Seewölfe 160 1
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Der Wagen rumpelte. Über dem kantabrischen Bergland strahlte und glitzerte ein prächtige...
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Seewölfe 160 1
Kelly Kevin 1.
Der Wagen rumpelte. Über dem kantabrischen Bergland strahlte und glitzerte ein prächtiger Sternenhimmel. Aber Philip Hasard Killigrew, den sie den Seewolf nannten, hatte keinen Sinn für die roman- tische Schönheit der Nacht. Wütend und verbissen zerrte er an den Stricken, die ihn fesselten. Sein Kopf, sein Rücken, seine Schultern schmerzten, es gab überhaupt wenige Stellen an seinem Körper, die nicht scheußlich wehtaten. Aber das beeindruckte ihn nicht besonders. Wies zählten ein paar Schrammen im Vergleich zu dem, was vor ihm lag? Denn das war nicht mehr und nicht weniger als die Aussicht, an seine spanischen Todfeinde verschachert zu werden wie eine Ware. Hasard biß die Zähne zusammen und drehte die Hände in den Fesseln. Blut lief über seine Gelenke, doch auch darauf achtete er nicht. Die Plane, die seine Gegner über den offenen Bauernwagen geworfen hatten, war etwas verrutscht. Jemand stöhnte dumpf. Der Seewolf war nicht der einzige Gefangene, der in dem holpernden Wagen transportiert wurde, aber er war der. einzige, der bisher das Bewußtsein wiedererlangt hatte. Halb über seinen Beinen lag Al Conroy, der schwarzhaarige Stückmeister der „Isabella“. Sam Roskill war es, der gestöhnt hatte. Zu Hasards Linker lag, ebenfalls an Heiden und Füßen gefesselt, der holländische Kapitän Jan Joerdans. Sein Schiff, die „Hoek van Holland“, war genau wie die „Isabella“ in einer versteckten Bucht in der Nähe von Bilbao vor Anker gegangen. Und der fünfte Gefangene, Steuermann der im Sturm gescheiterten „Anneke Bouts“, hieß Friso Eyck und gehörte ebenfalls zu den Holländern, die als tollkühne Wassergeusen für die Freiheit ihres Vaterlandes kämpften. Der Seewolf knirschte mit den Zähnen, als er an die Ereignisse der vergangenen Tage dachte.
Das Rebellen-Nest
Ein knüppelharter Sturm hatte die „Isabella“ von ihrem Kurs gen England abgebracht und tief in den Golf von Biscaya getrieben. Die entfesselten Elemente setzten ihnen zu und beschädigten ihr Schiff. Noch bevor sie reparieren konnten, sichteten sie fünf spanische Galeonen, die aus einem der Häfen an der baskischen Küste liefen. Für die vom Sturm zerraufte und ganz und gar nicht gefechtsklare „Isabella“ hatte es schlecht ausgesehen. Da rauschte die „Hoek van Holland“ heran, schlug sich der Übermacht zum Trotz auf die Seite der Engländer, und gemeinsam war es ihnen gelungen, drei spanische Galeonen zu versenken und die beiden anderen in die Flucht zu schlagen. Heute wußte der Seewolf, daß sie besser daran getan hätten, die beiden restlichen Galeonen nicht zu schonen, sondern sich mit allem auf sie zu stürzen, was sie hatten. Die Spanier waren zu einem Verband gestoßen, der im Golf von Biscaya Jagd auf holländische Schiffe veranstaltete. Sie hatten die „Oranje“ versenkt, das Schiff Marius van Helders. Und dabei war es ihnen gelungen, den legendären Geusenkapitän gefangen zu nehmen, noch ehe er Gelegenheit hatte, seine Pläne in die Tat umzusetzen und sich mit der „Hoek van Holland“ und der „Anneke Bouts“ zu treffen. Die „Anneke Bouts“ war ohnehin im Sturm auf einem Riff zerschellt. Zufällig hatten die Seewölfe das Wrack gesichtet und die Überlebenden an Bord genommen. Der „Oranje“ konnten sie nicht mehr helfen, sie kamen zu spät. Aber die Seewölfe hatten nicht den selbstlosen Mut vergessen, mit dem ihnen Jan Joerdans in dem Gefecht gegen die spanische Übermacht zur Hilfe geeilt war - und deshalb beschlossen sie, den Geusen dabei zu helfen, ihren Anführer Marius van Helder aus der Festung von Bilbao zu befreien. Ein Unternehmen, das bisher nur eine Folge gezeigt hatte: Philip Hasard .Killigrew und seine kleine Gruppe hilflos und gefesselt auf den Bauernkarren zu
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befördern, der über die abenteuerlichen Pfade des kantabrischen Gebirges rumpelte. Der Seewolf fluchte innerlich. Die Fesseln an seinen Händen hatten sich um eine Winzigkeit gelockert, und er verdoppelte seine Anstrengungen. Dabei arbeiteten immer noch seine Gedanken, suchten, tasteten, zerlegten die Situation auf der Suche nach einem Fehler, den er eventuell begangen hatte. Aber da war kein Fehler. Keiner außer der Tatsache, daß Jan Joerdans und Friso Eyck den falschen Leuten getraut hatten. Die beiden Holländer und die drei Seewölfe waren als Spähtrupp an Land gegangen. Jan Joerdans' Geusen und die Männer der gescheiterten „Anneke Bouts“ operierten schon länger im Golf von Biscaya; sie hatten Kontakt mit baskischen Rebellen, die ebenfalls gegen die Spanier kämpften. Die Basken hatten sogar einen unterirdischen Gang angelegt, der in die äußere Festungsanlage führte, und zwar von einer Schenke mit dem Namen „Linterna Roja“ aus. Miranda Lleones, die Wirtstochter, hatte ihnen den Eingang dieses geheimen Wegs geöffnet. Aber Mirandas Vater war von den Spaniern verhaftet worden, ebenso wie einige baskische Rebellen, unter anderem der Bruder des legendären El Vasco. Weder die Wassergeusen noch die Seewölfe hatten ahnen können, daß der Rebellenführer in dieser Situation nur noch an sich selbst dachte und sich den Teufel darum scherte, daß Holländer und Engländer seine Verbündeten waren. El Vasco wollte den Seewolf und den Geusenkapitän Jan Joerdans gegen baskische Gefangene eintauschen! Zwei Dutzend Rebellen hatten Hasard und seine kleine Gruppe in der Schenke erwartet und überwältigt, denn auch die Seewölfe und die Wassergeusen waren keine Übermenschen. Deutlich erinnerte sich Hasard des wilden Geschreis, der wirbelnden Fäuste, der herabzuckenden Holzknüppel. Er hatte eine Menge einstecken müssen, genau wie Joerdans und Friso Eyck, genau wie Sam Roskill
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und Al Conroy, die er mitgenommen hatte, weil sie am besten als Spanier gelten konnten. Jetzt lagen sie gefesselt und zum Teil noch bewußtlos auf dem offenen Wagen, den Basken ausgeliefert, die sie an die Spanier verschachern wollten. Hasard preßte die Zähne aufeinander, spannte sich — und registrierte harten Ruck, der von seinen Gelenken durch alle Muskeln des Körpers lief. Einer der Stricke war gerissen. Der Seewolf lächelte grimmig. Mit gleichmäßig wachsender Kraft drückte er die Hände auseinander. Auch die restlichen Stricke lockerten sich. Hasard hätte die Fesseln abschütteln können, doch vorher schickte er einen prüfenden Blick zu den beiden Männern auf dem Kutschbock. Einer von ihnen sah sich gerade um. Hasard erstarrte, aber er wußte sofort, daß der Baske zu viel gesehen hatte. Sein Gesicht verzerrte sich. Er rief etwas in seinem für den Seewolf unverständlichen Eskuara, und der aus drei Wagen bestehende Konvoi blieb schlagartig stehen. Philip Hasard Killigrew gab einen Fluch von sich, der selbst für einen ehrlichen Seemann ziemlich lästerlich war. Mit verzweifelter Hast versuchte er, auch seine Fußfesseln loszuknüpfen. Er hatte keine Chance und wußte genau, daß er es nicht schnell genug schaffen würde. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, blindlings gegen die Fesseln zu kämpfen, vielleicht hätte er warten sollen, bis auch Sam, Al und die beiden Geusen aus der Bewußtlosigkeit erwachten. Jetzt nutzten diese Überlegungen nichts mehr. Seine Gegner rückten heran, noch bevor er sich von den Stricken befreit hatte. Ihm blieb nur übrig, Al Conroy mit den gefesselten Füßen kräftig in die Rippen zu stoßen, um ihn möglicherweise doch noch zu wecken. „Verdammter Bastard!“ fluchte einer der Basken auf Spanisch. „Mistkerl!“ knirschte Hasard böse. Dabei zog er die Beine an, streckte die Knie — und schnellte sich mit aller Kraft über die Seitenwand des Wagens weg den Angreifern entgegen.
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Der Kampf war kurz. In der Schenke hatten Seewölfe und Geusen die baskischen Rebellen zwar ziemlich dezimiert, doch es blieb immer noch ein Dutzend einsatzfähiger Gegner übrig. Zu viele, als daß Hasard die Chance gehabt hätte, einem von ihnen das Messer zu entreißen und seine Fußfesseln durchzuschneiden. Er versuchte es und schlug einen der Burschen blitzschnell bewußtlos, aber da waren schon die Männer von den anderen Wagen heran und stürzten sich auf ihn. Sie brauchten immerhin noch fünf Minuten, um mit ihm fertigzuwerden. Als er Wieder auf dem Wagen lag, konnte er noch ein paar Körperstellen mehr zählen, die ihm teuflisch wehtaten. Und vor allem war er so verschnürt, daß zumindest für die nächsten Stunden jeder Gedanke an Flucht ausschied. Alles in allem, fand er, hätten die Aussichten gar nicht trüber sein kennen. * Die „Isabella“ dümpelte friedlich im ruhigen Wasser der Bucht. In einiger Entfernung war der Schatten der „Hoek van Holland“ zu sehen. Die beiden Schiffe verschmolzen fast mit der Dunkelheit. Genau wie das Boot, das sich in diesem Augenblick von der Bordwand der „Hoek van Holland“ löste und zur „Isabella“ gepullt wurde. Ben Brighton, Dan O'Flynn und Big Old Shane empfingen die Holländer an der Jakobsleiter. Bis auf Old O'Flynn und Jeff Bowie, die auf dem Achterkastell Ankerwache gingen, hatte sich die gesamte Crew auf der Kuhl versammelt. Die Zwillinge kauerten in Gesellschaft des Schimpansen Arwenack in den Wanten, mit ernsten Gesichtern. Sie konnten inzwischen genug Englisch, um die Situation zu verstehen. Ihr Vater war mit einem Spähtrupp an Land gegangen, hatte sich mitten unter seine Feinde gewagt, um herauszufinden, wo der Holländer steckte, den sie befreien wollten, und die Männer
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sorgten sich, weil die Gruppe längst hätte zurück sein müssen. Sorgen bereiteten sich auch die Geusen, die von Jan Joerdans' Steuermann Pieter Ameland angeführt wurden. „Irgendetwas muß passiert sein.“ Ameland sprach fließend Englisch, genau wie die meisten seiner Kameraden, denn England hatte den Wassergeusen schon vor langer Zeit seine Häfen geöffnet. „Jan und Friso wissen, daß wir nicht stillhalten werden. Und ich nehme an, der Seewolf weiß es auch.“ „Sicher.“ Ed Carberry rieb sich über sein zernarbtes Rammkinn. „Freiwillig bleiben sie nicht so lange weg, das steht fest. Verdammt, ich hätte gute Lust, dieses elende Nest in Klump zu schießen und ...“ „Hast du den Verstand verloren?“ fragte Dan O'Flynn. „Es nutzt uns einen Dreck, Portugalete oder Bilbao anzugreifen.“ „Glaubst du, das weiß ich nicht, du grüner Hering? Hast du eine bessere Idee? Willst du vielleicht auf deinem verdammten Affenarsch sitzen bleiben und warten, was, wie?“ „Nicht so laut“, warnte Ben Brighton. „Wir liegen an der spanischen Küste, vergeßt das nicht“ „Als ob man das vergessen könnte“, knurrte der rothaarige Ferris Tucker. „Wir müssen was unternehmen, Ben. Und zwar sofort.“ „Richtig. Aber wir können nichts tun, solange wir nicht wissen, was passiert ist. Ich schlage ein zweites Spähtruppunternehmen vor.“ „Einverstanden“, sagte Pieter Ameland sofort. „Aber das sollte dann ein etwas größerer Trupp sein“, ließ sich Dan vernehmen. „Mindestens zwölf Mann, meine ich. Stark genug, um Hasard und die anderen notfalls irgendwo heraushauen zu können.“ „Genau!“ „Wie wär's, wenn wir ein paar Brandsätze mitnähmen?“ „Und mit Flaschenbomben können wir uns eindecken ...“
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Die Stimmen schwirrten durcheinander. Ben Brighton hob beschwichtigend die Hand. „Die Brandsätze nutzen in der Stadt nicht viel. Mit den Flaschenbomben ist es etwas anderes. Ed, ich schlage vor, daß du und Ameland jeweils fünf Mann aussucht und ihr sofort aufbrecht.“ „Genau! Und dann sollen die Drecksdons nur antanzen! Dan, Ferris, Stenmark, Matt ...“ Der Profos stockte. Sein Blick war auf den Schiffsjungen Bill gefallen, der ihn beschwörend anstarrte. Der Moses hatte in letzter Zeit mehr als einmal bewiesen, daß er mit seinen siebzehn Jahren ein vollwertiger Mann war. Und als vollwertiger Mann hatte er auch das Recht, nicht immer aus der vordersten Linie herausgehalten zu werden, weil sich die anderen immer noch für ihn verantwortlich fühlten. „... und Bill“, vollendete Carberry. _Macht das Boot klar! Hopp-hopp, ihr Rübenschweine! Ein bißchen schneller, oder ich ziehe euch die Haut in Streifen vom Hintern und nagele sie an die Kombüse.“ Die Holländer grinsten. Sie kannten Carberrys Lieblingsspruch bereits. Genau wie den wütenden Protest des Kutschers, der den Profos aufforderte, die Hautstreifen sonst wohin zu nageln, weil er, verdammt noch mal, keine Lust habe, in einer solcherart verzierten Kombüse zu kochen. Pieter Ameland hatte seine Leute bereits beisammen: Marten Routs, Rogier Kerkhove, Henk Bakker von der „Oranje“ und zwei schweigsame, stämmige Brüder, die schon ihr halbes Leben gegen die Spanier gekämpft hatten. Die Männer pullten noch einmal zur „Hoek van Holland“ hinüber, um ihren Kameraden Bescheid zu gehen, und inzwischen war. auch das Beiboot der „Isabella“ abgefiert worden. Minuten später kletterten die beiden Gruppen die Klippen hinauf, um den langen Marsch nach Portugalete anzutreten.
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Die Wagen hielten am Fuß einer Felswand, die schroff in den Sternenhimmel ragte. Inzwischen waren die Gefangenen alle wieder bei Bewußtsein. Aber sie hatten keine Chance gehabt, etwas gegen ihre Fesseln zu unternehmen, da sie einer der Basken auf dem Kutschbock ständig im Auge behielt. Jetzt waren die Rebellen offenbar am Ziel. - Hasard musterte mit schmalen Augen die Felswand, über deren Kante er den Widerschein von Lagerfeuern zu erkennen glaubte. Ein Plateau. Völlig unzugänglich, so weit der Seewolf erkennen konnte. Er beobachtete die Gestalten, die jetzt dort oben erschienen, und wenig später sah er die beiden baumelnden Strickleitern, die mit Hilfe von zwei Winden auf die Ebene hinuntergelassen wurden. Ein paar von den Basken enterten hinauf, die anderen bewachten die Gefangenen mit schußbereiten Musketen. Friso Eycks verzerrtes Gesicht verriet, daß er innerlich kochte. Jan Joerdans war bleich: er fühlte sich verantwortlich für ihre Lage. Aber er hatte keinen Grund gehabt, den Basken plötzlich nicht mehr zu trauen, und hatte nicht ahnen können, daß der Anführer der Rebellen auch nicht vor heimtückischem Verrat zurückscheute, um seinen Bruder und seine Kameraden aus der spanischen Gefangenschaft zu befreien. Oben auf dem Plateau gab es eine kurze Debatte. Untereinander verständigten sich die Basken in ihrer eigenen Sprache, die mit dem Spanischen wenig zu tun hatte. Hasard sah das Tau, das über die Felsenkante geworfen wurde. Er knirschte mit den Zähnen vor Erbitterung, aber er hatte nicht die leiseste Chance, sich zu wehren. Zwei Basken zerrten ihn von dem Wagen, banden ihm das freie Ende des Taus um die Brust, und dann wurde er hochgehievt. Den anderen erging es genauso. Wer noch keine Schrammen und Beulen davongetragen hatte, der empfing sie jetzt,
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denn die Basken fanden nichts dabei, ihre Gefangenen grob über die Felsen zu zerren. Hasard konnte Sam Roskill fluchen hören. Er selbst wurde bereits weitergeschleppt, quer über das unübersichtliche, zerklüftete Plateau bis zu einer Mulde, wo die Rebellen ihr Lageraufgeschlagen hatten. Hütten und Zelte hoben sich im Widerschein der Feuer ab. Außerdem gab es eine Höhle, vor deren Eingang eine Plane hing und die offenbar ebenfalls als Unterkunft diente. Den westlichen Rand des Plateaus konnte Hasard nicht erkennen. Er wurde einfach fallengelassen, richtete sich auf und drückte sich mit dem Rücken an einem Felsblock hoch, weil er nicht vor seinen Gegnern am Boden liegen wollte. Die anderen machten es genauso. Keuchend und mit zusammengebissenen Zähnen lehnten sie an dem Felsen: fünf erschöpfte, blutende Männer, bei deren Anblick es Wunder nahm, daß sie sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnten. El Vasco, der als letzter die Strickleiter hochenterte, starrte sie mit einem Ausdruck widerwilliger Bewunderung an. Langsam trat er näher: ein kleiner, breitschultriger Mann, in dessen zerfurchtem Gesicht kohlschwarze, fanatische Augen funkelten. Hasard hatte den Rebellenführer nur kurz in der „Linterna Roja“ gesehen und festgestellt, daß er ein zäher, gefährlicher Kämpfer war, aber nicht gerade zimperlich in der Wahl seiner Mittel. Jan Joerdans spuckte aus. „Verräterisches Schwein“, sagte er mit eisiger Verachtung in der Stimme. Der Baske zuckte mit keiner Wimper. Sein Blick wanderte zu dem großen schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen hinüber. „Du bist der, den sie ‚El Lobo del Mar' nennen?“ fragte er. Hasard warf das Haar zurück. Auch er hatte den lebhaften Wunsch, vor seinem Gegenüber auszuspucken, aber er wußte, daß sie das nicht weiterbrachte. „Ja“, sagte er kalt. „Und du bist El Vasco. Der Mann, auf den die Basken ihre
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Hoffnung setzen. Und von dem sie morgen wissen werden, daß er ein Verräter ist, der seine Verbündeten verkauft.“ El Vasco preßte die Lippen zusammen. Seine Augen glommen. „Sie werden wissen, daß ich es für das Baskenland tat. Sie werden jubeln, denn ich gebe ihnen ihre Brüder und ihre Söhne zurück.“ „Und du glaubst, sie werden nicht danach fragen, welchen Preis du gezahlt hast?“ Hasards Augen funkelten wie Gletschereis. „Daß du mich gefangengenommen hast, werfe ich dir nicht einmal vor. Aber die Geusen sind deine Verbündeten. Es ist niederträchtigster Verrat, den du an ihnen begehst. Sie haben dir vertraut, El Vasco. Sie hielten dich für einen aufrechten Mann, nicht für einen wortbrüchigen Halunken.“ Der Baske holte aus und schlug dem Gefesselten ins Gesicht. Wut verzerrte seine Züge. Eine wilde, unbeherrschte Wut, die ihre Wurzeln vermutlich im schlechten Gewissen hatte. „Tu dir keinen Zwang an“, sagte Hasard kalt. „Wehrlose zu schlagen, das paßt zu deinem Verrat. Willst du, daß man in Zukunft ausspuckt, wenn dein Name fällt? Weißt du überhaupt, was du tust? Weißt du, daß du nur deine Feinde stark machst?“ El Vascos Zähne knirschten. Wild starrte er in die kalten eisblauen Augen, und als er sprach, klang seine Stimme rauh wie ein Reibeisen. „Du kannst mich nicht beleidigen, Engländer“, stieß er hervor. „Um deiner Geusenfreunde willen werde ich versuchen, euch nur zum Schein auszuliefern, wenn es eine Chance dazu gibt. Oder vielleicht geben sich die Spanier auch mit dir allein zufrieden, vielleicht ...“ „Das wirst du nicht tun, El Vasco“, fauchte Jan Joerdans. „Und wenn du es tust, wirst du mich töten müssen. Denn ich werde den Seewolf rächen, darauf hast du mein Wort. Und ein Geuse bricht sein Wort nicht.“ Ihre Blicke kreuzten sich. Joerdans war bleich vor Zorn. Neben ihm preßte der flachshaarige Friso Eyck die Lippen zu einem harzen. blutleeren Strich zusammen, auch Al Conroy und Sam
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Roskill fiel es schwer, nicht die Beherrschung zu verlieren. Der Seewolf warf einen Blick voller Verachtung auf seine Gegner, und es entging ihm nicht, einige der Basken die Szene mit unsicheren, zweifelnden Augen verfolgten. Mit einem tiefen Atemzug straffte El Vasco die Schultern. „Wie du willst, Geuse“, sagte er hart. „Ich werde dich töten, wenn es nicht anders geht.“ Und zu seinen Leuten: „Bringt sie weg! Sie bleiben gefesselt. Und paßt auf sie auf!“ Hasard und die anderen wurden gepackt und in eine Mulde 'zwischen den Felsen geschleppt, aus der es mit den Fesseln an Händen und Füßen kein Entrinnen gab. Die Basken konnten ihre Gefangenen vom Feuer aus im Auge behalten. Al Conroy fluchte, weil er sich den Kopf an einer Steinkante gestoßen hatte. Jan Joerdans blickte Hasard an und grub die Zähne in die Unterlippe. „Es ist meine Schuld“, sagte er heiser. „Tut mir leid, daß ich euch da mit hineingezogen habe.“ Hasard lächelte matt. Er hatte bereits damit angefangen, die Stricke an seinen Handgelenken über einen Stein in seinem Rücken zu reiben. „Sie konnten es so wenig ahnen wie ich, Joerdans“, sagte er ruhig. „Und außerdem haben wir. jetzt Wichtigeres zu tun, als uns über vergossene Milch zu streiten.“ 2. Der Morgen graute bereits, als der zwölf Mann starke Spähtrupp von der „Isabella“ und der „Hoek van Holland“ Portugalete erreichte. Noch lag der Außenhafen von Bilbao in tiefem Schlaf, das einzige Geräusch war das Schmatzen und Gurgeln des Rio Nervion, der seine lehmbraunen Fluten ins Meer ergoß. Die Männer, die an der Küste entlang marschiert waren, vermieden es, die Stadt selbst zu betreten. Der Seewolf und seine kleine Gruppe hatten in die „Linterna Roja“ gewollt, eine Schenke, die als Stützpunkt der baskischen Rebellen
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galt. Und dort, so hatten sich Ed Carberry und Pieter Ameland geeinigt, wollten sie mit ihren Nachforschungen beginnen. Aus schmalen Augen spähte der Profos zu der Landzunge hinüber. Klotzig und drohend hoben sich die Umrisse der Festung im Morgengrauen ab. Ein schmaler Pfad verlief unterhalb der Außenmauer, zeichnete die Form der Bucht nach und führte schließlich aufwärts zu den wenigen verstreuten Häusern auf der Landspitze. Eins davon war die Schenke mit dem Namen „Rote Laterne“, und um sie zu erreichen, war es notwendig, den Fluß zu überqueren. „Ganz schön frech, diese Basken“, stellte Dan O'Flynn fest. „So dicht vor- der Nase der Spanier zu operieren.“ „Genau deshalb kommen die Spanier nicht darauf“, sagte Pieter Arneland. „Außerdem ist die Schenke nur ein Treffpunkt. Die Basken bemühen sich, nicht den geringsten Verdacht auf den Wirt fallen zu lassen. Denn irgendwann, wenn sie stark genug sind, wollen sie den unterirdischen Gang für einen Überraschungsangriff auf die Festung nutzen.“ „Hoffentlich schaffen sie's.“ Dans Blick tastete die Bucht ab. „Was tun wir? Schwimmen?“ „Bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir nicht eine der bewachten Brücken stürmen wollen. Also los!“ Eilig kletterten die Männer zwischen den Felsen abwärts. Ein paar Stücke Treibholz, die ihre Waffen tragen konnten, waren schnell zusammengebunden. Nacheinander stiegen die Männer ins Wasser, Matt Davies und Ferris Tucker schleppten das behelfsmäßige Floß nach, und binnen weniger Minuten hatten sie die Bucht durchschwommen. Sehr vorsichtig folgten sie dem Pfad, der bedrohlich nah an der Feste vorbeiführte. Das letzte Stück mußten sie über roh in den Felsen gehauene Stufen aufsteigen. Ein Kiefernwäldchen schirmte die „Linterna Roja“ ab. Die Männer wollten gerade aus dem Schatten treten, als ihnen Ed Carberry ein Zeichen mit der Hand gab.
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Deutlich war vor ihnen Hufschlag zu hören. Das Geräusch erklang von der anderen Seite der Landzunge: zwei oder drei Reiter, die sich rasch näherten und zwischen Felsen und Gebüsch auftauchten. Sie saßen ab, bevor sie das freie Gelände um die Schenke erreichten. Eilig banden sie ihre Tiere mit den Zügeln an ein paar Äste, dann huschten sie geduckt auf die „Linterna Roja“ zu. „Baskische Rebellen?“ fragte Dan halblaut. „Ich weiß nicht“, sagte Pieter Ameland. „Auf jeden Fall erscheint mir die Sache merkwürdig.“ „Dann gehen wir doch hin und sehen nach“, knurrte Carberry. „Oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen, was, wie?“ „Ich riskiere mal einen Blick.“ Dan O'Flynn hatte sich bereits aus dem Schatten der Kiefern gelöst, schlug einen Bogen und glitt von der Seite her auf die Tür der Schenke zu, durch die eben die drei Unbekannten verschwunden waren. Im Haus war alles still. Keine Spur von Hasard und seiner Gruppe, keine Spur von dem Wirt oder den restlichen Bewohnern. Man hätte annehmen sollen, daß sie um diese Zeit schliefen, doch die offene Tür sprach genauso dagegen wie die Selbstverständlichkeit, mit der die drei Männer den Schankraum betreten hatten. Dan drückte sich neben einem der kleinen, tiefen Fenster gegen die Wand und spähte vorsichtig durch die Scheibe. Eine Petroleumlampe brannte. An dem langen Schanktisch stand ein schwarzhaariges junges Mädchen mit dunklen Glutaugen im blassen, ernsten Gesicht. Sie preßte die Handflächen gegeneinander und redete auf die drei Männer ein. Laut genug, so daß Dan die Worte hätte verstehen können, doch sie benutzte eine Sprache, die dem jungen O'Flynn völlig unbekannt war. Er fluchte in sich hinein. Ob die Geusen das Kauderwelsch verstanden? Er wandte sich um und wollte den anderen ein Zeichen geben, doch da stand schon wie aus dem Boden
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gewachsen der blonde, helläugige Pieter Ameland neben ihm. Er lächelte matt. „Sie werden Baskisch sprechen, Eskuara“, flüsterte er. „Ich verstehe ein bißchen davon, seit wir einmal mit der ,Hoek van Holland' ein paar Rebellen an Bord genommen haben, die vor den Spaniern auf der Flucht waren.“ „Und was, zum Teufel, erzählen sie sich?“ Ameland kniff die Augen zusammen und lauschte gespannt. „Das Mädchen sagt etwas von Verwundeten“, murmelte er. „Sie hat sie im Weinkeller versteckt. Jetzt gehen sie hinunter.“ „Verdammt“, knirschte Dan. Ameland warf ihm einen Blick zu. „Ich war schon einmal hier. Es gibt einen Einstieg auf der Rückseite des Hauses.“ „Auf was warten wir dann?“ Sie grinsten sich an. Lautlos wandten sie sich ab und umrundeten das Gebäude. Inzwischen war es heller geworden, der rote Widerschein am Himmel im Osten zeigte, daß bald die Sonne über den Horizont steigen würde. Deutlich konnten die beiden Männer die schräge Holzklappe sehen, hinter der vermutlich eine Rutsche lag, die dem schnellen Transport von Holz oder Vorräten in den Keller diente. Behutsam hob Dan O'Flynn die Luke. Die Scharniere waren schlecht geölt, doch da er sie nur wenig bewegte, hielt sich das Knirschen in Grenzen. Tatsächlich fiel das graue Morgenlicht auf eine hölzerne Rutsche. In dem Kellerraum, in den sie führte, regte sich nichts. Dan schwang sich kurz entschlossen auf die Schräge. Pieter Ameland folgte ihm. Sekunden später standen sie in der Finsternis des Kellers und lauschten. Jetzt brauchten sie die drei Männer und das Mädchen nur noch zu finden. * Miranda Lleones Öllampe hoch.
hielt
die
blakende
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In ihrem Licht beugten sich die drei Basken über die Verwundeten, die auf einem provisorischen Deckenlager zwischen zwei riesigen Weinfässern lagen. Sie hatten viel Blut verloren. Miranda, die ein wenig von der Wundbehandlung verstand, war der Ansicht gewesen, daß sie einen Transport auf den rumpelnden Wagen nicht überleben würden. Jetzt fühlten sie sich schon wesentlich besser, auf jeden Fall konnten sie bereits wieder kräftig fluchen. „Schon gut, Dario.“ Der hagere Baske, der den kleinen Trupp anführte, grinste im Halbdunkel. „Wir wissen selbst, daß die Kerle wie die Teufel gekämpft haben, wir waren schließlich dabei. Dieser Seewolf hat sogar unterwegs noch einen Ausbruch versucht. Er sprengte die Fesseln, als ob es gar nichts wäre. Aber jetzt haben wir sie auf Nummer sicher. Und die Spanier werden unsere Leute sehr schnell freilassen, wenn wir ihnen Jan Joerdans und El Lobo del Mar zum Tausch anbieten.“ „Ah! Hoffentlich! Und wie wollt ihr sie es wissen lassen?“ „Das wird Miranda übernehmen.“ Der Baske vollführte eine rasche Handbewegung, um den Protest des Verwundeten abzuschneiden. „Keine Angst, sie braucht sich nicht in Gefahr zu begeben. Sie geht zum Haus des Hafenkommandanten und schiebt einen Brief durch die Tür oder ein Fenster. Uvalde, dieser Hund, hält sich zwar fast nie in seinem Palacio auf, weil er sich vor Anschlägen fürchtet, aber seine Bediensteten werden schon dafür sorgen, daß die -Nachricht in seine Hände gerät.“ „Gut. Und wann holt ihr uns hier heraus?“ „Später, mein Freund, wenn ihr euch etwas erholt habt. Wir reiten zunächst ins Lager zurück. Miranda?“ Das Mädchen griff nach dem zusammengerollten, versiegelten Pergament, das der Baske ihr hinhielt. Sie dachte an den Mann mit dem langen schwarzen Haar und den eisblauen Augen und an die beiden Geusen, die ihr vertraut hatten. Und an ihren Vater, der im Kerker
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der Festung schmachtete, vielleicht gefoltert wurde und nur eine Chance hatte, am Leben zu bleiben, wenn El Vascos Plan klappte. Der Preis war Verrat. Mit den englischen Freibeutern hatten die Basken nichts zu schaffen, wohl aber mit den Geusen. Hier in der „Linterna Roja“ hatten die Holländer schon mehr als einmal Vorräte übernommen. Und es war Jan Joerdans' „Hoek van Holland“ gewesen, die damals in der Stiefelbucht Gian Malandrès und seiner Gruppe den Weg freigeschossen und die Männer an Bord genommen hatte, bevor die Spanier sie erwischen konnten. Und jetzt würde Gian Malandrès seine Freiheit Jan Joerdans' Tod verdanken. Wollte er das? Und wollte es ihr Vater? Miranda schluckte schwer und dachte daran, daß wohl jeder jeden Preis für die Freiheit zu zahlen bereit war, wenn die Spanier irgendwelches Wissen bei ihm vermuteten, das es ihm zu entreißen galt. „Du weißt, was du zu tun hast?“ fragte der Baske mit einem scharfen Blick in das bleiche Gesicht des Mädchens. Miranda nickte. „Ich weiß es, Manos. Werdet ihr – versuchen, die Spanier zu täuschen?“ „Versuchen wohl. Aber ich bezweifle, daß sie sich täuschen lassen. Sie werden Zug um Zug vorgehen wollen, und ich fürchte, El Vasco bleibt nichts übrig, als sich den Bedingungen zu beugen.“ „Es ist nicht recht, Manos. Es ist einfach nicht recht! Wenn wir nur eine andere Wahl hätten!“ „Wir haben keine. Los jetzt, Miranda!“ Schweigend wandten sie sich ab. Das Mädchen hielt die Lampe und umklammerte mit der anderen Hand die Pergamentrolle. Ihre dunklen Augen wirkten wie erloschen, sie bemühte sich verzweifelt, nicht länger nachzudenken. * Dan O'Flynn hielt den Atem an. Seine blauen Augen flammten vor Wut, in dem braungebrannten Gesicht bildeten die Lippen einen harten, blutleeren Strich. Er
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mußte an sich halten, um seinen kochenden Zorn nicht explodieren zu lassen, während sie sich lautlos von der schweren Bohlentür des Weinkellers zurückzogen. Sekunden später glitten sie wieder durch die schräge Luke ins Freie. Aus der Schenke drangen Gemurmel und ein leises Klirren. Offenbar tranken die drei Basken noch ein Glas Wein, bevor sie aufbrachen. Hastig entfernten sich Pieter Ameland und der junge O'Flynn von dem Haus und huschte im Bogen zurück zu dem Kieferwäldchen, wo ihre Kameraden warteten. „Diese Schweine!“ knirschte Dan. „Diese heimtückischen, verräterischen Halunken! Die verdienen nichts anderes, als von den Spaniern massakriert zu werden, die ...“ „Was ist denn mit dir los?“ fragte Ed Carberry flüsternd. Dans Stimme zitterte vor hilfloser Wut. „Die verdammten Basken haben Hasard und die anderen überrumpelt und verschleppt. Sie wollen sie als Geiseln benutzen, um sie gegen baskische Gefangene auszutauschen. Sie wollen sie eiskalt den Spaniern ans Messer liefern, versteht ihr?“ Eds Narbengesicht erstarrte. Er brauchte ein paar Sekunden, um die Bedeutung von Dans Worten zu erfassen. Dann rammte er sein Amboß-Kinn vor, lief dunkelrot, an und holte tief Luft. „Halt bloß deine große Klappe!“ zischte Ferris Tucker beschwörend. Der Profos verschluckte sich fast. Sein Narbengesicht verfärbte sich noch dunkler, bevor er begriff, daß er hier wirklich nicht in gewohnter Weise herumbrüllen konnte. „Dir ziehe ich die Haut ab, du rothaariger Affe!“ flüsterte er. „Soll ich vielleicht ruhig bleiben, wenn diese Mistböcke und Hurensöhne unseren Seewolf den Spaniern zum Fraß vorwerfen wollen, was, wie? Warum stehen wir hier noch herum wie die Ölgötzen? Wir schnappen uns diese, dreckigen Verräter, brechen ihnen sämtliche Gräten.“ „Damit wissen wir aber noch nicht, wo sie Hasard und die anderen gefangen halten“, sagte Dan.
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„Ha!“ fauchte Matt Davis. „Die werden singen wie die Vögelchen, wenn ich sie mit meinem Haken kitzle!“ „Und wenn nicht?“ fragte Stenmark sachlich. Schweigen. Edwin Carberry hatte sich wieder gefaßt, auch wenn die Blicke, die er auf die Schenke schleuderte, immer noch mörderisch wirkten. „Wir müssen die Halunken verfolgen“, knirschte er. „Und wir müssen dafür sorgen, daß dieser verdammte Brief nicht in die Hände des Hafenkommandanten fällt. Also teilen wir uns! Ameland, ihr übernehmt das Mädchen, während wir ...“ „Zwei von uns sollten euch begleiten“, unterbrach ihn der Steuermann der „Hoek van Holland“. „Ihr versteht Spanisch, aber nicht die Sprache der Basken. Wir können wenigstens ein paar Brocken davon.“ „Ein vernünftiger Vorschlag. Verdammt, wir werden Pferde brauchen, wir können nicht zu Fuß hinter den Gäulen her rennen.“ „Die Schenke hat einen Stall“, sagte Dan O'Flynn. „Hoffentlich stehen da nicht nur ein paar lahme Klepper drin. Zuerst müssen wir warten, bis die Basken verschwunden sind. Diese elenden Halsabschneider! Wenn ich könnte, würde ich ihnen die Haut in Streifen von ihren verdammten Affenärschen ...“ Er verstummte. Denn im selben Augenblick klirrte der Perlenvorhang in der Tür der Schenke, und die drei Basken traten ins Freie. Miranda Lleones folgte ihnen. Sie umklammerte eine versiegelte Pergamentrolle, und ihre Finger zitterten, als sie sorgfältig die Tür abschloß. Die Worte, die sie noch mit den Basken wechselte, waren nicht zu verstehen. Miranda wandte sich ab und schlug den Weg ein, der an dem Kiefernwäldchen vorbei zu dem Pfad führte, den auch die Seewölfe und die Geusen benützt hatten. Die drei baskischen Rebellen umrundeten das Haus und gingen eilig auf das Gebüsch zu, wo sie ihre Pferde gelassen hatten:
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Wahrscheinlich lag ihr Versteck irgendwo in der wilden kantabrischen Bergwelt, aber allzu weit konnte der Weg dorthin eigentlich nicht sein. Als der Hufschlag erklang, richtete sich Ed Carberry, vorsichtig im Schatten der Kiefern auf. Seine Hände hatten sich geballt, und sein vorgeschobenes Kinn erinnerte mehr denn je an einen Amboß. „Na wartet!“ flüsterte er. „Wenn wir erst wissen, wohin ihr unsere Leute verschleppt habt, werde ich euch irgendwann zwischen die Fäuste kriegen. Und dann könnt ihr euer Testament aufsetzen.“ 3. Vor Marius van Helders Augen verschwamm das gespenstische Bild der Folterkammer. Er war an die Wand gekettet. Das fast weiße Haar hing ihm feucht in die Stirn, von dem gebrochenen Gelenk flutete Schmerz durch seinen Körper. Dem fetten Hafenkommandanten, der breitbeinig vor ihm stand, hätte er am liebsten ins Gesicht gespuckt, aber diesmal siegte die Vernunft über seinen unbeugsamen Stolz. Er durfte nicht aufgeben. Solange er lebte, konnte er auf eine Chance hoffen. Vielleicht gelang es ihm sogar, die Spanier durcheinanderzubringen, sie zu täuschen, sie wenigstens für eine Weile von ihrer Jagd auf die Schiffe der Wassergeusen abzulenken. „Ich werde reden“, sagte er leise und stockend. „Ah! Endlich wirst du vernünftig.“ Benito Uvalde, der spanische Hafenkommandant, lächelte triumphierend. „Ich wußte doch, daß wir deine Zunge lockern würden, Geuse! Also fang an! Wo ist die ,Hoek van Holland' mit diesem Verbrecher Joerdans?“ Marius van Helder ließ den Kopf sinken, als könne er seinem Widersacher nicht mehr in die Augen sehen. „Ich weiß es nicht“, murmelte er. „Ich schwöre, daß ich es nicht weiß. Aber ich weiß, wo sie hinsegeln werden.“ „Das ist fast ebenso gut. Also wohin?“
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„Durch die Meerenge von Gibraltar. Wir wollten das tun, was Spanien am wenigsten erwartet: die Häfen im Mittelmeer angreifen.“ „Die Häfen im Mittelmeer?“ Uvalde fauchte vor Wut. „Hältst du mich für einen Narren, holländischer Bastard? Die Häfen im Mittelmeer angreifen mit einem einzigen lächerlichen Schiff?“ „Ich wäre mit der ‚Oranje' dazugestoßen. Und Willem Meerens mit der ,Anneke Bouts` ebenfalls.“ „Die ,Anneke Bouts` ist Treibholz“, sagte Uvalde verächtlich. Van Helder riß den Kopf hoch. Er hatte nichts vom Schicksal der zerstörten Fleute geahnt. Seine grauen Augen flackerten. „Da staunst du, was?“ fragte der Hafenkommandant gehässig. „Der Kahn lief im Sturm auf ein Riff. Der Verband, der vorbeisegelte, brauchte nur noch das Wrack in Fetzen zu schießen. Und wer danach noch am Leben war, ist inzwischen auf den Felsen verhungert und verdurstet.“ „Ihr habt sie ihrem Schicksal überlassen?“ fragte Van Helder tonlos. „Was sonst? Der Verband hatte es eilig, er jagte ein anderes Wild - dich, mein Freund. Glaubst du jetzt immer noch, daß dieser verdammte Joerdans mit seinem lächerlichen Kahn die spanischen Mittelmeerhäfen angreifen könnte?“ Van Helder schloß die Augen und bezwang die Bitterkeit, die ihn zu überwältigen drohte. Die „Hoek van Holland“ war allein übriggeblieben, die Spanier würden Jan Joerdans zu Tode hetzen. Aber vielleicht gab es eine Chance. Vielleicht gelang es ihm, Marius van Helder, doch noch, etwas für seine Kameraden zu tun. „Er wird nicht allein sein“, sagte er heiser. „Die Wassergeusen haben sich gesammelt, unter den Augen der Spanier, ohne daß es jemandem aufgefallen ist. Sie haben sich dort gesammelt, wo sie niemand erwartete. Wir waren die letzten, die zu den Azoren segeln wollten.“ „A-azoren?“ stammelte Benito Uvalde ungläubig.
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Van Helder starrte ihn an. Mit einem wilden, fanatischen Glühen in den Augen, das den Spanier sofort davon überzeugte, die Wahrheit zu hören. „Ja, Azoren“, flüsterte der Geuse. .Dorthin wird die ,Hoek van Holland' segeln, und dort warten die anderen. Die ,Wappen von Oranien'! Die ,Zeeland', die ‚Utrecht' und die ‚Gelderland'. Sie werden sich zusammenschließen. Sie werden Gibraltar angreifen und die Hölle loslassen und dafür sorgen, daß die spanischen Kriegsschiffe aus den holländischen Häfen verschwinden müssen, weil sie im Mittelmeer gebraucht werden. Und dann werden die Südprovinzen aufstehen und alle Spanier ins Meer jagen. Dann werden sie Allessandro Farnese aus dem Land werfen, und niemand wird mehr da sein, der die Armada bei ihrem Raubzug gegen England unterstützt!“ Van Helder hatte sich in Hitze geredet. Die Vision eines geschlagenen Farnese, eines freien und wiedervereinigten niederländischen Volkes, diese Vision eines Siegs, für den er so lange gekämpft hatte - das alles weckte leidenschaftliche Erregung in ihm und ließ seine Gegner gar nicht auf den Gedanken verfallen, daß er ihnen ein Märchen erzählt hatte. Es gab kein einziges Geusenschiff in der Nähe der Azoren. Die Geusen dachten nicht daran, sich so weit von der Nordsee zu entfernen. Denn sie warteten immer noch auf ihre Chance -auf Spaniens Angriff gegen England, der es vielleicht ermöglichen würde, Allesandro Farneses überlegenes Landheer zwischen zwei Fronten. aufzureiben. Benito Uvaldes Augen kniffen sich zusammen, bis sie fast zwischen den Fettwülsten verschwanden. Nachdenklich zwirbelte er den Schnurrbart, der in seinem breiten roten Gesicht lächerlich dünn wirkte. Geusenschiffe, die sich bei den Azoren sammelten? Die vielleicht etwas Ähnliches wie das Cadiz-Unternehmen planten, das Spanien so empfindlich getroffen hatte? Wenn sich das als richtig herausstellen sollte und seine Informationen bewirkten,
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daß es 'verhindert wurde, war der Dank der Krone ihm gewiß. „Es wäre möglich“, murmelte er. „Es wäre tatsächlich möglich.“ Und mit einem tiefen Atemzug: „Wir werden sehen, was deine Freunde zu berichten haben. Gnade dir Gott, wenn sie nicht dieselbe Geschichte erzählen !“ Marius van Helder antwortete nicht Seine Freunde würden in der Tat dieselbe Geschichte erzählen. Er hatte sie nicht mehr gesehen, seit einer nach dem anderen aus dem Kerker geholt worden war, doch Gian Malandrès, El Vascos Bruder, kannte Mittel und Wege, sieh auch in den Folterkammern und Verliesen gegenseitig. Nachrichten zuzuspielen. Mittel und Wege, von denen die Spanier nichts ahnten, und deshalb würden sie nicht daran zweifeln, daß sie die Wahrheit hörten. Auf einen Wink Uvaldes lösten die beiden Folterknechte den Gefangenen von den Ketten und stießen ihn zur Tür, um ihn zurück in den Kerker zu bringen. Minuten später lehnte Marius van Heber wieder an der Wand des feuchten, finsteren Gewölbes, in dem mehr als drei Dutzend unglücklicher Opfer vegetierten. Klirrend schloß sich das Gitter, das den Kerker von dem Wachraum trennte. Sofort vertieften sich die spanischen Soldaten wieder in ihr ständiges Kartenspiel, und niemand achtete darauf, daß sich die baskischen Gefangenen um den blonden, hochgewachsenen Geusenkäpitän drängten: „Geklappt?“ fragte Gian Malandrès halblaut. Van Helder nickte. Sein Blick wanderte zu Barend van Gemert, dem einzigen der Geusen, um den sich die Spanier nicht gekümmert hatten. Er war als Kurier nach Bilbao gegangen und erwischt worden. Er hatte unter der Folter geredet und die „Oranje“ verraten, aber Van Helder wußte jetzt noch besser als vorher, daß niemand das Recht hatte, ihn dafür zu verachten. Schweigend kniete sich Van Gemert neben ihn und begann, die gebrochene Hand des Kapitäns mit ei- nm einfachen Stück Holz
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und einem in Streifen gerissenen Hemd zu schienen. „Ich habe damals auch versucht, ihnen ein Märchen zu erzählen“, Murmelte er. „Sie glaubten mir nicht.“ „Sie konnten dir nicht glauben. Du warst in Bilbao, das sagte Der hagere blonde Mann antwortete nicht. Van Helder ließ erschöpft den Köpf gegen die Wand sinken. Gian Malandrès wandte sich ab, und seine schwarzen Augen spiegelten deutlich die Verachtung, die Van Helder nicht empfinden konnte. Der Baske haßte den Verrat und gehörte zu denen, die am liebsten kurzen Prozeß mit dem Verräter gemacht hätten. Er ahnte nicht, daß sein eigener Bruder den gleichen Verrat plante. Und er hätte es nichtgeglaubt, wenn man es ihm gesagt hätte. * Wie Schatten im grauen Morgenlicht huschten die Männer zu der Schenke hinüber. Stenmark, Dan O'Flynn und zwei von den Geusen hatten sich bereits auf Mirandas Fersen geheftet. Ed Carberry war der erste, der das niedrige, weißgekalkte Gebäude umrundete, sich auf dem Hof umsah und die Ställe entdeckte. Leises Scharren und Schnauben drangen heraus. Der Profos stieß die Tür auf. Bill flitzte an ihm vorbei und tauchte in die warme Dunkelheit, die anderen folgten. Vier Pferde! Saumpferde: kleine, gedrungene, zähe Tiere mit struppigen Mähnen und feurigen Augen. Ed kratzte sich am Kopf und warf dem rothaarigen Riesen Ferris Tucker einen skeptischen Blick zu. Matt Davis lachte leise. „Ich kenne diese Biester“, versicherte er. „Bei mir zu Hause in Wales züchten sie ganz ähnliche. Die tragen auch so einen Klotz wie dich, Ed.“ „Sagtest du Klotz?“ erkundigte sich der Profos gefährlich leise.
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„Halt keine Volksreden, Ed“, drängte Ferris Tucker. „Du hast ohnehin keine Zeit, jemandem die Haut abzuziehen.“ „Aber jemandem auf sein freches Maul zu hauen, dafür hab ich Zeit. Den Klotz kriegt dieses Rübenschwein noch zurück. Also los jetzt! Ferris, Matt, Ameland! Wollt ihr hier Wurzeln schlagen, oder was ist los?“ Pieter Ameland grinste, als er einen Sattel vom Bock nahm und an eins der Tiere herantrat. Er murmelte beruhigend, das Pferd schnaubte ein paarmal heftig und ließ sich dann ohne Widerstand satteln. Ed Carberry, Ferris Tucker und Matt Davis verfuhren wie der Holländer, wobei das „beruhigende“ Gemurmel des Profos etwas komisch klang, weil man ihm anmerkte, daß er den ungewohnten Umgang mit den Pferden viel lieber mit saftigen Flüchen begleitet hätte. Matt Davies, der mit seiner Hakenprothese auch den schwierigsten seemännischen Knoten perfekt zustande brachte, fummelte zähneknirschend an Bauchgurt und Zaumzeug herum. Schließlich ließ er sich von Rill helfen, nicht ohne deutlich seine Meinung kundzutun, daß nur hoffnungslos dämliche Landratten auf die Idee verfallen könnten, sich auf Pferderücken zu setzen. Daß er dem Tier auch noch den Hals klopfen und ihm Freundlichkeiten ins Ohr säuseln mußte, machte das Maß der Erbitterung voll. Aber auch Matt schaffte es am Ende, das Pferd aus dem Stall zu führen und draußen auf dem Hof in den Sattel zu klettern. Ed Carberry übernahm die Spitze. Ferris Tucker, Matt Davies und Pieter Ameland folgten ihm. Die drei Basken waren nach Osten geritten, über die der Bucht von Bilbao abgewandte Seite der Landzunge. Als die Seewölfe den Felsengrat erreichten, konnten sie ihre Gegner über Kies und Geröll des Strandes reiten sehen. Sie hielten auf eine der steilen, mit Gestrüpp und Krüppelkiefern bewachsenen Bergflanken zu. Wenig 'später waren sie in einem tief eingeschnittenen Tal verschwunden, das ins Landesinnere führte.
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„Lauf schneller, du Klepper!“ zischte Ed Carberry seinem Pferd ins Ohr. Ob das Tier ihn verstand, war fraglich, aber es reagierte auf einen kräftigen. Schenkeldruck. Mit erstaunlicher Sicherheit bewegten sich die Saumpferde zwischen Felsbrocken und Gestrüpp und trugen die Reiter im Passgang über den groben Kies des Strands. Der Schatten des Tals nahm sie auf. Über ihnen verrieten Hufgeräusche zwischen den Steilwänden, wo sich ihre Gegner befanden. Der Weg führte über einen Paß, dem sich die Seewölfe vorsichtig näherten. Ein weites Tal öffnete sich vor ihnen, bedeckt von niedrigem Gestrüpp - dem Unterholz verschwundener Eichenwälder, die dem Schiffbau in Bilbao zum Opfer gefallen waren. Die drei Basken folgten einem fast unsichtbaren Pfad, nur ihre Köpfe und Schultern tauchten manchmal aus dem wogenden Grün. Sie hatten die Richtung gewechselt, ritten jetzt schnurgerade nach Süden und strebten der Bergkette zu, deren schroffe Felsformationen in den Himmel ragten. Die drei Seewölfe und der Holländer trieben ihre Pferde an, hielten sich außer Hörweite der Basken und bemühten sich, sie nicht aus den Au- gen zu verlieren. * Miranda Lleones prallte zurück, als die Männer aus dem Schatten der Felsen tauchten. Ihre Finger krallten sich um die Pergamentrolle, sie holte tief Luft. Dan O'Flynn stand mit drei langen Schritten vor ihr, packte mit der Rechten ihren Arm und preßte ihr die Linke auf den Mund, um ihren Schrei zu ersticken. „Still!“ flüsterte er auf Spanisch. „Wir tun Ihnen nichts. Kann ich jetzt loslassen, ohne daß Sie Portugalete zusammen schreien?“ Mirandas Glutaugen flackerten. Sie atmete heftig, ihr Herz hämmerte, doch ein Blick in das Gesicht des blonden, blauäugigen jungen Mannes ließ sie glauben, daß er ihr nichts antun wollte. Sie nickte und atmete auf, als sich Dans Hand von ihrem Mund
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löste. Angstvoll starrte sie die anderen Männer an, die aus ihren Deckungen auf den Weg traten : der Schwede Stenmark, der schlanke, drahtige Bill, die stämmigen, hellhaarigen Holländer. Sie alle sahen nicht aus wie brutale Halsabschneider, vor denen man sich fürchten mußte. Aber ihre Augen spiegelten ohnmächtigen Zorn und gerechte Empörung. Miranda ahnte plötzlich, wen sie vor sich halte. Jan Joerdans' Geusen! Und die Engländer, die zu El Lobo del Mar gehörten, dem schwarzhaarigen Mann mit dem braungebrannten, verwegenen Gesicht und den eisblauen Augen, der in der Schenke wie ein Tiger gekämpft hatte und dessen Schicksal Miranda nicht vergessen konnte. Sie suchten den Seewolf, Jan Joerdans und die anderen Männer. Sie wußten, daß die beiden Kapitäne und ihre Leute in der „Linterna Roja“ gewesen waren. Mirandas Gedanken überstürzten sich. Sie brauchte nur zu behaupten, daß die Männer wieder gegangen seien und sie nichts von ihrem Verbleib wisse. Die Geste, mit der Dan O'Flynn die Hand ausstreckte, zerstörte ihre Hoffnung. Der Blick des jungen Mannes haftete an der Pergamentrolle. Er wußte alles. Vielleicht hatte er die Basken in die Schenke gehen sehen. Vielleicht hatte er sogar gelauscht. Aber nein, das war nicht möglich. Er verstand ja kein Eskuara. „Geben Sie es mir“, sagte Dan ruhig. Mirandas Finger zitterten, als sie ihm die Rolle reichte. Er brach das Siegel und faltete das Pergament auseinander. Schweigend las er den kurzen spanischen Text und preßte die Lippen zusammen. „An Benito Uvalde, den Hafenkommandanten von Bilbao“, sagte er heiser. „El Vasco teilt ihm mit, er habe El Lobo del Mar, Jan Joerdans und drei weitere Feinde Spaniens in seiner Hand. Uvalde soll zunächst einmal Profirio Lleones freilassen und ...“ Er stockte und sah das Mädchen an.
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„Porfirio Lleones?“ wiederholte er. „Dein Vater?“ „Ja.“ Miranda nickte. „Deswegen hast du es getan?“ „Ja. Deswegen. Sie werden ihn foltern und töten.“ „Und was, glaubst du, werden sie mit dem Seewolf, Jan Joerdans und den anderen tun?“ Dans Stimme. klang erbittert. „Was glaubst du, was sie jetzt im Augenblick mit Marius van Helder und den Gefangenen der 'Oranje` anstellen?“ „Aber er ist mein Vater.“ „Und du bist Baskin!“ Es war Parten Routs, der das hervorstieß. „Wir kämpfen alle den gleichen Kampf, und jeder, der diesen Kampf aufnimmt, weiß vorher, daß er Gefangenschaft und Tod riskiert. Dein Vater ist ein aufrechter Mann. Und ich kenne Gian Malandrés. Von ihm weiß ich genau, daß er diesem gemeinen Handel nicht zustimmen würde.“ Miranda antwortete nicht. Sie senkte nur den Kopf. Ihre Lippen zitterten, und ihr blasses Gesicht verriet, daß sie dem Holländer im Grunde recht gab. „Was sollte geschehen, wenn Uvalde den Wirt i freigelassen hat?“ fragte Stenmark. „Er sollte ihm eine Nachricht für die Rebellen mitgeben.“ Dan zuckte mit den Schultern. „El Vasco nennt eine ganze Reihe von Gefangenen, die er haben will. Allen voran natürlich seinen Bruder, diesen Gian Manlandrès.“ „Ich begreife das nicht“, murmelte Marien Routs. „Ich kenne Malandrès. Das ist ein Mann, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde.“ „Hättest du das nicht vor kurzem auch von El Vasco gesagt?“ Routs zuckte mit den Schultern. „Er hängt an seinem Bruder. Er muß - irgendwie verrückt geworden sein.“ Mit zusammengepreßten Lippen starrte er das Mädchen an. „Es wäre das gleiche, als wenn wir hingegangen wären und dich und deine Freunde an die Spanier verraten hätten, um Van Helder zu retten“, sagte er hart. „Wir wissen genug über die baskischen Rebellen, aber wir hätten nicht einmal im Traum an so etwas gedacht. Wir
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hätten auch eure Leute befreit. El Vasco hätte mit uns zusammenarbeiten können, er hätte ...“ „Was tun wir jetzt?“ unterbrach ihn Stenmark. „Wir müssen verhindern, daß die Basken gewarnt werden.“ „Ja, das müssen wir“, sagte Dan O'Flynn. „Miranda, wir können Sie nicht einfach laufenlassen, das müssen Sie verstehen.“ Das Mädchen schluckte. Ihre Augen flackerten. „Was habt ihr mit mir vor?“ flüsterte sie angstvoll. „Wir nehmen Sie mit an Bord. Niemand wird Ihnen etwas tun, Sie brauchen keine Angst zu haben. Aber Sie müssen eine Weile bei uns bleiben. Solange, bis wir unsere Freunde befreit haben.“ Mit einer fahrigen Bewegung wischte sich Miranda Lleones das Haar aus der Stirn. Ihr Blick irrte von einem zum anderen. Sie sah harte, entschlossene Gesichter, aber in keinem dieser Gesichter war etwas zu lesen, das sie hätte fürchten müssen. „Ich werde mitgehen“, sagte sie leise. „Und ich hoffe, daß es euch gelingt, eure Freunde zu retten. Ich -ich bin froh, daß alles so gekommen ist.“ 4. Über dem Feuer wurde ein Hammel am Spieß gebraten. Im Lager der Rebellen lebten keine Frauen, aber es gab eine Reihe ehemaliger Schafhirten und Köhler, die daran gewöhnt waren, sich selbst zu versorgen. Der Duft von wildem Majoran mischte sich mit dem scharfen Geruch des Fetts, das zischend in die Glut tropfte. Der Bursche, der sich um die Mahlzeit kümmerte, wurde Guzo genannt. Einmal war er mit dem Weinschlauch erschienen, um den Gefangenen zu trinken zu geben. Jetzt kauerte er auf den Fersen, drehte unermüdlich den Bratspieß und warf nur ab und zu einen prüfenden Blick zu der Mulde zwischen den Felsen. Al Conroy, Friso Eyck und Jan Joerdans kauerten in der Sonne, dösten vor sich hin und spielten die Erschöpften.
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Hasard und Sam Roskill hatten sich ein Stück zur Seite gerollt, wo der Baske sie nicht mehr sehen konnte. Er kümmerte sich nicht darum, weil er annahm, daß es ihnen lediglich um den kühlen Schatten ging. Aber die beiden Seewölfe dachten nicht daran, sich im Schatten auszuruhen. Sam Roskill war es gewesen, der das lange, scharfe Felsstück entdeckt hatte, das gut eine Feile ersetzen konnte. Jetzt kauerten sie Rücken an Rücken, schwitzend und mit gespannten Muskeln. Der ehemalige Karibik-Pirat hielt den Stein in den gefesselten Händen, und Hasard rieb seit geraumer Zeit die Stricke an seinen Gelenken über die scharfe Kante. In der wachsenden Tageshitze war das eine schweißtreibende Angelegenheit. Seine Muskeln schmerzten, die Haut ging in Fetzen, weil die Stricke immer wieder abrutschten. Von Zeit zu Zeit drückte der Seewolf mit aller Kraft die Hände auseinander - ohne Ergebnis bis jetzt. Dabei behauptete Sam, daß einer der Stricke schon zur Hälfte durch sei. Ab und zu glaubte Hasard, das Reißen von Fasern zu hören. Das Geräusch wirkte wie Musik in seinen Ohren und ließ ihn jedesmal seine Anstrengungen verdoppeln. „Himmelarsch“, murmelte Sam Roskill erbittert. „Soll ich mal versuchen, die Kante ein bißchen zu schärfen?“ „An den Felsen? Das hört man doch im ganzen Lager, Mann!“ „Stimmt auch wieder. Na ja ... Sam sparte seinen Atem und versuchte, mit dem Stein einen gewissen Gegendruck auszuüben. Al Conroy und die beiden Geusen verfolgten die Bemühungen aus den Augenwinkeln. Sie hätten lieber etwas getan, statt herumzusitzen und zu warten, aber wenn die Gefangenen allzu viel Aktivität entfalteten, konnte das ihren Bewachern auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Zum wer weiß wievielten Male holte der Seewolf tief Atem und spannte die Muskeln. Seine Schläfenadern traten hervor. Mit aller Kraft drückte er die Hände auseinander, und diesmal spürte er den
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kurzen, harten Ruck, mit dem einer der Stricke riß. „Geschafft!“ Hasard grinste atemlos, während er die Hände bewegte und sich endgültig von den Fesseln befreite. Seine Gelenke sahen ziemlich lädiert aus, doch darum kümmerte er sich nicht. Rasch löste er die Stricke an seinen Füßen, dann richtete er sich auf die Knie auf und betätigte sich an Sam Roskills Handfesseln. Ein 'paar Minuten später war er auch schon mit diesen Knoten fertig geworden. Daß Al Conroy und die beiden Geusen aufpaßten und sie warnen würden, wenn einer der Basken neugierig wurde, verstand sich von selbst. Sam Roskill befreite sich eilig von den Fußfesseln. Seine dunklen Augen blitzen triumphierend, als er sich die Stricke locker um die Beine schlang, die Arme auf den Rücken streckte und wieder hinüber in die Sonne rutschte, wo der baskische Wachtposten ihn sehen konnte. Dafür rollte sich Al Conroy in den Schatten, dann der flachshaarige Friso Eyck, als letzter Jan Joerdans, während die beiden anderen, nur noch scheinbar gefesselt, wieder im Blickfeld des Basken an den Felsen lehnten. Guzo drehte den Bratspieß, aber er schien dabei halb zu schlafen. Sein Kopf hing nach unten, seine Muskeln spannten und lockerten sich im Rhythmus seiner Tätigkeit. Die Hitze zusammen mit der einförmigen Bewegung lullte ihn ein und hatte seine Aufmerksamkeit ganz offensichtlich erlahmen lassen. „Na bestens“, murmelte Hasard, als er hinüberpeilte. „Und jetzt?“ fragte Sam unternehmungslustig. „Auf sie mit Gebrüll?“ „Dir hat wohl die Sonne das Hirn ausgedörrt“, knurrte Al verächtlich. „He, du Pulverkammer-Kakerlake! Wenn du morgen dein Pökelfleisch direkt im Magen kauen willst, brauchst du's nur zu sagen, dann schlag ich dir nämlich die Zähne ...“
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„Mund halten“, sagte Hasard kurz und deutlich. „Joerdans, kennen Sie sich in dem verdammten Rebellennest aus?“ Der Geusenkapitän schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht einmal genau, wo es liegt. Ich habe nur gehört, daß es eine Art natürlicher Festung sein soll. Die Basken halten es für uneinnehmbar. „Mahlzeit! Wenn die Strickleitern die einzige Möglichkeit sind, das Plateau zu verlassen, sehen wir schlecht aus. Die Winden werden bewacht, und wir müßten ohne Waffen gegen eine Übermacht kämpfen.“ „Und wie sieht es auf der Westseite aus?“ fragte Sam Roskill. „Woher soll ich das wissen, du Schlaukopf? Wir müssen es herausfinden, und zwar so schnell wie möglich. Irgendwann wird dieser Guzo wieder aufwachen. Spätestens dann, wenn ihn seine eigenen Leute in den Hintern treten, weil er den Hammel anbrennen läßt.“ „Na dann“, sagte Sam trocken. „Fertig, Minheer Joerdans?“ „Fertig, Mister Killigrew.“ Sie grinsten sich an. Noch einmal warfen sie einen prüfenden Blick zu dem schläfrigen Mann am Feuer hinüber. Der Hammel drehte sich nur noch langsam, Guzos Kopf schaukelte im Rhythmus der Bewegung. Hasard gab den anderen ein Zeichen, und einer nach dem anderen tauchten sie in den Schatten und verschwanden zwischen den Felsen. Das Plateau war unübersichtlich genug, um sie zu verbergen, solange ihr Verschwinden nicht bemerkt wurde. Jetzt mußten sie nur noch eine Möglichkeit finden, es zu verlassen. * „Haaalt!“ murmelte Ed Carberry in dem gedehnten Tonfall, den die Saumpferde offenbar als Aufforderung zum Langsamerwerden verstanden. Gleichzeitig zog er am Zügel, und neben ihm brachten Ferris Tucker, Matt Davies und Pieter Ameland ihre Pferde zum Stehen. Sie hielten im Schatten einiger
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hochragender Felsennadeln. Vor ihnen dehnte sich die Ebene bis zur Steilwand einer Mesa. Eine einfache Holzbrücke führte über einen Fluß, dessen tiefer Einschnitt das Plateau auf der Westseite begrenzte. Auf der Mesa selbst konnten die vier Männer von ihrem Platz aus nichts erkennen, aber sie vermuteten, daß sie das Rebellennest vor sich hatten, nach dem sie suchten. Die drei Basken hatten den Fuß der schroffen Felswand erreicht und trieben ihre Pferde in einen primitiven Seilkorral. Schweigend zog Ed Carberry das Spektiv auseinander. Jetzt konnte er deutlicher sehen: ein paar weitere Pferde, schwere Kaltblüter, gegen die sich die kleinen, zähen Saumtiere noch winziger ausnahmen, außerdem ein paar offene Bauernkarren, die so abgestellt worden waren, daß sie sich kaum von der Felswand abhoben. Die Basken winkten, riefen etwas, und Minuten später erschienen oben am Rand des Plateaus Gestalten. „Vorsicht“, warnte Ferris Tucker. „Wenn die den Kieker blitzen sehen ...“ Der Profos hatte das Spektiv schon wieder abgesetzt. „Zieh du lieber deinen verdammten roten Schädel ein“, knurrte er. „Hei, was ...“ Er stockte und pfiff leise durch die Zähne. Auch die anderen hatten es gesehen: eine Strickleiter, die vom Rand des Plateaus herabgelassen wurde. Die drei Basken enterten auf, verschwanden zwischen Felsen und Gestrüpp der Mesa, und die Strickleiter wurde so rasch eingeholt, wie sie ausgebracht worden war. „Hoffentlich ist das nicht die einzige Möglichkeit, da hinaufzusteigen“, sagte Pieter Ameland in seinem nüchternen, sachlichen Tonfall. „Quatsch“, brummte Matt Davies. „Schließlich können wir klettern.“ „Da 'rauf?“ Ferris Tucker schüttelte den Kopf. „Schau dir die Wand mal genauer an, Matt! Wenn mich nicht alles täuscht, ist da absolut nichts zu machen.“ „Wir pirschen uns zu Fuß bis zum Fluß“, entschied Carberry. „Bindet die Pferde an!
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Und vergeßt nicht, vorsichtshalber ein paar Flaschenbomben mitzunehmen.“ Die Männer nickten nur. Von der Wirksamkeit der „Flaschenbomben“ hatten sich inzwischen auch die Geusen überzeugen können. Sie waren eine Erfindung von Ferris Tucker: einfache Flaschen wurden mit Schwarzpulver, Nägeln und Metallstücken gefüllt und mit einem Korken verschlossen, durch den ein kurzes Stück Lunte führte. Um sich gegen eine Übermacht zu verteidigen, gab es kaum eine wirksamere Waffe. Und sie hatte überdies den Vorteil, daß ihre Herstellung erforderte, ab und zu ein paar Flaschen Rum zu lenzen, wenn der Bombenvorrat zur Neige ging. Eilig saßen die Männer ab, schlangen die Zügel der Pferde um die unteren Äste einer mächtigen Korkeiche und nahmen ein paar von den inhaltsschweren Flaschen aus den Satteltaschen. Die Ebene bot genug Deckung. Carberry übernahm die Spitze, die anderen folgten ihm. Im Zickzack arbeiteten sie sich vorwärts, jeden Felsspalt und jeden Busch als Sichtschutz nutzend. Schließlich kauerten sie zwischen ein paar Steinbrocken am Rand des Flusses, der gurgelnd, brausend und ziemlich wild durch sein tief eingeschnittenes Bett strömte. Erneut nahm der Profos das Spektiv zur Hand. Ein paar Sekunden später reichte er es schweigend an Ferris Tucker weiter, von dem rothaarigen Schiffszimmermann wanderte es zu Pieter .Ameland und schließlich zu Matt Davies. „Wir können klettern“, hatte der Mann mit der Hakenprothese eben noch gesagt. Jetzt betrachtete er die glatte, senkrecht ansteigende Fels-' wand, die sich, wenn überhaupt, bestimmt nur unter äußerster Mühe und einiger Gefahr erklettern ließ und zudem bewacht wurde. Unbemerkt gelangte man bestimmt nicht hinauf. Genau wie die anderen sah Matt sofort ein, daß auf diesem Weg nichts zu schaffen war, und er faßte seine Einschätzung der
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Lage in einem ellenlangen Fluch zusammen. „Das ist erst mal nur die Nordseite“, stellte Ferris Tucker fest. „Schauen wir uns den Rest an, dann werden wir ja sehen, wie der Hase läuft.“ Sie taten es. Im Bogen schlichen sie weiter, arbeiteten sich zur Ostseite des Plateaus vor und hielten immer wieder an, um mit dem Spektiv die Felswand zu überprüfen. An einigen Stellen gab es tatsächlich Möglichkeiten zum Aufstieg. Aber der Blick durch das Spektiv ließ keinen Zweifel daran, daß gerade diese Stellen besonders bewacht wurden. Und sie entdeckten die aufgehäuften Geröllbrocken und die Hebelkonstruktion, mit denen Steinlawinen ausgelöst werden konnten. Die Seewölfe mußten einsehen, daß es ein völlig aussichtsloses Unterfangen war, unbemerkt durch die Wand zu klettern, um auf das Plateau zu gelangen. Auf der Süd- und Westseite wurde die Mesa von dem Flußlauf eingeschlossen, einem tief eingeschnitten Flußlauf, in dem Wasser brausend und tobend durch die enge Schlucht schoß. Auf Händen und Knien arbeiteten sich die vier Männer bis an den Rand des Einschnitts heran. Ein paar Sekunden starrten sie wortlos zu dem wilden Strom hinunter. ,Godverdomme“, murmelte Pieter Ameland schließlich in seiner Heimatsprache. „Mist“, sagte Matt Davies kurz und prägnant. Ed Carberry und Ferris Tucker schwiegen. Sie blickten auf die glatten, senkrecht abfallenden Schluchtränder und die schroffen Felsformationen, die das Plateau auf der anderen Seite begrenzten. Hier wurde die Mesa nicht bewacht. Sie brauchte nicht bewacht zu werden. Selbst wenn die Schluchtwände besteigbar gewesen wären, hätte der reißende Strom ein unüberwindliches Hindernis geboten. Er hätte jeden Schwimmer unweigerlich gepackt und an den Felsen zerschmettert.
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„Und wenn wir's mit Seilen und Enterhaken versuchen?“ fragte Ferris Tucker. Carberry schoß ihm einen Blick zu. Der rothaarige Schiffszimmermann wußte vermutlich genau, daß das ein selbstmörderischer Vorschlag war, er wehrte sich lediglich gegen die Erkenntnis, daß sie nichts tun konnten. „Schau die verdammten Felsen da drüben doch an!“ knurrte der Profos. „Brüchig sind sie, das sieht ein Blinder. Da hält kein Enterhaken. Und wenn er hält, dann trägt er nicht das _Gewicht eines Mannes.“ Ferris Tucker nagte an der Unterlippe. „Verdammt!“ murmelte er inbrünstig. Und nach einer Pause: „Ob Bill es schaffen könnte?“ „Nicht mal Bill!“ Carberry schüttelte den Kopf. „Arwenack vielleicht, aber das nutzt uns einen Dreck. Naja, wir können es immerhin mal versuchen.“ „Bin schon unterwegs ...“ Matt Davis kroch ein Stück zurück und verschwand zwischen den Felsen. Es dauerte zehn Minuten, bis er zurückkehrte, ein kräftiges Tau mit einem Enterhaken um die Hüften geschlungen. Schweigend Wickelte er es ab und holte auch gleich aus, um den schweren Eisenhaken zu werfen. Die Schlucht überbrückte er mit Leichtigkeit. Er hatte eine Felskante angepeilt, und tatsächlich fand der Enterhaken Halt. Matt zog vorsichtig an dem Tau, der Haken hielt. Matt zog stärker und hing sich mit seinem ganzen Gewicht in das Seil. Der Haken brach knirschend aus dem Gestein und schlug tief unten in der Schlucht gegen die Felswand. Fünf weitere Versuche brachten kein besseres Ergebnis. Das Gestein war zu brüchig, als daß der Enterhaken das Gewicht eines Mannes hätte tragen können. Also gab es auch keine Chance, sich an dem Seil über die Schlucht zu hangeln. Ein auf diese Art gespanntes Tau hätte allenfalls das Gewicht des Schimpansen Arwenack getragen -und je länger die Männer über
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diese Möglichkeit nachdachten, desto weniger verrückt erschien sie ihnen. „Warum eigentlich nicht?“ fragte Ferris Tucker gedehnt. „Arwenack macht doch alles nach, was er sieht. Und wenn wir ihm hier auf unserer Seite vorexerzieren, wie man ein Tau um einen stabilen Felsblock schlingt ...“ „Dann wird er es auf der anderen Seite auch tun und wieder zurückkehren, glaubst du?“ „Weißt du es? Könnte doch sein, oder? Jedenfalls schadet es nichts, wenn wir es versuchen.“ „Vor allem, weil wir keine andere Wahl haben“, knurrte Matt Davies. „Und wir haben keine, oder?“ Nein, sie hatten keine andere Wahl. Ed Carberry schob sein zernarbtes Rammkinn vor, Ferris Tucker kratzte sich in seinem roten Schopf, Pieter Ameland starrte finster in den reißenden Fluß hinunter. Es gab keine Möglichkeit, diese mörderische Schlucht zu überqueren. Die Männer wollten sich vorsichtig wieder zurückziehen, doch dann zuckten sie alle vier erschrocken zusammen. Irgendwo gellte ein Schrei. Stimmen riefen durcheinander, Befehle gellten — und im nächsten Moment schien auf dem Plateau die Hölle loszubrechen. 5. Philip Hasard Killigrew hatte sich schon eine Viertelstunde vorher davon überzeugt, daß die Schlucht, die das Plateau auf zwei Seiten umgab, beim besten Willen nicht zu überwinden war. Lautlos und vorsichtig glitt er durch das Gewirr der Felsblöcke zurück zu der Stelle, wo Al Conroy, Sam Roskill und die beiden Geusen warteten. Jan Joerdans hob fragend die Brauen. In den letzten Minuten waren sie wie selbstverständlich zum vertrauteren Du übergegangen: Männer, die der gleichen Gefahr trotzten, die sich kannten und wußten, daß sie sich blindlings aufeinander verlassen konnten. „Völlig aussichtslos“, berichtete Hasard knapp. „Eine Schlucht mit einem
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reißenden Fluß, unmöglich zu überqueren. Wenn ihr es euch selbst ansehen wollt ...“ „Nicht nötig.“ Joerdans' braune Augen verengten sich, er zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Also bleibt uns nichts übrig, als eine der Strickleitern zu benutzen.“ „Ja, sofern wir nicht versuchen wollen, durch die Felswand abzusteigen. Aber das geht nicht schnell genug, und die Basken haben Wachen aufgestellt. Sie können uns in aller Ruhe ein paar Steine auf den Kopf werfen und uns wieder einfangen.“ „Dreck!“ sagte Al Conroy überzeugt. „Natürlich Dreck! Aber wir haben keine Wahl. Am besten bleiben wir am Rand des Plateaus und versuchen, die Wachen an einer der Winden lautlos auszuschalten.“ Die anderen nickten nur. Sie wandten sich nach rechts, ums wieder an die Nordseite der Mesa zu gelangen. Zwischen Felsbrocken, Geröll und niedrigem Gestrüpp arbeiteten sie sich lautlos vorwärts. Noch hatten die Basken ihr Verschwinden nicht bemerkt, aber sie wußten, daß das nicht lange so bleiben würde. Fünf Minuten später war es soweit. Irgendwo vor ihnen stieß jemand einen schrillen Alarmschrei aus. Hasard glaubte, die sich überschlagende Summe des Schafhirten Guzo, zu erkennen, der bei seiner Wache am Feuer fest eingeschlafen war. Wahrscheinlich hatte er den Hammel anrennen lassen und war von seinen Kameraden aufgescheucht worden. Der erste Blick in die Mulde zwischen den Felsen mußte ihm gezeigt haben, daß die Gefangenen nicht mehr dort kauerten. Sein schriller Aufschrei war nur zu verständlich, denn auf Wache einschlafen, zählte zu den Todsünden, die vermutlich auch unter den baskischen Rebellen unnachsichtig bestraft wurden. Im Lager der Basken schien ein wahrer Hexenkessel auszubrechen. Hasard erkannte El Vascos Stimme, die Befehle auf Escuara brüllte. Die übrigen Männer schrien durcheinander, und zweimal krachte eine Pistole, vermutlich ein Signal für die Wächter am Rande des
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Plateaus. Der Seewolf preßte die Lippen zusammen. Jetzt, da sich die Basken in Alarmbereitschaft befanden, würde es schwer sein, unbemerkt an die Winden zu gelangen, die Posten auszuschalten und eine der Strickleitern hinunterzulassen. Aber sie hatten keine Wahl, sie mußten es versuchen - und die grimmigen Gesichter der Männer. verrieten, daß sie es wußten. „Weiter“, murmelte Hasard. Er ging voran, huschte von einem Felsblock zum anderen und hielt sich am Rand der Mesa, um den ausschwärmenden Basken nach Möglichkeit nicht in den Weg zu geraten. Wenn sie eine Chance haben wollten, mußten sie schnell sein. Der Seewolf hatte sich genau gemerkt, wo die Winden mit den Strickleitern angebracht waren. So lautlos wie möglich bewegten sie sich - darauf zu - und doch wußten sie alle fünf, daß sie es im Grunde nicht schaffen konnten. Um die Winde zu erreichen, mußten sie einen ausgedehnten freien Platz überqueren. Die beiden Wächter hatten Verstärkung erhalten. Vier, fünf Basken redeten in ihrem Eskuara auf sie ein und fuchtelten mit den Armen. Die Seewölfe und die beiden Geusen duckten sich in den Schatten der letzten Felsblöcke. Friso Eyck warf sein flachsfarbenes Haar zurück und tastete unwillkürlich nach der Goldmünze, die auf seiner Brust baumelte. „Erinnert mich an Leyden“, behauptete er. „Wir hatten nicht die leiseste Chance, und am Ende trieben wir die Spanier doch zu Paaren, weil sie ihrer Sache zu verdammt sicher waren.“ „Da wart ihr wohl alle dabei, was?“ fragte Hasard trocken. Jan Joerdans grinste. „Stimmt, Seewolf. Alle Land- und Wassergeusen, die Wilhelm von Oranien folgten. Allein hätte er das nie geschafft. Und ohne die Wassergeusen gäbe es keine freien Generalstaaten, das steht mal fest!“ Hasard lächelte. Er kannte die Geschichten, die sich um die Entsetzung der belagerten Stadt Leyden rankten, und er wußte, daß dieses Ereignis
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so legendär war, wie es in Zukunft vielleicht auch Drakes Cadiz-Unternehmen werden würde. Aufmerksam spähte der Seewolf zu der Winde hinüber und straffte die Schultern. „Also los“, sagte er knapp. „Hoffen wir, daß die Basken ihrer Sache auch ein bißchen zu sicher sind.“ Aber die baskischen Rebellen waren ihrer Sache durchaus nicht sicher. Bei dem Kampf in der Schenke hatten sie die Seewölfe und die Geusen kennengelernt. Sie waren wachsam, hielten Pistolen und Musketen schußbereit in den Fäusten, und es dauerte nur Sekunden, bis sie ihre Gegner entdeckten. Ein Schrei gellte. Die Basken fuhren herum, zwei, drei Pistolen krachten. Noch waren die Schüsse ungezielt, blindlings abgegeben, und die Kugeln rissen lediglich Splitter aus den Felsen. „Zwei Mann zu der anderen Winde!“ stieß Hasard hervor. „Los, Friso!“ schrie Jan Joerdans –und die beiden Geusen warfen sich sofort herum und wechselten die Richtung. Es war die einzige Möglichkeit, die Basken zu verwirren und ihre Kräfte aufzusplittern. Hasard lief geduckt weiter. Al Conroy und Sam Roskill folgten ihm. In langen Sätzen jagten sie auf ihre Gegner zu und erreichten sie schneller, als die Musketenschützen ihre Waffen auf ein Ziel einschwenken konnten. Im langen Hechtsprung erwischte der Seewolf einen seiner Gegner, schlug ihm die Muskete aus den Fingern und schleuderte ihn seinen Komplicen entgegen. Der Bursche brüllte auf und ruderte verzweifelt mit den Armen. Irgendwo waren die Alarmschreie der Basken zu hören, die die beiden Geusen auf sich zustürmen sahen. Hasard, Al Conroy und Sam Roskill räumten blitzartig auf, und der Seewolf stürzte sich auf die Winde, um die Strickleiter hinunterzulassen. Die Männer aus dem Lager wandten sich prompt dorthin, wo Jan Joerdans und Friso Eyck jetzt für Wirbel sorgten.
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Geschrei brandete auf. Al und Sam schnappten sich die Waffen der bewußtlosen Basken, während Hasard immer noch die Winde herumwirbelte. Zwischen den Felsen war der flachsblonde Haarschopf von Friso Eyck zu sehen. Mit Sprüngen und blitzartigen Pendelbewegungen des Oberkörpers versuchte er, dem Degen eines angreifenden Basken auszuweichen. Sam Roskill stieß einen schrillen Pfiff aus, schleuderte einen kurzen zweischneidigen Säbel – und Friso Eyck fing die Waffe geschickt aus der Luft und ließ sie gegen die Degenklinge klirren. Eine Radschloß-Pistole krachte. El Vascos Stimme gellte und übertönte mühelos den Lärm. Seine Worte jagten Hasard einen Schauer über den Rücken. „Aufhören! Ich habe Joerdans! Wenn ihr euch nicht ergebt, kriegt er eine Kugel in den Schädel!“ „Hört nicht auf ihn! Ihr müßt ...“ Die Stimme des Geusenkapitäns entartete zu einem dumpfen Gurgeln. Kein Zweifel, daß es seinen Gegnern tatsächlich gelungen war, ihn zu überwältigen. Friso Eyck fluchte wild auf Holländisch. Aber er sprang zurück und senkte den Säbel - und auch die Seewölfe waren nicht bereit, kaltblütig Jan Joerdans' Leben zu opfern. Sie brauchten nur einen Blick, um sich zu verständigen. Eine echte Chance hatten sie ohnehin nicht mehr, das wußten sie alle. Al Conroy war blaß vor Wut, Sam Roskill knirschte erbittert mit den Zähnen. Achselzuckend ließ Hasard die Winde los und blickte den Basken entgegen, die sich vorsichtig mit schußbereiten Waffen näherten. Minuten später waren die Männer wieder gefesselt. Diesmal, das wußten sie, würden ihre Gegner doppelt vorsichtig sein und ihnen keine Gelegenheit mehr zur Flucht geben. * Ed Carberry, Ferris Tucker, Matt Davies und Pieter Ameland waren wie vom Teufel gehetzt durch das Felsengewirr gestürmt,
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bis sie wieder auf der Nordseite der Mesa anlangten. Jetzt kauerten sie in Deckung und starrten sich die Augen aus dem Kopf. Viel konnten sie nicht erkennen, da Felsen und Gestrüpp am Rand des Plateaus ihnen die Sicht versperrten. Aber das Wenige reichte aus, um sich ein Bild von der Lage zu verschaffen. Als die Strickleiter über die Kante geworfen wurde, hatten sie alle vier den Atem angehalten. Dabei wußten sie nur zu gut, daß ihre Kameraden keine wirkliche Chance hatten. Die Basken waren zu früh aufmerksam geworden. Pistolen und Musketen krachten, Klingen klirrten aufeinander und dann, auch am Fuß der Mesa deutlich zu verstehen, übertönte -El Vascos heisere Stimme den Lärm. „Himmel noch mal!“ knirschte Matt Davies. „Wenn sie jetzt aufgeben, ist die letzte Chance hin, dann ...“ „Die ist ohnehin beim Teufel“, knurrte Ferris Tucker. „Sobald sie in der Wand sind, kriegen sie ein paar Steine auf den Kopf oder werden einfach abgeschossen. Dafür lassen sie doch Joerdans nicht über die Klinge springen, Mann!“ Er behielt recht. Die jähe Stille verriet, daß sich die Männer dort oben ergeben hatten. Ferris Tucker atmete hörbar aus, und Edwin Carberry rieb sich mit dem Handrücken über sein Rammkinn. „Dreck!“ zischte er. „Diese abgetakelten Landratten haben sie eingesackt.“ „Und was tun wir jetzt?“ erkundigte sich Matt Davies. „Was wohl, du kalfaterter Drecksaffe? Wir müssen zurück! Irgendetwas wird uns schon einfallen, um dieses verdammte Rebellennest zu knacken.“ „Vielleicht sollten zwei von uns hierbleiben und aufpassen“, schlug Ferris Tucker vor. „Gute Idee. Du und Matt, klar? Schaut den Mistkerlen auf die Finger, aber paßt auf, daß sie euch nicht auch noch erwischen.“ „Sind wir blöd?“ fragte Tucker gereizt.
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„Sicher“, entgegnete Carberry ungerührt. „Übrigens solltet ihr die Pferde noch etwas besser verstecken. Können wir?“ Vorsichtig zogen sie sich zwischen die Felsen zurück und überquerten die Ebene bis zu der Stelle, wo sie die Tiere zurückgelassen hatten.' Ferris Tucker und Matt Davies führten ihre Pferde tiefer ins Gebüsch, Ed Carberry und Pieter Arneland schwangen sich in die Sättel. Noch einmal blickten sie zu dem Plateau, über dem fast unsichtbar die dünne Rauchfahne des Lagerfeuers schwebte. Dann nahmen sie die Tiere herum, lenkten sie in den Hohlweg, aus dem sie vorhin gekommen waren, und preschten eilig in Richtung auf die Küste. Ein Ritt von zwei Stunden lag vor ihnen. Und Ferris Tucker und Matt Davies würden sehr lange warten müssen, bis die Dinge wieder in Bewegung gerieten. 6. Auf der „Isabella“ stand die Stimmung auf Sturm, auch wenn niemand herumbrüllte und überhaupt eine ungewöhnliche Stille herrschte. Von der „Hoek van Holland“ waren einige der Geusen herübergepullt, als ein Teil des Spähtrupps mit der schwarzhaarigen glutäugigen Miranda Lleones zurückkehrte. Unter normalen Umständen hätten sich die Männer überschlagen, um so viel attraktive Weiblichkeit aus größtmöglicher Nähe betrachten zu können. Aber die Umstände waren nicht normal. Was Dan O'Flynn zu berichten hatte, schlug wie eine Bombe ein – und danach konnten auch dunkle Glutaugen, verführerische Lippen und schwellende Formen niemanden sehr beeindrucken. Ben Brighton scheuchte Bill in die Klippen hinauf, um Luke Morgan und Blacky ausrichten zu lassen, dass sie - zum Teufel noch mal – Wache halten und nicht dauernd zur „Isabella“ hinunterpeilen sollten. Daß Bill die beiden bei dieser Gelegenheit auch informierte, verstand sich von selbst. Noch einmal studierte der Bootsmann den Brief, der für den
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spanischen Hafenkommandanten bestimmt war, las ihn dann laut vor, und für ein paar Sekunden waren in der Stille nur das Glucksen der Wellen und das Knarren der Rahen und Blöcke zu hören. „Himmelarsch!“ flüsterte der hagere Gary Andrews. Batuti, der riesige Gambia-Neger, rollte furchterregend mit den Augen. „Ich machen Hackfleisch aus Basken-Teufeln! Picadillo!“ „Da soll doch dieser und jener dreinfahren!“ Old O'Flynn stampfte erbittert mit seinem Holzbein auf. „Diese Kerle sollen Donegal Daniel O'Flynn kennenlernen, denen haue ich mein Bein um die Ohren, daß es nur so raucht.“ „Zunächst mal müssen wir warten, bis Ed und die anderen zurück sind“, sagte Ben Brighton sachlich. „Wenn wir das Versteck der Basken kennen, haben wir schon halb gewonnen.“ Sein Blick wanderte zu der schwarzhaarigen jungen Frau, die am Schanzkleid der Stuhl stand. „Sie wissen, wo es ist, nicht wahr?“ fragte er auf Spanisch. Mirandas Augen flammten flüchtig auf. „Wollen Sie mich zwingen, meine Freunde zu verraten?“ „Das haben Sie schon getan“, sagte Ben Brighton. Er sprach ruhig und bedächtig wie immer, aber selbst in der Stimme dieses beherrschten Mannes vibrierte der Zorn. „Die Wassergeusen sind doch Ihre Freunde, oder? Außerdem wird Sie niemand zu etwas zwingen. Wir vergreifen uns nicht an Frauen.“ Miranda senkte den Kopf. Ihre Hände verschlangen sich ineinander, die schmalen Schultern zuckten. Die Männer schwiegen. Sie spürten, daß das Mädchen einen schweren Kampf mit sich ausfocht, und als Miranda schließlich wieder aufblickte, schimmerten Tränen in ihren Augen. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. „Ich wollte das alles nicht. Und - ich weiß auch, daß es nicht genügt, nur Worte zu machen. Wenn Sie mir Pergament und eine Feder geben, kann ich Ihnen den Weg aufzeichnen. Aber es wird nichts nutzen, genauso wenig, wie,
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es etwas nutzt, daß Ihre Freunde die Rebellen verfolgen. El Vascos Lager ist uneinnehmbar.“ Ben atmete aus. „Nicht einmal eine Festung ist uneinnehmbar“, sagte er entschieden. „Pete, hol das Schreibzeug!“ Pete Ballie, der Rudergänger, flitzte zum Schott des Achterkastells. Über' den Männern auf der Kuhl schien das Schweigen wie ein körperliches Gewicht zu lasten. Arwenack, der Schimpanse, war vor der drückenden Stimmung in den Großmars geflüchtet. Jeff Bowie polierte verbissen an seiner Hakenprothese herum, der Kutscher stand vor dem Kombüsenschott und schien vergessen zu haben, daß er in jeder Hand eine schwere eiserne Pfanne hielt. Die Zwillinge, die eben noch auf den Webleinen geschaukelt hatten, drängten sich dicht an Big Old Shane und stießen ihn verstohlen an. „Leute von Land haben unsere Leute gefangengenommen?“ radebrechte der kleine Hasard. Big Old Shane sah ihn prüfend an. Die blauen, hellwachen Augen der Jungen verrieten, daß sie eine ganze Menge mitgehört hatten, obwohl das Gespräch teilweise auf Spanisch geführt worden war. Der frühere Schmied von Arwenack seufzte und strich sich über seinen wilden grauen Bart. Er fand, daß es sich für zwei siebenjährige Kinder eigentlich gehört hätte, sorglos und unbekümmert zu spielen, statt mit den Problemen der Erwachsenen belastet zu werden. Aber die beiden Kerlchen waren viel zu aufgeweckt, als daß man die Wahrheit hätte vor ihnen verbergen können. Sie waren ihren Jahren voraus und hatten ihr Schicksal von klein auf selbst in die 'Hand nehmen müssen. Sie hatten ein Recht auf die Wahrheit. „Ja“, sagte Old Shane bedächtig. „Die Leute vom Land haben euren Vater und die anderen gefangengenommen.“ „Spanier?“ „Nicht Spanier. Basken ...“ In ruhigen, einfachen Worten erklärte Big Old Shane den beiden Jungen, wer diese Basken waren und was sie planten. Die
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Zwillinge hingen an seinen Lippen. Schließlich warf Philip sein schwarzes Haar zurück und spuckte über das Schanzkleid. „Verräter“, sagte er mit funkelnden Augen. „Ja, Verräter.“ „Wir - befreien.?“ „Wir werden es versuchen ...“ Shane zuckte mit den mächtigen Schultern und verstummte, weil Pete Ballie aus dem Achterkastell zurückgekehrt war. Miranda Lleones. benutzte die Nagelbank als Unterlage für die herausgerissenen Blätter aus dem Logbuch. Mit wenigen Strichen skizzierte sie die Küste, malte ein Kreuz in einiger Entfernung und zeichnete den Weg ein. „Das Lager liegt auf einem Plateau, einer Mesa“, sagte sie leise. „Man kann nur über Strickleitern hinaufgelangen. Zwei Seiten werden bewacht, die anderen sind völlig unzugänglich. Ein Fluß fließt dort durch die Schlucht, ein wilder Gebirgsstrom, den man unmöglich überqueren kann.“ Sie stockte und blickte auf. Als sie die ungläubigen Gesichter der Männer sah, begann sie wieder, Striche auf das vergilbte Papier zu werfen. Diesmal zeichnete sie, ungeschickt, aber deutlich erkennbar, die Mesa mit der Schlucht, durch die der Fluß strömte. Die Männer sahen ihr über die Schultern. Die Zwillinge hatten sich zwischen ihnen hindurchgeschlängelt, kauerten auf der Nagelbank und betrachteten ebenfalls neugierig die Zeichnung. „Basken dort?“ fragte Hasard und blickte zu Shane hoch, der hinter ihm stand. „Ja, dort stecken sie“, sagte der graubärtige Schmied grimmig. „Und es sieht verdammt so aus, als ob es schwierig würde, sie da anzugreifen.“ „Und wenn wir ein paar Enterhaken 'rüberschmeißen?“ fragte Smoky. „Das ist doch 'ne Kleinigkeit, wenn die Ecke nicht bewacht wird!“ Ben Brighton wiederholte die Frage auf Spanisch. Miranda schüttelte hilflos den Kopf. „Es geht nicht“, versicherte sie. „Die Felsen sind zu brüchig. El Vasco sagt, es
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gäbe keine einzige Stelle, an der ein Enterhaken das Gewicht eines Mannes tragen würde, ohne auszubrechen.“ Schweigen. Die Männer starrten auf die Zeichnung, sahen sich an und begannen dann, über das Problem zu debattieren. Auf Englisch - und deshalb dauerte es nicht lange, bis auch die Zwillinge begriffen hatten, um was es ging. Big Old Shane sah die Blicke, die sie tauschten, aber er dachte sich nichts dabei. Philip und Hasard hörten gespannt zu. Nach einer Weile beugte sich Philip zu seinem Bruder und flüsterte ihm etwas auf Türkisch ins Ohr. Hasard nickte nachdrücklich. Wieder wechselten sie einen bedeutsamen Blick, hörten weiter zu, und nach einer Weile zogen sie sich ein Stück zurück und begannen, miteinander zu flüstern. Als sich Big Old Shane nach ihnen umsah, waren sie im Achterkastell verschwunden. Der riesige Schmied zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hockten die Kinder in ihrer Kammer zusammen und veranstalteten eins ihrer endlosen türkischen Palaver. Er würde später nach ihnen sehen. Sicher hatten sie wieder hundert Fragen. Das Leben auf der „Isabella“ war immer noch neu für 'sie, es gab viele Dinge, die sie nicht oder nur halb verstanden. Die Sache mit dem englischen Kaperkrieg gegen Spanien, Drakes CadizUnternehmen -das hatte ihnen sofort eingeleuchtet, weil es für ihr kämpferisches Temperament ganz selbstverständlich war, daß man dem drohenden An-. griff eines Feindes nach Möglichkeit zuvorkam. Aber was die Spanier in den Niederlanden zu suchen hatten, warum die Basken keine Spanier sein wollten, was Katholiken und Protestanten veranlaßte, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, das würden sie wohl so schnell nicht begreifen, und es war ja auch etwas, das zu verstehen selbst einem Erwachsenen oft schwerfiel. Shane schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf das Problem,
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das Mirandas Zeichnungen aufgeworfen hatte. Er ahnte nicht, daß sich die Zwillinge in ihrer Kammer mit genau dem gleichen Problem beschäftigten. Und erst recht ahnte er nichts von den Plänen, die da in erregtem Flüsterton auf Türkisch besprochen wurden. Philip und Hasard hatten eine ganz bestimmte Idee, und da sie von Natur aus nicht ängstlich veranlagt waren, gefiel ihnen diese Idee immer besser, je länger sie darüber sprachen. Auf der Kuhl schwirrten inzwischen die abenteuerlichsten Vorschläge durcheinander. Vorschläge, die sich einer nach dem anderen als undurchführbar entpuppten.. Nicht einmal Old O'Flynn hatte etwas aus seinem reichen Erfahrungsschatz zu bieten, denn in eine ähnliche Situation war selbst die sagenhafte „Empreß of the Sea“ nie geraten. „Wir müssen uns die Sache selbst ansehen“, sagte Ben Brighton schließlich. „Oder zumindest abwarten, was Carberry und die anderen zu berichten haben. Ich schlage vor ...“ „Isabella –ho!“ unterbrach ihn eine Stimme vom Rand der Klippen. Luke Morgan stand zwischen den Felsen und schwenkte die Arme. Ein paar Minuten später tauchten Reiter am Klippenrand auf. Deutlich waren Ed Carberrys breites Kreuz und das blonde Haar von Pieter Ameland zu erkennen, und die Männer an Bord wären beinahe in ein wildes Begrüßungsgeheul ausgebrochen, wenn Ben Brighton sie nicht gebremst hätte. Jetzt endlich würde es weitergehen und die Sache in Schwung geraten. Das glaubten sie jedenfalls. Denn aus der Entfernung konnten sie nicht sehen, daß die Gesichter ihrer Kameraden alles andere als optimistisch waren. * Die Mittagssonne prallte auf die roten Felsen der Mesa.
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Zwischen den verstreuten Felsbrocken herrschte die Hitze eines Backofens. Dürres Gestrüpp und ein paar Riesendisteln spendeten etwas Schatten, aber die Gefangenen waren trotzdem von Kopf bis Fuß in Schweiß gebadet. Fünf bis an die Zähne bewaffnete Basken hockten ihnen gegenüber im Schatten einer Felswand und ließen sie nicht aus den Augen. Sie versuchten es jedenfalls. Aber irgendwann, davon war der Seewolf überzeugt, würde auch die Aufmerksamkeit dieser Männer erlahmen. Vor allem, da sie sich handgreiflich und nicht gerade fair für den Fluchtversuch, revanchiert hatten und inzwischen der Ansicht waren, daß ihren Gefangenen ganz einfach die Kraft für weitere Eskapaden fehlte. Jan Joerdans und Friso Eyck verstanden genug Eskuara, um die Gespräche einigermaßen verfolgen zu können. Beide lagen ausgestreckt im trockenen Gras, genau wie Hasard, Sam Roskill und Al Conroy. Der Seewolf hatte sich, unerschüttert von der Vergeblichkeit des ersten Versuchs, halb über einen Stein gewälzt, der schmerzhaft gegen seine Gelenke drückte, obwohl er bedauerlich wenig scharfe Kanten aufzuweisen hatte. Vermutlich war es ohnehin sinnlos, etwas zu unternehmen, da alles dafür sprach, daß die Basken regelmäßig die Fesseln kontrollieren würden. Aber Philip Hasard Killigrew hielt es nun einmal mit der Weisheit, daß man erst aufgeben sollte, wenn es wirklich aus war, und das hatte ihn schon mehr als einmal aus einer kritischen Lage gerettet. Neben ihm übte sich Jan Joerdans in der Kunst, fast ohne Lippenbewegung zu sprechen. „Die halten uns für völlig geschafft“, flüsterte. er. „Sie überlegen sogar schon, ob wir es auf diese Art noch länge durchhalten werden.“ „Ach du liebe Zeit“, murmelte Hasard, ebenfalls ohne die Lippen zu bewegen. „Aber vielleicht ist das gut so. Sam, stöhn mal ein bißchen, um sie abzulenken.“
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„Stöhnen? Ich?“ empörte sich Sam Roskill. „Den Teufel tue ich! Eher beiße ich mir die Zunge ab und ...“ „Du stöhnst“, bestimmte Hasard. „Das ist ein Befehl, verdammt!“ Sam nuschelte etwas, das ziemlich rebellisch klang, aber er ließ es nicht laut werden. Stattdessen gab er ein dumpfes Ächzen von sich. Ein verblüffend gelungenes Ächzen, aber das lag vielleicht daran, daß ihm Hasards unbilliges Ansinnen tatsächlich auf den Magen schlug. Die Basken konzentrierten sich automatisch auf den stöhnenden Mann. Der Seewolf fluchte leise, hob - scheinbar mühsam den Kopf und nutzte die Gelegenheit, um ein paarmal kräftig an den Fesseln zu zerren, ohne daß es den Bewachern auffiel. „Sagtest du etwas von ,verdammtem Gestöhne’, Sir?“ zischte Sam, nachdem er zu der Ansicht gelangt war, daß er vorerst genug geächzt hatte. „Sagte ich. Aber nur um die Basken abzulenken, also beruhige dich, klar? Ich kann die Fesseln kein zweitesmal durchscheuern, wenn die Kerle jede meiner Bewegungen beobachten.“ „Und was hast du davon, wenn du die Fesseln loswirst?“ fragte Jan Joerdans gedehnt. „Es nutzt noch nichts. Selbst wenn wir es alle fünf schaffen, was völlig ausgeschlossen ist, haben uns die Burschen in Nullkommanichts wieder auf Nummer sicher.“ „Klar. Wir wollen's ja auch gar nicht alle fünf schaffen.“ Hasard ließ scheinbar erschöpft den Kopf zur Seite sinken und spähte zu den Basken hinüber. „Irgendwann werden sie aufhören, wie die Schießhunde aufzupassen. Ich hoffe, daß es mir gelingt, mich unbemerkt seitwärts in die Büsche zu schlagen.“ „Und dann? Willst du das ganze Rebellennest im Alleingang stürmen?“ „Genau“, sagte Hasard ungerührt. „Und zwar, indem ich El Vasco sein Messer klaue, um es ihm an die Kehle zu setzen, versteht sich. Sonst noch Fragen?“ Jan Joerdans lächelte.
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Ein kurzes scharfes Lächeln der Anerkennung. „Könnte klappen“, sagte er gedehnt. „Allerdings müssen wir uns dann schon schwer anstrengen, um die Burschen einzulullen. Im Augenblick stellen sie sich noch an, als müßten sie einen Sack Flöhe hüten.“ „Das gibt sich hoffentlich. Für die Fesseln brauche ich ohnehin ein paar Stunden. Sam?“ Sam Roskill verdrehte die Augen und stöhnte. Genau das war es, wozu der Seewolf ihn hatte auffordern wollen. Wenn er es freiwillig tat, umso besser. 7. Aufmerksam spähten die Zwillinge durch das halb geöffnete Schott des Achterkastells. Auf der Kuhl der „Isabella“ schwirrten erregte Stimmen durcheinander. Die Männer, mit Ausnahme der Ankerwachen, hatten sich drüben am Backbordschanzkleid versammelt und umstanden Ed Carberry und Pieter Ameland, die abwechselnd berichteten. Niemand achtete im Augenblick auf die beiden Jungen. Das Boot, mit dem Carberry und der Holländer herübergepullt waren, lag immer noch unten an der Jakobsleiter vertäut. „Alles klar?“ fragte Hasard junior auf Türkisch. „Alles klar“, gab der kleine Philip flüsternd zurück. „Dann los! Du zuerst! Ich passe auf, bis du unten bist.“ Sie nickten sich zu. Immerhin waren sie schlau genug um nicht übervorsichtig zur Jakobsleiter hinüberzuschleichen, sondern ganz normal ins Freie zu schlendern, die Hände in den Taschen vergraben, scheinbar absichtslos. Wer genau hingesehen hätte, dem wären allenfalls die betont unschuldigen Gesichter aufgefallen, die die beiden schnitten. Aber die Männer standen alle drüben auf der Backbordseite und
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konzentrierten sich voll auf das, was Pieter Ameland und der Profos zu berichten hatten. Die Zwillinge waren schon nach wenigen Schritten im Schatten des Großmasts verschwunden. Die Ankerwachen richteten ihre Aufmerksamkeit ebenfalls auf die erregt diskutierenden Männer. Luke Morgan und Black auf ihrem Beobachtungsposten in den Klippen hatten nicht auf die Bucht, sondern auf eventuelle Gefahren von der Landseite her zu achten. Niemand bemerkte die kleine, drahtige Gestalt, die sich über das Schanzkleid schwang, an der ausgebrachten Jakobsleiter abenterte und lautlos in dem sacht dümpelnden Beiboot landete. Hasard junior warf noch einen prüfenden Blick zur Backbordseite hinüber, vor allem auf Big Old Shane und Ben Brighton, die sonst ihre Augen überall hatten. Aber jetzt waren selbst sie abgelenkt, und Hasard folgte seinem Bruder mit den gleichen geschmeidigen, akrobatisch geschickten Bewegungen. Nur etwas langsamer war er. Das lag an dem langen, starken Tau, das er sich um den Leib geschlungen hatte, und an dem schweren Enterhaken, der seinen Gürtel nach unten zog. Das Boot schaukelte, als er hineinglitt und den Sprung in den Knien federnd abfing. Philip hatte bereits die Vorleine gelöst. Für ein paar Sekunden lauschten die beiden Jungen mit gespannten Sinnen, dann setzten sie sich nebeneinander auf die Ducht, griffen nach den Riemen und begannen, vorsichtig zu pullen. Fast lautlos glitt das kleine Boot über das Wasser der Bucht. Auch jetzt bemerkte niemand, was vorging. Hasard und Philip grinsten sich an, und ihre eisblauen Augen, die so sehr denen des Seewolfes glichen, funkelten triumphierend. Ein paar Minuten später hatten sie die Klippen erreicht. Philip sprang auf die Brandungsplatte und belegte die Vorleine an einem Felsstück, Hasard kletterte ebenfalls aus dem Boot. Aufmerksam spähte er nach oben, dann zu
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den beiden Galeonen, die in der Bucht ankerten, doch weder auf der „Isabella“ noch auf der „Hoek van Holland“ war etwas von ihrer heimlichen Aktion bemerkt worden. Die beiden Jungen tauchten mit wenigen Schritten in den Schatten der Brandungskehle, huschten geduckt weiter und folgten ein Stück dem Verlauf der Bucht, bevor sie den Aufstieg durch das Kliff begannen. In beruhigender Entfernung von Luke Morgan und Blacky erreichten sie die Hochfläche. Zwischen sonnendurchglühtem Geröll, niedrigen Krüppelkiefern und Dornengestrüpp verharrten sie sekundenlang, und wieder wechselten sie einen funkelnden Blick des Einverständnisses. „Klappt wie am Schnürchen“, sagte Philip auf Türkisch. „Klar“, bestätigte Hasard. Und dann verfiel er ins Englische, weil er den von Carberry aufgeschnappten Satz nicht so recht in die andere Sprache übersetzen konnte: „Auf sie mit Gebrüll! Den Rübenschweinen zeigen wir schon, woher der Wind weht!“ * „Ein Baum!“ sagte Old O'Flynn durch die Zähne. „Irgendwo an dem verdammten Rand von dem verdammten Plateau wird doch wohl ein gottverdammter Baum stehen, oder?“ Er sah sich kampflustig um, als sei er entschlossen, jeden einzelnen Mann für den mangelnden Baumbestand einer spanischen Mesa persönlich zur Rechenschaft zu ziehen. Donegal Daniel junior gab die Frage auf Spanisch an Miranda Lleones weiter. Sie stand ; immer noch mitten unter den Männern, mit blassem, angespanntem Gesicht, und bemühte sich, alle Fragen zu beantworten. Nein, am Rand der Mesa gab es keinen Baum, dessen Stamm oder Äste einen Enterhaken hätten tragen können. Und Büsche? Dürres Dornengestrüpp, mehr nicht. Und brüchige Felsen. El Vasco wußte, was er tat. Er ließ die Westseite des
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Plateaus nicht aus Leichtsinn unbewacht, sondern weil er sicher war, daß aus dieser Richtung keine Gefahr drohen konnte. „Wir haben's versucht“, knurrte Pieter Ameland. „Es geht einfach nicht. Es ist unmöglich.“ „Also keine Chance?“ „Und die Nordseite? Diese Felswand?“ „Ja, was ist mit der Felswand?“ „Hab ich doch schon gesagt“, knurrte Carberry. „Wohl Kastanien auf den Ohren, was, wie?“ „Und wenn ich es versuche?“ meldete sich der Schiffsjunge Bill, der schon die ganze Zeit über zappelig vor Ungeduld darauf gewartet hatte, etwas zu sagen. „Du?“ brummte der Profos. „Glaubst du Wanze vielleicht, du kannst es besser als wir?“ „Ich bin leichter“, beharrte Bill. „Vielleicht trägt ein Enterhaken mein Gewicht, wenn wir ihn an einer günstigen Stelle verankern und ...“ „Nein“, sagte Pieter Ameland entschieden. „Das klappt nicht. Das könnte höchstens euer Schimpanse schaffen.“' „Und wie sollen wir dem Affen erzählen, daß er mit dem Tau um einen Felsblock herumrennen und zurückkehren muß?“ fragte Smoky. „Arwenack kapiert das schon“, behauptete Bill. „Glaube ich auch“, sagte Dan nachdenklich. „Auf jeden Fall können wir es auf der Nordseite versuchen, ohne daß die Basken uns sofort bemerken, oder?“ Ed Carberry und Pieter Ameland nickten einhellig. Es war ein verrückter Plan, aber es war tatsächlich die einzige Möglichkeit, die sie sahen. Eine Weile debattierten sie noch das Für und Wider, doch da sie im Grunde gar keine Wahl hatten, stimmten sie schließlich überein, so schnell wie möglich aufzubrechen. „Ich schlage vor, wir lassen je fünf Mann Wache zurück“, sagte Ben Brighton. „Wenn wir noch einen Mann von der Klippe abziehen, müßte das so eben reichen. Für den Fall, daß die Spanier uns hier entdecken, meine ich.“
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„Dann sind wir sowieso im Eimer“, prophezeite Smoky düster. „Quatsch! Jeder, der in die Bucht einlaufen will, kassiert sofort eine volle Breitseite.“ „Und wenn sie von oben auftauchen und uns etwas auf den Kopf werfen?” meldete sich Dan O'Flynn. „Feuertöpfe zum Beispiel?“ Ben kniff die Augen zusammen. „Stimmt“, sagte er gedehnt. „Also doch zwei Mann in die Klippen. Oder besser vier.“ „Ich schicke noch zwei Mann hinauf“, erbot sich Pieter Ameland. „Wann brechen wir auf? Sofort?“ „Sofort“, bestätigte Ben Brighton knapp. „Also los! Pullen wir zur ,Hoek van Holland' und ...“ Er unterbrach sich. Drei, vier von den Männern waren bereits ans Steuerbord-Schanzkleid getreten, jetzt winkten sie aufgeregt herüber. Ben Brighton fegte mit wenigen Sätzen quer über die Kuhl, blieb an der Jakobsleiter stehen und blickte starr hinunter. „Das Boot“, sagte er tonlos. „Wo, zum Teufel, ist das zweite Boot geblieben?“ An der Jakobsleiter war nur noch das große Boot vertäut, mit dem die Männer der „Hoek van Holland“ herübergepullt waren. Das kleinere Beiboot der „Isabella“ fehlte und als Ben sich, umsah, konnte er es am Rand der Bucht im seichten Wasser dümpeln sehen. „Verdammt und zugenäht!“ röhrte Carberry. „Welcher Affenarsch ist mit unserem Boot an Land gepullt und ...“ „Wir sind vollzählig, Ed“, sagte Brighton tonlos. „Wir auch.“ Pieter Ameland runzelte die Stirn und sah sich um. „Godverdomme, was . „Die Kinder!“ Big Old Shanes Baß klang noch rauher als sonst, als er das hervorstieß. Die Seewölfe wechselten verwirrte Blicke und spähten zum Land hinüber in der vergeblichen Hoffnung, zwischen den sonnendurchglühten Felsen etwas zu entdecken. Big Old Shane war bereits herumgefahren, stürmte quer über die Kuhl
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und verschwand mit langen Schritten im Achterkastell. Zwei Minuten später war er wieder da, mit blassem Gesicht und ratlosen Augen. „Weg“, sagte er tonlos. „Was heißt das, weg?“ stieß Ed Carberry durch die Zähne. „Sie sind weg, verdammt! Die Zwillinge sind heimlich von Bord gegangen. Mit dem dreimal verdammten Boot, das ihr Idioten an der Jakobsleiter habt dümpeln lassen, satt es ordnungsgemäß hochzuhieven und ...“ Er verstummte abrupt. Natürlich wußte er, daß er Arneland und dem Profos Unrecht tat. Aber im Augenblick war nicht einmal Ed Carberry in der Stimmung, lautstark zu protestieren. „Das gibt's doch. nicht“, murmelte er. „Himmelarsch, wieso denn? Warum sollten die Satansbengel denn von Bord gehen? Die haben's doch inzwischen aufgegeben, ausreißen zu wollen - oder?“ „Natürlich haben sie's aufgegeben“, fauchte Old Shane. „Aber sie sind weg, oder? Und das Boot liegt da drüben, oder? Also müssen sie ja wohl an Land gegangen sein und ...“ „Die verdammte Enterhaken-Geschichte“, sagte Dan O'Flynn leise. „Wie? Was? Was meinst du?“ Die Fragen prasselten gleich im Dutzend. Dan O'Flynn biß sich hart auf die Lippen und sah von einem zum anderen. „Wir haben die ganze Zeit über davon geredet, daß wir diese Schlucht nicht überwinden können“, sagte er. „Und zwar, weil die Felsen so morsch sind, daß die Enterhaken das Gewicht eines Mannes nicht tragen - eines Mannes! Kapiert ihr jetzt endlich?“ „Hölle und Verdammnis“, flüsterte Ben Brighton, der sonst ziemlich selten fluchte. „Ihr glaubt, die beiden Jungen wollen versuchen, die Schlucht zu überqueren?“ fragte Pieter Ameland ungläubig. „Was sonst?“ Dans Stimme klang heiser. „Mumm genug haben sie dafür, das wissen wir alle. Und sie können auf dem Seil tanzen, das wissen wir auch, sie haben bei
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einer Gauklertruppe als Akrobaten gearbeitet.“ „Stimmt“, sagte Old O'Flynn. „Das sind ganz ausgefuchste Teufelchen, sind das. Wenn ihr mich fragt, schaffen die das sogar und ...“ „Bist du verrückt?“ donnerte Big Old Shane. „Sie sind Kinder! Sie sind sieben Jahre alt! Sie können doch die Gefahr überhaupt nicht abschätzen.“ „Immerhin können sie wahrscheinlich beurteilen, ob ein Enterhaken hält, oder ob er nicht hält“, sagte Dan O'Flynn, der sich wieder etwas gefaßt hatte. „Außerdem sind sie noch nicht lange weg, also werden wir sie mit ziemlicher Sicherheit einholen, wenn wir sofort losmarschieren. Allerdings dürfen wir dann nicht noch eine Stunde diskutieren, soviel steht fest.“ Dem war nichts mehr hinzuzufügen. Allenfalls noch die Flüche und Drohungen, die Ed Carberry über die Männer hereinbrechen ließ. Aber dem Profos ging es vor allem darum, dem Schrecken Luft zu verschaffen, der ihm in die Glieder gefahren war. Denn anzutreiben brauchte die Crew in dieser Situation wirklich niemand. Es dauerte keine zehn Minuten, bis die Seewölfe und die Geusen von der „Hoek van Holland“ abmarschbereit waren. Die beiden abgetriebenen Saumpferde mitzunehmen, hatte keinen Sinn, die mußten sich erst erholen. Den Männern blieb nichts übrig, als zu marschieren. Es würde ein langer, anstrengender Weg werden, aber sie trösteten sich mit dem Gedanken, daß es schließlich nicht so schwierig sein konnte, zwei siebenjährige Jungen einzuholen, und wenn die noch so schnelle Beine hatten. Niemand von ihnen zweifelte daran. Aber das bewies nur, daß Sie die Söhne ihres Kapitäns eben doch nicht gut genug kannten. * Um dieselbe Zeit hockten die Zwillinge auf dem untersten Ast einer Korkeiche und
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spähten zu dem wesen hinüber, das vor ihnen in einer kleinen Senke lag. Es war das Anwesen eines spanischen Pferdehändlers. Und es lag etwas abseits von der Route, die die Zwillinge eigentlich hätten einschlagen müssen. Aber sie waren schließlich nicht von gestern und hatten sich nicht umsonst durch die halbe Levante und das ganze Maghreb geschlagen. Daß man ihr Verschwinden über kurz oder lang entdecken würde, wußten sie. Daß die „Isabella“-Crew dann wie besessen hinter ihnen herjagen würde, war ebenso klar. Und daß sich die Seewölfe bei dieser Gelegenheit mit einem wütenden Pferdehändler in die Haare gerieten, der ihnen die Spanier auf den Hals hetzten konnte, wollten Philip und Hasard tunlichst vermeiden. „Feine Tiere“, sagte Hasard und betrachtete das geräumige Gattergeviert neben dem Wohnhaus und den Stallungen. „Zu viele“, meinte Philip sinnend. „Wieso? Wenn wir die beiden schnellsten nehmen und die anderen auf und davon jagen, sind wir schon weg, ehe diese Dons überhaupt wachwerden.” „Da hast du recht, verdammich“, stimmte Philip zu. Wobei er das „Verdammich“ auf Englisch in seinen sonst türkischen Satz einflocht. „Verdammich“, „verdammt und zugenäht“ und „verfluchter Wind“ waren schließlich die wichtigsten und gebräuchlichsten Worte der englischen Sprache, wie an Bord der „Isabella“ tagtäglich bewiesen wurde. „Also los“, sagte Hasard. „Ich glaube, wir nehmen am besten die beiden Grauen, die sehen schnell aus.“ Philip nickte nur. Geschmeidig sprangen sie von dem Baum, duckten sich ins hohe Gras und glitten wie leibhaftige Schlangen die Hügelflanke hinunter. Auf dem Gehöft des Pferdehändlers herrschte mittägliche Siesta. Aus einem der kleinen, tiefen Fenster drangen rhythmische Schnarchgeräusche. Die Zwillinge sahen sich an und grinsten. Nur noch ein paar Yards trennten sie von dem Korral.
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„Hopp-hopp, du Rübenschwein!“ feuerte Hasard in bester Carberry-Manier seinen Bruder an. „Klar Schiff zum Gefecht!“ stimmte Philip zu, schnellte hoch und erreichte mit wenigen Schritten das Gattertor: Was dann folgte, lief so schnell und präzise ah wie ein vielfach trainiertes Manöver. Die Pferde waren daran gewöhnt, daß das Gatter geöffnet wurde, um sie auf die offene Weide zu lassen. Wer das schwere Tor auf wuchtete, interessierte sie nicht. Brav galoppierten sie aus dem Korral. Hasard und Philip brauchten nur noch links und rechts von dem Tor Aufstellung zu nehmen, um auf die beiden schlanken, hochbeinigen Grauen zu warten. Der Rest war ein Kinderspiel. Jedenfalls für zwei Jungs, die eine gründliche akrobatische Ausbildung genossen und in ihrem Leben schon mehrmals Gelegenheit gehabt hatten, auf arabischen Vollblut-Hengsten zu reiten. Wie Springteufelchen schnellten die Zwillinge hoch, krallten sich in die Mähnen der ausgewählten Tiere - und saßen im nächsten Moment auf den Pferderücken. Sättel brauchten sie nicht. Die Tiere bockten ein bißchen, wieherten und schnaubten protestierend, doch sie merkten schnell, daß sie die Kletten auf ihrem Rücken nicht abschütteln konnten. Die „Kletten“ verstanden sich auch durchaus darauf, ein Pferd dahin zu lenken, wohin sie es haben wollten. Die beiden Grauen lösten sich widerstandslos aus dem Pulk und fegten im gestreckten Galopp auf den Weidezaun zu. Spanische Flüche ertönten, in der Tür des Hauses erschien ein dicker Mann in einem langwallenden Nachtgewand und einer grotesken Zipfelmütze und fuchtelte mit den Armen. Irgendwo brüllten Stimmen durch- einander, aber bevor der Pferdehändler und seine Leute überhaupt begriffen, was ihnen geschah, hatten die Zwillinge ihre Beutetiere schon dazu gebracht, mit elegantem Sprung über den Zaun zu setzten. Wie die wilde Jagd ging es weiter.
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Die beiden Jungen hingen tatsächlich wie Kletten auf den Pferderücken, ihre schwarzen Haare flatterten mit den grauen Mähnen um die Wette, ihre blauen Augen blitzten. Die' Tiere streckten sich unter ihnen und schienen froh zu sein, einmal wieder nach Herzenslust laufen zu können, ohne von Zäunen und Gattern beengt zu werden. In langem, raumgreifendem Galopp preschten sie den Hang hinauf und erreichten die Hügelkuppe. Das wilde Bergland dehnte sich vor ihnen. Philip stieß einen jubelnden, anfeuernden Schrei aus, als er seinem Pferd den Kopf freigab und sich weit nach vorn über den straffen Hals beugte. Hasard folgte seinem Beispiel. Mit leuchtenden Augen jagten sie dahin, geschmeidig jeder Bewegung folgend, als seien sie mit den Pferderücken verwachsen. Erst nach einer Weile griffen sie wieder in die flatternden Mähnen und nahmen die Tiere zurück. Ein Blick über die Schulter zeigte ihnen, daß keine Verfolger in Sicht waren. Die Spanier brauchten eine Weile, um ihre Pferde einzufangen und zu satteln, und als sie endlich über dem Hügel erschienen, war von den Zwillingen nichts mehr zu sehen. Den Bach, durch den sie ihre Beutepferde trieben, hatten sie sich schon vorher ausgesucht. Danach führten sie die Tiere eine Weile über harten Felsen, auf dem keine Spuren zurückblieben. Und als sie wieder aufsaßen und weiterritten, jetzt in leichtem, gleichmäßigem Galopp, waren sie sicher, alle eventuellen Verfolger abgeschüttelt zu haben. Daß sie ihre Reittiere schlicht geklaut hatten, focht sie nicht an. Es waren spanische Pferde. Der Diebstahl war die Fortsetzung des Kaperkrieges mit anderen Mitteln. Philip und Hasard fühlten sich ganz als zukünftige Korsaren, die ihren ersten Raid durchgeführt hatten. 8.
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Am Nachmittag wurden die fünf Basken abgelöst, die die Gefangenen bewachten. Die neuen Aufpasser waren ausgeruhter, aber nicht aufmerksamer als ihre Vorgänger. Die Gefangenen hatten sich nicht gerührt und lagen schlaff im Gras, scheinbar völlig erschöpft. Daß der Seewolf die Gelegenheit nutzte, um seinen Platz etwas näher an einen hochragenden Felsblock zu verlagern, fiel niemandem auf. Für Sekunden stockte Hasard der Atem, während er den Wachwechsel beobachtete, doch die Basken hielten es nicht für nötig, die Fesseln ihrer Opfer zu kontrollieren. Einer von ihnen trat herüber und warf einen kurzen Blick auf die Männer, die die Augen geschlossen hielten oder apathisch ins Leere starrten. Verächtlich verzog er die Lippen und stieß Al Conroy mit dem Fuß an, dann zog er sich wieder zu den anderen zurück. Nur noch zwei von den Männern hielten ihre Musketen schußbereit über den Knien. Die drei übrigen kauerten sich im Kreis um einen flachen Stein und begannen irgendein Glücksspiel mit dünnen, verschiedenfarbigen Holzstäbchen. Zur Abwechslung spielte Hasard selbst denjenigen, der stöhnte. Dabei wälzte er sich hin und her, krümmte sich ächzend und brachte seinen Oberkörper in den Sichtschutz des Felsens. Al Conroy murmelte Flüche, Sam Roskill holte tief Luft und hob mühsam den Kopf. „Ihr verdammten Schweine!“ schrie er krächzend. „Wollt ihr uns hier in der Sonne verrecken lassen?“ „Habt ihr Durst?“ fragte einer der Basken höhnisch. Es war der Bursche, der Al Conroy getreten hatte. Allerdings konnte man ihm eine gewisse Rachsucht nicht verdenken: bei dem ersten Ausbruchsversuch der Gefangenen hatte er eine mächtige Beule davongetragen. Auch Jan Joerdans sprang über seinen Schatten. „Wasser“, jammerte er herzergreifend. „Wasser! Ich verdurste ...“
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„Meinetwegen“, sagte der Baske kaltschnäuzig. „Nun gib ihnen schon was zu saufen!“ fauchte einer seiner Genossen. „Das Gewinsel geht mir allmählich auf die Nerven.“ Achselzuckend erhob sich einer der Männer und kam mit der Ziegenhaut herüber, die ein Gemisch aus Wasser und Rotwein enthielt. Nacheinander erhielten die Gefangenen ein paar Schluck zu trinken, nacheinander ließen sie sich keuchend und ächzend ins Gras zurückfallen. Daß der Seewolf halb hinter dem Felsen lag, registrierte der Baske mit einem kurzen, prüfenden Blick, doch es erschien ihm offenbar unbedenklich. Die Bewacher dachten genau das, was sie denken sollten: Gefangene, die stöhnen, protestieren und um etwas jammern, hegen keine finsteren Pläne. Hasard brauchte noch eine halbe Stunde, um endgültig die Stricke an seinen Gelenken durchzuscheuern. Was die Wächter taten, konnte er jetzt nicht mehr sehen, aber Jan Joerdans informierte ihn im Flüsterton. Drei Mann spielten immer noch mit ihren Holzstäbchen. Von den beiden anderen döste einer vor sich hin und schlief schließlich ein. Sein Kumpan ließ ihn in Ruhe, da er offenbar fand, daß ein Mann völlig genüge, um die reglosen, apathischen Gefangenen im Auge zu behalten. Eine weitere Viertelstunde passierte überhaupt nichts. Dann schien der Musketenmann ein menschliches Bedürfnis zu verspüren. Er stieß seinen schlummernden Nachbarn an. Der fuhr erschrocken auf, rieb sich die Augen und nickte, als sein Kumpan etwas zu ihm sagte. „Der Musketenmann schlägt sich seitwärts in die Büsche“, berichtete Jan Jordans. „Bei den Spielern scheint es gerade spannend zu werden.“ „Und der fünfte?“ fragte Hasard flüsternd. „Gähnt! Eine halbe Minute gebe ich ihm, dann ist er wieder eingenickt.“ „Hoffentlich macht der andere schön langsam“, brummte Al Conroy.
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„Hoffentlich.“ Joerdans grinste hart. „Nun schlaf schon, Junge! Ja, richtig - jetzt! Jetzt kann es klappen!“ Hasard richtete sich ruckartig hinter dem Felsen auf. Blitzschnell zog er die Beine an, zerrte an den Knoten der Fußfesseln und knüpfte sie im Rekordtempo auf. Jan Joerdans beobachtete die baskischen Wächter mit angehaltenem Atem. Binnen Sekunden hatte Hasard es geschafft, zog eilig seine Stiefel aus und schlang die Stricke wieder um das glatte Leder. „Schnell!“ zischte Joerdans. „Der Musketenmann kehrt zurück.“ Hasard schob die aneinandergebundenen Stiefel dorthin, wo vorhin seine Beine gelegen hatten. Drüben im Schatten der Felswand ruckte der Kopf des schläfrigen Basken hoch. Sein Kumpan zischte ihm ein paar Flüche auf Eskuara zu. Prüfend blickte er zu den Gefangenen hinüber, doch von denen hatte sich offenbar niemand auch nur von der Stelle gerührt. Der Musketenmann setzte sich wieder hin, und auch sein müder Kollege straffte sich offenbar entschlossen, jetzt wachzubleiben. „Sie schlucken es!“ flüsterte Joerdans mit einem triumphierenden Unterton. „Sie fühlen sich völlig sicher. So schnell verfallen sie bestimmt nicht auf die Idee, daß sie ein Paar leere Stiefel bewachen.“ Der Seewolf grinste. „Bis später“, murmelte er, wandte sich lautlos ab und verschwand auf Strümpfen im tiefen Schatten zwischen den Felsen. * Um dieselbe Zeit zerrte Hasard junior kräftig an der flatternden grauen Mähne seines Pferdes. „Halt!“ zischte er auf Türkisch. „Da drüben ist es! Wenn wir weiterreiten, entdecken sie uns.“ Auch Philip brachte sein Tier zum Stehen. Wie ein Klammeraffe kauerte er auf dem Pferderücken, seine Rechte klopfte mechanisch den straffen, glänzenden Hals.
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„Und wenn wir einen Bogen schlagen?“ fragte er. „Zu gefährlich. Ferris und Matt sind irgendwo in der Nähe, vergiß das nicht.“ „Könnten sie uns nicht helfen?“ „Ha! Die würden sagen, daß wir kleine Kinder seien und hier nichts zu suchen haben. Sie würden Uns nicht erlauben, etwas zu riskieren.“ Er legte eine Pause ein und runzelte heftig die Stirn. „Warum muß man eigentlich erst erwachsen sein, um etwas riskieren zu dürfen, das möchte ich wirklich mal gern wissen.“ Philip zuckte mit den Schultern. „Weil die meisten Kinder zu Hause bei irgendwelchen Müttern sitzen und nichts anderes kennen, denke ich. Wir fahren zur See, bei uns ist das etwas anderes. Also los! Wir müssen uns beeilen.“ Sie saßen ab, führten die Pferde in den Schatten und benutzten eine dünne Leine, um ihnen die Vorderläufe aneinander zu hobbeln. So konnten sie grasen, aber nicht weglaufen. Minuten später bewegten sich die beiden Jungen bereits lautlos und geschickt wie Katzen durch das Geröll der Ebene und schlugen einen weiten Bogen, um nicht zufällig auf Matt Davies und Ferris Tucker zu stoßen, die als Beobachtungsposten zurückgeblieben waren. Philip und Hasard brauchten zwanzig Minuten, um auf die Nordseite der Mesa zu gelangen. Bäuchlings schoben sie sich an die Schlucht heran und starrten eine Weile schweigend in den Fluß, der gischtend und brodelnd gegen die Felswände toste. Das Brausen der Wassermassen dröhnte in den Ohren, selbst hier oben war die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt. Der Anblick wirkte beängstigend und weckte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, aber nach den Stürmen, die sie auf der „Isabella“ erlebt hatten, wußten die Zwillinge mit solchen mulmigen Gefühlen ganz gut fertig zu werden. Aufmerksam spähten sie zum gegenüberliegenden Rand der Schlucht. Nach einer Weile waren sie sicher, daß dort wirklich niemand Wache ging. Als sie
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sich aufrichteten, strafften sich ihre Gesichter. Kindliche Gesichter, noch weich trotz der Spannung, die sie beherrschte - und doch war darin schon etwas von dem Mut und der Zähigkeit zu lesen, die sie einmal befähigen würden, ihrem Vater nachzueifern und echte Seewölfe zu werden. Schweigend wickelte Hasard das Tau von seinem Körper. Philip nahm das freie Ende, sein Bruder packte den Enterhaken. Prüfend wog er ihn in der Hand, peilte eine Felskante als Ziel an, holte weit aus und warf. Mit angehaltenem Atem beobachteten die beiden Jungen den Flug des schweren Hakens. Im Bogen landete er hinter dem Felsen und schlug klirrend auf Stein. Vorsichtig holte Philip die Lose ein, bis der Haken faßte. Gemeinsam zogen die beiden Jungen an dem Tau, so kräftig wie möglich -und purzelten durcheinander, als der Enterhaken ausbrach. Unverdrossen holten sie ihn wieder ein und versuchten es ein zweites Mal. Beim vierten Versuch hatten sie alle englischen und türkischen Flüche durch, die sie kannten, und das waren erheblich mehr, als siebenjährige Kinder eigentlich kennen durften. Entmutigen ließen sie sich nicht. Sie versuchten es ein fünftes und ein sechstes Mal, immer an einer anderen Stelle. Beim siebten Versuch schließlich klappte es. Der Haken hielt. Ed Carberry oder Big Old Shane hätten ihn sicher mit dem kleinen Finger ausbrechen können, aber das Gewicht eines siebenjährigen Jungen würde er tragen. Die Zwillinge grinsten sich an. Rasch schlangen sie das freie Ende des Taus zweimal um einen Felsblock, Hasard zurrte es fest, und Philip prüfte mit dem nackten Fuß die Elastizität des Seils. „Na ja“, sagte er nicht ganz zufrieden. „Wir sind ja auch nicht im Zirkus“, bemerkte Hasard fachmännisch. „Hangel dich doch hinüber, wenn du ...“ „Bin ich vielleicht ein Affe?“ Philip spuckte verächtlich in die Fluten des Flusses, die ihm jetzt gar nicht mehr
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besonders bedrohlich erschienen. Er war auf dem Seil gelaufen, solange er sich zurückerinnern konnte. Es wäre ihm geradezu albern erschienen, die Schlucht auf eine so unbequeme und zeitraubende Weise zu überqueren, wenn es viel einfacher ging. Nach dem ersten Schritt blieb er noch einmal stehen und wippte prüfend, dann lief er mit ausgebreiteten Armen weiter, indem er die Füße schräg mit nach innen weisenden Fersen aufsetzte und so seine Schritte ausbalancierte. Sekunden später war er drüben. Hasard folgte ihm auf die gleiche Weise, mit dem gleichen Tempo und der gleichen spielerischen Geschicklichkeit. Was sich den Erwachsenen als unüberwindliches Problem gestellt hatte, war für die beiden Jungen jetzt nur noch ein Kinderspiel. Sie sahen sich mit funkelnden Augen an, als sie sich am Rand von El ¬Vascos uneinnehmbarem Plateau zwischen die Felsen duckten. „Und jetzt?“ fragte Philip. Hasard grinste vergnügt. „Jetzt suchen wir unseren Dad und die anderen“, verkündete er. „Und dann werden wir irgendwohin klettern, wohin uns die Erwachsenen nicht folgen können, und die dreimal verdammten Basken mit Steinen eindecken.“ * Die Stunden der Siesta waren vorbei. Immer noch nistete Hitze zwischen den Felsen, doch die Sonne brannte nicht mehr so erbarmungslos vom Himmel und wanderte allmählich westwärts. Der Seewolf kauerte auf den Fersen. Ein schmaler Spalt zwischen zwei Steinbrocken lag vor ihm. Er konnte den Platz um das heruntergebrannte Lagerfeuer sehen, die Hütten und die ausgebleichte Plane vor der Höhle. Gerade war El Vasco aus der Grotte ins Freie getreten und blinzelte in die Sonne. Er sprach mit zwei Basken und begleitete die Sätze mit knappen, energischen Gesten. Hasard konnte die Worte nicht verstehen,
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aber er beobachtete, wie die beiden Männer nickten, ihre Musketen aufnahmen und sich nach Norden wandten, wo die Strickleitern die einzige Möglichkeit zum Verlassen des Plateaus boten. El Vasco wandte sich um und verschwand wieder im Schatten der Höhle. Hasard betrachtete aus schmalen Augen die Felswand. Sie stieg nicht besonders steil an, und rechts von der Grotte gab es einen dunklen Einschnitt. Wenn er den benutzte und vorher einen Bogen schlug, mußte es gehen. Er nickte zufrieden. Lautlos zog er sich ein Stück zurück und wandte sich nach rechts. Das Plateau war zerklüftet und unübersichtlich und erleichterte es ihm, sich völlig unsichtbar für seine Gegner zu bewegen. Die Basken hatten wieder ihre Hütten und Zelte verlassen, aber sie hatten offenbar nichts Dringliches zu tun. Einige von ihnen reinigten und ölten ihre Waffen, zwei übten sich im Bogenschießen, andere spielten Karten. Allen schien es lediglich darum zu gehen, die Zeit totzuschlagen. Sie warteten. Sie warteten auf die Reaktion des Hafenkommandanten von Bilbao, der den ersten Schritt tun mußte. Hasard wußte von dem Brief, der Miranda Lleones anvertraut worden war. Jan Joerdans hatte es aus den Gesprächen der Basken entnommen. Benito Uvalde würde sicher hellauf begeistert sein. Vielleicht lenkte ihn die Sache sogar für eine Weile von Marius van Helder ab, vielleicht bedeutete sie auch eine Galgenfrist für die baskischen Gefangenen und die restlichen Geusen. Aber durchkommen würde El Vasco damit nicht, der Seewolf war entschlossen, ihm das schmutzige Geschäft gründlich zu versalzen. Hasard brauchte eine Viertelstunde, um das Lager der Basken zu umgehen und die Felsformation in der Mitte des Plateaus zu besteigen. Von hier aus hatte er einen ausgezeichneten Rundblick. Einmal fuhr er leicht zusammen, weil er glaubte, am Westrand der Mesa eine Bewegung in
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einem Gestrüpp zu erkennen. Aber er war seiner Sache nicht sicher, und im Augenblick kümmerte es ihn auch nicht, ob und aus welchem Grund sich dort drüben irgendwelche Basken herumtrieben. Zwei Minuten später entdeckte er den Spalt, den er vorhin aus der Gegenrichtung gesichtet hatte. Ein tiefer Einschnitt in den Felsen. Er fiel nicht steil, sondern in einer leichten Schräge ab. Freundlicherweise hatte ihn die Natur mit einigen Kanten und Vorsprüngen versehen, die einigermaßen fest aussahen und nicht so sehr von den Kräften der Erosion benagt waren wie die meisten Felsformationen hier oben. Auf jeden Fall erlaubte es dieser Kamin, bis unmittelbar auf die Höhe des Höhleneingangs zu klettern, ohne daß die Basken etwas davon merkten, es sei denn, daß sie aus irgendeinem Grund auf die Idee verfielen, aus nächster Nähe in den Spalt zu spähen. Der Grund konnte schon ein kleiner Stein sein, der sich löste, Hasard gab sich da durchaus keinen Illusionen hin. Wenn etwas schiefging, hing alles von seiner Schnelligkeit ab: Noch einmal warf er einen prüfenden Blick auf das Lager, dann ließ er sich geschmeidig über die Steinkante gleiten und stieg in den Einschnitt. Seine Strümpfe waren längst zerfetzt, seine Füße bluteten, doch das kümmerte ihn nicht sonderlich. Er prüfte jeden Vorsprung, tastete ihn sorgfältig ab und trat dann fest auf. Es wurde etwas schwieriger, als es von oben ausgesehen hatte. Ein paarmal mußte er sein Gewicht mit weit gespreizten Armen und Beinen ausstemmen, aber schließlich glitt er behutsam zwischen- das Geröll, das den Grund des Kamins bedeckte. Mit dem Handrücken wischte er sich den Schweiß von der Stirn und lauschte. Irgendwo war eine schleppende Unterhaltung auf Eskuara im Gange, sonst blieb es still. Hasard lächelte matt, als er entdeckte, daß eine struppige Kiefer als Sichtschutz zwischen ihm und dem größten
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Teil des Lagers stand. Die vier Basken, die sich in seinem Blickfeld befanden, spielten das gleiche Holzstäbchen-Spiel, das auch die Wächter bei den Gefangenen mit so viel Eifer betrieben hatten. Sie erweckten nicht den Eindruck, als würden sie in den nächsten Minuten den Kopf heben. Umso besser. Hasard blinzelte, als er aus dem Schatten des Felsspalts in die pralle Sonne trat. Mit zwei, drei schleichenden Schritten erreichte er den Höhleneingang. Seine. Linke schob sich hinter den Rand der groben Plane, lüftete sie ein wenig an, und wieder mußte er blinzeln, bevor er im Halbdunkel der Grotte etwas erkennen konnte. Felle bedeckten den Boden und hingen an den Wänden. Es gab ein paar Sitzkissen aus Ziegenleder ähnlich denen, wie sie die Wüstensöhne im Maghreb benutzten, einige dreibeinige Schemel und sogar einen rohgezimmerten Holztisch. Über diesen Tisch hatte El Vasco eine vergilbte, -zerfledderte Landkarte gebreitet, und die studierte er in dem schwachen Licht, das durch den verhängten Höhleneingang einfiel. Er wandte Hasard das Profil zu. Offenbar hatte er Siesta gehalten und sich noch nicht vollständig wieder angezogen. Jedenfalls konnte sich der Seewolf nicht vorstellen, daß sich ein Mann wie El Vasco angezogen fühlte ohne Säbel und Pistole, die beide neben ihm auf einem der Sitzkissen lagen. Der Seewolf grinste matt und hob mit einem Ruck die Plane. Helles Sonnenlicht fiel in die Höhle. Eine breite Bahn, die im nächsten Moment von Hasards Schatten verdunkelt wurde. In der Sekunde, in der El Vasco den Kopf herumriß, stand der Seewolf schon mit einem einzigen gleitenden Schritt neben ihm. Seine Linke fegte die Pistole in eine Ecke, mit der Rechten zog er den Säbel aus der Scheide des Wehrgehänges - und das alles geschah in der halben Sekunde, die die Plane vor dem Höhleneingang brauchte, um wieder zurückzufallen. El Vascos Faust zuckte zum Gürtel, aber da war nichts.
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Sein Säbel lag in Hasards Faust. Der Rebellenführer blinzelte noch, weil das jäh einfallende Sonnenlicht ihn geblendet hatte. Als sein Blick sich klärte, gleißte seine eigene Waffe dicht vor seinen Augen. Die Spitze der langen, gekrümmten Klinge berührte seine Kehle. Hasards eisblaue Augen funkelten. El Vascos zerknitterte, sonnenverbrannte Lederhaut wurde fahl. Sekundenlang zog Schrecken seine Lider auseinander, das Weiß seiner Augäpfel schimmerte gespenstisch im Halbdunkel. Aber er faßte sich sofort wieder und atmete vorsichtig aus. „El Lobo del Mar ...“ Seine Stimme krächzte. „Richtig, du Hundesohn.“ Hasard grinste und zeigte seine kräftigen weißen Zähne dieses Prachtgebiß, das damals den dicken Nathaniel Plymson in der „Bloody Mary“ so lebhaft an einen Seewolf erinnert hatte. „Stoß zu! Warum tötest du mich nicht?“ El Vasco hatte sich gestrafft. Aufmerksam blickte Hasard in die schwarzen, tiefliegenden Augen. Was er darin zu lesen glaubte, gefiel ihm ganz und gar nicht. „Ich habe keinen Grund, dich zu töten“, sagte er hart. Daß er es ohnehin nicht fertigbrachte, einen Wehrlosen umzubringen, verschwieg er, das brauchte der Rebellenführer nicht unbedingt zu wissen. „Nicht, wenn du mich nicht dazu zwingst, El Vasco. Du wirst jetzt deinen Leuten befehlen, meine Freunde freizulassen. Alle, verstanden?“ Der Baske schluckte. Vorsichtig, denn der Säbel drückte immer noch eine winzige Vertiefung in die Haut an seinem Hals. „Und dann?“ fragte er heiser. „Dann werden wir diesen gastlichen Ort verlassen“, sagte Hasard liebenswürdig. „Und du begleitest uns ein Stück. Nur so weit, bis wir wissen, daß deine Leute uns nicht verfolgen,“ „Und - wenn ich mich weigere?“ Hasard fletschte die Zähne und zeigte das Grinsen, von dem seine Leute behaupten, daß selbst der Teufel davor Reißaus nehmen würde.
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„Dann bin ich leider gezwungen, dir von dieser schnöden Welt in ein besseres Jenseits zu verhelfen“, sagte er pulvertrocken. „Oder vielmehr in das Höllenfeuer, in dem zu zweifellos schmoren wirst. Ich scherze nicht; El Vasco“, fügte er leise und scharf hinzu. „Also?“ Der Rebellenführer starrte ins Leere. Seine Lippen bildeten einen harten, blutleeren Strich, ein Nerv zuckte an seiner Schläfe. Winzige Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, aber Hasard zweifelte trotzdem nicht daran, daß er seine Worte tödlich ernst meinte. „Nein“, sagte er kalt. „Wenn ich meine Leute rufe, dann nur, damit sie dich wieder einfangen, Engländer. Du kannst mich töten, aber du kannst nicht entwischen. Und wenn ich sterbe, dann sterbe ich für die Sache der Basken ...“ 9. Die Sonne stand im Westen und warf den Schatten der Felswand über die baskischen Wächter. Die Gefangenen schwitzten, aber sie zeigten keine Anstalten, sich an einen anderen Platz zu rollen. Al Conroy lag halb auf der Seite und hatte die leeren Stiefel des Seewolfs im Blickfeld. Sam Roskill lehnte an einem Stein und rieb vorsichtig die Stricke über eine schmale Erhöhung, die nicht scharf genug war, um als Kante zu gelten. Da er die Hände nur inchweise bewegen konnte, um die Basken nicht aufmerksam werden zu lassen, hatte er wenig Hoffnung, das Ziel zu erreichen. Aber die winzige Chance genügte ihm, und jede Anstrengung war ihm lieber als das untätige Warten. Friso Eyck versuchte geduldig, die rechte Hand aus den Fesseln zu ziehen, da er nur Gras im Rücken hatte. Er kam vorwärts, stückweise. Das ging nicht ohne Blut ab, doch er sagte sich grimmig, daß die Nässe, vielleicht mit der Zeit die Stricke ein wenig ausdehnen würde.
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Jan Joerdans war von einem Experten gefesselt worden, der Knoten zu knüpfen verstand, die sich immer enger zusammenzogen, je mehr man daran zerrte. Der Geusenkapitän starrte zu den Basken hinüber und gab seinen Kameraden im Flüsterton Anweisungen, Immer, wenn die Aufmerksamkeit der Wächter abgelenkt wurde, konnte Sam Roskill die Stricke etwas schneller über den Stein reiben und Friso Eyck ein bißchen kräftiger an den Fesseln -zerren. Aber allzu oft ließen sich die Basken nicht ablenken, auch wenn ein paar von ihnen ständig damit beschäftigt waren, bunte Holzstäbchen zwischen den Handflächen zu wirbeln, auf den flachen Stein fallen zu lassen und nach unergründlichen Regeln Gewinn oder Verlust auszurechnen. Einer von ihnen hatte bereits zwei Päckchen Kautabak, die Branntweinration des nächsten Tages und sein Hemd verspielt. Er zog es gerade fluchend aus und warf es dem Gewinner zu. Als nächstes wollte er offenbar seinen Stiefel setzen, und ein Mitspieler fragte in seinem EskuaraDialekt, was, zum Henker, er mit einem einzelnen Stiefel anfangen solle. Ein heftiges Wortgefecht entbrannte. Jan Joerdans grinste leicht und dachte daran, daß es nicht besonders angenehm sein konnte, auf den heißen Felsen des Plateaus barfuß zu laufen. Unwillkürlich blickte er zur Sonne hinauf und dabei sah er die Bewegung oberhalb der Felswand. Eine rasche, schattenhafte Bewegung. Joerdans glaubte, die Umrisse einer Gestalt zu erkennen, doch im nächsten Moment verschmolz der Schatten schon wieder mit den Felsen. Jan Joerdans kniff die Augen zusammen, versuchte, etwas Genaueres zu erkennen, und überlegte dabei, wer da oben herumturnen mochte. Der Seewolf? Unsinn, dachte der Geusenkapitän. Aber andererseits war es möglich, daß Killigrew es aus irgendeinem Grund nicht geschafft hatte, an El Vasco heranzukommen. Sie wußten ja nicht
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einmal genau, ob sich der Rebellenführer überhaupt im Lager aufhielt, und waren auf Vermutungen angewiesen gewesen. Joerdans preßte die Lippen zusammen. Versuchte der Seewolf jetzt, die Wächter von oben anzugreifen? Und wenn -was nutzte das? Er konnte, es schaffen, die anderen zu befreien, aber ihre Lage würde dann nicht besser sein als beim ersten Versuch und vermutlich wieder zu dem gleichen niederschmetternden Ergebnis führen. Joerdans fluchte in sich hinein. „Sam! Friso!“ flüsterte er. „Ja?“ wurde zurückgeflüstert. „Oberhalb der Felswand! Ich glaube, ich habe da jemanden gesehen. Könnt ihr etwas erkennen?“ Schweigen. Friso Eyck blinzelte heftig, auch Al Conroy verdrehte den Hals. Sam Roskill, der halbwegs aufrecht an dem Stein lehnte, hatte den Vorteil, daß seine Augen beschattet wurden. „Ich sehe nichts“, murmelte er nach einer Weile. Und zwei Sekunden später: „Doch, verdammt! Da ist jemand! Himmelarsch, das ist doch ...“ „Leise, Mann!“ warnte Joerdans, der die Gestalt jetzt ebenfalls entdeckt hatte. Eine kleine Gestalt. Geschickt wie ein Affe turnte sie über einen Felsblock und ließ sich sofort wieder auf Hände und Knie nieder. Eine zweite, ebenso kleine Gestalt folgte. Jan Joerdans glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können. Sam Roskill hatte die beiden Jungen schon Sekunden vorher erkannt. „Die Jungen“, flüsterte er. „Um Himmels Willen, Al! Es sind die Zwillinge!“ „Das gibt's doch nicht“, murmelte der Stückmeister erschüttert. „Verdammt, nein! Das kann's gar nicht geben! Aber ich seh doch keine Gespenster, ich hab doch Klüsen im Kopf, ich ...“ „Jetzt mal ganz ruhig“, flüsterte Al Conroy, während er unverwandt zu der Felsenkante hinaufstarrte. Der Tonfall
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seiner Stimme verriet allerdings, daß es mit seiner eigenen Ruhe nicht sonderlich weit her war. „Sie sind es“, stellte er fest. „Und sie sind bestimmt nicht allein - oder?“ „Und ob die allein sind!“ stieß Sam durch die Zähne. „Du glaubst doch nicht, daß Old Shane oder Ben Brighton oder irgendjemand sonst die Jungs mitten im Lager der Basken herumturnen läßt, oder?“ „Aber, verdammt noch mal ...“ Al verstummte ratlos. Sam Roskills schwarze Augen funkelten. Sein eigenes Schicksal, das ihn vor dem Zusammentreffen mit den Seewölfen unter eine wüste Piratenhorde in der Karibik verschlagen hatte, war so geartet gewesen, daß er sich sehr gut in die beiden Knirpse dort oben versetzen konnte. Auch er hatte sich als kleiner Junge allein durchschlagen müssen. Auch er hatte dann eines Tages eine Art „Familie“ gefunden, nur daß es in seinem Fall nicht sein wirklicher Vater und keine „Isabella“-Crew gewesen waren, sondern eine Bande wüster Strandräuber, die ihn als Maskottchen betrachteten. Und er erinnerte sich genau, daß er für diese Männer durchs Feuer gegangen war und ständig die Gelegenheit für eine große Tat gesucht hatte. „Die haben das garantiert auf eigene Faust unternommen“, sagte er leise. „Aber wie, zum Teufel? Hasard hat gesagt, daß die Schlucht nicht zu überqueren sei!“ „Weil in den morschen Felsenklamotten kein Enterhaken hält; klar! Aber die beiden Bürschchen, diese Leichtgewichte? Die sind doch als Akrobaten ausgebildet, Mann! Und Ideen haben sie auch. Ich möchte nur wissen, wie sie uns gefunden haben.“ „Das werden wir schon noch erfahren“, sagte Joerdans leise. „Schaut euch lieber an, was sie da oben treiben. Helle sind sie jedenfalls, das muß man ihnen lassen.“ „Helle? Ausgekocht sind die! Und an Mut können sie's auch mit jedem aufnehmen. Du meine Fresse! Der Seewolf wird Zustände kriegen ...“ Sam verstummte. Fasziniert beobachtete er die beiden kleinen Gestalten, die sich oberhalb der
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Felswand bewegten. Lautlos auf nackten Sohlen glitten sie hin und her, huschten in den Schatten, erschienen wieder, und jedesmal schleppten sie ein, zwei handliche Steinbrocken, die sie in unmittelbarer Nähe der Felsenkante deponierten. Inzwischen war schon ein recht ansehnlicher Haufen beisammen. Was die Zwillinge mit den Steinen vorhatten, bedurfte unter diesen Umständen keiner Frage mehr. „Der klassische Überraschungsangriff“, murmelte Jan Joerdans. „Die einzig richtige Taktik.“ „Klar! Schließlich sind sie ja auch die Söhne vom Seewolf.“ Sam Roskills Stimme klang höchst zufrieden. Auch Al Conroy, der sonst ein ausgesprochen ruhiger, besonnener Mann war, beobachtete das Schauspiel mit wachsender Erregung. Seine Augen funkelten genauso wie die von Sam. Die Gesichter der beiden Männer spiegelten deutlich, was sie empfanden: eine ganze Portion Stolz auf die beiden Knirpse, die dort oben ihr Zwei-Mann-Gefecht vorbereiteten. Den Zwillingen war klar, daß die Gefangenen sie gesehen hatten. Und inzwischen hatten sie auch genug Steine beisammen. Sie kauerten oberhalb der Felswand, blickten hinunter, und der kleine Philip stieß mit einem fröhlichen Grinsen den Daumen nach oben. „Teufelskerle!“ flüsterte Friso Eyck. „Seewölfe!“ sagte Sam Roskill überzeugt. Dann konnten sie nur noch darauf warten, was als nächstes geschehen würde. * El Vascos Augen glommen in einem wilden, fanatischen Feuer. Der Schweiß zog Spuren über sein Gesicht. Er atmete schneller. Aber mit einer Degenspitze an der Kehle atmet fast jeder Mann schneller, und Hasard wußte, daß das an der Entschlossenheit des Rebellenführers nichts änderte.
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Er würde eher sterben, als seinen Plan scheitern zu lassen. „Stoß zu!“ wiederholte er heiser. „Mich kriegst du nicht weich, Engländer. Du kannst mich töten, aber du kannst mich nicht daran hindern, einen letzten Schrei auszustoßen. Und dann werden meine Leute eingreifen, dann werden sie dich erwischen, und mein Bruder und all die anderen werden frei sein.“ „Und die baskischen Rebellen?“ fragte Hasard. „Sie werden keinen Führer mehr haben.“ „Auch Gian kann sie führen.“ El Vasco lächelte verzerrt. „Vielleicht besser als ich.“ „Ja. Weil er den Verrat an den Geusen nicht auf dem Gewissen hat, weil er nicht gebrandmarkt sein wird.“ Hasard preßte die Lippen zusammen und starrte hart in die dunklen, glimmenden Augen. „Ich will dich nicht töten, El Vasco. Warum, zum Teufel, gehst du nicht den geraden Weg? Warum wählst du nicht den ehrlichen Kampf?“ Der Baske lachte auf. Ein hartes, freudloses Lachen. „Den ehrlichen Kampf? Eine Handvoll Musketenschützen gegen die Kanonen der spanischen Festung?“ „Wir hätten euch helfen können!“ „Ha! Warum solltet ihr Engländer den Basken helfen?“ „Aus dem gleichen Grund, aus dem wir den Geusen helfen. Weil wir gegen denselben Feind kämpfen, El Vasco! Weil die Feinde meiner Feinde meine Freunde sind — solange es sich um aufrechte Männer handelt und nicht um Halunken und Verräter.“ „Ah! Und da die Basken in deinen Augen Halunken und Verräter sind „Noch kannst du zurück.“ Hasards Stimme klang ruhig und zwingend, seine eisblauen Augen bohrten sich in die schwarzen des Rebellenführers. „Laß meine Männer und die Geusen frei, El Vasco! Wir können die Festung von Portugalete gemeinsam angreifen. Und ich schwöre dir, daß wir nicht nur Marius van Helder und seine Leute herausholen werden, sondern auch
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deinen Bruder und alle baskischen Gefangenen.“ El Vasco krümmte die Lippen. „Da habt ihr euch viel vorgenommen“, knurrte er höhnisch. „Wir werden es tun. So oder so!“ „Und werdet zur Hölle fahren! Es ist unmöglich, Engländer, das weißt du genau. Ihr müßtet die Festung in Stücke schießen, alles niedermachen und die Türen und Gitter der Kerker sprengen.“ „Wir brauchen nur einen bestimmten Wehrgang in Trümmer zu schießen“, sagte Hasard ruhig. „Und Türen brauchen wir nicht zu sprengen, weil wir uns vorher die Schlüssel besorgen werden. Ich weiß nämlich, wo sie sind. Benito Uvalde hat sie um seinen feisten Hals hängen.“ „Und dem willst du sie abnehmen?“ „Dem will ich sie abnehmen“, sagte Hasard, ungeachtet der Tatsache, daß die Stimme El Vascos vor Hohn triefte. Der Rebellenführer biß die Zähne aufeinander. „Lüge“, zischte er. „Ein lächerlicher Bluff, mit dem du deinen Kopf aus der Schlinge reden willst, Engländer. Ich glaube dir keine Silbe.“ „Du hast mein Wort“, sagte Hasard ruhig. „Dein Wort? Das Wort eines englischen Piraten? Daß ich nicht lache!“ Zorn flammte in Hasards Augen auf. Ein Zorn, den er sofort bezwang, weil es jetzt um Wichtigeres ging. „Komm zur Vernunft, El Vasco“, sagte er leise und eindringlich. „Dein Wahnsinnsplan ist ohnehin zum Scheitern verurteilt. Zum letztenmal: ich gebe dir mein Wort darauf, daß wir ...“ „Zum letztenmal: nein!“ fauchte der Baske. „Ich werde meine Männer rufen. Jetzt sofort! Stoß zu, Engländer! Töte mich! Es wird dir nichts nutzen.“ Hasard starrte ihn an. El Vasco meinte es ernst, daran gab es keinen Zweifel. Und der Seewolf wußte, daß kein Wort, kein Argument und kein Versprechen ihn überzeugen konnten. Der Rebellenführer war ein Mann, den nur Taten überzeugten. Taten — oder
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vielleicht ein letztes, verzweifeltes Mittel ... Philip Hasard Killigrew atmete tief durch. Er sah, wie sich El Vascos Haltung spannte in Erwartung des tödlichen Stoßes, sah, daß der Rebellenführer in der nächsten Sekunde handeln und seine Drohung erfüllen würde. Er war bereit zu sterben, damit sein Plan nicht scheiterte, weil er keine andere Möglichkeit sah. Weil er sich zu sehr verrannt hatte, um noch zu begreifen, daß seine Gefangenen immer noch auf derselben Seite standen wie er. Mit einer ruhigen Bewegung trat der Seewolf zwei Schritte zurück. Der Säbel in seiner Rechten senkte sich. Er ließ die Waffe los — und warf sie dem Basken vor die Füße. Das metallische Klirren schien sekundenlang in der Luft zu zittern. El Vascos Augen flackerten auf. Er starrte den Säbel an. Dann den Mann, der jetzt unbewaffnet und wehrlos vor ihm stand und mit der gleichen ruhigen Bewegung die Arme über der Brust verschränkte. „Ich töte keinen Mann, der denselben Kampf kämpft wie ich“, sagte er hart. „Und ich töte keinen Wehrlosen, auch nicht, wenn er ein dreckiger Verräter ist.“ El Vasco schluckte. Langsam bückte er sich und hob den Säbel auf. Der Seewolf rührte keinen Muskel, um ihn daran zu hindern. Die gekrümmte Klinge glitzerte, die Spitze zitterte leicht, als sie sich gegen Hasards Brust richtete. El Vascos Gesicht zuckte, und in seinen Augen brannte ungläubige Verwunderung wie ein Feuer. „Du gibst dich in meine Hand?“ sagte. er heiser. Und nach einer Pause: „Weil du weißt, daß nichts dich vor der Rache meiner Leute retten würde, wenn du mich tötest? Oder nicht?“ Der Seewolf hatte sich nicht gerührt. Er sah, wie es in dem braunen, zerknitterten Gesicht des Basken arbeitete, wie sich langsam die Erkenntnis in den schwarzen Augen formte. El Vasco schüttelte langsam den Kopf.
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„Nein“, flüsterte er. „Das ist nicht der Grund. Du würdest lieber sterben, als den Spaniern lebend in die Hände fallen. Jeder würde das. Also warum? Warum hast du mich verschont? Warum?“ „Weil ich keinen Wehrlosen umbringe“, wiederholte Hasard ruhig. „Und weil du El Vasco bist, der Mann, der die Basken gegen die Spanier führt. Mein Angebot gilt immer noch. Führe deinen Kampf ehrlich und greif' die Festung mit uns zusammen an - oder verschachere deine Verbündeten an die Spanier. Du hast die Wahl. Und jetzt tu, was du für richtig hältst.“ El Vasco schluckte. Noch einmal starrte er den Säbel an - und den Mann, der diesen Säbel weggeworfen hatte, obwohl er nur hätte zuzustoßen brauchen, um sich wenigstens für den Verrat zu rächen. Sehr langsam senkte der Rebellenführer die Rechte, dann öffneten sich seine Finger, und die Waffe klirrte zum zweitenmal auf den Boden. „Ich glaube, du meinst es ehrlich“, sagte El Vasco tonlos. „Du hast mein Wort.“ „Und ich habe gesagt, daß ich auf dein Wort nichts gebe. Es tut mir leid, daß ich das sagte.“ Er stockte Und biß die Zähne zusammen. „Du hast mich beschämt, Engländer. Ich hätte euch ausgeliefert. Ich war entschlossen dazu.“ „Aber du wirst es nicht tun?“ „Nein, ich werde es nicht tun. Kein Baske wird mehr die Hand gegen euch erheben. Darauf hast du mein Wort, wenn mein Wort dir noch etwas gilt.“ „Es genügt mir.“ Hasard streckte ruhig die Hand aus. Der Rebellenführer schlug ein. Sekundenlang kreuzten sich ihre Blicke. El Vascos Augen brannten. Er wollte etwas sagen, doch er kam nicht mehr dazu. Denn im selben Moment schien im Lager der Basken die Hölle loszubrechen. 10. Zwei oder drei Minuten lang hatten die Zwillinge stumm und heftig gestikuliert.
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Um was es bei der wortlosen Auseinandersetzung ging, war den Gefangenen klar: um die Auftreffwucht eines aus gewisser Höhe geschleuderten Steins in bezug auf die Härte baskischer Schädel. Schließlich ordneten sie ihre Wurfgeschosse ein wenig um. Offenbar hatten sie beschlössen, erst mal mit den kleineren Steinen anzufangen, um festzustellen, was baskische Schädel aushielten. „Die sind ja noch schlauer, als ich dachte“, murmelte Jan Joerdans, als die beiden Jungen mit je einem handlichen Brocken bewaffnet bis an den Rand der Felswand krochen. „Genau.“ Sam Roskill grinste. „Erst mal schicken sie zwei Mann gezielt ins Land der Träume, und dann pfeffern sie den ganzen Segen hinterher.“ So kam es auch. Hasard und Philip nahmen die beiden Männer mit den schußbereiten Musketen aufs Korn, die eindeutig die gefährlichsten Gegner waren. Die drei Spieler mit ihren Holzstäbchen würden erst mal ein paar Sekunden brauchen, um ihre Überraschung zu verdauen. Philip zielte, Hasard zielte und dann warfen sie beide gleichzeitig mit aufeinander. abgestimmten Bewegungen, die fast einstudiert wirkten. Zwei ziemlich kleine Steine flogen durch die Luft. Punktgenau landeten sie auf dem weichen Filz von zwei Baskenmützen - und die Männer mit den Musketen kippten lautlos zur Seite. „He!“ wunderte sich einer der Holzstäbchen-Spieler. Er drehte sich um - und deshalb verfehlte ihn der nächste Stein und krachte unmittelbar vor ihm auf den flachen Felsen zwischen die Holzstäbe. Der Baske schrie auf. Seine Kameraden rissen die Köpfe hoch, doch in diesem Moment ging bereits ein ganzer Steinhagel über sie nieder. „Arwenack!“ schrie Philip, während er den dritten Basken mit einem genau gezielten Wurf schlafen schickte.
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„Arwenack!“ stimmte Hasard ein, sprang auf und lief mit wenigen Schritten zur rechten Seite der Felswand. „Godverdomme!“ murmelte Friso Eyck beeindruckt, als er die Leichtigkeit sah, mit der der Knirps in der Wand abwärts kletterte. Wie ein geölter Blitz war Hasard unten, sprang die letzten Yards und landete geschmeidig auf allen vieren. Einer der Basken wollte sich nach einer Muskete bücken, der andere versuchte verzweifelt, dicht an der Felswand Deckung zu finden. Inzwischen war der Lärm auch drüben im Lager gehört worden. Stimmen schwirrten durcheinander, Befehle gellten, doch Hasard junior kümmerte sich weder um das Geschrei noch um den Musketenmann, der ohnehin keine Gelegenheit finden würde, die Waffe abzufeuern. Der Junge flitzte quer über den freien Platz und zog noch in vollem Lauf sein kleines Entermesser aus dem Gürtel. Mit funkelnden Augen und blitzenden Zähnen kniete er neben Al Conroy und zersäbelte die Stricke an seinen Händen und Füßen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden die eisblauen Augen des Jungen rund, als er die leeren Seestiefel entdeckte, doch er hielt sich nicht lange mit Staunen auf. Wie ein Irrwisch wirbelte er zu Sam Roskill herum, der sich bereits auf den Bauch gewälzt hatte, zertrennte auch dessen Fesseln mit wenigen Schnitten und wandte sich dem flachshaarigen Friso Eyck zu. Al Conroy sprang auf, knickte fluchend zusammen, weil seine taub gewordenen Beine nachgaben, und rappelte sich keuchend wieder hoch. Gerade fiel der Musketenmann seufzend vornüber und begrub die Waffe unter sich. Der fünfte Baske suchte sein Heil in der Flucht und hastete dicht an der schützenden Wand entlang. Und der kleine Philip stand wie ein Triumphator hoch oben zwischen den Felsen, hatte die Fäuste in die Hüften gestemmt und blickte auf das Schlachtfeld hinunter.
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„Deckung, du Rübe!“ schrie der Stückmeister, während er vorwärts stolperte. Er hörte die Schritte, die durch das Gestrüpp brachen, und der Gedanke, daß einer der Kerle auf den Jungen schießen könnte, bohrte sich wie ein glühender Nagel in sein Hirn. Philip ging tatsächlich in Deckung, aber nur, um einen neuen Stein aufzuheben. \Tön seinem Platz aus konnte er die Hauptstreitmacht der Basken bereits heranstürmen sehen. Völlig ungerührt nahm er Maß und zielte auf den Mann an der Spitze. Inzwischen waren auch Friso Eyck und Jan Joerdans frei. Al Conroy hatte sich den Säbel eines bewußtlosen Basken geschnappt, die beiden Geusen liefen ebenfalls zu der Felswand hinüber, während die ersten Basken am Rand der Mulde erschienen. Sam Roskill konnte gerade noch den kleinen Hasard am Kragen packen, der sich mit Gebrüll in den Kampf stürzen wollte. Er zappelte, wehrte sich und protestierte in der Aufregung auf Türkisch und Englisch durcheinander. „Quergestreifter, dreimal kalfaterter Affe“, war die mildeste Bezeichnung, mit der er Sam belegte, und dem blieb angesichts der kritischen Lage nichts übrig, als den Jungen so kräftig zu beuteln, daß es ihm die Sprache verschlug. „Du bist unsere Rückendeckung, du Teufelsbraten!“ fauchte Sam ihn an. „Du bleibst hier und paßt auf, oder ich zieh dir die Haut in Streifen vom Hintern!“ , „Aye, aye, Sir“, schmetterte Hasard und fühlte sich höchst geschmeichelt, da es seiner Erfahrung nach sonst nur vollwertigen Mannschaftsmitgliedern zustand, mit Hautabziehen, Kielholen, Rahnockbaumeln und Ähnlichem bedroht zu werden. Sam war leicht verblüfft, aber er begriff immerhin, daß sich der Junge damit abgefunden hatte, in Deckung zu gehen. Sehr tief in Deckung sogar, weil er sich in seiner Rolle als „Rückendeckung“ einen guten Platz für sein Steinbombardement suchen wollte. Wie der Blitz verschwand er zwischen den Felsen. Sam warf sich
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herum, peilte kurz die Lage und stellte fest, daß der unvermeidliche Kampf soeben in seine heiße Phase trat. Acht oder neun Basken brachen durch die Büsche. Sie gerieten etwas in Verwirrung, denn sie mußten über einen Bewußtlosen springen, der von einem Wurfgeschoß des kleinen Philip getroffen worden war. Jan Joerdans und Friso Eyck hatten sich ebenfalls Waffen geschnappt: Kurzsäbel und Entermesser. Al Conroy parierte bereits die ersten Angriffe eines Basken, der sich dicht an der Felswand herangepirscht hatte. Waffen klirrten. Jan Joerdans und Friso Eyck schmetterten einen wilden Kampfruf auf Holländisch, und Sam Roskill schlug einen Haken, um ihnen nicht in die Quere zu geraten, als er einem der bewußtlosen Basken das Entermesser aus dem Gürtel zog. „Arwenack!“ schrie Philip auf seinem luftigen Posten begeistert. Auf der anderen Seite der Mulde erschien Hasard juniors Kopf über einem Felsblock. Gespannt beobachtete er das Getümmel – und zwei Minuten später hatte er dann tatsächlich Gelegenheit, sich als „Rückendeckung“ bester Qualität zu erweisen. Da nämlich schlich sich einer der Angreifer heimlich, still und leise um einen Busch herum, um Sam Roskill und Jan Joerdans von hinten anzuspringen. „Arwenack!“ tönte Hasards helle Stimme. Der Baske war ziemlich verblüfft, als plötzlich ein Stein scheinbar aus dem Nichts gegen seine Hand prallte und ihm den Säbel aus den Fingern prellte. Erschrocken schrie er auf. Sam Roskill wirbelte herum, war mit einem Satz bei ihm und erkannte noch im Sprung, daß er einen unbewaffneten Gegner vor sich hatte. Der Baske wurde von einem klassischen Kinnhaken getroffen. Sam Roskill wandte sich wieder um und empfing in gleicher Weise einen untersetzten, bulligen Mann, der gerade durch die entstandene Lücke in der Front brechen wollte.
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Schritt um Schritt wurden die Basken durch die Mulde zurückgetrieben. Hinter ihnen krachte und polterte es, doch sie konnten sich nicht darum kümmern, da sie genug damit zu tun hatten, sich des Feuerwerks blitzender Klingen vor sich zu erwehren. Und dann stolperten die ersten. Dort, wo sie eben noch über ziemlich glatten Boden gerannt waren, lagen plötzlich massenweise Steine und scharfkantige Felsstücke herum. Stiefel verhakten sich, Männer schrien auf und stürzten mit rudernden Armen hintenüber. Das Chaos war perfekt, und die Basken – jetzt nur noch ein ungeordneter Haufen ohne eine Spur von Überblick - hatten nicht die geringste Ahnung, wer oder was ihnen dieses Chaos eingebrockt hatte. Auf die Idee, daß es sich um- zwei kampflustige kleine Jungen handelte, wären sie wohl nicht einmal im Traum verfallen. * Etwa eine halbe Stunde vorher waren die Gruppen von der „Isabella“ und der „Hoek van Holland“ zwischen den Felsen am Rand der Ebene auf zwei prächtige, aber ziemlich abgetriebene graue Pferde gestoßen. Reichlich verblüfft starrten sich die Männer an. Unterwegs waren sie ein paarmal ausgeschwärmt, hatten Ketten gebildet und sich vergeblich den Kopf darüber zerbrochen, wieso, zum Teufel, es ihnen nicht endlich gelang, die beiden Jungen einzuholen. Jetzt sahen sie des Rätsels Lösung. Ed Carberry kratzte sich sein zernarbtes Kinn und schnaufte. „Diese Satansbengel!“ knirschte er. „Wir latschen uns Schwielen an die Quanten, und die klauen seelenruhig zwei Pferde.“ „Na wartet“, murmelte Big Old Shane. „Pferdediebstahl ...“ Das ist nicht Diebstahl, das Kriegslist!“ behauptete Batuti. „Stimmt“, sagte Dan. „Weiter jetzt! Verdammt, ich will mir gar nicht erst ausmalen, was da passiert sein könnte.“ Schweigend setzten sie sich in Bewegung.
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Minuten später ahmte Dan O'Flynn duschend echt den Schrei einer Wildkatze nach. Ein ähnlicher Laut antwortete, und es dauerte nicht mehr lange, dann stießen Ferris Tucker und Matt Davies zu der Gruppe. „Nun?“ fragte Ed Carberry mit unheilschwangerer Stimme. „Was nun?“ knurrte Matt. „Ihr habt euch ja verdammt viel Zeit gelassen. Hier ist alles so ruhig wie ein Friedhof um Mitternacht.“ „Ach?“ sagte Dan höhnisch. „Und daß die Zwillinge hier aufgetaucht sind, ist euch wohl gar nicht aufgefallen, was?“ „Die Zwillinge?“ echoten Matt und Ferris wie aus einem Munde. „Hier?“ „Ja, hier, ihr mit Blindheit geschlagenen Enkel einer triefäugigen Gewitterziege! Und zwar hoch zu Roß, verdammt. noch mal! Ihr Hammel müßt gepennt haben, ihr ...“ „Sag noch einmal, daß ich gepennt habe, und ich laß dich am steifen Arm verhungern“, grollte Ferris Tucker. „Hier war niemand. Niemand, geht das in deinen verdammten Schädel?“ „Dann müssen sie einen Bogen auf die Westseite geschlagen haben“, sagte Ben Brighton sachlich. „Wahrscheinlich haben sie auf der ‚Isabella' gehört, daß Ferris und Matt hier irgendwo stecken. Also weiter!“ Die Männer schlugen ebenfalls einen Bogen, um sicher zu sein, daß die Wächter auf dem Plateau sie nicht bemerkten. Zehn Minuten später erreichten sie die Westseite der Mesa, wo der Fluß durch die tiefe Schlucht gurgelte. Vorsichtig pirschten sie sich näher, da sie sich nicht blindlings darauf verlassen wollten, daß es hier keine Wachtposten gab - und dann standen sie stumm und reichlich erschüttert vor dem Tau, das sich quer über den schwindelerregenden Abgrund spannte. „Du lieber Gott“, sagte Smoky fassungslos. „Diese Himmelhunde!“ knirschte Carberry. „Sie haben's tatsächlich geschafft. Das ist doch ... Finger weg, du karierter Affe!“ Das letzte galt Dan, der prüfend an dem Tau zog. Der junge O'Flynn warf dem Profos einen vernichtenden Blick zu und
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richtete sich wieder auf, nachdem er festgestellt hatte, daß der Enterhaken auf der anderen Seite der Schlucht einigermaßen sicher saß. „Von uns würde jeder da unten im Bach landen“, erklärte er. „Aber die beiden sind offenbar glatt 'rübergekommen. Ich hab ja gesagt, daß sie schlau genug sind, um zu beurteilen, ob ein Enterhaken hält oder nicht.“ „Und ich sag dir, daß ich dich zu Dörrfleisch verarbeitet hätte, wenn du den Haken ausgebrochen hättest, du grüner Hering.“ Carberry bereitete sich Sorgen, und das schlug sich bei ihm in einem Gesichtsausdruck nieder, mit dem er ein Regiment hätte in die Flucht schlagen können. Mit umwölkter Stirn wandte er sich um. „Arwenack!“ knurrte er. „Wo steckt der karierte Affe?“ Der Schimpanse hockte neben dem' Schiffsjungen Bill und blickte beleidigt in die Gegend, weil er Fußmärsche nicht ausstehen konnte. Zwischendurch hatte er immer mal jemanden gefunden, den er mit treuen Augen und anklagendem Keckern dazu brachte, ihn ein Stück zu schleppen, aber alles in allem war seine Laune auf dem Nullpunkt. Mißtrauisch schlug er einen Bogen um den Profos, peilte auf das Tau und wurde sichtlich unruhig angesichts der beschwörenden Blicke, die ihn von allen Seiten trafen. „Komm mal her, Arwenack“, lockte Dan O'Flynn und winkte mit einer der aufgeschossenen Leinen, die sie mitgebracht hatten. Der Schimpanse äugte noch mißrauischer als vorher. Die Strickleiter, die Big Old Shane hervorbrachte, schien ihm auch nicht sonderlich zu gefallen. Der Plan der Männer war einfach. Den ersten Teil der Arbeit hatten ihnen die Zwillinge abgenommen. Jetzt wollten sie Arwenack die Leine um die Brust binden und die Strickleiter am anderen Ende der Leine befestigen, der Schimpanse sollte sich an dem Tau hinüberhangeln, eine der hochragenden Felsennadeln umrunden und wieder zurückkehren.
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Für Arwenack war das alles andere als einfach. Trotzdem hätte er es -am Ende wahrscheinlich begriffen: sein Nachahmungstrieb ließ ihn im allgemeinen verblüffend schnell lernen. Aber die Männer kamen gar nicht mehr dazu, ihm vorzuführen, was sie von ihm erwarteten. Irgendwo gellte ein Schrei, etwas polterte, und dann war vor ihnen auf dem Plateau von einer Sekunde zur anderen der Teufel los. Klirrende Waffen, durcheinanderschreiende Stimmen. Fern, aber deutlich klang ein helles „Arwenack!“ herüber. Die Männer erkannten die Jungenstimme: einer der Zwillinge. Der Schimpanse erkannte die Stimme ebenfalls. Daß es sich in diesem Fall nicht um seinen Namen, sondern um den alten Schlachtruf der Seewölfe handelte, konnte er schließlich nicht wissen. Das unbekannte Plateau interessierte ihn ohnehin viel mehr als die unverständliche Hantiererei mit Leinen und Strickleitern. „Bleib hier, du Affe!“ brüllte Carberry. „Arwenack!“ schrien drei, vier andere Männer gleichzeitig. Aber da hangelte sich der Schimpanse bereits mit der sprichwörtlichen affenartigen Geschwindigkeit 'am Tau über die Schlucht und war eine Sekunde später zwischen den Felsen verschwunden. Ed Carberry faßte sich an den Kopf. Die Männer starrten betreten auf das Tau, das jetzt völlig sinnlos geworden war: Ein paar erbitterte Flüche wurden geknirscht, aber die nutzten auch nichts mehr und konnten an den Tatsachen nichts ändern. Ben Brighton atmete tief durch. „Pech“, sagte er beherrscht. „Jetzt bleibt uns nur noch eins, fürchte ich.“ „Und das wäre?“ Ben zuckte mit den Schultern. Er wußte selbst, daß sein Vorschlag ei9 Wahnsinnsunternehmen war, aber sie hatten keine Wahl, wenn sie nicht die Hände in den Schoß legen und warten wollten.
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„Die Nordwand“, sagte der Bootsmann ruhig. „Wir legen Sperrfeuer auf das Plateau, und ein paar von uns versuchen, hinaufzuklettern und die Strickleitern hinunterzulassen.“ * Der Seewolf brach mit langen Schritten durch die Büsche. El Vasco folgte ihm, den Degen in der Faust und ziemlich verwirrt. Einen Augenblick hatte er gedacht, auf einen Trick der Gefangenen hereingefallen zu sein - Hasard hatte es an dem Aufblitzen seiner Augen gelesen. Aber der Baske hatte kein Wort laut werden lassen und sich des Verdachts im nächsten Moment geschämt, und der Seewolf begriff, daß das nicht mehr derselbe Mann war, der ihn und die Geusen kaltblütig hatte ans Messer liefern wollen. Kampflärm schallte herüber. Klingen klirrten, jemand schrie auf. „Arwenack!“ ertönte eine Stimme -und Philip Hasard Killigrew zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Er hatte die Stimme seines Sohnes erkannt. Das war doch... Ein Irrtum, versuchte er sich zu überzeugen. Keuchend rannte er weiter, auf die Mulde zu, in der er Al Conroy, Sam Roskill und die beiden Geusen zurückgelassen hatte. Jemand mußte sie befreit haben. Jemand? Hasard biß die Zähne zusammen, starrte dorthin, wo die Felswand abfiel, an deren Fuß die Wächter gesessen hatten - und im nächsten Moment hatte er endgültig das Gefühl, als habe ihn ein Zimmermannshammer am Kopf getroffen. Wie ein Kastenteufelchen schnellte vor ihm eine kleine Gestalt hoch. Blitzartig holte sie aus, ein Stein flog - und unterhalb der Felswand bewies ein erstickter Aufschrei, daß das Geschoß getroffen hatte. „Philip!“ schrie der Seewolf. „Arwenack!“ jubelte Philip. Und dann erst schien in sein Bewußtsein zu dringen, was er da eben gehört hatte.
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Er fuhr herum. Sein Vater stand mit zwei Schritten bei ihm und packte ihn am Kragen. Das war allerdings vorerst alles, denn die Aufmerksamkeit des Seewolfs wurde von den Geschehnissen unter ihm gefesselt. Dort waren nämlich Al Conroy, Sam Roskill, Jan Joerdans und Friso Eyck gerade dabei, ihre Gegner nach Strich und Faden auseinanderzunehmen. Längst lieferten die Basken nur noch ein Rückzugsgefecht. Jenseits der Mulde hockte Hasard junior seelenruhig auf einem Felsblock, hatte ein paar Steine um sich aufgebaut und lauerte auf die Chance, jemanden damit zu bewerfen. Im Augenblick bot sich diese Chance nicht, da sich die Schlacht vorwiegend in Nahkämpfen abspielte und er riskiert hätte, die eigene Partei zu treffen. Aufmerksam verfolgte er jede Phase des Geschehens und auch El Vasco und der Seewolf waren für ein paar Sekunden viel zu überrascht, um etwas anderes zu tun, als wie versteinert in die Mulde hinunterzustarren. Hasard faßte sich als erster. „Aufhören!“ schrie er mit einer Stimme, die schon so manchen Sturm übertönt hatte. Neben ihm riß El Vasco die Pistole aus dem Gürtel und gab einen Schuß in die Luft ab. Auch seine Stimme klang laut und befehlsgewohnt, er schrie ein paar Worte auf Eskuara, und unten in der Mulde ließen die Kämpfer tatsächlich die Waffen sinken. Sie blickten nach oben. Ein paar Herzschläge lang senkte sich eine seltsame Stille über die Szene - jene Stille, wie sie im Mittelpunkt, im „Auge“ eines Wirbelsturms herrschen mochte. Maßlose Verblüffung malte sich auf den Gesichtern der Streithähne. Aber da El Vasco und der Seewolf nicht minder verblüfft waren, dachten sie nicht daran, das Mienenspiel ihrer jeweiligen Freunde komisch zu finden. ( Es war Hasard junior, der unten auf seinem Felsen den Bann brach. „Unser Vater!“ schrie er, sprang auf und warf triumphierend die Arme hoch.
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Wie von unsichtbaren Schnüren gezogen drehten die Basken die Köpfe. Erst jetzt begann ihnen klarzuwerden, daß in diesem Kampf unbegreiflicherweise ein paar Kinder mitgemischt hatten. Von dem jubelnden Jungen blickten sie zu El Vasco hoch, zu dem Seewolf, der einen zweiten Jungen am Kragen gepackt hielt - und das Wort „Vater“ kannten die meisten von ihnen anscheinend auch auf Englisch. Was wirklich passiert war, konnten sie natürlich nicht wissen. Die wenigen Sätze, die El Vasco auf Eskuara rief, konnten es auch nicht erklären, vor allem, da der Rebellenführer selbst nicht ahnte, was da gelaufen war. Aber die Basken sahen den großen Mann mit dem schwarzen Haar und den eisblauen Augen dort oben, sahen die beiden Kinder, die diesem Mann verblüffend glichen -und sie alle lächelten plötzlich, weil sie die Wahrheit ahnten und weil diese Wahrheit etwas in ihnen rührte, das der endlose, grausame Kampf gegen die Spanier fast verschüttet hatte. Hasard junior sprang von seinem Steinblock, flitzte quer durch die Mulde und enterte in die Felswand. Hasard senior räusperte sich, hatte plötzlich einen Kloß im Hals und sah auf den kleinen Philip hinunter, der den Blick etwas unsicher erwiderte. Eigentlich, dachte der Seewolf, gehörte den beiden für diese Eigenmächtigkeit der Hintern versohlt. Aber andererseits ... Er kam nicht mehr dazu, lange über das Einerseits und Andererseits zu spekulieren. Im selben Augenblick peitschen nämlich in einiger Entfernung Schüsse. Ziemlich viele Schüsse - ein regelrechtes Sperrfeuer. Und von irgendwoher ertönte eine Stimme, die etwas von „Engländer“, Holländern“ und „Angriff“ brüllte und sich fast überschlug vor Erregung. * „Aufhören!” Es war das zweitemal, daß der Seewolf das schrie. Diesmal stand er an der Nordseite des Plateaus, hinter einen Felsen geduckt,
Das Rebellen-Nest
weil die Kugeln wie zornige Hornissen durch die Gegend schwirrten. Der Fall war klar: Seewölfe und Geusen versuchten in einer verzweifelten Aktion, das Rebellennest anzugreifen, um die Gefangenen zu befreien. Nur daß das jetzt nicht mehr nötig war - und das mußte man ihnen so schnell wie möglich erklären. „Aufhören!“ wiederholte Hasard. „Ed, Ben, Shane habt ihr Datteln in den Ohren?“ Das konzentrierte Musketenfeuer verstummte. Für ein paar Sekunden herrschte Stille. Dann ertönte die Stimme des Profos'. Eine Stimme, die sich auf ein einziges, mit keinerlei Flüchen ausgeschmücktes Wort beschränkte -eine Tatsache, die es wert war, im Logbuch vermerkt zu werden. „Hasard?“ Der Seewolf grinste. „Jawohl, du Holzklotz!“ schrie er. „Hört mit der Ballerei auf, verdammt! Hier oben herrschen Eintracht und Frieden!“ Das verschlug Ed Carberry zunächst einmal die Sprache. Und als er wieder Worte fand, geschah es mit der Stimme eines Mannes, dem man gerade versichert hat, daß der salzige Atlantik in Wirklichkeit aus purem Rum bestehe. „Eintracht?“ schrie er zurück. „Frieden?“ „Jawohl! Also hört auf zu schießen! Wir lassen die Strickleitern nach unten!“ Hasard trat an den Rand des Plateaus, um auf diese Weise zu bezeugen, daß das ganze nicht etwa ein Trick sei. Aber das war gar nicht nötig: auf die Idee, daß irgendjemand ihren Kapitän gezwungen haben konnte, sie in eine Falle zu locken, kamen die Seewölfe ohnehin nicht. Langsam, zögernd und ziemlich verdattert tauchten sie aus ihren Deckungen auf, und El Vasco gab seinen Leuten einen Wink, die Strickleitern hinunterzulassen. Minuten später waren Seewölfe, Geusen und Basken auf dem Plateau versammelt, beäugten sich mit skeptischen Blicken und ließen sich wechselseitig von Hasard und El Vasco erzählen, welche Ereignisse zu
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der unerwarteten Wendung der Dinge geführt hatten. Allgemeine Erleichterung war die Reaktion. Und allgemeines Staunen: die Zwillinge wurden als die Helden des Tages gefeiert. Klar, daß sie es genossen. Später, als der Abend hereinbrach, hockten sie zwischen den anderen am Lagerfeuer und erzählten, während Sam Roskill sich als Dolmetscher betätigte. Die meisten Basken waren gerührt, weil sie sich an ihre eigenen Frauen und Kinder erinnert fühlten, die sie endlos lange nicht mehr gesehen hatten. Und auf Seiten der „Isabella“-Crew gab es ohnehin keinen Zweifel über die allgemeine Stimmung: die Männer waren stolz auf die Söhne ihres Kapitäns, die einmal echte Seewölfe zu werden versprachen. Philip Hasard' Killigrew war immer noch nicht ganz sicher, ob den beiden Knirpsen nicht doch eher der Hintern verdroschen gehörte. Vom erzieherischen Standpunkt aus - na ja! Aber andererseits hatte er immer noch diesen Jubelruf im Ohr: „Unser Vater!“ Bisher war er nicht einmal völlig sicher
Das Rebellen-Nest
gewesen, ob die beiden das begriffen hatten. Schließlich lag es noch nicht lange zurück, daß sie alles versucht hatten, um wieder von der „Isabella“ zu entwischen und zu den Gauklern zu stoßen, bei denen sie die letzten Jahre ihres Lebens verbracht hatten. Jetzt wußten sie offenbar, wer ihr Vater war. Jetzt hatten sie sogar alles versucht, um ihn zu befreien. Dabei waren sie so umsichtig, schlau und geschickt vorgegangen, daß man ihnen nicht einmal vorwerfen konnte, sie hätten sich blindlings in eine unüberschaubare Gefahr begeben. Hasard sah zu Big Old Shane hinüber. Der lächelte still vor sich hin und hörte El Vasco zu. Und vielleicht hatte er recht. Vor ihnen lag eine Aufgabe, die alle Kräfte erfordern würde. Sie wollten die Festung von Portugalete knacken und Marius van Helder, die Geusen und die baskischen Gefangenen befreien. Unter diesen Umständen konnte man alle anderen Probleme vorerst zurückstellen. Hasard atmete tief durch, lächelte zu seinen Söhnen hinüber und erwischte sich bei dem Gedanken, daß er im Grunde auch recht stolz auf sie war.
ENDE