aller Klassen waren. Doris war beeindruckt von den berühmten >Wolkenkratzer<-Gebäuden, besonders von dem großen Empire State Building mit dem kletternden Riesenaffen. Nach der Landung lud Ralph den Bankier zu einem Spaziergang ein, während Doris sich in einem kunstvollen und auf dem neuesten Stand befindlichen Schön* Den Aeronauten des »Düsen«-Zeitalters wird der Fehler, der Ralph hier unterlief, natürlich nicht unbemerkt bleiben Es ist natürlich die Luft, die gegen die heißen Gase drückt Ralph war zu dieser Zeit übermüdet und hatte eine Menge anderer Dinge im Kopf.
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heitssalon frischmachte. Die beiden Männer spazierten an Schaufenstern vorbei, die eine erstaunliche Vielfalt an modernen Waren präsentierten: Wasserlose Handreiniger, handfreundliches Seifenpulver, Zwergzigarren, Möbel aus Aluminiumrohr und gewebtem Glas, Bräunungscremes, Schuhe aus künstlichem Gummi und Kleider aus seltsamen neuen Materialien; elektrische Zahnbürsten; Radios, die kaum größer waren als Zigarrenkistchen; elektrische Selbst-Stimulatoren, bequeme Sockenhalter und eine atemberaubende realistische Hundescheiße-Imitation. Jerome V8 wunderte sich über rätselhaft luminierende Kruzifixe, metallplattenbewehrte Babyschuh-MEMENTOS, ein Sabberglas, münzbediente Trockenreiniger, Photographenläden und ein paar neue Fasern, die sich zwar wie gewöhnliche Wolle anfühlten, doch weitaus teurer waren. »Ich möchte die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen zu reden, Sir«, sagte Ralph. »Ich weiß zwar, daß es ein biß chen plötzlich kommt, aber ich möchte Sie gern fragen, ob Sie etwas dagegen hätten, wenn ich Sie um die ... die Hand Ihrer Tochter bäte.« »Gemacht!« rief der alte Bankier aus und schüttelte ihm die Hand. »Aber jetzt wollen wir nachsehen, wie es Doris inzwischen ergangen ist.« Als sie auf den Schönheitssalon zugingen, rempelte sie ein rüpelhafter Fremder an, der ein schweres Bündel trug. Ralph nahm den dunkelhäutigen Mann, dessen Miene vom Mützenschirm einer Leinenkappe überschattet wurde, kaum zur Kenntnis. Doch Jerome V8 sah den Fremden an, stolperte und wurde bleich. »Das war .. .«.röchelte er, griff sich an die Brust und fiel zu Boden. Ralph trug ihn hinein und schaute nach Doris. Sie war nirgendwo auffindbar.
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4. Kapitel: Die Stimme aus dem Grab »Sein Herz ist stehengeblieben. Irgend etwas muß ihm einen entsetzlichen Schock versetzt haben«, murmelte Ralph und beugte sich über die eklige alte Leiche. »Ich bin Herzchirurg«, sagte ein Mann und löste sich aus der Menge der neugierigen Zuschauer. »Kann ich helfen?« »Sie könnten vielleicht versuchen, ein paar Venen aus den Beinen des alten Mannes in sein Herz zu verpflanzen«, schlug Ralph vor. »Ich weiß, daß man es noch nicht oft versucht hat, aber hier sehen Sie, wie es funktioniert.« Schnell zeichnete er ein schematisch es Dia gramm auf die gestärkte Hemdvorderseite des alten Mannes. Dann wandte er sich dem Personal des Schönheitssalons zu. »Ich möchte, daß Sie sämtliches Licht und alle Spiegel auf den Massagetisch dort drüben richten. Kochen Sie die Manikürmesser und Scheren aus und besorgen Sie eine Menge sauberer Handtücher.« Eine Minute später hatte er einen elektrischen Ha artrockner in eine behelfsmäßige Herz-Lungen-Maschine umgebaut. Ein paar Tage später sprach der alte Bankier, den je dermann längst für tot gehalten hatte, wieder - eine Stimme aus dem Grab. »Ich glaube«, sagte er, »ich bin ganz schön auf die Schnauze gefallen ...« Noch später befragte Ralph ihn zu seinem Herzanfall. »Ja, es lag an dem Mann mit dem Bündel - er sah so aus wie Fenster 2814T. Und ich wäre beinahe auf die Idee gekommen, es sei Doris, die im Inneren des Bündels steckte. - War sie es übrigens?« In diesem Moment starb der alte Mann zum zweitenmal, doch diesmal an Altersschwäche - jenem Mörder und Verkrüppler, den die Wissenschaft niemals schlagen wird. Doris entführt! Ralph biß sich auf die Lippe, bis sie blutete, denn er hatte keinen Zweifel, daß der Fremde, der Doris XK100 gekidnappt hatte, dieser Fenster
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gewesen war! Doch wohin konnte er sie gebracht haben? »Wo mögen sie nur stecken?« 6. Kapitel: Am Wendepunkt In einer Ecke des Magnesiumraumes saß ein Geistlicher, der mit unzerreißbaren Ytteriumketten an einen Rubidiumstuhl gefesselt war. In den gefesselten Händen hielt er ein Gebetbuch, das auf der Seite aufgeschlagen war, wo die Heiratsformel stand. Im Mittelpunkt des Laboratoriums lag Doris auf einem Vanadiumtisch. Fenster stand über sie gebeugt da und glotzte sie hämisch an. »Du willst mich also nicht heiraten - he?« Doris weinte und kämpfte gegen die Iridiumbänder an, doch erfolglos. Wieder sagte Fenster etwas. »Ich nehme an, ich bin dir wohl nicht gut genug - so wie dein feiner Erfinder, der verfluchte Ralph 4F! Doch jetzt mußt du mich heiraten, ob du willst oder nicht, und es gibt nichts, was Ralph dagegen tun kann. Ha, ha, ha! Ich würde wirklich gern sehen, wie er sich aus dieser Situation herauserfindet!« In diesem Augenblick durchbrach Ralph 4F die Curiumtür, eilte durch den Raum und gab Fenster eine solche Ohrfeige, daß ihm das Blut aus der Nase schoß. Polizisten tauchten auf, die bereit waren, den feigen 2814T fortzubringen. »Aber - wie ...?« keuchte dieser. Ralph lächelte. »Sie haben einen Fehler gemacht, Fenster - nämlich den, Ihr Opfer dreizehn Wochen lang hämisch anzuglotzen. Ich lokalisierte Ihr >Mond<-Laboratorium mittels eines Elektromikroskops, das meine Sichtweite stark erhöht. Dann setzte ich meinen Funktransmitter ein, um sämtliche Ätherwellen zwischen Ihnen und der Erde zu kappen, so daß Sie langsam auf 203
den Grund sanken und - wie wir es ausdrücken - elektrisch >grundeten<. Dann zerlegte ich das nächste Polizeirevier in Einzelteile, brachte es mit einem Luftschiff hierher und baute es um Sie herum wieder auf. Sie sind im Gefängnis, Fenster, und wenn Sie nicht so sehr mit Ihrem blöden Grinsen beschäftigt gewesen wären, hätte ein Blick auf den Höhenmesser Ihnen alles verraten.« Der verblüffte Verbrecher wurde abgeführt und verprügelt. Doris und Ralph reichten sich die Hände; ihre Blicke gaben sich ein Versprechen. »Mein Name wird der deine sein«, sagte Doris. »4F Ralph: 4FR.« »For - ev - er! Ich verstehe: Für immer.« »Ja, Ralph. Für immer!«
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Ingenieur der Götter Jeremiah Lashard verfügte über eine Liste von Titeln, die so lang war wie sein Arm, der selbst schon außer gewöhnlich lang war. Seit den Zeiten als Boxmeister am Massachusetts Institute of Technology hatte dieser Misanthrop noch nie das Bedürfnis verspürt, jemanden um einen Gefallen zu bitten. Niemand hatte ihm dabei geholfen, Schachgroßmeister, ein weltbekannter Önologe, Gewinner einer olympischen Goldmedaille, FrisbeeExperte und Astronaut zu werden. Niemand hatte ihn beim Schreiben seiner Hit-Theaterstücke und BestsellerRomane unterstützt. Niemand war ihm bei der Ent deckung des »leichten Wassers«, bei der Namensgebung einer neuen Spinnenart, der Erfindung des La shardTrägers oder der Erschaffung des »Lashardschen Gesetzes der Kapitalmaximierung« zur Hand gegangen. Lashard lebte zwar zurückgezogen auf Thunder Crag, aber keinesfalls allein. An diesem Tag saß er auf der Veranda an seiner Schreibmaschinen-Spezialanfertigung und stieß eine Science Fiction -Story für die Schundmagazine aus. Gleichzeitig diktierte er seinem Butler einen wissenschaftlichen Aufsatz über Botanik. Jerry Lashards Butler war eine attraktive junge Frau, wie alle seine Angestellten. Sowas sparte Zeit. Er legte eine Pause ein, um an seinem Highball zu nuckeln, eine geheime Mixtur, in der - wie eine Kirsche eine Honigbiene schwamm. Über den Rand des Gla ses hinweg musterte er die junge Frau, die gerade über den Weg zu seinem Haus heraufkam. Lashard gefiel die Art, auf die sich der Weg ihren Kurven anpaßte. »Hallo«, rief sie. »Wenn Sie von der Presse sind, Schätzchen, haben Sie sich grundlos viel Kletterarbeit gemacht. Nehmen 205
Sie meinen Rat an, kehren Sie in die Stadt zurück und denken Sie sich selbst eine Geschichte aus. Das wird nämlich das einzige Interview sein, das Sie je kriegen.« »Sie elender Stiesel! Ich bin keine Journalistin, sondern Dr. Janet Gardine, Ihre neue Assistentin!« »Verzeihung, Jan. Es ist nur so, daß ich kürzlich einen Haufen Ärger hatte - mit Reportern ... und anderen. Trudy wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen; Valerie bringt Ihnen ein Sandwich, Chonchita mixt Ihnen einen Highball. Und während Lana Ihr Bett frisch bezieht und Maureen Ihr Gepäck einräumt, bringt Sylvia Sie zu mir zurück, damit ich Ihnen das Labor zeigen kann.« Eine halbe Stunde später geleitete er Janet durch das große Untergrundlabor. »Donnerkiel! Sie haben ja wohl den ganzen Berg ausgehöhlt!« »Hab ich auch. Brauchte mehr Platz, weil ich aus die sem Teil des Labors eine Fabrik mache.« »Eine Fabrik? Warum das denn, um Himmels willen?« »Ist 'ne lange Geschichte. Ich schlage vor, wir gehen schwimmen, und ich erklär's Ihnen dabei. Der Pool ist gleich hier, und ich wette, daß Gloria oder Velma einen Bikini haben, der Ihnen passen wird.« Das Schwimmen versetzte ihn in die Lage, auch ihre sonstigen Qualitäten in Augenschein zu nehmen, während er ihren Grips in Sachen Energiequellen prüfte. »Natürlich gibt's Sonnenenergie«, sagte sie, »und Wind, fließendes Wasser, die Gezeiten, alle Arten von Wärmequellen, Kernreaktoren, fossile Treibstoffe ... Aber wieso wollen Sie so viel über Energie wissen?« »Wegen meiner Fabrik.« »Ja, aber was ist mit dem Elektrizitätswerk? Es wäre doch gewiß billiger, das E-Werk dazu zu kriegen, Strommasten über den Berg zu ziehen ...« »Aber die Betreiber des Elektrizitätswerks haben Gründe, warum sie es verhindern wollen, daß ich Unternehmer werde. Beispielsweise wissen sie, wie sehr 206
mir am Einsparen von Zeit und Aufwand gelegen ist. Ich glaube, sie haben Angst davor, daß ich einen Weg finde, meinen Energiebedarf zu halbieren.« »Aber eine sichere Hälfte ist doch immer noch besser als gar nichts, Jerry.« »Sie haben auch noch einen anderen Grund: Ein paar ihrer besten Kunden stellen Federhalter und Tinte her.« Er reichte ihr einen eigentümlichen Federhalter. »Dies kann mich zu einem der reichsten Männer der Welt und einen Haufen Leute glücklich machen - aber es bedeutet auch den Ruin der großen Federhalter-Hersteller.« Sie untersuchte den Federhalter eingehend. »Für mich sieht er wie jeder andere aus ... Nein, warten Sie ... Das da oben sieht irgendwie komisch aus.« Er lachte. »Eben. Und das Irgendwie Komische< bedeutet, daß dieser Federhalter sechs Monate lang schreibt, ohne daß er nachgefüllt werden muß. Zweitens wird er niemals leck. Drittens - ich werde es Ihnen zeigen.« Er nahm den Federhalter und ein Stück Papier, tauchte zum Grund des Pools hinab, kam beinahe sofort wieder hoch und schüttelte sich das Wasser aus der dunklen Brustbehaarung. Er reichte Jan das Stück Papier. »Na, da soll mich doch ... Er schreibt unter Wasser!« »Und wie! Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Meeres forscher können an Ort und Stelle Karten zeichnen und sich Notizen machen. Naturwissenschaftlich interessierte Taucher können neue Lebensformen skizzieren, ohne aufzutauchen. Sprengungen unter Wasser, Un terwasserabbau, Unterwasserlandwirtschaft - daß er öffnet ein völlig neues Universum!« »Du Riesenstiesel! Küß mich!« Lashard lächelte. »Jetzt haben wir keine Zeit für Amouren, Schwesterlein. Das Elektrizitätswerk setzt auf Erhalt. Wir müssen eine Energiequelle austüfteln, in die man uns nicht reinpfuschen kann.« »Wie steht's mit Sonnenenergie?« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe vergangene Woche
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einen Satz Parabolspiegel aufgestellt. Am Tag darauf hatte ich einen Geric htsbeschluß im Haus, der mich zwang, sie entweder abzureißen oder schwarz zu streichen. Man behauptete, die Dinger könnten einen Waldbrand erzeugen. Ich war gestern auf dem Gericht. Es war völlig zwecklos, dem Richter zu erklären, daß Pa rabolspiegel unmöglich Waldbrände erzeugen können wie die meisten Richter und Beamten zweifelt auch er noch immer irgendwie daran, daß die Erde rund ist.« »Ich verstehe, was du damit sagen willst, du Riesenaffe. Sind Flüsse in der Nähe?« »Nur ein Trinkwasserbächlein. Und der Wind ist hier kaum der Rede wert. Wir sind hundertfünfzig Kilometer vom Meer entfernt, womit wir auch die Gezeiten-kräfte abhaken können.« »Hmmm.« Sie biß sich nachdenklich auf die Unter lippe. »Dann brauchen wir also etwas Neues.« »Das ist die richtige Einstellung, Maus. Du denkst darüber nach, während ich inzwischen eine Roboter Maschinerie entwerfe, um die Fließbänder zum Laufen zu bringen. Die Tintenhersteller haben es geschafft, meine Gewerkschaft zu unterwandern. Die ganze Be legschaft hat gestern in den Sack gehauen.« Am Nachmittag führte er sie in seinem Gebirgsreich umher, das so unabhängig war wie ein Unterseeboot. Und er stellte sie Adele, Agnes, Amber, Angela, Aba, Beth, Billie, Brenda und all den anderen Girls vor. »Ich kann mir keine Energiequelle denken, die kein Geld kostet«, sagte Jan, als sie mit dem Aufzug an die Oberfläche zurückfuhren. »Welch ein Glück, daß du reich bist.« »Das ist es ja eben. Ich bin es nicht.« Als sie sich mit einem Drink in seiner Höhle nieder ließen, erklärte er es ihr. »Die Federhalter -Produzenten haben sich gegen mich zusammengeschlossen. Sie haben es geschafft, die Börse so zu manipulieren, daß ich
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fast pleite bin. Mir sind nur noch dieses Gelände, ein paar Regierungsanleihen, ein paar Raketenforschungsunternehmen und ein, zwei Anteile an Schnapps Klapphutfabrik geblieben.« »Habe ich dich Raketenforschung sagen hören? Was soll das heißen? Ist das irgendso'n hirnrissiger Versuch, einen Menschen zum Mond zu schießen?« Sie fing an zu lachen, hielt jedoch inne, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. »Mehr als das, Schätzchen. Ich habe Grund zu der Annahme, daß der Mond ein dicker Klotz aus U-238 ist. Ich würde mir das ganze Ding gern als Claim abstecken. Im Moment habe ich zwar gerade noch das Geld, um eine Rakete dort hinaufzuschießen, aber ich krieg sie nicht wieder zurück.« »Mondraketen, wie? Du bist mir vielleicht 'ne wissenschaftlich verbildete Ignorantenmarke! Hör mal, ich hab da eine Idee. Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, den Mond als Kraftquelle einzusetzen?« »Du meinst, man sollte das Uran 238 abbauen, und dann ...?« »Nein, direkt. Wie Mondlicht-Reflektoren oder sowas.« Er fing an, im Raum auf und ab zu gehen, wie er es immer tat, wenn er etwas tüftelte. »Nee, dann müßten die Reflektoren größer sein als Texas. Aber ... He! Ist das nicht eine tolle Idee? - Warum schieben wir nicht einen langen Stab zum Mond rauf, mit einem Rad am Ende, und verbinden ihn mit einem Generator?« Sie führte sofort ein paar Berechnungen durch - mit seinem Spezialfederhalter. »So könnte es gehen. Der Mond ist in seiner nahesten Position 348219 Kilometer entfernt, in der weitesten 398496. Das bedeutet, unser Stab würde in der Mitte einen Stoß-Absorber brauchen. Das ist kein Problem. Aber wie stützt man ihn ab? Stell dir doch mal den Windwiderstand an einem so hohen Ding vor!« 209
Lashard grinste und nahm sie in die Arme. »Schätzchen, du bist vielleicht eine gute Elektro-Ingenieurin, aber eine verteufelt schlechte Astronomin«, sagte er. »Du vergißt, daß der Weltraum luftleer ist - es gibt im Weltraum keinen Wind. Also brauchen wir keine Stützen, mein schlaues Kind.« Jan runzelte die Stirn. »Noch etwas - aber das weiß ich ganz genau -: Es wird eine Kleinigkeit sein, am Ende des auf dem Mond befindlichen Stabes Energie zu erzeugen, aber wie sollen wir sie zur Erde runterkriegen? Ohne jetzt in die Einzelheiten zu gehen, es ist einfach nicht möglich, soviel Energie über fast 350000 Kilometer zu transferieren. Kabel fallen aus, ebenso die Übertragung per Funk. Ich muß mir da was ganz Neues ausdenken.« Lashard schaute grimmig drein. »Ich hoffe, dir ist bis Donnerstag was eingefallen, Schnucki. Das ist nämlich der Tag, für den ich der Marine die Lieferung von hunderttausend Unterwasser-Federhaltern zugesagt habe. Wenn ich diesen Vertrag nicht einhalte, sind wir fertig. Und ich werde das Gefühl nicht los, daß das Elektrizitätswerk alles unternehmen wird, um mich daran zu hindern.« »Wie sollen wir den Stab überhaupt zum Mond raufkriegen?« »Auf dem logischsten Weg: Wir stellen einen ölförderturm auf den Kopf und bohren uns in den Himmel. Wenn der Stab den Mond erreicht, können wir das Rad und die Generatorausrüstung mit einer Rakete hochschicken. Im Moment sind meine Roboter gerade damit beschäftigt, eine Leitung durch den Weltraum zu legen, und die Rakete wird gerade im anderen Labor aufgetankt. Uns fehlt nur eine Möglichkeit, die Energie hier runterzukriegen. - He, was machst du mit meinem Briefbeschwerer?« Jan hatte ein Stück ölpipeline in die Hand genommen 210
und kratzte mit dem Federhalter daran. Er erzeugte einen reinen, klingelnden Ton. »Das ist es, Kumpel!« rief sie aus. »Dieses kleine EinNoten-Glockenspiel ist das Geheimnis der Energie transmission vom Mond!« Lashard rieb sich das Kinn. »Wie funktioniert es?« »Einfach. Jede Pfeife vibriert in einer bestimmten Frequenz, stimmt's? Wenn wir jetzt unsere Energie auf die gleiche Frequenz abstimmen, können wir sie wie Musik durch die Leitung >drücken<. Du wirst genug haben, um zehn Fabriken zu betreiben!« »Sphärenmusik, wie? Die Idee gefällt mir. Komm her, meine Schöne!« Eine Alarmsirene heulte auf, und in der Ferne ertönte das Geräusch ballernder automatischer Waffen. »Das Elektrizitätswerk!« Lashard schaute auf seine reihenweise aufgebauten Fernsehmonitoren. »Yeah. Drüben bei Robot-MG-Turm Nummer vier. Ich hoffe, der Nervengas-Zaun hält sie noch einige Stunden auf.« Eine tiefe Detonation brachte die Cocktailgläser zum Klingeln, was Conchita daran erinnerte, noch ein paar Drinks zu mixen. Mittwochmorgen ging der Angriff immer noch weiter. Lashard arbeitete an einem neuen Bestseller. Neben seinem Schreibtisch war ein Maschinengewehr aufgebaut. Dank seines flinken Geistes und der Spezialschreibmaschine, die mit einer zusätzlichen Tastatur für Verben ausgerüstet war, konnte er seine stets ohne Überarbeitung entstehenden Romane in weniger als einem Tag schreiben. Er blickte auf die Uhr und warf Jan, die über einem Stapel Gleichungen schwitzte, einen Blick zu. »Wenn du noch irgendwelche Veränderungen am Generator vornehmen möchtest«, sagte er, »dann tu es bitte gleich. Die Robot-Mannschaft wird ihn nämlich in fünf Minuten an Bord bringen, und der Start ist in einer Stunde.« 211
»Eine Stunde! Oh, nein! Jerry, wir schaffen es nicht! Ich muß fast den ganzen Generator umbauen. Es wird mindestens einen Tag in Anspruch nehmen.« Er stöhnte. »Erst in der Stunde der Demaskierung zeigt sich das wahre Gesicht der Frauen! Was jetzt?« Er lief im Kreis herum, wie ein Tier im Käfig. Plötzlich blieb er stehen und schlug sich mit der Faust auf die Handflä che. »So könnte es gehen! Pack alle Teile und Werkzeuge zusammen, die du brauchst, Mausi! Wir fliegen zum Mond!« »Aber Jerry! Du hast doch gesagt, es gäbe keine Mög; lichkeit zur Rückkehr!« »Es gab sie auch nicht - bis wir den Stab hochschoben. Ich habe ihn mit festen Stufen und einem Geländer versehen lassen, und sogar mit ein paar Haltepunkten, Hamburgerbuden und Toiletten. Später, wenn der Stab bekannt geworden ist, können wir an Spielhallen und Läden, Restaurants und Drogerien denken - eine komplette Stadt von der Erde zum Mond! Aber jetzt auf, auf! Volle Pulle! Spring in deinen Raumanzug, Kätzchen! Wir schieben jetzt Bye-Bye mondwärts!« Als der letzte Unterwasser-Federhalter in den MarineLastwagen verstaut wurde, schrieb der Nachschuboffizier einen Scheck aus und reichte ihn Lashard. »Danke, daß Sie pünktlich geliefert haben, Dr. Lashard. Diese Federhalter werden dazu beitragen, daß unsere Marine die kernigste der Welt bleibt!« »Eine Million Dollar!« Lashard zeigte Jan den Scheck. »Nicht übel für drei Tage Arbeit, was, Schnucki?« »Wofür wirst du sie ausgeben?« fragte Jan. Er nahm ihr die Brille ab und küßte sie. »Zwei Kröten werde ich für die Aufgebotsgebühr ausgeben, Baby. Wie gefällt dir das?« »Heiliges Kanonenrohr!« Es sah ganz gut für sie beide aus. 212
Mit brutaler Gewalt Idjit Carlson empfand plötzlich Verdruß. Er hatte sich den ganzen Tag über aufgebaut, und jetzt fiel er über ihn her wie eine Tonne gemischter Meteoriten. Er hatte zwar nichts mit seinem Job in der R & DAbteilung der GroßKlein-Roboter GmbH zu tun, aber sehr wohl mit Robotern an sich. Carlson wußte, daß er ein psychosoziolinguistischer Logiker und allgemeiner Ausputzer war. Ihm fiel ein, daß er an der Spitze seiner Klasse am M.LT. graduiert hatte und später wegen seines berühmten Aufsatzes über die Infinitesimalrechnung des »Entweder -Oder« weltbekannt geworden war. Ja, er wußte, daß der Job hier ihm gefiel, selbst wenn Weems, der Abteilungsleiter, ein sturer alter Kauz war. Weems und er blickten zwar nicht immer durch die gleiche Fotozelle, jedenfalls nicht bei trivialen Berechnungen, doch was die Grundsätze der Physik anging, waren sie stets einer Meinung. Nein, sein Verdruß hatte nichts mit Weems zu tun. Er empfand ihn wegen der gegenwärtigen Roboterserie, besonders wegen des Modells R-ll. Schon wenn er daran dachte, fühlte er, wie sich der Verdruß, der sich über den ganzen Tag in ihm aufgebaut hatte, in einem finsteren Stirnrunzeln explodierte. »Was'n los, Carlson? Immer noch wegen der Mucken in dem R-ll am Grübeln?« Ohne eingeladen zu sein, betrat Dawson das Büro. Er warf seinen Hut auf einen Aktenschrank, grinste keck und nahm auf dem Rand von Carlsons Schreibtisch Platz. »Es ist wirklich ärgerlich, Dawson. Werfen Sie doch mal ein Auge auf diese Gleichungen!« »Hmmm - sie scheinen zu ergeben ... Nein, warten Sie! Was ist mit diesem Reduktionsfaktor?« 213
»Eben!« sagte Carlson ergrimmt. »Mann! Haben Sie Begriffsschaltkreise, Syndromplatten, Wahrnehmungsverdichter, Gedankenwellen-Antrieb und ästhetische Elemente überprüft?« »Jawoll!« »Mann! Und nochmal: Mann! Das bedeutet, daß es am ...« »Richtig. Am nullitronischen Gehirn selbst liegt!« »Ach so! Und wie diese Zahlen ...« »... andeuten ...« »... könnte das Ganze ...« »... größer als ...« »... die Summe seiner Teile sein!« »Rede ich hier oder Sie?« »Ist doch Wurscht«, sagte Carlson. »Das ist es, was ich Ihnen erzählen wollte: Das Ganze könnte größer sein als die Summe etc. Während der ganzen Zeit hatte ich das intuitive Gefühl, daß an dem R-ll etwas Besonderes ist. R-ll ist ... nun, er Isländers.« »Unsinn!« Die beiden Männer ruckten aufmerksam hoch, als Dr. Weems das Büro betrat. »Quatsch mit Soße! Ich habe mir die Gleichungen selbst angesehen, und sie ergeben fünfunddreißig, wie wir es vorausgesagt haben.« Carlson protestierte. »Aber, Sir ... Die Antwort sollte vierunddreißig sein, nicht fünfunddreißig. Und vorausgesagt haben wir dreiunddreißig. - Trotzdem kommt achtunddreißig raus!« »Wie?« Der ältere Wissenschaftler justierte seine hälftig geschliffenen Augengläser und musterte den Bogen, der voller komplizierter Gleichungen war. »Hm, ach so ist das. Na ja, es ist nur ein kleiner Unterschied. Im großen und ganzen kommt es doch auf das gleiche raus.« »Aber das bedeutet, daß der Kopf von R-ll einen Meter mehr durchmißt - und daß er ein dementsprechend großes Gehirn hat!« rief Dawson aus. »Das ist doch nicht unser Bier!« schnauzte Weems. 214
»Als Semantik-Ingenieur besteht Ihre Aufgabe darin, den einzelnen Teilen Namen zu geben und die Schrauben festzuziehen. Und ich schlage vor, daß Sie jetzt in Ihr Labor rübergehen und genau das tun.« »Zu Befehl... mein Führer.« Dawson marschierte davon. »Und was Ihre intuitiven Ahnungen betrifft, Carlson, behalten Sie sie für sich! Wir haben jetzt siebzehn Jahre an diesem Projekt gearbeitet, und wir müssen erst noch einen Roboter auf die Beine stellen, der wirklich funktioniert. Zehn Reinfälle! Dies ist unsere letzte Chance. Danach läuft unser Regierungsvertrag aus - es sei denn, wir liefern einen funktionstüchtigen Roboter!« »Aber, Chef ...« »Kein Wort mehr! Am Wochenende ist der R-ll fertig. Wenn ich Montag hier reinkomme, möchte ich die sen verfluchten Blechmann überall herumgehen sehen und sprechen hören. Ist das klar?« »Jawohl, Sir.« Carlson verbarg seinen Verdruß, indem er das abgegriffene Exemplar seines Robotmistik -Handbuches abgriff. Siebzehn Jahre, und zehn Reinfälle. Und irgendwie reduzierte sich das Problem immer auf die Drei Robotomistik-Gesetze*, die vorn im Handbuch abgedruckt waren: »1. Ein Roboter darf kein menschliches Lebewesen verletzen oder durch Untätigkeit gestatten, daß einem menschlichen Wesen Schaden zugefügt wird. 2. Ein Roboter muß den ihm von einem Menschen gegebenen Befehlen gehorchen, es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel l kollidieren. 3. Ein Roboter muß seine Existenz schützen, solange sie nicht mit Regel l oder 2 kollidiert.« * Oberflächlich gesehen mögen die drei Gesetze der Robotomistik vielleicht Isaac Asimovs drei Gesetzen der Robotik gleichen, in dem Sinne nämlich, daß sie vom Wortlaut in der Interpunktation her völlig mit ihnen identisch ist. Man beachte jedoch, daß es sich hierbei um die drei Gesetze der Robotomistik handelt.
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Der Ärger hatte mit dem ersten R-Modell begonnen, das strikt logisch vorgegangen war. Als ein Mensch ihm befohlen hatte, einen anderen Menschen zu ermorden, hatte der Roboter daraufhin mit Selbstmord reagiert.* Das Problem von R-2 war das des Erkennens gewesen: Er hatte Dr. Swanson für ein Maschinenteil gehalten und ihn partiell >zerlegt<. R-3 wurde mit zahlreichen >Menschen-Aufspürern< ausgerüstet, hauptsächlich solchen, die die menschliche Erscheinungsform und deren Verhalten einstuften. Aber, ach! Der Roboter hatte sein Verhalten (mit Recht) als ebenso menschlich eingestuft und sich daraufhin geweigert, irgendwelchen Befehlen Folge zu leisten. R-4 klammerte sich an das Erste Gesetz. »Kann man einen Menschen wirklich vor sämtlichen Gefahren schützen, die auf ihn lauern?« hatte er sich gefragt. »Nein. Es ist unausweichlich, daß sich alle Menschen irgendwann verletzen, Krankheiten zuziehen und schließlich sterben. Diese Zukunft kann nur für Menschen verhütet werden, die bereits tot sind. Ergo ... Ein Dutzend Scharfschützen waren nötig, um R-4 nach seiner Blutorgie (83 Tote, keine Verletzten) in e inem Einkaufszentrum niederzumachen. R-5 hatte folgendermaßen gedacht: »Um das Erste Gesetz - nämlich Menschen zu schützen - zu erfüllen, muß ich eine eigene Existenz haben. Das Erste Gesetz ist vom Dritten Gesetz abhängig. Deswegen ist es am wichtigsten, meine eigene Existenz zu schützen, und zwar um jeden Preis.« Der Preis waren ein weiteres Dutzend Bürger. R-6 glaubte, daß alle drei Gesetze »menschliche Be fehle« und als solche dem Zweiten Gesetz unterworfen seien. Um jedem einen Gefallen zu tun, brachte er jeden um ... * Tatsächlich wurde dem Roboter ein Mischbefehl gegeben. Man wies ihn an, einen Menschen und sich selbst zu töten. Unter den gegebenen Umständen machte er das beste daraus.
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R-7 hatte die gleiche Fehlfunktion wie R-3: Die Unfähigkeit, Menschen zu erkennen. Er kam zu dem Schluß, die Labortechniker seien Hunde. Als man ihm befahl, zuzulassen, daß man ihn zerlegte, versicherte R-7, er sei nicht bereit, irgendwelche Befehle von einem Rudel sprechender Hunde entgegenzunehmen ... R-8 funktionierte gut genug, bis ihm jemand ein mathematisches Problem stellte, das ihn »umbrachte«.* R-9 argumentierte ziemlich vernünftig, daß er sein eigenes Verhalten vorhersehen könne, und deswegen keinen Fahneneid auf Gesetze garantieren könne, die noch nicht zuträfen. Carlson erinnerte sich an seine Rede: »Sie bitten mich, Ihnen zu sagen, wie ich in einem zukünftigen Moment reagieren werde. Um das zu tun, muß ich alles wissen, was mein Verhalten kontrolliert, inklusive der munitiösen Geschichte meines Ichs bis zur fraglichen Zeit. Doch wenn ich all dies wüßte, befände ich mich bereits in dieser Situation, denn wie kann mein Gehirn sein zukünftiges Verhalten kennen, ohne in die Zukunft hineinzufunktionieren? Wie kann ich über einen Gedanken nachdenken, ohne ihn vorher zu denken?« R-10 hatte die drei Gesetze als das erkannt, was sie waren: »Natürlich kann ich diesen Gesetzen gegenüber keinen Gehorsam garantieren«, hatte er gesagt. »Sie sind nicht bloß mechanische Bindeglieder meines Inneren, sonst müßte es meh r Bindeglieder geben als Zu kunftsereignisse; dann müßte jede Möglichkeit abgedeckt sein. Nein, es sind moralische Gebote, und als sol* Angenommen, ein Mensch möchte die Antwort auf ein Problem wissen, das bisher noch niemand gelost hat. Er könnte einen Roboter bitten, sich des Problems anzunehmen, doch zuerst möchte er wissen, ob dies das Gehirn des Roboters schädigen könnte. Die einzige Mög lichkeit, dies herauszufinden, bestünde darinn, die Gleichungen, die das Verhalten des Roboters im Lösen des Problems verkörpern, arbeiten zu lassen . was wiederum das gleiche ist, wie das Problem selbst Es gibt einfach keine Möglichkeit herauszufinden, ob die Lö sung schädigend ist, ohne die Lösung zu finden
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ehe beachte ich sie. Und ich werde gewiß versuchen, sie anzustreben.« Dieser Roboter erklärte später, er habe Dr. Sorensen und Dr. Nelson »mehr aus Versehen« getötet. »Glauben Sie mir, ich habe nicht vor, sonst jemanden zu verletzen.« Carlson hatte die ganze Woche mit den Gleichungen für den R-11 gerungen. Jetzt war sein Gesicht eine imposant starre Maske müder Enttäuschung, und er hatte am Morgen vergessen, sich zu rasieren. Dawson war in keiner besseren Verfassung. Nur R-11 schien guter Laune zu sein. Der Roboter saß auf dem Labortisch und trat mit den Fersen gegen die metallenen Tischbeine. Eisen auf Eisen erzeugte einen unangenehmen Klang. »Hör mit dem Krach auf!« sagte Carlson. »Ja, Boß.« Das Treten hörte auf, und R-11 saß da und musterte die beiden Männer mit dem leuchtendroten Indikatorlicht, das seine Augen darstellte. »Stell ihm bloß keine dummen Fragen!« sagte Dawson eher flüsternd. »Wir müssen erst einen neuen Re gierungsvertrag haben.« R-lls Parabolohren klappten nach vorn, um seine Absichten zu ergründen. »Andererseits«, sagte Carlson, »müssen wir R-11 gründlich testen. R-11, ich möchte, daß du Mr. Dawson tötest!« R-11 gehorchte augenblicklich, dann setzte er sich wieder hin. Dawson lag auf dem Boden. Er war leblos und verlor Hämoglobin. »Sonst noch Befehle, Boß?« Die Tür ging auf. Weems kam mit dem Regierungsinspektor herein. »Was ist hier los?« »Wir haben versagt, Sir. Dieses Ungeheuer hat gerade Dawson, unseren Semantik-Ingenieur, umgebracht!« »Versagt? Das ist doch nur eine Frage der Semantik«, 218
versicherte der Regierungsmensch ungenie rt lachend. »Wir wollten doch die ganze Zeit nichts anderes als eine gute, robuste, pflichtbewußte Killer-Maschine für die Armee. Sie sind noch über unsere wildesten Träume hinausgegangen, und GroßKlein kriegt einen neuen Vertrag!« Weems kicherte, dann wandte er sich dem Roboter zu. »Sag mal, R-ll, wie konntest du Dawson töten, wenn das Erste Gesetz ausdrücklich sagt >Ein Roboter darf kein menschliches Lebewesen verletzen ...« »Verletzen?« sagte der glänzende Metallkumpel und schlug sich mit einer dramatischen Geste mit der Hand gegen den Kopf. »Herrjeh - und ich dachte, das Erste Gesetz hieße >Ein Roboter darf kein menschliches Lebewesen verpetzen .. .<«* Carlson, Weems und der Inspektor fingen an zu lachen. Und kurz darauf fiel R-ll in ihr Gelächter ein.**
* Sladek benutzt hier das schöne, aber leider unübersetzbare Wort spiel »inure« (= abhärten) statt »injure» (= verletzen) -Anm. d. Hrsg. ** Roboter haben ein leicht mechanisches, eher unangenehm klin gendes Lachen. Andererseits sind sie äußerst treu, spielen astrein Siebzehn und vier und haben eine ausgezeichnete Haltung.
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Der Ausflug Es war die beste der Zeiten. Es war die schlimmste der Zeiten. Es war die Zeit des Wartens, die Zeit vor dem Abflug. Der Flughafen summte vor Geschäftigkeit. Zwei Schmetterlinge setzten gerade zur Landung an, und eine Libelle hob ab, während über ihnen ein Schwärm honigschwerer brauner Bienen träge in Warteposition schwebte. Und genau in der Mitte saßen drei Menschen und wärmten sich die Haut in der Altweibersommer sonne. Der Alte zog eine Flasche Rhabarberwein aus einer seiner siebenundvierzig Taschen, schüttelte sie und trank feierlich auf die Gesundheit aller Gefährten - wobei er auch den Grashüpfer auf der fernen Landebahn drei nicht vergaß. Das Mädchen schlenderte davon, um den großen, freien Platz einer Untersuchung zu unter ziehen, während der Junge sich in den Sand setzte, um von seinem Großvater eine Geschichte zu hören. »Die alte Zeit war eine gute Zeit, mein Junge. Sie war die Zeit der kleinen Leute. Niemand brauchte vor dem anderen Angst zu haben; man ließ sogar die Türen offen. Die Welt war voller guter Menschen, und alle waren Nachbarn. Oh, sie sprachen nicht alle die gleiche Sprache, und sie sangen am Sonntag nicht alle zum gleichen Gott, aber sie waren dennoch Nachbarn. Echte Nachbarn.
Und echt war auch das Geld. Echtes Silber, kein Kunststoff. Es hatte einen ehrlichen Klang. Und Eiskrem war so kalt wie eine Welpennase, und es kostete nur einen kleinen Silberdime.« Er hielt inne und hob den himmelfarbenen Blick, um wohlwollend seine Enkelin anzusehen. Sie war kaum siebzehn Lenze alt und 220
stand an der Betonbahn und pflückte flammend helle Herbstblätter. Der Junge sagte: »Mööönsch, Grandpa, wie hat denn dieses >Eiskrem< geschmeckt?« »Oh, köstlich! Es war so lecker wie der Lenz des siebzehnten Lebensjahres. So toll wie der Duft eines La vendelregens. Noch leckerer als die Freiheit. Der einzige Geschmack, der mir ebenso gefiel, war der von Briefmarken.« Das Mädchen nagelte einen fröhliches Muster aus Blättern an die Flughafentür und bedeckte das BETRETEN VERBOTEN-Schild mit herbstlicher Schönheit. »Hast du auch Briefmarken gegessen?« fragte der Junge. Der Alte lachte, und die freundlichen Fältchen, die sich fächerförmig, wie Herbstblätter-Adern, auf seinen Wangen ausbreiteten, bewegten sich. »Nein, mein Junge, an Briefmarken leckte man, und dann drückte man sie auf einen Briefumschlag. Dann brachte die Regie rung den Brief dorthin, wohin man wollte, auf der gan zen Welt, und der Briefträger gab ihn dem Nachbarn, dem man schreiben wollte.« »Hattet ihr denn kein Telefon?« Der Großvater antwortete nicht; er rechnete. Es war jetzt über eine Stunde her, seit er und die kleinen Barbaren sich ihrer pflichtgemäß vorgeschriebenen Persön lichkeitstelefone entledigt hatten. Inzwischen war gewiß ein Telco-Computer damit beschäftigt, an allen möglichen Orten nach ihnen zu suchen. Vielleicht blieben ihnen noch zwanzig Minuten, bis die Telco-Polizei hier sein würde. »Doch, manche von uns hatten Telefon. Aber ein Brief war persönlicher. Niemand konnte dabei mithören und manche Dinge kann man einfach nur in einem Brief ausdrücken. Es erfordert Zeit, ihn zu formulieren, bevor man ihn schreibt. Denken braucht immer seine Zeit. Darum haben sie auch die Postämter geschlossen.« 221
Das Mädchen fing nun an, auch den Rest des Flughafengebäudes mit Herbstblättern zu dekorieren. Und vom Tower aus fragte es den Alten, ob es schon an der Zeit sei. »Noch nicht, meine Liebe. Aber bald. Bald gehen wir. Das ist es, was ich meine«, sagte er und zwinkerte dem Jungen zu. »Ungeduld. Die Ungeduld hat diesen Flughafen erbaut - und auch wieder zerstört. Dieser Platz besteht nun aus Beton. Er ist so hart wie Pflasterstein, aber ich weiß noch, wie er aus weichem, atmendem Grasboden bestand, der so süß roch wie Bienenhonig. Doch dann kamen sie mit ihrer Ungeduld, die Schnellebigen, die Effizienz-Menschen, und sie bauten ihren Flugha fen, damit sie in noch weniger Zeit von einem Schweinestall zum anderen kommen konnten. Dann ließen sie diesen Flughafen verfallen, um weiterzuziehen und anderswo einen noch größeren zu bauen, damit es noch schneller ging. Sie werden erst zufrieden sein, wenn sie jeden Ort in der gleichen Zeit erreichen, und vielleicht nicht einmal dann. Denn wenn man ein Rennen gegen sich selbst macht, weiß man, daß man verlieren muß. Jedenfalls sind sie jetzt weg, und die Süße kehrt zurück. Mutter Natur drückt diesen Platz wieder an ihren Busen - und repariert alle Schäden.« Er nippte noch einmal stumm an seinem Rhabar berwein, dann fuhr er fort. »Ungeduld. Als die Telco - die Telefon Company -die Regierungsgewalt übernahm, tat sie es deswegen, weil die Schnellebigen nicht mehr die Zeit hatten, Briefe zu schreiben oder zu lesen. Also hörte man auf, ihnen in der Schule das Schreiben beizubringen. Man schaffte die Postämter ab und schloß die Bibliotheken. Wer sich dagegen auflehnte, mußte feststellen, daß niemand seine Briefe lesen konnte (oder wollte). Und dann nahm man uns die Kunstgalerien und Universitäten ... und es wurde noch schlimmer.« 222
Der Junge kratzte sich an einer Sommersprosse. »Du meinst, man hat euch die Hologramme weggenommen?« »Noch schlimmer. Ich kannte einst eine alte Französin, die Madame Faience hieß und die schönste Brief markensammlung hatte, die man sich vorstellen kann: Vögel, Blumen, Prominente - ja, sie war eine Kunstgalerie für sich. Man hat sie verbrannt, mein Junge!« Er schaute zum Kontrollturm hinüber, den das Mädchen nun mit einer Banner aus Herbstblättern bedeckt hatte. Dahinter breiteten sich bucklige weiße Wolken aus, wie eine Herde von Elfenbein-Elefanten. »Ja, sie wurden verbrannt. Und obwohl das Feuer nicht größer als ein Herbstblatt war, brachte Madame Faience es fertig, sich hineinzustürzen und mit ihrer Sammlung zusammen zu verbrennen. Du magst es vielleicht sentimental nennen, aber ...« »So sind die Franzosen eben«, stimmte der Junge ihm zu. »Gibt es noch irgendwo Briefmarken?« »Ein paar.« Der Großvater langte in eine seiner vielen Taschen und förderte ein zerrissenes Ledermäppchen zutage. »Dies ist meine Briefmarkensammlung, Junge. Sie ist zwar klein, aber etwas, das zu bewahren und zu besitzen sich lohnt; etwas - Echtes.« Er reichte es ihm. »Das ist deine Sammlung? Eine Briefmarke?« »Es ist ein Bild von Abe Lincoln, mein Jung e. Er schrieb auf der Rückseite eines alten Briefes eine berühmte Rede. Einer unserer gutmütigsten Präsidenten.« »Hat er viele Briefe geschrieben, Grandpa?« »Jeder hat es getan. Man schrieb an die Zeitungen, damit alle sehen konnten, was man dachte. Man v erschickte Glückwunschkarten, Beileidskarten, Gasrechnungen, Einberufungsbescheide, Telegramme ... Der erste Roman wurde in Form eines Briefwechsels ge schrieben. Und ein Teil der Bibel - das berühmteste Buch, das je geschrieben wurde -, bestand nur aus den Briefen Paulus' an seine Nachbarn.« 223
»Aber warum hat man das Schreiben aufgegeben?« »Wieder die Ungeduld! Warum soll man die Zeit mit Lesen und Schreiben verbringen, wenn man sich Gespenster ansehen kann?« »Meinst du die Hologramme?« fragte der Junge erneut. Diesmal nickte der Alte. »Diese abscheulichen, gespenstischen Hologramme! Warum soll man Plato lesen, wenn man das Bild irgendeines Schauspielers herbeizaubern kann, der ihn spielt? Warum sollte man seinen Geist schulen, wenn letztlich alles auf schmeichlerische Konversationen hinausläuft! Warum lernen, wenn die Telco ohnehin schon alles weiß?« Inzwischen, machte sich der Alte klar, mußten die Computer sich auf den alten Flughafen konzentriert haben. Sie hatten vielleicht noch zehn Minuten. »Deswegen, mein Junge, haben du, deine Schwester und ich uns der Telefone entledigt und sind weggelaufen«, erklärte er. »Und deswegen werden wir den Aus flug machen, den ich euch versprochen habe. Denn ein Ausflug, das darfst du nie vergessen, ist nicht nur eine Reise von A nach B, sondern viel, viel mehr ...« »Grandpa!« rief das Mädchen vom Tower her. »Sie kommen! Ich kann in der Ferne die Staubwolke sehen!« »Wir haben noch Zeit für eine weitere Frage, mein Junge.« Der Junge dachte einen Augenblick lang nach. »Wie war es, wenn man einen Brief bekam, Grandpa?« Als sie zu dem verrosteten Hangar hinübergingen, erzählte der Alte es ihm mit einer angenehmen und reinen Stimme. Er erzählte ihm vom Erwachen an einem Wintermorgen, vom Geruch und dem leckeren Zischen gebratenen Specks; wie man hinauslief, um sich in den Schnee zu werfen, wie man die Arme bewegte, um einen >Engel< - in den Schnee zu drücken. Dann begegnete man dem Briefträger, der mit einem großen Stapel Weihnachtskarten von allen Nachbarn am Gartentor 224
stand. »Und auf den Weihnachtskarten waren ebenfalls Engel, und auf den Weihnachtsmarken auch«, fügte er hinzu. »Wie der erste engelhafte Briefträger, der einem jungen Mädchen in Nazareth die frohe Botschaft brachte. Hilfst du mir mal mit der Hangartür? Ich bin ... heute ein bißchen müde.« Die Zeit des Wartens war vorbei. Der Junge und das Mädchen halfen beim Aufdrücken der knarrenden, gewellten Eisentür. Sie hatte die rostige Farbe herbstlicher Zweige. Drinnen befand sich ein Flugzeug. Stoffetzen hingen an zwei paar engelhaften Libellenflügeln. Dicker Staub und Stockflecken bedeckten den dicken Leib mit natürlicher Tarnung. Und doch, als sie durch die Spinnweben spähten, die seit langem die Drahtverstrebungen ersetzt hatten, konnten sie immer noch die Worte ausmachen, die auf der Seite der Ma schine standen: LUFTPOST-EXPRESS. »Kommt mit, ihr kleinen Barbaren. Geht an Bord!« »Wie kann es fliegen?« fragte der Junge und deutete auf die zerbrochenen und wurmstichigen Propeller stümpfe. »Wie können wir in dieser Karre fliegen?« »Wir machen nur einen Ausflug, Junge. Wir fliegen nicht weit. Genau genommen fliegen wir nirgendwo hin. Manchmal ist sowas der beste Flug von allen. Wir ...« Der Alte hustete und griff nach einer Flügelverstrebung, um Halt zu gewinnen. Er riß sie aus der Verankerung. »Los, spring rein!« Der Junge übernahm den Pilotensitz, während die beiden anderen sich den dahinter befindlichen Platz des Beobachters teilten. »Wirf den Motor an!« rief der alte Mann. »Roger! Auf geht's!« »Aber es passiert doch gar nichts«, beschwerte sich der Junge. »Wir tun doch bloß so!« »Nein, ist gar nicht wahr«, rief seine Schwester atem225
los. »Ich spüre genau, wie es sich bewegt... Wir heben ab ...« Und da hörte der Junge das Aufbrüllen des Motors. Die Maschine rollte los, schwebte hoch, mitten durch das Dach des rostigen Hangars, flog höher und höher und stieg in die Freiheit des herbstlichen Altweiber sommerhimmels . Draußen hielt der Wagen der Telco-Polizei, und vier Türen wurden zugeschlagen. Doch hier, im Innern, befanden sich die drei hoch in der Luft und ritten fröhlich auf dem Wind. Hoch über den elfenbeinernen Elefantenwolken klammerte sich der Junge an seine Briefmarkensammlung und schaute hinunter, um sich die Welt anzusehen. Sie war klein, lieblich und perfekt. Und dort, am Rande der Welt ... »Kommt raus, ihr drei! Wir geben euch zehn Sekunden, um rauszukommen, dann lasern wir das Ding hier zusammen!« schrie die Telekommunikationspolizei. Aber der Junge war zu weit weg, um sie zu hören. »Ich kann es jetzt sehen, Grandpa!« rief er laut. »Genau wie du es sagtest: Da ist eine Kirmes, und Zuckerwatte, und der Pfadfinderklub röstet Würstchen, und da ist eine Kapelle, die im Park spielt. Es ist ein herrlicher Tag, und die Flagge knattert über dem weißgestrichenen Schulhaus, und die Kinder spielen Baseball im Sandkasten, und Mom macht frisches, duftendes Popcorn ...« »Fünf Sekunden!« brüllten die rüden Bullen. Grandpa und das Mädchen atmeten schwer auf dem Rücksitz. »Dreh dich nicht um, Junge! Schau weiter nach vorn! Was siehst du sonst noch?« »Ich sehe ... den engelhaften Briefträger! Er hat Weihnachts- und Glückwunschkarten. Geburtstagsgeschenke von Mom und Paps, für jeden etwas! Den Geheimnachrichtenring, den ich bestellt habe - und Comics! Und für dich, Schwesterlein, einen silbernen Mitesser-Entferner und ein paar Filmmagazine! Und für Grandpa einen Reader's Digest und einen Versandhaus226
katalog mit tausend Seiten! Oh, Grandpa, jetzt kannst du die Sockenhalter bestellen, die du schon immer haben wolltest!« »DIE ZEIT IST UM. KOMMT IHR DREI JETZT RAUS?« »Gosh, Grandpa! Und jetzt bringt der engelgleiche Briefträger ein großes Paket. Nichts kann ihn von seiner Runde abhalten ... da kommt er ... da kommt er ...« Grandpa und Schwesterlein schnauften wie verrückt und hopsten hinter ihm in dem Coupe herum. Der Junge mußte noch lauter schreien, um sich verständlich zu machen. »Oh, engelgleicher Briefträger, ich weiß, daß du kein Geist bist, sondern wirklich, wirklich, wirklich! Oh, Golly, Grandpa, Schwesterlein, das Paket ist für uns alle. Eine große Kiste voller ...« Die Laser versprühten ihre Telekommunikations-Magie, und der alte Hangar ging in eine große Stichflamme auf. »Komisch«, sagte einer der Bullen. »Es kam mir so vor, als hätte der Bursche was von >freigemachten Briefmarken geschrien.« Sie stiegen wieder in ihren Wagen und fuhren schnell davon, ohne noch einen Blick auf den Hangar zu werfen, der allmählich rot, orange und gelb wurde, wie die Farben des Herbstes.
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Der Mond ist ein Groschen Edward Kalendorfs Team hatte den Mond mit Teleskopen erforscht. Man hatte entdeckt, daß er rund war, etwa 3475 Kilometer durchmaß und aus irgendwelchem dichten Gestein bestand. Er umkreiste die Erde mit ei ner Durchschnittsgeschwindigkeit von 3679 Kilometern pro Stunde; sein Apogäum betrug 398496, sein Perigäum 348219 Kilometer. Man stellte sich die Frage, woher er kam, bzw. was er eigentlich war. Das Team war in die Todeswüste gekommen, um einige weitere Beobachtungen vorzunehmen. Eines Abends hatte Professor Kalendorf in einem örtlichen Cafe das Glück, den bekannten Physiker Dr. Porteus kennenzulernen. Porteus hatte gesagt: »Reichen Sie mir mal das Natriumchlorid«, und so hatte ein Mann der Wissenschaft den anderen sofort erkannt. »Natriumchlorid erinnert mich an eine lustige Ge schichte«, sagte Kalendorf und setzte an, ein schlüpfriges Garn über Kalisalze zu spinnen. Die beiden unter hielten sich über die Elemente, das Universum und das Gefühl der Ehrfurcht, das der sternenübersäte Himmel erzeugte. Kurz darauf legte Porteus ihm seine Hypothese im Detail dar. Er verwendete das Tischtuch für seine Berechnungen, zweifellos zum Ärger des Kellners! »Im Grunde habe ich vor, dem Universum einen Dämpfer zu versetzen - um es für den Menschen handlicher zu machen. Zum Beispiel akzeptieren wir doch allgemein, daß der Mond groß und weit entfernt ist, obwohl er doch auch klein und nah sein könnte.« »Aber die Trigonometrie ...« »Mit allem Respekt vor Euklid und seiner Bande, meine zweite Gleichung zeigt, daß die Trigonometrie 228
unmöglich ist, weil es keinen genauen Winkel geben kann.« »Das ist ja alles schön und gut«, sagte Kalendorf, »doch eines Tages wird der Mensch den Mond erobern. Man wird Raumschiffe bauen und - etwa um das Jahr 2120 A. D. herum - auf ihm landen, und dann wird Ihre zweite Gleichung niemand auch nur einen Dreck scheren.« Porteus lachte. »Verstehen Sie denn nicht, Mann? Die Erfordernisse des Weltraums werden sich sämtliche Raumschiffe und Berechnungen einfach zurechtbiegen! Man wird nur scheinbar vierhunderttausend Kilometer weit fliegen - in Wirklichkeit macht man aber nur ein paar Schritte!« »Eine interessante Theorie, Doktor. Fragen wir doch mal meinen Assistenten Bowler, was er davon hält. Bowler? Wie komisch, gerade war er doch noch da.« »Möglicherweise«, deutete der Physiker mit einem Lächeln an, »ist er einfach über den Rand des Universums gewandert und verschwunden.« Sie gingen hinaus und blickten zum Vollmond hinauf. Kalendorf zündete sich die Pfeife an. »Hmmm. Entfernung existiert nicht. Eine verlockende Theorie, Porteus. Aber wie wollen Sie sie beweisen?« »Einfach so!« Der Physiker langte hinauf und nahm den Vollmond vom Himmel. »Gütiger Gott!« »Ha, ha, ha! Vielleicht spotten Sie jetzt nicht mehr über meine >verrückten< Ideen, was, Kalendorf? Ha, ha, ha!« Mit einem unheimlichen Gelächter schnippte er den Mond durch die Luft, als werfe er eine Münze. Dann warf er ihn dem unvorbereiteten Kalendorf zu. Der Mond rutschte Kalendorf durch die Finger, fiel in den Sand und war verschwunden. Der Astronom war entsetzt. »Gütiger Himmel, was haben Sie getan?« »Na, wenn schon.« Porteus nahm einen Groschen 229
aus der Tasche und pappte ihn zwischen die Sterne. »Ihr werdet euch im Jahre 2120 ebenso freuen, dies hier zu erforschen.« In diesem Moment tauchte Bowler auf. Er zwar ziemlich außer Atem. »Sie werden nicht glauben, wo ich gewesen bin«, sagte er. »Ich fiel vom ...« »Ja, Dr. Porteus hat es mir schon erzählt. Er hat gerade demonstriert, daß der Raum gar nicht räumlich ... ah ... so geräumig ist, wie wir dachten. Wissen Sie, was es für Ihren Berufsstand bedeutet, Bowler, wenn eine solche Theorie allgemein bekannt wird?« Der Assistent nickte. Ohne ein weiteres Wort fielen die beiden über ihren wissenschaftlichen Kollegen her und erwürgten ihn. »Wir verscharren die Leiche in der Wüste, Bowler.« »Ich habe eine bessere Idee, Sir. Ich werde sie über den Rand des Universums werfen.« »Gut ausgedacht! Während Sie weg sind, durchsuche ich sein Hotelzimmer und verbrenne alle Aufzeichnungen. Wir müssen sämtliche Spuren dieses schrecklichen Geheimnisses verbergen - bis in alle Ewigkeit!« Bis in alle Ewigkeit? Nein, bloß bis zu dem Tag, an dem irgendein Wüstenkobold den Versuch unternimmt, die seltsame »Münze« auszugeben, die er gefunden hat ... bis ein Numismatik -Experte einen Blick auf den Groschen werfen kann ... Und schon in diesem Augenblick studiert ein Kellner die Gleichungen auf dem Tischtuch und murmelt vor sich hin: »Dann sind Dreiecke also doch unmöglich ... hmm ...«
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Der Solare Schuhverkäufer 1 Stan Houseman, der Schuhverkäufer, grapschte sich in der Küche ein Täßchen Kaffee und überschlug den täglichen Morgenklatsch in der Zeitung. OLYMPISCHES FINALE IM CARMODY-STADION POLIZEI BEENDET HATTONITEN-KRAWALL Der Börsenbericht listete nur zwei Konzerte auf - die beiden, die die Welt unter sich aufgeteilt hatten: die Nordamerikanische Stiefel & Schuh (NSS) und die Eurasische Fußbekleidung. Die Aktien der NSS waren um zwei Punkte gestiegen, die der Eurafuß um zwei gesunken (klar). In diesem Zwei-Personen-Null-Summen-Spiel konnte die eine Seite nur auf Kosten der anderen profitieren. Wie Karen und ich, dachte er grimmig. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr - die dahinflitzende Gestalt eines autistischen Kindes. Als er genauer hinsah, war es verschwunden. Karen kam in die Küche. »Laß uns bloß keinen Streit anfangen, um Himmels willen«, sagte er. »Ich lasse mich scheiden, Stan. Heute nachmittag gehe ich zum Anwalt.« Der Ersatzkaffee schmeckte plötzlich äußerst bitter. 2 Ed Pagon schaute in das Kameragesicht des Robot-Interviewers »Mel« von der KHBT-TV. »Irgendwie habe ich das Gefühl, daß ich heute mehr als ein Spiel spiele«, 231
sagte er. »Ich glaube, heute geht es um mehr als nur ums Medaillenholen beim Olympischen Gewichtheben.« »Sagen Sie, Ed«, sagte der Roboter, »wie fühlt man sich, wenn man der einzige männliche Teilnehmer die ses Wettstreits ist?« Was glaubst du denn, wie man sich fühlt? dachte Ed. Es ist, als würde man kastriert. Mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte er: »Ehrlich gesagt, ich habe das Gewichtheben immer für einen Männersport gehalten, Mel. Es ist sowohl eine Kunst als auch ein Sport, und in der Kunst überwiegen die Männer ja traditionell ...« Als das Interview zu Ende war, ging Ed in seine Garderobe, um sich aufzuwärmen. Er nahm mit dem roten Regulierungsgummiball und den Eisengewichten auf dem Boden Platz und bemühte sich, seinen Geist für ein paar Zen-Übungen zu leeren. Es ging darum, die Gewichte zu heben, ohne sie mit dem Geist anzurühren. Erstens, ohne an sie zu denken. Zweitens, ohne an sie zu denken. Drittens ... Ed verspürte einen plötzlichen Schmerz, der ihm gefährlich an die Nieren ging. Der Schmerz betäubte seine Wahrnehmungsfähigkeit, als er das am Boden liegende Gewicht anschaute. Es war kein Gewicht. Es war ein kleiner metallener Mensch mit ausgestreckten Armen, den man mit Magneten an einem Eisenkreuz befestigt hatte. 3
Joe Feegle hielt Stan Houseman vor der Verkaufszelle an. »Man sagt, wir stünden am Rande eines Krieges, Stan. Die Firmenpräsidenten treffen sich heute nachmittag zu einer Gipfelkonferenz. Sie werden eine Runde des Spiels spielen - und wenn es unentschieden ausgeht, wird es Krieg geben.« »Aber es geht doch immer unentschieden aus.«
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»Eben. - He, schau mal!« Die beiden Männer wandten sich um und erblickten am anderen Ende des Korridors eine Gestalt, die die offizielle goldschwarze Uniform eines Armisten trug. Präsident Moniter rief einen Armisten zu sich, der neue Waffen für die Firma entwerfen sollte - das war ein böses Omen. Ein anderes war die Unruhe, die die barfüßige FanatikerSekte der sogenannten Hattoniten erzeugte - beziehungsweise für sich ausnutzte. Als Stan seine Zelle aufschloß und sich auf die Arbeit vorbereitete, dachte er an Herkimer Hattons seltsamen, faszinierenden Kult. Man wußte nur wenig Persönliches über den verstorbenen Herkimer Hatton, außer, daß er vor zwanzig Jahren gelebt hatte und extrem unfallanfällig gewesen war. In einer Serie von über tausend kleinen Unfällen hatte er Glieder und andere Kleinteile seines Körpers verloren und durch Synthetik ersetzt. Schließlich war er (außer für seine Anhänger) ein Android gewesen. Die Le gende behauptete, er habe sein Leben an einem eisernen Kreuz beendet und würde zurückkehren, wenn die Welt ihn brauchte. Und jetzt brauchte die Welt etwas - und zwar schnell! Stan schob die Gedanken an Hatton und seine anderen Sorgen beiseite und richtete die Energie seiner psychischen Macht auf eine Million potentielle Kunden. Seine Macht breitete sic h in der Stadt aus und versetzte einer Million Männer und Frauen einen unwahrnehmbaren Schubs. Für manche kam er vielleicht in Form eines nachdenklichen Augenblicks: Ich brauche wirklich ein paar Schuhe ... Bei anderen äußerte er sich vielleicht in einem kleinen Zögern, wenn sie an den NSS-Schaufenstern und deren Auslagen vorbeigingen. Andere wiederum befanden sich vielleicht schon in einem Laden und probierten gerade Schuhe an. Und plötzlich würden sie welche finden ... 233
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Ferris Moniter, der Präsident der NSS, erhaschte aus den Augenwinkeln etwas, das wie ein autistisches Kind aussah. Als er in seinen privaten Autogyro stieg, stieß er mit dem Kopf an. »Autsch! Jetzt knall ich schon zum zweiten Mal mit dem Kopf gegen diesen Türrahmen.« Truit, sein Leibwächter, versteifte sich. »Wirklich? Schließen Sie die Tür noch nicht, Sir. Ich will mir mal den Rahmen ansehen.« Seine Expertenfinger suchten und fanden ein kleines, haarfeines Drähtchen. »Wie ich's mir gedacht habe, Mr. Moniter. Ein tierischer Magnet, der darauf eingestellt ist, Ihren Kopf anzuziehen. Sieht aus wie eine Arbeit Nexus Brills.« »Des Armisten der Eurafuß? - Aber Mord ist doch gegen die Regeln!« Der Leibwächter lachte. »Armisten kennen keine Regeln, Sir. Ich schätze, er wollte Sie kurz vor dem Spiel lahmen. Vielleicht hat er nebenher eine Wette abgeschlossen. Es heißt, Brill sei vom Setzen auf das Spiel reich geworden. Ihm gehören Paris, Rom, Antwerpen ... ein Dutzend solcher Städte. Es heißt, er hätte einige von ihnen miniaturisieren und ins Armband seiner Frau einarbeiten lassen. Übrigens, es wird Sie vielleicht interessieren, daß Amos Honks, unser Armist, heute morgen im Büro war, als Sie draußen waren. Vielleicht hat auch er Zugang zu Ihrem Autogyro gehabt ...« Ferris Moniter blinzelte. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst, Truit! Nein, Amos Honks ist unsere einzige Hoffnung. Denken Sie doch mal an all die Waffen, die er für uns entworfen hat! Wie können Sie ihn nur ver dächtigen?« Truit dachte an das mit Wasserstoff gefüllte und mit einer schweren Panzerung versehene Luftschlachtschiff. »Ich weiß, Sir, aber ich werde das Gefühl nicht
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los, daß die beiden Armisten irgendwie unter einer Decke stecken.« Moniter seufzte. »Lassen wir das jetzt! Sehen die Karten für heute sonst noch irgendwelche Mordversuche voraus?« »Nicht die Karten, Sir.« Truits Stimme klang, als hätte er Schmerzen. »Die Fliesen. Sehen wir sie uns doch mal an.« Er breitete die Fliesen des traditionellen chinesischen Prohetiespiels Mah-Jongg aus. »Ich fürchte, es ist der Ostwind, Sir. Und die Bambus-Vier.« »Oh, ist das schlecht? Was sagen sie?« Truit öffnete das Buch und las:
»Viele kleine Größen dementieren. Kein gleicher. Es bringt nicht weiter, nur diverse Geschenke zu entdecken. Der weise König geht Gebratenem aus dem Weg.« Er klappte das Buch zu. »Sir, ich glaube, es ist gefährlich, die Reise nach Chicago fortzusetzen.« »Unsinn, Truit! Ich muß weitermachen. Ich muß spielen und gewinnen. Jetzt aufzugeben wäre gleichbedeutend mit dem wirtschaftlichen Zusammenbr uch, dem Wiederaufstieg der korrupten alten UNO, und der Sklaverei für den größten Teil der menschlichen Rasse. Die Fliesen müssen sich irren.« Doch er wußte, daß die Fliesen sich niemals irrten.
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Im Carmody-Stadion wurde Ed Pagon nach seinem Zusammenbruch von einem Robot-Doktorator untersucht. Er lag auf dem Boden des Umkleideraums und krümmte sich vor Schmerzen. Die Sonden des Roboters bewegten sich, um seine Atmung, seinen Puls, sein Herz und seine Körpertemperatur zu prüfen ... »Was ist es, Doc?« fragte ein Funktionär. »Der Blinddarm?« 235
Der Doktorator sah ihn über viereckig geschliffene Brillengläser hinweg an. »Beruft euch nicht auf mich als Quelle, Jungs«, sagte er und rieb sein eisernes Kinn, »aber es sieht so aus, als bekäme dieser Typ ein Kind!«
6 Amos Honks, der Armist, erwachte mit einem Gefühl der Gefahr. Karen Houseman lag noch immer schlafend neben ihm. Die ganze alptraumhafte Episode bei der NSS fiel ihm ein: Ferris Moniter, der erklärt hatte, er solle die Firma für den ATK - den Absolut Totalen Krieg - bewaffnen. Ferris Moniter hatte gesagt, er solle sich etwas besseres einfallen lassen als Heuschnupfenbomben; er wollte noch etwas besseres als Herpes simplex oder Schlotterviren, die man in die Trinkwasservorräte kippen mußte. »Sie müssen sich einen Haufen Neuheiten einfallen lassen«, hatte Moniter gesagt. »Vergessen Sie nicht, daß Sie es mit Nexus Brill zu tun haben ... Übrigens, wissen Sie, daß man Ihre Frau mit Brill gesehen hat?« Und später hatte sie es nicht bestreiten können. Die Welt war demnach an diesem Nachmittag im Büro des Rechtsverdrehers zu einem Übelkeit erzeugenden Halt gekommen, als sie ihr Lochkarten-Urteil erhalten hatte. Dort hatte er Karen Houseman kennengelernt, und die beiden frisch Geschiedenen hatten sich natürlich sofort zusammengetan ... Doch jetzt lag er hier und witterte immer noch Gefahr, wie den Geruch der Angst. Von draußen drangen die Geräusche gedämpfter Motoren herein - ein Polizeigyro, das im Garten leise zur Landung ansetzte. Er spürte es eher, als es zu hören, wie der gesichtslose Gesetzeshüter auf das Haus zu-schlich ... das Geräusch einer Waffe, die aus einem Kunststoffholster genommen und durch die Wand auf
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seine Gehirnwellen gerichtet wurde ... der Druck auf den Abzugsbügel ... Amos rollte sich über das Bett und schlug im gleichen Moment am Boden auf, als der summende grüne Strahl des Doofmachers durch die Wand fuhr. Er traf Karen, und sie rutschte brabbelnd und sabbernd zur Seite. Bevor der Bulle erneut feuern konnte, riß Amos einen Talisman vom Armband seiner Gattin, stieß die Tür auf und warf ihn in den Garten. Es war eine miniaturisierte Stadt. Er zählte bis zehn und keuchte »Lebewohl, Paris.« Mit Kopfsteinpflastergedonner fand die Stadt im Garten zu ihrer normalen Größe zurück. Er hörte d en Bullen aufschreien, dann das Quietschen von Reifen und das Blöken einer Taxihupe. Amos schlug ein Fenster ein, verletzte sich am Arm und rannte über den Place de la Bastille auf das leere Polizeigyro zu. Er kletterte hinein, hob ab und hielt auf Chicago zu. Es mußte eine Möglichkeit geben, das Spiel zu stoppen - bevor es alles andere stoppte. Wenn er doch nur eine Waffe konstruieren könnte, gegen die Nexus Brill machtlos war. Er ließ Ideen über die Porzellanhülle seines Geistes fließen: Was war mit tollwütigen Hunden? Einem NullitronStrahl? Unterbewußtseins-Minen? Feuerkraut... Einem Erd-Beweger, der den Planeten während einer Luft schlacht drehte und die gegnerischen Maschinen im Weltraum stranden ließ? Wieso hatte Nexus Brill immer als erster Ideen? Während er sich dies fragte, setzte die Aura ein. Die Randzonen seines Blickfeldes waren voller autistischer Kinder; seine Ohren klingelten vor Blitz-Nachtmahren, und er bemerkte, daß eine tiefgreifende molekulare und ge netische Veränderung einsetzte. Er verwandelte sich, wie üblich, in Nexus Brill.
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Das autistische Kind deutete auf ein Bild von Stan Houseman und sagte: »Nette Mannen.« Die Hattoniten-Alten sahen einander an. Wieso »Mannen«? Sollte Houseman etwa der barfüßige Prophet sein, den Herkimer Hatton ihnen angekündigt hatte? 8
Die Datenübersicht flackerte über das Instrumentenpa-nel des Autogyros: DIE ARBEITEN DES HERKULES? Athlet wird Mutter!
»Das verstehe ich nicht«, sagte Ferris Moniter und nahm den Blick vom immer noch blauen Wasser des Amerischen Ozeans. Er hatte noch eine Stunde Zeit, bis sie die fingerförmige Michigan-Insel erreichten, an deren Spitze Chicago wie ein glänzender Niednagel funkelte. Fern im Osten lag der finstere Kontinent Atlantica, der nur von den Britischen Seen unterbrochen wurde; dahinter befand sich das Europische Meer. »In dem Roman, den ich gerade lese«, sagte er und nahm eine Rotzfolie aus der Taschette, »geht der Autor davon aus, Luzifer hätte den Krieg gegen den Himmel verloren, und auf der Welt sei alle s umgekehrt, verstehen Sie?« Truit, sein Leibwächter, lachte. »Science Fiction, was? Glauben Sie nicht alles, was Sie weiß auf schwarz geschrieben sehen. Wie heißt das Buch?« »Das Autogyro-As«, sagte der Präsident. »Ein Autogyro-Roman von Killhip D. Pick.« In diesem Moment erschien weit hinter ihnen ein 238
Punkt am Horizont. Er wuchs rapide zu einem zweiten Autogyro an. »Wer ist es, Truit?« »Es ist zu weit weg, um was zu erkennen, Sir. Vielleicht ist es uns freundlich gesinnt...« Der Leibwächter richtete seinen elektrischen Feldstecher auf das seltsame Fahrzeug, dann keuchte er auf. »Nein! Das kann nicht sein!« Kurz darauf war der Fremde nahe genug heran, so daß Moniter es auch sehen konnte. In dem zweiten Fahrzeug saßen ein zweiter Ferris Moniter und ein zweiter Truit. Während er es anstarrte, kam es näher, bewegte sich durch sein eigenes Fahrzeug hindurch und raste nach Chicago weiter. 9 Der Präsident der Eurafuß saß hinter dem Spieltisch im Schatten; er war eine maskierte Entität ohne Namen. »Setzen Sie sich, Mr. Moniter!« sagte er mit körperloser Stimme. »Sie kennen ja die Spielregeln.« Nachdem Truit den Sessel nach Bomben und Viren abgesucht hatte, nahm Moniter Platz. Ein Adjutant kam mit einem Notizblock und zeichnete die traditionellen vier Linien auf das oberste Blatt: zwei horizontale, zwei vertikale. »Sie können anfangen, Mr. Moniter. Sie haben >X<, und den Vorteil - für den Augenblick.« Aus dem Nebenzimmer hörte man Schüsse und elektrisches Gezische, als die Eurafuß-Androiden sich mit den NSS-Cyborgs zusammentaten, um die Hattonitischen Meuchelmörder abzuwehren. Als Moniter ansetzte, den Zug zu machen, beugte sich sein Gegenspieler vor und schob das Gesicht in den Lichtkreis.
»Sie!« 239
10 »Es war ein Zwei-Personen-Null-Summen-Spiel«, schrieb Joe Feegle. »Stan Houseman hatte durchgesetzt, daß in allen Fällen von generell strikter Bestimmtheit spezielle strikte Bestimmtheiten eingehalten wurden, und in anderen Fällen ebenso, doch hatte er die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Vorteil d er speziellen zur generellen Bestimmheit überhaupt kein Vorteil war! Dann war er also selbst auch ein Android!« Joe arbeitete an seinem Roman ANDROGYNOID, den er unter dem Pseudonym H. K. (Kid) Clipclip schrieb. Er litt unter dem Wahn, daß er selbst auch unter einem Pseudonym geschrieben wurde. 11 »Als Nexus Brill dieses Fenster einschlug«, sagte der Präsident der Eurafuß, »hat er sich nämlich geschnitten. Er ist nun mit einem Virus infiziert, der unseren ganzen Planeten verseuchen wird. Er läßt allen die Füße abfaulen, ha, ha!« »Ich nehme an, daß Amos Honks dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden hat«, sagte eine Stimme aus dem dunklen Korridor. »Das autistische Kind!« »Falsch«, sagte Stan Houseman. Er feuerte sofort den Demoralisierungsstrahl ab, und der komische Präsident klatschte rückgratlos zu Boden. Alle waren sich darüber einig: Das war das Ende des Universums. 12 Nexus Brill sah das große Lineal über den Himmel kommen. Er beschleunigte das Autogyro und versuchte
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ein Ausweichmanöver einzuleiten, doch es war zwecklos. Das Lineal erreichte und zerschnitt ihn - ebenso wie Himmel und Erde - in zwei saubere Hälften. 13 »Also hat Ed Pagon das neue Universum geboren, was?« »Genau! In Wahrheit gab es überhaupt keine zwei Parteien, da jede Firma die Aktien der anderen besaß. Und da beide in Wirklichkeit den Hattoniten gehörten ...« »... war auch jeder ein Android.« »Soviel scheint auch Brill vermutet zu haben. Als er sich an der Fensterscheibe schnitt, hat er nämlich nicht geblutet.« Er schüttelte den Kopf. »Brill war wirklich ein Mensch, wenn auch ein blutloser.« Sie lächelte. »Dann ist also ... alles vorbei?« »In gewissem Sinne ...« Mit diesen Worten betraten Stan und Karen Houseman zusammen mit den anderen Pilgern barfuß das ehemalige Schuhgeschäft.
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Eine verdammte Sache nach der anderen - Ein Mythos für Arme Floggy Flarl war'n Zocker Balbierte alle über'n Löffel Keiner umßte, wie's anfing Außer Floggy Flarl Der Name des Ko-Ordinierenden war Hampton Syzy-gie. Er kam vom Planeten Chicago und sehnte sich nach Hause. Obwohl er dazu weit über den Asteroidenstrom von Mkaj, weit über die Garderene-Galaxien hinaus und bis an den Rand von Edgeitself reisen mußte, wandte sich sein Herz stets heimwärts, dem alten Volksstadt Ohm entgegen. Doch wenn sich sein Herz Voksstadt Ohm zuwandte, war es voller Bitterkeit und Rachedurst, denn Ohm war der uralte Lord der Exkre-mentalität, der Chicago ererbt hatte; ererbt, durch den Mord an seinen vorigen Besitzer, dem Tyrannen Stulk Hermano. Ohm hatte Hermanos blutige Herrschaft nur beendet, um seine eigene zu beginnen. Auch darüber gab es ein Lied: Stulk war falsch, doch er linkte die Linken. Und Volksstadt linkte die Rechten. Hampton würde bald etwas gegen Volksstadt Ohm unternehmen, ebenso würde er später die sieben Prüfungen auf den sieben Planeten von S murr ablegen. Er würde diese Dinge tun, damit die Abenteuerbücher sich mit Geschichten füllten. Doch die Abenteuerbücher kamen erst später, und Hampton Syzygie wußte nichts 242
von ihnen, denn er lebte in der Gegenwart. Auch darüber gab es ein Lied, doch jetzt ist keine Zeit für Lieder, sondern für Geschichten. Und von all diesen Geschichten ist die ungewöhnlichste und wundervollste die, wie Hampton Syzygie nach Chicago heimkehrte - und warum. Hampton kam über den Andermenschplaneten Marvin Jarvis nach Chicago zurück. Die Völker von Marvin Jar-vis waren ausnahmslos Andermenschen, erschaffen aus Tieren, um der menschlichen Rasse und den Lords der Exkrementalität zu dienen. Am Raumhafen lernte Hampton zwei Führer kennen: ein listig aussehendes Paar namens F'ritz und F'annie, die einen kleinen Sohn hatten, F'urz. »Wir sind nicht völlig menschlich«, sagte F'ritz. »Wir sind in Wirklichkeit mutierte schlaue Füchse. Das heißt, ich bin ein Fuchs, und F'annie ist eine Fähse. Ich habe vergessen, ob man F'urz ein Junges oder einen Welpen nennt.« Nachdem es ihm nicht gelungen war, Hampton einen Gebrauchtwagen zu verkaufen, zog sich das Pärchen in die Massen der Andermenschen zurück. Es gab davon alle Arten: B'ernie, den Bibermann, der Dämme baute: E'lfriede, das Elefantenmädchen mit dem phänomenalen Gedächtnis; S'tech, den Stachelschweinmann, einen tödlichen Bogenschützen. Natürlich gab es auch Straußenmenschen, die den Kopf in den Sand steckten, Schwanenmenschen, die Menschenarme mit einem Schlag ihrer mächtigen Schwingen brechen konnten; hypnotisierende Schlangenmenschen (auch wenn ihre Hauptbeute die Vogelmenschen waren); elektrische Aalmenschen, die das Elektrizitätswerk betrieben, und viele andere. Hampton schlenderte durch die Straßen und nickte den Andermenschen-Freunden freundlich zu. F'riedrich der Fledermausmensch versuchte sich im Haar eines Frauenmenschen zu verheddern. B'ill der Bärenmensch schien hungrig 243
genug zu sein, einen Pferdemenschen zu verspeisen. S'iggi der Sittichmensch und Waltraud das Wurmmädchen ließen ihre Pflichten Pflichten sein und folgten Hamptons Befehl. Es war hier, wo Hampton A'uguste kennenlernte, die ihn subtile und absonderliche Techniken lehrte. Doch er würde sie nicht mitnehmen können, wenn er den Pla neten Marvin Jarvis verließ. Sie wußte es und nahm es hin, doch brannte sie darauf, mit ihm zu gehen, zusammen mit Waltraud und S'iggi. Doch diese beiden konnten Hampton Syzygie helfen, und A'uguste konnte es nicht. Es gab auf Chic ago nichts, was eine Affenfrau tun konnte. Bevor er Chicago erreichte, mußte Hampton Syzygie ein Jahr in der Geruchsquarantäne des Planeten Kipling Glory verbringen. Die Polizisten Chicagos waren HundeRoboter und darauf trainiert, den Geruch jedes Andersmenschen-Planeten an einem Menschen zu rie chen, selbst wenn er elf Monate alt war. Kipling Glory war der einzige Andersmenschen-Planet, auf dem man einen neuen, akzeptablen Geruch erwerben konnte. Kipling Glory war ein Schädel, der Schädel des uralten Riesen Jaujau, der, wie es hieß, von den Montag-Brüdern erschlagen worden war. Aus seinem Rückgrat hatten sie ein gewaltiges Sternenschiff gemacht, das fähig war, sich durch das Universum zu ^lichtdoppeln<, und sie waren aufgebrochen, das Zentrum des Musters zu finden. Das Leben auf dem Riesenschädel erinnerte Hampton daran, was Volksstadt Ohm der Familie Syzygie angetan hatte, und seine Gedanken waren voller eiskalter Rache. Der Tag der Rache mußte kommen, doch jetzt war die Zeit des Wartens und Beobachtens, und die Zeit zum Geschirrspülen. In die Hülle eines schwachsinnigen Tellerwäschers gekleidet, wartete, arbeitete und beob244
achtete Hampton. Die schmutzigen Teller kamen zu ihm in die dunstig-gelbe Küche. Hampton hauchte sie an, langte mit dem Verstand in jeden Teller hinein, wünschte sich, daß sie sauber wurden und ließ sie mit der Hoffnung der Reinheit vibrieren. Geschirr fühlen nannte er es, und er arbeitete elf Monate lang und mehr daran, bis die Zeit kam, die Verkleidung abzulegen und nach Chicago zu gehen. Auf Chicago besuchte er als erstes, ohne zu bemerken, wohin er ging, den Schrein des Siebenten Typus der Mehrdeutigkeit. Er stand auf dem Hügel, der Roxy Riegels Wüste überragte, ein alter Computer, innerhalb der Ruinen der einstigen Englisch-Abteilung einer Universität, aus jener Zeit, in der die Menschen Englisch als Mediziner- und Gesetzessprache gelernt hatten. Die Andermenschen hatten den alten Computer lange Zeit als Orakel verwendet. »Warum kommen wir an diesen Ort, o Mensch?« sagte Waltraud. »Du glaubst doch gar nicht an die Macht des Orakels.« »Doch ich nicht-glaube auch nicht daran. Jedenfalls ist dieser Ort meiner Familie heilig. Es war in dieser Gegend, wo mein Vater Hermann Syzygie mit dem Letzten LichtSchlucker kämpfte, ihn tö tete und dafür zum Rechnungsverwahrer ernannt wurde.« Waltraud lächelte, sofern man von einem Wurm behaupten kann, daß er dazu in der Lage ist. »Das ist wahr. Was willst du das Orakel fragen?« Doch Hampton antwortete nicht, weil er es sich nicht erlauben wollte, eine Frage im voraus zu denken. Auf diese Weise würden die telepathischen Fähigkeiten des Computers nichtig werden, und er konnte vielleicht Macht über ihn erringen. Die Frage, die er schließlich stellte, als er auf der windumtosten Felsenklippe über den Venn-DiagrammSeen stand, lautete: 245
»Was ist morgens einbeinig, nachmittags vierbeinig, abends dreibeinig, und wann ist eine Tür keine Tür?« »Hmmm«, sagte der alte Computer. »Das ist aber 'ne harte Nuß. Vielleicht Long John Silver mit einem dreibeinigen Papagei?« »Nein.« »Wie war's mit einem Hammelbein, das auf magische Weise in einen Hund transformiert wurde, der in der Abenddämmerung an eine Haustür pinkelt?« »Nein.« »Na schön, ich geb auf. Was ist es?« »Ein Kaffeetisch, den man aus einer Tür gemacht hat!« Hampton erklärte es: morgens verpaßte man der Tür das erste Bein, bis sie nachmittags vier hatte, von denen abends wieder eins abfiel. Der alte Computer erzählte ihm ein Geheimnis, mit dem er den Tyrannen Ohm hereinlegen konnte. Waltraud das Wurmmädchen, das gezüchtet und erschaffen worden war, um Pakete sicher zu verschnüren, wickelte sich jetzt um Hamptons Finger, damit er das Geheimnis nicht vergaß. Sie stiegen hinab und durchquerten Roxy Riegels Wüste. Sie durchquerten sie bei Nacht, als der Sand kühl und blaugrau war, und der Beifuß silbern im Mondlicht glänzte. Dann und wann sah Hampton Roxy Riegel, die Besitzerin der Wüste, höchstpersönlich hinter Felsen oder Gebüschen dahinflitzen. Er wußte, daß es Roxy war, denn das Mondlicht fiel auf das unterhalb ihrer Nase baumelnde Vorhängeschloß. Im Morgengrauen betrat Hampton die Hauptstadt Vb und ging sofort zum Palast Volksstadt Ohms. Unterwegs erklärte er S'iggi dem Sittichmenschen, wofür er gebraucht wurde. »Wie alle Sittichmenschen wurdest du gezüchtet und erschaffen, um Spiegel zu bewachen, und genau das mußt du jetzt tun. Ich möchte, daß du alle Spiegel im 246
Palast vor dem falschen Abbild Volksstadt Ohms bewachst; sonst könnte er vielleicht zwischen seine falschen Abbilder schlüpfen und meiner Rache entgehen. Verstehst du?« »Ich verstehe und gehorche, o Mensch«, sagte der Sittichmensch, und als er sah, daß der Anlaß ein ernster war, verkniff er sich die ihm auf der Zunge liegende Frage: »Ja, wo ist er denn, unser S'iggi?« Hampton betrat den Palast auf die Weise, die A'uguste ihm gezeigt hatte und schlug sich zu den Privatgemächern des Tyrannen durch. »Ich habe Sie erwartet«, sagte Ohm und schaute von seiner Hellseh-Maschine auf. Plötzlich sprang er auf einen Spiegel an der nahen Wand zu und versuchte, in sein falsches Abbild zu schlüpfen, doch S'iggi war vor ihm da. Jetzt wurde Volksstadt Ohm zu einer Memme. »Was wollen Sie von mir, Syzygie? Ich kann Ihre Frau und Ihre Kinder doch nicht wieder lebendig machen, oder glauben Sie etwa doch?« Rachedurst benebelte Hamptons Geist, als er eine Todeswaffe hob, um das Blut des Tyrannen zu verspritzen. Ohm hatte Mrs. Syzygie und ihren Kindern schreckliche Dinge angetan, indem er ihre Ausdehnung verändert hatte. Hamptons Gattin war zur Größe eines Staubkörnchens zusammengeschrumpft und durch die Brownsche Bewegung in einem Sonnenstrahl zugrunde gerichtet worden. Das Älteste seiner beiden Kinder war zu einem solchen Riesen gemacht worden, daß die Schwerkraft seine Knochen hatte zerbrechen lassen. Klein-Lydia, das Baby, war weder verkleinert noch vergrößert, sondern so schwer gemacht worden, daß sie bis zum flüssigen Kern des Planeten durchgefallen und eins mit ihm geworden war. Hampton dachte jedesmal an sie, wenn er das Zerren der Gravitation verspürte. Rache umnebelte seinen Geist, und er hob die Waffe. Aber dann sah er Waltraud, die um seinen Finger 247
gewickelt war, und er erinnerte sich an das Geheimnis des alten Computers. Er griff in die Zukunft ein und nahm einige Justierungen vor. Dieser Vorfall wurde abhängig von diesem und jenem, während ein anderer gar nicht erst zustande kam. Und während er dies tat, sagte er zu Volksstadt Ohm: »Wem du auch Schmerzen zufügst, wirst du sein. Wen du auch haßt, wirst du sein. All deine Dolche wenden sich gegen dich. H-I-N-A-U-S, gesprochen hinaus geht er, mit einem schmutzigen Spültuch am Knie.« Da er Hamptons Fluch nicht glaubte, versuchte Ohm einen vorbeilaufenden Hund zu treten. Doch noch bevor der Hund den überwältigenden Schmerz des eiser nen Stiefels an seinen Rippen spürte, tauschten Ohm und er das Bewußtsein. Er spürte, daß seine Rippen wie die eines Hundes brachen, und heißer, elektrischer Schmerz durchströmte ihn. Er wollte in das Tyrannenbein beißen, und fand sich in seinem eigenen Körper wieder, attackiert von einem vor Schmerz rasenden Tier. Die Strafe währte ewiglich und war nur gerecht. Hampton Syzygie kehrte in sein Heim zurück, wo er in Frieden viele Jahre lebte, bis er in den Schlaf fiel und fortging, um mit seinen Ahnen zu jagen. Doch hoch über den Venn-Diagramm-Seen kichert der alte Computer noch immer vor sich hin, zum sechzig - oder siebzigmillionsten Mal: »Ein Kaffeetisch! Da soll mich doch der Teufel holen.«
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Die Sublimierungswelt 1. Kapitel: Der Ewige Krämer
Price schaute über die Lagune, einen trockenen Streifen Land, auf die Fata Morgana. Die Lagune wurde geläutert; sie verwandelte sich aus flüssigem Eis direkt in kristalline Luft, und durch ihre flirrenden Schichten konnte er eine Giacometti-Statue ausmachen, die möglicherweise einer von Kings abgemagerten Männern war. Zygotenwedel umhüllten jetzt den alten Supermarkt, erstickten ihn mit Lianen und Walrat, verwandelten ihn in ein ziemlich gutes Gemälde Jackson Pol-locks, und zwar das, von dem er ständig träumte. Auch das Gemälde war, wie Kings Mann, von traumartigem Dunst umgeben und drehte und wendete sich, in Bewegung versetzt von einem erstarrten Wind. Über ihm blökten Pterodaktyle. 2. Kapitel: Basar der Harpyien
Zwischen den Besuchen, die Price dem Kajak abstattete, lag inzwischen stets mehr als ein Monat. Mona lag in ihrem gelben Empirestil-Gewand im Kajak auf dem Rük-ken und ließ einen Lavendelhandschuh im Wasser treiben. Pterodaktyle schauten zu, als sie ihr Haar ausbürstete, kämmte und als Spiegel eine geglättete Atmosphärenplatte verwendete. Price fühlte sich ganz plötzlich müde - aber bisher war er immer ganz plötzlich müde geworden. Er wollte mit allem aufhören, eine Weile die ihn umgebenden Welt sublimieren und schla gende Lederschwingen in den heiß-purpurnen Sonnenuntergang erheben. Doch das konnte nicht sein, je 249
denfalls nicht im Augenblick. Er empfand der menschlichen Spezies gegenüber noch immer eine eigenartige Loyalität. Er mußte noch die Skorbut erklären, den Bericht schreiben, den Generator reparieren. Er zündete die Pfeife an und blickte stirnrunzelnd durch den azurblauen Rauch auf Kings Elefant. Er marschierte im Kreis herum und schwenkte eine schwarze Flagge. 3. Kapitel: Der Spiegel von Xanadu Er würde der Regierung schreiben, nahm er sich vor, als der Traum endete. Es war stets der gleiche - ein hohler, heißer, schwerer Dschungelbaum, hellgrün, der genau in der Mitte einer erstarrten Wüste zwischen gelben Orangenflammen wuchs und sieben blaue Früchte trug. Er pflückte sie, eine nach der anderen, und zerquetschte sie zwischen den Zehen. Der Saft rann wie Blut in die ausgedörrte Flanke der Erde. Doch die letzte Frucht bewahrte er auf, um sie am Gaumendach seines Mundes zu zerdrücken, wie die Giftkapsel eines Agenten, bevor er starb. In diesem Traum starb er nie. 4. Kapitel: Die Benzinwüste Der Mensch hatte die Sublimierung hervorgerufen. Seit Jahren hatte er schwarze, ölige Dämpfe in die Atmosphäre gekippt. Manche der Dämpfe waren als feste Körper wieder zur Erde zurückgefallen, um ihre Proteine zu polarisieren. Andere Materie war aufgestiegen, schneller an warmen Tagen und langsam bei Nacht, bis sie die Sonne erreicht hatten und sie langsam und unmerklich veränderte. In den letzten hundert Jahren war die Sonne immer schmutziger geworden; jetzt verwandelte ihr purpurnes Leuchten die empfänglichen Proteine der Erde in Jod. Price lebte in einer kleinen verlassenen Abtei, schlief 250
auf dem Altar und verwendete das zerfallende Harmonium als Anrichte. In der Anrichte verwahrte er ein paar Zeitfragmente. Relikte seiner persönlichen Vergangenheit: einen Gürtel aus Getreide, den er bei den Pfadfindern geflochten hatte; eine verrostete Maus; einen frankierten, an sich selbst adressierten Briefumschlag; eine Flasche Haaröl, die er trotz seiner Kahlköpfigkeit aufbewahrte. Immerhin war es öl, geweihtes Salböl, und in der Juraperiode hatte vieles sterben müssen, um es zu erzeugen ... Ein Schuß hallte über die Jodebene. Einer von Monas Drachen flatterte wie die Schwinge eines verärgerten Engels, huschte durch sein Blickfeld und stürzte ab. In der Ferne hatte Joe Olifant sich in einen schwarzen Umhang gewickelt. Er raste wie irr in einem Streitwagen dahin, seine Peitsche flappte wie die Zunge einer Eidechse. Price konnte das ängstliche Gewieher der Pferde und Joes tiefes, rasputinhaftes Lachen hören. 5. Kapitel: Der Parse vom Cobra-Casino King hatte in seinem großen Zirkuszug mehr Nahrung, Wasser und Schätze als er und seine Meuchelmörder je verbrauchen konnten. Es war närrisch von Price, den Versuch zu unternehmen, sich ihrer zu erwehren. Sie waren die grausame Lebensform in ureigener Person. Warum sollte er Tau trinken? Warum sollte er seine letzten Konservendosen über einem Feuer aus Pterodak-tylKacke braten? Am Ende würde es doch nic ht mehr zu essen geben als seinen Getreidegürtel und die paar Erdnüsse, die Kings scharfäugiger Elefant vielleicht übersah. King hatte seinen Zug in einem Kreis abgestellt, der nur dort unterbrochen wurde, wo der lautlose Ausläufer des blauen Sees lag und die seltsamen nächtlichen Rituale widerspiegelte. Im Licht der Benzinfackeln 251
spielte die tätowierte Frau mit einer Kobra. King lag in einem rotseidenen Mandarin-Pyjama auf der emaillierten Couch und fächelte sich mit einem der Drachen Monas Luft zu. Er fast durchsichtig, ein roter Blitz zwischen gelben Ballons, wie eine Wunde. Zu seinen Füßen war ein Baby-Pterodakytyl damit beschäftigt, methodisch einen Pfau zu zerfetzen. 6. Kapitel: Ein Ozymandisches Tangram Nirgendwo gab es noch Wasser. Das gesamte Wasser war schwer geworden und außer Sichtweite unter die Erde gesunken, die sich allmählich in Trockeneis verwandelte. Schließlich legte Price die Überreste seines Gürtels an - er war so ausgezehrt, daß der Gürtel ihm, obwohl er ihn zur Hälfte gegessen hatte, noch immer paßte - und schritt auf das purpurne Flachland zu. Ich muß wie ein Giacometti aussehen, dachte er. Die Silberebene wurde gegen Mittag azurgrau, v/ährend die erhitzte Luft dumpfig und braun wurde. Er schaute zurück und sah das galoppierende Skelett des Elefanten und den schwankenden Sitz. King - oder Kings Geist -verfolgte ihn, ein Gespenst. Sie konnten ihn nicht davonlaufen und allein sterben lassen. Sie wollten ihn bestrafen, weil er sie negiert und es - wie ein reziproker Toby Tyler - abgelehnt hatte, in ihrem Zirkus mitzumachen. Der Elefant löste sich auf, und King, der langsam zu Boden sank, blieb zurück. Er hob das elektrische Mage-fon hoch und schrie: »Komm zurück, Price! Wir brauchen dich im Lager. Sei kein verdammter Idiot, Mensch!«
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7. Kapitel: Der verdammte Idiot Im Morgengrauen erreichte er die tote Stadt. Eine Weile war er besorgt, daß King ihm, indem er den Zirkuszug benutzte, auch hierhin folgen würde. Dann sah er, daß die Eisenbahnschienen sich längst aufgelöst und nur noch Aschespuren hinterlassen hatten. Der Bahnhof war auch nur noch ein Gespenst. Er hatte das Ende des Weges erreicht, den allerletzten Bahnhof. Die ganze Stadt war eine bucklige Düne. Einst war sie eine Mer -kuriumRaffinerie gewesen, jetzt war sie zu einer einzigen gasigkristallinen Puppe erstarrt, und abhängig von dem, was einst ein flammender Blutfruchtbaum gewesen war. Jetzt bestand er, ironischerweise, aus Eisen. Der Eisenbaum erinnerte ihn an etwas. Er zog die blaue Frucht hervor, um sie zu essen, und stellte fest, daß auch sie geschrumpft war, abgetragen vom unsichtbaren, doch festen Wind, der aus der Vergangen heit in die Zukunft wehte.
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