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Buch Der Dritte Weltkrieg tobt. In den Trümmern eines Krankenhauses findet Buck unter den Toten die Leiche eines Mitstreiters der Tribulation Force, Pastor Bruce. Gleichzeitig lässt sich Rayford von Nicolai Carpathia, dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, als Pilot anheuern. Mittels einer raffinierten Anlage kann er vom Cockpit aus mithören, wie der charismatische Weltregent, in dem viele den ersehnten Retter sehen, für kriegerische Angriffe verantwortlich zeichnet und sein Mitleid nur heuchelt – außerdem erfährt er von einem geplanten Luftangriff auf Chicago. Verzweifelt versucht er, die Freunde zu warnen. Nach einer dramatischen Irrfahrt kann er schließlich auch Chloe, die im Auto unterwegs ist, rechtzeitig benachrichtigen. Die Lage wird noch unübersichtlicher, als Hattie, die schwangere Verlobte Carpathias, Rayford um einen persönlichen Rat bittet. Vom geliehenen Helikopter Carpathias aus sehen die beiden, wie dessen Hauptquartier, Neu-Babylon, zusammenstürzt. Der Himmel verdunkelt sich, ein Meteoritenregen geht auf die Erde nieder, und die Mitglieder der Tribulation Force sind überall verstreut … Autoren Tim LaHaye ist ein ehemaliger Pfarrer, Jerry B. Jenkins enger Mitarbeiter des bekannten US-Predigers Billy Graham. Mit ihrem Roman-Zyklus »Die letzten Tage der Erde« sind sie seit einigen Jahren ständig auf den vordersten Rängen der US-Bestsellerliste vertreten und zählen mittlerweile zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Aus dem Zyklus »Die letzten Tage der Erde« bereits erschienen: 1. Finale. Roman (35537) 2. Die Heimsuchung. Roman (35538) 3. Das Nicolai-Komplott. Roman (35539) Demnächst erscheint: 4. Die Ernte. Roman (35540) Weitere Romane der Autoren sind in Vorbereitung.
TIM LAHAYE JERRY B. JENKINS
DAS NICOLAIKOMPLOTT Die letzten Tage der Erde 3 Roman Ins Deutsche übertragen von Eva Weyandt
Freeware ebook by tigger Oktober 2003
BLANVALET
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Nicolae« 1997 bei Tyndale House Publishers, Inc., Wheaton, Illinois
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend. Blanvalet Taschenbücher erscheinen im Goldmann Verlag, einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH. Taschenbuchausgabe 4/2002 Copyright © der Originalausgabe 1997 by Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Gerth Medien GmbH. Asslar Ins Deutsche übersetzt mit Genehmigung von Tyndale House Publishers. »Left behind«® ein eingetragenes Warenzeichen von Tyndale House Publishers, Inc. Der Roman ist beim Projektion J. Verlag mit dem Titel »Nicolai. Die letzten Tage der Erde. Finale Band 3« erschienen. Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: Superbild/Grahammer/Ducke Satz: DTP Service Apel, Hannover Druck: Elsnerdruck, Berlin Titelnummer: 35539 V. B. • Herstellung: Heidrun Nawrot Printed in Germany ISBN 3-442-35539-7 www.blanvalet-verlag.de 1 3 5 7 9 10 8 6 4 2
Mein besonderer Dank gilt Rennie Rees und Shannon Kurtz
Prolog: Was bisher geschah … Seit dem großen Massenverschwinden sind mittlerweile fast zwei Jahre vergangen. Während der Ereignisse hatte Flugkapitän Rayford Steele seinen Jumbojet mitsamt den dreihundert vollkommen verängstigten Passagieren nach Chicago zurückgeflogen. Beim Start war die Maschine bis auf den letzten Platz besetzt gewesen, doch plötzlich waren mehr als hundert Sitze leer. Nur Kleider, Schmuck, Brillen, Schuhe und Strümpfe waren zurückgeblieben. Steele selbst hat bei dem Massenverschwinden seine Frau und seinen zwölfjährigen Sohn verloren. Er und seine Tochter Chloe bleiben allein zurück. Cameron »Buck« Williams, Journalist einer Wochenzeitung, war ebenfalls unter den Passagieren. Wie der Pilot macht auch er sich auf die verzweifelte Suche nach der Wahrheit. Rayford, Chloe und Buck finden durch den jungen Pastor Bruce Barnes zum Glauben an Jesus Christus. Sie schließen sich zur Tribulation Force zusammen und sind entschlossen, sich dem neuen Weltführer Nicolai Carpathia zu widersetzen, den sie für den Antichristen halten. Scheinbar über Nacht ist dieser zum Generalsekretär der Vereinten Nationen ernannt worden. Und obwohl er den größten Teil der Weltbevölkerung mit seinem Charme für sich einnimmt, kann er die Mitglieder der Tribulation Force nicht über seine wahre Identität hinwegtäuschen. Durch eine Verquickung seltsamer Umstände arbeiten sowohl Rayford als auch Buck für Carpathia – Rayford als sein Pilot, Buck als Verleger der Weltzeitung Global Community Weekly. Carpathia weiß, dass Rayford Steele und seine neue Frau Amanda Christen sind, allerdings ahnt er nichts von Bucks Beziehung zu ihnen oder von Bucks Glauben. 6
Die Tribulation Force plant ein Treffen in Chicago. Rayford fliegt Nicolai Carpathia von Neu-Babylon, der neuen Welthauptstadt, nach Washington D.C. Da Carpathia weiß, dass eine Verschwörung gegen ihn im Gange ist, macht er widersprüchliche Angaben über seinen Aufenthaltsort. Unterdessen haben Rayford, Amanda, Chloe und Buck erfahren, dass Bruce mit einer lebensbedrohlichen Viruserkrankung ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Auf dem Weg dorthin bricht ein Weltkrieg aus. Unter der Führung des von Carpathia entmachteten amerikanischen Präsidenten hat sich das amerikanische Militär mit Großbritannien und dem ehemals souveränen Staat Ägypten verbündet, der nun zum neu gegründeten Commonwealth des Mittleren Ostens gehört. Die vereinten Streitkräfte der Ostküste haben Washington angegriffen und zerstört. Carpathia, dessen Hotel dem Erdboden gleichgemacht worden ist, kann sich dank einer Täuschung in Sicherheit bringen. Seine Streitkräfte schlagen zurück, indem sie eine ehemalige Militärbasis in einem Vorort von Chicago bombardieren, die sich in der Nähe des Krankenhauses befindet, in das Bruce Barnes eingeliefert wurde. Ein Angriff auf Neu-Babylon wird abgewehrt. Auf Grund des geheimen Bündnisses zwischen Großbritannien und dem aufständischen amerikanischen Militär wird im Rahmen eines Vergeltungsschlages auch London von den Truppen der Weltgemeinschaft angegriffen. Verzweifelt versuchen Rayford, Amanda, Buck und Chloe, zum Northwest Community-Krankenhaus in Arlington Heights zu gelangen, in dem Bruce Barnes auf der Intensivstation liegt. Unterwegs hören sie die Live-Übertragung einer Ansprache des Potentaten der Weltgemeinschaft: »Treue Bürger der Weltgemeinschaft. Mit gebrochenem Herzen trete ich heute vor Sie und kann Ihnen nicht einmal sagen, von wo aus ich spreche. Seit mehr als einem Jahr haben wir zusammengearbeitet, um diese Weltgemeinschaft unter dem 7
Banner von Frieden und Harmonie zusammenzuhalten. Heute sind wir wieder einmal daran erinnert worden, dass es immer noch Menschen unter uns gibt, die uns auseinander reißen wollen. Es ist kein Geheimnis, dass ich Pazifist bin, immer war und immer sein werde. Ich glaube nicht an den Krieg. Ich glaube nicht an Waffengewalt. Ich glaube nicht an Blutvergießen. Auf der anderen Seite fühle ich mich verantwortlich für Sie, mein Bruder und meine Schwester in dieser Weltgemeinschaft. Die Friedenstruppen der Weltgemeinschaft haben den Widerstand bereits niedergeschlagen. Der Tod von unschuldigen Zivilisten lastet schwer auf mir, doch ich bitte Sie, Ihr Urteil über alle Feinde des Friedens zu fällen. Die wunderschöne Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika ist in Schutt und Asche gelegt worden und Sie werden noch mehr Berichte von Zerstörung und Tod hören. Unser Ziel sind nach wie vor der Frieden und der Wiederaufbau. Zu gegebener Zeit werde ich in mein Hauptquartier in Neu-Babylon zurückkehren und häufig mit Ihnen in Verbindung treten. Haben Sie vor allem keine Angst. Seien Sie versichert, dass wir eine Bedrohung des Weltfriedens nicht zulassen werden und dass kein Feind des Friedens überleben wird.« Während Rayford versuchte, sich zum Northwest CommunityKrankenhaus durchzuschlagen, meldete sich der Reporter des Cable News Network/Global Community Network Radiosenders: »Die militärischen Kräfte, die sich gegen die Weltgemeinschaft stellen, bedrohen New York City mit Nuklearwaffen. Zivilisten fliehen aus dem Gebiet und verursachen ein Verkehrschaos, wie es die Stadt noch nicht erlebt hat. Die Friedenstruppen versuchen, die Leute zu beruhigen, und erklären, sie hätten Mittel und Möglichkeiten, Raketen abzufangen, seien aber besorgt über den Sachschaden, der in den Außenbezirken entstehen könnte. 8
Und nun noch eine Nachricht aus London: Eine EinhundertMegatonnen-Bombe hat den Flughafen Heathrow zerstört und der radioaktive Niederschlag bedroht die Menschen im Umkreis von vielen Kilometern. Offensichtlich wurde die Bombe von den Friedenstruppen abgeworfen, nachdem eine Formation von ägyptischen und britischen Bombern auf einem abgelegenen Militärflughafen in der Nähe von Heathrow gesichtet worden war. Die Kriegsschiffe, die alle aus der Luft zerstört wurden, waren, wie berichtet wird, mit Nuklearwaffen bestückt und auf dem Weg nach Bagdad und Neu-Babylon.« »Das ist das Ende der Welt«, flüsterte Chloe. »Gott, helfe uns.« Rayford war fest entschlossen herauszufinden, was mit Bruce geschehen war. Eine Fußgängerin erklärte ihm, das Krankenhaus sei »gleich hinter diesem Hügel. Aber ich weiß nicht, wie nahe man Sie heranlassen wird und was noch davon übrig ist«. »Wurde es getroffen?« »Ob es getroffen wurde? Mister, es liegt in unmittelbarer Nähe der alten Nike-Basis. Viele sind der Meinung, dass es den ersten Treffer abbekommen hat.« Rayfords Mut sank, als er den Gipfel des Hügels erreichte und das Krankenhaus vor sich liegen sah. Ein Teil des hohen Gebäudes stand noch, aber der weitaus größte Teil lag in Trümmern. »Halt!«, rief ein Wachposten. »Dieses Gebiet ist abgesperrt!« »Ich habe eine Genehmigung!«, erwiderte Rayford und schwenkte seinen Ausweis. Als der Wachmann zu Rayford kam, nahm er den Ausweis und sah ihn sich sorgfältig an, verglich auch das Foto mit Rayfords Gesicht. »Wow! Zweite Ebene A. Sie arbeiten für Carpathia höchstpersönlich?« Rayford nickte und ging zum ehemaligen Vordereingang des Gebäudes. Eine Leiche nach der anderen wurde herausge9
bracht und mit einem Tuch abgedeckt. »Gibt es Überlebende?«, fragte Rayford einen der Männer. »Wir hören Stimmen«, sagte der Mann. »Aber wir haben noch niemanden befreien können.« »Helfen Sie oder gehen Sie aus dem Weg«, schimpfte eine Frau, als sie an Rayford vorbeieilte. »Ich suche nach einem Bruce Barnes«, erklärte Rayford. Die Frau warf einen Blick auf ihre Liste. »Sehen Sie dort nach«, sagte sie und deutete auf sechs Leichen. »Sind Sie ein Verwandter?« »Er stand mir näher als ein Bruder.« »Möchten Sie, dass ich nachsehe?« Rayfords Gesicht verzerrte sich und er brachte nur mit Mühe einen Satz heraus. »Das wäre sehr nett.« Sie kniete neben den Leichen, sah nach, während Rayford nur mühsam ein Schluchzen unterdrückte. Bei der vierten Leiche hielt sie inne, überprüfte das Armband und sah Rayford an. Er wusste sofort Bescheid. Die Tränen begannen zu fließen. Langsam zog die Frau das Tuch fort. Da lag Bruce, mit geöffneten Augen, leblos und still. Rayford rang um Fassung. Schwer hob und senkte sich seine Brust. Er streckte die Hand aus, um Bruces Augen zu schließen, doch die Schwester hinderte ihn daran: »Das kann ich nicht zulassen. Ich mache das selbst.« »Könnten Sie nachsehen, ob noch ein Pulsschlag zu fühlen ist?«, brachte Rayford mühsam hervor. »Oh, Sir«, antwortete sie mitfühlend »Sie werden nicht hier herausgebracht, wenn sie nicht auch wirklich tot sind.« »Bitte«, flüsterte er weinend. »Für mich.« Und während Rayford im hellen Nachmittagssonnenschein in einem Vorort von Chicago stand und mit den Händen sein Gesicht bedeckte, legte eine Fremde Zeigefinger und Daumen an den Hals des Pastors. Ohne Rayford anzusehen, nahm sie die Hand fort, zog das Tuch wieder über Bruce Barnes Kopf 10
und ging ihrer Arbeit nach. Rayfords Knie gaben nach und er kniete sich auf das schlammige Pflaster. Sirenen schrillten in der Ferne, Blaulicht blitzte überall um ihn herum und seine Familie wartete kaum einen halben Kilometer von hier entfernt. Nun gab es nur noch ihn und sie. Keinen Lehrer. Keinen Mentor. Nur noch sie vier. Als er sich erhob und langsam den Rückweg antrat, hörte er aus jedem Wagen, an dem er vorbeiging, den Notstandssender. Washington war dem Erdboden gleichgemacht worden. Heathrow gab es nicht mehr. Viele Tote in der ägyptischen Wüste und am Himmel über London. Und nun war New York in Alarmbereitschaft versetzt worden. Der rote Reiter der Apokalypse war auf dem Vormarsch.
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1 Es war wirklich eine schlimme Zeit. Rayford Steeles Knie taten weh, als er sich hinter das Steuerrad des gemieteten Lincoln setzte. Als er erkannt hatte, dass Bruce tatsächlich tot war, hatte er sich verzweifelt auf die Knie sinken lassen. Der körperliche Schmerz, der sicherlich einige Tage anhalten würde, war jedoch unbedeutend im Vergleich zu dem Schmerz und der Trauer über den Tod seines besten Freundes. Rayford spürte, dass Amanda ihn anblickte. Tröstend legte sie eine Hand auf seinen Oberschenkel. Auf dem Rücksitz saßen seine Tochter Chloe und ihr Mann Buck. Beide hatten ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Und was nun?, fragte sich Rayford. Was sollen wir ohne Bruce anfangen? Wie wird es weitergehen? Über den Notstandssender wurden weiterhin Berichte über das Chaos, die Zerstörung, die Angst und den Schrecken auf der ganzen Welt verbreitet. Rayfords Kehle war wie zugeschnürt. Zutiefst erschüttert fädelte er sich in den nicht abreißenden Verkehrsstrom ein. Warum waren all diese Menschen auf der Straße? Was erwarteten sie zu sehen? Hatten sie keine Angst vor weiteren Bomben oder nuklearem Niederschlag? »Ich muss ins Chicagoer Büro«, sagte Buck. »Du kannst den Wagen haben, wenn wir bei der Gemeinde angekommen sind«, brachte Rayford mühsam heraus. »Ich muss den anderen sagen, dass Bruce tot ist.« Die Friedenstruppen der Weltgemeinschaft überwachten die örtliche Polizei und die Einsatzkräfte, die den Verkehr regelten, und versuchten, die Menschen dazu zu bringen, nach Hause zurückzukehren. Rayford verließ sich auf seine Ortskenntnis. Jahrelang hatte er hier in dieser Stadt gelebt und kannte viele Schleichwege und Seitenstraßen, auf denen er die hoffnungslos überfüllten Hauptverkehrsstraßen umgehen konnte. 12
Rayford fragte sich, ob er nicht vielleicht doch Bucks Angebot, den Wagen zu fahren, hätte annehmen sollen. Aber er hatte nicht schwach erscheinen wollen. Er schüttelte den Kopf. Das Ego eines Piloten kennt wirklich keine Grenzen! Am liebsten hätte er sich zusammengerollt und in den Schlaf geweint. Fast zwei Jahre nachdem seine Frau und sein Sohn mit Millionen von anderen Menschen verschwunden waren, hatte Rayford keinerlei Illusionen mehr darüber, was ihn erwartete. Er war am Boden zerstört gewesen und tiefer Schmerz und tiefe Reue drückten ihn nieder. Alles war so schwer … Rayford wusste, dass sein Leben noch schlimmer hätte verlaufen können. Angenommen, er wäre kein Christ geworden und noch immer auf ewig verloren. Angenommen, er hätte keine neue Liebe gefunden und wäre noch immer allein. Angenommen, Chloe sei auch entrückt worden. Oder er hätte Buck nie kennen gelernt. Es gab so vieles, für das er dankbar sein konnte. Wäre nicht die körperliche Berührung der drei anderen im Wagen gewesen, hätte Rayford vermutlich nicht den Willen gehabt, weiterzumachen. Er konnte sich kaum vorstellen, Bruce Barnes nicht kennen und wie einen Bruder lieben gelernt zu haben. Von Bruce hatte er mehr gelernt als von allen anderen Menschen, die er kannte. Aber es war nicht nur Bruces Wissen, das ihre Beziehung zu etwas Besonderem gemacht hatte. Es war seine Begeisterung. Bruce hatte sofort erkannt, dass er die größte Wahrheit, die den Menschen je übermittelt worden war, nicht angenommen hatte und er wollte diesen Fehler nicht noch einmal machen. »Daddy, ich glaube, die beiden Polizisten dort drüben winken dir«, sagte Chloe. »Ich bemühe mich, sie zu ignorieren«, erwiderte Rayford. »Alle diese Möchtegerne glauben zu wissen, wie der Verkehr laufen sollte. Wenn wir auf sie hören, werden wir noch Stunden brauchen. Ich möchte einfach nur zum Gemeindehaus kommen.« 13
»Er spricht jetzt über Megafon«, meinte Amanda und öffnete das Fenster einen Spalt. »Sie in dem weißen Lincoln!«, ertönte eine Stimme. Schnell schaltete Rayford das Radio ab. »Sind Sie Rayford Steele?« »Woher wissen die das?«, wunderte sich Buck. »Gibt es für den Geheimdienst der Weltgemeinschaft denn irgendwelche Grenzen?«, erwiderte Rayford angewidert. »Wenn Sie Rayford Steele sind«, fuhr die Stimme fort, »fahren Sie bitte an den Straßenrand und halten Sie an.« Rayford überlegte, ob er auch diese Aufforderung ignorieren sollte, aber er entschied sich dagegen. Man konnte diesen Menschen nicht entkommen, wenn sie wussten, wer man war. Aber woher wussten sie es? Er lenkte den Wagen an den Straßenrand. Buck Williams nahm seine Hand von Rayfords Schulter und verrenkte sich den Hals, um die beiden uniformierten Soldaten zu beobachten, die den Seitenstreifen entlang kamen. Er hatte keine Ahnung, wie die Streitkräfte der Weltgemeinschaft Rayfords Aufenthaltsort ausfindig gemacht hatten, aber eines war sicher: Es wäre nicht gut für ihn, wenn er mit Carpathias Pilot zusammen gesehen würde. »Ray«, sagte er schnell, »ich habe einen gefälschten Ausweis bei mir, der auf den Namen Herb Katz ausgestellt ist. Sag ihnen, ich sei ein Kollege von dir oder so etwas.« »In Ordnung«, erwiderte Rayford, »aber ich denke, sie werden sehr freundlich zu mir sein. Offensichtlich versucht Nicolai, Kontakt zu mir aufzunehmen.« Buck hoffte, dass Rayford Recht hatte. Natürlich wollte sich Carpathia nur vergewissern, dass seinem Piloten nichts geschehen war und er ihn sicher nach Neu-Babylon zurückfliegen konnte. Die beiden Offiziere standen nun hinter dem Lincoln. Der eine sprach in ein Funksprechgerät, der andere telefonierte über sein Handy. Buck beschloss, die Initiative zu ergreifen, 14
und öffnete seine Tür. »Bitte bleiben Sie im Wagen«, sagte der Soldat mit dem Funksprechgerät. Buck ließ sich wieder in seinen Sitz sinken und vertauschte seinen echten Ausweis mit einem gefälschten. Chloe sah ihm außer sich vor Angst zu. Buck legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie an sich. »Carpathia muss alle Hebel in Bewegung gesetzt haben. Er wusste, dass dein Vater sich einen Leihwagen nehmen würde, und so war es nicht schwierig, ihn ausfindig zu machen.« Buck hatte keine Ahnung, was die beiden Soldaten der Weltgemeinschaft hinter dem Wagen machten. Er wusste nur, dass sich seine Sicht der kommenden fünf Jahre in einem einzigen Augenblick verändert hatte. Als eine Stunde zuvor der Weltkrieg ausgebrochen war, hatte er sich gefragt, ob er und Chloe die Trübsalszeit überleben würden. Da Bruce nun tot war, fragte sich Buck, ob sie überhaupt überleben wollten. Die Aussicht auf den Himmel und das Zusammensein mit Christus schien ganz eindeutig besser als das Leben auf dem, was von dieser Welt noch übrig geblieben war, auch wenn das bedeutete, dass Buck vorher sterben musste, um dorthin zu gelangen. Der Offizier mit dem Funksprechgerät kam zur Fahrerseite. Rayford öffnete es. »Sie sind doch Rayford Steele, nicht wahr?« »Das hängt davon ab, wer mich das fragt«, erwiderte Rayford. »Der Wagen mit dieser Zulassungsnummer wurde am Flughafen O’Hare von jemandem gemietet, der sich als Rayford Steele auswies. Wenn Sie das nicht sind, dann sind Sie in großen Schwierigkeiten.« »Würden Sie nicht sagen«, meinte Rayford, »dass wir momentan alle in großen Schwierigkeiten sind, ungeachtet der Frage, wer ich nun bin?« Buck amüsierte sich über Rayfords Schlagfertigkeit ange15
sichts der Situation, in der sie sich befanden. »Sir, ich muss wissen, ob Sie Rayford Steele sind.« »Das bin ich.« »Können Sie das beweisen, Sir?« Noch nie hatte Buck Rayford so aufgebracht erlebt. »Erst winken Sie mich aus dem Verkehrsstrom, dann sagen Sie mir, ich würde Rayford Steeles Leihwagen fahren, und nun soll ich Ihnen auch noch beweisen, dass ich der bin, für den Sie mich halten?« »Sir, Sie müssen meine Situation verstehen. Ich habe den Führer der Weltgemeinschaft, Carpathia höchstpersönlich, in der Leitung des Handys. Ich weiß nicht einmal, von wo aus er anruft. Wenn ich jemandem dieses Telefon in die Hand gebe und dem Potentaten sage, es sei Rayford Steele, dann ist es besser auch Rayford Steele.« Buck war froh, dass Rayfords Katz-und-Maus-Spiel die Aufmerksamkeit von den anderen im Wagen abgelenkt hatte, doch die Freude war nicht von langer Dauer. Rayford holte seine Brieftasche aus der Jacke und reichte dem Offizier seinen Ausweis. Dieser sah ihn sich sehr genau an und fragte dann interessiert: »Und die anderen?« »Familie und Freunde«, erwiderte Rayford. »Wir wollen den Potentaten nicht warten lassen.« »Ich muss Sie bitten, diesen Anruf außerhalb des Wagens entgegenzunehmen, Sir. Sie verstehen sicher das Sicherheitsrisiko.« Rayford seufzte und stieg aus. Buck wünschte, der Offizier mit dem Funksprechgerät würde ebenfalls verschwinden, doch dieser machte nur Rayford Platz und verwies ihn mit einer Handbewegung an seinen Partner, der das Handy hielt. Dann beugte er sich in den Wagen und sprach Buck an. »Für den Fall, dass wir Captain Steele zu einem Treffpunkt bringen müssen, Sir, wären Sie in der Lage, sich des Wagens anzunehmen?« 16
Sprechen alle uniformierten Menschen so?, fragte sich Buck. »Sicher.« Amanda beugte sich vor. »Ich bin Mrs. Steele«, sagte sie. »Ich werde Mr. Steele begleiten, wo immer er hingeht.« »Das wird der Potentat entscheiden«, erwiderte der Soldat, »vorausgesetzt, es ist noch Platz im Hubschrauber.« »Jawohl, Sir«, sagte Rayford ins Telefon, »wir sehen uns dann.« Rayford reichte dem zweiten Soldaten das Handy. »Wie werden wir zum Treffpunkt kommen, wo immer der sein mag?« »Ein Hubschrauber wird jeden Augenblick eintreffen.« Rayford bedeutete Amanda, mit der Fernbedienung den Kofferraum zu öffnen, aber noch im Wagen sitzen zu bleiben. Als er das Gepäck herausgeholt hatte, beugte er sich zu ihrem Fenster hinunter und flüsterte: »Amanda und ich müssen uns mit Carpathia treffen, aber er hat noch nicht einmal mir gesagt, wo er war und wo wir hingebracht werden. So sicher ist das Telefon dann doch nicht. Ich habe das Gefühl, dass der Treffpunkt nicht weit von hier entfernt ist. Es kann natürlich auch sein, sie schaffen uns mit dem Hubschrauber zu einem Flughafen, von wo aus wir dann weiterfliegen. Buck, du solltest diesen Wagen so schnell wie möglich zurückbringen. Sonst wirst du vielleicht noch mit mir in Verbindung gebracht.« Fünf Minuten später befanden sich Rayford und Amanda bereits in der Luft. »Haben Sie eine Ahnung, wohin wir fliegen?«, fragte Rayford einen seiner Begleiter. Der Soldat klopfte dem Hubschrauberpilot auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen, und rief: »Dürfen wir sagen, wohin wir fliegen?« »Nach Glenview!«, rief der Pilot zurück. »Aber der Militärflughafen in Glenview ist doch schon seit Jahren geschlossen«, erwiderte Rayford. Der Hubschrauberpilot drehte sich um und sah ihn an. »Die 17
große Landebahn ist noch offen! Unser Mann wartet schon auf uns!« Amanda beugte sich zu Rayford hinüber. »Carpathia ist in Illinois?« »Wahrscheinlich hat er Washington bereits vor dem Angriff verlassen. Ich dachte, man hätte ihn vielleicht in einen der bombensicheren Luftschutzbunker im Pentagon oder des nationalen Sicherheitsrates gebracht, aber sein Geheimdienst muss vermutet haben, dass diese Gebäude als erste angegriffen werden würden.« »Das erinnert mich an die erste Zeit unserer Ehe«, sagte Buck, als Chloe sich an ihn kuschelte. »Was meinst du mit ›die erste Zeit unserer Ehe‹? So lange sind wir doch noch gar nicht verheiratet!« »Schsch!«, sagte Buck schnell. »Was wird da über New York City gesagt?« Chloe stellte das Radio lauter. »… überall hier im Herzen von Manhattan schreckliche Zerstörung. Ausgebombte Gebäude, Rettungsfahrzeuge, die sich ihren Weg durch die Trümmer bahnen, Hilfskräfte der Bürgerwehr, die die Leute über Lautsprecher auffordern, ihre Häuser nicht zu verlassen.« Buck hörte die Panik in der Stimme des Reporters, als dieser fortfuhr: »Ich selbst befinde mich im Augenblick auf der Suche nach Schutz, aber vermutlich ist es bereits zu spät, dem radioaktiven Niederschlag zu entkommen. Niemand weiß, ob es sich um nukleare Sprengköpfe handelte oder nicht, aber alle Bewohner werden dringend gebeten, kein Risiko einzugehen. Der entstandene Sachschaden geht in die Milliarden. Das Leben hier wird nie mehr dasselbe sein. So weit das Auge reicht, gibt es hier überall nur noch Zerstörung und Chaos. Alle wichtigen Verkehrszentren sind, soweit sie nicht zerstört wurden, geschlossen worden. Riesige Verkehrsstaus haben sich im Lincoln-Tunnel und auf allen wichtigen Ausfallstraßen New 18
York Citys gebildet. Die ehemalige Hauptstadt der Welt sieht aus wie eine Szene aus einem Katastrophenfilm. Und nun zurück zu ›Cable News/Global Community News Network‹ in Atlanta.« »Buck«, rief Chloe, »unser Zuhause. Wo sollen wir jetzt wohnen?« Buck antwortete nicht. Er starrte auf den Verkehr und wunderte sich über die dichten Rauchwolken über Mount Prospect. Es sah Chloe ähnlich, sich Gedanken über ihre Wohnung zu machen. Buck war dies weniger wichtig. Er konnte überall leben und er hatte ja auch schon überall gelebt. Solange er Chloe und einen Unterschlupf hatte, war alles in Ordnung. Aber ihr war ihre exklusive Wohnung in der Fifth Avenue sehr wichtig. »Vermutlich wird tagelang niemand nach New York hineingelassen, vielleicht sogar noch länger nicht. Wahrscheinlich werden wir nicht einmal unsere Fahrzeuge benutzen dürfen, falls sie denn überhaupt noch fahrtüchtig sind.« »Was sollen wir denn jetzt machen, Buck?« Buck wünschte, er wüsste, was er darauf antworten sollte. Normalerweise hatte er immer eine Antwort parat. Seine Cleverness hatte entscheidend dazu beigetragen, dass er beruflich so weit gekommen war. Egal, welches Hindernis sich ihm auch in den Weg gestellt hatte, irgendwie war es ihm gelungen, jede Situation zu meistern. Doch nun, wo er seine junge Frau an seiner Seite hatte und nicht wüsste, wo sie leben oder wie sie durchkommen sollten, war er ratlos. Wie gerne hätte er gewusst, ob sein Schwiegervater und Amanda in Sicherheit waren. Er hatte keinen größeren Wunsch, als nach Mount Prospect zu kommen, um zu sehen, was dort vorging, und die Mitglieder der New Hope Village Church über die Tragödie zu informieren, der ihr geliebter Pastor zum Opfer gefallen war. Buck hatte Verkehrsstaus schon immer gehasst, aber das hier war einfach lächerlich. Seine Muskeln spannten sich und seine Hände umklammerten das Lenkrad. Der Wagen war nicht 19
gerade brandneu, aber er ließ sich gut fahren. Als er sich in dem Verkehrsgewimmel zentimeterweise vorwärtsschob, wirkte der leistungsstarke Motor unter der Motorhaube wie ein Hengst, der sich nur schwer bändigen ließ. Plötzlich wurde ihr Wagen durch eine heftige Explosion beinahe durch die Luft geschleudert. Buck hätte sich nicht gewundert, wenn die Fenster des Wagens zersplittert wären. Chloe schrie auf und barg ihren Kopf an Bucks Brust. Buck suchte die Umgebung nach der Ursache der Explosion ab. Mehrere Wagen in ihrer Nähe fuhren schnell an die Seite. Im Rückspiegel entdeckte Buck eine muschelförmige Wolke, die langsam aufstieg. Er vermutete die Ursache der Explosion in der Nähe des Flughafens O’Hare, mehrere Meilen entfernt. CNN/GCN berichtete fast unmittelbar von der Explosion. »Und nun noch folgende Meldung aus Chicago: Unsere dortige Nachrichtenstation ist durch eine gewaltige Explosion zerstört worden. Bisher ist noch nicht bekannt, ob es ein Angriff der Militärstreitkräfte oder ein Vergeltungsschlag der Weltgemeinschaft war. Wir bekommen so viele Berichte von kriegerischen Auseinandersetzungen, Blutvergießen, Zerstörung und Tod in so vielen Hauptstädten auf der ganzen Welt, dass es unmöglich sein wird, Sie über alles auf dem Laufenden zu halten …« Buck blickte sich schnell um. Sobald der Wagen vor ihm ein wenig weitergefahren war, riss er das Lenkrad herum und drückte das Gaspedal durch. Chloe hielt die Luft an, als der Wagen einen Satz machte und über die Straße schoss. Auf dem Seitenstreifen fuhr er an den sich langsam vorwärtsbewegenden Wagen vorbei. »Was tust du da, Buck?«, rief Chloe und klammerte sich an das Armaturenbrett. »Ich weiß nicht, was ich tue, Liebling, aber eins weiß ich ganz genau: Ich werde nicht hier in dem Verkehrschaos versauern, während die Welt untergeht!«
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Der Soldat, der Rayford von der Straße gewunken hatte, holte nun das Gepäck der Steeles aus dem Hubschrauber. Er führte die beiden über ein kurzes Rollfeld zu einem einstöckigen Gebäude am Ende einer langen Rollbahn. In den Rissen der Landebahn wucherte das Unkraut. Ganz in der Nähe des Hubschraubers stand ein kleiner Learjet, aber im Cockpit konnte Rayford niemanden erkennen. Auch schien der Motor abgestellt zu sein. »Ich hoffe, niemand erwartet von mir, dieses Ding da zu fliegen!«, rief er Amanda zu, während sie das Haus betraten. »Keine Sorge«, erwiderte ihre Begleitung. »Der Pilot, der es hergeflogen hat, wird Sie so schnell wie möglich nach Dallas bringen zu dem großen Flugzeug, das Sie dort übernehmen werden.« Rayford und Amanda wurden in ein kleines, schäbig eingerichtetes Büro gebracht, in dem grellbunte Plastikstühle standen. Rayford setzte sich und massierte seine Knie. Amanda ging ruhelos umher und blieb erst stehen, als ihre Begleitung sie aufforderte, sich hinzusetzen. »Darf ich auch stehen bleiben?«, fragte sie ungehalten. »Wie Sie möchten. Bitte warten Sie hier einen Moment auf den Potentaten.« Die Verkehrspolizisten fuchtelten wild mit den Armen und schrien, die anderen Autofahrer hupten und machten wütende Handbewegungen. Doch Buck ließ sich davon nicht abschrekken. »Was hast du vor?«, fragte Chloe erneut. »Ich brauche einen neuen Wagen«, antwortete er. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass das unsere einzige Überlebenschance ist.« »Wovon sprichst du überhaupt?« »Verstehst du denn nicht, Chloe?«, erklärte er. »Dieser Krieg ist gerade erst ausgebrochen. Und er wird bestimmt noch eine ganze Weile andauern. Es wird unmöglich sein, sich in einem normalen Fahrzeug fortzubewegen.« 21
»Und was willst du machen? Vielleicht einen Panzer kaufen!?« »Wenn es nicht so auffallend wäre, würde ich das vielleicht tun.« Buck überquerte eine große Wiese, kam an einen Parkplatz und fuhr zwischen Tennisplätzen hindurch und über das Fußballfeld einer High School. Der Wagen schlingerte, Staub und Gras wurden aufgewirbelt. Ununterbrochen wurden im Radio Nachrichten von Todesopfern und Chaos weitergegeben. Buck hoffte nur, dass er in die richtige Richtung fuhr. Er wollte zum Northwest Highway, wo sich in einem Gewerbegebiet eine Reihe von Autohändlern niedergelassen hatten. Eine letzte Kurve und er entdeckte vor sich, was sein Lieblings-Verkehrsreporter gewöhnlich als »verdammt dichter, stockender Verkehr auf dem Northwest Highway« bezeichnete. Er war nicht in bester Stimmung, darum machte er erst gar nicht den Versuch, sich in den Verkehr einzufädeln. Mehr als eine Meile weit fuhr er auf dem weichen, grasbewachsenen Seitenstreifen an wütenden Autofahrern vorbei, bis er endlich zu dem Gewerbegebiet gelangte. »Bingo!«, sagte er. Rayford wunderte sich über Nicolai Carpathias Verhalten und fühlte, dass es Amanda genauso ging. Der erstaunliche junge Mann, der mittlerweile schon Mitte dreißig war, war anscheinend gegen seinen eigenen Willen über Nacht zum Weltherrscher gemacht worden. Als unbekannter Parlamentsabgeordneter Rumäniens war er zum Präsidenten dieses Landes gewählt worden. Kurze Zeit später hatte er den Platz des Generalsekretärs der Vereinten Nationen eingenommen. Nach fast zwei Jahren des Friedens und einer überwiegend erfolgreichen Kampagne, mit der Carpathia nach dem großen Massenverschwinden die verängstigten Menschen für sich zu gewinnen suchte, wurde ihm nun zum ersten Mal ernst zu nehmender 22
Widerstand entgegengebracht. Rayford wusste nicht, welche Reaktion er von seinem Chef zu erwarten hatte. Würde er verletzt, beleidigt, wütend sein? Nichts von alledem schien zutreffend. Als er gemeinsam mit Leon Fortunato das Büro auf der ehemaligen Militärbasis in Glenview betrat, schien Carpathia erregt, ja sogar beinahe in Hochstimmung zu sein. »Captain Steele!«, rief Carpathia erfreut. »Al-, äh, An-, äh, Mrs. Steele, wie schön, Sie beide wohlbehalten hier zu sehen!« »Ich heiße Amanda«, korrigierte Amanda ihn spitz. »Verzeihen Sie, Amanda«, entschuldigte sich Carpathia und nahm ihre Hände in seine. Rayford bemerkte, wie reserviert seine Frau reagierte. »In der ganzen Aufregung, Sie verstehen …« Aufregung, dachte Rayford. Der Dritte Weltkrieg ist doch sicher mehr als nur »Aufregung«. Carpathias Augen funkelten und er rieb sich die Hände, als wäre er von den Vorgängen begeistert. »Also Leute«, sagte er, »wir müssen uns auf den Heimweg machen.« Rayford wusste, dass Carpathia mit »Heim« Neu-Babylon meinte, heim zu Hattie Durham, heim zur Suite 216 und zu seinen luxuriös ausgestatteten Büros in dem extravaganten Sitz der Weltgemeinschaft. Obwohl Rayford und Amanda eine geräumige zweistöckige Wohnung in dem aus vier Gebäuden bestehenden Komplex bewohnten, hatten sie Neu-Babylon niemals als ihr Zuhause betrachtet. Sich noch immer die Hände reibend, so als könnte er es kaum erwarten, aktiv zu werden, wandte sich Carpathia an den Offizier mit dem Funksprechgerät. »Wie ist der Stand der Dinge?« Der uniformierte Offizier schien erstaunt, dass Carpathia ihn direkt ansprach. Er riss sich den Kopfhörer aus dem Ohr und stammelte: »Wie bitte? Ich meine, Verzeihung, Mr. Potentat.« Carpathia blickte dem Mann in die Augen. »Wie ist der Stand der Dinge? Was geht vor?« 23
»Ah, nichts Besonderes, Sir. Viel Aktivität und Zerstörung in den großen Städten.« Rayford hatte den Eindruck, als würde sich Carpathia dazu zwingen müssen, einen betrübten Gesichtsausdruck zu Stande zu bringen. »Aktivitäten vor allem im Mittelwesten und an der Ostküste?«, fragte der Potentat. Der Soldat nickte. »Und auch im Süden«, fügte er an. »Also nichts an der Westküste«, sagte Carpathia. Es war eher eine Feststellung als eine Frage. Der Soldat nickte. Rayford fragte sich, ob außer ihm und Amanda, die Carpathia für den Antichristen hielten, sonst noch jemand in Carpathias Gesichtsausdruck die Befriedigung, ja fast die Freude, bemerken konnte. »Was ist mit dem Flughafen Dallas/Fort Worth?« »Fort Worth hat ein wenig gelitten«, informierte ihn der Soldat. »Nur noch eine Landebahn ist offen. Landungen gibt es wenige, dafür aber umso mehr Starts.« Carpathia blickte Rayford an. »Und was ist mit dem Militärflughafen hier in der Nähe, wo mein Pilot seine Zulassungsprüfung für die 757 abgelegt hat?« »Ich glaube, er ist noch in Betrieb«, sagte der Soldat. »In Ordnung, sehr gut«, erwiderte Carpathia. Er wandte sich an Fortunato. »Ich bin sicher, dass niemand unseren Aufenthaltsort kennt, aber falls doch, was haben Sie für mich?« Fortunato öffnete seine Baumwolltasche, die Rayfords Meinung nach bei ihm vollkommen fehl am Platze wirkte. Offensichtlich hatte er als Verkleidung für Carpathia übrig gebliebene Kleidungsstücke der Air Force zusammengesucht. Aus der Tasche holte er eine Mütze und einen weiten Mantel hervor, die überhaupt nicht zueinander zu passen schienen. Carpathia nahm die Sachen entgegen und bedeutete den anderen vier im Raum, sich um ihn zu sammeln. »Wo ist der Jetpilot?«, fragte er. »Er wartet draußen vor der Tür auf Ihre Anweisungen, Sir«, antwortete Fortunato. 24
Carpathia deutete auf den bewaffneten Soldaten. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Sie können nun mit dem Hubschrauber auf Ihren Posten zurückkehren. Mr. Fortunato, die Steeles und ich werden zu einem neuen Flugzeug geflogen werden, mit dem Captain Steele mich nach Neu-Babylon zurückbringen wird.« Rayford meldete sich zu Wort. »Und das steht in –?« Carpathia hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wir wollen unserem jungen Freund hier doch keine Informationen geben, die er für sich behalten müsste«, sagte er und lächelte den Soldaten an. »Sie können gehen.« Während der Mann sich eilig entfernte, sprach Carpathia leise mit Rayford. »Die Condor 216 wartet in der Nähe von Dallas auf uns. Wir werden dann erst nach Westen fliegen, um in den Osten zu kommen, falls Sie verstehen, was ich meine.« »Ich habe noch nie von einer Condor 216 gehört«, sagte Rayford. »Vermutlich habe ich gar keine Qualifikation, um –« »Man hat mir versichert«, unterbrach ihn Carpathia, »dass Sie mehr als qualifiziert sind.« »Aber was ist denn eine Condor 2-« »Eine Maschine, die ich selbst entworfen und benannt habe«, erklärte Carpathia. »Sicher sind Sie nicht der Meinung, dass das, was heute hier passiert ist, für mich eine Überraschung ist?« »Ich lerne«, sagte Rayford und warf Amanda, die vor Wut zu kochen schien, vorsichtig einen Blick zu. »Ja, Sie lernen dazu«, wiederholte Carpathia und lächelte breit. »Das gefällt mir. Kommen Sie, ich möchte Ihnen unterwegs alles über mein spektakuläres neues Flugzeug erzählen.« Fortunato hob warnend den Zeigefinger. »Sir, ich empfehle, dass Sie und ich nun zusammen zur Startbahn laufen und den Jet besteigen. Die Steeles sollten uns folgen, wenn sie sehen, dass wir an Bord gehen.« Carpathia schob sich die große Mütze in die Stirn und stellte sich hinter Fortunato, der die Tür öffnete und dem wartenden 25
Jet-Piloten zunickte. Der Mann setzte sich sofort in Bewegung und rannte zu dem Learjet. Fortunato und Carpathia folgten wenige Meter hinter ihm. Rayford legte einen Arm um Amandas Taille und zog sie an sich. »Rayford«, sagte Amanda, »hast du auch nur einmal gehört, dass Carpathia sich versprochen hätte?« »Was meinst du?« »Dass er gestottert, gestammelt hat, ein Wort wiederholen musste oder einen Namen vergessen hat?« Rayford unterdrückte ein Lächeln. Er wunderte sich, dass er sich an einem Tag, der sehr gut der letzte seines Leben sein konnte, noch über etwas amüsieren konnte. »Abgesehen von deinem Namen, meinst du?« »Er tut das absichtlich und du weißt es«, entgegnete sie. Rayford zuckte die Achseln. »Vermutlich hast du Recht. Aber aus welchem Grund?« »Ich habe keine Ahnung«, entgegnete sie. »Liebling, findest du es nicht seltsam, dass du dich von einem Mann beleidigt fühlst, den wir für den Antichristen halten?« Amanda starrte ihn an. »Ich meine«, fuhr er fort, »überleg doch mal. Du erwartest Höflichkeit und gutes Benehmen von dem bösartigsten Mann der Weltgeschichte?« Amanda schüttelte den Kopf und wandte den Blick ab. »Wenn du es so ausdrückst«, murmelte sie, »bin ich vermutlich ein wenig überempfindlich.« Buck saß im Büro des Verkaufsleiters einer LandroverNiederlassung. »Du erstaunst mich immer wieder«, flüsterte Chloe. »Ich bin noch nie so gewesen wie alle anderen, nicht wahr?« »Wohl kaum, und jetzt ist vermutlich alle Hoffnung auf Normalität geschwunden, nicht?« »Ich muss mich aber doch wohl nicht dafür entschuldigen, dass ich so unkonventionell bin«, sagte er, »schon bald werden 26
alle Menschen überall sehr impulsiv handeln.« Der Verkaufsleiter, der sich mit einigen Papieren beschäftigt hatte, um den Preis zu errechnen, reichte die Papiere nun an Buck weiter. »Sie wollen den Lincoln also nicht in Zahlung geben?« »Nein, der ist nur gemietet«, erwiderte Buck. »Aber ich möchte Sie bitten, ihn für mich zum Flughafen zurückzubringen.« Buck sah den Mann an und ignorierte die Papiere. »Das ist höchst ungewöhnlich«, sagte der Verkaufsleiter. »Ich werde zwei meiner Leute und einen zusätzlichen Wagen losschicken müssen, damit sie auch wieder zurückkommen können.« Buck erhob sich. »Vermutlich erwarte ich zu viel. Ein anderer Händler wird sicherlich gern bereit sein, die kleine Fahrt auf sich zu nehmen, um mir einen Wagen zu verkaufen, vor allem in einer Zeit, in der niemand weiß, was der morgige Tag bringen wird.« »Setzen Sie sich wieder, Mr. Williams. Mein Vorgesetzter wird sicherlich nichts dagegen haben, dass wir Ihnen diesen kleinen Gefallen tun. Wie Sie sehen können, werden Sie innerhalb einer Stunde mit Ihrem vollgetankten Range Rover von hier aufbrechen können.« »Machen wir eine halbe Stunde daraus«, sagte Buck, »und das Geschäft ist perfekt.« Der Verkaufsleiter erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. »Abgemacht.«
2 Der Learjet bot Platz für sechs Personen. Carpathia und Fortunato waren ins Gespräch vertieft und ignorierten Rayford und Amanda, als diese an ihnen vorbeigingen. Die Steeles ließen sich auf die letzten beiden Sitze sinken und hielten sich an den 27
Händen. Rayford wusste, dass diese Situation für Amanda vollkommen neu war. Auch für ihn war sie neu. Das war sie eigentlich für jeden Menschen auf der Welt. Amanda drückte seine Hand so fest, dass seine Finger weiß wurden. Sie zitterte. Carpathia drehte sich zu ihnen um. Wieder lag dieser Ausdruck unterdrückten Amüsements auf seinem Gesicht, den Rayford angesichts der Situation so vollkommen deplatziert fand. »Ich weiß, Sie dürfen diese kleinen Dinger nicht fliegen«, sagte Carpathia, »aber vielleicht können Sie auf dem Sitz des Copiloten einiges lernen.« Rayford machte sich viel mehr Gedanken um die Maschine, die er in Dallas übernehmen sollte – ein Flugzeug, von dem er noch nicht einmal gehört hatte. Er blickte Amanda an und hoffte, sie würde ihn bitten, bei ihr zu bleiben, doch sie ließ schnell seine Hand los und nickte. Rayford ging zum Cockpit, das durch eine dünne Wand vom Passagierraum abgetrennt war. Er setzte sich auf den Platz des Copiloten und sah den Piloten entschuldigend an. Dieser streckte ihm die Hand hin und stellte sich vor: »Chico Hernandez, Captain Steele. Keine Angst, ich bin die Checkliste bereits durchgegangen. Ich brauche wirklich keine Hilfe.« »Ich wäre Ihnen sowieso keine Hilfe«, entgegnete Rayford. »Seit Jahren habe ich keine Maschinen mehr geflogen, die kleiner waren als die 707.« »Im Vergleich zu dem, was Sie sonst fliegen«, sagte Hernandez, »wird Ihnen diese Maschine eher wie ein Motorroller vorkommen.« Und genauso war es. Der Learjet heulte auf, als Hernandez vorsichtig auf die Rollbahn rollte. Innerhalb von wenigen Sekunden schienen sie die Höchstgeschwindigkeit erreicht zu haben und hoben ab. Hernandez flog eine Rechtskurve und nahm Kurs auf Dallas. »Mit welchem Tower stehen Sie in Verbindung?«, fragte Rayford. »Der Tower in Glenview ist nicht besetzt«, erklärte Hernandez. 28
»Das habe ich bemerkt.« »Ich werde die Kontrollzentren einiger anderer Flughäfen davon in Kenntnis setzen, dass wir unterwegs sind. Die Wetterleute haben uns versichert, wir hätten mit keinen Schwierigkeiten zu rechnen und die Agenten der Weltgemeinschaft melden keine feindlichen Flugzeuge auf unserer Route.« Feindliche Flugzeuge, dachte Rayford. Eine interessante Umschreibung für die amerikanischen Streitkräfte. Er erinnerte sich, die Militärs nie besonders gemocht zu haben. Er verstand sie einfach nicht, hielt sie für Kriminelle. Doch das war zu einer Zeit gewesen, als die amerikanische Regierung ebenfalls nicht auf besonders gutem Fuß mit den Militärs gestanden hatte. Jetzt hatten sie sich mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, diesem Versager, zusammengetan und ihr Feind war ebenfalls Rayfords Feind – er war zwar sein Chef, doch trotzdem auch sein Feind. Rayford hatte keine Ahnung, woher Hernandez kam, welchen Hintergrund er hatte und ob er Carpathia loyal gegenüberstand oder wie Rayford nur widerstrebend in den Dienst gezwungen worden war. Rayford setzte die Kopfhörer auf und suchte den Kanal, über den er mit dem Piloten kommunizieren konnte, ohne dass ihn jemand hören konnte. »Hier spricht Ihr neuer Erster Offizier«, sagte er leise. »Verstehen Sie mich?« »Laut und deutlich, ›Copilot‹«, erwiderte Hernandez. Und als könne er Rayfords Gedanken lesen, fügte er hinzu: »Dieser Kanal ist sicher.« Rayford verstand das so, dass niemand, innerhalb oder außerhalb des Flugzeugs, ihre Unterhaltung mitanhören konnte. Das war logisch. Aber warum hatte Hernandez das gesagt? Hatte er gespürt, dass Rayford sprechen wollte? Und musste er in einem Gespräch mit einem Fremden nicht sehr vorsichtig sein? Die Tatsache, dass sie Kollegen waren, bedeutete doch noch lange nicht, dass er diesem Mann vertrauen konnte. »Ich frage mich, was wohl aus der ›Global Community One‹ ge29
worden ist«, sagte Rayford. »Sie haben noch nichts davon gehört?«, fragte Hernandez. »Negativ.« Hernandez warf einen Blick nach hinten auf Carpathia und Fortunato. Rayford beschloss, sich nicht umzudrehen, um keinen Verdacht zu erregen. Offensichtlich waren Carpathia und Fortunato wieder ins Gespräch vertieft, weil Hernandez Rayford erzählte, was er über sein ehemaliges Flugzeug wusste. »Ich nehme an, der Potentat hätte es Ihnen selbst gesagt, wenn er die Zeit dazu gefunden hätte«, sagte Hernandez. »Aus New York kommen keine guten Nachrichten.« »Das habe ich gehört«, erwiderte Rayford. »Aber ich wusste nicht, wie groß der Schaden an den großen Flughäfen war.« »Nahezu vollkommene Zerstörung, soweit ich weiß. Der Hangar, in dem sie stand, ist in die Luft geflogen, so viel ist sicher.« »Und der Pilot?« »Earl Halliday? Er war schon längst weg, als der Angriff erfolgte.« »Dann ist er in Sicherheit?«, fragte Rayford. »Da freue ich mich aber. Kennen Sie ihn?« »Nicht persönlich«, erwiderte Hernandez. »Aber in den vergangenen Wochen habe ich einiges über ihn erfahren.« »Von Carpathia?« »Nein. Von der nordamerikanischen Delegation der Weltgemeinschaft.« Rayford war verwirrt, aber er wollte sich das nicht anmerken lassen. Warum sollte die nordamerikanische Delegation über Earl Halliday sprechen? Carpathia hatte Rayford gebeten, jemanden zu suchen, der die Global Community One nach New York flog, während Rayford und Amanda einen kurzen Urlaub in Chicago machten. Carpathia wollte die Presse und die Aufständischen (Präsident Fitzhugh und mehrere militante ameri30
kanische Gruppen) einige Tage lang in die Irre führen, indem er seine in der Öffentlichkeit bekannt gegebene Reiseroute änderte und sich von einem Ort zum anderen fliegen ließ. Als das Militär angriff und die Weltgemeinschaft zurückschlug, hatte Rayford angenommen, dass zumindest der Zeitpunkt eine Überraschung gewesen sei. Auch war er davon ausgegangen, dass es Carpathia nicht interessieren würde, wen er, Rayford, als Ersatzpilot wählen würde. Doch offensichtlich hatten Carpathia und die nordamerikanische Delegation genau gewusst, dass seine Wahl auf Earl Halliday, seinen alten Freund und Vorgesetzten, fallen würde. Was sollte das? Und wie kam es, dass Halliday New York rechtzeitig verlassen hatte? »Wo hält sich Halliday jetzt auf?« »Sie werden ihn in Dallas sehen.« Rayford blinzelte und versuchte, seine Verwirrung in Griff zu bekommen. »Tatsächlich?« »Na, was glauben Sie, wer Sie in das Flugzeug einweisen wird?« Als Carpathia Rayford gesagt hatte, er würde einiges lernen, wenn er sich auf den Sitz des Copiloten setzen würde, hatte Rayford keine Ahnung gehabt, dass er – abgesehen von einigen Lektionen zu diesem schnellen kleinen Flugzeug – auch noch andere interessante Einzelheiten erfahren würde. »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, meinte er. »Earl Halliday wusste von diesem neuen Flugzeug und kann mich sogar darauf einweisen?« Hernandez lächelte, während er den Learjet steuerte. »Earl Halliday hat die Condor 216 praktisch selbst gebaut. Er arbeitete an dem Entwurf mit. Er sorgte dafür, dass jeder, der die Zulassung für eine 757 hat, dieses Flugzeug fliegen kann, wenn es auch sehr viel größer und komplizierter als die ›Global Community One‹ ist.« Ein seltsames Gefühl machte sich in Rayford breit. Er hasste Carpathia und wusste genau, wer dieser Mann war. Aber so 31
sehr seine Frau daran Anstoß nahm, dass Carpathia ihren Namen immer wieder vergaß, so sehr fühlte sich Rayford plötzlich hintergangen. »Ich frage mich, warum ich nicht über das neue Flugzeug informiert wurde, wo ich es doch fliegen soll«, sagte er. »Ich weiß es nicht genau«, erwiderte Hernandez, »aber Sie wissen doch, dass der Potentat dazu neigt, sehr vorsichtig und berechnend zu sein.« Und ob ich das weiß, dachte Rayford. Unberechenbar und hinterlistig wäre zutreffender. »Offensichtlich vertraut er mir nicht.« »Ich bin nicht sicher, ob er überhaupt jemandem vertraut«, entgegnete Hernandez. »Wenn ich an seiner Stelle wäre, würde ich es auch nicht. Und Sie?« »Was?« »Würden Sie jemandem vertrauen, wenn Sie Carpathia wären?«, fragte Hernandez. Rayford antwortete nicht. »Hast du nicht das Gefühl, als hättest du gerade das Geld des Teufels ausgegeben?«, fragte Chloe Buck, als er sich mit dem wunderschönen neuen erdfarbenen Range Rover in den Verkehr einfädelte. »Ich weiß selbst, dass ich das getan habe«, erwiderte Buck grinsend. »Und der Antichrist hat sein Geld nie besser für die Sache Gottes investiert.« »Du betrachtest die Ausgabe von mehr als einhunderttausend Dollar für ein solches Spielzeug als eine Investition für unsere Sache?« »Chloe«, meinte Buck vorsichtig, »sieh dir dieses Fahrzeug doch nur an. Es ist mit allen Finessen ausgerüstet, die es gibt. Es wird uns überallhin bringen. Es ist unzerstörbar. Es hat eine Telefon- und Funkausstattung, einen Feuerlöscher, eine Überlebensausrüstung, Leuchtsignal, Allradantrieb, unabhängige 32
Radaufhängung, einen CD-Player, elektrische Anschlüsse im Armaturenbrett, über die du alles direkt an die Batterie anschließen kannst.« »Aber Buck, du hast deine Global-Community-Kreditkarte benutzt, als sei es deine eigene. Welches Limit hast du überhaupt?« »Die meisten Karten, die Carpathia ausgibt, haben ein Limit von einer Viertelmillion Dollar«, erklärte Buck. »Aber die Karten der Führungsleute haben einen bestimmten Code. Sie haben kein Limit.« »Buchstäblich kein Limit?« »Hast du nicht den Blick des Verkaufsleiters gesehen, als er die Karte überprüfte?« »Ich habe nur ein Lächeln und einen abgeschlossenen Vertrag gesehen«, gab Chloe zurück. »Na bitte.« »Aber muss ein solcher Kauf denn nicht genehmigt werden?« »Ich bin Carpathia unmittelbar unterstellt. Er will vielleicht wissen, warum ich einen Range Rover gekauft habe. Aber sicherlich werde ich ihm leicht erklären können, dass wir, da wir unser Apartment und unsere Autos verloren haben, mobil sein müssen.« Wieder einmal ging der Verkehr Buck schnell auf die Nerven, und er verlor die Geduld. Aber als er dieses Mal die Straße verließ und durch Gräben, über Wiesen, Parkplätze, kleine Sträßchen und Höfe fuhr, spürte man die Erschütterungen im Wageninneren kaum. Dieses Fahrzeug war geradezu ideal für Geländefahrten. »Sieh nur, was dieses Baby sonst noch kann«, sagte Buck. »Du kannst zwischen automatischer und Handschaltung wählen.« Chloe beugte sich vor und betrachtete die Pedale. »Was macht man mit der Kupplung, wenn auf Automatik umgeschaltet ist?« 33
»Man ignoriert sie einfach«, erklärte Buck. »Hast du schon einmal einen Wagen mit Kupplung gefahren?« »Eine meiner Freundinnen besaß einen ausländischen Sportwagen, der kein Automatikgetriebe hatte«, sagte sie. »Es hat mir gefallen.« »Möchtest du fahren?« »Nicht um alles in der Welt. Wir wollen sehen, dass wir zum Gemeindehaus kommen.« »Muss ich sonst noch etwas wissen, was in Dallas auf uns wartet?«, fragte Rayford Hernandez. »Sie werden eine ganze Reihe von VIPs in den Irak fliegen«, erklärte Hernandez. »Aber das ist ja nichts Neues für Sie, oder?« »Nein. Ich fürchte, das hat mittlerweile seinen Reiz verloren.« »Na ja, ich beneide Sie auf jeden Fall.« Rayford war sprachlos vor Erstaunen. Da war er nun, ein, wie Bruce Barnes es nannte, ›Heiliger der Trübsalszeit‹, ein Mensch, der während der schrecklichsten Zeit der Menschheitsgeschichte an Christus glaubte und gegen seinen Willen für den Antichristen arbeitete und dabei das Leben seiner Frau, seiner Tochter, seines Schwiegersohnes und sicherlich auch sein eigenes riskierte. Und doch wurde er beneidet. »Beneiden Sie mich nicht, Captain Hernandez. Was immer Sie tun, beneiden Sie mich nicht.« Als Buck sich dem Gemeindehaus näherte, bemerkte er, dass sich viele Leute auf den Straßen aufhielten. Sie blickten zum Himmel und lauschten auf das, was über die Radios durchgegeben wurde. Buck war erstaunt, nur einen einzigen Wagen auf dem Parkplatz der Gemeinde stehen zu sehen. Er gehörte Loretta, der Assistentin von Bruce. »Auf das, was jetzt kommt, freue ich mich überhaupt nicht«, 34
sagte Chloe. »Ich auch nicht«, fügte ihr Buck bei. Die nun beinahe siebzigjährige Frau saß in ihrem Büro und starrte wie gebannt auf das Fernsehgerät. Zwei zusammengeknüllte Taschentücher lagen auf ihrem Schoß, ein drittes drehte sie in ihren knochigen Fingern. Die Lesebrille saß ihr tief auf der Nase, damit sie darüber hinweg die Berichterstattung im Fernsehen verfolgen konnte. Sie blickte nicht auf, als Buck und Chloe den Raum betraten, doch wenn sie sich auch nichts anmerken ließ, so hatte sie ihr Kommen sehr wohl bemerkt. Im hinteren Büro lief der Drucker. Früher musste Loretta eine Schönheit gewesen sein. Jetzt saß sie mit rot geweinten Augen und laufender Nase auf ihrem Stuhl und bearbeitete ihr Taschentuch, als würde sie ein Kunstwerk schaffen. Buck konzentrierte sich auf die Sendung und erkannte eine aus einem Hubschrauber aufgenommene Ansicht des ausgebombten Northwest CommunityKrankenhauses. »Die Leute haben angerufen«, sagte Loretta. »Ich weiß nicht, was ich ihnen sagen soll. Er kann das nicht überlebt haben, oder? Pastor Bruce, meine ich. Er kann doch nicht mehr am Leben sein, oder? Habt ihr ihn gesehen?« »Wir haben ihn nicht gesehen«, antwortete Chloe vorsichtig und kniete sich neben die alte Frau. »Aber mein Vater hat ihn gesehen.« Loretta drehte sich blitzschnell um und starrte sie an. »Mr. Steele hat ihn gesehen? Und es geht ihm gut?« Chloe schüttelte den Kopf. »Es tut mir Leid, Madam, aber Bruce ist tot.« Loretta senkte den Kopf. Tränen stürzten aus ihren Augen und tropften auf ihre Brille. Sie sprach mit heiserer Stimme. »Würden Sie das bitte abstellen? Ich habe gebetet, dass ich ihn vielleicht entdecke, aber wenn er unter einem dieser Laken liegt, dann will ich das gar nicht sehen.« Buck stellte das Fernsehgerät ab. Chloe nahm die alte Frau in 35
den Arm. Loretta brach schluchzend zusammen. »Dieser junge Mann war wie ein Sohn für mich, müssen Sie wissen.« »Wir wissen es«, sagte Chloe, die nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. »Auch für uns gehörte er zur Familie.« Loretta entzog sich ihrem Arm und blickte Chloe an. »Aber er war meine einzige Familie. Sie kennen doch meine Geschichte, oder?« »Ja, Madam.« »Sie wissen, dass ich alle verloren habe.« »Ja, Madam.« »Ich meine wirklich alle. Ich habe jeden lebenden Verwandten verloren, den ich hatte. Mehr als einhundert. Ich kam aus einer besonders gläubigen Familie. Ich galt als eine Säule dieser Gemeinde. Ich war überall aktiv, eine richtige Gemeindefrau. Ich habe nur nie ein persönliches Verhältnis zu Jesus gehabt.« Chloe drückte sie an sich und weinte mit ihr. »Dieser junge Mann hat mir alles beigebracht«, fuhr Loretta fort. »In zwei Jahren habe ich von ihm mehr gelernt als in den mehr als sechzig Jahren durch Sonntagsschule und Predigten. Aber dafür mache ich niemand anderen als mich allein verantwortlich. Ich war geistlich gesehen taub und blind. Mein Vater war bereits gestorben, aber meine Mutter, meine sechs Brüder und Schwestern, alle ihre Kinder, die Männer und Frauen ihrer Kinder. Ich habe meine eigenen Kinder und Enkel verloren. Alle. Wenn einer aus dieser Gemeinde eine Liste der Menschen erstellt hätte, die nach ihrem Tod seiner Meinung nach auf jeden Fall in den Himmel kommen würden, hätte ich zusammen mit dem Pastor an erster Stelle gestanden.« Für Buck war das Ganze genauso schmerzlich wie für Chloe und Loretta. Er würde auf seine Weise trauern, wenn die Zeit dafür gekommen war, aber im Augenblick wollte er nicht über diese Tragödie reden. »Woran arbeiten Sie gerade, Madam?«, fragte er. 36
Loretta räusperte sich. »Natürlich an den Sachen von Bruce«, brachte sie mühsam heraus. »Was ist es?« »Sie wissen doch, dass er eine Art Virus oder so etwas mitgebracht hat, als er von seiner großen Reise nach Indonesien zurückkam. Einer der Männer brachte ihn so schnell ins Krankenhaus, dass er seinen Laptop hiergelassen hat. Wie Sie wissen, hat er ja das Ding überallhin mitgenommen.« »Ich weiß«, bestätigte Chloe. »Na ja, sobald er im Krankenhaus angekommen war, rief er mich an. Er bat mich, ihm diesen Laptop zu bringen, falls es mir möglich wäre. Natürlich hätte ich für Bruce alles getan. Ich war gerade auf dem Weg zur Tür, als das Telefon erneut klingelte. Bruce informierte mich darüber, dass sie ihn aus der Ambulanz direkt auf die Intensivstation bringen würden und er eine Zeitlang keine Besucher würde empfangen können. Ich glaube, er hatte eine Vorahnung.« »Eine Vorahnung?«, fragte Buck. »Ich glaube, er wusste, dass er vielleicht sterben würde«, erklärte sie. »Er trug mir auf, mit dem Krankenhaus in Verbindung zu bleiben, um zu hören, wann er Besuch haben könnte. Er mochte mich, aber ich glaube, vor allem wollte er diesen Laptop haben.« »Da bin ich mir gar nicht sicher«, meinte Chloe. »Er liebte Sie wie eine Mutter.« »Das stimmt, ich weiß«, erwiderte Loretta. »Er hat es mir mehr als einmal gesagt. Trotzdem, er hat mich gebeten, alles, was sich auf seinem Computer befindet, auszudrucken, abgesehen von den Programmen natürlich.« »Wie bitte?«, fragte Chloe erstaunt. »Seine Bibelstudien und Predigtvorbereitungen, alle diese Sachen?« »Ich schätze schon«, erwiderte Loretta. »Er sagte mir, ich solle dafür sorgen, dass ich genügend Papier habe. Ich dachte, er meinte fünfhundert Blatt oder so.« 37
»Und es ist schon mehr?« »O ja, sehr viel mehr. Ich musste immer mehr Papier nachlegen, mittlerweile bestimmt schon tausend Blatt. Vor diesen Computern habe ich eine Todesangst, aber Bruce hat mir erklärt, ich solle alle Dateien ausdrucken, die mit seinen Initialen beginnen. Er hat mir gesagt, ich solle nur eingeben ›Print BB*.*‹ und alles, was er wollte, würde gedruckt. Ich hoffe nur, dass ich das Richtige getan habe. Es ist so viel. Vielleicht sollte ich den Drucker jetzt einfach abstellen.« »Und jetzt liegen weitere fünfhundert Blatt im Drucker?«, fragte Chloe. »Nein, Donny hat mir geholfen.« »Der Telefontechniker?«, sagte Buck. »Oh, Donny Moore ist nicht einfach nur ein Telefontechniker«, widersprach Loretta. »Es gibt kaum etwas auf dem Gebiet der Elektronik, das er nicht reparieren oder verbessern kann. Er hat mir gezeigt, wie ich die Reste unseres Endlospapiers auch in dem neuen Laserdrucker verwenden kann. Er hat einfach eine Schachtel herausgezogen und das eine Ende des Papiers in den Drucker gelegt, damit ich nicht immer Papier nachlegen muss.« »Ich wusste gar nicht, dass das geht«, sagte Buck. »Ich auch nicht«, entgegnete Loretta. »Donny weiß vieles, wovon ich keine Ahnung habe. Er sagte, unser Drucker sei ziemlich neu und würde fünfzehn Seiten pro Minute ausspukken.« »Und wie lange druckt er nun schon?«, fragte Chloe. »Seit heute Morgen. Nachdem ich mit Bruce gesprochen hatte, habe ich ihn angestellt. Nach den ersten tausend Blatt hat es eine zehn- oder fünfzehnminütige Pause gegeben, als Donny mir half, diese große Papierschachtel darunterzustellen.« Buck schlüpfte in das Büro von Bruce und beobachtete staunend, wie der hochkomplizierte Drucker eine Seite nach der anderen einzog und bedruckt wieder ausspuckte. Der Stapel 38
war bereits so hoch, dass er umzukippen drohte. Buck rückte ihn gerade und starrte die Papierschachtel an. Die ersten tausend Blatt lagen fein säuberlich aufgestapelt auf dem Schreibtisch. Die alte Papierschachtel enthielt 5000 Blatt. Er schätzte, dass sie bereits zu 80 % geleert war. Da lag sicherlich ein Fehler vor. Konnte Bruce mehr als 5000 Seiten Notizen gemacht haben? Vielleicht hatte Loretta den falschen Befehl eingegeben und alles, einschließlich der Programme, Konkordanzen, Wörterbücher und Ähnlichem, wurde ausgedruckt. Aber hier lag kein Fehler vor. Buck blätterte die auf dem Schreibtisch liegenden Seiten durch. Das waren alles Notizen von Bruce. Jede Seite, die Buck sich ansah, war von Bruce geschrieben worden. Dazu gehörten seine Kommentare zu Bibelstellen, Notizen für Predigten, Gedanken aus seinen persönlichen Andachten und Briefe an Freunde, Verwandte und Kirchenmänner auf der ganzen Welt. Zuerst empfand Buck Schuldgefühle, weil er in Bruces Privatsphäre eindrang. Aber warum hatte Bruce Loretta gebeten, alles auszudrucken? Hatte er Angst, er könnte sterben? Wollte er das für sie zurücklassen? Buck beugte sich über den schnell anwachsenden Berg von Endlospapier. Er sah es flüchtig durch. Und auch hier wieder ausschließlich Notizen von Bruce. Mehr als zwei Jahre lang musste dieser täglich mehrere Seiten geschrieben haben. Als Buck zu Chloe und Loretta zurückkam, meinte Loretta gerade wieder: »Wir können genauso gut hier alles abschließen und die Seiten wegwerfen. Er wird jetzt keine Verwendung mehr für das Zeug haben.« Chloe sank erschöpft auf einen Stuhl. Buck kniete sich neben Loretta. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sprach sehr ernst mit ihr. »Loretta, Sie können noch immer dem Herrn dienen, indem Sie Bruce dienen.« Sie wollte protestieren, doch er fuhr fort: »Er ist tot, ja das stimmt, aber wir können uns freuen, weil er jetzt wieder bei seiner Familie ist, oder nicht?« Loretta presste die Lippen aufeinander und nickte. Buck fuhr 39
fort: »Ich brauche Ihre Hilfe für ein großes Projekt. In diesem Zimmer liegt eine Goldmine. Aus dem, was ich gerade überflogen habe, erkenne ich, dass Bruce noch immer bei uns ist. Sein Wissen, seine Lehre, seine Liebe und sein Mitgefühl, sie sind hier noch spürbar. Das Beste, was wir für diese Herde tun können, die gerade ihren Hirten verloren hat, ist, dass wir diese Seiten vervielfältigen. Ich weiß nicht, ob diese Gemeinde noch einmal einen Pastor oder einen Lehrer bekommen wird, aber in der Zwischenzeit müssen die Leute Zugang haben zu dem, was Bruce geschrieben hat. Vielleicht haben sie gehört, wie er seine Gedanken in einer Predigt verwendet hat, vielleicht haben sie sie in anderer Form bereits kennen gelernt. Aber dies ist ein Schatz, der für alle zugänglich gemacht werden muss.« Chloe ergriff das Wort. »Buck, solltest du nicht versuchen, es zu verlegen oder als Buch herauszugeben?« »Ich werde es mir überlegen, Chloe, aber ich denke, wir sollten es in der Form vervielfältigen, in der es jetzt ist. Das ist Bruce, wie er leibte und lebte, in seinem Studierzimmer, wie er an seine Mitgläubigen schrieb, an Freunde und liebe Menschen, an sich selbst. Ich denke, Loretta sollte diese Seiten zu einem Copyshop bringen und kopieren. Wir brauchen tausend Kopien aller Blätter, beidseitig bedruckt und einfach gebunden.« »Das wird ein Vermögen kosten«, wandte Loretta ein. »Darüber sollten wir uns jetzt keine Gedanken machen«, hielt Buck dagegen. »Ich kann mir keine bessere Investition vorstellen.« Als der Learjet mit dem Landeanflug auf Fort Worth begann, kam Fortunato ins Cockpit und hockte sich zwischen Hernandez und Rayford. Die beiden nahmen den Kopfhörer von dem Ohr, das dem Assistenten Carpathias am nächsten war. »Hat jemand Hunger?«, fragte er. Rayford hatte nicht einmal ans Essen gedacht. Die Welt zer40
störte sich selbst und niemand würde diesen Krieg überleben. Doch als jetzt das Wort »Hunger« fiel, merkte er, dass er tatsächlich ausgehungert war. Amanda würde es sicher nicht anders gehen. Sie aß immer nur wenig und häufig musste er sie daran erinnern, überhaupt etwas zu sich zu nehmen. »Ich könnte jetzt etwas essen«, meinte auch Hernandez. »Eigentlich könnte ich sogar eine ganze Menge vertragen.« »Potentat Carpathia bittet Sie, sich mit Dallas/Fort Worth in Verbindung zu setzen, damit etwas Hübsches für uns vorbereitet werden kann.« Hernandez wirkte plötzlich sehr unsicher. »Was meint er Ihrer Meinung nach mit ›etwas Hübsches‹?« »Ich bin sicher, Sie werden das Richtige vorbereiten lassen, Captain Hernandez.« Fortunato verließ das Cockpit und Hernandez verdrehte die Augen. »DFW-Tower, hier spricht die ›Global Community Three‹, over.« Rayford warf einen Blick zurück. Carpathia hatte sich umgedreht und unterhielt sich angeregt mit Amanda. Chloe hatte gemeinsam mit Loretta ein kurzes Statement verfasst, das per Telefon an die ersten sechs Namen auf der Mitgliederliste weitergegeben wurde. Jeder würde andere Mitglieder anrufen, die dann ihrerseits wieder andere anrufen würden. Auf diese Weise würde sich die Neuigkeit schnell in der New Hope-Gemeinde verbreiten. In der Zwischenzeit sprach Buck eine kurze Nachricht auf den Anrufbeantworter: »Die tragische Nachricht vom Tod von Pastor Bruce ist wahr. Der Älteste Rayford Steele hat seine Leiche gesehen und ist der Meinung, dass er sehr wahrscheinlich gestorben ist, bevor das Krankenhaus von Raketen getroffen wurde. Bitte kommen Sie nicht in die Gemeinde, da bis zum Sonntag zur gewohnten Zeit keine Zusammenkünfte oder Gottesdienste stattfinden werden.« Buck stellte das Telefon auf den Anrufbeantworter um und schon 41
bald klickte es wieder und wieder, da immer mehr Gemeindemitglieder anriefen, um eine Bestätigung der schrecklichen Nachricht zu bekommen. Buck war klar, dass der Sonntagmorgengottesdienst überfüllt sein würde. Chloe brachte Loretta nach Hause, um sicherzugehen, dass es ihr auch wirklich gut ging, während Buck Donny Moore anrief. »Donny«, sagte Buck, »ich brauche Ihren Rat, und zwar sofort.« »Ah, Mr. Williams.« Donny meldete sich in seiner gewohnten abgehackten Sprechweise. »Jederzeit gern. Wie Sie wissen, arbeite ich zu Hause, ich kann also zu Ihnen kommen, Sie können aber auch zu mir kommen, ganz wie Sie möchten. Ich stehe Ihnen jederzeit zur Verfügung.« »Im Augenblick bin ich nicht ganz so mobil, Donny, darum wäre es schön, wenn Sie zu mir ins Gemeindehaus kommen könnten.« »Ich komme sofort, Mr. Williams. Aber könnten Sie mir bitte noch eines sagen? Hatte Loretta die Telefone eine Zeitlang abgestellt?« »Ja, ich glaube schon. Sie wusste nicht, was sie den Leuten sagen sollte, die sich nach Pastor Bruce erkundigten, darum hat sie einfach die Telefone abgestellt.« »Da bin ich aber erleichtert«, seufzte Donny. »Vor ein paar Wochen habe ich nämlich erst eine neue Telefonanlage installiert und hatte Angst, sie würde nicht richtig funktionieren. Wie geht es übrigens Bruce?« »Ich werde Ihnen alles erzählen, wenn Sie herkommen, Donny, okay?« Über dem Flughafen von Dallas/Fort Worth hingen dichte schwarze Wolken. Rayford musste an die vielen Male denken, als er mit den großen Maschinen auf diesen langen Landebahnen gelandet war. Wie lange würde es dauern, diesen Flughafen wieder aufzubauen? Captain Hernandez flog mit dem 42
Learjet den nahe gelegenen Militärflugplatz an, auf dem Rayford häufig zu Gast gewesen war. Ganz offensichtlich hatte jemand alle Flugzeuge beiseite geräumt, um den feindlichen Raketen kein Angriffsziel zu bieten. Hernandez landete den Learjet so sanft, wie es bei einem so kleinen Flugzeug überhaupt möglich war. Sofort rollten sie zum Ende der Landebahn in einen großen Hangar hinein. Rayford war erstaunt, dass auch der ganze Hangar leer war. Hernandez stellte die Motoren ab und sie stiegen aus. Sobald Carpathia Platz hatte, legte er seine Verkleidung wieder an. Er flüsterte Fortunato etwas zu, worauf dieser Hernandez fragte, wo sie essen könnten. »In Hangar drei«, erwiderte dieser. »Wir befinden uns in Hangar eins. Das Flugzeug steht in Hangar vier.« Die Verkleidung erwies sich als unnötig. Zwischen den Hangars war nicht viel Platz und die kleine Gruppe eilte durch die großen Türen an der Seite der Gebäude. Auch Hangar zwei und drei waren leer, abgesehen von einem Tisch in der Nähe der Seitentür, die zu Hangar vier führte. Darauf war das Essen aufgebaut. Sie gingen auf den Tisch zu. Nicolai Carpathia wandte sich an Rayford. »Sie können sich nun von Captain Hernandez verabschieden«, sagte er. »Nachdem er gegessen hat, wird er nach Maryland fliegen, wo er einen Auftrag für mich zu erledigen hat. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Sie ihn wiedersehen werden. Er fliegt nur das kleine Flugzeug.« Rayford musste sich zusammennehmen, nicht gleichgültig mit den Achseln zu zucken. Was interessierte ihn das? Er hatte den Mann gerade erst kennen gelernt. Warum war es Carpathia so wichtig, ihn über sein Personal auf dem Laufenden zu halten? Schließlich hatte er Rayford verschwiegen, dass Earl Halliday ein neues Flugzeug entwarf. Er hatte ihm nicht gesagt, dass er damit rechnete, ein neues Flugzeug zu benötigen. Er hatte Rayford nicht einmal um Anregungen für das Flugzeug 43
gebeten, das er fliegen sollte. Rayford würde den Mann nie verstehen. Mit Heißhunger machte sich Rayford über das Essen her und er versuchte, auch Amanda dazu zu bewegen, mehr als gewöhnlich zu essen. Doch sie befolgte seinen Rat nicht. Als die Gruppe sich auf den Weg in den nächsten Hangar machte, hörte er das charakteristische Aufheulen des Learjets. Hernandez war bereits gestartet. Interessanterweise verschwand Fortunato kurz, nachdem sie Hangar vier betreten hatten. Dort standen nebeneinander vier der zehn internationalen Botschafter, die unmittelbar Carpathia unterstellt waren. Rayford hatte keine Ahnung, wo sie gewesen oder wie sie hierher gekommen waren. Er wusste nur, dass es seine Aufgabe war, sie alle wegen des Ausbruchs des Dritten Weltkriegs zu einer Krisensitzung nach Neu-Babylon zu bringen. Am Ende der Reihe stand Earl Halliday. Er hielt sich sehr steif und sah stur geradeaus. Carpathia schüttelte jedem der vier Botschafter die Hand, Halliday jedoch ignorierte er. Doch dieser schien das erwartet zu haben. Rayford ging sofort mit ausgestreckter Hand auf Halliday zu. Doch dieser ignorierte seine Hand und flüsterte ihm zu: »Verschwinde, Steele, du Mistkerl!« »Earl!« »Ich meine es ernst, Rayford. Ich muss dich auf diesem Flugzeug einweisen, aber ich brauche nicht so zu tun, als würde mir das Spaß machen!« Rayford wich zurück. Mit einem unbehaglichen Gefühl kehrte er zu Amanda zurück, die allein dastand und auch ein wenig fehl am Platze wirkte. »Rayford, was um alles in der Welt tut Earl hier?«, fragte sie. »Das erkläre ich dir später. Er ist durchaus nicht froh darüber, das kann ich dir sagen. Worüber hast du mit Carpathia im Flugzeug gesprochen?« »Er wollte wissen, was ich essen möchte, ausgerechnet über 44
so etwas Nebensächliches. Das ist ein komischer Mann!« Zwei seiner Assistenten aus Neu-Babylon kamen in den Hangar und begrüßten Carpathia mit einer Umarmung. Einer von ihnen winkte Earl und Rayford in eine Ecke, weit entfernt von der neuen Condor 216. Bewusst hatte Rayford es vermieden, das monströse Flugzeug anzustarren. Obwohl es vor dem Tor stand, das sich zur Startbahn öffnete, und mehr als fünfzig Meter von ihnen entfernt war, schien es den Hangar zu dominieren. Bereits auf den ersten Blick war Rayford klar gewesen, dass dieses Flugzeug in Jahren entwickelt worden war, nicht nur in wenigen Monaten. Es war eindeutig das größte Passagierflugzeug, das er je gesehen hatte, und in einem so strahlenden Weiß gestrichen, dass es vor den hellen Wänden des schwach erleuchteten Hangars beinahe zu verschwinden schien. Er konnte sich vorstellen, wie schwierig es am Himmel auszumachen sein würde. Carpathias Assistent, der ähnlich wie Carpathia mit einem schwarzen Anzug, einem weißen Hemd, blutroter Krawatte und goldener Krawattennadel bekleidet war, beugte sich zu Rayford und Earl. »Potentat Carpathia möchte so schnell wie möglich starten. Können Sie ungefähr sagen, wann Sie so weit sein werden?« »Ich habe dieses Flugzeug noch nie gesehen«, wandte Rayford ein, »und ich habe keine Ahnung –« »Rayford«, unterbrach ihn Earl, »ich sage dir, du kannst dieses Flugzeug innerhalb von einer halben Stunde fliegen. Ich kenne dich und ich kenne mich mit Flugzeugen aus. Also vertrau mir.« »Das ist ja sehr interessant, Earl, aber ich werde keine Versprechungen machen, bis ich eingewiesen wurde.« Der Carpathia-Verschnitt wandte sich an Halliday. »Wären Sie bereit, dieses Flugzeug zu fliegen, bis Steele sich in der Lage sieht –« »Nein, Sir, ich stehe nicht zur Verfügung!«, erwiderte Halli45
day. »Geben Sie mir dreißig Minuten Zeit und dann lassen Sie mich nach Chicago zurückkehren.« Donny Moore war redseliger als Buck lieb war, aber er kam zu dem Schluss, dass ein wenig geheucheltes Interesse ein kleiner Preis für das Sachwissen dieses Mannes war. »Sie arbeiten also für eine Telefongesellschaft und verkaufen Computer –« »Richtig, aber nur nebenher, Sir. Auf diese Weise kann ich mein Einkommen fast verdoppeln. Ich habe einen ganzen Koffer voller Prospekte, müssen Sie wissen.« »Die würde ich mir gern mal ansehen«, meinte Buck. Donny grinste. »Das dachte ich mir.« Er öffnete seinen Aktenkoffer und holte einen Stapel Prospekte der Firma heraus, die er offensichtlich vertrat. Sechs davon legte er vor Buck auf den Tisch. »Holla«, staunte Buck, »ich sehe schon, die Auswahl ist riesig. Wie wäre es, wenn ich Ihnen sage, wonach ich suche, und Sie sagen mir, ob Sie mir das besorgen können?« »Ich sage Ihnen gleich, dass ich Ihnen das bestimmt besorgen kann«, entgegnete Donny. »Vergangene Woche habe ich einem Burschen Notebooks verkauft, die mehr Kapazität hatten als jeder PC und –« »Entschuldigen Sie einen Augenblick, Donny«, unterbrach ihn Buck. »Haben Sie gehört, dass der Drucker aufgehört hat?« »Na klar. Hat gerade aufgehört. Entweder hat er kein Papier oder keine Tinte mehr oder er hat alles gedruckt, was er drukken sollte. Ich habe Bruce diese Maschine verkauft, müssen Sie wissen. Das Beste, was auf dem Markt ist. Druckt auf normalem Papier, Endlospapier – was immer Sie brauchen.« »Ich will mal nachsehen«, sagte Buck. Er erhob sich und spähte in Bruces Büro. Der Bildschirm des Computers hatte sich bereits ausgeschaltet. Keine Warnlichter am Drucker deuteten auf das Fehlen von Tinte oder Papier hin. Buck drückte eine Taste des Computers und der Bildschirm wurde wieder 46
lebendig. Darauf war zu lesen, dass nun alles gedruckt war. Buck schätzte, dass von der Schachtel mit den 5000 Blatt nur noch wenige hundert Blatt übrig waren. Welch ein Schatz, dachte Buck. »Wann kommt Bruce wieder zurück?«, fragte Donny aus dem anderen Raum. Rayford und Earl gingen allein an Bord der Condor. Earl legte den Finger an die Lippen und Rayford vermutete, dass er nach Wanzen suchte. Sorgfältig überprüfte er die Gegensprechanlage, bevor er sich an Rayford wandte. »Man kann nie wissen«, meinte er. »Und jetzt kläre mich mal auf«, sagte Rayford. »Du musst mich aufklären, Rayford!« »Earl, ich weiß genauso wenig wie du. Ich wusste nicht einmal, dass du an diesem Projekt beteiligt bist. Ich hatte keine Ahnung, dass du für Carpathia arbeitest. Du wusstest doch, dass ich für ihn arbeite, warum hast du es mir nicht gesagt?« »Ich arbeite nicht für Carpathia, Rayford. Ich wurde dazu gezwungen. Ich bin noch immer Chefpilot der Pan-Con in O’Hare, aber wenn die Pflicht ruft …« »Warum hat Carpathia mir nicht gesagt, dass er dich kennt?«, fragte Rayford. »Er hat mich gebeten, jemanden zu suchen, der die ›Global Community One‹ nach New York fliegt. Er konnte nicht ahnen, dass ich dich bitten würde.« »Doch, er muss es gewusst haben«, erwiderte Earl. »Wen sonst würdest du auswählen? Ich wurde aufgefordert, bei der Planung dieses neuen Flugzeugs zu helfen, und ich dachte, es würde Spaß machen, es ein wenig zu testen. Und dann wurde ich gebeten, die ›Global Community One‹ nach New York zu fliegen. Da die Anfrage von dir kam, fühlte ich mich geschmeichelt und geehrt. Erst als ich landete und erkannte, dass das Militär hinter mir und dem Flugzeug her war, verschwand ich so schnell wie möglich aus New York und flog nach Chi47
cago zurück. Doch ich kam nie dort an. Während des Fluges wurde ich von Carpathias Leuten benachrichtigt, dass ich in Dallas gebraucht würde, um dich auf diesem Flugzeug einzuweisen.« »Das verstehe ich nicht«, entgegnete Rayford. »Ich weiß auch nicht viel mehr«, erwiderte Earl. »Aber ich bin fest davon überzeugt, Carpathia wollte, dass ich nach New York fliege und dort umkomme – und es sollte so aussehen, als seist du dafür verantwortlich, nicht er.« »Warum sollte er dir den Tod wünschen?« »Vielleicht weiß ich zu viel.« »Ich fliege ihn doch durch die ganze Weltgeschichte«, sagte Rayford. »Ich weiß viel mehr als du und doch habe ich nicht das Gefühl, dass er mich tot sehen möchte.« »Pass auf dich auf, Rayford. Ich habe genug gehört, um zu wissen, dass nicht alles so ist, wie es zu sein scheint. Diesem Mann geht es sicherlich nicht um das Wohl unserer Welt.« Das ist wahrscheinlich die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte Rayford. »Ich weiß nicht, wie du mich in das alles hineingezogen hast, Rayford, aber –« »Ich habe dich in das alles hineingezogen? Earl, du hast wirklich ein kurzes Gedächtnis. Du bist doch derjenige, der mich ermutigt hat, Pilot der ›Air Force One‹ zu werden. Ich habe mich nicht um diesen Job gerissen.« »Die ›Air Force One‹ zu fliegen war ein Bombenjob, ob dir das zu dem Zeitpunkt nun klar war oder nicht«, beharrte Earl. »Woher sollte ich wissen, was sich daraus entwickeln würde?« »Komm, wir wollen aufhören, uns gegenseitig die Schuld zuzuschieben, und überlegen, was wir jetzt tun können.« »Ray, ich werde dich auf diesem Flugzeug einweisen, doch dann bin ich, glaube ich, ein toter Mann. Würdest du meiner Frau sagen, dass ich –« »Earl, wovon sprichst du überhaupt? Warum glaubst du, 48
nicht mehr nach Chicago zurückkehren zu können?« »Ich habe keine Ahnung, Ray. Ich weiß nur, dass ich mit diesem Flugzeug in New York sein sollte, als es zerstört wurde. Ich sehe mich selbst nicht als Bedrohung für Carpathia, aber wenn ihm auch nur ein wenig an mir und meiner Arbeit liegt, hätte er mich aus New York geholt, bevor ich auf die Idee kam, aus dieser Stadt zu verschwinden.« »Kannst du denn nicht einen Notfall erfinden, damit du unbedingt hier in Dallas bleiben musst? Angesichts der Situation braucht die Pan-Con hier doch jeden Mann, den sie kriegen kann.« »Carpathias Leute haben einen Rückflug nach Chicago für mich arrangiert. Ich habe nur das Gefühl, dass ich nicht sicher bin.« »Sag ihnen, du möchtest ihnen keine Umstände bereiten. Sag, du hättest in Dallas so viel zu tun.« »Ich werde es versuchen. Doch jetzt will ich dir dieses Ding hier erklären. Und Ray, als alter Freund sollst du mir versprechen, dass du, falls mir etwas passiert –« »Nichts wird dir passieren, Earl. Aber natürlich werde ich mich im Falle des Falles mit deiner Frau in Verbindung setzen.« Donny Moore schwieg, nachdem Buck ihm erzählt hatte, was passiert war. Mit aufgerissenen Augen starrte er vor sich hin, unfähig, auch nur ein Wort herauszubringen. Buck blätterte eifrig die Prospekte durch. Er konnte sich nicht konzentrieren. Sicher würde es weitere Fragen geben und er wusste nicht, was er Donny sagen sollte. Und er brauchte doch so dringend die Hilfe dieses Mannes. »Was wird aus dieser Gemeinde«, fragte Donny schließlich mit rauer Stimme. »Ich weiß, das klingt ziemlich abgedroschen«, erwiderte Buck, »aber ich glaube daran, dass Gott für uns sorgen wird.« 49
»Wie kann Gott uns jemanden wie Pastor Bruce schicken?« »Ich weiß, was Sie meinen, Donny. Wer immer auch kommen wird, wird anders sein als Pastor Bruce. Er war einzigartig.« »Es fällt mir noch immer schwer, es zu glauben«, sagte Donny. »Aber eigentlich sollte mich nichts mehr überraschen.« Rayford saß am Steuer der Condor 216. »Wie sieht es mit einem Ersten Offizier aus?«, fragte er Earl. »Ein Pilot einer anderen Fluggesellschaft ist bereits unterwegs. Er wird dich bis San Francisco begleiten, wo McCullum zu dir stoßen wird.« »McCullum? Er war auf dem Flug von Neu-Babylon nach Washington dabei, Earl. Als ich nach Chicago flog, sollte er in den Irak zurückkehren.« »Ich weiß nur, was man mir gesagt hat, Rayford.« »Und warum fliegen wir nach Westen, wenn wir in den Osten wollen, wie Carpathia sagt?« »Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht, Rayford. Mir ist das alles neu. Vielleicht weißt du mehr als ich. Tatsache ist, dass der Krieg sich vorwiegend östlich des Mississipi abspielt und folglich dort auch die größten Zerstörungen zu finden sind. Ist dir das aufgefallen? Es ist fast, als wäre alles geplant. Dieses Flugzeug wurde hier in Dallas geplant und gebaut, aber nicht in DFW, wo es hätte zerstört werden können. Es ist gerade in dem Augenblick fertig, als du es brauchst. Wie du sehen kannst, sind die Instrumente dieselben wie in der 757 und doch ist die Maschine sehr viel größer. Wenn du eine 757 fliegen kannst, kannst du auch dieses Baby fliegen. Du musst dich nur an seine Größe gewöhnen. Die Menschen, die du brauchst, sind rechtzeitig zur Stelle, wenn du sie brauchst. Denk doch mal nach. Carpathia schien von den ganzen Ereignissen überhaupt nicht überrascht zu sein, oder?« Rayford hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Er verstand, 50
was Earl meinte. Halliday fuhr fort: »Du fliegst in gerader Linie von Dallas nach San Francisco und ich schätze, aus der Luft wirst du nichts von den Zerstörungen sehen. Außerdem glaube ich auch nicht, dass ihr mit einem Angriff rechnen müsst. Irgendwo im Westen könnte es natürlich Militärs geben, die nur zu gern eine Rakete auf Carpathia abschießen würden, aber vermutlich wissen nur wenige Leute, dass er in diese Richtung fliegt. Und in San Francisco werdet ihr nur so lange Aufenthalt haben, dass der Copilot ausgetauscht werden kann.« Buck berührte Donny am Arm, so als müsse er ihn aufwecken. Donny blickte ihn verwirrt an. »Mr. Williams, das alles ist schon schwer genug, auch als Pastor Bruce noch hier war. Ich weiß nicht, was wir jetzt tun sollen.« »Donny«, sagte Buck ernst, »Sie haben nun die Gelegenheit, etwas für Gott zu tun, und dies ist das Beste, was Sie im Gedenken an Bruce Barnes tun können.« »Wenn das so ist, Sir, werde ich alles tun, was Sie verlangen.« »Zuerst einmal, Donny, möchte ich vorausschicken, dass Geld keine Rolle spielt.« »Ich möchte an etwas, das der Gemeinde und Gott hilft, nichts verdienen.« »Prima. Ob und wie viel Sie verdienen, liegt bei Ihnen. Ich sage Ihnen jetzt, was ich brauche. Ich möchte fünf der allerbesten Computer haben, die möglichst klein und kompakt, dazu aber schnell, leistungsstark und bestens mit allen Kommunikationsmöglichkeiten ausgerüstet sein müssen, die Sie in sie hineinpacken können.« »Sie sprechen meine Sprache, Mr. Williams.« »Das hoffe ich, Donny, weil ich einen Computer brauche, für den buchstäblich nichts unmöglich ist. Ich muss ihn überallhin mitnehmen und gut verstecken können, ich muss alles darauf 51
speichern können, was ich möchte, und in der Lage sein, mit jedem überall auf der Welt Kontakt aufzunehmen, ohne zurückverfolgt zu werden. Ist das machbar?« »Ich könnte Ihnen ein Gerät zusammenstellen, das Wissenschaftler im Dschungel oder in der Wüste benutzen, wenn sie den Computer nirgendwo anschließen können.« »Ja«, erwiderte Buck. »Einige unserer Reporter benutzen solche Dinger in abgelegenen Gebieten. Haben sie eingebaute Satellitenschüsseln oder so etwas?« »Ob Sie es glauben oder nicht, es ist tatsächlich so etwas Ähnliches. Für Sie kann ich allerdings noch ein zusätzliches Teil einbauen.« »Und das wäre?« »Einen Anschluss für eine Videokonferenzschaltung.« »Sie meinen, ich kann die Person, mit der ich spreche, sehen?« »Ja, wenn das andere Gerät mit derselben Technologie ausgerüstet ist.« »Stellen Sie mir so etwas zusammen, Donny, und zwar schnell. Und bitte sprechen Sie mit keinem Menschen darüber.« »Mr. Williams, diese Geräte können Sie mehr als zwanzigtausend Dollar pro Stück kosten.« Buck hatte gedacht, Geld würde keine Rolle spielen, aber mit dieser Ausgabe konnte er Carpathia nicht belasten. Er lehnte sich überrascht zurück und pfiff durch die Zähne.
3 »Nenn es eine böse Vorahnung, Rayford, aber ich habe hier etwas für dich eingebaut.« Rayford und Earl hatten die Einweisung im Cockpit beendet. Ray vertraute Earl. Wenn dieser der Meinung war, dass er die Maschine fliegen konnte, dann war 52
das auch so. Doch trotzdem wollte er sichergehen und darauf bestehen, gemeinsam mit seinem Copiloten einen Start und eine Landung mit dem neuen Flugzeug durchzuführen, bevor er riskierte, Passagiere an Bord zu nehmen. Rayford hätte es nichts ausgemacht, mit dem Antichristen an Bord abzustürzen, doch er wollte nicht für den Tod unschuldiger Menschen verantwortlich sein, schon gar nicht für den Tod seiner eigenen Frau. »Und das wäre?« »Sieh dir nur das an«, erklärte Earl. Er deutete auf den Knopf für die Sprechanlage, über die der Kapitän zu den Passagieren sprechen konnte. »Die Sprechanlage«, sagte Rayford. »Und?« »Greif mit deiner linken Hand unter deinen Sitz und lass deine Finger über den Rand gleiten«, fuhr Earl fort. »Ich spüre einen Knopf.« »Ich gehe nun in die Kabine zurück«, sagte Earl. »Du drückst ganz normal den Knopf der Sprechanlage und machst eine Ankündigung. Zähle bis drei und drücke dann den Knopf unter deinem Sitz. Achte darauf, dass deine Kopfhörer richtig sitzen.« Rayford wartete, bis Halliday gegangen war und die Tür zum Cockpit geschlossen hatte. Schließlich schaltete er die Sprechanlage ein. »Hallo, hallo, hey Earl, dabadabada.« Rayford zählte leise bis drei und drückte dann den Knopf unter seinem Sitz. Er war erstaunt, in seinem Kopfhörer Earls leise Stimme zu hören. »Rayford, du merkst, dass ich sehr leise spreche. Wenn ich meine Sache gut gemacht habe, hörst du mich nicht nur von hier, wo ich jetzt gerade bin, sondern aus jeder anderen Ecke des Flugzeugs genauso deutlich. Jeder der Lautsprecher hat ein eingebautes Mikrofon. Nur du kannst über deine Kopfhörer hören, was gesprochen wird. Ich habe die Mikrofone so verkabelt, dass sie nicht zu finden sind. Dieses Flugzeug wurde schließlich von den besten Wanzensuchern der Weltgemein53
schaft überprüft. Falls sie je entdeckt werden, werde ich einfach sagen, ich hätte geglaubt, sie hätten das so haben wollen.« Rayford eilte aus dem Cockpit. »Earl, du bist ein Genie! Ich bin nicht sicher, was ich hören werde, aber es ist bestimmt ein Vorteil zu wissen, was hier draußen vorgeht.« Buck packte gerade alle gedruckten Seiten aus dem Computer von Bruce zusammen, als er den Range Rover hörte, der auf den Parkplatz fuhr. Kurze Zeit später betrat Chloe das Büro. Buck hatte in der Zwischenzeit alle Seiten zusammen mit dem Computer in einen großen Karton gepackt. Während er ihn hinaustrug, meinte er zu Chloe: »Setz mich beim Chicagoer Büro ab und erkundige dich dann am besten im Hotel, ob unsere Sachen noch da sind. Ich glaube, es ist besser, wenn wir dieses Zimmer behalten, bis wir eine Unterkunft hier in der Nähe gefunden haben.« »Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest«, meinte Chloe. »Loretta ist völlig am Boden zerstört. Sie wird Hilfe brauchen. Was werden wir wegen der Beerdigung unternehmen?« »Das wirst du in die Hand nehmen müssen, Chloe. Setz dich zuerst mit dem Büro des amtlichen Leichenbeschauers in Verbindung und veranlasse, dass der Leichnam zu einem Beerdigungsinstitut gebracht wird und all das. Da es so viele Tote gegeben hat, herrscht bestimmt ein riesiges Chaos. Sicher sind sie froh, dass wenigstens ein Leichnam angefordert wird. Und dann brauchen wir noch einen Wagen. Ich habe keine Ahnung, wo ich hingeschickt werde. Angesichts der Tatsache, dass lange Zeit niemand nach New York gehen wird, kann ich sicher von Chicago aus arbeiten, aber ich kann nicht versprechen, dass ich immer da sein kann.« »Auch daran hat Loretta trotz allem, was sie durchmacht, schon gedacht. Sie hat mich daran erinnert, dass seit der Entrückung einige Autos zur Verfügung stehen, die für Notfälle wie diesen ausgeliehen werden können.« 54
»Gut«, meinte Buck. »Wir suchen einen davon für dich aus. Und denk daran, wir müssen dafür sorgen, dass dieses Material für alle Gemeindemitglieder vervielfältigt wird.« »Du wirst nicht die Zeit haben, das durchzusehen, oder?« »Nein, aber ich bin zuversichtlich, dass wir alle davon profitieren werden.« »Buck, warte mal eine Minute. Auf keinen Fall dürfen wir das alles vervielfältigen und verteilen, bevor es jemand gelesen hat. Es könnte doch sein, dass private und persönliche Dinge angesprochen werden. Und sicherlich wird es direkte Anspielungen auf Carpathia und die ›Tribulation Force‹ enthalten. Wir können es einfach nicht riskieren, alles zu verteilen.« Buck steckte in einem Zwiespalt. Er liebte seine Frau, aber sie war zehn Jahre jünger als er und es gefiel ihm gar nicht, wenn sie ihm sagte, was er zu tun hatte – schon gar nicht, wenn sie Recht hatte. Als er die schwere Schachtel mit den bedruckten Blättern und dem Computer in den Range Rover stellte, sagte Chloe: »Vertrau mir das ganze Zeug an. Ich werde alles durchsehen und am Sonntag können wir den anderen Gemeindemitgliedern der New Hope-Gemeinde sagen, dass wir die Seiten innerhalb einer Woche kopieren werden.« »Wo du Recht hast, hast du Recht. Aber wo willst du das machen?« »Loretta hat uns angeboten, bei ihr zu wohnen. Sie hat doch dieses große, alte Haus.« »Das wäre ideal, aber ich möchte ihr nicht zur Last fallen.« »Buck, wir würden ihr bestimmt nicht zur Last fallen. Sie wird kaum merken, dass wir da sind. Außerdem habe ich das Gefühl, dass sie einsam und außer sich ist vor Kummer und dass sie uns wirklich braucht.« »Ich werde vermutlich sowieso nicht oft da sein«, stimmte ihr Buck zu. »Ich bin ein großes Mädchen und kann schon auf mich aufpassen.« 55
Sie saßen jetzt im Range Rover. »Wofür brauchst du mich dann noch?«, entgegnete Buck. »Ich möchte dich in meiner Nähe haben, weil du so süß bist.« »Jetzt aber mal im Ernst, Chloe, ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich mich in einer anderen Stadt oder einem anderen Land befände und auch hier in Mount Prospect würde der Krieg ausbrechen.« »Du hast wohl den Schutzbunker unter der Gemeinde vergessen.« »Nein, das habe ich nicht, Chloe. Ich bete nur darum, dass es nie dazu kommen wird. Weiß außer der ›Tribulation Force‹ sonst noch jemand von diesem Geheimversteck?« »Nein. Nicht einmal Loretta. Es ist doch so schrecklich klein. Wenn Daddy und Amanda, du und ich dort längere Zeit verbringen müssten, wäre das durchaus kein Vergnügen.« Eine halbe Stunde später parkte Buck den Wagen vor dem Chicagoer Büro des Global Community Weekly. »Ich werde uns eine Reihe von Handys besorgen«, sagte Chloe. »Dann rufe ich im Hotel an und hole unsere Sachen. Ich werde auch mit Loretta wegen des zweiten Autos sprechen.« »Besorge fünf Handys und sei nicht knauserig.« »Fünf?«, fragte sie erstaunt. »Ich weiß nicht, ob Loretta mit so einem Ding überhaupt umgehen kann.« »Ich habe nicht an Loretta gedacht. Ich möchte einfach noch eines in Reserve haben.« Die Condor 216 war noch luxuriöser ausgestattet als die Global Community One, falls das überhaupt möglich war. Nicht das kleinste Detail war übersehen worden. Das Flugzeug verfügte über die neuesten Kommunikationseinrichtungen. Rayford hatte sich von Earl Halliday verabschiedet und ihn eindringlich gebeten, ihn zu benachrichtigen, ob sein Haus noch stand und seine Frau gesund war, sobald er nach Hause kam. »Dir wird nicht gefallen, was mit unserem Flughafen geschehen ist«, 56
hatte Rayford ihm gesagt. »In O’Hare wirst du nicht landen können.« Rayford und sein Ersatz-Copilot hatten Carpathia verärgert, weil sie darauf bestanden hatten, das neue Flugzeug zu testen, bevor sie Passagiere an Bord nahmen. Rayford war froh, dass er es getan hatte. Zwar stimmte es, dass alle Instrumente des Cockpits mit denen der 757 identisch waren, doch das größere, schwerere Flugzeug verhielt sich in der Luft eher wie eine 747 und Rayford brauchte eine Weile, bis er sich daran gewöhnt hatte. Und nun waren sie mit der Condor 216 in 10 Kilometern Höhe und mit mehr als 700 Meilen pro Stunde auf dem Weg nach San Francisco. Rayford stellte die Maschine auf Autopilot und bat seinen Ersten Offizier, aufzupassen. »Was haben Sie vor, Sir?«, fragte der junge Mann. »Einfach hier sitzen«, erwiderte Rayford. »Nachdenken. Lesen.« Rayford hatte seine Flugroute mit dem Tower in Oklahoma abgestimmt und drückte nun die Sprechanlage, um sich an seine Passagiere zu wenden. »Potentat Carpathia, verehrte Passagiere, hier spricht Captain Steele. Unsere geschätzte Ankunftszeit in San Francisco ist siebzehn Uhr Ortszeit. Wir haben klare Sicht und rechnen mit einem ruhigen Flug.« Rayford lehnte sich zurück und schob den Bügel seiner Kopfhörer zurück, so als würde er die Kopfhörer absetzen. Sie waren jedoch noch dicht an seinen Ohren, so dass er alles verstehen konnte, was im Flugzeug gesprochen wurde, wenn er den versteckten Knopf betätigte. Dann holte er ein Buch aus der Tasche und legte es geöffnet auf die Ablage vor sich. Er durfte nicht vergessen, ab und zu eine Seite umzublättern, denn er würde nicht richtig lesen, sondern lauschen. Seine linke Hand glitt unter den Sitz und schnell drückte er den verborgenen Knopf. Die erste Stimme, die er so klar hörte, als würde sie am Telefon mit ihm sprechen, war Amandas. »Ja, Sir, ich verstehe. Sie 57
brauchen sich um mich keine Gedanken zu machen.« Jetzt sprach Carpathia: »Ich nehme an, alle haben in Dallas genügend gegessen. In San Francisco wird eine Crew zusteigen, die sich auf dem Weg nach Bagdad und schließlich nach Neu-Babylon um uns kümmern wird.« Eine weitere Stimme: »Bagdad?« »Ja«, erwiderte Carpathia. »Ich habe mir die Freiheit genommen, die restlichen drei loyalen Botschafter nach Bagdad kommen zu lassen. Unsere Feinde haben vermutlich angenommen, wir würden auf direktem Wege nach Neu-Babylon fliegen. Wir werden sie dort an Bord nehmen und auf dem kurzen Weg von Bagdad nach Neu-Babylon mit unseren Besprechungen beginnen. Mrs. Steele, wenn Sie uns nun entschuldigen würden –« »Natürlich«, erwiderte Amanda. »Gentlemen«, Carpathia sprach nun etwas leiser, doch immer noch deutlich genug, dass Rayford jedes Wort verstehen konnte. Eines Tages würde er Earl Halliday dafür danken müssen, dass er so viel für das Reich Christi getan hatte. Earl war nicht daran interessiert, Gott zu dienen, wenigstens im Augenblick noch nicht, aber was immer ihn dazu gebracht hatte, Rayford einen solchen Gefallen zu tun, ganz sicher war es zum Vorteil der Feinde des Antichristen. Carpathia sagte gerade: »Mr. Fortunato ist in Dallas geblieben, um meine nächste Radiosendung von dort aus vorzubereiten. Ich werde natürlich von hier sprechen, doch sie wird nach Dallas übertragen und von dort gesendet werden, um die Feinde der Weltgemeinschaft in die Irre zu führen. Ich brauche ihn für unser nächtliches Gespräch, darum werden wir in San Francisco auf ihn warten. Sobald wir in San Francisco starten, werden wir sowohl L. A. als auch das Bay-Gebiet auslöschen.« »Das Bay-Gebiet?«, fragte die Stimme mit dem starken Akzent. »Ja, das heißt San Francisco und das Gebiet um Oakland.« 58
»Was meinen Sie mit ›auslöschen‹?« Carpathia wurde ernst. »Genau das, was das Wort bedeutet«, sagte er. »Wenn wir in Bagdad landen, werden nicht nur Washington, New York und Chicago betroffen sein, sondern auch andere Städte. Die ersten drei nordamerikanischen Städte werden am schwersten getroffen sein. Bisher haben in Chicago nur der Flugplatz und ein Vorort einen Treffer erhalten. Das wird sich innerhalb einer Stunde ändern. Von London haben Sie bereits gehört. Wissen Sie übrigens, welche Sprengkraft eine 100-Megatonnen-Bombe hat?« Stille. Carpathia fuhr fort. »Um Ihnen das zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen in Erinnerung rufen, was wir in den Geschichtsbüchern nachlesen können. Dort wird uns gesagt, dass eine 20-Megatonnen-Bombe mehr Sprengkraft besitzt als alle Bomben, die im Zweiten Weltkrieg abgeworfen wurden, einschließlich der beiden Atombomben auf Japan.« »Die Vereinigten Staaten von Großbritannien hatten einen Denkzettel verdient«, ertönte wieder die Stimme mit dem starken Akzent. »Das ist in der Tat so«, bestätigte Carpathia. »Und allein in Nordamerika werden Montreal, Toronto, Mexico City, Dallas, Washington D.C., New York City, Chicago, San Francisco und Los Angeles unseren Gegnern eine deutliche Lektion sein.« Rayford streifte die Kopfhörer ab und schnallte sich los. Er öffnete die Cockpittür und nahm Blickkontakt zu Amanda auf. Als sie ihn entdeckte, winkte er sie zu sich. Carpathia sah auf und lächelte. »Captain Steele«, begrüßte er ihn, »ist alles in Ordnung?« »Unser Flug verläuft problemlos, Sir, falls Sie das meinen. Besser könnte es gar nicht sein. Allerdings weiß ich nicht, was auf der Erde passiert.« »Wie wahr«, meinte Carpathia plötzlich finster. »Ich werde der Weltgemeinschaft bald mein Bedauern kundtun.« Rayford zog Amanda in den Gang. »Wollten Buck und Chloe 59
wieder im ›Drake‹ übernachten?« »Wir hatten keine Zeit, darüber zu sprechen, Ray«, erwiderte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie eine andere Wahl haben. Ich glaube nicht, dass sie nach New York zurückkehren.« »Ich fürchte, Chicago ist das nächste Ziel einer bestimmten Person«, sagte Rayford. »Oh, das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte Amanda. »Ich muss sie warnen.« »Willst du einen Telefonanruf riskieren, der zurückverfolgt werden kann?«, fragte sie. »Wenn ich ihr Leben retten kann, ist mir das jedes Risiko wert.« Amanda umarmte ihn und ging zu ihrem Platz zurück. Rayford benutzte sein eigenes Handy, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sein Erster Offizier die Kopfhörer aufgesetzt hatte und anderweitig beschäftigt war. Als er mit dem Drake verbunden war, verlangte er die Williams zu sprechen. »Wir haben drei Gäste mit dem Namen Williams«, erhielt er zur Antwort. »Aber keiner von ihnen heißt Cameron, Buck oder Chloe mit Vornamen.« Rayfords Gedanken überschlugen sich. »Ach, dann verbinden Sie mich doch bitte mit Mr. Katz«, sagte er. »Herbert Katz?«, fragte der Mann am Telefon. »Genau.« Eine Minute später: »Keine Antwort, Sir. Möchten Sie eine Nachricht auf seiner Voice-Mail hinterlassen?« »Ja«, erwiderte Rayford, »aber ich muss sicher sein, dass das Licht an der Voice-Mail aufleuchtet und ihm ausgerichtet wird, dass eine dringende Nachricht für ihn hinterlassen worden ist, falls er oder seine Frau an die Rezeption kommen.« »Selbstverständlich werden wir uns darum kümmern, Sir. Vielen Dank für Ihren Anruf.« Nach dem Pfeifton gab Rayford schnell seine Nachricht 60
durch. »Kinder, ihr wisst, wer hier spricht. Verlasst Chicago so schnell wie möglich, nehmt euch nicht die Zeit, noch irgendetwas zusammenzupacken. Bitte vertraut mir.« Buck hatte unzählige Zusammenstöße mit Verna Zee vom Chicagoer Büro gehabt. Einmal hatte sie ihre Grenzen überschritten, als sie nach dem Verschwinden von Luanda Washington etwas zu voreilig in das Büro ihrer ehemaligen Chefin übergesiedelt war. Und als Buck strafversetzt worden war, weil er angeblich den wichtigsten Auftrag seines Lebens versäumt hatte, war Verna ihm als Chefin vor die Nase gesetzt worden. Nun da er Verleger war, war er versucht gewesen, sie zu entlassen. Aber er hatte sie bleiben lassen, solange sie ihren Job gut machte und sich nichts zuschulden kommen ließ. Sogar die abgebrühte Verna schien schockiert, als Buck am Spätnachmittag ins Büro rauschte. Wie immer bei einer internationalen Krise hatten sich die Leute um das Fernsehgerät geschart. Einige Angestellte blickten auf, als Buck hereinkam. »Was halten Sie davon, Chef?«, fragte jemand und jetzt bemerkten ihn auch die anderen. Verna Zee kam geradewegs auf Buck zu. »Sie haben einige dringende Anrufe erhalten«, sagte sie. »Carpathia selbst hat den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen. Und auch von einem Rayford Steele ist eine dringende Nachricht gekommen.« Nun stand er vor einem großen Problem. Wen sollte Buck zurückrufen? Er konnte sich vorstellen, wie Carpathia den Dritten Weltkrieg darstellen wollte, aber er hatte keine Ahnung, was Rayford von ihm wollte. »Hat Mr. Steele eine Nummer hinterlassen?« »Sie wollen ihn zuerst zurückrufen?« »Wie bitte?«, fragte er. »Ich glaube, ich habe Ihnen eine Frage gestellt.« »Seine Nachricht lautete einfach nur, Sie sollten in Ihrem 61
Hotel anrufen.« »In meinem Hotel anrufen?« »Ich hätte das ja gern für Sie übernommen, Chef, aber ich wusste nicht, in welchem Hotel Sie abgestiegen sind. Wo wohnen Sie denn?« »Das geht Sie nichts an, Verna.« »O bitte, verzeihen Sie!«, sagte sie und marschierte davon. Genau das hatte Buck gehofft. »Ich leihe mir vorübergehend Ihr Büro aus«, rief Buck ihr hinterher. Sie blieb stehen und wirbelte herum. »Für wie lange?« »Solange ich es brauche«, antwortete er. Sie runzelte die Stirn. Buck eilte in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Er wählte die Nummer des Drake und verlangte sein Zimmer. Als er die Angst in Rayfords Stimme hörte, ganz zu schweigen von der Nachricht selbst, wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Schnell rief Buck bei der Auskunft an und ließ sich die Nummer der Land-Rover-Niederlassung in Arlington Heights geben. Er verlangte den Verkaufsleiter zu sprechen. Kurze Zeit später war der Mann in der Leitung. Nachdem Buck seinen Namen genannt hatte, fragte er: »Ist alles in Ordnung mit dem –« »Der Wagen ist in Ordnung, Sir. Aber ich muss meine Frau erreichen, sie ist gerade damit unterwegs. Ich brauche die Telefonnummer des eingebauten Telefons.« »Das dauert aber eine Weile.« »Es ist wirklich überaus dringend, Sir. Sagen wir, wenn ich die Nummer nicht sofort bekomme, könnte ich schnell bedauern, den Wagen gekauft zu haben und ihn zurückgeben.« »Einen Augenblick.« Ein paar Minuten später wählte Buck die Nummer. Es läutete viermal. »Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zur Zeit nicht erreichbar. Bitte versuchen Sie es später noch einmal –« 62
Buck warf den Hörer auf die Gabel, nahm ihn erneut ab und drückte die Wahlwiederholungstaste. Während er es läuten hörte, wurde er aufgeschreckt, als die Tür aufflog und Verna Zee ein wenig pickiert meinte: »Carpathia ist am Telefon und möchte Sie sprechen.« »Ich werde ihn zurückrufen!«, sagte Buck. »Sie tun was?« »Lassen Sie sich die Nummer geben!« »Wählen Sie 0180-GEFEUERT«, entgegnete sie. Rayford war außer sich. Er saß einfach nur da und machte sich nicht mehr die Mühe, so zu tun, als wäre er mit etwas anderem beschäftigt. Er starrte auf den Nachmittagshimmel, die Kopfhörer an seinem Ohr. Seine linke Hand drückte den Geheimknopf. Er hörte die Stimme von Carpathias Assistenten: »Das ist doch die Höhe –« »Was ist denn?«, fragte Carpathia. »Ich versuche, diesen Williams ans Telefon zu bekommen, und er hat dem Mädchen gesagt, sie solle Ihre Nummer aufschreiben, er würde zurückrufen.« Rayford bezwang sich, Buck nicht noch einmal selbst anzurufen, da er nun ganz sicher wusste, dass er sich im Chicagoer Büro aufhielt. Aber wenn jemand Carpathia mitteilte, Buck könne nicht mit ihm sprechen, da er sich gerade mit Rayford Steele unterhielt, dann wäre das eine Katastrophe. Wieder hörte er Carpathias beruhigende Stimme. »Geben Sie ihm die Nummer, mein Freund. Ich vertraue diesem jungen Mann. Er ist ein brillanter Journalist und würde mich nicht ohne Grund warten lassen. Bestimmt versucht er, die Story seines Lebens zu schreiben, meinen Sie nicht auch?« Buck forderte Verna Zee auf, die Tür hinter sich zu schließen und ihn allein zu lassen, bis er fertig telefoniert hatte. Sie seufzte, schüttelte den Kopf und warf die Tür hinter sich zu. 63
Immer wieder wählte Buck die Nummer des Autotelefons. Er hasste die Nachricht auf dem Tonband wie noch keine Nachricht in seinem Leben. Plötzlich meldete sich Verna über die Gegensprechanlage. »Es tut mir Leid, Sie zu stören«, sagte Verna zuckersüß, »aber ein weiterer dringender Telefonanruf. Chaim Rosenzweig aus Israel.« Buck drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Ich fürchte, ich werde auch ihn zurückrufen müssen. Sagen Sie ihm, es täte mir Leid.« »Sie sollten mir sagen, dass es Ihnen sehr Leid tut«, sagte Verna. »Ich bin versucht, ihn trotzdem durchzustellen.« »Es tut mir sehr Leid, Verna«, wiederholte Buck sarkastisch. »Und jetzt lassen Sie mich bitte in Ruhe!« Das Autotelefon läutete weiter. Noch mehrmals ertönte die aufgezeichnete Nachricht. Verna meldete sich erneut. »Dr. Rosenzweig sagt, es gehe um Leben und Tod, Cameron.« Schnell nahm Buck das Gespräch entgegen. »Chaim, es tut mir sehr Leid, aber ich stecke mitten in einer dringenden Angelegenheit. Kann ich Sie nicht zurückrufen?« »Carmeron! Bitte legen Sie nicht auf! Israel ist von dem schrecklichen Bombardement verschont geblieben, das Ihr Land erlitten hat, aber Rabbi Ben-Judas Familie wurde entführt und ermordet! Sein Haus wurde niedergebrannt. Ich bete darum, dass er in Sicherheit ist, aber niemand kennt seinen Aufenthaltsort!« Buck war sprachlos. Er ließ den Kopf hängen. »Seine Familie ist tot? Sind Sie sicher?« »Es war ein öffentliches Schauspiel, Cameron. Ich hatte befürchtet, dass so etwas früher oder später einmal passieren würde. Warum nur ist er mit seinen komischen Ansichten in Bezug auf den Messias an die Öffentlichkeit gegangen? Sicher, auch ich stimme in diesem Punkt nicht mit ihm überein, aber die religiösen Zeloten in diesem Land hassen die Menschen, 64
die glauben, dass Jesus der Messias ist. Cameron, er braucht unsere Hilfe. Was können wir tun? Es ist mir leider nicht gelungen, Nicolai zu erreichen.« »Chaim, bitte tun Sie mir einen großen Gefallen und lassen Sie Nicolai aus dieser Sache heraus!« »Cameron! Nicolai ist der mächtigste Mann auf der Welt und er hat mir versprochen, Israel zu helfen und uns zu beschützen. Sicher wird er eingreifen und das Leben eines meiner Freunde retten!« »Chaim, ich bitte Sie, mir in dieser Sache zu vertrauen. Lassen Sie Nicolai aus dem Spiel. Ich rufe Sie zurück. Auch meine Familienangehörigen sind in Schwierigkeiten!« »Verzeihen Sie, Cameron! Rufen Sie so bald wie möglich zurück!« Buck wählte wieder die Nummer des Autotelefons. Noch während die Verbindung hergestellt wurde, meldete sich Verna erneut über die Gegensprechanlage. »Wieder ein Anruf für Sie, aber da Sie ja nicht gestört werden wollen –« Das Autotelefon war besetzt! Buck warf den Hörer auf die Gabel und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. »Wer ist es?« »Ich dachte, Sie wollten nicht gestört werden.« »Verna, für diese Spielchen habe ich keine Zeit!« »Wenn Sie es genau wissen wollen, es war Ihre Frau.« »Auf welcher Leitung?« »Leitung zwei, aber ich habe ihr gesagt, dass Sie vermutlich mit Carpathia oder Rosenzweig telefonieren.« »Von wo aus hat sie angerufen?« »Ich weiß es nicht. Sie sagte, sie würde auf Ihren Anruf warten.« »Hat sie eine Nummer hinterlassen?« »Ja, die –« Als Buck die ersten beiden Zahlen hörte, wusste er, dass es die Nummer des Autotelefons war. Er stellte die Gegensprech65
anlage ab und drückte die Wahlwiederholungstaste. Verna steckte den Kopf zur Tür herein und sagte: »Ich bin keine Sekretärin, wissen Sie, und ganz bestimmt nicht Ihre Sekretärin!« Noch nie war Buck so wütend auf jemanden gewesen. Er starrte Verna an. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, werde ich eigenhändig nachhelfen!« Das Autotelefon klingelte. Verna stand noch immer da. Buck erhob sich von seinem Stuhl, den Hörer an sein Ohr gepresst, und ging um den Schreibtisch herum. Als er sein Bein hob und nach der Tür trat, riss sie die Augen auf und machte sich schleunigst aus dem Staub. Mit voller Wucht fiel die Tür ins Schloss. Verna schrie. Buck wünschte beinahe, sie hätte im Türrahmen gestanden. »Buck«, ertönte Chloes Stimme aus dem Hörer. »Chloe. Wo bist du?« »Ich bin gerade im Begriff, Chicago zu verlassen«, sagte sie. »Ich habe die Telefone gekauft und bin zum ›Drake‹ gefahren. Jemand hatte eine Nachricht für uns hinterlassen.« »Ich weiß.« »Buck, etwas in Daddys Stimme hat mich veranlasst, mir nicht einmal die Zeit zu nehmen, unsere Sachen aus unserem Zimmer zu holen.« »Gut!« »Aber dein Laptop und alle deine Kleider, deine Toilettensachen und alles, was ich aus New York mitgebracht habe –« »Die Stimme deines Vaters klang ernst, oder?« »Ja. Oh Buck, ich werde von der Polizei verfolgt! Ich habe auf der Straße gewendet und die Geschwindigkeitsbeschränkung nicht beachtet, eine rote Ampel ignoriert und bin sogar eine Zeitlang auf dem Bürgersteig gefahren.« »Chloe, hör zu! Du kennst doch das alte Sprichwort, dass es leichter ist, um Vergebung zu bitten, als um Erlaubnis zu fragen?« 66
»Ich soll der Polizei davonfahren?« »Vermutlich rettest du damit dein Leben! Es gibt nur einen Grund warum dein Vater uns so weit wie möglich von Chicago entfernt wissen möchte!« »Okay, Buck. Bete für mich! Hier geht nichts mehr!« »Ich bleibe am Telefon, Chloe.« »Ich brauche beide Hände zum Fahren!« »Drück den Lautsprecherknopf und leg den Hörer auf!«, riet Buck. Doch dann hörte er eine Explosion, Reifenquietschen, einen Schrei – und dann Stille. Der Strom im Büro des Global Community Weekly fiel aus. Buck tastete sich in die Halle vor, wo die batteriebetriebene Notbeleuchtung über den Türen angegangen war. »Seht euch das an«, rief jemand. Die Leute drängten zur Eingangstür und stiegen auf ihre Wagen, um den Luftangriff auf Chicago zu beobachten. Entsetzt hörte Rayford mit an, wie Carpathia zu seinen Landsmännern sagte: »Chicago müsste jetzt eigentlich schon unter Beschuss stehen. Vielen Dank für Ihre Hilfe bei dieser Angelegenheit. Es ist gut, dass dieses Gebiet nicht von radioaktivem Niederschlag betroffen sein wird. Dort unten leben viele meiner loyalen Angestellten und obwohl sicherlich viele von ihnen bei dem Angriff ums Leben kommen werden, ist es nicht nötig, dass später noch einige der Radioaktivität zum Opfer fallen.« Jemand meldete sich zu Wort. »Sollen wir uns die Nachrichten ansehen?« »Gute Idee«, stimmte ihm Carpathia zu. Rayford hielt nichts mehr auf seinem Platz. Er wusste nicht, was er sagen oder tun würde, falls überhaupt, aber er konnte es einfach nicht mehr länger im Cockpit aushalten. Die Unsicherheit darüber, wie es seinen Lieben ging, machte ihn verrückt. Er betrat die Kabine, als das Fernsehgerät gerade eingeschaltet wurde. Die ersten Bilder aus Chicago waren zu sehen. Amanda 67
hielt die Luft an. Rayford ging zu ihr und setzte sich neben sie, um sich die Berichterstattung anzusehen. »Würdest du für mich nach Chicago fliegen?«, flüsterte Rayford. »Wenn du der Meinung bist, dass es sicher ist.« »Es gibt keine radioaktive Strahlung.« »Woher weißt du das?« »Das erzähle ich dir später. Sag mir nur, dass du hinfliegst, wenn ich die Erlaubnis von Carpathia bekomme.« »Ich tue alles für dich, Rayford. Das weißt du.« »Hör mir zu, mein Liebling. Wenn du keinen Direktflug bekommst und ich meine eine Maschine, die startet, bevor dieses Flugzeug den Boden wieder verlässt, musst du an Bord der Condor zurückkehren. Verstehst du?« »Ich verstehe. Aber warum?« »Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Buche nur einen Direktflug! Und wenn das Flugzeug nicht in der Luft ist, bevor wir starten –« »Was dann?« »Nur um sicherzugehen, Amanda. Ich könnte es nicht ertragen, dich zu verlieren.« Nach den Nachrichten aus Chicago wurde die Berichterstattung für eine Werbepause unterbrochen. Rayford ging zu Carpathia. »Darf ich Sie einen Augenblick stören, Sir?« »Natürlich, Kapitän. Schreckliche Neuigkeiten aus Chicago, nicht wahr?« »Ja, Sir, allerdings. Das ist auch der Grund, warum ich mit Ihnen sprechen wollte. Wie Sie wissen, lebt meine Familie in diesem Gebiet.« »Ja, und ich hoffe, ihnen ist nichts passiert«, erwiderte Carpathia. Rayford verspürte den Drang, ihn auf der Stelle zu töten. Er wusste nur zu gut, dass der Mann der Antichrist war und eines Tages ermordet, aber wieder auferweckt werden würde. Rayford hatte nie gedacht, dass er an dieser Ermordung teilhaben 68
könnte, aber in diesem Augenblick hätte er sich auf der Stelle für diese Aufgabe zur Verfügung gestellt. Er rang um Fassung. Wer immer diesen Mann töten würde, wäre nur eine Schachfigur in einem kosmischen Spiel ungeahnten Ausmaßes. Die Ermordung und Auferweckung würde Carpathia nur umso mächtiger und zum willigeren Werkzeug des Satan machen. »Sir«, fuhr Rayford fort, »ich möchte Sie fragen, ob meine Frau nicht in San Francisco aussteigen und nach Chicago zurückfliegen kann, um zu sehen, wie es meiner Familie geht.« »Ich würde gern veranlassen, dass meine Leute sich nach ihrem Wohlergehen erkundigen«, bot Carpathia an, »wenn Sie mir die Adresse geben.« »Ich würde mich wirklich sehr viel besser fühlen, wenn meine Frau das übernehmen könnte, um gegebenenfalls zu helfen, wo Hilfe gebraucht wird.« »Wie Sie wünschen«, erwiderte Carpathia und Rayford musste sich sehr zusammennehmen, vor Erleichterung nicht laut zu seufzen. »Wer kann mir sein Handy leihen?«, rief Buck laut, um den Lärm auf dem Parkplatz des Global Community Weekly zu übertönen. Eine Frau neben ihm drückte ihm eines in die Hand und er war erstaunt zu sehen, dass es Verna Zee war. »Ich muss einige Ferngespräche führen«, sagte er schnell. »Kann ich alle Codes überspringen und Ihnen das Geld in bar geben?« »Machen Sie sich darum keine Gedanken, Cameron. Unsere kleine Fehde ist gerade bedeutungslos geworden.« »Ich brauche noch einen Wagen. Kann mir jemand seinen Wagen leihen?«, rief Buck. Doch schnell wurde ihm klar, dass alle zu ihren Autos liefen, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen. »Wie wäre es mit einer Fahrt nach Mount Prospect?« »Ich bringe Sie hin«, murmelte Verna. »Ich möchte nicht einmal sehen, was in der anderen Richtung passiert.« 69
»Sie leben in der Stadt, nicht wahr?«, fragte Buck. »Bis vor fünf Minuten war das so«, antwortete Verna. »Vielleicht haben Sie ja Glück.« »Cameron, wenn die Bomben nukleare Sprengköpfe hatten, wird keiner von uns diese Woche überleben.« »In Mount Prospect kenne ich vielleicht einen Ort, an dem Sie bleiben können«, sagte Buck. »Dafür wäre ich sehr dankbar«, seufzte sie. Verna ging ins Büro zurück, um ihre Sachen zu holen. Buck wartete in ihrem Wagen und telefonierte. Sein erstes Telefonat galt seinem Vater im Westen. »Ich bin so froh, dass du anrufst«, begrüßte ihn dieser. »Seit Stunden versuche ich, dich in New York zu erreichen.« »Dad, hier ist alles zerstört. Ich besitze nur noch die Kleider, die ich am Leibe trage, und ich kann auch nicht lange sprechen. Ich wollte nur sehen, ob bei euch alles in Ordnung ist.« »Deinem Bruder und mir geht es gut«, erwiderte Bucks Vater. »Er betrauert natürlich noch immer den Verlust seiner Familie, aber uns geht es gut.« »Dad, dieses Land ist dem Untergang geweiht. Dir wird es erst gut gehen, wenn –« »Cameron, nicht schon wieder dieselbe Leier, okay? Ich weiß, dass dein Glaube dir Trost gibt –« »Dad, im Augenblick gibt er mir sehr wenig Trost. Es macht mich verrückt, dass ich die Wahrheit erst so spät erkannt habe. Ich habe schon so viele geliebte Menschen verloren. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren!« Sein Vater lachte leise und das machte Buck wütend. »Du wirst mich nicht verlieren, mein Junge. Niemand scheint Interesse daran zu haben, uns hier im Westen anzugreifen. Wir fühlen uns ein wenig vernachlässigt.« »Dad! Millionen von Menschen sterben. Mach dich darüber bitte nicht lustig!« »Und wie steht es nun mit deiner neuen Frau? Werden wir 70
sie jemals kennen lernen?« »Ich weiß es nicht, Dad. Ich weiß nicht einmal genau, wo sie sich im Augenblick aufhält, und ich habe keine Ahnung, ob du jemals die Gelegenheit haben wirst, sie kennen zu lernen.« »Schämst du dich deines eigenen Vaters?« »Natürlich nicht, Dad. Ich muss jetzt erst einmal sehen, ob sie den Angriff unbeschadet überstanden hat, und dann müssen wir irgendwie hier herauskommen. Such dir eine gute Gemeinde dort unten, Dad. Suche dir jemanden, der dir erklären kann, was hier vorgeht.« »Ich könnte mir niemanden vorstellen, der qualifizierter dazu ist als du, aber du musst mich erst mal in Ruhe selbst darüber nachdenken lassen.«
4 Rayford hörte, wie Carpathias Leute seine Sendung planten. »Gibt es eine Möglichkeit, herauszufinden, dass wir in der Luft sind?«, fragte Carpathia. »Keine«, wurde ihm versichert. Rayford war da nicht so sicher, aber wenn Carpathia keinen gravierenden Fehler machte, würde bestimmt niemand feststellen können, wo genau er sich befand. Als es an der Tür zum Cockpit klopfte, ließ Rayford den Geheimknopf los und drehte sich erwartungsvoll um. Es war einer von Carpathias Assistenten. »Bemühen Sie sich bitte, jegliche Störung zu vermeiden, und fliegen Sie uns über Dallas zurück. In etwa drei Minuten gehen wir über Satellit auf Sendung. Der Potentat sollte auf der ganzen Welt zu hören sein.« Na, toll, dachte Rayford. Buck telefonierte gerade mit Loretta, als Verna Zee sich hinter das Lenkrad ihres Wagens setzte. Sie warf ihre große Schulter71
tasche auf den Rücksitz und mühte sich mit dem Sicherheitsgurt ab. Sie zitterte so stark, dass sie ihn kaum befestigen konnte. Buck beendete sein Telefonat. »Verna, sind Sie in Ordnung? Ich habe gerade mit einer Frau aus unserer Gemeinde gesprochen, die ein Zimmer mit Bad für Sie hat.« An der Ausfahrt des Parkplatzes entstand ein kleiner Stau, da Vernas und Bucks Kollegen fast alle gleichzeitig losfuhren. Die Autoscheinwerfer waren die einzige Beleuchtung im ganzen Gebiet. »Cameron, warum tun Sie das für mich?« »Warum nicht? Sie haben mir Ihr Telefon geliehen.« »Aber ich habe mich Ihnen gegenüber so schrecklich verhalten.« »Und ich habe genauso reagiert. Es tut mir Leid, Verna. In einer solchen Zeit sollten wir wirklich nicht versuchen, unseren Kopf durchzusetzen.« Verna startete den Wagen, fuhr jedoch nicht los, sondern barg den Kopf in den Händen. »Soll ich fahren?«, fragte Buck. »Nein, geben Sie mir eine Minute Zeit.« Buck erklärte ihr, er brauche unbedingt einen fahrbaren Untersatz und müsse sich auf die Suche nach Chloe machen. »Cameron! Sie müssen verrückt sein!« »Um ganz ehrlich zu sein, das bin ich auch.« Sie löste ihren Sicherheitsgurt und griff nach dem Türgriff. »Nehmen Sie meinen Wagen, Cameron. Tun Sie, was Sie tun müssen.« »Nein«, erwiderte Buck. »Ihr Angebot, mir Ihren Wagen zu leihen, nehme ich gern an, aber zuerst werden wir Sie unterbringen.« »Aber Sie müssen sich sicher beeilen.« »Zu diesem Zeitpunkt kann ich nichts anderes tun, als Gott zu vertrauen«, sagte Buck. Er erklärte Verna, wie sie fahren sollte. Mit Höchstgeschwindigkeit raste sie nach Mount Prospect und kam mit quietschenden Reifen vor Lorettas wunderschönem alten Haus 72
zum Stehen. Verna wollte auf keinen Fall, dass Buck sich mit Förmlichkeiten aufhielt. »Wir alle wissen, wer der andere ist, Cameron, also fahren Sie schon weiter.« »Ich habe einen Wagen für Sie besorgt«, empfing Loretta Buck. »Er müsste jeden Augenblick kommen.« »Ich nehme jetzt erst einmal Vernas Wagen, aber trotzdem vielen Dank.« »Behalten Sie das Telefon, solange Sie es brauchen«, meinte Verna, nachdem Loretta sie begrüßt hatte. Buck setzte sich hinter das Steuer von Vernas Wagen und stellte sich Fahrersitz und Spiegel richtig ein. Er wählte die Nummer, die man ihm gegeben hatte, um Carpathia zu erreichen. Ein Assistent nahm den Anruf entgegen. »Ich werde ihm sagen, dass Sie zurückgerufen haben, Mr. Williams, aber im Augenblick spricht er im Radio zu der ganzen Welt. Vielleicht möchten Sie ja die Sendung mitverfolgen.« Buck stellte das Radio an, während er die Straße entlangraste, die Chloe seiner Meinung nach genommen hatte, um aus Chicago fortzukommen. »Meine Damen und Herren, von einem unbekannten Ort aus spricht jetzt live zu Ihnen der Potentat der Weltgemeinschaft: Nicolai Carpathia.« Rayford drehte sich auf seinem Sitz um und öffnete die Cockpittür. Das Flugzeug flog mit Autopilot und er und sein Erster Offizier verfolgten mit, was Carpathia der Weltbevölkerung zu sagen hatte. Bei der Einleitungsrede wirkte der Potentat amüsiert. Schmunzelnd zwinkerte er einigen seiner Botschafter zu. Er tat so, als würde er seinen Finger lecken und seine Augenbrauen glattstreichen, um sich für seine Zuschauer herzurichten. Die anderen unterdrückten nur mühsam ihr Lachen. Rayford wünschte, er hätte eine Waffe zur Hand. Wie auf ein Stichwort begann Carpathia mit trauriger Stimme zu sprechen. »Brüder und Schwestern der Weltgemeinschaft. 73
Während ich zu Ihnen spreche, bin ich von großer Traurigkeit erfüllt. Ich bin ein Mann des Friedens und trotzdem gezwungen worden, mit Waffengewalt gegen internationale Terroristen vorzugehen, die die Sache der Harmonie und Brüderlichkeit in Gefahr bringen könnten. Seien Sie versichert, dass ich mit Ihnen über den Verlust von geliebten Menschen, Freunden und Bekannten trauere. Der schreckliche Preis, der Tod von Zivilisten, sollte diese Feinde des Friedens für den Rest ihres Lebens verfolgen. Wie Sie wissen, haben die meisten der zehn Weltregionen, aus denen die Weltgemeinschaft zusammengesetzt ist, neunzig Prozent ihrer Waffen zerstört. Die vergangenen zwei Jahre haben wir damit verbracht, diese Waffen abzubauen, zu verpacken und nach Neu-Babylon zu verschiffen. Ich habe so sehr gehofft, dass wir sie niemals würden einsetzen müssen. Kluge Ratgeber haben mich jedoch überredet, an strategisch wichtigen Orten auf der ganzen Welt Lagerhäuser zu bauen und dort die Waffen zu lagen, die technologisch auf dem neuesten Stand sind. Ich gestehe, ich habe dies gegen meinen Willen getan, aber meine zu optimistische und positive Einstellung zum Menschen hat sich tatsächlich als falsch erwiesen. Ich bin sehr dankbar, dass ich mich habe überreden lassen, diese Waffen bereitzuhalten. Nicht in meinen wildesten Träumen hätte ich mir vorgestellt, dass ich diese schwierige Entscheidung einmal würde treffen und die Waffen auf breiter Ebene gegen meine Feinde würde richten müssen. Mittlerweile haben Sie sicherlich alle erfahren, dass sich zwei ehemalige Mitglieder des Exekutivrates der Weltgemeinschaft zusammengeschlossen haben, um sich gegen meine Regierung aufzulehnen. Ein anderes Mitglied hat sorglos zugesehen, wie die Militärstreitkräfte in seinem Gebiet dasselbe taten. Diese Streitkräfte standen unter dem Befehl des nun verstorbenen, ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika, Gerald Fitzhugh. Sie wurden vom amerikanischen Militär ausgebildet und verfügten über geheim gelagerte Waffen aus 74
den Vereinigten Staaten Großbritanniens und dem ehemals souveränen Land Ägypten. Zwar hätte ich nie gedacht, einmal meinen Ruf als Antikriegsaktivist verteidigen zu müssen, doch ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir sogleich gezielt zurückgeschlagen haben. Wo immer die Waffen der Weltgemeinschaft eingesetzt wurden, waren sie ausschließlich auf Militärstützpunkte der Rebellen gerichtet. Ich versichere Ihnen, dass alle Opfer der Zivilbevölkerung und die Zerstörung der dicht besiedelten Städte Nordamerikas und der ganzen Welt den Aufständischen anzulasten sind. Die Streitkräfte der Weltgemeinschaft haben keine weiteren Pläne für Gegenangriffe. Wir werden nur reagieren, wenn es unbedingt notwendig ist, und beten dafür, dass unsere Feinde begreifen, dass sie keine Chance haben. Sie können nicht siegen. Sie werden vollkommen vernichtet werden. Ich weiß, dass die meisten von uns in einer solchen Zeit der kriegerischen Auseinandersetzung in Angst und Trauer leben. Ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihren Schmerz teile. Doch meine Angst wurde überwunden durch das feste Vertrauen darauf, dass die Mehrheit der Weltgemeinschaft fest gegen die Feinde des Friedens zusammenhält. So bald wie möglich werde ich über Satellitenfernsehen und das Internet zu Ihnen sprechen. Sooft es geht, werde ich mich an Sie wenden, damit Sie genauestens über die Vorgänge informiert sind. Sie sollen wissen, dass wir unser Bestes tun werden, um wieder aufzubauen und neu zu organisieren. Wir werden uns großen Wohlstands erfreuen und das schönste Zuhause haben, das diese Erde uns bieten kann. Mögen wir alle zusammen für dieses gemeinsame Ziel arbeiten.« Während Carpathias Assistenten und Botschafter ihm zunickten und auf den Rücken klopften, suchte Rayford Amandas Blick und schloss fest die Tür zum Cockpit.
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Verna Zees Wagen war eine alte Karre, klapprig und mit einem 4-Zylinder-Motor mit Automatikgetriebe ausgestattet. Kurz gesagt, eine lahme Ente. Buck beschloss, aufs Ganze zu gehen und Verna später für eventuelle Schäden zu entschädigen. Er raste zum Kennedy Highway und dann in Richtung EdensKreuzung, während er überlegte, wie weit Chloe vom »Drake« aus bei dichtem Verkehr wohl gekommen sein konnte. Allerdings wusste er nicht, ob sie den Lake Shore Drive oder den Kennedy Drive genommen hatte. Sie kannte sich hier ja besser aus als er. Doch seine Frage beantwortete sich schon bald von selbst. Chicago stand in Flammen und die meisten Fahrer, die auf dem Kennedy Drive unterwegs waren, hielten in beiden Richtungen auf der Straße an und betrachteten das Chaos. Buck hätte alles dafür gegeben, am Steuer des Range Rovers zu sitzen. Als er Vernas kleinen Schrotthaufen von der Straße lenkte, musste er feststellen, dass er sich in guter Gesellschaft befand. In einer Zeit wie dieser waren Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt. Neben der Straße herrschte beinahe so viel Verkehr wie auf ihr. Aber er hatte keine Wahl. Buck hatte keine Ahnung, ob er die sieben Jahre der Trübsalszeit überleben würde, doch wenn er schon sterben musste, dann doch wenigstens bei dem Versuch, das Leben seiner geliebten Frau zu retten. Seit er zum Glauben an Jesus Christus gefunden hatte, war es für Buck ein Vorrecht gewesen, sein Leben in den Dienst für Gott zu stellen. In seinen Augen war Bruce ein Märtyrer für die Sache, egal, wodurch er getötet worden war. Sein Leben im Verkehr aufs Spiel zu setzen, war vielleicht nicht ganz so altruistisch, doch eines war sicher: Chloe hätte im umgekehrten Fall nicht einen Augenblick gezögert. Besonders schwierig wurde es an den Brückenübergängen, wo man am Straßenrand nicht mehr weiterkam und sich wieder in den dichten Verkehr einfädeln musste. Wütende Autofahrer versuchten, den Weg zu blockieren; Buck konnte es ihnen nicht 76
verübeln. An ihrer Stelle hätte er genauso reagiert. Die Nummer des Range Rovers hatte er in Vernas Handy gespeichert. Bei jeder Gelegenheit wählte er diese Nummer und immer wieder ertönte die Ansage: »Ihr gewünschter Gesprächspartner …« Kurz vor dem Landeanflug auf San Francisco setzte sich Rayford mit Amanda zusammen. »Sobald es geht, werde ich diese Tür öffnen, damit du aussteigen kannst«, sagte er. »Ich werde nicht erst die Checkliste nach der Landung durchgehen oder so etwas. Vergiss nicht, du musst unbedingt in der Luft sein, bevor wir starten, egal, welchen Flug du nimmst.« »Aber warum, Ray?« »Vertrau mir einfach, Amanda. Du weißt, dass ich nur dein Bestes will. Ruf mich über das Handy an, sobald du kannst, und erzähle mir, wie es Buck und Chloe geht.« Buck verließ die Schnellstraße und fuhr mehr als eine Stunde lang auf Seitenstraßen weiter, bis er Evanston erreichte. Die Sheridan Road am See war gesperrt, jedoch nicht bewacht. Offensichtlich wurden alle Polizisten und Sanitäter an anderer Stelle gebraucht. Er überlegte, ob er eine der Barrieren rammen sollte, doch das wollte er Vernas Wagen lieber nicht antun. Er stieg aus und schob die Straßensperre so weit zur Seite, dass er hindurchfahren konnte. Eigentlich wollte er die Straße offen lassen, doch aus einer der Wohnungen rief jemand: »Hey! Was machen Sie da?« Buck blickte hoch und winkte in die Richtung, aus der die Stimme kam. »Presse!«, rief er. »In Ordnung, machen Sie weiter!« Um das Ganze glaubwürdiger zu machen, nahm Buck sich die Zeit, aus seinem Wagen auszusteigen und die Straßensperre wieder richtig zu rücken, bevor er weiterfuhr. Dann und wann stand ein Polizeiwagen mit Blaulicht am Straßenrand. Buck betätigte nur seine Lichthupe und fuhr weiter. Keiner der Poli77
zisten hielt ihn auf. Niemand schien ihn auch nur zu beachten. Scheinbar glaubten sie, dass er das Recht hatte, so tief in ein gesperrtes Gebiet einzudringen, da er mit solcher Selbstsicherheit weiterfuhr. Er konnte kaum glauben, wie gut er hier vorankam, wo doch alle Zubringerstraßen zur Sheridan Road so hoffnungslos verstopft gewesen waren. Die Frage war nun noch, was er am Lake Shore Drive vorfinden würde. »Frustration« war ein zu schwaches Wort, um das zu beschreiben, was Rayford empfand, als er die Condor 216 in San Francisco landete und zu einem abgelegenen Flugsteig rollen ließ. Er hatte die unliebsame Aufgabe übernommen, den Antichristen in der Welt herumzufliegen. Gerade hatte Carpathia dem größten Publikum, das je einer einzigen Radiosendung zugehört hatte, die wildesten Lügen erzählt. Rayford wusste zweifelsfrei, dass San Francisco kurz nach seinem Start in Richtung Neu-Babylon genau wie Chicago durch einen Luftangriff zerstört werden würde. Menschen würden sterben. Industrie und Handel würden zusammenbrechen. Die Verkehrszentren würden lahm gelegt werden, ebenso wie der Flughafen, auf dem sie gerade standen. Rayfords erste Aufgabe würde sein, dafür zu sorgen, dass Amanda einen Flug nach Chicago bekam, bevor sie nach Neu-Babylon starteten. Da er nicht warten wollte, bis die Gangway an das Flugzeug gerollt worden war, öffnete er eigenhändig die Tür und ließ die ausziehbare Treppe hinunter. Er bedeutete Amanda, sich zu beeilen. Carpathia verabschiedete sich mit höflichen Worten von ihr, als sie an ihm vorbeieilte, und Rayford war froh, dass sie sich nicht auf ein längeres Gespräch mit ihm einließ. Das Bodenpersonal winkte Rayford zu und versuchte, ihm klarzumachen, dass er die Treppe wieder hochziehen sollte. Er rief: »Einer unsere Passagiere muss seinen Anschlussflug bekommen!« Rayford umarmte Amanda und flüsterte: »Ich habe mit dem Tower gesprochen. In weniger als zwanzig Minuten startet eine 78
Maschine von einem Flugsteig am Ende dieses Terminals. Sieh zu, dass du sie noch erwischst.« Rayford küsste Amanda und sie eilte die Treppen hinunter. Das Bodenpersonal wartete darauf, dass er die Treppe wieder hochzog und in Position rollte. Ihm fiel kein triftiger Grund ein, dies noch länger hinauszuzögern, darum ignorierte er die Leute einfach, ging zurück ins Cockpit und begann mit der Checkliste nach der Landung. »Was ist los?«, fragte sein Copilot. »Ich möchte diesen Platz so schnell wie möglich mit meinem Nachfolger tauschen.« Wenn du wüsstest, was dich erwartet, dachte Rayford. »Wo fliegen Sie heute Abend hin?« »Was geht Sie das an?«, gab der junge Mann zurück. Rayford zuckte die Achseln. Er fühlte sich so machtlos. Er konnte nicht alle retten. Konnte er überhaupt jemanden retten? Einer von Carpathias Assistenten steckte den Kopf zum Cockpit herein. »Captain Steele, Sie werden von dem Bodenpersonal gerufen.« »Ich habe alles im Griff. Sie werden warten müssen, bis wir die Checkliste nach der Landung durchgegangen sind. Ihnen ist sicher klar, dass es bei einem neuen Flugzeug vieles zu überprüfen gibt, bevor wir damit einen Flug über den Pazifik antreten.« »McCullum wartet darauf, an Bord kommen zu können, und außerdem steht unten unsere neue Crew bereit. Wir hätten nichts dagegen, den normalen Service in Anspruch nehmen zu können.« Rayford gab seiner Stimme einen gewollt fröhlichen Klang. »Die Sicherheit kommt zuerst.« »Na, dann beeilen Sie sich wenigstens!« Während der Erste Offizier die Punkte auf seiner Liste abhakte, erkundigte sich Rayford beim Tower, ob die Maschine nach Milwaukee pünktlich starten würde. »Sie wird etwa zwölf Minuten Verspätung haben, Condor 216, aber das dürfte Sie 79
nicht beeinträchtigen.« Das tut es aber doch, dachte Rayford. Rayford trat in die Kabine. »Entschuldigen Sie, Sir, aber sollte Mr. Fortunato nicht hier in San Francisco für den Weiterflug zu uns stoßen?« »Ja«, antwortete ein Assistent. »Er ist eine halbe Stunde nach uns in Dallas gestartet. Er müsste eigentlich bald hier eintreffen.« Wenn es nach mir geht, wird das noch eine Weile dauern, dachte Rayford. Buck traf schließlich auf ein Hindernis, das er nicht würde überwinden können. Er war über ein Dutzend Bordsteine geholpert und nun blieb ihm keine andere Möglichkeit, als die Straßensperre zu durchbrechen, die den Zubringer von der Sheridan Road zum Lake Shore Drive absperrte. An der Schnellstraße standen Autos und Notfallfahrzeuge mit Blaulicht am Straßenrand. Die Hilfskräfte versuchten, ihn zum Halten zu bringen. Er trat das Gaspedal von Verna Zees kleinem Wagen voll durch. Niemand wagte es, sich ihm in den Weg zu stellen. Die Zubringer zur Schnellstraße waren fast alle offen, doch er hörte die Leute schreien: »Halt! Die Straße ist gesperrt!« Im Radio hörte er, dass der Verkehr in der Innenstadt zum Erliegen gekommen war. In einem Bericht hieß es, dies sei seit der ersten Explosion der Fall. Buck wünschte, er hätte Zeit, die Ausfahrten zu überprüfen, die zum Strand hinunterführten. Es gab unzählige Stellen, an denen ein Range Rover die Straße hätte verlassen können. Wenn Chloe klar geworden war, dass sie es vom »Drake« nicht zum Kennedy Drive oder Eisenhower Drive schaffen konnte, könnte sie sich für den Lake Shore Drive entschieden haben. Doch als Buck schließlich an den Zubringer zur Michigan Avenue kam, von wo aus er das »Drake« erreichen konnte, hätte er fliegen müssen, um weiterzukommen. Die Straßensperre, die den Lake Shore Drive 80
und die Ausfahrt absperrte, sah aus wie eine Szene aus Les Miserables. Streifenwagen, Krankenwagen, Feuerwehrwagen, Straßensperren im gesamten Gebiet, dazu eine ganze Streitmacht von Helfern. Buck machte eine Vollbremsung, wobei der rechte Vorderreifen platzte und er ins Schleudern geriet. Die Helfer sprangen zur Seite. Mehrere Leute schimpften laut über ihn und eine Polizistin kam mit gezogener Pistole auf ihn zu. Buck wollte aussteigen, doch sie sagte: »Bleiben Sie, wo Sie sind, mein Lieber!« Mit einer Hand öffnete Buck das Seitenfenster und griff mit der anderen nach seinem Presseausweis. Die Polizistin wollte seine Papiere jedoch gar nicht sehen. Sie steckte ihre Waffe durchs Fenster herein und drückte sie an seine Schläfe. »Beide Hände dahin, wo ich sie sehen kann!« Sie öffnete die Tür und Buck machte sich an die schwierige Aufgabe, ohne Hilfe seiner Hände aus dem kleinen Wagen auszusteigen. Mit gespreizten Armen und Beinen musste er sich auf den Boden legen. Zwei andere Polizisten kamen hinzu und durchsuchten Buck. »Pistolen, Messer, spitze Gegenstände?« Buck ging in die Offensive. »Nein, keine. Nur zwei unterschiedliche Ausweise.« Die Polizisten zogen aus seinen hinteren Hosentaschen zwei Brieftaschen. Die eine enthielt seinen eigenen Ausweis, die andere die Papiere des erfundenen Herb Katz. »Wer sind Sie nun wirklich? Und wieso haben Sie zwei Ausweise?« »Ich bin Cameron Williams, Herausgeber des ›Global Community Weekly‹ und dem Potentaten direkt unterstellt. Mit den gefälschten Papieren reise ich in Länder, in denen ich nicht willkommen bin.« Ein junger, schlanker Polizist riss seiner Kollegin die Brieftasche mit Bucks echten Papieren aus der Hand. »Lass mich mal sehen«, sagte er sarkastisch. »Wenn Sie wirklich unmittelbar mit Nicolai Carpathia zusammenarbeiten, müssten Sie einen 281
A-Sicherheitsausweis haben, und ich sehe keinen – huch, ich schätze, ich sehe hier doch einen 2-A-Sicherheitsausweis.« Die drei Polizisten beugten sich über den so seltenen Ausweis. »Sie wissen, dass das Mitführen eines gefälschten 2-ASicherheitsausweises mit dem Tod bestraft wird –« »Ja, das weiß ich.« »Wir werden nicht einmal Ihr Kennzeichen überprüfen können, da die Computer vollkommen überlastet sind.« »Ich kann Ihnen sofort sagen«, erklärte Buck, »dass ich diesen Wagen von einer Freundin mit Namen Zee geliehen habe. Sie können das überprüfen, bevor Sie diesen Wagen verschrotten.« »Sie können den Wagen doch nicht hierlassen!« »Was soll ich denn damit machen?«, fragte Buck. »Er ist wertlos, hat einen platten Reifen und wir werden heute Abend niemanden mehr finden, der ihn abschleppt.« »Und wahrscheinlich auch in den nächsten zwei Wochen nicht«, meinte einer der Polizisten. »Wohin wollen Sie denn so eilig?« »Zum ›Drake‹.« »Wo haben Sie gesteckt, mein Lieber? Hören Sie denn keine Nachrichten? Der größte Teil der Michigan Avenue ist zerstört.« »Auch das ›Drake‹?« »Das weiß ich nicht, aber es kann das Ganze nicht unbeschadet überstanden haben.« »Wenn ich über diesen Hügel zu Fuß zur Michigan Road laufe, werde ich dann am radioaktiven Niederschlag sterben?« »Die Leute vom zivilen Verteidigungsschutz sagen, es gebe keinen radioaktiven Niederschlag. Wie auch immer, falls dies wirklich nukleare Bomben gewesen wären, hätte sich die Radioaktivität sowieso schon sehr viel weiter ausgebreitet.« »Das stimmt allerdings«, sagte Buck. »Darf ich gehen?« »Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie an den Posten auf 82
der Michigan Road vorbeikommen.« »Ich werde es versuchen.« »Die größten Chancen haben Sie noch immer mit diesem Sicherheitsausweis. Um Ihretwillen hoffe ich, dass er echt ist.« Rayford konnte das Bodenpersonal nun nicht mehr länger hinhalten, zumindest nicht, indem er sie einfach ignorierte. Er zog die Treppe hoch, damit die Gangway herangefahren werden konnte, doch er zog sie nicht ganz ein; so war es unmöglich, die Gangway an das Flugzeug anzudocken. Daraufhin kehrte er ins Cockpit zurück und beschäftigte sich mit den Instrumenten, anstatt in der Tür stehen zu bleiben und das Heranfahren der Gangway zu beobachten. Ich möchte gar kein Kerosin, bevor Amandas Flugzeug nicht gestartet ist. Es dauerte fünfzehn Minuten, bis Rayfords Copilot mit seinem Ersatzmann den Platz tauschen und die Crew an Bord kommen konnte. Jedes Mal, wenn das Bodenpersonal Rayford durchgab, sie seien bereit, das Flugzeug aufzutanken, antwortete er, er sei aber noch nicht so weit. Schließlich fuhr ihn ein verzweifelter Arbeiter an: »Was ist denn da oben eigentlich los, Chef? Man sagte mir, dies sei ein VIP-Flugzeug und sollte bevorzugt abgefertigt werden.« »Da hat man Ihnen etwas Falsches gesagt. Dies ist ein Frachtflugzeug, und zwar ein neues. Wir im Cockpit müssen erst damit umgehen lernen, außerdem wird die Crew ausgetauscht. Warten Sie noch eine Weile. Wir werden uns melden, wenn wir so weit sind.« Zwanzig Minuten später, als er hörte, dass Amandas Flugzeug nach Milwaukee gestartet war, atmete er erleichtert auf. Nun konnten die Leute mit dem Auftanken beginnen; er konnte entspannen und sich auf den langen Flug über den Pazifik vorbereiten. »Mann, das ist ein Flugzeug, nicht wahr?«, meinte McCullum, als er sich im Cockpit umsah. 83
»Da haben Sie Recht«, stimmte Rayford zu. »Ich habe einen langen Tag hinter mir, Mac, und würde mich gern aufs Ohr legen, sobald wir den Vogel auf Kurs gebracht haben.« »Mit Vergnügen. Von mir aus können Sie die ganze Nacht durchschlafen. Soll ich Sie wecken, wenn wir zum Landeanflug ansetzen?« »Ich möchte das Cockpit eigentlich nicht verlassen«, sagte Rayford. »Ich bleibe hier, falls Sie mich brauchen.« Plötzlich wurde Buck klar, dass er ein großes Risiko eingegangen war. Es würde nicht lange dauern, bis Verna Zee herausfinden würde, dass er, zumindest früher einmal, der New HopeGemeinde angehört hatte. Er hatte zwar darauf geachtet, dort niemals eine Führungsrolle zu übernehmen, niemals in der Öffentlichkeit zu sprechen und sich mit seinen Kontakten zu anderen möglichst zurückzuhalten. Und nun würde eine seiner eigenen Angestellten – noch dazu eine Frau, die ihm schon lange feindlich gesinnt war – bald über ein Wissen verfügen, das ihn ruinieren, ihn sogar das Leben kosten konnte. Über Vernas Telefon rief er bei Loretta an. »Loretta«, sagte er, »ich muss unbedingt mit Verna sprechen.« »Im Augenblick ist sie ziemlich durcheinander, aber uns geht es ja im Moment allen so«, erwiderte Loretta. »Ich hoffe, Sie beten für dieses Mädchen.« »Das werde ich ganz bestimmt«, entgegnete Buck. »Wie kommen Sie beide miteinander klar?« »So gut, wie man es von zwei Menschen erwarten kann, die sich vollkommen fremd sind. Ich erzähle ihr gerade meine Geschichte, was Sie vermutlich von mir erwartet haben.« Buck schwieg. Schließlich sagte er: »Holen Sie sie bitte an den Apparat, Loretta.« Sie holte Verna und Buck kam sofort zur Sache. »Verna, Sie brauchen einen neuen Wagen.« »O nein! Cameron, was ist passiert?« 84
»Es ist nur ein geplatzter Reifen, Verna, aber in den nächsten Tagen wird es unmöglich sein, ihn zu reparieren, und ich glaube auch nicht, dass sich der Aufwand für Ihren Wagen noch lohnt.« »Na, vielen Dank!« »Wie wäre es, wenn ich ihn durch einen besseren Wagen ersetze?« »Dagegen hätte ich nichts einzuwenden«, murmelte sie. »Ich verspreche es. Also, Verna, ich werde dieses Vehikel nun hier stehen lassen. Brauchen Sie noch etwas daraus?« »Nichts Wichtiges. Im Handschuhfach liegt eine Haarbürste, die ich sehr mag.« »Verna!« »Angesichts der Ereignisse scheint das wirklich trivial zu sein.« »Keine Papiere, persönliche Habseligkeiten, verstecktes Geld oder so etwas?« »Nein. Tun Sie, was Sie tun müssen. Es wäre nett, wenn ich deswegen keine Schwierigkeiten bekommen würde.« »Ich werde die Behörden benachrichtigen, damit der Wagen zum Schrottplatz geschleppt wird. Das, was Sie noch dafür bekommen, können sie mit den Abschleppgebühren verrechnen.« »Cameron«, flüsterte Verna, »diese Frau ist wirklich ein komischer alter Vogel.« »Im Augenblick habe ich nicht die Zeit, mit Ihnen darüber zu sprechen, Verna. Aber geben Sie ihr eine Chance. Sie ist wirklich sehr nett. Und immerhin gibt Sie Ihnen im Moment ein Zuhause.« »Nein, Sie haben mich missverstanden. Ich meine, sie ist einfach wundervoll. Sie hat nur ein paar seltsame Ansichten.« Während Buck über die Böschung kletterte, um die Michigan Avenue überblicken zu können, erfüllte er sein Versprechen an Loretta, für Verna zu beten. Was er beten sollte, wusste er 85
allerdings nicht so genau. Entweder sie wird gläubig oder ich bin ein toter Mann. Während Buck die ausgebombten Gebäude an der Michigan Avenue betrachtete und daran dachte, dass es vermutlich in ganz Chicago so aussah, musste er unwillkürlich an seine Erlebnisse in Israel denken, als das Land damals von Russland angegriffen worden war. Er konnte sich das Geräusch der fallenden Bomben und die sengende Hitze vorstellen, doch bei diesem Zwischenfall war das Heilige Land auf wundersame Weise vor Schaden bewahrt worden. Hier hatte es kein solches übernatürliches Eingreifen gegeben. Er drückte die Wahlwiederholungstaste an Vernas Telefon, wobei er vergaß, dass er zuletzt mit Loretta gesprochen und nicht die Nummer des Autotelefons im Range Rover gewählt hatte. Als er nicht wie bei den vorangegangenen Anrufen die übliche Ansage erhielt: »Ihr gewünschter Gesprächspartner …«, blieb er stehen und betete, dass Chloe antworten würde. Als Loretta sich meldete, war er zuerst sprachlos. »Hallo? Wer ist da?« »Es tut mir Leid, Loretta«, sagte er schließlich. »Ich habe die falsche Nummer gewählt.« »Ich bin so froh, dass Sie es sind, Buck. Verna wollte Sie gerade noch einmal anrufen.« »Warum?« »Das wird Sie Ihnen besser selbst sagen.« »Cameron, ich habe mit dem Büro gesprochen. Ein paar Leute sind noch dort und haben ein Auge auf alles. Sie haben versprochen, abzuschließen, wenn sie fertig sind. Für Sie sind einige Anrufe gekommen.« »Von Chloe?« »Nein, tut mir Leid. Da war ein Anruf von Dr. Rosenzweig aus Israel. Ein anderer von einem Mann, der behauptete, Ihr Schwiegervater zu sein. Und dann noch einer von einer Miss White, die sagte, sie wolle um Mitternacht vom Flughafen in 86
Milwaukee abgeholt werden.« Miss White?, dachte Buck. Wie gerissen von Amanda, sich mit dem Namen ihres ersten Mannes zu melden und damit unsere Familienverbindungen geheim zu halten. »Vielen Dank, Verna. Ich habe alles verstanden.« »Cameron, wie wollen Sie denn ohne Fahrzeug jemanden in Milwaukee vom Flugplatz abholen?« »Ich habe noch einige Stunden Zeit, mir das zu überlegen. Im Augenblick scheint mir so viel Zeit ein Luxus zu sein.« »Loretta hat ihren Wagen angeboten, vorausgesetzt, ich wäre bereit zu fahren«, sagte Verna. »Ich hoffe, das wird nicht nötig sein«, erwiderte Buck. »Aber trotzdem vielen Dank. Ich werde noch Bescheid sagen.« Als Buck inmitten des Chaos stand, fühlte er sich nicht wie ein Journalist. Er hätte alles in sich aufnehmen und die für die Aufräumungsarbeiten Verantwortlichen interviewen sollen. Aber niemand schien verantwortlich zu sein. Alle waren an der Arbeit. Und Buck war es egal, ob er dies zu einer Story machen konnte oder nicht. Seine Zeitung wurde zusammen mit allen anderen wichtigen Medienorganen von Nicolai Carpathia kontrolliert. So sehr er sich auch um eine objektive Berichterstattung bemühte, alles wurde von dem Meister der Täuschung so gefärbt, wie er es haben wollte. Und das Schlimmste war, Nicolai war tatsächlich sehr gut darin, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Natürlich musste er das auch sein. Es gehörte zu seiner Natur. Buck gefiel es allerdings überhaupt nicht, dass er selbst dazu missbraucht wurde, Propaganda und Lügen zu verbreiten, die die Menschen nur zu gern glaubten. Doch im Augenblick interessierte ihn nur der Verbleib von Chloe. Zögernd hatte er sich gestattet, darüber nachzudenken, dass er sie vielleicht verloren hatte. Sicher, am Ende der Trübsalszeit würde er sie wieder sehen, aber würde er den Willen aufbringen, ohne sie weiterzumachen? Sie war zum Mittelpunkt seines Lebens geworden, um den sich alles andere dreh87
te. In der kurzen Zeit ihrer Ehe hatte sich gezeigt, dass sie mehr zu bieten hatte, als er sich je von einer Frau erhofft hatte. Es stimmte, gemeinsam arbeiteten sie für eine Sache, die ihnen wichtig war, und das half ihnen, die vielen kleinen Nichtigkeiten zu überwinden, an denen so viele Ehen zerbrachen. Aber er hatte das Gefühl, dass ihre Ehe auch unter anderen Umständen relativ problemlos verlaufen wäre. Chloe war niemals nörglerisch, sondern selbstlos und liebevoll. Sie vertraute ihm und unterstützte ihn, wo es nur ging. Er würde nicht aufhören, sie zu suchen, bis er sie gefunden hatte. Und bis er es nicht mit Sicherheit wusste, würde er sie nie für tot halten. Buck wählte erneut die Nummer des Range Rover. Wie oft hatte er das nun schon getan? Er wusste schon, was nun kommen würde. Als das Besetztzeichen ertönte, gaben seine Knie beinahe unter ihm nach. Hatte er die richtige Nummer gewählt? Er musste sie erneut eingeben, weil die Wahlwiederholungstaste ihn vermutlich nur wieder mit Lorettas Anschluss verbunden hätte. Inmitten des Chaos blieb er auf dem Bürgersteig stehen und drückte mit zitternden Fingern vorsichtig und doch entschlossen die Zahlen. Er drückte das Handy an sein Ohr. »Ihr gewünschter Gesprächspartner …« Buck fluchte und packte Vernas Telefon so fest, dass es beinahe zerbrochen wäre. Er machte einen Schritt vorwärts und beugte seinen Arm zurück, als wollte er das Telefon gegen die Mauer eines Gebäudes schleudern. Jedoch hielt er rechtzeitig inne, da ihm klar wurde, dass das das Dümmste wäre, was er machen konnte. Verzweifelt schüttelte er den Kopf über das Schimpfwort, das er gesagt hatte, als er die Ansage hörte. Der alte Mensch ist also doch immer noch da. Er war wütend auf sich selbst. Wie konnte er unter diesen Umständen nur die falsche Nummer gewählt haben? Obwohl er wusste, dass er erneut die verhasste Ansage hören würde, konnte er nicht anders, als die Wahlwiederholungstaste zu drücken. Jetzt war die Leitung tatsächlich besetzt! War das 88
wieder eine Störung? Ein grausamer kosmischer Scherz? Oder versuchte wirklich jemand, dieses Telefon zu benutzen? Natürlich musste es nicht unbedingt Chloe sein. Es konnte jeder andere Mensch sein. Vielleicht ein Polizist. Oder ein Sanitäter. Vielleicht auch jemand, der das Wrack ihres Range Rovers gefunden hatte. Nein, daran wollte er nicht denken. Chloe war noch am Leben. Sie versuchte, ihn zu erreichen. Aber wo würde sie anrufen? In der Gemeinde war niemand. Soweit er wusste, hielt sich auch niemand mehr im Büro des Global Community Weekly auf. Ob sie wohl Lorettas Nummer hatte? Sie würde leicht zu bekommen sein. Die Frage war, ob er versuchen sollte, im Büro oder bei Loretta anzurufen, oder ob er einfach weiter versuchen sollte, sie zu erreichen. Die Chefstewardess der Crew, die fast doppelt so viele Personen umfasste, wie sich Passagiere an Bord befanden, klopfte an die Cockpittür und öffnete sie, als Rayford langsam zur Startbahn rollte. »Captain«, sagte sie, während er den Kopfhörer von seinem rechten Ohr zurückzog, »die Passagiere haben noch nicht alle Platz genommen und sich angeschnallt.« »Ich werde nicht mehr anhalten«, entgegnete er. »Kommen Sie mit der Situation nicht zurecht?« »Der Betreffende ist Mr. Carpathia, Sir.« »Ich habe ihm nichts vorzuschreiben«, meinte Rayford. »Und Sie auch nicht.« »Aber die Bundesflugvorschriften besagen, dass –« »Falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist, ›Bundesirgendetwas‹ existiert nicht mehr. Alles ist ›Weltweit‹. Und Carpathia steht über allem. Wenn er sich nicht setzen möchte, kann er stehen bleiben. Ich habe meine Ansage gemacht, und Sie haben doch auch Ihre Anweisungen gegeben, nicht wahr?« »Ja.« »Dann setzen Sie sich hin und schnallen sich an. Der Potentat 89
soll sich um sich selbst kümmern.« »Wenn Sie es sagen, Captain. Aber wenn dieses Flugzeug so stark ist wie eine 757, würde ich nicht stehen wollen, wenn Sie beschleunigen –« Rayford hatte seinen Kopfhörer wieder aufgesetzt und brachte das Flugzeug in Startposition. Während er auf die Anweisungen des Towers wartete, glitt seine linke Hand unter den Sitz und drückte den Knopf der Gegensprechanlage. Jemand fragte Carpathia gerade, ob er sich nicht hinsetzen wolle. Rayford merkte auf einmal, dass McCullum ihn erwartungsvoll ansah, so als hätte er etwas über seinen Kopfhörer gehört, worauf Rayford nicht reagierte. Schnell ließ Rayford den Knopf los und hörte, wie McCullum sagte: »Wir haben Starterlaubnis, Captain. Wir können rollen.« Rayford hätte rollen und langsam beschleunigen können, bis die Maschine genügend Geschwindigkeit für den Start gehabt hätte. Doch jeder wollte von Zeit zu Zeit ein wenig Nervenkitzel haben, oder? Also trat er das Gaspedal voll durch und schoss mit einer solchen Geschwindigkeit und Macht über die Startbahn, dass McCullum und er in ihre Sitze gedrückt wurden. »YEEAH!«, rief McCullum. »Gib’s ihr, Cowboy!« Rayford musste an vieles denken, da er dieses Flugzeug erst zum dritten Mal startete, und eigentlich hätte er sich voll auf seine Aufgabe konzentrieren müssen. Doch er konnte nicht widerstehen, den Knopf der Gegensprechanlage unter seinem Sitz zu drücken und zu hören, was mit Carpathia passiert war. Er stellte sich vor, wie der Mann durch das ganze Flugzeug purzelte, und wünschte, es gäbe eine Hintertür, die er vom Cockpit aus öffnen konnte. »Ach du meine Güte!«, hörte er einen Schreckensruf aus dem Passagierraum. »Potentat, sind Sie in Ordnung?« Rayford hörte Geräusche, so als würden die anderen versuchen, sich abzuschnallen, um Carpathia zu helfen, doch da das Flugzeug noch immer über die Startbahn schoss, wurden diese 90
Männer durch die Fliehkraft in ihren Sitz gedrückt. »Ich bin in Ordnung«, erwiderte Carpathia. »Es ist meine Schuld. Alles in Ordnung.« Rayford schaltete die Sprechanlage aus und konzentrierte sich auf seinen Start. Insgeheim wünschte er sich, Carpathia wäre gegen einen der Sitze geflogen. Vermutlich wäre er dabei kopfüber auf dem Boden gelandet. Wahrscheinlich die letzte Gelegenheit, Gerechtigkeit zu üben. Buck wurde zwar von niemandem beachtet, doch er wollte nicht verdächtig erscheinen. Er drückte sich in eine Ecke und stand im Schatten, als er die Wahlwiederholungstaste immer und immer wieder drückte. Er wollte nicht, dass auch nur eine Sekunde zwischen den Anrufen ungenutzt verging, falls tatsächlich Chloe telefonierte. In der kurzen Zeit zwischen zwei Anrufen läutete sein eigenes Telefon. Buck rief: »Hallo! Chloe?«, noch bevor er die Sprechtaste gedrückt hatte. Seine Hände zitterten so heftig, dass er das Telefon beinahe hätte fallen lassen. Er drückte den Knopf und rief: »Chloe?« »Nein, Cameron, hier spricht Verna. Aber ich habe gerade im Büro erfahren, dass Chloe versucht hat, Sie dort zu erreichen.« »Hat ihr jemand die Nummer dieses Telefons gegeben?« »Nein. Sie wussten nicht, dass Sie mein Telefon haben.« »Ich versuche, sie zu erreichen, Verna. Die Leitung ist besetzt.« »Versuchen Sie es weiter, Cameron. Sie hat nicht gesagt, wo sie ist oder wie es ihr geht, aber wenigstens wissen Sie jetzt, dass sie am Leben ist.« »Gott sei Dank!«
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5 Buck wollte vor Freude springen oder schreien oder irgendwohin laufen, aber er wusste nicht, wohin. Die Nachricht, dass Chloe am Leben war, war das Beste, das er je erfahren hatte, doch nun wollte er handeln. Auch weiterhin war nur das Besetztzeichen zu hören, wenn er die Wahlwiederholungstaste drückte. Plötzlich läutete sein Telefon erneut. »Chloe!« »Nein, es tut mir Leid, Cameron, hier spricht noch einmal Verna.« »Verna, bitte! Ich versuche, Chloe zu erreichen!« »Beruhigen Sie sich. Sie hat noch einmal im ›Weekly‹ angerufen. Und jetzt hören Sie. Wo sind Sie jetzt und wie sind Sie dahin gelangt?« »Ich befinde mich auf der Michigan Avenue in der Nähe vom Water Tower Place oder dem, was früher der Water Tower Place gewesen ist.« »Wie sind Sie dahin gekommen?« »Über die Sheridan zum Lake Shore Drive.« »Okay«, sagte Verna. »Chloe hat jemandem im Büro gesagt, sie befinde sich auf der anderen Seite des Lake Shore Drive.« »Auf der anderen Seite?« »Mehr weiß ich auch nicht, Cameron. Sie werden in der anderen Richtung in der Nähe der Straße auf der Seeseite suchen müssen.« Noch während er sprach, setzte sich Buck in Bewegung. »Ich verstehe nicht, wie sie auf die Seeseite gekommen ist, wenn sie auf der Schnellstraße in Richtung Süden gefahren ist.« »Ich auch nicht«, meinte Verna. »Vielleicht hoffte sie, alles umfahren zu können, indem sie diesen Weg genommen hat, und als sie sah, dass das nicht ging, hat sie gedreht und ist zurückgefahren.« 92
»Sagen Sie allen im Büro, sie möchten ihr ausrichten, sie solle nicht mehr telefonieren, bis ich sie erreiche. Vielleicht kann sie mich zu sich führen.« Alle verbleibenden Zweifel, die Rayford Steele vielleicht noch an der unglaublich bösen Macht Nicolai Carpathias hegte, wurden wenige Minuten, nachdem die Condor 216 vom internationalen Flughafen in San Francisco aus gestartet war, ausgelöscht. Über die geheime Abhöranlage hörte er, wie einer von Carpathias Assistenten fragte: »Jetzt, Sir? Auf San Francisco?« »Ja, jetzt«, ertönte die geflüsterte Antwort. Der Assistent, der offensichtlich in ein Telefon sprach, sagte nur: »Und los.« »Sehen Sie auf dieser Seite aus dem Fenster«, forderte Carpathia ihn auf. Die Aufregung war seiner Stimme anzuhören. »Sehen Sie nur!« Rayford war versucht, eine Kurve zu fliegen, um alles mit anzusehen, doch andererseits war es gut, dass er es nicht sah und sich der schreckliche Anblick nicht in sein Gedächtnis eingrub. McCullum und er blickten sich an, als sie plötzlich in ihren Kopfhörern die verängstigten Schreie der Fluglotsen im Kontrollturm hörten. »Mayday! Mayday! Wir werden von der Luft aus angegriffen!« Die Erschütterungen ließen die Kommunikation zusammenbrechen und Rayford war klar, dass die Bomben sicherlich den gesamten Tower, sowie den größten Teil des Flughafens und vermutlich einen großen Teil des angrenzenden Gebietes zerstören würden. Rayford wusste nicht, wie lange er es noch ertragen konnte, der Pilot des Bösen höchstpersönlich zu sein. Für einen Mann Anfang dreißig war Buck in einigermaßen guter körperlicher Verfassung, doch als er nun zur Chicago Avenue und nach Westen zum See rannte, taten seine Gelenke weh und seine Lungen schrien nach Sauerstoff. Wie weit in 93
Richtung Süden mochte Chloe gefahren sein, bevor sie gedreht hatte? Sie musste den Wagen gewendet haben. Wie hätte sie sonst von der Straße und auf diese Seite kommen können? Als er die Schnellstraße endlich erreichte, fand er sie leer vor. Er wusste, dass sie vom Norden, von der Ausfahrt Michigan Avenue aus gesperrt war. Vermutlich war sie auch im Süden in der anderen Richtung gesperrt. Keuchend sprang er über die Leitplanke, rannte in die Mitte der Straße und zur anderen Seite. Er sah dort das sinnlose Umspringen der Verkehrsampeln und lief in Richtung Süden weiter. Chloe war zwar am Leben, aber er hatte keine Ahnung, in welcher Verfassung sie war. Da er annahm, dass Chloe keine lebensbedrohlichen Verletzungen erlitten hatte, war die große Frage nun, ob das Material aus Bruces Computer oder schlimmer noch, der Computer selbst, vielleicht in falsche Hände gefallen war. An manchen Stellen sagte Bruce ganz eindeutig, dass seiner Meinung nach Nicolai Carpathia der Antichrist sei. Buck wusste nicht, wie er es schaffte, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch er rannte immer weiter, drückte die Wahlwiederholungstaste und hielt sich den Hörer ans Ohr, während er lief. Als er nicht mehr weiter konnte, ließ er sich in den Sand fallen und lehnte sich keuchend gegen die Leitplanke. Endlich hatte er Chloe am Apparat. Da Buck sich nicht überlegt hatte, was er sagen wollte, stellte er fest, dass er belangloses Zeug faselte. »Bist du in Ordnung? Bist du verletzt? Wo bist du?« Wirklich Wichtiges, zum Beispiel, dass er sie liebte, dass er Todesängste um sie ausstand oder dass er froh war, sie am Leben zu wissen, hatte er ihr nicht gesagt. Vermutlich wusste sie es sowieso. Außerdem konnte er ihr das alles auch später noch sagen. Ihre Stimme klang schwach. »Buck«, fragte sie, »wo bist du?« »Ich bin auf dem Lake Shore Drive südlich der Chicago Avenue.« 94
»Gott sei Dank«, sagte sie. »Ich schätze, du musst noch etwa eine Meile laufen.« »Bist du verletzt?« »Ich fürchte ja, Buck«, antwortete sie. »Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war. Ich weiß nicht einmal genau, wie ich hierhergekommen bin.« »Und wo genau bist du?« Buck hatte sich erhoben und ging schnell weiter. Laufen konnte er nicht mehr, trotz seiner Furcht, dass sie vielleicht verblutete oder in einen Schockzustand fiel. »Ich bin an einem höchst seltsamen Ort«, erwiderte sie und er spürte, dass sie beinahe das Bewusstsein verlor. Sie musste noch immer im Wagen sein, denn das Telefon ließ sich nicht herausnehmen. »Der Airbag hat sich aufgeblasen«, fügte sie hinzu. »Ist der Rover noch intakt?« »Ich habe keine Ahnung, Buck.« »Chloe, du wirst mir sagen müssen, wonach ich suchen muss. Stehst du auf freiem Feld? Bist du diesem Polizeiwagen übrigens entkommen?« »Buck, der Range Rover scheint zwischen einem Baum und einem Betonpfeiler festzustecken.« »Was?!« »Ich fuhr etwa sechzig Meilen«, berichtete sie, »als ich eine Ausfahrt zu sehen glaubte. Ich nahm sie und in diesem Augenblick hörte ich die Explosion der Bombe.« »Die Bombe?« »Ja, Buck, du weißt doch sicher, dass in Chicago eine Bombe explodiert ist?« Eine Bombe?, dachte Buck. Wahrscheinlich war es gut, dass sie bewusstlos war und von den anderen Bomben nichts mitbekommen hat. »Auf jeden Fall sah ich, wie der Streifenwagen an mir vorbeigefahren ist. Vielleicht war er doch nicht hinter mir her. Der 95
gesamte Verkehr auf dem Lake Shore Drive kam nach der Explosion der Bombe zum Erliegen und der Streifenwagen ist in einen anderen Wagen hineingefahren. Ich hoffe, dass es dem Polizisten gut geht und er dabei nicht ums Leben gekommen ist. Ich fühle mich mitverantwortlich.« »Und wo bist du jetzt, Chloe?« »Na ja, ich glaube, das, was ich für eine Ausfahrt gehalten habe, war gar keine Ausfahrt. Ich habe nicht gebremst, aber den Fuß vom Gaspedal genommen. Der Range Rover ist einige Sekunden lang durch die Luft geschossen. Meinem Gefühl nach etwa hundert Fuß oder so. Dann landete ich auf einigen Bäumen, kippte zur Seite und rutschte zwischen einen Baum und einen Betonpfeiler. Und dann bin ich aufgewacht und war ganz allein hier.« »Wo?« Buck war verzweifelt, aber ganz bestimmt konnte er Chloe nicht die Schuld dafür geben, dass sie keine genaueren Angaben machte. »Niemand hat mich gesehen«, erzählte sie schläfrig. »Irgendwie müssen meine Scheinwerfer ausgegangen sein. Ich bin auf dem Vordersitz eingeklemmt, hänge fast im Sicherheitsgurt. Ich kann den Rückspiegel erreichen und als ich nach dem Unfall hineinblickte, sah ich nur, wie die Autos alle fortrasten und dann keine Autos mehr kamen. Kein Blaulicht mehr, gar nichts.« »Es ist niemand in der Nähe?« »Niemand. Ich musste den Wagen abstellen und dann wieder an, damit das Telefon funktionierte. Ich habe gebetet, dass du nach mir suchen würdest, Buck.« Es hörte sich so an, als würde sie jeden Augenblick einschlafen. »Bleib in der Leitung, Chloe. Du brauchst nicht zu sprechen, halte nur die Leitung offen, damit ich auch ganz bestimmt nicht an dir vorbeilaufe.« Die einzigen Lichter, die Buck entdecken konnte, waren das Blaulicht in der Nähe der Innenstadt, der Feuerschein von den 96
Bränden und ab und zu winzige Lichtpunkte von den Booten auf dem See. Der Lake Shore Drive lag im Dunkeln. Nördlich der Stelle, wo er das Blaulicht gesehen hatte, waren alle Straßenlaternen ausgegangen. Er bog um eine langgestreckte Kurve und sah sich um. Im schwachen Mondschein meinte er ein aufgerissenes Stück Leitplanke erkennen zu können, einige Bäume und einen Betonpfeiler, einer von denen, die eine Überführung zum Strand trugen. Langsam ging er weiter und blieb dann stehen, um sich umzusehen. Er musste etwa zweihundert Meter von der Stelle entfernt sein. »Chloe?«, rief er ins Telefon. Keine Antwort. »Chloe? Bist du noch dran?« Er hörte einen Seufzer. »Ich bin noch dran, Buck. Aber ich fühle mich nicht so besonders.« »Kannst du die Scheinwerfer einschalten?« »Ich kann es versuchen.« »Tu das. Aber pass auf, tu dir nicht weh.« »Ich werde versuchen, mich am Lenkrad hochzuziehen.« Buck hörte, wie sie vor Schmerzen aufstöhnte. Plötzlich entdeckte er in der Ferne einen vertikalen Lichtstrahl. »Ich sehe dich, Chloe. Halte durch.« Rayford tat, als würde er schlafen. Er hatte es sich auf seinem Pilotensessel bequem gemacht und atmete gleichmäßig. Doch er hatte die Kopfhörer aufgesetzt und seine linke Hand drückte den geheimen Knopf zur Gegensprechanlage. Carpathia sprach leise, damit die Crew nichts mitbekam. »Ich war so aufgeregt und steckte so voller Ideen«, erzählte der Potentat gerade, »dass ich es nicht auf meinem Sitz aushalten konnte. Ich hoffe, dass ich keine Schramme davongetragen habe.« Seine Lakaien brüllten vor Lachen. Nichts ist lustiger als ein Witz des Chefs, dachte Rayford. »Es gibt so vieles zu besprechen, so vieles zu tun«, fuhr Car97
pathia fort. »Wenn die anderen Botschafter in Bagdad zu uns stoßen, werden wir uns sofort an die Arbeit machen.« Von der Zerstörung des Flughafens von San Francisco und eines großen Teiles des Bay-Gebietes wurde bereits in den Nachrichten berichtet. Rayford entdeckte die Furcht in McCullums Augen. Vielleicht hätte der Mann weniger Angst gehabt, wenn er gewusst hätte, dass sein Chef, Nicolai Carpathia, während der kommenden Jahre fast alles unter Kontrolle haben würde. Plötzlich ertönte die unverwechselbare Stimme von Leon Fortunato. »Potentat«, flüsterte er, »wir werden Ersatz für Hernandez, Halliday und Ihre Verlobte brauchen, nicht wahr?« Rayford fuhr hoch. War es möglich? Hatten sie diese drei bereits eliminiert? Und warum Hattie Durham? Er fühlte sich dafür verantwortlich, dass seine ehemalige Chefstewardess nun nicht nur in Carpathias Diensten stand, sondern sogar seine Geliebte war und von ihm ein Kind erwartete. Er wollte sie also doch nicht heiraten? Wollte er nicht ein Kind haben? Und dabei hatte er sich so hocherfreut gezeigt, als Hattie die gute Nachricht bekannt gegeben hatte. Carpathia lachte leise. »Bitte ordnen Sie Miss Durham nicht in dieselbe Kategorie ein wie unsere verstorbenen Freunde. Hernandez war entbehrlich. Halliday war für eine gewisse Zeit recht nützlich. Hernandez werden wir austauschen, aber für Halliday brauchen wir keinen Ersatz. Er hat einem Zweck gedient. Der einzige Grund, warum ich Sie gebeten habe, Hattie zu ersetzen, ist der, dass sie mit ihrer Aufgabe überfordert war. Als ich sie einstellte, wusste ich, dass ihre geistigen Fähigkeiten nicht überragend waren. Ich brauchte eine Assistentin und natürlich wollte ich sie. Aber ich werde Ihre Schwangerschaft als Vorwand nutzen, sie aus dem Büro zu entfernen.« »Soll ich das für Sie übernehmen?«, fragte Fortunato. »Ich werde es ihr selbst sagen, falls Sie das meinen«, erwi98
derte Carpathia. »Sie können die Suche nach einer neuen Sekretärin für mich übernehmen.« Rayford rang um Fassung. Er wollte McCullum nichts verraten. Niemand sollte jemals wissen, dass Rayford solche Gespräche mit anhören konnte. Doch nun erfuhr er Dinge, die er niemals hatte wissen wollen. Vielleicht war es von Vorteil, diese Dinge zu wissen, und vielleicht konnte es der Tribulation Force von Nutzen sein. Aber innerhalb von wenigen Stunden war das Leben von Menschen für Carpathia so wertlos geworden, dass Rayford einen neuen Bekannten, Hernandez, und einen lieben alten Mentor und Freund, Earl Halliday, verloren hatte. Er hatte Earl versprochen, sich mit seiner Frau in Verbindung zu setzen, falls ihm etwas zustoßen sollte. Darauf freute er sich absolut nicht. Rayford schaltete die Gegensprechanlage aus. Er drückte den Schalter, damit er sich über Kopfhörer mit seinem Ersten Offizier unterhalten konnte. »Ich denke, ich gehe doch eine Weile in meinen Raum«, sagte er. McCullum nickte. Rayford verließ das Cockpit und ging in sein Zimmer, das noch luxuriöser ausgestattet war als sein Quartier in der Global Community One. Rayford zog seine Schuhe aus und streckte sich auf seinem Bett aus. Er dachte an Earl. Er dachte an Amanda und an Chloe und Buck. Und er machte sich Sorgen. Alles hatte mit dem Tod von Bruce begonnen. Rayford legte sich auf die Seite, vergrub sein Gesicht in den Händen und weinte. Wie viele ihm nahe stehende Menschen hatte er allein an diesem Tag verloren? Der Range Rover steckte zwischen dem Baumstamm, den unteren Ästen eines großen Baumes und einem Betonpfeiler fest. »Schalte die Scheinwerfer aus, Liebes!«, rief Buck. »Wir wollen jetzt nicht die Aufmerksamkeit anderer auf uns ziehen.« Die Räder des Fahrzeugs waren gegen den Betonpfeiler gedrückt und Buck wunderte sich darüber, dass der Baum diesem 99
Gewicht standhalten konnte. Buck musste in den Baum klettern, um das Seitenfenster auf der Fahrerseite zu erreichen. »Kommst du an die Zündung?« »Ja, ich musste den Wagen ja abstellen, weil die Räder sich noch drehten.« »Stell die Zündung an und mach das Fenster auf, damit ich dir helfen kann.« Chloe schien regelrecht in ihrem Sicherheitsgurt zu hängen. »Ich weiß nicht, ob ich den Schalter für das Fenster auf dieser Seite erreiche.« »Kannst du dich losschnallen, ohne dir wehzutun?« »Ich werde es versuchen, Buck, aber mir tut alles weh. Ich weiß nicht, was gebrochen ist und was nicht.« »Versuch, dich irgendwo abzustützen und dich von diesem Ding zu befreien. Dann kannst du dich auf das Seitenfenster der Beifahrerseite stellen und dieses Fenster öffnen.« Aber Chloe war so hoffnungslos im Gurt gefangen, dass sie es gerade noch schaffte, ihren Körper herumzudrehen und die Zündung anzustellen. Sie zog sich hoch und griff mit ihrer rechten Hand nach dem Schalter für das Seitenfenster. Als das Fenster offen war, griff Buck mit beiden Händen hinein, um sie zu stützen. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, sagte er. »Ich habe mir auch Sorgen um mich gemacht«, antwortete Chloe. »Ich glaube, nur meine linke Seite ist verletzt. Mein Knöchel ist wahrscheinlich gebrochen, mein Handgelenk verrenkt und mein linkes Knie und die linke Schulter tun weh.« »So wie das hier aussieht, macht das Sinn«, sagte Buck. »Tut es weh, wenn ich dich so halte, damit du deinen gesunden Fuß auf das Beifahrerfenster stellen kannst?« Buck lag auf der Seite des fast hochkant stehenden Range Rovers und legte den Arm unter Chloes rechten Arm. Mit der anderen packte er ihren Hosenbund und hob sie hoch, während sie den Sicherheitsgurt löste. Sie war zwar sehr leicht, doch da 100
Buck selbst keinen festen Halt hatte, musste er all seine Kraft aufwenden, um sie nicht fallen zu lassen. Sie zog ihren Fuß unter dem Armaturenbrett hervor und stützte sich an der Beifahrertür ab. Ihr Kopf befand sich nun in der Nähe des Lenkrades. »Blutest du irgendwo?« »Ich glaube nicht.« »Ich hoffe, du hast keine inneren Blutungen.« »Buck, sicher wäre ich längst gestorben, wenn ich innere Blutungen hätte.« »Dann bist du also einigermaßen okay, wenn ich dich hier rausholen kann?« »Ich möchte so schnell wie möglich hier raus, Buck. Können wir diese Tür irgendwie öffnen und kannst du mir beim Klettern helfen?« »Ich habe vorher nur noch eine Frage. Wird unser Eheleben immer so verlaufen? Ich kaufe dir einen teuren Wagen und du fährst ihn gleich am ersten Tag zu Schrott?« »Normalerweise würde ich das lustig finden –« »Es tut mir Leid.« Buck riet Chloe, sich mit ihrem gesunden Fuß abzustützen und mit ihrem gesunden Arm zu drücken, während er die Tür aufzog. Der untere Teil der Tür kratzte über den Betonpfeiler und Buck war erstaunt zu sehen, dass der Wagen relativ geringen Schaden davongetragen hatte, so weit er das in der Dunkelheit beurteilen konnte. »Im Handschuhfach musste eine Taschenlampe liegen«, sagte er. Chloe reichte sie ihm. Er sah sich den Wagen an. Die Reifen waren noch in Ordnung. Die Kühlerhaube war eingedrückt, aber nicht sehr schlimm. Er schaltete die Taschenlampe aus und steckte sie in seine Tasche. Mit Bucks Hilfe und unter heftigem Stöhnen und Wimmern kletterte Chloe aus dem Wagen. Als sie beide auf der umgekippten Fahrerseite saßen, spürte Buck, dass der schwere Wagen gefährlich schwankte. 101
»Wir müssen dich hier herunterbekommen«, meinte er. »Gib mir mal die Taschenlampe«, entgegnete Chloe. Sie richtete den Strahl nach oben. »Vermutlich wäre es leichter, auf den Betonpfeiler zu klettern.« »Du hast Recht«, erwiderte er. »Meinst du, du schaffst es?« »Ich denke schon«, antwortete sie. Chloe rutschte zu der Stelle, von der aus sie mit ihrer gesunden Hand nach oben greifen konnte. Sie bat Buck, sie zu schieben, bis sie sich oben mit ihrem Körper abstützen konnte. Als sie ihr gesundes Bein nach oben zog, bewegte sich der Range Rover ein wenig und befreite sich von den Ästen, die ihn festhielten. Durch den Baum und den Range Rover ging ein Ruck und der Wagen begann zu rutschen. »Buck! Du musst da weg! Du wirst erdrückt!« Buck klammerte sich an die nach oben gerichtete Seite des Range Rovers. Jetzt neigte sie sich dem Pfeiler zu, die Reifen scheuerten über den Beton und hinterließen Spuren. Je mehr sich Buck zu bewegen versuchte, desto schneller drehte sich der Wagen. Ihm wurde klar, dass er sich von dieser Mauer fern halten musste, wenn er überleben wollte. Mit aller Kraft klammerte er sich am Gepäckträger fest und zog sich auf das Dach des Range Rover. Äste schnappten zurück und trafen ihn am Kopf, kratzten über sein Ohr. Je mehr der Wagen sich bewegte, desto größer wurde der Druck. Für Buck war das gut – vorausgesetzt, er konnte sich auf dem Dach halten. Zuerst bewegte sich der Wagen, danach der Baum und dann schienen sich beide gleichzeitig zu bewegen. Buck schätzte, dass der Range Rover, nachdem er sich von dem Druck der Äste befreit hatte, noch etwa einen Meter über dem Boden hing. Er hoffte nur, dass er glatt auf dem Boden landen würde. Aber so war es nicht. Die Reifen auf der linken Seite drückten sich gegen den Beton, während der Wagen rechts von den Ästen vorwärtsgeschoben wurde. Das Fahrzeug begann, auf die rechte Seite zu 102
kippen. Buck schützte mit den Armen seinen Kopf vor den Ästen, als der Range Rover sich von ihnen befreite. Sie drückten ihn beinahe wieder gegen die Mauer. Nachdem der Wagen keinen Druck mehr von rechts bekam, fiel er auf die Räder der rechten Seite und wäre beinahe umgekippt. In diesem Fall wäre Buck gegen den Baum gedrückt worden. Doch sobald die Räder den Boden berührten, hüpfte das Fahrzeug und richtete sich schließlich auf. Die linke Seite krachte gegen den Beton und der Wagen kam zum Stehen. Der Abstand zwischen Betonmauer und Wagen betrug nur wenige Millimeter, aber wenigstens stand das Fahrzeug auf seinen vier Rädern. Darüber hingen die angeknickten Äste. Mit der Taschenlampe untersuchte Buck den ramponierten Wagen. Abgesehen von dem Schaden an der Kühlerhaube und den Kratzern an beiden Seiten, die auf der einen Seite vom Beton, auf der anderen vom Baum stammten, sah der Wagen gar nicht mal so übel aus. Buck hatte keine Ahnung, was man mit einem aufgeblasenen Airbag machen sollte, darum schnitt er ihn einfach heraus und beschloss, sich später Gedanken darüber zu machen, falls er den Range Rover zum Laufen bringen konnte. Seine Seite schmerzte, und er war sicher, sich eine Rippe gebrochen zu haben, als der Rover endlich auf dem Boden aufschlug. Vorsichtig kletterte er hinunter und blieb unter dem Baum stehen. Die Zweige versperrten den Blick auf Chloe. »Buck? Bist du in Ordnung?« »Bleib, wo du bist, Chloe. Ich will nur etwas ausprobieren.« Buck stieg an der Beifahrerseite ein, kletterte auf die Fahrerseite und startete den Motor. Er lief einwandfrei. Sorgfältig überprüfte er die Instrumente, um sicherzugehen, dass nichts leer, trocken oder überhitzt war. Der Rover war mit automatischem Getriebe und Allradantrieb ausgestattet. Er versuchte, loszufahren, doch der Wagen schien festzustecken. Schnell schaltete Buck auf Allradantrieb um, gab Vollgas und trat die Kupplung. Innerhalb weniger Sekunden war der Wagen frei 103
und stand auf dem Sand. In einem weiten Bogen lenkte er den Wagen zurück zu der durchbrochenen Leitplanke zum Lake Shore Drive. Auf der Straße fuhr er noch etwa eine Viertelmeile weiter, bis er eine Stelle fand, wo er wenden konnte. So schnell er konnte, raste er zu der Überführung, auf der Chloe auf ihrem gesunden Fuß stand und mit der rechten Hand ihre linke abstützte. Buck fand, sie hatte nie besser ausgesehen. Er hielt neben ihr an und sprang aus dem Wagen, um ihr beim Einsteigen zu helfen. Er befestigte ihren Sicherheitsgurt und telefonierte bereits, bevor er wieder im Wagen saß. »Loretta? Chloe ist in Sicherheit. Sie ist arg mitgenommen und ich würde sie gern so bald wie möglich von einem Arzt untersuchen lassen. Könnten Sie sich ein wenig umhören, ob vielleicht ein Arzt in der Gemeinde gerade keinen Dienst hat und sie sich ansehen kann? Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.« Buck versuchte, sehr vorsichtig zu fahren, um Chloes Schmerzen nicht noch zu verschlimmern. Er kannte nun den kürzesten Weg nach Hause. Als er an die Straßensperre an der Michigan Avenue zum Lake Shore Drive kam, zog er den Wagen nach links und fuhr die Böschung hinunter, die er auf der Suche nach Chloe hinaufgeklettert war. Er entdeckte Vernas liegen gebliebenen Wagen und ignorierte das Winken und die Rufe der Polizisten, mit denen er vor gar nicht allzu langer Zeit gesprochen hatte. Er folgte dem Lake Shore Drive, umfuhr die Straßensperren bei der Sheridan, richtete sich nach Chloes Anweisungen und erreichte bald darauf die Vororte im Nordwesten von Mount Prospect. Loretta und Verna standen am Fenster, als er in die Einfahrt einbog. In diesem Augenblick fiel es ihm ein. Er schlug sich mit der Hand an den Kopf, stoppte den Wagen, sprang heraus und rannte zum Kofferraum. Er schloss die Heckklappe auf und fand im Kofferraum verstreut die Seiten, die Loretta ausgedruckt hatte. Auch der Computer von Bruce war noch da, zusammen mit den Telefonen, die Chloe gekauft hatte. 104
»Chloe«, sagte er. Vorsichtig wandte sie sich ihm zu. »Sobald wir dich im Haus haben, setze ich mich besser mit Carpathia in Verbindung.« Rayford saß wieder im Cockpit. Im Passagierraum war es mittlerweile ruhiger geworden; die Unterhaltung war in Smalltalk übergegangen. Die Würdenträger wurden von der Crew gut versorgt und Rayford hatte den Eindruck, dass sie es sich für die lange Reise gemütlich machten. Rayford fuhr zusammen und erkannte, dass sein Finger von dem Geheimknopf gerutscht war. Er drückte ihn erneut. Alles war still. Er hatte bereits mehr gehört, als er hatte hören wollen, darum beschloss er, sich die Beine zu vertreten. Als er den Passagierraum durchquerte, um zu einem der Fernsehgeräte im hinteren Teil des Flugzeugs zu gehen, ignorierten ihn alle außer Carpathia. Einige dösten und andere ließen sich gerade von der Crew bedienen, die die Essenstabletts abräumten und Decken und Kissen holten. Carpathia nickte ihm zu, lächelte ihn an und winkte ihm zu. Wie kann er nur so etwas tun?, fragte sich Rayford. Bruce hat gesagt, Satan würde erst nach der Hälfte der Trübsalszeit im Antichristen Wohnung nehmen, aber ganz bestimmt ist dieser Mann die Verkörperung des Bösen. Rayford durfte sich nicht anmerken lassen, dass er die Wahrheit kannte, trotz der Tatsache, dass Carpathia sehr wohl von seinem christlichen Glauben wusste. Rayford nickte ihm kaum merklich zu und ging weiter. Im Fernsehen sah er LiveBerichte aus der ganzen Welt. Die Bibel war lebendig geworden. Dies war der rote Reiter der Apokalypse. Als nächstes würden Tod durch Hungersnot und Plagen kommen, bis ein Viertel der nach der Entrückung zurückgelassenen Weltbevölkerung ausgerottet sein würde. Das Handy in seiner Tasche läutete. Nur wenige Menschen in diesem Flugzeug kannten seine Nummer. Gott sei gedankt für die Technologie, dachte er. 105
Er wollte nicht, dass jemand ihn hörte. Darum ging er weiter in den hinteren Teil des Flugzeugs und blieb neben einem Fenster stehen. »Hier spricht Rayford Steele«, meldete er sich. »Daddy?« »Chloe! Gott sei Dank! Chloe, geht es dir gut?« »Ich hatte einen kleinen Autounfall, Dad. Ich wollte dir nur sagen, dass du mir schon wieder das Leben gerettet hast.« »Was meinst du damit?« »Ich habe die Nachricht bekommen, die du im ›Drake‹ hinterlassen hast«, erklärte sie ihm. »Wenn ich auf unser Zimmer gegangen und unsere Sachen gepackt hätte, wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben.« »Und Buck geht es auch gut?« »Ihm geht’s prima. Er ruft gerade Du-weißt-schon-wen zurück.« »Dann entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Rayford. »Ich werde mich gleich wieder melden.« Rayford kehrte ins Cockpit zurück, wobei er sich bemühte, ganz ruhig zu erscheinen. Als er an Fortunato vorbeiging, reichte Leon Carpathia gerade das Telefon. »Williams aus Chicago«, sagte er. »Das wurde aber auch Zeit.« Carpathia verzog das Gesicht, so als wolle er andeuten, dass Fortunato überreagierte. Als Rayford das Cockpit erreichte, hörte er, wie Carpathia ausrief: »Cameron, mein Freund! Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht!« Schnell setzte Rayford die Kopfhörer auf. McCullum blickte ihn erwartungsvoll an, doch Rayford ignorierte ihn und schloss die Augen, während er auf den Geheimknopf drückte. »Ich bin neugierig, was Sie zu berichten haben«, sagte Carpathia gerade. »Was passiert dort unten in Chicago? Ja … ja … Zerstörung, ich verstehe … ja. Ja, eine Tragödie –« Einfach ekelhaft, dachte Rayford. »Cameron«, meinte Carpathia, »wäre es Ihnen möglich, in106
nerhalb der nächsten Tage nach Neu-Babylon zu kommen? Ach ja, ich verstehe … Israel? Ja, das scheint mir klug zu sein. Das so genannte ›Heilige Land‹ wurde wieder einmal verschont, oder? Es wäre mir lieb, wenn Sie die Berichterstattung der Gespräche auf höchster Ebene in Bagdad und Neu-Babylon übernehmen könnten, aber ich denke, Ihr alter Freund Steve Plank wird auch damit klarkommen. Sie beide können zusammenarbeiten und die Berichterstattung an alle unsere gedruckten Medien koordinieren …« Rayford konnte es kaum erwarten, mit Buck zu sprechen. Er bewunderte das Doppelspiel seines Schwiegersohnes und dessen Fähigkeit, den eigenen Terminplan beizubehalten und sogar geschickt die Anweisungen Carpathias abzulehnen. Rayford fragte sich, wie lange Carpathia das noch mitmachen würde. Im Augenblick schätzte er Buck anscheinend noch sehr. Offenbar wusste er auch noch nicht, wem Bucks Loyalität eigentlich galt. »Ja, sicher«, sagte Carpathia gerade, »natürlich bin ich traurig. Wir bleiben dann in Verbindung und ich werde aus Israel von Ihnen hören.«
6 Buck saß verschlafen am Frühstückstisch. Sein Ohr und seine Rippen schmerzten entsetzlich. Nur Loretta und er waren bereits aufgestanden. Loretta wollte zum Gemeindebüro fahren, nachdem ihr versichert worden war, dass sie sich um die Formalitäten für die Beerdigung von Bruce oder den für Sonntagmorgen angesetzten Trauergottesdienst nicht würde kümmern müssen. Verna Zee schlief in einem kleinen Schlafzimmer im ausgebauten Kellergeschoss. »Es ist so schön, wieder Menschen in diesem Haus zu haben«, sagte Loretta. »Sie alle können bleiben, solange es nötig ist oder Sie möchten.« 107
»Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar«, erwiderte Buck. »Amanda wird vielleicht bis Mittag schlafen, doch dann wird sie sich sofort mit dem Büro des Leichenbestatters in Verbindung setzen und sich um die Formalitäten für die Beerdigung kümmern. Chloe hat wegen ihres gebrochenen Knöchels nicht sehr gut geschlafen. Sie ist erschöpft und darum wird sie vermutlich den ganzen Vormittag über im Bett bleiben.« Buck hatte die Papiere von Bruce, die im Range Rover herumgeflogen waren, auf dem Esszimmertisch ausgebreitet und war dabei, sie zu sortieren. Das war eine schwierige Aufgabe, denn er musste den Text überfliegen und entscheiden, was sich zur Vervielfältigung und Verteilung eignete. Er schob die Papierstapel zur Seite und nahm sich die Handys vor, die Chloe gekauft hatte. Glücklicherweise waren sie gut eingepackt gewesen und hatten den Unfall unbeschadet überstanden. Er hatte ihr aufgetragen, bei den Telefonen nicht zu sparen, und das hatte sie auch wahrhaftig nicht getan. An die Kosten wollte er gar nicht denken, aber diese Telefone verfügten wirklich über alle technischen Neuerungen, die es gab. Dank eines eingebauten Satellitenchips konnten sie sogar überall auf der Welt Anrufe empfangen. Nachdem sich Loretta auf den Weg zur Gemeinde gemacht hatte, suchte Buck nach Batterien und studierte die Gebrauchsanleitung. Eines der Handys probierte er gleich aus. Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh, dass er die Angewohnheit hatte, alte Telefonnummern aufzubewahren. In seiner Brieftasche fand er genau die Nummer, die er brauchte. Ken Ritz, ehemaliger Pilot und nun Eigentümer einer eigenen Charterfluggesellschaft, hatte Buck schon einmal geholfen. An dem Tag nach dem großen Massenverschwinden hatte er Buck von einem kleinen Flughafen aus nach New York geflogen. »Ich weiß, dass Sie sehr beschäftigt sind, Mr. Ritz, und meinen Auftrag vielleicht gar nicht brauchen«, sagte Buck, »aber Sie wissen auch, dass ich über ein dickes Spesenkonto verfüge und 108
mehr bezahlen kann als jeder andere.« »Ich habe nur noch einen Jet«, erwiderte Ritz. »Er steht in Palwaukee. Ich berechne zwei Dollar pro Meile und eintausend Dollar pro Tag für Ausfallszeiten. Wohin wollen Sie fliegen?« »Nach Israel«, erwiderte Buck. »Und ich muss spätestens Samstagabend wieder hier sein.« »Die Zeitverschiebung eingerechnet«, sagte Ritz. »Am besten fliegen wir am frühen Abend los, dann sind wir am nächsten Tag dort. Seien Sie um sieben Uhr am Flughafen in Palwaukee und wir sind im Geschäft.« Rayford war schließlich doch in einen tiefen Schlaf gesunken. Wie McCullum sagte, hatte er mehrere Stunden lang geschnarcht. Als sie noch etwa eine Stunde von Bagdad entfernt waren, kam Leon Fortunato ins Cockpit und hockte sich neben Rayford. »Wir wissen nicht genau, ob Neu-Babylon sicher ist«, sagte er. »Keiner rechnet damit, dass wir in Bagdad landen. Teilen Sie dem Tower in Neu-Babylon mit, dass wir auf direktem Weg dorthin sind. Wenn wir die anderen drei Botschafter an Bord genommen haben, könnte es sein, dass wir noch einige Stunden am Boden bleiben, bis unsere Sicherheitskräfte die Möglichkeit hatten, Neu-Babylon zu überprüfen.« »Wird dies Auswirkungen auf Ihre Besprechungen haben?«, erkundigte sich Rayford beiläufig. »Sie werden in keiner Weise davon betroffen sein, denn wir können sie auch im Flugzeug abhalten, während es aufgetankt wird. Sie können die Klimaanlage doch eingeschaltet lassen, nicht wahr?« »Sicher«, sagte Rayford. Er überlegte schnell. »Ich möchte mich noch mit diesem Flugzeug vertraut machen. Ich werde im Cockpit oder in meinem Zimmer bleiben und Sie nicht stören.« »Sehen Sie zu, dass Ihnen das gelingt.«
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Nach seinem Telefonat mit Ken Ritz setzte sich Buck mit Donny Moore in Verbindung. Donny teilte ihm mit, er habe die einzelnen Zusatzteile sehr günstig bekommen können. Außerdem werde er die fünf Laptops selbst zusammenbauen. »Dadurch können Sie ein wenig Geld sparen«, sagte er. »Die Kosten werden etwas über 20 000 Dollar pro Stück betragen, schätze ich.« »Und ich kann die Computer am Sonntag bekommen, wenn ich von meiner Reise zurück bin?« »Garantiert.« Buck teilte den Leuten im Global Community Weekly seine neue Telefonnummer mit und bat darum, sie keinem anderen außer Carpathia, Plank und Rosenzweig zu geben. Mit großer Sorgfalt packte Buck seine große Ledertasche. Den Rest des Tages verbrachte er damit, an den Aufzeichnungen von Bruce zu arbeiten. Zwischendurch versuchte er immer wieder, Rosenzweig in Israel zu erreichen. Der alte Mann hatte ihm ausrichten lassen, Dr. Ben-Juda sei am Leben und würde sich irgendwo an einem sicheren Ort befinden. Er hoffte nur, dass Rosenzweig seinem Rat gefolgt war und Carpathia aus der Sache herausgehalten hatte. Buck hatte keine Ahnung, wo sich Tsion Ben-Juda versteckt halten könnte. Aber falls Rosenzweig seinen Aufenthaltsort kannte, wollte Buck mit ihm sprechen, bevor er und Ken Ritz am Ben-Gurion-Flughafen landeten. Wie lange würde es dauern, fragte er sich, bis er und seine Lieben in dem Schutzbunker unter der Gemeinde würden Schutz suchen müssen? In Bagdad waren umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen getroffen worden. Rayford hatte die Anweisung erhalten, sich nicht mit dem Tower in Verbindung zu setzen, damit kein feindliches Flugzeug ihre Position feststellen konnte. Rayford war davon überzeugt, dass die Vergeltungsschläge der Streitkräfte der Weltgemeinschaft in London und Kairo, ganz zu 110
schweigen von denen in Nordamerika, alle von der Gegenseite geplanten Aktionen im Irak erstickt hatten – mit Ausnahme der Selbstmordkommandos. Trotzdem hielt er sich an die Anweisung. Leon Fortunato setzte sich telefonisch mit dem Tower in Bagdad und in Neu-Babylon in Verbindung. Rayford überprüfte ebenfalls per Telefon, ob im Terminal in Bagdad für ihn und McCullum ein Raum bereitgestellt worden war, in dem sie sich ausstrecken und entspannen konnten. Trotz seiner jahrelangen Flugerfahrung kam es immer wieder einmal vor, dass er an Bord eines Flugzeugs Platzangst bekam. Eine Gruppe von schwer bewaffneten Soldaten der Weltgemeinschaft umstellte das Flugzeug, während es langsam zum sichersten Ende des Terminals in Bagdad rollte. Die sechsköpfige Crew verließ als erste die Maschine. Fortunato wartete, bis Rayford und McCullum ihre Checkliste durchgegangen waren, und stieg mit ihnen gemeinsam aus. »Captain Steele«, sagte er, »in einer Stunde werde ich die anderen drei Botschafter an Bord bringen.« »Und wann sollen wir nach Neu-Babylon starten?« »Vermutlich in etwa vier Stunden.« »Die internationalen Flugbestimmungen schreiben vor, dass ich erst in vierundzwanzig Stunden wieder fliegen darf.« »Unsinn«, sagte Fortunato. »Wie fühlen Sie sich?« »Erschöpft.« »Trotzdem: Sie sind der Einzige, der qualifiziert ist, dieses Flugzeug zu fliegen, und wenn wir sagen, Sie fliegen, dann fliegen Sie.« »Dann sind die internationalen Flugbestimmungen also hiermit außer Kraft gesetzt?« »Steele, Sie wissen sehr gut, dass Carpathia alle internationalen Bestimmungen für was auch immer verkörpert. Wenn er nach Neu-Babylon möchte, werden Sie ihn nach Neu-Babylon fliegen. Verstanden?« 111
»Und wenn ich mich weigere?« »Seien Sie nicht dumm.« »Darf ich Sie daran erinnern, Leon, dass ich, nachdem ich eine Pause gemacht habe, dieses Flugzeug wieder besteigen möchte, um mich mit seinen Einzelheiten vertraut zu machen?« »Ja, ich weiß. Und ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie mich mit Mr. Fortunato anreden würden.« »Das bedeutet Ihnen viel, nicht wahr, Leon?« »Treiben Sie es nicht auf die Spitze, Steele.« Als sie das Terminal betraten, sagte Rayford: »Da ich der Einzige bin, der dieses Flugzeug fliegen kann, würde ich es zu schätzen wissen, wenn Sie mich Captain Steele nennen würden.« Am Spätnachmittag Chicagoer Zeit riss sich Buck vom Lesen der faszinierenden Schriften von Bruce Barnes los und erreichte endlich Chaim Rosenzweig in Israel. »Cameron! Ich habe endlich persönlich mit unserem gemeinsamen Freund gesprochen. Seinen Namen wollen wir am Telefon lieber nicht nennen. Das Gespräch war sehr kurz, aber er klang so ausgelaugt und erschöpft, dass es mich zutiefst angerührt hat. Es war eine seltsame Botschaft, Cameron. Er sagte nur, Sie würden wissen, mit wem Sie über seinen Aufenthaltsort sprechen müssten.« »Ich würde es wissen?« »Genau das hat er gesagt, Cameron. Sie würden es wissen. Denken Sie, er meint NC?« »Nein, nein! Chaim, ich bete noch immer, dass Sie ihn aus allem heraushalten.« »Das tue ich, Cameron, aber das ist nicht leicht! Wer sonst könnte für das Leben meines Freundes eintreten? Ich habe schreckliche Angst, dass das Schlimmste passieren könnte und ich mich dann dafür verantwortlich fühle.« »Ich komme nach Israel. Können Sie mir einen Wagen be112
sorgen?« »Der Wagen und der Fahrer unseres gemeinsamen Freundes sind verfügbar, aber kann ich ihm trauen?« »Denken Sie, er hätte etwas mit den Schwierigkeiten zu tun?« »Ich glaube eher, dass er unseren gemeinsamen Freund in Sicherheit gebracht hat.« »Dann ist er vermutlich in Gefahr«, meinte Buck. »Oh, ich hoffe nicht«, erwiderte Rosenzweig. »Auf jeden Fall werde ich Sie persönlich am Flughafen abholen. Irgendwie werden Sie überallhin kommen, wo Sie hinmöchten. Kann ich Ihnen ein Zimmer buchen?« »Sie wissen ja, wo ich immer absteige«, sagte Buck, »aber vielleicht nehme ich dieses Mal besser ein anderes Hotel.« »In Ordnung, Cameron. Ich kenne ein sehr nettes Hotel ganz in der Nähe des Hauses, wo Sie sonst immer abgestiegen sind. Man kennt mich dort.« Rayford streckte sich und sah sich die Nachrichtensendung von Cable News Network/Global Community Network Television an, die von Atlanta in die ganze Welt ausgestrahlt wurde. Wieder einmal merkte man, dass Carpathia seinen Willen voll und ganz durchgesetzt und seinen Programmdirektoren sehr genaue Anweisungen gegeben hatte. Zwar wurden die schrecklichen Bilder des Krieges, von Blutvergießen, Verletzungen und Tod gezeigt, doch in den Kommentaren hoben die Berichterstatter immer wieder vor allem das schnelle und entschlossene Handeln des Potentaten als Reaktion auf die Krise und seine erfolgreiche Niederschlagung des Auf Standes hervor. Die Wasservorräte waren vergiftet worden, viele Gebiete ohne Elektrizität und Millionen Menschen buchstäblich über Nacht obdachlos geworden. Rayford bemerkte lebhaftes Treiben vor dem Terminal. Ein Kamerawagen mit Kamerateam und Kamera wurde zur Condor 113
216 gebracht. Schon bald kündigte CNN/GCN eine bevorstehende Live-Sendung des Potentaten Carpathia von einem unbekannten Ort aus an. Rayford schüttelte den Kopf und ging zu einem Schreibtisch in der Ecke, wo er Briefpapier einer Fluggesellschaft des Mittleren Ostens fand. Er begann einen Brief an Earl Hallidays Frau. Sein Verstand sagte Rayford, dass er sich für Earls Tod nicht verantwortlich zu fühlen brauchte. Offensichtlich hatte Halliday schon lange, bevor Rayford überhaupt davon wusste, mit Carpathia und seinen Leuten an der Condor 216 gearbeitet. Aus diesem Grund hatte Mrs. Halliday wahrscheinlich den Eindruck, dass Rayford seinen alten Freund und ehemaligen Vorgesetzten direkt in den Tod geschickt hatte – und er hatte keine Möglichkeit, ihr die Wahrheit zu sagen. Rayford wusste noch nicht einmal, wie Earl ums Leben gekommen war. Vielleicht waren alle, die in dem Flugzeug nach Glenview gesessen hatten, mit in den Tod gerissen worden. Er wusste nur, dass Halliday tot war. Während er an dem Schreibtisch saß und versuchte, die richtigen Worte zu finden, die nie richtig sein konnten, spürte er, wie eine große, dunkle Wolke der Depression sich auf ihn legte. Er vermisste seine Frau. Er vermisste seine Tochter. Er trauerte um seinen Pastor. Er betrauerte den Verlust von Freunden und Verwandten, neuen und alten. Rayford wusste, dass er nicht für das verantwortlich war, was Nicolai Carpathia gegen seine Feinde ausheckte. Das schreckliche Gericht, das dieser Mann über die Erde brachte, würde auch dann nicht zu Ende sein, wenn Rayford seinen Job aufgab. Hunderte von Piloten konnten dieses Flugzeug fliegen. Er selbst hatte es innerhalb einer Stunde gelernt. Er brauchte diesen Job nicht, wollte ihn nicht, hatte nicht darum gebeten. Doch irgendwie wusste er, dass Gott ihn hierher gestellt hatte. Wozu? War diese Abhöreinrichtung im Passagierraum, die Earl Halliday heimlich eingebaut hatte, ein Geschenk Gottes, durch das Rayford einige wenige vor dem Zorn Carpathias bewahren 114
konnte? Sie hatte seine Tochter und seinen Schwiegersohn vermutlich vor dem sicheren Tod bei der Bombardierung Chicagos gerettet und während er sich die Fernsehberichte über die Bombardierung der Westküste ansah, wünschte er, er hätte etwas tun können, um die Menschen in San Francisco und Los Angeles vor ihrem Schicksal zu warnen. Es war eine aussichtslose Schlacht und er selbst hatte nicht die Kraft, weiterzukämpfen. Er stellte den Beileidsbrief an Mrs. Halliday fertig und legte den Kopf auf die Arme. Ein Kloß saß ihm im Hals, doch er war nicht fähig zu weinen. Von jetzt an bis zum Ende der Trübsalszeit, wenn Christus wiederkommen würde, könnte er vierundzwanzig Stunden am Tag weinen. Wie sehnte er sich nach diesem Tag! Würden er und seine Lieben diesen Tag noch erleben oder würden sie zu den so genannten »Märtyrern der Trübsalszeit« gehören wie Bruce? In Augenblicken wie diesem wünschte sich Rayford einen schnellen, schmerzlosen Tod, der ihn direkt in den Himmel zu Christus bringen würde. Das war selbstsüchtig, das wusste er. Eigentlich wollte er die Menschen, die er liebte und die ihn liebten, auch gar nicht wirklich verlassen, aber die Aussicht auf weitere fünf Jahre wie dieses waren beinahe unerträglich. Im Fernsehen wurde jetzt eine kurze Ansprache des Potentaten der Weltgemeinschaft gesendet. Rayford saß nur wenige Meter von diesem Mann entfernt und doch sah er sich wie Millionen anderer Menschen auf der ganzen Welt diese Sendung im Fernsehen an. Für Buck wurde es Zeit, zum Flughafen in Palwaukee aufzubrechen. Verna Zee war mit dem »neuen« gebrauchten Wagen, den Buck für sie aus dem Bestand der New Hope-Gemeinde gekauft hatte, ins Büro des Global Community Weekly gefahren. Loretta hielt sich im Gemeindebüro auf, um die unzähligen Telefonanrufe entgegenzunehmen. Unablässig erkundigten sich 115
die Leute nach dem Trauergottesdienst für Bruce Barnes am Sonntagmorgen. Chloe humpelte an einem Stock herum. Eigentlich brauchte sie Krücken, doch da sie ihren Arm wegen ihres verstauchten Handgelenks in einer Armschlinge trug, konnte sie mit Krücken nicht umgehen. So blieb nur noch Amanda, die Buck zum Flughafen bringen konnte. »Ich möchte mitfahren«, sagte Chloe. »Bist du sicher, dass du dazu in der Lage bist?«, fragte Buck. Chloe antwortete mit zitternder Stimme. »Buck, ich sage es nur ungern, aber in der heutigen Zeit kann man nie wissen, ob und wann man sich wieder sieht.« »Du bist ein wenig sentimental, oder?«, sagte er. »Buck!«, schimpfte Amanda. »Mit solchen Äußerungen hilfst du ihr auch nicht weiter. Vor den Augen des Antichristen musste ich mich von meinem Mann verabschieden. Und du denkst, das gäbe mir die Sicherheit, ihn jemals wieder zu sehen?« Buck fühlte sich zurechtgewiesen. Aber Amanda hatte Recht. »Dann mal los«, sagte er. Er lief zum Range Rover und warf seine Tasche in den Kofferraum, dann kehrte er schnell zurück, um Chloe in den Wagen zu helfen. Amanda saß auf dem Rücksitz und würde Chloe später nach Hause fahren. Buck war erstaunt, dass sogar das eingebaute Fernsehgerät den Unfall unbeschadet überstanden hatte. Er selbst konnte zwar das Bild nicht sehen, aber zuhören, als Amanda und Chloe das Gerät einschalteten. Wie gewohnt sprach Nicolai Carpathia in seiner betont demütigen Haltung: »Macht keinen Fehler, meine Brüder und Schwestern, es liegen noch viele dunkle Tage vor uns. Enorme Mittel werden gebraucht werden, um mit dem Wiederaufbau zu beginnen, doch dank der Großzügigkeit der sieben loyalen Weltgebiete und mit der Unterstützung derjenigen Bürger in den anderen drei Gebieten, die treu zur Weltgemeinschaft gestanden und sich nicht auf die Seite der Rebellen geschlagen haben, werden 116
wir den größten Hilfsfonds aller Zeiten zusammenstellen. Diese Gelder werden unter meiner persönlichen Aufsicht von Neu-Babylon aus den bedürftigen Nationen zugewiesen werden. Bei dem Chaos, das durch diese sehr ernste und unkluge Rebellion entstanden ist, werden die örtlichen Bemühungen zum Wiederaufbau und die Hilfe für obdachlos gewordene Menschen sehr wahrscheinlich von Opportunisten und Plünderern boykottiert werden. Die Hilfsmaßnahmen unter der Schirmherrschaft der Weltgemeinschaft werden schnell und großzügig durchgeführt werden, damit möglichst viele loyale Mitglieder der Weltgemeinschaft zu ihrem sorgenlosen Lebensstandard zurückfinden können. Stellen Sie sich auch weiterhin gegen Neinsager und Aufrührer! Unterstützen Sie auch weiterhin die Weltgemeinschaft! Und denken Sie daran, dass ich, obwohl ich diese Position nicht angestrebt habe, sie trotzdem angenommen habe und nun entschlossen bin, mein Leben in den Dienst der Brüderlichkeit unter den Menschen zu stellen. Ich freue mich über Ihre Hilfe, während wir Seite an Seite daran arbeiten, uns selbst aus dem Morast auf eine höhere Ebene zu ziehen, die wir ohne die Hilfe des anderen nicht erreichen könnten.« Buck schüttelte den Kopf. »Er sagt wirklich, was sie hören wollen, nicht wahr?« Chloe und Amanda schwiegen. Rayford riet seinem Ersten Offizier McCullum, sich zu entspannen und für den Abflug nach Neu-Babylon zur Verfügung zu halten. Seiner Meinung nach könne dies noch einige Stunden dauern. »Aber halten Sie sich auf jeden Fall bereit«, meinte Rayford. Als Rayford an Bord der Maschine ging, um sich vorgeblich mit den neuen Instrumenten vertraut zu machen zog er sich zuerst in sein Quartier zurück, da er sah, dass Carpathia und seine Assistenten noch im ungezwungenen Gespräch mit den 117
sieben loyalen Botschaftern der Weltgemeinschaft zusammensaßen. Als Rayford sein Zimmer verließ, um ins Cockpit zu gehen, bemerkte er, wie Fortunato aufblickte. Daraufhin flüsterte dieser Carpathia etwas zu. Carpathia nickte. Alle erhoben sich und begaben sich in einen Konferenzraum in der Mitte des Flugzeugs. »Hier ist es sowieso gemütlicher«, sagte Carpathia. »Wir können wenigstens an einem schönen Konferenztisch sitzen.« Rayford zog die Tür zum Cockpit hinter sich zu und schloss sie ab. Er holte sich die Checklisten hervor, die er vor dem Start und nach der Landung durchgehen musste, und legte sie vor sich hin, damit es, falls jemand klopfte, so aussah, als hätte er sich darin vertieft. Er setzte sich auf seinen Sitz, nahm die Kopfhörer und drückte den Geheimknopf. Gerade sprach der Botschafter des Mittleren Osten. »Dr. Rosenzweig lässt Sie ganz herzlich grüßen, Potentat. Es gibt eine überaus dringende persönliche Angelegenheit, die ich mit Ihnen besprechen soll.« »Vertraulich?«, fragte Carpathia. »Ich glaube nicht, Sir. Es betrifft Rabbi Tsion Ben-Juda.« »Der Gelehrte, der wegen seiner umstrittenen Botschaft einen solchen Aufruhr erzeugt hat?« »Genau der«, erwiderte der Botschafter des Mittleren Ostens. »Wie es scheint, sind seine Frau und seine beiden Stiefkinder von Zeloten ermordet worden und Dr. Ben-Juda hält sich nun irgendwo versteckt.« »Damit hätte er rechnen müssen«, sagte Nicolai. Rayford schauderte zusammen, wie immer, wenn Carpathia mit gewollt ernster Stimme sprach. »Ich kann Ihnen nur zustimmen, Potentat«, erwiderte der Botschafter. »Mir ist es unverständlich, dass diese Zeloten ihn haben entkommen lassen.« »Und was möchte Rosenzweig nun von mir?« 118
»Er möchte, dass Sie sich für Ben-Juda einsetzen.« »Bei wem?« »Ich nehme an, bei den Zeloten«, antwortete der Botschafter und brach in Gelächter aus. Rayford hörte, dass auch Carpathia zu lachen begann, und schon bald stimmten alle anderen mit ein. »In Ordnung, Gentlemen, beruhigen Sie sich«, sagte Carpathia. »Vielleicht sollte ich Dr. Rosenzweigs Bitte nachkommen und mich direkt mit dem Führer der Zeloten in Verbindung setzen. Ich könnte ihm meinen vollen Segen und meine Unterstützung zusagen und ihm vielleicht sogar die neueste Technologie zur Verfügung stellen, die ihm helfen kann, seine Beute zu finden und zu eliminieren.« Der Botschafter antwortete: »Aber jetzt mal im Ernst, Potentat, was soll ich Dr. Rosenzweig denn nun antworten?« »Halten Sie ihn eine Weile hin. Seien Sie für ihn nicht erreichbar. Dann sagen Sie ihm, Sie hätten nicht die richtige Gelegenheit gefunden, dieses Thema bei mir anzusprechen. Nach einer Weile sagen Sie ihm, ich sei zu beschäftigt, um mich darum zu kümmern. Und schließlich teilen Sie ihm mit, ich hätte beschlossen, bei diesem Problem neutral zu bleiben.« »Sehr gut, Sir.« Aber Carpathia war nicht neutral. Er hatte gerade begonnen, sich für das Thema zu erwärmen. Rayford hörte, wie sein Ledersessel quietschte. Er stellte sich vor, wie Carpathia sich vorbeugte, um sehr eindringlich zu der versammelten Gruppe von internationalen Henkern zu sprechen. »Aber ich möchte Ihnen Folgendes sagen, Gentlemen. Ein Mensch wie Dr. BenJuda kann unserer Sache viel gefährlicher werden als ein alter Narr wie Rosenzweig. Rosenzweig ist ein brillanter Wissenschaftler, aber er ist nicht weltgewandt. Ben-Juda dagegen ist mehr als nur ein brillanter Gelehrter. Er hat die Fähigkeit, die Menschen zu überzeugen, was nicht schlimm wäre, wenn er sich für unsere Sache einsetzen würde. Aber er erzählt seinen 119
Landsmännern den Quatsch, der Messias sei bereits wiedergekommen. Wie jemand noch immer daran festhalten kann, die Bibel wörtlich zu nehmen und ihre Prophezeiungen auszulegen, ist mir unbegreiflich, aber durch seine Predigten im Teddy-Kollek-Stadion und bei anderen Massenveranstaltungen sind Zehntausende zum Glauben gekommen. Die Menschen glauben diesen Unsinn. Und dann werden sie gefährlich. BenJudas Zeit ist abgelaufen und ich werde seinem Abscheiden nicht im Wege stehen. Doch nun wollen wir uns dem Geschäft zuwenden.« Rayford machte sich Notizen, als Carpathia über seine unmittelbaren Pläne zu sprechen begann. »Wir müssen schnell handeln«, sagte dieser gerade, »solange die Menschen noch besonders verletzlich und offen sind. Sie werden bei der Weltgemeinschaft Hilfe und Unterstützung suchen und wir werden sie ihnen geben. Doch zuerst werden sie uns helfen. Vor dem Aufbau Babylons hatten wir enorme Geldbestände angesammelt. Wir werden sehr viel mehr brauchen, um unseren Plan in die Tat umzusetzen, den Lebensstandard der Länder der Dritten Welt anzuheben, damit alle Länder etwa auf demselben Stand sind. Ich sage Ihnen, Gentlemen, gestern Abend war ich so aufgeregt und steckte so voller Ideen, dass ich bei unserem Start in San Francisco nicht die Ruhe hatte, mich hinzusetzen. Als wir über die Startbahn rasten, wurde ich aus der vorderen Kabine beinahe bis in diesen Raum geschleudert. Ich möchte Ihnen nun mitteilen, worüber ich nachgedacht habe: Sie alle haben hervorragend mitgeholfen, die Welteinheitswährung einzuführen. Wir sind nun beinahe eine bargeldlose Gesellschaft, was der Regierung der Weltgemeinschaft nur nützlich sein kann. Wenn Sie in Ihre Herrschaftsgebiete zurückkommen, möchte ich, dass Sie alle gleichzeitig die Einführung einer Steuer von zehn Cent auf alle elektronischen Geldtransfers einführen. In einer absolut bargeldlosen Gesellschaft 120
müssen alle Transaktionen elektronisch durchgeführt werden. Ich schätze, dass uns dies jährlich mehr als eineinhalb Billionen Dollar bringen wird. Auch werde ich eine Abgabe von einem Dollar pro Barrel Öl von der Quelle plus eine Abgabe von zehn Cents pro Gallone an der Zapfsäule erheben. Meine Wirtschaftsberater rechnen mit Einkünften von mehr als einer halben Billion Dollar pro Jahr. Sie wussten, dass irgendwann einmal eine Steuer auf das Bruttosozialprodukt eines jeden Gebietes eingeführt werden würde. Nun, diese Zeit ist jetzt gekommen. Die Rebellen Ägypten, Großbritannien und Nordamerika sind militärisch zerstört worden, sie müssen mit einer zusätzlichen Steuer von fünfzig Prozent auf ihr Bruttosozialprodukt bestraft werden. Die anderen werden dreißig Prozent zahlen. Jetzt sehen Sie mich doch nicht so an, meine Herren. Sie wissen doch, dass Sie alles, was Sie einzahlen, in vielfältiger Form zurückbekommen werden. Wir bauen an einer neuen Weltgemeinschaft und da sind Opfer unabdingbar. Aus der Zerstörung und dem Chaos dieses Krieges wird ein Utopia erstehen, wie die Welt es noch nicht gesehen hat. Und Sie werden an vorderster Front daran mitarbeiten. Ihre Länder und Gebiete werden davon profitieren und in erster Linie natürlich Sie persönlich. Aber ich habe noch etwas anderes im Sinn. Wie Sie wissen, ist unser Geheimdienst sehr schnell zu der Überzeugung gelangt, dass der Angriff auf New York vom amerikanischen Militär unter der heimlichen Führung von Präsident Fitzhugh geplant worden ist. Dies bestätigt nur meine frühere Entscheidung, ihn buchstäblich aller Macht zu entheben. Wir wissen nun, dass er bei unserem Vergeltungsschlag gegen Washington D.C., ums Leben gekommen ist, eine Tatsache, die wir den Aufrührern sehr wirkungsvoll haben vermitteln können. Die Wenigen, die an ihrer Loyalität ihm gegenüber festgehalten haben, werden sich sehr wahrscheinlich gegen die Rebellen wenden und erkennen, dass sie schreckliche Narren gewesen 121
sind. Wie Sie wissen, wurde das zweitgrößte Endölvorkommen der Welt, das nur hinter den Erdölreserven Saudi Arabiens zurücksteht, oberhalb der Prudhoe Bay in Alaska entdeckt. Während dieser Phase des Führungsvakuums in Nordamerika wird sich die Weltgemeinschaft die unermesslichen Erdölfelder Alaskas aneignen, einschließlich dieses großen Vorkommens. Vor Jahren wurde, um die Umweltschützer zufrieden zu stellen, von einer Förderung abgesehen; ich habe jedoch bereits Arbeitstrupps in dieses Gebiet entsandt, die eine Reihe von Pipelines bauen werden, durch die das Öl durch Kanada und auf dem Wasserweg zu den internationalen Handelszentren geleitet werden kann. Die Rechte für die Förderung des Öls in Saudi Arabien, Kuwait, Irak, Iran und den anderen Ländern des Mittleren Osten besitzen wir bereits. Somit haben wir die Kontrolle über zwei Drittel des gesamten Erdölvorkommens der Welt. Langsam, aber stetig werden wir den Ölpreis heraufsetzen und somit auch dadurch unsere Pläne für die Förderung der unterprivilegierten Länder möglich machen, damit eines Tages alle denselben Lebensstandard werden genießen können. Allein das Öl wird uns jährlich einen Profit von etwa einer Billion Dollar bescheren. Sehr bald werde ich Männer bestimmen, die den Platz der drei Botschafter einnehmen werden, die sich bedauerlicherweise gegen uns erhoben haben. Damit wird die Regierung der Weltgemeinschaft wieder vollständig sein. Da Sie jetzt als Botschafter der Weltgemeinschaft bekannt sind, werde ich von nun an von Ihnen als souveränen Führern Ihres eigenen Königreichs sprechen. Jeder von Ihnen wird auch weiterhin mir direkt unterstellt sein. Ich werde Ihren Etat festlegen, Ihre Steuern erhalten und Ihnen Anleihen gewähren. Einige werden diese Vorgehensweise kritisieren und sagen, es sehe so aus, als ob alle Nationen und Gebiete von der Weltgemeinschaft ab122
hängig seien und die Weltgemeinschaft sich auf diese Weise die Kontrolle über das Schicksal Ihres Volkes sichere. Aber Sie wissen es besser. Sie wissen, dass Ihre Loyalität belohnt werden wird. Die Welt wird zu einem besseren Ort werden, an dem die Menschen in Wohlstand und Harmonie leben können. Unser Ziel ist eine auf Frieden und Brüderlichkeit aufgebaute Gesellschaft. Ich bin sicher, Sie alle stimmen mir zu, dass die Welt genug hat von einer feindlich eingestellten Presse. Sogar ich, der ich keinerlei Absichten habe, mich persönlich zu bereichern und nur aus altruistischen Motiven heraus demütig und widerstrebend die schwere Bürde der Verantwortung einer Weltherrschaft auf mich genommen habe, bin von den Medien angegriffen und kritisiert worden. Dies ist unterbunden worden, da die Weltgemeinschaft in der Lage war, alle wichtigen Medienorgane aufzukaufen. Zwar könnte uns vorgeworfen werden, wir würden die Rede- oder Pressefreiheit einschränken, doch ich glaube, die Welt erkennt, dass diese uneingeschränkten Freiheiten zu Exzessen geführt und somit die Fähigkeiten und Kreativität eines jeden Führers eingeschränkt haben. Früher war die Pressefreiheit vielleicht einmal nötig, um böswillige Diktatoren daran zu hindern, die Macht an sich zu reißen, doch wenn es nichts zu kritisieren gibt, sind solche oppositionellen Bemühungen überflüssig.« Rayford spürte ein Kribbeln im Rücken und hätte sich beinahe umgedreht, weil er dachte, dass vielleicht jemand vor der Cockpittür stand. Dieses Gefühl wurde schließlich so stark, dass er sich die Kopfhörer vom Kopf riss, aufstand und durch das Guckloch in der Cockpittür spähte. Niemand war da. Versuchte Gott, ihm etwas mitzuteilen? Er musste daran denken, dass dasselbe Gefühl der Angst über ihn gekommen war, als Buck von der Konferenz berichtet hatte, in der Carpathia alle im Raum außer Buck hypnotisiert und einer Gehirnwäsche unterzogen hatte. 123
Rayford nahm wieder Platz und setzte die Kopfhörer auf. Als er den Geheimknopf drückte, war es, als würde er einen neuen Carpathia hören. Nicolai sprach sehr leise, sehr ernst und monoton. Keine Ausschmückungen und Nuancen in der Stimme, die sonst sein Reden kennzeichneten. »Ich möchte Ihnen allen etwas sagen und Sie sollten sehr gut zuhören, damit Sie mich genau verstehen. Diese Kontrolle, die wir nun über die Medien besitzen, müssen wir auch über Industrie und Handel bekommen. Es ist nicht nötig, alles aufzukaufen oder zu besitzen. Das wäre zu offensichtlich und würde Opposition hervorrufen. Hier geht es nicht um Besitz, sondern um Kontrolle. In den nächsten Monaten werden wir alle einmütig bestimmte Entscheidungen verkünden, die uns die Kontrolle über die Wirtschaft, das Erziehungs- und Gesundheitswesen sichern werden. Sogar die Wahl der Führer in den einzelnen Königreichen wird von uns bestimmt werden. Auf jeden Fall müssen Demokratie und freie Wahlen abgeschafft werden. Sie sind ineffizient und dienen nicht dem Wohl der Menschen. Das, was wir den Menschen bieten werden, wird sie schnell davon überzeugen, dass unsere Vorgehensweise richtig ist. Jeder von Ihnen kann zu seinen Untertanen zurückgehen und ihnen ganz aufrichtig sagen, dies sei Ihre Idee gewesen. Sie hätten diesen Vorschlag gemacht und meine und die Unterstützung Ihrer Kollegen gesucht und gefunden. In der Öffentlichkeit werde ich widerstrebend Ihren Wünschen nachkommen und wir alle werden gewinnen.« Lange Zeit hörte Rayford nichts mehr und er fragte sich bereits, ob seine Abhöranlage vielleicht gestört sei. Mehrmals drückte er den Knopf und kam schließlich zu dem Schluss, dass im Konferenzzimmer großes Schweigen herrschte. Das war also die Kontrolle über den Verstand, die Buck aus erster Hand miterlebt hatte. Schließlich meldete sich Fortunato zu Wort. »Potentat Carpathia«, begann er unterwürfig, »ich weiß, ich bin nur Ihr Assistent und kein Mitglied dieses erlesenen Kreises. Darf ich vielleicht trotzdem einen Vorschlag machen?« 124
»Aber natürlich, Leon«, sagte Carpathia, der angenehm überrascht zu sein schien. »Sie haben eine Vertrauensposition und wir alle schätzen Ihren Beitrag.« »Ich habe gerade darüber nachgedacht«, sagte Fortunato, »dass Sie und die hier versammelten Botschafter überlegen sollten, öffentliche Wahlen als ineffizient und nicht im Interesse der Menschen liegend zumindest zeitweise abzuschaffen.« »Oh, Mr. Fortunato«, sagte Carpathia, »ich weiß nicht. Wie würden denn die Leute auf einen solchen Vorschlag reagieren?« Plötzlich redeten die anderen alle durcheinander. Rayford hörte, wie sie alle Fortunato zustimmten und Carpathia bedrängten, dies in Betracht zu ziehen. Einer wiederholte Carpathias Aussage, wie sehr viel geordneter die Berichterstattung nun wäre, da die Weltgemeinschaft die wichtigsten Medienkonzerne besäße, und fügte hinzu, es sei nicht nötig, Industrie und Handel zu besitzen, solange Carpathia die Kontrolle darüber ausübe und der Weltgemeinschaft vorstand. »Vielen Dank für Ihre Anregungen, meine Herren. Diese Besprechung war sehr effizient und inspirierend. Ich werde mir Ihre Vorschläge überlegen und Ihnen meine Entscheidung bald mitteilen.« Die Konferenz dauerte noch einige Stunden. Immer wieder plapperten Carpathias so genannte »Könige« das nach, was er ihnen vorgesagt hatte, nachdem er ihnen versichert hatte, sie würden es brillant finden, wenn sie darüber nachgedacht hätten. Jeder schien diese Dinge als neue Ideen vorzubringen, so als hätten sie Carpathia gar nicht gehört. »Und nun, meine Herren«, schloss Carpathia, »in wenigen Stunden werden wir in Neu-Babylon sein und ich werde die drei neuen Botschafter ernennen. Ich möchte, dass Sie sich über das Unausweichliche im Klaren sind. Wir können nicht so tun, als wäre die Welt, so wie wir sie kennen, durch den Ausbruch dieses Weltkrieges nicht beinahe zerstört worden. Dieser 125
Krieg ist noch nicht vorüber. Es wird weitere Auseinandersetzungen geben. Es wird weitere Überraschungsangriffe geben. Widerstrebend werden wir zu unseren Waffen greifen müssen, was ich, wie Sie alle wissen, nur sehr ungern tue. Das wird wiederum Tausende von Menschen das Leben kosten, zusätzlich zu den Hunderttausenden, die bereits ihr Leben verloren haben. Trotz all unserer Bemühungen und den wundervollen Ideen, über die wir gerade gesprochen haben, müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir noch lange werden kämpfen müssen. Opportunisten wissen Zeiten wie diese immer für sich zu nutzen. Unsere Gegner werden sich die Tatsache zu Nutzen machen, dass unsere Friedenstruppen unmöglich überall gleichzeitig sein können, und das wird Hunger, Armut und Krankheit zur Folge haben. In gewisser Weise hat dies auch sein Gutes. Angesichts der enormen Kosten für den Wiederaufbau kann es nur positiv sein, wenn wir weniger Menschen zu ernähren haben. Auf diese Weise erreichen wir schneller und billiger unser Ziel der wirtschaftlichen Gleichstellung aller Menschen. Nachdem die Bevölkerungszahl abgenommen und sich dann stabilisiert hat, müssen wir darauf achten, dass sie danach nicht wieder explosionsartig in die Höhe schnellt. Mit einer entsprechenden Gesetzgebung in Bezug auf Abtreibung, Sterbehilfe und die Reduzierung der auf wendigen Versorgung kranker und behinderter Menschen sollten wir in der Lage sein, eine weltweite Bevölkerungskontrolle auszuüben.« Rayford konnte nur noch beten. »Herr«, sagte er leise, »ich wünschte, ich wäre ein willigerer Diener. Hast du denn keinen anderen Auftrag für mich? Kannst du mich denn nicht in einer aktiven Opposition gebrauchen? Ich kann dir nur vertrauen, dass du alles richtig machst. Bewahre meine Lieben, bis wir dich in deiner Herrlichkeit sehen. Ich weiß, du hast mir schon lange vergeben, dass ich all diese Jahre nicht an dich geglaubt und dir gegenüber so gleichgültig gewesen bin, doch diese Last 126
liegt noch immer schwer auf mir. Danke, dass du mir geholfen hast, die Wahrheit zu finden, danke für Bruce Barnes. Und danke, dass du in diesem letzten Kampf bei uns bist.«
7 Buck hatte schon immer einen gesunden Schlaf gehabt, wenn er auch nicht lange schlafen konnte. Nach den Ereignissen des vorangegangenen Tages hätte er eigentlich mehr als zwölf Stunden Schlaf benötigt, doch die sieben Stunden hatten gerade ausgereicht, denn er schlief sehr tief und fest. Dass Chloe eine sehr unruhige Nacht gehabt hatte, wusste er nur, weil sie es ihm am Morgen erzählt hatte. Ihr ruheloses Hin- und Herwälzen hatte ihn nicht gestört. Als Ken Ritz den Learjet nun in Easton, Pennsylvania, landete, um vor dem Flug nach Tel Aviv noch einmal aufzutanken, war Buck hellwach. Der schlaksige Pilot und er hatten keinerlei Anlaufprobleme; sie setzten da wieder an, wo sie das letzte Mal aufgehört hatten. Nach dem großen Massenverschwinden hatte Buck den Charterdienst zum ersten Mal in Anspruch genommen. Ritz, ein Mann von Mitte fünfzig, redete gern, hörte aber auch gern zu. Er war interessant und interessiert. Bucks Meinung zu dem großen Massenverschwinden und dem Ausbruch des Krieges interessierte ihn genauso, wie er den Wunsch hatte, seine eigenen Ansichten mitzuteilen. »So, was hat es denn bei dem jungen, aufstrebenden Reporter Neues gegeben, seit ich Sie vor zwei Jahren zuletzt gesehen habe?«, hatte Ritz das Gespräch begonnen. Buck erzählte es ihm. Er erinnerte sich daran, dass Ritz bei ihrer ersten Begegnung sehr aufrichtig und offen gewesen war und zugegeben hatte, genauso wenig wie alle anderen zu wissen, was die mögliche Ursache für das Massenverschwinden gewesen sein könnte. Damals hatte er eher zu der Ansicht 127
geneigt, es könnten Aliens aus dem Weltraum gewesen sein. Buck hatte dies für eine ziemlich weit hergeholte Idee gehalten, aber damals hatte er selbst noch keine andere Erklärung für dieses Phänomen gehabt. Eine Theorie war so gut gewesen wie die andere. Ritz hatte ihm von den vielen seltsamen Begegnungen in der Luft erzählt, die erklärten, warum ein Mann, dessen Welt das Fliegen war, an solche Dinge glaubte. Das alles hatte Buck dazu ermutigt, nun vorbehaltlos seine eigene Geschichte zu erzählen. Dies schien Ritz nicht zu berühren, aber wenigstens zeigte er auch keine negative Reaktion. Er hörte ruhig zu und als Buck geendet hatte, nickte er einfach. »So«, sagte Buck, »halten Sie mich nun für einen komischen Kauz, so wie ich damals von Ihnen gedacht habe, als Sie mir die Alien-Theorie servierten?« »Eigentlich nicht«, erwiderte Ritz. »Sie wären erstaunt, wie viele Menschen ich seither kennen gelernt habe, die dasselbe glauben wie Sie. Ich weiß nicht, was das alles bedeutet, aber ich fange an zu glauben, dass es mehr Leute gibt, die sich eher Ihrer Meinung anschließen als meiner.« »Ich sage Ihnen was«, meinte Buck, »falls ich Recht habe, schützt mich auch das nicht vor Schwierigkeiten. Wir alle werden eine richtige Horrorzeit erleben. Aber für die Menschen, die nicht glauben, wird es noch schlimmer werden, als sie sich je vorstellen können.« »Es kann doch gar nicht mehr schlimmer kommen!« »Ich kann Sie verstehen«, erwiderte Buck. »Ich habe immer versucht, mich zu entschuldigen, oder mich bemüht, den Menschen nicht lästig zu werden, aber ich möchte Sie inständig bitten, sich mit dem auseinander zu setzen, was ich gesagt habe. Und glauben Sie nicht, Sie hätten viel Zeit dazu!« »Das ist alles Bestandteil Ihres Glaubens, nicht wahr?«, fragte Ritz. »Wenn stimmt, was Sie sagen, steht das Ende kurz bevor. Nur noch wenige Jahre.« »Genau.« 128
»Dann fängt man wohl besser damit an, das alles zu überprüfen.« »Ich hätte es nicht passender ausdrücken können«, meinte Buck. Nachdem sie die Maschine in Easton aufgetankt hatten, traten sie den Flug über den Atlantik an. Ritz verbrachte die Zeit damit, Buck mit Fragen zu löchern. Immer wieder musste Buck ihm versichern, dass er kein Gelehrter sei, aber er war erstaunt, wie viel er von dem, was Bruce ihnen erzählt hatte, behalten hatte. »Es muss sehr wehgetan haben, einen solchen Freund zu verlieren«, sagte Ritz. »Das können Sie sich gar nicht vorstellen.« Leon Fortunato gab an alle im Flugzeug genaue Anweisungen, wann sie aussteigen und wo sie sich für die Kameras aufstellen sollten, wenn sie in Neu-Babylon gelandet waren. »Mr. Fortunato«, sagte Rayford, wenigstens in Gegenwart der anderen sorgfältig bemüht, Leons Wünschen nachzukommen, »McCullum und ich müssen bei dem Foto doch nicht dabei sein, oder?« »Nicht, wenn Sie gegen den ausdrücklichen Wunsch des Potentaten handeln wollen«, erwiderte Fortunato. »Bitte tun Sie einfach nur, was man Ihnen gesagt hat.« Nachdem das Flugzeug in Neu-Babylon gelandet und zu einem sicheren Platz gerollt war, wurden die Türen geöffnet. Die von Carpathia kontrollierte Presse war auf dem Rollfeld versammelt. Rayford saß im Cockpit und hörte über die Gegensprechanlage zu. »Denken Sie daran«, sagte Carpathia, »kein Lächeln. Dies ist ein ernster, trauriger Tag. Zeigen Sie einen angemessenen Gesichtsausdruck, wenn ich bitten darf.« Rayford fragte sich, warum man die Leute daran erinnern musste, an einem Tag wie diesem nicht fröhlich zu erscheinen. Als nächstes ertönte Fortunatos Stimme: »Potentat, wie ich 129
höre, wartet eine Überraschung auf Sie.« »Sie wissen doch, dass ich Überraschungen nicht mag«, erwiderte Carpathia. »Wie es scheint, wartet Ihre Verlobte in der Menge.« »Das ist vollkommen unpassend.« »Soll ich sie entfernen lassen?« »Nein, ich weiß nicht genau, wie sie reagieren wird. Ganz bestimmt können wir uns keine Szene leisten. Ich hoffe nur, dass sie weiß, wie sie sich zu verhalten hat. Und das ist nicht gerade ihre Stärke, wie Sie sicher wissen.« Fortunato war diplomatisch genug, auf diese Äußerung nicht zu reagieren. Es klopfte an der Cockpittür. »Pilot und Copilot als Erste«, rief Fortunato. »Gehen wir!« Als Rayford aufstand, knöpfte er seine Uniformjacke zu und setzte seine Mütze auf. Er und McCullum stiegen die Treppe hinunter und stellten sich auf die rechte Seite der v-förmig angeordneten Menschen, die den Potentaten flankierten. Carpathia würde als Letzter das Flugzeug verlassen. Danach kam die Crew. Die Stewardessen schienen sehr nervös zu sein. Wenigstens nahmen sie sich so weit zusammen, dass sie nicht kicherten, sondern einfach den Blick senkten und sich auf ihren Platz stellten. Fortunato und zwei weitere Assistenten Carpathias führten die sieben Botschafter die Treppe hinunter. Rayford drehte sich um und beobachtete, wie Nicolai Carpathia oben auf der Treppe in der Tür erschien. Der Potentat wirkte in solchen Situationen immer größer als er tatsächlich war, dachte Rayford. Er schien sich gerade rasiert und seine Haare gewaschen zu haben, obwohl Rayford nicht wusste, wann er sich die Zeit dazu genommen haben könnte. Sein Anzug, sein Hemd und seine Krawatte waren von bester Qualität und die Accessoires dezent, aber elegant. Er zögerte kurz, eine Hand in seiner rechten Anzugtasche, in der anderen hielt er eine dünne Ledermappe. Er sieht immer so aus, als sei 130
er gerade mit einer dringenden Angelegenheit beschäftigt, dachte Rayford. Rayford war erstaunt über Carpathias Fähigkeit, immer die der Situation angemessene Pose einnehmen und den richtigen Gesichtsausdruck zur Schau stellen zu können. Er wirkte besorgt, ernst, aber trotzdem zielstrebig und zuversichtlich. Während die Blitzlichter um ihn herum aufflammten und die Kameras surrten, stieg er entschlossen die Treppe hinunter und näherte sich den auf ihn gerichteten Mikrofonen. Die Insignien der unterschiedlichen Sendeanstalten auf den Mikrofonen waren geändert worden und enthielten nun alle die Buchstaben »GCN«, Global Community Network. Die einzige, die sich nicht vollkommen unter Kontrolle hatte, wählte diesen Augenblick, um Carpathias großen Auftritt zu stören. Hattie Durham löste sich aus der Menge und eilte zu ihm hin. Die Sicherheitskräfte traten ihr in den Weg, doch dann erkannten sie sie und ließen sie durch. Jetzt fehlt nur noch, dass sie außer sich vor Freude zu schreien beginnt, dachte Rayford. Zum ersten Mal seit Rayford sich erinnern konnte, zeigte Carpathia Verlegenheit. Es war, als müsse er entscheiden, was schlimmer wäre: sie abzuwehren oder sie an seiner Seite willkommen zu heißen. Er entschied sich für Letzteres, doch es war offensichtlich, dass er sie auf Abstand hielt. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen, und er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Als sie den Kopf drehte, um ihm einen leidenschaftlichen Kuss auf die Lippen zu geben, zog er ihr Ohr an seinen Mund und flüsterte ihr streng etwas zu. Hattie sah ihn betroffen an. Den Tränen nahe, wollte sie sich zurückziehen, doch er packte sie fest am Handgelenk und hielt sie an seiner Seite fest. »Es ist so schön, wieder hier zu sein, wo ich hingehöre«, sagte er. »Wie gut tut es, geliebte Menschen wieder zu sehen. Meine Verlobte ist genau wie ich von Trauer überwältigt über 131
die schrecklichen Ereignisse, die vor so wenigen Stunden ihren Anfang genommen haben. Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit, doch unser Horizont ist nie weiter, die Herausforderungen sind nie größer gewesen und unsere Zukunft hat uns nie vielfältigere Möglichkeiten geboten. Angesichts der Tragödie und der Zerstörung, die wir alle erlebt haben, scheint diese Äußerung ein wenig unpassend zu sein, doch wenn wir zusammenstehen, werden wir diese Krise überwinden und zum Besseren wenden. Wir werden jedem Feind des Friedens widerstehen und jeden Freund der Weltgemeinschaft willkommen heißen.« Die Menge, darunter auch die Presse, applaudierte feierlich. Rayford fühlte sich elend. Er konnte es kaum erwarten, in seine Wohnung zu kommen und mit seiner Frau zu telefonieren. »Machen Sie sich um mich keine Gedanken, Kumpel«, sagte Ken Ritz zu Buck, als er diesem aus dem Learjet half. »Ich werde dieses Baby in den Hangar stellen und mir die Zeit vertreiben. Ich wollte mir schon immer mal dieses Land ansehen und es ist schön, an einem Ort zu sein, der nicht in Trümmer gelegt worden ist. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können. Wenn Sie wieder zurückfliegen wollen, hinterlassen Sie am Flughafen einfach eine Nachricht. Ich werde mich zwischendurch öfter hier melden.« Buck bedankte sich bei ihm und hängte sich seine Tasche über die Schulter. Er ging auf den Terminal zu. Hinter der Scheibe sah er Chaim Rosenzweig, den schmächtigen kleinen Mann mit dem Haar, das in alle Himmelsrichtungen stand. Wie sehr wünschte er sich, dieser Mann würde die Wahrheit erkennen! Buck hatte Chaim lieben gelernt. Als er den Wissenschaftler kennen gelernt hatte, war es nur Sympathie gewesen. Es war erst ein paar Jahre her und doch ihm erschien es schon so lange. Buck war der jüngste Chefreporter in der Geschichte des Global Weekly gewesen – eigentlich sogar in der Geschichte des internationalen Journa132
lismus. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass Dr. Rosenzweig zum »Mann des Jahres« des Weekly gekürt wurde. Zum ersten Mal hatte Buck den Mann mehr als ein Jahr vor diesem Artikel getroffen, nachdem Rosenzweig für die Erfindung einer botanischen Formel einen sehr bedeutenden internationalen Preis gewonnen hatte (Chaim selbst nannte es eher eine Entdeckung). Durch diese Formel konnten Pflanzen überall blühen – sogar auf Beton, wie manche ohne große Übertreibung behaupteten. Dies hatte man jedoch noch nie versucht; schon bald darauf begann der Wüstensand Israels zu blühen wie die Pflanzen in einem Treibhaus. Blumen, Korn, Bohnen und viele, viele andere Pflanzen. Jeder Quadratzentimeter dieses kleinen Landes wurde in großer Eile für den landwirtschaftlichen Anbau vorbereitet. Buchstäblich über Nacht war Israel zur reichsten Nation der Welt aufgestiegen. Andere Nationen hatten sich eifersüchtig darum bemüht, diese Formel in die Hände zu bekommen. Allen schien sie die Antwort auf ihre wirtschaftlichen Miseren zu sein. Aus einem verletzlichen, geografisch schutzlosen Land war eine Weltmacht geworden – ein respektiertes, gefürchtetes und beneidetes Land. Rosenzweig war der Mann der Stunde und, so der Global Weekly, der »Mann des Jahres«. Buck hatte sich auf das Interview mit ihm gefreut. Es war ihm wichtiger gewesen als jedes andere Gespräch mit bedeutenden und mächtigen Politikern. Rosenzweig war ein hervorragender Wissenschaftler, er war demütig, bescheiden, beinahe naiv wie ein Kind, herzlich und einfach unvergesslich. Er behandelte Buck wie einen Sohn. Andere Nationen wollten Rosenzweigs Formel so dringend haben, dass sie hochrangige Diplomaten und Politiker beauftragten, ihn zu hofieren. Er musste so viele Würdenträger empfangen, dass sein Lebenswerk in den Hintergrund gedrängt 133
wurde. Zwar hatte er das Pensionsalter schon längst überschritten, doch ganz offensichtlich fühlte er sich in einem Labor oder einem Klassenzimmer sehr viel wohler als in diplomatischer Gesellschaft. Der Liebling Israels war zur Ikone der Weltregierungen geworden und alle kamen, um sich seine Gunst zu sichern. Chaim hatte Buck einmal gesagt, jeder Bittsteller hätte seinen eigenen, für alle offensichtlichen Zeitplan. »Ich bemühte mich nach Kräften, ruhig und diplomatisch zu bleiben«, erklärte er Buck, »aber nur, weil ich mein Vaterland repräsentiere. Mir wird fast übel«, fügte er mit seinem bezaubernden hebräischen Akzent hinzu, »wenn alle mir versprechen, mich zum reichsten Mann der Welt zu machen, wenn ich mich nur dazu durchringen könnte, ihnen meine Formel gegen eine finanzielle Gegenleistung zugänglich zu machen!« Die israelische Regierung hielt ihre Hand noch fester auf dieser Formel. Sie verkündete klar und deutlich, die Formel sei nicht zu verkaufen und würde auch nicht ausgeliehen. Die anderen Länder waren nicht abgeneigt, aus diesem Grund einen Krieg zu beginnen, und Russland griff Israel sogar tatsächlich an. In der Nacht, als die Bomber kamen, hatte sich Buck in Haifa aufgehalten. Die wundersame Bewahrung dieses Landes vor jedem Schaden, trotz des heftigen Luftangriffs, ließ Buck zum Glauben an Gott finden, wenn er auch damals Christus noch nicht akzeptierte. Es gab keine andere Erklärung dafür, dass die Bomben und Raketen, die auf das ganze Land fielen, den Menschen und Gebäuden nichts anhaben konnten. Es gab nicht einen Verletzten, nicht ein zerstörtes Haus. Nach dieser Nacht hatte sich Buck, der um sein Leben gefürchtet hatte, auf die Suche nach der Wahrheit begeben, die erst ihr Ende fand, nachdem er Rayford und Chloe Steele kennen gelernt hatte. Es war Chaim Rosenzweig gewesen, der Buck gegenüber den Namen »Nicolai Carpathia« zum ersten Mal erwähnt hatte. 134
Buck hatte den alten Mann gefragt, ob einer von denen, die geschickt worden waren, um ihn zu hofieren, ihn beeindruckt habe. Nur einer habe einen bleibenden Eindruck auf ihn hinterlassen, hatte Chaim ihm erzählt; ein junger, noch unbedeutender Politiker aus dem kleinen Rumänien. Chaim war von Carpathias pazifistischen Ansichten, seinem selbstlosen Verhalten und seiner beharrlichen Meinung, diese Formel könnte die Welt verändern und Leben retten, sehr angetan gewesen. Noch immer hörte Buck Chaim Rosenzweig sagen: »Sie müssen Carpathia eines Tages kennen lernen. Sie würden sich bestimmt mögen.« Wenige Tage nach dem großen Massenverschwinden war der Mann, der scheinbar über Nacht zum Präsidenten von Rumänien ernannt worden war, von den Vereinten Nationen als Gastredner eingeladen worden. Seine kurze Rede war so eindrucksvoll, so hypnotisierend, dass er begeisterten Applaus bekam, sogar von der Presse und auch von Buck. Natürlich war die Welt schockiert, verängstigt durch das Massenverschwinden. Es war der ideale Zeitpunkt für diesen Mann, an die Öffentlichkeit zu treten und einen neuen Plan für internationalen Frieden, Harmonie und Brüderlichkeit darzulegen. Nach diesem Tag war der Name »Carpathia« in aller Munde. Scheinbar gegen seinen Willen wurde Carpathia an die Macht gebracht. Er löste den Generalsekretär der Vereinten Nationen ab, ordnete die Vereinten Nationen neu, so dass sie sich aus zehn internationalen Mega-Territorien zusammensetzten, nannte sie »Weltgemeinschaft«, verlegte ihren Sitz nach Babylon (das wieder aufgebaut und Neu-Babylon genannt worden war) und machte sich dann daran, die ganze Welt zu entmilitarisieren. Dies alles wäre Carpathia jedoch nicht allein durch seine starke und bezwingende Persönlichkeit gelungen. Er hatte noch eine weitere Trumpfkarte: Er hatte Rosenzweig. Ihm war es gelungen, den alten Mann und dessen Regierung davon zu 135
überzeugen, dass eine neue Welt nur dann entstehen könnte, wenn Carpathia und die Weltgemeinschaft mit der Herausgabe dieser Formel die Unterordnung unter internationale Regeln zur Abrüstung belohnen könnten. Israel stellte ihm die Formel zur Verfügung und somit hatte er das Recht, jedem Land der Welt Bedingungen zu stellen. Im Gegenzug bekam Israel eine von Carpathia unterzeichnete Garantie, die diesem Land einen mindestens siebenjährigen Schutz vor allen Feinden sicherte. Durch diese Formel konnte Russland in der eiskalten Tundra Sibiriens Landwirtschaft betreiben. In den verarmten afrikanischen Ländern wuchsen die Nahrungsmittel wie in einem Treibhaus, so viel, dass Afrika sie sogar noch exportieren konnte. Die Formel gab Carpathia die Macht, den Rest der Welt in die Knie zu zwingen. Unter dem Deckmantel pazifistischer Philosophien wurden die Mitgliedsstaaten der Weltgemeinschaft dazu gebracht, 90 % ihrer Waffen zu vernichten und die verbleibenden 10 % der Weltgemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Noch bevor jemand wusste, was passierte, war Nicolai Carpathia, den man nun den »großen Potentaten der Weltgemeinschaft« nannte, stillschweigend zum militärisch mächtigsten Pazifisten in der Geschichte der Erde aufgestiegen. Nur wenige Völker misstrauten ihm und hielten Waffen zurück. Ägypten, die neuen Vereinigten Staaten von Großbritannien und eine überraschend gut organisierte Untergrundgruppe amerikanischer Militärs hatten so viele Waffen gelagert, dass sie damit den Dritten Weltkrieg auslösen konnten, den die Bibel symbolisch als das »rote Pferd der Apokalypse« vorhergesagt hatte. Die Ironie aller dieser Ereignisse war, dass der gutmütige und unschuldige Chaim Rosenzweig, der immer die Interessen anderer im Sinn zu haben schien, zu einem unerschütterlichen Anhänger Nicolai Carpathias wurde. Der Mann, den Buck und seine Mitstreiter in der Tribulation Force für den Antichristen 136
hielten, machte den sanften Botaniker zu einem willigen Werkzeug. Carpathia übertrug Rosenzweig viele diplomatische Aufgaben und tat sogar so, als gehöre Chaim zu seinem engeren Mitarbeiterkreis. Doch allen anderen war klar, dass Rosenzweig nur toleriert wurde und man sich insgeheim über ihn lustig machte. Carpathia tat, was er wollte. Trotzdem betete Rosenzweig diesen Mann beinahe an. Einmal vertraute er Buck sogar an, dass, falls überhaupt jemand die Eigenschaften des lang ersehnten jüdischen Messias haben würde, es sicherlich Nicolai wäre. Das war, bevor einer von Rosenzweigs jüngeren Protegés, Rabbi Tsion Ben-Juda, in einer Fernsehsendung der Weltöffentlichkeit mitgeteilt hatte, was er bei seinen von der jüdischen Regierung in Auftrag gegebenen Jahre langen Nachforschungen bezüglich des Messias herausgefunden hatte. Rabbi Ben-Juda hatte alte Manuskripte sehr eingehend studiert, dazu auch das Alte und das Neue Testament, und er war zu dem Schluss gekommen, dass nur Jesus Christus alle Prophezeiungen in Bezug auf den Messias erfüllte. Nun bedauerte Rabbi Ben-Juda, dass er bei der Entrückung Christus noch nicht als seinen Herrn und Erlöser in sein Leben aufgenommen hatte. Dass er zurückgelassen worden war, bestätigte seine Ansicht, dass Jesus der Messias und auch für ihn auf die Welt gekommen war. Der Rabbi, im Alter von Mitte vierzig erst seit sechs Jahren verheiratet, war mit seiner Frau und seinen beiden Stiefkindern, einem Jungen und einem Mädchen, zurückgeblieben. Er hatte die Welt und vor allem seine eigene Nation schockiert, als er das Ergebnis seiner dreijährigen Studie bis zu einer internationalen Live-Fernsehsendung zurückhielt. Nachdem er seine Schlussfolgerungen vorgestellt hatte, war er ein gebrandmarkter Mann. Obwohl Ben-Juda Dr. Rosenzweigs Student, Protegé und schließlich sogar Kollege war, hatte sich Letzterer immer als nichtreligiöser, nichtpraktizierender Jude betrachtet. Kurz gesagt, er konnte Ben-Judas Schlussfolgerung in Bezug auf Jesus 137
nicht zustimmen, doch in erster Linie war dies ein Thema, mit dem er sich nicht auseinandersetzen wollte. Dies alles beeinträchtigte jedoch keinesfalls seine Freundschaft mit Ben-Juda. Er war und blieb sein Fürsprecher. Als Ben-Juda mit der Ermutigung und Unterstützung der beiden fremden, aus einer anderen Welt kommenden Prediger an der Klagemauer begann, seine Botschaft weiterzugeben, zuerst im Teddy-Kollek-Stadion, danach an ähnlichen Orten auf der ganzen Welt, wusste jeder, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er dafür würde leiden müssen. Buck wusste, einer der Gründe, warum Rabbi Tsion BenJuda noch am Leben war, war der, dass die beiden Prediger Moishe und Eli jeden Angriff auf sein Leben als einen Angriff gegen sich selbst werteten. Viele waren bei ihrem Versuch, diese beiden zu töten, auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen. Fast alle wussten, dass Ben-Juda »ihr Mann« war. Darum hatte man ihn bisher verschont. Doch dieser Schutz schien nun zu Ende zu sein und darum war Buck nach Israel gekommen. Buck war davon überzeugt, dass Carpathia hinter der Tragödie steckte, die Ben-Judas Familie getroffen hatte. Neuen Berichten zufolge waren die Mörder in schwarze Kapuzen gehüllt mitten am Nachmittag eines sonnigen Tages zu Ben-Judas Haus gekommen. Die Teenager waren gerade von der hebräischen Schule nach Hause gekommen. Zwei bewaffnete Wachposten wurden erschossen und Mrs. Ben-Juda, ihr Sohn und ihre Tochter auf die Straße gezerrt, enthauptet und in ihrem Blut liegen gelassen. Die Mörder waren in einem unbekannten Wagen ohne Nummernschild davongefahren. Als Ben-Judas Fahrer von dem Massaker hörte, fuhr er in das Büro des Rabbis in der Universität und brachte ihn, wie berichtet wurde, in Sicherheit. Wohin, das wusste niemand. Bei seiner Rückkehr leugnete der Fahrer gegenüber den Behörden und der Presse zu wissen, wo der Rabbi sich aufhielt. Er behauptete, ihn seit kurz vor den 138
Morden nicht mehr gesehen zu haben, und sagte, er hoffe, irgendwann von ihm zu hören.
8 Rayford fühlte sich eigentlich recht ausgeruht, da er auf seiner langen Reise zwischendurch ja immer wieder kurz geschlafen hatte. Allerdings hatte er nicht mit den Auswirkungen gerechnet, die die Anspannung, die Furcht und seine Abscheu vor Carpathia auf seinen Geist und seinen Körper haben würden. In seiner und Amandas Wohnung, mit Klimaanlage ein wirklich angenehmer Platz im Irak, zog er sich bis auf seine BoxerShorts aus und setzte sich auf sein Bett. Mit hängenden Schultern, die Ellbogen auf die Knie gestützt, seufzte er laut auf. Erst jetzt erkannte er, wie erschöpft er war. Endlich hatte er eine Nachricht von zu Hause bekommen. Er wusste, dass Amanda in Sicherheit war, Chloe auf dem Weg der Besserung und Buck wie gewöhnlich unterwegs. Was er von Verna Zee halten sollte, wusste er noch nicht. Sie konnte durchaus eine Gefahr für das neue Hauptquartier der Tribulation Force (Lorettas Haus) sein. Aber in dieser Angelegenheit würde er Buck und vor allem Gott vertrauen. Rayford streckte sich auf der Bettdecke aus. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte an die Decke. Wie gern hätte er einen Blick auf den Computerausdruck aus dem Computer von Bruce geworfen. Kurz bevor er langsam in einen tiefen Schlaf versank, versuchte er, eine Möglichkeit zu finden, bis zum folgenden Sonntag nach Chicago zurückzukehren. Es musste einen Weg geben, an dem Trauergottesdienst für Bruce teilzunehmen. Während der Schlaf langsam über ihn sank, legte er Gott sein Anliegen vor.
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Immer wieder hatte sich Buck über das breite Begrüßungslächeln von Chaim Rosenzweig gefreut. Doch heute war keine Spur davon zu entdecken. Als Buck auf den alten Mann zuging, umarmte ihn Rosenzweig einfach nur und sagte mit belegter Stimme: »Cameron! Cameron!« Buck beugte sich zu dem kleinen Mann hinunter, um ihn zu umarmen. Rosenzweig drückte ihn fest. Er barg sein Gesicht an Bucks Brust und weinte bitterlich. Buck verlor beinahe das Gleichgewicht; das Gewicht seiner Tasche zog ihn zur Seite und Rosenzweigs Griff nach vorn. Er hatte das Gefühl, jeden Augenblick stolpern und auf seinen Freund fallen zu können. Nur mit Mühe konnte er sich halten. Er drückte Chaim fest an sich und ließ ihn weinen. Schließlich löste sich Rosenzweig aus seiner Umklammerung und zog Buck zu einer Reihe von Stühlen. Buck bemerkte Rosenzweigs großen, dunkel wirkenden Fahrer, der mit gefalteten Händen etwa drei Meter von ihnen entfernt stand. Er schien um seinen Arbeitgeber besorgt zu sein, außerdem wirkte er verlegen. Chaim deutete mit dem Kopf auf ihn. »Sie erinnern sich noch an André?«, fragte Rosenzweig. »Ja«, erwiderte Buck nickend, »wie geht es Ihnen?« André antwortete auf Hebräisch. Er sprach weder Englisch, noch verstand er es. Buck dagegen konnte kein Hebräisch. Rosenzweig sagte etwas zu André, woraufhin er davoneilte. »Er holt den Wagen«, erklärte Chaim. »Ich kann nur ein paar Tage hier bleiben«, sagte Buck. »Was haben Sie mir zu berichten? Wissen Sie, wo Tsion ist?« »Nein! Cameron, es ist so schrecklich. Welch eine heimtükkische, schreckliche Besudelung der Familie eines Mannes und seines Namens!« »Aber er hat sich doch bei Ihnen gemeldet –« »Ein Telefonanruf. Er sagte, Sie würden wissen, wo Sie nach ihm suchen sollten. Aber, Cameron, haben Sie das Neueste 140
schon gehört?« »Nein, woher auch.« »Die Behörden versuchen, ihm den Mord an seiner eigenen Familie in die Schuhe zu schieben.« »Ach, Quatsch! Das wird ihnen doch niemand abkaufen! Nichts deutet auch nur in diese Richtung. Warum sollte er das tun?« »Sie und ich wissen natürlich, dass er so etwas niemals tun würde, aber wenn böse Elemente darauf aus sind, einen zu fangen, machen sie vor nichts Halt. Sie haben natürlich das von seinem Fahrer auch noch nicht gehört.« »Nein.« Rosenzweig schüttelte den Kopf und senkte das Kinn auf die Brust. »Was?«, fragte Buck. »Doch nicht er auch?« »Leider doch. Eine Autobombe. Seine Leiche war kaum zu identifizieren.« »Chaim! Sind Sie denn überhaupt sicher? Weiß denn Ihr Fahrer, wie er –« »… vorsichtig fahren muss? Nach Autobomben suchen? Mich verteidigen? Ja, das weiß er alles. André ist recht geschickt. Ich muss gestehen, dass ich trotzdem nicht weniger Angst habe, aber ich habe das Gefühl, so gut wie möglich beschützt zu werden.« »Aber Sie werden mit Dr. Ben-Juda in Zusammenhang gebracht. Die Leute, die ihn suchen, werden versuchen, Ihnen zu folgen, um ihn zu finden.« »Was bedeutet, dass auch Sie sich nicht mit mir sehen lassen sollten«, ergänzte Rosenzweig. »Dafür ist es zu spät«, meinte Buck. »Seien Sie nicht zu sicher. André hat mir versichert, dass wir auf dem Weg hierher nicht verfolgt worden sind. Es würde mich nicht überraschen, wenn sich gleich jemand an unsere Fersen heften würde, aber im Augenblick sind wir wohl noch 141
unentdeckt.« »Gut! Bei der Passkontrolle habe ich meinen gefälschten Pass vorgezeigt. Haben Sie das Hotelzimmer auf meinen Namen gebucht?« »Leider ja, Cameron. Es tut mir Leid. Ich habe sogar meinen Namen als Sicherheit angegeben.« Buck hielt nur mit Mühe ein Lächeln zurück. Der Mann war wirklich zu naiv. »Nun denn, mein Freund, wir werden das einfach nutzen, um sie uns vom Leib zu halten, nicht?« »Cameron, ich fürchte, in solchen Dingen bin ich nicht allzu geschickt.« »Geben Sie André doch den Auftrag, Sie direkt zu diesem Hotel zu fahren. Sagen Sie dort Bescheid, meine Pläne hätten sich geändert und ich würde nicht vor Sonntag eintreffen.« »Cameron, woher bekommen Sie nur so schnell Ihre guten Ideen?« »Beeilen Sie sich jetzt. Wir dürfen nicht mehr zusammen gesehen werden. Ich werde spätestens am Samstagabend hier abfliegen. Sie können mich unter dieser Nummer erreichen.« »Ist sie auch sicher?« »Dies ist ein Satellitentelefon, das Neueste vom Neuen. Niemand kann es abhören. Legen Sie nur nicht meinen Namen neben die Nummer und geben Sie die Nummer an keinen Menschen weiter.« »Cameron, wo wollen Sie mit der Suche nach Tsion beginnen?« »Ich habe ein paar Ideen«, erwiderte Buck zuversichtlich. »Sie sollten wissen, dass ich ihn aus diesem Land herausschaffen werde, falls ich ihn finde.« »Ausgezeichnet! Wenn ich ein Mann des Gebets wäre, würde ich jetzt für Sie beten.« »Chaim, eines Tages in naher Zukunft müssen Sie ein Mann des Gebets werden.« Chaim wechselte das Thema. »Eines noch, Cameron: Ich habe 142
Carpathia in dieser Angelegenheit um Hilfe gebeten.« »Ich wünschte, Sie hätten das nicht getan, Chaim. Ich vertraue ihm nicht so wie Sie.« »Das habe ich gemerkt, Buck«, sagte Rosenzweig, »aber Sie müssen den Mann erst besser kennen lernen.« Wenn Sie wüssten, dachte Buck. »Chaim, ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald ich etwas weiß. Rufen Sie mich nur an, wenn es unbedingt sein muss.« Rosenzweig umarmte ihn noch einmal fest und eilte davon. Von einem Münzfernsprecher aus rief er das »King David Hotel« an und buchte ein Zimmer für zwei Wochen unter dem Namen Herb Katz. »Welche Firma vertreten Sie?«, fragte der Portier. Buck dachte einen Augenblick nach. »International Harvester«, sagte er schließlich. Er fand, dass dies eine großartige Beschreibung sowohl von Bruce Barnes als auch von Tsion Ben-Juda gewesen wäre. Rayford schlug die Augen auf. Er hatte sich nicht gerührt. Wie lange er geschlafen hatte, konnte er nicht sagen, aber irgendetwas hatte ihn aus seinen Träumen aufgeschreckt. Das Klingeln des Telefons auf dem Nachttisch neben seinem Bett ließ ihn zusammenfahren. Als er danach griff, merkte er, dass sein Arm eingeschlafen war. Er gehorchte ihm nicht. Irgendwie zwang er sich dazu, den Hörer in die Hand zu nehmen. »Steele«, sagte er verschlafen. »Captain Steele? Geht es Ihnen gut?« Es war Hattie Durham. Rayford rollte sich zur Seite und klemmte sich den Hörer unters Kinn. Auf seinen Ellbogen gestützt sagte er: »Mir geht es gut, Hattie. Wie geht es Ihnen?« »Nicht so gut. Ich würde mich gern mit Ihnen treffen, wenn das geht.« Die strahlende Nachmittagssonne bahnte sich durch die geschlossenen Vorhänge hindurch ihren Weg in das Zimmer. 143
»Wann?«, fragte Rayford. »Zum Abendessen?«, antwortete sie. »Um sechs?« Rayfords Gedanken überschlugen sich. Hatte man ihr bereits gesagt, dass sie in der Carpathia-Regierung überflüssig geworden war? Wollte er überhaupt mit ihr in der Öffentlichkeit gesehen werden, solange sich Amanda noch in den Staaten aufhielt? »Ist es wirklich so wichtig, Hattie? Amanda ist gerade in den Staaten, aber sie wird in etwa einer Woche wieder da sein –« »Nein, Rayford, ich muss wirklich dringend mit Ihnen sprechen. Nicolai hat heute bis Mitternacht Besprechungen. Er lässt sich das Essen kommen. Er sagte, er hätte nichts dagegen, wenn ich mit Ihnen ausgehen würde. Ich weiß, Sie wollen nichts tun, was unpassend wäre, und so. Aber es handelt sich ja nicht um eine Verabredung. Wir können uns ja irgendwo treffen, wo für alle offensichtlich ist, dass wir nur gute alte Freunde sind, die sich unterhalten. Bitte!« »Na, gut«, erwiderte Rayford. Er war neugierig. »Mein Fahrer wird Sie dann gegen sechs Uhr abholen, Rayford.« »Hattie, tun Sie mir einen Gefallen. Wenn Sie auch der Meinung sind, dass dies keine Verabredung ist, ziehen Sie sich nicht so schick an.« »Captain Steele«, sagte sie plötzlich sehr formell, »auffallen ist das Letzte, was ich im Augenblick möchte.« Buck richtete sich in seinem Zimmer im dritten Stock des »King David Hotels« ein. Seiner Intuition folgend rief er das Büro der Global Community East Coast Daily Times in Boston an und fragte nach seinem alten Freund Steve Plank. Plank war sein Chef im Global Weekly gewesen, doch das war, wie es schien, schon ganze Zeitalter her. Von heute auf morgen hatte er seinen Job aufgegeben, um Carpathias Pressesprecher zu werden, nachdem Nicolai zum Generalsekretär der Vereinten 144
Nationen ernannt worden war. Es dauerte nicht lange, bis Plank den lukrativen Posten erhielt, den er nun innehatte. Buck war nicht erstaunt zu hören, dass Plank nicht im Büro war. Er hielt sich in Neu-Babylon auf. Nicolai Carpathia hatte ihn zu sich gerufen und zweifellos war Steve sehr stolz darauf. Buck duschte und legte sich schlafen. Rayford hatte das Gefühl, nicht genug Schlaf bekommen zu haben. Ganz bestimmt würde er das Treffen mit Hattie nicht in die Länge ziehen. Er kleidete sich lässig, gerade elegant genug für ein Restaurant wie das »Global Bistro«, wo Hattie und Nicolai häufig gesehen wurden. Natürlich würde Rayford nichts darüber verlauten lassen, dass er von Hatties Absetzung gewusst hatte, bevor sie davon erfahren hatte. Er würde sich die ganze Geschichte anhören und ihre für sie so charakteristischen Gefühlsausbrüche ertragen. Es machte ihm nichts aus. Das war er ihr einfach schuldig. Er fühlte sich noch immer verantwortlich für das, was aus ihr geworden war. Vor nicht allzu langer Zeit hatte auch er sie begehrt. Natürlich hatte Rayford seinen Wünschen niemals nachgegeben, aber in der Nacht der Entrückung hatte er an Hattie gedacht. Wie hatte er so taub, so blind, so realitätsfern sein können? Als erfolgreicher Pilot, der mehr als zwanzig Jahre verheiratet und Vater einer Tochter im Collegealter und eines Teenager-Sohnes war, träumte er von seiner Chefstewardess und rechtfertigte das mit der Entschuldigung, seine Frau habe einen religiösen Tick! Er schüttelte den Kopf. Irene, die liebenswerte kleine Frau, die er so lange Zeit als Selbstverständlichkeit hingenommen hatte, die Frau, die den Namen einer um so viele Jahre älteren Tante trug, hatte die Wahrheit sehr viel früher als die anderen Mitglieder der Familie erkannt. Rayford war immer in die Kirche gegangen und hätte sich selbst als Christ bezeichnet. Aber für ihn war die Kirche ein Ort gewesen, an dem man andere traf und gesehen wurde und 145
an dem man gesellschaftliche Kontakte pflegte und sich respektabel machte. Wenn die Pastoren zu deutlich vom Gericht sprachen oder die Bibel zu wörtlich auslegten, wurde er nervös. Und als Irene eine neue, kleinere Gemeinde fand, deren Mitglieder ihren Glauben auch im Alltag praktizierten, hatte er begonnen, Ausreden zu erfinden, um sie nicht mehr begleiten zu müssen. Und als sie dann angefangen hatte, von der Erlösung, dem Blut und der Wiederkunft Christi zu sprechen, war er überzeugt davon, dass sie den Verstand verloren hatte. Wie lange hätte es noch gedauert, bis sie ihn dazu gebracht hätte, hinter ihr herzutrotten und in den Häusern der Nachbarschaft Traktate zu verteilen? Mit diesen Argumenten hatte er seine ehebrecherischen Gedanken in Bezug auf Hattie Durham gerechtfertigt. Hattie war fünfzehn Jahre jünger als er und absolut umwerfend. Obwohl sie ein paarmal miteinander essen gegangen waren und einige Drinks miteinander genommen hatten und trotz ihrer Körpersprache und den bedeutungsvollen Blicken, die sie sich zuwarfen, hatte Rayford sie niemals auch nur angefasst. Es war Hattie gewesen, die seinen Arm berührte, wenn sie an ihm vorbeiging, oder ihm die Hände auf die Schultern legte, wenn sie mit ihm im Cockpit gesprochen hatte, aber aus irgendeinem Grund hatte Rayford die Sache nie weitergehen lassen. In jener Nacht, als die vollbesetzte 747 per Autopilot über den Atlantik flog, hatte Rayford sich endlich dazu durchgerungen, eine konkrete Verabredung mit ihr zu treffen. Beschämt musste er sich nun eingestehen, dass er bereit gewesen war, den nächsten entscheidenden Schritt zu einer körperlichen Beziehung zu tun. Doch er hatte seine Gedanken nie in Worte fassen können. Als er das Cockpit verließ, um sie zu suchen, hatte sie ihn mit der Nachricht überrascht, dass etwa ein Viertel seiner Passagiere verschwunden war. In der Kabine, die um vier Uhr morgens normalerweise dunkel dalag, wurde es schnell lebendig. Die Leute bekamen Panik, als ihnen klar wurde, was geschehen 146
war. In dieser Nacht hatte Rayford Hattie gesagt, er wusste genauso wenig wie sie, was passiert sei. Doch eigentlich stimmte das nicht. Irene hatte Recht gehabt. Christus war wiedergekommen, um seine Gemeinde zu sich zu holen, und Rayford, Hattie und drei Viertel seiner Passagiere waren zurückgelassen worden. Damals hatte Rayford Buck Williams noch nicht gekannt. Er wusste nicht einmal, dass Buck in der Ersten Klasse seines Flugzeugs saß. Er konnte auch nicht ahnen, dass Buck und Hattie sich miteinander bekannt gemacht hatten, dass Buck über seinen Computer und das Internet versucht hatte, ihre Eltern zu erreichen, um zu sehen, ob sie noch da und gesund waren. Erst später hatte er erfahren, dass es Buck gewesen war, der Hattie dem neuen, strahlenden internationalen Führer Nicolai Carpathia vorgestellt hatte. Rayford selbst hatte Buck in New York kennen gelernt. Rayford war dort, um sich bei Hattie für sein unangemessenes Verhalten in der Vergangenheit ihr gegenüber zu entschuldigen und zu versuchen, ihr die wahre Ursache für das große Massenverschwinden zu erklären. Buck war dort, um sie Carpathia vorzustellen und um ein Interview mit Carpathia und mit Rayford zu machen. Buck hatte nichts anderes im Sinn, als eine Story über die unterschiedlichen Erklärungen zu schreiben, die die Menschen für das große Massenverschwinden hatten. Rayford hatte es ernst gemeint und versucht, auch Buck von der Wahrheit zu überzeugen. Dies war ebenfalls der Abend, an dem Buck Chloe kennen gelernt hatte. So vieles war in dieser kurzen Zeit passiert. Weniger als zwei Jahre später war Hattie die persönliche Assistentin und Geliebte von Nicolai Carpathia, dem Antichristen. Rayford, Buck und Chloe glaubten an Christus. Und ihnen allen lag Hattie Durham am Herzen. Vielleicht kann ich heute Abend endlich einen positiven Einfluss auf sie ausüben, dachte Rayford.
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Buck hatte schon immer die Fähigkeit gehabt, zu der Uhrzeit aufzuwachen, die er sich vorgenommen hatte. Es kam nur sehr selten vor, dass es nicht klappte. Er wollte das Hotel um sechs Uhr abends verlassen. Rechtzeitig war er wach, zwar weniger erfrischt, als er gehofft hatte, doch er konnte es kaum erwarten, sich auf den Weg zu machen. Den Taxifahrer wies er an: »Zur Klagemauer, bitte.« Wenige Augenblicke später stieg Buck aus. Dort hinter einem Zaun aus Stacheldraht, nicht weit von der Klagemauer entfernt, standen die Männer, von denen Buck wusste, dass sie die beiden in der Bibel angekündigten Zeugen waren. Sie nannten sich Moishe und Eli und tatsächlich schienen sie aus einer anderen Zeit und von einem anderen Ort zu stammen. Sie trugen verschlissene, lumpenähnliche Kleidung und liefen barfuß. Ihre Haut war dunkel und ledrig, ihre Haare lang und grau und ihre Barte ungepflegt. Sie waren sehr dünn, mit knochigen Gelenken und langen, muskulösen Armen und Beinen. Jeder, der sich in ihre Nähe wagte, roch Rauch. Diejenigen, die es gewagt hatten, sie anzugreifen, waren getötet worden. Es war ganz einfach gewesen: Mehrere Männer waren mit Maschinengewehren auf sie zugelaufen, doch dann scheinbar gegen eine unsichtbare Mauer geprallt und tot umgefallen. Andere waren an dem Platz, an dem sie standen, durch Feuer verbrannt worden, das aus dem Mund der Zeugen gekommen war. Fast ohne Unterbrechung predigten sie in der Sprache der Bibel und was sie sagten, war in den Ohren der orthodoxen Juden die reinste Blasphemie. Sie verkündigten Christus, seinen Tod am Kreuz und predigten, er sei der Messias, der Sohn Gottes gewesen. Nur ein einziges Mal hatten sie sich von der Klagemauer entfernt, und zwar an dem Abend, als Rabbi Tsion Ben-Juda im Teddy-Kollek-Stadion sprach. Sie hatten mit ihm gemeinsam auf dem Podium gestanden. Menschen auf der ganzen Welt 148
hatten diese seltsamen Männer im Fernsehen gesehen, die ohne Mikrofon wie aus einem Munde gesprochen hatten und trotzdem selbst in der letzten Reihe deutlich zu verstehen gewesen waren. »Kommt her und hört«, hatten sie gerufen, »auf den erwählten Diener des allerhöchsten Gottes! Er gehört zu den ersten der 144 000, die von hier aus zu den Völkern gehen werden, um das Evangelium von Christus in der ganzen Welt zu verkündigen! Diejenigen, die sich gegen ihn wenden, werden ebenso wie diejenigen sterben, die sich vor dem gesetzten Zeitpunkt gegen uns gewandt haben!« Die beiden Zeugen waren während dieser ersten großen Evangelisationsveranstaltung jedoch nicht im Stadion geblieben. Sie zogen sich heimlich zurück und standen noch vor Ende der Veranstaltung wieder an der Klagemauer. Solche Großveranstaltungen in Stadien fanden im Laufe der folgenden eineinhalb Jahren Dutzende Male in jedem Land der Welt statt. Zehntausende Menschen fanden zum Glauben an Jesus Christus. Trotz der Warnung der beiden Zeugen wagten es während dieser achtzehn Monate die Feinde Rabbi Ben-Judas immer wieder einmal, sich gegen ihn zu wenden. Doch sie bereuten ihre Absichten jedes Mal. Der drei- oder vierwöchige Abstand zwischen solchen Anschlägen war dem unermüdlichen BenJuda eine willkommene Erholungspause. Aber nun musste er sich verstecken und seine Familie und sein Fahrer waren ermordet worden. Ironischerweise hatte Buck das letzte Mal gemeinsam mit Ben-Juda hier an der Klagemauer gestanden, um den beiden Zeugen zuzuhören. Sie waren später am Abend wiedergekommen und hatten es gewagt, sich dem Zaun zu nähern und mit den Männern zu sprechen, die alle anderen getötet hatten, die ihnen so nahe gekommen waren. Buck hatte sie in seiner eigenen Sprache verstehen können, obwohl sein Kassettenrecorder später bewies, dass sie Hebräisch gesprochen hatten. Rabbi Ben-Juda hatte begonnen, die Worte zu wiederholen, die Niko149
demus damals bei Nacht zu Jesus gesagt hatte, und die beiden Zeugen antworteten ihm, was Jesus damals gesagt hatte. Es war ein sehr bedeutsamer Abend in Bucks Leben gewesen. Und nun stand er allein hier. Er war auf der Suche nach BenJuda, der Chaim Rosenzweig gesagt hatte, Buck wüsste schon, wo er mit seiner Suche beginnen musste. Er konnte sich keinen besseren Ort vorstellen. Wie gewöhnlich hatte sich eine große Menge vor den Zeugen versammelt, wenn die Leute auch wohlweislich Distanz hielten. Nicht einmal der Zorn und der Hass Nicolai Carpathias hatte Moishe und Eli etwas anhaben können. Mehr als einmal hatte Carpathia sogar in der Öffentlichkeit gefragt, ob nicht jemand etwas gegen diese beiden »lästigen Ärgernisse« unternehmen könne. Die militärischen Führer hatten ihn entschuldigend darüber informiert, dass ihnen scheinbar keine Waffe etwas anhaben könne. Die Zeugen selbst wiesen immer wieder darauf hin, wie dumm es sei, ihnen etwas anzutun, »bevor ihre Zeit gekommen sei«. Bruce Barnes hatte der Tribulation Force erklärt, Gott würde die beiden tatsächlich zum gegebenen Zeitpunkt verletzlich werden lassen, und sie würden getötet werden. Doch dieses Ereignis stand Bucks Meinung nach noch mehr als eineinhalb Jahre aus. Aber allein der Gedanke daran war ein Albtraum für ihn. An diesem Abend taten die beiden Zeugen, was sie seit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen Israel und Carpathia jeden Tag getan hatten: Sie verkündigten den schrecklichen Tag des Herrn. Und sie bekannten Jesus als den »allmächtigen Gott, den immer währenden Vater und Friedefürst. Kein anderer Mensch auf dieser Erde soll sich Führer der Welt nennen! Jeder, der einen solchen Anspruch erhebt, ist nicht der Christus, sondern der Antichrist und wird gewisslich sterben! Weh dem Menschen, der ein anderes Evangelium verkündigt! Jesus allein ist der wahre Gott, der Schöpfer des Himmels und 150
der Erde«! Buck war immer wieder fasziniert und bewegt von der Botschaft der beiden Zeugen. Er sah sich in der Menge um und entdeckte Menschen verschiedener Rassen und Kulturen. Aus Erfahrung wusste er, dass viele von ihnen kein Hebräisch verstanden. Sie hörten die beiden Zeugen in ihrer eigenen Sprache predigen, genau wie er. Buck mischte sich unter die Menschenmenge, die er auf etwa 300 Personen schätzte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, um die beiden Zeugen sehen zu können. Plötzlich hörten die beiden auf zu predigen und kamen näher an den Zaun heran. Die Zuhörer wichen zurück, weil sie um ihr Leben fürchteten. Die Zeugen standen nun wenige Zentimeter von dem Zaun entfernt, die Menge hielt etwa fünfundzwanzig Meter Abstand. Buck befand sich unter den Letzten. Buck war klar, dass die beiden ihn bemerkt hatten. Sie sahen ihm direkt in die Augen und er konnte sich nicht rühren. Ohne sich zu bewegen, begann Eli zu predigen. »Wer Ohren hat zu hören, der höre! Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier; denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat.« Die Gläubigen in der Menge drückten murmelnd ihre Zustimmung aus und sagten: »Amen.« Bucks Blick hing wie gebannt an ihnen. Nun trat Moishe vor und schien direkt zu ihm zu sprechen. »Hab keine Angst, denn ich weiß, wen du suchst. Er ist nicht hier.« Eli fuhr fort: »Geht schnell zu seinen Jüngern und sagt ihnen: Er ist von den Toten auferstanden!« Moishe hielt weiterhin den Blick fest auf Buck gerichtet: »Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen. Ich habe es euch gesagt.« Die Zeugen standen nun reglos und starrten ihn an. Es war, als hätten sie sich in Stein verwandelt. Die Menge wurde nervös und begann, sich zu zerstreuen. Einige warteten, um zu 151
sehen, ob die Zeugen weiterpredigen würden, doch das taten sie nicht. Bald stand nur noch Buck da. Er konnte seinen Blick nicht von Moishe losreißen. Die beiden standen reglos am Zaun und starrten ihn an. Buck machte einige Schritte auf sie zu. Die Zeugen rührten sich noch immer nicht. Sie schienen nicht einmal zu atmen. Buck bemerkte kein Blinzeln, kein Zucken. In der Dämmerung betrachtete er sorgfältig ihre Gesichter. Keiner von ihnen öffnete den Mund und doch hörte Buck ganz deutlich in seiner Sprache: »Wer Ohren hat zu hören, der höre.«
9 Es läutete an der Tür zu Rayfords Apartment. Hatties Fahrer wartete auf ihn. Er führte Rayford zu dem weißen Mercedes und öffnete die hintere Tür. Neben Hattie war noch Platz, doch er beschloss, sich auf den Sitz ihr gegenüber zu setzen. Sie war seiner Bitte, sich unauffällig zu kleiden, nachgekommen; trotzdem sah sie wundervoll aus. Er beschloss, ihr dies nicht zu sagen. Der Kummer stand ihr im Gesicht geschrieben. »Ich bin sehr froh, dass Sie bereit waren, sich mit mir zu treffen.« »Gerne. Was ist los?« Hattie warf einen Blick auf den Fahrer. »Wir werden beim Abendessen darüber sprechen«, sagte sie. »Ist es Ihnen recht, wenn wir ins Bistro fahren?« Wie gebannt stand Buck vor den Zeugen, während die Sonne langsam unterging. Er sah sich um, wollte sicher sein, dass er allein mit ihnen war. »Das ist alles, was ich erfahre? Er ist in Galiläa?« Wieder sprachen die Zeugen, ohne ihre Lippen zu bewegen: »Wer Ohren hat zu hören, der höre.« 152
Galiläa? Existierte das überhaupt noch? Wo sollte Buck beginnen und wann? Ganz bestimmt wollte er nicht nachts dort herumsuchen. Er musste genau wissen, wohin er gehen sollte. Er brauchte einfach noch mehr Informationen. Buck drehte sich um und suchte nach einem Taxi. Auf dem Platz hinter ihm standen einige und warteten auf Fahrgäste. Jetzt wandte er sich den Zeugen wieder zu. »Wenn ich heute Abend etwas später wiederkäme, würde ich dann mehr erfahren?« Moishe trat vom Zaun zurück, setzte sich auf das Pflaster und lehnte sich gegen eine Mauer. Eli machte eine Handbewegung und sagte laut: »Die Vögel des Himmels haben Nester«, sagte er, »der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.« »Ich verstehe nicht«, entgegnete Buck. »Sagt mir mehr.« »Wer Ohren hat –« Buck war frustriert. »Ich komme um Mitternacht zurück. Ich bitte euch um eure Hilfe.« Auch Eli zog sich nun zurück. »Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.« Buck ging. Noch immer hatte er vor, später am Abend wieder herzukommen, doch diese letzte Verheißung hatte ihn seltsam angerührt. Dies waren die Worte Christi. Sprach Jesus durch den Mund dieser Zeugen direkt zu ihm? Welch ein unaussprechliches Privileg! Fest davon überzeugt, dass er bald mit Tsion Ben-Juda vereint sein würde, nahm er ein Taxi zurück zum »King David«. Rayford und Hattie wurden von dem Inhaber des »Global Bistro« aufs Herzlichste willkommen geheißen. Der Mann erkannte natürlich Hattie, nicht jedoch Rayford. »Ihren üblichen Tisch, Madam?« »Nein, danke schön, aber wir möchten uns auch nicht verstecken.« Sie wurden zu einem Tisch geführt, der für vier Personen 153
gedeckt war. Zwei Hilfskellner eilten herbei, um die überzähligen Gedecke abzuräumen, während der Oberkellner Hattie einen Stuhl zurechtrückte und Rayford den Platz neben ihr zuwies. Doch Rayford war es wichtig, den Schein zu wahren, und setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber, obwohl ihm klar war, dass sie sich in dem lauten Restaurant nur mit Mühe würden verständigen können. Der Kellner zögerte, wirkte irritiert und legte schließlich das Gedeck wieder vor Rayford. Früher, bei ihren heimlichen gemeinsamen Abendessen, bei denen jeder von ihnen sich gefragt hatte, was der andere wohl über ihre Beziehung dachte, hätten Rayford und Hattie darüber gelacht. Hattie hatte sehr viel mehr geflirtet als Rayford, aber er hatte sie nie entmutigt. Die überall im Restaurant angebrachten Fernsehgeräte zeigten ohne Unterbrechung Nachrichten von dem Krieg, der auf der ganzen Welt tobte. Hattie winkte dem Restaurantbesitzer. Er kam sofort an ihren Tisch. »Ich bezweifle, dass der Potentat es gern sehen würde, wenn Ihre Gäste, die hier ein wenig Entspannung suchen, durch die Nachrichten deprimiert werden.« »Ich fürchte, auf allen Kanälen wird dasselbe gesendet.« »Gibt es denn keinen Musiksender?« »Ich werde nachsehen.« Wenige Minuten später wurden in den Fernsehgeräten des Bistros Musikvideos abgespielt. Mehrere Leute applaudierten dazu, aber Rayford hatte das Gefühl, dass Hattie dies kaum zur Kenntnis nahm. Wenn sie früher miteinander essen gegangen waren, hatte Rayford sie immer wieder auffordern müssen, zu bestellen und dann zu essen. Sie hatte ihm ihre Aufmerksamkeit geschenkt und er hatte das schmeichelhaft gefunden. Und nun schien das Gegenteil der Fall zu sein. Hattie studierte die Speisekarte, als müsste sie am Morgen ein Abschlussexamen darüber ablegen. Jetzt, mit 29 Jahren und 154
zum ersten Mal schwanger, war sie schön wie immer. Die Schwangerschaft war ihr noch nicht anzusehen und niemand konnte es erraten, wenn sie es nicht selbst erzählte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie es Rayford und Amanda anvertraut. Damals war sie überglücklich gewesen und stolz auf ihren neuen Diamanten. Sie konnte sich kaum zurückhalten, über ihre bevorstehende Hochzeit zu sprechen. Amanda hatte sie erzählt, dass Nicolai sie »zu einer ehrbaren Frau« machen würde. Hattie trug auch an diesem Abend ihren auffallenden Diamantring, doch sie hatte den Diamanten nach innen gedreht; zu sehen war nur der Reif. Ganz offensichtlich war Hattie nicht glücklich und Rayford fragte sich, ob der Grund dafür der frostige Empfang am Flughafen war. Er wollte sie fragen, aber dieses Treffen war ihre Idee gewesen. Sie würde ihm sagen, was sie auf dem Herzen hatte. Zwar hatte das »Global Bistro« einen französisch klingenden Namen und Hattie selbst hatte bei der Namensfindung geholfen. Doch die Speisekarte bot internationale Küche an, vorwiegend amerikanische. Wie üblich stellte sie ein umfangreiches Menü zusammen. Rayford dagegen hatte wenig Appetit und ließ sich nur ein Sandwich kommen. Hattie plauderte mit ihm, bis sie alles, sogar das Dessert aufgegessen hatte. Rayford kannte die Klischees, wusste, was man gewöhnlich sagte, wie zum Beispiel, sie würde nun für zwei essen; doch er glaubte, dass sie aus reiner Nervosität und aus dem Versuch heraus so viel aß, um das, worüber sie eigentlich sprechen wollte, aufzuschieben. »Unglaublich, wie die Zeit vergeht! Jetzt ist es schon fast zwei Jahre her, seit Sie nach New York gegangen sind«, sagte er, um das Gespräch in Gang zu bringen. Hattie setzte sich auf ihrem Stuhl auf, faltete die Hände auf ihrem Schoß und beugte sich vor. »Rayford, dies sind die unglaublichsten zwei Jahre meines Lebens gewesen!« 155
Er blickte sie erwartungsvoll an und fragte sich, ob sie das nun positiv oder negativ meinte. »Sie haben Ihren Horizont erweitert«, meinte er. »Denken Sie doch nur, Rayford: Nie wollte ich etwas anderes ein als Stewardess. Alle Cheerleaderinnen an der Maine East High School wollten Stewardess werden. Wir alle haben uns beworben, doch ich habe es als Einzige geschafft. Ich war so stolz, aber schon bald verlor das Fliegen seine Faszination. Die Hälfte der Zeit musste ich überlegen, wohin wir flogen, wann wir dort ankommen würden und wann wir wieder zurückfliegen mussten. Aber ich mochte die Menschen, ich liebte die Freiheit des Reisens und mir gefiel es, alle diese fremden Städte zu sehen. Wie Sie wissen, hatte ich eine Reihe ernsthafter Beziehungen hier und dort, aber nichts hat sich als dauerhaft erwiesen. Als ich mich schließlich zur Chefstewardess hochgearbeitet hatte, verliebte ich mich in einen meiner Piloten, aber auch daraus ist nichts geworden.« »Hattie, ich wünschte, Sie würden dieses Thema nicht wieder ansprechen. Sie wissen, wie ich über diese Phase meines Lebens denke.« »Ich weiß es und es tut mir Leid. Es ist nichts daraus geworden, obwohl ich auf mehr hätte hoffen können. Ich habe Ihre Erklärung und Entschuldigung akzeptiert, aber darum geht es mir im Augenblick gar nicht.« »Das ist gut, weil ich, wie Sie wissen, wieder sehr glücklich verheiratet bin.« »Ich beneide Sie, Rayford.« »Ich dachte, Sie und Nicolai würden heiraten.« »Das dachte ich auch. Aber jetzt bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Und ich weiß auch nicht genau, ob ich das überhaupt noch möchte.« »Wenn Sie darüber sprechen möchten, höre ich Ihnen gern zu. Ich bin kein Experte in Herzensangelegenheiten und kann Ihnen vielleicht auch keinen Rat geben, aber ich werde sehen, 156
was ich tun kann.« Hattie wartete, bis die Teller abgeräumt waren, und sagte dem Kellner: »Wir bleiben noch eine Weile.« »Ich werde das Essen auf Ihre Rechnung setzen«, erwiderte der Kellner. »Ich bezweifle, dass jemand Sie vertreiben wird.« Er lächelte Rayford an; scheinbar war er stolz auf seinen eigenen Humor. Rayford brachte ein gezwungenes Lächeln zu Stande. Als der Kellner gegangen war, war Hattie bereit weiterzuerzählen. »Rayford, vielleicht wissen Sie das nicht, aber ich fand auch Buck Williams einmal sehr nett. Sie erinnern sich, dass er in jener Nacht in Ihrem Flugzeug saß.« »Zwar hatte ich mich damals natürlich noch in ihn verliebt, weil ich mir ja immer noch Hoffnungen auf Sie machte. Aber er war sehr nett. Und er sieht sehr gut aus. Außerdem war er ein wichtiger Mann und wir sind auch altersmäßig nicht so weit auseinander.« »Und …?« »Nun, um die Wahrheit zu sagen, als Sie mich fallen ließen.« »Hattie, ich habe Sie nie fallen gelassen. Es gab nichts zwischen uns. Wir waren nicht zusammen.« »Noch nicht.« »Okay, noch nicht«, gab er zu. »Das ist fair. Aber Sie müssen zugeben, es gab keinerlei Bindung zwischen uns, nicht einmal den Anfang einer Bindung.« »Es gab genügend Signale, Rayford.« »Das kann ich nicht leugnen. Trotzdem ist es unfair zu sagen, ich hätte Sie fallen gelassen.« »Nennen Sie es, wie Sie wollen, aber ich hatte das Gefühl, fallen gelassen worden zu sein, okay? Wie auch immer, plötzlich erschien mir Buck Williams attraktiver als je zuvor. Ich bin sicher, er dachte, ich würde ihn benutzen, um einen berühmten Mann kennen zu lernen, was ja dann auch tatsächlich der Fall war. Ich war so dankbar, dass Buck mich Nicolai 157
vorgestellt hat.« »Verzeihen Sie, Hattie, aber ich kenne die Geschichte.« »Ich weiß, aber ich erzähle das ganz bewusst noch einmal. Haben Sie Geduld mit mir. Nachdem ich Nicolai kennen gelernt hatte, war ich von ihm fasziniert. Er war nur wenige Jahre älter als Buck, wirkte jedoch sehr viel reifer. Er war ein Weltreisender, ein internationaler Politiker, ein Führer. Er war bereits der bekannteste Mann der Welt. Ich fühlte mich wie ein kicherndes Schulmädchen und konnte mir nicht vorstellen, ihn auch nur im Geringsten beeindruckt zu haben. Als er dann Interesse zu zeigen begann, dachte ich, es sei ein rein körperliches Interesse. Und, ich muss es zugeben, ich hätte wahrscheinlich auch mit ihm geschlafen, wenn es nur das eine Mal gewesen wäre, und es nicht bereut. Wir haben ein Verhältnis angefangen und ich habe mich verliebt, aber Gott ist mein Zeuge – oh, Rayford, es tut mir Leid. Ich hätte das in Ihrer Gegenwart nicht sagen sollen – ich habe nie erwartet, dass er ernsthaftes Interesse an mir zeigen würde. Mir war klar, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein konnte, und ich war entschlossen, sie zu genießen, solange sie anhielt. Ich kam schließlich an einen Punkt, wo ich seine Abwesenheit fürchtete. Immer wieder sagte ich mir, ich müsste einen kühlen Kopf bewahren. Das Ende würde sicher bald kommen und ich glaube wirklich, ich war darauf vorbereitet. Doch dann schockierte er mich. Er machte mich zu seiner persönlichen Assistentin. Ich hatte keine Erfahrung, keine Fertigkeiten. Ich wusste, er wollte damit nur erreichen, dass ich jederzeit für ihn erreichbar war. Das war mir recht, obwohl ich mir Gedanken darüber machte, was aus mir werden würde, wenn er noch mehr zu tun haben würde. Nun, meine schlimmsten Ängste wurden Wirklichkeit. Er ist noch immer charmant, dynamisch, mächtig und der unglaublichste Mensch, den ich je kennen gelernt habe. Aber ich bedeute ihm genauso viel, wie ich immer befürchtet habe. Sie wissen, dass der Mann mindestens 158
achtzehn Stunden pro Tag arbeitet, manchmal sogar zwanzig? Ich bedeute ihm gar nichts, und das habe ich jetzt auch erkannt. Früher hat er mich in einige Diskussionen mit einbezogen. Dann und wann fragte er mich nach meiner Meinung. Aber was weiß ich schon von internationaler Politik? Ich machte manchmal eine dumme Bemerkung und er lachte mich entweder aus oder ignorierte mich. Dann kam er an den Punkt, an dem er mich gar nicht mehr nach meiner Meinung fragte. Mir wurden unwichtige Dinge zugewiesen, wie zum Beispiel die Planung dieses Restaurants oder ich musste mich bereithalten, um die Gruppen zu begrüßen, die den neuen Sitz der Weltgemeinschaft besichtigen wollten. Aber jetzt bin ich nur noch ein Ausstellungsstück, Rayford. Er gab mir diesen Ring erst, nachdem ich schwanger geworden war, und er hat noch immer nicht gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Ich schätze, er denkt, das verstehe sich von selbst.« »Aber haben Sie nicht, indem Sie diesen Ring angenommen haben, gezeigt, dass Sie ihn heiraten wollen?« »Oh, Rayford, das war nicht annähernd so romantisch. Er bat mich nur, die Augen zu schließen und meine Hand auszustrekken. Dann steckte er mir den Ring an den Finger. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er lächelte nur.« »Sie wollen sagen, Sie fühlen sich nicht an ihn gebunden?« »Ich fühle überhaupt nichts mehr. Und ich glaube auch nicht, dass er je etwas für mich empfunden hat, abgesehen von körperlicher Anziehungskraft.« »Und das ganze Drum und Dran, der Reichtum? Ihr Wagen mit Chauffeur? Ich nehme an, Sie haben auch ein eigenes Konto –« »Ja, das alles habe ich.« Hattie wirkte erschöpft. »Um die Wahrheit zu sagen: Das ganze Zeug bedeutet mir nicht so viel, wie das Fliegen mir bedeutet hat. Routine wird schnell langweilig. Eine Weile habe ich mich von dem Glanz und dem Glitter blenden lassen, das stimmt. Aber das bin eigentlich 159
nicht ich. Ich kenne niemanden hier. Die Leute behandeln mich nur mit Unterwürfigkeit und Respekt, weil ich mit ihm zusammenlebe. Aber sie kennen ihn nicht wirklich. Und ich auch nicht. Mir wäre es lieber, er wäre wütend auf mich und würde mich nicht einfach nur ignorieren. Neulich habe ich ihn gefragt, ob ich eine Zeitlang in die Staaten zurückkehren und meine Freunde und Familie besuchen könnte. Er war irritiert. Er sagte, ich brauchte doch nicht zu fragen. ›Sag mir einfach Bescheid und schmiede Pläne. Ich habe wirklich Besseres zu tun, als mir um deine unwichtigen Termine Gedanken zu machen.‹ Ich bin für ihn nicht mehr als ein Möbelstück, Rayford!« Rayford wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Er wollte ihr so vieles sagen. »Reden Sie denn miteinander?« »Was meinen Sie? Wir reden gar nicht miteinander. Im Augenblick leben wir nur nebeneinander her.« Rayford sagte vorsichtig: »Mich interessiert nur, wie viel er über Buck und Chloe weiß.« »Oh, darüber brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Obwohl er so klug ist und so gute Verbindungen hat und obwohl er überall so viele ›Augen‹ hat, die alles und jeden überwachen, glaube ich nicht, dass er von der Verbindung zwischen Ihnen und Buck weiß. Ich habe ihm nie erzählt, dass Buck Ihre Tochter geheiratet hat. Und das würde ich auch nie tun.« »Warum nicht?« »Er braucht das einfach nicht zu wissen, das ist alles. Aus irgendeinem Grund, Rayford, vertraut er Ihnen in bestimmten Dingen voll und ganz und in anderen überhaupt nicht.« »Das habe ich bemerkt.« »Was haben Sie bemerkt?«, fragte sie. »Zum Beispiel, dass ich in die Pläne für die neue Condor 216 nicht eingeweiht wurde«, erklärte Rayford. »Ja«, meinte sie, »und war es nicht besonders kreativ von ihm, die Nummer seiner Bürosuite als Teil des Namens zu verwenden?« 160
»Mir erschien es nur seltsam, dass ich als sein Pilot von einer neuen Maschine überrascht wurde.« »Wenn Sie mit ihm zusammenleben würden, würde Sie das nicht weiter überraschen. Ich wusste monatelang nichts davon. Rayford, können Sie sich vorstellen, dass niemand mich vom Ausbruch des Krieges benachrichtigt hat?« »Er hat Sie nicht angerufen?« »Ich wusste nicht, ob er tot oder lebendig war. Ich hörte ihn in den Nachrichten genau wie jeder andere auch. Nicht einmal danach rief er mich an. Kein Assistent hat mir Bescheid gesagt. Niemand hat mir auch nur ein Memo geschickt. Ich habe überall herumtelefoniert. Ich habe mit jeder Person in der Organisation gesprochen, die ich kannte. Ich bin sogar bis zu Leon Fortunato durchgedrungen. Er sagte mir, er würde Nicolai ausrichten, dass ich angerufen habe. Können Sie sich das vorstellen? Er würde ihm ausrichten, dass ich angerufen habe!« »Und als Sie ihn auf dem Flugplatz gesehen haben …?« »Ich habe ihn auf die Probe gestellt. Das kann ich nicht leugnen. Ich war gar nicht so außer mir vor Freude, ihn zu sehen, wie es den Anschein hatte. Ich wollte ihm noch eine Chance geben. War es nicht offensichtlich, dass ich ihm seinen großen Auftritt verdorben habe?« »Diesen Eindruck hatte ich allerdings«, bestätigte Rayford und fragte sich, ob es klug war, seine neutrale Haltung aufzugeben. »Als ich versuchte, ihn zu küssen, flüsterte er mir ins Ohr, ich verhielte mich unpassend und solle mich wie ein erwachsener Mensch benehmen. Wenigstens hat er von mir als seiner Verlobten gesprochen. Er sagte, ich sei genau wie er überwältigt von Schmerz. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er keinerlei Schmerz empfindet. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er liebt solche Situationen. Und ungeachtet dessen, was er sagt, er hat seine Hände dabei im Spiel. Er spricht wie ein Pazifist, aber er hofft, dass andere ihn angreifen, damit 161
er einen Vergeltungsschlag rechtfertigen kann. Ich war so entsetzt und traurig, als ich von den vielen Todesopfern und der Zerstörung hörte, aber er kommt in seinen selbst erbauten Palast zurück und tut so, als würde er mit den unzähligen Menschen auf der ganzen Welt trauern, die geliebte Menschen oder ihren gesamten Besitz verloren haben. Aber privat ist es so, als würde er feiern. Er kann nicht genug davon bekommen. Er reibt sich die Hände, macht Pläne, entwickelt Strategien. Er stellt sein neues Team zusammen. Im Augenblick tagen sie gerade. Wer weiß, was sie wieder aushecken!« »Was wollen Sie denn tun, Hattie? Das ist kein Leben für Sie.« »Er will mich nicht einmal mehr im Büro haben.« Rayford wusste es, aber das konnte er ihr nicht sagen. »Was meinen Sie damit?« »Ich wurde heute tatsächlich entlassen, von meinem eigenen Verlobten. Er fragte mich, ob er mich in meinen Räumen sprechen könnte.« »In Ihren Räumen?« »Wir leben nicht mehr zusammen. Ich lebe auf demselben Flur wie er und er besucht mich dann und wann mitten in der Nacht – zwischen den Besprechungen, denke ich. Aber ich bin schon seit langem nur noch ein teures Ausstellungsstück.« »Und was wollte er?« »Ich dachte, ich wusste es. Ich dachte, er ist so lange weg gewesen, dass er einfach nur das Übliche wollte. Aber er teilte mir bloß mit, dass er mich ersetzen würde.« »Sie meinen, Sie sind draußen?« »Nein, er möchte mich noch immer in seiner Nähe haben. Ich soll noch immer sein Kind zur Welt bringen. Er ist nur der Meinung, der Job würde meine Fähigkeiten übersteigen. Ich sagte ihm: ›Nicolai, das war von Anfang an so. Ich bin nicht zur Sekretärin geboren. Public Relations und Kontakt zu Menschen war in Ordnung, aber mich zu deiner persönlichen Assi162
stentin zu machen, war ein Fehler.‹« »Ich habe immer gedacht, dass Sie Ihre Sache gut machen.« »Vielen Dank für das Kompliment, Rayford, aber in gewisser Weise war es für mich eine Erleichterung, diesen Job zu verlieren.« »Nur in gewisser Weise?« »Ja. Wo stehe ich denn nun? Ich fragte ihn, welche Zukunft wir hätten. Er hatte die Frechheit zu sagen: ›Wir?‹ Ich erwiderte: ›Ja, wir. Ich trage deinen Ring und erwarte dein Kind. Wann werden wir eine feste Bindung eingehen?‹« Buck fuhr aus dem Schlaf hoch. Er hatte geträumt. Im Zimmer war es stockdunkel. Er knipste die kleine Lampe an und blickte auf die Uhr. Bis zu seiner Verabredung mit Moishe und Eli um Mitternacht war noch etwas Zeit. Aber worum war es in seinem Traum gegangen? Buck hatte geträumt, er sei Joseph, der Mann von Maria. Er hatte gehört, wie der Herr zu ihm sprach: »Steh auf, fliehe nach Ägypten und bleibe dort, bis ich dir Nachricht bringe.« Buck war verwirrt. Noch nie hatte Gott durch einen Traum zu ihm gesprochen. Träume hatte er immer als das Verarbeiten der Erlebnisse des täglichen Lebens betrachtet. Immerhin hielt er sich im Heiligen Land auf, dachte über Gott und Jesus nach, sprach mit den beiden Zeugen und versuchte, sich den Antichrist und seine Kohorten vom Leib zu halten. Es war verständlich, dass er einen Traum gehabt hatte, der auf einer biblischen Geschichte basierte. Oder versuchte Gott, ihm zu sagen, er würde Tsion Ben-Juda in Ägypten finden und nicht dort, wo die Zeugen ihn hinschicken wollten? Sie sprachen immer so vorsichtig. Er würde sie einfach geradeheraus fragen müssen. Wie konnte er erwarten biblische Hinweise zu verstehen, wo das alles noch so neu für ihn war? Er wollte noch bis halb zwölf schlafen und dann ein Taxi zur Klagemauer nehmen. Doch er konnte nicht wieder einschlafen. Der seltsame Traum beschäftigte ihn. Keinesfalls wollte er in 163
die Nähe von Ägypten fahren, vor allem bei den Kriegsnachrichten, die aus Kairo gemeldet wurden. Er war sowieso kaum mehr als 200 Meilen von Kairo entfernt; dies war die Entfernung, in der radioaktiver Niederschlag noch zu spüren war. Das war nahe genug an der ägyptischen Hauptstadt, selbst wenn Carpathia keine nuklearen Sprengköpfe auf die ägyptische Hauptstadt abgeworfen hatte. Buck lag in der Dunkelheit und überlegte. Rayford war hin- und hergerissen. Wie konnte er ihr helfen? Ganz offensichtlich litt sie, wusste nicht, was sie tun sollte. Er konnte ihr nicht frei und offen sagen, dass ihr Geliebter der Antichrist war und Rayford und seine Freunde dies wussten. Eigentlich hatte er keinen anderen Wunsch, als sie zu bitten, sie anzuflehen, Christus in ihr Leben aufzunehmen. Aber hatte er das nicht bereits versucht? Hatte er ihr nicht alles erklärt, was er nach dem großen Massenverschwinden erfahren hatte, das, wie er nun wusste, die Entrückung gewesen war? Sie kannte die Wahrheit. Wenigstens wusste sie, was seiner Meinung nach die Wahrheit war. In diesem Restaurant hatte er ihr, Chloe und Buck seine tiefsten Gedanken mitgeteilt und er hatte das Gefühl gehabt, sich Hattie entfremdet zu haben, indem er wiederholte, was er ihr vorher privat mitgeteilt hatte. Er war sicher gewesen, dass seiner Tochter dies alles schrecklich peinlich gewesen war. Und er war überzeugt davon, dass der weltgewandte Buck Williams ihn nur mitleidig belächelte. Für ihn war es ein Schock gewesen, festzustellen, dass sein eindringliches Reden an diesem Abend Chloe ihrer persönlichen Entscheidung, Christus nachzufolgen, einen Schritt näher gebracht hatte. Auch bei Buck hatte dieser Abend einen tiefen Eindruck hinterlassen. Er versuchte es aufs Neue. »Ich möchte Ihnen etwas sagen, Hattie. Sie müssen wissen, dass Buck, Chloe und ich Sie sehr mögen.« 164
»Das weiß ich, Rayford, aber –« »Ich glaube nicht, dass Sie es wissen«, unterbrach Rayford sie. »Wir haben uns gefragt, ob dies wirklich das Beste für Sie ist, und wir alle fühlen uns verantwortlich dafür, dass Sie Ihre Stellung und Ihre Familie aufgegeben haben und zuerst nach New York und nun nach Neu-Babylon gegangen sind. Und wofür?« Hattie starrte ihn an. »Aber ich habe doch kaum etwas von Ihnen gehört.« »Wir waren der Meinung, wir hätten nicht das Recht, etwas zu sagen. Sie sind erwachsen. Es ist Ihr Leben. Ich hatte das Gefühl, dass mein Verhalten Sie von der Fliegerei fortgetrieben hat. Buck fühlt sich schuldig, weil er Sie Nicolai vorgestellt hat. Und Chloe fragt sich, ob sie etwas hätte tun oder sagen können, das Sie zu einer Meinungsänderung bewegt hätte.« »Aber warum?«, fragte Hattie. »Woher wussten Sie, dass ich hier nicht glücklich sein würde?« Nun wusste Rayford nicht, was er antworten sollte. Ja, woher hatten sie es gewusst? »Wir hatten einfach das Gefühl, dass die Umstände gegen Sie waren«, erwiderte er. »Ich nehme nicht an, dass ich Ihnen eine Bestätigung dafür gegeben habe, dass Sie Recht hatten, da ich ja versuchte, Sie zu beeindrucken, wann immer ich Sie oder Buck mit Nicolai zusammen traf.« »Ja, das stimmt.« »Nun, Rayford, es mag Sie vielleicht erstaunen, dass ich niemals vorgehabt hatte, schwanger zu werden, ohne auch verheiratet zu sein.« »Warum sollte mich das überraschen?« »Weil ich nicht sagen kann, dass ich es mit der Moral so genau genommen habe. Ich meine, ich hätte beinahe eine Affäre mit Ihnen angefangen. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass ich nicht so erzogen worden bin, und ganz bestimmt habe ich nicht vorgehabt, ein uneheliches Kind zu bekommen.« 165
»Und jetzt?« »Das gilt noch immer, Rayford.« Hatties Stimme war leiser geworden. Ganz offensichtlich war sie müde, aber ihre Stimme klang nun niedergeschlagen, fast tot. »Ich werde diese Schwangerschaft nicht als Druckmittel gegen Nicolai Carpathia benutzen, damit er mich heiratet. Das würde er sowieso nicht zulassen. Er lässt sich von niemandem zu etwas zwingen. Wenn ich ihn drängen würde, würde er mir vermutlich sagen, ich solle eine Abtreibung vornehmen lassen.« »O nein!«, sagte Rayford. »Das würden Sie doch nicht in Betracht ziehen, oder?« »Es nicht in Betracht ziehen? Ich denke jeden Tag darüber nach!« Rayford zuckte zusammen und fuhr sich über die Stirn. Warum erwartete er von Hattie, wie ein Christ zu leben, wo sie es doch gar nicht war? Es war nicht fair anzunehmen, sie würde mit ihm in diesen Punkten übereinstimmen. »Hattie, würden Sie mir einen großen Gefallen tun?« »Vielleicht.« »Denken Sie bitte sehr sorgfältig nach, bevor Sie etwas unternehmen. Suchen Sie den Rat Ihrer Familie, Ihrer Freunde.« »Rayford, ich habe doch kaum noch Freunde.« »Chloe, Buck und ich, wir betrachten uns noch immer als Ihre Freunde. Und ich denke, Amanda könnte Ihre Freundin werden, wenn Sie sie kennen lernen würden.« Hattie schnaubte. »Ich habe das Gefühl, dass Amanda mich immer weniger mögen würde, je besser sie mich kennen lernen würde.« »Das zeigt nur, dass Sie sie nicht kennen«, entgegnete Rayford. »Sie ist ein Mensch, der Sie nicht einmal zu mögen braucht, um Sie zu lieben, falls Sie verstehen, was ich meine.« Hattie zog die Augenbrauen hoch. »Welch eine interessante Ausdrucksweise«, meinte sie. »Ich schätze, so etwas empfinden Eltern manchmal in Bezug auf ihre Kinder. Mein Vater hat 166
mir das einmal gesagt, als ich Teenager war und mich gegen alles und jedes auflehnte. Er sagte: ›Hattie, wie gut, dass ich dich so liebe, denn im Augenblick mag ich dich überhaupt nicht.‹ Das hat mich zur Vernunft gebracht, Rayford. Sie verstehen, was ich meine?« »Sicher«, erwiderte er. »Sie sollten Amanda wirklich kennen lernen. Sie könnte Ihnen ein Mutterersatz sein.« »Eine Mutter ist mehr als genug«, stöhnte Hattie. »Vergessen Sie nicht, dass meine Mutter mir diesen verrückten Namen gegeben hat, der zu jemandem gehörte, der zwei Generationen älter war als ich.« Rayford lächelte. Er hatte sich immer darüber gewundert. »Wie auch immer, Sie sagten, Nicolai hätte nichts dagegen, wenn Sie in die Staaten fliegen würden?« »Ja, aber das war, bevor der Krieg ausgebrochen ist.« »Hattie, mehrere Flughäfen sind noch immer intakt. Soweit ich weiß, wurden keine nuklearen Sprengköpfe auf die größeren Städte abgeschossen. Den einzigen nuklearen Niederschlag hat es in London gegeben. Von dort sollten Sie sich mindestens ein Jahr lang fern halten. Aber nicht einmal auf Kairo wurden Nuklearwaffen abgeschossen.« »Sie meinen, er würde mich trotzdem in die Staaten zurückkehren lassen?« »Ich weiß es nicht, aber ich werde versuchen, am Samstag dorthin zu fliegen, um nach Amanda zu sehen und am Sonntag an einem Trauergottesdienst teilzunehmen.« »Wie wollen Sie dahin kommen?« »Mit einem normalen Linienflug. Meiner Meinung nach ist es eine ziemliche Verschwendung, ein Dutzend oder weniger Würdenträger in einem Flugzeug wie der Condor 216 zu befördern. Aber wie auch immer, der Potentat –« »O bitte, Rayford, nennen Sie ihn nicht so.« »Erscheint Ihnen der Name genauso lächerlich wie mir?« »Schon immer. Dieser dumme Titel für einen so brillanten, 167
mächtigen Mann ist ein Witz.« »Na ja, ich kenne ihn nicht gut genug, um ihn Nicolai zu nennen.« »Haltet ihr Gemeindeleute ihn nicht für den Antichristen?« Rayford zuckte zusammen. Eine solche Äußerung hätte er von ihr nicht erwartet. Meinte sie es ernst? Er beschloss, dass es noch zu früh war, ihr reinen Wein einzuschenken. »Der Antichrist?« »Ich kann lesen«, sagte sie. »Ich mag Bucks Artikel sogar. Ich habe alles gelesen, was er im ›Weekly‹ geschrieben hat. Wenn er über die unterschiedlichen Theorien schreibt und über das spricht, was die Menschen denken, wird klar, dass ein großer Teil der Menschen der Meinung ist, Nicolai könnte der Antichrist sein.« »Das habe ich auch gehört«, erwiderte Rayford. »Sie könnten ihn doch Antichrist oder als Abkürzung A. C. nennen«, schlug sie vor. »Das ist nicht lustig«, entgegnete er. »Ich weiß«, entschuldigte sie sich. »Es tut mir Leid. Ich habe nicht viel übrig für diesen Unsinn von dem kosmischen Krieg zwischen Gut und Böse. Ich würde den Antichristen nicht einmal erkennen, wenn er vor mir stünde.« Vermutlich hat er im Laufe der vergangenen Jahre öfter vor dir als vor jedem anderen Menschen gestanden, dachte Rayford. »Wie auch immer, Hattie, ich bin der Meinung, Sie sollten – aus Ermangelung eines besseren Titels – den Potentaten fragen, ob er damit einverstanden ist, wenn Sie einen Besuch zu Hause machen. Ich fliege am Samstagmorgen nonstop nach Milwaukee und werde gegen Mittag dort ankommen. Soweit ich weiß, ist in dem Haus einer Frau aus unserer Gemeinde sehr viel Platz. Sie könnten bei uns wohnen.« »Das könnte ich meiner Mutter nicht antun, Rayford. Sie wohnt in Denver. Diese Stadt ist doch nicht betroffen, oder?« 168
»Soweit ich weiß, nicht. Aber sicherlich könnten Sie weiterbuchen bis Denver.« Rayford war enttäuscht. Dies wäre eine Gelegenheit gewesen, auf Hattie Einfluss zu nehmen, aber nun wäre sie zu weit von Chicago entfernt. »Ich werde Nicolai nicht fragen«, sagte sie entschlossen. »Dann wollen Sie doch nicht fliegen?« »O doch, ich möchte fliegen. Und ich werde fliegen. Ich werde einfach nur eine Nachricht hinterlassen, dass ich fort bin. Genau das hat er mir gesagt, als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe. Er hat mir gesagt, ich sei erwachsen und müsse solche Entscheidungen selbst treffen. Er hätte Wichtigeres zu bedenken. Vielleicht sehen wir uns auf dem Flug nach Milwaukee. Eigentlich könnten wir doch verabreden, dass mein Fahrer Sie am Samstagmorgen abholt, wenn Sie nichts Gegenteiliges mehr von mir hören. Denken Sie, Amanda wäre damit einverstanden, wenn wir nebeneinander sitzen?« »Ich hoffe, Sie machen keine Witze«, sagte Rayford, »denn wenn Sie wirklich reden wollen, werde ich ihr vorher Bescheid sagen.« »Wow, ich kann mich nicht daran erinnern, dass Ihre erste Frau so besitzergreifend gewesen ist.« »Sie wäre es gewesen, wenn sie gewusst hätte, was für ein Mann ich war.« »Oder was für eine Frau ich war.« »Na ja, vielleicht –« »Sprechen Sie das ruhig mit Ihrer Frau ab, Rayford. Wenn ich lieber alleine sitzen soll, dann verstehe ich das. Wer weiß? Vielleicht können wir ja nebeneinander, nur auf verschiedenen Seiten des Ganges sitzen.« Rayford lächelte verständnisvoll. Er hoffte, dass wenigstens das möglich war.
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10 Buck folgte einem sehr ausgeprägten inneren Drang und nahm seine Tasche mit, als er an diesem Abend das »King David Hotel« verließ. Darin befand sich sein kleines Diktiergerät, sein Notebook (das schon sehr bald durch den anderen hervorragenden Computer ersetzt werden würde), seine Kamera, das Handy, Toilettenartikel und Kleidung zum Wechseln. Er ließ seinen Schlüssel an der Rezeption zurück und nahm sich ein Taxi zur Klagemauer. Als er den Taxifahrer fragte, ob er Englisch spreche, lächelte dieser ihn entschuldigend an und zeigte mit Daumen und Zeigefinger an, dass seine Sprachkenntnisse nur gering waren. »Wie weit ist es nach Galiläa?«, fragte Buck. Der Taxifahrer nahm den Fuß vom Gaspedal und meinte in gebrochenem Englisch: »Sie wollen nach Galiläa? Klagemauer in Jerusalem!« Buck winkte ihn weiter. »Ich weiß. Klagemauer jetzt, Galiläa später.« Der Taxifahrer fuhr weiter zur Klagemauer. »Galiläa jetzt See Tiberias«, sagte er. »Etwa 120 Kilometer.« Um diese Uhrzeit hielt sich kaum jemand an der Klagemauer oder im Tempelbezirk auf. Der neu erbaute Tempel wurde angestrahlt und sah aus wie ein Dia in einer dreidimensionalen Diashow. Er schien am Himmel zu schweben. Bruce hatte Buck erklärt, eines Tages würde Carpathia in diesem Tempel sitzen und sich selbst als Gott verehren lassen. Der Journalist in Buck wollte dabei sein, wenn dies geschah. Zuerst konnte Buck die beiden Zeugen nicht entdecken. Eine kleine Gruppe von Seeleuten schlenderte an dem Stacheldrahtzaun am Ende der Klagemauer vorbei, wo die Zeugen normalerweise standen und predigten. Die Matrosen unterhielten sich auf Englisch und einer von ihnen machte eine Handbewegung. »Ich glaube, da hinten sind sie«, sagte er. Die anderen drehten 170
sich um und starrten in die angegebene Richtung. Buck folgte ihrem Blick über den Zaun hinweg zu einem Gebäude. Die beiden geheimnisvollen Gestalten saßen mit dem Rücken dagegen gelehnt, ihr Kinn ruhte auf ihren Knien. Sie rührten sich nicht, schienen zu schlafen. Die Seeleute starrten sie an und kamen auf Zehenspitzen näher. Doch sie wagten sich nicht näher als etwa 30 Meter an den Zaun heran. Buck wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, indem er zielstrebig auf den Zaun zumarschierte. Er wartete, bis die Seeleute genug gesehen hatten und weitergingen. Sobald die jungen Männer fort waren, hoben Eli und Moishe die Köpfe und blickten Buck an. Er wurde von ihnen angezogen und ging direkt zum Zaun. Die Zeugen erhoben sich und standen kaum sechs Meter von ihm entfernt. »Ich brauche noch nähere Informationen«, flüsterte Buck. »Kann ich mehr über den Aufenthaltsort meines Freundes erfahren?« »Wer Ohren hat zu hören –« »Das weiß ich«, sagte Buck, »aber ich –« »Du wagst es, die Diener des allerhöchsten Gottes zu unterbrechen?«, fragte Eli. »Verzeiht mir«, entschuldigte sich Buck. Er wollte erklären, beschloss jedoch zu schweigen. Moishe ergriff das Wort. »Zuerst musst du mit jemandem sprechen, der dich liebt.« Buck wartete auf weitere Informationen. Die Zeugen standen schweigend da. Verwirrt streckte er beide Hände aus. Er spürte eine Vibration in seiner Schultertasche und erkannte, dass sein Handy läutete. Was sollte er jetzt tun? Wenn er die Diener des allerhöchsten Gottes nicht unterbrechen durfte, konnte er es da wagen, einen Telefonanruf entgegenzunehmen, während er mit ihnen sprach? Er kam sich so töricht vor. Er wich ein Stück vom Zaun zurück, holte das Telefon aus seiner Tasche und meldete sich: »Hallo?« »Buck! Hier spricht Chloe! Bei euch ist es jetzt ungefähr 171
Mitternacht, oder?« »Richtig, Chloe, aber im Augenblick bin ich –« »Buck, hast du geschlafen?« »Nein, ich bin auf und –« »Buck, sag mir nur, dass du nicht im ›King David‹ bist.« »Ich bin dort abgestiegen, aber –« »Aber im Augenblick bist du nicht dort, richtig?« »Nein, ich bin an –« »Liebling, ich weiß gar nicht, wie ich dir das erklären soll, aber ich habe einfach das Gefühl, du solltest heute Nacht nicht in diesem Hotel übernachten. Ich habe sogar so eine Vorahnung, dass du dich in dieser Nacht nicht in Jerusalem aufhalten solltest. Wie es mit morgen ist, weiß ich nicht, und ich kenne mich auch gar nicht mit Vorahnungen und all dem aus, aber das Gefühl ist so stark –« »Chloe, ich muss dich zurückrufen, okay?« Chloe zögerte. »Na gut, aber du darfst dir nicht die Zeit nehmen, auch nur einen Augenblick mit mir zu sprechen, wenn –« »Chloe, ich werde die heutige Nacht nicht im ›King David‹ verbringen und ich werde auch nicht in Jerusalem bleiben, okay?« »Jetzt fühle ich mich schon sehr viel besser, Buck, aber ich würde trotzdem gern mit dir –« »Ich rufe dich zurück, Liebes, okay?« Buck wusste nicht, was er von dieser neuen Ebene halten sollte, die Bruce als das »Wandeln im Geist« bezeichnet hatte. Die Zeugen hatten angedeutet, er würde den, den er suchte, in Galiläa finden, was eigentlich gar nicht mehr existierte. Der See von Galiläa war jetzt der See Tiberias. Sein Traum, falls er sich überhaupt darauf verlassen konnte, deutete darauf hin, dass er aus irgendeinem Grund nach Ägypten gehen sollte. Und nun wollten die Zeugen, dass er seine Ohren gebrauchte, um zu verstehen. Es tat ihm Leid, nicht Johannes zu sein, der die Offenbarung empfangen hatte, aber er würde um weitere In172
formationen bitten. Und woher hatten sie gewusst, dass er zuerst mit Chloe sprechen musste? Er hatte sich lange genug in der Nähe der beiden Zeugen aufgehalten, um zu wissen, dass sie jederzeit Wunder tun konnten. Er wünschte nur, sie würden nicht immer in Rätseln sprechen. Eine gefährliche Mission hatte ihn hierher geführt. Er brauchte ihre Hilfe, falls sie ihm überhaupt helfen konnten. Buck stellte seine Tasche ab und setzte sich darauf, um zu zeigen, dass er bereit war, alles andere hintanzustellen und einfach nur zuzuhören. Moishe und Eli steckten die Köpfe zusammen und schienen miteinander zu flüstern. Sie kamen näher an den Zaun heran. Buck ging auf sie zu, wie er es damals getan hatte, als er mit Rabbi Tsion Ben-Juda hier gewesen war, aber die beiden Zeugen hoben die Hand und er blieb wenige Meter von seiner Tasche entfernt stehen. Plötzlich begannen die beiden, mit lauter Stimme zu rufen. Buck wich erschrocken zurück und stolperte über seine Tasche. Er fing sich jedoch wieder. Eli und Moishe zitierten Verse, die Buck aus der Apostelgeschichte und den Predigten von Bruce kannte. Sie riefen: »In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde meinen Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben.« Buck wusste, dass dieser Abschnitt ihm etwas sagen sollte, denn die Zeugen hielten inne und starrten ihn an. War er mit gerade 32 Jahren bereits ein alter Mann? Gehörte er zu den alten Männern, die Träume hatten? Wussten sie das? Wollten sie ihm sagen, dass sein Traum eine Bedeutung hatte? Sie fuhren fort: »Auch über meine Knechte und Mägde werde ich meinen Geist ausgießen in jenen Tagen, und sie werden Propheten sein. Ich werde Wunder erscheinen lassen droben am Himmel und Zeichen unten auf der Erde: Blut und Feuer 173
und qualmenden Rauch. Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und herrliche Tag. Und es wird geschehen: Wer den Namen des Herrn anruft, wird gerettet.« Buck war tief bewegt und konnte es kaum erwarten, seine große Aufgabe in Angriff zu nehmen. Aber wo sollte er beginnen? Und warum konnten die Zeugen es ihm nicht einfach sagen? Er war erstaunt zu sehen, dass er nicht mehr allein dort vor dem Zaun stand. Als die Zeugen begonnen hatten, Bibelstellen zu zitieren, hatte sich eine kleine Menge versammelt. Buck wollte nicht mehr länger warten. Er nahm seine Tasche auf und ging zum Zaun. Die Leute warnten ihn davor. Er hörte Warnungen in anderen Sprachen und ein paar in Englisch. »Das werden Sie bedauern, Sohn!« Buck kam wenige Meter vor den Zeugen zum Stehen. Niemand sonst wagte es, so nahe zu kommen. Er flüsterte: »Mit ›Galiläa‹ meint ihr doch sicher den See Tiberias, oder?«, fragte er. Wie sollte man jemandem, der anscheinend aus biblischer Zeit zurückgekehrt war, erklären, dass ihre Geografiekenntnisse nicht mehr zeitgemäß waren? »Werde ich meinen Freund in Galiläa, am See von Galiläa finden?« »Wer Ohren hat zu hören …« Buck nahm sich zusammen, um seine Frustration nicht zu zeigen. »Wie komme ich dahin?«, fragte er. Eli sprach leise. »Alles wird gut werden, wenn du zur Menge zurückkehrst«, sagte er. Zur Menge zurückkehren?, dachte Buck. Er wich zurück und mischte sich wieder unter die Zuschauer. »Geht es Ihnen gut, Sohn?«, fragte jemand. »Haben sie Ihnen etwas getan?« Buck schüttelte den Kopf. Moishe begann, mit lauter Stimme zu predigen: »Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und 174
glaubt an das Evangelium! Als Jesus am See von Galiläa entlangging, sah er Simon und Andreas, den Bruder des Simon, die auf dem See ihr Netz auswarfen; sie waren nämlich Fischer. Da sagte er zu ihnen: Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. Sogleich ließen sie ihre Netze liegen und folgten ihm.« Buck wusste nicht so genau, was er von dem allen halten sollte, aber er spürte, dass er alles erfahren hatte, was die Zeugen ihm an diesem Abend zu sagen hatten. Obwohl sie weiterpredigten und sich immer mehr Menschen anscheinend aus dem Nichts um sie versammelten, ging Buck davon. Er hängte sich seine Tasche über die Schulter, steuerte auf eine Reihe von Taxen zu und setzte sich auf den Rücksitz eines kleinen Wagens. »Ist es möglich, um diese Zeit noch ein Boot zu bekommen, das den Jordan hoch bis zum See Tiberias fährt?«, fragte er den Fahrer. »Na ja, Sir, um die Wahrheit zu sagen, es ist sehr viel leichter, den umgekehrten Weg zu kommen, aber ja, es gibt Motorboote, die nach Norden fahren. Und einige fahren tatsächlich auch nachts. Natürlich sind die Touristenboote nur tagsüber unterwegs, aber wenn der Preis stimmt, gibt es immer jemanden, der Sie hinbringt, wo immer sie hinwollen, Tag oder Nacht.« »Das dachte ich mir«, erwiderte Buck. Kurze Zeit später verhandelte er mit einem Bootsmann mit Namen Michael, der sich weigerte, ihm seinen Nachnamen zu nennen. »Tagsüber kann ich 20 Touristen auf diesem Kahn befördern. Vier starke junge Männer und ich steuern das Boot mit der Kraft unserer Arme, falls Sie wissen, was ich meine.« »Ruder?« »Ja, Sir, genau wie in der Bibel. Das Boot ist aus Holz hergestellt. Wir verstecken die beiden Außenbordmotoren unter Holz 175
und Sackleinwand und keiner merkt’s. Das garantiert einen sehr langen, ermüdenden Tag. Aber wenn wir wieder flussaufwärts fahren müssen, schaffen wir das mit den Rudern allein nicht.« Nur Michael, die beiden Außenbordmotoren und Buck fuhren in dieser Nacht in Richtung Norden, aber Buck hatte das Gefühl, für 20 Touristen und die vier Ruderer mitbezahlt zu haben. Zu Beginn der Reise blieb Buck im Bug stehen und ließ sich den Wind durch die Haare wehen. Schon bald musste er den Reißverschluss seiner Lederjacke schließen und den Kragen hochschlagen. Er steckte die Hände tief in die Taschen. Kurz darauf stellte er sich neben Michael, der das lange, grobe Holzboot von den Außenbordmotoren aus steuerte. In dieser Nacht begegneten ihnen nur wenig andere Boote auf dem Jordan. Michael rief laut, um den Wind und das Geräusch des Motors zu übertönen. »Sie wissen also gar nicht so genau, wen Sie suchen oder wo Sie den Betreffenden finden können?« Sie befanden sich nun in der Nähe von Jericho und Michael hatte ihm gesagt, sie würden noch mehr als 100 Kilometer gegen den Strom fahren müssen. »Könnte drei Stunden dauern, bis wir zur Einmündung des Sees kommen«, hatte er hinzugefügt. »Ich weiß nicht sehr viel«, gestand Buck ein. »Ich rechne damit, dass ich es herausfinde, wenn ich hinkomme.« Michael schüttelte den Kopf. »Der See Tiberias ist nicht gerade ein Teich. Ihr Freund oder Ihre Freunde könnten sich auf jeder Seite des Sees aufhalten.« Buck nickte. Er setzte sich und drückte das Kinn auf die Brust, um sich warm zu halten, nachzudenken und zu beten. »Herr«, sagte er leise, »noch nie hast du hörbar zu mir gesprochen und ich erwarte auch gar nicht, dass du jetzt damit anfängst, aber ganz bestimmt könnte ich ein wenig mehr Hilfe gebrauchen. Ich weiß nicht, ob der Traum von dir kam und ich 176
auf dem Rückweg nach Ägypten gehen soll oder was. Ich weiß nicht, ob ich Ben-Juda bei den Fischern finden werde oder ob ich überhaupt auf der richtigen Spur bin, wenn ich zum alten See von Galiläa unterwegs bin. Ich bin immer gern unabhängig gewesen und habe mich auf meine Cleverness verlassen, aber ich gestehe, dass ich hier mit meinem Latein am Ende bin. Bestimmt sind viele Menschen auf der Suche nach Ben-Juda und ich möchte doch unbedingt der Erste sein, der ihn findet.« Das kleine Boot hatte gerade eine Biegung hinter sich gelassen, als die Motoren zu stottern begannen und die Lichter vorne und hinten ausgingen. So viel als Antwort auf dieses Gebet, dachte Buck. »Gibt es Schwierigkeiten, Michael?« Buck war erstaunt über die plötzliche Stille. Das Boot schien auf das Ufer zuzutreiben. »Keine Schwierigkeiten, Mr. Katz. Wenn sich Ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, werden Sie in der Lage sein zu erkennen, dass ich eine Waffe auf Ihren Kopf gerichtet habe. Ich möchte, dass Sie sitzen bleiben und ein paar Fragen beantworten.« Buck empfand eine seltsame Ruhe. Das war zu absurd, zu abwegig, selbst für sein abwechslungsreiches Leben. »Ich will Ihnen nichts Böses tun, Michael«, sagte er. »Sie haben von mir nichts zu befürchten.« »Ich bin nicht derjenige, der im Augenblick Angst haben sollte, Mister«, erwiderte Michael. »Innerhalb der vergangenen 48 Stunden habe ich diese Waffe schon zweimal auf Menschen abgefeuert, die ich für Feinde Gottes gehalten habe.« Buck war beinahe sprachlos. »Eines kann ich Ihnen versichern, Michael, ich bin keinesfalls ein Feind Gottes. Wollen Sie mir etwa sagen dass Sie ein Diener Gottes sind?« »Das bin ich. Die Frage ist, Mr. Katz, sind Sie es auch? Und wenn Sie es sind, wie wollen Sie das beweisen?« »Offensichtlich«, sagte Buck, »müssen wir uns gegenseitig versichern, dass wir auf derselben Seite stehen.« »Die Verantwortung dafür liegt bei Ihnen. Zwei Menschen, 177
die auf der Suche nach einer bestimmten Person diesen Fluss heraufgefahren sind, waren auf einmal tot. Falls Sie der Dritte sein sollten, würde ich heute Nacht trotzdem noch wie ein Baby schlafen.« »Und wie rechtfertigen Sie diese Morde?«, fragte Buck. »Es waren die falschen Menschen, die nach der falschen Person gesucht haben. Ich möchte Ihren richtigen Namen wissen, den Namen der Person, die Sie suchen, den Grund, warum Sie nach dieser Person suchen und was Sie vorhaben, falls Sie diese Person gefunden haben.« »Aber Michael, bis ich nicht sicher bin, dass Sie auf meiner Seite stehen, würde ich solche Informationen niemals preisgeben.« »Wären Sie sogar bereit zu sterben, um Ihren Freund zu schützen?« »Ich hoffe, dass es dazu nicht kommt, aber ja, das wäre ich.« Bucks Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Michael hatte das Boot so gesteuert, dass es, nachdem die Motoren abgestellt worden waren, langsam von der Strömung auf den See zurückgetrieben wurde. »Ich bin beeindruckt von dieser Antwort«, sagte Michael. »Aber ich werde nicht zögern, Sie auf die Liste der toten Feinde zu setzen, wenn Sie mich nicht davon überzeugen können, dass Sie die richtigen Motive für die Suche nach betreffenden Person haben.« »Stellen Sie mir Fragen«, erwiderte Buck. »Was wird Sie davon überzeugen, dass ich nicht bluffe, gleichzeitig mich aber auch überzeugen, dass Sie an dieselbe Person denken?« »Ausgezeichnet«, erwiderte Michael. »Richtig oder falsch: Die Person, die Sie suchen, ist jung.« Buck antwortete schnell. »Im Vergleich zu Ihnen falsch.« Michael fuhr fort: »Die gesuchte Person ist weiblich.« »Falsch.« »Die gesuchte Person ist Arzt.« 178
»Falsch.« »Ein Heide?« »Falsch.« »Ungebildet?« »Falsch.« »Bilingual?« »Falsch.« Buck hörte, wie Michael die Waffe in seinen Händen bewegte. Schnell fügte er hinzu: »Bilingual ist nicht ganz zutreffend. Multilingual wäre passender.« Michael trat vor und drückte Buck den Lauf der Waffe ins Genick. Buck verzog das Gesicht und schloss die Augen. »Der Mann, den Sie suchen, ist ein Rabbi, Dr. Tsion Ben-Juda.« Buck antwortete nicht. Die Waffe wurde fester in sein Genick gedrückt. Michael fuhr fort: »Falls Sie gekommen wären, um ihn zu töten, und ich wäre sein Freund, würde ich Sie töten. Wenn Sie gekommen wären, um ihn zu retten, und ich gehörte zu denen, die ihn gefangen genommen haben, würde ich Sie auch töten.« »Aber wenn Letzteres der Fall wäre«, brachte Buck mühsam heraus, »hätten Sie gelogen, als Sie sagten, Sie würden Gott dienen.« »Das stimmt. Und was würde mir dann passieren?« »Sie könnten mich töten, aber letztendlich würden Sie verlieren.« »Und woher wissen wir das?« Buck hatte nichts mehr zu verlieren. »Es ist alles vorhergesagt worden. Gott gewinnt.« »Wenn das stimmt und sich herausstellt, dass ich tatsächlich Ihr Bruder bin, können Sie mir Ihren richtigen Namen sagen.« Buck zögerte. »Falls sich herausstellt, dass ich Ihr Feind bin«, fuhr Michael fort, »würde ich Sie sowieso töten.« Buck konnte ihm nicht widersprechen. »Ich heiße Cameron Williams. Ich bin ein Freund von Dr. Ben-Juda.« »Dann sind Sie der Amerikaner, von dem er spricht?« 179
»Wahrscheinlich.« »Noch einen Test, wenn Sie nichts dagegen haben.« »Ich scheine keine Wahl zu haben.« »Das stimmt. Zählen Sie mir schnell sechs Prophezeiungen in Bezug auf den Messias auf, die sich nach den Zeugen, die an der Klagemauer predigen, in Jesus Christus erfüllten.« Buck seufzte erleichtert auf und lächelte. »Michael, Sie sind tatsächlich mein Bruder in Christus. Alle Prophezeiungen in Bezug auf den Messias haben sich in Jesus Christus erfüllt. Ich kann Ihnen allein sechs nennen, die mit Ihrer Kultur zu tun haben. Er würde ein Nachkomme Abrahams, Isaaks und Jakobs sein, aus dem Stamme Juda kommen, Erbe des Thrones Davids sein und in Bethlehem geboren werden.« Die Waffe rasselte, als Michael sie aus der Hand legte und die Arme ausbreitete, um Buck zu umarmen. Er drückte ihn fest an sich und lachte und weinte gleichzeitig. »Und wer hat Ihnen gesagt, wo Sie Tsion finden könnten?« »Moishe und Eli.« »Sie sind meine Mentoren«, erklärte Michael. »Durch ihre und Tsions Botschaft habe ich zum Glauben gefunden.« »Und haben Sie noch andere ermordet, die nach Dr. BenJuda gesucht haben?« »Ich betrachte dies nicht als einen Mord. Ihre Leichen werden vom Salz zersetzt werden, wenn sie das Tote Meer erreichen. Besser ihre Leichen als seine.« »Dann sind Sie also ein Evangelist?« »Nach Dr. Ben-Juda in der Art des Apostels Paulus. Er sagt, 144 000 von uns würden mit demselben Auftrag, den Moishe und Eli haben, in die ganze Welt ziehen: Christus als den einzigen Sohn des Vaters zu verkündigen.« »Würden Sie es glauben, wenn ich Ihnen sagte, dass Sie eine Gebetserhörung sind?« »Das würde mich nicht im Geringsten erstaunen«, erwiderte Michael. »Sie müssen wissen, dass auch Sie eine Gebetserhö180
rung sind.« Buck war sprachlos. Er war froh, dass Michael zu den Außenbordmotoren zurückgehen und sich wieder um das Boot kümmern musste. Buck hatte sein Gesicht abgewendet und weinte. Gott war so gut. Michael ließ ihn eine Weile allein mit seinen Gedanken, doch dann rief er ihm die gute Nachricht zu. »Wissen Sie, wir brauchen gar nicht bis zum See Tiberias zu fahren.« »Nein?«, fragte Buck und stellte sich neben Michael. »Sie tun genau das, was Sie tun sollten, indem Sie sich auf den Weg nach Galiläa gemacht haben«, erklärte Michael. »Auf halbem Weg zwischen Jericho und dem See Tiberias werden wir am Ostufer des Flusses an Land gehen. Wir werden etwa fünf Kilometer landeinwärts laufen, wo meine Freunde und ich Dr. Ben-Juda versteckt haben.« »Wie konnten Sie den Zeloten entkommen?« »Der Fluchtplan lag schon bereit, seit Dr. Ben-Juda zum ersten Mal im Kollek-Stadion gesprochen hatte. Monatelang dachten wir, es sei unnötig, seine Familie zu bewachen. Die Zeloten waren hinter ihm her. Beim ersten Anzeichen einer Bedrohung schickten wir einen Wagen zu Tsions Büro. Tsion lag hinten unter einer Decke zusammengekauert auf dem Boden. Er wurde zu diesem Boot gebracht und ich fuhr ihn flussaufwärts.« »Und diese Geschichten darüber, dass sein Fahrer an dem Abschlachten seiner Familie beteiligt war?« Michael schüttelte den Kopf. »Dieser Mann wurde auf ganz besondere Weise entlastet, meinen Sie nicht?« »War er auch gläubig?« »Leider nicht. Aber er war loyal und mitfühlend. Wir waren der Meinung, es sei nur eine Frage der Zeit. Wir haben uns getäuscht. Dr. Ben-Juda weiß übrigens nichts vom Tod seines Fahrers.« »Aber natürlich weiß er von seiner Familie?« 181
»Ja, und Sie können sich vorstellen, wie schrecklich das für ihn ist. Als wir ihn in dieses Boot packten, blieb er unter der Decke zusammengekauert auf dem Boden liegen. In gewisser Weise war es gut so. So konnte er nicht entdeckt werden, bis wir an Land gingen. Während der ganzen Fahrt hörte ich ihn über den Lärm des Bootes hinweg schluchzen. Und ich kann sein Weinen noch immer hören.« »Nur Gott kann ihn trösten«, sagte Buck. »Ich bete darum. Ich muss allerdings sagen, dass von Trost noch nichts zu spüren ist. Er kann nicht sprechen. Er weint und weint.« »Welche Pläne haben Sie für ihn?«, fragte Buck. »Er muss das Land verlassen. Sein Leben ist hier nichts mehr wert. Seine Feinde sind in der Überzahl. Er wird nirgendwo sicher sein, aber wenigstens wird er außerhalb von Israel eine Chance haben.« »Und wohin werden Sie und Ihre Freunde ihn bringen?« »Ich und meine Freunde?!« »Wer dann?« »Sie, mein Freund!« »Ich?«, fragte Buck. »Gott hat durch die beiden Zeugen gesprochen. Er hat uns versichert, dass ein Befreier kommen würde. Er würde den Rabbi kennen. Er würde die Zeugen kennen. Er würde die messianischen Prophezeiungen kennen. Und vor allem würde er Christus kennen. Und diese Person, mein Freund, sind Sie.« Buck taumelte. Er hatte Gottes Schutz gespürt. Er hatte die Freude gefühlt, die der Dienst mit sich brachte. Aber noch nie hatte er sich so direkt als sein Diener gefühlt. Er kam sich auf einmal so unwürdig und undiszipliniert vor. Er war so gesegnet worden und was hatte er mit seinem neu gefundenen Glauben gemacht? Er hatte versucht, gehorsam zu sein, die Botschaft an andere weiterzugeben. Aber bestimmt war er unwürdig, auf eine solche Weise von Gott gebraucht zu werden. 182
»Was soll ich denn mit Tsion tun?« »Wir wissen es nicht. Wir nahmen an, Sie würden ihn aus dem Land schmuggeln.« »Das wird nicht einfach sein.« »Es war auch nicht leicht, den Rabbi zu finden, Mr. Williams, nicht wahr? Sie wären beinahe dabei getötet worden.« »Hatten Sie damit gerechnet, mich zu töten?« »Ich habe nur gehofft, dass dies nicht nötig sein würde. Die Umstände sprachen gegen Sie, aber ich habe gebetet.« »Gibt es in der Nähe einen Flughafen, wo ein Learjet landen kann?« »Es gibt einen kleinen Flughafen westlich von Jericho in der Nähe von Al Birah.« »Das ist doch wieder flussabwärts, nicht?« »Ja, natürlich eine leichtere Reise. Aber Sie wissen, dass dies der Flughafen für Jerusalem ist. Die meisten Flüge nach Israel und aus Israel heraus landen und starten vom Ben-GurionFlughafen in Tel Aviv aus, aber in der Nähe von Jerusalem gibt es auch viel Flugverkehr.« »Der Rabbi muss doch eine der bekanntesten Persönlichkeiten in Israel sein«, überlegte Buck. »Wie um alles in der Welt soll ich ihn durch die Passkontrolle bekommen?« Michael lächelte. »Wie schon? Auf übernatürliche Weise.« Buck bat um eine Decke. Michael holte eine aus einem Fach im hinteren Teil des Bootes. Buck wickelte sie sich um die Schultern und zog sie sich über den Kopf. »Wie weit ist es noch?« »Noch etwa zwanzig Minuten«, erwidert Michael. »Ich muss Ihnen etwas sagen, das Ihnen vielleicht komisch vorkommen wird«, sagte Buck. »Noch komischer als diese Nacht?« Buck lachte leise. »Vermutlich nicht. Es ist nur so, dass mir vielleicht in einem Traum gesagt worden ist, dass ich mit Tsion nach Ägypten gehen soll.« 183
»Vielleicht?« »An diese Art der Kommunikation mit Gott bin ich nicht gewöhnt, darum weiß ich es nicht genau.« »Ich würde mich nicht gegen einen Traum stellen, der von Gott zu kommen scheint«, meinte Michael. »Aber macht das denn Sinn?« »Es macht sehr viel mehr Sinn, als zu versuchen, eine von den Zeloten gesuchte Person über einen internationalen Flughafen außer Landes zu schaffen.« »Aber Kairo ist doch zerstört worden. Wohin werden alle hereinkommenden Flüge denn umgeleitet?« »Nach Alexandria«, antwortete Michael. »Trotzdem, Sie müssen Israel irgendwie verlassen.« »Suchen Sie mir einen kleinen Flughafen, bei dem wir die Passkontrolle umgehen können, und wir haben das Problem gelöst.« »Und was werden Sie nun wegen Ägypten unternehmen?« »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht bedeutete der Traum auch nur, dass ich keine gewöhnliche Route nehmen soll.« »Eines ist sicher«, meinte Michael. »Es muss nach Einbruch der Dunkelheit geschehen. Wenn nicht heute Nacht, dann morgen Nacht.« »Ich wäre nicht in der Lage, heute Nacht eine Flucht vorzubereiten, selbst wenn sich der Himmel öffnete und Gott mit dem Finger auf mich deutete.« Michael lächelte. »Mein Freund, wenn ich durchgemacht hätte, was Sie durchgemacht haben, und erlebt hätte, wie Gott Gebete erhört, würde ich Gott nicht herausfordern, etwas so Einfaches zu tun.« »Dann sagen wir, ich bete, dass Gott mir noch einen Tag Zeit gibt. Ich muss mich mit meinem Piloten in Verbindung setzen und wir alle werden uns gemeinsam überlegen müssen, von wo aus wir am besten in die Vereinigten Staaten zurückkehren 184
können.« »Eines sollten Sie noch wissen«, sagte Michael. »Eines nur?« »Nein, aber etwas sehr Wichtiges. Ich glaube, dass Dr. BenJuda nur sehr widerstrebend fliehen wird.« »Aber er hat doch keine andere Wahl!« »Das ist genau der Punkt. Da seine Frau und Kinder tot sind, sieht er vielleicht keinen Grund mehr, weiterzumachen, geschweige denn weiterzuleben.« »Unsinn! Die Welt braucht ihn! Wir müssen seinen Dienst am Leben halten!« »Mich brauchen Sie davon nicht zu überzeugen, Mr. Williams. Ich sage Ihnen nur, dass Sie ihn vermutlich werden überreden müssen, in die USA zu fliehen. Ich glaube jedoch, dass er dort wahrscheinlich sicherer ist als sonst irgendwo, falls er überhaupt irgendwo sicher ist.« »Springen Sie vorne aus dem Boot, wenn Sie hören, dass das Schiff das Ufer erreicht, dann werden Ihre Stiefel relativ trokken bleiben«, riet Michael ihm. Er hatte das Schiff nach Osten gewendet und fuhr nun auf das Ufer zu. Im letzten Augenblick, so schien es jedenfalls Buck, stellte Michael die Motoren aus. Er stellte sich neben Buck. »Werfen Sie Ihre Tasche, so weit Sie können, springen Sie gemeinsam mit mir und achten Sie darauf, dass Sie nicht vom Boot getroffen werden!« Das Boot lief auf Grund und Buck befolgte die Anweisungen, die Michael ihm gegeben hatte. Doch als er sprang, fiel er zur Seite und rollte sich weiter. Das Boot verfehlte ihn um Haaresbreite. Über und über mit nassem Sand bedeckt, setzte er sich auf. »Bitte helfen Sie mir!«, forderte Michael ihn auf. Beide zogen das Boot ans Ufer. Nachdem sie es gesichert hatten, klopfte Buck sich ab und stellte hocherfreut fest, dass seine Stiefel einigermaßen trocken geblieben waren. Er folgte seinem neuen 185
Freund. Buck trug nur seine Tasche, Michael nur seine Waffe. Aber er wusste, wohin sie gingen. »Ich muss Sie bitten, sich jetzt sehr still zu verhalten«, flüsterte Michael, als sie sich ihren Weg durch das Gebüsch bahnten. »Hier ist es zwar sehr einsam, aber wir wollen kein Risiko eingehen.« Buck hatte vergessen, wie weit fünf Kilometer sein konnten. Der Boden war uneben und feucht. Das Buschwerk schlug ihm ins Gesicht. Er wechselte seine Tasche von einer Schulter zur anderen und sie wurde ihm trotzdem sehr schwer. Zwar war er körperlich gut in Form, aber das hier war wirklich hart. Dies war nicht wie Jogging oder Fahrradfahren oder Laufen auf einem Laufband. Dies hier war Laufen an einem sandigen Flussufer nach … Wer wusste schon, wohin? Er fürchtete sich vor der Begegnung mit Dr. Ben-Juda. Natürlich wollte er seinen Freund und Bruder in Christus wieder sehen, aber was sagte man zu jemandem, der seine Familie verloren hatte? Keine Platitüden, keine Worte konnten ihm Trost geben. Der Mann hatte den höchsten Preis bezahlt, der einem Menschen abverlangt werden konnte, und nur der Himmel würde ihn trösten können. Eine halbe Stunde später erreichten er und Michael keuchend und mit Blasen an den Füßen das Versteck. Michael legte den Finger an die Lippen und bückte sich. Er hob ein Bündel getrockneter Zweige auf und sie gingen weiter. Knapp zwei Meter vor ihnen befand sich die Öffnung zu einer Höhle, die für alle, die zufällig hier vorbeikamen, nicht zu sehen war.
11 Buck bemerkte mit Erstaunen, dass es in dem Versteck keine richtigen Betten und keine Kissen gab. Das haben die Zeugen also gemeint, als sie den Vers zitierten, dass der Menschensohn 186
keinen Ort habe, wo er sein Haupt hinlegen könne, dachte Buck. Drei weitere ausgemergelte und verzweifelt aussehende junge Männer, die Michaels Brüder hätten sein können, kauerten in der niedrigen Höhle, in der man kaum stehen konnte. Buck bemerkte, dass man von ihrem Platz aus den Weg hervorragend überblicken konnte. Das erklärte auch, warum Michael sich nicht zu erkennen und kein Signal hatte geben müssen, als sie kamen. Buck wurde den anderen vorgestellt, doch von den vier Männern sprach nur Michael Englisch. Buck sah sich blinzelnd nach Tsion um. Er konnte ihn hören, aber nicht sehen. Schließlich wurde eine schwache Taschenlampe angeknipst. Da saß in der Ecke, den Rücken gegen die Wand gelehnt, einer der ersten und sicherlich der bekannteste der in der Bibel vorhergesagten 144 000 Zeugen. Die Knie hatte Tsion angezogen, die Arme um seine Beine gelegt. Er trug ein weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln und dunkle Hosen, die ihm zu kurz waren und seine Socken sehen ließen. Schuhe hatte er keine. Wie jung Tsion wirkte! Buck wusste, dass er mittleren Alters war, doch wie er da saß und hin und her schaukelte und weinte, erschien er ihm wie ein Kind. Er sah nicht auf und nahm Buck nicht zur Kenntnis. Buck flüsterte den anderen zu, er wäre gern einen Augenblick mit Tsion allein. Michael und die anderen kletterten durch die Öffnung und standen mit schussbereiten Waffen untätig im Gebüsch. Buck hockte sich neben Dr. Ben-Juda. »Tsion«, sagte Buck, »Gott liebt Sie.« Buck war erstaunt über seine eigenen Worte. Konnte Tsion in einem solchen Augenblick glauben, dass Gott ihn liebte? Und was für eine platte Aussage war das? Sollte er jetzt für Gott sprechen? »Was wissen Sie ganz sicher?«, fragte Buck, wobei er überlegte, was er da sagte. 187
Tsions Antwort mit seinem starken hebräischen Akzent war nur als Krächzen zu verstehen: »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.« »Was wissen Sie sonst noch?«, fragte Buck, der sich selbst zuhörte. »Ich weiß, dass er, der das gute Werk in mir begonnen hat, treu und gerecht ist, um es zu vollenden.« Preist den Herrn!, dachte Buck. Buck ließ sich zu Boden sinken und setzte sich neben BenJuda, den Rücken an die Wand gelehnt. Er war gekommen, um diesen Mann zu retten und um ihm zu dienen. Doch nun hatte er einen Dienst erfahren. Nur Gott allein konnte solche Zusicherung und Zuversicht in einer Zeit so großer Not geben. »Ihre Frau und Ihre Kinder waren gläubig –« »Heute sehen sie Gott«, beendete Tsion den Satz für ihn. Buck hatte sich gefragt, ob Tsion Ben-Juda über seinen schrecklichen Verlust so erschüttert sein würde, dass sein Glaube daran Schaden nehmen würde. Würde er so zerbrechlich sein, dass er nicht würde weitermachen können? Er würde trauern, aber nicht wie die Heiden, die keine Hoffnung haben. »Cameron, mein Freund«, brachte Tsion schließlich heraus, »haben Sie Ihre Bibel mitgebracht?« »Nicht in Buchform, Sir. Ich habe eine gesamte Bibelausgabe auf meinem Computer.« »Ich habe nicht nur meine Familie verloren, Buck.« »Bitte?« »Meine Bibliothek. Meine heiligen Bücher. Alles verbrannt. Alles fort. Das Einzige, was ich mehr geliebt habe, war meine Familie.« »Sie haben nichts aus Ihrem Büro mitgebracht?« »Ich habe mir eine lächerliche Verkleidung übergeworfen, die langen Schläfenlocken der Orthodoxen. Sogar einen falschen Bart haben sie mir angeklebt. Ich habe nichts mitgenommen, damit ich nicht wie ein ortsansässiger Gelehrter 188
aussehe.« »Könnte nicht jemand die Bücher aus Ihrem Büro holen?« »Nicht, ohne sein Leben in Gefahr zu bringen. Ich bin immerhin der Hauptverdächtige für den Mord an meiner Familie.« »Das ist doch Unsinn!« »Wir beide wissen das, mein Freund, aber das, was sich ein Mensch in Gedanken vorstellt, wird bald zu seiner Realität. Außerdem: Wo sollte dieser Jemand meine Sachen hinschikken, ohne meine Feinde zu mir zu führen?« Buck griff in seine Tasche und holte seinen Laptop hervor. »Ich weiß nicht genau, wie voll die Batterie noch ist«, sagte er und stellte den Computer an. »Sie haben nicht zufällig das Alte Testament auf Hebräisch darauf?«, fragte Tsion. »Nein, aber diese Programme sind überall erhältlich.« »Zumindest im Augenblick noch«, bemerkte Tsion noch immer schluchzend. »Meine letzten Studien haben mich zu der Ansicht geführt, dass unsere religiöse Freiheit schon sehr bald mit alarmierender Schnelligkeit eingeschränkt werden wird.« »Was möchten Sie gern sehen?« Zuerst dachte Buck, Tsion hätte seine Frage nicht gehört. Doch dann fragte er sich, ob Tsion vielleicht geantwortet und er nur die Antwort nicht gehört hatte. Der Computer war nun hochgefahren und zeigte die Liste der alttestamentlichen Bücher. Buck warf verstohlen einen Blick auf seinen Freund. Ganz offensichtlich versuchte er zu sprechen, doch er brachte nichts heraus. »Manchmal finde ich die Psalmen sehr tröstlich«, sagte Buck. Tsion nickte. Er hatte die Hand auf den Mund gelegt. Seine Brust hob und senkte sich schwer und er konnte sein Schluchzen nicht mehr länger zurückhalten. Er beugte sich zu Buck hinüber und brach unter Tränen zusammen. »Die Freude am 189
Herrn ist meine Stärke«, stöhnte er immer wieder. »Die Freude am Herrn ist meine Stärke.« Freude, dachte Buck. Welch ein Begriff an diesem Ort, zu dieser Zeit. Der Name des Spiels war nun »Überleben«. Sicherlich hatte die Freude jetzt in seinem Leben eine ganz andere Bedeutung als früher. Früher hatte er Freude immer mit Glück gleichgesetzt. Ganz bestimmt wollte Ben-Juda damit nicht sagen, dass er glücklich war. Wahrscheinlich würde er nie wieder wirklich glücklich werden können. Diese Freude war ein tiefer, bleibender Friede, die Zusicherung, dass Gott über allem stand. Ihnen brauchte nicht zu gefallen, was im Augenblick passierte. Sie brauchten nur darauf zu vertrauen, dass Gott wusste, was er tat. Das machte es keinesfalls leichter. Buck wusste sehr gut, dass alles noch viel schlimmer werden würde, bevor eine Besserung eintrat. Falls ein Mensch jetzt nicht felsenfest in seinem Glauben gegründet war, würde er es niemals sein. Buck saß in diesem feuchten Versteck in der Erde mitten im Nichts und wusste mit größerer Sicherheit als je zuvor, dass er seinen Glauben auf den eingeborenen Sohn des Vaters gesetzt hatte. Als dieser beinahe zerbrochene Mann in seinem Schoß schluchzte, fühlte sich Buck Gott so nah wie an dem Tag, als er sein Leben Christus anvertraut hatte. Tsion fasste sich wieder und griff nach dem Computer. Er drückte einige Tasten, bevor er um Hilfe bat. »Nehmen Sie die Psalmen«, sagte er. Buck wählte die Psalmen und Tsion blätterte sie mit der Computermaus durch. Die andere Hand hatte er auf den Mund gepresst. »Bitten Sie die anderen, mit uns zusammen zu beten«, flüsterte er. Wenige Minuten später knieten die sechs Männer in einem Kreis. Tsion sagte etwas auf Hebräisch, Michael flüsterte Buck die Übersetzung ins Ohr: »Meine Freunde und Brüder in Christus, trotz meines großen Schmerzes muss ich beten. Ich bete zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Ich preise dich, 190
weil du der eine und einzig wahre Gott bist. Du sitzt hoch droben im Himmel. Es gibt keinen anderen Gott wie dich. Du bist unveränderlich.« Damit brach Tsion wieder zusammen und bat die anderen, für ihn zu beten. Buck hatte noch nie miterlebt, wie Menschen laut in einer anderen Sprache zusammen gebetet hatten. Als er hörte, wie inbrünstig diese vier Männer, die zu den 144 000 Evangelisten gehörten, beteten, konnte er nicht anders, als sich flach auf den Boden zu werfen. Er spürte die kalte Erde an seinen Handrükken, als er sein Gesicht in den Händen barg. Er wusste nicht, wie es Tsion ging, aber er hatte das Gefühl, als würde er auf Wolken des Friedens getragen. Auf einmal übertönte Tsions Stimme die anderen. Michael beugte sich zu ihm nieder und flüsterte Buck ins Ohr: »Wenn Gott für uns ist, wer kann gegen uns sein?« Buck wusste nicht, wie lange er auf dem Boden gelegen hatte. Die Gebete versiegten langsam zu einem Stöhnen und mit Worten, die wie die hebräische Version von »Amen« und »Halleluja« klangen. Buck erhob sich. Ihm taten alle Glieder weh. Tsion sah ihn an. Sein Gesicht war noch nass von den Tränen, aber im Augenblick schien er ruhig zu sein. »Ich glaube, ich kann jetzt endlich schlafen«, sagte der Rabbi nachdenklich. »Dann sollten Sie das tun. Heute Nacht werden wir nirgendwohin mehr gehen. Ich werde alles für morgen nach Einbruch der Dunkelheit arrangieren.« »Sie sollten Ihren Freund anrufen«, sagte Michael. »Wissen Sie, wie spät es ist?«, fragte Buck. Michael sah auf seine Uhr, lächelte, schüttelte den Kopf und sagte nur: »Oh.« »Alexandria?«, fragte Ken Ritz am nächsten Morgen, als Buck am Telefon mit ihm sprach. »Sicher kann ich dorthin fliegen. Es ist ein großer Flughafen. Wann soll ich da sein?« 191
Buck, der in einem kleinen Nebenfluss des Jordan gebadet und seine Sachen gewaschen hatte, trocknete sich mit einer Decke ab. Einer von Tsion Ben-Judas Hebräisch sprechenden Bewachern befand sich in der Nähe. Er hatte Frühstück gemacht und trocknete Tsions Socken und Unterwäsche über einem kleinen Feuer. »Wir wollen heute Abend hier aufbrechen, unmittelbar nach Einbruch der Dunkelheit«, erklärte Buck. »Und dann müssen wir sehen, wie lange es dauert, in einem kleinen Holzboot mit zwei Außenbordmotoren und sechs erwachsenen Männern an Bord nach Alexandria zu kommen –« Ritz lachte laut. »Dies ist mein erster Aufenthalt in diesem Land, das habe ich Ihnen, glaube ich, erzählt«, meinte er, »aber in einem bin ich mir sicher: Wenn Sie von Ihrem jetzigen Aufenthaltsort nach Alexandria kommen wollen, müssen Sie dieses Boot über das trockene Land zum Meer tragen, anders werden Sie es nicht schaffen.« Gegen Mittag hatten alle sechs Männer das Versteck verlassen. Sie waren sicher, dass ihnen niemand zu diesem entlegenen Ort gefolgt war und dass sie sich, solange sie sich unter Büschen versteckt hielten, ein wenig ausstrecken und durchatmen konnten. Michael war über Bucks Naivität nicht so amüsiert wie Ken Ritz. In letzter Zeit hatte er nur selten gelächelt und gar nichts zu lachen gehabt. Michael lehnte sich gegen einen Baum. »Hier und da verstreut gibt es auch in Israel ein paar kleine Flughäfen«, sagte er. »Warum sind Sie so fest entschlossen, von Ägypten aus zu fliegen?« »Na ja, dieser Traum – ich weiß nicht, das ist alles noch so neu für mich. Ich versuche, praktisch zu sein, auf die Zeugen zu hören, der Führung Gottes zu folgen. Was soll ich wegen des Traums unternehmen?« »Ich bin zwar noch nicht so lange gläubig wie Sie, mein Freund«, sagte Michael. »Aber ich würde einen Traum, der so 192
eindeutig war, nicht ignorieren.« »Vielleicht haben wir in Ägypten einen Vorteil, den wir in Israel nicht haben«, meinte Buck. »Das kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen«, erwiderte Michael. »Um legal aus Israel aus- und nach Ägypten einreisen zu können, müssen Sie irgendwo durch die Passkontrolle.« »Wie realistisch ist es, mit meinem Gast durchgelassen zu werden?« »Sie meinen Ihre Schmuggelware?« Ab und zu versuchte Michael, eine humorvolle Bemerkung zu machen, doch er lächelte nie. »Ich überlege nur«, meinte Buck, »wie intensiv die Grenzoffiziere und Zöllner nach Dr. Ben-Juda Ausschau halten.« »Sie überlegen? Ich überlege nicht. Entweder wir umgehen den Grenzübergang oder wir warten auf ein weiteres Wunder.« »Ich bin für jeden Vorschlag dankbar«, meinte Buck. Rayford telefonierte mit Amanda. Sie hatte ihm alles erzählt, was geschehen war. »Ich vermisse dich mehr als je zuvor«, sagte er. »Mich hierher zu schicken, war ganz bestimmt richtig«, meinte sie. »Da Buck fort und Chloe noch nicht wieder ganz auf dem Posten ist, werde ich hier wirklich gebraucht.« »Du wirst auch von mir gebraucht, Liebling. Ich zähle die Tage.« Rayford erzählte ihr von seinem Gespräch mit Hattie und ihren Plänen, in die Staaten zu fliegen. »Ich vertraue dir, Rayford. Es hört sich so an, als habe sie Kummer. Wir werden für sie beten. Was würde ich dafür geben, damit dieses Mädchen eine gute Predigt hört.« Rayford stimmte ihr zu. »Wenn sie wenigstens auf dem Rückweg bei uns Station machen würde. Vielleicht wenn Bruce einige Kapitel zu –« Rayford wurde klar, was er gesagt hatte. 193
»O Ray –« »Vermutlich ist alles noch zu frisch«, entgegnete er. »Ich hoffe nur, dass Gott uns einen anderen Bibellehrer schickt. Na ja, es wird kein zweiter Bruce sein.« »Nein«, erwiderte Amanda, »und vermutlich wird es auch nicht früh genug sein, dass es Hattie, falls sie zu uns kommt, weiterhilft.« Am Spätnachmittag nahm Buck einen Anruf von Ken Ritz entgegen. »Soll ich noch immer nach Alexandria kommen?« »Wir sprechen darüber, Ken. Ich sage Ihnen Bescheid.« »Können Sie einen Wagen mit Gangschaltung fahren, Buck?«, fragte Michael. »Sicher.« »Einen alten?« »Sie machen Witze, oder?« »Es ist wirklich ein sehr alter Wagen«, erklärte Michael. »Ich habe einen alten Schulbus, der nach Fisch und Farbe stinkt. Ich benutze ihn für meine beiden Berufe. Er pfeift aus dem letzten Loch, aber falls wir Sie zur südlichen Einmündung des Jordan bringen können, könnten Sie von dort aus versuchen, damit über die Grenze in den Sinai zu gelangen. Ich würde Ihnen genügend Benzin und Wasser mitgeben. Dieses Ding säuft mehr Wasser als Benzin.« »Wie groß ist der Bus?« »Nicht groß. Es passen etwa zwanzig Personen hinein.« »Allradantrieb?« »Leider nicht.« »Schluckt er Öl?« »Nicht so viel wie Wasser, aber trotzdem reichlich, fürchte ich.« »Was erwartet uns im Sinai?« »Das wissen Sie nicht?« »Ich weiß, dass es eine Wüste ist.« 194
»Dann wissen Sie alles, was Sie wissen müssen. Sie werden den Busmotor um das Wasser beneiden, das er braucht.« »Was schlagen Sie vor?« »Ich werde Ihnen den Bus zu einem fairen Preis verkaufen. Sie erledigen den Papierkram. Wenn Sie angehalten werden, kann der Bus zu mir zurückverfolgt werden, aber ich habe ihn ja legal an Sie verkauft.« »Weiter.« »Sie verstecken Tsion unter den Sitzen im hinteren Teil des Busses. Wenn Sie ihn über die Grenze und in den Sinai bringen können, müssten Sie mit dem Bus Al Arish erreichen, das weniger als 50 Kilometer vom Gazastreifen und unmittelbar an der Mittelmeerküste liegt.« »Und dann? Treffen wir uns dort und Sie bringen uns mit Ihrem Holzboot nach Amerika?« Diese Bemerkung entlockte Michael endlich ein Lächeln. »Dort gibt es einen kleinen Flughafen und es ist unwahrscheinlich, dass sich die Ägypter um einen Mann kümmern, der in Israel gesucht wird. Und falls es ihnen doch etwas ausmacht, kann man sie kaufen.« Einer der anderen Wachposten schien den Namen der Hafenstadt verstanden zu haben. Anscheinend fragte er Michael auf Hebräisch nach seinem Plan. Sehr ernst redete er auf Michael ein und Michael wandte sich an Buck. »Mein Kamerad hat Recht, wenn er uns auf die Risiken aufmerksam macht. Vermutlich hat Israel bereits ein hohes Kopfgeld auf den Rabbi ausgesetzt. Wenn es Ihnen nicht gelingt, diesen Preis zu überbieten, könnten die Ägypter den Rabbi an Israel ausliefern.« »Wie erfahre ich den Preis?« »Sie werden raten müssen. Bieten Sie weiter, bis Sie ihn übertrumpfen.« »Was schätzen Sie?« »Nicht weniger als eine Million Dollar.« »Eine Million Dollar? Glauben Sie im Ernst, dass jeder Ame195
rikaner über so viel Geld verfügt?« »Haben Sie denn nicht so viel?« »Nein! Und falls ich es hätte, würde ich es keinesfalls in bar mit mir herumtragen.« »Haben Sie denn die Hälfte davon?« Buck schüttelte den Kopf und stieg in das Versteck. Tsion folgte ihm. »Was betrübt Sie?«, fragte der Rabbi. »Ich muss Sie hier herausbringen«, entgegnete Buck. »Und ich weiß nicht, wie.« »Haben Sie gebetet?« »Unablässig.« »Der Herr wird uns einen Weg zeigen.« »Im Augenblick erscheint mir das unmöglich.« »Jahwe ist der Gott des Unmöglichen«, tröstete ihn Tsion. Der Abend brach an. Buck war nervös. Er lieh sich von Michael eine Karte, studierte sie eingehend und betrachtete die Wasserläufe, die die Grenze zwischen Israel und Jordanien bildeten. Wenn es doch nur einen Wasserweg vom Jordan oder dem See Tiberias zum Mittelmeer geben würde! Entschlossen faltete Buck die Karte wieder zusammen und gab sie Michael zurück. »Wissen Sie«, sagte er nachdenklich, »ich habe zwei Ausweise. Eingereist bin ich unter dem Namen Herb Katz, ein amerikanischer Geschäftsmann. Aber meinen richtigen Ausweis habe ich auch dabei.« »Tatsächlich?« »Ja wie wäre es, wenn ich als Herb Katz und der Rabbi als Cameron Williams die Grenze überschreiten würden?« »Sie vergessen, dass sogar wir alten, verstaubten Länder mittlerweile computerisiert sind, Mr. Williams. Wenn Sie als Herb Katz nach Israel gekommen sind, gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich Cameron Williams hier aufhält. Wenn er nicht hier ist, wie kann er dann das Land verlassen?« »Okay, dann sagen wir, ich verlasse als Cameron Williams 196
das Land und der Rabbi reist unter dem Namen Herb Katz. Wenn auch keine Aufzeichnungen darüber existieren, dass ich unter meinem eigenen Namen hier bin, so kann ich meinen Sicherheitsausweis zeigen, mich auf Carpathia berufen und ihnen sagen, sie sollten keine Fragen stellen. Das funktioniert meistens.« »Das wäre eine Möglichkeit, aber Tsion Ben-Juda spricht doch nicht wie ein amerikanischer Jude, oder?« »Nein, aber –« »Und er sieht Ihnen auch nicht im Geringsten ähnlich.« Buck war frustriert. »Wir waren uns doch einig, dass wir ihn hier herausschaffen müssen, oder?« »Keine Frage«, erwiderte Michael. »Und was schlagen Sie vor? Ich bin mit meinem Latein am Ende.« Dr. Ben-Juda kroch zu ihnen hin. Offensichtlich wollte er in dem niedrigen Erdloch nicht stehen. »Michael«, begann er, »ich kann dir nicht sagen, wie dankbar ich für dein Opfer und für deinen Schutz bin. Ich danke dir auch für dein Mitgefühl und deine Gebete. Das alles ist sehr schwer für mich. Wenn es allein nach mir ginge, würde ich nicht weitermachen wollen. Ich möchte nur sterben und bei meiner Frau und meinen Kindern sein. Nur die Gnade Gottes hält mich aufrecht. Nur er hält mich davon ab, ihren Tod um jeden Preis zu rächen. Ich sehe lange, einsame Tage und Nächte in dunkler Verzweiflung für mich voraus. Aber mein Glaube ist unerschütterlich und dafür kann ich Gott nur danken. Ich fühle mich berufen, ihm auch weiterhin zu dienen, auch in meinem Schmerz. Ich weiß nicht, warum er das zugelassen hat, und ich weiß nicht, wie viel Zeit er mir noch gibt, um das Evangelium von Christus zu verkündigen und zu lehren. Aber etwas tief in meinem Innern sagt mir, dass er mich nicht mein ganzes Leben lang auf einzigartige Weise vorbereitet, mir dann diese zweite Chance gegeben und mich gebraucht hätte, der Welt zu verkündigen, dass Jesus 197
der Messias ist, wenn er mich nicht auch weiterhin gebrauchen wollte. Ich bin verletzt. Ich fühle mich, als sei ein großes Loch in meiner Brust zurückgeblieben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es jemals wieder gefüllt werden könnte. Ich bete darum, dass der Schmerz nachlässt. Ich bete, dass der Hass und die Rachegedanken verschwinden. Aber vor allem bete ich um Frieden und Ruhe, damit ich einige von den Scherben meines Lebens wieder zusammensetzen kann. Ich weiß, dass mein Leben in diesem Land nichts mehr wert ist. Meine Botschaft hat alle außer die Gläubigen gegen mich aufgebracht und nun muss ich hier weg. Falls ich auf der schwarzen Liste von Nicolai Carpathia stehe, werde ich überall ein Flüchtling sein. Aber es hat keinen Sinn, hier zu bleiben. Ich kann mich nicht immer verstecken und irgendwo muss ich meinen Dienst ausüben.« Michael stand zwischen Tsion und Buck und legte seine Hände auf sie. »Tsion, mein Freund, Sie wissen, dass meine Kameraden und ich alles riskieren würden, um Sie zu schützen. Wir lieben Sie als unseren geistlichen Vater und sind bereit, für Sie zu sterben. Natürlich sind wir mit Ihnen der Meinung, dass Sie das Land verlassen müssen. Aber niemand, der so bekannt ist wie Sie, kann über die israelische Grenze gelangen, es sei denn, Gott selbst schickt einen Engel, der Sie auf wundersame Weise hinübergeleitet. Wir wagen kaum, Sie in Ihrem Schmerz um Rat zu fragen. Aber falls Gott Ihnen etwas gesagt hat, müssen wir das jetzt wissen. Es wird dunkel und wenn wir nicht noch einen Tag warten wollen, müssen wir aufbrechen. Was sollen wir tun? Wohin sollen wir gehen? Ich bin bereit, Sie mit Waffengewalt über jede Grenze zu bringen, aber wir alle wissen, wie dumm das wäre.« Buck blickte Dr. Ben-Juda an, der einfach nur seinen Kopf neigte und laut betete. »O Gott, unsere Hilfe von alters her –« Buck begann zu zittern und sank auf die Knie. Er spürte, dass Gott ihnen die Antwort geben wollte. In seinen Ohren klang 198
ein Satz, der nur von Gott kommen konnte: »Ich habe gesprochen. Ich habe vorgesorgt. Zögert nicht.« Buck fühlte sich gedemütigt und gleichzeitig ermutigt, doch er wusste noch immer nicht, was er tun sollte. Wenn Gott ihm gesagt hatte, er sollte nach Ägypten gehen, war er dazu bereit. War es das? Wie hatte Gott denn vorgesorgt? Michael und Tsion waren ebenfalls neben Buck auf die Knie gefallen, ihre Schultern berührten sich. Buck spürte die Gegenwart des Geistes Gottes und begann zu weinen. Die anderen beiden schienen ebenfalls zu zittern. Plötzlich sprach Michael: »Die Herrlichkeit des Herrn wird euer Schild sein.« Worte gingen Buck durch den Sinn. Wenn er sie auch kaum aussprechen konnte, brach es aus ihm hervor: »Du gibst mir lebendiges Wasser und ich werde keinen Durst mehr haben.« Was war das? Wollte Gott ihm sagen, er könnte die Sinaiwüste ruhig durchqueren und würde nicht verdursten? Tsion Ben-Juda legte sich flach auf den Boden. Er schluchzte und stöhnte. »O Gott, o Gott, o Gott –« Michael hob sein Gesicht und sagte: »Sprich Herr, deine Knechte hören dich. Hört auf die Worte des Herrn. Wer Ohren hat zu hören, der höre …« Tsion antwortete: »Der Herr der Heerscharen hat gesagt: Was ich gesagt habe, soll geschehen.« Es war, als würde Buck plötzlich von dem Geist Gottes überrollt. Auf einmal wusste er, was sie tun sollten. Die Puzzleteilchen waren alle da. Er und die anderen hatten auf ein wundersames Eingreifen gewartet. Tatsache war, dass Tsion Ben-Juda aus Israel herauskommen würde, wenn Gott es wollte. Wenn er es nicht wollte, würde er es nicht schaffen. Gott hatte Buck in einem Traum gesagt, er solle über Ägypten fliehen. Durch Michael hatte er ihnen ein Transportmittel zur Verfügung gestellt. Und nun hatte er versprochen, dass seine Herrlichkeit ihr Schild sein würde. »Amen«, sagte Buck, »amen.« Er erhob sich und erklärte: 199
»Es ist Zeit, meine Herren. Wir wollen aufbrechen.« Dr. Ben-Juda blickte ihn erstaunt an. »Hat Gott zu Ihnen gesprochen?« »Hat er zu Ihnen nicht gesprochen, Tsion?« »Doch! Ich wollte nur sichergehen, dass wir alle einer Meinung sind.« »Falls ich zu entscheiden hätte«, sagte Michael, »würde ich sagen, wir sind uns einig. Lasst uns gehen.« Michaels Kameraden schoben das Boot in den Fluss, während Buck sich seine Tasche umhängte und zusammen mit Tsion an Bord ging. Michael startete die Motoren und steuerte das Boot flussabwärts. Buck reichte Tsion den Ausweis mit seinem Namen und seinem Bild. Tsion blickte ihn überrascht an. »Gott hat mir nicht gesagt, dass ich diesen Ausweis benutzen soll«, sagte er. »Und mir hat Gott ganz eindeutig gesagt, dass ich diese Papiere nicht bei mir tragen soll«, sagte Buck. »Ich bin als Herb Katz ins Land gekommen und ich werde auch als Herb Katz ausreisen. Ich werde die Papiere von Ihnen zurückfordern, wenn wir in den Sinai kommen.« »Ist das nicht aufregend?«, fragte Tsion. »Wir sprechen hier zuversichtlich davon, in den Sinai zu fahren, und haben keine Ahnung, wie Gott das bewerkstelligen wird.« Michael überließ das Boot einem seiner Freunde und setzte sich zu Buck und Tsion. »Tsion hat ein wenig Bargeld, einige Kreditkarten und seine eigenen Papiere. Falls man das bei ihm findet, wird er festgehalten und sehr wahrscheinlich getötet werden. Sollen wir die Sachen für ihn aufbewahren?« Tsion griff nach seiner Brieftasche und öffnete sie im Mondlicht. Er holte das Geld heraus, faltete die Scheine zusammen und steckte sie in seine Tasche. Die Kreditkarten ließ er eine nach der anderen in den Jordan fallen. Zum ersten Mal seit Buck dem Mann in seinem Versteck begegnet war, bemerkte er den Anflug eines Lächelns bei ihm. Fast alles fiel dem Fluss 200
zum Opfer – jede Art von Ausweis und die unterschiedlichen Papiere, die er im Laufe der Jahre angesammelt hatte. Er zog einen kleinen Packen Fotos heraus und hielt die Luft an. Er hielt die Fotos ins Mondlicht und weinte. »Michael, ich muss dich bitten, mir diese Fotos eines Tages zu schicken.« »Das werde ich.« Tsion ließ die alte Brieftasche ins Wasser fallen. »Und jetzt«, sagte Michael, »sollten Sie Mr. Williams seine Papiere zurückgeben.« Tsion griff danach. »Einen Augenblick«, sagte Buck. »Sollten wir nicht versuchen, ihm gefälschte Papiere zu beschaffen, wenn er schon meine nicht benutzen will?« »Irgendwie stimmt, was Michael gesagt hat«, meinte Tsion. »Ich bin ein Mann, dem man alles genommen hat, sogar seine Identität.« Buck nahm seinen Ausweis zurück und suchte in seiner Tasche nach einem guten Versteck. »Das hat keinen Zweck«, meinte Michael. »Sie werden alles durchsuchen, Ihre Tasche und auch Sie selbst und den zweiten Ausweis bestimmt finden.« »Na ja«, entgegnete Buck, »ich kann meinen Ausweis ja schlecht in den Jordan werfen.« Michael streckte ihm die Hand hin. »Ich werde ihn Ihnen zukommen lassen, zusammen mit Tsions Fotos«, sagte er. »Aber bei Ihnen dürfen diese Papiere auch nicht gefunden werden«, warnte Buck. Michael nahm den Ausweis entgegen. »Mir ist sowieso kein langes Leben bestimmt, Bruder«, sagte er. »Ich fühle mich sehr geehrt und gesegnet, zu den in der Bibel vorhergesagten Zeugen gehören zu dürfen. Aber meine Aufgabe ist es, in Israel zu predigen, wo der wirkliche Messias verhasst ist. Meine Tage sind gezählt, ob ich nun mit diesem Ausweis gefasst werde oder nicht.« Buck dankte ihm und schüttelte den Kopf. »Ich weiß noch 201
immer nicht, wie wir Tsion ohne gefälschte oder echte Papiere über die Grenze bringen sollen.« »Wir haben bereits gebetet«, erwiderte Tsion. »Ich weiß auch nicht, wie Gott dies bewerkstelligen will. Ich weiß nur, dass er es tun wird.« Bucks praktische Veranlagung und seine Findigkeit lagen im Widerstreit mit seinem Glauben. »Aber müssen wir nicht zumindest unseren Teil dazu beitragen?« »Und was ist unser Teil, Cameron?«, fragte der Rabbi. »Wenn wir keine Ideen und Möglichkeiten mehr haben, können wir uns nur noch auf Gott verlassen.« Buck presste die Lippen aufeinander und wandte das Gesicht ab. Er wünschte, er hätte denselben Glauben wie Tsion. In vieler Hinsicht war sein Glaube sehr stark. Aber für ihn machte es noch immer keinen Sinn, einfach loszumarschieren und das Risiko einzugehen, dass die Grenzposten errieten, wer Tsion war. »Es tut mir Leid, Daddy, dass ich dich jetzt anrufe«, sagte Chloe. »Aber ich habe versucht, Buck über sein Handy zu erreichen.« »Ich würde mir um Buck keine Sorgen machen, Liebes. Du weißt, er passt immer auf, dass ihm nichts geschieht.« »O Dad! Buck manövriert sich immer in die unmöglichsten Situationen hinein. Ich weiß, dass er unter seinem falschen Namen im ›King David‹ abgestiegen ist, und ich bin versucht, dort anzurufen, aber er hat mir versprochen, er würde diese Nacht nicht dort verbringen.« »Dann würde ich abwarten, Chloe. Du weißt, dass es Buck ziemlich egal ist, welche Tageszeit es ist. Wenn er hinter einer Story her ist, dann macht er auch die ganze Nacht durch.« »Du bist mir wirklich eine große Hilfe.« »Ich versuche es.« »Ich verstehe nur nicht, warum er nicht immer sein Handy 202
bei sich trägt. Du hast deins doch in der Tasche, nicht?« »In der Regel schon. Aber vielleicht ist es in seiner Reisetasche.« »Und wenn seine Reisetasche in seinem Hotelzimmer liegt und er in der Gegend herumstreunt, habe ich Pech gehabt?« »Ich schätze schon, Liebes.« »Ich wünschte, er hätte sein Handy dabei, auch wenn er seine Tasche nicht mitgenommen hat.« »Versuche, dir keine Gedanken zu machen, Chloe. Buck taucht immer irgendwo wieder auf.« Als Michael an der Jordanmündung anlegte, sahen er und seine Freunde sich aufmerksam um, schlenderten dann unauffällig zu seinem kleinen Wagen und drängten sich hinein. Michael fahr zu seinem Haus, dessen kleiner Schuppen als Garage diente. Für den Bus war er zu klein, darum stand dieser auf der Straße hinter seinem bescheidenen Heim. Die Lichter im Haus gingen an. Ein Baby schrie. Michaels Frau kam in einem Morgenrock heraus und umarmte ihn stürmisch. Sie sprach aufgeregt auf Hebräisch auf ihn ein. Michael blickte Buck entschuldigend an. »Ich muss einfach öfter mit ihr in Verbindung bleiben«, meinte er achselzuckend. Buck suchte in seinen Taschen nach seinem Handy. Es war nicht da. Er wühlte in seiner Reisetasche herum und fand es schließlich. Er sollte sich unbedingt bei Chloe melden, doch im Augenblick war es wichtiger, mit Ken Ritz zu sprechen. Während Buck telefonierte, nahm er die hektische Betriebsamkeit um sich herum wahr. Leise gingen Michael und seine Freunde ans Werk. Öl und Wasser im Motor des altersschwachen Schulbusses wurden aufgefüllt. Einer der Männer füllte den Benzintank aus einem Kanister, der an der Hauswand stand. Michaels Frau holte einen Stapel Decken und einen Korb mit Kleidern für Tsion. Buck teilte Ritz mit, er solle in Al Arish auf der Sinaihalbin203
sel auf sie warten. Nachdem er sein Telefongespräch beendet hatte, ging Buck auf dem Weg zum Bus an Michaels Frau vorbei. Sie zögerte und blickte ihn schüchtern an. Er blieb stehen. Zwar nahm er an, dass sie kein Englisch verstand, doch er wollte ihr sagen, wie dankbar er war. »Englisch?«, versuchte er es. Sie schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf. »Ich, äh, wollte Ihnen nur danken«, meinte er. »Also, äh, vielen Dank.« Er breitete die Hände aus und faltete sie dann unter dem Kinn in der Hoffnung, dass sie verstand, was er meinte. Sie war ein zierliches, zerbrechlich wirkendes Ding mit dunklen Augen. Traurigkeit und Angst standen ihr ins Gesicht geschrieben. Es war, als wüsste sie zwar, dass sie auf der richtigen Seite stand, aber gleichzeitig schien ihr klar zu sein, dass ihre Zeit begrenzt war. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis ihr Mann entdeckt wurde. Er hatte sich nicht nur zum wahren Messias bekehrt, er verhalf auch einem Staatsfeind zur Flucht. Sicherlich fragte sich Michaels Frau, wie lange es dauern würde, bis sie und ihre Kinder dasselbe Schicksal erleiden würden wie Tsion Ben-Judas Familie. Und wie lange es dauern würde, bis sie ihren Mann an die Sache verlor, wenn sie auch der Mühe wert war. Nach israelischer Sitte durfte sie Buck nicht berühren, darum war er sehr erstaunt, als sie näher kam. Nur wenige Zentimeter von ihm entfernt blieb sie stehen, blickte ihm in die Augen und sagte etwas auf Hebräisch, von dem er nur die letzten beiden Worte verstand: »Y’shua Hamashiach.« Als Buck in der Dunkelheit den Bus erreichte, lag Tsion bereits unter der hinteren Sitzbank. Lebensmittel, zusätzliches Wasser und Öl waren bereits verstaut worden. Michael kam zusammen mit seinen drei Freunden herbei. Er umarmte Buck und küsste ihn auf beide Wangen. »Geht mit Gott«, sagte er und reichte Buck die Wagenpapiere. Buck schüttelte den anderen dreien die Hand, die einfach schwiegen, da sie offensichtlich wussten, dass er sie sowieso nicht verste204
hen würde. Buck stieg in den Bus, schloss die Tür und ließ sich auf dem rissigen Fahrersitz nieder. Michael gab ihm von außen ein Zeichen, das Fenster auf der Fahrerseite zu öffnen. »Pumpen«, sagte Michael. »Pumpen?«, fragte Buck. »Das Gaspedal.« Buck trat das Gaspedal durch und ließ es wieder los, dann drehte er den Zündschlüssel. Der Motor sprang laut knatternd an. Michael hob beide Hände, um ihn daran zu erinnern, so leise wie möglich zu sein. Buck legte den Gang ein und ließ langsam die Kupplung kommen. Die alte Kiste machte einen Satz nach vorn. Es war nicht leicht, sich an diese Klapperkiste zu gewöhnen und Buck war heilfroh, als er endlich die Hauptstraße erreichte. Wenn er nun Michaels Anweisungen folgte und irgendwie zur Grenze gelangte, würde der Rest Gott überlassen bleiben. Er empfand ein ungewöhnliches Gefühl der Freiheit, ein Fahrzeug, wenn auch eines wie den alten Bus, selbst steuern zu können. Er war eine Reise angetreten, die ihn irgendwohin führen würde. Bei Anbruch der Dämmerung konnte er überall sein: im Gefängnis, in der Wüste, in der Luft oder im Himmel.
12 Buck brauchte nicht lange, bis er verstand, was Michael gemeint hatte, als er »pumpen« gesagt hatte. Jedes Mal, wenn Buck die Kupplung trat, um einen anderen Gang einzulegen, ging der Motor beinahe aus. Wenn er anhielt, musste sein linker Fuß die Kupplung treten, mit der rechten Ferse bremste er und mit den rechten Zehen gab er Gas. Michael hatte ihnen auch eine Landkarte mitgegeben. »Es gibt vier verschiedene Stellen, an denen ihr mit dem Bus die 205
Grenze nach Ägypten überschreiten könnt«, hatte Michael ihm erklärt. Die beiden nächsten wären in Rafah am Gazastreifen. »Aber diese Übergänge werden immer sehr stark bewacht. Vielleicht fahrt ihr besser nach Süden durch Hebron nach Beersheba. Ich würde euch raten, von Beersheba aus nach Südwesten zu fahren, wenn das auch ein kleiner Umweg ist. Nach etwa zwei Dritteln der Strecke zwischen Beersheba und Jeroham gibt es eine Abkürzung, die euch durch den nördlichen Teil der Negev-Wüste führt. Von da aus sind es keine 50 Kilometer mehr bis zur Grenze. Etwa 10 Kilometer von der Grenze entfernt könnt ihr in nördlicher oder westlicher Richtung weiterfahren. Ich kann euch nicht sagen, welcher Grenzübergang leichter zu passieren ist. Ich würde den südlichen empfehlen, weil ihr dann auf direktem Weg nach Al Arish fahren könnt. Wenn ihr den nördlichen Pass nehmt, müsst ihr zwischen Rafah und Al Arish auf die Hauptstraße zurück, die sehr stark befahren und gut bewacht ist.« Mehr hatte Buck nicht wissen müssen. Er würde den südlichsten der vier Grenzübergänge nehmen und beten, dass er bis dahin nicht angehalten würde. Tsion Ben-Juda blieb auf dem Boden unter den Sitzen liegen, bis Buck Jerusalem so weit hinter sich gelassen hatte, dass beide sich sicher fühlten. Tsion erhob sich und hockte sich neben Buck. »Sind Sie müde?«, fragte er. »Soll ich weiterfahren?« »Sie machen wohl Witze!« »Es wird wahrscheinlich ein paar Monate dauern, bis ich wieder irgendetwas lustig finde«, erwiderte Tsion. »Aber Sie wollten sich doch nicht im Ernst ans Steuer dieses Busses setzen, oder? Was würden Sie tun, wenn wir angehalten würden?« »Ich wollte es ja nur anbieten.« »Das weiß ich zu schätzen, aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Mir geht es gut und ich fühle mich gut ausgeruht. 206
Außerdem habe ich eine Todesangst. Das wird mich wach halten.« Buck schaltete vor einer Kurve herunter und Tsion verlor das Gleichgewicht. Er hielt sich an dem Metallpfosten neben dem Fahrersitz fest, wurde herumgeschleudert und prallte gegen Buck. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich wach bin, Tsion. Sie brauchen mich nicht andauernd aufzuwecken?!« Er blickte Tsion an, um zu sehen, ob er ihm ein Lächeln hatte entlocken können. Es sah so aus, als wollte Tsion versuchen, höflich zu sein. Er entschuldigte sich vielmals und setzte sich mit gesenktem Kopf, das Kinn in die Hände gestützt auf den Sitz hinter Buck. »Sagen Sie mir, wenn ich mich ducken muss.« »Bis ich das erkannt habe, sind Sie schon längst gesehen worden«, entgegnete Buck. »Ich glaube nicht, dass ich es noch lange auf dem Fußboden aushalten kann«, meinte Ben-Juda. »Wir sollten beide aufpassen.« Der alte Bus fuhr kaum schneller als siebzig Kilometer in der Stunde. Buck fürchtete, sie würden die ganze Nacht benötigen, um die Grenze zu erreichen. Aber vielleicht war das ja auch in Ordnung. Je dunkler und später desto besser. Buck behielt die Anzeigen immer gut im Auge und passte auf, dass er nichts tat, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken konnte. In seinem Rückspiegel bemerkte er, dass Tsion auf dem Sitz zusammengesunken war und den Kopf zur Seite gelegt hatte. Buck glaubte, etwas gehört zu haben. »Bitte?«, fragte Buck. »Es tut mir Leid, Cameron. Ich habe gebetet.« Später hörte Buck ihn singen und kurz darauf weinen. Es war schon lange nach Mitternacht, als Buck noch einmal auf seiner Karte nachsah und bemerkte, dass sie durch Haiheul fuhren, einer kleinen Stadt nördlich von Hebron. »Werden sich um diese Zeit noch Touristen in Hebron auf207
halten?«, fragte Buck. Tsion beugte sich vor. »Nein. Aber trotzdem, es ist ein dicht besiedeltes Gebiet. Ich würde vorsichtig sein. Cameron, es gibt da etwas, über das ich mit Ihnen sprechen wollte.« »Jederzeit.« »Ich möchte Ihnen sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass Sie Ihre Zeit investieren und Ihr Leben aufs Spiel setzen, um mich zu retten.« »Das würde doch jeder Freund tun, Tsion. Seit dem Tag, an dem wir zusammen zur Klagemauer gefahren sind, verbindet uns ein festes Band. Und dann mussten wir nach Ihrer Fernsehsendung ja auch schon einmal gemeinsam fliehen.« »Wir haben tatsächlich zusammen schon einige unglaubliche Dinge erlebt«, meinte Tsion. »Darum wusste ich auch, dass Sie mich finden würden, wenn ich Dr. Rosenzweig nur dazu bringen könnte, Sie zu den Zeugen zu schicken. Ich habe nicht gewagt, ihm zu sagen, wo ich bin. Sogar mein Fahrer wusste nur, dass er mich zu Michael und den anderen Brüdern in Jericho bringen sollte. Mein Fahrer war so verzweifelt über das, was mit meiner Familie passiert ist, dass er in Tränen ausbrach. Er arbeitet seit vielen Jahren für mich. Michael versprach, ihn über alles zu informieren, aber ich würde ihn gern selbst anrufen. Vielleicht kann ich Ihr abhörsicheres Handy benutzen, wenn wir über die Grenze sind.« Buck wusste nicht, was er antworten sollte. Im Gegensatz zu Michael war er der Meinung, dass Tsion auch mit einer weiteren schlechten Nachricht fertig werden würde, aber warum sollte er derjenige sein, der sie weitergab? Der einfühlsame Rabbi schien sofort zu spüren, dass Buck etwas vor ihm verbarg. »Was ist?«, fragte er. »Denken Sie, es sei zu spät, um ihn anzurufen?« »Es ist tatsächlich sehr spät«, erwiderte Buck. »Aber im umgekehrten Falle wäre ich überglücklich, zu jeder Tages- oder Nachtzeit von ihm zu hören.« 208
»Ich bin sicher, dass er dasselbe gefühlt hat … fühlt«, erwiderte Buck lahm. Buck spähte in den Rückspiegel. Tsion starrte ihn an. In seinem Blick war Entsetzen zu lesen. »Vielleicht sollte ich ihn sofort anrufen«, schlug er vor. »Darf ich Ihr Telefon benutzen?« »Tsion, Sie können alle meine Sachen benutzen. Das wissen Sie. Aber ich würde ihn jetzt nicht anrufen, nein.« An Tsions Antwort merkte Buck, dass er es wusste. Seine Stimme war leise, von dem Schmerz erfüllt, der ihn für den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen würde. »Cameron, er hieß Jaime. Seit ich mit meiner Lehrtätigkeit an der Universität angefangen habe, war er bei mir. Er war kein gebildeter Mann; doch er war sehr klug. Wir haben häufig über die Ergebnisse meiner Studien gesprochen. Er und seine Frau waren außer meinen Assistenten die Einzigen, die wussten, was ich in der Fernsehsendung sagen würde. Er stand mir nahe, Cameron, sehr nahe. Aber er lebt nicht mehr, nicht wahr?« Buck dachte daran, einfach den Kopf zu schütteln, doch er schaffte es nicht. Er konzentrierte sich darauf, nach Straßenschildern Ausschau zu halten, die ihn nach Hebron führen würden, aber der Rabbi ließ natürlich nicht locker. »Cameron, wir stehen uns zu nahe und haben zu vieles gemeinsam erlebt, als dass Sie mich jetzt hängen lassen könnten. Ganz offensichtlich wissen Sie, was aus Jaime geworden ist. Ich möchte Ihnen sagen, dass mein Leid durch eine zusätzliche schlechte Nachricht nicht noch vergrößert, durch eine gute Nachricht nicht verringert werden kann. Wir, die wir an Jesus Christus glauben, dürfen die Wahrheit niemals fürchten, so hart sie auch sein mag.« »Jaime ist tot«, sagte Buck. Tsion ließ den Kopf hängen. »Er hat mich so oft predigen gehört. Er kannte das Evangelium. Manchmal habe ich ihn sogar gedrängt. Er war nicht beleidigt. Er wusste, dass er mir 209
wichtig war. Ich kann nur hoffen, dass er noch Zeit hatte, eine Entscheidung für Christus zu treffen, nachdem er mich zu Michael gebracht hat. Erzählen Sie mir, wie es passiert ist.« »Eine Autobombe.« »Dann war er also sofort tot«, sagte er. »Wahrscheinlich wusste er nicht einmal, was ihn getroffen hat. Vielleicht brauchte er nicht zu leiden.« »Es tut mir so Leid, Tsion. Michael meinte, Sie könnten es nicht verkraften.« »Er unterschätzt mich, aber ich bin dankbar für seine Fürsorge. Ich habe um alle meine Bekannten Angst. Wenn die Leute von der Weltgemeinschaft mich nicht finden, könnte jeder leiden, den sie im Verdacht haben, meinen Aufenthaltsort zu kennen. Es sind so viele. Ich könnte mir nie verzeihen, wenn sie alle die Tatsache, dass sie mich kennen, mit dem Tod bezahlen müssten. Offen gesagt, mache ich mir auch Sorgen um Chaim Rosenzweig.« »Um ihn würde ich mir im Augenblick noch keine Gedanken machen«, entgegnete Buck. »Er ist noch immer sehr eng mit Carpathia verbunden. Ironischerweise ist das augenblicklich sein Schutz.« Vorsichtig lenkte Buck den Bus durch Hebron. Schweigend fuhren sie nach Beersheba weiter. Als sie sich in den frühen Morgenstunden etwa zehn Kilometer südlich von Beersheba befanden, bemerkte Buck, dass die Temperatur des Motors anstieg. Der Ölstand schien noch in Ordnung zu sein, aber keinesfalls wollte Buck eine Überhitzung des Motors riskieren. »Ich werde das Wasser im Kühler nachfüllen, Tsion«, meinte er. Der Rabbi schien zu dösen. Buck hielt am Straßenrand an. Er suchte einen Lappen und stieg aus. Nachdem er die Motorhaube geöffnet hatte, schraubte er vorsichtig die Kappe des Wasserbehälters im Kühler ab. Der Kühler kochte, doch er konnte einige Liter Wasser hineinschütten, bevor er überkochte. Während er noch damit beschäf210
tigt war, bemerkte er einen Streifenwagen der Friedenstruppen der Weltgemeinschaft, der langsam an ihnen vorbeifuhr. Buck gab sich Mühe, ungezwungen zu erscheinen, und atmete tief durch. Er wischte sich die Hände ab und stopfte den Lappen in den Wasserkanister. Der Streifenwagen hatte wenige Meter vor dem Bus angehalten und wendete nun langsam. Buck versuchte weiterhin, nicht verdächtig zu erscheinen, warf den Wasserkanister in den Bus und kam zurück, um die Motorhaube zu schließen. Der Wagen hatte gedreht und kam langsam zurück. Die Scheinwerfer blendeten Buck. Der Fahrer des Wagens meldete sich nun über Lautsprecher und sagte etwas auf Hebräisch zu ihm. Buck streckte beide Arme aus und rief: »Englisch!« Mit schwerem Akzent wiederholte der Beamte: »Bitte halten Sie sich von Ihrem Fahrzeug fern.« Buck drehte sich um, weil er die Motorhaube schließen wollte, doch der Beamte rief erneut: »Bleiben Sie stehen, wo Sie sind!« Buck zuckte die Achseln und blieb stehen, die Hände an die Seite gestützt. Der Beamte sprach nun in sein Funkgerät. Schließlich stieg er aus. »Guten Abend, Sir«, sagte er. »Guten Abend«, erwiderte Buck. »Ich hatte nur ein paar Probleme mit dem Motor, das ist alles.« Der Beamte war dunkelhäutig und schlank und trug die auffällige Uniform der Weltgemeinschaft. Buck wünschte, er hätte seinen eigenen Pass und die anderen Papiere. Nichts brachte einen CG-Mitarbeiter schneller zum Laufen als Bucks 2-ASicherheitsausweis. »Sind Sie allein?«, fragte der Beamte. »Ich heiße Herb Katz«, erwiderte Buck. »Ich habe Sie gefragt, ob Sie allein sind?« »Ich bin amerikanischer Geschäftsmann und zu meinem Vergnügen hier.« »Ihre Papiere, bitte.« Buck zog seinen gefälschten Pass aus der Brieftasche. Der 211
junge Mann sah ihn sich im Licht seiner Taschenlampe genau an und richtete den Lichtstrahl dann auf Bucks Gesicht. Buck fand, dass das nicht unbedingt nötig war, da die Scheinwerfer ihn bereits blendeten, aber er sagte nichts. »Mr. Katz, können Sie mir sagen, woher Sie dieses Fahrzeug haben?« »Ich habe es heute Abend gekauft. Kurz vor Mitternacht.« »Und von wem haben Sie es gekauft?« »Ich habe die Papiere. Seinen Namen kann ich nicht aussprechen. Ich bin Amerikaner.« »Sir, die Nummernschilder dieses Fahrzeugs deuten darauf hin, dass der Betreffende Einwohner von Jericho ist.« Buck, der noch immer den Einfältigen spielte, entgegnete: »Genau, da habe ich den Bus gekauft, in Jericho!« »Und Sie sagen, Sie hätten ihn vor Mitternacht gekauft?« »Ja, Sir.« »Wissen Sie, dass im ganzen Land ein Mann gesucht wird?« »Nein, warum?« »Zufällig wurde der Besitzer dieses Fahrzeugs vor mehr als einer Stunde festgenommen. Ihm wird vorgeworfen, einem Mordverdächtigen zur Flucht verhelfen zu haben.« »Was Sie nicht sagen«, erwiderte Buck. »Ich habe gerade eine Bootsfahrt mit diesem Mann gemacht. Er unterhält ein Touristenboot. Ich sagte ihm, ich brauchte ein Fahrzeug, um von Israel nach Ägypten zu kommen, damit ich nach Hause fliegen könne. Er sagte, er habe nur diesen alten Kasten, und das ist schon alles, was ich über ihn weiß.« Der Beamte ging auf den Bus zu. »Ich muss diese Papiere sehen«, meinte er. »Ich werde sie Ihnen holen«, meinte Buck, ging um ihn herum und sprang in den Bus. Er nahm die Papiere und winkte mit ihnen, als er die Treppen herunterkam. »Die Papiere scheinen in Ordnung zu sein, aber es ist doch wirklich ein sehr seltsamer Zufall, dass Sie dieses Fahrzeug nur 212
wenige Stunden vor der Verhaftung dieses Mannes gekauft haben.« »Ich verstehe nicht, was der Kauf eines Busses mit den Problemen zu tun hat, die dieser Bursche hat«, meinte Buck. »Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Mann, der Ihnen dieses Fahrzeug verkauft hat, einen Mörder versteckt hat. Sein Ausweis und der Ausweis eines Amerikaners wurden bei ihm gefunden. Es wird nicht lange dauern, bis wir ihn überreden werden, uns zu sagen, wo er den Verdächtigen versteckt hat.« Der Beamte sah auf seine Notizen. »Kennen Sie einen gewissen Cameron Williams, einen Amerikaner?« »Nein, nicht dass ich wüsste. Ich komme aus Chicago.« »Und Sie verlassen heute Nacht noch das Land von Ägypten aus?« »Das ist richtig.« »Warum?« »Warum?«, wiederholte Buck. »Warum fliegen Sie von Ägypten aus? Warum fliegen Sie nicht von Jerusalem oder Tel Aviv ab?« »Heute Nacht gehen keine Flüge mehr. Ich möchte nach Hause. Ich habe ein Flugzeug gechartert.« »Und warum haben Sie sich nicht einfach ein Fahrzeug gemietet?« »Wenn Sie sich diesen Vertrag genau ansehen, werden Sie feststellen, dass ich für den Bus weniger bezahlt habe, als ich für einen Mietwagen hätte einkalkulieren müssen.« »Einen Augenblick, Sir.« Der Beamte ging zu seinem Streifenwagen und sprach einige Minuten lang in sein Funkgerät. Buck betete, ihm möge etwas einfallen, um diesen Burschen davon abzuhalten, seinen Bus zu durchsuchen. Kurz darauf tauchte der junge Mann wieder auf. »Sie behaupten, noch nie von Cameron Williams gehört zu haben. Wir sind im Augenblick dabei herauszufinden, ob der Mann, der Ihnen dieses Fahrzeug verkauft hat, uns Hinweise darauf geben 213
kann, dass Sie in sein Komplott verwickelt sind.« »Sein Komplott?«, fragte Buck. »Es wird nicht lange dauern, bis wir wissen, wo er den Verdächtigen versteckt hat. Es wird in seinem Interesse liegen, uns die ganze Wahrheit zu sagen. Immerhin hat er Frau und Kinder.« Zum ersten Mal in seinem Leben war Buck versucht, einen Menschen zu töten. Er wusste, dass der Beamte nur eine Schachfigur in einem kosmischen Spiel war, in dem Krieg zwischen Gut und Böse. Aber er stand für das Böse. Würde er einen solchen Mord rechtfertigen können, so wie Michael die Ermordung derer rechtfertigte, die Tsion hatten töten wollen? Der Beamte hörte sein Funkgerät krächzen und eilte zum Streifenwagen. Kurz darauf kehrte er zurück. »Unsere Strategie hat funktioniert«, sagte er. »Wir haben erfahren, wo sich das Versteck befindet, irgendwo zwischen Jericho und dem See Tiberias. Doch selbst unter Androhung von Folter und sogar Tod schwört er, Sie seien nur ein Tourist, dem er das Fahrzeug verkauft hätte.« Buck seufzte. Andere würden die Tatsache, dass beide dieselbe Geschichte erzählten, als Zufall bezeichnen. Für ihn war es ein Wunder wie das, was er an der Klagemauer gesehen hatte. »Um sicherzugehen«, fuhr der Beamte fort, »bin ich jedoch gebeten worden, das Fahrzeug nach Spuren des Flüchtigen zu durchsuchen.« »Aber Sie haben doch gesagt –« »Keine Angst, Sir. Sie sind entlastet. Aber vielleicht wurden Sie ohne Ihr Wissen benutzt, um Beweise aus dem Land zu schmuggeln. Wir müssen das Fahrzeug nur nach Hinweisen durchsuchen, die uns zu dem Verdächtigen führen könnten. Ich möchte Sie bitten, ein wenig zur Seite zu treten und hier zu warten, während ich Ihren Bus durchsuche.« »Brauchen Sie dazu nicht einen Durchsuchungsbefehl oder 214
so etwas?« Der Beamte wandte sich drohend Buck zu. »Sir, bisher haben Sie sich sehr freundlich und kooperativ gezeigt. Aber machen Sie nicht den Fehler zu denken, Sie hätten es mit der örtlichen Polizei zu tun. An meinem Wagen und meiner Uniform werden Sie erkennen, dass ich den Friedenstruppen der Weltgemeinschaft angehöre. Wir werden durch keinerlei Konventionen oder Regeln eingeengt. Ich könnte dieses Fahrzeug beschlagnahmen und brauchte nicht einmal Ihre Unterschrift dazu. Und jetzt warten Sie bitte hier.« Bucks Gedanken überschlugen sich. Er überlegte, ob er versuchen sollte, den Beamten zu entwaffnen und mit Tsion in seinem Streifenwagen zu flüchten. Das war natürlich lächerlich, das wusste er, aber er hasste es, so untätig herumzustehen. Würde Tsion den Beamten anspringen? Ihn töten? Buck hörte, wie der Beamte langsam zum hinteren Teil des Busses ging, dann wieder nach vorne kam. Im Innern des Busses tanzte der Lichtstrahl seiner Taschenlampe, als er unter die Sitze leuchtete. Der Beamte kam zurück. »Sagen Sie, was haben Sie eigentlich mit dem Wagen vor? Sie wollen dieses Fahrzeug doch nicht etwa am Flughafen einfach stehen lassen?« Buck war wie vor den Kopf geschlagen. Warum machte sich der Beamte darüber Gedanken? Hatte er Tsion Ben-Juda nicht im Bus entdeckt? Hatte Gott ihn auf übernatürliche Weise geblendet? »Äh, ich, äh, wenn ich ehrlich bin, hatte ich daran gedacht. Ja, ich habe gehört, dass viele der Einheimischen für ein Trinkgeld bei dem Gepäck und Ähnlichem helfen und dass sie, äh, begeistert wären, ein solches Fahrzeug zu besitzen.« »Sie müssen ein sehr reicher Amerikaner sein, Sir. Mir ist zwar klar, dass dieser Bus nicht sehr viel wert ist, aber ganz bestimmt ist es ein großes Trinkgeld für einen Gepäckträger, meinen Sie nicht?« 215
»Sie können mich leichtsinnig nennen«, sagte Buck. »Vielen Dank für Ihre Kooperation, Mr. Katz.« »Gern geschehen. Und vielen Dank.« Der Beamte stieg wieder in seinen Wagen und fuhr in Richtung Beersheba davon. Buck, dessen Hände zitterten und dessen Knie weich wie Pudding waren, knallte die Motorhaube zu und stieg in den Bus. »Wie um alles in der Welt haben Sie das geschafft, Tsion? Tsion! Ich bin es! Sie können jetzt aus Ihrem Versteck herauskommen, wo immer das sein mag. Sie können doch nicht im Gepäcknetz stecken. Tsion?« Buck stellte sich auf einen Sitz und überprüfte die Gepäckablage. Nichts. Er legte sich auf den Boden und sah unter den Sitzen nach. Nichts außer seiner Tasche, den Kleidern, den Lebensmitteln, dem Wasser, dem Öl und dem Benzin. Wenn Buck es nicht besser gewusst hätte, hätte er angenommen, Tsion Ben-Juda sei ebenfalls entrückt worden. Und was nun? Seit Buck draußen mit dem Beamten gestanden hatte, war kein Wagen vorbeigekommen. Konnte er es wagen, nach ihm zu rufen? Wann hatte Tsion den Bus verlassen? Buck wollte das Risiko nicht eingehen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, und stieg wieder in den Bus, startete den Motor und fuhr auf die Straße. Nach etwa hundert Metern wendete er den Bus, was nicht so leicht war, und fuhr auf den Seitenstreifen der anderen Straßenseite. Kommen Sie schon, Tsion! Sagen Sie mir, dass Sie sich nicht zu Fuß auf den Weg nach Ägypten gemacht haben! Buck überlegte, ob er hupen sollte. Stattdessen fuhr er noch ein paar hundert Meter weiter in Richtung Norden und wendete den Bus erneut. Dieses Mal erblickte er im Licht seiner Scheinwerfer das zaghafte Winken seines Freundes aus einer Baumgruppe heraus. Langsam ließ er den Bus ausrollen und öffnete die Tür. Tsion Ben-Juda sprang hinein und legte sich neben Buck auf den Boden. »Wenn Sie sich je gefragt haben, was der Satz bedeutet, dass 216
der Herr auf geheimnisvolle Weise wirkt«, sagte Tsion keuchend, »dann haben Sie nun ein Beispiel dafür.« »Was um alles in der Welt ist passiert?«, fragte Buck. »Ich dachte, jetzt wäre es mit uns vorbei.« »Ich auch!«, meinte Tsion. »Ich habe gedöst und nicht richtig mitgekriegt, was Sie vorhatten. Als Sie die Motorhaube öffneten, merkte ich, dass ich dringend zur Toilette musste. Sie gossen gerade Wasser in den Kühler. Ich war kaum drei Meter von der Straße entfernt, als der Streifenwagen vorbeifuhr. Ich wusste nicht, was Sie tun würden, aber mir war klar, dass ich nicht in dem Bus gefunden werden durfte. Darum ging ich weiter und betete, dass Sie sich irgendwie herausreden würden.« »Dann haben Sie das Gespräch gehört?« »Nein. Um was ging es?« »Sie werden es nicht glauben, Tsion.« Als sie den Weg zur Grenze fortsetzten, erzählte Buck ihm die ganze Geschichte. Während der Bus durch die Dunkelheit fuhr, wurde Tsion immer mutiger. Er saß auf dem vorderen Sitz, unmittelbar hinter Buck. Er versteckte sich nicht, duckte sich nicht. Er beugte sich vor, damit ihn Buck besser hören konnte. »Cameron«, sagte er mit zitternder Stimme, »ich werde bald verrückt, weil ich nicht weiß, wer sich um die Beerdigung meiner Familie kümmern wird.« Buck zögerte. »Ich weiß nicht genau, wie ich die Frage formulieren soll, aber was geschieht normalerweise in solchen Fällen? Ich meine, wenn pseudo-offizielle Gruppierungen so etwas tun?« »Das ist es ja, was mich beschäftigt. Man weiß nicht, was mit den Leichen passiert. Werden sie beerdigt? Verbrannt? Ich weiß es nicht. Aber der Gedanke daran macht mich wahnsinnig.« »Tsion, ich maße mir durchaus nicht an, Ihnen einen geistlichen Rat zu geben. Sie sind ein Mann der Bibel und besitzen 217
einen sehr starken Glauben.« Tsion unterbrach ihn. »Seien Sie nicht töricht, mein junger Freund. Nur weil Sie kein Gelehrter sind, bedeutet das noch lange nicht, dass Sie weniger reif im Glauben sind als ich. Sie haben schon an Jesus Christus geglaubt, als ich die Wahrheit noch lange nicht gefunden hatte.« »Trotzdem, ich habe keine Ahnung, wie man mit einer solchen persönlichen Tragödie fertig werden kann. Ich hätte das nicht annähernd so gut geschafft wie Sie.« »Vergessen Sie nicht, Cameron, dass ich mich zweifellos im Schockzustand befinde. Die schlimmste Zeit steht mir noch bevor.« »Offen gesagt, Tsion, das fürchte ich auch. Aber wenigstens konnten Sie weinen. Tränen können eine große Hilfe sein. Ich mache mir Sorgen um Menschen, die ein solches Trauma erleben und keine einzige Träne vergießen können.« Tsion lehnte sich zurück und schwieg. Buck betete leise für ihn. Schließlich beugte sich Tsion wieder vor. »Mein Erbe sind Tränen«, sagte er. »Jahrhunderte von Tränen.« »Ich wünschte, ich könnte etwas Konkretes für Sie tun, Tsion«, entgegnete Buck leise. »Etwas Konkretes? Was ist denn konkreter als das hier? Ich kann gar nicht sagen, welche Ermutigung Sie mir gewesen sind. Wer sonst würde so etwas für einen Mann tun, den er kaum kennt?« »Ich habe den Eindruck, als würden wir uns schon ewig kennen.« »Und Gott hat Ihnen Mittel gegeben, die nicht mal meine engsten Freunde haben.« Tsion schien tief in Gedanken versunken zu sein. Schließlich fuhr er fort: »Cameron, Sie könnten doch etwas tun, das mir Trost geben würde.« »Alles.« »Erzählen Sie mir von Ihrer kleinen Gruppe von Gläubigen dort in Amerika. Wie nennen Sie sie? Die Kerngruppe, meine 218
ich.« »Die ›Tribulation Force‹.« »Ja! Solche Geschichten höre ich zu gern. Wo immer ich in der Welt gepredigt und dazu beigetragen habe, die 144 000 Juden zu Christus zu bekehren, die die in der Bibel verheißenen Zeugen werden sollen, habe ich wundervolle Geschichten von geheimen Treffen und Ähnlichem gehört. Erzählen Sie mir von Ihrer ›Tribulation Force‹.« Buck fing ganz am Anfang an. Er begann mit der Nacht der Entrückung, als er in Rayfords Flugzeug saß und Hattie Durham Chefstewardess war. Während er erzählte, warf er immer wieder einen Blick in den Rückspiegel, um herauszufinden, ob Tsion tatsächlich zuhörte oder eine so lange Geschichte nur über sich ergehen ließ. Buck war immer wieder erstaunt, dass er zweigleisig denken konnte. Er konnte eine Geschichte erzählen und gleichzeitig an eine andere denken. Während er Tsion von der Begegnung mit Rayford und Chloe, von seinen Gesprächen mit Bruce Barnes und dessen hilfreichen Ratschlägen erzählte, versuchte er gleichzeitig, seiner Angst vor der Grenzüberschreitung Herr zu werden. Und er fragte sich, ob er seine Geschichte zu Ende erzählen sollte. Vom Tode Bruce Barnes wusste Tsion noch nichts. Er hatte ihn zwar nie persönlich kennen gelernt, beide hatten jedoch miteinander korrespondiert und gehofft, sich eines Tages zu begegnen. Buck berichtete nun von den Ereignissen, die nur wenige Tage zurücklagen, von dem Treffen der Tribulation Force in Chicago kurz vor Ausbruch des Krieges. Er spürte, dass Tsion immer nervöser wurde, je näher sie der Grenze kamen. Er schien sich mehr zu bewegen, häufiger zu unterbrechen, schneller zu sprechen und mehr Fragen zu stellen. »Und Pastor Barnes hatte viele Jahre lang die Gemeinde betreut, ohne wirklich Christ zu sein?« »Ja. Das war eine traurige, schwierige Geschichte und es fiel ihm sehr schwer, davon zu erzählen.« 219
»Ich kann es kaum erwarten, ihn kennen zu lernen«, sagte Tsion. »Ich werde um meine Familie trauern und mein Heimatland schrecklich vermissen. Aber die Begegnung mit Ihrer ›Tribulation Force‹, das gemeinsame Bibellesen und Gebet werden Balsam für meine Schmerzen, Salbe für meine Wunden sein.« Buck atmete tief durch. Er wollte nicht mehr weitererzählen, sich auf die Straße konzentrieren, da die Grenze vor ihnen lag. Doch er musste Tsion gegenüber ehrlich sein. »Sie werden Bruce Barnes bei der herrlichen Wiederkunft unseres Herrn sehen«, sagte er. Buck spähte in den Rückspiegel. Tsion hatte ihn gehört und verstanden. Er senkte den Kopf. »Wann ist es passiert?«, fragte er. Buck erzählte es ihm. »Und wie ist er gestorben?« Buck berichtete, was er wusste. »Wir werden wahrscheinlich nie erfahren, ob der Virus, den er von Übersee mitgebracht hatte, oder die Explosion im Krankenhaus ihn getötet hat. Rayford sagte, an seinem Körper seien keine Verletzungen zu sehen.« »Vielleicht hat Gott ihn vor den Bomben gerettet, indem er ihn vorher zu sich geholt hat.« Buck kam der Gedanke, dass Gott vielleicht Rabbi Ben-Juda als neuen geistlichen Mentor für die Tribulation Force bestimmt hatte, aber er wagte nicht, das vorzuschlagen. Es war ausgeschlossen, dass ein international gesuchter Flüchtling neuer Pastor der New Hope-Gemeinde wurde, schon gar nicht, wenn Nicolai Carpathia hinter ihm her war. Wie auch immer, Tsion mochte Bucks Idee verrückt erscheinen. Hätte Gott nicht einen anderen Weg finden können, Tsion dazu zu bringen, der Tribulation Force zu helfen, ohne dass Tsions Frau und Kinder ihr Leben lassen mussten? Trotz seiner Nervosität und Angst, weil er sich mit einer un220
erwünschten Fracht in unbekanntem, gefährlichem Territorium bewegte, sah Buck auf einmal alles vor sich. Es war keine richtige Vision. Es war einfach eine Erkenntnis der Möglichkeiten. Plötzlich wusste er, wie das Geheimversteck unter der Gemeinde hervorragend genutzt werden konnte. Er stellte sich Tsion dort vor, versorgt mit allem, was er brauchte, einschließlich eines dieser großartigen Computer, die Donny Moore gerade zusammenbaute. Allein bei dem Gedanken daran wurde Buck ganz aufgeregt. Er würde dem Rabbi die nötige Software besorgen. Er würde jede Bibelausgabe in jeder Sprache zur Verfügung haben, dazu alle Kommentare, Wörterbücher und Enzyklopädien, die er brauchte. Tsion würde niemals mehr Angst haben müssen, seine Bücher zu verlieren, sondern sie alle zur Hand haben, auf einem gigantischen, aber trotzdem handlichen Rechner. Und sicherlich würde Donny Moore es irgendwie schaffen, dass Tsion seine Arbeiten heimlich über das Internet verschikken konnte. Vielleicht konnte er sogar auf breiterer Ebene als je zuvor seinen Dienst tun. Vielleicht konnten seine Bibelauslegungen und Predigten in das Internet eingespielt werden und so Millionen von Computern und Fernsehgeräten auf der ganzen Welt zugänglich gemacht werden? Bestimmt gab es eine Vorrichtung, die dies ermöglichte, ohne dass der Absender ausfindig gemacht werden konnte. Wenn die Handyhersteller mittlerweile einen Chip anboten, der es einem Anrufer ermöglichte, in Sekundenschnelle zwischen drei Dutzend unterschiedlichen Frequenzen hin und her zu springen, um ein Abhören unmöglich zu machen, gab es sicherlich auch einen Weg, eine Botschaft im Internet so zu zerhacken, dass der Sender nicht identifiziert werden konnte. In der Ferne entdeckte Buck GC-Streifenwagen und Lastwagen, die vor zwei einstöckigen Gebäuden auf der Straße standen. Die Grenze. Etwas weiter oben begann der Sinai. Buck schaltete zurück und überprüfte seine Anzeigen. Die Tempera221
tur stieg wieder leicht an, doch er war überzeugt, dass nichts passieren konnte, wenn er langsam fuhr und das Fahrzeug am Grenzübergang eine Weile abstellte. Benzin war noch genügend da und auch der Ölstand war okay. Er war ärgerlich. In Gedanken beschäftigte er sich mit den Möglichkeiten, die sich für den Dienst Tsion Ben-Judas eröffnen könnten und die ihm eine viel breitere Leserschaft als bisher schaffen könnten. Gleichzeitig kam ihm der Gedanke, dass auch er über das Internet die Wahrheit über die Vorgänge in der Welt verbreiten könnte. Wie lange würde er noch vortäuschen können, ein kooperativer, wenn nicht sogar loyaler Mitarbeiter Nicolai Carpathias zu sein? Seine Berichterstattung war nicht mehr objektiv. Es war Propaganda. In seinem berühmten Roman »1984« hatte George Orwell eine ähnliche Situation beschrieben. Buck wollte sich jetzt nicht mit der Grenzüberschreitung auseinander setzen. Am liebsten würde er sich jetzt mit einem Block hinsetzen und sich seinen Ideen hingeben. Er wollte den Rabbi für die neuen Möglichkeiten begeistern. Aber das ging nicht. Seine Klapperkiste und seine Fracht würden bestimmt die volle Aufmerksamkeit der Grenzer auf sich ziehen. Falls Fahrzeuge vor ihnen über die Grenze gefahren waren, so waren sie schon lange weg und auch im Rückspiegel konnte er kein anderes Auto herannahen sehen. Tsion lag auf dem Boden unter den Sitzen. Buck hielt neben zwei uniformierten Grenzposten an. Der Beamte auf der Fahrerseite machte ihm ein Zeichen, er solle die Scheibe herunterdrehen und sprach ihn auf Hebräisch an. »Englisch«, sagte Buck. »Pass, Visum und Papiere, bitte. Haben Sie etwas zu verzollen? Alles, was Sie im Wagen haben und uns zur Überprüfung geben wollen, bevor wir den Wagen durchsuchen, sollte uns durch das Fenster gereicht werden, ehe wir den Schlagbaum öffnen.« 222
Buck erhob sich und nahm von der ersten Sitzreihe alle Papiere, die er brauchte. Er setzte sich wieder ans Steuer und reichte alles dem Beamten. »Ich führe noch Lebensmittel, Benzin, Öl und Wasser bei mir.« »Sonst noch etwas?« »›Sonst noch etwas‹?«, wiederholte Buck. »Sonst noch etwas, das wir sehen müssten, Sir? Sie werden im Büro befragt und Ihr Fahrzeug wird dort drüben durchsucht.« Der Grenzer deutete auf das Gebäude auf der rechten Straßenseite. »Ja, ich habe noch ein paar Kleider und Decken bei mir.« »Ist das alles?« »Das ist das Einzige, was ich mit mir führe.« »Sehr gut, Sir. Wenn der Schlagbaum geöffnet ist, fahren Sie Ihr Fahrzeug bitte nach rechts auf den Platz und kommen Sie in das Gebäude auf der linken Seite.« Buck fuhr langsam im ersten Gang durch den Schlagbaum, weil der Bus so am meisten Lärm machte. Tsion griff unter Bucks Sitz und packte ihn am Knöchel. Buck nahm dies als Ermutigung, als Dank und, falls notwendig, als Abschied. »Tsion«, flüsterte er, »Ihre einzige Chance ist, so weit hinten wie möglich zu bleiben. Können Sie bis nach hinten kriechen?« »Ich werde es versuchen.« »Tsion, Michaels Frau hat etwas zu mir gesagt, als wir losgefahren sind. Ich habe es nicht verstanden. Es war Hebräisch. Die letzten beiden Worte klangen wie ›Y’shua Hama – irgendwas‹.« »›Y’shua Hamashiach‹ bedeutet ›Jesus, der Messias‹«, erklärte Tsion mit zitternder Stimme. »Sie hat Ihnen den Segen Gottes auf Ihrer Reise gewünscht, im Namen Y’shua Hamashiachs.« »Dasselbe für Sie, mein Bruder«, sagte Buck. »Cameron, mein Freund, ich werde Sie wieder sehen. Wenn nicht in diesem Leben, dann im ewigen Königreich.« 223
Die Grenzposten wunderten sich, was Buck so lange trieb und kamen näher. Buck stellte den Motor ab und öffnete gerade in dem Augenblick die Tür, als der junge Beamte erschien. Buck nahm sich einen Wasserkanister und ging an dem Mann vorbei. »Ich habe ein paar Probleme mit dem Kühler«, erklärte er. »Verstehen Sie etwas davon?« Abgelenkt zog der Beamte die Augenbraue in die Höhe und folgte Buck zum Kühler. Er öffnete die Motorhaube und sie gossen Wasser nach. Der Ältere der beiden, der am Schlagbaum mit ihm gesprochen hatte, wurde ungeduldig. »Kommen Sie, gehen wir, gehen wir.« »Bin sofort bei Ihnen«, erwiderte Buck, der jeden Nerv in seinem Körper spürte. Mit lautem Getöse ließ er die Motorhaube zufallen. Der jüngere Grenzer ging zur Tür, doch Buck eilte an ihm vorbei, entschuldigte sich, stellte einen Fuß auf die Stufen und warf den Kanister in den Bus. Er überlegte, ob er dem Grenzer »helfen« sollte, den Bus zu durchsuchen. Er könnte neben ihm stehen bleiben und ihm die Decken, die Kanister mit dem Öl, Benzin und Wasser zeigen. Doch er hatte die Beamten bereits misstrauisch gemacht. Er stieg wieder aus dem Bus und blickte dem jungen Mann ins Gesicht. »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich verstehe nicht viel von Motoren. Meine Welt ist das Geschäft. Amerika, wissen Sie.« Der junge Mann blickte ihm in die Augen und nickte. Buck betete, er würde ihm einfach in das Gebäude auf der anderen Seite des Grenzüberganges folgen. Der ältere Grenzer wartete, starrte ihn an und winkte ihm wieder ungeduldig zu. Buck hatte nun keine Wahl mehr. Er überließ Rabbi Tsion Ben-Juda, den bekanntesten und meistgesuchten Flüchtling in Israel, diesem Grenzbeamten. Buck eilte in das Grenzhäuschen. Er machte sich große Sorgen, doch er durfte sich das nicht anmerken lassen. Er wollte sich umdrehen und sehen, ob Tsion aus dem Bus gezerrt wurde. Keinesfalls konnte er wie bei dem ersten Zwischenfall 224
unbemerkt aussteigen und zu Fuß entkommen. Hier gab es nichts, wo er sich verstecken konnte. Stacheldraht auf jeder Seite der Grenze. Nachdem man einmal durch den Schlagbaum gefahren war, gab es kein Entrinnen mehr. Es war keine Umkehr möglich. Der Grenzbeamte breitete Bucks Papiere vor sich aus. »Wo sind Sie nach Israel eingereist?« »In Tel Aviv«, erklärte Buck. »Es müsste alles hier –« »Ja, das ist es auch. Ich wollte es nur überprüfen. Ihre Papiere scheinen in Ordnung zu sein, Mr. Katz«, fügte er hinzu und stempelte Bucks Reisepass und sein Visum ab. »Für welche Firma sind Sie unterwegs …?« »Für die International Harvesters«, antwortete Buck. Ganz bewusst hatte er diesmal den Plural verwandt. »Und wann verlassen Sie das Land?« »Noch heute Nacht. Ich bin mit meinem Piloten in Al Arish verabredet.« »Und was werden Sie mit diesem Bus machen?« »Ich hoffte, ihn billig an jemanden am Flughafen verkaufen zu können.« »Je nach dem Preis dürfte das kein Problem sein.« Buck schien auf seinem Platz festgeklebt zu sein. Der Grenzposten blickte über seine Schulter hinweg auf die Straße. Was sah er da? Buck konnte sich nur vorstellen, dass Tsion in Handschellen abgeführt wurde. Was für ein Narr war er gewesen, dass er nicht ein Geheimversteck für Tsion gesucht hatte. Das war einfach verrückt. Hatte er einen Menschen in den Tod geschickt? Buck konnte den Gedanken kaum ertragen, noch ein weiteres Mitglied seiner neuen Familie zu verlieren. Der Grenzbeamte beschäftigte sich mit seinem Computer. »Hier wird angezeigt, dass Sie vor einiger Zeit in der Nähe von Beersheba angehalten wurden?« »Angehalten ist ein wenig übertrieben. Ich habe Wasser im Kühler nachgefüllt und wurde kurz von einem Beamten der 225
Friedenstruppen befragt.« »Hat er Ihnen gesagt, dass der vorherige Besitzer Ihres Fahrzeugs im Zusammenhang mit der Flucht Tsion Ben-Judas verhaftet wurde?« »Allerdings.« »Dann dürfte Sie das hier interessieren.« Der Grenzbeamte schaltete per Fernbedienung ein Fernsehgerät in der Ecke ein. GCNN berichtete, dass ein gewisser Michael Shorosh verhaftet worden sei. Ihm wurde vorgeworfen, einen Flüchtling vor dem Zugriff der Behörden versteckt zu haben. »Ein Sprecher der Weltgemeinschaft sagte, dass Ben-Juda, ein ehemals respektierter Gelehrter und Geistlicher, offensichtlich zu einem radikalen Fundamentalisten geworden war. Er wies auf die folgende Rede hin, die Ben-Juda nur eine Woche zuvor gehalten hatte. Es wird vermutet, dass er einen Abschnitt aus dem Neuen Testament zu wörtlich genommen und daraufhin seine eigene Familie ermordet hat. Von mehreren Nachbarn wurde er bei dieser Tat beobachtet.« Entsetzt verfolgte Buck im Fernsehen, wie eine Videoaufzeichnung abgespielt wurde, auf dem Tsion bei einer Veranstaltung in dem voll besetzten Stadion in Larnaca auf Zypern zu sehen war. »Sie müssen wissen«, fuhr der Nachrichtensprecher fort, als das Band angehalten wurde, »dass der Mann auf dem Podium hinter Dr. Ben-Juda als Michael Shorosh identifiziert worden ist. Bei einer Hausdurchsuchung in seinem Haus in Jericho kurz nach Mitternacht wurden Fotos von Ben-Judas Familie und die Ausweise sowohl von Ben-Juda als auch von einem amerikanischen Journalisten, Cameron Williams, gefunden. Inwieweit Williams in diesen Fall verwickelt ist, konnte noch nicht geklärt werden.« Buck betete, dass sein Gesicht nicht im Fernsehen gezeigt werden würde. Unsicher beobachtete er, wie der Grenzposten zur Tür blickte. Buck drehte sich um und sah den jungen Grenzbeamten hereinkommen. Er starrte ihn an. Der junge 226
Mann ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und lehnte sich mit über der Brust verschränkten Armen dagegen. Gemeinsam mit ihnen sah er sich den Bericht an. Auf dem Bildschirm war Ben-Juda zu sehen, wie er aus dem Matthäus-Evangelium vorlas. Buck hatte diese Predigt Tsions schon einmal gehört. Natürlich waren die Verse aus dem Kontext gerissen. »Wer mich aber vor den Menschen verleugnet, den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen. […] Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter, und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig.« Mit feierlicher Stimme kommentierte der Nachrichtensprecher: »Dies sagte der Rabbi nur wenige Tage, bevor er am helllichten Tag seine Frau und seine Kinder ermordete.« »Das ist ein Ding, nicht?«, fragte der ältere Grenzbeamte. »Allerdings«, erwiderte Buck, der fürchtete, seine Stimme könnte ihn verraten … Der Grenzbeamte am Schreibtisch suchte Bucks Papiere zusammen. Er blickte an Buck vorbei zu seinem Kollegen. »Mit dem Fahrzeug alles in Ordnung, Anis?« Buck überlegte blitzschnell. Was würde verdächtiger wirken? Sich nicht zu dem jungen Mann umzudrehen oder sich zu ihm umzudrehen? Er wandte sich um und sah ihn an. Der reglose junge Mann, der noch immer mit verschränkten Armen vor der geschlossenen Tür stand, nickte. »Alles in Ordnung. Nur Dekken und Vorräte.« Buck hielt die Luft an. Der Mann am Schreibtisch schob ihm 227
seine Papiere hin. »Sichere Reise«, sagte er. Buck weinte beinahe, als er ausatmete. »Vielen Dank«, entgegnete er. Er stand auf und ging zur Tür, doch der Ältere war noch nicht fertig. »Vielen Dank für Ihren Besuch in Israel«, fügte er hinzu. Buck verspürte den Drang zu schreien. Er drehte sich um und nickte. »Ja, äh, ja. Gern geschehen.« Er musste sich dazu zwingen weiterzugehen. Anis rührte sich nicht, als Buck sich der Tür näherte. Unmittelbar vor dem jungen Mann blieb er stehen. Er spürte, dass der ältere Grenzbeamte sie beobachtete. »Würden Sie mich bitte vorbeilassen?«, meinte Buck. »Ich heiße Anis«, sagte der Mann. »Ja, Anis, vielen Dank. Entschuldigen Sie bitte.« Schließlich trat Anis beiseite. Mit weichen Knien verließ Buck das Gebäude. Seine Hände zitterten, als er seine Papiere zusammenfaltete und in die Tasche steckte. Er stieg in den altersschwachen Bus und ließ den Motor an. Falls Tsion irgendwo ein Versteck gefunden hatte, wie würde Buck ihn jetzt finden? Er legte den ersten Gang ein und fuhr an. Langsam beschleunigte er und schaltete schließlich in den dritten Gang. Der Motor wurde nun ein wenig leiser. Buck rief: »Wenn Sie immer noch an Bord sind, mein Freund, bleiben Sie, wo Sie sind, bis die Lichter des Grenzüberganges verschwunden sind. Und dann möchte ich alles wissen!«
13 Rayford hatte es satt, andauernd durch das Telefon geweckt zu werden. Allerdings riefen ihn abgesehen von Carpathia und. Fortunato nur wenige Leute aus Neu-Babylon an. Und normalerweise besaßen sie den Anstand, ihn nicht mitten in der Nacht 228
aufzuwecken. Das Läuten des Telefons bedeutete also entweder eine gute oder eine schlechte Nachricht. Vielleicht hatte er ja Glück und es war endlich einmal eine gute Nachricht. Er nahm den Hörer ab. »Steele«, meldete er sich. Es war Amanda. »O Rayford, ich weiß, dass es bei dir mitten in der Nacht ist, und es tut mir Leid, dass ich dich aufgeweckt habe. Es ist nur so, dass es hier ein wenig Aufregung gibt, und wir wollten wissen, ob du etwas weißt.« »Worüber?« »Na ja, Chloe und ich gehen im Augenblick die Seiten aus Bruces Computer durch. Haben wir dir eigentlich davon erzählt?« »Ja.« »Loretta ist gerade aus der Gemeinde zurückgekommen. Sie war allein dort und hat die Anrufe entgegengenommen. Sie sagt, sie hätte den überwältigenden Drang gehabt, für Buck zu beten.« »Für Buck?« »Ja, sie sagte, dieses Gefühl sei so stark gewesen, dass sie schnell von ihrem Stuhl aufgestanden sei. Sie dachte, ihr sei vielleicht schwindlig geworden, aber irgendetwas habe sie dazu gebracht, auf die Knie zu fallen. Nachdem sie sich hingekniet hatte, habe sie gemerkt, dass ihr gar nicht schwindlig war, sondern dass sie nur inbrünstig für Buck gebetet habe.« »Ich weiß nur, dass Buck sich im Augenblick in Israel aufhält, Liebes. Ich glaube, er versucht, Tsion Ben-Juda zu finden. Ihr wisst ja, was seiner Familie zugestoßen ist.« »Wir wissen es«, erwiderte Amanda. »Es ist nur so, dass Buck die Angewohnheit hat, sich in Schwierigkeiten hineinzumanövrieren.« »Aber er findet auch immer wieder einen Ausweg«, beruhigte sie Rayford. »Und was hältst du dann von Lorettas Vorahnung oder wie immer du es nennen willst?« 229
»Ich würde es nicht Vorahnung nennen. In der heutigen Zeit können wir alle das Gebet brauchen, oder?« Amanda klang verärgert. »Rayford, das war kein Zufall. Du weißt genau, dass Loretta normalerweise sehr ausgeglichen ist. Aber sie war so aufgeregt, dass sie das Büro abgeschlossen hat und nach Hause gekommen ist.« »Du meinst, vor neun Uhr? Ist sie etwa ein Faulpelz geworden?« »Komm schon, Ray. Sie ist heute erst gegen Mittag ins Büro gegangen. Du weißt, dass sie häufig bis neun Uhr bleibt. Die Leute rufen zu jeder Tages- und Nachtzeit an.« »Ich weiß. Tut mir Leid.« »Sie möchte mit dir sprechen.« »Mit mir?« »Ja. Wirst du mit ihr sprechen?« »Sicher, gib sie mir.« Rayford hatte keine Ahnung, was er ihr sagen sollte. Bruce hätte auf so etwas sicher eine Antwort gehabt. Loretta wirkte tatsächlich erschüttert. »Captain Steele, es tut mir so Leid, Sie zu dieser Zeit zu stören. Bei Ihnen müsste es jetzt doch etwa drei Uhr nachts sein, nicht?« »Ja, das stimmt, aber es ist schon in Ordnung.« »Nein, das ist nicht in Ordnung. Es gibt keinen Grund, Sie aus einem gesunden Schlaf zu reißen. Aber Gott hat mir aufgetragen, für diesen Jungen zu beten, davon bin ich fest überzeugt.« »Dann bin ich froh, dass Sie es getan haben.« »Halten Sie mich für verrückt?« »Ich habe Sie immer für ein wenig verrückt gehalten, Loretta. Darum lieben wir Sie auch so sehr.« »Ich weiß, Sie machen sich nur lustig über mich, Captain Steele, aber mal im Ernst, habe ich meinen Verstand verloren?« »Nein. Gott scheint sehr direkt und dramatisch zu wirken. 230
Wenn Sie dazu geführt wurden, für Buck zu beten, denken Sie daran, ihn zu fragen, was in diesem Augenblick passiert ist.« »Das werde ich bestimmt, Mr. Steele. Ich hatte das Gefühl, dass Buck in Schwierigkeiten steckte. Ich hoffe nur, dass er es schafft, lebendig aus dem Land zu kommen. Wir alle hoffen, dass er zum Sonntagsgottesdienst wieder da ist. Sie werden doch kommen, oder?« »So Gott will«, erwiderte Rayford und er war erstaunt, aus seinem eigenen Mund die Worte zu hören, die er immer so übertrieben gefunden hatte, wenn Irenes Freunde sie gebrauchten. »Am Sonntag sollten alle zusammen sein«, meinte Loretta. »Das hat oberste Priorität bei mir. Und Loretta, würden Sie mir einen Gefallen tun?« »Nachdem ich Sie mitten in der Nacht aufgeweckt habe? Sie können sich darauf verlassen.« »Falls der Herr Sie drängt, für mich zu beten, würden Sie das nach Kräften tun?« »Natürlich würde ich das. Das wissen Sie doch. Ich hoffe, Sie machen sich nicht nur über mich lustig.« »Noch nie habe ich etwas so ernst gemeint!« Als die Lichter des Grenzübergangs hinter Buck verschwanden, lenkte er den Bus auf den Seitenstreifen, nahm den Gang heraus, zog die Handbremse an, drehte sich seitwärts und seufzte tief auf. Er hatte seine Stimme kaum unter Kontrolle. »Tsion, sind Sie im Bus? Kommen Sie jetzt heraus, wo immer Sie sind.« Aus dem hinteren Teil des Busses ertönte eine zitternde Stimme: »Ich bin hier, Cameron. Gepriesen sei Gott der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde.« Der Rabbi kroch unter den Sitzen hervor. Buck ging ihm entgegen und umarmte ihn. »Erzählen Sie«, forderte Buck ihn auf. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass Gott es irgendwie schaffen 231
würde«, sagte Tsion. »Ich weiß nicht, ob der junge Anis ein Engel oder ein Mensch war, aber auf jeden Fall hatte Gott ihn geschickt.« »Anis?« »Anis. Er ging durch den Bus und leuchtete mit seiner Taschenlampe umher. Dann kniete er sich hin und hielt seine Taschenlampe unter die Sitze. Ich blickte geradewegs in den Lichtstrahl hinein. Ich betete, dass Gott seine Augen blenden möge. Aber Gott blendete ihn nicht. Er kam zu den Sitzen, unter denen ich lag, und ging in die Knie. Mit einer Hand leuchtete er mir ins Gesicht, mit der anderen packte er mich beim Hemd und zog mich zu sich heran. Ich dachte, mein Herz würde stehen bleiben. Ich stellte mir vor, wie ich als Trophäe eines jungen Beamten zum Gebäude geschleppt werden würde. Heiser flüsterte er mir durch seine zusammengebissenen Zähne auf Hebräisch zu: ›Ich hoffe, Sie sind, für wen ich Sie halte, sonst sind Sie ein toter Mann.‹ Was konnte ich tun? Es gab kein Verstecken mehr. Es hatte keinen Zweck so zu tun, als sei ich nicht da. Ich antwortete ihm: ›Junger Mann, ich bin Tsion Ben-Juda.‹ Er hielt mich auch weiterhin am Hemd fest und leuchtete mir noch immer ins Gesicht, als er sagte: ›Rabbi Ben-Juda, ich heiße Anis. Beten Sie, wie Sie noch nie in Ihrem Leben gebetet haben, dass man meinem Bericht Glauben schenkt. Und nun möge der Herr Sie segnen und erhalten. Möge des Herrn Angesicht über Ihnen leuchten und Ihnen Frieden geben.‹ Cameron, Gott ist mein Zeuge, der junge Mann stand auf und verließ den Bus. Seither liege ich hier und lobe Gott mit Tränen in den Augen.« Es gab nichts mehr zu sagen. Tsion ließ sich in der Mitte des Busses auf einen Sitz fallen. Buck setzte sich wieder ans Steuer und fuhr weiter zum Grenzübergang nach Ägypten. Eine halbe Stunde später hatten Buck und Tsion den Grenzübergang in den Sinai erreicht. Dieses Mal gebrauchte Gott 232
einfach die Sorglosigkeit des Systems, um Ben-Juda hindurchschlüpfen zu lassen. Der einzige Übergang befand sich auf der anderen Seite der Grenze zum Sinai. Als Buck angehalten wurde, kam ein Grenzbeamter sofort in den Bus und rief Anweisungen in seiner Sprache. Buck fragte: »Englisch?« »Dann eben Englisch, meine Herren.« Der Beamte sah Tsion an. »Sie werden in ein paar Minuten weiterschlafen können, mein Alter«, meinte er. »Doch zuerst müssen Sie mitkommen und den Papierkram erledigen. Während Sie drin sind, werde ich den Bus durchsuchen, dann können Sie weiterfahren.« Buck, dem das letzte Wunder Mut gemacht hatte, blickte Tsion an und zuckte die Achseln. Er wartete, bis Tsion den Beamten durchgelassen hatte, doch Tsion machte Buck ein Zeichen, er solle schon gehen. Buck eilte aus dem Bus hinein in das Gebäude. Während der Grenzbeamte seine Papiere überprüfte, fragte er: »Probleme am israelischen Grenzübergang?« Buck lächelte beinahe. Probleme? Wenn Gott auf deiner Seite ist, gibt es keine Probleme. »Nein, Sir.« Buck konnte nicht anders, er musste über die Schulter zurück nach Tsion sehen. Wohin war er nur verschwunden? Hatte Gott ihn unsichtbar gemacht? Dieses Mal ging es sehr viel leichter und schneller. Offensichtlich hatten es sich die Ägypter zur Gewohnheit gemacht, das, was die Israelis gutgeheißen hatten, einfach nur noch abzustempeln. Diesen Grenzübergang konnte man nicht passieren, wenn man nicht zuvor den israelischen passiert hatte, darum kam man in der Regel problemlos durch. Bucks Papiere wurden abgestempelt und ihm mit wenigen Fragen zurückgegeben. »Nur noch knapp 100 Kilometer bis nach Al-Arish«, sagte der Grenzbeamte freundlich. »Um diese Zeit starten dort aber keine Linienflüge!« »Ich weiß«, entgegnete Buck. »Ich habe meine eigenen Vorkehrungen getroffen.« 233
»Sehr gut, Mr. Katz. Alles bestens.« Alles bestens, das stimmt!, dachte Buck. Er drehte sich um und eilte nach draußen zu seinem Bus. Von Tsion war nichts zu sehen. Der andere Grenzbeamte hielt sich noch immer im Bus auf. Als Buck gerade einsteigen wollte, kam Tsion hinter dem Bus hervor und trat vor ihn. Gemeinsam stiegen sie in den Bus ein. Der Grenzbeamte durchsuchte gerade Bucks Tasche. »Eindrucksvolle Ausrüstung, Mr. Katz.« »Danke.« Tsion ging an dem Grenzbeamten vorbei und zu dem Platz, an dem er gesessen hatte, als sie angekommen waren. Er streckte sich auf dem Sitz aus. »Und für wen arbeiten Sie?«, fragte der Beamte. »International Harvesters«, erwiderte Buck. Tsion richtete sich kurz auf seinem Platz auf und Buck hätte beinahe losgelacht. Das gefiel Tsion sicher. Der Beamte schloss die Tasche. »Mit Ihren Papieren ist alles in Ordnung? Dann können Sie weiterfahren.« »Alles in Ordnung«, nickte Buck. Der Beamte sah sich um. Tsion schnarchte. Er wandte sich an Buck und sagte: »Dann gute Weiterfahrt.« Buck bemühte sich, nicht zu eifrig zu erscheinen, doch sobald der Beamte von dem Bus zurückgetreten war, legte er den Gang ein und fuhr zurück auf die Straße. »Also gut, Tsion, wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt?« Tsion setzte sich auf. »Hat Ihnen mein Schnarchen gefallen?« Buck lachte. »Sehr eindrucksvoll. Wo waren Sie, als der Beamte dachte, Sie wären mit mir bei der Überprüfung der Papiere?« »Ich stand hinter dem Bus. Sie sind ausgestiegen und den einen Weg gegangen, ich stieg aus und ging den anderen.« »Sie machen Witze.« »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, Cameron. Er war so 234
freundlich und er hatte mich gesehen. Ganz bestimmt konnte ich Sie nicht ohne Papiere in das Grenzhäuschen begleiten. Als Sie zurückkamen, dachte ich, ich könnte nun wieder auftauchen.« »Die Frage ist jetzt«, meinte Buck, »wie lange es dauert, bis dieser Beamte sagt, er hätte zwei Männer in dem Bus gesehen.« Vorsichtig kam Tsion nach vorne und setzte sich hinter Buck. »Ja«, stimmte er zu. »Zuerst wird er sie davon überzeugen müssen, dass er keine Gespenster gesehen hat. Vielleicht wird das aber auch gar nicht angesprochen. Aber wenn doch, dann werden sie bald die Verfolgung aufnehmen.« »Ich vertraue Gott, dass er uns hilft, wie er es versprochen hat«, sagte Buck. »Aber ich glaube auch, dass wir uns besser so gut wie möglich auf alle Eventualitäten vorbereiten sollten.« Er fuhr an den Straßenrand, goss Wasser in den Kühler, füllte Benzin und fast zwei Liter Öl nach. »Es ist, als würden wir zur Zeit des Neuen Testaments leben«, meinte Tsion. »Gott wirkt so direkt und sichtbar.« Buck fuhr an und erwiderte: »Sie könnten diesen Bus natürlich einholen. Aber wenn wir es bis nach Al Arish schaffen, werden wir im Learjet sitzen und über dem Mittelmeer schweben, bevor sie wissen, dass wir fort sind.« In den folgenden zwei Stunden wurde die Straße immer schlechter. Die Kühlertemperatur stieg an. Buck behielt den Rückspiegel im Blick und merkte, dass auch Tsion Ben-Juda sich immer wieder umdrehte. Dann und wann wurden sie von einem kleinen, schnelleren Wagen überholt. »Worüber machen Sie sich Sorgen, Cameron? Gott würde uns doch nicht so weit bringen und dann zulassen, dass wir geschnappt werden, oder?« »Das fragen Sie mich? Bevor ich Ihnen begegnet bin, ist mir so etwas noch nie passiert!« Eine halbe Stunde lang fuhren sie schweigend weiter. 235
Schließlich ergriff Tsion das Wort und Buck hatte den Eindruck, dass seine Stimme wieder fest klang. »Cameron, Sie wissen, dass ich mich bis jetzt zum Essen zwingen musste und selbst dann nur wenig heruntergebracht habe.« »Dann essen Sie doch jetzt etwas! Wir haben jede Menge dabei!« »Ich glaube, ich werde tatsächlich etwas essen. Mein Schmerz ist so groß, dass ich das Gefühl habe, nie wieder an etwas Freude zu haben. Früher habe ich das Essen immer genossen. Auch bevor ich Christus kennen lernte, wusste ich, dass Gott uns die Nahrungsmittel geschenkt hat. Er wollte, dass wir uns daran erfreuen. Ich bin jetzt hungrig, aber ich werde nur essen, damit ich bei Kräften bleibe.« »Sie brauchen mir das nicht zu erklären, Tsion. Ich bete nur, dass Ihr tiefer Schmerz bis zum Tag der herrlichen Wiederkunft Christi nachlassen wird.« »Möchten Sie auch etwas?« Buck schüttelte den Kopf, dann überlegte er es sich anders. »Ist etwas mit viel Nährstoffen und natürlichem Zucker dabei?« Er wusste nicht, was sie noch erwartete, aber keinesfalls wollte er, dass seine körperlichen Kräfte nachließen. Tsion schnaubte verächtlich. »Reich an Nährstoffen und natürlichem Zucker? Das sind Lebensmittel aus Israel, Cameron. Sie haben gerade alles beschrieben, was hier wächst.« Der Rabbi warf Buck mehrere Feigenriegel zu, die nach Granola mit Früchten schmeckten. Buck merkte erst, als er anfing zu essen, wie hungrig er war. Plötzlich steckte er wieder voller Energie und er hoffte nur, dass Tsion genauso empfand. Vor allem, als er im Rückspiegel ein gelbes Blinklicht entdeckte. Die Frage war nun, ob er versuchen sollte, dem Streifenwagen davonzufahren oder unschuldig zu tun und ihn vorbeifahren zu lassen. Vielleicht war er ja gar nicht hinter ihnen her. Buck schüttelte den Kopf. Was dachte er da? Vermutlich war dies ihr Waterloo. Er war sicher, dass Gott sie durchbringen 236
würde, aber er wollte auch nicht so naiv sein zu glauben, die Grenzwache würde hinter ihnen auftauchen und nicht ihn und Tsion suchen. »Tsion, am besten sichern Sie alles und machen sich unsichtbar.« Tsion beugte sich vor und starrte aus dem Rückfenster. »Noch mehr Aufregung«, murmelte er. »Herr, reicht es denn noch nicht für einen Tag? Cameron, das meiste werde ich wegpacken, aber etwas nehme ich noch in mein Bett mit.« »Bedienen Sie sich. Die Wagen am Grenzübergang schienen klein und nicht sehr schnell zu sein. Wenn ich mich ranhalte, könnte es einige Zeit dauern, bis sie uns einholen.« »Und dann?«, fragte Tsion aus seinem Versteck. »Ich versuche, mir eine Strategie auszudenken.« »Ich werde beten«, sagte Tsion. Buck lachte beinahe los. »Das Beten hat uns heute Nacht schon aus einigen Schwierigkeiten geholfen«, pflichtete er ihm dann bei. Keine Antwort von hinten. Buck holte das Letzte aus dem Bus heraus. Er beschleunigte ihn mühsam auf über achtzig Kilometer pro Stunde. Das Vehikel knatterte, schüttelte sich, hüpfte und die unterschiedlichen Metallteile quietschten protestierend. Buck wusste, dass der Fahrer des Grenzpatrouillenwagens ihn sehen konnte, so wie er ihn sah. Es hatte keinen Sinn, die Scheinwerfer auszuschalten und zu hoffen, der Verfolger würde annehmen, er sei von der Straße abgebogen. Offenbar war seine Taktik erfolgreich. In der Dunkelheit konnte er die Entfernung nicht genau einschätzen, aber der Abstand schien sich zumindest nicht zu verringern. Das Licht blinkte und Buck war davon überzeugt, dass der Wagen hinter ihm her war, doch er fuhr trotzdem unbeirrt weiter. Aus dem hinteren Teil des Busses ertönte eine Stimme. »Cameron, ich glaube, ich habe das Recht zu erfahren, was Sie vorhaben. Was werden Sie tun, wenn die uns einholen, was ganz bestimmt passieren wird?« 237
»Ich sage Ihnen eines, auf keinen Fall werde ich zur Grenze zurückkehren. Ich bin nicht mal sicher, ob ich mich von denen überholen lasse.« »Woher wollen Sie wissen, was die vorhaben?« »Falls das der Mann ist, der den Bus durchsucht hat, wissen wir, was sie vorhaben, nicht?« »Ich denke schon.« »Ich werde ihm aus dem Fenster zurufen, er könnte am Flugplatz mit uns sprechen. Es macht keinen Sinn, den ganzen Weg zur Grenze zurückzufahren.« »Aber wird das nicht er zu entscheiden haben?« »Ich denke, dann werde ich einfach nicht auf ihn hören«, erwiderte Buck. »Und wenn er uns von der Straße drängt? Sie veranlasst, an die Seite zu fahren?« »Ich werde unter allen Umständen versuchen, ihn nicht zu rammen, aber ich werde nicht anhalten und wenn ich gezwungen werde, es doch zu tun, werde ich nicht umkehren.« »Ich weiß Ihre Entschlossenheit zu schätzen, Cameron. Ich werde beten und Sie verhalten sich so, wie Gott Sie führt.« »Das werde ich.« Buck schätzte, dass sie noch etwa dreißig Kilometer vom Flughafen von Al Arish entfernt waren. Wenn er den Bus bei sechzig Kilometern pro Stunde halten konnte, würden sie es in einer halben Stunde schaffen. Der Grenzpatrouillenwagen würde sie sicherlich vorher eingeholt haben. Aber sie waren viel näher am Flughafen als an der Greze und er war sicher, der Beamte würde einsehen, dass er ihnen lieber zum Flughafen folgen sollte, als sie zur Grenze zurückzubringen. »Tsion, ich brauche Ihre Hilfe.« »Was immer Sie wollen.« »Bleiben Sie geduckt und außer Sichtweite, aber suchen Sie mein Telefon und geben Sie es mir.« Als Tsion mit dem Telefon zu Buck gekrochen kam, fragte 238
Buck ihn: »Tsion, wie alt sind Sie?« »In meinem Land gilt dies als eine sehr unhöfliche Frage«, erwiderte Tsion. »Ja, aber ich muss es wissen.« »Ich bin sechsundvierzig, Cameron. Warum fragen Sie?« »Sie scheinen gut in Form zu sein.« »Danke. Ich arbeite daran.« »Tatsächlich?« »Überrascht Sie das? Sie würden erstaunt sein, wie viele Gelehrte Sport treiben. Natürlich gibt es auch viele, die dies nicht tun, aber –« »Ich wollte nur sichergehen, dass Sie laufen können, falls das notwendig sein sollte.« »Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt, aber ja, ich kann laufen. Ich bin nicht mehr so schnell, wie ich als junger Mann gewesen bin, aber für mein Alter habe ich eine erstaunlich gute Kondition.« »Das wollte ich nur wissen.« »Erinnern Sie mich daran, Ihnen irgendwann einmal ein paar persönliche Fragen zu stellen«, meinte Tsion. »Mal im Ernst, Tsion. Ich habe Sie doch nicht beleidigt, oder?« Buck fühlte sich seltsam erwärmt. Der Rabbi lachte tatsächlich leise vor sich hin. »Oh, mein Freund, denken Sie doch mal nach. Was wäre nötig, um mich jetzt noch zu beleidigen?« »Tsion, Sie gehen besser wieder in Ihr Versteck, aber können Sie mir vorher noch sagen, wie viel Benzin wir noch haben?« »Die Anzeige ist doch direkt vor Ihnen, Cameron. Sie können es mir sagen.« »Nein, ich meine in unseren Kanistern.« »Ich werde nachsehen, aber ganz bestimmt werden wir keine Zeit haben, unseren Tank zu füllen, während wir verfolgt werden. Was haben Sie vor?« »Warum stellen Sie so viele Fragen?« 239
»Weil ich ein Lernender bin. Ich werde immer ein Lernender sein. Außerdem sind wir doch Partner bei diesem Unternehmen, oder?« »Also ich werde Ihnen einen Hinweis geben. Während Sie die Kanister überprüfen, um mir zu sagen, wie viel noch übrig ist, werde ich sehen, ob der Zigarettenanzünder noch funktioniert.« »Cameron, der Zigarettenanzünder ist doch das erste, was in einem Wagen kaputtgeht, nicht?« »Um unsertwillen hoffen wir, dass es nicht so ist.« Bucks Telefon klingelte. Verwirrt öffnete er es und meldete sich. »Buck hier.« »Buck, hier spricht Chloe!« »Chloe! Ich kann jetzt wirklich nicht mit dir sprechen. Vertrau mir und stelle keine Fragen. Im Augenblick geht es mir noch gut, aber bitte, rufe alle zum Beten zusammen, und zwar jetzt gleich. Und hör zu: Beschaffe dir irgendwie, vielleicht über das Internet oder so, die Nummer des Flughafens in Al Arish, südlich des Gazastreifens an der Mittelmeerküste im Sinai. Versuche, Ken Ritz an den Apparat zu bekommen. Er soll mich anrufen.« »Aber Buck –« »Chloe, es geht um Leben oder Tod!« »Du rufst mich an, sobald du in Sicherheit bist?« »Versprochen!« Buck klappte das Telefon zu und hörte, wie Tsion im hinteren Teil des Busses rief: »Cameron! Sie wollen doch nicht etwa diesen Bus in die Luft jagen?« »Sie sind wirklich ein Gelehrter, nicht?«, meinte Buck. »Ich hoffe nur, Sie warten, bis wir zum Flughafen kommen. Ein brennender Bus könnte uns zwar schneller dorthin bringen, aber Ihr Freund, der Pilot, müsste dann unsere Asche in die Staaten bringen.«
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»Das ist schon in Ordnung, Chloe«, beruhigte sie Rayford. »Ich habe schon lange den Versuch aufgegeben, etwas Schlaf zu bekommen. Ich bin sowieso auf und lese.« Chloe erzählte ihm von ihrer seltsamen Unterhaltung mit Buck. »Verschwende keine Zeit im Internet«, sagte Rayford. »Ich besitze ein Verzeichnis der Rufnummern aller Flughäfen. Leg auf.« »Daddy«, meinte sie. »Für dich ist es sowieso näher. Versuche, Ken Ritz zu erreichen, und sage ihm, er soll Buck anrufen.« »Ich bin versucht, selbst hinüberzufliegen, wenn ich nur ein kleines Flugzeug hätte.« »Daddy, es ist nicht nötig, dass du und Buck beide gleichzeitig euer Leben in Gefahr bringt.« »Chloe, das tun wir doch jeden Tag.« »Beeil dich besser, Daddy.« Buck schätzte, dass der Streifenwagen der Grenzpatrouille weniger als eine halbe Meile hinter ihnen war. Er trat das Gaspedal voll durch und der Bus machte einen Satz. Das Lenkrad vibrierte, als sie die holprige Straße entlangrasten. Im Augenblick schienen Öl- und Wasserstand noch in Ordnung zu sein, aber Buck wusste, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Motor zu heiß wurde. »Wir müssten noch etwa acht Liter Benzin haben«, informierte Tsion Buck. »Das wird ausreichen.« »Ich denke auch, Cameron. Es ist mehr als genug, um uns beide zu Märtyrern zu machen.« Buck bemühte sich, so ruhig wie möglich zu fahren. Wobei »ruhig« natürlich die Übertreibung des Jahrhunderts war. Buck spürte alle seine Knochen. Der Streifenwagen war nur noch eine Viertelmeile entfernt. 241
Tsion rief von hinten: »Cameron, es ist doch klar, dass wir es nicht schaffen werden, ihnen bis zum Flughafen davonzufahren, meinen Sie nicht?« »Ja. Und?« »Dann wäre es sinnvoller, dieses Fahrzeug nicht so zu strapazieren. Es ist doch klüger, Wasser, Öl und Benzin zu sparen, damit wir auch ganz bestimmt den Flughafen erreichen können. Wenn der Motor streikt, hilft uns all unsere Entschlossenheit nichts.« Dem konnte Buck nicht widersprechen. Sofort ging er auf fünfzig Kilometer pro Stunde herunter und er hatte das Gefühl, mehrere Meilen herausgeschunden zu haben. Allerdings konnte nun auch der Streifenwagen aufschließen. Eine Hupe ertönte. Im Außenspiegel sah er, dass der Wagen auch die Lichthupe betätigte. Buck winkte und fuhr einfach weiter. Daraufhin schaltete der Wagen das gelbe Blinklicht und die Sirene ein und betätigte Hupe und Lichthupe. Buck ignorierte alles. Schließlich zog der Streifenwagen auf gleiche Höhe mit ihm. Buck warf einen Blick nach unten und erkannte den Beamten, der den Bus durchsucht hatte. »Anschnallen, Tsion!«, rief Buck. »Die Jagd geht los!« »Ich wünschte, ich hätte einen Sicherheitsgurt!« Buck hielt seine Geschwindigkeit, während der Streifenwagen auf gleicher Höhe mit ihm blieb und ihm per Handzeichen bedeutete, er solle an die Seite fahren und anhalten. Buck winkte ihm und fuhr weiter. Der Streifenwagen setzte sich nun vor den Bus und wurde langsamer. Wieder gab der Fahrer Handzeichen. Als Buck keine Anstalten machte, an die Seite zu fahren, wurde der Wagen noch langsamer und zwang ihn zum Ausscheren. Da er jedoch nicht beschleunigen konnte, blieb der Streifenwagen auf gleicher Höhe mit ihm und beschleunigte gerade so viel, dass er ihn nicht überholen konnte. Buck blieb zurück und setzte sich wieder hinter den Wagen. Der Streifen242
wagen hielt an und auch Buck blieb stehen. Als der Grenzbeamte ausstieg, setzte Buck zurück und fuhr um ihn herum. Es gelang ihm, etwa 100 Meter weiterzufahren, bevor der Beamte reagierte, in seinen Wagen sprang und wieder aufholte. Dieses Mal zeigte der Grenzbeamte Buck eine Pistole, als er wieder auf gleicher Höhe mit ihm war. Buck öffnete sein Fenster und rief: »Wenn ich anhalte, wird der Bus ausgehen! Folgen Sie mir nach Al Arish!« »Nein!«, kam die Antwort. »Sie fahren mit mir zur Grenze zurück!« »Wir sind doch viel näher am Flughafen! Ich glaube nicht, dass dieser Bus es zur Grenze zurück schafft!« »Dann lassen Sie ihn stehen! Sie fahren mit mir zurück!« »Wir sehen uns am Flughafen!« »Nein!« Aber Buck schloss einfach das Fenster. Als der Beamte mit der Waffe auf Bucks Fenster zielte, duckte sich Buck und fuhr unbeirrt weiter. Bucks Telefon klingelte. Er ließ es aufschnappen. »Hallo!« »Hier spricht Ritz. Was ist los?« »Ken, sind Sie schon durch die Passkontrolle?« »Ja! Ich bin bereit, wenn Sie es sind.« »Wie wäre es mit ein wenig Spaß?« »Ich dachte schon, Sie würden nie fragen! Seit Jahren habe ich mich nicht mehr richtig amüsiert.« »Sie setzen Ihr Leben aufs Spiel und brechen das Gesetz«, warnte Buck. »Ist das alles? Wenn es mehr nicht ist.« »Sagen Sie mir, wo Sie stehen, Ken«, forderte Buck ihn auf. »Es sieht so aus, als wäre ich der Einzige, der in dieser Nacht noch starten will. Ich stehe unmittelbar vor dem Hangar am Ende der Startbahn. Mein Flugzeug, meine ich. Ich selbst spreche von dem kleinen Terminal aus.« »Aber die Formalitäten sind alle erledigt und Sie sind bereit, 243
Ägypten zu verlassen?« »Ja, kein Problem.« »Was haben Sie in Bezug auf Passagiere und Ladung angegeben?« »Ich dachte, ich sollte nur Sie angeben.« »Perfekt, Ken! Danke! Und für wen halten die mich?« »Sie sind genau der, der zu sein Sie vorgeben, Mr. Katz.« »Ken, das ist großartig. Bleiben Sie einen Augenblick dran.« Der Beamte hatte sich jetzt vor den Bus gesetzt und bremste hart. Um ihm auszuweichen, musste Buck einen großen Bogen um ihn fahren, wobei er von der Straße abkam. Als er wieder auf die Straße auffuhr, geriet der Bus ins Schleudern und wäre beinahe umgekippt. »Hey, ich rolle hier hinten hin und her!«, beschwerte sich Tsion. »Viel Vergnügen!«, erwiderte Buck. »Ich werde nicht anhalten und auch nicht umkehren.« Der Grenzbeamte hatte seine Sirene und das Blinklicht nun abgestellt. Er holte den Bus wieder ein und rammte ihn von hinten. Er rammte ihn noch einmal. Und noch einmal. »Er hat Angst, den Streifenwagen zu beschädigen, oder?«, meinte Buck. »Seien Sie da nicht so sicher«, erwiderte Tsion. »Ich bin sicher.« Buck trat auf die Bremse, wobei Tsion nach vorne geschleudert wurde und aufschrie. Buck hörte die quietschenden Reifen hinter sich und sah, wie der Streifenwagen von der Straße abkam und nach rechts in den Graben fuhr. Buck trat das Gaspedal wieder durch. Der Motor ging aus. Als er versuchte, ihn wieder neu zu starten, sah er, wie der Streifenwagen ihn auf dem Seitenstreifen wieder einholte. Der Motor sprang an und Buck trat die Kupplung. Er nahm das Telefon zur Hand. »Ken, sind Sie noch dran?« »Ja, was um alles in der Welt geht da vor?« »Sie würden es nicht glauben!« 244
»Werden Sie verfolgt oder so etwas?« »Das ist die Untertreibung des Jahres, Ritz! Ich glaube nicht, dass wir die Zeit haben werden, durch die Passkontrolle zu gehen. Sie müssen mir erklären, wie ich zu Ihrem Flugzeug komme. Das Flugzeug muss startklar, mit laufenden Motoren, offener Tür und heruntergeklappter Treppe auf dem Rollfeld stehen.« »Das wird tatsächlich ein Mordsspaß werden!«, rief Ritz begeistert. »Sie haben ja keine Ahnung«, erwiderte Buck. Schnell erklärte der Pilot, wo der Flughafen lag, beschrieb ihm genau die Lage des Terminals und wo sein Flugzeug stand. »Wir müssten in etwa zehn Minuten bei Ihnen sein«, sagte Buck. »Falls ich dieses Ding hier am Laufen halten kann. Ich werde versuchen, so nah wie möglich an die Startbahn und Ihr Flugzeug heranzukommen. Was erwartet mich?« Der Streifenwagen überholte ihn, fuhr wieder auf die Straße auf, drehte und kam dem Bus nun entgegen. Buck wich nach links aus, doch der Wagen schnitt ihm den Weg ab. Buck konnte nicht verhindern, dass er in ihn hineinknallte. Der Aufprall schob den Streifenwagen beiseite und riss dem Bus die Motorhaube ab. Buck hatte das Gefühl, dass der alte Bus wenig Schaden genommen hatte, doch die Temperaturanzeige des Kühlers stieg langsam an. »Wer verfolgt Sie denn?«, fragte Ritz. »Die ägyptische Grenzpatrouille.« »Dann können Sie darauf wetten, dass die über Funk den Flughafen bereits verständigt haben. Sie werden mit einer Art Straßensperre rechnen müssen.« »Ich habe gerade erst den Streifenwagen gerammt. Wird dies eine Straßensperre sein, die ich einfach durchfahren kann?« »Das werden Sie sicher schaffen können. Aber wenn Sie so nah sind, wie Sie sagen, dann begebe ich mich jetzt besser zu meinem Flugzeug.« 245
»Der Zigarettenanzünder funktioniert«, rief Buck Tsion zu. »Ich weiß nicht genau, ob ich das hören wollte!« Der beschädigte Streifenwagen nahm die Verfolgung wieder auf. In der Ferne konnte Buck die Lichter des Flughafens erkennen. »Tsion, kommen Sie her. Wir müssen uns eine Strategie überlegen.« »Strategie? Das ist der reine Wahnsinn!« »Und wie würden Sie alles andere bezeichnen, das wir hinter uns haben?« »Der Wahnsinn des Herrn! Sagen Sie mir nur, was ich tun soll, Cameron. Ich tue es. Gott ist bei uns. Heute Nacht wird uns nichts aufhalten können!« Der Beamte in dem Streifenwagen hatte offensichtlich über Funk nicht nur eine Straßensperre angefordert, sondern auch Hilfe. Zwei Scheinwerferpaare kamen nebeneinander dem Bus entgegen. »Haben Sie den Ausdruck ›Katz und Maus spielen‹ schon einmal gehört?«, fragte Buck. »Nein«, erwiderte Tsion, »aber mir ist alles klar. Werden Sie sie herausfordern?« »Meinen Sie nicht auch, dass wir mehr zu verlieren haben als nur unser Leben?« »Doch. Ich mache mit. Tun Sie, was Sie tun müssen!« Buck trat das Gaspedal voll durch. Die Temperaturanzeige hatte den Höchststand erreicht und vibrierte. Der Motor rauchte. »Wir werden Folgendes machen, Tsion! Hören Sie genau zu!« »Konzentrieren Sie sich nur aufs Fahren, Cameron! Sagen Sie es mir später.« »Es wird kein Später mehr geben! Wenn diese Wagen nicht ausweichen, wird es einen fürchterlichen Zusammenstoß geben. Ich denke, wir werden es so oder so schaffen. Wenn wir zu der Straßensperre kommen, die sie wahrscheinlich am Flughafen für uns aufgebaut haben, müssen wir eine schnelle Entscheidung treffen. Sie müssen das Benzin in den großen Was246
sereimer schütten. Ich werde dafür sorgen, dass der Zigarettenanzünder bereit und heiß ist. Falls wir zu einer Straßensperre kommen, die wir meiner Meinung nach durchbrechen können, werde ich einfach weiterfahren, um so dicht wie möglich an die Startbahn heranzukommen. Der Learjet wird rechts von uns stehen, etwa einhundert Meter vom Terminal entfernt. Wenn ich der Meinung bin, die Straßensperre nicht durchbrechen zu können, werde ich versuchen, sie zu umfahren. Falls auch das nicht möglich ist, werde ich das Lenkrad nach links reißen und eine Vollbremsung machen. Auf diese Weise wird der hintere Teil des Busses in die Straßensperre hineinprallen und alles, was lose herumliegt, wird durch die hintere Tür hinausgeschleudert werden. Sie müssen den Eimer mit Benzin etwa zwei Meter von der hinteren Tür entfernt in den Gang stellen und wenn ich Ihnen ein Zeichen gebe, den Zigarettenanzünder hineinwerfen. Das muss kurz vor dem Aufprall geschehen, damit es beim Aufprall schon brennt.« »Ich verstehe nicht! Und wie sollen wir dann entkommen?« »Falls wir die Straßensperre nicht durchbrechen können, ist das unsere einzige Chance! Wenn die hintere Tür auffliegt und das brennende Benzin herausströmt, müssen wir uns unter allen Umständen hier vorne festhalten, damit wir nicht hineingeschleudert werden. Während die sich auf das Feuer konzentrieren, springen wir zur vorderen Tür hinaus und rennen zum Jet. Alles klar?« »Alles klar, Cameron, aber ich bin nicht sehr optimistisch.« »Halten Sie sich fest!«, rief Buck, als die beiden Wagen vom Flughafen immer näher kamen. Tsion legte einen Arm um den Metallpfosten hinter Buck und schlang den anderen um Bucks Brust. Buck machte keine Anstalten, die Geschwindigkeit zu drosseln oder den entgegenkommenden Wagen auszuweichen, sondern fuhr geradewegs auf die vier Scheinwerfer zu. Im letzten Augenblick schloss er die Augen. Er rechnete fest mit 247
einem heftigen Zusammenstoß. Als er die Augen wieder öffnete, war die Straße vor ihm frei. Er sah zu den Seitenfenstern hinaus. Beide Wagen waren von der Straße abgekommen; einer von ihnen überschlug sich. Der erste Streifenwagen war noch immer hinter ihm und Buck hörte Schüsse. Weniger als eine Meile vor ihnen lag der kleine Flugplatz. Riesige Stacheldrahtzäune säumten die Einfahrt und etwa ein halbes Dutzend Fahrzeuge mit bewaffneten Soldaten versperrten die Straße. Es war unmöglich, diese Straßensperre zu durchbrechen oder zu umfahren. Buck drückte den Zigarettenanzünder ein, während Tsion die Benzinkanister und den Eimer nach hinten brachte. »Es schwappt alles über!«, rief Tsion. »Tun Sie Ihr Möglichstes!« Während Buck, gefolgt von dem Streifenwagen, auf das offene Tor und die Blockade zuraste, sprang der Zigarettenanzünder heraus. Buck packte ihn und warf ihn Tsion zu. Er fiel zu Boden und rollte unter einen Sitz. »O nein!«, rief Buck. »Ich habe ihn!«, beruhigte ihn Tsion. Buck warf einen Blick in den Rückspiegel, während Tsion unter dem Sitz hervorkam, den Zigarettenanzünder in den Eimer warf und nach vorne kam. Der hintere Teil des Busses stand sofort in Flammen. »Festhalten!«, schrie Buck. Er zog das Lenkrad nach links und trat auf die Bremse. Der Bus schleuderte so heftig herum, dass er beinahe umgekippt wäre. Der hinter Teil krachte in die Autos und die hintere Tür flog auf. Das brennende Benzin floss heraus. Buck und Tsion sprangen vorne aus dem Bus und rannten geduckt um die linke Seite der Blockade herum, während die Soldaten das Feuer auf den Bus eröffneten und andere zu schreien begannen und davonliefen. Tsion hinkte. Buck packte den älteren Mann am Arm und zog ihn mit sich fort zur dunklen Seite des Terminals in der Nähe der Startbahn. Dort stand startbereit der Learjet. Noch nie war Buck der 248
Anblick eines Flugzeugs willkommener erschienen. Er drehte sich zweimal um, doch niemand schien sie bemerkt zu haben. Das war zu schön, um wahr zu sein, allerdings passte es zu allem anderen, was sich in dieser Nacht ereignet hatte. Knapp zwanzig Meter vom Jet entfernt, hörte Buck Schüsse. Als er sich umdrehte, bemerkte er ein halbes Dutzend Soldaten, die auf sie zurannten und mit Maschinengewehren auf sie schossen. Als sie die Stufen erreichten, packte Buck Tsion am Gürtel und schob ihn an Bord. In dem Augenblick, als Buck ins Flugzeug hechtete, traf eine Kugel seine rechte Ferse. Noch bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte, rollte der Learjet bereits die Startbahn entlang. Buck und Tsion krochen zum Cockpit. Ritz murmelte: »Diese Halunken haben auf mein Flugzeug geschossen. Jetzt bin ich aber richtig wütend!« Wie eine Rakete schoss das Flugzeug über die Startbahn und hob schließlich ab. Es gewann schnell an Höhe. »Nächste Station Palwaukee Airport im Staat Illinois in den Vereinigten Staaten von Amerika.« Buck lag flach auf dem Boden. Er konnte sich nicht rühren. Er wollte aus dem Fenster sehen, doch er wagte es nicht. Tsion barg sein Gesicht in den Händen. Er weinte und schien zu beten. Ritz drehte sich um. »Also Williams, Sie haben tatsächlich dort unten ein Chaos angerichtet. Worum ging es überhaupt?« »Ich würde eine Woche brauchen, um es Ihnen zu erzählen«, erklärte Buck keuchend. »Was immer es war«, meinte Ritz, »es hat auf jeden Fall Spaß gemacht.« Eine Stunde später saßen Buck und Tsion auf ihren Sitzen und betrachteten ihre Verletzungen. »Nur verrenkt«, wehrte Tsion ab. »Beim ersten Aufprall bin ich mit dem Fuß unter der Verankerung des Sitzes hängen geblieben. Ich habe schon gedacht, 249
ich hätte ihn gebrochen. Er wird schnell heilen.« Langsam zog Buck seinen rechten Stiefel aus, damit Tsion sich seine Schusswunde ansehen konnte. Es war ein glatter Durchschuss. Die Kugel war in der Ferse eingetreten und beim Knöchel wieder ausgetreten. Buck zog seinen blutigen Strumpf aus. »Sehen Sie sich das an. Es muss nicht einmal genäht werden. Nur ein kleines Loch.« Tsion nahm den Erste-Hilfe-Kasten, um Bucks Fuß zu versorgen. Er fand sogar eine elastische Binde für seinen Knöchel. Nachdem sie ihre Verletzungen versorgt und ihre verletzten Beine hochgelegt hatten, sahen Tsion und Buck sich an. »Sind Sie genauso erschöpft wie ich?«, fragte Buck. »Ich könnte jetzt schlafen«, meinte Tsion, »aber wir wären wirklich nachlässig, wenn wir nicht zuerst einmal danken würden.« Buck beugte sich vor und senkte den Kopf. Das Letzte, was er hörte, bevor er in einen tiefen Schlaf versank, war der melodische Tonfall Rabbi Tsion Ben-Judas, der Gott dankte, dass »die Herrlichkeit des Herrn unser Schild gewesen ist«.
14 Buck wachte fast zehn Stunden später auf. Er freute sich, dass Tsion noch immer schlief. Vorsichtig sah er sich Tsions Verletzung an. Der Knöchel war geschwollen, aber es schien nichts Ernstes zu sein. Sein eigener Fuß tat zu weh, um den Stiefel wieder anziehen zu können. Er hinkte nach vorne. »Wie geht’s, Cap?« »Nun, da wir uns wieder in amerikanischem Luftraum befinden, sehr viel besser. Ich wusste ja nicht, in welchen Schlamassel ihr euch hineinmanövriert hattet, und es hätte ja sein können, dass sie uns Jagdflieger auf den Hals hetzen.« »Ich glaube nicht, dass wir ihnen so wichtig sind, jetzt, wo 250
der Dritte Weltkrieg wütet«, erwiderte Buck. »Wo haben Sie Ihre Sachen gelassen?« Buck wirbelte herum. Wonach suchte er? Er hatte nichts mitgebracht. Alle seine Sachen waren in seiner Ledertasche gewesen und die war nun zu Asche verbrannt. »O nein! Ich hatte versprochen, meine Frau anzurufen!«, sagte er. »Sie werden sich freuen zu hören, dass ich bereits mit Ihren Leuten gesprochen habe«, informierte ihn Ritz. »Sie waren mächtig erleichtert zu hören, dass Sie sich auf dem Heimweg befinden.« »Sie haben doch nichts von meiner Wunde oder unserem Passagier erzählt, oder?« »Also hören Sie, Williams. Wir beide wissen doch, dass Ihre Verletzung nicht ernst ist. Eine Ehefrau braucht davon nichts zu wissen, bis sie es selbst sieht. Und was Ihren Passagier betrifft, ich habe keine Ahnung, wer er ist oder ob Ihre Leute wussten, dass Sie ihn zum Abendessen oder so mitbringen. Ich habe auch von ihm nichts erzählt.« »Sie sind gut, Ritz«, lobte Buck und schlug ihm auf die Schulter. »Wie jeder andere liebe ich Komplimente, aber ich hoffe, Sie wissen, dass ich mir einen Bonus verdient habe.« »Das lässt sich machen.« Da Ritz beim Abflug vor einigen Tagen sein Flugzeug und seinen Passagier sorgfältig hatte registrieren lassen, gab es keine Probleme bei der Erfassung auf dem nordamerikanischen Radarnetz. Seinen zusätzlichen Passagier meldete er nicht an, da es auf dem Flughafen in Palwaukee nicht üblich war, die Pässe der Reisenden zu kontrollieren. Niemand achtete auf einen amerikanischen Piloten Mitte fünfzig, den israelischen Rabbi in den Vierzigern und den jungen amerikanischen Reporter – drei Männer, von denen nur Ritz nicht humpelte. Nachdem Buck aufgewacht war, hatte er endlich Chloe ange251
rufen. Sie klang, als hätte sie ihm am liebsten den Kopf abgerissen, dass sie sich die ganze Nacht Sorgen um ihn hatte machen müssen, wenn sie nicht so erleichtert gewesen wäre. »Glaub mir, Schatz«, erklärte er, »wenn du die ganze Geschichte hörst, wirst du mich verstehen.« Buck hatte sie davon überzeugt, dass nur die Mitglieder der Tribulation Force und Loretta von Tsion erfahren sollten. »Erzähle nur Verna nichts davon. Kannst du allein nach Palwaukee kommen?« »Ich kann noch nicht fahren, Buck«, erwiderte sie. »Aber Amanda kann mich hinbringen. Verna wohnt übrigens gar nicht mehr hier. Sie ist zu Freunden gezogen.« »Das könnte zu einem Problem werden«, meinte Buck. »Vermutlich habe ich meinem größten Feind eine Schwachstelle gezeigt.« »Darüber werden wir sprechen müssen, Buck.« Es war, als gehörte Tsion Ben-Juda einem Zeugenschutzprogramm an. Im Schutz der Dunkelheit wurde er in Lorettas Haus geschmuggelt. Amanda und Chloe, die von Rayford vom Schicksal seiner Familie erfahren hatten, begrüßten ihn herzlich und mitfühlend, wussten aber nicht so recht, was sie sagen sollten. Loretta hatte einen Imbiss für sie vorbereitet. »Ich bin alt und etwas schwerfällig«, sagte sie, »aber ich habe durchaus verstanden, was hier gespielt wird. Je weniger ich über Ihren Freund weiß, desto besser, richtig?« Tsion antwortete ihr sehr umsichtig. »Ich bin sehr dankbar für Ihre Gastfreundschaft.« Loretta zog sich bald darauf in ihr Zimmer zurück, nachdem sie bekräftigt hatte, wie gern sie ihre Gastfreundschaft als einen Dienst für den Herrn anböte. Buck, Chloe und Tsion humpelten ins Wohnzimmer. Amanda folgte ihnen lachend. »Ich wünschte, Rayford wäre hier«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, die einzig Nüchterne in einem Wagen voller Betrunkener zu sein. Jede Aufgabe, für die zwei 252
Füße notwendig sind, wird mir zufallen.« Chloe beugte sich vor und ergriff Tsions Hand. »Dr. BenJuda, wir haben so viel von Ihnen gehört. Wir fühlen uns von Gott gesegnet, Sie bei uns zu haben. Ihr Schmerz muss unvorstellbar groß sein«, sagte sie wie immer sehr direkt. Der Rabbi atmete tief ein, ließ die Luft mit zitternden Lippen langsam entweichen. »Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar ich bin, dass Gott mich hierher zu Ihnen geführt hat, die Sie mich so herzlich willkommen heißen. Ich muss gestehen, dass mein Herz gebrochen ist. Doch seit dem Tod meiner Familie hat mir der Herr seine Hand so deutlich gezeigt, dass ich seine Gegenwart nicht leugnen kann. Und doch gibt es Zeiten, in denen ich mich frage, wie ich weiterleben soll. Ich möchte nicht bei dem schrecklichen Tod meiner Lieben stehen bleiben. Ich darf nicht daran denken, wer dies getan hat und wie es getan wurde. Ich weiß, dass meine Frau und Kinder nun in Sicherheit und glücklich sind, aber es ist schlimm für mich, mir vorzustellen, welche Angst und Schmerzen sie ausgestanden haben, bevor Gott sie zu sich nahm. Ich muss beten, dass meine Bitterkeit und mein Hass verschwinden. Vor allem fühle ich mich schrecklich schuldig, dass ich dies alles über sie gebracht habe. Ich weiß nicht, was ich sonst hätte tun sollen, außer vielleicht zu versuchen, bessere Vorkehrungen für ihre Sicherheit zu treffen. Ich hätte mich nicht weigern können, Gott so zu dienen, wie er es mir aufgetragen hat.« Amanda und Buck kamen heran und legten Tsion die Hand auf die Schulter. Und dann beteten sie, während er weinte. Sie unterhielten sich bis spät in die Nacht. Buck erklärte, dass Tsion vermutlich weltweit gesucht werden würde, vermutlich sogar mit Carpathias Billigung. »Wie viele Menschen wissen von unserem unterirdischen Schutzbunker?« »Ob du es glaubst oder nicht«, erwiderte Chloe, »wenn Loretta die Ausdrucke aus Bruces Computer nicht gelesen hat, ist sogar sie der Meinung, es handle sich nur um eine neue Ver253
sorgungsinstallation.« »Wie hat er das vor ihr geheim halten können? Sie war doch jeden Tag im Gemeindehaus, während die Grube ausgehoben wurde.« »Du wirst Bruces Aufzeichnungen lesen müssen, Buck. Kurz gesagt, sie und alle anderen Gemeindemitglieder glaubten, all diese Arbeit sei für einen neuen Wassertank und die Verbesserung der Parkmöglichkeiten.« Zwei Stunden später lagen Buck und Chloe im Bett. Sie waren so aufgedreht, dass sie nicht schlafen konnten. »Ich wusste, dass alles sehr schwierig werden würde«, sagte sie. »Aber ich hatte keine Ahnung, wie schwierig.« »Wünschst du dir, du hättest dich nie mit jemandem wie mir eingelassen?« »Sagen wir, es ist noch nie langweilig gewesen.« Dann erzählte Chloe ihm von Verna Zee. »Sie hielt uns alle für ein bisschen verrückt.« »Sind wir das nicht auch? Die Frage ist nur, welchen Schaden sie mir zufügen kann. Sie weiß nun ganz genau, wo ich stehe, und wenn das die Leute im ›Weekly‹ erfahren, wird es in Windeseile auch bei Carpathia ankommen. Und was dann?« Chloe erzählte Buck, dass sie, Amanda und Loretta Verna hatten überreden können, Bucks Geheimnis wenigstens für den Augenblick zu wahren. »Aber warum sollte sie das tun?«, fragte Buck. »Wir haben uns nie besonders gemocht. Wir sind uns immer an die Kehle gegangen. Der einzige Grund, warum wir uns gegenseitig einen Gefallen getan haben, war der, dass unsere kleinen Auseinandersetzungen angesichts des Ausbruchs des Dritten Weltkrieges wirklich lächerlich wirkten.« »Eure Reibereien waren auch lächerlich«, meinte Chloe. »Sie hat zugegeben, dass du sie eingeschüchtert hast und sie eifersüchtig auf dich war. Du hattest erreicht, was sie so gern errei254
chen wollte, und sie hat sogar zugegeben, sie wüsste, dass sie kein so guter Journalist ist wie du.« »Das freut mich, aber ich habe trotzdem Angst, dass sie mein Geheimnis preisgibt.« »Du wärst stolz auf uns gewesen, Buck. Loretta hatte Verna bereits ihre ganze Geschichte erzählt, dass sie als Einzige aus ihrer gesamten Familie bei der Entrückung zurückgeblieben war. Dann fing ich an und erzählte ihr, wie wir beide uns kennen lernten, wo du dich bei der Entrückung aufhieltst und wie wir zum Glauben gefunden haben.« »Verna muss geglaubt haben, wir kämen alle von einem anderen Stern«, meinte Buck. »Ist sie deshalb ausgezogen?« »Nein, ich glaube, sie hatte das Gefühl, im Weg zu sein.« »Ist sie uns denn wenigstens wohlgesinnt?« »Ja, das schon. Ich habe sie einmal beiseite genommen und ihr gesagt, das Wichtigste sei, eine Entscheidung für Jesus Christus zu treffen. Aber ich habe ihr auch gesagt, dass unser Leben davon abhinge, dass sie deinen Kollegen und Vorgesetzten gegenüber unsere Glaubenseinstellung geheim halte. Sie erwiderte: ›Seinen Vorgesetzten? Camerons einziger Vorgesetzter ist Carpathia.‹ Doch dann machte sie noch eine sehr interessante Bemerkung, Buck. Sie sagte, dass sie, so sehr sie auch bewundere, was Carpathia für Amerika und die Welt getan habe – haha –, gar nicht gut finde, wie er die Berichterstattung der Medien kontrolliere und manipuliere.« »Die Frage ist, Chloe, ob sie versprochen hat, mich zu schützen.« »Sie wollte einen Handel abschließen. Vermutlich eine Beförderung oder Gehaltserhöhung. Ich sagte ihr, dass du niemals auf so etwas eingehen würdest, und sie erwiderte, das hätte sie sich schon gedacht. Ich fragte sie, ob sie mir versprechen würde zu schweigen, bis sie mit dir gesprochen hätte. Bist du dazu bereit? Ich habe ihr das Versprechen entlockt, am Sonntag zum Trauergottesdienst zu kommen.« 255
»Und sie wird kommen?« »Sie meinte, sie würde es sich vornehmen. Ich habe ihr erklärt, sie müsse aber früh da sein, weil es voll werden würde.« »Das wird es bestimmt. Das alles wird ihr sicher sehr fremd sein.« »Sie erzählte, sie sei in ihrem ganzen Leben vielleicht ein Dutzend Mal in der Kirche gewesen. Ihr Vater war wohl überzeugter Atheist und ihre Mutter in einer sehr strengen Denomination groß geworden, so dass sie sich als Erwachsene vom Glauben abgewandt hat. Verna sagt, bei ihr zu Hause hätte nie jemand daran gedacht, einen Gottesdienst zu besuchen.« »Und sie war nie neugierig? Hat nie nach einem tieferen Sinn ihres Lebens gesucht?« »Nein. Sie hat sogar zugegeben, schon seit Jahren ziemlich zynisch und unglücklich zu sein. Sie dachte, das würde sie zu einer besseren Journalistin machen.« »Bei ihr ist es mir immer eiskalt den Rücken heruntergelaufen«, sagte Buck. »Ich war genauso zynisch und negativ wie alle anderen, aber ich hoffe doch, dass mir noch etwas Humor geblieben ist.« »O ja, das stimmt allerdings«, neckte Chloe. »Darum möchte ich auch immer noch ein Kind von dir, selbst jetzt noch.« Buck wusste nicht, was er sagen oder denken sollte. Sie hatten schon oft darüber gesprochen. Die Vorstellung, in der Trübsalszeit ein Kind in die Welt zu setzen, war, oberflächlich betrachtet, verantwortungslos und doch waren sie übereingekommen, darüber nachzudenken, zu beten und zu sehen, was die Bibel dazu sagte. »Möchtest du jetzt darüber sprechen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin müde. Aber wir wollen das Thema noch nicht abschließen.« »Du weißt, dass ich das nie tun würde, Chloe«, erwiderte er. »Aber schlafen kann ich noch nicht; ich lebe noch in einer anderen Zeitzone. Den ganzen Rückweg habe ich verschlafen.« »O Buck, ich habe dich so vermisst. Kannst du nicht wenig256
stens bei mir bleiben, bis ich eingeschlafen bin?« »Sicher. Dann werde ich mich hinüber in die Gemeinde schleichen und sehen, wie der Schutzraum geworden ist, den Bruce gebaut hat.« »Du solltest dir unbedingt auch seine Papiere vornehmen«, erklärte Chloe. »Wir haben die Stellen markiert, die Daddy bei dem Trauergottesdienst vorlesen soll. Er wird bestimmt einen ganzen Tag brauchen, um alles durchzugehen, aber es ist wirklich faszinierend. Warte nur, bis du es liest.« »Ich kann es kaum erwarten.« Rayford Steele durchlebte eine Gewissenskrise. Mit gepackten Koffern und reisefertig saß er in seiner Wohnung und las den Global Community International Daily, während er auf Hattie Durhams Fahrer wartete. Rayford vermisste Amanda. In vieler Hinsicht schienen sie sich noch immer fremd zu sein und er wusste, dass sie in den etwas mehr als fünf Jahren bis zur Wiederkunft Christi kaum Zeit haben würden, sich richtig kennen zu lernen und eine Beziehung zu entwickeln, wie er sie mit Irene gehabt hatte. Er vermisste Irene noch immer. Andererseits fühlte Rayford sich schuldig, dass er sich in vieler Hinsicht Amanda näher fühlte, als das bei Irene je der Fall gewesen war. Es war sein Fehler, das wusste er. Er hatte Irenes Glauben nicht gekannt und auch nicht geteilt, bis es zu spät gewesen war. Sie war so lieb gewesen, so selbstlos. Wenn er auch schlimmere Ehen und weniger treue Ehemänner kannte, bereute er doch oft, dass er ihr nie der Mann gewesen war, den sie gebraucht hätte. Sie hatte wirklich etwas Besseres verdient. Für Rayford war Amanda ein Gottesgeschenk. Er erinnerte sich daran, sie anfangs nicht einmal gemocht zu haben. Bei ihrer ersten Begegnung war sie so nervös gewesen, dass er sie für eine Schwätzerin gehalten hatte. Sie hatte ihn oder Chloe nicht zu Wort kommen lassen, sondern sich immer wieder 257
selbst korrigiert, ihre eigenen Fragen beantwortet und ausschweifend erzählt. Rayford und Chloe hatten sich über sie amüsiert, aber sie als spätere Heiratskandidatin zu betrachten, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Sie waren erstaunt gewesen, wie sehr die kurze Begegnung mit Irene Amanda beeindruckt hatte. Amanda schien das Wesen von Irenes Charakter erfasst zu haben. So wie sie sie beschrieben hatte, konnte man denken, sie hätte Irene schon jahrelang gekannt. Chloe hatte Amanda anfangs verdächtigt, ein Auge auf Rayford geworfen zu haben, denn da auch sie ihre Familie bei der Entrückung verloren hatte, war sie plötzlich eine einsame, hilflose Frau. Rayford hatte Chloes Misstrauen nicht teilen können. Er hatte bei ihr nichts anderes als das aufrichtige Bedürfnis verspürt, ihm zu sagen, was seine Frau ihr bedeutet hatte. Er hatte nicht die Absicht gehabt, um Amanda zu werben, und achtete sehr aufmerksam auf alle Signale, die von ihr ausgingen. Aber es gab keine. Das machte Rayford neugierig. Er beobachtete, wie sie sich in der New Hope Church einlebte. Sie war freundlich zu ihm, verhielt sich aber zurückhaltend und seiner Meinung nach auch nie unangemessen. Selbst Chloe hatte schließlich zugeben müssen, dass Amanda es nicht auf ihn abgesehen hatte. In der Gemeinde wurde sie schnell als Dienende bekannt. Das war ihre geistliche Gabe. Sie nahm sich der Arbeit in der Gemeinde an. Sie kochte, putzte, fuhr andere, wenn es nötig war, und engagierte sich in unterschiedlichen Komitees, wenn ihre Hilfe gebraucht wurde. Als berufstätige Frau gehörte all ihre Freizeit der Gemeinde. »Ich bin schon immer der Meinung gewesen, alles oder nichts«, erklärte sie. »Als ich zum Glauben an Jesus kam, wusste ich, dass ich mit meinem ganzen Leben dabei sein würde.« Da Rayford seit ihrer ersten Begegnung, als Amanda mit ihm und Chloe über Irene gesprochen hatte, wenig Kontakt zu ihr 258
gehabt hatte, wurde er ihr stiller Bewunderer. Ihr ruhiges, freundliches und großzügiges Wesen fand er sehr anziehend. Als er zum ersten Mal den Wunsch empfand, mit ihr zusammen zu sein, hatte das noch nichts mit Liebe zu tun. Er mochte sie einfach nur. Er mochte ihr Lächeln, ihr Aussehen, ihr Verhalten. Er hatte an einem ihrer sonntäglichen Bibelkurse teilgenommen. Sie war eine sehr engagierte Lehrerin mit einer schnellen Auffassungsgabe. Am folgenden Sonntag war sie in seinem Sonntagsschulkurs. Sie ergänzte ihn gut. Sie witzelten darüber, eines Tages gemeinsam eine Klasse zu leiten. Doch dieser Tag kam erst, nachdem sie zweimal zusammen mit Buck und Chloe ausgegangen waren. Es dauerte nicht lange, bis sie sich heftig ineinander verliebt hatten. Die Ehe mit ihr, die er erst wenige Monate zuvor bei einer Doppelhochzeit mit Buck und Chloe eingegangen war, war eine der wenigen Inseln des Glücks in Rayfords Leben während der schlimmsten Zeit der Menschheitsgeschichte. Rayford konnte es kaum erwarten, in die Staaten zurückzukehren, um Amanda wieder zu sehen. Aber er freute sich auch auf das Zusammensein mit Hattie. Er wusste, dass nicht er sie zu Christus führen konnte, sondern nur der Heilige Geist, doch er hatte das Gefühl, sich nach Kräften bemühen zu müssen, ihr ihre Situation klarzumachen. Sein Problem an diesem Samstagmorgen war, dass jede Faser seines Wesens sich gegen seine Rolle als Pilot Nicolai Carpathias wehrte. Alles, was er unter Bruce Barnes Schirmherrschaft gelesen, studiert und gelernt hatte, hatte ihn, die anderen Mitglieder der Tribulation Force sowie die New Hope-Gemeinde davon überzeugt, dass Carpathia der Antichrist war. Rayfords Position war für die Gläubigen von Vorteil und Carpathia wusste sehr gut, wo Rayford stand. Allerdings wusste er nicht, dass einer seiner anderen Angestellten, Cameron Williams, der sein vollstes Vertrauen genoss, nun schon fast so lange Christ war wie Rayford. Wie lange würde es dauern?, fragte sich Rayford. Brachte er 259
Bucks und Chloes Leben in Gefahr? Das von Amanda? Sein eigenes? Er wusste, der Tag würde kommen, wo sich der ganze Hass des Antichristen gegen die »Heiligen der Trübsalszeit«, wie Bruce sie nannte, richten würde. Rayford würde sein Timing sorgfältig wählen müssen. Eines Tages würden die Bürger der Weltgemeinschaft das »Zeichen des Tieres« annehmen müssen, um kaufen und verkaufen zu können. Das hatte Bruce gesagt. Niemand wusste genau, wann dieser Fall eintreten würde, aber in der Bibel war zu lesen, dass es sich um ein Zeichen auf der Stirn oder auf der Hand handelte. Man würde nichts vortäuschen können. Das Zeichen würde leicht zu erkennen sein. Diejenigen, die das Zeichen annahmen, konnten niemals mehr zu Jesus umkehren. Sie würden für immer verloren sein. Diejenigen, die es nicht annähmen, würden sich verstecken müssen. Ihr Leben würde in der Weltgemeinschaft nichts mehr wert sein. Im Augenblick schien Carpathia von Rayford noch beeindruckt. Er amüsierte sich über ihn. Vielleicht glaubte er, über ihn Verbindung zur Opposition zu halten, Informationen zu bekommen, indem er Rayford bei sich behielt. Aber was würde passieren, wenn Carpathia entdeckte, dass Buck überhaupt nicht loyal war und Rayford es die ganze Zeit gewusst hatte? Schlimmer noch, wie lange konnte sich Rayford noch einreden, die Vorteile, Carpathia belauschen zu können, würde seine eigene Schuld, die Arbeit des Bösen zu fördern, aufwiegen? Rayford warf einen Blick auf seine Uhr und überflog den Rest der Zeitung. In wenigen Minuten würden Hattie und ihr Fahrer da sein. Rayford hatte das Gefühl, vollkommen überfordert zu sein. Jedes Trauma, das er in den vergangenen Tagen seit Ausbruch des Krieges erlebt hatte, hätte für sich genommen einen normalen Menschen in normalen Zeiten krank machen können. Doch nun, so schien es Rayford, musste er zu vieles auf einmal verarbeiten. Die schrecklichsten, hinterhältigsten Grausamkeiten gehörten zu seinem Alltag. Der Dritte 260
Weltkrieg war ausgebrochen, einer seiner besten Freunde war tot und er hatte gehört, wie Nicolai Carpathia den Befehl zur Zerstörung einiger Großstädte gegeben und dann vor der Weltöffentlichkeit so getan hatte, als trauere er darüber. Rayford schüttelte den Kopf. Er hatte seinen Job gemacht, sein neues Flugzeug geflogen, war dreimal mit Carpathia an Bord gelandet, mit einer alten Freundin zum Abendessen gegangen, hatte sich ins Bett gelegt, mehrere Telefongespräche geführt, war wieder aufgestanden, hatte seine Zeitung gelesen und würde nun nach Hause zu seiner Familie fliegen. In was für einer verrückten Welt lebte er? Wie konnte auch nur ein kleiner Überrest von Normalität in einer Welt zurückbleiben, die im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle fahren würde? In der Zeitung standen Berichte aus Israel darüber, dass der Rabbi verrückt geworden war, der sein Volk und sein Land – und den Rest der Welt – mit den Ergebnissen seiner Nachforschungen zu der Frage, ob Jesus Christus der Messias war, schockiert hatte. Rayford kannte natürlich die Wahrheit und freute sich riesig darauf, diesen tapferen Mann persönlich kennen zu lernen. Rayford hatte erfahren, dass Buck ihn irgendwie aus dem Land geschafft hatte, allerdings wusste er noch nicht, wie. Ungeduldig wartete er darauf, die Einzelheiten zu erfahren. Erwartete sie alle dieses Schicksal? Der Märtyrertod ihrer Familien? Ihr eigener Tod? Er wusste, dass es so war. Schnell versuchte er, diesen Gedanken zu verdrängen. Der Gegensatz zwischen dem leichten Leben, das er als Pilot geführt hatte, und dem politischen Spielball, als der er sich heute fühlte, war unglaublich groß. Er konnte es fast nicht ertragen. Das Telefon läutete. Hattie und ihr Chauffeur waren da. Buck war erstaunt über das, was er im Gemeindehaus vorfand. Bruce hatte das Versteck wirklich hervorragend getarnt. Buck hätte es beinahe selbst nicht wieder gefunden. 261
Buck befand sich allein in dem riesigen Gebäude. Er durchquerte die Begegnungshalle und stieg die Treppe hinunter, ging einen schmalen Flur entlang, an den Waschräumen und dem Heizungskeller vorbei. Am Ende des Korridors gab es kein Licht mehr – selbst um die Mittagszeit wäre es hier dunkel gewesen. Wo war nur der Eingang? Vorsichtig tastete er die Wand ab. Nichts. Er betrat den Heizungskeller und nahm die Taschenlampe, die auf dem Brenner stand. Damit leuchtete er die Wand ab und fand schließlich eine handgroße Einbuchtung an der Wand. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Mauer und ein Teil der Wand öffnete sich einen Spaltbreit. Er schlüpfte hinein und verschloss sie hinter sich wieder. Der Strahl der Taschenlampe fiel auf eine nur wenige Meter von ihm entfernt stehende Warntafel: »Lebensgefahr! Hochspannung. Zutritt ist nur autorisierten Personen gestattet.« Buck lächelte. Das hätte ihn abgeschreckt, wenn er es nicht besser gewusst hätte. Er stieg die sechs Stufen hinunter und hielt sich links. Weitere vier Stufen nach unten und er stand vor einer großen Stahltür. Auch hier war wieder die Warntafel zu finden. Bruce hatte ihm am Tag seiner Hochzeit gezeigt, wie er die anscheinend verschlossene Tür öffnen konnte. In die Tür war ein besonderer Mechanismus eingebaut worden. Buck drehte den Knopf zuerst vorsichtig nach rechts und dann nach links. Er drückte den Griff etwa einen Viertelzentimeter ein und zog ihn dann einen halben Zentimeter heraus. Die Sperre schien sich zu lösen. Wie Bruce es ihm beschrieben hatte, drückte Buck ihn nun, während er ihn leicht hin und her drehte, nach innen. Endlich schwang die Tür auf und Buck stand vor einem, wie es schien, mannsgroßen Sicherungskasten. Nicht einmal eine Gemeinde von der Größe der New Hope-Gemeinde würde so viele Sicherungen benötigen. Und so echt diese Schalter auch aussahen, es waren keine. Das Gehäuse dieses Kastens führte zu dem Geheimversteck. Bruce hatte Unglaubliches geschafft, seit Buck es vor wenigen Monaten 262
zuletzt gesehen hatte. Buck fragte sich, wann Bruce die Zeit gefunden hatte, spätabends noch hierher zu kommen und weiterzuarbeiten, nach allem, was er sonst zu tun hatte. Niemand außer den Mitgliedern der Tribulation Force wusste von diesem Versteck, nicht einmal Loretta. Der Raum verfügte über eine Belüftung, eine Klimaanlage, war gut beleuchtet und der Boden und die Decke waren mit Holz verkleidet. Alles Lebensnotwendige war hier vorhanden. Bruce hatte den 6x6-Meter großen Raum in drei Räume aufgeteilt. Es gab ein voll ausgestattetes Bad mit Dusche, ein Schlafzimmer mit zwei Etagenbetten und eine größere Einheit mit einer kleinen Küchenzeile, die als Kombination aus Wohn- und Arbeitszimmer gedacht war. Buck war erstaunt, dass er sich hier überhaupt nicht eingeengt fühlte. Doch wenn sich mehr als zwei Personen in diesem Bereich aufhielten, würde man sich wahrscheinlich schon ziemlich beengt fühlen. Bruce hatte keine Kosten gescheut. Alles war neu, der Gefrierschrank, der Kühlschrank, die Mikrowelle, der Herd. Jeder Quadratzentimeter war als Vorratsfläche genutzt worden. Und welche Kommunikationsmöglichkeiten hat Bruce installiert?, fragte sich Buck. Buck kroch den Teppich entlang. Hinter einem Schlafsofa entdeckte er eine Reihe von Telefonbuchsen. Er verfolgte die Drähte die Wand hinauf und überlegte, wo sie im Kellerflur austreten würden. Er schaltete die Lichter aus, schloss die Tür zum Sicherungskasten, zog die Stahltür hinter sich zu, rannte die Treppen hinauf und schob die Maueröffnung wieder zu. In einer dunklen Ecke des Flures leuchtete er mit der Taschenlampe die Wand ab und entdeckte die Leitungen, die vom Boden durch die Decke führten. Er ging zurück in die Begegnungshalle und sah aus dem Fenster. Die Beleuchtung des Parkplatzes war so hell, dass er die Leitungen verfolgen konnte, die außen am Gebäude entlang bis hinauf zum Kirchturm geführt worden waren. 263
Bruce hatte Buck erzählt, der Kirchturm sei ein Überrest der alten Kirche, die dreißig Jahre zuvor niedergerissen worden war. Früher waren die Leute tatsächlich durch die Glocke zum Gottesdienst gerufen worden. Die Glocken waren noch da, aber die Seile, die früher durch eine Falltür nach unten hingen, waren abgeschnitten worden. Der Kirchturm diente nur noch zur Zierde. Oder etwa nicht? Buck holte eine Trittleiter aus dem Abstellraum, stellte sie im Foyer auf und stieg hinauf. Nachdem er die Falltür aufgedrückt hatte, kletterte er auf den Dachboden und fand eine Eisenleiter, die zum Glockenturm führte. Er kletterte hoch zu den alten mit Spinnweben, Staub und Schmutz bedeckten Glocken. Als er den nach außen offenen Teil erreichte, geriet er in ein Spinnennetz hinein. Er spürte, wie eine Spinne durch sein Haar lief, und verlor beinahe das Gleichgewicht auf der Leiter bei dem Versuch, sie fortzuwischen. Erst am Tag zuvor war er quer durch die Wüste gejagt, gerammt und beschossen worden und buchstäblich durch die Flammen in die Freiheit gesprungen. Er schnaubte. Fast wäre ihm lieber, dies alles noch einmal durchzumachen, als dass ihm eine Spinne durch die Haare lief. Buck spähte außen an der Mauer entlang nach unten und suchte nach der Leitung. Sie führte bis hinauf zum spitzen Teil des Turms. Er kletterte die Leiter weiter hinauf und trat durch die Öffnung. Jetzt befand er sich in dem etwas breiteren Teil des Turmes, der von unten nicht erleuchtet war. Das alte Holz wirkte etwas morsch. Sein Fuß begann zu schmerzen. Wäre das nicht einfach toll?, dachte er. Mitten in der Nacht vom Kirchturm der eigenen Gemeinde herunterzufallen? Nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, um sicherzugehen, dass keine Wagen draußen standen, leuchtete er mit der Taschenlampe nach oben, wo die Leitung hinauf zum Turm führte. Dort hing etwas, das aussah wie eine MiniaturSatellitenschüssel, die einen Durchmesser von etwa zweieinhalb Zentimetern hatte. Buck konnte die Aufschrift auf dem 264
kleinen Schildchen nicht lesen, darum stellte er sich auf Zehenspitzen und kratzte ihn ab. Er steckte ihn in seine Tasche und wartete, bis er wieder unten war. Nachdem er die Falltür geschlossen und die Trittleiter wieder verstaut hatte, holte er es heraus. Darauf stand: »Donny-Moore-Technologie: Ihr Computerdoktor.« Buck löschte die Lichter. Aus dem Büro von Bruce holte er sich eine Konkordanz und schlug unter dem Wort »Dach« nach. Die seltsame Installation dieser Mini-Satellitenschüssel erinnerte ihn an einen Vers, den er einmal gehört hatte und der davon handelte, dass man die Gute Nachricht von den Dächern verkünden sollte. Schließlich fand er sie. Im MatthäusEvangelium, Kapitel 10, Verse 27 bis 28 hieß es: »Was ich euch im Dunkeln sage, davon redet am hellen Tag, und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet von den Dächern. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann.« Es sah Bruce wirklich ähnlich, die Bibel wörtlich zu nehmen! Buck fuhr zu Lorettas Haus zurück. Dort wollte er bis sechs Uhr die Unterlagen von Bruce durcharbeiten und dann bis Mittag schlafen, wenn Amanda mit Rayford vom Flughafen kommen würde. Würde er je aufhören können zu staunen? Während er die kurze Strecke bis zu Lorettas Haus fuhr, musste er daran denken, wie sehr sich die beiden Fahrzeuge doch voneinander unterschieden, die er in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gefahren hatte. Hier saß er in einem Range Rover, der eine sechsstellige Summe gekostet hatte und über allen Luxus verfügte, und dagegen der altersschwache Bus, den er von einem Mann »gekauft« hatte, der vermutlich schon bald ein Märtyrer sein würde. Erstaunlicher war jedoch, dass Bruce so gut vorgeplant und so vieles vor seinem Tod vorbereitet hatte. Mit Hilfe der neue265
sten Technologie würden die Tribulation Force und ihr neuestes Mitglied, Tsion Ben-Juda, schon bald in der Lage sein, über Satellit und Internet von einem geheimen Ort aus das Evangelium in der ganzen Welt zu verkündigen – jedem, der es hören wollte, und vielen, die es nicht hören wollten. Nach Chicagoer Zeit war es halb drei Uhr morgens, als Buck vom Gemeindehaus zurückkam und sich mit Bruces Papieren an den Esstisch in Lorettas Haus setzte. Sie ließen sich lesen wie ein Roman. Begierig sog er die Bibelstudien und Kommentare in sich auf. Er fand auch die Notizen für die Predigt am folgenden Sonntag. Buck konnte nicht öffentlich in dieser Gemeinde sprechen. Er hatte sich bereits sehr verletzlich gemacht, indem er Verna in Lorettas Haus untergebracht hatte, aber ganz bestimmt konnte er Rayford helfen, einige Gedanken zusammenzustellen. Trotz seiner jahrelangen Erfahrung als Pilot hatte Rayford noch kein Heilmittel gegen den Jetlag gefunden, vor allem, wenn er von Osten nach Westen flog. Sein Körper sagte ihm, dass es mitten in der Nacht war und dass er, nachdem er den ganzen Tag über geflogen war, die nötige Bettschwere hatte. Doch als die DC-10 in Milwaukee zum Terminal rollte, war es in Chicago erst Mittag. Auf dem Sitz neben ihm saß schlafend die hübsche Hattie Durham. Ihr langes blondes Haar war zerzaust und ihre Wimperntusche verschmiert, nachdem sie ihre Tränen abgewischt hatte. Sie hatte fast während des ganzen Fluges geweint. Während der Mahlzeiten, eines Filmes und eines Imbisses hatte sie Rayford ihr Herz ausgeschüttet. Sie wollte nicht bei Carpathia bleiben. Ihre Liebe zu diesem Mann war erloschen. Sie verstand ihn nicht. Zwar hielt sie ihn nicht gerade für den Antichristen, doch ganz bestimmt war sie nicht mehr so beeindruckt von ihm wie der größte Teil der Öffentlichkeit. Rayford hatte es sorgfältig vermieden, ihr zu verraten, was er 266
von Carpathia hielt. Natürlich wusste sie, dass Rayford nicht zu seinen Fans gehörte, und er war auch kaum loyal zu nennen, aber er hielt es für klüger, nicht ausdrücklich zu betonen, dass er mit den meisten Gläubigen einer Meinung war und in Carpathia den Antichristen sah. Daran gab es für ihn keinerlei Zweifel. Aber er hatte es schon erlebt, dass zerbrochene Liebesbeziehungen wieder in Ordnung kamen, und keinesfalls wollte er Hattie etwas in die Hand geben, das sie mit Carpathia gegen ihn verwenden konnte. Schon bald würde es vollkommen egal sein, wer ihn bei Nicolai schlecht machte. Sie würden sowieso Todfeinde sein. Am meisten beunruhigte Rayford, wie aufgebracht Hattie in Bezug auf ihre Schwangerschaft war. Er wünschte, sie würde von ihrem Baby sprechen. Aber für sie war es eine Schwangerschaft, eine ungewollte Schwangerschaft. Anfangs vielleicht nicht, doch nun wollte sie Nicolai Carpathias Kind nicht mehr zur Welt bringen. Rayford war die schwierige Aufgabe zugefallen, seine Ansicht zu vertreten, ohne zu offen zu sein. Er hatte sie gefragt: »Hattie, welche Möglichkeiten stehen Ihnen nach Ihrer Meinung offen?« »Für mich gibt es drei Möglichkeiten, Rayford. Jede Frau muss diese drei Möglichkeiten durchdenken, wenn sie schwanger wird.« Nicht jede Frau, dachte Rayford. Hattie fuhr fort: »Ich kann das Kind austragen und behalten, was ich nicht möchte. Ich kann es zur Adoption freigeben, aber ich glaube nicht, dass ich die ganze Schwangerschaft und die Geburt durchstehen möchte. Und natürlich kann ich die Schwangerschaft abbrechen.« »Was genau bedeutet das?« »Was meinen Sie mit Ihrer Frage?«, hatte Hattie geantwortet. »Eine Schwangerschaft abbrechen, bedeutet eben, einen Abbruch herbeizuführen.« 267
»Sie meinen eine Abtreibung?« Hattie hatte ihn angestarrt, als wäre er nicht ganz normal. »Ja! Was haben Sie denn gedacht?« »Na ja, so wie Sie es ausdrücken, habe ich den Eindruck, als würden Sie das für die einfachste Lösung halten.« »Es ist die einfachste Lösung, Rayford. Denken Sie doch nur einmal nach. Ganz offensichtlich wäre doch der schlimmste Fall, die ganze Schwangerschaft durchzuhalten, alle Unannehmlichkeiten auf sich zu nehmen und schließlich den Schmerz der Entbindung zu durchleben. Und wenn ich dann tatsächlich diese mütterlichen Instinkte bekomme, von denen alle Welt redet? Abgesehen davon würde ich all das auf mich nehmen und das Kind eines fremden Mannes zur Welt bringen. Und dann würde ich es abgeben müssen, was alles noch schlimmer machen würde.« »Sie haben es gerade ein Kind genannt«, hatte Rayford gesagt. »Wie bitte?« »Sie haben von Ihrer Schwangerschaft gesprochen, aber nach der Geburt ist es ein Kind?« »Na ja, es wird jemandes Kind sein. Ich hoffe, nicht meines.« Während des Essens hatte Rayford die Sache auf sich beruhen lassen. Im Stillen hatte er gebetet, dass er in der Lage sein würde, ihr etwas von der Wahrheit zu vermitteln. Sensibilität war nicht gerade seine Stärke. Sie war nicht dumm. Vielleicht wäre Direktheit der bessere Weg. Später hatte Hattie dann selbst das Thema wieder angeschnitten. »Warum sollte ich mich schuldig fühlen, weil ich eine Abtreibung in Betracht ziehe?« »Hattie«, hatte er geantwortet, »ich will Ihnen keine Schuldgefühle machen. Sie müssen Ihre eigenen Entscheidungen treffen. Was ich denke, ist doch nicht wichtig, oder?« »Mir ist Ihre Meinung sehr wichtig. Ich respektiere Sie. Ich hoffe, Sie glauben nicht, ich würde mir die Entscheidung leicht 268
machen, aber eine Abtreibung ist nun mal die beste und einfachste Lösung.« »Die beste und einfachste Lösung für wen?« »Für mich natürlich. Manchmal muss man auch an sich denken. Als ich meine Stellung aufgab und nach New York kam, um bei Nicolai zu sein, dachte ich, ich würde endlich etwas für Hattie tun. Und nun gefällt mir gar nicht mehr, was ich für Hattie getan habe, darum muss ich etwas anderes für Hattie tun. Verstehen Sie?« Rayford hatte genickt. Er verstand sie nur zu gut. Er musste sich daran erinnern, dass sie kein Christ war. Sie würde nur ihr Wohl im Sinn haben. Warum sollte sie auch anders denken? »Hattie, tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie nur für einen Augenblick an, das ›Es‹, das Sie in sich tragen, sei bereits ein Kind. Es ist Ihr Kind. Vielleicht mögen Sie seinen Vater nicht. Vielleicht gefällt Ihnen nicht, welche Veranlagungen sein Vater ihm vererbt hat. Aber dieses Baby ist auch Ihr Blutsverwandter. Sie haben bereits mütterliche Gefühle, sonst würde Sie das alles nicht so beunruhigen. Meine Frage ist, wer kümmert sich um die Interessen dieses Kindes? Nehmen wir an, es ist ein Fehler gemacht worden. Nehmen wir an, es war unmoralisch, dass Sie mit Nicolai Carpathia zusammengelebt haben, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Nehmen wir an, diese Schwangerschaft, dieses Kind wurde in einer unmoralischen Verbindung gezeugt. Wir wollen noch einen Schritt weitergehen. Nehmen wir an, diese Menschen, die Nicolai Carpathia für den Antichristen halten, hätten Recht. Ich nehme Ihnen ja ab, dass Sie vielleicht bereits bedauern, überhaupt ein Kind zu erwarten, und befürchten, ihm keine gute Mutter sein zu können. Ich glaube aber nicht, dass Sie die Verantwortung dafür einfach abschieben können, wie es vielleicht bei dem Opfer einer Vergewaltigung oder einer inzestuösen Beziehung gerechtfertigt wäre. Aber selbst in solchen Fällen kann die Lösung doch nicht 269
sein, das unschuldige ungeborene Wesen einfach zu töten! Die Menschen verteidigen ihr Recht auf freie Entscheidung. Doch im Endeffekt entscheiden sie sich bei einer Abtreibung nicht nur für die Beendigung einer Schwangerschaft, sondern für den Tod eines Menschen. Aber welches Menschen? Des Menschen, der den Fehler gemacht hat? Des Menschen, der eine Vergewaltigung oder einen Inzest begangen hat? Oder des Menschen, der schwanger geworden ist? Nein, die Lösung ist immer, den unschuldigen Menschen zu töten.« Rayford war zu weit gegangen, das hatte er gemerkt. Er hatte gesehen, wie Hattie sich die Ohren zugehalten hatte und Tränen über ihr Gesicht strömten. Er hatte sie am Arm berührt und sie hatte sich ihm entzogen. Er hatte sich noch weiter vorgebeugt und sie am Ellbogen gepackt. »Hattie, bitte ziehen Sie sich doch nicht von mir zurück. Bitte denken Sie nicht, ich hätte Sie persönlich verletzen wollen. Rechnen Sie es einfach jemandem zu, der sich für die Rechte eines Menschen einsetzt, der sich selbst noch nicht verteidigen kann. Wenn Sie sich nicht für Ihr eigenes Kind einsetzen, muss es jemand anderer tun.« Daraufhin hatte sie sich ihm entzogen, ihr Gesicht in den Händen vergraben und geweint. Rayford war wütend auf sich. Warum war er nicht klüger vorgegangen? Wie konnte er hier sitzen und ihr das alles vorhalten? Sicher, das war seine Meinung und er war davon überzeugt, dass auch Gott es so sah. Für ihn war es logisch. Aber er wusste auch, dass sie das alles zurückweisen konnte, weil er ein Mann war. Wie konnte er sie verstehen? Niemand schrieb ihm vor, was er mit seinem Körper zu tun oder nicht zu tun hatte. Lange Zeit hatte Hattie kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Er wusste, er hatte es verdient. Aber, fragte er sich, wie viel Zeit haben wir noch, um diplomatisch zu sein? Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte. Er konnte sie nur bitten, solange er die Gelegenheit dazu hatte. »Hattie«, hatte er erneut das Wort 270
ergriffen. Sie hatte ihn nicht angesehen. »Hattie, bitte lassen Sie mich noch eines sagen.« Sie hatte sich ihm ein wenig zugewandt, ihn aber nicht angesehen, doch er hatte den Eindruck, dass sie ihm zumindest zuhören würde. »Verzeihen Sie mir, wenn ich etwas gesagt habe, das Sie beleidigt oder Ihnen wehgetan hat. Ich hoffe, Sie kennen mich mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass ich so etwas niemals mit Absicht tun würde. Wichtiger noch, Sie sollen wissen, dass ich zu den wenigen Freunden gehöre, die Sie in Chicago noch haben. Sie bedeuten mir etwas und ich möchte nur Ihr Bestes. Ich wünschte, Sie würden auf Ihrem Rückweg in Mount Prospect Station machen und uns besuchen. Selbst wenn ich nicht dort sein sollte, wenn ich schon vor Ihnen nach Neu-Babylon zurückkehren muss, kommen Sie doch vorbei und besuchen Sie Buck und Chloe. Sprechen Sie mit Amanda. Würden Sie das tun?« Jetzt sah sie ihn an. Sie hatte ihre Lippen zusammengepresst und schüttelte entschuldigend den Kopf. »Vermutlich nicht. Ich weiß Ihre Gefühle zu schätzen und akzeptiere Ihre Entschuldigung. Aber nein, wahrscheinlich werde ich nicht vorbeikommen.« Und dabei war es geblieben. Rayford war watend auf sich selbst. Seine Motive waren nur die besten gewesen und er war der Meinung, dass seine Argumente verständlich gewesen waren. Aber vielleicht hatte er sich zu sehr auf sich verlassen und nicht genug auf Gott. Jetzt konnte er nur noch für sie beten. Als das Flugzeug schließlich am Terminal anhielt, half Rayford Hattie, ihre Tasche aus dem Gepäckfach zu nehmen. Sie dankte ihm. Er wagte nicht, noch etwas zu sagen. Er hatte sich genug entschuldigt. Hattie fuhr sich noch einmal übers Gesicht und sagte: »Rayford, ich weiß, Sie meinen es gut. Aber Sie machen mich manchmal verrückt. Ich sollte froh sein, dass sich 271
zwischen uns keine Beziehung entwickelt hat.« »Vielen Dank«, erwiderte Rayford und tat beleidigt. »Ich meine es ernst«, sagte sie. »Sie verstehen mich sehr gut. Wahrscheinlich ist der Altersunterschied zwischen uns einfach zu groß.« »Vermutlich«, stimmte Rayford zu. So sah sie das also. Gut. Aber darum ging es eigentlich doch gar nicht. Er hatte die Sache vielleicht nicht richtig angepackt, aber er wusste, dass der Versuch, das wieder in Ordnung zu bringen, nichts bewirken würde. Als sie vom Flugsteig kamen, entdeckte er Amandas freudestrahlendes Gesicht. Er eilte zu ihr und nahm sie in die Arme. Sie gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss, zog sich aber sofort wieder von ihm zurück. »Ich wollte Sie nicht ignorieren, Hattie, aber offen gestanden konnte ich es kaum erwarten, Rayford wieder zu sehen.« »Ich verstehe«, meinte Hattie leichthin, schüttelte ihr die Hand und sah weg. »Können wir Sie irgendwo absetzen?«, fragte Amanda. Hattie lachte leise. »Na ja, mein Gepäck ist nach Denver durchgecheckt. Können Sie mich da absetzen?« »Ach natürlich, ich wusste es ja!«, rief Amanda. »Können wir Sie zu Ihrem Flugsteig begleiten?« »Nein danke, ich komme schon zurecht. Ich kenne diesen Flughafen. Ich habe noch etwas Aufenthalt und werde versuchen, ein wenig zu entspannen.« Rayford und Amanda verabschiedeten sich von Hattie und sie verhielt sich freundlich, doch als sie davongingen, fing sie Rayfords Blick auf. Sie verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Er fühlte sich sehr elend. Hand in Hand machten sich Rayford und Amanda über die Rolltreppe auf den Weg zur Gepäckausgabe. Amanda zögerte und zog Rayford von der Rolltreppe zurück. Ihr Blick war auf einen Fernsehmonitor gefallen. 272
»Ray«, sagte sie, »komm und sieh dir das an.« Gemeinsam verfolgten sie auf dem Monitor den Bericht von CNN/GNN zum Ausmaß des durch den Krieg verursachten Schadens. Carpathia hatte begonnen, seinen Plan umzusetzen. Der Nachrichtensprecher sagte: »Weltgesundheitsexperten schätzen, dass die Anzahl der Todesfälle international auf mehr als zwanzig Prozent ansteigen wird. Der Potentat der Weltgemeinschaft, Nicolai Carpathia, hat die Bildung einer internationalen Weltgesundheitsorganisation angekündigt, die die Aufsicht über alle Bemühungen der örtlichen und überregionalen Organisationen führen wird. Er und seine zehn Weltbotschafter haben bei ihrer Konferenz in Neu-Babylon einen Vorschlag für Maßnahmen ausgearbeitet, die die Gesundheits- und Wohlfahrtsbemühungen auf der ganzen Welt koordinieren sollen. Wir hören jetzt eine Stellungnahme des bekannten Herzchirurgen Samuel Kline aus Norwegen.« Rayford flüsterte: »Dieser Bursche gehört zu Carpathias Leuten. Ich habe ihn schon gesehen. Er sagt, was immer der heilige Nick zu hören wünscht.« Der Arzt sagte gerade: »Das internationale Rote Kreuz und die Weltgesundheitsorganisation, so hervorragend und effektiv sie in der Vergangenheit auch gearbeitet haben, sind nicht in der Lage, mit diesem Ausmaß an Zerstörung, Krankheit und Tod fertig zu werden. Potentat Carpathias visionärer Plan ist nicht nur unsere einzige Hoffnung auf Überleben inmitten der bevorstehenden Hungersnöte und Seuchen, sondern mir scheint er auf den ersten Blick auch ein überzeugendes Modell für die beste internationale Gesundheitsfürsorge aller Zeiten zu sein. Sollte die Rate der Todesopfer durch verseuchtes Wasser und verseuchte Luft, Nahrungsmittelknappheit und Ähnliches tatsächlich 25 % erreichen, wie einige vorhergesagt haben, können neue Rahmenbedingungen für das Leben vom Mutterleib bis zum Tod die Erde, die im Augenblick vor dem Abgrund steht, zu einem überlebensfähigen, zukunftsorientierten 273
Staat machen.« Rayford und Amanda wandten sich der Rolltreppe zu. Rayford schüttelte den Kopf. »Mit anderen Worten: Carpathia entfernt die Leichen, an deren Tod er die Schuld trägt, und wir anderen glücklichen Untertanen werden gesünder und reicher sein als je zuvor.« Amanda sah ihn an. »So spricht ein wahrer, loyaler Angestellter.« Er legte seine Arme um sie und küsste sie. Unten angekommen stolperten sie und wären beinahe hingefallen. Buck umarmte seinen Schwiegervater und alten Freund wie einen Bruder. Für ihn war es eine Ehre, Rayford Tsion BenJuda vorzustellen und zuzusehen, wie sie sich miteinander bekannt machten. Wieder einmal war die Tribulation Force zusammen, tauschte die neuesten Nachrichten aus und versuchte, eine Zukunft zu planen, die nie unsicherer gewesen war.
15 Rayford zwang sich dazu, am Samstag bis zur normalen Schlafengehenszeit aufzubleiben. Er, Buck und Tsion gingen gemeinsam das Material von Bruce durch. Mehr als einmal war Rayford zu Tränen gerührt. »Ich bin nicht sicher, dass ich das schaffe«, meinte er. Tsion sprach leise. »Sie schaffen es.« »Was hättet ihr gemacht, wenn ich nicht hätte kommen können?« Buck antwortete: »Ich weiß es nicht, aber ich kann es auf keinen Fall riskieren, in der Öffentlichkeit zu sprechen. Und Tsion ganz bestimmt auch nicht.« Rayford fragte, was sie mit Tsion tun sollten. »Er kann nicht lange hier bleiben, oder?«, fragte er. »Nein«, erwiderte Buck. »Es wird nicht lange dauern, bis die 274
Leute von der Weltgemeinschaft erfahren, dass ich an seiner Flucht beteiligt war. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn Carpathia es bereits wüsste.« Sie beschlossen, dass Tsion am Sonntagmorgen den Gottesdienst in der New Hope-Gemeinde besuchen sollte, am besten gemeinsam mit Loretta, damit es so aussah, als hätte sie einen alten Freund zu Besuch. Der Altersunterschied war so groß, dass er, abgesehen von seinem fremdartigen Aussehen, ein Sohn oder Neffe hätte sein können. »Aber ich würde es nicht riskieren, ihn noch weiter der Öffentlichkeit auszusetzen«, meinte Rayford. »Wenn das Versteck fertig ist, sollten wir ihn noch vor morgen Abend hineinschmuggeln.« Am späten Abend kamen die Mitglieder der Tribulation Force zu einer Besprechung zusammen. Tsion Ben-Juda wurde gebeten, in einem anderen Zimmer zu warten. Rayford, Amanda, Buck und Chloe setzten sich um den Esszimmertisch, auf dem die Ausdrucke aus Bruces Computer lagen. »Ich denke, als ältestes Mitglied dieser kleinen Gruppe von Freiheitskämpfern fällt es mir zu, nach dem Tod unseres Leiters das erste Treffen einzuberufen.« Amanda hob schüchtern die Hand. »Entschuldige, aber ich glaube, ich bin das älteste Mitglied, falls du vom Alter sprichst.« Rayford lächelte. Die Stimmung unter ihnen war gedrückt und er war dankbar für ihre schwachen Versuche, sie aufzuheitern. »Ich weiß, dass du die Älteste bist, Liebling«, erwiderte er, »aber ich bin schon länger Christ als du. Vielleicht eine Woche oder so.« »Das stimmt allerdings«, gab sie zu. »Der einzige Punkt der Tagesordnung heute Abend ist die Aufnahme eines neuen Mitglieds. Ich denke, uns allen ist klar, dass Gott uns in Dr. Ben-Juda einen neuen Leiter und Mentor geschickt hat.« Chloe meldete sich zu Wort. »Wir verlangen schrecklich viel 275
von ihm, denkt ihr nicht? Woher wissen wir denn, dass er in diesem Land leben möchte? In dieser Stadt?« »Wo sonst sollte er hingehen?«, fragte Buck. »Ich meine, es ist natürlich nur fair, ihn zu fragen, anstatt ihn einfach zu verplanen, aber seine Möglichkeiten sind begrenzt.« Buck erzählte den anderen von den neuen Telefonen, den bestellten Computern, von der Ausstattung des Geheimverstecks mit Telefon- und Computeranschlüssen und dass Donny Moore ein System zusammenbaute, das nicht zurückzuverfolgen war. Rayford hatte den Eindruck, dass alle ermutigt waren. Er beendete seine Vorbereitungen für den Trauergottesdienst am folgenden Morgen und sagte, er hätte vor, rückhaltlos evangelistisch zu predigen. Sie beteten um Zuversicht, Frieden und den Segen Gottes für ihre Entscheidung, Tsion in die Tribulation Force aufzunehmen. Daraufhin holte Rayford den Rabbi hinzu. »Tsion, mein Bruder, wir würden Sie gern bitten, sich unserer kleinen Gruppe anzuschließen. Wir wissen, dass Sie einen großen Verlust erlitten haben, über den Sie vermutlich noch sehr lange trauern werden. Wir erwarten keine sofortige Entscheidung von Ihnen. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, brauchen wir Sie nicht nur in unserer Mitte, sondern als unseren Leiter, unseren Pastor. Wir wissen, dass eines Tages der Zeitpunkt gekommen sein wird, wo wir mit Ihnen gemeinsam in dem Geheimversteck werden leben müssen. In der Zwischenzeit werden wir versuchen, ein so normales Leben wie möglich zu führen, zu überleben und die Gute Nachricht von Jesus Christus weiterzusagen.« Tsion erhob sich und legte beide Hände auf den Tisch. Buck, der noch vor kurzem gedacht hatte, dass Tsion jünger als 46 Jahre aussah, bemerkte nun, wie erschöpft und ausgelaugt dieser war. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er sprach langsam, zögernd, mit zitternden Lippen. »Meine lieben Brüder und Schwestern in Christus«, begann 276
er mit seinem starken israelischen Akzent, »ich fühle mich sehr geehrt und bin gerührt. Ich bin Gott sehr dankbar, dass er mir Cameron geschickt hat, um mein Leben zu retten. Wir müssen für unsere Brüder Michael und seine drei Freunde beten, die, wie ich glaube, zu den 144 000 Zeugen gehören, die Gott auf der ganzen Welt aus den Stämmen Israels berufen wird. Wir müssen auch für unseren Bruder Anis beten, von dem Cameron Ihnen erzählt hat. Er wurde von Gott gebraucht, um uns zu befreien. Ich weiß nichts über ihn, außer, dass er, falls herauskommen sollte, dass er mich hat laufen lassen, sehr schnell zu den Märtyrern gehören könnte. So sehr mich der große persönliche Verlust, den ich erlitten habe, auch niedergedrückt hat, so deutlich sehe ich doch die Hand des allmächtigen Gottes in meinem Leben. Es ist, als wäre mein gesegnetes Heimatland ein Salzstreuer in seiner Hand, den er umgedreht und geschüttelt hat. Ich bin genau dort gelandet, wo er mich haben möchte. Wo sonst könnte ich hingehen? Ich brauche keine Bedenkzeit. Ich habe bereits darüber gebetet. Ich bin, wo Gott mich haben möchte, und ich werde so lange hier bleiben, wie er will. Mir gefällt es nicht, im Verborgenen zu leben, aber ich bin auch nicht leichtsinnig. Dankbar nehme ich Ihr Angebot, mich zu verstecken und zu versorgen, an und ich freue mich auf die Software, die Cameron auf den neuen Computer aufspielen wird. Wenn Sie und Ihr technischer Ratgeber, der junge Donny Moore, einen Weg finden können, meine Arbeit an andere weiterzugeben, würde ich mich sehr freuen. Ganz offensichtlich ist meine Zeit des Reisens und öffentlichen Predigens vorbei. Ich freue mich darauf, morgen früh mit anderen Gläubigen zusammen zu sein und mehr von Ihrem wundervollen Mentor und meinem Vorgänger Bruce Barnes zu hören. Ich kann und will nicht versprechen, ihn euch zu ersetzen. Wer kann den geistlichen Vater eines Menschen ersetzen? 277
Aber da Gott mich mit einem natürlichen Sprachtalent gesegnet hat, mit einem Herz, das ihn sucht und immer gesucht hat, und mit der Wahrheit, die er mir geoffenbart hat und die ich ein wenig zu spät erkannt und angenommen habe, werde ich den Rest meines Lebens damit verbringen, Ihnen und jedem anderen, der es hören möchte, die Gute Nachricht des Evangeliums von Jesus Christus, dem Messias, dem Erlöser, meinem Messias und meinem Erlöser weiterzusagen.« Tsion sank auf seinem Stuhl zusammen und wie auf ein Zeichen fielen Rayford und die anderen Mitglieder der Tribulation Force auf die Knie. Buck spürte die Gegenwart Gottes genauso deutlich wie während ihrer Flucht durch Israel und Ägypten. Er erkannte, dass Gott nicht durch Zeit und Raum begrenzt war. Später, als er und Chloe zu Bett gingen, beteten sie, dass Verna Zee ihr Versprechen, am morgigen Gottesdienst teilzunehmen, wahrmachen würde. »Sie ist der Schlüssel«, sagte Buck. »Chloe, wenn sie durchdreht und jemandem etwas von mir erzählt, wird sich unser Leben dramatisch verändern!« »Buck, unser Leben hat sich seit dem Tag vor fast zwei Jahren dramatisch verändert.« Buck nahm sie in die Arme und sie schmiegte sich an seine Brust. Buck spürte, wie sie sich entspannte und hörte ihr tiefes, gleichmäßiges Atmen, nachdem sie wenige Minuten später eingeschlafen war. Er lag noch eine Stunde wach und starrte an die Decke. Buck erwachte gegen acht Uhr am folgenden Morgen in einem leeren Ben. Frühstücksgeruch stieg ihm in die Nase. Loretta war vermutlich bereits in der Gemeinde. Er wusste, dass Chloe und Amanda häufig gemeinsam arbeiteten, aber er war erstaunt, auch Tsion in der Küche vorzufinden. »Wir werden dem Frühstück ein paar Spezialitäten des Mittleren Ostens 278
hinzufügen, ja?«, fragte er. »Klingt gut, Bruder«, erwiderte Buck. »Loretta wird um neun Uhr herüberkommen und Sie abholen. Amanda, Chloe und ich werden sofort nach dem Frühstück zur Gemeinde hinüberfahren.« Buck hatte damit gerechnet, dass es an diesem Morgen voll werden würde, aber er hatte nicht erwartet, dass der Parkplatz überfüllt und die Autos bereits an den Straßen entlang stehen würden. Wenn Loretta keinen reservierten Parkplatz gehabt hätte, hätte sie ihren Wagen besser zu Hause gelassen und wäre mit Tsion zu Fuß zur Gemeinde gegangen. Und tatsächlich hatte sie auch jemanden von ihrem Parkplatz vertreiben müssen, als sie schließlich mit Tsion angekommen war. Keinesfalls durfte Tsion mit Buck in der Gemeinde gesehen werden. Buck saß bei Chloe und Amanda. Loretta hatte sich mit Tsion einen Platz ganz hinten gesucht. Gemeinsam hielten Loretta, Buck, Chloe und Amanda nach Verna Ausschau. Rayford beschäftigte sich gedanklich mit dem Gottesdienst und dem, was er noch zu tun hatte. Fünfzig Minuten vor Beginn des Gottesdienstes gab er dem Bestattungsunternehmen das Zeichen, den Sarg in das Gemeindehaus zu rollen und zu öffnen. »Sir, sind Sie sicher, dass ich das wirklich tun soll? Der Gemeindesaal ist bereits brechend voll«, meinte dieser. Rayford zweifelte nicht an seinen Worten, folgte ihm jedoch, um sich selbst davon zu überzeugen. Er spähte durch die Tür zum Podium. Es wäre nicht passend gewesen, den Sarg vor all diesen Leuten zu öffnen. Wenn Bruces Sarg bereits geöffnet dagestanden hätte, als sie ankamen, wäre es etwas anderes gewesen. »Rollen Sie den Sarg einfach nur hinaus. Wir werden ihn später öffnen.« Als Rayford ins Büro zurückkehrte, begegneten er und der Bestattungsunternehmer den Helfern, die den Sarg von Bruce 279
zum Podium schoben. Rayford verspürte plötzlich den starken Drang, Bruce noch einmal zu sehen. »Könnten Sie den Sarg bitte kurz für mich öffnen?« Rayford drehte sich ab und hörte, wie der Deckel geöffnet wurde. Er blickte sich wieder zum Sarg um. Bruce wirkte noch weniger lebendig und noch mehr wie eine menschliche Hülle als vor wenigen Tagen, als Rayford ihn vor dem zerstörten Krankenhaus gefunden hatte. Ob nun das Licht, die verstrichene Zeit oder sein eigener Schmerz schuld daran waren, Rayford wusste es nicht. Dies, das war ihm klar, war nur noch die irdische Hülle seines Freundes. Bruce war tot. Das, was hier lag, war nur ein schwaches Abbild des Mannes, der er einst gewesen war. Rayford dankte dem Bestattungsunternehmer und eilte ins Büro zurück. Er war froh, dass er diesen letzten Blick auf Bruce geworfen hatte. Nicht, dass er einen Abschied brauchte, wie viele diesen letzten Blick nannten. Er hatte nur befürchtet, der Schock, Bruce so leblos zu sehen, würde ihn sprachlos machen. Aber so war es nicht. Er war nervös und fühlte doch gleichzeitig mehr Zuversicht als je zuvor, Bruce zu vertreten und zu diesen Leuten von Gott zu sprechen. In dem Augenblick, als Buck die Menge erblickte, war seine Kehle wie zugeschnürt. Die Anzahl der Menschen erstaunte ihn nicht, sondern nur, wie früh sie alle gekommen waren. Auch war nicht wie sonst bei Sonntagsgottesdiensten das leise Murmeln angeregter Gespräche zu hören. Niemand schien auch nur zu flüstern. Die Stille war unheimlich und jeder hätte sie als Tribut an Bruce werten können. Die Leute weinten, aber niemand schluchzte, zumindest noch nicht. Sie saßen einfach da, überwiegend mit geneigten Köpfen, und einige lasen sich das kurze Programm durch, auf dem in wenigen Worten Bruces Lebenslauf aufgeführt war. Buck war erstaunt über den Vers, den jemand, vermutlich Loretta, auf die letzte Seite des Pro280
gramms aufgedruckt hatte. Er hieß: »Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.« Buck spürte, wie Chloe erschauerte, und wusste, dass sie den Tränen nahe war. Er legte den Arm um ihre Schulter. Dabei berührte seine Hand Amanda, die neben ihr saß. Amanda drehte sich um und Buck sah ihre Tränen. Er legte seine Hand auf ihre Schulter. In stillem Kummer saßen sie nebeneinander. Genau um zehn Uhr, pünktlich wie (Bucks Meinung nach) nur ein Pilot sein konnte, kamen Rayford und einer der Gemeindeältesten aus der Tür am Rande des Podiums. Rayford setzte sich, während der andere Mann ans Mikrofon trat und die Gemeinde mit einem Handzeichen aufforderte, sich zu erheben. Die Gemeinde sang zwei Lieder, so langsam und gefühlvoll, dass Buck kaum die Worte herausbekam. Nach den beiden Liedern sagte der Gemeindeälteste: »Damit ist unser Vorprogramm bereits beendet. An diesem Sonntag wird keine Kollekte eingesammelt werden. Es werden auch keine Bekanntmachungen gegeben. Alle Gemeindeveranstaltungen beginnen am nächsten Sonntag wie gewohnt. Dieser Trauergottesdienst wird zum Gedenken unseres lieben verstorbenen Pastors Bruce Barnes abgehalten.« Er fuhr fort und berichtete, wo Bruce geboren worden und wann und wo er verstorben war. »Seine Frau, eine Tochter und zwei Söhne sind ihm vorangegangen. Sie waren bei der Entrückung der Gemeinde dabei. Unser Sprecher an diesem Morgen ist der Gemeindeälteste Rayford Steele, der seit dieser Zeit Mitglied unserer Gemeinde ist. Er war ein guter Freund und Vertrauter von Bruce und wird die Trauerrede und eine kurze Predigt halten. Wenn Sie möchten, können Sie heute Nachmittag um vier Uhr wiederkommen, um einen letzten Blick auf den Verstorbenen zu werfen.« Rayford hatte das Gefühl, als würde er in eine andere Dimension hinüberschweben. Er hatte seinen Namen gehört und wusste 281
genau, wozu sie an diesem Morgen zusammengekommen waren. War dies ein geistiger Abwehrmechanismus? Gestattete Gott ihm, seinen Schmerz und seine Gefühle beiseite zu schieben, damit er die Fassung bewahren und deutlich sprechen konnte? Etwas anderes konnte er sich nicht vorstellen. Wenn seine Gefühle ihn überwältigt hätten, hätte er keinesfalls sprechen können. Er dankte dem Gemeindeältesten und schlug seine Notizen auf. »Liebe Mitglieder und Freunde der New HopeGemeinde«, begann er, »liebe Verwandte und Freunde von Bruce Barnes, ich begrüße Sie an diesem Morgen in dem unvergleichlichen Namen Jesu Christi, unseres Herrn und Erlösers. Wenn ich in meinem Leben eines gelernt habe, so ist es, dass ein Sprecher sich niemals für sich selbst entschuldigen sollte. Erlauben Sie mir, diese Regel zum ersten Mal zu brechen, weil ich weiß, dass es hier nicht um mich geht, obwohl Bruce und ich uns sehr nahe gestanden haben. Bruce würde Ihnen sogar sagen, dass es auch nicht um ihn geht. Es geht um Jesus. Ich muss Ihnen sagen, dass ich an diesem Morgen nicht als Ältester, nicht als Gemeindemitglied und ganz bestimmt nicht als Pastor hier vor Ihnen stehe. Das Predigen ist nicht meine Gabe. Es hat mich noch nicht einmal jemand gebeten, Bruce heute hier zu vertreten. Ich bin hier, weil ich ihn liebe und weil ich in begrenztem Maße in der Lage bin, für ihn zu sprechen – in erster Linie darum, weil er einen Schatz an Notizen zurückgelassen hat.« Buck drückte Chloe an sich, genauso sehr zu seinem eigenen wie auch zu ihrem Trost. Er konnte mit Rayford mitfühlen. Das musste unglaublich schwer sein. Es beeindruckte ihn, dass Rayford in dieser Situation so klar und überlegt sprechen konnte. Er selbst hätte vermutlich dummes Zeug geredet. Rayford sagte gerade: »Ich möchte Ihnen erzählen, wie ich 282
Bruce kennen gelernt habe, weil ich weiß, dass viele von Ihnen ihn auf ähnliche Weise kennen lernten. Wir befanden uns in einer Situation, in der wir nicht mehr ein noch aus wussten, und Bruce ging es genauso.« Buck hörte die Geschichte, die er bereits so gut kannte. Rayford erzählte, wie er von seiner Frau Irene gewarnt worden war, dass die Entrückung bevorstand. Als er und Chloe nach Irenes und Ray Juniors Entrückung auf dieser Welt zurückgeblieben waren, hatte es ihn in die Gemeinde gezogen, der sie angehört hatte. Bruce Barnes war als einziger des Gemeindepersonals noch da – und er hatte genau gewusst, warum das so war. Von einem Augenblick zum anderen wurde er zu einem engagierten Evangelisten. Bruce hatte Rayford und Chloe erzählt, wie er mitten in der Nacht seine Frau und seine drei kleinen Kinder verloren hatte. Rayford war bereit gewesen, Chloe dagegen noch sehr skeptisch. Es hatte eine Weile gedauert, bis auch sie die Wahrheit erkannt hatte. Bruce hatte ihnen eine Kopie der Videokassette zur Verfügung gestellt, die der erste Pastor dieser Gemeinde zu genau diesem Zweck hinterlassen hatte. Rayford war erstaunt gewesen, dass der Pastor im Voraus gewusst hatte, was geschehen würde. Er hatte anhand der Bibel erklärt, dass all dies bereits vorhergesagt worden sei, und dann sehr ausführlich den Weg zur Erlösung dargelegt. Rayford hatte sich die Zeit genommen, wie er es bei so vielen Gelegenheiten in der Sonntagsschule und Bibelstunde getan hatte, diese einfache Darstellung durchzugehen. Immer wieder war Buck bewegt gewesen von dem, was Bruce die »uralte Geschichte« genannt hatte. Rayford sagte: »Dies ist die Botschaft, die im Laufe der Jahrhunderte am häufigsten missverstanden wurde. Hätten Sie fünf Minuten vor der Entrückung die Leute auf der Straße gefragt, was die Christen über Gott und den Himmel lehrten, hätten neun von zehn Ihnen vermutlich gesagt, die Kirche erwarte von ihnen, ein gutes 283
Leben zu führen, Gutes zu tun, an andere zu denken, freundlich zu sein und in Frieden zu leben. Das klang alles so gut und doch war es ganz schrecklich falsch. In der Bibel wird deutlich, dass all unsere Gerechtigkeit wie ein schmutziger Lumpen ist. Keiner ist gerecht, nicht einer von uns. Wir alle, jeder von uns, hat sich seinen eigenen Wegen zugewandt. Alle haben gesündigt und haben Gott nicht den Platz in unserem Leben eingeräumt, der ihm gebührt. In den Augen Gottes haben wir alle den Tod verdient. Es wäre ein großes Versäumnis, wenn ich Ihnen in dem Trauergottesdienst für einen Mann mit dem evangelistischen Eifer von Bruce Barnes nicht weitergeben würde, was er mir und allen anderen gesagt hat, mit denen er in den letzten beiden Jahren seines Lebens hier auf der Erde zu tun hatte. Jesus hat die Schuld bereits bezahlt. Das Werk ist getan. Sollen wir ein gutes Leben führen und uns um Frieden bemühen? Natürlich! Aber uns unsere Erlösung verdienen? In der Bibel wird ganz klar gesagt, dass wir durch die Gnade Gottes errettet sind, durch den Glauben und nicht durch irgendetwas, das wir tun; nicht durch Werke, damit niemand sich rühmen kann. Wir bemühen uns darum, ein Leben in der Gerechtigkeit zu führen als dankbare Antwort auf dieses kostbare Geschenk Gottes, unsere Erlösung, die Jesus Christus uns am Kreuz teuer erkauft hat. Das ist es, was Bruce Barnes Ihnen an diesem Morgen sagen würde, wenn er noch immer in unserer Mitte wäre. Jeder, der ihn kannte, weiß, dass diese Botschaft sein Leben geworden ist. Nach dem Verlust seiner Familie war er am Boden zerstört und tief betrübt über die Sünde in seinem Leben und sein Versäumnis, Jesus Christus als seinen Herrn und Erlöser anzunehmen. Aber er blieb nicht im Selbstmitleid stecken. Er machte sich daran, die Bibel zu studieren und die Gute Nachricht weiterzugeben. Diese Kanzel konnte ihn nicht halten. Er besuchte Gemeinden in ganz Amerika und begann, auf der ganzen Welt 284
zu evangelisieren. Ja, normalerweise war er sonntags wieder hier, weil er der Meinung war, dass er in erster Linie seiner Herde verpflichtet war. Aber Sie und ich, wir alle, ließen ihn ziehen, weil seine Erkenntnisse an die ganze Welt weitergegeben werden mussten.« Buck sah auf, als Rayford innehielt. Er trat zur Seite und deutete auf den Sarg. »Und nun«, fuhr er fort, »möchte ich Bruce unmittelbar ansprechen, falls ich das durchhalten kann. Sie alle wissen, dass sein Körper tot ist. Er kann nicht hören. Aber Bruce«, sagte er mit nach oben gewandtem Blick, »wir danken dir. Wir beneiden dich. Wir wissen, dass du bei Christus bist, was, wie der Apostel Paulus sagte, ›viel besser‹ ist. Wir gestehen, dass uns das nicht gefällt. Es tut weh. Wir vermissen dich. Aber wir versprechen, weiterzumachen, das Werk fortzuführen, allen Umständen zum Trotz. Wir werden das Material studieren, das du uns hinterlassen hast, und dafür sorgen, dass diese Gemeinde der Leuchtturm bleibt, zu dem du sie zur Ehre Gottes gemacht hast.« Erschöpft trat Rayford wieder vor die Kanzel. Er war noch längst nicht fertig. »Es wäre ebenfalls ein großes Versäumnis, würde ich Ihnen nicht wenigstens die drei Grundgedanken der Predigt weitergeben, die Bruce für heute vorbereitet hatte. Es ist eine sehr wichtige Predigt, eine Predigt, die keiner von uns im Leitungskreis hätte verpassen wollen. Ich kann Ihnen sagen, dass ich sie mehrmals durchgegangen bin und jedes Mal großen Segen erfahren habe. Aber bevor ich das tue, möchte ich jedem im Raum Gelegenheit geben, der etwas zum Gedenken an unseren lieben Bruder sagen möchte.« Rayford trat vom Mikrofon zurück und wartete. Einige Sekunden lang fragte er sich, ob er die Leute vielleicht überrumpelt hatte. Schließlich erhob sich Loretta. »Sie alle kennen mich«, begann sie. »Seit alle anderen verschwunden sind, war ich die Sekretärin von Bruce. Wenn Sie 285
alle beten, dass ich meine Fassung bewahre, möchte ich nur wenige Worte über Pastor Barnes sagen.« Loretta erzählte nun ihre Geschichte, dass sie als Einzige von mehr als einhundert Blutsverwandten bei der Entrückung zurückgelassen worden war. »In diesem Raum befinden sich nur etwa ein Dutzend Leute, die auch schon vor diesem Tag dieser Gemeinde angehörten«, sagte sie. »Wir alle wissen, wer wir sind, und sind dankbar für das, was wir doch endlich gefunden haben. Wir alle bereuen die vergeudeten Jahre.« Buck, Chloe und Amanda drehten sich in ihrer Bank um, um Loretta besser hören zu können. Buck bemerkte, dass immer mehr Leute ihre Taschentücher hervorholten. Loretta beendete ihre kleine Rede mit den Worten: »Bruder Barnes war ein kluger Mann, der einen sehr großen Fehler gemacht hatte. Nachdem er aber mit Gott ins Reine gekommen war und sich ihm geweiht hat, um ihm für den Rest seines Lebens zu dienen, wurde er unser Pastor. Ich kann ihnen nicht sagen, wie viele Menschen er persönlich zu Christus geführt hat. Aber eines weiß ich: Er war niemals herablassend, niemals kritisch und niemals ungeduldig. Er war ernst und mitfühlend und er liebte die Menschen ins Reich Gottes hinein. Oh, er war niemals so übertrieben höflich, dass er den Menschen nicht genau gesagt hätte, wie die Dinge lagen. Es gibt genügend Leute hier, die das bezeugen können. Aber Menschen für Christus zu gewinnen war sein wichtigstes und einziges Ziel. Ich bete darum, dass jeder, der heute hier in dieser Kirche sitzt und noch überlegt oder zögert, diesen Schritt zu Gott und Christus hin tut. Bruces Liebe zu den Menschen geht über das Grab hinaus.« Mit diesen Worten verlor Loretta ihre Fassung. Sie nahm weinend wieder Platz. Der Fremde mit dem südländischen Aussehen neben ihr, den nur sie und die Mitglieder der Tribulation Force kannten, legte ihr sanft den Arm um die Schulter.
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Rayford stand vorne und hörte zu, wie die Leute überall im Gemeindesaal aufstanden und von dem Einfluss erzählten, den Bruce Barnes auf ihr Leben gehabt hat. Es dauerte über eine Stunde. Als eine kurze Pause eintrat, sagte Rayford: »Nur ungern mache ich hier einen Schnitt. Falls noch jemand etwas sagen möchte, so hat er jetzt die Gelegenheit dazu. Danach werden wir eine kurze Pause machen und jeder, der nach Hause gehen muss, kann diese Pause dazu nutzen, den Saal zu verlassen. Nach dieser Pause werde ich eine kurze Zusammenfassung der Predigt geben, die Bruce für diesen Tag vorbereitet hatte. Wer bleiben möchte, kann dies natürlich gern tun.« Tsion Ben-Juda erhob sich. »Sie kennen mich nicht«, sagte er. »Ich repräsentiere die internationale Gemeinschaft, für die Ihr Pastor sich so lange ernsthaft und effektiv eingesetzt hat. Viele, unzählige christliche Leiter auf der ganzen Welt kannten ihn, haben ihn predigen hören und wurden durch ihn Christus näher gebracht. Ich bete darum, dass Sie seinen Dienst fortsetzen und dass Sie, wie es in der Bibel heißt, ›nicht müde werden, Gutes zu tun‹.« Tsion nahm wieder Platz und Rayford verkündete: »Jeder, der möchte, kann jetzt kurz aufstehen. Strecken Sie sich, begrüßen Sie Freunde oder Bekannte.« Die Leute erhoben sich, streckten sich und schüttelten sich die Hände, aber nur wenige sprachen. Rayford fuhr fort: »Während Sie stehen, würde ich gern diejenigen von Ihnen entschuldigen, denen das alles zu viel geworden ist, die hungrig und ruhelos sind oder aus einem anderen Grund gehen müssen. Die normale Gottesdienstzeit ist längst überschritten. Wir werden den Rest des Gottesdienstes für diejenigen aufzeichnen, die jetzt gehen müssen. Ich werde die Predigt von Bruce für diesen Morgen zusammenfassen und entschuldige mich bereits im Voraus dafür, dass ich einiges davon vorlesen werde. Ich bin nicht der Prediger, der er war, also haben Sie bitte Geduld mit mir. Wir werden jetzt eine kurze Pause machen, in der Sie gehen können, wenn Sie keine 287
Zeit mehr haben.« Rayford trat von der Kanzel zurück und setzte sich. Die ganze Gemeinde nahm ebenfalls Platz und sah ihn erwartungsvoll an. Als klar wurde, dass niemand gehen wollte, lachte jemand leise und ein paar andere stimmten ein. Rayford lächelte, zuckte die Achseln und ging wieder zur Kanzel. »Ich schätze, im Augenblick gibt es Dinge, die wichtiger sind als die persönliche Bequemlichkeit, oder?«, meinte er. Ein paar stimmten ihm zu. Rayford öffnete seine Bibel und nahm Bruces Notizen zur Hand. Buck wusste, was nun kam. Genau wie Rayford war er das Material mehrmals durchgegangen und hatte dabei mitgeholfen, es zusammenzufassen. Trotzdem war er aufgeregt. Die Leute würden beeindruckt sein von dem, was Bruces Meinung nach passiert war, welche Geschehnisse er vorausgesagt hatte und welche Ereignisse noch ausstanden. Rayford begann zu erklären: »Soweit wir herausgefunden haben, wurden diese Notizen an Bord des Flugzeugs verfasst, mit dem Bruce in der vergangenen Woche aus Indonesien zurückkam. Was er niedergeschrieben hat, ist ein grober Abriss der zu erwartenden Ereignisse und viele Kommentare. Gelegentlich macht er ein paar persönliche Bemerkungen, von denen ich einige an Sie weitergeben werde, da er nun tot ist. Bei anderen habe ich das Gefühl, ich sollte sie Ihnen besser vorenthalten. Zum Beispiel hat er, kurz nachdem er notierte, was er mit dieser Predigt erreichen wollte, niedergeschrieben: ›Gestern Nacht war ich krank und heute fühle ich mich nicht sehr viel besser. Man hat mich vor Viren gewarnt, trotz all meiner Impfungen. Ich kann mich nicht beklagen. Ohne Probleme bin ich bisher in der Welt herumgereist. Gott ist bei mir gewesen. Natürlich ist er auch jetzt bei mir, aber ich befürchte, dass ich unter Dehydration leide. Wenn es mir bei meiner Rückkehr 288
nicht besser geht, werde ich mich untersuchen lassen.‹ Dadurch«, fügte Rayford hinzu, »bekommen wir einen Einblick in die Krankheit, die ihn niedergeworfen und nach seiner Rückkehr zu seinem Zusammenbruch hier im Gemeindehaus geführt hat. Wie die meisten von Ihnen wissen, wurde er ins Krankenhaus gebracht, wo er unserer Meinung nach an dieser Krankheit gestorben ist und nicht an der Explosion. Bruce hat hier eine Predigt skizziert, die er für ganz besonders wichtig hielt, denn er schreibt: ›Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass wir am Ende der achtzehnmonatigen Phase des Friedens angekommen sind, die auf die Vereinbarung des Antichristen mit Israel folgt. Wenn ich Recht habe und die Trübsalszeit mit der Unterzeichnung des Abkommens zwischen dem Volk Israel und den, wie sie damals noch hießen, Vereinten Nationen begann, müssen wir uns auf die nächste Vorhersage im Abriss der Trübsalszeit vorbereiten: Auf das rote Pferd der Apokalypse. Nach Offenbarung, Kapitel 6, Verse 3 bis 4 wurde es ermächtigt, der Erde den Frieden zu nehmen, damit die Menschen sich gegenseitig abschlachteten; und ihm wurde ein großes Schwert gegeben. Meiner Meinung nach ist dies die Vorhersage eines Weltkrieges. Sehr wahrscheinlich wird er als der Dritte Weltkrieg bekannt werden. Er wird vom Antichristen ausgelöst werden und doch wird er als der große Friedensstifter auftreten, da er ein großer Lügner ist. Unmittelbar darauf werden fast gleichzeitig die nächsten beiden Pferde der Apokalypse, das schwarze Pferd der Seuchen und der Hungersnot und das fahle Pferd des Todes auftreten. Keinen von uns sollte es verwundern, wenn dieser Weltkrieg Hungersnöte, Seuchen und Tod zur Folge haben würde.‹ Ist jemand von Ihnen genauso überrascht von diesen Zeilen, wie ich es war, als ich sie zuerst gelesen habe?«, fragte Rayford. Überall im Gemeindesaal nickten die Leute. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass dies von einem Mann geschrieben wurde, der gestorben ist, kurz bevor oder kurz nachdem die 289
erste Bombe des Weltkrieges, in dem wir uns nun befinden, abgeworfen wurde. Er wusste nicht genau, wann dieser Krieg ausbrechen würde, aber er wollte nicht noch einen einzigen Sonntag verstreichen lassen, ohne Ihnen dies mitzuteilen. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich bin geneigt, die Worte eines Menschen, der die Prophezeiungen der Bibel so genau auslegen kann, ernst zu nehmen. Und nun möchte ich Ihnen sagen, was seiner Meinung nach als Nächstes kommen wird: ›Die Zeit ist nun für alle nur noch knapp bemessen. Laut Offenbarung, Kapitel 6, Verse 7 und 8 ist der Reiter des fahlen Pferdes der Tod und der Hades zieht hinter ihm her. Ihnen wurde die Macht über ein Viertel der Erde gegeben zu töten durch Schwert, Hunger und Tod und durch die Tiere der Erde. Ich gestehe, ich weiß nicht, was die Bibel meint, wenn sie von den ›Tieren der Erde‹ spricht, aber vielleicht sind dies Tiere, die die Menschen fressen, wenn sie als Folge des Krieges schutzlos geworden sind. Vielleicht ist ein großes Tier der Erde eine Metapher für die Waffen, die der Antichrist und seine Feinde verwenden werden. Wie auch immer, ein Viertel der Erdbevölkerung wird in Kürze ausgelöscht werden.‹ Bruce fährt fort: ›Vor kurzem habe ich mit drei engen Freunden über diese Stelle gesprochen und sie gebeten, sich vorzustellen, dass wir zu viert in diesem Zimmer sitzen. Wir fragten uns, ob es möglich wäre, dass einer von uns in absehbarer Zeit nicht mehr da ist. Natürlich ist es das. Werde ich ein Viertel meiner Gemeinde verlieren? Ich bete, dass meine Gemeinde verschont bleibt, aber ich habe jetzt so viele Gemeinden auf der ganzen Welt, dass es unmöglich ist, sich vorzustellen, alle könnten verschont bleiben. Von dem Viertel der Weltbevölkerung, das sterben wird, werden sicherlich viele zu den so genannten ›Heiligen der Trübsalszeit‹ gehören. Dank der modernen Technologie wird es nicht lange dauern, bis durch diesen Weltkrieg Zerstörung und Chaos angerichtet sein werden. Diese drei letzten Reiter der Apokalypse werden 290
unmittelbar aufeinander folgen. Wenn die Menschen bereits durch das schmerzlose, unblutige Verschwinden der Gläubigen bei der Entrückung, das durch Unfälle, Brände und Selbstmord zu Chaos und Panik führte, schon in Angst und Schrecken versetzt worden sind, so ist die Verzweiflung einer Welt, die durch einen Weltkrieg, Hungersnöte, Seuchen und Tod erschüttert wird, kaum vorstellbar.‹« Rayford blickte von den Notizen auf. »Meine Frau und ich haben gestern am Flughafen die Nachrichten gesehen«, erzählte er, »wie bestimmt viele von Ihnen auch. Ich bin sicher, Sie haben überall, wo Sie auch waren, Berichte gerade von diesen Dingen im Fernsehen gesehen. Nur die größten Skeptiker würden uns vorwerfen, wir hätten dies niedergeschrieben, nachdem es bereits passiert war. Aber nehmen wir einmal an, Sie wären ein solcher Skeptiker. Nehmen wir einmal an, Sie würden uns für Scharlatane halten. Wer schrieb denn dann die Bibel? Und wann wurde sie geschrieben? Vergessen Sie Bruce Barnes und seine Vorhersagen, die er geschrieben hatte, bevor sie tatsächlich eintrafen. Betrachten Sie diese Prophezeiungen, die Tausende von Jahren zuvor gemacht wurden. Sie können sich vorstellen, welchen Schmerz es Bruce bereitet hat, diese Predigt vorzubereiten. Eine Randnotiz lautet: ›Wie ungern gebe ich eine so schlechte Nachricht weiter. Mein Problem in der Vergangenheit war, dass es mir auch immer zuwider gewesen ist, eine schlechte Nachricht zu hören. Ich verschloss die Ohren davor. Ich hörte nicht zu. Sie war da, wenn ich nur zugehört hätte. Ich muss noch andere schlechte Nachrichten in dieser Predigt weitergeben und wenn es mich auch traurig macht, so kann ich mich dieser Verantwortung einfach nicht entziehen.‹ Sie werden bemerken, wie aufgewühlt Bruce hier war«, fuhr Rayford fort. »Da ich derjenige bin, der dies an Sie weitergibt, empfinde ich sehr stark mit ihm. Im folgenden Teil seiner Aufzeichnungen wird gesagt, dass die vier Reiter der Apokalypse, nachdem sie ihr Gericht auf die Erde gebracht haben, für 291
die ersten vier der sieben Siegelgerichte stehen, die laut Offenbarung, Kapitel 6, Verse 1 bis 16 in den ersten einundzwanzig Monaten der Trübsalszeit über die Erde hereinbrechen werden. Nach den Berechnungen von Bruce nähern wir uns dem Ende dieser einundzwanzigmonatigen Periode, wenn man als Ausgangspunkt das Abkommen zwischen Israel und den Vereinten Nationen, die nun als Weltgemeinschaft bekannt sind, nimmt. Darum ist es wichtig, die fünften, sechsten und siebten, in der Offenbarung angekündigten Siegelgerichte zu verstehen. Wie Sie aus dem, was Bruce schon vorher gelehrt hat, wissen, wird es noch zwei weitere, siebenteilige Gerichte geben, die uns dann zum Ende der siebenjährigen Trübsalszeit und der herrlichen Wiederkunft Christi bringen werden. Die nächsten werden die sieben Posaunengerichte sein und die sieben Zornesschalen. Wer auch immer Ihr Pastor werden wird, wird bestimmt im Laufe der Zeit noch ausführlich auf diese Gerichte eingehen. Doch bis dahin möchte ich uns allen anhand von Bruces Notizen und Kommentaren klarmachen, was uns in den kommenden Wochen erwartet.« Rayford war erschöpft, aber schlimmer noch: Er war gedanklich immer und immer wieder durchgegangen, was er der Gemeinde sagen wollte. Es waren keine guten Neuigkeiten. Er fühlte sich schwach. Er war hungrig und wusste, dass er Zucker brauchte. »Ich bitte Sie um eine fünfminütige Pause. Ich weiß, dass viele von Ihnen vielleicht die Toiletten aufsuchen müssen. Ich brauche etwas zu trinken. Wir treffen uns um Punkt ein Uhr wieder hier.« Er verließ das Podium und Amanda eilte zur Seitentür, um ihn auf dem Flur abzupassen. »Was brauchst du?«, fragte sie. »Außer Gebet?« »Ich bete schon den ganzen Morgen für dich«, sagte sie. »Das weißt du. Was möchtest du? Orangensaft?« »Das klingt ja fast, als sei ich Diabetiker.« 292
»Ich weiß genau, was ich brauchen würde, wenn ich so lange da vorne stehen müsste.« »Saft klingt gut«, sagte er. Während sie davoneilte, kam Buck zu Rayford in den Flur. »Meinst du, sie sind bereit für das, was jetzt kommt?«, fragte er. »Offen gesagt, ich glaube, Bruce hat schon seit Monaten versucht, ihnen das klarzumachen. Es gibt nichts Besseres als die Nachrichtensendungen von heute, um die Leute davon zu überzeugen, dass ihr Pastor Recht hatte.« Buck versicherte Rayford, dass er auch weiterhin für ihn beten würde. Als er zu seinem Platz zurückkam, schien es wieder so, als hätte nicht einer den Raum verlassen. Buck wunderte sich nicht, dass Rayford, wie er gesagt hatte, genau fünf Minuten später wieder auf der Kanzel stand. »Ich möchte Sie nicht länger als nötig aufhalten«, fuhr er fort. »Aber ich bin sicher, Sie alle stimmen mit mir darin überein, dass es hier um Leben und Tod geht. Den Notizen von Bruce können wir entnehmen, dass es in Offenbarung, Kapitel 6, in den Versen 9 bis 11 bei dem fünften der sieben Siegelgerichte um die Märtyrer der Trübsalszeit geht. In der Bibel heißt es: ›Als das Lamm das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen aller, die hingeschlachtet worden waren wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt hatten. Sie riefen mit lauter Stimme: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, Gericht zu halten und unser Blut an den Bewohnern der Erde zu rächen? Da wurde jedem von ihnen ein weißes Gewand gegeben; und ihnen wurde gesagt, sie sollten noch kurze Zeit warten, bis die volle Zahl erreicht sei durch den Tod ihrer Mitknechte und Brüder, die noch sterben müssten wie sie.‹ Mit anderen Worten«, erklärte Rayford weiter, »viele von denen, die in diesem Weltkrieg ums Leben gekommen sind und noch sterben müssen, bis ein Viertel der Weltbevölkerung 293
ausgerottet ist, werden als Märtyrer der Trübsalszeit betrachtet. Ich ordne Bruce in diese Kategorie ein. Zwar ist er nicht gestorben, weil oder während er das Evangelium verkündigt hat, doch ganz offensichtlich war es sein Lebenswerk und führte zu seinem Tod. Ich stelle mir Bruce unter dem Altar zusammen mit den Seelen aller derer vor, die für das Wort Gottes und ihr Zeugnis dahingeschlachtet worden sind. Gott wird ihm ein weißes Gewand geben und ihm sagen, er solle ruhen, bis die volle Zahl der Märtyrer erreicht ist. Ich muss Sie heute fragen, sind Sie darauf vorbereitet? Sind Sie bereit? Würden Sie Ihr Leben für das Evangelium hingeben?« Rayford hielt inne, um tief durchzuatmen, und war erstaunt, als jemand rief: »Ja!« Rayford wusste nicht, was er sagen sollte. Plötzlich ertönte aus dem Gemeindesaal eine andere Stimme: »Ja, ich auch!« Noch drei oder vier andere bekräftigten ebenfalls ihre Bereitschaft. Rayford musste die Tränen zurückdrängen. Es war eine rhetorische Frage gewesen. Er hatte keine Antwort erwartet. Wie bewegend! Wie Mut machend! Er hatte das Gefühl, nicht zulassen zu dürfen, dass andere aus einer reinen Emotion heraus eine solche Aussage machten. Mit zitternder Stimme fuhr er fort: »Vielen Dank, Brüder und Schwestern. Ich fürchte, wir alle könnten aufgerufen sein, unsere Bereitschaft, für die Sache zu sterben, unter Beweis zu stellen. Preis sei Gott, dass ihr dazu bereit seid. Den Notizen von Bruce ist zu entnehmen, dass er der Meinung war, diese Gerichte kämen in chronologischer Reihenfolge. Wenn die vier Reiter der Apokalypse zu den Märtyrern der Trübsalszeit in den weißen Gewändern unter dem Altar im Himmel führen, so könnte dies passieren, noch während wir hier zusammensitzen. Und falls das so ist, müssen wir wissen, was das sechste Siegel ist. Bruce war dieses Siegel so wichtig, dass er die Stelle in verschiedenen Übersetzungen auf seinen Computer übernommen hat. Ich möchte Ihnen die 294
Verse aus Offenbarung Kapitel 6, Verse 12 bis 17 aus der Übersetzung vorlesen, die er als besonders ausdrucksstark und am besten verständlich gekennzeichnet hat: ›Das Lamm‹ – Sie erinnern sich, dass von dem Lamm in Vers 13 des vorhergehenden Kapitels geschrieben wird ›der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm gebühren Lob und Ehre und Herrlichkeit und Kraft in alle Ewigkeit‹ – also Jesus Christus selbst – ›Das Lamm öffnete das sechste Siegel. Da entstand ein gewaltiges Beben. Die Sonne wurde schwarz wie ein Trauergewand und der ganze Mond wurde wie Blut. Die Sterne des Himmels fielen herab auf die Erde, wie wenn ein Feigenbaum seine Früchte abwirft, wenn ein heftiger Sturm ihn schüttelt. Der Himmel verschwand wie eine Buchrolle, die man zusammenrollt, und alle Berge und Inseln wurden von ihrer Stelle weggerückt. Und die Könige der Erde, die Großen und die Heerführer, die Reichen und die Mächtigen, alle Sklaven und alle Freien verbargen sich in den Höhlen und Felsen der Berge. Sie sagten zu den Bergen und Felsen: Fallt auf uns und verbergt uns vor dem Blick dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes; denn der große Tag ihres Zorns ist gekommen. Wer kann da bestehen?‹« Rayford blickte auf und ließ seinen Blick über die versammelte Gemeinde gleiten. Einige starrten ihn mit aschfahlem Gesicht an. Andere hielten den Blick fest auf ihre Bibeln gerichtet. »Ich bin kein Theologe, liebe Brüder und Schwestern. Ich bin kein Gelehrter. Mir ist es in meinem Leben genauso schwer gefallen wie euch, die Bibel zu lesen, vor allem in den fast zwei Jahren seit der Entrückung. Aber ich frage euch: Ist der Abschnitt, der mit den Worten beginnt: ›Da entstand ein gewaltiges Beben‹ schwer zu verstehen? Bruce hat diese Ereignisse sehr sorgfältig aufgelistet und er ist der Meinung, dass die ersten sieben Siegel in den ersten einundzwanzig Monaten der Trübsalszeit geöffnet werden, die mit dem Abkommen zwischen Israel und dem Antichristen begonnen hat. Wenn Sie 295
glauben, der Antichrist sei noch nicht auf der Weltbühne erschienen, so leugnen Sie damit gleichzeitig das Abkommen zwischen Israel und dieser Person. Wenn Sie Recht haben, dann steht dies alles noch aus. Denn die Trübsalszeit beginnt nicht mit der Entrückung, sondern mit der Unterzeichnung dieses Vertrages. Bruce hat uns gesagt, die ersten vier Siegelgerichte würden durch die vier Reiter der Apokalypse repräsentiert. Ich sage Ihnen, dass diese Reiter im vollen Galopp auf uns zukommen. Das fünfte Siegelgericht, die Märtyrer der Trübsalzeit, die ermordet werden, weil sie an die Bibel glauben und die Gute Nachricht verbreiten, und deren Seelen unter dem Altar zu finden sind, hat begonnen. Der Kommentar von Bruce zu dieser Bibelstelle deutet darauf hin, dass von nun an immer mehr Märtyrer hinzukommen werden. Der Antichrist wird sich gegen die ›Heiligen der Trübsalszeit‹ und die 144 000 Zeugen stellen, die auf der ganzen Welt aus den Stämmen Israels stammen. Hört mich an und betrachtet das alles von einem sehr praktischen Standpunkt aus. Falls Bruce Recht hat – und bisher war das der Fall –, stehen wir kurz vor dem Ende der einundzwanzig Monate. Ich glaube an Gott. Ich glaube an Christus. Ich glaube, dass die Bibel das Wort Gottes ist. Ich glaube, dass unser lieber verstorbener Bruder ›das Wort der Wahrheit‹ richtig ausgelegt hat und deshalb bereite ich mich darauf vor, dass, was in diesem Abschnitt der ›Zorn des Lammes‹ genannt wird, zu erdulden. Ein Erdbeben steht uns bevor und das ist nicht symbolisch gemeint. In diesem Abschnitt wird gesagt, dass jeder, groß oder klein, lieber zu Tode gebracht werden würde, als sich dem Einen zu stellen, der auf dem Thron sitzt.« Buck schrieb eifrig mit. Das alles war ihm nicht neu, aber er war so bewegt von Rayfords Eifer und der Vorstellung, dass das Erdbeben der Zorn des Lammes sein könnte, dass er das 296
der Welt mitteilen musste. Vielleicht würde es sein Schwanengesang sein, sein Totengeläut, aber auf jeden Fall würde er im Global Community Weekly einen Artikel darüber schreiben, dass die Christen vom bevorstehenden »Zorn des Lammes« sprachen. Es war eine Sache, ein Erdbeben vorauszusagen. Stammtischwissenschaftler und Hellseher taten dies bereits seit Jahren. Aber die Gesellschaft war heute empfänglich für Schlagworte. Welches bessere Schlagwort konnte es geben als eines aus dem Wort Gottes? Buck hörte, wie Rayford schloss: »Am Ende dieser ersten einundzwanzigmonatigen Periode wird das geheimnisvolle siebte Siegelgericht die nächste einundzwanzigmonatige Periode einleiten, die Zeit der sieben Posaunengerichte. Ich bezeichne das siebte Siegelgericht als ›geheimnisvoll‹, weil in der Bibel nicht klar beschrieben ist, wie es aussehen wird. Wir lesen nur, dass es offensichtlich so dramatisch verlaufen wird, dass eine halbe Stunde lang Stille im Himmel und auf der Erde herrschen wird. Dann bereiten sich die sieben Engel mit den Posaunen darauf vor, ihre Instrumente zu blasen. Mit diesen Gerichten werden wir uns beschäftigen, wenn wir uns dieser Periode nähern. Für den Augenblick denke ich jedoch, dass Bruce uns genügend Stoff zum Nachdenken und beten hinterlassen hat. Wir haben diesen Mann geliebt, wir haben von ihm gelernt und nun haben wir uns von ihm verabschiedet. Obwohl wir wissen, dass er jetzt bei Christus ist, trauern wir um ihn. In der Bibel werden wir aufgefordert, nicht zu trauern wie die Heiden, die keine Hoffnung haben, aber das heißt nicht, dass wir überhaupt nicht trauern sollen. Stellen Sie sich Ihrem Schmerz und Ihrer Trauer. Aber lassen Sie sich dadurch nicht von Ihren Aufgaben abhalten. Bruce hätte sich vor allem anderen gewünscht, dass wir am Ball bleiben und so viele Menschen wie möglich zu Gott führen, bevor es zu spät ist.« 297
Rayford war erschöpft. Er schloss den Gottesdienst mit einem Gebet, doch anstatt das Podium zu verlassen, blieb er mit gesenktem Kopf dort sitzen. Die Leute eilten nicht wie üblich zur Tür. Die meisten blieben sitzen, während ein paar langsam und still dem Ausgang zustrebten.
16 Buck half Chloe in den Range Rover, doch bevor er zur Fahrerseite hinübergehen konnte, kam Verna Zee auf ihn zu. »Verna! Ich habe Sie gar nicht gesehen. Ich bin froh, dass Sie es geschafft haben.« »Ich habe es tatsächlich geschafft, Cameron. Ich habe auch Tsion Ben-Juda erkannt!« Buck zwang sich dazu, sich seine Erregung nicht anmerken zu lassen. »Wie bitte?« »Er wird große Schwierigkeiten bekommen, wenn die Friedenstruppen herausfinden, wo er ist. Wissen Sie nicht, dass er auf der ganzen Welt gesucht wird? Und dass Ihre Papiere bei einem seiner Komplizen gefunden wurden? Buck, Sie sind in genauso großen Schwierigkeiten wie er. Steve Plank hat versucht, Sie zu erreichen, und ich habe es satt, so zu tun, als hätte ich keine Ahnung, wo Sie sind.« »Verna, wir werden uns darüber unterhalten müssen.« »Ich kann Ihr Geheimnis nicht immer bewahren, Buck. Ich habe nicht vor, mit Ihnen unterzugehen. Das war eine recht eindrucksvolle Versammlung und offensichtlich haben alle diesen Barnes gemocht. Aber halten wirklich alle diese Leute Carpathia für den Antichristen?« »Ich kann nicht für alle sprechen.« »Und wie steht es mit Ihnen, Buck? Sie sind diesem Mann direkt unterstellt. Werden Sie in seiner eigenen Zeitung darüber 298
schreiben?« »Das habe ich bereits, Verna.« »Ja, aber Sie haben es immer als neutralen Bericht dessen hingestellt, was einige glauben. Das hier ist Ihre Gemeinde! Das sind Ihre Leute! Sie können das doch nicht alles für wahr halten.« »Können wir nicht irgendwo hingehen und über alles sprechen?«, fragte Buck. »Ich denke, das tun wir besser. Ich möchte sowieso noch Tsion Ben-Juda interviewen. Sie können es mir doch nicht übel nehmen, dass ich die Story meines Lebens schreiben will.« Buck biss sich auf die Zunge und konnte es sich gerade noch verkneifen, ihr zu sagen, sie habe nicht das Format, eine Story wie die über Tsion Ben-Juda zu schreiben. »Ich werde mich morgen mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte er, »und dann können wir –« »Morgen? Heute, Buck. Wir treffen uns am Nachmittag im Büro.« »Heute Nachmittag nicht. Ich komme gegen vier Uhr wieder.« »Wie wäre es dann mit halb sieben?« »Warum muss es denn unbedingt heute sein?«, fragte Buck. »Das muss es nicht. Ich könnte ja auch Steve Plank, Carpathia oder sonst jemandem erzählen, was ich heute gesehen habe.« »Verna, ich habe ein großes Risiko auf mich genommen, als ich Sie neulich abends zu Loretta mitgenommen habe.« »Das haben Sie allerdings. Und es könnte gut sein, dass Sie das für den Rest Ihres Lebens bedauern.« »Dann hat also nichts, was Sie heute hier gehört haben, Eindruck auf Sie gemacht?« »Doch, das schon. Ich habe mich gefragt, warum ich Ihnen gegenüber auf einmal so nachgiebig geworden bin, Buck. Ihr seid alle ein bisschen verrückt. Ich werde einen vernünftigen 299
Grund brauchen, um in Bezug auf Sie den Mund zu halten.« Das klang nach Erpressung, aber Buck wurde auch plötzlich klar, dass Verna offensichtlich den ganzen Vormittag geblieben war. Irgendetwas schien in ihr zu arbeiten. Buck wollte herausfinden, wie sie die Prophezeiungen der Offenbarung und das, was in den vergangenen 20 Monaten in der Welt passiert war, als reinen Zufall abtun konnte. »In Ordnung«, willigte er schließlich ein. »Um halb sieben im Büro.« Rayford und der andere Gemeindeälteste waren übereingekommen, dass es am Nachmittag keine Formalitäten mehr geben sollte. Kein Gebet, keine Predigt, keine Trauerrede, nichts mehr. Nur eine Prozession von Menschen, die am Sarg vorüberzogen und dem Toten die letzte Ehre erwiesen. Jemand hatte vorgeschlagen, in der Begegnungshalle Erfrischungen zu reichen, aber Rayford, der von Buck beiseite genommen worden war, entschied sich dagegen. Ein Band sperrte die Treppe ab, damit niemand nach unten gehen konnte. Auf einem Schild wurde darüber informiert, dass man zwischen vier und sechs Uhr von Bruce Barnes Abschied nehmen konnte. Gegen fünf Uhr, als noch immer Hunderte von Menschen langsam in einer Reihe, die sich bis zum Parkplatz erstreckte, am Sarg vorbeizogen, stellte Buck den Range Rover auf Lorettas Parkplatz ab. »Chloe, ich verspreche, es ist das letzte Mal, dass ich deine Verletzung als Vorwand und dich als Lockvogel benutze.« »Als Lockvogel wofür? Denkst du, Carpathia sei hier und würde dich oder Tsion fangen?« Buck lachte leise. Seit vier Uhr hielt Rayford sich bereits im Gemeindesaal auf. Jetzt stiegen Buck, Chloe, Amanda, Tsion und Loretta aus dem Range Rover aus. Amanda trat an Chloes eine Seite, Loretta an die andere. Sie halfen ihr die Stufen hoch, während Buck die Tür öffnete. Buck erblickte die Gemeindemitglieder, die geduldig darauf warteten, ins Gemein300
dehaus zu kommen. Fast alle ignorierten seine kleine Gruppe. Diejenigen, die müßig herübersahen, schienen sich auf die hübsche junge Frau zu konzentrieren, ihren gebrochenen Knöchel, die Schlinge um ihren Hals und ihren Stock. Nachdem die Menge sich zerstreut hatte, wollten die Mitglieder der Tribulation Force gemeinsam mit Loretta noch einmal einen Blick auf den Toten werfen. Während die drei Frauen zum Büro gingen, schlüpften Buck und Tsion unbemerkt hinein. Als Buck das Büro etwa zwanzig Minuten später betrat, fragte Chloe: »Wo ist Tsion?« »Ganz in der Nähe«, erwiderte Buck. Rayford stand neben dem Sarg von Bruce und schüttelte den Trauernden die Hand. Donny Moore kam heran. »Es tut mir Leid, Sie gerade jetzt mit einer Frage belästigen zu müssen«, meinte Donny, »aber können Sie mir sagen, wo ich Mr. Williams finde? Er hat etwas bei mir bestellt und ich habe es mitgebracht.« Rayford schickte ihn zum Büro. Während Donny und Dutzende andere an dem Sarg vorbeizogen, überlegte Rayford, wie lange Hattie Durham wohl bei ihrer Mutter in Denver bleiben würde. Carpathia hatte ein Treffen mit Pontifex Maximus Peter Mathews anberaumt, der erst kürzlich den Titel »Oberster Papst« des Enigma-BabylonWelteinheitsglaubens erhalten hatte, eines Zusammenschlusses aller Religionen der Welt. Rayford sollte sich am Donnerstag der folgenden Woche wieder in Neu-Babylon einfinden, um die Condor 216 nach Rom zu fliegen. Dort sollte er Mathews abholen und nach Neu-Babylon bringen. Carpathia wollte Mathews und seinen Mitarbeiterstab ebenfalls nach NeuBabylon holen, zusammen mit fast allen anderen internationalen Organisationen. Wie betäubt schüttelte Rayford eine Hand nach der anderen. Er versuchte, Bruces Leichnam nicht anzusehen, und lenkte 301
sich ab, indem er darüber nachdachte, was er durch die Abhöranlage, die Earl Halliday in der Condor installiert hatte, belauscht hatte. Besonders interessant war für Rayford gewesen, dass Carpathia darauf bestand, sich an die Spitze mehrerer Gruppen und Komitees zu stellen, die von seinem alten Freund und Wohltäter Jonathan Stonagal geführt worden waren. Buck hatte Rayford und den anderen der Tribulation Force erzählt, er habe mit angesehen, wie Carpathia Stonagal ermordet und dann allen anderen im Raum eingeredet hatte, sie wären gerade Zeuge eines Selbstmordes geworden. Da sich Carpathia nun in die Führung internationaler Komitees, Kommissionen zu internationaler Harmonie und vor allem geheimer Finanzzusammenschlüsse hineinarbeitete, wurden seine Motive klar. Rayford ließ seine Gedanken zu den guten alten Tagen wandern, als er nur rechtzeitig in O’Hare aufzutauchen, seine Routen fliegen und nach Hause kommen musste. Natürlich war er damals noch kein Christ gewesen. Nicht der Mann und Vater, der er hätte sein sollen. Die guten alten Tage waren eigentlich gar nicht so gut gewesen. Über mangelnde Aufregung in seinem Leben konnte er sich nicht beklagen. Zwar verachtete er Carpathia und es gefiel ihm auch gar nicht, bei diesem Mann in Diensten zu stehen, doch er hatte schon lange beschlossen, Gott gehorsam zu sein. Wenn dies der Platz war, an dem Gott ihn haben wollte, dann würde er dort dienen. Er hoffte nur, dass Hattie Durham auf ihrem Heimflug in Chicago Station machen würde. Irgendwie mussten er, Amanda, Chloe und Buck sie von Nicolai Carpathia wegbringen. Er hatte sich gefreut, dass sie selbst Gründe gefunden hatte, zu Nicolai auf Abstand zu gehen. Aber Carpathia ließ sich in Anbetracht der Tatsache, dass sie von ihm schwanger war, vielleicht nicht so leicht auf Abstand halten. Er war so eifersüchtig auf sein Image in der Öffentlichkeit bedacht.
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Buck ließ sich gerade von Donny Moore die unglaublichen technischen Finessen der neuen Computer erklären, als er mit anhörte, dass Loretta telefonierte. »Ja, Verna«, sagte sie gerade, »er ist zwar im Augenblick beschäftigt, aber ich werde ihm sagen, dass Steve Plank angerufen hat.« Buck entschuldigte sich bei Donny einen Augenblick und flüsterte Loretta zu: »Wenn sie im Büro ist, fragen Sie sie, ob meine Schecks da sind.« Buck war in den vergangenen Wochen weder in New York noch in Chicago am Zahltag im Büro gewesen und sehr erfreut zu sehen, dass Loretta nickte, nachdem sie Verna nach den Schecks gefragt hatte. Aus Bruces Aufzeichnungen war ihm klar geworden, dass sie in Gold investieren mussten. Tsion hatte ihm das bestätigt. Bargeld würde bald wertlos sein. Er musste sich einen finanziellen Rückhalt schaffen, weil er dieses Spiel nicht mehr lange würde durchhalten können, selbst wenn Verna zum Glauben käme und ihn vor Carpathia schützen würde. Diese Beziehung würde bald zu Ende sein. Er würde dann kein Einkommen mehr haben. Ohne das Zeichen des Tieres würde er sowieso nicht mehr kaufen und verkaufen können und die neue Weltordnung, auf die Carpathia so stolz war, konnte ihn buchstäblich aushungern. Gegen Viertel vor sechs war der Gemeindesaal fast leer. Rayford ging zurück zum Büro und schloss die Tür hinter sich. »In wenigen Minuten können wir noch mal mit Bruces Leichnam allein sein«, sagte er. Die Mitglieder der Tribulation Force und Loretta saßen traurig zusammen. Tsion war nicht dabei. »So, das also hat Donny Moore dir gebracht?«, fragte Rayford und deutete mit dem Kopf auf die Laptops. »Ja. Einen für jeden von uns. Ich habe Loretta gefragt, ob sie auch einen möchte.« 303
Loretta winkte lächelnd ab. »Ich wüsste gar nicht, wie ich damit umgehen sollte. Vermutlich könnte ich ihn nicht einmal öffnen.« »Wo ist Tsion?«, fragte Rayford. »Ich denke, er sollte eine Weile bei uns bleiben und –« »Tsion ist in Sicherheit«, sagte Buck und blickte Rayford bedeutungsvoll an. »Ach so, ja.« »Was bedeutet das?«, fragte Loretta. »Wo ist er?« Rayford saß auf einem Bürostuhl und rollte nun dicht an Loretta heran. »Es gibt da einige Dinge, die wir Ihnen nicht erzählen können, zu Ihrem eigenen Besten.« »Und«, erwiderte sie, »was würden Sie sagen, wenn ich das gar nicht besonders schätzen würde?« »Ich kann Sie verstehen, Loretta –« »Da bin ich nicht so sicher, Captain Steele. Mein ganzes Leben lang habe ich mir bestimmte Dinge vom Leibe gehalten, nur weil ich eine höfliche Dame aus den Südstaaten bin.« »Eine Südstaatenschönheit wäre wohl der passendere Begriff«, meinte Rayford. »Und nun versuchen Sie, mich zu bevormunden, und das gefällt mir auch nicht.« Rayford war bestürzt. »Es tut mir Leid, Loretta, ich wollte Sie nicht beleidigen.« »Es beleidigt mich aber, wenn man Geheimnisse vor mir hat.« Rayford beugte sich vor. »Ich meine es ernst, wenn ich sage ›zu Ihrem Besten‹. Tatsache ist, dass eines Tages, und dieser Tag kann schon sehr bald kommen, hochgestellte Beamte versuchen könnten, Sie zu zwingen zu sagen, wo Tsion sich aufhält.« »Und Sie glauben, wenn ich wüsste, wo er ist, würde ich kapitulieren und es sagen.« »Wenn Sie gar nicht wissen, wo er ist, können Sie auch nicht 304
kapitulieren und brauchen sich nicht einmal Gedanken darum zu machen.« Loretta verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass wir in einer sehr gefährlichen Zeit leben. Ich habe das Gefühl, dass ich sehr viel riskiert habe, als ich Sie aufgenommen habe. Und nun bin ich einfach nur Ihre Vermieterin, ist das richtig?« »Loretta, für uns sind Sie einer der liebsten Menschen auf der Welt. Wir würden Sie niemals bewusst verletzen. Und genau darum, auch wenn ich weiß, dass es Sie verletzt – was ich auf keinen Fall möchte –, werde ich mich von Ihnen nicht dazu bringen lassen, Ihnen zu sagen, wo Tsion ist. Sie werden mit ihm telefonieren können und wir können uns über den Computer mit ihm verständigen. Eines Tages sind Sie uns vielleicht dafür dankbar, dass wir das vor Ihnen geheim gehalten haben.« Amanda unterbrach ihn. »Rayford, willst du etwa sagen, dass Tsion da ist, wo ich glaube?« Rayford nickte. »Ist das denn wirklich nötig?«, fragte Chloe. »Ich fürchte, ja. Ich wünschte, ich könnte sagen, wie lange es für uns andere noch dauert.« Loretta war nun offensichtlich eingeschnappt. Sie stand auf und ging mit verschränkten Armen im Zimmer umher. »Captain Steele, könnten Sie mir noch eines verraten? Könnten Sie mir sagen, dass Sie das nicht vor mir geheim halten, weil Sie der Meinung sind, ich würde es ausplaudern?« Rayford erhob sich. »Loretta, kommen Sie her.« Sie blieb stehen und starrte ihn an. »Kommen Sie schon«, forderte er sie auf. »Kommen Sie her und lassen Sie sich von mir in den Arm nehmen. Ich bin jung genug, um Ihr Sohn sein zu können, also brauchen Sie sich dadurch nicht beleidigt zu fühlen.« Loretta brachte kein Lächeln zu Stande, aber sie machte tatsächlich ein paar Schritte auf Rayford zu. Er umarmte sie. 305
»Loretta, ich kenne Sie lange genug, um zu wissen, dass Sie keine Geheimnisse verraten. Tatsache ist, die Leute, die Sie vielleicht über Tsion Ben-Judas Aufenthaltsort befragen, würden nicht zögern, einen Lügendetektor, vielleicht sogar ein Wahrheitsserum einzusetzen, wenn sie der Meinung wären, Sie wüssten etwas. Wenn sie Sie irgendwie zwingen könnten, es gegen Ihren Willen zu verraten, könnte das der Sache Christi großen Schaden zufügen.« Sie umarmte ihn. »In Ordnung«, meinte sie. »Ich denke noch immer, dass ich viel zäher bin, als ihr zu glauben scheint, aber in Ordnung. Wenn ich nicht denken würde, dass ihr nur mein Bestes wollt, würde ich euch alle aus meinem Haus werfen.« Das brachte alle zum Lächeln. Alle, außer Loretta. Es klopfte an der Tür. »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte der Bestattungsunternehmer zu Rayford. »Die Leute sind jetzt alle gegangen.« Buck war der Letzte in der Reihe der fünf Personen, die vor dem Sarg von Bruce standen. Zuerst fühlte Buck sich schuldig. Ihn ließ das Ganze seltsam kalt. Er erkannte, dass seine Gefühle während des Trauergottesdienstes verbraucht worden waren. Bruce war nicht mehr da und er fühlte nichts, wenn er sich klarmachte, dass sein Freund tatsächlich tot war. Und doch konnte er diese Augenblicke mit den Menschen, die ihm auf der Welt am nächsten standen, nutzen, um darüber nachzudenken, wie Gott in den vergangenen Stunden an ihm gehandelt hatte. Wenn er von Bruce eines gelernt hatte, so war es das, dass es im Leben eines Christen immer wieder einen Neuanfang gab. Was hatte Gott in letzter Zeit für ihn getan? Und was hatte er, Buck, nicht für ihn getan? Buck wünschte, er würde denselben Drang verspüren, seine Hingabe an den Dienst für Christus zu erneuern, wenn Gott ihm einmal nicht so nahe erschien wie in diesem Augenblick.
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Zwanzig Minuten später bogen Buck und Chloe auf den Parkplatz des Global Community Weekly ab. Nur Vernas Wagen stand dort. Buck hatte den Eindruck, dass Verna erstaunt und enttäuscht war, die humpelnde Chloe in seiner Begleitung zu sehen. Chloe hatte das anscheinend auch bemerkt. »Bin ich hier nicht willkommen?«, fragte sie. »Natürlich«, erwiderte Verna. »Wenn Buck jemanden braucht, der seine Hand hält.« »Warum sollte ich jemanden brauchen, der meine Hand hält?« Sie setzten sich in ein kleines Konferenzzimmer. Verna nahm vor Kopf Platz. Sie lehnte sich zurück und legte die Finger ineinander. »Buck, wir beide wissen, dass ich alle Trümpfe in der Hand halte, nicht?« »Was ist aus der neuen Verna geworden?«, fragte Buck. »Es gab keine neue Verna«, erwiderte sie. »Nur eine etwas weichere Ausgabe der alten Verna.« Chloe beugte sich vor. »Dann hat also nichts von dem, was wir gesagt, nichts von dem, was Sie in Lorettas Haus gesehen, gehört oder erlebt haben, einen Eindruck auf Sie gemacht?« »Also, ich muss zugeben, dass mir der neue Wagen sehr viel Spaß macht. Er ist besser als der, den ich gehabt habe. Natürlich war das nur fair, denn immerhin hat Buck meinen alten ja zu Schrott gefahren.« »Dann waren also Ihre schwachen Augenblicke, in denen Sie zugegeben haben, eifersüchtig auf Buck gewesen zu sein, Ihre Erkenntnis, dass Sie sich ihm gegenüber nicht angemessen verhalten haben, was denn, gespielt?«, fragte Chloe. Verna erhob sich. Sie stemmte die Hände in die Hüften und starrte Buck und Chloe an. »Ich bin wirklich erstaunt über den seltsamen Verlauf dieser Unterhaltung. Wir sprechen hier nicht über Büroangelegenheiten. Wir sprechen nicht über persönliche Konflikte. Tatsache ist, Buck, Sie sind Ihrem Arbeitgeber 307
gegenüber nicht loyal. Und hier geht es nicht nur darum, dass Sie sich Sorgen machen, weil der Journalismus nicht mehr so betrieben wird, wie es eigentlich sein sollte. Ich selbst habe Probleme damit. Das habe ich Chloe sogar gesagt, oder?« »Ja.« »Carpathia hat alle Medienkonzerne aufgekauft, das weiß ich«, fuhr Verna fort. »Keiner von uns Journalisten der alten Schule ist begeistert davon, die Nachrichten zu bringen, die unser oberster Boss macht. Uns gefällt es nicht, dass von uns erwartet wird, jeder Story seinen Stempel aufzudrücken. Aber Buck, Sie sind ein Wolf im Schafspelz. Sie sind ein Spion. Sie sind der Feind. Sie mögen diesen Mann nicht nur nicht, Sie halten ihn sogar für den Antichristen.« »Warum setzen Sie sich nicht, Verna?«, unterbrach sie Chloe. »Wollen Sie damit einen psychologischen Vorteil für sich herausschlagen? Wir alle kennen aus den Büchern diese kleinen Verhandlungstricks. Ich kann natürlich nicht für Buck sprechen, aber mich beeindruckt das keineswegs.« »Ich setze mich nur, weil ich es möchte.« »Also, was haben Sie vor?«, fragte Chloe. »Eine Erpressung?« »Da wir gerade davon sprechen«, warf Buck ein. »Danke für meine Schecks der vergangenen Wochen.« »Ich habe sie nicht angerührt. Sie liegen in Ihrer obersten Schreibtischschublade. Und nein, ich bin keine Erpresserin. Mir scheint nur, dass Ihr Leben davon abhängt, wer weiß oder nicht weiß, dass Sie Tsion Ben-Juda beherbergen.« »Und das glauben Sie zu wissen?« »Ich habe ihn heute Morgen in der Gemeinde gesehen!« »Wenigstens glauben Sie, ihn gesehen zu haben«, korrigierte Chloe sie. Buck zuckte zusammen und sah sie an. Verna ebenfalls. Zum ersten Mal entdeckte Buck eine Spur von Unsicherheit auf Vernas Gesicht. 308
»Sie wollen mir erzählen, ich hätte Tsion Ben-Juda heute Morgen nicht gesehen?« »Auf jeden Fall klingt das doch sehr unwahrscheinlich«, beharrte Chloe. »Meinen Sie nicht?« »Eigentlich nicht. Ich weiß, dass Buck in Israel war und dass seine Papiere bei einem Sympathisanten Ben-Judas gefunden wurden.« »Und Sie haben Buck wirklich mit Ben-Juda in der Gemeinde gesehen?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass ich BenJuda gesehen habe. Er saß bei der Frau, die mich neulich abends aufgenommen hat, bei Loretta.« »Dann geht Loretta also mit Tsion Ben-Juda aus, wollen Sie das sagen?« »Ich weiß, was ich sage, Chloe. Ben-Juda hat sogar im Gottesdienst etwas gesagt. Wenn er es nicht wahr, bin ich keine Journalistin.« »Kein Kommentar«, meinte Buck. »Das finde ich gar nicht lustig!« Chloe drang weiter in sie. »Sie saßen irgendwo, wo wir Sie gar nicht sehen konnten –« »Ich saß auf der Empore, wenn Sie es genau wissen wollen.« »Und von der Empore aus konnten Sie den Mann sehen, der mit Loretta ganz hinten saß?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich meinte, ich wusste einfach, dass er bei ihr saß. Beide haben sich im Trauergottesdienst zu Wort gemeldet und es klang so, als kämen beide Stimmen aus demselben Bereich.« »Ben-Juda ist also aus Israel geflohen, offensichtlich mit Bucks Hilfe. Buck ist so überaus klug, seine Papiere bei einem Feind des Staates zu lassen. Buck bringt Ben-Juda sicher nach Nordamerika und nimmt ihn in seine Gemeinde mit. Und dann steht Ben-Juda auch noch auf und spricht vor Hunderten von Leuten. Glauben Sie etwa das?« 309
Verna geriet ins Stottern. »Na ja, er, also, wenn das nicht Ben-Juda war, wer war es dann?« »Es ist Ihre Story, Verna.« »Loretta wird es mir erzählen. Ich hatte den Eindruck, dass sie mich mochte. Ich bin sicher, ich sah ihn später mit ihr nach draußen gehen. Ein kleiner, etwas stämmiger Israeli.« »Und Sie konnten von hinten erkennen, wer er war?« »Ich werde Loretta sofort anrufen.« Sie griff nach einem Telefon. »Vermutlich werden Sie mir ihre Telefonnummer nicht geben, oder?« Buck fragte sich, ob das eine gute Idee war. Sie hatten Loretta nicht vorbereitet. Aber nach dem Gespräch mit Rayford im Büro war er der Meinung, dass sie mit Verna Zee fertig werden konnte. »Natürlich, warum nicht?«, erwiderte Buck und schrieb ihr die Nummer auf. Verna drückte den Lautsprecherknopf und wählte. »Bei Loretta, hier spricht Rayford Steele.« Das hatte Verna offensichtlich nicht erwartet. »Oh, äh, ja. Ich möchte gern Loretta sprechen.« »Darf ich fragen –« »Verna Zee.« Als Loretta an den Apparat kam, war sie wie immer sehr liebenswürdig. »Verna, Liebes! Wie geht es Ihnen? Ich habe gehört, dass Sie heute im Gottesdienst waren, aber ich habe Sie vermisst. Fanden Sie es genauso bewegend wie ich?« »Wir werden uns bald mal darüber unterhalten, Loretta. Ich wollte nur –« »Ich kann mir keinen besseren Zeitpunkt vorstellen als jetzt, Liebes. Sollen wir uns irgendwo treffen oder möchten Sie vielleicht herkommen?« Verna wirkte verärgert. »Nein, Madam, nicht jetzt. Vielleicht irgendwann einmal. Ich wollte Sie nur etwas fragen. Wer war der Mann heute Morgen in der Gemeinde?« »Welcher Mann?« 310
»Sie waren doch mit einem Mann mit einem fremdländischen Aussehen da. Wer war er?« »Ist das eine offizielle Frage?« »Nein! Es interessiert mich nur.« »Dann muss ich Ihnen sagen, dass das eine sehr persönliche und ungehörige Frage ist.« »Sie werden es mir also nicht sagen?« »Ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht.« »Und wenn Buck und Chloe gesagt haben, Sie würden es mir erklären?« »Zuerst einmal würde ich vermutlich sagen, dass Sie eine Lügnerin sind. Aber das wäre unhöflich und noch ungehöriger als die Frage, die Sie gestellt haben.« »Dann sagen Sie mir nur, ob es Tsion Ben-Juda aus Israel war!« »Das klingt so, als hätten sie ihm bereits einen Namen gegeben. Wozu brauchen Sie dann noch meine Informationen?« »Dann war er es also?« »Das haben Sie gesagt, nicht ich.« »Aber er war es.« »Sie wollen die Wahrheit wissen, Verna? Dieser Mann ist mein heimlicher Liebhaber. Ich verstecke ihn unter meinem Bett.« »Was? Wie bitte? Also, kommen Sie –« »Verna, wenn Sie darüber sprechen möchten, was Sie heute Morgen bei dem Trauergottesdienst empfunden haben, würde ich gerne noch weiter mit Ihnen plaudern.« Verna legte einfach auf. »Na gut, Sie haben sich also zusammengetan und beschlossen, nicht die Wahrheit zu sagen. Ich glaube nicht, dass es mir schwer fallen wird, Steve Plank oder sogar Nicolai Carpathia davon zu überzeugen, dass Sie höchstwahrscheinlich Tsion Ben-Juda verstecken.« Chloe blickte Buck an. »Sie glauben, Buck würde etwas so Dummes tun, das ihn nicht nur seine Stellung, sondern vermut311
lich sein Leben kosten würde? Und was wollen Sie von den hohen Tieren der Weltgemeinschaft als Belohnung für diese Information haben?« Verna stolzierte aus dem Raum. Buck blickte Chloe an, zwinkerte und schüttelte den Kopf. »Du bist unbezahlbar«, flüsterte er. Verna kam zurück und knallte Bucks Schecks auf den Tisch. »Sie wissen, dass Ihre Zeit hier bald abläuft, Buck.« »Um ehrlich zu sein«, erwiderte Buck, »ich glaube, unser aller Zeit läuft bald ab.« Verna setzte sich resigniert nieder. »Sie glauben das alles tatsächlich, nicht wahr?« Buck versuchte, einen anderen Tonfall anzuschlagen. Er sprach jetzt sehr mitfühlend. »Verna, Sie haben mit Loretta, Amanda, Chloe und mir gesprochen. Wir alle haben Ihnen unsere Geschichte erzählt. Sie haben heute Morgen Rayfords Geschichte gehört. Wenn wir alle verrückt sind, dann sind wir es eben. Aber hat Sie denn nicht wenigstens ein klein wenig beeindruckt, was Bruce Barnes aus der Bibel dargelegt hat? Dinge, die gerade in Erfüllung gehen?« Verna schwieg einen Augenblick. Schließlich ergriff sie das Wort. »Es war tatsächlich ein wenig seltsam. Irgendwie beeindruckend. Aber ist das nicht genau wie bei Nostradamus? Können diese Prophezeiungen nicht hineininterpretiert worden sein? Können sie nicht alles bedeuten, was Sie gern darin lesen würden?« »Ich weiß nicht, wie Sie so etwas glauben können«, erwiderte Chloe. »Sie müssten es doch besser wissen. Bruce sagte, falls das Abkommen zwischen den Vereinten Nationen und Israel der Bund sei, von dem in der Bibel gesprochen wird, so würde das zu der siebenjährigen Trübsalszeit führen. Zuerst würden die sieben Siegelgerichte über uns hereinbrechen. Die vier Reiter der Apokalypse würden das Pferd des Friedens – achtzehn Monate lang –, das Pferd des Krieges, das Pferd der 312
Seuchen und Hungersnöte und das Pferd des Todes sein.« »Das ist doch alles symbolisch gemeint, oder?«, widersprach Verna. »Natürlich«, bestätigte Chloe. »Ich habe keinen Reiter gesehen. Aber ich habe eine eineinhalbjährige Zeit des Friedens erlebt. Und ich habe gesehen, wie der Dritte Weltkrieg ausgebrochen ist. Seuchen und Hungersnöte sind absehbar. Ich habe viele Menschen sterben sehen und viele werden noch sterben. Was kann Sie denn überzeugen? Das fünfte Siegelgericht. Aber haben Sie gehört, was nach der Überzeugung von Bruce als Nächstes kommen wird, wie Rayford sagte?« »Ein Erdbeben, ja, ich weiß.« »Wird Sie das überzeugen?« Verna drehte sich mit ihrem Stuhl um und starrte aus dem Fenster. »Ich nehme an, dem könnte man wohl kaum noch widersprechen.« »Ich möchte Ihnen einen Rat geben«, sagte Chloe. »Falls das Erdbeben so schlimm ist, wie es in der Bibel beschrieben wird, haben Sie vielleicht keine Zeit mehr, Ihre Meinung zu ändern.« Verna erhob sich und ging langsam zur Tür. Sie öffnete sie und sagte leise: »Mir gefällt es trotzdem noch immer nicht, dass Buck Carpathia gegenüber etwas zu sein vorgibt, das er nicht ist.« Buck und Chloe folgten ihr nach draußen. »Unser Privatleben und unsere Glaubensüberzeugung gehen unseren Arbeitgeber nichts an«, erwiderte Buck. »Wenn ich zum Beispiel wüsste, dass Sie Lesbierin sind, würde ich es trotzdem nicht für notwendig erachten, dies Ihren Vorgesetzten zu erzählen.« Verna wirbelte herum und starrte ihn an. »Wer hat Ihnen denn das erzählt? Was geht das Sie an? Wenn Sie das auch nur einem Menschen erzählen, werde ich –« Buck hob beide Hände. »Verna, Ihr Privatleben ist mir heilig. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass ich jemandem davon erzählen würde.« 313
»Es gibt nichts zu erzählen!« »Das meine ich ja.« Buck hielt Chloe die Tür auf. Auf dem Parkplatz fügte Verna hinzu: »Dann sind wir uns also einig?« »Einig?«, fragte Buck. »Keiner von uns wird etwas über das Privatleben des anderen erzählen?« Buck zuckte die Achseln. »Klingt fair.« Der Bestattungsunternehmer rief Rayford an. »Da im Augenblick so viele Tote zu bestatten sind und die Grabstätten knapp werden, schätzen wir, dass wir den Leichnam frühestens in drei Wochen, spätestens in fünf Wochen unter die Erde bringen können. Wir bewahren den Leichnam jedoch für Sie kostenfrei auf, da dies eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit ist«, sagte er. »Ich verstehe. Informieren Sie uns aber bitte, wenn die Beerdigung stattgefunden hat. Wir wären Ihnen sehr dankbar. Wir werden keinen Gottesdienst abhalten und niemand wird an der Beerdigung teilnehmen.« Loretta saß neben Rayford am Esszimmertisch. »Das ist alles so traurig«, sagte sie. »Sind Sie sicher, dass nicht wenigstens einer von uns dabei sein sollte?« »Ich habe noch nie viel von Trauerreden am Grab gehalten«, erwiderte Rayford. »Und ich glaube auch nicht, dass an Bruces Grab noch etwas gesagt werden muss.« »Das stimmt«, bestätigte sie. »Er wird sich nicht einsam oder vernachlässigt fühlen.« Rayford nickte und zog ein Blatt aus den Papieren von Bruce. »Loretta, ich glaube, er würde wollen, dass Sie das hier lesen.« »Was ist das?« »Es ist ein Auszug aus seinem Tagebuch. Ein paar private Gedanken über Sie.« 314
»Sind Sie sicher?« »Natürlich.« »Ich meine, sind Sie sicher, dass ich das wirklich lesen sollte?«, meinte sie schließlich zögernd. »Ich kann nur von mir ausgehen«, entgegnete er. »Wenn ich so etwas geschrieben hätte, würde ich wollen, dass Sie es lesen, vor allem nach meinem Tod.« Mit zitternden Fingern nahm sie das Blatt entgegen und las es. Sie war überwältigt davon. »Danke, Rayford«, brachte sie unter Tränen hervor. »Vielen Dank, dass Sie mir das gezeigt haben.« »Buck! Ich hatte ja keine Ahnung, dass Verna Lesbierin ist!«, rief Chloe. »Ich doch auch nicht!« »Du machst Witze!« »Ganz und gar nicht. Glaubst du auch, dass diese kleine Offenbarung ebenfalls von Gott kam?« »Ich würde es eher für einen unglaublichen Zufall halten, aber man kann ja nie wissen. Diese Behauptung hat wahrscheinlich dein Leben gerettet.« »Du hast vermutlich mein Leben gerettet, Chloe. Du warst einmalig.« »Ich habe mich nur für meinen Mann eingesetzt. Für ihre Spielchen hat sie sich die Falschen ausgesucht.«
17 Eineinhalb Wochen später, als Rayford gerade seine Sachen packte, um nach Neu-Babylon und zu seinem Job zurückzukehren, erhielt er einen Telefonanruf von Leon Fortunato. »Sie haben nicht zufällig etwas von dem Mädchen des Potentaten gehört?« 315
»›Dem Mädchen des Potentaten‹?«, wiederholte Rayford angewidert. »Sie wissen schon, von wem ich spreche. Sie ist doch mit Ihnen zusammen in die Staaten geflogen, nicht? Wo steckt sie?« »Ich hatte nicht den Eindruck, dass ich für sie verantwortlich bin.« »Steele, Sie wollen doch nicht wirklich eine Information über jemanden zurückhalten, über den Carpathia etwas erfahren möchte?« »Ach, er möchte wissen, wo sie steckt? Mit anderen Worten, er hat noch nichts von ihr gehört?« »Sie wissen, dass ich Sie nur aus diesem Grund anrufe.« »Wo hält sie sich seiner Meinung nach denn auf?« »Halten Sie mich nicht zum Narren, Steele. Sagen Sie mir, was Sie wissen.« »Ich weiß nicht genau, wo sie sich aufhält. Und ich habe auch nicht die Absicht, ohne ihr Wissen Auskunft über ihren Aufenthaltsort zu geben oder auch nur darüber, wo sie sich meiner Meinung nach aufhält.« »Sie erinnern sich lieber daran, für wen Sie arbeiten, mein Lieber.« »Wie könnte ich das vergessen?« »Dann wollen Sie also, dass ich Carpathia gegenüber andeute, sie hätten seiner Verlobten Unterschlupf gewährt?« »Wenn Sie sich darüber Gedanken machen, kann ich Sie beruhigen. Ich habe Hattie Durham zuletzt bei unserer Ankunft auf dem Flughafen in Milwaukee gesehen.« »Und wohin ist sie von da aus weitergeflogen?« »Ich glaube wirklich nicht, dass ich Ihnen über ihre Reiseroute Auskunft geben sollte, wenn sie es nicht getan hat.« »Das könnten Sie bereuen, Steele!« »Wissen Sie was, Leon, ich werde heute Nacht trotzdem gut schlafen.« 316
»Wir nehmen an, dass sie nach Denver geflogen ist, um ihre Familie zu besuchen. Dort hat der Krieg keinen Schaden angerichtet, darum verstehen wir nicht, warum wir sie telefonisch nicht erreichen können.« »Ich bin sicher, Sie haben mehrere Möglichkeiten, sie ausfindig zu machen. Ich möchte lieber nicht dazugehören.« »Ich hoffe, Sie sind finanziell abgesichert, Captain Steele.« Rayford erwiderte nichts. Er wollte sich nicht noch mehr mit Fortunato streiten. »Übrigens hat es eine kleine Änderung der Pläne in Bezug auf Ihren Flug nach Rom gegeben.« »Ich höre.« »Carpathia wird mitfliegen. Er möchte Mathews auf dem Rückflug nach Neu-Babylon begleiten.« »Und inwiefern betrifft mich das?« »Ich wollte nur sichergehen, dass Sie nicht ohne ihn abfliegen.« Buck hatte bereits per Telefon eine Abreibung von Steve Plank bekommen, weil er zugelassen hatte, dass sein Pass und seine Ausweispapiere in Israel in die falschen Hände gefallen waren. »Sie haben diesen Shorosh fast zu Tode gefoltert und er hat noch immer geschworen, dass Sie ein einfacher Passagier seines Bootes gewesen sind.« »Es war ein schönes großes Holzboot«, hatte Buck erwidert. »Das Boot gibt es nicht mehr.« »Was hatte es für einen Sinn, das Boot dieses Mannes zu zerstören und ihn zu foltern?« »Ist das offiziell?« »Ich weiß es nicht, Steve. Unterhalten wir uns als Journalisten, als Freunde oder ist das eine Warnung von einem Kollegen?« Steve wechselte das Thema. »Carpathia mag die Zeitung, die du von Chicago aus machst. Er hält den ›Global Community 317
Weekly‹ für die beste Zeitung der Welt. Das ist sie natürlich immer gewesen.« »Ja, natürlich. Wenn man einmal Objektivität und journalistische Glaubwürdigkeit außer Acht lässt –« »Wir alle haben das schon vor Jahren vergessen«, hatte Plank geantwortet. »Auch bevor wir von Carpathia übernommen wurden, mussten wir nach der Pfeife des obersten Bosses tanzen, wer immer das damals war.« Buck gab Amanda, Chloe, Rayford und Tsion einen CrashKurs in der Bedienung ihres neuen Computers. Tsion hatte mehrmals mit allen in Lorettas Haus gesprochen, das sie mittlerweile ihren »Zufluchtsort« nannten. Mehr als einmal sagte Loretta: »Das klingt fast, als wäre er direkt nebenan.« »Dank der modernen Technologie«, erklärte Buck. Täglich besuchten die Mitglieder der Tribulation Force Tsion in seinem Versteck, um ihn aufzuheitern. Er war fasziniert von den technischen Möglichkeiten, die sich ihm boten, und brachte einen großen Teil des Tages damit zu, sich die Nachrichten anzusehen. Er war versucht, über E-Mail mit einigen seiner Schüler auf der ganzen Welt Kontakt aufzunehmen, doch er hatte Angst, sie könnten gefoltert werden, um seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Er bat Buck, Donny zu fragen, wie er auf breiter Ebene kommunizieren könnte, ohne dass die Empfänger seiner Mitteilungen dafür würden leiden müssen. Die Lösung war sehr einfach. Er würde seine Nachrichten einfach in ein zentrales Mitteilungsblatt eingeben und niemand würde wissen, von wem sie stammten. Tsion beschäftigte sich sehr intensiv mit dem Material von Bruce. Er überarbeitete es, damit es veröffentlicht werden konnte. Das wurde dadurch erleichtert, dass Buck es ihm auf Diskette überspielte. Häufig übermittelte er bestimmte Teile an die einzelnen Mitglieder der Tribulation Force. Besonders beeindruckt war er von dem, was Bruce über Chloe und 318
Amanda zu sagen hatte. In seinem persönlichen Tagebuch schrieb Bruce häufig von seinem Traum, dass die beiden eine gemeinsame Arbeit begannen, in der Bibel forschten, Aufsätze schrieben und Kleingruppen und Hausgemeinden unterrichteten. Man hatte sich darauf geeinigt, dass Amanda erst nach Rayfords Rückkehr aus Rom nach Neu-Babylon zurückkehren würde. So hatte sie noch einige Tage Zeit, um mit Chloe zusammen einen solchen Dienst zu planen, wie Bruce ihn umrissen hatte. Sie wussten nicht, wo es sie hinführen würde, aber es gefiel ihnen, zusammenzuarbeiten, und beide schienen auf diese Weise mehr zu lernen. Buck war froh, dass Verna Zee Abstand hielt. Ein großer Teil der Reporter des Chicagoer Büros war zu den verschiedenen ausgebombten Städten geschickt worden, um über das daraus entstandene Chaos zu berichten. Buck zweifelte nicht daran, dass das schwarze Pferd der Seuchen und Hungersnot und das fahle Pferd des Todes dem roten Pferd des Krieges unmittelbar folgen würden. Am Mittwochabend fuhr Amanda Rayford zum Flughafen nach Milwaukee. »Warum konnte Mathews nicht mit seinem eigenen Flugzeug nach Neu-Babylon fliegen?«, fragte sie. »Du kennst doch Carpathia. Er möchte gern die Oberhand gewinnen, indem er sich besonders unterwürfig und freundlich gibt. Er schickt dir nicht nur ein Flugzeug, nein, er kommt sogar mit und begleitet dich zurück.« »Was will er denn von Mathews?« »Wer weiß? Das kann alles Mögliche sein. Dass sich so viele zu Christus bekehren, beunruhigt ihn vermutlich. Wir sind eine Gruppe, die nicht in die Weltreligion passt.« Um sechs Uhr am Donnerstagmorgen wurden die Bewohner von Lorettas Haus durch das Klingeln des Telefons geweckt. Chloe nahm den Hörer ab. Sie legte die Hand auf die Muschel 319
und flüsterte Buck zu: »Loretta hat schon abgehoben. Es ist Hattie.« Buck beugte sich zu ihr hinüber, um mitzuhören. »Ja«, sagte Loretta gerade, »Sie haben mich aufgeweckt, meine Liebe, aber das macht nichts. Captain Steele hat gesagt, dass Sie vielleicht anrufen werden.« »Auf dem Rückweg nach Neu-Babylon komme ich über Milwaukee. Ganz bewusst habe ich einen Flug gewählt, bei dem ich sechs Stunden Aufenthalt dort habe. Sagen Sie den anderen, dass ich am Mitchell Field bin, wenn jemand mit mir sprechen möchte. Allerdings braucht sich niemand verpflichtet zu fühlen und ich bin auch nicht beleidigt, wenn keiner kommt.« »Oh, es wird sicher jemand kommen, Liebes. Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« In Bagdad war es bereits drei Uhr am Nachmittag, als Rayfords Maschine landete. Er hatte vorgehabt, an Bord auf seinen Weiterflug nach Neu-Babylon später zu warten, aber das Handy in seiner Tasche klingelte. Er fragte sich, ob dies wohl ein Anruf von Buck war oder ob Carpathia vielleicht wegen Buck bei ihm anrief und das Geheimnis der Tribulation Force enthüllt hatte. Sie alle wussten, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis Buck in seiner Position nicht mehr sicher war. Rayford überlegte flüchtig, ob es vielleicht sogar Hattie Durham war. Er hatte mit dem Rückflug so lange wie möglich gewartet in der Hoffnung, dass sie sich vor ihrer Rückkehr noch einmal mit ihm in Verbindung setzen würde. Wie Carpathia und Fortunato hatte auch er vergeblich versucht, sie in Denver zu erreichen. Doch der Anruf kam von seinem Copiloten Mac McCullum. »Steigen Sie aus, Steele, und strecken Sie Ihre Beine. Ihr Taxi ist da.« »Hey, Mac! Was heißt das?« 320
»Es bedeutet, dass der große Boss nicht warten möchte. Wir treffen uns am Helikopterlandeplatz auf der anderen Seite des Terminals. Ich werde Sie mit dem Hubschrauber zum Hauptquartier zurückbringen.« Rayford hatte geplant, seine Rückkehr nach Neu-Babylon so lange wie möglich aufzuschieben, aber wenigstens war ein Flug mit dem Hubschrauber eine Ablenkung. Er beneidete McCullum um seine Fähigkeit, so mühelos zwischen dem Fliegen von Jumbojets und Hubschraubern umschalten zu können. Seit seiner Militärzeit vor mehr als zwanzig Jahren hatte Rayford nur noch große Passagiermaschinen geflogen. Der Global Community Weekly wurde jeden Donnerstag mit dem Datum des folgenden Montags herausgegeben. Buck konnte es kaum erwarten, die neueste Ausgabe in den Händen zu halten. In Lorettas Haus wurde beschlossen, dass Amanda und Chloe nach Milwaukee fahren sollten, um Hattie abzuholen. Loretta würde rechtzeitig aus dem Gemeindebüro nach Hause kommen, um ein kleines Mittagessen zu bereiten. Buck wollte zum Büro fahren, um die ersten Ausgaben der Zeitung zu sehen. Wenn Chloe ihn anrief und mitteilte, dass sie, Amanda und Hattie nun zu Hause waren, würde auch er zu Lorettas Haus fahren. Buck hatte sich mit seinem Leitartikel in eine gefährliche Lage gebracht. Wie immer hatte er einen neutralen, objektiven Standpunkt vorgetäuscht und einiges von dem Material wiedergegeben, das Bruce am Sonntagmorgen in seiner Predigt verwandt hätte, wenn er nicht vorher gestorben wäre. Buck hatte den Artikel selbst geschrieben, die Reporter aller Zweigbüros des Global Community Weekly jedoch angewiesen, ortsansässige Kirchenmänner zu den Prophezeiungen aus der Offenbarung zu befragen. Aus irgendeinem Grunde gingen seine Reporter – vorwie321
gend Skeptiker – mit Feuereifer an die Arbeit. Aus der ganzen Welt bekam Buck Faxe, Telefonanrufe, Briefe und E-Mails mit Reaktionen. Die Überschrift seines Leitartikels lautete: »Wird der ›Zorn des Lammes‹ auf uns kommen?« Dies war auch die Frage, die seine Reporter den Kirchenmännern vorlegen sollten. Buck hatte mehr Freude an seiner neuen Aufgabe gehabt als an allen anderen Leitartikeln, die er je geschrieben hatte, auch an dem über Chaim Rosenzweig, den »Mann des Jahres«. Fast drei Tage und Nächte hatte er daran gearbeitet, kaum geschlafen und die verschiedenen Berichte einander gegenübergestellt und miteinander verglichen. Natürlich konnte er in einigen der Kommentare erkennen, dass sie von anderen Christen verfasst worden waren. Trotz der Skepsis und des Zynismus der meisten Reporter zitierten sie Pastoren und einige bekehrte Juden, die gesagt hatten, der im 6. Kapitel der Offenbarung vorhergesagte »Zorn des Lammes« sei wörtlich zu nehmen und stünde unmittelbar bevor. Die überwiegende Mehrheit der Kommentare stammte jedoch von Kirchenmännern, die früher den verschiedensten Religionen und Denominationen angehört und sich nun dem EnigmaBabylon-Einheitsglauben angeschlossen hatten. Fast alle dieser »Glaubensführer« (niemand wurde mehr Pfarrer, Pastor oder Priester genannt) hatten die Meinung des Pontifex Maximus Peter Mathews übernommen. Mit Mathews hatte Buck selbst gesprochen. Seine Ansicht, die Dutzende Male nachgeplappert worden war, lautete, dass die Offenbarung wunderschöne archaische Literatur sei, »die symbolisch, bildlich und metaphorisch zu verstehen sei. Dieses Erdbeben«, hatte Mathews am Telefon gesagt, »könnte sich auf alles Mögliche beziehen. Es könnte bereits passiert sein. Vielleicht spielt es sich ja auch im Himmel ab. Wer weiß? Möglicherweise ist es eine auf der alten Theorie gegründete Geschichte, dass im Himmel ein ewiger Mensch wohnt, der die Erde geschaffen hat. Ich weiß 322
nicht, wie es Ihnen geht, aber ich habe keinen apokalyptischen Reiter gesehen. Ich habe nicht gesehen, dass jemand für seine Religion gestorben wäre. Ich habe keinen gesehen, der ›für das Wort Gottes geschlachtet‹ wurde, wie es in den vorhergehenden Versen heißt. Ich habe auch niemanden in einem weißen Gewand gesehen. Und ganz bestimmt erwarte ich kein Erdbeben. Ungeachtet dessen, welche Sichtweise Sie zu der Person oder dem Begriff Gottes haben oder eines Gottes, würde sich wohl kaum jemand vorstellen können, dass ein höchstes Geistwesen voller Güte und Licht die gesamte Erde, die bereits von einem so zerstörerischen Krieg betroffen wurde, einer Naturkatastrophe wie einem Erdbeben unterwerfen würde.« »Aber«, hatte Buck ihn gefragt, »wissen Sie denn nicht, dass dieser ›Zorn des Lammes‹ auch heute noch in vielen Gemeinden verkündigt wird?« »Natürlich«, hatte Mathews erwidert. »Aber das sind dieselben Überbleibsel dieser rechten, fanatischen, fundamentalistischen Gruppierungen, die die Bibel schon immer wörtlich genommen haben. Diese Prediger – und ich wage zu behaupten, auch viele ihrer Gemeindemitglieder – nehmen den Schöpfungsbericht – den Mythos von Adam und Eva, wenn Sie so wollen – wörtlich. Sie glauben, dass die ganze Erde zur Zeit Noahs unter Wasser gestanden hat und dass nur er, seine drei Söhne und deren Frauen überlebt und die Menschheit, so wie wir sie kennen, begründet haben.« »Aber Sie als Katholik und ehemaliger Papst –« »Nicht nur ehemaliger Papst, Mr. Williams, sondern auch ehemaliger Katholik. Als Führer des Welteinheitsglaubens fühle ich die große Verantwortung, alle Fallen des Parochialsystems zu beseitigen. Im Geist der Einheit, Versöhnung und Ökumene muss ich bereit sein zuzugeben, dass ein großer Teil des katholischen Gedankenguts und der katholischen Lehre genauso starr und engstirnig war, wie das, was ich hier kritisiere.« 323
»Zum Beispiel?« »Ich wage nicht, hier zu sehr ins Detail zu gehen, um die Wenigen nicht zu verletzen, die noch immer dem katholischen Glauben anhängen, aber die Vorstellung, es habe tatsächlich eine Jungfrauengeburt gegeben, sollte unbedingt als irrational abgetan werden. Die Vorstellung, die heilige römischkatholische Kirche sei die einzig wahre Kirche war fast genauso schädlich wie die protestantische Ansicht, Jesus sei der einzige Weg zu Gott. Das setzt natürlich voraus, dass Jesus, wie so viele meiner bibeltreuen Freunde so gern sagen, der ›eingeborene Sohn des Vaters‹ war. Mittlerweile bin ich sicher, dass die meisten denkenden Menschen erkannt haben, dass Gott bestenfalls ein Geist, ein Begriff ist, wenn Sie so wollen. Wenn Sie ihm oder ihr einige Merkmale der Reinheit und Güte zuschreiben wollen, so folgt daraus nur, dass wir alle Söhne und Töchter Gottes sind.« Buck hatte weitergebohrt. »Und was ist dann mit den Begriffen ›Himmel‹ und ›Hölle‹?« »Der Himmel ist ein Zustand. Sie können Ihr Leben hier auf der Erde zum Himmel machen. Ich bin der Meinung, dass wir auf dem Weg sind, einen utopischen Staat zu schaffen. Hölle? Durch diesen ganz und gar mythischen Begriff ist bei sehr sensiblen Menschen schon unglaublich viel Schaden angerichtet worden. Ich möchte es einmal folgendermaßen ausdrücken: Sagen wir, diese Fundamentalisten, also die Menschen, die der Meinung sind, der ›Zorn des Lammes‹ würde über uns hereinbrechen, haben Recht mit ihrer Annahme, es gebe einen liebevollen, persönlichen Gott, der sich um jeden von uns kümmert. Wie passt das zusammen? Ist es möglich, dass er etwas geschaffen hat, das er dann schließlich dem Feuer zum Opfer fallen lässt? Das macht doch keinen Sinn.« »Aber sagen die Christen, von denen Sie gerade gesprochen haben, nicht, dass Gott nicht möchte, dass auch nur einer von ihnen verloren geht? Mit anderen Worten: Er schickt die Men324
schen nicht in die Hölle. Die Hölle ist das Gericht für diejenigen, die nicht an ihn glauben, aber alle haben die Gelegenheit zur Umkehr.« »Sie haben deren Position sehr gut beschrieben, Mr. Williams. Aber wie Sie sicherlich sehen können, ist es einfach nicht wasserdicht.« Am frühen Morgen, noch bevor die Tür aufgeschlossen worden war, nahm Buck den in Plastik eingewickelten Packen Global Community Weeklys und trug ihn hinein. Die Sekretärinnen würden die Exemplare später im Büro verteilen. Doch Buck konnte sich nicht zurückhalten, das Plastik abzureißen und sich eine Zeitung zu nehmen. Das Cover, vom internationalen Hauptbüro entworfen, war noch besser, als er gehofft hatte. Unter dem Emblem der Weltgemeinschaft befand sich eine ausgezeichnete Illustration einer Gebirgskette, durch die auf der ganzen Länge ein Riss ging. Darüber stand ein roter Mond. Die Überschrift lautete: »Wird der Zorn des Lammes auf uns kommen?« Buck konzentrierte sich auf den Leitartikel mit seinem Namenszug. Wie es für einen Leitartikel aus seiner Feder charakteristisch war, kamen alle Meinungen zu Wort. Er hatte Führungspersönlichkeiten wie Carpathia und Mathews bis hin zu Pastoren kleiner Ortsgemeinden zitiert. Sogar der Mann auf der Straße kam zu Wort. Der nach Bucks Ansicht größte Coup war eine kurze Nebenspalte mit einer sehr klaren Wortbetrachtung von keinem anderen als Rabbi Tsion Ben-Juda. Er erklärte darin, wer in der Bibel das geopferte Lamm war und dass dieses Bild im Alten Testament zum ersten Mal verwendet und durch Jesus im Neuen Testament erfüllt wurde. Buck war nur von seinem alten Freund Steve Plank verdächtigt worden, bei der Flucht Tsion Ben-Judas mitgeholfen zu haben. Dass er Tsion nun in seiner Zeitung zitierte, könnte den Anschein erwecken, als würde Buck doch den Aufenthaltsort 325
von Ben-Juda kennen. Aber dieses Risiko nahm er in Kauf. Bevor der Artikel über Satellit an die unterschiedlichen Drukkereien übermittelt wurde, fügte Buck in einer Notiz hinzu: »Dr. Ben-Juda erfuhr über Internet von diesem Artikel und hat seine Ansicht von einem unbekannten Ort aus per Computer kundgetan.« Ebenfalls amüsant – falls es überhaupt irgendetwas Amüsantes an diesem für die Welt so wichtigen Thema gab – fand Buck das Interview eines seiner aufstrebenden jungen Reporter in Afrika, der sich die Mühe gemacht hatte, mit einigen Geologen der Universität von Simbabwe zu sprechen. Ihre Schlussfolgerung? »Die Vorstellung, es könnte ein weltweites Erdbeben geben, ist einfach absurd. Erdbeben werden durch unterirdische Erdplatten hervorgerufen, die sich aneinander reiben. Es geht hier um Ursache und Wirkung. Der Grund, warum es zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten passiert, ist logischerweise der, dass es an anderen Orten nicht zur selben Zeit passiert. Diese Platten bewegen sich und prallen aufeinander, weil sie keinen anderen Ausweichort haben. Noch nie hat man von einem Erdbeben gehört, das gleichzeitig an verschiedenen Orten stattgefunden hat. Es gibt kein Erdbeben in Nordamerika und Südamerika zur selben Zeit. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen geologischen Ereignisses, das zu einem weltweiten Erdbeben führen würde, ist astronomisch gering.« McCullum landete den Hubschrauber auf dem Dach des Hauptquartiers der Weltgemeinschaft in Neu-Babylon. Er half Rayford, sein Gepäck zum Aufzug zu bringen. Mit dem Aufzug kamen sie an Carpathias Suite Nr. 216 vorbei, die sich samt Büros und Konferenzräumen über das gesamte Stockwerk erstreckte. Rayford hatte diese Adresse nie verstanden, da Carpathia und seine Leute das oberste Stockwerk des achtzehnstöckigen Gebäudes belegt hatten. Rayford hoffte, Carpathia würde seine Ankunftszeit nicht 326
genau kennen. Er nahm an, er würde ihm erst begegnen, wenn er ihn nach Rom brachte, um Mathews abzuholen. Rayford wollte noch auspacken und es sich in seiner Wohnung gemütlich machen, bevor er wieder an Bord eines Flugzeugs ging, und er war dankbar, dass er auf dem Weg zu seiner Wohnung nicht gestört wurde. Bis zum Start blieben ihm noch einige Stunden Zeit. »Wir sehen uns an Bord der 216, Mac«, sagte er. Noch bevor die Angestellten des Global Weekly zur Arbeit kamen, begannen die Telefone zu klingeln. Buck überließ es den Anrufbeantwortern, die Gespräche anzunehmen, und es dauerte nicht lange, bis er sich an den Schreibtisch der Empfangsdame setzte und sich die Kommentare der Leser anhörte. Eine Frau sagte: »Der ›Global Community Weekly‹ hat sich jetzt also auf die Ebene von Sensationsblättern begeben und berichtet über die neuesten Märchen, die von der so genannten ›Kirche‹ verbreitet werden. Überlassen Sie diesen Müll doch den Sensationsreportern.« Ein anderer Leser meinte: »Ich hätte mir nie träumen lassen, dass die Menschen diesen Blödsinn noch immer glauben. Dass Sie für Ihren Artikel so viele komische Käuze auftreiben konnten, ist nur der Findigkeit des Journalismus zu verdanken. Vielen Dank, dass Sie sie ans Licht gezerrt und ihnen gezeigt haben, was für Narren sie doch sind.« Nur hin und wieder kam ein Anruf wie der von einer Frau aus Florida, die sagte: »Warum hat mir das noch nie jemand gesagt? Seit diese Zeitung meine Türschwelle berührt hat, lese ich in der Offenbarung und ich habe eine Todesangst. Was soll ich jetzt tun?« Buck hoffte, sie würde den Artikel gründlich genug lesen und entdecken, was nach Meinung eines bekehrten Juden aus Norwegen der einzige Schutz vor dem bevorstehenden Erdbeben war: »Niemand darf glauben, er könnte Schutz vor dem Erdbeben finden. Wenn Sie wie ich glauben, dass Jesus Christus die 327
einzige Hoffnung auf Errettung ist, sollten Sie Ihre Sünden bereuen und ihn annehmen, bevor Sie dem Tod ins Antlitz sehen müssen.« Bucks Telefon klingelte. Es war Verna. »Buck, ich behalte Ihr Geheimnis für mich, darum hoffe ich, dass Sie Ihren Teil des Handels ebenfalls einhalten.« »Das tue ich. Warum sind Sie heute Morgen so aufgebracht?« »Natürlich wegen Ihres Leitartikels. Ich wusste, woran Sie gearbeitet haben, aber ich hätte nicht gedacht, dass Sie so offen sein würden. Meinen Sie nicht, Sie hätten sich hinter Ihrer Objektivität nur versteckt? Denken Sie nicht, dass Carpathia Sie als Befürworter entlarven wird?« »Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht. Selbst wenn diese Zeitung nicht Carpathia gehören würde, würde ich mir wünschen, dass ich meine Objektivität gewahrt habe.« »Sie machen sich selbst etwas vor.« Buck suchte krampfhaft nach einer Antwort. In gewisser Weise war er dankbar für die Warnung. Andererseits war das ja nichts Neues. Vielleicht versuchte Verna auch nur, einen Ansatzpunkt zu finden, einen Grund, das Gespräch fortzusetzen. »Verna, ich möchte Sie dringend bitten, auch weiterhin über das, was Sie von Loretta, Chloe und Amanda gehört haben, nachzudenken.« »Und von Ihnen. Lassen Sie sich nicht aus«, ergänzte sie sarkastisch. »Ich meine es ernst, Verna. Wenn Sie den Wunsch haben, noch einmal darüber zu sprechen, können Sie jederzeit zu mir kommen.« »Trotz all dem, was Ihre Religion über Homosexuelle sagt? Machen Sie Witze?« »Die Bibel unterscheidet nicht zwischen homosexuellen und heterosexuellen Menschen«, erwiderte Buck. »Praktizierende Homosexuelle werden zwar Sünder genannt, aber genauso gut 328
wird gesagt, dass heterosexuelle Beziehungen außerhalb der Ehe Sünde sind.« »Das ist doch alles Wortklauberei, Buck. Alles Wortklauberei.« »Denken Sie nur an das, was ich gesagt habe, Verna. Ich möchte nicht, dass unsere persönlichen Konflikte Ihnen im Weg stehen, die Wahrheit zu erkennen. Sie hatten Recht, als Sie sagten, der Ausbruch des Krieges würde unsere kleinen Auseinandersetzungen bedeutungslos erscheinen lassen. Ich bin bereit, das alles hinter mir zu lassen.« Sie schwieg einen Augenblick. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme beinahe beeindruckt. »Vielen Dank, Buck. Ich werde daran denken.« Am Vormittag Chicagoer Zeit war es im Irak früher Abend. Rayford und McCullum waren mit Carpathia, Fortunato und Dr. Kline auf dem Weg nach Rom, um den Führer der Welteinheitsreligion, Peter Mathews, abzuholen. Rayford wusste, dass Carpathia den Weg ebnen wollte für den Umzug des Sitzes der Welteinheitsreligion nach Neu-Babylon, aber ihm war noch nicht so ganz klar, welche Rolle Dr. Kline bei dieser Begegnung spielte. Über seine geheime Abhöranlage fand er es sehr schnell heraus. Wie gewöhnlich übernahm Rayford den Start und brachte das Flugzeug auf die normale Flughöhe. Danach stellte er auf Autopilot um und übergab an McCullum. »Ich habe das Gefühl, den ganzen Tag im Flugzeug gesessen zu haben«, sagte er und lehnte sich auf seinem Sitz zurück. Er zog sich seine Mütze ins Gesicht, richtete seine Kopfhörer und tat so, als würde er schlafen. In den knapp zwei Stunden, die sie von Neu-Babylon nach Rom brauchten, würde Rayford eine Lektion in internationaler Diplomatie der neuen Weltordnung bekommen. Doch bevor sie zum Geschäft kamen, erkundigte sich Carpathia bei Fortunato nach Hattie Durhams Flugplänen. Fortunato informierte ihn: »Sie hat keinen Nonstop-Flug ge329
bucht und einen längeren Aufenthalt in Milwaukee, danach fliegt sie nach Boston. Von Boston wird sie allerdings Nonstop nach Bagdad weiterfliegen. Auf diese Weise dauert ihre Reise um einiges länger, aber ich denke, wir können sie morgen früh erwarten.« Carpathia klang verärgert. »Wie lange wird es noch dauern, bis der internationale Terminal in Neu-Babylon fertig gestellt ist? Ich habe die ewigen Zwischenlandungen in Bagdad so satt.« »Wie man uns gesagt hat, wird es noch einige Monate dauern.« »Und das sind dieselben Bauingenieure, die uns sagen, alles andere in Neu-Babylon sei von allerneuester Technik?« »Ja, Sir. Haben Sie irgendwelche Probleme bemerkt?« »Nein, aber ich wünschte beinahe, dieses Gerede vom ›Zorn des Lammes‹ sei mehr als nur ein Mythos. Ich würde gern sehen, ob die Gebäude wirklich so erdbebensicher sind, wie die Bauherren behaupten.« »Ich habe den Artikel heute Morgen gelesen«, sagte Dr. Kline. »Wirklich interessant. Dieser Williams kann aus allem eine interessante Geschichte machen, nicht?« »Ja«, bestätigte Carpathia feierlich. »Ich vermute, dass er eine interessante Geschichte zu seinem eigenen Hintergrund geschrieben hat.« »Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.« »Ich weiß es selbst noch nicht so genau«, fuhr Carpathia fort. »Unsere Geheimdienste bringen ihn mit dem Verschwinden von Rabbi Ben-Juda in Verbindung.« Rayford spannte sich und hörte aufmerksam zu. McCullum sollte nicht merken, dass er eine andere Frequenz eingeschaltet hatte, aber er wollte auch nichts verpassen. »Wir erfahren immer mehr über unseren brillanten jungen Journalisten«, sagte Carpathia. »Nie hat er etwas über seine Verbindung zu meinem Piloten verlauten lassen, aber auch 330
Captain Steele hat nie etwas darüber gesagt. Ich habe noch immer nichts dagegen, sie in meiner Nähe zu haben. Sie denken vielleicht, sie hätten durch die enge Zusammenarbeit strategische Vorteile, aber andererseits kann auch ich durch sie viel über die Opposition erfahren.« So ist das also, dachte Rayford. Das Versteckspielen ist also endlich vorbei. »Leon, was gibt es Neues von diesen beiden verrückten Männern in Jerusalem?« Fortunatos Stimme klang angewidert. »Sie haben die ganze Nation Israel wieder gegen sich aufgebracht«, erklärte er. »Wie Sie wissen, hat es, seit sie angefangen haben zu predigen, in Israel nicht mehr geregnet. Und das, was sie mit den Wasservorräten während der Tempelzeremonie gemacht haben, Sie wissen schon, als sie das Wasser in Blut verwandelten, nun, das machen sie jetzt schon wieder.« »Was hat sie dieses Mal dazu veranlasst?« »Ich denke, das wissen Sie.« »Ich habe Sie gebeten, niemals um den heißen Brei herumzureden. Wenn ich eine Frage stelle, erwarte ich –« »Verzeihen Sie, Potentat. Der Grund dafür ist die Verhaftung und Folterung der Leute, die mit Dr. Ben-Juda in Verbindung gebracht werden. Sie sagen, alle Wasservorräte würden durch Blut verschmutzt bleiben, bis diese Verdächtigen freigelassen seien und die Suche nach Ben-Juda eingestellt worden wäre.« »Wie bringen sie das zu Stande?« »Das weiß niemand, aber es ist sehr real, nicht wahr, Dr. Kline?« »O ja«, erwiderte dieser. »Man hat mir Wasserproben geschickt. Zwar ist ein hoher Wassergehalt festzustellen, aber vorwiegend handelt es sich um Blut.« »Menschenblut?« »Es hat alle Charakteristiken von Menschenblut, wenn auch die Art sehr schwierig zu bestimmen ist. Es grenzt an eine 331
Mischung aus Menschen- und Tierblut.« »Wie ist die Stimmung in Israel?«, fragte Carpathia. »Die Menschen sind wütend auf die beiden Prediger. Sie wollen sie töten.« »Das ist doch gar nicht schlecht«, meinte Carpathia. »Können wir das nicht irgendwie bewerkstelligen?« »Niemand wagt sich daran. Die Zahl der Menschen, die einen solchen Versuch unternommen haben, liegt jetzt bei mehr als einem Dutzend. Nach einer Weile lernt jeder seine Lektion.« »Wir werden einen Weg finden«, meinte Carpathia. »Lassen Sie in der Zwischenzeit die Verdächtigen frei. Ben-Juda kann nicht weit kommen. Außerdem kann er es nicht wagen, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen und uns somit auch nicht groß schaden. Wenn diese beiden Halunken nicht sofort die Wasservorräte reinigen, werden wir sehen, ob sie auch einen Atomangriff überleben.« »Das meinen Sie doch nicht im Ernst, oder?« »Warum nicht?« »Sie würden eine Atombombe auf eine geheiligte Stätte in der Heiligen Stadt werfen?« »Offen gesagt, mir liegt überhaupt nichts an der Klagemauer, dem Tempelberg oder dem neuen Tempel. Die beiden machen mir unentwegt nur Ärger, also merken Sie sich: Der Tag wird kommen, an dem sie es zu weit treiben.« »Es wäre gut, die Meinung von Pontifex Mathews zu dieser Angelegenheit einzuholen.« »Wir haben genügend anderes mit ihm zu besprechen«, widersprach Carpathia. »Ich bin sogar sicher, dass auch er einiges mit mir zu besprechen hat, selbst wenn er sich das zunächst nicht anmerken lassen wird.« Später schaltete jemand das Fernsehgerät ein, und die drei Männer sahen sich die internationale Berichterstattung zu den Aufräumungsarbeiten des durch den Krieg verursachten Chaos’ 332
an. Carpathia wandte Dr. Kline seine Aufmerksamkeit zu. »Wie Sie wissen, haben sich die zehn Botschafter einstimmig dafür ausgesprochen, Abtreibungen für Frauen in unterprivilegierten Ländern zu finanzieren. Ich habe die Wege für einen Gesetzentwurf geebnet. Jeder Kontinent ist von diesem Krieg betroffen, darum können alle als unterprivilegiert betrachtet werden. Ich erwarte nicht, dass Mathews in dieser Hinsicht Probleme machen wird. Wenn er noch Papst wäre, hätte er vielleicht dagegen protestiert. Sind Sie darauf vorbereitet, ihm die langzeitlichen Vorteile dieser Lösung darzulegen, falls er dennoch tatsächlich Einwände erheben sollte?« »Natürlich.« »Und wie weit sind wir mit der Technologie zur Früherkennung der Lebensfähigkeit und Gesundheit eines Fötus?« »Die Amniozentese sagt uns alles, was wir wissen wollen. Ihre Vorteile sind so weit reichend, dass mögliche Risiken dieser Untersuchung durchaus in Kauf genommen werden können.« »Und Leon«, sagte Carpathia, »sind wir so weit, dass wir eine solche Untersuchung für jede Schwangere zwingend vorschreiben können, sowie die Abtreibung eines jeden Fötus, der in irgendeiner Form behindert zur Welt kommen wird?« »Alles ist vorbereitet«, bestätigte Fortunato. »Sie werden jedoch Unterstützung auf breiter Basis brauchen, bevor Sie damit an die Öffentlichkeit gehen.« »Natürlich. Das ist einer der Gründe für das Treffen mit Mathews.« »Sind Sie optimistisch?«, fragte Fortunato. »Sollte ich nicht? Ist sich Mathews nicht darüber im Klaren, dass ich ihn dahin gebracht habe, wo er jetzt ist?« »Das ist die Frage, die ich mir selbst immer wieder stelle, Potentat. Sicherlich haben Sie bemerkt, dass er es Ihnen gegenüber an Unterwürfigkeit und Respekt mangeln lässt. Mir gefällt nicht, dass er Sie behandelt, als würde er auf einer Stufe 333
mit Ihnen stehen.« »Im Augenblick kann er so renitent sein, wie er möchte. Durch seine Anhängerschaft kann er der Sache sehr von Nutzen sein. Ich weiß, dass er in finanziellen Schwierigkeiten steckt, weil er die Kirchengebäude nicht verkaufen kann. Sie sind anderweitig schwer zu nutzen und ich bin sicher, dass er die Weltgemeinschaft um eine höhere Zuwendung bitten wird. Die Botschafter sind darüber bereits sehr aufgebracht. Im Augenblick habe ich jedoch nichts dagegen, ihn finanziell in der Hand zu haben. Vielleicht können wir ein Abkommen treffen.«
18 Buck amüsierte sich darüber, dass sein Leitartikel das Gesprächsthema des Tages war. In jeder Talkshow, jeder Nachrichtensendung und sogar einigen anderen Shows wurde er erwähnt. In einer Satiresendung wurde ein Lamm auf »Beutegang« gezeigt. Man nannte sie: »Unsere Sichtweise vom ›Zorn des Lammes‹«. Als Buck die vor ihm liegende internationale Zeitung betrachtete, erkannte er, dass er längst nicht mehr so viel Einfluss hätte, wenn er entlarvt würde, zurücktreten müsste oder gar zum Flüchtling wurde. Vielleicht hatte er über Fernsehen und Internet ein größeres Publikum, aber er fragte sich, ob er jemals wieder einen solchen Einfluss würde ausüben können wie im Augenblick. Er blickte auf die Uhr. Es war Zeit, zum Mittagessen mit Hattie nach Hause zu fahren. Rayford und McCullum hatten nach der Landung in Rom ungefähr eine Stunde Aufenthalt, bevor sie nach Neu-Babylon aufbrachen. Als sie von Bord gingen, kamen sie an Peter 334
Mathews und einem seiner Assistenten vorbei. Rayford wurde beinahe übel, als er bemerkte, wie unterwürfig sich Carpathia Mathews gegenüber verhielt. Er hörte, wie der Potentat sagte: »Wie nett von Ihnen, dass wir Sie abholen konnten, Pontifex. Ich hoffe, wir werden ein gutes Gespräch zum Wohle der Weltgemeinschaft führen können.« Kurz bevor Rayford außer Hörweite kam, sagte Mathews zu Carpathia: »Solange es dem Welteinheitsglauben zuträglich ist, ist es mir egal, ob Sie davon profitieren oder nicht.« Rayford fand einen Grund, sich McCullum gegenüber zu entschuldigen und zum Flugzeug und ins Cockpit zurückzueilen. Er erklärte Fortunato, er müsse einiges überprüfen, und saß bald auf seinem Platz. Die Tür war verschlossen. Er hatte die Gegensprechanlage eingeschaltet und belauschte, was im Flugzeug gesprochen wurde. Seit der Nacht der Entrückung hatte Buck Hattie Durham nicht so verzweifelt gesehen. Wie die meisten anderen Männer fand auch er sie unglaublich attraktiv. Doch im Augenblick war sie wirklich außer sich. Sie trug eine große Tasche bei sich, die überwiegend mit gebrauchten Taschentüchern voll gestopft war. Loretta wies ihr den Platz am Kopfende des Tisches zu und als das Mittagessen aufgetragen wurde, saßen alle unbehaglich am Tisch und versuchten, ein tiefer gehendes Gespräch zu vermeiden. »Amanda«, sagte Buck, »würdest du mit uns beten?« Hattie faltete die Hände unter ihrem Kinn wie ein kleines Mädchen, das an seinem Bett kniete. Amanda betete: »Vater, manchmal wissen wir nicht, was wir in der Situation, in der wir uns gerade befinden, zu dir beten sollen. Manchmal sind wir unglücklich. Manchmal sind wir betrübt. Manchmal wissen wir nicht, wohin wir uns wenden sollen. Das Chaos in der Welt ist so groß. Wir wissen jedoch, dass wir dir danken können für das, was du bist. Wir danken dir, dass du ein guter Vater bist, 335
dass du uns liebst und dich um uns kümmerst. Wir danken dir, dass du souverän bist und die Welt in deinen Händen hältst. Wir danken dir für unsere Freunde, vor allem für eine alte Freundin wie Hattie. Gib uns die richtigen Worte, die ihr helfen können, eine Entscheidung zu treffen, und danke für dieses Essen, im Namen Jesu. Amen.« Schweigend verzehrten sie ihr Mittagessen. Buck bemerkte, dass Hatties Augen voller Tränen standen. Trotzdem aß sie sehr schnell und war noch vor den anderen fertig. Sie nahm ein weiteres Taschentuch und putzte sich die Nase. »Also«, sagte sie, »Rayford hat darauf bestanden, dass ich auf dem Rückweg bei Ihnen vorbeikomme. Es tut mir Leid, dass ich ihn verpasst habe, aber ich glaube, es war ihm sehr daran gelegen, dass ich mit Ihnen spreche. Vielleicht wollte er aber auch, dass Sie mit mir sprechen.« Die Frauen wirkten genauso verwirrt wie Buck. Was war das? Sie wollte ihnen zuhören? Was sollten sie tun? Es war schwer, auf die Bedürfnisse dieser Frau einzugehen, wenn sie ihnen nicht sagte, welches ihre Bedürfnisse waren. Loretta ergriff das Wort. »Hattie, was bedrückt Sie im Augenblick denn am meisten?« Lorettas Worte oder die Art, wie sie sie hervorgebracht hatte, lösten bei Hattie einen erneuten Tränenstrom aus. »Tatsache ist«, brachte sie mühsam hervor, »ich möchte eine Abtreibung vornehmen lassen. Meine Familie macht mir in dieser Hinsicht Mut. Ich weiß nicht, was Nicolai sagen wird, aber wenn nach meiner Rückkehr zu ihm keine Änderung in unserer Beziehung eintritt, werde ich ganz sicher eine Abtreibung machen lassen. Ich nehme an, ich bin hier, weil ich weiß, dass Sie versuchen werden, mir das auszureden, und vermutlich muss ich beide Seiten hören. Rayford hat mir bereits seine fundamentalistische Ansicht kundgetan. Das will ich nicht noch einmal hören.« »Was möchten Sie denn dann hören?«, fragte Buck, der sich in diesem Augenblick ein wenig fehl am Platze fühlte. 336
Chloe warf ihm einen Blick zu, der besagte, er solle sie nicht bedrängen. »Hattie«, meinte sie, »Sie wissen, wo wir stehen. Aber aus diesem Grund sind Sie nicht hergekommen. Wenn wir Ihnen das ausreden sollen, können wir das natürlich versuchen. Wenn Sie sich das nicht ausreden lassen wollen, kann nichts, was wir sagen, Ihre Meinung ändern.« Hattie blickte sie frustriert an. »Dann denken Sie also, ich sei hier, um mich anpredigen zu lassen?« »Wir werden Sie nicht anpredigen«, sagte Amanda. »Soweit ich verstanden habe, wissen Sie sehr gut, wo wir stehen und welche Einstellung wir zu Gott haben.« »Allerdings«, erwiderte Hattie. »Es tut mir Leid, dass ich Ihre Zeit vergeudet habe. Ich denke, die Entscheidung in Bezug auf diese Schwangerschaft muss ich ganz alleine treffen und es war dumm von mir, Sie da mit hineinzuziehen.« »Denken Sie nicht, Sie müssten jetzt gehen, Liebes«, erwiderte Loretta. »Das ist mein Haus und ich bin Ihre Gastgeberin. Sie könnten mich beleidigen, wenn Sie zu früh gehen.« Hattie blickte sie an, als wolle sie herausfinden, ob sie sie nur neckte. Es war klar, dass sie es nicht ernst gemeint hatte. »Ich kann genauso gut am Flughafen warten«, meinte Hattie. »Ich möchte Ihnen keine Umstände bereiten.« Buck wollte etwas sagen, doch er wusste, er konnte auf dieser Ebene nicht sehr gut kommunizieren. Er blickte den Frauen in die Augen, die ihren Gast sehr eindringlich beobachteten. Schließlich erhob sich Chloe, stellte sich hinter Hattie und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Ich habe Sie immer bewundert und gemocht«, erklärte sie. »Unter anderen Umständen hätten wir bestimmt Freundinnen sein können. Aber, Hattie, ich denke, ich sollte Ihnen sagen, warum Sie heute hierher gekommen sind. Ich weiß, warum Sie den Rat meines Vaters befolgt haben, wenn vielleicht auch gegen Ihren Willen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Ihr Besuch zu Hause Ihnen nicht sehr gut getan hat. Vielleicht waren Ihre Leute zu prak337
tisch. Vielleicht haben sie Ihnen nicht das Mitgefühl gegeben, das Sie neben einem Rat brauchten. Vielleicht wollten Sie gar nicht hören, dass Sie diese Schwangerschaft abbrechen sollen. Eines möchte ich Ihnen sagen, Hattie, wenn Sie Liebe gesucht haben, dann sind Sie hier richtig. Ja, wir haben unseren Glauben. Es gibt Dinge, von denen wir der Meinung sind, dass Sie sie wissen sollten. Wir haben Vorstellungen davon, was Sie mit Ihrem Baby tun sollten und vor allem in Bezug auf Ihre Seele. Aber das sind persönliche Entscheidungen, die nur Sie treffen können. Und wenn es hierbei auch um Tod und Leben, Himmel und Hölle geht, wir können Ihnen nur Hilfe anbieten, Ermutigung, Rat, wenn Sie möchten, und Liebe.« »Ja«, erwiderte Hattie, »Liebe, wenn ich alles kaufe, was Sie zu verkaufen haben.« »Nein, wir lieben Sie auch so. Wir werden Sie so lieben, wie Gott Sie liebt. Wir werden Sie so umfassend lieben, dass Sie davor nicht davonlaufen können. Selbst wenn Ihre Entscheidung allem entgegensteht, was wir für wahr halten, und auch wenn wir über den Verlust eines unschuldigen Lebens trauern würden, weil Sie beschlossen haben, Ihr Baby abtreiben zu lassen, würden wir Sie nicht weniger lieben.« Hattie brach in Tränen aus, während Chloe ihr über die Schulter strich. »Das ist unmöglich! Sie können mich nicht lieben, egal, was ich tue, vor allem wenn ich Ihren Rat ignoriere!« »Sie haben Recht«, bestätigte Chloe. »Wir sind zu einer solchen bedingungslosen Liebe nicht fähig. Darum müssen wir Gott Sie durch uns lieben lassen. Er ist der Eine, der uns liebt, egal, was wir tun. In der Bibel heißt es, dass er seinen Sohn gesandt hat, damit er für uns sterben sollte, während wir tot waren auf Grund unserer Vergehen. Das ist bedingungslose Liebe. Und das bieten wir Ihnen an, Hattie, weil wir alle so viel davon haben.« Hattie erhob sich ungeschickt. Ihr Stuhl rutschte über den 338
Boden, als sie sich zu Chloe umdrehte und sie umarmte. Sie hielten sich eine Weile umschlungen und gingen dann alle ins Wohnzimmer hinüber. Hattie versuchte zu lächeln. »Ich fühle mich so töricht«, sagte sie, »wie ein kleines Schulmädchen.« Die anderen Frauen protestierten nicht. Sie sagten ihr nicht, dass sie gut aussah. Sie blickten sie nur liebevoll an. Einen Augenblick lang wünschte Buck, er wäre Hattie, damit er reagieren konnte. Er wusste nicht, wie es Hattie ging, aber ihn hätten sie sicherlich damit überzeugt. »Ich möchte gleich zur Sache kommen«, erklärte Peter Mathews Carpathia. »Wenn es einen Weg gibt, wie wir einander helfen können, so möchte ich wissen, was Sie brauchen. Denn es gibt etwas, das ich von Ihnen brauche.« »Und das wäre?«, fragte Carpathia. »Offen gesagt, ich brauche den Erlass aller unserer Schulden. Vielleicht werden wir eines Tages in der Lage sein, einige unserer Schulden an Ihre Regierung zurückzuzahlen, aber im Augenblick haben wir einfach nicht die nötigen Einnahmen.« »Haben Sie Probleme bei dem Verkauf der überflüssigen Kirchengebäude?«, fragte Carpathia. »Oh, das gehört dazu, ist aber nur ein sehr kleiner Teil. Unser eigentliches Problem liegt bei zwei religiösen Gruppierungen, die sich nicht nur geweigert haben, sich unserer Gemeinschaft anzuschließen, sondern die uns gegenüber auch feindlich und intolerant eingestellt sind. Sie wissen, von wem ich spreche. Die eine Gruppe stellt ein Problem dar, das Sie selbst durch das Abkommen zwischen der Weltgemeinschaft und dem Staat Israel verursacht haben. Die Juden brauchen uns nicht, haben keinen Grund, sich uns anzuschließen. Sie glauben noch immer an den einen wahren Gott und einen Messias, der irgendwann aus dem Himmel kommen wird. Ich weiß nicht, wie Ihre Pläne aussehen, nachdem der Vertrag abgelaufen ist, aber ganz bestimmt könnte ich ein wenig Munition gegen sie gebrauchen. 339
Die andere Gruppe sind diese Christen, die sich selbst ›Heilige der Trübsalszeit‹ nennen. Sie sind der Meinung, der Messias sei bereits gekommen und habe seine Gemeinde entrückt. Sie selbst seien zurückgelassen worden, weil sie nicht den echten Glauben gehabt hätten. Sie glauben, Gott würde ihnen noch eine zweite Chance geben. Sie, Nicolai, wissen genauso gut wie ich, dass sie sich wie ein Buschfeuer ausbreiten. Das Seltsame daran ist, dass sich auch viele Juden zum Glauben dieser Christen bekehren. Sie haben diese beiden Verrückten an der Klagemauer gehört, die allen erzählen, die Juden würden zu Recht an den einen, wahren Gott glauben, Jesus sei tatsächlich sein Sohn und er sei wiedergekommen, um seine Gemeinde zu holen, und würde bald in Herrlichkeit wiederkehren.« »Peter, mein Freund, Ihnen als ehemaligen Katholiken dürfte diese Lehre doch nicht fremd sein.« »Ich habe nicht gesagt, dass sie mir fremd ist. Mir ist nur nicht klar gewesen, wie groß die Intoleranz war, die wir Katholiken geübt haben und die diese ›Heiligen der Trübsalszeit‹ jetzt üben.« »Sie haben diese Intoleranz also auch bemerkt?« »Wer nicht? Diese Leute nehmen die Bibel wörtlich. Sie haben ihre Propaganda gesehen und ihre Prediger gehört. Zu Zehntausenden schenken die Juden diesem Mist Glauben. Ihre Intoleranz verletzt uns.« »Wieso?« »Das wissen Sie doch. Das Geheimnis unseres Erfolges, das Rätsel des Welteinheitsglaubens ist doch, dass wir die Schranken niedergerissen haben, die uns trennen. Jede Religion, die die Meinung vertritt, es gebe nur einen Weg zu Gott, ist nach unserem Verständnis intolerant. Sie wird zum Feind des Welteinheitsglaubens und somit der Weltgemeinschaft als Ganzes. Unsere Feinde sind Ihre Feinde. Wir müssen etwas gegen sie unternehmen.« »Was schlagen Sie vor?« 340
»Ich wollte Ihnen diese Frage vorlegen, Nicolai.« Rayford konnte sich vorstellen, wie Nicolai zusammenzuckte, als Mathews ihn mit dem Vornamen ansprach. »Ob Sie es glauben oder nicht, mein Freund, ich habe schon sehr intensiv darüber nachgedacht.« »Tatsächlich?« »Ja. Wie Sie gesagt haben, Ihre Feinde sind meine Feinde. Die beiden an der Klagemauer, die von den so genannten ›Heiligen‹ Zeugen genannt werden, haben meiner Regierung schon beträchtlichen Kummer bereitet. Ich weiß nicht, woher sie kommen oder was sie vorhaben, aber sie haben die Menschen in Jerusalem terrorisiert und mich mehr als einmal schlecht aussehen lassen. Diese Gruppe von religiösen Fanatikern, die so viele Juden bekehrt, sind in den Augen der beiden Helden.« »Und zu welcher Schlussfolgerung sind Sie gekommen?« »Offen gesagt, habe ich eine engere Gesetzgebung in Betracht gezogen. Der gesunde Menschenverstand sagt uns, dass man Moral nicht vorschreiben kann. Zufälligerweise glaube ich das nicht. Ich gebe zu, dass meine Träume und Ziele sehr ehrgeizig sind, aber ich werde mich davon nicht abbringen lassen. Ich sehe eine Weltgemeinschaft kommen, die in vollkommenem Frieden und in Harmonie lebt, ein Utopia, in dem die Leute das Wohl des anderen im Sinn haben. Als dies durch die Rebellion von dreien unserer zehn Weltregionen in Gefahr gebracht wurde, habe ich sofort gehandelt. Obwohl ich gegen Krieg bin, habe ich eine strategische Entscheidung getroffen. Und jetzt habe ich vor, per Gesetz die Moral vorzuschreiben. Menschen, die miteinander auskommen wollen, werden mich überaus großzügig und versöhnlich finden. Und es wird keine Menschen mehr geben, die uns Schwierigkeiten bereiten wollen. So einfach ist das.« »Was sagen Sie da, Nicolai? Wollen Sie gegen die Fundamentalisten Krieg führen?« »In gewisser Weise schon. Nein, wir werden es nicht mit 341
Panzern und Bomben tun. Aber ich glaube, dass die Zeit gekommen ist, bestimmte Regeln für die neue Weltgemeinschaft aufzustellen. Da Ihnen dies genauso entgegenkommen würde wie mir, sollen Sie mit mir zusammen eine Organisation gründen und leiten, die sich für die, wenn Sie so wollen, Reinheit des Gedankengutes einsetzt.« »Wie definieren Sie ›Reinheit des Gedankengutes‹?« »Ich sehe eine Klasse von jungen, gesunden und starken Männern und Frauen voraus, die der Sache der Weltgemeinschaft so ergeben sein werden, dass sie bereit und willig sind, an sich selbst zu arbeiten und sich bis zu dem Punkt zu trainieren, an dem sie eifrig dafür sorgen, dass jeder mit unseren Zielen übereinstimmt.« Rayford hörte, wie sich jemand erhob und umherging. Er nahm an, dass es Mathews war, der sich langsam für die Idee erwärmte. »Diese Menschen würden keine Uniformen tragen, nehme ich an?« »Nein. Sie würden sich nicht von der Masse abheben, aber sie würden wegen ihrer hohen Intelligenz ausgewählt werden und eine psychologische Ausbildung erhalten. Sie würden uns über subversive Elemente informieren, die sich unseren Ansichten entgegenstellen. Sicherlich sind Sie mit mir einer Meinung, dass die Zeit vorüber ist, wo wir tolerieren können, dass extrem negative Abfallprodukte der Redefreiheit Amok laufen.« »Ich stimme Ihnen nicht nur zu«, sagte Mathews schnell, »ich bin auch jederzeit bereit, Ihnen nach Kräften zu helfen. Kann die Welteinheitskirche nicht bei der Auswahl der Kandidaten helfen? Bei ihrer Ausbildung? Bei ihrer Unterbringung und Versorgung?« »Ich dachte, Ihre finanziellen Mittel seien knapp«, entgegnete Carpathia leise lachend. »Das wird uns weiteres Einkommen bringen. Wenn wir die Opposition eliminieren, werden alle davon profitieren.« 342
Rayford hörte Carpathia seufzen. »Wir sollten sie die ›GCMM‹ nennen – die ›Global Community Morale Monitors‹.« »Dieser Name ist zu schwach, Nicolai.« »Das ist ja genau die Idee. Wir wollen sie nicht Geheimpolizei oder Gedankenpolizei nennen oder irgendeine andere Polizei. Machen wir keinen Fehler. Sie werden im Geheimen agieren. Sie werden Macht haben. Sie werden in der Lage sein, zum Wohle der Weltgemeinschaft die bestehenden Gesetze außer Kraft zu setzen.« »Welches werden ihre Grenzen sein?« »Ihnen werden keine Beschränkungen auferlegt werden.« »Sie würden Waffen tragen?« »Natürlich.« »Und in welchem Ausmaß gebrauchen können?« »Das ist ja das Gute daran, Pontifex Mathews. Indem wir die richtigen jungen Leute auswählen, sie sorgfältig im Ideal eines friedlichen Utopia ausbilden und ihnen die Macht geben, nach ihrem Gutdünken Gerechtigkeit zu üben, werden wir den Feind schnell unterwerfen und eliminieren. Innerhalb weniger Jahre wird die GCMM nicht mehr nötig sein.« »Nicolai, Sie sind ein Genie.« Buck war enttäuscht. Als es Zeit war, Hattie zum Flughafen zurückzubringen, war seiner Meinung nach kaum eine Veränderung bei ihr zu spüren. Sie hatte eine Menge Fragen zu dem Punkt, was die Frauen mit ihrer Zeit anfingen. Die Vorstellung, dass sie in der Bibel forschten, faszinierte sie. Und sie hatte gesagt, wie sehr sie sie beneide, dass sie enge Freundinnen hätten, denen sie viel bedeuten würden. Buck hatte auf einen Durchbruch gehofft. Vielleicht, dass Hattie das Versprechen gab, keine Abtreibung vorzunehmen oder sogar Jesus als ihren Herrn und Erlöser annahm. Den Gedanken, Chloe würde vielleicht in Erwägung ziehen, Hatties 343
ungewolltes Kind als ihr eigenes anzunehmen und großzuziehen, verdrängte er schnell. Er und Chloe standen vor der Frage, ob sie in dieser Phase der Geschichte noch ein Kind in die Welt setzen sollten, aber ganz bestimmt hatte er nicht vor, das Kind des Antichristen bei sich aufzunehmen! Hattie bedankte sich bei allen und stieg zu den Frauen in den Wagen. Buck hatte gesagt, er würde mit einem der anderen Wagen zurück zum Global Community Weekly fahren, doch stattdessen fuhr er zur Gemeinde hinaus. Unterwegs hielt er an, um für seinen Freund und sich etwas zu essen zu besorgen, und wenige Minuten später betrat er das innere Heiligtum von Rabbi Tsion Ben-Judas Studierzimmer. Jedes Mal, wenn Buck sich dorthin schlich, war er sicher, seinen Freund von Klaustrophobie, Einsamkeit, Furcht und Trauer überwältigt vorzufinden. Doch es war Buck, der bei jedem Besuch aufgebaut wurde. Tsion war wohl kaum fröhlich zu nennen. Er lachte nicht viel und lächelte Buck auch nicht zu, wenn er kam. Seine Augen waren rot und in sein Gesicht tiefe Linien gegraben. Aber er ließ sich nicht hängen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten betrieb er Sport, joggte auf der Stelle, machte Seilhüpfen, Dehnungsübungen und was sonst noch möglich war. Er erzählte Buck, er würde mindestens eine Stunde pro Tag Sport treiben, und das merkte man auch. Bei jedem Besuch schien er in besserer Verfassung zu sein und nie beklagte er sich. An diesem Nachmittag schien Tsion sich besonders über seinen Besucher zu freuen. »Cameron«, sagte er, »wäre ich im Augenblick nicht so betrübt, wäre dieser Ort das Paradies für mich. Ich kann lesen, studieren, beten, schreiben, per Computer und Telefon kommunizieren. Ich vermisse den Umgang mit meinen Kollegen, vor allem mit den jungen Studenten, die mir geholfen haben. Aber auch Amanda und Chloe sind wundervolle Studenten.« Begierig verzehrte er mit Buck das Essen. »Ich würde gern über meine Familie sprechen. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.« 344
»Tsion, Sie können jederzeit mit mir über Ihre Familie sprechen. Sie sollten mir verzeihen, dass ich nicht sensibel genug gewesen bin, Sie danach zu fragen.« »Ich weiß, wie viele andere fragen Sie sich, ob Sie ein so schmerzhaftes Thema überhaupt anschneiden sollten. Solange wir uns nicht dabei aufhalten, wie sie gestorben sind, spreche ich sehr gern über meine Erinnerungen. Sie wissen, dass mein Sohn und meine Tochter erst mit acht und zehn Jahren zu mir gekommen sind. Sie waren vierzehn und sechzehn, als sie getötet wurden. Es waren die Kinder meiner Frau aus ihrer ersten Ehe. Ihr Mann wurde bei einem Unfall auf einer Baustelle getötet. Zuerst haben die Kinder mich nicht akzeptiert, aber durch meine Liebe zu ihr habe ich sie schließlich für mich gewonnen. Ich habe nie versucht, den Platz ihres Vaters einzunehmen oder so zu tun, als trüge ich die Verantwortung für sie. Und schließlich sprachen sie von mir als ihrem Vater. Das war der schönste Tag meines Lebens.« »Ihre Frau muss ein wunderbarer Mensch gewesen sein.« »Das war sie. Auch die Kinder waren wundervoll, wenn meine Familie auch genauso menschlich war wie alle anderen. Ich idealisiere sie nicht. Sie waren alle sehr klug. Das hat mir viel Freude gemacht. Ich konnte mich mit ihnen über tief gehende, komplexe Dinge unterhalten. Bevor meine Frau die Kinder bekam, hat sie selbst unterrichtet. Die Kinder waren beide in Privatschulen und außergewöhnlich gute Schüler. Aber besonders wichtig war, dass ich mit ihnen über das sprach, was ich bei meinen Studien herausfand, und nicht einmal haben sie mir Häresie oder Abkehr von meiner Kultur, meiner Religion oder meinem Land vorgeworfen. Sie waren klug genug zu erkennen, dass ich der Wahrheit auf der Spur war. Ich habe sie nicht angepredigt, habe nicht versucht, sie unverhältnismäßig zu beeinflussen. Ich habe ihnen bestimmte Stellen einfach nur vorgelesen und dann gefragt: ›Was leitet ihr daraus ab? Was sagt die Thora hier über die Merkmale des 345
Messias?‹ Ich war so eifrig in meiner sokratischen Methode, dass ich manchmal glaube, sie kamen noch vor mir zu meinen letztgültigen Schlussfolgerungen. Als die Entrückung geschah, wusste ich sofort, was passiert war. In gewisser Weise war ich enttäuscht, festzustellen, dass ich an meiner Familie versagt hatte und alle drei mit mir zurückgeblieben waren. Ich hätte sie sicherlich vermisst, wie ich sie jetzt vermisse, aber es wäre auch ein Segen für mich gewesen, wenn sie die Wahrheit erkannt und angenommen hätten, bevor es zu spät war.« »Sie haben mir gesagt, dass auch sie alle kurz nach Ihrer Umkehr zu Christus gefunden haben.« Tsion erhob sich und ging herum. »Cameron, ich verstehe nicht, wie jemand, der die Bibel auch nur ein bisschen kennt, Zweifel an der Bedeutung des Massenverschwindens haben kann. Rayford Steele, trotz seines begrenzten Wissens, konnte es wegen des Zeugnisses seiner Frau einordnen. Ich hätte es vor jedem anderen wissen müssen. Und doch begegnet Ihnen dieses Phänomen immer wieder. Die Menschen versuchen noch immer, es wegzudiskutieren. Das bricht mir das Herz.« Tsion zeigte Buck, woran er gerade arbeitete. Er hatte das erste Büchlein von einer, wie er hoffte, ganzen Serie von Bruces Ausarbeitungen fertig gestellt. »Für einen so jungen Mann war er ein außergewöhnlicher Gelehrter«, sagte Tsion. »Er war nicht der Linguist, wie ich es bin, darum ergänze ich seine Arbeit in diesem Bereich ein wenig. Ich denke, das wird das Endprodukt verbessern.« »Ich bin sicher, Bruce wäre damit einverstanden«, nickte Buck. Er wollte Tsion bitten, der Gemeinde bei der Suche nach einem neuen Pastor zu helfen, aus der Ferne natürlich! Wie großartig wäre es, wenn es Tsion hätte sein können! Aber das stand natürlich außer Frage. Und Buck wollte Tsions wichtige Arbeit ja auch nicht unterbrechen. »Sie wissen, Tsion, dass ich vermutlich der Erste sein werde, 346
der hier bei Ihnen seinen ständigen Wohnsitz einrichten wird.« »Cameron, ich kann nicht glauben, dass Sie in diesem Versteck zufrieden sein werden.« »Es wird mich verrückt machen, daran besteht kein Zweifel. Aber ich habe angefangen, sorglos zu werden, riskiere mehr. Irgendwann wird mir das zum Verhängnis werden.« »Sie werden über Internet das tun können, was ich auch bereits tue«, schlug Tsion vor. »Ich kommuniziere bereits mit Hunderten von Menschen, obwohl ich nur wenige Tricks gelernt habe. Stellen Sie sich vor, was Sie mit der Wahrheit tun könnten. Sie können auch weiterhin schreiben, mit vollkommener Objektivität und Ernsthaftigkeit. Sie brauchen sich nicht mehr vom Besitzer der Zeitung beeinflussen zu lassen.« »Was haben Sie da über die Wahrheit gesagt?« »Sie können die Wahrheit schreiben, das ist alles.« Buck setzte sich und begann zu zeichnen. Er entwarf das Cover einer Zeitschrift und nannte sie ganz einfach »Die Wahrheit«. Aufgeregt zeigte er Tsion seinen Entwurf. »Sehen Sie sich das an. Ich könnte die Grafik entwerfen, die Ausgabe verfassen und über das Internet verteilen. Donny Moore sagt, es könnte keinesfalls bis hierher zurückverfolgt werden.« »Ich wünsche Ihnen nicht, dass Sie in die Verbannung gezwungen werden«, sagte Ben-Juda. »Aber ich gestehe, gegen ein wenig Gesellschaft hätte ich nichts einzuwenden.«
19 Rayford war stolz auf Hattie Durham. Nach dem, was er in Neu-Babylon erfahren konnte, hatte sie Nicolai und seine rechte Hand Leon Fortunato wieder einmal ausgetrickst. Offensichtlich war sie von Milwaukee nach Boston geflogen, doch anstatt ihren Anschlussflug nach Bagdad zu nehmen, war sie 347
irgendwo untergetaucht. Rayford hatte natürlich nicht mehr mithören können, als die Gespräche mit Peter Mathews im Hauptquartier in NeuBabylon fortgesetzt wurden. Er wusste nur, dass alle, vor allem Nicolai und Leon, sehr konsterniert waren, weil Hattie ihnen wieder einmal entwischt war. Obwohl Nicolai sich ihr gegenüber sehr gleichgültig gezeigt hatte, machte es ihn rasend, ihren Aufenthaltsort nicht zu kennen, da er fürchtete, dass sie ihn in Verlegenheit bringen könnte. Als Carpathia schließlich über ihre neue Reiseroute informiert wurde, bat er Rayford zu sich. Die neue Sekretärin erwartete ihn in der Suite 216 und führte ihn sofort zum Potentaten. »Wie schön, Sie wieder zu sehen, Captain Steele. Ich fürchte, ich habe Ihnen noch gar nicht wie sonst für Ihre Dienste gedankt, da ich durch so vieles abgelenkt war. Ich möchte gleich zur Sache kommen. Ich weiß, dass Miss Durham früher mit Ihnen zusammengearbeitet hat. Sie kamen sogar auf ihre Empfehlung hin zu uns. Ich weiß auch, dass sie sich Ihnen von Zeit zu Zeit anvertraut hat. Darum sollte es Sie nicht verwundern, dass es einige Schwierigkeiten im Paradies gegeben hat, wie man so schön sagt. Ich will ganz offen sein. Tatsache ist, ich glaube, dass Miss Durham die Ernsthaftigkeit unserer Beziehung immer ein wenig überschätzt hat.« Rayford dachte zurück an die Zeit, als Nicolai scheinbar stolz verkündet hatte, dass Hattie schwanger war und seinen Ring trug. Aber Rayford würde sich hüten vor dem Versuch, den größten aller Lügner einer Lüge zu überführen. Carpathia fuhr fort: »Miss Durham hätte klar sein müssen, dass es in einer Position, wie ich sie innehabe, eigentlich keinen Raum für Privatleben, geschweige denn Ehe und Familie gibt. Sie schien sich über die Aussicht, ein Kind, mein Kind, zu bekommen, zu freuen. Darum habe ich sie auch nicht entmutigt oder ihr eine andere Lösung vorgeschlagen. Sollte sie die Schwangerschaft austragen, werde ich mich natürlich meiner 348
Pflichten nicht entziehen. Es ist jedoch unfair von ihr, von mir zu erwarten, dem Kind die Zeit zu widmen, die ein normaler Vater ihm widmen würde. Ich würde ihr raten, die Schwangerschaft zu beenden. Da diese als Folge unserer Beziehung allein in ihrer Verantwortung liegt, werde ich diese Entscheidung auch ihr überlassen.« Rayford war verwirrt und versuchte auch gar nicht, seine Verwirrung zu verbergen. Warum erzählte ihm Carpathia das alles? Welche Aufgabe hatte er ihm zugedacht? Auf eine Antwort brauchte er nicht lange zu warten. »Wie jeder andere Mann habe auch ich Bedürfnisse, Captain Steele. Sie verstehen schon. Ich würde mich niemals nur auf eine Frau konzentrieren und ganz sicher habe ich Miss Durham ein solches Versprechen nicht gegeben. Tatsache ist, dass ich bereits eine Beziehung mit einer anderen Frau angefangen habe. Sie verstehen sicher mein Dilemma.« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Rayford. »Nun, ich habe Miss Durham als meine persönliche Assistentin durch eine andere Dame ersetzt. Ich habe das Gefühl, sie hat dies als Zeichen für das Ende unserer Beziehung gewertet. Und sie ist auch tatsächlich beendet. Aber wie ich schon sagte, sie hat sehr viel mehr hineininterpretiert, als beabsichtigt war, und darum ist sie vielleicht verärgert und enttäuscht über das Ende unserer Beziehung.« »Und was ist mit dem Ring, den Sie ihr geschenkt haben«, entgegnete Rayford. »Oh, das ist kein Problem. Ich werde ihn nicht von ihr zurückfordern. Tatsächlich war ich immer der Meinung, dass der Stein für einen Verlobungsring viel zu groß war. Er ist eindeutig ein Schmuckstück. Sie braucht sich keine Gedanken darum zu machen, dass sie ihn vielleicht zurückgeben müsste.« Rayford verstand allmählich. Carpathia zählte auf ihn, Hatties alten Freund und Vorgesetzten, dass er ihr die Nachricht überbrachte. Warum sonst würde er ihm das alles erzählen? 349
»Ich möchte mich Miss Durham gegenüber richtig verhalten, Captain Steele. Dessen können Sie versichert sein. Sie soll nicht mittellos dastehen. Ich weiß, dass sie arbeiten kann, vielleicht nicht als Schreibkraft, aber ganz bestimmt im Flugdienst.« »Der durch den Krieg drastisch eingeschränkt worden ist, wie Sie sicher wissen«, merkte Rayford an. »Ja, aber mit ihrer Erfahrung und etwas Druck von meiner Seite …« »Sie wollen also sagen, dass Sie ihr eine Existenzgrundlage schaffen wollen?« Carpathias Gesicht schien sich aufzuhellen. »Ja, falls es ihr das erleichtert, würde ich das sehr gern tun.« Das will ich meinen, dachte Rayford. »Captain Steele, ich habe einen Auftrag für Sie –« »Das dachte ich mir.« »Natürlich. Sie sind ja ein kluger Mann. Wir haben erfahren, dass Miss Durham auf dem Rückweg ist und am Montag mit dem Flugzeug aus Boston erwartet wird.« Plötzlich war Rayford klar, warum Hattie ihre Rückkehr hinausgezögert hatte. Vielleicht wusste sie von Amandas Reiseplänen. Es würde Amanda ähnlich sehen, sich irgendwo mit ihr zu treffen, um sie zurückzubegleiten. Natürlich hätte Amanda nur ein Motiv dafür: Sie wollte Hattie davon abhalten, eine Abtreibungsklinik aufzusuchen. Sie würde ihr auch zeigen wollen, dass sie ihr wichtig war. Rayford beschloss, Carpathia nichts davon zu sagen, dass er am Montag sowieso nach Bagdad zum Flughafen fahren wollte, um seine Frau abzuholen. »Unter der Voraussetzung, dass Sie freihaben, und dafür werde ich sorgen, möchte ich Sie bitten, Miss Durham vom Flughafen abzuholen. Als ihr alter Freund werden Sie der Richtige sein, ihr diese Neuigkeiten zu überbringen. Ihre Sachen wurden in eine der Wohnungen in Ihrem Gebäude gebracht. Sie wird dort einen Monat bleiben können, bevor sie 350
entscheidet, wohin sie umziehen möchte.« Rayford unterbrach ihn. »Entschuldigen Sie, aber wollen Sie mich bitten, Ihnen etwas abzunehmen, das Sie eigentlich selbst tun sollten?« »Oh, verstehen Sie mich nicht falsch, Captain Steele. Ich fürchte mich nicht vor dieser Begegnung. Es wäre unangenehm, ja, aber ich sehe hier schon meine Verantwortung. Es ist nur so, dass ich unter schrecklichem Termindruck stehe und wichtige Besprechungen auf mich warten. Angesichts der letzten Rebellion haben wir viele neue Gesetzentwürfe auf dem Tisch, über die entschieden werden muss – ich kann mich einfach nicht freimachen.« Rayford kam der Gedanke, dass Carpathias Gespräch mit Hattie sicherlich weniger Zeit in Anspruch genommen hätte als das Gespräch, das sie gerade führten. Aber was für einen Sinn hatte es, einem Mann wie diesem zu widersprechen? »Noch Fragen, Captain Steele?« »Nein, mir ist alles klar.« »Dann werden Sie es tun?« »Ich hatte den Eindruck, dass ich gar keine andere Wahl habe.« Carpathia lächelte. »Sie haben Sinn für Humor, Captain Steele. Ich würde nicht sagen, dass ihr Job davon abhängt, aber ich denke, Ihre Militärzeit hat Ihnen klar gemacht, dass Anweisungen zu befolgen sind. Sie sollen wissen, dass ich das sehr schätze.« Rayford starrte ihn an. Er zwang sich dazu, nicht die obligatorische Antwort zu geben, sondern nickte nur und erhob sich. »Captain Steele, darf ich Sie bitten, noch einen Augenblick sitzen zu bleiben.« Rayford setzte sich. Was jetzt noch? Ist das der Anfang vom Ende? »Ich möchte Sie gern nach Ihrer Beziehung zu Cameron Williams fragen.« Rayford antwortete nicht sofort. Carpathia fuhr 351
fort. »Manchmal auch Buck Williams genannt. Er war früher Chefreporter beim ›Global Weekly‹, des heutigen ›Global Community Weekly‹. Er ist der Herausgeber meiner Zeitung.« »Er ist mein Schwiegersohn«, erklärte Rayford. »Und gibt es einen Grund, warum er mir diese freudige Neuigkeit nicht mitgeteilt hat?« »Ich nehme an, das müssen Sie ihn schon selbst fragen, Sir.« »Na ja, vielleicht sollte ich Ihnen diese Frage stellen. Warum haben Sie mir das nicht mitgeteilt?« »Es ist eine Familienangelegenheit«, antwortete Rayford, wobei er sich bemühte, ruhig zu bleiben. »Außerdem habe ich gedacht, dass Sie das sowieso bald genug erfahren würden, da er so eng mit Ihnen zusammenarbeitet.« »Teilt er zufällig auch Ihre religiösen Ansichten?« »Ich ziehe es vor, nicht über Buck zu sprechen.« »Ich nehme das als ein Ja.« Rayford starrte ihn an. Carpathia fuhr fort: »Ich sage nicht, dass das notwendigerweise ein Problem ist, Sie verstehen.« Ich verstehe sehr gut, dachte Rayford. »Ich war nur neugierig«, schloss Carpathia. Er lächelte Rayford an und Rayford las in diesem Lächeln genau das. was der Antichrist auch sagen wollte. »Ich freue mich auf den Bericht von Ihrer Begegnung mit Miss Durham. Ich bin sicher dass sie erfolgreich verlaufen wird.« Buck hielt sich im Büro des Global Community Weekly auf, als er einen Anruf von Amanda auf seiner Privatleitung entgegennahm. »Ich habe gerade einen seltsamen Anruf von Rayford bekommen«, sagte sie. »Er fragte mich, ob ich mich mit Hattie für den Flug von Boston nach Bagdad verabredet hätte. Ich sagte ihm, dass das nicht der Fall sei. Ich dachte, sie sei bereits wieder zurück. Er erwiderte, dass sie ihre Pläne anscheinend geändert habe und wir sehr wahrscheinlich um dieselbe Zeit ankommen würden. Ich habe ihn gefragt, was denn los sei, aber er schien in Eile zu sein und konnte sich 352
nicht die Zeit nehmen, mir alles zu erzählen. Weißt du, was los ist?« »Darüber habe ich bis jetzt noch nichts gehört, Amanda. Wird dein Flugzeug denn in Boston aufgetankt?« »Ja. Du weißt ja, dass New York geschlossen ist. Washington ebenfalls. Ich weiß nicht, ob diese Maschinen, ohne aufgetankt zu werden, von Milwaukee nach Bagdad fliegen können.« »Was könnte Hattie denn so lange aufgehalten haben?« »Ich habe keine Ahnung. Wenn ich gewusst hätte, dass sie ihre Rückkehr hinauszögert, hätte ich ihr angeboten, dass wir zusammen fliegen. Wir müssen den Kontakt zu diesem Mädchen aufrechterhalten.« Buck stimmte ihr zu. »Chloe vermisst dich bereits. Sie und Tsion arbeiten gerade an einem neuen Lehrplan für das Neue Testament. Es ist fast, als würden sie im selben Zimmer sitzen, obwohl sie mindestens eine Viertelmeile voneinander entfernt sind.« »Ich weiß, wie viel Spaß ihr das macht«, sagte Amanda. »Ich wünschte, ich könnte Rayford überreden, wieder hierher zu ziehen. Natürlich würde ich ihn weniger sehen, aber in NeuBabylon bekomme ich ihn auch nur selten zu Gesicht.« »Vergiss nicht, dass du im ›selben Zimmer‹ mit Tsion und Chloe sein kannst, egal, wo du dich aufhältst.« »Ja«, erwiderte sie, »abgesehen von der unbedeutenden Tatsache, dass wir neun Stunden hinter euch zurückliegen.« »Du brauchst deine Termine nur darauf abzustimmen. Wo bist du jetzt?« »Wir befinden uns über dem Kontinent. Ich denke, dass wir in etwa einer Stunde in Boston landen. Wie viel Uhr ist es jetzt bei euch? Kurz nach acht Uhr morgens, oder?« »Richtig. Die ›Tribulation Force‹ verteilt sich wieder in alle Winde, wie schon seit einer ganzen Weile. Tsion scheint sehr produktiv und zufrieden, wenn auch nicht glücklich zu sein. Chloe hält sich in Lorettas Haus auf und freut sich über ihre 353
Studien und die Gelegenheit, ihr Wissen an andere weiterzugeben, wenn sie auch weiß, dass sie das nicht immer in Freiheit wird tun können. Ich bin hier, du bist da und in Kürze wirst du wieder mit Rayford zusammen sein. Ich denke, wir sind alle erreichbar.« »Ich hoffe nur, dass Rayford in Bezug auf Hattie Recht hat«, sagte Amanda. »Es wäre schön, wenn er uns beide abholen könnte.« Für Rayford wurde es Zeit, nach Bagdad zu fahren. Er war verwirrt. Warum war Hattie in Denver so lange nicht erreichbar gewesen und hatte Fortunato in Bezug auf ihren Rückflug in die Irre geführt, wenn sie dann den Kontakt schließlich doch wieder aufgenommen hatte? Und wenn sie sich nicht mit Amanda verabredet hatte, was war dann der Grund für ihren langen Auf enthalt in Boston? Was hatte sie so lange dort festgehalten? Rayford konnte es kaum erwarten, Amanda zu sehen. Sie waren nur wenige Tage getrennt gewesen, aber immerhin waren sie erst seit kurzem verheiratet. Auf seine Begegnung mit Hattie freute er sich durchaus nicht, vor allem, da Amanda zur selben Zeit ankommen sollte. Doch auf jeden Fall konnte er nach dem, was ihm von Hatties Begegnung mit Loretta, Chloe, Buck und Amanda erzählt worden war, davon ausgehen, dass Amandas Gegenwart Hattie trösten würde. Die Frage war nun, ob diese Information aus Rayfords Mund für Hattie eine schlechte Nachricht darstellte oder nicht. Es könnte ihr helfen, ihre Situation zu akzeptieren. Sie wusste, es war vorbei. Sie fürchtete, Carpathia würde sie nicht gehen lassen. Natürlich würde sie gekränkt sein. Sie würde seinen Ring, sein Geld oder seine Wohnung nicht annehmen wollen. Aber wenigstens würde sie Bescheid wissen. Rayford schien dies eine praktische Lösung zu sein. Im Laufe der Jahre hatte er jedoch genügend von Irene und Amanda gelernt, um zu wissen, 354
dass Hattie, wie unsympathisch ihr Carpathia auch geworden war, trotzdem verletzt sein und sich zurückgewiesen fühlen würde. Rayford telefonierte mit Hatties Fahrer. »Könnten Sie mich zum Flughafen fahren oder könnte ich mir Ihren Wagen ausleihen? Ich soll Miss Durham in Bagdad abholen und auch meine –« »Oh, es tut mir Leid, Sir. Ich bin nicht mehr Miss Durhams Fahrer. Ich fahre jetzt jemand anderen aus der Regierungssuite.« »Wissen Sie denn, wie ich mir einen Wagen beschaffen kann?« »Sie könnten versuchen, einen Wagen aus dem Pool zu bekommen, aber das dauert eine Weile. Eine Menge Papierkram, Sie wissen schon.« »So viel Zeit habe ich nicht. Irgendeinen anderen Vorschlag?« Rayford war wütend auf sich, weil er nicht besser vorgeplant hatte. »Wenn der Potentat selbst einen Wagen bestellen würde, würde es sehr viel schneller gehen.« Rayford rief in Carpathias Büro an. Die Sekretärin teilte ihm mit, dass er im Augenblick nicht zu sprechen sei. »Ist er denn da?«, fragte Rayford. »Er ist da, Sir, aber wie ich schon sagte, er ist im Augenblick nicht zu sprechen.« »Es ist sehr dringend. Wenn es geht, wäre ich dankbar, wenn ich eine Sekunde mit ihm sprechen könnte.« Als die Sekretärin sich wieder meldete, sagte sie: »Der Potentat möchte wissen, ob Sie einen Augenblick in seinem Büro vorbeischauen könnten, bevor Sie seinen Auftrag ausführen.« »Ich habe wenig Zeit, aber –« »Dann sage ich ihm, dass Sie gleich kommen.« Rayford war drei Blocks von Carpathias Gebäude entfernt. Er fuhr mit dem Aufzug hinunter und lief zum Hauptquartier 355
hinüber. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Er holte sein Telefon hervor und tippte eine Nummer ein. Während er weiterlief, sprach er mit McCullum. »Mac? Sind Sie im Augenblick frei? Gut! Ich muss unbedingt mit dem Hubschrauber nach Bagdad. Meine Frau kommt an, und ich soll auch Hattie Durham treffen. Gerüchte über sie? Ich bin nicht befugt, darüber etwas zu sagen, Mac. In wenigen Augenblicken werde ich in Carpathias Büro sein. Treffen wir uns auf dem Hubschrauberlandeplatz? Gut! Vielen Dank!« Buck arbeitete bei geschlossener Bürotür an seinem Laptop, als der Computer anzeigte, dass gerade eine Nachricht für ihn übermittelt wurde. Er mochte diese Art der Kommunikation. Es war, als würde man wirklich von Angesicht zu Angesicht mit jemandem plaudern. Die Nachricht war von Tsion. Er fragte: »Wollen wir die Videoübertragung einmal ausprobieren?« Buck antwortete: »Sicher.« Und dann tippte er den Code ein. Es dauerte einige Minuten, bis er in das Programm hineinkam, doch dann flackerte auf einmal Tsions Bild auf dem Bildschirm auf. Buck gab ein: »Sind Sie das oder sehe ich ein Trugbild?« Tsion antwortete: »Ich bin es. Wir können über die Toneinrichtung miteinander sprechen, wenn es bei Ihnen im Augenblick sicher ist.« »Besser nicht«, tippte Buck ein. »Wollten Sie etwas Bestimmtes?« »Gegen ein wenig Gesellschaft zum Frühstück hätte ich nichts einzuwenden«, antwortete Tsion. »Heute geht es mir sehr viel besser, aber ich fühle mich hier ein wenig eingeengt. Ich weiß, dass Sie mich nicht hinausschmuggeln können, aber könnten Sie nicht kommen, ohne dass Loretta etwas merkt?« »Ich werde es versuchen. Was hätten Sie gern zum Frühstück?« »Ich habe etwas typisch Amerikanisches extra für Sie vorbereitet, Buck. Ich drehe den Bildschirm mal und sehe zu, ob ich 356
es Ihnen zeigen kann.« Die Vorrichtung war jedoch nicht dazu geeignet, in einem dunklen, unterirdischen Bunker Aufnahmen zu machen. Buck gab ein: »Ich kann überhaupt nichts sehen, aber ich vertraue Ihnen. Bin so schnell es geht bei Ihnen.« Buck sagte der Empfangsdame Bescheid, dass er ein paar Stunden weg sei, doch als er zum Range Rover ging, traf er auf Verna Zee. »Wo gehen Sie hin?«, fragte sie. »Wie bitte?«, gab er zurück. »Ich möchte wissen, wo ich Sie finden kann.« »Ich weiß nicht genau, wo ich sein werde«, erwiderte er. »Die Empfangsdame weiß, dass ich für ein paar Stunden fort bin. Ich fühle mich nicht verpflichtet, genauere Angaben zu machen.« Verna schüttelte den Kopf. Rayford verlangsamte seinen Schritt, als er den Eingang des Verwaltungsgebäudes der Weltgemeinschaft erreichte. Um das Gebäude herum waren die Wohnsitze der hochrangigen Beamten angeordnet, durchweg ansehnliche Häuser. Irgendetwas hatte Rayfords Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Lärm von Tieren. Bellen. Er hatte Hunde in diesem Bereich gesehen. Viele Angestellte besaßen Hunde seltener und teurer Rassen, mit denen sie gern spazieren gingen. Sie waren Statussymbole. Hin und wieder hatte er einen Hund bellen hören. Aber jetzt bellten alle gleichzeitig. Sie waren so laut, dass er sich umdrehte, um zu sehen, ob er den Grund für diese ganze Aufregung entdecken konnte. Ein paar Hunde rissen sich von ihren Besitzern los und rannten heulend die Straße entlang. Er zuckte die Achseln und betrat das Gebäude. Buck überlegte, ob er bei Loretta vorbeifahren und Chloe mitnehmen sollte. Er würde sich eine Geschichte ausdenken müssen, die er Loretta im Gemeindebüro erzählte. Es war 357
unmöglich, dass er unbemerkt draußen parkte und das Gemeindehaus betrat. Vielleicht würden Chloe und er einfach nur ein wenig mit ihr plaudern und dann so tun, als würden sie das Gemeindehaus durch die Hintertür verlassen. Wenn niemand sie beobachtete, konnten sie in den Keller schlüpfen und Tsion besuchen. Der Plan war gar nicht so schlecht. Buck hatte bereits die Hälfte des Weges nach Mount Prospect zurückgelegt, als er etwas Seltsames bemerkte. Überall auf der Straße lagen tot gefahrene Tiere herum. Eichhörnchen, Hasen, Schlangen. Schlangen? Er hatte im Mittelwesten nur wenige Schlangen gesehen, vor allem nicht so weit nördlich. Gelegentlich eine Strumpfbandnatter, das war alles. Aber warum waren es so viele Tiere? Waschbären, Biber, Enten, Gänse, Hunde, Katzen, überall Tiere. Er öffnete das Fenster des Range Rovers und lauschte. Riesige Vogelschwärme flatterten von Baum zu Baum. Aber der Himmel war klar. Wolkenlos. Es schien windstill zu sein. Kein Blatt bewegte sich an den Bäumen. Buck hielt an einer Ampel an und bemerkte, dass die Straßenlaternen schwankten, obwohl es windstill war. Die Ampeln schwangen hin und her. Buck ignorierte die rote Ampel und raste in Richtung Mount Prospect. Rayford wurde in Carpathias Büro geführt. Mehrere VIPs saßen um den Konferenztisch herum. Carpathia nahm Rayford beiseite. »Vielen Dank, dass Sie noch vorbeigekommen sind, Captain Steele. Ich wollte nur noch einmal meinen Wunsch wiederholen, Miss Durham nicht zu sehen. Sie möchte vielleicht mit mir sprechen. Aber das wird außer Frage stehen. Ich –« »Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn Leon Fortunato, »aber Potentat, wir bekommen von unseren Energiemessgeräten einige seltsame Ausdrucke.« »Von unseren Energiemessgeräten?«, fragte Carpathia ungläubig. »Die Wartung dieser Geräte überlasse ich Ihnen und Ihren Leuten, Leon –« 358
»Sir!«, rief die Sekretärin. »Ein dringender Anruf für Sie oder Mr. Fortunato vom internationalen seismografischen Institut.« Carpathia wirkte verärgert und drehte sich zu Fortunato um. »Sie übernehmen den Anruf, Leon. Ich bin beschäftigt.« Fortunato nahm den Anruf entgegen und schien sich krampfhaft ruhig zu halten, bis er schließlich rief: »Was? Was?« Jetzt war Carpathia wütend. »Leon!« Rayford entfernte sich von Carpathia und sah aus dem Fenster. Unten rannten die Hunde im Kreis herum, gejagt von ihren Besitzern. Rayford holte sein Handy aus der Tasche und rief McCullum an. Carpathia funkelte ihn an. »Captain Steele! Ich habe gerade mit Ihnen gesprochen –« »Mac! Wo sind Sie? Werfen Sie den Motor an. Ich bin auf dem Weg!« Plötzlich fiel der Strom aus. Nur die batteriebetriebenen Lichter an der Decke funktionierten noch und das helle Sonnenlicht flutete durch die Fenster. Die Sekretärin schrie. Fortunato wollte Carpathia erklären, was er gerade gehört hatte. Carpathia rief mit lauter Stimme, um den Lärm zu übertönen: »Ich wünsche, dass hier sofort Ruhe einkehrt!« Und als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte, verfinsterte sich der Tag auf einmal. Nun stöhnten und schrien sogar die erwachsenen Männer. Die batteriebetriebenen Lampen in der Ecke verbreiteten ein unheimliches Licht in dem Gebäude, das nun zu schwanken begann. Rayford stürzte zur Tür. Jemand hielt sich unmittelbar hinter ihm. Hart drückte er den Aufzugknopf und schlug sich an den Kopf, als ihm einfiel, dass der Strom ja ausgefallen war. Er rannte über die Treppe hinauf zum Dach, wo McCullum mit dem startbereiten Hubschrauber stand. Das Gebäude schwankte unter Rayfords Füßen hin und her. Der Hubschrauber kippte auf seinen Kufen zuerst nach links, dann nach rechts. Rayford hielt sich an der Öffnung fest. Mac 359
starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Als Rayford versuchte, einzusteigen, bekam er von hinten einen Schubs und flog in den Hubschrauber hinein. Nicolai Carpathia kletterte hinter ihm in den Hubschrauber hinein. »Abheben!«, rief er. »Heben Sie ab!« McCullum ließ den Hubschrauber etwa dreißig Zentimeter vom Dach abheben. »Da kommen noch andere!«, rief er. »Kein Platz mehr!«, schrie Carpathia zurück. »Fliegen Sie los!« Gerade als sich zwei junge Frauen und mehrere Männer mittleren Alters an die Kufen klammerten, drehte Mac ab. Er flog eine Linkskurve und seine Lichter erhellten das Dach. Jetzt kamen andere schreiend aus der Tür gerannt. Entsetzt beobachtete Rayford, wie das gesamte achtzehnstöckige Gebäude mit Donnergetöse in sich zusammenstürzte und eine dichte Staubwolke aufwirbelte. Einer nach dem anderen fielen die schreienden Leute, die sich an den Kufen festgeklammert hatten, herunter. Rayford funkelte Carpathia an. Im schwachen Licht, mit dem die Messgeräte das Innere des Hubschraubers erhellten, entdeckte er keine Regung in seinem Gesicht. Carpathia schien einfach nur damit beschäftigt zu sein, sich anzuschnallen. Rayford wurde übel. Er hatte Menschen sterben sehen. Carpathia hatte Mac befohlen, Menschen davonzufliegen, die man noch hätte retten können. Am liebsten hätte Rayford den Mann mit bloßen Händen erwürgt. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn er selbst in dem Gebäude ums Leben gekommen wäre. Doch Rayford schüttelte den Kopf und befestigte entschlossen seinen Gurt. »Nach Bagdad!«, rief er. »Flughafen Bagdad!« Buck hatte mit einem Mal genau gewusst, was auf ihn zukam, und Ampeln und Stoppzeichen überfahren; mit rasender Geschwindigkeit war er um die Kurven gebogen und hatte Wagen 360
und Lastwagen überholt. Sein Ziel war Lorettas Haus, wo Chloe sich aufhielt. Er griff nach seinem Telefon, aber er hatte die Nummern noch nicht gespeichert. Bei diesem Tempo war es unmöglich, auch nur eine Nummer einzutippen. Er warf das Telefon auf den Sitz und fuhr weiter. Gerade als er über eine Kreuzung raste, verfinsterte sich die Sonne. Von einem Augenblick zum anderen wurde es Nacht. Im gesamten Gebiet fiel die Elektrizität aus. Die Leute schalteten schnell die Scheinwerfer ein, aber Buck sah den Spalt zu spät. Er steuerte auf einen tiefen Riss in der Straße zu, der mindestens drei Meter breit und genauso tief zu sein schien. Wenn er da hineinfiel, würde er sicherlich getötet werden. Aber er fuhr zu schnell, um vorher noch abzubremsen. Er riss das Lenkrad nach links und der Range Rover überschlug sich, bevor er in die Spalte schlitterte. Der Airbag auf der Beifahrerseite öffnete sich. Es war an der Zeit herauszufinden, was in dem Wagen steckte. Vor ihm wurde die Spalte schmaler. Es war unmöglich, dort hinauszukommen, wenn er nicht erst weiter nach oben kam. Er stellte auf Allradantrieb um, legte einen niedrigen Gang ein, lenkte nach rechts und trat das Gaspedal durch. Der linke Vorderreifen griff und plötzlich schoss Buck beinahe steil nach oben. Ein kleiner Wagen hinter ihm fiel mit dem Kühler zuerst in die Spalte und ging in Flammen auf. Der Boden bewegte sich und brach auf. Ein großer Teil des Bürgersteigs wurde mehr als drei Meter vom Boden hochgehoben und fiel auf die Straße. Der Lärm war ohrenbetäubend. Nachdem Buck auf die Geräusche der Tiere gehört hatte, hatte er sein Fenster nicht mehr geschlossen und jetzt war er umgeben von einem Höllenlärm. Lastwagen stürzten um, Straßenlaternen, Telefonmasten und Häuser fielen in sich zusammen. Buck musste sich dazu zwingen, langsamer zu werden. Zu schnelles Fahren konnte ihn töten. Er musste sehen, was auf ihn zukam, und allen Gefahren ausweichen. Der Range Rover 361
hüpfte und schleuderte. Einmal wurde er im Kreis herumgewirbelt. Die Menschen, die bisher überlebt hatten, fuhren wie die Wilden und krachten ineinander. Wie lange würde es dauern? Buck wusste nicht mehr, wo er war. Er sah auf den Kompass auf dem Armaturenbrett und versuchte, sich in Richtung Westen zu halten. Einen Augenblick lang schien fast ein Muster in der Straße erkennbar zu sein. Er fuhr auf und ab, als würde er auf einem Karussell fahren, doch das große Erdbeben hatte gerade erst begonnen. Was zuerst wie kleine, gezackte Hügel gewirkt hatte, die der Range Rover bewältigen konnte, wurde nun schnell zu einer wirbelnden Masse von Staub und Asphalt. Die Autos wurden von ihr verschluckt. Entsetzen war ein viel zu seh waches Wort, um das Gefühl zu beschreiben, das Rayford empfand. Er konnte sich nicht überwinden, mit Carpathia oder Mac zu sprechen. Sie flogen in Richtung des Bagdader Flughafens und Rayford konnte nicht anders, er musste auf die Zerstörung unter sich starren. Überall waren Brände ausgebrochen. Im Feuerschein waren ineinander verkeilte Autos zu sehen, eingestürzte Gebäude und die Erde, die wie ein aufgewühltes Meer tobte. Etwas, das aussah wie ein riesiger Feuerball, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Am Himmel, so nah, dass er meinte, danach greifen zu können, hing der Mond. Ein blutroter Mond. Buck dachte nicht an sich. Seine Gedanken kreisten um Chloe, Loretta, Tsion. Konnte Gott sie durch all dies hindurchgebracht haben, um sie dann bei dem großen Erdbeben, dem sechsten Siegelgericht, sterben zu lassen? Wenn sie alle sterben würden, um bei Gott zu sein, umso besser. War es zu viel verlangt, Gott darum zu bitten, dass seine Lieben wenigstens nicht leiden mussten? Wenn sie schon sterben mussten, so betete er: »Herr, nimm sie schnell zu dir.« 362
Das Erdbeben wütete immer weiter. Es war wie ein Ungeheuer, das alles verschlang, was sich ihm in den Weg stellte. Buck zuckte entsetzt zusammen, als seine Scheinwerfer ein Haus einfingen, das einfach im Erdboden versank. Wie weit war er noch von Chloe und Lorettas Haus entfernt? Würde er besser zum Gemeindehaus mit Loretta und Tsion durchkommen können? Schon bald merkte Buck, dass er allein auf der Straße war. Keine Laternen, keine Verkehrslichter, keine Straßenschilder. Häuser stürzten zusammen. Neben der Straße hörte er Schreie, er sah Menschen laufen, stolpern, fallen, rollen. Der Range Rover hüpfte und schüttelte sich. Er konnte nicht zählen, wie oft er bereits mit dem Kopf gegen das Dach gestoßen war, da brach wieder ein Stück Straße auf. Der Range Rover kippte auf die Seite. Da lag er nun, angeschnallt gegen die linke Seite des Fahrzeugs gepresst. Er griff nach dem Sicherheitsgurt. Er würde sich losschnallen und durch das Beifahrerfenster aussteigen. Doch noch bevor er den Gurt öffnen konnte, stellte die bebende Erde den Wagen wieder auf seine vier Räder. Und weiter ging es. Glas zerbrach, Mauern stürzten ein. Restaurants verschwanden. Ganze Autohäuser wurden verschluckt. Bürohäuser standen schief und kippten langsam vornüber. Wieder sah Buck einen tiefen Riss in der Straße, dem er nicht ausweichen konnte. Er schloss die Augen und stählte sich innerlich. Er hatte das Gefühl, als würden seine Reifen über eine unebene Oberfläche rollen. Glas splitterte und Metall knirschte. Als er sich umsah, entdeckte er, dass er über das Dach eines anderen Wagens gefahren war. Er wusste kaum noch, wo er war, sondern fuhr immer weiter nach Westen. Wenn er nur das Gemeindehaus oder Lorettas Wohnung erreichen konnte. Würde er überhaupt wissen, wenn er bei dem einen oder anderen angekommen war? Würde noch irgendjemand, den er auf dieser Welt kannte, am Leben sein?
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Mac hatte den Mond entdeckt. Rayford merkte, dass er tief ergriffen war. Er steuerte den Hubschrauber so, dass auch Nicolai ihn sehen konnte. Carpathia schien ihn mit Staunen erfüllt anzustarren. Der Mond warf seinen schrecklichen roten Schein auf Nicolais Gesicht. Jetzt sah er wirklich aus wie der Teufel. Heftiges Schluchzen entrang sich Rayfords Brust. Während er die Zerstörung und das Chaos unter sich betrachtete, wusste er, dass er Amanda nicht finden würde. Herr, lass sie bitte nicht leiden, bitte! Und Hattie! Konnte es sein, dass sie vor der Katastrophe noch Christus als ihren Herrn und Erlöser angenommen hatte? Vielleicht hatte es in Boston oder während des Fluges jemanden gegeben, der ihr geholfen hatte, ihr Leben Christus anzuvertrauen. Plötzlich regnete es Meteoren vom Himmel, so als würde der Himmel selbst auf die Erde fallen. Riesige glühende Felsbrokken fielen vom Himmel. Rayford hatte zuvor gesehen, wie der Tag zur Nacht wurde, und nun wurde es durch die Flammen wieder taghell. Buck hielt die Luft an, als der Range Rover schließlich gegen etwas prallte, das ihn zum Stehen brachte. Die Hinterreifen steckten in einer kleinen Ausbuchtung fest und die Scheinwerfer strahlten nach oben. Buck hatte beide Hände auf das Lenkrad gelegt. Er wurde gegen den Sitz gedrückt und starrte nach oben. Auf einmal öffnete sich der Himmel. Ungeheure schwarz-rote Wolken rollten übereinander und schienen die Dunkelheit der Nacht zu verdrängen. Unzählige Meteore schossen herab und zertrümmerten alles, was bisher noch nicht zerstört worden war. Einer landete unmittelbar neben Bucks Wagentür. Er war so heiß, dass die Fensterscheibe schmolz. Buck schnallte sich los und versuchte, über die rechte Seite auszusteigen. Doch während er sich noch darum bemühte, 364
schlug ein weiterer Meteor hinter dem Range Rover ein. Die Wucht des Aufpralls drückte den Wagen aus der Vertiefung. Buck wurde gegen den Rücksitz geschleudert und stieß erneut mit dem Kopf gegen das Dach. Er war wie betäubt, doch er wusste, wenn er an dieser Stelle blieb, war er so gut wie tot. Er kletterte über den Sitz und setzte sich wieder ans Steuer. Schnell schnallte er sich wieder an, wobei er denken musste, wie nichtig diese Vorsichtsmaßnahme während des größten Erdbebens in der Geschichte der Menschheit doch war. Die Erdbewegungen nahmen nicht ab. Das waren keine Nachbeben. Das Beben hörte einfach nicht auf. Buck fuhr langsam. Sein Scheinwerferlicht tanzte über die Straße, während er hin und her geschaukelt wurde. Buck meinte, einen Orientierungspunkt zu erkennen: ein tief geschwungenes Restaurant an einer Ecke drei Straßen vom Gemeindehaus entfernt. Irgendwie musste er weiterkommen. Vorsichtig wich er Löchern und Schutthaufen aus, bahnte sich seinen Weg durch Zerstörung und Chaos. Auch weiterhin bebte und rollte die Erde, doch er fuhr immer weiter. Durch sein offenes Fenster sah er Leute laufen; er hörte sie schreien, sah ihre klaffenden Wunden und ihr Blut. Sie versuchten, sich unter Felsbrocken zu verstecken, die von der Erde aufgeworfen worden waren. Sie suchten Schutz hinter aufrecht stehenden Asphaltstücken und Bürgersteigen, doch sie wurden schnell darunter begraben. Ein Mann mittleren Alters ohne Hemd und Schuhe und blutend, blickte durch seine zerbrochenen Brillengläser zum Himmel und öffnete die Arme weit. Er schrie zum Himmel: »Gott, töte mich! Töte mich!« Und als Buck langsam mit dem Range Rover vorbeifuhr, wurde der Mann von der Erde verschluckt. Rayford verlor alle Hoffnung. Ein Teil von ihm wünschte sich, der Hubschrauber würde einfach vom Himmel fallen und zerschellen. Doch er wusste genau, dass Carpathia noch weitere 365
einundzwanzig Monate nicht sterben würde. Und dann würde er auferstehen und weitere dreieinhalb Jahre leben. Der Hubschrauber würde nicht von einem Meteor getroffen werden. Und wo immer sie landeten, sie würden sicher sein. Und das alles, weil Rayford für den Antichristen einen Auftrag zu erledigen hatte. Bucks Mut sank, als er den Kirchturm der New HopeGemeinde entdeckte. Er war noch knapp sechshundert Meter entfernt und die Erde bebte und bewegte sich noch immer. Gebäude stürzten noch immer zusammen. Hohe Bäume fielen um und legten sich quer über die Straße. Buck brauchte einige Minuten, um die Schutt-, Holz- und Betonhaufen zu überwinden. Je näher er dem Gemeindehaus kam, desto leerer fühlte er sich innerlich. Nur noch der Kirchturm war erhalten geblieben. Sein Fundament stand noch fest. Die Scheinwerfer des Range Rovers fielen auf Bänke, die ordentlich nebeneinander standen; einige davon waren noch vollkommen intakt. Der Rest des Gemeinderaums, die gewölbten Deckenbalken, die bemalten Fenster, alles fort. Das Verwaltungsgebäude, die Gruppenräume, die Büros – alles war dem Erdboden gleichgemacht. Ein einziger Wagen war in einem Krater zu entdecken, der früher einmal der Parkplatz gewesen war. Die vier Reifen waren geplatzt und der Wagen war platt auf die Erde gedrückt worden. Zwei Menschenbeine sahen unter dem Wagen hervor. Buck hielt den Range Rover etwa hundert Meter von dem Wagen entfernt an. Er nahm den Gang heraus und stellte den Motor ab. Seine Tür ließ sich nicht öffnen. Er löste seinen Sicherheitsgurt und stieg auf der Beifahrerseite aus. Und plötzlich war das Erdbeben vorbei. Die Sonne schien wieder. Es war ein strahlender, sonniger Montagmorgen in Mount Prospect, Illinois. Buck spürte jeden Knochen seines Körpers. Er stolperte über den unebenen Boden zu dem kleinen, platt gedrückten Wagen. Als er nahe genug herangekommen war, entdeckte er, 366
dass ein Schuh an dem eingezwängten Körper fehlte. Doch der noch verbleibende Schuh bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Loretta war von ihrem eigenen Wagen erdrückt worden. Buck stolperte und fiel mit dem Gesicht zuerst in den Dreck. Irgendetwas verletzte ihn an der Wange. Er ignorierte es und kroch zu dem Wagen. Er machte sich innerlich auf das gefasst, was ihn erwarten würde, und versuchte mit aller Kraft, den Wagen von dem Körper wegzuschieben. Doch er rührte sich nicht. Alles in ihm wehrte sich dagegen, Loretta einfach hier liegen zu lassen. Aber wohin sollte er den Leichnam bringen, selbst wenn er ihn befreien konnte? Schluchzend kroch er nun über den Schutt und suchte nach einem Eingang zu dem unterirdischen Schutzbunker. Er erkannte kleine Bereiche der Begegnungshalle. Er kroch um das herum, was von dem Gemeindehaus noch übrig war. Der Aufgang zum Glockenturm war zugeschüttet. Er kämpfte sich durch die Trümmer. Schließlich fand er den Lüftungsschacht. Er legte die Hände darüber und rief nach unten: »Tsion! Tsion! Sind Sie da?« Er drehte sich um und legte nun sein Ohr an den Schacht. Kühle Luft stieg von dem Schutzraum auf. »Ich bin hier, Buck! Können Sie mich hören?« »Ich höre Sie, Tsion! Sind Sie in Ordnung?« »Mir geht es gut! Ich kann nicht durch die Tür hinaus!« »Sie würden sowieso nicht sehen wollen, was hier oben los ist, Tsion!«, rief Buck. Seine Stimme wurde schwächer. »Wie geht es Loretta?« »Sie ist tot!« »War das das große Erdbeben?« »Allerdings!« »Können Sie zu mir kommen?« »Ich werde zu Ihnen kommen und wenn es das Letzte ist, was ich tue, Tsion! Sie müssen mir helfen, nach Chloe zu suchen!« 367
»Im Augenblick geht es mir gut, Buck! Suchen Sie ruhig zuerst nach Chloe. Ich werde auf Sie warten!« Buck drehte sich um und blickte in die Richtung, in der Lorettas Haus stand. Blutende Menschen in zerrissenen Kleidern stolperten umher. Einige fielen hin und schienen vor seinen Augen zu sterben. Er wusste nicht, wie lange es dauern würde, Chloe zu finden. Er hatte Angst vor dem, was er vorfinden würde, aber er würde nicht aufgeben, bis er das Haus gefunden hatte. Wenn es nur eine noch so geringe Chance gab, zu ihr zu gelangen, sie zu retten, würde er sie wahrnehmen. Über Neu-Babylon war die Sonne wieder aufgegangen. Rayford drängte Mac McCullum, nach Bagdad weiterzufliegen. Die drei Männer sahen unter sich nichts als Zerstörung. Krater von den Meteoren, Brände, eingestürzte Gebäude, aufgerissene Straßen. Als der Flughafen von Bagdad in Sicht kam, ließ Rayford den Kopf hängen und weinte. Die Flugzeuge lagen auf der Seite, einige ragten aus tiefen Löchern im Boden. Der Terminal war dem Erdboden gleichgemacht. Der Tower eingestürzt. Überall lagen Leichen herum. Rayford machte Mac ein Zeichen, den Hubschrauber zu landen. Doch als er sich umsah, wusste er Bescheid. Er konnte jetzt nur noch beten, dass Hatties und Amandas Flugzeug während des Bebens noch in der Luft gewesen war. Als die Rotoren zum Stillstand gekommen waren, wandte sich Carpathia an die anderen Beiden. »Hat jemand von Ihnen ein funktionierendes Telefon?« Rayford war so angewidert, dass er an Carpathia vorbeigriff und die Tür aufstieß. Er stand auf und sprang aus dem Hubschrauber. Dann griff er hinein, löste Carpathias Sicherheitsgurt, packte ihn am Kragen und zerrte ihn aus dem Hubschrauber. Carpathia landete auf seinem Hintern. Er sprang schnell auf, so als sei er bereit für einen Kampf. Rayford stieß ihn 368
gegen den Hubschrauber. »Captain Steele, ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind, aber –« »Nicolai«, sagte Rayford durch seine zusammengebissenen Zähne, »Sie können das erklären wie Sie wollen, aber ich möchte Ihnen eines sagen: Sie haben gerade den Zorn des Lammes erlebt!« Carpathia zuckte die Achseln. Rayford stieß ihn noch einmal gegen den Hubschrauber und stolperte davon. Er lief auf die Stelle zu, an der der Terminal gestanden hatte und betete, es möge das letzte Mal sein, dass er in den Trümmern nach dem Leichnam eines geliebten Menschen suchen musste.
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Epilog »Als das Lamm das siebte Siegel öffnete, trat im Himmel Stille ein, etwa eine halbe Stunde lang. Und ich sah: Sieben Engel standen vor Gott; ihnen wurden sieben Posaunen gegeben. Und ein anderer Engel kam und trat mit einer goldenen Räucherpfanne an den Altar; ihm wurde viel Weihrauch gegeben, den er auf dem goldenen Altar vor dem Thron verbrennen sollte, um so die Gebete aller Heiligen vor Gott zu bringen. Aus der Hand des Engels stieg der Weihrauch mit den Gebeten der Heiligen zu Gott empor. Dann nahm der Engel die Räucherpfanne, füllte sie mit glühenden Kohlen, die er vom Altar nahm, und warf sie auf die Erde; da begann es zu donnern und zu dröhnen, zu blitzen und zu beben. Dann machten sich die sieben Engel bereit, die sieben Posaunen zu blasen.« Offenbarung 8,1-6.
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